Die Pension Herr von Buchwald suchte für seinen zwölfjährigen Sohn eine Pension in der Landeshauptstadt. Er hatte sich das nicht so schwierig vorgestellt, umso weniger, als er auf eine Zeitungsanzeige Berge von Zuschriften bekam. „Siehst du, Mamachen“, hatte er die ängstlich sorgende Mutter getröstet, „so viele Häuser sind bereit, unsern Kurt aufzunehmen!“ „Lass uns erst prüfen und dann sehen, wie viele bleiben.“ Und bald erwies sich ein Drittel der Zuschriften als völlig wertlos; doch blieben immer noch genug, um vielleicht beim nächsten Besuch in der Stadt etwas Passendes zu finden. Herr von Buchwald hatte sich auf einige Tage in einem Hotel eingemietet, um die Suche mit Ruhe betreiben zu können; ihm lag das Wohl seines Jungen zu sehr am Herzen, als dass er nur oberflächlich und flüchtig geprüft hätte. So war er durch viele Straßen gewandert, treppauf, treppab gestiegen, doch ohne Erfolg. Er kehrte ermüdet und missmutig ins Hotel zurück. Bei dem einen war die Wohnung eng und ungesund gelegen, beim andern herrschte neben äußerer Eleganz unverkennbare Unordnung und Unsauberkeit. Hier unchristlicher, oberflächlicher Sinn, der sich beim Gespräch gar bald zeigte, dort wieder zu hohe Forderungen, die ans Unverschämte grenzten und deutlich erkennen ließen, wie alles nur aufs Verdienen abgestellt war. Hier fehlte wieder die männliche Autorität, die dem Jungen so durchaus notwendig war, kurz, Herr von Buchwald hatte sich nicht entschließen können, sein Kind einem der besuchten Häuser anzuvertrauen. „Beim Rektor des Gymnasiums bist du angemeldet, aber eine Pension finde ich nicht für dich, was nun?“, sagte Herr von Buchwald zu seinem Sohn, als er im unteren Saal des Hotels mit ihm gespeist hatte. Da hörte er die Stimme eines Herrn: „Nun behüt’ dich Gott, Konrad, bleibe brav und grüße mir deine Pflegeeltern!“ Herr von Buchwald blickte auf. Ein Vater nahm von seinem Sohne Abschied. Er schien Eile zu haben, denn er griff schon nach Koffer und Hut und war im Begriff, das Zimmer zu verlassen. Herr von Buchwald war schnell aufgestanden und zu ihm getreten. „Verzeihung, mein Herr, haben Sie Ihren Sohn hier in Pension?“ Der Angeredete sah Herrn von Buchwald erstaunt an und erwiderte eilig: „Ja, seit einem Jahr!“ „Sind Sie zufrieden?“ „Durchaus!“ „Bitte, geben Sie mir die Anschrift, und verzeihen Sie meine Zudringlichkeit.“ Mit diesen Worten zog Herr von Buchwald sein Notizbuch aus der Tasche und schrieb die Angaben hinein, während der unbekannte Herr sich verneigte und mit seinem Sohn, der Schulbücher unter dem Arm hatte, schnell das Zimmer verließ. „Sollte das ein Wink von Gott sein?“, dachte Herr von Buchwald. „Er kann auf mancherlei Art seine Wege vorzeichnen, und ich habe ihm die Sache anbefohlen.“ Dann wandte er sich zu seinem Sohn und sagte: „Komm, Kurt, wollen sehen, ob wir dich in der Steinstraße 20 unterbringen.“ In dem bezeichneten Hause stieg Herr von Buchwald langsam die Treppen hinauf, während Kurt ihm vorangeeilt war und schon erwartungsvoll oben stand. Er las an der Vorsaaltür den Namen „Professor A. Rothe“. „Vater, hier ist es, soll ich klingeln?“, flüsterte er, als Herr von Buchwald herankam. Der nickte. Kurt zog an der Klingel, und es erfolgte ein so grelles Läuten, dass die Türe eiligst aufgerissen wurde und ein unmutiges Gesicht sich zeigte, das einem reizenden Mädel von etwa sechzehn Jahren gehörte. Der Unwille legte sich sofort, als es den fremden Herrn erblickte. „Verzeihen Sie“, stotterte es errötend, „ich dachte, es wäre einer von unsern Jungen; sie wissen, dass die Eltern um diese Zeit schlafen, vergessen es aber oft – und da wollte ich schelten!“ „Nun, da schelten Sie nur“, sagte Herr von Buchwald lächelnd. „Wir haben’s verdient, wenn wir die Eltern gestört haben, und werden später wieder reinschauen.“ Das junge Mädchen, das mit klugen Augen die Sache durchschaut hatte, dachte sich wohl, dass der Junge zu den Eltern in Pension gebracht werden solle, und da sie wünschten, zu drei Pflegesöhnen noch einen vierten bei sich aufzunehmen, sagte sie mit gewinnender Stimme: „Nein, fortlassen darf ich Sie nicht, da würde der Papa ungehalten sein. Bitte, wollen Sie eintreten?“ Herr von Buchwald betrat einen geräumigen hellen Vorsaal, der, nach dem Büfett und dem großen Esstisch zu urteilen, als Speisezimmer diente. Das junge Mädchen hatte augenscheinlich hier mit Näharbeit gesessen. Sie war noch in ihrer Hand, auch war es Herrn von Buchwald nicht entgangen, dass es eine geplatzte Weste war, die von der kunstfertigen Hand des kleinen Blondkopfes wiederhergestellt wurde. „Ein gutes Zeichen“, dachte er, „hier flicken sie für die Pensionäre.“ Was ihn weiter angenehm berührte, war die einfache und äußerst sauber gehaltene Wohnung. Das junge Mädchen öffnete die Tür des Besuchszimmers und ließ die Fremden mit der Versicherung hinein, der Papa würde gleich kommen. Während Herr von Buchwald gern die schneeweißen Gardinen, die blanken Fenster, die blühenden, wohlgepflegten Blumen be- trachtete und von da seine Blicke auf gute Kupferstiche und Photographien schweifen ließ, sagte er sich: „Hier weht gesunde Luft, innerlich und äußerlich, Gott gebe, dass ich mich nicht täusche.“ Der Blondkopf war unterdes eiligst in die Küche gelaufen mit den Worten: „Emma, Emma, geschwind! Ein neuer Pensionär! – Ein ganz vornehmer Herr mit einem netten, frischen Jungen!“ Diese Worte wurden an eine nahezu Vierzigjährige gerichtet. Sie war im einfachen Hauskleid und hatte eine große weiße Schürze um; die riesige Schüssel, in der sie eifrig den Teig rührte, bewies, dass sie beim wichtigen Geschäft des Kuchenbackens war. Ihr erhitztes Gesicht wandte sich Mariechen zu, die ratlos und ängstlich bei ihr stand. „Mariechen“, sagte sie, „du bist nun bald sechzehn Jahre, du solltest dir doch auch einmal zu helfen wissen. Ich setzte dich in den Vorsaal, um ungestört beim Kuchen bleiben zu können, und nun belästigst du mich doch. Komm, rühre mir den Teig immer nach einer Seite, bis ich wiederkomme, ich will es Onkel selbst sagen.“ Damit schlüpfte sie geschwind aus der Küche, klinkte die Stubentüre leise auf, weckte Onkel und Tante und meldete den Besuch. Gleichzeitig überreichte sie die ihr von Mariechen übergebene Visitenkarte. Eilig kehrte sie dann in die Küche zurück und hieß Mariechen den Herrn unterhalten, bis der Papa bereit sei. Die, gewohnt, der älteren Kusine zu gehorchen, ging höchst ungern. Hätte sie gewusst, welchen guten Eindruck ihre liebliche Erscheinung auf Herrn von Buchwald gemacht, sie würde weniger zaghaft gewesen sein. Sie stand noch einige Sekunden an der Tür, horchte, ob doch nicht vielleicht der Vater schon eingetreten sei – doch alles blieb still. Ein Griff nach dem Drücker, und entschlossen trat sie ein. „Es tut uns so leid, dass Sie warten müssen“, begann sie nun frisch zu reden. Herr von Buchwald lächelte: „Ich habe Zeit, Fräulein Rothe, wir beide, Kurt und ich, haben heute Nachmittag nichts zu versäumen.“ „Aber, bitte, setzen Sie sich“, sagte nun Mariechen und wandte sich dann an Kurt: „Nimm du auch Platz. Wir nennen unsere Pensionäre alle ,du‘ bis zur Konfirmation.“ Wieder trat ein Lächeln auf Herrn von Buchwalds Gesicht. Mariechen bemerkte es und errötete leicht. Woher wusste sie denn, dass Kurt ihr künftiger Pensionär werden sollte? Es hatte noch niemand davon geredet, sie hatte gewiss etwas recht Dummes gesagt. Sie wollte gern ein anderes Gespräch anknüpfen, konnte sich aber in ihrer Verwirrung auf nichts besinnen. „Mein Fräulein“, sagte Herr von Buchwald plötzlich, „Sie sind gewiss immer sehr fleißig, haben viel zu tun!“ Bei diesen Worten sah er lächelnd auf ihre Tasche, aus der, o Schreck!, die zu flickende Weste zur Hälfte hervorguckte. War sie erst errötet, so deckte jetzt eine Purpurglut Gesicht und Nacken. „Ach“, stotterte sie verlegen, „ich steckte die Weste schnell in die Tasche, als ich den Kuchenteig rühren musste, und darüber habe ich sie vergessen.“ Sie zog sie heraus und enthüllte sie vor den Augen des Herrn von Buchwald. „Sehen Sie nur, von unten bis oben geplatzt – so machen es unsere Jungen, wir haben oft viel zu tun!“ „Das würde ich einem Flickschneider übergeben“, meinte Herr von Buchwald. „Sie sind doch nicht verpflichtet, für die fremden Jungen zu flicken.“ „Verpflichtet nicht, aber Mama sagt, was sie für die eigenen Kinder tut, das tue sie auch für die Pflegesöhne gern, und Papa und Mama sind gegen sie wie rechte Eltern.“ Eben wollte Herr von Buchwald etwas erwidern, als sich die Tür öffnete und ein älterer Herr mit straffer Haltung und würdigem Aussehen eintrat. Seine Gesichtszüge drückten Biederkeit und Treue aus; ein großer grauer Bart sowie auffallend buschige dunkle Augenbrauen vermochten wohl dem Gesicht auf den ersten Blick etwas Finsteres zu geben, doch sah man in die freundlichen, offenen Augen, so lag darin viel Herzensgüte und Wohlwollen. Die Herren begrüßten sich. „Ich habe die Freude, mit Ihnen, Herr von Buchwald, zu sprechen“, sagte Professor Rothe. „Ihr Name hat einen guten Klang hierzulande, und ganz abgesehen davon, dass ich in Ihnen einen Gesinnungsgenossen begrüße, sind es noch besondere Bande, die mich an Ihre Familie fesseln. Der Bruder meiner Frau war lange in Wiesendorf Hauslehrer. Erinnern Sie sich an Heinrich Lange?“ „An meinen ehemaligen Lehrer? Wie könnte ich ihn und alles, was ich ihm verdanke, je vergessen! Er ist ein Bruder Ihrer Frau! Das ist ja eine köstliche Entdeckung! Herr Professor, Sie waren mir ein Fremder, als ich Ihr Haus betrat. Jetzt sind Sie mir ein lieber Bekannter, und als solchen lassen Sie mich zu Ihnen reden. Ich bringe Ihnen hier meinen Jungen, wollen Sie ihn mir erziehen? Wollen Sie einen braven, tüchtigen Menschen aus ihm machen?“ „Mit Gottes Hilfe“, sagte der Professor ernst. „Es ist eine schwere, aber beglückende Aufgabe, die wir uns gestellt haben. Es kommt sehr viel darauf an, unter welchem Einfluss die Jungen stehen. Unser Bemühen ist, alles übel Einwirkende fernzuhalten, dagegen die Kinder bekannt zu machen mit allem, was Herz und Geist ausbildet. Dass sie in frischer, gesunder Atmosphäre leben, dafür sorgt schon meine Frau, unsere Nichte und das Kind da! – Darf ich Sie meiner Frau vorstellen? Es liegt Ihnen gewiss daran, die Hausfrau und Pflegemutter kennen zu lernen.“ Der Professor ließ durch sein Töchterchen, das Kurt an einem Nebentisch Bilder gezeigt hatte, die Mutter bitten. „Ein prächtiges Mädchen“, meinte Herr von Buchwald, als die anmutige Gestalt elastischen Schrittes hinauseilte. „Ja, wir können wohl sagen, sie ist der Sonnenschein unseres Hauses. Aber sie ist noch ein ganzes Kind, dem man manches nachsehen und verzeihen muss. Meine Frau und ich fürchten oft, dass sie durch ihr unbedachtes Tun und Reden sich das Missfallen Fremder zuzieht. Aber, Gott weiß, wie es kommt, sie haben sie alle gern, und mit Gottes Hilfe wird sich ja auch das Ungeschickte an ihr immer mehr abschleifen. Der Grund ist gut, das ist die Hauptsache.“ Herr von Buchwald nickte zustimmend, und jetzt betrat eine Dame das Zimmer, anmutig und gewinnend, dass man sofort wusste: „Das ist Mariechens Mutter.“ Freilich waren die Haare ergraut, doch die schönen Augen voller Güte und Milde, die freundlichen, regelmäßigen Gesichtszüge, das herzliche Lächeln – kurz, wie einmal von ihr gesagt wurde: „Das sonnige Antlitz erquickt Herz und Gemüt.“ Sie sah leidend aus, und manche Kummerfalte zeigte, dass sie schon viel erlebt hatte. Doch war über ihr Gesicht der Friede Gottes ausgegossen, das dem einsichtigen Fremden die Gewähr bot, dass das Haus dieser prächtigen Menschen eine Stätte des Friedens sein müsse. Nach der Begrüßung von Herrn von Buchwald folgte eine lange lebhafte Unterhaltung über den Bruder der Professorin, dann sprach man über Erziehungsund die Regelung der äußeren Fragen. Schließlich wandte sich die Professorin freundlich an Kurt. „Ich denke, es soll dir bei uns gefallen. Wir wollen uns recht lieb haben, nicht wahr?“ Dabei reichte sie ihm die Hand hin und sah ihn so gütig und liebevoll an, dass Kurt ihr vertrauensvoll seine Hand gab und zutulich fragte: „Wo werde ich denn wohnen?