Abrams Töchter 1 Das Gelübde, Beverly Lewis Prolog Leah In meiner Kindheit und Jugend trank ich einen bitteren Kelch. Ich war fest davon überzeugt, dass meine Jugendjahre sich ganz anders entwickelt hätten, wenn ich anstelle meiner Schwester Sadie die Erstgeborene im Haus gewesen wäre. Vielleicht hätten in jenen Jahren auf meinem Weg weniger Dornen gelegen. Aber wer hat schon Macht über sein eigenes Schicksal? Als ich auf die Welt kam, hatten meine Eltern bereits ihre Tochter: die hübsche, blauäugige, blonde Sadie. Papa brauchte einen Sohn, jemanden, der ihm draußen bei der Arbeit haW Also kam er mit einem einzigen Blick auf mich zu dem Schluss, dass ich kräftiger gebaut sei als meine zarte, gertenschlanke Schwester. Somit war ich von frühester Kindheit an der Schatten meines Vaters. Ich arbeitete an seiner Seite auf den Feldern und konnte mit acht Jahren bereits ein Gespann Maultiere lenken. Von klein auf pflügte, säte und arbeitete ich auf dem Hof und im Stall. Schließlich brauchte Mama meine Schwester Sadie im Haus für die „Frauenarbeit". Sadie konnte putzen und kochen wie ein Wirbelwind. Das muss man ihr lassen. Niemand in unserer Gegend oder in ganz Lancaster County konnte ein Haus schneller aufräumen oder einen köstlicheren Eintopf kochen als sie. Aber das waren nur zwei von Sadies vielen Talenten Ehrlich gesagt kämpfte meine Schwester mit der Welt und ihren Verlockungen .. und mit der amischen Kirche. Mit achtzehn nahm sie zusammen mit anderen jungen Leuten, die dem Herrn in der heiligen Taufe nachfolgen wollten, Taufunterricht bei Prediger Yoder, um sich auf einen lebenslangen Schwur vor dem allmächtigen Gott und der Kirche vorzubereiten. Gleichzeitig opferte sie jedoch ihr Herz und ihre Seele auf dem Altar verbotener Liebe. Ich behielt Sadies grauenhaftes Geheimnis für mich. Ach, ein. Teil von mir sehnte sich danach, dass sie erwischt und umgehend getadelt würde. Manchmal hasste ich sie wegen des unnötigen Risikos, das sie anscheinend viel zu bereitwillig einging. Es war nicht nur dumm, sondern auch sehr gefährlich. Ich machte mir große Sorgen, auch deshalb, weil ich beinahe alt genug war, um mit Jungen auszugehen. Ich konnte es nicht erwarten, an den Singtreffen sonntagabends teilzunehmen, als dieser ganze Betrug begann. Was. würden die Jungen in unserem Gemeindebezirk wohl von mir denken, wenn sich herumspräche, wie schamlos Sadie lebte? „Versprich mir, Leah", flüsterte sie nachts, als wir uns zum Schlafen fertig machten, „dass du nie ein Wort über Derry. verrätst. Niemandem," Obwohl ich wünschte, Papa und Mama wüssten von Sadies weltlichem Verehrer, hätte ich mich in Grund und Boden geschämt, so eine unerhörte Geschichte weiterzuerzählen. Ich bemühte mich, mit Sadie in Frieden zu leben, aber das tat ich wider besseres Wissen. Bald fragte ich mich, wie lange ich über die sündigen Wege meiner Schwester noch den Mund halten könnte. Ehrlich gesagt, hätte ich gewünscht, ich wüsste überhaupt nichts von diesem dunkelhaarigen englischen jungen Mann, den meine Schwester gegen jede Vernunft liebte. In jenen Tagen schleppte ich ständig eine schwere Sorgenlast mit mir herum und hatte große Angst, dass ich für den Rest meines Lebens immer die zweite Geige hinter Sadie spielen würde. Ich lebte nicht nur unter den Fittichen meines unerschütterlichen, gottesfürchtigen Vaters, sondern verbrachte auch jeden Tag im Scharten meiner auf Abwege geratenen älteren Schwester. Dieses Kreuz war mir offenbar auferlegt; ich musste es tragen. Manchmal huschte ich bei Einbruch der Nacht ins Schlafzimmer hinauf, das ich mit Sadie teilte. Allein, im schwachen Lichtschein, spähte ich in den kleinen Handspiegel und betrachtete mich ernst und forschend im Laternenlicht, konnte jedoch nichts von der Schönheit entdecken, die andere in mir sahen. Nur das Spiegelbild eines Wildfangs mit großen Augen starrte mir entgegen 4 - ein notwendiger Ersatz für einen Sohn, obwohl ich trotz allem eine junge Frau war. Und so unschuldig wie der Mondschein.. Abrams Leah Noch als ich Anfang zwanzig war, gehörte Papas Vorname untrennbar zu meinem Namen. Für englische Außenstehende mochten die zwei Namen in dieser Kombination nett und sogar liebevoll klingen. Aber jedes Gemeindemitglied aus unserem Bezirk kannte die Wahrheit. Ja, die Amisch wussten ganz genau, dass Leah Ebersol sich nicht dafür entscheiden konnte, den Mann zu heiraten, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte. Da ich eigensinnig war, stand ich in Gefahr, ein altes Mädel zu werden - eine alte Jungfer wie meine Tante Lizzie Brenneman, obwohl sie alles andere als griesgrämig war. Für die meisten jungen Frauen bedeutete es, seine eigenen Gefühle zu leugnen, wenn man nicht heiratete. Aber nicht für Lizzie. Sie war so fröhlich und lebendig wie kaum ein anderer Mensch, den ich kannte. Was Abrams Leah anging, nun ja, ich besaß Entschlossenheit. Ich konnte „die Zähne zusammenbeißen ... und den Mund aufreißen", wie Papa oft sagte. Und ich erinnere mich, dass ich auch eine gehörige Portion Mut besaß. Ich konnte nie einfach kommentarlos dabeistehen und zuhören, wie die Frauen ihre Spekulationen über „Abrams raue und jungenhafte Tochter" äußerten und mit gerümpfter Nase auf mich herabblickten, nur weil ich nicht in der Küche stand und Strudel backte oder nähte und strickte. Meine Güte, damit verbrachte Sadie ihre Zeit ... und Hannah und Mary Ruth und natürlich Mama. Es war Papas Schuld, dass ich nicht in der Küche stand. Ich hatte zu viel Arbeit auf dem Hof zu erledigen .- zweimal am Tag die Kühe melken, die Hühner füttern, damit wir Eier hatten und das Geflügel später rupfen und verkaufen konnten. Die Zäune mussten gestrichen werden. Ach ja, und jeden Samstag durfte ich diesen großen, alten Stall blitzblank ausfegen. Ich war damals nicht der Typ, der ein Blatt vor den Mund nahm. Ich arbeitete genauso schwer wie alle anderen. Ich war vielleicht nur praktischer veranlagt als die meisten jungen Frauen, denke ich. Manchmal trug ich unter meinem langen Kleid sogar eine Arbeitshose, damit der Staub auf dem Heuboden oder die Mücken auf den Maisfeldern nicht den ganzen Sommer auf meinen Beinen juckten. Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann war Jonas Mast, mein Vetter dritten Grades, dafür verantwortlich: Er hatte mir die Hose heimlich zugesteckt und auch versprochen, dieses Geheimnis für sich zu behalten. Ach, ich hatte damals so viel Mut. Und auch immer etwas zu sagen. Aber jetzt versuche ich, erst zu überlegen, bevor ich rede. Ich koche meine Aprikosenmarmelade und Birnenbutter für englische Kunden und gehe hinaus und jäte Unkraut in meinem Garten hinter dem Haus zwischen meinen leuchtend lila, gelben und grünen Zinnien. Es kommt auch immer seltener vor, dass ich meine Abendgebete vergesse. Natürlich zählen jetzt fast nur noch die Erinnerungen. Die liebe, liebe Mama und der unnachgiebige Papa. Die sanftmütige Tante Lizzie. Die fröhliche, unbeschwerte Mary Ruth und ihre viel zu ernste Zwillingsschwester Hannah - Konkurrentinnen und trotzdem durch unsichtbare Bande eng miteinander verbunden. Und Sadie ... nun ja, immer eine Schönheit. Wir vier amischen Schwestern, die versuchten, unter dem wachsamen Auge des himmlischen Vaters und der Gemeinde ihr Leben zu führen. Es kommt jetzt oft vor, dass ich, wenn die letzten Strahlen der Sonne langsam über den goldenen Wiesen untergehen, auf meine kleine Veranda hinter dem Haus hinaustrete und meine Gedanken schweifen lasse. Dann kann ich tausend verschiedene Echos aus längst vergangener Zeit hören. Wie ein Feld, das mir Glühwürmchen übersät ist, leuchtet eine Erinnerung nach der anderen auf. Hell wie ein Frühlingsmorgen, strahlend wie eine reine, weiße Lilie. Andere kommen verschwommen, von Schwarz fast verschlungen, flackern eilig auf ... übereifrige kleine Lichter ... dann sind sie fort. Die Nachtluft hat es mir anscheinend angetan. Obwohl ich eine vernünftige, erwachsene Frau bin, ergebe ich mich ihrem Drängen. In meinen Gedanken scheint sich eine weite Landschaft end- r 6 7 los auszubreiten,. während ich über die Schatten hinweg einen Blick in eine andere Welt werfe. In ein anderes Universum, wie es mir jetzt vorkommt. Dort sehe ich wie in einem Spiegel ein Bild, das ich über alles andere liebe - das Abbild von einem lächelnden, einfühlsamen, jungen. Mann, dessen bewundernde Augen an je-‚nem Tag mein Herz eroberten, als sich• unsere Blicke über• einen langen Esstisch hinweg begegneten, während wir alle den zweiten Weihnachtsfeiertag bei Mamas Verwandten drüben in Grasshopper Level' verbrachten. Es war ein unvergesslicher Tag, auch wenn Papa bald dafür. sorgte, dass ich mir wünschte, ich hätte nie zurück-gelächelt. Seitdem ist ein gaiizes Leben vergangen. Heute hauche ich einfach stille Fragen in den Wind: Mein Geliebter, an. was erinnerst du dich? Wirst du je wissen, dass ich deine Leah bin und immer sein werde? Deine Leah, Abrams Tochter, Saiies Schwester und Gottes Kind. 1 Sommer 1946 Gobbier's Knob schimmerte einzigartig im farbenfrohen Licht des. Hochsommers, wenn die Mittagssonne, die am klaren, blauen Himmel thronte, hoch oben Wache stand. Die Lichtstrahlen bahnten sich ihren .Weg durch den Baldachin der dichten Laubbäume und warfen in großen, goldenen Strahlen, in denen Staubkörner und Insekten tanzten, für kurze Zeit Licht auf den Waldboden, dass Waschbären, Maulwürfe und, gelegentlich sogar ein Murmeltier innehielten und neugierig blinzelten. Die Waldkuppe, auf der wilde Truthähne frei herumliefen, war von Ahorn, Eichen, Robinien und vielen anderen Bäumen bewachsen. Im Gestrüpp der Himbeersträucher verfingen sich manchmal ahnungslose junge Vögel,' die in der Sommerhitze oder durch den Knall einer Schrotflinte in der Jagdsaison zur Regungslosigkeit erstarrten. »Haltet euch von den Wäldern fern«, flüsterten' die Dorfkinder untereinander. Sie warnten einander mit Geschichten, die sie über Leute gehört hatten, die sich verirrt und nicht mehr aus dem Wald herausgefunden hätten. Am häufigsten kursierten diese Gerüchte während der Erntezeit, wenn heimlich die Nacht anbrach im Schutz des runden, weißen Mondes, der größer war als zu jeder anderen Jahreszeit. Ungefähr zu. der Zeit; in der in ganz Lancaster County Väter loszogen, um einen fetten Truthahn für Thanksgiving'. zu erlegen. Aber auch vor und nach der Jagdsaison ermahnten die Kinder ihre jüngeren Geschwister, nicht in den Wald zu gehen. „Es ist wahr", warnten sie dann mit großen Augen, „der Wald kann dich bei lebendigem Leib verschlingen.' Manche Mütter in der kleinen Gemeinde benutzten' die abergläubischen Geschichten als Druckmittel, um ihre Kinder in den fröhlichen Tagen, 'in denen sie von Büchern und Unterricht Ferien hatten, pünktlich zum Abendessen nach' Hause zu holen. Ein Junge und seine Freunde aus der Schule schenkten den 8 9