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Pastor Stefan Krüger liebte die frühen Stunden des Tages. An jedem Sonntagmorgen, wenn die Nacht sich zu verabschieden begann, schlich er sich aus dem Schlafzimmer, um noch an der Predigt zu arbeiten. Eva war daran gewöhnt. Vor ihm lag die letzte Seite des Predigtmanuskripts. Er war ins Grübeln gekommen. Osterfreude sollte er predigen, an diesem Sonntag nach dem Osterfest. Dabei war der vorgegebene Text aus dem Brief des Paulus an die Kolosser sicher gewaltig für die, die sich ihm öffneten, doch was sagte er den Gleichgültigen? Wer wußte schon, ob die heute Anwesenden zu den Aufgeschlossenen oder zu den Gleichgültigen zählten? Der erschreckend schwache Gottesdienstbesuch am Karfreitag hatte sich am Ostertag ins Gegenteil verkehrt und sogar Eva ein anerkennendes Kopfnicken abgenötigt, Heute war man wahrscheinlich wieder „unter sich", wie spöttische Kollegen zuweilen sagten. Er stand auf und trat ans Fenster. Die Konturen der Kirche traten immer deutlicher aus dem Dämmergrau des heraufziehenden Morgens hervor. Diese Biedersdorfer Kirche, seit über zwanzig Jahren sein Arbeitsfeld, steingewordene Botschaft an die Bewohner des Ortes, was hatte er in dieser Kirche ausrichten können?
Seit einiger Zeit beschlich ihn häufiger ein Gefühl des Zweifels an dem Sinn seiner Wirksamkeit. Was war er in den vergangenen Jahren für die Biedersdorfer gewesen, hier in diesem abgelegenen Winkel, den überhebliche Besucher schon mal als den Arsch der Welt bezeichneten? War er der Überbringer einer Botschaft vom Heil der Welt, die man ihm nicht so richtig hatte abnehmen wollen? Oder war er nur der Vertreter der Institution Kirche, die sich nicht aus dem gottlosen sozialistischen Weltbild verdrängen ließ?
ISBN: 9783861601036 (früher: 3861601036)
Format: 20,5 x 13,5 cm
Seiten: 322
Verlag: Wartburg Verlag
Erschienen: 1995
Einband: Hardcover/gebunden
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