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TERRORANSCHLAG AUF DIE ZIVILISATION - so viel von Gott und von Endzeit - überall in Amerika redet man von Umkehr - ist Gott der Auftraggeber der Attentate? seit dem 11.September reden viele von Gott - vom Irrglauben des verweltlichten Westens - liegt die Wurzel des Terrors im Islam? wenn Angst das Lebensgefühl diktiert - wir haben die Chance
ÜBERALL IN AMERIKA IST VON UMKEHR DIE REDE
Noch nie in meinen fast 40 Amerika-Jahren habe ich dieses Land so sehr geliebt wie in dieser Woche seiner größten Not, sagt Uwe Siemon-Netto. Noch nie fühlte ich mich meiner langjährigen Wahlheimatstadt New York so verbunden wie jetzt, da sie ihr wahres Gesicht zeigt - ein Gesicht überwältigender Menschlichkeit. Da standen ihre Bürger fünf Stunden lang Schlange, um Geld zu spenden. Da weinte der hünenhafte Gouverneur George Pataki ungeniert am Bildschirm. Da vergosseh hunderttausende rauhbeiniger New Yorker Tränen für einen kleinen katholischen Priester, den Trümmer und Stahlbalken erschlugen, als er einem sterbenden Feuerwehrmann die letzte Ölung gab - einem jener 343 Männer, die ohne Rücksicht auf ihr Leben in die Feuersbrunst gerast waren, um andere zu retten, und die dann selbst verbrannten.
Das sind Heldengeschichten aus dem ersten Krieg des 21. Jahrhunderts. Kleine Helden waren aber auch meine Nachbarn in Washington, die sich ohne Panik diszipliniert aus dem Regierungsviertel entfernten, nachdem auch dort ein entführtes Passaerflugzeug ins Verteidigungsministerium eingeschlagen war. Meine Redaktion liegt im Sperrgebiet beim Weißen Haus. Eine Sekretärin bat mich, mit ihr zu beten. Einige Redakteure saßen in sich versenkt vor ihren Bildschirmen, bevor sie ihren Arbeitstag begannen, der 24 Stunden währen sollte. Einer sprach von einem „transformierenden Ereignis' und bald schien das jeder in diesem Land zu sagen, das „einen Weckruf" erhalten habe, wie Rabbiner Steve Weisman es formulierte. Nichts ist mehr so wie vor dem 11. September.
Ein „Augenblick moralischer Klarheit"
Aufgerüttelt durch das unverkennbare Böse, ist diese riesige Nation zusammengerückt wie eine Großfamilie. Worte der Scham und der Reue über die Abwendung von Gott wurden laut. Nicht nur der, Baptis-tenpastor Jerry Fallwell fragte, ob die Terroranschläge
vielleicht ein Gottesgericht über dtand seinkönn-ten, in dem im letzten Vierteljahrhundert 40 Millionen ungeborene Babies umgebracht worden seien. Zwar hielt das „Gewissen der Nation' der frühere Erziehungsminister Wihiam Bennett, dieses Urteil für zu flink, sprach aber zugleich von einem „Augenblick moralischer Klarheit" Bennett: „Wir haben wohl alle in dieser Woche gelernt, klar zwischen Gut und Böse zu unterscheiden? Rabbiner Harold Kushner aus Boston stimmte ihm zu: „Wir alle haben unser Leben neu geweiht."
Seit dem 11. September höre ich das Wort „Umkehr" allenthalben, zumal bei öffentlichen Gebeten. Als Präsident Bush den vergangenen Freitag zum Tag des Gebetes erklärte, ging ich in eine überwiegend schwarze Methodistengemeinde in der Innenstadt. Da war kein Pastor weit und breit - nur Berufstätige in ihrer Mittagspause - Schwarze und Weiße. Einige saßen mit gesenkten Köpfen da. Andere starrten mit feuchten Augen zu den Kerzen auf dem Altar. Ein Mittdreißiger stand auf und bat uns, im Wechsel mit ihm Psalmen zu sprechen. Bevor wir uns versahen, war ein improvisierter Gottesdienst im Gange.
Und wenn die Welt voll Teufel wär
„America, America!" rief eine dunkelhäutige Dame sonor, und wir stimmten mit ihr in diesen patriotischen Hymnus ein. „Zeit für ein Fürbitte-gebet und das Vaterunser' schlug eine hübsche junge Frau hinter mir vor; wir wandten uns alle ihr zu, folgten ihren Worten. „Jetzt aber den 37. Psalm!", verlangte eine andere. Wir beteten mit ihr: „Entrüste dich nicht über die Bösen ... denn wie das Gras werden sie bald verdorren, und wie das grüne Kraut werden sie verwelken."
Ein Weißer empfahl nun Luthers „Ein' feste Burg" „Mann, ist das kraftvoll", flüsterte die Frau hinter mir bei der zweiten Strophe, in der es heißt: „Und wenn die Welt voll Teufel wäre und wollt uns gar verschlingen."
Dann kam der Höhepunkt: Eine kleine Schwarze erhob sich; sie war wohl kaum 17. Sie predigte wuchtig von ihrer Sehnsucht nach Versöhnung zwischen den Rassen, von Einheit, Buße und Umkehr. Sie klang so überzeugend, dass uns ein Kribbeln wie bei einem besonders glanzvollen Konzert den Rücken hinunterlief.
Wir kehrten still an unsere Schreibtische zurück. In der Geburtsstunde des leidenden, mündig gewordenen, neuen Amerikas hatten wir in dieser Kirche Gottesdienst einmal ganz anders erlebt..
Im Sog der Spekulationen
Der ersten Betroffenheit folgt bald nüchternes Nachdenken und Analysieren. Zweifellos ist das wichtig. So etwas darf nicht noch mal passieren, ist die Ober-Zeugung, die aus Unglücken, Katastrophen und Terroranschlägen erwächst. Deshalb versucht man nun so schnell wie möglich Ursachen, Begleitumstände, Schuldige usw. zu klären. Und im Sog der Medien werden wir alle von dieser Aufklärungssucht mitgerissen. Bedauerlich, dass dabei die Besinnung bei so manchem abgeschlossen wird, bevor sie etwas in seinem eigenen Leben bewirken und verändern konnte.
Was keiner geglaubt hat, wird nun wieder Gesprächsthema: Welche Rolle spielt die Religion? Ist es nicht unfassbar, dass Menschen zum Mittel des Terrors greifen und sich dabei auf ihren Gott berufen? Was ist eigentlich der Islam? Seine Sitten und Gebräuche haben wir z. T. in unserer Gesellschaft wahrgenommen durch die vielen Moslems, die bei uns leben. Aber interessiert hat sich eigentlich keiner so richtig dafür, welche Gedanken dahinter stecken. Warum sollte man auch für den Islam als Religion mehr Interesse zeigen als für das Christentum, von dem sich schon so viele längst verabschiedet haben? Aber jetzt, wo der Lebensnerv unserer westlichen Welt getroffen wurde, besteht plötzlich Klärungsbedarf. Wollen alle Religionen dasselbe? Ist Allah mit unserem christlichen Gott gleichzusetzen?
Oder kann man etwa Gott für diesen Terroranschlag verantwortlich machen?
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