Esthers Vater, der auf der Veranda gemächlich hin- und hergeschaukelt hatte, ließ die Hollywoodschaukel ausschwingen. „Hört zu“, sagte er. „Es gibt etwas, das ich euch allen sagen muss.“ Seine Stimme klang so düster, dass Esther eine Gänsehaut bekam. Die gleiche Formulierung,
den gleichen Tonfall hatte er gebraucht, als er ihr gesagt hatte,
dass Mama von jetzt an im Himmel leben würde.
„Ich habe nachgedacht …“ Er zögerte und massierte seine Stirn, als habe er Kopfschmerzen. Er sah furchtbar traurig aus. Esther wünschte, sie wüsste, wie sie ihn wieder zum Lächeln bringen könnte.
Sie waren nach dem Gottesdienst zum Essen zu Oma Shaffers Haus gegangen, und Papa hatte den ganzen Nachmittag kaum etwas gesagt.
Aber das war nicht ungewöhnlich. Oma hatte die langen Pausen mit Neuigkeiten über Onkel Steve gefüllt, der gegen die Japaner kämpfte, und über Onkel Joe, der bald mit dem Schiff nach Nordafrika fahren würde. Omas Nachbarin von nebenan, Penny Goodrich, war auch gekommen,
um mit ihnen auf der Veranda zu sitzen, und sie alle hatten zugesehen, wie Esthers Bruder Peter, Omas Hündin durch den Garten gejagt hatte. Es war ein schöner Nachmittag gewesen – bis jetzt. Papa räusperte sich. „Ich … also … ich habe eine Entscheidung gefällt.“
Wieder hielt er inne, und es war ganz windstill, als wäre selbst die Brise verstummt, um zu lauschen. Woofer hörte auf zu bellen, und selbst der Verkehr auf dem Brooklyn Boulevards einige Häuserblocks weiter schien zum Stillstand gekommen zu sein.
„Was denn, Eddie?“, fragte Oma. „Du siehst so ernst aus. Geht es dir gut?“
„Ich werde mich freiwillig melden, Ma.“
„Was?“
„Ich sagte, ich werde mich freiwillig zum Militärdienst melden.“
Diesmal sprach er lauter, weil Oma schwerhörig war, aber Esther war sich sicher, dass Oma ihn auch schon beim ersten Mal verstanden hatte.
Esther schlang die dünnen Arme um ihren Oberkörper und fröstelte.
Mit ihren zwölf Jahren war sie alt genug um zu wissen, was es bedeutete, sich beim Militär zu melden. Sie lauschte jeden Abend im Radio den Nachrichten über den Krieg. Sie sah die Wochenschau in Loew’s Brooklyn Theater, bevor der Samstagsfilm begann. Oh ja. Sie wusste,
es bedeutete, dass ihr Papa weit fort sein würde, so wie ihre beiden Onkel – und dass er vielleicht niemals zurückkam. Der Nachmittag schien plötzlich um zehn Grad kälter geworden zu sein, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben.
„Bei allen Heiligen, Eddie!“, rief Oma. „Hast du den Verstand verloren?
Du kannst nicht zum Militär gehen! Du musst an deine beiden Kinder denken. Wer soll sich denn um sie kümmern?“
„Also … darüber müssen wir eben reden. Ich hatte gehofft, du würdest für sie sorgen. Du hast gesagt, wenn ich etwas brauche …“
„Bist du verrückt? Was denkst du dir nur? Wie in aller Welt …“
„Der Krieg kann doch nicht ewig dauern. Ich komme bald wieder.“
Großmutter hieb ihm mit der Faust gegen die Schulter. „Und was ist, wenn du nicht zurückkommst? Hm? Was ist dann? Was ist, wenn du auf dem Grunde des Pazifiks landest wie Millie Barkers Sohn? Was dann? Willst du, dass diese armen Kinder Waisen werden?“
Esther verstand die Endgültigkeit des Todes. Sie wusste, dass sie Mama nicht wiedersehen würde, bis sie selbst starb und in den Himmel kam. Sie wusste auch, dass viele Männer im Krieg getötet wurden.
Oma hatte eine kleine Flagge mit zwei Sternen in ihr Fenster gehängt, einen für Onkel Joe und einen für Onkel Steve, und sie hatte Esther erklärt, warum Mrs Barker auf der anderen Straßenseite jetzt eine Flagge mit einem goldenen Stern im Fenster hängen hatte.
Esther hätte am liebsten geweint und Papa gebeten nicht zu gehen, aber sie wollte ihn nicht verärgern. Die Liebe zwischen ihnen war so zerbrechlich wie Spinnweben, und Esther wusste nie so recht, ob sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher sein konnte, geschweige denn seiner
Zuneigung. Manchmal schien es, als wäre Papa nicht zu Hause, selbst wenn er da war. Sie beschloss, ihre Großmutter mit ihm streiten zu lassen.
„Mir wird nichts passieren, Ma. Ich werde beim Heer sein, an Land.“
„Meinst du, an Land sterben keine Soldaten?“
„Hör zu, ich hatte gehofft, Esther und Peter könnten hier bei dir wohnen, bis ich wiederkomme.“
Großmutter starrte Papa mit offenem Mund an, als wäre sie kurz davor, in irgendetwas hineinzubeißen. Esther versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, hier zu wohnen, und bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um. Oma hatte schrecklich viele Regeln, wie zum Beispiel:
„Lass die Tür nicht offen stehen, sonst entwischt der Hund“,
und: „Lass meinen Sittich in Ruhe“, und: „Fass meine Sachen nicht an“ – die überall stapelweise herumlagen. Esther hatte nichts gegen die Besuche am Sonntag, aber wenn sie mit Papa und Peter anschließend in den Bus stiegen und nach Hause fuhren, hatte sie immer das Gefühl,
als hätte sie drei Stunden lang die Luft angehalten.
„Wie können sie hier wohnen?“, fragte Oma Papa. „Was ist mit der Schule? Hast du daran gedacht? Sie müssten in eine andere Schule wechseln, wenn sie hier bei mir leben sollen. Außerdem ist in diesem Haus gar kein Platz für sie.“
„Was meinst du damit, kein Platz? Du und Pa, ihr habt hier drei Jungs großgezogen.“ Esther hatte sich immer gefragt, wie Papa und
ihre Onkel in das Haus gepasst hatten. Oma behielt Dinge, die von
den meisten anderen Menschen in den Müll geworfen wurden – riesige
Stapel mit Sachen, zwischen denen man sich kaum von einem Zimmer
zum nächsten bewegen konnte.
„Das ist Jahre her, Eddie. Eure Etagenbetten sind längst fort, und
das Zimmer benutze ich jetzt für meine eigenen Sachen. Ich wüsste gar
nicht, wo ich anfangen sollte, wenn ich das alles ausräumen müsste.
Und wohin sollte ich damit?“
„Du könntest doch in unsere Wohnung ziehen.“
„Und was ist dann mit meinem Hund, hm? Und mit meinem Vogel?
Dort, wo ihr lebt, sind doch keine Haustiere erlaubt. Außerdem gibt es
bei eurer Wohnung zu viele Treppen.“
„Ma, hör zu –“
„Nein, du hörst mir zu. Ich liebe Peter und Esther, das weißt du genau …“ Großmutter warf die Bemerkung in Esthers Richtung wie einen Ausball beim Baseball. Er klang großartig, wenn er gegen den Schläger prallte, aber am Ende zählte er nicht.
„Aber bei allen Heiligen, Eddie, ich bin zu alt, um Kinder großzuziehen! Ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen und mir Sorgen wegen Masern und Windpocken zu machen … Das ist einfach zu viel! Tag und Nacht für sie zu sorgen, das wäre zu viel für mich. Lass andere
Leute gegen die Nazis kämpfen. Du bist dreiunddreißig, um Himmels
willen. Du hast hier zu Hause deine Aufgaben.“
Esther blickte zu Papa auf, um zu sehen, ob Omas Argumente ihn überzeugt hatten, aber der Ausdruck, den sie in seinem Gesicht sah,
jagte ihr einen neuerlichen Schauer über den Rücken. Seine Lippen
waren ganz weiß und er schien die Luft anzuhalten. Oma musste es
auch bemerkt haben. „Was? Was ist los?“, fragte sie ihn.
„Es ist zu spät. Ich habe mich schon verpflichtet.“
„Du hast – was?!“ Großmutter explodierte wie eine Mineralwasserflasche,
die geschüttelt wurde, und streckte die Hand aus, um Papa eine
Ohrfeige zu verpassen, als wäre er ein kleiner Junge. „Warum hast du so
etwas Dummes getan? Etwas Verantwortungsloseres … Idiotischeres …“
„Hör mir zu, Ma. Ich kann nicht so weitermachen wie bisher. Ich
kann einfach nicht.“ Seine Stimme klang so kalt und hart wie eine metallene
Eiswürfelform direkt aus der Tiefkühltruhe. „Es gibt zu vieles,
das mich an sie erinnert. Zu viele Dinge, die nie wieder so sein werden
wie vorher. Rachel ist überall in der Wohnung – und sie ist es doch
nicht.“
„Dann such dir eine andere Wohnung, Menschenskind. Nur weil
du einen Tapetenwechsel brauchst, musst du doch nicht gleich in den
Krieg ziehen! Fang woanders noch einmal von vorne an. New York ist
eine große Stadt. In Brooklyn gibt es jede Menge andere Wohnungen,
die du mieten kannst. Deine Kinder brauchen dich!“
Papa rieb sich die schmerzende Wange. „Ich nütze ihnen doch nichts,
Ma. Ich bin noch nicht einmal ein guter Vater, von einer guten Mutter
ganz zu schweigen.“
Esther versuchte etwas zu sagen, aber ihre Brust schmerzte, so wie damals, als sie in der Schule vom Klettergerüst gefallen war. Sie konnte
kaum Luft holen. Sie wollte ihm sagen, dass er doch ein guter Vater
war. Er kochte ihr Essen und hörte sich jeden Abend mit ihnen zusammen
Sportübertragungen im Radio an. Er packte jeden Tag ihre
Brotdosen für die Schule und half ihnen, für Diktate zu üben, und ging
sonntags mit ihnen in die Kirche. Das Haus schien viel zu still, und
er sang nie und spielte auch nicht Klavier, wie ihre Mutter es früher
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getan hatte. Und er erzählte ihnen auch keine Gutenachtgeschichten
über Personen aus der Bibel. Sie aßen eine Menge Dosensuppe anstatt
Fleisch und Kartoffeln, aber das war Esther egal. Sie wollte nur, dass ihr
Papa in ihrer eigenen Wohnung bei ihnen blieb und nicht in den Krieg
ging und sie mit Großmutter zurückließ.
Sie legte eine Hand auf seinen Arm, während sie krampfhaft überlegte,
was sie sagen sollte. Aber als er sich ihr zuwandte und sie Tränen
in seinen Augen sah, konnte sie kein Wort herausbringen. Was, wenn
sie etwas Falsches sagte und er mitten in der Nacht zu weinen anfing,
so wie damals, als Mama gestorben war? Esther erinnerte sich an das
schreckliche, hilflose Gefühl, das sie gehabt hatte, als sie ihren Vater in
jener Nacht weinen hörte. Auch sie selbst hatte nicht aufhören können
zu weinen und da war niemand gewesen, der sie oder ihn getröstet hätte.
Papa hatte sich bemüht, sie zu beruhigen, aber seine Umarmungen
hatten sich kurz und steif angefühlt, so als hätte er Angst, sie zu zerbrechen,
wenn er sie zu fest drückte. Er war groß und schlank, und seine
schwieligen Hände waren immer von Schmiere geschwärzt, weil er den
ganzen Tag Autos reparierte. Mama war weich und warm gewesen, und
sie hatte Esther immer ganz lange im Arm gehalten.
„Bitte tu es nicht, Eddie“, flehte Oma. „Denk an deine Kinder. Geh
morgen früh hin und sag der Armee, dass du es dir anders überlegt
hast.“
„Das kann ich nicht. Es ist zu spät.“ Er sprach so leise, dass Esther
dachte, sie hätte es sich eingebildet. Großmutter hatte ihn bestimmt
nicht gehört. Aber dann räusperte er sich und sagte mit lauterer Stimme.
„Ich habe meine Arbeit bereits gekündigt. In zwei Wochen breche
ich zur Grundausbildung auf.“
Seine Worte lösten in Esther dasselbe leere, schwebende Gefühl aus,
das sie nach Mamas Tod empfunden hatte. Was würde mit ihr geschehen?
Sie hatte Angst, dass der leiseste Windhauch sie davontragen
könnte.
„Bei allen Heiligen, Eddie! Zwei Wochen? Wie konntest du nur so
dumm sein?“
Peter musste Oma schreien gehört haben, denn er hörte auf, mit
Woofer im Garten herumzutoben und kam zur Veranda geeilt. Er war
drei Jahre jünger als Esther und so dünn wie ein Strichmännchen –
überhaupt nicht wie die meisten raubeinigen Jungen in seinem Alter.
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Seine Haare hatten die gleiche glänzende rotbraune Farbe, wie Mamas
Haare sie gehabt hatten. Wenn Esther sich an Mama erinnern wollte,
brauchte sie nur Peter anzusehen. Er stolperte mit geröteten Wangen
und schweißnassem Haar die Treppe zur Veranda hinauf und blickte
von einem zum anderen. „Was ist passiert?“
Papa schien ihn gar nicht zu hören. „Ich muss das tun, Ma. Verstehst
du nicht?“
„Nein. Das verstehe ich ganz und gar nicht. Wie kannst du das deinen
Kindern antun? Nach allem, was sie durchgemacht haben? Bist du
verrückt?“
„Nein … aber das werde ich vielleicht, wenn ich noch länger hierbleibe.“
„Ich habe dir nichts mehr zu sagen.“ Oma erhob sich mühsam aus
ihrem Schaukelstuhl, stapfte ins Haus und schlug die Fliegengittertür
zu – etwas, wofür sie Esther und Peter ausschimpfte, wenn sie es taten.
Der Stuhl schaukelte noch eine Weile weiter, nachdem sie daraus aufgestanden
war, und Esther streckte die Hand über Papas Schoß hinweg
aus, um ihn anzuhalten. Mrs Mendel aus der Wohnung unter ihnen
hatte immer gesagt, es bringe Unglück, wenn ein Stuhl schaukelte,
ohne dass jemand darin saß – und noch mehr Unglück konnten sie
nun wirklich nicht gebrauchen, so viel stand fest. Wieder legte sich eine
unheimliche Stille über den Garten. Dann durchbrach Großmutters
Nachbarin Penny Goodrich die Stille.
„Eddie?“
„Ja?“
„Ich werde mich um die beiden kümmern.“
Esther hatte ganz vergessen, dass Penny da war. Alle hatten sie vergessen.
Aber so war Penny eben – so still und unwichtig, dass man sie
ansehen konnte, ohne sie wahrzunehmen. Esther hatte keine Ahnung,
warum Penny sonntagnachmittags immer bei Großmutter erschien,
wenn sie zu Besuch waren. Sie war nur eine von diesen neugierigen
Nachbarinnen, die kein eigenes Leben hatten und das Leben anderer
beobachteten, als würden sie einen Film anschauen.
Penny war jünger als Papa, aber sie sah aus, als wäre sie alt genug zum
Heiraten. Papa sagte, sie habe mit ihren Eltern in der anderen Hälfte
von Omas Doppelhaus gewohnt, seit er ein Junge war und Penny ein
Baby. Mr und Mrs Goodrich mussten sehr alt gewesen sein, als Penny
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geboren wurde – wie Sara und Abraham in der Bibel –, denn jetzt waren
sie uralt, noch älter sogar als Großmutter. Sie saßen nur sehr selten
auf ihrer Veranda, und ihre Hälfte des winzigen Gartens benutzten sie
nie. Papa sagte, er habe Penny viel geärgert, als sie Kinder waren, weil
sie so eine kleine Nervensäge gewesen sei. Jetzt sah er sie an, als hätte
auch er vergessen, dass sie da war.
„Was hast du gesagt, Penny?“
„Ich werde für dich nach den Kindern sehen. Ich meine, ich wünschte,
du würdest nicht in den Krieg ziehen, weil es so gefährlich ist, aber
ich könnte zu ihnen in deine Wohnung ziehen, damit sie nicht die
Schule wechseln müssen.“ Papa starrte sie erstaunt an, antwortete aber
nicht. „Ich weiß, ich bin keine richtige Mutter“, fuhr Penny fort, „aber
ich kann kochen und einen Haushalt führen.“
„Aber was ist mit deiner Arbeit? Wo arbeitest du noch mal?“
„Ich verkaufe Fahrkarten am Busbahnhof.“ Sie zeigte mit dem Daumen
über ihre Schulter. „Aber du könntest mir helfen herauszufinden,
wie ich mit dem Bus von eurer Wohnung aus dorthin komme, nicht
wahr?“
„Brauchen deine Eltern dich nicht?“
„Oh, sie kommen ohne mich klar“, sagte sie mit einer lässigen Handbewegung.
„Mutter sagt sowieso immer, dass ich ihr auf die Nerven
gehe. Außerdem könnte ich nach der Arbeit und am Wochenende bei
ihnen vorbeischauen. Das geht schon.“
Esther sah, in welche Richtung die Unterhaltung lief, und es gefiel
ihr überhaupt nicht. Sie musste etwas sagen und diese Idee unterbinden,
bevor Papa im Krieg war und sie mit Penny Goodrich in ihrer
Wohnung saß. Penny war ganz nett, und sie brachte immer Süßigkeiten
oder Kaugummi für Peter und sie mit, aber irgendetwas an ihr ärgerte
Esther. Sie fasste in ihre Rocktasche und berührte das rot-weiß gestreifte
Pfefferminzbonbon, das Penny ihr heute gegeben hatte. Esther
hatte „Nein, danke“ gesagt, aber Penny hatte ihr das Bonbon trotzdem
in die Hand gedrückt und gesagt: „Nun nimm schon, dein Vater hat
bestimmt nichts dagegen.“
Großmutter sagte, wann immer sie versuchte, Penny etwas zu geben,
um sich zu revanchieren, tat Penny beim nächsten Mal doppelt so viel
für Oma. „Wenn du zu ihr sagen würdest, dass dir ihre Schuhe gefallen“,
hatte Oma einmal gesagt, „würde Penny sie auf der Stelle ausziehen, sie
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dir in die Hand drücken und keinen Widerspruch dulden.“ Aber Esther
würde Pennys Kleider niemals haben wollen. Sie kleidete sich wie eine
alte Frau in sackartigen Kittelkleidern, gemusterten Schürzen und klobigen
Schuhen.
„Ich könnte weiterhin einmal die Woche für meine Eltern einkaufen
gehen“, sagte Penny, „und ihre Wäsche und alles machen, wenn ich
hier bin – und deine Kinder könnten ihre Großmutter besuchen.“
„Das klingt, als wäre es eine Menge Arbeit für dich“, sagte Papa.
„Ach, das macht mir nichts aus. Ich bin manchmal ziemlich einsam,
weißt du. Es wäre schön, zur Abwechslung einmal etwas anderes zu
tun.“
„Ich verstehe nur nicht, warum Ma mir nicht helfen will.“
„Vielleicht liegt es daran, dass deine Brüder schon an der Front sind
und du alles bist, was sie noch hat. Sie hat wahrscheinlich Angst, euch
alle drei zu verlieren, und das kann man ihr nicht verübeln, oder?“
„Ich werde wahrscheinlich nicht einmal zum Kämpfen kommen. Die
Armee braucht Mechaniker, die ihre Jeeps in Ordnung halten. Vielleicht
zeigen sie mir, wie man Panzer repariert, haben sie gesagt. Flugzeuge
würde ich auch gerne ausprobieren.“
„Das wäre nett. Und du wärst dann in Sicherheit, oder?“
„Ich muss einfach nur raus, Penny. Hier gibt es zu viele Erinnerungen
und … ich halte es einfach nicht mehr aus. Warum kann Ma das nicht
verstehen?“
„Armer Eddie. Ich verstehe es. Es muss wirklich schwer für dich
sein.“ Penny legte eine Hand auf seine. Er blickte überrascht auf ihre
Hand hinunter und dann in ihr Gesicht. Mit ihren großen, traurigen
Augen und dem schief gelegten Kopf erinnerte sie Esther an Großmutters
Cockerspaniel.
„Das würdest du wirklich tun?“, fragte Papa. „Du würdest in unsere
Wohnung ziehen und dich um die Kinder kümmern, während ich fort
bin?“
„Natürlich würde ich das. Ich möchte dir helfen.“
Esther sah, dass er über das Angebot nachdachte. Sie wollte Papa
den Ellenbogen in die Rippen stoßen und sagen: He! Was ist mit mir?
Warum fragst du mich nicht nach meiner Meinung? Aber irgendetwas
Schweres drückte wieder auf ihre Brust, sodass sie kaum atmen konnte.
„Papa?“, sagte sie leise.
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„Du brauchst wahrscheinlich nicht lange dort zu wohnen“, fuhr Papa
fort. „Ich bin sicher, dass Ma es sich anders überlegt und die Kinder zu
sich nimmt, wenn sie sich erst einmal an den Gedanken gewöhnt hat.“
„Papa?“ Diesmal sprach Esther lauter.
„Und ich weiß, dass du Ma auch dann helfen würdest, wenn es nötig
ist, nicht wahr? Wenn sie eine Pause braucht?“
„Natürlich. Wir werden gut zurechtkommen. Du wirst sehen.“
Panik presste Esthers Rippen zusammen. Diese Abmachung würde
tatsächlich Wirklichkeit werden, und sie wusste nicht, wie sie es verhindern
sollte. Sie wollte nicht, dass Papa fortging – und schon gar
nicht wollte sie, dass die langweilige Penny Goodrich zu ihnen zog und
Mamas Platz einnahm. „Papa!“
„Ja, Püppchen?“ Seine Antwort klang geistesabwesend, während er
in den winzigen Hof hinausstarrte, ohne sie anzusehen. Er nahm ihre
Hand und rieb sanft mit dem Daumen darüber, aber sie wusste, dass er
ihr nicht richtig zuhörte. Es war, als wäre er schon an Bord eines Schiffes
mit Onkel Joe und Onkel Steve und meilenweit entfernt.
Esther überlegte, ob sie ihre Meinung sagen sollte, aber sie hatte
Angst, dass Papa dann böse werden und ihre Hand loslassen würde.
Und sie wollte auf keinen Fall, dass er losließ.
„Ach, nichts“, murmelte sie.
Denn das war der Fehler gewesen, den sie bei Mama gemacht hatte.
Esther hatte ihre Hand losgelassen, weil sie fand, dass sie schon viel zu
erwachsen war, um an der Hand zu gehen. Und jetzt würde sie Mamas
Hand nie wieder halten.
Einband: Paperback
Datentraeger: Buch
Erscheinungsdatum: 06/2011
Verlag: Francke-Buch GmbH
Autor: Lynn Austin
Erscheinungsdatum / Erfassungsdatum 01.06.2011
Gewicht 0.426 kg
Verlag / Hersteller Francke-Buch GmbH
Seiten 457
ISBN / EAN 9783868272628
Abmessung 30 x 135 x 205 mm