Vorwort zur deutschen Ausgabe
Es sind bald fünfzig Jahre her, daß mir Patricia St. John zum ersten Mal als Autorin begegnete. Das heißt, ich las ihr Erstlingswerk, und das nicht nur zum Vergnügen, sondern im Blick auf eine mögliche Übersetzung ins Deutsche. Denn mein Mann, damals Leiter des Bibellesebundes in der deutschen Schweiz, war an dieser Neuerscheinung des englischen Bibellesebundes sehr interessiert. Gute Kinderbücher mit einer überzeugenden christlichen Botschaft waren bei uns Mangelware.
Patricia St. Johns Buch faszinierte mich. Endlich einmal ein Kinderbuch, bei dem das christliche Gedankengut nicht bloß als «wertvermehrende Beigabe» diente, eine Art Anhängsel an eine Geschichte, die ganz gut «ohne» ausgekommen wäre! Nein, hier stand oder fiel die ganze Erzählung mit dem biblisch-christlichen Inhalt.
Und doch war nichts unangenehm Aufdringliches dabei. Das Buch war aufs natürlichste vom Evangelium durchdrungen, alles daran war echt - auch die Sprache. Sie hatte nichts erzwungen Kindliches; sie war gepflegt und schön und doch für Kinder gut verständlich. Und auf jeder Seite wurde spürbar: Hier schreibt jemand, für den die eigene Kindheit noch lebendig ist und der sich genau in die Empfindungen und Gedankengänge seiner jungen Leser hineinversetzen kann.
So wurde aus The Tanglewoods' Secret schließlich Das Geheimnis von Wildenwald. Und das sollte nur der Anfang einer ganzen Reihe von Büchern aus der Feder von Patricia St. John sein, die zum Teil zahlreiche Auflagen in deutsch
Familiengeschichten
erlebten. Denn Kinder wie auch Eltern waren begeistert und für jedes neue Buch der Autorin zu haben.
Was freilich hinter diesen Geschichten, ihren Personen und deren Erlebnissen steckte, das wußten die wenigsten. Mit dem vorliegenden autobiographischen Buch wird der Schleier gelüftet. Obwohl ich selbst schon einiges wußte, gab mir dieses Buch - in seiner englisches Fassung - wertvolle neue und tiefere Einsichten in die Zusammenhänge zwischen den Erfahrungen der Autorin und den Gestalten ihrer Bücher. Und mehr noch: Patricia St. John ließ mich - und jetzt zu meiner großen Freude auch alle deutschsprachigen Leser - teilhaben an ihrem Leben und Erleben mit Gott. Das wird, so hoffe ich, auch Ihnen Anregung und Hilfe auf Ihrem Weg mit ihm sein.
Elisabeth Aebi, Zürich
Jede Liebesgeschichte ist einzigartig; aber ich kann mir keine ungewöhnlichere vorstellen als die meiner Eltern. Als Harry, mein Vater, fünfzehn war, besuchte er einen Gottesdienst, an dem auch Mr. Swain mit seiner Tochter, einem dreijährigen Lockenkopf, teilnahm. Mr. Swain stand auf und predigte. Im Laufe der Predigt fiel Ella vom Stuhl und verlieh ihrem Schrecken und; Schmerz unüberhörbar Ausdruck. Das war der Aufmerksamkeit, die man den Worten ihres Vaters entgegenbrachte, gelinde gesagt nicht gerade zuträglich, und Harry, der die Familie kannte, bot an, die Kleine nach Hause zu tragen. Unterwegs geschah etwas mit ihn; er lieferte Ella getreulich bei ihrer Mutter ab, aber er vergaß sie nicht mehr. Er beschloß dort und damals, daß die kleine Ella Swain das Mädchen sei, das für ihn bestimmt war, und daß er auf sie warten würde.
Er wartete lange. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters mußte er von der Schule abgehen, den Traum von einer akademischen Karriere begraben und sich eine Arbeitsstelle suchen. Er wurde Angestellter in der Westminster Bank und hatte schon bald gute Beförderungsaussichten. Zwanzigjahre lang blieb er dort und konnte auf diese Weise seine verwitwete Mutter finanziell unterstützen
Im Alter von 19 Jahren hatte er ein weiteres ganz besonderes Erlebnis. Die Einzelheiten sind nicht bekannt, denn das einzige, was er je über diese Nacht erzählt hat, ist, daß er Gott begegnet sei. Diese Begegnung verwandelte den vom Leben enttäuschten, rebellischen jungen Burschen in einen Mann, der leidenschaftlich ein Ziel verfolgte: Christus immer besser kennenzulernen, die Bibel zu studieren und anderen weiterzusagen, was er entdeckt hatte. Von da an verbrachte er seine
ganze Freizeit mit Bibellesen, Studieren und Predigen, und allmählich reifte in ihm der große Wunsch seines Lebens
heran: hinauszuziehen und das Evangelium da zu verkündigen, wo es noch nie gehört worden war. Dabei lag ihm besonders Südamerika am Herzen.
Inzwischen wuchs auch Ella Swain heran, und da Harrys ältere Schwester eine Zeitlang als Erzieherin hei den Swains arbeitete, sah Harry sie häufig. Ihre gesunde, einfache Erscheinung, ihre rasche Auffassungsgabe und ihre überschäumende Lebensfreude gaben ihm Ruhe und erfrischten ihn. Im Gegensatz zu ihm war sie kein asketischer Typ. Sie konnte sich an allem Schönen freuen, sei es an dem Farbigen, der am Strand Liebeslieder sang, oder an den Gedichten, die sie in der Schule lernte. Ihr Vater war Schulinspektor und glaubte an eine umfassende, solide Bildung für Mädchen. Als Naturwissenschaftler hatte er Freude daran, seine kleine Tochter in die Wunder und Schönheiten des Universums einzuführen, und sie reagierte mit staunender Begeisterung darauf. Nicht nur die Naturwissenschaften nahmen sie gefangen; sie interessierte sich auch brennend für Geschichte und Literatur, und während ihr zukünftiger Ehemann beim Abendmahl geistliche Höhenflüge erlebte, beugte sie sich gebannt über Tennysons Gedichte und las sie sich selbst laut vor.
Da Mr. Swain wegen seines Berufes häufig umziehen mußte, bat er Mrs. St. John, Ella für einige Monate während der Woche als Pensionsgast aufzunehmen, damit sie das Schuljahr in London beenden könne.
Ella war damals zwölf Jahre alt, und es war ihre größte Freude, auf dem Platz vor dem Haus mit den St.-John-Jun-gen und ihren Freunden Fußball zu spielen. Der vierundzwanzigjährige Harry machte sich einen Spaß daraus, sie zu necken. Er zog sie an den Zöpfen und verpaßte ihr den Spitznamen Piglet, «Schweinchen,,. Vier Jahre später kehrte sie aus schulischen Gründen noch einmal für einige Zeit zu den St. Johns zurück, und in dieser Zeit nahm die Schzehn-jährige zufällig an einigen Bibelabenden teil, die in erster
Linie für junge Männer veranstaltet wurden und an denen Harry das Buch Amos auslegte.
Diese Abende öffneten ihr die Augen. Bis dahin hatte sie die Bibel in Ehren gehalten und die Lehren ihrer Eltern geachtet und übernommen; aber im Vergleich zu Botanik und Poesie war ihr die Bibel langweilig erschienen. Die Missionsreisen des Apostels Paulus und die Könige Tsraels hatten ihr nichts als ein Gähnen entlocken können. Nun aber wurde das Buch durch Harrys Auslegung der Kleinen Propheten plötzlich lebendig. Sie entdeckte seine unauslotbare Tiefe und seinen Bezug zum Alltag. Hier fand sie das Brot, nach dem ihr aufnahmebereiter, sich entfaltender Geist gehungert hatte. Hier entdeckte sie literarische Schönheit und Kraft, philosophische Wahrheit, lohnende Herausforderungen und ein Ziel, das ganze Hingabe erforderte. Sie antwortete aus tiefstem Herzen darauf, saß Abend für Abend mit den jungen Männern in der Gemeinde und lauschte gebannt Harrys Ausführungen, und sooft sich die Gelegenheit ergab, begleitete sie Harry zu seinen Vorträgen an verschiedenen Orten.
Sie war begeistert und fasziniert und begann, selbst die Bibel zu studieren. Dabei stieß sie auf die Antworten auf ihre Jugendprobleme und merkte, daß die Bibel ein Buch zum Leben ist. Während der nächsten zwei Jahre predigte Harry an vielen Wochenenden in Godalming und übernachtete dann stets in ihrem Elternhaus. Er und Ella waren gute Freunde, doch war ihre Beziehung alles andere als eine romantische Liebesgeschichte. Er, der zwölf Jahre ältere, war für sie der verehrte Lehrer, und offenbar hielten sie sich in all ihren Gesprächen strikt ans Thema. Er vergaß nie, ihre Begegnungen in seinem Tagebuch festzuhalten:
«Fuhr mit Piglet mit dem Zug. Freuten uns unterwegs gemeinsam sehr über Josua 4 und 5.» —«Schrieb Piglet einen langen Brief zu Matthäus 13. Ein liebes Kind, Gott segne sie und bewahre sie inmitten der Eitelkeiten des Lebens.» Aber in seinem Herzen wuchs neben dem väterlichen Interesse an ihrem geistlichen Wachstum eine stille, beständige Liebe. Im September 1906 führte er zusammen mit einem anderen Mann ein Gespräch mit ihr, weil sie sich zur Teilnahme am Abendmahl gemeldet hatte. Wieder sind seine Gedanken in dem alten Tagebuch festgehalten:
«Habe P. wegen des Tisches des Herrn aufgesucht. Eine zarte Blume. Wer wird sie im Leben beschützen? Bin noch nie jemandem wie ihr begegnet. Gott wird ihr eine großartige Zukunft schenken.» Und etwas später: «Lange über die Zukunft nachgedacht. Ich fühle mich zu Piglet hingezogen, wenn es Gottes Wille ist. Ich denke, wir würden wirklich glücklich sein.»
Aber er behielt diese Gedanken für sich, hatte Ella doch zu dieser Zeit noch ganz andere Pläne. Sie hatte ein Stipendium erhalten, um am Westfield College Geschichte zu studieren, und sie stürzte sich, wie es ihre Art war, mit Feuereifer in ihre Pläne und Studien.
Er wußte, daß sie das mindestens drei Jahre kosten würde, doch war er so auf ihr Wohl bedacht, daß er sie nicht davon abzubringen versuchte. Dabei war er inzwischen einunddreißig und sehnte sich nach einer eigenen Familie.
«Große Welle des Heimwehs und der Sehnsucht nach einer eigenen Familie», schrieb er. «Einsamkeit wächst, da ich mich geistlich von den Menschen in meiner Umgebung entferne. Sie verstehen mich nicht und ich sie auch nicht. Gott sei Dank werden Kinder hier sein, solange ich hier bin; mit ihnen fühle ich mich verbunden— ein einsamer Mann: welch eine traurige Aussicht. Ich sehne mich nach einem Jochgenossen, mit dem ich für Christus hinausziehen kann.»
So wartete er geduldig, während sie voll und ganz im Leben am College aufging. Sie begann ihr letztes Studienjahr, wurde Präsidentin des Debattierclubs, und die Leiterin des Colleges, Miss Maynard, öffnete ihrer Studentin die Tür zu einer glanzvollen akademischen Karriere, indem sie ihr in diesem dritten Studienjahr eine Stelle als Assistentin am Holioway College anbot. Glänzende Zukunftsaussichten taten sich vor ihr auf... Und dann machte Harold St. John ihr plötzlich einen Heiratsantrag, während sie im dichtesten Verkehr in Brighton die
aße überquerten. Sie war völlig überrascht; aber weil er seit thren «der beste und heiligste Mann war, den ich kannte», nahm sie seinen Antrag auf der Stelle an, und noch am selben ?Abend gaben sie während des Essens ihre Verlobung be-tannt.
Sie hatte erwartet, als Hausfrau in Bayswater zu leben und einen Mann zu haben, der es im Laufe der Zeit zu bescheidenem Wohlstand bringen würde. Aber auch daraus wurde nichts.
Ein paar Monate später überraschte Harry all seine ekannten mit der Ankündigung, er werde seine Stellung bei der Bank aufgeben und als Missionar ins Ausland gehen. Dies war kein impulsiver Entschluß. Schon vor Jahren hatte er sich n die Mission gerufen gefühlt; aber damals hatte er seinen Plan aus familiären Gründen nicht in die Tat umsetzen können, und so hatte er sich traurig mit einem Leben in London abgefunden. Doch nie hatte er das Land vergessen, in dem sein Vater gestorben war: Mexiko. «Immer wieder kommt mir Mexiko in den Sinn», hatte er fünf Jahre zuvor geschrieben. «<Geht hinaus!> hat Christus gesagt, und in seinem Namen kann ich es vollbringen.., doch was soll dann aus Mutter werden?»
«Es ist leicht, Mexiko wegzuschieben und mich bequem und ruhig niederzulassen; aber ich sehne mich danach, daß nichts, aber auch gar nichts zwischen mir und Christus steht... Ich wage es nicht, den nächsten Schritt zu tun, ehe ich mir nicht über meine Motive im klaren bin.» Etwas später heißt es: «Ich muß Mexiko aufgeben; ich muß mich in London niederlassen. Eine bittere, sehr bitteie Aussicht.»
Doch das Verlangen, Gott «draußen» zu dienen, hatte die ganzen Jahre über weiter unter der Oberfläche geschlummert, und nun, mit sechsunddreißig Jahren, war er frei zu
gehen; allerdings nicht nach Mexiko, sondern nach Südamerika. Eines Nachts war er sich dessen plötzlich ganz gewiß
geworden, und als er am Morgen zum Frühstück erschien, war er felsenfest überzeugt, daß dies seine Berufung war. Was ihn zu dieser Erkenntnis geführt hatte, konnte er nur in den Worten des Liedes ausdrücken:
Christus, Gottes Sohn, hat mich geführt In der Mitternacht Länder;
Ich empfing die machtvolle Berufung Durch die durchbohrten Hände.
Zum Bedauern und Ärger seiner Vorgesetzten gab er seine Karriere auf und bereitete sich auf das Missionsfeld vor. Ein Jahr lang studierte er Homöopathie und Erste Hilfe, während Ella eine Krankenschwesternausbildung für Missionarinne am Mildmay Hospital absolvierte. Sie und Harry waren nun gemeinsam in London, und obwohl eine Krankenschweste damals nur wenig freie Zeit hatte, gelang es Harry doch, sie alle vierzehn Tage auszuführen. Miss Cattell, die fromme alte Hausmutter des Schwesternwohnheims, war damit gar nicht einverstanden. So etwas grenzte für sie schon fast an Unmoral, und sie verlangte, daß eine andere Schwester die beiden als Anstandsdame begleiten sollte. Ella versicherte, sie werde mit ihrem Verlobten darüber sprechen, und das tat sie auch. Doch er hörte sie kaum an.
«Sag der alten Dattel, daß das überhaupt nicht in Frage kommt!» schnaubte er, und sie machten sich ohne Begleitung auf ihren Spaziergang durch den Park.
Das waren glückliche Tage, und in alten, vergilbten Briefen Ellas an ihre Eltern werden einzelne Szenen aus dieser Verlobungszeit geschildert. «Ich arbeite jetzt in der Ambulanz. Für ein paar Wochen wohne ich bei den St. Johns, und Harold freut sich wie verrückt, daß ich gekommen bin. Ich versteckte mich am Mittwoch abend hinter dem Sessel, als er nach Hause kam, und belauschte ihn. Als er mich entdeckte, meinte er, ich sei nur für diesen Abend gekommen, und so erzählte ich ihm: <Ich bleibe hier!> Da rief er: <PIGLET, heiratest du mich heute abend?> Er ist ein so verrückter Kerl! Kann nicht mal vernünftig essen und so, sondern tanzt ständig um mich herum und küßt mich. Es ist ganz wunderbar, daß er mich so liebt! <Himmelchen> ist augenblicklich sein Lieblingsname für mich, und ich hoffe nur, daß ich das immer für ihn sein kann; aber er ist so viel besser als ich. Er scheint weder Kälte noch Hunger zu verspüren noch Schlaf zu brauchen.»
Sie war immer sein «Himmelchen'>. 1914 heirateten sie in
- ondon, und anschließend mußten sie einen speziellen Empang geben für Elias Patienten sowie die Mutter mit den Babys, 1 deren Geburt sie während ihres Hebammenkurses assi-ert hatte. So wurde nach zwölf Jahren geduldigen Wartens arrys Herzenswunsch erfüllt, und er bekam die Frau, die ihm In jeder Beziehung ein vollkommenes Gegenüber war.
Gemeinsam trafen sie die Entscheidung, daß für Harry die rbeit für den Herrn stets an erster Stelle stehen sollte; und ila vergaß nie dieses Versprechen oder beklagte sich über ;.jje langen Abwesenheiten. Ihr Sinn für das Praktische und ihre Begabung, ein gemütliches Zuhause zu schaffen, glichen seinen Mystizismus aus. Ob in der Wildnis Brasiliens oder. in ihrer von Ungeziefer verseuchten Wohnung in Buenos Aires oder später in ihrem von lebhaften Kindern erfüllten roten
Ziegelhaus in England immer hatte Harry einen Ort des Friedens, an den er zurückkehren und wo er sich von den Strapazen des Dienstes erholen oder ungestört studieren konnte.
Sie verlangte sehr wenig von ihm; es genügte ihr, daß er sie liebte, denn sie war die geborene Geberin. Jedenfalls beeindruckte ihre von ruhiger, tiefer, selbstloser Liebe geprägte Beziehung vierzig Jahre lang jeden, der auch nur gelegentlich bei ihnen hereinschaute. Keines ihrer Kinder kann sich daran erinnern, daß zwischen ihnen je ein hartes oder zorniges Wort gefallen wäre, und die Atmosphäre im Hause St. John beeinflußte viele junge Leute, die darin ein und aus gingen.
Aber das lag noch in weiter Ferne. Zunächst einmal reisten sie nach Buenos Aires, und als sie dort ankamen, war der Mann, der sie abholen und ihnen eine Wohnung besorgen wollte, zum Militärdienst eingezogen worden. So mußten sie als ihr erstes «Heim» in Buenos Aires ein einziges Zimmer beziehen, in dem es von Kakerlaken wimmelte, die nachts die Wände hochkrabbelten. Um vor ihnen Ruhe zu haben, stellten sie die Pfosten ihrer Feldbetten in mit Petroleum gefüllte Schälchen. Bis sie umzogen, lernte Ella hier, in einer Küche zu kochen, die sie mit vier spanischen Familien teilen mußten.
1. Familiengeschichten 9
2. Frühe Jahre in Malvern 20
3. Zwischenspiel in der Schweiz 30
4. Schultage 39
5. Kriegszeit 50
6. Ankunft in Tanger 68
7. Familienfreuden und -leiden 78
8. Hinauf in die Berge 87
9. Erste Kontakte 96
10. Fatima und ihre Freundinnen 103
11. Die Kinder kommen 114
12. Hinaus in die Dörfer 126
13. Ende und Neubeginn 135
14. Das Krankenhaus in Tanger 144
15. Mein Leben im Krankenhaus 161
16. Neffen und Nichten 169
17. Was die Leute so fragen 177
18. Tribut an meinen Vater 185
19. Ruanda 197
20. Auf den Spurendes Apostels Paulus 211
21. Die Grdßmütter 228
22. Libanon 237
23. In England 247
24. Das Flüchtlingslager 257
25. Global Care 268
26. Daheim in unserer Siedlung 277
Nachwort 289
Englischer Originaltitel: «Patricia St. John teils her own story» © 1993 by Patricia St. John
Aus dem Englischen von Wolfgang Steinseifer
5. Auflage (und damit 2. Taschenbuchauflage) 2010
© der deutschen Ausgabe 1997 by Brunnen Verlag Basel
ISBN 978-3-7655-3780-6
Der Kirschbaum
»Francis!«, schimpfte der Stiefvater, »benimm dich!
Lass deine kleine Schwester in Ruhe. Es ist nicht zu
glauben, ein Junge in deinem Alter!«
Francis schluckte seinen Bissen hinunter und begann mit
den üblichen Entschuldigungen.
»Wirklich, Papa, sie hat mich zuerst gekniffen – sie fängt
immer an, und du meinst …«
»Ich habe nicht angefangen.«
»Doch, du hast angefangen.«
»Hab ich nicht!«
»Francis, sei still! Merkst du nicht, wie du deine Mutter aufregst und ihr dadurch Kopfschmerzen bereitest?
Ist dir das ganz egal?«
»Nein, ich sage euch ja nur …«
»Hör auf, uns etwas zu sagen. Nimm dein Essen mit auf dein Zimmer und bleib dort, bis ich dich rufe. Ich habe diese ewige Streiterei satt. Man könnte glauben, du seist ein Baby!«
Francis nahm seinen Teller, schnappte sich ein Nusstörtchen von der Mitte des Tisches, trat gegen Wendys Schienbein und begab sich zur Tür. Ihr Geschrei verfolgte ihn durch den Flur.
Er ging jedoch nicht in sein Schlafzimmer, sondern schlich sich durch die Wohnstube, stopfte sich ein Comic-Heft unter den Pullover und verschwand durch die Hintertür in den Hof.
Er durfte nicht am Küchenfenster vorbeigehen, wo die anderen ihr Mittagessen beendeten. Daher ging er auf Zehenspitzen ums Haus und rannte auf die Hecke zu. Er bückte sich, kroch
durch das hohe Gras hinter den Apfelbäumen und kam sicher beim Kirschbaum in der äußersten Ecke des Gartens an. Keiner wusste so recht, wem der Kirschbaum gehörte, denn
seine Wurzeln verliefen halb in ihrem Garten und halb in dem der alten Frau Glengarry von nebenan. Schon das gab Francis das prickelnde Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.
Es war aufregend, in das Grundstück anderer Leute zu spähen und so zu tun, als ob man nicht erwischt werden durfte. Dabei hatte Frau Glengarry die herunterbaumelnden Beine längst
gesehen. Als Francis’ Sandale eines Tages in ihren Lavendelbusch gefallen war, war sie herausgekommen, um sie ihm zurückzugeben. Sie freute sich eigentlich über die Beine, die im
Kirschbaum baumelten – sie weckten Erinnerungen an ihre längst vergangene Kindheit.
Aber keiner aus seiner Familie hatte Francis’ Versteck im Kirschbaum bisher entdeckt, da er durch einen immergrünen Busch verdeckt war. Es war nicht einfach hinaufzukommen.
Mit dem Teller in der Hand war es sogar unmöglich. Daher aß er sein Mittagessen unten zu Ende. Dann stopfte er sein Törtchen in die Tasche, sprang hoch und packte den untersten
Ast. Er schwang sein Bein darüber und zog sich hoch. Von dort kletterte er vorsichtig weiter bis zu einer großen Astgabel. Hier befand sich eine Art Sitz und eine Vertiefung, die groß genug war, um eine Blechdose aufzunehmen.
Francis machte es sich bequem und überprüfte den Inhalt der Dose. Es war noch alles da – drei kleine Matchbox-Autos, fünfzig Fußballkarten und eine Tüte Pfefferminzbonbons. Er
aß die Krümel seines Törtchens auf und begann, über seine Lage nachzudenken.
Es machte ihm nichts aus, vom Tisch weggeschickt zu werden. Denn wenn Vater zornig war, Mutter Kopfweh und Wendy schlechte Laune hatte, war es viel angenehmer, sein Mittagessen im Kirschbaum einzunehmen. Trotzdem war er verletzt. Wendy hatte zuerst gekniffen – das tat sie immer –, und Vater gab immer ihm die Schuld, weil er der Ältere war. Das war nicht fair! Wenn er wie Debby und Wendy Vaters eigenes Kind wäre, hätte dieser ihn genauso lieb wie die Mädchen. Es war ihm auch nicht egal, dass Mutter Kopfschmerzen hatte.
Es machte ihm sogar sehr viel aus, und er hätte alles für seine Mutter getan. Doch leider traute er sich nie, es ihr zu sagen. Papa sagt, ich sei ungezogen, und Mama glaubt ihm immer. Es ist einfach ungerecht – Wendy hat mich zuerst gekniffen, aber nie sagen sie, Wendy sei gemein. Papa gibt immer mir die Schuld.
Seine Gedanken wanderten im Kreis herum und kamen immer wieder auf den gleichen Punkt zurück. Es war wirklich nicht fair – es war nicht fair. Er sagte es sich abends im Bett, so dass er oft nicht einschlafen konnte, und er dachte im Klassenzimmer daran. Dadurch passte er nicht auf. Im letzten Zeugnis hatte gestanden, dass er unaufmerksam sei. Da war
Vater böse geworden und hatte wieder gesagt, er sei ungezogen, und Mutter hatte ihm beigepfl ichtet. Es war wirklich ungerecht!
Aber hier im Kirschbaum konnte man leichter als sonst irgendwo vergessen, dass es nicht fair war, denn man konnte viele Dinge beobachten. Er konnte Frau Glengarry sehen, wie sie in einen dicken Schal gehüllt ein- und ausging, um ihre Katzen zu füttern, und Frau Rose zwei Häuser weiter, die ihre Geschirrhandtücher zum Trocknen aufhängte. Er konnte in die Hinterhöfe verschiedener Leute sehen und weiter hinten die Autos und Lastwagen verfolgen, die auf der Hauptstraße dahinbrausten. Noch weiter hinten fi ng der Wald an.
Kleine Hügel erhoben sich mit Äckern von rötlich brauner Erde, Bauernhöfen und Weiden, und irgendwo zwischen zwei Hügeln grüßte ein Fluss. Es war März, und der nasse Winter
hatte ein Ende. Der Fluss überfl utete teilweise das Ufer und reichte an manchen Stellen fast bis an die Brücken.
Dann sah Francis sich im eigenen Garten um. Die Krokusse waren verblüht und welk, aber die lanzenförmigen Blätter der Narzissen ragten aus dem Gras. Abgesehen vom Gesang der Vögel war es sehr still, und er überlegte, was jetzt wohl die anderen taten. Mutter war sicher ins Bett gegangen mit ihren Kopfschmerzen, und Vater würde den Nachmittag mit Wendy und Debby verbringen, weil heute Samstag war. Er würde sie sicherlich mit zum Park nehmen, damit sie Rad fahren
konnten und ein Eis spendiert bekamen. Bestimmt würde er
bald zu Francis’ Zimmer hinaufgehen, um ihm zu sagen, dass
er mitkommen könne, falls er sich benehmen und bei seiner
kleinen Schwester entschuldigen würde. Francis musste zugeben, dass sich sein Stiefvater oft Mühe gab, nett zu sein.
Aber er wollte nicht, dass jemand nett zu ihm war. Er wollte sich auch nicht bei Wendy entschuldigen oder mit kleinen Mädchen zusammen Fahrrad fahren. Auch hatte er genug Geld in der Tasche, um sich selbst ein Eis zu kaufen. Es war
Frühling, und er wollte allein fort, um etwas zu erleben: Er wollte zum Fluss fahren. Mutter würde sich keine Sorgen um ihn machen, denn sie schlief, und Vater war sicher froh, ihn los
zu sein. Er steckte die Pfefferminzbonbons in die Tasche und kletterte vorsichtig den Baum hinunter. Dann spähte er durch die Büsche, um sicherzugehen, dass die Luft rein war. Sein
Fahrrad stand im Werkzeugschuppen und war leicht erreichbar. Noch ein paar Augenblicke, und schon war er aus dem Tor und radelte wie wild draufl os. Sein Atem ging schwer, doch er hatte es geschafft!
Francis wusste in etwa, wie er zum Fluss gelangen konnte, aber allein war er bisher noch nie so weit fort gewesen. Als er am Ende der Straße angekommen war, kamen ihm Zweifel,
ob ein Ausfl ug allein auch wirklich Spaß machte. Er merkte sogar, dass er sich nach Vater, Wendy und dem Park sehnte und hoffte im Stillen, dass ihn die anderen einholen würden.
Aber sie tauchten nirgends auf. Plötzlich wurde er sich bewusst, dass er am Ende einer Straße stand, in der die Häuser kleiner als in seiner Straße waren. Hier wohnte Ram, ein indischer Junge, der dieselbe Schule besuchte wie er.
Er hatte Ram bisher nicht besonders beachtet. Keiner tat es, denn er war sehr scheu und klein für sein Alter, und er konnte nur mangelhaft Englisch sprechen. Aber Ram besaß ein Fahrrad.
Mit ihm konnte man auf Entdeckungsfahrt gehen. Francis radelte zur Hausnummer acht und klopfte an die Tür. (An den englischen Haustüren befinden sich größtenteils noch Türklopfer statt Klingeln.) Rams Mutter öffnete ihm. Sie trug einen dunkelblauen Sari, und das Haar hing ihr zu einem langen Zopf gefl ochten über den Rücken. Auf ihrer Hüfte trug sie ein kleines Mädchen. Auch sie konnte nicht gut Englisch und blickte recht ängstlich drein. Auf ihr Rufen eilte Ram herbei, um sie miteinander bekannt zu machen. Seine kleine Schwester hieß Tara. Sie betrachtete Francis mit großen dunklen Augen. Francis fand sie viel sympathischer als seine Schwester Debby.
Rams Mutter schien sich zu freuen, dass Francis gekommen war, um Ram zum Radfahren abzuholen. Kein anderes Kind hatte ihn bisher besucht, und ihr kleiner Junge fühlte
sich einsam hier in England, wo es so schwer war, sich zu verständigen. Während Ram seine Reifen aufpumpte, bereitete seine Mutter für beide ein kleines Picknick vor. Francis
wartete in einem Zimmer, in dem es angenehm nach Curry duftete, und versuchte vergeblich, Tara dazu zu bewegen, ihn anzulächeln.
Dann fuhren sie los, auf dem Radweg entlang der großen Hauptstraße, die von der Stadt südwärts führte, hinaus ins offene Land. Francis kannte den Weg, denn er war schon einoder zweimal mit seinem Stiefvater dort gewesen. »Wohin wir fahren?«, erkundigte sich Ram; seine schwarzen Augen strahlten. »Zum Fluss«, rief Francis, der vorausfuhr.
@1981 cLv Verlag