Typisch evangelisch, Siegfried Kettling

04/03/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Dieses Buch ist mit Dank zwei Vätern und Brüdern in Christus gewidmet. Kurt Heimbucher hat als Gnadauer Präses und „lutherischer Pietist" evangelische Freude beispielhaft gelebt, hat die Verbindung zwischen Reformation und Gemeinschaftsbewegung anschaulich verkörpert und immer wieder zur theologischen Arbeit daran gemahnt. Nur so bekam man nach seiner Überzeugung „Eisen ins Blut". Die hier gesammelten Aufsätze sind Frucht dieser Ermutigung, sind im „Gnadauer Kontext" erwachsen und möchten den empfangenen Impuls weitergeben. Gleichzeitig sind sie ein dankbarer Gruß an Paul Deitenbeck, den Ursauerländer mit dem weiten, für Jesus brennenden Herzen, den „Bischof' unter den Pietisten. Sein Name hat schon in meine Kindheit geleuchtet, sein Mutmachen mich jahrzehntelang begleitet. 

Auf einer Tagung mit Predigern des Evangeliums faßte er das, was ihm sein Glaube ganz persönlich bedeute, „typisch evangelisch" in die reformatorische Formel: „Facultas standi extra mc in Christo", „die Ermächtigung außerhalb meiner selbst Position zu fassen, nämlich in Christus". Unterweissach Pfingsten 1992 Siegfried Kettling 

ERSTES KAPITEL Die Rechtfertigung des Gottlosen Einleitung In seinem großen Galaterkommentar' von 1531 (,‚in gewisser Hinsicht ... ein theologisches Testament", Iwand2) berichtet Luther gleich zweimal von dem Eremiten Arsenius3, der überall in dem Ruf stand, ein besonders geheiligtes Leben zu führen, und seinen Zeitgenossen als leuchtendes Vorbild galt. „Kurz bevor er starb, stand er traurig und unbewegt drei Tage mit zum Himmel gerichteten Augen. Gefragt, warum er das mache, sagte er, erfürchte den Tod. Als die Schüler ihn trösteten, es gäbe keinen Grund, warum er den Tod fürchten müßte, da er völlig heilig gelebt habe, antwortete er: Ich habe zwar heilig gelebt und die Gebote Gottes gehalten, aber es sind die Gerichte Gottes bei weitem anders als der Menschen Gerichte. - 

Und so verlor er das Vertrauen in alle seine guten Werke und Verdienste, und wenn er nicht durch die Verheißung Christi aufgerichtet worden ist, ist er verzweifelt. Daher, das Gesetz kann nichts anderes bewirken, als uns nackt und als Schuldner hinzustellen; da ist dann nicht Rat noch Hilfe, sondern alles ist verloren" (S. 99 f). „Si salvus, hat er kriechen müssen ad Christum mortuum" (Wenn er doch gerettet wurde, so hat er zum für uns gestorbenen Christus kriechen müssen). Worauf kann ich sterben? Was macht mich getrost und gewiß, wenn ich vor Gottes Gericht gefordert werde? Denn wer ich bin und wie es um mich steht, das kommt allein im Urteil Gottes heraus, nirgends sonst! Indem Luther so nach dem Sterbetrost fragt, fragt er in Wahrheit nach dem Lebensmut. Denn was sich im Sterben als feuerfest erweist, lohnt als Basis für das Leben. Was jedoch im Tod nicht standhält, taugt auch im Leben nicht. Fragt man Luther nach dem Fundament seines Lebensmuts und seiner Lebensfreude, dann hat er nur eine Antwort:   „Gott macht den Gottlosen gerecht!” 

Diese „justificatio impii" ist „der erste und Hauptartikel": „Von diesem Artikel kann man nicht weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erde oder was nicht bleiben will. "4 Die Rechtfertigung des Gottlosen als Basis unserer Existenz - das ist unser Thema. Wir wollen zunächst fragen, was es heißt, ein Gottloser zu sein, und dann, was es bedeutet, daß Gott solche Gottlosen gerecht macht.   

1. Der gottlose Mensch (Gesetz und Sünde) 

1.Geist wider Fleisch (Gesetz und gefallener Mensch) Ich las von einemJungen, der alles, was er fand, in seine Hosentasche steckte, so auch eines Tages einen merkwürdigen weißen Steinbrocken, den er auf einer Baustelle entdeckte. Anschließend watet er mit seinen Freunden in den nahen Dorfteich. 

Plötzlich beginnt er mörderisch zu schreien: „Es brennt, es brennt! Mein Bein brennt!" Die Kameraden halten ihn für verrückt: Wie kann es mitten im kühlen Wasser brennen? Doch der Kleine setzt sein verzweifeltes Geschrei fort: „Hilfe, mein Bein brennt!" Tatsächlich zeigt sich dann am Oberschenkel eine so tiefe Brandwunde, daß sofort ärztliche Hilfe nötig ist. Bei dem seltsamen Steinbrocken handelte es sich um gebrannten, ungelöschten Kalk. Wir wissen: Wenn solcher ungelöschter Kalk mit Wasser in Berührung kommt, setzt ein intensiver chemischer Prozeß ein, der von Zischen und Sieden und mächtiger Wärmeentwicklung begleitet ist. Das mag ein schwaches Bild sein für das, was geschieht, wenn Gottes Gesetz mit dem gefallenen, Gott entfremdeten Menschen in Kontakt kommt, wenn „Geist" auf,, Fleisch" stößt. Gottes Gesetz, das ist die Summe des guten göttlichen Willens, der auf Leben aus ist (Röm 7,10 „zum Leben gegeben"). 

Es ist - wie Paulus sagt -„heilig, gerecht und gut" (Röm 7,12), ja „geistlich" ('i). Es trägt also Gottes Art an sich, kommt von ihm, ist sein heilsames Gebot, seine helfende Weisung (Tora). Aber dieses göttliche Gesetz stößt nun auf den Sünder, auf den von Gott abgesonderten Menschen. „Fleisch" ist dieser Mensch (Röm 7,18). „Fleisch" - das hat nichts mit Biologie zu tun und dem Metzgerladen, auch nichts mit der idealistischen Unterscheidung zwischen dem Materiell-Triebhaften und dem Vernünftig-Geistigen im Menschen. „Fleisch" meint nicht etwas, eine niedere Schicht im Menschen, sondern ist ein Ganzheitsurteil: „Fleisch" ist der Mensch in seinem Widerstand gegen Gott, in seinemWahn, wie Gott sein zu wollen. Dieses „Fleisch-Sein" des Menschen äußert sich in doppelter Weise: als Selbst-Sucht und als Welt-Sucht. Beide Dimensionen hat Luther sehr plastisch beschrieben.   

2. „Selbst-Sucht"(Eingekrümmt-Sein in sich selbst) 

Von Gott her - auf Gott hin, das ist die schöpfungsmäßige Bestimmung des Menschen. Aber eben dagegen rebelliert der Sünder. Er will selber Herr sein; seine Sünde ist „Selbstherr-lich-keit". Er will kein (Ober-)Haupt über sich dulden; seine Sünde ist „Selbst-be-haupt-ung". Luther sagt: Er ist „incurvatus in se ipsum", ist in sich selbst „eingekurvt" und eingekrümmt, dreht sich wie ein Karussell stets um die eigene Achse, wobei ständig ein schrilles „Ich - Meiner - Mir - Mich" ertönt als Ausdruck der Anmaßung, daß alles und alle, die ganze Welt und selbst Gott um ihn rotieren sollten. Dieser „in sich eingekurvte" Mensch gleicht - in einem anderen Bild - einem Menschen im Boot, der nur auf einer Seite das Ruder zu betätigen vermag. Auch der größte Eifer, die stärkste Anstrengung bringen ihn nicht vom Fleck; er rotiert unablässig um sich selbst. Als „Mittelpunktshaltung" hat derTheologeW. Elert diese Selbst-Sucht charakterisiert. Auf sich selbst ist dieser „Süchtige" fixiert: Er kann nicht wollen, daß Gott GOTTsei (Luther). 

3. „Welt-Sucht"
(„Festhängen im Geschaffenen")
Von Gott getrennt, ist dieser Mensch zugleich von Gottes Schöpfung entfremdet. Der „Ichverkrümmte" empfindet das als tiefe Leere, erfährt sich als Vakuum, spürt einen wilden Durst, eine heiße Gier: alles möchte er in sich hineinsau-gen, alles in sich hineinfressen, und bleibt doch durstig. Es geht ihm wie einem Schiffbrüchigen, der seinen Durst mit Meerwasser zu stillen sucht und ihn dadurch schier zum Wahnsinn steigert. Süchtig ist dieser Mensch; zur Selbst-Sucht (,‚incurvatus") kommt die Welt-Sucht, das gierige Haben-, Ergreifen-, Besitzen-Wollen. Er beginnt, die Welt zu verzehren, ohne doch satt zu werden.
Gestalten aus Geschichte und Dichtung lassen die verschiedenen Ausrichtungen, die Betätigungsfelder dieser Gier modellhaft erfassen (Kierkegaard): Im Don Giovanni ist der sexuelle Trieb verdichtet: Allein in Spanien hat er „mille e tre" (1003) Frauen als Objekte seiner Sucht benutzt und ist doch keiner wahrhaft begegnet. Der sexuelleVirtuose ist in wahrer Liebe impotent!
Im Modell Faust giert der Mensch nach Wissen, begehrt zu erkennen, „was dieWelt im Innersten zusammenhält", und bleibt ein „armer Tor".
Im Modell Nero will er sich an der Macht berauschen, zündet Rom an, um Stoff für ein Gedicht zu finden, und stirbt mit leeren Händen.
Die Gier nach Geld schließlich, die banalste und doch so dämonisch mächtige, hat kein großes Modell hervorgebracht. Neben dem König Midas, dem alles zu Gold wird, was er berührt, so daß er nicht einmal mehr Nahrung findet, steht allenfalls ein Comic-Star: Donald Ducks geiziger Onkel Dagobert!
Im Haben und Besitzen will dieser leere Mensch sich stillen und wird stets Gefangener seines Verlangens. Die Mächte, deren er sich bedienen möchte, spielen sich als Diktatoren auf, die ihn versklaven. Sex und Wissen, Macht und Geld, Alkohol und LSD, - nicht er hat sie, sie haben ihn. Luther spricht vom „haerere in creaturis ", vom »Festhängen im Ge-
schaffenen": Der Mensch, der das Geschaffene vergötzt, von ihm Heil, Erlösung, Freiheit erwartet, wird zum Sklaven der Dämonen, hängt im Geschaffenen fest wie ein Insekt im Spinnennetz.
„Incurvatum esse in se", rotieren ums eigene Ich, und „haerere in creaturis", der geschaffenen Welt verfallen sein, mit diesen beiden sehr plastischen Aussagen hat Luther die Wirklichkeit „Fleisch" beschrieben: süchtig ist der Mensch; Selbst-und Welt-Sucht haben ihn gefangen, machen ihn zum Besessenen.
4. Die eine Sünde - drei Variationen
Auf diesen „fleischlichen" Menschen stößt Gottes geistliches Gesetz - wie das Wasser auf den ungelöschten Kalk. Jetzt beginnt ein Prozeß von ungeheurer Dynamik, ein Brodeln, Zischen, Sieden: Sünde, nichts als Sünde treibt und gärt da. „Die Kraft der Sünde" (der chemische Katalysator) „ist das Gesetz" (iKor 55,56).
Was will dieses heilige Gesetz? Alle Forderungen lassen sich bündeln im ersten Gebot: Es gilt Gott über alle Dinge zu fürchten, Gott zu lieben, Gott zu vertrauen. Gott will die Mitte sein, allein an ihm soll der Mensch hängen. Gott will beim Menschen wahrhaft GOTT werden! Das geistliche Gesetz fordert also Geistliches, das, was Gott ehrt, Ihn groß macht. Aber eben dies Geistliche kann und will das „Fleisch" nicht produzieren (so wie man einen Esel weder durch Prügeln noch durch Streicheln dazu bringen kann, Goldstücke zu spucken; das ist bei ihm „nicht drin"!). „Vom Fleisch wollt' nicht heraus der Geist, vom G'setz erfordert allermeist", so hat Luthers Mitstreiter Paul Speratus höchst präzis formuliert (EKG 242,2). Das heilige Gesetz Gottes versetzt das Fleisch in Aufruhr: die bisher schwelende Rebellion wird ans Tageslicht gefördert, die Inkubationszeit der Krankheit kommt abrupt zum Ende, jetzt bricht sie voll aus, jetzt erreicht die Sünde Siedetemperatur, zeigt ganz ihr Gesicht (,‚auf daß die Sünde recht als Sünde erscheine", wörtlich „damit sie zum Phänomen werde", Röm 7,13).

Allerdings kann diese Rebellion gegen Gott ganz unterschiedliche Strategien anwenden, kann die eine Krankheit ganz verschiedene Symptome hervorbringen. Drei Variationen der Sünde, dreiTypen, drei Modelle möchte ich aufzeigen, das eine Gesicht der Sünde in drei Masken.
a) „Modell Zöllner Zachäus"
Fragt man den erfolgreichen Zolldirektor, wie er zu seiner prächtigen Villa und dem gefüllten Safe kam, so wird er grinsend sein „todsicheres (!) Erfolgsrezept" präsentieren: „Seit ich endlich das völlig antiquierte Gebot ‚Du sollst nicht stehlen!' zum alten Eisen warf; häuft sich bei mir das Gold-"
Die Weisung Gottes war diesem ich- und weltsüchtigen Mann ein lästiger Zaun; mutwillig setzte er darüber hinweg. Sünde erscheint hier in der uns wohl geläufigsten Gestalt - als Übertretung. Das ist der eineTrick Satans: Er schildert uns das von Gott umfriedete Gelände innerhalb des Zaunes als stickiges Gefängnis, malt uns jenseits der Begrenzung den Traum der großen Freiheit: „Da bist du wer, da hast du was!" „Nicht ehebrechen!?", so höhnt er, „weg mit dieser bürgerlichen Moral! Gebote Gottes? Nichts als Freudenverbote sind sie! Brich durch, steig hinüber; das Leben wartet auf dich!"
„Modell Zachäus" - Sünde als Übertretung, Sünde als ChorMut!
b) „Modell Pharisäer Saulus"
Voller Stolz steht der hochbegabte junge Theologe, der fromme Eiferer vor uns, die Zierde seiner Generation! Wie der reiche Jüngling spricht er: „Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend an. Pfui den Übertretern, die Gottes Tora als Zaun ansehen, wehe ihnen! Nicht Zaun ist Gottes Weisung; man muß sie nur um 90 Grad nach oben drehen, und aus dem Zaun wird die Leiter zum Himmelreich."
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Imponierend, wie hoch der Mann schon geklettert ist (vgl. Phil 3,4ff.)! Doch dieser Eiferer meint im Tiefsten nicht Gott, um sich selbst eifert er. Später wird er die „eigene Gerechtigkeit", das „Sich-Rühmen" vor Gott, scharf verurteilen. Es ist die andere List des Satans, dem Menschen, dem alten Adam „erbaulich" zu kommen, ihm einzureden, durch die eigene Leistung könne er sich vor Gott aufbauen, könne sich vor Gott Ansprüche, Verdienste erwerben. Als Engel des Lichts erscheint der Satan hier, äfft Gottes Stimme nach, empfiehlt dringend Gottes Gebote, appelliert an den „frommen Gernegroß", der aus sich etwas machen möchte. Doch die vermeintliche Himmelsleiter ist nur ein neuer babylonischer Turm! Spüren wir, wie bei dieser selbstherrlichen „Erfüllung" der Gebote gerade das erste Gebot, das „Soli Dco Gloria", radikal verneint wird?
„Modell Saulus" - Sünde als selbstherrliche Erfüllung, als Hochmut!
Luther beurteilt dieses Modell so:
„Das Gesetz ... kann nur im Geist erfüllt werden. Aus den Gesetzeswerken die Rechtfertigung suchen, heißt die Glaubensgerechtigkeit verleugnen ... DieWerkhei-ligen ... verfehlen sich gegen das erste, zweite und dritte Gebot und gegen das ganze Gesetz ... Darum handeln sie gerade darin, daß sie das Gesetz halten, am allermeisten gegen das Gesetz" (Gal, S. 153).
c) „Modell Mönch Luther"
Der vonWachen, Fasten, Geißelhieben, unerbittlicher Selbsterforschung Gezeichnete sieht fastjenem büßenden Fürsten von Anhalt ähnlich, der ihm als Schüler in Magdeburg so mächtig imponiert hatte, „der in der Barfüßerkappe auf der Breiten Straße nach Brot ging und den Sack trug wie ein Esel; er hatte so sehr gefastet und sich kasteit, daß er aussah wie der Tod, lauter Bein und Haut ... Wer ihn ansah, der schmatzte vor Andacht. "5
Warum diese Selbstquälerei? Dem Mönch erscheint das Gesetz als steil aufragende, ja überhängende und zudem völlig vereiste Felswand. Hinauf muß er, muß die „vollkommene Reue" (contritio cordis) in sich erzeugen, den ganzen Gehorsam, gerade gegenüber dem i. Gebot! Aber der Absturz ist eine tägliche Erfahrung. Verzweifelnd ruft er: Ich muß hinauf, aber ich kann es nicht! Gott soll ich lieben, aber ich beginne, ihn zu hassen wie einen sadistischen Sklavenhalter. Das ist der dritteTrick des Satans: Er isoliert das Gesetz Gottes von der Gnade, will den Menschen in das Dunkel der Depression treiben, ja bis zum Selbstmord (Judas!): „Sage Gott ab und stirb!"

„Modell Luther" - Sünde als Verzwefiung, als GotteshaJi.
Der Zöllner, der Pharisäer, der Mönch! Auf den ersten Blick möchte man nicht glauben, daß diese so gegensätzlichen Figuren nur drei Variationen des einenThemas sind: Sünde als Selbst-Sucht und Welt-Sucht.
Doch dies ist allen gemeinsam: Sie wollen ihr Leben selbst in den Griff nehmen, aus sich selbst etwas machen, wollen vom Werk her ihre Person qualifizieren. So unterschiedlich auch die Wege erscheinen - offene Rebellion (Zachäus), Werkheiligkeit und Stolz (Saulus), Gotteshaß und Verzweiflung (Luther) - gemeinsam ist das Motiv, gemeinsam das letzte Ziel, das ICH!
Begegnet Gottes geistliches Gesetz dem fleischlichen Menschen, dann kommt nichts als Sünde heraus. Luther hat später über diesen Selbermacher Mensch, der sich an Gottes Gesetz vergreift, scharf geurteilt: „Wie es lästerlich ist zu sagen, daß einer selbst sein eigener Gott sei, sein Schöpfer oder Erzeuger, so ist es auch lästerlich, gerecht zu werden durch seine eigenenWerke. "
. Rettung für den Gottlosen?
„Eingekrümmt-Sein in sich selbst", „Festhängen im Geschaffenen", „Mittelpunktshaltung", „Weltverfallenheit", Gotteslästerung, - mit all dem haben wir versucht, dasWort „der Gottlose" (das eine Leitwort unseres Themas!) zu umschreiben.
Nach all dem bedeutet „gott-los" mehr als ein bloßes Defizit. Sagen wir „ein Mittel-loser", „ein Fried-loser", „ein Hoffnungs-loser", „ein Freud-loser", dann bezeichnet das Wörtchen „los", diese negative Nachsilbe, stets einen Hohlraum, der nach Ausfüllung verlangt, einen schmerzhaften Mangel, dessen Beseitigung heiß ersehnt wird. Welcher Hoffnungslose möchte nicht Hoffnung finden? Was wünscht sich ein Freudloser mehr als Freude? Aber der Gottlose ist der aktive Feind Gottes; Gottlosigkeit bedeutet Widerstand gegen Gott: Der Sünder haßt Gott, statt ihn zu lieben, er verachtet Gott, statt ihn zu fürchten, er reckt sich hochmütig empor oder verkrampft sich verzweifelt, statt Gott zu vertrauen. Der „Gott-lose" (lat. „impius", griech. „asebes") ist der, dessen Leben (bewußt oder unbewußt) im leidenschaftlichen Nein gegen Gott gipfelt.(7)
Unsere Frage heißt nun: Wie kann diesem Gottlosen geholfen werden? Gibt es Rettung für ihn, Rettung für uns alle, die wir ausnahmslos hier oder dort in den drei Typen der Sünde eingefangen sind?
Eins ist deutlich: Vom Gesetz kann die Rettung nicht kommen. Wohl ist es in der Konfrontation mit der dunklen Macht „Fleisch" Gottes Gesetz geblieben, heilig, gerecht und gut. Aber es ist seinem eigentlichenWollen, seiner Intention, Heil, Leben zu schaffen, entfremdet. Denn wo es mit seinem kompromißlosen „Du sollst!" auf den selbst-und welt-süchtigen Menschen trifft, entsteht nichts als Sünde. Nun ist das Gesetz Ankläger, Richter, Henker geworden: „Der Buchstabe tötet" (aKor 3,6). DiesesTöten ist nun der dunkle Glanz des Gesetzes Es vermag Gottes heiliges Nein zur Sünde zu demonstrieren, beweist, daß Gott sich nicht spotten läßt. Es erstrahlt in der blutigen Herrlichkeit des unerbittlichen Richters. Aber Heilsweg ist es in kei-nerWeise: Leben, Rettung, Neuanfang kann es nicht bewirken. Wie soll da Rettung möglich sein? Da müßte Gott schon ganz neu einsetzen, das ganze System aus den Angeln heben. Und dieser Neueinsatz müßte auf einer ganz neuen Ebene geschehen, außerhalb des Gesetzes, besser: oberhalb. Daß Gott eben dies tat, ist der Inhalt des Evangeliums. In Röm 3,21 begrüßt Paulus voller Jubel den Sonnenaufgang ber dem Todesdunkel, das Juden und Heiden, alle Menschen ohne Ausnahme, einhüllte: „Nun, jetzt ist - abgesehen vom Gesetz - die Gerechtigkeit Gottes offenbart." Gerechtigkeit Gottes, diese zwei Worte umschreiben die „süße Wundertat": Gott macht den Gottlosen gerecht!

II. Christus -unsere Gerechtigkeit
Gerechtigkeit Gottes, was bedeutet das? Hier wäre ausführlich von Luthers reformatorischem Durchbruch zu berichten, von seinem »Turmerlebnis". Es wäre zu entfalten, wie er durch dieses Wort „Gerechtigkeit Gottes" aus der Hölle ins Paradies versetzt wurde. Wie er Gottes Gerechtigkeit zunächst als fordernde, strafende, verurteilende Instanz betrachtet hatte („fustitia distributiva '9, wie er dann entdeckte: Es geht hier um Gottes schenkende Barmherzigkeit, um seine den Sündengraben übergreifende Bundestreue. Nicht um Leistungsgerechtigkeit geht es, die ich vorweisen muß (‚justitia activa"), sondern um Gnadengerechtigkeit, die ich ganz „passiv" empfange („justitiapassiva'o).
i. ER—für uns
Doch wir wollen uns an Luthers Grundregel halten: „Die wahre christliche Theologie fängt ... an ... mit Christus" (S. 37).9
Denn Gottes Gerechtigkeit ist nicht etwas, eine Eigenschaft, ein Vorgang, eine Tat; sie ist Jesus Christusselbst: „Er
ist uns gemacht zur Gerechtigkeit" (i Kor 1,30). -
„Der im Glauben ergriffene und im Herzen wohnende Christus ist die christliche Gerechtigkeit, derentwillen Gott uns als gerecht betrachtet und das ewige Leben schenkt" (5. o).
Dies hat Luther in seinem Galaterkommentar (153 r) gewaltig bezeugt. Einige Aussagen daraus wollen wir im Folgenden bedenken. Da heißt es:
Er ist „der größte Räuber, Mörder, Ehebrecher, Dieb, Tempelschänder, Lästerer..., der durch keinenVerbre-cher in derWeltje übertroffen wird" (S. 168).
Wen meint Luther? Kaiser KariV, der ihn ächtete, ihn aus der menschlichen Gemeinschaft ausstieß? Papst Leo X., der ihn durch seinen Bannfluch aus der Christenheit exkommunizieren wollte? Sich selbst, „den verlorenen und verdammten Sünder", den „stinkenden Madensack"?Von wem redet er? Er spricht von Jesus Christus! Er ist der größte Räuber, Mörder, Ehebrecher ... Klingt das nicht wie Gottesläste-rung?Ja, wenn Luther das erfunden hätte, aber er spricht es ja nur dem Apostel Paulus nach. Ja, wenn Paulus dies aus sich produziert hätte, aber er zeichnetja nur nach, was Gott, Gott selbst, getan hat: „Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht" (aKor 5,21).
Für sich genommen ist Jesus freilich der Reine, der Unschuldige, der von aller Sünde Geschiedene, ganz mit demVater Verbundene. Aber das ist gerade dasWunder der göttlichen Liebe: Gott will nicht „für sich genommen" werden; der Immanu-El will er sein, der Gott für uns und mit uns. Das ist gerade das Wunder der Menschwerdung: Der ewige Sohn will nicht für sich selbst bleiben (hält seine Gottheit nicht fest wie ein Raubtier seine Beute, Phil 2); zu uns drängt es ihn, für uns „schüttet er sich aus". Weil von Gott her dies Ungeheure geschehen ist, darum wagen Paulus und Luther das Ungeheure auszusprechen: „Christus aber hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, indem er für uns ein (von Gott) Verfluchter wurde" (Gal 3,13). „Für uns!" Luther betont leidenschaftlich:
„Der ganze Nachdruck liegt auf dem Wörtchen ‚für uns" (5. 168). „Die ganze Gewalt liegt darin; daß einer die Pronomina gut auf sich bezieht" (5. 40).
Im Wort steckt's, daß wir es ja wortwörtlich nehmen, das kleine Fürwort „Für dich"!
Alles ist verloren, wenn wir an dieser Stelle „Christum von den Sünden und den Sündern scheiden" (5. 169), ihn etwa alsVorbild anpreisen, dis wir nachbilden sollen. Das stürzt uns nur wieder in den tödlichen Strudel derWerkerei. Hier haben wir uns dem zu beugen, dürfen uns dem überlassen,

@Brunnen ISBN 3765595373