1. Mein Weg zu Jehovas Zeugen
Freitag, den 18. August 1950. Es ist ein warmer Sommertag. Rund um den stattlichen Dom der norddeutschen Kleinstadt Meldorf auf dem geräumigen Marktplatz herrscht das bunte Treiben des Wochenmarktes.
Sommerlich gekleidete Menschen eilen zwischen den Verkaufsständen hin und her. Das aber sehe ich heute nur ganz am Rande. Viel mehr interessiert mich ein junger Mann von etwa 28 Jahren, der auf dein Bürgersteig vor den um den Markt herum gelegenen Geschäftshäusern jeden Passanten anspricht und ihm eine Zeitschrift anbietet. Er gehört zu den Zeugen Jehovas (hier künftig häufig abgekürzt: Z. J.). Es ist das dritte Mal in meinem jungen Leben, daß ich auf diese Bewegung aufmerksam werde.
Schon als Fünfzehnjähriger entdeckte ich im Bücherschrank meiner Eltern eine kleine Schrift mit dem Titel „Des Volkes Freund" aus der Feder von J. F. Rutherford, dem früheren Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft an der Spitze der Zeugen Jehovas. Ich hatte damals diese kleine Schrift an einem Sonntagmorgen ohne jeden inneren Gewinn gelesen.
Zwei Jahre später wurde mir in Heide, einer Nachbarstadt, auf der Straße die Zeitschrift „Der Wachtturm" angeboten. Ich sehe sie noch vor mir, jene streng gescheitelte ältere Dame, die mir damals - recht aufgeregt, aber mit leuchtenden Augen - von „Jehovas Königreich" erzählte. Martha Krüger hieß sie. Etwa ein Jahrzehnt später sollte ich ihr einen für ihr Leben entscheidenden Dienst tun. (Darauf komme ich an anderer Stelle noch zurück.)
Nun wird mir diese Zeitschrift wieder einmal angeboten. Ob ich zugreifen soll?
Einige Minuten später lasse ich mich von dem jungen Mann ansprechen. Es dauert nicht lange, und wir sind mitten in einer Debatte über Sündenfall, Herkunft des Teufels, Wiederkunft Christi und Tausendjäh-
riges Reich. Doch so gewichtige Themen lassen sich nicht mit ein paar Worten auf dem Bürgersteig erledigen. Darum lade ich den sympathischen „Königreichsverkündiger" ein, mich am nächsten Sonntag in meiner Wohnung zu besuchen. Er notiert sich meine Anschrift mit einer Selbstverständlichkeit, als habe er auf eine solche Einladung geradezu gewartet. Beim Abschied schenkt er mir eine kleine Z. J.-Schrift „Der bleibende Herrscher aller Nationen".
Am Sonntag kommt der junge Mann mit einer prall gefüllten Büchertasche tatsächlich zu mir. „Mein Name ist Gerd", plaudert er vergnügt, und während er noch mit einigen Sätzen sich näher vorstellt, legt er mir drei
nagelneue Bücher auf den Tisch, um sie mir zum Kauf anzubieten. Es handelt sich bei den drei Büchern um das für diesen Monat vorgeschriebene Schriftenangebot, wie ich später erfuhr.
Gerd erzählt nun bei aufgeschlagener Bibel vom „Vorhaben Jehovas", wobei er bald aus dem Alten, bald aus dem Neuen Testament die Texte herausgreift, die ihm geeignet scheinen, die Z. 1.-Lehren zu stützen. Als er bei der Geschichte vom Sündenfall allzu lange verweilt, beginne ich zu protestieren: „Das ist alles gut und schön", antworte ich ihm, „auch ich glaube an Gott und an Jesus Christus, aber an die Paradiesgeschichten von Adam und Eva kann ich nicht glauben. Es ist ja doch längst wissenschaftlich nachgewiesen, daß der Mensch das Ergebnis einer jahrtausendelangen Entwicklung ist."
Es dauert keine halbe Stunde, bis Gerd meinen „Glauben" an die Evolutionslehre völlig zerstört hat. Aus Schriften der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft liest er Aussprüche von namhaften Wissenschaftlern vor, die sich zu dieser Lehre kritisch äußern oder von ihr abrücken. Andererseits versucht er mir zu zeigen, wie zuverlässig die Bibel ist. Für mich ist es außerordentlich eindrucksvoll zu sehen, wie die vielen altte-stamentlichen Weissagungen über den kommenden Messias im Leben Jesu von Nazareth sich buchstäblich erfüllt haben. Kann es da noch einen Zweifel geben an der Zuverlässigkeit und göttlichen Inspiration der Bibel? Plötzlich wird mir die gewaltige Überlegenheit des „Buches der Bücher" gegenüber allen menschlichen Meinungen und Überlieferungen bewußt. Doch nun wächst auch meine Hochachtung vor den „Bibelforschern", besonders als Gerd mir erzählt, wie die Zeugen Jehovas um ihres Glaubens willen in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches gelitten haben: .....wie so ganz anders haben sie doch gehandelt als jene Feldgeistlichen, die sich in den Dienst der Machthaber dieser Welt stellten, die heute sagen: ‚Du sollst nicht töten!' und morgen schon zum Töten auffordern..
Schon in den nächsten Tagen lese ich das Buch „Die Wahrheit wird euch frei machen", dessen Titel mich besonders anspricht. Auch beeindruckt es mich, daß bei fast allen Darlegungen des Buches einige Bibelstellen zum Beweis angegeben sind. Somit muß gewiß alles völlig im Einklang mit der Bibel sein, denke ich.
Angeregt durch das Lesen dieses ersten Buches, studiere ich auch die anderen beiden Bücher, die ich von Gerd gekauft habe. Schließlich vergrabe ich mich immer mehr in diese Literatur und lese— wie wohl die meisten Z. 1.— nur noch Schriften der Wachtturm-Gesellschaft. Das muß die Wahrheit sein! Einige Vergleiche mit der Bibel scheinen das zu bestätigen. Wenn es sich aber so verhält, sind dann nicht alle anderen Bücher mehr oder weniger wertlos, vielleicht sogar schädlich? Letzte Zweifel unterdrücke ich in der Meinung, es seien die himllchen Angriffe des Bösen, der mich von dem allein wahren Glauben abzuhalten versuche. Die mahnenden Worte meiner Mutter und anderer naher Verwandter schlage ich in den Wind, ja, ihr Widerstand gegen die „Wahrheit" veranlaßt mich, um so entschiedener für die Sache der Z. J. einzutreten. So kommt es, daß ich schon am 30. August—weniger als 14 Tage nach Gerds erstem Besuch bei mir - in mein Tagebuch schreibe: „Mein Entschluß steht fest: ich werde Zeuge Jehovas!"
Schon weitere 14 Tage später, am 16. September 1950, erkläre ich vor dem Amtsgericht meinen Austritt aus der Ev.-Luth. Landeskirche. Die Kirche hat nach meinem nun erlangten Verständnis das Christentum verwässert, entstellt und mißbraucht. Die Wachtturm-Gesellschaft lehrt daher, die Kirchen der Christenheit seien in Wirklichkeit nicht Kirche Christi, nicht die treue „Braut"-Gemeinde, sondern die im letzten Buch der Bibel erwähnte „große Hure", also die untreue „Braut", das „Babylon" der Endzeit. Somit soll der Aufruf von Offenbarung 18, 4: „Gehet aus ihr hinaus, mein Volk, auf daß ihr nicht ihrer Sünden mit teilhaftig werdet .....‚ eine Aufforderung darstellen, die Kirchen der Christenheit zu verlassen. Als ich die schwere Tür des Amtsgerichts in Meldorf hinter mir schließe, bin ich daher froh und zufrieden, nun aus „Babylon" entronnen zu sein; .....denn ihre Sünden sind aufgehäuft bis zum Himmel, und Gott hat ihrer Ungerechtigkeit gedacht" (Offb. 18, 5).
Ich ahne noch nicht, daß es „Babylon" in mancherlei Gestalt gibt, auch da noch, wo man meint, es weit hinter sich gelassen zu haben! In den folgenden Monaten nimmt mein Eifer beständig zu. Am 28. Oktober gehe ich zum ersten Mal zusammen mit anderen Zeugen von Tür zu Tür. Der lGeisaufseher, der als Beauftragter der Wachtturm-Gesellschaft zum Zweck der „Schulung der Verktindiger und zur Belebung der Felddienst-tätigkeit" zugegen ist, gibt wichtige Anregungen, wie man beim Dienst von Haus zu Haus Erfolge erzielen kann. „Ihr dürft", so erklärt er mit einer typisch amerikanischen Satzmelodie, „nicht mit der Tür ins Haus fallen, indem ihr etwa sagt: Wir sind Zeugen Jehovas". Vielmehr wird man sich am besten mit folgenden Worten einführen: „Guten Morgen! Mein Name ist . . .‚ ich betätige mich ehrenamtlich in einem weltweiten biblischen Erziehungswerk und möchte Ihnen in Verbindung damit drei äußerst wichtige Bücher anbieten.
Nach dem Verlesen eines Bibeltextes mit kurzem Kommentar und einem Gebet um den Segen Jehovas für unseren Dienst wird mir eine „Gebiets-Zuteilungskarte" in die Hand gedrückt, in der mein Arbeitsbereich genau abgegrenzt ist. Die zur Verbreitung empfohlene Literatur muß ich zuvor käuflich erwerben. Ich hoffe, dafür Interessenten zu finden.
Auf dem Weg in die Meldorfer Norderstraße kommen mir so manche Gedanken. Aber schon stehe ich an der ersten Tür, und im Nu bin ich auch wieder draußen. Die Leute machen gleichgültige Gesichter. „Kein Bedarf!", rufen manche mir schon entgegen, noch ehe ich etwas über den Grund meines Kommens sagen kann. Andere erklären, „ich habe keine Zeit", und winken ab. Das alles sind zwar keine Argumente zur Widerlegung unserer Lehren, aber unmißverständliche Hinweise, daß ich wieder gehen darf.
Zwei Frauen beantworten mein Schriftenangebot mit abfälligem Lachen. Nur ein Handwerker im mittleren Alter bringt dem, was ich ihm erzähle, größeres Interesse entgegen.
Er wurde schon wiederholt besucht, erzählt er mir, und er unterhalte sich gerne mit Jehovas Zeugen. Meine Schriften aber werde ich nicht los, und weil der „Lagerdiener" sie nicht zurücknimmt, darf ich sie als mein Eigentum betrachten, sofern ich sie nicht zu einem späteren Zeitpunkt verkaufen kann.
Als ich zum Treffpunkt zurückkomme, sind die meisten anderen schon da. Sie erzählen von ihren Erfahrungen, von guten und schlechten. Es gibt
manche Stunden der Enttäuschung, und wie eine Oase in der Wüste ist ein Haus, dessen Bewohner ein Ohr für unsere Botschaft haben. Wir trösten uns jedoch mit dem Gedanken, Jesus und den Aposteln sei es nicht anders ergangen. Ja, wir sehen gerade im Widerstand der „Welt" einen Beweis, daß wir das wahre Christentum haben. Als ich mich schließlich von den Versammelten verabschiede, ruft mir der Kreisaufseher lächelnd nach: „Vergiß nicht, die Zahl der Stunden anzuschreiben!"
Ein Scherz? Keineswegs! Bei den Z. J. muß jede „im Felddienst" und bei gelegentlichem Zeugnisgeben verbrachte Viertelstunde notiert und in einem sogenannten „Felddienstbericht" an die Ortsversammlung gemeldet werden. Die Aufseher addieren dann am Monatsende die Leistungen aller ihrer Verkündiger und senden einen Versammlungs-Felddienstbe-richt an das deutsche Zweigbüro der Wachtturm-Gesellschaft, wo die Ergebnisse aller Versammlungen in Deutschland zusammengerechnet werden. Das Hauptquartier der Wachtturm-Gesellschaft in Brooklyn (USA) empfängt schließlich von dort und von allen Zweigbüros der ganzen Welt die Monatsberichte der einzelnen Länder. Das Hauptquartier ist also ständig von der weltweiten Tätigkeit der Z. J. genau unterrichtet. Das Gesamtergebnis wird dann alljährlich einmal im „Wachtturm" und im „Jahrbuch der Zeugen Jehovas" veröffentlicht und kommentiert.
All dies überblickt der Neuling noch garnicht. Er ahnt auch nicht, daß er in seiner zuständigen Ortsversammlung in eine „Verkündigerkartei" eingetragen wird, sobald er mit dem „Felddienst" begonnen hat. Diese ‚Verkündigerkartei" dient der Aufzeichnung der monatlichen „Feld-lienst"-Stunden, die der Kreisaufseher bei jedem seiner Besuche zu Iberprüfen hat.
Auch ich ahne zu diesem Zeitpunkt noch nicht, welche tTberraschun-len die „theokratische Organisation" (Theokratie = Gottesherrschaft!) hir mich bereithält. Ohne Skepsis nehme ich alles an, was sie zu bieten hat, ,taube ihren Lehren und folge treu und eifrig ihren Anweisungen. Viel zu chnell gehe ich in dieser Arbeit auf. Obwohl mir alles völlig neu ist, füge eh mich freiwillig in das Räderwerk der gut funktionierenden Organisa-ion ein, ohne daß sie mich erst dazu bringen müßte. Schon am 21. Januar [951 lasse ich mich anläßlich eines Kreiskongresses der Z. J. in Glück-tadt taufen.
Warum ich Zeuge Jehovas wurde: Gründe und Hintergründe
Immer wieder werde ich gefragt, was mich eigentlich veranlaßt habe, „zu den Bibelforschern zu gehen". Darüber hatte ich mir zunächst gar keine Rechenschaft gegeben. Erst jetzt war ich genötigt, darüber nachzudenken. Die Z. J. antworten auf derartige Fragen meist: „Ich suchte die Wahrheit, und ich habe sie jetzt gefunden." Doch wenn ich die Wahrheit gesucht habe, was veranlaßte mich denn zu solchem Suchen? Heute - zwei Jahrzehnte später - sehe ich es so:
Einige Beweggründe
Vielleicht sehnte ich mich ganz einfach nach Gemeinschaft, einer Gemeinschaft, in der man freundlich miteinander umgeht, und in der man sich bejaht weiß. Auch von anderen, die sich einer kleinen Reigionsge-meinschaft angeschlossen hatten, gewann ich später diesen Eindruck.
Suchten wir in der Gemeinschaft Geborgenheit? „In der Welt habt ihr Angst", sagt Jesus einmal. Diese Aussage hat schon immer Gültigkeit gehabt, und dennoch gewann sie nach den beiden Weltkriegen eine besondere Bedeutung. Das Gespenst der Angst geht um (Luk. 21, 26). Die politischen und gesellschaftlichen Probleme und Verwicklungen werden für den einzelnen immer undurchsichtiger. Wir „verstehen die Welt nicht mehr". Ein Gefühl des Unbehagens und des Bedrohtseins ist die Folge. Man möchte entrinnen und sucht Zuflucht in einer überschaubaren Gemeinschaft - fernab von dem undurchsichtigen Getriebe einer „verrückten Menschheit". Hier, im Kreis der Gleichgesinnten und der in gleicher Weise Entronnenen, gibt es noch die „helle Welt".
Die Wachtturm-Gesellschaft weiß in ihren Schriften derartige Empfindungen der Menschen geschickt zu nutzen. Sie malt die bedrohlichen Entwicklungen auf unserem Planeten in krassen Farben aus, macht damit die Ängste, selbst da, wo sie noch schlummerten, erst recht bewußt (z. B. Der Wachtturm vom 15. 7. 1974, S. 426, Abs. 10), weckt und nährt sie, um dann um so besser auch das Mittel gegen die Angst anbieten zu können: Zuflucht in der Geborgenheit ihrer „theokratischen Organisation". Diese vergleicht sie gern mit der Arche, die in der Weltkatastrophe der Tage Noahs Schutz und Rettung bot.'
Vor allem aber: Nach den Wachtturm-Schriften gibt es keinen anderen Schutz, als den in der „theokratischen Organisation". „Du kennst in Wirklichkeit nichts, wodurch du dich vor dem Angriff grimmiger Menschen und Organisationen dieser Welt schützen könntest. Worin besteht also dein Schutz? Nur darin, daß du bei der Herde Gottes bleibst, innerhalb der Hürde, und daß du von ganzem Herzen auf Jehova Gott ... vertraust, auf den Herrn Jesus Christus.. . und außerdem auf deine treuen Brüder, die zu Hirten der Herde eingesetzt worden sind. Jehova Gott hat heute eine theokratische Organisation."2
Auffallend ist, daß hier nicht nur Schutz, sondern auch sehr deutlich Führung durch die „Hirten der Herde" angeboten wird. Ob die Wachtturm-Gesellschaft damit nicht wiederum dem Bedürfnis all jener Menschen entgegenkommt, die sich in unserer Welt nicht zurechtfinden, die - vielleicht ohne es sich und andern zu gestehen - so etwas wie Heimweh haben nach einer führenden Hand? Schließlich wurden die meisten Menschen der älteren Generation nicht zur Freiheit erzogen, sondern zum Gehorsam! Man mag noch so viel vom mündigen Bürger sprechen: wer zum Untertan erzogen wurde, verlangt nach Führung. Die „theokratische Organisation" vermag diese Sehnsucht zu stillen.
Und noch eins: In ihrer Kritik an den bestehenden Verhältnissen in Kirche und Gesellschaft trifft sie zumeist „den Nagel auf den Kopf". Wer mit Kirche und Gesellschaft nicht zufrieden ist - und wer könnte schon mit allem ganz zufrieden sein! -‚ der bekommt beim Lesen der Zeugen-Literatur und beim Hören ihrer Vorträge eine Menge „Wasser auf seine Mühle". Und wer hätte es nicht gern, wenn er in seiner Kritik Bestätigung findet! So kann sich die Wachtturm-Gesellschaft mit ihrer Kritik an Kirche und Gesellschaft der Zustimmung vieler sicher sein.
Ob am Ende auch ich durch einige dieser Besonderheiten des Zeugen-Angebots innerlich angesprochen wurde? Ich vermag es heute nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, vieles jedoch spricht dafür, besonders wenn ich meinen bisherigen Lebensweg mit in Betracht ziehe.
Führungen und Erfahrungen der Jugendzeit
Am 16. Februar 1931 als Sohn eines Bauern geboren, wuchs ich buchstäblich ins „Tausendjährige Reich" hinein - in das Adolf Hitlers. Doch zunächst war von „weltanschaulichen" Einflüssen in meiner Jugendzeit wenig zu spüren. Ich wuchs auf in der stillen Abgeschiedenheit des väterlichen Hofes, der einige Minuten vom Dorf entfernt lag, umgeben von fruchtbaren Feldern und saftigen Wiesen. Weil meine Eltern ganz in ihrer Arbeit aufgingen und sich jeder parteipolitischen Organisierung entzogen - sie war ihrem Wesen und Denken zuwider—, blieb ich in meiner frühen Jugendzeit von der Beeinflussung durch den Nationalsozialismus ver-
schont.
Dies änderte sich erst im Laufe meiner Schulzeit. Eines Tages stand in unserem Klassenraum an der Wandtafel: „Heute 15 Uhr auf dem Schulhof antreten!" So fing der Dienst in „Deutschen Jungvolk" an. Später erfolgte ebenso automatisch der Übergang in die „Hitlerjugend". Kein junger Mensch konnte sich damals dem Zugriff dieser Zwangsorganisierung entziehen. „Hitlerjugend" aber bedeutete zugleich vormilitärische Ausbildung: wir lernten das Strammstehen und das „zackige" Grüßen, wurden unterwiesen, Hitler zu ehren und das Christentum als eine „artfremde" weil ursprünglich „jüdische" Religion zu verachten. Obwohl dies alles damals hingenommen wurde, empfand ich - ähnlich wie meine Eltern - stets so etwas wie einen inneren Widerstand gegen das protzige Gehabe der braunen Uniformierten, und ich war immer froh, vom,,HJ-Dienst" in die in jeder Hinsicht friedliche Umgebung meines Elternhauses zurückkehren zu können. Das Kriegerische lag mir ohnehin nicht. Ich wuchs also in einer eigenartigen Situation auf: Einerseits wurde ich recht autoritär erzogen, ohne dagegen etwas tun zu können, andererseits hatte ich doch ein inneres Unbehagen dagegen, das sich später bis zu offener Ablehnung steigern sollte.
Dazu gab es wahrhaftig Grund genug: Mein Vater mußte schon bald nach Beginn des Zweiten Weltkrieges seiner Einberufung zur Wehrmacht folgen und wurde gegen Ende 1944 bei Rückzugsgefechten auf dem Balkan vermißt. Er kehrte nie zurück. Meine Mutter erlebte daraufhin einen schweren Nervenzusammenbruch, von dem sie sich erst nach sehr vielen Jahren erholte. Daher lag meine Erziehung in den Händen ihrer Mutter, die infolge eigener schwerer Lebenserfahrungen ein allzu strenges Regiment im Hause führte. Dieser energischen kleinen Frau jedoch, sowie einem ebenfalls sehr strengen Lehrer aus Tornesch, bei dem ich zwei Jahre in die Schule ging, verdanke ich es, daß meine Eltern mich 1941 trotz fehlender Einsicht in den Sinn dieser Maßnahme auf die Meldorf er Gelehrtenschule schickten. Ohne den leidenschaftlichen Einsatz meiner beiden strengen Erzieher wären meine Eltern, die schlichten Bauersleute, in der damaligen Zeit nie auf einen solchen Gedanken gekommen. Nun aber ließen sie sich auf dieses für sie damals noch so ungewöhnliche Unternehmen ein - mehr dazu überredet als überzeugt. Auch ich selbst konnte kaum ahnen, welch eine entscheidende Wendung der Besuch dieses in Fachkreisen in bestem Ruf stehenden Gymnasiums für mein ganzes späteres Leben bedeuten würde. Ich habe der Meldorfer Gelehrtenschule sehr viel zu verdanken. So ein guter Ruf bedeutete natürlich für jeden ihrer Lehrer eine große Verpflichtung. Ihr glaubte man in der damaligen Zeit am besten zu entsprechen, indem man uns ganz im Geist des „Dritten Reiches" erzog. „Ihr sollt die geistige Elite unseres Volkes werden!", das war die Parole des damaligen Schuldirektors. Der Weg dorthin sollte über eine autoritäre Erziehung führen, eine Erziehung zu Gehorsam, Disziplin und - wie es damals gelegentlich hieß - zu „deutscher Zucht".
Dieses Elitedenken mitsamt seinem völkisch-weltanschaulichen Hintergrund wurde für mich jedoch mit einem Schlag fragwürdig, als ich in mehreren Fällen Augen- und Ohrenzeuge wurde von dem Grauen und Unrecht, das der vom Nationalsozialismus entfesselte Krieg über die Menschen gebracht hat. Als ich dann gar eines Tages durch einen auf Urlaub bei uns weilenden Verwandten von der Judenvernichtung erfuhr— er wußte aus unmittelbarem Erleben davon zu berichten -‚ da zerbrach in mir eine Welt. Hatte ich bisher nur eine gefühlsmäßige innere Ablehnung gegen alles Kriegerische und Natonalistische gekannt, war bei der „deut-scheu Zucht" mit seiner Überbewertung von Gehorsam und Disziplin nur ein nicht näher zu erklärendes Unbehagen in mir aufgestiegen, so begann
Inhalt
Was dieses Buch will 5
Vorwort zur 9. Auflage 7
1. Mein Weg zulehovas Zeugen 9
Warum ich Zeuge Jehovas wurde: Gründe und l-lintergriinde 13
Führungen und Erfahrungen der Jugendzeit 14
Religiöses Fragen als Anknüpfungspunkt für Jehovas Zeugen? 16
Faszinierendes und Enttäuschendes 19
II. Zerbröckelnde Faszination 21
Die Faszination einer neuen Gesellschaft der Liebe
und des Friedens zerbricht 21
Die Faszination der reinen Lehre zerbricht 24
Die Faszination eines neuen, zeitgemäßen
Evangeliums zerbricht 30
Die Faszination der „allein seligmachenden Kirche" zerbricht 38
III. Im Gespräch mit einem Zeugen Jehovas 43
Wider das Leistungsdenken 43
Wider die Überheblichkeit 46
Wider den Richtgeist 48
Wider das Dogma von 1914 53
Hoffnung für Israel und die Gemeinde Jesu 59
„Gottesherrschaft" - von Menschen geführt? 67
IV. Mein Bruch mit den Zeugen Jehovas 71
Brief an die Wachtturm Bibel-
und Traktat-Gesellschaft 72
Besuch der Aufseher 74
Vorladung vor das Versammlungs-Komitee 76
Exkommunikation 78
Überwundener Irrtum 81
V. Aus der Geschichte der Zeugen Jehovas 86
Der Ursprung 86
Charles Taze Russell 87
„Richter" J. F. Rutherford 90
Die Tragikomödie um das Jahr 1925 93
Ein neuer Endtermin als Aktivierungsmittel: 1975 96
„Helleres Licht" oder der Wechselbalg 102
Neuere Entwicklungen oder: „Perestroika" in Brookyln 107
VI. Missionsarbeit unter den Zeugen Jehovas
Wie der „Bruderdienst" entstand
Name und Zielsetzung
Zeugen Jehovas entrinnen in die Freiheit
VII. Befreite Zeugen Jehovas bekennen
Datenberechnungen und falsche Prognosen
Unsere Stellung zu Jesus Christus
Richtgeist und Lieblosigkeit gegenüber anderen Christen
VIII. Antwort auf Fragen von Zeugen Jehovas
Müssen alle Christen predigen?
Anmerkungen Literaturhinweise
ISBN:9783765522123
Format:20,5 x 13 cm
Seiten:140
Gewicht:206 g
Verlag:Brunnen
Auflage: 8 Auflage
Erschienen:1987
Einband:Paperback