1. Mose 3, Das verlorene Paradies des Menschen 1866 BdH

01/03/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Das verlorene Paradies des Menschen und das gefundene Paradies Gottes

(Man lese 1. Mose 3; Lukas 23, 39—43)

Es gibt wohl wenige Bezeichnungen, mit denen ein großer Teil der Leser so vertraut ist, wie mit dem eines „verlorenen Para­dieses" und eines „wiedererlangten Paradieses". Und in der Tat sind die so bezeichneten Gegenstände von hoher Bedeu­tung. 

Für eine unsterbliche Seele gibt es nichts wichtigeres. Allein die ungefärbte Wahrheit Gottes stellt diese Dinge in ein Licht, das viel klarer und einfacher ist, als alle die geschmückten Darstellungen des Menschen. Die Geschichte des Falles und der Wiederherstellung des Menschen ist höchst einfach. Durch Unglauben an das Wort Gottes und Mißtrauen gegen Seine Güte ging das Paradies des Menschen verloren; durch Glauben an das Wort Gottes und Vertrauen zu Seiner Güte wurde das Paradies Gottes gefunden. 

Statt sich an die Treue Gottes fest zu klammern und Seiner unwandelbaren Gunst zu vertrauen, lieh Eva ihr Ohr der Lüge Satans. Statt die gottlosen Ein­flüsterungen des Feindes augenblicklich von sich zu weisen, lauschte sie darauf und nahm sie an. 

Das war der Beginn alles Unheils.
Satan täuschte Eva so sehr, daß sie sowohl an der Güte als auch an dem Worte Gottes zu zweifeln begann. Sie verließ den Boden der Abhängigkeit, sie riß sich selbst aus den Händen Gottes los. Der Unglaube trennt von dem lebendigen Gott und führt also zum Tode; der Glaube vereinigt mit Ihm und führt da­durch ins ewige Leben. Sobald Eva dem Zweifel des Vaters der Lüge in ihrem Herzen Raum gab, war ihr Weg ein trauriger und abschüssiger Weg. Sie glaubte nicht, sie gehorchte nicht, sie sündigte, sie fiel, und alle ihre Nachkommen mit ihr. Die Blume Edens war für immer vernichtet; und die ganze Schöp­fung lag in Trümmern.

Der Verführer suchte vor allem zuerst durch eine niederträch­tige Einsduneichelung ihr Vertrauen zu der Güte Gottes zu erschüttern. „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr sollt nicht essen von jedem Baume des Gartens" (1. Mo 3, l)? Jedenfalls hegt er hier die Absicht, durch diese Frage einen Zweifel anzuregen. Das ist ganz der Schlange ähnlich; und das gleicht ganz den Kunstgriffen, die er auch heutzutage anwendet. Es war, als hätte er gesagt: „Kann das Liebe sein? Ist das Güte, euch die Frucht des Baumes vorzuenthalten, wovon der Schöpfer weiß, daß sie euch wie Götter machen würde? 

Aber sollte Er auch wirklich so gesprochen haben? Sollte das wohl Seine Meinung sein?" — Und ach! Eva wurde wankend. Es war ein folgen­schwerer Augenblick. Statt zu bezeugen, daß Gott das schone und liebliche Paradies um ihretwegen gemacht habe, ließ sie die Einflüsterungen des Feindes in ihrem Herzen wirken; sie riß sich los von der Wahrheit Gottes und umklammerte die Lüge Satans.

 Gott hatte gesprochen; sie besaß Sein Wort; und das hätte genug für sie sein sollen. Es führte Jesum zum S^ege, als Er in der Wüste versucht wurde. „Es steht geschrieben", sagte Er, und dieses Wort war der feste Boden, auf dem Er den Feind überwand. Aber der Same des Mißtrauens gegen Gott und der Nachlässigkeit in betreff Seines Wortes war jetzt in das Herz Evas gestreut; und dieser Same hat in ihren Nach­kommen die schrecklichsten Früchte getragen.

Und die Aufmerksamkeit, die Eva dem Feinde schenkte/machte ihn kühner. Er widersprach geradezu dem Worte Gottes. „Mit nichten werdet ihr sterben" (V. 4). Welch eine freche Lüge! Es ist nicht mehr ein schönes Einflüstern. Woran hätte sich Eva erinnern sollen? Hatte Gott nicht deutlich gesagt: „Welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben"? Aber fragen wir vielmehr: 

Befinden wir uns nicht oft in derselben traurigen Lage, wenn wir unsere eigenen Meinungen über das klare Wort Gottes setzen? Und haben diese unsere Meinungen nicht denselben Ursprung? Die Einflüsterungen Satans sind mancherlei Art und bewirken nur zu oft eine Vernachlässigung oder die praktische Beiseitesetzung der Wahrheit Gottes. — Indes erhebt Satan nicht nur Widerspruch gegen Gott, sondern er erfindet auch eine furchtbare, anlockende Lüge, indem er sagt: „Gott weiß, daß welches Tages ihr davon esset, eure Augen aufgetan werden und ihr sein werdet wie Gott, er­kennend Gutes und Böses" (V. 5). Diese Versuchung war zu stark für die arme Eva; der Hochmut schwellte ihren Busen;
sie verlangte zu sein wie Gott. „Und das Weib sah, daß der Baum gut zur Speise, und daß er eine Lust für die Augen, und daß er begehrenswert wäre, um Einsicht zu geben; und sie nahm von seiner Frucht und aß, und gab auch ihrem Manne mit ihr, und er aß. Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie erkannten, daß sie nackt waren; und sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schürzen" (V. 6. 7).

Die entsetzliche Tat war jetzt geschehen. Adam lauschte auf sein Weib, nachdem diese auf die Schlange gelauscht hatte. Alles, was je eine Kreatur verlieren konnte, war verloren. Die Freundschaft Gottes, die Unschuld, die Herrschaft, die Würde, die Glückseligkeit, alles war mit einem Schlage ver­nichtet. Das unglückliche Paar hatte ein böses Gewissen; sie flohen aus der Gegenwart Gottes und trachteten, eine eigene Gerechtigkeit zusammenzuflicken. Welche traurigen Früchte des Falles und der gefallenen Natur in allen Zeitaltern!

Jetzt aber tritt Gott auf den Schauplatz. Adam ist erschrocken und verbirgt sich hinter den Bäumen des Gartens. Die aus Feigenblättern gemachte Schürze ist, statt ihn zu bedecken, nur ein Zeugnis seiner Schuld und Schande. „Und Jehova rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du?" (V. 9). Das war Gnade, freie Gnade. Adam war verloren und Gott suchte ihn. Das ist der herrliche Grundsatz der Erlösung. Der Mensch ist ein verlorener Sünder, und Gott sucht ihn in Liebe. „Denn der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist" (Lk 19, 10).

Im Garten Eden offenbart jetzt Gott, wenn auch noch in Dunkel gehüllt, den Plan der Erlösung. Des Weibes Samen soll der Schlange den Kopf zermalmen. Das Heilmittel Gottes gegen das Verderben der Menschen ist bei der Hand. Wir zweifeln nicht daran, daß das Wort der Gnade die Herzen des schul­digen Paares erreicht hat. Gott geht bei den gefallenen Engeln vorüber; 

Er erbarmt Sich des gefallenen Menschen. Kostbare Gnade! Der Mensch war von einem mächtigen, ränkevollen Feind betrogen worden. Mit einem Blick des zärtlichsten Er­barmens schaut Gott auf ihn in seinem gefallenen, verderbten, elenden und hilflosen Zustande herab. Aber während Sein Auge voll Mitleid auf ihn herabblickt, ist Sein mächtiger Arm zur Rettung ausgestreckt. 

Er versieht den Nackten gnädig mit einem Gewände, das dem Tode eines anderen sein Dasein verdankt, so daß die Gefallenen nicht länger nackt sind, weder in ihren eigenen Augen, noch in den Augen anderer. Die Be­kleidung Gottes ist eine wahrhaftige. Er verfolgt Satan als die Wurzel des Unheils. Er sagt: „Weil du solches getan hast usw." (V. 14). Aber dem Menschen in seinem gefallenen Zu­stande darf nicht gestattet werden, zu essen von dem Baume des Lebens und dadurch ein Leben voller Elend auf Erden zu verewigen. „

Und Gott trieb den Menschen aus und ließ lagern gegen Osten vom Garten Eden die Cherubim, und die Flamme des kreisenden Schwertes, um den Weg zum Baume des Lebens zu bewahren" (V. 24).
Jetzt befindet sich der Mensch außerhalb Edens. Die Sünde hat ihn über die Grenze des irdischen Paradieses hinausgetrieben. Die Welt ist für ihn eine Wüste geworden, in der er für sein tägliches Brot sich abmühen muß. Der Gläubige wird dort nicht zurückgelassen. Gott führt ihn durch sie gerade dem Himmel zu; aber das irdische Paradies kann nie wieder er­reicht werden. 

Es ist für den Menschen in seinem gefallenen Zustande unzugänglich. Die Cherubim und die Flamme des kreisenden Schwertes bewahren den Weg zum Baum des Lebens. Der Mensch kann seine Unschuld nie wieder erlangen. Wohl lesen wir in ps 26: „Ich wasche in Unschuld meine Hände und umgehe Deinen Altar, Jehova!" Jedoch bezieht sich dieses ohne Zweifel auf die geweihten Priester Gottes unter dem Gesetz, die ihre Hände und Füße in dem Waschbecken der Reinigung wuschen, bevor sie die heilige Stätte betraten.

Die einzige Quelle des Lebens und der Segnung für den mit Sünde bedeckten Menschen ist jetzt Christus in Auferstehung. Er ist von Seiten Gottes das einzige Mittel zur Befreiung von der gefallenen menschlichen Natur und all ihren bitteren Früchten.
Jetzt könnte, angesichts dessen, was wir in Eden gesehen haben/ die wichtige Frage erhoben werden: Wie konnte der heilige und gerechte Gott in solcher Gnade dem Menschen, einem Sünder/ begegnen, der Ihm nicht gehorcht und Ihn verunehrt hatte. Das ist in der Tat eine Frage, die persönlich jedes Kind Adams betrifft. 

In der Weissagung: „Er wird dir den Kopf zermalmen und du, du wirst ihm die Ferse zermalmen" liegt die Antwort. In diesen Worten ist, obwohl sie noch dunkel sind, das große Werk der Erlösung, das auf Golgatha vollbracht wurde, vorbildlich dargestellt. Der Heiland Jesus Christus, Er, der Gerechte für die Ungerechten, litt und starb am Kreuze, damit Er uns zu Gott führe. 

Das Gewicht des Zornes Gottes fiel an unserer Statt auf Ihn, Christus starb für Sünder. Auf Grund des Werkes Christi, das, wie Gott voraussah, auf Golgatha vollbracht werden sollte, wirkte Er durch Seine Gnade in den Herzen des ersten gefallenen Paares. Er vergab ihnen ihre Sünde und segnete sie mit Seinem Heil kraft der zuvor erkannten Blutvergießung Jesu, Seines eingeborenen Sohnes.

Das Kreuz ist sowohl der Ausdruck der Gerechtigkeit Gottes, als auch, von Adam bis zu uns, der Ausdruck der Rechtferti­gung aller Wege Gottes in betreff der vergebenden Liebe und Barmherzigkeit. „ ,.. zur Erweisung seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden unter der Nachsicht Gottes; zur Erweisung seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, daß er gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesum ist" (Röm 3, 25, 26). 

Dieses ist der einzige Boden, auf dem Gott dem Sünder in Frieden, in Gnade und in Liebe begegnen kann. Aber hier kann Er ihm begegnen über­einstimmend mit Sich Selbst. Christus hat am Kreuze Gott so vollkommen verherrlicht und die Sünde so völlig ausgelöscht, daß es nun eine gerechte Sache ist, wenn Gott dem Sünder, der glaubt, in vollkommener Gnade begegnet und ihm das ge­währt, was Er Christo schuldig ist. Fern von dem Garten Eden wohnte Gott. 

Was Er auf Golgatha zu vollbringen beabsichtigte, vor die Seele des Menschen: alle, die während jener Periode Gott glaubten, gemäß der Offenbarung, die Gott von Sich Selbst gegeben hatte, wurden gerechtfertigt auf Erden und hatten, kraft des Opfers Christi, Anspruch auf das Paradies Gottes im Himmel.
Aber die förmliche Darstellung dieser herrlichen Wahrheit blieb der feierlichen Szene auf Golgatha selbst vorbehalten. Dort finden wir die vollständige Umänderung des in Eden ge­fällten Urteils, und zwar in den Worten, die der Herr an den bußfertigen Schacher richtete: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein." 

Dort finden wir auch den völligen Wider­spruch aller falschen Darstellungen Satans. Er flüsterte den Menschen zu, daß Gott sie nicht wirklich liebe und daß Er ihnen eine Frucht ihres eigenen Gartens mißgönne; aber die Antwort Gottes vom Kreuze her lautete: „Ich gebe freiwillig meinen geliebten Sohn hin, daß er für meine Feinde sterbe." 

An dem Platz, wo der Same des Weibes in schrecklichem Kampfe dem Verleumder Gottes und dem Verführer des Men­schen begegnete, wurde die Verheißung Gottes erfüllt und Sein hier gefällter ernster Urteilsspruch förmlich umgeändert in be­treff derer, welche glauben. 

Dort wurde das Haupt der Schlange zertreten und seine ganze Macht vollständig und für immer vernichtet. Und dort wurde ein neuer und lebendiger Weg auf­geschlossen, auf dem Gott zu dem Menschen mit den reichsten Segnungen herniedersteigen und auf dem der Mensch zu Gott emporsteigen kann in der Freiheit, Vollkommenheit und An­nahme Christi Selbst.

Die Bekehrung des Räubers am Kreuz war die Veranlassung einer völligeren Offenbarung dieser herrlichen Wahrheiten. Der Herr bezeugt dem Unglücklichen in den klarsten Aus­drücken, daß er noch an demselben Tage mit Ihm im Paradiese sein würde. 

In dem Augenblick, als der Herr Jesus das Gericht Gottes über die Sünde für uns ertrug und den Weg zum Para­dies droben öffnete, wurden auch die Augen dieses Mannes erleuchtet, damit er sich als einen verlorenen Sünder und Jesum als den Erretter sehen konnte. Sein Herz war jetzt für Christum aufgeschlossen und seine ganze Seele mit dem Gedanken an den heiligen Dulder neben ihm erfüllt.

 Was den Räuber betrifft, so haben wir ein leuchtendes und wahres Beispiel des Gnadenwerkes Gottes in uns; während wir in der Person Jesu an seiner Seite das große Gnadenwerk Gottes für uns erblicken. Aber obwohl diese Wahrheiten neben­einander zur Schau gestellt werden, so sind sie doch völlig von­einander verschieden. Und dennoch sind sie unzertrennlich mit­einander verbunden. 

Das Gnadenwerk in dem Herzen eines Sünders ist gegründet auf das Werk Christi für den Sünder. Der Geist ist es, welcher der Seele die Herrlichkeit der Person und die Vollkommenheit des Werkes Christi offenbart. Die Bekehrung des armen Räubers ist ein bewundernswertes Bei­spiel dieser Wahrheit. Kurz bevor der Wechsel stattfand, legte er ein kräftiges Zeugnis für Jesum ab, verurteilte sich selbst und seinen Gefährten und strafte die ganze Welt Lügen. „Dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan." 

Aber es scheint auf den ersten Blick bemerkenswert, daß, obwohl er ein solches Zeugnis von dem sündlosen Dulder und von sich, dem vor­nehmsten der Sünder, ablegt, er nicht um Vergebung seiner Sünden bittet. Wie können wir das erwarten? 

Ohne Zweifel nahm Ihn die Fülle und Herrlichkeit der Person Christi gänzlich in Anspruch. Nur für Christum und für nichts anderes hatte er ein Auge. Augenscheinlich war sein Gewissen erwacht und aufrichtig. „Auch du fürchtest Gott nicht", ruft er seinem un­bußfertigen Gefährten zu, „da du in demselben Gericht bist. Und wir zwar mit Recht; denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan." Er hat jetzt nur einen Gedanken, nur einen Wunsch, nämlich, daß sein Teil mit Christo sein möchte.
0 welch eine Szene stellt in diesem Augenblick Golgatha vor unsere Augen! Die Stätte ist umringt von einer Menschen­masse jeglichen Schlages. Die Welt ist dort repräsentiert und wird durch ihren Fürsten angeregt, den sterbenden Heiland zu schmähen und zu lästern. 

Auch die beiden Übeltäter stimmen, als ihr Ohr die Lästerung vernimmt, zu Anfang dieser schreck­lichen Szene mit in das Urteil der Menge ein. Aber einer von ihnen wird bekehrt. — Ein Herz ist gebrochen. — Er zeugt von Ihm und sucht Seine Segnung. Welch ein Labsal für das lei­dende Herz Jesu. 

Der Himmel hat dieses Labsal gesandt. Die Erwähnung des „Paradieses" erinnert den von Gott verlassenen Dulder an die Stätte, wo Er bald sein wird. Christus hat Sei­nen angemessenen Platz in dem Herzen des Neubekehrten. Alles muß diesem zum Besten dienen. Die Frucht Gottes, als der Weisheit Anfang, ist vor seinen Augen. Das Licht Gottes strahlt in seine Seele hinein. 

Jedes Ding wird jetzt in einem ganz neuen Licht geschaut. Die Sünde, die Heiligkeit, die Ge­rechtigkeit, Gott, er selbst, Christus, sein Mitschuldiger — alles dieses wird in einem Lichte gesehen, das die Dinge so zeigt, wie sie sind. Aber der leidende, sterbende Heiland an seiner Seite ist der eine große Punkt, woran sein Auge hängt, und, o kostbarer Glaube! er wirft sich an das Herz Jesu. „Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem Reiche kommst." Obwohl er in allen Ängsten des Kreuzes war, denkt er dennoch nicht an sich; obwohl er durch den Glauben in Jesu den Herrn erkennt, bittet er dennoch nicht um Milderung seiner körperlichen Leiden. 

Er bittet Ihn nur, sich seiner in Seinem Reiche zu erinnern. 0 welch eine heilige Absonderung im Herzen von dem Ich, von der Sünde, von den Leiden, ja von allem, nur nicht von Jesu, dem Haupt des kommenden Reiches!
Aus der Bitte des sterbenden Übeltäters geht vollkommen klar hervor, daß er glaubte, der Herr werde wiederkommen, und zwar in Macht und Herrlichkeit. Dieses war um so bemerkens­werter, da sich an dem gekreuzigten Jesus nicht die geringste Spur von Macht oder Herrlichkeit kund gab. Doch der Glaube sieht, wie Gott sieht. Seine eigenen Jünger hatten Ihn verlassen und verleugnet; aber der arme Räuber erkannte Ihn an. 

Er glaubte, daß Sein Reich, das ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung gewesen war, wiederkommen werde, obschon gerade in diesem Augenblick der König verworfen wurde und sterbend zwischen zwei Räubern hing. Wie bewundernswert ist der Glaube! Doch er war von Gott belehrt; und dieses erklärt alles. In wenigen Augenblicken überschreitet er weit das Maß der Erkenntnis dessen, was die Apostel in betreff der Wahrheit erkannten. Er glaubt an die Auferstehung; er glaubt, daß Jesus auferstehen und in voller, königlicher Herrlichkeit wiederkommen werde.
In der Antwort des Herrn wird sein Glaube vollkommen ge­rechtfertigt. Er hatte sich an das Herz des Heilands geworfen; und die Hilfsquellen dieses Herzens wurden ihm dann und für immer geöffnet. Der Herr offenbart Sich Seinem sterbenden Heiligen mehr, als ein König. Er ist ein König, aber Er ist noch mehr. Er ist ein Heiland; Er ist Jesus, der Erlöser. „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein." Welch ein kostbares Zeugnis für das Ohr eines sterbenden Heiligen! Und welche Gnade für den vornehmsten der Sünder. 

Er hatte nicht nötig, bis zu dem Augenblicke zu warten, wo die Herrlichkeit des Königs offen­bart werden und jedes Auge Ihn sehen sollte, sondern „heute" und „mit mir", — das waren die gnadenreichen Worte des Heilandes Jesu. Es war ein gegenwärtiges Heil. Und von diesem schimpflichen Kreuz kam er in ein weit heiligeres, glückse­ligeres und glänzenderes Paradies, als dasjenige war, das unsere Eltern durch Übertretung verloren hatten.

„Aber" — könnte jemand fragen — „ist denn die Seele bei jeder Bekehrung so unmittelbar für den Himmel bereit gemacht, wie dies bei dem bußfertigen Räuber am Kreuze der Fall war?" Gewiß, ohne Zweifel. Der Zustand des Gläubigen in Christo und sein Rechtsanspruch auf den Himmel sind von Anfang an dieselben. Seine Erfahrungen mögen tief unter seiner Stellung stehen; und er mag nicht zu allen Zeiten fähig sein, seine Rechtsansprüche klar zu erkennen; aber dennoch sind sie stets dieselben. „Wer den Sohn hat, hat das Leben." Jeder Gläubige hat Christum; und etwas Höheres gibt es nicht.
In der Predigt des Evangeliums ist der Sünder eingeladen, gerade so wie er ist, zu Christo zu kommen. Er ist, wie auch der Gemütszustand, wie auch die Geschichte seines vergange­nen Lebens sein mag, aufgefordert, wo und wie er ist, dem Zeugnis Gottes bezüglich Seines geliebten Sohnes zu glauben, im Glauben auf Christum zu schauen, mit aufrichtigem Herzen, zu Ihm zu kommen, der gesagt hat: „Wer zu mir kommt, den „ werde ich nicht hinauswerfen." Alle, die kommen, finden Auf­nahme; niemand wird abgewiesen. Sie mögen hernach eine Zeitlang in Gesinnung und Wandel umherirren, so hat dennoch der Herr gesagt: „Ich will niemanden hinausweisen."

Das Evangelium verrät keinen Gedanken, als ob der Sünder, damit er für den Heiland geeignet sei, etwas tun, etwas fühlen, oder etwas sein müsse. Der Sünder ist als verloren bezeichnet. Geringeres gibt es nicht. In diesem schrecklichen Zustand wird er eingeladen, aufgefordert, ja dringend gebeten, auf Jesum zu schauen, um gerettet zu sein. „Wendet euch zu mir und werdet gerettet, alle ihr Enden der Erde; denn ich bin Gott und keiner sonst" (Jes 45, 22). — 

Der Sünder findet Rettung nicht für das Hinaufschauen und nicht nach dem Hinaufschauen, sondern im Hinaufschauen. War es der erste, zweite oder dritte Blick auf die eherne Schlange, wodurch der sterbende Israelit neues Leben empfing? Wir wissen alle, daß es der erste Blick war. Wenn er nur aufblickte, so lebte er. Und gerade so ist es in bezug auf den verlorenen Sünder. 

Wenn er zu Jesu gläubig emporblickt, so ist er gerettet. Und laßt uns wohl beachten, daß das, was ihm begegnet, das „Heil Gottes" ist, das jegliche Segnung einschließt. Hier beginnt der Gläubige seine Ewigkeit mit dem gesegneten Sohne Gottes, wenn er auch nicht gleich an demselben Tage ins Paradies gehen mag. 

Er mag seine hohe Berufung aus dem Auge verlieren und Handlungen begehen, die mit seinem neuen Leben und mit Ihm, der dessen Quelle ist, im Widerspruch stehen; aber dennoch bleibt das Leben unveränderlich dasselbe. Christus ist das Leben des Gläubigen; und nimmer kann das Leben Christi berührt werden. Dies alles ist von dem Augenblick an völlig wahr, wo der Sünder dem Zeugnis Gottes in bezug auf Jesum glaubt. Der Gläubige selbst mag es bezweifeln; „aber das Wort des Herrn bleibt in Ewig­keit. Dies aber ist das Wort, welches euch verkündigt worden ist" (1. Petr 1. 25).

Der bußfertige Räuber am Kreuz liefert uns zu diesen kost­baren Wahrheiten ein schlagendes Beispiel. Was war er? War er ein sittlicher Mann? Nein. Ein religiöser Mann? Nein. Was denn? Soviel wir wissen, war er ein Räuber und erlitt gerade jetzt die letzte Strafe des Gesetzes für seine Verbrechen. Den­noch blickte er, durch die Gnade dazu zubereitet, auf Jesum, indem er rief: „Gedenke meiner, Herr!" — und fand Rettung am Fluchholze. Seinem brechenden Auge begegnete ein Blick vollkommener Liebe, und sein Herz fand die Versicherung eines gegenwärtigen Heils. 

Vor seiner Bekehrung hatte er nichts Gutes getan; und sicher hatte er nachher keine Gelegenheit dazu. Er konnte vor seinem Tode weder getauft werden, noch teilnehmen am Tische des Herrn. Er^war ans Kreuz genagelt. Soviel wir wissen, ging er von der Erde in den Himmel, ohne sich irgendeiner guten Handlung rühmen zu können. Und dennoch war er von dem Augenblick an, wo er an Jesum glaubte, zubereitet. Ihm im Paradiese begegnen zu können. 

Und so handelt die wunderbare Gnade Gottes gegen jeden armen, verlorenen Sünder, der an Jesum glaubt. Gepriesen sei Sein Name dafür! Außer Jesu bedürfen wir nichts; wir haben Alles in Ihm, wir haben Ihn von dem Augenblicke an, wo wir zu glauben beginnen. 

Hätte der Räuber noch hundert Jahre nach seiner Bekehrung gelebt, und hätte er einen Überfluß an guten Werken aufzuweisen gewußt, so würde er allerdings, als Belohnung für die dem Herrn frei geleisteten Dienste eine weit reichere Krone erlangt haben, aber nie würde er fähiger ge­worden sein für das reine Licht des Paradieses Gottes im Himmel.
Schließlich möchte ich fragen: „Ist auch mein Leser also vor­bereitet, so bereit, den gegenwärtigen Schauplatz in irgend­einem Augenblick zu verlassen und emporzusteigen zu dem vollkommenen Lichte der Gegenwart Gottes im Himmel? 

Wenn der Herr Jesus jetzt im Begriff wäre, zu kommen, oder wenn, wie in vorliegendem Fall, das Auge im Tode zu brechen und der Pulsschlag des Herzens zu stocken begönne, würde dann die Stunde des Scheidens eine glückliche oder trostlose sein? Diese Frage ist ernst und wichtig. Es ist eine Frage, die einmal früher oder später vor unsere Seele treten muß. In einem sol­chen Augenblicke ist ein bloßes Bekenntnis geringer als gar nichts. 

Es ist nur ein Blendwerk und ein Zeugnis unserer Heuchelei. Christus Selbst und nur Christus verleiht dem Sünder die Fähigkeit für das Paradies Gottes. Nichts anderes besaß der arme Räuber; und nichts anderes bedurfte er.
Wisse denn, mein Leser, daß in uns durchaus nichts Gutes wohnt, und daß, wenn wir nicht in dem Kleide eines anderen vor Gott erscheinen, unser Platz für immer in der äußersten Finsternis sein wird. Stehen wir nicht in der Fülle Christi vor Gott, so haben wir alles verloren; wir haben den Himmel ver­loren, Christum verloren, die Seele verloren, ja alles und für immer verloren. 

Drum sage mir: Ist Jesus Dein — Dein durch den Glauben? Gibt es noch eine Ungewißheit betreffs dieser Frage in Deiner Seele? 0 dann säume nicht, ruhe nicht, schlafe nicht, bis Du Dich völlig in Sicherheit siehst durch den Glauben an das Blut des Lammes, das reinigt von aller Sünde. Hast Du Dich erkannt und verurteilt als einen durchaus verdammungs­würdigen Sünder? Glaubst Du dem Zeugnis Gottes bezüglich der Person und des Werkes Christi? 

Ist dies der Fall, so bist Du sicher gerettet. Christus Selbst ist dann Dein Eigentum. Er gab für uns Sein Leben hin. Er ist jetzt der vollkommene Ruhe­punkt Deiner Seele. „Glaube nur", und Er wird für immer und ewig Deine Krone, Deine Freude und Herrlichkeit sein. „Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, auf daß er die Welt richte, sondern auf daß die Welt durch ihn gerettet werde" (Joh 3, 16. 17). „Und es geschah eine Stimme aus der Wolke, welche sagte: Dieser ist mein geliebter Sohn, ihn höret" (Lk 9, 35).