16.) Psalmen Lobpreis 10 Jh.v. Chr.u.später

12/24/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Das Buch der Psalmen ist eine einzigartige Sammlung geistlicher Lobgesänge (der hebr. Titel Tehillim bedeutet »Lobgesänge«. 

Sie wurden ursprünglich mit Musikbegleitung gesungen, worauf der Titel »Psalmen« (von gr. psalmos) hinweist. Die 150 Psalmen wurden schon im Judentum in fünf Bücher aufgeteilt; einige Ausleger sehen hier eine Entsprechung zu den fünf Büchern Mose. 

Die meisten Psalmen stammen von David, der auch ihren Einsatz beim levitischen Lobgesang im Tempel veranlaßt hat. Andere Verfasser waren z.B. Mose und der levitische Sänger Asaph. Die Psalmen sind das reichste Werk der biblischen Dichtung, die besonders durch den »Parallelismus« gekennzeichnet wird, d.h. die parallele Gegenüberstellung von zwei oder mehr Verszeilen, die einander in ihrer Aussage entsprechen, weiterführen oder kontrastieren. 

Ihrem Inhalt nach sind die Psalmen von Gottes Geist inspirierte Lieder des Glaubens und des Lobes, in denen Gott den Gläubigen aller Zeiten eine Fülle von Trost und Hoffnung, Glaubensstärkung und Einblick in Gottes Wesen, geistlicher Belehrung und prophetischer Offenbarung geschenkt hat. 

Viele Psalmen haben einen Bezug zum persönlichen Erleben des Verfassers, gehen aber darüber hinaus und beschreiben allgemeine geistliche Erfahrungen. Bestimmte Psalmen haben eine ausdrücklich prophetische Bedeutung und offenbaren die Wege Gottes mit Israel in der großen Drangsal und beim Anbruch des messianischen Königreiches. 

Eine besondere Rolle spielen die messianischen Psalmen, in denen auf den verheißenen Messias, den Herrn Jesus Christus, den Retter-König für Israel und die Welt, hingewiesen wird (vgl. Lk 24,44). Wir finden Psalmen, in denen seine Erniedrigung und sein Leiden am Kreuz geschildert wird (z.B. Ps 22, Ps 69); in Ps 110 wird auf seine Erhöhung zur Rechten Gottes hingewiesen, in vielen Psalmen auf sein Eingreifen zur Errettung Israels und auf den siegreichen Anbruch seiner Königsherrschaft und seines Friedensreiches für Israel und die Welt (z.B. Ps 2; Ps 24; Ps 93-100). 

Die Psalmen sind für zahllose Bibelleser zu einer unerschöpflichen Quelle geistlicher Ermutigung und vertrauensvollen Gotteslobes geworden, in Not und Anfechtung wie in Tagen des Segens und der Freude.

Psalmen Charakter und Thema der Psalmen Rossier Henry

02/20/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

EINLEITUNG

Wenn man einen bestimmten Abschnitt aus einem Buch der Heiligen Schrift lehrmäßig erklären will, muß zunächst sein Zusammenhang mit dem ganzen Buch zumindest mit einigen kurzen Erläuterungen dargelegt werden. Unterläßt man der­artige Vorbemerkungen, läuft man Gefahr, nicht verstanden zu werden. Kein Schreiber darf bei seinen Lesern allgemeine Kenntnisse voraussetzen, die die meisten doch nicht haben. Das trifft in besonderem Maße zu, wenn es sich um die pro­phetische Bedeutung der Psalmen handelt. Vor allem müs­sen hier zunächst die Umstände erläutert werden, auf die sich die Psalmen beziehen. 

Dann bedarf auch die Tragweite jedes der fünf Bücher, aus denen sich die Psalmen zusam­mensetzen, einer Erklärung, von den weiteren Unterteilun­gen der einzelnen Bücher ganz zu schweigen. Hier liegt die große Schwierigkeit dieser kleinen Arbeit, die im Lauf vieler Jahre zusammengestellt wurde. Wenn diese Schwierigkeit die schwachen Kräfte des Verfassers auch bei weitem über­steigt, würde er sich doch glücklich schätzen, wenn er durch die folgenden Zeilen etwas von dem Interesse bei seinen Brüdern wecken könnte, das die Beschäftigung mit dem vorliegenden Gegenstand bei ihm selbst hervorgerufen hat.

 

DIE PROPHETISCHE GESCHICHTE DER LETZTEN TAGE 

I. Charakter und Thema der Psalmen 

Die Psalmen sind ein p r o p h e t i s c h e s Buch von ganz besonderem Charakter. Zweifellos enthalten sie wie das ganze Wort Gottes auch praktische Belehrungen. Sie bilden geradezu einen Schatz von Erfahrungen und moralischen Unterweisungen, aus dem bereits Generationen von Gläubi­gen nacheinander geschöpft haben, ohne ihn jemals er­schöpfen zu können. Aber die prophetischen Ereignisse, die sich auf Israel beziehen und die die Grundlage für alle Erfah­rungen dieses Volkes bilden, sind in den Psalmen immer stillschweigend mit einbegriffen. Immer wieder stoßen wir auf ihre Spuren. Das bestreiten heißt, die Psalmen fälsch­licherweise auf die gegenwärtige Zeit anzuwenden. Die Ge­fühle, die durch die prophetischen Ereignisse im Herzen des gläubigen Israeliten hervorgerufen werden, sind den Empfin­dungen, die die Gnade im Herzen eines Christen bewirkt, oft ganz entgegengesetzt. 

Es sei noch darauf hingewiesen, daß wir uns bei der Erfor­schung der zukünftigen Ereignisse nicht auf die Psalmen be­schränken können. Die eigentliche Schilderung dieser Ereig­nisse finden wir dort nämlich nicht; dazu müssen wir uns mit den sogenannten "Propheten" vertraut machen. 

Die Bücher der Propheten offenbaren uns: ‑ die Person des Messias

‑    Sein Werk, in erster Linie für Israel, aber auch für die Nationen

‑    Seine Leiden und Seine Herrlichkeiten

‑    die prachtvolle Herrlichkeit Seines zukünftigen Reiches, das Er auf der Erde errichten wird

‑    die Gerichte, die Christus vor der Aufrichtung dieses Rei­ches ausführen muß

‑    den Zustand Israels und der Nationen, der die Gerichte erforderlich macht

‑    die satanischen Mächte, die sich der Aufrichtung der Ober­hoheit Christi und der Wiederherstellung Israels wider­setzen und deshalb vernichtet werden

‑    die Bildung eines gläubigen jüdischen Überrestes inmit­ten des Abfalls zur Zeit des Endes; die furchtbaren Drang­sale, die ihm sein Zeugnis einbringen wird; schließlich seine endgültige Wiederherstellung, worauf er sich in Frieden an dem herrlichen Reich des Messias erfreuen kann

‑    endlich die Bekehrung einer großen Menge von Nationen durch die Verkündigung des Evangeliums des Reiches. 

Zahlreich sind die Mächte des Bösen zur Zeit des Endes. Da ist an erster Stelle S a t a n , der sie alle inspiriert. Er gibt den Menschen seine ganze Feindschaft gegen Christus, ge­gen Sein Volk (den jüdischen Überrest) und Sein Reich ins Herz. Seine Hauptwerkzeuge sind jedoch: 

1. der falsche Prophet oder der A n t i c h r i s t, der "Ge­setzlose", den das ungläubige jüdische Volk als seinen Kö­nig annehmen wird; 

2. das abgefallene jüdische Volk, "die Ge­setzlosen", die (wie schon in den Tagen des Herrn Jesus) alle hassen, die den wahren König anerkennen und Ihm ge­horchen; 

3. das R ö m i s c h e R e i c h und sein Führer, das erste Tier aus Offenbarung 13, dessen Bevollmächtigter und Re­präsentant in Jerusalem der Antichrist ist; 

4. schließlich der A s s y r e r, der Gegner der vorher ge­nannten Mächte, der deren Sturz bei der Erscheinung des Herrn, der mit Seinen Heerscharen vom Himmel kommt, eine kurze Zeit überleben wird. Das Buch Daniel und die Offen­barung geben uns ausführlich Auskunft über diese Mächte des Bösen ‑ Daniel in Verbindung mit dem Volk der Juden, die Offenbarung mehr im Blick auf die abgefallene Christen­heit. 

Der A s s y r e r wird uns noch besonders beschäftigen; denn er nimmt in den Stufenliedern einen wichtigen Platz ein. Er ist der große Feind Israels im Propheten Jesaja. Die­ser historische Assyrer, der Bedrücker des Volkes Gottes, wie wir ihn aus Jesaja und den geschichtlichen Büchern ken­nen, wird zur Zeit des Endes einen Nachfolger haben. Auch andere Propheten, wie Hesekiel und Daniel, erwähnen ihn oft; manche beschäftigen sich unter all den feindlichen Mäch­ten der Endzeit sogar ausschließlich mit ihm. 

Dem Assyrer schließen sich die N a t i o n e n an. Sie wer­den durch ihn unterstützt werden, wie die zehn Könige durch das Tier, das Haupt des wiedererstandenen Römischen Rei­ches. Auch andere Völker, wie Babel, die Meder, Jawan, Ägypten usw. spielen in der Prophetie eine große Rolle, ganz zu schweigen von denen, die die unzählbaren Scharen des Assyrers bilden: Rosch, Mesech, Tubal, Persien, Kusch, Put, Gomer, Togarma und alle Könige des Nordens, die unter dem Namen "Magog" zusammengefaßt werden (Hes 38; Jer 25, 26). Ich meine hier aber nur die Nationen, d i e Palästina u m g e b e n und die sich auf den Assyrer stützen werden. Doch davon später. 

Es wurde bereits gesagt, daß alle diese prophetischen Per­sonen und Mächte sowie alle Ereignisse, in denen sie die Handelnden sind, in den Psalmen nur stillschweigend mit einbegriffen sind. Die Mächte des Bösen bilden gleichsam den Hintergrund des Buches. Sein eigentlicher Inhalt besteht aus den Erfahrungen, dem Glauben, den Leiden, Befürch­tungen, Hoffnungen, dem Flehen, den Herzens‑ und Gewis­sensübungen, der Buße, den Racherufen und schließlich aus den Lobgesängen des Überrestes. Bei diesen Herzensübun­gen nimmt der M e s s i a s den ersten Platz ein. Er, der frü­her Verworfene, ist jetzt die einzige Hilfsquelle der Söhne des Reiches, die Ihn einst verkannt haben. Daher haben wir eine große Anzahl messianischer Psalmen, um die sich die anderen Psalmen herumgruppieren.

 In diesen Psalmen wird uns das Kostbarste von allem geoffenbart ‑ das Herz und die Gefühle Christ!, Sein Wert für Gott und für Seine Vielgeliebten (den treuen Überrest); Sein Charakter gegenüber dem ungläubigen und gesetzlosen Volk und angesichts der Bedrückung des Feindes; was Er auf dem Kreuz empfand ‑all die vollkommenen Beweggründe, die Seinen ganzen Weg und schließlich Sein Werk zugunsten der Seinen bestimmt haben, werden hier geoffenbart. Wenn der Überrest durch die große Drangsal hindurchgehen wird, wird er nach und nach erkennen, daß der Messias in jeder Hinsicht seine Stelle eingenommen hat ‑ sowohl unter dem Zorn der Re­gierung Gottes als auch gegenüber der Feindschaft der Ge­setzlosen. Er ist der Stellvertreter der Gläubigen geworden, um einerseits ihre Schuld zu tragen, andererseits aber auch mit ihren Schwachheiten mitfühlen zu können. Wenn ich fort­während von dem in den Propheten immer wieder so ge­nannten Ü b e r r e s t rede, dann deshalb, weil er es ist, der überall in den Psalmen redet ‑ sei es der Überrest Ju­das in den ersten beiden Büchern, der Überrest Israels im dritten Buch, oder im fünften Buch Juda und die zehn Stämme, deren Überrest schließlich e i n Volk bildet, das neue Israel. 

Abgesehen von ihrer für alle Zeiten gültigen moralischen Anwendung schildern uns die Psalmen also zum größten Teil zukünftige Empfindungen, die sich auf kommende pro­phetische Ereignisse beziehen. Sie werden für eine zukünf­tige Zeit in den Mund von Gläubigen gelegt, die noch gebo­ren werden. Das bedeutet aber keineswegs, daß der Heilige Geist sie nicht, wie auch die übrigen Weissagungen, mit den Umständen und Erfahrungen derer verbindet, die die Werkzeuge der göttlichen Inspiration waren. 

Die Psalmen sind aus den Erfahrungen und Erlebnissen eines David, Salomo, Asaph oder der Söhne Korahs usw. hervorgegan­gen. Aber wir müssen festhalten, daß ihre Tragweite i m ‑m e r über die vergangenen Ereignisse hinausgeht, die den Anlaß zu ihrer Abfassung bildeten. "Keine Weissagung der Schrift ist von eigener Auslegung." Nur der Geist Gottes kann zukünftige Dinge auf eine solche Weise mit gegenwär­tigen Geschehnissen in Verbindung bringen. Man kann sich in etwa die Gedanken des Überrestes vorstellen, wenn er während der "großen Drangsal" in den Psalmen die genaue Beschreibung seiner Umstände und den Ausdruck seiner eigenen Gefühle entdecken wird. Sie werden sehen, daß andere bereits ihre Erfahrungen gemacht und ihre Leiden erduldet haben. Vor allem aber werden sie erkennen, daß der Messias, den sie einst verachtet hatten, all dies aus Lie­be zu ihnen durchgemacht hat; denn "in all ihrer Bedräng­nis war er bedrängt". Der Geist desselben Christus, der starb, um sie zu erlösen, der aber auch im voraus alle ihre Schmerzen und Nöte getragen hat ‑ Er hat dem Flehen und dem Lobgesang des Überrestes in vollkommener Weise Ausdruck gegeben. 

II. Prophetischer Überblick über die Psalmen 

Nach dieser allgemeinen Einführung möchte ich nun kurz die U m s t ä n d e erläutern, die den einzelnen Büchern der Psalmen und insbesondere dem fünften Buch zugrunde liegen. Dann werde ich mit einigen Worten auf den prophe­tischen A s s y r e r eingehen. Zusammen mit den ihm an­geschlossenen Nationen tritt er besonders im fünften Buch der Psalmen, zu dem die Stufenlieder gehören, immer wie­der hervor, gelegentlich auch in den anderen Büchern. In der Tat befaßt sich das fünfte Buch vor allem mit dem gläu­bigen Überrest des Volkes Israel, der in Jerusalem seine Einheit und seinen Mittelpunkt wiederfindet ‑ aber erst, nachdem der Herr den Assyrer, den letzten Feind Israels, niedergeworfen hat. 

Das e r s t e Buch der Psalmen stellt uns den Überrest Judas vor die Blicke. Dieser ähnelt in vielem den Jüngern, die den Messias vor Seiner Kreuzigung umgaben. Er reicht ihnen sozusagen die Hand, um sich mit ihnen über die Zeit der Versammlung hinweg zu verbinden. Der Überrest hat sich in Jerusalem gebildet und sich von dort aus auf ganz Juda ausgedehnt. Er geht mit der Masse des Volkes zu dem wiederaufgebauten Tempel hinauf und steht somit in einer offiziellen Beziehung zu Jehova, dem Gott Israels. Die Gläu­bigen wohnen in der Stadt und auf dem Lande, aber inmitten eines ungläubigen Volkes und unter der Herrschaft des "Gesetzlosen", also des Antichristen. Ebenso lebten die Juden zur Zeit des Herrn Jesus unter der Regierung He­rodes' und unter dem Joch des römischen Kaisers. Das erste Buch der Psalmen spielt beständig auf den Gesetzlosen und sein Volk, die Gesetzlosen, an. Ferner ist es voll von den Gewissensübungen, die der Überrest im Bewußtsein seiner Sünden und des Zornes Gottes durchzumachen hat. 

Das z w e i t e Buch beginnt mit den Psalmen der Söhne Korahs und endet mit den Psalmen Davids. Hier muß der Überrest Judas gemäß dem Befehl des Herrn in Matthäus 24, 15‑16 und Markus 13, 14 aus Juda fliehen, weil der „Greuel der Verwüstung" im Tempel aufgerichtet worden ist. Dieser aus Daniel 12, 11 (nicht aus Daniel 11, 31, wo es sich um Antiochus Epiphanes handelt) entlehnte Ausdruck bezeichnet den Götzendienst des Antichristen, der die Ur­sache für die Verwüstung Jerusalems durch den Assyrer, die Zuchtrute Gottes, sein wird. Der Überrest läßt bei seiner Flucht seine Brüder, die in Jerusalem wohnen, zurück. 

Die­se bleiben dort bis zur Wiederkunft des Messias. Dadurch geht das Wort Jehovas an Jerusalem in Erfüllung: "ich wer­de in deiner Mitte ein elendes und armes Volk übriglassen, und sie werden auf den Namen Jehovas vertrauen" (Zeph 3, 12). (Die den angeführten Abschnitten aus Matthäus und Markus entsprechende Parallelstelle in Lukas 21, 20‑23, wo die Jünger aufgefordert werden, a u s d e r M i t t e J e r u s a 1 e m s zu entweichen, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zerstörung der Stadt durch die Rö­mer und hat nichts mit der Zeit des Endes zu tun.) Der Über­rest flieht also zu den Nationen. Weiche Nationen das sind, scheint mir nicht mit letzter Sicherheit entscheidbar zu sein. Ich werde jedoch später darauf zurückkommen. Fest steht jedenfalls, daß das Weib aus Offenbarung 12, der Überrest Judas, in die "Wüste" flieht (V. 6 und 14), an eine ihr von Gott bereitete Stätte, wo sie während der letzten halben Jahrwoche Daniels ernährt wird. 

Der schwache Überrest hat dem äußeren Anschein nach seine Verbindung mit Jehova, dem Gott Israels, verloren. Er setzt aber sein Vertrauen auf G o t t ; daher kommt der Name "Elohim" 182 mal in die­sem Buch vor. Das ist der Anfang der "Drangsal Jakobs", von der Jeremia 30, 7 redet, und die in den Psalmen und den Propheten immer wieder erwähnt wird. Diese Drangsal hält auch noch an, nachdem der Überrest in sein Land zurückgekehrt ist. Sie endet erst mit dem Erscheinen Christi zur Ret­tung Seines Volkes. 

Im d r i t t e n Buch finden wir nicht mehr den Überrest Judas und die Psalmen der Söhne Korahs und Davids, son­dern den Überrest Israels (der zehn Stämme) und die Psalmen Asaphs. Dieser Überrest ist seit seiner Weg­führung durch die Assyrer unter viele Völker zerstreut; daher trifft ihn keine Schuld am Tode des Messias. Nach der Vernichtung des Assyrers, des letzten Feindes Israels, kehrt er in sein Land zurück. Dann wird die Herrlichkeit des Mes­sias bereits in Zion geoffenbart sein. Daher der Ausdruck: "Nach der Herrlichkeit wirst du mich aufneh­men" in Psalm 73, 24, dem einleitenden Psalm zu diesem Buch. Die gleichen Worte finden wir auch in Sacharja 2, 8: "Nach der Herrlichkeit hat er mich zu den Na­tionen gesandt, die euch geplündert haben." Das dritte Buch der Psalmen redet viel mehr von der Gnade als solcher als von der Person Christi. 

Das v i e r t e Buch nimmt einen besonderen Platz in den Psalmen ein. Es handelt sich hier weniger um genau be­stimmbare prophetische Ereignisse. Thema dieses Buches ist vielmehr Israel, das der Schöpfer als Gegenstand Seiner Ratschlüsse, Seiner Vorsehung und Regierung zum Mittel­punkt der ganzen Schöpfung gemacht hat. Israel ist in dieser Stellung untreu, ebenso vor als unter dem Gesetz, und wird daher zum Gegenstand des Zornes Gottes (Ps 90). Darauf tritt der Messias an die Stelle Israels und wird Selbst der Mittelpunkt (Ps 91). Aber um Sein Volk zu erretten, macht Er Sich auch zu dessen Stellvertreter unter dem Zorn Gottes (Ps 102). Dann empfängt Er den Lohn für Seine Hingabe ‑die Auferstehung und die Herrlichkeit des Reiches. In die­sem Buch handelt es sich also um das ganze Volk. Schließ­lich wird die Erde unter dem Schutz Jehovas, des Schöpfers, gesegnet (Ps 104). 

Im f ü n f t e n Buch wird der Überrest Judas, der im zwei­ten Buch geflohen war, endlich in sein Land zurückgeführt. Dort geht er durch die letzten Prüfungen der großen Drang­sal hindurch, wird aber schließlich mit den zehn Stämmen vereint, so daß er nur noch ein Volk mit diesen bildet. Das Ergebnis dieser Rückkehr ist die Unterwerfung aller mit dem Assyrer verbündeten Nationen, die das Land Israel umgeben (Ps 108; vgl. Ps 60). Wie wir in den Stufenliedern sehen wer­den, stellt die wiederhergestellte Einheit Israels eines der Hauptmerkmale des fünften Buches der Psalmen dar. Die  dort beschriebenen Leiden sind jedoch die des Überrestes aus Juda. Darauf werde ich später zurückkommen. Bei der Rückkehr des Überrestes hält der Assyrer das Land immer noch besetzt (Ps 107, 39‑40), während der Antichrist und das römische Tier bereits durch den Herrn vom Himmel her vernichtet worden sind oder bald vernichtet werden. Jeden­falls wird der Assyrer nach ihnen gerichtet. 

Im Blick auf die nachfolgende Betrachtung möchte ich auf das fünfte Buch noch etwas näher eingehen, besonders auf die darin erwähnten prophetischen Ereignisse. 

Die Psalmen 107 und 108 bilden die Einführung und fassen den Inhalt des ganzen Buches zusammen. Psalm 107 be­ginnt mit dem bekannten Lobgesang: "Preiset Jehova, denn er ist gut, denn seine Güte währt ewiglich." Dieses Lob weist überall in den Psalmen auf den Anbruch des Friedensrei­ches hin. Das Wesen Gottes, wie es sich in all Seinen We­gen mit Seinem Volk geoffenbart hat, wird darin gepriesen. In seinem weiteren Verlauf gibt der 107. Psalm einen Über­blick über diese Wege von der Verwerfung des jüdischen Volkes an bis zu seiner Rückkehr in sein Land zur Zeit des Endes.

 Es wird als Nation zurückgeführt, also in seiner Gesamtheit gesehen (Jer 30, 3). Israel wird durch die Wüste geführt, aus seiner Gefangenschaft und von den Pforten des Todes errettet. Auf dem großen Meer erfährt es die Hilfe Gottes, so daß es schließlich im Hafen ankommt und eine scheinbare Ruhe in seinen wiederaufgebauten Wohnstätten findet (V. 36). Dort besäen sie Felder und pflanzen Wein­berge, die Frucht bringen. Aber man muß dabei beachten, daß Jehova in Seinen Wegen mit Israel nur die E r l ö s t e n im Blick hat, deren Flehen Er beantwortet. Was das ungläu­bige Volk anbetrifft, wird Er dagegen "still sein" und es dem Gericht überliefern (Jes 18, 4‑6). 

Es sind also die Umstände des Überrestes aus Juda, die uns hier und in den folgenden Psalmen in besonderer Weise vorgestellt werden. Die Rückkehr des Überrestes in sein Land zusammen mit dem ungläubigen Volk ist noch nicht das Ende, sondern im Gegenteil erst der Beginn seiner eigent­lichen Drangsal. Nachdem er nach Israel zurückgekehrt ist, wird er durch "Bedrückung, Unglück und Jammer" nieder­gebeugt (V. 39). Die "Fürsten" werden verachtet und irren aufs neue in der "pfadlosen Einöde" umher. Aber der "Arme" wird aus dem Elend emporgehoben, und seine Ge­schlechter werden gleich "Herden". Das ist die Geschichte des Überrestes Judas, der mit der Masse des Volkes in sein Land zurückgekehrt ist, um in Juda und Jerusalem ein Zeug­nis zu bilden, der dann in der Wüste umherirrt und schließ­lich ein Volk mit den Gläubigen aus Israel bildet. 

Der 108. Psalm, der aus den jeweiligen Schlußversen von Psalm 57 und Psalm 60 zusammengesetzt ist, ist sehr cha­rakteristisch für das fünfte Buch. Während der vorherge­hende Psalm nur die Leiden des jüdischen Überrestes be­schreibt, wird uns hier der Überrest aus Juda und Israel in seiner Gesamtheit vorgestellt, und zwar in Verbindung mit den Ereignissen, die seine Wiederherstellung unter der Re­gierung des Messias begleiten. Die Feinde, die hier unter­worfen werden, sind die N a t i o n e n , die sich mit dem Assyrer verbündet hatten. Sie müssen sich der Herrschaft Christi beugen, der nunmehr an der Spitze Seiner G e l i e b t e n , des wahren Israels, steht. 

Psalm 109 zeigt uns das Gericht der Feinde, insbesondere das des G e s e t z 1 o s e n , der den Überrest verfolgte. Dieser Gesichtspunkt war in den beiden vorhergehenden Psalmen noch nicht betont worden. Das erbarmungslose Ge­richt über den Gesetzlosen ist notwendig, um in Psalm 110 die herrliche Regierung Christ! einführen züi können. Dieser Gesetzlose war für David Saul, für Christus der Verräter Judas (Apg 1, 20). Für den Überrest des Endes wird es der Antichrist sein, um den es in diesem Psalm vor allem geht. 

Auf die Leiden Christi, die das Muster für die Leiden des Überrestes darstellen, folgen in Psalm 110 Seine Erhöhung und Verherrlichung zur Rechten Gottes. Er ist auferstanden und wird als Sohn Gottes, Sohn Davids und wahrer Melchisedek an den Nationen und an dem "Haupt über ein großes Land", dem Assyrer, Rache nehmen. Er wird den Stab Seiner Macht aus Zion senden, und der Tau Seines neuen Volkes wird Ihm aus dem Schoße der Morgenröte kommen. 

In den Psalmen 111‑113 finden wir die Hallelujahs, die der Erhöhung Christi aufgrund Seiner Leiden folgen. In Psalm 111 werden Seine W e r k e gepriesen, in Psalm 112 Sein W e s e n : "Er ist gnädig und barmherzig und gerecht." Diesen Charakterzügen entsprechen auch Seine Geliebten. Das Ergebnis hiervon ist, daß das Horn des Gerechten "er­höht werden wird in Ehre". Der G e s e t z 1 o s e (der Anti­christ) wird es sehen, mit seinen Zähnen knirschen und ver­gehen. Auch das Begehren der Gesetzlosen, seiner Verbün­deten, wird untergehen (V. 9‑10). In Psalm 113 wird der N a m e Jehovas erhoben. Er erhöht den Geringen, um ihn bei den Edlen wohnen zu lassen (vgl. Ps 107,40‑41). Die Un­fruchtbare, ganz Israel, wohnt in Sicherheit als fröhliche Mut­ter von Söhnen. 

Auch die Psalmen 114‑117 enthalten Hallelujahs. Psalm 114 preist den Gott Jakobs, der Juda und Israel aus Ägypten gezogen und den Felsen in eine Wasserquelle verwandelt hatte (vgl. Ps 107, 35; Jes 41, 18). In Psalm 115 lobt das g a n z e Haus Israel in Verbindung mit dem Hause Aarons, also dem Priestertum, und all denen, die Jehova fürchten, den Namen seines Gottes. In Psalm 116 stimmt Christus Selbst den Lobgesang in der Gegenwart des ganzen Volkes an, im Lande der Lebendigen und in den Vorhöfen des Hauses Jehovas, in der Mitte J e r u s al e m s. Schließlich haben wir in Psalm 117 das Hallelujah aller Nationen und aller Völker. 

In Psalm 118 hören wir den immer wiederkehrenden Lob­gesang zu Beginn des Reiches Christi: "Preiset Jehova! denn er ist gut, denn seine Güte währt ewiglich." Alle Wege Gottes mit Seinem Volk und denen, die Ihn fürchten, finden in der Regierung Christi ihre Vollendung. Wir haben hier wiederum das ganze Haus Israel, das Haus Aaron und diejenigen, die Jehova fürchten. Die Verse 10‑12 beschrei­ben uns den Anteil, den Christus und der Überrest an der Vernichtung der N a t i o n e n haben. Christus, der verwor­fene Stein, ist zum Eckstein geworden. Der Tempel, in dem die Heiligen Gott preisen, und der Altar, wo sie ihre Opfer darbringen, sind wiederhergestellt. Als Resultat aller Leiden des Überrestes wird dann in Psalm 119 das Gesetz auf sein Herz geschrieben: Bevor er gedemütigt ward, irrte er (V. 67). Die Hochmütigen und Gesetzlosen spielen eine große Rolle in diesem Psalm. 

An dieser Stelle sind die Stufenlieder eingeschoben, also die Psalmen 120‑134, sowie die Psalmen 135 und 136, die einen notwendigen Anhang zu den Stufenliedern bilden. Darauf werde ich später im einzelnen zurückkommen. 

Mit Psalm 137 beginnt eine neue Gruppe von Psalmen, die bis Psalm 145 reicht. Diese Psalmen sind deshalb so beson­ders bemerkenswert, weil sie das Gegenstück zu den Erfah­rungen des g a n z e n V o l k e s bilden, die bisher be­schrieben wurden. David ist der Schreiber dieser Psalmen, die daher die Geschichte des Überrestes J u d a s schil­dern, und zwar von der Babylonischen Gefangenschaft bis zur Zeit des Endes, bis zu den Hallelujahs, die das ganze Buch der Psalmen abschließen. Wenn es sich hier also um Juda handelt, kann der Antichrist nicht schweigend übergangen werden. Er ist der Gesetzlose (Ps 139, 19; 140, 4. 8); die ihn umgeben, sind die Frevler, die Gesetzlosen (Ps 141, 9. 10; 145, 20). Doch auch andere Personen und Nationen werden ausdrücklich erwähnt: der "böse Mensch" und der "Mann der Gewalttat" (Ps 140, 1), die Hoffärtigen, die Schlingen legen (Ps 140, 5; 141, 9; 142, 3). Dieser letzte Charakterzug könnte sich auf den Assyrer und seine Bun­desgenossen beziehen (vgl. Ps 124, 7). Der Assyrer findet sich hier aber auch in Person ‑ als der "Mann von böser Zunge", der denkt, er könne im Lande Israel feststehen (Ps 140, 11). 

173  Doch kehren wir zu den einzelnen Psalmen zurück. In Psalm 137 beschäftigt sich der nach Babylon weggeführte Überrest Judas mit Zion und Jerusalem. Er fleht zu Jehova um Rache an Edom. Das verweist auf die Rolle der Nationen in den letzten Tagen, wovon später die Rede sein wird. Edom steht an der Spitze dieser Nationen. Als Jerusalem von Nebukad­nezar belagert wurde, sprachen die Edomiter: "Entblößet sie bis auf die Grundfeste." Dafür wird Edom bis zu seinen kleinen Kindern vertilgt werden. Gott wird ihm keinen Überrest lassen (siehe Obadja; Jer 49). 

In Psalm 138 lobsingt Juda durch den Mund Davids. Der Überrest betet gegen den Tempel hin an. Wie in Psalm 107 hat er gerufen, und Gott hat geantwortet. Er freut sich auf den Augenblick, wenn nicht nur Israel, sondern alle Könige der Erde Jehova preisen werden. Gott sieht den Niedrigen. Er wird die Sache des Überrestes vollenden und die Werke Seiner Hände nicht aufgeben. 

In Psalm 139 zeigt sich aber, daß die soeben erwähnten Seg­nungen nur eingeführt werden können, wenn Herz und Ge­wissen der Gläubigen geprüft und erforscht sind. Darauf lernen sie, die Feinde Gottes zu hassen (V. 21), nicht mehr nur ihre eigenen Feinde, wie in Psalm 137. Sie haben nur noch einen Wunsch ‑ daß Jehova in ihren Herzen heilige und gerechte Wege finden möge. Der Gesetzlose erscheint wieder in Vers 19. 

In Psalm 140 finden wir das ganze Gefolge der Feinde des Überrestes: den Gesetzlosen, den Gewalttätigen, den Mann von böser Zunge, diejenigen, die den Überrest umringen. Diese Namen weisen auf den Antichristen, Edom, den Assy­rer und die Nationen hin, wie wir bereits früher gesehen haben. Wie in Psalm 120, 4 fallen feurige Kohlen auf sie her­nieder. Der Überrest ist inmitten seiner Feinde ein elendes und armes Volk. 

In Psalm 141 wird der Überrest inmitten des Bösen erprobt. Seine Gebeine sind hingestreut am Rande des Scheols. Dabei handelt es sich, wie ich denke, um den Antichristen (vgl. Jes 28,15). Aber die Gläubigen werden nicht verschlun­gen. In Vers 9 finden wir, wie in Psalm 124, 7, die Schlinge des Vogelstellers. 

In Psalm 142 (David in der Höhle) ist der Überrest noch nicht nach Jerusalem zurückgekehrt. Wir sehen ihn aber bereits wieder in den Grenzen Judas, im Lande der Lebendigen. Gott ist seine einzige Zuflucht. Der Überrest gehört also nicht zu denen, die, wie wir später sehen werden, nach Ägypten fliehen. 

In Psalm 143 ist die Drangsal Judas noch nicht beendet. Aber der Überrest befindet sich wieder im Land, jedoch mit den gleichen Befürchtungen, die er auch während der Zeit seiner Flucht unter den Nationen hatte. Vergleiche dazu die Verse 6‑7 mit Psalm 63, 1. Er gleicht den Toten der Urzeit ‑ ähn­lich wie die Gläubigen, die in Jerusalem auf ihre endgültige Errettung warten (vgl. Jes 29, 4). 

Psalm 144 zeigt uns den Überrest Judas im Kampf. Das er­innert an den Kampf der Fürsten Judas gegen die Nationen außerhalb Jerusalems (Sach 12, 6). Der Ausruf: "Jehova' neige deine Himmel und fahre hernieder" findet seine Erfüllung in Sacharja 14, 4. Der Überrest bittet Jehova darum, "aus der Hand der S ö h n e der Fremde, deren Mund Eitelkeit redet, und deren Rechte eine Rechte der Lüge ist", errettet zu werden (V. 7. 8. 11). Das kann sich nur auf die Nationen und den Assyrer beziehen. Der Segen, den die Gläubigen erflehen, entspricht dem Segen in den Stufenlie­dern (Ps 127, 3‑5; 128). Vers 15 ("Glückselig das Volk ... «') hat Bezug auf das wiedervereinte Volk. 

In Psalm 145 haben wir das Heil Israels ‑ derer, die Jehova anrufen, Ihn lieben und fürchten. Die Gesetzlosen werden vertilgt und das Reich für alle Zeitalter aufgerichtet. Alles Fleisch lobt den Namen Jehovas. 

Die Psalmen 146‑150 enthalten das großartige Hallelujah, das am Ende der Zeit, zu Beginn des Tausendjährigen Reiches angestimmt wird. Psalm 146 steht in Verbindung mit den Umständen Israels. "Jehova löst die Gebundenen. Jehova öffnet die Augen der Blinden, Jehova richtet auf die Niedergebeugten, Jehova liebt die Gerechten; Jehova be­wahrt die Fremdlinge, und die Witwe hält er aufrecht; aber er krümmt den Weg der Gesetzlosen" (V. 7‑9; vgl. Jes 61, 1‑3). Jehova, der Gott Z i o n s, wird von Geschlecht zu Geschlecht regieren (V. 10). 

In Psalm 147 baut Er J e r u s a l e m und versammelt die Vertriebenen Israels. Damit wird die Rückkehr der zehn Stämme also ausdrücklich erwähnt (V. 2). Jerusa­lem ist befestigt und stark verteidigt; seine Kinder sind ge­segnet in seiner Mitte; der Friede regiert in seinen Grenzen (V. 12‑14). 

In Psalm 148 wird Israel erhöht. Es ist das Volk, das Jehova nahe ist und besteht aus all Seinen Frommen. 

In Psalm 149 frohlocken die Kinder Zions über ihren König (V. 2); die Frommen jubeln über die H e r r l i c h k e i t (V. 5). In ihrer Hand befindet sich ein zweischneidiges Schwert, um an den N a t i o n e n Rache auszuüben, die Völkerschaften zu bestrafen, ihre Könige und Edlen zu binden ‑ um das geschriebene Gericht auszuführen (V. 6‑9). 

Psalm 150 enthält schließlich den universalen Lobgesang.  

III. Der Assyrer 

Diesem Überblick über die Psalmen, der sich leider nicht kürzer fassen ließ, möchte ich noch einige Bemerkungen über den A s s y r e r der Endzeit hinzufügen. 

Es wurde bereits auf ein wesentliches Kennzeichen der Pro­phetie überhaupt hingewiesen. Die prophetischen Personen und Ereignisse beziehen sich auf historische Personen und Ereignisse und setzen diese sozusagen fort. Nur jemand, der mit den Gedanken Gottes nicht vertraut ist, kann das leug­nen; denn dieses Phänomen kehrt in allen prophetischen Büchern wieder. Um sich von der Wahrheit des soeben Ge­sagten zu überzeugen, genügt es, Jesaja 7 und 8 und Da­niel 11 zu lesen. Es gibt jedoch noch viel mehr Beispiele. 

Eine ebenso offenkundige Tatsache ist es, daß die überwie­gende Mehrzahl der vorhergesagten Ereignisse eine be­grenzte Anwendung auf die Vergangenheit nicht gestattet. Angesichts des modernen Unglaubens, der die Prophezeiun­gen bald nur als nachträglich verfaßte Schriften oder be­wußte Fälschungen hinstellt, bald zu Hirngespinsten jüdi­scher Patrioten herabwürdigt, ist es von großer Wichtigkeit, dies zu betonen. 

Der Assyrer der Endzeit ist eine politische Macht in dem Gebiet des alten Assyriens. Allerdings waren die geogra­phischen Grenzen dieses Landes im Verlaufe einer langen, mit Aufständen, Kriegen und Eroberungen angefüllten Ge­schichte dauernden Veränderungen unterworfen. Es wäre also sehr mühsam, wollte man diese Grenzveränderungen historisch nachvollziehen, wie das bei dem Römischen Reich möglich ist. In der Tat hat das Assyrien der Prophetie aus­gedehntere Grenzen als das der Geschichte. Außerdem trägt es mehrere, keineswegs gleichbedeutende Namen. Der ge­bräuchlichste Name im Propheten Hesekiel ist "Gog" (Hes 38‑39). Von diesem Gog redeten auch schon die früheren Propheten Israels (Hes 38, 17) ‑ aber diese Propheten spra­chen von dem Assyrer. 

Ein weiterer Name ist "König des Nordens". Unter diesem Ausdruck ist ein nördlich von Palä­stina gelegenes Reich zu verstehen. Es handelt sich dabei um ein Gebiet, das teilweise dem in seinen Grenzen stets wechselnden Assyrischen Reich angehörte und später das Reich des Seleukos wurde, eines der vier Generäle Alexan­ders des Großen (Dan 8, 21‑24; 11). Die einzelnen Seleu­kidenherrscher werden in Daniel 11 allesamt "König des Nordens" genannt. Sie befinden sich dort in ständigem Kon­flikt mit den Königen des Südens (Ägypten) und Israel, bis schließlich ihr letzter Repräsentant, der Assyrer, auf den Bergen des "Landes der Zierde" sein Ende finden wird (Dan 11, 40‑45). 

Eine Menge von Völkern bilden die Macht des Assyrers. In Hesekiel 38 sind Rosch, Mesech, Tubal, Persien, Äthiopien, Put, Gomer und Togarma seine Verbündeten, wenn er am Ende der Tage vom äußersten Norden heranziehen wird. Eine ähnliche, wenn auch weniger vollständige Aufzählung haben wir in Hesekiel 32, wo Assur, Elam, Mesech, Tubal, Edom, die Fürsten des Nordens und die Zidonier aufgeführt werden. 

Wenn der Prophet Joel von dem zukünftigen Einfall des Assyrers spricht, nennt er ihn den "von Norden Kommen­den" (Joel 2, 20). An anderen Stellen bezieht sich dieser Ausdruck auf Babel oder auch auf die Meder und Perser (siehe z. B. das ganze Buch Jeremia). In Daniel 8, 23‑25 geht der König des Nordens aus dem Reich Alexanders hervor. "Und seine Macht wird stark sein, aber nicht durch seine eigene Macht." Das bedeutet, daß er sich auf die Macht des Assyrers oder Gogs (Rußlands; Hes 38, 2) stützen kann. 

Zur Zeit des Endes wird der Assyrer Ägypten zerstören und dann selbst bei seinem letzten Angriff auf Jerusalem ver­nichtet werden. Danach, während des Tausendjährigen Reiches, werden Assyrien und Ägypten den Gott Israels er­kennen. Diese drei Völker werden verbündet und ein Segen inmitten der Erde sein (Jes 19,18‑25). 

Noch eine andere Macht, die N a t i o n e n, wird in dem Kampf am Ende der Tage häufig erwähnt. In Psalm 83 se­hen wir, daß sie die Ausrottung Israels planen. Wie zur Zeit Nebukadnezars nimmt Edom einen hervorragenden Platz unter ihnen ein. Die anderen Völker werden in seinem Ge­folge genannt: die Ismaeliter, Moab, die Hageriter, Gebal, Ammon, Amalek, Philistäa, Tyrus. Dann fügt Asaph noch hinzu: "Auch Assur hat sich ihnen angeschlossen." Man sieht, daß es sich hier nur um solche Nationen handelt, die das Land Israel umgeben. Sie sind also nicht identisch mit den unzählbaren Scharen, die das Gefolge Gogs bilden (Hes 381 5‑6), und die, wie ich annehmen möchte, schließlich noch durch die Könige des Ostens aus Offenbarung 16,12 verstärkt werden. **) 

Dieses Bündnis der Nationen, das ‑ wie es scheint, vor al­lem moralisch ‑ von Assur oder Gog gestützt wird, wird sich zur Zeit des Endes erheben, um sich Palästinas zu bemäch­tigen und Jerusalem zu zerstören. Der Assyrer will vor allem die unermeßlichen Reichtümer in seine Hand bringen, die die Juden nach ihrer Rückkehr in Palästina angehäuft haben, als sie vor der letzten Hälfte der siebzigsten Jahrwoche Daniels in offenen Städten unter der Herrschaft des Antichristen in Sicherheit wohnten (Hes 38, 11‑12) .** ) Es scheint, daß der Assyrer, der Feind des Antichristen und des römischen Tieres, das außerhalb Jerusalems wohnende Volk täuscht, indem er einen Bund mit ihm schließt. Diesen Bund bricht er dann, um seine Pläne zur Ausführung bringen zu können (Jes 33, 8). So tat er es auch schon zur Zeit Hiskias (2. Kön 18, 14‑17). E d o m hat andere Kriegsziele Im Auge als Assyrien. Es wird von beständigem Haß gegen Israel voran­getrieben._________

*) Diese Frage Ist für mich hiermit nur aufgeworfen, keineswegs bereits gelöst.

Die Könige des Ostens könnten auch eine von dem Assyrer getrennte Heeres­gruppe bilden, die vielleicht sogar dem Tier ihre Unterstützung gegen Assyrien anbieten

**) Es sei hier nur darauf hingewiesen, daß viele namhafte Ausleger diese Stelle auf den Beginn des Friedensreiches beziehen, so daß der Einfall Gogs nach der Vernichtung des "Königs des Nordens" stattfinden müßte. Der Übersetzer. 

Dieser Haß zeigte sich bereits bei der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar (Ps 137, 7). Es geht Edom nur darum, Juda und Israel in seine Hand zu bekommen, um selbst ein Reich in Palästina zu errichten (Hes 35, 10).*) 

All diesen Plänen arbeitet das in Jerusalem wohnende jü­dische Volk entgegen. Die Gesetzlosen, die dort herrschen und einen V e r t r a g mit dem Antichristen abgeschlossen haben, gehen einen B u n d mit dem römischen Tier ein, um dem Assyrer widerstehen zu können, der mehrmals "die überströmende Flut", „der Strom" (Jes 8, 7) oder "die über­flutende Geißel" genannt wird (Jes 10, 22; 28, 2. 15. 17. 18; Dan 9, 27) .**) Aber ihr Plan wird zunichte gemacht (Jes 28, 14‑22). Der Herr Jesus wird die beiden Stützen Jerusalems, den römischen Kaiser mit seiner Armee und den Antichri­sten, v o m H i m m e 1 h e r vernichten, wenn Er mit dem Heer Seiner Heiligen erscheint. Darauf wird der Assyrer auf den Bergen Israels sein Ende finden (Dan 11, 45), und zwar durch die Offenbarung des Messias auf der Erde, wenn Seine Füße auf dem Ölberg stehen werden (Sach 14,4). Zur gleichen Zeit werden die Heere der Nationen im Lande Edom vernichtet werden (Jes 34, 1‑8; 63,1‑6). 

Der eigentliche Zielpunkt dieses ganzen Kampfes ist der H e r r  J e s u s Selbst (Ps 2, 1‑3). Gegen Ihn wird Satan, nachdem er aus dem Himmel auf die Erde geworfen ist, die ganze Welt aufbieten, da er weiß, daß er nur wenig Zeit hat. Seine Werkzeuge werden sich dieses Ziels nur wenig be­wußt sein, weil ihr Blick durch ihre eigenen politischen Interessen verdunkelt ist. Nur Satan selbst, der sie anführt, ist sich über seine Absichten völlig im klaren (Offb 16, 13‑14; 19,19).

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*) Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß alle diese Völker, die zeitweilig verschwunden zu sein scheinen, zur Zeit des Endes wiedererstehen werden.

Diese Zeilen wurden 1909 niedergeschrieben. Es ist bekannt, daß nach dem Zusammenbruch des Türkischen Reiches 1918 in dem östlichen Teil dieses Rei­ees mehrere Nationalstaaten die Unabhängigkeit erlangten. Jordanien, Sy­rien, Libanon, ganz zu schweigen von Ägypten im Süden, umgeben den jungen Staat Israel, der der Gegenstand Ihrer gemeinsamen Feindschaft ist. Weiter

entfernt liegen Saudi‑Arabien und der Irak, ebenfalls Feinde Israels. Der Irak umfaßt den größten Teil des alten Assyriens und Babyloniens. Natürlich kann es unter diesen Völkern noch weitere Bewegungen geben. Wie sich die poli­tische Karte im Nahen Osten aber auch verändern mag ‑ das Entstehen dieser Nationalstaaten ist jedenfalls sehr bedeutsam. Anmerkung zur dritten franzö­sischen Auflage (1964).

**) In Jes. 8, 8 handelt es sich historisch um Assyrien, in Dan. 11, 22 um den König des Nordens, Antiochus Epiphanes, In Jer 47, 2 um Babel. 

J e r u s a 1 e m bildet den Mittelpunkt dieser ganzen furcht­baren Bewegung unter den Völkern. Zur Zeit des Endes, wenn das Land Israel noch von den Nationen besetzt sein wird, wird Jerusalem ein scheinbar festes Bollwerk gegen­über ihrem Vordringen darstellen. Die Stadt wird zu diesem Zeitpunkt von den Helfern des Antichristen regiert werden, die wir mit den Fürsten Judas unter Zedekia (Jer 38) ver­gleichen können. Diese Männer sind Gesetzlose, Spötter und Heuchler, die die Macht im Norden herausfordern, weil sie auf die Unterstützung des Westens rechnen. Die ungläu­bige Bevölkerung Jerusalems vertraut sich ihnen an. 

Aber inmitten der Stadt hat sich von Beginn der Drangsal an auch ein gemeinsames Zeugnis von Gläubigen herausgebildet, das auf die Unterweisung der "Verständigen" zurückgeht (Dan 11, 33. 35; 12, 3. 10). Ein verfolgter und leidender Überrest *) wartet auf den Messias und vertraut auf Ihn, den in Zion gegründeten sicheren Eckstein (Jes 28, 16). Sein Zeug­nis erstreckt sich über das ganze Land Juda. Die Umstände dieses Überrestes werden in den Psalmen immer wieder an­gedeutet und in den Propheten entfaltet. Bei der Verfolgung durch das Tier und den Antichristen flieht eine große Menge des Überrestes aus Juda (nicht aus Jerusalem!). Durch die Vorsehung Gottes werden diese Gläubigen unter den Na­tionen in der Wüste bewahrt (Mt 24,15‑21; Offb 12,14‑16) .**)

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*) Weniger mit der Prophetie vertraute Leser könnten erstaunt darüber sein,

den Ausdruck "Überrest" Immer wieder in diesem Buch anzutreffen. Die ganze Prophetie des Alten Testamentes ist jedoch voll davon. Den Überrest bilden die wenigen gläubigen Juden, die Erlösten, Entronnenen, der Kern des zukünftigen Israels. Die hebräischen Ausdrücke Schear, Schaar, Scheerith, Sarid, Yether beziehen sich Immer auf diesen Überrest.

**) Welche Nationen werden das sein? Es ist schwierig, das genau zu bestim­men. Es scheint sicher zu sein, daß es nicht die in Psalm 83 erwähnten Nationen sind. Allerdings ist In Jesaja 16, 3‑4 Moab der Zufluchtsort der Flücht­linge Judas vor dem Verwüster und dem Bedrücker. Ich neige zu der Annahme, daß Mesech und Kedar (Ps 120, 5) an den Grenzen Palästinas zu diesen Län­dern gehören werden. Die Juden würden dann auf Ihrer überstürzten Flucht Im Norden, Osten und Süden ihres Landes einen nahen Zufluchtsort finden. Ein­zelheiten zu Mesech und Kedar folgen später. 

Ein Teil des Überrestes bleibt jedoch in Jerusalem, um dort ein Zeugnis inmitten des Abfalls zu sein. In seinen Führern, den beiden Zeugen von Offenbarung 11, 1‑13, erleidet er den Märtyrertod für seinen Glauben. Dann werden die Ver­bannten aus Juda in ihr Land zurückkehren. Das wird am Ende der zweiten dreieinhalb Jahre geschehen, wenn das Tier und der falsche Prophet bereits gerichtet sein werden. Aber sie finden immer noch den Assyrer vor, der Israel be­setzt hält. Der Teil des Überrestes Judas, der Jerusalem nicht verlassen hat, wird sich während der Ereignisse, die der Vernichtung des Assyrers unmittelbar voraufgehen, wie­der zusammenfinden. Diese Gläubigen bleiben in Jerusalem, um den Messias zu erwarten, während ihre Brüder im Lande der Verheißung bereits ihre Augen zu den Bergen aufheben, woher ihre Hilfe kommen wird. 

Hier kommen wir zu einem der schwierigsten Punkte der Prophetie, der Belagerung Jerusalems durch die mit dem Assyrer verbündeten Nationen*) und schließlich durch den Assyrer selbst. 

Zunächst ist festzuhalten, daß die Belagerung Jerusalems durch den Assyrer in keiner Weise mit der Einnahme und Zerstörung der Stadt durch Nebukadnezar verwechselt wer­den darf, die die erste Gefangenschaft Judas zur Folge hatte. Der Prophet Micha belehrt uns über diesen Gegenstand. Wir finden dort zuerst die Babylonische Gefangenschaft Judas und seine Wiederherstellung (Micha 4, 9‑10). Danach wird der Richter Israels auf den Backen geschlagen (4, 14 ‑ 5, 1), und schließlich wird der Einfall des Assyrers mit seinen Be­gleitumständen geschildert (5, 4‑8). In Jesaja 13 ‑ 14, 23 wird zuerst das Gericht Babels beschrieben, danach, in Ka­pitel 14, 24‑27, die Vernichtung Assyriens im Lande Israel. Diese Stellen liefern uns gleichzeitig den Beweis dafür, daß der Assyrer der Endzeit nicht identisch mit dem historischen Assyrer ist.

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*) Ich bin versucht zu glauben, daß Ziel und Wirkung der ersten Belagerung Jerusalems die Erleichterung der Invasion des Assyrers bei seinen Unterneh­mungen in Ägypten ist (Jes 28, 19; Dan 11, 40‑42). 

Der letztere fiel in Israel, dann in Juda ein und belagerte Jerusalem, lange bevor Nebukadnezar und das Heer Babels die Stadt belagert und zerstört haben. Dazu wurde Jerusalem damals durch Sanherib weder eingenom­men noch geplündert, wie durch Nebukadnezar. Sanherib hat auch keinen Wall gegen die Stadt aufgeschüttet (Jes 37, 33), wie das bei der zukünftigen Belagerung durch Assy­rien geschehen wird (Jes 29, 3). 

Im Blick auf die Belagerung Jerusalems zur Zeit des Endes erwähnt die Prophetie unbestreitbar z w e i Belagerungen, die deutlich unterschieden werden. 

Zuerst sind es die von dem Assyrer unterstützten Nationen die Jerusalem belagern. Diese erste Belagerung bei der die Nationen die Hauptrolle spielen, endet mit der Einnahme und der Plünderung der Stadt ‑ also ge­nau das Gegenteil dessen, was sich unter der Regierung His­kias ereignete. Die Hälfte der Bevölkerung wird gefangen weggeführt; aber das übrige Volk wird nicht aus der Stadt ausgerottet werden (Sach 14, 1‑2). Das Blut der Heiligen wird wie Wasser rings um Jerusalem vergossen (Ps 79,3). 

Dieses Ereignis wird an verschiedenen Stellen erwähnt. In Jesaja 28 werden Ephraim und Juda durch den Assyrer über­fallen (wie es auch in der Geschichte der Fall war), Jeru­salem wird belagert. Die Männer, die dort regieren, haben einen Bund mit dem Tod und einen Vertrag mit dem Scheol (dem Tier und dem falschen Propheten) gegen die überflu­tende Geißel (den Assyrer) geschlossen. Aber diejenigen, die ihre Zuflucht zur Lüge genommen haben, werden zu­schanden werden. Jehova wird einen kostbaren Stein (den Messias) in Zion gründen. Wer sein Vertrauen auf Ihn setzt, wird nicht beschämt werden.*)

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*) In dieser Stelle handelt es sich nicht um die persönliche Anwesenheit des Messias, sondern um die Offenbarung Seiner Person und Seines Kommens In den Herzen der Gläubigen.

 

Bevor das Tier und seine Heere der Stadt zu Hilfe eilen kön­nen, werden die Zuflucht der Lüge hinweggerafft, der Ber­gungsort weggeschwemmt und das gottlose Volk zertreten und hingerafft werden. Der Bund des Volkes mit dem Tode wird zunichte werden, sein Vertrag mit dem Scheol nicht be­stehen. Das ist die erste Belagerung. Wie man sieht, steht hier der Angriff Sanheribs auf Jerusalem überhaupt nicht zur Frage, da die Stadt ja eingenommen und zertreten wird. 

Auf zwei weitere Stellen wurde bereits hingewiesen. In Joel 2 erhebt sich der Assyrer, der König des Nordens, mit allen Nationen (Joel 3) gegen Jerusalem. Die Stadt wird erobert, und die Feinde breiten sich in ihr aus. In Sacharja 14, 1‑2 sind alle Nationen nach Jerusalem zum Kampf versammelt. Dort wird sie das Gericht treffen; aber vorher wird Jerusalem eingenommen und geplündert. Die Hälfte der Bevölkerung zieht in die Gefangenschaft aus, während das "übrige Volk" ‑ ein Ausdruck, der den Überrest in Jerusalem einzuschlie­ßen scheint ‑ nicht ausgerottet wird. 

Diese erste Belagerung wird auch in den Psalmen erwähnt. In Psalm 74 ist der Feind in Jerusalem eingedrungen und hat den Tempel ausgeraubt, ebenso alle Orte im Lande, die dem Dienst Jehovas geweiht waren. In Psalm 79, wo dieselben Ereignisse beschrieben werden, sind die Nationen die Fein­de Israels. Sie haben Jerusalem zu einem Trümmerhaufen gemacht und das Blut der Heiligen rings um die Stadt ver­gossen. Dieselben Nationen finden wir in Psalm 83 wieder, wo sie von dem Assyrer gegen das Volk Gottes unterstützt werden. Jehova wird auf das Schreien Seines Volkes ant­worten und die Feinde vernichten. 

Der ungefähre Zeitpunkt der ersten Belagerung kann aus Daniel 9, 27 erschlossen werden. Diese Stelle berichtet uns, daß der kommende Fürst (der römische Kaiser, das Tier) für sieben Jahre (eine Woche) einen Bund mit den Vielen in Jerusalem schließen wird. Zur Hälfte der Jahrwoche wird er den jüdischen Gottesdienst abschaffen und den Götzen­dienst im Tempel fördern. Deswegen wird ein Verwüster (der Assyrer) aufstehen, und zwar bis zum Ende der Gerichte über Jerusalem. Die erste Belagerung wird also gegen Ende der zweiten Hälfte der Jahrwoche stattfinden. Es wird eine Zeit unvorstellbarer Verwüstungen und Erschütterungen sein. 

Im Blick auf die zweite Belagerung Jerusalems re­det das Wort Gottes nicht weniger deutlich. Bei dieser Be­lagerung wird Jerusalem mit dem darin befindlichen Überrest nicht eingenommen, sondern ‑ wie zur Zeit Hiskias ‑befreit werden. Der Assyrer ist diesmal selbst das Werkzeug der Belagerung. Er hat Ägypten erobert und kehrt von dort zurück, nachdem die Neuigkeiten von den Ereignissen an sein Ohr gedrungen sind, die sich während seiner Abwesen­heit in Palästina abgespielt haben. Diese "Gerüchte von Osten und von Norden her" (Dan 11, 44) erschrecken ihn und versetzen ihn in große Wut. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um die Nachricht von dem Einfall der Fürsten Judas in Assyrien (Micha 5, 4‑5; Sach 12, 6). Aber vielleicht ist auch die Kunde von der Vernichtung des römischen Tie­res und des Antichristen gemeint. All diese Ereignisse der Endzeit werden sich in sehr rascher Folge abspielen. 

Untersuchen wir nun die Stellen, die sich auf die zweite Be­lagerung beziehen. In Jesaja 10 zieht Assur gegen das Volk Jehovas herauf, das i n Z i o n w o h n t (V. 24), also gegen den Überrest (V. 22). Wie früher der Pharao, so erhebt nun der Assyrer seinen Stab gegen Israel nach der Weise Ägyp­tens. Aber Gott wird denselben Stab gegen Assur wenden, das Meer schlagen und Sein Volk befreien. Der Assyrer kommt, schwingt seine Hand gegen den Berg der Tochter Zion, den Hügel Jerusalems (V. 32), und wird vernichtet. 

In Jesaja 29 folgt auf die Beschreibung der ersten Belage­rung (in Kapitel 28) die Belagerung Ariels, die zweite Be­lagerung Jerusalems. Im Gegensatz zu Sanherib (siehe 2. Kön 19, 32) richtet der Assyrer Belagerungswerke gegen die Stadt auf. Jerusalem wird "erniedrigt aus der Erde re­den, seine Sprache wird dumpf aus dem Staube ertönen; und seine Stimme wird wie die eines Geistes aus der Erde hervorkommen, und seine Sprache wird aus dem Staube flüstern". Aber in der größten Bedrängnis wird Jehova den Assyrer und die Menge der Nationen heimsuchen (V. 4‑8). Nur der Überrest hatte an den in Zion gegründeten Stein geglaubt (Jes 28, 16). 

In Jesaja 31, 4‑5 wird Jerusalem von Jehova beschirmt, der auf den Berg Zion herniedersteigt. 

Nachdem der Assyrer, wie zur Zeit Hiskias (2. Kön 18,13‑17), dem Volk schöne Versprechungen gemacht und sich so außerhalb Jerusalems festgesetzt hat, bricht er in Jesaja 33,8 den Bund. Hier ist auch das Bündnis des ungläubigen Volkes mit Ägypten einzuordnen, worauf Jesaja 30 und 31 Bezug nehmen. Es sendet Boten nach Ägypten und flieht dann sel­ber durch die Wüste dorthin, wobei es seine Reichtümer mit­nimmt. Aber der Feind erreicht sie. Währenddessen ißt der Überrest in Jerusalem Brot der Drangsal und trinkt Wasser der Trübsal. Er wartet jedoch auf Jehova und wird mit Sicher­heit errettet werden. Die Sünder i n Z 1 o n (Jes 33, 14‑19) beben; die Gläubigen werden dagegen in der Stadt bewahrt bleiben und den König in Seiner Schönheit anschauen. Den Assyrer werden sie nicht mehr sehen. Zion, die Stadt der Festversammlungen, wird von nun an eine ruhige Wohn­stätte sein, ein Zelt, das nicht mehr wandern wird. 

In Jesaja 59,19 kommt der Assyrer wie ein Strom über Israel. Aber Jehova wendet Sich gegen ihn, und ein Erlöser kommt für Z i o n und für die, welche in Jakob von ihrer Übertre­tung umkehren (den Überrest). 

Sacharja 12 zeigt uns alle Nationen gegen Jerusalem ver­sammelt. Gott Selbst hat sie dorthin geführt, um sie allesamt zu vernichten. Die Fürsten von Juda, die sich außerhalb der Stadt befinden, sind das Werkzeug Gottes, um die Völker ringsum zu verzehren. Sie waren es auch, die den Krieg bis in das Land des Assyrers hineingetragen haben. Aber letzt­lich ist es Jehova Selbst, der Sein Volk vor dem Assyrer ret­ten wird (Micha 5, 4‑5). Er wird Jerusalem gegen diesen furchtbaren Feind beschirmen (Sach 12, 8). Die Art und Weise, wie der Assyrer (Gog) zugrunde gehen wird, wird uns in Daniel 11 und Hesekiel 38‑39 geschildert. 

In Sacharja 14 werden die erste (V. 1‑2) und die zweite Belagerung (V. 3‑5) nacheinander erwähnt. Der Herr erscheint zugunsten Seines Volkes auf der Erde und vertilgt Selbst die Nationen. 

In Obadja 17 heißt es, daß auf dem Berge Zion Errettung sein wird. Edom, das bereits früher seinen Haß gegen Israel gezeigt und sogar gehofft hatte, das Land des Volkes Gottes für sich zu erobern (Hes 36, 5), wird gerichtet wer­den. "Und das Haus Esau wird keinen Übriggebliebenen haben" (Obadja 18). Um mit Edom zum Abschluß zu kom­men, möchte ich noch auf Hesekiel 35 hinweisen. Auch zur Zeit des Endes will Edom die beiden Nationen Juda und Israel zu seiner Beute machen (V. 10). Zusammen mit Moab, Ammon und anderen Völkern sucht es daher die Unterstüt­zung Assurs (Ps 83). Vielleicht wird der König des Nordens, wenn er in das "Land der Zierde" einfällt, aus diesem Grun­de seine Hand nicht an diese drei Nationen legen (Dan 11, 41). *) Jehova Selbst wird in dem Blutbad von Bozra, also auf dem Gebiet Edoms, die dort versammelten Nationen vernichten (Jes 34, 5‑17; 63, 1‑6). Aber Edom wird genau genommen von der Hand Israels fallen (Hes 25,14). 

Nachdem der Überrest Judas und das Haus Levi in Jerusalem Zeugen des Kommens Christ! gewesen sind, der ihre Stadt errettet hat, werden sie unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes Buße tun. Sie werden auf Den blicken, den sie durchstochen haben (Sach 12, 8‑14; 13, 6; Jes 53, 1‑6). 

Bisher haben wir uns nur mit der Wiederherstellung des Überrestes Judas beschäftigt. Ich möchte jetzt mit wenigen Worten auf die des Überrestes Israels, also der zehn Stämme, zu sprechen kommen.

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*) Noch wahrscheinlicher ist aber, daß sie dem Assyrer entrinnen, weil sie für die Rache Israels aufbewahrt bleiben sollen (Jes 11, 14). In der Tat werden die­se drei mit Israel verwandten Völker (l. Mose 19, 37‑38) durch Israel selbst am Tage der Vergeltung ausgerottet werden. Aber vor allem Edom, der Sohn Isaaks dem Fleische nach, der erbittertste Feind des Volkes Gottes, wird durch das Gericht für ewig verwüstet werden (Hes 25, 14; Jer 49, 17; Ob 18). 

Gleich zu Anfang muß jedoch schon festgestellt werden, daß die Schrift oft von der Wiederherstellung des ganzen Volkes spricht, als ob dies ein einziges Ereignis wäre. So werden in Jeremia 16, 15 und 23, 7‑8 Israel und vor allem Juda aus dem Norden und aus all den Ländern heraufgeführt, wohin sie vertrieben worden waren. In Jeremia 50, 19‑20 kehrt Israel nach dem Gericht durch Babel als Ganzes zu seiner Trift zurück und empfängt die Vergebung seiner Sünden. In Hesekiel 34, 11‑16 wird Israel im Bilde der zerstreuten Schafe aus den Völkern gesammelt. Hesekiel 36,24‑28 redet ebenso von der Sammlung des ganzen Volkes, von seiner Demütigung und den Ergebnissen des neuen Bundes. Auch in Hesekiel 39, 25‑29 handelt es sich um eine allgemeine Wiederherstellung. 

Das Haus Israel wohnt in Sicherheit, der Geist Jehovas wird über es ausgegossen. Jesaja 10, 21 sagt, daß der Überrest umkehren wird, und zwar der Überrest Jakobs, also ganz Israels. Eine charakteristische Stelle ist Jesaja 11, 11‑16. Der Überrest des Volkes Gottes wird zum zweitenmal losgekauft, wie es früher schon einmal beim Auszug aus Ägypten der Fall war. Es geht hier also nicht um die Rückkehr Judas aus der Babylonischen Gefangenschaft unter Kyros. Der Überrest wird aus folgenden Ländern ge­sammelt: aus Assyrien, Ägypten, Pathros (Oberägypten), Kusch (Äthiopien), Elam (Persien), Sinear (Chaldäa), Hamath (Nordsyrien) und von den Inseln des Meeres (Inseln und Küstengebiete des Mittelmeers). Die V e r t r~i e b e n e n Israels und die Z e r s t r e u t e n Judas werden nur noch als ein Volk betrachtet, das gemeinsam gegen die Nationen kämpft (gegen Philistäa, Edom, Moab, Ammon). Dann folgt mit Vers 15 eine Stelle, die sich, wie wir noch sehen werden, ausschließlich auf die zehn Stämme bezieht. In Jesaja 35, 10 kehrt der gesamte Überrest, die Befreiten Jehovas, mit Ju­belgesängen nach Zion zurück. 

Es gibt aber auch eine große Anzahl von Stellen, die nur von der Rückkehr der zehn Stämme nach Palästina reden. Die­ses Ereignis wird erst stattfinden, nachdem zunächst das Tier und der Antichrist und darauf der Assyrer durch die Er­scheinung Christ! in Herrlichkeit vernichtet worden sind. 

Daher der Ausdruck "nach der Herrlichkeit" in Psalm 73, 24 und Sacharja 2, 8. Die Boten des Überrestes Judas, die seit der Bildung und Verfolgung dieses Überrestes die frohe Botschaft, das "Evangelium des Reiches", unter den Natio­nen verkündigt haben, werden auch die Sammlung der zehn Stämme ankündigen. 

Die Begebenheiten, die mit der Rückkehr der zehn Stämme in Verbindung stehen, werden uns beschrieben in Psalm 80; Jeremia 31, 1‑14; Jesaja 11, 15‑16; 27, 12‑13; 35, 5‑10; 43, 1‑7; 49, 9‑23; 60, 4; Hesekiel 20, 34‑38; Hosea 11, 10‑11; Sacharja 10, 7‑12. 

Die beiden Teile des Volkes werden wieder zu einer Einheit werden (Jer 3, 18; 31, 1; Hes 37, 15‑28), und Jehova wird einen neuen Bund mit Seinem Volk schließen (Jer 31, 31‑34; Hes 37, 26). 

IV. Die Geschichte Israels In den letzten Tagen 

Wenn diese Hinweise auch sehr unvollständig sind, werden wir doch sehen, daß sie für das Verständnis der propheti­schen und moralischen Bedeutung der Stufenlieder uner­läßlich sind. Um der größeren Klarheit willen möchte ich die Geschichte Israels in den letzten Tagen noch einmal zusam­menfassen. Dabei werde ich auch noch einige Einzelheiten hinzufügen, die in den vorhergehenden Ausführungen nicht erwähnt wurden.*) 

Nach der Entrückung der himmlischen Heiligen beim Kom­men des Herrn ist die Gnadenzeit abgeschlossen. Gott nimmt nun Seine Wege mit Israel, die durch die gegenwärtige Haus­haltung unterbrochen waren, wieder auf. 

Das jüdische Volk, also Juda und Benjamin, das jetzt noch unter den Nationen zerstreut lebt (geschrieben 1909), kehrt im Unglauben nach Palästina zurück und bringt großen ma­teriellen Reichtum mit. Es wohnt in Sicherheit, in offenen Städten, und freut sich seines Wohlstandes (Jes 18; Hes 38), befindet sich aber immer noch unter dem Druck der Na­tionen. 

In Jerusalem gewinnt die Gesetzlosigkeit die Oberhand. Aber in dieser Stadt bildet sich auch ein gemeinsames Zeugnis gegen das Böse (2. Kön 19, 31; Jes 37, 32). Die "Verständigen" lehren die Volksmengen (Dan 11, 33‑, 12, 3. 10).

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*) Der Leser der folgenden Zeilen wird feststellen, daß ich es sorgfältig ver­mieden habe, die Ereignisse aus der Offenbarung einzuordnen, die sich nicht, wie Kapitel 11, ausdrücklich auf die letzte halbe Jahrwoche aus Daniel 9 oder auf das Gericht der Nationen zur Zeit des Endes beziehen. Die Weissagungen des Alten und des Neuen Testamentes verfolgen völlig verschiedene Ziele. Die Propheten des Alten Testamentes, mit denen wir uns jetzt beschäftigen, zeigen uns die Folgen des Verfalls Israels und sein Gericht durch die Natio­nen, darauf seine Wiederherstellung unter der Regierung des Messias. Die Offenbarung beschreibt uns dagegen die Folgen des Verfalls der Kirche, den Abfall in der Christenheit und in der Welt und das hierauf folgende Gericht, schließlich das Teil der wahren Kirche, der himmlischen Braut während des herrlichen Friedensreiches Christi auf der Erde. 

Diejenigen, die sie aufnehmen, werden die "Heiligen der höchsten Örter" genannt (Dan 7, 18. 25).*) Dieser treue Überrest ist Verfolgungen ausgesetzt. Eine Zeitlang fällt er durch Schwert, Flamme, Gefangenschaft und Raub (Dan 11, 33). Gott prüft ihn so, um ihn zu reinigen. Urheber dieser Verfolgung ist das römische Tier (Dan 7, 21. 25). Während sich diese Ereignisse in Jerusalem abspielen, wird der Tempel von der Bevölkerung der Stadt wiederaufgebaut. Der nationale Gottesdienst wird wiederhergestellt und für sieben Jahre durch ein Bündnis mit dem Führer des Römischen Reiches gesichert. Die Mehrheit des jüdischen Volkes nimmt den Antichristen als König an. Dieser ist ein „törichter Hirte", der das Volk bedrückt (Sach 11, 15‑17). Er verherrlicht sich selbst in furchtbarer Weise, gibt sich als Messias aus, leugnet den Vater und den Sohn, verleiht denjenigen, die ihn annehmen, Ehre und Herrschaft und verteilt das Land unter sie (Dan 11, 39). Währenddessen verfolgt das römische Tier die Heiligen und "redet große Dinge". 

Rußland, Gog, ist der Repräsentant des assyrischen Bünd­nisses. Unter der Führung des Königs des Nordens, der im Besitz des östlichen Kleinasiens ist, richtet er sein Augen‑

merk auf die Reichtümer Palästinas und bereitet eine In­vasion vor. Durch Schmeicheleien, schöne Worte und Versprechungen gewinnt der Assyrer in Palästina eine Anhän­gerschaft unter dem gesetzlosen Volk. 

Anstatt dem Assyrer zu widerstehen, hat das abgefallene Volk in Jerusalem mit Unterstützung des Antichristen,**) wie wir bereits gesehen haben, einen Vertrag mit dem römischen Tier geschlossen, dem Führer des abendländischen Reiches

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*) Bezieht sich die Verkündigung des Evangeliums des Reiches in den Städten Israels nicht auch auf diese Zeit? Matthäus 10, 6 und 23 weisen darauf hin, während sich Vers 42 auf die Nationen bezieht (vgl. Matth 25, 31‑46). Auch die­ses Evangelium wird also zuerst Israel, dann den Nationen verkündet (Matth 24, 14). Die Predigt in Israel hat bereits mit dem ersten Kommen des Herrn begonnen.

**) Ich glaube nicht, daß man sagen darf, der Antichrist regiere in Jerusalem. Das Beispiel Herodes', der ein Vorbild des Antichristen ist, könnte zur Klärung dieser Frage beitragen. Siehe hierzu Daniel 11, 39: "die Festungen" werden unterschieden von der "Feste", Jerusalem, in Vers 31. Bei der ersten Belage­rung wird seine Anwesenheit in Jerusalem mit keinem Wort erwähnt. Nur seine Anhänger herrschen dort. 

und seinen verbündeten zehn Königen. Dadurch wird den Juden die Ausübung ihres Gottesdienstes garantiert. 

Kurze Zeit darauf, zu Beginn der zweiten halben Jahrwoche in Daniel 9, * bricht das römische Tier diesen Bund. Das beständige Opfer wird abgeschafft. Stattdessen wird der Götzendienst im Tempel eingeführt, wo das Tier sich unter dem Schutz des Antichristen anbeten läßt, während der Antichrist selbst sich in den Tempel setzt "und sich selbst darstellt, daß er Gott sei". 

In diesem Augenblick flieht der Überrest, der außerhalb Jerusalems in Juda wohnt, entsprechend dem Befehl des Herrn in großer Eile aus seinem Land. Er sucht seine Zuflucht unter den Nationen, die Palästina umgeben (Offb 12, 14; Mt 24,15-21; Mk 13,14-19),**) während eine Gruppe von Zeugen in Jerusalem bleibt, wo ihre Führer den Märtyrertod erdulden müssen***) Das ist der Beginn der "Drangsal Jakobs", die erst mit der Erscheinung des Herrn enden wird (Jer 30, 7-, Dan 12, 1). Diese Drangsal ist ein in den Psalmen beständig wiederkehrendes Thema. 

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*Der Ausdruck zur Hälfte der Woche" scheint mir auf den Beginn der zweiten Hälfte der J a h r w o c h e hinzuweisen, und nicht so sehr auf das Ende der ersten halben W o c h e d e s B ü n d n i s s e s . Das ist insofern wichtig, als dadurch offengelassen wird, wann das Oberhaupt des Römischen Reiches seinen Bund mit den "Vielen" (Dan 9, 27) schließt. 

**Es ist bemerkenswert, daß der Überrest in Lukas 21, 20-24, wo von der bevorstehenden Belagerung Jerusalems durch das römische Heer die Rede ist, nicht nur, wie in Matthäus und Markus, aufgefordert wird, aus Juda zu fliehen, sondern auch aus Jerusalem. In Joel 3, 1 werden die Gefangenen Judas und Jerusalems deutlich unterschieden. 

***Die Namen der Völker, die den fliehenden Überrest aufnehmen, werden nicht ausdrücklich genannt. Sie bilden die "Wüste", wo das Weib, der Überrest Judas, während der dreieinhalb Jahre der zweiten Hälfte der Jahrwoche Daniels ernährt wird (Offb 12, 14). Ich denke, daß folgende Nationen hierzu gehören:

a) K e d a r , ein Teil der Wüste Arabiens, das im Nordwesten der arabischen Halbinsel liegt und an den Süden Palästinas grenzt;

b) M e s e c h , das sich Im Norden an Kedar anschließt und bis zum Osten Kleinasiens reicht;

c) vielleicht auch P h 1 1 1 s t ä a (Zeph 2, 7), wenn sich diese Stelle nicht schon auf die Rückkehr des Überrestes in sein Land bezieht (vgl. Zeph 2, 9);

d) schließlich M o a b , das östlich von Palästina liegt und ausdrücklich als Zufluchtsort der Vertriebenen bezeichnet wird (Jes 16, 3-4). E d o m gehört nicht zu diesen Nationen, die dem Oberrest Schutz gewähren. 

Die Nationen , die zu dieser Zeit die Hauptrolle spielen und in Übereinstimmung mit dem Assyrer handeln, ziehen gegen Jerusalem herauf und belagern die Stadt trotz ihres Bündnisses mit dem Tier und dem falschen Propheten. Jerusalem wird eingenommen und geplündert; das Blut der Heiligen (vielleicht bezeichnet dieser Ausdruck lediglich die Bevölkerung) wird rings um die Stadt vergossen (Ps 79). Die noch in Jerusalem wohnenden Gläubigen setzen ihr Vertrauen auf Den, der als ein kostbarer Stein in Zion gegründet werden wird. Die Hälfte des Volkes wird in Gefangenschaft geführt, die übrigen bleiben mit dem Überrest in der Stadt. 

Inzwischen ist auch der Assyrer in Palästina eingefallen, mit Ausnahme Jerusalems. Er setzt sich in Israel fest und versucht sich mit dem Volk des Landes zu versöhnen, indem er einen Bund mit ihm schließt. Diejenigen, die gottlos gegen den heiligen Bund mit Jehova handeln, verleitet er durch Schmeicheleien zum Abfall (Dan 11, 32). 

Inmitten all dieser Ereignisse vereinigen sich das Tier und seine Heere mit dem falschen Propheten, um dem Assyrer entgegenzutreten und sich Jerusalems zu bemächtigen. Zu gleicher Zeit wollen sie dadurch den wahren König daran hindern, Seine Stadt in Besitz zu nehmen. Aber sie werden durch den Sohn des Menschen und Seine Heere vom Himmel her vernichtet (Offb 19, 19-20). Dieses Gericht wird im Lande Edom stattfinden, in Bozra (Jes 34,1-8; 63,1-6). 

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt, am Ende der zweiten halben Jahrwoche aus Daniel 9, kehrt der geflohene Überrest Judas in sein Land zurück. Dort findet er aber noch den Assyrer vor, der das ganze Land besetzt hält. Der Überrest leistet ihm Widerstand und stellt Fürsten auf, um ihn zu bekämpfen. 

Das abgefallene Volk, das in Palästina wohnt, versucht nach Ägypten zu fliehen, wo es seine Schätze in Sicherheit zu bringen glaubt (Jes 30, 6). Sie entkommen aber dem Zorn des Assyrers nicht; denn dieser wendet sich nach seiner In 

vasion in Palästina gegen Ägypten und bringt dessen Schätze in seine Gewalt (Dan 11, 40-43). 

Währenddessen sind die Fürsten Judas siegreich. Sie tragen den Krieg bis in das Land des Assyrers hinein (Micha 5,4-5). 

Auf die Nachricht von dem hin, was sich in seinem Reich abspielt, kehrt der Assyrer, nachdem er Ägypten unterworfen und beraubt hat, in großem Zorn zurück, dehnt sich über die ganze Breite des Landes Immanuels aus (Jes 8, 8), zieht gegen Jerusalem und richtet Belagerungswerke gegen die Stadt auf (Dan 11, 44-45). 

Aber sobald der Herr Jesus Seine Füße auf den Ölberg gesetzt hat, wird Assyrien auf den Bergen Israels vernichtet (Jes 31, 4-9; Sach 14, 3-4). Die assyrischen Heere reiben sich zum Teil gegenseitig auf, zum Teil werden sie durch Jehova Selbst gerichtet (Hes 38,21-23). 

Der Überrest in Jerusalem ist gerettet. Der Rest der Bevölkerung*) flieht, von Furcht erfüllt, durch den gespaltenen Ölberg hindurch, wie schon früher bei dem Erdbeben in den Tagen des Königs Ussija (Sach 14, 4-5; Amos 1, 1). 

Um diese Zeit werden auch die N a t i o n e n besiegt, die mit Unterstützung des Assyrers an der ersten Belagerung Jerusalems beteiligt waren. Zuvor werden jedoch Israel und Juda wieder zu einem Volk vereint. Gemeinsam fallen sie 

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*So jedenfalls verstehe ich die Worte "ihr werdet fliehen" in Sacharja 14, 5, anstatt sie auf den Oberrest anzuwenden, wie es meist geschieht. Die folgenden Worte "Jehova, m e i n Gott . . . " bestätigen diese Auslegung. In der gleichen Bedeutung finden wir das Wort "ihr" auch in Maleachi 3, 5 wieder, wo es im Gegensatz zu Vers 4 steht. Außerdem beweist die Flucht des Volkes großes Entsetzen, was bei dem Oberrest kaum anzunehmen ist. Schließlich wird uns berichtet, daß nach der Befreiung Jerusalems "alle übrigen Geschlechter" trauern und wehklagen werden (Sach 12, 14). 

Anmerkung:            In den französischen und englischen Übersetzungen J. N. Darbys hat "übrig" den Sinn von "übriggeblieben". Der Übersetzer. 

über die Philister her, plündern die Söhne des Ostens, legen ihre Hand an Edom und Moab und unterwerfen sich die Kinder Ammon. Von Ammon und Moab wird jedoch ein Überrest gerettet, zweifellos weit sie dem Überrest Judas während seiner Flucht eine Zufluchtsstätte gewährt hatten (Jes 11, 14). Dagegen wird Edom vollständig vernichtet (siehe Obadja). Die abgefallenen Juden werden durch den Herrn in Israel gerichtet (Offb 14,18-20). 

Der Überrest Judas sendet Boten zu den Nationen (Tarsis, Pul, Lud, Tubal, Jawan, den fernen Inseln), um ihnen zu verkünden, daß die Herrlichkeit des Messias erschienen ist und Sein Reich aufgerichtet wird (Jes 66, 19). Dieser Zeitpunkt ist mit dem Ausdruck "nach der Herrlichkeit" (Ps 73, 24; Sach 2, 8) gemeint. Die angeführten Stellen beziehen sich auf die Rückkehr der Herrlichkeit Jehovas nach Jerusalem und Seinem Tempel (Hes 43, 1-15; Ps 102, 16). Eine große Volksmenge aus den Nationen nimmt dieses "Evangelium des Reiches" an (Matth 24,14), sobald es ihnen verkündigt wird, und unterwirft sich dem König (Offb 7, 9-17).* 

Nach den soeben erwähnten Ereignissen macht sich ein Teil der zehn Stämme Israels von Ägypten und von Assyrien aus auf den Weg, um durch die Wüste nach Palästina zurückzukehren. Gott läßt die Arme des Nils austrocknen, um Sein Volk trockenen Fußes hindurchziehen zu lassen (Jes 11, 15; 49, 8-15; Hosea 2, 14-15; Zeph 3, 10; Sach 10, 7-12). Wie schon bei dem Auszug Israels aus Ägypten werden die Einpörer und Abgefallenen unter ihnen auf dem Wege gerichtet. Nur diejenigen, die Buße getan haben, erreichen das Land der Verheißung (Hes 20, 30-44; Jes 11, 12-16; 27, 12-13). 

Die Nationen, die sich dem Evangelium des Reiches unterworfen haben, bringen den anderen Teil des Überrestes aus den zerstreuten zehn Stämmen zurück. Beide Gruppen kehren also erst "nach der Herrlichkeit" in ihr Land zurück. 

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*Es gibt übrigens auch noch andere Boten als die Juden. Auch die Engel Werden einen derartigen Dienst ausüben (Matth 24, 30-31). 

Tarsisschiffe nehmen bei dieser Rückführung einen besonderen Platz ein (Jes 49, 22; 60, 1-9; 66, 20-21). 

Juda und Israel werden wieder vereint (Jes 11, 12-13) und bilden nur noch e i n Volk, das neue Israel (Hes 37,15-28). 

Ägypten, Assyrien und Israel sind von nun an verbündet. Sie bilden ein Zentrum des Segens inmitten der Erde (Jes 19, 18-25). 

Die Söhne der Fremde richten die Mauern Jerusalems wieder auf (Jes 60, 10). Die Stadt wird auf ihren Trümmern wieder erbaut (so nach der französischen Übersetzung J. N. Darbys in Jer 30, 18). Die Kinder Israel erneuern ihre Städte (Jes 61, 4), und das ganze Land wird wiederhergestellt (Hes 36, 33-36). 

Sieben Monate lang beerdigt Israel die Reste der assyrischen Heere in Hamon-Gog und reinigt so das Land (Hes 39,9-16). 

Der Tempel wird durch den Messias erbaut und inmitten des Landes aufgerichtet (Hes 40-44). Auch die Nationen arbeiten am Bau des Tempels mit, wie schon Hiram unter Salomo (Jes 60,10-13; Sach 6,15). 

Das Land Israel wird unter die einzelnen Stämme verteilt (Hes 47-48). 

Der Herr Jesus zieht als König der Herrlichkeit, der Gerechtigkeit und des Friedens in Jerusalem ein, um Seine Herrschaft über das neue Israel anzutreten und Sein universales Reich aufzurichten (Sach 9, 9-10). 

Jerusalem wird zum Mittelpunkt der Nationen, der Tempel zu einem Bethaus für alle Völker. 

Das herrliche tausendjährige Friedensreich beginnt.

 

DIE STUFENLIEDER 

Der Titel "Stufenlieder" hat die Ausleger aller Zeiten beschäftigt. Wenn ich hier auch keineswegs alle Auffassungen besprechen oder sogar zum Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung machen will, so werde ich doch die wichtigsten nach einem kürzlich erschienenen Werk aufzählen.*) So kann sich der Leser ein Urteil darüber bilden. 

1. Die jüdischen Gelehrten teilen uns mit, daß diese fünfzehn Psalmen auf den fünfzehn Stufen des Tempels gesungen wurden. Dabei beziehen sie sich auf den Talmud. Aber weder die Bibel, noch die Geschichte oder die Überlieferung erwähnen diese fünfzehn Stufen. Es ist wahr, daß der Prophet Hesekiel bei der Beschreibung des Tempels im Tausendjährigen Reich von sieben Stufen berichtet, auf denen man zum äußeren Vorhof emporsteigt, und acht Stufen (also insgesamt fünfzehn), die in den inneren Vorhof führen (Hes 40, 22. 31). Aber der Tempel Hesekiels gehört einer zukünftigen Zeit an und kann nicht mit dem Tempel Salomos verglichen werden. 

2. Luther und einige moderne Ausleger meinen, der Ausdruck Stufenlieder besage, daß diese Lieder von einem auf Stufen oder auf irgendeiner Plattform stehenden Chor angestimmt wurden.

3. Calvin glaubt, das Wort bezöge sich auf die Musik. Die  "Stufenlieder" seien in einer höheren Tonlage als andere Lieder gesungen worden. 

4. Ein anderer Ausleger führt diese Psalmen auf den Tag zurück, an dem David die Lade nach Jerusalem heraufbrachte (2. Sam 6,12-15). 

5. Wieder ein anderer übersetzt das hebräische Wort mit "besonders ausgezeichnetes Lied" oder "Lied höherer Stufe".

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*"The Songs of degrees11 in der Zeitschrift "Things to come", 1907-11A8- Siehe auch: J. W. Thirtie, Old Testament Problems, 1907. 

6. Mehrere moderne deutsche Gelehrte(Gesenius, de Wette, Delitzsch, Edersheim) messen dem Ausdruck "Stufenlieder" eine buchstäbliche Bedeutung bei. Die "Stufen" bezögen sich auf eine Steigerung in der Anordnung der Parallelzeilen im hebräischen Text.*) Danach wird ein Wort oder ein Ge­danke der ersten Zeile in der folgenden wiederholt oder weiter ausgeführt. 

7. Die am weitesten verbreitete Auffassung ist die, daß diese Psalmen nach der Babylonischen Gefangenschaft entstan­den bzw. zusammengestellt wurden und sich auf die Rück­kehr der Gefangenen von Babylon nach Jerusalem beziehen. 

8. Aus den ersten Jahrhunderten der Kirche stammt der Ge­danke, die Stufenlieder seien von dem Volk Israel gesungen worden, als es dreimal im Jahr zu den Festen nach Jerusa­lem hinaufzog, sei es zum Tempel Salomos, sei es zu dem nach der Gefangenschaft wiederaufgebauten Tempel .**) Die Mehrzahl dieser Psalmen enthält jedoch keine einzige An­spielung auf die Feste und Pilgerzüge. Nur nebenbei sei auch an diejenigen erinnert, die in den Stufenliedern, wie im ganzen Alten Testament, Hinweise auf die Kirche zu finden meinen. 

9. Die beiden zu Beginn dieses Kapitels angeführten Auto­ren sehen in den Stufenliedern eine Sammlung von Psalmen, die zu großen Teilen von Hisksia stammen oder zumindest von ihm aus den Psalmen Davids und Salomos zusammen­gestellt wurden. Die z e h n G r a d e , die der Sonnen­zeiger Ahas zurückging, und die f ü n f z e h n J a h r e , um die das Leben Hiskias verlängert wurde, sollen den Anlaß hierzu gegeben haben.

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*) Der Parallelismus ist eine besondere Form hebräischer Poesie, die vor allem in den Sprüchen deutlich hervortritt. Siehe hierzu: A. G. Clarke, Analytical Studies in the Psalms, Kilmarnock 1967, S. 17‑18. Der Übersetzer.

**) Diese Auffassung findet sich auch bei F. W. Grant, Numerical Bible, und bei A. C. Gaebalein, Annotated Bible. Der Übersetzer.

 

Die Stufenlieder sind angeblich voll von Anspielungen auf die Krankheit Hiskias und seine son­stigen Umstände, besonders auf die Belagerung Jerusalems durch Sanherib.*) Diese Auffassung führt die genannten Ver­fasser dazu, die Stufenlieder allzu offenkundig allen Einzel­heiten aus dem Leben Hiskias anzupassen. Der Erfolg ist, daß sie den prophetischen Sinn dieser Psalmen völlig mit Stillschweigen übergehen. Aber gerade diese prophetische Auslegung ist, wie wir sehen werden, die einzig vertretbare. 

Natürlich ist mir klar, daß ein Teil der Stufenlieder aus der Zeit Hiskias stammen könnte. Die in diesen Psalmen enthaltenen Anspielungen auf den Assyrer scheinen das zu bestätigen. Was diesen Punkt anbetrifft, sind die genannten Autoren zweifellos im Recht. Daß die Stufenlieder sogar von Hiskia selbst stammen (natürlich außer denen, die das Wort ausdrücklich David und Salomo zuschreibt), könnte ebenfalls plausibel erscheinen. Aber ich sehe nicht, welchen Nutzen uns diese Auffassung bringt. Zudem bietet sie weder Gewiß­heit, noch kommt ihr die Bedeutung zu, die ihre Vertreter ihr beimessen. Wer ihre Schriften sorgfältig durchgelesen hat, kann bestätigen, daß es schon einer sehr einseitigen Betrachtungsweise bedarf, wenn man die Stufenlieder His­kia zuschreiben will. Was sie mit der Zeit Hiskias in Zusam­menhang bringt, sind lediglich die Hinweise auf den Assyrer. Daran müssen wir uns halten. 

Wenn Gott es für gut befunden hat, den Namen des gottes­fürchtigen Königs Hiskia oder anderer Verfasser, die einer der erwähnten Kritiker noch anführt, n i c h t über die betref­fenden Psalmen zu setzen ‑ sollte es dann für uns wichtig sein, diese Namen festzustellen? Sicher nicht wichtiger, als bei den Psalmen, deren Verfasser zwar ebenfalls nicht an­gegeben ist, die aber dennoch deutlich den Charakter der Psalmen Davids tragen und :auch in gewissem Maße auf dessen Lebensumstände hinweisen, in denen sieentstanden sind. Nichts berechtigt uns, bei der Auslegung solcher Psal­men auf die Umstände des königlichen Propheten zurückzu­greifen.

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*) Derselben Meinung ist auch Clarke in seinem schon zilterten Werk. Der Übersetzer. 

Dagegen ist das bei den Psalmen, die mit den Worten "von David" überschrieben sind oder sogar in der Überschrift ausdrücklich auf die Ereignisse hinweisen, in denen sie entstanden sind, durchaus angebracht. Wenn Gott aber bei vielen Psalmen hierüber schweigt ‑ müssen wir nicht daraus schließen, daß Verfasser und Umstände gerade nicht der Gegenstand sind, den Er uns vor Augen führen will? 

An dieser Stelle möchte ich noch einmal nachdrücklich be­tonen, was ich bereits zu Beginn dieses Buches gesagt habe daß die Psalmen ein prophetisches Buch sind. Dem möchte ich noch hinzufügen, daß auch ihre Anordnung nicht, wie man uns heute glauben machen möchte, ein Pro­dukt menschlicher Willkür ist, sondern ebenso unwandelbar und göttlich wie der Inhalt. Das können alle diejenigen ohne weiteres bestätigen, die die Psalmen nicht nur unter der Leitung ihres Verstandes und ihrer Phantasie studiert haben. Ob die Stufenlieder nun von Hiskia geschrieben wurden oder nicht, ob ihre Überschriften den zehn Graden des Sonnen­zeigers Ahas' entsprechen oder nicht, oder ob ihre Anzahl den zusätzlichen Lebensjahren des Königs Hiskia entspricht all diese Vermutungen sind nicht notwendig, um in den Stufenliedern den prophetischen Assyrer zu entdecken. Schon fünfunddreißig Jahre lang bin ich hiervon überzeugt, und zwar nicht wegen irgendwelcher Mutmaßungen hinsicht­lich ihrer Überschrift, sondern aufgrund ihres Inhalts. Dieser wird allerdings nur deutlich, wenn man ihn in Verbindung mit dem ganzen fünften Buch der Psalmen und den Büchern der Propheten studiert. 

Was die David zugeschriebenen Stufenlieder betrifft, so er­zählt man uns, Hiskia habe sie in seine Sammlung eingeord­net, weil ihr Inhalt seinen eigenen Erfahrungen entsprach. Darauf entgegnete ich, daß der Heilige Geist sie ausgewählt und ihren Platz bestimmt hat. So ist es auch bei allen anderen Psalmen, wen Gott auch gebraucht haben mag, um sie zu­sammenzustellen. Ich habe bereits an anderer Stelle gesagt, daß die Überschriften der Psalmen aus derselben Quelle Göttlicher Inspiration stammen wie das Buch selbst. 

Das heißt nicht, daß wir viele Psalmen ohne Überschrift nicht David zuschreiben k ö n n e n . Ein gründliches Studium des In­halts mag in einzelnen Fällen durchaus ergeben, daß wir hierzu berechtigt sind. Aber wenn es Gott gefallen hat, den Namen des Verfassers in dem einen Psalm zu verschweigen, in einem anderen aber anzugeben, dann haben wir uns auf das zu stützen, was Er uns geoffenbart hat, und nicht über das Mutmaßungen anzustellen, worüber Er geschwie­gen hat. So stammt z. B. nur eines der Stufenlieder, Psalm 127, von Salomo, und wir werden sehen, welches Licht die Angabe des Verfassers auf diesen Psalm wirft. 

Ich möchte nun noch auf einige wichtige Punkte aufmerksam machen, die von denjenigen, die sich bisher mit den Stufen­liedern befaßt haben, vielleicht nicht genügend beachtet wor­den sind. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Stufen­lieder Lieder Zions sind. In der Tat ist Zion der große Gegenstand, auf den alle diese Psalmen hinauslaufen. Das heißt nicht, daß jeder Psalm ausdrücklich von Zion redet. Die stufenweise Entwicklung in diesen Liedern läßt eine der­artige Gleichförmigkeit nicht zu. Aber jede Gruppe der Stu­fenlieder endet mit dem Frieden Jerusalems. Auf dieses Ziel laufen auch alle Prüfungen des Überrestes hinaus. Die ein­zige Gruppe, die hiervon eine Ausnahme bildet, ist diejenige, die sich ausschließlich mit dem moralischen Zustand des Volkes Israel beschäftigt, der für die Einführung des Frie­dens Jerusalems erforderlich ist (Ps 129‑131). 

Zweitens möchte ich darauf hinweisen, daß die Sammlung der Stufenlieder eine stufenweise Steigerung enthält. Sie führt von der Bedrängnis in Mesech und Kedar bis zu den Segnungen des Tausendjährigen Reiches, wenn Israel wiederhergestellt ist und seine nationale Einheit wie­dergefunden hat. Diese Tatsache steht ohne jeden Zweifel fest und kann nicht als bloße Vermutung abgetan werden. 

Eine dritte Bemerkung sei der ebenso offenkundigen E i n t e i l u n g der Stufenlieder gewidmet, die mir schon seit langem aufgefallen ist. Mit Recht kann man erstaunt dar­über sein, daß fast alle Ausleger hierüber hinweggegangen sind. Deshalb freue ich mich, daß der Verfasser der Artikel in "Things to come" sie wieder klar herausgestellt hat. Die Stufenlieder sind in D r e i e r g r u p p e n unterteilt, so daß sie insgesamt aus fünf Gruppen bestehen. Die erste, einleitende Gruppe endet in Psalm 122 mit der dreimal wie­derholten Bitte um den Frieden Jerusalems. *)

 Die zweite Gruppe endet in Psalm 125 mit den Worten: "Wohlfahrt (Friede) über Israel!" Auch die dritte Gruppe schließt in Psalm 128 mit diesen Worten: "Wohlfahrt über Israel!" Die vierte Gruppe nimmt, wie wir sehen werden, einen besonderen Platz ein. Sie endet in Psalm 131 mit den Worten: "Harre, Israel, auf Jehova, von nun an bis in Ewig­keit!" Den Abschluß der fünften Gruppe bildet in Psalm 134 die Bitte: "Jehova segne dich von Zion aus, der Himmel und Erde gemacht hat!" Das ist die Erfüllung von Psalm 128,5 ­"Segnen wird dich Jehova von Zion aus." Die Abstufung in jeder dieser Gruppen wird im Verlaufe unserer Betrachtung deutlicher werden. 

Jede der fünf Gruppen der Stufenlieder enthält einen Psalm Davids, in der dritten Gruppe stattdessen einen Psalm Salo­mos. Das haben bereits andere christliche Autoren bemerkt, die darin aber lediglich eine wertlose symmetrische Anord­nung gesehen haben. Einer bezweifelt sogar die Echtheit der Überschriften. Andere sehen in der Anordnung der Stufen­lieder nur eine Auswahl des Königs Hiskia aus den nicht ver­öffentlichten Psalmen Davids und Salomos. Diese Auswahl habe Hiskia, der übrigens die restlichen Stufenlieder ver­faßt haben soll, im Blick auf seine eigenen Erfahrungen zu­sammengestellt.

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*) Die englische und französische Übersetzung J. N. Darbys haben "Friede" statt "Wohlfahrt" (siehe auch die Fußnote zu Ps 122, 6 in der Elberfelder Übersetzung). Außer in Zitaten habe Ich die Übersetzung "Friede" beibehalten. Der Übersetzer.

 

Derartige Zweifel und Vermutungen stellen eine wirkliche Gefahr dar. Wenn der natürliche Verstand des Gläubigen auch nur in den scheinbar unwichtigsten Einzel­heiten des Wortes Gottes einen Platz eingeräumt bekommt, öffnet das die Tür, wie wenig es auch sein mag, für diejenigen, die über die Heilige Schrift urteilen und diskutieren, an­statt sich ihr zu unterwerfen. 

Noch ein letzter Punkt darf nicht übersehen werden, wenn wir nicht, wie viele Ausleger, in ein Meer von Verwirrungen und Widersprüchen geraten wollen. Die Stufenlieder können nicht durch die vergangene Geschichte des jüdischen Volkes erklärt werden ‑ weder durch die Ereignisse zur Regie­rungszeit Hiskias, noch durch die Babylonische Gefangenschaft oder die religiösen Feste Israels, wenn diese Psalmen auch gelegentlich hierauf anspielen. Der größte Teil der dort erwähnten Umstände geht weit über den historischen Rah­men hinaus oder hat in der Geschichte Israels sogar nie stattgefunden. 

Der Aufenthalt in Mesech und bei den Zeiten Kedars, die Segnungen, die auf das Ende der Gefangen­schaft folgen, die Rückkehr zu einem wiederhergestellten Jerusalem und die darauf folgende Herrschaft des Friedens, der ganze Inhalt von Psalm 132, die Wiedervereinigung Is­raels nach seiner Zerstreuung, der Tempel unter der Regie­rung des Messias, der Segen Melchisedeks usw. ‑ alle diese Ereignisse entziehen sich einer bloß historischen Aus­legung. Ich habe bereits zu Beginn dieser Betrachtung be­tont, daß die in den Psalmen geäußerten Empfindungen ebenso wie die dort erwähnten Ereignisse p r o p h e t i s c h sind, also der Zukunft angehören. Sie sind lediglich teilweise in dem Leben der Propheten erfüllt worden, die von dem Heiligen Geist inspiriert wurden. Diese Propheten, wer sie auch sein mögen, sprachen ihre Weissagungen natürlich in Verbindung mit bestimmten Ereignissen aus, durch die sie selbst mit tiefen Empfindungen hindurchgingen ‑ aber damit ist die Tragweite der Prophetie noch lange nicht erschöpft.  

I. Titel und Verfasser der Psalmen 

Der deutsche Titel "Psalmen" ist dem griechischen Wort "psalmo“« aus der Septuaginta entlehnt und bedeutet "Lie­der". Die ebenfalls häufig verwandte Bezeichnung "Psalter" stammt vom griechischen "psalterion", womit eine Harfe oder ein ähnliches Saiteninstrument gemeint ist. Im Neuen Testament werden Psalmen erwähnt in: Lk 20, 42; 24, 44; Apg 1, 20; 13, 33; 1. Kor 14, 26; Eph 5,19 und Kol 3,16. Im Hebräischen ist das Buch der Psalmen "tehillim" überschrie­ben, was soviel wie "Lobgesänge" bedeutet (ein anderes Wort als in den Überschriften der einzelnen Psalmen). 

Nahezu die Hälfte der Psalmen, insgesamt 73, hat der Heilige Geist D a v 1 d eingegeben, dem "Lieblichen in Gesängen Israels«' (2. Sam 23, 1). Die folgenden Psalmen stammen von David: Ps 3‑9, 11‑32, 34‑41, 51‑65, 68‑70, 86, 101, 103, 108‑110, 122, 124, 131, 133, 138‑145. In Apostelgeschichte 4,25 wird auch Psalm 2, in Hebräer 3,7‑11 und 4,7 Psalm 95 David zugeschrieben, was sich aber auch auf das ganze Buch der Psalmen insgesamt beziehen kann. 

A s a p h hat zwölf Psalmen verfaßt: Ps 50, 73‑83. 

Die S ö h n e K o r a h s haben elf Psalmen gedichtet: Ps 42, 44‑49, 84‑85, 87‑88. Dabei ist fraglich, ob der erste Teil der Überschrift von Psalm 88 nicht ein Nachsatz zu Psalm 87 ist. Dadurch wäre zumindest die Schwierigkeit der doppelten Verfasserangabe in Psalm 88 beseitigt. 

Psalm 88 wird Heman, dem Esrachiter, zuge­schrieben. 

Von Ethan, dem Esrachiter, stammt Psalm 89. 

Den einzigen Psalm M o s e s stellt Psalm 90 dar. 

Salomo hat Psalm 127 verfaßt (Psalm 72: F ü r Salomo). 

Insgesamt sind also bei 99 Psalmen die Verfasser angege­ben, während die übrigen 51 keiner bestimmten Person zu­geschrieben werden. 

Im Blick auf die einzelnen Bücher der Psalmen fällt folgendes auf: 

Buch 1 besteht mit Ausnahme der überschriftslosen Psal­men (1, 2, 10 und 33) ausschließlich aus Psalmen Davids. 

Buch II enthält 18 Psalmen Davids, 7 der Söhne Korahs und 1 Psalm Asaphs (Ps 50). 

Buch III setzt sich aus 11 Psalmen Asaphs, 3 Psalmen der Söhne Korahs, je einem Psalm Hemans und Ethans und ebenfalls nur einem Psalm Davids (Ps 86) zusammen. 

Buch IV: Hierfür ist charakteristisch die große Anzahl von Psalmen ohne Verfasserangabe (14 von den insgesamt nur 17 Psalmen dieses Buches). Psalm 90 stammt von Mose, die Psalmen 101 und 103 von David. 

Buch V enthält wiederum 15 Psalmen Davids und einen Psalm Salomos (Ps 127). Die Verfasser der übrigen 28 Psal­men dieses Buches sind nicht genannt. 

II. Die Anordnung der Psalmen 

David, Asaph, die Söhne Korahs, Salomo, Mose, Heman und Ethan waren die Verfasser der Psalmen. Wenn wir ferner berücksichtigen, daß andere Psalmen erst während der Ba­bylonischen Gefangenschaft niedergeschrieben wurden (z. B. Ps 137), sehen wir, daß die verschiedenen Autoren über meh­rere Jahrhunderte zerstreut lebten. Irgend jemand muß die Psalmen also zu irgendeiner Zeit so in Buchform zusam­mengestellt haben, wie sie schließlich auf uns gekommen sind. Wer diese Sammlung und Ordnung vornahm, wissen wir nicht; es ist uns auch nicht geoffenbart. Eines können wir jedoch mit Sicherheit sagen: Der gläubige Jude, der diese Arbeit verrichtet hat, war durch den Geist Gottes dazu be­rufen, so daß die heutige Anordnung der Psalmen als das vollkommene Werk des Heiligen Geistes angesehen werden kann. 

Die modernen Kritiker reden von verschiedenen Herausge­bern, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten mehrere Anord­nungen vornahmen. So sei z. B. die Feststellung am Ende von Psalm 72: "Es sind zu Ende die Gebete Davids, des Soh­nes Isais" fehl am Platz, da später noch weitere Psalmen Davids folgen (z. B. Ps 86: "Ein Gebet. Von David"), die also wahrscheinlich von anderen Herausgebern hinzugefügt wor­den seien. Aber die Worte am Ende des zweiten Buches der Psalmen haben eine völlig andere Bedeutung. Der 72. Psalm offenbart die Herrlichkeit des Reiches Dessen, der "mehr als Salomo" ist. Angesichts dieser Tatsache erklärt David gleichsam: "Meine Gebete sind nun beendet. Ich habe keine Bitten, die über das hinausgehen, was dieser Psalm offen­bart." Was für den natürlichen Menschen eine Torheit ist, stellt für den durch den Geist Gottes erleuchteten Gläubigen gerade einen Beweis für die Schönheit und Vollkommenheit des Wortes Gottes dar. 

Das Werk des unbekannten Sammlers der Psalmen trägt deutlich den Stempel des Geistes Gottes. Einen ausdrück­lichen Beweis hierfür liefert uns Apostelgeschichte 13, 33, wo von dem z w e i t e n Psalm die Rede ist. Die überlieferte Zählung und Anordnung der Psalmen wird damit durch den Heiligen Geist autorisiert. Die Psalmen müssen also im Zu­sammenhang gelesen werden, wenn man ihre wahre geist­liche, d. h. prophetische Bedeutung erfassen will. Hierfür nur ein einfaches und den meisten bekanntes Beispiel: Psalm 22 ist eine Weissagung über die Leiden Christi auf dem Kreuz. Er ist dort der gute Hirte, der sein Leben für die Schafe gibt. Psalm 23 zeigt Ihn uns als den großen Hirten der Schafe, der uns durch die Welt führt. In Psalm 24 ist Er schließlich der Erzhirte, der in Herrlichkeit geoffenbart wird. 

III. Die Psalmen und die Bücher des Gesetzes 

Der unbekannte Herausgeber der Psalmen hat das Buch in fünf Abschnitte eingeteilt, die auch äußerlich sichtbar werden (siehe Ps 41, 13; 72,18‑20; 89, 52; 106, 48). Diese fünf Bücher entsprechen in bemerkenswerter Weise den fünf Büchern Moses. Alte jüdische Kommentare reden von den „Fünf Bü­chern Davids". 

Das erste Buch Mose berichtet von der Schöpfung, deren Fall und der "neuen Schöpfung", die sich unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes von den ersten Anzeichen neuen Le­bens (Abel) bis zu "dem Maße des vollen Wuchses der Fülle des Christus" entwickelt (Joseph). Die Gerechten stehen äußerlich in enger Verbindung mit den Gesetzlosen und werden dadurch moralisch um so deutlicher unterschieden (Abel ‑ Kain, Noah ‑ Lamech, Abraham ‑ Lot, Isaak ‑ Is­mael, Jakob ‑ Esau, Joseph ‑ seine Brüder). Ebenso han­delt das erste Buch der Psalmen von einzelnen Personen, Gerechten und Gesetzlosen, die äußerlich noch in Jerusalem verbunden sind. Dadurch wird die moralische Schönheit des Überrestes und des mit ihm verbundenen Christus hervor­gehoben und ein Bild von den geistlichen Empfindungen des neuen Menschen entworfen. 

Das zweite Buch Mose beschreibt die Erlösung des Volkes Israel aus Ägypten durch die Macht Gottes. Dieses Ereignis wird in der Prophetie öfter mit der zukünftigen Befreiung Judas vom Joch der Nationen, besonders des Assyrers, in Verbindung gebracht (siehe z. B. Jes 10, 24‑27; 11, 16). Das zweite Buch der Psalmen beginnt mit der Schilderung der Leiden des jüdischen Überrestes, der sich außerhalb seines Landes bei Nationen aufhält, die unter der Oberhoheit des Assyrers stehen. Das Buch endet mit der Befreiung des Überrestes und der Aufrichtung des Friedensreiches. "Die ganze Erde werde erfüllt mit seiner (Jehovas) Herrlichkeit!" (Ps 72, 19). "Und die Herrlichkeit Jehovas erfüllte die Woh­nung" (2. Mo 40,34). 

Das Thema des dritten Buches Mose ist die Heiligkeit Jeho­vas und des Volkes, das Ihm naht. Im dritten Buch der Psal­men wird der Überrest Israels in das Heiligtum eingeführt und sieht dort die Heiligkeit Gottes in Seinen Wegen mit Seinem Volk. Nahezu jeder Psalm dieses Buches hat etwas mit dem Heiligtum und Zion zu tun. 

4. Mose ist das Buch der Erprobung des Menschen in der Wüste. Aus dieser Zeit stammt der 90. Psalm, der die Ein­leitung zum vierten Buch der Psalmen bildet. Dieses Buch schildert den völligen Ruin des ersten Menschen, um für die Einführung des zweiten Menschen, Christus, Raum zu ma­chen. 

Das fünfte Buch Mose gibt einen Rückblick auf die Wüsten­reise und einen Vorausblick auf den Aufenthalt in Kanaan. Dabei wird die Bedeutung des unwandelbaren Wortes Got­tes betont. Auch das fünfte Buch der Psalmen blickt zurück auf die Wege Gottes mit Seinem Volk und voraus auf die Herrlichkeit des Reiches Christ!. Zentral steht auch hier der große Lobpreis des Wortes Gottes in Psalm 119. 

IV. Die Überschriften der Psalmen

Nachstehend seien zunächst einige hebräische Ausdrücke erklärt, die in den Überschriften der Psalmen vorkommen. 

A i j e i e t h ‑ S c h a h a r : "Hindin der Morgenröte" (Ps 22). Die Hindin ist ein Bild der Leichtigkeit und Schnelligkeit, der von Gott verliehenen Erhabenheit über widrige Umstände (2. Sam 22, 34; Ps 18, 33; Hab 3, 19). In Verbindung mit der "Morgenröte" weist dieser Ausdruck auf die jugendliche Frische des Anbruchs des Friedensreiches nach der Nacht der Drangsal hin. 

A l a m o t h : "Mädchenstimmen" Ps 46; vgl. 1. Chron 15, 20‑21; hohe Tonlage. 

A l ‑ T a s c h c ~h e t h : "Verdirb nicht" (Ps 57‑59 und 75); ein Ruf um Gnade in großer Gefahr (vgl. 5. Mo 9,26). 

G i t t i t h : "Kelter" (Ps 8, 81 und 84); ein harfenähnliches Instrument, vielleicht in Verbindung mit dem Gericht des Keltertretens zu sehen (vgl. Jes 63, 3; Offb 14, 20). 

Hallelujah: "Lobet Jehova!" (Ps 105‑106, 111‑113, 135‑136, 146‑150). Das Hallelujah von Ps 104, 35 gehört vielleicht an den Anfang von Ps 105; bei Ps 147 siehe Vers 1. 

J e d u t h u n : "Preisender, Lobender" (Ps 39; 62 und 77); ein Mann, der mit der Laute weissagte, um Jehova zu preisen (l. Chron 16,41‑42; 25,1. 3. 6). 

J o n a t h ‑ e l e m ‑ r e c h o k i m : Jaube der fernen Tere­binthen" (Ps 56). 

M a c h a 1 a t h : "Krankheit, Kummer" (Ps 53); auf schwer­mütige Weise zu singen. 

Machalath‑Leannoth: "Kummer bis zur Ernied­rigung" (Ps 88); schwermütig, mit gedämpfter Stimme vor­zutragen. 

M u t h ‑ L a b b e n : Jod des Sohnes" (Ps 9). 

N e g 1 n o t h : "Saitenspiel" (Ps 4; 6; 54; 55; 61; 67; 76); in Ps 61 im Singular (Neginah). 

N e c h i 1 o t h : "Flöten" (Ps 5). 

S c h e m i n i t h : „die Achte, Oktave" (Ps 6 und 12); wahr­scheinlich die gegenüber Alamoth tiefere Tonlage (vgl. 1. Chron 15, 20‑21). 

S c h o s c h a n n i m : "Lilien" (Ps 45 und 69); ein Symbol der moralischen Schönheit des Überrestes (vgl. Hohe[2,1‑2; Hos 14, 5; Mt 6, 28; Lk 12, 27). 

Schoschannim‑Eduth ‑ "Lilien des Zeugnisses" (Ps 80). 

S c h u s c h a n ‑ E d u t h : wie Schoschannim‑Eduth (Ps 60). 

" D e rn V o r s ä n g e r " sind folgende Psalmen gewidmet: Ps 4‑6; 8‑9; 11‑14; 18‑22; 31; 36; 39‑42; 44‑47; 49; 51‑62; 64‑70; 75‑77; 80‑81; 84‑85; 88; 109; 139‑140 (ins­gesamt 55mal). Der Vorsänger leitete den Gesang und die Musik im Tempel (l. Chron 15, 21; vgl. auch Hab 3,19). Vor­bildlich könnte der Vorsänger auf den Herrn Jesus hin­weisen, der den Lobgesang inmitten der Versammlung an­stimmt (Ps 22, 22). 

Die einzelnen Psalmen werden mit folgenden Ausdrücken bezeichnet: 

P s a 1 m : ein Lied mit musikalischer Begleitung; Ps 3‑6; 8‑9; 12‑13; 15; 19‑24; 29; 31; 38‑41; 47; 49‑51; 62‑64; 73; 77; 79‑80; 82; 84‑85; 98; 101; 109‑110; 139‑141; 143 (44 mal). 

Lob‑Psalm (oder: Psalm beim Dankopfer) Ps 100 

Psalm‑Lied (oder Lied‑Psalm): Ps 30; 48; 65‑68; 75‑76; 83; 87‑88; 92; 108 (13 mal). 

L i e d : der normale hebräische Ausdruck für ein Lied im allgemeinen; Ps 46 (vgl. auch Ps 18: "die Worte dieses Lie­des"). 

Lied der Lieblichkeiten: Ps 45 

Stufenlied: siehe hierzu die Erklärung Rossiers; Ps 120‑134 (15 mal). 

Lobgesang: Ps145 

G e b e t : Ps 17; 86; 90; 102; 142 (fünfmal). 

281  M a s k i l : "Unterweisung" (vgl. die maskilim, "Verstän­digen", in Dan 11, 33. 35; 12, 3. 10)«, Ps 32; 42; 44‑45; 52‑55; 74; 78, 88‑89; 142 (13 mal). 

M i k t a m : "Gedicht, (dem Gedächtnis) eingeprägt"; Ps 16; 56‑60 (sechsmal). 

S c h i g g a j o n : Jauter Ruf, Lied in bewegten Rhythmen Ps 7 (vgl. den Plural in Hab 3, 1). 

Einige Überschriften enthalten einen Hinweis auf den Zweck des folgenden Psalms: 

Psalm 30 ist ein "Einweihungslied des Hau­ses". 

,Zum Gedächtnis " wurden die Psalmen 38 und 70 verfaßt; z u m L e h r e n " dient der 60. Psalm.

Psalm 72 ist S a 1 o m o gewidmet. 

Psalm 92 ist schließlich ein Lied " f ü r d e n T a g d e s Sabbaths " . 

Das hebräische Wort " S e 1 a " kommt 71 mal in den Psal­men (nicht im 4. Buch und nur viermal im 5. Buch) und drei­mal in Habakuk 3 vor. Es ist abgeleitet von "salah", was "innehalten, verweilen" bedeutet. Ein "Sela" kennzeichnet also einen Sinnabschnitt und hat weniger auf die musi­kalische Begleitung Bezug. 

V. Der historische Hintergrund der Psalmen 

Bei dreizehn Psalmen (3; 7; 18; 34; 51; 52; 54; 56; 57; 59; 60; 63; 142) teilt uns der Heilige Geist den geschichtlichen Anlaß mit, aus dem heraus sie entstanden sind. (Einen allgemeinen Charakter hat Psalm 102: "Gebet eines Elenden, wenn er verschmachtet und seine Klage vor Jehova ausschüttet".) Bei den genannten Psalmen handelt es sich ausnahmslos um Psalmen Davids. Die meisten von ihnen (acht) sind im zweiten Buch enthalten, das uns die Gefühle des Überrestes während der Zeit seiner Verfolgung und Vertreibung aus Juda schildert. Dem entspricht im Vorbild die Flucht Davids vor Saul und vor Absalom. 

Natürlich lassen sich aus dem Inhalt noch weiterer Psalmen Rückschlüsse auf die Umstände ziehen, die zu ihrer Ent­stehung geführt haben. Entscheidend ist jedoch, daß es dem Geist Gottes bei den meisten Psalmen gefallen hat, uns diese Umstände n i c h t mitzuteilen. Für die Auslegung der Psalmen sind diesbezügliche Vermutungen also belang­los. Um so sorgfältiger sind dann aber die historischen Hin­weise in den Überschriften der Psalmen zu beachten. Nach­folgend werden jeweils die entsprechenden Stellen in den geschichtlichen Büchern angegeben. 

Psalm 3: Davids Flucht vor Absalom ‑ 2. Sam 15 ff.

Psalm 7: Anlaß sind die Worte Kuschs, des Benjaminiters, der aber in den Geschichtsbüchern nicht erwähnt wird. Saul war ein Benjaminiter (l. Sam 9,21) und selbst einer derjenigen,die den Haß gegen David durch Verleumdungen schürten (l. Sam 22, 7‑8; vgl. 24, 9 und 26,19). Aber auch Simel, der David fluchte, war ein Benjaminiter (2. Sam 16, 11); ebenso Scheba, der Sohn Bikris (2. Sam 20, 1). Bemerkenswert ist die Verbindung zu allen drei Begebenheiten, bei denen David sein Königtum streitig gemacht wurde (durch Saul, Absalom und Scheba). Kusch ("schwarz") könnte u. U. ein sym­bolischer Name sein, der eine entsprechend weite Anwendung erlaubt.

Psalm 18:     Davids Errettung von all seinen Feinden 2. Sam 22

Psalm 34:     Davids erster Aufenthalt bei Achis, dem König von Gath (Abimelech war ein allgemeiner Titel der Philisterkönige) ‑ 1. Sam 21, 10‑15

Psalm 51:     Davids Bekenntnis nach seinem Fall mit Bath­seba ‑ 2. Sam 12 

Psalm 52: der Verrat Doegs, des Edomiters ‑ 1. Sam 21, 7 und 22, 9‑10

Psalm 54: der Verrat der Siphiter ‑ 1. Sam 23, 19

Psalm 56:      Davids erster Aufenthalt bei Achis, dem König von Gath ‑ 1. Sam 21, 10‑15 (bei seiner zweiten Flucht nach Philistäa wurde David nicht "ergrif­fen"; vgl. 1. Sam 27, 2; 29)

Psalm 57:      Davids Flucht vor Saul in die Höhle Adullam ‑1. Sam 22, 1 (die Begebenheit in 1. Sam 24 ist keine Flucht von seiten Davids!)

Psalm 59:      die Bewachung Davids in seinem Haus durch Saul ‑ 1. Sam 19, 11

Psalm 60:      nach den Siegen Davids über die Syrer und Edo­miter ‑ 2. Sam8,3‑14 (siehe Fußnote zu Vers 13!)

Psalm 63:      DavidaufderFluchtvorSaulinderWüsteJuda­1. Sam 22, 5; 23,14‑15

Psalm 142: David in der Höhle Adullam (vgl. Anmerkungen zu Ps 57)

 

Einige Psalmen entsprechen zum Teil Lobgesängen, die in den geschichtlichen Büchern aufgezeichnet sind:

Psalm 18 ‑ 2. Samuel 22

Psalm 96 ‑ 1. Chronika 16, 23‑33

Psalm 105, 1‑15 ‑ 1. Chronika 16, 8‑22

Psalm 106, 1. 47. 48 ‑ 1. Chronika 16, 34‑36

Psalm 108 ‑ Psalm 57, 7‑11 und 60, 5‑12 (vgl. die dor­

tigen Verweise auf historische Begebenheiten)

Psalm 132, 8‑10 ‑ 2. Chronika 6, 41‑42

(Psalm 70 ‑ Psalm 40, 13‑17) 

Diese Parallelen besagen natürlich nichts im Blick auf die Abfassungszeit der jeweiligen Psalmen, geben aber Hin­weise auf ihre prophetische Bedeutung. 

Vl. Zitate aus den Psalmen Im Neuen Testament 

Kein Buch des Alten Testamentes wird im Neuen Testament so häufig angeführt wie das der Psalmen. In der folgenden Aufstellung sind nicht nur direkte Zitate aufgenommen, son­dern auch mehr oder weniger deutliche Anspielungen. Hier sind die Grenzen natürlich fließend. Dem Kenner der Psal­men werden sicher noch weitere versteckte Hinweise auf dieses Buch im Neuen Testament auffallen.

 

Psalm                   Neues Testament

2,1‑2                    Apg 4,25‑26

2,7                       Apg 13,33; Hebr 1, 5; 5,5

2,9                       Offb 2,27; 12,5; 19,15

4,4                       Eph 4,26

5,9                       Rö 3,13

6,8                       Mt 7, 23; Lk 13,27

8,2                       Mt 21,16

8,4‑6                    Hebr 2, 6‑8

8,6                       1. Kor 15,27; Eph 1, 22

9,8                       Apg 17, 31

10,7                     Rö 3,14

14,1‑3                  Rö 3,10‑12

16,1                     Hebr 2,13

16,8‑11                Apg 2, 25‑28

16,10                   Apg 13,35

18,49                   Rö 15,9

19,4                     Rö 10, 18

22,1                     Mt 27,46; Mk 15,34

22,8                     Mt27,43

22,18                   Mt 27, 35; Mk 15, 24; Lk 23,34; Joh 19,24

22,21                   2. Tim 4,17

22,22                   Hebr 2,12

24,1                     1. Kor 10, 26

25,3.20                Rö 5,5

31,5                     Lk 23, 46

32,1‑2                  Rö 4,7. 8

32,11                   Phil 3, 1

34,8                     1. Petr 2, 3

34,12‑16              1. Petr 3,10‑12

34,20                   Joh 19, 36

35,19                   Joh 15,25

36,1                      Rö 3,18

37,11                    mt 5,5

38,11                    Lk 23,49

40,6‑8                  Hebr 10, 5‑7 ff.

41,9                      Joh 13,18; Apg 1, 16

44,22                    Rö 8,36

45,6‑7                  Hebr 1, 8‑9

48,2                      Mt 5,35

51,4                      Rö3,4

53,2‑4                  Rö 3,10‑12

55,22                    1. Petr 5,7

56,4                      Hebr 13,6

62,12                    Mt 16, 27; Rö 2, 6; Offb 2, 23; 20,12; 22, 12

68,18                    Eph 4,8

69,4                      Joh 15,25

69,25                    Apg 1, 20

69,9                      Joh 2,17; Rö 15,3

69,21                    Joh. 19,28‑29

69,22‑23              Rö 11, 9‑10

69,25                    Apg 1, 20

69,28                    Offb 3,5

73,1                      mt 5, 8

78,2                      Mt 13,35

78,24                    Joh 6,31

82,6                      Joh 10, 34

88,8                      Lk 23, 49

89,20                    Apg 13,22

89,27                    Offb 1, 5

90,4                      2. Petr 3, 8

91,11‑12              Mt 4,6; Lk 4, 10. 11

94,11                    1. Kor 3, 20

95,7‑11                Hebr3,7‑llff.

96,13                    Apg 17,31

97,7                      Hebr 1, 6

102,25‑27            Hebr 1, 10‑12

103,17                  Lk 1, 50

104,4                    Hebr 1, 7

106,20                  Rö 1, 23

107,9                    Lk 1, 53

109,8                   Apg 1, 20

110,1                   Mt 22, 44; Mk 12, 36; Lk 20, 42‑43; Apg 2,

                            34‑35; 1. Kor 15, 25; Hebr 1, 13; 10, 12‑13

110,4                   Hebr 5,6; 7,17.21

112,9                   2. Kor 9, 9

116,10                 2. Kor 4,13

116,11                 Rö 3,4

117,1                   Rö 15, 11

118,6                   Hebr 13,6

118,22                 Lk 20,17; Apg 4, 11; 1. Petr 2,7

118,22‑23            Mt 21,42; Mk 12, 10‑11

118,26                 Mt 21,9; Mk 11, 9; Lk 19,38

119,137               Offb 16,5; 19,2

132,11                 Apg 2,30

140,3                   Rö 3,13

146,6                   Apg 4,24 

Gedanken über Psalm 84, Andrew Miller

12/05/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Vers 1

"Wie lieblich sind deine Wohnungen, Jehova der Heerscharen" (V. 1)! Es ist gut um eine Seele bestellt, die sich, gleich dem Psalmisten, nach der Wohnung Gottes sehnt und die Zusammenkünfte Seiner Heiligen liebt, weil Er da ist. Die neue Natur trachtet nach dem lebendigen Gott, und ihr Wunsch ist es, Segnun­gen von Ihm zu empfangen.

Selbst wer kein göttliches Leben in sich hat, mag bei den sogenannten Gottesdiensten, denen er beizuwoh­nen pflegt, einen gewissen Genuß empfinden, aber er sucht nicht, Gott zu begegnen. Lebhafte religiöse Gefühle und weihevolle Stimmungen mögen wohl in solchen Versammlungen durch gewisse Mittel, z. B. durch das Singen eines ansprechenden Liedes, hervor­gerufen werden. Das Bewußtsein aber, dort Gott zu begegnen, würden sicher viele bewegen, auf den Be­such der Zusammenkunft zu verzichten; denn nur die neue Natur kann sagen: "Mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem lebendigen Gott." Nur wenn wir die göttliche Natur besitzen, sind wir fähig, uns wahrhaft in Gott zu freuen. Echte, persönliche Frömmigkeit liebt die Wohnungen des Herrn; sie findet ihre innerste Befriedigung und tiefste Freude an der Stätte, wo der Herr gegenwärtig ist.

Zu einem wahren, Gott wohlgefälligen Gottesdienst ge­hören drei Voraussetzungen: die göttliche Natur, der Heilige Geist und das Wort Gottes (vergl. Joh 4,23.24). Aber können sich denn nicht schon die "Kindlein in Christo" dieser Dinge erfreuen? Ganz gewiß; denn es steht geschrieben: "Ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christum Jesum" (Gal 3,26), und sicher hat jedes Kind dieselbe Natur wie sein Vater und ist somit fähig, in Gemeinschaft mit Ihm zu sein. Außerdem besitzen wir alle Sein Wort und Seinen Geist. 

Welch eine kostbare Wahrheit! Möchten wir nur kindlich genug sein, dieses Wort als unsere einzige Richtschnur und Seinen Geist als unseren alleinigen Führer, als unsere einzige Kraft zu besitzen! Nichts, gar nichts sollte sich in unserem Christentum finden, was nur die Frucht menschlicher Überlieferung oder Er­ziehung ist.

Was jedoch ist dein Beweggrund, was dein Gegenstand und deines Herzens Verlangen, wenn es sich um den Besuch der Versammlung der Kinder Gottes handelt? Geht es dir um die erwähnten drei Punkte? Hat nicht der häufige Besuch, die Regelmäßigkeit und die durch­schnittliche Gleichförmigkeit des Dienstes dazu ge­führt, ihre Wirkung auf deine Seele abzuschwächen und dich ihre wahre Bedeutung und ihren Wert verges­sen zu lassen? 

Der Gedanke, der Wohnung Gottes zu nahen, müßte eine ungeheure Wirkung auf uns aus­üben, wenn wir ihn uns völlig zu eigen machen wür­den. Ja, wenn er in unseren Herzen lebendig wäre, würden wir sicher ernstlich mit uns ins Gericht gehen, ehe wir uns aufmachen, um ins Heiligtum einzutreten; wir würden eifrig über jeden Gedanken, jedes Wort und jede Tat wachen, so lange wir uns dort befinden. Und warum das alles? 

Etwa darum, weil wir Gott gegenüber ein Gefühl knechtischer Furcht empfinden sollten? Nein, durchaus nicht; denn die Gegenwart des Vaters ist die Heimat der Kinder, eine Stätte glück­licher, seliger Freiheit ‑ "auch d e r Vater sucht solche als seine Anbeter." Er nimmt unsere Anbetung nicht nur entgegen, sondern Er sucht sie. Sie ist Ihm kostbar. Er liebt es, Seiner Kinder Loblieder, ihr Dan­ken und Preisen zu hören. Aber gerade deswegen wünscht Er auch, daß sie Ihm ihre Anbetung im vollen Verständnis über deren Wichtigkeit und Bedeutung von ganzem Herzen darbringen.

Gott wohnt bei uns, und zwar nicht als Besucher, wie einst bei den ersten Menschen im Garten Eden, son­dern dauernd. Welch eine wunderbare Gnade! Es ist wirklich der Mühe wert, darüber nachzudenken. Wie sollten wir wachsam sein, daß diese herrliche Tatsache nicht durch Gewohnheit für uns an Bedeutung verliert! Wie traurig wäre es, wenn der beständige Genuß un­serer Vorrechte dahin führen würde, daß sie ihren ursprünglichen, mächtigen Einfluß auf unsere Seele einbüßen! Wie sollten wir stets daran denken, daß es die Wohnungen Jehovas der Heerscharen sind, zu de­nen wir Zutritt haben!

Das Wort "Wohnungen" deutet darauf hin, daß es Got­tes Absicht ist, bei den Menschen zu wohnen. Das war von jeher der Wunsch Gottes. Schon Mose durfte auf dem Berg ein Muster der "Wohnung" sehen. Gott Selbst hat den Plan dazu entworfen, und was wird es sein, wenn dieser einmal völlig zur Ausführung ge­bracht sein wird! Das wird allerdings erst geschehen, wenn der neue Himmel und die neue Erde geschaffen sein werden. Beschrieben wird das im 21. Kapitel der Offenbarung: "Und ich hörte eine laute Stimme aus dem Himmel sagen: Siehe, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott. Und er wird jede Träne von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergan­gen" (V. 3 u. 4).

Welch einen herrlichen Wohnplatz haben wir zu erwar­ten! Niemand kann hier auf der Erde völlig verstehen, welches Glück, welcher Segen uns dort zuteil werden wird. Es ist die Heimat, das Vaterhaus, dem wir entgegengehen. Welch eine Fülle von tiefen Empfin­dungen, von reinem Glück und seliger Freude ruft das Wort "Vaterhaus" in unseren Herzen wach! Und o wun­derbarer Gedanke! ‑ dieser Zustand währt ewig; eine ewige Heimat ist uns bereitet. 

Wir werden für immer bei dem Herrn sein. Das tausendjährige Reich ist dann vorüber; die Ewigkeit mit ihrer unvermischten Freude hat begonnen. Und was ist das Sinnbild der voll­kommenen Segnungen der Ewigkeit? Genau dasselbe, was immer das Sinnbild der Gnade Gottes war, sowie der Vorrechte des Menschen infolge der Erlösung, die in Christo Jesu ist, nämlich: "Die Hütte Gottes bei den Menschen; und er wird bei ihnen wohnen ".

Es ist auch sehr wichtig, daß in der oben angeführten herrlichen Beschreibung unseres zukünftigen Wohnplat­zes nichts mehr von verschiedenen Klassen, von Königen, Völkern und dergleichen zu finden ist. Es heißt einfach: "die Hütte Gottes bei den Menschen". "Das Erste ist vergangen." Die Unter­schiede, die bis dahin herrschten, sind gänzlich ver­schwunden. Es gibt nicht länger Juden und Griechen, Völkerschaften und Nationalitäten, Geschlechter, Spra­chen und Zungen, sondern einfach "Menschen".

Ohne Zweifel werden persönliche und geistliche Unter­schiede weiterhin bestehen; denn wir werden nie auf­hören, besondere Einzelwesen zu sein, noch kann das, was von dem Geist Gottes in uns ist, je vergehen. Aber alle werden denselben Auferstehungsleib, alle dasselbe Bild des Himmlischen tragen. Auf Gottes neuer Erde gibt es weder Juden noch Griechen, sondern nur neue "Menschen" in Christo Jesu, ein einziges großes Volk Gottes. So wird Gottes neue Ordnung der Dinge be­schaffen sein, und in ihrer Mitte wird Er Seine Woh­nung errichten. 

Die heilige Stadt, das neue Jerusalem, wird herniederkommen von Gott, wie eine für ihren Mann geschmückte Braut, sie wird den Glanz‑ und Mittelpunkt des Ganzen bilden: die Hütte Gottes bei den Menschen. Ist es nicht herrlich, das zu wissen? Welch ein Glück wird dort herrschen! Ja, wahrlich, Quellen nie endender Segnungen werden dort fließen. Unwillkürlich seufzt das Herz: Würden doch alle, die wir lieben, einst dort zu finden sein! Möchte niemand fehlen, der uns hier teuer war!

Doch der leitende Gedanke in unserem schönen Psalm ist nicht so sehr unser Wohnen bei Gott, als viel­mehr Gottes Wohnen bei uns. "Wie lieblich sind deine Wohnungen, Jehova der Heerscharen!" Gegenwärtig ist die Kirche (die Versammlung) der Bau, in dem Er wohnt: "in welchem auch ihr mit­ aufgebaut werdet zu einer Behausung Gottes im Geiste" (vergl. Eph 2,16‑22). Nicht mehr lang, dann werden die Kinder das Vaterhaus in der Höhe erreicht haben, von dem wir soeben sprachen. Solange sie "durch das Tränental" gehen, sind sie in diesem Sinn noch fern von Gottes Wohnstätte. Das Haus mit den vielen Wohnungen, den Gegenstand ihrer Sehnsucht, haben sie noch nicht erreicht. In einem anderen Sinn aber sind sie schon jetzt in das Haus Gottes gebracht, in dem Er Selbst durch den Geist wohnt.

Es ist sehr wichtig, das zu verstehen. Paulus schreibt an sein Kind Timotheus: "Dies schreibe ich dir, . . . auf daß du wissest, wie man sich verhalten soll im Hause Gottes, welches die Versammlung des le­bendigen Gottes ist, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit." Sicher sollte das Bewußtsein, daß Er in der Versammlung gegenwärtig ist, zu einem Geist der Anbetung und zu einer heiligen, geziemenden Wachsamkeit über unser ganzes Betragen führen. Ob­wohl das Haus durch die Schuld des Menschen ein "großes Haus" geworden ist (2. Tim 2,20.21), in dem Gefäße "zur Ehre" und Gefäße "zur Unehre" neben­einander vorhanden sind, können sich doch die Grundsätze der Wohnung Gottes und das, was Seiner heiligen Gegenwart geziemt, nicht ändern. Und wenn wir nicht überzeugt sind, daß der Herr zu­gegen ist, was nützt es dann, überhaupt zur Versamm­lung zu gehen? Sie sinkt dann zu einer rein mensch­lichen Vereinigung herab, die sich äußerlich in durch­aus geordneten Verhältnissen befinden mag, aber nie­mals die "Behausung Gottes im Geiste" genannt wer­den kann.

Der Herr sagte einst zu Seinen Jüngern: "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte." Das ist ein heiliges, unver­brüchliches Versprechen, das Er sicher und gewiß hält, wenn wir nur der Bedingung entsprechen, die Er stellt, und die lautet: wenn ihr "versammelt seid in meinem Namen" (eig. zu meinem Namen hin). 

Ist das der Fall, so ist Er "in unserer Mitte". Sicherlich steht der Herr hoch über all unserer Unwissenheit und unseren Ver­kehrtheiten, und Er kann und wird auch in solchen Versammlungen wirksam sein und segnen, von denen der Glaube nicht mit Bestimmtheit sagen könnte, daß der Herr in der Mitte ist. Aber der Glaube wird allein durch das Wort Gottes geleitet, nicht durch Erfahrun­gen, selbst nicht durch die Erfahrung der Segnungen des Herrn. Der Glaube an Seine Gegenwart wirkt Wunder an der eigenen Seele und in der Versammlung. Er hält die Natur in Schranken, weist alle menschlichen Erfindungen zurück, vertreibt alle Furcht und gibt dem Herzen vollkommene Ruhe in der Allgenugsamkeit Christi.

Wie aber muß der Grund beschaffen sein, auf dem der heilige Gott, der Sünde nicht sehen kann, bei dem sündigen Menschen zu wohnen vermag? Daß Men­schen mit verherrlichtem Leib bei Gott wohnen kön­nen, ist schon eher zu verstehen. ‑ Nun, beide Tat­sachen sind wunderbar und gründen sich auf das große Erlösungswerk Jesu Christi; beide verdanken wir dem Blut des Lammes Gottes. Das Erlösungswerk bildet die Grundlage unseres jetzigen innigen Verhältnisses zu Gott. Wir lesen nirgends, daß Gott bei Adam im Gar­ten Eden gewohnt hätte, obwohl Adam im Stand der Unschuld war. Gott bereitete wohl dem Menschen einen herrlichen Wohnplatz, setzte ihn da hinein und be­suchte ihn, wie es scheint, dort; aber niemals wohnte Er bei ihm. Die Schöpfung konnte keine angemessene Grundlage für eine Wohnstätte Gottes auf der Erde bieten.

Der Lobgesang Israels (2.Mose 15) enthält die erste Andeutung von einem Wohnen Gottes auf der Erde. Aber beachten wir wohl, daß zu diesem Zeitpunkt hier schon die Erlösung vorbildlich vollbracht und das große Werk der Befreiung ausgeführt war. Gott wartete mit der Offenbarung Seiner Absichten, bis Sein Volk durch das Meer hindurchgeführt und in Sicherheit war. "Meine Stärke und mein Gesang ist Jah", singt Moses, "denn er ist mir zur Rettung geworden. Die­ser ist mein Gott, und ich will ihn verherrlichen, meines Vaters Gott, und ich will ihn erheben". Hierauf empfängt er das Vorrecht, selbst Gottes Ant­wort auf dieses sein Begehren auszusprechen, indem er fortfährt: "Du hast durch deine Güte geleitet das Volk, das du erlöst, hast es durch deine Stärke ge­führt zu deiner heiligen Wohnung . . . 

Du wirst sie bringen und pflanzen auf den Berg deines Erbteils, die Stätte, die du, Jehova, zu deiner Wohnung gemacht, das Heiligtum, Herr, das deine Hände bereitet haben." Es ist sehr bemerkenswert, daß Gott das Wort "heilig" hinzufügt, wenn Er durch den Mund Seines Knechtes von Seiner Wohnung spricht, und daß Er sie nachher "das Heiligtum" nennt. Diese Ausdrücke kennzeichnen den Charakter der Wohnstätte Gottes, wie sie Seinen Gedanken ent­spricht.

Das Er1ösungswerk war also vollbracht und das Volk von der Knechtschaft Ägyptens befreit; nicht eine Klaue war zurückgeblieben! Und indem sie nun, den Siegesgesang auf den Lippen, ihr Angesicht nach Zion hinwenden, besteigt Gott als der große "Ich bin" Sei­nen Wolken‑Wagen, um sie durch die Wüste zu leiten und ihre Hilfe zu sein in aller Not und Gefahr.

Wie unschätzbar groß ist doch der Wert des Blutes des Lammes! oder besser: wie hoch schätzt Gott diesen Wert! Wer auf der Erde könnte die reinigende Wirkung und erlösende Macht des Blutes Jesu beschreiben? Es erlöst den Sünder von der Knechtschaft der Welt und der Sünde und rechtfertigt Gott, wenn Er Barmherzig­keit erzeigt. Es ist die Grundlage aller irdischen Seg­nungen und gibt uns Anspruch auf die reichsten Seg­nungen des Himmels. Es hat den Weg zu des Vaters Thron gebahnt und die Kinder passend gemacht, dort zu erscheinen. Es hat den Vorhang zerrissen und dem Anbeter das innere Heiligtum geöffnet. Es begegnet den höchsten Ansprüchen Gottes wie den tiefsten Bedürfnissen des Menschen.

Auf die Frage, wodurch Gott bei dem sündigen Men­schen auf der Erde wohnen kann, gibt es nur eine Ant­wort: durch das Blut Jesu. Und auf die Frage, wie ein sündiger Mensch jemals bei Gott im Himmel wohnen kann, gibt es wieder nur die eine Antwort: durch das B1ut Jesu . Kraft dieses kostbaren Blutes kann der Gläubige sagen, daß die unmittel­bare Gegenwart Gottes in Christo Jesu jetzt seine selige Heimat ist, ja, daß sie es bleiben wird in alle Ewigkeit.

In diesem Zusammenhang noch ein kurzes Wort an die, die nie ein Bedürfnis nach dem Blute Jesu empfun­den oder noch nie dessen Wert erkannt haben. Sie mö­gen wohl auch regelmäßig ihren Gottesdienst, wie sie es nennen, besuchen; aber das, was für die Gläubigen ein Platz der Anbetung und des wirklichen, wahren Gottesdienstes ist, kann es für sie nicht sein. Gottes­dienst ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Wie­deraufsteigen der Gnade, die uns von oben her besucht hat, in Lob und Anbetung zu Gott. Wie könnte aber ein unversöhnter, nicht erretteter Mensch es wagen, in die heilige Gegenwart Gottes zu treten? 

Er kann diese Gegenwart gar nicht ertragen; Gott aber kann die Sünde nicht in Seiner Gegenwart dulden. Es ist ganz und gar unmöglich, Gott zu nahen, es sei denn auf Grund der versöhnenden, reinigenden Kraft des Blutes Christi. Erlaube mir deshalb die Frage, mein lieber un­bekehrter Leser: "Warum gibst du dich mit einer bloßen Form von Religion zufrieden?" Auf diesem von dir selbst erwählten Boden kannst du Gott nicht begeg­nen; hier bleibt dir nur "ein gewisses furchtvolles Er­warten des Gerichts und ein Feuereifer, welcher die Widersacher verschlingen wird" (Hebr 10,27).

Das flackernde, sterbende Licht des bloßen Bekennt­nisses erlischt, wenn der Bräutigam kommt. Finsternis, ewige Finsternis, wird die törichten Jungfrauen um­hüllen, die es versäumen, Öl zu kaufen, solange es Zeit ist. Darum laß dich bitten, nicht länger mit offenen Augen auf der breiten Straße zu wandeln, die ins Ver­derben führt! Dein bißchen Religion kann dir nichts nützen. Die Decke ist zu kurz, um dich darin einzu­hüllen. Sie ist nur ein Zeugnis von deiner Schuld,

gleich Adams Schürze aus Feigenblättern; ja, sie ver­größert nur das Schreckliche deiner Lage in der Ewig­keit. Welch ein Gedanke, aus der vielleicht oft besuch­ten Kirche oder Kapelle, von dem Abendmahlstisch hinweg in die Tiefen eines unsagbaren Wehs gehen zu müssen!

Möge Gott in Seiner Gnade jeden, der diese Zeilen liest, vor einem so schrecklichen Schicksal bewahren! "Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaus­stoßen", sagte einst unser geliebter Herr, und diesem Wort kann wirklich jeder vertrauen, der Verlangen hat, zu Ihm zu kommen. "Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde." –

Vers 2

"Es sehnt sich, ja, es schmachtet meine Seele nach den Vorhöfen Jehovas; mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem lebendigen Gott" (V. 2). Dieser Vers löst ganz von selbst eine wichtige Frage aus: "Unterscheidet sich der Gläubige, der nach den Vorhöfen des Herrn schmachtet, von dem, der nach dem Herrn Selbst schmachtet?" Die Antwort auf diese Frage heißt ohne Zweifel "Ja". Beide Anliegen sind gut und mögen auch eng miteinander verknüpft sein, ja, sie mögen der Erfahrung eines und desselben Gläubigen, wenn auch zu verschiedenen Zeiten, ent­sprechen, dennoch besteht ein deutlich erkennbarer Unterschied: in dem einen Fall ist das Verlangen der Seele auf Segnung, im anderen Fall auf Gott Selbst gerichtet. 

Sicherlich wird Segnung auch im zweiten Fall hinzugefügt werden; vielleicht noch mehr als im ersten, aber sie ist nicht das Hauptziel des Ver­langens. Wie das Anliegen, so sind auch die Beweggründe in beiden Fällen verschieden. Hier steht der Gedanke an die eigene Person im Vordergrund, dort ist es Gott, und zwar Gott allein. Wenn wir die beiden ersten Verse von Psalm 84 mit dem Beginn des Psalms 63 ver­gleichen, so werden wir den Unterschied klarer er­kennen.

Psalm 63 beginnt von vornherein in höherer Tonart. Das Verlangen der Seele steht nach Gott Selbst. Der Verfasser sagt mit großem Nachdruck: "Gott, du bist mein Gott . " Er ist sich völlig seines Verhältnisses zu Ihm und der daraus hervorfließenden Segnungen be­wußt. Welcher Seelenzustand könnte gesegneter sein? Lauschen wir nur auf die tiefen, glühenden und doch so heiligen Äußerungen des Herzens, wie sie sich in den Worten kundgeben: "Gott, du bist mein Gott! frühe suche ich dich. Es dürstet nach dir meine Seele, nach dir schmachtet mein Fleisch in einem dürren und lechzenden Lande ohne Wasser, ‑ gleich­wie ich dich angeschaut habe im Heiligtum ‑, um deine Macht und deine Herrlichkeit zu sehen." Psalm 84 dagegen beginnt mit den Worten: "Wie lieb­lich sind deine Wohnungen, Jehova der Heer­scharen! Es sehnt sich, ja, es schmachtet meine Seele nach den Vorhöfen Jehovas; mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem lebendigen Gott.

" Hier kennt zwar die Seele Gott und verlangt auch nach Ihm; aber in Ihrem Blickpunkt steht Sein Verhältnis zu Seinem Volk, so wie Er Sich in der Ver­sammlung der Seinigen offenbart. Im ersten Falle fin­den wir ein unmittelbares, gesegnetes Sichhinwenden der neuen Natur zu Gott, wobei nur Er Selbst der Ge­genstand des Verlangens der Seele ist, obwohl diese sich in den denkbar ungünstigsten Umständen, in einem dürren und lechzenden Land ohne Wasser, befin­det; im zweiten begegnen wir einem Verlangen, das mehr dem eines gefangenen Israeliten entspricht, der sich früher der Vorrechte der Anbetung im Hause Jeho­vas erfreute und nun mit Schmerz an die einstigen glücklichen Zeiten zurückdenkt. Nichtsdestoweniger ist der, der in solcher Weise nach den Vorhöfen Jehovas schmachtet, weder diesen ein Fremder, noch dem Herrn Selbst, dem dort Anbetung zuteil wird. Es war ohne Zweifel Liebe zum Herrn, die die Jünger auf dem Berg der Verklärung zu dem Vorschlag veranlaßte, dort drei Hütten zu bauen. Ihr Verlangen war, daß Er dort bei und mit ihnen wohnen bleiben möchte, und so kön­nen die Wohnungen Jehovas wohl um Dessentwillen wertgehalten werden, Der darin wohnt. Wenn aber die kostbaren Vorrechte der Kinder Gottes nicht völlig ver­standen werden, so können deren Gedanken sich nicht bis zu ihrem eigentlichen Mittelpunkt hin erheben.

Welch eine Erquickung muß es für das Herz Gottes sein, wenn Er sieht, wie Sein Kind so nach Ihm ver­langt und so um die Verherrlichung Seines Namens be­sorgt ist, wie das in Psalm 63 zum Ausdruck kommt, obwohl doch an dieser Stelle alles dem Gläubigen entgegen ist! Wenn es so mit einer Seele steht, dann ist das eigene Ich völlig in den Hintergrund gerückt, und das göttliche Leben tritt hervor. Welch eine duftende Blüte, welch eine kostbare Frucht für das Auge Gottes in dieser öden, fruchtleeren Welt! Allerdings gilt das in vollkommenem Maße und zu allen Zeiten nur für Einen: Christus. Für Ihn war die Welt und selbst Israel, als Heiligtum Gottes, ein dürres, lechzendes Land, und doch war und blieb Seine erste Sorge stets die Verherrlichung Seines Vaters. Er ist das herrliche, vollkommene Vorbild für alle Kinder Gottes, und Er ist wirklich des sorgfältigsten Studiums unter Gebet und Flehen, sowie der treuesten Nachahmung wert. 

Diese Welt bot Ihm nie einen Tropfen Wasser, um Seinen Durst zu stillen, nie ein grünes Blatt, um Sein Auge zu erquicken. Aber kein Wort der Klage kam über Seine Lippen. Er traute auf Gott und wartete auf Ihn. Alle Seine Quellen waren droben. Immer trank Er aus frischer Quelle, aber zugleich schmachtete Er wie kein zweiter als Mensch nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Er und nur Er konnte sagen: "Gott, du bist mein Gott! frühe suche ich dich. Es dürstet nach dir meine Seele, nach dir schmachtet mein Fleisch in einem dürren und lechzenden Lande ohne Wasser."

Doch ist der Christ jetzt nicht ebenso wie einst der niedrige und demütige Jesus von Nazareth droben will­kommen? Ja, er ist es durch den Reichtum der Gnade Gottes. Der Gläubige hat Teil an den Rechten und Vor­rechten des Christus ‑ er ist eins mit Ihm als dem zur Rechten Gottes erhöhten Menschen. Sollten deshalb nicht die Gedanken, das innerste Fühlen und Sinnen jedes Christen sich um den Einen drehen, der allein aller Anbetung würdig ist? O teurer Leser! wenn auch du die Dürre dieser Welt fühlst, murre nicht; richte deine Gedanken nach oben, trinke aus dem nie ver­siegenden Brunnen, der dort in stets gleicher Frische quillt! 

Denke daran, daß alle deine Quellen in dem le­bendigen Gott sind, in deinem Gott und Vater! Sinne mehr über die unzähligen Segnungen, die du durch das vollendete Erlösungswerk empfangen hast, über das in­nige Verhältnis, in das du zu Gott gebracht bist! Du bist ein Kind der Familie Gottes, ein Glied des Leibes Christi, des auferstandenen und verherrlichten Men­schensohnes und zugleich ein Diener in Seinem Reich. Darum suche würdig zu wandeln dieser hohen, ausge­zeichneten Vorrechte! Der Glaube erfaßt sie schon jetzt und verwirklicht sie; bald werden sie in der Herrlich­keit droben völlig geoffenbart werden. Und ‑ Gott sei gepriesen! ‑ diese Beziehungen, die die Gnade geschaf­fen hat, können nie wieder gelöst werden. "Die Gna­dengaben und die Berufung Gottes sind unbereu­bar." Er wird nie die Gaben zurückverlangen, die Er ausgeteilt hat ‑ weder in der Zeit noch in der Ewigkeit.

Psalm 63 zeigt uns also den Gläubigen, der nicht seine eigenen Segnungen in den Vorhöfen Jehovas sucht ‑ so richtig das auch an und für sich sein mag ‑ sondern der danach schmachtet, Gottes Macht und Herrlichkeit zu sehen. "Nach dir schmachtet mein Fleisch", sagt er, "gleichwie ich dich angeschaut habe im Heiligtum, um deine Macht und deine Herrlichkeit zu sehen." Ein sol­cher Zustand ist sehr gesegnet, besonders wenn der Gläubige sich im Heiligtum oder am Tisch des Herrn befindet. Anstatt daran zu denken, daß er etwas Gutes empfängt, ist er nur auf die Verherrlichung Seines Namen bedacht. Gott schenke uns allen eine solche Gesinnung, besonders dann, wenn wir versammelt sind, um den Tod unseres Herrn zu verkündigen!

Wie verschieden können doch die Gedanken und Ge­fühle der Gläubigen sein, wenn sie um denselben Tisch versammelt sind, dasselbe Brot essen und aus demsel­ben Kelch trinken! Ich denke dabei nicht an Gleich­gültigkeit oder Sorglosigkeit, rede auch nicht von zagenden, zweifelnden Seelen, die diesen kostbaren Platz nur mit Furcht und Zittern einnehmen, in ständi­ger Besorgnis, sie könnten sich selbst Gericht essen und trinken ‑ nein, ich spreche von solchen, die nicht nur die völlige Gewißheit der Vergebung ihrer Sünden und ihrer Annahme bei Gott haben, sondern auch ernst und gottesfürchtig wandeln wollen. Kommt es nicht vor, daß selbst solche Christen mehr mit sich selbst, mit ihrer eigenen Segnung und Erquickung, oder auch mit Gedanken an liebe Freunde und Ge­schwister im Herrn, in deren Mitte sie sich befinden, beschäftigt sind als mit der Gegenwart des Herrn? Viel­leicht sind sie müde, hungrig und durstig gekommen, und ihre Gedanken und Wünsche gehen nicht über ihre eigene Segnung hinaus. 

Sie wissen natürlich, daß sie sich am Tisch des Herrn befinden und daß Er gegen­wärtig ist; aber der Zustand ihrer Seelen ist so, daß sie nicht imstande sind, sich ausschließlich mit Ihm zu beschäftigen oder Seine Macht und Herrlichkeit so zu betrachten, wie sie im Heiligtum zur Entfaltung kom­men. Ach! wenn sie gründlicher mit ihrem eigenen "Ich" gebrochen hätten und sich mehr und eingehender mit Christus beschäftigen würden, so wäre es anders. Er würde als ihr Ein und Alles ihr Herz so völlig ausfüllen, daß kein Raum mehr für etwas anderes bliebe. Es käme ihnen mehr zum Bewußtsein, wie nahe sie Ihm stehen, ja, daß sie eins mit Ihm sind, dem verherr­lichten Menschen im Himmel.

O welch ein einzigartiger Platz ist der Tisch des Herrn, wenn wir wirklich seine Bedeutung verstehen! Hier erinnern wir uns an den Jesus, der einst für uns am Kreuz war, und wir wissen zugleich, daß Er jetzt nach vollbrachten Werk auf dem Thron Gottes droben sitzt. Die herrlichen Ergebnisse des Kreuzes und des Weilens Christi in der Herrlichkeit werden zu gleicher Zeit gesehen und gefühlt. Die Liebe verliert sich in Ihm, der Jünger in seinem Herrn. Er hat nur noch Gedanken der Anbetung, nur noch Worte der Dank­sagung für Ihn; alles andere ist für den Augenblick vergessen.

Mein lieber Leser! Das ist Gottesdienst, wahrer, geist­licher Gottesdienst, der sich bei allen Gelegenheiten für die heiligen Höfe des Herrn, ja, wir dürfen heute sagen, für das Allerheiligste geziemt. Christus nimmt den rechten Platz im Herzen und in der Versammlung ein. Der Heilige Geist ist nicht betrübt und nicht ge­dämpft. Ist das unsere persönliche Erfahrung? Jeder Christ sollte diese Erfahrung machen. Das Blut des Opfers ist siebenmal vor und auf den Sühndeckel ge­sprengt worden, die Sünde ist hinweggetan; der große Hohepriester weilt im Heiligtum droben, der Heilige Geist in der Versammlung auf der Erde. Gott ist in Christus völlig befriedigt und verherrlicht worden. A1­les ist für uns in Ordnung gebracht, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu danken und anzubeten. "Daher, heilige Brüder, Genossen der himmlischen Berufung, betrachtet den Apostel und Hohenprie­ster unseres Bekenntnisses, Jesum" (Hebr 3,1).

Wie weit ist doch der wahre Christ seiner Stellung nach von dem natürlichen Menschen entfernt! Wie tiefgrei­fend unterscheiden sich beide in den Augen Gottes!

Hier ist Echtheit und Aufrichtigkeit, dort eine bloße Form. Wahre Christen mögen beim Betreten des Hei­ligtums von unterschiedlichen Beweggründen geleitet werden, aber alle haben ewiges Leben, und, dem Was­ser gleich, erhebt sich dieses Leben naturgemäß zu der Höhe seiner Quelle, d. h. zu Gott in Christus. Daher rührt auch der Durst nach dem lebendigen Gott. Sie können in einem Land, in dem kein Wasser ist, nicht leben; sie müssen es aus den himmlischen Quellen schöpfen, um so ihre Bedürfnisse auf der Erde stillen zu können. "Wer irgend von dem Wasser trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird nicht dürsten in Ewigkeit; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm eine Quelle Wassers werden, das ins ewige Leben quillt" (Joh 4,14). Doch wo kein Leben aus Gott vorhanden ist, da kann es auch keinen göttlichen Beweggrund, Wunsch oder Gegenstand geben. Der natürliche Mensch kommt über seine eigene Person nicht hinaus; das eigene Ich, nicht Gott, ist sein Mittelpunkt, sein Beweggrund, sein Zweck und Ziel.

Warum aber macht sich der natürliche Mensch über­haupt die Mühe, Gottesdienste zu besuchen? Dafür gibt es mannigfaltige Gründe, auf keinen Fall jedoch geht es ihm darum, "Gott zu nahen". Seine Absicht ist es vielmehr, Gott durch seinen Besuch in der Kirche oder Kapelle zu besänftigen und Ihn, wenn ich mich so ausdrücken darf, in sicherer Entfernung von sich zu halten.

In jedem natürlichen Menschen gibt es eine gewisse Furcht vor Gott. Seitdem "der Mensch und sein Weib sich vor dem Angesicht Gottes versteckten, mitten unter die Bäume des Gartens", ist das der Fall gewe­sen. Damals offenbarte sich diese Furcht zum ersten Mal. Adam sprach: "Ich hörte deine Stimme im Gar­ten und ich fürchtete mich, denn ich bin nackt, und ich versteckte mich." 

Und gerade weil sich der natürliche Mensch vor Gott fürchtet, ist er gern bereit, mehr oder minder aufwendige religiöse Gebräuche zu beobachten, um auf diese Weise Gott zu besänftigen oder zu befriedigen und Ihn von sich fernzuhalten. Man mag das umschreiben oder leugnen; es ändert nichts daran, daß es Tatsache ist, eine traurige Tat­sache. Man nimmt beispielsweise am Sonntagnachmit­tag an allerlei Vergnügungen und Belustigungen mit um so größerer Befriedigung teil, weil man am Sonntag­morgen seinen religiösen Pflichten genügt hat. Und warum ist das so? Weil die Vernachlässigung jener reli­giösen Pflichten das Gewissen beunruhigen und das Vergnügen stören würde.

Dieser traurige Zustand zeigt deutlich, wo sich eine nicht mit Gott versöhnte Seele befindet. Sie ist ohne Gott, solange sie Gott in der Person und dem Werk Jesu Christi nicht erkannt hat, wie schön auch das äußere Bekenntnis lauten mag - "ohne Gott" im Blick auf die äußeren Umstände dieses Lebens, "ohne Gott" hinsichtlich jedes Gedankens und Gefühls im Innern. Ist das nicht ernst? Die unsterbliche Seele mit ihren edlen Fähigkeiten ist ohne das, was sie eigentlich ausfüllen sollte. Solange sie in diesem Leibe ist, wird sie vielleicht durch eine trügerische Hoffnung aufrecht­erhalten, und der Feind hütet sich, sie zur Verzweiflung zu treiben; der Todesschlaf der Sünde paßt besser zur Erreichung seiner Zwecke. Aber wie groß muß die See­lenangst, die Verzweiflung sein, wenn die Augen an jenem Ort aufgehen, wo es keine Barmherzigkeit mehr gibt, wo das furchtbare Schicksal der Seele für ewig besiegelt ist!

Schon hier auf der Erde ist der Zustand einer Seele "ohne Gott" geradezu trostlos. Sie ist ohne Heiland, und infolgedessen ohne Vergebung, ohne Frieden, ohne Ruhe. Die Güter dieses Lebens mögen im Überfluß vorhanden sein, die freundschaftlichen und gesell­schaftlichen Verbindungen allen Wünschen entspre­chen, ja, das Herz mag edel, der Körper wohlgebildet und der Geist reich begabt sein ‑ und doch, als ein Mensch "ohne Gott" befindet sich die Seele in einem Bereich, wo es keine Befriedigung für sie gibt, nichts als Enttäuschung und trostlose Leere. Auch wenn ein Mensch sich alle Schätze der Welt zueignen könnte, es wäre doch alles Staub und nur Staub!

Den Bedürfnissen der Seele kann nur dann entspro­chen werden, wenn sie zu Gott gebracht wird. Der Herr sagte einst zu Nikodemus: "Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. . . Verwundere dich nicht, daß ich dir sagte: ihr müsset von neuem geboren werden." Gott allein kann die schreckliche Leere der Seele ausfüllen. Nur in Seiner Gunst ist Leben, nur in Seiner Liebe Ruhe, nur in Seiner Gegenwart Freude. "Fülle von Freuden ist vor deinem Angesicht, Lieblich­keiten in deiner Rechten immerdar" (Ps 16,11). Wärest du ein "Lehrer in Israel", aber nicht von neuem

geboren, es würde dir nichts nützen. Niemandem in der Schrift wird ein schwereres Schicksal angekündigt als den "Sündern in Zion": "Die Sünder in Zion sind erschrocken, Beben hat die Ruchlosen ergrif­fen. ,Wer von uns kann weilen bei verzehrendem Feuer? wer von uns kann weilen bei ewigen Glu­ten"' (Jes 33,14)? Das ist das furchtbare Ende, die schreckliche Ewigkeit derer, die nicht "Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus" sind. Für immer sind sie aus Seiner Gegenwart verbannt, an der Stätte der von Gott Verlassenen ! Schreckliches Wort! Tausend Bilder mögen gebraucht werden, um die Trost­losigkeit jenes Zustandes zu beschreiben, aber ein Strich der göttlichen Feder faßt alles zusammen in das eine Wort: "verlassen " . Was dieses Wort bedeutet, sehen wir am Kreuz, in dem unbeschreiblichen Leiden Dessen, Der aus Liebe zu uns in diesen Zustand des Gottverlassenseins eintrat.

"Ohne Gott" in dieser Welt, "ohne Gott" in der kom­menden, ja, dann von Gott verlassen ! Mein lieber unbekehrter Leser! lebst du in dem Gedanken, jene Zeit sei noch weit entfernt? Ach! Millionen meinen es; eine trügerische Hoffnung hält sie aufrecht, sie genie­ßen das Leben so gut es geht, und scheinen glücklich und zufrieden zu sein. Aber wie sieht es in ihrem In­nern aus! Und inzwischen bringt sie jeder Tag ihrem Ziel näher. "Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht." Die Ewigkeit naht heran, für die man sich nicht vorbereiten, der Zorn, dem man nicht entfliehen will. Kein Heiland, kein Mittler sitzt auf dem Richterstuhl. Dann werden sie den schrecklichen Urteilsspruch hören: "Gehet von mir, Verfluchte, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln"! Heute lautet die freundliche Einladung: "Kommet her zu mir " ! Aber man schenkt ihr keine Beachtung. Und dann?

Keine flehende Bitte, kein bitteres Wehgeschrei kann den Urteilsspruch ändern. Die Zeit der Gnade ist vor­über. Der Sünder geht an seinen Platz. Verlassen von Gott, ohne Christus, ohne Heimat und Freunde, wird er in die äußere Finsternis geworfen. Sein ewiges Schicksal ist besiegelt. Es ist das schreckliche Ende der "Sünderin Zion ", der toten Bekenner! Möchten doch noch viele aus dem Sündenschlaf aufwachen, ehe es für ewig zu spät ist!

Vers 3

"Selbst der Sperling hat ein Haus gefunden, und die Schwalbe ein Nest für sich, wo sie ihre Jungen hingelegt . . . deine Altäre, Jehova der Heerscha­ren, mein König und mein Gott" (Vers 3)!

In diesem Vers wird in rührender Weise auf die zarte Fürsorge angespielt, die Gott für die geringsten Sei­ner Geschöpfe offenbart. Der Psalmist beneidet sie, während er sich in der Verbannung befindet, um ihre Vorrechte. Er sehnt sich danach, gleich ihnen in der Wohnstätte Gottes zu nisten. Der Gläubige findet seine Heimat und eine vollkommene Ruhe in den Altären Gottes, oder besser gesagt, in den großen Wahrheiten, die sie vorstellen. Doch wird sein Vertrauen auf Gott durch die Kenntnis Seiner bis in einzelne gehenden, all­umfassenden Fürsorge erhöht und gestärkt; ja, diese ruft seine höchste Bewunderung wach. "Gott läßt", sagt so schön ein anderer Schreiber, "selbst den wertlosesten aller Vögel" ein Haus finden, und den

unruhigsten ein Nest. Welch ein Vertrauen sollte uns das geben! Wie sollten wir ruhen! Ja, welch selige Ruhe genießt eine Seele, die sich der immer wachen, zarten Fürsorge Dessen überläßt, der in so reichem Maße für die Bedürfnisse Seiner Geschöpfe sorgt! Wir wissen, was der Ausdruck "Nest" alles in sich einschließt, geradeso wie das Wort "ein Haus". Ist es nicht der Ort völliger Sicherheit, ein Obdach bei Sturm und Wetter, ein Bergungsort vor dem Bösen, ein Schutz gegen alles, was Schaden bringen könnte, ein Platz, um auszuruhen und sich glücklich und geborgen zu fühlen?

Doch vergessen wir nicht: diese so hoch begünstigten Vögel kennen Den nicht, von welchem alle Freundlich­keit kommt, sie kennen weder Sein Herz noch Seine Hand. Sie erfreuen sich Seiner Fürsorge; Er denkt an alles, was sie nötig haben, aber es gibt keine Gemein­schaft zwischen ihnen und dem großen Geber. 

Wir kön­nen hieraus lernen. Wir dürfen uns niemals zufrieden geben mit dem bloßen Besuch solcher Stätten des Se­gens und der Anbetung, noch mit dem Genuß gewisser Vorrechte, die wir dort besitzen; nein, wir müssen im Geist höher streben, und durch Jesus Christus, unseren Herrn, eine direkte Verbindung mit dem lebendigen Gott suchen, nach dem Genuß einer unmittelbaren Ge­meinschaft mit Ihm trachten. Das Herz Davids wandte sich zu Gott Selbst (Ps 63). Auch in Psalm 84 heißt es: "Mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem lebendigen Gott".

Doch zum besseren Verständnis der Altäre Gottes laßt uns einen Blick auf das Lager in der Wüste werfen. Auf dem Weg zur Stiftshütte begegnen wir dem Sündopfer. Es wurde außerhalb des Lagers zu Asche ver­brannt. Die Sünde, mit der das Opfertier in bildlichem Sinn beladen ward, wurde dort verzehrt. Es war das Vorbild von Christus als Dem, der Sünde nicht kannte, aber für uns zur Sünde gemacht wurde. Die ganze Frage der Sünde fand auf dem Kreuz ihre Erledigung. 

Dort wurde die Sünde in unserer Natur samt den vielen Sünden unseres Lebens gerichtet und verurteilt, die ganze Schuld wurde hinweggetan. Das Blut des Sünd­opfers wurde innerhalb des Vorhangs gebracht, und der Leib außerhalb des Lagers verbrannt. Im Hebräerbrief lesen wir in Verbindung mit diesem Opfer: "Denn von den Tieren, deren Blut für die Sünde in das Heilig­tum hineingetragen wird durch den Hohenpriester, werden die Leiber außerhalb des Lagers verbrannt. Darum hat auch Jesus, auf daß er durch sein eigenes Blut das Volk heiligte, außerhalb des Tores gelitten" (Hebr 13,11.12).

Verlassen wir jetzt das Sündopfer und treten wir durch das Tor in den Vorhof der Stiftshütte. Das erste, was uns hier in die Augen fällt, ist der eherne Altar oder der Brandopferaltar, so genannt, weil auf ihm in erster Linie die Ganz ‑ oder Brandopfer Gott dargebracht wurden. Das Brandopfer war, im Ge­gensatz zum Sündopfer, "ein Feueropfer lieblichen Geruchs dem Jehova". So war auch Jesus, das fleckenlose Lamm, ein lieblicher Geruch dem Jehova. Wie beim Sündopfer, so machte sich auch hier der Opfernde durch die Handauflegung mit dem Opfer eins, aber nicht um seine Sünde auf das Opfer zu über­tragen, sondern um der Annehmlichkeit des Opfers vor

Gott teilhaftig zu werden. Wir lesen: "Und er soll seine Hand auf den Kopf des Brandopfers legen, und es wird wohlgefällig für ihn sein, um Sühnung für ihn zu tun" (3.Mo 1, 4). Diese Eins­machung des Opfernden mit dem Opfer zeigt uns sehr deutlich das Einssein des Gläubigen mit Christus in Seinem Tod und in der ganzen Annehmlichkeit Seines Opfers vor Gott. Das ganze Opfer stieg als ein lieb­licher Wohlgeruch zu Jehova empor. Die unendliche Heiligkeit, Gerechtigkeit und Liebe Gottes nährten sich gleichsam von dem Brandopfer: "Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf daß ich es wiedernehme" (Joh 10,17).

Der Gläubige ist eins mit dem gestorbenen und auf­erstandenen Christus. Er ist angenommen in dem Ge­liebten. Wenn diese Wahrheit erfaßt wird, so genießt die Seele einen unerschütterlichen Frieden mit Gott. Sie ruht sozusagen in dem Altar und ruft mit tiefer, seliger Freude: "Deine Altäre, Jehova der Heer­scharen, mein König und mein Gott!" Nicht daß die Juden je besessen hätten, was wir einen unerschütterlichen Frieden nennen; "denn unmöglich kann Blut von Stieren und Böcken Sünden hinwegnehmen" (Hebr 10,4). 

Aber was diese Opfer nicht vermochten, das hat Christus getan. "Durch ein Opfer hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt wer­den " (Hebr 10, 14). Die geistliche Bedeutung der Vorbilder ist uns jetzt geoffenbart. "Die Finsternis vergeht", sagt Johannes, "und das wahrhaftige Licht leuchtet schon." Die Ausdrücke "Altäre", "Heiligtum", "Zelt" und "Hütte" enthalten eine Fülle von Belehrungen für den Christen und sind Vorbilder auf alles das, was mit unserer christlichen Segnung und Stellung verbunden ist; aber es ist immer besser, den Schatten vom Gegenstand (der eigentlichen Wirklich­keit) her zu untersuchen, als umgekehrt den Gegen­stand vom Schatten her.

Aber gibt es nicht manche Gläubige, die niemals der Hütte näher kommen als höchstens bis zum Sündopfer? Gleich dem Zöllner stehen sie von fern und rufen: "O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig"! Im besten Fall hoffen sie, daß ihre Sünden vergeben sind; aber Klar­heit und Gewißheit haben sie nicht. Anstatt in voller Glaubensgewißheit herzuzunahen, bleiben sie draußen stehen. Die kostbare Bedeutung des Brandopfers ver­stehen sie nicht. 

Sie können nicht mit dem Apostel sagen: "Welcher unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist"; oder: "Da wir nun gerecht­fertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Chri­stus, durch welchen wir mittelst des Glaubens auch Zugang haben zu dieser Gnade, in welcher wir stehen, und rühmen uns in der Hoffnung der Herr­lichkeit Gottes"; oder: "Also ist jetzt keine Ver­dammnis für die, welche in Christo Jesu sind" (Röm 4,25; 5,1.2; 8,1). Das ist die Stellung des wahren Christen; sie gibt seinem Herzen vollkommene Ruhe. Er ist gerechtfertigt, hat Frieden mit Gott, steht in der Gnade und wartet auf die Herrlichkeit. Tod, Sünde, Satan, Gericht, Welt, Fleisch ‑ alles liegt hinter ihm, und eine selige Zukunft, die Offenbarung der Herrlich­keit Gottes, liegt vor ihm. Er "rühmt sich in der Hoff­nung", nicht nur "der Herrlichkeit", sondern "der Herrlichkeit Gottes" . 

Es ist kein Zeichen von Demut, wenn ein Gläubiger, von fern stehend, stets zu Gott um Gnade ruft, oder wenn er sich, gleich dem Aussätzigen, außerhalb des Lagers aufhält; im Gegen­teil, es ist eine Herabwürdigung des Herrn, und er begeht damit ein Unrecht gegen sich selbst. Der Herr erlaubt es uns, ja, Er wünscht es, daß wir in Seinem vollbrachten Werk ruhen, an dem ehernen Altar, und daß wir Ihn anbeten in dem lieblichen Wohlgeruch des goldenen Altars.

Wir kommen jetzt zu dem ehernen Waschbecken. Es stand zwischen dem ehernen Altar und dem Eingang des Zeltes. Das Wesen oder den Körper dieses Schat­tenbildes finden wir in Johannes 13. Bei der Ein­weihung des Priesters wurde dessen ganzer Leib in dem Becken gewaschen. Diese Waschung geschah nur einmal, sie wurde nie wiederholt. Sie ist ein Bild von der Wiedergeburt. Wir sind errettet nach Gottes Barm­herzigkeit durch "die Waschung der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes" (Tit 3,5). Wir mögen mehr als einmal wiederhergestellt werden müssen, wir können aber nur einmal wiedergeboren werden.

Für jeden, der Gott nahen will, ist die Wiedergeburt die erste und durchaus unerläßliche Bedingung. Wir müssen zuerst hinsichtlich unserer Natur zurechtge­bracht werden; dann erst kann von einem praktischen Wandel zur Ehre Gottes die Rede sein. "Es sei denn, daß jemand aus Wasser und Geist geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen." Wir mögen die Wirksamkeit des Geistes in der neuen Natur nicht verfolgen oder erklären können, aber das braucht uns nicht in Verwirrung zu bringen oder gar mit Zweifeln zu erfüllen. Das Wort Gottes redet ganz klar. Der Mensch, der an Christus Jesus geglaubt hat, ist gewaschen, ganz gebadet oder gereinigt in der Wiedergeburt, und fähig, Gott zu dienen und Ihm an­betend zu nahen.

Nachdem die Priester in geziemender Weise geweiht waren, wuschen sie nur noch ihre Hände und Füße in dem Becken; das aber taten sie, so oft sie einen Dienst zu verrichten hatten oder herzunahten, um anzubeten. Laß uns darüber nachdenken, lieber Leser! Es ist ein Gedanke von großer praktischer Bedeutung: so oft die Priester einen Dienst zu verrichten hatten oder herzunahten, um anzubeten, mußten sie Hände und Füße waschen. Wiedergeboren­sein genügt an und für sich noch nicht zum Dienst und zur Anbetung Gottes, auch die völlige Gewißheit der Vergebung aller Sünden und auch der Annahme bei Gott reicht noch nicht hin; es muß persönliche Rein­heit und Lauterkeit vorhanden, das Herz muß Gott geheiligt sein, sonst ist die Gemeinschaft mit Ihm un­terbrochen. H e i l i g k e i t geziemt dem Volk, dem Dienst, der Anbetung, dem Hause Gottes für immer. Zeit und Umstände ändern nichts an diesem Grund­satz: "Es soll ihnen eine ewige Satzung sein".

Bei Todesstrafe waren die Priester gehalten, immer wieder Hände und Füße in dem Wasser des Beckens zu waschen, nach der Vorschrift Gottes. Sie mochten es manchmal nicht für nötig erachten; aber sie mußten es tun. Es genügte dazu auch nicht jedes beliebige Wasser,

nein, es mußte Wasser aus dem ehernen Becken sein. Hier begegnen wir wieder einer ernsten Lehre für uns, wie es ja überhaupt kein anderes Vorbild gibt, in wel­chem soviel praktische Belehrung enthalten ist, wie ge­rade in dem ehernen Becken. Wir lernen hier, daß kein menschliches Hilfsmittel, keine menschlichen Meinun­gen und Bemühungen, wie klug und schön sie auch alle erscheinen mögen, uns das geben können, was uns zum Dienst und zur Anbetung Gottes passend macht.

Die Hände und Füße sind charakteristisch für unsere Werke und Wege, für unser Tun und Wandeln. Wollen wir in glücklicher Gemeinschaft mit Gott gehen, so müssen beide durch Sein Wort geprüft werden. "Wo­durch wird ein Jüngling seinen Pfad in Reinheit wan­deln? Indem er sich bewahrt nach deinem Worte" (Ps 119,9). "Durch das Wort deiner Lippen habe ich mich bewahrt vor den Wegen der Gewalttätigen" (Ps 17,4). Das Wort Gottes, das durch das Licht und die Kraft des Heiligen Geistes auf Herz und Gewissen einwirkt, entspricht dem vorbildlichen Gebrauch des Waschbeckens. Es geht hier um "die Waschung mit Wasser durch das Wort". 

Wenn wir, obwohl wir einmal ganz gewaschen, ganz erneuert worden sind, es gesche­hen lassen, daß in unseren Handlungen und Wegen Dinge vorkommen, die das Wort Gottes verurteilt, so ist es mit der Frische und Kraft unseres Charakters als Christen vorbei. Ernster, beachtenswerter Gedanke! Ach, wie oft geschieht es, daß durch kleine, nichtige Anlässe der Blick von Christus abgelenkt wird und das Sühnungsblut und das Wasser der Reinigung vergessen wird! Die Folgen sind Unterbrechung der Gemein­schaft, geistliche Schwachheit und schließlich gar Be­fürchtungen und Zweifel aller Art. Unter solchen Umständen schleppen wir uns nur mit Mühe durch einen Dienst in der Öffentlichkeit, den wir vielleicht nicht gern aufgeben. Und wie manchmal mag solch ein geistliches Totsein eine sehr nachteilige Wirkung auch auf andere ausüben!

Da die Wichtigkeit dieses Themas nicht überschätzt werden kann, möchte ich die ganze, darauf bezügliche Stelle zitieren: "Und Jehova redete zu Mose und sprach: Mache auch ein Becken von Erz und sein Gestell von Erz zum Waschen; und setze es zwi­schen das Zelt der Zusammenkunft und den Altar, und tue Wasser darein. Und Aaron und seine Söhne sollen ihre Hände und ihre Füße daraus waschen. Wenn sie in das Zelt der Zusammenkunft hinein­gehen, sollen sie sich mit Wasser waschen, daß sie nicht sterben, oder wenn sie dem Altar nahen zum Dienst, um Jehova ein Feueropfer zu räuchern. Und sie sollen ihre Hände und ihre Füße waschen, daß sie nicht sterben; und das soll ihnen eine ewige Satzung sein, ihm und seinem Samen bei ihren Ge­schlechtern" (2. Mo 30,17‑21).

Die Kraft und vorbildliche Bedeutung dieser ernsten Warnungen scheint ihren Ausdruck in den wenigen Worten zu finden, die der Herr einst an Petrus richtete: "Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil mit mir." Es ist bemerkenswert, daß er nicht sagt "kein Teil an mir", sondern "kein Teil mit mir". Es handelt sich nicht um das Leben in Christus, sondern um die Gemeinschaft mit Ihm. 

Die Bedeutung des Bildes ist klar: indem wir als Bekehrte durch die Welt der Ver­suchung und Sünde gehen, beflecken wir uns, und nur Christus, unser großer Hoherpriester und Sachwalter, kann uns reinigen. Doch müssen wir Ihm unsere Beflec­kungen offen und rückhaltlos bekennen. Wir müssen gleichsam unsere beschmutzten Füße in Seine Hände legen, damit Er sie waschen und mit dem leinenen Tuch, mit dem Er umgürtet ist, abtrocknen möge. Vor Ihm können wir keine Geheimnisse haben. Die Beschaf­fenheit unserer Füße macht offenbar, wo wir gewesen sind. Wissentlich etwas zu erlauben oder zuzulassen, was Seinem Willen entgegen ist, sei es in Worten, Ge­danken oder Handlungen, verunreinigt das Gewissen, hindert die Gemeinschaft und schwächt unsere geist­liche Kraft. Doch inmitten bewußter großer Schwach­heit und häufigen Strauchelns ‑ auch bei sorgfältiger Wachsamkeit ‑ laßt uns die gesegnete, ruhegebende Wahrheit nicht vergessen, daß Christus uns zur Heilig­keit (oder Heiligung) geworden ist (1. Kor 1,30).

Allerdings ist Er in den Himmel gegangen; aber Er denkt auch dort an uns. Die Herrlichkeit des oberen Heiligtums zieht weder Sein Herz von uns ab, noch hindert sie Ihn, uns in unseren Bedürfnissen zu bedie­nen. Er "hat die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben, auf daß er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser durch das Wort" (Eph 5,25.26). Das tut Er jetzt, obgleich Er sich in der Herrlichkeit befindet. 

Die Quelle all Seines Tuns ist die Liebe. Er dient willig und gern zur Errei­chung des Zweckes, den Er im Auge hat. Seine Liebe ermüdet nie, trotz all unserer Nachlässigkeit oder gar Gefühllosigkeit. Gereinigt durch Sein kostbares Blut, so stehen wir jetzt vor Gottes Angesicht, und nun ist Er unaufhörlich bemüht, uns durch das Wasser der Reinigung in Seiner Gemeinschaft und im Dienst zu er­halten. Beides, Blut und Wasser, floß, wie wir wissen, aus der durchbohrten Seite hervor. Gesegnete Früchte Seines Todes für uns!

Sollten nicht unsere täglichen Erfahrungen dazu die­nen, unsere Liebe zum Herrn zu vertiefen, Ihn uns im­mer kostbarer und wertvoller zu machen? Sollten sie uns nicht zugleich auch zu größerer Wachsamkeit und Selbstverleugnung anspornen, damit wir Ihm keinen Grund zur Betrübnis geben? "Wer da sagt, daß er in ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat. . . Und jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist" (1. Joh 2,2;3,3). Wie könnten wir unseren Weg nur eine Stunde lang ohne Ihn gehen? Aber wie oft ertappen wir uns bei unwürdigen Gedanken und Gefühlen, von Handlungen gar nicht zu reden! Und doch ist Er unermüdlich beschäftigt, uns rein zu erhal­ten, ganz rein, rein der Gegenwart Gottes gemäß und in Übereinstimmung mit den Beziehungen, in die wir in Ihm gebracht sind. 

Er umgürtet sich zu diesem nied­rigen Dienst, obwohl Er im Himmel ist; Er stellt die Gemeinschaft wieder her und schenkt neue Kraft, Gott zu dienen, und zwar mittels des durch den Heiligen Geist auf uns angewandten Wortes. Wunderbare, unver­gleichliche Liebe, die trotz all unserer Schwachheit und Unwürdigkeit so dienen kann! "Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf daß ihr nicht sündigt; und wenn jemand gesündigt hat‑ wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesum Christum, den Gerechten" (1. Joh 2,1).

Indem wir jetzt durch die Tür des Zeltes eintreten, kommen wir zu dem goldenen Altar. Es gab zwei Altäre: den "ehernen Altar" und den "goldenen Altar". Zweifellos denkt der Psalmist daran, wenn er sagt: "Deine Altäre, Jehova der Heerscharen, mein Kö­nig und mein Gott!" Beide waren aus Akazienholz gefertigt ‑ ein Bild der heiligen, vollkommenen Menschheit des Herrn Jesus. Die Menschwerdung Christi liegt Seinem ganzen Werk für uns sowie allen unseren Segnungen zugrunde. Der eine Altar war mit Erz überzogen, der andere mit reinem Gold. Das Erz ist das Bild der göttlichen Gerechtigkeit in ihrer Ausübung der Sünde gegenüber; das Gold bezeichnet dieselbe Gerechtigkeit, aber mehr in absolutem Sinn, als das, was sie in sich selbst, in Gott ist. In beiden Altären erblicken wir den Herrn Jesus, doch unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten.

Der eherne Altar weist auf den demütigen, niedrigen Jesus von Nazareth hin, wie Er sich nach Seinem eige­nen, freien Willen durch den ewigen Geist Gott ohne Flecken opfert. Die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes nähren sich, wie schon früher bemerkt, mit vollkomme­nem Wohlgefallen von dem Opfer, und Gnade, gren­zenlose Gnade, strömt von dem Gott der Gerechtigkeit dem größten Sünder zu. Es ist ein lieblicher Geruch der Ruhe für Gott: "Gott ist verherrlicht in ihm." Zugleich erblicken wir hier die Grundlage der innigen Beziehungen des Gläubigen zu Gott, dem Vater, seiner Annahme bei Ihm und seiner Gemeinschaft mit Ihm.

Im goldenen Altar sehen wir den einst erniedrigten Jesus gleichsam mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Er ist in dem ganzen Wert und der Kostbarkeit Seiner Per­son und Seines Werkes droben im Heiligtum. Er lebt immerdar, um sich für uns zu verwenden. Der goldene Altar ist das Bild priesterlicher Anbetung. Der süße Wohlgeruch alles dessen, was Christus ist, wird dort dargebracht. Es handelt sich hier nicht um Vergebung, um persönliche Annahme oder Heiligung. 

Diese wichti­gen Fragen finden, wie wir gesehen haben, anderswo ihre Beantwortung. Preis, Dank und Anbetung steigen in Verbindung mit dem goldenen Altar unablässig zu Gott empor. Unsere Gebete und Lobgesänge kommen in dem ganzen Wohlgeruch des aufsteigenden Rauch­werks vor Gott. Wenn das heilige Feuer Gottes das fein zerstoßene Rauchwerk erprobte, so fand es da nur den reinen Wohlgeruch der Kostbarkeit Christi. Nichts als Vollkommenheit ist in dem Menschen Jesus Christus zu finden. Seine Person, Sein Werk, Sein Charakter, Seine Wege ‑ alles, alles ist ein duftender Wohlgeruch für Gott und ‑ Sein Name sei gepriesen! ‑ wir, die Priester Gottes, dürfen nahen und in unseren Lobgesängen und Gebeten dieses Rauchwerk aufsteigen lassen, das so wohlriechend und annehmlich für das Herz Gottes ist.

Vers 4

Nachdem wir so einen Blick auf das geworfen haben, worauf unser herrlicher Psalm Bezug nimmt, begreifen wir, warum der Psalmist nunmehr ausruft: "Glückselig, die da wohnen in deinem Hause! stets werden sie dich loben. " Ja, solche sind in Wahrheit glückselig zu preisen und werden es immer sein. Sie sind Bewohner des Hauses Gottes, nicht nur Besucher. "Ich werde wohnen im Hause Jehovas auf immerdar." Das gilt von all denen, die auf den Herrn Jesus vertrauen. Aber wenn auch die Kinder Gottes, gleich den Söhnen Aarons, alle durch Geburt Priester sind, so sind sie doch leider nicht alle geweihte Priester (vergl. 2. Mose 29); denn nur verhältnismäßig wenige kennen ihren priesterlichen Platz am goldenen Altar. 

Manche von ihnen sind noch im Zwei­fel darüber, ob alle ihre Sünden nach Wurzel und Zweig ausgetilgt sind, sie fürchten sich demgemäß herzuzunahen, geben sich ernsten Zweifeln an einer vollen Rechtfertigung und Heiligung in dem Auferstandenen hin und hoffen kaum, daß eine solche Segnung je ihr glückseliges Teil werden könne. Andere; wieder, und ihre Zahl ist leider nicht gering, kennen wohl ihren gesegneten Platz und ihre reichen Vorrechte in Christus, aber sie sind nicht treu im Wandel, nicht entschieden im Selbstgericht; sie jagen nicht der Heiligung nach, ohne die niemand den Herrn schauen wird. In beiden Fällen kann jener Seelenzustand, der der priesterlichen Weihung und täglichen Reinigung am Becken und der glücklichen Anbetung an dem goldenen Altar ent­spricht, weder erreicht noch genossen werden.

Unser Text ist klar und einfach: "Stets werden sie dich loben." Zweifel, Befürchtungen, unbeantwortete Fragen, Selbstanklagen, alles das gibt es im Heiligtum nicht. Nach Gottes Gedanken müssen alle, die in Chri­stus sind, da sein, wo Er ist; aber nicht alle, die an Christus glauben, wissen, daß sie als solche, die jetzt schon eins sind mit Ihm, auch in Ihm sind. Andere dagegen wissen es, verwirklichen es aber nicht. Nur dann aber können wir loben, wenn der Zustand unserer Seelen der heiligen Stätte entspricht, zu der wir gebracht sind. "Glückselig, die da wohnen in dei­nem Hause! stets werden sie dich loben." In der Nähe Gottes sind wir glücklich und haben Gemeinschaft mit Ihm durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Mit der Betrachtung der Vorbilder des Hei1igen und des Allerheiligsten in ihrer Anwendung auf unsere vollkommene Segnung in Christus könnte man Bände füllen. Wenn wir am goldenen Altar anbeten, so befindet sich auf der einen Seite der Tisch mit den Schaubroten, der Tisch der Gemeinschaft. Wir werden mit dem Brot des Lebens gespeist. Der menschge­wordene, gestorbene, auferstandene und ewig lebende Christus ist der Mittelpunkt und die Quelle unserer Gemeinschaft. Wir sind eins mit Ihm in der Aufer­stehung.

Auf der anderen Seite befindet sich der Leuchter aus reinem Gold, der sein siebenfältiges Licht auf die Gemeinschaft der Gläubigen ergießt. Der Schaft aus reinem Gold deutet auf Ihn hin, der die Quelle alles Lichtes im Zeugnis ist, mittels der Kraft des Heiligen Geistes. Durch den zerrissenen Vorhang hindurch er­blicken wir die Bundeslade. Diese bildete ehedem den großen Mittelpunkt für Israel. Nun ist das Gegenbild, Christus Selbst, unser Mittelpunkt. Mit einem Wort, der Christ ist mitten in den weiten, weiten Kreis der Gnade und Herrlichkeit Gottes hineingestellt; nie kann, nie wird er die Grenzen dieses Kreises erblicken können.

Aus vollem, dankbarem Herzen dürfen wir wirklich in den Ausruf des Psalmisten einstimmen: "Glückselig, die da wohnen in deinem Hause! stets werden sie dich loben".

Vers 5

"Glückselig der Mensch, dessen Stärke in dir ist, in deren Herzen gebahnte Wege sind"! (V. 5). Das große Geheimnis der Stärke in den Wegen Gottes ist die volle Gewißheit Seiner Liebe. Wenn wir die Liebe verstanden haben, die den Herrn Jesus für uns in den Tod gab und die den Heiligen Geist sandte, um uns in die ganze Wahrheit zu leiten, so wer­den wir Gott mit gläubigem Vertrauen gern die Ordnung aller unserer Angelegenheiten auf unserer Reise in die Heimat überlassen. 

Das ist, wenn ich mich so ausdrüc­ken darf, die Stärke Gottes in der Seele, und sie allein gibt dem Herzen Mut und Freudigkeit für den Weg, den Gott uns führt, mag er nun rauh oder eben sein. Was könnte den müden Pilger sonst auf seinem Pfad in den Stand setzen, Loblieder zu singen, was sonst den Märty­rer befähigen, auf loderndem Scheiterhaufen Gott zu verherrlichen? Wohl mag der Weg durch tiefe Wasser führen, aber es ist der Weg Gottes, der Weg zur ewigen Heimat, und ‑ das Herz ist dabei.

Die Wünsche des erneuerten Menschen können, das wis­sen wir, nicht eher völlig gestillt werden, bis er in das Haus des Vaters droben eingegangen ist; doch bis zur Er­reichung dieses herrlichen Ziels muß das Hauptaugen­merk dem Weg dorthin gelten. Hierüber nachzudenken, gibt unseren Herzen Kraft und Mut, unseren Füßen Festigkeit und unserem ganzen Pfade Beständigkeit. Ja, laßt uns nachsinnen über die Worte: "Glückselig, die da wohnen in deinem Hause! . . . 

Glückselig der Mensch, dessen Stärke in dir ist"! Möchten doch alle, die jetzt durch das Tränental gehen, Trost und Kraft in der gesegneten Gemeinschaft mit ihrem Gott und Vater finden! Wer könnte die Fülle des Wor­tes "glückselig" ausdrücken, wenn es so in Verbin­dung mit Gott Selbst steht? Wir dürfen auch nicht den­ken, daß die großen Wahrheiten dieses Psalmes, weil sie in ein jüdisches Gewand gekleidet sind, nicht in ihrer vollen geistlichen Tragweite auf uns anwendbar sind. Gott und Seine Liebe, Christus und Sein Mit­gefühl, der Heilige Geist und Sein Dienst, die Heimat und der Weg dahin ‑ sie alle erquicken das Herz und sind nicht an eine besondere Zeit oder an einen beson­deren Abschnitt der Wege Gottes gebunden.

Gott allein ist die Stärke für die Herzen der Seinigen von Anfang bis zu Ende. Will beispielsweise ein Wande­rer nach langer Abwesenheit in die Heimat zurückkeh­ren, so wird er sein Herz auf den Weg richten, der heimwärts führt. Vielleicht ist die Straße rauh und öde, vielleicht verklagt ihn sein Gewissen wegen mancher Untreue und Pflichtvergessenheit, aber der Gedanke, daß das Vaterhaus am Ende seiner langen Reise liegt, gibt ihm Kraft für den Weg, wie groß auch die Schwie­rigkeiten sein mögen. Sein Herz ist bei der Sache. 

Der Blick auf die Liebe des Vaters läßt ihm den rauhen, steilen Pfad in einem ganz anderen Licht eben und leicht erscheinen. Der lange Weg wird kurz. Die schö­nen, schattigen Straßen und blumigen Pfade, die in andere Richtung führen, haben keine Anziehungskraft für ihn. Einst hatten sie es leider; aber jetzt haben sie es nicht mehr: sie führen nicht zur Heimat, zum Vater­haus, dem Ziel seiner Sehnsucht.

Dieses Bewußtsein ist der Schild des Christen auf seinem Weg zum Himmel: ein unerschütterliches Ver­trauen auf die Liebe seines Gottes und Vaters, mag kommen, was da will, die volle Gewißheit des Herzens, daß Er Sich nicht verändert. Dieser Schild ist unver­letzlich, er widersteht jedem Hieb oder Stoß. Gottes Liebe in einer Prüfung in Frage ziehen, heißt diesen Schild sinken lassen und sein Herz den feurigen Pfeilen des Bösen aussetzen. 

Oft mag dieser oder jener Um­stand den Schein erwecken, als züchtige der Herr im Zorn; aber der Glaube erhebt sich über die Umstände und hält fest, daß alles Liebe, vollkommene Liebe ist. Doch ach! wie oft war der furchtsame Pilger, wenn er auch aufrichtig war, versucht, an der Liebe des Vaters in der Prüfung zu zweifeln! Und wenn er zu zweifeln begann, wie schien da mit einem Mal alle Kraft für die Reise geschwunden zu sein! Es war ihm zumute, als könne er keinen Schritt mehr tun, als müsse er sich nie­dersetzen und bittere Tränen der Verzweiflung weinen.

"Ist das Liebe"? flüstert der Erzfeind dem armen Her­zen zu. "Welchen Zweck könnte es haben, dir diese teure, nützliche und notwendige Person zu nehmen? Wer wird ihren Platz ausfüllen? Niemand auf der Erde! Und das nennst du Liebe? Du sagst, das geschehe aus Liebe zu dir"!? So redet der Lügner von Anfang, und das arme Herz ist geneigt, ihm Glauben zu schenken. ‑ Auch der Schwache und Kranke ist in großer Gefahr. Wie leicht wird auch er, wenn die Prüfung lange währt, wenn die Schmerzen groß, die schlaflosen Nächte zahl­reicher, die Geldmittel immer kleiner werden, zur Ungeduld und harten Gedanken über Gott verführt! 

Ja, die gottlosen Einflüsterungen, die giftigen Pfeile des Feindes dringen tief in die unbewachte Seele ein, besonders tief, wenn das Herz ohnehin schon durch Sorgen und Enttäuschungen gedrückt ist. Nur der Schild des Glaubens vermag solche Pfeile des Bö­sen auszulöschen. Der Glaube wird immer Gott und Seine Wahrheit rechtfertigen, mag der Schlag nun schwer oder leicht zu verwinden sein. Er wird in der köstlichen Wahrheit ruhen, daß die Liebe Gottes heute noch dieselbe ist wie damals, als Er Seinen viel­geliebten Sohn dahingab, um auf Golgatha für uns zu sterben. Und einem solchen Glauben gegenüber sind alle Feinde und Versuchungen machtlos.

Aber nicht nur in schweren, auch in leichten Prü­fungen hat der Feind nicht selten Erfolg, weil der Christ in der Regel viel weniger auf der Hut ist, wenn er die Versuchung nicht oder nur nebensächlich als solche erkennt. Satans Absicht ist stets, das Vertrauen des Gläubigen auf die Freundlichkeit und Liebe Gottes abzuschwächen. Der Weg zum Vaterhaus führt aus der Welt hinaus, und so muß er notwendig von Prüfungen, Enttäuschungen und Schwierigkeiten be­gleitet sein. Wenn wir im Hause Gottes wohnen, kön­nen wir, wie der Psalmist sagt, nur loben; aber auf dem Weg dahin gibt es oft schwere Kämpfe zu bestehen. Ähnlich können wir, wenn wir heute in der Kraft des Heiligen Geistes unser Einssein mit Christus in der Gegenwart Gottes verwirklichen, nur loben und an­beten; aber wenn es sich um die Schwierigkeiten han­delt, denen wir im Leben zu begegnen haben, gibt es vielleicht viel zu erkennen und für vieles zu beten und zu bitten.

Nehmen wir wieder ein Beispiel, und zwar einen Fall, der gar nicht selten vorkommt. Ein Mensch bekehrt sich. Er hat eine gute, einträgliche Stelle; aber kaum hat er begonnen, dem Herrn zu gehorchen, so erheben sich ernste Schwierigkeiten. Bis dahin ging jahrelang alles glatt und gut; aber mit seiner Bekehrung ist eine Veränderung eingetreten. Mit einem Mal wird es frag­lich, ob er seine Stelle behalten kann. Er geht jetzt in den Wegen Gottes, Seinem Wort gemäß, und siehe da, es zeigt sich bald, das manches, was schon früher von ihm verlangt und auch unbedenklich getan wurde, nun im Licht des Wortes Gottes Bedenken hervorruft. Vie­les hat ein anderes Ansehen bekommen. Warum? Weil das Wort Gottes jetzt die einzige Richtschnur für seinen Wandel, für sein ganzes Tun und Lassen bildet. Solange er den herkömmlichen Gewohnheiten gemäß seinen Weg ging, gab es kein Kreuz, keine Leiden und Trübsale.

 Aber nun kommen sie; überall stößt er an und findet Widerspruch. Seine Glaube wird auf eine ernste Probe gestellt. ‑ Ähnlich ist es, wenn ein Gläubiger durch Gottes Gnade erkennt, was Men­schensatzung und fleischliche Religion ist, und dahin gebracht wird, mit der Überlieferung zu brechen und sich nur durch das Wort Gottes leiten zu lassen. Er wird sofort den Unterschied merken. Treue Entschie­denheit und rückhaltlose Unterwerfung unter Gottes Wort werden seiner Umgebung bald unbequem und schließlich unerträglich. Die Folge ist Widerspruch und offene Feindschaft. "Alle aber auch, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, werden verfolgt werden" (2. Tim 3,12).

In den eben beschriebenen Formen muß das Kreuz in der heutigen Zeit oft aufgenommen werden. Der Feind benutzt das gern, um besonders den jungen Christen zu entmutigen. Es kann dahin kommen, daß der Gläubige in Not gerät, ja, daß alles gegen ihn zu sein scheint. Seine Lage wird fortgesetzt aussichtsloser und schwie­riger; tiefe Dunkelheit umgibt ihn. Kein Wunder, wenn er bange zu fragen beginnt, ob er wohl den richtigen Pfad eingeschlagen hat, ob er wirklich unter göttlicher Leitung steht. Selbst seine nächsten Freunde und Ver­wandten verstehen ihn nicht mehr; sie werfen ihm vor, er nehme es zu genau, er nehme die Bibel zu wörtlich. Jede Stütze bricht; alle irdischen und fleischlichen Hilfsquellen schwinden und versiegen. Gott allein bleibt übrig!

Der Gläubige hat das Tränental betreten; nicht nur den Ort der Prüfung, sondern, wie der Name besagt, das Tal der Tränen. Er kommt in tiefe Seelen­übungen vor Gott. Das eigene Ich wird gerichtet. Doch die Übungen der Seele, mehr noch als die Prü­fung selbst, machen dieses Tal zu einer Quelle, graben die Brunnen, aus denen ihm erfrischende, erquickende Wasser zufließen. Der Gläubige hat entdeckt, daß der Wunsch, zur Verherrlichung Gottes zu leben, glänzende irdische Aussichten zerstören und schöne, vielverspre­chende Umstände in Trübsale verwandeln kann. Die Stätte der Anerkennung und des äußeren Wohlergehens hat sich in einen Platz der Demütigung und Sorge ver­wandelt. 

Die Versuchung ist schwer, die Tränen fließen. Und dennoch, ein einfältiger, kindlicher Glaube macht den ödesten Teil der Wüste zu einem Fruchtgefilde, und da, wo nichts als Enttäuschung und Trübsal zu er­warten war, brechen reiche Segensströme hervor. Wehe aber dem Gläubigen, wenn er unter die Macht der Um­stände gerät und hilfesuchend auf die Welt oder das Fleisch blickt! Dann büßt er den Frieden seines Her­zens und die Freude seiner Seele völlig ein. Seine Trä­nen werden immer bitterer und fließen immer reich­licher; denn eine solche Prüfung genügt ohne Zweifel, den stärksten Glauben, das tapferste Herz auf die Probe zu stellen, besonders wenn die Antwort auf das heiße Flehen lange auf sich warten läßt. Aber unser Gott will, daß wir in allen Lagen allein auf Seine Liebe vertrauen und lernen, was Er für uns ist, wie schmerz­lich auch der Weg sein mag.

Vers 6

"Durch das Tränental gehend, machen sie es zu einem Quellenort; ja, mit Segnungen bedeckt es der Frühregen" (V. 6). Das ist der Weg Gottes, uns aus der Welt herauszuführen; deshalb muß er von Prü­fungen für das Fleisch begleitet sein. Satan ist der Fürst dieser Welt, wenn auch ein besiegter Fürst, und ihm und seinem Reich muß die Stirn geboten werden. Das ist nicht leicht. Die stärksten Bande, die uns mit den Kindern dieser Welt verbinden, müssen zerschnitten werden, oft selbst die innigsten Herzensbeziehungen abgebrochen werden. Die Bezeichnung "Tränental" hat deshalb ihre volle Berechtigung. Der Weg vieler Chri­sten ist oft lange Zeit hindurch von Tränen benetzt. 

Etwas weniger Treue und Entschiedenheit könnte ihn vielleicht etwas erträglicher machen; aber jede Untreue in dieser Hinsicht hindert das gute Werk Gottes in der Seele und zerstört ihr anfängliches Glück. Der Götze des Herzens muß aufgegeben, das Herz muß völlig und rückhaltlos Christus eingeräumt werden. Vielleicht fließen dabei auf jedem Schritt Tränen; aber so ist der Weg nach Zion. Selbst dem Geistlichsten und Hinge­bungsvollsten unter dem Volk des Herrn bleiben die Übungen des Tales der Tränen nicht erspart. 

Ich darf hier auf zwei Beispiele aus der Schrift aufmerk­sam machen: auf den Dorn im Fleische des Apostels Paulus und auf den Trauerfall im Haus der Schwestern in Bethanien. Der Dorn im Fleisch war offenbar sehr demütigend für den großen Apostel. Das geht aus seinen eigenen Worten an die Galater hervor: " Und meine Ver­suchung, die in meinem Fleische war, habt ihr nicht verachtet, noch verabscheut" (Gal 4,14). 

Er muß mit einer Schwäche behaftet gewesen sein, die ihn als Pre­diger des Wortes Gottes verächtlich machte. Ohne Zweifel dachte er, daß ihm dies bei der Ausübung des Dienstes sehr hinderlich sein würde; doch er mußte ler­nen, daß das Fleisch das größte Hindernis ist, wenn es sich darum handelt, dem Herrn und Seinem Werk von wahrem Nutzen zu sein. Dreimal betete er um die Entfernung des Dornes, wie wir in 2. Korinther 12 le­sen: "Und auf daß ich mich nicht durch die Überschwenglichkeit der Offenbarungen überhebe, wurde mir ein Dorn für das Fleisch gegeben, ein Engel Satans, auf daß er mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe. Für dieses flehte ich dreimal zum Herrn, auf daß er von mir ab­stehen möge".

Welch eine ernste, wichtige Unterweisung liegt hierin für alle Diener des Herrn! Das Fleisch ist unverbesser­lich schlecht. Es wird sogar einen schlechten Gebrauch von den reinsten Gnadenerweisungen Gottes machen. Paulus hätte sich damit brüsten können, in den dritten Himmel entrückt worden zu sein, dahin, wo außer ihm niemals jemand gewesen war. Aber der Herr in Seiner unendlichen Gnade kam der Gefahr, in der Sein treuer Diener schwebte, dadurch zuvor, daß Er ihn demü­tigte. Sicherlich hätte Er der Gefahr auch auf andere Weise begegnen können, aber das war der Weg Seiner Liebe und Weisheit. Es war eine schmerzliche Lektion für den Apostel; aber sie war nötig. Wir sehen daraus, daß das Fleisch selbst bei den hervorragendsten und treuesten Zeugen nur ein Hindernis für den Dienst ist. Wie notwendig ist es daher, täglich die alte Natur zu richten und täglich in der Gnade zu wachsen, indem man aus der Fülle des Christus lebt!

Das Tal der Demütigung und des Kummers wurde für den Apostel die Stätte der Segnung: "Und er hat zu mir gesagt: Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht." Sobald er diese gnädigen Worte vernommen hatte, flehte er nicht länger um die Entfernung des Dorns. Nein, jetzt rühmte er sich dessen, was so schmerzlich und de­mütigend für ihn war:

  "Daher will ich am allerlieb­sten mich vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, auf daß die Kraft des Christus über mir wohne." Jetzt ruhte er in der Liebe, die alles für ihn im voraus so angeordnet hatte, sowie in der Allgenugsamkeit des Herrn, der mit ihm war. So fand er, daß das Tal der Trä­nen eine Quelle reichen Segens für ihn wurde; der Frühregen von oben bedeckte es mit Segnungen. Als er in den dritten Himmel entrückt worden war, hatte er den Herrn dort gefunden, und als er wieder auf die Erde zurückkehrte, fand er denselben hochgelobten Herrn auch hier. Welch eine Nähe, welch eine vertraute Gemeinschaft mit dem Herrn! 

Er kannte Ihn jetzt im Himmel und auf der Erde, in der Höhe und in der Tiefe. Welch eine Erfahrung: ein Mensch in Christus wird in den dritten Himmel entrückt, und Christus ist mit einem Menschen an dem Ort, wo die Schwachheit und das Elend der Natur sich offenbaren! Nichtsdestoweniger befand sich Paulus im Tränental; aber er machte es zu einer Quelle, und Segnungen vom Himmel her bedeck­ten es weithin. So empfangen wir den reichsten Segen aus den Ereignissen und Umständen, die uns demüti­gen, uns aber auch lehren, daß es für den Herrn weder Schwierigkeiten noch Unmöglichkeiten gibt.

Auch die Schwestern in Bethanien litten unter dem Druck ihrer Not. In ihrer tiefen Bedrängnis rechneten sie auf die Liebe und das Mitgefühl des Herrn. Sie sen­den zu Ihm und lassen Ihm sagen: "Siehe, der, den du lieb hast, ist krank. " Aber anstatt ihrer Bitte und dem heißen Wunsch ihrer Herzen zu entsprechen, scheint der Herr sich eher von ihnen abzuwenden und anderswohin zu gehen. Solches Zögern ist oft eine schwere Prüfung für den Glauben und die Geduld. Aber Er lehrte sie, Seine Zeit abzuwarten und allein auf Ihn zu harren. Wir können den Herrn nicht zur Eile anspornen. "Als er nun hörte, daß er krank sei, blieb er noch zwei Tage an dem Orte, wo er war. Danach spricht er dann zu den Jüngern: Laßt uns wieder nach Judäa gehen." Die beiden Schwestern gingen in der Tat durch ein Tränental.

Doch der Herr kann sich nicht verändern. Diese kost­bare Wahrheit kannten wohl auch Maria und Martha. Aber ihre Gefühle waren mächtiger als ihr Glaube; ihre Herzen erlagen dem Druck der Umstände. Und so scheuten sie sich nicht, den Herrn dafür zu tadeln, daß Er nicht unmittelbar auf ihre Bitte herbeigeeilt war. Beide sagen zu Ihm, als Er endlich kommt: "Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben." Doch es waren größere Dinge, als einen Kranken zu heilen, die Seinen Geist jetzt beweg­ten. 

Er hätte nur einige Worte zu sprechen brauchen, gerade wie bei anderen Gelegenheiten, und Lazarus wäre geheilt worden; aber nein, Er handelte "um der Herrlichkeit Gottes willen, auf daß der Sohn Got­tes durch sie verherrlicht werde". Und als die rechte Zeit gekommen war, nahm Er in der Macht und Herr­lichkeit der Auferstehung Seinen Platz auf dem Schau­platz des Todes ein. Lazarus ist tot, die Schwestern sind beraubt und trostlos, aber der Herr ist aller Not ge­wachsen. Die ganze Seele wird mit Seiner Herrlichkeit erfüllt. Die geöffnete Gruft, der aus ihr hervorkom­mende Lazarus ‑ alles läßt Seine Herrlichkeit als Sohn Gottes widerstrahlen.

 Der Ruf: "Lazarus, komm heraus"! dringt in die Tiefe des Grabes, und der schlafende Staub erwacht. Welch ein Zeugnis für die ungläubigen Juden! Welch ein Tadel für den Unglauben der Martha und Maria, ja, für unser aller Unglauben in der Zeit des Leidens und der Kümmernis! Er gibt Leben, weckt den Toten auf, verherrlicht Gott und ver­mischt Seine Tränen mit denen der Leidtragenden. In dieser wunderbaren Szene erblicken wir die vollkom­menste Entfaltung der Allmacht Gottes, aber auch die zärtlichsten Regungen menschlicher Liebe. Wie wird hier allen Bedürfnissen des Herzens entsprochen! Welch eine Fülle von Segnungen ergießt sich von oben her über alle Pilger, alt oder jung, für ihre Reise durch dieses Tal der Tränen!

Vers 7

"Sie gehen von Kraft zu Kraft; sie erschei­nen vor Gott in Zion " (V. 7). Ja, wahrhaft gesegnet ist der Weg, ob rauh oder glatt, der zu einem solch herr­lichen Ziele hinführt, der die Pilger "vor Gott in Zion", dem Mittelpunkt der Gnade und Herrlichkeit, erschei­nen läßt. Aber ist es nicht seltsam, daß der Pilger für eine derartige Reise Kraft im Tränental, dem Ort der Selbst­verleugnung finden soll? So scheint es allerdings auf den ersten Blick; aber bei näherem Zusehen erkennen wir, daß er sie in der gleichen Art nirgendwo anders finden könnte. 

Wir empfangen Kraft durch den Glauben an den auferstandenen Christus und dadurch, daß wir unsere alte Natur durch Seinen Kreuzestod für gekreuzigt hal­ten. Nicht eher wird die Kraft Gottes in uns vollbracht, als bis wir in die große Wahrheit von dem Kreuz und der Auferstehung Christi eingedrungen sind. Und diese ge­segnete, obgleich das eigene Ich völlig zerbrechende Be­lehrung finden wir im Tränental. "Wenn ich schwach bin", sagt der Apostel, "dann bin ich stark". Wir gehen gleichsam von Schwachheit zu Schwachheit und doch von Kraft zu Kraft; denn gerade in der gefühlten, bewußten Schwachheit liegt die Kraft.

Dies ist sorgfältig zu beachten. Es gibt wohl keine Wahrheit, die für den Weg des Christen von größerer praktischer Bedeutung ist, und auch keine, fürchten wir, die weniger verstanden wird. "Meine Kraft", sagt der Herr, "wird vollbracht", nicht: "in meinem Apo­stel" oder "in meinem Knecht" oder "in meinem Jün­ger", sondern: "in Schwachheit". Wir müssen uns unserer Schwachheit bewußt werden und sie anerken­nen, ehe wir erfahren können, was Kraft ist. Aber ach! wie lang brauchen wir, um nur ein wenig von die­ser Wahrheit in uns aufzunehmen, obwohl wir einen solch gnädigen, göttlichen Lehrmeister haben!

Beachten wir wohl das große Hindernis, das einem Emporsteigen aus der niedrigsten Klasse der Schule Christi in eine höhere entgegensteht. Warum weigert sich die aus ihrem Sündenschlaf kaum erwachte Seele, dem Wort Gottes zu glauben, während sie doch unter Tränen und Seufzen danach verlangt, Seine Gedanken zu verstehen? Gerade deshalb, weil ihr das eigene Ich im Wege steht und das am Krenz vollbrachte Werk noch nicht von ihr verstanden wird. 

Dem eigenen Ich und seinen Gefühlen wird mehr Beachtung und Ver­trauenswürdigkeit beigemessen als dem Wort Gottes selbst. Was für ein Platz wird damit den rein mensch­lichen Gefühlen eingeräumt! Wie oft haben wir von sol­chen Menschen die Worte vernommen: "Wenn ich nur fühlen könnte, daß mir Vergebung zuteil geworden ist, dann wollte ich gern glauben." Aber das ist nichts anderes als die Sprache des eitlen, ungerichteten Ichs. Es sitzt, wenn auch unbewußt, auf hohem Thron und beurteilt alles als unter ihm stehend. Man hat seine mißtrauische Natur und seine Widersetzlichkeit gegen Gott noch nicht entdeckt. Und solange das nicht der Fall ist, kann selbstverständlich von Frieden, Ruhe und freudiger Heilsgewißheit keine Rede sein. Im Ge­genteil droht oft finstere Verzweiflung die Seele zu verschlingen und zwar werden die Finsternis und Ver­zweiflung genau im Verhältnis zu der Tiefe und Gründ­lichkeit des Werkes Gottes in der Seele stehen. 

Je tiefer und gründlicher das Werk ist, desto größer ist die Not; und dieser Zustand muß solange andauern, wie der Stimme des Ichs Gehör geschenkt wird. Die Mitteilung der herrlichsten, gesegnetsten Dinge, der kostbarsten Wahrheiten aus dem Schatz des Wortes Gottes nützt nichts, bis das Ich als durch das Kreuz völlig gerichtet und verurteilt erkannt und beiseite gesetzt wird. Wie lange aber weigert es sich nachzugeben! Es will wohl Gottes Wort als wahr anerkennen; aber es wendet ein: "Es ist doch nicht wahr für mich; denn ich habe doch keine Änderung in mir erfahren, die mich berechtigt zu glauben, daß es für mich wahr ist." Diese Sprache klingt demütig, aber in Wahrheit beruht sie auf Stolz; das ungebrochene Ich widersteht Gott und Seinem Wort. 

Aber, dem Herrn sei Dank! Er überläßt die Seele nicht ihrem Schicksal. Der Kampf dauert an, bis sie endlich zusammenbricht. Gott kann in diesem Punkt nicht nachgeben, die Seele muß es tun. Es mag sein, daß es erst nach vielen Tränen, Seufzern und schlaflosen Nächten geschieht; doch Gott wartet gedul­dig und treu, bis Seinem Wort ohne Veränderung der inneren Gefühle Glauben geschenkt wird. Und dazu muß es kommen, früher oder später. Zuweilen ist der Kampf kurz, in manchen Fällen aber währt er das ganze Leben lang. Das hängt ganz von der Einfalt des Glaubens ab; denn die so heiß begehrten Gefühle kön­nen nur durch das im Herzen aufgenommene, geschrie­bene Wort hervorgebracht werden. O daß wir jeden Müden überreden könnten, das Ich aufzugeben, von sich und seinen Gefühlen abzublicken und nur auf dem zuverlässigen Wort Gottes zu ruhen! Das ist der Weg, um Ruhe, Friede und Freude zu finden und Kraft für den Dienst des Herrn zu empfangen!

Die praktische Bedeutung dieses Punktes kann kaum überschätzt werden. Tausende von wahren Gläubigen bleiben in einem Zustand der Ungewißheit, weil sie sich mit ihren Gefühlen beschäftigen, anstatt einfach auf das Wort Gottes zu hören. Die notwendige Folge ist, daß sie nur ein schwaches Zeugnis für Christus ab­legen und Ihm nur wenig dienen können; sie sind so sehr mit dem armen, unnützen Ich beschäftigt, daß sie das wirklich Nützliche und Gute aus dem Auge verlie­ren. Und so gewinnt der Feind einen Vorteil. 

Möchten wir doch stets daran denken, daß aller Segen für uns nur aus Gottes Gnade kommt, und daß der Segen nur auf Seinem Wort ruhen kann! Dieses Wort aber kann nie wahrer und klarer werden, als es jetzt ist. Freilich lernen wir es erst nach und nach besser verstehen; aber unser Verständnis des Wortes ist die Frucht, nicht die Grundlage des Glaubens. Der Glaube beugt sich unter das Wort Gottes und besiegelt, daß Gott wahrhaftig ist. Das Eindringen in die Tiefen des Wortes, das Entdecken und Heben seiner Schätze kommt erst später.

"Dein Glaube hat dich gerettet", so lautet das einfache Wort Gottes an alle, die zu Christus kom­men. Wenn wir zur Erkenntnis dessen gelangt sind, was wir als Sünder nötig haben, und nun an den Herrn Jesus glauben, so ist die völlige Segnung Gottes unser Teil. "Glückselig alle, die auf ihn trauen!" Der Glaube nimmt das Wort an, weil Gott es sagt, und die Gefühle kommen dann von selbst. Die im Glauben aufgenommene gute Botschaft erfüllt die Seele mit un­aussprechlicher Freude. Sobald das Ich zum Schweigen gebracht ist und Gott den richtigen Platz im Herzen empfangen hat, genießt der Gläubige gewissermaßen die Freuden des Himmels selbst. Das kostbare Wort Gottes wird dort nicht wahrer sein als es hier ist. 

Daher sollten wir schon jetzt unsere Segnung so voll­kommen kennen ‑ (wenn auch noch nicht in der gan­zen Fülle) ‑ wie wir sie dann kennen werden, wenn wir in der Herrlichkeit gekrönt sind. Um jedoch diesen glücklichen Seelenzustand genießen zu können, muß über das Ich oder das Fleisch das Todesurteil geschrie­ben sein, und es muß allezeit im Tod gehalten werden. Dieses notwendige Werk beginnt mit der Bekehrung und hört nicht auf, solange wir auf der Erde sind. Es gründet sich auf das Kreuz, wo Gott nicht nur unsere vielen Sünden auf Jesus legte, sondern auch "die Sünde im Fleische verurteilte" (Röm 8,3).

Wenn das Ich zusammengebrochen ist, gehen wir von Kraft zu Kraft, bis wir vor Gott in Zion erscheinen. Wir sind dann von der quälenden Knechtschaft der Beschäftigung mit uns selbst befreit. Das Herz ist glücklich in der Freiheit Christi, und wir pilgern, wenn auch unter äußerem Druck, fröhlich heimwärts, und unser tägliches Teil sind große Segnungen. "Glückselig der Mensch, dessen Stärke in dir ist, in deren Herzen gebahnte Wege sind"! ‑ So wird uns in Vers 6 der Charakter des Heimwegs dargestellt: ein Tränental, aber zu einer Quelle gemacht, ja, mit Segnungen von oben bedeckt. 

Der 7. Vers aber zeigt uns die kostbaren Früchte und die reichen Erfahrungen der Wüstenreise: der Gläubige geht von Kraft zu Kraft, und er erscheint vor Gott in Zion. Alle Männlichen aus den Stämmen Israels mußten dreimal im Jahr vor Gott in Jerusalem erscheinen. Gottesfürchtige Frauen, wie Hanna und Maria, scheinen auch regelmäßig dorthin gegangen zu sein, obwohl sie nicht durch das Gesetz dazu verpflich­tet waren. "Dreimal im Jahr sollen alle deine Männlichen vor Jehova, deinem Gott, erscheinen an dem Ort, den er erwählen wird: am Feste der ungesäuerten Brote und am Feste der Wochen und am Feste der Laubhütten" (5.Mo 16,16).

Der Psalmist sinnt unter der Leitung des Heiligen Gei­stes in seiner Einsamkeit über diese Reisen nach. Im Geist sieht er, wie die verschiedenen Stämme hinauf­pilgern, um vor Jehova anzubeten. Sein Herz, gleich dem eines jeden treuen Israeliten, verlangt danach, sich mit ihnen zu vereinigen. Sie befinden sich auf dem Weg der Segnung. In dieser Hinsicht richtet sich die geistliche Unterweisung des Psalms an den Christen sowohl wie an den Juden. Die Wege Gottes sind für die Seele immer Wege der Segnung. Zweifellos waren diese jährlichen Feste Zeiten des tiefsten Interesses für Israel.

  "Ich freute mich, als sie zu mir sagten: Las­set uns zum Hause Jehovas gehen! Unsere Füße werden in deinen Toren stehen, Jerusalem!. . . wohin die Stämme hinaufziehen, die Stämme Jahs, ein Zeugnis für Israel, zu preisen den Namen Jeho­vas" (Ps 122)! Die Scharen, die nach Jerusalem hinauf­gingen, um dort anzubeten, müssen oft sehr groß gewe­sen sein. Das geht z. B. auch aus Lukas 2, 44 hervor: "Da sie aber meinten, er sei unter der Reisegesell­schaft, kamen sie eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten." Die vie­len kleinen Gesellschaften vereinigten sich zu größeren Zügen, je mehr man sich dem herrlichen Ziel der Reise näherte.

Wie wird es da so manches herzliche Wiedersehen, aber auch manche ernste Begegnung gegeben haben! Man war jetzt weit von der Heimat entfernt; aber alle hatten ein gemeinsames Gefühl, eine gemeinsame Freude und eine gemeinsame Hoffnung. Alle waren auf dem Weg zu derselben herrlichen Stadt, zu demselben Tempel und demselben Gott. Und wie groß muß die Freude, das Ent­zücken gewesen sein, wenn die Pilger, ermüdet und er­mattet von der langen Reise, einen ersten Blick auf die Türme und Paläste des geliebten Zion werfen durften! "Schön ragt empor, eine Freude der ganzen Erde, der Berg Zion, an der Nordseite, die Stadt des großen Kö­nigs" (Ps. 48,2). 

Ähnlicher Art, nur noch höher und rei­ner, sind die Gefühle des Christen, die durch die hellen Strahlen seiner glückseligen Hoffnung hervorgerufen werden. Nur dürfen wir nicht vergessen, daß der Christ durch Glauben, nicht durch Schauen wandelt, obwohl es leider in vielen Gläubigen neben dem Geistlichen auch noch ein gut Teil Jüdisches gibt; daher kommt es auch, daß so viele Gläubige dem Fühlen und Tun, samt der Neigung zu äußeren Religionssatzungen und Zere­monien, einen so großen Platz einräumen.

Nur durch G1auben wissen wir, daß wir Vergebung unserer Sünden haben, daß wir von Gott angenommen und völlig mit Ihm versöhnt sind. Und ohne die Kennt­nis dieser drei Tatsachen kann es keine Kraft für die Reise geben, noch können wir uns Gottes gemäß den Reichtümern Seiner Gnade in Zion erfreuen. In Ver­bindung mit dem Glauben ist uns auch der Heilige Geist gegeben, der uns über alles belehrt. "Dies allein will ich von euch lernen: Habt ihr den Geist aus Gesetzeswerken empfangen, oder aus der Kunde des Glaubens" (Gal 3,2)? 

Die große Lehre vom Leben in Christus, die der Apostel in Galater 2 entwickelt, kann ebenfalls nur durch den Glauben an­genommen und genossen werden. "Was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat" (Gal 2,20). Alles das offenbart uns das Wort Gottes, und nicht das Gefühl der Seele. Gewiß werden die Gefühle dem Glauben folgen und der geglaubten Wahrheit entsprechen; Glau­ben und Fühlen gehen zusammen, aber der Glaube muß immer den Vorrang haben. Glaube, Erfahrung und Verwirklichung im praktischen Leben bilden gleichsam die dreifache Schnur wahren Christentums.

Gott gebe, daß wir das mehr begreifen und unter uns praktizieren und jenes wunderbare Wort tief in unseren Herzen bewahren: "Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt" (Phil 4,13)! Aber ich möchte auch betonen, daß wir nur durch den Glauben an den auferstandenen Christus von Kraft zu Kraft gehen können. Der auferstandene und verherrlichte Christus, der Sieger über jeden Feind, ist die Kraft des Christen für seine Reise durch diese Welt. Sein Be­weggrund Gott in Hingebung und Treue zu dienen, ist der einst so tief erniedrigte, demütige Jesus (Phil 2), und seine Kraft für den Wandel ist der jetzt zur Rech­ten Gottes erhöhte Christus (Phil 3). 

Das Wort: "Er hat mich geliebt und sich selbst für mich hingege­ben" sollte jeden Gläubigen dahin leiten, sein Herz und sein Leben Ihm ganz zu weihen. Und es ist wirk­lich nicht schwer, dem Herrn unsere Herzen zu überge­ben, wenn wir einmal erkannt haben, daß Er Sich Selbst für uns hingegeben hat. Doch unsere Kraft auf dem Weg, von einer Stufe unserer Reise zur anderen, liegt in dem auferstandenen, triumphierenden, verherr­lichten Christus. Der Christ erlangt jede Segnung ‑ sei es Kraft für die Reise, sei es Freude in Gott im himmlischen Zion ­durch den Glauben. Das ist der wichtige Grundsatz, der in der ganzen Geschichte des Gläubigen auf der Erde, in all seinem Tun und Lassen, zur Darstellung kommt. 

Durch Glauben geht er von Kraft zu Kraft, durch Glauben tritt er mittels der Kraft des Heiligen Geistes in die Fülle der Gnade ein. Zion ist das Symbol der königlichen Gnade, d. h. der Gnade, wie sie im Königtum zum Ausdruck kommt (vergl. 2.Sam 5). So richtet sich der geistliche Zustand eines Christen nach der Einfalt und Wirklichkeit seines Glaubens. Der Glaube dringt in alles ein, er ordnet und regelt alles, er drückt allem seinen Charakter auf. "Alles aber, was nicht aus Glauben ist, ist Sünde" (Röm 14,23). Wenn diese wichtige Wahrheit gebührend beachtet wird, so wird sie dem Christen auf seinem Weg häufig ein Halt zurufen. 

Es kommen Zeiten, wo er für den Augenblick kein Wort der Anweisung, keinen gött­lichen Wegweiser hat. Was soll er tun? Soll er ohne Weisung handeln? Sicher nicht. Das würde der Hand­lungsweise seines Herrn nicht entsprechen, der immer wartete, bis das Wort des Vaters an Ihn erging. "Es steht geschrieben: ,Nicht vom Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht."' (Mt 4,4). Das entscheidende Wort war noch nicht ausgegangen, und so wollte der Heiland auch nicht essen. Die Ver­suchung des Teufels wurde abgewiesen. Was müssen Seine Jünger in einem ähnlichen Fall tun? 

Stillstehen und warten. Es ist oft sehr gut und heilsam für die Seele, stillstehen zu müssen. Die Natur wird dann in die ihr gebührenden Schranken gewiesen. Wer ohne eine Weisung von oben handelt, geht von Schwachheit zu Schwachheit, anstatt von Kraft zu Kraft und verliert zugleich das Bewußtsein der Gnade, der königlichen Gnade, völlig. Wer aber auf Gott warten muß, wird ins Selbstgericht geführt: das Auge wird einfältig, der ganze Leib Licht, und dann zieht der Gläubige seine Straße mit Freuden.

Der eben erwähnte Grundsatz, daß der Glaube der Ka­nal ist, durch den dem Christen jede Segnung zufließt, ist bedeutsam; er ist nicht nur auf die Rechtfertigung des Gläubigen anwendbar, sondern auch auf seinen Wandel, mag es sich nun um geistliche oder irdische Gesichtspunkte handeln. Ja, er ist von so hervorragend praktischer Bedeutung, daß in Hebräer 11 bestimmt und deutlich gesagt wird: "Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott wohlzugefallen." Jenes ganze, uns allen so wohlbekannte Kapitel ist eine bildliche Er­läuterung und Bestätigung dieses Grundsatzes, wenn auch die Glaubenszeugen sämtlich dem Alten Testa­ment entnommen sind. Durch G1auben erlangten die Alten ein Zeugnis.

Doch warum soll man diesen Punkt so nachdrücklich betonen? Glauben denn nicht alle Christen dem, was die Schrift sagt? Insoweit gewiß, und von Christen reden wir. Es geht nicht um Rationalisten, sondern um wahre Christen, die an die wörtliche Eingebung der Schrift glauben, an die Worte, die der Heilige Geist lehrt (1. Kor 2,13). Dennoch tritt bei vielen von ihnen ein Umstand in Erscheinung, den wir vielleicht prak­tischen Unglauben nennen können. 

Wie können wir be­ständig im Licht des Vaterantlitzes Gottes wandeln? Nur durch den unbedingten, nicht wankenden noch zweifelnden Glauben an Gottes Wort. Nur so ehren wir unseren hochgelobten Herrn in Seiner Person und Sei­nem Werk, nur so können wir in der Kraft eines nicht betrübten Geistes leben und handeln. Das kann nicht nachdrücklich genug betont werden. Woher kommen alle jene Zweifel, Unsicherheiten und Verlegenheiten, die den Lauf mancher Christen von Anfang bis zu Ende begleiten? Nicht durch den praktischen Unglau­ben, der noch im Herzen versteckt liegt? Und sind nicht alle diese Mängel unwürdig für einen Christen, der in ein so nahes, inniges Verhältnis zu Gott, in das Verhältnis eines Kindes zum Vater gebracht ist?

Ist die Wahrheit Gottes nicht bestimmt und unveränder­lich? Warum sollte denn das, was wir Glauben nennen, unbestimmt, ungewiß und schwankend sein? Freilich verlangt das Wort Gottes ein geduldiges Erforschen un­ter Gebet und Flehen in Abhängigkeit von dem Hei­ligen Geist, und es mag lange dauern, bis wir tiefer in die Schriften eingedrungen sind, wenn wir sie über­haupt je auf dieser Erde verstehen lernen. Die Wahr­heit ist sicher in klarer Weise geoffenbart, aber sie tritt selbst für den geistlich Gesinnten deswegen doch nicht immer auf den ersten Blick klar und offen zutage. "Wir erkennen stückweise, und wir prophezeien stückweise." Aber sollte uns unsere Unwissenheit, un­ser schwaches Verstehen der Wahrheit davon abhalten, ihr zu glauben? 

Wenn die Gnade in der Seele wirkt, so erhebt sich der Glaube über alle Schwierigkeiten und ergreift die Wahrheit, gerade weil Gott sie geoffenbart hat, und empfängt auf diesem Weg reichen Segen. Wir erweisen der Wahrheit Gottes wenig Ehre, wenn wir uns sträuben, sie in aller Einfalt und mit ganzem Her­zen anzunehmen, nur weil wir sie nicht verstehen kön­nen. Hierin zeigt sich unsere Torheit und unser Stolz; nichtsdestoweniger bleibt es wahr: "Wenn jemand sei­nen Willen tun will, so wird er von der Lehre wis­sen, ob sie aus Gott ist" (Joh 7,17). Wenn wir von dem Wunsch beseelt sind, Christi Willen und nicht unseren eigenen zu verwirklichen, so werden wir sichere, wenn auch nicht immer schnelle Fortschritte machen.

"Wenn ich die Wahrheit sage", antwortete einst un­ser geliebter Herr den Juden, "warum glaubt ihr mir nicht?" Es handelte sich also gar nicht um die Frage, ob sie das, was Er sagte, verstanden, sondern darum, ob es die Wahrheit war. Glaube ist demnach das bedingungslose, nicht zweifelnde Fürwahr‑Anneh­men dessen, was Gott uns in Seinem Wort mitteilt. Doch haben wir nicht oft bei der Ausübung des Selbst­gerichts bemerkt, daß uns der unbedingte Glaube an gewisse große Wahrheiten des Wortes Gottes abging, weil wir sie nicht verstanden, oder, wie wir uns häufig ausdrücken, weil wir sie nicht verwirklichen konn­ten? Doch was ist das eigentlich? Es ist Unglaube. Ein einfältiger Glaube nimmt Gottes Wort als unbedingt wahr an, mag er es verstehen oder verwirklichen kön­nen oder nicht.

In der Überzeugung, daß es dem einen und anderen unserer Leser nützlich sein könnte, soll versucht wer­den, das an Hand einiger Schriftstellen näher zu erläu­tern. Zitiert sei zunächst die wohlbekannte Stelle in 1. Johannes 1: "Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde." Das ist eine der allerersten Wahrheiten, die ein geistlich aufgewach­ter Mensch lernen muß, wenn sein Weg in der richtigen Weise beginnen soll. Aber wie wenig dringen oft sogar solche, die schon seit langen Jahren bekehrt sind, in diese große Wahrheit ein, obwohl das doch sehr einfach ist. Und was ist die Folge, wenn die Wahrheit in ein­fältigem Glauben angenommen wird? 

Die völlige Ge­wißheit, daß weder Sünde noch irgendein Flecken auf der Seele zurückgeblieben ist. Die Seele hat kein Gewis­sen mehr von Sünden, sie befindet sich "in dem Lichte", "wie Gott in dem Lichte ist". Das strahlende Licht des Himmels enthüllt nicht den geringsten Flecken mehr an einer Seele, die durch das Blut Christi gereinigt ist. Das Wort Gottes sagt klar und eindeutig: "alle Sünde", nicht: "einige Sünden". Der Glaube nimmt das als unbedingt und unveränderlich wahr an, eben weil das Wort Gottes es sagt. Sobald sich das Auge aber auch nur für einen Augenblick von der Wahrheit abwendet, wird auch schon der Zweifel laut:

"Wie ist das möglich? Wie kann ich ein solches Wort verstehen, da ich doch täglich sehe, wie sehr ich zum Sündigen ge­neigt bin?" Der Glaube allein weiß eine Antwort auf solche Fragen. Er urteilt, daß beides wahr ist, das eine wie das andere; denn es steht geschrieben: "Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst." Aber diese Aussage gehört in einen ande­ren Zusammenhang, stellt eine andere Wahrheit dar, und man darf niemals eine Stelle so anwenden, daß dadurch die Kraft einer anderen abgeschwächt oder sie gar als unwahr hingestellt wird. So handelt der Un­glaube des Herzens, der auf die verderblichen Ein­flüsterungen Satans hört, und die Seele muß auf der Hut sein, damit sie nicht in diese Schlinge hineingerät und den schwächenden und entmutigenden Einflüssen dieser Art von Unglauben anheimfällt.

Hüte dich, lieber Leser, daß du nicht die Grundlage, auf der dein Friede mit Gott ruht, verlierst. Christus hat Frieden gemacht durch das Blut Seines Kreuzes. Der Friede braucht nicht mehr gemacht zu werden. Sein Name sei ewig dafür gepriesen! So ehre Ihn durch das unerschütterliche Vertrauen deines Herzens! Schließe immer von dem Herzen Gottes zu dir herab, nie von den Gefühlen deines Herzens zu Ihm hinauf. Der Geist der Wahrheit hat gesagt: "Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde." Wer sind diese "uns"?

 Alle, die an den Herrn Jesus glauben. Diese herrliche Wahrheit halte fest. Erlaube nicht, daß die Überlegungen deines Herzens oder andere, dieser Wahrheit scheinbar widerspre­chende Teile des Wortes Gottes ihre Kraft in deiner Seele abschwächen! Gott hat gesagt: "alle Sünde". Das Wort mag schwierig zu erklären oder zu verstehen sein, es mag deiner eigenen Erfahrung widersprechen und sich völlig unterscheiden von dem, was du von anderer Seite gehört oder bisher für wahr gehalten hast; aber es ist die ewige, göttliche Wahrheit. Darum laß ruhig alles übrige fahren.

 Nichts kann wahr oder gut sein, was der Wahrheit Gottes widerspricht. Bedenke wohl: Der reinigenden Kraft des Blutes Jesu Christi, des Sohnes Gottes, sind keine Grenzen gesetzt. Fürchte dich nicht, in ihr zu ru­hen und sie anderen zu verkündigen. Auch wenn der Himmel sein volles Licht auf dich werfen würde, wenn alle irdischen Ankläger sich um dich versammeln wür­den, um deine vielen Sünden aufzuzählen, ja wenn du selbst als Zeuge gegen dich auftreten müßtest‑ auch dann könnte der Glaube sich in der vollen Kraft des Wortes Gottes erheben und in dem Vertrauen, das die Wahrheit verleibt, bezeugen: Meine Sünden sind sämt1ich vergeben; sie sind alle hinweggetan. Gott sieht sie nicht mehr, keine Spur von ihnen ist zurück­geblieben:

  "Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Got­tes, reinigt uns von aller Sünde." Das sind Gottes Gedanken, daß ist Sein Urteil über mich. Er kann es aussprechen, und ich bin verpflichtet, es im Glauben anzunehmen. Ja, ich wiederhole mit allem Nachdruck: Für die reinigende Kraft des Blutes Jesu Christi, des Sohnes Gottes, gibt es keine Grenzen! Könnte ein Feind mir noch viel mehr Sün­den entgegenhalten, Millionen mehr, als ich kenne, so dürfte ich doch kühn antworten: Alles, was unter die Überschrift Sünde gesetzt werden kann, ist hinweg­getan, getilgt für immer und ewig. Das Licht des Him­mels selbst ist mein Zeuge: ich bin in dem Licht, wie Er in dem Licht ist, und zwar Kraft des kostbaren Blutes Christi.

"Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe", nicht nur in den Himmel, sondern zu Gott. Das ist Glaube, unbeding­ter, nicht zweifelnder Glaube an Gottes Wort, und auf diesen Glauben hat Gott Anspruch bei allen Seinen Kindern. Möchte ein solcher Glaube bei allen Gläubi­gen zu finden sein! Welch ein schönes, würdiges Chri­stentum würden wir dann wahrnehmen anstelle des kümmerlichen und schwachen geistlichen Lebens, dem wir so oft begegnen! In Römer 8 heißt es: "Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind" (V. 1). Inwieweit haben sich Schreiber und Leser diese wunderbare Wahrheit zu eigen gemacht, die in den Worten "in Christo Jesu" enthalten sind? 

Wir glauben diese Worte, und wir danken Gott dafür; aber wer könnte sie erklären oder in sich auf­nehmen, es sei denn auf dem Grundsatz und der Grundlage des Glaubens? Aber selbst der Glaube wird, wenn er sich vom Verstand her oder durch Gefühle be­einflussen läßt, wenig Kraft besitzen, diese Wahrheit zu erfassen und sich ihrer zu erfreuen. Schon ein wenig Unglaube verdirbt den Segen, und der Verstand ist in dieser Hinsicht völlig blind. Nur ein einfältiger, nicht zweifelnder Glaube ergreift und genießt die gesegnete Wahrheit; für ihn ist alles klar und einfach. Gott hat gesprochen, und Er kann sich nicht irren oder täu­schen. Der Glaube nimmt Ihn beim Wort und kann sich so ebenfalls nicht täuschen. Wenn Gott sagt, daß der Gläubige in Christo ist und wenn Christus jetzt im Himmel zur Rechten Gottes sitzt, so befindet sich der Christ in den Augen Gottes auch dort. 

Wenn aber Christus dort in vollkommener Ruhe und Sicherheit ist, so ist es der Christ ebenfalls. Obwohl diese Wahrheit Gottes ohne jede Frage angenommen werden sollte, läßt Gott sich in Seiner Gnade dennoch zu einer Er­klärung der uns beschäftigenden Stelle herab. Der zweite Vers erläutert den ersten: "Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu hat mich freige­macht von dem Gesetz der Sünde und des Todes." Christus ist unser Leben in Seiner Auferstehung und frei von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Der Tod und die Auferstehung Christi haben die große Erlösung für Sein Volk bewirkt. Der Gläubige nimmt diese wunder­bare Segnung persönlich für sich in Anspruch. Es heißt nicht, was sehr bemerkenswert ist, daß das Gesetz des Geistes sie oder uns, sondern "mich freigemacht hat". 

Das ist die Stimme des Triumphes, der Freude an der Erlösung. Jetzt ist der Gläubige frei, so frei, wie die Kraft des auferstandenen Christus ihn freimachen kann, frei von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Er ist nicht länger in dem ersten, sondern in dem letzten Adam vor Gott. So sagt der Apostel in Vers 9: "Ihr seid nicht im Fleische", d. h. in der Stellung des ersten Adam, sondern "in Christo Jesu", d. i. in der Stellung des letzten Adam. Welche herrlichen Worte: "Hat mich freigemacht"; ja, "mich"! Ich, der einst so elende Mensch, dessen Zustand im 7. Kapitel beschrieben wird, bin jetzt der glückliche Mensch des 8. Kapitels, glücklich in Christo, dem auferstandenen, in den Himmel aufge­fahrenen, verherrlichten Menschen. Gott hat es gesagt, der Glaube nimmt es an, und das Herz genießt es mit seliger Freude.

Noch viele andere Schriftstellen ließen sich zur Erläute­rung anführen, aber wir überlassen es dem einzelnen, sich noch weiter mit folgenden Stellen zu beschäftigen: "Gott hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christo Jesu"; "gleichwie er ist, sind auch wir in dieser Welt"; "der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat" (Eph 2,6; 1. Joh 4,17; Gal 2,20).

An Hand des Psalms wollen wir noch einen Augenblick bei dem Gegensatz zwischen Juden und Christen bleiben.

Die Israeliten verließen ihre Wohnstätten und wander­ten durch das Tal nach Zion, der Stadt Davids, um dort vor Gott zu erscheinen. Hier war die Stätte ihrer An­betung. Der Christ aber müht sich sozusagen durch das Tränental hindurch und ruht sich auf dem Berge Zion aus. Das gehört zu den Geheimnissen des Glaubens. Der Realität nach befindet sich der Gläubige in der Welt, der Erfahrung nach in der Wüste, dem G1auben nach im Himmel. Zum besseren Verständ­nis soll folgendes Beispiel dienen.

Ein junger Christ lebt nach seiner Bekehrung in der gleichen Familie wie vorher. Er befindet sich also im allgemeinen in derselben Umgebung; aber wie ganz an­ders erscheint ihm jetzt alles! Das Blut des Lammes ist gleichsam an die Türpfosten seines Herzens gestrichen, und er ist von der Welt getrennt, obwohl er noch in ihr steht. Aber er kann nicht länger an dem weltlichen Tun der Familie teilnehmen, noch in ihren Wegen wandeln. 

Er folgt Christus nach und wird ein Zeugnis für Ihn, und das ist für die anderen Glieder der Familie uner­träglich. Er wird getadelt, daß er zu weit gehe. Die Bande der Zuneigung lockern sich, das frühere Einver­nehmen wird gestört; schließlich ist er ein Fremder in seines Vaters Haus. Das ist Wüsten‑Erfahrung, und sie ist zuweilen recht bitter. Doch inmitten dieser Umstände ist er sich seines Einsseins mit Christus im Himmel bewußt und nährt sich von Ihm dort. Er findet gleichsam Ägypten, die Wüste und Kanaan unter einem Dach. 

Aber mit ihnen findet er auch seinen ge­liebten Herrn und macht die Erfahrung, daß Christus im Blick auf alle drei in göttlicher Weise genügt. Seine Kenntnis von Christus nimmt immer mehr zu. Er weiß nicht nur, daß er mit dem Blut besprengt und dadurch vor den Gerichten, die die Welt treffen werden, be­wahrt bleibt, sondern ihm stehen auch die Wolke, das Manna und das lebendige Wasser, diese drei Begleiter­scheinungen der Wüste, zur Verfügung, und er nährt sich schließlich von der Frucht des himmlischen Ka­naan, "dem Ertrag des Landes". Die Beweggründe für sein Handeln, die Quellen, aus denen er Trost und Kraft schöpft, seine Lebensweise und Lebensziele ‑ alles ist seiner Familie unbekannt und unverständlich. Nur der Glaube kann die Stellung des Christen in die­ser Welt verstehen.

Wenn das Herz für Christus und nur für Christus schlägt, so werden wir gleiche oder ähnliche Erfahrun­gen machen. Christus ist nicht mehr in dieser Welt, und wenn der Christ die Welt für seinen Herrn aufgegeben hat, was hat er dann noch hier? Nichts. Wer alles hier unten für Christus droben aufgegeben hat, kann hier nichts mehr haben. Der Christ ist ein Fremdling in dieser Welt und, was seine Hilfsquellen angeht, allein auf den Herrn angewiesen. Alles muß er von Christus erhalten, der jetzt sein Alles‑in‑allem ist. Mitpilger sind seine Gefährten, und vom Himmel muß ihm alles wer­den, was er nötig hat. So lebt und wandelt er durch Glauben.

  "Was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingege­ben hat" (Gal 2,20). Die Hilfsquellen des Glaubens sind unergründlich und unbegrenzt. Er legt seine Hand auf die reichsten Schätze des Himmels und sagt: "Sie sind mein, mein nach den Rechten und Ansprüchen Christi, mein jetzt und immer." Das ist der Glaube. Nichts ist vor ihm verborgen, nichts Gutes wird ihm vorenthalten. Was die Gnade darreicht, das macht sich der Glaube zu eigen, dessen erfreut sich das Herz, und das stellt das Leben des Gläubigen dar. So ist es dem Grundsatz nach, und Gott gebe, daß es mehr und mehr bei uns auch zur praktischen Darstellung kommt! "Alles ist euer", sagt der Apostel, "ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes" (1. Kor 3,22.23).

Der Ausdruck "Zion" in diesem Vers ist so interessant und bedeutsam, daß er einer näheren Erläuterung be­darf; umsomehr als er von kirchlichen Schreibern oft auf die Kirche angewandt oder doch als sinnverwandt mit dem Ausdruck "Kirche Gottes" bezeichnet wird. Wir halten das für fehlerhaft. "Zion" ist nicht die Kirche, sondern die Königsstadt, der auserwählte Sitz des Königtums Christi während Seiner tausendjährigen Regierung. Die Reihenfolge der Ereignisse, die mit dem allmählichen Emporsteigen Davids, des auser­wählten und gesalbten Königs Gottes, in Verbindung stehen, wirft viel Licht auf die Reihenfolge der Ereig­nisse an jenem noch zukünftigen, herrlichen Tag.

"Sie gehen von Kraft zu Kraft; sie erscheinen vor Gott in Zion." In welcher Hinsicht wir den Berg Zion auch betrachten, ob geschichtlich oder in Verbin­dung mit David oder in gottesdienstlicher Beziehung als Stätte der Anbetung oder prophetisch als den Thron der königlichen Macht und Herrlichkeit des Messias, immer ist Zion ein Ort von großem Interesse und her­vorragender Bedeutung.

Zum ersten Mal wird dieser Berg in Verbindung mit der Geschichte Davids erwähnt, als er König über ganz Israel wurde. "Aber David nahm die Burg Zion ein, das ist die Stadt Davids" (2. Sam 5,7). Damals waren die Philister noch im Land, und das Volk Israel befand sich in der denkbar niedrigsten Verfassung. Sich hatten sich einen König nach ihrem eigenen Herzen gewählt und mußten nun die bitteren Folgen davon tragen. Sa­muel hatte sie treu und eindringlich davor gewarnt und ihnen vorhergesagt, wie sich die Zustände unter ihrem selbstgewählten König gestalten würden. Aber sie hat­ten seinen Rat zurückgewiesen und geantwortet: "Nein, sondern ein König soll über uns sei, damit auch wir seien wie alle Nationen" (1. Sam 8,19.20). 

Das ist die Hartnäckigkeit des eigenen Willens; und niemand ist für guten Rat so unzugänglich, niemand der Gefahr gegenüber so blind wie der Eigenwillige. "Nein, es soll ein König über uns sein." Das en­dete in überwältigendem Unglück. Das wird immer das Ergebnis sein, wenn dem ungebrochenen Willen freier Lauf gelassen wird. Deshalb sollte der Christ niemals und in keiner Lebenslage seinen eigenen Willen um je­den Preis durchsetzen wollen. Andernfalls verunehrt er grob Seinen Herrn, dessen Willen zu vollführen sein einziger Wunsch sein sollte!

Die Juden hatten damals nicht jenes strahlende, leben­dige Beispiel vor Augen, das wir haben. Der Herr, dem wir nachzueifern berufen sind, konnte immer sagen: "Siehe, ich komme, um Deinen Willen, o Gott, zu tun . . . ". "Nicht mein Wille, sondern der Deine geschehe!" Zudem ist das, was infolge seines Eigen­willens und seiner Halsstarrigkeit über das Volk Israel kam, "geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist". 

Laßt uns deshalb auf der Hut sein, daß wir nicht unse­ren eigenen Willen zu verwirklichen suchen! Er ist im­mer verkehrt. Laßt uns auch daran denken, welch eine verblendende und verhärtende Wirkung er ausübt! Augen und Ohren, Vernunft und Herz, alles wird ver­schlossen und fest verriegelt, nur damit dieser Wille freie Bahn hat. Wie oft gibt er selbst dann noch nicht nach, wenn die besten Freunde liebevoll und eindring­lich warnen oder wenn gar völliger Ruin droht! Laßt uns doch Ihn betrachten, der in stetem Gehorsam, in gänzlicher Abhängigkeit vom Vater Seinen Weg ging! Laßt uns Ihm folgen! Er hat uns ein Beispiel hinter­lassen, daß wir in Seinen Fußstapfen wandeln sollen. 

Gottes Wille allein ist gut. Im Himmel werden wir nie­mals unserem eigenen Willen zu folgen suchen; warum sollten wir es hier tun? Und sollte der Herr es einmal zulassen, daß wir unseren Willen bekommen, wie Er es bei Israel geschehen ließ, so mag Er es tun, um uns auf dem Weg schmerzlicher Züchtigungen dahin zu brin­gen, daß wir zu sagen vermögen: "Nicht mein Wille, o Herr, sondern der deine geschehe!" Möchte Er uns deshalb in Seiner Gnade einen unterwürfigen Willen schenken, einen zerschlagenen Geist, ein zartes Gewissen und ein stilles, in Gottes heiligen Willen ergebenes Herz!

Israel hätte kaum in einem Zustand größerer Verwir­rung und tieferen Verfalls sein können, als in der Zeit, da David seinen Thron auf dem Berg Zion aufrichtete. Königtum und Priestertum befanden sich in der größ­ten Unordnung. Das Heiligtum war verunreinigt, das Priestertum verderbt, die Lade Gottes in unwürdiger Umgebung ‑ "Ikabod" stand über der ganzen Szene ge­schrieben; die Herrlichkeit war von Israel gewichen (vergl. 1. Sam 4,21.22). 

Für diesen schrecklichen Zu­stand gab es keine Hoffnung, keine Hilfe in Israel. Doch dann kam Gott in Seiner Barmherzigkeit zu Hilfe. Er berief David, einen Mann nach Seinem Her­zen. Er erwachte gleichsam aus dem Schlaf. Der 78. Psalm redet von diesen Dingen in sehr bemerkens­werter Weise: "Da erwachte, gleich einem Schlafen­den, der Herr, gleich einem Helden, der da jauchzt vom Wein; und er schlug seine Feinde von hinten, gab ihnen ewige Schmach. 

Und er verwarf das Zelt Josephs, und den Stamm Ephraim erwählte er nicht; sondern er erwählte den Stamm Juda, den Berg Zion, den er geliebt hat. Und er baute gleich Höhen sein Heiligtum, gleich der Erde, die er auf ewig gegründet hat. Und er erwählte David, seinen Knecht, und nahm ihn von den Hürden der Schafe; hinter den Säugenden weg ließ er ihn kommen, um Jakob, sein Volk, zu weiden und Israel, sein Erb­teil. Und er weidete sie nach der Lauterkeit seines Herzens, und mit der Geschicklichkeit seiner Hände leitete er sie" (V. 65‑72).

Saul war ein König nach dem Willen des Volkes, David der König nach dem Herzen Gottes. Nicht daß David, der Erwählte Gottes, immer nach dem Herzen Gottes gehandelt hätte; leider hat auch er gefehlt, schwer gefehlt, und er bedurfte der Barmher­zigkeit und der Vergebung Gottes. Nichtsdestoweniger finden wir bei David eine Gesinnung, die den Wün­schen und Gedanken des Herzens Gottes oft wunder­bar entsprach. Und wer fühlte seine Sünde je tiefer als David oder wer bekannte sie unumwundener? Wer rechnete je völliger auf die Güte Gottes zu seiner Ver­gebung und Wiederherstellung? Mit einem Wort, David verstand in besonderer Weise das Herz Gottes und Seine Gnade.

Als er Jerusalem in Besitz genommen hatte, zogen die Philister voll Neid und Eifersucht gegen ihn herauf. Da befragte er Gott, folgte den göttlichen Weisungen, zog aus zum Streit und errang große Siege über sie. Gott war mit ihm. Er lenkte die Bewegungen seines Heeres. Das Volk triumphierte unter der Führung Davids über seine Feinde. Eine große Rettung wurde Israel zuteil. Der Verfall wurde aufgehalten, und Zion wurde zur Hoffnung des Volkes, zum Ruheplatz des Glaubens. Die Gnade Gottes wirkt das alles. Das Volk empfing große Segnungen und erkannte, daß es besser ist, dem Willen des Herrn zu folgen als dem Eigenwillen.

So wurde David ein Vorbild auf den Herrn, nicht nur in Seiner Verwerfung und in Seinen Leiden, sondern auch in Seinen Siegen. Der Herr wird einst unmittelbar vor der Errichtung des tausendjährigen Reiches Krieg mit Seinen Feinden führen. Er wird vom Himmel her­niedersteigen, um den Antichristen und seine Verbün­deten zu vernichten. Auch nachdem Er Seinen Thron in Zion aufgerichtet hat, werden ‑ wie bei David ‑ noch Feinde außerhalb des Lagers zu unterwerfen sein. "Den Stab deiner Macht wird Jehova senden aus Zion; herrsche inmitten deiner Feinde" (Ps. 110, 2)! Und ebenso wie unter David das Volk über seine Feinde triumphierte, so wird es auch unter Christus siegreich frohlocken: "Jehova der Heerscharen wird seiner Herde, des Hauses Juda, sich annehmen, und sie machen wie sein Prachtroß im Streite . . . 

Und sie werden wie Helden sein, die den Kot der Straßen im Kampfe zertreten; und sie werden kämpfen, denn Jehova ist mit ihnen, und die Reiter auf Rossen werden zu Schanden. Und ich werde das Haus Juda stärken und das Haus Joseph ret­ten, und werde sie wohnen lassen; denn ich habe mich ihrer erbarmt, und sie werden sein, als ob ich sie nicht verstoßen hätte. Denn ich bin Jehova, ihr Gott, und werde ihnen antworten. Und Ephraim wird sein wie ein Held, und ihr Herz wird sich freuen wie vom Wein; und ihre Kinder werden es sehen und sich freuen, ihr Herz wird frohlocken in Jehova" (Sach 10, 3.5‑7).

Das alles liegt offenbar in der Zukunft. Es muß nach der Erscheinung des Herrn in Herrlichkeit geschehen, und ehe Seine Regierung im salomonischen Charakter ihren Anfang genommen hat. Der erste Teil der Regie­rung Christi wird das Gegenbild der Regierung Davids als eines kriegerischen Königs sein; Salomo dagegen stellt Christus vor, wie Er im tausendjährigen Reich in Frieden und Herrlichkeit regieren wird. ‑

Nachdem die Feinde ringsum niedergeworfen waren, erfüllte eine andere Sache den Geist Davids. Er war nicht nur ein Mann mächtiger Taten seinen Feinden ge­genüber, sondern auch ein Mann des Glaubens vor Gott. Sein Thron war jetzt in Macht auf dem Berge Zion aufgerichtet, aber die Lade Gottes befand sich noch immer im Hause Obed‑Edoms, des Gathiters. Die Bundeslade war das sichtbare Zeichen des nahen Verhältnisses, in dem Gott zu Seinem Volk stand. So war der Verlust der Lade gleichsam das "Ikabod" (die "Nichtherrlichkeit") Israels, und darum sehnte sich David nach der Besiegung aller Feinde und der Vereini­gung ganz Israels unter seinem Zepter, ja, er sehnte sich danach, die Lade in das Zelt zu führen, das er auf dem Berg Zion für sie aufgeschlagen hatte.

Bei dieser Gelegenheit zeigten sich der Glaube und die Frömmigkeit Davids in hellstem Lichte, und zwar in schroffem Gegensatz zu dem Geist des Hauses Sauls. Michal war, gleich ihrem Vater, in ihrem Herzen nicht auf die Verherrlichung Gottes bedacht; sie hatte gar kein Gefühl dafür. Davids Freude aber war es, sich vor dem Herrn zu demütigen, und als Michal ihm sein Tun vorwirft, weist er sie scharf zurecht. Er ist besorgt um die Verherrlichung des Namens seines Gottes und um die Wohlfahrt Seines Volkes. Michal und ihres Vaters Haus kümmerten sich weder um das eine noch um das andere, weil sie die Ansprüche des Gottes Israels nie verstanden. 

Sie dachten nur an sich selbst. David da­gegen hüpfte das Herz vor Freude bei dem Gedanken, daß er die Lade in die Stadt einführen dürfe. Welche Gefühle ihn bei dieser Gelegenheit erfüllten, zeigt am besten Psalm 132. Der Geist Gottes hat sie dort zum ewigen Gedächtnis der treuen Ergebenheit Davids Gott und Seinem Volk gegenüber aufgezeichnet. In 2. Samuel 6 wird die Einführung der Lade in die Stadt Davids näher beschrieben. Es heißt dort: "Und David tanzte mit aller Kraft vor Jehova, und David war mit einem leinenen Ephod umgürtet. Und David und das ganze Haus Israel brachten die Lade Jeho­vas hinauf mit Jauchzen und mit Posaunen­schall . . . 

Und sie brachten die Lade Jehovas hin­ein und stellten sie an ihren Ort innerhalb des Zel­tes, das David für sie aufgeschlagen hatte. Und David opferte Brandopfer und Friedensopfer vor Jehova. Und als David das Opfern der Brandopfer und der Friedensopfer beendigt hatte, segnete er das Volk im Namen Jehovas der Heerscharen. Und er verteilte an das ganze Volk, an die ganze Menge Israels, vom Manne bis zum Weibe, an einen jeden einen Brotkuchen und einen Trunk Wein und einen Rosinenkuchen. Und das ganze Volk ging hin, ein jeder nach seinem Hause" (V. 14‑19).

Das war ein herrlicher Tag für Israel. Die lange, dunkle Nacht, die als "Ikabod" über Israel gehangen hatte, war vorüber. Die Verbindung zwischen Gott und Sei­nem Volk war wiederhergestellt. Die Gegenwart, Macht und Herrlichkeit des Gottes Israels waren wie­der mit dem Volk. Reiche Segnungen wurden ihm zuteil. Sie sahen und schmeckten etwas von der Herr­lichkeit und den Segnungen der Regierung Melchi­sedeks, des Priesterkönigs. David ist als Priester tätig; er trägt das leinene Ephod. Zugleich ist er das Haupt des Volkes. Und nun befinden sich beide, der Thron des Königs und die Lade Gottes, auf dem Berg Zion. Aus diesem Umstand ergibt sich die hohe Bedeutung, die Zion seitdem stets gehabt hat. Es wurde Gottes Mit­telpunkt im heiligen Land; dorthin versammelten sich fortan die Stämme von ganz Israel, um "vor Gott in Zion" zu erscheinen. 

Zion ist also für alle Völker das beständige Zeugnis von dem, was Gottes Liebe zu Gun­sten Seines Volkes getan hat, als dieses unter dem Ge­setz völlig verloren war. Es wird dadurch für den Glau­ben zugleich die göttliche Bürgschaft für das, was Gott in den letzten Tagen zugunsten Seines Volkes tun will . Vergleichen wir nun die Worte in Offenbarung 14,1: "Und ich sah: und siehe, das Lamm stand auf dem Berge Zion und mit ihm hundertvierundvierzigtau­send, welche seinen Namen und den Namen seines Vaters an ihren Stirnen geschrieben trugen." Was will das sagen? 

Es zeigt uns einfach und klar, daß der leidende gottesfürchtige Überrest der letzten Tage mit dem Messias in Seiner königlichen Herrlichkeit ver­einigt sein wird, ebenso wie die Treuen in Israel seiner­zeit mit David vereinigt waren. Der Mittelpunkt des messianischen Reiches und seiner Herrlichkeit ist der Berg Zion, den Gott liebt. Dort wird das Lamm re­gieren, und jene "als Erstlinge aus den Menschen Er­kauften" werden Ihm folgen, wohin immer es geht. Welch ein glänzender, gesegneter, herrlicher Lohn da­für, daß sie während ihres Pilgerlaufes hier unten Seine Verwerfung geteilt und, getrennt von der Welt, mit Ausharren auf Sein Kommen gewartet haben!

Verweile hier einen Augenblick, meine Seele, beuge dich nieder und bete an! Du befindest dich in der Ge­genwart eines Größeren als David: "Er ist dein Herr; so huldige ihm!" Doch lerne zugleich von David als dem Vorbild, ziehe Belehrung aus den Einzelheiten sei­nes Lebens! Seine Person und seine Geschichte in dem eben besprochenen Zeitabschnitt enthalten eine Fülle von Hinweisen auf Christus. Schon die Reihenfolge der Ereignisse ist sehr beachtenswert und lehrt uns etwas von dem, was noch zukünftig ist. 

Das Ende mag viel näher sein, als wir denken; der Glaube sagt, daß es ganz nahe ist. Wenn es kommt, so werden wir nicht bloß wie heute das Vergangene durchforschen, nein, dann werden wir ‑ o wunderbarer Gedanke! ‑ persön­lich an den Vorgängen teilnehmen. "Wenn der Chri­stus, unser Leben, geoffenbart wird, dann werdet auch ihr mit ihm geoffenbart werden in Herrlich­keit" (Kol 3,4). Aber kennen wir heute schon die Vor­rechte, die uns als Christen geschenkt sind? Wir sind jetzt schon nach Zion gekommen. 

Durch den Glau­ben, im Geist, sind wir bereits am Berg Zion ange­langt. Sinai stellt die Verantwortlichkeit des Menschen dar, Zion die Gnade Gottes. Welch ein Unterschied! "Ihr seid nicht gekommen zu dem Berge, der be­tastet werden konnte. . ., sondern ihr seid gekom­men zum Berge Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem; und zu My­riaden von Engeln, der allgemeinen Versammlung; und zu der Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben sind; und zu Gott, dem Richter aller, und zu den Geistern der vollen­deten Gerechten; und zu Jesu, dem Mittler eines neuen Bundes, und zu dem Blute der Bespren­gung, das besser redet als Abel" (Hebr 12,18‑24).

Welch eine Fülle von Herrlichkeiten, in die die Gnade uns eingeführt hat! Ja, glückselig alle, die an Christus geglaubt haben und die jetzt schon in Ihm zu all die­sen wunderbaren Herrlichkeiten gekommen sind! Ihr Teil ist heute schon unbeschreiblich gesegnet. Möchten sie es besser verstehen und möchten ihre Herzen mehr in Liebe brennen für Ihn, der sie zuerst geliebt hat!

Ernst‑Paulus‑Verlag Haltweg 23 D‑6730 Neustadt/Weinstr.

Was man über die Psalmen wissen soll Theodor Jänicke

01/30/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Was man über die Psalmen wissen sollBV20902Ich-will-den-Herrn-loben-Psalmenbuch.jpg?1675069380509

In diesem Buch sind nicht alle Psalmen ausgelegt. Wohl aber wurde die Auswahl so getroffen, daß nicht nur die bekanntesten Psalmen darin berücksichtigt, sondern alle in der Psalmdichtung Israels vorkommenden Liedgattungen vertreten sind. Auf diese Weise soll dem Bibelleser geholfen werden, sich in dem ganzen Psalter einigermaßen zurechtzufinden. Aus diesem Grunde ist auch die folgende Einleitung den Auslegungen vorangestellt.
Was bedeutet das Wort „Psalm"?

Das Wort „Psalm" stammt aus dem Griechischen. Es heißt ursprünglich so viel wie „Saitenspiel", später hat es die Bedeutung „Loblied" bekommen. Die hebräische Überschrift über der Sammlung der 150 Psalmen lautet tehillim, was ebenfalls „Lobt lieder" bedeutet. Diese Überschrift stammt aus der späten Zeit nach dem Exil, als die Sammlung abgeschlossen war. Sie paßt keineswegs zu allen Psalmen, da das Buch bekanntlich auch viele Klagelieder und mannigfache andere Liedgattungen enthält. 

Wenn man trotzdem diese Bezeichnung gewählt hat, so wollte man damit vielleicht ausdrücken, daß eben diese bunte Mannig faltigkeit von Klage und Lob, von Schuldbekenntnis und Unt schuldsbeteuerung, von Weisheitsdichtung und Prophetie im ganzen doch allein dem Lobe Gottes dient.

Wie ist das Psalmbudz entstanden?
Am Anfang stand die Einzeldichtung. Später faßte man mehrere Lieder zu kleinen Sammlungen zusammen, schließlich vereinte man - in nachexilischer Zeit - die verschiedenen Teilsammlunt gen zu dem Buch der Psalmen. Wir können einige der Teilsaxnmt lungen heute noch einigermaßen deutlich erkennen. Da hat es zum Beispiel offenbar eine kleine Zusammenstellung von Psalm men gegeben, die unter der (uns heute nicht mehr ganz vert ständlichen) Überschrift „Wallfahrtslieder" standen (Psalm 120-134).

 Ferner gab es Zusammenstellungen von „Davidspsalmen" (deutlich erkennbar an den Überschriften Psalm 3-41; 51-70), von Korachpsalmen (42-49) und von Asaphpsalmen (73-83). Ebenso deutlich hebt sich auch eine Gruppe von Hymnen heraus, in denen Jahwe als König gepriesen wird (93-99).Der Psalter in der heute vorliegenden Form ist in fünf Bücher eingeteilt: Psalm 1-41; 42-72; 73-89; 90-106; 107-150. In unseren Lutherbibeln ist das Ende jedes einzelnen Buches dadurch kenntlich gemacht, daß die Abschlußformel „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels .„ jeweils vom Text des vorher gehenden Psalmes abgesetzt ist. Nach welchen Gesichtspunkten die Reihenfolge der Psalmen geordnet ist, läßt sich nicht mehr deutlich erkennen. Einige Psalmen kommen sogar doppelt vor: Psalm 14 53; Psalm 70 = 40, 14-18.

Wie alt sind die Psalmen?
Das Buch als solches muß spätestens um 200 vor Christus ab= geschlossen gewesen sein. Die Teilsammlungen und vor allem die Einzelpsalmen sind allerdings erheblich früher entstanden. Man darf annehmen, daß einzelne Psalmen sogar noch aus der vorköniglichen Zeit, also etwa aus dem 11. oder gar 12. Jahr= hundert vor Christus stammen (z. B. Ps 29). Die Mehrzahl dürfte aus der Zeit vor dem babylonischen Exil datieren, ein Teil ist nachexilisch. Vergegenwärtigt man sich, daß es sich hier also um einen Zeitraum von annähernd tausend Jahren handelt, so erscheint das, was erhalten geblieben ist, als sehr wenig. 

Die Überlieferung hat nur das aufbewahrt, was in nachexilischer Zeit für den gottesdienstlichen Gebrauch verwendbar schien. Selbstverständlich ist das Psalmgut Israels viel reicher gewesen. Wir finden auch in der Bibel eine Reihe von Psalmen, die nicht in das Psalmbuch aufgenommen worden sind, zum Beispiel das „Schilfmeerlied" (2 Mose 15, 1-18), das Lied des Mose (5 Mose 32,'1-43), das Deboralied (Richter 5, 1-31), den Lobgesang der Hanna (1 Samuel 2, 1-10), den Psalm des Hiskia (Jesaja 38, 10-20) und den des Jona (Jona 2).

Die Form der Psalmen
Die Psalmen sind Gedichte. Sie haben also eine poetische Form, die sie von der Prosarede unterscheidet. Das sollte schon im Druck kenntlich gemacht werden. Leider ist das in den Aus= gaben unserer Lutherbibeln noch nicht der Fall, wohl aber zum Beispiel in der Zürcher Übersetzung. Auf einige Kennzeichen der poetischen Form sei hier hingewiesen:

1) Die hebräische Poesie kennt nicht den Klangreim. Dafür „reimt" sich der Sinn. Beispiel: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen!" Ps. 103, 1. Man erkennt leicht, daß hier die zweite Zeile dem Sinn nach das gleiche sagt wie die erste, sie variiert nur die Worte. Man nennt diese Form den Parallelismus der Versglieder. Die Erkenntnis dieses Versbaues kann oft für das Verständnis eine Hilfe sein. Oft ist es auch so, daß der zweite Halbvers die Aussage des ersten nicht variiert, sondern fortführt. Beispiel:
„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat." Ps 103, 2.
Die Versglieder können auch einen gegensätzlichen Charakter haben:
„Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten; aber der Gottlosen Weg vergeht." Ps 1, 6.
Gelegentlich sind auch die Verse so ineinander verhakt, daß ein Wort des ersten Versteiles im zweiten wiederaufgenommen wird:
Der Herr ist König und herrlich geschmückt; der Herr ist geschmückt und hat ein Reich angefangen, soweit die Welt ist." Ps 93, 1.
2) Eine gewisse rhythmische Gliederung ist in der hebräischen Poesie unverkennbar. Sie läßt sich jedoch an Hand von Ober= setzungen schwer klarmachen. Außerdem sind hier noch viele Fragen offen.
3) Zur Kunstform gehört auch das gelegentliche Auftauchen von Kehrversen (Ps 42/43).
4) Eine besondere Stilform ist der alphabetische Psalm, bei dem je der erste Buchstabe eines Verses oder Abschnittes der Reihenfolge des Alphabetes entspricht (Ps 25; 119 u. a.).
5) Die Überschriften der Psalmen deuten oftmals eine bestimmte Kunstgattung an: „ein Kultlied", „ein Klagelied", „ein Lied mit Saitenspiel". Gelegentlich finden sich - wie in unsern Gesangbücher - auch Melodieangaben .„ nach der Weise: Hinde der Morgenröte" (Ps 22) oder „nach der Weise: Stumme Taube unter den Fremden" (Ps 56). 

Auf musikalische Beglei= tung der Psalmen weist wohl auch das so häufig vorkommende Wort „Selah" hin. Man könnte es durch „Empor!" wiedergeben und als Aufforderung zu einem musikalischen Zwischenspiel verstehen (Ps 143). Da dieses Wort und die Angaben in den Überschriften aber oft schwer zu deuten sind und da sie zum Verständnis des Inhalts kaum beitragen, haben wir in die= sein Buch auf die Wiedergabe verzichtet und bieten nur den eigentlichen Text der Psalmen.

Wer sind die Verfasser der Psalmen?
Wie schon erwähnt, finden sich in den Überschriften einer ganzen Reihe von Psalmen Namensangaben, die auf den Verfasser hinzuweisen scheinen. Am häufigsten, nämlich 73mal, taucht der Name Davids auf. Doch kann man daraus keinesfalls mit historischer Sicherheit darauf schließen, daß wirklich David der Verfasser ist. Die Überschrift muß nicht unbedingt „von David" bedeuten. Sie kann auch übersetzt werden „für David" oder „über David". 

Der damaligen Zeit ist unsere Vorstellung vom „Autor" und vom „geistigen Eigentum" völlig fremd. Man dichtete anonym. Aber David galt als das Urbild des Psalmsängers. Als man schließlich anfing, die Psalmen zu sammeln, ordnete man viele anonyme Lieder eben unter dem Namen die= ses Urbildes zusammen. Die Psalmendichter meinten ja, was schon David meinte. Also war auch der Einzelname belanglos gegenüber der Autorität des größeren Namens. 

Das gleiche gilt auch für die übrigen in den Psalmen auftauchenden Namen. In sehr später Zeit setzte sich dann offenbar die Auffassung durch, daß tatsächlich David der, Verfasser der nach ihm benannten Psalmen sei, ja, man ordnete etliche Psalmen sogar bestimmten Situationen im Leben Davids zu. Da diese Angaben in den Psalmenüberschriften erst aus einem späteren Stadium der Psalmensammlung stammen, haben wir sie ebenso wie auch die sonstigen oben schon erwähnten Überschriften weggelassen.

Allerdings, so wenig man auch mit historischer Sicherheit sagen kann, daß David wirklich der Dichter jener 73 Psalmen sei, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß einige Psalmen noch aus der davidischen Zeit stammen.
Wen soll man sich nun als Verfasser der Psalmen denken? Vielleicht waren einige Könige darunter, sicher auch Priester und Tempelsänger, die die Vorlagen für die kultischen Gesänge lieferten. Auch Propheten am Heiligtum des Tempels, die ihre Botschaften und auch die Zurechtweisungen Gottes der festlich versammelten Gemeinde überbrachten. 

Schließlich auch einzelne Glieder des Volkes, die ein Lied als „Weihgabe" zum Tempel brachten; ihre Gebete dienten wieder anderen als Muster für ihre eigenen Gebete. Stellen wir uns vor, die Lieder unseres Gesangbuches wären anonym überliefert. So mancher Leser würde von einem bestimmten Lied sagen: „Das ist mein Lied", weil er sich und seine Situation in diesen Worten wirk-lich unterbringen könnte. Er würde vielleicht dem Lied die eine oder andere Strophe hinzufügen oder auch den Text verändern und sich so den Inhalt „aneignen". Und in vielen Jahrhunderten würden viele Leser ähnlich verfahren. 

So wird aus einem ursprünglichen Privatlied schließlich ein Liedmuster, das viele sich u eigen machen. Unwichtig, wer der Verfasser ist - das Lied ist zum Allgemeingut der Gemeinde geworden. So ähnlich muß man sich den Vorgang bei der Entstehung vieler Psalmen denken, die ihren individuellen Charakter im Laufe der Zeit verloren haben und zu Liedern des Volkes, des Volkes Gottes, - geworden sind.

Der „Sitz im Leben"
Die Psalmen sind keine religiöse Privatlyrik. Zwar sind sehr viele Psalmen, wie schon im vorigen Abschnitt gesagt, von eint zelnen Gliedern des Volkes gedichtet, also sozusagen im „Käm= merchen" entstanden. Aber der eigentliche Sitz im Leben liegt nicht im privaten Bereich, sondern in der Öffentlichkeit. Man könnte sagen, alle Psalmen sind mit der Blickrichtung auf das gemeinsame Heiligtum in Jerusalem geschrieben. 

Auch die Lieder des Einzelnen sind dazu bestimmt, an heiliger Stätte vor dem Angesicht Gottes vorgetragen zu werden. Und wer verhindert ist, zum Tempel zu kommen, der betet doch im Blick auf das Haus Gottes. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist Psalm 42 (vergl. Vers 5).
Das gottesdienstliche Leben ist der eigentliche Sitz der Psalmen. Da sucht der Einzelne Hilfe und Recht bei Gott und erwartet aus priesterlichem Mund das lösende Wort. 

Da stimmt er sein Danklied an. Da singt das Volk sein Wallfahrtslied, lobt Gott bei den großen Festen, klagt ihm seine Not in Zeiten der Bedrängnis, bekennt seine Schuld, legt seine Gelübde ab, hört das strafende Wort Gottes, vernimmt ein verheißendes Wort, läßt sich den Segen zusprechen. So vielfältig das gottesdienstliche Leben war, so mannigfach sind die Anlässe zur Darbringung der Psalmen. Für die verschiedenen Anlässe lassen sich gewisse gemeinsame Merkmale hinsichtlich des Stiles und Aufbaues der Psalmen feststellen. 

Die Klagelieder des Einzelnen z. B. haben gewisse Grundformen, die sich - allerdings mit Variationen - wiederholen. Ebenso ist es bei den Klageliedern des Volkes, bei den Lobliedern des Einzelnen wie des Volkes, bei den Hymnen u. a. Man spricht hier von Psalmengattunen, die nach ihren gemeinsamen Grundformen und Stileigentümlichkeiten von= einander zu unterscheiden sind. Niemals aber sind die Psalmen einfach nach Schema gearbeitet. Niemals enthält etwa ein Klage= lied nur Klage, irgendwo klingt das Lob oder der Ausdruck der Zuversicht an (so etwa am Schluß des typischen Klage= psalms 13).

Für den Bibelleser sei empfohlen, sich bei jedem Psalm zunächst die Frage vorzulegen, wer hier der Sprecher ist: Ein Einzelner? Die Gemeinde? Eine bestimmte Gruppe der Gemeinde? Der Priester? Ein Prophet? Wechseln mehrere Stimmen miteinander ab? Solche Fragen werden ihm vielfach helfen, den Aufbau eines Psalmes zu erkennen und so auch Inhalt und Anlaß bes= ser zu verstehen.

Einige „Haupt-Worte" und ihre Übersetzung
Gut übersetzen erscheint oft schwerer, als frei zu dichten! Wer meint, mit einem Taschenwörterbuch in die Geheimnisse einer fremden Sprache eindringen zu können, ist schlecht beraten. Er wird sich bestenfalls in der Umgangssprache einigermaßen ver=ständigen können, aber selbst bei dieser Gelegenheit wird er feststellen müssen, daß oft genug Mißverständnisse entstehen, weil die Wörter der eigenen Sprache sich nicht einfach mit denen der fremden Sprache decken. Noch viel schwieriger ist es, wenn es sich um gehobene Sprache, noch dazu um die gehobene Sprache der Bibel handelt. 

Oft muß ein Wort der fremden Sprache durch verschiedene Worte der eigenen Sprache um schrieben werden, um den ganzen Bedeutungsbereich auszu= drücken. Jede Übersetzung ist daher in der Gefahr, den Sinn der fremden Worte zu verengen. Das sei an einigen Beispielen erläutert.
In den Psalmen kommt in Luthers Übersetzung oft das Wort „Gesetz" vor. Wir denken bei diesem Ausdruck sofort an Ge= bote, Paragraphen, Strafbestimmungen und dergleichen. 

Das entsprechende hebräische Wort heißt Tora. Seine Grundbedeu= tung ist etwa durch „Fingerzeig" oder „Weisung" wiederzugeben. Ein Fingerzeig ist etwas Hilfreiches. Deswegen kann man auch am „Gesetz" des Herrn seine Lust haben (Ps 1, 2). Es ist ja hilfreiche Weisung) Der Leser denke daran - auch wo die etwas verengende Übersetzung „Gesetz" beibehalten ist. 

Zu den HauptWorten der Psalmen gehören die Begriffe, die in unsern Lutherbibeln durch „Güte" oder „Gnade", durch „Gerechtigkeit" und durch „Wahrheit" wiedergegeben sind. Sie bezeichnen in den Psalmen durchweg ein Verhalten, wie es der Gemeinschaft des Gottesbundes (der „Vertrags=Treue") ent spricht. Gottes Güte ist die freundliche Zuwendung, die in seinem Bunde ihren Ausdruck gefunden hat und die darauf wartet, daß der Mensch seinerseits sich zu Gott wendet. - Gottes Gerechtigkeit ist die Art und Weise, wie er seinem Bunde gerecht wird. 

Sie umschließt beides, sowohl das heilschaffende als auch das richtende Handeln Gottes. In seiner Gerechtigkeit bewährt Gott sich als der treue Herr des Bundes. Des Menschen Gerechtigkeit ist dementsprechend nicht etwa seine private Rechtschaffenheit, sondern die „vorbildliche", von Gott vor gegebene Weise, wie er sich als Bundespartner bewährt, indem er sich der Treue Gottes öffnet (vergleiche hierzu z. B. die Er klärung zu Ps 143 und die Übersetzung „Heilserweis" statt. „Gerechtigkeit" in Ps 5, 9).

Ein wichtiges Wort in den Psalmen ist ferner das Wort „Hilfe". Welche vielfältigen andern Ubersetzungsmöglichkeiten (z. B. „Befreiung") sich hier anbieten, kann in der Erklärung zu Ps 3 nachgelesen werden.
Eine besondere Schwierigkeit bildet das Wort „Gottlose", das in Luthers Sprachgebrauch etwas anderes bedeutet als heute (siehe hierzu die Erklärung zu Ps 1). Gemeint ist damit der
Mann, der an der Gemeinschaft des Gottesbundes schuldig geworden ist und somit seinen Halt in diesem Bund verloren hat.

Es läßt sich aber schwer ein modernes deutsches Wort finden, das gleichzeitig die großspurige Aufsässigkeit und die Halb losigkeit ausdrückt - es sei denn etwa das böse Wort „halb=
stark". Aber dabei denkt man dann an eine bestimmte Sorte von Jugendlichen, und die sind gerade nicht gemeint und soll= ten auch von Erwachsenen lieber nicht so tituliert werden.
Wir haben die Übersetzung „Gottlose" gelegentlich beibehal= ten, gelegentlich „Vermessene" oder „Frevler" gesagt. Die bei= den letzten Worte haben allerdings einen etwas altmodischen Klang und sind nur Notbehelf.

Warum nicht einfach Luthers Übersetzung?
Wir haben im letzten Abschnitt dem Leser einige Andeutungen über die Schwierigkeiten einer gültigen Übersetzung gemacht. Wir wollten aber vor solchen Schwierigkeiten nicht die Waffen strecken und bieten daher neben Rückgriffen auf die Zürcher Bibel und auf Martin Bubers Verdeutschung der Bibel in zahl= reichen Fällen auch eigene tlbersetzungsversuche der ver schiedenen Ausleger. Auf eine einheitliche Sprachregelung' haben wir dabei bewußt verzichtet. Die Bedeutung von Luthers Bibelübersetzung soll damit nicht herabgesetzt werden.

 Im Gegenteil, wer sich je ernsthaft am Übersetzen der Bibel versucht hat, dessen Ehrfurcht vor Luthers Arbeit wird immer mehr steigen. Aber gerade, wenn wir Schüler Luthers sein wol= len, müssen wir uns immer wieder an die schwierige Arbeit des Dolmetschens machen, auch wenn dann die Sprache eventuell viel holpriger klingt. 

Wenn wir zu einer neuen Begegnung mit der Bibel, insbesondere mit dem Buch der Psalmen kommen wollen, dürfen wir die Gefahr des Holperns und Stolperns und eventuell sogar des Stotterns nicht scheuen. Nur so lernt man selbständig laufen und sprächen. Das haben unsere Väter im Glauben wohl gewußt. Wir wollen nicht weniger riskieren als sie.

Die Psalmen sollen uns zum Beten helfen
Luther pflegte sich an den Psalmen „das Herz anzuwärmen" für das Gebet mit eigenen Worten. Er wußte also sehr wohl, daß es mit dem einfachen Nachsprechen der Psalmen noch nicht getan ist. Ein vorgegebenes Gebet kann aber das Geländer sein, an dem man sich zunächst festhält, bis man wagt, es loszulasa sen und freie, selbständige Schritte zu tun. In diesem Sinne wol len auch die Gebete verstanden sein, die den Auslegungen artgefügt sind. 

Es sind freie Versuche, im Geiste der Psalmen, heute weiterzubeten. Selbstverständlich kann man wirklich persönliche Gebete nicht aufschreiben und nicht drucken. Was sich in diesem Buche an Gebeten findet, sind kleine Handreichungen. Wer danach greifen will, der tue es. Vielleicht erwärmt er sich hier und da das Herz daran. Vielleicht kann er sich in dem einen oder andern Gebet unterbringen und bekommt dadurch Mut, auf eigene Weise weiterzubeten. Das Wichtigste beim Beten ist, daß man eben anfängt. Späterhin kann es dem Betet eine Hilfe sein, sich eigene Sätze schriftlich zu formulieren. 

Er kann dadurch vor verschwommenen Allgemeinheiten, die we fig besagen, bewahrt werden. Er wird dahinterkommen, daß Beten zur Genauigkeit in der Sprache und zur Konzentration treibt. Auch hierzu gehört der Mut, mit Holpern und Stolpern, beziehungsweise mit Stottern anzufangen. „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf."

Theodor Jänicke
zu genauerem Studium seien enipfohlem
Christoph Barth, Einführung in die Paalmen. Neukirchen 1961;
Clous Westermann, Ahrlil der Bibelkunde; 5.166-176. Gelnhausen/Stuttgart 1962. Burckhardhaus Verlag

​Psalm 119, 18. ​Öffne mir die Augen.. Luther M. Dr.

12/24/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Das sollst du wissen, daß die Heilige Schrift ein Buch ist, das aller anderen Bücher Weisheit zur Narrheit macht, weil keines vom ewigen Leben lehrt außer ihr allein Darum sollst du an deinem Sinn und Verstand stracks verzagen, dagegen niederknien und mit rechter Demut und Ernst zu Gott beten, daß er dir durch seinen lieben Sohn wolle seinen heiligen Geist geben, der dich erleuchte, leite und dir Verstand gebe. 

Zum andern lies mit fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der heilige Geist damit meint, und hüte dich, daß du nicht überdrüssig werdest oder denkest, du habest es einmal oder zweimal genug gelesen, gehört, gesagt und verstehest es alles aus dem Grund. Denn da lernt kein Geistlicher, kein Christ aus. Zum dritten ist Anfechtung der rechte Prüfstein; sie lehrt dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfahren, wie recht, wie wahrhaftig, wie süß, wie lieblich, wie mächtig, wie tröstlich Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit.  

Quelle Christlicher Wegweiser 

​Psalm 8,5a Was ist der Mensch? Marie Hüsing

11/07/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Psalm 8,5a Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Marie Hüsing

So formuliert der Psalmbeter eine uralte Menschheitsfrage. Die Bibel spricht vom Menschen als von einem Wesen, das wie ein Hauch vergeht, das morgens blüht wie eine schöne Blume und des Abends verwelkt und vergeht. Was ist der Mensch, dass du, Gott, an ihn denkst, dich um ihn kümmerst?
David, der Psalmsänger hat tief über den Menschen nachgedacht, vielleicht tat er es unter einem unbewölkten Nachthimmel, der mit einer unendlichen Sternenfülle übersät war. Vor unserm Textwort steht der Satz: "Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast."
Ja, was ist der kleine Mensch in diesem gewaltigen Kosmos? Weniger als ein Staubkorn. Und doch denkt Gott an ihn. Diese Tatsache lässt den Beter staunen und in eine tiefe Verwunderung ausbrechen: "Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!" Der Psalmist denkt aber auch an die großen Gaben, die der Schöpfer dem Menschen gegeben hat und die ihn zum Mit-schöpfer machen. Der Mensch kann gewaltige Dinge vollbringen. "Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott."
Heute im Zeitalter der technischen Revolution fragen wir beinahe erschrocken: Gibt es noch Grenzen für das menschliche Können? Von der Weltraumforschung sagt man, dass sie erst in den Anfängen stecke, und ein Fachmann meinte zu den Entwicklungen in der Elektronik, wir befänden uns da erst in der Steinzeit. Es gibt heute auf vielen Gebieten einen rasanten Fortschritt. Uns Laien wird es da manchmal bange und wir fragen: Wohin führt das alles?
Andererseits macht gerade die heutige Zeit deutlich, dass Jesus recht hatte, wenn er sagte: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er lebt auch nicht von den Fortschritten der Technik und des Wohlstandes. Dabei bleibt seine Seele leer und unbefriedigt. Auch der moderne Mensch mit seinen atemberaubenden Fortschritten braucht Jesus Christus als Erlöser und Herrn. Herr, erbarme dich über unsere kranke Welt.

Psalm 73,24 Du leitest mich, Marie Hüsing

10/03/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Psalm 73,24 Du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich endlich mit Ehren an.

Manchmal fällt es mir schwer zu glauben, daß Gott mich auf allen meinen Wegen lenkt und leitet. Er ist so unendlich groß. Unser Bild von ihm, dem Schöpfer Himmels und der Erde, ist immer noch viel zu klein; man braucht nur an den Kosmos zu denken.
Und dann sind da all die vielen Menschen auf unserem Planeten. Ist es nicht vermessen zu denken, Gott kümmere sich um mich?

Der Glaube sagt: Nein, es ist nicht vermessen. Die Bibel ist voll davon, wie Gott sich um einzelne Menschen gekümmert hat. Und habe ich es nicht selbst erfahren dürfen, wie er mir nachgegangen Ist?
Seine Führung im Leben der Einzelnen ist ganz individuell und niemals schablonenhaft. Das hat schon mancher mit Staunen feststellen müssen.
Gott hat mit jedem Menschen seine besondere Geschichte, die den Augen der anderen verborgen bleibt. Petrus wurde am See Genezareth von seinem Herrn zurechtgewiesen, als er neugierig in das Geheimnis des Johannes eindringen wollte. Jesus sagte zu ihm: Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an?'
Allerdings sah der allererste Anfang bei allen Glaubenden gleich aus: Der liebende, suchende Herr war schon zu ihnen unterwegs, als sie begannen, nach ihm zu fragen. Jesus Christus hat durch seinen Heiligen Geist das Werk des Glaubens in ihnen begonnen.
Wer ihm sein Jawort gegeben hat, darf mit seiner individuellen Führung und Erziehung rechnen. Da gibt es leise Ermahnungen beim Lesen der Bibel, zarte Tröstungen an schweren Tagen, freundliche Bewahrung in Gefahren und mancherlei Hilfe bei den Aufgaben des Tages.
Auch die Menschen, die er im rechten Augenblick in unser Leben eintreten läßt, die Freunde und Gefährten, die er uns schenkt, lassen uns seine Führung und Leitung erkennen, Oft sind gerade sie die für unser Leben wertvollsten Geschenke; denn durch die Begegnungen mit anderen wird unser Leben reich und sinnvoll.
Gott sorgt für uns nach Leib, Seele und Geist. Er sieht seine Geschöpfe immer in Ihrer Ganzheit. Das ist unendlich tröstlich und macht uns froh und dankbar.

Psalm 4,11 Stille - Dem begegnen der alle Sehnsucht stillt

10/03/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Seid stille und erkennet, dass ich Gott bin! Ich will der Höchste sein unter den Heiden, der Höchste auf Erden.

                                            Psalm 4,11 (LUT)
Unsere Sehnsucht, Gottes Einladung Stille. Stille ist nicht die Abwesenheit von Lärm. Stille ist eine innere Haltung, eine Insel im Herzen. Es geht um eine heilige Unruhe. Um Fülle und Erfüllung. Um Momente des inneren Still-Werdens, des Gestillt Werdens.
In Khartum, der Hauptstadt des Sudan, gibt es ein kleines Cafe, das bei unseren jährlichen Reisen dorthin mein Lieblingsplatz geworden ist Mitten auf einer großen Verkehrsinsel kann man unter Baumen sitzen und einen guten Kaffee trinken, ein Eis essen, Freunde treffen, entspannen Rundherum fahren Täusende Autos. 

Doch ist man erst einmal heil über die Straße gekommen und sitzt im Cafe auf dieser kleinen Insel, vergisst man die Autos Mitten in der Hektik des Alltags, mitten an einem großen Straßenknotenpunkt hat man das Gefühl, in einem kleinen Garten Eden zu sitzen. Menschen unterhalten sich angeregt. Kinder spielen miteinander. Die Jugendlichen sind auf Brautschau unterwegs Es ist fast so, als wurde man in eine andere Wirklichkeit eintauchen, wenn man die hektische Straße verlasst und bei dem Cafe angekommen ist Und wenn man es wieder verlasst und sich durch die vielen Autos, die den Kreisel umrunden, einen Weg .zurückbabnt, kann man kaum glauben,. dass man im Cafe von all dem Lärm und der Hektik gar nichts mitbekommen hat.

Das ist die Art von Stille, um die es in diesem Buch geht. Mitten in der Hektik um uns herum können wir eintauchen in die Wirklichkeit Gottes, die uns in unserem Leben umgibt.Wir können den Stress für einige Momente vorbeiziehen lassen: und abschalten, hinhören, genießen, gestärkt wieder zurückgehen in den Alltag Stille hat immer schon Menschen fasziniert. Auch wenn wir letztlich selbst für all den Lärm um uns herum verantwortlich sind, auch wenn wir selbst oft die Stille meiden und kaum einmal einen AÜgenblick innehalten, sondern uns berieseln lassen von Musik oder Fernsehen: Wir sehnen uns nach Stille. Nach einer Pause für unsere Seele. .Wenn wir nach einem hektischen Tag nach Hause kommen, wollen wir nur noch eines: abschalten. Und was machen wir? Wir schalten an. Den Fernseher, den Computer, das Radio.  Irgendwie scheinen wir zu ahnen, dass Stille gefährlich sein kann. Wir sehnen uns nach ihr, aber wir haben auch Angst vor ihr.

Mitten in der Hektik um uns herum können wir eintauchen in die Wirklichkeit Gottes, die uns in unserem Leben umgibt.

Als Jugendliche ging ich mit Freundinnen immer wieder einmal in ein Meines, katholisches Karmelitinnenkloster - obwohl ich evangelisch war. Wir durften die Schwestern besuchen und durch eine Scheibe mit ihnen sprechen. Gemeinsam lasen wir in der Bibel und redeten über das, was uns wichtig wurde. Danach feierten sie ihren Gottesdienst. Wir durften dabeisein, aber wieder durch ein Gitter abgetrennt von den Schwestern, quasi als Zuschauer in der hintersten Reihe. Private Kontakte, persönliche Gespräche waren nicht erlaubt. Sie lebten abgeschieden von allem Weltlichen in ihrem Kloster. Sozusagen auf ihrer kleinen Insel. Schon immer haben Mönche und Nonnen sich aus der Welt zurückgezogen, um völlig für Gott da zu sein, in der Stille seine Stimme zu hören und sich ganz dem Gebet zu widmen. 

Damals fragte ich mich bereits: »Muss man einen solch radikalen Weg gehen, um Gottes Stimme hören zu können? Muss man sich von der Welt verabschieden, um für Gott da zu sein?« Was brachte in all den Jahrhunderten so viele Menschen dazu, in ein Kloster zu gehen oder in die Einsiedelei?  Die Frage dahinter ist die: Woher kommt die Sehnsucht des Menschen nach solch absoluter Stille? Ich denke, sie kommt aus unserem Innersten, aus unserer Seele.  So sind wir Menschen geschaffen. Wir tragen in uns das Wissen, dass es im Leben mehr gibt als das Materielle, das Sichtbare. Wir spüren in uns eine Sehnsucht nach der Transzendenz,  nach der Wirklichkeit Gottes. Wir tragen in uns  das Wissen, dass es  im Leben mehr gibt  als das Materielle, das Sichtbare

Das kommt daher, dass Gott uns Menschen als sein Gegenüber geschaffen hat. Als Gefährten, als Freunde, als Gesprächspartner. Er hat viel von sich in uns Menschen hineingelegt, als er uns in seinem Bild erschuf. 

Als Mann und als Frau sind wir dazu gemacht, neben all der Arbeit still zu werden, auszuruhen und auf Gott zu hören. Er selbst erdachte den Rhythmus von Tag und Nacht, von Arbeiten und Ruhen:

Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, 
weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte (1. Mose 2,2-3; LUT).
Gott selbst wurde still. Er ließ alles los, schaute sich an, was er gemacht hatte, und konnte sich an allem freuen. Er gebot auch den Menschen; diesen siebten Tag zu heiligen, das heißt abzusondern von den anderen Tagen. An diesem Tag sollte man die Stille besonders suchen, um Gott zu begegnen. Unsere innere Sehnsucht nach Stille ist also angetrieben von unserer inneren, von Gott in uns Menschen hineingelegten Uhr, die den Rhythmus des Lebens in sich trägt: Arbeiten und Ruhen.

Stille ist nicht die
Abwesenheit
von Lärm, 
sondern die Anwesenheit
von Gott.
Doch nicht nur der wöchentliche Ruhetag bringt Stille in unser Leben. Auch mitten im Alltag können wir kleine Inseln
der Ruhe schaffen und dort der Seele ihren Raum geben, sie »baumeln« lassen. Wir können entspannen und gleichzeitig gespannt hinhören, was Gott uns zu sagen hat.
Nehmen wir als Beispiel ein Formel-i-Rennen. Obwohl es bei diesem Rennen um Hundertstelsekunden geht, vergisst keiner der Fahrer, in die Box zu fahren, um dort zu tanken, sein Fahrzeug zu überprüfen und neu rüsten zu lassen.

Doch nicht nur der wöchentliche Ruhetag bringt Stille in unser Leben. Auch mitten im Alltag können wir kleine Inseln
der Ruhe schaffen und dort der Seele ihren Raum geben, sie »baumeln« lassen. Wir können entspannen und gleichzeitig gespannt hinhören, was Gott uns zu sagen hat.
Nehmen wir als Beispiel ein Formel-i-Rennen. Obwohl es bei diesem Rennen um Hundertstelsekunden geht, vergisst keiner der Fahrer, in die Box zu fahren, um dort zu tanken, sein Fahrzeug zu überprüfen und neu rüsten zu lassen. In den wenigen Augenblicken in der Box geschieht sehr Wesentliches. Jede Hundertstelsekunde entscheidet über Sieg oder Niederlage. Wer meint, 
auf solche Stopps verzichten zu können, kommt vielleicht eine Zeit lang schneller voran, wird aber am Ende nicht das Ziel erreichen. Ohne Benzin im Tank fährt auch ein Formel-i-Auto nicht. 
Und wer die falschen Reifen aufzieht, riskiert bei den dortigen Geschwindigkeiten sein Leben.
Ähnlich ist es bei uns: Wer das Ziel seines Lebens erreichen will, braucht regelmäßige Stopps bei Gott. Anhalten, innehalten, hinhalten, aushalten, neue Kraft erhalten, einen Halt im Leben bekommen. 
Darum geht es in der Stille.
Gott ist bereit für unseren Boxenstopp. Er lädt Sie ein, bei ihm anzuhalten. In seiner Gegenwart, an diesem heiligen Ort der Nähe Gottes, erhält unser Leben eine neue Richtung. 
Vielleicht kennen Sie Gott noch gar nicht. Aber Sie spüren diese Sehnsucht nach mehr. Nach Ruhe im Herzen. Nach Geborgenheit. Nach Sicherheit und Schutz. Nach Nähe und Frieden. 
Dann sollten Sie sich aufmachen, Gott zu suchen. Dieses Buch möchte Ihnen dabei helfen. Schon Augustinus meinte: »Unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet, o Gott, in dir.«
Vielleicht leben Sie auch schon viele Jahre mit Gott und aus einer lebendigen persönlichen Beziehung zu ihm ist Routine geworden, der Stopp bei Gott eine lästige Pflicht. Dann möchte dieses Buch Sie dazu einladen, sich neu auf das Abenteuer des Hörens auf Gott einzulassen. Ihm in der Stille zu begegnen. Neue Kraft bei ihm zu tanken. Sie werden überrascht sein, wie klar Gott redet, und wie spannend das ist.

Stille ist nicht die Abwesenheit von Lärm, sondern die Anwesenheit von Gott.

Mitten im Alltag. Nicht hinter Mauern, nicht hinter Glas, sondern mitten in Ihrem eigenen Leben. Gott ist bereit. Lassen Sie sich auf das Abenteuer ein? (EW)

Stille praktisch:
Schon seit vielen Jahrhunderten üben sich Christen darin, auf Gott zu hören. Um still werden zu können und der Seele Raum zu verschaffen, gibt es eine kleine Übung, mit der wir uns heute und in dieser Woche beschäftigen wollen: das Herzensgebet.
Das geht so: Ächten Sie auf Ihren Atemrhythmus. Einatmen und Ausatmen wechseln regelmäßig ab. Sie atmen gleichmäßig und entspannt. Dabei sprechen Siein Ihrem Herzen beim Einatmen: »Jesus«, und beim Ausatmen: »Christus«. Versuchen Sie das doch einfach eirhnal für einige Minuten.
Man kann diese Übung jederzeit und an allen Orten wiederholen. Sie hilft dabei, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und lenkt den Blick des Herzens auf Jesus Christus. Wer möchte, kann auch beim Einatmen: »Jesus Christus«, und beim Ausatmen: »Erbarme dich meiner!«, sagen.

Der Gedanke des Tages:
»Das ewige Wort wird nur in der Stille laut.«
(Meister Eckhart)

2.Tag
Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst; ich will dich mit meinen Augen leiten. Psalm 32,8 (LUT)
Sie haben Ihr ZieL erreicht!
Miteinem kleinen Zettel auf dem Schoß fuhr ich früh am Samstagmorgen zu einem Seminar, bei dem ich sprechen sollte. Auf dem Zettel stand die Wegbeschreibung. Ich war nach Essen unterwegs. Dort sollte ich an einer bestimmten Stelle von der Stadtautobahn abfahren und mich dann Richtung Balde-neysee hallen. Dort würden dann schon die Hinweisschilder auf das Haus stehen, das ich suchte. Am Baldeneysee angekommen, sah ich kein einziges solches Schild. Was blieb mir anderes übrig, als um den See herumzufahren? Um diese Uhrzeit - gegen 8 Uhr an einem Samstagmorgen - sind die Straßen menschenleer. Der Termin meines Vortrags rückte immer näher. Endlich sah ich einen Mann, der die Straße fegte. Er kannte das Haus. Ich war mittlerweile am falschen Ende des Sees angekommen. Also entweder weiter um den See herumfahren oder umdrehen. Ich entschied mich fürs Weiterfahren und kam mit etwas Verspätung an.
Wie anders ist es, wenn ich heute unterwegs bin. Ich habe eine »Regina«, eine »Herrscherin« im Auto. Sie bringt mich von jedem beliebigen Ort an jeden anderen beliebigen Ort. 
Ich muss ihr einfach nur gehorchen. Manchmal fahre ich dennoch »nach Gefühl« und nicht nach ihren Vorschlägen. Aber »Regina« ist ja kein Unmensch. Sie ist barmherzig und wo auch immer 
ich gelandet bin, sie bringt mich doch zum Ziel. Oft sagt sie: »Wenn..