Gedanken über Psalm 84, Andrew Miller

12/05/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Vers 1

"Wie lieblich sind deine Wohnungen, Jehova der Heerscharen" (V. 1)! Es ist gut um eine Seele bestellt, die sich, gleich dem Psalmisten, nach der Wohnung Gottes sehnt und die Zusammenkünfte Seiner Heiligen liebt, weil Er da ist. Die neue Natur trachtet nach dem lebendigen Gott, und ihr Wunsch ist es, Segnun­gen von Ihm zu empfangen.

Selbst wer kein göttliches Leben in sich hat, mag bei den sogenannten Gottesdiensten, denen er beizuwoh­nen pflegt, einen gewissen Genuß empfinden, aber er sucht nicht, Gott zu begegnen. Lebhafte religiöse Gefühle und weihevolle Stimmungen mögen wohl in solchen Versammlungen durch gewisse Mittel, z. B. durch das Singen eines ansprechenden Liedes, hervor­gerufen werden. Das Bewußtsein aber, dort Gott zu begegnen, würden sicher viele bewegen, auf den Be­such der Zusammenkunft zu verzichten; denn nur die neue Natur kann sagen: "Mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem lebendigen Gott." Nur wenn wir die göttliche Natur besitzen, sind wir fähig, uns wahrhaft in Gott zu freuen. Echte, persönliche Frömmigkeit liebt die Wohnungen des Herrn; sie findet ihre innerste Befriedigung und tiefste Freude an der Stätte, wo der Herr gegenwärtig ist.

Zu einem wahren, Gott wohlgefälligen Gottesdienst ge­hören drei Voraussetzungen: die göttliche Natur, der Heilige Geist und das Wort Gottes (vergl. Joh 4,23.24). Aber können sich denn nicht schon die "Kindlein in Christo" dieser Dinge erfreuen? Ganz gewiß; denn es steht geschrieben: "Ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Christum Jesum" (Gal 3,26), und sicher hat jedes Kind dieselbe Natur wie sein Vater und ist somit fähig, in Gemeinschaft mit Ihm zu sein. Außerdem besitzen wir alle Sein Wort und Seinen Geist. 

Welch eine kostbare Wahrheit! Möchten wir nur kindlich genug sein, dieses Wort als unsere einzige Richtschnur und Seinen Geist als unseren alleinigen Führer, als unsere einzige Kraft zu besitzen! Nichts, gar nichts sollte sich in unserem Christentum finden, was nur die Frucht menschlicher Überlieferung oder Er­ziehung ist.

Was jedoch ist dein Beweggrund, was dein Gegenstand und deines Herzens Verlangen, wenn es sich um den Besuch der Versammlung der Kinder Gottes handelt? Geht es dir um die erwähnten drei Punkte? Hat nicht der häufige Besuch, die Regelmäßigkeit und die durch­schnittliche Gleichförmigkeit des Dienstes dazu ge­führt, ihre Wirkung auf deine Seele abzuschwächen und dich ihre wahre Bedeutung und ihren Wert verges­sen zu lassen? 

Der Gedanke, der Wohnung Gottes zu nahen, müßte eine ungeheure Wirkung auf uns aus­üben, wenn wir ihn uns völlig zu eigen machen wür­den. Ja, wenn er in unseren Herzen lebendig wäre, würden wir sicher ernstlich mit uns ins Gericht gehen, ehe wir uns aufmachen, um ins Heiligtum einzutreten; wir würden eifrig über jeden Gedanken, jedes Wort und jede Tat wachen, so lange wir uns dort befinden. Und warum das alles? 

Etwa darum, weil wir Gott gegenüber ein Gefühl knechtischer Furcht empfinden sollten? Nein, durchaus nicht; denn die Gegenwart des Vaters ist die Heimat der Kinder, eine Stätte glück­licher, seliger Freiheit ‑ "auch d e r Vater sucht solche als seine Anbeter." Er nimmt unsere Anbetung nicht nur entgegen, sondern Er sucht sie. Sie ist Ihm kostbar. Er liebt es, Seiner Kinder Loblieder, ihr Dan­ken und Preisen zu hören. Aber gerade deswegen wünscht Er auch, daß sie Ihm ihre Anbetung im vollen Verständnis über deren Wichtigkeit und Bedeutung von ganzem Herzen darbringen.

Gott wohnt bei uns, und zwar nicht als Besucher, wie einst bei den ersten Menschen im Garten Eden, son­dern dauernd. Welch eine wunderbare Gnade! Es ist wirklich der Mühe wert, darüber nachzudenken. Wie sollten wir wachsam sein, daß diese herrliche Tatsache nicht durch Gewohnheit für uns an Bedeutung verliert! Wie traurig wäre es, wenn der beständige Genuß un­serer Vorrechte dahin führen würde, daß sie ihren ursprünglichen, mächtigen Einfluß auf unsere Seele einbüßen! Wie sollten wir stets daran denken, daß es die Wohnungen Jehovas der Heerscharen sind, zu de­nen wir Zutritt haben!

Das Wort "Wohnungen" deutet darauf hin, daß es Got­tes Absicht ist, bei den Menschen zu wohnen. Das war von jeher der Wunsch Gottes. Schon Mose durfte auf dem Berg ein Muster der "Wohnung" sehen. Gott Selbst hat den Plan dazu entworfen, und was wird es sein, wenn dieser einmal völlig zur Ausführung ge­bracht sein wird! Das wird allerdings erst geschehen, wenn der neue Himmel und die neue Erde geschaffen sein werden. Beschrieben wird das im 21. Kapitel der Offenbarung: "Und ich hörte eine laute Stimme aus dem Himmel sagen: Siehe, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott. Und er wird jede Träne von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergan­gen" (V. 3 u. 4).

Welch einen herrlichen Wohnplatz haben wir zu erwar­ten! Niemand kann hier auf der Erde völlig verstehen, welches Glück, welcher Segen uns dort zuteil werden wird. Es ist die Heimat, das Vaterhaus, dem wir entgegengehen. Welch eine Fülle von tiefen Empfin­dungen, von reinem Glück und seliger Freude ruft das Wort "Vaterhaus" in unseren Herzen wach! Und o wun­derbarer Gedanke! ‑ dieser Zustand währt ewig; eine ewige Heimat ist uns bereitet. 

Wir werden für immer bei dem Herrn sein. Das tausendjährige Reich ist dann vorüber; die Ewigkeit mit ihrer unvermischten Freude hat begonnen. Und was ist das Sinnbild der voll­kommenen Segnungen der Ewigkeit? Genau dasselbe, was immer das Sinnbild der Gnade Gottes war, sowie der Vorrechte des Menschen infolge der Erlösung, die in Christo Jesu ist, nämlich: "Die Hütte Gottes bei den Menschen; und er wird bei ihnen wohnen ".

Es ist auch sehr wichtig, daß in der oben angeführten herrlichen Beschreibung unseres zukünftigen Wohnplat­zes nichts mehr von verschiedenen Klassen, von Königen, Völkern und dergleichen zu finden ist. Es heißt einfach: "die Hütte Gottes bei den Menschen". "Das Erste ist vergangen." Die Unter­schiede, die bis dahin herrschten, sind gänzlich ver­schwunden. Es gibt nicht länger Juden und Griechen, Völkerschaften und Nationalitäten, Geschlechter, Spra­chen und Zungen, sondern einfach "Menschen".

Ohne Zweifel werden persönliche und geistliche Unter­schiede weiterhin bestehen; denn wir werden nie auf­hören, besondere Einzelwesen zu sein, noch kann das, was von dem Geist Gottes in uns ist, je vergehen. Aber alle werden denselben Auferstehungsleib, alle dasselbe Bild des Himmlischen tragen. Auf Gottes neuer Erde gibt es weder Juden noch Griechen, sondern nur neue "Menschen" in Christo Jesu, ein einziges großes Volk Gottes. So wird Gottes neue Ordnung der Dinge be­schaffen sein, und in ihrer Mitte wird Er Seine Woh­nung errichten. 

Die heilige Stadt, das neue Jerusalem, wird herniederkommen von Gott, wie eine für ihren Mann geschmückte Braut, sie wird den Glanz‑ und Mittelpunkt des Ganzen bilden: die Hütte Gottes bei den Menschen. Ist es nicht herrlich, das zu wissen? Welch ein Glück wird dort herrschen! Ja, wahrlich, Quellen nie endender Segnungen werden dort fließen. Unwillkürlich seufzt das Herz: Würden doch alle, die wir lieben, einst dort zu finden sein! Möchte niemand fehlen, der uns hier teuer war!

Doch der leitende Gedanke in unserem schönen Psalm ist nicht so sehr unser Wohnen bei Gott, als viel­mehr Gottes Wohnen bei uns. "Wie lieblich sind deine Wohnungen, Jehova der Heerscharen!" Gegenwärtig ist die Kirche (die Versammlung) der Bau, in dem Er wohnt: "in welchem auch ihr mit­ aufgebaut werdet zu einer Behausung Gottes im Geiste" (vergl. Eph 2,16‑22). Nicht mehr lang, dann werden die Kinder das Vaterhaus in der Höhe erreicht haben, von dem wir soeben sprachen. Solange sie "durch das Tränental" gehen, sind sie in diesem Sinn noch fern von Gottes Wohnstätte. Das Haus mit den vielen Wohnungen, den Gegenstand ihrer Sehnsucht, haben sie noch nicht erreicht. In einem anderen Sinn aber sind sie schon jetzt in das Haus Gottes gebracht, in dem Er Selbst durch den Geist wohnt.

Es ist sehr wichtig, das zu verstehen. Paulus schreibt an sein Kind Timotheus: "Dies schreibe ich dir, . . . auf daß du wissest, wie man sich verhalten soll im Hause Gottes, welches die Versammlung des le­bendigen Gottes ist, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit." Sicher sollte das Bewußtsein, daß Er in der Versammlung gegenwärtig ist, zu einem Geist der Anbetung und zu einer heiligen, geziemenden Wachsamkeit über unser ganzes Betragen führen. Ob­wohl das Haus durch die Schuld des Menschen ein "großes Haus" geworden ist (2. Tim 2,20.21), in dem Gefäße "zur Ehre" und Gefäße "zur Unehre" neben­einander vorhanden sind, können sich doch die Grundsätze der Wohnung Gottes und das, was Seiner heiligen Gegenwart geziemt, nicht ändern. Und wenn wir nicht überzeugt sind, daß der Herr zu­gegen ist, was nützt es dann, überhaupt zur Versamm­lung zu gehen? Sie sinkt dann zu einer rein mensch­lichen Vereinigung herab, die sich äußerlich in durch­aus geordneten Verhältnissen befinden mag, aber nie­mals die "Behausung Gottes im Geiste" genannt wer­den kann.

Der Herr sagte einst zu Seinen Jüngern: "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte." Das ist ein heiliges, unver­brüchliches Versprechen, das Er sicher und gewiß hält, wenn wir nur der Bedingung entsprechen, die Er stellt, und die lautet: wenn ihr "versammelt seid in meinem Namen" (eig. zu meinem Namen hin). 

Ist das der Fall, so ist Er "in unserer Mitte". Sicherlich steht der Herr hoch über all unserer Unwissenheit und unseren Ver­kehrtheiten, und Er kann und wird auch in solchen Versammlungen wirksam sein und segnen, von denen der Glaube nicht mit Bestimmtheit sagen könnte, daß der Herr in der Mitte ist. Aber der Glaube wird allein durch das Wort Gottes geleitet, nicht durch Erfahrun­gen, selbst nicht durch die Erfahrung der Segnungen des Herrn. Der Glaube an Seine Gegenwart wirkt Wunder an der eigenen Seele und in der Versammlung. Er hält die Natur in Schranken, weist alle menschlichen Erfindungen zurück, vertreibt alle Furcht und gibt dem Herzen vollkommene Ruhe in der Allgenugsamkeit Christi.

Wie aber muß der Grund beschaffen sein, auf dem der heilige Gott, der Sünde nicht sehen kann, bei dem sündigen Menschen zu wohnen vermag? Daß Men­schen mit verherrlichtem Leib bei Gott wohnen kön­nen, ist schon eher zu verstehen. ‑ Nun, beide Tat­sachen sind wunderbar und gründen sich auf das große Erlösungswerk Jesu Christi; beide verdanken wir dem Blut des Lammes Gottes. Das Erlösungswerk bildet die Grundlage unseres jetzigen innigen Verhältnisses zu Gott. Wir lesen nirgends, daß Gott bei Adam im Gar­ten Eden gewohnt hätte, obwohl Adam im Stand der Unschuld war. Gott bereitete wohl dem Menschen einen herrlichen Wohnplatz, setzte ihn da hinein und be­suchte ihn, wie es scheint, dort; aber niemals wohnte Er bei ihm. Die Schöpfung konnte keine angemessene Grundlage für eine Wohnstätte Gottes auf der Erde bieten.

Der Lobgesang Israels (2.Mose 15) enthält die erste Andeutung von einem Wohnen Gottes auf der Erde. Aber beachten wir wohl, daß zu diesem Zeitpunkt hier schon die Erlösung vorbildlich vollbracht und das große Werk der Befreiung ausgeführt war. Gott wartete mit der Offenbarung Seiner Absichten, bis Sein Volk durch das Meer hindurchgeführt und in Sicherheit war. "Meine Stärke und mein Gesang ist Jah", singt Moses, "denn er ist mir zur Rettung geworden. Die­ser ist mein Gott, und ich will ihn verherrlichen, meines Vaters Gott, und ich will ihn erheben". Hierauf empfängt er das Vorrecht, selbst Gottes Ant­wort auf dieses sein Begehren auszusprechen, indem er fortfährt: "Du hast durch deine Güte geleitet das Volk, das du erlöst, hast es durch deine Stärke ge­führt zu deiner heiligen Wohnung . . . 

Du wirst sie bringen und pflanzen auf den Berg deines Erbteils, die Stätte, die du, Jehova, zu deiner Wohnung gemacht, das Heiligtum, Herr, das deine Hände bereitet haben." Es ist sehr bemerkenswert, daß Gott das Wort "heilig" hinzufügt, wenn Er durch den Mund Seines Knechtes von Seiner Wohnung spricht, und daß Er sie nachher "das Heiligtum" nennt. Diese Ausdrücke kennzeichnen den Charakter der Wohnstätte Gottes, wie sie Seinen Gedanken ent­spricht.

Das Er1ösungswerk war also vollbracht und das Volk von der Knechtschaft Ägyptens befreit; nicht eine Klaue war zurückgeblieben! Und indem sie nun, den Siegesgesang auf den Lippen, ihr Angesicht nach Zion hinwenden, besteigt Gott als der große "Ich bin" Sei­nen Wolken‑Wagen, um sie durch die Wüste zu leiten und ihre Hilfe zu sein in aller Not und Gefahr.

Wie unschätzbar groß ist doch der Wert des Blutes des Lammes! oder besser: wie hoch schätzt Gott diesen Wert! Wer auf der Erde könnte die reinigende Wirkung und erlösende Macht des Blutes Jesu beschreiben? Es erlöst den Sünder von der Knechtschaft der Welt und der Sünde und rechtfertigt Gott, wenn Er Barmherzig­keit erzeigt. Es ist die Grundlage aller irdischen Seg­nungen und gibt uns Anspruch auf die reichsten Seg­nungen des Himmels. Es hat den Weg zu des Vaters Thron gebahnt und die Kinder passend gemacht, dort zu erscheinen. Es hat den Vorhang zerrissen und dem Anbeter das innere Heiligtum geöffnet. Es begegnet den höchsten Ansprüchen Gottes wie den tiefsten Bedürfnissen des Menschen.

Auf die Frage, wodurch Gott bei dem sündigen Men­schen auf der Erde wohnen kann, gibt es nur eine Ant­wort: durch das Blut Jesu. Und auf die Frage, wie ein sündiger Mensch jemals bei Gott im Himmel wohnen kann, gibt es wieder nur die eine Antwort: durch das B1ut Jesu . Kraft dieses kostbaren Blutes kann der Gläubige sagen, daß die unmittel­bare Gegenwart Gottes in Christo Jesu jetzt seine selige Heimat ist, ja, daß sie es bleiben wird in alle Ewigkeit.

In diesem Zusammenhang noch ein kurzes Wort an die, die nie ein Bedürfnis nach dem Blute Jesu empfun­den oder noch nie dessen Wert erkannt haben. Sie mö­gen wohl auch regelmäßig ihren Gottesdienst, wie sie es nennen, besuchen; aber das, was für die Gläubigen ein Platz der Anbetung und des wirklichen, wahren Gottesdienstes ist, kann es für sie nicht sein. Gottes­dienst ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Wie­deraufsteigen der Gnade, die uns von oben her besucht hat, in Lob und Anbetung zu Gott. Wie könnte aber ein unversöhnter, nicht erretteter Mensch es wagen, in die heilige Gegenwart Gottes zu treten? 

Er kann diese Gegenwart gar nicht ertragen; Gott aber kann die Sünde nicht in Seiner Gegenwart dulden. Es ist ganz und gar unmöglich, Gott zu nahen, es sei denn auf Grund der versöhnenden, reinigenden Kraft des Blutes Christi. Erlaube mir deshalb die Frage, mein lieber un­bekehrter Leser: "Warum gibst du dich mit einer bloßen Form von Religion zufrieden?" Auf diesem von dir selbst erwählten Boden kannst du Gott nicht begeg­nen; hier bleibt dir nur "ein gewisses furchtvolles Er­warten des Gerichts und ein Feuereifer, welcher die Widersacher verschlingen wird" (Hebr 10,27).

Das flackernde, sterbende Licht des bloßen Bekennt­nisses erlischt, wenn der Bräutigam kommt. Finsternis, ewige Finsternis, wird die törichten Jungfrauen um­hüllen, die es versäumen, Öl zu kaufen, solange es Zeit ist. Darum laß dich bitten, nicht länger mit offenen Augen auf der breiten Straße zu wandeln, die ins Ver­derben führt! Dein bißchen Religion kann dir nichts nützen. Die Decke ist zu kurz, um dich darin einzu­hüllen. Sie ist nur ein Zeugnis von deiner Schuld,

gleich Adams Schürze aus Feigenblättern; ja, sie ver­größert nur das Schreckliche deiner Lage in der Ewig­keit. Welch ein Gedanke, aus der vielleicht oft besuch­ten Kirche oder Kapelle, von dem Abendmahlstisch hinweg in die Tiefen eines unsagbaren Wehs gehen zu müssen!

Möge Gott in Seiner Gnade jeden, der diese Zeilen liest, vor einem so schrecklichen Schicksal bewahren! "Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaus­stoßen", sagte einst unser geliebter Herr, und diesem Wort kann wirklich jeder vertrauen, der Verlangen hat, zu Ihm zu kommen. "Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde." –

Vers 2

"Es sehnt sich, ja, es schmachtet meine Seele nach den Vorhöfen Jehovas; mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem lebendigen Gott" (V. 2). Dieser Vers löst ganz von selbst eine wichtige Frage aus: "Unterscheidet sich der Gläubige, der nach den Vorhöfen des Herrn schmachtet, von dem, der nach dem Herrn Selbst schmachtet?" Die Antwort auf diese Frage heißt ohne Zweifel "Ja". Beide Anliegen sind gut und mögen auch eng miteinander verknüpft sein, ja, sie mögen der Erfahrung eines und desselben Gläubigen, wenn auch zu verschiedenen Zeiten, ent­sprechen, dennoch besteht ein deutlich erkennbarer Unterschied: in dem einen Fall ist das Verlangen der Seele auf Segnung, im anderen Fall auf Gott Selbst gerichtet. 

Sicherlich wird Segnung auch im zweiten Fall hinzugefügt werden; vielleicht noch mehr als im ersten, aber sie ist nicht das Hauptziel des Ver­langens. Wie das Anliegen, so sind auch die Beweggründe in beiden Fällen verschieden. Hier steht der Gedanke an die eigene Person im Vordergrund, dort ist es Gott, und zwar Gott allein. Wenn wir die beiden ersten Verse von Psalm 84 mit dem Beginn des Psalms 63 ver­gleichen, so werden wir den Unterschied klarer er­kennen.

Psalm 63 beginnt von vornherein in höherer Tonart. Das Verlangen der Seele steht nach Gott Selbst. Der Verfasser sagt mit großem Nachdruck: "Gott, du bist mein Gott . " Er ist sich völlig seines Verhältnisses zu Ihm und der daraus hervorfließenden Segnungen be­wußt. Welcher Seelenzustand könnte gesegneter sein? Lauschen wir nur auf die tiefen, glühenden und doch so heiligen Äußerungen des Herzens, wie sie sich in den Worten kundgeben: "Gott, du bist mein Gott! frühe suche ich dich. Es dürstet nach dir meine Seele, nach dir schmachtet mein Fleisch in einem dürren und lechzenden Lande ohne Wasser, ‑ gleich­wie ich dich angeschaut habe im Heiligtum ‑, um deine Macht und deine Herrlichkeit zu sehen." Psalm 84 dagegen beginnt mit den Worten: "Wie lieb­lich sind deine Wohnungen, Jehova der Heer­scharen! Es sehnt sich, ja, es schmachtet meine Seele nach den Vorhöfen Jehovas; mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem lebendigen Gott.

" Hier kennt zwar die Seele Gott und verlangt auch nach Ihm; aber in Ihrem Blickpunkt steht Sein Verhältnis zu Seinem Volk, so wie Er Sich in der Ver­sammlung der Seinigen offenbart. Im ersten Falle fin­den wir ein unmittelbares, gesegnetes Sichhinwenden der neuen Natur zu Gott, wobei nur Er Selbst der Ge­genstand des Verlangens der Seele ist, obwohl diese sich in den denkbar ungünstigsten Umständen, in einem dürren und lechzenden Land ohne Wasser, befin­det; im zweiten begegnen wir einem Verlangen, das mehr dem eines gefangenen Israeliten entspricht, der sich früher der Vorrechte der Anbetung im Hause Jeho­vas erfreute und nun mit Schmerz an die einstigen glücklichen Zeiten zurückdenkt. Nichtsdestoweniger ist der, der in solcher Weise nach den Vorhöfen Jehovas schmachtet, weder diesen ein Fremder, noch dem Herrn Selbst, dem dort Anbetung zuteil wird. Es war ohne Zweifel Liebe zum Herrn, die die Jünger auf dem Berg der Verklärung zu dem Vorschlag veranlaßte, dort drei Hütten zu bauen. Ihr Verlangen war, daß Er dort bei und mit ihnen wohnen bleiben möchte, und so kön­nen die Wohnungen Jehovas wohl um Dessentwillen wertgehalten werden, Der darin wohnt. Wenn aber die kostbaren Vorrechte der Kinder Gottes nicht völlig ver­standen werden, so können deren Gedanken sich nicht bis zu ihrem eigentlichen Mittelpunkt hin erheben.

Welch eine Erquickung muß es für das Herz Gottes sein, wenn Er sieht, wie Sein Kind so nach Ihm ver­langt und so um die Verherrlichung Seines Namens be­sorgt ist, wie das in Psalm 63 zum Ausdruck kommt, obwohl doch an dieser Stelle alles dem Gläubigen entgegen ist! Wenn es so mit einer Seele steht, dann ist das eigene Ich völlig in den Hintergrund gerückt, und das göttliche Leben tritt hervor. Welch eine duftende Blüte, welch eine kostbare Frucht für das Auge Gottes in dieser öden, fruchtleeren Welt! Allerdings gilt das in vollkommenem Maße und zu allen Zeiten nur für Einen: Christus. Für Ihn war die Welt und selbst Israel, als Heiligtum Gottes, ein dürres, lechzendes Land, und doch war und blieb Seine erste Sorge stets die Verherrlichung Seines Vaters. Er ist das herrliche, vollkommene Vorbild für alle Kinder Gottes, und Er ist wirklich des sorgfältigsten Studiums unter Gebet und Flehen, sowie der treuesten Nachahmung wert. 

Diese Welt bot Ihm nie einen Tropfen Wasser, um Seinen Durst zu stillen, nie ein grünes Blatt, um Sein Auge zu erquicken. Aber kein Wort der Klage kam über Seine Lippen. Er traute auf Gott und wartete auf Ihn. Alle Seine Quellen waren droben. Immer trank Er aus frischer Quelle, aber zugleich schmachtete Er wie kein zweiter als Mensch nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Er und nur Er konnte sagen: "Gott, du bist mein Gott! frühe suche ich dich. Es dürstet nach dir meine Seele, nach dir schmachtet mein Fleisch in einem dürren und lechzenden Lande ohne Wasser."

Doch ist der Christ jetzt nicht ebenso wie einst der niedrige und demütige Jesus von Nazareth droben will­kommen? Ja, er ist es durch den Reichtum der Gnade Gottes. Der Gläubige hat Teil an den Rechten und Vor­rechten des Christus ‑ er ist eins mit Ihm als dem zur Rechten Gottes erhöhten Menschen. Sollten deshalb nicht die Gedanken, das innerste Fühlen und Sinnen jedes Christen sich um den Einen drehen, der allein aller Anbetung würdig ist? O teurer Leser! wenn auch du die Dürre dieser Welt fühlst, murre nicht; richte deine Gedanken nach oben, trinke aus dem nie ver­siegenden Brunnen, der dort in stets gleicher Frische quillt! 

Denke daran, daß alle deine Quellen in dem le­bendigen Gott sind, in deinem Gott und Vater! Sinne mehr über die unzähligen Segnungen, die du durch das vollendete Erlösungswerk empfangen hast, über das in­nige Verhältnis, in das du zu Gott gebracht bist! Du bist ein Kind der Familie Gottes, ein Glied des Leibes Christi, des auferstandenen und verherrlichten Men­schensohnes und zugleich ein Diener in Seinem Reich. Darum suche würdig zu wandeln dieser hohen, ausge­zeichneten Vorrechte! Der Glaube erfaßt sie schon jetzt und verwirklicht sie; bald werden sie in der Herrlich­keit droben völlig geoffenbart werden. Und ‑ Gott sei gepriesen! ‑ diese Beziehungen, die die Gnade geschaf­fen hat, können nie wieder gelöst werden. "Die Gna­dengaben und die Berufung Gottes sind unbereu­bar." Er wird nie die Gaben zurückverlangen, die Er ausgeteilt hat ‑ weder in der Zeit noch in der Ewigkeit.

Psalm 63 zeigt uns also den Gläubigen, der nicht seine eigenen Segnungen in den Vorhöfen Jehovas sucht ‑ so richtig das auch an und für sich sein mag ‑ sondern der danach schmachtet, Gottes Macht und Herrlichkeit zu sehen. "Nach dir schmachtet mein Fleisch", sagt er, "gleichwie ich dich angeschaut habe im Heiligtum, um deine Macht und deine Herrlichkeit zu sehen." Ein sol­cher Zustand ist sehr gesegnet, besonders wenn der Gläubige sich im Heiligtum oder am Tisch des Herrn befindet. Anstatt daran zu denken, daß er etwas Gutes empfängt, ist er nur auf die Verherrlichung Seines Namen bedacht. Gott schenke uns allen eine solche Gesinnung, besonders dann, wenn wir versammelt sind, um den Tod unseres Herrn zu verkündigen!

Wie verschieden können doch die Gedanken und Ge­fühle der Gläubigen sein, wenn sie um denselben Tisch versammelt sind, dasselbe Brot essen und aus demsel­ben Kelch trinken! Ich denke dabei nicht an Gleich­gültigkeit oder Sorglosigkeit, rede auch nicht von zagenden, zweifelnden Seelen, die diesen kostbaren Platz nur mit Furcht und Zittern einnehmen, in ständi­ger Besorgnis, sie könnten sich selbst Gericht essen und trinken ‑ nein, ich spreche von solchen, die nicht nur die völlige Gewißheit der Vergebung ihrer Sünden und ihrer Annahme bei Gott haben, sondern auch ernst und gottesfürchtig wandeln wollen. Kommt es nicht vor, daß selbst solche Christen mehr mit sich selbst, mit ihrer eigenen Segnung und Erquickung, oder auch mit Gedanken an liebe Freunde und Ge­schwister im Herrn, in deren Mitte sie sich befinden, beschäftigt sind als mit der Gegenwart des Herrn? Viel­leicht sind sie müde, hungrig und durstig gekommen, und ihre Gedanken und Wünsche gehen nicht über ihre eigene Segnung hinaus. 

Sie wissen natürlich, daß sie sich am Tisch des Herrn befinden und daß Er gegen­wärtig ist; aber der Zustand ihrer Seelen ist so, daß sie nicht imstande sind, sich ausschließlich mit Ihm zu beschäftigen oder Seine Macht und Herrlichkeit so zu betrachten, wie sie im Heiligtum zur Entfaltung kom­men. Ach! wenn sie gründlicher mit ihrem eigenen "Ich" gebrochen hätten und sich mehr und eingehender mit Christus beschäftigen würden, so wäre es anders. Er würde als ihr Ein und Alles ihr Herz so völlig ausfüllen, daß kein Raum mehr für etwas anderes bliebe. Es käme ihnen mehr zum Bewußtsein, wie nahe sie Ihm stehen, ja, daß sie eins mit Ihm sind, dem verherr­lichten Menschen im Himmel.

O welch ein einzigartiger Platz ist der Tisch des Herrn, wenn wir wirklich seine Bedeutung verstehen! Hier erinnern wir uns an den Jesus, der einst für uns am Kreuz war, und wir wissen zugleich, daß Er jetzt nach vollbrachten Werk auf dem Thron Gottes droben sitzt. Die herrlichen Ergebnisse des Kreuzes und des Weilens Christi in der Herrlichkeit werden zu gleicher Zeit gesehen und gefühlt. Die Liebe verliert sich in Ihm, der Jünger in seinem Herrn. Er hat nur noch Gedanken der Anbetung, nur noch Worte der Dank­sagung für Ihn; alles andere ist für den Augenblick vergessen.

Mein lieber Leser! Das ist Gottesdienst, wahrer, geist­licher Gottesdienst, der sich bei allen Gelegenheiten für die heiligen Höfe des Herrn, ja, wir dürfen heute sagen, für das Allerheiligste geziemt. Christus nimmt den rechten Platz im Herzen und in der Versammlung ein. Der Heilige Geist ist nicht betrübt und nicht ge­dämpft. Ist das unsere persönliche Erfahrung? Jeder Christ sollte diese Erfahrung machen. Das Blut des Opfers ist siebenmal vor und auf den Sühndeckel ge­sprengt worden, die Sünde ist hinweggetan; der große Hohepriester weilt im Heiligtum droben, der Heilige Geist in der Versammlung auf der Erde. Gott ist in Christus völlig befriedigt und verherrlicht worden. A1­les ist für uns in Ordnung gebracht, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu danken und anzubeten. "Daher, heilige Brüder, Genossen der himmlischen Berufung, betrachtet den Apostel und Hohenprie­ster unseres Bekenntnisses, Jesum" (Hebr 3,1).

Wie weit ist doch der wahre Christ seiner Stellung nach von dem natürlichen Menschen entfernt! Wie tiefgrei­fend unterscheiden sich beide in den Augen Gottes!

Hier ist Echtheit und Aufrichtigkeit, dort eine bloße Form. Wahre Christen mögen beim Betreten des Hei­ligtums von unterschiedlichen Beweggründen geleitet werden, aber alle haben ewiges Leben, und, dem Was­ser gleich, erhebt sich dieses Leben naturgemäß zu der Höhe seiner Quelle, d. h. zu Gott in Christus. Daher rührt auch der Durst nach dem lebendigen Gott. Sie können in einem Land, in dem kein Wasser ist, nicht leben; sie müssen es aus den himmlischen Quellen schöpfen, um so ihre Bedürfnisse auf der Erde stillen zu können. "Wer irgend von dem Wasser trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird nicht dürsten in Ewigkeit; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm eine Quelle Wassers werden, das ins ewige Leben quillt" (Joh 4,14). Doch wo kein Leben aus Gott vorhanden ist, da kann es auch keinen göttlichen Beweggrund, Wunsch oder Gegenstand geben. Der natürliche Mensch kommt über seine eigene Person nicht hinaus; das eigene Ich, nicht Gott, ist sein Mittelpunkt, sein Beweggrund, sein Zweck und Ziel.

Warum aber macht sich der natürliche Mensch über­haupt die Mühe, Gottesdienste zu besuchen? Dafür gibt es mannigfaltige Gründe, auf keinen Fall jedoch geht es ihm darum, "Gott zu nahen". Seine Absicht ist es vielmehr, Gott durch seinen Besuch in der Kirche oder Kapelle zu besänftigen und Ihn, wenn ich mich so ausdrücken darf, in sicherer Entfernung von sich zu halten.

In jedem natürlichen Menschen gibt es eine gewisse Furcht vor Gott. Seitdem "der Mensch und sein Weib sich vor dem Angesicht Gottes versteckten, mitten unter die Bäume des Gartens", ist das der Fall gewe­sen. Damals offenbarte sich diese Furcht zum ersten Mal. Adam sprach: "Ich hörte deine Stimme im Gar­ten und ich fürchtete mich, denn ich bin nackt, und ich versteckte mich." 

Und gerade weil sich der natürliche Mensch vor Gott fürchtet, ist er gern bereit, mehr oder minder aufwendige religiöse Gebräuche zu beobachten, um auf diese Weise Gott zu besänftigen oder zu befriedigen und Ihn von sich fernzuhalten. Man mag das umschreiben oder leugnen; es ändert nichts daran, daß es Tatsache ist, eine traurige Tat­sache. Man nimmt beispielsweise am Sonntagnachmit­tag an allerlei Vergnügungen und Belustigungen mit um so größerer Befriedigung teil, weil man am Sonntag­morgen seinen religiösen Pflichten genügt hat. Und warum ist das so? Weil die Vernachlässigung jener reli­giösen Pflichten das Gewissen beunruhigen und das Vergnügen stören würde.

Dieser traurige Zustand zeigt deutlich, wo sich eine nicht mit Gott versöhnte Seele befindet. Sie ist ohne Gott, solange sie Gott in der Person und dem Werk Jesu Christi nicht erkannt hat, wie schön auch das äußere Bekenntnis lauten mag - "ohne Gott" im Blick auf die äußeren Umstände dieses Lebens, "ohne Gott" hinsichtlich jedes Gedankens und Gefühls im Innern. Ist das nicht ernst? Die unsterbliche Seele mit ihren edlen Fähigkeiten ist ohne das, was sie eigentlich ausfüllen sollte. Solange sie in diesem Leibe ist, wird sie vielleicht durch eine trügerische Hoffnung aufrecht­erhalten, und der Feind hütet sich, sie zur Verzweiflung zu treiben; der Todesschlaf der Sünde paßt besser zur Erreichung seiner Zwecke. Aber wie groß muß die See­lenangst, die Verzweiflung sein, wenn die Augen an jenem Ort aufgehen, wo es keine Barmherzigkeit mehr gibt, wo das furchtbare Schicksal der Seele für ewig besiegelt ist!

Schon hier auf der Erde ist der Zustand einer Seele "ohne Gott" geradezu trostlos. Sie ist ohne Heiland, und infolgedessen ohne Vergebung, ohne Frieden, ohne Ruhe. Die Güter dieses Lebens mögen im Überfluß vorhanden sein, die freundschaftlichen und gesell­schaftlichen Verbindungen allen Wünschen entspre­chen, ja, das Herz mag edel, der Körper wohlgebildet und der Geist reich begabt sein ‑ und doch, als ein Mensch "ohne Gott" befindet sich die Seele in einem Bereich, wo es keine Befriedigung für sie gibt, nichts als Enttäuschung und trostlose Leere. Auch wenn ein Mensch sich alle Schätze der Welt zueignen könnte, es wäre doch alles Staub und nur Staub!

Den Bedürfnissen der Seele kann nur dann entspro­chen werden, wenn sie zu Gott gebracht wird. Der Herr sagte einst zu Nikodemus: "Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. . . Verwundere dich nicht, daß ich dir sagte: ihr müsset von neuem geboren werden." Gott allein kann die schreckliche Leere der Seele ausfüllen. Nur in Seiner Gunst ist Leben, nur in Seiner Liebe Ruhe, nur in Seiner Gegenwart Freude. "Fülle von Freuden ist vor deinem Angesicht, Lieblich­keiten in deiner Rechten immerdar" (Ps 16,11). Wärest du ein "Lehrer in Israel", aber nicht von neuem

geboren, es würde dir nichts nützen. Niemandem in der Schrift wird ein schwereres Schicksal angekündigt als den "Sündern in Zion": "Die Sünder in Zion sind erschrocken, Beben hat die Ruchlosen ergrif­fen. ,Wer von uns kann weilen bei verzehrendem Feuer? wer von uns kann weilen bei ewigen Glu­ten"' (Jes 33,14)? Das ist das furchtbare Ende, die schreckliche Ewigkeit derer, die nicht "Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus" sind. Für immer sind sie aus Seiner Gegenwart verbannt, an der Stätte der von Gott Verlassenen ! Schreckliches Wort! Tausend Bilder mögen gebraucht werden, um die Trost­losigkeit jenes Zustandes zu beschreiben, aber ein Strich der göttlichen Feder faßt alles zusammen in das eine Wort: "verlassen " . Was dieses Wort bedeutet, sehen wir am Kreuz, in dem unbeschreiblichen Leiden Dessen, Der aus Liebe zu uns in diesen Zustand des Gottverlassenseins eintrat.

"Ohne Gott" in dieser Welt, "ohne Gott" in der kom­menden, ja, dann von Gott verlassen ! Mein lieber unbekehrter Leser! lebst du in dem Gedanken, jene Zeit sei noch weit entfernt? Ach! Millionen meinen es; eine trügerische Hoffnung hält sie aufrecht, sie genie­ßen das Leben so gut es geht, und scheinen glücklich und zufrieden zu sein. Aber wie sieht es in ihrem In­nern aus! Und inzwischen bringt sie jeder Tag ihrem Ziel näher. "Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht." Die Ewigkeit naht heran, für die man sich nicht vorbereiten, der Zorn, dem man nicht entfliehen will. Kein Heiland, kein Mittler sitzt auf dem Richterstuhl. Dann werden sie den schrecklichen Urteilsspruch hören: "Gehet von mir, Verfluchte, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln"! Heute lautet die freundliche Einladung: "Kommet her zu mir " ! Aber man schenkt ihr keine Beachtung. Und dann?

Keine flehende Bitte, kein bitteres Wehgeschrei kann den Urteilsspruch ändern. Die Zeit der Gnade ist vor­über. Der Sünder geht an seinen Platz. Verlassen von Gott, ohne Christus, ohne Heimat und Freunde, wird er in die äußere Finsternis geworfen. Sein ewiges Schicksal ist besiegelt. Es ist das schreckliche Ende der "Sünderin Zion ", der toten Bekenner! Möchten doch noch viele aus dem Sündenschlaf aufwachen, ehe es für ewig zu spät ist!

Vers 3

"Selbst der Sperling hat ein Haus gefunden, und die Schwalbe ein Nest für sich, wo sie ihre Jungen hingelegt . . . deine Altäre, Jehova der Heerscha­ren, mein König und mein Gott" (Vers 3)!

In diesem Vers wird in rührender Weise auf die zarte Fürsorge angespielt, die Gott für die geringsten Sei­ner Geschöpfe offenbart. Der Psalmist beneidet sie, während er sich in der Verbannung befindet, um ihre Vorrechte. Er sehnt sich danach, gleich ihnen in der Wohnstätte Gottes zu nisten. Der Gläubige findet seine Heimat und eine vollkommene Ruhe in den Altären Gottes, oder besser gesagt, in den großen Wahrheiten, die sie vorstellen. Doch wird sein Vertrauen auf Gott durch die Kenntnis Seiner bis in einzelne gehenden, all­umfassenden Fürsorge erhöht und gestärkt; ja, diese ruft seine höchste Bewunderung wach. "Gott läßt", sagt so schön ein anderer Schreiber, "selbst den wertlosesten aller Vögel" ein Haus finden, und den

unruhigsten ein Nest. Welch ein Vertrauen sollte uns das geben! Wie sollten wir ruhen! Ja, welch selige Ruhe genießt eine Seele, die sich der immer wachen, zarten Fürsorge Dessen überläßt, der in so reichem Maße für die Bedürfnisse Seiner Geschöpfe sorgt! Wir wissen, was der Ausdruck "Nest" alles in sich einschließt, geradeso wie das Wort "ein Haus". Ist es nicht der Ort völliger Sicherheit, ein Obdach bei Sturm und Wetter, ein Bergungsort vor dem Bösen, ein Schutz gegen alles, was Schaden bringen könnte, ein Platz, um auszuruhen und sich glücklich und geborgen zu fühlen?

Doch vergessen wir nicht: diese so hoch begünstigten Vögel kennen Den nicht, von welchem alle Freundlich­keit kommt, sie kennen weder Sein Herz noch Seine Hand. Sie erfreuen sich Seiner Fürsorge; Er denkt an alles, was sie nötig haben, aber es gibt keine Gemein­schaft zwischen ihnen und dem großen Geber. 

Wir kön­nen hieraus lernen. Wir dürfen uns niemals zufrieden geben mit dem bloßen Besuch solcher Stätten des Se­gens und der Anbetung, noch mit dem Genuß gewisser Vorrechte, die wir dort besitzen; nein, wir müssen im Geist höher streben, und durch Jesus Christus, unseren Herrn, eine direkte Verbindung mit dem lebendigen Gott suchen, nach dem Genuß einer unmittelbaren Ge­meinschaft mit Ihm trachten. Das Herz Davids wandte sich zu Gott Selbst (Ps 63). Auch in Psalm 84 heißt es: "Mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem lebendigen Gott".

Doch zum besseren Verständnis der Altäre Gottes laßt uns einen Blick auf das Lager in der Wüste werfen. Auf dem Weg zur Stiftshütte begegnen wir dem Sündopfer. Es wurde außerhalb des Lagers zu Asche ver­brannt. Die Sünde, mit der das Opfertier in bildlichem Sinn beladen ward, wurde dort verzehrt. Es war das Vorbild von Christus als Dem, der Sünde nicht kannte, aber für uns zur Sünde gemacht wurde. Die ganze Frage der Sünde fand auf dem Kreuz ihre Erledigung. 

Dort wurde die Sünde in unserer Natur samt den vielen Sünden unseres Lebens gerichtet und verurteilt, die ganze Schuld wurde hinweggetan. Das Blut des Sünd­opfers wurde innerhalb des Vorhangs gebracht, und der Leib außerhalb des Lagers verbrannt. Im Hebräerbrief lesen wir in Verbindung mit diesem Opfer: "Denn von den Tieren, deren Blut für die Sünde in das Heilig­tum hineingetragen wird durch den Hohenpriester, werden die Leiber außerhalb des Lagers verbrannt. Darum hat auch Jesus, auf daß er durch sein eigenes Blut das Volk heiligte, außerhalb des Tores gelitten" (Hebr 13,11.12).

Verlassen wir jetzt das Sündopfer und treten wir durch das Tor in den Vorhof der Stiftshütte. Das erste, was uns hier in die Augen fällt, ist der eherne Altar oder der Brandopferaltar, so genannt, weil auf ihm in erster Linie die Ganz ‑ oder Brandopfer Gott dargebracht wurden. Das Brandopfer war, im Ge­gensatz zum Sündopfer, "ein Feueropfer lieblichen Geruchs dem Jehova". So war auch Jesus, das fleckenlose Lamm, ein lieblicher Geruch dem Jehova. Wie beim Sündopfer, so machte sich auch hier der Opfernde durch die Handauflegung mit dem Opfer eins, aber nicht um seine Sünde auf das Opfer zu über­tragen, sondern um der Annehmlichkeit des Opfers vor

Gott teilhaftig zu werden. Wir lesen: "Und er soll seine Hand auf den Kopf des Brandopfers legen, und es wird wohlgefällig für ihn sein, um Sühnung für ihn zu tun" (3.Mo 1, 4). Diese Eins­machung des Opfernden mit dem Opfer zeigt uns sehr deutlich das Einssein des Gläubigen mit Christus in Seinem Tod und in der ganzen Annehmlichkeit Seines Opfers vor Gott. Das ganze Opfer stieg als ein lieb­licher Wohlgeruch zu Jehova empor. Die unendliche Heiligkeit, Gerechtigkeit und Liebe Gottes nährten sich gleichsam von dem Brandopfer: "Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf daß ich es wiedernehme" (Joh 10,17).

Der Gläubige ist eins mit dem gestorbenen und auf­erstandenen Christus. Er ist angenommen in dem Ge­liebten. Wenn diese Wahrheit erfaßt wird, so genießt die Seele einen unerschütterlichen Frieden mit Gott. Sie ruht sozusagen in dem Altar und ruft mit tiefer, seliger Freude: "Deine Altäre, Jehova der Heer­scharen, mein König und mein Gott!" Nicht daß die Juden je besessen hätten, was wir einen unerschütterlichen Frieden nennen; "denn unmöglich kann Blut von Stieren und Böcken Sünden hinwegnehmen" (Hebr 10,4). 

Aber was diese Opfer nicht vermochten, das hat Christus getan. "Durch ein Opfer hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt wer­den " (Hebr 10, 14). Die geistliche Bedeutung der Vorbilder ist uns jetzt geoffenbart. "Die Finsternis vergeht", sagt Johannes, "und das wahrhaftige Licht leuchtet schon." Die Ausdrücke "Altäre", "Heiligtum", "Zelt" und "Hütte" enthalten eine Fülle von Belehrungen für den Christen und sind Vorbilder auf alles das, was mit unserer christlichen Segnung und Stellung verbunden ist; aber es ist immer besser, den Schatten vom Gegenstand (der eigentlichen Wirklich­keit) her zu untersuchen, als umgekehrt den Gegen­stand vom Schatten her.

Aber gibt es nicht manche Gläubige, die niemals der Hütte näher kommen als höchstens bis zum Sündopfer? Gleich dem Zöllner stehen sie von fern und rufen: "O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig"! Im besten Fall hoffen sie, daß ihre Sünden vergeben sind; aber Klar­heit und Gewißheit haben sie nicht. Anstatt in voller Glaubensgewißheit herzuzunahen, bleiben sie draußen stehen. Die kostbare Bedeutung des Brandopfers ver­stehen sie nicht. 

Sie können nicht mit dem Apostel sagen: "Welcher unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist"; oder: "Da wir nun gerecht­fertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Chri­stus, durch welchen wir mittelst des Glaubens auch Zugang haben zu dieser Gnade, in welcher wir stehen, und rühmen uns in der Hoffnung der Herr­lichkeit Gottes"; oder: "Also ist jetzt keine Ver­dammnis für die, welche in Christo Jesu sind" (Röm 4,25; 5,1.2; 8,1). Das ist die Stellung des wahren Christen; sie gibt seinem Herzen vollkommene Ruhe. Er ist gerechtfertigt, hat Frieden mit Gott, steht in der Gnade und wartet auf die Herrlichkeit. Tod, Sünde, Satan, Gericht, Welt, Fleisch ‑ alles liegt hinter ihm, und eine selige Zukunft, die Offenbarung der Herrlich­keit Gottes, liegt vor ihm. Er "rühmt sich in der Hoff­nung", nicht nur "der Herrlichkeit", sondern "der Herrlichkeit Gottes" . 

Es ist kein Zeichen von Demut, wenn ein Gläubiger, von fern stehend, stets zu Gott um Gnade ruft, oder wenn er sich, gleich dem Aussätzigen, außerhalb des Lagers aufhält; im Gegen­teil, es ist eine Herabwürdigung des Herrn, und er begeht damit ein Unrecht gegen sich selbst. Der Herr erlaubt es uns, ja, Er wünscht es, daß wir in Seinem vollbrachten Werk ruhen, an dem ehernen Altar, und daß wir Ihn anbeten in dem lieblichen Wohlgeruch des goldenen Altars.

Wir kommen jetzt zu dem ehernen Waschbecken. Es stand zwischen dem ehernen Altar und dem Eingang des Zeltes. Das Wesen oder den Körper dieses Schat­tenbildes finden wir in Johannes 13. Bei der Ein­weihung des Priesters wurde dessen ganzer Leib in dem Becken gewaschen. Diese Waschung geschah nur einmal, sie wurde nie wiederholt. Sie ist ein Bild von der Wiedergeburt. Wir sind errettet nach Gottes Barm­herzigkeit durch "die Waschung der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes" (Tit 3,5). Wir mögen mehr als einmal wiederhergestellt werden müssen, wir können aber nur einmal wiedergeboren werden.

Für jeden, der Gott nahen will, ist die Wiedergeburt die erste und durchaus unerläßliche Bedingung. Wir müssen zuerst hinsichtlich unserer Natur zurechtge­bracht werden; dann erst kann von einem praktischen Wandel zur Ehre Gottes die Rede sein. "Es sei denn, daß jemand aus Wasser und Geist geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen." Wir mögen die Wirksamkeit des Geistes in der neuen Natur nicht verfolgen oder erklären können, aber das braucht uns nicht in Verwirrung zu bringen oder gar mit Zweifeln zu erfüllen. Das Wort Gottes redet ganz klar. Der Mensch, der an Christus Jesus geglaubt hat, ist gewaschen, ganz gebadet oder gereinigt in der Wiedergeburt, und fähig, Gott zu dienen und Ihm an­betend zu nahen.

Nachdem die Priester in geziemender Weise geweiht waren, wuschen sie nur noch ihre Hände und Füße in dem Becken; das aber taten sie, so oft sie einen Dienst zu verrichten hatten oder herzunahten, um anzubeten. Laß uns darüber nachdenken, lieber Leser! Es ist ein Gedanke von großer praktischer Bedeutung: so oft die Priester einen Dienst zu verrichten hatten oder herzunahten, um anzubeten, mußten sie Hände und Füße waschen. Wiedergeboren­sein genügt an und für sich noch nicht zum Dienst und zur Anbetung Gottes, auch die völlige Gewißheit der Vergebung aller Sünden und auch der Annahme bei Gott reicht noch nicht hin; es muß persönliche Rein­heit und Lauterkeit vorhanden, das Herz muß Gott geheiligt sein, sonst ist die Gemeinschaft mit Ihm un­terbrochen. H e i l i g k e i t geziemt dem Volk, dem Dienst, der Anbetung, dem Hause Gottes für immer. Zeit und Umstände ändern nichts an diesem Grund­satz: "Es soll ihnen eine ewige Satzung sein".

Bei Todesstrafe waren die Priester gehalten, immer wieder Hände und Füße in dem Wasser des Beckens zu waschen, nach der Vorschrift Gottes. Sie mochten es manchmal nicht für nötig erachten; aber sie mußten es tun. Es genügte dazu auch nicht jedes beliebige Wasser,

nein, es mußte Wasser aus dem ehernen Becken sein. Hier begegnen wir wieder einer ernsten Lehre für uns, wie es ja überhaupt kein anderes Vorbild gibt, in wel­chem soviel praktische Belehrung enthalten ist, wie ge­rade in dem ehernen Becken. Wir lernen hier, daß kein menschliches Hilfsmittel, keine menschlichen Meinun­gen und Bemühungen, wie klug und schön sie auch alle erscheinen mögen, uns das geben können, was uns zum Dienst und zur Anbetung Gottes passend macht.

Die Hände und Füße sind charakteristisch für unsere Werke und Wege, für unser Tun und Wandeln. Wollen wir in glücklicher Gemeinschaft mit Gott gehen, so müssen beide durch Sein Wort geprüft werden. "Wo­durch wird ein Jüngling seinen Pfad in Reinheit wan­deln? Indem er sich bewahrt nach deinem Worte" (Ps 119,9). "Durch das Wort deiner Lippen habe ich mich bewahrt vor den Wegen der Gewalttätigen" (Ps 17,4). Das Wort Gottes, das durch das Licht und die Kraft des Heiligen Geistes auf Herz und Gewissen einwirkt, entspricht dem vorbildlichen Gebrauch des Waschbeckens. Es geht hier um "die Waschung mit Wasser durch das Wort". 

Wenn wir, obwohl wir einmal ganz gewaschen, ganz erneuert worden sind, es gesche­hen lassen, daß in unseren Handlungen und Wegen Dinge vorkommen, die das Wort Gottes verurteilt, so ist es mit der Frische und Kraft unseres Charakters als Christen vorbei. Ernster, beachtenswerter Gedanke! Ach, wie oft geschieht es, daß durch kleine, nichtige Anlässe der Blick von Christus abgelenkt wird und das Sühnungsblut und das Wasser der Reinigung vergessen wird! Die Folgen sind Unterbrechung der Gemein­schaft, geistliche Schwachheit und schließlich gar Be­fürchtungen und Zweifel aller Art. Unter solchen Umständen schleppen wir uns nur mit Mühe durch einen Dienst in der Öffentlichkeit, den wir vielleicht nicht gern aufgeben. Und wie manchmal mag solch ein geistliches Totsein eine sehr nachteilige Wirkung auch auf andere ausüben!

Da die Wichtigkeit dieses Themas nicht überschätzt werden kann, möchte ich die ganze, darauf bezügliche Stelle zitieren: "Und Jehova redete zu Mose und sprach: Mache auch ein Becken von Erz und sein Gestell von Erz zum Waschen; und setze es zwi­schen das Zelt der Zusammenkunft und den Altar, und tue Wasser darein. Und Aaron und seine Söhne sollen ihre Hände und ihre Füße daraus waschen. Wenn sie in das Zelt der Zusammenkunft hinein­gehen, sollen sie sich mit Wasser waschen, daß sie nicht sterben, oder wenn sie dem Altar nahen zum Dienst, um Jehova ein Feueropfer zu räuchern. Und sie sollen ihre Hände und ihre Füße waschen, daß sie nicht sterben; und das soll ihnen eine ewige Satzung sein, ihm und seinem Samen bei ihren Ge­schlechtern" (2. Mo 30,17‑21).

Die Kraft und vorbildliche Bedeutung dieser ernsten Warnungen scheint ihren Ausdruck in den wenigen Worten zu finden, die der Herr einst an Petrus richtete: "Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil mit mir." Es ist bemerkenswert, daß er nicht sagt "kein Teil an mir", sondern "kein Teil mit mir". Es handelt sich nicht um das Leben in Christus, sondern um die Gemeinschaft mit Ihm. 

Die Bedeutung des Bildes ist klar: indem wir als Bekehrte durch die Welt der Ver­suchung und Sünde gehen, beflecken wir uns, und nur Christus, unser großer Hoherpriester und Sachwalter, kann uns reinigen. Doch müssen wir Ihm unsere Beflec­kungen offen und rückhaltlos bekennen. Wir müssen gleichsam unsere beschmutzten Füße in Seine Hände legen, damit Er sie waschen und mit dem leinenen Tuch, mit dem Er umgürtet ist, abtrocknen möge. Vor Ihm können wir keine Geheimnisse haben. Die Beschaf­fenheit unserer Füße macht offenbar, wo wir gewesen sind. Wissentlich etwas zu erlauben oder zuzulassen, was Seinem Willen entgegen ist, sei es in Worten, Ge­danken oder Handlungen, verunreinigt das Gewissen, hindert die Gemeinschaft und schwächt unsere geist­liche Kraft. Doch inmitten bewußter großer Schwach­heit und häufigen Strauchelns ‑ auch bei sorgfältiger Wachsamkeit ‑ laßt uns die gesegnete, ruhegebende Wahrheit nicht vergessen, daß Christus uns zur Heilig­keit (oder Heiligung) geworden ist (1. Kor 1,30).

Allerdings ist Er in den Himmel gegangen; aber Er denkt auch dort an uns. Die Herrlichkeit des oberen Heiligtums zieht weder Sein Herz von uns ab, noch hindert sie Ihn, uns in unseren Bedürfnissen zu bedie­nen. Er "hat die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben, auf daß er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser durch das Wort" (Eph 5,25.26). Das tut Er jetzt, obgleich Er sich in der Herrlichkeit befindet. 

Die Quelle all Seines Tuns ist die Liebe. Er dient willig und gern zur Errei­chung des Zweckes, den Er im Auge hat. Seine Liebe ermüdet nie, trotz all unserer Nachlässigkeit oder gar Gefühllosigkeit. Gereinigt durch Sein kostbares Blut, so stehen wir jetzt vor Gottes Angesicht, und nun ist Er unaufhörlich bemüht, uns durch das Wasser der Reinigung in Seiner Gemeinschaft und im Dienst zu er­halten. Beides, Blut und Wasser, floß, wie wir wissen, aus der durchbohrten Seite hervor. Gesegnete Früchte Seines Todes für uns!

Sollten nicht unsere täglichen Erfahrungen dazu die­nen, unsere Liebe zum Herrn zu vertiefen, Ihn uns im­mer kostbarer und wertvoller zu machen? Sollten sie uns nicht zugleich auch zu größerer Wachsamkeit und Selbstverleugnung anspornen, damit wir Ihm keinen Grund zur Betrübnis geben? "Wer da sagt, daß er in ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat. . . Und jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist" (1. Joh 2,2;3,3). Wie könnten wir unseren Weg nur eine Stunde lang ohne Ihn gehen? Aber wie oft ertappen wir uns bei unwürdigen Gedanken und Gefühlen, von Handlungen gar nicht zu reden! Und doch ist Er unermüdlich beschäftigt, uns rein zu erhal­ten, ganz rein, rein der Gegenwart Gottes gemäß und in Übereinstimmung mit den Beziehungen, in die wir in Ihm gebracht sind. 

Er umgürtet sich zu diesem nied­rigen Dienst, obwohl Er im Himmel ist; Er stellt die Gemeinschaft wieder her und schenkt neue Kraft, Gott zu dienen, und zwar mittels des durch den Heiligen Geist auf uns angewandten Wortes. Wunderbare, unver­gleichliche Liebe, die trotz all unserer Schwachheit und Unwürdigkeit so dienen kann! "Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf daß ihr nicht sündigt; und wenn jemand gesündigt hat‑ wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesum Christum, den Gerechten" (1. Joh 2,1).

Indem wir jetzt durch die Tür des Zeltes eintreten, kommen wir zu dem goldenen Altar. Es gab zwei Altäre: den "ehernen Altar" und den "goldenen Altar". Zweifellos denkt der Psalmist daran, wenn er sagt: "Deine Altäre, Jehova der Heerscharen, mein Kö­nig und mein Gott!" Beide waren aus Akazienholz gefertigt ‑ ein Bild der heiligen, vollkommenen Menschheit des Herrn Jesus. Die Menschwerdung Christi liegt Seinem ganzen Werk für uns sowie allen unseren Segnungen zugrunde. Der eine Altar war mit Erz überzogen, der andere mit reinem Gold. Das Erz ist das Bild der göttlichen Gerechtigkeit in ihrer Ausübung der Sünde gegenüber; das Gold bezeichnet dieselbe Gerechtigkeit, aber mehr in absolutem Sinn, als das, was sie in sich selbst, in Gott ist. In beiden Altären erblicken wir den Herrn Jesus, doch unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten.

Der eherne Altar weist auf den demütigen, niedrigen Jesus von Nazareth hin, wie Er sich nach Seinem eige­nen, freien Willen durch den ewigen Geist Gott ohne Flecken opfert. Die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes nähren sich, wie schon früher bemerkt, mit vollkomme­nem Wohlgefallen von dem Opfer, und Gnade, gren­zenlose Gnade, strömt von dem Gott der Gerechtigkeit dem größten Sünder zu. Es ist ein lieblicher Geruch der Ruhe für Gott: "Gott ist verherrlicht in ihm." Zugleich erblicken wir hier die Grundlage der innigen Beziehungen des Gläubigen zu Gott, dem Vater, seiner Annahme bei Ihm und seiner Gemeinschaft mit Ihm.

Im goldenen Altar sehen wir den einst erniedrigten Jesus gleichsam mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Er ist in dem ganzen Wert und der Kostbarkeit Seiner Per­son und Seines Werkes droben im Heiligtum. Er lebt immerdar, um sich für uns zu verwenden. Der goldene Altar ist das Bild priesterlicher Anbetung. Der süße Wohlgeruch alles dessen, was Christus ist, wird dort dargebracht. Es handelt sich hier nicht um Vergebung, um persönliche Annahme oder Heiligung. 

Diese wichti­gen Fragen finden, wie wir gesehen haben, anderswo ihre Beantwortung. Preis, Dank und Anbetung steigen in Verbindung mit dem goldenen Altar unablässig zu Gott empor. Unsere Gebete und Lobgesänge kommen in dem ganzen Wohlgeruch des aufsteigenden Rauch­werks vor Gott. Wenn das heilige Feuer Gottes das fein zerstoßene Rauchwerk erprobte, so fand es da nur den reinen Wohlgeruch der Kostbarkeit Christi. Nichts als Vollkommenheit ist in dem Menschen Jesus Christus zu finden. Seine Person, Sein Werk, Sein Charakter, Seine Wege ‑ alles, alles ist ein duftender Wohlgeruch für Gott und ‑ Sein Name sei gepriesen! ‑ wir, die Priester Gottes, dürfen nahen und in unseren Lobgesängen und Gebeten dieses Rauchwerk aufsteigen lassen, das so wohlriechend und annehmlich für das Herz Gottes ist.

Vers 4

Nachdem wir so einen Blick auf das geworfen haben, worauf unser herrlicher Psalm Bezug nimmt, begreifen wir, warum der Psalmist nunmehr ausruft: "Glückselig, die da wohnen in deinem Hause! stets werden sie dich loben. " Ja, solche sind in Wahrheit glückselig zu preisen und werden es immer sein. Sie sind Bewohner des Hauses Gottes, nicht nur Besucher. "Ich werde wohnen im Hause Jehovas auf immerdar." Das gilt von all denen, die auf den Herrn Jesus vertrauen. Aber wenn auch die Kinder Gottes, gleich den Söhnen Aarons, alle durch Geburt Priester sind, so sind sie doch leider nicht alle geweihte Priester (vergl. 2. Mose 29); denn nur verhältnismäßig wenige kennen ihren priesterlichen Platz am goldenen Altar. 

Manche von ihnen sind noch im Zwei­fel darüber, ob alle ihre Sünden nach Wurzel und Zweig ausgetilgt sind, sie fürchten sich demgemäß herzuzunahen, geben sich ernsten Zweifeln an einer vollen Rechtfertigung und Heiligung in dem Auferstandenen hin und hoffen kaum, daß eine solche Segnung je ihr glückseliges Teil werden könne. Andere; wieder, und ihre Zahl ist leider nicht gering, kennen wohl ihren gesegneten Platz und ihre reichen Vorrechte in Christus, aber sie sind nicht treu im Wandel, nicht entschieden im Selbstgericht; sie jagen nicht der Heiligung nach, ohne die niemand den Herrn schauen wird. In beiden Fällen kann jener Seelenzustand, der der priesterlichen Weihung und täglichen Reinigung am Becken und der glücklichen Anbetung an dem goldenen Altar ent­spricht, weder erreicht noch genossen werden.

Unser Text ist klar und einfach: "Stets werden sie dich loben." Zweifel, Befürchtungen, unbeantwortete Fragen, Selbstanklagen, alles das gibt es im Heiligtum nicht. Nach Gottes Gedanken müssen alle, die in Chri­stus sind, da sein, wo Er ist; aber nicht alle, die an Christus glauben, wissen, daß sie als solche, die jetzt schon eins sind mit Ihm, auch in Ihm sind. Andere dagegen wissen es, verwirklichen es aber nicht. Nur dann aber können wir loben, wenn der Zustand unserer Seelen der heiligen Stätte entspricht, zu der wir gebracht sind. "Glückselig, die da wohnen in dei­nem Hause! stets werden sie dich loben." In der Nähe Gottes sind wir glücklich und haben Gemeinschaft mit Ihm durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Mit der Betrachtung der Vorbilder des Hei1igen und des Allerheiligsten in ihrer Anwendung auf unsere vollkommene Segnung in Christus könnte man Bände füllen. Wenn wir am goldenen Altar anbeten, so befindet sich auf der einen Seite der Tisch mit den Schaubroten, der Tisch der Gemeinschaft. Wir werden mit dem Brot des Lebens gespeist. Der menschge­wordene, gestorbene, auferstandene und ewig lebende Christus ist der Mittelpunkt und die Quelle unserer Gemeinschaft. Wir sind eins mit Ihm in der Aufer­stehung.

Auf der anderen Seite befindet sich der Leuchter aus reinem Gold, der sein siebenfältiges Licht auf die Gemeinschaft der Gläubigen ergießt. Der Schaft aus reinem Gold deutet auf Ihn hin, der die Quelle alles Lichtes im Zeugnis ist, mittels der Kraft des Heiligen Geistes. Durch den zerrissenen Vorhang hindurch er­blicken wir die Bundeslade. Diese bildete ehedem den großen Mittelpunkt für Israel. Nun ist das Gegenbild, Christus Selbst, unser Mittelpunkt. Mit einem Wort, der Christ ist mitten in den weiten, weiten Kreis der Gnade und Herrlichkeit Gottes hineingestellt; nie kann, nie wird er die Grenzen dieses Kreises erblicken können.

Aus vollem, dankbarem Herzen dürfen wir wirklich in den Ausruf des Psalmisten einstimmen: "Glückselig, die da wohnen in deinem Hause! stets werden sie dich loben".

Vers 5

"Glückselig der Mensch, dessen Stärke in dir ist, in deren Herzen gebahnte Wege sind"! (V. 5). Das große Geheimnis der Stärke in den Wegen Gottes ist die volle Gewißheit Seiner Liebe. Wenn wir die Liebe verstanden haben, die den Herrn Jesus für uns in den Tod gab und die den Heiligen Geist sandte, um uns in die ganze Wahrheit zu leiten, so wer­den wir Gott mit gläubigem Vertrauen gern die Ordnung aller unserer Angelegenheiten auf unserer Reise in die Heimat überlassen. 

Das ist, wenn ich mich so ausdrüc­ken darf, die Stärke Gottes in der Seele, und sie allein gibt dem Herzen Mut und Freudigkeit für den Weg, den Gott uns führt, mag er nun rauh oder eben sein. Was könnte den müden Pilger sonst auf seinem Pfad in den Stand setzen, Loblieder zu singen, was sonst den Märty­rer befähigen, auf loderndem Scheiterhaufen Gott zu verherrlichen? Wohl mag der Weg durch tiefe Wasser führen, aber es ist der Weg Gottes, der Weg zur ewigen Heimat, und ‑ das Herz ist dabei.

Die Wünsche des erneuerten Menschen können, das wis­sen wir, nicht eher völlig gestillt werden, bis er in das Haus des Vaters droben eingegangen ist; doch bis zur Er­reichung dieses herrlichen Ziels muß das Hauptaugen­merk dem Weg dorthin gelten. Hierüber nachzudenken, gibt unseren Herzen Kraft und Mut, unseren Füßen Festigkeit und unserem ganzen Pfade Beständigkeit. Ja, laßt uns nachsinnen über die Worte: "Glückselig, die da wohnen in deinem Hause! . . . 

Glückselig der Mensch, dessen Stärke in dir ist"! Möchten doch alle, die jetzt durch das Tränental gehen, Trost und Kraft in der gesegneten Gemeinschaft mit ihrem Gott und Vater finden! Wer könnte die Fülle des Wor­tes "glückselig" ausdrücken, wenn es so in Verbin­dung mit Gott Selbst steht? Wir dürfen auch nicht den­ken, daß die großen Wahrheiten dieses Psalmes, weil sie in ein jüdisches Gewand gekleidet sind, nicht in ihrer vollen geistlichen Tragweite auf uns anwendbar sind. Gott und Seine Liebe, Christus und Sein Mit­gefühl, der Heilige Geist und Sein Dienst, die Heimat und der Weg dahin ‑ sie alle erquicken das Herz und sind nicht an eine besondere Zeit oder an einen beson­deren Abschnitt der Wege Gottes gebunden.

Gott allein ist die Stärke für die Herzen der Seinigen von Anfang bis zu Ende. Will beispielsweise ein Wande­rer nach langer Abwesenheit in die Heimat zurückkeh­ren, so wird er sein Herz auf den Weg richten, der heimwärts führt. Vielleicht ist die Straße rauh und öde, vielleicht verklagt ihn sein Gewissen wegen mancher Untreue und Pflichtvergessenheit, aber der Gedanke, daß das Vaterhaus am Ende seiner langen Reise liegt, gibt ihm Kraft für den Weg, wie groß auch die Schwie­rigkeiten sein mögen. Sein Herz ist bei der Sache. 

Der Blick auf die Liebe des Vaters läßt ihm den rauhen, steilen Pfad in einem ganz anderen Licht eben und leicht erscheinen. Der lange Weg wird kurz. Die schö­nen, schattigen Straßen und blumigen Pfade, die in andere Richtung führen, haben keine Anziehungskraft für ihn. Einst hatten sie es leider; aber jetzt haben sie es nicht mehr: sie führen nicht zur Heimat, zum Vater­haus, dem Ziel seiner Sehnsucht.

Dieses Bewußtsein ist der Schild des Christen auf seinem Weg zum Himmel: ein unerschütterliches Ver­trauen auf die Liebe seines Gottes und Vaters, mag kommen, was da will, die volle Gewißheit des Herzens, daß Er Sich nicht verändert. Dieser Schild ist unver­letzlich, er widersteht jedem Hieb oder Stoß. Gottes Liebe in einer Prüfung in Frage ziehen, heißt diesen Schild sinken lassen und sein Herz den feurigen Pfeilen des Bösen aussetzen. 

Oft mag dieser oder jener Um­stand den Schein erwecken, als züchtige der Herr im Zorn; aber der Glaube erhebt sich über die Umstände und hält fest, daß alles Liebe, vollkommene Liebe ist. Doch ach! wie oft war der furchtsame Pilger, wenn er auch aufrichtig war, versucht, an der Liebe des Vaters in der Prüfung zu zweifeln! Und wenn er zu zweifeln begann, wie schien da mit einem Mal alle Kraft für die Reise geschwunden zu sein! Es war ihm zumute, als könne er keinen Schritt mehr tun, als müsse er sich nie­dersetzen und bittere Tränen der Verzweiflung weinen.

"Ist das Liebe"? flüstert der Erzfeind dem armen Her­zen zu. "Welchen Zweck könnte es haben, dir diese teure, nützliche und notwendige Person zu nehmen? Wer wird ihren Platz ausfüllen? Niemand auf der Erde! Und das nennst du Liebe? Du sagst, das geschehe aus Liebe zu dir"!? So redet der Lügner von Anfang, und das arme Herz ist geneigt, ihm Glauben zu schenken. ‑ Auch der Schwache und Kranke ist in großer Gefahr. Wie leicht wird auch er, wenn die Prüfung lange währt, wenn die Schmerzen groß, die schlaflosen Nächte zahl­reicher, die Geldmittel immer kleiner werden, zur Ungeduld und harten Gedanken über Gott verführt! 

Ja, die gottlosen Einflüsterungen, die giftigen Pfeile des Feindes dringen tief in die unbewachte Seele ein, besonders tief, wenn das Herz ohnehin schon durch Sorgen und Enttäuschungen gedrückt ist. Nur der Schild des Glaubens vermag solche Pfeile des Bö­sen auszulöschen. Der Glaube wird immer Gott und Seine Wahrheit rechtfertigen, mag der Schlag nun schwer oder leicht zu verwinden sein. Er wird in der köstlichen Wahrheit ruhen, daß die Liebe Gottes heute noch dieselbe ist wie damals, als Er Seinen viel­geliebten Sohn dahingab, um auf Golgatha für uns zu sterben. Und einem solchen Glauben gegenüber sind alle Feinde und Versuchungen machtlos.

Aber nicht nur in schweren, auch in leichten Prü­fungen hat der Feind nicht selten Erfolg, weil der Christ in der Regel viel weniger auf der Hut ist, wenn er die Versuchung nicht oder nur nebensächlich als solche erkennt. Satans Absicht ist stets, das Vertrauen des Gläubigen auf die Freundlichkeit und Liebe Gottes abzuschwächen. Der Weg zum Vaterhaus führt aus der Welt hinaus, und so muß er notwendig von Prüfungen, Enttäuschungen und Schwierigkeiten be­gleitet sein. Wenn wir im Hause Gottes wohnen, kön­nen wir, wie der Psalmist sagt, nur loben; aber auf dem Weg dahin gibt es oft schwere Kämpfe zu bestehen. Ähnlich können wir, wenn wir heute in der Kraft des Heiligen Geistes unser Einssein mit Christus in der Gegenwart Gottes verwirklichen, nur loben und an­beten; aber wenn es sich um die Schwierigkeiten han­delt, denen wir im Leben zu begegnen haben, gibt es vielleicht viel zu erkennen und für vieles zu beten und zu bitten.

Nehmen wir wieder ein Beispiel, und zwar einen Fall, der gar nicht selten vorkommt. Ein Mensch bekehrt sich. Er hat eine gute, einträgliche Stelle; aber kaum hat er begonnen, dem Herrn zu gehorchen, so erheben sich ernste Schwierigkeiten. Bis dahin ging jahrelang alles glatt und gut; aber mit seiner Bekehrung ist eine Veränderung eingetreten. Mit einem Mal wird es frag­lich, ob er seine Stelle behalten kann. Er geht jetzt in den Wegen Gottes, Seinem Wort gemäß, und siehe da, es zeigt sich bald, das manches, was schon früher von ihm verlangt und auch unbedenklich getan wurde, nun im Licht des Wortes Gottes Bedenken hervorruft. Vie­les hat ein anderes Ansehen bekommen. Warum? Weil das Wort Gottes jetzt die einzige Richtschnur für seinen Wandel, für sein ganzes Tun und Lassen bildet. Solange er den herkömmlichen Gewohnheiten gemäß seinen Weg ging, gab es kein Kreuz, keine Leiden und Trübsale.

 Aber nun kommen sie; überall stößt er an und findet Widerspruch. Seine Glaube wird auf eine ernste Probe gestellt. ‑ Ähnlich ist es, wenn ein Gläubiger durch Gottes Gnade erkennt, was Men­schensatzung und fleischliche Religion ist, und dahin gebracht wird, mit der Überlieferung zu brechen und sich nur durch das Wort Gottes leiten zu lassen. Er wird sofort den Unterschied merken. Treue Entschie­denheit und rückhaltlose Unterwerfung unter Gottes Wort werden seiner Umgebung bald unbequem und schließlich unerträglich. Die Folge ist Widerspruch und offene Feindschaft. "Alle aber auch, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, werden verfolgt werden" (2. Tim 3,12).

In den eben beschriebenen Formen muß das Kreuz in der heutigen Zeit oft aufgenommen werden. Der Feind benutzt das gern, um besonders den jungen Christen zu entmutigen. Es kann dahin kommen, daß der Gläubige in Not gerät, ja, daß alles gegen ihn zu sein scheint. Seine Lage wird fortgesetzt aussichtsloser und schwie­riger; tiefe Dunkelheit umgibt ihn. Kein Wunder, wenn er bange zu fragen beginnt, ob er wohl den richtigen Pfad eingeschlagen hat, ob er wirklich unter göttlicher Leitung steht. Selbst seine nächsten Freunde und Ver­wandten verstehen ihn nicht mehr; sie werfen ihm vor, er nehme es zu genau, er nehme die Bibel zu wörtlich. Jede Stütze bricht; alle irdischen und fleischlichen Hilfsquellen schwinden und versiegen. Gott allein bleibt übrig!

Der Gläubige hat das Tränental betreten; nicht nur den Ort der Prüfung, sondern, wie der Name besagt, das Tal der Tränen. Er kommt in tiefe Seelen­übungen vor Gott. Das eigene Ich wird gerichtet. Doch die Übungen der Seele, mehr noch als die Prü­fung selbst, machen dieses Tal zu einer Quelle, graben die Brunnen, aus denen ihm erfrischende, erquickende Wasser zufließen. Der Gläubige hat entdeckt, daß der Wunsch, zur Verherrlichung Gottes zu leben, glänzende irdische Aussichten zerstören und schöne, vielverspre­chende Umstände in Trübsale verwandeln kann. Die Stätte der Anerkennung und des äußeren Wohlergehens hat sich in einen Platz der Demütigung und Sorge ver­wandelt. 

Die Versuchung ist schwer, die Tränen fließen. Und dennoch, ein einfältiger, kindlicher Glaube macht den ödesten Teil der Wüste zu einem Fruchtgefilde, und da, wo nichts als Enttäuschung und Trübsal zu er­warten war, brechen reiche Segensströme hervor. Wehe aber dem Gläubigen, wenn er unter die Macht der Um­stände gerät und hilfesuchend auf die Welt oder das Fleisch blickt! Dann büßt er den Frieden seines Her­zens und die Freude seiner Seele völlig ein. Seine Trä­nen werden immer bitterer und fließen immer reich­licher; denn eine solche Prüfung genügt ohne Zweifel, den stärksten Glauben, das tapferste Herz auf die Probe zu stellen, besonders wenn die Antwort auf das heiße Flehen lange auf sich warten läßt. Aber unser Gott will, daß wir in allen Lagen allein auf Seine Liebe vertrauen und lernen, was Er für uns ist, wie schmerz­lich auch der Weg sein mag.

Vers 6

"Durch das Tränental gehend, machen sie es zu einem Quellenort; ja, mit Segnungen bedeckt es der Frühregen" (V. 6). Das ist der Weg Gottes, uns aus der Welt herauszuführen; deshalb muß er von Prü­fungen für das Fleisch begleitet sein. Satan ist der Fürst dieser Welt, wenn auch ein besiegter Fürst, und ihm und seinem Reich muß die Stirn geboten werden. Das ist nicht leicht. Die stärksten Bande, die uns mit den Kindern dieser Welt verbinden, müssen zerschnitten werden, oft selbst die innigsten Herzensbeziehungen abgebrochen werden. Die Bezeichnung "Tränental" hat deshalb ihre volle Berechtigung. Der Weg vieler Chri­sten ist oft lange Zeit hindurch von Tränen benetzt. 

Etwas weniger Treue und Entschiedenheit könnte ihn vielleicht etwas erträglicher machen; aber jede Untreue in dieser Hinsicht hindert das gute Werk Gottes in der Seele und zerstört ihr anfängliches Glück. Der Götze des Herzens muß aufgegeben, das Herz muß völlig und rückhaltlos Christus eingeräumt werden. Vielleicht fließen dabei auf jedem Schritt Tränen; aber so ist der Weg nach Zion. Selbst dem Geistlichsten und Hinge­bungsvollsten unter dem Volk des Herrn bleiben die Übungen des Tales der Tränen nicht erspart. 

Ich darf hier auf zwei Beispiele aus der Schrift aufmerk­sam machen: auf den Dorn im Fleische des Apostels Paulus und auf den Trauerfall im Haus der Schwestern in Bethanien. Der Dorn im Fleisch war offenbar sehr demütigend für den großen Apostel. Das geht aus seinen eigenen Worten an die Galater hervor: " Und meine Ver­suchung, die in meinem Fleische war, habt ihr nicht verachtet, noch verabscheut" (Gal 4,14). 

Er muß mit einer Schwäche behaftet gewesen sein, die ihn als Pre­diger des Wortes Gottes verächtlich machte. Ohne Zweifel dachte er, daß ihm dies bei der Ausübung des Dienstes sehr hinderlich sein würde; doch er mußte ler­nen, daß das Fleisch das größte Hindernis ist, wenn es sich darum handelt, dem Herrn und Seinem Werk von wahrem Nutzen zu sein. Dreimal betete er um die Entfernung des Dornes, wie wir in 2. Korinther 12 le­sen: "Und auf daß ich mich nicht durch die Überschwenglichkeit der Offenbarungen überhebe, wurde mir ein Dorn für das Fleisch gegeben, ein Engel Satans, auf daß er mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe. Für dieses flehte ich dreimal zum Herrn, auf daß er von mir ab­stehen möge".

Welch eine ernste, wichtige Unterweisung liegt hierin für alle Diener des Herrn! Das Fleisch ist unverbesser­lich schlecht. Es wird sogar einen schlechten Gebrauch von den reinsten Gnadenerweisungen Gottes machen. Paulus hätte sich damit brüsten können, in den dritten Himmel entrückt worden zu sein, dahin, wo außer ihm niemals jemand gewesen war. Aber der Herr in Seiner unendlichen Gnade kam der Gefahr, in der Sein treuer Diener schwebte, dadurch zuvor, daß Er ihn demü­tigte. Sicherlich hätte Er der Gefahr auch auf andere Weise begegnen können, aber das war der Weg Seiner Liebe und Weisheit. Es war eine schmerzliche Lektion für den Apostel; aber sie war nötig. Wir sehen daraus, daß das Fleisch selbst bei den hervorragendsten und treuesten Zeugen nur ein Hindernis für den Dienst ist. Wie notwendig ist es daher, täglich die alte Natur zu richten und täglich in der Gnade zu wachsen, indem man aus der Fülle des Christus lebt!

Das Tal der Demütigung und des Kummers wurde für den Apostel die Stätte der Segnung: "Und er hat zu mir gesagt: Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht." Sobald er diese gnädigen Worte vernommen hatte, flehte er nicht länger um die Entfernung des Dorns. Nein, jetzt rühmte er sich dessen, was so schmerzlich und de­mütigend für ihn war:

  "Daher will ich am allerlieb­sten mich vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, auf daß die Kraft des Christus über mir wohne." Jetzt ruhte er in der Liebe, die alles für ihn im voraus so angeordnet hatte, sowie in der Allgenugsamkeit des Herrn, der mit ihm war. So fand er, daß das Tal der Trä­nen eine Quelle reichen Segens für ihn wurde; der Frühregen von oben bedeckte es mit Segnungen. Als er in den dritten Himmel entrückt worden war, hatte er den Herrn dort gefunden, und als er wieder auf die Erde zurückkehrte, fand er denselben hochgelobten Herrn auch hier. Welch eine Nähe, welch eine vertraute Gemeinschaft mit dem Herrn! 

Er kannte Ihn jetzt im Himmel und auf der Erde, in der Höhe und in der Tiefe. Welch eine Erfahrung: ein Mensch in Christus wird in den dritten Himmel entrückt, und Christus ist mit einem Menschen an dem Ort, wo die Schwachheit und das Elend der Natur sich offenbaren! Nichtsdestoweniger befand sich Paulus im Tränental; aber er machte es zu einer Quelle, und Segnungen vom Himmel her bedeck­ten es weithin. So empfangen wir den reichsten Segen aus den Ereignissen und Umständen, die uns demüti­gen, uns aber auch lehren, daß es für den Herrn weder Schwierigkeiten noch Unmöglichkeiten gibt.

Auch die Schwestern in Bethanien litten unter dem Druck ihrer Not. In ihrer tiefen Bedrängnis rechneten sie auf die Liebe und das Mitgefühl des Herrn. Sie sen­den zu Ihm und lassen Ihm sagen: "Siehe, der, den du lieb hast, ist krank. " Aber anstatt ihrer Bitte und dem heißen Wunsch ihrer Herzen zu entsprechen, scheint der Herr sich eher von ihnen abzuwenden und anderswohin zu gehen. Solches Zögern ist oft eine schwere Prüfung für den Glauben und die Geduld. Aber Er lehrte sie, Seine Zeit abzuwarten und allein auf Ihn zu harren. Wir können den Herrn nicht zur Eile anspornen. "Als er nun hörte, daß er krank sei, blieb er noch zwei Tage an dem Orte, wo er war. Danach spricht er dann zu den Jüngern: Laßt uns wieder nach Judäa gehen." Die beiden Schwestern gingen in der Tat durch ein Tränental.

Doch der Herr kann sich nicht verändern. Diese kost­bare Wahrheit kannten wohl auch Maria und Martha. Aber ihre Gefühle waren mächtiger als ihr Glaube; ihre Herzen erlagen dem Druck der Umstände. Und so scheuten sie sich nicht, den Herrn dafür zu tadeln, daß Er nicht unmittelbar auf ihre Bitte herbeigeeilt war. Beide sagen zu Ihm, als Er endlich kommt: "Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben." Doch es waren größere Dinge, als einen Kranken zu heilen, die Seinen Geist jetzt beweg­ten. 

Er hätte nur einige Worte zu sprechen brauchen, gerade wie bei anderen Gelegenheiten, und Lazarus wäre geheilt worden; aber nein, Er handelte "um der Herrlichkeit Gottes willen, auf daß der Sohn Got­tes durch sie verherrlicht werde". Und als die rechte Zeit gekommen war, nahm Er in der Macht und Herr­lichkeit der Auferstehung Seinen Platz auf dem Schau­platz des Todes ein. Lazarus ist tot, die Schwestern sind beraubt und trostlos, aber der Herr ist aller Not ge­wachsen. Die ganze Seele wird mit Seiner Herrlichkeit erfüllt. Die geöffnete Gruft, der aus ihr hervorkom­mende Lazarus ‑ alles läßt Seine Herrlichkeit als Sohn Gottes widerstrahlen.

 Der Ruf: "Lazarus, komm heraus"! dringt in die Tiefe des Grabes, und der schlafende Staub erwacht. Welch ein Zeugnis für die ungläubigen Juden! Welch ein Tadel für den Unglauben der Martha und Maria, ja, für unser aller Unglauben in der Zeit des Leidens und der Kümmernis! Er gibt Leben, weckt den Toten auf, verherrlicht Gott und ver­mischt Seine Tränen mit denen der Leidtragenden. In dieser wunderbaren Szene erblicken wir die vollkom­menste Entfaltung der Allmacht Gottes, aber auch die zärtlichsten Regungen menschlicher Liebe. Wie wird hier allen Bedürfnissen des Herzens entsprochen! Welch eine Fülle von Segnungen ergießt sich von oben her über alle Pilger, alt oder jung, für ihre Reise durch dieses Tal der Tränen!

Vers 7

"Sie gehen von Kraft zu Kraft; sie erschei­nen vor Gott in Zion " (V. 7). Ja, wahrhaft gesegnet ist der Weg, ob rauh oder glatt, der zu einem solch herr­lichen Ziele hinführt, der die Pilger "vor Gott in Zion", dem Mittelpunkt der Gnade und Herrlichkeit, erschei­nen läßt. Aber ist es nicht seltsam, daß der Pilger für eine derartige Reise Kraft im Tränental, dem Ort der Selbst­verleugnung finden soll? So scheint es allerdings auf den ersten Blick; aber bei näherem Zusehen erkennen wir, daß er sie in der gleichen Art nirgendwo anders finden könnte. 

Wir empfangen Kraft durch den Glauben an den auferstandenen Christus und dadurch, daß wir unsere alte Natur durch Seinen Kreuzestod für gekreuzigt hal­ten. Nicht eher wird die Kraft Gottes in uns vollbracht, als bis wir in die große Wahrheit von dem Kreuz und der Auferstehung Christi eingedrungen sind. Und diese ge­segnete, obgleich das eigene Ich völlig zerbrechende Be­lehrung finden wir im Tränental. "Wenn ich schwach bin", sagt der Apostel, "dann bin ich stark". Wir gehen gleichsam von Schwachheit zu Schwachheit und doch von Kraft zu Kraft; denn gerade in der gefühlten, bewußten Schwachheit liegt die Kraft.

Dies ist sorgfältig zu beachten. Es gibt wohl keine Wahrheit, die für den Weg des Christen von größerer praktischer Bedeutung ist, und auch keine, fürchten wir, die weniger verstanden wird. "Meine Kraft", sagt der Herr, "wird vollbracht", nicht: "in meinem Apo­stel" oder "in meinem Knecht" oder "in meinem Jün­ger", sondern: "in Schwachheit". Wir müssen uns unserer Schwachheit bewußt werden und sie anerken­nen, ehe wir erfahren können, was Kraft ist. Aber ach! wie lang brauchen wir, um nur ein wenig von die­ser Wahrheit in uns aufzunehmen, obwohl wir einen solch gnädigen, göttlichen Lehrmeister haben!

Beachten wir wohl das große Hindernis, das einem Emporsteigen aus der niedrigsten Klasse der Schule Christi in eine höhere entgegensteht. Warum weigert sich die aus ihrem Sündenschlaf kaum erwachte Seele, dem Wort Gottes zu glauben, während sie doch unter Tränen und Seufzen danach verlangt, Seine Gedanken zu verstehen? Gerade deshalb, weil ihr das eigene Ich im Wege steht und das am Krenz vollbrachte Werk noch nicht von ihr verstanden wird. 

Dem eigenen Ich und seinen Gefühlen wird mehr Beachtung und Ver­trauenswürdigkeit beigemessen als dem Wort Gottes selbst. Was für ein Platz wird damit den rein mensch­lichen Gefühlen eingeräumt! Wie oft haben wir von sol­chen Menschen die Worte vernommen: "Wenn ich nur fühlen könnte, daß mir Vergebung zuteil geworden ist, dann wollte ich gern glauben." Aber das ist nichts anderes als die Sprache des eitlen, ungerichteten Ichs. Es sitzt, wenn auch unbewußt, auf hohem Thron und beurteilt alles als unter ihm stehend. Man hat seine mißtrauische Natur und seine Widersetzlichkeit gegen Gott noch nicht entdeckt. Und solange das nicht der Fall ist, kann selbstverständlich von Frieden, Ruhe und freudiger Heilsgewißheit keine Rede sein. Im Ge­genteil droht oft finstere Verzweiflung die Seele zu verschlingen und zwar werden die Finsternis und Ver­zweiflung genau im Verhältnis zu der Tiefe und Gründ­lichkeit des Werkes Gottes in der Seele stehen. 

Je tiefer und gründlicher das Werk ist, desto größer ist die Not; und dieser Zustand muß solange andauern, wie der Stimme des Ichs Gehör geschenkt wird. Die Mitteilung der herrlichsten, gesegnetsten Dinge, der kostbarsten Wahrheiten aus dem Schatz des Wortes Gottes nützt nichts, bis das Ich als durch das Kreuz völlig gerichtet und verurteilt erkannt und beiseite gesetzt wird. Wie lange aber weigert es sich nachzugeben! Es will wohl Gottes Wort als wahr anerkennen; aber es wendet ein: "Es ist doch nicht wahr für mich; denn ich habe doch keine Änderung in mir erfahren, die mich berechtigt zu glauben, daß es für mich wahr ist." Diese Sprache klingt demütig, aber in Wahrheit beruht sie auf Stolz; das ungebrochene Ich widersteht Gott und Seinem Wort. 

Aber, dem Herrn sei Dank! Er überläßt die Seele nicht ihrem Schicksal. Der Kampf dauert an, bis sie endlich zusammenbricht. Gott kann in diesem Punkt nicht nachgeben, die Seele muß es tun. Es mag sein, daß es erst nach vielen Tränen, Seufzern und schlaflosen Nächten geschieht; doch Gott wartet gedul­dig und treu, bis Seinem Wort ohne Veränderung der inneren Gefühle Glauben geschenkt wird. Und dazu muß es kommen, früher oder später. Zuweilen ist der Kampf kurz, in manchen Fällen aber währt er das ganze Leben lang. Das hängt ganz von der Einfalt des Glaubens ab; denn die so heiß begehrten Gefühle kön­nen nur durch das im Herzen aufgenommene, geschrie­bene Wort hervorgebracht werden. O daß wir jeden Müden überreden könnten, das Ich aufzugeben, von sich und seinen Gefühlen abzublicken und nur auf dem zuverlässigen Wort Gottes zu ruhen! Das ist der Weg, um Ruhe, Friede und Freude zu finden und Kraft für den Dienst des Herrn zu empfangen!

Die praktische Bedeutung dieses Punktes kann kaum überschätzt werden. Tausende von wahren Gläubigen bleiben in einem Zustand der Ungewißheit, weil sie sich mit ihren Gefühlen beschäftigen, anstatt einfach auf das Wort Gottes zu hören. Die notwendige Folge ist, daß sie nur ein schwaches Zeugnis für Christus ab­legen und Ihm nur wenig dienen können; sie sind so sehr mit dem armen, unnützen Ich beschäftigt, daß sie das wirklich Nützliche und Gute aus dem Auge verlie­ren. Und so gewinnt der Feind einen Vorteil. 

Möchten wir doch stets daran denken, daß aller Segen für uns nur aus Gottes Gnade kommt, und daß der Segen nur auf Seinem Wort ruhen kann! Dieses Wort aber kann nie wahrer und klarer werden, als es jetzt ist. Freilich lernen wir es erst nach und nach besser verstehen; aber unser Verständnis des Wortes ist die Frucht, nicht die Grundlage des Glaubens. Der Glaube beugt sich unter das Wort Gottes und besiegelt, daß Gott wahrhaftig ist. Das Eindringen in die Tiefen des Wortes, das Entdecken und Heben seiner Schätze kommt erst später.

"Dein Glaube hat dich gerettet", so lautet das einfache Wort Gottes an alle, die zu Christus kom­men. Wenn wir zur Erkenntnis dessen gelangt sind, was wir als Sünder nötig haben, und nun an den Herrn Jesus glauben, so ist die völlige Segnung Gottes unser Teil. "Glückselig alle, die auf ihn trauen!" Der Glaube nimmt das Wort an, weil Gott es sagt, und die Gefühle kommen dann von selbst. Die im Glauben aufgenommene gute Botschaft erfüllt die Seele mit un­aussprechlicher Freude. Sobald das Ich zum Schweigen gebracht ist und Gott den richtigen Platz im Herzen empfangen hat, genießt der Gläubige gewissermaßen die Freuden des Himmels selbst. Das kostbare Wort Gottes wird dort nicht wahrer sein als es hier ist. 

Daher sollten wir schon jetzt unsere Segnung so voll­kommen kennen ‑ (wenn auch noch nicht in der gan­zen Fülle) ‑ wie wir sie dann kennen werden, wenn wir in der Herrlichkeit gekrönt sind. Um jedoch diesen glücklichen Seelenzustand genießen zu können, muß über das Ich oder das Fleisch das Todesurteil geschrie­ben sein, und es muß allezeit im Tod gehalten werden. Dieses notwendige Werk beginnt mit der Bekehrung und hört nicht auf, solange wir auf der Erde sind. Es gründet sich auf das Kreuz, wo Gott nicht nur unsere vielen Sünden auf Jesus legte, sondern auch "die Sünde im Fleische verurteilte" (Röm 8,3).

Wenn das Ich zusammengebrochen ist, gehen wir von Kraft zu Kraft, bis wir vor Gott in Zion erscheinen. Wir sind dann von der quälenden Knechtschaft der Beschäftigung mit uns selbst befreit. Das Herz ist glücklich in der Freiheit Christi, und wir pilgern, wenn auch unter äußerem Druck, fröhlich heimwärts, und unser tägliches Teil sind große Segnungen. "Glückselig der Mensch, dessen Stärke in dir ist, in deren Herzen gebahnte Wege sind"! ‑ So wird uns in Vers 6 der Charakter des Heimwegs dargestellt: ein Tränental, aber zu einer Quelle gemacht, ja, mit Segnungen von oben bedeckt. 

Der 7. Vers aber zeigt uns die kostbaren Früchte und die reichen Erfahrungen der Wüstenreise: der Gläubige geht von Kraft zu Kraft, und er erscheint vor Gott in Zion. Alle Männlichen aus den Stämmen Israels mußten dreimal im Jahr vor Gott in Jerusalem erscheinen. Gottesfürchtige Frauen, wie Hanna und Maria, scheinen auch regelmäßig dorthin gegangen zu sein, obwohl sie nicht durch das Gesetz dazu verpflich­tet waren. "Dreimal im Jahr sollen alle deine Männlichen vor Jehova, deinem Gott, erscheinen an dem Ort, den er erwählen wird: am Feste der ungesäuerten Brote und am Feste der Wochen und am Feste der Laubhütten" (5.Mo 16,16).

Der Psalmist sinnt unter der Leitung des Heiligen Gei­stes in seiner Einsamkeit über diese Reisen nach. Im Geist sieht er, wie die verschiedenen Stämme hinauf­pilgern, um vor Jehova anzubeten. Sein Herz, gleich dem eines jeden treuen Israeliten, verlangt danach, sich mit ihnen zu vereinigen. Sie befinden sich auf dem Weg der Segnung. In dieser Hinsicht richtet sich die geistliche Unterweisung des Psalms an den Christen sowohl wie an den Juden. Die Wege Gottes sind für die Seele immer Wege der Segnung. Zweifellos waren diese jährlichen Feste Zeiten des tiefsten Interesses für Israel.

  "Ich freute mich, als sie zu mir sagten: Las­set uns zum Hause Jehovas gehen! Unsere Füße werden in deinen Toren stehen, Jerusalem!. . . wohin die Stämme hinaufziehen, die Stämme Jahs, ein Zeugnis für Israel, zu preisen den Namen Jeho­vas" (Ps 122)! Die Scharen, die nach Jerusalem hinauf­gingen, um dort anzubeten, müssen oft sehr groß gewe­sen sein. Das geht z. B. auch aus Lukas 2, 44 hervor: "Da sie aber meinten, er sei unter der Reisegesell­schaft, kamen sie eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten." Die vie­len kleinen Gesellschaften vereinigten sich zu größeren Zügen, je mehr man sich dem herrlichen Ziel der Reise näherte.

Wie wird es da so manches herzliche Wiedersehen, aber auch manche ernste Begegnung gegeben haben! Man war jetzt weit von der Heimat entfernt; aber alle hatten ein gemeinsames Gefühl, eine gemeinsame Freude und eine gemeinsame Hoffnung. Alle waren auf dem Weg zu derselben herrlichen Stadt, zu demselben Tempel und demselben Gott. Und wie groß muß die Freude, das Ent­zücken gewesen sein, wenn die Pilger, ermüdet und er­mattet von der langen Reise, einen ersten Blick auf die Türme und Paläste des geliebten Zion werfen durften! "Schön ragt empor, eine Freude der ganzen Erde, der Berg Zion, an der Nordseite, die Stadt des großen Kö­nigs" (Ps. 48,2). 

Ähnlicher Art, nur noch höher und rei­ner, sind die Gefühle des Christen, die durch die hellen Strahlen seiner glückseligen Hoffnung hervorgerufen werden. Nur dürfen wir nicht vergessen, daß der Christ durch Glauben, nicht durch Schauen wandelt, obwohl es leider in vielen Gläubigen neben dem Geistlichen auch noch ein gut Teil Jüdisches gibt; daher kommt es auch, daß so viele Gläubige dem Fühlen und Tun, samt der Neigung zu äußeren Religionssatzungen und Zere­monien, einen so großen Platz einräumen.

Nur durch G1auben wissen wir, daß wir Vergebung unserer Sünden haben, daß wir von Gott angenommen und völlig mit Ihm versöhnt sind. Und ohne die Kennt­nis dieser drei Tatsachen kann es keine Kraft für die Reise geben, noch können wir uns Gottes gemäß den Reichtümern Seiner Gnade in Zion erfreuen. In Ver­bindung mit dem Glauben ist uns auch der Heilige Geist gegeben, der uns über alles belehrt. "Dies allein will ich von euch lernen: Habt ihr den Geist aus Gesetzeswerken empfangen, oder aus der Kunde des Glaubens" (Gal 3,2)? 

Die große Lehre vom Leben in Christus, die der Apostel in Galater 2 entwickelt, kann ebenfalls nur durch den Glauben an­genommen und genossen werden. "Was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat" (Gal 2,20). Alles das offenbart uns das Wort Gottes, und nicht das Gefühl der Seele. Gewiß werden die Gefühle dem Glauben folgen und der geglaubten Wahrheit entsprechen; Glau­ben und Fühlen gehen zusammen, aber der Glaube muß immer den Vorrang haben. Glaube, Erfahrung und Verwirklichung im praktischen Leben bilden gleichsam die dreifache Schnur wahren Christentums.

Gott gebe, daß wir das mehr begreifen und unter uns praktizieren und jenes wunderbare Wort tief in unseren Herzen bewahren: "Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt" (Phil 4,13)! Aber ich möchte auch betonen, daß wir nur durch den Glauben an den auferstandenen Christus von Kraft zu Kraft gehen können. Der auferstandene und verherrlichte Christus, der Sieger über jeden Feind, ist die Kraft des Christen für seine Reise durch diese Welt. Sein Be­weggrund Gott in Hingebung und Treue zu dienen, ist der einst so tief erniedrigte, demütige Jesus (Phil 2), und seine Kraft für den Wandel ist der jetzt zur Rech­ten Gottes erhöhte Christus (Phil 3). 

Das Wort: "Er hat mich geliebt und sich selbst für mich hingege­ben" sollte jeden Gläubigen dahin leiten, sein Herz und sein Leben Ihm ganz zu weihen. Und es ist wirk­lich nicht schwer, dem Herrn unsere Herzen zu überge­ben, wenn wir einmal erkannt haben, daß Er Sich Selbst für uns hingegeben hat. Doch unsere Kraft auf dem Weg, von einer Stufe unserer Reise zur anderen, liegt in dem auferstandenen, triumphierenden, verherr­lichten Christus. Der Christ erlangt jede Segnung ‑ sei es Kraft für die Reise, sei es Freude in Gott im himmlischen Zion ­durch den Glauben. Das ist der wichtige Grundsatz, der in der ganzen Geschichte des Gläubigen auf der Erde, in all seinem Tun und Lassen, zur Darstellung kommt. 

Durch Glauben geht er von Kraft zu Kraft, durch Glauben tritt er mittels der Kraft des Heiligen Geistes in die Fülle der Gnade ein. Zion ist das Symbol der königlichen Gnade, d. h. der Gnade, wie sie im Königtum zum Ausdruck kommt (vergl. 2.Sam 5). So richtet sich der geistliche Zustand eines Christen nach der Einfalt und Wirklichkeit seines Glaubens. Der Glaube dringt in alles ein, er ordnet und regelt alles, er drückt allem seinen Charakter auf. "Alles aber, was nicht aus Glauben ist, ist Sünde" (Röm 14,23). Wenn diese wichtige Wahrheit gebührend beachtet wird, so wird sie dem Christen auf seinem Weg häufig ein Halt zurufen. 

Es kommen Zeiten, wo er für den Augenblick kein Wort der Anweisung, keinen gött­lichen Wegweiser hat. Was soll er tun? Soll er ohne Weisung handeln? Sicher nicht. Das würde der Hand­lungsweise seines Herrn nicht entsprechen, der immer wartete, bis das Wort des Vaters an Ihn erging. "Es steht geschrieben: ,Nicht vom Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht."' (Mt 4,4). Das entscheidende Wort war noch nicht ausgegangen, und so wollte der Heiland auch nicht essen. Die Ver­suchung des Teufels wurde abgewiesen. Was müssen Seine Jünger in einem ähnlichen Fall tun? 

Stillstehen und warten. Es ist oft sehr gut und heilsam für die Seele, stillstehen zu müssen. Die Natur wird dann in die ihr gebührenden Schranken gewiesen. Wer ohne eine Weisung von oben handelt, geht von Schwachheit zu Schwachheit, anstatt von Kraft zu Kraft und verliert zugleich das Bewußtsein der Gnade, der königlichen Gnade, völlig. Wer aber auf Gott warten muß, wird ins Selbstgericht geführt: das Auge wird einfältig, der ganze Leib Licht, und dann zieht der Gläubige seine Straße mit Freuden.

Der eben erwähnte Grundsatz, daß der Glaube der Ka­nal ist, durch den dem Christen jede Segnung zufließt, ist bedeutsam; er ist nicht nur auf die Rechtfertigung des Gläubigen anwendbar, sondern auch auf seinen Wandel, mag es sich nun um geistliche oder irdische Gesichtspunkte handeln. Ja, er ist von so hervorragend praktischer Bedeutung, daß in Hebräer 11 bestimmt und deutlich gesagt wird: "Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott wohlzugefallen." Jenes ganze, uns allen so wohlbekannte Kapitel ist eine bildliche Er­läuterung und Bestätigung dieses Grundsatzes, wenn auch die Glaubenszeugen sämtlich dem Alten Testa­ment entnommen sind. Durch G1auben erlangten die Alten ein Zeugnis.

Doch warum soll man diesen Punkt so nachdrücklich betonen? Glauben denn nicht alle Christen dem, was die Schrift sagt? Insoweit gewiß, und von Christen reden wir. Es geht nicht um Rationalisten, sondern um wahre Christen, die an die wörtliche Eingebung der Schrift glauben, an die Worte, die der Heilige Geist lehrt (1. Kor 2,13). Dennoch tritt bei vielen von ihnen ein Umstand in Erscheinung, den wir vielleicht prak­tischen Unglauben nennen können. 

Wie können wir be­ständig im Licht des Vaterantlitzes Gottes wandeln? Nur durch den unbedingten, nicht wankenden noch zweifelnden Glauben an Gottes Wort. Nur so ehren wir unseren hochgelobten Herrn in Seiner Person und Sei­nem Werk, nur so können wir in der Kraft eines nicht betrübten Geistes leben und handeln. Das kann nicht nachdrücklich genug betont werden. Woher kommen alle jene Zweifel, Unsicherheiten und Verlegenheiten, die den Lauf mancher Christen von Anfang bis zu Ende begleiten? Nicht durch den praktischen Unglau­ben, der noch im Herzen versteckt liegt? Und sind nicht alle diese Mängel unwürdig für einen Christen, der in ein so nahes, inniges Verhältnis zu Gott, in das Verhältnis eines Kindes zum Vater gebracht ist?

Ist die Wahrheit Gottes nicht bestimmt und unveränder­lich? Warum sollte denn das, was wir Glauben nennen, unbestimmt, ungewiß und schwankend sein? Freilich verlangt das Wort Gottes ein geduldiges Erforschen un­ter Gebet und Flehen in Abhängigkeit von dem Hei­ligen Geist, und es mag lange dauern, bis wir tiefer in die Schriften eingedrungen sind, wenn wir sie über­haupt je auf dieser Erde verstehen lernen. Die Wahr­heit ist sicher in klarer Weise geoffenbart, aber sie tritt selbst für den geistlich Gesinnten deswegen doch nicht immer auf den ersten Blick klar und offen zutage. "Wir erkennen stückweise, und wir prophezeien stückweise." Aber sollte uns unsere Unwissenheit, un­ser schwaches Verstehen der Wahrheit davon abhalten, ihr zu glauben? 

Wenn die Gnade in der Seele wirkt, so erhebt sich der Glaube über alle Schwierigkeiten und ergreift die Wahrheit, gerade weil Gott sie geoffenbart hat, und empfängt auf diesem Weg reichen Segen. Wir erweisen der Wahrheit Gottes wenig Ehre, wenn wir uns sträuben, sie in aller Einfalt und mit ganzem Her­zen anzunehmen, nur weil wir sie nicht verstehen kön­nen. Hierin zeigt sich unsere Torheit und unser Stolz; nichtsdestoweniger bleibt es wahr: "Wenn jemand sei­nen Willen tun will, so wird er von der Lehre wis­sen, ob sie aus Gott ist" (Joh 7,17). Wenn wir von dem Wunsch beseelt sind, Christi Willen und nicht unseren eigenen zu verwirklichen, so werden wir sichere, wenn auch nicht immer schnelle Fortschritte machen.

"Wenn ich die Wahrheit sage", antwortete einst un­ser geliebter Herr den Juden, "warum glaubt ihr mir nicht?" Es handelte sich also gar nicht um die Frage, ob sie das, was Er sagte, verstanden, sondern darum, ob es die Wahrheit war. Glaube ist demnach das bedingungslose, nicht zweifelnde Fürwahr‑Anneh­men dessen, was Gott uns in Seinem Wort mitteilt. Doch haben wir nicht oft bei der Ausübung des Selbst­gerichts bemerkt, daß uns der unbedingte Glaube an gewisse große Wahrheiten des Wortes Gottes abging, weil wir sie nicht verstanden, oder, wie wir uns häufig ausdrücken, weil wir sie nicht verwirklichen konn­ten? Doch was ist das eigentlich? Es ist Unglaube. Ein einfältiger Glaube nimmt Gottes Wort als unbedingt wahr an, mag er es verstehen oder verwirklichen kön­nen oder nicht.

In der Überzeugung, daß es dem einen und anderen unserer Leser nützlich sein könnte, soll versucht wer­den, das an Hand einiger Schriftstellen näher zu erläu­tern. Zitiert sei zunächst die wohlbekannte Stelle in 1. Johannes 1: "Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde." Das ist eine der allerersten Wahrheiten, die ein geistlich aufgewach­ter Mensch lernen muß, wenn sein Weg in der richtigen Weise beginnen soll. Aber wie wenig dringen oft sogar solche, die schon seit langen Jahren bekehrt sind, in diese große Wahrheit ein, obwohl das doch sehr einfach ist. Und was ist die Folge, wenn die Wahrheit in ein­fältigem Glauben angenommen wird? 

Die völlige Ge­wißheit, daß weder Sünde noch irgendein Flecken auf der Seele zurückgeblieben ist. Die Seele hat kein Gewis­sen mehr von Sünden, sie befindet sich "in dem Lichte", "wie Gott in dem Lichte ist". Das strahlende Licht des Himmels enthüllt nicht den geringsten Flecken mehr an einer Seele, die durch das Blut Christi gereinigt ist. Das Wort Gottes sagt klar und eindeutig: "alle Sünde", nicht: "einige Sünden". Der Glaube nimmt das als unbedingt und unveränderlich wahr an, eben weil das Wort Gottes es sagt. Sobald sich das Auge aber auch nur für einen Augenblick von der Wahrheit abwendet, wird auch schon der Zweifel laut:

"Wie ist das möglich? Wie kann ich ein solches Wort verstehen, da ich doch täglich sehe, wie sehr ich zum Sündigen ge­neigt bin?" Der Glaube allein weiß eine Antwort auf solche Fragen. Er urteilt, daß beides wahr ist, das eine wie das andere; denn es steht geschrieben: "Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst." Aber diese Aussage gehört in einen ande­ren Zusammenhang, stellt eine andere Wahrheit dar, und man darf niemals eine Stelle so anwenden, daß dadurch die Kraft einer anderen abgeschwächt oder sie gar als unwahr hingestellt wird. So handelt der Un­glaube des Herzens, der auf die verderblichen Ein­flüsterungen Satans hört, und die Seele muß auf der Hut sein, damit sie nicht in diese Schlinge hineingerät und den schwächenden und entmutigenden Einflüssen dieser Art von Unglauben anheimfällt.

Hüte dich, lieber Leser, daß du nicht die Grundlage, auf der dein Friede mit Gott ruht, verlierst. Christus hat Frieden gemacht durch das Blut Seines Kreuzes. Der Friede braucht nicht mehr gemacht zu werden. Sein Name sei ewig dafür gepriesen! So ehre Ihn durch das unerschütterliche Vertrauen deines Herzens! Schließe immer von dem Herzen Gottes zu dir herab, nie von den Gefühlen deines Herzens zu Ihm hinauf. Der Geist der Wahrheit hat gesagt: "Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde." Wer sind diese "uns"?

 Alle, die an den Herrn Jesus glauben. Diese herrliche Wahrheit halte fest. Erlaube nicht, daß die Überlegungen deines Herzens oder andere, dieser Wahrheit scheinbar widerspre­chende Teile des Wortes Gottes ihre Kraft in deiner Seele abschwächen! Gott hat gesagt: "alle Sünde". Das Wort mag schwierig zu erklären oder zu verstehen sein, es mag deiner eigenen Erfahrung widersprechen und sich völlig unterscheiden von dem, was du von anderer Seite gehört oder bisher für wahr gehalten hast; aber es ist die ewige, göttliche Wahrheit. Darum laß ruhig alles übrige fahren.

 Nichts kann wahr oder gut sein, was der Wahrheit Gottes widerspricht. Bedenke wohl: Der reinigenden Kraft des Blutes Jesu Christi, des Sohnes Gottes, sind keine Grenzen gesetzt. Fürchte dich nicht, in ihr zu ru­hen und sie anderen zu verkündigen. Auch wenn der Himmel sein volles Licht auf dich werfen würde, wenn alle irdischen Ankläger sich um dich versammeln wür­den, um deine vielen Sünden aufzuzählen, ja wenn du selbst als Zeuge gegen dich auftreten müßtest‑ auch dann könnte der Glaube sich in der vollen Kraft des Wortes Gottes erheben und in dem Vertrauen, das die Wahrheit verleibt, bezeugen: Meine Sünden sind sämt1ich vergeben; sie sind alle hinweggetan. Gott sieht sie nicht mehr, keine Spur von ihnen ist zurück­geblieben:

  "Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Got­tes, reinigt uns von aller Sünde." Das sind Gottes Gedanken, daß ist Sein Urteil über mich. Er kann es aussprechen, und ich bin verpflichtet, es im Glauben anzunehmen. Ja, ich wiederhole mit allem Nachdruck: Für die reinigende Kraft des Blutes Jesu Christi, des Sohnes Gottes, gibt es keine Grenzen! Könnte ein Feind mir noch viel mehr Sün­den entgegenhalten, Millionen mehr, als ich kenne, so dürfte ich doch kühn antworten: Alles, was unter die Überschrift Sünde gesetzt werden kann, ist hinweg­getan, getilgt für immer und ewig. Das Licht des Him­mels selbst ist mein Zeuge: ich bin in dem Licht, wie Er in dem Licht ist, und zwar Kraft des kostbaren Blutes Christi.

"Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe", nicht nur in den Himmel, sondern zu Gott. Das ist Glaube, unbeding­ter, nicht zweifelnder Glaube an Gottes Wort, und auf diesen Glauben hat Gott Anspruch bei allen Seinen Kindern. Möchte ein solcher Glaube bei allen Gläubi­gen zu finden sein! Welch ein schönes, würdiges Chri­stentum würden wir dann wahrnehmen anstelle des kümmerlichen und schwachen geistlichen Lebens, dem wir so oft begegnen! In Römer 8 heißt es: "Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind" (V. 1). Inwieweit haben sich Schreiber und Leser diese wunderbare Wahrheit zu eigen gemacht, die in den Worten "in Christo Jesu" enthalten sind? 

Wir glauben diese Worte, und wir danken Gott dafür; aber wer könnte sie erklären oder in sich auf­nehmen, es sei denn auf dem Grundsatz und der Grundlage des Glaubens? Aber selbst der Glaube wird, wenn er sich vom Verstand her oder durch Gefühle be­einflussen läßt, wenig Kraft besitzen, diese Wahrheit zu erfassen und sich ihrer zu erfreuen. Schon ein wenig Unglaube verdirbt den Segen, und der Verstand ist in dieser Hinsicht völlig blind. Nur ein einfältiger, nicht zweifelnder Glaube ergreift und genießt die gesegnete Wahrheit; für ihn ist alles klar und einfach. Gott hat gesprochen, und Er kann sich nicht irren oder täu­schen. Der Glaube nimmt Ihn beim Wort und kann sich so ebenfalls nicht täuschen. Wenn Gott sagt, daß der Gläubige in Christo ist und wenn Christus jetzt im Himmel zur Rechten Gottes sitzt, so befindet sich der Christ in den Augen Gottes auch dort. 

Wenn aber Christus dort in vollkommener Ruhe und Sicherheit ist, so ist es der Christ ebenfalls. Obwohl diese Wahrheit Gottes ohne jede Frage angenommen werden sollte, läßt Gott sich in Seiner Gnade dennoch zu einer Er­klärung der uns beschäftigenden Stelle herab. Der zweite Vers erläutert den ersten: "Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu hat mich freige­macht von dem Gesetz der Sünde und des Todes." Christus ist unser Leben in Seiner Auferstehung und frei von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Der Tod und die Auferstehung Christi haben die große Erlösung für Sein Volk bewirkt. Der Gläubige nimmt diese wunder­bare Segnung persönlich für sich in Anspruch. Es heißt nicht, was sehr bemerkenswert ist, daß das Gesetz des Geistes sie oder uns, sondern "mich freigemacht hat". 

Das ist die Stimme des Triumphes, der Freude an der Erlösung. Jetzt ist der Gläubige frei, so frei, wie die Kraft des auferstandenen Christus ihn freimachen kann, frei von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Er ist nicht länger in dem ersten, sondern in dem letzten Adam vor Gott. So sagt der Apostel in Vers 9: "Ihr seid nicht im Fleische", d. h. in der Stellung des ersten Adam, sondern "in Christo Jesu", d. i. in der Stellung des letzten Adam. Welche herrlichen Worte: "Hat mich freigemacht"; ja, "mich"! Ich, der einst so elende Mensch, dessen Zustand im 7. Kapitel beschrieben wird, bin jetzt der glückliche Mensch des 8. Kapitels, glücklich in Christo, dem auferstandenen, in den Himmel aufge­fahrenen, verherrlichten Menschen. Gott hat es gesagt, der Glaube nimmt es an, und das Herz genießt es mit seliger Freude.

Noch viele andere Schriftstellen ließen sich zur Erläute­rung anführen, aber wir überlassen es dem einzelnen, sich noch weiter mit folgenden Stellen zu beschäftigen: "Gott hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christo Jesu"; "gleichwie er ist, sind auch wir in dieser Welt"; "der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat" (Eph 2,6; 1. Joh 4,17; Gal 2,20).

An Hand des Psalms wollen wir noch einen Augenblick bei dem Gegensatz zwischen Juden und Christen bleiben.

Die Israeliten verließen ihre Wohnstätten und wander­ten durch das Tal nach Zion, der Stadt Davids, um dort vor Gott zu erscheinen. Hier war die Stätte ihrer An­betung. Der Christ aber müht sich sozusagen durch das Tränental hindurch und ruht sich auf dem Berge Zion aus. Das gehört zu den Geheimnissen des Glaubens. Der Realität nach befindet sich der Gläubige in der Welt, der Erfahrung nach in der Wüste, dem G1auben nach im Himmel. Zum besseren Verständ­nis soll folgendes Beispiel dienen.

Ein junger Christ lebt nach seiner Bekehrung in der gleichen Familie wie vorher. Er befindet sich also im allgemeinen in derselben Umgebung; aber wie ganz an­ders erscheint ihm jetzt alles! Das Blut des Lammes ist gleichsam an die Türpfosten seines Herzens gestrichen, und er ist von der Welt getrennt, obwohl er noch in ihr steht. Aber er kann nicht länger an dem weltlichen Tun der Familie teilnehmen, noch in ihren Wegen wandeln. 

Er folgt Christus nach und wird ein Zeugnis für Ihn, und das ist für die anderen Glieder der Familie uner­träglich. Er wird getadelt, daß er zu weit gehe. Die Bande der Zuneigung lockern sich, das frühere Einver­nehmen wird gestört; schließlich ist er ein Fremder in seines Vaters Haus. Das ist Wüsten‑Erfahrung, und sie ist zuweilen recht bitter. Doch inmitten dieser Umstände ist er sich seines Einsseins mit Christus im Himmel bewußt und nährt sich von Ihm dort. Er findet gleichsam Ägypten, die Wüste und Kanaan unter einem Dach. 

Aber mit ihnen findet er auch seinen ge­liebten Herrn und macht die Erfahrung, daß Christus im Blick auf alle drei in göttlicher Weise genügt. Seine Kenntnis von Christus nimmt immer mehr zu. Er weiß nicht nur, daß er mit dem Blut besprengt und dadurch vor den Gerichten, die die Welt treffen werden, be­wahrt bleibt, sondern ihm stehen auch die Wolke, das Manna und das lebendige Wasser, diese drei Begleiter­scheinungen der Wüste, zur Verfügung, und er nährt sich schließlich von der Frucht des himmlischen Ka­naan, "dem Ertrag des Landes". Die Beweggründe für sein Handeln, die Quellen, aus denen er Trost und Kraft schöpft, seine Lebensweise und Lebensziele ‑ alles ist seiner Familie unbekannt und unverständlich. Nur der Glaube kann die Stellung des Christen in die­ser Welt verstehen.

Wenn das Herz für Christus und nur für Christus schlägt, so werden wir gleiche oder ähnliche Erfahrun­gen machen. Christus ist nicht mehr in dieser Welt, und wenn der Christ die Welt für seinen Herrn aufgegeben hat, was hat er dann noch hier? Nichts. Wer alles hier unten für Christus droben aufgegeben hat, kann hier nichts mehr haben. Der Christ ist ein Fremdling in dieser Welt und, was seine Hilfsquellen angeht, allein auf den Herrn angewiesen. Alles muß er von Christus erhalten, der jetzt sein Alles‑in‑allem ist. Mitpilger sind seine Gefährten, und vom Himmel muß ihm alles wer­den, was er nötig hat. So lebt und wandelt er durch Glauben.

  "Was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingege­ben hat" (Gal 2,20). Die Hilfsquellen des Glaubens sind unergründlich und unbegrenzt. Er legt seine Hand auf die reichsten Schätze des Himmels und sagt: "Sie sind mein, mein nach den Rechten und Ansprüchen Christi, mein jetzt und immer." Das ist der Glaube. Nichts ist vor ihm verborgen, nichts Gutes wird ihm vorenthalten. Was die Gnade darreicht, das macht sich der Glaube zu eigen, dessen erfreut sich das Herz, und das stellt das Leben des Gläubigen dar. So ist es dem Grundsatz nach, und Gott gebe, daß es mehr und mehr bei uns auch zur praktischen Darstellung kommt! "Alles ist euer", sagt der Apostel, "ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes" (1. Kor 3,22.23).

Der Ausdruck "Zion" in diesem Vers ist so interessant und bedeutsam, daß er einer näheren Erläuterung be­darf; umsomehr als er von kirchlichen Schreibern oft auf die Kirche angewandt oder doch als sinnverwandt mit dem Ausdruck "Kirche Gottes" bezeichnet wird. Wir halten das für fehlerhaft. "Zion" ist nicht die Kirche, sondern die Königsstadt, der auserwählte Sitz des Königtums Christi während Seiner tausendjährigen Regierung. Die Reihenfolge der Ereignisse, die mit dem allmählichen Emporsteigen Davids, des auser­wählten und gesalbten Königs Gottes, in Verbindung stehen, wirft viel Licht auf die Reihenfolge der Ereig­nisse an jenem noch zukünftigen, herrlichen Tag.

"Sie gehen von Kraft zu Kraft; sie erscheinen vor Gott in Zion." In welcher Hinsicht wir den Berg Zion auch betrachten, ob geschichtlich oder in Verbin­dung mit David oder in gottesdienstlicher Beziehung als Stätte der Anbetung oder prophetisch als den Thron der königlichen Macht und Herrlichkeit des Messias, immer ist Zion ein Ort von großem Interesse und her­vorragender Bedeutung.

Zum ersten Mal wird dieser Berg in Verbindung mit der Geschichte Davids erwähnt, als er König über ganz Israel wurde. "Aber David nahm die Burg Zion ein, das ist die Stadt Davids" (2. Sam 5,7). Damals waren die Philister noch im Land, und das Volk Israel befand sich in der denkbar niedrigsten Verfassung. Sich hatten sich einen König nach ihrem eigenen Herzen gewählt und mußten nun die bitteren Folgen davon tragen. Sa­muel hatte sie treu und eindringlich davor gewarnt und ihnen vorhergesagt, wie sich die Zustände unter ihrem selbstgewählten König gestalten würden. Aber sie hat­ten seinen Rat zurückgewiesen und geantwortet: "Nein, sondern ein König soll über uns sei, damit auch wir seien wie alle Nationen" (1. Sam 8,19.20). 

Das ist die Hartnäckigkeit des eigenen Willens; und niemand ist für guten Rat so unzugänglich, niemand der Gefahr gegenüber so blind wie der Eigenwillige. "Nein, es soll ein König über uns sein." Das en­dete in überwältigendem Unglück. Das wird immer das Ergebnis sein, wenn dem ungebrochenen Willen freier Lauf gelassen wird. Deshalb sollte der Christ niemals und in keiner Lebenslage seinen eigenen Willen um je­den Preis durchsetzen wollen. Andernfalls verunehrt er grob Seinen Herrn, dessen Willen zu vollführen sein einziger Wunsch sein sollte!

Die Juden hatten damals nicht jenes strahlende, leben­dige Beispiel vor Augen, das wir haben. Der Herr, dem wir nachzueifern berufen sind, konnte immer sagen: "Siehe, ich komme, um Deinen Willen, o Gott, zu tun . . . ". "Nicht mein Wille, sondern der Deine geschehe!" Zudem ist das, was infolge seines Eigen­willens und seiner Halsstarrigkeit über das Volk Israel kam, "geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist". 

Laßt uns deshalb auf der Hut sein, daß wir nicht unse­ren eigenen Willen zu verwirklichen suchen! Er ist im­mer verkehrt. Laßt uns auch daran denken, welch eine verblendende und verhärtende Wirkung er ausübt! Augen und Ohren, Vernunft und Herz, alles wird ver­schlossen und fest verriegelt, nur damit dieser Wille freie Bahn hat. Wie oft gibt er selbst dann noch nicht nach, wenn die besten Freunde liebevoll und eindring­lich warnen oder wenn gar völliger Ruin droht! Laßt uns doch Ihn betrachten, der in stetem Gehorsam, in gänzlicher Abhängigkeit vom Vater Seinen Weg ging! Laßt uns Ihm folgen! Er hat uns ein Beispiel hinter­lassen, daß wir in Seinen Fußstapfen wandeln sollen. 

Gottes Wille allein ist gut. Im Himmel werden wir nie­mals unserem eigenen Willen zu folgen suchen; warum sollten wir es hier tun? Und sollte der Herr es einmal zulassen, daß wir unseren Willen bekommen, wie Er es bei Israel geschehen ließ, so mag Er es tun, um uns auf dem Weg schmerzlicher Züchtigungen dahin zu brin­gen, daß wir zu sagen vermögen: "Nicht mein Wille, o Herr, sondern der deine geschehe!" Möchte Er uns deshalb in Seiner Gnade einen unterwürfigen Willen schenken, einen zerschlagenen Geist, ein zartes Gewissen und ein stilles, in Gottes heiligen Willen ergebenes Herz!

Israel hätte kaum in einem Zustand größerer Verwir­rung und tieferen Verfalls sein können, als in der Zeit, da David seinen Thron auf dem Berg Zion aufrichtete. Königtum und Priestertum befanden sich in der größ­ten Unordnung. Das Heiligtum war verunreinigt, das Priestertum verderbt, die Lade Gottes in unwürdiger Umgebung ‑ "Ikabod" stand über der ganzen Szene ge­schrieben; die Herrlichkeit war von Israel gewichen (vergl. 1. Sam 4,21.22). 

Für diesen schrecklichen Zu­stand gab es keine Hoffnung, keine Hilfe in Israel. Doch dann kam Gott in Seiner Barmherzigkeit zu Hilfe. Er berief David, einen Mann nach Seinem Her­zen. Er erwachte gleichsam aus dem Schlaf. Der 78. Psalm redet von diesen Dingen in sehr bemerkens­werter Weise: "Da erwachte, gleich einem Schlafen­den, der Herr, gleich einem Helden, der da jauchzt vom Wein; und er schlug seine Feinde von hinten, gab ihnen ewige Schmach. 

Und er verwarf das Zelt Josephs, und den Stamm Ephraim erwählte er nicht; sondern er erwählte den Stamm Juda, den Berg Zion, den er geliebt hat. Und er baute gleich Höhen sein Heiligtum, gleich der Erde, die er auf ewig gegründet hat. Und er erwählte David, seinen Knecht, und nahm ihn von den Hürden der Schafe; hinter den Säugenden weg ließ er ihn kommen, um Jakob, sein Volk, zu weiden und Israel, sein Erb­teil. Und er weidete sie nach der Lauterkeit seines Herzens, und mit der Geschicklichkeit seiner Hände leitete er sie" (V. 65‑72).

Saul war ein König nach dem Willen des Volkes, David der König nach dem Herzen Gottes. Nicht daß David, der Erwählte Gottes, immer nach dem Herzen Gottes gehandelt hätte; leider hat auch er gefehlt, schwer gefehlt, und er bedurfte der Barmher­zigkeit und der Vergebung Gottes. Nichtsdestoweniger finden wir bei David eine Gesinnung, die den Wün­schen und Gedanken des Herzens Gottes oft wunder­bar entsprach. Und wer fühlte seine Sünde je tiefer als David oder wer bekannte sie unumwundener? Wer rechnete je völliger auf die Güte Gottes zu seiner Ver­gebung und Wiederherstellung? Mit einem Wort, David verstand in besonderer Weise das Herz Gottes und Seine Gnade.

Als er Jerusalem in Besitz genommen hatte, zogen die Philister voll Neid und Eifersucht gegen ihn herauf. Da befragte er Gott, folgte den göttlichen Weisungen, zog aus zum Streit und errang große Siege über sie. Gott war mit ihm. Er lenkte die Bewegungen seines Heeres. Das Volk triumphierte unter der Führung Davids über seine Feinde. Eine große Rettung wurde Israel zuteil. Der Verfall wurde aufgehalten, und Zion wurde zur Hoffnung des Volkes, zum Ruheplatz des Glaubens. Die Gnade Gottes wirkt das alles. Das Volk empfing große Segnungen und erkannte, daß es besser ist, dem Willen des Herrn zu folgen als dem Eigenwillen.

So wurde David ein Vorbild auf den Herrn, nicht nur in Seiner Verwerfung und in Seinen Leiden, sondern auch in Seinen Siegen. Der Herr wird einst unmittelbar vor der Errichtung des tausendjährigen Reiches Krieg mit Seinen Feinden führen. Er wird vom Himmel her­niedersteigen, um den Antichristen und seine Verbün­deten zu vernichten. Auch nachdem Er Seinen Thron in Zion aufgerichtet hat, werden ‑ wie bei David ‑ noch Feinde außerhalb des Lagers zu unterwerfen sein. "Den Stab deiner Macht wird Jehova senden aus Zion; herrsche inmitten deiner Feinde" (Ps. 110, 2)! Und ebenso wie unter David das Volk über seine Feinde triumphierte, so wird es auch unter Christus siegreich frohlocken: "Jehova der Heerscharen wird seiner Herde, des Hauses Juda, sich annehmen, und sie machen wie sein Prachtroß im Streite . . . 

Und sie werden wie Helden sein, die den Kot der Straßen im Kampfe zertreten; und sie werden kämpfen, denn Jehova ist mit ihnen, und die Reiter auf Rossen werden zu Schanden. Und ich werde das Haus Juda stärken und das Haus Joseph ret­ten, und werde sie wohnen lassen; denn ich habe mich ihrer erbarmt, und sie werden sein, als ob ich sie nicht verstoßen hätte. Denn ich bin Jehova, ihr Gott, und werde ihnen antworten. Und Ephraim wird sein wie ein Held, und ihr Herz wird sich freuen wie vom Wein; und ihre Kinder werden es sehen und sich freuen, ihr Herz wird frohlocken in Jehova" (Sach 10, 3.5‑7).

Das alles liegt offenbar in der Zukunft. Es muß nach der Erscheinung des Herrn in Herrlichkeit geschehen, und ehe Seine Regierung im salomonischen Charakter ihren Anfang genommen hat. Der erste Teil der Regie­rung Christi wird das Gegenbild der Regierung Davids als eines kriegerischen Königs sein; Salomo dagegen stellt Christus vor, wie Er im tausendjährigen Reich in Frieden und Herrlichkeit regieren wird. ‑

Nachdem die Feinde ringsum niedergeworfen waren, erfüllte eine andere Sache den Geist Davids. Er war nicht nur ein Mann mächtiger Taten seinen Feinden ge­genüber, sondern auch ein Mann des Glaubens vor Gott. Sein Thron war jetzt in Macht auf dem Berge Zion aufgerichtet, aber die Lade Gottes befand sich noch immer im Hause Obed‑Edoms, des Gathiters. Die Bundeslade war das sichtbare Zeichen des nahen Verhältnisses, in dem Gott zu Seinem Volk stand. So war der Verlust der Lade gleichsam das "Ikabod" (die "Nichtherrlichkeit") Israels, und darum sehnte sich David nach der Besiegung aller Feinde und der Vereini­gung ganz Israels unter seinem Zepter, ja, er sehnte sich danach, die Lade in das Zelt zu führen, das er auf dem Berg Zion für sie aufgeschlagen hatte.

Bei dieser Gelegenheit zeigten sich der Glaube und die Frömmigkeit Davids in hellstem Lichte, und zwar in schroffem Gegensatz zu dem Geist des Hauses Sauls. Michal war, gleich ihrem Vater, in ihrem Herzen nicht auf die Verherrlichung Gottes bedacht; sie hatte gar kein Gefühl dafür. Davids Freude aber war es, sich vor dem Herrn zu demütigen, und als Michal ihm sein Tun vorwirft, weist er sie scharf zurecht. Er ist besorgt um die Verherrlichung des Namens seines Gottes und um die Wohlfahrt Seines Volkes. Michal und ihres Vaters Haus kümmerten sich weder um das eine noch um das andere, weil sie die Ansprüche des Gottes Israels nie verstanden. 

Sie dachten nur an sich selbst. David da­gegen hüpfte das Herz vor Freude bei dem Gedanken, daß er die Lade in die Stadt einführen dürfe. Welche Gefühle ihn bei dieser Gelegenheit erfüllten, zeigt am besten Psalm 132. Der Geist Gottes hat sie dort zum ewigen Gedächtnis der treuen Ergebenheit Davids Gott und Seinem Volk gegenüber aufgezeichnet. In 2. Samuel 6 wird die Einführung der Lade in die Stadt Davids näher beschrieben. Es heißt dort: "Und David tanzte mit aller Kraft vor Jehova, und David war mit einem leinenen Ephod umgürtet. Und David und das ganze Haus Israel brachten die Lade Jeho­vas hinauf mit Jauchzen und mit Posaunen­schall . . . 

Und sie brachten die Lade Jehovas hin­ein und stellten sie an ihren Ort innerhalb des Zel­tes, das David für sie aufgeschlagen hatte. Und David opferte Brandopfer und Friedensopfer vor Jehova. Und als David das Opfern der Brandopfer und der Friedensopfer beendigt hatte, segnete er das Volk im Namen Jehovas der Heerscharen. Und er verteilte an das ganze Volk, an die ganze Menge Israels, vom Manne bis zum Weibe, an einen jeden einen Brotkuchen und einen Trunk Wein und einen Rosinenkuchen. Und das ganze Volk ging hin, ein jeder nach seinem Hause" (V. 14‑19).

Das war ein herrlicher Tag für Israel. Die lange, dunkle Nacht, die als "Ikabod" über Israel gehangen hatte, war vorüber. Die Verbindung zwischen Gott und Sei­nem Volk war wiederhergestellt. Die Gegenwart, Macht und Herrlichkeit des Gottes Israels waren wie­der mit dem Volk. Reiche Segnungen wurden ihm zuteil. Sie sahen und schmeckten etwas von der Herr­lichkeit und den Segnungen der Regierung Melchi­sedeks, des Priesterkönigs. David ist als Priester tätig; er trägt das leinene Ephod. Zugleich ist er das Haupt des Volkes. Und nun befinden sich beide, der Thron des Königs und die Lade Gottes, auf dem Berg Zion. Aus diesem Umstand ergibt sich die hohe Bedeutung, die Zion seitdem stets gehabt hat. Es wurde Gottes Mit­telpunkt im heiligen Land; dorthin versammelten sich fortan die Stämme von ganz Israel, um "vor Gott in Zion" zu erscheinen. 

Zion ist also für alle Völker das beständige Zeugnis von dem, was Gottes Liebe zu Gun­sten Seines Volkes getan hat, als dieses unter dem Ge­setz völlig verloren war. Es wird dadurch für den Glau­ben zugleich die göttliche Bürgschaft für das, was Gott in den letzten Tagen zugunsten Seines Volkes tun will . Vergleichen wir nun die Worte in Offenbarung 14,1: "Und ich sah: und siehe, das Lamm stand auf dem Berge Zion und mit ihm hundertvierundvierzigtau­send, welche seinen Namen und den Namen seines Vaters an ihren Stirnen geschrieben trugen." Was will das sagen? 

Es zeigt uns einfach und klar, daß der leidende gottesfürchtige Überrest der letzten Tage mit dem Messias in Seiner königlichen Herrlichkeit ver­einigt sein wird, ebenso wie die Treuen in Israel seiner­zeit mit David vereinigt waren. Der Mittelpunkt des messianischen Reiches und seiner Herrlichkeit ist der Berg Zion, den Gott liebt. Dort wird das Lamm re­gieren, und jene "als Erstlinge aus den Menschen Er­kauften" werden Ihm folgen, wohin immer es geht. Welch ein glänzender, gesegneter, herrlicher Lohn da­für, daß sie während ihres Pilgerlaufes hier unten Seine Verwerfung geteilt und, getrennt von der Welt, mit Ausharren auf Sein Kommen gewartet haben!

Verweile hier einen Augenblick, meine Seele, beuge dich nieder und bete an! Du befindest dich in der Ge­genwart eines Größeren als David: "Er ist dein Herr; so huldige ihm!" Doch lerne zugleich von David als dem Vorbild, ziehe Belehrung aus den Einzelheiten sei­nes Lebens! Seine Person und seine Geschichte in dem eben besprochenen Zeitabschnitt enthalten eine Fülle von Hinweisen auf Christus. Schon die Reihenfolge der Ereignisse ist sehr beachtenswert und lehrt uns etwas von dem, was noch zukünftig ist. 

Das Ende mag viel näher sein, als wir denken; der Glaube sagt, daß es ganz nahe ist. Wenn es kommt, so werden wir nicht bloß wie heute das Vergangene durchforschen, nein, dann werden wir ‑ o wunderbarer Gedanke! ‑ persön­lich an den Vorgängen teilnehmen. "Wenn der Chri­stus, unser Leben, geoffenbart wird, dann werdet auch ihr mit ihm geoffenbart werden in Herrlich­keit" (Kol 3,4). Aber kennen wir heute schon die Vor­rechte, die uns als Christen geschenkt sind? Wir sind jetzt schon nach Zion gekommen. 

Durch den Glau­ben, im Geist, sind wir bereits am Berg Zion ange­langt. Sinai stellt die Verantwortlichkeit des Menschen dar, Zion die Gnade Gottes. Welch ein Unterschied! "Ihr seid nicht gekommen zu dem Berge, der be­tastet werden konnte. . ., sondern ihr seid gekom­men zum Berge Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem; und zu My­riaden von Engeln, der allgemeinen Versammlung; und zu der Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben sind; und zu Gott, dem Richter aller, und zu den Geistern der vollen­deten Gerechten; und zu Jesu, dem Mittler eines neuen Bundes, und zu dem Blute der Bespren­gung, das besser redet als Abel" (Hebr 12,18‑24).

Welch eine Fülle von Herrlichkeiten, in die die Gnade uns eingeführt hat! Ja, glückselig alle, die an Christus geglaubt haben und die jetzt schon in Ihm zu all die­sen wunderbaren Herrlichkeiten gekommen sind! Ihr Teil ist heute schon unbeschreiblich gesegnet. Möchten sie es besser verstehen und möchten ihre Herzen mehr in Liebe brennen für Ihn, der sie zuerst geliebt hat!

Ernst‑Paulus‑Verlag Haltweg 23 D‑6730 Neustadt/Weinstr.