Botschafter des Heils in Christo 1894

01/30/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Inhalts-Verzeichnis. 1894

Der Herr ist mein Hirte........................ 1,

Das Geheimnis des Glaubens...........................................................10

Habt ihr Den gesehen, den meine Seele liebt?".......................... 2l >

Handelt bis ich komme."................................................................29

Der Sabbath der Ruhe.....................................................................39

Siehe, du bist schön, meine Freundin.".......................................... 47

Auf daß nicht das Kreuz Christi zunichte gemacht werde." . ö7

Jerobeam, der Sohn Joas'.......................................................... 66

Komm mit mir!".......................... 75

Glieder des Leibes Christi...............................................................84

Aufgeschaut! das Herz nach oben! (Gedicht!................................83

Messer von Gilgal...........................................................................85

Die Vorbilder des 3. Buches Mose 93. 143. 141. 469. 197. 225

Du hast inir das Herz geraubt."............................................ 100

Entschiedenheit................................................................................ 110

Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, meine Braut." 129

Wache auf, Nordwind, und komme, Südwind!".........................153

Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet :e." . . . 183

Gedanken ................................................................ 195. 250. 279

Droben ist Ruh! (Gedicht)..............................................................196

Alles an Ihm ist lieblich."........................................................ 212

Keine Thränen mehr........................................................................ 221

Wohin ist dein Geliebter gegangen?"........................................ 236

Wie hat's die Seele doch so gut! (Gedicht!..............................252

Die Berufung Rebekkas...................................................................253

In den Nußgarten ging ich hinab."........................................265

Abraham und der König von Sodom.........................................275

Im Lichte des Richtcrstuhls........................................................ 278

Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe." . . 281

Ein König ist gefesselt durch deine Locken."............................. 296

Äuszug.............................................................................................. 305

Der hinabgestiegen ist derselbe, der auch hinausgestiegen ist." 306

Wie schön bist du, und wie lieblich bist du, o Liebe, :c." . 309

Tag für Tag Seine Wonne."...................................................327

lieberreich in Hoffnung...................................................................332


Der Herr ist mein Hirte. (Nach einem Vortrag über Ps. 23.)

Im 22. Psalm sehen wir den Herrn, den Hirten

der Schafe, am Kreuze von Gott verlassen und in den

Staub des Todes gelegt für uns. Wir finden dort den

Ausdruck, die vollkommene Offenbarung Seiner unendlichen

Liebe, Seiner völligen Hingabe für Seine Schafe. Er ist

tn der Stellung, in welcher wir uns als Sünder vor

Gott befanden, beladen mit unsern Sünden, an unsrem,

Stelle von Gott zur Sünde gemacht. Er geht durch die

Finsternis, durch das Verlassensein von Gott, durch die

tiefen Fluten des göttlichen Gerichts. Er leert den Kelch

des göttlichen Zornes bis zum letzten Tropfen, und zwar

alles das für uns, in Seiner unaussprechlichen Liebe zu

uns, in völliger Hingabe und vollkommenem Gehorsam

Seinem Vater gegenüber, der Ihn in diese Stellung gebracht

hatte.

Wie ist diese Betrachtung geeignet, unsre Herzen

aufs tiefste zu ergreifen und unser aller Gewissen zu berühren!

Welch ein Gedanke, daß es der Sohn Gottes,

der Heilige und Geliebte Gottes, der vollkommene Jesus

war, der dort aus freier Liebe für mich starb, einer Liebe,

die ein solches Werk mit Freuden übernehmen konnte! —

wie Er sagt: „Siehe, ich komme, o Gott, um Deinen

Willen zu thun."

2

Es handelte sich um nichts Geringeres, als für uns

in solche Tiefen der Leiden hinabzusteigen. Nur so war

es möglich, uns für Gott zu erkaufen, uns zu besitzen,

uns vom Tode zum Leben, aus der Gewalt Satans zu

Gott zu bringen. Und in welch eine herrliche Stellung

sind jetzt die Seinen durch Seinen Opfertod gebracht! Wir

hören Ihn in Vers 22 als der Auferstandene ausrufen:

„Verkündigen will ich Deinen Namen meinen Brüdern."

Die Folgen Seines Todes, die Folgen Seiner Hingabe

und Seiner Leiden für die Sünde sind lauter Gnade,

Heil und Segen.

Hier in diesem herrlichen 23. Psalm begegnen wir

sodann dem Ausdruck einer Seele, die diese Liebe kennt,

die das Bewußtsein hat, dem Herrn, dem Hirten der

Schafe, um einen solchen Preis auzugehören. Der Psalm

giebt den Gefühlen der Schafe im Blick auf den Hirten

Ausdruck, den Gefühlen einer Seele, die Jesum, den

Herrn, den guten Hirten, vollkommen kennt und genießt,

und die in Seiner Liebe ruht.

„Jehova ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln."

(Vers 1.) Er ist mein Hirte. Er ist mein Eigentum,

und ich bin Sein. Er ist der gute Hirte, der Sein

Leben für mich gelassen hat, als ich noch tot in Sünden

war und als Sein Feind in der Irre ging. Dieselbe

Liebe, die Ihn in den Tod trieb, dieselbe Liebe, die alles

überwunden und mich erlöst hat, ist jetzt für mich. Er

ist ganz für mich. Er ist mein, und ich stehe in Seiner

Liebe und Hirtenpflege. Ich bin Sein — welch ein

Glück, Geliebte, welch ein unaussprechliches Glück, Sein

Eigentum zu sein, sich nicht einsam und verlassen zu

wissen, sondern geliebt, beschirmt und gepflegt von Jhm l

3

Möchten wir alle dieses Glück durch den Glauben verwirklichen

!

Aber nicht allein bin ich Sein, sondern auch alles was

Er gethan hat, ist sür mich, ja Er selbst ist mein. Er

ist nicht nur der Hirte Seiner Herde im allgemeinen;

nein, es ist das Vorrecht eines jeden Einzelnen, zu

bezeugen: Er ist mein! Alles was Er ist, alle Seine

Vollkommenheiten und Tugenden, alle Seine Liebe und

Huld, alle die Führungen Seiner Gnade, alles was Er

gethan hat — alles, alles ist für mich! Er ist für mich

gestorben; Er hat Sein Leben für die Schafe gelassen

und hat sie teuer erkauft durch Sern Blut; ja mehr noch,

Er hat alles beseitigt, was gegen sie war, hat alle feindlichen

Mächte besiegt und die Seinigen vollkommen und

für ewig aus allen Banden befreit. Sie sind Sein auf

immerdar. Der Heilige Geist, der uns gegeben worden

ist, giebt uns Zeugnis von unsrer gesegneten Stellung in

Ihm, von dem Verhältnis und der Verbindung, in welche

wir zu Ihm gebracht sind. Und wie Er am Kreuze für

uns war, so ist Er für uns heute, morgen und in alle

Ewigkeit, für uns in dem gegenwärtigen Augenblick, in

allen Umständen und Lagen dieses Lebens. Und bedenken

wir es wohl, es ist der mächtige Herr, Jehova der

Heerscharen selbst, der für uns ist, so daß ein jeder von

uns mit aller Zuversicht sagen kann: „Mir wird nichts

mangeln." O welch einen Reichtum, welch einen Schatz

besitzen wir in Ihm!

Mag die Wüste noch so öde und leer erscheinen,

mögen die Umstände noch so schwierig und drückend sein,

mag es den Schafen noch so sehr an Kraft fehlen, mögen

sie sich befinden inmitten einer Welt, welche sie nicht kennt

4

und die ihnen feindlich gesinnt, ja wo alles wider sie ist

— der Glaube sagt zuversichtlich: „Der Herr ist mein,

und ich bin Sein. Er ist mein, und da ich in Seiner

Liebe stehe und Sein Eigentum bin, so ist Er mein

Hirte, und mir wird nichts mangeln."

Es ist die Freude der Seele in unserm Psalme, von

Ihm zu zeugen, Seine Tugenden zu verkünden, Ihn

zu preisen, von Ihm zu erzählen, zu sagen, was Er ist.

Wie lieblich! Das Schaf denkt nicht an sich, es steht

nicht unter dem Einfluß der Umstände, sondern es ist

mit Ihm beschäftigt, den es als seinen Hirten kennt.

Es betrachtet Seine Güte, Seine Treue; es kennt Ihn,

und Er ist alles für das Herz. „Er lagert mich auf

grünen Auen, Er führt mich zu stillen Wassern." (Vers 2.)

Wunderbar! Woher kommen diese grünen Auen, und

von wo entquellen diese stillen Wasser? Giebt das die

Wüste? Nein, solche Dinge finden sich nirgendwo in der

Wüste; und doch i n der Wüste, inmitten dieser bösen

Welt, findet die Seele unter der Pflege des guten Hirten

grüne Auen und stille Wasser. Es sind himmlische Güter,

himmlische Segnungen, welchen die Seele in der Nachfolge

Jesu begegnet.

An anderen Stellen der Schrift redet der Herr von

Seinen Schafen, und da lernen wir Seine Gedanken

betreffs ihrer kennen. So z. B. in Ev. Joh. 10. Hier

aber ist es das Schaf, das von seinem Herrn redet. Der

Herr ist es, der das ganze Herz erfüllt. Wenn Er Seine

Schafe ausgelassen hat, so geht Er vor ihnen her, und

die Schafe folgen Ihm; denn sie kennen Seine Stimme.

Und was finden sie? Was finden wir in Seiner Nachfolge?

WaS giebt Er uns? „Er lagert uns auf grünen

5

Auen." Betrachten wir z. B. den Apostel Paulus. Was

war die Wüste für ihn? Was fand er in dieser Welt?

Wahrlich, wenn jemals ein Mensch Ursache hatte, niedergedrückt

und beschwert zu sein, so war er es. Welch ein Weg

der Leiden war sein Weg! Aber was that er? Er freute

sich und frohlockte inmitten der größten Leiden und

schmerzlichsten Umstände. Denn was fand er in der

Nachfolge seines Herrn? Nur grüne Auen, nur stille

Wasser! „Das Leben ist für mich Christus", konnte

er sagen. (Phil. 1.) Er verfolgte seinen Pilgerpfad so zu

sagen in immer zunehmender Treue, und deshalb nahmen

auch seine Prüfungen immer mehr zu, und endlich war

der Kerker in Rom sein Los. Aber wenn wir ihn in

dieser Wüste wandeln sehen, wenn wir ihn im Gefängnis,

in Leiden erblicken, finden wir da einen müden Pilger?

Sehen wir einen niedergeschlagenen Mann? „Freuet euch

im Herrn allezeit", ruft er den Philippern zu, „und wiederum

will ich sagen: Freuet euch !" (Kap. 4.) Ja, er erfuhr in

überströmender Weise die Wahrheit der Worte: „Der Herr

ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er lagert

mich auf grünen Auen, Er führt mich zu stillen Wassern."

„Er erquickt meine Seele." (V. 3.) Ja, Geliebte, so ist

es. Er erquickt uns, wenn wir ermattet sind, Er richtet uns

auf und stellt uns wieder her. Wie Er für Sein Volk

in der Wüste das Manna war, wie Er der Fels war,

der nachfolgte, an den sie sich nur zu wenden hatten, um

erquickende Wasser zu empfangen, so ist Er auch heute

für die Seinen Erquickung, Stärke, Trost und Hilfe.

Der Weg ist schwierig, und wir, ach! wie bald würden

wir schwach und müde werden, wenn Er uns nicht hielte!

Wie oft würden wir inmitten der Schwierigkeiten des

6

Glaubensweges ermatten! Aber „der Herr ist mein

Hirte", und Er selbst erquickt meine Seele, und Er leitet

mich um Seiner selbst willen, „um Seines Namens

willen". Er will unser Wohl. Das ist es, was Ihn

leitet in allen Seinen Führungen. „Er leitet mich in

Pfaden der Gerechtigkeit." Er leitet uns überall,

ja, es ist Seine Freude, dies zu thun.

Aber es giebt noch Köstlicheres als das. So schön

und lieblich es ist, von Ihm zu zeugen, von dem zu

reden, was Er für uns ist in den Mühsalen und Leiden

unsers Weges, so giebt es doch noch etwas Höheres und

Gesegneteres. Es ist das Vorrecht, mit Ihm zu

verkehren. Was sagt David im Blick hierauf? „Auch

wenn ich wandelte im Thale des Todesschattens, fürchte

ich nichts Uebles, denn Du bist bei mir; Dein Stecken

und Dein Stab, sie trösten mich." (Vers 4.) Im Thale

des Todesschattens, d. i. in dieser finstern Welt der

Sünde, in welcher der Tod herrscht und seine Schatten

auf alles wirft, fühlt die Seele das Bedürfnis nach der

Nähe des Hirten selbst, nach Seiner beseligenden und

tröstenden Gemeinschaft. Er selbst ist diesen Weg gegangen;

Er weiß, was es heißt, als ein himmlischer

Fremdling hienieden zu pilgern, wo nichts das Herz wahrhaft

erfreuen kann, wo Sünde und Tod uns umgeben.

Er ist hindurchgegangen in Gemeinschaft mit dem Vater,

und selbst angesichts des Todes konnte Er sagen: „Ich

bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir." (Joh. 16,

32.) Er hat alles überwunden und sitzt jetzt zur Rechten

des Vaters. Wir sind in Seine Nachfolge eingetreten

und genießen jetzt ebenfalls Seine persönliche Gegenwart

und erfreuen uns Seiner Nähe. Und selbst wenn der

7

Tod auf unserm Pfade liegen sollte, fürchten wir nichts

Uebles. Er, der größer ist als der Tod, ist bei uns,

um uns zu stärken und zu unterstützen; und Er geleitet

uns sicher bis ans Ziel. O wie köstlich, Geliebte, wir

werden bald bei Ihm sein! Welch eine Freude! Er wird

uns führen zu den Strömen vollkommener Glückseligkeit.

Wir sind also hienieden der Gegenstand Seines

Schutzes, Seiner treuen Hirtenpflege. Er ist es, der über

uns wacht, der stets in Liebe mit uns beschäftigt ist. Immerfort

bleiben Seine Hände über uns ausgestreckt, und nie

zieht Er Sein wachsames Auge von uns ab. Er hat es

übernommen für uns zu sorgen, und darum ist es nicht

unsere Sache, an das zu denken, was uns begegnen könnte,

oder auf Mittel zu sinnen, um unsern Weg zu ebnen.

Welch eine Ruhe verleiht das dem Herzen! Wie selig ist

es, Seine Nähe zu verspüren! „Du bist bei mir."

Gerade indem wir Ihm folgen und mit Ihm unsern Weg

gehen, er mag nun durch Tiefen oder durch Wüsten führen,

erfahren wir, daß Er bei uns ist. Vielleicht müssen wir

zu Zeiten mit dem Psalmisten sagen: „Im Meere ist Dein

Weg, und Deine Pfade in großen Wassern, und Deine

Fußstapfen sind nicht bekannt." (Pf. 77, 19.) Aber es

ist Sein Weg; Er geht voran, und wir haben nur nachzufolgen.

Wohin Er uns auch führen mag, überall ist

Er es, der vorangeht. Er läßt uns nicht allein in den

tiefen Wassern. Er bahnt den Weg, dessen herrliches

Ende Ihm von Anfang an bekannt ist, und am Ende

wird uns auch nichts anderes übrigbleiben als das Bekenntnis:

„Du hast Dein Volk geleitet' wie eine Herde."

(V. 20.) Vor Ihm, der alles überwunden hat, müssen

alle Feinde und Hindernisse weichen.

8

Allerdings werden wir, wenn wir dem Herrn nachfolgen,

die Welt wider uns finden und denselben Haß

erfahren, den Er einst erfuhr. Die Welt kennt uns nicht,

und Satan, der Fürst dieser Welt, ist unser Widersacher.

Doch was haben wir zu fürchten, wenn Er bei uns ist

und in dem Kampfe selbst vorangeht? „Du bereitest vor

mir einen Tisch angesichts meiner Feinde." sVers 5.) Ja,

vor Ihm sind alle Feinde ohnmächtig, und Er giebt etwas,

das kein Widersacher zu rauben vermag. „Du hast mein

Haupt mit Oel gesalbt, mein Becher fließt über." Das

Herz ist glücklich und getrost trotz der zahlreichen Feinde

und findet seine Freude darin, den Willen des Herrn zu

thun und Ihm zu folgen, so wie es einst Seine Freude

war, den Willen des Vaters zu thun; und indem wir

Ihm mit Herz und Gewissen folgen, giebt Er uns Kraft

und bereitet uns einen Tisch der Güte angesichts unsrer

Feinde.

So ist also für alles in Fülle gesorgt: Der Herr

ist mein Hirte; Er lagert mich auf grünen Auen und

führt mich zu stillen Wassern; Er ist bei mir, mein Stecken

und mein Stab; Er setzt mir einen Tisch vor, an welchem

ich mich in friedevoller Sicherheit niederlassen und mich

an Seiner Güte und Freundlichkeit erquicken kann. Die

Seele ist vollkommen glücklich in dem Genuß einer solchen

Liebe. Wie könnte eS auch anders sein? In der Gegenwart

des Herrn und auf Seinen Wegen sind vollkommene

Zuversicht und Freude unser Teil. Ja, nicht nur Zuversicht,

sondern auch eine fröhliche Hoffnung für die

Zukunft erfüllt'das Herz. „Fürwahr, Güte und Huld

werden mir folgen alle Tage meines Lebens." Das ist

Zuversicht; der Herr geht voran, und Er ist der gute

9

Hirte, darum werden Seine Güte und Huld mir folgen

immerdar. Selbst in öden und dunklen Tagen, in Tagen

der Leiden und Kämpfe, der schwierigsten Glaubens-

Prüfungen darf ich zuversichtlich sagen: „Güte und Huld

werden mir folgen immerdar". Tag für Tag werde ich

Seine Erbarmungen erfahren, sie sind jeden Morgen neu.

Tag für Tag werden mich Gnade und Huld umgeben,

denn ich bin Sein Eigentum. Welch ein Segen, welch

ein Weg des Friedens, des Glückes und der Freude!

Zwar oft dunkel, aber erleuchtet durch Seine Gegenwart,

ein Weg der vollkommensten Glückseligkeit.

Und wenn mein Blick über diese Erde hinauswandert,

was dann? „Ich werde wohnen im Hause Jehovas

auf Länge der Tage." Das ist Hoffnung, und zwar

«ine gewisse, zuversichtliche Hoffnung, das Ergebnis der

vollkommnen Liebe des Herrn. Diese Liebe von Tag zu

Tage erfahren zu dürfen bis zu ihrem endlichen vollkommnen

Genuß in der Herrlichkeit des Vaterhauses

droben, das ist das Verlangen des Gläubigen. O welch

eine herrliche Stellung, Geliebte! Wie ist doch der Weg

des treuen Gläubigen so voll von Frieden und Freude!

wie wird er erleichtert durch diese herrliche Hoffnung, bald

bei Ihm zu sein, dort wo Er ist, auf immerdar! Der

Herr gebe uns allen, diese Hoffnung durch den Glauben

zu verwirklichen und Ihm, dem guten Hirten, der uns

jetzt pflegt und weidet, zu folgen bis ans Ende, bis wir

bei Ihm sein und ewiglich Ihn schauen werden, wie

Er ist!

10

Das Geheimnis des Glaubens.

(1. Tim. 3, 9.)

Was ist das Geheimnis des Glaubens? Um eS

mit wenigen Worten zu sagen: der Inbegriff alles dessen,

was nur dem Glauben geoffenbart, der Welt aber verborgen

ist. Es wird in der Schrift unter verschiedenen

Gesichtspunkten betrachtet und trägt dementsprechend auch

verschiedene Namen. So heißt es z. B. in Kol. 2 das

„Geheimnis Gottes", weil Gott in ihm alles kundgethan

hat, was Er vor Grundlegung der Welt im Blick auf

Christum und die Kirche in Seinem Herzen beschlossen

hatte; alles was die Schatten des Alten Testaments, das

Hohepriestertum, die Opfer, die Stiftshütte mit ihren

Einrichtungen rc. vorbildlich darstellten. Darum lesen wir

auch, daß in dem Geheimnis Gottes verborgen seien alle

Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.

(Kol. 2, 2. 3.) Im Lichte dieses Geheimnisses verstehen

wir z. B. die Bedeutung der Wege Gottes im Alten

Testament, den Charakter und Zweck der verschiedenen

Haushaltungen, die vorbildliche Bedeutung, welche Adam

und Eva, Isaak und Rebekka nebst vielen andern alt-

testamentlichen Heiligen im Blick auf Christum und die

Kirche hatten u. s. w.

Ferner hören wir in der Schrift von dem „Geheimnis

des Christus". (Eph. 3, 4; Kol. 4, 3.) Es

wird so genannt, weil es speziell Christum und die Beziehungen

des Gläubigen zu Ihm zum Gegenstände hat.

Insofern ist der Ausdruck vielleicht nicht so allgemein

und umfassend wie „Geheimnis des Glaubens" oder

„Geheimnis Gottes". Zu dem „Geheimnis des Christus"

11

gehört die Stellung des Gläubigen in Christo vor Gott.

Gott sieht die Gläubigen nicht mehr nach ihrem alten

Zustande, sondern in Christo und Christum in

ihnen. Christus ist für sie die Hoffnung der Herrlichkeit,

das heißt der Grund ihrer Hoffnung; es giebt keinen

andern für sie. Indem sie in Ihm sind, nehmen sie, so

arm und verloren sie in sich auch sein mochten, teil an

dem unausforschlichen Reichtum Les Christus. Wenn der

Apostel von dem Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses

spricht, so fügt er hinzu: „welches ist Christus in

euch, die Hoffnung der Herrlichkeit". (Kol. 1, 27.)

Ferner bilden die Gläubigen den Leib Christi und

werden zusammen mit Ihm als eine Person betrachtet.

„Denn gleichwie der Leib einer ist und viele Glieder

hat, alle die Glieder des Leibes aber, obgleich viele, ein

Leib sind: also auch der Christus." (1. Kor. 12,12.)

Wieder in einem andern Sinne ist die Rede von dem

„Geheimnis der Gottseligkeit". Als solches umfaßt

es vornehmlich die Herrlichkeit der Person Christi, des

fleischgewordenen Wortes; und daS ist unstreitig der erhabenste

Teil des Geheimnisses des Glaubens. Deshalb

sagt auch der Apostel: „Anerkannt groß ist das

Geheimnis der Gottseligkeit: Gott ist geoffenbart worden

im Fleische, gerechtfertigt im Geiste, gesehen von den

Engeln, gepredigt unter den Nationen, geglaubt in der

Welt, ausgenommen in Herrlichkeit." (1. Tim. 3, 16.)

Diese große, erhabene Wahrheit hat die Kirche als der

Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit allezeit aufrecht

zu erhalten. Mit ihr steht und fällt das Christentum.

Ja, nicht nur dies; auch alle Ratschlüsse Gottes betreffs

Israels, der Nationen und der ganzen Schöpfung stehen

12

und fallen mit dieser Wahrheit. Die Erlösung, die

Wiederherstellung Israels samt der Erfüllung aller ihm gegebenen

Verheißungen, die Befreiung der Schöpfung von

der Knechtschaft des Verderbnisses, die Segnungen des

tausendjährigen Reiches für Israel und die Völker der

Erde, der ewige, glückselige Zustand des neuen Himmels

und der neuen Erde, und vornehmlich die durch alles

dieses bezweckte Verherrlichung Gottes — alles wird in

Frage gestellt, wenn das Geheimnis der Gottseligkeit nicht

voll und ganz aufrecht erhalten wird.

Es ist daher kein Wunder, daß dieser Grundstein

aller Wahrheiten von jeher in ganz besonderer Weise den

Angriffen des Feindes zum Zielpunkte gedient hat. Um die

Seelen unter seinen Einfluß zu bringen, sucht er den einfachen

Glauben durch menschliche Vernunftschlüsse zu ersetzen.

Man will erklären, was nicht zu erklären, ergründen, was

nicht zu ergründen ist. Leider sind zu allen Zeiten viele

eine Beute solcher Vernunftschlüffe oder der „fälschlich

sogenannten Kenntnis" geworden. (Siehe Kol. 2, 8;

1. Tim. 6, 20.) Schon zu den Zeiten der Apostel war

es so, und darum schreibt Paulus an die Korinther:

„Denn die Waffen unsers Kampfes sind nicht fleischlich,

sondern göttlich mächtig zur Zerstörung der Festungen;

indem wir die Vernunftschlüsse zerstören und jede Höhe,

die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes." (2. Kor.

10, 4.) Auch in unsern Tagen tauchen allerlei Vernunftschlüffe

und Spekulationen des menschlichen Geistes auf,

und es ist nötig, sie mit Entschiedenheit zu bekämpfen

und zurückzuweisen, wenn wir anders „das Geheimnis

des Glaubens in reinem Gewissen bewahren" wollen.

Wir haben schon bemerkt, daß es ein Werk des Feindes

13

ist, die Geheimnisse der Person Christi durch die menschliche

Vernunft erklären zu wollen. Ihr Kennzeichen

ist, daß sie stets über die Schrift hinauSgeht, vor allem

wenn es sich um die Person des Sohnes Gottes handelt,

den niemand kennt als nur der Vater. Dem Glauben

genügtes zu wissen, daß Gott geoffenbart worden

ist im Fleische, daß das ewige Wort Fleisch

wurde, daß wir versöhnt worden sind durch den Tod

des Sohnes Gottes, daß das Blut Jesu Christi,

Seines Sohnes, uns reinigt von aller Sünde u. s. w.

Vor diesen einfachen, klaren Worten Gottes zerstieben alle

Vernunftschlüsse des Menschen wie die Spreu vor dem

Winde, und der einfältige Christ glaubt sie, ohne weitere

Erklärungen nötig zu haben oder nur zu erwarten. Nur

eine Person, die Gott gleich und doch wahrhaftig Mensch

war, konnte den Forderungen eines heiligen Gottes betreffs

der Sünde genügen. Nur eine göttliche Person, die das

Leben in sich selbst hatte, konnte unsre Sünden tragen

und für uns sterben, ohne von dem Tode behalten zu

werden. Weder ein heiliger Engel, noch ein unschuldiger

Mensch, (wenn es einen solchen gegeben hätte,) hätte dies

zu thun vermocht, weil weder der eine noch der andere

wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch in einer Person war.

Das Werk der Versöhnung ist die große Grundlage,

auf welcher allein die Erfüllung der Ratschlüsse Gottes,

die Erlösung und die Wiederherstellung aller Dinge ruhen

kann. Und dieses Werk war ganz und gar abhängig

von dem göttlichen Willen. Wer anders als der Sohn,

der von Ewigkeit her im Schoße des Vaters war, die

zweite Person der Gottheit, hätte den Willen Gottes vollbringen

können? Er hat gesagt: „Siehe, ich (der Sohn)

14

komme, (in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben),

um Deinen Willen, o Gott, zu thun." Er (der Sohn)

hat diesen Willen erfüllt, indem Er starb und Seinen

von Gott Ihm bereiteten Leib zum Opfer darbrachte.

(Hebr. 10, 5—10.) Das Werk ist göttlich von seinem

ersten Ursprung bis zu seinem Ende. Gegründet auf den

Willen Gottes, ward es ausgeführt durch den Sohn

Gottes, und darum ist es das feste, unerschütterliche

Fundament der ewigen Ratschlüsse Gottes. Das was

dem Kreuze seinen unendlich kostbaren Wert in den Augen

Gottes giebt, was ihm seine göttliche Kraft und Wirkung

verleiht, ist die Person» die dort an unsrer Statt war.

Es war das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes,

welches dort floß. Wäre es dieses nicht, so würde das

ganze Werk mit allem, was darauf gegründet ist, in Nichts

zusammenfallen.

Gott aber sei gepriesen, daß der Wert des Opfers

Christi von Seiner Schätzung und nicht von derjenigen

des Menschen abhängt! Er sieht am Kreuze das Opfer

Dessen, der von Ewigkeit her die Wonne Seines Herzens

ausmachte. Schon das vorbildliche Opfer des Alten

Bundes war ein „lieblicher Geruch dem Jehova;" das

Opfer Christi ist dies in göttlicher Vollkommenheit. (Vergl.

3. Mose 1, 9 mit Ephes. 5, 2.) Und darum können

weder die Macht und List des Feindes, noch die eitlen

und thörichten Vernunftschlüsse des Menschen dem Werke

Christi irgend welchen Abbruch thun, oder gar die Erfüllung

der ewigen Ratschlüsse Gottes aufhalten. Und

ebenso wenig vermögen sie die Ruhe und den Frieden

dessen zu stören, der in Einfalt des Glaubens auf diesem

kostbaren Werke ruht. So unerschütterlich wie das Werk,

15

so unerschütterlich ist auch die durch dasselbe bewirkte

Erlösung. Der Friede des Gläubigen, sowie seine Hoffnung

auf eine ewige Herrlichkeit sind deshalb fest und

untrüglich. Er kann singen:

Seiger Ruh'ort! — süßer Friede

Füllet meine Seele jetzt;

Da, wo Gott mit Wonne ruhet,

Bin auch ich in Ruh' gesetzt.

Der Gegenstand des Geheimnisses der Gottseligkeit

ist also ausschließlich die anbetungswürdige Person des

Herrn, dessen Herrlichkeit als Erretter darin geoffenbart

ist. Diese Herrlichkeit wurde schon vor Seiner Geburt

durch den Engel angekündigt: „Und du sollst Seinen

Namen Jesus nennen, denn Er wird Sein Volk erretten

von ihren Sünden". Desgleichen war schon durch den

Propheten gesagt worden: „Und sie werden Seinen Namen

nennen: Emmanuel, das ist verdolmetscht: Gott mit

uns". (Matth. 1, 21. 23.) „Fürchtet euch nicht",

lautete die Botschaft des Engels an die Hirten auf dem

Felde, „denn stehe, ich verkündige euch große Freude, die

für das ganze Volk sein wird; denn euch ist heute ein

Erretter geboren in Davids Stadt, welcher ist

Christus, der Herr". (Luk. 2, 10. 11.) Welch ein

großes Geheimnis: Gott ist geoffenbart worden im Fleische!

Wie tief und inhaltsreich sind diese wenigen Worte! Gott,

der Ewige, der Schöpfer und Erhalter des Weltalls, der

während der ganzen Zeit des Alten Bundes hinter dem

Vorhänge verborgen war, ist geoffenbart worden;

nicht in der Pracht Seiner Majestät, wenn Er sich aufmacht

die Erde zu schrecken (Jes. 2, 19—21), sondern in

der Herrlichkeit Seiner Natur, voller Gnade und Wahrheit.

16

(Joh. 1, 14.) Er ist geoffenbart worden im Fleische,

zugänglich für einen jeden. Man konnte Ihn sehen, hören,

anschauen und betasten (1. Joh. 1, 1); Er wohnte unter

uns (Joh. 1, 14) wie einer unsers Gleichen, wurde

hungrig, aß und trank (Matth. 21, 18; 11, 19), wurde

müde und schlief. (Joh. 4, 6; Luk. 8, 23.) Er war

wahrhaftig Mensch und doch wahrhaftig Gott — welch

ein Geheimnis! Gott war da, nicht um zu richten, sondern

um zu erretten. „Ich bin nicht gekommen, auf daß ich

die Welt richte, sondern daß ich die Welt errette."

(Joh. 12, 47.) Wer anders als Gott hätte also reden

können? Eine solche Sprache in dem Munde irgend eines

Geschöpfes wäre nicht nur die höchste Anmaßung, sondern

auch sinnlose Thorheit gewesen. Nur Christus hatte die

Macht, zu richten und zu erretten. „Wer kann Sünden

vergeben, als allein Gott?" fragen die Pharisäer, und

sie hatten Recht; aber ach! sie glaubten nicht, daß Gott

selbst in der Person des verachteten Jesus vor ihnen

stand. Und doch hatte Er ihnen in Seiner Herablassung

stz manche Beweise Seiner göttlichen Macht gegeben und

that es auch bei dieser Gelegenheit wieder, indem Er

sprach: „Was ist leichter, zu sagen: dir sind deine Sünden

vergeben, oder zu sagen: Stehe auf und wandle? Auf

daß ihr aber wisset, daß der Sohn des Menschen Gewalt

hat, auf der Erde Sünden zu vergeben .... sprach Er

zu dem Gichtbrüchigen: Ich sage dir, stehe auf und nimm

dein Bettlein auf und gehe nach deinem Hause. Und alsbald

stand er vor ihnen auf rc." (Luk. 5, 23—25.)

Es lag stets in der Gewalt des Herrn, über die

Welt, über die Macht Satans, über Leben und Tod zu

verfügen. Er hatte Gewalt über die Teufel, sie in den

17

Abgrund zu senden; und wie sehr diese die Macht des

Herrn kannten und fürchteten, geht daraus hervor, daß

sie Ihn baten, Er möge ihnen nicht gebieten, in den

Abgrund zu fahren. (Luk. 8, 31.) Und diese Gewalt

konnte Er auch andern mitteilen, so daß diese ebenfalls

Kranke zu heilen, Teufel auszutreiben und Tote aufzuerwecken

vermochten. (Matth. 10, 8 ; Mark. 3, 15.) Wenn Er ferner

von Seinem Leben spricht, so sagt Er: „Niemand nimmt

es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich

habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wieder

zu nehmen." (Joh. 10, 18.) Und Er ließ es aus eigner

Machtvollkommenheit, damit in der Ausführung des Erlösungswerkes

zugleich der Gerechtigkeit Gottes volle Genüge

geschehe und Gottes Heiligkeit und Majestät vollkommen

verherrlicht werden möchten. Und nachdem alles vollbracht

war, nahm Er das Leben wieder in derselben Macht,

gemäß Seinen eignen Worten: „Brechet diesen Tempel ab,

und in drei Tagen werde i ch ihn aufrichten ... Er aber

sprach von dem Tempel Seines Leibes." (Joh. 2, 19. 21.)

Er, der die Welten gemacht, hat auch in derselben Macht

die Reinigung unsrer Sünden ausgeführt, und sich alsdann

in eigner Machtvollkommenheit zur Rechten der

Majestät in der Höhe gesetzt. (Hebr. 1, 1—3.)

Gott selbst, geoffenbart im Fleische, war es also,

der das große Werk der Gnade ausführte, das — gegründet

auf die Herrlichkeit Seiner eignen Person —

göttlich vollkommen und unwandelbar ist. Es ist die

Quelle, aus welcher die Ströme des Segens für die

Kirche, für Israel, die Nationen und die ganze Erde hervorfließen.

Das tausendjährige Reich, der Himmel und

schließlich die neue Erde werden die Zeugen dieser Seg

18

nungen, aber auch der Herrlichkeit Dessen sein, der sich

«inst selbst erniedrigte bis zum Tode, ja zum Tode am

Kreuze; der, obgleich der Schöpfer des Weltalls, als Kind

in der Krippe lag und auf dieser Erde nicht hatte, wohin

Er Sein Haupt legen konnte. (Luk. 9, 58.) Dann wird

die tiefe Bedeutung der Worte des Propheten erkannt

werden: „Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn

uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf Seiner

Schulter; und man nennt Seinen Namen: Wunderbarer,

Berater, starker Gott, Vater der Ewigkeit, Friedefürst."

(Jes. 9, 6.)

Dann wird auch das „Geheimnis des Glaubens"

in seinem vollen Glanze geoffenbart sein: die Verbindung

der Kirche mit Christo als Sein Weib, Seine Miterbin

und Sein Leib. Es wird erkannt werden, was sie nach

den ewigen Ratschlüssen Gottes und was jeder Gläubige

in Christo ist; alle werden bekleidet sein mit der Herrlichkeit

Christi. Sie werden sein „zum Preise der Herrlichkeit

Seiner Gnade" und „zum Preise Seiner Herrlichkeit"

(Eph. 1, 6. 12); und die Fürstentümer und Gewalten

in den himmlischen Oertern werden ewiglich die „gar

mannigfaltige Weisheit Gottes" an der Versammlung bewundern.

(Eph. 3, 10.)

Nicht als ob dieses innige Verhältnis der Kirche zu

Christo, sowie die Einheit der Gläubigen mit Ihm und

unter einander erst dann zur Thatsache würden; nein, sie

sind jetzt schon Thatsache. Und gerade das ist das Geheimnis

des Christus, das Geheimnis Gottes, welches der

Glaube bewahrt und verwirklicht trotz der Verwirrung, die

ihn hier umgiebt. Es jetzt zu kennen ist in der That

«ine unschätzbare Gnade, da in diesem Geheimnis, wie

19

bereits oben gesagt, „alle Schätze der Weisheit und der

Erkenntnis verborgen sind". (Kol. 2, 3.) Ohne die wirkliche

Erkenntnis desselben ist es unmöglich, die Wahrheit

zu kennen und darin zu wandeln.

Gott gebe uns deshalb allen Gnade, das Geheimnis

des Glaubens zu kennen und treu zu bewahren! Aber

wie kann es bewahrt werden? Nur in einem „reinen

Gewissen". Das ist überaus wichtig. Der Größe deS

Vorrechtes entspricht immer die Größe der Verantwortlichkeit.

Gott hat uns Seine Geheimnisse anvertraut, und darum

sind auch wir in gewissem Sinne, gleich dem Apostel,

Verwalter derselben. Aber deshalb gilt auch uns das

Wort: „UebrigenS sucht man hier an den Verwaltern,

daß einer treu erfunden werde." (1. Kor. 4, 1. 2.)

Hüten wir uns deshalb, daß uns nicht um unsrer Untreue

willen die Verwaltung entzogen werde! Laßt uns acht

haben auf uns selbst, daß wir das Geheimnis des Glaubens

in reinem Gewissen bewahren, daß wir auf die Stimme

des letzteren hören und sie nicht ersticken. Sicher meldet

das Gewissen, so lange es rein und zart ist, jeden leichtfertigen

und unreinen Gedanken an; aber wenn wir nicht

auf diese Anmeldung achten, so unterbleibt das Selbstgericht,

und das Gewissen ist dann schon nicht mehr rein.

Niemand aber kann absehen, wo wir enden werden, wenn

wir in einem solchen Zustande vorangehen. Das geistliche

Leben sinkt tiefer und tiefer, der Blick und die Klarheit

des Geistes trüben sich mehr und mehr, und schließlich

tritt völlige Verblendung ein. Wie ernst ist das! Nichts

ist wichtiger im Blick auf unser praktisches Leben, als die

Bewahrung eines reinen Gewissens vor Gott und Menschen.

Und sollte uns der Gedanke, daß Gott uns in Seiner

20

großen Gnade Seines Vertrauens gewürdigt und uns

Sein Geheimnis für diese letzten Tage geoffenbart hat,

nicht zu umso größerer Treue anspornen? Der Apostel

wußte das ihm geschenkte Vertrauen wohl zu schätzen. Er

sagt: „Ich danke Christo Jesu, unserm Herrn, der mich

kräftig gemacht, daß Er mich treu geachtet und in

den Dienst gestellt hat." (1. Tim. 1, 12.) Auch Timotheus

sollte wegen des ihm geschenkten Vertrauens den

guten Kampf kämpfen (1. Tim. 1, 18), und wir sehen

an dieser Stelle, daß der Gläubige gerade dann den

guten Kampf kämpft, wenn er „den Glauben bewahrt

und ein gutes Gewissen, welches", wie der Apostel

hinzufügt, „etliche von sich gestoßen und, was den Glauben

betrifft, Schiffbruch gelitten haben."

Der Herr ist nahe und wird bald Seine Kirche zum

Himmel entrücken; und dann werden die Gerichte über

diese sichre Welt hereinbrechen, um den Weg zu bahnen

für die Offenbarung des Geheimnisses Gottes angesichts

der ganzen Schöpfung. Dann wird auch die Person

des Herrn in Herrlichkeit geoffenbart werden, und die Kirche

mit Ihm. (Kol. 3, 4.) Damit ist die Vollendung des

Geheimnisses Gottes gekommen, wie geschrieben steht: „In

den Tagen der Stimme des siebenten Engels, wenn er

Posaunen wird, wird auch vollendet sein das Geheimnis

Gottes, wie Er Seinen eignen Knechten, den

Propheten, die frohe Botschaft verkündigt hat." (Offbg.

10, 7.)

21

„Habt ihr Den gesehen, den meine

Seele liebt?"

(Hohel. 3.)

„Auf meinem Lager in den Nächten suchte ich den

meine Seele liebt: ich suchte Ihn und fand Ihn

nicht!" (V. 1.) Das Herz der Braut fühlt die Einsamkeit

der Nacht, während sie aus das Tagen des

Morgens wartet. Sie denkt an den Einen, der den

Morgen mit sich bringen wird; aber sie hat das Bewußtsein

Seiner Nähe verloren. Das ist ein Rückgang, ein

Fehler. Das Gewissen ist wach, die Zuneigungen sind

lebendig, und doch ist keine Freude da; sie ist in Unruhe.

Woher mag das kommen? Ein waches Gewissen, eine

brennende Liebe, und doch Finsternis! Für einen solchen

Seelenzustand kann es nur eine Ursache geben: das

Auge ruht nicht auf dem Geliebten selbst.

Scheinbar mag es noch andere Ursachen geben, aber das

ist die wirkliche Ursache. Das Auge der Braut ist

umhergewandert, und darum befindet sie sich in Finsternis,

in tief empfundener Einsamkeit.

Es macht für die Zwecke des Feindes wenig aus,

wohin sich das Auge wendet, wenn er es nur von

Christo ablenken kann. Es mag mit dem Besten beschäftigt

sein, wie z. B. mit dem Werke des Herrn, mit

der Liebe zu den Brüdern, mit der Gemeinschaft, mit der

Bedienung der Heiligen u. s. w.; aber selbst diese Dinge,

so schön und gesegnet sie an und für sich sind, werden

zu Fehlern aller Art führen, wenn eines von ihnen die

Stelle der Person Christi einnimmt und zu dem das Herz

beherrschenden Gegenstände wird. Und was sollen wir erst

22

sagen, wenn die Interessen des eignen Ichs oder die Welt

in einer ihrer tausenderlei Formen Eingang ins Herz

finden? Was anders als Schwachheit, Finsternis und

Verwirrung kann dann die Folge sein?

Man sagt oft im Hinblick auf einen solchen Seelenzustand:

Der Herr verbirgt für eine Zeit Sein Antlitz,

um uns zu prüfen und die schlummernden Zuneigungen

unsrer Herzen zu wecken. Allein wir finden im Hohenliede

keinerlei Grund für eine solche Annahme, und sicherlich

widerstreitet sie schnurstracks den einfachen und klaren Belehrungen

der Apostel des Neuen Testaments. Christus

ist stets vollkommen, Er bleibt sich immer gleich trotz

unsrer großen und beklagenswerten Veränderlichkeit. Auch

sind wir ins Licht gebracht, so wie Gott selbst im Lichte

ist. Der Vorhang ist zerrissen, und Christus hat Seine

Erlösten ins „Allerheiligste" eingeführt. Wir sind, wo

Er ist und wie Er ist. Und Johannes schreibt in seiner

ersten Epistel, „daß die Finsternis vergehe und das wahrhaftige

Licht schon leuchte". (Kap. 2, 8.)

Wohl mag es einer Seele, die in Finsternis ist, so

scheinen, als ob der Herr sich von ihr entfernt hätte.

Aber eS scheint auch nur so; es ist stets die Seele,

die sich von Ihm entfernt, nicht aber umgekehrt. Sicherlich

kann der Herr einer Seele, wenn sie Ihn aus dem

Auge verloren hat, Seine göttliche Liebe nicht in derselben

Weise offenbaren, wie wenn sie Ihm treu nachfolgt;

wie Er selbst gesagt hat: „Wenn jemand mich liebt, so

wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn

lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung

bei ihm machen." (Joh. 14, 23.) Aber das ist etwas

ganz anderes. Der Herr verändert sich niemals. Tritt

23

«ine Veränderung in unsrer Gemeinschaft mit Christo, in

dem Genuß Seiner Person, ein, so liegt die Schuld

lediglich an uns. Wir dürfen versichert sein, daß Er uns

Seine Liebe in dem ausgedehntesten Maße kundgeben wird,

so lange unser Auge auf Seine Person gerichtet bleibt.

So lange Er unser Gegenstand, unser Ein und Alles ist,

erfüllen Licht, Liebe, Friede und Freude das Herz. Wenn

aber das Auge umherschweift, wenn Er nicht mehr den

Gesichtskreis der Seele ausfüllt, so wird es finster in uns,

und bald folgt durch die List des Feindes eine endlose

Reihe von beunruhigenden, sorgenden Gedanken und Gefühlen.

„Die Lampe des Leibes ist das Auge; wenn

nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib

Licht sein.« (Matth. 6, 22.)

Laß uns deshalb, geliebter Leser, aus der Erfahrung,

welche die Braut hier macht, die für uns so notwendige

Unterweisung lernen, daß nichts anderes als die Person

des Herrn Jesu Christi jemals die Zuneigungen

und Liebestriebe der neuen Natur befriedigen kann. „Habt

ihr Den gesehen, den meine Seele liebt?« ist die passende

Frage dieser Natur, wenn man Ihn selbst aus dem

Auge verloren hat. Die Form der Frage mag verschieden

sein, aber die Ursache der Unruhe ist stets die

gleiche. Ein einfältiges Auge kann nicht einen doppelten

Gegenstand haben. Die Braut hat sich während der

Nacht mit irgend etwas anderem neben ihrem Geliebten

beschäftigt; vielleicht war es die Wüste oder die Beschwerlichkeit

des Weges, vielleicht auch die erwartete

Herrlichkeit des anbrechenden Tages. Aber sicher war es

nicht Er, wie zu einer früheren Zeit, als sie von Ihm

sagen konnte: „Ein Bündel Myrrhe ist mir mein Ge

24

siebter." (Kap. 1, 13.) Damals füllten Friede uni>

Freude ihre ganze Seele aus, und der süße Wohlgeruch

Seines Namens verbreitete sich überall, wohin sie ging.

Jetzt offenbaren sich Ruhelosigkeit und Sorge, und ihre

eigne Schwachheit tritt ans Licht.

„Ich will doch aufstehen und in der Stadt umhergehen,

auf den Straßen und auf den Plätzen, will suchen

den meine Seele liebt. Ich suchte Ihn und fand Ihn

nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt

umhergehen: Habt ihr Den gesehen, den meine Seele

liebt?" (V. 2. 3.) Die Stellung und Thätigkeit der

Braut sind jetzt verändert, aber Ruhe findet sie nicht.

Sie hat den Geist der Nachlässigkeit von sich abgeschüttelt.

Ihre Frage ist die Sprache einer Seele, die es ernst

meint. Aber die Straßen und Plätze der Stadt, wo

Wächter angestellt sind, um die moralische Ordnung aufrecht

zu erhalten, sind nicht die Orte, wo sie ihren Geliebten

finden kann. „Er weidet unter den Lilien". Sie

weiß das sehr wohl, aber sie ist unruhig und verwirrt,

wie viele es vor und nach ihr in ähnlichen Umständen

gewesen sind. Die Spuren der Herde, die Wohnungen

der Hirten, das grünende Gras, der Myrrhenberg und

der Weihrauchhügel, das blühende Gefilde, der Garten,

die Gewürzbeete — das sind Seine Lieblingsorte: dort

ist Er zu finden, nicht in der Stadt. Aber so wie die

Unthätigkeit der Braut verkehrt war, so ist jetzt auch ihre

Thätigkeit vom Uebel. Wären Demütigung und Bekenntnis

der erstern gefolgt, so würde die letztere wohl

vermieden worden sein. Andrerseits aber können wir

nicht anders als die Glut ihrer Liebe, die Fülle ihres

Herzens und die Aufrichtigkeit ihres Bekenntnisses be

25

wundern. Viermal in diesen vier Versen spricht sie von

„Dem, den ihre Seele liebt". Aber niemals behauptet

sie, Ihn zu haben, bis sie Ihn wirklich besitzt, oder

glücklich zu sein, bis sie es ist. Wollte Gott, daß wir

bei unsern Verirrungen und Fehlern auch stets dieselbe

Liebe und Aufrichtigkeit, denselben Ernst offenbaren möchten!

Gerade durch die Glut ihrer Liebe wurde ihr Fehler ans

Licht gestellt. O möchte auch bei uns jedes Abirren vom

Herrn durch die Innigkeit unsrer Liebe zu Seiner anbetungswürdigen

Person aufgedeckt werden!

Die Liebe der Braut ist eine solche, daß nichts als

Er selbst das Bedürfnis ihres Herzens stillen kann.

Und wäre sie im Himmel gewesen, anstatt in der Stadt,

und hätte Ihn nicht dort gefunden, so wäre es genau

so gewesen wie jetzt; sie würde ihr Suchen haben fortsetzen

müssen, bis sie Ihn gefunden hätte. Der Himmel

mit all seinem herrlichen Glanz, ohne Ihn, würde die

Zuneigungen ihrer erneuerten Seele nicht befriedigt haben.

Sie suchte Ihn selbst, und nichts und niemand anders

konnte Seinen Platz einnehmen. Nur die Liebe des

Retters kann die Liebe des Erretteten befriedigen, nur

die Liebe des Bräutigams diejenige der Braut.

„Die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist

aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt,

hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe . . . Wir

lieben, weil Er uns zuerst geliebt hat." (1. Joh. 4, 7—19.)

Ueber dieser armen Welt, über den Wolken, über den

Stürmen ruht der Gläubige an dem Herzen des Geliebten.

Woher kommt es aber, daß so viele wahre Christen trotzdem

keinen gegründeten Frieden, keine ungetrübte Ruhe

kennen, von Freude und Liebe gar nicht zu reden? Ein

26

fach weil Christus selbst nicht der einzige Gegenstand

ihres Herzens, der Mittelpunkt aller ihrer Wege ist.

Ihre Ruhelosigkeit und die steten Störungen ihres Friedens

haben allein hierin ihren Grund. In demselben Augenblick,

da Christus den rechten Platz im Herzen erhält,

kommt alles andere von selbst in Ordnung. Wenn aber

irgend etwas zwischen dem Herzen und Christo steht, so

ist der Heilige Geist betrübt, die Seele ist in Finsternis,

und Schwachheit und Verwirrung folgen. Alles ist in

Unordnung.

„Kaum war ich an ihnen vorüber, da fand ich den

meine Seele liebt. Ich ergriff Ihn und ließ Ihn nicht,

bis ich Ihn gebracht hatte in das Haus meiner Mutter

und in das Gemach meiner Gebärerin." (V. 4.) Groß

war die Freude Sulammiths, als sie ihren Geliebten fand.

„Ich fand Ihn." Gesegnete Worte! Ich, ein armes,

schwaches, irrendes Geschöpf, fand Ihn, den Urquell

aller Freude, die Quelle aller Glückseligkeit! Ihr ernstes

liebendes Suchen ist belohnt. Es muß immer so sein.

„Der Suchende findet." Wenn das Herz wirklich dem

Herrn zugewandt ist, so findet es Ihn bald. Es ist

Seine Freude, sich einer suchenden Seele zu offenbaren.

(Vergl. Joh. 20, 16.) Er begegnet Seiner Braut auf

dem Wege. Sie erblickt Ihn, sie ergreift Ihn und will

Ihn nicht eher wieder loslassen, bis sie Ihn in das HauS

ihrer Mutter gebracht hat.

Aber so groß ihre Freude auch sein mag, so ist sie

doch nichts im Vergleich mit der Seinigen. Auf den

ersten Blick mag es scheinen, als wenn die Freude nur

auf einer Seite vorhanden wäre. Aber es ist nicht so. Der

Größe unsrer Liebe wird unser Schmerz entsprechen,

27

wenn wir den Geliebten aus dem Auge verloren haben, und

unsre Freude, wenn wir Ihn wiederfinden. Kostbare Wahrheit,

wenn wir sie auf den Herrn anwenden! Welch ein

weites Feld eröffnet sich da unsern Betrachtungen! Wahrlich,

hier giebt es vieles zu lernen im Blick auf die Liebe

unsers Herrn und auf Sein tiefes Mitgefühl mit Seinem

Volke. Nehmen wir einmal an, die Liebe des Bräutigams

sei hundertmal größer als die Liebe der Braut; wird nun

Sein Schmerz, wenn sie von Ihm abirrt, nicht auch hundertmal

größer sein als der ihrige? Sicherlich. Die Größe

der Liebe bestimmt, wie gesagt, die Größe des Schmerzes

oder der Freude. Wie war das Verhältnis zwischen der

Freude des Vaters und derjenigen des verlorenen Sohnes, als

sie einander begegneten? Oder richtiger, wie groß war der

Unterschied? Unendlich! Und so wird es stets sein zwischen

dem Herrn und den Seinigen. O mit welcher Sorge

sollten wir deshalb über uns wachen, daß wir nicht abirren

und so das zärtlich liebende Herz des Herrn Jesu

betrüben und täuschen! Und andrerseits, welch ein

mächtiger Beweggrund liegt für uns in dieser Liebe, umzukehren

und aufrichtig Buße zu thun, wenn wir uns

aus Seiner Gegenwart verloren und dadurch Ihn betrübt

und Seinen heiligen Namen verunehrt haben!

Indes möchte gefragt werden: Wer ist die Mutter

und was haben wir unter dem Hause der Mutter

zu verstehen? Auf diese Fragen giebt uns der Prophet

Hosea eine einfache, klare Antwort. Wir lesen dort r

„Sprechet zu euern Brüdern: Mein Volk, und zu euern

Schwestern: Begnadigte. Rechtet mit eurer Mutter,

rechtet!" (Kap. 2, 1. 2.) Israel als Nation ist die

Mutter. Und wenn die lange abgebrochenen Beziehungen

28

zwischen dem Herrn und Seinem alten Volke wieder angeknüpft

werden, dann wird Er eingehen in das Haus

der Mutter.

Die Braut, oder der gottesfürchtige Ueberrest des

Volkes, fällt, in dem Bewußtsein der Liebe des Bräutigams,

in Seine Arme. Sie konnte keinen Ruheplatz finden, bis

sie Ihn gefunden hatte. Jetzt aber, erschöpft von ihrem

langen Umherwandern, gleich dem verlornen Sohne in dem

fernen Lande, findet sie süße Ruhe in Seiner unveränderlichen

Liebe. Sein Herz ist der einzige Ruheplatz für das

ihrige. „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den

Gazellen oder bei den Hindinnen des Feldes, daß ihr nicht

wecket noch aufwecket die Liebe, bis es ihr gefällt!" Wir

haben diesen Ausruf schon in unsern Betrachtungen über

das 2. Kapitel näher besprochen. Er kommt noch einmal

in Kapitel 8, 4 vor; und jedesmal wenn er sich findet,

folgt die Ankunft des Herrn unmittelbar darauf. In

Kapitel 2, 7 offenbart Er sich selbst: „Horch, mein Geliebter!

Siehe, da kommt Er." Es handelt sich dort um

Ihn persönlich. Hier in Kapitel 3 ist es der Messias,

der in königlicher Herrlichkeit heranzieht, als der wahre

Salomo, gekrönt von der Liebe Seines Volkes. „Betrachtet

den König Salomo in der Krone, mit welcher

seine Mutter (Israel) ihn gekrönt hat am Tage seiner

Vermählung und am Tage der Freude seines Herzens!"

(V. 11.) In Kap. 8, 5 wird die Braut gesehen, wie sie

in Verbindung mit Ihm, an Seiner Seite, die

Wüste verläßt. „Wer ist sie, die da heraufkommt von

der Wüste her, sich lehnend auf ihren Geliebten?" Das

ist ein beachtenswerter Fortschritt. Was könnte das Herz

mehr begehren? Es ist der Inbegriff, der Gipfelpunkt

alles Glückes. Bei Ihm zu sein, eins mit Ihm und

Ihm gleich, das ist die volle und ewige Segnung Seines

Volkes.

„Handelt, bis ich komme."

(Lies Luk. 19, 11—27.)

„Während sie aber dieses hörten, sprach Er hinzufügend

ein Gleichnis, weil Er nahe bei Jerusalem war,

und sie meinten, daß das Reich Gottes alsbald erscheinen

sollte. Er sprach nun: Ein gewisser hochgeborner Mann

zog in ein fernes Land, um ein Reich für sich zu

empfangen und wiederzukommen." (V. 11. 12.)

Schon in diesen ersten Worten, mit welchen der Herr

das Gleichnis von den zehn Pfunden einleitet, tritt uns

eine Thatsache entgegen, die das ganze Gleichnis deutlich

charakterisiert. Er steht im Begriff — denn Er ist der

hochgeborne Mann —, diese Welt zu verlassen und in

den Himmel zurückzukehren; und bei diesem Seinem Hingang

läßt Er das Judentum und die Welt weit hinter

sich zurück, ebenso weit wie der verlorene Sohn umgekehrt

das Vaterhaus hinter sich zurückließ, als er diesem den

Rücken wandte und in ein „fernes Land" zog. (Luk. 15,13.)

Der Mensch konnte sich von Gott entfernen und hat es gethan;

aber sein sündiger Zustand machte es ihm unmöglich,

ohne die Dazwischenkunft der Gnade wieder zu Gott

zurückzukehren — die Entfernung ist zu groß, der Himmel

ist unerreichbar für ihn. „Wo ich hiugehe", sagt der

Herr zu den Juden, „könnet ihr nicht hinkommen . . .

Ihr seid von dem was unten ist, ich bin von dem was

30

oben ist; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von

dieser Welt. Daher sagte ich euch, daß ihr in euern

Sünden sterben werdet; denn wenn ihr nicht glauben

werdet, daß ich es bin, so werdet ihr in euern Sünden

sterben.« (Joh. 8, 21—24.)

Die neue Stellung des Herrn war völlig unvereinbar

mit dem Judentum und der Welt überhaupt; aber Seine

Worte bezeichnen auch sehr klar die Stellung des Christen

während der Abwesenheit seines Herrn. Für ihn ist der

Himmel nicht mehr ein „fernes Land"; nein, er ist seine

Heimat geworden, wohin er seiner Stellung nach in Christo

versetzt ist (Eph. 2, 6), und wo er bald auch mit Ihm

weilen wird. Wir sind durch das Blut des Christus nahe

geworden, und sind nicht von der Welt, gleichwie Christus

nicht von der Welt ist. (Eph. 2, 13; Joh. 17, 14. 16.)

Auch sind wir berufen, Zeugnis abzulegen von der uns

zu teil gewordenen Gnade und unsern abwesenden Herrn

hienieden zu vertreten, das heißt Sein Leben und Seine

Gesinnung zu offenbaren. In Uebereinstimmung damit

lesen wir: „Er berief aber Seine zehn Knechte und gab

ihnen zehn Pfunde und sprach zu ihnen: „Handelt, bis

ich komme." (V. 13.)

Christus war „Diener der Beschneidung geworden

um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheißungen

der Väter zu bestätigen." (Röm. 15, 8.) Aber der Zustand

Israels erlaubte es nicht, daß ihre Verheißungen

erfüllt und sie in das Reich eingeführt wurden, denn anstatt

sich der Gerechtigkeit Gottes zu unterwerfen, trachteten

sie ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten. (Röm. 10, 3.)

Unmöglich aber konnte der Herr das Reich in Verbindung

mit einem solchen Zustande einführen; denn wie hätte Er

31

die Gerechtigkeit des Menschen zur Grundlage desselben

machen können? Er konnte nicht neuen Wein in alte

Schläuche fassen (Matth. 9, 17), nicht ein System anerkennen,

das seiner wahren Natur nach nur menschliche

Anmaßung und Feindschaft wider Gott war. Darum

verließ Er dasselbe und ging hin, „um ein Reich für sich

zu empfangen" (V. 12), ein Reich, gegründet auf die

göttliche Grundlage der Gerechtigkeit und des Gerichts;

denn „Gerechtigkeit und Gericht sind Deines Thrones

Grundfeste". (Psalm 89, 14.) Er ist hingegangen und

noch nicht wieder zurückgekehrt; erst wenn durch die Gerichte

der Vorsehung Gottes alle Feinde zum Schemel

Seiner Füße gelegt sind, ist der Augenblick da, wo Er

das Reich in Besitz nehmen wird, oder wo, mit anderen

Worten, das Reich der Welt unsers Herrn und Seines

Christus gekommen ist, und wo Er herrschen wird in die

Zeitalter der Zeitalter. (Offenb. 11, 15.)

Die gegenwärtige Stellung des Herrn, Sein Verweilen

im „fernen Lande" und Sein Wiederkommen in

Macht und Herrlichkeit sind sehr bezeichnend für die

Stellung und das Verhalten Seiner Knechte hienieden.

Wollen diese mit ihrem abwesenden Herrn in Uebereinstimmung

sein, so ist eine entschiedene Trennung von der

Welt und ihren Dingen unbedingt notwendig für sie.

Christus hat uns geheiligt, das heißt abgesondert durch

Seinen Hingang in den Himmel, wie Er selbst abgesondert

ist. Er sagt zum Vater: „Und ich heilige mich

selbst für sie, auf daß auch sie Geheiligte seien durch

Wahrheit." (Joh. 17, 19.) Von unserm Verhältnis zu

Christo als Seine Braut oder Sein Leib ist in unserm

Gleichnis keine Rede; es handelt sich nur um unsre Ver

32

antwortlichkeit als Seine Knechte; und das Bewußtsein

Seiner gegenwärtigen Stellung bewahrt uns in der uns

geziemenden Absonderung und himmlischen Gesinnung,

während die Erwartung Seiner Ankunft uns anspornt,

das uns anvertraute Pfund treu zu verwalten. Es ist

ein großes Vorrecht für uns, mit einer solchen Verwaltung

seitens des Herrn betraut zu sein, während Seiner Abwesenheit

Zeugnis ablegen zu dürfen von Ihm und der

Fülle Seiner Gnade. Aber die Kraft und Wirkung unsers

Zeugnisses hängt ganz und gar ab von der Art und

Weise, wie die Liebe und das Vertrauen zum Herrn, sowie

die daraus hervorgehende Absonderung und himmlische

Gesinnung von uns bewahrt werden. Alle Knechte haben

je ein Pfund empfangen, sind gleicher Gnade teilhaftig

geworden;*) trotzdem hat der eine mehr, der andere weniger

dazu gewonnen, und ein dritter gar nichts. Dieser Unterschied

hängt, wie schon bemerkt, einzig und allein von dem

persönlichen Verhältnis ab, in welchem ein jeder zum

Herrn steht.

*) In dem Evang. Matthäus ist es anders. Dort teilt der

Herr nach Seiner Weisheit und Unumschränktheit Seine Gaben

verschiedenartig aus, je nach den Fähigkeiten Seiner Knechte. Hier

in Lukas tritt mehr die Verantwortlichkeit der Knechte hervor; alle

empfangen gleichviel.

Wie ernst ist diese Erwägung, vor allem im Blick

auf den schließlichen Ausgang unsers Dienstes bei der

Ankunft des Herrn! „Wir müssen alle geoffenbart werden

vor dem Richterstuhl des Christus, auf daß ein jeder

empfange, was er in dem Leibe gethan, nach dem er gehandelt

hat, es sei Gutes oder Böses." Die wichtige

Frage ist, ob wir alle mit dem Apostel sagen können:

33

„Deshalb beeifern wir uns auch, ob einheimisch oder ausheimisch,

Ihm wohlgefällig zu sein." (2. Kor. 5,

9. 10.) Es handelt sich in unserm Gleichnis ganz und

gar nicht um Fähigkeiten (denn alle haben ein gleiches

Teil empfangen), sondern einzig und allein um Treue

gegen Christum. Diese Treue fehlte bei dem, der das

ihm anvertraute Pfund in einem Schweißtuch (dem ausdrucksvollen

Sinnbild einer irdischen Gesinnung), verwahrt

hielt, und er wird gerichtet durch seine eignen Worte.

Er sagt: „Herr, siehe Dein Pfund, welches ich in einem

Schweißtuch verwahrt hielt" (Vers 20), und bekennt also

selbst, daß er ein Pfund empfangen habe. Trotzdem

fürchtet er den Herrn und hält Ihn für einen strengen

Mann, der da nimmt, was Er nicht hingelegt, und erntet,

was Er nicht gesäet hat. Das was der Herr an ihm

gethan hat, daß Er ihn Seines Vertrauens würdigte und

ihm ein Pfund übergab, hat bei ihm weder Liebe noch

Vertrauen erweckt; er fürchtet den Herrn als einen strengen

Mann. Wenn aber der Herr wirklich ein so strenger

Mann war, warum hatte er dann nicht das Geld zum

Vorteil seines Herrn in eine Bank gelegt? (V. 23.) Ach,

der eigentliche Grund seines Verhaltens war eben nicht

die angebliche Furcht vor seinem Herrn, sondern die

irdische Gesinnung seines bösen Herzens, das Haschen und

Jagen nach den Dingen dieser Welt. Das hatte ihn den

Herrn und die von Ihm empfangenen Segnungen verachten

und vergessen lassen. Er fand keine Zeit, an Ihn zu

denken, für Ihn zu leben oder etwas für Ihn zu sein in

dieser Welt.

Das ist die traurige Geschichte vieler christlicher Bekenner.

Ihr Ausgang wird demjenigen des untreuen

34

Knechtes gleichen. Sie werden vor dem Richterstuhl Christi

bekennen müssen, daß sie „die himmlische Gabe geschmeckt",

unter den Wirkungen des Heiligen Geistes gestanden und

„das gute Wort Gottes geschmeckt" haben, mit einem Wort,

daß der „häufig über das Land kommende Regen" ihnen

zu teil geworden ist. Aber anstatt nützliches Kraut hervorzubringen,

haben sie nur Dornen und Disteln getragen.

(Hebr. 6, 4 — 8.) Anstatt gleich ihrem Herrn Fremdlinge

zu sein auf dieser Erde, sind sie Fremdlinge im Himmel

und einheimisch hienieden geworden. Der Himmel ist für

sie ein „fernes Land". Sie gehören zu denen, „welche

auf der Erde wohnen" (Offenb. 2, 13; 3, 10), und

haben gleich Lot die wasserreichen Ebenen Sodoms den

Gefilden Kanaans vorgezogen (1. Mose 13, 11. 12), oder

wie die Kinder Ruben und Gad ihr Teil diesseit des

Jordans gewählt. (4. Mose 32, 5.)

Eine entschiedene, unbedingte Trennung von der

Welt, sei es nun die religiöse oder die gottlose Welt, ist

die erste Bedingung für einen treuen Knecht. Nur das

kann, der Natur der Sache nach, den Gedanken seines

abwesenden Herrn entsprechen. Denn unmöglich kann ein

Ehrist sich mit den Grundsätzen der Welt eins machen,

wenn er an die gegenwärtige Stellung seines Herrn denkt

und dessen Rückkehr beständig erwartet. Und ein solches

beständiges Warten auf Ihn setzte der Herr ohne Frage

bei Seinen Knechten voraus, als Er ihnen die Pfunde

übergab mit den Worten: „Handelt, bis ich komme."

(V. 13.) Wenn man an diesen Auftrag des Herrn und

an Sein Kommen denkt, wird man keine Zeit haben, sich

mit Plänen für diese Welt zu beschäftigen. Im Gegenteil,

je lebendiger man Ihn erwartet, desto entschiedener

35

wird man die Zeit zu einem „Handeln" im Sinne des

Herrn auskaufen. Die Liebe zu Ihm ist die wahre

Triebfeder eines wirklich christlichen Lebens. Sie allein

vermag die echten Früchte der Hingebung und Selbstverleugnung

zu erzeugen; sie ist stark genug, uns ohne jeden

anderweitigen Antrieb „handeln" zu lassen für Christum,

indem sie uns über uns selbst und die niedrigen Beweggründe

einer selbstsüchtigen Welt erhebt. Und wir dürfen

versichert sein, daß auf einem solch ungezwungenen, freiwilligen

Handeln das Auge des Herrn mit besonderem

Wohlgefallen ruht. Einem Knechte, der so handelt, reicht

Er immer mehr dar; denn Er sagt selbst: „Jedem, der

da hat, wird gegeben werden." (V. 26.) Der Heilige

Geist kann in einem solchen frei und ungehindert wirken,

was Er bei dem nicht vermag, der nicht mit ganzem

Herzen dem Herrn anhängt.

Sicher wird kein wahrer Christ ohne jegliche Frucht

erfunden werden an jenem Tage; aber es wird ein Unterschied

sein. Und das ist umso ernster für uns, als wir sehen,

daß der Herr Kenntnis davon nimmt. „Und es geschah,

als Er zurückkam, nachdem Er das Reich empfangen hatte,

da hieß Er diese Knechte, denen er das Geld gegeben, zu

sich rufen, auf daß Er wisse, was ein jeder erhandelt

hätte." (V. 15.) Die Verantwortlichkeit ist eine persönliche

Sache. „Also wird nun ein jeder von uns für sich selbst

Gott Rechenschaft geben." (Röm. 14, 12.) Keiner kann

den andern dort vertreten, weder der Bruder den Bruder,

noch der Mann das Weib, noch die Eltern die Kinder,

oder umgekehrt. Der Herr prüft das Werk eines jeden

persönlich, und nimmt Kenntnis von allem, was wir für

Ihn gethan haben, selbst von dem Becher kalten Wassers,

36

den wir einem der Seinen um Seinetwillen reichen durften.

(Matth. 10, 42.) Welch ein ernster Augenblick wird das

sein! Möchten wir uns denselben stets vergegenwärtigen!

Wie viel höher würden wir alsdann jede Stunde, jeden

Tag und jede Woche zu schätzen wissen, die der Herr uns

schenkt, um sie für Ihn zu verleben. Wahrlich, es würde

nicht so manche Stunde in nutzloser oder gar leichtfertiger

Weise verbracht werden, wie eS heute geschieht, wenn alle

bedächten, daß der Herr sie an jenem Tage noch einmal zur

Sprache bringen wird! Ein jeder von uns würde mit

dem Apostel begehren, dereinst „vollen Lohn" zu

empfangen. (2. Joh. 8.) Nicht als ob dieser Lohn der

Beweggrund unsers Handelns sein sollte; nein, das

wäre ein niedriger Beweggrund. Wohl aber soll er uns

zur Ermunterung dienen; und für den treuen Knecht

liegt in der That eine große Ermunterung, ein kräftiger

Sporn in dem Gedanken an die Anerkennung, die seinem

schwachen Thun dereinst von feiten Seines geliebten Herrn

zu teil werden wird.

Die hier in den Versen 17 und 19 erwähnte Belohnung

bezieht sich auf das Reich. Wir werden mit

Christo in Herrlichkeit geoffenbart werden und mit Ihm

herrschen. Indes steht dies hier mit unsrer Treue in

Verbindung, denn es handelt sich um die Verantwortlichkeit.

Etwas Aehnliches sehen wir in der Offenbarung;

auch dort werden die verheißenen Herrlichkeiten dem Ueber -

winder zugesichert: „Wer überwindet, wird dieses ererben."

(Offenb. 21, 7.) Sicher ist das ein Beweis,

daß der Herr die Schwierigkeiten und Hindernisse, die

der Feind uns auf dem Wege entgegenstellt, kennt und

ihnen Rechnung trägt. Er ist kein „harter" Mann, und

37

Er ist nicht ungerecht, zu vergessen. Welch eine Ermunterung

ist das für uns, uns durch jene Schwierigkeiten

nicht zurückschrecken zu lassen! Er kennt die Kämpfe und

Herzensübungen, die Schmerzen und Thränen, die dem

Gläubigen hienieden um so weniger erjpart bleiben, je

entschiedener er den Pfad des Glaubens verfolgt; und

Er weiß es zu schätzen, wenn wir trotz allem auf diesem

Pfade ausharren. Er findet eine besondere Freude darin,

uns an jenem Tage als „Ueberwinder" bezeichnen zu

können, die mit Ihm gekämpfl und gelitten und sich so

zu sagen eine Krone „errungen" haben. Und aus diesem

Grunde erlaubt Er den Widerstand des Feindes, die

Trübsale und Prüfungen auf unserm Wege, um uns

Gelegenheit zum „Ueberwinden" zu geben, wie auch Er

selbst überwunden hat. „Wer überwindet, dem werde ich

geben, mit mir aus meinem Throne zu sitzen, wie auch

ich überwunden und mich mit meinem Vater gesetzt

habe auf Seinen Thron." (Offenb. 3, 21.) Möchten wir

diese Absichten des Herrn besser verstehen lernen und von

diesem Standpunkte aus die Trübsale und Hindernisse

betrachten! Wir würden sie dann auch mehr für ein

Vorrecht halten und mit dem Apostel sagen können: „Wir

rühmen uns der Trübsale." (Röm. 5, 3.)

In unserm Gleichnis kommt jedoch noch ein andrer

Punkt in Betracht, der das Verhalten der treuen Knechte

kennzeichnet, nämlich ihre Wertschätzung der ihnen zu teil

gewordenen Gnade. Keiner von ihnen sagt: „I ch habe"

. . . sondern: „Dein Pfund hat so und so viele Pfunde

hinzugewonnen." Sie schreiben alles, was sie empfangen

und gethan haben, der Gnade zu. Es erinnert uns dies

an den schönen Ausspruch, den David einst that bei

38

Gelegenheit der großen Freigebigkeit des Volkes zum

Tempelbau: „Denn wer bin ich und waSM mein Volk,

daß wir vermöchten auf solche Weise freigebig zu sein?

Denn von Dir ist alles, und aus Deiner Hand

haben wir Dir gegeben." (1. Chron. 29, 14.) So sagt

auch der Apostel: „Aber durch Gottes Gnade bin ich,

was ich bin; und Seine Gnade gegen michM nicht vergeblich

gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als

sie alle; nicht aber ich, sondern die Gnade

Gottes, die mit mir war." (1. Kor. 15, 10.)

Auch uns bleibt nichts anderes übrig als die Gnade

zu rühmen. Wir vermögen dem Herrn nichts zu bringen

als was wir zuvor von Ihm empfangen haben: aus

Deiner Hand haben wir Dir gegeben. Und je tiefer

wir von dem Gefühl unsrer eignen Nichtigkeit durchdrungen

sind, desto herrlichere Erfahrungen werden wir von dem

Reichtum und der Macht der Gnade machen. Sie ist an

nichts gebunden und von nichts abhängig; weder unsre

Schwachheit noch der Verfall kann ihre Wirksamkeit hindern.

Sie ist frei und unumschränkt, zu wirken, wann

und wo sie will; sie kann sich in ihrer Macht erheben

über Sünde und Schwachheit, und trotz derselben ihre

Fülle ausströmen lassen. Also hat sie sich erwiesen in

Christo Jesu, indem sie da, wo die Sünde überströmend

geworden, noch überschwenglicher geworden ist. (Röm.

5, 20.) Wie unendlich kostbar ist diese Gnade! Welch

ein Glück, in unsrer Schwachheit auf sie rechnen zu dürfen!

Sie ist vollkommen genügend für den Treuen in den

Tagen des Verfalls und der Untreue. Auf sie macht der

Apostel sein geliebtes Kind Timotheus aufmerksam mit

den Worten: „Du nun, mein Kind, sei stark in der

39

Gnade, die in Christo Jesu ist." (2. Tim. 2, 1.) Sie

erfüllt unsre Herzen mit Vertrauen zum Herrn, und giebt

uns Mut und Kraft, für Ihn zu handeln. Durch sie

lernten auch die treuen Knechte in unserm Gleichnis den

Herrn von einer andern Seite kennen als ihr „böser"

Mitknecht. Ihre Worte: „Herr, Dein Pfund hat zehn

Pfunde hinzugewonnen .... Herr, Dein Pfund hat

fünf Pfunde eingetragen", zeugen davon, daß sie die

Macht und Fülle dieser Gnade an sich erfahren haben.

Und wir können versichert sein, daß wir nie ein tieferes

Gefühl von der Gnade haben werden als dereinst vor

dem Richterstuhl Christi. Dort wird alles, was wir für

Ihn hienieden sein und thun konnten, zum Ruhme und

Preise Seiner Gnade sein.

Der Sabbath der Ruhe.

„Und Jehova redete zu Mose und sprach: Rede zu

den Kindern Israel und sprich zu ihnen: . . . Sechs

Tage soll man Arbeit thun; aber am siebenten Tage ist

ein Sabbath der Ruhe, eine heilige Versammlung; keinerlei

Arbeit sollt ihr thun; es ist ein Sabbath dem Jehova

in allen euern Wohnsitzen." (3. Mose 23, 1 — 3.)

Nachdem Gott in den sechs Schöpfungstagen Himmel

und Erde geschaffen hatte, ruhte Er am siebenten Tage

von Seiner Arbeit. Und fürwahr, Er könn te ruhen, denn

alles, was Er gemacht hatte, war ohne Tadel. Kein

Makel, keine Unvollkommenheit klebte Seinem Werke an.

Er sah alles an, und siehe, es war „sehr gut". „Und

Er ruhte am siebenten Tage von all Seinem Werk, das

Er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag

40

und heiligte ihn; denn an demselben ruhte Er von all

Seinem Werk." (1. Mose 2, 1—3.)

Leider, leider sollte die Ruhe Gottes nicht von langer

Dauer sein. Der Mensch übertrat Seine Gebote, fiel in

die Sünde und brachte die ganze Schöpfung mit sich unter

den Fluch. Jammer und Elend, Furcht und Schrecken,

Krankheit und Tod hielten mit der Sünde ihren Einzug

in die schöne Schöpfung Gottes; und Gott konnte nicht

länger ruhen. „Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich

wirke", sagte der Herr Jesus einst, als die Juden ihn

zu töten suchten, weil Er am Sabbath einen kranken

Menschen gesund gemacht hatte. Wie könnte der heilige

Gott, der Gott der Liebe, ruhen inmitten eines Schauplatzes

der Sünde und des Elends? Unmöglich. Kaum

war der Sündenfall geschehen, als auch die Liebesthätigkeit

Gottes begann. Er suchte den gefallenen Menschen auf,

gab ihm die Verheißung eines Samens, welcher der alten

Schlange den Kopf zermalmen sollte, und bekleidete ihn

und sein Weib mit Röcken von Fell — ein sprechendes

Bild von der Bekleidung des Sünders auf Grund des

vergossenen Blutes, des ein für allemal vollbrachten Versöhnungswerkes

Christi. Und seit jener Zeit hat Gott

nicht aufgehört, sich in Liebe mit dem armen, sündigen

Menschen zu beschäftigen. Er wirkt, und Er wird fortwirken,

bis Er sagen kann: „Es ist geschehen. Ich

bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das

Ende", (Offenb. 21, 6) oder mit anderen Worten, bis

die große Sabbathruhe Gottes gekommen ist und Er

ruhen wird in Seiner neuen Schöpfung inmitten Seines

glücklichen, erlösten Volkes in alle Ewigkeit.

Welch ein kostbares Wort ist das Wörtchen „Ruhe" !

41

Wie tröstend und ermunternd klingt es in das Ohr des

müden Wanderers, des bejahrten Pilgrims! Wie hoffnungsvoll

und verheißend redet es zu dem Herzen des schwergeprüften

Dulders, des Trauernden und Betrübten! Wie

erquickt und stärkt es den erschöpften Kämpfer, den ermüdeten

Arbeiter! Ruhe, selige Ruhe wird ihrer aller

Teil sein droben in der Herrlichkeit, bei Jesu im Vaterhause!

Gott will nicht allein Seine Sabbathruhe genießen.

Er will allen Seinen Erlösten teil daran geben,

Er will ruhen inmitten Seines Volkes. „Also bleibt

noch eine Sabbathruhe dem Volke Gottes übrig." (Hebr.

4, 9.) Das ist der große Grundgedanke, der sich durch

den ganzen herrlichen Heilsplan Gottes hindurchzieht:

neue Himmel und eine neue Erde zu schaffen, in welchen

Gerechtigkeit wohnt (2. Petr. 3, 13), und diese mit erlösten,

gereinigten Wesen zu bevölkern, die mit Ihm in

der neuen Schöpfung zu ruhen und alle die reichen

Segnungen derselben zu genießen vermögen. Und wenn

diese neue Schöpfung vollendet dastehen, wenn Gott selbst

sagen wird: „Es ist geschehen!" dann wird Er wiederum

all Sein Werk anschauen, das Er gemacht hat, und es

wird „sehr gut" sein, ja unendlich herrlicher als Seine

erste Schöpfung, die durch die Sünde verdorben wurde;

und kein Feind, keine Sünde wird diese neue himmlische

Schöpfung je wieder auzutasten, je wieder zu verunreinigen

vermögen. O welch eine Gnade ist es, sagen zu

dürfen: „Auch ich werde teil haben an diesen kostbaren

Dingen, auch mir bleibt diese Sabbathruhe Gottes noch

übrig! Bald, bald werde ich Ihn sehen, den meine Seele

liebt, und mit Ihm eingehen in die ewigen Freuden

dieser Ruhe!"

42

Doch wie hat Gott es möglich gemacht, dem gefallenen

Menschen an dieser Sabbathruhe teil zu geben?

In dem Kapitel, dessen erste beide Verse unsrer Betrachtung

als Einleitung dienen, folgt auf die Verordnung

über den Sabbath der Ruhe sofort das Passahfest, jenes

schöne Vorbild des Versöhnungswerkes Christi. Ach! der

Mensch, selbst der so reich gesegnete und bevorzugte Israelit,

konnte unmöglich sechs Tage arbeiten und dann von seinem

Werke ruhen; er konnte unmöglich am siebenten Tage

auf alles das, was er in der abgelaufenen Woche gethan

hatte, zurückblicken und mit aufrichtigem Herzen sagen: „Mein

Werk ist sehr gut, und nun kann ich auf Grund desselben

ruhen." Nein, der aufrichtige, gottesfürchtige Jude mußte

stets sagen: „Alles ist unvollkommen, alles mangelhaft!"

Wie hätte er also mit glücklichem Herzen ruhen können?

Schon diese eine Erwägung zeigt uns den großen

Unterschied zwischen dem jüdischen Sabbath und dem christlichen

Sonntag oder dem „Tage des Herrn". Während

der eine am Ende der Woche lag und gleichsam das

sechstägige Werk des Israeliten krönen sollte, bildet der

andere den Anfang der Woche, und die Ruhe, die der

Gläubige an ihm genießt, hat nichts zu thun mit seiner

Arbeit, sondern gründet sich einzig und allein auf das

Werk eines Andern, des Sohnes Gottes. Wie thöricht

ist es daher, den christlichen Sonntag als eine Fortsetzung

des jüdischen Sabbaths zu betrachten und die Gebote, die

Gott bezüglich dieses Tages gegeben hat, auf jenen anzuwenden!

Es beweist das nur die gesetzliche Gesinnung

so vieler Christen unsrer Tage und ihre tiefe Unkenntnis

über die Gedanken Gottes und die Stellung des Gläubigen

in Christo.

43

Soll denn der Christ am Sonntage nicht ruhen von

der Mühe und Plage des täglichen Lebens? Soll er nicht

den „Tag des Herrn" feiern als einen hohen Festtag,

an welchem er sich, fern von dem geschäftigen Treiben des

Alltaglebens, mit seinen Mitgläubigen versammelt, um

den „Auferstandenen" zu preisen und Gott zu dienen?

Gewiß! nur möchte ich nicht sagen: er soll, sondern:

er darf, es ist sein Vorrecht, das zu thun. Die

Feier dieses Tages ist ihm nicht ein gesetzliches Gebot,

sondern eine süße Liebespflicht. Es ist seines Herrn

Tag, an welchem sein Heiland aus den Toten auferstand

und in der Mitte Seiner versammelten Jünger erschien

mit dem gesegneten „Friede euch!" auf Seinen Lippen;

an welchem Er ihnen Seine durchbohrten Hände und

Füße zeigte als die Beweise Seines vollbrachten Werkes,

Seines Sieges über Sünde, Tod und Teufel; fa, an

welchem Er immer noch in der Mitte der zu Seinem

Namen hin versammelten Gläubigen gegenwärtig ist, um

mit ihnen, als der Erstgeborne vieler Brüder, als ihr herrliches

Haupt, als ihr Herr und Erlöser, Gott dem Vater

Lob und Dank darzubringen, wie geschrieben steht: „Ich

will Deinen Namen kundthun meinen Brüdern, inmitten

der Versammlung will ich Dir lobsingen." (Hebr. 2, 12.)

Es ist hier nicht der Platz, noch näher auf den

Unterschied zwischen dem Sabbath und dem Tage des

Herrn einzugehen; nur das Eine sei noch erwähnt: Während

der Israelit am letzten Tage der Woche ruhen sollte,

und zwar von all seinem Werk, das er in der Woche

vorher gethan hatte, und, wie bereits bemerkt, niemals

den Sabbath seiner wahren Bedeutung nach feiern konnte,

beginnt der Christ seine Woche damit, daß er sich mit

44

dankbarem Herzen an Den erinnert, der ihn aus seinem

Sündenelend befreit, aus der Macht Satans errettet, aus

der Gewalt der Finsternis in Sein wunderbares Licht

versetzt und ihn fähig gemacht hat, Gott jetzt mit Einsicht

und Verständnis zu dienen. Der erste Tag der Woche

ist deshalb kein Tag der Unthätigkeit für ihn, sondern

vielmehr in ganz hervorragender Weise ein Tag wahrer

christlicher Thätigkeit Gott und Menschen gegenüber. Ein

einsichtsvoller und vor allem ein treuer Christ ist am

Sonntag Abend vielleicht müder als an den Abenden in

der Woche; allein sein Herz ist fröhlich und gestärkt, sein

Geist dankbar und glücklich. Und so geht er, gleichsam

aus der Gegenwart des Herrn kommend und gekräftigt

mit Seiner Kraft, am Montag an sein Tagewerk, das

er frohen Mutes thun kann im Aufblick zu Dem, der ihn

kräftigt und zum Preise des Gottes, der ihn erkauft hat

durch das Blut Seines Eingebornen.

Doch kehren wir zu unserm Gegenstände zurück. In

dem eben Gesagten ist bereits die Frage beantwortet

worden, wie Gott es möglich gemacht hat, dem sündigen

Menschen an Seiner Ruhe teil zu geben. Er hat Seinen

eingebornen Sohn in die Welt gesandt, Ihn, das vor

Grundlegung der Welt zuvorbestimmte, wahre Passahlamm.

Das was der Mensch nimmermehr thun konnte, hat

Christus gethan. Er hat Gott hienieden vollkommen verherrlicht;

all Sein Thun war eine kostbare Speise für

den Vater, ein duftender Wohlgeruch für das Herz Gottes.

Er, der wahre Israelit, hat gearbeitet von früh bis spät,

und Seine Arbeit war vollkommen, Sein Thun ohne

Tadel, Sein Werk „sehr gut". Er hätte zum Vater zurückkehren

können, um dort von Seiner Arbeit und Mühe

45

auszuruhen. Aber Sein Zweck war nicht nur, den Vater

hienieden zu verherrlichen, wo Er von Seinen Geschöpfen

auf alle Weise verunehrt worden war, sondern auch aus

diesen sündigen, gefallenen Kreaturen Ihm eine große,

unzählige Schar von Kindern zuzuführen. Deshalb

litt und starb Er am Fluchholze; deshalb war Er von

Gott verlassen, „zerschlagen und verwundet". (Jes. 53.)

Unsre Sünden und Missethaten lagen auf Ihm; für uns

war Er zur Sünde gemacht. Im Blick auf dieses

Sein Werk konnte Er alle Mühseligen und Beladenen

einladen, zu Ihm zu kommen, mit der bestimmten Verheißung:

„Ich werde euch Ruhe geben." Kostbares

Wort! Der Gläubige findet jetzt schon Ruhe für sein

beladenes Gewissen, Ruhe für sein armes, ruheloses Herz,

und am Ende wartet seiner die große Sabbathruhe Gottes.

Dort in der neuen Schöpfung, wo Gott ihn nach „Geist,

Seele und Leib" tadellos darftellen wird vor Seiner

Herrlichkeit mit Frohlocken (1. Thess. 5, 23; Judas 24),

wird er voll und ganz die Frucht des Werkes Christi

kennen und schmecken. Gott wird mit Wonne ruhen inmitten

dessen, was Seine Liebe und Macht geschaffen hat;

Christus wird ruhen inmitten Seiner Erlösten und die

Frucht der Mühsal Seiner Seele genießen; und der

Gläubige wird ruhen und ohne Aufhören trinken aus dem

Meere der Liebe, das ihn umgiebt. Die Zeit des Glaubens

und Hoffens, die Zeit des Kämpfens und Leidens ist vorüber,

die Zeit der Ruhe ist gekommen — nicht eine Zeit der

Unthätigkeit, denn wie könnte die Liebe jemals unthätig

sein? aber eine Zeit der ungestörtesten Anbetung, des glücklichsten

Genusses, der seligsten Freude, des friedlichsten Verkehrs,

der innigsten Gemeinschaft und der vollkommensten

46

Ausübung der Liebe. Wir erfahren heute, was Liebe ist

und was sie thut gegenüber verlornen Sündern, gegenüber

schwachen, von Sünde und Versuchungen aller Art umgebenen

Gläubigen; dann werden wir erfahren, was

Liebe ist und was sie thut inmitten einer Szene ungetrübter,

wolkenloser Herrlichkeit, in einer Schöpfung, in

welcher nichts mehr an das „Alte" erinnert. „Das Erste

ist vergangen. Und der auf dem Throne saß, sprach:

Siehe, ich mache alles neu. Und Er spricht zu

mir: Schreibe, denn diese Worte sind gewiß und wahrhaftig.

Und Er sprach zu mir: Es ist geschehen.

Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und

das Ende." (Offbg. 21, 4-6.)

Von diesem ewigen Sabbath der Ruhe war jener,

von dem wir in den Büchern Mose lesen, ein liebliches

Vorbild. Schon damals hat Gott von ihm geredet im

Bilde, denn Sein Herz war erfüllt von Seinen Ratschlüssen

der Liebe, und Er fand Seine Freude darin,

Jahrtausende vorher von dem zu reden, was Er thun

wollte zum ewigen Glück der Seinen und zur Befriedigung

Seines eignen Herzens. Und Er wird Seine

Ratschlüsse ausführen, Seinen Vorsatz erfüllen; denn Er

ist der Gott, „der alles wirkt nach dem Rate Seines

Willens". (Eph. 1, 11.) Und wir? Ach, Geliebte, wir

werden zuschauen, erkennen, wie wir nie erkannt haben,

Blicke thun in die Tiefen des Reichtums der Liebeswege

Gottes, wie wir sie nie gethan haben, und — wir werden

anbeten, staunen und bewundern. Und nicht lange mehr

werden wir hienieden pilgern. Bald wird Er kommen,

den unsre Seele liebt, und uns einführen in die ewige

Ruhe, in die Freuden des Vaterhauses droben. Darum

47

laßt uns nicht müde werden auf dem Wege! Möge keiner

von uns auch nur „zurückzubleiben scheinen!" Laßt

uns vielmehr „Fleiß anwenden, in jene Ruhe einzugehen"!

(Hebr. 4.)

Nicht mehr lange! Lehr' uns wachen!

Morgenröte zeigt sich schon von fern;

Bald wird landen unser Nachen,

Der uns trägt zu Dir, dem guten Herrn.

Lehr' uns wachen, kämpfen ohn' Ermüden,

Immer näher bringt uns jeder Tag;

Lehr' uns wandeln völlig abgeschieden,

Unserm Kampf folgt sel'ge Ruh^nach.

„Siehe, du bist schön, meine Freundin."

(Hohel. 4, 1—7.)

„Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist

schön: Derne Augen sind Tauben hinter deinem Schleier.

Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den Abhängen

des Gebirges Gilead lagern." (V. 1.) — Als

das blutflüssige Weib den Saum des Gewandes Jesu

anrührte, strömte die Kraft, die in Ihm war, auf sie

über. (Mark. 5.) Der Finger des Glaubens berührte

nicht nur das Kleid des Heilandes, sondern auch die

geheimen Quellen Seines Herzens, welche nur der Glaube

zu erreichen vermag. Alle die Reichtümer dieses Herzens

wurden dem Glauben erschlossen. Ihre Not wurde „alsbald"

und vollkommen gestillt. Der Quell ihres Blutes

vertrocknete, und die Krankheit wich. „Sie erkannte am

Leibe, daß sie von der Plage geheilt war." Dennoch

kannte ihre Seele noch keinen Frieden, noch keine

Ruhe, von Freude gar nicht zu reden. Sie fiel Jesu

zu Füßen „voll Furcht und Zittern".

48

Wie ist es möglich, fragen wir vielleicht, daß die

wunderbare Kraft des hochgelobten Herrn von einem

Gläubigen erfahren werden kann, ohne daß er Frieden

besitzt? Es war so bei jenem Weibe, trotzdem ihr Glaube

groß war, und es ist heute so bei Tausenden der Erlösten

des Herrn. Aber wie ist das möglich? Die Geschichte

des Weibes giebt uns, wie mir scheint, eine klare Antwort

auf diese Frage. Obgleich sie alles empfangen hatte,

was sie in ihrer Not bedurfte, waren ihr doch die

Gedanken Seines Herzens noch fremd geblieben.

Und um ihr vollen Frieden in Seiner Gegenwart

zu geben, bedurfte sie der Offenbarung dieses Herzens

der Liebe. Was ihr not that, war zu erfahren, was Er

über sie dachte. Und das ist, was jeder Sünder

bedarf, um völlig glücklich zu sein. Das erste Anrühren

des Glaubens sichert der Seele alles, was Er ist und

was Er zu geben hat; aber volle Ruhe findet sie erst

dann, wenn sie das Herz kennen lernt, das alles aufgab,

um uns zu besitzen. Erst dann ruht sie glücklich und

friedevoll in Seiner Liebe. O welch eine Gnade, Seine

Gedanken über uns zu kennen, Seine Liebe zu uns zu

genießen!

Doch siehe, mein Leser, wie diese Liebe sich jenem

armen Weibe zuwendet. „Und Er blickte umher, um sie

zu sehen, die dieses gethan hatte." Welch eine Liebe

drückt sich in diesen Worten aus! Das Herz des Heilandes

frohlockt; Er hat den Preis gewonnen! Die Werke

Satans sind zerstört, Gott ist verherrlicht; die Gnade

strahlt in ihrem himmlischen Glanze, und der Glaube

triumphiert. Doch Sein Auge muß sie sehen, muß auf

ihr ruhen. „Wer ist es, der dieses gethan hat?" fragt

49

Er. Mit welch einer Teilnahme ruht Sein Blick auf

dem zitternden Weibe! Und dann offenbart Er ihr Sein

Herz und füllt ihre Seele mit dem Frieden und der

Freude Seines Heils. „Tochter" — zärtlicher Ausdruck

der Liebe und des nahen, innigen Verhältnisses — „dein

Glaube hat dich geheilt; gehe hin in Frieden und sei

gesund von deiner Plage."

Diese Gedanken drängten sich dem Schreiber unwillkürlich

auf bei dem Sinnen über die ersten sieben Verse

unsers Kapitels. Der Geliebte offenbart hier Seiner

Geliebten in bemerkenswerter Weise Seine Gedanken über

sie, über ihre fleckenlose Schönheit in Seinen Augen. Er

sitzt gleichsam da und betrachtet mit inniger Freude jeden

Zug Seiner lieblichen Braut; und dann redet Er zu ihr

von Seiner bewundernden Liebe. „Du hast mir das Herz

geraubt, meine Schwester, meine Braut." Ein solches Lob

von menschlichen Lippen würde höchst verderblich sein;

wenn es aber von Seinen Lippen kommt, so vertieft es

nur unsre Demut und macht uns Ihm ähnlicher. Es

füllt die Seele mit einer stillen und friedevollen Freude,

verbindet uns inniger mit Ihm und verwandelt uns mehr

in Sein Bild.

Nachdem Er der Braut in allgemeinen Ausdrücken

versichert hat, daß sie „schön" sei in Seinen Augen, zählt

Er sieben verschiedene Eigenschaften auf, die Er mit

Freuden betrachtet hat; und da jede einzelne Eigenschaft

in sich selbst vollkommen ist, so erblickt Er in ihr die

Vereinigung von Vollkommenheit und Schönheit: „Ganz

schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an

dir." (V. 7.) Die Genauigkeit, mit welcher der Herr sie

betrachtet, beweist das unendliche Interesse, das Er an

50

ihr nimmt. Die Zahl sieben erweckt zugleich den Gedanken

an Fülle und Vollendung. Und dürfen wir uns

darüber wundern? Der Gläubige ist in jeder Beziehung

vollkommen in Christo, lieblich in Seiner Lieblichkeit.

Christus hat alles, was von uns war, hinweggethan und

uns alles gegeben, was von Ihm ist. Deshalb heißt

es in Epheser 4 von uns: „ihr habt abgelegt den alten

Menschen und den neuen angezogen, der nach Gott geschaffen

ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit."

(V. 22 — 24.) — Doch werfen wir jetzt einen kurzen

Blick auf die einzelnen Eigenschaften der Braut.

„Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier."

Die Taube war nach dem Gesetz ein reines Tier. Sie

allein durfte von allem gefiederten Gevögel auf dem Altar

Gottes geopfert werden. Sie ist ein bekanntes Bild der

Demut, der Reinheit und Harmlosigkeit. „Deine Augen

sind Tauben." Das Auge wird oft in der Schrift zur Bezeichnung

des geistlichen Lichtes und Verständnisses gebraucht.

„Wenn nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer

Leib licht sein." (Matth. 6, 22.) Zugleich ist das Auge

der Taube sehr scharf. Sie entdeckt ihren Schlag schon

aus weitester Ferne. Wird sie fern von ihrer Heimat freigelassen,

so steigt sie in die Luft empor, höher und höher,

bis sie endlich kaum noch sichtbar ist; sie hält Umschau,

und dann fliegt sie plötzlich geradeswegs und eiligst heimwärts.

O möchte auch unser Geistesauge ebenso scharf sein,

damit wir, nachdem wir einmal den auferstandenen Herrn

erschaut haben, alles, was dahinten ist, vergessen und uns

ausstrecken nach dem, was vor uns liegt! Unser Ziel ist

Christus in der Herrlichkeit droben; aber dieses Ziel muß

geschaut werden, ehe man ihm zustreben kann. Der Apostel

51

konnte sagen: „Eines aber thue ich: Vergessend was dahinten,

und mich ausstreckend nach dem, was davorne ist,

jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der

Berufung Gottes nach oben in Christo Jesu." (Phil. 3.)

Können wir dasselbe sagen? Ist es wahr auch von uns?

Wonach jagen wir? was ist unser Ziel? Der Herr gebe

uns Gnade, diese Fragen mit Aufrichtigkeit zu beantworten!

„Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den

Abhängen des Gebirges Gilead lagern." Der Geliebte

denkt bei diesem Vergleich vielleicht an das lange, glänzende

Haar der Ziegen des Morgenlandes. Zugleich erscheinen

diese dem beobachtenden Blick als eine Herde,

eine gesammelte Schar, die auf den fetten Weiden des Gebirges

Gilead lagert. Eine jede hat Ueberfluß, und sie

alle zusammen bilden eine Herde. — Der Apostel Paulus

sagt uns auch, daß das lange Haar der Schmuck des Weibes

sei; es ist ihr als ein Schleier gegeben. (1. Kor. 11, 15.)

Könnte nicht ferner in den Worten des Geliebten

ein Hinweis liegen auf das lange Haar des Nasiräers,

welches ein Bild der geistlichen Kraft war? Simsons

große Stärke lag in seinen sieben Locken; sie waren das

Symbol seines ungebrochenen Gelübdes, seiner Weihung

für Gott. Jeder Gläubige ist seiner Stellung nach ein

Nasiräer, und er sollte eS auch in seinem praktischen Verhalten

sein. Seine Kraft liegt in der Absonderung von

allem, was die Natur zu nähren und zu erregen vermag.

So lange Simsons Locken ungeschoren blieben, konnte der

Feind ihn nicht bezwingen. So lange er das Geheimnis

seiner Gemeinschaft mit Gott bewahrte, blieb der Geist in

Kraft bei ihm. Aber wie schwer wird es einem Nasiräer,

seine Locken in dem Schoße einer Delila zu bewahren!

52

Ach, daß die Finger einer Hure jemals die Locken eines

Nasiräers Gottes berühren sollten! Laßt uns deshalb mit

ernster Wachsamkeit und in stetem Gebet suchen, in Absonderung

von der Welt, in Gemeinschaft mit Christo und

in der Kraft des Geistes zu wandeln, damit wir niemals

in Gefahr kommen, unser Gelübde zu brechen und das

Geheimnis unsrer Gemeinschaft zu verraten!

„Deine Zähne sind wie eine Herde geschorner Schafe,

die aus der Schwemme heraufkommen, welche allzumal

Zwillinge gebären, und keines unter ihnen ist unfruchtbar."

Hier stellt der Vergleich mit großer Vollkommenheit jeden

einzelnen Punkt ans Licht. Inden geschornen Schafen

erblicken wir die Entfernung der Schuld der Natur, Regelmäßigkeit,

Ebenmaß. „Die aus der Schwemme heraufkommen"

— deutet auf Reinheit hin; sie sind gewaschen

in der Quelle, die alle Unreinigkeit wegnimmt. „Die

allzumal Zwillinge gebären" — redet von Fruchtbarkeit;

„keines von ihnen ist unfruchtbar" — nichts mangelt.

So erblickt des Herrn Auge volles Ebenmaß, Reinheit

und Fruchtbarkeit in derjenigen, die Er liebt.

„Deine Lippen sind wie eine Karmesinschnur, und

dein Mund ist zierlich." — Wie der Strom der Gnade

Gottes, der diese Welt durchfließt, mit dem Blute des

Kreuzes gefärbt ist, so sollte auch die Unterhaltung des

Gläubigen stets diesen Charakter tragen. „Ich hielt nicht

dafür", sagt Paulus, „etwas unter euch zu wissen, als

nur Jesum Christum, und Ihn als gekreuzigt"; und an

einer andern Stelle: „Von mir aber sei es ferne, mich

zu rühmen, als nur des Kreuzes unsers Herrn Jesu

Christi." (1. Kor. 2, 2; Gal. 6, 14.) O möchte sich

auch, um in der Sprache des Bildes zu reden, durch all

53

unser Reden eine Karmesinschnur hindurchziehen, damit es

dem Geliebten stets wohlgefällig sei!

Als Jesaja die Herrlichkeit des Herrn schaute, wurde

er zu dem Ausruf gebracht: „Wehe mir! denn ich bin

verloren; denn ich bin ein Mann von unreinen Lippen,

und inmitten eines Volkes von unreinen Lippen wohne

ich." Aber dann flog einer der Seraphim zu ihm, und

in seiner Hand war eine glühende Kohle, die er mit der

Zange vom Altar genommen hatte. Und er berührte den

Mund des Propheten damit und sprach: „Siehe, dieses

hat deine Lippen berührt; und so ist deine Ungerechtigkeit

gewichen und deine Sünde gesühnt." (Jes. 6.)

Die Karmesinschnur, welche Rahab in ihr Fenster

binden mußte, redet ebenfalls laut und deutlich von der

reinigenden und rettenden Kraft des Blutes Christi.

Allein wir können uns hier nicht weiter über diesen

Gegenstand verbreiten. Der Herr gebe uns aber, daß

wir unsre Lippen vor allem bewahren, was ihnen ihre

liebliche Frische in den Augen Jesu und unsrer Mitpilger

rauben könnte! „Euer Wort sei allezeit in Gnade, mit

Salz gewürzt, um zu wissen, wie ihr jedem einzelnen

antworten sollt." (Kol. 4, 6.)

„Wie ein Schnittstück einer Granate ist deine Schläfe

hinter deinem Schleier." Das Herz der Granate wird

hier als Bild der Schläfen der Braut benutzt. Der

Granatapfel ist eine köstliche Frucht von scharlachroter

Farbe, dessen weißrötliches Innere einen erquickenden,

säuerlichen Saft enthält. Der Vergleich erweckt den Gedanken

an Zartgefühl und Sittsamkeit, die sich in leichtem

Erröten kundgiebt. Ist der Gedanke richtig, so bedeutet er

eine gesegnete Veränderung für das Haus Jakob, welches

54

die Braut ja bildlich darstellt. Es gab eine Zeit, wo

der Herr von Seinem Volke sagen mußte: „Ich wußte,

daß du hart bist, und daß dein Nacken eine eiserne Sehne

und deine Stirn von Erz ist." (Jes. 48, 4.) Welch

ein Wechsel! Welche Wunder vermag die Gnade zu bewirken!

Statt jener Verhärtung und Verstockung erblickt

der Herr jetzt in Seiner Geliebten das Bild demütiger

Sittsamkeit und zarten Fühlens.

„Dein Hals ist wie der Turm Davids, der in

Terassen gebaut ist: tausend Schilde hängen daran, alle

Schilde der Helden." Der Turm Davids war verziert

mit den Zeichen seiner Siege. Er war ein gewaltiger

Kriegsheld. Der Herr errettete ihn aus der Hand aller

seiner Feinde und aus der Hand Sauls. Er bahnte

durch seine Siege den Weg zu der friedlichen Regierung

Salomos, seines Sohnes. Aber was waren sie alle im

Vergleich mit den Siegen des Königs-Messias? Das

ganze Buch Gottes ist gleichsam ein ununterbrochener

Bericht der Siege Christi. Aber der turmähnliche Hals

Seiner Braut, geschmückt mit zahlreichen Edelsteinen, stellt

die Siegeszeichen dar, die Er im Lande Judäa gewonnen

hat. Wir lesen von Israel als einem hartnäckigen

Volke, als hochmütig wandelnd mit gerecktem Halse.

Solche Bilder bezeichnen einen traurigen moralischen Zustand.

Hier aber ist durch des Herrn Gnade die Veränderung

vollständig, der Triumph Seiner Liebe ist ein

vollkommener. „Das Joch der Uebertretung" ist von dem

Halse der Tochter Zion entfernt. Statt widerspenstig

und hart zu sein wie eine eiserne Sehne, ist sie lieblich,

demütig, und doch zugleich schön und stattlich wie der

Turm Davids. Und der Herr betrachtet mit stiller

55

Wonne diese schönen Charakterzüge Seiner Braut. Die

heilige Freiheit und vollkommene Glückseligkeit Seines

Volkes wird dereinst in alle Ewigkeit das Gedächtnis an

die Triumphe Seiner Liebe bewahren.

Die siebente und letzte Eigenschaft der Geliebten

(V. 5) ist zunächst ein Zeichen voller moralischer Entwicklung,

der Bildung des Herzens für Christum, und

dann ein Bild der Ernährung, ein Mittel des Wachstums

und Segens für andere. Der Gegensatz zwischen

der Braut und „der kleinen Schwester" von Kap. 8, 8

ist bestimmt und belehrend. Man denkt, daß die völlige

Entwicklung der Braut und das Fehlen derselben bei der

„kleinen Schwester" den moralischen Zustand Judas und

Ephraims, oder der zwei Stämme und der zehn, darstellen.

Wenn die zwölf Stämme wiederhergestellt sein werden,

wird der Unterschied sich zeigen. Nichtsdestoweniger werden

auch die zehn Stämme sich der gesegneten Resultate

dessen, was geschehen ist, erfreuen. Ephraim aber werden

jene tiefen Herzensübungen fremd sein, durch welche Juda

in Verbindung mit dem Messias gegangen ist; und demzufolge

wird es auch die moralische Entwicklung entbehren,

welche durch diese Uebungen hervorgerufen wird. Als Christus

hienieden wandelte, verworfen und gekreuzigt wurde,

waren nur die zwei Stämme im Lande. Die zehn sind nie

aus ihrer Gefangenschaft zurückgekehrt; und ehe sie wieder

aus allen Völkern gesammelt und in ihr Land zurückgeführt

werden, wird Christus sich schon dem Hause Juda zu erkennen

gegeben haben als Der, der da kommt „in Macht

und Herrlichkeit". Der Ueberrest wird bei der Rückkehr

des Messias zumeist aus Angehörigen des Stammes Juda

bestehen. „Das Zwillingspaar junger Gazellen, die unter

56

den Lilien weiden", weist vielleicht auf die einheitliche

Verbindung zwischen Herz und Geist hin, die dann bei

dem Ueberrest vorherrschen wird im Blick auf den lange

ersehnten Messias. Sie finden ihre Freude jetzt da, wo

Er sie findet. „Er weidet unter den Lilien." Ihr Herz

fühlt sich zu Ihm hingezogen, alle ihre Zuneigungen vereinigen

sich in Ihm, der sich ihnen geoffenbart hat.

Zugleich wird Juda ein Mittel der Ernährung und

Segnung bilden, sowohl für die zehn Stämme als auch

für alle Völker der Erde. „Freuet euch mit Jerusalem

und frohlocket über sie, alle die ihr sie liebet; seid hocherfreut

mit ihr, alle die ihr über sie trauert! auf daß ihr

sauget und euch sättiget an der Brust ihrer Tröstungen,

auf daß ihr schlürfet und euch ergötzet an der Fülle ihrer

Herrlichkeit! Denn so spricht Jehova: Siehe, ich wende

ihr Frieden zu wie einen Strom, und die Herrlichkeit der

Nationen wie einen überflutenden Bach, und ihr werdet

saugen; aus den Armen werdet ihr getragen und auf den

Knieen geliebkost werden." (Jes. 66, 10 — 12.)

Nachdem der Bräutigam so mit tiefer Freude die

makellose Schönheit Seiner Braut betrachtet und beschrieben

hat, lesen wir: „Bis der Tag sich kühlt und die Schatten

fliehen, will ich zum Myrrhenberge hingehen und zum

Weihrauchhügel." (V. 6.) Spricht Er diese Worte, oder

kommen sie aus dem Munde der glücklichen Braut, die,

hingerissen von Seiner Liebe, da zu sein verlangt, wo Er

sich mit Vorliebe aufhält? Fast scheint es, als sei es die

Braut, die so den innersten Gefühlen ihres Herzens Ausdruck

giebt. Doch sei es, wie es sei, Er ruft ihr die herrlichen

Worte zu: „Ganz schön bist du, meine Freundin, und

kein Makel ist an dir!" — Anbetungswürdiger Herr!

„Auf daß nicht das Kreuz Christi zunichte

gemacht werde."

(1. Kor. 1, 17.)

Das Kreuz Christi bildet den Mittelpunkt der Ratschlüsse

Gottes in Gnade. Die Opfer des Alten Bundes

wiesen immer von neuem auf dasselbe hin; die Opfer des

tausendjährigen Reiches werden umgekehrt die Gläubigen

beständig daran erinnern. Die einen waren Vorbilder,

die andern werden Erinnerungs- oder Denkzeichen sein.

Das Opfer Christi war eine Notwendigkeit. Es gab keinen

andern Weg für Gott, um mit dem gefallenen Menschen

in Beziehung zu treten. „Gleichwie Moses in der Wüste

die Schlange erhöhte, also muß der Sohn des Menschen

erhöht werden, auf daß jeder, der an Ihn glaubt, nicht

verloren gehe, sondern ewiges Leben habe." (Joh. 3, 14.

15.) Selbst in der himmlischen Herrlichkeit wird der

Kreuzestod Christi das ewige Thema der Loblieder der

Erlösten, die Grundlage ihrer Anbetung bilden. Der bedeutungsvolle

„Ausgang", den der Herr in Jerusalem

erfüllt hat (Luk. 9, 31), wird dort völlig erkannt und in

würdiger Weise gepriesen werden. Die Majestät, Heiligkeit

und Gerechtigkeit Gottes, sowie Seine unendliche Liebe

und Weisheit, sind durch das Kreuz vollkommen ans Licht

gestellt und verherrlicht worden, und zwar im Gericht über

die Sünde und in der Erlösung und Befreiung des ver

58

lornen Sünders. Das Gute hat dort über das Böse gesiegt.

Christus hat die Fürstentümer und Gewalten ausgezogen

und sie öffentlich zur Schau gestellt. (Kol. 2, 13—15.)

Der Tod ist zunichte gemacht worden, und die Macht des

Bösen und seines Urhebers, des Widersachers aller Ratschlüsse

Gottes, hat am Kreuze eine vollständige Niederlage

erlitten. Es ist erwiesen worden, daß das Thörichte

Gottes weiser ist als die Menschen, und das Schwache

Gottes stärker als die Menschen. (1. Kor. 1, 25.) Alles

das zeugt von dem unendlichen Werte, sowie von der

Notwendigkeit des Kreuzes Christi.

Andrerseits ist das Kreuz das Ende aller Anmaßungen

des Menschen und der Welt, indem es gezeigt hat, daß

der wahre Zustand beider unversöhnlich ist mit der Herrlichkeit

Gottes. Daher der Haß und die Feindschaft der

Welt gegen das Kreuz Christi: es war den Juden ein

Anstoß, und den Nationen eine Thorheit. (1. Kor. 1, 23.)

Heute ist es nicht anders; die Gesetzlichkeit stößt sich an

dem Kreuze, die Vernunft nennt es eine Thorheit. Der

stolze Mensch kann es nicht ertragen, alle seine vermeintlichen

Vorzüge, seine eigene Gerechtigkeit, seine Kenntnisse,

Fähigkeiten und Weisheit als untauglich und wertlos beiseite

gesetzt zu sehen, und er möchte gern das Kreuz aus

dem Wege räumen, oder ihm wenigstens seine Schärfe

und ernste Bedeutung nehmen. Dieses Streben kann selbst

den Christen gefährlich werden, wenn sie nicht wachsam

sind. Schon zur Zeit des Apostels gab es solche, die er

als „Feinde des Kreuzes Christi" bezeichnen mußte. (Phil.

3, 18.) Auch bei den Gläubigen zu Korinth machte sich

dieses Streben bemerkbar, indem sie großen Wert legten

auf Menschen-Weisheit und äußern Schein. Das Hohe

59

dieser Welt, das was vor Augen ist, zog sie mächtig an

und verdarb ihr geistliches Urteil.

Paulus redet deshalb ernst zu ihnen. Er zeigt ihnen

die Verwerflichkeit eines solchen Strebens, indem er ihnen

in scharfen Worten ihren fleischlichen Zustand vorhält und

sie daran erinnert, in welch schroffem Gegensatz sie sich

dadurch zu Gott und Seinem Thun stellten. „Wo ist

der Weise? wo der Schriftgelehrte? wo der Schulstreiter

dieses Zeitlaufs? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt

zur Thorheit gemacht? . . . Das Thörichte der Welt hat

Gott auserwählt, auf daß Er die Weisen zu Schanden

mache; und das Schwache der Welt hat Gott auserwählt,

auf daß Er das Starke zu Schanden mache; und das

Unedle der Welt und das Verachtete hat Gott auserwählt,

und das, was nicht ist, auf daß Er das, was ist, zunichte

mache, damit sich vor Gott kein Fleisch rühme."

Ferner sagt er ihnen, daß Christus ihn gesandt habe,

„das Evangelium zu verkündigen, nicht in Redeweisheit,

auf daß nicht das Kreuz Christi zunichte gemacht

werde". Er erinnert sie daran, daß er nicht nach „Vortrefflichkeit

der Rede oder Weisheit" zu ihnen gekommen

sei, als er ihnen das Zeugnis Gottes verkündigt habe, sondern

daß er bei ihnen gewesen sei „in Schwachheit und in

Furcht und in vielem Zittern". (Kap. 2, 1—5.) Ferner

macht er sie darauf aufmerksam, daß sie bei all ihrem

Trachten nach weltlicher Weisheit und hohen Dingen keine

geistlichen Fortschritte gemacht hatten: „Und ich, Brüder,

konnte nicht zu euch reden als zu Geistlichen, sondern

als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christo. Ich

habe euch Milch zu trinken gegeben, nicht Speise; denn

ihr vermochtet es noch nicht, aber ihr vermöget es auch

60

jetzt noch nicht, denn ihr seid noch fleischlich." (Kap. 3,

1—3.) Sie rühmten sich der Menschen; und mit einem

Ernst, der in tief beschämender Weise sie darauf hinwies,

wem ihr Rühmen eigentlich hätte gelten sollen, fragt der

Apostel sie: „Ist Paulus für euch gekreuzigt, oder

seid ihr auf Paulus' Namen getauft worden?" Wie niederschmetternd

und demütigend sind diese Worte für alle, die

einem Menschen den ersten Platz einräumen, anstatt Christo!

Mit welchem Eifer war der Apostel bemüht, daß nicht

das Kreuz Christi zunichte gemacht, sondern die Schranke

aufrecht erhalten werde, welche die Anmaßungen und den

Ruhm des Menschen zerstörte und die Herrlichkeit Gottes

sicherte. „Also ist weder der da pflanzt etwas, noch der

da begießt, sondern Gott, der das Wachstum giebt."

(Kap. 3, 7.) „Wer sich rühmt, der rühme sich des

Herrn."

Die Gefahr, daß das Kreuz Christi zunichte gemacht

werde, ist in unsern Tagen des Verfalls größer als je.

Die bekennende Kirche hat ihm bereits seinen wahren

Charakter genommen. Es ist heute nicht mehr ein Zeichen

der Schmach und Verachtung, sondern vielmehr ein Ehrenzeichen.

Zugleich ist die Person Christi der großen Masse

der Bekenner kaum noch dem Namen nach bekannt, und

Seine Autorität wird längst nicht mehr von ihnen anerkannt.

Ein Mann wie Paulus, von schwächlicher Gestalt

und unkundig in der Rede (2. Kor. 10, 10 und 11, 6),

wäre kein Mann für sie. Würde er auch, bekleidet mit

der Autorität Christi, ohne Furcht und in der Kraft des

Geistes die Wahrheit verkündigen, so würde er doch

keinen Eindruck auf sie machen, kein Gehör finden. Die

bekennende Kirche muß Männer haben, die dem herrschenden

61

Geschmack entsprechen: tüchtige Redner, von ansehnlichem

Aeußern und gewaltiger Stimme, die da reden, wie es

den Leuten „in den Ohren kitzelt". (2. Tim. 4, 3.) Was

müssen die Folgen davon sein und was das Ende! Sicher

kann man auch heute fragen: „Wo ist der Weise? wo der

Schriftgelehrte? wo der Schulstreiter dieses Zeitlaufs?"

Die bekennende Kirche steht mit der Welt auf einem

Boden, und wird auch mit ihr endigen im Gericht. Gott

kann es um Seiner eignen Herrlichkeit und um der tiefen

Erniedrigung Seines geliebten Sohnes willen nicht zu--

geben, daß das Kreuz Christi zunichte gemacht werde.

Das Kreuz ist die einzige Grundlage, auf welcher Er mit

uns sein und uns Seiner Kraft und Segnungen teilhaftig

machen kann. Sobald dies nicht mehr anerkannt wird,

sobald die Einfalt verloren geht und man der mit dem

Evangelium vom Kreuze verbundenen Schmach aus dem

Wege zu gehen sucht, machen die traurigen Folgen sich

geltend; und diese sind: Abnahme des geistlichen Lebens,

der geistlichen Frische und Kraft, Verweltlichung und

schließlich völlige Gleichstellung mit der Welt.

Dem Auge des nüchternen Gläubigen kann es nicht

entgehen, daß sich die erwähnten traurigen Folgen auch

unter uns bemerkbar machen. Die Frische des Herzens

und das Interesse für die Person und das Wort des

Herrn haben vielfach einem gewissen Sattsein und einem

zunehmenden Weltsinn Platz gemacht. Die Gegenwart des

Herrn und die Leitung des Heiligen Geistes inmitten der

Versammlung genügen manchem nicht mehr; man ist nur

befriedigt, wenn hervorragende Persönlichkeiten oder Gaben

in der Mitte sind. Ist dies auch, Gott sei Dank, nicht

der allgemeine Zustand der Gläubigen, so sind es doch

62

bedenkliche Symptome. Die Gefahr liegt uns nahe, daS

Kreuz Christi zunichte zu machen und uns dem Geschmack

der Welt ein wenig anznpassen; man möchte so gern etwas

von dem haben, was ihren Beifall findet. Und diese

Gefahr ist um so größer, je mehr die Versammlungen

nach außen hin zunehmen. Wie leicht kann da der Charakter

der Einfalt und Einfachheit, der einer im Namen

Jesu versammelten Gemeinschaft von Gläubigen eigen ist,

verloren gehen, indem die Augen der Anwesenden, statt

auf den Herrn in der Mitte, auf irgend einen Bruder

gerichtet sind! Würde es nicht wohl manchem auffallend

oder gar anstößig erscheinen, wenn in einer großen Versammlung

ein Mann aufstehen und das Zeugnis Gottes

verkündigen würde, nicht in „Redeweisheit" oder nach

„Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit", sondern in

Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern, wie

Paulus es einst that in Korinth? Ich fürchte, daß er an

manchen Orten Anstoß erregen würde, selbst wenn er in

„Erweisung des Geistes und der Kraft" redete. Das

Trachten nach hohen Dingen und die Liebe zur Welt,

das Blicken auf das was vor Augen ist, der Mangel eines

ganzen Herzens für Christum und das Fehlen der wahren

Unterwürfigkeit unter Sein Wort sind Dinge, die leider

nicht vereinzelt dastehen. Sie beweisen, daß das Kreuz

Christi für viele Gläubige nicht mehr das ist, was es für

Gott und die Heiligen in der Herrlichkeit ist und sein wird;

daß wir in Gefahr stehen, die engen Grenzen zu überschreiten,

die das Kreuz gezogen hat, um einen weiteren

Spielraum zu haben für die Dinge des Fleisches.

Der treue Apostel mußte gerade deswegen den Haß

der Welt und der Juden in so bitterer Weise erfahren,

63

weil er nicht ihnen zu Gefallen diese Grenzen überschreiten

wollte. Hätte er sich herbeigelassen, die Wahrheiten des

Christentums nur ein wenig den jüdischen Einrichtungen

anzupassen, so würde er dem Haß der Juden sofort die

Spitze abgebrochen haben; das Aergernis des Kreuzes

wäre hinweggethan gewesen, und seine Verfolgungen hätten

ein Ende gehabt. Aber wo wäre die Herrlichkeit Gottes

geblieben? Doch die Liebe des Apostels zum Herrn war so

groß, seine Treue so unerschütterlich, daß weder die Freundschaft

noch die Feindschaft der Juden ihn bewegen konnte,

ihnen auch nur „eine Stunde durch Unterwürfigkeit" nachzugeben,

„auf daß", wie er selbst sagt, „die Wahrheit

des Evangeliums bei euch verbliebe". (Gal. 2, 5; 5, 11.)

Mit derselben Entschiedenheit übte er auch der Versammlung

gegenüber seinen Dienst aus in Uebereinstimmung

mit der tiefen Erniedrigung seines Herrn und Heilandes.

Die Ehre Dessen, der sich für ihn erniedrigt hatte, ging

ihm über alles, und er wollte gleich seinem Herrn nicht

mehr sein als ein Diener, als der Letzte von allen; in

den Augen der Gläubigen wollte er nicht mehr gelten,

als was sie an ihm sahen oder von ihm hörten. (2. Kor.

12, 6.) Würde er gesucht haben zu glänzen, so würde er

sicher gerade in Korinth großes Gewicht auf „Redeweisheit"

gelegt haben; er würde es sich haben angelegen

sein lassen, seinen Dienst doch in etwa ihrem fleischlichen

Geschmack anzupassen. Aber nein; das Kreuz Christi hatte

einen zu tiefen Eindruck auf ihn gemacht, als daß solch

eitle Gedanken Raum in seinem Herzen hätten finden können.

Aus demselben Grunde konnten ihn weder Habsucht, noch

Menfchengefälligkeit, noch irgendwelche unreinen Beweggründe

in seinem Dienste beeinflussen. (1. Thess. 2, 3—5.)

64

Gebe der Herr, daß Sein Kreuz mehr vor unsern

Augen stehe! Es ist das einzige wahre Heilmittel in

unsern Tagen des Verfalls gegen den lähmenden und

tötenden Einfluß der Dinge um uns her. Der Apostel

wandte dieses Heilmittel an, indem er den Korinthern

schrieb: „Denn ich hielt nicht dafür, etwas unter euch zu

wissen, als nur Jesum Christum, und Ihn als gekreuzigt."

(1. Kor. 2, 2.) Wenn jemand nie wirklich

unter dem Eindruck des Kreuzes Christi gestanden hat, so

hat er auch noch nie sein gänzliches Verderben, aber auch

noch nie die Liebe Gottes wahrhaft erkannt. Am Kreuze

sehen wir, was wir sind, aber auch, was Gott für

uns ist. Darum ist es nötig, hier Halt zu machen und

keinen Schritt weiter zu gehen, bis wir die Lektionen des

Kreuzes gelernt und unsern Herzen tief eingeprägt

haben. Nur dann werden sie auch in unserm Wandel

zum Ausdruck kommen, und wir werden erfahren, daß

das Wort vom Kreuze für uns „Gottes Kraft und

Gottes Weisheit" ist. (1. Kor. 1, 23. 24.) Erst dann

wenn wir mit uns zu Ende gekommen sind, kann Gott

anfangen, durch uns zu wirken; denn das Bewußtsein

unsrer Schwachheit und die Kraft Gottes gehen stets

Hand in Hand. Niemand ist so stark und weise wie ein

Christ, dessen Ausgangspunkt das Kreuz Christi ist. Es ist

für ihn dasselbe, was Gilgal einst für Israel war. (Jos.

5, 9.) Dort war mittelst der Beschneidung die Schande

Aegyptens von Israel abgewälzt worden; dort war ihr

Lager, von wo sie auszogen zum Kampf gegen die Feinde,

und wohin sie nach ihren Siegen zurückkehrten. In ähnlicher

Weise hat am Kreuze unsre Beschneidung, der Tod des

alten Menschen, stattgefunden, und die Schande der Welt

65

ist dadurch von uns abgewälzt worden. Aber dort müssen

wir auch unser Lager haben; wir müssen stets von

dort ausgehen, stets dahin zurückkehren, das heißt allezeit

dessen, was am Kreuze geschehen ist, unsers Gestorbenseins

mit Christo, eingedenk bleiben. So lange Israel Gilgal

zu seinem Ausgangspunkt hatte, blieb es siegreich; sobald

eS davon abließ, war seine Kraft gebrochen, und der

Verfall trat ein. (Siehe Richt. 2, 1—5.)

Welch eine ernste Mahnung für uns, zu wachen und

das Kreuz Christi stets zu unserm Ausgangspunkt zu

machen; denn nur dann wird unsre geistliche Energie bewahrt

bleiben, nur dann der eigentlich christliche Charakter,

das himmlische Wesen des Christentums, in uns sich

kundgeben, samt wahrer Niedriggesinntheit, Gnade und

wahrhaftiger Heiligkeit. Alle diese kostbaren Dinge kamen

an dem Kreuze zum Ausdruck. Es war das Kreuz

Christi, des Sohnes Gottes, der sich freiwillig so tief

erniedrigte, um Sein Leben als Lösegeld zu geben für

viele. (Mark. 10, 45.) Und unter welchen Umständen

opferte Er dieses teure Leben! Ach! unter den Lästerungen,

dem Hohn und Spott der Umstehenden, inmitten der

„Hunde" und einer „Rotte von Uebelthätern" (Psalm

22, 16), die Ihm zuriefen: „Wenn Er Israels König

ist, so steige Er jetzt herab vom Kreuze, und wir wollen

Ihm glauben". (Matth. 27, 42.) Aber als der Sanftmütige

und von Herzen Demütige harrte Er aus und

ließ Sein Leben, damit die Gnade freien Lauf habe gegen

elende, verlorene Sünder. Da war keine Erregung des

Fleisches, keine Bitterkeit des Herzens. „Vater, vergieb

ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!" war Seine

Antwort auf den bittern Haß und die schreckliche Feind-

66

schäft des Menschen. (Luk. 23, 34.) Geprüft bis zum

Aeußersten, sowohl durch Seine Jünger als auch durch

Seine Feinde, gequält von den schrecklichsten Leiden, zeigte

sich nur Seine vollkommene Heiligkeit, Sein gänzliches

Abgesondertsein von der Sünde, Seine unendliche Liebe,

Sein unergründliches Erbarmen, Seine vollkommene Unterwürfigkeit

und Demut.

Christlicher Leseri Könnten wir uns nun erheben

und etwas aus uns selbst machen wollen? Könnten wir

irgendwie zu glänzen suchen oder der dem Fleische angeborenen

Kreuzesscheu und Furcht vor der Schmach Christi

Raum geben angesichts solcher Thatsachen? Sollte nicht

vielmehr tiefe Scham unser Angesicht röten, wenn wir

den Hang nach solchen Eitelkeiten in uns entdecken, während

unser Herr und Heiland in so tiefer Erniedrigung war?

Sollten wir unsre eigene Ehre suchen oder auf unserm

Recht bestehen, während Er in Seiner Gnade und Liebe

alles erduldete und ertrug, um uns zu retten? O

möchten unsre Blicke allezeit fest auf das Kreuz Christi

gerichtet bleiben! und laßt uns allen Ernstes darauf

achten, daß es in keiner Weise durch uns zunichte gemacht

werde! Möchten wir stets mit dem Apostel sagen

können: „Allezeit das Sterben Jesu am Leibe umhertragend,

auf daß auch das Leben Jesu an unserm Leibe

offenbar werde!" (2. Kor. 4, 10.)

Jerobeam, der Sohn Joas^.

(2. Kön. 14, 23-29.)

Ueber Jerobeam, den Sohn des Joas, König von

Israel, berichtet das Wort Gottes nur wenig; aber selbst

67

dieses Wenige wird, wenn wir es mit Aufmerksamkeit

und unter Gebet betrachten, für unsre Herzen von

Segen sein.

Jerobeam war ein gottloser König; er that, was

böse war in den Augen Jehovas und wich nicht von allen

Sünden Jerobeams, des Sohnes NebatS. Trotzdem erlaubte

ihm Gott, die Grenze Israels wiederherzustellen

vom Eingänge Hamaths bis an das Meer der Ebene.

Den Grund dazu finden wir im 26. Verse: „Jehova sah,

daß das Elend Israels sehr bitter war." Also nicht um

Jerobeams willen half der Herr, auch nicht um des Volkes

willen; denn beide waren in einem schlechten Zustande.

Es war vielmehr Sein unergründliches Erbarmen, das Ihn

trieb, sich Seines Volkes anzunehmen. Eine wichtige Belehrung

für uns! Wenn Gott Segen giebt, so schließen

wir leicht daraus, daß die Personen oder Körperschaften,

die diesen Segen genießen, sich in einem guten Zustand

befinden oder Gott wohlgefällig sein müßten. Allein Gott

kann segnen, und Er thut es, rein aus Seinem Erbarmen

heraus. „Er läßt Seine Sonne aufgehen über Böse und

Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte."

Jener Schluß kann also sehr irrig sein. Der gute Zustand

einer Person oder Gemeinschaft giebt sich nach außen

vor allem darin kund, daß das Böse, mag es in einer

Form sich zeigen, in welcher es will, sofort erkannt und

gerichtet wird. In einer solchen entschiedenen Verurteilung

des Bösen offenbart sich ein Leben bewußter Gemeinschaft

mit Gott, sowie wahre geistliche Kraft.

Mit den beiden Vorgängern Jerobeams stand es in

gewisser Beziehung besser als mit ihm, obwohl auch von

ihnen gesagt wird, daß sie thaten was böse war in den

68

Augen Jehovas. Von dem König Joahas lesen wir z. B.

(2. Kön. 13, 4), daß er zu Jehova flehte und erhört

wurde. Sein Gebet gab Jehova Veranlassung, ihm zu

helfen. Ferner erlangte Joas, des Joahas Sohn, durch

Elisas Vermittlung und einen, wenn auch nur geringen

Glauben seinerseits, einen dreimaligen Sieg über die

Syrer. Doch von Jerobeam, dem Sohne und Enkel jener

Männer, wird mit keiner Silbe erwähnt, daß er durch

sein Verhalten Jehova irgendwie Anlaß gegeben hätte,

helfend und rettend einzugreifen. Wir lesen weder von

Gebet, noch von der geringsten Bethätigung des Glaubens.

Er und sein Sohn verdankten ihren Platz auf dem Throne

Israels einzig und allein der Verheißung Jehovas an

Jehu, daß ihm Söhne des vierten Gliedes auf dem Throne

Israels sitzen sollten. Und doch war, wie wir gesehen

haben, Jerobeam unter allen Königen Israels derjenige,

welcher nicht nur zu der längsten Regierung, sondern auch

zu der höchsten Machtentfaltung des Reiches berufen war.

Er brachte Damaskus und Hamath wieder an Israel, die

Hauptstädte der Syrer, welche einst David und Salomo

denselben genommen und in Besitz gehabt hatten. Die

alte Glanzperiode des Reiches schien damit wieder anbrechen

zu wollen. Freilich erkannte man im Innern sofort,

daß es nicht die Zeit Davids oder Salomos war.

Erstlich war das Reich geteilt, und dann war der Mittelpunkt

der Hauptmacht nicht Jerusalem, sondern Samaria.

Das Traurigste von allem aber war, daß das Bethel

(Gotteshaus) Israels ein Beth-Awen (Götzenhaus) geworden

war. (Vergl. Hosea 4, 15 u. 1. Kön. 12, 29.)

Mit der größten Machtentfaltnng nach außen verband

sich also Wohlleben im Innern, wie wir dies aus den

69

Schilderungen der Propheten Hosea und Amos sehen;

und dabei: Zertrennung, Herrschaft eines Königs, den

zwar die Treue Gottes Seinen Verheißungen gegenüber

aufrecht erhielt, der sich aber um Gott nicht kümmerte.

Es war die Herrschaft des Menschen, den Gott in Seiner

Gnade stützte, um Sein Wort zu erfüllen, der aber nichts

nach Gott fragte, sondern den Gottesdienst des Menschen,

oder, was dasselbe sagen will, Götzendienst übte. Es

war ein ausgesprochen staatlich-religiöses System, ein Vorbild

des Staatskirchentums unsrer Tage. Der Priester

Amazja nennt Bethel „ein Heiligtum des Königs" und

einen „königlichen Wohnsitz". (Amos 7, 13.) Der Name

Jehovas wurde benutzt, doch nur um den Staat zu stützen

und seine Politik zu fördern. Und einem solchen Reiche

und einem solchen Manne ließ Gott noch Hülfe und

Rettung widerfahren, trotzdem sich keine Spur von Buße

und Umkehr zeigte! O mit welcher Langmut hat Er doch

zu aller Zeit die Gefäße des Zornes getragen, zubereitet

zum Verderben!

UeberdieS war Syrien als Zuchtrute Israels end-

giltig hinweggethan. Wir finden sogar später den König

Pekach von Israel mit dem König Rezin von Syrien im

Bunde gegen Ahas, den König von Juda. Ja, Israel

stand mächtig da; aber es war nur das Reifen zum

Gericht, welches mit ihm als Volk ein Ende machen sollte.

Indem Gott die Syrer beiseite thut, läßt Er die Assyrer

sich nähern, welche die Vollstrecker Seines Strafurteils an

Israel sein sollten. Derselbe Prophet Jona, der Sohn

Amittais, der den Sieg über die Syrer durch Jerobeam

angekündigt hatte (siehe 2. Kön. 14, 25), wird nach

Ninive, der Hauptstadt Assyriens, gesandt, um durch seine

70

Predigt das Herz des Königs und Volkes zu erreichen.

Gott bereitete sich die Rute Seines Zornes zu (Jes. 10, 5),

und dann folgt Angriff auf Angriff seitens der Assyrer

gegen Israel, bis Salmaneser das Volk in die Gefangenschaft

führt. Jerobeam, der Sohn Joas', ist der letzte

König, mit dem sich Gott noch beschäftigt; mit ihm schließt

die Geschichte Israels, wenigstens was das Königtum

betraf, vor Gott ab. In den Schriften von Hosea und

Amos geschieht seines Namens noch Erwähnung, während

feine Nachfolger nicht mehr genannt werden, obgleich Hosea

wenigstens noch unter der Regierung derselben geweissagt

hat. Wenn Gott sich nachher noch an Israel wendet,

wie durch den Propheten Oded (2. Chron. 28, 9—13),

oder durch Hiskia, der das Volk aufforderte, das Passah

mitzufeiern — die letzte feierliche und rührende Einladung,

welche an Israel erging, zu Jehova umzukehren, und die

etwa drei Jahre vor dem Beginn der Belagerung Sama-

rias durch Salmaneser stattfand — so wendet er sich an

das Volk, nicht mehr an den König.

Sekarja, der Sohn Jerobeams, wurde nach nur

sechsmonatlicher Regierung erschlagen und damit der Herrschaft

des Hauses Jehus ein Ziel gesetzt. Was noch in

der Regierung folgte, war ein Haufe Verschwörer und

Thronräuber. Mit einem Königtum, mit welchem Gott

sich noch beschäftigen konnte, wie zu den Zeiten Elias und

Elisas, war es zu Ende. Gott hatte den Königen von

Israel nichts mehr zu sagen; aber die Rute Seines

Zornes war geschwungen und fiel in immer wuchtigeren

Schlägen auf den verhärteten Nacken des Volkes und

seiner Führer. Elia und Elisa hatten noch versucht, das

Volk und Königtum zu Gott zurückzuführen. Es hatte

71

damals wenigstens noch eine Verbindung zwischen dem

Königtum und Gott vermittelst dieser Propheten bestanden.

Joas, der Vater Jerobeams, hatte noch über dem sterbenden

Elisa gerufen: „Mein Vater, mein Vater! Wagen

Israels und seine Reiter!" Aber nachdem Jona die letzte

Hilfe Jehovas, die Er dem Volke zukommen lassen wollte,

angekündigt hatte, wurde er nach Ninive geschickt, und

Hosea und Amos erklärten, daß das Volk seinen Platz

vor Gott verloren habe, und daß das Ende des Königtums

gekommen sei.

Noch ein gewaltiges Zeugnis legte Gott vor Volk

und König ab, das Amos zuvor anküudigen mußte (siehe

Amos 8, 8 und 9, 5. 6), und dessen Sacharja nach der

Rückkehr aus Babel noch gedenkt (Sach. 14, 5): das

Erdbeben. Es geschah in den Tagen, als Ussija, König

von Juda, und Jerobeam gleichzeitig regierten. Es ist

ein Vorbild für die letzten Tage, und wird seine Erfüllung

finden, wenn der jüdische Ueberrest fliehen wird und der

Herr erscheint. Das Wort Haggais: „Noch einmal, da

werde ich erschüttern den Himmel und die Erde und das

Meer und das Trockene," scheint auf dieses Erdbeben

zurückzuweisen. Es war ein ernster Warnungsruf. Das

ganze Land erbebte; es wogte insgesamt auf wie der Nil

und sank wieder zurück wie der Strom Aegyptens. Es

mahnte König und Volk, daß Land und Bewohner, so

mächtig sie auch äußerlich dastehen mochten, in den Händen

Jehovas waren, „der Seine Obergemächer im Himmel

gebaut und Seine Gewölbe über der Erde gegründet hat".

Jehova bestätigte das Wort, das Er durch Seinen Knecht

geredet hatte. Es war ein letzter Mahnruf zur Buße an

König und Volk.

72

Aber ach I auch diese Stimme scheint überhört worden

zu sein. Das Endgericht, welches mit Sturmeseile herannahte,

wurde nicht gesehen. Als das Entsetzen über das

schreckliche Naturereignis sich gelegt hatte, schritten König

und Volk sorglos auf dem alten Wege weiter. Welch

ein sündliches Wohlleben damals in Israel herrschte, geht,

wie schon erwähnt, aus den Schriften der zwei letzten

Zeugen Gottes an sie, Hosea und Amos, hervor. Die

Zuchtrute (Syrien) war zerbrochen, ja in die Hand Israels

gegeben, das Königtum war befestigt, die alten Grenzen

des Reiches wiederhergestellt, Joas hatte sogar über Juda

triumphiert, das Erdbeben war vorüber — warum also sich

ernster Sorge hingeben? König und Volk machten es wie

die Leute in den Tagen Noahs: „Sie aßen, sie tranken,

sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten."

Und ist es in unsern Tagen nicht gerade so? Der

Herr Jesus hat einst gesagt: „Desgleichen wird es an

dem Tage sein, da der Sohn des Menschen geoffenbart

wird." Und wir brauchen uns nur umzuschauen, um zu

sehen, wie göttlich wahr dieser Ausspruch ist. Ja, ich

möchte noch einen Schritt weitergehen und fragen: Ist

es nicht selbst bei den Gläubigen oft so, daß sie, wenn

der Herr eine zu ihrer Unterweisung gebrauchte Zuchtrute

beiseite thut, bald aller Zucht vergessen? Es ist nicht

immer ein Beweis von einem guten Zustande bei uns,

wenn der Herr die Rute weglegt, mit der Er uns schlug.

„Wen der Herr liebt, den züchtigt Er." Auch „rühmen

wir uns der Trübsale." Paulus konnte den Dorn für

das Fleisch nicht entbehren. Es ist ernst, wenn der Herr

sagen muß: „Warum solltet ihr weiter geschlagen werden,

da ihr nur den Abfall mehren würdet?" So war es

73

einst bei Israel und Juda (Jes. 1, 5); und es ist sehr

zu befürchten, daß dieser Zustand völliger Unempfindlichkeit

für das, was der Herr Seiner Kirche sagen will, die

Christenheit heute schon in vorgeschrittenem Maße charakterisiert.

Ist er in seiner vollen Reife vorhanden, so ist

jeder Schlag, jedes Wort umsonst. Der Herr hört auf

zu züchtigen und zu warnen. Das hereinbrechende Verderben

muß seinen Lauf nehmen. O möchte der Herr

uns allen ein offnes Ohr, ein zartes Gewissen geben für

jeden Wink, jede Mahnung, jede Rüge, jede Züchtigung!

Möchte ein jeder von uns wissen, was Er ihm und uns

allen zu sagen hat! „Wer ein Ohr hat, höre!"

Die halbe Reformation, die von Jehu ins Werk gesetzt

wurde (2. Kön. 10), war nur eine Station auf dem

Wege zum völligen Untergang. Diesem ging dann wohl

noch eine kurze Zeit der Machtentfaltung voraus, die das

Volk der Güte Gottes verdankte; sie konnte aber das

Verderben nicht aufhalten. Wird es der Christenheit nicht

ebenso ergehen? Sind alle diese Dinge nicht zum Vorbilde

und zur Belehrung für uns geschrieben? Ich glaube,

daß die Christenheit unsrer Tage gerade aus der Zeit

Jerobeams, des Sohnes Joas', wichtige und ernste Belehrungen

ziehen kann. Wie die Reformation Jehus den

Baalsdienst Jsebels beseitigte, so wurde durch den Protestantismus

dem Papsttum ein gewaltiger Stoß versetzt;

aber es war in beiden Fällen kein gründliches Aufräumen

mit allem, was nicht dem geoffenbarten Willen Gottes

entsprach. Es folgten viele und ernste Züchtigungswege

Gottes; aber es wurde ihnen kein Gehör geschenkt.

Heute hat der Herr gewissermaßen Ruhe gegeben; das

Evangelium wird in Fülle weithin verkündigt und feiert

74

Triumphe. Wie steht es? Ist nun alles gut? O möchte

niemand sich täuschen! Wenn in gegenwärtiger Zeit hie

und da Entfaltungen der Macht und des Segens Gottes

in der Mitte derer, die sich Christen nennen, sich offenbaren,

so sind das Beweise dafür, daß Gott gütig, daß Er voll

Erbarmen ist, aber keineswegs, daß es gut steht, daß der

Zustand ein Ihm wohlgefälliger ist. Lassen wir uns auch

nicht täuschen durch eifrige Geschäftigkeit nach außen hin!

Nachdem die thörichten Jungfrauen ihre Lampen geschmückt

und auch noch den Gang zu den Krämern gemacht hatten

(freilich zu spät!), empfing sie das Wort des Herrn: „Ich

kenne euch nicht." Mögen wir uns auch nicht dadurch

beirren lassen, daß der Mensch bemüht ist, äußerlich

alles wiederherzustellen wie zu den Tagen der Apostel,

und daß er scheinbar sein Ziel erreicht. Das Urteil des

Herrn über die Frucht all dieser Bemühungen lautet:

„Ich kenne deine Werke, daß du den Namen hast, daß

du lebest, und bist tot." Mag Laodicäa sich auch rühmen:

„Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts",

so ist doch das ernste Wort des Herrn: „Ich werde dich

ausspeien aus meinem Munde", bereits ausgesprochen und

wird bald in Erfüllung gehen. (Offbg. 3.) Das Gericht

ist angekündigt und wird vollzogen werden.

Noch ein letztes gewaltiges Zeugnis wird der abge-

fallenen Christenheit vorgestellt werden, aber daun wird

es zur Buße zu spät sein; ich meine die Entrückung der

Gläubigen. Der Herr wird kommen und die Seinigen

zu sich nehmen, damit sie auf ewig da seien, wo Er ist.

So wie einst Henoch nicht mehr gefunden wurde, weil

Gott ihn entrückt hatte, so wird auch die Welt nach der

Ankunft des Herrn die Gläubigen nicht mehr finden.

75

Sicher wird dieses wunderbare Ereignis die Herzen der

Menschen eine Zeitlang mit Erstaunen, vielleicht auch

mit Furcht und Schrecken erfüllen; aber ihre Gedanken

werden bald durch die hereinbrechenden Gerichte wieder

abgeleitet werden. Schreckliche Schläge des Zornes Gottes,

furchtbare Ausbrüche Seines Grimmes werden über sie

kommen. Angst und Entsetzen wird sie ergreifen, wie

einst zu den Zeiten des Erdbebens in Israel, als alle

trauerten, die in dem Lande wohnten. Was die Israeliten

damals fühlten, war nur ein kleiner Vorgeschmack von

dem, was am Ende der Tage über die ungläubigen Bewohner

dieser Erde kommen wird. Denn „dann wird

Bedrängnis der Nationen sein in Ratlosigkeit bei brausendem

Meer und Wasserwogen, indem die Menschen verschmachten

vor Furcht und Erwartung der Dinge, die über

den Erdkreis kommen." (Luk. 21, 25. 26.)

Glücklich ein jeder, der in Jesu geborgen ist, um

allem diesem zu entfliehen, und der unter Wachen und

Beten in Abhängigkeit von Ihm und in Gemeinschaft mit

Ihm Seinem Kommen entgegenharrt! Geliebter Leser, bist

du geborgen? Und wenn du geborgen bist, wachst du?

„Komm mit mir!"

(Hohe!. 4, 8.)

„Mit mir vom Libanon herab, meine Braut, mit

mir vom Libanon sollst du kommen; vom Gipfel des

Amana herab sollst du schauen, vom Gipfel des Senir

und Hermon, von den Lagerstätten der Löwen, von den

Bergen der Panther." — Wir befinden uns bei unserm

leider oft so sorglosen Umherwandern häufig viel näher

76

bei den „Lagerstätten der Löwen", als wir denken; wir

schweben vielleicht in großer Gefahr, und sind uns dessen

gar nicht bewußt. Hinter den anziehendsten Dingen der

Natur verstecken sich unsre schlimmsten Todfeinde. Der

„Libanon" (als Vorbild betrachtet) erweckt den Gedanken

an die höchste irdische Erhebung. Aber gerade dort, wo

sich dem natürlichen Auge eine so herrliche, fesselnde Aussicht

und den Sinnen so viel Anziehendes darbietet, lauert

der reißende Löwe und der grausame Panther.

Wir thun gut, hier einen Augenblick stehen zu bleiben

und uns daran zu erinnern, daß die lieblichsten Scenen

der Erde Feinde in sich bergen, die listiger und gefährlicher

sind als Löwen und Panther. Wie sind wir so

geneigt, unsre Augen umherwandern zu lassen und uns

mit dem zu beschäftigen, was die Natur anzieht und

befriedigt! O möchten wir mehr acht haben auf die

schwachen Seiten in unserm christlichen Leben, auf unsre

Neigungen und Liebhabereien! Manche Gläubige liebäugeln

mit der Welt und trachten nach ihren Vergnügungen —

nicht gerade nach solchen, die offenbar schlecht und verwerflich

sind, aber nach den sogenannten unschuldigen Freuden

dieses Lebens. Andere verlangen nach weltlichem Lesestoff,

nach Erzählungen, Romanen rc., und vernachlässigen das

lebendige Wort Gottes. Wieder andere gehen ganz auf

in ihren Geschäften und jagen nach den armseligen Gütern

dieser Welt. Alle solche Wege, und viele ähnliche,

führen zu „den Lagerstätten der Löwen", zu den Bergen

der Panther, d. h. sie bringen die Seele in große Gefahren.

Sie nähren die natürlichen Neigungen und fesseln

die Sinne, während das Herz ausdörrt und das göttliche

Leben verkümmert. Es giebt nur ein Auge, das die

77

Schlinge früh genug entdecken, nur eine Stimme, die

das Herz zur rechten Zeit von der Stätte der Gefahr

Hinwegrufen kann. Und dieses Auge, diese Stimme ist

das Auge und die Stimme des Geliebten. O wie gut,

daß Er über uns wacht, daß Er uns warnt und mit

zärtlicher Liebe uns zu sich ruft!

Nichts könnte lieblicher sein als die Art und Weise,

wie der hochgelobte Herr hier Seine Braut aus ihrer

gefährlichen Lage befreit. „Mit mir sollst du kommen",

sagt Er. Er ruft ihr nicht gebieterisch zu: „Gehe eilend

hinweg! Gefahr ist im Verzüge! Du stehst an dem Eingang

der Löwenhöhle!" Er ängstigt und erschreckt sie nicht.

Nein, „komm mit mir", so bittet Er, „mit mir vom

Libanon herab, meine Braut, mit mir vom Libanon." Er

sucht ihr Herz vom Libanon, der Stätte irdischer Freuden,

aber geistlicher Gefahr, abzulenken. Welch eine Gnade

giebt sich in dem Wörtchen „Komm!" kund. Wie klingt es

dem Ohre so viel angenehmer als ein gebieterisches „Geh!"

In dem einen drückt sich Gemeinschaft aus, in dem andern

Trennung.

„Kommt denn und laßt uns mit einander rechten",

ruft der Herr dem widerspenstigen Hause Israel zu;

und wenn dieser gnädigen Einladung Folge geleistet worden

ist, so beschäftigt und beunruhigt Er die Umkehrenden nicht

mit Beweisen ihres traurigen Verhaltens, sondern sagt:

„Wenn eure Sünden wie Scharlach sind, wie Schnee

sollen sie weiß werden; wenn sie rot sind wie Karmesin,

wie Wolle sollen sie werden." (Jes. 1, 18.) Welch eine

liebliche, gesegnete Art des Rechtens für einen schuldigen

Sünder! So kann nur der Herr rechten. Dieselbe Gnade

entfaltet Er, gepriesen sei Sein herrlicher Name! auch der

78

ganzen Welt gegenüber in jener alle umfassenden Einladung:

„Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und

Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben." (Matth.

11, 28.) Sobald die Einladung angenommen und befolgt

wird, ist das Resultat gesichert: „Ich werde euch Ruhe

geben", Ruhe von dem schweren Druck und Joch der

Sünde, Ruhe von euern eignen fruchtlosen Anstrengungen,

Ruhe mit mir selbst im Paradiese Gottes. Anbetungswürdiger

Herr! möchte dieses kostbare „Komm!" mehr

geschätzt werden von denen, die noch fern von Dir sind! —

Die ganze Schrift ist angefüllt mit diesem lieblichen, herzbewegenden

Wörtchen; und welcher Gläubige hätte nicht

schon den herrlichen Schluß dieser vielen „Komm!" der

Heiligen Schrift bewundert? „Und der Geist und die

Braut sagen: Komm! Und wer es hört, spreche: Komm!

Und wen da dürstet, der komme; wer da will, nehme das

Wasser des Lebens umsonst." (Offbg. 22, 17.)

Doch es giebt in dem liebevollen Zuruf des Bräutigams

noch zwei andere Worte, welche das Herz mit tiefer

Freude erfüllen; sie lauten: „mit mir". „Komm mit

mir!" Könnte man Worte finden, die mehr geeignet

wären, alle Furcht zu verbannen und dem Herzen volles

Vertrauen einzuflößen, wie schwierig die Umstände auch

sein mögen? Unmöglich. Wenn wir das Brüllen des

Löwen vernommen haben und wissen, daß er nahe ist, so

mögen wir wohl mit Besorgnis erfüllt sein; denn wo ist

unsre Kraft, um ihm zu widerstehen? Wir haben keine.

Aber diese drei Worte voll unvergleichlicher Gnade: „Komm

mit mir!" enthalten alles, was das Herz bedarf. Bei

Ihm ist die Braut in vollkommener Sicherheit, wie rauh

und steil der Pfad auch sein und wie drohend die Gefahr

79

sich ihr auch entgegenstellen mag. Indes ist das bloße

Entrinnen die geringste Gnade, welche jene Worte in sich

schließen. Sie geben zugleich auch der Freude Ausdruck,

welche der Bräutigam an der Gesellschaft Seiner Braut

findet. Ihre Gegenwart ist Seine Wonne. Wunderbare,

gesegnete Wahrheit! Dieser Gedanke übertrifft alle anderen

an Kostbarkeit. Der Herr erfreut sich an uns und verlangt

danach, uns bei sich zu haben! Selbstverständlich ist

Seine Freude in keiner Weise abhängig von dem Geschöpf,

denn Er ist sowohl Gott als Mensch und genügt sich selbst

vollkommen; Er ist der Unabhängige, der ewige, lebendige

Gott, der Jehova-Jesus. Aber als Sohn des Menschen

hat Er in Seiner wunderbaren Gnade und Liebe uns

gleichsam notwendig gemacht für die volle Entfaltung

Seiner Herrlichkeit und für Seine ewige Wonne. Die

Versammlung, welche Sein Leib ist, ist Seine Fülle.

(Eph. 1, 22. 23.) Und zu der Tochter Zion sagt Er

gleichfalls: „Höre, Tochter, und siehe, und neige dein

Ohr; und vergiß deines Volkes und deines Vaters Hauses!

Und der König wird deine Schönheit begehren; denn

Er ist dein Herr: so huldige Ihm." (Ps. 45, 10.11.)

Diese schöne Stelle wird dem Herzen der Braut, des

jüdischen Ueberrestes, bei der Rückkehr des Herrn in göttlicher

Kraft nahe gebracht werden. Der Herr sucht hier

ihre Gedanken und Neigungen von der alten jüdischen

Ordnung der Dinge, „dem Hause ihres Vaters", abzulenken

und sie ganz und gar der neuen Ordnung unter

dem Messias in Seiner königlichen Herrlichkeit entsprechend

zu bilden. Israel wird auf dieser Erde, in dem Lande

Immanuels gesegnet werden.

Der Geist Gottes hat diese kostbare Wahrheit: „mit

80

Christo", so eingehend und ausführlich in den Heiligen

Schriften entwickelt, daß wir wohl noch einen Augenblick

dabei verweilen sollten. Sie ist in dem unveränderlichen

Ratschluß Gottes festgestellt und zieht sich gleich einem

goldenen Faden durch alles hindurch. „Er, der doch

Seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für

uns alle hingegeben hat: wie wird Er uns mit Ihm

nicht auch alles schenken?" (Röm. 8, 32.) Welch ein

Gedanke! „Alles ... mit Christo", in Gemeinschaft mit

Ihm! Gesund oder krank, reich oder arm, ich bin in

jeder Lage mit Ihm und besitze Ihn in allen Umständen,

wie sie sich auch gestalten mögen. Nach der Beweisführung

des Apostels schließt das Größere das Geringere ein,

und das Geringere wird besessen und genossen mit dem

Größeren.

Sollte auch ein Christ in so ärmlichen Verhältnissen

sein, daß eine trockene Brotkruste und ein Glas kaltes

Wasser seine einzige Mahlzeit bildeten, so kann er doch

triumphierend sagen: Mag es auch noch so ärmlich stehen,

ich besitze meine Brotkruste mit Christo, und Christum mit

ihr. Von dem niedrigsten Zustand hienieden bis zu der

höchsten Stellung in der Herrlichkeit droben haben wir

alles mit Christo, und unsre reichste Segnung besteht

darin, eins zu sein mit Ihm; und dieses Einssein

mit Christo, dem Haupte der Kirche, ist so wirklich, so

vollkommen, daß der Apostel von sich sagen kann: „Ich

bin mit Christo gekreuzigt", und im Blick auf alle Christen:

„Indem wir dieses wissen, daß unser alter Mensch

mitgekreuzigt worden ist." (Röm. 6.) Ja, er spricht von

jenem Einssein in den verschiedensten Beziehungen: Wir

sind mit gekreuzigt, mit gestorben und mitbegraben, mit

81

lebendig gemacht, mit auferweckt; Gott hat uns in Ihm

mitsitzen lassen in den himmlischen Oertern; wir sind

Mit erben, berufen mitzuleiden und sind mit verherrlicht.

Und dieses Einssein der Kirche mit Ihm ist dem Herzen

Christi so wertvoll, daß überall da, wo von unserm zukünftigen

Zustande die Rede ist, er beschrieben wird als

in Verbindung mit Christo stehend. „Heute wirst du mit

mir im Paradiese sein." „Ausheimisch von dem Leibe,

einheimisch bei dem Herrn." „Indem ich Lust habe,

abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn es ist weit

besser." „Und so werden wir allezeit bei dem Herrn

sein." „In dem Hause meines Vaters sind viele Wohnungen;

wenn es nicht so wäre, würde ich es euch gesagt

haben; denn ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten.

Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so

komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen,

auf daß, wo ich bin, auch ihr seiet." —

Amen! Das giebt dem Herzen Ruhe, vollkommene Ruhe

ewiglich.

Glieder des Leibes Christi.

„Ihr aber seid der Leib Christi, und Glieder

insonderheit." (I. Kor. 12, 27.)

Zwischen Christo und Seinen Erlösten besteht die

innigste Verbindung. Alle wahren Gläubigen sind durch

den Heiligen Geist mit Christo im Himmel verbunden,

durch einen Geist zu einem Leibe getauft, oder wie

wir in Eph. 5, 30 lesen: „Wir sind Glieder Seines

Leibes, von Seinem Fleisch und von Seinen Gebeinen."

82

Eine Trennung ist unmöglich. Christus und die Seinigen

sind eins. Die Annahme, daß ein Glied Christi verloren

gehen könne, würde eine Unvollkommenheit in dem Leibe

bedeuten, dessen Haupt Christus ist; und das ist unmöglich.

Alles ist unumschränkte, göttliche Gnade. Unser

Glaube Vereinigtuns in diesem Sinne nicht mit Christo,

sondern der Geist Gottes selbst, der in dem Gläubigen

wohnt; der Heilige Geist, welcher auf diese Erde herniederkam,

als Jesus zum Vater zurückkehrte. So bildet

die in Christo Jesu geoffenbarte unendliche Gnade Gottes

die Grundlage, auf welcher unsre Seelen mit Wonne

ruhen.

Der Geist Gottes gebraucht das Bild des menschlichen

Körpers, um uns die Bedeutung dieser wunderbaren

Vereinigung zwischen Christo und den Seinigen verständlich

zu machen. Was könnte inniger sein als die Verbindung

zwischen den einzelnen Gliedern des menschlichen Körpers?

Und der Gläubige ist durch die Gnade aus seiner früheren

Stellung herausgenommen und zu einem Gliede des Leibes

Christi gemacht worden. Er ist mit dem im Himmel verherrlichten

Christus verbunden. Christus konnte sich nicht

mit dem Menschen in seinem gefallenen Zustande verbinden.

Er kam „in der Gleichheit des Fleisches der Sünde"

(Röm. 8, 3), aber in Ihm war keine Sünde; und Er

wäre für immer „allein" geblieben, wenn Er nicht freiwillig

in den Tod gegangen wäre, um den Sünder aus der Gewalt

desselben zu befreien. „Wenn das Weizenkorn nicht

in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein;

wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht." (Joh. 12, 24.)

Christus wurde Mensch und starb, um Sein Volk von

Sünde, Welt, Satan und von sich selbst zu befreien.

83

„Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind,

so hat auch Er gleicherweise an denselben teilgenommen,

auf daß Er durch den Tod den zunichte machte, der die

Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die

befreite, welche durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch

der Knechtschaft unterworfen waren." (Hebr. 2, 14.15.)

Im Tode des Herrn erblicken wir also unsern Tod,

das Ende dessen, was wir von Natur sind; denn Er

ist in vollkommner Gnade an unsre Stelle getreten und

hat unsre Strafe getragen. Als auferstanden aus den

Toten und verherrlicht zur Rechten der Majestät droben

ist Christus das Haupt Seiner Kirche oder Versammlung.

Von dorther ist der Heilige Geist gekommen, um alle

wahren Gläubigen mit ihrem Haupte im Himmel zu vereinigen.

— Möchten nun auch alle diese einfache, aber so

kostbare Wahrheit verstehen und verwirklichen!

Aufgeschaut! das Herz nach oben!

Aufgeschaut! das Herz nach oben!

Hier auf Erden such' es nicht;

Wahres Leben, Lieben, Loben

Kennt man droben nur im Licht.

Dieser Erde eitler Schein

Kann die Seele nicht erfreun.

Willst du leben, lieben, loben,

Aufgeschaut! das Herz nach oben!

Pracht und Schönheit, Glanz und Schimmer,

Alles was die Welt dir beut,

Stillt des Herzens Sehnen nimmer,

Ist nur Wahn, nur Eitelkeit.

84

Suchst du Ruhe, wahres Glück,

Lenke aufwärts deinen Blick!

Jesus — Wahrheit, Licht und Leben —

Kann und will dir Ruhe geben.

Drücken Leiden dich darnieder,

Scheint der Weg dir rauh und schwer,

Schau empor zu Jesu wieder,

Er verscheucht der Sorgen Heer.

Wirs auf Ihn die ganze Last,

Sag' Ihm alles, was du hast. —

Willst du stehn in schweren Proben,

Aufgeschaut! das Herz nach oben!

Noch ein Weilchen still vertraue

Dem, der deine Pfade lenkt;

Noch ein Weilchen auf Ihn baue,

Der dem Müden Stärke schenkt!

Sieh, des Vaterhauses Ruh'

Winkt dem Pilgrim freundlich zu.

Bald in neuen, sel'gen Weisen

Wirst du deinen Heiland preisen.

Bald ist jeder Kampf beendet,

Bald der letzte Schritt gethan;

Bald dein Tagewerk vollendet,

Immer kürzer wird die Bahn.

Schon erglänzt der Morgenstern,

Jesu Kommen ist nicht fern.

Darum: Willst du lieben, loben,

Aufgeschaut! das Herz nach oben

Messer von Gilgal.

(Josua 4 u. 5.)

„Und das Volk stieg herauf aus dem Jordan am

zehnten des ersten Monats; und sie lagerten sich in

Gilgal an der Ostgrenze von Jericho." (Jos. 4, 19.)

In einem Sinne erblicken wir hier die Vollendung der

Erlösung des Volkes. Das Blut des Passahlammes war

in jener denkwürdigen Nacht in Aegypten vergossen und

an die Thürpfosten gestrichen worden; Gott hatte Israel

aus Aegypten heraus durch das Rote Meer geführt

und sie von der Macht des Feindes befreit. Die Wüste

lag hinter ihnen, und sie lagerten im Lande. Der

Jordan, das Bild des Todes, war durchschritten; sie

waren mit der Bundeslade gleichsam in den Tod gegangen,

und befanden sich jetzt mit ihr außerhalb des Todes. Sie

hatten nicht nur den Jordan durchschritten, um die Früchte

des Landes (des Vorbildes des himmlischen Kanaan) zu

genießen, sondern sie lagerten jetzt im Lande. „Jene

zwölf Steine, die sie aus dem Jordan genommen hatten,

richtete Josua auf zu Gilgal." Mit welcher Ruhe konnten

die zwölf Stämme die Wiederkehr der Wasser des Todes

beobachten! Die Fluten vermochten sie nicht mehr zu

erreichen. Sie waren im Lande, in Ruhe und Frieden

gelagert.

Das ist der Platz der ganzen Kirche Gottes. *) Sie

ist versetzt in das himmlische Kanaan. Nicht alle Kinder

*) Wir reden hier natürlich nur von der wahren Kirche,

den lebendig Gläubigen.

86

Gottes wissen das, und nur wenige genießen es. Das

kostbare Blut des Lammes Gottes ist ein für allemal geflossen.

Die Sünden des Gläubigen find alle ausgelöscht,

um nie wieder ans Licht zu kommen. Die ganze Kirche

kann sagen: „In welchem (Christus) wir die Erlösung

haben durch Sein Blut, die Vergebung der Vergehungen."

(Eph. 1, 7.) Aber das ist nicht alles; der Gläubige ist

auch befreit von der Herrschaft der Sünde und von der

Gewalt Satans, gestorben mit Christo und auferstanden

mit Ihm. (Röm. 6; Kol. 2 u. 3.) So wie Israel

durch den Jordan gegangen war und nun in Kanaan

lagerte, so hat Gott uns, die wir tot waren in Sünden,

„mit dem Christus lebendig gemacht, — durch Gnade seid

ihr errettet, — und hat uns mitauferweckt und mitsttzen

lassen in den himmlischen Oertern in Christo Jesu".

(Eph. 2, 5. 6.) Angesichts dieser Thatsachen möchten

wir den Leser fragen: Ist der Himmel auch dein Lagerplatz?

Fühlst du dich daheim dort? Die Bundeslade,

d. i. Christus, ist nicht mehr in den Fluten des Todes;

ebenso wenig sind es die Erlösten, sie sind mit Ihm durch

den Tod gegangen. Wir können jetzt getrost aus den

Fluß des Todes zurückblicken. O wie die Wogen und

Wellen desselben über Seine reine, heilige Seele hingegangen

sind!

Die Denksteine in Gilgal sollten die Kinder Israel

stets daran erinnern, daß der Herr, ihr Gott, die Wasser

des Jordan vor ihnen ausgetrocknet hatte, bis die ganze

Nation vollends hinübergegangen war. So können auch

wir, wenn wir das Gedächtnismahl unsers Herrn feiern,

uns im Glauben niederlassen in den himmlischen Oertern

und von dort aus rückwärts schauen auf den Fluß des

87

Todes und des Gerichts. Nicht Aegypten, nicht die Wüste,

sondern Kanaan ist unser Lagerplatz. Welch ein Platz:

gelagert in dem Lande! Was sollten die Väter in Israel

antworten, wenn ihre Kinder sie künftig fragen würden:

„Was bedeuten diese Steine?" Sollten sie sagen: Wir

hoffen, daß der Herr uns durch diese in das Land

bringen wird? Welch eine Thorheit wäre das gewesen!

Aber ist es weniger thöricht, wenn heute auf die Frage:

Was bedeuten dieses Brot und dieser Wein? geantwortet

wird: Wir hoffen dadurch für den Himmel passend gemacht

zu werden? Oder: Wir hoffen, durch die Teilnahme

an diesem Mahle Trost, Segen, Stärkung, Heils,

gewißheit re. zu erlangen?

Was bedeuten denn dieses Brot und dieser Wein?

Sie stellen den Tod dar, ja den Tod Jesu für uns.

Sie erinnern uns zugleich an den Tod, durch welchen wir

mit Ihm gegangen sind: gestorben mit Christo, auferstanden

mit Ihm. Als Israel in dem Lande sein Lager

aufschlug, erbebten die Könige der Kananiter; „ihr Herz

zerschmolz, und es war kein Mut mehr in ihnen vor den

Kindern Israel". (Kap. 5, 1.) So hat auch die Kirche

nur dann Macht über den Feind, wenn sie in den himmlischen

Oertern ihren Lagerplatz hat. Und wie mit der

Kirche in ihrer Gesamtheit, so ist es mit den einzelnen

Gläubigen. Welch eine Gnade, dort zu sein, passend

gemacht zu sein für einen solchen Platz!

„In selbiger Zeit sprach Jehova zu Josua:

Mache dir Steinmesser (nach And.: scharfe Messer) und

beschneide wiederum die Kinder Israel." (V. 2.) Die in

der Wüste geborenen Israeliten waren nicht beschnitten

worden; alle Beschnittenen waren gestorben. Die Be

88

schneidung bedeutete das Gericht oder das Hinwegthun des

Fleisches als völlig wertlos vor Gott, als unfähig für

den Dienst des Herrn und für den Kampf mit dem

Feinde. Sie ist „das Ausziehen des Leibes des Fleisches"

in Christo. (Kol. 2, 11.) Es mag uns auffallen, nach dem

Einzuge Israels ins Land Kanaan zu allererst von diesem

schmerzlichen Akt der Beschneidung zu hören; aber gerade

hier war die Zeit und der Platz für die scharfen Messer.

Viele lieben „das Erzeugnis des Landes" (V. 11) weit

mehr als scharfe Messer; aber diese müssen angewandt

werden, wollen wir anders wirklich die geistlichen Segnungen

des himmlischen Kanaan genießen und den Feind

besiegen. Es ist gefährlich, sich mit himmlischen Wahrheiten

zu beschäftigen, ohne die scharfen Messer des Selbst-

Berichts auf sich anzuwenden. Es führt immer zu Selbsttäuschung

und Selbsterhebung. Haben wir wirklich das

Fleisch gerichtet? Wandeln wir in dem tiefen Bewußtsein,

daß das Urteil und Gericht des Fleisches ein bleibendes

sein muß? Verabscheuen wir unser eignes altes

Ich, uns selbst? Sehen und hassen wir, als auferstanden

mit Christo und in Ihm versetzt in die himmlischen Oerter,

die Sünde, das eitle, häßliche Ich, so wie Er es

sieht und haßt? Suchen wir Besitz von dem Lande zu

ergreifen mit einem Herzen, das mit eitlem Selbstbetrug

erfüllt ist, oder thun wir es in dem Bewußtsein der

wunderbaren Gnade Gottes und in dem schonungslosen

Gericht des Fleisches? Freilich ist es von allen Christen

wahr, daß sie mit Christo gekreuzigt sind, daß „die Sünde

im Fleische" ein für allemal verurteilt worden ist. Aber

eine andere Frage ist es, ob der Glaube diese Thatsache

ergriffen hat, und ob sie dadurch zu einer bleibenden

89

praktischen Wirklichkeit für uns wird, daß das Gewissen

sie aufnimmt und auf sich anwendet. Die scharfen Messer

müssen angewandt werden; anders wird sich viel leeres,

wertloses Bekenntnis, viel eitler Schein ohne Wirklichkeit

bei uns finden.

Es ist auch sehr beachtenswert, daß der Ausgangspunkt

für jeden Dienst, für jeden siegreichen Kampf der

Ort der scharfen Messer sein muß. Israel mußte in Gilgal

lagern, von Gilgal ausziehen und stets wieder nach

Gilgal zurückkehren. Der Ort der scharfen Messer

ist der Ort der Kraft. Es ist ein wunderbarer Platz, dieses

Gilgal: in dem Lande, jenseit des Jordan, das Ich

völlig gerichtet, Christus der Gegenstand der Freude und

des Genusses, und kein Vertrauen mehr auf das Fleisch.

Ist das der Platz, mein Leser, wo du lagerst? Ist das

der Ausgangspunkt in all deinem Dienst? Ist es der Ort,

zu dem du immer wieder zurückkehrst?

Sobald Israel Gilgal verließ, kam es nach Bochim.

(Richter 2.) Damit begann ihr Abirren von Jehova

und ihr Abfallen von Seinen Geboten. So lange Josua

lebte, diente Israel Jehova. Aber „Josua starb . . .

und auch das ganze selbige Geschlecht ward versammelt zu

seinen Vätern; und ein anderes Geschlecht kam nach ihnen

auf, das Jehova nicht kannte und auch nicht daS Werk,

das Er für Israel gethan hatte. Und die Kinder Israel

verließen Jehova, den Gott ihrer Väter." (Richt. 2, 7—13.)

War es nicht gerade so im Anfang der Geschichte der

Kirche? Sobald die Apostel und ihre Zeitgenossen entschlafen

waren, drang das Verderben mit Macht herein.

Finden wir nicht auch Aehnliches zur Zeit der Reformation?

Wahrlich, alles das redet eine ernste Sprache

90

zu uns. O möchten doch alle, welche berufen sind, die

Plätze derer auszufüllen, die, wenn der Herr noch etwas

verzieht, ihren Glaubenslauf vollenden werden, — o möchten

sie alle auf ihrer Hut sein, Gilgal nicht zu verlassen!

Vergessen wir nicht die scharfen Messer der praktischen

Beschneidung. Gilgal, den Platz des Selbstgerichts, verlassen

heißt in Bochim anlangen, an der Stätte des

Weinens und der Beschämung.

Wenn wir uns jetzt zu den Briefen der Apostel

wenden und einen Vergleich ziehen, so werden wir sehen,

wie treffend die Aehnlichkeit ist. In Eph. 1 und 2 haben

wir den Jordan durchschritten und befinden uns in den

himmlischen Oertern in Christo. In dem Briefe an die

Kolosser sind wir beschnitten mit der Beschneidung Christi,

gestorben mit Ihm, begraben mit Ihm, auferstanden mit

Ihm. (Kap. 2, 11—13. 20; 3, 1.) Aber obgleich in

Christo mitversetzt in die himmlischen Oerter, sind wir

doch dem Leibe nach noch auf der Erde; und darum bedürfen

wilder scharfen Messer: „Tötet nun eure Glieder,

die auf der Erde sind .. . Jetzt leget auch ihr das alles

ab: Zorn, Wut rc." (Kol. 3, 5. 7 — 17.) Die Besitzergreifung

des Landes Kanaan und die scharfen Messer

schienen in Widerspruch mit einander zu stehen. Gerade

so ist es hier. Obgleich wir fähig gemacht sind zu dem

Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte (Kap. 1, 12),

obgleich wir vollendet sind in Ihm (Kap. 2, 10), begraben

und auferweckt mit Ihm (Kap. 2, 12; 3, 1),

eingeführt in den Himmel und berufen, mit Ihm offenbar

zu werden in Herrlichkeit (Kap. 3, 4), sind doch gerade

hier die Messer von Gilgal am Platze. Das Erste, was

wir nach allen diesen kostbaren Belehrungen hören, ist:

91

„Tötet nun eure Glieder!" Der alte Mensch

mit seinen Handlungen ist ausgezogen; er darf keinen

Raum mehr finden. „Aber jetzt leget auch ihr

das alles ab: Zorn, Wut, Bosheit, Lästerungen,

schändliches Reden aus eurem Munde. Belüget einander

nicht, da ihr den alten Menschen mit seinen Handlungen

ausgezogen und den neuen angezogen habt, der erneuert

wird zur Erkenntnis nach dem Bilde Dessen, der ihn erschaffen

hat." Mit andern Worten: Nachdem ihr durch

die Beschneidung des Christus den alten Menschen ausgezogen

habt, leget alles ab, tötet alles, was dem alten

angehört; und nachdem ihr, auferstanden mit Christo, den

neuen Menschen angezogen habt, ziehet alles an, was dem

neuen angehört. (Kol. 3, 8—10. 12. 13.)

„Und der Friede des Christus herrsche in euern Herzen,

zu welchem ihr auch berufen worden seid in einem Leibe,

und seid dankbar." (V. 15.) Welche Worte zu solchen,

die den Jordan durchschritten haben! Kämpfen mußten

die Israeliten, denn Kanaan war die Stätte des Kampfes.

Und kämpfen müssen auch wir; wenn auch nicht mit

Fleisch und Blut, wie jene, so doch mit den geistlichen

Mächten der Bosheit in den himmlischen Oertern; und

dazu bedürfen wir der ganzen Waffenrüstung Gottes.

Die himmlischen Oerter sind gegenwärtig der Kampfplatz

des Christen. (S. Eph. 6, 11—18.) Und so wie einst

ganz Israel über den Jordan ging, so ist auch jetzt die

ganze Kirche in die himmlischen Oerter versetzt. Nicht als

ob nur einzelne, besonders geförderte Christen mit Christo

gestorben und auferstanden wären; nein, es ist wahr von

allen. Tod und Gericht, Sünde und Schuld, alles liegt

hinter ihnen. Ach, warum sind wir so träge, so langsam

92

in der Besitzergreifung dieser gesegneten Dinge? Alles

was wir nach dem Fleische sind und je waren — alles

ist hinweggethan, alles abgewälzt jenseit des Jordan.

Alle Gläubigen sind auferstanden mit Christo; darum

heißt es auch: Der Friede des Christus herrsche in euern

Herzen, und zwar nicht nur in meinem Herzen persönlich,

nein, wir sind zu diesem Frieden berufen in einem

Leibe. Alle sind gestorben und auferstanden mit Christo,

alle durch den Heiligen Geist zu einem Leibe getauft,

und in einem Leibe berufen zu dem Frieden des

Christus.

Geliebter Leser, wo befindest du dich? Bist du noch

in der Sklaverei Aegyptens? Oder bist du durch den

Glauben an das Blut des Lammes in Sicherheit gebracht?

Hast du das Rote Meer durchschritten? Bist du von

Aegypten getrennt durch das Meer des Todes? Bist du

herausgeführt, von dieser Welt abgesondert durch den Tod

Christi? Durchschreitest du als ein Erlöster des Herrn

die Wüste, dich sehnend nach dem Himmel? Bist du

durch den Jordan gegangen und jetzt schon in dem Lande?

Bist du für dein praktisches Bewußtsein gestorben und

auferstanden mit Christo und so in das Land eingegangen?

Hast du dort dein Lager aufgeschlagen? Ach, wenn es

so ist, dann bleibe dort! Der bewußte und genossene

Besitz der Segnungen des himmlischen Kanaan giebt dem

Glauben Kraft zum Selbstgericht, und das Selbstgericht

ist der Ausgangspunkt alles wahren Dienstes.

Der Herr selbst wolle diese ernsten, aber so gesegneten

Lektionen tief in unire Herzen schreiben!

93

Die Vorbilder des 3. Buches Mose.

Von den Vorbildern im allgemeinen.

Die Vorbilder, die uns in der Schrift vorgestellt

werden, tragen verschiedene Charaktere. Die einen beziehen

sich auf irgend einen großen Grundsatz in den Wegen

Gottes, wie z. B. Sarah und Hagar, welche die beiden

Bündnisse darstellen; andere weisen hin auf den Herrn

Jesum in Seinen verschiedenen Amtsverrichtungen, als

Opfer, als Priester u. s. w.; eine dritte Klasse bildet

gewisse Handlungen Gottes vor, oder das Verhalten des

Menschen in zukünftigen Haushaltungen; eine vierte endlich

redet von irgend einem großen Werke in der Regierung

Jehovas, das noch der Zukunft Vorbehalten ist.

Obgleich es unmöglich ist, in dieser Hinsicht eine

strenge Regel aufzustellen, so kann man doch sagen, daß

das 1. Buch Mose uns die hauptsächlichsten Beispiele der

erstklassigen Vorbilder giebt, während das 3. Buch Mose

vornehmlich solche der zweiten Klasse enthält, obwohl sich

auch im 2. Buche einige bemerkenswerte Vorbilder dieser

letztem Art vorfinden. Das 4. Buch Mose enthält vornehmlich

Vorbilder der dritten Klasse; diejenigen der

vierten sind mehr zerstreut.

Für den Augenblick möchte ich nur von den Vorbildern

reden, die sich im 3. Buche Mose finden. Sie

machen eine besondere Klasse aus; ihr ganzer Wert liegt

in ihrem vorbildlichen Charakter selbst, während andere,

neben ihrer vorbildlichen Bedeutung, gleichsam auf ihrer

Oberfläche, in den Thatsachen selbst, uns reiche moralische

Belehrungen darbieten. Gerade dieser Punkt unterscheidet

die Vorbilder, von denen wir reden, von allen andern

94

und verleiht ihnen einen besonderen Charakter und eine

besondere Bedeutung, wenngleich die andern in gewissen

Beziehungen nicht weniger Interesse erwecken. Alles das,

was Christus für uns ist, wird uns in seinen Einzelheiten

vornehmlich in den Vorbildern des 3. Buches Mose vor

Augen geführt.

Die Anwendung von Vorbildern in dem Worte

Gottes ist ein Charakterzug dieser göttlichen Offenbarung,

der besonders anziehend ist und den wir nicht mit Stillschweigen

übergehen dürfen. Das was in unsern Beziehungen

zu Gott am erhabensten ist, geht in seiner Wirklichkeit

fast über unser Verständnis hinaus; ja es muß dasselbe

in sich selbst sogar notwendigerweise unendlich übersteigen.

Denn es ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, dem

Verständnis Gottes angepaßt, welcher die Wirklichkeit der

Sache selbst betrachtet und vor dem die Wirkung dieser

Wirklichkeit dargestellt werden muß, wenn sie nutzbringend

für uns sein soll. Alle diese Gegenstände unsers Glaubens,

tief und unendlich wie sie sind, — unendlich in ihrem

Werte vor Gott oder in der Darlegung der Grundsätze,

nach welchen Gott gegen uns handelt, — werden uns

sozusagen greifbar in ihren Vorbildern. Das ganze Erbarmen

und die ganze Vortrefflichkeit, die sich in der

Wirklichkeit oder in dem Gegenbilde finden, werden uns

im Einzelnen mit der Genauigkeit Dessen vor Augen gestellt,

der die Gegenstände beurteilt, so wie Sein Auge

sie sieht; und der sie uns in einer Form darstellt, die

unserm Auge angepaßt ist, in einer Weise, die unserm

Verständnis entspricht, und mit der Absicht, uns zu der

Höhe Seiner eignen Gedanken zu erheben. Christus,

wie Er ist nach dem Herzen Gottes, in all Seiner Herrlich

95

keit, das ist das Gemälde, welches Gott uns vorführt;

aber wir besitzen alle die Züge und Auslegungen des

Inhalts dieses Gemäldes in dem, was wir in Händen

halten und was uns von Dem geschenkt ist, der die große

Wirklichkeit des Bildes ausgemacht hat. — Sein Name

sei gepriesen!

Einige Bemerkungen über die Stiftshütte.

Die Errichtung der Stiftshütte ergiebt zwei ganz

verschiedene Gesichtspunkte: zunächst die Entfaltung der

Ratschlüsse Gottes in Gnade, und dann die Sünde, welche

diese Entfaltung hervorrief und notwendig machte. Der

ganze Bau der Stiftshütte entsprach dem Muster, welches

Mose auf dem Berge gegeben worden war. Sie war

ein Bild der himmlischen Dinge, und zwar bevor die Sünde

der Israeliten ihr Vorrecht auf eine unmittelbare Gemeinschaft

mit Gott zerstört hatte. Sie stellte infolge

dessen Grundsätze dar, welche ihre Erfüllung in der voll-

kommnen Hütte finden, die nicht mit Händen gemacht ist.

Indes wurde die Haushaltung der Stiftshütte nicht eher

errichtet, bis der Götzendienst des goldnen Kalbes geschehen

und der Zorn Jehovas gegen die Sünde Israels bereits

ausgebrochen war. Von dem Throne des Heiligtums her

entsprach Gott deshalb in Gnade, durch die Vermittlung

des Hohenpriesters und der Blutbesprengung, den Bedürfnissen

eines abgefallenen Volkes.

Daher kommt es auch, daß der Stiftshütte zum ersten

Male bei Gelegenheit, der Sünde des goldnen Kalbes

Erwähnung geschieht, als der Zorn Moses gegen die

thörichte Gottlosigkeit der Israeliten entbrannte, die Gott

verworfen hatten, noch ehe sie selbst durch die Vermittlung

96

des auf dem Berge weilenden Mose die Verordnungen des

Gesetzes empfangen hatten. „Mose nahm das Zelt und schlug

es sich auf außerhalb des Lagers, fern voni Lager, und

nannte es: Zelt der Zusammenkunft. Und es geschah, ein

jeder, der Jehova suchte, ging hinaus zum Zelte der Zusammenkunft,

das außerhalb, des Lagers war." (2. Mose

33, 7.) Es war ein Ort der Zusammenkunft da für Gott

und für diejenigen unter dem Volke, die Ihn suchten. In

dem Gesetz handelte es sich nicht darum, Gott zu suchen.

Es war die Mitteilung des Willens Gottes an ein bereits

gesammeltes Volk, in dessen Mitte Gott sich offenbarte

nach gewissen Erfordernissen Seiner Heiligkeit. Als

aber das Böse Eingang gefunden hatte, und das Volk, als

Körper, abgefallen war und den Bund übertreten hatte,

wurde der Ort errichtet, wo man Gott suchen mußte.

Dies geschah, ehe die Stiftshütte, errichtet nach dem auf

dem Berge gezeigten Bilde, aufgeschlagen war; aber es

ließ in treffender Weise den Grundsatz hervortreten, auf

welchem sie errichtet wurde.

Diese Beziehungen Gottes zu Seinem Volke, oder

zu dem Mittler, waren zwiefacher Art: apostolisch und

priesterlich; das heißt, Gott setzte sich in diesen beiden

Arten der Vermittlung vor, entweder dem Volke Seinen

Willen mitzuteilen, oder in Beziehung zu ihm zu stehen

hinsichtlich des Gottesdienstes, der Sünden und der Bedürfnisse

dieses Volkes. In derselben Weise ist Christus

der Apostel und Hohepriester unsers Bekenntnisses: Ausdrücke,

die auf die Umstände anspielen, von welchen wir

reden. (S. Hebr. 3, 1.) Die Gegenwart des Herrn in

der Stiflshütte, um dort Seinen Willen mitzuteilen, wird

in den Kapiteln 25 und 29 des 2. Buches Mose er-

97

vähnt. Nach der Beschreibung der Bundeslade und ihres

Zubehörs im Allerheiligsten heißt es in dem genannten

25. Kapitel: „Und lege den Deckel oben über die Lade;

ind in die Lade sollst du das Zeugnis legen, das ich dir

;eben werde. Und daselbst werde ich mit dir zusammen-

vmmen und mit dir reden von dem Deckel herab, zwischen

)en zwei Cherubim hervor, die auf der Lade des Zeugnisses

rnd, alles was^ ich dir gebieten werde an die Kinder Israel."

A. 21. 22.) Diese Worte bezogen sich allein auf den Mittler

in seinem geheimen Verkehr mit Jehova. Dann lesen

vir im 29. Kapitel: „Ein beständiges Brandopfer bei euern

Geschlechtern an dem Eingang des Zeltes der Zusammenkunft

vor Jehova, wo ich mit euch zusammenkommen werde,

am daselbst mit dir zu reden. Und ich werde daselbst

Zusammenkommen mit den Kindern Israel." (V. 42. 43.)

Auf diesen Grundsatz ist das 3. Buch Mose gegründet.

Gott redet in demselben nicht mehr von der Höhe des

Berges Sinai herab, sondern aus dem Innern der Stiftshütte,

wo man Ihn suchen mußte. Hier trat Er, nach

i>em Muster Seiner Herrlichkeit, aber auch nach den Bedürfnissen

derer, die Seine Gegenwart aufsuchten, mit

dem Volke in Beziehung, und zwar vermittelst eines Mittlers

und der Opfer. Am Sinai, als Er in einer erschreckenden

Herrlichkeit erschien, forderte Er Gehorsam und stellte

Bedingungen für denselben auf, auf Grund deren Er

Seine Gunst verhieß. Hier aber ist Er dem Sünder

wie dem Gläubigen zugänglich, jedoch kraft einer Vermittlung.

Die Grundlage unsers Zugangs zu Gott ist

der Gehorsam und das Opfer Christi; und das ist es,

was uns hier an erster Stelle mitgeteilt wird, wenn Gott

aus dem Innern der Stiftshütte redet.

98

Die Reihenfolge der Opfer.

Es ist vor allen Dingen nötig, die Ordnung der

Opfer zu beachten. Die Reihenfolge ihrer Anwendung

steht durchweg im Gegensatz zu derjenigen ihrer Einsetzung.

Es giebt vier große Klassen von Opfern: 1. das Brandopfer;

2. das Speisopfer; 3. das Dank- oder Friedensopfer;

4. das Opfer für die Sünde. Ich zähle sie hier

in der Reihenfolge ihrer Einsetzung auf; in ihrer Anwendung

kommen die Sündopfer immer zuerst, denn der

Mensch ist immer ein Sünder und muß mit Gott versöhnt

werden; wenn er Gott nahen will durch ein Opfer, so

muß dies stets durch die Wirksamkeit des Opfers geschehen,

das die Sünde wegnimmt, indem diese Sünde durch einen

Andern getragen worden ist. Der Herr Jesus aber, als

das große Opfer, hat nur als Sünder an unsrer Statt

behandelt werden können, weil Er sich ohne Flecken Gott

geopfert hat, indem Er selbst keine Sünde kannte. Jesus

hat sich selbst zum Opfer gestellt mit den Worten: „Ich

komme, um Deinen Willen, o Gott, zu thun"; Er gab sich

freiwillig hin, damit die Sünde auf Ihn gelegt werden und

Er so den Tod für unsre Sünden erleiden konnte. In

Seinem Werke ist Er zunächst das Brandopfer.

Ueberdies liegt, nachdem die Sünde hinweggethan ist, die

Quelle unsrer Gemeinschaft in der Vortrefflichkeit Christi,

des fleckenlosen Opfers. Um uns in diese Gemeinschaft

einzuführen, war es unbedingt nötig, daß Christus zuvor

unsre Sünden trug; deshalb kommen das Brandopfer, das

Speisopfer und das Friedensopfer zuerst, und danach kommen

die Opfer für die Sünde besonders. Diese letzteren sind

in hervorragender Weise notwendig für uns; aber sie drückten

nicht die Vollkommenheit Christi aus, denn Er wurde darin

99

als Sünder behandelt, obgleich Er zu diesem Zwecke notwendigerweise

in sich selbst vollkommen fein mußte.

Aus dem soeben Gesagten erhellt, daß es Christus

ist, den wir in diesen Opfern erblicken müssen. Es ist

der Wert der Wirkung dieses vollkommnen Opfers, den

wir unter seinen verschiedenen Formen betrachten wollen.

Wohl ist es wahr, daß auch der Christ in einem untergeordneten

Gesichtspunkt seine Darstellung darin findet;

denn er soll seinen Leib als ein lebendiges Schlachtopfer

darstellen; auch soll er durch die Früchte der christlichen

Liebe Gott Opfer des lieblichen Geruchs darbringen,

Gott wohlannehmlich durch Jesum Christum. Für den

Augenblick ist es jedoch nicht unser Zweck, den Christen

darin zu betrachten, sondern Christum.

Ich habe gesagt, daß es vier große Arten von

Opfern giebt: Brandopfer, Speisopfer, Friedensopfer

und Sündopfer, eine Einteilung, die wir in Hebr. 10, 8

angedeutet finden. Allein es besteht noch ein andrer

wesentlicher Unterschied zwischen den Opfern, der sie in

zwei bestimmt unterschiedene Klassen teilt: in die Opfer

für die Sünde einerseits, und in alle die andern Darbringungen

andrerseits. Als Sündopfer waren die ersten

niemals „Feueropfer lieblichen Geruchs dem Jehova",

während die letzteren dies waren. In den ersteren trat

die Sünde augenscheinlich hervor; sie waren gleichsam mit

Sünden beladen, sie stellten die Sünde dar. Wer sie anrührte,

wurde verunreinigt; in der Ursprache giebt es sogar

nur ein Wort für Sünde und Sündopfer. Man

verbrannte diese Art von Opfern, aber nicht auf dem

Altar, mit Ausnahme des Fettes einiger von ihnen, von

denen wir später reden werden.

100

Die andern Opfer waren Feueropfer lieblichen Geruchs

dem Jehova. Sie stellen uns Christum dar, als

sich selbst ohne Flecken Gott opfernd, nicht aber Christum,

als unsre Sünden tragend und als Sünder seitens des

heiligen und gerechten Gottes behandelt.

Diese beiden Punkte sind in dem Opfer Christi sehr

bestimmt unterschieden und sehr kostbar. Gott hat Den

als Sünder behandelt, der keine Sünde kannte; aber es

ist ebenso wahr, daß Christus sich selbst durch den ewigen

Geist Gott geopfert hat ohne irgendwelchen Flecken. Diesen

letzteren Punkt wollen wir jetzt zunächst betrachten in der

Reihenfolge der Opfer, wie das 3. Buch Mose sie uns

darstellt.

(Fortsetzung folgt.)

„Du hast mir das Herz geraubt."

(Hoher. 4. 9—t l.)

„Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester,

meine Braut; du hast mir das Herz geraubt mit einem

deiner Blicke, mit einer Kette von deinem Halsschmuck.

Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, meine Braut;

wie viel besser ist deine Liebe als Wein, und der Duft

deiner Salben als alle Gewürze! Honigseim träufeln

deine Lippen, meine Braut; Honig und Milch ist unter

deiner Zunge, und der Duft deiner Gewänder wie der

Duft deS Libanon."

So herrlich die Aussicht von dem Gipfel des Amana,

des Senir und Hermon auch sein mochte, so wendet sich

das Auge und Herz des Bräutigams doch von ihr weg,

um die Geliebte an Seiner Seite zu bewundern. Er

101

sieht in ihr etwas, was Er sonst nirgendwo sehen kann.

Die Gefühle und die liebenden Zuneigungen Seines

Herzens strahlen von ihr auf Ihn zurück. Die Schönheiten

der Scene um Ihn her mögen Vorbilder fein von

den Dingen, welche die Menschen dieser Welt für begehrenswert

halten, aber der Bräutigam findet Seine

Wonne und Befriedigung in der Schönheit und Liebe

Seiner Braut. Er erblickt in ihr die gesegneten Früchte

Seiner eignen, unauslöschlichen Liebe, die Frucht der

Mühsal Seiner Seele, und Er sättigt sich. (Jes. 53,11.)

Kostbare Wahrheit für das Herz des Gläubigen!

Ein Mann mag eine sehr schöne Besitzung haben

und sie auch hoch schätzen, aber er kann niemals dieselben

Gefühle gegen sie hegen, wie gegen sein Weib und seine

Kinder. Sie machen einen Teil von ihm selbst aus.

Was waren alle die Freuden des Paradieses für den

ersten Adam im Vergleich mit der Freude, die er an

Eva fand? Sie war ein Teil seiner selbst; die Schöpfung

war dies nicht. Er fiel in einen tiefen Schlaf, und aus

seiner Seite wurde eine Gehilfin für ihn gebildet; und

als er aus seinem Schlafe erwachte und „die Schöne"

neben sich stehen sah, welche Jehova, Gott, in Seiner

Güte für ihn bereitet hatte, da rief er aus: „Diese ist

einmal Gebein von meinen Gebeinen und Fleisch von

meinem Fleische." Die Leere war jetzt ausgefüllt; bis

dahin hatte er nichts entdeckt, was sein Herz befriedigen

konnte. Die herrliche Schöpfung, die Schönheiten Edens

konnten nur eine Leere in seinem Herzen schaffen, bis er

die gesegnete Frucht seines vorbildlichen Todes besaß

und genoß.

Doch was in dem ersten Menschen nur vorbildlich

102

war, ist in dem zweiten Menschen, dem letzten Adam,

wirklich. Er fiel thatsächlich in einen tiefen Schlaf, den

Schlaf des Todes; und aus Seiner geöffneten Seite ist

gleichsam eine zweite Eva gebildet worden, schön und

fleckenlos in Seinen Augen, die binnen kurzem die Herrschaft

und die Freuden der neuen, erlösten Schöpfung

mit Ihm teilen soll; und dort, inmitten der Herrlichkeiten

dieser neuen Schöpfung, wird sie Seine Liebe zurückstrahlen

lassen, die stärker war als der Tod, und sich baden in

den Strahlen Seiner wolkenlosen Gunst von Ewigkeit zu

Ewigkeit. Dürfen wir uns deshalb wundern, wenn Er

mit liebender Bewunderung sie betrachtet, wie sie Ihm

ähnlich ist? Göttliche Allmacht konnte eine Welt erschaffen;

göttliche Liebe allein konnte durch Leiden und Sterben

einen verlornen Sünder erlösen. Wer kann diese Liebe

zu einem armen, wertlosen Sünder verstehen! Wäre sie

mehr der Gegenstand unsers Sinnens, so würden wir

uns weniger über die Worte des Geliebten verwundern:

„Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester,

meine Braut." Bewunderungswürdige Wahrheit! Das

Herz Christi geraubt, hingerissen! Und wodurch?

Durch die Schönheit eines aus Gnaden erretteten Sünders,

einer Person, die in Seinem kostbaren Blute gewaschen

und mit Seinen eignen herrlichen Tugenden geziert ist.

Das Kapitel, mit dem wir uns beschäftigen, enthält

in verschiedenen Beziehungen eine wunderbarere Entfaltung

der Liebe des Herrn, als wir sonst irgendwo in dem

Buche Gottes finden. Wenn es sich um Einzelheiten

handelt, giebt es nichts in der Heiligen Schrift, was dem

Hohenliede gleich käme. „Du hast mir das Herz geraubt,

meine Schwester, meine Braut." Der Herr nimmt jetzt

103

ebensowohl den Platz eines Bruders wie eines Bräutigams

ein. „Meine Schwester, meine Braut." Kostbares

Verhältnis! Glückliche Vereinigung! wohlbekannt und hochgeschätzt

von Ihm, wenn auch verhältnismäßig nur wenig

verstanden von ihr! Seine Verbindung mit dem Ueber-

rest, den Er hier Seine Schwester und Seine Braut

nennt, giebt Gelegenheit zu der vollen, herrlichen Entfaltung

Seiner Liebe, der innersten Gefühle Seines Herzens.

Inmitten der schönsten Umgebung zieht sie allein Seinen

Blick auf sich. Sie steht in lieblichem Gegensatz zu allem,

was im Himmel und auf Erden gefunden wird. Wir

lesen nirgendwo, daß die Schönheiten der Schöpfung dem

Schöpfer das Herz geraubt hätten. Dieses Geheimnis

aller Geheimnisse sollte für den Erlöser und Seine Erlösten

aufgespart bleiben.

Indes ist es nicht nur der Ueberrest, um den eS

sich hier handelt; nein, wir dürfen das Hohelied als die

Offenbarung des Herzens Christi allen Gläubigen

gegenüber betrachten. Die Liebe Christi ist vollkommen

und entfaltet sich stets in vollkommner Weise, entsprechend

dem Verhältnis, in welchem wir Ihn kennen. Die Aussprüche

Christi in dem Hohenliede lassen eine moralische

Anwendung zu, die für den Christen unaussprechlich kostbar

ist. Glücklich alle, die an einer solchen Quelle zu trinken

verstehen!

Allerdings ist es nötig, uns immer wieder daran

zu erinnern, daß die Stellung des jüdischen Ueberrestes

zu Christo, wie sie sich im Hohenliede kundgiebt, eine

andere ist als diejenige des Christen in den Briefen der

Apostel; verlieren wir diese Thatsache aus dem Auge, so

sind wir in Gefahr, das was auf Israel Bezug hat, auf

104

die Kirche anzuwenden, und umgekehrt das was die Kirche

angeht, Israel zuzuschreiben. Der Verschiedenartigkeit der

Stellung entspricht auch eine Verschiedenartigkeit der Gefühle.

Im Hohenliede suchen wir vergeblich nach jener tiefen

Ruhe und Süßigkeit einer Liebe, die einem bereits gebildeten,

gekannten und wertgeschätzten Verhältnis entspringt.

Die volle, bewußte und unerschütterliche Liebe eines Weibes,

das durch das eheliche Band mit dem Manne ihres Herzens

vereinigt ist, findet sich hier nicht. Sie ist unser Teil.

Allerdings ist die Hochzeit des Lammes noch nicht gekommen,

aber auf Grund der Offenbarungen, die uns

gegeben sind, und der Vollendung unsers Heils ist dieser

letztere Charakter der Liebe der Kirche Gottes eigentümlich.

Gott sei Lob und Dank dafür! Wir wissen, an wen wir

geglaubt haben. Wir kennen die gesegnete Wahrheit unsers

EinsseinS mit Christo, dem Auferstandenen und Verherrlichten.

„Wer dem Herrn anhängt, ist ein Geist mir Ihm."

(1. Kor. 6, 17.) Dieses Einssein mit Christo in Leben

und Stellung geht weit über das hinaus, was der

Israelit besaß. Selbst im gegenwärtigen Augenblick wissen

wir, daß wir in Christo in den himmlischen Oertern

sitzen. Und obgleich wir hienieden arme, schwache, fehlende

Geschöpfe sind, wissen wir doch, daß wir „versiegelt sind

mit dem Heiligen Geiste der Verheißung,

welcher das Unterpfand unsers Erbes ist, zur Erlösung

des erworbenen Besitzes". (Eph. 1, 13. 14.) Aber

kostbarer als alles das ist, daß wir die Größe der Liebe

Christi kennen, die dem Opfer entspricht, durch welches

Er uns in diese himmlische Stellung und ewige Verbindung

mit sich selbst gebracht hat. Daher wissen wir

auch, daß die Frage der Sünde auf immerdar vollkommen

105

geordnet ist, daß eine ewige Vergebung, eine vollkommne

Rechtfertigung unser Teil ist, und daß wir annehmlich

gemacht sind in dem Geliebten. Unsre Erlösung ist eine

vollendete Thatsache; das Verhältnis ist gebildet, wir

warten nur noch auf die Herrlichkeit — die Hochzeit des

Lammes. Wir rechnen auf Seine Verheißung: „Ja, ich

komme bald;" und: „Noch über ein gar Kleines, und

der Kommende wird kommen, und nicht verziehen." Aber

während wir auf Ihn warten, kennen und genießen wir,

wenn auch in großer Schwachheit, durch die Kraft des

Heiligen Geistes die liebenden Zuneigungen Seines Herzens,

welche diesem gesegneten und auf ewig gegründeten Verhältnis

angehören.

Israels Stellung im Hohenliede bleibt weit hinter

diesem Verhältnis der Liebe zurück. Von der Reinigung

des Gewissens ist nirgendwo die Rede; Vergebung und

Rechtfertigung werden nicht berührt. Es ist mehr eine Frage

des Herzens, ein Schaffen und Bilden der Zuneigungen

des Herzens für die Person des Geliebten. Die Kenntnis

Seiner Person und die Gewißheit des Verhältnisses zu

Ihm werden nicht in vollem Maße genossen; diese Dinge

sind es vielmehr, nach welchen das liebende Herz der

Braut so sehnlich verlangt. Der Bräutigam kennt selbstverständlich

die Beziehungen, in welchen Er zu der steht,

die Er Seine Schwester, Seine Braut nennt. Und deshalb

öffnet Er ihr Sein Herz, um sie die Vorsätze Seiner

Liebe verstehen zu lassen. Er versichert sie immer wieder

ihrer Schönheit, ihres Wertes und ihrer Kostbarkeit in

Seinen Augen; und selbst wenn sie gefehlt und Ihn und

Seine Liebe vergessen hat, begegnet Er ihr mit einer Zuneigung,

die durch nichts von dem geliebten Gegenstände

106

abgelenkt, durch nichts geschwächt werden kann. Durch diese

Kundgebungen Seiner Liebe, Seiner Zärtlichkeit und Gnade

wird ihr Herz geübt, ihre eignen Zuneigungen vertiefen

sich, der Bräutigam wird in ihren Augen erhoben über

alle andern und geschätzt als der „Ausgezeichnete vor

Zehntausenden", an welchem alles sehr köstlich ist. Ihr

Herz wird so nach und nach für Ihn gewonnen. Der

45. Psalm besingt dieses gesegnete Resultat. Der Ueber-

rest wird dort begrüßt als die „Genossen" des Königs,

und Jerusalem als „die Königin in Gold von Ophir".

Die Völker um Israel her ehren sie dann mit Geschenken

und suchen ihre Gunst. Die Königin steht in der innigsten

Beziehung zu dem Könige, sie wird eingeführt in die

Paläste von Elfenbein.

Doch kehren wir zu unserm Texte zurück.

„Du hast mir das Herz geraubt mit einem deiner

Blicke, mit einer Kette von deinem Halsschmuck." Was

der Herr mit diesen Worten sagen will, ist schwer zu entscheiden.

Vielleicht denkt Er an jede einzelne Tugend, an

jeden einzelnen geistlichen Schmuck in dem Gläubigen;

oder sollen Seine Worte der Freude Seines Herzens an

jedem einzelnen Gläubigen, wie auch an Seinem Volke

gemeinschaftlich, Ausdruck geben? Sicherlich kann niemals

der Geringste unter allen den Seinigen von Ihm übersetzen

oder mit einem andern verwechselt werden, weder

in der Zeit noch in der Ewigkeit. Wir sind geliebt als

einzelne Personen und als solche auch errettet und verherrlicht.

„Der mich geliebt und sich selbst für mich

hingegeben hat", sagt Paulus. Er redet, als wenn er

der Einzige wäre, für den Christus gestorben sei. Der

Glaube macht sich zu eigen, was die Gnade offenbart.

107

Nur in dieser Weise genießt das Herz diese Offenbarungen.

Verstehst du das, mein Leser? Es ist von größter Wichtigkeit.

Der Glaube macht die Segnung, so groß sie

auch sein mag, zu einer persönlichen Sache. Was auch

irgend die Gnade in Christo als das Teil der Kinder

offenbaren mag — der Glaube sagt: „Es ist mein."

Aber in unsrer glücklichen Heimat droben werden

wir nicht nur unserm hochgelobten Herrn persönlich bekannt

sein, sondern auch einander. Petrus scheint gar

keine Schwierigkeit gehabt zu haben, auf dem Berge der

Verklärung Mose und EliaS zu erkennen. So wird es

auch in dem Auferstehungs-Zustande sein, wo alles Vollkommenheit

ist. Paulus wird niemals für Petrus, noch

Petrus für Paulus gehalten werden, und jeder wird seine

eigne Krone und seine eigne Herrlichkeit besitzen. Kostbarer

und doch auch ernster Gedanke! Jeder Heilige wird

seine besondere Krone tragen. Alle werden dort als das

bekannt sein, was sie nach der Schätzung des Herrn sind;

und doch alle vollkommen, alle glücklich, alle in der vollen

Freude des Herrn und alle strahlend in Seinem herrlichen

Bilde, das sie in Vollkommenheit tragen werden.

„Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, meine

Braut!" — Würden wir mehr an die Wertschätzung

unsrer Liebe von feiten des Herrn denken, so würden wir

auch mit ungeteilterem Herzen Ihm anhangen. Liebe

erzeugt Gegenliebe. Je näher ich am Feuer sitze, desto

mehr erwärmt es mich. Je näher ich dem Herzen Christi

bin, desto mehr wird mein Herz in Liebe zu Ihm brennen.

Ich könnte gerade so gut im Winter hinausgehen und

den Schnee betrachten und meinen, dadurch erwärmt zu

werden, als an mich denken, mich betrachten und meinen,

108

dadurch meine Liebe zu Christo zu vergrößern. Wünschest

du, in deiner Liebe zu Ihm zu wachsen und Seine Liebe

zu dir mehr zu genießen? Ei, so laß dein Herz sich an

Christo ergötzen! Das Feuer, an dem ich sitze, wärmt

mich, die Speise, die ich esse, sättigt mich; und wahrlich,

du wirst in dem Kapitel, das wir mit einander betrachten,

eine reiche Erquickung finden. Sinne darüber. Erforsche

es, Wort für Wort; und denke vor allem an das Herz,

welchem jedes Wort entströmt. Dem Unglauben gelten

die Worte Christi nichts, der Glaube nährt sich von ihnen.

Aber vergiß nicht, bei deinem Sinnen dich zu dem Herzen

Dessen zu erheben, aus welchem sie hervorfließen. Erforsche

Sein Wort stets in Gemeinschaft mit Ihm. Hüte

dich, das Wort von der Person Christi zu trennen. Auf

diesem Wege wird deine Liebe sich vertiefen find deine

praktische Aehnlichkeit mit Christo wachsen.

„Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, meine

Braut; wie viel besser ist deine Liebe als Wein, und der

Duft deiner Salben als alle Gewürze!" Wenn solche

Kundgebungen Seiner Liebe nicht unser Herz gewinnen,

was anders könnte es thun? Kein Wein, keine irdische

Freude ist Ihm so wertvoll wie die Liebe Seiner Braut;

kein Geruch Ihm so süß wie der Duft ihrer Salben.

Die Gastfreundschaft des selbstgerechten Juden war nichts

für Ihn im Vergleich mit der Liebe der großen Sünderin,

die hinten zu Seinen Füßen stand und weinte.

(Luk. 7.) Aber solch köstliche Früchte wachsen nur in dem

Lichte Seiner Gegenwart. Pflanzen gedeihen niemals im

Dunkeln. Sie mögen einige kranke, schwache Blätter treiben,

aber Frucht und Wohlgeruch werden sich nur dann

zeigen, wenn die Pflanze des vollen himmlischen Lichtes

109

teilhaftig wird. „Ich bin das Licht der Welt", sagt der

Herr Jesus"; „wer mir nachfolgt, wird nicht in der

Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens

haben"; und: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser

bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts thun."

(Joh. 8, 12; 15, 5.)

„Honigseim träufeln deine Lippen, meine Braut." Die

Honigwabe muß erst mit geduldigem Fleiße gefüllt werden,

ehe sie träufeln kann. Der Honig muß von jeder Blume

gesammelt werden. Der Christ sollte der Biene gleichen;

aber leider gleicht er oft mehr dem Schmetterling als der

Biene. Der erstere flattert meist eine Weile über die Blume

hin und fliegt dann wieder davon, ohne ihre Süßigkeit gekostet

zu haben; die Biene aber fliegt mit emsigem Fleiß

von einer zur andern, saugt den süßen Inhalt aus und

trägt ihn heim. So füllt sich ihr Vorratshaus nach und

nach mit dem köstlichsten Honig. Das Wort muß sorgfältig

erforscht und das Herz damit erfüllt sein, soll das für die

Gelegenheit passende Wort stets unter unsrer Zunge bereit

liegen. Wenn der Herr es so bei uns findet, wird Er

erquickt und erfreut. „Honigseim träufeln deine Lippen,

meine Braut; Honig und Milch ist unter deiner Zunge,

und der Duft deiner Gewänder wie der Duft des

Libanon."

Worte sind gleich Samenkörnern; sie entwickeln sich

und tragen Frucht, mögen sie scharf und bitter, oder gelinde

und gesund sein. Wie wichtig ist es daher, auf

unsre Zunge acht zu haben! Wenn wir Unkraut säen,

können wir keinen Weizen ernten; und wenn wir Weizen

säen, werden wir nicht nötig haben, Unkraut zu ernten.

„Was ein Mensch säet, das wird er auch ernten." O

110

möchten stets gelinde, freundliche, sanfte Worte, Worte

der Wahrheit, des Glaubens und der Liebe von unsern

Lippen träufeln! Was ist reiner als Milch? was süßer

als Honig? Was ist nahrhafter als die eine, und

heilender als der andere? Das Wort sagt uns, daß

wir nicht im Fleische, sondern im Geiste sind, und hier

redet der Herr von den kostbaren Früchten des Geistes,

die Ihm so wohlgefällig sind. Ueber Seine eignen Lippen

ist „Holdseligkeit ausgegossen", und „alle Seine Kleider

sind Myrrhen, Aloe und Kassia". (Ps. 45, 2. 8.) Und

hier findet Er zu Seiner innigen Freude in Seiner geliebten

Braut die Erwiderung darauf. Aus Seiner Fülle

reicht Er „Gnade um Gnade" dar; und die Antwort

darauf ist köstlicher für Sein Herz als alles, was die

Natur hervorzubringen vermag. Und wenn dereinst die

Hügel und Thäler Kanaans, übersät von den duftendsten

Gewürzen und fließend von Milch und Honig, längst vergangen

sein werden, wird die Geliebte noch vor Ihm

stehen, in stets zunehmender Frische und duftendem Wohlgeruch,

von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Entschiedenheit.

Mose traf einst eine gute und verständige Wahl, als

er der Ehre, den Reichtümern und Vergnügungen am

Hofe des Pharao den Rücken wandte, um mit seinen

Landsleuten, die von den Aegyptern in grausamer Knechtschaft

gehalten wurden, dasselbe Los zu teilen. Er wollte

lieber mit dem Volke Gottes Ungemach leiden, als die

zeitliche Ergötzung der Sünde haben; lieber ein armer

Ziegelbäcker sein mit Gott, als ein reicher, angesehener

Mann ohne Gott. Im 2. Buch Mose wird uns mitgeteilt,

in welch äußerlich mangelhafter Weise Mose seinen

Entschluß ausführte; aber in Hebr. 10 wird uns die

geheime Triebfeder seines Handelns aufgedeckt, samt den

111

Beweggründen, die ihn leiteten: „Durch Glauben

weigerte sich Mose durch Glauben verließ er

Aegypten und fürchtete nicht die Wut des Königs; denn

er hielt standhaft aus, als sähe er den Unsichtbaren."

(V. 24—28.) Durch Glauben entschloß er sich, alle

irdische Größe aufzugeben und an Stelle der Schätze

Aegyptens die Schmach Christi zu wählen. Hätte er sich

durch die sichtbaren Dinge oder durch weltliche Weisheit

leiten lassen, so würde er zu einer ganz andern Entscheidung

gekommen sein; denn der Sohn der Tochter des

Pharao zu heißen schien viel besser, viel begehrenswerter

zu sein, als zu einer Schar armer, verachteter Sklaven

zu gehören. Aber er wußte durch den Glauben, daß jene

bedauernswerten, geknechteten und gequälten Israeliten das

Volk Gottes waren, und daß Gott sie sicherlich befreien

und in das gute Land führen würde, das Er ihnen verheißen

hatte.

Deshalb zögerte er nicht lange, erwägte auch nicht

ängstlich das Für und Wider, ging nicht mit Fleisch

und Blut zu Rate, warf keine begehrlichen Blicke auf die

Schätze Aegyptens, sondern trat mit aller Entschiedenheit,

mit ganzem Herzen auf die Seite des Volkes Gottes.

Wohl mußte er noch viele lehrreiche Erfahrungen machen,

ehe Gott ihn als Befreier Seines Volkes benutzen konnte;

aber er war treu und entschieden, und Treue und Entschiedenheit

belohnt Gott immer. Und wie reich war sein

Lohn! Wäre er in Aegypten geblieben, so hätte er vielleicht

der Erste nach dem Pharao werden können; aber

indem er der Führer des Volkes Gottes wurde, kam er

in so nahe Beziehungen zu Gott, wie kein andrer Mensch

sie genoß: Gott redete mit ihm von Angesicht zu Angesicht,

„wie ein Mann mit seinem Freunde redet". Welch

ein Vorrecht!

Mein lieber christlicher Leser! Du wirst auch oft,

besonders wenn du noch jung bist, in Umstände kommen,

wo Treue und Entschiedenheit für Christum in besondrer

Weise von dir gefordert werden. Vielleicht werden dir

112

sehr vorteilhafte, begehrenswerte Anerbietungen gemacht,

die du aber nicht annehmen kannst, wenn du anders deinem

Herrn auf dem Pfade des Gehorsams und der Absonderung

folgen willst. Erinnere dich dann an Mose und tritt entschieden

auf die Seite des Herrn. Erwäge nicht lange,

sondern entscheide dich für Christum, selbst wenn es etwas

zu entbehren und aufzugeben giebt. Ach, wie oft hat der

eine oder andere Gläubige der Versuchung nachgegeben,

seinen natürlichen Neigungen Gehör geschenkt, und wie

bitter waren die Folgen! Obwohl nichts im Himmel und

auf Erden den Gläubigen aus der Hand seines guten

Hirten rauben kann, so bleibt es doch wahr: „Was irgend

ein Mensch säet, das wird er auch ernten. Denn wer

für sein eignes Fleisch säet, wird von dem Fleische Verderben

ernten." (Gal. 6, 7. 8.)

„Ach, daß ich doch nie geheiratet hätte!" rief vor

nicht langer Zeit eine junge Frau verzweiflungsvoll aus.

Sie war eine Christin und hatte trotz mancher Warnungen

einen ungläubigen Mann geheiratet, und jetzt ging sie durch

tiefe Prüfungen als die Frucht ihrer Sünde. Sie hatte

dem einfachen, klaren Gebot Gottes: „Seid nicht in einem

ungleichen Joche mit Ungläubigen!" nicht gehorcht, und

mußte nun ernten, was sie gesäet hatte. Das Eingehen

einer Verbindung mit Ungläubigen in dieser oder einer

andern Weise ist eine Schlinge, in welche mancher Gläubige

fällt. Hüte dich davor! Du kannst sicher sein, daß Satan

sich dahinter verbirgt, um dein Herz von Christo abzuwenden,

dir deinen Frieden zu rauben und dein Zeugnis

für Ihn wirkungslos zn machen. Laß uns suchen, Ihm

mit aller Treue und Entschiedenheit nachzufolgen, indem

wir alles andere nur für Schaden und Verlust achten!

Im Vergleich mit Ihm ist es wahrlich nichts anderes.

Die Vorbilder des 3. Buches Mose.

(Fortsetzung.)

Das Brandopfer.

Die erste Art Opfer, zugleich die vollständigste und

meist charakteristische der „Feueropfer lieblichen Geruchs",

ist das Brandopfer. Der Anbeter mußte sein Opfer an

den Eingang des Zeltes der Zusammenkunft bringen und

es schlachten vor Jehova, zum Wohlgefallen für ihn. *) —

Was nun zunächst den Ort betrifft, wo der ganze cere-

monielle Dienst vor sich ging, so war die Stiftshütte in

drei Teile geteilt; den ersten bildete das Allerheiligste,

der innerste Teil des Zeltes, der durch einen Vorhang

von dem übrigen getrennt war. Hier befanden sich die

Bundeslade und die Cherubim der Herrlichkeit, welche den

Sühnungsdeckel oder Gnadenstuhl überschatteten, und

nichts anderes. Hier war der Thron Gottes, sowie

das Vorbild von Christo, in welchem Gott sich geoffenbart

hat, von Christo, der wahren Bundeslade und dem

wahren Gnadenstuhl.

*) Das ist der Sinn des hebräischen Wortes. Zugleich waren

die Brandopser srei willige Opfer, was bei den Opfern für die

Sünde nicht der Fall war.

Der Vorhang deutete an, wie der Apostel uns sagt,

daß der Weg ins Allerheiligste nicht geoffenbart war, so

114

lange die alte Haushaltung noch bestand. Außerhalb, unmittelbar

vor dem Vorhang, stand der goldne Räucheraltar,

von welchem man bei gewissen Gelegenheiten Weihrauch

in einem Rauchfaß nahm, um ihn innerhalb des

Vorhangs darzubringen; seinem Zweck nach gehörte er

also zum Allerheiligsten. Ferner stand außerhalb des Vorhangs,

(in dem Teile der Stiftshütte, der „das Heilige"

genannt wurde, um ihn von dem „Allerheiligsten" zu unterscheiden,)

auf der einen Seite der Schaubrottisch und auf

der andern der siebenarmige goldne Leuchter — die Schaubrote

ein Vorbild des fleischgewordenen Christus, des

wahren Brotes, in Verbindung mit und als Haupt von

den zwölf Stämmen; der Leuchter ein Bild der Vollkommenheit

*) des Geistes, als Spender des Lichtes. Die

Kirche erkennt Christum also, und der Heilige Geist wohnt

in ihr. Was sie jedoch als Kirche charakterisiert, ist die

Kenntnis eines himmlischen und verherrlichten Christus

und die Gegenwart des Heiligen Geistes in Einheit in

ihr. Hier ist es Christus in Seinen irdischen Beziehungen,

und der Heilige Geist in Seinen mannigfaltigen Macht-

Entfaltungen.

*) Die Zahl sieben ist die Zahl der Vollkommenheit, zwölf

ebenfalls, wie dies aus manchen Schriftstellen hervorgeht; sieben

deutet absolute Vollkommenheit im Guten oder Bösen an, zwölf

Vollkommenheit in einer dem Menschen anvertrauten Verwaltung.

In das Heilige ging nicht nur der Hohepriester

hinein, sondern die Priester im allgemeinen hatten hier

fortwährend Zutritt; aber auch nur sie allein. Wir wissen,

wer jetzt dort eingehen darf, und wer allein. Es sind

diejenigen, welche zu Königen und Priestern gemacht sind,

die wahren Heiligen Gottes. Nur, dürfen wir hinzufügen,

115

ist jetzt der Vorhang, welcher das Allerheiligste verbarg

und den Zugang dahin versperrte, von oben bis unten

zerrissen und darf nie wieder erneuert werden. Wir haben

durch das Blut Jesu Freimütigkeit, ins Allerheiligste einzutreten.

Der Vorhang, „das ist Sein Fleisch", ist zerrissen

worden. Wir finden in Joh. 6 nicht nur das in

dem fleischgewordenen Christus vom Himmel herniedergekommene

Brot, sondern auch Fleisch

und Blut, d. i. den gestorbenen Christus. Eins mit

Christo, treten wir jetzt ein und setzen uns im Geiste da

nieder, wo Er sich gesetzt hat. Unser Vorrecht ist, zu

aller Zeit und als solche, die ein Recht dazu haben, ins

Heiligtum einzugehen — das Heiligtum ein Bild des geschaffenen

Himmels; das Allerheiligste ein Bild dessen,

was in der Schrift „die Himmel der Himmel" genannt

wird. In gewissem Sinne, was geistliches Hinzunahen

und geistlichen Verkehr betrifft, sind jetzt, nachdem der

Vorhang zerrissen ist, Allerheiligstes und Heiliges zu Einem

geworden, obwohl Gott stets in einem für den Menschen

unnahbaren Lichte wohnt. Wir befinden uns schon jetzt,

wiewohl nur im Geiste, als Priester in den himmlischen

Oertern.

Draußen vor dem Heiligtum befand sich der Vorhof

des Zeltes der Zusammenkunft. Es war ein äußerer

Hof, umgeben von Byssus-Behängen, die an Säulen befestigt

waren. Beim Eintritt in diesen Hof begegnete

man zunächst dem Brandopferaltar; zwischen diesem und

der Stiftshütte stand das eherne Waschbecken, in welchem

die Priester sich wuschen, ehe sie zur Verrichtung ihres

Dienstes in die Stiftshütte gingen.

Es liegt auf der Hand, daß wir Gott nicht Nahen

116

können, als nur auf Grund des Opfers Christi, und daß

wir gewaschen sein müssen in dem Waschbecken der Wiedergeburt,

ehe wir im Heiligtum dienen können. *) Als

Priester bedürfen wir auch der Fußwaschung seitens des

Herrn, um unsern beständigen Dienst im Heiligtum ausüben

zu können. (S. Joh. 13.)

Auf diesem Wege hat sich Christus selbst genaht;

allerdings nicht auf Grund des Opfers eines Andern,

sondern indem Er sich selbst als ein vollkommnes Opfer

Gott darbrachte. Es giebt nichts Rührenderes, nichts

was unsrer eingehenden Betrachtung würdiger wäre, als

die Art und Weise, wie Jesus sich freiwillig Gott darstellte,

damit Gott in Ihm vollkommen verherrlicht würde.

Er litt schweigend; und dieses Schweigen war das Ergebnis

eines vollkommnen und tiefen Entschlusses, sich im

Gehorsam für die Verherrlichung Gottes aufzuopfern.

Und diesen Dienst hat Er, gepriesen sei Sein Name!

voll und ganz erfüllt, so daß der Vater jetzt in Seiner

Liebe gegen uns ruht.

Diese Hingebung an die Herrlichkeit des Vaters

*) Diese Ordnung ist auffallend. Wir würden das Waschbecken

vor den Altar gesetzt haben. Aber für den, der herzunaht,

kommt das Opfer Christi zu allererst. Der Altar ist für die Sünden,

und das ist das Erste, dessen wir bedürfen; in dem Waschbecken

sehen wir unsern Tod vorgebildet: die Anwendung des Todes auf

unsre Natur. Wir sind mit Christo gestorben. Das kommt nachher.

Den Altar finden wir in Röm- 3, 20 rc.; das Waschbecken in

Röm. 6. Der eherne Altar im Vorhof ging nicht weiter als zur

Genugthuung für die Sünden, entsprechend der Verantwortlichkeit

des Menschen, während der Sühnungsdeckel im Allerheiligsten andeutete,

was für die Gegenwart Gottes notwendig war. In dem

Werke Christi finden wir beides. Bei der Anwendung steht das

Waschbecken zwischen den beiden.

117

konnte sich auf zweierlei Art offenbaren: zunächst dadurch,

daß Er alle Kräfte und Fähigkeiten des lebenden Menschen,

(dessen Vollkommenheit aber durch den Tod und das Feuer

des Gerichts erprobt werden mußte,) Ihm widmete — das

ist es, was uns im Speisopfer dargestellt wird; und

zweitens dadurch, daß Er sich selbst, Sein Leben, der

göttlichen Herrlichkeit zum Opfer brachte — das ist es,

was wir im Brandopfer vorgebildet finden. Beide Opfer

sind grundsätzlich gleich, indem sie die gänzliche Widmung

deS menschlichen Daseins Gott gegenüber darstellen; das

eine die Widmung des lebenden, handelnden Menschen,

das andere die Hingabe des Lebens in den Tod.

Bei dem Brandopfer brachte der Opfernde das Opfertier

ganz und gar Gott dar an dem Eingang des Zeltes

der Zusammenkunft. So hat sich auch Christus dargebracht,

um den Ratschluß Gottes zu erfüllen und Ihn

zu verherrlichen. In dem Vorbilde waren das Opfer

und der Opfernde notwendigerweise unterschieden, und der

Opfernde legte seine Hände auf den Kopf des Opfertieres,

zum Zeichen daß er sich mit demselben eins machte.

Christus war beides: Er war das Opfer, und Er opferte

sich selbst. Führen wir einige Stellen an, die uns

Christum in diesem Charakter vorstellen, wie Er den Platz

dieser Opfer einnimmt. Der Heilige Geist läßt den Herrn

in Hebr. 10, 7 sagen, indem Er den 40. Psalm anführt:

„Da sprach ich: Siehe, ich komme; in der Rolle des

Buches steht von mir geschrieben. Dein Wohlgefallen zu

thun, mein Gott, ist meine Lust; und Dein Gesetz ist

im Innern meines Herzens." *)

*) Wie wir bereits früher gesehen haben, war durch die

Aufrichtung des goldenen Kalbes die Autorität Gottes verachtet

118

Christus also, der sich völlig hingiebt, um den ganzen

Willen Gottes zu thun, tritt an die Stelle der Opfer. Er

ist das Gegenbild der „Schatten der zukünftigen Güter".

Wenn Er an einer andern Stelle von Seinem Leben

spricht, so sagt Er: „Niemand nimmt es von mir, sondern

ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt es zu lassen,

und mit Füßen getreten worden. Israel hatte seinen freiwilligen

Entschluß, alles zu thun, was Jehova gesagt hatte, auf diese'Weise

gebrochen; es hatte ganz und gar gefehlt. Wie sollte nun der

Mensch Gott nahen? Das Gesetz hatte das Böse, das im Menschen

war, ans Licht gebracht. War es nun an Gott, mit denen zu

unterhandeln, welche soeben erst gefallen waren, und sie in ihrer

Bosheit anzuerkennen? Sollte Gott sich Seines Charakters entkleiden?

Wenn Er das nicht thun konnte, nicht thun durfte, so

blieb Ihm nichts anderes übrig, als in Gnade vom Himmel zu

reden. Es gab keine andere Möglichkeit mehr, mit den Menschen

auf der Erde zu verkehren. Sie hatten Den verachtet, der auf

Erden zu ihnen redete. Die Frage war also: Wie kann der Mensch

mit Gott im Himmel in Verbindung gebracht werden?

Dazu bedurfte es eines Opfers. Aber wo ein Opfer finden,

das imstande war, den Menschen von der Sünde rein zu waschen?

Es gab keinen Menschen, der imstande oder geneigt gewesen wäre,

so etwas zu thun. Das war kein Werk für einen Sünder. Da

sprach der Sohn Gottes: „Siehe, ich komme, um Deinen Willen,

o Gott, zu thun. Dein Gesetz ist im Innern meines Herzens." —

„Schlachtopfer und Speisopfer hast Du nicht gewollt, einen Leib

aber hast Du mir bereitet." Es war der Leib, in welchem Der

wohnen sollte, welcher der Gehorsam selbst war. „Ohren hast Du

mir bereitet." Und wir sehen Christum freiwillig diesen Leib

annehmen, um den Willen Gottes zu thun. Auf diese Weise besitzen

wir Jemanden, der fähig war, das Opfer zu werden; Einen,

der sich mit der Gestalt eines Knechtes bekleidet hat und den Geboten

Jehovas gehorsam geworden ist. Er hatte sowohl den Willen

als auch die Fähigkeit, dies zu thun: „Dein Gesetz ist im Innern

meines Herzens."

119

und habe Gewalt es wiederzunehmen. Dieses Gebot habe

ich von meinem Vater empfangen." (Joh. 10, 18.) Das

war Gehorsam, aber ein Gehorsam, der sich in der Aufopferung

Seiner selbst kundgab; deshalb sagt Er auch im

Hinblick auf Seinen Tod: „Der Fürst der Welt kommt

und hat nichts in mir; aber auf daß die Welt erkenne,

daß ich den Vater liebe und also thue, wie mir der Vater

geboten hat." (Joh. 14, 30. 31.) So lesen wir auch in

Luk. 9, 51: „Es geschah aber, als sich die Tage Seiner

Aufnahme erfüllten, daß Er Sein Angesicht feststellte, nach

Jerusalem zu gehen." — Wie schön und voller Gnade

ist doch dieser Weg des Herrn! Er war ebenso fest entschlossen,

sich Gott zu weihen und sich zur Verherrlichung

Gottes allen Folgen dieser Widmung zu unterwerfen, wie

der Mensch leichtfertig gewesen war, sich von Gott zu

entfernen, und hartnäckig, in dieser Entfernung zu beharren.

Jesus machte sich selbst zu nichts und erniedrigte

sich bis zum Tode, damit auf diesem Wege die

Majestät und Liebe Gottes, Seine Wahrheit und Gerechtigkeit

vollkommen ans Licht gebracht werden könnten. *)

*) In der That, um Sünder in die Gegenwart Gottes einzuführen,

mußte Jesus nicht nur das Gesetz beobachten, sondern

gehorsam werden bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz. Er

hätte die Gerechtigkeit verkündigen können in der großen Versammlung

(Ps. 40, 10), aber die Menschen haßten die Gerechtigkeit; Er

hätte jede Art von Werken der Barmherzigkeit und des Segens

thun können, aber die Einen beneideten, die Anderen verspotteten

Ihn. Alle Kundgebungen der Gerechtigkeit in Jhm.waren an und

für sich von keinem Nutzen. Deshalb war es nötig, daß Er ein

Opfer wurde; Sein Blut mußte vergossen werden, sollten wir

anders Gott nahen können. Unter diesem Charakter stellt uns das

Brandopser Christum vor Augen.

120

So wurde der Mensch in der Person Christi mit Gott

versöhnt. Gott ist ebenso vollkommen in dem Menschen

verherrlicht worden, wie Er in ihm verunehrt worden war.

(Der Leser wolle beachten, daß ich nicht sage: in den

Menschen, sondern in dem Menschen.) Und das gesegnete

Resultat war nicht nur Vergebung der Sünden, sondern

Einführung in die Herrlichkeit Gottes.

Das Brandopfer mußte „ohne Fehl" sein. Die Anwendung

dieser Eigenschaft auf Christum ist zu deutlich,

um einer Erklärung zu bedürfen. Er war das Lamm

„ohne Fehl und ohne Flecken". Der Opfernde *) mußte

das Opfertier vor Jehova schlachten. Dieser Umstand

macht die Aehnlichkeit mit Christo vollständig; denn obgleich

Er offenbar nicht sich selbst töten konnte, so gab Er doch

Sein Leben freiwillig auf; niemand nahm es von Ihm,

Er ließ es freiwillig vor Jehova. Das war, in der

Ceremonie des Opfers, das Teil dessen, der das Opfer

darbrachte, und ebenso war es das Teil Christi als

Mensch. Der Mensch sah im Tode Christi nur das

Gericht des Menschen, die Macht des Kajaphas oder die

Macht der Welt. In Wirklichkeit aber, als Opfer betrachtet,

opferte Christus sich selbst vor Jehova.

*) Es heißt nicht: „Der Priester", das will sagen, es war noch

nicht des Priesters Teil. Man könnte auch übersetzen: „Man soll

es schlachten". Es handelte sich um die Aussührung des Opfers,

nicht um die Darbringung des Blutes in einer priesterlichen Weise.

Wir kommen jetzt zu dem Teil, das der Herr und

der Priester an dem Brandopfer hatten. Das Opfer

mußte dem Feuer des Altars Gottes unterworfen werden.

Es wurde in Stücke zerschnitten, gewaschen und so, entsprechend

der Reinigung des Heiligtums, dem Gericht

121

Gottes anheimgegeben; denn das Feuer, als Vorbild, bezeichnet

stets das Gericht Gottes. Was die Waschung

mit Wasser betrifft, so machte sie das Opfer vorbildlich

zu dem, was Christus Seinem Wesen nach war: rein.

Bedeutungsvoll aber ist hier, daß die Reinigung des

Opfers und die unsrige nach demselben Grundsatz und

nach demselben Maßstabe geschehen. Wir sind geheiligt

durch den Geist zum Gehorsam. Jesus kam, um den

Willen Seines Vaters Zu thun; und so hat Er, vollkommen

von Beginn Seiner Laufbahn an, an dem was

Er litt den Gehorsam gelernt. Allezeit vollkommen gehorsam,

wurde Sein Gehorsam doch auf immer schwerere

Proben gestellt, so daß Er stets an Tiefe und Vollendung

zunahm: Er lernte den Gehorsam. Derselbe war neu für

Ihn als eine göttliche Person, — für uns ist er neu, weil

wir von Natur Rebellen sind gegen Gott, — und Er

lernte ihn in seiner ganzen Ausdehnung.

UeberdieS geschieht diese Waschung mit Wasser in

unserm Falle durch das Wort, und Christus bezeugt von

sich selbst, daß der Mensch von jedem Worte lebe, das

durch den Mund Gottes ausgehe. Selbstredend besteht

notwendigerweise dieser Unterschied, daß Christus Leben

hatte in sich selbst und das Leben war (S. Joh. 1 u. 5),

während wir dieses Leben von Ihm empfangen; und

während Er selbst dem geschriebenen Worte gehorsam war,

bildeten die Worte, die von Seinen Lippen flössen, den

Ausdruck Seines Lebens und sind die Richtschnur für

das unsrige.

Untersuchen wir diesen Gegenstand noch etwas näher.

Das Wasser der Reinigung stellte auch die Macht des

Heiligen Geistes dar, wirkend durch das Wort und den

122

Willen Gottes, sowie den Beginn dieses Lebens in uns:

„Nach Seinem eignen Willen hat Er uns durch das Wort

der Wahrheit gezeugt, auf daß wir eine gewisse Erstlingsfrucht

Seiner Geschöpfe seien." (Jak. 1, 18.) „Durch

welchen Willen wir geheiligt sind." (Hebr. 10, 10.) Dieses

Werk des Geistes aber findet uns tot in Sünden und

Vergehungen. Die Befreiung muß also durch den Tod

und die Auferstehung Christi geschehen. Deshalb floß bei

Seinem Tode Wasser und Blut aus Seiner Seite hervor,

als Zeichen der reinigenden und sühnenden Kraft. Der

Tod also, und der Tod allein, reinigt uns von der Sünde

und sühnt sie. „Wer gestorben ist, ist freigesprochen von

der Sünde" (Röm. 6, 7); und das Wasser wurde auf

diese Weise das Zeichen des Todes, denn dieser allein

reinigt.

Diese Wahrheit von einer wirklichen, durch den Tod

erfolgten Reinigung war denen, die unter dem Gesetz

lebten, notwendigerweise verborgen. Sie besaßen nur die

Vorbilder davon; denn das Gesetz wandte sich an den

lebenden Menschen und forderte Gehorsam von ihm.

Der Tod Christi aber stellte die Wahrheit ans Licht, daß wir

tot waren, daß in unserm Fleische nichts Gutes wohnte,

und daß also eine Reinigung nur durch Tod und Auferstehung

erfolgen konnte. Deshalb sagt die Schrift, indem

sie auf den symbolischen Gebrauch des Wassers in

der Taufe anspielt: „Wisset ihr nicht, daß wir, so viele

auf Christum Jesum getauft worden, auf Seinen Tod

getauft worden sind?" Indes ist es klar, daß wir nicht

bei dem Tode stehen bleiben dürfen; denn gerade die

Mitteilung des Lebens Christi befähigt uns, den alten

Menschen für tot zu halten und uns selbst als bereits

123

gestorben in unsern Vergehungen und Sünden. „Wenn

Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot der

Sünde wegen, der Geist aber Leben der Gerechtigkeit

wegen." (Röm. 8, 10.) Auch wird uns gesagt: „Auch

euch, als ihr tot wäret in den Vergehungen und in der

Vorhaut eures Fleisches, hat Er mitlebendig gemacht mit

Ihm;" und: „So sind wir nun mit Ihm begraben worden

durch die Taufe auf den Tod, aus daß, gleichwie Christus

aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit

des Vaters, also auch wir in Neuheit des Lebens

wandeln sollen." (Kol. 2, 13; Röm. 6, 4.) Nur in der

Macht eines neuen Lebens sind wir fähig, uns der Sünde

für tot zu halten. Erst dann, wenn wir die Kraft des

Todes und der Auferstehung Christi verstanden haben und

wissen, daß wir in Ihm sind durch den Heiligen Geist,

können wir sagen: Ich bin mit Christo gekreuzigt; ich

bin nicht mehr im Fleische. Wir sehen also, daß diese

Reinigung, die für den Juden nur eine moralische Wirkung

war, in uns wirksam ist durch die Mitteilung des Lebens

Christi und dasjenige darstellt, was uns gemäß der Kraft

Seines Todes und Seiner Auferstehung geheiligt hat;

die Sünde als Gesetz in unsern Gliedern ist gerichtet.

Der erste Adam hat als eine lebendige Seele sich selbst

verderbt; der zweite Adam teilt als ein lebendig machender

Geist uns ein neues Leben mit.

Wenn aber die Mitteilung des Lebens Christi durch

die Versöhnung diese Wirkung in uns hervorbringt, so ist

es offenbar, daß dieses Leben in Ihm wesentlich rein war,

während in uns das Fleisch Wider den Geist gelüstet.

Jesus war, selbst dem Fleische nach, von Gott geboren.

Nichtsdestoweniger mußte Er, obgleich vollkommen rein,

124

sich der Taufe unterziehen, und zwar nicht nur der Wassertaufe,

um alle Gerechtigkeit zu erfüllen, sondern auch zur

Erprobung alles dessen, was in Ihm war, der Feuertaufe.

„Ich habe eine Taufe", sagt Er, „womit ich

getauft werden muß, und wie bin ich beengt, bis sie

vollbracht ist!"

Christus opferte sich also gänzlich Gott, um Gottes

Herrlichkeit völlig zu offenbaren und sich Seinem Gericht zu

unterwerfen. Das Feuer erprobte, was Er war. Er mußte

„mit Salz gesalzen werden". Die vollkommne Heiligkeit

Gottes, in der ganzen Gewalt Seines Gerichts, erprobte

bis aufs Aeußerste alles was in Jesu war. Der Schweiß,

der wie große Blutstropfen zur Erde fiel, das rührende

Flehen, das Er im Garten Gethsemane „mit großem

Geschrei und Thränen" emporsandte, die tiefe Seelenangst,

die Ihm am Kreuze, im Bewußtsein Seiner Gerechtigkeit,

den Schrei auspreßte: „Warum hast Du mich verlassen?"

— ein Schrei, der im Blick auf eine Erleichterung

der Bedrängnis unbeantwortet blieb — alles das zeigt

uns den Sohn Gottes völlig auf die Probe gestellt. Tiefe

rief der Tiefe; alle Wogen und Wellen Jehovas gingen

über Ihn hin. (Ps. 42, 7.) Aber so wie Er sich ganz

und gar freiwillig dieser Probe unterwarf, die bis auf

den tiefsten Grund Seiner Seele ging, ebenso hat dieses

Feuer des Gerichts, welches Seine innersten Gedanken

erprobte, nichts anderes hervorzubringen vermocht als

einen lieblichen Geruch für Gott. Es ist bemerkenswert,

daß das Wort, welches im Urtext angewandt wird, um

die Handlung des Verbrennens des Brandopfers zu bezeichnen,

dasselbe ist wie dasjenige, dessen die Schrift sich

bedient, wenn sie von dem Verbrennen des Weihrauchs

125

redet; handelt es sich dagegen um das Verbrennen des

Sündopfers, so gebraucht sie ein anderes Wort.

Wir erblicken also in dem Brandopfer Christum in

der vollkommnen Aufopferung Seiner selbst, sowie in der

Erprobung des Innersten Seiner Seele durch das Feuer

des schrecklichen Gerichts Gottes. Sein Leben, das wie

ein Brandopfer auf dem Kreuze verzehrt wurde, war „ein

Opfer lieblichen Geruchs dem Jehova", in jeder Beziehung

unendlich angenehm für Gott; da war nicht ein Gedanke,

nicht ein Wille, oder er wurde dort auf die Probe gestellt

und Sein Leben darin verzehrt. Alles wurde, ohne daß

Er anscheinend irgend eine Antwort erhalten hätte, von

Ihm aufgeopfert; alles war von Anfang bis zu Ende ein

duftender Wohlgeruch für Gott.

Als Noah sein Brandopfer darbrachte, heißt es:

„Jehova roch den lieblichen Geruch, und Jehova sprach in

Seinem Herzen: Nicht mehr will ich hinfort den Erdboden

verfluchen um des Menschen willen; denn das

Dichten des menschlichen Herzens ist böse von seiner

Jugend an." (1. Mose 8, 21.) Es hatte Gott gereut,

daß Er den Menschen gemacht hatte, und Ihn geschmerzt

in Sein Herz hinein. (1. Mose 6, 6.) Als Er nun

aber den lieblichen Geruch roch, sprach Er in Seinem

Herzen: „Ich will nicht mehr verfluchen." So hat Gott

auch ein vollkommnes und unendliches Wohlgefallen an

der freiwilligen Opferung Christi gefunden. Bei dem Brandopfer

handelt es sich durchaus nicht um die Anrechnung

der Sünde, sondern um die Vollkommenheit, Reinheit und

Ergebenheit des Opfers, die als ein lieblicher Geruch zu

Gott emporstiegen. Wohl war der Tod notwendig, denn

die Sünde war da, und es liegt auf der Hand, daß

126

Gott ohne den Tod hinsichtlich des Zustandes des Menschen

nicht hätte verherrlicht werden können. Aber es ist sehr

wichtig, das Brandopfer von den Opfern für die Sünde zu

unterscheiden. Bei den letzter» wurden die Sünden auf

das Opfer gelegt, und es trug dieselben. Das war beim

Brandopfer nicht der Fall. Christus opferte sich selbst,

Er, der keine Sünde kannte, durch den ewigen Geist, um

Gott durch Seinen vollkommnen Gehorsam und Seine

völlige Hingabe zu verherrlichen. Ich wiederhole also:

es handelt sich hier nicht um die Uebertragung der Sünden

auf das Opfer, sondern um die Vollkommenheit und Reinheit

dieses Opfers im Tode; und wir sind in der ganzen

Annehmlichkeit, in dem lieblichen Geruch desselben vor

Gott dargestellt. Welch ein kostbarer Gedanke für uns!

Wir sind annehmlich gemacht in dem Geliebten, nach der

ganzen Wonne, die Gott an dem Wohlgeruche dieses Opfers

findet. Ist Gott vollkommen in Christo, in allem was

Er ist, verherrlicht worden? In diesem Falle ist Er

auch verherrlicht, wenn Er uns annimmt. Findet Er

Seine Wonne an Christo und an jener vollkommensten

That Seiner Liebe? In diesem Falle findet Er auch

Seine Wonne an uns. Steigt jener Wohlgeruch allezeit

vor Ihm auf als ein ewiges Gedächtnis dessen, was

Seinen Augen so überaus angenehm war? Nun, dann

sind auch wir vor Ihm dargestellt gemäß der Wirksamkeit

dieses wohlgefälligen Opfers. Es handelt sich, wie bereits

gesagt, nicht nur um die Auslöschung unsrer Sünden

durch den Sühnungsakt; nein, die vollkommne Annehmlichkeit

Dessen, der jenen Akt vollzog, der süße Geruch

Seines sündlosen Opfers sind unser, sind unser Wohlgeruch

vor Gott. Die Annehmlichkeit des Opfers, ja

— 127 —

Christus selbst ist unser. Wir stehen vor Gott kraft

dieses Opfers. Wir sind eins mit Christo.

Vergessen wir jedoch nicht, daß das Opfer Christi,

als Brandopfer betrachtet, wobei es sich also nicht um das

Tragen der Sünden handelte, doch den Charakter des

Todes trug, der aus der Thatsache hervorging, daß die

Sünde vor Gott in Frage stand. Das machte die

Prüfung und das Leiden um so schrecklicher. Der Gehorsam

Christi wurde vor Gott erprobt an der Stätte

der Sünde, und Er war gehorsam bis zum Tode, nicht

in dem Sinne des Tragens und Hinwegthuns der Sünde,

obgleich das in demselben Akte geschah, sondern in der

Vollkommenheit Seiner Selbst-Aufopferung an Gott; und

zwar wurde Sein Gehorsam von Gott geprüft, indem Er

als Sünde behandelt wurde und nur ein lieblicher Geruch

für Gott war. Daher fehlt in dem Brandopfer das

sühnende Element nicht, wie es denn auch in V. 4 heißt:

„und es wird wohlgefällig für ihn sein, um Sühnung

für ihn zu thun"; und zwar ist diese Sühnung in einem

Sinne, nämlich als die Erprobung des Gehorsams und

die Verherrlichung Gottes darin, von tieferer Bedeutung

als das Tragen der Sünden.

„Seid nun Nachahmer Gottes als geliebte Kinder,

und wandelt in Liebe, gleichwie auch der Christus uns

geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als Darbringung

und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden

Wohlgeruch." (Eph. 5, 1. 2.) Wer unter den Heiligen

ckennt nicht die Kraft dieser Liebe? Wenn das Werk

unsrer Erlösung einerseits auch in einem Menschen und

Lurch einen Menschen geschehen ist, so ist es doch auch

128

geschehen in der göttlichen Liebe, in der Liebe des Vaters

selbst. O wie köstlich ist es, daß Jesus in einem Leibe

gekommen ist, der Ihm zubereitet worden war, und daß

Er, in unbedingtem Gehorsam handelnd, uns ein voll-

kommnes Muster der Gerechtigkeit hinterlassen hat, indem

Er sich selbst, als ein freiwilliges Opfer, in der Fülle

der göttlichen Liebe dahingab!

Das Erste, was der, welcher Gott naht, findet, ist

also der Brandopferaltar. Dort begegnet der Sünder Gott

im Gericht, aber er begegnet auch dem Jesus, der sich

selbst aufopferte. Nicht im Heiligtum, noch im Allerheiligsten

ist Gott ein vollkommnes Opfer dargebracht

worden, sondern angesichts der Erde, obgleich erhöht von

der Erde; ein Opfer, in welchem Satan nichts finden

konnte, in welchem Gott aber alles gefunden hat, was

Er fordern mußte — ein Opfer, an dessen Vollbringung

der Mensch kein Teil haben konnte. Es war ein Werk

zwischen Gott und dem Sohne; und wenn auch die

Gläubigen allein den Wert desselben verstehen, so wurde

es nichtsdestoweniger vollbracht vor der Welt und durch

die Hände derer, die da waren. Jesus Christus wurde

vor unsern Augen gekreuzigt, indem Er der Welt ein

Zeugnis gab, welches sie ohne Entschuldigung läßt. Und

wenn es keinen andern Weg giebt, um zu Gott zu kommen

als diesen Jesus, der so dem Tode preisgegeben wurde,

was thut dann der Unglaube, wenn er Den verachtet und

verwirft, der jetzt, im Himmel thronend, der Spender

aller Segnungen ist für die, welche glauben!

Mein Leser! du kannst thätig und besorgt sein um

viele Dinge; aber es giebt nur eines, worauf Gott achtet.

Ist diese Liebe Gottes in Jesu Christo, Seinem Sohne,

129

bis jetzt nur eine inhaltsleere Geschichte für dich gewesen,

während du den Eitelkeiten, die sich dir hienieden darbieten,

mit Eifer nachgetrachtet hast? Bleibt dein Herz

kalt bei der Liebe Gottes, wie wenn die Stätte, wo einst

das Kreuz aufgerichtet wurde, ein leerer Raum in der

Welt wäre? Das natürliche Herz haßt die Rechte, welche

Gottes Liebe und Heiligkeit an uns haben; das Kreuz

aber ist das mächtige Mittel in der Hand Gottes, um

das Herz von der Liebe zur Welt zu befreien.

(Fortsetzung folgt.)

„Ein verschlossener Garten ist meine

Schwester, meine Braut."

(Hohel. 4, 12-15.)

„Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, meine

Braut, ein verschlossener Born, eine versiegelte Quelle.

Was dir entsproßt, ist ein Lustgarten von Granaten nebst

edlen Früchten, Cyperblumen nebst Narben; Narbe und

Safran, Würzrohr und Zimmet, nebst allerlei Weihrauchgehölz,

Myrrhe und Aloe nebst allen vortrefflichsten Gewürzen

; eine Gartenqnelle, ein Brunnen lebendigen Wassers,

und Bäche, die vom Libanon fließen." Einige kurze Bemerkungen

über die natürliche Lage und den Charakter

des Landes Israel werden uns sehr behilflich sein, diese

schönen und belehrenden Vergleiche zu verstehen. Das gelobte

Land liegt gleichsam im Mittelpunkt der bewohnten

Erde und war einst weit berühmt wegen seiner Schönheit

und Fruchtbarkeit. Auch ist es beachtenswert, daß die

Juden nicht zufällig sich gerade in Kanaan niedergelassen

haben, sondern daß Gott Hunderte von Jahren vor Be-

130

ginn des nationalen Bestehens Israels seine Grenzen bereits

bestimmt hatte. „Als der Höchste den Nationen das

Erbe austeilte, als Er von einander schied die Menschenkinder,

da stellte Er fest die Grenzen der Völker nach

der Zahl der Kinder Israel. Denn Jehovas Teil

ist Sein Volk, Jakob die Schnur Seines Erbteils."

(5. Mose 32, 8. 9.) Wir ersehen aus dieser höchst interessanten

Stelle, welch einen Platz Israel von alters

her in den Gedanken und Ratschlüssen Gottes eingenommen

hat. Das verhältnismäßig kleine Land ist der Schauplatz

von Ereignissen gewesen, die alle andern an Wichtigkeit

und weittragenden Folgen überragen; und es wird in der

Zukunft wieder der Schauplatz von Ereignissen werden,

auf welche Himmel und Erde warten und auf die Gottes

Wort immer wieder hindeutet. Die Verheißung, die in

Eden nur als eine Knospe erschien, wird sich in dem

gelobten Lande in ihrer voll erblühten Herrlichkeit

entfalten.

Durch Israels Untreue liegt das Land, wie wir

wissen, heute wüste. Es erweckt nichts weniger als den

Gedanken an einen Mittelpunkt der ganzen Erde. Es ist

von den Nationen zertreten worden. Aber obwohl es

lange Zeit eine Wüste, ein Land des Todesschattens gewesen

ist, wird es doch nicht immer so bleiben. Der

Herr des Landes ist gegenwärtig abwesend; Er ist in ein

„fernes Land" gezogen. Aber Er wird wiederkehren und

von Seinem Eigentum Besitz nehmen. (Luk. 19.) „Das

Land ist mein", sagt der Herr, und nach Seinen ursprünglichen

Absichten wird es zu seiner Zeit der Mittelpunkt

aller Nationen, die Herrlichkeit aller Länder und der Ruhm

aller Völker werden; und die geliebte Stadt Jerusalem

131

wird die Hauptstadt der ganzen Erde und der Mittelpunkt

des Segens werden für alle ihre Bewohner. Das königliche

Banner wird dann wieder über seinen Mauern wehen,

als das gewisse Zeichen, daß der „hochgeborne Mann",

der König der Nationen, zurückgekehrt ist.

Mose durfte vom Gipfel des Berges Pisga herab dieses

herrliche Land schauen, ehe er starb. Der Herr selbst

zeigte es Seinem Knechte. Welch eine Ehre für Mose!

Bevor er seine Augen im Tode schloß, durfte er den zukünftigen

Wohnort der Erlösten des Herrn betrachten und

seine fruchtbaren Thäler, seine schönen Berge und wasserreichen

Ebenen schauen. Er sah

Das heißersehnte Ziel, das langverheißne Land,

Deß grüne Fluren stets von Milch und Honig triefen.

Und wenn er unter der Leitung des Geistes von diesem

herrlichen Lande redet, so sagt er: „Denn Jehova, dein

Gott, bringt dich in ein gutes Land, ein Land der Wasserbäche,

Quellen und Gewässer, die in der Niederung und

im Gebirge entspringen; ein Land von Weizen und Gerste

und Weinstöcken und Feigenbäumen und Granatbäumen;

ein Land von ölreichen Olivenbäumen und Honig; ein

Land, in welchem du nicht in Dürftigkeit Brot essen wirst,

in welchem es dir an nichts mangeln wird; ein Land,

dessen Steine Eisen sind, und aus dessen Bergen du Erz

hauen wirst." (5. Mose 8, 7 — 9.)

Den reichen und mannigfaltigen Erzeugnissen des

heiligen Landes sind ohne Zweifel die Vergleichungen

unsers Textes größtenteils entnommen. Die Braut des

Herrn wird hier mit einem Garten, einem Lustgarten und

einer Quelle verglichen — so reich ist sie mit allem versehen,

was für Ihn wohlgefällig ist, so mannigfaltig ist

132

die Gnade des Heiligen Geistes in ihr wirksam. Für das

Herz ihres Herrn giebt es in ihr von dem Lieblichsten

und Köstlichsten die Fülle. „Narbe und Safran, Würzrohr

und Zimmet, nebst allerlei Weihrauchgehölz, Myrrhe

und Aloe nebst allen vortrefflichsten Gewürzen!"

Welche Worte! wie sollten wir über sie nachsinnen! Ein

Garten mit seinem herrlichen Blumenschmuck, mit seinen

zarten, wohlriechenden Pflanzen; ein Lustgarten mit

allerlei Fruchtbäumen und Ziergewächsen; eine Quelle,

die das Ganze belebt und erfrischt — wie zeigen uns

diese Vergleiche, was das Volk Gottes für Ihn sein sollte

in dieser bösen, finstern Welt! Wie ein lieblicher, duftender

Garten im Vergleich mit einer dürren, öden Wüste, so

sollte das Volk des Herrn sein im Vergleich mit den

Kindern dieser Welt. Doch wie steht es mit uns, geliebter

Leser? Offenbaren wir wirklich Frische, Wachstum

und Fruchtbarkeit in den Dingen des Herrn? Kann

Er in den Garten unsrer Herzen kommen „und die Ihm

köstliche Frucht essen"? Ihm sind alle unsre Gedanken

und Wege, all unser Thun und Lassen bekannt.

Beachten wir ferner, daß das erfreute Herz des

Bräutigams Seine Braut beschreibt als einen „verschlossenen

Garten, einen verschlossenen Born

und eine versiegelte Quelle". Sie ist alles das, und

sie ist es nur für Ihn. Ihre Augen wandern nicht

umher. Sie ist vollkommen zufrieden mit ihrem Teil in

ihrem Geliebten. Christus ist genug für sie. Er füllt

ihr ganzes Herz aus. Kein verlangender, kein einladender

Blick trifft einen Andern. „Mein Geliebter ist mein, und

ich bin Sein, der unter den Lilien weidet." Die Blüte,

die Frucht, der Wohlgeruch — alles ist für Ihn und für

133

Ihn allein. Ihr Garten ist für alle anderen verschlossen;

das königliche Siegel ist auf die Quelle des Königs gedrückt;

ihre Wasser sprudeln für Ihn allein. „Erkennet

doch, daß Jehova den Frommen für sich abgesondert

hat!" (Ps. 4, 3.) Kein Fremder darf

das anrühren, was des Königs Siegel trägt. „Doch der

feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: „Der

Herr kennt, die Sein sind"; und: „Jeder, der den Namen

des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit."

(2. Tim. 2, 19.) „Gieb mir, mein Sohn, dein

Herz", ist ein klares, deutliches Gebot. Lausche auf die

Stimme der Weisheit, meine Seele! Wenn du diesem

Gebote folgst, so kannst du kein Herz für die Welt haben.

Kein Mensch hat zwei Herzen, obgleich es leider zu Zeiten

scheint, als wenn wir zwei hätten. Laßt uns wachen und

auf unsrer Hut sein! Wenn der hochgelobte Herr mein

Herz besitzt, so habe ich keines für die Welt. Ein geteiltes

Herz kann Er nicht annehmen.

Die Worte „verschlossen" und „versiegelt" erwecken

auch den Gedanken an eine gänzliche, entschiedene Absonderung

des Gläubigen von der Welt. Gleich einem

Stück Land, das, wohl eingezäunt, bepflanzt und gepflegt,

nur für den Gebrauch des Eigentümers da ist, so ist auch

der Christ, obwohl in dieser Welt, doch nicht von der

Welt. Christus selbst sagt: „Sie sind nicht von der

Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin." Der Gläubige

ist hier als ein Diener Christi und sollte lernen,

alles für Ihn zu thun. „Alles was immer ihr thut,

im Wort oder im Werk, alles thut im Namen des

Herrn Jesu, danksagend Gott, dem Vater, durch Ihn."

(Kol. 3, 17.) Es mag sein, was es will, kleine oder

134

große Dinge, der Christ soll alles thun als einen Dienst

für seinen Herrn. Die einzige Frage für ihn ist: Wird

Christus hierdurch verherrlicht? diene ich Ihm? — Aber

ach! wie oft wird gefragt: Was ist denn Böses dabei?

und anstatt den Willen des Herrn zu thun, folgt man

seinem eignen Willen.

Der Apostel Paulus konnte sagen: „Das Leben ist

für mich Christus"; oder mit andern Worten: Zu leben

heißt für mich: Christum zu meinem Beweggrund, Christum

zu meinem Gegenstand, Christum als meine Kraft und

meinen Lohn zu haben. Das ist Absonderung von der

Welt und zugleich die Erweisung des bestmöglichen Dienstes

i n der Welt. Wenn das Auge unverrückt auf die Person

des Geliebten gerichtet bleibt, so ist das Herz von Ihm

erfüllt, der Blick klar, das Urteil gesund und der Dienst

gesegnet. Je näher wir bei der Quelle bleiben, desto

sicherer werden wir Segenskanäle für andere werden.

Wie die Quelle in der Wüste oder der Fluß in der

Ebene dem umliegenden Lande Nutzen bringt, so werden

auch wir für unsre Umgebung von Segen sein. „Wenn

jemanden dürstet", sagt Jesus, „so komme er zu mir und

trinke. Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt

hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen

Wassers fließen. Dies aber sagte Er von

dem Geiste, den die an Ihn Glaubenden empfangen

sollten." (Joh. 7, 37-39.)

Aus einem Herzen, das so mit Christo erfüllt ist

durch die Einwohnung des Heiligen Geistes, wird ein

gesegnetes Zeugnis für den auferstandenen und verherrlichten

Herrn hervorfließen; ja es sollte hervorfließen

gleich „Strömen lebendigen Wassers". Denn für dieses

135

Zeugnis ist der Gläubige seinem abwesenden Herrn gegenüber

verantwortlich. „Wer da sagt, daß er in Ihm

bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie Er

gewandelt hat." (1. Joh. 2, 6.) Hier betreten wir den

Boden wahrer christlicher Verantwortlichkeit. Bin ich ein

Christ, so bin ich verantwortlich, als solcher zu wandeln;

nicht damit ich einer werde, sondern weil ich einer bin,

weil ich mich durch das kostbare Blut Christi an dem

Platze der vollkommnen Gunst Gottes befinde. Bin ich

ein Kind Gottes, so sollte ich wandeln wie ein Kind; bin

ich ein Diener, wie ein Diener.

Unsrer Verantwortlichkeit als Menschen, als Kinder

des ersten Adam, ist durch unsern gepriesenen Herrn vollkommen

entsprochen worden, als Er für uns starb; und jetzt

entspringt unsere Verantwortlichkeit aus unserm neuen Verhältnis

zu Christo, dem letzten Adam, dem auferstandenen

und verherrlichten Menschen zur Rechten Gottes. „Gleichwie

der Vater mich gesandt hat, sende ich auch euch." (Joh.

20, 21.) Dieser Auftrag wurde den Jüngern des

Herrn im allgemeinen, nicht nur den Aposteln, gegeben.

Und im Blick auf diese Sendung müssen wir alle am

Ende unsrer Laufbahn unserm Herrn und Meister Rechenschaft

geben. Ernste Wahrheit! „Ein jeder von uns

wird für sich selbst Gott Rechenschaft geben." (Vergl.

Röm. 14, l0 —12.) Wo wird dies geschehen? Vor dem

Richterstuhl Christi, vor welchem wir einst alle offenbar

werden müssen.

Es mag hier ani Platze sein, einige Bemerkungen

über den Richterstuhl Christi einzuflechten, da manche

Seelen über diesen Gegenstand unklar und oft auch beunruhigt

sind.

136

Zunächst ist zu beachten, daß die Person des

Gläubigen nie mehr ins Gericht kommen kann. „Er ist

aus dem Tode in das Leben hinübergegangen." (Joh.

5, 24.) Er ist „von allem gerechtfertigt". Christus ist

um seiner Uebertretungen willen dahingegeben worden, und

diese sind für immer dahin; Sein Name sei gepriesen!

Er wurde um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt;

und was nun? Auferstanden mit Christo, ist der Gläubige

mit Christo verbunden in Seinem Leben und Seiner

ganzen Annehmlichkeit vor Gott. „Also ist jetzt keine

Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind."

(Vergl. Röm. 4, 25; 5, 1. 2; 8, 1.) Der Gläubige

selbst kann also nie mehr ins Gericht kommen. Ueberdies

ist er, wenn er vor dem Richterstuhl Christi erscheint,

bereits in seinem verherrlichten Leibe, dem Herrn selbst

gleichgestaltet. „Der unsern Leib der Niedrigkeit umgestalten

wird zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der

Herrlichkeit, nach der wirksamen Kraft, mit der Er vermag,

auch alle Dinge sich zu unterwerfen." (Phil. 3, 21.)

Wie weit entfernt diese herrliche Wahrheit jeden Gedanken

an ein Gerichtetwerden des Gläubigen! Er wird verherrlicht,

ehe er vor den Richterstuhl gerufen wird, und

weiß, daß er ein Miterbe Christi ist und sich in derselben

Herrlichkeit befindet wie Er.

Die Sünden und Vergehungen des Christen

können ebenfalls nicht mehr ins Gericht kommen. Christus

hat dafür bereits am Kreuze gelitten und sie durch Sein

Opfer auf immerdar hinweggethan. Ein zweites Gericht

der Sünden des Gläubigen kann nicht stattfinden. Sie

sind alle von Jesu getragen und gesühnt: „Welcher selbst

unsre Sünden an Seinem Leibe auf das Holz getragen

137

hat, auf daß wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit

leben, durch dessen Striemen ihr heil geworden

seid." (1. Petr. 2, 24.) Das Werk Christi auf dem

Kreuze, als Stellvertreter Seines Volkes, war so vollkommen,

daß .nicht die geringste Frage hinsichtlich der

Sünde ungeordnet geblieben ist. Als Er ausrief: „Es

ist vollbracht!" war jede Frage für immer und ewig

in Ordnung gebracht; und auf Grund dieses vollbrachten

Werkes begegnet die göttliche Liebe dem vornehmsten der

Sünder in all den Reichtümern der Gnade Gottes. Alle

Sünden des Gläubigen sind getilgt und vergeben; ja,

Gott will ihrer nie mehr gedenken. „Denn durch ein

Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die

geheiligt werden." (Hebr. 10.)

Allein obwohl weder die Person, noch die

Sünden und Vergehungen des Gläubigen Gegenstände

des Gerichts an jenem Tage sein können, giebt

es doch etwas, was vor den Richterstuhl Christi gebracht

werden wird; und das sind die Werke des Gläubigen

als eines Dieners Christi. Deshalb ermahnt der Apostel

uns so ernst und treu: „Daher, meine geliebten Brüder,

seid fest, unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werke

des Herrn, da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich

ist im Herrn". (1. Kor. 15, 58.) Nachdem er lange

bei der Auferstehung des Leibes verweilt hat, kommt er

schließlich zu dem, was man die Auferstehung der

Werke nennen könnte. „Das Werk eines jeden wird

offenbar werden, denn der Tag wird's klar machen, weil

er in Feuer geoffenbart wird." — „So urteilet nicht

etwas vor der Zeit, bis der Herr kommt, welcher auch

das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die

138

Ratschläge der Herzen offenbaren wird; und dann wird

einem jedem sein Lob werden von Gott." (1. Kor. 3. 4.)

Diese Dinge sind ernst; aber ein aufrichtiges Herz denkt

nicht mit Furcht und Schrecken an jene Offenbarwerdung

vor dem Richterstuhl Christi, sondern betrachtet sie im

Gegenteil als eines seiner größten Vorrechte. Denn dann

wird sich das Wort erfüllen: „Ich werde erkennen, wie

auch ich erkannt worden bin."

Gott ist Licht, und Gott ist Liebe; und Seine Liebe will

Seine Kinder in dem Lichte haben, wie Er selbst im Lichte

ist. „Gott ist Licht, und gar keine Finsternis ist in Ihm."

(1. Joh. 1, 5.) Unsre neue, göttliche Natur liebt das Licht

und erfreut sich darin. Die geringste Finsternis wird als

eine unerträgliche Bürde von ihr gefühlt. Im Lichte sein

heißt offenbar sein; denn das Licht macht alles offenbar.

Und wer von uns möchte wünschen, daß ein einziger

Moment in unsrer Geschichte, mit all ihren gnädigen,

liebevollen Führungen Gottes, im Dunkeln bliebe! Das

Herz schrickt vor einem solchen Gedanken zurück, trotz all

unsrer Schwachheit und Verkehrtheit. „Denn wir müssen

alle geoffenbart werden vor dem Richterstuhl des Christus,

auf daß ein jeder empfange, was er in dem Leibe gethan,

nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder BöseS."

(2. Kor. 5, 10.) Wenn einmal mein ganzer Lebenslauf

in dem Lichte Gottes geoffenbart sein wird, so werde ich

erkennen, wie ich selbst erkannt worden bin. Mein Urteil

über alles, was in diesem Leben gut oder böse war,

wird mit dem vollkommnen Urteil Gottes übereinstimmen.

Alles was ich für Christum gethan habe, als Frucht

Seiner Gnade in mir, wird von Ihm anerkannt und belohnt

werden. Was nur aus der Energie meiner Natur

139

hervorgegangen ist, wird unbelohnt bleiben. Alles was

der Geist Christi in uns hervorgebracht hat, wird in dem

Lichte des Richterstuhls, getrennt von aller menschlichen

Beimischung, in herrlichem Glanze strahlen. Mancher

selbstverleugnende Dienst, der anscheinend mit den besten

Beweggründen begonnen, aber nicht mit Mitteln ausgeführt

worden ist, welche das Wort Gottes billigt, wird

mit göttlicher Genauigkeit geprüft und zerlegt werden.

Alles Gute wird der Herr sicherlich in überströmender

Fülle belohnen; ja, selbst mancher heilige Vorsatz, der

die Verherrlichung des Herrn zum Gegenstände hatte, aber

nie zur Ausführung gebracht werden konnte, wird dort

im Lichte gesehen werden und volle Vergeltung empfangen.

Der geringste Dienst, der hienieden für Ihn gethan worden

ist, wird an jenem Tage nicht übersetzen werden. „Denn

wer irgend euch mit einem Becher Wassers tränken wird

in meinem Namen, weil ihr Christi seid, wahrlich, ich

sage euch: er wird seinen Lohn nicht verlieren." (Mark.

9, 41.) Auch wird es sich an jenem Tage zeigen, was

uns verhindert hat, mehr Gutes zu thun, trotz des

Lichtes, das wir hatten, und trotz der Gnade, die wir

genossen. Manches vermeintlich Schöne und Große wird

dort zu einem Nichts zusammenschrumpfen; manche unscheinbare

und unbeachtet gebliebene That der Liebe wird

ans Licht gezogen und in ungeahnter Weise belohnt werden.

Nichtsdestoweniger wird jeder Einzelne den ihm vom Vater

bereiteten Platz haben, und wir werden voll und ganz

erkennen, wie viel wir unserm hochgelobten Herrn verdanken.

Ja, erst dann werden wir sehen, was Er für

uns gewesen ist und was alles Er von uns zu ertragen

hatte. In dem vollen Lichte Seiner Gegenwart werden

140

wir die Liebe jenes Herzens erkennen, das sich stets über

alle unsre Unwürdigkeit erhob und sich immer wieder in

derselben Geduld, Liebe und unermüdlichen Güte offenbarte.

Und dann werden wir auch die Tausende und

aber Tausende von Fällen sehen, in welchen wir in dem

Hochmut unsrer Herzen uns selbst zu gefallen und zu erheben

suchten, anstatt in Demut dem Herrn Jesu zu

dienen, Ihn zu erheben und Ihn zu unserm Ein und

Alles zu machen.

Die langmütige, zärtliche Liebe Jesu, die uns so

viele Jahre hindurch getragen und geleitet hat, wird dann

in all ihrer Vollkommenheit von uns erkannt und verstanden

werden; und die lieblichen Erinnerungen an diese

Liebe, die an Kraft und Tiefe alles Denken übersteigt,

wird unsre Seelen mit tiefer Bewunderung und Anbetung

erfüllen und unser lautes Lob wachrufen in alle Ewigkeit.

Auch werden an jenem Tage Seine vielen wunderbaren

Eingriffe in unser Leben vor wie nach unsrer Bekehrung

nicht vergessen sein. Wir werden einen Blick

thun in die hinter uns liegenden Tage, wie wir ihn

vorher nie gethan haben, nie zu thun vermochten. Wir

werden sehen, wie oft wir unbewußt in Gefahr gestanden

haben, von Satan ins Verderben gestürzt zu werden; wie

aber unser geliebter, anbetungswürdiger Herr Seinen Arm

um uns geschlungen und uns sanft und sicher von dem

schlüpfrigen Boden, auf dem wir standen, zurückgeführt hat.

Wahrlich, wir werden mit überströmenden Herzen uns aus

der Gegenwart des Richterstuhls entfernen und wissen,

wozu die goldnen Harfen im Himmel dienen. Der Strom

der Freude, der sich gerade dort für uns erschließen wird,

wird fortfließen in immer zunehmender Fülle und Frische

von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Die Vorbilder des 3. Buches Mose.

(Fortsetzung.)

Das Speisopfer.

Wir kommen jetzt zu dem Speisopfer. Dasselbe

stellt uns Christum in Seiner Menschheit dar, Seine

Gnade und Vollkommenheit als ein lebender Mensch, aber

doch als Gott geopfert. Es bestand aus feinem Mehl,

das mit Oel vermischt und mit Weihrauch belegt wurde.

Das Oel wurde in zweierlei Weise angewandt: es gab

Kuchen, gemengt mit Oel, und Fladen, gesalbt mit

Oel. (2. Mose 29, 2; 3. Mose 7, 12.) In Christo

mußte die Darbringung als Opfer bis in den Tod und

Seine Unterwerfung unter den Tod den ersten Platz haben;

denn ohne die Vollkommenheit dieses Gehorsams, selbst

bis zum Tode, hätte nichts angenommen werden können.

Da aber dieser Gehorsam von Anfang an vollkommen

war, (denn Christus kam, um den Willen Seines Vaters

zu thun,) so war Sein ganzes Leben als Mensch vollkommen

und annehmlich vor Gott, ein Wohlgeruch unter der

Prüfung Gottes. Abel wurde auf Grund des Blutes

angenommen; Kain, der als ein natürlicher Mensch nur

die Frucht seiner Arbeit und Mühe opferte, wurde verworfen.

Alles was unsre natürlichen Herzen Gott darbringen

können, ist nichts als „Opfer der Thoren"; es

142

geht hervor aus der Härte dieser Herzen, die weder unser!

Zustand, noch unser Verderben und unsre Entfernung von

Gott anerkennen. In der That, welch eine Herzens-

härtigkeit zeigt sich in Kain! Aus dem Garten Eden

vertrieben und den Folgen der Sünde unterworfen, tritt

er vor Gott hin mit Opfern, die der Preis einer als

Strafe auferlegten Arbeit und des auf die Sünde folgenden

Fluches waren, ganz so als wenn gar nichts geschehen

wäre. Es war der Gipfelpunkt der Verhärtung

und Verblendung des Herzens.

Die erste Handlung Adams bestand darin, seinen

eignen Willen zu thun und durch seinen Ungehorsam sich

und seine ganze Nachkommenschaft ins Elend zu stürzen.

Christus dagegen ist in diese Welt des Elends eingetreten,

indem Er sich aus Liebe hingab, den Willen des Vaters

zu thun. Er kam hernieder und machte sich selbst zu

nichts, um, koste es was es wolle, Gott zu verherrlichen.

Er war in dieser Welt der gehorsame, unterwürfige Mensch,

dessen Wille nur darin bestand, den Willen Seines Vaters

zu thun — die erste große Handlung und zu gleicher Zeit

die Quelle alles menschlichen Gehorsams und der Verherrlichung

Gottes durch denselben. Dieser Gehorsamswille

und diese Hingebung an die Verherrlichung Seines Vaters

verlieh allem, was Er that, einen lieblichen Geruch. Alle

Seine Werke strömten diesen Wohlgeruch aus. Man kann

das Evangelium Johannes, in welchem die Person des Herrn,

das was Er war, in besonderer Weise uns entgegenstrahlt,

unmöglich lesen, ohne bei jeder Gelegenheit diesem Wohlgeruch

des Gehorsams, der Liebe und der völligen Selbstverleugnung

zu begegnen. Daher kommt es auch, daß

gerade dieses Evangelium das Herz so sehr anzieht und

143

Zugleich den Unglauben abstößt. Es ist nicht eine Geschichte

; es ist Christus selbst, den man hier sieht, sowie

die Bosheit des Menschen, die sich einen Weg erzwingt

durch die heilige Hülle, mit welcher die Liebe Seine Herrlichkeit

umgeben hatte, und die den mit Niedrigkeit umkleideten

Jesus nötigt, ans Acht zu treten und diese

Herrlichkeit zu offenbaren. Es ist dieses göttliche Wesen,

das im Geiste der Sanftmut durch eine Welt ging, die

Ihn verwarf; und selbst dann wenn Er genötigt ist, sich

zu zeigen, dient es doch nur dazu, Seiner freiwilligen, nie

wankenden Selbsterniedrigung ihre ganze Kraft und Schönheit

zu verleihen, sogar in den Fällen, wo Er gezwungen

ist, Seine Göttlichkeit zu bekennen. Er war allerdings

der „Ich bin" des Alten Testaments, aber jetzt in der

Erniedrigung und einsamen Stellung des vollkommensten

und demütigsten Gehorsams. Da war kein geheimes Verlangen

in Ihm, inmitten Seiner Erniedrigung einen Platz

behaupten zu wollen. Sein Herz kannte keinen andern

Wunsch, als Seinen Vater zu verherrlichen. Der „Ich

bin" war da, aber in der Vollkommenheit des menschlichen

Gehorsams. Das ist es, was überall zum Vorschein

kommt. Tritt der Versucher an Ihn heran, so ist Seine

beständige Antwort: „Es steht geschrieben!" — „Es

steht geschrieben: Nicht vom Brote allein soll der Mensch

leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund

Gottes ausgeht." (Matth. 4, 4.) Zu Johannes dem

Täufer sagt Er: „Laß es jetzt so sein; denn also gebührt

es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen"; und zu Petrus

bei einer andern Gelegenheit: „Demnach sind die Söhne

frei . . . aber gieb ihnen für mich und dich."

(Matth. 3, 15; 17, 26. 27.)

144

Soweit das Geschichtliche; im Evangelium Johannes,

wo, wie bereits bemerkt, die Person Christi selbst mehr

hervortritt, redet Er von diesem Gehorsam in einer noch

unmittelbareren Weise: „Dieses Gebot habe ich von meinem

Vater empfangen . . . , und ich weiß, daß Sein Gebot

ewiges Leben ist." — „Ich thue, wie mir der Vater geboten

hat." — „Der Sohn kann nichts von sich selbst

thun, außer was Er den Vater thun sieht." — „Ich

habe die Gebote meines Vaters gehalten, und bleibe in

Seiner Liebe." — „Wenn jemand am Tage wandelt, stößt

er nicht an." Manche der angeführten Worte wurden

bei Gelegenheiten gesprochen, wo das fleißige Glaubensauge

durch die heilige Erniedrigung des Heilandes hindurch

Seine Gottheit erblickt — Gott, den Sohn, dessen Schönheit

nur umso herrlicher strahlt, weil Er sich also verbirgt;

gerade so wie die Sonne, welche das menschliche Auge

nicht fest anzuschauen vermag, die Kraft ihrer Strahlen

darin zeigt, daß sie durch die Wolken hindurch ein völliges

Licht giebt. Die Wolken verhüllen und mildern die

Strahlen. Obgleich Gott sich erniedrigt, ist Er doch

nichtsdestoweniger Gott. Stets ist Er es, der dies thut.

„Er konnte nicht verborgen sein."

Dieser unbedingte Gehorsam verbreitete einen duftenden

Wohlgeruch über alles, was Christus that. Er erschien

stets wie ein Gesandter. Er suchte die Herrlichkeit

des Vaters, der Ihn gesandt hatte. Er errettete einen

jeden, der zu Ihm kam, weil Er nicht gekommen war,

um Seinen eignen Willen zu thun, sondern den Willen

Dessen, der Ihn gesandt hatte; und da die Sünder nicht

zu Ihm kommen konnten, es sei denn daß der Vater sie

zog, so war ihr Kommen gleichsam die Ermächtigung für

145

Ihn, sie zu erretten, denn Er mußte unbedingt den Willen

des Vaters thun. Welch ein Geist des Gehorsams tritt

uns hier entgegen! Wer sind die, die Er errettet? Alle

diejenigen, welche der Vater Ihm, dem allezeit Seinem

Willen unterworfenen Diener, giebt. Verheißt Er ihnen

die Herrlichkeit? „Es steht nicht bei mir", sagt Er, „sie

zu vergeben, sondern ist für die, welchen sie von meinem

Vater bereitet ist." — Er muß auch belohnen nach Seines

Vaters Willen; Er selbst ist nichts, aber Er muß alles

ausführen, was dem Vater gefällt Ihm zu gebieten.

Dennoch, wer hätte dies thun können, als nur Er, der

die Macht und zugleich den Willen hatte, alles zu thun,

was der Vater gethan haben wollte? Die unendliche

Größe des Werkes, die Fähigkeit, ein solches Werk zu

erfüllen, und die Macht, alles zu thun, was irgend der

Vater wollte, gingen Hand in Hand mit einem Gehorsam,

der keinen andern Willen kannte, als den Willen eines

Andern zu thun. Dennoch war Christus ein einfacher,

demütiger, niedriggesinnter Mensch.

Sehen wir jetzt, wie diese Menschheit für das in

Rede stehende Werk paßte. Das Speisopfer Gottes, von

der Frucht der Erde genommen, bestand aus dem feinsten

Mehl. Alles was die menschliche Natur an Reinem und

Lieblichem in all ihrem Elend besaß, fand sich in seiner

ganzen Vortrefflichkeit in Jesu, der von der Sünde abgesondert,

aber all den Trübsalen unterworfen war, welche

die Sünde nach sich gezogen hat. In Ihm gab eS keine

Unebenheit, keine besonders hervorstechende Eigenschaft, die

dazu angethan gewesen wäre, ihm einen bestimmten Charakter

aufzuprägen. Er war, obgleich verachtet und von

den Menschen verworfen, die Vollkommenheit der mensch

146

lichen Natur. Man fand in Ihm in vollkommner Weise

das feine Gefühl, die Festigkeit, die Entschiedenheit (letztere

auch in Verbindung mit dem Grundsatz des Gehorsams),

die Erhabenheit, die Sanftmut und Demut, welche dieser

Natur angehören.

In einem Paulus finde ich Thatkraft und rastlosen

Eifer; in einem Petrus glühende Zuneigungen des Herzens;

in einem Johannes eine zarte Emviindsamkeit, verbunden

mit einem keine Schranken kennenden Verlangen,

die Rechte Dessen zu verteidigen, den er liebte. Aber die

genannten Eigenschaften waren in diesen Männern vorherrschend

und charakterisierten sie. Paulus bereute

es nicht, seinen ersten Brief an die Korinther geschrieben

zu haben, obgleich es ihn gereut hatte. (2. Kor. 7, 8.)

Er hatte keine Ruhe in seinem Geiste, weil er Titus,

seinen Bruder, nicht fand; er zog fort nach Macedonien,

obgleich der Herr ihm eine Thür in Troas aufgethan

hatte. (2. Kor. 2, 13.) Er wußte nicht, als er vor dem

Synedrium stand, daß es der Hohepriester war. (Apostgsch.

23, 5.) Er war gezwungen, sich zu rühmen. (2. Kor.

12, 11.) Bei Petrus, dem treuen und eifrigen Manne,

in welchem Gott so mächtig wirkte für das Apostelamt

der Beschneidung, gab sich Menschenfurcht kund. (Gal. 2,

8. 12.) Und Johannes, der in seinem Eifer die Rechte

und die Herrlichkeit Jesu verteidigen wollte, wußte nicht,

weß Geistes er war, und wollte sich der Verherrlichung

Gottes widersetzen, weil der, welcher für sie eintrat, nicht

mit ihnen wandelte. (Luk. 9, 49—56.) Solche waren

Paulus, Petrus und Johannes — Männer, die Säulen

zu sein schienen.

Aber in dem Menschen Jesus finden wir nichts von

147

dieser Unebenheit. In seinem Charakter giebt es nichts Hervorstechendes,

weil in Seiner Menschheit alles Gott vollkommen

unterworfen war. Jeder Zug Seines Charakters hatte

seinen Platz, trat ans Licht und handelte zu seiner Zeit,

und verschwand dann wieder. Gott wurde verherrlicht,

und alles stand in völliger Harmonie. Wenn Ihm Sanftmut

geziemte, so war Er sanftmütig; wenn Zorn am Platze

war, wer hätte dann der überwältigenden Kraft Seiner

Verweise widerstehen können? War Gnade nötig, so zeigte

Er sich voll Mitgefühl gegen den verkommensten Sünder,

ohne sich im Geringsten durch das herzlose, stolze Wesen

eines kalten Pharisäers beeinflussen zu lassen, dem es nur

darum ging zu erforschen, wer Jesus war. (Vergl. Luk. 7.)

Als die Stunde des Gerichts gekommen war, konnten die

Thränen derer, die Ihn beweinten, Ihm keine andern

Worte entlocken als: „Weinet nicht über mich, sondern

weinet über euch selbst und über eure Kinder" — Worte,

die ein tiefes Mitgefühl, aber zugleich auch eine völlige

Unterwerfung unter das verdiente Gericht Gottes ausdrückten.

Das dürre Holz bereitete sich seine Verbrennung

selbst zu. Voller Zärtlichkeit gegen Seine Mutter, vertraute

Er sie, nachdem Er Sein Werk am Kreuze vollbracht

hatte, der liebenden Sorge dessen an, der so zu

sagen Sein Freund gewesen war und an Seiner Brust

gelegen hatte; aber Er war taub gegen ihre Worte und

Bitten, so lange Er mit dem Dienste Gottes beschäftigt war.

Alles befand sich an seinem richtigen Platze, mochte Er vor

Seinem öffentlichen Auftreten in dieser Welt zeigen, daß

Er Gott war, oder (als Mensch und unter Gesetz geboren)

der Mutter, die Ihn trug, und Joseph unterwürfig sein.

Man sah ferner in Ihm eine Ruhe, welche Seine Gegner

148

außer Fassung brachte; und mit dieser moralischen Kraft,

welche die Gegner bisweilen niederschmetterte, vermischte

sich eine Sanftmut, die alle Herzen anzog, welche noch

nicht durch einen vorsätzlichen Widerstand verhärtet waren.

Wenn es sich darum handelte, zwischen Bösem und Gutem

zu unterscheiden, war Er wie eine scharfgeschliffene Schneide.

In dieser letzteren Hinsicht thaten der Charakter und die

Person Jesu moralisch das, was die Macht des Heiligen

Geistes später vollführte, indem sie das Böse und das

Gute zwang, sich in einem offnen Bekenntnis zu offenbaren.

Abgesehen von der Bersöhnung, wurde ein gewaltiges

Werk von Dem vollbracht, der, nach dem äußern

Ergebnis zu urteilen, „sich umsonst abmühte". (Jes. 49.)

Ueberall da, wo ein Ohr war, um zu hören, redete die

Stimme Gottes mittelst dieses Charakters des Menschen

Jesus zu den Herzen und Gewissen Seiner Schafe. Er

ging durch die Thür ein, und der Thürhüter that Ihm

auf, und die Schafe hörten Seine Stimme. Die voll-

kommne Menschheit Jesu, die sich in allen Seinen Wegen

kundgab und nach dem Willen Gottes in die Herzen drang,

richtete alles, was ihr im Menschen begegnete, bis auf den

Grund der Seele.

Doch wir haben uns von dem eigentlichen Gegenstand

unsrer Betrachtung entfernt. Mit einem Worte denn:

die Menschheit Christi war vollkommen, völlig Gott unterworfen

; alles entsprach Seinem Willen und stand deshalb

notwendigerweise im Einklang unter einander. Die Hand,

welche die Saiten berührte, fand sie alle wohl gestimmt.

Alles entsprach hier den Gedanken Gottes, dessen Ratschlüsse

der Gnade, der Heiligkeit und Güte, und gleichwohl

des Gerichts hinsichtlich des Bösen, dessen Segens

149

und Barmherzigkeitsfülle — eine süße Melodie für jedes

ermüdete Ohr — ihren Ausdruck in Christo fanden, und

in Ihm allein. Jedes Element, jede Fähigkeit Seiner

menschlichen Natur gehorchte dem Antrieb, den ihm der

göttliche Wille gab, hörte dann auf zu wirken und zog

sich in eine Ruhe zurück, in welcher das Ich keinen Raum

fand. So war Christus in Seiner Menschheit. Obwohl

fest und entschieden, wenn die Gelegenheit es erforderte,

war doch die Sanftmut dasjenige, was Ihn charakterisierte,

weil Er in der Gegenwart Gottes, Seines Gottes, war;

und Er war dies alles inmitten des Bösen. Man hörte

Seine Stimme nicht auf den Straßen; denn die Freude

kann da in lauteren Tönen hervorbrechen, wo alles den

Ruf wiederhallen läßt: „Preis sei Seinem Namen und

Seiner Herrlichkeit!"

Doch dieses Freisein der menschlichen Natur unsers

Herrn von jedem Fehler war mit noch tieferen und wichtigeren

Quellen verbunden, die uns in unserm Vorbilde

in zweierlei Weise, negativ und positiv, vorgestellt werden.

Wenn jede Fähigkeit dieser Natur also dem göttlichen

Antrieb gehorchte und ihm nur als Werkzeug diente, so

liegt es auf der Hand, daß der Wille richtig sein, daß

der Geist und der Grundsatz des Gehorsams die Quelle

desselben sein mußte; denn gerade die Thätigkeit eines

unabhängigen Willens ist der Grundsatz der Sünde.

Christus hatte das Recht, einen unabhängigen Willen zu

besitzen: „Der Sohn macht lebendig, welche Er will;"

aber Er kam, um den Willen Seines Vaters zu thun.

Sein Wille war, zu gehorchen; deshalb war es ein voll-

kommner und sündloser Wille.

In dem Worte Gottes ist der Sauerteig stets ein

150

Sinnbild des Verderbens: „Der Sauerteig der Bosheit

und Schlechtigkeit". Deshalb gab es in dem Kuchen, den

man Gott zum lieblichen Geruch opferte, keinen Sauerteig;

alles, worin sich Sauerteig befand, konnte Jehova nicht

zum lieblichen Geruch dargebracht werden. Wir sehen dies

deutlich in dem Falle, wo gesäuerte Kuchen dargebracht

werden mußten; es war verboten, sie als ein Opfer lieblichen

Geruchs, als ein Feueropfer darzubringen. Es gab

zwei Fälle, in welchen die Kuchen mit Sauerteig gebacken

werden durften; der eine dieser beiden, der wichtigste und

bezeichnendste, findet sich in dem Kapitel, das wir betrachten,

und genügt, um den Grundsatz, mit dem wir

uns beschäftigen, klar zu stellen.

Wenn die Erstlinge dargebracht wurden, fügte man

ihnen zwei mit Sauerteig gebackene Brote bei, aber nicht

als ein Opfer lieblichen Geruchs. Man opferte auch

Brandopfer und Speisopfer, und diese zum lieblichen Geruch

; nicht aber das Opfer der Erstlinge. (Vergl. 3. Mose

2, 11. 12 und 23, 15—21.) Und was stellten diese

Erstlinge dar? — die Kirche, geheiligt durch den Heiligen

Geist. Denn dieses Fest der Erstlinge oder der Erstlingsfrüchte

war das wohlbekannte Vorbild des Pfingstfestes,

es war thatsächlich das Pfingstfest. „Wir^sind", sagt der

Apostel Jakobus, „eine gewisse Erstlingsfrucht Seiner

Geschöpfe." In 3. Mose 23, 10—14 sehen wir, daß

am Auferstehungstage Christi eine Garbe der Erstlinge

der Ernte dargebracht wurde, Kornähren, die weder ausgeschlagen

noch geschroten waren. Hier konnte offenbar

von Sauerteig keine Rede sein: Jesus ist auferstanden,

ohne die Verwesung gesehen zu haben. Auch begleitete

diese Darbringung der Erstlingsgarbe kein^ Sündopfer;

151

wenn man aber die mit Sauerteig gebackenen Brote

darbrachte, welche die durch den Heiligen Geist geheiligte

Kirche darstellten, deren Glieder aber noch eine verdorbene

Natur besitzen, opferte man zu gleicher Zeit ein Opfer

für die Sünde. (3. Mose 23, 17. 19.) Denn das Opfer

Christi ist diesem Sauerteig unsrer verderbten Natur begegnet,

die zwar durch die Thätigkeit des Heiligen Geistes

überwunden wird, aber nicht aufhört zu existieren. Diese

verdorbene Natur konnte in der Erprobung durch das

Gericht Gottes nicht von lieblichem Geruch sein, und deshalb

auch nicht als ein Feueropfer lieblichen Geruchs vor

Jehova erscheinen; mittelst des Opfers Christi aber, das

dem Bösen begegnet ist und eine Sühnung desselben zuwege

gebracht hat, konnte sie Gott dargebracht werden.

Deshalb wird nicht nur gesagt, daß Christus sich für

unsre Sünden hingegeben hat, sondern auch: „Das dem

Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war,

that Gott, indem Er, Seinen eignen Sohn in Gleichheit

des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die

Sünde im Fleische verurteilte." (Röm. 8, 3.) Gott

hat die Sünde im Fleische gerichtet, und zwar indem

Christus Sühnung dafür that, indem Er das Gericht,

das die Sünde verdiente, auf sich nahm und für uns zur

Sünde gemacht wurde; damit starb Er zugleich der Sünde,

so daß wir das Recht und die Pflicht haben, uns der

Sünde für tot zu halten. Es ist wichtig für ein beunruhigtes,

aber zartes und treues Gewissen, sich daran

zu erinnern, daß Christus nicht nur für unsre Sünden,

sondern auch für unsre Sünde gestorben ist; denn die

in uns wohnende Sünde beunruhigt ein treues Gewissen

weit mehr als viele vergangene Sünden.

152

Die Brote also, welche die Kirche darstellten, wurden

gesäuert gebacken und konnten nicht als ein Opfer lieblichen

Geruchs dargebracht werden; das Speisopfer dagegen,

welches Christum vorstellte, war ohne Sauerteig, „ein Feueropfer

lieblichen Geruchs dem Jehova". Die Feuerprobe

des Gerichts Gottes fand in Christo einen vollkommnen

Willen; in Ihm gab es nichts Böses, keine Spur von

einem Geiste der Unabhängigkeit. „Dein Wille geschehe!"

das war es, was die menschliche Natur des Heilandes

charakterisierte, in welchem die Fülle der Gottheit leibhaftig

wohnte, der aber gleichwohl der Mensch Jesus, das Opfer

Gottes war.

Beiläufig möchte ich bemerken, daß wir bei den Dankoder

Friedensopfern ein weiteres Beispiel von diesem

Gegensatz finden. Bei diesen Opfern hatte Christus Sein

Teil, und der Mensch ebenfalls. Deshalb gab es ungesäuerte

Kuchen und gesäuerte Brote. (S. 3. Mose

7, 12. 13.) Die letzteren, welche den Anteil der Kirche

an dem Opfer Christi darstellen, führten notwendigerweise

den Menschen ein; darum war der Sauerteig da, dieses

stete Sinnbild des Bösen, das sich in uns vorfindet. Die

Kirche ist zur Heiligkeit berufen; das Leben Christi in

uns ist „Heiligkeit dem Herrn". Aber es bleibt immer

wahr, daß in uns, das ist in unserm Fleische, nichts

Gutes wohnt.

(Fortsetzung folgt.)

153

„Wache auf, Nordwind, und komme,

Südwind!"

(Hohel. 4, 46; 5, 1—5.)

„Wache auf, Nordwind, und komme, Südwind;

durchwehe meinen Garten, laß träufeln seine Wohlgerüche!"

Das Wort „Wind" wird in der Schrift wiederholt gebraucht

mit Bezug auf den Heiligen Geist; und dieser

Vers hier scheint ein Gebet zu enthalten, daß der Geist

Gottes in Seinen verschiedenen Weisen in den Herzen

des Volkes Gottes wirken möge. „Durchwehe meinen

Garten, laß träufeln seine Wohlgerüche!" In dem Weinberge

des Herrn giebt es „vortreffliche Gewürze", allein

etwas ist nötig, um sie zum Ausströmen ihres Wohlgeruchs

zu bringen. Der Herr ist gerade in Seinem Garten

umhergegangen und hat die herrlichen Gewächse darin

betrachtet und sie mit Namen genannt. (V. 12—15.)

Er kennt jede Pflanze Seines Gartens ganz genau;

und als sie gepflanzt wurde, welch reiche Sorgfalt ist ihr

zu teil geworden, und welch reiche Frücht sollte hervorkommen!

Sie sind alle von Seiner Rechten gepflanzt,

„damit sie genannt werden Terebinthen der Gerechtigkeit,

eine Pflanzung Jehovas, zu Seiner Verherrlichung".

(Ps. 80, 15; Jes. 61, 3.) Aber zuweilen kommt eine

todesähnliche Stille über die ganze Pflanzung, von welcher

alt und jung angesteckt wird. Die wohlriechenden Zweige

und Gewächse lassen trauernd ihre Spitzen hängen; sie

geben sich dem Wehen des Geistes nicht hin, so daß der

balsamische Duft nicht gelöst noch von dem Winde weitergetragen

werden kann. „Wache auf, Nordwind, und

komme, Südwind!" ist dann der Ruf des treuen, ge

154

duldigen Gärtners, „durchwehe meinen Garten". Ein

scharfer, kühler Nordwind oder ein liebliches, erquickendes

Lüstchen aus dem Süden mag dazu dienen, das Volk des

Herrn aus einem Zustande betrübender Nachlässigkeit und

Trägheit aufzuwecken. Aber wie köstlich ist der Gedanke!

der Besitzer des Gartens, der jede Pflanze in ihm genau

kennt, hat sowohl den fächelnden Südwind wie den stürmischen

Nord in Seiner Hand. Und Er läßt allen Seinen

zarten, kostbaren Pflanzen gerade das richtige Maß von

dem einen wie von dem andern zukommen.

„Noch über ein Kleines", und sie alle werden in

das lieblichere Klima des Paradieses droben verpflanzt

werden. Dort wird der durchdringende Nordwind der

Trübsal und Züchtigung nicht länger nötig sein. In

jenen wolkenlosen Regionen ewigen Friedens wird nichts

mehr das Blatt ausdörren, die Knospe knicken, die Blüte

welken machen oder die Frucht am Wachstum verhindern.

Genug, mehr als genug haben wir davon gesehen in dieser

unsrer kalten Welt. O komm, du herrlicher, glücklicher

Tag, der uns auf ewig dieser Wüste entführen wird, wo

Drangsale und Kümmernisse oft kommen wie ein Wirbelwind,

als sollte die schwache Pflanze mit Stamm und

Wurzeln umgerissen werden; wo Schmerz und Trauer oft

das Herz erfüllen und Scham das Angesicht bedeckt,

weil wir in dem Guten so fruchtleer und in dem Bösen

so fruchtbar gewesen sind! Dann, ja dann wird alles

Böse für immer hinter uns liegen; kein Kummer, kein

Krebs, kein Wurm mehr ewiglich! Gewurzelt in dem

reinen Boden des Himmels und unaufhörlich den Tau

der göttlichen Liebe trinkend, werden wir blühen und

Früchte tragen zur unaussprechlichen Freude des Vater

155

Herzens und zur Verherrlichung unsers anbetungswürdigen

Herrn.

Herr, gieb, daß wir uns alle Deiner Pflege willig

hingeben, und daß unsre Herzen Deinen Geist wirken

lassen, damit in unserm Leben sich die Frucht und der

Wohlgeruch zeigen, die Dir so köstlich sind! — O möchten

wir alle stets fähig sein zu sagen: „Mein Geliebter

komme in Seinen Garten und esse die Ihm

köstliche Frucht!" Nur wenige Worte spricht die

Braut in diesem herrlichen Kapitel; aber es sind schöne,

gesegnete Worte. „Mein Geliebter." Sie fühlt sich

daheim, sie ist glücklich in Seiner Gegenwart. Er, Er

selbst ist ihr Teil. Sie weiß es, und sie genießt es. Er

ist ihr geliebter Herr und Heiland. „Mein Geliebter",

sagt sie; aber wenn sie von dem Garten spricht, so nennt

sie ihn „Seinen Garten", und von der Frucht sagt sie:

„die Ihm köstliche Frucht". Das ist der richtige Boden,

wie wir anderswo lesen: „Mein Geliebter hatte einen

Weinberg auf einem fetten Hügel. Und Er grub ihn um

und säuberte ihn von Steinen und bepflanzte ihn mit

Edelreben; und Er baute einen Turm in seine Mitte und

hieb auch eine Kelter darin aus." Und wenn Er von

der Sorge spricht, die Er diesem Weinberg, der so unfruchtbar

für Ihn war, hat angedeihen lassen, sagt Er:

„Ich, Jehova, behüte ihn, bewässere ihn alle Augenblicke;

daß nichts ihn Heimsuche, behüte ich ihn Tag und Nacht."

(Jes. 5, 1. 2; 27, 3.)

In Joh. 15 spricht der Herr von sich als dem

„wahren Weinstock" und von Seinem Volke als den

„Reben" und von Seinem Vater als dem „Weingärtner".

Welch eine wunderbare Sache! Der Vater blickt hernieder

156

vom Himmel und sieht auf dieser Erde Seinen geliebten

Sohn Frucht bringen zu Seiner Verherrlichung vermittelst

der vielen Reben, die in Ihm bleiben. Denn nur durch

den reichen Saft, der den Reben aus dem Weinstock zufließt,

bringen sie Frucht. Welch ein lieblicher Anblick

für das Auge des Vaters! Und welch eine Freude für

Sein Herz, wenn die Reben, die so in lebendiger Weise

mit Seinem Geliebten verbunden sind, „erfüllt sind mit

der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesum Christum

ist, zur Herrlichkeit und zum Preise Gottes"! (Phil. 1,11.)

„Hierin wird mein Vater verherrlicht, daß ihr viel Frucht

bringet." (Joh. 15, 8.)

Kaum hat die geliebte Sulammith ihren Herrn eingeladen,

in Seinen Garten zu kommen und von dessen

köstlichen Früchten zu essen, als Er antwortet: „Ich bin

gekommen." Er sagt nicht: „Ich will kommen", sondern

: „Ich bin gekommen." Schon während sie Ihn einladet,

ist Er gegenwärtig. Sein Herz ist stets bereit, auf

den Ruf Seiner Geliebten zu hören und ihn zu beantworten.

Glückliche Braut, ja, glückliches Volk, das sich

in solch einer Lage befindet! Der König der Könige und

der Herr der Herren wartet auf unsern Ruf und ist bereit,

sofort zu antworten! Die Früchte des Geistes sind

stets wohlgefällig für Ihn; und hier findet Er sie in

reicher Fülle, und Er nimmt mit tiefer Freude Platz an

dem Mahle, das die Liebe Ihm bereitet hat.

„Ich bin in meinen Garten gekommen, meine Schwester,

meine Braut, habe meine Myrrhe gepflückt samt meinem

Balsam, habe meine Wabe gegessen samt meinem Honig,

meinen Wein getrunken samt meiner Milch. Esset, Freunde;

trinket und berauschet euch, Geliebte!" (Kap. 5, 1.) Diese

157

verschiedenen Gewürze, Speisen rc. mögen wohl ein bildlicher

Ausdruck sein von den Wirkungen des Geistes

Gottes in der Seele mittelst der Wahrheit. Vielleicht

fließen Thränen, bittrer als Myrrhe, aus unsern Augen

in dem tiefen Gefühl vergangner Sünden, verlorner Tage,

versäumter Gelegenheiten für die Verherrlichung nnserS

Herrn; aber sie sind süßer als Honig und wohlriechender

als Balsam für das Herz Christi. Der Herr findet

mancherlei köstliche Frucht in Seinem Volke; und mit

allem, was von dem Geiste ist, hat Er volle Gemeinschaft,

es gereicht zu Seiner innigen Freude. „Ich habe gesammelt

... ich habe gegessen ... ich habe getrunken."

Er nimmt gleichsam von allem. In dem geförderten

Christen mag Er etwas finden, was an die Kraft des

Weines erinnert, in dem Kindlein in Christo die süße,

liebliche Milch. — Was hast d u für deinen Herrn, meine

Seele? Was kann Er von dir einsammeln? was kann

Er essen, was kann Er trinken von dem Deinigen? Was

ist lieblicher als Demut und Einfalt? Was ist ehrender

für den Herrn als ein Geist völliger Abhängigkeit von

Ihm? Was erfreut Sein Herz mehr als ein täglich

wachsendes Verlangen, Ihm zu dienen und Gott zu verherrlichen?

Viele werden teilnehmen an dem königlichen Mahle,

von dem in unserm Verse die Rede ist. Zahlreich, sehr

zahlreich sind die „Freunde" des Bräutigams; und alle

werden an dem Tage Seiner Herrlichkeit in Seine

Freude eingehen. Wunderbarer, lang ersehnter Tag

himmlischer und irdischer Herrlichkeit! Alle Herzen werden

jene freudenvolle Einladung hören und durch sie bewegt

werden: „Esset, Freunde; trinket und berauschet euch,

158

Geliebte!" Die „natürlichen Zweige", die so lange aus

dem Stamme der Verheißung ausgebrochen waren, werden,

wie der Apostel sagt, wieder eingepfropft werden. (Röm. 11.)

An jenem Tage, dem Tage der Wiederherstellung Israels,

„wird Jakob Wurzel schlagen, Israel blühen und knospen;

und sie werden mit Früchten füllen die Fläche des Erdkreises."

(Jes. 27, 6.) Welch ein Fest wird dann durch

das wiederhergestellte Israel allen Völkern der Erde bereitet

werden! Die Fläche des Erdkreises wird mit

Früchten gefüllt sein. „Und Jehova der Heerscharen

wird auf diesem Berge allen Völkern ein Mahl von Fettspeisen

bereiten, ein Mahl von Hefenweinen, von markigen

Fettspeisen, geläuterten Hefenweinen." (Jes. 25, 6.) Und

wiederum: „Und es wird geschehen an jenem Tage, da

werde ich erhören, spricht Jehova: ich werde den Himmel

erhören, und dieser wird die Erde erhören; und die Erde

wird erhören das Korn und den Most und das Oel; und

sie, sie werden Jisreel erhören. Und ich will sie mir säen

in dem Lande." (Hos. 2, 21—23.)

Aus dem Neuen Testament wissen wir, daß an jenem

Tage „der Himmel" im Besitz Christi und Seiner verherrlichten

Heiligen sein wird. Jehova „wird den Himmel

erhören, und dieser wird die Erde erhören". Christus, in

welchem dann alle Dinge im Himmel und auf Erden zusammengebracht

sein werden, wird Derjenige sein, an welchen

von der Erde aus sich alles Flehen richten wird, und durch

Ihn und Seine verherrlichten Heiligen werden jene Segnungen

der Erde zugeführt werden. „Und die Erde wird

erhören das Korn und den Most und das Oel." Keine Armut,

keine Not wird dann irgendwo herrschen. Die Stimme

der Klage wird nicht mehr gehört werden auf den Straßen.

159

Das allgemeine Seufzen der Schöpfung wird verstummt

sein; statt dessen werden Lob- und Dankeslieder allerwärts

ertönen. „Und sie, sie werden Jisreel erhören." Jisreel

bedeutet: den Gott säet. Deshalb folgt auch unmittelbar

darauf: „Ich will sie (Israel) mir säen in dem Lande."

So wird eine ununterbrochene Kette von Segnungen

bestehen, von dem Throne Jehovas, der Quelle von allem,

herab bis zu dem Genuß aller Segnungen dieses Lebens

seitens der Menschenkinder; und der Platz, den das wiederhergestellte

Israel in dieser wunderbaren Kette einnimmt,

ist der Platz des Samens Gottes, gesäet von Jehova

und für Ihn in dem Lande und mit Früchten füllend die

Fläche des Erdkreises. Jehova — der Himmel, im Besitz

Christi und der verherrlichten Kirche stehend — das wiederhergestellte

Israel oder Jisreel, der Same Gottes hienieden

— eine allgemeine Segnung auf der ganzen Erde, ein

Ueberfluß an Korn, Wein und Oel — Krieg und Gewaltthat

für immer dahin — welch eine Kette von Segnungen!

„Und die Herrlichkeit Jehovas wird sich offenbaren,

und alles Fleisch mit einander wird sie sehen."

(Jes. 40, 5.) Preis und Ehre sei Ihm, der solch wunderbare

Dinge thut!

Laß uns hier noch einen Augenblick still stehen, mein

Leser, und über den Kreis des Segens nachsinnen, der unS

hier vorgestellt wird! Laß uns auch vorwärts blicken zu

dem glückseligen Tage hin, an welchem Er, der so lange

abwesend war, wiederkehren und zu Seinem auf Ihn

harrenden Volke sagen wird: „Ich bin gekommen —

ich bin in meinen Garten gekommen, meine Schwester,

meine Braut." Dann werden die den Vätern gemachten

Verheißungen ihren Kindern erfüllt werden, nach dem

160

Worte des Herrn. Christus und die verherrlichten Heiligen

droben, das wiederhergestellte Israel in dem gelobten Lande

hienieden, und um Israel her alle die Völker der Erde,

mit einander verbunden durch diese herrliche Kette allgemeinen

Segens! Welch ein weiter Kreis von „Freunden"

! Welch ein Fest der Liebe! Und welch ein freudiger

Willkommensgruß aus dem Herzen Dessen, der „Herr

über alles" ist: „Esset, Freunde; trinket und berauschet

euch, Geliebte!"

„Ich schlief, aber mein Herz wachte. Horch! mein

Geliebter! er klopft: Thue mir auf, meine Schwester,

meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! Denn

mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der

Nacht." (V. 2.) — In diesem traurigen Bekenntnis der

Braut begegnen wir einer Erfahrung, durch welche viele

Gläubige gehen, und die unsre eingehende Betrachtung

verdient.

Der weitaus größte Teil der Christen ist viel mehr

; mit sich und seinen wechselnden Gefühlen beschäftigt, als

mit dem Worte Gottes; und dies ist eine fruchtbare Quelle

endloser Beunruhigungen und Verlegenheiten für die Seele.

Wie oft geschieht es, daß Gläubige, wenn sie eine Veränderung

der Gefühle in sich bemerken, daraus sofort den

Schluß ziehen, daß Christus nicht mehr derselbe für sie

sei, der Er einst war. Sie beurteilen den Herrn nach

ihren Gefühlen, anstatt an Ihn zu glauben nach Seinem

Worte. Sie blicken auf sich, anstatt auf Christum, und

lassen sich leiten durch Gefühle, anstatt durch die unveränderliche

Wahrheit Gottes.

Vor wenigen Stunden noch, wenn wir der Ordnung

161

in unserm Liede folgen dürfen, stand die Braut in der

vollen Freude der Gegenwart ihres Herrn. Sie war froh

und glücklich, gleich einer gewissen Klasse von Gläubigen,

so lange der volle Strom eines freudenreichen Beisammenseins

fließt. Nachdem aber das Mahl beendet ist und

die Gäste sich entfernt haben, begiebt sie sich zur Ruhe.

Und ach! bald, sehr bald kommen Gefühle über sie, die

sie tief beunruhigen. „Ich schlief, aber mein Herz wachte."

Sie ist ruhelos, fühlt sich unbehaglich und unglücklich.

Ihr Herz sehnt sich nach Christo, aber sie ist außer

stände, sich aufzuraffen. Welch ein trauriger Zustand,

wenn Jesus an der Thür steht und klopft! Aber es

ist gar kein ungewöhnlicher Fall. Ein Gläubiger mag

im Großen und Ganzen noch recht stehen; aber wenn er

in einen schläfrigen Zustand verfällt, so werden geistliche

Pflichten eine Bürde für ihn, und sie werden entweder

ganz vernachlässigt oder doch nicht mit freudigem Herzen

erfüllt. Das ist ein betrübender Seelenzustand. „Ich

schlief, aber mein Herz wachte." Wir thun wohl, die

beiden Seiten dieses „aber" zu beachten. Die Braut

ist weder im Schlafe, noch ist sie wach. Auf der einen

Seite ist bei ihr ein schlummerndes Gewissen, auf der

andern ein wachendes Herz. Deshalb kann sie keine Ruhe

finden. Und genau so ist es, wenn wir sorglos werden

im Wick auf die Dinge des Herrn. Aber welch ein betrübendes

Bild von Tausenden und aber Tausenden, die

fröhlich und glücklich im Herrn sein sollten, stets bereit

für alles, was es im Dienste für Christum und für unsterbliche

Seelen zu thun giebt!

Wenden wir uns jetzt zu der lieblichen Seite dieser

belehrenden Scene. Hat der Herr sich verändert, weil

162

die Braut sich verändert hat? Der Unglaube würde sofort

bereit sein, zu sagen: Ja; und was würde die Folge

sein? Unwürdige Gedanken über Christum und endlose

Zweifel und Befürchtungen. Wenn unsre Gedanken uns

leiten, so sind die Worte Christi wertlos. Ist es denn

wirklich so, daß die Kälte und Gleichgültigkeit der Braut

Ihn nicht im Geringsten gegen sie verändert haben? Die

Liebe Christi zu Seiner Braut verändert sich keinen Augenblick,

trotz ihrer Unbeständigkeit und ihrer mannigfachen

Rückschritte. Und wahrlich, keine bessere Antwort könnte

auf jene Frage gegeben werden als die Worte der schläfrigen

Braut selbst. Trotz ihrer Schläfrigkeit erkennt sie

Sein Klopfen und unterscheidet Seine Stimme; und immer

noch sagt sie: „Mein Geliebter!" In ihrem Innern giebt

es ein Leben, das stets auf Seine Stimme antworten

muß, trotz all der Fehler, die sie macht. „Horch! mein

Geliebter!" sagt sie. „Er klopft: thue mir auf, meine

Schwester, meine Freundin, meine Vollkommene! denn

mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der

Nacht". Hier haben wir, geliebter Leser, den armen, stets

veränderlichen Gläubigen vor uns, und ihm gegenüber

unsern teuren, unveränderlichen Herrn. Was denkst du?

Sollen die thörichten Einbildungen unsrer Herzen in einem

solchen Falle unser Führer sein hinsichtlich der Gedanken

Christi, oder Gottes untrügliches Wort? Was könnte

klarer und bestimmter sein, als das Wort, mit dem wir

uns beschäftigen? Solltest du deshalb je berufen werden,

mit zurückgegangenen, aber beunruhigten Seelen zu verkehren,

möchte dann dein Verhalten, möchten deine Worte die

Gesinnung Christi ausstrahlen, wie sie sich hier kundgiebt!

Voll der geduldigsten, rührendsten Liebe sind die

163

Worte, die der Bräutigam an Seine schwache und irrende

Braut richtet. Anstatt sich durch ihren traurigen Seelenzustand

beeinflussen zu lassen und ihr Vorwürfe zu machen

wegen ihrer Undankbarkeit und Gleichgültigkeit gegen Ihn,

redet Er sie zärtlicher an, als bei irgend einer früheren

Gelegenheit. „Thue mir auf", sagt Er, mir, deinem

Messias, deinem Geliebten. Ich bin Jesus; warum solltest

du die Thür vor mir verschließen? „Thue mir auf, meine

Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Voll-

kommne". Nie vorher hat Er sie Seine „Vollkommne"

genannt. Dieser Ausdruck Seiner bewunderungswürdigen

Gnade war für den Tag ihrer Schwachheit aufgespart

geblieben. Und nie vorher hatte Er von dem „Tau" und

den „Tropfen der Nacht" gesprochen, die jetzt auf Seinem

Pfade hingebender, selbstverleugnender Liebe auf Ihn gefallen

waren. Nichts kann Seine Liebe von ihrem Gegenstände

und Ziele abwenden. Aber ach! Sein liebevoller

Ruf macht nur wenig Eindruck auf das schlafbeschwerte

Gewissen der Braut.

Giebt es hier irgend etwas, das einer Veränderung

in der Liebe Christi zu Seiner Braut gleichsähe?

Wenn es etwas giebt, so ist es dies, daß Er Seine Liebe

jetzt nur umso völliger offenbart und sie um so zärtlicher

anredet. Redet Er nicht in einer Weise zu ihr, die ganz

und gar dazu angethan ist, das Herz zu schmelzen? Er

spricht gerade so, als wenn es eine große Gunstbezeugung

für Ihn wäre, wenn sie Ihn unter ihr Dach kommen

ließe; oder wie ein müder Wanderer, der in einer finsteren

und stürmischen Nacht vom rechten Wege abgekommen

ist und nun um Unterkunft bittet. Auch ist es sehr bemerkenswert,

daß Er nie vorher sie in so vielen zärtlichen

164

Ausdrücken angeredet hat: „Thue mir auf, meine Schwester,

meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene." —

Das also ist die Liebe Christi, und zwar Seine Liebe zu

einer Irrenden, träge Gewordenen. Laß sie uns wohl betrachten,

mein Leser. Es giebt nur ein Herz, das sich niemals

verändert. O wie sollten wir dieses Herz werthalten,

diesem Herzen vertrauen, auf dieses Herz rechnen! wie

sollten wir stets diesem unveränderlichen Herzen der vollkommensten

Liebe nahe bleiben! Aber ach! welche Herzen

haben wir! All dieser langmütigen, bewunderungswürdigen

Liebe begegnet die schlummernde Braut mit Gleichgültigkeit

und beantwortet sie mit den nichtigsten Entschuldigungen.

„Ich habe mein Kleid ausgezogen, wie sollte ich es

wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie

sollte ich sie wieder beschmutzen?" (V. 3.) Ach, ach! wie

unempfindlich fist die Tochter Zion geworden gegenüber

den Ansprüchen ihres Messias, ihres gnädigen Herrn!

Welch eine verhärtende, alles Gefühl ertötende Sache ist

doch die Sünde! „Erkenne und siehe, daß es schlimm und

bitter ist, daß du Jehova, deinen Gott, verlässest." (Jer.

2, 19.) Wenn wir uns einmal aus der Gegenwart des

Herrn entfernt haben, wer kann dann sagen, wie weit wir

von Ihm abirren oder auf wie viele Nebenwege wir geraten

mögen! Schon der Gedanke an ein solches Verhalten

ist erschreckend. Und je mehr wir unsre Brüder

lieben und je geistlicher unser Urteil ist über jenes Uebel,

desto größer wird auch unser Schmerz sein über eine

Seele, die ihrem Herrn den Rücken wendet. Welcher

Diener deS Herrn, dem das Wohl der Seelen und die

Herrlichkeit seines Herrn am Herzen liegt, hat nicht schon

im Stillen geweint über den abnehmenden Eifer und die

165

immer mehr hinsterbende Energie eines einst ernsten, hingebenden

Gläubigen? Das Herz des Hirten war so

glücklich, so dankbar, so hoffnungsfreudig, als er die liebliche

Frische der Seele für Jesum bemerkte. Immer eine

der Ersten bei den Zusammmenkünften der Gläubigen,

das Gesicht strahlend vor Freude, wenn von Jesu die

Rede war, — so war es einst; jedes Wort über Christum

drang wie Freudenöl in ihr Innerstes, und wenn sie aus

der Versammlung heimkehrte, so war es nur, um im

Stillen über das Gehörte weiter nachzusinnen und mit

dem Herrn in der Einsamkeit Gemeinschaft zu machen.

Und jetzt? Ach, ein jeder, der einmal den Schmerz

gefühlt hat, eine solch glückliche Seele irregeleitet zu sehen,

weiß was es ist. Wie das grüne, frische Blatt des

Sommers nach einer Zeit großer Hitze dürr und schlaff

herabhängt, wie wenn ein heißes Eisen darüber gegangen

wäre, so ist es auch mit der Seele, die durch irgend

eine List des Feindes vom rechten Pfade abgelenkt worden

ist. Ihre ganze Erscheinung und ihr ganzes Wesen

haben sich verändert. Die Versammlungen werden nur

noch selten besucht, und wenn sie kommt, empfängt sie

nur wenig oder gar nichts. Das Antlitz hat seinen glücklichen,

freudigen Ausdruck verloren; der Friede Gottes

leuchtet nicht mehr aus ihm heraus, das Auge strahlt

nicht mehr in dem alten Glanze. Die irrende Seele selbst

meint, alles andere habe sich verändert; ach, sie lernt so

schwer, daß die Veränderung sich in ihr selbst vollzogen

hat. Schließlich ärgert sie sich vielleicht an irgend einer

geringfügigen Sache und — verläßt die Gemeinschaft der

Gläubigen. Ihr Platz ist jetzt leer; und wohin ist sie

gegangen? Ach, in den meisten Fällen kann der Herr

166

allein diese Frage beantworten. Nicht daß uns das „Wohin"

gleichgültig sein sollte. Sicherlich nicht; aber der

Herr allein vermag den Spuren der abgeirrten Seele

zu folgen. Sein nie schlummerndes Auge begleitet sie

überallhin, und das Herz, das einst um ihrer Sünden

willen so unsäglich litt, kann nie, nie aufhören, für sie

Sorge zu tragen. In der Weisheit Seiner Liebe mag

Er wohl erlauben, daß der Abgeirrte die Bitterkeit seiner

selbsterwählten Wege schmeckt, aber Er hat stets Mittel

und Wege, die Seele zur Buße zu leiten und sie in

Seine Gemeinschaft zurückzuführen.

„Mein Geliebter streckte Seine Hand durch die

Oeffnung (das Guckloch der Thür), und mein Inneres

ward Seinetwegen erregt." (V. 4.) Gott sei Dank!

die Braut kommt zur Besinnung, sie wacht auf aus ihrem

Schlummer. Die Hand des Herrn selbst hat sie aufgeweckt,

und sie antwortet auf Seine Liebe. Wohl ist die

Antwort noch schwach, aber sie ist doch wahr und wirklich.

Das Herz ist für Ihn erregt. Sie hat nie aufgehört,

Ihn „ihren Geliebten" zu nennen. Liebe für

den Herrn war da trotz vielen Fehlens. Wenn aber das

zarte, gnädige Klopfen der Liebe des Heilandes unbeachtet

bleibt, so wendet Er andere Mittel an. Er kennt

den Zustand des Herzens und weiß, was es gegen Ihn

in Wallung bringen wird. „Wird Gott das nicht erforschen?

denn Er kennt die Geheimnisse des Herzens."

(Ps. 44, 21.) Zuweilen erreicht Er durch ganz unerwartete

Mittel das Gewissen; und indem das Licht in

uns eindringt, entdecken wir, wo wir sind und was wir

sind. Die Gnade triumphiert. Die Seele sucht wieder

die Gegenwart des Herrn und das Glück, das in Ihm

167

allein zu finden ist. Dennoch mag eine Zeit vergehen,

bis sie von ihrem Falle ganz wiederhergestellt ist. Es

mag viel Schmerz, Beugung und Demütigung geben, ehe

sie in Seiner Gegenwart wieder wahrhaft zur Ruhe

kommt. Verwirrt und beunruhigt, wie einer, der eben

aus tiefem Schlafe erwacht, laufen wir vielleicht hin und

her, und suchen den Herrn da, wo Er nie gesagt hat,

daß Er gefunden werden könne; das Heiligtum, nicht „die

Stadt", ist der Ort Seiner gesegneten Gegenwart.

„Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen, und

meine Hände troffen von Myrrhe, und meine Finger von

fließender (d. h. von selbst entquellender, köstlichster)

Myrrhe an dem Griffe des Riegels." (V. 5.) Giebt es,

geliebter Leser, etwas derartiges wie süße Thränen neben

denbittern? und können beide zu derselben Zeit fließen?

Was ist bitterer für den Geschmack als Myrrhe? Was

angenehmer für den Geruch als wohlriechende Myrrhe?

„Meine Hände troffen von Myrrhe, und meine Finger

von fließender Myrrhe an dem Griffe des Riegels." *) Bestimmt

und wirklich ist die Antwort, welche die Braut

jetzt auf die ausharrende Liebe ihres Bräutigams giebt.

„Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen." Sie

*) Die Geschichte berichtet uns von einer morgenländischen

Sitte, welche viel zur Erläuterung des oben gebrauchten Bildes

beitragen mag. Wenn nämlich eine Geliebte die Anträge ihres Liebhabers

beharrlich zurückweist, so besucht dieser in der Nacht das

Haus ihres Vaters oder das Haus, in welchem die Geliebte wohnt.

Rund um die Thür des Hauses hängt er Blumengewinde auf und

bestreut die Schwelle ebenfalls mit wohlriechenden Blumen. Ferner

bestreicht er die Riegel und Handgriffe der Thür mit duftenden

Salben. Die ganze Handlung soll der Familie des Mädchens beweisen,

daß seine Liebe, obgleich sie zurückgewiesen wird, echt ist.

168

erholt sich von ihrer geistlichen Trägheit. Das Gefühl

über ihre Sünde, daß sie die Thür nicht öffnete, als Er

klopfte, ist Bitterkeit für ihre Seele; zugleich aber ist

es vermischt mit den Gefühlen inniger Zuneigung zu

Dem, den sie vernachlässigt hat. Als sie die Thür erreicht,

an welcher Er so lange gestanden hat, findet sie

alles erfüllt von dem Wohlgeruch Seiner Gegenwart;

sie faßt den Griff des Riegels, und ihre Hände triefen

von Myrrhe und ihre Finger von fließender Myrrhe.

Nachdem sie so aufgewacht und zu einem Bewußtsein

dessen gekommen ist, was sie gethan hat, erfüllen

tiefer Schmerz und bittere Reue, vermischt mit bewundernder

Liebe zu ihrem guten und gnädigen Herrn, ihre Seele

und überwältigen sie völlig. Es geht ihr wie einem, der

nach schmerzlichen und traurigen Irrwegen sich endlich

wieder an den Schauplatz früherer geistlicher Freuden

zurückwagt. Der wohlbekannte Raum, der Anblick so

vieler bekannter Gesichter, der Ton von Stimmen, die nie

ganz vergessen waren und jetzt wieder ein lautes Echo

in dem gebeugten Herzen wachrufen — alles, alles ergreift

die Seele mit unwiderstehlicher Gewalt und erfüllt

sie mit tiefer Bewegung. Alles erinnert an so viele vergangene

Tage wahren, reinen Glückes und seliger Freude.

Und indem das Herz wieder anfängt, zu der Liebe Jesu

Vertrauen zu fassen, redet das Gewissen mit immer

lauterer Stimme, und im tiefsten Innern werden Seufzer

wach wie die folgenden: „O Herr Jesu, ich schäme mich

und erröie tief vor Dir. Elend und unglücklich war ich

alle die Tage, die ich fern von Dir umherirrte. O wie

undankbar bin ich gewesen! Wie habe ich Deinen heiligen

Namen verunehrt! An Dir, an Dir allein habe ich gesündigt!

— Herr, kannst Du mir vergeben? Ist es möglich,

Herr, nach all meiner Thorheit, Verkehrtheit und Sünde?

- Ach, Herr, laß mir wiederkehren die Freude Deines

Heils! Herr, meine Seele hängt an Dir!"

Die Vorbilder des 3. Buches Mose.

Das Speisopfer.

(Fortsetzung.)

Dies führt uns zu einem andern großen Grundsatz,

den das Speisopfer uns oor Augen stellt. Der

Kuchen mußte mit Oel gemengt werden. „Was aus

dem Fleische geboren ist, ist Fleisch"; und da wir aus

dem Fleische geboren sind, so sind wir in unS selbst naturgemäß

nur Fleisch, verderbt und abgefallen, „aus dem

Willen des Fleisches geboren". Obgleich wir aus dem

Geiste geboren wurden, als wir im Glauben zu Gott

kamen, ist doch dadurch unsre Natur nicht verändert, nicht

aufgehoben worden. Wohl können wir durch den Heiligen

Geist, der in uns wirkt, von der Thätigkeit des Fleisches

befreit werden und seine Regungen unterdrücken, aber die

Natur bleibt unverändert. Das Fleisch in Paulus war

ebenso geneigt, sich zu überheben, nachdem er im dritten

Himmel gewesen war, wie zur Zeit da er „mit Gewalt

und Vollmacht von den Hohenpriestern nach Damaskus

reiste", um, wenn möglich, den Namen Christi von der Erde

auszurotten. Ich sage nicht, daß diese Neigung des

Fleisches in beiden Fällen dieselbe Kraft hatte; aber sie

war im ersten Falle ebenso schlecht oder noch schlechter,

weil sie sich angesichts viel höherer und besserer Dinge

offenbarte.

170

Aber der Wille des Fleisches hatte bei der Geburt

Christi nicht den geringsten Anteil. Seine menschliche

Natur war ebensosehr ein Ausfluß des göttlichen Willens,

wie die Gegenwart der göttlichen Natur auf dieser Erde.

Indem Maria sich einfältigen Auges und reinen Herzens

in heiligem Gehorsam unter diesen Willen beugte, offenbarte

sie in rührender Weise die Unterwürfigkeit ihres

Herzens und ihrer Vernunft gegenüber der Offenbarung

Gottes. „Siehe, die Magd des Herrn", sagt sie; „es

geschehe mir nach deinem Worte." Die menschliche Natur

Christi war frei von der Sünde, indem sie von dem

Heiligen Geiste empfangen war. Er kannte keine Sünde.

Das heilige Wesen, welches von der Jungfrau geboren

werden sollte, sollte Gottes Sohn genannt werden. Er war

wirklich und wahrhaftig ein Mensch, von Maria geboren,

aber Er war zugleich ein Mensch, von Gott geboren. In

Uebereinstimmung damit finden wir diesen Titel: „Sohn

Gottes", in drei verschiedenen Weisen auf Christum angewandt.

1. Er ist der Sohn Gottes, der Schöpfer;

so hören wir von Ihm in den Briefen an die Kolosser

und an die Hebräer, sowie an vielen andern Stellen,

die von Ihm als dem vom Vater gesandten Sohne reden.

2. Er ist Sohn Gottes als geboren in dieser Welt.

3. Er ist Sohn Gottes als auferstanden aus den

Toten — „als Sohn Gottes in Kraft erwiesen durch

Toten-Auferstehung". (Röm. 1, 4.)

Der Kuchen *) wurde mit Oel gemengt. So ent-

*) Das Speisopfer wurde in verschiedenen Formen darge-

bracht, aber alle stellten die beiden oben berührten Grundsätze ans

Licht. Zunächst haben wir die große allgemeine Wahrheit: „seine

Opsergabe soll Feinmehl sein, und er soll Oel darauf gießen und

171

lehnte die menschliche Natur Christi ihren Charakter dem

Heiligen Geiste, dessen bekanntes Sinnbild immer wieder

das Oel ist. Aber Reinheit ist nicht Kraft; deshalb

wird die Uebertragung der geistlichen Kraft, die durch die

menschliche Natur Jesu wirkte, unter einer andern Form

dargestellt: die Fladen mußten mit Oel gesalbt werden.

Dementsprechend steht geschrieben, daß „Gott Jesum von

Nazareth mit Heiligem Geiste und mit Kraft gesalbt

habe, der umherging, wohlthuend und heilend alle, die

von dem Teufel überwältigt waren". (Apstgsch. 10, 38.)

Nicht als ob Jesu irgend etwas gemangelt hätte. Denn

als Gott hätte Er alles thun können; aber Er hatte sich

freiwillig zu nichts gemacht und war gekommen, um zu

gehorchen. Daher trat Er auch nicht eher öffentlich auf,

bis Er berufen und gesalbt war, obgleich Seine Unterredung

mit den Schriftgelehrten im Tempel von Anfang

an Seine Beziehungen zum Vater darthat.

Weihrauch darauf legen"; es gab Ofengebäck, Kuchen, gemengt mit

Oel, und Fladen, gesalbt mit Oel, — alle selbstredend ungesäuert.

Wurde ein Speisopfer in der Pfanne dargebracht, so mußte es

Feinmehl sein, gemengt mit Oel; wenn im Napfe, Feinmehl mit

Oel. So kam in allen Formen, in welchen Christus als Mensch

betrachtet werden konnte, die Abwesenheit der Sünde zum Ausdruck,

sowie die Bildung Seiner menschlichen Natur in der Kraft des

Heiligen Geistes und Seine Salbung mit dem Geiste. Betrachten

wir Seine menschliche Natur als solche in sich selbst, so ist Oel

daraus gegossen. Sehen wir sie bis auss Aeußerste erprobt, so

kommt nichts als Reinheit und die Gnade des Geistes in ihr zum

Vorschein. Betrachten wir sie in ihrem wesentlichen, inneren

Charakter oder in ihrem äußern Verhalten, so offenbart sich in

jedem einzelnen Teile dieser vollkommnen und durch die Kraft des

Geistes gebildeten Natur völlige Abwesenheit der Sünde und die

Macht des Heiligen Geistes.

172

In dieser Hinsicht giebt es in unsrer Stellung eine

gewisse Aehnlichkeit. Aus Gott geboren oder mit dem

Heiligen Geiste versiegelt und gesalbt zu sein sind zwei

verschiedene Dinge. Der Pfingsttag, der Hauptmann Kornelius,

die Gläubigen in Samaria, welchen die Apostel die

Hände auslegten, damit sie den Heiligen Geist empfangen

möchten, beweisen die Wahrheit des Gesagten, neben

manchen andern Stellen, die sich auf diesen Gegenstand

beziehen. So sagt die Schrift z. B.: „Weil ihr Söhne

seid, so hat Gott den Geist Seines Sohnes in unsre

Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!" (Gal. 4, 6.)

Und: „In welchem ihr auch, nachdem ihr geglaubt habt,

versiegelt worden seid mit dem Heiligen Geiste der Verheißung,

welcher das Unterpfand unsers Erbes ist, zur

Erlösung des erworbenen Besitzes." (Eph. 1, 13. 14.)

Ferner lesen wir im 7. Kapitel des Evangeliums Johannes:

„Dies aber sagte Er von dem Geiste, welchen die an

Ihn Glaubenden empfangen sollten."

Der Heilige Geist kann durch die Mitteilung einer

neuen Natur in einer Seele heilige Wünsche und die

Liebe zu Jesu hervorgebracht haben, ohne daß die Seele

selbst das Bewußtsein ihrer Befreiung besitzt, oder daß

sie Kraft und die Freude der Gegenwart Gottes in der

Erkenntnis des vollbrachten Werkes Christi empfangen

hat. — Was den Herrn Jesum betrifft, so wissen wir,

daß die Erfüllung jenes Vorbildes, die Salbung mit

dem Heiligen Geiste, stattfand, nachdem Er von Johannes

getauft worden war. (In dieser Taufe stellte sich Der,

welcher keine Sünde kannte, mit Seinem Volke, damals

dem Ueberreft Israels, der unter dem Einfluß der Gnade

den Pfad des Glaubens wandelte, auf einen Boden;

173

durch Sein Kommen zu Johannes gab Er kund, daß Er

mit den Seinigen sein wolle auf dem ganzen Pfade

jener Gnade mit all seinen Prüfungen und Kümmernissen.)

Er, der Sündlose, wurde mit dem Heiligen Geiste

gesalbt, indem dieser in leiblicher Gestalt, wie eine Taube,

aus dem Himmel herniederkam und auf Ihm blieb; dann

wurde Er durch den Geist in den Kampf für uns geführt,

aus welchem Er durch die Kraft des Geistes als

Sieger hervorging. Ich sage: „als Sieger durch die

Kraft des Geistes"; denn wenn Jesus die Angriffe Satans

einfach durch Seine göttliche Macht abgeschlagen hätte, so

wäre selbstverständlich zunächst von einem Kampfe überhaupt

keine Rede gewesen; und zweitens läge für uns

darin weder ein Beispiel noch eine Ermunterung. Aber

der Herr trieb den Feind zurück durch einen Grundsatz,

der Tag für Tag uns als Pflicht obliegt. Dieser Grundsatz

heißt: Gehorsam; und zwar ist es ein einsichtsvoller

Gehorsam, der sich des Wortes Gottes bedient und den

Feind, sobald er sich als solcher offenbart, mit Unwillen

zurückweist. Wenn Ehristus Seine Laufbahn antrat mit

der Freude und dem Zeugnis, die einem Sohne gebühren,

so begann Er eine Laufbahn des Kampfes und des Gehorsams;

Er hatte den Starken zu binden, und Er hat

ihn gebunden. — Gerade so verhält es sich mit uns.

Wir besitzen Freude, Befreiung, Liebe, überströmenden

Frieden, den Geist der Sohnschaft und stehen in dem

Bewußtsein, daß wir dem Vater annehmlich gemacht sind.

So treten wir die christliche Laufbahn an; gleichwohl bedeutet

diese Laufbahn Kampf und Gehorsam. Hören

wir auf zu gehorchen, so hören wir auf zu siegen. Satan

bemühte sich, diese beiden Dinge in Jesu zu trennen.

174

Er sagte: „Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich, daß

diese Steine Brote werden" — d. h. gebrauche deine

Macht, handle nach deinem eignen Willen. Die Antwort

Jesu lautet ihrem Sinne nach: Ich bin hier, um zu gehorchen;

ich bin hier als ein Knecht, und ich habe kein

Gebot empfangen, die Steine zu Brot zu machen; es

steht geschrieben: „Nicht von Brot allein soll der Mensch

leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund

Gottes ausgeht." Ich verharre in meinem Stande der

Abhängigkeit.

Das war Kraft, aber eine Kraft, die in einem

Stande der Abhängigkeit und des Gehorsams angewandt

wurde. Adam konnte nur in einer einzigen Sache ungehorsam

sein, und er war ungehorsam; Er aber, der die

Macht hatte, alles zu thun, bediente sich Seiner Macht

nur, um noch vollkommner zu dienen und sich noch völliger

zu unterwerfen. Wie schön ist das Gemälde, welches die

Wege des Herrn uns darbieten! und das inmitten der

Mühsale und der Folgen des Ungehorsams des Menschen

— Folgen, denen Er sich (die Sünde ausgenommen)

unterzog wegen der Natur, die Er angenommen hatte.

„Denn es geziemte Ihm, um deswillen alle Dinge und

durch den alle Dinge sind, (indem Er den Zustand sah,

in welchem wir uns befinden,) indem Er viele Söhne zur

Herrlichkeit brachte, den Anführer ihrer Errettung durch

Leiden vollkommen zu machen." (Hebr. 2, 10.)

Jesus kämpfte also in der Kraft des Heiligen Geistes,

und Er gehorchte in der Kraft des Heiligen Geistes. In

derselben Kraft trieb Er Teufel aus und trug unsre

Schwachheiten. Ebenso opferte Er sich in der Kraft des

Heiligen Geistes ohne Flecken Gott; aber das ist mehr

175

das Brandopfer. In allem, was Er that, und in allem,

was Er nicht that, handelte Er durch die Energie des

Geistes Gottes. Er ist unser Vorbild, welchem wir mit

gemischten Kräften folgen, indem das, was vom Geiste

ist, sich vermengt mit unsrer natürlichen Kraft; aber zugleich

folgen wir Ihm mit einer Kraft, die uns, wenn

es Sein Wille ist, befähigt, nicht nur die Werke zu thun,

die Er gethan hat, sondern sogar noch größere. Es heißt

nicht, daß wir vollkommner sein könnten als Er, sondern

daß wir größere Werke zu thun vermögen. Während

Seines Wandels hienieden war Er absolut vollkommen im

Gehorsam; aber gerade aus diesem Grunde that Er, und

konnte Er in moralischem Sinne vieles nicht thun, was

Er jetzt thun und durch Seine Apostel und Seine Knechte

vollbringen lassen kann. Denn zur Rechten Gottes erhöht,

sollte Er, selbst als Mensch, Macht offenbaren, und

nicht Gehorsam. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer

an mich glaubt, der wird auch die Werke thun, die ich

thue, und wird größere als diese thun, weil ich zum Vater

gehe." (Joh. 14, 12.) Das versetzt uns in die Stellung

von Dienern; denn wir sind durch die Kraft des Heiligen

Geistes Diener Christi. „Es sind Verschiedenheiten von

Diensten, und derselbe Herr." (1. Kor. 12, 5.)

Die Apostel thaten deshalb größere Werke, welche

aber, was ihren persönlichen Wandel betrifft, mit Unvollkommenheiten

aller Art vermischt waren. Mit wem z. B.

stritt der Herr, obwohl Er immer Recht hatte? Vor wem

offenbarte Er Menschenfurcht? Wann bereute Er etwas,

das Er gethan hatte, wie Paulus, der nachher sogar anerkennen

mußte, daß kein Grund zur Reue vorgelegen

habe. Nein! obgleich sich nach der Erhöhung des Herrn

176

zur Rechten Gottes, wie Er es verheißen hatte, eine

größere Kraft offenbaren mochte, so entfaltete sich diese

doch in Gefäßen, deren Schwachheit zur Genüge bewies,

daß alle Ehre nur Gott zukam, und deren Gehorsam im

Kampf mit einem widerspenstigen Willen, der in ihnen war,

ausgeübt wurde. Hierin liegt der große Unterschied. Jesus

hatte niemals einen Dorn im Fleische nötig, um Ihn

vor Ueberhebung zu schützen. — Hochgelobter Herr! Du

redetest, was Du wußtest, und zeugtest von dem, was

Du gesehen hattest; aber um dies thun zu können, hast

Du Dich zu nichts machen, Dich selbst erniedrigen und

die Gestalt eines Knechtes annehmen müssen, auf daß

w i r dadurch erhöht würden! — Die Höhe, das Bewußtsein

der Höhe, von welcher Er herabgestiegen war, die

Vollkommenheit Seines Willens, in dem Knechtsstande,

den Er angenommen hatte, zu gehorchen, machten jede Erhöhung

für Ihn unnötig. Dennoch blickte Er hin auf die

„vor ihm liegende Freude" und wurde nicht beschämt;

denn Er erniedrigte sich eben bis zu diesem Punkte, daß

Er sich über die in Aussicht stehende Belohnung freute.

Und Er ist hoch erhoben worden. „Lieblich an Geruch

sind Deine Salben, ein ausgegossenes Salböl ist Dein

Name." (Hohel. 1, 3.) In dem Speisopfer gab es neben

dem Feinmehl und Oel auch Weihrauch, den Wohlgeruch

all der Tugenden Christi. Wie oft begegnet es

uns, daß wir die Gnaden oder Tugenden, die wir besitzen,

den Menschen zur Annahme darbieten! Das Resultat

davon ist, daß das Fleisch oft für Gnade gehalten oder

wenigstens mit ihr vermengt wird, indem die Dinge nach

dem Urteil des Menschen beurteilt werden; in Jesu aber

wurden alle Gnaden oder Tugenden Gott dargeboten.

177

Allerdings hätte der Mensch diese Gnaden sehen können

oder sehen sollen, wenn der Wohlgeruch des Weihrauchs

sich rund um ihn her verbreitete, obwohl er ausschließlich

als Opfer für Jehova verbrannt wurde. Aber wie wenige

giebt es, die so ihre Liebe Gott darbringen und Gott in

ihre Liebe einführen, indem sie alles, was sie für Ihresgleichen

thun, einzig und allein im Blick auf Gott thun,

so daß sie nicht müde werden, obgleich sie vielleicht, je

mehr sie Liebe beweisen, um so weniger geliebt werden;

denn sie thun alles aus Liebe zu Gott und um Seinetwillen.

Insoweit sich diese Gesinnung bei uns findet, ist

das, was wir thun, ein Wohlgeruch für Jehova. Aber

das ist schwierig; und um so handeln zu können, müssen

wir sehr nahe bei Gott sein.

In Christo erblicken wir ein vollkommenes Beispiel

von dem, was wir soeben gesagt haben. Je treuer Er

war, desto mehr wurde Er verachtet, desto mehr wurde

Ihm widersprochen. Je mehr Er Seine Sanftmut und

Demut offenbarte, desto geringer wurde Er geachtet. Aber

alles das brachte in Seinem Thun nicht die geringste

Veränderung hervor, weil Er alles, was Er that, einzig

und allein im Blick auf Gott that. Mochte Er mit der

Volksmenge verkehren, oder unter Seinen Jüngern sein, oder

endlich vor Seinen ungerechten Richtern stehen — allezeit

war Sein Verhalten vollkommen; denn in allen Umständen

und Lagen handelte Er nur im Blick auf Gott. Der

Weihrauch Seines Dienstes, Seines Herzens und Seiner

Zuneigungen stieg immer und überall zu Gott empor.

Und wo gäbe es einen reicheren und süßer duftenden

Weihrauch, als in dem Leben Jesu? Jehova roch einen

lieblichen Geruch, und anstatt des Fluches, der gerechter

178

weise auf uns lastete, kam in Jesu der Segen Gottes

auf den Menschen. — Dieser Weihrauch wurde also dem

Kuchen des Speisopfers beigegeben; denn er war thatsächlich

eine Frucht, die in dem Leben Jesu durch den

Geist hervorgebracht wurde, ein Ausdruck Seiner Natur.

Aber in allen Fällen stieg dieser Weihrauch empor. Mit

der Fürbitte und Verwendung Jesu für uns verhält es

sich ebenso; denn sie war eine Frucht Seiner heiligen

Liebe. Die Gebete Jesu, der Ausdruck Seiner heiligen

Abhängigkeit, waren unendlich angenehm vor Gott und

von mächtiger Wirkung; sie waren alle vor Ihm ein

lieblicher Geruch, wie Weihrauch: „das Haus wurde von

dem Geruch der Salbe erfüllt".

Verboten war bei den Opfern außer dem Sauerteig

noch etwas anderes: der Honig, d. h. alles das, was

dem Geschmack des natürlichen Menschen besonders angenehm

ist, wie z. B. die Zuneigungen derer, welche wir nach dem

Fleische lieben, die angenehmen Beziehungen zu Unsersgleichen

und ähnliche Dinge. Nicht als ob diese Dinge

in sich selbst böse wären: „Hast du Honig gefunden, so

iß dein Genüge, damit du seiner nicht satt werdest",

sagt der Weise. (Spr. 25, 16.) Als Jonathan ein

wenig Honig gekostet hatte, den er am Tage des Kampfes,

als er in der Kraft des Glaubens für Israel stritt, im

Walde fand, da wurden seine Augen hell. (1. Sam. 14.)

Aber nie durfte Honig als ein Feueropfer dem Jehova

geräuchert werden. Derselbe Herr, der in der schrecklichen

Angst des Kreuzes, als alles vollbracht war, zu Seiner

Mutter sagen konnte: „Weib, siehe, dein Sohn!" und

zu dem Jünger: „Siehe, deine Mutter!" konnte auch

während der Zeit Seines Dienstes sagen: „Weib, was

179

habe ich mit dir zu schaffen?" Er war ein Fremdling

den Söhnen Seiner eigenen Mutter, gleich Levi (in dem

Segen Moses, des Mannes Gottes), der als ein Opfer

von feiten des Volkes Israel vor Jehova dargestellt wurde:

„Der von seinem Vater und von seiner Mutter sprach:

Ich sehe ihn nicht, und der seine Brüder nicht kannte,

und von seinen Söhnen nichts wußte; denn sie haben

dein Wort beobachtet, und deinen Bund bewahrten sie."

(Vergl. 4. Mose 8, 11; 5. Mose 33, 9.)

Es bleibt noch eine Bemerkung übrig. In dem

Brandopfer wurde alles vor Jehova verbrannt, denn Christus

hat sich selbst ganz und gar Gott geopfert. Die menschliche

Natur Christi aber ist die Speise der Priester Gottes.

Aaron und seine Söhne mußten den Teil des Speisopfers

essen, der nicht auf dem Altar geräuchert wurde. Christus

ist das wahre Brot, das aus dem Himmel herniedergekommen

ist, um der Welt das Leben zu geben, damit

wir, die Priester und Könige, durch den Glauben von

diesem Brote essen und nicht sterben möchten. Das Speisopfer

war etwas „Hochheiliges", wovon Aaron und seine

Söhne allein essen durften; — und wer darf sich heute

von Christo nähren, wenn nicht die, welche, geheiligt durch

den Heiligen Geist, das Leben des Glaubens leben und

sich von der Speise des Glaubens nähren? Ist Christus

nicht die Speise unsrer gottgeweihten Seelen, Er, der uns

allezeit Gott weiht? Kosten unsre Seelen nicht in dem

Heiligen, der sanftmütig und von Herzen demütig war

— in Ihm, der als das Licht der menschlichen Vollkommenheit

und der göttlichen Gnade leuchtete inmitten

eines verderbten Geschlechts — kosten unsre Seelen nicht

in Ihm das was nährt, erquickt und heiligt? Fühlen

180

wir nicht, was es bedeutet, Gott dargebracht zu sein, indem

wir, mittelst des Mitgefühls des Geistes Jesu in

uns, Sein Leben hienieden verfolgen, was es war Gott

und Menschen gegenüber? Als ein Beispiel für uns trägt

Er das Gepräge eines Menschen, der gänzlich für Gott

lebt; Er zieht uns sich nach, indem Er selbst die Kraft

ist, die uns auf dem Wege fortschreiten läßt, den Er zurückgelegt

hat, und an welchem wir unsre Freude und

Wonne finden. Werden unsre Herzen nicht an Jesum

gefesselt, wenn wir so mit Freuden über das nachsinnen,

was Er auf Erden war? Werden wir Ihm nicht ähnlicher?

Ja, wir bewundern Ihn, wir werden gedemütigt und

durch die Gnade in Sein Bild verwandelt. Indem Er

die Quelle des neuen Lebens in uns ist, wird das Beispiel,

das Er uns von der Vollkommenheit dieses Lebens

giebt, zu dem Mittel, es in uns zu entfalten und zu

kräftigen. Denn wer könnte stolz sein in der Gemeinschaft

des demütigen Jesus? Demütig wie Er ist, würde Er

uns, wie jemand richtig bemerkt hat, lehren, den letzten

Platz einzunehmen, wenn Er ihn selbst noch nicht eingenommen

hätte. Anbetungswürdiger Herr! möchten wir

doch wenigstens näher bei Dir, in Dir verborgen sein!

Wie unermeßlich groß ist doch die Gnade, die uns in

diese innige Gemeinschaft mit dem Herrn eingeführt hat!

die uns zu Priestern gemacht hat, damit wir an dem

teilnehmen möchten, was die Wonne Gottes, unsers Vaters,

ausmacht, an dem, was Ihm als ein Feueropfer lieblichen

Geruchs dargebracht worden ist und was den Tisch Gottes

bedeckt! Dies ist uns als unser ewiges und unveränderliches

Teil durch einen Bund besiegelt. Deshalb durfte

das Salz des Bundes unsers Gottes bei keinem Opfer

181

fehlen; es stellte die Festigkeit, die Dauerhaftigkeit und

bewahrende Kraft dessen dar, was göttlich war, obgleich

es für uns vielleicht nicht immer lieblich und angenehm

ist; es war das Siegel von feiten Gottes, um zu bezeugen,

daß jener liebliche Geruch nicht vorübergehend,

und daß das Wohlgefallen nicht nur ein augenblickliches,

sondern ein ewig dauerndes war. Denn alles was von

dem Menschen ist, vergeht; alles was von Gott ist, besteht

ewiglich. Das Leben, die Liebe, die Natur und die

Gnade sind bleibend. Diese heilige, absondernde Kraft,

die uns vor Verderbnis bewahrt, ist von Gott und teilt

die Beständigkeit der göttlichen Natur. Wir sind mit Ihm

verbunden, nicht mittelst unsers eignen Willens, sondern

nach der Festigkeit der göttlichen Gnade. Diese Gnade

ist thätig in uns, ist rein und heiligend — aber es ist

Gnade. Wir sind mit Gott verbunden durch die Kraft des

göttlichen Willens, durch die Unverbrüchlichkeit der göttlichen

Verheißung; aber diese Kraft und diese Treue sind

diejenigen Gottes, nicht die unsrigen. Sie sind gegründet

auf das Opfer Christi, durch welches der Bund Gottes

uns besiegelt und untrüglich sicher gemacht worden ist;

anders würde Christus nicht geehrt sein. Es ist der Bund

Gottes, fest geworden durch zwei unveränderliche Dinge,

wobei es unmöglich ist, daß Gott lügen sollte. (Hebr. 6.)

Sauerteig und Honig, die Sinnbilder der Sünde

und unsrer natürlichen Zuneigungen, dürfen also dem

Opfer Gottes nicht beigegeben werden; aber die Kraft

Seiner Gnade, (die das Böse nicht schont, aber das Gute

sicher stellt,) ist da, um uns zu dem unfehlbaren Genuß

der Früchte und Wirkungen dieses Opfers zu befähigen.

Das Salz machte nicht das Opfer aus, aber es durfte

182

bei keinem Opfer fehlen. Es konnte in der That nicht

fehlen bei dem, was von Gott war. Wir müssen uns

daran erinnern, daß der wesentliche und unterscheidende

Charakter des Speisopfers, wie des Brandopfers, der

war, daß es Gott dargebracht wurde. Das konnte von

Adam nicht gesagt werden. In seinem Stande der Unschuld

erfreute er sich Gottes; er dankte Ihm dafür, oder

hätte es wenigstens thun sollen; aber es gab in seinem

Falle nur Freude oder Genuß und Dankbarkeit, er

konnte sich nicht selbst Gott als Opfer darbringen.

Das aber war das Wesen des Lebens Christi. Es

wurde Gott dargebracht, und deshalb war es abgesondert,

ganz und gar abgesondert von allem, was es umgab.

Christus war heilig, nicht nur unschuldig; denn Unschuld

ist das Nichtvorhandeusein des Bösen, die Unkenntnis über

das Böse, nicht aber die Absonderung von dem Bösen.

Gott ist heilig; Er kennt das Gute und das Böse, aber

Er ist unendlich über das Böse erhaben, völlig von ihm

abgesondert. Christus war heilig, ich wiederhole es, nicht

nur unschuldig, sondern heilig; Sein Wille war ganz

und gar Gott geweiht. Er war abgesondert von dem

Bösen und lebte in der Kraft des Heiligen Geistes.

Die wesentlichen Bestandteile des Speisopfers waren

also Feinmehl, Oel und Weihrauch, die Sinnbilder der

menschlichen Natur, des Heiligen Geistes und des Wohlgeruchs

der Gnade. Sauerteig und Honig waren ausgeschlossen.

Was die Art der Zubereitung betrifft, so mengte

man den Kuchen mit Oel und salbte ihn mit Oel.

Ueberdies durfte bei keinem Opfer das Salz des Bundes

Gottes fehlen. Letzteres wird hier deshalb besonders erwähnt,

weil man hätte denken können, daß bei dem, was die

183

«Gnade der menschlichen Natur Christi betraf, was den

Menschen anging, (einen Menschen, der sich selbst Gott

opferte, nicht im Tode, sondern im Leben,) das Salz,

diese göttliche, erhaltende Kraft, hätte fehlen können; oder

mit andern Worten, daß es sich hier nur um die Handlung

eines Menschen als solchen handle. — Noch einmal denn:

das Wesentliche beim Speisopfer war dies, daß eS auf

dem Altar Gottes geopfert, daß es zum lieblichen Geruch

verbrannt und aus den drei obengenannten Dingen her-

gestellt werden mußte, aus Feinmehl, Oel und Weihrauch.

(Fortsetzung folgt.)

„Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet

vor Zehntausenden."

(Hohel. 5, 6—10.)

„Ich öffnete meinem Geliebten; aber mein Geliebter

hatte sich umgewandt, war weitergegangen. Ich war außer

mir, während er redete. Ich suchte ihn und fand ihn nicht;

ich rief ihn, und er antwortete mir nicht." (V. 6.)

Wie einst Joseph auf allerlei Weise die Herzen seiner

Brüder zu üben suchte, weil sie sich so schwer gegen ihn

verschuldet hatten, so wird am Ende der Tage der wahre

Joseph die Herzen Seiner Brüder, der Juden, zu üben

suchen wegen ihres Zustandes vor Gott. Aber Joseph

liebte seine Brüder deshalb nicht weniger, weil er sie

durch eine solch ernste Uebung und Sichtung gehen ließ.

Sein Herz war voll der innigsten Liebe, und sobald der

richtige Augenblick gekommen war, machte es sich Luft in

Ausdrücken der stärksten Zuneigungen. Welch eine Er

184

quickung war es für ihn, als die Schleusen sich öffneir

konnten und die so lange zurückgehaltene Liebe frei ausströmen

durfte! Aehnlich wird es mit dem Herrn und

dem jüdischen Ueberrest in den letzten Tagen sein. Kurz

vor der Erscheinung des Herrn in Macht und Herrlichkeit

zu ihrer völligen Befreiung, kurz vor der vollen Offenbarung

Seiner Liebe als ihr Messias, werden die gläubigen

Juden ähnliche Uebungen durchmachen wie die Brüder

Josephs.

Aber so treffend die Ähnlichkeit ist zwischen den

Erfahrungen der Braut hier und dem, was zwischen Joseph

und seinen Brüdern vorging, oder was dereinst zwischen

Christo und dem Ueberrest Vorgehen wird, so verkehrt

und unrichtig wird das Bild, wenn man es auf die

Kirche oder die Versammlung Gottes anwenden will. Die

vielverbreitete Meinung, daß Christus sich zuweilen vow

dem Gläubigen abwende oder Sein Angesicht vor

ihm verberge, um ihn auf die Probe zu stellen, findet

keinerlei Unterlage in den Briefen. Bei dem Juden, der

unter dem Gesetz stand, war selbstredend alles anders:

Gott wohnte in dichter Finsternis, der Weg ins Allerheiligste

war noch nicht geoffenbart, das vollkommene

Opfer noch nicht gebracht; das Gewissen des Israeliten

war noch nicht vollkommen gemacht, und deshalb genoß

er keinen ungetrübten Frieden. Bezüglich des Christen

hat sich die ganze Sachlage verändert; denn „die Finsternis

vergeht, und das wahrhaftige Licht leuchtet schon".

(1. Joh. 2, 8.) Wir sind „annehmlich gemacht in dem

Geliebten". Unsre Sünden sind, nach dem Urteil Gottes,

alle und für immer hinweggethan durch das eine Opfer

Christi. Als das gerechte Gericht Gottes über die Sünde

185

am Kreuze seinen Ausdruck gefunden hatte, zerriß der

Vorhang im Tempel, und der Weg ins Allerheiligste

wurde geöffnet. Wir, tot in Sünden, und Christus, gestorben

für die Sünde, sind miteinander lebendig gemacht

worden; wir sind mit Ihm auferweckt und in Ihm mitversetzt

in die himmlischen Oerter, indem Gott alle unsre

Uebertretungen vergeben hat. Zwischen Gott und Christo

in der Herrlichkeit kann es keinen Vorhang geben; und

da wir in Christo sind, vollkommen gemacht vor dem

Angesicht Gottes, so kann auch zwischen uns und Gott

kein Vorhang sein. Ueberdies ist der Heilige Geist

herniedergekommen als der Zeuge und die Kraft unsers

gegenwärtigen Einsseins mit dem auferstandenen

und verherrlichten Christus; und Er giebt uns

durch Sein Wohnen in uns den bewußten Genuß unsers

Platzes und unsers Teiles mit Christo in der Gegenwart

Gottes. Schon der Gedanke, daß Christus Sein Angesicht

vor denen verbergen könne, die mit Ihm und wie

Er in dem vollen Lichte Gottes sind, ist der ganzen

Belehrung der Heiligen Schrift über die Kirche Gottes

durchaus fremd. Leider ist es wahr, nur zu wahr,

daß wir vergessen können, wie reich wir in Christo Jesu

gesegnet sind; wir können vergessen, daß wir mit Ihm,

dem aus den Toten Auferstandenen und gen Himmel Gefahrenen,

verbunden sind, daß Sein Leben unser Leben

ist, und daß Seine Freude auch unsre Freude sein sollte;

und wenn wir diese Dinge vergessen, so mag es wohl

sein, daß wir uns von Ihm entfernen und gegen Ihn

sündigen. Und keine Sünde könnte so hassenswürdig für

Gott sein als die Sünde eines Christen, und zwar gerade

deshalb, weil er so nahe zu Gott gebracht ist. Ach, wenn

186

wir sündigen, so müssen wir uns von Christo entfernt

haben; keiner von uns könnte in Seiner Gegenwart

sündigen. Denn in dieser Gegenwart ist die Sünde

auch uns aufs Tiefste verhaßt, und wir haben Gewalt

über sie.

Wenn der Heilige Geist von diesem Gegenstände

spricht, so ist Seine Weise höchst zurückhaltend; Er giebt

bloß die Möglichkeit zu, daß ein Christ sündigen

könne. „Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf daß

ihr nicht sündiget; und wenn jemand gesündigt hat",

— oder mit andern Worten: wenn es einmal Vorkommen

sollte, (was Gott verhüten wolle,) daß einer

von euch sündigte, — „wir haben einen Sachwalter bei dem

Vater, Jesum Christum, den Gerechten. Und Er ist die

Sühnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die

unsern, sondern auch für die ganze Welt." (1. Joh. 2,1. 2.)

Es ist also eine göttliche Vorsorge getroffen für alle Bedürfnisse

unsers Pilgerpfades hienieden. Die Sachwalterschaft

Christi, gegründet auf die Gerechtigkeit Gottes und

auf eine vollbrachte Versöhnung, sichert uns die Reinigung

von alledem, womit wir uns auf unserm Wege verunreinigen

können, und erhält uns tadellos vor dem Angesicht

Gottes. Wie völlig steht dieser gesegneten Wahrheit

die oben erwähnte Meinung entgegen, daß Gott zuweilen

Sein Angesicht hinter einer Wolke verberge, um den

Glauben und die Liebe Seiner Kinder auf die Probe zu

stellen! Wir mögen jene kostbare Wahrheit nicht kennen

oder durch Mangel an Treue sie nicht genießen, aber die

Wahrheit Gottes bleibt unveränderlich dieselbe; und die

Stellung der Kirche vor Ihm in Christo ist ebenso unerschütterlich

wie die Wahrheit, die sie uns offenbart.

187

Wenn wir uns jetzt von der Kirche zu Israel wenden,

so muß uns sogleich der bestimmte Gegensatz zwischen

beiden auffallen. Obwohl „zur Zeit des Endes" der

Ueberrest den Messias erwarten und mit aufrichtiger Liebe

nach Ihm ausschauen wird, so steht er doch noch unter

dem Gesetz und muß den Druck desselben fühlen. Gleich

dem Totschläger in alten Zeiten werden die Israeliten

gleichsam so lange in der Zufluchtsstadt bleiben müssen,

bis eine Aenderung des Priestertums eintritt. (Vergl.

4. Mose 35.) Die Erscheinung ihres gesalbten Herrn,

in der Ausübung Seines Melchisedek-Priestertums, wird

das große Gegenbild jener alten Verordnung ausmachen.

Eine Aenderung des Priestertums durch den Tod brachte

den in den Zufluchtsstädteu eingeschlossenen Totschlägern

Befreiung und die Erlaubnis zur Rückkehr in ihr Land.

„Nach dem Tode des Hohenpriesters darf der Totschläger

zurückkehren in das Land seines Eigentums." (V. 28.)

Israel wird in den letzten Tagen, kurz vor der Erscheinung

des Herrn, durch ein tiefes Sichtungswerk gehen

unter dem Gesetz; viele Schriftstellen beweisen dies klar

und deutlich. Das ernste Gericht Gottes über ihre Sünde

der Blutschuld muß gefühlt und von ihrem Gewissen anerkannt

werden. Und wenn endlich der Herr erscheint,

so wird dieses gesegnete, obwohl ernste und schmerzliche

Werk noch vertieft werden, aber dann nicht mehr unter

Gesetz, sondern unter Gnade. „Und ich werde über das

Haus Davids und über die Bewohner von Jerusalem den

Geist der Gnade und des Flehens ausgießen; und sie

werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und

werden über Ihn wehklagen gleich der Wehklage über den

Eingebornen, und bitterlich über Ihn leidtragen, wie man

188

bitterlich über den Erstgebornen leidträgt." (Lies sorgfältig

Sach. 12, auch 13 und 14.)

Von welch ergreifender Schönheit ist diese Wirklichkeit

und Glut der Liebe, welche der hochgelobte Herr in

den Herzen der Seinigen, selbst inmitten all ihrer Leiden

und Drangsale, Hervorrufen wird und die uns hier im

Hohenliede so lebendig und wahr entgegentritt! Wie innig

sehnt sich das Herz der Braut nach ihrem Geliebten! Das

ist in der That der Charakter des Hohenliedes. Während

die Psalmen uns mehr mit den Uebungen des Gewissens

in dem Ueberrest bekannt machen, teilt uns das Hohelied

vornehmlich die Gefühle und Zuneigungen des Herzens

mit. Diese Seite ist auch in der vorliegenden Stelle vorherrschend,

und wahrlich, es ist eine liebliche Seite. Wir

begegnen hier den Kundgebungen der Bräutigams-Liebe

Jesu und andrerseits dem lieblichen und rührenden Widerschein

dieser Liebe in dem Herzen der Braut. „Ich war

außer mir, während er redete", sagt sie. Sie konnte

Ihn hören, aber nicht sehen, und ihr Herz entfiel ihr;

sie hatte Ihn in einer bösen Stunde vernachlässigt, und

Er hatte sich, da Er ja noch auf dem Boden der Gerechtigkeit

stand, entfernt und war weitergegangen. Allein

Er liebte sie deshalb nicht weniger, wenn Er auch so

handeln mutzte. Ja, wenn sie das Verbergen Seines

Antlitzes so tief fühlte, Er fühlte es noch unendlich tiefer.

Nie brannte das Herz Josephs in solch heißer Liebe zu

seinen Brüdern, als zur Zeit, da Er sich vor ihnen verstellen

und verbergen mußte. Und ein Größerer als Joseph

ist hier! „Jesus Christus, derselbe gestern und heute und

in Ewigkeit." Beachte es wohl, geliebter Leser; es heißt

nicht: Gott ist derselbe gestern und heute und in Ewig

189

keit, obwohl Er das sicherlich ist; sondern es handelt sich

nm „Jesum Christum", unsern Heiland und Bräutigam.

Von Ihm sagt der Heilige Geist, daß Er sich

niemals verändere. O möchten wir deshalb lernen, mehr

uns Ihn zu vertrauen und niemals an Seiner Liebe zu

zweifeln, wenn auch die Umstände sich gestalten, wie sie

wollen! Seine Liebe ist unveränderlich, Seine Gnade

kann uns nie, nie fehlen.

Die jetzt folgende Scene ist eine schmerzliche. Die

Braut hat ihre Gemeinschaft mit dem Geliebten verloren,

und alles ist deshalb in Verwirrung. Gerade die Kraft

und die Glut ihrer Liebe bringen sie in alle möglichen

Verlegenheiten und Kümmernisse. Sie setzt sich gleichsam

den Schmähungen der bloßen Bekenner drinnen aus,

sowie der rohen Behandlung der Welt draußen. Was

ihre Wege betrifft, so ist alles für den Augenblick in Unordnung;

aber ihr Herz ist im allgemeinen an seinem

rechten Platz und schlägt aufrichtig für ihren Herrn. „Ich

beschwöre euch, Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten

findet, was sollt ihr ihm berichten? daß ich

krank bin vor Liebe." (V. 8.) O wie wenige von

uns können sagen: „Ich bin krank vor Liebe!" Wie

selten setzen wir uns durch die Glut unsrer Zuneigungen

für Jesum der Verfolgung und dem Spott der Welt aus!

Möchten wir mehr von jener Gemeinschaft kennen, die das

Herz brennend macht und unsre Lippen öffnet zu einem

treuen, lebendigen Zeugnis für unsern abwesenden Herrn!

„Was ist dein Geliebter vor einem andern Geliebten,

du Schönste unter den Frauen? was ist dein Geliebter

vor einem andern Geliebten, daß du uns also beschwörest?"

<V. 9.) Was könnte dem Herzen angenehmer sein, was

190

es mehr zu Lob und Dank stimmen, als das Bewußtsein^

daß wir für den, den wir am meisten lieben, schöner

sind als alles andere? Sind wir versichert, daß das die

Gedanken des Herrn über uns sind, so kann unsre Seele

in süßem Frieden ruhen; wir verlangen dann nichts mehr.

Wie erfreut es auch das Herz, wenn andere, die mit

Neid und Eifersucht erfüllt sein könnten, von uns und

zu uns reden, wie Er selbst es thut! Höheres kann es

wahrlich nicht geben.

Und so wird es binnen Kurzem sein mit der Tochter

Zion, der schönen Braut des wahren Salomo. Wenn

sie unter ihrem Messias in die vollen Segnungen des

Reiches eingeführt und von Ihm selbst hochgeehrt sein

wird, dann werden alle mit Freuden ihr zurufen: „Du

Schönste unter den Frauen". Die „Töchter Jerusalems"

stellen hier wohl die Städte Judas vor, die an dem

Tage der zukünftigen Herrlichkeit einen niedrigeren Platz

haben werden als Jerusalem, obgleich sie sich in demselben

Kreis des Segens befinden. Jerusalem und die Juden

werden dann den Ehrenplatz auf dieser Erde einuehmen,

und alle Nationen werden ihre Gunst suchen und sich

unter den Schutz ihrer Flügel begeben. „So spricht

Jehova der Heerscharen: In jenen Tagen, da werden zehn

Männer aus allerlei Sprachen der Nationen ergreifen,

ja, sie werden ergreifen den Rockzipfel eines jüdischen

Mannes und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn

wir haben gehört, daß Gott mit euch ist." (Sach. 8, 23.)

Das ist offenbar noch zukünftig. Aber der Geist der

Prophezeiung geht noch weiter, wenn Er von der Wiederherstellung

der Kinder Zions spricht, indem Er sagt:

„Und Könige werden deine Wärter sein, und ihre Fürstinnen.

191

deine Ammen; sie werden sich vor dir niederwerfen, das

Antlitz zur Erde, und den Staub deiner Füße lecken.

Und du wirst erkennen, daß ich Jehova bin: die auf

mich harren, werden nicht beschämt werden." (Jes. 49, 23.)

Welch ein Wechsel für die Juden, wenn dies stattfinden

wird! Welch eine gesegnete Veränderung für das

so lange zu Boden getretene Volk! Wie wunderbar ist

die Geschichte dieses Volkes, wenn wir seine Vergangenheit,

seine Gegenwart und Zukunft mit einander vergleichen!

„Gehet hin, schnelle Boten, zu der Nation,

die weithin geschleppt und gerupft ist, zu dem Volke,

wunderbar seitdem es ist und hinfort, der Nation von

Vorschrift auf Vorschrift und von Zertretung, deren Land

Ströme beraubt haben." (Jes. 18, 2.) So war es einst;

aber in welch gesegneter Weise wird am Ende alles verändert

sein! Unter dem Bilde einer Braut, eines Gegenstandes

der Liebe, der Bewunderung und der Freude, ist

wieder und wieder in der Schrift von dem Ueberrest

Judas die Rede. Der hochgelobte Herr selbst, der Ueberrest

aus den anderen Stämmen Israels, samt den Nationen

um sie her, werden mit einander ihre unvergleichliche Schönheit

bewundern. An jenem Tage wird das ganze Volk,

die zwei und die zehn Stämme, in sein Land zurückgeführt

werden, und zwar jeder Stamm in sein eignes Los.

Auf die Frage der Töchter Jerusalems: „Was ist

dein Geliebter vor einem andern Geliebten, daß du uns

also beschwörest?" antwortet die Braut sofort mit einer

langen Beschreibung ihres Geliebten. Mit einer Schärfe

und Genauigkeit entwirft sie ein Bild von Ihm, die nur

aus einer unvermischten, tiefen Liebe hervorgehen können.

Ihre Gefühle und Zuneigungen sind mit doppelter Stärke

192

erwacht gerade um der Vorwürfe willen, die sie sich machen

muß. Ihre Erinnerung an Ihn ist umso lebhafter, weil sie

Ihn vernachlässigt hat, und alle ihre Gefühle sind tief erregt,

weil sie Ihn nicht findet. In diesem Gemütszustände

beschreibt sie Ihn den Töchtern Jerusalems von Kopf bis

zu Fuß. O wären wir doch auch allezeit bereit, in demselben

Augenblick, da sich die Gelegenheit dazu darbietet,

von Jesu zu reden! Die Braut bedurfte keiner Zeit zum

Nachsinnen. Erfreut über die Gelegenheit, von Ihm zu

erzählen, ist alles, was sie bedarf, ein hörendes Ohr und

ein glaubendes Herz. Wie in anderen Tagen bei dem

Weibe am Jakobsbrunnen, fließt auch ihr Herz über. Ihre

Liebe nimmt gerade durch die Enttäuschung, die sie erfährt,

einen leidenschaftlichen Charakter an. Es erleichtert ihr

Herz, von Ihm reden zu können. Liebe ist die beste Gabe

eines Evangelisten, Liebe zu dem Heilande und Liebe zu

verlornen Sündern. Und wenn diese Liebe sich zu einer

leidenschaftlichen Höhe erhebt, wird der Mund beredt. Er

beschreibt mit wahrhaft glühender Beredsamkeit die Schönheiten

des Herrn. Laß uns mit nichts Geringerem zufrieden

sein, mein lieber Leser. Liebe zu Jesu, Liebe zu

den Sündern ist gut, aber ein wahrer Evangelist bedarf

mehr als das. Trachte darnach, daß dein Herz von

wahrem Liebes feuer durchdrungen sei. Bist du ein Evangelist?

Bringe dann alles, was dich in deinem Werke

behindern will, auf dem Altar gänzlicher Widmung und

Hingebung zum Opfer. Bedenke, daß Evangelium-Ver-

kündigen nicht Lehren ist, und Lehren nicht Evangelium-

Verkündigen. Es handelt sich um Leben oder Tod, um

ewige, unaussprechliche Segnung oder ewiges, unsagbares

Weh. Denke au die ernste Zukunft und schreie zu Gott,

193

daß nicht eine Seele ungesegnet und unberührt von dir

weggehe I

O sprich von Ihm, von Seiner Liebe,

Die all Erkennen übersteigt;

Von Ihm, der von des Vaters Throne

Zu Sündern sich herabgeneigt;

Der kam, vom Tode zu erretten.

Uns zu besrei'n aus Satans Ketten!

Ja, sprich von Jesu, von der Gnade,

Die allen, allen Hilfe bot;

Von Seinem Leben, Seinem Wirken,

Von Seinem Leiden, Seinem Tod;

Und Seine Thaten, Seine Worte

Verkünde laut an jedem Orte!

„Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet

vor Zehntausenden." (V. 10.) Damit

beginnt die Braut die Beschreibung ihres Geliebten. Von

David wird, ohne Zweifel im Blick auf seine jugendliche

Kraft und Schönheit, gesagt: „Er war rötlich und von

gutem Ansehen". Aber in der Beschreibung, die hier

von dem wahren David gegeben wird, mag der Geist

der Prophezeiung wohl an die fleckenlose Reinheit Seiner

Person und an den Charakter Seines Opfers erinnern

wollen. „Weiß und rot" sind bedeutungsvolle Worte.

Es ist die Freude des Heiligen Geistes, uns immer wieder,

sei es in Vorbildern oder in Gleichnissen, die Schönheit

der Person Christi und den Wert Seines Opfers vor

Augen zu stellen. „Könnt ihr mir etwas nennen, das

weißer ist als Schnee?" fragte einmal ein Sonntagsschulhalter

seine jungen Schüler und Schülerinnen. „Eine

Seele, die im Blute Jesu gewaschen ist", antwortete ein

kleines Mädchen; und sie hatte Recht. Aber wenn ein

194

Brand, der aus dem Feuer gerissen ist, der durch die

Sünde geschwärzt und gleichsam schon dem Feuer des

Gerichts verfallen war, weißer gewaschen werden kann

als Schnee, so weiß wie das Licht des Himmels kraft

des kostbaren Blutes Christi, was muß dann, so mögen

wir wohl fragen, die Reinheit und Heiligkeit Dessen sein,

der durch Sein Blutvergießen ein so wunderbares Werk

möglich gemacht hat? Ja fürwahr, schon eine einzige errettete

Seele beweist die herrliche Wirkung dieses Opfers.

Aber was werden wir sagen, wenn wir bald im Himmel

Myriaden über Myriaden von erlösten Seelen sehen

werden, die das ewig neue Lied singen: „Dem, der uns

liebt und uns von unsern Sünden gewaschen hat in Seinem

Blute und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern

Seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und

die Macht in die Zeitalter der Zeitalter! Amen."

Geliebter Leser! was wir dann sehen werden mit

unsern Augen, das sollten wir jetzt glauben mit unsern

Herzen. Laß uns deshalb sinnen über die kostbaren Worte:

„Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet vor Zehntausenden."

Was ist so weiß, so rein, so heilig wie die

hochgelobte Person des SohneS deS Menschen, wie Jehova-

Jesus, die Wurzel und das Geschlecht Davids? was so

rot wie das Blut, das auf Golgathas Höhen aus Seinen

Wunden floß? Wer wäre so würdig, das Haupt aller

himmlischen Heerscharen zu sein, wie Er, der Anführer

unsrer Seligkeit?

So Jesum zu kennen, ist gegenwärtiges Heil,

bedeutet Frieden und Glück. Zu wissen, daß meine

Sünden ausgelöscht, ja für immer ausgelöscht sind

durch Sein kostbares Blut, bedeutet vollkommne Segnung.

195

Sie existieren jetzt nicht mehr vor Gott, dem Richter über

die Sünde. Ich habe Vergebung aller meiner Sünden;

ich weiß es, daß ich sie habe, denn Gott sagt es; aber

zu wissen, daß meine Sünden nicht nur vergeben, sondern

auch ausgelöscht sind, ist ein noch weiter gehender

Gedanke. Wie ein Stein in die Tiefe des Meeres versinkt,

um nie wieder gesehen zu werden, so sind die Sünden

des Gläubigen alle begraben in den tiefen Wassern

der Vergessenheit Gottes, um nie wieder zum Vorschein

zu kommen. Und Gott ist durch das Werk Seines geliebten

Sohnes so völlig verherrlicht worden, daß Er jetzt

nicht nur Seine Gnade, sondern auch Seine Gerechtigkeit

erweist, wenn Er alle segnet, die an Jesum glauben. Er

kann jetzt Seine Liebe darin befriedigen, daß Er dem

vornehmsten Sünder, der sich vor dem Namen des einst

verachteten, aber jetzt hoch erhobenen Menschensohnes beugt,

in Gnaden begegnet.

Gedanken.

Gottes Heiligkeit ist ebenso schnell in der Verwerfung

alles „fremden Feuers" (3. Mose 10), wie Seine Gnade

bereit ist, den schwächsten Dank eines aufrichtigen Herzens

anzunehmen. Er muß Sein gerechtes Gericht ergehen

lassen über alle falsche Anbetung, aber Er wird niemals

„das geknickte Rohr zerbrechen, noch den glimmenden Docht

auslöschen". (Jes. 42, 3.)

Wenn wir versäumen, im Verborgenen persönlich mit

Gott Gemeinschaft zu machen, so wird unser Dienst unfruchtbar

sein und unser Kampf in Niederlage endigen.

196

Die Gemeinschaft eines Christen ist gleich einer zarten,

empfindlichen Pflanze; sie wird leicht gestört durch die

rauhen Einflüsse einer bösen Welt. Sie wächst und entfaltet

sich in dem Licht und der Luft des Himmels, aber

sie muß sich fest verschließen vor den erkältenden und ausdörrenden

Winden der Zeit und der Vernunft. — Wenn

unsre Herzen aufrichtig wünschen, die göttliche Gegenwart

zu genießen, wird es uns nicht schwer fallen, die Dinge

zu erkennen, die uns jene unaussprechliche Segnung zu

rauben drohen.

Droben ist Ruh'.

Pilger nur sind wir hier,

Sehnsuchtsvoll eilen wir

Der Heimat zu.

Geht's auch auf rauher Bahn,

Geht es doch himmelan;

Darum getrost voran!

Droben ist Ruh'.

Trifft uns hier Spott und Hohn,

Herrlicher Gnadenlohn

Winket uns zn.

Kronen der Herrlichkeit,

Ewige Seligkeit

Liegen uns dort bereit;

Droben ist Ruh'.

Wenn auch die Feinde dräun,

Jesus will bei uns sein,

Decket uns zu.

Führt uns durch Sturmgebraus

Sicher ins Vaterhaus;

Bald geh'n wir ein und aus

In fel'ger Ruh'.

Bald, ja bald schaun wir Ihn,

Sinken anbetend hin,

Jauchzen Ihm zu.

Sehn Ihn von Angesicht

Jubeln im Himmelslicht;

Ewig nichts mehr gebricht!

Droben ist Ruh'.

Die Vorbilder des 3. Buches Mose.

(Fortsetzung.)

Das Dank- oder Friedensopfer.

Wir kommen jetzt zu dem Dank- oder Friedensopfer.

Dasselbe ist das Vorbild der Gemeinschaft der Heiligen

mit Gott, gemäß der Wirksamkeit des Opfers, sowie ihrer

Gemeinschaft mit dem Priester, der es für uns dargebracht

hat, undsunt der ganzen Kirche Gottes. Das Friedensopfer

kommt nach denjenigen Opfern, welche uns den

Herrn Jesum in Seiner Dahingabe in den Tod (Brandopfer),

und in Seiner Dahingabe und Gnade im Leben,

aber bis zum Tode und zur Feuerprobe (Speisopfer) darstellen

; wir sollen dadurch verstehen, daß die Gemeinschaft

mit Gott einzig und allein auf die vollkommne Annehmlichkeit

und den Wohlgeruch dieses Opfers gegründet ist,

und zwar nicht nur weil das Opfer nötig war, sondern

weil Gott Seine Wonne daran fand.

Ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, daß,

wenn ein Sünder Gott nahen wollte, das Sündopfer zuerst

kam; denn die Sünde muß getragen und hinweggethan

fein, soll anders der Sünder fähig sein vor Gott hinzutreten.

War er aber so gereinigt und rein, so nahte er

kraft des Wohlgeruchs der Opfergabe Gottes, d. h. kraft

der vollkommnen Annehmlichkeit Christi, welcher, keine

198

Sünde kennend, sich in einer Welt der Sünde Gott geweiht

hat, um Ihn vollkommen zu verherrlichen. Er gab

Sein Leben hin, damit auch alles das, was Gott im

Gericht war, verherrlicht werden möchte, und zwar durch

den Menschen in der Person Christi, und damit so eine

unendliche Gunst auf diejenigen käme, welche durch Ihn

Gott nahen würden. „Darum liebt mich der Vater, weil

ich mein Leben lasse, auf daß ich es wiedernehme."

(Joh. 10, 17.) Der Herr sagt hier nicht: „weil ich mein

Leben für die Versammlung lasse", — das wäre

eher das Sündopfer, — sondern Er redet von der Kostbarkeit

Seines Werkes und dem Seiner That innewohnenden

Wert; denn in dieser That hat der Mensch

(Christus) alle Vollkommenheit erfüllt. Die ganze Wahrheit

und Liebe Gottes, samt Seiner Gerechtigkeit wider

die Sünde, wurden in dem Menschen, in Jesu Christo,

vollkommen verherrlicht. „Jetzt ist der Sohn des Menschen

verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in Ihm." (Joh.

13, 31.) „Denn sintemal durch einen Menschen

der Tod kam, so auch durch einen Menschen die

Auferstehung der Toten." (1. Kor. 15, 21.) Das

Böse, welches Satan hervorgerufen hat, ist weit mehr

als wieder gut gemacht worden, und zwar auf demselben

Schauplatz, wo er das Verderben eingeführt hatte, und

durch dasselbe Werkzeug, durch welches er es einführtc:

durch den Menschen. Wenn Gott einerseits im Menschen

und durch den Menschen verunehrt worden ist, so ist Er

andrerseits in gewissem Sinne (in der Person Jesu) des

Menschen Schuldner geworden im Blick auf Seine höchste

und ausgezeichnetste Verherrlichung. Denn ist auch alles

in einer Hinsicht nur ein freies Geschenk Gottes an uns,

199

so ist es doch zugleich der Mensch gewordene Christus,

der das Werk vollbracht hat. Alles was Christus war,

und alles was Er gethan hat, war Gott unendlich angenehm;

und hier finden wir die Grundlage für unsre

Gemeinschaft, nicht aber im Sündopfer. Daher folgt auch

das Friedensopfer unmittelbar auf das Brandopfer und

SpeiSopfer, obwohl, wie schon bemerkt, das Sündopfer in

erster Linie steht, sobald es sich um die Anwendung des

Opfers auf den Menschen handelt.

Das erste, was beim Friedensopfer geschehen mußte,

war die Darstellung und das Schlachten des Opfers an

der Thür des Zeltes der Zusammenkunft, sowie das

Sprengen des Blutes; mit andern Worten das, was die

Grundlage jedes tierischen Opfers ausmacht. Der, welcher

das Opfer darbrachte, machte sich eins mit demselben, indem

er seine Hände auf den Kopf des Opfertieres legte. *)

Hernach wurde alles Fett, ganz besonders das der innern

Teile, auf dem Brandopferaltar vor Jehova verbrannt.

Das Blut und das Fett zu essen war verboten. Das Blut

war das Leben und gehörte notwendigerweise Gott; denn

das Leben kam in einer besondern Weise von Ihm. Das

Fett wird in der Schrift häufig als Sinnbild gebraucht.

So lesen wir z. B.: „Ihr Herz ist dick geworden wie

Fett." „Da ward Jeschurun fett und schlug aus." „Ihr

fettes Herz (Eig. ihr Fett) verschließen sie, mit ihrem

Munde reden sie stolz." (Ps. 119, 70; 5. Mose 32, 15;

Pf. 17, 10.) Das Fett ist das Sinnbild der Energie und

*) Eine Ausnahme von dieser Regel bildeten das Sündopfer

am großen Versöhnungstage und die rote Kuh. (3. Mose 16;

4. Mose 19.) Allein diese Ausnahmen bestätigen nur den großen

Grundsatz oder dienen zur Klarstellung einzelner Teile desselben.

200

Kraft des Willens, des Innern des menschlichen Herzens.

Wenn daher Christus Seiner gänzlichen Entäußerung und

Erniedrigung Ausdruck geben will, so sagt Er: „Alle

meine Gebeine könnte ich zählen", und in Ps. 102, i>:

„Ob der Stimme meines Seufzens klebt mein Gebein an

meinem Fleische."

In Jesu war indes alles, was an Energie und

Kraft in der Natur vorhanden war, Sein ganzes Inneres,

ein Brandopfer für Gott, das völlig als ein Opfer lieblichen

Geruchs Gott dargebracht wurde. Es war Gottes

Anteil an dem Opfer, „eine Speise des Feueropfers dem

Jehova". Jehova fand Seine Wonne daran; Seine Seele

ruhte darin, denn es war etwas sehr Gutes: gut inmitten

des Bösen, gut wegen der Energie der Hingabe an Ihn,

gut wegen deS vollkommnen Gehorsams. Wenn das Auge

Gottes, gleich der Taube Noahs, über diese Erde hinblickte,

konnte es auf nichts mit Wohlgefallen ruhen, bis Jesus

auf sie Herabstieg; auf Ihn konnte das Vaterauge mit

Wonne blicken. Welches auch die Ratschlüsse des Himmels

sein mochten, so blieb er doch, was den Ausdruck seines

Wohlgefallens betraf, so lange verschlossen, bis Jesus auf

die Erde kam, Er, der zweite Mensch, der Vollkommne, der

Heilige, der da kam, um sich Gott zu opfern, um Seinen

Willen zu thun. In demselben Augenblick, da Jesus sich

anschickte, Seinen öffentlichen Dienst anzutreten, öffnete

sich der Himmel; der Heilige Geist kam hernieder, um auf

Ihm, dem einzigen Ort, wo Er hienieden eine Ruhestätte

finden konnte, zu bleiben, und die Stimme des Vaters,

die jetzt nichts mehr zurückzuhalten vermochte, bezeugte vom

Himmel her: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem

ich Wohlgefallen gefunden habe." Sollte dieser Gegen

201

stand, welcher zu groß, zu kostbar war, als daß der

Himmel und die Liebe des Vaters hätten schweigen können,

irgend etwas von seiner Vortrefflichkeit und seinem Wohlgeruch

in einer Welt der Sünde einbüßen? Weit entfernt

davon! Im Gegenteil sollte gerade hier Seine ganze

Kostbarkeit erprobt und erwiesen werden.

Wenn Jesus durch das, was Er litt, den Gehorsam

lernte, so war es wahr von Ihm, daß jede Regung Seines

Herzens Gott geweiht war. Er wandelte in der

Gemeinschaft Seines Vaters und ehrte Ihn in allem, im

Leben und im Tode. Jehova fand an Ihm Seine beständige

Wonne, und am allermeisten dann, als Er Sein

Leben ließ; da offenbarte sich „die Speise des Opfers".

So viel über den großen Grundsatz des Friedensopfers;

aber dann wird uns der Anteil gezeigt, den unsre Seelen

an diesem allem haben. Das Fett wurde als ein Brandopfer

aus dem Altar verbrannt, zum Ausdruck dessen, daß

jene Widmung Christi für Gott völlig erprobt worden ist

und sich bis zum Aeußersten als vollkommen erwiesen hat.

— Aus dem „Gesetz" des Friedensopfers (Kap. 7) ersehen

wir, daß der Nest des Opfertieres gegessen werden

mußte. Die Brust war für Aaron und seine Söhne,

welche vorbildlich die ganze Kirche oder Versammlung Gottes

darstellten; der rechte Schenkel war für den Priester, der

die Sprengung des Blutes vollzog, ein besonderes Vorbild

von Christo als opferndem Priester droben; was von dem

Tiere übrigblieb, wurde von dem gegessen, der es darbrachte,

und von seinen Geladenen. Auf diese Weise bestand

eine Einsmachung und Gemeinschaft mit der Herrlichkeit

und dem Wohlgefallen, ja mit der Wonne Dessen,

welchem das Opfer dargebracht wurde; ferner mit dem

202

Priestertum und dem Altar, den Werkzeugen und Mitteln

zur Darbringung des Opfers.

Ein ähnliches Verfahren gab es auch unter den

Heiden; daher die Beweisführung des Apostels hinsichtlich

deS den Götzen Geopferten in 1. Kor. 10. Wenn er in

dieser Stelle vom Abendmahle des Herrn redet, dessen

Bedeutung mit dem uns beschäftigenden Vorbilde in inniger

Verbindung steht, so sagt er: „Sehet auf Israel nach

dem Fleische; sind nicht die, welche die Schlachtopfer essen,

in Gemeinschaft mit dem Altar?" (V. 18.) Dieser Grundsatz

war so wahr, daß in der Wüste, (wo dies ausführbar

war,) niemand das Fleisch irgend eines Tieres

essen durfte, es sei denn daß er es vorher als Gabe vor

das Zelt der Zusammenkunft gebracht hatte. Eine ähnliche,

zur Aufrechthaltung des Grundsatzes notwendige

Verordnung wurde im Lande Kanaan gegeben. Was uns

Christen betrifft, so sollten wir im Namen des Herrn Jesu

essen, indem wir unsre Opfer des Lobes, d. i. die Frucht

der Lippen, die Seinen Namen bekennen, darbringen und

auf diese Weise alles, woran wir teilhaben, wie auch uns

selbst Gott weihen, in Gemeinschaft mit dem Geber und

mit Demjenigen, der uns in dem Genuß des uns Gegebenen

erhält. Indes handelt es sich in unserm Kapitel

um ein Opfer im eigentlichen Sinne.

So ist denn die Darbringung Christi als Brandopfer

Gott höchst angenehm; Er findet Seine Wonne daran;

Seine Seele erfreut und erquickt sich an diesem duftenden

Wohlgeruch. Die Anbeter nun, welche gleichsam vor dem

Herrn, an Seinem Tische Platz nehmen, nahen sich auch

kraft dieses vollkommnen Opfers und nähren sich von

demselben; sie haben vollkommene Gemeinschaft mit Gott

203

an derselben Freude über das Opfer Jesu, ja au Jesu

selbst, der sich also geopfert hat; sie besitzen mit Gott

denselben Gegenstand der Freude, sie genießen eine gemeinsame

gesegnete Freude an dem herrlichen Erlösungswerke,

welches Jesus vollbracht hat. Gleichwie Eltern sich

gemeinschaftlich an ihren Kindern erfreuen, eine Freude,

die noch durch das gegenseitige Interesse an ihnen erhöht

wird, haben auch die Anbeter, welche mit dem Geiste

erfüllt und durch Christum erkauft sind, die nämlichen

Gefühle, wie der Vater, hinsichtlich der Kostbarkeit Christi.

Sie erfreuen sich mit Gott an der Vortrefflichkeit dieses

vollkommnen Opfers. Und sollte der Priester, der alles

dieses zuwege gebracht hat, allein ausgeschlossen sein von

dieser Freude? Nein; auch Er hat Seinen Teil daran.

Er, der das Opfer dargebracht hat, nimmt mit teil an

der Freude der Erlösung; und die ganze Versammlung

soll teil daran nehmen.

Jesus findet also als Priester Sein Wohlgefallen

an der Freude dieser Gemeinschaft, die Er selbst zwischen

Gott und Seinem Volke (den Anbetern) zuwege gebracht

hat und deren Gegenstand Er ist. Denn worin besteht

die Freude eines Erlösers, wenn nicht in der Freude, in der

Gemeinschaft und dem Glück seiner Erlösten? — Das

ist also der wahre Gottesdienst der Heiligen. Er besteht

darin, daß man sich gemeinsam in Gott freut, kraft der

Erlösung und der Dahingabe Jesu; daß man dieselben

Gefühle mit Gott teilt, indem man sich mit Ihm an der

Kostbarkeit des reinen, fleckenlosen Lammes erfreut, das

sich selbst aufgeopfert, das uns erkauft, versöhnt und in

diese Gemeinschaft eingeführt hat, und uns nun auch die

Zuversicht giebt, daß die Freude, die wir genießen, die

204

Freude Jesu selbst ist, des Urhebers und Mitteilers

derselben.

Diese Freude der Anbetung gehört notwendigerweise

der Gesamtheit der Erkauften an, als in den himmlischen

Oertern betrachtet, mögen sie uns nun schon vorangegangen

sein, oder noch hienieden im Leibe wallen. Denn Aaron

und seine Söhne mußten auch ihren Anteil haben; und

sie sind stets das Vorbild der Versammlung Gottes, als

ein Ganzes, ein Körper betrachtet, dessen Glieder allesamt

das Recht haben, in die himmlischen Oerter einzugehen

und Weihrauch darzubringen, da sie zu Priestern

Gottes gemacht sind. Denn die Stiftshütte mit allen

ihren Verordnungen war das Muster der himmlischen

Dinge, und diejenigen, welche die Kirche oder Versammlung

Gottes ausmachen, bilden auch die Gesamtheit, die Körperschaft

der himmlischen Priester Gottes. Jeder wahre

Gottesdienst kann deshalb nicht von der ganzen Körperschaft

der wahren Gläubigen getrennt werden. Ich kann

nicht in Wirklichkeit mit meinem Opfer der Hütte Gottes

nahen, ohne daselbst auch die Priester der Hütte zu finden.

Ohne den Hohenpriester ist alles eitel; denn was haben

wir ohne Jesum? Ihn aber kann ich nicht finden, als

nur in Verbindung mit Seinem Leibe, Seinem geoffenbarten

Volke. Gott hat überdies Seine Priester, und ich kann

nur auf dem von Ihm vorgeschriebenen Wege nahen, in

Verbindung mit und in Anerkennung von allen denen,

die der Hut Seines Hauses warten, d. i. der ganzen

Körperschaft derer, die in Christo geheiligt sind. Alles was

nicht mit diesem Geiste in Uebereinstimmung ist, steht im

Widerspruch mit der Verordnung Gottes und ist kein wahres,

der Einsetzung Gottes entsprechendes Friedensopfer.

205

Es bleibt uns noch übrig, auf einige andere Einzelheiten

einzugehen. Zunächst konnten nur diejenigen, welche rein

waren, an dem Opfermahle teilnehmen. Wir wissen, daß

heute die moralische Reinigung an die Stelle der cere-

moniellen getreten ist: „Ihr seid schon rein um des

Wortes willen, das ich zu euch geredet habe." (Joh.

15, 3.) „Gott machte keinen Unterschied zwischen uns

und ihnen, indem Er durch den Glauben ihre Herzen

reinigte." (Apstgsch. 15, 9.) Damals waren es die Israeliten,

welche teil hatten an den Friedensopfern; und

wenn ein Israelit unrein war durch irgend etwas, was

ihn nach dem Gesetz Gottes verunreinigte, so konnte er,

so lange seine Verunreinigung dauerte, nicht von dem

Opfer essen. So sind es heute auch nur die Christen,

(deren Herzen durch den Glauben gereinigt sind, indem

sie das Wort mit Freuden ausgenommen haben,) welche

wirklich vor Gott anbeten und an der Gemeinschaft der

Heiligen teilnehmen können; ist das Herz verunreinigt,

so ist die Gemeinschaft unterbrochen. Niemand, der offenbar

verunreinigt ist, hat das Recht, an dem Gottesdienst

und der Gemeinschaft der Versammlung Gottes teilzunehmen.

Der Leser wolle beachten, daß „kein Israelit

sein" oder „nicht rein sein" zwei ganz verschiedene Dinge

waren. Wer kein Israelit war, hatte niemals an den

Friedensopfern teil; nie durfte er sich dem Zelte der

Zusammenkunft nahen. „Nicht rein sein" bewies aber

nicht, daß jemand kein Israelit war (im Gegenteil, die

Zucht, von der wir reden, fand nur auf Israeliten ihre

Anwendung); aber die Verunreinigung machte ihn unfähig,

sich mit denen, die rein waren, an den Vorrechten der

Gemeinschaft zu beteiligen, weil die Friedensopfer, obwohl

206

die Anbeter teil daran hatten, dem Herrn gehörten.

(Kap. 7, 20. 21.) Wer unrein war, sah sich dieses

Anrechts beraubt. — Die wahren Anbeter nun müssen

„den Vater in Geist und Wahrheit anbeten; denn auch

der Vater sucht solche als Seine Anbeter." (Joh. 4, 23.)

Wenn aber der Geist es ist, der die Anbetung und die

Gemeinschaft bewirkt, so ist es klar, daß nur diejenigen

daran teilnehmen können, welche den Geist Christi besitzen

und Ihn nicht betrübt haben; denn durch die Befleckung

der Sünde wird die Gemeinschaft, die durch den Geist

ist, unmöglich gemacht.

Es gab allerdings in Verbindung mit dem Friedensopfer

eine Verordnung, die dem eben Gesagten zn widersprechen

scheint, in Wirklichkeit aber den Gegenstand nur

um so schärfer beleuchtet. Man mußte nämlich mit den

Gaben, welche dieses Opfer begleiteten, gesäuerte

Brote darbringeu. (Kap. 7, 13.) Denn wenn auch das,

was unrein ist oder vielmehr was als solches erkannt

werden kann, fern bleiben muß, so giebt es doch immer

eine Beimischung von Bösem in unsrer Anbetung. Der

Sauerteig ist da, denn der Mensch kann nicht ohne

Sauerteig sein. Es mag verhältnismäßig wenig vorhanden

sein, wie es der Fall sein wird, wenn der Geist nicht

betrübt ist; aber wo irgend der Mensch ist, da ist auch

Sauerteig. — Neben den gesäuerten Broten gab es auch

ungesäuerte Kuchen; denn Christus ist da, und der Geist

Christi ist in uns, in welchen sich Sauerteig vorfindet,

weil wir Menschen sind.

Mit jener gottesdienstlichen Handlung war dann noch

eine andere wichtige Anordnung verknüpft. War nämlich

das Friedensopfer ein Gelübde oder eine freiwillige Gabe,

207

so durfte das Fleisch des Opfertieres noch am zweiten

Tage, nachdem man das Fett, die Speise Jehovas, verbrannt

hatte, gegessen werden. Handelte es sich dagegen

um ein Dankopfer, so mußte das Fleisch an demselben

Tage gegessen werden, an welchem man das Opfer darbrachte:

„er soll nichts davon liegen lassen bis an den

Morgen". Hierdurch wurden die Reinheit der Anbeter

und die Darbringung des Fettes vor Gott enge mit einander

verbunden. So ist es denn auch unmöglich, wahre

geistliche Anbetung und wahre Gemeinschaft von der vollkommnen

Dahingabe Christi an Gott zu trennen. Sobald

wir diese aus dem Auge verlieren, sobald unsre

Anbetung sich von dem Opfer trennt, von der Wirksamkeit

desselben und von dem Bewußtsein, wie vollkommen wohlgefällig

Jesus vor dem Vater ist, wird er fleischlich; er

wird zu einer Form oder dient nur zur Befriedigung des

Fleisches. Wenn das Friedensopfer nicht in Verbindung

mit der Darbringung des Fettes gegessen wurde, so war

es ein bloß fleischliches Fest, oder eine bloße Form des

Gottesdienstes, welche nichts mit dem Gegenstände der

Wonne und des Wohlgefallens GotteS gemein hatte; eine

solche Handlung war nicht nur nicht wohlgefällig vor

Gott, sondern geradezu gottlos.

Wenn uns der Heilige Geist zu einer wahren geistlichen

Anbetung anleitet, so führt Er uns in die Gemeinschaft

mit Gott, in die Gegenwart Gottes ein; und dann

wird ganz naturgemäß der unendliche Wert, welchen das

Opfer Seines Sohnes für Gott hat, unserm Geiste gegenwärtig.

Wir nehmen teil an der Wertschätzung dieses

Opfers; sie bildet einen unzertrennlichen und unerläßlichen

Teil unsrer Gemeinschaft und unsers Gottes

208

dienstes. Wir können unmöglich in der Gegenwart und

Gemeinschaft Gottes sein, ohne dieses Opfer dort

zu finden. Es ist ja die Grundlage unsrer Annahme bei

Gott und unsrer Gemeinschaft mit Ihm. Verlieren wir

das aus dem Auge, so wird unser Gottesdienst fleischlich,

die Gebete werden zu einer bloßen Form, zu dem was

man zuweilen eine „Gebetsgabe" nennen hört; und was

könnte betrübender sein als das? Anstatt durch die Salbung

des Heiligen Geistes der Ausdruck der Gemeinschaft

zu sein und unsre Bedürfnisse und Wünsche kundzugeben,

bestehen die Gebete aus einer fließenden Aufzählung bekannter

Wahrheiten und Grundsätze. Das Singen der

Lieder wird zu einer bloßen Befriedigung für das Ohr;

man erfreut sich an der lieblichen Melodie und schwelgt

in den schönen Worten. Alles wird zu einer äußern

Form. Anstatt die Gemeinschaft im Geiste zu sein, ist

es das Fleisch in einer neuen Form; und ich brauche

kaum zu sagen, daß das durchaus böse ist. Einen solchen

Gottesdienst kann der Geist Gottes nicht anerkennen; er

ist nicht im Geist und in der Wahrheit, sondern wird zu

einer Sünde.

Es gab, wie schon angedeutet, einen Unterschied in

dem Werte der verschiedenen Arten des Friedensopfers:

war es ein Gelübde, so konnte es noch am zweiten Tage

gegessen werden; war es ein Dankopfer, nur am Tage

seiner Darbringung. Dies stellt uns im Vorbilde zwei

verschiedene Stufen geistlicher Kraft dar. Wenn unser

Gottesdienst das Ergebnis einer einfältigen und ungeheuchelten

Ergebenheit ist, so kann er länger andauern

und annehmlich sein, weil wir, mit dem Geiste erfüllt, in

wahrer Gemeinschaft dastehen; der Wohlgeruch unsers

209

Opfers bleibt auf diese Weise länger vor Gott erhalten,

welcher an der Freude Seines Volkes teilnimmt. Denn

die Kraft des Geistes erhält, in der Gemeinschaft, Seine

eigne Freude in den Seinigen vor Gott annehmlich. Ist

dagegen die Anbetung die natürliche Folge schon empfangener

Segnungen, so ist sie Gott wohl auch annehmlich,

(denn wir sind Ihm stets Dank schuldig,) aber sie

ist nicht die Frucht derselben Energie der Gemeinschaft.

Die Danksagung wird Gott ohne Zweifel in Seiner Gemeinschaft

dargebracht, aber mit der Danksagung hört

auch die Gemeinschaft auf.

Auch ist zu beachten, daß wir beim Gottesdienst im

Geiste anfangen und im Fleische vollenden können. Wenn

ich z. B. länger singe, als der Geist es bewirkt, was nur

zu häufig geschieht, so wird mein Singen, das im Anfang

eine wahre Herzensmelodie zur Ehre des Herrn war, in

angenehmen Gedanken und Empfindungen, in bloßer Musik,

d. h. also im Fleische endigen. Diesen Wechsel wird die

geistliche Seele, der einsichtsvolle Anbeter alsbald empfinden.

Durch einen solch fleischlichen Gottesdienst wird die Seele

immer geschwächt und gewöhnt sich gar schnell an einen

Formendienst und an geistliche Schwäche; und dann wird

sehr bald durch die Macht des Feindes das Böse inmitten

der Anbeter eindringen. Möge uns der Herr nahe bei

sich erhalten, damit wir in Seiner Gegenwart alles beurteilen;

denn außerhalb derselben sind wir zu jedem geistlichen

Urteil unfähig.

Der Ausdruck in Kap. 7, 20: „das für Jehova

ist", ist unsrer ernsten Beachtung wert. Der Gottesdienst,

das was bei demselben in unsern Herzen vorgeht, ist für

Gott; es gehört nicht uns, sondern dem Herrn. Der

210

Herr hat es zu unsrer Freude in unsre Herzen gelegt,

damit wir teil haben möchten an dem Opfer Christi, an

Seiner eignen Freude an Christo. Sobald wir den Gottesdienst

uns zueignen, entweihen wir ihn. Deshalb mußte

das von dem Opfertier Uebriggebliebene mit Feuer verbrannt

werden; und aus demselben Grunde durfte nichts

Unreines sich daran beteiligen. Eben deshalb war

es auch nötig, das Fleisch in Verbindung mit dem Verbrennen

des Fettes für Jehova zu essen, damit es wirklich

Christus in uns sei, und mithin eine wahre Gemeinschaft

mit Gott, die Darbringung Christi (von dem unsre

Seelen sich nähren) vor Gott.

Vergessen wir nie, daß unser ganzer Gottesdienst

Gott gehört, daß er der Ausdruck der Vortrefflichkeit

Christi in uns ist, und dementsprechend unsre Freude

vor Gott, durch einen und denselben Geist. Christus im

Vater, wir in Ihm und Er in uns, das ist die wunderbare

Kette der Vereinigung, welche ebensowohl in der

Gnade wie in der Herrlichkeit besteht. Unser Gottesdienst

ist der Ausdruck und Ausfluß dessen, was unsre Herzen

durch Christum erfüllt und erfreut. So sagt denn auch

der Herr, wenn Er in dieser Hinsicht in unsrer Mitte

Seinen Dienst verrichtet: „Verkündigen will ich deinen

Namen meinen Brüdern," — „inmitten der Versammlung

will ich dich loben." (Ps. 22, 22; Hebr. 2, 12.) Möchten

unsre Stimmen und unsre Herzen hierin nur immer

unserm himmlischen Führer folgen! Wahrlich, Er wird

unsre Lobgesänge richtig anleiten und so, wie es dem

Vater wohlgefällt. Und wie wird das Ohr des Vaters

aufmerken, wenn Er diese für Ihn so kostbare Stimme

uns leiten hört! Welch eine vollkommene und tiefe Er

211

kenntnis dessen, was vor Gott wohlannehmlich ist, muß

Derjenige haben, welcher in dem Erlösungswerke alles

nach den Gedanken Gottes ausgeführt hat! Der Sinn

Christi ist der Ausdruck von alledem, was dem Vater

angenehm ist; und Er unterweist uns in diesen Dingen,

damit wir, obwohl schwach und unvollkommen, ebenso

wohlgefällig seien wie Er. „Wir haben Christi Sinn."

„Die Frucht der Lippen" (Hebr. 13, 15; Hof. 14, 2)

ist der Ausdruck desselben Geistes, durch welchen wir

„unsre Leiber als lebendiges, heiliges und Gott wohlge-,

fälliges Schlachtopfer darstellen", indem wir prüfen, was

„der gute, wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes

ist". Das ist unser Gottesdienst, das unser Dienst;

denn unser Dienst sollte in gewisser Hinsicht unser Gottesdienst

sein.

Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß unter

den Anweisungen bezüglich des Friedensopfers sich auch

das Gebot findet, weder von dem Fett noch von dem

Blut zu essen: dieses Gebot hat hier offenbar deshalb

eine Stelle gefunden, weil von den Friedensopfern ein

großer Teil durch die Anbeter gegessen wurde. Die Bedeutung

desselben erhellt aus dem bereits Gesagten zur

Genüge: das Leben und die inneren Kräfte des Herzens

gehörten ganz und gar Gott. Das Leben gehörte Gott

und mußte Ihm geweiht werden. Einem anderen Geschöpf das

Leben zu nehmen, war ein Hochverrat, begangen an den

Rechten Gottes. Gerade so war es mit dem Fett; indem

dasselbe nicht gewöhnliche Funktionen (wie die Bewegungen

eines Gliedes oder dergleichen, sondern die Energie deS

ganzen innern Menschen) kennzeichnete, gehörte es ausschließlich

Gott. Christus allein hat sich so Gott geweiht,

212

weil Er allein Gott alles das geopfert hat, was Ihm

gebührte; und deshalb stellt auch das Verbrennen des

Fettes bei diesen und andern Opfern Seine Selbstaufopferung

als einen lieblichen Geruch für Gott dar. Aber

es ist nicht weniger wahr, daß alles Gott gehörte und

noch gehört; der Mensch konnte es sich nicht zu seinem

Gebrauch aneignen. Nur in dem Falle, wo ein Tier

von selbst starb oder zerrissen wurde, konnte man sich des

Fettes bedienen. So oft aber ein Mensch einem Tiere

mit Absicht das Leben nahm, mußte er die Rechte Gottes

anerkennen, und seinen Willen dem Willen Gottes unterordnen

als Dem, der allein Ansprüche an dieses Leben

besaß.

(Schluß folgt.)

„Alles an Ihm ist lieblich."

(Hohel. 5, 10—16.)

Nachdem die Braut den Töchtern Jerusalems zunächst

in allgemeiner Weise betreffs ihres Geliebten geantwortet

hat, beginnt sie jetzt Ihn genauer zu beschreiben. Geleitet

durch den Geist Gottes, ist es ihre Freude, bei den

mannigfaltigen Vortrefflichkeiten und Herrlichkeiten Seiner

Person zu verweilen, und sie thut dies unter dem Bilde

menschlicher Eigenschaften und Züge. Laßt uns bei der

Betrachtung derselben uns hüten, ihre geheimnisvolle Bedeutung

über die Grenzen der Schrift hinaus erforschen

zu wollen. Der Ort, auf welchem wir stehen, ist heiliges

Land. (Vergl. 2. Mose 3, 5.) Obgleich der Herr einst

Seinem Knechte Mose nicht verbot, dem brennenden Dornbusch

zu nahen, sagte Er ihm doch deutlich, daß es nur

213

mit unbeschuhten Füßen geschehen dürfe. Möchte deshalb

unser Auge gesalbt und unser Herz in einer anbetenden

Stellung sein, wenn wir über den herrlichen König Zions

nachsinnen!

Im 4. Kapitel zählt der Bräutigam, bei der Beschreibung

der Schönheiten der Braut, sieben Züge auf.

Wenn die Braut hier ein Bild von ihrem Geliebten entwirft,

kommt sie bis zu zehn. Die bedeutungsvollen

Zahlen drei und sieben finden sich so in Ihm vereinigt.

Werfen wir jetzt einen kurzen Blick auf jeden

einzelnen derselben.

„Sein Haupt ist gediegenes, feines Gold." Durch

dieses gediegene, feine Gold mag zunächst eine erhabene

Majestät angedeutet sein, wie in Dan. 2, 38: „Du

bist das Haupt von Gold". Dann aber wird das Gold

in der Schrift oft als das Bild göttlicher Gerechtigkeit

angewandt, in Verbindung mit der Person Jesu,

wie z. B. in Jes. 11, 5 und Offbg. 1, 13. Auch lesen

wir von diesem selben Jesus: „Siehe, ein König wird

regieren in Gerechtigkeit; und die Fürsten, sie werden

nach Recht herrschen." (Jes. 32, 1.)

„Seine Locken sind herabwallend (oder gewellt),

schwarz wie der Rabe." Die wallenden schwarzen Locken

des Bräutigams stehen hier offenbar im Gegensatz zu dem

langen schönen Haar der Braut, das Er mit einer Herde

Ziegen vergleicht, die an den Abhängen des Gebirges

Gilead lagern. Während das lange Haar des Weibes,

obwohl ihr zur Zierde und zum Schmuck gegeben, ein

Zeichen ihrer Schwachheit und Unterwürfigkeit ist, deutet

die Fülle rabenschwarzer Locken bei dem Bräutigam jedenfalls

auf jugendliche Kraft und Frische hin. Von Ephraim

214

heißt es in Hos. 7, 9: „Fremde haben seine Kraft verzehrt,

und er weiß es nicht; auch ist graues Haar auf

sein Haupt gesprengt, und er weiß es nicht." Aber an

dem Herrn und Könige Ephraims werden nimmermehr

Zeichen der abnehmenden Kraft gesehen werden. Er ist

derselbe gestern und heute und in Ewigkeit. — Manche

denken auch, daß „das gediegene, feine Gold" auf die

Gottheit Christi hindeute, während sie in den „wallenden

Locken" eine Anspielung auf Seine Menschheit erblicken.

Wie dem auch sei, jedenfalls ist dem Herzen des Gläubigen

keine Wahrheit köstlicher als die Vereinigung der vollkommenen

Menschheit unsers hochgelobten Heilandes

mit Seiner ewigen Gottheit. Er ist „der Christus, welcher

über alles ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit." (Vergl.

Röm. 9, 5 und Kol. 1, 15 — 19.)

„Seine Augen sind wie Tauben an Wasserbächen,

badend in Milch, eingefaßte Steine." (V. 12.) In

Offbg. 5, 6 sagt Johannes von dem Lamme, das er inmitten

des Thrones sieht, daß es „sieben Augen habe,

welche die sieben Geister Gottes sind, die gesandt sind

über die ganze Erde". Die Zahl sieben bedeutet bekanntlich

göttliche Fülle und Vollkommenheit, und die

sieben Augen bezeichnen hier eine vollkommene, göttliche

Einsicht. „Denn Jehovas Augen durchlaufen die ganze

Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren Herz

ungeteilt auf Ihn gerichtet ist." (2. Chron. 16, 9.) Der

Gläubige hat nichts zu fürchten von dem durchdringenden

Blick dieses Auges von siebenfältigem Glanze; für ihn

ist es sanft, freundlich und lieblich wie die Augen von

„Tauben an Wasserbächen". — Wie schön ist es auch,

die Richtung zu sehen, in welcher dieses Auge blickt!

215

„Mein Auge auf dich richtend will ich dir raten."

(Ps. 32, 8.) Was ist so ausdrucksvoll wie das Auge!

und welch ein Auge ist das Auge des Geliebten für die

Seinigen! Sanft wie Taubenaugen, hell und klar wie

in Wasser gebadet, weiß wie Milch, glänzend wie Edelsteine!

„Seine Wangen sind wie Beete von Würzkraut, Anhöhen

von duftenden Pflanzen." (V. 13.) Blühende Schönheit,

Wohlgeruch und Lieblichkeit werden durch diese Vergleiche

vorgestellt. Welch ein Unterschied zwischen den vergangenen

Tagen demütiger Niedrigkeit, in welcher Jesus hienieden

wandelte, und den kommenden Tagen wunderbarer Herrlichkeit!

Die Tochter Zion hat in ihrer Blindheit Ihn

einst verachtet und verworfen, gerade weil Er in solch

niedriger Gestalt in ihrer Mitte erschien und sich dem

Willen des Menschen unterwarf, welcher Feindschaft ist

gegen Gott. Ach! sie sahen Ihn an, und da war kein

Ansehen, daß sie Seiner begehrt hätten. Sein Aussehen

war entstellt, mehr als irgend eines Mannes, und Seine

Gestalt, mehr als der Menschenkinder. Er selbst sagt

durch den Mund des Propheten Jesaja: „Ich bot meinen

Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden,

mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und

Speichel." (Vergl. Jes. 50, 6; 52, 14; 53, 2. 3.) Und

im Propheten Micha lesen wir: „Mit dem Stabe schlagen

sie den Richter Israels auf den Backen." (Kap. 4, 14.)

Aber wegen all dieser Feindschaft und Grausamkeit wird

die Tochter Zion dereinst herzlich betrübt sein. Die Decke

wird dann von ihrem Herzen weggenommen werden. Wie

sie einst von dem Angesicht Moses verschwand, wenn er

sich der Stiftshütte zuwandte, so wird sie von den Herzen

der Israeliten verschwinden, wenn sie Den anschauen werden,

216

in welchen sie gestochen haben. Und anstatt zu sagen: „Er

hatte kein Ansehen, daß wir Seiner begehrt hätten",

wird es von Ihm heißen: „Alles an Ihm ist lieblich".

Die einst geschlagenen, verspieenen Wangen werden dann

dem Herzen des Volkes wie „Beete von Würzkraut",

wie „Anhöhen von duftenden Pflanzen" erscheinen. O

was wird die Gnade, die anbetungswürdige Gnade Gottes

bewirken! Welche Triumphe wird Seine erlösende, vergebende

Liebe feiern! — O Herr, beschleunige diesen herrlichen,

glückseligen Tag tausendjähriger Freude!

„Seine Lippen (sind) Lilien, träufelnd von fließender

Myrrhe." Wir werden bei diesem Vergleich wohl an die

wunderschöne rote Lilie des Ostens zu denken haben; allein

der Gläubige kennt auch die Wahrheit jenes gesegneten

Wortes: „Holdseligkeit ist ausgegossen über deine Lippen".

(Ps. 45, 2.) Sie träufeln von fließender, süßduftender

Myrrhe. Die Lippen Jesu, und sie allein, können der

beunruhigten Seele Frieden zusprechen. Wahrer Friede

wird nicht eher gekannt und genossen, bis man Ihm, und

Ihm allein, Sein Ohr geschenkt hat. Der Herr selbst

sagt durch den Propheten: „Der Herr, Jehova, hat mir

eine Zunge der Belehrten gegeben, damit ich wisse, den

Müden durch ein Wort aufzurichten"; und: „Neiget euer

Ohr und kommet zu mir; höret, und eure Seele wird

leben." (Jes. 50, 4; 55, 3.)

„Seine Hände (sind) goldene Rollen, mit Topasen

besetzt." (V. 14.) Bei diesem Bilde richten sich die Gedanken

unwillkürlich auf die Werke dieser mächtigen, herrlichen

Hände, auf ihr Wirken in der Schöpfung, in der

Vorsehung und in der Erlösung. Das Gold und die

Edelsteine deuten wohl auf die Schönheit, Gerechtigkeit,

217

Dauerhaftigkeit und Vollkommenheit dieser Werke hin.

„Die Thaten Seiner Hände sind Wahrheit und Recht,

zuverlässig sind alle Seine Vorschriften, festgestellt auf

immer, auf ewig, ausgeführt in Wahrheit und Geradheit."

(Ps. 111, 7. 8.) Und der Glaube kann jetzt von diesen

mächtigen Händen, in der Sprache der geliebten Su-

lammith, sagen: „Seine Linke ist unter meinem Haupte,

und Seine Rechte umfaßt mich." Glückselig, dreimal

glückselig alle, die in diesen ewigen Armen der Liebe ruhen!

Ihre Wohnung ist der Gott der Urzeit, und unter ihnen

sind ewige Arme. (5. Mose 33, 27.) „Die Liebe hört

nimmer auf."

„Sein Leib (ist) ein Kunstwerk von Elfenbein, bedeckt

mit Saphiren." Der Leib umschließt die inneren

Teile des Menschen, die Eingeweide, das Herz rc., so

daß wir hier vielleicht an die tiefen und zärtlichen Gefühle

des Herrn für die Seinigen denken dürfen. „Wie Wachs

ist geworden mein Herz, es ist zerschmolzen inmitten

meiner Eingeweide." (Ps. 22, 14.) Die blaue Farbe des

Saphirs erweckt den Gedanken an den himmlischen Charakter

Seiner Gefühle. „Und sie sahen den Gott Israels;

und unter Seinen Füßen war es wie ein Werk von

durchsichtigem Saphir und wie der Himmel selbst an

Klarheit." (2. Mose 24, 10.) Rein und weiß wie das

Elfenbein, hoch und herrlich wie der Himmel, so ist das

Mitgefühl, das Erbarmen und die Liebe unsers hochgelobten

Herrn. Darum ermahnt der Apostel die Philipper:

„Wenn es nun irgend eine Ermunterung giebt in Christo,

wenn irgend einen Trost der Liebe, wenn irgend eine

Gemeinschaft des Geistes, wenn irgend innerliche Gefühle

und Erbarmungen, so erfüllet meine Freude, daß ihr

218

einerlei gesinnt seid, dieselbe Liebe habend, einmütig,

eines Sinnes." (Phil. 2, 1. 2.)

„Seine Schenkel (sind) Säulen von weißem Marmor,

gegründet auf Untersätze von feinem Golde." (V. 15.)

Unter diesem Bilde wird in der Schrift gewöhnlich der

Wandel dargestellt. „Alle Pfade Jehovas sind Güte

und Wahrheit." (Ps. 25, 10.) In den „Säulen von

weißem Marmor" erblicken wir wohl die Stärke, die Beständigkeit

und Dauerhaftigkeit aller Regierungswege des

Herrn, während die „Untersätze von feinem Golde" andeuten,

daß göttliche Gerechtigkeit alle diese Wege

charakterisiert. Göttliche Gerechtigkeit, allmächtige Kraft

und Pfade der „Güte und Wahrheit" sind die Kennzeichen

des großen Königs von Zion. „Dein Thron, o Gott, ist

in die Zeitalter der Zeitalter, und ein Scepter der Aufrichtigkeit

ist das Scepter Deines Reiches. Du hast Gerechtigkeit

geliebt und Gesetzlosigkeit gehaßt; darum hat

Gott, Dein Gott, Dich gesalbt mit Oel des Frohlockens

über Deine Genossen." (Hebr. 1, 8. 9.) „Und in den

Tagen dieser Könige wird der Gott des Himmels ein

Königreich aufrichten, welches ewiglich nicht zerstört, und

dessen Herrschaft keinem andern Volke überlassen werden

wird; es wird alle jene Königreiche zermalmen und vernichten,

selbst aber ewiglich bestehen." (Dan. 2, 44.)

„Seine Gestalt (ist) wie der Libanon, auserlesen wie

die Gedern." Nachdem die Braut ihren Geliebten von

Kopf bis zu Fuß beschrieben hat, redet sie jetzt von Seiner

ganzen Erscheinung, von der Gesamtheit aller jener herrlichen

Züge; und diese Gestalt ist wie der Libanon, auserlesen

wie die Cedern. Dieses Bild schildert offenbar

Seine Majestät als der Messias. Die gewaltigen,

219

himmelanstrebenden Cedern des Libanon sind in der Schrift

das ständige Symbol von Erhabenheit, Macht und Größe.

Glänzend wie feines, gediegenes Gold, geschmückt mit jeder

Schönheit und Tugend, duftend wie die schönsten Blumen

und reichsten Gewürze, herrlich und majestätisch gleich den

Cedern des Libanon — so ist die Person ihres Geliebten.

„Sein Gaumen ist lauter Süßigkeit." (V. 16.) Da

die Lippen bereits genannt sind, so muß durch diesen

Vergleich noch auf etwas anderes als die bloßen Worte

des Herrn hingedeutet werden. Vielleicht bezieht er sich

mehr auf die Ausdrücke der Gnade und Freundlichkeit

Jesu, auf Seine vertrauten Mitteilungen, auf die innigen

Kundgebungen Seiner Liebe und Freundschaft. Die Braut

hat schon oft Seine Gnade geschmeckt; deshalb kann sie

aus Erfahrung sagen: „Sein Gaumen ist lauter Süßigkeit."

Die Güte und Freundlichkeit, mit welcher Er ihr

begegnet, selbst wenn sie gefehlt hat, ist genug, um in

ihrem Herzen einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck von

der Süßigkeit Seiner Gnade zurückzulassen. „Wenn ihr

anders", sagt der Apostel, „geschmeckt habt, daß der Herr

gütig ist". — Andere Ausleger denken, daß der süße,

liebliche Klang der Stimme des Herrn hier gemeint sei.

Die Braut schließt die Beschreibung ihres Geliebten

mit den Worten: „Alles an Ihm ist lieblich. — Das

ist mein Geliebter, und das mein Freund, ihr Töchter

Jerusalems l" Die Worte fehlen ihr. Nicht daß sie

müde wäre, von Ihm zu reden; aber sie ist unfähig, alles

zu sagen, was Er ist. Darum endigt sie mit den alles

umfassenden Worten: „Alles an Ihm ist lieblich." Es

ist, als wenn sie sagen wollte: Alle nur denkbare Lieblichkeit

ist in Ihm; alles was die Seele wünschen und

220

begehren kann, findet sich in Ihm; alle Schönheit gehört

Ihm an. In Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit

samt allen Tugenden der Menschheit. Er ist lieblich in

Seiner Erniedrigung und lieblich in Seiner Erhabenheit;

ja, alles an Ihm ist lieblich.

Und ist nicht der letzte Ton dieses herrlichen Liedes

der schönste und vollste von allen? „Das ist mein

Geliebter, und das mein Freund!" Manche mögen

sagen: Welch eine Beschreibung ist dies! Aber du,

meine Seele, sage: Welch ein Schluß ist dies! „Das

ist mein Geliebter, mein Freund." Er, Er

selbst ist mein! Die Braut verweilt mit tiefer Freude

bei Seinen Eigenschaften; aber ihre Wonne erreicht den

Gipfelpunkt, wenn sie sagen kann: „Er, in dem alle diese

herrlichen Eigenschaften sich finden, ist mein! Deshalb

sind auch alle Seine Eigenschaften mein." — Throne,

Kronen, Scepter, Königreiche, Herrlichkeit und Segnung

— alles ist Sein, und des Gläubigen in Ihm. Doch so

herrlich diese Dinge auch sein mögen, sie sind doch nicht

Er. WaS wären sie alle wert ohne die Person des Geliebten?

„Was wär' der Himmel ohne Dich und alle

Herrlichkeit?" Ohne Ihn wären alle jene Dinge, so

herrlich sie sind, für die Liebe des erneuerten Herzens ein

Hohn; gleich der Braut, deren Herz öde und leer sein

würde, gebrochen auf der Schwelle ihrer neuen Heimat,

wenn sie sähe, daß der, auf dessen Liebe sie rechnete, sie

verließe und einer Andern nachginge. Das neue, hübsch

eingerichtete Haus bliebe ja zurück; aber ach! das Herz

des Geliebten, gerade das, wonach sie sich sehnte, ist

anderswo. Der Anblick der Räume, in welchen sie mit

dem Manne ihrer Wahl so glücklich zu sein hoffte, er

221

weckt nichts als Gefühle der bittersten Enttäuschung

in ihr. Alles erinnert sie nur an ihr Elend und ihr

Verlassensein. Ihr Glück ist dahin, für immer dahin!

So ist es nicht selten mit der Liebe auf dieser armen

Erde. Wie manches liebende und vertrauende Herz ist so

gebrochen und unglücklich gemacht worden durch die Herzlosigkeit

dessen, dem es vertraute! Aber so ist nicht die

Liebe des Himmels; Gott sei ewig Lob und Dank!

Glückselig alle, die ihr Vertrauen auf Jesum setzen! Es

ist schon der Himmel auf Erden, Ihn zu kennen, Seine

Liebe, Seine unergründliche, unveränderliche Liebe zu

kennen und zu genießen. Diese Liebe besteht nicht in

Worten allein, sondern in That und in Wahrheit; nicht

in einem förmlichen, kühlen Gelöbnis, von dem das Herz

nichts weiß, sondern in dem ewigen Bunde Seiner Gnade,

besiegelt durch Sein eignes kostbares Blut. — Und was

wird es erst sein, meine Seele, wenn du diese Liebe in

ihrer Fülle erkennen wirst, wenn das Stückwerk aufhören

und das Vollkommene gekommen sein wird! wenn du

Ihn, deinen Geliebten, sehen wirst, wie Er ist!

Keine Thränen mehr.

„Ich werde über Jerusalem frohlocken und über

mein Volk mich freuen; und die Stimme des

Weinens und die Stimme des Wehgefchreies wird

nicht mehr darin gehört werden." (Jes. 65, 1!l.)

Wie Viele betrübte, leidende Kinder hat unser himmlischer

Vater! Wie viele Stimmen des Weinens und der

Wehklage dringen Tag für Tag in Sein Ohr, während

die Seinen ihren oft so dornenvollen Pfad dem Himmel

222

Zu wandeln! — Wir hören nicht gern unsre Kinder

weinen und klagen. Wir wischen gern die Thränen von

ihren Augen. Welch eine Freude wird es darum für unsern

Vater im Himmel sein, wenn diese Zeit des Leidens für

die Seinen zu einem Abschluß gebracht werden kann, wenn

„die Wolken nicht mehr wiederkehren nach dem Regen",

wenn keine Thräne mehr blinken wird in den Augen der

erlösten Schar, die um den Thron des Lammes versammelt

stehen wird! „Ewige Freude wird über ihrem Haupte

sein; sie werden Wonne und Freude erlangen, und Kummer

und Seufzen werden entfliehen". (Jes. 35, 10.)

Unser hochgelobter Herr, dessen Herz einst von Mitgefühl

bewegt war, als Er an Rains Thoren der ihres

Sohnes beraubten Witwe zurief: „Weine nicht!" wird

dann jede Ursache des Schmerzes und des Kummers von

den Seinigen fern halten. Dieselbe Hand, welche damals

die Tragbahre anrührte, wird alle Thränen von ihren

Augen abwischen. Das wird der Tag der Freude Seines

Herzens sein; er wird aufhören „zu wirken", und die

ewige Sabbathsruhe wird beginnen.

Du Kind Gottes! ist dein Weg steil, die Nacht

finster, dein Kreuz schwer? O ermatte nicht; verliere den

Mut nicht, als begegne dir etwas Außergewöhnliches,

„etwas Fremdes"! (1. Petr. 4, 12.) Da sind viele mit

dir auf dem Wege, kämpfend mit Sturm und Ungewitter,

obwohl es dir scheinen mag, als wärest du ganz allein.

Der Weg, auf dem du wandelst, ist der königliche Weg,

der von Zions Pilgrimen begangen wird. Es ist derselbe

Weg, auf welchem einst auch unser geliebter Herr ging

und Sein Kreuz trug in einer dunkleren Stunde, als sie

dir jemals begegnen wird. Sei getrost! Harre aus; der

223

Morgen naht! „Am Abend kehrt Weinen ein, und am

Morgen ist Jubel da." (Ps. 30, 5.)

Ein andrer Schreiber sagt: „Jede Prüfung, die Gott

uns schickt, ist ein Beweis Seines Vertrauens auf uns."

Sollten wir nns nicht eines solchen Vertrauens würdig

erweisen? Sollten wir nicht gutes Mutes sein inmitten

aller Glaubensproben? Es ist eine Ehre, zu der edlen

Schar derer zu gehören, die das Vertrauen Gottes besitzen

— zu der himmlischen Familie der Streiter Gottes,

zu der Wolke von Zeugen. „Auf Dich vertrauten unsre

Väter; sie vertrauten, und Du errettetest sie. Zu Dir

schrieen sie und wurden errettet; sie vertrauten auf Dich

und wurden nicht beschämt." (Ps. 22, 4. 5.) Durch ein

solches Vertrauen wird ein liebliches Band zwischen der

Seele und dem Herrn gebildet. „Jehova ist gütig, Er

ist eine Feste am Tage der Drangsal; und Er kennt

die, welche auf Ihn vertrauen." (Nahum 1, 7.)

Wir sind nicht berufen, um Prüfungen zu bitten;

aber ebenso wenig sollten wir bitten, von ihnen befreit

zu werden. Was wir erflehen sollten, ist, daß uns Gnade

geschenkt werde, um in Uebereinstimmung mit Gottes

Willen zu wandeln, Ihm unterworfen zu sein und Ihn

zu verherrlichen, sei es daß Er gebe, sei eS daß

Er nehme. Wir können dies nicht in Leichtfertigkeit

thun. Es wird uns stets ernste Herzensübungen kosten,

und nicht selten wird tiefe Bestürzung in unsrer Seele

sein. Denn diese göttlichen Heimsuchungen sind gerade

darauf berechnet, unsre Herzen zu treffen und uns unserm

erhabenen Vorbilde gleichförmiger zu machen.

Von den Thränen unsrer Kinder können wir jedoch

noch etwas anderes lernen. Wir wünschen, daß unsre Lieblinge

224

Zu uns kommen und uns ihr Leid klagen. Eine Mutter

würde sich sicherlich sehr enttäuscht fühlen, wenn ihr Kind

sein Herz an einer anderen Brust ausschüttete als an der

ihrigen. So ist auch der wahre Ruheort für ein blutendes

Herz an der Brust Jesu, an dem Herzen, das einst so

unendlich für uns gelitten hat, das mit uns fühlt, wie

kein anderes Herz fühlen kann, das einst durch den Hohn

und die Feindschaft der Menschen gebrochen worden ist.

Durch alle Seine Bemühungen mit uns, durch den scharfen

Nord- wie durch den sanften Südwind, will Er ja nur

unsre Herzen dem Seinigen näher bringen.

In der Schrift finden wir eine Maria, die allezeit

zu Jesu Füßen anzutreffen ist: zu Jesu Füßen, um zu

lernen (Luk. 10, 39); zu Jesu Füßen, um getröstet zu

werden (Joh. 11, 32); zu Jesu Füßen, um zu dienen.

(Joh. 12, 3.) Maria hatte „das gute Teil erwählt",

sie hatte die geheime Quelle aller Kostbarkeit entdeckt. In

Betrübnis, Schmerz und Trauer, aber auch in Freude,

Genuß und Seligkeit war Jesus ihr alles; Er gab ihrem

Herzen in allem volle Befriedigung.

Ist unser Auge auf Ihn gerichtet, unser Herz mit

Ihm verbunden, so wird uns keine Mühe zu groß, keine

Prüfung zu schwer, kein Pfad zu steil sein. Mag auch

das Herz bluten und das Auge thränen, wir sind getrosten

Mutes; wir lachen unter Thränen. Ja, obwohl mancher

Seufzer unsrer Brust entsteigen wird, setzen wir doch

unsern Weg mit Freuden fort, bis wir den seligen Ort

unsrer Bestimmung erreichen, das himmlische Jerusalem,

wo der Tod nicht mehr sein wird, noch Trauer noch Geschrei,

und wo wir Ihn von Angesicht zu Angesicht sehen

werden, der durch Seine Leiden und Seinen Tod uns

Leben und Glückseligkeit erworben hat!

Harr' aus, du müder Pilger I Harr' aus! die Wüstenreise

Bald ist das Ziel erreicht; Kürzt täglich, stündlich ab;

Des ew'gen Morgens Röte Auf sel'gen Friedensauen

Sich schon am Himmel zeigt. Ruht bald der Wanderstab.

Die Vorbilder des 3. Buches Mose.

(Schluß.)

Das Sünd- und Schuldopfer.

Die Sünd- und Schuldopfer waren, wie bereits bemerkt,

keine Opfer „lieblichen Geruchs". Ihrem Grund-

fatz nach sind sie einander ähnlich, in ihrem Charakter

und ihren Einzelheiten aber von einander verschieden. Wir

werden von diesem Unterschiede noch reden. Zunächst jedoch

ist ein sehr wichtiger Grundsatz zu beachten. In den

Opfern, die wir bisher betrachtet haben, den Opfern

lieblichen Geruchs, sahen wir den Opfernden einsgemacht

mit dem Opfer; diese Einsmachung fand ihren Ausdruck

in dem Auflegen der Hände des Anbeters auf den Kopf

des OpfertiereS. Der Opfernde — sei es nun Christus

selbst, oder ein Mensch, der durch den Geist Christi geleitet

und so mit Ihm vor Gott einsgemacht wurde — kam

freiwillig und fand sich auf diese Weise, als Anbeter, mit

der Annehmlichkeit seines Opfers, das Gott vollkommen

angenehm war, einsgemacht.

Bei dem Sündopfer begegnen wir zwar auch demselben

Grundsatz der Einsmachung mit dem Opfer vermittelst

des Händeauflegens; allein der Opfernde nahte

sich nicht als Anbeter, sondern als Sünder; nicht

als rein, um sich der Gemeinschaft mit Gott zu erfreuen,

sondern als schuldig und befleckt. Und statt daß der

Opfernde mit der Annehmlichkeit des vor Gott wohlgefälligen

Opfers einsgemacht worden wäre, (obgleich das

226

nachher auch wahr wurde,) wurde das Opfertier mit seiner

Sünde und Befleckung einsgemacht; es wurde an seiner

Statt zur Sünde gemacht und dementsprechend behandelt.

Dies war voll und ganz der Fall, wenn es sich einfach

um ein Sündopfer handelte. Ich habe oben hinzugefügt:

„obgleich das nachher auch wahr wurde", weil bei mehreren

Sündopfern ein gewisser Teil des Opferdienstes sie mit der

Annahme Christi, des vor Gott stets Wohlgefälligen, eins-

machte — eine Annahme, welche in Ihm, der in Seiner

Person den Wert und die Kraft aller Opfer vereinigte,

nie völlig aus dem Auge verloren werden konnte.

Die Unterscheidung zwischen der Einsmachung deS

Opfers mit der Sünde des Schuldigen und der Einsmachung

des Anbeters mit dem vor Gott angenehmen

Opfer läßt sehr klar den Unterschied zwischen den Opfern

überhaupt hervortreten und zeigt uns auch die beiden

Seiten des Werkes Christi.

Ich komme jetzt zu den Einzelheiten. Es gab vier

gewöhnliche Klassen von Sünd- und Schuldopfern, und

außerdem zwei äußerst wichtige besondere Opfer, von denen

wir später reden werden. Die erste Klasse umfaßte die

Sünden, welche das natürliche Gewissen verletzten (Kap. 4);

die zweite (bis zum 13. Verse des 5. Kapitels) diejenigen

Dinge, welche infolge der Satzungen Jehovas zur Sünde

wurden, wie z. B. Verunreinigungen, durch welche ein

Anbeter unfähig wurde, Gott zu nahen, und andere Dinge.

Diese Klasse hatte einen gemischten Charakter; es wird

gesprochen von Sünd- und Schuld opfern. Die dritte

Klasse (vom 14.—19. Verse des 5. Kapitels) begriff die

Vergehen in sich, welche an den dem Herrn geheiligten

Dingen begangen wurden; die vierte endlich (Kap. 5,

227

21—26) Vergehungen gegen den Nächsten durch Vertrauensbruch

und dergleichen. — Den beiden andern bemerkenswerten

Beispielen von einem Sündopfer begegnen

wir am großen Versöhnungstage (3. Mose 16) und in

dem Opfer der roten Kuh (4. Mose 19); sie erfordern

eine besondere Betrachtung.

Die das Opfer begleitenden Umstände waren ganz

einfach. Es liegt auf der Hand, daß, wenn das gesamte

Volk oder der Hohepriester gesündigt hatte, jede Gemeinschaft

mit Gott unterbrochen war. Es handelte sich dann

nicht nur um die Wiederherstellung einer einzelnen Person,

sondern um die Wiederherstellung der Gemeinschaft zwischen

Gott und dem ganzen Volke. Auch stand nicht die Bildung

einer Beziehung, eines Verhältnisses zu Gott in Frage —

das geschah am großen Versöhnungstage —, sondern es

handelte sich um die Wiederanknüpfung einer unterbrochenen

Gemeinschaft. Deshalb wurde das Blut siebenmal vor

dem Vorhang gesprengt, um so eine vollkommne Wiederherstellung

jener Gemeinschaft zu vermitteln; ebenso that

man das Blut an die Hörner des goldnen Rauchaltars.

Im Falle einer persönlichen Sünde war diese Gemeinschaft

im allgemeinen nicht unterbrochen, sondern nur der

Einzelne, der die Sünde beging, verlor den Genuß der

Gemeinschaft. Das Blut wurde deshalb nicht an den

Altar des wohlriechenden Rauchwerks (im Heiligtum) gesprengt,

wohin nur der Priester nahen konnte, sondern an

den Brandopferaltar (im Vorhof), wo der einzelne Israelit

Zutritt hatte. Die Wirkung des Sündopfers Christi ist

notwendig für jede Sünde, wie es denn auch ein für

allemal für jede Sünde vollbracht worden ist; aber die

Gemeinschaft des Körpers oder der Gesamtheit der Anbeter

228

wird durch die Sünde des Einzelnen, obwohl beeinträchtigt,

so doch nicht unterbrochen. Sobald jedoch die Sünde bekannt

ist, muß Sühnung für den geschehen, der sie begangen

hat. Wir wissen, daß der Herr zuweilen die ganze Versammlung

straft, wenn die Sünde eines Einzelnen verborgen

bleibt; so sagt Er z. B. in dem Falle Achans: „Israel

hat gesündigt"; aber sobald die Sünde bekannt war, wurde

Achan allein bestraft, und der Segen kehrte auf die Gemeinde

zurück, wenn auch unter viel größeren Schwierigkeiten

als vorher. Thatsache ist, daß der Herr, der in

der Kirche die allgemeine Regierung mit dem Gericht über

den Einzelnen zu vereinigen weiß, wenn im allgemeinen

Treue vorhanden ist, das Böse, welches bei einer einzelnen

Person sich findet, offenbar macht oder es nicht erlaubt

(was noch viel besser ist); und daß Er andrerseits die

Sünde des Einzelnen benutzen kann, um den ganzen Körper

zu züchtigen. Es scheint mir sogar, daß in dem angeführten

Falle, obgleich die Veranlassung zur Züchtigung

in der Sünde AchanS ans Licht trat, Israel doch Vertrauen

auf einen fleischlichen Arm gezeigt hatte; und Gott

hielt es für gut, Israel zu züchtigen, um ihm die Eitelkeit

dieses Vertrauens vor Augen zu stellen, gerade so wie die

Kraft Jehovas sich vor Jericho als völlig hinreichend geoffenbart

hatte, um den Feind zu besiegen.

Doch wie dem auch sei, jedenfalls geht aus den Einzelheiten

dieser Opfer für die Sünde klar hervor, daß Gott

stets Kenntnis von der Sünde nimmt; Er kann sie vergeben,

aber Er kann sie nicht übersehen. Eine Sünde, die dem

Menschen selbst verborgen ist, ist deshalb nicht verborgen

vor Gott; denn aus welchem andern Grunde bleibt sie dem

Schuldigen verborgen, als nur deshalb, weil sein geistliches

229

Verständnis durch die Sünde und durch die Nachlässigkeit,

welche eine Folge der Sünde ist, verdunkelt wird? Gott

richtet die Sünde nicht dem gemäß, was dem Menschen geziemt,

sondern was Ihm geziemt. Jehova wohnte in der

Mitte Israels, und deshalb mußte Israel gerichtet werden

nach dem, was der Gegenwart Gottes geziemte. Unsre

Vorrechte sind stets der Maßstab unsrer Verantwortlichkeit.

Die Menschen lassen in ihre Gesellschaft nur solche zu, die

sie dafür würdig erachten; sie gestatten keinem schlechten,

verdorbenen Menschen den Zutritt, indem sie dessen Bosheit

entschuldigen und zudecken; und sie thun dies, weil eS

ihren Gewohnheiten und ihrem Stande entspricht, so zu

handeln. Sollte nun Gott allein Seine Gegenwart dadurch

entweihen müssen, daß Er anders handelt? Sollte all

das Böse, in welches der Mensch durch seine Verderbtheit

gebracht werden kann, allein in der Gegenwart Gottes

Entschuldigung und Billigung finden? Nein; wenn Gott

uns glücklich machen will in Seiner Gegenwart, so muß

Er notwendigerweise das Böse richten, ja, alles Böse, und

zwar gemäß der Heiligkeit Seiner Gegenwart, d. h. Er

muß es völlig von dieser Gegenwart ausschließen. Wenn

die geistliche Thorheit, welche eine Folge der Sünde ist,

uns unfähig macht, das Böse in uns zu entdecken, ist das

dann ein Grund für Gott, es auch zu übersehen? Muß

Er blind werden, weil die Sünde uns blind gemacht hat?

Soll Er sich selbst entehren, soll Er andere unglücklich

und jede heilige Freude, selbst in Seiner Gegenwart, unmöglich

machen, um so das Böse ungestraft hingehen

lassen zu können? — Unmöglich! Nein, jede Sünde

wird gerichtet. Gott übersieht nichts, und das Böse, so

völlig es uns auch verborgen sein mag, ist böse vor Ihm.

230

„Alles ist bloß und aufgedeckt vor den Augen Dessen, mit

dem wir es zu thun haben." Gott kann Mitleid mit uns

haben; Er kann uns durch Seinen Geist erleuchten; Er kann

einen Weg bereiten, auf welchem der größte Sünder sich

Ihm mit Freimütigkeit zu nahen vermag; aber alles das

verändert nicht im Geringsten Sein Urteil über das Böse.

„Und der Priester soll Sühnung für ihn thun für sein

Vergehen, das er begangen hat, ohne es zu wissen; und

es wird ihm vergeben werden. Es ist ein Schuldopfer;

er hat sich gewißlich verschuldet an Jehova." (Kap. 5,

18. 19.)

Es bleibt mir noch übrig, auf einige Verschiedenheiten

in dem Einzelheiten der Sündopfer aufmerksam zu

machen, die von großem Interesse sind.

Die Leiber der Opfertiere, welche für die Sünde des

ganzen Volkes oder des Hohenpriesters (was auf dasselbe

hinauSlief, denn in beiden Fällen war die Gemeinschaft

des gesamten Volkes unterbrochen) dargebracht wurden,

diese Leiber wurden außerhalb des Lagers ganz und gar

verbrannt, jedoch nicht als ein Feueropfer lieblichen Geruchs;

denn das Opfer war zur Sünde gemacht und als

ein verunreinigter Körper außerhalb des Lagers gebracht

worden. Das Opfer an und für sich war ohne Fehl;

aber nachdem der Schuldige seine Sünden auf dessen

Kopf bekannt hatte, wurde es als mit diesen Sünden beladen,

von Gott zur Sünde gemacht, betrachtet und

außerhalb des Lagers gebracht. So hat auch Jesus

(wie der Apostel es ausdrückt) außerhalb des Thores gelitten,

um durch Sein eignes Blut das Volk zu heiligen.

(Hebr. 13, 12.) — Diese Verbrennung außerhalb des

Lagers fand immer statt, wenn das Blut für die Sünde

231

ins Heiligtum gebracht wurde. Eines der Opfer — die

rote Kuh (4. Mose 19), bezüglich deren ich hier nicht in

Einzelheiten eingehen will — wurde ganz und gar als

Sünde betrachtet, getötet und, nachdem ein Teil des

Blutes an der Thür des Zeltes der Zusammenkunft gesprengt

worden war, vollständig, mit Fett und Blut,

außerhalb des Lagers verbrannt.

Bei den drei andern Opfern, die das ganze Volk

angingen, wurden die Leiber, wie bemerkt, auch außerhalb

des Lagers verbrannt, aber die Verbindung mit der vollkommnen

Annehmlichkeit Christi als Dessen, der sich selbst

zum Opfer dargebracht hat, wurde durch das Verbrennen

des Fettes auf dem Brandopferaltar aufrecht erhalten;

zugleich erkennen wir in dieser letzteren Handlung, auf

welche Weise Er für uns zur Sünde gemacht worden ist:

nämlich als Derjenige, welcher keine Sünde kannte, und dessen

Natur und innerste Gedanken Gott vollkommen wohlgefällig

waren und Sein Gericht ertragen konnten. Aber obgleich

das Fett auf dem Altar verbrannt wurde, um jene Verbindung

und die Einheit des Opfers Christi aufrecht zu

erhalten, so wird es dennoch, um den allgemeinen Charakter

und den Zweck dieser Verschiedenheit zu wahren,

nicht ein lieblicher Geruch sür Jehova genannt.

Indes besteht ein Unterschied zwischen dem einen der

drei eben genannten Sündopfer, dem Opfer des großen

Versöhnungstages, und den beiden andern in 3. Mose 4

erwähnten. Am großen Versöhnungstage wurde das Blut

ins Allerheiligste, innerhalb des Vorhangs gebracht; denn

das Opfer dieses Tages bildete die Grundlage aller andern

Opfer, die Grundlage aller Beziehungen zwischen Gott und

dem Volke Israel; es setzte Gott in den Stand, inmitten

232

des Volkes zu wohnen und die andern Opfer anzunehmen.

Die Wirkung dieses Opfers erstreckte sich auf ein ganzes

Jahr, — für uns währt sie ewig, wie der Apostel dies

im Hebräerbrief beweist, — und auf dasselbe war der

ganze Verkehr Gottes mit Israel gegründet. Deshalb

wurde das Blut auf den Gnadenstuhl gesprengt, um dort

immerdar vor den Augen Dessen zu sein, der auf diesem

Throne der Gnade und der Heiligkeit Seinen Sitz hatte.

Kraft dieses Opfers konnte Gott inmitten des Volkes

wohnen, so gleichgültig, undankbar und widerspenstig es

auch war. — Gerade so ist es mit der Wirkung des

Blutes Christi; dieses Blut ist für immer auf dem

Gnadenstuhl als die Grundlage der Beziehungen zwischen

Gott und uns.

Die andern Opfer hatten den Zweck, die Gemeinschaft

derer, welche durch die Gnade in jene Beziehungen zu

Gott eingetreten waren, aufrecht zu erhalten und wiederherzustellen.

Deshalb wurde in 3. Mose 4, 1—21 ein

Teil des Blutes auf den Altar des wohlriechenden Rauchwerks

gesprengt, (der das Symbol der Ausübung dieser

Gemeinschaft war,) und das übrige Blut wurde, wie gewöhnlich

bei den Opfern, am Fuße des Brandopferaltars

(der Stätte des angenommenen Opfers) ausgegossen. Der

Leib des Opfertieres wurdeMne wir gesehen haben, verbrannt.

Was die Opfer für die Sünde und Schuld eines

Einzelnen betrifft, so litt, wie gesagt, die Gemeinschaft der

Gesamtheit nicht unmittelbar darunter; aber der Einzelne

wurde des Genusses derselben beraubt. Deshalb war der

Altar des wohlriechenden Rauchwerks nicht verunreinigt oder

so zu sagen nicht zur Benutzung unbrauchbar gemacht; im

Gegenteil, er wurde fortwährend benutzt. Das Blut dieser

233

letzteren Opfer wurde deshalb an die Hörner des Brandopferaltars

gethan, wo her einzelne Israelit Zutritt hatte.

Dort naht jede Seele durch Christum und auf Grund der

Wirksamkeit des ein für allemal vollbrachten Opfers

Christi; und so, kraft dieses Opfers, angenehm gemacht,

genießt sie all den Segen und alle die Vorrechte, in deren

Genuß und Besitz die Kirche als Ganzes fortwährend steht.

Es ist jedoch noch eine andere Sache bei diesen Opfern

für die persönliche Sünde zu beachten. Der Priester, welcher

daS Blut darbrachte, aß das Opfertier. Es bestand also

eine völlige Einheit zwischen dem Priester und dem Opfer,

welches die Sünde des Opfernden darstellte. Der Priester

hatte die Sünde nicht begangen; im Gegenteil, er that

Sühnung dafür mittelst des Blutes, das er sprengte.

Nichtsdestoweniger machte er sich völlig mit der Sünde des

Schuldigen eins. So hat auch Christus, indem Er uns

einen vollkommnen Trost bereitete, ohne die Sünde gekannt

zu haben, Sühnung gethan für die Sünde und sich

mit allen unsern Sünden einsgemacht. Wie bei den

Friedensopfern der Anbeter einsgemacht wurde mit der

Annehmlichkeit des Opfers, dessen Fett auf dem Altar

verbrannt wurde, gerade so machte sich hier der Priester

eins mit der Sünde dessen, der das Opfer darbrachte;

diese Sünde verlor und verzehrte sich gleichsam in ihm.

Der Sünder nahte sich, indem er seine Sünden bekannte

und sich demütigte; aber was seine Schuld und das Gericht

über seine Sünde betraf, so war es der Priester,

der sich damit belud, so daß (da die Versöhnung geschehen

war) die Sünde nicht bis vor den Richterstuhl Gottes

kam und die Beziehungen zwischen Gott und dem Schuldigen

in keiner Weise antastete. Seine Anbetung wurde

234

erneuert in der Kraft der Annehmlichkeit Christi, unsers

wahren Priesters. Die Sünde, welche die Gemeinschaft

unterbrochen hatte, wurde gänzlich weggenommen, oder

diente nur dazu, in einem in den Staub niedergebeugten

und angesichts der Güte Gottes tief gedemütigten Herzen

die Beziehung und Gemeinschaft zu erneuern, welche sich

auf eine Güte gründeten, die dem Herzen auf diese Weise

unendlich kostbarer geworden war; zugleich wurde das

Bewußtsein der Reichtümer und der Sicherheit jener Vermittlung

erneuert, welche Christus auf immerdar für uns

zuwege gebracht hat, nicht um die Gedanken Gottes gegen

uns zu verändern, sondern um unsre gegenwärtige Gemeinschaft

und unsern Genuß dieser Gemeinschaft zu

sichern (ungeachtet unsers Elends und unsrer Fehler) in der

Gegenwart, der Herrlichkeit und der Liebe Dessen, der sich

nie verändert.

Schließlich möchte ich noch auf einige interessante

Umstände aufmerksam machen. Es ist bemerkenswert, daß

nichts so sehr den Charakter der Heiligkeit und einer

gänzlichen Absonderung für Gott trug wie das Sündopfer.

Bei den andern Opfern begegnen wir einer vollkommnen

Annehmlichkeit, einem lieblichen Geruch und in einzelnen

Fällen, vermengt damit, unsern gesäuerten Broten; aber

alles trug sich so zu sagen zu in der naturgemäßen Freude,

welche Gott an dem fand, was vollkommen und ausgezeichnet

war. Bei den Sündopfern hingegen war es ausdrücklich

geboten, daß das Opfer ganz ohne Fehl sein

mußte. Alle möglichen Vorkehrungen waren getroffen, um

die unverletzliche Heiligkeit desselben darzuthun. (Kap. 6,

18—21.) In dem ganzen Werke Jesu giebt es nichts,

was so sehr Seine thatsächliche Heiligkeit, Seine vollkommne

235

und gänzliche Absonderung für Gott kennzeichnet, als die

Thatsache, daß Er unsre Sünden getragen hat. Nur

Derjenige, welcher nie eine Sünde gekannt hatte, konnte

zur Sünde gemacht werden; und gerade die Thatsache,

daß Er die Sünde trug, beweist die völligste Absonderung

für Gott, die nur zu erdenken ist, ja die unser Denkvermögen

völlig übersteigt. Christus konnte sagen: „Jetzt ist

der Sohn des Menschen verherrlicht, und Gott ist verherrlicht

in Ihm." Er hatte sich ganz und gar, mochte

es kosten was es wollte, der Verherrlichung Gottes geweiht;

und Gott konnte auch nichts Geringeres annehmen,

denn Er mußte gerade so verherrlicht werden, wie Er

verunehrt worden war. Als Sündopfer betrachtet, ist

Christus also in besondrer Weise heilig, wie Er denn

auch jetzt, kraft dieses Opfers als Priester vor Gott

stehend und uns vertretend, „heilig, abgesondert von den

Sündern und höher als die Himmel geworden ist". (Hebr.

7, 26.) Nichtsdestoweniger ist Er so wahrhaftig zur Sünde

gemacht worden, daß derjenige, welcher den Bock Asasel in

die Wüste führte (3. Mose 16), und der, welcher die Asche

der roten Kuh sammelte oder das Wasser der Reinigung

auf jemanden sprengte (4. Mose 19), unrein war bis zum

Abend und seine Kleider waschen und sein Fleisch im Wasser

baden mußte, ehe er wieder ins Lager kommen durfte. Auf

diese Weise treten uns jene beiden großen Wahrheiten hinsichtlich

des Sündopfers Christi deutlich und klar in den

vorbildlichen Opfern vor Augen. Denn einerseits können wir

uns keinen größeren Beweis der gänzlichen Absonderung

Christi für Gott vorstellen als die Thatsache, daß Er sich

selbst zum Sündopfer dargebracht hat; und andrerseits,

wenn Er die Sünde nicht wirklich in ihrer ganzen Aus

236

dehnung getragen, wenn der Fluch nicht wirklich Ihn getroffen

hätte, so hätte Er nicht wirklich die Sünde vor

Gott hinwegnehmen können.

Ewig sei der heilige Name Dessen gepriesen, der dies

gethan hat! und Gott gebe uns, daß wir immer besser

die Vollkommenheit Christi in der Vollbringung des Erlösungswerkes

kennen und verstehen lernen möchten!

„Wohin ist dein Geliebter gegangen?"

(Hohel. 6, 1—10.)

„Wohin ist dein Geliebter gegangen, du Schönste

unter den Frauen? wohin hat dein Geliebter sich gewendet?

und wir wollen ihn mit dir suchen." (V. 1.) Gesegnet

und mannigfaltig sind die Resultate, die aus einer hingebenden

Beschäftigung der Seele mit Christo hervorgehen.

Sich selbst aus den Augen z» verlieren und Ihn zum

Gegenstände zu haben, ist der erste Segen; und wahrlich,

es ist ein großer Segen! Was kann Gläubige, die in

einen niedrigen, dürren Seelenzustand geraten sind, am

raschesten und wirksamsten aus demselben befreien? Die

Beschäftigung mit Christo für sich selbst und das Reden

von Ihm mit Andern. Die Erfahrung der Braut erläutert

diese Wahrheit in treffender Weise. Ihr anfänglicher

Fehler bestand ohne Zweifel darin, daß sie begann,

an sich selbst zu denken und um sich selbst besorgt zu sein.

Selbstbeschäftigung führt stets zur Selbstgenügsamkeit. „Ich

habe mein Kleid ausgezogen, wie sollte ich es wieder an-

zieheu? Ich habe meine Füße gewaschen, wie sollte ich sie

wieder beschmutzen?" (Kap. 5, 3.) Sobald aber von den

237

Töchtern Jerusalems der Vorzug ihres Geliebten vor

andern Geliebten in Zweifel gezogen wird, kommt sie

wieder dahin, an Ihn allein zu denken und von Ihm

allein zu reden; und indem sie das thut, wird zunächst

ihre eigne Seele wiederhergestellt, und dann erreicht sie

einen Grad der Gemeinschaft, von welchem sie früher

keine Vorstellung hatte. Ferner redet sie mit solcher Liebe

von der fleckenlosen Schönheit ihres Herrn, daß die Töchter

Jerusalems durch die Herrlichkeit Seiner Person angezogen

werden und begehren, Ihn zu sehen und kennen zu lernen.

Doch das Zeugnis der Braut für Christum trägt

noch eine andere Frucht, die wir nicht unbeachtet lassen

dürfen. Die Töchter Jerusalems ziehen den ganz natürlichen

Schluß, daß der Bräutigam Seine Braut verlassen

haben müsse, nicht aber daß sie Ihn verlassen habe. Da

sie die Braut in solch glühenden Ausdrücken von Ihm

reden hören, können sie sich gar nicht vorstellen, daß sie

selbst sich jemals aus Seiner Nähe habe entfernen können.

War Er so herrlich, so von ihr geliebt, bewundert und

geschätzt — wie konnte dann ihr Auge sich von Ihm abwenden?

wie konnte ihr Herz aufhören, sich Seiner zu

erfreuen? wie konnte sie jemals Seiner müde werden?

Sie fragen deshalb: „Wohin ist dein Geliebter gegangen,

du Schönste unter den Frauen? wohin hat dein Geliebter

sich gewendet?" und sie bieten sich an, Ihn mit ihr zu

suchen. Welch ein scharfer, schneidender Vorwurf lag in

diesem Anerbieten für die Braut! und wie tief muß ihr

jetzt so empfindsames Herz ihn gefühlt haben! Indem sie

von der Schönheit ihres Herrn geredet hatte, hatte sie sich

selbst ihr Urteil gesprochen. So ist es immer. Wenn das

Herz außer Gemeinschaft mit Christo ist, so scheint alles

238

gegen uns zu sein, und unsre Wege zu verurteilen. Ist

die Seele aber wiederhergestellt, so dient alles nur dazu,

unsre Demütigung zu vertiefen und den Grad unsrer

Gemeinschaft zu erhöhen. Das Herz, das eben erst von

dem Lobe des Geliebten übergeströmt ist, frohlockt jetzt in

Ihm. Das Auge der Braut ruht auf Ihm; sie weiß,

wo Er ist und was Er thut. Seliger Augenblick! Alles

ist Licht und Freude. Jetzt kann s i e ihren Gefährtinnen

sagen, wo Er zu finden ist.

„Mein Geliebter ist in seinen Garten hinabgegangen,

zu den Würzkrautbeeten, um in den Gärten zu weiden und

Lilien zu pflücken." (V. 2.) Welch eine liebliche Scene im

Vergleich mit Kap. 5, 7! Dort lasen wir: „Es fanden mich

die Wächter, die in der Stadt umhergehen: sie schlugen

mich, verwundeten mich; die Wächter der Mauern nahmen

mir meinen Schleier weg." Das ist der Unterschied

zwischen einem Wandel in Gemeinschaft mit Jesu und

einem Umherwandern in der Welt. Die Braut hat die

Stadt verlassen und ist jetzt auf dem ländlichen Schauplatz

mit ihrem Geliebten, tritt ein in die Gedanken Seines

Herzens und bewundert die Werke Seiner Hände. Unser

Vers beschreibt eine Scene glücklicher Gemeinschaft. Der

Herr findet Seine Wonne an Seinem Volke; Er ist in

Seinem Garten und pflückt Lilien. „Wie eine Lilie inmitten

der Dornen, so ist meine Freundin inmitten der

Töchter." (Kap. 2, 2.) Die Braut geht ein in die Gedanken

ihres Herrn über Sein Volk im allgemeinen und

über sich selbst insonderheit. Das ist Gemeinschaft, und

zwar eine innige, gesegnete Gemeinschaft. Ihr Auge ist

einfältig, und das Licht des Himmels erfüllt ihre Seele.

Jetzt ruft sie aus:

239

„Ich bin meines Geliebten; und mein Geliebter ist

mein, der unter den Lilien weidet." (V. 3.) Das ist

eine liebliche Melodie, ein erhabenes Lied; aber der Glaube

kann es singen. Es ist die Sprache einer Seele, die sich

selbst aus den Augen verloren hat. „Ich bin meines

Geliebten." Es ist eine wahre Herzensbeschäftigung mit

Christo, ein Eingehen in Seine Gedanken, Seine Liebe,

Gnade und Freude, anstatt mit den eignen Gedanken und

Gefühlen, mit dem eignen Glauben und Dienst beschäftigt

zu sein. Das Auge, das Herz, die Gedanken, die Lippen

— alles ist voll von Christo und mit Ihm beschäftigt.

In Kap. 2, 16 sagt die Braut: „Mein Geliebter ist

mein, und ich bin Sein." Dort steht die Freude, Christum

zu besitzen, im Vordergründe: Er ist mein. Hier

aber ist es die tiefere Freude, Christo anzugehören!

ich bin Sein. Beide Arten von Freude sind gesegnet,

aber die letztere bekundet einen göttlichen Fortschritt.

Wir verstehen sehr wohl, daß eine Seele, die aus

ihrem Sündenschlafe aufgewacht ist und dann die Wahrheit

im Glauben aufnimmt, voller Freude ausruft: „Ich glaube

jetzt an Jesum; ich weiß, daß ich an Ihn glaube; ich

weiß, daß Er am Kreuze für mich gestorben ist; Er hat

Sein Blut für mich vergossen, und jetzt kann ich Ihm völlig

vertrauen." Wer wollte sich auch nicht mit einer Seele

freuen, die, aus der Finsternis in das wunderbare Licht

Gottes gebracht, von der schweren Last ihrer Sünden,

von Zweifeln und Befürchtungen aller Art befreit, den

Siegesruf ertönen läßt: „Jesus ist mein!" Es ist alles,

was man für den Augenblick erwarten kann, und sicher,

es ist etwas Großes und überaus Herrliches! — Hernach

aber, wenn die Seele ruhiger geworden ist, wenn der

240

erste Freudenrausch sich gelegt hat, erwarten wir mit

Recht etwas anderes. Nicht daß jene Freude über den

Besitz Jesu sich vermindern sollte. Keineswegs! aber wir

erwarten Fortschritte in der Seele, oder mit andern

Worten, wir erwarten, daß sie von der Erkenntnis der

Wahrheit bezüglich ihrer eignen Errettung fortschreite zur

Erkenntnis der Quelle aller ihrer Segnungen. Sie sollte

sich fragen: Woher kommt das neue Leben, das ich besitze?

Wo ist Seine Quelle? Woher alle diese Gnade und

Güte gegen mich, ein solch sündiges, verdammungswürdiges

Geschöpf? Wer hat den Pulsschlag des ewigen Lebens

in meiner einst toten Seele erweckt? Wenn die Seele auf

diese Weise nach und nach lernt, daß das ewige Leben

und jede Segnung nur die Frucht der Liebe Gottes in

Christo gegen sie ist, so wird sie zu Jesu selbst hingezogen,

an Seine Person gefesselt und mit Seiner vollkommnen

Liebe beschäftigt. Das Auge wendet sich von

dem eignen Ich ab auf Jesum hin. Alle Furcht verschwindet,

denn die Furcht hat Pein. „Gott hat uns

ewiges Leben gegeben, und dieses Leben ist in Seinem

Sohne." — „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, daß die

Stunde kommt und ist jetzt, da dieToten dieStimme

des SohnesGotteS hören werden, und die sie

gehört haben, werden leben." (1. Joh. 5, 11;

Joh. 5, 25.) So wird die Seele in die innigste Verbindung

mit dem Sohne des lebendigen Gottes droben

gebracht; und indem sie lernt, daß alle Quellen ihres

Segens dort sind, erhebt sie sich bis zu Ihm. „Ich bin

meines Geliebten, und mein Geliebter ist mein", wird der

wahrheitsgetreue Ausdruck ihres bewundernden Glaubens.

241

„Du bist schön, meine Freundin, wie Tirza, lieblich

wie Jerusalem, furchtbar wie Kriegsscharen (eig. befahnte

Scharen)." (V. 4.) Welch ein Gruß ist das! Bedenke

ihn wohl, mein Leser! Willst du das Herz Jesu kennen

lernen, Seine geduldige Liebe, Seine unermüdliche Freundlichkeit,

Seine unerschöpfliche Güte, so verweile hier einen

Augenblick und sinne über jene Worte nach! Sicher ist es

von hohem Interesse, der Bedeutung der hier gebrauchten

Vergleiche: Tirza, Jerusalem und Kriegsscharen, nachzn-

forschen; aber siehe zu, daß die Beschäftigung mit diesen

Dingen deine Gedanken nicht von der Person des Herrn

Jesu ablenke. Ich bezweifle nicht, daß jene Vergleiche der

unmittelbare Ausdruck Seiner Liebe sind; aber wenn dem so

ist, dann laß sie dir zu Strömen dienen, die dich zu ihrer

Quelle zurückführen. Verweile nicht zu lange bei dem

Strome; die Quelle ist besser. Die Wirkung jedes wahren

Dienstes am Worte ist die, daß die Seele in unmittelbare

Berührung mit der Person Christi gebracht wird. Der

Wunsch des Feindes und die Wirkung jeder falschen Lehre

geht dahin, etwas zwischen die Seele und Christum zu

stellen. Tirza ist nicht mehr; Jerusalem ist niedergetreten,

und Judas Banner ist seit langer Zeit zusammengerollt;

aber das Herz, das einst Seine Freude an diesen bedeutungsvollen

Symbolen fand, ist unveränderlich dasselbe

geblieben. Suche darum vor allem andern das Herz Jesu

kennen zu lernen. „Dies aber ist das ewige Leben, daß

sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt

hast, Jesum Christum, erkennen." (Joh. 17, 3.) Gottes

Liebe in Christo gegen den Sünder zu kennen ist das

Beste, das ich je kennen lernen kann; denn dann kenne

ich den ewig sprudelnden Born, die Urquelle alles Segens.

242

Wie oft mag Christus selbst aus dem Auge verloren

sein, obwohl die Seele mit der Wahrheit beschäftigt

ist! Wache gegen diese Gefahr, meine Seele, und sei auf

deiner Hut!

Kehren wir jetzt zu dem Gruße des Herrn zurück.

„Du bist schön, meine Freundin, wie Tirza, lieblich wie

Jerusalem, furchtbar wie Kriegsscharen." Beachten wir,

daß dies die ersten Worte sind, die der Herr nach ihrem

traurigen Abirren an Seine Braut richtet. Seine Lippen

haben holdselige Worte für ihre wiederhergestellte Seele:

„Du bist schön, meine Freundin." Fürwahr, das ist

Jesus selbst! Wer könnte Seine Liebe beschreiben? Sind

wir in dieser Atmosphäre zu Hause, mein lieber Leser?

Stehen wir nicht mit staunender Bewunderung einer solchen

Liebe gegenüber? O laß uns Ihn betrachten, der so redet,

und vor Seinem erfreuten Herzen die von ihren Irrwegen

zurückgekehrte Braut sehen! Laß uns suchen, die anbetungswürdige

Gnade unsers Herrn Jesu Christi besser

zu verstehen!

Wie lauteten Seine letzten Worte an Seine träge,

schlaftrunkene Braut? „Thue mir auf, meine Schwester,

meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! denn

mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen

der Nacht." Nichts könnte zärtlicher und rührender sein

als diese Worte; aber sie blieben in jenem Augenblick

völlig unbeachtet von ihr. Infolge dessen geriet sie für

eine Zeit in einen betrübenden Zustand. Aber jetzt finden

wir sie völlig wiederhergestellt und glücklich. Sie hat wieder

volles Vertrauen zu der Liebe ihres Herrn. „Ich bin

meines Geliebten, und mein Geliebter ist mein", so lautet

die freudige Sprache ihrer Seele. Wird Er denn gar

243

nichts mit ihr reden über ihre Verirrung und ihre thörichte

Handlungsweise? Wird Er nicht wenigstens in Seinem

Benehmen etwas kühl gegen sie sein, damit sie vor Ihm

beschämt dastehe? Ach nein; denn Er sieht, daß sie ihr

Thun aufrichtig bereut. Der Herr vergiebt nicht nur,

sondern Er vergißt auch alle unsre Vergehungen, wenn

wir sie bereuen. Er kommt jeder bußfertigen Seele mit

dem vollen Ausdruck Seiner Gnade entgegen. Sobald die

Seele ihren wahren Platz vor Ihm einnimmt, kennt Er

keinen Rückhalt mehr, sondern öffnet ihr bereitwilligst den

reichen Schatz Seiner Liebe. Betrachten wir z. B. das

kananäische Weib. (Matth. 15.) Kaum hat sie den Platz

einer armen, Fluch und Tod verdienenden Heidin eingenommen,

als auch schon der volle Segensstrom aus Seinem

Herzen ihr zufließt. Er preist selbst ihren Glauben mit

den stärksten Ausdrücken: „O Weib, dein Glaube ist groß;

dir geschehe, wie du willst." Er hält nichts zurück; sie

wird gesegnet nach dem ganzen Begehr ihres Herzens.

Betrachten wir auch die große Sünderin zu den Füßen

Jesu im Hause Simons und den verlornen Sohn in den

Armen des Vaters.

„Du bist schön, meine Freundin." Nicht ein klagendes

oder vorwurfsvolles Wort kommt über die Lippen

des Bräutigams; nicht die leiseste Frage an die Braut,

wo sie inzwischen gewesen sei oder was sie gethan habe.

Seine Liebe ist vollkommen, und Seine Gnade ist gleich

der Nachsicht Seiner Liebe. Der Herr will gnädig

sein entsprechend der Liebe Seines Herzens. Er sagt,

daß die Braut schön sei wie Tirza, lieblich wie Jerusalem.

Tirza bedeutet „Lieblichkeit, Anmut". Es war die Residenzstadt

der Könige von Israel, ehe Samaria gebaut wurde.

244

so wie Jerusalem der Wohnsitz der Könige von Judäa

war. Jerusalem ist, wie wir wissen, in der Schrift bekannt

wegen seiner mannigfaltigen Herrlichkeit. Es heißt

von ihr: „Schön ragt empor, eine Freude der ganzen

Erde, der Berg Zion, an der Nordseite, die Stadt des

großen Königs. Gott ist bekannt in ihren Palästen als

eine hohe Feste." (Pf. 48, 2. 3.) Tirza war, wie bemerkt,

die Hauptstadt der zehn abtrünnigen Stämme; aber die

beiden Königreiche, Israel und Juda, werden in den Tagen

der zukünftigen Herrlichkeit wieder unter einem Haupte

vereinigt und nie wieder getrennt werden. Was uns hier

in bildlicher Weise vorgestellt wird, lehren die Propheten

in den deutlichsten Ausdrücken. „So spricht der Herr,

Jehova: Siehe, ich werde die Kinder Israel aus den

Nationen herausholen, wohin sie gezogen sind, und ich

werde sie von ringsumher sammeln und sie in ihr Land

bringen. Und ich werde sie zu einer Nation machen im

Lande, auf den Bergen Israels, und sie werden allesamt

einen König zum König haben; und sie sollen nicht

mehr zu zwei Nationen werden, und sollen sich fortan nicht

mehr in zwei Königreiche teilen." (Hes. 37, 21. 22.)

Wenn so die zwölf wiedervereinigten Stämme ihren

Messias zum König haben werden, dann wird die Herrlichkeit

des Volkes groß sein. Es wird „furchtbar sein

wie Kriegsscharen". Dieser Vergleich erweckt nicht den

Gedanken des Erschreckenden, sondern des Ueber-

wältigenden, Ehrfurchtgebietenden, gleich einer

glänzenden Kriegerschar, die mit wehenden Fahnen dahinzieht.

Der König erkennt an, daß die Herrlichkeit Seines

geliebten, so in eins vereinigten Volkes Ihn überwältige.

„Wende deine Augen von mir ab, denn sie überwältigen

245

mich." Das ist wahrlich wunderbar; wer könnte es verstehen?

Um es nur ein wenig verstehen zu können, müssen

wir Jesum selbst kennen. Kein Herz kann so auf die

Segnung und Freude anderer eingehen wie das Seinige.

Es erleichtert gleichsam Sein Herz, wenn Er den Bedürftigen

segnen kann. In den Tagen Seines Fleisches

machte Er eine weite Reise, um einer gefallenen Tochter

Samarias oder einer armen Heidin aus, den Gegenden

von Tyrus und Sidon zu begegnen und sie zu segnen.

Freude ist in Seinem Herzen, Freude im ganzen Himmel,

wenn e i n Sünder Buße thut. Aber was wird erst Seine

Freude sein, wenn das Haus Davids und die Bewohner

von Jerusalem sich mit Weinen und Klagen zu Ihm

wenden werden; wenn die lange verlornen Stämme auf

dem Schauplatz erscheinen und Ihn als ihren wahren

Messias anerkennen werden; wenn jedes Auge auf Ihn

gerichtet sein und jedes Herz von Seinem Lobe überfließen

wird; wenn von Jerusalem, als dem großen Mittelpunkt,

Segen ausfließen wird zu allen Völkern der Erde hin!

Dann wird das 53. Kapitel des Propheten Jesaja

den Inhalt des Gesanges Israels und den Ausdruck seiner

weinenden Freude bilden: „Um unsrer Uebertretungen

willen war Er verwundet, um unsrer Missethaten willen

zerschlagen. Die Strafe zu unserm Frieden lag auf Ihm,

und durch Seine Striemen ist uns Heilung geworden.

Wir alle irrten wie Schafe, wir wandten uns, ein jeder

auf seinen Weg, und Jehova hat Ihn treffen lassen unser

aller Ungerechtigkeit." Ihr Jerusalem wird dann das

Jerusalem der Ratschlüsse Gottes, und nicht des Stolzes

und der Gewaltthat des Menschen sein. Von Bergen

umgeben, mit Mauern, Wällen und Türmen wohl ver

246

sehen, wird es die Freude der ganzen Erde ausmachen.

(Ps. 48.) „Und der Name der Stadt soll von nun an

heißen: Jehova daselbst." (Hes. 48, 35.) Alles wird

dann nach den Gedanken des Messias seinen Gang gehen.

Satan wird in dem Abgrunde eingeschlossen sein, der

Fluch von der Erde entfernt, die Macht des Bösen zu

Boden geworfen, und der wahre Salomo wird als König

regieren. Welch eine Wirkung die Abwesenheit Satans

und die Gegenwart Christi in Macht und Herrlichkeit

auf die ganze Schöpfung ausüben wird, wer könnte es

ermessen!

„Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den

Abhängen des Gilead lagern; deine Zähne sind wie eine

Herde Mutterschafe, die aus der Schwemme heraufkommen,

welche allzumal Zwillinge gebären, und keines unter ihnen

ist unfruchtbar; wie ein Schnittstück einer Granate ist

deine Schläfe hinter deinem Schleier." (V. 5—7.) Denselben

Ausdrücken sind wir bereits im 4. Kapitel begegnet,

und doch wissen wir, daß die Schrift keine eitlen Wiederholungen

macht. Warum denn hier diese Wiederholung?

Seitdem der Bräutigam jene Ausdrücke im 4. Kapitel an

Seine Braut gerichtet hat, ist sie in der Irre umhergegangen

und dann wieder zurückgekehrt. Indem Er nun

hier dasselbe wiederholt, was Er ihr einst gesagt hat,

versichert Er sie, daß ihre Schönheit in Seinen Augen

unverletzt sei. Obgleich Er nichts davon sagt, daß sie für

eine Zeit sich von Ihm abgewandt habe, müssen diese

Ausdrücke Seiner unveränderten Bewunderung jetzt einen

viel tieferen Eindruck auf ihr Herz machen als vordem.

Ihr Wert wird siebenfach vermehrt durch die Umstände,

inmitten derer sie wiederholt werden.

247

„Sechzig sind der Königinnen und achtzig der Kebs-

weiber, und Jungfrauen ohne Zahl." (V. 8.) Dieser

Vers bezieht sich, wie ich nicht zweifle, auf die Zeit des

tausendjährigen Reiches. Er folgt auf die Vereinigung

der beiden Nationen. Die Städte Judas und die Völker

der Erde füllen den ganzen Schauplatz der Herrlichkeit

aus, aber Jerusalem hat den ersten Platz. Diese

Wahrheit, die in der ganzen Schrift hervortritt, findet

ihren vollsten und rührendsten Ausdruck im nächsten Verse:

„Eine ist meine Taube, meine Vollkommene; sie ist

die Einzige ihrer Mutter, sie ist die Auserkorene

ihrer Gebärerin. Töchter sahen sie und priesen sie glücklich,

Königinnen und Kebsweiber, und sie rühmten sie."

(V. 9.) Welch einen Platz hat sie in Seinem Herzen!

Sie ist in Seinen Augen die Auserkorene, mit der sich

nichts vergleichen läßt. Es giebt viele andere Jungfrauen,

aber Seine Liebe sieht keine andere als sie. „Eine ist

meine Taube, meine Vollkommene; sie ist die Einzige

ihrer Mutter." Bei früheren Gelegenheiten hat Er von

ihren Eigenschaften gesprochen und ihre Schönheit beschrieben;

aber jetzt redet Er von ihr selbst und von

dem, was sie ist für Ihn. „Sie ist die Auserkorene

ihrer Gebärerin." Die ganze Nation wird hier in einem

mütterlichen Charakter betrachtet, der Stamm Juda

in einem bräutlichen. — Das also ist die Bräutigamsliebe

Jesu, und so wird es mit dem gottesfürchtigen

Ueberrest Judas sein in den letzten Tagen; ja, so ist es

jetzt schon im Geiste mit uns. Trinke, meine Seele,

trinke mit vollen Zügen aus dieser Quelle der Bräutigamsliebe

deines Herrn! Sie ist tief, unerschöpflich, und sie ist dem

Glauben geöffnet bis zur Feier des Hochzeitstages droben.

248

Es gab eine Zeit, in welcher die Tochter Zion in

dem Stolz und der Verkehrtheit ihres Herzens Seine Liebe

von sich wies. Trotzdem blieb diese Liebe die gleiche,

aber sie zeigte sich in den Thränen, die Er über ihre

Blindheit vergoß. Von Ihm verlassen, fiel sie dann ihren

grausamen Feinden zur Beute, die sie in schrecklichster

Weise mißhandelten. Doch Sein Auge der Liebe folgte

ihr auf allen ihren Jrrgängen. Nichts konnte Sein Herz

verändern; und als die Zeit gekommen war, besuchte Er

sie. Er sand sie in der Stellung einer armen, ausgestoßenen,

sonnenverbrannten Sklavin, einer Hüterin der

Weinberge anderer. Sein Herz entbrannte gegen sie. In

Seiner Liebe und in Seinem Mitgefühl war es Ihm,

als „habe sie von der Hand Jehovas Zwiefältiges empfangen

für alle ihre Sünden". Und nun ist „ihre Mühsal vollendet,

ihre Schuld abgetragen", und sie tröstet sich in

ihrem gnädigen und vergebenden Herrn. (Jes. 40, 2.)

Aber Seine Liebe ruht nicht — gesegnete Wahrheit! —

bis Er alle Wünsche Seines Herzens im Blick auf sie

befriedigt hat, bis sie als die schöne, herrliche Braut des

wahren Salomo auf Seinem königlichen Throne in Zion

sitzt. Und nicht nur, ich wiederhole es, ist sie der Gegenstand

der Wonne des Königs, sondern auch der Gegenstand

allgemeiner Bewunderung. „Töchter sahen sie und priesen

sie glücklich, Königinnen und Kebsweiber, und sie rühmten

sie." — „Und die Tochter Tyrus (ein Vorbild der Heiden),

die Reichen des Volkes (od. der Völker), werden deine

Gunst suchen mit Geschenken." (Ps. 45.) Die Braut

strahlt die Herrlichkeit und Schönheit des Königs zurück,

und alle Nationen bewundern Seine Anmut in ihr.

„Wer ist sie, die da hervorglänzt wie die Morgen

249

röte, schön wie der Mond, rein wie die Sonne, furchtbar

wie Kriegsscharen?" (V. 10.) Dieser Vers scheint die

Sprache der Bewunderer des Bräutigams zu sein und

lautet gleich einem den Gesang begleitenden Chor. Alle

sind einig in dem Preise der Braut. Die trübe Nacht ist

vorüber, der Helle Morgen bricht an. „Wer ist sie, die da

hervorglänzt wie die Morgenröte?" Sie taucht gleichsam

auf aus der Finsternis der langen, langen Nacht,

durch die sie gegangen ist; alles dahinten lassend, tritt sie

hervor in der Frische und Schönheit des Morgens, und

bald wird sie in mittäglichem Glanze dastehen, übergossen

von den Strahlen der „Sonne der Gerechtigkeit".

Zur Darstellung der zukünftigen Würde und Herrlichkeit

Israels benutzt der Heilige Geist häufig die

Himmelskörper: Sonne, Mond und Sterne. Schon der

Traum Josephs zeigt uns dies im Vorbilde. In der

Familie Jakobs erblicken wir das ganze Volk. (1. Mose 37.)

In Offbg. 12 sehen wir den Stamm Juda, aus welchem

unser Herr kam, mit derselben Herrlichkeit bekleidet. Das

Bild ist „ein Weib, bekleidet mit der Sonne, der Mond

unter ihren Füßen und auf ihrem Haupte eine Krone

von zwölf Sternen". Die Herrlichkeit der zwölf Stämme

erscheint hier vereinigt in dem einen königlichen Stamme. —

Auch der Gedanke der Beständigkeit und Festigkeit

wird durch jene Himmelslichter verwesentlicht. „Einmal

habe ich geschworen bei meiner Heiligkeit: wenn ich dem

David lüge! Sein Same wird ewig sein, und sein Thron

wie die Sonne vor mir; ewiglich wird er feststehen wie

der Mond; und der Zeuge in den Wolken ist treu."

(Ps. 89, 35 — 37.)

Welch eine Veränderung für die lange verachteten.

250

niedergetretenen Israeliten! Mit Bewunderung betrachten

die Töchter, die Königinnen und Kebsweiber den königlichen

Stamm, die Braut Juda, „die da hervorglänzt

wie die Morgenröte, schön wie der Mond, rein wie die

Sonne, furchtbar wie Kriegsscharen". Bekleidet mit Licht,

Herrlichkeit und Würde, wird sie, als die herrliche

Braut des königlichen Sohnes Davids, zu dem großen

Anziehungspunkt der Erde und zum Gegenstand der allgemeinen

Bewunderung.

Sei mir gegrüßt, du seliger Morgen! die Finsternis

ist vergangen, „die Sonne der Gerechtigkeit geht auf mit

Heilung in ihren Flügeln". Ihre Strahlen vergolden

die dunklen Berge des heiligen Landes und füllen seine

Thäler mit Licht und Wonne. Aller Herzen frohlocken:

Hosanna dem Sohne Davids! die Verheißung ist erfüllt.

— «Stehe auf, leuchte! denn dein Licht ist gekommen,

und die Herrlichkeit Jehovas ist über dir aufgegangen ...

Und Nationen wandeln zu deinem Lichte hin, und Könige

zu dem Glanze deines Aufgangs." (Jes. 60, 1. 3.)

Gedanken.

Es ist ein armseliges Ding, wenn ein Christ unausgesetzt

beschäftigt ist, andern geistliche Speise zu bringen,

während er selbst dem Hungertode nahe ist.

Welch ein Glück ist es, daß wir ein Vater herz

haben, zu dem wir kommen und auf daS wir vertrauen

dürfen! Wir brauchen nicht den Mut sinken zu lassen,

so lange über der Schatzkammer unsers Vaters die Ueber-

schrift steht: „Er giebt größere Gnade." Seine

Gnade ist ohne Grenzen, unendlich und unerschöpflich.

251

Wenn Tage der Prüfung dein Teil sind, dann verweile

viel in der Gegenwart Dessen, der ein Gott alles

Trostes ist, und der nicht über Vermögen versucht werden

läßt; und du wirst erfahren, wie selbst die von Ihm gesandte

Trübsal in Seiner Hand ein Mittel ist, um dich

Sein stets in Liebe thätiges, mitfühlendes Herz kennen zu

lehren, und wie du ebensosehr Ursache hast, Ihm für die

bösen, wie für die guten Tage zu danken. — Sind

aber Tage der Ruhe dein Teil, dann verweile erst recht

in der Nähe des Herrn. In solchen Tagen ist Gefahr

im Verzüge; denn wenn der Weg des Christen glatt und

eben ist, wie leicht schleichen sich dann Trägheit und

Gleichgültigkeit ein, und wie schnell gewinnen die Dinge

dieser Welt neuen Reiz für Auge und Herz!

Es ist besser, in neunundneunzig von hundert Fällen

getäuscht zu werden, als ein einziges Mal Herz und Hand

vor einem würdigen Gegenstand zu verschließen. Unser

himmlischer Vater läßt Seine Sonne scheinen über Böse

und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.

Derselbe Sonnenstrahl, der das Herz des treuen Dieners

Christi erfreut, erhellt auch den Pfad des gottlosen Sünders;

und derselbe Regenschauer, der auf den Acker des wahren

Gläubigen fällt, tränkt auch die Furchen des ungläubigen

Lästerers.

„Was machet ihr dem Weibe Mühe? denn sie hat

ein gutes Werk an mir gethan." (Matth. 29, 10.)

Welch ein scharfer Verweis für die Jünger, und welch

eine liebliche Anerkennung des Dienstes der Maria!

„Ein gutes Werk an mir" — das charakterisierte

252

ihre That und zeichnete sie vor allen andern aus. Es

mag sein, daß jemand eifrig das Evangelium predigt, daß

er alle seine Habe den Armen giebt, daß er selbst auf

der höchsten Stufe der Sittlichkeit und äußern Religiosität

steht, und doch hat er vielleicht noch nie etwas gethan,

wovon Christus sagen könnte: „Es war ein gutes Werk

an mir". — Maria kannte nur einen Zweck, vor

ihren Augen stand nur eine Person, und dieser Zweck

und diese Person war Jesus. Darum hat ihr die Hand

des Herrn auch ein Denkmal errichtet, das nie und nimmer

vergehen wird. Kaiser- und Königreiche sind erstanden,

haben geblüht und sind wieder in Vergessenheit geraten.

Denkmäler sind errichtet worden zur Erinnerung an die

Thaten großer Männer, und diese Denkmäler sind wieder

zu Staub geworden. Aber die That jenes unbekannten

Weibes in Bethanien lebt fort und wird fortleben in

Ewigkeit. — Der Herr gebe uns Gnade, ihr nachzuahmen!

Wie hat's die Seele doch so gut!

Wie hat's die Seele doch so gut,

Die sich dem Herrn ergiebt,

Die nichts mehr will und nichts mehr thut,

Als daß sie Jesum liebt!

Still wandelt sie an Seiner Hand,

Ein selig Kind des Lichts,

Das Antlitz hin zu Ihm gewandt,

Und scheut und fürchtet nichts.

Sie ziehet mutig ihre Bahn,

Mit Ihm wird nichts zu schwer;

Durch Kampf und Leid geht's himmelan,

Sie weiß, Er liebt so sehr!

Die Berufung Rebekkas.

(1. Mose 24.)

Im 22. Kapitel des 1. Buches Mose haben wir in

der Opferung Isaaks das bekannte Vorbild von der Aufopferung

des Sohnes Gottes. Wir hören dort, daß

Gott sich selbst ein Lamm zum Brandopfer ausersehen

werde. Isaak wurde im Bilde geopfert und im Bilde

aus den Toten wieder empfangen. So hat auch Gott

Seines eignen Sohnes nicht geschont. Christus mutzte

erhöht werden, und wir dürfen hinzufügen: Er ist am

Kreuze erhöht worden, das Versöhnungswerk ist vollbracht.

Christus ist gestorben, und Gott hat Seinen Sohn aus

den Toten wieder empfangen. Wie einst, nach jener ernsten

Scene auf dem Berge Morija, der lebende Isaak mit

seinem Vater nach Kanaan zurückkehrte, so ist jetzt der

auferstandene Christus zu Seinem Vater zurückgekehrt, und

lebt heute droben zur Rechten Gottes. Bei diesem Punkte

beginnt die Unterweisung des 24. Kapitels unsers Buches.

Sarah, die Mutter Isaaks, war, wie uns im

23. Kapitel erzählt wird, inzwischen gestorben. So ist

auch Israel, aus welchem dem Fleische nach unser Herr

gekommen ist, für die gegenwärtige Zeit beiseite gesetzt,

und damit erhebt sich die Frage: Was sind die Gedanken

und Ratschlüsse Gottes für den Zeitabschnitt, in welchem

wir leben? Christus hat sich als das große Sündopfer

254

dargestellt. Gott hat Ihn aus den Toten auferweckt.

Israel ist als Volk für den Augenblick vom Schauplatz

verschwunden, und alle dieses Volk angehenden Ratschlüsse

Gottes sind gleichsam aufgeschoben. Seine wunderbare

prophetische Geschichte harrt noch ihrer Erfüllung. Was

also bringt Gott heute in Ausführung?

Unser Kapitel giebt in vorbildlicher Weise Antwort

auf diese Frage. Drei Personen erscheinen vor unsern

Blicken, die das Werk des Vaters, des Sohnes und des

Heiligen Geistes bildlich darstellen; und zwar verfolgen

alle einen Zweck, ein Ziel. Zwei Personen sind in

Kanaan, und eine wird nach Syrien geschickt. Abraham,

der Vater, sendet den Verwalter seines Hauses und seiner

Habe von Kanaan nach Mesopotamien, um dort für Isaak,

den Sohn, (der im Bilde aus den Toten auferstanden war

und sich jetzt in Kanaan befand,) eine Braut zu suchen

und nach Kanaan zu bringen.

Nichts könnte die Ratschlüsse Gottes schöner versinnbildlichen.

Wie Abraham seinen Knecht sandte, so

hat Gott den Heiligen Geist gesandt; Er ist jetzt hienieden,

eine lebendige Person auf dieser Erde, gerade so wirklich

wie es einst der Knecht Abrahams in Syrien war. Die

Absicht Abrahams in der Sendung seines Knechtes war,

für seinen Sohn ein Weib zu holen; die Absicht Gottes

in der Sendung des Heiligen Geistes ist, jenen einen

Leib zu bilden, von welchem der Apostel Paulus so viel

redet, die Braut des Lammes, des geliebten Sohnes

Gottes. Der Knecht kam, um die von Gott für Isaak

bestimmte Braut ausfindig zu machen und nach Kanaan

zu geleiten. „Die du deinem Knechte, dem Isaak, bestimmt

hast" (V. 14), sagt Elieser; und dies erinnert

255

uns an den herrlichen Ausspruch des Apostels in Eph. 1:

„wie Er uns auserwählt hat in. Ihm vor Grundlegung

der Welt"; oder an die lieblichen Worte des Herrn Jesu

in Joh. 6: „Alles was mir der Vater giebt, wird zu

mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht

hinauswerfen".

Und was von der Kirche in ihrer Gesamtheit wahr

ist, ist auch wahr von jedem einzelnen Gläubigen insonderheit.

Wie wenig kannte Rebekka von den göttlichen

Ratschlüssen betreffs ihrer Person und von ihrem unmittelbaren

Interesse an dem was vorging, als sie mit dem

Kruge auf ihrer Schulter zum Brunnen kam! Elieser

bittet sie um einen Trunk Wasser. Sie entspricht sofort

dieser Bitte, läßt ihren Krug eilend hernieder, tränkt den

Fremdling und beginnt dann auch den Kamelen zu schöpfen.

„Und der Mann sah ihr staunend zu, schweigend, um zu

wissen, ob Jehova Glück gegeben habe zu seinem Wege

oder nicht." (V. 21.) Welch eine liebliche Scene!

Gerade so werden diejenigen, welche Gott Seinem Sohne

gegeben hat, willig gemacht, zu Ihm zu kommen.

Beachten wir, was der Knecht jetzt zunächst thut.

„Und es geschah, als die Kamele genug getrunken hatten,

da nahm der Mann einen goldnen Ring (eig. Nasenring),

ein halber Sekel sein Gewicht, und zwei Spangen an

ihre Arme, zehn Sekel Gold ihr Gewicht." JesuS hat

von dem verheißenen Sachwalter gesagt: „Er wird nicht

aus sich selbst reden ... Er wird mich verherrlichen,

denn von dem Meinen wird Er empfangen und euch

verkündigen." (Joh. 16, 13.14.) Der Knecht Abrahams

nennt nicht ein einziges Mal seinen eignen Namen. Er

nimmt die goldnen Kleinode, die der Vater für die Braut

256

seines Sohnes gesandt hat, und giebt sie ihr. Er selbst

sagt nachher: „Ich legte den Ring an ihre Nase und die

Spangen an ihre Arme." (V. 47.) O mit welcher Wonne

legt der Heilige Geist das herrliche Kleinod, die Gerechtigkeit

Gottes selbst, gleichsam an die Stirn aller derer,

welche glauben! Welch eine unaussprechliche Gnade: die

Sünde nicht zugerechnet! die Gerechtigkeit zugerechnet!

Jesus, unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben, unsrer

Rechtfertigung wegen auserweckt! Welch ein Kleinod!

Christus, uns geworden zur „Weisheit von Gott und

Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung"! Gott ist

gerecht, und Er rechtfertigt alle, die an Jesum glauben.

Welch eine Gabe! Gerechtigkeit ohne Werke! — Trägst du

dieses Kleinod schon an deiner Stirn, mein lieber Leser?

Ist der auferstandene Christus deine Gerechtigkeit? Bist

du in Ihm, dem Geliebten, annehmlich gemacht vor Gott?

Dann giebt es keine Verdammnis mehr für dich; nur

Gerechtigkeit, Friede und Freude.

Und nun die beiden Spangen an den Armen der

Braut — deuten sie nicht hin auf die Unveränderlichkeit

in jener Stellung der Gerechtigkeit, auf die Unverbrüchlichkeit

jenes Bandes, das die Liebe Gottes geknüpft hat?

Wie schön ist der Weg, auf welchem der Geist Gottes

eine Seele zu Christo bringt! Er nimmt von den kostbaren

Dingen Christi und giebt sie ihr. Er ist der

Erste, der handelt; und wahrlich, herrliche Juwele sind

Seine Gabe: ewige Gerechtigkeit, ewige Liebe. Das war

der Ausgangspunkt bei Rebekka; und siehe da, sofort

war Raum in ihrem Hause für die Kamele und die

Männer. Aehnlich ist es mit einer Seele, welche die

Kostbarkeit Christi kennen lernt: in ihrem Herzen ist Raum

257

für den Gesandten Gottes, ja, Raum für den Sohn Gottes

selbst. Mit Laban war es anders. In seinem Falle

ist er zunächst der Handelnde. Als er die Kleinode an

der Nase und den Armen seiner Schwester erblickte, suchte

er durch sein Thun Gleiches zu erwerben. Er sprach:

„Komm herein, Gesegneter Jehovas! warum stehst du

draußen? Denn ich habe das Haus aufgeräumt, und

Raum ist für die Kamele." — Wie viele gleichen diesem

Manne! Sie wollen sich, wie er, die Kleinode der Gnade

verdienen. Sie meinen sich vorbereiten zu können auf

den Empfang des Sohnes Gottes. Sie wollen das Haus

aufräumen, kehren und schmücken. Ach! eine solche Gesinnung

ist dem stolzen Herzen des Menschen nur zu

natürlich. Sie kennt nichts von dem göttlichen Grundsatz

der Gnade, nach welchem die Kleinode zuerst kommen als

eine freie, unverdiente Gabe für den verlornen, ohnmächtigen

Sünder,.der fern von Gott ist.

Doch der Knecht Abrahams hat noch andere herrliche

Gaben in Bereitschaft für die Braut des Sohnes

seines Herrn. Sobald er seine Botschaft an den Vater

und Bruder Rebekkas ausgerichtet und eine bejahende

Antwort erhalten hatte, „zog er hervor silberne Geräte und

goldene Geräte und Kleider und gab sie Rebekka". (V. 53.)

Ja, alles das kam zuerst. War es nicht gerade so bei

dem verlornen Sohne? Sobald der Sohn seine Sünde

bekennt und sich selbst verurteilt, hören wir den Vater

sagen: „Bringet das beste Kleid her und ziehet es ihm

an, und thut einen Ring an seine Hand und Sandalen

an seine Füße." So besuchte einst die Gnade ein götzendienerisches

Weib in Mesopotamien, und so kommt heute

die Gnade Gottes dem umkehrenden, bußfertigen Sünder

258

entgegen. Sie fordert nichts, sie giebt nur. Aber

ach! was hat es den Herrn der Herrlichkeit gekostet, um

uns so mit dem besten Kleide bekleiden zu können! „Den,

der Sünde nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht,

auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm."

(2. Kor. 5, 21.)

Bist du ganz gewiß, mein lieber Leser, daß Gott

dir durch Seinen Geist schon so begegnet ist? Hast du

diese reinen, kostbaren Kleinode schon von Ihm empfangen?

Hast du sie erhalten ohne Geld und ohne Kaufpreis?

Rebekka kaufte sie nicht; sie verdiente sie nicht; sie verhandelte

auch nicht mit dem Knechte Abrahams über die

Bedingungen, unter welchen sie sie empfangen könnte.

Nein, er gab, und sie nahm; alles war ein unbedingtes

Gnadengeschenk. Ringe und Armspangen, kostbare Geräte

und Kleider — sie empfing alles ohne Geld und ohne

Kaufpreis. Gerade so ist es mit dem Gläubigen. Die

Gnade sucht ihn, die Gnade bekleidet und schmückt ihn,

und die Gnade macht ihn fähig für den bevorzugten Platz,

den er haben soll zur Seite des Herrn vom Himmel.

Kannst du sagen, mein Leser, daß Gott der Vater dich

so durch und in Seinem Sohne fähig gemacht hat für

das Erbteil der Heiligen in dem Lichte?

Nachdem Rebekka jene reichen Geschenke empfangen

hat, tritt die Frage an sie heran: „Willst du mit diesem

Manne gehen?" Ihre Antwort lautet klar und bestimmt.

„Und sie antwortete: Ich will gehen." Wie viel war

in dieser Entscheidung eingeschlossen! Sie mußte alles

verlassen, was ihr bis dahin teuer gewesen war: das Haus

ihres Vaters, ihre Verwandtschaft, ihre Heimat samt ihrer

götzendienerischen Religion. Sie mußte sich ganz und gar

259

der Leitung des Knechtes Abrahams anvertrauen. Sie

war der einzige Gegenstand, den er in Mesopotamien suchte.

„Und Rebekka machte sich auf und ihre Dirnen, und sie

ritten auf den Kamelen und folgten dem Manne; und der

Knecht nahm Rebekka und zog hin." (V. 61.) Der Natur

gefiel dieser kurze, bestimmte Entschluß keineswegs; sie

hätte die rasche Abreise gern verhindert. „Und ihr Bruder

und ihre Mutter sprachen: Laß die Dirne einige Tage

oder zehn bei uns bleiben, darnach magst du ziehen."

Aber Elieser besteht darauf, sofort zu seinem Herrn

zurückzukehren, und Rebekka ist völlig bereit, mit ihm

zu gehen.

Mein lieber Mitpilger! wie lautet dein Entschluß?

Sagst du auch: „Ich will gehen"? Oder möchtest

du lieber noch einige Tage mit der Welt und ihren Dingen,

mit der Natur und ihren Einflüssen in Verbindung bleiben?

Vor Rebekka lag eine lange Reise durch die Wüste; aber

am Ende derselben war Isaak. Jede Stunde, ja jeder

Schritt entfernte sie weiter von Mesopotamien, aber brachte

sie auch näher zu Isaak. Gerade so ist der Pfad des

Christen. Wie Abraham seinen Knecht aussandte, um

Rebekka aus dem fernen Lande ihrer neuen Heimat zuzuführen,

gerade so hat Gott den Heiligen Geist herniedergesandt,

um den Gläubigen durch die Wüste in seine ewige

Heimat droben zu geleiten. Rebekka folgte willig dem

Manne, bis zu dem Augenblick, da sie ihre Augen aufhob

und Isaak sich entgegenkommen sah. Und heute gilt für

den Schreiber und Leser dieser Zeilen die ernste Frage:

Machen wir es auch so? Folgen wir unserm himmlischen

Führer mit festem Tritt, indem wir unser Auge unverrückt

auf unser herrliches Ziel gerichtet halten? Lautet der Ent

260

schluß unsrer Herzen: Ich will gehen, koste es was

es wolle?

Abraham sandte seinen Knecht nicht nach Mesopotamien,

um die Bewohner des Landes zu veranlassen,

ihren Götzendienst aufzugeben und eine bessere Religion

anzunehmen, auch nicht, um ihre Sitten zu verfeinern oder

ihre Gesinnung zu veredlen. Auch sagte Rebekka nicht:

„Ich möchte doch bei meinen Freunden und Verwandten

bleiben und, wie bisher, an ihren Vergnügungen und Genüssen

teilnehmen. Warum kann Isaak nicht nach Syrien

kommen und seine Wohnung bei uns aufschlagen? Welch

einen Vorzug hat Kanaan vor Mesopotamien?" Nein, sie

sagte einfach und bestimmt: „Ich will gehen". Sie überlegte

nicht, sie besann sich nicht; ihr Entschluß standfest.

Sie wandte sich ab von den stummen Götzen Syriens und

folgte dem Rufe nach Kanaan. Eine neue Macht zog ihre

Seele unwiderstehlich an wie ein starker Magnet.

Sie ist in dieser Hinsicht ein schönes Vorbild von

der Kirche oder Versammlung Gottes, wie diese im Neuen

Testament gesehen wird. Die gläubigen Thessalonicher z. B.

„hatten sich von den Götzenbildern zu Gott bekehrt, dem

lebendigen und wahren Gott zu dienen und Seinen Sohn

aus den Himmeln zu erwarten." (t. Thess. 1, 9. 10.)

Die Jungfrauen gingen aus, dem Bräutigam entgegen.

(Matth. 25.) Aber ach! in welch trauriger Weise hat

sich alles verändert! wie sind sie alle eingeschlafen, und wie

lange hat der Schlaf gewährt! Die Kirche hat beinahe

ganz vergessen, daß ihr Herr verheißen hat, vom Himmel

wiederzukommen, um sie ins Vaterhaus zu führen. Der

Heilige Geist ist zwar gekommen, und Er bleibt bei und

in uns bis zum Ende hin; aber verhältnismäßig wie

261

wenige haben ein Verständnis darüber, daß Sein Zweck

ist, die Braut ihrem Herrn entgegenzuführen, wie einst

Abrahams Knecht Rebekka aus dem fernen Lande nach

Kanaan holte!

„Und Rebekka machte sich auf und ihre Dirnen, und

sie ritten auf den Kamelen und folgten dem Manne;

und der Knecht nahm Rebekka und zog hin . . . Und

Isaak ging aus, zu sinnen auf dem Felde beim Anbruch

des Abends; und er hob seine Augen auf und sah, und

siehe, Kamele kamen." (V. 61. 63.) Wie sehr wir

auch den Augenblick vergessen mögen, an welchem wir

dem Herrn begegnen werden, so denkt Sein Herz der

Liebe doch unaufhörlich daran. Wie unbegreiflich ist es,

daß wir Ihn vergessen können! Hebe deine Augen auf,

mein Leser, und sieh im Glauben jenen Heiligen und

Hochgelobten droben in der Herrlichkeit, wie Er über uns

sinnt und an uns denkt! Welch eine Scene wird es

sein, wenn Er kommen und die Millionen von Erlösten

sehen wird, die Ihm entgegengerückt werden in die Luft!

„Und Rebekka hob ihre Augen auf und sah Isaak." Kostbare,

gesegnete Hoffnung! Auch wir werden einmal —

und wer weiß, wie bald! — unsre Augen aufheben und

Jesum sehen und dann für immer bei unserm Herrn sein.

Wie Isaak in Kanaan eine Wohnstätte für seine Braut

bereitet hatte, so hat Jesus eine Stätte für uns bereitet

im Vaterhause droben. Der Heilige Geist wird die in

Christo Jesu vor Grundlegung der Welt auserwählte

Braut ihrem Herrn entgegenführen; und wie der Knecht

Abrahams einst Rebekka dem Isaak darstellte, so wird

der Heilige Geist, der einzige Führer der Kirche heute,

die himmlische Braut Christo darstellen.

262

Darum, wie treffend und wahr ist das Vorbild in

allen seinen Einzelheiten! Isaak wurde auf dem Altar

geopfert; so ist Christus, unser großes Sündopfer, auf

dem Kreuze geopfert worden. Isaak wurde im Bilde aus

den Toten empfangen. Jesus wurde in Wirklichkeit aus

den Toten auferweckt, zu unsrer Rechtfertigung, und dann

zur Rechten der Majestät in der Höhe von Gott empfangen.

Drei Personen vereinigten sich zu demselben Zweck, eine

Braut für den auferstandenen Isaak zu finden. So sandte

der Vater den Heiligen Geist, um aus dieser Welt heraus

eine Braut für Christum zu sammeln. Der goldene Ring

und die goldenen Armspangen wurden Rebekka angelegt;

so ist keine Verdammnis mehr für den Gläubigen, die

Gerechtigkeit Gottes ist ihm zugerechnet, und keine Scheidung

von der Liebe Gottes in Christo mehr möglich!

Silberne und goldene Geräte und Kleider wurden der

Braut geschenkt; so werden die Herrlichkeiten der Person

Christi durch den Geist vor unsern Blicken entfaltet.

Vollendet in Christo — welch ein Kleid! Fähig gemacht

zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte — welch

ein Kleinod! Und alles das ist unser, unser auf immer

und ewig; das sichere Teil eines jeden Kindes Gottes.

Glaubst du an den Sohn Gottes, mein Leser, so ist alles

dein, unwiderruflich dein.

Und dann kommt der Prüfstein für die Verantwortlichkeit

des Glaubens, der durch die Liebe wirkt:

„Willst du mit diesem Manne gehen? — Ich will gehen."

Ja, es giebt Einen, den wir lieben, obgleich wir Ihn

nicht gesehen haben. Rebekka zog aus in völliger und

alleiniger Abhängigkeit von der Leitung des Knechtes

Abrahams. So hat es auch die Kirche im Anfang ge

263

macht; ach, wäre sie nur dabei geblieben! Der Heilige

Geist ist der einzige Führer, der den Weg kennt und uns

sicher der Heimat zuführen kann.

Nun, wenn es die Absicht Gottes des Vaters ist, in

dieser Periode des Christentums aus der Welt die erlöste

Braut Christi zu sammeln, und wenn die Regierung dieser

Erde durch den Messias ganz und gar zukünftig ist, wie

das Wort Gottes es deutlich bezeugt, ist dann nicht jeder

Zug dieses göttlichen Gemäldes von der heutigen Christenheit

fast ins Gegenteil verkehrt worden? Wo finden wir,

selbst bei den Gläubigen unsrer Tage, jenes eifrige, aufrichtige

Trachten nach wahrer Heiligkeit? Kann man im

allgemeinen von ihnen sagen, daß sie der Welt den Rücken

gekehrt und das Antlitz Christo zugewandt haben, um Ihn

aus den Himmeln zu erwarten? Hat nicht vielmehr eine

große Zahl dem Kommen des Herrn den Rücken und der

Welt das Antlitz zugekehrt, vielfach unter dem Vorwande,

diese Welt zu verbessern, die doch Christum verworfen hat

und Ihn heute noch verwirft? Das Herz hängt an der

Welt; es kann sich nicht losreißen und fragt: „Was kann

es denn schaden, an ihren unschuldigen Freuden teilzunehmen

? Sollten wir nicht gerade mit ihr in Verbindung

bleiben, um als ein Salz in ihr zu dienen und dem fortschreitenden

Verderben zu steuern?" O wie ränkevoll ist

das arme menschliche Herz! Der Herr sagt: „Gehet aus

aus ihrer Mitte und sondert euch ab, und rühret Unreines

nicht an, und ich werde euch aufnehmen." Das Herz

sagt: „Bleibe in ihrer Mitte und sondere dich nicht ab;

es würde dir nur Ungelegenheiten bereiten und anderen zum

Aergernis dienen." So wird das Gebot des Herrn umgangen

und das Gewissen mit allerlei Scheingründen be

264

ruhigt. Doch was sagt der Herr? „Wer meine Gebote

hat und sie hält, der ist es, der mich liebt." (Joh.

14, 21.) Darum „wache auf, der du schläfst, und stehe

auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten I"

(Eph. 5, 14.)

Wäre Rebekka auf ihrer Reise zu einem Punkte gekommen,

wo der richtige Weg schwer zu erkennen gewesen

wäre, und hätten zwanzig Männer dagestanden und ihr

zwanzig verschiedene Richtungen angegeben, was würde sie

gethan haben? Würde sie nicht einfach dem Knechte und

Führer, den ihr Abraham gesandt hatte, gefolgt sein?

Und du, mein Leser? Vielleicht bist du auch au

einem solchen Kreuzwege angekommen. Was willst du

thun? Den verwirrenden Ratschlägen der Menschen Gehör

geben, oder mit einem Herzen, das sich unwiderstehlich

zu Christo hingezogen fühlt, dich der einzig sichern Leitung

des Heiligen Geistes überlassen, des himmlischen Boten,

den der Vater dir gesandt hat, um dich sicher ans Ziel

zu bringen? Und wie kannst du die Leitung des Geistes

erkennen? In dem Worte der Wahrheit, in welchem Er

alles niedergelegt hat, was wir für unsern Pilgerpfad

bedürfen. O möchtest du es machen wie Rebekka! Dann

wird dein Rücken der Welt zugekehrt und dein Antlitz nach

oben gerichtet sein; mit aufgehobenen Augen wirst du

Ihn erwarten, der in einem Nu, in einem Augenblick,

dich verwandeln und entrücken wird, damit du dann bei

Ihm seiest auf immerdar.

265

„In den Nußgarten ging ich hinab."

(Hohel. 6, 11—13.)

„In den Nußgarten ging ich hinab, um zu besehen

die jungen Triebe des Thales, um zu sehen, ob der Weinstock

ausgeschlagen wäre, ob die Granaten blühten. Unbewußt

setzte mich meine Seele auf den Prachtwagen

meines willigen Volkes." (V. 11. 12.) Wie selten geschieht

es, daß der Weingärtner von der Fülle und Reife

der Früchte seines Weinberges überrascht dasteht! Enttäuschung,

nicht aber Genugthuung, muß er nur zu oft

als die Frucht seiner Mühe einernten. Und wir dürfen

wohl sagen, daß es von jeher so gewesen ist mit Israel,

dem Weinberge des Herrn. Doch hier ist es anders.

Alles ist verändert, und in der lieblichsten Weise verändert.

Die Gnade strahlt in herrlichem Glanze, der Glaube triumphiert,

der Herr trägt den Sieg davon, und Sein Volk

blickt und rechnet auf Ihn, auf Ihn allein. Alles ist

reif in Juda für die Herrlichkeit.

Gesegneter Tag! Der Herr erblickt jetzt in Seinem

Volke die reifen Früchte Seiner Gnade. Sein Herz frohlockt,

ja es wird von dem Anblick ganz überwältigt. Es

handelt sich nicht länger um die Wüste und Seine Verbindung

mit dem Volke dort, sondern ein fruchtbarer

Garten steht vor unsern Blicken mit den jungen Trieben

des Thales, mit grünenden Reben und blühenden Granaten.

Diese Früchte Seiner reichen, langmütigen Gnade bewegen

den Herrn tief. Seine Liebe zieht Ihn hin zu Seinem

jetzt so völlig veränderten und willigen Volke. „Unbewußt

setzte mich meine Seele auf den Prachtwagen meines Wil

266

ligen Volkes." (Vergl. Ps. 110, 3.) Wie wunderbar ist

es, das Herz(des Herrn so bewegt, so hingerissen zu sehen

durch die Bereitwilligkeit Seines Volkes, Ihn aufzunehmen!

Wahrlich, diese Seite der Liebe unsers Herrn erfordert

unsre tiefe, eingehende Betrachtung. Welch ein Gedanke,

daß der Herr des Himmels und der Erde durch Herzen,

die nach Ihm verlangen, so völlig hingerissen und mit

tiefster Freude erfüllt werden kann! Möchte doch jede bußfertige,

aber ängstlich zweifelnde Seele dies hören und

glauben! Wenn einmal die Tochter Zion die Füße ihres

Herrn mit ihren Thränen benetzen wird, dann wird Er

sich von allem andern abwenden und eilend sie trösten.

Die Fülle.Seines Herzens wird zu ihr ausströmen, und

Vergebung, Heil und Frieden werden ihr ewiges Teil sein.

Im Neuen Testaments begegnen wir manchem ähnlichen

Beispiel von derDereitwiÜigkeii unsers Herrn, dem

schuldigen Sünder in Gnade zu begegnen. Gott hat von

jeher so gehandelt; aber im Neuen Testament tritt uns

die persönliche Liebe und Gnade Christi lebendiger entgegen.

Nichts erfreut Sein Heilandsherz mehr, als einem

armen, verlornen Sünder Gnade zu erweisen und ihn zu

erretten. Wandte Er sich nicht um in dem Drängen und

Schieben der Volksmenge, um die Eine zu sehen, welche

den Saum Seines Kleides angerührt hatte? Sie hätte

sich ebenso still und unbeobachtet wieder entfernen können,

wie sie gekommen war; aber Seine Liebe wäre damit

nicht befriedigt gewesen. Sie mußte ans Licht kommen,

und der ganze Vorgang mußte zu ewigem Gedächtnis ausgezeichnet

werden. Niemand war so tief an dem, was

geschehen war, interessiert wie Er selbst. Das Weib hatte

im Glauben gleichsam die innersten Quellen Seines Herzens

267

ungerührt, und die Kraft, die in Ihm war, floß zu ihr

aus. Doch der Herr wünschte sie selbst zu sehen und aus

ihrem eignen Munde zu hören, was sie erfahren hatte;

und dann rief Er ihr die lieblichen Worte zu: „Tochter,

dein Glaube hat dich geheilt; gehe hin in Frieden und

fei gesund von deiner Plage." (Mark. 5.)

Gerade so erfreut und innerlich bewegt war Er durch

den Schrei um Erbarmen aus dem Munde des blinden

Bettlers. (Luk. 18.) Er befand sich auf einer wichtigen

Reise, und eine große Volksmenge begleitete Ihn. Soll nun

der ganze Zug still stehen, weil ein armer Bettler um Hilfe

ruft? Nein, die Vorangehenden bedrohen ihn, und gebieten

ihm zu schweigen. Aber was thut der Sohn Davids?

Sobald der Ruf Sein Ohr erreicht, steht Er still. Er

geht keinen Schritt weiter. „Jesus aber stand still und

hieß ihn zu sich führen. Als er aber sich näherte, fragte

Er ihn und sprach: Was willst du, daß ich dir

thun soll?" Welch ein Anblick! Ein armer, blinder

Bettler, geleitet von mitleidiger Hand, und Jesus, auf

ihn wartend! „Was willst du, daß ich dir thun soll?"

Der Herr beeilt sich nicht, Sein Werk zu vollenden; Er

zögert gleichsam, weil Ihn der ganze Vorgang so herzlich

erfreut. Seine Seele ist tief bewegt; Er allein kannte den

wunderbaren Ausgang der Sache. Aber welch eine Stellung

für den armen, bedauernswürdigen Mann vor Ihm! Was

würdest du vom Herrn erbeten haben, mein Leser, wenn d u

so vor Ihm gestanden hättest? Ist es nicht gerade so, als

wenn der Herr gesagt hätte: „Bitte nur, um was du

willst; ich stehe bereit, dir zu dienen und deiner Bitte zu

willfahren"? Der Bettler bittet nur um das, was er so

schmerzlich entbehrte, um sein natürliches Augenlicht. „Er

268

sprach: Herr, daß ich sehend werde!" Und der Herr?

Er entspricht seiner Bitte nicht nur, sondern giebt ihm

tausendmal mehr. „Und Jesus sprach zu ihm: Sei

sehend! dein Glaube hat dich geheilt (od. gerettet)." Der

Ausgang dieser Scene ist überaus herrlich. Der Geheilte

folgt Jesu im Glauben nach und verherrlicht Gott; „und

das ganze Volk, das es sah, gab Gott Lob". Der ganze

Vorgang ist ein schönes Bild von der Zeit des tausendjährigen

Reiches.

Doch von allem, was uns im Neuen Testament berichtet

wird, ähnelt die Geschichte von dem verlornen Sohne

wohl am meisten der Scene hier im Hohenliede. Die

reuevolle Umkehr des Sohnes treibt den Vater in Eile

zu ihm hin. Er läuft seinem Sohne entgegen. „Als

er aber noch ferne war, sah ihn sein Vater und ward

innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um seinen Hals

und küßte ihn sehr." Die Liebe des Vaterherzens und der

Wunsch des Sohnes, zu ihm zurückzukehren, kommen einander

auf halbem Wege entgegen; und der Vater leitet den

Sohn mit bewegtem Herzen der glücklichen Heimat zu.

Aehnlich wird es mit dem Bräutigam am Ende der

Tage sein. Der tiefe Schmerz, die göttliche Betrübnis

Seines Volkes in jener Zeit, besonders derer aus dem

Stamme Juda, und ihr ernstes Verlangen nach der Ankunft

des Messias wird Seine Liebe in Thätigkeit setzen

und Ihn veranlassen, Sein Kommen zu beschleunigen.

„Unbewußt setzte mich meine Seele auf den Prachtwagen

meines willigen Volkes." Und indem Er die Leitung

Seines Volkes übernimmt, wie ein Wagenlenker diejenige

des Wagens, wird Er ihre völlige Befreiung bewirken

und sie in Eile zu Herrlichkeit und Triumph führen.

269

„Kehre um, kehre um, Sulammith; kehre um, kehre

um, daß wir dich anschauen! — Was möget ihr an der

Sulammith schauen? — wie den Reigen von Machanaim

(od. von zwei Heeren)". (V. 13.) Die Jungfrauen stimmen

jetzt wieder voll Bewunderung in den Chor ein.

Sie wünschen, mehr von der Schönheit, Vollkommenheit

und Herrlichkeit der Braut zu sehen. Sie ergeht sich mit

dem Könige im Nußgarten. Kostbares Vorrecht! Die

Jungfrauen nennen sie mit einem neuen Namen: „Kehre

um, kehre um, Sulammith!" Sulammith ist die weibliche

Form des Namens Salomo. Das ist bedeutungsvoll.

Die Vereinigung ist geschehen; die lange unterbrochenen

Beziehungen sind wiederhergestellt; die Gnade

hat ein vollkommnes Werk in der Braut gethan. Der

Herr kann sich ihr jetzt völlig offenbaren, und sie wirft

die Strahlen Seiner Herrlichkeit ungetrübt zurück: „sie ist

schön wie der Mond, rein wie die Sonne". Sie steht

in der wolkenlosen Gunst des Königs und besitzt und genießt

Seine ganze Liebe. Wahrlich, darin kann das Herz

vollkommen und ewig ruhen. Nichts könnte höher und

gesegneter sein. Ruhst auch du in dieser Liebe, meine

Seele? in der bewußten und tiefempfundenen Liebe deines

Geliebten? Er hat sich dir geoffenbart, sich selbst dir

geschenkt; was könnte Er mehr thun? Im Himmel kann

es keinen solchen Ausdruck Seiner Liebe geben, wie er

hier auf Erden in dem Kreuze ans Licht getreten ist.

Das Blut, das auf Golgathas Höhen vergossen wurde,

bildet den vollkommnen Ruheort für das Gewissen; die

Liebe, die sich dort geoffenbart hat, den vollkommnen

Ruheort für das Herz. Und alles das ist jetzt dein.

„Glaube nur!"

270

Noch andere Jungfrauen fallen jetzt, wie es scheint,

in den Chor ein und fragen: „Was möget ihr an der

Sulammith schauen?" Die sofortige Antwort lautet:

„Wie den Reigen von Machanaim, od. von zwei Heeren".

Tirza, die Schöne, und Jerusalem, die Liebliche, werden

vereint in ihr gesehen werden. Einige Ausleger haben

gemeint, daß der Geist hier an den beständigen Kampf

zwischen dem alten und dem neuen Leben in dem

Gläubigen denke; aber wir halten dies für einen Irrtum.

Der Ausdruck deutet keineswegs auf Kampf und Streit,

sondern vielmehr auf Frieden und Freude, Einheit und

Herrlichkeit hin. Dürfen wir hier nicht eher an die Wiedervereinigung

des lange getrennten Hauses Jakobs unter dem

Scepter des Friedensfürsteu denken? Juda und Israel sind

nicht länger zwei Nationen, die mit einander streiten, sondern

sie erscheinen hier aufs innigste mit einander verbunden.

Wie der Reigen von Machanaim, so werden sie hier durch

die liebende, friedliche (Sulammith bedeutet „die Friedliche")

Braut des wahren Salomo dargestellt. Diese Vereinigung

wird sich im Beginn des tausendjährigen Reiches, der Herrschaft

des Friedens, vollziehen. „Und der Neid Ephraims

wird weichen, und die Bedränger JudaS werden ausgerottet

werden. Ephraim wird Juda nicht beneiden, und

Juda wird Ephraim nicht bedrängen." (Jes. 11, 13.)

Der König von Salem regiert, die zwölf Stämme sind

wieder vereinigt, die Völker ihnen unterworfen — alles

ist Friede und Segnung. Die Kriegstrompete hängt unbenutzt

in der Halle, die Schwerter sind zu Pflugscharen,

die Speere zu Winzermessern umgeschmiedet, und die

Völker werden die Kriegskunst nicht einmal mehr lernen.

(Jes. 2, 4.)

271

Doch abgesehen von der bildlichen Darstellung in

unserm Kapitel, möchte ich fragen: „Ist es ein schriftgemäßer

Gedanke, daß der christliche Kampf zwischen dem

alten und dem neuen Leben geführt werde?" Sicherlich

nicht. Der Kampf geht vor sich zwischen dem Fleisch

und dem Geist. „Das Fleisch gelüstet wider den

Geist, der Geist aber wider das Fleisch." (Gal. 5, 17.)

Es heißt nicht: „Das alte Leben gelüstet wider das neue,

und das neue wider das alte." Wo dieser Gedanke festgehalten

wird, muß die Erkenntnis über das Kreuz und

das an ihm vollbrachte Werk sehr mangelhaft sein. Der

Apostel belehrt uns in Röm. 6, 1 — 11 in klarer, bestimmter

Weise, daß unser alter Mensch mit Christo gekreuzigt

worden ist, „auf daß der Leib der Sünde abgethan

sei, daß wir der Sünde nicht mehr dienen". Hieraus

geht unzweideutig hervor, daß in Gottes Augen, und

jetzt auch für den Glauben, unsre alte Natur

am Kreuze zu ihrem Ende gekommen ist.

Welch ein Trost für unsre Herzen! Wir wissen selbstverständlich,

aus eigner schmerzlicher Erfahrung, daß die

alte Natur, die wir haben, noch existirt; und weiter, daß

sich diese alte Natur, wenn wir nicht unaufhörlich über

sie wachen und sie schonungslos verurteilen, sich als eine

Quelle endloser Beunruhigung, sowohl für uns als auch

für andere, erweisen wird. Man kann sagen, daß das

praktische Christentum aus zwei Dingen besteht: 1. aus

der Ernährung des neuen Lebens durch die Beschäftigung

mit Christo, und 2. aus der Verurteilung des alten Lebens,

auf welches Gott in feierlich-ernster Weise am Kreuze das

Todesurteil geschrieben hat. Indes möchte gefragt werden:

„Wie kann man denn gegen die Regungen dieser alten

272

Statur wachen und sie richten?" Der Apostel beantwortet

diese Frage mit den Worten: „Ich sage aber: Wandelt

im Geiste, und ihr werdet die Lust des Fleisches

nicht vollbringen." Wir haben keine Kraft

gegen die Natur, als nur im Heiligen Geiste und in der

durch den Glauben festgehaltenen und verwirklichten Thatsache,

daß das Fleisch nach Gottes Gedanken gekreuzigt

und für immer abgethan ist. Gepriesen sei der Name

Dessen, der das Kreuz für uns erduldet hat! Dort ist

unser alter Mensch mitgekreuzigt worden; dort wurde

er gleichsam ans Holz genagelt, dort wurde für immer

ein Ende mit ihm gemacht. An uns ist es, diese Thatsache

im Glauben zu erfassen und in der Kraft und

Freiheit, welche der Glaube an diese Wahrheit verleiht,

zu wandeln.

Bist du in das volle Verständnis dieser Grundwahrheit

eingegangen, mein lieber Leser? Dann weißt

du auch zu deinem ewigen Troste, daß von dem Augenblick

an, da wir durch den Glauben an Christum Leben

empfangen haben, unsre verdorbene Natur in der Schrift

als tot betrachtet und behandelt wird. „Ihr seid gestorben",

sagt die Schrift; aber das ist, Gott sei Dank,

nicht alles; wir lesen weiter: „und euer Leben ist verborgen

mit dem Christus in Gott". (Kol. 3, 3.) Wie

sicher, wie wohl geborgen ist also jeder wahre Gläubige:

„mit dem Christus in Gott!" Könnte unsre alte Natur

oder irgend etwas, das zu ihr gehört, in Gott verborgen

sein? Nein, nein! Alles was von uns ist, ist vergangen,

für immer dahin; alles was von Christo ist, bleibt — bleibt

in all seiner unveränderlichen Vollkommenheit an dem besten

Platz im ganzen Himmel, in Gott selbst. Durch das Kreuz

273

werden wir loS von allem, was von uns ist; in der

Auferstehung werden wir in den Besitz alles dessen einge-

sührt, was von Christo ist. In der neuen Schöpfung

wird nimmer das kleinste Teilchen von der alten gefunden

werden.

Der Apostel giebt uns im Galaterbrief eine eingehende

Belehrung über diese Wahrheit. „Ich bin mit

Christo gekreuzigt", sagt er; „und nicht mehr lebe ich,

sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im

Fleische, lebe ich durch Glauben." Paulus redet hier in

einer Hinsicht von sich als tot, als gestorben, in einer

andern als lebend. Wie ist das zu verstehen? Nur

durch den Glauben. Das alte „Ich", der alte Paulus,

ist gestorben, mit Christo gekreuzigt; das neue „Ich" ist

sein neues Leben, Christus in ihm. Das erste behandelt

er als tot, als sür immer abgethan; das zweite als sein

einziges Leben jetzt, nachdem er geglaubt hat. „Christus

lebt in mir". Die praktische Wirkung dieser Wahrheit,

wenn sie im Glauben ausgenommen wird, ist unermeßlich.

Das eigne, böse, verderbte Ich, welches

für den natürlichen Menschen bei all seinem Thun

Anfang, Mittel und Ende bildet, ist für den Glauben

hinweggethan, und Christus ist an die Stelle desselben

getreten. „Zu leben ist für mich Christus"; das heißt:

ich habe Christum zum Anfang, Mittel und Ende, zu

meinem einzigen Gegenstand und Zweck. Wir wissen wohl,

daß Paulus sein natürliches Leben hienieden, das Leben,

welches er stets als Mensch besessen hatte, nach wie vor

behielt; allein das Leben, in welchem er lebte, war ein

ganz und gar neues — Christus lebte in ihm. „Was

ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben,

274

durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich

selbst für mich hingegeben hat."

Alles dieses ist dem Grundsatz nach heute ebenso

wahr von jedem Gläubigen, wie einst von dem Apostel,

obgleich es sich in uns nicht so deutlich offenbaren mag.

Aber vergessen wir nicht: „Zunächst muß der Glaube an

die Wahrheit vorhanden sein, ehe ein Leben in der Kraft,

welche dieser Glaube verleiht, erwartet werden kann.

Indes steht deutlich geschrieben: „Die des Christus sind,

haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften unb

Lüsten." (Gal. 5, 24.) Beachten wir eS Wohl! Es

heißt nicht: sie kreuzigen es, sondern sie haben es

gekreuzigt. Und von wem wird das gesagt? Von weit

geförderten Christen, von Männern und Vätern in Christo?

Nein, es heißt einfach: „Die des Christus sind". Es ist

ebenso wahr von dem Kindlein, wie von dem Jüngling

oder dem Vater in Christo. Was war eS, das der

Kreuzigung an dem Fluchholze bedurfte ? War es etwas,

das Christo angehörte? Nein, es war das alte, böse

„Ich", das ans Kreuz genagelt und in Christo hinweggethan

werden mußte. Und daß dies geschehen ist, dafür

sei Sein heiliger Name ewiglich gepriesen!

Gott gebe allen Seinen teuer erkauften Kindern

Gnade, sich diese Wahrheit im Glauben zuzueignen, zu

wandeln in der Freiheit und Kraft des Heiligen Geistes,

und stets beschäftigt zu sein mit dem auserstandenen und

verherrlichten Christus!

275

Abraham und der König von Sodom.

(1. Mose 14.)

Abraham hatte einen großen Sieg davongetragen.

Mit einem kleinen Heere hatte er fünf kananitische Könige

überwunden. Es war ihm geglückt, Lot und dessen Hausgesinde

aus der Hand dieser Könige zu befreien. Im

Triumph kehrte er aus dem Kampfe zurück. Der König

von Sodom, dessen Volk ebenfalls durch den Sieg Abrahams

befreit worden war, kam ihm voll Freude und

Dankbarkeit entgegen. Sicher, das war ein glücklicher

Tag in dem Leben Abrahams. Der Herr hatte ihm

geholfen und seine Feinde in seine Hand gegeben; er hatte

alle Ursache, sich zu freuen.

In solchen Umständen vergißt die Seele sehr leicht

ihre Abhängigkeit von Gott. In der Freude des errungenen

Sieges beachtet man wenig die eigene Schwachheit

und die Notwendigkeit einer fortdauernden Bewahrung

von feiten Gottes. Man kennt zwar diese Notwendigkeit,

aber man vergißt sie, weil man zu sehr von dem Siege

erfüllt ist, den man über den Feind errungen hat. Und

der Teufel, der dieses sehr gut weiß, benutzt die Gelegenheit,

um die Seele in Versuchung zu führen.

Wir sehen dies bei Abraham. Kaum ist der eine

Kampf vorüber, so steht der andere schon vor der Thür;

und der zweite Kampf war gefährlicher als der erste.

Der König von Sodom nähert sich Abraham, um ihm die

Beute anzubieten. Satan hatte die Fäden der Versuchung

fein gesponnen. Denn wem gehörte die Beute von Rechtswegen?

Selbstverständlich dem Sieger. Nach menschlichem

Urteil wäre es also ganz in der Ordnung gewesen, wenn

276 —

Abraham die Beute für sich behalten hätte. Doch die Gedanken

Gottes sind andere als die Gedanken des Menschen.

Nicht von Sodom aus durften dem Patriarchen seine Reichtümer

zuströmen, sondern von Jehova, seinem Herrn.

Die Schätze Sodoms waren für ihn unrein; und mochte

Lot auch einen Ehrenplatz in Sodom einnehmen, so wollte

Abraham sich doch fern halten von der gottlosen Stadt

und von allem, was ihr angehörte. Um dies in einem

solchen Augenblick festzuhalten, dazu war Gnade und göttliches

Licht nötig. Doch Abraham wandelte mit dem

Herrn; und darum ermangelte er auch nicht des Lichts

und wurde in der Versuchung gestärkt.

Melchisedek, „ein Priester Gottes, des Höchsten",

kam Abraham entgegen, brachte Brot und Wein heraus

und segnete Abraham mit den Worten: „Gesegnet sei

Abram von Gott, dem Höchsten, der Himmel und Erde

besitzt!" (V. 18. 19.) Gott selbst sandte Seinen Priester,

um Abraham mit diesen herrlichen Worten anzureden.

Bis dahin hatte Abraham Gott wohl als den Allmächtigen

gekannt; aber als der Höchste, der Himmel und Erde

besitzt, war Er ihm noch nicht geoffenbart worden. Aber

hier offenbart sich Gott Seinem Knechte unter diesem

Namen, um ihn gegen die bevorstehende Versuchung zu

stärken. Der Höchste, der Himmel und Erde besitzt, konnte

sicher Abraham reich machen, ohne der Schätze Sodoms zu

bedürfen. Und Abraham verstand die Stimme des Herrn.

Denn als der König von Sodom einige Augenblicke später

sich näherte, um ihm die Beute anzubieten, antwortete er:

„Ich hebe meine Hand auf zu Jehova, zu Gott, dem

Höchsten, der Himmel und Erde besitzt: Wenn vom Faden

bis zum Schuhriemen, ja, wenn ich nehme von allem, was

277

dein ist . . .! auf daß du nicht sagest: Ich habe Abram

reich gemacht." Wie schön und beachtenswert ist das!

Melchisedek hatte ihn hingewiesen auf den höchsten Gott,

der Himmel und Erde besitzt; und Abraham hatte so gut

die Absicht des Herrn verstanden, daß er augenblicklich

von der empfangenen Unterweisung Gebrauch machte und

in gläubigem Vertrauen das verführerische Anerbieten

des Königs von Sodom ausschlug. „Mein Auge ist

auf den höchsten Gott gerichtet, der Himmel und Erde

besitzt," so sagt er gleichsam; „darum habe ich von

dir, König von Sodom, nichts nötig. Ich will nicht durch

dich, sondern durch diesen höchsten Gott reich gemacht

werden. Er besitzt Himmel und Erde, und deshalb erwarte

ich von Ihm allein jede Segnung." — Was konnte

der Teufel thun einer solchen Sprache gegenüber? Er

mußte sich beschämt zurückziehen. Abraham hatte einen

zweiten und noch viel herrlicheren Sieg davongetragen.

Der Herr war Seinem Knechte in Gnaden entgegengekommen

und hatte sich ihm in einer Weise geoffenbart,

daß Abraham der Versuchung zu widerstehen vermochte.

Und so handelt der Herr noch immer. Er ist und

bleibt treu bis in alle Ewigkeit. Er weiß, was wir bedürfen;

Er kennt unsre Kämpfe und Versuchungen und

unsre ganze Schwachheit. Und wenn wir in Seiner Gemeinschaft

wandeln, so kommt Er auch uns entgegen und

stärkt uns. Wären wir nur mehr in Seiner Nähe, so

würden wir sicher auch mehr Seine Stimme vernehmen.

Seine Unterstützung erfahren und nicht so oft straucheln

und in der Versuchung unterliegen. Die Umstände um

uns her sind selten ein richtiger Maßstab und Führer.

Wir sehen dies bei Abraham. Die Beute kam ihm von

278

Rechtswegen zu, und der König von Sodom bot sie ihm

an. Aber dennoch verweigerte er die Annahme, weil er

sich nicht durch die Umstände leiten ließ, sondern seinen

Blick auf Jehova, den höchsten Gott, gerichtet hielt. Sein

Auge war einfältig, und darum war sein ganzer Leib

licht. O möchten wir von ihm lernen, in inniger Gemeinschaft

mit unserm treuen und reichen Herrn zu wandeln!

Er wird es nie an Unterweisung, Belehrung und Ermunterung

mangeln lassen, noch auch jemals unser Vertrauen,

so schwach es sein mag, täuschen. Und wir? Wir

werden, von Ihm belehrt, den rechten Weg wandeln, Fortschritte

machen in der Erkenntnis unsers Gottes und

Vaters, der Himmel und Erde besitzt und uns mit unaussprechlicher

Liebe liebt; wir werden Seinen guten und

heiligen Willen zu unterscheiden vermögen und uns nicht

vom Teufel Übervorteilen und fangen lassen.

Im Lichte des Richterstuhls.

Der Apostel wandelte stets in dem Lichte des kommenden

Tages, und so sollten wir es thun. Die Wirkung,

welche der Gedanke an den Richterstuhl Christi auf ihn

ausübte, war eine dreifache: „Da wir nun den Schrecken

des Herrn kennen, so überreden wir die Menschen, Gott aber

sind wir offenbar geworden; ich hoffe aber auch in euern

Gewissen offenbar geworden zu sein." (2. Kor. 5, 11.)

1. Durch das Bewußtsein, wie schrecklich es für einen

Sünder sein muß, in seinen Sünden vor Gott zu

erscheinen, fühlte sich Paulus angetrieben, das Evangelium

mit großem Ernst zu verkündigen. „Wir überreden die

279

Menschen." Er sucht andere zu warnen und ihnen immer

wieder den Ernst ihrer Lage und die unaussprechliche Wichtigkeit

des Heils ihrer Seele ans Herz zu legen. Was muß

es auch sein für einen Ungläubigen, vor jenem Richterstuhl

zu stehen und dort wegen seiner Verwerfung Christi zur

Rechenschaft gezogen zu werden! Wo ist der Prediger des

Evangeliums, der nicht durch eine solche Erwägung zu

tiefem Ernst und anhaltendem Eifer angespornt würde!

2. Der Apostel war bereits in dem Lichte, schon

offenbar vor Gott. „Gott aber sind wir offenbar geworden."

Der Richterstuhl erweckte nicht Furcht und

Schrecken in seinem Herzen, wohl aber leitete er ihn an

zu einem treuen, aufrichtigen Wandel vor Gott und zu

einem hingebenden Dienst in Seinem Werke.

3. Indem Paulus als ein Mann Gottes und ein

Diener Christi im Lichte wandelte, vollführte er seinen

Dienst mit aller Gewissenhaftigkeit. Er übte sich, allezeit

ein gutes Gewissen zu haben vor Gott und Menschen;

und so empfahl er sich den Gewissen derer, unter welchen

er arbeitete. „Ich hoffe aber auch in euern Gewissen

offenbar geworden zu sein." — O möchten diese gesegneten

Resultate sich auch in uns zeigen, geliebter Leser, zum

Preise Gottes und zu unserm eignen Heil und Segen!

Gedanken.

Der Gläubige ist vollkommen in Christo; aber in

sich selbst ist und bleibt er ein schwaches Geschöpf, stets

geneigt, zu straucheln und zu fallen. Welch ein unaussprechlicher

Segen ist es daher für ihn, zur Rechten der

Majestät in den Himmeln Einen zu haben, der alle seine

280

Angelegenheiten für ihn ordnen kann; Einen, der ihn

stets aufrecht erhält durch die Rechte Seiner Gerechtigkeit;

Einen, der ihn nie lassen wird, und der imstande ist, ihn

völlig, bis ans Ende hin, zu erretten; Einen, der derselbe

ist „gestern und heute und in Ewigkeit"; Einen, der ihn

durch alle Schwierigkeiten und Gefahren, die ihn umringen,

triumphierend hindurchführen und bringen wird

an das herrliche Ziel!

Keine Seele, welche beten kann, darf sagen: „Von

meiner Seite kann nichts für das Werk des Herrn geschehen;

ich kann nichts für den Dienst des Evangeliums

thun." Es ist wahr, dieses Werk erfordert Männer in

Christo, und nicht Kindlein. Allein jeder Gläubige, auch

der jüngste und schwächste, kann da, wo der Herr ihn

hingestellt hat, durch Wort und Wandel für Ihn zeugen

und so vielleicht viel zur Förderung Seines Werkes beitragen;

und ein jeder kann den Herrn der Ernte bitten,

Arbeiter in Seine Ernte auszusenden nnd die, welche Er

ausgesandt hat, zu bewahren und zu segnen. Und wenn

dies in Einfalt und Treue geschieht, sollte der Herr dann

nicht antworten? Ach, gäbe es nur mehr treue, anhaltende

Beter und Beterinnen! Wahrlich, wir würden

gesegnete Erfolge davon sehen!

Um für Gott nach außen hin thätig sein zu können,

müssen wir viel mit Ihm in der Stille verkehren. Ein

Mensch, der immer in Thätigkeit ist, thut leicht zu viel.

„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der

Tag ist nahe".

(Röm. 13, 12.)

„Wir besitzen das prophetische Wort befestigt,

auf welches zu achten ihr wohlthut,

(als auf eine Lampe, welche leuchtet an einem

dunklen Ort,) bis der Tag anbreche und der

Morgenstern aufgehe in euern Herzen." (2.

Petr. 1, 19.)

Der böse Knecht sagt in seinem Herzen: „Mein Herr

verzieht zu kommen!" und die Kinder dieser Welt sagen:

„Friede und Sicherheit!" (Matth. 24, 48; 1. Thess. 5, 3.)

Der Apostel aber ruft den Gläubigen in Rom, und damit

uns allen, zu: „Die Nacht ist weit vorgerückt, und der

Tag ist nahe". Er thut dies, damit „wir vom Schlafe

aufwachen sollen", „damit wir nicht schlafen wie die übrigen,

sondern wachen und nüchtern seien". (Röm. 13, 11.

12; 1. Thess. 5, 6.) Allzuleicht kann bei dem Gläubigen

die Erwartung des Herrn ihre lebendige Frische einbüßen,

und sobald dies geschieht, steht sein praktischer

Zustand nicht mehr auf der Höbe seiner Berufung. Er

mag sich vielleicht noch längere Zeck von offenbar Bösem

fern halten, auch noch eine gewisse Hingebung für den

Dienst des Herrn an den Tag legen, aber die wahre

Triebfeder, die ihn bis dahin leitete, ist nicht mehr vor-

282

Handen. Man vergleiche nur 1. Thess. 1, 3 mit Offbg. 2, 2.

Die Versammlung zu Ephesus hatte Werke, Arbeit und

Ausharren, gleich derjenigen zu Thessalonich; aber die

Beweggründe, welche diese leiteten: Glaube, Liebe und

Hoffnung, suchen wir bei jener umsonst. Die Frische ihres

Glaubens war mit dem Verlassen der „ersten Liebe" verschwunden

; zugleich war die lebendige Erwartung des Herrn

verloren gegangen. Hierin liegt sicher für uns eine ernste

Mahnung zur Wachsamkeit, und es ist wohl der Mühe

wert, den Ursachen einer solchen Erschlaffung ein wenig

nachzuforschen.

Ohne Zweifel liegt eine der Hauptursachen in dem

Mangel an inniger Gemeinschaft mit dem Herrn. Denn

in dem Maße wie die Person Christi ihren Wert für

uns verliert, verliert auch alles andere seinen Wert, was

uns durch Ihn und in Ihm geschenkt ist. Es ist gleichsam,

als habe man den Schlüssel verloren, der uns die

Schatzkammern des Hauses Gottes aufzuschließen vermag.

Der Heilige Geist kann nicht ungetrübt in uns wohnen

und wirken, wenn nicht Christus den ersten Platz in unS

hat, den zu verherrlichen Er gekommen ist. Ebenso wenig

werden wir das Wort Gottes mit wirklichem Nutzen für

unsre Herzen lesen. Denn Der, welcher der große Mittelpunkt

und Gegenstand desselben ist, hat Seinen Wert für

uns verloren. Wir verfehlen so bei der Erforschung der

Schriften die wahren Gedanken und Absichten Gottes, wie

einst die Schriftgelehrten, von denen eS heißt: „Ihr erforschet

die Schriften, denn ihr meinet, in ihnen ewiges

Leben zu haben, und sie sind es, die von mir zeugen;

und ihr wollt nicht zu mir kommen, auf daß ihr Leben

habet". (Joh. 5, 39. 40.) Ach! man bleibt in einem

283

solchen Falle beim bloßen Forschen stehen; man bereichert

vielleicht seine Erkenntnis, aber das Herz bleibt dürre und

fruchtleer. Nur wer den Herrn wirklich lieb hat, liest

und erforscht Sein Wort mit wahrem Nutzen für sein

Herz; und nicht allein das, er hält und verwirklicht es

auch, wie geschrieben steht: „Wer meine Gebote hat und

sie hält, der ist es, der mich liebt; wer aber mich

liebt, wird von meinem Vater geliebt werden; und ich werde

ihn lieben und mich selbst ihm offenbar machen"; und:

„Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten."

(Joh. 14, 21. 23.)

Indes kann der Mangel an inniger Gemeinschaft mit

dem Herrn (und es wird in den meisten Fällen so sein)

auch mit der Vernachlässigung des Wortes Gottes,

besonders des prophetischen Wortes, in Verbindung

stehen; und dann ist Erschlaffung erst recht unausbleiblich.

Denn eben durch dieses Wort werden wir aufmerksam

gemacht auf die nahe Ankunft des Herrn und Seines glorreichen

Tages. Wie könnten wir bereit sein, wie wissen,

was die Zukunft uns bringen wird, wenn das prophetische

Wort uns nicht darüber belehrte? Wird dieses Wort vernachlässigt,

so tappen wir im Finstern umher und sind

unbestimmten Ideen und willkürlichen Meinungen preisgegeben,

die meist nichts anders als bittere Enttäuschungen

im Gefolge haben. Viele sind auf diesem Wege nicht nur

in ihrer Hoffnung geschwächt worden, sondern sogar in die

Schlingen des Unglaubens geraten.

Vielen Gläubigen unsrer Tage liegt der Gedanke an

den Tod viel näher, als an das Kommen des Herrn zur

Aufnahme der Seinigen. Indem sie behaupten, daß die

Gläubigen der ersten Zeit den Herrn vergeblich erwartet

284

hätten, ziehen sie den Schluß, daß auch jetzt diese Erwartung

vergeblich sei. Aber dieser Schluß beruht nur

auf ihrer mangelhaften Bekanntschaft mit dem prophetischen

Wort. Würden sie dieses besser kennen und verstehen, so

würden sie auch wissen, daß der Herr wirklich nahe ist,

und daß wir in unsern Tagen allen Grund haben, Ihn

zu erwarten. Ach, wenn sie nur die Ermahnung des

Apostels beachten wollten: „Wir besitzen das prophetische

Wort befestigt, aus welches zu achten ihr wohl-

thut, als auf eine Lampe, welche leuchtet an einem

dunklen Ort"!

Dieses Wort enthüllt uns die Ratschlüsse Gottes betreffs

der Zukunft, sowie Seine Wege, die zur Erfüllung

jener Ratschlüsse führen, und läßt uns in klarer, unzweideutiger

Weise erkennen, daß das Ende nahe ist. Ja

mehr als das l Es vergegenwärtigt uns auch die kommenden

Dinge, so daß sie für den treuen und einsichtsvollen Gläubigen

der Ausgangspunkt seines praktischen Verhaltens

werden. Sein Herz lebt in diesen Dingen, ist glücklich

darin, wie der Apostel sagt: „Glückselig, der da liest unb

die da hören die Worte der Weissagung und bewahren,

was in ihr geschrieben ist, denn die Zeit ist nahe!"

(Offbg. 1, 3.) Der Tag ist schon angebrochen und der

Morgenstern aufgegangen in seinem Herzen. Er wandelt

bereits „wie am Tage" (Röm. 13, 13), und sieht den

Morgenstern in seinem herrlichen Glanze (Offbg. 22, 16);

das heißt, er kennt den Herrn Jesum in diesem lieblichen

Charakter, in welchem Er zur Aufnahme Seiner Braut

erscheinen wird vor dem Anbruch des Tages.

Die Herrlichkeit Christi wird an jenem Tage auf

der ganzen Erde geoffenbart sein. Der Name unsers

285

anbetungswürdigen Herrn wird dann nicht mehr verachtet

und verunehrt werden wie heute; nein, jedes Knie wird

sich vor Ihm beugen, und jede Zunge bekennen, daß Er

Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters. (Phil.

2, 10. 11.) Aber, wie gesagt, nur der, in welchem der

Glaube wirksam ist, wandelt wie am Tage; er ist ein

Sohn des Tages. Für den Glauben ist Christus jetzt

schon Herr und Mittelpunkt aller Herrlichkeit, während die

Welt, versunken in die Nacht der Sünde und des Unglaubens,

Ihn noch verwirft. Aber mehr noch: Der

Glaube kennt auch die Liebe und die Zuneigungen Christi

zu Seiner Braut, gemäß deren Er sie zur Miterbin und

Mitgenossin Seiner Herrlichkeit gemacht hat. Er weiß,

daß dies alles bald geoffenbart werden wird; und seine

Erwartung ist sicher und gewiß, weil sie sich nicht auf

menschliche Spekulationen, sondern auf das feste, unwandelbare

prophetische Wort stützt. Nicht als ob dieses

uns den Augenblick, Tag und Stunde der Erfüllung

dieser Dinge kundthue; diese sind dem Herrn allein bekannt.

Aber es sagt uns, daß jener Augenblick nahe ist;

und das genügt dem Glauben, um sich bereit zu halten.

Das prophetische Wort bezeugt uns, daß wir nicht

nur am Ende der Zeitalter stehen, sondern daß wir sogar

in den letzten Tagen der Christenheit angekommen sind.

Zur näheren Erklärung und Begründung dieser Behauptung

wollen wir versuchen, eine, wenn auch nur kurze, gedrängte

Uebersicht der Wege Gottes mit Israel und der Kirche zu

geben, wie sie in der Schrift prophetisch dargestellt sind.

Bezüglich dieser Wege mit Israel lesen wir im Propheten

Daniel: „Siebenzig Wochen *) sind über dein Volk und

d. h. Jahrwochen, Zeiträume von je sieben Jahren.

286

über deine heilige Stadt bestimmt, um den Abfall zum

Abschluß zu bringen und den Sünden ein Ende zu

machen, und die Ungerechtigkeit zu sühnen und eine ewige

Gerechtigkeit einznführen, und Gesicht und Propheten zu

versiegeln, und ein Allerheiligstes zu salben. So wisse

denn und verstehe: Vom Ausgehen des Wortes, Jerusalem

wiederherzustellen und zu bauen, bis auf den Messias,

den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen.

Straßen und Gräben werden wiederhergestellt und gebaut

werden, und zwar in Drangsal der Zeiten. Und nach den

zweiundsechzig Wochen wird der Messias weggethan werden

und nichts haben. Und das Volk des kommenden Fürsten

wird die Stadt und das Heiligtum zerstören, und das

Ende davon wird durch die überströmende Flut sein; und

bis ans Ende: Krieg, Festbeschlossenes von Verwüstungen.

Und er wird einen festen Bund mit den Vielen schließen

für eine Woche; und zur Hälfte der Woche wird er

Schlachtopfer und Speisopfer aufhören lassen. Und auf

Flügeln der Greuel wird ein Verwüster kommen, und

zwar bis Vernichtung und Festbeschlossenes über das Verwüstete

ausgegossen werden." (Dan. 9, 24—27.)

Wir haben die ganze Stelle zum besseren Verständnis

des Lesers angeführt. Sie redet von einem Zeitraum,

dessen Anfang und Ende genau bestimmt sind, und nach

dessen Ablauf Israel und seine heilige Stadt (Jerusalem)

endgültig wiederhergestellt, die ihm gegebenen Verheißungen

erfüllt, und die Juden selbst (d. h. der treue Ueberrest)

unter dem Szepter ihres Messias völlig glücklich sein

werden. Er ist in drei Teile zerlegt: sieben Wochen,

zweiundsechzig Wochen und eine Woche, und beginnt mit

dem Ausgang des Wortes, Jerusalem wiederherzustellen

287

und zu bauen. Dieses Wort oder dieser Befehl erging

im zwanzigsten Jahre Arthasasthas, des Königs von Persien.

(Neh. 2.) Von da „bis auf den Messias, den Fürsten,

sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen". Die

sieben Wochen werden besonders erwähnt, weil während

ihrer Dauer (nach der Rückkehr des jüdischen Volkes aus

der babylonischen Gefangenschaft) Jerusalem wieder aufgebaut

wurde, „und zwar in Drangsal der Zeiten". (Vergl.

das Buch Nehemia.)

„Und nach den zweiundsechzig Wochen wird der

Messias weggethan werden und nichts haben". Aus diesen

Worten geht klar hervor, daß bei dem Tode Christi

neunundsechzig (sieben und zweiundsechzig) Wochen abgelaufen

waren, und daß folglich nur noch eine Woche,

die siebenzigste, bis zur endgültigen Wiederherstellung

Israels und der heiligen Stadt übrigblieb. Das Ende

oder, mit andern Worten, die Vollendung des Zeitalters

stand also schon zur Zeit des Herrn vor der Thür. Und

in Uebereinstimmung damit verkündigten Johannes, sowie

der Herr selbst und Seine Jünger dem Volke, daß das

Reich der Himmel nahe gekommen sei und daß sie Buße

thun sollten, widrigenfalls ein schreckliches Gericht sie

treffen würde. Die Axt war schon an die Wurzel der

Bäume gelegt. (Matth. 3, 2. 10-12; 4, 17; 10, 7.)

Ach, wir wissen, daß Israel dem Rufe zur Buße

nicht gefolgt ist, sondern seinen Messias verworfen hat.

Er ist „weggethan" worden, und damit hat der Lauf der

Ereignisse eine jähe Unterbrechung erfahren. Die letzte

Woche mit ihren ernsten Ereignissen — dem Aufstehen

des falschen Christus (auch „der Gesetzlose" oder „der Antichrist"

genannt), dem Bunde, den „der kommende Fürst", das

288

Haupt des wiedererstehenden römischen Reiches, mit den

abtrünnigen Juden schließen wird, den Leiden des treuen

Ueberrestes in jenen Tagen u. s. w. — ist noch nicht gekommen

; sie muß der Erscheinung Christi in Herrlichkeit vorangehen.

Hierauf bezieht sich denn auch die Frage der Jünger

gelegentlich der Unterweisungen des Herrn über die Zerstörung

des Tempels: „Sage uns, wann wird dieses

geschehen, und welches ist das Zeichen deiner Ankunft und

der Vollendung des Zeitalters?" Als Antwort auf diese

Frage schildert der Herr die Ereignisse der letzten Jahrwoche

Daniels. (Siehe Matth. 10 und 24.)

Israel hat also die Stunde seiner Heimsuchung nicht

erkannt. Anstatt Christum im Glauben anzunehmen und

so die Erfüllung der Gnadenwege Gottes mit Seinem

irdischen Volke möglich zu machen, hat es den Sohn

Gottes ans Kreuz geschlagen, und ist infolge dessen bis

heute in der Zerstreuung, und sein Land liegt wüste. Der

Lauf der Ereignisse ist, wie gesagt, plötzlich unterbrochen

worden, und eine bis dahin verborgen gebliebene, gänzlich

neue Sache ist ans Licht getreten: die Sammlung der

Kirche. Diese, nach den ewigen Ratschlüssen Gottes

auserwählt und bestimmt, die Miterbin Christi zu sein,

soll aus der Welt herausgenommen und mit ihrem himmlischen

Haupte vereinigt werden, ehe der Herr sichtbarlich

erscheint, um Gericht zu halten und Seine Herrschaft anzutreten.

Zusammengesetzt aus allen denen, welche an

Jesum gläubig geworden waren, wurde am Pfingsttage

der Heilige Geist über sie ausgegossen. Ihr galten auch

die Abschiedsworte des Herrn am Abend vor Seinem

Leiden: „In dem Hause meines Vaters sind viele Wohnungen;

wenn es nicht so wäre, würde ich es euch gesagt

289

haben; denn ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten.

Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so

komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, auf

daß, wo ich bin, auch ihr seiet." (Joh. 14, 2. 3.)

Infolge dieser Verheißung und der späteren Mitteilungen

durch den Apostel Paulus erwarteten die Gläubigen

beständig das Kommen des Herrn zu ihrer Aufnahme,

und sie zweifelten nicht daran, daß dieses Ereignis bei

ihren Lebzeiten stattfinden würde. Der Apostel sagt ganz

bestimmt: „Denn noch über ein gar Kleines, und der

Kommende wird kommen und nicht verziehen". Und

wiederum: „Denn dieses sagen wir euch im Worte des

Herrn, daß wir, die Lebenden, die übrigbleiben bis zur

Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen

werden. Denn der Herr selbst wird mit gebietendem

Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der

Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel, und die

Toten in Christo werden zuerst auferstehen; darnach werden

wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich

mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen

in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem Herrn

sein." (Hebr. 10, 37; 1. Thess. 4, 15 — 17.) Irrten

diese Gläubigen nun, indem sie Jesum also erwarteten?

Gewiß nicht. Sie handelten genau nach den Gedanken

des Herrn, der ihnen verheißen hatte, wiederzukommen

und sie zu sich zu nehmen.

Wenn wir indes die zuletzt angeführten Stellen mit

den Worten vergleichen, die der Apostel gelegentlich seines

Abschieds an die Nettesten von Ephesus richtete, so gewahren

wir eine auffällige Veränderung. Er erwähnt bei

jener Gelegenheit das Kommen des Herrn mit keiner Silbe,

290

sondern spricht von seinem Abscheiden, und stellt den Ael-

testen zugleich den zunehmenden Verfall der Kirche in

Aussicht. „Denn ich weiß dieses, daß nach meinem Abschiede

verderbliche Wölfe zu euch hereinkommen werden,

die der Herde nicht schonen. Und aus euch selbst werden

Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die

Jünger abzuziehen hinter sich her." (Apstgsch. 20, 29. 30.)

Ebenso spricht er in seinem zweiten Briefe an Timotheus

nicht von dem Kommen des Herrn, sondern vielmehr von

dem fortschreitenden Verderben in der Christenheit. Diese

Veränderung in dem Verhalten des Apostels hatte sicher

ihren Grund in dem veränderten Zustand der Mrche und

der daraus hervorgehenden Veränderung der Wege des

Herrn mit ihr. Die Kirche hatte aufgehört, ihren Herrn

zu erwarten: „Als aber der Bräutigam verzog, wurden

sie alle schläfrig und schliefen ein." (Matth. 25, 5.) Und

der Apostel sah durch die Unterweisung des Geistes Gottes

im voraus, was kommen würde — eine längere Periode

des Verfalls der Kirche, und die daraus hervorgehenden

schweren Zeiten, welche die Treue und das Ausharren

der wahren Gläubigen auf die Probe stellen sollten.

Diese traurige Periode wird uns in den sieben Sendschreiben

an die Gemeinden in Kleinasien prophetisch dargestellt,

und zwar als eine Zeit geduldigen Wartens seitens

des Herrn auf die Buße der Kirche. Die vier ersten

Sendschreiben entrollen, um uns kurz zu fassen, vor unsern

Blicken das Gesamtbild der Kirche von den Tagen der

Apostel bis zur Zeit der Reformation, charakterisiert durch

die Zustände der Versammlungen zu Ephesus, Smyrna,

Pergamus und Thyatira. (Siehe Offbg. 2.) Gleich im

Anfang hören wir, daß die Kirche ihre „erste Liebe"

291

verließ, und der Herr ermahnt sie zur Buße. (Vers 4. 5.)

Um ihre Liebe von neuem zu wecken, läßt Er sie durch

tiefe Drangsale gehen. (Vers 10 *). Dieselben dienten

zu ihrer Läuterung und Belebung; sobald sie aber nachließen,

verschlimmerte sich ihr Zustand mehr als je, indem

sie sich weiter und weiter von Ihm entfernte, sich mit der

Welt verband und dort ihren Wohnplatz nahm, wie einst

Lot in Sodom. (Vers 13.) Trotzdem giebt der Herr

sie nicht auf, sondern ermahnt sie in göttlicher Geduld

von neuem zur Buße. (Vers 16.) Doch anstatt dieser

Ermahnung Gehör zu geben, verlor sie ihre Berufung

gänzlich aus den Augen, indem sie nicht nur in der Welt

wohnte, sondern sich dort auch eine Stellung der

Autorität anmaßte, gerade so wie wir Lot am Ende seiner

Geschichte im Thore Sodoms finden. (Vers 20; ** )

1. Mose 19, 1.) Erst jetzt bricht der Herr Seine Beziehungen

mit der Kirche als solcher ab, indem Er sagt:

„Ich gab ihr Zeit, auf daß sie Buße thue, und sie will

nicht Buße thun von ihrer Hurerei." (Vers21.)

Und Er kündigt ihr und ihren Buhlen, sofern sie nicht

Buße thun wollen, das Gericht an: „Siehe, ich werfe

sie in ein Bett und die, welche mit ihr Ehebruch treiben,

in große Drangsal, wenn sie nicht Buße thun von ihren

Werken. Und ihre Kinder werde ich mit Tod töten, und

alle Versammlungen werden erkennen, daß ich es bin,

der Nieren und Herzen erforscht; und ich werde euch einem

jeden geben nach euern Werken." (Vers 22. 23.)

*) Dieser Vers enthält eine Anspielung auf die grausamen

Verfolgungen, welche die Kirche unter den römischen Kaisern erduldet

hat.

**) Eine Anspielung auf die Anmaßungen des Papsttums.

292

Das ist das Ende der Wege des Herrn mit der

Kirche im allgemeinen. Er hatte ihr Zeit gegeben lange

Jahrhunderte hindurch, hatte gewartet auf ihre Umkehr,

aber alle Seine Langmut und Geduld, Seine Mahnungen

und Züchtigungen vermochten sie nicht zu ihrem ersten

Zustand zurückzuführen. Selbst die Reformation, obwohl

sie unverkennbar in der Macht des Geistes Gottes ausgeführt

wurde, vermochte nichts an dem Zustand der Kirche

zu ändern. Der Herr hat sie hingegeben, das Maß ihrer

Sünden voll zu machen, und sie wird als „Babylon, die

große, die Mutter der Huren und der Greuel der Erde"

(Offbg. 17, 5), ihr wohlverdientes Gericht empfangen.

Schreckliches Ende dessen, das einen so herrlichen Anfang

genommen hatte und zu den höchsten Vorrechten berufen

war!

Diese Wege des Herrn mit der Kirche erklären das

Schweigen, welches Er bezüglich Seines Kommens zur

Aufnahme der Seinen Jahrhunderte lang beobachtet hat.

Seit dem Tode der Apostel bis zur Zeit der Reformation,

und selbst während der ersten Jahrhunderte des Bestehens

des Protestantismus, hören wir keinen Laut von dem

Kommen des Herrn. Die Reformation hat dazu gedient,

d'e Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben wieder

ans Licht zu stellen. Aber wie die allgemeine Kirche dem

Aberglauben verfallen ist, so ist der Protestantismus

zum größten Teil ein Opfer des Unglaubens geworden.

Der Herr bezeugt von ihm: „Ich kenne deine Werke, daß du

den Namen hast, daß du lebest, und bist tot".

(Offbg. 3, 1.) Er hat auch den Protestantismus Jahrhunderte

lang mit großer Geduld getragen, hat gewartet auf

seine Buße und ihn ermahnt: „Sei wachsam und stärke das

293

Uebrige, das sterben will; denn ich habe deine Werke

nicht völlig erfunden vor meinem Gott. Gedenke nun,

wie du empfangen und gehört hast, und bewahre es und

thue Buße. Wenn du nun nicht Wachen wirst, so werde

ich über dich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht

wissen, um welche Stunde ich über dich kommen werde."

(Vers 2. 3.) Der Zustand des Protestantismus ist hoffnungslos;

denn statt umzukehren und zu bewahren was

er empfangen und gehört hat, neigt sich die große Masse

seiner Bekenner zusehends dem offenbaren Abfall zu und

bestätigt damit, daß sein Ende nahe und sein Gericht unausbleiblich

ist.

Die Christenheit ist also, was ihren moralischen Zustand

betrifft, heute auf demselben Punkte angelangt, wo

die Welt und das abtrünnige Israel schon zur Zeit des

Herrn Jesu standen, d. h. nahe vor dem Eintritt der

letzten Woche Daniels; „die Axt ist schon an die Wurzel

der Bäume gelegt". Ihr Gericht wird mit demjenigen

der Welt und des Volkes Israel zusammenfallen; die

Stunde der Versuchung wird kommen über den ganzen

Erdkreis. Damals wurde die Ausführung des Gerichts

aufgeschoben, weil die Kirche aus allen Völkern der Erde

gesammelt werden sollte; heute aber steht dieser Ausführung

nichts mehr im Wege. Das Einzige, was vorher

noch geschehen muß, ist die Aufnahme der Gläubigen.

Dementsprechend beschränkt sich denn auch die Thätigkeit

des Herrn in unsern Tagen darauf, die wahren Gläubigen

aus der Mitte der Christenheit zu sammeln und für Seine

Ankunft bereit zu machen. Und zum erstenmal nach

langer, langer Zeit hören wir wieder von dem Kommen

des Herrn zur Aufnahme der Seinigen reden; und zwar

294

heißt es jetzt nicht nur wie im Anfang: „so komme ich

wieder" (Joh. 14, 3), sondern: „Ich komme bald!"

(Offbg. 3, 11.) Der Herr fügt das Wörtchen „bald"

hinzu, um den Gläubigen der letzten Tage jeden Zweifel

hinsichtlich Seiner nahen Ankunft zu benehmen. Er betrachtet

diese Gläubigen als solche, die mit Ihm ausgeharrt

haben während der langen Zeit, in welcher Sein

liebendes Herz mit Ausharren, obwohl vergeblich, die Umkehr

der Kirche erwartet hat. Darum sagt Er auch zu

ihnen: „Weil du das Wort meines Ausharrens

bewahrt hast, so werde auch ich dich bewahren vor der

Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen

wird, um die zu versuchen, welche auf der Erde wohnen."

(Vers 10.) Sie haben die Wege der bekennenden Christenheit

nicht eingeschlagen, und darum sollen sie auch bewahrt

bleiben vor dem schrecklichen Ende derselben.

Wenn nun die Gläubigen im Anfang der gegenwärtigen

Haushaltung den Herrn bei ihren Lebzeiten erwarteten,

wieviel mehr sollten wir Ihn jetzt erwarten, die

wir am Ende stehen und die Wege des Herrn mit der

Kirche klar überblicken können! Wenn jenen die Verheißung

des Herrn, wiederzukommen und sie zu sich zu

nehmen, genügte, um Ihn beständig zu erwarten, wieviel

mehr sollte Sein erneuter und in bestimmtester Weise

an uns gerichteter Zuruf: „Ich komme bald!" unsre

Erwartung lebendig und frisch erhalten!

Die Bedeutung dieses Zurufs wird noch erhöht durch die

Thatsache, daß er im Einklang steht mit dem mitternächtlichen

Geschrei: „Siehe, der Bräutigam!" (Matth. 25, 6.)

Wir wissen, daß dieses Geschrei nun schon seit einer Reihe

von Jahren vernommen worden ist. Wir dürfen deshalb

295

mit aller Bestimmtheit sagen, daß die Mitternachtsstunde

vorüber, und die dem Morgengrauen vorangehende Erscheinung

des Morgensterns nahe ist. Jenes Geschrei

kam unerwartet. Es wurde nicht veranlaßt durch äußere,

auffallende Ereignisse, welche so leicht in aufgeregten Gemütern

den Gedanken an das Kommen Christi oder an

das sogenannte jüngste Gericht wachrufen; sondern es wurde

hervorgerufen durch den Heiligen Geist, der überall in den

Herzen der Gläubigen wirkte und sie von neuem auf das

Kommen des Herrn aufmerksam machte. Und wenn wir

das angeführte Gleichnis reden lassen, so finden wir nicht,

daß die Jungfrauen wieder einschlafen. Nein, sie wachen

auf, schmücken ihre Lampen und gehen dann dem Bräutigam

entgegen. So lebt denn auch bis heute die Erwartung

des Herrn in den Herzen Tausender von Christen fort.

Andrerseits läßt uns das Gleichnis erkennen, daß von

dem ersten Erschallen des Rufes: „Siehe, der Bräutigam!"

bis zur Ankunft des Herrn noch eine Zeit vergeht, und

diese Zwischenzeit stellt den Zustand der Jungfrauen auf

die Probe. Viele werden offenbar, daß sie in Wirklichkeit

nicht sind, was sie zu sein bekennen — wahre Christen;

trotzdem werden sie erst bei der Ankunft des Herrn ihre

schreckliche Täuschung erkennen, aber dann leider zu spät!

So unerwartet wie die Anmeldung des Bräutigams durch

das mitternächtliche Geschrei, gerade so unerwartet wird die

persönliche Ankunft des Herrn sein. So wenig wie

jene sich durch äußere, auffallende Ereignisse bemerkbar

machte (denn die Welt blieb völlig unberührt), so wenig

wird diese sich äußerlich bemerkbar machen. Die Welt

wird durch die Aufnahme der Gläubigen nicht auS ihrem

Schlummer geweckt werden. Um so schrecklicher aber wird

296

ihr Erwachen sein, wenn der Donner der furchtbaren Gerichte

ertönt, welche nach jener Aufnahme die Ankunft

des Tages des Herrn und Seine Erscheinung in

Herrlichkeit ankündigen werden.

Möchten wir uns deshalb nicht beeinflussen lassen

durch die gegenwärtige falsche Ruhe und Sicherheit, sondern

an die ernste Mahnung des Herrn gedenken: „Ich komme

bald; halte fest, was du hast, auf daß niemand

deine Krone nehme!"

„Ein König ist gefesselt durch deine Locken."

(Hohel. 7, 1—5.)

„Wie schön sind deine Tritte in den Schuhen, Fürstentochter!"

(V. 1.) Die Braut des Königs wird hier noch

einmal genau betrachtet und empfängt einen neuen

Titel: „Fürstentochter". Ihre Verbindung mit der königlichen

Würde wird jetzt anerkannt. Sie ist in die

innigsten Beziehungen zu dem König gebracht. Das ist

offenbar vor aller Augen. Wenn der Messias den Thron

besteigen wird, so wird nach der klaren und gewaltigen

Sprache des 45. Psalmes der Platz der Braut zur

Rechten des Königs sein. „Die Königin steht zu

deiner Rechten in Gold von Ophir." Wenn

Christus den Schauplatz wieder betritt und den Thron

Davids einnimmt, so wird in Israel alles verändert sein.

Jerusalem wird den ersten Platz haben, und alle Städte

Judas werden es an diesem Platze anerkennen. Ja, die

Segnung des ganzen Landes und der Erde im allgemeinen

wird eine Folge der Erhöhung Israels sein. „An

deiner Väter Statt werden deine Söhne sein; zu Fürsten

297

wirst du sie einsetzen im ganzen Lande (od.: aus der

ganzen Erde)."

Und nun lausche, mein Leser, auf die erste Ansprache,

wenn wir es so nennen dürfen, die der König von dem

Throne herab an Sein geliebtes Volk richtet. Sie lautet:

„Höre, Tochter, und siehe, und neige dein Ohr; und

vergiß deines Volkes und deines Vaters Hauses! Und

der König wird deine Schönheit begehren, denn Er ist

dein Herr: so huldige Ihm!" (Ps. 45, 10. 11.) Nicht

die Herrlichkeit der Väter, — eines Abraham, Isaak

und Jakob, — nein, die unendlich höhere Herrlichkeit des

wahren Sprossen aus dem königlichen Hause Juda ist

dann angebrochen. Christus ist alles und in allen.

Er, der Gerechtigkeit liebt und Gesetzlosigkeit haßt, hat

sich der Herrschaft würdig erwiesen. In Gerechtigkeit

und Gericht hat Er den vollen Triumph und die Herrlichkeit

des jüdischen Volkes eingeführt. Er hat es zum

Siege geführt und alle seine mächtigen Feinde vor ihm zu

Boden geschmettert. Der große Feind, der Israel in

die Gefangenschaft führte, ist selbst in dem Abgrunde

gefangen. Christus sitzt auf dem Throne, und alle Seine

Feinde sind zum Schemel Seiner Füße gelegt. Und dann

wird Israel aufgefordert, nicht auf die Väter, sondern

auf Ihn zu blicken. „Wir sind Abrahams Same", so

lautete einst ihre ruhmredige Antwort dem demütigen

und sanftmütigen Jesus gegenüber; aber alles ist jetzt

verändert. „Vergiß deines Volkes", so tönt es in das

Ohr der Tochter Zion, „und deines Vaters Hauses!"

Und was wird die Folge davon sein? „Der König

wird deine Schönheit begehren." Ja, Er ist ihr

Herr, und Ihm allein gebührt ihre Huldigung und Anbetung.

298

Aber, möchte ich fragen, haben diese schönen Worte

von den Lippen Jesu, obwohl Er sie als König der

Juden ausspricht, nicht auch eine Stimme für uns? Sind

sie nur passend für Israel? Weit davon entfernt! Grundsätzlich

und in geistlichem Sinne sind sie heute auf alle

Jünger Christi anwendbar. Sobald eine Seele zu Jesu

bekehrt wird, sollte sie alle ihre alten Verbindungen und

Beziehungen vergessen und sich von ihnen abwenden.

Alles was Seinem Willen zuwider ist und uns hindern

will, diesen Willen auszuführen, sollte aufgegeben werden.

Die Anwendung der Stelle ist gar nicht schwierig, vorausgesetzt

daß wir bereit sind, unsre Herzen Ihm zu

weihen. „Gieb mir, mein Sohn, dein Herz, und laß deine

Augen Gefallen haben an meinen Wegen" (Spr. 23, 26),

ist ein schönes und sicher auch ein billiges Gebot von

feiten Dessen, der sich selbst für uns hingegeben hat.

Seine Hingebung uns gegenüber ist vollkommen. Er hat

nichts zurückgehalten. Er hat uns geliebt und sich

selbst für uns hingegeben; nicht nur Sein Leben, so

wahr und gesegnet das ist, sondern sich selbst. Das

Kreuz ist selbstredend der stärkste Ausdruck Seiner Liebe,

den es jemals geben kann; aber indem Er sich selbst

hingab, gab Er alles was Er ist, als der Mensch

Christus Jesus, der Heiland der Sünder. O beachte,

mein lieber Mitpilger, die Größe dieser Gabe: sich

selbst! — und betrachte Ihn, den Geber! Seine Liebe

ist vollkommen. Er, Er selbst, ist dein!

Wir besitzen Christum in Seiner ganzen Fülle, Sein

Name sei dafür gepriesen! Seine Weisheit, Seine Gerechtigkeit,

Sein Friede, Seine Freude, Seine Gnade,

Seine Herrlichkeit, die Vollkommenheit Seines Werkes,

299

Sein Auferstehungsleben — mit einem Wort, Seine ganze

Person mit all ihrer Schönheit und Herrlichkeit ist unser,

ist dem Gläubigen für immer und ewig geschenkt. Groß,

wunderbar groß ist das Geheimnis dieser vollkommnen

Liebe. Betrachten wir hier nur kurz ein Beispiel derselben.

Es steht geschrieben, daß Christus „Frieden

gemacht habe durch das Blut Seines Kreuzes". Das Wort

„Friede" bedeutet in dieser Verbindung Versöhnung.

Wir sind mit Gott versöhnt, der Friede ist gemacht

gemäß der Vollkommenheit Seines Werkes auf dem Kreuze.

Aber es steht auch geschrieben: „Frieden lasse ich euch,

meinen Frieden gebe ich euch." Hier ist „Friede"

nicht gleichbedeutend mit „Versöhnung", sondern es handelt

sich um den eignen Frieden Christi, wie Er ihn

hienieden in der Gemeinschaft mit Seinem Vater auf dem

Pfade des Gehorsams genossen hat. Welch eine Gabe:

„mein Friede"! ein Friede, der der Herrlichkeit Seiner

Person entsprach und den Er uns als ein heiliges Vermächtnis

inmitten des unruhigen Schauplatzes dieser Welt

hinterlassen hat. Und Er giebt nicht, wie die Welt giebt.

Die Welt giebt einen Teil, und einen Teil hält sie für

sich zurück; Er aber giebt alles. Welch eine Segnung!

Was hat die Liebe nicht gethan! Welch ein Vertrauen

sollte diese unaussprechliche Gabe in unsern Herzen erwecken!

Zu wissen und zu verwirklichen, daß Jesus

mein ist, heißt vollkommnen Frieden und selige Ruhe

in Seiner gesegneten Gegenwart genießen. Und wenn diese

Gabe das Vertrauen unsrer Herzen weckt, wie treibt sie

uns andrerseits an, uns Ihm ganz zu widmen, Leib,

Seele und Geist unserm hochgelobten Herrn zu weihen!

Möchten wir jenes Vertrauen kennen, und handeln,

300

getrieben durch diese Liebe! — Ja, Herr, gieb, daß

unsre Liebe ein treuer Widerschein der Deinigen sei!

Es ist schwer zu sagen, ob die ersten fünf Verse

unsers Kapitels von den Töchtern Jerusalems oder von

dem Bräutigam selbst an die Braut gerichtet werden.

Der Ton des sechsten Verses, in welchem offenbar der

Bräutigam spricht, scheint tiefer und inniger zu fein, als

vorher. Wenn Er ferner im 4. Kapitel von den Eigen-

fchaften Seiner Geliebten redet, beginnt Er mit dem

Haupte. Im 5. Kapitel thut die Braut im Blick auf

den Bräutigam dasselbe. Hier aber ist es umgekehrt;

die Beschreibung beginnt mit den Füßen und endet mit

dem Haupte. Die Braut scheint in dieser Stelle von

einem irdischen Gesichtspunkt aus betrachtet zu werden,

als ob die Töchter Jerusalems zunächst durch ihren Wandel

angezogen würden. Außerdem handelt es sich hier nicht

so sehr um ihre persönliche, makellose Schönheit, welche

der Bräutigam so sehr bewundert und bei der Er so gern

verweilt, sondern vielmehr um Eigenschaften, die auf ihre

königliche Würde anspielen; oder, wie man auch sagen

könnte, es handelt sich mehr um nationale Herrlichkeit

als um persönliche Schönheit.

Da wir bereits im 4. und 5. Kapitel die einzelnen

Züge eingehender betrachtet haben, können wir uns hier

darauf beschränken, die Bedeutung der Vergleiche kurz

anzudeuten.

Der Ausdruck: „Wie schön sind deine Tritte in den

Schuhen, Fürstentochter!" erweckt den Gedanken an einen

stattlichen Gang, an ein majestätisches Einherschreiten.

Der Vergleich der Biegungen der Hüften mit einem kostbaren

Kunstwerk bestätigt diese Auffassung der Stelle.

301

„Eine Schale, in welcher der Mischwein nicht mangelt",

und „ein Weizenhaufen, umzäunt mit Lilien", deutet einen

Ueberfluß von allem an, was erfreut und sättigt.

Die Umzäunung mit Lilien erlaubt jedem den Zutritt;

alle dürfen kommen und von der Freigebigkeit des Königs,

von Seinen Gaben Gebrauch machen. Sie erinnert uns

an die Einladung der Weisheit: „Kommet, esset von

meinem Brote, und trinket von dem Weine, den ich gemischt

habe!" (Spr. 9, 5.) So voll, so reich und

herrlich werden die irdischen Segnungen sein unter der

friedlichen Regierung des wahren Salomo. Eine Fülle

von Korn und Wein, umzäunt mit Lilien! Welch eine

Vorstellung geben uns diese schönen und bezeichnenden

Sinnbilder von dem Segenszustande im tausendjährigen

Reiche! Wie schön und anmutig, wie sicher und friedlich

muß das Land sein, dessen Grenzzäune aus den Lilien

der Thäler bestehen! Welch einen überwältigenden Eindruck

müssen alle empfangen, die nach Jerusalem Hinauf-

Ziehen! Jesus ist dort! Der König von Salem

regiert, und alles ist nach Seinen Gedanken geordnet.

Das „Zwillingspaar junger Gazellen" deutet vielleicht

auf die Einigkeit und Harmonie hin, die in jenen Tagen

die ganze Bevölkerung des Landes kennzeichnen wird. Von

dem Segen Israels unter dem neuen Bunde am Ende

der Tage sagt das Wort: „Und ich werde reines Wasser

auf euch sprengen, und ihr werdet rein sein; von allen

euern Unreinigkeiten und von allen euern Götzen werde

ich euch reinigen. Und ich werde euch ein neues Herz

geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben; und

ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleische wegnehmen

und euch ein fleischernes Herz geben. Und ich werde

302

meinen Geist in euer Inneres geben; und ich werde machen,

daß ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte

bewahret und thut. Und ihr werdet in dem Lande wohnen,

das ich euern Vätern gegeben habe; und ihr werdet mir

zum Volke, und ich werde euch zum Gott sein." (Hes.

36,25—28.) Der Apostel sagt, unter Anwendung dieser

Prophezeiung auf Israel, trotz seiner gegenwärtigen Zerstreuung:

„Denn dies ist der Bund, den ich dem Hause

Israel errichten werde nach jenen Tagen, spricht der Herr:

Indem ich meine Gesetze in ihren Sinn gebe, werde ich

sie auch auf ihre Herzen schreiben; und ich werde ihnen

zum Gott, und sie werden mir zum Volke sein. Und sie

werden nicht ein jeder seinen Mitbürger und ein jeder

seinen Bruder lehren und sagen: Erkenne den Herrn!

denn alle werden mich erkennen, vom Kleinen bis zum

Großen unter ihnen." (Hebr. 8, 10. 11.) Wer könnte,

mit solchen Stellen vor sich, an der vollen Wiederherstellung

Israels, an der Wirklichkeit und Einheitlichkeit ihrer

Segnung zweifeln?

Der „Turm von Elfenbein" erweckt den Gedanken

an Reichtum und Erhabenheit, vielleicht auch an

Reinheit, da gutes Elfenbein bekanntlich schneeweiß

ist. Der Ausdruck: „die Teiche zu Hesbon" läßt uns

wohl an Ruhe, Tiefe und Klarheit denken. Wie ein

ruhiger Teich das Antlitz dessen, der sich in ihm spiegelt,

klar und deutlich wiedergiebt, so wird dereinst Christus in

Seiner geliebten Braut gesehen werden. Sie wird Seine

Schönheit wiederspiegeln.

„Der Libanon-Turm, der nach Damaskusshinschaut",

erinnert an Kraft, Sicherheit und Obergewalt. Die Juden,

das einst so allgemein verfolgte und über die ganze Erde

303

hin zerstreute Volk, das in alter Zeit so oft Einfälle

seitens der Syrer zu erdulden hatte, kann nun auf Syrien

und alle umherliegenden Völker Hinblicken in turmgleicher

Stärke. Alle Nationen der Erde liegen ihm zu Füßen.

Der Turm blickt nach Damaskus hin, der Hauptstadt

ihres einst so rastlosen und mächtigen Feindes. „Denn

Damaskus ist das Haupt von Syrien, und Rezin das

Haupt von Damaskus." (Jes. 7, 8.) Ein Turm, der

auf dem Gipfel des Libanon steht, blickt herab auf alles,

und wird gesehen von allen. Zu jener Zeit wird man

auf der ganzen Erde wissen, daß die Macht Jehovas-

JesuS inmitten Seines geliebten Volkes wohnt; und das

Volk wird die Obergewalt haben über alle Völker der Erde.

„Dein Haupt auf dir ist wie der Karmel." Der

Berg Karmel war berühmt wegen seiner Weinberge, seiner

Gärten und seines reichen Pflanzenwuchses. „Karmel"

bedeutet „Fruchtgefilde". So wird Israel gekrönt sein

mit Güte, das Land Immanuels gesegnet mit aller

irdischen Segnung. Aber so herrlich dies auch sein wird,

so ist es doch nur ein schwacher Schatten von den Segnungen

der Kirche Gottes, selbst während sie noch als

ein Pilgrim in dieser Welt wandelt. Im Blick darauf

ruft der Apostel aus: „Gepriesen sei der Gott und Vater

unsers Herrn Jesu Christi, der uns gesegnet hat mit

jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Oertern in

Christo!" (Eph. 1, 3.) Das ist der Charakter und das

Maß der christlichen Segnungen, wenn sie überhaupt gemessen

werden können. Verweile hier einen Augenblick,

mein Leser, bei den drei kostbaren Dingen, von denen in dem

eben angeführten Verse die Rede ist: 1. „Jede geistliche

Segnung". Keine fehlt; und es sind geist

304

liche Segnungen, entsprechend der neuen Natur, die

wir empfangen haben. 2. Sie sind „in den himmlischen

Oertern". Es ist der höchste, erhabenste

Bereich, die besten Oerter, die es giebt; nicht irdische

Oerter, wie diejenigen Israels, so gesegnet sie sein mögen,

sondern himmlische. 3. Sie sind „in Christo";

sie sind uns geschenkt in der gesegnetsten und herrlichsten

Weise, in welcher Gott sie uns schenken konnte. Hier

können wir keine Vergleiche ziehen; wir können nur bewundern

und anbeten. O vermöchten wir nur mehr in

das einzugehen, was bereits in Christo unser Teil ist,

gemäß der Liebe unsers Gottes und Vaters, „der uns

auserwählt hat in Ihm vor Grundlegung der Welt, daß

wir heilig und tadellos seien vor Ihm in Liebe"!

„Das herabwallende Haar deines Hauptes ist wie

Purpur: ein König ist gefesselt durch deine Locken!"

(V. 5.) „Purpur" ist wiederum das Sinnbild königlicher

Würde. Das Auge, welches von den schönen Schuhen

bis hinauf zu dem herrlichen Schmuck deS Hauptes der

Braut wandert, findet nur Vollkommnes. Die liebliche

Braut des Königs ist makellos. Der König ist von

ihrer hinreißenden Schönheit überwältigt; Er ist gleichsam

gefesselt durch ihre Locken, durch die Schönheit, die

Er selbst ihr gegeben hat. „Ganz herrlich ist des Königs

Tochter drinnen, von Goldwirkerei ihr Gewand; in buntgewirkten

Kleidern wird sie geführt werden zum Könige;

Jungfrauen hinter ihr her, ihre Gefährtinnen, werden zu

dir gebracht werden." (Ps. 45, 13. 14.) — „Ein König

ist gefesselt durch deine Locken." Er kann Seine königliche

Braut nicht wieder aufgeben. Sie ist Ihm kostbar

über alles; Er hat sie um einen teuren Preis erkauft

305

und sie so herrlich gemacht, daß Sein Auge mit der

höchsten Wonne auf ihr ruht. Wunderbare Liebe! Ueber-

strömende Gnade! O das Herz Jesu zu kennen, mein

Leser, was könnte es Höheres und Herrlicheres geben!

Auszug.

. . . Was wichtig ist, sind nicht „die Brüder", sondern

die Wahrheit, die sie haben. . . Gott könnte sie beiseite

setzen und Seine Wahrheit durch andere ausbreiten; und

ich glaube, Er wird es thun, obgleich Er voll gnädiger Geduld

ist, wenn sie nicht treu sind. Ihr Platz ist, in

Verborgenheit und Hingebung gegen den Herrn zu verharren,

nicht an „die Brüder" zu denken, (es ist immer

verkehrt, an uns selbst zu denken,) sondern an Seelen,

im Namen und in der Liebe Christi, sowie an Seine

Verherrlichung und Wahrheit; nicht „Brüdertum" zu

treiben, sondern mit jeder Seele zu Verkehren, wie sie es

bedarf, um Christi willen. . . . Was uns not thut, ist

eine nichtweltliche Gesinnung, Nicht gleichförmigkeit mit

der Welt, Selbstverleugnung und ein Vergessen der eignen

Interessen in der Liebe zu andern . . . Mögen die Brüder

wandeln in Liebe und in der Wahrheit, demütig, niedriggesinnt,

getrennt von der Welt und für Christum; so

klein (und zufrieden, so klein zu sein), wie sie im Anfang

waren — und Gott wird sie segnen. Wenn sie es nicht

thun, so mag ihr Leuchter hinweggethan werden, (und

o welch ein Schmerz und welch eine Beschämung des Angesichts

würde es sein nach einer solchen Gnade!) wie andere

hinweggethan worden sind . . . Mögen sie das Werk eines

306

Evangelisten thun; mögen sie beweisen, welch ein Dienst

ihnen anvertraut ist, in Demut, in Hingebung und Einfalt,

als solche, deren Herz Christo geweiht ist und die

abgesondert sind für Ihn. Was die Thätigkeit um sie

her betrifft, so ist sie eines der Zeichen der Zeit, und sie

sollten sich darüber freuen . . . aber sie stellt nicht ihr

Zeugnis dar . . . Ich glaube nicht, daß es unsre Aufgabe

ist, irgend etwas anzugreifen, sondern über allem

erhaben zu sein und für die Wahrheit einzustehen in

Liebe . . . Selbstverteidigung ist in jeder Hinsicht zu vermeiden.

Der Herr wird für uns eintreten, wenn wir

Seinen Willen thun . . . Gott bedarf unser nicht, aber

Er bedarf eines Volkes, das in der Wahrheit, in Liebe

und Heiligkeit wandelt. „Ich werde in deiner Mitte ein

elendes und armes Volk übriglassen, und sie werden auf

den Namen Jehovas vertrauen." (Zeph. 3, 12.) . . .

Am Werke des Evangeliums dürfen und sollen wir uns erfreuen,

aber es macht das Zeugnis der Brüder außerhalb

des Lagers notwendiger als je; nur muß es echt und

wirklich sein . . . Wenn die Brüder sich in das innerhalb

des Lagers herrschende Christentum verlieren, so werden

sie nur eine neue Sekte sein mit gewissen Wahrheiten.

___________ I. N. D.

„Der hinabgestiegen ist derselbe, der auch

hinaufgestiegen ist."

„Der hinabgestiegen ist derselbe, der auch hinaufgestiegen

ist über alle Himmel, auf daß Er alles erfüllte."

(Eph. 4, 10.)

Das ist das Geheimnis. Es ist derselbe Jesus,

Immanuel, der Sohn Gottes, und doch der Blutsverwandte

307

des Samens Abrahams. Und ich möchte sagen — denn

es liegt ein Bedürfnis dafür vor: Ich weiß, daß wir

die beiden Naturen in diesem Herrlichen und Hochgelobten

nicht mit einander vermengen dürfen. Im Glauben beuge

ich mich völlig vor der Wahrheit, daß „Der, welcher

heiligt", Fleisch und Blut angenommen hat. Ich bekenne

mich mit ganzer Seele zu der wahren Menschheit in

Seiner Person; aber es war keine unvollkommene

Menschheit, die in irgend einer Weise den Bedingungen

oder den Folgen der Sünde unterworfen gewesen wäre.

Und ich möchte fragen: Giebt es nicht bei manchen Gläubigen

unsrer Tage einen vielleicht ungeahnten, aber doch thatsächlich

vorhandenen Unglauben bezüglich des Geheimnisses

der Person Christi? Ist die Unteilbarkeit dieser Person

durch alle Abschnitte ihrer herrlichen, geheimnisvollen Geschichte

hindurch nicht manchem Auge entschwunden?

Ich erquicke mich (und möchte es immer mehr thun)

an der Sprache des Heiligen Geistes, wenn Er von dem

Menschen Christus Jesus redet. Der auferstandene „Mensch"

ist das Unterpfand unsrer Auferstehung. (1. Kor. 15, 21.)

Der gen Himmel gefahrene „Mensch" giebt uns die Bürgschaft,

daß unsre Interessen jeden Augenblick vor Gott

vertreten sind. (1. Tim. 2, 5.) Der „Mensch", der bald

aus dem Himmel zurückkehren wird, verbürgt die Beständigkeit

und Freude des kommenden Reiches. (Ps. 8.) Das

Geheimnis des gehorsamen, gestorbenen, auserweckten,

gen Himmel gefahrenen und wiederkommenden

„Menschen" enthält also den ganzen Ratschluß

Gottes. Dennoch aber muß, ich wiederhole es,

die Person in ihrer Unteilbarkeit stets vor den Blicken

der Seele stehen. Das vollkommne und vollendete Werk

308

Ehristi in jedem Abschnitt Seines Dienstes, in allem,

was Er that, litt und heute noch thut, ist das Werk

Seiner ganzen Person. Ja, diese ganze Person war am

Kreuze, wie überall sonst. Diese Person war das Opfer,

und in dieser Person war der Sohn, „Gott über alles,

gepriesen in Ewigkeit". Er „übergab den Geist", obgleich

Er unter dem Gericht Gottes wider die Sünde starb,

und durch die Hand gottloser Menschen gekreuzigt und

getötet wurde. Und das ist eine unendliche Gnade.

Ja, Geliebte, Er war es selbst, von Anfang bis

zu Ende. Er selbst ging den geheimnisvollen Pfad, obwohl

Er ihn ohne Beistand und allein ging. Kein anderer

als Gr, „Gott geoffenbart im Fleische", hätte diesen Pfad

M wandeln vermocht. Der Sohn wurde hienieden das

Lamm für den Altar, und dann erreichte das geschlachtete

Lamm den Platz der Herrlichkeit, der über alle Himmel

erhaben ist. Es ist die Person, die allem Kraft und

Wert verleiht. Sein Wirken und Dienen, Sein Leiden

und Sterben, Seine Auferstehung und Himmelfahrt —

alles wäre nutzlos, wenn Jesus nicht Der wäre, der Er

ist. Seine Person ist der „Fels"; und darum „ist Sein

Thun vollkommen". (5. Mose 32, 4.) Es ist das Geheimnis

aller Geheimnisse. Aber vergessen wir nicht, daß

Er uns nicht als ein Gegenstand der Erörterung gegeben

ist, sondern als ein Gegenstand des Glaubens,

des Vertrauens, der Liebe und der Anbetung.

Gott und Mensch, Himmel und Erde sind in diesem

großen Geheimnis den Gedanken des Glaubens gegenwärtig.

Gott war hienieden, und zwar geoffenbart im

Fleische, und jetzt ist der verherrlichte Mensch droben im

Himmel. (Aus: „Der Sohn Gottes" von I. G. B.)

„Wie schön bist du, und wie lieblich bist

du, o Liebe, unter den Wonnen!"

(Hohel. 7, 6-8, 14.)

„Wie schön bist du, und wie lieblich bist du, o

Liebe, unter den Wonnen!" (V. 6.) Das ist ohne Zweifel

des Bräutigams Stimme. Wir entdecken sofort mehr

Tiefe und Innigkeit in diesem Verse als in den fünf

vorhergehenden. Andere mögen die Braut bewundern,

Er aber hat Seine Wonne an ihr. Durch Seine langmütige

Gnade ist eine moralische Ähnlichkeit mit Ihm

in der Geliebten hervorgebracht. Das sieht Er jetzt und

erfreut sich darin. Je vollkommner Christus Sein Bild

in uns wiederfindet, desto größer wird Seine Wonne an

uns sein. Das ist eine notwendige und auch leicht verständliche

Wahrheit.

Ein gerader, aufrichtiger Mensch findet kein Gefallen

an einem Manne, der krumme Wege liebt; ein ehrlicher

kein Gefallen an einem unehrlichen. Eine Person von

reinen Sitten kann keine Gemeinschaft haben mit jemandem,

der in Unreinheit wandelt. Der Aufrichtige erfreut sich

an Aufrichtigkeit, der Ehrliche an Ehrlichkeit, der Reine an

Reinheit. So kann auch der Herr nur Seine Freude an

dem finden, was Seine eigne Vollkommenheit, wenn auch

notwendigerweise in geringem, unvollkommnem Maße,

wiederstrahlt, was Ihm ähnlich ist. Welch eine ge-

310

fünde, praktische Lektion kannst du hieraus lernen, meine

Seele! Inwieweit, laß dich fragen, bist du Christo

ähnlich? Denke an Seine Liebe, Seine Heiligkeit und an

die Vollkommenheit aller Seiner Wege; und dann frage

dich: „Inwieweit findet Er Sein eignes Bild in mir

wieder?" Und weiter: „Inwieweit kann Er Seine Wonne

an mir finden?" Weise solche tief erforschenden Fragen

nicht ab; bleibe in dem Lichte und prüfe dort alle deine

Wege mit Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. — Was machte

einen Paulus zu einem so treuen Diener und Zeugen

Christi? Was rief eine solch himmlische Gesinnung in

ihm hervor? Er konnte sagen: „Eines aber thue ich".

Und was war dieses Eine? Sein Auge war auf

Christum in der Herrlichkeit droben gerichtet, und sein

Herz verlangte sehnlichst nach Ihm. Ein im Himmel

verherrlichter Christus war der eine Gegenstand, der vor

seiner Seele stand. Und das allein wird auch in uns

ein Verhalten und eine Gesinnung Hervorrufen, an welchen

Christus Seine Wonne finden kann. „Wir alle aber,

mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend,

werden verwandelt nach demselben Bilde

von Herrlichkeit zu Herrlichkeit." (2. Kor. 3.)

Doch inmitten all unsrer Fehler, Versäumnisse und

Mängel ist es tröstlich zu wissen, daß ein Tag kommt,

an welchem Er von dem, was Er liebt und woran Er

Seine ganze Wonne findet, umgeben sein wird. Dann

werden alle himmlischen Heiligen Seinem verherrlichten

Leibe gleichgestaltet, vollkommen in dasselbe Bild verwandelt

sein. „Geliebte, jetzt sind wir Gottes Kinder,

und es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein

werden; wir wissen, daß, wenn es offenbar werden wird.

311

wir Ihm gleich sein werden, denn wir werden

Ihn sehen wie Er ist." Und an diesem zukünftigen

Tage der Herrlichkeit Christi wird auch von

Israel, als Seinem Volke hienieden, gesagt werden: „Nicht

wehr wird man dich „Verlassene" heißen, und dein Land

nicht mehr „Wüste" heißen; sondern man wird dich

nennen: „Meine Lust an ihr", und dein Land: „Vermählte"

; denn Jehova wird Lust an dir haben, und dein

Land wird vermählt werden." (Jes. 62, 4.) — O Herr,

beschleunige diesen herrlichen Tag, um Deines großen

Namens willen!

„Die Palme" und „die Trauben" in Vers 7 dürfen

wir wohl als Sinnbilder der Geradheit oder

Aufrichtigkeit und derReife und Fruchtbarkeit

betrachten. Der Palme geschieht oft in der Schrift in

sinnbildlicher Weise Erwähnung. Ihr Stamm ist glatt,

aber schlank, anmutig und gerade — das Bild der

Geradheit. Wird sie auch für eine längere Zeit umgebogen,

so richtet sie sich doch, sobald der Druck aufhört,

wieder auf. Sie will nicht krumm wachsen; alle Lebenskraft

des Baumes drängt nach oben. Schönes Bild von

der Art und Weise, wie die Juden dereinst, nach Aufhebung

des langen Druckes, der auf ihnen gelegen hat, ihre Häupter

wieder erheben werden. Einige Palmenarten erreichen

«ine beträchtliche Höhe; und da die Palme keine Aeste

treibt, sondern nur eine prächtige, reiche Blätterkrone

trägt, so ist das Einernten der Frucht oft mit vieler

Mühe verbunden. An diesen Umstand erinnert Wohl der

nächste Vers: „Ich sprach: Ich will die Palme ersteigen,

will ihre Zweige erfassen". Die Früchte des Geistes sind

niemals unerreichbar für den Herrn. Er sammelt sie und

312

schätzt sie hoch an Seinem Volke. Doch noch an etwas

anderes erinnert uns die Palme. Kein Anblick ist dem

durstigen Wanderer in dem Sandmeer der Wüste will-

kommner, als wenn Palmenwipfel am Horizonte aufsteigen.

Es ist das sichere Zeichen, daß erquickendes und belebendes

Wasser in der Nähe ist. (Vergl. 2. Mose 15, 27.)

Die Schrift liefert uns ferner viele Beispiele von

dem sinnbildlichen Gebrauch der Palmzweige oder der

gewaltigen, eine Länge von 8—12 Fuß erreichenden

Blätter, als Zeichen des Sieges. Bei dem Laubhüttenfest,

einer Zeit großer Freude in Israel, kamen sie vornehmlich

in Anwendung. „Und ihr sollt euch am ersten

Tage Frucht nehmen von schönen Bäumen, Palm-

zweige und Zweige von dichtbelaubten Bäumen und

von Bachweiden, und sollt euch freuen vor Jehova, euerm

Gott, sieben Tage." (3. Mose 23, 40.) Auch die unzählige

Volksmenge, welche Johannes vor dem Throne und vor

dem Lamme sah, war „bekleidet mit weißen Gewändern,

und Palmen in ihren Händen". (Offbg. 7, 9.)

Heute noch redet man viel von der Siegespalme;

sie wird dem Sieger als Preis zuerkannt.

Die liebliche Braut des Königs hat also ihre

moralische Reife erlangt. Sie ist vollkommen in Seinen

Augen, die Wonne Seines Herzens, das Bild Seiner selbst.

Das Gebet ist beantwortet, die Verheißung erfüllt: die

Lieblichkeit Jehovas ist über ihr; der Gerechte sproßt wie

der Palmbaum. Ja, das Fest der Laubhütten ist gekommen,

die Braut schwingt triumphierend die Siegespalme;

ihre Freude ist voll. Gerade und erhaben wie die Palme,

ihr Haupt herrlich gekrönt, zu ihren Füßen ein erfrischender

Quell; dabei schwach und abhängig gleich der

313

Rebe, aber sich anklammernd an den Mächtigen Israels

und reiche Frucht tragend zu Seiner Verherrlichung —

so erscheint sie vor unsern Blicken. Die Rebe ist eines

der lieblichsten Sinnbilder von dem schwachen Zustande

des Menschen und doch von einer überreichen Fruchtbarkeit

durch das Vertrauen auf Gott, durch das Bleiben in

dem wahren Weinstock. „Denn wenn ich schwach bin,

dann bin ich stark." (2. Kor. 12, 10.) Der Wohlgeruch

der Braut ist gleich dem Duft der Aepfel (V. 8),

der Frucht des Baumes, den wir bereits als das schöne

Sinnbild des Geliebten kennen gelernt haben. (Kap. 2, 3.)

Sie verbreitet um sich her den süßen Wohlgeruch Seines

Namens.

Von der Mitte des 9. Verses an scheint der

Bräutigam in den lieblichen Reizen Seiner Braut zu

ruhen. Sein Herz ist befriedigt. Er sieht in ihr die

Frucht der Mühsal Seiner Seele und ist gesättigt.

(Jes. 53, 11.) Das Begehren Seiner Liebe hat Befriedigung

gefunden. Glückliche Braut! Glückliches Israel!

Vollkommen und auf immerdar wiederhergestellt, so daß der

Herr, dein Gott, in dir ruht! Er wird erquickt durch

„den besten Wein", den du für Ihn, deinen Geliebten,

bereitet hast, und der Ihm „sanft hinuntergleitet". (V. 9.)

— Sollte in dem Herzen irgend eines meiner Leser noch

eine Frage bestehen hinsichtlich der herrlichen und gesegneten

Wiederherstellung der Juden in den letzten Tagen,

möge er dann die nachstehende schöne Prophezeiung mit

Aufmerksamkeit erwägen. Daß sie ihre Erfüllung bis

heute noch nicht gefunden hat, kann sicherlich niemand bezweifeln.

„Jubele, Tochter Zion; jauchze Israel! freue

dich und frohlocke von ganzem Herzen, Tochter Jerusalem!

314

Jehova hat deine Gerichte hinweggenommen, deinen

Feind weggefegt; der König Israels, Jehova, ist in

deiner Mitte, du wirst kein Unglück mehr sehen. An

jenem Tage wird zu Jerusalem gesagt werden: Fürchte

dich nicht! Zion, laß deine Hände nicht erschlaffen!

Jehova, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein rettender

Held; Er freut sich über dich mit Wonne, Er schweigt

in Seiner Liebe, frohlockt über dich mit Jubel."

(Zeph. 3, 14-17.)

„Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist Sein

Verlangen." (V. 10.) Das ist, wie wir Wohl sagen

dürfen, die höchste Note, der reinste Ton in dem Liede

der Lieder. Die Seele ist jetzt völlig fertig mit sich selbst,

und einzig und allein mit Christo beschäftigt. In ihren

Worten drückt sich, nach unsrer Meinung, die höchste

Vorstellung von Christo aus: Sein Verlangen ist nach

mir; Er hat Seine Wonne an mir! Die Gnade hat

ihr vollkommnes Werk gethan; die Seele ist gegründet

in der Gnade; und gerade dies ist die höchste

Schönheit an dem Gläubigen, das, woran der Herr Seine

besondere Freude findet. So lange eine Seele unter dem

Gesetz steht, erreicht sie niemals diesen Platz des Vertrauens,

der Ruhe und der ungestörten Freude. Sie

vermag eine solch hohe Note nicht zu singen. Sie ist mit

Zweifeln und Befürchtungen erfüllt. Nicht als ob das

Gesetz nicht gut wäre; im Gegenteil: es ist gerecht, heilig

und gut. Aber der Mensch vermag es nicht zu halten;

und nun der Gedanke an die Zukunft! Wir können

nicht ewig auf dieser Erde bleiben. Und wenn wir sie

nun verlassen müssen, was dann? Dann kommt der

Richterstuhl. Eine finstre Wolke hängt über der Zukunft.

315

Ach, die arme, beunruhigte Seele glaubt nicht, obgleich es

klar und deutlich geschrieben steht, daß sie aus Gnaden,

vermittelst des Glaubens, ewiges Leben hat und nicht

mehr ins Gericht kommt; sie weiß nicht, daß sie aus dem

Tode in das Leben hinübergegangen ist. (Joh. 5, 24.)

Die Gnade allein kann die Seele in diesen glücklichen,

gesegneten Zustand bringen. Das Gesetz vermag

es nicht, weil es alle Uebertreter verdammen muß und

kein Erbarmen kennt. Ueberdies, wenn ich Furcht habe,

so habe ich Pein. Aber „die vollkommne Liebe treibt die

Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber

fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe." (1. Joh. 4, 18.)

Diese „vollkommne Liebe" giebt sich kund in einer vollkommnen

Gnade, und die Gnade allein vermag die

Seele zu gründen in der Liebe unsers Gottes und Vaters

und unsers Herrn Jesu Christi, sowie in Seinem auf

Golgatha vollbrachten Werke. Israel sang sein erstes

Loblied auf der andern Seite des Roten Meeres, wo die

Gnade sich in der vollendeten Errettung des Volkes voll

und ungehindert offenbarte. In Aegypten vernehmen wir

keinen Lobgesang, und noch weniger am Fuße des Berges

Sinai, wo das Volk die Donner des Gesetzes hörte.

Hier gab es nur Furcht und Zittern. Seit jenem Augenblick

ist Israel stets unter dem Gesetz gewesen, und muß

es sein, bis sein Messias kommt. (Diejenigen Israeliten,

welche heute Buße thun und an Jesum gläubig werden,

verlassen selbstredend den jüdischen Boden, werden Glieder

des Leibes Christi und erlangen alle die Vorrechte und

Segnungen eines gegenwärtigen Heils.)

Die Lage der Juden in ihrer Gesamtheit und besonders

als derer, die den Herrn der Herrlichkeit ge

316

kreuzigt haben, findet ihr treffendes Vorbild in der Lage

des „Totschlägers" unter dem Gesetz. Derselbe war gezwungen,

in der Zufluchtsstadt zu bleiben, bis eine Veränderung

des Priestertums eintrat. (4. Mose 35.) Erst

nach dem Tode des jeweiligen Hohenpriesters durfte er

in das Land seines Eigentums zurückkehren. So auch

wird Israels volle Befreiung erst dann kommen, wenn

ihr Messias in Seiner Melchisedek-Herrlichkeit erscheinen

wird. Dann wird Er sie von dem Druck des Gesetzes

befreien, unter welchem sie seufzen und leiden, und wird

sie erretten aus der Hand aller ihrer Bedränger. Er

wird ihnen begegnen entsprechend dem lieblichen Bilde in

1. Mose 14 und ihre wankenden Herzen erquicken und

stärken mit dem Brot und Wein des Reiches. Ihre so lange

verblendeten Augen werden dann sich öffnen, um ihren

Messias zu sehen, und zu erkennen, daß Er alles für sie ist.

Erfahrungen dieser Art finden wir im Hohenliede

nicht. Sie würden nicht im Einklang stehen mit seinem

Gegenstand. Der Geist der Prophezeiung macht uns

vielmehr mit den Herzensübungen des Ueberrestes bekannt;

es handelt sich um innere Gefühle, Zuneigungen

und Erfahrungen, so wie in den Psalmen die Uebungen

des Gewissens, durch welche der Ueberrest am Ende

der Tage gehen wird, im Vordergründe stehen.

Wir erinnern uns, daß die Braut in Kap. 2, 16

ihrer Freude darüber Ausdruck gab, daß sie den Messias

gefunden hatte, daß sie Ihn besaß: „Mein Geliebter

ist mein, und ich bin Sein". In Kap. 6, 3 hatte

ihre Erfahrung schon einen höheren Grad erreicht; ihr

Herz fand süße Genugthuung und Befriedigung in dem

Bewußtsein, daß sie Ihm an gehörte: „Ich bin

317

meines Geliebten, und mein Geliebter ist mein".

In dem vorliegenden Verse aber gelangt sie zu dem

Gipfelpunkt in den Erfahrungen einer Seele; sie ruht in

der seligen Gewißheit, daß Sein Herz nach ihr verlangt:

„Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist

Sein Verlangen". Es ist, wie bereits gesagt, das

herrliche Ergebnis der geduldigen und langmütigen Gnade

des Herrn; sie ist in Seinen Augen das Bild makelloser

Schönheit und Vollkommenheit, und sie weiß das, und ihr

Herz ruht selig und frei in diesem kostbaren Bewußtsein.

„Nach mir ist Sein Verlangen" — höher als das kann

die Seele sich nicht erheben; Besseres kann sie nicht erlangen.

Sie findet alles in der unveränderlichen Liebe

Christi zu ihr. Das ist die tiefste Freude des Herzens,

das giebt unerschütterlichen, süßen Frieden. Welch ein

Teil für einen armen, aus Gnaden erretteten Sünder,

alle seine Quellen in der Liebe Jesu zu finden; sagen zu

können: „Er kennt mich ganz und gar; Er weiß, was ich

war und was ich bin. Und dennoch liebt Er mich, ja Er

liebt mich nicht nur, sondern Er findet auch Seine Wonne

an mir." Wunderbare Wahrheit! Laß mich hier fragen,

mein Leser: Ist die Harfe deines Herzens so gestimmt,

daß sie diesen Ton hervorzubringen vermag? Oder ist eine

gewisse Anstrengung deinerseits dazu erforderlich? — Ach, das

Lied von Seiner Liebe sollte nie schwächer werden, sollte

keinen Augenblick auf unsern Lippen verstummen; nein, es

sollte lauter und lauter ertönen, mehr und mehr anschwellen,

je näher wir der Herrlichkeit kommen, wo derselbe

Jesus und dieselbe Liebe ewiglich Gegenstand unsers

Lobens und Dankens sein werden.

318

„Komm, mein Geliebter, laß uns aufs Feld hinausgehen,

in den Dörfern übernachten. Wir wollen uns

früh aufmachen nach den Weinbergen, wollen sehen, ob

der Weinstock ausgeschlagen ist, die Weinblüte sich geöffnet

hat, ob die Granaten blühen; dort will ich dir

meine Liebe geben." (V. 11. 12.) In der vollen Gemeinschaft

mit ihrem Bräutigam und in dem seligen Genuß

Seiner Liebe wendet sich jetzt die Braut an ihren

Geliebten. Der Ton ihrer Anrede und der Charakter

ihrer Worte übersteigt alles, was wir bisher von ihr

gehört haben. Sie redet nur noch von Dingen, von denen

sie weiß, daß sie Ihm wohlgefällig sind. Ihr Glaube

hat das Maß Seiner Gedanken und Gefühle bezüglich

ihrer Person erreicht. So war es einst auch bei David

im Terebinthenthal. (1. Sam. 17.) Sein Glaube erhob

sich zu den Gedanken und Gefühlen Gottes bezüglich

Seines Volkes Israel, und rechnete dementsprechend auf

Ihn. Das ist der wahre Boden der Gemeinschaft: Einheit

der Gefühle und des Herzens mit Christo.

Der Ausdruck: „Laß uns aufs Feld hinausgehen,

in den Dörfern übernachten", scheint anzudeuten, daß die

Segnung und Herrlichkeit des tausendjährigen Reiches die

Grenzen Israels überschreiten werden. Die Felder und

Thäler liegen außerhalb der Stadt. Jerusalem und

die Städte Judas werden, als der irdische Mittelpunkt

der Herrlichkeit des Messias, ohne Zweifel zuerst mit ihr

erfüllt werden. Aber von diesem Mittelpunkt aus wird

sie sich zur Rechten und zur Linken ausbreiten, bis die

ganze Erde von jener Herrlichkeit erfüllt sein wird.

Was mir so besonders lieblich und gesegnet in der vorliegenden

Stelle erscheint, ist die Thatsache, daß die Juden

319

mit ihrem Messias in dieser Herrlichkeit verbunden

sein werden. Christus und Sein Volk sind gleichsam für

einander gebildet, und erfreuen sich mit einander all der

Segnungen der Erde. „Komm, mein Geliebter", sagt die

Braut, „laß uns aufs Feld hinausgehen, ... wir wollen

uns früh aufmachen" u. s. w. Bräutigam und Braut

besuchen und überschauen in glückseliger Gemeinschaft die

weiten, ausgedehnten Gefilde tausendjähriger Segnung und

Herrlichkeit. Hernach fügt sie mit der Vertraulichkeit eines

Herzens, das sich in Seiner Gegenwart völlig daheim fühlt,

hinzu: „Dort will ich dir meine Liebe geben". Ihr Herz

wallt über. Das Wort „Liebe" steht im Hebräischen in

der Mehrzahl. Eine tiefe, überströmende Liebe erfüllt

ihr ganzes Innere und geht aus, dem Bräutigam entgegen.

Und in der That, unsre Liebe kann nie zu tief, zu glühend

sein, wenn Christus ihr Gegenstand ist.

Ich brauche kaum noch einmal darauf aufmerksam

zu machen, daß die Kirche und alle Heiligen, welche bei

der Ankunft des Herrn auferweckt und entrückt werden,

bereits mit Christo in dem Jerusalem droben verherrlicht

sind, ehe die Vereinigung des Königs mit Seiner irdischen

Braut erfolgt. Denn es ist der Vorsatz Gottes, alles

was im Himmel und auf Erden ist, unter ein Haupt

zusammenzubringen, und dieses Haupt ist Christus. Er

wird sowohl die himmlichen wie die irdischen Teile Seines

Reiches unter Seinem Scepter vereinigen. Sie werden

mit einander verbunden sein, wie es einst vorbildlich durch

Jakobs Leiter dargestellt wurde. Die Herrlichkeit der

himmlischen Heiligen wird den Heiligen hienieden, ja der

ganzen Welt sichtbar sein. „Auf daß die Welt erkenne,

daß du mich gesandt und sie geliebt hast, gleichwie du

320

mich geliebt hast." (Joh. 17, 23.) Und im Blick auf

das neue Jerusalem lesen wir: „Die Nationen werden

durch ihr Licht wandeln, und die Könige der Erde bringen

ihre Herrlichkeit zu ihr." (Offbg. 21, 24.)

„Die Liebesäpfel duften, und über unsern Thüren

sind allerlei edle Früchte, neue und alte, die ich, mein

Geliebter, dir aufbewahrt habe." (V. 13.) Die glückliche

Braut entdeckt jetzt in ihrem Herzen eine Fülle von kostbaren

Früchten für den Sohn Davids, allerlei edle Früchte,

neue und alte. Wir dürfen unter diesen Früchten wohl

die Dankbarkeit und Liebe, die Hingebung und Anbetung

ihres Herzens verstehen. Die Schlußworte der Braut sind

von besondrer Schönheit: „die ich, mein Geliebter, dir

aufbewahrt habe". Eine ganz neue Art von Gefühlen

ist in ihrer Seele für den Herrn erwacht; Gefühle, wie

sie sie nie vorher gehabt hat und auch für niemanden

anders haben könnte. Ihr Herz, das so lange dürr und

leer war, ist jetzt mit der Liebe ihres Messias erfüllt

und bringt die Früchte dieser Liebe dar. Er hat Zuneigungen

in ihr wachgerufen, die Ihm selbst eigentümlich

sind, und die gleichsam während der ganzen Zeit ihres

Umherirrens verschlossen gewesen und für Ihn aufbewahrt

geblieben sind.

Kapitel 8.

„O wärest du mir gleich einem Bruder, der die

Brüste meiner Mutter gesogen! Fände ich dich draußen,

ich wollte dich küssen; und man würde mich nicht verachten.

Ich würde dich führen, dich hineinbringen in

meiner Mutter Haus, du würdest mich belehren; ich würde

dich tränken mit Würzwein, mit dem Moste meiner Gra

321

naten." (V. 1. 2.) Diese Verse führen uns, was die

Stellung und Erfahrung der Braut betrifft, offenbar wieder

rückwärts. Wir verließen sie am Schluffe des vorigen

Kapitels inmitten der sich hell und glänzend entfaltenden

Herrlichkeit der letzten Tage und in glücklicher Gemeinschaft

mit ihrem Geliebten. Die finstere Nacht ihres Kummers

und Alleinseins mit allen ihren schmerzlichen Erfahrungen

lag hinter ihr, und der Tag ihrer Herrlichkeit war angebrochen

mit all seinem Glanz und Segen. Hier aber

kehren wir zu der eigentlichen Quelle der Uebungen, durch

welche sie gegangen ist, zurück, nämlich zu dem heißen

Verlangen ihres Herzens nach ungehinderter, ungestörter

Gemeinschaft mit ihrem Messias. Sie verlangt nach der

vollen Freiheit verwandtschaftlicher Liebe: „O wärest du

mir gleich einem Bruder!" Das entspricht dem Anfang

unsers Buches: „Er küsse mich mit den Küssen Seines

Mundes, denn deine Liebe ist besser als Wein".

Das 8. Kapitel steht, wie wir bereits früher gesagt

haben, für sich selbst da und faßt die Grundsätze des Buches

noch einmal kurz zusammen. Wir möchten deshalb auch

wenig mehr thun als, soweit wir es vermögen, den Pfad

des Geistes in diesem das Lied der Lieder beschließenden

Kapitel kurz andeuten.

Das tiefe Sehnen der Braut, wie es hier durch den

Geist der Prophezeiung zum Ausdruck kommt, findet seine

sofortige und völlige Befriedigung. Sie verlangt nach

dem vollen Besitz Christi und wünscht Gelegenheit zu haben,

Ihn mit dem würzigen Most ihrer Granaten zu tränken.

Sie weiß jetzt, daß Er einst den bittern Kelch des

Zornes Gottes für ihre Sünden trank; und sie verlangt

danach, Ihm einen Kelch kostbaren Weines zu reichen, den

322

ihre Dankbarkeit und Liebe für Ihn allein gemischt haben.

Aehnlich dem zurückgekehrten verlornen Sohne findet auch

sie sich gleich nachher in den Armen ihres Geliebten wieder

und ruht an Seinem Herzen. Die Töchter Jerusalems

werden wiederum beschworen, sie nicht zu stören, so lange

sie die Liebe ihres Geliebten genießt. „Seine Linke sei

unter meinem Haupte, und Seine Rechte umfasse mich!

Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, daß ihr nicht

wecket noch aufwecket die Liebe, bis es ihr gefällt!"

(V. 3. 4.) — Dann sehen wir sie „von der Wüste

heraufkommen, sich lehnend auf ihren Geliebten". Sie ist

auf der Reise nach den sonnigen Hügeln Kanaans, in

Abhängigkeit von ihrem Geliebten und unter dem Schatten

Seiner Flügel; Aegypten und die Wüste liegen hinter ihr.

Hierauf erinnert der Bräutigam die Braut an die

Quelle all ihrer Segnung: „Unter dem Apfelbaum

habe ich dich geweckt". Der „Apfelbaum" ist das bekannte

Sinnbild von Christo selbst. „Wie ein Apfelbaum

unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter

inmitten der Söhne." (Kap. 2, 3.) Ihr göttliches Leben

und alle damit in Verbindung stehenden Segnungen verdankt

die Braut Christo. Durch Ihn ist sie aufgeweckt

und lebendig gemacht, und unter Ihm gesegnet mit aller

irdischen Segnung in einem herrlichen Lande. Der Christ

hat nicht Leben und Segnung unter Christo, sondern

in und mit Ihm. Diese wichtige Wahrheit kennzeichnet

den Unterschied zwischen jüdischer und christlicher Segnung.

Beide verdanken selbstverständlich ihr Leben und ihre

Segnung Ihm allein. Aber von den Christen lesen wir,

daß sie mit Christo lebendig gemacht, mit Ihm auferweckt

und in Ihm mit versetzt sind in die himmlischen

323

Oerter. (Eph. 2, 5. 6.) Israel, als solches, gehört der

Erde an; wir, als Christen, dem Himmel. Dort sind

unsre Namen angeschrieben, und dorthin sind wir in Christo

jetzt schon versetzt.

In der zweiten Hälfte des 5. Verses erinnert der

Bräutigam Seine Geliebte an ihre Beziehung zu dem

Volke Israel. Der Ueberrest des Volkes, in deren

Herzen die Gnade wirkt, wird die Braut des großen

Königs. In besondrer Weise stellt sie, wie wir dies schon

früher zu bemerken Gelegenheit hatten, den Ueberrest Judas

dar, der in Jerusalem sein wird, ehe der Ueberrest Ephraims

oder der zehn Stämme eingesammelt ist; grundsätzlich

aber repräsentiert sie das ganze Volk. Und da Christus

selbst aus dem Stamme Juda entsprossen ist, heiligt der

Geist sichtbarlich den Gebrauch hierauf bezüglicher Titel

und den Ausdruck von Zuneigungen, die ihnen angehören.

Ein Gefühl der Trauer und des Schmerzes beschleicht

unwillkürlich unser Herz, wenn wir daran denken, daß

diejenigen, zu deren Ermunterung und Glaubensstärkung

diese Beziehungen anerkannt und solch herrliche Scenen

beschrieben werden, sich noch in der tiefen Finsternis eines

schrecklichen Unglaubens befinden. Die Decke liegt noch

auf dem Herzen Israels. Aber der Weg der Liebe, der

in dem Hohenliede eine so schöne Darstellung gefunden

hat, wird bald von dem unglücklichen Volke erkannt und

eingeschlagen werden. Inzwischen ziehen wir Nutzen aus

dieser wundervollen Offenbarung innerer Gefühle und

Zuneigungen, umsomehr als das Hohelied eine gesegnete

moralische Anwendung auf uns zuläßt.

Der aus dem Tode zum Leben geführte Ueberrest,

die Braut des Messias in Seinem salomonischen Charakter,

324

wünscht nun wie ein Siegelring an Sein Herz gelegt zu

werden, entsprechend einer Liebe, die alle Erkenntnis übersteigt.

„Lege mich wie einen Siegelring an dein Herz,

wie einen Siegelring an deinen Arm! Denn die Liebe

ist gewaltsam wie der Tod, hart wie der Scheol ihr Eifer;

ihre Gluten sind Feuergluten, eine Flamme Jahs. Große

Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen, und Ströme

überfluten sie nicht. Wenn ein Mann allen Reichtum

Seines Hauses um die Liebe geben wollte, man würde

ihn nur verachten." (V. 6. 7; vergl. auch S. 99—101

unsrer Betrachtungen.) Wo sollen wir eine Liebe finden

gleich dieser? Sie ist nur in dem Herzen Jesu. WaS

ist so gewaltsam wie der Tod? was so hart wie der

Scheol? was so schonungslos wie Feuergluten? Mit der

Liebe ist nichts zu vergleichen. Würde ein reicher Mann

auch all sein Hab und Gut für die Liebe bieten, er würde

nur verachtet werden. Was sind alle Reichtümer und

Schätze im Vergleich mit der Liebe! Große Wasser vermögen

sie nicht auszulöschen, Ströme können sie nicht

überfluten. Als die Liebe und der Tod in furchtbarem

Kampf auf dem Kreuze einander begegneten, triumphierte

die Liebe, und der Tod wurde für immer zunichte gemacht.

Der „Siegelring" an dem „Herzen" und dem „Arme"

des Geliebten erinnert vielleicht an das Brustschild und

die Schulterstücke, wie sie von dem Hohenpriester getragen

wurden. Die Namen der zwölf Stämme wurden „in

Siegelstecherei" in kostbare Steine eingegraben und auf

dem Herzen (dem Bilde der Liebe) und auf den Schultern

(dem Bilde der Kraft) des Hohenpriesters vor Jehova

gebracht. So wird auch die glückliche Braut binnen kurzem

wie ein Siegelring gelegt sein an das liebende Herz und

325

an den starken Arm ihres hochgelobten Herrn, ihres großen

Hohenpriesters nach der Ordnung Melchisedeks.

Die „kleine Schwester", von welcher die Braut im

nächsten Verse redet, ist, wie wir nicht zweifeln und auch

schon früher bemerkten, ein Bild von Ephraim oder von

den so lange verlorenen zehn Stämmen. „Was

sollen wir unsrer Schwester thun", fragt sie, „an dem

Tage, da man um sie werben wird? Wenn sie eine

Mauer ist, so wollen wir eine Zinne von Silber darauf

bauen, und wenn sie eine Thür ist, so wollen wir sie

mit einem Cedernbrett verschließen." (V. 8. 9.) Die

Gefangenschaft der zehn Stämme hat lange vor der

Geburt Christi begonnen, und sie sind nie wieder in ihr

Land zurückgekehrt. Sie wissen also nichts von den

Uebungen, durch welche Juda (oder die zwei Stämme)

gegangen ist hinsichtlich der Geburt, des Todes, der

Auferstehung und Wiederkunft des Messias. Nichtsdestoweniger

treten auch sie in den Genuß der gesegneten Ergebnisse

Seines ersten Kommens in Gnade und Seines

zweiten Kommens in Herrlichkeit ein. Sie werden

belehrt, auferbaut und befestigt in der Lehre

Christi durch ihre bevorzugte Schwester Juda. „Ich bin

eine Mauer", sagt sie, „und meine Brüste sind wie

Türme; da wurde ich in Seinen Augen wie eine, die

Frieden findet." (V. 10.) Sie ist stark in dem Herrn,

in Seiner Erkenntnis gereift, und steht in der vollen

Gunst des Königs. Das Israel Gottes ist wiederhergestellt!

Die zwölf Stämme sind vereinigt, und

nicht länger mehr in zehn und zwei geteilt wie heute.

„Salomo hatte einen Weinberg zu Baal-Hamon;

er übergab den Weinberg den Hütern: ein jeder sollte

326

für seine Frucht tausend Silbersekel bringen." (V. 11.)

„Baal-Hamon" bedeutet: „Herr einer Menge";

dieser Name enthält offenbar eine Anspielung auf die

Menge der Nationen, auf die ganze Welt, welche dann

den weiten Weinberg des Herrn bilden wird. „Jehovas

ist die Erde und ihre Fülle, der Erdkreis und die darauf

wohnen." (Ps. 24, 1.) Das tausendjährige Reich ist angebrochen!

Die Herrlichkeit des Herrn erfüllt die Erde;

alle Herzen frohlocken; Jesus regiert, und die Hüter des

Weinberges bringen Ihm jetzt einen entsprechenden Ertrag.

Alles ist unter dem Auge Christi und entspricht den

Grundsätzen Seiner Regierung. Die Braut wünscht, daß

von ihrem eignen Weinberge der ganze Ertrag dem

König Salomo zufließe, außer einem Teile für die Hüter

desselben. „Mein eigner Weinberg ist vor mir; die

tausend sind dein, Salomo, und zweihundert seien den

Hütern seiner Frucht." (V. 12.) Alle sollen ihr Teil

haben an dem Ertrage der fruchtbaren, friede- und freudeerfüllten

tausendjährigen Erde. Aber Christus ist Herr

von allen.

Zum letzten Male in diesem Liede wendet sich der

Herr jetzt an Seine liebliche, so hoch bevorzugte Braut,

indem Er ihr zuruft: „Bewohnerin der Gärten, die

Genossen horchen auf deine Stimme; laß sie mich hören!"

<V. 13.) Er ladet sie ein, ein Loblied anzustimmen. Sie

soll gleichsam ihren Genossen, ja der ganzen Erde den

Ton angeben. Und, mein lieber Leser, was wird es

sein, wenn alle Völkerschaften, Sprachen und Zungen den

Jubelgesang aufnehmen, und die frohlockenden Hosianna's

sich fortpflanzen werden „von Meer zu Meer und von

dem Strome bis an die Enden der Erde"! Die ganze

327

Schöpfung wird mit Glück und Freude erfüllt sein, und-

ihre lauten Lobes- und Dankeslieder werden das Ohr

ihres erhabenen, herrlichen Königs erreichen. — Laß

mich deine Stimme hören!

„Enteile, mein Geliebter, und sei gleich einer Gazelle

oder einem Jungen der Hirsche auf den duftenden Bergen I"

(V. 14.) — Unser Gesang ist zu Ende. Sein letzter Ton

ist voll und reich. Die liebende Braut verlangt sehnlichst

nach der baldigen Rückkehr ihres Herrn. Sie bittet Ihn,

daß Er ohne Zögern kommen möge. Die tiefe, innige

Liebe ihres Herzens giebt sich kund in dem heißen Verlangen

nach Seiner herrlichen Erscheinung. O möchten

doch auch alle unsre Herzen sich mit der Braut vereinigen

in dem ernsten und anhaltenden Flehen, daß Er bald kommen

und Sein glorreiches Werk vollenden möge; daß Er

kommen möge zur Aufnahme der Kirche, zur Herrlichkeit

Israels und zum Segen der ganzen Erde!

Amen, Amen! Jesu eile,

Still' das Sehnen Deiner Braut!

Mächtiglich die Wolken teile,

Daß Dich unser Auge schaut!

Steige auf am Horizonte,

Morgenstern, durchbrich die Nacht;

O daß Deine Braut schon thronte

Dort mit Dir in Himmelspracht!

„Tag für Tag Seine Wonne."

(Spr. 8, 30.)

Der Sohn ist der Christus. Gott, in der Person des-

Sohnes, hat das ganze Werk des Dienstes, alles wozu

Salbung oder ein Christus (ein Gesalbter) erforderlich war^

328

für uns übernommen; und Er hat dies gethan in der

Person Jesu. Darum sagen wir: „Jesus Christus, der

Sohn Gottes." Der Eingeborne, der Christus, Jesus von

Nazareth ist eine und dieselbe Person. Nur erblicken wir Ihn

unter diesen verschiedenen Namen in Seiner persönlichen,

Ihm eignen Herrlichkeit, in Seinem Dienst und

in Seiner angenommenen Menschheit. . . .

Er war in dem Schoße des Vaters; dort war das

ewige Leben bei dem Vater — selbst Gott und doch

bei Gott. Im Ratschluß Gottes war Er dort „eingesetzt

vor den Uranfängen der Erde, vor dem Beginn der Schollen

des Erdkreises". Dann war Er der Schöpfer aller Dinge

in ihrer ersten Ordnung und Schönheit; hernach der Versöhner

aller Dinge in ihrem Zustand der Sünde und des

Verderbens, und schließlich wird Er bei ihrer Wiederherstellung

der Erbe aller Dinge sein. So sehen wir Ihn

durch den Glauben, und so reden wir von Ihm. Wir

sagen: Er war in den ewigen Ratschlüssen Gottes, in dem

Mutterleibe der Jungfrau, in den Leiden dieser Welt, in

der Auferstehung aus den Toten; Er ist im Himmel mit

Ehre und Herrlichkeit gekrönt und mit Macht und Ruhm

bekleidet als der Erbe und das Haupt aller Dinge. . . .

Wie lieblich und gesegnet ist eS, — ach, wenn wir

nur fähiger dazu wären! — den Herrn auf Seinem ganzen

Wege bis zu dem Throne der Herrlichkeit zu betrachten!

Auf jeder Station dieses Weges erblicken wir

Ihn als Den, der stets dasselbe vollkommene

Wohlgefallen Gottes hervorrief, gleichsehr im Beginn

wie am Ende Seiner Laufbahn; nur mit dem Ihm

eignen Vorrecht, daß Er es in der gesegnetsten und

wundervollsten Verschiedenheit hervorrief.

329

Die Schrift setzt uns in den Stand, diesem allem zu

folgen. Von der Freude, die Er genoß, als Er sich vor

Grundlegung der Welt in dem Schoße des Vaters befand,

haben wir nicht nötig zu reden, denn wir vermögen es

nicht. Jener Schoß war „der Bergungsort der Liebe";

und die Freude, die mit dieser Liebe verbunden war, ist

ebenso wenig in Worten auszudrücken wie die Liebe selbst.

Aber auch als Mittelpunkt aller göttlichen Thätigkeit und

als Grundlage aller Ratschlüsse Gottes war der Geliebte

ebensowohl die Wonne Gottes. In dieser Stellung und

in diesem Charakter sehen wir Ihn in Sprüche 8, 22—31.

In dieser wunderbaren Schriftstelle wird die Weisheit,

oder der Sohn, dargestellt als der große Ursprung, der

Schöpfer und Erhalter aller Werke und Vorsätze Gottes,

die in dem göttlichen Ratschluß vor Grundlegung der

Welt festgesetzt waren. In ähnlicher Weise wird Er in verschiedenen

Stellen des Neuen Testamentes betrachtet. (Siehe

Joh. 1, 3; Eph. 1, 9. 10; Kol. 1, 15-17.) Und in

allem diesem kann Er von sich sagen: „Da war ich Schoßkind

bei Ihm, und war Tag für Tag Seine Wonne,

vor Ihm mich ergötzend allezeit."

Und als die Fülle der Zeiten gekommen war, lag

der Sohn Gottes in dem Schoße der Jungfrau. Wer

kann dieses Geheimnis ergründen? Und doch ist es so.

Aber es war nur eine neue Veranlassung zur Freude.

Engel kamen, um derselben Ausdruck zu geben und sie den

Hirten auf Bethlehems Fluren zu verkündigen.

Der Sohn der Liebe Gottes mußte jetzt in einer neuen

Gestalt eine andere Laufbahn betreten. Unter Leiden und

im Dienste als Sohn des Menschen erblicken wir Ihn auf

der Erde. Doch überall, und ebenso unvermischt wie in

330

den verborgenen Zeitaltern der Ewigkeit, rief Er auch hier

das unaussprechliche Wohlgefallen Gottes hervor. „Dieser

ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden

habe." — „Siehe, mein Knecht, den ich stütze,

mein Auserwählter, an welchem meine Seele Wohlgefallen

hat." Das sind Aussprüche des Vaters, die von Seiner

unveränderten Freude zeugen, während Er den Pfad

Jesu über diese sündenbefleckte Erde hin verfolgt.

Und dieselbe Stimme ertönt zum zweiten Male:

„Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen

gefunden habe." Sie wird vernommen auf dem

heiligen Berge wie am Ufer des Jordan, am Tage der

Verklärung wie bei der Taufe. (Matth. 17.) Die Verklärung

war das Unterpfand und das Vorbild des Reiches,

wie die Taufe den Eintritt in Seinen Dienst und Sein

Zeugnis darstellte. So wurde- in dem Schoße des Vaters,

wo der Sohn sich befand, stets dasselbe Wohlgefallen hervorgerufen,

ob das Auge Gottes Ihn auf dem einsamen

Pfade des Dieners in einer unreinen, verderbten Welt verfolgte,

oder Ihn auf der Höhe des Königs der Herrlichkeit

im tausendjährigen Reiche erblickte. Auf Seinem ganzen

Wege von Ewigkeit zu Ewigkeit fand Gott stets dasselbe

vollkommene Wohlgefallen an Ihm. Nirgend zeigt sich

eine Unterbrechung, nirgend ein Stillstand in der Freude

Gottes an Ihm, wiewohl diese Freude mannigfaltig und

verschiedenartig war; sie bleibt stets dieselbe an Fülle und

Tiefe, mögen die Umstände und die Veranlassungen auch

wechseln. Er, der diese Freude hervorruft, bleibt immer

der gleiche, und deshalb auch die Freude selbst; in ihrem

Maße konnte sie nie verschieden sein, obwohl ihre

Ursachen sich verändern mochten. — Und dieser Eine

331

war während Seines ganzen Pfades von Ewigkeit zu

Ewigkeit gleich unbefleckt; so heilig im Mutterleibe der

Jungfrau wie im Schoße des Vaters; so rein am Ende

wie beim Beginn Seiner Laufbahn: so vollkommen als

Knecht wie als König; unbegrenzte Vollkommenheit kennzeichnete

alles, und dasselbe Wohlgefallen ruhte auf allem.

Wenn die Seele nur immer von dem Gedanken durchdrungen

wäre, daß dieser hochgelobte Herr (wo und wie

Er auch betrachtet werden mag), derselbe war, der von

Ewigkeit her in dem Schoße des Vaters war — wenn

dieser Gedanke durch den Heiligen Geist in der Seele

lebendig erhalten würde, so würde manche Neigung, die

jetzt vielleicht die Seele verunreinigt, in Schranken gehalten

werden. Er, der in dem Mutterleibe der Jungfrau lag,

ist derselbe, der im Schoße des Vaters war! Welch ein

Gedanke! Der majestätische Jehova des Alten Testamentes,

den die geflügelten Seraphim anbeteten, war Jesus von

Galiläa! Welch ein Gedanke! So fleckenlos als Mensch,

wie Er als Gott war; so rein in dem menschlichen Gefäße,

wie in dem ewigen Schoße; so makellos inmitten

der Verunreinigungen der Welt, wie damals, als Er die

Wonne des Vaters bildete vor Grundlegung der Welt!

Wahrlich, wenn die Seele von diesem Geheimnis

durchdrungen ist, wird mancher Gedanke, der im Herzen

aufsteigen will, sofort seine Beantwortung finden. Wer

möchte angesichts eines solchen Geheimnisses reden, wie

manche geredet haben? Wenn nur diese Herrlichkeit vor

der Seele steht, so werden die Flügel wieder das Angesicht

bedecken und die Schuhe von den Füßen gezogen werden.

(Jes. 6, 2; 2. Mose 3, 5.)

(Aus: „Der Sohn Gottes" von I. G. B.)

332

Ueberreich in Hoffnung.

„Die Hoffnung aber beschämt nicht."

(Röm. 5, 5.)

Hoffnung kennzeichnet das ganze Leben des Christen.

Er rühmt sich in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes

(Röm. 5, 2); er ist errettet worden in Hoffnung (Röm.

8, 24); er freut sich in Hoffnung. (Röm. 12, 12.)

Die Hoffnung stählt seinen Mut im Kampfe, giebt ihm

die nötige Kraft zum Ausharren in der Trübsal, und

erfüllt ihn mit Freudigkeit im Dienste. Wie der Pflügende

auf Hoffnung pflügt, und der Dreschende auf Hoffnung

drischt (1. Kor. 9, 10), so lebt und arbeitet der

Christ in der gewissen Hoffnung, sein Ziel zu erreichen.

Aber dieses Ziel liegt in der Herrlichkeit droben. Dort

wird er ernten und die Frucht seiner Arbeit genießen.

Er wird nicht beschämt werden; denn die Hoffnung beschämt

nicht. Ueberdies kennt er das Wort: „Der

Ackerbauer muß, um die Früchte zu genießen, zuerst

arbeiten." (2. Tim. 2, 6.) Hoffnung kennzeichnet also,

wie gesagt, das ganze Leben des Christen. Fehlt ihm die

Hoffnung, oder ist sie geschwächt, so wird er bald mutlos

werden und im Wettlauf ermüden. Das herrliche Ziel

ist aus dem Auge verloren, und die Kraft erlahmt.

Jeder Gläubige ist berufen, an seinem Teil mitzuarbeiten

an dem Werke des Herrn und an der Auferbauung

des Leibes Christi, „bis wir alle hingelangen zu

der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes

Gottes, zu dem erwachsenen Manne, zu dem Maße des

vollen Wuchses der Fülle des Christus". (Eph. 4, 13.)

Das ist das allen gemeinsame Ziel; und um es zu er

333

reichen, darf keiner an sich selbst denken, keiner sich selbst

zu gefallen suchen, sondern vielmehr dem Nächsten zum

Guten und zur Auferbauung. (Röm. 15, 1. 2.) Hierdurch

wird das christliche Leben zu einem Leben beständiger

Selbstverleugnung und Hingebung für Andere. Das

war daS Leben Christi und Seiner Apostel, und das

sollte unser Leben sein.

Aber ist es nicht sehr entmutigend, wenn unser Blick

auf den allgemein niedrigen Zustand der Christen fällt?

wenn die Gläubigen, anstatt dem Ziele näher zu kommen,

sich immer weiter von demselben zu entfernen scheinen?

wenn die Verwirrung je länger je größer wird, und die

traurigen Vorkommnisse, durch welche der Name des Herrn

verunehrt wird, in unsrer Mitte sich mehren? Gewiß, alles

das ist entmutigend und niederdrückend. Aber obwohl

wir unser Auge nicht davor verschließen können noch sollen,

dürfen wir doch nicht dabei stehen bleiben. Ein stetes

Beschäftigtsein mit den Umständen um uns her macht uns

müde und matt; wir verraten dadurch, daß wir nicht

mehr in Hoffnung leben und arbeiten, in dieser glückseligen

Gewißheit, daß unsre Mühe nicht vergeblich ist im Herrn.

(1. Kor. 15, 58.) Wie groß die Verwirrung und Zersplitterung

unter den Gläubigen auch sein mag, so wissen

wir doch, auf Grund des göttlichen Wortes, daß der

Augenblick kommt und nahe ist, wo die Menge der Heiligen

ein Herz und eine Seele, und wo Christus der

Mittelpunkt von allem sein wird. Mag Satan auch die

größten Anstrengungen machen und erschreckende Erfolge

erringen, mag es ihm selbst scheinbar gelingen, die Sache

des Herrn zu verderben, — jener Augenblick wird zeigen,

daß er die Ratschlüsse Gottes nicht aufzuhalten und Sein

334

Werk der Gnade nicht zu hindern vermocht hat. Nicht

einer der Auserwählten wird fehlen; alle werden den

Herrn umgeben als solche, die abgewaschen, geheiligt und

gerechtfertigt sind in dem Namen unsers Herrn Jesu und

durch den Geist unsers Gottes. (1. Kor. 6, 11.) Nicht

die geringste Spur von der Macht und Wirksamkeit Satans

wird an der glückseligen, verherrlichten Schar der Erlösten

mehr zu entdecken sein. Und dann wird auch offenbar

werden, daß wir nicht vergeblich gearbeitet haben,

daß unsre Mühe und unser Ausharren nicht vergeblich

waren.

Diese Hoffnung, dieser Gedanke an das herrliche

Ziel, erfüllte unsern hochgelobten Herrn während Seines

Wandelns hienieden und ließ Ihn mit Ausharren Seinen

schweren Weg gehen und Sein Werk der Hingebung und

Selbstaufopferung zum Heil verlorner Sünder vollbringen.

Er wird uns als Muster vorgestellt, daß wir nicht uns

selbst gefallen sollen: „denn auch der Christus hat nicht

sich selbst gefallen, sondern wie geschrieben steht: „Die

Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen."

(Röm. 15, 3.) Er hat der Schande nicht geachtet

und für die vor Ihm liegende Freude das

Kreuz erduldet. (Hebr. 12, 2.) Die Freude stand vor

Seinen Blicken, die einst Himmel und Erde erfüllen wird;

jene herrliche Zeit, wo das Loblied der Erlösten wiederhallen

wird zu Seines Namens Ruhm und Ehre; wo

droben in den Himmeln das neue Lied der Erkauften

durch alle Ewigkeiten den Herrn erheben (Offbg. 5), und

hienieden Sein irdisches Volk Ihn als den treuen Erfüller

aller Verheißungen und als seinen glorreichen Befreier

Preisen wird; wo die Nationen Gott verherrlichen werden

um der Begnadigung willen, und die Weissagungen erfüllt

sein werden: „Seid fröhlich, ihr Nationen, mit Seinem

Volke", und: „Lobet den Herrn, alle Nationen, und alle

Völker sollen Ihn preisen". (Röm. 15, 9—12.)

Im Blick auf diese Freude betrat Christus den

schweren Pfad, auf welchem die tiefste Erniedrigung, Ar

335

mut und Entbehrungen aller Art Seiner warteten; wo die

ganze schreckliche Feindschaft des menschlichen Herzens gegen

Gott sich gegen Seine Person kehrte; wo Er für alle

Seine Güte nur Undank, für alle Seine Sanftmut und

Freundlichkeit nur den Widerspruch der Sünder und ihren

bittern Haß erntete, einen Haß, der am Kreuze seinen

völligen Ausdruck fand. Aber Er erduldete alles um der

vor Ihm liegenden Freude willen, ja, Er erduldete

weit mehr noch als das: selbst der Mann seines Friedens,

auf den Er vertraute, der Sein Brot aß, erhob seine

Ferse wider Ihn (Psalm 41, 9); einer Seiner Jünger

verleugnete Ihn, alle übrigen verließen Ihn. Dazu gesellte

sich die ganze List, Bosheit und Macht Satans;

die sichtbaren und die unsichtbaren Mächte der Finsternis

ließen nichts unversucht, um Ihn in Seinem Vorhaben

zu hindern. Doch nichts vermochte Ihn zurückzuschrecken;

unverrückt blieb Sein Blick auf die vor Ihm liegende

Freude gerichtet. Und endlich kam das Schrecklichste:

die Sünde mußte der Gerechtigkeit Gottes gemäß gesühnt

werden. Dies konnte nur geschehen durch jene unergründlichen

Leiden, die Er als unser Stellvertreter erduldete,

indem Er für uns zur Sünde gemacht wurde. Keine

Kreatur ist fähig, auch nur annähernd fühlen zu können,

was das Verlassensein von Gott für Den sein mußte,

der als der geliebte Sohn eins mit dem Vater und von

Ewigkeit her in dessen Schoße war. Diese schrecklichen

Stunden der Finsternis standen vor Seinem Geiste, als

in Gethsemane Sein Schweiß wie große Blutstropfen

zur Erde raun. Aber selbst dann noch harrte Er aus;

für die vor Ihm liegende Freude blieb Er standhaft bis

zum letzten Augenblick, bis der letzte Tropfen des bittern

Kelches geleert und das ganze Werk vollbracht war. Er

hat nicht sich selbst gefallen, sondern nur an die herrlichen

Ergebnisse des Erlösungswerkes gedacht, an die vollkommene

Verherrlichung Gottes und die Freude erlöster Sünder.

Ist alles dieses nicht „zu unsrer Belehrung geschrieben,

auf daß wir durch das Ausharren und durch.

336

die Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben?"

(Röm. 15, 4.) Ja wahrlich, welch eine Ermunterung liegt

in der Betrachtung der ausharrenden Hingebung und

gänzlichen Aufopferung unsers Herrn für Andere! Wie

fordert uns Sein Ausharren auf so schwerem Wege auf,

ebenfalls nicht müde und überdrüssig zu werden! Es ist

fürwahr der Mühe wert, im Blick auf die vor uns liegende

Freude, auf die herrlichen Folgen der Erlösung, an unserm

geringen Teile mitwirken, milleiden und uns selbst aufgeben

zu dürfen zum Guten und zur Auferbauung des

Nächsten. Der Apostel Paulus war in diesem, wie in

vielem andern, ein treuer Jünger Seines geliebten Herrn,

ein nachahmungswürdiges Beispiel für uns. Er konnte sagen:

„Deswegen erdulde ich alles um der Auserwählten willen,

auf daß auch sie die Seligkeit erlangen, die in Christo

Jesu ist, mit ewiger Herrlichkeit." (2. Tim. 2, 10.) Sein

Herz war in allen seinen Leiden mit der Hoffnung auf

die vor Ihm und allen Auserwählten liegende Herrlichkeit

erfüllt, und kraft dieser Hoffnung erduldete er alles. Nur

eine „überreiche Hoffnung", die sich auf die Gewißheit

des Sieges und des herrlichen Ausgangs unsers Weges

gründet, kann unsern Mut im Kampfe aufrecht erhalten

und uns Kraft zum Leiden darreichen.

Latztuns denn Tag für Tag in Hoffnung leben,

arbeiten und dulden! Möge sich das Gebet des Apostels

an uns erfüllen: „Der Gott der Hoffnung aber

erfülle euch mit aller Freude und allem Frieden im

Glauben, damit ihr überreich seid in Hoffnung,

durch die Kraft des Heiligen Geistes!" (Röm. 15, 13.)

Laßt uns nicht den Mut verlieren trotz der scheinbaren

Erfolge des Feindes! Der Herr ist nahe, und wenn Er

kommt, wird unser Sieg ein vollständiger sein.