Botschafter des Heils in Christo 1908

01/25/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Botschafter des Heils in Christo Inhaltsverzeichnis: 1908

Seite

Betrachtungen über das erste Buch der Könige 1.

1, 20, 57, 85, 113


Stephanus

12

Die Befreiung und ihre gesegneten Folgen

19, 50, 77, 100

Jehova ist mein Licht und mein Heil

42, 67

„Hièr bin ich, sende mich!"

83

Endlich (Gedicht)

84

Rühmt unsern Gott (Gedicht)

106, 133

Folge mir nach!

123

Die Gefangenen in Babylon

123

Rahab

137

Der Weg hinauf nach Jerusalem

141

Der Ernst der Zeit

225

Die Rückkehr der Gefangenen nach Jerusalem

155, 169, 197, 225

Der gute", der große" und der Erz" Hirte

163

Als Traurige, aber allezeit uns freuend"

165

Sterben ist Gewinn." (Gedicht)

167

Praktische Gerechtigkeit

180

Wachsen."

193

Gebet und Anbetung

210

Aus einem Briefe über das Gebet des Herrn

218

Drei schlimme Übel

221

Das Evangelium der Herrlichkeit

239, 264, 292, 325 

Ich möchte nur bei dir sein."

247

Der geöffnete Himmel

251

Die Zerstreuten unter den Nationen

253, 281, 308

Von Gott getröstet 274

274

Laßt uns! 278

278

Als es Abend geworden war 304

304

Irdische Sorgen eine himmlische Zucht 317

317

Kurze Bemerkungen aus einer Besprechung über Kol. 2 u. 3

331

Stephanus: Apostelgeschichte 7, 55 - 60

Botschafter des Heils 1908 S. 12ff

Zwei große Tatsachen kennzeichnen das Christentum und unterscheiden es deutlich von allem Vorhergegangenen. Diese beiden Tatsachen sind: 1) ein verherrlichter Mensch in dem Himmel, und 2) Gott, der Heilige Geist, wohnend in dem Menschen auf Erden. Das sind zwei Tatsachen von erstaunlicher Tragweite, die, wenn richtig verstanden, einen mächtigen Einfluss auf Herz und Leben des Christen ausüben.

Sie sind, wie gesagt, nur dem Christentum eigen. Sie waren nicht bekannt, bevor die Erlösung vollbracht war und der Erlöser Seinen Sitz zur Rechten der Majestät in den Himmeln eingenommen hatte. Da wurde zum ersten Mal ein Mensch auf dem Throne Gottes gesehen. Welch wunderbarer Anblick! Ja, welch ein herrliches Ergebnis des Erlösungswerkes! Der Feind schien zu triumphieren, als der erste Mensch aus dem Garten Eden vertrieben werden musste und die Cherubim mit dem flammenden Schwert den Weg zum Baume des Lebens versperrten. Aber siehe da, der zweite Mensch hat als der Auferstandene Seinen Siegeszug in den Himmel genommen und sich aus den Thron Gottes gesetzt für immerdar.

Das Gegenstück zu dieser herrlichen Tatsache, das ihr an wunderbarer Größe gleichkommt, ist dies: Gott, der Heilige Geist, wohnt jetzt bei und in dem Menschen auf Erden. Diese beiden Dinge kannten die alttestamentlichen Heiligen nicht. Was wusste Abraham von einem verherrlichten Menschen im Himmel? 

Was wusste einer der alten Helden davon? Kein Mensch hat je auf dem Throne Gottes gesessen, bis Jesus dort Seinen Platz einnahm; und bevor Er nicht im Himmel verherrlicht war, konnte auch der Heilige Geist nicht herniederkommen und in dem Menschen auf Erden Wohnung machen. In Joh. 7, 38. 39 lesen wir die bekannten Worte: „Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Dies aber sagte Er von dem Geiste, welchen die an Ihn Glaubenden empfangen sollten; denn der Geist war noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war.“

Christus, droben verherrlicht, und der Heilige Geist, wohnend in dem Menschen hienieden — diese beiden Dinge sind unzertrennlich miteinander verbunden. Das eine steht und fällt gleichsam mit dem anderen, und beide zusammen bilden, wie gesagt, die zwei großen Kennzeichen des Christentums, welche der gläubige Leser, wie wir nicht zweifeln, mit ganzem Herzen aufgenommen hat und als ewige Wahrheiten festhält. Wir möchten deshalb auch nicht weiter von ihnen reden, sondern vielmehr die Darstellung ihrer praktischen Kraft und ihres bildenden Einflusses betrachten, wie sie uns in der Geschichte des Stephanus in Apostelgeschichte 7, 55 - 60 entgegentritt. Diese wenigen Verse enthalten ein wunderbares Gemälde von einem wahren Christen, einem himmlischen Menschen.

Der Hauptteil des Kapitels wird von einer ergreifenden Wiedergabe der Geschichte des Volkes Israel ausgefüllt, die mit der Berufung Abrahams beginnt und mit dem Tode Christi endet. Am Schluss seiner Ansprache wendet sich Stephanus mit schneidenden Worten an die Gewissen seiner Zuhörer, was aber nur einen Ausbruch der bittersten Feindschaft und des tödlichsten Hasses zur Folge hat. „Als sie aber dies hörten, wurden ihre Herzen durchbohrt, und sie knirschten mit den Zähnen gegen ihn.“ Das sind die Wirkungen einer Religiosität ohne Christum. Diese Männer waren die erklärten Wächter der jüdischen Religion und die anerkannten Leiter des israelitischen Volkes; aber ihr vermeintlicher Gottesdienst erwies sich als eine Religion gegen Christum. Sie zeigen auf schreckliche Weise, was eine Religion ohne Gott und ohne Christum ist, während wir andererseits in Stephanus die liebliche Darstellung des wahren Christentums erblicken. Waren sie voll Feindschaft und Hass, so war er von Heiligen Geistes. Knirschten sie mit ihren Zähnen, so war sein Angesicht gleich eines Engels Angesicht.

„Als Stephanus aber, voll Heiligen Geistes, unverwandt gen Himmel schaute, sah er die Herrlichkeit Gottes und Jesum zur Rechten Gottes stehen; und er sprach: Siehe, ich sehe die Himmel geöffnet und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen!“

Hier sehen wir also unsere beiden großen Tatsachen zum Ausdruck gebracht in einem Menschen, der aus gleichem Stoff gebildet war wie wir. Stephanus war einerseits voll Heiligen Geistes, und andererseits war sein Blick auf den im Himmel verherrlichten Menschen gerichtet. Das ist Christentum. Das ist der wahre, normale Begriff von einem Christen. Der Christ ist ein Mensch, der mit dem Heiligen Geiste erfüllt ist, und ein Mensch, dessen Auge unverwandt gen Himmel gerichtet ist, wo sein Glaube einen verherrlichten Christus erblickt. Wir können unseren Standpunkt nicht niedriger nehmen, wenn wir ihn auch im praktischen Leben nicht immer verwirklichen mögen. 

Es ist ohne Zweifel ein hoher und heiliger Standpunkt, und je mehr wir ihn als solchen erkennen, desto mehr werden wir eingestehen müssen, wie wenig unser Leben an diese Höhe hinan reicht. Aber es ist und bleibt der göttliche Standpunkt, und jedes dem Herrn ergebene Herz wird danach streben, ihn einzunehmen, und wird keinen geringeren wünschen. Es ist das selige Vorrecht eines jeden Christen, mit dem Heiligen Geist erfüllt zu sein und das Glaubensauge auf den verherrlichten Menschen im Himmel gerichtet zu halten. Einen göttlichen Grund, warum das nicht so sein sollte, gibt es nicht. Das Werk der Erlösung ist vollbracht, die Sünde ist hinweggetan, die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben; ein Mensch sitzt aus dem Throne Gottes, der Heilige Geist ist auf diese Erde herabgekommen und hat Wohnung gemacht in dem einzelnen Gläubigen sowohl wie in der Kirche im allgemeinen.

Diese Dinge sind nicht bloße Lehren, Theorien ohne Kraft und Leben; sie sind im Gegenteil außerordentlich praktisch und vermögen einen gewaltigen Einfluss auszuüben, wie wir dies an dem Märtyrer Stephanus sehen. Man kann unmöglich die Schlussverse von Apostelgeschichte 7 lesen, ohne aufs tiefste berührt zu werden von der mächtigen Wirkung, welche der Gegenstand, der die ganze Seele des Stephanus erfüllte, auf ihn ausübte. Wir sehen hier einen Menschen angesichts eines furchtbaren Todes, von Feinden umringt, die hasserfüllt auf ihn eindringen; aber anstatt durch die schrecklichen Umstände irgendwie bedrückt zu sein, ist sein Geist nur mit himmlischen Gegenständen beschäftigt.

 Er schaut unverwandt gen Himmel, und sein Auge erblickt dort Jesum. Die Erde verwirft ihn, wie sie bereits seinen Herrn verworfen hatte, aber der Himmel tut sich ihm auf; und indem er in diesen geöffneten Himmel hineinschaut, erfasst er einige der Strahlen der Herrlichkeit, die ihm von dem Antlitz seines auferstandenen Herrn von dort aus entgegenleuchten, ja, er erfasst sie nicht nur, sondern sein Angesicht strahlt sie zurück auf die Versammlung, die finster und drohend ihn umgibt.

Ist das alles nicht überaus praktisch? Ganz gewiss. Wir sehen Stephanus nicht nur in geradezu wunderbarer Weise über den ihn umgebenden Umständen erhaben, sondern er ist auch imstande, seinen Verfolgern gegenüber die Sanftmut und Gelindigkeit Christi kundwerden zu lassen. Wir erblicken in ihm eine höchst eindrucksvolle Darstellung von 2. Kor. 3, 18, jener bekannten Stelle von solch besonderer Tiefe und Fülle: „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“.

In welch lebendiger Weise entfaltet sich dies alles hier vor unseren Blicken! Der finstersten Offenbarung religiösen Hasses steht der herrlichste Ausdruck wahren, himmlischen Christentums gegenüber. „Sie schrien aber mit lauter Stimme, hielten ihre Ohren zu und stürzten einmütig auf ihn los. Und als sie ihn aus der Stadt hinausgestoßen hatten, steinigten sie ihn. Und die Zeugen legten ihre Kleider ab zu den Füßen eines Jünglings, genannt Saulus. Und sie steinigten den Stephanus, welcher betete und sprach: Herr Jesu, nimm meinen Geist auf! Und niederkniend rief er mit lauter Stimme: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu! Und als er dies gesagt hatte, entschlief er.“

Das ist in der Tat echtes, praktisches Christentum, eine lebendige Übereinstimmung mit dem Bilde Christi. Hier ist ein Mensch, der so hoch über den Umständen steht, der so völlig aus sich selbst herausgehoben ist, dass er nach dem Vorbilde des Herrn für seine rasenden Mörder zu beten vermag. Anstatt mit sich oder mit seinen Leiden beschäftigt zu sein, denkt er nur an andere und bittet für sie. Im Blick auf ihn ist alles in Ordnung. Sein Auge ist auf die Herrlichkeit gerichtet, und zwar so unverrückt, dass er ihre Strahlen auffangen und sie zurückfallen lassen kann auf seine Umgebung. 

Sein Antlitz strahlt von dem Glanz jener Herrlichkeit, in die er einzugehen im Begriff steht, und durch die Kraft des Heiligen Geistes vermag er auch darin seinem hochgelobten Herrn und Meister zu folgen, dass er sterbend für seine Mörder betet: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu!“ Dann entschläft er. Er schließt seine Augen hienieden, aus dem Schauplatz des Todes, um sie droben, an der Stätte ewiger Herrlichkeit, wieder zu öffnen — oder, besser gesagt, er verlässt diese Erde und betritt den Bereich, welcher schon hier vor seiner entzückten Seele gestanden hatte.

Noch einmal denn: Das ist wahres Christentum; und es ist nicht nur erreichbar für einen Stephanus. Nein, es ist das Vorrecht eines jeden Christen, erfüllt mit dem Heiligen Geiste, von sich selbst und seiner Umgebung ab zu blicken und unverwandt gen Himmel zu schauen und sich mit dem verherrlichten Menschen droben zu beschäftigen. Das notwendige Ergebnis solcher Beschäftigung ist praktische Gleichförmigkeit mit jenem Hochgelobten, auf den das Auge gerichtet ist. Wir werden Ihm dann mehr gleich in Geist und Gesinnung, in Worten und Wegen, ja, in unserem ganzen Charakter. 

„Mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden wir verwandelt nach demselben Bilde“ Das ist der Standpunkt des Christen, und wir sollten mit keinem geringeren zufrieden sein. Stephanus redete nicht nur von der Herrlichkeit, nein, sein Leben warf einen Abglanz davon auf seine Umgebung. Wir reden vielleicht oft mit schönen Worten von himmlischer Herrlichkeit und himmlischer Gesinnung, während unsere Wege hienieden eher alles andere als himmlisch sind. Mit Stephanus war es nicht so. Er war ein reiner, glanzheller Spiegel, in welchem seine Umgebung den Widerschein der Herrlichkeit Christi erblicken konnte.

Geliebter Leser! Wie ist es mit uns? Sind wir so Von unserem auferstandenen Herrn erfüllt, so innig mit Ihm verbunden, dass unsere Mitmenschen, unsere Hausgenossen und Freunde die Züge Seines Bildes in unseren Gewohnheiten, unserer Gesinnung und unserem ganzen Wesen ausgeprägt finden? Ja, kann ein jeder von uns sagen: „Es ist meines Herzens tiefer und ernster Wunsch, so mit Christo beschäftigt, so von Ihm erfüllt zu sein, dass der Widerschein Seiner Gnade und Herrlichkeit von mir ausstrahlt zum Preise Seines Namens«? Wenn nicht, was ist dann unser Christentum?

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Die Befreiung und ihre gesegneten Folgen

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 19ff

I.

Sobald eine Seele durch den Glauben an Jesum Frieden mit Gott gefunden hat, sind ihr zwei wichtige Dinge zuteil geworden :

1) Sie ist gerechtfertigt, d. h. nicht nur dem gerechten und heiligen Gott gegenüber vor allem Gericht sichergestellt, sondern auch für gerecht erklärt und für immer passend gemacht für die Herrlichkeit Gottes.

2) Sie ist befreit von der Macht und Herrschaft der Sünde und dadurch fähig gemacht, in der Zeit ihres Erdenwallens für Gott Frucht zu bringen, indem der Geist Gottes als Leben und Kraft, ja, als der Geist der Sohnschaft in ihr Wohnung genommen hat und nun die „Frucht des Geistes" in ihr hervorbringt.

Die Rechtfertigung gibt der Seele eine ewige, unerschütterliche Stellung in der Gegenwart Gottes droben; die Befreiung verleiht ihr die Fähigkeit zu einem gottgemäßen Wandel hier auf Erden, während sie sich noch im Zustand der Unvollkommenheit und Schwachheit befindet.

Die Rechtfertigung hat das Gestorbensein Christi für uns, die Befreiung unser Gestorbensein mit Christo zur Grundlage. Beide Wahrheiten sind überaus ernst und köstlich. Beschäftigen wir uns ein wenig eingehender mit der Befreiung, indem wir bei dem gläubigen Leser das Bewusstsein voraussetzen, dass seine Sünden auf Grund seines Glaubens an das Opfer Christi vergeben sind, und dass er durch diesen Glauben (und nicht etwa auf dem Grundsatz der Werke) völlig gerechtfertigt ist. Sobald eine Seele dies verstanden hat, ruft das neue Leben in ihr das Bedürfnis wach, Gott zu verherrlichen und Ihm Frucht zu bringen gemäß dem Worte des Herrn Jesu: „Hierin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringet, und ihr werdet meine Jünger (d. h. meine Nachahmer oder Nachfolger im Wandel) werden" (Johannes 15,8).

 Aber wie kann das geschehen? Der Herr leite uns, wenn wir versuchen, im Nachstehenden auf diese wichtige Frage Antwort zu geben. Solange eine Seele nur die Vergebung ihrer Sünden durch den stellvertretenden Tod Christi kennt, aber noch nicht verstanden hat, dass ihr ganzer Zustand als Kind des ersten Adam („Fleisch" oder „alter Mensch" genannt) unverbesserlich schlecht ist und deswegen von Gott mit Christo ans Kreuz genagelt wurde; solange sie, mit anderen Worten, die Lehre von der Befreiung nicht mit dem Herzen aufgenommen hat, wird sie immer ein falsches Mittel anwenden, um Frucht für Gott hervorzubringen. Dieses falsche Mittel ist das Gesetz, die Forderungen des heiligen und gerechten Gottes an den Menschen im Fleische.

Für das Fleisch ist der Wille Gottes stets ein Gesetz. Wenn jemand sich unter ein Gesetz stellt oder von anderer Seite unter Gesetz gestellt wird, setzt das voraus, dass Neigungen in ihm vorhanden sind, die dahin zielen, gerade das zu tun, was das Gesetz verbietet. Diese Neigungen finden sich nun nicht nur in dem unbekehrten Menschen, sondern auch in dem Gläubigen. „Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt" (Römer 7,18). Aber die wiedergeborene Seele hat Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen. Sie verurteilt die bösen Neigungen, die wider Gottes Gesetz streiten, und wünscht den Willen Gottes zu tun und den Forderungen des Gesetzes zu genügen.

Sie bemüht sich ernstlich, dieses Ziel zu erreichen; aber was ist das Ergebnis ihrer Anstrengungen? Der Geist Gottes schildert es in Römer 7 mit den Worten „Was ich vollbringe, erkenne ich nicht: denn nicht was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse, das übe ich aus" (V. 15). Und weiter in Vers 18 und 19: „Denn das Wollen ist bei mir vorhanden, aber das Vollbringen dessen, was recht ist, finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, dieses tue ich." Und endlich: „Denn ich habe Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen; aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Sinnes widerstreitet und mich in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist" (V. 22. 23).

Diese Erfahrung macht jede aufrichtige, wiedergeborene Seele; und es ist gut, sie zu machen, aber nicht gut, darin zu verharren. Gott benutzt sie als ein Mittel, die Seele zu befreien und auf den Boden zu bringen, auf dem allein sie Ihm Frucht zu bringen vermag. Aber es ist gefährlich, bei solcher Erfahrung stehen zu bleiben, da sie schließlich dazu dienen kann, die Seele gleichgültig gegen das Böse zu machen. Wenn eine Seele aufrichtig das Gesetz Gottes liebt und den Willen Gottes zu tun begehrt, so wird sie bald zusammenbrechen, wie der Mensch in Römer 7, und wird, gleich ihm, ausrufen: „Ich elender Mensch! wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?" - Und dieser Zusammenbruch, der gänzliche Bankrott des Ichs, ist gerade der Punkt, zu dem die Seele kommen muss, um befreit zu werden.

Darf ich dich fragen, mein lieber gläubiger Leser, wo du stehst? Bist du noch nicht bis zu jenem Punkt gelangt, und stehst du noch in dem verzweifelten Kampf wider die Sünde in dir? Oder bist du oberflächlich gegenüber dem Bösen geworden und nimmst es nicht mehr so genau mit der Sünde? Das wäre das Schlimmere. Aber wo du auch stehen mögest, unser Wunsch ist, dass die Betrachtung dir zum Segen gereichen und dich erkennen lassen möge, was dir not ist, um glücklich zu sein und Gott Frucht bringen zu können.

Prüfen wir denn, woher es kommen mag, dass die Erfahrung in Römer 7 nur Niederlagen und gar keine Siege aufweist. Die Ursache ist, wie bereits angedeutet wurde, dass die gläubige Seele ein falsches Mittel angewendet hat: das Gesetz. Wir lesen im Eingang des Kapitels: „Wisset ihr nicht, Brüder, dass das Gesetz über den Menschen herrscht, so lange er lebt?" Das Gesetz herrscht also über jeden lebenden Menschen, den Menschen im Fleische. Der Gläubige ist aber gestorben; er ist nicht mehr im Fleische, sondern im Geiste, wenn anders Gottes Geist in ihm wohnt (Vgl. Kap. 8,9). Er ist mit Christo gestorben; er lebt nicht mehr in dem alten Zustand als Kind des ersten Adam, in welchem nicht nur die Sünde über ihn herrschte, sondern auch das Gesetz, das die Sünde verurteilt und Gehorsam fordert. Er ist „dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten", um nun Gott Frucht zu bringen (V. 4). Er „dient in dem Neuen des Geistes" (V. 6).

Eine wiedergeborene Seele, die sich unter Gesetz stellt, leugnet ihr Gestorbensein mit Christo; sie tut, als wenn sie noch im Fleische lebte, und das Gesetz stellt sich den Neigungen und Begierden des Fleisches entgegen. Wohl möchte sie dem Gesetz Gottes untertan sein, aber sie vermag es nicht, weil das Fleisch kraftlos ist, und nun trifft sie der Fluch des Gesetzes. Alle neuen Versuche und Anläufe, gegen die Sünde zu kämpfen, führen zu demselben schrecklichen Ergebnis: Niederlagen und Flüche des Gesetzes.

 Auf diesem Boden kann eben nichts anderes erreicht werden. Denn das Gesetz ist die Kraft der Sünde (1.Korinther 15,56), nicht aber die Kraft des neuen Lebens. Der Dienst des Gesetzes ist „der Dienst des Todes und der Verdammnis" (2. Korinther 3). Der einzige Weg, um aus diesem kraft-und hoffnungslosen Zustande befreit zu werden, ist der Tod; und durch den Tod Christi ist jeder Gläubige dem Gesetz getötet worden. Er ist gestorben und mit dem auferweckten Christus auf einem ganz neuen Boden, dem Boden der Auferstehung, vereinigt. Er ist eine „neue Schöpfung" in Christo geworden. So schreibt der Apostel auch an die Galater: „Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf dass ich Gott lebe; ich bin mit Christo gekreuzigt" (Gal 2, 19. 20).

Der Gläubige befindet sich jetzt in einer Stellung, in der nicht mehr die Sünde herrscht und das Gesetz sich ihr entgegenstellt, sondern wo Gnade und Freiheit regieren. Freilich können die Vorrechte dieser Stellung nur dann genossen werden, wenn man die Stellung tatsächlich einnimmt und im Herzen verwirklicht. Und das ist es eben, was die noch unbefreite gläubige Seele in Römer 7 (und alle, die auf demselben Boden stehen) nicht tut. Sie betrachtet sich nicht als gestorben; sie lebt in der Kraft des Fleisches, das im Blick auf das Gute kraftlos ist; sie bewegt sich auf einem Boden, wo die Macht der Sünde herrscht und die Leidenschaften der Sünde, die durch das Gesetz geweckt werden, in ihren Gliedern wirken. Sie bringt auf diese Weise nur dem Tode Frucht (Römer 7,10). 

Wie ganz anders ist die neue Stellung in Christo! Hier herrscht nicht die Sünde, sondern die Gnade durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn (Römer 5,21). Hier waltet nicht die Kraft des Gesetzes, sondern die Kraft des Heiligen Geistes, der in dem Gläubigen wohnt. Hier lebt nicht mehr das Ich, sondern „Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat" (Gal 2,20). Hier ist nicht mehr Knechtschaft, sondern Freiheit des Geistes. Denn, „wo der Geist des Herrn ist, ist Freiheit" (2. Kor 3,17). Noch einmal denn: eine unter Gesetz gestellte gläubige Seele kann, so treu und ernst sie es meinen mag, für Gott keine Frucht bringen; dennoch ruft diese Schule, wie schon bemerkt, in einem aufrichtigen Herzen gesegnete Ergebnisse hervor, welche die Seele schließlich zur Freiheit führen. Betrachten wir die Schule ein wenig an Hand von Römer 7.

Wir lesen in Vers 15-17: „Denn nicht was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse, das übe ich aus. Wenn ich aber das, was ich nicht will, ausübe, so stimme ich dem Gesetz bei, dass es recht ist. Nun aber vollbringe nicht mehr ich dasselbe, sondern die in mir wohnende Sünde." Wenn eine Seele ins Licht Gottes kommt, so tritt das, was sie verschuldet hat, vor ihr Auge. Ihre vielen Sünden kommen ihr ins Gedächtnis. Die schwere Last dieser Sünden treibt sie, sich Dem zu Füßen zu werfen, der gekommen ist, Sünder zu erretten. Sie findet dort Vergebung und wird durch den Glauben an ihren Erretter gerechtfertigt. 

Sie hat jetzt Frieden mit Gott, steht in der Gunst Gottes und rühmt sich in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes. Dann aber, in der Übung unter dem Gesetz *1), lernt die gläubige Seele die Quelle kennen, aus der das Böse hervorgegangen ist: die in ihr wohnende Sünde, die Sünde im Fleische. Sie kann nun sagen: „Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt" (V. 18). Sie erkennt durch die Erfahrung, was sie vorher nicht erkannt hatte, dass, wenn auch ihre Sünden vergeben sind, deren Quelle doch noch vorhanden ist und ihre Macht über sie ausübt. Eine äußerst wichtige Entdeckung! Sie lernt ferner erkennen, dass Gottes Wort die Sünden (das was wir getan haben) und die Sünde im Fleische (das was wir von Natur als Kinder des gefallenen Menschen sind) unterscheidet. Mit dem, was wir getan haben, verbindet es unsere Rechtfertigung (Römer 5), mit dem, was wir von Natur sind, unsere Befreiung (Römer 6).

Doch beachten wir, was die Seele in dieser Schule weiter lernt. In Vers 20 heißt es: „Wenn ich aber dieses, was ich nicht will, ausübe, so vollbringe nicht mehr ich dasselbe, sondern die in mir wohnende Sünde." Die Seele macht also die Wahrnehmung, dass zwei Willen in ihr tätig sind, und zwar in einander völlig entgegengesetzter Richtung: das erneuerte „Ich", welches das Gute will, und die in ihr wohnende Sünde, die das Böse will. Das erneuerte Ich hat Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes und wünscht dessen heiligen Forderungen zu entsprechen. „Aber" - und nun kommt die Seele zu einer dritten Erfahrung –

„Aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Sinnes widerstreitet und mich in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist." Die Seele lernt, dass „die Sünde im Fleische" nicht nur in ihr wohnt, sondern dass sie ein Gesetz, ein feststehender Grundsatz ist und Autorität ausübt, ja, dass diese Autorität stärker ist als die Autorität des Gesetzes, durch die das erneuerte Ich geleitet wird. Denn nicht nur stellt sie sich dem Gesetz des erneuerten Sinnes entgegen, sondern sie bringt auch den Gläubigen in Gefangenschaft unter das Gesetz der Sünde, das in seinen Gliedern ist, d. h. sie zwingt ihn, das Gute zu unterlassen und das Böse zu tun. 

Die Seele erkennt jetzt nicht nur ihre gänzliche Ohnmacht, ihre völlige Kraftlosigkeit, sondern auch das tiefe und unverbesserliche Verderben des Fleisches; sie gibt infolgedessen den Kampf gegen die Sünde auf, ja, sie gibt sich selbst auf, indem sie den Stab über sich bricht und nach einem Erretter ausschaut. „Ich elender Mensch! wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?"

Die Seele hat in diesem Augenblick den Boden des Todes betreten, der allein zur Befreiung führen kann. Vorher sehen wir das „Ich", wenn auch erneuert, in voller Tätigkeit, gegen die in ihm wirkende Macht der Sünde anzukämpfen. Ungefähr vierzigmal lesen wir in diesem merkwürdigen Kapitel: „Ich". Jetzt aber kommt die Seele zur Ruhe und nun kann Gott wirken. Solange der Mensch wirkt, kann Gott nicht wirken; aber sobald der Mensch sein Unvermögen einsieht und sich Gott in die Arme wirft, wird Er wirken.

Und wie wirkt Gott in diesem Falle? Er fügt der Erkenntnis der Sünde, welche die Seele unter dem Gesetz gefunden hat, die Erkenntnis der Wahrheit hinzu, und diese befreit die Seele von der Last, die bisher auf ihr lag. So sagte ja auch Jesus einst zu den Juden, die Ihm geglaubt hatten: „Wenn ihr in meinem Worte bleibet, so werdet ihr ... die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" (Johannes 8,31. 32). Die Seele, die noch kurz vorher in Verzweiflung ausrufen musste: „Ich elender Mensch!" kann jetzt danken, „Ich danke Gott durch Jesum Christum, unseren Herrn!" Sie weiß jetzt, dass es für sie keine Verdammnis mehr gibt, da sie nicht mehr in der Stellung des ersten Adam, sondern in Christo vor Gott steht (Römer 8,1).

 Ferner versteht sie, dass zwei Naturen, Fleisch und Geist, in ihr sind; aber sie kann in voller Glaubensgewissheit sagen: „Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes", so dass dieses Gesetz keine Herrschaft mehr über- sie ausüben wird, wenn sie im Geiste wandelt. Das Vorhandensein der Sünde im Fleische hindert sie nicht, in der Kraft des Geistes und in Gemeinschaft mit Gott zu wandeln; denn für Gott ist die Sünde, als am Kreuze gerichtet, für immer abgetan (Römer 8,3. 4), und der Gläubige hält sich der Sünde für gestorben, Gott aber lebend in Christo Jesu (Römer 6,11). Die Sünde herrscht nicht mehr in seinem sterblichen Leibe, um dessen Lüsten zu gehorchen, sondern er stellt sich selbst Gott dar als ein Lebender aus den Toten, und die Glieder, die früher der Sünde dienten, stellt er Gott dar zu Werkzeugen der Gerechtigkeit (Römer 6,12. 13). Nunmehr kann auch die Gnade, oder vielmehr der Heilige Geist in der Macht der Gnade die herrlichen Früchte entwickeln; „wider solche gibt es kein Gesetz" (Galater 5,23).

Fußnote:

*) So ist wenigstens bei den meisten Seelen der Gang der Ereignisse. Verhältnismäßig nur wenige machen die Erfahrungen von Römer 7, ehe sie die Gewissheit der Vergebung ihrer Sünden empfangen haben.

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Berichtigung.

„In den Betrachtungen über das erste Buch der Könige, Heft 2, Seite 31, Abschnitt 2, hat sich ein sinnstörender Fehler eingeschlichen. Es muss dort (Zeile 2 ff.) heißen: „Wenn er Ahab zum Herrn hatte, wie konnte er sich dann über die Befehle seines Herrn hinwegsetzen und durch seinen Wandel das bezeugen, was sein Glaube ihn lehrte?“

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Jehova ist mein Licht und mein Heil

Bibelstelle: Psalm 27

Botschafter des Heils 1908 S. 42ff

Die meisten Psalmen können von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden: zunächst als der Ausdruck der persönlichen Erfahrungen und Herzensübungen des Psalmisten, sodann in ihrer prophetischen Bedeutung für den gläubigen Überrest Israels in den Ietzten Tagen, wobei sie vielfach die Gefühle Christi selbst wiedergeben, und schließlich als eine Fundgrube kostbarer Unterweisungen für unser eigenes praktisches Leben. So ist es auch mit dem 27. Psalm. Er enthält neben den erstgenannten Gegenständen eine Fülle von praktischen Belehrungen. Einige von diesen herauszuschöpfen ist meine Absicht; doch möchte ich zunächst, wenn auch nur mit einigen Worten, auf die Bedeutung des Psalms für den Überrest Israels hinweisen.

Wie uns Gottes Wort an vielen Stellen mitteilt, wird der jüdische Überrest sich am Ende der Tage in großer Bedrängnis befinden: Feinde von außen, sowie Gottlose innerhalb des Volkes, an ihrer Spitze der Antichrist, werden die Gottesfürchtigen aufs äußerste bedrängen. Auch unser Psalm gibt dem Ausdruck. Doch bei „aller Bedrängnis finden wir den Gläubigen in dem ersten Teile desselben (V. 1 - 6) in völliger Ruhe: er kennt Jehova als sein Licht und sein Heil; er begehrt in Seinem Hause zu wohnen, um Ihn besser kennen zu lernen; er vertraut völlig auf Ihn, und selbst wenn sich Krieg wider ihn erhebt, ist sein Herz ohne Furcht. Er weiß: Jehova wird ihn „bergen in Seiner Hütte am Tage des Übels“. Er wird ihn retten aus der Hand aller seiner Feinde, und das Ende wird sein, dass er Jehova Opfer des Jubelschalls darbringen wird.

Im zweiten Teil des Psalms (V. 7 - 13) befindet sich der Überrest noch in der Bedrängnis und schreit aus derselben zu Jehova. Er erinnert Gott daran, dass Er gesagt habe: „Suchet mein Angesicht!“ Und obwohl es ihm bewusst ist, dass Gott wohl Ursache hat, über ihn erzürnt zu sein, vertraut er doch auf die Gnade, die ihn nicht zurückweisen wird. Wenn selbst sein Vater und seine Mutter ihn verlassen sollten, (und das wird in jener schrecklichen Zeit vielfach geschehen, wie der Herr Jesus in Mark. 13, 12 uns sagt,) wird doch Jehova ihn aufnehmen. Der Glaube in ihm richtet seinen Blick in die herrliche Zukunft, wo er „das Gute Jehovas im Lande der Lebendigen (im Tausendjährigen Reiche) schauen“ wird. Bis dahin muss er auf Jehova harren, und dieser selbst ermuntert ihn dazu mit den Worten: „Dein Herz fasse Mut und harre auf Jehova!“

So wird der Inhalt dieses Psalms den „Gläubigen des Überrestes zu reichem Troste dienen und sie in ihrer großen Drangsal stärken und aufrechthalten. Doch, wie gesagt, unser Psalm enthält auch, indem er uns die Gesinnung des Herzens Davids zeigt, herrliche Belehrungen praktischer Art, und der Herr gebe uns, sie zu unserem Nutzen betrachten und zu Seiner Verherrlichung in unserem Leben und Wandel verwirklichen zu können!

Zunächst hören wir den Psalmisten sagen: „Jehova ist mein Licht und mein Heil“. Kostbare Worte für jeden, der in Wahrheit so von sich reden kann! Der natürliche Mensch ist ohne Licht. Er wandelt in der Finsternis und ist in Finsternis über sich selbst und über Gott; ja, das Wort sagt von uns in unserem natürlichen Zustande: „Einst wart ihr Finsternis“ (Eph. 5, 8). Welch eine schreckliche Lage! Da war kein Lichtstrahl, der uns und unseren Weg erhellt hätte.

 Finsternis in uns und um uns her, und die ewige Finsternis vor uns! Aber dann hat es Gott wohlgefallen, durch den Heiligen Geist Sein Licht in unsere verfinsterten Herzen fallen zu lassen, durch Sein Wort uns lebendig zu machen und uns in Seinem geliebten Sohne Heil und Frieden zu schenken. Er ist Licht und Liebe, und Er, „der aus der Finsternis Licht leuchten hieß, ist es, der in unsere Herzen geleuchtet hat zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi“ (2. Kor. 4, 6). In diesem Lichte haben wir nicht nur erkannt was wir waren: verlorene, verdammungswürdige Sünder, sondern auch was Gott ist: ein Heiland-Gott, ein Gott, der Seinen eingeborenen Sohn für uns dahingegeben hat als eine Sühnung für unsere Sünden. Er hat uns „berufen aus der Finsternis zu Seinem wunderbaren Licht“, so dass wir jetzt „Söhne des Lichtes“ genannt werden; ja, wir, die wir einst Finsternis waren, sind jetzt „Licht in dem Herrn“. So groß und durchgreifend ist die Veränderung, welche Gottes Gnade hervorgebracht hat.

Und wie der Herr Sein Licht in uns hat aufleuchten lassen, so ist Er auch unser Licht aus dem Pilgerwege hienieden. Unmöglich könnten wir in dieser gefahrvollen Welt den rechten Weg finden und vor Abwegen bewahrt bleiben, wenn Er nicht unseren Pfad erleuchtete. Seine Liebe erhellt ihn stets, mögen zuweilen auch trübe, finstere Schatten ihn einzuhüllen drohen. Der Gläubige kann allezeit mit glücklichem Herzen singen:

„Gott selbst will mir den Weg bezeichnen,

Sein Licht umstrahlt die Schritte mir.“

„Jehova ist mein Licht und mein Heil“, meine Rettung für Zeit und Ewigkeit. Er hat meine Seele gerettet und für immer in Sicherheit gebracht, so. dass niemand mich aus Seiner Hand rauben kann, und Er rettet mich auch aus zeitlichen Bedrängnissen. Vor wem sollte ich mich deshalb fürchten? „Jehova ist meines Lebens Stärke, vor wem sollte ich erschrecken?« Gott selbst ist unsere Feste, unsere Schutzwehr in allen Versuchungen und Schwierigkeiten des Lebens. Auf Ihn können wir blicken, auf Ihn uns stützen, von Ihm jede Kraft, jeden Schutz, erwarten zu aller Zeit.

Lasst uns indes beachten, dass David nicht sagt: Jehova ist unser Licht und unser Heil, sondern „mein Licht, mein Heil, meines Lebens Stärke“. Obwohl das Gesagte in einem Sinne sicherlich von allen Gläubigen wahr ist, handelt es sich hier doch um eine durchaus persönliche Erfahrung und Überzeugung. Darum kann David auch hinzufügen: „Vor wem sollte ich mich fürchten? . . .vor wem sollte ich erschrecken?« Es ist nicht eine Lehre, sondern eine Wirklichkeit für sein Herz. So betet er auch im 63. Psalm: „Gott, du bist mein Gott! frühe suche ich dich«, und am Ende seines Lebens sagt er zu seinem Sohne Salomo: „Jehova Gott, mein Gott, wird mit dir sein“. Ähnlich schreibt Paulus in Phil. 4: „Mein Gott wird alle eure Notdurft erfüllen“ (Vergl. 2. Mose 15, 2; 2. Chron. 18, 13; Ps.18, 28; 2. Kor. 12, 21 u. and. St.) 

Es liegt eine besondere Kraft in diesem Wörtchen ,,mein«. Ich kann diese Kraft aber nur insoweit kennen und erfahren, wie das innige Verhältnis zu Gott, von welchem es Ausdruck gibt, in meinem Herzen verwirklicht wird. Wo dies der Fall ist, da ist keine Furcht; denn die Seele kennt Gott und ruht in Seiner Liebe. Wohl mögen dann die Umstände des Gläubigen Veranlassung zur Besorgnis geben; wohl mögen, wie es bei David der Fall war, Übeltäter ihm nahen, Bedränger und Feinde ihn zu vernichten suchen, ja, selbst Krieg sich wider ihn erheben; es mag durch tiefe Herzensübungen gehen, indem der Ausgang des Weges dem Gläubigen verborgen ist. Aber er vertraut völlig auf den Herrn, den er kennt und erprobt hat als feinen Gott, der sein Heil und seines Lebens Stärke ist. Er genießt so den Frieden Gottes und kann trotz aller Widerwärtigkeiten ausrufen: ,,Nicht fürchtet sich mein Herz!“ Könnte es wohl ein kostbareres Teil hienieden geben, als diese innige, praktische Verbindung des Herzens mit Gott? Möchten wir alle sie mehr kennen und genießen!

Ein lauteres und ungeteiltes Herz ist dazu nötig, wie wir es hier bei David finden. Er hatte einen besonderen Wunsch, um dessen Erfüllung er Gott bittet: „zu wohnen im Hause Jehovas alle Tage seines Lebens“. Sicher hat er noch viele andere Anliegen im Gebet vor Gott gebracht; schon in dem weiteren Verlauf unseres Psalms hören wir ihn zu Gott rufen, Er möge ihm gnädig sein und ihn angesichts der Feinde nicht verlassen, Er möge ihn Seinen Weg lehren usw.; aber dieses Eine, die Nähe und Gemeinschaft Gottes zu genießen, war der erste und höchste Wunsch seines Herzens.

Wie steht es in dieser Beziehung mit dir, teurer Leser? Du darfst alle deine Sorgen auf Gott werfen, alle deine Anliegen vor Ihm kundwerden lassen. Er selbst fordert dich auf, dies mit Gebet, Flehen und Danksagung zu tun; und wahrlich, Er wird den Glaubensgebeten der Seinen stets ein offenes Ohr leihen, sie sind Ihm willkommen. Aber sollte ein Gebet, welches dem Verlangen der Seele nach Ihm selbst Ausdruck gibt, nicht viel kostbarer für Gott sein? Und fehlt es in unseren Tagen unter den Kindern Gottes nicht viel an dieser Herzensstellung? Wie selten begegnet man diesem einen Wunsche, in der Gegenwart Gottes zu verweilen, um mit anbetendem Herzen über Ihn zu sinnen und Seine Lieblichkeit anzuschauen! Allerlei andere Dinge erfüllen die Herzen. Die Familie, das Geschäft, der Wunsch nach irdischem Wohlergehen und dergleichen stehen im Vordergrunde. Ist es da· ein Wunder, wenn viele Kinder Gottes so wenig wirklich glücklich sind und die Freude im Herrn so wenig kennen?

In dieser Beziehung werden wir von manchen Gläubigen des Alten Testamentes tief beschämt, die, obwohl sie die völlige Offenbarung Gottes in Christo Jesu nicht kannten, wie wir sie kennen, trotzdem weniger nach den Segnungen Gottes, als vielmehr nach Gott selbst verlangten. „Wie der Hirsch lechzt nach Wasserbächen, also lechzt meine Seele nach dir, o Gott!“ „Mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem lebendigen Gott“, so sagen die Söhne Korahs in Psalm 42 und 84. In ihren Herzen war dasselbe Verlangen, wie bei David: im Hause Jehovas zu wohnen, „um anzuschauen die Lieblichkeit Jehovas und nach Ihm zu forschen in Seinem Tempel“. Das war überaus kostbar für jene Gläubigen. 

Sollte es bei uns anders sein, die wir doch innerhalb des Vorhangs Gott nahen können? Wir kennen Ihn nicht nur als den Allmächtigen, wie Abraham Ihn kannte, oder als den Erhabenen und Heiligen, wie Jesaias Ihn aus Seinem Throne sah; sondern wir wissen, dass dieser Jehova, dieser allmächtige Gott, unser Jesus ist, der einst in Niedrigkeit, als der Sanftmütige und von Herzen Demütige, auf Erden weilte. Wir kennen Ihn als Den, der uns unendlich geliebt, Sein Leben für uns dahingegeben und durch Sein kostbares Blut alle unsere Sünden getilgt hat. Er ist unser Heiland, unser Hoherpriester und Sachwalter, der jetzt für uns zur Rechten Gottes weilt, das Haupt Seines Leibes, dessen Glieder wir sind, die Freude des Vaters, der an Seinem geliebten Sohne Sein ganzes Wohlgefallen findet. Das ist unser Herr, unausforschlich nach allen Seiten hin; so kennen wir Ihn. Der Apostel Paulus freute sich, dass Gott ihm die Gnade geschenkt hatte, „den unausforschlichen Reichtum des Christus zu verkündigen“, und sein brennendes Verlangen war, Ihn ganz zu erkennen. Wegen der Vortrefflichkeit dieser Erkenntnis hatte er alles, was ihm Gewinn gewesen war, eingebüßt und es für Verlust geachtet.

Der Herr hat in Seiner Gnade uns heute noch eine ganz besondere Gelegenheit gegeben, in Seine Gegenwart zu treten. Wir versammeln uns an jedem ersten Wochentage, um an Seinem Tische Seinen Tod zu verkündigen, um Ihn anzubeten, Ihm den Dank unserer Herzen darzubringen und mit Ihm dem Vater zu nahen. Denn nach Seiner Verheißung ist Er selbst in der Mitte, wenn zwei oder drei zu Seinem Namen hin versammelt sind. Der Glaube verwirklicht Seine Gegenwart und sieht Ihn in Seiner unendlichen Liebe in das schreckliche Gericht und den Tod am Kreuze eintreten. Das kannte weder David noch irgend ein Gläubiger des Alten Testamentes; das hat Gott uns geschenkt zum Preise des Namens Jesu und zu unserer tiefen Freude. Der Herr vermehre das Begehren in uns, tiefer einzudringen in die Erkenntnis Seiner Liebe und Seiner herrlichen Person!

Wie glücklich wird das Herz beim Anschauen Seiner Schönheit und Lieblichkeit! Es ist Speise und Trank für die Seele. Schon David, der Ihn im Heiligtum angeschaut hatte, sagte, als er sich in einem dürren und lechzenden Lande ohne Wasser befand: „Es dürstet nach dir meine Seele“, und nachher, in der Erinnerung an das was er genossen hatte: „Wie von Mark und Fett wird gesättigt werden meine Seele, und mit jubelnden Lippen wird loben mein Mund“. (Psalm 63, 1 -5) Dasselbe, ja, noch weit mehr als das, können wir erfahren, wenn wir des Herrn Nähe verwirklichen und Ihn selbst genießen. Gott hat uns in Seiner Gnade dazu fähig gemacht, und Er fordert uns auf, mit Freimütigkeit in das Heiligtum einzutreten, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anzuschauen. Zugleich hat Er uns Sein teures Wort gegeben, welches von Anfang bis zu Ende von Christo zeugt und überall Seine Herrlichkeit hervorstrahlen lässt. Sollten wir es nicht fleißiger benutzen, nicht mehr darin nach Ihm forschen?

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Die Befreiung und ihre gesegneten Folgen

Botschafter des Heils 1908 S. 50ff

II.

Die Frucht des Geistes

„Wandelt im Geiste, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen", schreibt der Apostel an die Gläubigen in Galatien. Den Lüsten des Fleisches gegenüber brauchen wir Kraft, und diese ist nicht in uns, noch in dem Gesetz. Der Geist ist diese Kraft; eine andere gibt es nicht. „Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind einander entgegengesetzt, auf dass ihr nicht das tuet, was ihr wollt." Lassen wir uns durch den Geist leiten, so sind wir nicht unter Gesetz (Galater 5,16-18).

Nachher stellt dann der Apostel die Werke des Fleisches der Frucht des Geistes gegenüber. „Offenbar aber sind die Werke des Fleisches: Hurerei, Unreinigkeit usw." Alle, die solches tun, werden das Reich Gottes nicht ererben. „Die Frucht des Geistes aber ist: Liebe, Freude, Friede, - Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, - Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit; wider solche gibt es kein Gesetz" (V. 22. 23).

Es ist zunächst beachtenswert, dass der Geist Gottes diese neun Eigenschaften und Tugenden nicht als „Früchte", sondern als „die Frucht des Geistes" darstellt. Ohne Frage ist jede einzelne Tugend eine Frucht, und alle zusammen sind Früchte. Aber es ist doch nicht von ungefähr, dass der Geist nur von der Frucht redet. Er will damit wohl zum Ausdruck bringen, dass bei einem im Geiste wandelnden Christen nicht etwa die eine oder andere dieser Tugenden, sondern alle in die Erscheinung treten werden. Allerdings haben wir zu ihrer Entwicklung fortwährend die Übung in der Abhängigkeit von der Gnade nötig, die allein sie in uns entfalten kann. In ihrer Vollkommenheit finden wir sie nur in Jesu.

 Aber der im Geiste wandelnde Christ wird durch das Anschauen dieser Vollkommenheit in Jesu mehr und mehr in Sein Bild verwandelt; er wird Ihm in dem Maße ähnlicher, wie er in der Abhängigkeit von Ihm wandelt. Es liegt eine gewisse Ordnung in der Reihenfolge der einzelnen Früchte, und es ist gesegnet für unsere Herzen, sie von diesem Gesichtspunkt aus zu betrachten, so nebensächlich und belanglos es für den Anfang vielleicht auch scheinen mag. Sie lassen sich in drei Gruppen einteilen, wie wir dies bei der Anführung der Stelle bereits angedeutet haben. Die erste dieser Gruppen:

Liebe, Freude, Friede,

umfasst die Eigenschaften oder Güter, die der im Geiste wandelnde Christ zum eigenen Genuss empfängt. Liebe. - Die Quelle der Liebe ist Gott. Er ist Liebe. In der abgefallenen menschlichen Natur ist keine Liebe, sondern nur Hass gegen den Gott der Liebe. Es mag sich dies nicht immer offenbaren; aber sobald die Probe angestellt wird, tritt der Hass ans Licht. Der größte und schlagendste Beweis von dem Haß des menschlichen Herzens gegen Gott ist erbracht worden, als Gott den höchsten Beweis Seiner Liebe zu den Menschen offenbarte, indem Er Seinen geliebten Sohn zu ihrem Heil in die Welt sandte. Je mehr Gottes Liebe sich in jenen Tagen entfaltete, desto deutlicher zeigte sich der Hass des Menschen und zwar in solchen Personen, bei denen man es am allerwenigsten erwarten sollte, den Hohenpriestern, Pharisäern und Schriftgelehrten, gerade so sehr wie bei dem gemeinen Volk der Juden oder bei dem Landpfleger und den Kriegsknechten der Heiden.

 Alle Klassen und Stände des Volkes wurden in jenen Tagen auf die Probe gestellt, und alle offenbarten dieselbe grimmige Feindschaft. Jesus musste sagen: „Wenn ich nicht die Werke unter ihnen getan hätte, die kein anderer getan hat, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie gesehen und gehasst, sowohl mich als auch meinen Vater" (Johannes 15,24). Das Kreuz war das Ergebnis dieser Feindschaft. Aber nur umso heller und blendender strahlte die Liebe Gottes hervor, indem sie gerade das Kreuz, in dem der Hass des Menschen gegen Ihn seinen schrecklichsten Ausdruck fand, benutzte, um dem schuldigen Sünder einen Weg des Heils zu bereiten. „Gott aber erweist seine Liebe gegen uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist" (Römer 5,8).

Die Tatsache, dass in der menschlichen Natur, mag sie sich auch in einem durch Erziehung und Bildung veredelten Gewände offenbaren, keine Liebe ist, hat Gott also auf die schlagendste Weise ans Licht gestellt. Was als Liebe erscheint, ist „natürliche Liebe", die das liebt, was ihrer Natur zusagt; häufig auch Eigenliebe: „die Sünder lieben, die sie lieben", um nicht von jener Liebe zu reden, die sich in der Begehrlichkeit der menschlichen Natur oder des Fleisches kundgibt. Aber sobald die Seele durch Gottes Wort wiedergezeugt ist, wird sie der göttlichen Liebe teilhaftig. „ .. . denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist" (Römer 5,5). An Stelle des Hasses ist die Liebe getreten, diese göttliche Natur, welche die Seele fähig macht, in göttlicher Weise zu lieben.

In dem Fall, den wir hier betrachten, ist es jedoch weniger die Liebe selbst, als vielmehr der Genuss, den die Seele von der Liebe hat. Sie ruht in der Liebe Gottes, wie sie sich in Christo Jesu geoffenbart hat. Eine Seele, die im Geiste wandelt, wandelt den Weg des Gehorsams, und es gilt dann von ihr das Wort: „Wer irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet" (1. Johannes 2,5). Diese Liebe ist das Teil aller Wiedergeborenen; aber der gesetzliche Christ steht nicht im Genuss dieser Liebe.

 Er hat nicht die Liebe Gottes zu seinem Gegenstande, sondern betrachtet sich selbst und sein eigenes Tun. Infolge seiner Stellung unter dem Gesetz, dessen Forderungen er nicht genügen kann, erfüllt Furcht seine Seele. Aber „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe" (Johannes 4,18). (Dass der fleischliche Christ diese Liebe nicht genießen kann, braucht kaum erwähnt zu werden.) Erst dann, wenn der Gläubige den Boden des eigenen Wirkens verlässt und sich auf den Boden der Gnade und der Leitung des Geistes stellt, wird die „vollkommene Liebe" von ihm erkannt; und sie treibt nicht nur alle Furcht aus, sondern wird auch anstelle des Gesetzes die Triebfeder zu all seinem Tun. Alsdann wird aber auch die zweite kostbare Frucht in seinem Herzen Platz finden:

Die Freude. - Der Herr Jesus sagt in Joh 15 zu Seinen Jüngern: „Dieses habe ich zu euch geredet, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde." Ihre Freude war die Freude der Errettung, die allen, welche glauben, zuteil wird. Seine Freude war die Freude, die Er als der vollkommen gehorsame und abhängige Mensch in der Gemeinschaft mit dem Vater genoss. Die Teilnahme daran ist abhängig von drei Bedingungen:

1. Bleibet in mir und ich in euch (Johannes 15,4). Das ist Abhängigkeit.

2. Wenn ihr in mir bleibet und meine Worte in euch bleiben (Johannes 15,7). Das ist Gehorsam.

3. Bleibet in meiner Liebe (Johannes 15,9). Nur so kann der Gehorsam frei von gesetzlicher Beimischung bleiben und die Liebe allein zur Triebfeder haben.

Bei Jesu war jene Freude stets vollkommen, weil Seine Abhängigkeit und Sein Gehorsam allezeit vollkommen waren. Bei uns wird sie immer unvollkommen bleiben. Eine Seele aber, die sich der Leitung des Geistes willig unterstellt, wird die genannten Bedingungen erfüllen und in gleichem Maße in den Genuss dieser Freude Jesu eintreten. Wir sehen dies beim Apostel Paulus in ganz besonderer Weise bewahrheitet. Er war ein Mensch von gleichen Gemütsbewegungen wie wir; aber bei ihm offenbarte sich diese Freude, die nicht wie die irdischen Freuden durch die Umstände gestört wird, in ganz außergewöhnlichem Grade.

 Unter den für die Natur schmerzlichsten Umständen (denn er war ein Gefangener) stand er nicht nur selbst in dem Genuss dieser Freude, sondern war auch fähig, andere zur gleichen Freude zu ermuntern. „Wenn ich aber auch als Trankopfer über das Opfer und den Dienst eures Glaubens gesprengt werde, so freue ich mich und freue mich mit euch allen. Gleicherweise aber freuet auch ihr euch und freuet euch mit mir." „Übrigens, meine Brüder, freuet euch in dem Herrn!" - „Freuet euch in dem Herrn allezeit, wiederum will ich sagen: Freuet euch" (Philipper 2,17. 18; 3,1; 4,4)!

Doch beachten wir: diese Freude hat nicht ihre Quelle in der Zufriedenheit mit sich selbst, die stets erstrebt wird, wenn man sich auf gesetzlichem Boden bewegt. Man möchte gar zu gern mit sich selbst zufrieden sein; und wenn man dann keinen höheren Maßstab anlegt als den der eigenen Beurteilung, so ist es möglich, dass man in der Einbildung des Herzens diese Zufriedenheit mit'' sich selbst wirklich erreicht. Eine solche Selbstzufriedenheit ist aber nicht die Freude in dem Herrn. Wenn es jemals einen Menschen gegeben hat, der mit sich selbst hätte zufrieden sein können, so war es Hiob. Und er war in der Tat selbstzufrieden. 

Die falschen Anklagen seiner Freunde brachten seine Selbstzufriedenheit und Eigengerechtigkeit völlig ans Licht. Man lese nur seine letzte große Rede (Kap. 31). Aber wie änderte sich seine Anschauung, nachdem Elihu, ein Gesandter aus Tausend, ihm seine Geradheit kundgetan und ihm den Herrn vor Augen gestellt hatte und schließlich der Herr Selbst Sich ihm offenbarte! Da musste er ausrufen: „Nun hat mein Auge dich gesehen. Darum verabscheue ich mich und bereue in Staub und Asche" (Hiob 42,5. 6).

Ein geistlicher Christ schaut nicht auf sich, - ausgenommen wenn es sich um Wachsamkeit gegenüber dem Bösen oder um Selbstgericht handelt, - sondern auf den Herrn. Als Folge davon wird in seinem Herzen stets das Bewusstsein von der Wertlosigkeit des eigenen Ichs sein, wie bei Hiob, und andererseits wird er die Wahrheit des Wortes erproben: „Die Freude an Jehova ist eure Stärke" (Nehemia 8,10).


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Jehova ist mein Licht und mein Heil

Bibelstelle: Psalm 27

Botschafter des Heils 1908 S. 67ff

Eine Seele, welche so die Gemeinschaft des Herrn genießt und sich in Ihm erfreut, ist auch völlig ruhig im Blick auf die Umstände des Weges durch diese Welt. Sie ist ihrem Herrn so innig nahe, dass sie gar nicht auf die Umstände blickt, sondern in völligem Vertrauen auf Ihn schaut. Sie weiß und bekennt: „Er wird mich bergen in Seiner Hütte am Tage des Übels. Es gibt auf unserem Wege „Tage des Übels“, Tage, an welchen Satan in besonderer Weise seine Angriffe gegen uns richtet, Zeiten besonders schwerer Herzensübungen. Vielleicht haben wir durch Krankheiten und Leiden, durch mancherlei Schwierigkeiten zu gehen, vielleicht erfahren wir Enttäuschungen, Lieblosigkeit und Härte von Seiten unserer Brüder, vielleicht Kämpfe, Entbehrungen und Entmutigungen aller Art.

 Doch alles das dient der gottesfürchtigen Seele nur zur Erziehung und Läuterung; sie ruht in der Liebe Gottes, welche sie kennt, und sagt getrost: „Er wird mich verbergen in dem Verborgenen Seines Zeltes“. Wer kann ihr da etwas anhaben? Da ist sie völlig geborgen, wie schwer der Sturm auch sein mag, der über sie dahinbraust. Sie vertraut still aus den Herrn und genießt Seine Liebe und Sein Mitgefühl; ja, sie wird »auf einen Felsen erhöht«. Der Herr erhebt sie über alle Schwierigkeiten, über Leiden und Schmerzen, und erfüllt sie mit hoher Freude. So war es bei David. Er genoss die Nähe Gottes und war so völlig überzeugt, dass Jehova ihn von allen seinen Feinden retten würde, dass er ausrief: „Opfer des Jubelschalls will ich opfern in Seinem Zelte, ich will singen und Psalmen singen Jehova“.

Das Zelt Jehovas hatte einen besonderen Wert für das Herz Davids. Es heißt von ihm im 132. Psalm: ,,Welcher Jehova schwur, ein Gelübde tat dem Mächtigen Jakobs: Wenn ich hineingehe in das Zelt meines Hauses, wenn ich steige auf das Lager meines Bettes; wenn ich Schlaf gestatte meinen Augen, Schlummer meinen Augenlidern; bis ich eine Stätte finde für Jehova, Wohnungen für den Mächtigen Jakobs!“ Diese Stätte hatte er gefunden. War ihm der Wunsch seines Herzens, Jehova einen Tempel zu bauen, auch nicht gestattet worden, so erlaubte Gott ihm doch, Ihm ein Zelt zu errichten und die Bundeslade, das Zeichen der Gegenwart Jehovas, hineinzubringen. Welche Freude das für ihn war, zeigen uns die Worte: „Und David tanzte mit aller Kraft vor Jehova . . . Und David und das ganze Haus Israel brachten die Lade Jehovas hinauf mit Jauchzen und mit Posaunenschall«. (2. Sam. 6, 14 u. 15.) 

Dahin ging David fortan, um Jehova anzubeten; hier setzte er sich vor Jehova nieder und brachte Ihm Lob und Dank dar. (2. Sam. 7, 18.) Es war seine Gewohnheit, das zu tun, und darum redet er in unserem Psalm auch immer wieder von dem Zelt Jehovas. Es war sein innigster Wunsch, da zu wohnen, um Jehova anzuschauen und nach Ihm zu forschen. In das Innere des Zeltes Jehovas, d. h. in die Gegenwart Gottes, eilt er am Tage des Übels. Hier fühlt er sich sicher und geborgen vor seinen Feinden. In dem Zelte Jehovas will er auch Opfer des Jubelschalls opfern und Jehova Psalmen singen.

Teurer Leser! Ist es für dich auch so wichtig und köstlich, in der Gegenwart Gottes zu verweilen? Die Gläubigen der Jetztzeit können dort noch weit mehr genießen, als David oder irgend ein anderer Gläubiger des Alten Testaments es vermochte. Der Geist Gottes ist aus dem Himmel herniedergekommen und hat uns alles mitgeteilt, was Gott an uns und- für uns getan hat in Seinem geliebten Sohne. Ja, Er hat uns einen Blick tun lassen in die Gedanken und Ratschlüsse, die vor Grundlegung der Welt uns betreffend in dem Herzen Gottes ·waren, und in die herrliche Zukunft, die vor uns liegt. Wenn wir darüber nachsinnen, so enthüllt sich ein unabsehbares Feld der reichsten Segnungen vor unseren staunenden Blicken, und bei der Betrachtung derselben wird die Liebe unseres Gottes und unseres Heilandes immer größer für uns. Die natürliche Folge ist, dass auch wir mit glücklichem und dankbarem Herzen unserem Gott Opfer des Jubelschalls darbringen, Ihm singen und Psalmen singen.

Mit dem 7. Verse beginnt der zweite Teil unseres Psalms. Die Sachlage erscheint mit einem Schlage völlig verändert. Der Psalmist gibt nicht mehr seinem gläubigen Vertrauen aus Jehova Ausdruck, noch seinem Triumph über die Feinde; er ruft vielmehr aus der Bedrängnis zu Jehova. Der Inhalt der Verse 7 – 14 stellt uns, wie mir scheint, die Herzensübungen des Gläubigen vor, welche den Versen 1 - 6 vorausgegangen sind und das darin beschriebene herrliche Ergebnis herbeigeführt haben. Das ist in den Psalmen oft so. Der Psalmist stellt eine Wahrheit oder ein Ergebnis, zu dem er gelangt ist, voran und zeigt dann, wie er dazu gekommen ist.

Der Gläubige ist hier in großer Bedrängnis. Er beruft sich vor Gott nicht, wie in manchen anderen Psalmen, aus seine Lauterkeit, weil er das Bewusstsein hat, dass Gott Ursache habe zu zürnen. Er wendet sich an die Gnade und das Erbarmen „Jehovas und erinnert Ihn an Seine eigene Aufforderung: „Suchet mein Angesicht!« Konnte Gott jetzt, wo Sein Knecht in Bedrängnis war, Sein Angesicht vor ihm verbergen und ihn abweisen? Unmöglich. Gott will die Zuflucht des Gläubigen sein zu aller Zeit. „Rufe mich an am Tage der Bedrängnis: ich will dich erretten, und du wirst mich verherrlichen“ (Ps. 50, 15.) Was könnte Ihm mehr Freude machen und Ihn mehr verherrlichen, als der innige Dank einer Seele, die Er gerettet hat?

David hatte, wie gesagt, das Bewusstsein, dass Gott mit Recht zürne; er sagt: ,,Verbirg dein Angesicht nicht vor mir, weise nicht ab im Zorne deinen Knecht!“ Und doch vertraut er zugleich völlig auf die Gnade. Er hatte erfahren, was Gott für ihn war, und konnte im Blick auf die Vergangenheit sagen: „Du bist meine Hilfe gewesen“. Das Bewusstsein der Gnade Gottes gab ihm ein starkes Vertrauen, stärker als die engsten Familienbeziehungen es ihm einzuflößen vermochten: „Hätten mein Vater und meine Mutter mich verlassen, so nähme doch Jehova mich auf“.

Das ist sehr beachtenswert. Als Kinder Gottes werden wir nie sagen: „Weise nicht ab im Zorne deinen Knecht“, weil wir Gott in Christo Jesu als die Liebe kennen gelernt haben und wissen, dass Sein Zorn über die Sünde von uns abgewandt ist. Freilich wird mein Herz keine Freimütigkeit zu Gott haben, wenn etwas da ist, wodurch ich Ihn betrübt und verunehrt habe; und diese Freimütigkeit wird nicht eher zurückkehren, als bis ich mich mit aufrichtigem Bekenntnis vor Gott gebeugt und verurteilt habe. Aber an der Gnade und Liebe Gottes sollte ich niemals zweifeln, auch dann nicht, wenn ich fühle, dass Gott Ursache hat zu zürnen. Tiefe Gefühle der Trauer und des Schmerzes, ja, der Zerknirschung, sollten mein Herz erfüllen, weil ich den Gott, der mich so unendlich liebt, betrübt habe, aber zugleich auch das Vertrauen, dass Gottes Liebe sich mir gegenüber nie ändern kann, selbst dann nicht, wenn Er genötigt ist mich zu züchtigen. Es ist offenbar, dass ich in solchen Stunden Seine Liebe nicht genießen kann wie zu anderen Zeiten, aber ich darf festhalten, dass sie mir auch dann in derselben Fülle zugewandt ist wie damals, als Jesus für mich am Kreuze starb. Dieses Bewusstsein gibt dem gedemütigten und lauteren Herzen völliges Vertrauen.

Ich wiederhole denn: Es ist sehr schön und beachtenswert, dass der Heilige Geist dieses Bewusstsein von der Gnade Gottes schon in David hervorgebracht hat, obwohl er noch unter Gesetz, stand und die Offenbarung Gottes in Christo nicht kannte. Es konnte so sein, weil Davids Herz lauter und aufrichtig war vor Gott, und weil er in den Wegen Gottes zu wandeln begehrte. „Lehre mich, Jehova, deinen Weg“, so fleht er. Das ist fürwahr eine schöne, Gott wohlgefällige Bitte. Sie drückt einerseits die völlige Abhängigkeit des Betenden aus, das Bewusstsein, dass er nicht imstande ist, den Weg allein zu finden, und andererseits sein Begehren, nicht eigene Wege, sondern den Weg Gottes zu gehen. 

Dies sollte auch bei uns die tägliche ernste Bitte sein. Aber ach! wie oft wird sie versäumt, und die Folge davon ist, dass man eigene Wege einschlägt, wodurch man der kostbaren Gemeinschaft mit Gott beraubt wird und Ihm Unehre bereitet! Wie manches Kind Gottes hat sich Züchtigung und bitteres Leid zugezogen, weil es nicht in dieser Abhängigkeit geblieben ist! Gott wurde dadurch gezwungen, es durch ernste Mittel von den eigenen Wegen herum zu holen. Wie manche haben bezüglich der ehelichen Verbindung oder in geschäftlicher Hinsicht Wege eingeschlagen, vor denen sie, wenn nur ein wenig Gottesfurcht in ihrem Innern gewesen wäre, sicherlich bewahrt geblieben wären; denn sie hätten erkannt, dass es nicht die Wege Gottes waren. Viele müssen ihr Leben lang unter den Folgen solch eigener Wege leiden, während sie unter der Leitung Gottes Seinen Weg mit glücklichem Herzen hätten gehen können.

Mein lieber, gläubiger Leser! Bist auch du von diesem Wege abgekommen und auf eigene Wege geraten? O dann demütige dich vor Gott! Kehre um, wenn es noch möglich ist, und lass es von neuem dein ernstes Flehen sein: Lehre mich, o Gott, deinen Weg!

Das ist auch nötig bezüglich des Weges, den wir in diesen letzten Tagen inmitten der großen Verwirrung auf religiösem Gebiet zu gehen haben. Die Gefahr ist groß, in dieser Hinsicht entweder menschlichen Meinungen zu folgen und den Weg breiter zu machen, oder sich in parteiischer Weise abzusondern. Der Gott wohlgefällige Pfad ist schmal, und wir können ihn nur finden, wenn wir Gottes Wort erforschen und uns Seinem Gebot einfältig unterwerfen; wenn wir, wie David, von Herzen flehen: „Lehre mich, o Gott, deinen Weg!“

„Leite mich auf ebenem Pfade um meiner Feinde willen“, bittet David weiter. Auch das ist wichtig. Der Weg durch diese Welt bringt für den Gläubigen allerlei Gefahren und Versuchungen mit sich; da liegen Steine, über die er straucheln und fallen kann, und gerade die kleinen, die man wenig beachtet, sind oft die gefährlichsten. Es ist daher nötig, auf der Hut zu sein und auch aufeinander acht zu haben, um das zu beseitigen, was unserem Bruder oder unserer Schwester gefährlich werden könnte. Der Apostel ruft den Hebräern zu: ,,Machet gerade Bahn für eure Füße! Auf dass nicht das Lahme vom Wege abgewandt, sondern vielmehr geheilt werde«. Doch der Herr allein sieht und kennt alle Gefahren.

 Er vermag den Weg zu ebnen und alles hinweg zu räumen, was uns schaden könnte. Die Feinde lauern auf den Augenblick, wo der Gläubige vom Wege abirrt oder zu Fall kommt, und freuen sich darüber. Der Herr schenke uns deshalb wachsame und nüchterne Herzen, damit wir nicht den Widersachern zum Gespött werden und zur Verunehrung Gottes dienen! ,,Leite mich auf ebenem Pfade um meiner Feinde willen!“

Die Bedrängnis Davids seitens seiner Feinde war so groß, dass er zu Gott fleht: „Gib mich nicht preis der Gier meiner Bedränger! Denn falsche Zeugen sind wider mich aufgestanden und der da Gewalttat schnaubt.“ Ein Größerer als David tritt hier unwillkürlich vor unser Geistesauge. Denn gegen wen hat sich die Feindschaft des Menschen schlimmer erwiesen, als gegen den Sohn Davids, den Herrn Jesum selbst, als Er hienieden wandelte? Keiner hat sie so erfahren und so tief gefühlt wie Er; und ich zweifle nicht daran, dass der Geist Gottes in diesen Worten das Flehen des Herrn selbst ausgedrückt hat. Wider Ihn sind in der Tat „falsche Zeugen aufgestanden und der da Gewalttat schnaubt“. Satan selbst war es, der die Menschen zu der äußersten Feindschaft und Bosheit gegen Ihn aufreizte. Im 22. Psalm hören wir den Herrn ausrufen: „Hunde haben mich umgeben, eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt“. O, was muss Er gefühlt und gelitten haben, als Sein Volk, zu dessen Heil Er gekommen war und das Er so innig liebte, so gegen Ihn auftrat!

Der treue Überrest der Juden am Ende der Tage wird Ähnliches von Seiten des Antichrists und der Gottlosen des Volkes erfahren. Auch er wird dann zu Jehova schreien: „Gib mich nicht preis der Gier meiner Bedränger!“ Gott wird den Glauben in den Herzen dieser Treuen stärken, so dass sie durch alle Bedrängnisse und Schrecken hindurch das herrliche Ende erblicken: »Wenn ich nicht geglaubt hätte, das Gute Jehovas zu schauen im Lande der Lebendigen . . .!“ Ja, wenn dieser Ausblick nicht wäre, so würden sie in so schweren Leiden, mit dem sicheren Tode beständig vor Augen, den Mut verlieren und kraftlos niedersinken. Doch der Glaube zeigt ihnen, dass der Augenblick nahe ist, wo Jehova durch Sein Erscheinen ihre Feinde vernichten wird, um dann Sein Herrliches Friedensreich aufzurichten, in welchem sie von Kampf und Leid ausruhen und „das Gute Jehovas“ schauen werden.

Gott hat uns solch großen Bedrängnissen nicht ausgesetzt. Wir haben weder blutige Verfolgungen zu erdulden, wie viele Kinder Gottes vor uns, noch werden wir, wie Israel, durch die schrecklichen Gerichte gehen, welche bald über die Welt hereinbrechen werden. Dennoch erfährt jeder Christ, der seinem Herrn treu nachfolgt und Ihn durch Wort und Wandel bekennt, auch heute noch die Feindschaft der Welt. Daneben sind manche Trübsale und Leiden unser Teil. Was kann uns darin stärken und aufrechthalten? Der Glaube allein. Er lässt uns über alles Sichtbare, Bittere und Schwere hinweg auf das herrliche Ziel schauen, welches Gottes Liebe uns bereitet hat. Bald, bald wird unser teurer Herr kommen, nicht um uns in das „Land der Lebendigen“ auf dieser Erde zu bringen, sondern um uns einzuführen in die herrlichen Wohnungen des Vaterhauses droben.

Am Schlusse unseres Psalms wendet Gott selbst sich zu dem Gläubigen und ruft ihm die kostbaren und ermunternden Worte zu: „Harre auf Jehova! sei stark, und dein Herz fasse Mut, und harre auf Jehova!“ Wie schön ist das! Es ist die gnädige Antwort Gottes auf das Flehen des Psalmisten, welcher der Aufforderung Jehovas: ,,Suchet mein Angesicht!« mit einfältigem Vertrauen nachgekommen ist. Zwar muss er noch eine kurze Zeit ausharren und im Glauben auf Jehova warten, aber sein Herz soll nicht verzagen, sondern stark sein und Mut fassen: Jehova wird ihn sicher erretten aus allen seinen Bedrängnissen.

Das ist ein ermunterndes Wort auch für uns, wenn wir durch Trübsale und Leiden gehen. Oft kann der Herr nicht sogleich unser Flehen erhören. Er muss uns nach Seiner Weisheit und Liebe eine Zeitlang in der Trübsal lassen, damit wir durch dieselbe geübt und ihrer gesegneten Folgen teilhaftig werden. Lasst uns denn im Glauben auf Ihn harren, Sein Angesicht suchen und uns nicht nach menschlichen Hilfsmitteln umsehen! Gott selbst, der alles in Seiner Hand hat und jede Trübsal wenden kann, sobald Er es für gut findet, ermuntert uns zum Ausharren. Er ruft uns zu: „Sei stark, und dein Herz fasse Mut!“

Können wir uns noch wundern, wenn David nach solchen Erfahrungen der Güte Gottes danach trachtete, diesen gnadenreichen Gott besser und tiefer kennen zu lernen, wenn es der eine Wunsch seines Herzens war, alle Tage seines Lebens in Seinem Hause zu wohnen, um Seine Lieblichkeit anzuschauen? Wir sollten uns aber billig wundern, wenn Seine Wege und Führungen mit uns nicht dasselbe gesegnete Ergebnis haben, wenn unsere Herzen, anstatt in Ihm zu ruhen und Seine Güte zu besingen, mutlos, dürre und leer sind.

Die Befreiung und ihre gesegneten Folgen

Friede. - Herrliches Wort in einer ruhe- und friedelosen Welt! Glücklich ein jeder, der mit dem Apostel sagen kann: „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesum Christum" (Römer 5,1). Ja, Gott sei gepriesen, dass wir wissen, dass der Zorn Gottes nicht mehr auf uns, den an Jesum Glaubenden, ruht! Getrennt von dem Gott des Friedens ist der Mensch friedelos, unstet und flüchtig, wie Kain.

 Er mag wie dieser versuchen, durch Verschönerung dieser Erde, durch Zerstreuungen und Genüsse aller Art, welche der Fürst dieser Welt dem gefallenen Menschengeschlecht darbietet, die Stimme seines anklagenden Gewissens zu betäuben; aber das Herz bleibt bei alledem friedelos. Friede ist die Frucht der Gerechtigkeit. (Jesaja 32,17; Römer 5,1; Galater 3,18; Hebräer 12,11), und der gefallene Mensch besitzt keine Gerechtigkeit. „Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit geoffenbart worden ... : Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesum Christum gegen alle und auf alle, die da glauben. Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes, und werden umsonst gerechtfertigt durch Seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christo Jesu ist" (Römer 3,21 - 24).

In unserem Text handelt es sich jedoch nicht eigentlich um den Frieden mit Gott, denn dieser Friede ist das Teil aller, die an Jesum glauben, mögen sie sich auf dem Boden des Gesetzes bewegen oder in der Freiheit des Geistes wandeln, mögen sie es verstehen oder nicht verstehen. Wie der Herr Jesus bei Seinem Abschiede von zweierlei Freude redet, so sprach Er auch von zweierlei Frieden: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch" (Johannes 14,27). Können wir bei dem einen Frieden an den Frieden mit Gott denken, so ist der zuletzt genannte Friede der Friede, den Jesus auf dem Pfade des Gehorsams und des Wandelns im Geiste genoss. Es war Sein Friede. 

Der herrliche Brief des christlichen Wandels, der Philipperbrief, nennt diesen Frieden „den Frieden Gottes, der allen Verstand übersteigt und Herz und Sinn in Christo Jesu bewahrt", wenn die Stürme und Sorgen dieses Lebens uns aus dem Gleichgewicht zu bringen drohen. Dieser Friede ist nicht ein bloßes Gefühl im Herzen, das je nach den Umständen vorhanden sein oder wieder verschwinden kann, sondern eine feste Herzensstellung, gegründet auf das Vertrauen zu Dem, der alles in Seiner mächtigen Hand hat, der uns vollkommen liebt, und ohne Dessen Willen kein Haar von unserem Haupte fällt. Beachten wir aber wiederum: dieser Friede ist nur das Teil des Christen, der im Geiste wandelt. Ähnlich lesen wir schon im Alten Testament: „So spricht Jehova, dein Erlöser, der Heilige Israels: Ich bin Jehova, dein Gott, der dich lehrt, zu tun was dir frommt, der dich leitet auf dem Wege, den du gehen sollst. O dass du gemerkt hättest auf meine Gebote! dann würde dein Friede gewesen sein wie ein Strom und deine Gerechtigkeit wie des Meeres Wogen" (Jesaja 48,17.18).

Nachdem wir uns in dem Vorstehenden mit dem, was das Herz des im Geiste wandelnden Christen selbst genießt, beschäftigt haben, wollen wir uns jetzt zu dem zweiten Teil der gesegneten Frucht des Geistes wenden:

Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit.

Diese drei Tugenden bezeichnen den Ausfluss eines Herzens, in dem Liebe, Freude und Friede einen festen Platz gewonnen haben. Sie wenden sich gleichsam nach außen hin; unsere Mitmenschen genießen sie. Eine so gesegnete Herzensstellung, wie wir sie im vorigen Abschnitt betrachtet haben, kann nicht verborgen bleiben; sie wird nach außen hin ihre Strahlen senden und andere erquicken.

Langmut bezeichnet das geduldige Harren gegenüber den Schwachheiten und Mängeln anderer. „Die Liebe ist langmütig" (1. Korinther 13). Betrachten wir Gott. Mit welcher Langmut trägt Er die Bosheit der sündigen Menschenkinder! Die Schrift redet von dem Reichtum Seiner Langmut, von Seiner vielen Langmut (Römer 2,4; 9,22) und sagt an einer anderen Stelle: „Er verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten, sondern Er ist langmütig gegen euch, da Er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen" (2. Petrus 3,9). Betrachten wir Jesum. 

Wie langmütig trug Er die Schwachheiten Seiner Jünger! Wie war Er bemüht, ihnen immer und immer wieder einzuschärfen, was Er ihnen schon so oft gesagt hatte, aber was sie so schnell wieder vergaßen! Und wenn Er ihnen auch einmal sagen musste: „Bis wann soll ich bei euch sein, bis wann soll ich euch ertragen?" hören wir Ihn doch am Schluss ihres gemeinsamen Weges sagen, gerade als sie sich stritten, wer wohl der Größte unter ihnen sei: „Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben." Wie anbetungswürdig ist diese Langmut! Sein treuer Diener und Nachfolger Paulus war Ihm auch in dieser Beziehung ähnlich. Er erwies sich als Gottes Diener in vielem Ausharren, in Langmut usw. und er konnte an Timotheus schreiben: „Du aber hast genau erkannt meine Lehre, mein Betragen ..., meine Langmut" (2. Korinther 6,6; 2. Timotheus 3,10).

Das Gegenteil von Langmut ist Jähzorn, ein Werk des Fleisches. Salomo stellt diese beiden Früchte in ihrer Eigenschaft und in ihrer Wirkung einander gegenüber, wenn er sagt: „Ein Langmütiger hat viel Verstand, aber ein Jähzorniger erhöht die Narrheit. Ein gelassenes Herz ist des Leibes Leben, aber Ereiferung ist Fäulnis der Gebeine" (Sprüche 14,29,30). „Ein zorniger Mann erregt Zank, aber ein Langmütiger beschwichtigt den Streit" (Sprüche 15,18). Wie mancher Riss in den Verhältnissen der Kinder Gottes zueinander würde vermieden worden sein, wie manche Trennungen wären unterblieben, wenn Langmut statt Zorn und vorschnellem Urteilen die Herzen regiert hätte.

Freundlichkeit bezeichnet jenes wohltuende Verhalten unseren Mitmenschen gegenüber, welches bei ihnen das Gefühl wachruft, dass wir es gut mit ihnen meinen. Diese Tugend prägt sich sowohl in unserem Gesichtsausdruck aus, als auch in der Art und Weise, wie wir mit anderen reden. „Das Leuchten der Augen erfreut das Herz; eine gute Nachricht labt das Gebein" (Sprüche 15,30). „Kummer im Herzen des Mannes beugt es nieder, aber ein gutes Wort erfreut es" (Sprüche 12,25). „Huldvolle Worte sind eine Honigwabe, Süßes für die Seele und Gesundheit für das Gebein" (Sprüche 16,24). 

Wir haben Jesum nicht gesehen, aber wir haben Seine freundlichen Worte gelesen, und wir dürfen sicher annehmen, dass nicht nur in Seinen Worten, sondern auch in Seinem ganzen Wesen die Freundlichkeit ihren vollkommensten Ausdruck fand. Welche Freundlichkeit strahlt uns aus den Worten entgegen, durch die das Herz der Samariterin ganz zu Ihm hingezogen wurde! Wie freundlich mag Sein leuchtendes Auge auf die große Sünderin, auf Maria von Bethanien, auf den reichen Jüngling (Er sah ihn an und liebte ihn), auf Zachäus und auf alle, die mit ihren Bedürfnissen zu Ihm kamen, gerichtet gewesen sein! O und was wird es sein, wenn wir dereinst bei Ihm weilen und allezeit Sein freundliches Angesicht sehen und Seine liebliche Stimme hören werden!

Wollen wir Zugang zu den Herzen der Menschenkinder haben, so ist Freundlichkeit das beste Mittel.

Gütigkeit. - Während die Freundlichkeit in unserem Wesen und in unseren Worten ihren Ausdruck findet, offenbart sich die Gütigkeit in der Betätigung des Guten. Die Gütigkeit begegnet den mancherlei Bedürfnissen unserer Mitmenschen und sucht sie zu befriedigen, soweit es in ihrer Kraft liegt. Das herrlichste und vollkommenste Beispiel finden wir, wie immer, bei Gott: „Als aber die Güte und die Menschenliebe unseres Heiland-Gottes erschien, errettete er uns, nicht aus Werken, die, in Gerechtigkeit vollbracht, wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit durch die Waschung der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes, welchen er reichlich über uns ausgegossen hat durch Jesum Christum, unseren Heiland, auf dass wir, gerechtfertigt durch seine Gnade, Erben würden nach der Hoffnung des ewigen Lebens" (Titus 3,4 - 7). 

Und gegen wen richtete sich diese Gütigkeit? Gegen Unverständige, Ungehorsame, Irregehende, Liebhaber von Ausschweifungen und Lüsten, Boshafte, Neidische, Verhasste und einander Hassende (V. 3). Blicken wir weiter auf Jesum in Seinem Wirken auf der Erde, so sehen wir Ihn fortwährend tätig, allen Bedürfnissen derjenigen, die Seine Hilfe begehrten, zu begegnen. Der Gütigkeit begegnen wir auch bei Petrus, wenn er zu dem Lahmen an der schönen Pforte des Tempels spricht: „Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir" (Apg. 3,6). Bei Paulus, wenn er vor Agrippa steht und ihm zuruft: „Ich wollte zu Gott, dass über kurz oder lang nicht allein du, sondern auch alle, die mich heute hören, solche würden, wie auch ich bin, ausgenommen diese Bande" (Apg. 26,29). So lasst denn auch uns „im Gutestun nicht müde werden, denn zu seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten. Also nun, wie wir Gelegenheit haben, lasst uns das Gute wirken gegen alle, am meisten aber gegen die Hausgenossen des Glaubens" (Galater 6,9. 10). „Seid aber gegeneinander gütig, mitleidig, einander vergebend, gleichwie auch Gott in Christo euch vergeben hat" (Epheser 4,32).

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Hier bin ich sende mich

Bibelstelle: Jesaja 6,8

Botschafter des Heils 1908 S. 83ff

In dem Jahre, in welchem der einst glückliche und gesegnete, dann aber von Gott geschlagene, aussätzige König Ussija diese Erde verließ, sah Jesaja den Herrn sitzen auf hohem und erhabenem Thron, und Seine Schleppen, d. i. die Säume Seiner Herrlichkeit, erfüllten den Tempel. Ein überwältigenderes Gesicht war menschlichen Augen wohl nie geworden. Die Wirkung war deshalb auch groß und unmittelbar. 

„Wehe mir! Denn ich bin verloren“, ist der Ruf des Propheten, „denn ich bin ein Mann von unreinen Lippen, und inmitten eines Volkes von unreinen Lippen wohne ich“. Ein tiefes Gefühl von Sünde und Verderben, sowohl im Blick auf sich selbst als auch auf das Volk, dem er entstammte, durchdringt sein Herz. Aber der Ruf ertönt in der Gegenwart des Gottes, dessen Gnade ebenso groß und vollkommen ist wie Seine Heiligkeit, und sofort wird das Heilmittel angewandt. Einer der Seraphim flog zu ihm. In seiner Hand war eine glühende Kohle, die er von dem Altar genommen hatte; und er berührte damit den Mund des Propheten und sprach: „Siehe, dieses hat deine Lippen berührt; und so ist deine Ungerechtigkeit gewichen und deine Sünde gesühnt“.

Liebliches und ernstes Bild von dem, was die Gnade heute in Christo an einem sündigen Menschen tut, um ihn passend zu machen für Gottes Gegenwart und fähig zu Seinem Dienst! Der Weheruf des Propheten verstummt, Gott selbst hat ihn zum Schweigen gebracht, und nun wird Jesaja der bereitwillige Diener des Willens Gottes. „Wen soll ich senden?“ fragt der Herr, „und wer wird für uns gehen?“ — „Hier bin ich“, lautet die sofortige Antwort, „sende mich!“ Die Botschaft, welche Jesaja dem Volk bringen musste, war ernst, ein feierlicher Urteilsspruch, das Gericht der Verblendung (Vergl. Joh. 12, 37—43; Apstgsch. 28, 23 - 29). Dennoch war sie mit Gnade vermischt; wenn der Prophet fragt: „Wie lange, Herr?“ so wird ihm die Antwort: „Bis die Städte …“ Ein Überrest, ein heiliger Same, soll errettet werden.

Auch uns ist eine Botschaft, ein Auftrag geworden: die Ankündigung des kommenden Zorns, aber zugleich auch die Ausrufung des gegenwärtigen Tages des Heils. Durch das Gericht, welches Jesum an unserer Statt getroffen hat, von Schuld und Sünde befreit, sind wir zu Zeugen der Heiligkeit und Gnade Gottes berufen. Aber was antworten unsere Herzen auf des Herrn Frage? Sind wir, wie einst der Propbet, bereit zu erwidern: „Hier bin ich, sende mich“? Oder überlassen wir die Arbeit gern anderen und machen es wie die „Vornehmen“ zur Zeit Nehemias, die „ihren Nacken nicht beugten unter den Dienst ihres Herrn“? (Neh. 3, 5). Der Hang nach Bequemlichkeit und Genuss ist groß in unseren Tagen.

O Herr, wecke auf die Herzen und Gewissen deines Volkes! Überführe die Säumigen, belebe die Trägen, ermuntere die Zaghaften und stärke die Schwachen!

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Endlich

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 84ff

Autor: J. H.

Mag es noch so dunkel scheinen,

trüb und traurig um dich her;

endlich hört doch auf das Weinen,

fließen keine Tränen mehr.

Ist ermüdend auch die Wüste,

heiß der Weg nach Kanaan,

an des Himmels sel`ger Küste

langen wir doch endlich an.

Will es dir zu lange währen,

endlich kommt gewiss die Zeit,

wo wir in die Heimat kehren,

in des Vaters Herrlichkeit.

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Betrachtungen über das erste Buch der Könige

Bibelstelle: 1. Könige

Botschafter des Heils 1908 S. 85ff

KAPITEL 20: Ahab und Ben-Hadad

Seitdem Ben-Hadad, der König von Syrien, Asa, dem König von Juda, hilfreiche Hand geliehen hatte gegen Baesa, den König von Israel, war er des letzteren Feind geblieben, hatte ihm Städte genommen, ja sogar durch Eroberung gewisse Rechte über Samaria, die Hauptstadt des Reiches, erlangt (Vergl. V. 34). Sein Sohn, der denselben Namen trägt wie er,*) zieht gegen Ahab herauf und belagert Samaria. Die Rechte seines Vaters in Anspruch nehmend, sendet er dem König eine unverschämte Forderung: "Dein Silber und dein Gold ist mein, und deine Weiber und deine Söhne, die schönsten, sind mein".

Was tut Ahab? Vor seinen Augen hatten sich die ergreifenden Szenen des 18. Kapitels abgespielt, er hatte das ganze Volk vor seinen Ohren rufen hören: "Jehova, er ist Gott!; aber er denkt mit keinem Gedanken an diesen Gott, der soeben erst Seinen Dienst, an dessen Stelle Ahab den Baalsdienst eingesetzt mit Macht wieder aufgerichtet hatte. Ahab fragt Jehova nicht um Rat, er übergibt Ihm nicht seine Sache. Hatte er, sich überhaupt je vor Ihm gebeugt? Hatte er versucht, den Arm Isebels, die Elia zu töten suchte, aufzuhalten? Nein, dieses böse und schwache Herz "hatte sich verkauft, um zu tun was böse ist in den Augen Jehovas, und Isebel, sein Weib, reizte ihn an"' (Vergl. Kap. 21, 25). Er zeigt, dass Gott ihm fremd ist, handelt, als ob Er nicht da sei, und erträgt die Demütigung, die der heidnische König ihm auferlegt, indem er ihm antworten lässt: "Nach deinem Worte, mein Herr König: dein bin ich mit allem, was mein ist". Was konnte er auch gegen Ben-Hadad ausrichten, der an der Spitze seiner gesamten Streitkräfte und von zweiunddreißig Königen umgeben ihm gegenüberstand? So urteilen wenigstens die, welche Gott nicht kennen.

Doch was nutzt ihm seine Erniedrigung vor dem Feinde Israels? Dieser nimmt daraus nur Veranlassung, der Härte den Spott hinzuzufügen: „Wohl habe ich zu dir gesandt und gesprochen: Dein Silber und dein Gold, und deine Weiber und deine Söhne sollst du mir geben; doch morgen um diese Zeit werde ich meine Knechte zu dir senden, und sie werden dein Haus und die Häuser deiner Knechte durchsuchen; und es wird geschehen, alle Lust deiner Augen werden sie in ihre Hand tun und mitnehmen". Auch jetzt wendet sich Ahab nicht zu Gott; es ist ihm wichtiger, die Ältesten des Landes zusammenzurufen und zu befragen. Sie sind für Widerstand, er ist dafür, die ersten Bedingungen anzunehmen und die zweiten zurückzuweisen. Bei dieser Antwort kennt die Wut Ben=Hadads keine Grenzen mehr. Ahab erwidert stolz: „Es rühme sich nicht der sich Gürtende wie der den Gürtel Lösende"; aber Gott ist immer noch ausgeschlossen.

Eine große Menge von Kriegern wird gegen die Stadt aufgestellt. Gott tritt ins Mittel durch einen Propheten, dessen Name uns nicht mitgeteilt wird, und lässt Ahab sagen: "Hast du diesen ganzen großen Haufen gesehen? Siehe, ich gebe ihn heute in deine Hand, und du sollst wissen, dass ich Jehova bin". Welchen Beweggrund hatte Jehova, so zu reden? War es der Zustand des Herzens Ahabs? Wohl kaum; wir haben im Gegenteil eben erst seine Verhärtung gesehen. 

Aber Israel hatte bei dem Wunder des Elia den wahren Gott anerkannt, und Gott konnte bei dem geringsten Zeichen der Umkehr des Volkes zu Ihm Seine Gnade erzeigen. Was Ahab betrifft, so sagt Gott: „Du sollst wissen, dass ich Jehova bin". Hatte er es vorher nicht gelernt unter dem schweren Druck der Gerichte Gottes, vielleicht würde diese wunderbare Rettung sein Herz berühren und ihn zu Gott zurückführen. Welch rührende Langmut Gottes, selbst dem Gottlosesten, dem Gleichgültigsten, ja, dem Verhärtetsten gegenüber. Der Gott, den der Mensch zurückstößt, kommt, anstatt müde zu werden, wieder zu ihm als der ­Gott der Gnade und Rettung!

In diesem gefahrvollen Augenblick scheint Ahab bereit zu sein, Gott handeln zu lassen; er hatte ja auch keine andere Hilfsquelle. Seine Fragen beantwortet der Prophet bestimmt und entscheidend. „Die Knaben (Knappen, Knechte) der Obersten der Landschaften", durch welche das feindliche Heer der Hand Ahabs überliefert werden soll, sind nur eine Handvoll dem „großen Haufen" gegenüber. Anstatt den Angriff des Feindes abzuwarten, eröffnet Ahab den Kampf, obwohl sein Heer nur siebentausend Mann zählt! Ahab folgt dem Worte des Propheten, und an diesem Tage erleiden die Syrer eine große Niederlage.

Was nun? Zeigt sich das geringste Dankgefühl in dem Herzen des Königs? Wir hören nichts davon. Gott lässt ihm durch den Propheten sagen, dass Ben-Hadad ihn bei der Rückkehr des Jahres von neuem angreifen werde. Diesmal handelt es sich darum, den Syrern zu beweisen, dass Israel den Sieg nicht durch seine „Berggötter" erlangt hat. Ben-Hadad mag seine Heereseinrichtung und den Kampfplatz ändern; die Israeliten, an Zahl wie zwei kleine Herden Ziegen, schlagen von den Syrern an einem Tage hunderttausend Mann, und die Mauer von Aphek fällt auf die Übriggebliebenen. So mussten die Syrer erfahren, dass Jehova es war, der mit ihnen stritt, und auch Israel hätte es wissen können.

Ben-Hadad flieht in die Stadt und verbirgt sich im innersten Gemach. Seine Knechte bieten sich an, die Milde des Siegers anzuflehen, denn sie haben sagen hören, dass die Könige des Hauses Israel gnädige Könige seien. Als Gedemütigte und Besiegte kommen sie, um flehentlich für ihren König zu reden: „Lass doch meine Seele am Leben!" Ahab antwortet: „Er ist mein Bruder"; und doch hatte Gott ihn in seine Hand gegeben, um ihn zu vertilgen. 

Der Götzendiener, der Jehova den „Berggöttern" gleichstellte, ist der Bruder des Königs von Israel! Welche Schmach für die Herrlichkeit und Heiligkeit Gottes ist dieses Wort: „Er ist mein Bruder"! Ahab lässt Ben-Hadad zu sich auf den Wagen steigen, macht einen Bund mit ihm und lässt ihn ziehen. Der König von Syrien gibt ihm die Städte zurück, welche sein Vater ihm genommen hatte. Die Welt erkennt solche Milde und Liebenswürdigkeit gern an. Wie oft sagen diejenigen, welche die Zeugen Gottes vor der Welt sein sollten, zu dieser: Mein Bruder, meine Brüder! Ein trauriges Wort, welches die Welt täuscht und den christlichen Charakter verleugnet! Nein, die Christen gehören einer anderen Familie an; sie sind Kinder Gottes, während die Welt den Fürsten dieser Welt zum Vater hat.

Aber, könnte man sagen, sind die Menschen nicht alle Brüder, da sie doch alle Sünder sind? Nein; denn die Christen können und sollen sagen: „Christus ist, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben" (Röm. 5, 8). Sie sind also nicht mehr Sünder und können sich daher nicht Brüder derer nennen, die es noch sind. Wohl ist es wahr, dass es „einen Gott und Vater aller" gibt in dem Sinne der Beziehungen Gottes zu Seinen Geschöpfen; aber auch unter dieser Annahme können nur diejenigen Seiner Geschöpfe, die Ihm durch den Glauben angehören, hinzufügen: „Er ist in uns allen", ein Wort, das die Welt von jeder Vertraulichkeit mit Ihm in diesem Verhältnis völlig ausschließt (Eph. 4, 6).

Dadurch dass der unglückliche Ahab Ben-Hadad seinen Bruder nannte, zeigte er offen seinen Herzenszustand; er war immer noch der Alte, der Anhänger des Baal; selbst eine zweimalige, zu seinen Gunsten bewirkte Rettung hatte ihn nicht zur Buße geführt.

Jetzt tritt ein zweiter Prophet auf. Der erste hatte die Rettung angekündigt, dieser sagt das Gericht über Ahab voraus. Doch wieder müssen wir ausrufen: Welche Langmut von seiten Gottes! Selbst im folgenden Kapitel zögert Gott noch, das letzte Wort des Gerichts zu sprechen. Bei dieser Gelegenheit lernen wir auch die Zucht Gottes an den Seinen kennen. "Ein Mann von den Söhnen der Propheten sprach zu seinem Genossen durch das Wort Jehovas: Schlage mich doch! Aber der Mann weigerte sich, ihn zu schlagen". Wenn dieser Mann nicht selbst ein Prophet war, so war er doch "ein Genosse des Propheten". Die Zucht Gottes an den Seinen ist um so ernster, je mehr sie sich in einer mit Vorrechten umgebenen Stellung befinden. Wir haben hier einen Fall, welcher von dem des Propheten aus Juda (Kap. 13) verschieden ist.

 Dieser hatte ein bestimmtes Wort von Jehova, wie er handeln sollte, und ließ dieses fahren, um einem anderen Worte zu folgen, welches sich für Gottes Wort ausgab; und er fand den Löwen auf dem Wege. Hier weigert sich ein Genosse des Propheten, nach dem Worte Jehovas zu handeln. Er will nicht seinen Gefährten schlagen und verwunden, wenn Gott es ihm befiehlt. Er meinte es gut, wird man vielleicht sagen; er liebte seinen Genossen zu sehr, um ihm Böses zuzufügen. Zugegeben; aber er hatte einen bestimmten Befehl, und zwar hatte Gott den Befehl gegeben! Vielleicht wird man noch einwenden: dieser Mann begriff aber nicht die Nützlichkeit dessen, was ihm befohlen wurde. Sehr wahrscheinlich nicht; aber dem Worte Gottes gegenüber handelt es sich nicht um begreifen, man muss gehorchen. Der Mann in unserem Kapitel konnte und sollte sich nicht darüber Rechenschaft geben, was Gott tun wollte. Das war nicht seine Sache. Für ihn galt nichts anderes, als das Bewusstsein: ein förmlicher Befehl ist da, und zwar durch das Wort Gottes. War es möglich, dass er das nicht erkennen konnte? Nein, er war der Genosse des Propheten und musste das Wort Gottes kennen. 

So wie der Mann Gottes aus Juda wissen musste, dass das Wort des alten Propheten nicht das Wort Gottes sein konnte, so musste dieser wissen, dass das Wort seines Genossen das Wort Jehovas war. je mehr unsere Stellung uns in eine unmittelbare Beziehung zu Gott bringt, um so weniger Entschuldigung haben wir, wenn wir das Wort Gottes behandeln, als ob es nicht da wäre.

Ein wirklicher Ungehorsam gegen das Wort Gottes ist eine sehr ernste Sache, und doch, wie viele Christenleben bestehen aus einer Kette von solchen Erweisungen des Ungehorsams! Gläubige fragen sich oft, warum sie auf ihrem Wege dem Löwen begegnen, ohne eine Antwort auf diese Frage zu finden. Sollten sie nicht zu allererst sich prüfen, ob sie sich dem Worte Gottes haben unterwerfen wollen, als es ihnen Seinen Willen in bestimmter Weise kundtat? Aus Gewohnheit wird man den Grund der Züchtigungen, die Gott über Seine Kinder oder Knechte kommen lässt, immer anderswo suchen. Das Gericht trifft diesen Mann, „weil er nicht auf die Stimme Jehovas gehört hat (V. 36).

„Ein anderer Mann", der, wie es scheint, nicht in so naher Beziehung zu dem Propheten stand wie der erste, hört und gehorcht. Er schlägt und verwundet den Propheten. Er sucht nicht zu begreifen, sondern tut, was Gott ihm sagt. jetzt kann der Prophet sich vor Ahab zeigen mit den bestimmten Beweisen davon, was diesem widerfahren sollte. Gott hatte gesagt: Schlage! Ahab hatte sich dessen geweigert. jetzt sollte ein anderer ihn schlagen und ihn verwunden. Sein Los war entschieden.

Ahab wird, wie David vor Nathan, gezwungen, sein eigenes Urteil auszusprechen. Er war verblendet; die Binde, die er über den Augen des Propheten sah, war die Binde, die er, ohne es zu wissen, selbst trug. Mit einem Male dringt das Wort Gottes wie ein Sturmwetter in seine Ohren: „Weil du den Mann, den ich verbannt habe, aus der Hand entlassen hast, so soll dein Leben statt seines Lebens sein und dein Volk statt seines Volkes" (V. 42).

Werden nun endlich Buße und Zerknirschung in diesem verhärteten Herzen Eingang finden? Ach! „der König von Israel ging nach seinem Hause, missmutig und zornig, und kam nach Samaria".

„Missmutig und zornig", diese beiden Worte schildern ihn.

Missmutig" o wie kennzeichnet das die Welt! Sie tut ihren eigenen Willen und ist missmutig. Auf dem Wege des Ungehorsams und der Empörung gegen Gott gibt es niemals Freude. Der Christ allein kann wirklich Freude, und zwar eine „völlige Freude", kennen. Das Wort, der Herr Selbst sagen uns, wo sie zu finden ist: im Gehorsam gegen Seine Gebote, der in Sich Selbst die Verwirklichung Seiner Liebe ist (Joh. 15, 9-14); in der Abhängigkeit, der Frucht der neuen Natur, die wir von Ihm haben (Joh. 16, 24); in der Gewissheit, welche uns das Bewusstsein unseres Einsseins mit Ihm verleiht (Joh. 17, 1:113), und endlich in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne, in die wir eingeführt sind (1. Joh. 1, 3. 4).

Wie sehr fehlten alle diese Dinge dem unglücklichen König, der geglaubt hatte, in Missachtung des Wortes Gottes seinen eigenen Gedanken folgen zu können! Gott beurteilte die Gott­losigkeit Ahabs nach der bevorzugten Stellung, in die er gesetzt war. Man ist in der Christenheit gewohnt, viel über das Los zu reden, welches durch die göttliche Gerechtigkeit den armen Götzendienern zuteil werden wird, und es ist sicher, dass sie nach den Zeugnissen gerichtet werden, die sie empfangen haben und durch welche sie Gott kennen könnten (Apgsch. 14, 1517); aber man hört die christliche Welt nicht über das reden, was sie selbst zu erwarten hat. Das Los Ahabs ist schrecklicher als dasjenige Ben=Hadads.

Das Wort sagt aber auch, dass Ahab „zornig" war. Der Missmut des Königs war nicht die Betrübnis, die zur Buße leitet, sondern brachte Zorn hervor. Gegen wen? Gegen Gott. Sollte der König denn immer wieder Gott auf seinem Wege finden? Ihr redet zu uns von der Liebe Gottes, sagt die Welt, und dabei nimmt Er uns die Gesundheit, oder unsere Lieben, oder unser Vermögen! Wäre es nicht viel besser, Böses zu tun wie die übrigen,. anstatt sich eines guten Betragens zu befleißigen, wenn Gott uns so ungerecht behandelt? Das ist eine der tausend Formen jenes Zornes, der das Herz der Menschen gegen Gott erfüllt. Allein wenn eine gewisse Kenntnis des Wortes, wie bei Ahab, vorhanden ist, so kann man das Gewissen nicht mehr betäuben, indem man Böses tut. 

Das war in früheren Zeiten, vor dem Auftreten des Elia, leichter gewesen. jetzt aber war das Wort Gottes da. Ahab konnte es nicht abschütteln; es nagte an seinem Herzen und ließ ihm keine Ruhe. Dieses Wort des Propheten hat den Schleier von der Zukunft weggezogen. Vielleicht würde es keine Folgen haben ... aber wer konnte das wissen? Tatsächlich war dieses Wort in dem Leben des Königs beständig in Erfüllung gegangen, und zwar oft in unverdienten Segnungen, auf welche Ahab nicht achtgehabt hatte. Würden die Drohungen nicht auch in Erfüllung gehen? Der Prophet hatte gesagt: "Dein Leben soll statt seines Lebens sein". Er hatte nicht gesagt, wann. Wenn es nun heute der Fall wäre, oder morgen? Konnte er Ahab denn nicht in Ruhe lassen? Ach! es gab vieles, um „missmutig und zornig" zu sein. Der nagende Wurm war da; er hatte sein Werk begonnen, der Wurm, der nicht stirbt!

KAPITEL 21: Ahab und Naboth

Neue Umstände zeigen uns den inneren Zustand des Königs. Sein Herz ist mit Habsucht erfüllt mit der Begierde nach etwas, das Gott ihm nicht gegeben hat. Doch das ist ebenso Götzendienst wie die Anbetung des Baal (Kol. 3, 5). Vom Feinde ganz in Besitz genommen, ist Ahab nur von einem Götzendienst zum anderen übergegangen.

Der Vorschlag, den Ahab dem Naboth macht, ist von größerer Tragweite, als es auf den ersten Blick scheint. Er zielte ab auf die Veräußerung des Erbteils dieses gottesfürchtigen Israeliten für immer. Ein Tausch oder eine Bezahlung des Wertes des Grundstücks war für Ahab selbstverständlich die endgültige Besitzergreifung von dem Weinberg seines Nachbarn. Auf solche Bedingungen konnte aber ein Israelit, der Gott fürchtete, nicht eingehen. Wenn er sein Grundstück verkaufte, so verkaufte er nur die Ernten daraus; sein Besitztum fiel im Jubeljahre wieder an ihn zurück, und so wurde dessen Preis nach der Anzahl der Jahre geschätzt, in denen der Käufer erntete was darauf wuchs (Vergl. 3. Mose 25, 15). 

Der Verkäufer hatte sogar das Recht sein Grundstück jederzeit zurückzunehmen, indem er dem Käufer die noch übrigen Jahre wieder vergütete. Ein gottesfürchtiger Israelit hielt an dem Erbteil seiner Väter fest weil diese selbst es von Jehova empfangen hatten. Doch es gab noch einen entscheidenderen Grund. In Wirklichkeit gehörte das Land, der Boden, nicht dem Volke, sondern Jehova: "Das Land soll nicht für immer verkauft werden, denn mein ist das Land ; denn Fremdlinge und Beisassen seid ihr bei mir. Und im ganzen Lande eures Eigentums sollt ihr dem Lande Lösung gestatten" (3. Mose 25, 23. 24).

Das lässt uns die sehr entschiedene Antwort Naboths verstehen: "Das lasse Jehova fern von mir sein, dass ich dir das Erbe meiner Väter geben sollte!"

Der 4. Vers zeigt uns, wie das Herz eines Menschen ohne Gott sich verhält, wenn seine Begierde nicht befriedigt wird: „Und Ahab kam in sein Haus, missmutig und zornig". Wir finden hier dieselben Worte wieder wie am Ende des 20. Kapitels. Armes Menschenherz, niedergedrückt durch Missmut und geschwollen von Zorn! Und das ist alles, was es zu fassen fähig ist, wenn nicht Satan, um seine Herrschaft darüber zu behalten, kommt, um ihm neue trügerische Be­gierden einzuflößen. Ahab ist missmutig, weil er den Gegenstand seines Verlangens seinem Bereich entrückt sieht; er ist zornig gegen einen Willen, der ihm im Wege steht und den er nicht brechen kann, weil es doch schließlich der Wille Gottes ist.

So ist Ahab auf seinem Wege auf allen Seiten Gott begegnet: nach der Dürre und dem Durst, bei seiner Religion, bei seinem Bunde mit Ben-Hadad und endlich bei der Befriedigung seiner Begierden. Gott, immer wieder Gott! Der Gott, von dem er gemeint hatte, dass er Ihn durch seine Götzen ersetzen könnte! Nach der Vertilgung der Priester war das Haus allerdings gekehrt und geschmückt; aber schon waren bösere Dämonen hineingekommen.

Wer facht diese bösen Geister an, wer hält diese Begierden wach? Es ist Isebel, das richtige Bild des satanischen Geistes (V. 5-15). Isebel tut das Böse mit Wissen und Willen; sie erregt alle schlechten Triebe des Herzens ihres Mannes. Sie wendet sich an seinen Stolz: „Du, übst du jetzt Königsmacht über Israel aus?" Dann fügt sie hinzu: „Ich werde dir den Weinberg Naboths, des Jisreeliters, geben". Wenn ein Mensch seine Seele dem Satan verkauft hat, wie Ahab, so verfehlt dieser nicht, ihm Versprechungen aller Art zu machen. Er ist der Versucher. Das was Gott dir nicht geben will, werde ich dir geben, sagt er. Lass mich nur machen; ich werde dir den Weinberg geben. Ahab lässt es geschehen, weil er die Befriedigung seiner Begierde darin sieht. Und nun, Ahab, „stehe auf, iss, und lass dein Herz fröhlich sein"! Das ist in der Tat das beständige Ziel des Fleisches: Gesundheit, Frohsinn, tun, was man will, und sich verschaffen was man begehrt.

Doch wie konnte dieses Ziel erreicht werden? Naboth hatte gesagt: „Ich will dir das Erbe meiner Väter nicht geben". Isebel weiß einen Ausweg. Sie kommt und nimmt Ahab bei der Hand und leitet ihn auf ihrem Wege zu sich hin, auf einem Wege der Lüge und des Mordes, und zwar unter dem Schein, als ob sie seine Wohltäterin sei. Sie „wird ihm geben"; aber indem er darauf wartet, bemächtigt sie sich seiner Autorität, seiner königlichen Macht: „sie schrieb Briefe im Namen Ahabs und siegelte sie mit seinem Siegel". Ahab ist ihr Sklave geworden. Sie schreckt weder vor der Bestellung falscher Zeugen noch vor der Ermordung eines gerechten Mannes zurück, um Ahab den Gewinn daraus zu geben. Diese Baalsanbeterin lässt die falschen Zeugen sagen: „Naboth hat Gott und den König gelästert".

 Sie gebraucht den Namen Gottes, der vom Volke, aber nicht von ihr anerkannt ist, um einen Knecht des wahren Gottes zu vernichten. Hat Isebel es nicht stets so gemacht? Wir sehen sie in Offenbarung 2 wieder aufleben, jetzt nicht mehr im Judentum, sondern in der Kirche, indem sie den Charakter einer Prophetin annimmt und die wahren Zeugen Gottes beschuldigt, „die Tiefen Satans nicht erkannt zu haben", während sie selbst ihre Kinder lehrt, Hurerei zu treiben und Götzenopfer zu essen.

Ahab lässt die Freveltat geschehen, um Nutzen daraus zu ziehen. Die Männer von Jisreel, die Ältesten und die Edlen, tun es mit voller Kenntnis der Sachlage; denn die Briefe fordern sie auf, zwei böse Menschen, Söhne Belials, zu suchen, die einen Meineid leisten sollen, um Naboth zu verderben. Sie tragen wenig Bedenken, der Aufforderung zu folgen; denn es liegt in ihrem Interesse, dem König zu gefallen und ihn sich zu verpflichten.

Naboth wird gesteinigt; endlich ist der Augenblick für Ahab gekommen, die Frucht seiner Begehrlichkeit zu genießen. "Mache dich auf", sagt Isebel, "nimm den Weinberg Naboths, des Jisreeliters, in Besitz, den er sich geweigert hat, dir um Geld zu geben; denn Naboth lebt nicht mehr, sondern ist tot". Ahab geht hinab. Aber wird er glücklich sein? Das Ziel ist erreicht, der Augenblick ist für ihn da, die Fröhlichkeit zu zeigen, welche Isebel ihm verheißen hat. Aber kaum tritt er den Besitz an, so kommt ihm gerade in dem Weinberg, den er in Besitz nehmen will, Elia, von Gott gesandt, entgegen. Seine Freude, sein Glück sind verschwunden. Satan ködert uns immer und lässt uns dann, Gott gegenüber, allein, nachdem er uns getäuscht und in den Sumpf gelockt hat.

Ahab sagt zu Elia. „Hast du mich gefunden, mein Feind?" ja, sein Feind! Er hatte Satan zum Freunde genommen, und so findet er Gott als Feind. An dem Ort der verheißenen Be­friedigung findet er nichts von dem, was er erhofft hatte; aber Gott tritt durch Seinen Propheten vor ihn hin und sagt zu ihm: "Hast du gemordet und auch in Besitz genommen?" Andere hatten gemordet, aber Gott fordert Rechenschaft dafür von Ahab. An die Stelle der so heiß ersehnten Freude tritt der schreckliche Fluch, der sich im Laufe der jammervollen Geschichte Israels immer von neuem wiederholt. Es sind dieselben Ausdrücke wie bei dem Gericht über Jerobeam und über Baesa: "Wer von Ahab in der Stadt stirbt, den sollen die Hunde fressen, und wer auf dem Felde stirbt, den sollen die Vögel des Himmels fressen" (V. 24; vergl. Kap. 14, 11; 16, 4). Auch Isebel wird nicht vergessen: "die Hunde sollen Isebel fressen an der Vormauer von Jisreel". Wenngleich die Vollziehung des angekündigten Gerichts über Isebel noch auf sich warten lässt (2. Kön. 9), so ist sie deshalb doch nicht weniger gewiss

Diesmal muss Ahab sich sagen: Das Gericht Gottes hat mich erreicht. Die Tatsache, dass das Wort Gottes gegen seine Vorgänger ohne Reue gewesen war, lässt ihn aufwachen. Für ihn, der es schlimmer gemacht hatte als sie alle, steht das Gericht vor der Tür. Er demütigt sich und geht einher in Betrübnis, Trauer und Fasten (V. 27 - 29). Er liegt im Sacktuch, welches er über seinen Leib gezogen hat, und "geht still einher", wie man in einem Sterbehause tut. Wo sind jetzt sein Stolz und sein Frohsinn, wo selbst sein Missmut und sein Zorn? Angesichts des unabwendbaren Schicksals bleibt nur grenzenlose Trauer für ihn übrig. War es eine Bekehrung? Das folgende Kapitel wird uns die Antwort geben. Doch welch ein erbarmungsreicher Gott ist unser Gott! Wenn Er das Böse aufdeckt, so beachtet Er die geringste Umkehr der Seele zum Guten; Er nimmt Kenntnis von dem kleinsten Zeichen der Buße. Er sagt zu Elia: "Hast du gesehen, dass Ahab sich vor mir gedemütigt hat? Weil er sich vor mir gedemütigt hat will ich das Unglück in seinen Tagen nicht bringen; in den Tagen seines Sohnes will ich das Unglück über sein Haus bringen". Nicht ein Strichlein Seines Wortes wird zur Erde fallen; aber das Gericht wird bis in die Tage des Erben Ahabs hinausgeschoben.

Fußnoten:

*28) Der Name Ben-Hadad Ist vielleicht der religiöse Titel der Könige von Syrien: "Sohn Hadads" oder "Verehrer Hadads". Der Sohn Hasaels nennt sich auch Ben-Hadad (2. Kön. 13, 3. 25).

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Die Befreiung und ihre gesegneten Folgen

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 100ff

Wir kommen jetzt zu der letzten Gruppe der Frucht des Geistes:

Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit.

Das sind die Tugenden, die bei dem im Geiste wandelnden Christen in seinem Dienst und in den damit verbundenen Kämpfen zur Darstellung kommen. Der Christ ist nicht nur ein Kind Gottes, sondern auch ein Diener des Herrn Jesu Christi, und zwar, wie der Apostel Paulus uns ihn in 2. Timotheus 2,3-6 und 15 vorstellt, in den verschiedenen Beziehungen eines Kriegsmannes, eines Ackerbauers und eines Arbeiters. Wird dieser Dienst unter der Leitung des Heiligen Geistes ausgeübt, so werden sich die vorstehenden Tugenden entfalten. Treue ist die Tugend, die sich in der gewissenhaften, hingebenden Erfüllung aller uns auferlegten Verpflichtungen betätigt. Wir nennen einen Diener treu, wenn er seinen eigenen Willen gänzlich beiseite setzt und sich rückhaltlos den Anordnungen seines Herrn unterwirft, indem er sie genau nach dessen Vorschriften erfüllt. 

So kennzeichnet sich die Treue eines Dieners Christi in der völligen Beiseitesetzung der eigenen Gedanken und in einer unweigerlichen Unterwürfigkeit unter das Wort Gottes. Diese Treue hat in dem Diener Jesus Christus ihren vollkommenen Ausdruck gefunden. „Ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun", war das erste Wort, das Er sprach, als Er in die Welt kam (Hebräer 10,7). „Nicht mein Wille, sondern der deine geschehe", sagte Er am Ende Seiner irdischen Laufbahn, als es sich darum handelte, den bitteren Kelch des Zornes Gottes zu trinken (Lk. 22,42). Er ist „der treue Zeuge" (Offenbarung 1,5), „der treue und wahrhaftige Zeuge" (Offenbarung 3,14). Er wird genannt „Treu und Wahrhaftig" (Offenbarung 19,11). Er ist in den Sachen mit Gott ein barmherziger und treuer Hoherpriester (Hebräer 2,17). Er ist „treu dem, der ihn gesetzt hat", treu auch in der Erfüllung der uns gegebenen Verheißung (Hebräer 3,2; 10,23). Der Herr ist treu, der uns befestigen und vor dem Bösen bewahren wird (2. Thes. 3,3).

Gottes Wort gibt uns indes auch manche schöne Beispiele von Treue bei den Dienern des Herrn, bei Menschen, die von gleichen Gemütsbewegungen waren wie wir. Mose war treu in seinem ganzen Hause als Diener (Hebräer 3,5). Samuel war ein treuer Priester (1. Samuel 4,35). Daniel und seine Freunde waren treu inmitten der schwersten Proben. Paulus konnte in Bezug auf sich sagen: „Ich danke Christo Jesu, unserem Herrn, der mir Kraft verliehen, dass er mich treu geachtet hat, indem Er den in den Dienst stellte, der zuvor ein Lästerer und Verfolger und Gewalttäter war" (1. Timotheus 1,12,13).

Worin offenbarte sich die Treue dieser Männer? Sie wandelten unter den Augen Gottes und standen unter der Leitung Seines Geistes und Seines Wortes. Beachten wir, dass man nicht unter der Leitung des Heiligen Geistes stehen kann, ohne sich auch unter die Leitung des Wortes zu stellen. Der Geist leitet durch das Wort. Wenn das Wort nicht mein Leitstern ist, so ist mein Eigenwille wirksam und die Leitung des Geistes ist nicht vorhandeln, ich bin nicht treu und nicht wahrhaftig. Ich mag eine eifrige Tätigkeit entfalten und wirklich glauben, dem Herrn damit zu dienen, ich mag selbst bei dieser Tätigkeit von den besten Beweggründen geleitet werden - fehlt aber die Leitung des Wortes, so ist alles fleischlich, menschlich. Ich bin kein treuer Diener. Ich bin auch nicht treu, wenn ich den mir anvertrauten Dienst lässig betreibe oder eine mir gestellte Aufgabe vernachlässige. Möchten wir ein wachsames Auge haben, dass unsere Treue im Dienst nicht an einer dieser beiden Klippen zerschelle. 

Wie sollten wir danach verlangen, einst an dem Tage, wo alles seine gerechte Vergeltung finden wird, das Zeugnis des Erzhirten zu empfangen: „Wohl, du guter und treuer Knecht! Über weniges warst du treu, über vieles werde ich dich setzen; gehe ein in die Freude deines Herrn" (Mt. 25,21). O dass wir alle in unserem Maße mit dem treuen Diener Paulus beim Abschluss unseres irdischen Dienstes sagen könnten: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben bewahrt; fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem Tage" (2. Timotheus 4,7.8)!

Sanftmut ist die Tugend, die allezeit unseren Dienst begleiten sollte. Sanftmut oder Milde, Nachgiebigkeit, ist eine Eigenschaft, die wir von Natur nicht besitzen. Nur Jesus konnte sagen: „Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig". Das war Seine Natur; aber wir müssen lernen, sanftmütig zu sein, und wir lernen es unter der Leitung des Geistes. Moses war, als er den Hof Ägyptens verließ, um mit dem Volke Gottes Ungemach zu leiden, ein heftiger Mann; aber nachdem er die göttliche Schule dahinten in der Wüste durchgemacht hatte, konnte Gott ihm das Zeugnis geben, dass er der sanftmütigste Mann auf dem Erdboden sei.

Die Schwester der Sanftmut ist die Demut. Diese beiden Tugenden sehen wir vielfach im Worte nebeneinandergestellt. Das Wort fordert uns auf, würdig zu wandeln der Berufung, mit welcher wir berufen worden sind, mit aller Demut und Sanftmut (Epheser 4,1.2); als Auserwählte Gottes Niedriggesinntheit (Demut) und Milde anzuziehen (Kolosser 3,12); nach Sanftmut des Geistes zu streben (1. Timotheus 6,11); das eingepflanzte Wort mit Sanftmut aufzunehmen (Jakobus 1,21); aus dem guten Wandel unsere Werke in Sanftmut der Weisheit zu zeigen (Jakobus 3,13); den von einem Fehltritt übereilten Menschen im Geiste der Sanftmut zurechtzubringen (Galater 6,1); die Widersacher der Wahrheit in Sanftmut zurechtzuweisen (2. Timotheus 2,25); alle Sanftmut zu erweisen gegen alle Menschen (Titus 3,2); jederzeit bereit zu sein zur Verantwortung gegen jeden, der Rechenschaft von uns fordert, aber mit Sanftmut und Furcht (1. Petrus 3,15).

Enthaltsamkeit ist das Kennzeichen eines wahren Nasiräers. Der Nasiräer mußte sich enthalten von allem, was vom Weinstock kommt; weder Traubensaft noch Trauben, weder Wein noch Essig vom Wein und starkem Getränk durfte er genießen (Vergl. 4. Mose 6,2-4). Mit anderen Worten: gesellige Freuden samt allem, was auf die Natur wirkt, soll der wahre Nasiräer meiden; er soll sich von allem enthalten, was den Wandel im Heiligen Geiste erschwert, das Auge von Jesu ablenkt, was dem Dienst den himmlischen Charakter rauben und ihm eine irdische und fleischliche Richtung geben kann.

 Es ist die Tugend der Selbstbeherrschung, welche der Natur nicht erlaubt, über den Geist zu herrschen. „Jeder, der kämpft, ist enthaltsam in allem ... ; ich kämpfe also, nicht wie einer, der die Luft schlägt; sondern ich zerschlage meinen Leib und führe ihn in Knechtschaft, auf dass ich nicht, nachdem ich anderen gepredigt, selbst verwerflich werde" (1. Korinther 9,25-27). Diese Enthaltsamkeit oder Selbstzucht des Apostels Paulus hat nicht wenig dazu beigetragen, dass er bis zu seinem Ende ein so brauchbares Werkzeug in der Hand Gottes geblieben ist, während, wenn es an der Enthaltsamkeit fehlt, schon mancher Diener zu Fall gebracht wurde und heute noch zu Fall gebracht wird.

Gottes Wort führt uns nicht nur treue Diener, wie Mose, Josua, Paulus usw., vor Augen, sondern auch schwache, untreue Diener, bei denen wir ein ernstes Fehlen der zum Dienste nötigen Tugenden wahrnehmen können. Denken wir z. B. an Jona und Simson. Jona offenbarte gleich im Beginn seiner Laufbahn einen Mangel an Treue und musste deshalb durch schwere Züchtigungen gehen. Als er wiederhergestellt war, begegnen wir bei ihm dem Mangel an Sanftmut des Geistes. Gott musste diesem Mangel abzuhelfen suchen, und Er tat es in wunderbarer, ergreifender Weise. Ob das Leben Jonas durch Enthaltsamkeit gekennzeichnet war, und ob er nachher bis zu seinem Ende hin treu erfunden wurde, wissen wir nicht. Von Simson, diesem hochbegnadeten Diener, wissen wir aber, dass es ihm in seinem Dienste bei allen drei Tugenden bemerkbar mangelte. Er war oft nicht treu, oft nicht sanftmütig, und der Mangel an Enthaltsamkeit führte ihn zu einem schweren Fall.

 Delila, ein Vorbild der Welt, verstrickte sein Herz, beraubte ihn seiner langen Haare, des Sinnbildes seiner Abhängigkeit von Gott, und nun hörte er eine Zeitlang auf, ein Diener Gottes zu sein und wurde ein Sklave der Menschen. Wie ernst redet seine Geschichte zu unseren Herzen! Lasst uns denn wachsam sein, dass wir nicht unsere Abhängigkeit vom Herrn und die Leitung Seines Geistes verlieren! Außer Ihm können wir nichts tun, und ohne die Leitung des Heiligen Geistes gehen wir irre. Ja, in dem Augenblick, da Selbstvertrauen in unserem Herzen Platz greift, kommen wir in die Gefahr, uns gehen zu lassen und, statt uns von den Dingen dieser Welt fernzuhalten, sie aufzusuchen und zu genießen. Wir verlassen die einzige Quelle unserer Kraft, verlieren die notwendigen Merkmale der Zeugen Gottes inmitten einer verderbten Umgebung, und an Stelle der kostbaren „Frucht des Geistes" beginnen die „Werke des Fleisches" sich wieder zu zeigen. Der gegenwärtige Zeitlauf, die sichtbaren Dinge und das eigene arme Ich machen ihre bösen Einflüsse von neuem geltend, und das Ende ist tief betrübend.

Beachten wir denn das treue Wort des Apostels: „Die aber des Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Lüsten. Wenn wir durch den Geist leben, so lasst uns auch durch den Geist wandeln" (Galater 5,24).

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Rühmt unsern Gott

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 106ff

Rühmt unsern Gott mit Herz und Munde,

Er ist allein des Rühmens wert!

Ein Lobgesang sei jede Stunde,

die Seine Gnade uns beschert!

Ja preiset Ihn und bringt Ihm Ehre,

Er ist derselbe allezeit;

Frohlockt, dass Seine Güte währe

von Ewigkeit zu Ewigkeit

Du, großer Gott, bist unsre Stärke,

bist unser Licht in dunkler Nacht.

Du hast durch wunderbare Werke

Heil und Erlösung uns gebracht.

Wir waren hoffnungslos verloren,

in Welt- und Sündenlust verstrickt.

Du hast uns für Dich selbst erkoren,

des Feindes Macht und List entrückt.

Dich sollen Herz und Zunge loben,

erheben Deine Majestät.

Dein Ruhm, o Gott, sei hoch erhoben,

der über alle Himmel geht!

Dein Vaterantlitz voll Erbarmen

bestrahlet uns zu jeder Zeit.

Du trägst Dein Volk auf mächtigen Armen,

Du großer Gott von Ewigkeit!

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Die Gefangenen in Babylon

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 107ff

Die Babylonische Gefangenschaft, als ein Abschnitt in dem Lauf der göttlichen Verwaltungen betrachtet, war eine Sache von hoher Bedeutsamkeit. Wir mögen sie, im Bilde gesprochen, wohl als eine Hauptstation auf unserer Reise betrachten, die den Pfad des Lichts und der Weisheit entlang führt, welchen wir in der Schrift für Gottes Pilgrime aufgezeichnet finden; und es lohnt sich wohl, hier einen längeren Aufenthalt zu nehmen und einen Blick um uns her zu werfen.

Wir können im allgemeinen Sinne die Babylonische Gefangenschaft das große Schlussgericht nennen, welches in alttestamentlichen Zeiten über das Volk Israel verhängt wurde. Demselben war eine lange Reihe anderer Gerichte von untergeordneterem Charakter vorausgegangen. Sie alle geben Uns ein ergreifendes und demütigendes Gemälde von der Unfähigkeit und Untreue des Menschen, was ihm auch anvertraut und unter welcherlei Verantwortlichkeit er gestellt werden mag.

Diese Gerichte begannen meines Erachtens schon mit dem vierzigjährigen zurückgezogenen Aufenthalt Moses im Lande Midian. Israel, damals in Ägypten, verlor dadurch seinen Befreier, weil es, wie wir aus Apstgsch. 7, 25 erfahren, nicht verstand, dass Gott ihm durch seine Hand Rettung geben wollte.

Hernach, als Israel aus Ägypten gezogen war, wurde es verurteilt, andere vierzig Jahre in der Wüste umherzuirren, weil es den Bericht der Kundschafter nicht annahm und das verheißene Land gering achtete, Und als es endlich Kanaan erreicht und sich als Volk dort niedergelassen hatte, wurde es für seine nie endenden ungerechten Handlungen wiederholt durch die Hand benachbarter Völker gezüchtigt, und schließlich noch deutlicher dadurch gerichtet, dass es unter die Tyrannei des Königs Saul gestellt wurde (Vergl. Hos. 13, 11).

Im Laufe der Zeit entwickelte sich das Königtum. Gott gab Seinem Volk den Auserwählten, den Mann nach Seinem Herzen, zum König. David war eine von Gottes Gaben, wie Saul eines Seiner Gerichte gewesen war. Die Regierungen Davids und Salomos waren Zeiten der Macht und des Glanzes für Israel. Als aber das Haus Davids sich gleichfalls verwerflich machte, brach das Gericht herein in der Empörung der zehn Stämme. Die Errichtung des Zehnstämmereiches war ein unmittelbares Gericht über das Haus Davids, ähnlich wie früher das Königtum Sauls ein Gericht für das Volk Israel bedeutet hatte. Aber da das Zehnstämmereich sich vom ersten Tage seines Bestehens an als verwerflich erwies, wurde es seinerseits wiederum von dem Gericht ereilt. Diesmal war es die Hand des Königs von Assyrien, welche Gott als Zuchtrute benutzte. Israel wurde nach Assyrien weggeführt.

Das Haus Davids wurde inzwischen noch in Geduld getragen. Obwohl nur ein Bruchteil von ehemals, da es nur zwei Stämme anstatt der früheren zwölf als sein Erbteil behalten hatte, forderte es doch schließlich auch den Zorn Jehovas heraus, und so kam Juda ebenfalls unter Gericht. Es wurde durch den König der Chaldäer gerichtet, der es gefangen nach Babylon führte. Damit schloss, wie bereits gesagt, die Reihe der Gerichte über das Volk Gottes während der Zeiten des Alten Testamentes ab. Jehova, der Gott Israel?-, hatte Seinen Namen und Seine Herrlichkeit mit dem Hause Davids und mit der Stadt Jerusalem verbunden. Als dieses Haus nun gefallen und die Stadt zerstört war, hatte das Gericht zu jener Zeit sein Werk vollendet.

Die Personen, mit denen wir es fortan zu tun haben, sind die Gefangenen von Juda und Babylon. Israel (die zehn Stämme) in Assyrien wird ganz aus dem Auge verloren. Der Geist Gottes schenkt ihm keine Beachtung mehr. Es wird „die abtrünnige Israel“ genannt, als ein Volk, dessen Sonderstellung und Auszeichnung für den Augenblick dahin ist. Die Propheten Gottes sehen freilich die zukünftigen Segnungen voraus und kündigen an, dass auch die zehn Stämme dereinst wieder in die Heimat zurückkehren werden, um von neuem ihren Platz in Ehre und Herrlichkeit einzunehmen. Aber vorläufig sind sie von dein Schauplatz verschwunden.

Bevor wir uns nun zu den Gefangenen in Babylon wenden, möchte ich ein kurzes Wort über den neuen Zustand der Dinge sagen, der durch die Gefangenschaft selbst herbeigeführt wurde. Die Herrlichkeit (das Zeichen der göttlichen Gegenwart), dann die heidnischen Völker der Erde, und schließlich die Juden — alles wird durch sie berührt und unmittelbar in einen neuen Zustand gebracht.

Die Herrlichkeit verlässt die Erde und kehrt in den Himmel zurück. Sie war von den Tagen Ägyptens an bei Israel gewesen. Sie hatte ihren Wohnsitz, in der Wolke genommen und Israel aus Ägypten und durch die Wüste geführt; dann hatte sie sich zwischen den Cherubim im Allerheiligsten niedergelassen. Israel war der Ort oder das Volk, wo die Herrlichkeit ihre Wohnung auf Erden aufschlug. Nun aber erhebt sie sich, wie durch den Propheten Hesekiel geschaut wird, wieder von der Erde zum Himmel. (Vergl. Hos. 13,11).

Die Nation en der Erde erhalten damit die Oberherrschaft. Sie werden zum Haupte, Israel zum Schwanz. Förmlich und feierlich legt Gott das Schwert in die Hand des Königs der Chaldäer; ja, Er verlangt Unterwerfung unter ihn als das von Ihm eingesetzte Haupt der politischen oder kaiserlichen Obergewalt auf Erden. Beachten wir aber, dass das Schwert nicht von der Herrlichkeit begleitet wird. Chaldäa ist weder der Sitz der Gottesherrschaft, noch wird eine Gottesanbetung dort eingerichtet.

Das Volk Israel wird ein Fremdling auf der Erde. „Ikabod“=die Herrlichkeit ist gewichen, wird in schrecklicherem Sinne denn je von ihm wahr. Das Volk, das einst in Ehre, Kraft und Unabhängigkeit dagestanden hatte, ist für den Augenblick ruiniert. Juda ist gefangen und ein Fremdling.

Das sind also die neuen Zustände, in welche alles: die Herrlichkeit, die Nationen und das Volk Israel, durch Judas Fall versetzt wurde. Verweilen wir nun noch einen Augenblick bei den Charakterzügen, welche infolge dieser neuen Zustände bei jedem der davon Betroffenen hervortraten.

Die Herrlichkeit gibt in höchst gnädiger, zu Herzen gehender Weise ihr Widerstreben zu erkennen, ihren alten Wohnplatz zu verlassen. Sie wird in den ersten Kapiteln des Propheten Hesekiel, ich möchte sagen, in unruhiger, ihr selbst missfallender Tätigkeit gesehen. Die Zeit war gekommen, wo sie Jerusalem verlassen musste, und sie fühlt den Schmerz eines solchen Augenblicks. Sie schreitet hin und her zwischen der Schwelle des Hauses, welche sie noch mit dem Tempel verbindet, und den Flügeln der Cherubim, die bereit stehen, sie hinweg zu geleiten; es ist dies ein Anblick voll tiefen, geheimnisvollen Trostes, der unseren Herzen ein wunderbares Geheimnis enthüllt. 

Die Heiligkeit, welche sich entfernen musste, vermochte nicht die Liebe zu dämpfen, welche so gern geblieben wäre, wenn sie nur gekonnt hätte. Schöne, Verwandte Züge finden wir hier mit dem Jesus, welchen die Evangelien darstellen. Israel konnte dem in Niedrigkeit geoffenbarten Herrn ebenso wenig einen Ruheplatz bieten, wie einst Seiner Herrlichkeit. Das Volk war verderbt. Aber so wie die Herrlichkeit sich nur zögernd von der Schwelle entfernt, so weint Jesus, wenn Er der Stadt den Rücken kehrt. Andererseits sucht die Herrlichkeit keinen anderen Platz, auf der Erde. Sie hatte Zion zu ihrer Ruhe erwählt, und wenn diese dort gestört wird, so verlässt sie die Erde. Sie bleibt Israel treu, wenn auch Israel sie betrübt und von sich weist. Das sind die Vollkommenheiten, welche, wenn ich so reden darf, der Herrlichkeit Charakter verleihen an diesem Tage ihres Weggehens von Jerusalem, dem Tage der Gefangenführung Judas nach Babylon.

Die Nationen bieten in dieser Zeit einen ganz entgegengesetzten Anblick dar. Anstatt sich durch irgendeine sittliche Schönheit auszuzeichnen, werden sie stolz. Ihre Erhöhung unter der Leitung Gottes lässt sie in ihren eigenen Augen gewaltig an Wert gewinnen. Sie kümmern sich nicht um die Leiden des Volkes Gottes, sondern machen sich dessen Fall zunutze und steigen auf den Trümmern desselben so weit empor, wie es irgend möglich ist. Zeigt uns Hesekiel den Charakter der sich entfernenden Herrlichkeit, so stellt uns Daniel den gottlosen Hochmut der Nationen in jenen Tagen vor Augen. Dieser Stolz wird auf die Dauer unerträglich und endet im Gericht.

Das Volk Israel, jetzt gedemütigt, befindet sich in tiefen Übungen. Psalm 137 ist ein Herzenserguss, der von einem sehr guten Seelenzustande bei den Gefangenen an den Wassern Babels Kunde gibt. Männer wie Serubbabel, Esra und Nehemia, die sich unter der Schar der nach Kanaan Zurückkehrenden befinden, und Gestalten wie Esther und Mordokai, die in der Zerstreuung verbleiben, berichten uns von einem Geschlecht oder einem Überrest, dessen Charakter über das- gewöhnliche Maß in Israel weit hinausgeht. So brachten denn, wie das ja meist geschieht, Wohlstand und Gedeihen den Heiden sittliches Verderben, während Bedrückung und Drangsal den Juden zum Heil ausschlugen.

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Betrachtungen über das erste Buch der Könige

Bibelstelle: 1. Könige

Botschafter des Heils 1908 S. 113ff

KAPITEL 22: Ahab und Josaphat

„Und sie blieben drei Jahre ruhig; es war kein Krieg zwischen Syrien und Israel". Da sehen wir also, wozu das Bündnis Ahabs mit Ben-Hadad, abgesehen von der Frage des Gerichts Gottes, gedient hatte: zu einer kurzen, dreijährigen Ruhepause! Zudem hatte Ben-Hadad, nachdem er kaum freigelassen war, seine Versprechungen nicht gehalten (vergl. Kap. 20, 34); er hatte Ramoth=Gilead nicht zurückgegeben. „Wisset ihr nicht", sagt der König von Israel zu seinen Knechten, „dass Ramoth=Gilead unser ist? Und wir bleiben still und nehmen es nicht aus der Hand des Königs von Syrien?" Es würde feige sein, dazu zu schweigen.

 So entbrennt denn der Krieg von neuem. Gott wird nicht in Rechnung gebracht wenn es sich um solche Rückforderungen von Eigentum zwischen Völkern handelt. Die Geschichte ist immer dieselbe, und die christlichen Nationen unserer Tage sind in dieser Hinsicht nicht besser als die heidnischen Völker. Das Bestreben, sich auszudehnen auf der einen Seite, der Widerstand solchen Eingriffen gegenüber auf der anderen Seite, das ist in kurzen Worten die Grundlage aller politischen Maßnahmen. Gott treibt keine Politik. Er ist diesen Kämpfen fremd, obschon Er die Überhand über alles hat und alles benutzt, um Seine Pläne auszuführen.

Josaphat, der Sohn des gottesfürchtigen Asa und treu wie dieser in der Aufrechterhaltung des reinen Dienstes Jehovas in Juda, war zu dem König von Israel herabgekommen. Woraus waren diese Beziehungen zwischen den beiden Königen hervor­gegangen? Aus der Tatsache, dass Josaphat sich mit Ahab "ver­schwägert hatte; zwar nicht er selbst, aber sein Sohn Joram hatte eine Tochter Ahabs zur Frau genommen (2. Chron, 18, 1; 21, 6). Diese Verbindung war ein großes Übel, und der König von Juda musste die schweren Folgen daraus erfahren. "Hilfst du dem Gesetzlosen", sagt ihm später Jehu, der Sohn Hananis, "und liebst du die Jehova hassen?' (2. Chron. 19, 2). Diese Verbindung brachte den Treuen unausweichlich dahin, die Angelegenheiten eines Königs zu den seinigen zu machen, welcher im Bösestun nicht seinesgleichen hatte im Lande Israel (Kap. 21, 25. 26).

„Willst du mit mir in den Streit ziehen?" fragt Ahab; und Josaphat antwortet: "Ich will sein wie du, mein Volk wie dein Volk, meine Rosse wie deine Rosse". Diese böse Verbindung bringt Josaphat also dahin zu erklären, dass er, der gottesfürchtige König von Juda, sei wie der gottlose Ahab; er reißt die Schranke nieder, welche den Mann Gottes von der Welt trennt. Ist wohl ein großer Unterschied zwischen diesem Wort und dem Wort Ahabs über Ben-Hadad: "Er ist mein Bruder"? Die Verbindung mit der Welt, das kann man nicht zu oft wiederholen, macht uns mitverantwortlich für deren Ungerechtigkeit.

 In den geschichtlichen Büchern des Wortes Gottes begegnen wir immer aufs neue dieser ernsten Wahrheit: wenn man einem System, in welchem das Böse geduldet und anerkannt wird, seine Zustimmung gibt, sich mit ihm verbindet oder ihm hilft, so erklärt man sich mit diesem System eins. Man könnte fragen, ob nicht vielleicht die augenblickliche Buße Ahabs die Entschlüsse Josaphats beeinflusst habe. Es wird uns nichts darüber gesagt; aber es würde auch den König in keiner Weise entschuldigen. Der Treue bleibt nicht an irgendeinem Platz, weil sich das eine oder andere Gute da finden lässt, sondern er fragt, ob der Platz von Gott gutgeheißen wird. Israel und sein König aber hatten nur das endgültige Gericht zu erwarten, und die Stadt enthielt keine Gerechten mehr, die sie hätten retten können.

Trotz dieses schlimmen Bündnisses hat Josaphat doch zu viel Gottesfurcht um zu handeln, ohne Jehova und Sein Wort befragt zu haben. Ahab versammelt sofort vierhundert Propheten. Das war viel. Woher kamen sie, als sich kaum noch einige vereinzelte Propheten in den Grenzen Israels vorfanden? Andererseits war es wenig; denn ein einziger Prophet Jehovas hätte genügt, um Seine Gedanken bekanntzumachen. Wer sind diese vierhundert Propheten Ahabs? Sind es vielleicht, unter einer Ver­kleidung, die vierhundert Propheten der Aschera (einer weiblichen Gottheit), die am Kison nicht vertilgt worden waren? Es ist sehr wohl möglich.

 Doch wie dem auch sei, wenn es dieselben waren, so hatten sie mit den Umständen auch die Kleider gewechselt. Sie geben jetzt vor, durch den Geist Gottes zu reden; freilich hatte sich ihrer ein Lügengeist bemächtigt, welcher ihrem eigenen Vorteil diente. Man kann die Abzeichen eines Propheten Jehovas tragen und doch lügen. Wie findet man das zu aller Zeit, und heute wohl mehr als je! Ziehe hinauf", rufen sie alle, „und der Herr wird es in die Hand des Königs geben".

Doch Josaphat fühlt sich nicht wohl dabei. Es gibt einen geistlichen Sinn, der ein wahrhaftiges Herz, vielleicht ohne dass es sich darüber Rechenschaft gibt, darauf aufmerksam macht, dass gewisse Offenbarungen nicht den Geist Gottes zum Urheber haben. Das ist nicht die Gabe zur Unterscheidung der Geister (1. Kor. 12, 10), diese besitzen nicht alle, sondern ein Sinn, der, so schwach das Kind Gottes auch sein mag, ihm nie fehlen sollte. Es fühlt sich nicht wohl in einer Umgebung, die Gott entgegen ist, nicht wohl bei gewissen Unterredungen, die Anspruch darauf machen, von religiösen Lippen zu kommen, aber des göttlichen Charakters ermangeln; es fühlt sich nicht wohl bei prahlerischen Reden, wie sie vor dem König von Israel laut wurden. So regte sich auch bei Josaphat ein Gefühl tiefen Unbehagens; und nachdem er Zeuge des Schauspiels gewesen war, welches seine Aufforderung an Ahab: "Befrage doch heute das Wort Jehovas", hervorgerufen hatte, sah er sich gezwun­gen hinzuzufügen: „Ist hier kein Prophet Jehovas mehr, dass wir durch ihn fragen?" Nur e i n e r würde ihm genügen; ein wirklich für Gott Abgesonderter würde die vierhundert anderen aufwiegen. Ahab antwortet: „Es ist noch e i n Mann da, um durch ihn Jehova zu befragen; aber ich hasse i h n, denn er weissagt nichts Gutes über mich, sondern nur Böses: Micha, der Sohn Jimlas". Ahab hasste diesen Mann, und er hasste alle, welche das Gericht Jehovas über ihn ankündigten.

 Er Wollte, dass der Prophet etwas Gutes über ihn weissage. Das wird immer der Charakter der religiösen Welt sein. Die, welche zu ihr gehören, wählen sich Lehrer nach ihren eigenen Lüsten, Lehrer, die zu ihnen sagen: „Meine Brüder", wie Ahab zu Ben-Hadad sagte: „Mein Bruder" Lehrer, welche sie loben und die Welt, in der sie wohnen, erheben und ihnen Erfolg und Wohlfahrt prophezeien. Der rechtschaffene Josaphat kann diese Worte nicht ertragen. Er ist gewohnt, jedes Wort, welches von Jehova kommt, zu achten. Man sieht auch später nicht, dass er gegen das Wort Jehus auftritt trotzdem es ihn verurteilte (2. Chron. 19, 1). „Der König spreche nicht also“' sagt er.

Ahab hat nur einen Gedanken: er will die boshafte Gesinnung Michas ihm gegenüber beweisen (Vergl. V. 18). Er lässt ihn sogleich holen. Der Mann Gottes hält sich natürlich getrennt von den vierhundert Propheten und ist so ein gutes Beispiel für den König von Juda, der sich mit dem gottlosen Ahab verbunden hatte. Die überaus traurige, aber notwendige Folge dieses Bündnisses ist, dass er Ahab folgen wird, statt Micha. Das ist stets die Wirkung des „bösen Verkehrs" auf den Gläubigen. Nie sieht man die umgekehrte Wirkung hervortreten, dass nämlich die Welt dem Beispiel der Kinder Gottes folgte. „In einem Bündnis zwischen der Wahrheit und dem Irrtum gibt es", wie jemand gesagt hat, „keine Gleichheit; denn durch das Bündnis selbst schon hört die Wahrheit auf, die Wahrheit zu sein, und der Irrtum wird niemals zur Wahrheit".

Micha redet, um das, was er zu sagen hat feierlicher zu machen, anfänglich wie die vierhundert Propheten: „Ziehe hinauf, und es wird dir gelingen; denn Jehova wird es in die Hand des Königs geben". „Wie viele Male", erwidert Ahab, „muss ich dich beschwören, dass du nichts zu mir reden sollst, als nur Wahrheit im Namen Jehovas?" Man sieht hier, was das Gewissen, selbst in verhärtetem Zustande, ist. Es redet im Innern des Herzens; es sagt zu Ahab: Was Micha sagt, kann nicht der Ausdruck seiner Gedanken sein. Und obwohl Ahab die Lüge begehrt zwingt sein Gewissen ihn doch, die Wahrheit wissen zu wollen.

 Er wird ihr nicht folgen, noch ihr gehorchen; aber das durch sein Gewissen hervorgerufene Unbehagen lässt ihm keine Ruhe, bis er hört, weiß und sieht; ähnlich wie ein Mörder, mag er wollen oder nicht, an den Ort seines Verbrechens zurückgeführt wird. Dann tönen die niederschmetternden Worte an seine Ohren: „Ich sah ganz Israel auf den Bergen zerstreut, wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und Jehova sprach. Diese haben keinen Herrn; sie sollen ein jeder nach seinem Hause zurückkehren in Frieden" (V. 17).

Der Prophet bleibt dabei nicht stehen. Er enthüllt den satanischen Lügengeist der sich aller Propheten bemächtigt hat, um Ahab dahin zu bringen, dass er nach Ramoth hinaufziehe. Jehova hatte gesagt: „Wer will Ahab bereden, dass, er hinaufziehe und zu Ramoth=Gilead falle?" Es war das vorher gegen Ahab bereitete Gericht Gottes, ein Gericht, das mittels der dämonischen Geister, die Ahab angebetet hatte, zum Verderben ihres Opfers ausgeführt werden sollte.

Zedekia, der in dieser Szene bis dahin die Hauptrolle gespielt hatte, indem er sich eiserne Hörner machte und zu dem König sagte: „Mit diesen wirst du die Syrer stoßen, bis du sie vernichtet hast", schlägt Micha auf den Backen und sagt: „Wo wäre der Geist Jehovas von mir gewichen, um mit dir zu reden? Er machte Anspruch darauf, durch den Heiligen Geist geleitet zu werden, und braucht Gewalt, um dies zu beweisen; aber er beweist damit gerade, welcher Geist ihn beseelt. Auch er wird dem Gericht verfallen, „wenn er ins innerste Gemach gehen wird, um sich zu verstecken" (V. 25).

Micha wird, wie so viele Propheten und treue Knechte Jehovas, ins Gefängnis geworfen und für die von ihm verkündigte Wahrheit grausam verfolgt. Doch sein Zeugnis breitet sich aus, wird dadurch zu einem öffentlichen, wie später das Zeugnis des Paulus. Er hat die Ehre, allen die Gedanken Gottes über die Zukunft zuzurufen: „Höret es, ihr Völker alle!"

Der arme Josaphat sieht diesem allen stumm zu. Da er sich auf dem Gebiet seines Verbündeten befindet, hat er keine Macht, um dessen Befehlen entgegenzutreten. Haben seine schwachen Einwendungen etwas an den Plänen und Entschlüssen Ahabs geändert? Findet er den Mut, dieses unglückselige Bündnis aufzulösen? Nichts von alledem. Und wozu dient der Bund? Nur zur Untreue gegen Gott. Er zieht mit dem König von Israel nach Ramoth=Gilead hinauf.

Doch siehe da, das zudringliche Gewissen belästigt Ahab aufs neue. Wie nun, wenn Micha doch wahr geredet hätte? Wenn er wirklich seinen Tod bei diesem Kriegszuge vorhergesagt hätte? Ahab forscht nach einem sichern Mittel, um dem Gericht, welches ihn sucht und verfolgt, zu entfliehen, und meint, es gefunden zu haben. Er verkleidet sich, und, von selbstsüchtiger Furcht beherrscht hat er nicht einmal Edelmut genug im Herzen, um seinen Verbündeten nicht bloßzustellen; gegen diesen müssen sich wegen seiner königlichen Kleidung die Angriffe in der Schlacht richten. Die Obersten der Wagen wenden sich gegen Josaphat, in der Meinung, es sei Ahab. In diesem Augenblick „schrie Josaphat". 2. Chron. 18, 31 zeigt uns, zu wem Josaphat in dieser äußersten Not seine Zuflucht nahm: "Josaphat schrie, und Jehova half ihm". Gott verlässt die Seinen nicht in der Bedrängnis.

Ahab wird von einem „aufs Geratewohl" abgeschossenen Pfeile getroffen. Das hatte er nicht erwartet. Er stirbt heldenhaft, wie die Welt sagen würde, indem er, tödlich verwundet, auf seinem Wagen den Syrern gegenüber aufrecht stehen bleibt. Er stirbt am Abend, und sein Blut fließt in den Boden des Wagens. „Und als man den Wagen am Teiche von Samaria abspülte, da leckten die Hunde sein Blut (da wo die Huren badeten), nach dem Worte Jehovas, das er geredet hatte" (V. 38). So wurde das Gericht an ihm vollzogen; seine völlige Ausführung sollte es freilich erst später durch die Hand Jehus finden.

Wie ganz anders würde diese Geschichte lauten, wenn Menschen sie geschrieben hätten! Wie ganz anders würden sie geschrieben haben, als Gott es getan hat! Die Regierung Ahabs währte lange und war verhältnismäßig ruhmreich. Die Siege über die Syrer sind für den Menschen, der die göttliche Offenbarung nicht besitzt, Taten von hohem Wert und beweisen Mut und Unerschrockenheit; sein Bündnis mit Ben-Hadad zeugt von edler Milde und weiser Politik; dasjenige mit Josaphat ist noch viel klüger. Der Feldzug gegen Ramoth wurde ihm durch die Ehre seines Reiches aufgezwungen. Die Jahrbücher seiner Regierungszeit, die wohl für immer verloren gegangen sind, zählten alle Städte auf, die er gebaut und befestigt hatte, das elfenbeinerne Haus, das er wahrscheinlich nach der Art des Hauses Salomos errichtet und manch andere Dinge, die er getan hatte (V. 39). Aber von alledem ist nichts übriggeblieben als das schreckliche Beispiel eines Mannes, der verantwortlich war, Gott zu dienen, der aber, obwohl er Ihn kannte, den Götzen und seinen Begierden den Vorzug gab, während er die treuen Zeugen des Gottes Israels hasste.

Einige Worte beschließen dieses Buch und erfrischen ein wenig das Herz inmitten eines solch großen Verfalls. Josaphat war treu, obwohl nicht tadellos; denn er zeigte nicht genug Eifer, um die Höhen, die Überreste des in Juda eingerissenen Götzendienstes, zu zerstören. Er beseitigte die schändlichen Menschen, die sich mit dem kanaanitischen Götzendienst im Lande eingenistet hatten. Aber mit Bedauern sieht man, dass er nicht sogleich die Unterweisung verstand, welche Jehu ihm bei seiner Rückkehr von Ramoth gab. Er verband sich mit Ahasja, dem Sohne Ahabs, der gesetzlos handelte (2. Chron. 20, 3537), und vereinigte sich mit ihm, um Schiffe zu bauen und gemeinschaftlich Gold von Ophir zu holen.

 Das Verlangen nach den durch den Bund mit Ahasja zu gewinnenden Schätzen ist ein niedrigerer Beweggrund als das Verlangen nach dem durch den Bund mit Ahab erzielten Einfluss. Aber der Herr tadelt ihn: "Elieser, der Sohn Dodawas, von Marescha, weissagte wider Josaphat und sprach: Weil du dich mit Ahasja verbunden hast, so hat Jehova dein Werk zerstört. Und die Schiffe wurden zertrümmert und vermochten nicht nach Tarsis zu fahren" (2. Chron. 20, 37).

Gott sei Dank! nach den Worten des Propheten und der Zerstörung seiner Flotte lernte Josaphat endlich, was die große Schwäche seines Lebens war: dass nämlich ein Bündnis mit der Welt, zu welchem Zweck es auch errichtet werden mag, etwas ist, das Gott missbilligt und das ein Gericht über Seine Kinder herbeiführt. "Damals sprach Ahasja, der Sohn Ahabs, zu Josaphat Lass meine Knechte mit deinen Knechten auf den Schiffen fahren; aber Josaphat wollte nicht".

Diesem, nach allem Vorangegangenen, erfreulichen Bilde folgen einige Worte, welche in Kürze die Regierung Ahasjas, des Sohnes Ahabs, beschreiben. Sie war nur kurz, aber mit allem erfüllt, was imstande war, den Zorn Jehovas herabzurufen; nicht nur lebte der Baalsdienst in Israel wieder auf, sondern der König selbst warf sich auch nieder vor dem Gräuel der Zidonier.

Fußnoten:

*) Das Wort Gottes gibt uns keine Unterlage für den zuweilen ausgesprochenen Gedanken, dass diese Sunamitin die im Hohenliede gefeierte Sulamith sei (Hohelied 6, 13).

*) Vergl. die Betrachtungen über das i, Buch Samuel, und zwar die An­merkung auf den Seiten 7 und 8.

*) Vergl. die Betrachtungen über das 2. Buch Samuel, Seite 167.

*) So nach der französischen Übersetzung des 27. Verses. Man vergleiche an der betreffenden Stelle die Anmerkung unter dem Text. (Der Übersetzer)

*) Wir glauben nicht, dass der König hierbei an die Ermordung Absaloms durch Joab denkt.

*) Obwohl manche anderer Meinung sind, sehen wir doch keinen Grund, weshalb der Simei in Kap. 1, 8 eine andere Person als der Sohn Geras gewesen sein sollte.

*) Siehe 1. Kön. 14, 23. In 1.Kön. 15, 14; 22, 44; 2. Kön. 12, 3; 2. Chron. 20,33 scheint das Volk nichts anderes getan zu haben, als was auch im Anfang der Regierung Salomos geschah. Aber dass der Götzendienst mit den Höhen verbunden wurde, ersehen wir aus der erstgenannten Stelle, wie auch aus 2.Kön.18,4; 2. Chron. 31, 1 usw. Der gottlose Manasse baute die Höhen wieder auf und errichtete dem Baal Altäre (2. Kön. 21, 3). Als er zur Buße kam, "opferte das Volk noch auf den Höhen, wiewohl Jehova, ihrem Gott" (2. Chron. 33, 17). Das beweist das oben Gesagte, nämlich dass die Höhen zu gewissen Zeiten in der Geschichte Israels nicht notwendigerweise mit dem Götzendienst verbunden waren, obwohl sie dahin führten. Von dem Augenblick an, wo der Gottesdienst nicht mehr Christum zum Mittelpunkt hat, gleich der Bundeslade in Zion, und nur noch Raum hat für empfangene Segnungen, (und seien es auch die des Heils), weicht er aus der rechten Bahn ab, und wird ein Werkzeug in der Hand Satans, um schließlich die falschen Götter an die Stelle Christi zu setzen. Josia zerstörte die Höhen gänzlich mit all ihrem Götzendienst in Juda und Israel (2. Kön. 23, 8).

*) Das alles kommt später wieder zum Vorschein in den Sprüchen, den Unterweisungen der Weisheit des Königs. Siehe zum Beispiel Spr. 3, 7; 4, 7 usw.

*) Wahrscheinlich war dieser Asarja der Sohn des Achimaaz und der Enkel Zadoks. Der Ausdruck „Sohn" für einen Nachkommen findet sich immer wieder In den jüdischen Geschlechtsverzeichnissen. Die etwas unklare Stelle in 1. Chron. 6, 9 und 10 könnte den Gedanken erwecken, als ob das Priestertum Asarja, dem Urenkel des Achimaaz, übertragen worden sei. eine andere Person.

*) Die Kritiker machen, augenscheinlich ohne Grund, aus diesem Achimaaz

*) Wir finden dieselben Gefühle in dem Gebet Moses, im 90. Psalm, ausgedrückt, Vers 16 wegen der Sünde, Vers 712 wegen der Übertretung des Gesetzes, jedoch nicht ohne Hoffnung.

*) Wir sagen "endgültig", weil die erste Bedingung für das Wohnen Gottes bei Seinem Volke die Erlösung ist, vorbildlich dargestellt durch das Passah und das Rote Meer.

*) Die Gibliter werden in Josua 13, 5 erwähnt in Verbindung mit dem Libanon und als noch nicht von Israel unterworfen, Gebal, ein Seehafen am Fuße der nördlichen Abhänge des Libanon (vergl. Hesekiel 27, 9), war wahr­scheinlich ihre Stadt. In dieser glorreichen Regierungszeit Salomos waren sie tributpflichtig, da sie zu dem unterworfenen Geschlecht Kanaans gehörten.

*) Noch manche andere, ins einzelne gehende Betrachtungen werden sich uns im Laufe dieses und des folgenden Kapitels von selbst darbieten.

*) Die folgenden Seiten werden daher notwendigerweise eine beständige Vermengung des jüdischen und christlichen Elements darstellen.

*) Wörtl.: aus vollständigen Steinen des Steinbruchs, das heißt aus Steinen, die im Bruch gleich fertig zugerichtet wurden. (Anmerkung des Übersetzers.)

*) Das Haus selbst war dreißig Ellen hoch (V. 2). Es ist eine bemerkens­werte Tatsache, dass der von Hesekiel beschriebene Tempel des Tausendjährigen Reiches trotz der ungeheuren Ausdehnung seines äußeren und inneren Vorhofs und der äußeren Maße des Gebäudes, welches mit seinen Zimmern eine Länge und Breite von hundert Ellen erreichen wird (Hesekiel 41, 13 und 14), in Bezug auf das Heilige und das Allerheiligste die Maße des Tempels Salomos nicht überschreiten wird. Das sind unveränder­liche Maße. Was von Anfang an im Plane Gottes lag, das muss sich ohne Änderung und Entwicklung im Zeitalter der Herrlichkeit Christi verwirklichen. Die Maße des Ganzen können sich der zukünftigen Größe dieser Herrschaft anpassen; aber das Heiligtum bleibt dasselbe.

*) Wir werden bei der Betrachtung der Ausschmückung des Tempels und des Vorhofs auf diese Merkmale zurückkommen.

*) Der Ausdruck Fenster gegen Fenster dreimal" (V. 5) kann, wie uns scheint, kaum anders verstanden werden. Diese Zimmer enthielten die goldenen Schilde, die Salomo für seine Leibgarde hatte machen lassen; denn das Haus des Waldes Libanon diente zugleich als Zeughaus (Kap. 10, 16. 17; 14, 26-28; Jes. 22, 8).

**) Der Ausdruck „Säulenhalle" lässt vermuten, dass die seitlichen Zimmer sich nicht über die Hälfte der Länge des Gebäudes hinaus erstreckten und keinen Blick auf die Thronhalle gewährten.

*) Dennoch ist sie weit inniger als die mit den Völkern, welche jenseits der Grenzen des Reiches wohnen. Unter den Nationen gibt es verschiedene Klassen. Unter der Regierung Salomos wurden diejenigen, welche von den Kanaanitern übriggeblieben waren, als Fronarbeiter verwandt (2. Chron. 2,17. 18; 8, 79). Andere Nationen, wie Tyrus, halfen freiwillig an diesem Werke mit. Ägypten und Assyrien, die ehemaligen Unterdrücker Israels, werden sich im Tausendjährigen Reich Jehova zuwenden und Ihm gemeinschaftlich dienen. "An jenem Tage wird Israel das dritte sein mit Ägypten und mit Assyrien, ein Segen inmitten der Erde; denn Jehova der Heerscharen segnet es und spricht: Gesegnet sei mein Volk Ägypten, und Assyrien, meiner Hände Werk, und Israel, mein Erbteil!" (Jes. 19, 24. 25).

*) Mit Ausnahme der Adler. Wir haben schon weiter oben gesagt, dass die Schnelligkeit der Gerichte nichts zu tun haben kann mit einer Herrschaft der Gerechtigkeit und des Friedens.

**) Die Cherubim haben hier einfach menschliche Gestalt wie auf den Wänden des Tempels. In Hesek. 41, 19 haben sie zwei Angesichter, das eines Löwen und das eines Menschen: Macht und Einsicht welche allein die endgültig errichtete Herrschaft Christi kennzeichnen werden. In Hesek. 1 besitzen die vier lebendigen Wesen je vier Angesichter, denn dort handelt es sich darum, den Thron Gottes Im Gericht darzustellen.

*) In unserem Buche tragen die Wände außerdem noch aufbrechende Blumen, vielleicht weil die volle Entfaltung der Herrschaft noch nicht da war. Diese aufbrechenden Blumen fehlen in 2. Chron. 3, 57.

*) Beachten wir jedoch, dass wir hiermit eigentlich die Unterweisung des 1. Buches der Könige verlassen und in diejenige des 2. Buches der Chronika eintreten. Tatsächlich läßt unser Kapitel die Worte: "Stehe auf, Jehova, Gott, zu deiner Ruhe, du und die Lade deiner Stärke!" weg; und ebenso fehlt hier der Gesang, der im Tausendjährigen Reiche gehört werden wird: "Preiset Jehova, denn er ist gut, denn seine Güte währt ewiglich" (Vergl. 2. Chron. 6, 41; 7, 3. 6). Auch wird der achte Tag nur erwähnt, um uns zu sagen, dass an diesem Tage Salomo das Volk nach Hause entließ (i. Kön. 8, 66), während das 2. Buch der Chronika von der Festversammlung am achten Tage nach der ersten Woche der ,Einweihung des Altars und von der zweiten Festwoche redet (2. Chron. 7, 810). Alles dieses zeigt uns deutlich den verschiedenen Zweck Gottes in den beiden Erzählungen. Das Fest im 1. Buche der Könige ist notwendigerweise unvollständig, weil der verantwortliche König im Vordergrund steht; dasjenige im 2.Buch der Chronika ist vollständig, weil dieses Buch uns den König nach den Ratschlüssen Gottes darstellt, folglich als ein weit vollkommeneres Vorbild von Christo. Die Ruhe im 1. Buche der Könige ist mehr das Ende eines ,Zeitabschnittes in der Geschichte des verantwortlichen Königs. Gott zeigt, dass Er, nachdem die Zeit der Gnade unter David vollendet war, unter Salomo end­gültig ruhen konnte, freilich unter der einen Bedingung, dass der König treu war.

*) Wir vergleichen absichtlich nicht die Schilderung im 2. Buche der Chronika mit der hier vorliegenden. Es ist besser, die Tatsachen gerade an der Stelle reden zu lassen, wo Gott sie niederschreibt. Würde man anders handeln, so käme man in Gefahr, Grundsätze zu vermengen, die unterschieden bleiben sollen, und einen Teil des Segens zu verlieren, den Gott mit jedem Buche Seines Wortes verknüpft hat. So werden wir uns, mit Ausnahme der bereits berührten Einzelheiten, enthalten, hier das zu besprechen, was Gott uns nicht in den Büchern der Könige gegeben hat.

*) Siehe über Iddo auch 2. Chron. 12, 15; 13, 22.

*) Der Name Ben-Hadad Ist vielleicht der religiöse Titel der Könige von Syrien: "Sohn Hadads" oder "Verehrer Hadads". Der Sohn Hasaels nennt sich auch Ben-Hadad (2. Kön. 13, 3. 25).

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Gedanke

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 122

Man wird niemals einen Christen in einem gesunden geistlichen Zustande finden, der nicht seinen Leib

als ein lebendiges, heiliges Schlachtopfer Gott darstellt. (Vergl. Röm. 12, 1. 2.)

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Folge mir nach

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 123ff

„Wer sein Leben liebt, wird es verlieren; und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es zum ewigen Leben bewahren. Wenn mir jemand dient, so folge er mir nach; und wo ich bin, da wird auch mein Diener sein. Wenn mir jemand dient, so wird der Vater ihn ehren“ (Joh. 12, 25. 26).

Das sind ernste, beachtenswerte Worte. Der Herr Jesus selbst hat sie angesichts Seines nahen Todes in dieser Welt gesprochen. Leider aber werden sie nur von wenigen Menschen wirklich beherzigt· Der Mensch liebt sein Leben, welches er von Adam ererbt hat, trotzdem es durch die Sünde verderbt und infolge dessen dem Tod und dem Gericht Gottes verfallen ist; und er ist bemüht, es sich so angenehm wie möglich zu gestalten in einer Welt, die verderbt ist und unter dem Fluche liegt. Kain ging einst weg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, d. i. Flucht (1 Mose 4, 16), und weder er noch seine Nachkommen sind je wieder in Gottes heilige Gegenwart zurückgekehrt. Mag auch das Gewissen zeitweilig seine warnende Stimme erheben und der Mensch auf mannigfache Weise daran erinnert werden, dass es ihm „gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht“ (Hebr. 9, 27), so sucht er doch, indem er sich in den Strudel der Vergnügungen stürzt, oder in die Beschäftigungen dieses Lebens verwickelt, den unliebsamen Gast zum Schweigen zu bringen. Er ist von Gott entfremdet und liebt ein Leben ohne Gott und ohne Hoffnung.

Er will auch nicht hören, was das untrügliche Wort Gottes über das menschliche Leben in dieser Welt sagt. Es erklärt es für einen „Dampf, der eine kleine Zeit sichtbar ist und dann verschwindet“ (Jak. 4, 14.) „Schnell eilt es vorüber«, sagt Mose ,,und wir fliegen dahin“ (Ps. 90,10). Oft geht es gar plötzlich, erschreckend schnell zu Ende. Es ist durch die Sünde dem Tode unterworfen. Der Tod ist der Sünde Sold. Aber mit dem Tode ist es nicht aus. Der Mensch hat von Gott einen „Odem des Lebens« empfangen; so ist er zu einer lebendigen Seele geworden. (1. Mose 2, 7.) Der Leib mag ins Grab sinken und der Verwesung anheimfallen, die Seele ist unsterblich, und Gott wird die ihrer Hülle beraubte wieder mit einem Leibe bekleiden. Das ist wahr von allen Menschen; dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied: Die, welche ihr Leben in dieser Welt gehasst, d. h. als böse erkannt und verurteilt haben und zu Jesu, dem Heilande, gekommen sind, der für solche das Gericht erduldet hat, — werden aus den Gräbern hervorkommen zur Auferstehung des Lebens, und einen Leib empfangen, der dem Leibe des verherrlichten ·Menschensohnes gleichgestaltet ist. 

Die aber, welche ihr Leben geliebt haben, - werden hervorkommen zur Auferstehung des Gerichts. Sie werden vor dem großen weißen Thron stehen, und dort gerichtet werden nach ihren Werken, nach dem was in den göttlichen Gerichtsbüchern geschrieben ist. Vergeblich werden ihre Namen in dem Buche des Lebens gesucht werden. „Und wenn jemand nicht geschrieben gefunden wurde in dem Buche des Lebens, so wurde er in den Feuersee geworfen“ (Lies Offbg. 20, 11 - 15.) Furchtbares Los! Diese Unseligen empfangen einen Leib, der die endlosen Qualen der Hölle ertragen kann, ohne verzehrt zu werden.

Lieber unbekehrter Leser! Ich möchte dich bitten, angesichts dieser ernsten Tatsache endlich einmal stille zu stehen. Musst du nicht selbst bekennen, dass es nichts Schrecklicheres geben kann, als für immer und ewig verloren zu gehen? O lass mich dich fragen: Hast du jemals dein Leben in dieser Welt im Lichte des Wortes Gottes betrachtet und als böse erkannt? Wenn es so ist, warum hast du dich dann nicht in Aufrichtigkeit zu Dem gewandt, der einst für Sünder gerichtet wurde, damit sie nie ins Gericht kämen? Warum gehst du noch einen Augenblick länger so voran? Ach! es gibt so viele, die sich im Kreise und in den Häusern von Gläubigen befinden, wo das Wort Gottes täglich gelesen wird, die anscheinend gänzlich unberührt davon bleiben. Männer, Frauen, Kinder, Dienstboten 2c. scharen sich regelmäßig um dieses Wort; aber man hat sich so daran gewöhnt, die ernsten Wahrheiten anzuhören, dass sie kaum noch Eindruck auf Herz und Gewissen machen. Man betrachtet sie gleichgültig, als wenn sie einen gar nichts angingen. Die Herzen sind sorglos, die Gewissen abgestumpft und verhärtet.

Wie unsagbar schrecklich muss es für alle solche sein, wenn sie auf ihrem Wege beharren und dereinst ihr unumstößliches Urteil vernehmen: ,,Weichet von mir! Ich kenne euch nicht!“ Welche Feder vermöchte die Schrecken eines solchen Endes zu schildern? Ach! wenn diese Zeilen der einen oder anderen Seele zum Heil dienen möchten, dass sie aus ihrem Sündenschlaf aufwachte und sich zum Herrn bekehrte, welche Freude würde es sein für alle Ewigkeit! Ist doch jetzt schon Freude im Himmel über einen Sünder, der Buße tut.

Und du, liebe gläubige Seele, die du im Lichte des Wortes Gottes, durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, erkannt hast, dass du nicht nur Böses getan hast, sondern auch nach Geist, Seele und Leib durch die Sünde verderbt, zu allem Guten untauglich und deshalb hassenswürdig warst — welch eine wunderbare Gnade ist dir zu teil geworden! Alle deine Sünden sind dir vergeben, und Gott versichert dir in Seinem Worte, dass Er ihrer nie mehr gedenken will. (Hebr. 10, 17.) Ja, nicht nur das; du selbst bist, dem alten Menschen nach, vor Gott hinweggetan, bist jetzt in Christo eine neue Schöpfung geworden, das Alte ist vergangen, alles ist neu geworden. (Siehe Gal. 2, 20; 2. Kor. 5, 17.)

Und wie hat diese wunderbare Veränderung stattgefunden? Du weißt es wohl, liebe Seele, aber vergiss es nie: Christus, der Sohn Gottes, hat das Gericht für dich erduldet! Er ist in den Tod hinabgestiegen, damit du, der feindselige, verlorene Sünder, in Ewigkeit einen Platz am Herzen und im Hause Gottes haben solltest. Welch eine Liebe hat Er in dieser Seiner Hingabe für dich geoffenbart! Wer sie im Glauben erfasst und mit dem Herzen verwirklicht, kann nur mit den innigsten Gefühlen des Lobes und der Anbetung zu Dem emporblicken, »der Gottlose und Sünder so unaussprechlich geliebt hat.

Durch seinen Ungehorsam ist der Mensch in die Sklaverei Satans gekommen, und keine Macht des Himmels und der Erde vermochte ihn von dieser schrecklichen Gewalt zu befreien. Nur der Tod eines gerechten und heiligen Stellvertreters konnte ihm Hülfe und Befreiung bringen; und siehe da, „Christus hat durch Seinen Tod den zunichte gemacht, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreit, welche durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen waren«. (Hebr. 2, 14. 15.) Auf diese Weise ist der Gläubige von der teuflischen Macht Satans befreit worden und ein Eigentum des Herrn geworden. Um einen teuren« Preis erkauft, ist er jetzt fähig gemacht und berufen, seinem neuen Herrn zu dienen; und zwar nicht in knechtischer, gesetzlicher Furcht, sondern in Liebe. Es geziemt sich für ihn, ja, es ist sein kostbares Vorrecht, einem solch gnädigen und liebevollen Herrn sein Leben zu weihen. Er gehört nicht mehr sich selbst an, noch hat er ein Recht, irgend etwas nach seinem eigenen Willen zu tun. Er ist ein Leibeigener Christi.

Mein lieber gläubiger Leser! Ich bin überzeugt, dass du in diesem Punkte mit mir eines Sinnes bist und aufrichtig wünschest, das zu tun, was deinem teuren Herrn gefällt. Wenn wir denn fragen: Herr, was erwartest du von uns? so finden wir in der unserer Betrachtung voranstehenden Schriftstelle eine deutliche Antwort. Dort heißt es: „Wenn mir jemand dient, so folge er mir nach“; das will sagen: er trete in meine Fußstapfen, er wandle, wie ich hienieden gewandelt habe. Um das aber zu können, müssen wir zunächst den Wandel des vollkommenen Dieners selbst anschauen.

In dem Verhalten Jesu zeigte sich nie etwas, das mit Seinen Worten nicht in völliger Übereinstimmung gewesen wäre. Wenn die Juden Ihn fragten: „Wer bist du?“, so konnte Er antworten: „Durchaus das, was ich auch zu euch rede“ (Joh. 8, 25.) Er ging als ein himmlischer Fremdling durch diese Welt. Er tadelte weder ihre Einrichtungen, noch wünschte Er sie zu verbessern; Er suchte weder ihre Anerkennung, noch fürchtete Er ihren Spott. Wenn Satan Ihm die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit anbot, so schlug Er dies Anerbieten aus, und wenn die Menge Ihn zum König machen wollte, so entwich Er auf den Berg. Wollten Seine Brüder Ihn veranlassen, sich der Welt zu zeigen, so sagte Er ihnen, dass Seine Zeit noch nicht erfüllt sei. Von den Schätzen dieser Welt besaß Er so wenig, dass Er bei einer Gelegenheit sich eine Zinsmünze zeigen lassen, und bei einer anderen Seinen Jünger an den See senden· musste, damit ein Fisch Ihm heraufbringe, was Er zur Zahlung der Tempelsteuer für sich und Petrus bedurfte. 

Wiewohl Er nach Seiner göttlichen Macht über alle Schätze des Weltalls verfügen konnte, war Er doch ärmer als die Tiere der Erde und die Vögel des Himmels. Er suchte nie Sein Recht, wenn Ihm auch das größte Unrecht angetan wurde. Nie widerstand Er Seinen Feinden, wiewohl Er sie alle mit dem Hauche Seines Mundes vertilgen konnte. »Gescholten, schalt Er nicht wieder, leidend drohte Er nicht, sondern übergab sich Dem, der recht richtet« (1. Petr. 2, 23.) Seinem Gott und Vater gegenüber brachte Er das vollkommen zur Darstellung, was sich für einen treuen Diener geziemt: nichts nach eigenem Willen zu tun, sondern in einfältigem Gehorsam den Willen dessen zu vollbringen, dem er dient. Das war selbst dann der Fall, wenn dieser Wille Ihn an das Kreuz gehen hieß. (Siehe Joh. 6, 38; Luk. 22, 42; Phil. 2, 8.)

So also war in kurzen Zügen das Leben unseres anbetungswürdigen Herrn hienieden. Wenn wir Ihn nun als den himmlischen Fremdling betrachten und uns daran erinnern, dass wir berufen sind, Ihm nachzufolgen (denn wir sind nicht Von der Welt, gleichwie Er nicht von der Welt ist), so entsteht von selbst die Frage: Entsprechen wir dieser Berufung in unserem Wandel und Zeugnis? Einst mussten selbst die Feinde bezüglich der Jünger bekennen, dass sie mit Jesu gewesen waren. (Apstgsch. 4, 13.) Wie ist es in unseren Tagen? Gibt es nicht viel Ursache, uns über unsere Oberflächlichkeit und Weltförmigkeit zu demütigen? Die Älteren untere uns wissen sich wohl zu erinnern, dass es eine Zeit gab, wo das Getrenntsein von der Welt, sowohl in religiöser als auch in sittlicher Beziehung, mehr verwirklicht wurde, indem die nahe Ankunft des Herrn mehr die Herzen belebte, wenngleich die Erkenntnis über manche Wahrheiten geringer sein mochte als heute. Da bedürfen wir sicherlich auch der Ermahnung, welche einst den gläubigen Hebräern zu teil wurde: „Gedenket der vorigen Tage“ (Hebr. 10, 32).

Lasst uns ferner bedenken, dass der Herr wandelt inmitten der sieben goldenen Leuchter, d. h. der Gemeinden oder Versammlungen aus dieser Erde; und dass Seinem alles erforschenden Auge nichts entgeht, was da in den Versammlungen oder bei den einzelnen Gläubigen sich findet. Wie schmerzlich musste es für Ihn sein, wenn Er zu der Versammlung in Ephesus, die einst so treu dagestanden hatte, sagen musste: „Ich habe wider dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast“! Wohl waren Werke, Arbeit und Ausharren noch vorhanden, wie solches auch bei uns der Fall sein mag; aber das befriedigte Ihn nicht. Sein Auge blickte tiefer und entdeckte eine Abnahme der Liebe zu Ihm. Er war nicht mehr der einzige Gegenstand ihrer Herzen. Ihre Liebe war nicht mehr ungeteilt, obwohl Seine Liebe sich nicht verändert hatte, sondern in derselben Glut für sie brannte, wie einst aus Golgatha, als Er für sie starb.

Wir ersehen daraus, dass nur eine innige, aufrichtige Liebe zu Ihm Sein Herz befriedigen kann. Zugleich ist eine solche Liebe der einzig richtige Beweggrund zu einem Wandel und einer Gesinnung, wie sie Ihm wohlgefällig sind· Und wie wird diese Liebe in uns bewirkt? Nur durch das Anschauen Seiner unvergleichlichen Liebe, durch die Beschäftigung mit Ihm in stiller, verborgener Herzensgemeinschaft. In uns von Natur ist keine Liebe, nur das Gegenteil. Deshalb ist der Herr unermüdlich beschäftigt, uns an Seine Liebe zu erinnern. Das geschieht ganz besonders, wenn Er Seine Geliebten an jedem ersten Wochentage um sich selbst versammelt, um ihnen durch die sichtbaren Zeichen, Brot und Wein, immer wieder vorzustellen, wie Er diese Seine Liebe am Kreuze so wunderbar betätigt hat.

Freilich ist das nicht der erste oder eigentliche Zweck des Zusammenkommens am Tage des Herrn; aber auch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist der Tisch des Herrn von großer Bedeutung. Er ist gleichsam der Ausgangspunkt, von welchem aus jeder von uns an den Platz geht, den der Herr ihm angewiesen hat. Deshalb haben wir besonders nötig, darüber zu wachen, dass die Eindrücke, welche wir in der Gegenwart des Herrn empfangen haben, nicht so rasch wieder verwischt werden und das Herz sich so bald mit anderen Dingen füllt. Wenn letzteres der Fall ist, haben wir keine Kraft, in der vor uns liegenden Woche Ihm wohlgefällig zu dienen. Wie leicht kann es sein, dass schon auf dem Heimwege Unterhaltungen über das Geschäft oder andere ungeziemende Dinge angeknüpft werden! Beweist das nicht, wie wenig die von neuem uns vorgestellte Liebe des Herrn die Herzen berührt hat? Ach! es kommt vor, dass schon während des Brotbrechens wertlose Dinge uns zerstreuen. Solche Erscheinungen sind sehr traurig und erfordern ein aufrichtiges Selbstgericht, wenn wir uns nicht der Gefahr aussetzen wollen, noch weiter vom Herrn abzukommen. Ein solch oberflächlicher Zustand ist überaus gefährlich.

Eine treue, entschiedene Nachfolge des Herrn ist ohne beständige Selbstverleugnung undenkbar; denn ein solcher Weg ist dem Fleische nicht angenehm; es findet auf demselben keine Befriedigung. Um ihn gehen zu können, bedürfen wir einer praktischen Verwirklichung unseres Gestorbenseins mit Christo. Los von uns selbst und von allem Sichtbaren, beseelt von dem aufrichtigen Wunsche, nur dem Herrn zu leben — das ist der geeignete Herzenszustand, um den Weg Jesu nach gehen zu können. Diesen Weg vermag der natürliche Mensch nicht zu gehen; aber der Gläubige vermag es in der Kraft des Heiligen Geistes, und für ihn ist es ein glückseliger, wenn auch verleugnungsvoller Pfad.

Und wo ist das Ende und das Ziel dieses Weges? Der Herr selbst hat es gesagt: „Wo ich bin, da wird auch mein Diener sein“. Das ist in einem Sinne heute schon wahr, aber in vollem Maße erst, wenn der Glaubensweg vollendet ist. „Wo ich bin!“ Welch ein herrlicher Platz! Der Herr ist selbst den mühevollen Pfad durch diese Welt gegangen und hat die Unbilden desselben in einer Weise erfahren, wie sonst niemand sie erfahren kann; aber als „der Anfänger und Vollender des Glaubens« hat Er für die vor Ihm liegende Freude das Kreuz erduldet, und nun sitzt Er zur Rechten des Thrones Gottes (Siehe Hebr. 12, 2) Dieser Platz, kommt selbstverständlich Ihm allein zu; aber Er verheißt dem treuen Diener, dass er da sein soll, wo Er selbst ist.

Wahrlich, das ist ein herrliches Ziel für den begnadigten Sünder. Dieses Ziel hatte Paulus allezeit im Auge. Es gab ihm Mut, mit ungeteiltem Herzen rund ohne Wanken voranzugehen, wie er auch sagt: „Eines aber tue ich: Vergessend was dahinten, und mich ausstreckend nach dem was vorne ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christo Jesu“ (Phil. 3, 14.) Er ist ein gesegnetes Vorbild für uns. Aus allen seinen Worten leuchtet das Glück hervor, welches sein Herz in der treuen Nachfolge seines geliebten Herrn schon hier genoss. Könnten wir hienieden Besseres begehren, als seine Nachahmer zu sein? O teurer Herr! bewirke es durch Deine Gnade in den Herzen Deiner Geliebten, zum Preise Deines Namens!

Dem treuen Diener wird außerdem noch eine besondere, höchst ermunternde Zusage gemacht; sie lautet: „Wenn mir jemand dient, so wird der Vater ihn ehren“. Ja, der Vater im Himmel findet Wohlgefallen daran, wenn wir Seinem geliebten, von der Welt verworfenen Sohne dienen. Mag auch die Welt uns verhöhnen und verachten, wie sie Ihn verhöhnt und verachtet hat, der Vater will solche ehren, die Ihm dienen, schon in dieser Zeit und bald in unvergänglicher Herrlichkeit droben.

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Die Gefangenen in Babylon

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 133ff

Die Zeit der Gefangenschaft des Volkes musste indessen auch einen Abschluss finden. Der Stab des Stammes Juda konnte nicht zerbrochen werden, bis dass Schilo kam. (Vergl. 1. Mose 49.) Zur Erfüllung dieser Verheißung, die in verschiedenartiger Form immer wieder von den Propheten ausgesprochen wurde, musste Juda aus der Gefangenschaft nach Hause zurückkehren, um dort, wenn es anders wollte, den verheißenen Messias zu empfangen — Ihn, dessen Herrlichkeit Sein Volk, wie wir soeben bei Hesekiel gesehen, mit solchem Zögern und Widerstreben verlassen hatte.

Eine Rückkehr wird deswegen ins Werk gesetzt. Sie wird durch mancherlei Früchte jener heilsamen Übung gekennzeichnet, die, wie ich bereits bemerkt habe, den Gefangenen ihren Charakter verlieh. Von der Herrlichkeit, welche dem einstigen Auszuge Israels aus dem Lande der Pharaonen ihr Gepräge aufdrückte, war jetzt freilich nichts zu sehen. In dieser Hinsicht stand der Auszug aus Babylon weit unter dem Auszug aus Ägypten. Es gab jetzt keinen Stab der Macht, der seine Wunder tat; keine geheimnisvolle Wolkensäule zog vor dem Volke her; kein Mittler, der in innigem Verkehr mit dem Herrn gestanden hätte, legte Fürsprache für das Volk ein; keine Hülfe floss aus den himmlischen Kornkammern herab. Aber Glaubensenergie zeigte sich auf der Reise, und Herzen erwachten zum Bewusstsein der Gegenwart Gottes, zur Erkenntnis Seiner Gedanken, Seines Willens, Seiner Herrlichkeit und Seiner Genugsamkeit für alle Bedürfnisse.

Diese Rückkehr war indessen keine allgemeine, noch wurde sie zur gleichen Zeit in Ausführung gebracht; auch blieb neben den zurückgekehrten Gefangenen die Zerstreuung immer noch bestehen. Die Bücher der Gefangenen, wenn wir sie so nennen dürfen: Esra, Nehemia und Esther, berichten uns ein wenig von der Geschichte aller Beteiligten. Mordokai blieb in der Zerstreuung; und von denen, welche zurückkehrten, kamen einige, wie Serubbabel und seine Begleiter, zu einem früheren Zeitpunkt an, andere, wie Esra, später; als letzter folgte Nehemia.

Doch ich möchte fragen: Wer gab den Gefangenen in Babylon die Vollmacht, eine solche Rückkehr ins Werk zu setzen? Man wird mit Recht antworten: Gott hatte es so durch den Mund Seines Knechtes Jeremia bestimmt vorhergesagt. Er hatte erklärt, dass die Gefangenschaft nach siebzigjähriger Dauer enden sollte (Jer. 25, 11. 12; 29, 10). Demgemäß flehte auch Daniel, der die ganze Zeit der Gefangenschaft hindurch lebte, aber nie nach Jerusalem zurückkehrte, als der Zeitpunkt herannahte, um diese verheißene Gnade. (Dan. 9, 1. 2 ff.) Der eigentliche Ursprung der Rückkehr der Gefangenen liegt also in den unumschränkten Ratschlüssen Gottes. Aus ihnen ging sie hervor. Immerhin aber gab es noch eine unmittelbarere, wenn auch erst in zweiter Linie kommende Ermächtigung für den Überrest. Den unmittelbaren Anstoß gab die Verordnung des Perserkönigs Cyrus, die derselbe sogleich im ersten Jahre seiner Regierung einließ, oder mit anderen Worten: sobald Gott das Schwert aus der Hand des Chaldäers in die seinige gelegt hatte.

Babylon hatte das Volk in Gefangenschaft geführt, aber ihm wurde nicht die Ehre zu teil, Israels Befreier zu werden. Diese Ehre hatte Gott für einen anderen bestimmt, für einen Mann, dessen Name ebenso deutlich durch die Propheten Gottes genannt worden war, wie sie die siebzigjährige Dauer der Gefangenschaft angekündigt hatten.

Cyrus wird in Jesaja 44 und 45 erwähnt; er wird dort mit seinem wirklichen Namen genannt, und das zwei- bis dreihundert Jahre vor seiner Geburt· Auch wird er schon als der bezeichnet, welcher den Tempel zu Jerusalem wieder aufbauen sollte. Ob er von dieser erstaunlichen Tatsache durch einige der Gefangenen gehört hat, wissen wir natürlich nicht; unmöglich aber ist es nicht. Wenn es der Fall war, so ist sein Geist ohne Zweifel dadurch aufgerüttelt worden. Es war mehr als genug, um ihn zu jenem großen und edlen Werke zu veranlassen, mit dessen Bericht die Bücher der Chronika schließen und das Buch Esra beginnt.*)

Was nun weiter dieses große Ereignis und die damalige Zeit überhaupt angeht, so begannen, wie der Herr selbst sagt, die Zeiten der Nationen mit der Babylonischen Gefangenschaft; die Nationen gewannen damals die Oberhand, ein Weltreich folgte aufs andere. Und diese Zeiten der Nationen dauern immer noch fort. Die Rückkehr aus Babylon hat in Bezug hierauf nichts geändert; sie ließ die heidnische Obergewalt unberührt. Diese Zeiten werden erst ihr Ende nehmen mit dem Gericht des Tieres und seiner Verbündeten (Offbg. 19), wenn der Stein, der sich ohne Hände loslöst, das Bild Nebukadnezars -zerschmettern wird. (Dan. 2.)

Was Israel betrifft, so können wir weiter sagen, dass diese Gefangenschaft eine Reformation unter ihnen bewirkt hat. Von jener Zeit an bis heute ist „der unreine Geist“, wie der Herr wiederum selbst sagt, „ausgefahren“. Götzendienst ist seitdem nicht mehr von ihnen getrieben worden; aber obwohl das jüdische Haus in dieser Hinsicht leer und gekehrt ist, so ist es doch nicht mit seinem wahren Schmuck versehen. **) Der Messias ist verworfen worden, und Israel ist, dem Grundsatz, nach, wieder nach Babylon zurückgekehrt. Dort wird es bleiben bis zum Tage der Erlösung und der Ausrichtung des Reiches der Gnade und Macht des Herrn Jesu.

Fußnote:

*) Es wird erzählt, dass Alexander dem Großen die ihn betreffende Weissagung Daniels gezeigt worden sei. So mag auch Cyrus in ähnlicher Weise auf die Prophezeiung des Jesaja aufmerksam gemacht worden sein.

**) Später wird der unreine Geist zurückkehren und, indem er sieben andere Geister, böser als er selbst, mit sich bringt, den Abfall der Juden vollenden und sie wieder dem Gericht in die Arme treiben.

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Rahab

Bibelstelle: Josua 2

Botschafter des Heils 1908 S. 137ff

Welch ein Beispiel von der Langmut Gottes, die für Errettung zu achten ist (2. Petr. 3, 15), liefert uns die Geschichte Rahabs! Das Heerlager Israels hatte seine Reise vollendet. Im Beginn derselben war ihnen eine Menge Mischvolk aus Ägypten gefolgt. Bald nachher hatte sich ihnen Hobab, der Midianiter, angeschlossen, und nun, am Ende der Reise, als die bestimmte Zeit von vierzig Jahren vorüber ist, und das Volk Jehovas noch eine Weile an den Grenzen des Landes verzieht, schließt sich ihnen diese Hure von Jericho an.

Diese Tatsache ist bedeutungsvoll. Der Einzug Israels in das Land Kanaan bedeutete das Gericht seiner Bewohner. Doch der Vollzug des Gerichts wurde noch ein wenig hinausgeschoben. Warum? War der Herr langsam in der Erfüllung der Verheißung, die Er bezüglich des Besitzes des Landes einst den Patriarchen gegeben hatte? Nein; sondern diese Langmut war Errettung. Gott verzog den Tag der Heimsuchung der Völker Kanaans, um gleichsam Seine Auserwählten zur Buße zu rufen.

Die 120 Jahre, welche die Predigt Noahs währte, war eine ähnliche Zeit des Verziehens oder des langmütigen Wartens Gottes. Josua scheint zwar nicht in dieses Geheimnis der Gnade Gottes eingeweiht gewesen zu sein, ebenso wenig wie Petrus in späteren Tagen das Geheimnis der göttlichen Gnade den Heiden gegenüber verstand, oder wie Paulus an diese Gnade im Blick auf Europa dachte. (Vergl. Apstgsch. 10 u. 16.) Josua sendet die beiden Männer aus, um das Land auszukundschaften; ein Gedanke an Gnade scheint nicht in seinem Herzen gewesen zu sein. Aber die Gnade Gottes wirkte damals und wirkt heute in einer für Sein eigenes Volk ganz unerwarteten Weise. Sie ging zu den Heiden, ehe Petrus es tat, sie wanderte nach Macedonien, ehe Paulus seine Reise dahin antrat, und sie überschritt den Jordan vor Josua.

Doch weiter. Wenn Josua nicht in dem Geheimnis der Gnade Gottes stand, so konnten auch die Kundschafter keinen dahingehenden Auftrag Von ihm erhalten. Dennoch erscheinen sie für den Dienst der Gnade vorbereitet. Ohne einen Austrag oder Verhaltungsmaßregeln empfangen zu haben, handeln sie nach Gottes Gedanken, und zwar ohne sich einen Augenblick zu besinnen, ob sie auch recht tun. Vertrauen und Bestimmtheit kennzeichnen ihr Tun. Das ist überaus« kostbar. Obwohl sie von ihrem Anführer kein Wort über solche Dinge vernommen haben, verbürgen sie der Rahab eine völlige Errettung und machen die Sicherheit dieses kanaanitischen Weibes gerade so vollkommen und unantastbar wie die eines Israeliten im Lager, ja, wie ihre eigene. Gott selbst gab ihnen ein Recht, so zu handeln, trotzdem sie von Josua keinen Auftrag empfangen hatten; denn lieblich sind in Seinen Augen die Füße derer, welche das Evangelium des Friedens verkündigen (Röm. 10, 15), selbst in einem so verderbten und verunreinigten Lande wie Kanaan.

Welch ein Trost liegt darin im Blick auf das Evangelium, welch eine Ermunterung für jeden Boten des Friedens! — Aber mehr noch. Einige Tage später sollten die Kundschafter das Land in einem ganz anderen Charakter betreten. Jetzt zogen sie auf Gefahr ihres Lebens umher; in einigen Tagen würden sie wiederkehren unter der Leitung der Bundeslade und in Gemeinschaft mit der Herrlichkeit Jehovas. Jetzt kamen sie als Zeugen und Kanäle des Segens zu einer armen Sünderin in der Stadt; bald würden sie das Gericht des Herrn ausführen und die Beute des Landes mit den Ihrigen teilen. Jetzt waren sie in Schwachheit und Gefahr, dankbar für einen Haufen Flachsstengel, der sie vor den Augen ihrer Verfolger verbarg; bald sollten sie als Sieger in Ehre und Macht an derselben Stelle stehen.

Ist das alles nicht wunderbar? Ist es nicht tröstlich und ermunternd? Und wenn wir an Rahab denken, wie steht es mit ihr? Mag die Herrlichkeit des Herrn in das Land einziehen und das Schwert des Gerichts sein ernstes Werk tun, sie ist geborgen. Sie hat das Wort der Kundschafter hinsichtlich der Karmesinschnur im Glauben aufgenommen und hat ihnen in der Zeit ihrer Schwachheit und Erniedrigung Treue bewiesen.

Das ist sehr beachtenswert. Rahab hatte die Sache der Kundschafter nicht verraten, und nun ist sie so sicher wie diese; d. h. sie war ihnen treu gewesen in der Stunde ihrer Schwachheit und Gefahr, und nun, am Tage ihrer Kraft und ihres Sieges, wenn alles sich verändert hat, ist sie ihnen gleich: ihr Sieg ist Rahabs Sieg, ihre Sicherheit Rahabs Sicherheit und ihr Erbe Rahabs Erbe.

„Unsere Seele soll an eurer Statt sterben«, hatten die Kundschafter gesagt, »wenn ihr diese unsere Sache nicht verratet“ (V. 14). Wie eindrucksvoll tritt uns in diesen Worten der große Grundsatz, des Evangeliums entgegen! Denn durch das was die Kundschafter sagten, wurde Glaube gefordert, gerade so wie für die Erniedrigung, die Schwachheit und das Leiden Christi Glaube erforderlich ist. Nur der Glaube versteht dieses kostbare Geheimnis des Evangeliums. Nur der Glaube hält sich zu Jesu in der Stunde Seiner Kreuzigung und »Verwerfung. Der gekreuzigte Christus ist das Geheimnis des Glaubens. Das Preisgeben dieses Geheimnisses wäre der Tod. Und Gott sei gepriesen! nicht lange mehr, so wird sich die Zeit der Schwachheit und Erniedrigung in eine Scene der Kraft und Erhöhung, des Sieges und der Herrlichkeit umwandeln. Wir werden dann alles mit Ihm erben, dem wir jetzt, in der Zeit Seiner Erniedrigung und Verwerfung, treu sein dürfen.

Überdies empfing Rahab noch ein Unterpfand, welches diejenigen ihr gaben, die von Gott zur Ausführung des Gerichts bestimmt waren; und sie band dieses Unterpfand sogleich ins Fenster, nicht erst als das Gericht hereinbrach. Als die Heere des Gottes Israels die Stadt umzogen, war es da, denen sichtbar, welche es ihr gegeben hatten. Eine höhere Verpflichtung konnte es für diese nicht geben. So lag auch in der Passahnacht in Ägypten das Schwert des Gerichts in der Hand Dessen, der das Gebot gegeben hatte, die Türen mit Blut zu bestreichen. Eine größere Sicherheit hätte es für die Bewohner der betreffenden Häuser nicht geben können. Und ebenso groß ist auch die Sicherheit des Sünders durch das Evangelium; wie geschrieben steht: „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, auf dass wir Freimütigkeit haben an dem Tage des Gerichts, dass, gleichwie Er ist, auch wir sind in dieser Welt«· (1. Joh. 4, 17.) Wir sind in der Welt, der Stätte des Gerichts, und Jesus ist droben; nichtsdestoweniger ist Seine Sicherheit die unsrige; ja, „wie Er ist, so find auch wir in dieser Welt“.

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Der Weg hinauf nach Jerusalem

Bibelstelle: Markus 10,17 - 52

Botschafter des Heils 1908 S. 141ff

In dem vorliegenden Schriftabschnitt werden uns in dem reichen Jüngling, den Jüngern und dem blinden Bartimäus drei verschiedene Charakterbilder vorgestellt.

1. In der Person des reichen Jünglings finden wir den Vertreter einer zahlreichen Klasse von Menschen. Er war für das Heil seiner Seele nicht ohne· wirkliche Besorgnis. Er suchte „ewiges Leben“ und hatte sich augenscheinlich viel angestrengt, um es durch Gesetzeswerke zu erlangen. Alle seine Anstrengungen aber hatten ihn nicht befriedigt. Er fühlte noch einen Mangel, und darum kam er zu Jesu. Wie aber zeigt schon seine erste Frage den falschen Boden, auf welchem er stand! Er sagt zu Jesu: „Guter Lehrer, was soll ich tun, auf dass ich ewiges Leben ererbe?“ Sein Geist, durch die Nebel des Gesetzes verfinstert, hatte noch nie die wunderbare Wahrheit erfasst, dass das „ewige Leben“ eine „Gabe Gottes“ ist, nicht aber eine Belohnung menschlichen Tuns.

 Seine Frage bewies klar, wie wenig er bis dahin die Handlungen Gottes mit dem Menschen, sowie seinen eigenen wirklichen Zustand in den Augen Gottes verstanden hatte. Deshalb sendet der Herr Jesus ihn auch zurück zu Mose, zurück zu dem Fuße des Berges Sinai, um die ernsten und eindrucksvolIen Aussprüche zu lernen, welche dort unter Donner und Blitz, unter Finsternis und Sturm mitgeteilt worden waren. Das ist tatsächlich der Sinn der Antwort des Herrn: „Die Gebote weißt du“. Es ist, wie wenn Er zu dem Jüngling gesagt hätte: „Du bist mit deiner Frage um Hunderte von Jahren zurück. Dein Tun ist schon vor langer Zeit am Berge Sinai versucht worden, und hat mit einem völligen Misslingen geendigt. Ich bin hier, um alles menschliche Tun von Grund aus beiseite zu setzen. Das ewige Leben ist eine Gabe Gottes und nicht das Verdienst des Menschen.“

Der reiche Jüngling verstand nicht, wohin das Gesetz ihn in Wirklichkeit stellte. Er war sowohl betreffs der Heiligkeit des Gesetzes, als auch hinsichtlich seines eigenen verderbten Zustandes in Unwissenheit. Er sagt: „Dieses alles habe ich beobachtet von meiner Jugend an“. Niemand, der die Höhe des Gesetzes und die Tiefe des menschlichen Verderbens kennt, wird so etwas zu behaupten wagen. Ja, alle, welche vom Halten des Gesetzes sprechen, „verstehen nicht was sie sagen, noch was sie fest behaupten«. (1.Tim. 1, 7.) 

Wenn der Mensch das Gesetz halten könnte, so wäre er entweder vollkommen, oder das Gesetz wäre unvollkommen; aber „das Gesetz ist heilig, und das Gebot heilig, gerecht und gut“ (Röm. 7, 12.) Es ist deshalb unmöglich, dass ein sündiges Geschöpf das Gesetz halten und so durch Gesetz das Leben erlangen könnte. Wenn dieser reiche Jüngling daher sagte, dass er alle Gebote beobachtet habe, so war er ganz im Irrtum. Dann würde ihm auch nicht noch etwas gefehlt haben; aber Christus sagt zu ihm: „Eines fehlt dir."

„Moses beschreibt die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz ist: „Der Mensch, der diese Dinge getan hat, wird durch sie leben“ (Röm. 10, 5). Wenn also ein Mensch mit Recht behaupten könnte, dass er die Gebote gehalten habe, so würde er ein Anrecht haben, zu leben, als Verdienst seines Tuns. Wer aber wollte es wagen, eine solche Forderung zu stellen? Wer hat die Gebote so gehalten, dass er daraufhin von Gott das Leben beanspruchen könnte? Niemand. „Kein Fleisch wird aus Gesetzeswerken vor Ihm gerechtfertigt werden“ (Röm. 3, 20) „Denn so viele aus Gesetzeswerken sind, sind unter dem Fluch“ (Gal. 3, 10). „Wenn ein Gesetz gegeben worden wäre, das lebendig zu machen vermöchte, dann wäre wirklich die Gerechtigkeit aus Gesetz“ (Gal. 3, 21).

Warum aber, so könnte man fragen, verweist der Herr diesen Jüngling auf die Gebote? Einfach deshalb, damit er einsehen lerne, wie weit er noch von dem, was er zu sein meinte, entfernt war, und damit er aus diesem Wege seinen wahren Zustand erkennen möchte. Der Herr sendet ihn zu dem Zuchtmeister zurück; und wenn er dann bekennt, alles gelernt zu haben, was der Zuchtmeister ihn lehren konnte, wendet der Herr eine andere, eindringlichere Prüfung an, indem Er ihn auffordert, die Welt zu verlassen und das Kreuz auf sich zu nehmen. Aus eine so weitgehende Forderung war der Jüngling nicht vorbereitet. Mit einen male zeigt sich seine Selbstsucht und seine Geringschätzung der Person Jesu. Die Welt war in seinen Augen zu lieblich und das Kreuz zu hässlich, um sie miteinander zu vertauschen. Die Welt stand in der Liebe seines Herzens weit höher als Christus. 

Er wäre ganz zufrieden gewesen, wenn er das ewige Leben empfangen und zugleich die Welt hätte behalten können. Der Wunsch des menschlichen Herzens ist, aus „beiden Welten« Nutzen zu ziehen. Das kann aber nicht sein. Wenn ein Mensch zu Christo kommt, um das ewige Leben zu kaufen, so wird er sicher finden, dass der Preis seine Voraussetzung weit übersteigt. Wenn aber (wie wir sogleich sehen werden) ein Mensch als Bettler kommt, so empfängt er alles, was er bedarf, umsonst. Wenn er kommt als ein Tuender, so wird ihm gesagt, was er tun muss; wenn er kommt als ein Sünder, so wird ihm gesagt, was er zu glauben hat.

Ein jeder wird das Kreuz, wenn er es aufnehmen soll, zu schwer finden, so lange er nicht im Glauben erkannt hat, dass Christus für ihn und für seine Errettung an das Kreuz genagelt war. Ferner: „der Weg geht hinauf nach Jerusalem“. Dies war der Weg, welchen Christus betrat, und welchen alle betreten müssen, die in Seinen Fußstapfen „wandeln wollen — der Weg, den alle zu rau finden werden, ausgenommen diejenigen, welche „an den Füßen beschuht sind mit der Bereitschaft des Evangeliums des Friedens“. Ich muss mich durch den Glauben auf das Kreuz stützen, ehe ich es tragen kann; und ich muss das ewige Leben besitzen, ehe ich in den Fußstapfen Jesu zu wandeln vermag. Das Kreuz zu tragen versuchen, ehe ich mich eines gekreuzigten Heilandes erfreue, ist noch weit schwerer, als neben dem im Feuer brennenden Berge stehen. Der reiche Jüngling, welcher alle Gebote beobachtet zu haben meinte, wurde durch die Schatten des Kreuzes zurückgetrieben, und — „ging traurig hinweg“

Aber wollte denn der Herr Jesus diesen Jüngling belehren, dass er durch eigenes Tun, durch Verkaufen und Verschenken seiner irdischen Güter, ein Erbe des ewigen Lebens werden könnte? Keineswegs. Was denn? Er begegnete ihm auf dem Boden, auf welchem er stand. Der Jüngling kam als ein Tuend er, und er ging weg, weil er nichts tun konnte. Gerade so war es mit Israel in 2. Mose 19. Sie sagten: „Alles was Jehova geredet hat, wollen wir tun“; und als Jehova redete, „da ertrugen sie nicht, was geboten wurde“ (Hebr. 12, 20). Der Mensch spricht vom Tun, und wenn ihm gesagt wird, was er zu tun hat, so ist er weder willens noch fähig, es zu tun. Gottes Wort sagt zu allen, welche unter dem Gesetz zu sein wünschen: „Höret ihr das Gesetz nicht“ (Gal. 4, 21)? „Der Mensch, der diese Dinge getan hat, wird durch sie leben“ (Röm. 10, 5). „Was steht in dem Gesetz geschrieben? Wie liest du“ (Luk. 10, 26)?

Dieser liebenswürdige und interessante Jüngling war also nicht geneigt, seinen Fuß auf den Weg zu stellen, welcher nach Jerusalem hinaufging (Vergl. V. 32). Der Gedanke, die Welt, ihre Reichtümer und Vergnügungen aufzugeben, lag ihm fern. Er verlangte nach dem ewigen Leben; aber als er es durch das Aufgeben seiner Reichtümer erkaufen sollte, da wollte er den Preis nicht bezahlen, „und er ging traurig hinweg“.

2. Die Jünger bieten uns ein anderes Charakterbild dar. Sie waren durch die Gnade befähigt, zu sagen: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt“ (V. 28). Sie standen eine Stufe über dem reichen Jüngling. Für sie war Christus so viel wert, dass sie alle irdischen Güter aufgegeben hatten und Ihm nachgefolgt waren. Sie sollten darum auch nichts verlieren; denn Christus will niemandes Schuldner sein. Was man auch immer für Ihn« hingeben mag, Er wird es bezahlen, „hundertfältig, jetzt in dieser Zeit, . . . . und in dem kommenden Zeitalter ewiges Leben. Aber viele Erste werden Letzte, und viele Letzte Erste sein“. Mit der Nachfolge Jesu beginnen ist aber noch kein Ausharren. Den Fuß auf den Weg setzen heißt noch nicht darauf wandeln. Das ist eine ernste Wahrheit.

„Sie waren aber auf dem Wege, hinaufgehend nach Jerusalem, und Jesus ging vor ihnen her; und sie entsetzten sich und, indem sie nachfolgten, fürchteten sie sich“ (V. 32). Warum dieses Entsetzen und diese Furcht? Hatten sie nicht freiwillig alles verlassen, um Jesu nachzufolgen? Ja; aber sie hatten nicht vorhergesehen, dass das Kreuz so schwer und der Weg so rau war. Sie hatten die Schätze und Vergnügungen dieser Welt aufgegeben; aber sie hatten nicht an die finstern Wolken gedacht, welche über dem Pfade hingen, der nach Jerusalem hinaufführte, und darum ergriff sie Furcht und Entsetzen, als sie berufen wurden, diesen Dingen zu begegnen. Die Annehmlichkeiten der Welt übten nicht einen solchen Einfluss auf sie aus, dass sie, wie der reiche Jüngling, betrübt weggegangen wären; aber sie folgten Jesu mit Entsetzen und Furcht nach, weil der Pfad, den Er sie führte, so rau und finster war.

Sie besaßen Leben aus Gott, sie brauchten es nicht mehr durch Gesetzeswerke zu erwerben; aber als die Notwendigkeit an sie herantrat, Christo zu folgen, da zeigte es sich, dass sie vergessen hatten, die Kosten zu überschlagen; denn Er war auf Seinem Wege hinaus nach Jerusalem. „Er hatte Sein Angesicht festgestellt“ (vergl. Luk. 9, 51), um den schrecklichen Mächten der Finsternis, verbunden mit dem Hohn, dem Widerspruch und der Feindschaft derer zu begegnen, welche zu erretten Er gekommen war.

Lasst uns wohl die Kostbarkeit jener Worte beachten: „Und Jesus ging vor ihnen her“! Er stellte sich selbst an die Spitze der Seinigen. Er setzte sich der ganzen Bosheit der von Satan befehligten Kriegsheere der Erde und der Hölle aus. „Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der Sohn des Menschen wird den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten überliefert werden; und sie werden Ihn zum Tode verurteilen und werden Ihn den Nationen überliefern; und sie werden Ihn verspotten und Ihn geißeln und Ihn anspeien und Ihn töten; und nach drei Tagen wird Er auferstehen“ (V. 33. 34). Mit einem Antlitz, fest wie ein Kieselstein (Jes. 50, 7), überschaute Er die ganze Szene; aber in dem Reichtum Seiner Gnade übersah Er einen Teil des nahenden Kelches von unaussprechlichen Leiden, nämlich den, dass Er von denen, die Ihm bisher nachgefolgt waren, verlassen und verleugnet werden würde.

Wie wenig die Jünger in alle diese Dinge einzugehen vermochten, zeigt die Tatsache, dass sie auf dem Wege nach Jerusalem mit der Frage über einen bevorzugten Platz in dem Reiche beschäftigt waren (V. 35 — 45). Ein Herz, das mit der Liebe Christi erfüllt ist, wird in der Gewissheit, nahe bei Ihm zu sein, seine völlige Befriedigung finden. Für ein solches Herz handelt es sich nicht so sehr um den Platz, wohin es geht, als vielmehr um die Person, welche für immer den Mittelpunkt und die Quelle seiner Freude bilden wird. Paulus beschäftigt sich in Philipper 3 nicht mit dem Platz, welchen er in dem kommenden Reich inne haben würde, — nein, Christum zu gewinnen, das war der heißersehnte Gegenstand seines Herzens. Von dem Augenblick an, da er in der Nähe der Stadt Damaskus die Schönheit und Vortrefflichkeit des hochgelobten Herrn gesehen hatte, bis zu dem Augenblick, da er in Rom hingerichtet wurde, war es die unendliche Liebe zu dieser Person, welche ihn vorwärts trieb. Und gewiss, niemand trank je tiefer aus Seinem „Kelch“ oder trat vollständiger in Seine „Taufe“ ein, als Paulus (Vergl. V. 38. 39).

3. Zum Schluss haben wir noch einen Augenblick den „blinden Bartimäus“ zu betrachten. In diesem armen blinden Bettler sehen wir einen Menschen, der sowohl den reichen Jüngling als auch die Jünger beschämte. Er richtete augenblicklich seine Augen, nachdem sie einmal geöffnet waren, auf den Sohn Davids. Nicht einen einzigen verlangenden Blick warf er auf sein Gewand zurück, welches er, um zu Jesu zu kommen, „abgeworfen hatte“. Ohne irgend einem Gedanken über die Schwierigkeit und Dunkelheit des Pfades Raum zu geben, „folgte er Jesu nach aus dem Wege“. Auf was für einem Wege? Auf dem Wege, der nach Jerusalem hinaufging. Man könnte vielIeicht einwenden: Er hatte wenig oder nichts zu verlieren, und kannte auch nicht die Richtung und das Ziel dieses Weges.

 Mag sein, aber das änderte nichts an der Sache. Die kostbare Wahrheit, die uns hier entgegentritt, ist folgende: Wenn das Auge von Christo erfüllt und das Herz mit Ihm beschäftigt ist, so bleibt man nicht stehen, um über das nachzudenken, was man vielleicht aufgeben muss, um zu Ihm zu gelangen, oder über das, was es zu ertragen gibt, wenn man Ihm nachfolgen will. Jesus selbst nimmt das ganze Herz ein, und das fesselt uns an Ihn und macht uns fähig und bereit, Ihm auf dem Pfade zu folgen. Was war die ganze Welt für Bartimäus? Was waren für ihn die Schwierigkeiten des Weges? Seine Augen waren geöffnet worden; und nicht nur geöffnet, nein, auch mit dem schönsten Anblick erfüllt, der je das Auge von Menschen und Engeln gefesselt hat, mit der Person des Sohnes Gottes — Gott geoffenbart im Fleisch; und darum, seine Blindheit und Armut weit hinter sich zurücklassend, schritt er vorwärts hinter jener wunderbaren Person her, welche allen seinen Bedürfnissen begegnet war.

Warum sagt Jesus ihm kein Wort von den Geboten? Warum fordert Er ihn nicht auf, Sein Kreuz auf sich zu nehmen und Ihm nachzufolgen? Warum stellt Er ihm nicht den „Kelch“ und die „Taufe“ vor? Weil er nicht ein Verkäufer, sondern ein Bettler war; weil er nicht von seinem Tun sprach, sondern seine Not bekannte, und weil er endlich nicht über den Platz, den er in dem Reiche einnehmen würde, oder über die Schwierigkeiten des Weges dorthin nachdachte, sondern nur Jesum zu erlangen und Dem nachzufolgen suchte, welchen er gefunden hatte. Das ist einfach genug. Christus stellt dem armen, blinden, von Herzen niedergebeugten Sünder keine Bedingungen. Er ist vom Himmel herabgekommen, nicht ,,um bedient zu werden, sondern um zu dienen und Sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“.

Es würde ganz verkehrt sein, einen verderbten und hilflosen Sünder aufzufordern, die Welt zu verlassen, um dann Jesum zu finden. Er ist „ohne Kraft“; was kann er tun? Wenn ich einem Geizigen sagen würde, dass er sein Gold, oder dem Spieler, dass er sein Spielen, oder dem Trunkenbold, dass er sein Trinken aufgeben müsse, ehe er zu Jesu kommen könne, so würde er mir mit Recht erwidern, dass ich ihn ebenso gut auffordern könnte, sich die rechte Hand abzuhauen.

 Aber wenn einem solch armen Menschen einmal die Augen geöffnet werden, um das geschlachtete Lamm Gottes zu schauen, wenn er das Heil Gottes sieht, wenn er die gute Botschaft von der Vergebung der Sünden hört und die Rechtfertigung, welche durch das Blut Jesu Christi dargereicht wird, im Glauben erkennt — dann wirst du einen Unterschied sehen. Statt, infolge der Härte der Bedingungen, „traurig hinwegzugehen“, freut er sich auf, seinem Wege des geoffenbarten Heils. Und statt durch die Rauheit und Dunkelheit des Pfades von Entsetzen und Furcht ergriffen zu werden, dringt er mit einer Freude voran, welche allein die Gemeinschaft mit Christo zu geben vermag.

Geliebter Leser! erblickst du in einem dieser Bilder, die an unseren Blicken vorübergezogen sind, deinen eigenen Charakter? Was ist der gegenwärtige Zustand deiner Seele? Bist du um die Erlangung des ewigen Lebens besorgt, wirst aber noch durch das unermessliche Opfer, welches du damit verbunden wähnst, zurückgeschreckt? O dann schaue doch allein auf das Lamm, welches auf dem Fluchholz blutete, um die Sünde hinwegzunehmen. Denke nicht an irgend ein Opfer, das du zu bringen hättest, sondern an das eine herrliche Opfer, welches Er gebracht hat. Das wird dir Frieden geben. Schaue völlig von dir selbst ab, unmittelbar auf Jesum hin. Er hat alles getan, und die Seele, welche an einen gekreuzigten und auferstandenen Christus glaubt, hat Leben, Vergebung und Rechtfertigung.

Oder hast du bereits Vergebung und Frieden in Jesu gefunden und bist von der Welt ausgegangen und zu Jesu gekommen, findest aber den Weg rau und das Kreuz schwer? Erfährst du den beißenden Spott deiner früheren Freunde, die bitteren Vorwürfe deiner nächsten Verwandten? empfindest du schwer die Einsamkeit deines Weges und noch vieles andere, was gegen dich ist? und wollen infolge dessen Bestürzung und Furcht deinen Geist gefangen nehmen? O fürchte dich nicht! Erinnere dich stets daran, dass dein geliebter Herr und Meister vorangeht. Du kannst auf dem ganzen rauen und dunklen Pfade, so kurz oder lang er sein mag, Seine gesegneten Fußstapfen erkennen. Vergiss auch nicht, dass „wir durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen müssen“. Halte dein Auge stets auf Jesum gerichtet. Die Zeit ist sehr kurz. „Denn noch über ein gar Kleines, und der Kommende wird kommen und nicht verziehen“ Und dann wird dein Ohr die beglückenden Worte hören: „Wohl, du guter und treuer Knecht! gehe ein in die Freude deines Herrn“.

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Die Rückkehr der Gefangenen nach Jerusalem

Bibelstelle: Esra 1 – 4

Botschafter des Heils 1908 S. 152ff

Mit dem Buche Esra beginnt die Geschichte der ins Land zurückkehrenden Gefangenen; ihre Umstände und ihr Verhalten werden uns geschildert, und aus beiden können wir Belehrung ziehen.

Ihr Zustand weist viele Züge auf, die uns selbst eigen sind, und aus ihrem Verhalten empfangen wir Belehrung, Ermunterung und Warnung. Wenn wir ihre Geschichte verfolgen, so stehen wir zuweilen geradezu betroffen da, wenn wir die Ähnlichkeit bemerken, welche sie mit unserer eigenen Geschichte hat, und wir mögen, in Anbetracht der inneren Verwandtschaft ihres und unseres Zustandes, jene schwachen IsraeIiten wohl unsere Brüder nennen.

Nach Beendigung ihrer Reise von Babylon nach Jerusalem finden wir sie sogleich in einer sittlich guten. Verfassung; sie benutzen was sie haben, und sie tun was sie können, aber sie maßen sich nichts an oder erstreben nichts, was sie nicht haben oder nicht können. Sie besitzen das Wort, und das benutzen sie. Sie tun ihr Bestes mit den Geschlechtsregister-Verzeichnissen, um die Reinheit der Priesterschaft und des Heiligtums herzustellen, aber sie streben nicht nach Dingen, zu welchen nur die Urim und Thummim sie in den Stand gesetzt haben würden; denn diese waren verloren. Das ist schön. Sie weigern sich nicht, das was in ihren Kräften steht zu tun, weil sie nicht alles tun können, was sie gern möchten. Sie benutzen vielmehr in Einfalt das ihnen zugeteilte Maß und sind nicht unzufrieden darüber, dass es klein ist· Auch strecken sie sich nicht über dasselbe hinaus aus, sondern warten ruhig, bis ein anderer kommt mit einem größeren und vollkommeneren Maße.

Auch haben sie es eilig damit, dem Gott Israels einen Altar zu errichten. Sie denken nicht zuerst daran, einen Tempel zu bauen. Ein Altar genügt für die Brandopfer und um das Laubhüttenfest zu feiern; und so errichten sie, als ein Volk, das mit Bewusstsein wieder auf heiligem Boden steht, ihren Altar und beginnen ihren Gottesdienst an jenem sinnbildlich so bedeutungsvollen Tage, dem ersten Tage des siebenten Monats.

Wie schön war das alles! Es war gleich dem Triebe, welcher Noah leitete, seine Brandopfer zu opfern, sobald er die Arche verlassen hatte, oder gleich dem Drang, welcher David veranlasste, sich nach der Lade Gottes umzusehen, sobald er auf dem Throne saß.

In Ägypten errichtete Israel keinen Altar; es musste die Wüste betreten, bevor es opfern oder dem Herrn ein Fest feiern konnte. Ägypten war der Ort des Fleisches und des Gerichts, und deswegen musste das Volk völlig davon befreit sein, ehe Gott die Anbetung von ihm annehmen konnte. Gerade so war es in Babylon: Israel hatte dort keinen Altar. Einer aus ihrer Mitte mochte sein Fenster öffnen und nach Jerusalem hin beten; drei oder vier mochten sich zusammentun, um gemeinschaftlich um Gnade und Weisheit zu bitten; an einem Tage der Bestürzung mochten alle miteinander ihre Harfen an die Weiden hängen und sich weigern, die Lieder Zions zu singen; aber einen Altar bauten sie in dem Lande der Unbeschnittenen nicht. In Jerusalem aber wird der Altar unverzüglich errichtet, und Opfer werden dargebracht; der Gottesdienst wird wiederhergestellt, da Israel wieder zu neuem Leben erwacht ist. Die beiden Dinge, welche Gott miteinander vereinigt hat: die Herrlichkeit Seines Namens und die Segnung Seines Volkes, treten in den zurückgekehrten Gefangenen ans Licht.

Dann aber, als der Grund zum Tempel gelegt wurde, wird etwas Seltsames vernommen, etwas, das dem Ohre der Natur nur als ein Missklang erscheinen konnte, das aber für das Ohr Gottes und des Glaubens heilige Harmonie war. Weinen und Wehklagen wurde laut, verbunden mit Freudengeschrei. „Viele . . . weinten mit lauter Stimme . . . viele aber erhoben ihre Stimme mit freudigem Jauchzen. Und das Volk konnte den Schall des freudigen Jauchzens nicht unterscheiden von der Stimme des Weinens im Volke“ (Kap. 3, 12. 13). Aber, aus der göttlichen Wage gewogen, war alles Harmonie, denn alles war echt, alles galt „dem Jehova“.

Etwas Ähnlichem begegnen wir in Röm. 14, 5, wo wir lesen: „Der eine hält einen Tag vor dem anderen, der andere aber hält jeden Tag gleich“. Auch das könnte als Unordnung erscheinen. Aber wenn jeder das, was er tat, „dem Herrn“ tat, so wurde dadurch die höchste Ordnung aufrecht erhalten (Vergl. Vers 6 — 8). Es war jedoch noch etwas anderes in der Mitte jenes Überrestes vorhanden. Und das war wirkliche Verwirrung, und zwar große Verwirrung. Der Zustand der Dinge war unheilbar verworren und verwirrt. Was muss ein gottesfürchtiger Jude gefühlt haben, wenn er sich wieder in dem Lande befand, wo David seine Eroberungen gemacht, wo Salomo geherrscht, wo die Herrlichkeit gewohnt, und wo die Priesterschaft unter Jehova ihres Dienstes gewartet hatte — und er zunächst sich selbst betrachtete! Welch ein seltsames Bild bot sich seinen Augen! In dem Lande seiner Väterweilte er jetzt als Untertan einer heidnischen Macht! Und wenn er dann weiter seinen Blick auf seine Brüder richtete, was musste er sich sagen? Einige waren ja wohl mit ihm da, aber der größte Teil des Volkes wohnte weit weg, inmitten der Unbeschnittenen. Und wenn er schließlich die Bewohner des Landes betrachtete, so fand er ein verderbtes Geschlecht, halb Jude und halb Heide, an dem Platze, der einst ausschließlich dem Samen Abrahams gehört hatte.

Was für Anblicke waren das! Wieviel Licht und wieviel Tatkraft war nötig, um einer solch außerordentlichen Menge von Schwierigkeiten und Widersprüchen zu begegnen und ·in entsprechender Weise zu handeln! Aber dieses Licht und diese Tatkraft werden in wunderschöner Weise unter den Zurückgekehrten gefunden. Sie hatten ihr Nasiräertum in Babylon aufrechterhalten und wollten es, wenn nötig, auch in Juda bewahren; sie hatten dort nicht die Speise des Königs essen wollen, und wollten auch hier beim Tempelbau keine Gemeinschaft mit den Samaritern haben. Dabei machten sie andererseits den richtigen Unterschied zwischen den Dingen, die voneinander verschieden waren: sie kannten den Perser, und sie kannten den Samariter. Sie beugten sich dem Schwert und der Gewalt des einen als der durch göttliche Verordnung über sie gesetzten Obrigkeit; aber sie wiesen die Hülfe des anderen zurück, da er sich der Untreue gegen den Gott seiner Väter schuldig gemacht hatte.

Erblicken wir hierin nicht einen Hinweis auf das Urteil des Herrn in späterer Zeit: „So gebet denn dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“? Erinnert es uns ferner nicht an die Väter in der Wüste, die auch den Edomiter und Amoriter in ihren verschiedenen Beziehungen zu sich kannten, wie hier ihre Kinder den Samariter und den Perser kannten? Nichts geschieht hier in einem aufrührerischen Geist. Sie sind den „Gewalten, welche sind“, unterworfen, da sie sie als „von Gott verordnet« kennen. Aber religiöse Verunreinigung weisen sie zurück: Alles das ist voll ernster Belehrung für die gegenwärtigen Zustände unter uns. Ähnliche Dinge und gleiche Grundsätze kommen unter den Heiligen von heute wieder zum Vorschein.

Der Glaube wendet noch immer das geschriebene Wort auf alles an; er nimmt nichts in Angriff, was über sein Maß hinausgeht, aber er tut auch das, was er tun kann· Er wirft nicht das, was er hat, beiseite, weil er nicht mehr hat. Er sagt nicht: „Die Sache ist hoffnungslos“, und setzt sich dann untätig hin, weil die Kraft, wie sie sich in den ersten Zeiten der Kirche in so mancherlei herrlichen Formen offenbarte, nicht mehr unser Teil ist; aber er sucht auch nicht diese Kraft nachzuahmen oder etwas herauszubilden, was uns heute nicht mehr gegeben ist· Er wartet auf den Tag, an welchem alles in ewiger Ordnung und Schönheit prangen wird infolge der Gegenwart Dessen, der das wahre Licht und die wahre Vollkommenheit (Urim und Thumim; vergl. Kap. 3, 63) ist, und der alle Dinge im Reiche in einer Gott wohlgefälligen Weise ordnen wird.

So ist auch das Ohr des Glaubens ein ganz anderes Ohr wie das Ohr der Natur. Wir erwähnten bereits, dass das, was dem Ohre von Fleisch und Blut als Missklang erscheint, für das geistliche Ohr lauter Harmonie ist.

Auch können wir hinzufügen, dass der Glaube heute wie damals einen Zustand der Verwirrung um sich her anerkennt. Wie in den Tagen Esras in Israel, so gab es auch in den Tagen des 2. Briefes an Timotheus unter den Heiligen und Gemeinden viel Verwirrung; und jene Tage waren nur der Beginn des nachfolgenden langen Tages der Christenheit, des „großen Hauses“ von 2. Tim. 2. Elemente, die in ganz seltsamem Widerspruch zueinander stehen, umgeben uns, wie ehemals die zurückgekehrten Gefangenen. Die heidnische Oberherrschaft im Lande, die angebotene Hülfe und hernach die bittere Feindschaft der Samariter, das Weilen des Israel Gottes teils in Babylon, teils in Jerusalem, — alle diese Dinge erkennt das geistliche Auge auch heute in dem großen Hause der Christenheit mit seinen gereinigten und ungereinigten Gefäßen, die einen zur Ehre, die anderen zur Unehre.

Unsere Kapitel enthalten neben dem Belehrenden aber auch viel Ermunterndes. Wohl wurden die alte Herrlichkeit und Kraft nicht mehr unter Israel gefunden, die Urim und Thummim waren verloren, die Bundeslade war dahin, der wundertätige Stab und die Wolkensäule wurden nicht mehr gesehen, aber dennoch gab sich mehr Energie und Licht und eine tiefere Geistesübung in den von Babylon Zurückgekehrten kund, als ehedem in den Erlösten Ägyptens.

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Der Ernst der Zeit

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 158ff

Die Zeit eilt voran und wartet auf niemanden. Ihrem Rad einen Hemmschuh anzulegen, ist unmöglich. Es rollt dahin ohne Unterbrechung, ohne Verzug. Jeder Pulsschlag bringt uns der Stunde näher, in welcher wir, gern oder ungern, bereit oder nicht bereit, diesen Schauplatz mit all feiner unruhigen Geschäftigkeit verlassen und in die Ewigkeit hinübergehen müssen.

Das ist ernst und zugleich tief demütigend! Der Mensch mit seinen vielgerühmten Vorzügen und Kräften, mit seinem Geist und seiner Geschicklichkeit, mit all seinem Wissen und Können, kann jenem harten und unbarmherzigen Feinde nicht stand halten. Er muss dem Tode weichen. Er findet am Ende seines Lebens, so kurz oder so lang es gewesen sein mag, nichts als ein enges, schmales Bett unter dem Erdboden. „Der Lohn der Sünde ist der Tod“ (Röm. 6, 23).

„Der Mann stirbt und liegt da; und der Mensch verscheidet, und wo ist er?“ sagt schon Hiob (Kap. 14, 10). Ja, wo ist er? Der Augenblick, wo der Mensch diese Erde verlassen muss, naht unweigerlich heran. Und was dann? Andere werden seinen Platz auf der Erde einnehmen und seine Geschäfte weiterführen· Das Rad der Zeit wird weiter rollen, und die geschäftige Welt wird voranschreiten, geradeso als ob der Verstorbene nie gelebt hätte. Man wird vielleicht noch eine Zeitlang an ihn denken, dann aber wird er der Vergessenheit anheimfallen. Aber wo ist seine Seele? Im Himmel, oder in der .Hölle, wo?

Wir werden oft tief getroffen, wenn wir von „Schrecklichen Eisenbahn-Unglücken“, „Furchtbaren Gruben-Explosionen“ und dergleichen hören. Und wenn wir dann die Berichte lesen, die uns nähere Einzelheiten über die grauenvolle Katastrophe bringen, wenn wir von den Leiden der bei dem Unfall Verwundeten hören, an die Verzweiflung der in dem Bergwerk lebendig Begrabenen denken, dann erfasst uns Grausen, und unseren Lippen entströmen Ausdrücke voll tiefsten Mitgefühls, nicht nur für die armen Opfer selbst, sondern auch für die in trostlosem Schmerz und oft genug auch in größter Not hinterbliebenen Angehörigen.

Allein es gibt noch ein anderes Elend, weit größer als dieses, ein Elend, das täglich geschaut werden kann, dem aber verhältnismäßig nur wenig Beachtung geschenkt wird. Ich denke an die zahllose Menge von Männern und Frauen, Jünglingen, Jungfrauen und Kindern, welche von Gottes Erde dahinschwinden, seufzend unter Krankheit und Elend, den schrecklichen Folgen jener grässlichen Pest, der Sünde. Sie eilen dahin, so schnell die Zeit sie zu tragen vermag, ohne Gott und ohne Christum, ohne ihre Sünden zu bereuen und dem Evangelium zu glauben, rasend gemacht oder betört durch eben diese ihre Sünden; sie eilen dahin, dem Richterstuhl eines heiligen Gottes entgegen, hin zu dem „verzehrenden Feuer und den ewigen Gluten“, hin zu dem „Weinen und dem Zähneknirschen«, dahin, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt.

Welch eine schreckliche und erschreckende Tatsache! Was könnte ihr an Furchtbarkeit gleichkommen? Tausende und Abertausende dem ewigen Verderben entgegeneilend! Und nicht nur jene Vielen, die in tiefes, sittliches Verderben versunken sind, nein, auch die Achtbaren und Ehrenwerten, die Wohlerzogenen — alle vorwärts getrieben im Trubel des Geschäfts oder im Taumel des Vergnügens. Kein Augenblick Zeit bleibt ihnen zum Überlegen, wo denn die Reise einmal enden wird und wo ihre unsterblichen Seelen eine ewige Stätte finden werden.

Ich wiederhole: welch eine erschreckende Tatsache! Welcher Ton könnte für das Ohr des Gläubigen furchtbarer sein, als das spöttische Lachen des Sorglosen, des von Satan Betrogenen? Obwohl auf dem Wege zur Ewigkeit, weist er jede Mahnungen an die ihm drohende Gefahr höhnisch zurück und weigert sich, „dem kommenden Zorn zu entfliehen“.

Vielleicht ist unter den Lesern dieses Blattes auch noch einer, der zu jenen unglücklichen Betrogenen gehört. Sollte es der Fall sein, o möge dann Gott in Gnaden ihm Sein Licht ins Herz leuchten lassen, damit er sein sündiges, verlorenes Leben erkenne und dahin komme, Buße zu tun und dem Evangelium zu glauben, ehe es für ewig zu spät ist!

Es ist und bleibt wahr: „Gott lässt sich nicht spotten; was irgend ein Mensch säet, das wird er auch ernten“ (Gal. 6, 7). Er vergisst keine der wider Ihn begangenen Sünden. Wie plötzlich kann das übermütige Lachen des Sünders auf dieser Erde sich wandeln in das Wehgeschrei ewigen Verderbens! Wie bald können an die Stelle von Vergnügen und Lust nie endende Qualen und bittere Verzweiflung treten! Das Herz blutet bei dem Gedanken daran, und aus dem tiefsten Innern der. Seele ringt sich der Schrei los: „O Gott, erbarme dich über die vielen Unglücklichen, ehe es zu spät ist! Reise ihre schuldigen Seelen aus dem Verderben, damit sie nicht die ewigen Folgen ihrer Torheiten und Sünden tragen müssen!“

Doch wir können den Fall des Unbekehrten noch von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten. Wie beklagenswert ist er, abgesehen von der beständigen Gefahr, in welcher er schwebt! Wieviel vermisst er schon auf dieser Erde! Die Liebe und das Mitgefühl Jesu sind ihm fremd; von der Vergebung seiner Sünden weiß er nichts, und deshalb sind Friede und wahre Freude fern von ihm. Er verfolgt den gar oft so beschwerlichen Pfad des Lebens, ohne dass er ihm durch die Liebe Gottes erhellt würde; und wenn die Sorge ihren grauen Mantel um ihn schlägt, so kennt er den Freund nicht, der „anhänglicher ist als ein Bruder“. Unsicher tappt er im Finstern und erkennt nicht, worüber er strauchelt, während der Pfad des Gerechten wie das glänzende Morgenlicht ist, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe. (Spr. 4, 18. 19.) Mit leerem Herzen und leerer Hand schreitet er voran.

Mein lieber, gläubiger Leser! Hauptsächlich um deinetwillen sind diese wenigen Zeilen geschrieben. Sie sollen dich an die Verantwortlichkeit erinnern, welche deinen armen unbekehrten Mitmenschen gegenüber auf dir liegt. Sie sollen dich in erster Linie daran erinnern, welch einem unsäglich schrecklichen Ende sie entgegengehen, und in zweiter Linie daran, wie arm und unbefriedigt sie sind, was sie alles entbehren müssen. Die Zeit ist gedrängt. 

Bald wird unser geliebter Herr erscheinen, um die Seinigen zu sich zu nehmen. O wie viele werden da zurückbleiben müssen, die Zeit genug gehabt hätten, sich zu bekehren, denen es aber immer noch zu früh war! Wie viele auch, die nur selten aufmerksam gemacht worden sind, und die mit einem gewissen Recht sagen könnten: „Niemand sorgt für meine Seele“! O möchten wir mehr an das Los all dieser Zurückbleibenden denken! Ja, möchte unser ganzes Leben, unser ganzer Wandel unter diesem Eindruck stehen! Wie mancher Christ ist lau und gleichgültig geworden, und das in den Tagen des Endes, zu einer Zeit, wo Eifer und Tätigkeit für den Herrn auf allen Seiten mit verdoppelter Kraft einsetzen sollten. 

Möchte der Herr uns ein wahres, ernstes Aufleben schenken! Ach, dass es so viele gibt, die damit zufrieden zu sein scheinen, selbst errettet zu sein, deren Herzen kalt und liebeleer sind ihren Mitmenschen gegenüber! Möchten alle solche tief erschrecken und daran denken, dass mit der Liebe und Gnade, die ihnen zu teil geworden ist, auch eine Verantwortlichkeit auf sie gelegt wurde, und dass die Zeit, die sie hier verlieren, für immer verloren ist! Ja, möchten wir alle ein wenig mehr von jener Liebe zu armen, verlorenen Seelen kennen lernen, die unseren hochgelobten Herrn in den Tod trieb, und die Seinen treuen Diener Paulus einmal zu dem Wunsche veranlasste, ,,durch einen Fluch von Christo entfernt zu sein für seine Brüder, seine Verwandten nach dem Fleische“! (Vergl. Röm. 9, 3).

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Der gute der große und der Erzhirte

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 163ff

Unter obigen drei Bezeichnungen tritt uns die Hirtengestalt unseres teuren Herrn im Worte Gottes entgegen. Als der gute Hirte starb Er für Seine Schafe. Ein Mietling, dem die Schafe nicht eigen sind, hat keine Gefühle für die Herde; aber „der gute Hirte lässt Sein Leben für die Schafe«. Er kennt die Seinen, und ist gekannt von den Seinen. Ein Band inniger Liebe umschlingt sie. Er gibt ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus Seiner Hand rauben. Der Vater, der sie Ihm gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus der Hand des Vaters rauben. Der Vater und der Sohn sind eins in ihrer Liebe zu den Schafen und in ihrer Sorge für sie (Joh. 10).

Als der große Hirte der Schafe ist Jesus von den Toten auferstanden, um mit zärtlicher Sorge über die Schafe zu wachen und die Herde, für welche Er starb, für ewig in Sicherheit zu bringen, trotz, aller List und Macht des Feindes. „Der Gott des Friedens aber, der aus den Toten wiederbrachte unseren Herrn Jesum, den großen Hirten der Schafe, in dem Blute des ewigen Bundes, vollende euch in jedem guten Werke, um Seinen Willen zu tun, in euch schaffend was vor Ihm wohlgefällig ist, durch Jesum Christum, welchem die Herrlichkeit sei in die Zeitalter der Zeitalter! Amen. 

So lesen wir am Ende des Hebräerbriefes, nachdem der Heilige Geist die wunderbare Person, in welcher Gott sich hienieden geoffenbart hat, in ihren mannigfaltigen Würden und Herrlichkeiten vor unseren Blicken hat vorübergehen lassen. Er ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit. Der Tod konnte Ihn nicht behalten. Als der große Sieger über all die finstern Mächte, welche uns gefangen hielten, ist Er aus den Toten hervorgegangen. Er hat eine ewige Erlösung erfunden, ein ewiges Erbe uns erworben; Er ist der Urheber ewigen Heils, und Sein Blut ist das Blut des ewigen Bandes. Ihm gebührt daher auch die Herrlichkeit in Ewigkeit!

Als der Erzhirte endlich wird Er auf jenen lichten Auen der ewigen Herrlichkeit alle Seine Unterhirten um sich versammeln, und wird auf ihre Häupter eine Krone der Herrlichkeit setzen als Antwort Seiner Liebe auf ihre Sorge für Seine Schafe und Lämmer. Wenn der Erzhirte offenbar geworden ist, werden sie die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen (1. Petr. 5, 4). Es gibt eine Krone des Ruhmes für den Evangelisten und Arbeiter (1. Thes. 2, 19), eine Krone der Gerechtigkeit für den treuen, ausharrenden Streiter Christi (2. Tim. 4, 8), eine Krone des Lebens für den Bewährten (Jak.1,12), und eine unverwelkliche Krone der Herrlichkeit für diejenigen, welche in Niedrigkeit, Selbstlosigkeit und Demut dem Erzhirten in den Seinigen hienieden gedient haben.

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Gedanke

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 164

Das wahrhaftige Licht leuchtet. — Das Licht ist gekommen, die Finsternis vergeht, und das wahrhaftige Licht leuchtet. Jetzt zu dem Gesetz, zurückkehren, heißt Menschen gleich sein, welche, während die Sonne hoch am Himmel steht, bei herabgelassenen Vorhängen ein trübes Nachtlicht brennen.

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Als Traurige aber allezeit uns freuend

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 165ff

Suwon, Korea, 26. Februar 1908. Lieber Bruder im Herrn! Ich bin überzeugt, dass es Eure Herzen tief betrübt haben muss, die Nachricht von dem Heimgang meiner Frau zu empfangen. Ich vertraue allein auf die Barmherzigkeit des Herrn, diese unwandelbare Barmherzigkeit, indem ich mich unter Seine mächtige Hand beuge. Ich danke Euch für Eure herzliche Teilnahme. Ich bitte um Eure Gebete für uns. Der Herr gab mir vor zehn Jahren die liebste Schwester zum Weibe. Sie hat dem Herrn freudig gedient mit Ausharren. Sie war der Trost meines Herzens, die Gehilfin meines Glaubens und eine Mitarbeiterin im Evangelium. Es ist die Gnade des Herrn. Sie erwies mir Gutes und nichts Böses alle Tage. So oft ich mich an sie erinnere, fließen meine Tränen. Das Herz bricht mir, wenn ich an die Kinder denke. Der Herr gab mir meine Frau, und Er hat sie weggenommen; Er ist gütig und tut Gutes. Alles geht aus von Seinem Herzen der Liebe. Wir bedürfen nur völliges Vertrauen auf den Herrn.

Vor zehn Jahren genoss ich sehr den Inhalt des nachstehenden Verses:

Der Quell, der mich hier tränket, ist Jesus, meine Freud’;

Mehr will von Ihm ich trinken bald in der Ewigkeit.

Ein Ozean der Gnade umrauscht dort Seinen Thron;

der Seele Durst, ihn stillet Dein Anblick, Gottes Sohn!

Augenblicklich genieße ich mehr als je den Inhalt des nächsten Verses:

Gericht und Gnade weben mein Los bald weich bald rau.

Auch auf dem dunklen Pfade glänzt Seiner Liebe Tau.

Wenn ich auf Seinem Throne mitherrsch’ in Ewigkeit,

werd’ ich Ihn würdig preisen für Seine Freundlichkeit.

Der Herr ist voll Gnade und voll Erbarmen. Wie könnten wir je an Seiner Güte zweifeln? Der Herr, der uns von unseren Sünden gereinigt hat durch Sein Blut, ist mit uns selbst in dem Tränental und macht es zu einer Quelle.

Die Mutter meiner Kinder, welche sie so innig liebte, ist jetzt zum Herrn gegangen. Aber Er, der sie den Kindern gab, liebt und pflegt diese nun selbst. Ich bete, dass mir das zärtliche Herz einer Mutter geschenkt werde. Als der Apostel Paulus seine Freiheit verloren hatte und im Kerker lag, freute er sich mehr und mehr in dem Herrn, belehrte andere, es zu machen wie er, und war imstande, dem Herrn überströmend zu dienen. War das nicht die bewunderungswürdige Gnade des Herrn?

Ich habe jetzt vier Kinder, von denen eins noch ein Säugling ist. Ich kann nicht mehr so oft ausgehen und reisen, wie ich gern möchte und früher getan habe; aber der Herr hat uns als „Gefäße der Barmherzigkeit“ berufen. Er kann auch einen so Schwachen, wie ich bin, benutzen nach Seinem Willen. Ich werde getröstet durch 2.Kor. 1, 3 - 5; 5, 14. 15; 6, 10; 12, 9.

Die Krankheit meiner Frau war Lungenentzündung mit außerordentlich hohem Fieber. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch wurde ihr Zustand sehr ernst. Ich weckte deshalb die Kinder, und wir versammelten uns alle um ihr Bett. Sie sagte: „Yoschinohu, du bist das älteste Kind; sei deinem Vater gehorsam und habe die jüngeren Kinder lieb. Vertraue auf den Herrn und warte auf Sein Kommen. Obgleich ich zu dem Herrn Jesu gehe nach Seinem Willen, liebt und bewahrt Er euch alle beständig. Glaube allezeit an Ihn! Wenn der Herr kommt, werden wir einander wiedersehen. Asa, Jan und Yoschio, liebet einander! Glaubet alle an Ihn!“

Mittwoch morgen um halb sieben Uhr ging sie voll Frieden heim. Ich danke den Brüdern in Japan für ihre Teilnahme. Die Brüder in Korea sind durch den Heimgang meines Weibes sehr betrübt und fühlen die Furcht Gottes. Wenn ich nach Japan zurückkehren würde, wer würde sie dann weiden? Ich möchte deshalb stets hier bleiben. Betet, dass unter den Koreanern und den hier wohnenden Japanern das Evangelium ausgebreitet werden möge! Ich kann nicht an jeden Bruder schreiben und bitte, ihnen allen zu danken in meinem Namen . . .

M. Norimatsu.

Fußnote:

*) Der nachstehende Brief des den meisten Lesern des „Botschafter“ aus den „Mitteilungen“ bekannten Br. Norimatsu ist wegen seines einfachen, ergreifenden Inhalts und der in ihm ausgedrückten geistlichen Gefühle wohl der weiteren Kundgebung wert. Der Herr lasse ihn mancher betrübten Seele zur Ermunterung und allen Lesern zum Segen gereichen!

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Sterben ist Gewinn

Bibelstelle: Philipper 1,21

Botschafter des Heils 1908 S. 167ff

Wo ist, o Tod, dein Stachel,

o, Hades, wo dein Sieg?

Seitdem am Stamm des Kreuzes

Des Mund erblassend schwieg,

der nach dem schweren Kampfe

mit Satans finstrer Macht,

als Sieger triumphierend

ausrief: Es ist vollbracht!

Wohl netzen heiße Tränen

Die Wange – und das Herz

Will brechen schier in herbem,

unsäglich tiefem Schmerz,

wenn Gott in Seiner Weisheit

ruft eins der Deinen ab,

wenn Du vielleicht das Liebste

still senkest in das Grab.

Doch ist es recht, zu klagen?

Ist`s Eigenliebe nicht,

wenn dann dein Mund, im Schmerze

verzagend also spricht:

Warum, o Vater, nahmst Du

Mir doch das Liebste fort?

Seitdem ist mir die Erde

ein öder, leerer Ort.

O armes Herz, wie töricht

macht dich dein Leid und Harm!

Erheb den Blick nach oben,

wo in des Heilands Arm

Du siehst, was Du geliebet,

in ungetrübtem Glück –

möchte`st du es wirklich wünschen

auf diese Erd zurück?

Ist`s nicht von allem Jammer

und aller Sünde fern?

Ausheimisch von dem Leibe,

einheimisch bei dem Herrn?

Nicht da, wo weder Trauer,

noch Klage wird gehört,

wo weder Pein noch Leiden

das Glück der Sel´gen stört?

Ist`s nicht bei Christo droben

In ew`ger, selger Ruh? –

Du sagst, du lieb`st so innig –

und dennoch seufzest du?

Nicht länger darfst du klagen,

denn was du gabst dahin,

hat sicher nichts verloren,

nein: Sterben ist Gewinn!

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Die Rückkehr der Gefangenen nach Jerusalem

Bibelstelle: Esra 5 und 6

Botschafter des Heils 1908 S. 169ff

Bei der Verfolgung unseres Gegenstandes werden wir finden, dass die Geschichte der zurückgekehrten Gefangenen uns noch mehr zu sagen hat, als das was wir im vorigen Abschnitt hörten. Neben Belehrung und Ermunterung finden wir in ihr auch vor allen Dingen Warnung. Wenngleich nach Jerusalem zurückgekehrt, bedürfen die Juden doch der Wiederbelebung, gerade so wie sie derselben bedurften, als sie noch in Babylon waren.

Die Verordnung des Königs Artaxerxes hatte dem Bauen des Tempels Einhalt getan. Und siehe da, die Natur oder das Fleisch benutzt dies sogleich zu seinem Vorteil: sobald die Gefangenen Erleichterung verspüren und von der Arbeit am Hause Gottes frei werden, beginnen sie ihre eigenen Häuser auszuschmücken.

Welch ernste Warnung liegt hierin für uns! Man hat oft gesagt, es sei leichter, einen Sieg zu erringen, als ihn auszunutzen. Wir können erfolgreich kämpfen, aber durch den Sieg selbst eine Niederlage erleiden. Die zurückgekehrten Juden hatten einen Sieg davongetragen, als sie die Anerbietungen der Samariter und eine Verbindung mit ihnen zurückwiesen. Sie taten recht daran, auf jede Hülfe zu verzichten, welche ihrer heiligen Absonderung irgendwie Eintrag getan haben würde. Aber jetzt missbrauchen sie den Sieg. Die Samariter hatten einen Erlass von dem Perserkönig erwirkt, durch welchen dem Weiterbau des Tempels gewehrt wurde; die Muße, zu welcher der Überrest sich so verurteilt sah, wurde eine Schlinge für ihn. Man benutzte die Zeit dazu, die eigenen Häuser zu bauen und zu täfeln.

Das ist sehr natürlich, aber zugleich auch sehr demütigend. Abraham hatte weit besser gehandelt. Mit Hilfe seiner geübten Knechte gewann er den Tag seines Zusammenstoßes mit den verbündeten Königen; und dann führte bei ihm der erste Sieg nur den zweiten herbei: er wies die Anerbietungen des Königs von Sodom, die ihm unmittelbar nachher gemacht wurden, zurück. Hier aber wurde die Muße Siegerin über die, welche noch kurz vorher die Samariter besiegt hatten. Dies war mehr dem David ähnlich: er erkämpfte sich in schöner Weise seinen Weg von der Zeit des Löwen und des Bären bis zu dem Tage, an welchem er den Thron bestieg; aber dann zeigten sich sofort Sorglosigkeit und Erschlaffung: er stellte die Lade Gottes auf einen neuen Wagen, der von Ochsen gezogen wurde!

„Ist es für euch selbst Zeit, in euren getäfelten Häusern zu wohnen, während dieses Haus wüst liegt?“ So lautet das überführende und tadelnde Wort des Geistes durch den Mund des Propheten Haggai. (Kap. 1, 4). Das ist, wie gesagt, sehr demütigend; zugleich enthält es eine heilsame Warnung für uns. Unsere Herzen verstehen es sehr wohl, wie die Natur schnell und begierig Vorteil aus den ihr gebotenen Gelegenheiten zieht.

Aber wenn auch die Gefangenen sich der persischen Vorschrift fügen mussten, war doch der Geist Gottes nicht gebunden, und Er konnte Seine früheren Gnadenerweisungen erneuern, indem Er ihnen Seine Propheten sandte. Denn darin hatte auch ehedem Seine Gnade bestanden. Es war dies Sein wohlbekannter Weg gewesen, von der Zeit vor König Saul bis nach König Zedekia, d. h. vom ersten der Könige Israels bis zum letzten, von 1. Sam. 1 bis 2. Chron. 36. In dieser ganzen langen Zeit, von Geschlecht zu Geschlecht, waren wieder und wieder Propheten ausgestanden, um die Könige und ihr Volk zurechtzuweisen, zu belehren oder zu ermutigen.

 Samuel, Nathan und Gad, Schemaja und Asarja, Elia und Elisa, und viele andere mit ihnen, hatten ihren Dienst ausgeübt, während Israel noch eine Nation war; und jetzt werden Haggai und Sacharja in gleicher Eigenschaft zu den zurückgekehrten Gefangenen gesandt: ein schönes Zeugnis davon, dass die alte Form, in welcher die Gnade Gottes Seinem Volke begegnete, immer noch im Gebrauch war, um es erkennen zu lassen, dass es zu jeder Zeit und in allen Lagen in Ihm nicht „verengt“ war. 171

Gott tut keine Schritte, um die zurückgekehrten Juden wieder an ihren ursprünglichen Platz, zu stellen. Das wäre weder der Stellung angemessen gewesen, die das Volk zu Gott einnahm, noch hätte es der Gewalt entsprochen, welche Er den Heiden anvertraut hatte; ebenso wenig hätte es dem Volke im Blick auf die Regierungswege Gottes zur Belehrung gedient. Die Dinge blieben, wie die regierende Hand Gottes sie angeordnet hatte. Der Heide behält die Oberhand auf Erden, und die Herrlichkeit kehrt nicht zu Israel zurück. Der Thron Davids bleibt im Staube liegen; die Urim und Thummim werden nicht zurückgegeben, und die Bundeslade wird nicht wieder gebaut. Dabei hat aber der Geist, wie bemerkt, Seinen Platz, des Dienstes nicht verlassen. Er erweckt Propheten, gerade wie in vergangenen Tagen, wo der Thron Davids in Jerusalem war und der Tempel mit seiner Priesterschaft in Pracht und Schönheit dastand.

Es wäre gewiss nützlich, die Art und Weise zu betrachten, wie diese Propheten ihren Dienst der Wiederbelebung an den Zurückgekehrten ausübten; doch möchte ich hier nicht weiter darauf eingehen. Infolge ihres Zeugnisses wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit dem Tempel wieder zu; der Glaube des Volkes lebte auf, und damit ihr eifriger Dienst. In den vier Jahren, vom zweiten Jahre des Darius, wo Haggai und Sacharja ihren Prophetendienst begannen, bis zum sechsten, wo das Haus vollendet wurde, arbeiteten sie mit erneutem Eifer.

Dann findet die Einweihung des Tempels statt. Sie stellt dem inneren Zustande des Volkes ein schönes Zeugnis aus. Was sie tun können ist nur wenig, sehr wenig; aber sie tun, was in ihren Kräften steht. Salomo hatte 22000 Rinder und 120000 Schafe bei der Einweihung des ersten Tempels geschlachtet; die Zurückgekehrten können nur einige hundert Stiere, Widder und Lämmer darbringen. 

Aber sie tun was sie können; und wer kann sagen, ob das Scherflein der armen Witwe, die Jahrhunderte später lebte, nicht mehr wert war, als alle Opfer ihrer reicheren Vorfahren? Sie taten was sie vermochten, ohne wegen ihrer Armut zu erröten. „Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir.“ Kostbar ist solche Schwachheit, und etwas besonders Annehmliches liegt in solchen Opfern, wenn „bei großer Drangsalsprüfung die Überströmung der Freude und die tiefe Armut überströmen in den Reichtum der Freigebigkeit“ (Vergl. 2. Kor. 8, 2).

Dann feiern sie das Passah; das können und wollen sie tun. Sie können das Haus einweihen und das Fest feiern, und zu beidem sind sie voller Willigkeit. Priester und Leviten sind hier gleich rein; sie „hatten sich gereinigt wie ein Mann“, was unter der Regierung Hiskias nicht der Fall gewesen war. (Vergl. 2.Chron. 29, 34 mit Esra 6, 20.) Wir können deshalb wohl sagen, dass wir hier trotz des Fehlens jeder offenbaren Herrlichkeit, wie bei Salomo, mehr anziehende Gnade und sittliche Kraft entdecken als dort; es ist eine ähnliche Sache wie bei dem Auszug aus Babylon, etwa zwanzig Jahre vorher, im Vergleich mit dem Auszug aus Ägypten. In dem zweiten Auszug und der zweiten Einweihung des Tempels finden. wir Züge von persönlicher Schönheit, welche in den glänzenderen, weit glänzenderen Tagen Ägyptens und Salomos nicht so in die Erscheinung traten.

Esra 7 —10.

Seit dem in den vorigen Kapiteln Erzählten sind ungefähr sechzig Jahre verflossen. Ein neues Geschlecht ist aufgestanden, und wir hören von einem zweiten Auszug aus Babel.

Die letzte Hälfte des Buches Esra teilt uns die Geschichte Esras selbst mit. Sie besteht aus zwei Teilen; der erste umfasst seine Reise von Babel (Kap. 7 und 8), der zweite berichtet von seinem Werk in Jerusalem (Kap. 9 und 10).

In allem, was wir von ihm hören, finden wir in ihm in hervorragender Weise einen Mann Gottes. Er befindet sich in gewöhnlichen Verhältnissen. Kein Wunder zeichnet sein Vorgehen aus, keine Entfaltung von Herrlichkeit oder Macht begleitet es; auch hören wir nichts von einer göttlichen Inspiration, wie in dem Falle der Propheten Haggai und Sacharja bei Erfüllung ihrer Aufgabe. Alles ist sozusagen gewöhnlich; Esras Hilfsquellen sind dieselben, die uns heute zur Verfügung stehen: das Wort und die Gegenwart Gottes. Aber er benutzte diese Quellen- in guter und durchaus treuer Weise. Ehe er an sein Werk ging, richtete er sein Herz darauf, den Herrn zu suchen; er hatte die Satzungen Jehovas erforscht und einen reichen Gewinn davon gehabt, wie ein jeder von uns ihn von dem treuen Lesen des Wortes haben kann. Und von dem Augenblick an, da er zu handeln beginnt, bis zur Vollendung seines Werkes sehen wir ihn in inniger Gemeinschaft und im Verkehr mit dem Herrn. Er führt das Wort Gottes aus, durch jede Schwierigkeit und jedes Hindernis hindurch.

Es ist ein verhältnismäßig kleiner Überrest, den er von Babel nach Jerusalem hinaufführt; aber wir finden einen Geist der Treue und des Gehorsams bei ihm in Übung, der ungewöhnlich ist.

Beim Beginn der Reise ist Esra sorgfältig darauf bedacht, die Heiligkeit der heiligen Dinge zu wahren. In gleichem Geiste hatte der Priester Jojada einst gehandelt, als er dem jungen König Joas zum Königtum verhalf. Er wollte die Reinheit des Hauses Gottes nicht den scheinbaren Anforderungen der Zeit opfern (Vergl. 2. Chron. 23). So will auch Esra hier, bei der Zurückführung seines Überrestes nach Jerusalem, die Heiligkeit der Geräte des Tempels keinem Hindernis, keiner Schwierigkeit seiner Tage zum Opfer bringen. 

Er wartet ruhig auf die Leviten, welche zum Tragen derselben berufen waren, obwohl ihn dies einen Aufenthalt von zwölf Tagen an den Ufern des Flusses Ahawa kostet. In allem diesem steht er weit über dem König David. David hatte in einer Stunde, wo er über die reichen Hilfsquellen eines Königreichs verfügen konnte, das Buch Gottes nicht offen vor sich gehabt, sondern voreilig, wie bereits erwähnt, die Lade Gottes auf einen neuen Wagen gesetzt. Esra erscheint dagegen als ein Mann, der das Wort Gottes beständig vor Augen hat, und der, obwohl mit Davids Eifer begabt, sich doch ernstlich vor dessen Voreiligkeit und Nachlässigkeit hütet (Vergl. 1. Chron. 13).

Es ist ein köstliches Ding, einen Heiligen inmitten schwieriger Umstände, wobei ihm nur die gewöhnlichen Hilfsquellen zu Gebote stehen, sich so vor Gott bewegen und so seinen Dienst und seine Pflichten erfüllen zu sehen.

Auch ist Esra ein Mann, der keinen Schritt rückwärts tut. Er hatte sich dem König von Persien gegenüber des Gottes Israels gerühmt, und jetzt, beim Beginn einer gefährlichen Reise, will er ihn nicht um Hülfe bitten und so das Bekenntnis seiner Lippen Lügen strafen. Er will lieber durch Fasten von Gott Macht und Hülfe erlangen, als durch Bitten von dem Könige.

So vereinigten sich kostbare Tugenden in diesem teuren Manne Gottes. Sein Tun und seine Gesinnung sind von gleicher Schönheit. Er benutzte Gottes Wort und Gottes Gegenwart. Als ein kundiger Schriftgelehrter war er viel im verborgenen Umgang mit dem Herrn. Daheim ein fleißiger, tiefgehender Forscher, draußen ein energischer, praktischer und sich selbst verleugnender Mann. Er wollte nicht hinter seinem Gewissen zurückbleiben oder, mit anderen Worten, das Wort Gottes irgend einer Schwierigkeit oder einem Hindernis zum Opfer bringen. Und wenn sein Bekenntnis für einen Augenblick über seinen Glauben hinausging und er sich nicht ganz dem Platz, auf den er gestellt war, gewachsen fühlte, so wartete er einfach, bis Gott sein Herz gestärkt hatte, und gab nicht furchtsam sein Bekenntnis preis.

Dabei waren, wie bereits gesagt, die Umstände, in denen er sich befand, so gewöhnlich, wie heute die unsrigen nur sein mögen. Außer Gottes Wort und Gegenwart besaß er nichts· Er konnte auch nicht, wie einer der Propheten, durch den Heiligen Geist sagen: „So spricht Jehova“; die Gnade Gottes wirkte eins sich in der Kraft des Geistes in einem Heiligen, um ihn durch das Wort zu neuem Dienst zu erwecken. Das ist in der Tat beschämend für uns. Denn wie wenig sind unsere Herzen, im Vergleich zu Esra, in dem Geist ernsten Dienstes und verborgener Gemeinschaft geübt wie er!

Esra und seine Gefährten erreichen, ohne unterwegs von irgend einem Missgeschick oder einem Verlust getroffen zu werden, Jerusalem. Die gute Hand ihres Gottes war über ihnen und erwies sich als genügend, ohne Heeresmacht von Seiten des Königs. Die Schätze wurden alle so in dem Tempel abgeliefert, wie sie am Flusse Ahawa gewogen und gezählt worden waren. Alles was zu Noahs Zeiten in die Arche einging, kam auch wieder sicher und gesund daraus hervor. Nicht ein Körnlein fällt von solchen Schätzen zu irgendwelcher Zeit zu Boden. So kamen auch alle wohlbehalten in Jerusalem an, die Chaldäa verlassen hatten.

Wenn Esra sich jetzt in Jerusalem umsah, so erblickte er etwas, worauf er nur wenig vorbereitet war. Der Anblick war geradezu überwältigend. Es war schnell bergab gegangen mit den zurückgekehrten Gefangenen, und das Verderben war weit vorgeschritten. Welch eine Probe für den Geist eines solchen Mannes! Sie ließ indes bei Esra nur eine Liebe zu Tage treten, die der Liebe Christi ähnlich war: er weinte über die Sünden anderer Menschen. Wiederum für manchen von uns, wenn nicht für uns alle, eine Ursache zur Beschämung und Demütigung!

Ach! Israel hatte sich von neuem mit der Tochter eines fremden Gottes verbunden. Der heilige Same hatte sich mit dem Volke des Landes vermischt. Der Jude hatte sich mit dem Heiden verschwägert.

Soll bei einer Einrichtung auf die Länge Reinheit erhalten bleiben, so muss eine belebende Kraft wieder und wieder in Tätigkeit treten, und neue Absonderungen zu Gott und Seiner Wahrheit müssen unter der Einwirkung jener belebenden Kraft stattfinden. So war es auch jetzt in Jerusalem.

Indes mag es gut sein, hier einen Augenblick still zu stehen, um einige hierher gehörende göttliche Grundsätze etwas näher zu beleuchten. Als die Sünde kam und das Geschöpf samt der Schöpfung durch sie befleckt wurde, musste Jehova, Gott, ein Zeugnis dafür aufrichten, dass jetzt ein Bruch bestand zwischen Ihm und dem, was das makellose Werk Seiner Hände und die Darstellung Seiner Herrlichkeiten gewesen war. Die Verordnung über rein und unrein tat im Anfang diesen Dienst (Vergl. 1.Mose 8, 20).

In den ferneren Wegen Gottes finden wir zwei andere Verfahren ähnlichen Charakters: ich meine Seine Gerichte und Seine Berufungen. Er entfernte durch das Gericht am Tage der Flut die Befleckung von Seiner Schöpfung, in der Absicht, die Erde zum Schauplatz Seiner Gegenwart und Regierung in der neuen oder nachsintflutlichen Welt zu machen. Aber als jene Welt sich gleich der alten wieder befleckte, unterschied Er zwischen rein und unrein dadurch, dass Er Abraham zu Seiner Erkenntnis und zu einem Wandel mit Ihm, getrennt von der Welt, berief. Das sind Beispiele davon, wie Gott seitdem immer gehandelt hat, und wie Er noch heute handelt und stets handeln wird.

Absonderung vom Bösen ist der Grundsatz der Gemeinschaft mit Gott. Sicherlich sind die Wahrheit, die Erkenntnis Gottes, sowie das Leben in Christo die eigentliche Grundlage, das Mittel oder das Geheimnis der Gemeinschaft, aber ohne Absonderung vom Bösen ist jede Gemeinschaft mit Gott unmöglich. Wenn wir dem Hochgelobten nahen wollen, so muss es in einer Verfassung geschehen, die Seiner Gegenwart angemessen ist.

Esra entdeckt bald, dass die Zurückgekehrten alles das vergessen hatten. Sie hatten sich mit dem Volke des Landes vermischt. Sie waren wieder in das Böse verstrickt, von welchem die Berufung Gottes sie abgesondert hatte. Sie waren befleckt. Esra macht sich an das Werk der Wiederherstellung, und er tut das in demselben Geiste, in welchem ersieh bemüht hatte, bezüglich seiner eigenen Person vor und während seiner Reise für Gott dazustehen. Das ist etwas, das wir ganz besonders an Esra zu beachten haben. Er war persönlich ebenso sehr ein Heiliger Gottes, wie er ein begabtes und gefülltes Gefäß war. Dies tritt bei ihm mehr ans Licht, als bei irgend einem der Männer, die vor ihm unter den Kindern der Gefangenschaft gedient hatten. Er war ein Gefäß, das sich in Wahrheit für den Gebrauch des Hausherrn gereinigt hatte. Die Wiederherstellung in Jerusalem wird mit dem gleichen Eifer ausgeführt, wie die Reise von Babel nach Kanaan; und der Segen Gottes begleitet Esras Tun.

Kein Wunder geschieht, keine Herrlichkeit erscheint, keine außergewöhnliche Kraft kommt zur Entfaltung; nichts ist vorhanden, was über das gewöhnliche Maß oder die üblichen Hilfsquellen hinausginge. Der Dienst wird dem geschriebenen Worte gemäß ausgeübt zur Verherrlichung des Gottes Israels und im Geist der Anbetung und Gemeinschaft. Er ist ein Muster davon, woraus der Dienst heute bei uns besteht oder, wie wir wohl hinzufügen müssen, bestehen sollte. Esra fragt nicht danach, was unter den vorliegenden Umständen tunlich erscheinen könnte, er weicht vor keiner Schwierigkeit zurück und scheut auch weder Arbeit noch Mühe. Er hält die göttlichen Grundsätze aufrecht und bringt das Wort Gottes durch jedes Hindernis hindurch zur Ausführung.

Ich frage: Ist es für die Heiligen unserer Tage nicht erbaulich, die Geschichte der zurückgekehrten Gefangenen zu lesen? Sie enthält eine Fülle von Belehrung, Ermunterung und Warnung für uns, nebst manchem anderen, was uns zum Selbstgericht und zur Demütigung Anlass geben kann.

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Praktische Gerechtigkeit

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 180ff

Es ist eine betrübende Erscheinung unserer Tage, dass das Zeugnis so mancher Kinder Gottes durch einen Mangel an praktischer Gerechtigkeit geschwächt wird, und zwar nicht so sehr durch wissentliches Unrechttun, obwohl auch das leider vorkommt, als vielmehr durch eine gewisse Sorglosigkeit, ein Sichgehenlassen. Man denkt nicht daran, dass infolge der Verbindung unseres Namens mit dem Namen Christi jede, auch die kleinste Handlung von Bedeutung ist.

Wir vergessen so leicht, dass unser Wandel angesichts einer Welt stattfindet, welche, wie nachsichtig und blind sie auch ihren eigenen Versäumnissen gegenüber sein mag, sehr scharfe Augen hat, um alles Verkehrte an denen zu sehen, die Christo angehören. Das Bewusstsein, dass die Kanaaniter im Lande wohnen (1. Mose 12), sollte uns zu ernster Warnung dienen. Unser hochgelobter Herr nahm bei Seinem Aufenthalt hienieden zu an Gunst bei Gott und Menschen; so sollte es auch mit uns sein, aber es ist unmöglich, wenn unsere Wege durch einen Mangel an Aufrichtigkeit gekennzeichnet sind. Die Welt nimmt das sofort wahr und verurteilt uns mit Recht.

Unser Gott, der alle Listen unseres großen Widersachers, des Teufels, kennt, hat uns mit einer Waffenrüstung versehen, mittelst derer wir jedem Angriff widerstehen und als Sieger zu Seiner Verherrlichung den Schauplatz verlassen können. Der „Brustharnisch der Gerechtigkeit" ist ohne Zweifel ein sehr wichtiges Stück jener Waffenrüstung; wenn er fehlt, so ist der Streiter Christi für den zu bestehenden Kampf nicht ausgerüstet, und der Feind wird bald einen Vorteil über ihn erringen. Ich brauche nicht zu sagen, dass es sich hier nicht um die Gerechtigkeit handelt, die uns in Christo zuteil geworden ist, sondern um praktische Gerechtigkeit. Satan kennt, vielleicht besser als wir, den Wert dieses Brustharnisches als Verteidigungswaffe, und deshalb sucht er mit all seiner List und Tücke den Christen zu etwas zu verführen, wodurch er seines schönen Namens als Gerechter verlustig geht.

Betrachten wir zur Erläuterung des Gesagten einige Beispiele aus dem Leben. Es gibt deren viele; ich greife nur einige heraus.

Ein Christ nimmt eine Vertrauensstellung ein; die Verwaltung einer Geldsumme, die einem anderen gehört, ist ihm übertragen. Nun kommt er in eine Verlegenheit; er sollte für eigene Bedürfnisse einen Betrag bezahlen, der ihm augenblicklich nicht zu Gebote steht. Der Teufel flüstert ihm zu, es sei ja von geringer Bedeutung, was er mit dem anvertrauten Geld beginne, wenn er nur die Summe zur Hand habe, sobald sie zurückverlangt werde. Er widersteht der Versuchung; aber dann kommt unerwartet eine Zeit der Not. Satans Einflüsterungen werden dringender. Durch die Not getrieben, leiht ihm der Gläubige sein Ohr und nimmt zum eigenen Gebrauch das, was niemals sein war. Das Gewissen meldet sich; aber er beruhigt es mit der Vorstellung, dass er doch nur leihe, was er in kurzer Zeit zurückzahlen könne. Behalten will er es ja selbstverständlich nicht.

Das ist ein sehr ernstes Spielen mit der Sünde, wenn man es nicht ohne weiteres als Diebstahl bezeichnen muss. Denn das Vorhaben, das Genommene später wieder zurückzuzahlen, ändert eigentlich nichts an dem Grundsatz. Mancher Christ ist auf diese Weise hoffnungslos in Satans Netze verstrickt worden und hat sich am Ende außerstande gefunden, sich je wieder aus ihnen zu befreien. Seine Hoffnungen erfüllten sich nicht; die Zeit zur Rückzahlung kam, und die Summe war nicht zu beschaffen. Wohl einem Gläubigen, wenn Gott ihn in Gnaden auf die Gefahr aufmerksam macht, bevor der Name Christi durch seine Unehrlichkeit mit Schande bedeckt wird und er selbst gebrandmarkt dasteht vor einer Welt, die keine Gnade oder Vergebung für den reuigen Sünder kennt!

Ein zweiter, häufig vorkommender Fall von praktischer Unredlichkeit ist die Gewohnheit, Schulden zu machen. Jenem einfachen und klaren Text: „Seid niemandem irgend etwas schuldig", wird vielfach nicht das Gewicht beigelegt, das jedes Wort unseres Gottes für uns haben sollte. Betrachten wir darum dieses Schriftwort etwas näher.

Die Welt denkt sich sehr wenig dabei, Schulden zu machen. Man hört oft sagen, dass das den Handel fördere, der beeinträchtigt werde, wenn keine Schulden gemacht würden; Kaufleute und Ladenbesitzer müßten damit rechnen, dass ihnen so und so viele Kunden beständig größere oder kleinere Summen längere Zeit schuldig blieben usw. 

Das mag ja so sein, und sicher sind Handel und Wandel ohne jedes Kreditnehmen und -geben nicht denkbar. Aber doch frage ich: Sollten wir, die wir Christo angehören, uns bei der Welt erkundigen, wie wir uns verhalten müssen? Ist es recht für uns, mehr zu kaufen, als wir bezahlen können? Anschaffungen zu machen, wenn wir von vornherein wissen, dass wir den Betrag dafür auf Wochen oder gar Monate hinaus schuldig bleiben müssen? Wir haben das Wort Gottes als eine Leuchte für unsere Füße; es ist sicher ein nie irrender Führer, der uns hilft, unseren Pfad zu reinigen und so zu wandeln, dass wir dem Herrn i n allem gefallen; und dieses Wort sagt: „Seid niemandem irgend etwas schuldig".

Möchten doch alle, die sich Christen nennen, bedenken, dass alles, was sie tun, Christum angeht, und dass es entweder zu Seiner Ehre oder zu Seiner Unehre geschieht! Der Ausgangspunkt ihres Tuns sollte das Wort sein: „Ihr seid um einen Preis erkauft worden, ihr seid nicht euer selbst". Und welch einen Preis hat der Herr Jesus bezahlt! Bis auf den letzten Pfennig hat Er die furchtbare Schuld bezahlt, die wir in alle Ewigkeit nicht hätten abtragen können. Nachdem Er es auf Sich genommen hatte, die Ansprüche eines heiligen Gottes an unheilige Sünder zu befriedigen, hat Er nicht geruht, bis der letzte Heller bezahlt war. Unsere ganze Schuld ist gesühnt. Den Preis kennen wir. 

Ach! die Zahlung konnte nicht aus der Fülle der göttlichen Reichtümer heraus erfolgen, nicht so, wie ein reicher Mann die Schuld eines Armen bezahlt, ohne dass sein Besitz sich in nennenswerter Weise vermindert. Nein, Er hat „alles, was er hatte, verkauft", um den Acker kaufen zu können, der Seinen Schatz in sich barg. Er wurde, da Er reich war, um unsertwillen arm, auf dass wir durch Seine Armut reich würden. Er nahm das, - wir reden mit aller Ehrerbietung, - worauf Er Sein Herz gerichtet hatte, nicht in Besitz, bevor Er den Preis voll und ganz bezahlt hatte. Ein auferstandener Christus zur Rechten Gottes ist die Quittung für die bezahlte Schuld. Und wir, die wir dem Zeugnis Gottes über Seinen Sohn geglaubt haben, sind nun Sein Eigentum. Mit tiefer Freude dürfen wir das sagen, und auf Sein: „Ihr seid nicht euer selbst", frohen Mutes antworten:

Du bist mein, ich bin dein,

Niemand kann uns scheiden.

Aber auch:

Du bist am Kreuz für mich gestorben,

Dort nahmst Du meine Stelle ein.

Dein Blut hat völlig mich erworben,

Mit Leib und Seele bin ich Dein.

Es ist unserem Herrn und Heiland teuer geworden, uns zu Seinem Eigentum zu machen, und Er hat uns zugleich ein Beispiel hinterlassen, wie wir Seinen Fußstapfen nachfolgen sollen. Wie könnten wir uns nun, um zu dem uns beschäftigenden praktischen Beispiel zurückzukehren, in den Besitz irgendeiner Sache setzen wollen, ehe wir imstande sind, sie zu bezahlen? Unser Vater weiß, was wir bedürfen, und Er wird uns gewiss die Mittel für alles Nötige darreichen.

  „Mein ist das Silber und mein das Gold, spricht Jehova der Heerscharen", und Er wird uns gerade so viel davon geben, wie Er es für nötig erachtet. Freilich verheißt Er uns nicht Überfluss, nicht irdische Schätze und Reichtümer; aber Er vergisst auch nicht, dass Er gesagt hat: „Seid niemandem irgend etwas schuldig", und wird uns deswegen alles geben, was wir bedürfen, mag auch unser Glaube zuweilen auf ernste Proben gestellt werden. Andererseits aber kann es Gott nicht gefallen, wenn wir Ansprüche und Anschaffungen machen, die über Sein Darreichen und über unsere Kräfte hinausgehen.

Ohne Zweifel wird es uns manche Selbstverleugnung bringen, wenn wir nach diesem Grundsatz handeln. So kann man z. B. meinen, einen neuen Anzug, ein Kleid, einen Überzieher oder dergl. dringend nötig zu haben; da man aber nicht im Besitz des erforderlichen Geldes ist und doch im Gehorsam gegen das oben angeführte Wort zu wandeln begehrt, bleibt einem nichts anderes übrig, als mit der Anschaffung des betreffenden Kleidungsstückes zu warten, bis Gott das Geld dafür darreicht. Wir haben bereits gesagt, dass unser himmlischer Vater uns stets das Nötige geben wird, wenn auch nicht immer das, was wir nötig zu haben meinen. Wenn Paulus in seinem ersten Brief an Timotheus schreibt: „Wenn wir aber Nahrung und Bedeckung haben, so wollen wir uns daran genügen lassen", so denkt er nicht an einen mit reichen Speisen bedeckten Tisch und an prächtige Kleidung, wonach unsere natürlichen Herzen wohl begehren mögen, sondern er will sagen, dass wir mit dem zufrieden sein sollen, was unser Vater uns an Nahrung und Kleidung auf unserem Wege zur himmlischen Heimat gibt.

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Wachsen

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 193ff

Eines der sichersten Zeichen der gesunden Entwicklung eines Kindes ist, dass es aus seinen Kleidern herauswächst. Im geistlichen Leben ist es nicht anders. Wir lesen in 2. Thes. 1,3, wie Paulus sich freute und Gott dankte, weil der Glaube der bekehrten überaus wuchs.

Es gibt nun zwei Richtungen oder Weisen, in denen ein Wachstum möglich ist, eine richtige und eine falsche. Wenn wir in Eigengerechtigkeit, Selbstvertrauen, Eigenliebe oder in irgendeiner anderen Form des eigenen Ichs zunehmen, so können wir sicher sein, dass es ein falsches Wachstum ist. Der einzige ihm hin, der das Haupt ist, der Christus". Das ist der einzig sichere Boden, auf dem geistliches Leben gedeihen kann.

Ein Christ, bei dem sich wenig geistliches Leben zeigt, ist wie ein gelähmtes Glied am Leibe Christi. Es wird im allgemeinen fiel geredet über Rechtfertigung und Heiligung, aber beständig kann man mit Bekehrten zusammentreffen, die zu denken scheinen, dass sie von beiden wie durch eine hohe Schranke getrennt seien, die auf irgendeine wunderbare Weise übersprungen, überstiegen oder beseitigt werden müsse. Dass etwas derartiges weder geschehen noch erwartet werden kann, ist selbstverständlich.

Die beste und einfachste Erklärung der beiden Worte, die ich je gefunden habe, ist folgende:

  1. Rechtfertigung bedeutet: der Gläubige in Christo,
  2. Heiligung bedeutet: Christus in dem Gläubigen.

Beides beginnt zu derselben Zeit; aber die Heiligung ist, abgesehen davon, dass der Christ seiner Stellung in Christo nach :in für allemal geheiligt ist, ein fortschreitendes Werk des heiligen Geistes in der Seele. In 2. Korinther 10,3-5 wird dieses Werk ein geistlicher Kampf genannt. Da gibt es viele Vernunftschlüsse zu zerstören, viele Dinge, die sich erheben wider die Erkenntnis Gottes; da sind ferner viele Gedanken gefangen zunehmen unter den Gehorsam des Christus. Man kann das christliche Leben mit einer Schule vergleichen. Wir müssen mit der untersten Klasse beginnen, brauchen uns aber dadurch nicht entmutigen zu lassen, dass wir nicht alle unsere Unterweisungen auf einmal lernen können. 

Eine junge leidende Schwester schrieb mir vor kurzem: „Wir befinden uns noch in der Schule, wo es mancherlei zu lernen gibt. Da kommen wir oft in eine andere Abteilung. Wie gut, dass der himmlische Lehrmeister so viel Geduld mit uns hat! Möchten wir nur mehr aufmerken auf das, was Er uns sagt"! Das christliche Leben kann auch mit einem „Haushalt" verglichen werden, dem ein liebender und weiser Vater vorsteht. Die jüngsten Kindlein in der Familie haben genau dieselben Vorrechte und dieselbe Stellung wie die ältesten, aber in ihrer Entwicklung stehen die einen hinter den anderen zurück.

Eine junge Hausgehilfin drückte nicht lange nach ihrer Bekehrung das Fortschreiten in der Heiligung folgendermaßen aus: „Es ist gleich dem Durchschreiten eines lieblichen Gartens, zu dem der Herr uns den Zutritt gestattet hat. Wir erfreuen uns an den Blumen und kosten die Früchte, indem wir die Bibel in der Hand haben als Führer und den Heiligen Geist zur Seite, um uns alles zu erklären".

Unsere Vorrechte und Segnungen sind so groß und ohne Schranken, dass wir ein heißes Begehren danach haben sollten, sie immer besser kennenzulernen. Wir sollten Christen sein, die, bildlich gesprochen, stets auf einem Höhenweg einherwandeln. Wir sind berufen in die Gemeinschaft Jesu Christi, unseres Herrn und Heilandes (1. Korinther 1,9); ja „unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohne Jesu Christi" (1. Johannes 1,3). Was sollen wir nun tun? „In dem Lichte wandeln, wie er in dem Lichte ist" (1. Johannes 1,7). Die Welt sollte stets an uns sehen, dass wir Königskinder, Kinder Gottes, Kinder des Lichts sind.

Es ist eine bekannte, kostbare Wahrheit, dass wir in dem Maße, wie wir in der Gnade zunehmen, einerseits dem Kleinglauben und Unglauben vorbeugen, und andererseits jeder religiösen Selbsttäuschung, allem Scheinwesen und aller Unwirklichkeit entwachsen; diese Dinge können nicht bestehen in dem strahlenden Licht des alles durchdringenden Auges Gottes.

Das große Geheimnis alles geistlichen Wachstums ist, den Herrn „stets vor sich zu stellen" und zu leben, als „sehe man den Unsichtbaren".

Ein Jungbekehrter schrieb einst an einen alten, erfahrenen Christen: „Muss ich nicht mehr Kraft zu erwerben suchen, je weiter ich im christlichen Leben voranschreite?" Die Antwort lautete: „Nein, erwirb größere Erkenntnis von der wahren Quelle der Kraft, und erbitte dir größere Willigkeit, sie zu benutzen; so wirst du die Notwendigkeit und das selige Glück einer beständigen Gemeinschaft mit deinem Heiland kennen lernen.

Ja, Gott gebraucht für Seine Zwecke unsere Schwachheit, nicht unsere Kraft. Wenn wir uns nur recht von Ihm gebrauchen fassen und ein immer willigeres und passenderes Werkzeug in der Hand unseres Gottes werden wollten! Fragst du, wie das möglich sei? Nun, lerne zuerst die ernste, praktische Bedeutung der Worte: „Ihr seid nicht euer selbst" (1. Korinther 6,19)). Ergreife zweitens niemals selbst das Steuer deines Lebensschiffleins; lass Christum Steuermann sein! Du kennst die Fahrstraße nicht, auch nicht die gefährlichen Stellen, wo Felsen und Riffe drohen. Und drittens: Schau nie auf dem Wege hinter dich oder in dich selbst hinein!

Ein Christ träumte einst, er mache einen Spaziergang in einer schönen Gegend. Gerade vor sich sah er einen Wanderer, den er zuerst nicht kannte; hernach entdeckte er, dass es der Herr Jesus war. Da dachte er bei sich: Jetzt will ich nur dahin gehen wohin Christus geht; und eine Zeitlang wandelte er unter Freuden Ihm nach. Endlich aber wollte er doch gern wissen, ob nicht noch jemand außer ihm Jesu nachfolge, und so wandte er sich um. Als er dann wieder seinen Blick vorwärts richtete, war Christus verschwunden.

Es war nur ein Traum, aber ein belehrender Traum. So lasst uns denn unseren Blick fest auf Jesum gerichtet halten, und uns durch nichts und niemand darin beirren lassen. Hiob wusste, was Nachfolge bedeutet, als er sagte: „An seinem Schritte hat mein Fuß festgehalten, seinen Weg habe ich beobachtet und bin nicht abgebogen" (Hiob 23,11).

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Die Rückkehr der Gefangenen nach Jerusalem

Bibelstelle: Nehemia 1 – 6

Botschafter des Heils 1908 S. 197ff

Zwölf Jahre waren nach Vollendung des Werkes Esras verflossen, als Nehemia auf dem Schauplatz erschien. Er weilte noch als Gefangener in Babel (oder in Persien, was grundsätzlich dasselbe ist), während Esra dem Herrn in Jerusalem gute Dienste leistete. Mit dem persischen Königspalast verbunden, wie er war, besaß er zu Esras Zeit vielleicht noch nicht die Freiheit, an der damaligen Bewegung oder Erweckung teilzunehmen; vielleicht war er auch noch nicht durch den Geist dazu ermuntert worden.

Nehemia stellt eine neue Erweckung dar, wenngleich die Schwachheit auf allen Seiten zugenommen hat. Er ist nicht ein Fürst aus Davids Hause, wie Serubbabel, noch ein Priester aus dem Geschlecht Aarons, wie Esra. Er ist sozusagen ein Laie, der Mundschenk des Königs.

In allem diesem gibt es jedoch etwas, das die Gnade, welche in ihm wirkte, nur umso größer erscheinen lässt. Die Lasten, unter denen seine Brüder seufzten, verliehen ihm die Kraft, sieh von dem persischen Palast loszumachen, gerade so wie sie einst die Trennung Moses von Ägypten veranlasst hatten. Kein Wunder zeichnete diese Tage aus, aber wir finden in ihnen viele Zeugnisse von einer schönen sittlichen Entschiedenheit bei den zurückkehrenden Gefangenen.

Esra war sowohl Schriftgelehrter als auch Priester. Er war ein nachdenkender, anbetender Erforscher des göttlichen Wortes, und fand deshalb die Quellen seiner Kraft sowie seine Leitung in jenem Worte. Mit Nehemia war es anders. Er war ein praktischer Mann, der im Getriebe des täglichen Lebens stand, inmitten der Umstände und Verhältnisse, welche die menschliche Geschichte ausmachen. Aber er war ein ernster, aufrichtiger Mann wie Esra, und er nahm das, was er hörte, und ging damit in Gottes Gegenwart, wie Esra es mit dem Gelesenen gemacht hatte.

Er hatte vernommen, dass die Mauern Jerusalems niedergerissen und seine Tore verbrannt seien, und er weinte darüber vor Gott, gerade so wie Esra die Sünden Israels gesehen und vor Gott darüber geweint hatte. Doch mag die Frage hier wohl in uns laut werden: Wie kam es, dass der Anblick dieser Trümmer bei Esra nicht dieselben Gefühle hervorrief? Er weilte doch all die Zeit in Jerusalem, während Nehemia im Palast des Perserkönigs war und nur durch gelegentliche Berichte etwas von der Stadt seiner Väter erfahren konnte. Hatte vielleicht die Energie in Esra abgenommen, und bedurfte er jetzt selbst der Belebung, er, der vor einigen Jahren das Werkzeug gewesen war, um andere aufzuwecken? Solche Dinge kommen vor und sind vorgekommen. In Apstgsch. 1, 15 sehen wir Petrus als Führer unter seinen Brüdern; in Gal. 2 bedurfte er selbst der Belebung, Zurechtweisung und Leitung. Der jüngere Paulus musste seinen älteren Bruder Petrus aufwecken, der dem Herrn schon jahrelang gedient hatte, als er Ihn noch lästerte. Und hier möchte es fast scheinen, als ob der jüngere Nehemia, der dazu noch ein Laie war, den ehrwürdigen Schriftgelehrten aufzuwecken hätte, welcher viele Jahre vor ihm nach Jerusalem übergesiedelt war, um Gott daselbst zu dienen.

Sollte diese Annahme nicht zutreffen, so mag uns die Begebenheit zeigen, dass Gott eine Arbeit für den einen Seiner Diener hat, eine zweite für einen anderen; dass Er einen Zweck durch diese Erweckung verfolgt, einen zweiten durch jene. Serubbabel hatte sich mit dem Tempel beschäftigt, Esra mit der Wiederherstellung des Gottesdienstes; und nun steht Nehemia auf, um nach den Stadtmauern und dem inneren Zustande Jerusalems zu sehen. Auch diese Erklärung ist möglich, weil es ähnliche Fälle gibt und gegeben hat. So gab es vor alters einen Dienst der Gersoniter, der Merariter und der Kehathiter. Derselben Erscheinung begegnen wir in den verschiedenartigen Erweckungen, welche im Laufe der Jahrhunderte im Zeitalter des Christentums stattgefunden haben, besonders seit der Reformation, die auch eine Art Rückkehr aus Babylon war.

Doch wo auch die Ursache liegen mag, dass Esra scheinbar so unbewegt blieb, trotzdem die zerstörten Stadtmauern ihm ·jahrelang vor Augen waren, in jedem Falle steht er, gleich Nehemia, sehr rühmlich da in den Aufzeichnungen und in der Erinnerung des Volkes Gottes.

Nehemia war ein einfacher Mann, voll ernster und aufrichtiger Gefühle für die Ehre Gottes und das Wohl seines Volkes. Sein Buch gibt uns wohl die einzige Selbstbiographie, die wir in der Schrift finden. Dieser treue Mann Gottes schreibt darin seine eigene Geschichte nieder, und zwar in dem einfachen Stil, welcher einem wahrheitsgetreuen Bericht angemessen ist. Er lässt uns wissen, wie er sich wieder und wieder beim Fortschreiten seines Werkes zu Gott wendet, im Geiste eines gläubig Vertrauenden Kindes. Sein Stil erinnert an ein Wort, das ein anderer Schreiber ausgesprochen hat, und welches lautet: „Lass Christum bei jedem Gedanken den Zweiten sein“. Das will sagen: Sieh zu, dass deine Seele sich immer schnell zum Herrn kehrt inmitten der Beschäftigungen des Lebens; lass es dir zur Gewohnheit werden, vor Ihm zu sein, nicht durch eine mühevolle Wachsamkeit, sondern durch eine ungezwungene, glückliche und natürliche Übung der Seele.

Neben dieser Gott wohlgefälligen Übung seines Geistes war Nehemias Herz für seine Brüder geöffnet. In tiefer Liebe und mit jener Beredsamkeit, die frisch vom Herzen kommt, nennt er Jerusalem die „Stadt der Begräbnisse seiner Väter“. So tritt uns denn in Nehemia eine nach jeder Seite hin anziehende Person vor Augen. Wir gewinnen ihn lieb und können ihn nicht wegen seiner guten Eigenschaften und Vortrefflichkeiten beneiden. Wir verfolgen seine Spur mit liebender Bewunderung.

Die Übung des Geistes, durch welche Nehemia ging, ehe er die Erlaubnis seines königlichen Herrn zum Besuch Jerusalems erhielt, ist sehr schön. Vom Monat Kislew bis zum Monat Nisan, das ist vom dritten bis zum siebenten Monat, trauerte er vor Gott betreffs der Stadt. Schließlich kommt er vor den König, erhält seinen Urlaub, und eine Zeit wird ihm bestimmt für Reise und Besuch. Ja, es werden ihm selbst Heeroberste und Reiter mitgegeben, die ihn führen und unterwegs beschützen sollen. In all diesem war er bis dahin viel vor Gott allein gewesen. Erweckungen beginnen gewöhnlich mit Einzelnen.

 Und als Nehemia Jerusalem erreichte, war er zunächst immer noch allein. Während der Nacht besichtigte er die Stadtmauern, um sich mit der Natur des Werkes, das jetzt vor ihm lag, bekannt zu machen. Er prüfte das, was er im Begriff stand an die Öffentlichkeit zu bringen. Das war sehr richtig; denn das ist der Weg der vom Geist geleiteten Diener, wie geschrieben steht: „Wir reden was wir wissen, und zeugen was wir gesehen haben“.

Auch ist Nehemia kein Gönner oder Beschützer; nein, er ist ein Jochgenosse, ein Mitarbeiter, wie Paulus, oder gar wie der göttliche Meister des Apostels selbst, welcher, da Er Herr der Ernte war, doch auch auf dem Erntefelde mitarbeitete. Und dies ist tatsächlich stets die Art und Weise, in welcher der Geist Gottes die Diener Christi zubereitet. Sie prüfen was sie lehren, und sie arbeiten als Diener, nicht als Herren oder als Gönner des Werkes Gottes. Sie hüten die Herde nicht als herrschend über ihre Besitztümer, sondern als Vorbilder der Herde; sie herrschen nicht über den Glauben, sondern sind Mitarbeiter der Freude (Vergl. 1. Petr. 5, 3; 2. Kor. 1, 24).

Gehen wir jetzt zum 3. Kapitel über und besehen uns Nehemias Gefährten am Werke. Auch da finden wir vieles, was uns belehrt und uns unsere eigenen Tage und Umstände vor Augen führt.

Alle zusammen, Vornehme und Geringe, bilden ein Volk von Arbeitern. Der Dienst an der Stadt Gottes hat sie alle auf einen Boden gestellt. Die Reichen werden erniedrigt, die Armen erhöht: ein schöner Anblick zu seiner Zeit und an seinem Platze. Dann finden wir einige mit Auszeichnung genannt: Baruk, der Sohn Sabbais, bessert „eifrig“ aus (V. 20); die „Töchter“ Schallums bessern mit ihrem Vater aus (V. 12); einige der Priester „heiligen“ ihr Werk an ihrem Teile der Stadtmauer (V. 1), während andere von ihnen in gewöhnlicher Weise arbeiten (V. 22.28). Wieder andere bauen „tausend Ellen“ (V. 13). Dann aber ist es schmerzlich, an einer Stelle hinzugefügt zu sehen, dass die Vornehmen der Tekoiter überhaupt nicht arbeiteten. „Sie beugten ihren Nacken nicht unter den Dienst ihres Herrn“ (V. 5).

Derartige Unterschiede hat es zu allen Zeiten gegeben; auch in unseren Tagen sind sie reichlich vorhanden. Wir sehen sie bei der Errichtung der Stiftshütte in der Wüste, bei den Kämpfen in Kanaan, bei den Begleitern Davids am Tage seiner Verbannung, wie später unter den Jochgenossen des Apostels Paulus. Dabei können auch heute Frauen an der Arbeit am Evangelium und am Dienst Jerusalems teilnehmen, wie einst die Töchter Schallums und später das Weib des Aquila. Ja, sie können ein gutes Werk tun. Doch es ist nützlich daran zu denken, dass ein jeder seinen Lohn empfangen wird nach seiner eigenen Arbeit (1. Kor. 3), und ferner, dass der Herr sowohl die Beschaffenheit als auch die Menge dessen abwägt, was Ihm gegeben wird (Matth. 20, 1 —16).

Beim Lesen des 4. Kapitels finden wir, dass die Bauenden zu Kriegsleuten und Arbeitern geworden sind. Die Fortführung des Werkes findet statt angesichts der Feinde und trotz der „Verhöhnung" ihrerseits, wie Hebr. 11 es ausdrückt. In dieser Vereinigung von Schwert und Kelle erblicken wir die Symbole unserer eigenen Berufung. Es gibt Dinge, denen wir zu widerstehen, und andere, die wir zu pflegen und auszubilden haben. Was vom Geiste in uns ist, sollten wir Bauleuten gleich zu entwickeln und zu fördern suchen; dem, was vom Fleische ist, gilt es zu widerstehen, ja, wir sind berufen, es zu töten. Wir sind Bau- und Kriegsleute. 203

Die Feinde sind dieselben Samariter wie im Anfang. Zu Serubbabels Zeit fanden sie ihre Vertreter in Rechum und Schimschai, oder in Tatnai und Schethar-Bosnai; hier, in den Tagen Nehemias, in Sanballat und Tobija. Es sind nicht Heiden, um die es sich hier handelt, sondern ein verdorbener Same Israels, welcher nach dem Urteil von „Fleisch und Blut“ wohl als die Beschneidung hätte gelten können. Und in jenen Tagen scheinen sie noch besonders verderbt gewesen zu sein; denn soweit wir urteilen können, waren Edomiter, Araber, Philister und Ammoniter mit ihnen im Bunde, ja, vielleicht ganz mit ihnen vermengt.

Noch ernster und noch mehr zu unserer persönlichen Warnung dienend ist der Umstand, dass wir eine Anzahl Juden in der Nähe jener Samariter wohnen sehen. Und diese Juden waren in die Geheimnisse der Samariter eingeweiht — ein schlechtes Zeichen (Vergl. V. 12). Sie waren Grenznachbarn. Sie erinnern uns an Lot in Sodom und an Obadja im Hause Ahabs. Sie waren nicht Samariter; nein, sie waren Juden und hatten auch eine gewisse Liebe und Sorge für ihre im Dienst schwer arbeitenden Brüder zu Jerusalem. Aber sie wohnten nahe bei den Samaritern und kannten deren Geheimnisse; und das war, ich wiederhole es, ein schlechtes Zeichen. Vielleicht waren sie von dem alten Stamm, der im Lande zurückblieb, als Juda gefangen weggeführt wurde. Die belebenden Einflüsse, welche von Serubbabel, Esra und Nehemia ausgingen, hatten sie nie berührt. Ihr Geschmack war ihnen geblieben und ihr Geruch nicht verändert; sie waren nicht von Fass zu Fass ausgeleert worden, wie Jeremia von Moab sagt (Vergl. Jer. 48, 11).

Verschieden, sehr verschieden von diesen Leuten war der Posaunenbläser, den Nehemia neben sich stellte; denn wenn jene Juden in das Geheimnis der Samariter eingeweiht waren, so kannte dieser Posaunenbläser das Geheimnis Gottes. Das ist es, was diejenigen stets darstellen, welche die Posaunen tragen und in sie stoßen; mögen wir sie sehen als Priester, die ihr verschiedenartiges Werk in 4. Mose 10 verrichten oder ihr jährliches Werk am ersten Tage des siebenten Monats tun (vergl. 3. Mose 23, 24), oder mögen wir ihnen begegnen als den befähigten Dienern in Gottes Versammlung, wie sie lehrend und ermahnend nach 1. Kor. 12, 8. 9 tätig sind.

Wir finden in Nehemia sehr stark hervortretende Eigenschaften vereinigt. Das 5. Kapitel zeigt uns Tugenden in ihm, die mehr privaten Charakters sind, während wir in den vorhergehenden Kapiteln seine Energie im öffentlichen Auftreten sahen. Er verzichtet auf seine persönlichen Rechte als Landpfleger, um einfach und völlig der Knecht Gottes und Seines Volkes zu sein. Dies erinnert uns an Paulus in 1. Kor. 9, der dort nicht handeln will auf Grund seiner Rechte und Vorrechte als Apostel, ebenso wenig wie hier Nehemia auf Grund seiner Stellung als der Tirsatha oder der Landpfleger von Juda unter persischer Oberhoheit. Das ist schön. Es zeigt uns die verwandten Wirkungen des Geistes Gottes in Seinen auserwählten, wenn auch noch so weit voneinander entfernten Dienern Nehemia und Paulus.

Jedoch enthält dieses Kapitel außer dem vorbildlichen Beispiel auch eine Warnung für uns. Die Juden, welche jetzt schon lange Zeit in Jerusalem weilten, bedrückten einander. Daraufhin sagt ihnen Nehemia, dass ihre Brüder, die sich noch unter den Nationen befänden, hierin weit besser handelten. Denn diese kauften einander los, während sie, die im Herzen des Landes, ihres eigenen Landes, wohnten, sich gegenseitig verkauften.

Das ist ernst und beachtenswert. Möchte es uns zur Warnung dienen! Es sagt uns, dass diejenigen, welche den richtigen Platz, eingenommen hatten, verkehrter handelten als die, welche sich noch an falschem Ort befanden. Die Juden in Jerusalem waren, wenn ich mich so ausdrücken darf, in besserer gemeindlicher Verfassung, während ihre Brüder in Babel sich in sittlicher Beziehung in einem reineren Zustande befanden.

Ist das nicht eine Warnung? Ist es nicht eine ernste bildliche Erläuterung dessen, was wir oft bei uns wahrnehmen und wahrgenommen haben? Ach, wie demütigend ist diese Warnung! Nicht dass wir Jerusalem verlassen und nach Babel zurückkehren sollten, sicherlich nicht; aber wir sollten daraus lernen, dass das Einnehmen eines richtigen Platzes keine Gewähr für einen guten inneren Zustand bietet. Im Gegenteil, wir können durch die Befriedigung, welche eine richtige Stellung in kirchlicher Beziehung gewährt, dahin betrogen werden, dass wir in sittliche Erschlaffung verfallen. Das ist ein sehr natürlicher Betrug. „Der Tempel Jehovas, der Tempel Jehovas, der Tempel Jehovas ist dies!“ so kann die Sprache eines Volkes lauten selbst am Vorabend des Gerichts Gottes. Man kann Krausemünze, .Anis und Kümmel treulich verzehnten, und bei alledem die wichtigeren Dinge: Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit, vergessen.

Doch unser Kapitel berichtet noch von anderen lieblichen Vereinigungen in dem Charakter Nehemias. Neben einer schönen Einfalt bemerken wir in ihm eine nachahmenswerte Entschiedenheit und Bestimmtheit. Seine Einfalt war eine derartige, dass er sich, indem er einen Pfad des Dienstes nach dem anderen betritt, wie ein Kind zu Gott wendet; damit geht aber eine Bestimmtheit gepaart, welche ihn stets als von sich selbst aus handeln lässt in der Furcht und Gegenwart Gottes. 

So sagt er uns hier, dass er auf die Kunde von jenen Bedrückungen, die Brüder an Brüdern verübten, mit sich Rats pflegte, bevor er handelte (V. 7). Auch seine früheren Handlungen verraten die gleiche Klarheit und Bestimmtheit. Er war der Freigelassene Christi, und nicht der Knecht der Menschen: einfältig wie ein Kind in Gottes Gegenwart; ein zielbewusster, unabhängiger Mann angesichts seiner Mitmenschen.

Das sind schöne Vereinigungen, die den Charakter dieses teuren Mannes Gottes hoch auszeichnen.

In Kap. 6 ist Nehemia wieder im Kampf; aber diesmal ist es ein persönlicher Kampf, den er allein auszufechten hat. Er führt hier nicht, wie in Kap. 4, den Feldherrnstab, indem er seinen Leuten in die eine Hand das Schwert, in die andere die Kelle gibt, sondern er kämpft eigenhändig, Stirn gegen Stirn wider die Ränke seiner Feinde. Auch sehen wir ihn in diesem Kapitel durch verschiedene Versuchungen hindurchgehen. Aber durchweg erscheint er als ein aufrichtiger Mann, dessen „ganzer Leib“ deswegen „licht“ ist. Er deckt die Listen des Feindes auf und ist in Sicherheit. Daneben finden wir jedoch noch gewisse besondere Sicherheiten, deren kurze Betrachtung uns nur nützlich sein kann.

Erstens beruft er sich seinen Feinden gegenüber auf die Wichtigkeit des Werkes, an dessen Vollendung er arbeitete (V. 3).

Zweitens stellt er ihnen die Bedeutung seiner eigenen Person vor (V. 11).

Das sind für jeden Heiligen Gottes schöne, brauchbare Beweisgründe angesichts des Versuchers. Ich glaube, wir sehen den Herrn selbst sie benutzen und uns lehren, dasselbe zu tun. In Mark. 3 kommen Seine Mutter und Seine Brüder zu Ihm, anscheinend in der Absicht, Ihn von dem zurückzuhalten, was Er für sie tat. Sie machen es gerade so, wie hier die Feinde Nehemias. Aber der Herr weist, angesichts dieses Ansinnens oder in Beantwortung der Ansprüche, welche Fleisch und Blut an Ihn hatten, auf die Wichtigkeit des Werkes hin, welches Er damals vollführte. Er war beschäftigt, Seine Jünger und die Menge zu belehren, indem Er ihnen das Licht, die Wahrheit und das Wort Gottes zu teil werden ließ. Und das gesegnete Ergebnis eines solchen Werkes überstieg nach Seinen eigenen Worten weit den Wert aller fleischlichen Verbindungen mit Ihm. Die Ansprüche des Wortes Gottes, das Er in jenem Augenblick verkündigte, waren von viel größerem Gewicht als die der Natur.

In gleicher Weise führt der Herr Seine Jünger in die Erkenntnis der Würde ihres Dienstes ein. Er fordert sie auf, „niemanden auf dem Wege zu grüßen“, wenn sie im Dienste seien, und sich durch nichts aufhalten zu lassen, weder durch ein Abschiednehmen von den Ihrigen, noch selbst durch die Teilnahme an dem Begräbnis eines Vaters (Vergl. Luk. 9. 10).

Dann, in Luk. 13, 31 ff., versuchen die Pharisäer, den Herrn in Menschenfurcht zu versetzen, gerade wie Schemaja es in unserem Kapitel mit Nehemia zu tun sucht. (V. 10.) Dann aber lässt der Herr, in dem Bewusstsein der Würde Seiner Person, die Pharisäer wissen, dass Er allein das Verfügungsrecht über sich hatte, das; Er so lang wandeln konnte, wie es Ihm gefiel, und Seine Reise beendigen konnte, wann Er wollte; dass also die Pläne des Herodes eitel waren, es sei denn dass Er selbst ihnen erlaubte, ihren Lauf zu nehmen.

 Ähnlich ist es in Joh. 11. Hier waren es die Jünger, die Ihn verhindern wollten, nach Judäa zu gehen, wo noch kurz vorher Sein Leben in Gefahr gestanden hatte. Hier zeigt Er sich wieder in gleicher Weise als Der, welcher Er war, offenbart Seine persönliche Würde und antwortet ihnen gleichsam von dieser Höhe herab (Vergl. V. 9 -- 11).

In 1. Kor. 6 ist es die Absicht des Heiligen Geistes, den Heiligen durch den Apostel Mut und Kraft einzuflößen, indem Er sie an den erhabenen Platz, an die Ehrenstellung erinnert, welche ihr Teil war. „Wisset ihr nicht“, schreibt Paulus dort, „dass wir Engel richten werden?“ und weiter: „Ihr seid nicht euer selbst, ihr seid um einen Preis erkauft worden“. „Wisset ihr nicht, dass euer Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist?“

In allem diesem gibt es große Schönheiten. Fürwahr, es sind Kriegswaffen, Waffen, aus göttlichem, himmlischem Metall geschmiedet. Mit ihnen Siege zu erringen, das ist wahrlich christlicher Kampf; den Versuchungen wird begegnet und widerstanden dadurch, dass die Seele das Gefühl in sich trägt von der Wichtigkeit des Werkes, zu dem Gott uns gesetzt, und von der persönlichen Würde, zu welcher Er uns erhoben hat. O möchten wir diese Waffen nicht nur bewundern, sondern auch nehmen und benutzen, wie sie da vor unseren Augen in Gottes Rüstkammer hängen! Man kann so leicht die Tauglichkeit eines Werkzeuges für die ihm zugedachte Arbeit betrachten und anerkennen, und doch dabei schwach und ungeschickt bleiben, es zu benutzen und durch dasselbe jene bestimmte Arbeit zu verrichten.

In Bezug auf Nehemia, diesen treuen Knecht Gottes, möchte ich noch kurz den Gedanken eines Freundes wiedergeben. Er machte darauf aufmerksam, dass, obwohl das nach Nehemia benannte Buch von ihm selbst geschrieben sei und ein Stück Selbstbiographie darstelle, er uns doch mit sich selbst nicht weiter bekannt mache, als es notwendigerweise aus seiner Verbindung mit dem Volke Gottes und seinem Dienst in dessen Mitte hervorgehe. Von seinem Familienleben oder von seinen häuslichen Verhältnissen höre man nichts; ebenso wenig von seinem Alter oder von seinem Geburtsort, so dass man wohl sagen könne, er habe sich selbst nicht nach dem Fleische gekannt.

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Gebet und Anbetung

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 210ff

Das Gebet ist die Atmosphäre, in welcher der Gläubige lebt; es ist so notwendig für das neue Leben wie die Luft für das natürliche Leben. Da kommt zunächst das Gebet des Einzelnen in Betracht, von dem der Herr in Matth. 6, 6 spricht. Es ist der praktische Ausgangspunkt eines Lebens in Heiligkeit. (Vergleiche Apstgsch. 9, 11.) Ohne dasselbe ist ein Leben für Gott überhaupt nicht denkbar. Im Kämmerlein, allein mit Gott, verwirklichen wir unsere nahe Beziehung zu dem Vater; dort vernehmen wir das für unsere Seelen bestimmte Wort. Können wir nicht sagen, dass wir in solcher Stunde zuweilen den weißen Stein voraus empfangen mit dem neuen Namen darauf, den niemand kennt, als nur wer ihn empfängt? (Vergl. Offbg. 2, 17). Mit welcher Kraft können wir den Wechselfällen eines jeden Tages entgegengehen, wenn wir am Morgen die Gegenwart und Gemeinschaft unseres Gottes gesucht und von dem verborgenen Manna gekostet haben! Das ist in Wahrheit das nötige tägliche Brot für unsere Seele.

Die meisten unserer Fehler und Irrungen können auf die Vernachlässigung des verborgenen Gebets zurückgeführt werden. Trägheit in dieser Beziehung öffnet sozusagen die Tür des Herzens für alles nur denkbare Böse von außen, das sich dann mit der ungerichteten Natur im Innern verbindet. Das Ergebnis würde, wenn nicht unumschränkte Gnade ins Mittel träte, geradezu verhängnisvoll sein. Kein noch so großer Eifer, keine noch so rege Tätigkeit im Dienst kann den Verlust ersetzen, der auf die Vernachlässigung des verborgenen Gebets folgt. Denn Eifer ohne Gebet stößt nur zurück, da er der Gnade entbehrt, und Tätigkeit ohne Gebet ist nur eben soviel fleischliche Energie.“

So ist denn das verborgene Gebet des Einzelnen als die wesentliche Bedingung für ein heiliges Leben von unberechenbarer Wichtigkeit. Nicht weniger bedeutungsvoll ist aber auch das gemeinsame Gebet, das Bitten und Flehen der zu diesem Zweck zusammengekommenen Gläubigen, mit einem Wort, die Gebetsstunde. Es ist schon oft gesagt worden, und wohl mit Recht, dass der gesunde Zustand einer Versammlung am besten nach dem Besuch der Gebetstunde und der freien Beteiligung der Gläubigen in ihr beurteilt werden könne. Stunden zur Auslegung oder gemeinsamen Betrachtung des Wortes Gottes mögen eine große Anziehungskraft ausüben und regem Interesse begegnen, ja, wir mögen in solchen Stunden nicht nur das Vorhandensein von Gaben, sondern auch die Belehrung des Herrn in vielen Seelen wahrnehmen; aber diese Zusammenkünfte sind kein sicherer Beweis von einem guten geistlichen Zustand. Gaben waren in Korinth genug vorhanden, aber der sittliche Zustand und die geistliche Einsicht befanden sich auf niedriger Stufe. Bei all ihren Gaben musste der Apostel sagen: „Ihr seid noch fleischlich“.

Gott hat einst Seiner Versammlung oder Gemeinde die hohe Stellung gegeben, „der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“ zu sein. Was hätte sie in dieser Stellung bewahren können? Nur ein anhaltendes, ernstliches Gebet. Und was ist, nachdem nun einmal der Verfall eingesetzt hat und der Herr selbst alle Hoffnung auf Wiederherstellung der Kirche zu ihrem ehemaligen Zustande mit den Worten zerstört: „Ich werfe keine andere Last auf euch; doch was ihr habt haltet fest, bis ich komme“ (Offbg. 2, 24. 25), was ist da, frage ich, notwendiger als das gemeinsame Gebet, um uns in den Stand zu setzen, das was wir haben festzuhalten? Das Gebet ist eine wirksame Schutzwehr gegen das Einströmen der Weltlichkeit; es verschließt die Tür vor dem Wolf, der einzudringen sucht, um die Herde zu zerstreuen; es hält Irrlehren und Trennungen fern; es hält die Macht eines vereinten Zeugnisses für die Gnade Christi aufrecht; es ist der Ausdruck unserer Abhängigkeit von Gott und öffnet uns gleichsam die Fenster des Himmels, von woher uns alles zufließt, was wir bedürfen.

 Hätten die Gläubigen von jeher mit Ernst und Eifer teilgenommen an dem gemeinsamen Gebet, würden wir dann wohl so viele Trennungen zu beklagen haben, wie sie heute zu unserem Schmerz und zu unserer tiefen Demütigung unter uns zu sehen sind? Würden sich wohl so viele dahin und dorthin verloren haben, die einst glücklichen und dankbaren Herzens mit uns wandelten? Würde nicht manchem Bösen gewehrt, nicht manche hässliche Frucht im Keime erstickt worden sein? Der Herr schenke uns ein tiefes Gefühl hierüber und ein ernstes Bekenntnis im Kämmerlein, sowie ein gemeinsames Bekenntnis seitens der Versammlung! Denn wenn auch Trennungen und andere böse Erscheinungen nicht gänzlich oder überhaupt nicht beseitigt werden können, so wird Gott sich doch sicherlich zu denjenigen bekennen, welche sich dieser Dinge wegen vor Ihm demütigen. Reicher Segen wird ihr Teil sein, wenngleich das Schamgefühl über die ·bewiesene Untreue keineswegs fehlen wird.

Die Gebetsstunde vernachlässigen heißt die Bedürfnisse der Kirche Gottes verkennen. Nichts ist kostbarer, als Gemeinschaft mit Gott; ohne sie wartet man vergebens auf Segen für die Kirche. Die Errettung von Seelen, so wichtig sie ist, ist doch nicht das Einzige, was Gott im Auge hat. Er baut Seine Kirche, und wir, die lebendigen Steine, sind alle eins in Christo. Diese Einheit ist nicht eine äußerliche; es ist die Einheit des Geistes. Wenn man nun gewohnheitsgemäß, ohne zwingenden Grund, die Gebetsstunde vernachlässigt, befleißigt man sich dann wohl, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens?

Das gemeinsame Gebet ist eine der wesentlichen Verrichtungen der Versammlung als solcher. Eine Verrichtung ist etwas anderes als ein Vorrecht, obwohl sie auch das sein kann. Es gibt Verrichtungen des Leibes, die wesentlich sind zum Leben; wenn eine von ihnen außer Tätigkeit gesetzt wird, so entsteht für den ganzen Leib eine Quelle von Schwachheiten. Ist es nicht gerade so mit der Versammlung? Der geistliche Zustand einer Versammlung steht im Verhältnis zu dem, was wir die gesunde Ausübung ihrer Verrichtungen nennen möchten. Das Gebet ist, wie gesagt, eine dieser Verrichtungen. Die Anbetung ist eine andere; dass sie zugleich auch ein außergewöhnliches Vorrecht ist, brauche ich kaum zu sagen. 

Wenn auch vielleicht nicht so notwendig wie das Gebet, hat sie doch einen höheren Charakter als dieses; nicht als ob sich in ihr eine größere Nähe ausdrückte, aber sie erhebt sich über unsere gegenwärtigen Bedürfnisse, um Gott als die Quelle und den Geber alles Guten zu preisen (Ps. 103) und Ihn anzubeten für das, was Er von sich selbst uns geoffenbart hat. Im Gebet nahen wir Gott als Bittende, um etwas zu empfangen; als Anbeter vereinigen wir uns, um Ihm etwas darzubringen. „Durch Ihn (Jesus) nun lasst uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die Seinen Namen bekennen“ (Hebr. 13, 15)!

Ohne Zweifel danksagen wir auch in einer Gebetsversammlung (vergl. Phil. 4, 6), wie wir umgekehrt bei der Anbetung unsere Bedürfnisse fühlen; aber wir sprechen hier von dem Charakter des Zusammenkommens. In unseren Gebetsstunden haben Fürbitte und Bekenntnis naturgemäß ihren besonderen Platz. Wir beten für das Gedeihen der Versammlung, für die Ausbreitung des Evangeliums, für unsere Häuser und Familien, für die Obrigkeit, für die Menschen um uns her, für Kranke usw.. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass wir auch danken und Gott für alle Seine Wohltaten an uns preisen. 

Aber doch können wir nicht eigentlich von Anbetung reden. Wenn der Herr sagt: „Der Vater sucht solche als Seine Anbeter“, so denkt Er nicht an ein Kundwerdenlassen unserer Anliegen durch Gebet und Flehen mit Danksagung (Phil 4, 6). Das haben die Heiligen schon vor und während der Zeit des Gesetzes getan. Nein, der Vater stand im Begriff, etwas ganz Neues auf Erden zu schaffen, Anbeter, wie sie nie vorher gekannt waren: Kinder, die dem Vater Anbetung darbringen. Nie hatte der Himmel derartiges vorher gesehen. Und, was noch wunderbarer ist: der Vater sucht, nicht die Menschen suchen.

Es ist die Gnade, welche sucht, und die Anbetung der Kinder Gottes geschieht in Geist und Wahrheit. Die Schöpfung preist Gott, aber nicht mit Einsicht. In Israel war äußere Anbetung mit mehr oder weniger Einsicht vorhanden, aber sie geschah nicht in Geist und Wahrheit. Heute findet die Anbetung der Gläubigen in Geist und Wahrheit statt, aber auch hier müssen wir bedenken, dass die Anbetung des Einzelnen, so wichtig und gesegnet sie ist, doch nicht alles das sein kann, was Gott sucht.

 Die Anbetung, welche der Vater sucht, kann nur in Seiner Familie in ihrer Gesamtheit gefunden werden, da wo durch den einen Geist alle vereinigt und zu einem Leibe getauft sind. Freilich muss jedes Glied den Geist der Anbetung besitzen, anderenfalls wird ein Misston in der Versammlung herrschen; aber nur in der gemeinsamen Danksagung der Gläubigen (d. h. der örtlichen Versammlung als der Vertreterin aller) ist im eigentlichen Sinne die Anbetung zu finden, welche der Vater sucht. Hier ist die Fülle der Segnung, denn der Herr selbst ist da; wie geschrieben steht: „Inmitten der Versammlung will ich dich loben“ (Vergl. Ps. 22, 22; Hebr. 2, 12).

Die Stätte der Anbetung, insoweit wir von einer solchen auf Erden reden dürfen, liegt allerdings außerhalb des Lagers, und wir müssen hinausgehen, um sie zu finden. Aber wenn wir das tun, so gehen wir zu Ihm hinaus, der außerhalb des Tores gelitten hat. Es ist eine Stätte der Schmach; aber die, welche sich wirklich dort befinden, fordert der Heilige Geist auf, Gott stets ein Opfer des Lobes darzubringen, das ist die Frucht der Lippen, welche Seinen Namen bekennen. 

Was würde man von einem Menschen sagen, der den Namen seines Wohltäters, durch dessen Güte er lebt, nicht anders erwähnen würde, als nur in einigen wenigen Worten des Dankes beim Empfang neuer Gaben? Würde man nicht sagen, dass es ihm an dem richtigen Gefühl mangle? So heißt auch die Anbetung unterschätzen oder gar dieses wunderbare Vorrecht mit Absicht vernachlässigen nichts anderes, als Gott das Ihm Zukommende vorenthalten und nicht unserer Berufung entsprechend leben. Die Versammlung in ihrer Gesamtheit verliert dabei reiche Segnungen, und der einzelne Gläubige nicht minder. Die Anbetung wird, das ist das ganz Besondere an ihr, nie aufhören. Im Himmel wird es keine Gebetsversammlungen mehr geben wie hienieden. Fürbitte, Bekenntnis und dergleichen hören dort auf; Bitten um dies und jenes werden nicht mehr ausgesprochen werden. Aber die Anbetung, die wir hier beginnen, wird fortdauern in alle Ewigkeit.

Die vornehmste Gelegenheit, um dem Vater Anbetung darzubringen, ist die Feier des Abendmahls am ersten Tage der Woche. Hier vereinigt sich alles, um das Herz des Gläubigen mit Lob und Dank zu erfüllen: die Liebe des Vaters, die Hingabe des Sohnes, die Erinnerung an die unermesslichen Leiden Christi am Kreuze, die Verherrlichung Gottes in Seinem Tode, die gesegneten Folgen dieses Todes für uns, das Bewusstsein der Gegenwart des Herrn inmitten der Versammlung, Gottes ewige Ratschlüsse im Blick auf den Erstgeborenen vieler Brüder, Seine Gedanken über das Haupt Seines Leibes, der Versammlung, alles das und noch vieles andere tritt vor das Herz und stimmt es zu dankbarer Freude und tiefer, herzlicher Anbetung.

Damit soll indes nicht gesagt sein, dass ausschließlich am Tische des Herrn Gott Anbetung dargebracht werde oder dargebracht werden könne. Keineswegs; wohl aber ist und bleibt die Feier des Abendmahls hienieden die erste und vornehmste Gelegenheit dazu. Wenn man fragt: Sollte es nicht auch noch andere Zusammenkünfte der Gläubigen geben können, welche in besonderer Weise die Anbetung zum Zweck haben? So möchten wir das nicht nur nicht in Abrede stellen, sondern vielmehr der Meinung Ausdruck geben, dass ein treuerer, entschiedenerer Wandel in Absonderung von der Welt und in Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne das Begehren nach solchen Zusammenkünften wecken und sie zum Preise Gottes gestalten würde.

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Aus einem Briefe über das Gebet des Herrn

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 218ff

Aus einem Briefe über das Gebet des Herrn. . . . Dass das sogenannte Gebet des Herrn (das „Vaterunser“) vollkommen ist, steht außer Frage, denn der Herr selbst hat es gegeben. Aber da wo der Geist ist, ist Freiheit, und ich finde nicht den geringsten Hinweis auf dieses Gebet in all den übrigen Teilen des Neuen Testamentes, obgleich man darin manchem Gebet begegnet, oder doch Stellen, welche Gegenstände des Gebets behandeln. Es wäre auch wohl unmöglich, dass ein Mensch, welcher durch den Heiligen Geist in die Erkenntnis seiner Bedürfnisse und der Liebe Gottes eingeführt ist, sich an eine vorgeschriebene Form des Gebets binden würde. Doch wenn man sich dieses Gebetes bedient, indem man gleichzeitig andere hinzufügt, so sagt man damit, dass jenes unvollkommen ist, oder doch den Bedürfnissen der Seele nicht entspricht.

Tatsache ist, dass das Erteilen von Anweisungen zum Gebet an Menschen, welche noch nicht den Heiligen Geist empfangen haben, (so vollkommen diese Anweisungen auch sein mögen,) und die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in einem Menschen, in welchem Er Wohnung gemacht hat, zwei sehr verschiedene Dinge sind. Wer das nicht versteht, weiß nicht, was der Einfluss des Heiligen Geistes ist. Der Geist Gottes handelt notwendigerweise in der Seele in der Ihm eigentümlichen Weise, und, indem Er die Herrlichkeit des Herrn offenbart, bringt Er die Seele in eine ganz neue Verbindung mit dem Vater und unserem Herrn Jesu Christo. Der aus Erden lebende Herr konnte die Seele nicht in diese Verbindung bringen, deren inniger Ausdruck das Gebet ist; und diese neue Verbindung verleiht dem Gebet einen ganz neuen Charakter. ·

Daher jene „unaussprechlichen Seufzer“, wobei Der, welcher die Herzen erforscht, keinen ungelernten und dem Gedächtnis eingeprägten Formen begegnet, selbst wenn diese Formen von dem Herrn selbst gegeben wären. Nein, Er begegnet den Gedanken des Geistes, welcher sich Gott gemäß für uns verwendet. Will man das Gebet des Herrn als eine Ergänzung der Unvollkommenheit unserer eigenen Seufzer anwenden, (ich gebe durchaus zu, dass das in gutem Glauben geschehen kann), so wäre das doch wohl ein schlechter Gebrauch von dieser kostbaren Belehrung des Herrn. Es wäre nichts anderes als ein Hersagen Seiner Worte, ohne mit dem Herzen dabei zu sein, nur um die Lücken auszufüllen, welche sich in unseren Herzen finden. Zugleich wäre es eine Missachtung der Seufzer des Heiligen Geistes.

Aber die Schwierigkeit liegt darin, dass wir es meist mit Seelen zu tun haben, welche die Befreiung durch den Heiligen Geist noch nicht besitzen und deshalb die Gedanken des Herrn Jesu nicht verstehen, noch die Tatsache, dass Er in Seiner zärtlichen Liebe Vorsorge für Seine Jünger treffen konnte, die damals den Heiligen Geist noch nicht empfangen hatten. Diese Vorsorge war nicht mehr in derselben Weise auf sie anwendbar, als der Heilige Geist herniedergekommen war. Hier liegt der Kernpunkt der Schwierigkeit. Wenn es sich um Weltmenschen handelt, so kann man ihnen sehr leicht klar machen, dass sie sich des Gebetes des Herrn nicht bedienen können; denn wie könnten sie sich erkühnen zu sagen, dass sie Kinder Gottes seien, oder wünschen, dass das Reich des Herrn Jesu herbeikomme, da sie ja nicht wissen, ob das nicht ihr ewiges Verderben sein würde? . . . 

Handelt es sich um Kinder Gottes, so ist es notwendig, in Zartheit zu verfahren. Vielleicht ist eine aufrichtige Ehrfurcht vor den Worten des Herrn vorhanden, obgleich nicht selten mit Aberglauben vermischt. Man muss sie aufzuklären suchen über die Befreiung durch den Heiligen Geist und über Seine Gegenwart in denjenigen, welche sich dem Herrn Jesu übergeben haben. Alle ihre Schwierigkeiten fallen von selbst dahin, sobald sie befreit werden. Man wird gut tun, von dem „Überrest« mit ihnen zu reden, vorausgesetzt dass sie wissen, was das ist. Jedenfalls aber werden sie verstehen, dass das Gebet die Gedanken des Herrn Jesu, Seine zarte Fürsorge für Seine Jünger zum Ausdruck bringt, welche noch fleischlich waren und nötig hatten, wie Kinder geleitet zu werden, indem Jesus selbst auf der Erde war, um hienieden ihr Führer zu sein. Sie werden den Unterschied verstehen zwischen diesem Zustand und der Gegenwart des Heiligen Geistes, durch den wir wissen, dass wir in Christo sind und Er in uns. Als einer, der auf der Erde ist, der hienieden seinen Platz, hat, sage ich: „der du bist in den Himmeln“. Jetzt aber nahe ich entweder dem Kreuze als Sünder, oder ich bete Gott an als einer, der sich in Seiner Nähe befindet. Ferner lautet mein Ruf viel eher: „Komm, Herr Jesu!“ als: „Dein Reich komme!“ obgleich beides wahr ist. — „Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf der Erde“, ist gewiss auch uns er Wunsch; aber doch drücken diese Worte nicht die Bedürfnisse einer Seele aus, welche kämpft „wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern“, und welche auf der Erde wandelt zu einer Zeit, da diese von Gott entfremdet ist.

 Eine solche Seele nimmt ihren Platz ein als Fremdling in dieser Welt, die den Herrn verworfen hat; sie findet ihre Ruhe in den himmlischen Dingen und Segnungen, und ihre Freude ist, dem erhöhten Herrn gleichgestaltet zu werden. Der Heilige Geist entwickelt auch häufig die Wünsche und Gelübde des Gebietes des Herrn in einer Menge von Dingen, von denen Er uns Kenntnis gibt, und die über jenes Gebet hinausgehen. Wenn dieses letztere aber unser Gebet ist, so dürfen wir auch nur dieses anwenden; es ist vollkommen und daher unser ganzes und unser einziges Gebet. . . .

Übrigens ist es sehr kostbar, den Inhalt des Gebetes des Herrn zu betrachten und den darin enthaltenen Gedanken Jesu nachzuforschen.

J. N. D.

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Drei schlimme Übel

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 221ff

Es gibt drei Dinge, unter welchen manche Kinder Gottes schwer zu leiden haben, und die man in Wahrheit ,,schlimme Übel« nennen kann. Diese sind: ein gesetzlicher Geist, ein krankhaftes Gewissen und ein mit sich selbst beschäftigtes Herz. Wir möchten in den folgenden Zeilen einige Worte über diese Übel sagen und die Mittel angeben, durch welche sie geheilt werden können.

Beschäftigen wir uns zunächst mit dem gesetzlichen Geist. Dieses Übel kommt sehr häufig vor und ist schwer zu beseitigen. In vielen Fällen ist es so hartnäckig, dass es dem Gläubigen bis ans Ende anhaftet und ihm jenen Frieden und jene Freiheit raubt, welche das eigentliche Teil aller Kinder Gottes sind. Es tritt in verschiedenerlei Weise zu Tage. Es stört die Seele in ihrem Genuss der freien, unumschränkten Gnade Gottes, ja, selbst der Errettung, die jene Gnade vollbracht hat, und stimmt den ganzen Ton des Lebens und Charakters herab. 

Auch verfälscht es den Charakter Gottes, indem es Ihn als einen strengen Forderer hinstellt, der unerbittlich die Leistung einer gewissen Anzahl von Pflichten verlange, anstatt Ihn als einen freundlichen Geber erscheinen zu lassen, der an der dankbaren Anbetung glücklicher Kinder Seine Wonne hat. Mit einem Wort, ein gesetzlicher Geist türmt eine schwere, dunkle Wolke zwischen der Seele und Gott auf, und bringt damit alles in Verwirrung. Ohne Zweifel ist es gut und Gott wohlgefällig, dem Buchstaben der Schrift die gewissenhafteste Beachtung zu schenken und den ernsten Wunsch im Herzen zu haben, sich so zu bewegen, wie jener Buchstabe es einschärft. Aber ein gesetzlicher Geist macht alles kalt, förmlich, unfreundlich. Der Dienst wird als eine schwere Pflicht betrachtet, nicht als ein freudiger Genuss. So durchkältet der gesetzliche Geist die Gefühle und behindert ihr Ausströmen selbst zu Gott hin.

Was ist nun das Heilmittel für dieses Übel? Es ist, mit einem Wort gesagt, die Gnade. Ja, Gnade ist das große, sichere Heilmittel für einen gesetzlichen Geist. Verschaffen wir der freien Gnade Gottes in all ihrer Lieblichkeit und himmlischen Kraft Eingang in die Seele. Trachten wir danach, Gott kennen und genießen zu lernen in Seinem wahren Charakter als Geber, als Den, welcher wohnt unter den Lobgesängen Seines erlösten Volkes. Lasst uns im Glauben die Tatsache verwirklichen, dass wir in Gnade stehen, dass wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind, dass jedes Joch zerbrochen, jede Fessel zerrissen ist, dass Gott uns in Christo sieht, dass wir geliebt sind wie Er, gewaschen und Gott nahe gebracht durch Sein Blut. Lasst uns diese göttlichen Wirklichkeiten in der Kraft eines einfältigen, kindlichen Glaubens ergreifen, und die Schatten eines gesetzlichen Geistes werden entfliehen. Ein in der Gnade gegründetes Herz ist nicht nur glücklich, sondern auch eifrig im Dienste des Herrn.

Wenden wir uns jetzt zu dem zweiten Übel, dem krankhaften Gewissen. Auch dieses tritt in verschiedenerlei Weise auf und bereitet der Seele viel niederdrückende, kummervolle Arbeit. Unaufhörlich schafft es Schwierigkeiten und weckt Zweifel und Befürchtungen. Anstatt sich von den klaren Geboten des Wortes Gottes leiten zu lassen, steht es unter der Wirkung seiner eigenen törichten Eingebungen und Befürchtungen. Wer nicht selbst schon mit diesem Übel zu tun gehabt hat, kann sich keinen Begriff von der Zahl der Leiden machen, die es dem bereitet, welcher an ihm leidet. Verbindet sich nun gar — und das ist nicht selten der Fall ——- ein krankhaftes Gewissen mit einem gesetzlichen Geist, dann steht die arme, gequälte Seele dem Frieden und der Freude im Glauben als eine völlig Fremde gegenüber.

Nun, und was ist das Heilmittel für dieses große Übel? Es ist die Wahrheit. Die einfache, lautere Wahrheit Gottes, die Autorität der Heiligen Schrift, das in unmittelbare Berührung mit dem Worte gebrachte Gewissen, die Unterwerfung unter dieses Wort allein. Auf diesem Wege wird die Seele ausschließlich von den Ansprüchen der göttlichen Wahrheit beherrscht und von ihren eigenen Gedanken und ängstlichen Befürchtungen befreit.

Die Wirkungen des letzten Übels, des Beschäftigtseins mit sich selbst, zu verfolgen, ist unmöglich, so mannigfaltig und verschieden sind sie. Es gibt wohl keinen Menschen, dem dieses Übel gänzlich unbekannt wäre. Ein mit sich selbst beschäftigtes Herz bringt den Menschen dahin, Dinge und Personen zu betrachten und zu werten nur nach dem Verhältnis, in welchem sie zu ihm stehen. Man beurteilt den Wert anderer danach, wie sie einem angenehm sind. Man neigt zu Personen hin, welche einem in Geschmacksrichtung, Gefühlen und Meinungen passen, während man gegen andere sich ablehnend verhält. Man liebt solche, die mit den eigenen Ansichten übereinstimmen. Mit einem Wort, man beurteilt Menschen und Dinge nicht etwa nach ihrem Verhältnis zu Christo und Seinen Interessen, sondern nach dem Verhältnis, in welchem sie zu dem eigenen armen Ich und dessen engem Interessenkreis stehen.

Das ist wiederum ein schlimmes Übel, welches aller Gemeinschaft den Todesstoß versetzt, mag es sich um die Gemeinschaft mit Gott oder mit den Seinigen handeln. Und was ist das göttliche Heilmittel für dieses Übel? Es heißt: Die Person Christi. Ein anderes gibt es nicht; aber dieses ist auch untrüglich.

So ist denn Gnade das Heilmittel für einen gesetzlichen Geist, Wahrheit das Heilmittel für ein krankhaftes Gewissen, und die Vereinigung von Gnade und Wahrheit, d. i. Christus selbst, das Heilmittel für ein mit sich selbst beschäftigtes Herz. Der Herr wolle uns alle den kostbaren Wert und die untrügliche Heilkraft dieser Mittel erfahren lassen!

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Die Rückkehr der Gefangenen nach Jerusalem

Bibelstelle: Nehemia 7 – 10

Botschafter des Heils 1908 S. 225ff

In Kap. 7, 4 lesen wir: „Die Stadt aber war geräumig und groß. und das Volk darin spärlich, und keine Häuser waren gebaut“. Nachdem die Mauern vollendet waren, wurde es nötig, an die Besiedelung der Stadt zu denken. Diese Sache nimmt Nehemia jetzt in die Hand. Denn die Mauern wären ja zwecklos gewesen, wenn sie nicht zur Verteidigung eines bevölkerten Platzes hätten dienen sollen.

So finden wir denn im Beginn des 7. Kapitels einen Plan im Herzen Nehemias, und er sucht sich Aufklärung über die Zurückgekehrten zu verschaffen. Damit beschäftigt, findet er das Geschlechtsverzeichnis derer, welche in den Tagen Serubbabels zurückgekehrt waren. Ehe er jedoch zur Ausführung seines Planes schreitet, die Stadt zu bevölkern, tritt er sozusagen für eine Weile beiseite, um das Volk selbst zu besehen. Über diese Tätigkeit berichten die Kapitel 8 —10. Sie bilden gewissermaßen eine Einschiebung; denn im 11. Kapitel nimmt Nehemia den Plan wieder auf, den er im 7. Kapitel gefasst hat.

Dieser Umstand verleiht den drei Kapiteln Charakter und besonderes Interesse. Das Volk macht hier einen sittlichen Prozess durch, der in seiner Art sehr auffallend ist. Nehemia bekümmert sich um die Einzelnen, er sieht nach ihren Seelen, forscht nach ihrem sittlichen Zustand, und möchte sie gern beleben oder heiligen, bevor er sie an ihren Platz stellt.

Diese Tätigkeit beginnt am 1. Tage des siebenten Monats, einem hervorragenden Tage des israelitischen Kalenders. An diesem Tage wurde bekanntlich das Fest des Posaunenhalls gefeiert; es war ein Tag des Wiederauflebens nach langer Zwischenzeit der Dürre oder des Todes im Lande. Nach der gesetzlichen Verordnung musste an diesem ersten Tage des siebenten Monats eine heilige Versammlung und ein Posaunenblasen stattfinden; denn er war, wie gesagt, das Symbol eines Wiederauflebens nach langer dürrer Zeit (Vergl. 3· Mose 23, 23 — 25) .Diese Verordnung war lange nicht beobachtet worden. Hier, in Nehemia 8, kommt sie wieder zu ihrem Recht. Eine feierliche Versammlung des Volkes findet statt. 

Aber nicht nur das; das Buch des Gesetzes wird auch vor den Ohren des Volkes gelesen und erklärt, und das Volk weint dabei. Das war ganz in der Ordnung, denn das Gesetz ist dazu da, den Sünder zu überführen und ihm den Schrei zu entlocken: „Ich elender Mensch!“ Indes suchen bei dieser Gelegenheit die Lehrer das Volk sogleich zu beschwichtigen, weil jener Tag „dem Herrn heilig“ war. Es war eine Zeit der Freude; das bewies das Blasen der Posaunen, sowie der beginnende Neumond, der mit seinem täglich stärker werdenden Licht ein treffendes Bild von dem Wiederaufleben Israels ist. Das Volk wurde deshalb aufgefordert, die Freude an Jehova seine Stärke sein zu lassen, sich nicht zu betrüben und einander Teile zuzusenden.

Alles das stand in schönem Einklang mit den göttlichen Verordnungen über diesen Tag. Das Eine, was hinzugefügt wurde, oder was nicht durch 3. Mose 23 vorgeschrieben war, das Lesen des Gesetzes nämlich, diente nur dazu, dem Tage und seiner Feier einen reicheren, volleren Ton zu geben. Das Hinzugefügte stand durchaus nicht im Widerspruch mit dem Verordneten, das Freiwillige bedeutete keine Verletzung des Vorgeschriebenen.

Wir erwarten an einem Tage der Erweckung nichts anderes. Dem Worte Gottes muss in solcher Zeit selbstverständlich alle Ehrung zu teil werden, es muss die Richtschnur für alles bilden. Doch wird es dabei auch, ich möchte sagen notwendigerweise, etwas Neues oder Hinzugefügtes geben, wie es der Charakter der Zeit, unter der Leitung des Heiligen Geistes, gerade eingibt. Aber dieses Neue, was es auch sein mag, wird sich in keiner Weise mit dem Wort Gottes in Widerspruch setzen. Das sehen wir hier.

Und wie kostbar ist es, hier zu entdecken, dass das Wort Gottes, einmal geöffnet, geöffnet bleibt! Es war gleichsam der Tag „einer offenen Bibel“. Einen Teil der Belehrung, nämlich die Mitteilung über die Satzungen des ersten Tages des siebenten Monats, hat dieses geöffnete Buch bereits gegeben; jetzt erteilt es weitere Belehrung. Es redet zu den Versammelten von den acht anderen Tagen des gleichen Monats, vom Feste der „Laubhütten“. Und das Volk, welches bereits in dem Geiste gehorsamer Hörer das Wort aufnimmt, bleibt in diesem Worte. Sie erhalten Aufklärung über jenes wunderbare Fest, und sie feiern es, und zwar so, wie es seit Jahrhunderten nicht gefeiert worden war.

Das war ohne Frage sehr schön. Doch es gibt noch etwas anderes Neues.

Das 9. Kapitel zeigt uns die Kinder Israel in tiefer Demütigung. Ein ernstes Sündenbekenntnis findet statt, welchem im 10. Kapitel das Eintreten in einen Bund des Gehorsams gegen Gott und der Beobachtung Seiner Gebote folgt. Nichts von alledem war vorgeschrieben. 3. Mose 23 erwähnt nichts davon.

Hierbei ist jedoch wieder etwas zu beachten. Jene ernste Demütigung fand erst am 24. des Monats statt. Das Laubhüttenfest war vorüber; es ging mit dem 22. zu Ende. Auch dies war schön. Die Versammlung wollte nicht durch ihre Demütigung und ihr Sündenbekenntnis das Fest stören oder seinen Zweck behindern. Das Laubhüttenfest war die fröhlichste Zeit im ganzen jüdischen Jahre. Es wurde gefeiert, wenn der ganze Ertrag des Landes eingesammelt war. Es war ein Bild von den Tagen der Herrlichkeit oder des Reiches.

Wie schon bemerkt, war die Demütigung ebenfalls eine freiwillige Handlung; sie wurde nicht durch die Schrift gefordert, sondern, unter der Leitung des Geistes Gottes, veranlasst durch die Zeit und die Umstände, welche die Erweckung unter Nehemia kennzeichneten. Bekenntnis war die passende Sprache für ein Volk, das in jenem Augenblick als Vertreterin einer aufrührerischen, ungehorsamen und schuldbeladenen Nation dastand. Dem „Ablassen vom Übeltun“ muss jedoch ein „Lernen, Gutes zu tun“ folgen. Es ist richtig und notwendig, wenn wir unrecht getan haben, mit dem Bekenntnis des Unrechts zu beginnen, ehe wir uns daran machen, das Rechte zu üben. Aber dem Bekenntnis des Unrechts sollte auch stets das Vollbringen des Rechten folgen. Die Erfüllung dieser Forderung tritt vor unseren Blick, wenn wir vom neunten zum zehnten Kapitel übergehen.

Die Vornehmen und das ganze Volk vereinigen sich als „Brüder“, die abgesondert sind von den Völkern der Länder, und besiegeln einen Bund, um die Gesetze Gottes zu halten. Es ist erfreulich, zu sehen, wie Rang und Stellung, gerade so wie zur Zeit des Bauens im Z. Kapitel, sich gleichsam in der Brüderschaft verlieren. „Der niedrige Bruder aber rühme sich in seiner Erhöhung, der reiche aber in feiner Erniedrigung; denn wie des Grases Blume wird er vergehen“. Aber auch in dem, wozu der Überrest sich jetzt verbindet und was er zu tun sucht, gibt es etwas Neues oder nicht Vorgeschriebenes. Sie verpflichten sich, alle Gebote des Herrn, Seine Rechte und Satzungen zu beobachten, sich nicht mit anderen Völkern zu verschwägern, den Sabbat zu halten, sowie die Erstlinge des Landes, die Erstgeburt von Menschen und Vieh, samt dem Zehnten treulich zu bringen. Alles das ist dem Wort entsprechend. Außerdem aber kommen sie überein, sich jährlich einen drittel Sekel für den Dienst des Hauses Gottes aufzuerlegen, und werfen Lose über die Holzspende, die sie zu bestimmten Zeiten für den Altar Gottes bringen wollen.

Alles das steht in lieblichem Einklang mit ihrer ganzen Handlungsweife an diesem Tage eines glücklichen Wiederauflebens. Das Wort findet in allen seinen Forderungen gebührende Anerkennung; aber ihr Dienst, ihre Tätigkeit, geht, wie gesagt, noch darüber hinaus.

Damit geht die prophetische Tätigkeit Nehemias, wie ich sie nennen möchte, zu Ende. Sie ist schön vom Anfang bis zum Schluss. Das Volk macht eine gnädige Entwicklung durch. Es wird der Wahrheit gemäß durch den Geist geübt. Es wird überführt und findet dann Erleichterung. Daraus empfängt es Unterweisung über zukünftige Freuden in Tagen der Herrlichkeit. Und indem es so über seinen reichen Anteil an der Gnade belehrt ist, kann es sich selbst betrachten, aber nicht in Furcht und im Geiste der Knechtschaft, sondern um ein geziemendes Gebrochensein des Herzens hervorzurufen, und mit der Absicht, in Zukunft Gott zu dienen. Alles das mag uns wohl an jenes Wort erinnern, das durch den Heiligen Geist für das bußfertige Israel in den letzten Tagen zuvor versehen ist: „Denn nach meiner Umkehr empfinde ich Reue, und nachdem ich zur Erkenntnis gebracht worden bin, schlage ich mich auf die Lenden. Ich schäme mich und bin auch zu Schanden geworden, denn ich trage die Schmach meiner Jugend“ (Jer. 31, 19).

Kapitel 11 — 13.

In diesen Kapiteln finden wir das Volk immer noch eifrig und gehorsam. Der Tag der Erweckung dauert an. Die Frische des Morgens hat noch keineswegs nachgelassen, obwohl der Tag schon weiter vorgerückt ist.

Das elfte Kapitel beginnt mit einem traurigen Beweise von dem niedrigen Zustand Jerusalems. Die Stadt selbst legt Zeugnis wider sich ab, dass sie nicht so ist, wie der Herr sie in den Tagen der kommenden Herrlichkeit haben will. Sie ist nicht „ersehnt“, eher ist sie „verlassen“. Das Volk strömt ihr nicht zu. Sie kann nicht umherblicken, wie sie es in den Tagen des Reiches tun wird, und sich wundern über die Menge ihrer Kinder. Bis jetzt rühmt sich niemand, dass er in ihr geboren sei, noch sagt jemand, dass alle seine Quellen in ihr seien. (Vergl. Ps. 87.) Auch kann sie noch nicht von sich sagen, dass ihr der Raum zu eng sei wegen der Menge derer: die in ihr wohnen. (Vergl. Jes. 49, 17 —- 21). Ihr Zustand in diesem Kapitel hat von allem diesem nichts aufzuweisen. Sie ist Schuldnerin jedem gegenüber, der freiwillig oder durch das Los bestimmt seine Wohnung in ihr nimmt.

Welch ein Zeugnis ist das von ihrem niedrigen Zustande! Welch ein Beweis dafür, dass eine Wiederherstellung noch nicht die Herrlichkeit ist! »«) Jerusalem ist noch zertreten, die Zeiten der Nationen sind noch nicht erfüllt. Noch hat die Tochter Zion sich nicht erhoben, um den Staub- von sich abzuschütteln und sich mit ihrer Macht und ihren Prachtgewändern zu bekleiden (Vergl. Jes. 52, 1. 2).

Immerhin, Jerusalem muss bewohnt werden, es muss Bürger in seinen Mauern haben. Das Land muss sein Volk haben, denn nicht mehr lange, so soll der Messias unter ihnen wandeln. Die Stadt muss ihre Einwohner haben, denn ihr König wird bald erscheinen. Diesen Zweck hatte die Rückkehr von Babel, und diesen Zweck das Bevölkern Jerusalems.

Im 12. Kapitel ist aufs Neue von der Mauer die Rede, von welcher Jerusalem jetzt ganz umgeben ist. Und dass die Mauer, wenn einmal vorhanden, auch eingeweiht wird, ist durchaus am Platze. Schon oft war bei ähnlichen Anlässen ein öffentliches Fest gefeiert worden. Denken wir nur an die Einbringung der Bundeslade in den Tagen Davids, an die Einweihung des Tempels zur Zeit Salomos, an die Grundsteinlegung des Tempels in den Tagen Serubbabels, sowie endlich an die Vollendung dieses zweiten Hauses. Heute, in den Zeiten Nehemias, feiert das Volk mit Freuden die Einweihung der Mauer, welche die Stadt umschließt.

Aber während das sich so verhält und soweit auch ganz in Ordnung ist, möchte ich doch fragen: Was ist eigentlich diese Mauer? Ist sie nicht ein weiteres Zeugnis von der Erniedrigung Jerusalems? In den kommenden Tagen ihrer Macht und Schönheit, wenn Jerusalem die Stadt des Reiches, der Mittelpunkt der Welt, das Heiligtum und der Palast des großen Königs von Israel und der Erde ist, dann wird „Rettung“ ihre Mauer sein. Gott wird dann Rettung zu Mauern und zum Bollwerk setzen (Jes. 26, 1). Der Herr selbst wird, ihren Bergen gleich, rings um sie her sein (Ps. 125, 2). Ihre Mauern werden Heil und ihre Tore Ruhm genannt werden (Jes. 60, 18). Die Stimme des Geistes in dem Propheten Sacharja, welche um jene Zeit kaum verhallt sein konnte, hatte den schönen Ausspruch getan: „Als offene Stadt wird Jerusalem bewohnt werden wegen der Menge Menschen und Vieh in seiner Mitte. Und ich, spricht Jehova, werde ihm eine feurige Mauer fein ringsum, und werde zur Herrlichkeit sein in seiner Mitte (Sach. 2, 4· 5).

Wie unendlich groß ist doch der Unterschied! Unter Nehemias Augen trägt Jerusalem die Zeichen seiner Schande, während wir in den Propheten lesen, dass es zur höchsten Ehre und Auszeichnung auf Erden bestimmt ist. Was muss ein Mann, wie er, hierbei gefühlt haben! Und doch setzt er seinen Dienst fort, aufrichtig, unverzagt und geduldig. Ein schöner Geist der Hingebung drückt sich darin aus. Nehemia arbeitet, und er arbeitet in würdiger Weise, wenn auch von äußeren Feinden bedrängt und im Innern von einem niedrigen Zustand umgeben. Als ein solcher Diener Christi erscheint uns Paulus in seinem 2. Briefe an Timotheus.

Auch wir sollten solche Diener sein. Die Christenheit, in deren Mitte wir leben, ist so weit entfernt von der Kirche, wie wir sie in den Briefen dargestellt finden, wie das Jerusalem, welches Nehemia sah, von der in den Propheten beschriebenen Stadt. Aber Nehemia diente in seiner Mitte; und das sollten auch wir tun vor den Augen und inmitten der Christenheit. Denn für den treuen Diener ist nicht der Schauplatz des Dienstes, sondern der Wille des Herrn maßgebend.

Obwohl wir also Israel wiederhergestellt, das Land bevölkert und die Stadt wieder bewohnt finden, ist das doch nicht das Reich. Die Kinder Israel müssen noch ernster Prüfung und Sichtung unterzogen werden, und der Tag der Gnade, des Heils und der Herrlichkeit, der verheißene Tag des Reiches, ist noch fern. Aber inzwischen muss der Glaube in Übung sein, und der Gehorsam hat seine Aufgabe zu lernen und auszuführen.

Demgemäß finden wir im Beginn des 13. Kapitels das Buch Gottes immer noch offen. Denn, wie schon einmal erwähnt, ein Tag der Erweckung ist sicher auch ein Tag der „geöffneten Bibel“. Doch das Volk muss jetzt etwas Neues lernen. Es nimmt zu an Verständnis und an Einsicht in die göttlichen Grundsätze. Ein anderes Blatt des Buches liegt jetzt vor ihm aufgeschlagen. Bis dahin hatte die Schrift „Trost“ für die Zurückgekehrten, von jetzt an wird sie von „Ausharren“ zu ihnen reden. Bisher hatte sie ihnen „gepfiffen“, von jetzt an wird sie ihnen „Klagelieder singen“. Die Freude des Festes des Posaunenhalls und die noch reichere Freude des Laubhüttenfestes war ihnen geoffenbart worden, und sie hatten im Gehorsam darauf geantwortet. Sie hatten zu dem Pfeifen „getanzt“. Jetzt aber wartet ihrer eine schmerzliche Übung durch das Buch. Sie lesen darin, „dass kein Ammoniter und Moabiter in die Versammlung Gottes kommen soll ewiglich“

Das war erschreckend. Alle hatten bis dahin friedlich nebeneinander gelebt. Nicht nur bei den Festesfreuden, sondern auch bei dem Bekenntnis waren sie zusammen gewesen. Die „Kinder der Fremde“ waren entfernt worden, aber das „Mischvolk“ scheint nicht beachtet worden zu sein. Nun aber musste auf das in 5. Mose 23 gefundene Gebot hin diese ernste Trennung vollzogen werden, gerade so wie man nach 3. Mose 23 die Freude des Laubhüttenfestes genossen hatte.

Doch war dies umso mehr geeignet, den Geist des Gehorsams in jenen schönen Tagen des Wiederauflebens auf die Probe zu stellen. Und das Volk besteht die Probe und antwortet auf die Forderung des Wortes Gottes in gesegneter Weise. Wir lesen: „Und es geschah, als sie das Gesetz hörten, da sonderten sie alles Mischvolk von Israel ab“. Das war in der Tat Gehorsam: sie taten was die Schrift vorschrieb, was das Wort lehrte, einerlei, was für einen Dienst oder was für eine Pflicht es auflegte oder was für Opfer es erheischte.

Dann aber findet sich Böses, und zwar an so hoher Stelle, dass das Volk es anscheinend nicht erreichen kann. Doch erreicht muss es selbst da werden; denn ein Tag der Erweckung und der neuen Kraft von Gott muss ein Tag des Gehorsams sein. Während all der Zeit hatte ein Ammoniter im Hause des Herrn gewohnt. Das ging über alles Maß hinaus. Nicht nur befand der Mann sich, wie das Mischvolk, in der Versammlung, nein, er wohnte im Tempel, und das durch Vermittlung des Hohenpriesters selbst.

Nehemia weilte zur Zeit, da dieses Böse geschehen war, nicht in Jerusalem. Bei seiner Rückkehr aber musste er mit demselben handeln, so wie das Volk in seinem Maße bereits mit dem Mischvolk gehandelt hatte. Denn die Forderungen von 5..Mose 23 sollen Beachtung finden, selbst wenn der höchste Beamte in der Gemeinde bestraft werden muss. Eljaschib ist bedeutungslos für Nehemia, wenn Moses spricht; denn dieser besitzt die Autorität Gottes, während jener sie nur über sich anzuerkennen hat. Fürwahr, das ist ein Mahnungswort auch für die Christenheit, die ihren Eljaschib über Moses gesetzt hat. Wenn sie nur Ohren hätte, zu hören!

Aber so stand es nicht mit diesem treuen Manne. Bei ihm war „Moses Stuhl“ der oberste Stuhl. Die Schrift beurteilt jedermann, während sie selbst von niemand beurteilt werden darf. Weder der Hohepriesterin Israel, noch die kirchliche Überlieferung, noch das sogenannte geistliche Amt, noch irgendetwas anderes in der Christenheit, so althergebracht und liebgeworden es auch sein mag, darf ein Jota oder ein Pünktchen von dem Worte beiseitesetzen. „Die Schrift kann nicht aufgelöst werden“, sagt der Herr selbst. Wer darf ihr also widersprechen oder sie gar meistern wollen? Gott wird Sein Wort erfüllen; uns liegt es ob, es zu beobachten. Der Herr wolle dies allen Seinen Heiligen tief ins Herz schreiben!

In den Kapiteln 11 und 12 haben wir Zeichen des Niedergangs in Jerusalem wahrgenommen; wir begegnen ihnen auch noch im 18. Kapitel, und zwar in der Entheiligung des Sabbats und in den Verbindungen mit den Töchtern der Unbeschnittenen. Das ist mehr als Niedrigkeit in den äußeren Umständen; es ist sittlicher Niedergang. Die Befreiung aus der Gefangenschaft und die Wiederbevölkerung der Stadt haben das Volk nicht berechtigt, den Gruß zu empfangen, der in den Tagen des kommenden Reiches von den Lippen einer bewundernden Welt ertönen wird: „Jehova segnet dich, du Wohnung der Gerechtigkeit, du heiliger Bergs“ (Jer. 31, 23).

Aber, ich wiederhole, trotz diesem allem sehen wir Nehemia im Dienst. Und das ist ein ermunternder Anblick. Es liegt eine große sittliche Würde in dieser Treue im Dienst, mögen wir Proben davon finden, wo und in wem wir wollen

Auch das Volk ist, mit dem noch immer geöffneten Buche vor sich, ein erbaulicher Anblick, den wir uns nicht entgehen lassen sollten. Sie waren nicht wählerisch im Blick auf das Gesetz. Sie wollten ein Volk sein, für welches es kein vernachlässigtes Gebot, keine unbeachtete Seite im Buche Gottes gab. Nicht ein Laut sollte dem Ohre verloren gehen, und wenn er auch nur aus der Ferne gehört wurde.

Wer von uns kommt ihnen darin gleich? Wie sehr neigen wir dazu, uns unsere Abschnitte der Belehrung selbst zu wählen, anstatt zu leben von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht! Ist es nicht so? Hören wir nicht lieber von dem Laubhüttenfest und seiner Freude, oder von dem Schalle der Posaunen am Tage des Neumondes, als von den ernsten Belehrungen des Wortes, wenn es über Reinigung und Selbstgericht, oder über die Trennung von ungerechtfertigten Verbindungen zu uns redet? Wählen wir gern solche Abschnitte? Oder schlagen wir die Seite des Buches, welche von derartigen Dingen redet, lieber um? Ich glaube, wir kennen alle die Versuchung, mit dem römischen Landpfleger zu sagen: „Für jetzt gehe hin; wenn ich aber gelegene Zeit habe, werde ich dich rufen lassen“. Der Kreis ist so gesellig, das Herz fühlt sich so behaglich; ach, nein! Gebote wie die in 5. Mose 23, 3 sind für den Augenblick unausführbar. Vielleicht später einmal!

Wahrlich, wir dürfen sagen, dass alle diese Teile der Schrift, diese treuen Männer Esra und Nehemia, samt den zurückgekehrten Gefangenen, der eingehenden Aufmerksamkeit und der Bewunderung unserer Seelen wert sind. Wie hat der Geist Gottes in den Auserwählten jener Tage gewirkt, und wie belehrt Er uns in unseren Tagen durch das, was Er von ihnen aufgezeichnet hat!

Wir sahen ferner, dass die Tage unter Serubbabel, Esra und Nehemia Zeiten der Erweckung waren. Solche Zeiten waren schon früher dagewesen in Israel, so unter Samuel, David, Josaphat, Hiskia und Jesaja; und sie sind wieder und wieder in den Tagen der Christenheit vorgekommen. Sie mögen zuweilen auch eine unerwartete und vielleicht nie dagewesene Gestalt annehmen. Es ist die Eigentümlichkeit des Lebens, zu Zeiten außergewöhnliche Züge anzunehmen und über seine gewöhnlichen Regeln und Maße hinaus zu wirken. Denn Leben ist gewissermaßen eine freie Sache mit einer ihm innewohnenden, eigentümlichen Kraft. Aber wenngleich das so ist, müssen wir doch alle Kundgebungen desselben an dem Worte Gottes prüfen. „Zum Gesetz und zum .Zeugnis!“ Wenn etwas diese Probe nicht aushält, so ist es nicht das Überquellen des Lebens, mag es auch noch so schön und hinreißend erscheinen; es muss verworfen werden mit all seinen einnehmenden Begleiterscheinungen.

„Jedem, der da hat, wird gegeben werden.“ Gehorsam einer Belehrung gegenüber ist der gewisse und sichere Weg zur Aufdeckung einer anderen. „Wenn jemand Seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen« Hierbei liegt uns jedoch die Versuchung nahe, zurückhaltend zu sein, aus Furcht, das was wir noch zu lernen haben, möchte sich als beschämend für uns erweisen, wie geschrieben steht: „Wer Erkenntnis mehrt, mehrt Kummer“ (Pred. 1,1.8.) Daher zeigen manche von uns eine große Neigung, auf halbem Wege stehen zu bleiben. Aber das ist ebenso gut Ungehorsam, wie das Nichtbeachten eines gelesenen und verstandenen Wortes. Das Buch Gottes aus Furcht vor dem, was es uns etwa noch lehren könnte, schließen, ist sicher und gewiss Ungehorsam.

Fußnote:

V) Und welch ein Zeugnis gibt die Christenheit von der Tatsache, dass Reformation nicht Herrlichkeit ist!

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Das Evangelium der Herrlichkeit

Bibelstelle: 2. Korinther 3 - 5

Botschafter des Heils 1908 S. 239ff

Bei unserem letzten Zusammensein beschäftigte uns der große Gegensatz zwischen Gesetz und Gnade, diesen beiden Grundsätzen, die so unvereinbar, so völlig einander entgegengesetzt sind wie Finsternis und Licht, Tod und Leben. Der erste dieser Grundsätze, das Gesetz, fordert vom Menschen, gibt ihm aber nichts; der zweite, die Gnade, fordert nichts und gibt alles. Das Gesetz sagt dem Menschen, was er tun und sein sollte, aber nicht tut und nicht ist; die Gnade sagt ihm, was Gott für ihn getan hat und für ihn ist. Das eine bringt unter Fluch und Verdammnis, die andere rettet und führt zur ewigen Herrlichkeit. Das eine verdammt, die andere segnet. Welche unvereinbaren Gegensätze, nicht wahr? Und doch werden so viele Anstrengungen gemacht, um sie miteinander zu verbinden. Warum wohl? Weil nichts dem Menschen schwerer fällt, als an die Gnade Gottes zu glauben; und andererseits, weil der Mensch so gern selbst etwas tun, etwas beitragen möchte zu seiner Errettung. Seine Sprache lautet: „Alles, was Jehova geredet hat, wollen wir tun" (2. Mose 19,8)!

Selbst der Gläubige hat diese gesetzliche Neigung. Wir alle, so viele wir hier versammelt sind, haben vielleicht mehr von gesetzlichem Geist in uns, als wir ahnen. Er ist uns eigen von Natur. Gott wolle in diesen Stunden unsere Herzen ein wenig tiefer einführen in das Verständnis dieser beiden ernsten Grundsätze, damit wir in der Gnade befestigt seien, und befreit werden möchten von allem gesetzlichen Wirken und Streben! Und Er gebe denen, die noch nicht errettet sind, dass sie die Kostbarkeit der Gnade genießen lernen und schmecken möchten, „dass der Herr gütig ist"!

Der geschichtliche Anlass, der unserer Betrachtung seinerzeit zugrunde lag, war kurz folgender: Gott stand im Begriff, Seinem Volke Israel das Gesetz zu geben, und Mose war auf den Berg Sinai gestiegen, um die beiden steinernen Tafeln in Empfang zu nehmen, die Gott mit Seinem eigenen Finger beschrieben hatte. Tief eingegraben, in unverwischbaren Zügen, standen die zehn Worte da.

Nach vierzig Tagen und Nächten kommt Mose wieder vom Berg herab mit den beiden Tafeln in seiner Hand. Doch was war inzwischen geschehen? Das Volk hatte das Gesetz in seinem ersten Gebot: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir", schon gebrochen und somit Fluch und Verdammnis über sich gebracht. Das goldene Kalb war gemacht worden, und Israel umtanzte seinen Götzen in tollem Reigen. Als Mose das sah, zerbrach er die beiden Tafeln am Fuß des Berges. Sie sind somit nie in die Hände des Menschen gekommen. Wie hätte Mose sie auch neben dem goldenen Kalb niederlegen können?

Was blieb dem heiligen Gott jetzt anders übrig, als Seinem Zorn wider die Gesetzesübertreter freien Lauf zu lassen? Auf dem Boden des Gesetzes war alles für Israel verloren. Der Bund war gebrochen. Aber siehe da, Mose steigt zum zweiten Male auf den Berg hinauf, um Fürbitte bei Gott einzulegen. „Vielleicht", sagt er, „möchte ich Sühnung tun für eure Sünde". Gott hört auf die Stimme Seines Knechtes, des Vorbildes unseres wahren Mittlers, des Herrn Jesu. Ach, Er will so gern gnädig sein, Er vergibt so gern! Freilich konnte Mose nicht Stellvertreter seines Volkes sein wie Christus; nein, „wer gegen mich gesündigt hat, den werde ich auslöschen aus meinem Buche", sagt Gott, und: „Am läge meiner Heimsuchung, da werde ich ihre Sünde an ihnen heimsuchen". Aber doch verheißt Er ihm, dass Er barmherzig sein und einen neuen Namen vor Seinem Knecht ausrufen und Seine ganze Güte vor seinem Angesicht vorübergehen lassen wolle. Nur solle das Volk seinen Schmuck ablegen; dann werde Er wissen, was Er ihm tun wolle (2. Mose 32,30-35; 33,19).

Auf Gottes Geheiß haut Mose dann zwei neue Tafeln aus und begibt sich wiederum auf den Berg. Und Jehova steigt in der Wolke hernieder und ruft Seinen neuen Namen vor ihm aus: „Jehova, Jehova, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der Ungerechtigkeit, Übertretung und Sünde vergibt". - Meine lieben Freunde, es ist der Mühe wert, hier einen Augenblick stillzustehen; denn zum ersten Male wird hier im Worte Gottes von Vergebung der Ungerechtigkeit und Sünde gesprochen. Nicht als ob Gott nicht vorher schon vergeben habe. Er hat das getan, aber hier wird zum ersten Male diese kostbare Wahrheit ausgesprochen, und zwar auf Grund der Fürbitte des Knechtes Gottes. Es ist also, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine überaus wichtige Station in Gottes Wegen erreicht. Das Volk Israel kommt, wenigstens in einem gewissen Maße, unter Gnade. Es ist Gnade in den Regierungswegen Gottes: das Volk demütigt sich, und Gott ist in Seiner unumschränkten Güte ihnen gnädig; Er ist groß an Güte. Er vergibt, aber - ja, es gibt ein ernstes „Aber" hier: „aber keineswegs hält Er für schuldlos den Schuldigen", sondern Er sucht die Sünde heim am dritten und vierten Gliede. Es ist Gnade, verbunden mit Gesetz, Güte, verbunden mit einer gerechten Vergeltung.

Nachher kommt Mose wieder vom Berge herab, und nun strahlt die Haut seines Angesichts in so überwältigendem Glänze, dass die Kinder Israel sich vor ihm fürchten. Mose wusste nicht, dass sein Antlitz strahlte, „weil Gott mit ihm geredet hatte" (Kap. 34,29); aber Aaron sah es, und mit ihm die Fürsten der Gemeinde und das ganze Volk.

Meine Freunde, das war der herrliche Gegenstand, der uns vor einigen Wochen beschäftigte. Früher hatte das Antlitz Moses nicht gestrahlt, obgleich er auch in der Gegenwart Gottes gewesen war. Als Gott ihm zum ersten Male die Gebote gab und Mose die Forderungen Gottes an den Menschen, „geschrieben auf steinerne Tafeln", von dem Berge herabbrachte, war sein Antlitz nicht anders gewesen, als zu früheren Zeiten. Nichts war geschehen, was eine Veränderung in diesem Antlitz hätte hervorrufen können.

 Aber als Gott Seine Güte und Gnade ihm geoffenbart und Seinen neuen Namen vor ihm ausgerufen hatte, da lag ein Glanz auf dem Antlitz Moses, dass die Kinder Israel erschreckt vor ihm zurückwichen. Nicht vorher, denken wir daran! Das Gesetz, so heilig, gerecht und gut es ist, konnte das Angesicht Moses nicht zum Strahlen bringen; es hat noch niemals ein Antlitz glänzen gemacht. Dazu war eine andere Herrlichkeit nötig, die Herrlichkeit der Gnade; und diese tritt uns hier entgegen. Freilich war es noch nicht die Gnade in ihrer Fülle, nicht das Evangelium, gegründet auf ein vollendetes Erlösungswerk, gipfelnd in der Annahme des Gläubigen in Christo. Es war, wie bereits gesagt, Gnade mit Gesetz vermischt, eine Gnade, die dem Sünder für die Gegenwart vergab und seiner schonte, die aber zu gleicher Zeit das Volk wieder unter die zehn Gebote stellte.

Die Folge davon war, dass nichts zur Vollendung gebracht werden konnte. Niemand konnte unter dieser Verbindung von Gesetz und Gnade errettet werden. Wohl gab es während der Dauer dieser Beziehung des Menschen zu Gott Gläubige, errettete Seelen; aber sie waren nicht errettet auf dem Boden dieses Verhältnisses, sondern errettet durch die unumschränkte Gnade Gottes; wie zu Mose gesagt worden war: „Ich werde begnadigen, wen ich begnadigen werde, und werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen werde". Dieser Zustand sollte auch nicht bleiben. Er sollte vorübergehend sein, gleich der damit verbundenen Herrlichkeit, welche, wie Paulus in 2. Korinther 3,7 sagt, „hinweggetan werden sollte". Denn auf diesem Wege konnten die Gedanken und Ratschlüsse Gottes im Blick auf die Sünde und den Sünder nicht erfüllt werden. Gott Selbst musste ins Mittel treten, um das, was dem Gesetz unmöglich war, zur Ausführung zu bringen.

Das Gesetz konnte nur die Übertretung überströmend machen; die Sünde konnte nur überaus sündig werden durch das Gebot (Römer 7,13). Es konnte und sollte den Sünder überführen von seinem traurigen, schrecklichen Zustand; aber es konnte dem Menschen, selbst wenn er, wie der reiche Jüngling oder ein Saulus von Tarsus, nach menschlichem Urteil tadellos wäre, keine Errettung, keine Hilfe bringen. Dazu war, wie gesagt, etwas anderes nötig. Und welch ein Glück, dass dieses andere gekommen ist! Es ist die vollkommene, herrliche Gnade, wie sie in Jesu Christo uns entgegengetreten ist. „Das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden". Sie ist nicht nur geoffenbart worden in Ihm, sondern in Ihm geworden : gleichsam in Christo verkörpert vor die Augen der Menschen hingestellt worden. Das war nötig, wenn wir anders in jene Herrlichkeit gebracht werden sollten, deren Mittelpunkt Jesus jetzt ist, und die Mose zum Teil schauen durfte, als Gott ihn auf dem Berge in die Felsenkluft stellte und Mose Ihn „von hinten" sah.

Und wie die Gnade, so ist auch die Wahrheit durch Jesum Christum geworden. Vielleicht möchte gefragt werden: War denn die Wahrheit früher nicht da? Sicherlich war das, was im Alten Testament geoffenbart war, göttliche Wahrheit; aber es war nicht die ganze Wahrheit, wie sie in Jesu Christo geworden ist, gerade so wie die ganze Fülle der Gnade noch nicht geoffenbart worden war. Darum, als Jesus auf die Erde kam, jubilierten die himmlischen Heerscharen, frohlockte der Himmel; denn der Augenblick war da, wo Gottes Ratschlüsse der Liebe und Gnade auf gerechter Grundlage zur Ausführung kommen sollten. 

Der Eine war gekommen, Der allein die Ansprüche des heiligen und gerechten Gottes im Blick auf die Sünde befriedigen konnte. Und ist dies geschehen? Ja, Gott sei gepriesen! es ist geschehen; das Werk ist vollbracht. Jesus ist nicht nur in diese Welt hinein geboren worden, hat nicht nur auf dieser Erde gewandelt, nein, Er ist g e s t o r b e n , indem Er den Fluch eines gebrochenen Gesetzes auf sich nahm. Er ist am Fluchholz zu einem Fluch geworden. In jenen schrecklichen Stunden der Finsternis, als Er von Gott verlassen war, ist die gerechte Grundlage zur Ausführung des ewigen Heilsplanes Gottes gelegt worden, so dass uns heute zugerufen werden kann: „Wo die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwänglicher geworden, auf dass, gleichwie die Sünde geherrscht hat im Tode, also auch die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn" (Römer 5, 20. 21).

Im Anschluss an dieses herrliche Wort möchte ich jetzt einen Abschnitt vorlesen, der in unmittelbarer Verbindung steht mit den beiden Kapiteln aus dem zweiten Buche Mose, die uns vorhin beschäftigten. In Kapitel 3 seines zweiten Briefes an die Korinther schreibt der Apostel: „Wenn aber der Dienst des Todes, mit Buchstaben in Steine eingegraben, in Herrlichkeit begann, so dass die Söhne Israels das Angesicht Moses nicht unverwandt anschauen konnten wegen der Herrlichkeit seines Angesichts, die hinweggetan werden sollte; wie wird nicht vielmehr der Dienst des Geistes in Herrlichkeit bestehen? Denn wenn der Dienst der Verdammnis Herrlichkeit ist, so ist vielmehr der Dienst der Gerechtigkeit überströmend in Herrlichkeit... Denn wenn das, was hinweggetan werden sollte, mit Herrlichkeit eingeführt wurde, wie viel mehr wird das Bleibende in Herrlichkeit bestehen" (V. 7-11)!

Welch eine wunderbare Sprache! Derselbe Gott, Der im Alten Testament zu uns redet, Der Seine heiligen Gebote dort niederschreiben ließ, spricht hier im Neuen Testament zu uns. Derselbe Geist hat diese Worte für uns niederschreiben lassen. Wohl mögen wir verwundert fragen: Wie ist das möglich? Wie kann Gott einen Dienst, den Er Selbst verordnet, dessen Opfer und Satzungen Er Selbst bestimmt hat, einen Dienst des Todes und der Verdammnis nennen? Und doch ist es so, wie seltsam es auch scheinen mag. Jener Gottesdienst bringt, gleich allen menschlichen Religionen, denen Menschen-Tun und Menschen-Wirken zu Grunde liegt, nichts anderes über den Menschen als Tod und Verdammnis.

 Das Gesetz, so gerecht und heilig es war, war kraftlos durch das Fleisch. Der arme Mensch mit seinem trotzigen Herzen konnte und wollte sich diesem Gesetz nicht unterwerfen. „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott; sie ist dem Gesetz Gottes nicht Untertan, denn sie vermag es auch nicht". Das Gesetz konnte deshalb nichts anderes tun, als sein Todesurteil über den Menschen aussprechen. Es konnte nur Verdammnis über den bringen, der unter ihm stand. Darum hat Gott diesen ganzen Dienst beiseite gesetzt. Dennoch war er, sobald nur ein wenig Gnade hineingelegt wurde, mit Herrlichkeit verbunden. Es war zwar, wie wir gesehen haben, eine vorübergehende Herrlichkeit, die nicht bleiben sollte, aber doch so strahlend, dass die Kinder Israel sie nicht anzuschauen vermochten. 

Wenn nun schon bei jenem Dienst eine solche Herrlichkeit sich zeigte, wie viel mehr wird dann der Dienst des Geistes in Herrlichkeit bestehen, ja, überströmend sein in Herrlichkeit! Dem Dienst des Todes steht der Dienst des Geistes gegenüber, der Dienst, den Gott uns heute in Christo gegeben hat, wo nicht der Buchstabe herrscht und tötet, wie der Apostel vorher sagt, sondern wo der Geist wirkt und lebendig macht; wo es keine Verdammnis und keinen Tod mehr gibt, sondern wo Leben, Frieden und göttliche Gerechtigkeit dem Glaubenden zuteil werden. Gerechtigkeit wird heute in dem Evangelium verkündigt, Gottes Gerechtigkeit durch Glauben an Jesum Christum, den gestorbenen und auferstandenen Heiland. Durch Ihn und in Ihm ist der heilige Gott vollkommen befriedigt und verherrlicht worden.

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Ich möchte nur bei Dir sein

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 247ff

Im täglichen Leben kommen oft kleine, an und für sich unwichtige Dinge vor, aus denen wir, wenn unser Auge einfältig ist, reiche und wertvolle Belehrungen schöpfen können.

So kannte ich einen kleinen Knaben, der die Gewohnheit hatte, jedes mal, wenn ihm etwas fehlte, in das Arbeitszimmer seines Vaters zu eilen und sich dort Hilfe und Rat zu holen. War an seinem Spielzeug etwas nicht in Ordnung, war sein Bleistift stumpf geworden, wünschte er einen Bogen Papier oder ein Bilderbuch, in jedem Falle konnte der Vater sicher sein, das leise Klopfen seines Söhnchens an der Zimmertür zu vernehmen.

Der Vater war aber auch stets für seinen Knaben zu sprechen. Der Kleine mochte kommen, wann oder mit welchem Wunsch er wollte, immer fand er ein williges Ohr und eine hilfsbereite Hand. Der Vater handelte nicht nur so aus Liebe zu seinem Kinde, sondern auch in Befolgung eines bestimmten Grundsatzes. Nach seiner Überzeugung sollte ein Kind in Vater und Mutter beständig das finden, was es sonst nirgendwo zu finden vermag. Er hielt es für unrecht, den Kleinen im Ernst zurückzuweisen und ihn so zu zwingen, sich betreffs seiner kleinen Bedürfnisse an Dienstboten oder Fremde zu wenden. Er betrachtete es als seine schöne und heilige Pflicht, seinem Kinde in dieser Weise aufzuwarten, soweit es seine Zeit irgend erlaubte.

Er hatte Recht. Wir denken oft wenig daran, welches Unheil aus der Gewohnheit hervorgehen kann, Kinder unbekehrten oder doch unerfahrenen Dienstboten zu überlassen, die vielfach ohne Überlegung handeln oder gar ihre Freude daran finden, die jungen Gemüter zu verderben. Wie mancher hat Zeit seines Lebens an den Folgen von Eindrücken und Einflüssen zu tragen gehabt, denen er in seiner Kindheit ausgesetzt war, und das vielleicht einzig und allein durch die strafbare Gleichgültigkeit oder Sorglosigkeit seiner Eltern! Anstatt die Kinder unter dem Schutz, ihrer Gegenwart zu halten, überließen sie sie Fremden, welche sie vernachlässigten, und mit bösen und unnützen Dingen bekannt machten!

Leider ist es wahr, dass mancher gläubige Vater in dieser Sache ernst gefehlt hat und noch fehlt. Das kann sogar geschehen unter der Entschuldigung, die Versammlung besuchen oder sich im Dienste des Herrn betätigen zu wollen. Das klingt dann sehr schön; aber man sollte das Eine tun und das Andere nicht lassen. Der Feind benutzt sicher die gute Gelegenheit, um die empfänglichen Gemüter der Kinder in schädlicher Weise zu beeinflussen.

Diese ernste Tatsache sollte die Beachtung aller christlichen Eltern finden. Wem der Herr Kinder gegeben hat, der sollte wahrlich daran denken, dass er ihnen gegenüber eine Pflicht hat, deren Vernachlässigung unmöglich ungestraft bleiben kann. Ich brauche kaum zu sagen, dass ich jetzt nicht an die leiblichen Bedürfnisse der Kinder denke. Viel wichtiger ist die Ausbildung von Gemüt und Geist, die Sorge für ihre unsterblichen Seelen. Möchten daher alle Eltern mit Aufmerksamkeit die Bedürfnisse ihrer Kinder zu befriedigen suchen, damit diese keine Veranlassung haben, sich anderswo hinzu wenden.

Wie ich schon sagte, hatte unser kleiner Freund die Gewohnheit, mit allen seinen Anliegen zu seinem Vater zu kommen, und dieser war darauf bedacht, ihn nie abzuweisen. Eines Tages nun, er war gerade sehr beschäftigt, vernahm er wieder das wohlbekannte Klopfen an der Tür. Auf sein „Herein“! trat der Kleine ins Zimmer.

„Nun, mein kleiner Mann, was wünschest du denn jetzt?

„Nichts, Papa, ich möchte nur bei dir sein.

Damit schritt er in eine Ecke des Zimmers und setzte sich ruhig hin. Er war zufrieden damit, bei seinem Vater zu sein.

Die Begebenheit ist so einfach. dass sie kaum des Erzählens wert erscheint; und doch hat sie jenem Vater eine Lehre erteilt, die er nie wieder vergessen hat. Vielleicht enthalten die Worte des Kindes auch eine Mahnung für dich.

Gestatte mir die Frage: Gehst du auch zuweilen zu deinem Vater, ohne etwas zu haben, das du von Ihm wünschest, einfach der Freude wegen, allein bei Ihm sein zu können? Du wendest dich an Ihn mit deinen Bedürfnissen, und du tust recht daran. Er wünscht, dass wir mit allen unseren Bedürfnissen, Sorgen und Kümmernissen zu Ihm kommen, und niemals weist Er uns ab. Er tadelt uns auch nicht, dass wir zu oft zu Ihm kommen. Er sagt nie: „Belästige mich nicht; ich habe jetzt keine Zeit für dich«. Wohl mag Er uns zu Zeiten warten lassen oder uns gar Dinge, um die wir bitten, versagen; aber nie sendet Er uns aus Seiner kostbaren Gegenwart fort. Es ist Seine Freude, uns in Seiner Nähe zu haben, und es ist Sein Wunsch, dass wir alles was unsere Herzen erfüllt und bewegt vor Seinem Ohr kundwerden lassen.

Aber nochmals frage ich: Gehen wir je zu Ihm, um Ihm zu sagen, dass wir nichts anderes begehren, als in Seiner Nähe zu weilen? Lassen wir uns zu Seinen Füßen nieder in dem völlig befriedigten Zustand eines Menschen, der das tiefe Sehnen seines Herzens gestillt sieht in der Tatsache, in Seiner Nähe zu sein? Der Herr wolle es uns schenken! Nichts macht das Herz so glücklich, als diese stille, verborgene Gemeinschaft mit dem Vater. Nichts macht uns so unabhängig von allem, was das Geschöpf uns zu bieten vermag; ja, indem wir uns in der Nähe der unaufhörlich sprudelnden Quelle befinden, werden wir nicht nur selbst erquickt, sondern auch befähigt, Segenskanäle für andere zu werden.

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Der geöffnete Himmel

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 251ff

Im Neuen Testament ist an vier verschiedenen Stellen von einem Auftun des Himmels die Rede. Christus ist der Gegenstand einer jeden dieser Offenbarungen, und jede trägt ihren besonderen Charakter.

1. In Matth. 3, 16. 17 begegnen wir zum ersten Mal dem bedeutungsvollen Wort: „Und siehe, die Himmel wurden aufgetan“. Bei dieser Gelegenheit kam der Heilige Geist auf Jesum herab, und Er wurde als Sohn Gottes anerkannt (Vergl. Joh. 1, 33. 34).

2. Am Ende des 1. Kapitels des Evangeliums Johannes kündigt sich Jesus als Sohn des Menschen an, und die Engel Gottes steigen auf und nieder auf Ihn: Er ist der Gegenstand ihres Dienstes.

3. Am Ende des 7. Kapitels der Apostelgeschichte verwerfen die Juden das letzte Zeugnis, welches Gott ihnen sendet. Stephanus, der dieses Zeugnis vor ihnen ablegt, sieht, mit dem Heiligen Geiste erfüllt, den Himmel offen und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen. An dieser Stelle tut sich der Himmel also nicht auf über dem Gegenstand der Wonne Gottes auf der Erde; er öffnet sich vielmehr über dem Gläubigen, der hienieden verworfen ist, und Stephanus erblickt durch den Heiligen Geist die Herrlichkeit Gottes und inmitten dieser Herrlichkeit den Sohn des Menschen. Die Veränderung ist so bemerkenswert wie rührend für uns und stellt in eindrucksvoller Weise die wahre Stellung des Christen vor unsere Blicke. Christus ist von Seinem irdischen Volke verworfen und hat Seinen Platz, im Himmel eingenommen. Nur ist zu bemerken, dass die Vereinigung der Gläubigen in einem Leibe mit dem erhöhten Heiland hier noch nicht ans Licht tritt.

4. Schließlich öffnet sich der Himmel in Offbg. 19, und der Herr, der König der Könige und der Herr der Herren, tritt hervor.

So finden wir denn zunächst Jesum, den Sohn Gottes, gesalbt mit dem Heiligen Geiste, als den Gegenstand des Wohlgefallens Gottes hienieden; dann Jesum, den Sohn des Menschen, als den Gegenstand des Dienstes der Engel; dann Jesum zur Rechten Gottes droben, den Sohn des Menschen in der Herrlichkeit, während der Gläubige hienieden mit dem Heiligen Geiste erfüllt istund für Ihn leidet; und schließlich Jesum als den König der Könige und den Herrn der Herren, wie Er hervorkommt, um zu richten und Krieg zu führen mit den Stolzen und Starken, welche sich gegen Ihn auflehnen und die Erde bedrucken.

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Die Zerstreuten unter den Nationen

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 253ff

Autor: John Gifford Bellett

Betrachten wir denn die zehn Kapitel, aus welchen das Buch besteht, der Reihenfolge nach. Vier Punkte sind es, die in den berichteten Ereignissen uns in besonderer Weise vor Augen treten:

  1. Der HERR Gott wirkt in wunderbarer, aber geheimer Weise.
  2. Die Juden inmitten der Heiden (Nationen).
  3. Der Heide oder die herrschende Macht.
  4. Der große Widersacher.

Kapitel 1 -3

Das Buch beginnt mit einer Darstellung des Heiden, welchem jetzt die Macht und Herrschaft anvertraut ist. Es ist indes der Perser, nicht der Chaldäer, oder „die Brust von Silber", nicht "das Haupt von Gold", in dem großen Bilde, das Nebukadnezar im Traume sah. (Daniel 2) Wir lesen hier mehr das zweite als das erste Kapitel aus der Geschichte der heidnischen Oberherrschaft auf Erden. Wir sehen den Herrscher der Welt nicht im Beginn, sondern mehr in der weiteren Entwicklung seiner Laufbahn; in sittlicher Hinsicht ist es jedoch dieselbe Person. Gleich Moab bleibt ihm sein Geschmack, und sein Geruch ist nicht verändert. (Jeremia 48,11) All der Hochmut, der in Nebukadnezar zum Ausdruck kam, findet sich wieder in Ahasveros. Keine Spur von demütigem Sinn, keine Frucht der Buße, keine Erkenntnis von sich selbst oder von dem, was ihn als Geschöpf geziemt, ist in diesem Manne der Erde wahrzunehmen. 

Die Lüge der Schlange, welche im Anfang von so entscheidendem Einfluss auf den Menschen war, ist wirksam wie immer. Der alte Wunsch, Gott gleich zu sein, zeigt sich jetzt bei dem Perser, wie er früher bei dem Chaldäer hervorgetreten war. Der eine hatte seine Königsstadt erbaut, und hatte sie dann voller Stolz angeschaut und gesagt: "Ist das nicht das große Babel, welches ich zum königlichen Wohnsitz erbaut habe durch die Stärke meiner Macht und zu Ehren meiner Herrlichkeit?" Der andere veranstaltet jetzt ein Fest und zeigt hundertundachzig Tage lang seinen Fürsten und Vornehmen die ganze Ausdehnung seiner Herrschaft, "den herrlichen Reichtum seines Königreichs und die glänzende Pracht seiner Größe". Ja, der Perser geht noch weiter. Wir entdecken bei ihm ein dreistes Begehren, gleichsam als Gott in Persien anerkannt zu werden, was wir in Babel nicht sahen. Dies tritt uns in drei bemerkenswerten persischen Verordnungen entgegen.

Zum ersten durfte niemand unaufgefordert in der Gegenwart des Königs erscheinen. War aber je einmal diese Verordnung übertreten worden, so hing Leben und Tod des Betreffenden von dem Belieben des Königs ab. Zweitens durfte niemand traurig vor dem König sein; seine Gegenwart musste dem ganzen Volke Ursache und Antrieb sein zu Freude und Glück. Drittens konnte kein für den Bereich seiner Herrschaft erlassenes Gebot umgestoßen werden; es stand fest für immer.

Das sind in der Tat Anmaßungen. Sie gehen über alles Maß hinaus in dem Bestreben des Menschen, sich selbst als Gott darzustellen. Und wir wissen, dass dieser Geist wirksam bleiben wird, bis die Zeiten der Nationen vorüber sein werden und der Heide seine Ungerechtigkeit voll gemacht hat.

Nun aber beginnt die Hand Gottes ihre Wunder zu tun inmitten all der Festlichkeiten und dem Gepränge, womit das Buch seinen Anfang nimmt. Die Freude des königlichen Gastmahls wird gestört: ein Flecken entstellt die schöne Form, in welche sich all diese Größe und Pracht kleidet. Die heidnische Königin weigert sich, der Gelegenheit zu Willen zu sein und zu diesem Tage allgemeiner Freude ihren Beitrag zu bringen. Dies führt dahin, dass das jüdische Volk in den Vordergrund tritt und schließlich zum Hauptträger der Handlung wird, bis es am Ende über alle Gedanken und jede Berechnung hinaus auf Erden hervorragt.

Der Anfang war unscheinbar, der Anlass arm und gering. Vastis Laune, die sie zu einem Verhalten verleitete, das ihr Leben in Gefahr brachte, war das „kleine Feuer", welches einen "so großen Wald" anzündete. Was könnte bedeutungsloser sein, als die Laune eines hoffärtigen Weibes? Und doch läßt Gott Ergebnisse daraus hervorgehen, die damals nur Ihm selbst im Plan bekannt waren, deren Erfüllung aber an dem kommenden Tage jüdischer Herrlichkeit geschaut werden wird.

Vasti wird abgesetzt. Sie wird verworfen als das Weib des Persers, und andere werden gesucht, würdigere als sie, um ihren Platz einzunehmen.

Damit mag wohl die Frage laut werden: Inwieweit darf ein Jude eine derartige Gelegenheit zu seinem Vorteil auszubeuten suchen? Kann Heiligkeit sich die Verderbtheit zunutze machen? Kann das Volk Gottes sein Nasiräertum, seiner Absonderung zu Ihm hin, vergessen? Nein; und doch willigt Esther ein, in dieser Zeit vor den König zu treten, als wenn sie mit all den Töchtern seiner unbeschnittenen Untertanen in Gemeinschaft stände!

Dies mag uns wohl in Erstaunen setzen, wenn wir die Dinge durch irgend ein Licht beurteilen, dass weniger rein und durchdringend ist als dasjenige, in welchem Gott selbst wohnt. Das Sittlichkeitsgefühl des Menschen, der Urteilsspruch gesetzlicher Verordnungen, die Stimme des Berges Sinai selbst, alles das genügt zu Zeiten nicht. Wir müssen im Lichte wandeln, wie Gott im Lichte ist. Wir müssen Einsicht haben in "die Zeiten", wie einst Issaschar, bevor wir wissen können, "was Israel tun muss". (vgl. 1.Chronika 12,32)

Hatten nicht einst auch Männer aus Bethlehem-Juda sich moabitische Weiber genommen, ohne dafür getadelt zu werden? War nicht selbst Joseph in seiner Heirat von der Heiligkeit Abrahams abgewichen, und Moses von den Verordnungen des Gesetzes? War nicht Rahab, obwohl eine Tochter der Unbeschnittenen, von Juda aufgenommen worden und so, dem Fleische nach, eine Stammutter von Davids Herr geworden? Und hatte nicht Simson ein Weib von Timna genommen, das zu dem Gebiet der Philister gehörte?

Das Volk Gottes befand sich bei Gelegenheit dieser besonderen Ereignisse nicht in dem richtigen, ordnungsmäßigen Zustande; darin findet das Geschehene seine Rechtfertigung. Das Licht göttlicher Weisheit tritt in solchen Zeiten gleichsam an die Stelle der Verordnungen. Die Juden befanden sich zur Zeit Esthers in der Zerstreuung. Joseph war, wenn wir es so ausdrücken wollen, wieder in Ägypten, Mose in Midian und die Söhne von Bethlehem-Juda in Moab; und Esther bleibt dabei, dass sie zum König geht, geradeso ohne Tadel, wie Joseph für seine Heirat mit Asnath, oder Mose für seine Ehe mit Zippora, oder Machlon für seine Verbindung mit Ruth. Sie alle stehen in diesen Dingen eben so vorwurfsfrei vor Gott dar, wie David, als er die Schaubrote aß. Ja, diese Dinge waren von Gott, wie Simsons Heirat mit einer Tochter der Philister deutlich so anerkannt zu werden scheint. (vgl. Richter 14,4)

Seltsamerweise wird also der Jude, wie wir in dem Vorstehenden sahen, wichtig für die herrschende Macht, und zwar in noch höherem Maße, als ich bis jetzt zu bemerken Gelegenheit hatte: er wird wichtig für des Königs Sicherheit sowohl, als auch für sein Glück. Mordokai wird der Beschützer des Königs, wie Esther sein Weib geworden war. Hierüber gibt uns das Ende des zweiten Kapitels Bericht. Der König wird beiden Personen gegenüber zum Schuldner. Trotz all seiner Größe und den Quellen des Glücks und der Kraft, welche mit seiner Größe in Verbindung standen, wird er ein Schuldner der Zerstreuten von Juda. Sie erlangen Wichtigkeit für ihn. Sein Herz und sein Kopf, wenn ich mich so ausdrücken darf, müssen dies anerkennen.

Doch noch eine andere Person tritt auf den Schauplatz. Wenn einerseits der Jude in ungewöhnlicher Weise persönliche Gunst und Annahme bei dem König findet, wird andererseits sein Feind mit gleicher Ungewöhnlichkeit zu einer hohen und geehrten Stellung erhoben, die ihn in den Stand setzt, seine feindseligen Gelüste zu befriedigen. Ein Amalekiter ist dem König an Würde und Herrschaft am nächsten! Über alle Fürsten des Landes wird Haman, der Agagiter, erhoben; warum, wird uns nicht gesagt. 

Wir hören betreffs seiner nichts von hervorragender Tüchtigkeit oder von besonderen Diensten, die er dem König erwiesen hätte. Anscheinend ist einfach das königliche Belieben die Ursache von allem. Für das Volk war er ein Fremder, der von weit her kam, und dessen Nationen nahezu vergessen war; der Abkömmling einer Nation, die einst in den Kindheitstagen der Völker an hervorragender Stelle gestanden hatte, jetzt aber gleichsam aus den Blättern der Geschichte gestrichen war. Andere, die in ihrem Auftreten weit stolzer und gewaltiger waren, als Amalek es je gewesen, der Assyrer, der Chaldäer und nunmehr der Perser, hatten ihn völlig in den Schatten gestellt. Und doch erscheint dieser Amalekiter jetzt vor uns als der Zweite neben Ahasveros, dem Perser. An Würde, Stellung und Macht hat Haman nur noch einen über sich.

Das ist in der Tat eine seltsame Erscheinung. Der große Feind Israels aus der Zeit, da das Volk noch in der Wüste weilte, erscheint hier, wo Israel sich in der Zerstreuung befindet, in demselben Charakter wie damals. (vgl. 2. Mose 17) Es ist seltsam, einen Amalekiter dem persischen Throne am nächsten stehend zu finden.

 Das Herz des großen Königs jener Tage wandte sich ihm zu und versetzte ihn in eine Stellung, die ihn fähig machte, die Rolle des alten Amalek weiter zu spielen in seiner anmaßenden Herausforderung Gottes und der Feindschaft gegen Sein Volk. Wer hätte das je erwartet? Der Name Amalek sollte unter dem Himmel verschwinden, und von den Tagen Davids an bis zu jenem Augenblick war dieses Volk, wie man wohl sagen darf, kaum gesehen worden. Nun aber kommt es wieder zum Vorschein, wir wissen kaum, wie; und bald steht es in einer Kraft und Blüte da, wie in seinen besten Tagen.

Ich wiederhole, das ist sehr merkwürdig. Es ist gleichsam ein Wiedererstehen, ein Wiederaufleben aus dem Tode, dem Tiere gleich, dessen Todeswunde geheilt wird, und von dem es heißt: "welches war und nicht ist und da sein wird". (vgl. Offenbarung 13 und 17)

Der Agagiter tritt auf als der Vertreter des großen Widersachers, des stolzen Abtrünnigen, welcher Gott, Seinem Volke und Seinen Absichten widersteht. Solche Personen hat es zu allen Zeiten gegeben. Er ist das Vorbild jenes mächtigen Abtrünnigen, der am Tage des Herrn zu Fall kommen wird. Nimrod, in den frühesten Tagen des 1. Buches Mose, stellt ihn dar, der Pharao in Ägypten desgleichen, ebenso Amalek in der Wüste und Abimelech zur Zeit der Richter; hier, in der Zerstreuung, ist es Haman, und später, im Neuen Testament, Herodes.

 Selbsterhebung, ungläubiger Stolz, Verweigerung jeder Gottesfurcht, verbunden mit einer eingewurzelten Feindschaft gegen Sein Volk, das sind die Kennzeichen, die wir, in ihrer Gesamtheit oder doch teilweise, bei jedem dieser Männer wiederfinden. In der vollen Form eines frechen, schrecklichen Abfalls werden sie jedoch in der Person des Tieres ihren Ausdruck finden, welches mit seinen Verbündeten am Tage des Herrn oder beim Gericht der Lebendigen sein Ende finden wird. Die Propheten haben von ihm geredet als dem "Glanzstern, dem Sohn der Morgenröte", als dem "Fürsten von Tyrus" und, wie wir wohl annehmen können, als dem "Tor, der in seinem Herzen spricht: Es ist kein Gott!" sowie unter manchen anderen Bezeichnungen.

 Die Offenbarung zeigt uns den Abtrünnigen, wie schon erwähnt, unter der Gestalt eines Tieres, welchem der falsche Prophet ein Bild machen lässt, damit es angebetet und bewundert werde von Seiten der ganzen Welt, und welches sein Malzeichen wie einen Brand in die Stirn eines jeden Menschen drückt, so dass niemand kaufen und verkaufen kann, als nur die, welche das Malzeichen, den Namen oder die Zahl des Tieres, tragen.

Weiter können wir bemerken, dass die Absicht wie auch die Person des großen Widersachers der letzten Tagen in diesem großen Haman ihren Ausdruck findet. Er muß das Blut aller Juden haben; sein Herz ist nicht zufrieden mit dem Leben des einen, der ihm die geforderte Ehrerbietung verweigert hatte. Er muß die Seelen des ganzen Volkes haben. Aus ihm weht der Geist des Feindes Israels, welcher dereinst sagen wird: "Kommet und lasset uns sie vertilgen, dass sie keine Nation mehr seien, dass nicht mehr gedacht werde des Namens Israels!" (Psalm 83) Der Amalekiter und sein Anhang werfen das Los, das Pur, nur um den Tag zu bestimmen, an welchem die Vertilgung vor sich gehen soll. 

Aber Gott sei Dank! Wir wissen, das Los kann "in dem Busen geworfen werden, aber all seine Entscheidung kommt von dem Herrn". (Sprüche 16,33) So war es auch hier. Elf lange Monate, vom dreizehnten des ersten Monats bis zum dreizehnten des zwölften Monats, d. i. von dem Tage an, an welchem das Los geworfen wurde, bis zu dem Tage, an welchem es entschied, dass das Hinschlachten des Volkes stattfinden sollte, werden gegeben, um Gottes Pläne für Sein Volk und dessen Widersacher zur Reife kommen zu lassen.

Dies redet mit deutlicher, lauter Stimme zu unseren Ohren. Zwar vernehmen wir nichts von einer Botschaft, aber wir hören die Stimme. Der Name Gottes wird nicht einmal genannt, aber alles ist das Werk Seiner Hand und der Ratschluss Seines Herzens.

Haman findet keinen Widerstand von seiten seines Herrn, des Königs. Er sagt ihm, unter den Völkern seines Reiches wohne ein Volk zerstreut und abgesondert, dass er nicht bestehen lassen dürfe, weil die Gesetze desselben von denen jedes anderen Volkes verschieden seien. Siehe da das Geheimnis der Feindschaft der Welt von damals und von heute! "Diese Menschen verwirren ganz und gar unsere Stadt und verkündigen Gebräuche, die uns nicht erlaubt sind anzunehmen, noch zu tun." (vgl. Apg. 16,20-21) Der Wunsch Hamans wird erfüllt, und der grausame Befehl geht von dem Palast zu Susan aus. In Eile nimmt er seinen Weg zu allen Teilen der Welt, dem Bereich der großen "Brust von Silber". Infolge dessen kommt die ganze jüdische Nation unter das Todesurteil.

Der Befehl muss auch zu den zurückgekehrten Gefangenen gelangt sein, denn Judäa war zu jener Zeit eine Provinz des persischen Reiches. Sie alle mußten lernen auf Ihn zu vertrauen, der die Toten ins Leben zurückruft, der das Nichtseiende ruft als Seiend, und der in dieser Welt in Auferstehungsmacht handelt. Der Überrest von Israel musste lernen, in den Fußstapfen des Glaubens seines Vaters Abraham zu wandeln. Der Glaube musste geübt werden, denn der Herr wollte sich für eine Weile nicht offenbaren, obwohl Er an Sein Volk dachte und es beschirmte, ohne dabei aus Seiner Verborgenheit herauszutreten. 

Damit ist der Augenblick für Mordokai gekommen, um auf dem Schauplatz zu erscheinen als der Vertreter dieses Überrestes, als der Besitzer jenes Abraham ähnlichen Glaubens in einer schweren Stunde. Die Gottesfurcht dieses treuen und geehrten Mannes zeigt sich zunächst in seiner Weigerung, sich vor dem Amalekiter niederzuwerfen. Schon die gewöhnliche, allen gemeinsame Pflicht, nur den wahren Gott, den Gott Israels, anzubeten, würde ihm das verboten haben. Aber Mordokai hatte einen weiteren Grund zu seinem Verhalten. Sollte wohl ein Jude sich vor einem Abkömmling jenes Stammes niederbeugen, von welchem der Gott der Juden erklärt hatte, dass Er Krieg auf immerdar mit ihm führen werde? Sollte er sich niederwerfen vor einem Mann, der, anstatt vor dem Herrn des Himmels und der Erde in den Staub zu sinken, aufgestanden war, um die Macht Gottes zu verhöhnen, ja, um Sein Volk vor Seinem Angesicht zu vertilgen?

Mordokai bringt durch dieses Verhalten sein Leben in die größte Gefahr. Aber sei es so. Das kann sein Tun nicht im geringsten beeinflussen. Seine Gesinnung ist dieselbe wie die seiner drei Brüder, Sadrach, Mesach und Abednego, welche einem früheren Haman antworten konnten: "Wir halten es nicht für nötig, dir ein Wort darauf zu erwidern. Ob unser Gott, dem wir dienen, uns aus dem brennenden Feuerofen zu erretten vermag, - und Er wird uns aus deiner Hand, o König, erretten, - oder ob nicht, es sei dir kund, o König, dass wir deinen Göttern nicht dienen und das goldene Bild, welches du aufgerichtet hast, nicht anbeten werden!"

Das ist an und für sich wahrhaft schön; aber noch schöner wird es, wenn wir es in der Verbindung betrachten, in welcher es steht. Denn erst die harmonische Vereinigung verschiedener Züge macht die Vorzüglichkeit eines Charakters aus. Wir müssen "männlich und stark sein", und doch muss "alles bei uns in Liebe geschehen". In Ihm, bei welchem alles von vollkommener sittlicher Schönheit war, gab es keinen Zug, der nicht zu einem anderen gepasst hätte; alles stimmte zu einander, die Verbindung war vollkommen. Bei Mordokai erblicken wir Ähnliches. Bei ihm geht Güte mit Gerechtigkeit gepaart. Er hatte seine Liebe und Herzensgüte darin bewiesen, dass er seine verwaiste Nichte erzog, gerade so als ob sie sein eigenes Kind gewesen wäre. Und jetzt ist er treu und unbeugsam. Hatte er vordem in Liebe und Barmherzigkeit gehandelt, so zeigt er sich jetzt als ein Mann. Er erweist die durch das Gebot des Königs geforderte Ehrenbezeugung nicht, obgleich er damit sein Leben aufs Spiel setzt.

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Das Evangelium der Herrlichkeit

Bibelstelle: 2. Korinther 3 -5

Botschafter des Heils 1908 S. 264ff

Gott ist am Kreuze im Blick auf die Sünde vollkommen verherrlicht worden. Dort hat Einer, ein Heiliger und Gerechter, an unserer Stelle gestanden und hat den ganzen Zorn Gottes über Sich ergehen lassen; und dieser Eine ist nach vollendetem Werk hinaufgestiegen in die Höhe und hat Sich gesetzt zur Rechten Gottes. Gott hat Ihn aus den Toten auferweckt und in Seine Herrlichkeit eingeführt. Nachdem Er durch Sich Selbst die Reinigung der Sünden gemacht, hat Er Sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe (Hebräer 1,3). Wir sehen jetzt droben den verherrlichten Menschensohn, den Vorläufer unseres Heils, den Erstgeborenen vieler Brüder. Gott hat Ihm diesen Platz zu Seiner Rechten gegeben. Eine überströmende Herrlichkeit ist somit verbunden mit diesem Dienst des Geistes und der Gerechtigkeit. Bei Mose war sie, wie wir gesehen haben, nur vorübergehend, sie wurde nur für einen Augenblick geschaut; in Christo ist sie bleibend und kann von uns allen, die wir des Herrn sind, jederzeit mit aufgedecktem Angesicht angeschaut werden; ja, indem wir sie anschauen, werden wir verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit.

Welch eine wunderbare, göttliche Gnade ist das! Hier gibt es keine Spur von Gesetz, von Verordnungen, die dem Menschen im Fleische auferlegt wären, nichts von eigenem Tun und Wirken. Und Gott sei gepriesen, dass es so ist! Darum ist diese Herrlichkeit auch so überströmend, so glänzend rein, so unvergänglich; sie ist uns geschenkt in Christo Jesu von Ewigkeit zu Ewigkeit. Hier handelt es sich um die Erfüllung der göttlichen Gnaden Ratschlüsse in einem Heiland, Der aus dem Himmel herniederkam, Der Gott im Blick auf die Sünde völlig verherrlicht hat, und Der nun im Himmel, ja, in Gott Selbst verherrlicht ist; Der dem glaubenden Sünder ein Anrecht gibt, in vollkommener Gnade vor Gott zu stehen, dereinst bei Jesu zu sein in der Herrlichkeit, ja, jetzt schon eins mit Ihm durch den Heiligen Geist, Den Er auf diese Erde gesandt hat. Es handelt sich, mit einem Wort, um die Einführung des Menschen in Gottes heilige Gegenwart auf dem Boden einer vollkommenen, bedingungslosen Gnade, die jetzt herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben. Mit Christo, dem verherrlichten Menschen droben, in Verbindung gebracht, erwarten wir Seine Rückkehr, die uns dahin bringen wird, wo Er ist.

Haben wir jetzt den Unterschied zwischen Gesetz und Gnade ein wenig verstanden? Haben wir verstanden, dass das Gesetz den Sünder zitternd und zagend draußen lässt, während die Gnade ihn einführt iii die Gegenwart Gottes Selbst und ihm gestattet, drinnen zu weilen mit glücklichem, dankerfülltem Herzen? Haben wir ferner verstanden, was die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes für den Menschen in seinen Sünden ist? Denken wir an den ersten Adam. Ehe er gesündigt hatte, verkehrte Gott mit ihm in Güte und Freundlichkeit. Sobald aber die erste Sünde begangen war, floh Adam aus der Gegenwart Gottes. Die Sünde trieb ihn hinweg, das böse Gewissen brachte ihn unter die Bäume des Gartens und leitete ihn dahin, für sich und sein Weib Schürzen aus Feigenblättern zu machen, um sich vor dem Auge des heiligen Gottes zu verbergen. Das Licht verurteilte ihn und trieb ihn hinaus.

Und hier, wenn Gott ein wenig von dem Glanz Seiner Herrlichkeit auf dem Angesicht eines Menschen ruhen lässt, wenn Moses mit seinem strahlenden Antlitz unter die Kinder Israel tritt, können sie den Anblick nicht ertragen und bitten Moses, sein Angesicht zu bedecken. Sie fürchten sich vor ihm, sie können ihn nicht anschauen. So finden wir denn, dass der Mensch, wenn er in Gottes Gegenwart kommt, entweder flieht wie Adam und seine Nachkommen, oder dass er Gott bittet, von ihm hinauszugehen, Sich vor ihm zu verbergen. So machte es auch Petrus, als der Herr die Herrlichkeit Seiner Gnade und Seine Größe ihm offenbarte. Herr, gehe von mir hinaus, rief er, ich bin ein sündiger Mensch! Das ist das Ergebnis der erkannten Gegenwart Gottes, selbst wenn Gott, wie hier bei Israel, mit dem Gesetz die Herrlichkeit Seiner Gnade verbindet. Sie lässt den Menschen nur um so mehr erkennen, wie schuldig er ist, und die notwendige Folge ist Furcht und Zittern.

Es ist merkwürdig, wie lange ein Mensch den sogenannten Pflichten seiner Religion genügen, ja, wie er sein ganzes Leben lang sich eifrig bemühen kann, Gutes zu tun und fromm und ehrbar zu leben, ohne sich jemals zu fürchten. Im Gegenteil, er fühlt sich vielleicht ganz behaglich dabei. Er misst sich mit der Elle menschlicher Gerechtigkeit, vergleicht sich mit seinem Nachbar und bespiegelt sich in dem Lichte seiner eigenen Frömmigkeit; aber an Gottes Auge denkt er nicht. Doch in dem Augenblick, da er in Gottes Gegenwart tritt und Gottes Licht in sein Herz hineinleuchtet, ist es aus mit seiner Ruhe. Er flieht Gott, will nichts mehr von Ihm hören; oder er sagt: Gehe von mir hinaus; ich kann Deine Gegenwart nicht ertragen. So achtungswert sein Charakter und so tadellos sein Leben sein mag, er hat kein vollkommenes Gewissen, und er fühlt, dass Gottes Auge in die verborgensten Winkel schaut, und dass Sein Wort die innersten Gedanken und Überlegungen des Herzens beurteilt. Und je mehr er erkennt, dass er von der in Christo geoffenbarten Herrlichkeit der Gnade keinen Gebrauch gemacht hat, desto tiefer wird das Gefühl der Schuld .und desto größer die Furcht.

Die Wirkung der Gegenwart Gottes auf den Menschen ist also ernst, und Gott sei Dank, dass es so ist! Möchte Er in Seiner Gnade uns alle in Seine Gegenwart bringen, die noch finsteren Herzen erleuchten, damit noch aus manchem Munde das Bekenntnis komme: „Ich bin ein sündiger Mensch, Herr! All mein Tun, Wollen und Ringen ist eitel; es kann mir keinen Platz in Deiner Gegenwart, keine Ruhe des Gewissens oder Frieden des Herzens geben. Was soll ich tun, Herr? Wie kann ich Frieden und Ruhe finden"? - Die Antwort ist bereit.

 Sie lautet: Das was du nicht tun konntest, was niemand tun kann, was selbst das Gesetz nicht zu tun vermochte, das hat die Gnade getan, die in ihrer ganzen Herrlichkeit sich in Christo Jesu geoffenbart hat. Die Liebe führte Ihn herab auf diese Erde. Deine Sünden brachten Ihn ans Kreuz, und Gott hat sich dort mit diesen Sünden in Gerechtigkeit und Heiligkeit beschäftigt. Alles, was der Mensch ist im Bösen, und alles, was Gott ist in Gerechtigkeit und Liebe, hat sich dort gezeigt. Und nun hat Christus Sich zur Rechten der Majestät droben gesetzt. Gott Selbst hat Ihn dahin erhöht und gerade darin wiederum Seine Gerechtigkeit geoffenbart; denn Dem, der Ihn hienieden in Sünde und Verderben verherrlicht hatte, gebührte der Platz zu Seiner Rechten. Christus ist dort, weil Er alle meine Sünden hinweggetan und, indem Er das tat, Gott vollkommen verherrlicht hat. Zum Zeugnis dessen kam der Heilige Geist hernieder. Er bezeugt, dass Christus droben ist, und macht mich, indem Er in mir wohnt, mit dem ganz neuen Verhältnis bekannt, in welches ich durch den Glauben zu Gott gebracht bin.

Es ist deshalb der Dienst der Gerechtigkeit und es ist der Dienst des Geistes. Welch ein Gegensatz zu dem Dienst, der einst in Israel aufgerichtet war, selbst nachdem Gott Sich als der gnädige und barmherzige Gott geoffenbart hatte, Der bereit ist zu vergeben! Das Kreuz ist der Ausdruck der vollkommenen Liebe Gottes, einer Güte, die alles Erkennen und Verstehen übersteigt. Und der Gläubige darf jetzt diese Güte und Liebe, diese unendliche Barmherzigkeit Gottes anschauen mit aufgedecktem Angesicht. Da ist keine Decke mehr. Sie ist in Christo hinweggetan. Auf dem Herzen der Kinder Israel liegt die Decke heute noch, denn sie haben Christum verworfen, und darum sehen sie nicht die Herrlichkeit der Gnade, die in Jesu geoffenbart worden ist. Und diese Decke wird auf ihrem Herzen liegen bleiben, bis Gott in Seiner Barmherzigkeit Sich dieses Volkes wieder annehmen, und bis ihr Gewissen durch das Wirken Seines Geistes aufwachen wird. 

Dann werden sie Leid tragen über ihre Sünden, sie werden umkehren zum Herrn, und die Decke wird von ihrem Herzen weggenommen werden (V. 15. 16). Dann werden auch sie die überschwängliche Herrlichkeit der Gnade erkennen. Ihren Unglauben und ihr gesetzliches Tun aufgebend, werden sie sich freuen des vollbrachten Werkes Christi und gleichfalls da ruhen, wo Gott mit Wonne ruht. Sie werden Gott nahen ohne Decke, mit aller Freimütigkeit, und um Jesu willen in den Genuss aller Verheißungen eingeführt werden. „Bis zum heutigen Tage, wenn Moses gelesen wird, liegt die Decke auf ihrem Herzen". Ja, nicht nur auf dem Herzen dieses Volkes, sondern auch auf Tausenden und Abertausenden sogenannter Namenchristen, die wohl von Christo reden und sich nach Seinem Namen nennen, die Herrlichkeit der Gnade aber, die in Christo geoffenbart ist, nie erkannt haben.

 In Christo wird die Decke weggetan für Israel, und ebenso ist es heute gewissermaßen für jeden, der zu Jesu kommt. Das Auge wird geöffnet, und Dinge, die man nie geahnt hat, die alles Erkennen und Verstehen übersteigen, werden auf einmal dem Herzen durch den Geist Gottes zum Verständnis gebracht. Die Decke wird weggenommen, und das Auge des Herzens sieht die ganze Fülle der in Christo geoffenbarten Gnade. „Wie habe ich bis heute nur so töricht sein können", ruft der Mensch aus, „mich abzumühen in eigenem Tun und Wirken, während Gott in Christo eine Gnade geoffenbart hat, die mich aus meinem armen, elenden Zustande herausnimmt und in Christo geradewegs in die Herrlichkeit hinein versetzt"! Ja, das Auge sieht Ihn, Der für uns in Gericht und Tod war, auferweckt und droben mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt.

Im nächsten Kapitel wird deshalb auch das Evangelium ein „Evangelium der Herrlichkeit" genannt, nicht nur der Gnade, sondern der Herrlichkeit Christi. Es ist sicherlich auch das Evangelium der Gnade, aber es handelt sich hier vornehmlich um die Herrlichkeit des Christus, Welcher das Bild Gottes ist, um Ihn, das lebendige Wort, Der hinabgestiegen ist in die unteren Örter der Erde und hinaufgestiegen über die Himmel, auf dass Er alles erfüllte (Epheser 4,9. 10). Welch eine Fülle der Gnade, welch eine Herrlichkeit strahlt uns aus Seinem Angesicht entgegen! Es war Gottes Plan, uns Seinen Kindern, die Christus Sich nicht schämt, Seine Brüder zu nennen, eine solche Fülle der Gnade zu offenbaren. O, wenn ein Mensch einmal dahin kommt, sich selbst und sein armseliges Tun aufzugeben und allein auf das zu blicken, was Gott in Christo getan hat, dann jubiliert sein Herz; die Seele frohlockt im Anschauen solcher Gnade und solcher Herrlichkeit, und indem sie den Herrn Jesum droben betrachtet, sagt sie: Dahin führt mein Weg; ich möchte da sein, wo Jesus ist; ja, dort ist jetzt schon mein Platz!

„Wir haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu, den neuen und lebendigen Weg. welchen er uns eingeweiht hat durch den Vorhang, das ist sein Fleisch" (Hebräer 10,19. 20). Der Vorhang ist zerrissen worden von oben an bis unten aus. Christus ist für uns gestorben, Sein Fleisch ist gleichsam zerrissen worden, und auf diesem Wege wurde uns der Eingang geöffnet, und wir dürfen mit Freimütigkeit eintreten in Gottes Gegenwart, dürfen nahen in voller Gewissheit des Glaubens, Ihr lieben gläubigen Freunde! lasst es uns von Gott für uns erbitten, diese kostbare Wahrheit im Glauben zu erfassen und immer besser zu verstehen! Nicht nur damit unser eigenes Herz glücklich sei, sondern damit wir auch, während wir durch diese Welt gehen, vor den Menschen es zur Darstellung bringen können, was diese Herrlichkeit der Gnade ist.

 Wir werden dann auch mehr imstande sein, das Herz unseres Vaters zu erfreuen, dadurch, dass wir die Fülle Seiner Liebe genießen und Ihn preisen mit Herzen, die einzugehen verstehen in Seine Gedanken über Seinen Sohn. Und weiter, indem wir so durch diese Welt gehen, glücklich im Anschauen Seiner Herrlichkeit, „werden wir verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist"; also wiederum nicht aus eigener Kraft oder durch eigenes Tun. Hier ist alles eigene Tun ebenso völlig ausgeschlossen wie bei unserer Errettung.

Zur Erläuterung des Gedankens habe ich zuweilen das Bild von einem Meister und seinem Lehrling gebraucht. Es ist, wie alle Bilder, unvollkommen, aber es mag doch dem einen oder anderen behilflich sein. Wie wird ein Lehrling gefördert in seinem Beruf? Wie wird er zu einem Gesellen? Wie zu einem Meister? Nicht wahr? indem er unausgesetzt auf die Hand seines Meisters sieht und auf seine Unterweisungen lauscht. 

Nicht dadurch dass er den Vorsatz fasst: Jetzt will ich diese und jene Arbeit tun, und sich dann mit ungeschickter und ungeübter Hand daran macht, sondern indem er auf den Meister sieht und darauf hört, was der Meister ihm sagt. O wie viele falsche Wege werden eingeschlagen, wie viele verkehrte Dinge getan von Gläubigen, die durch die Liebe ihrer Herzen getrieben werden und es aufrichtig meinen, die aber nicht auf die Hand des Meisters schauen, nicht auf den Wink Seiner Augen acht haben! Dinge, die der Herr nicht geheißen hat, werden in eigener Kraft begonnen; und was ist das Ende? Enttäuschung, Misslingen.

Wie wachsen wir in das Bild unseres Herrn Jesu hinein? Wir sollen hineinwachsen. Indem wir Ihn anschauen, den verherrlichten Menschensohn, indem alles, was Er als der Verherrlichte droben ist, uns vertrauter wird, indem wir auf Sein Wort lauschen und durch Seinen Heiligen Geist uns leiten lassen.

Man hört so oft Gläubige sagen: Ich möchte gern Jesu mehr ähnlich werden, möchte heiliger sein in all meinem Wandel, mehr abgesondert von der Welt und ihrem Geist; aber ich mache so wenig Fortschritte. Ist dieses Verlangen verkehrt? Sicherlich nicht! Der Herr vertiefe es vielmehr in uns allen! Das Verkehrte ist, dass man, um diesem Ziele näher zu kommen, immer in sich hineinschaut, sich mit sich und seinen Fortschritten beschäftigt, statt einfach auf Jesum zu blicken und von Ihm zu lernen. 

Ach! seufzt so mancher, anstatt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, geht es bei mir immer von Fall zu Fall, von Kraftlosigkeit zu Kraftlosigkeit. Ist es recht, wenn es so bei uns steht? Wahrlich nicht! Gott will, dass es von Herrlichkeit zu Herrlichkeit gehe, und was ist der Weg dahin? Auf Jesum schauen und sich nicht mit der Frage beschäftigen: Wie weit habe ich es schon gebracht? Der Lehrling weiß, dass er seinen Meister noch nicht erreicht hat. Darum sieht und hört er auf ihn. So wird er allmählich in das Bild des Meisters verwandelt. Und wenn wir nach einigen Jahren ihn wieder sehen, sind wir erstaunt über die Fortschritte, die er gemacht hat.

Gerade so ist es im christlichen Leben. Möge der Herr uns denn schenken, dass wir, einfältig auf dem Boden der Gnade stehend, auf Ihn blicken, von Ihm lernen und in Sein Bild uns verwandeln lassen! Alle jene trüben Erfahrungen, von denen wir soeben redeten, sind die Folge eines gesetzlichen Geistes. Die Decke liegt noch auf dem Herzen. Sobald aber ein Christ gelernt hat, in der Gnade Gottes zu ruhen, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anzuschauen, ist er ein glücklicher Mensch, ein Brief Christi, gekannt und gelesen von allen Menschen. Jeder Gläubige ist ein Brief Christi. Es kann sein, dass er seiner Bestimmung nicht entspricht; aber ein Brief ist er. Gott hat sozusagen Jesum Christum auf sein Herz geschrieben, und dies kommt zur Darstellung in demselben Maße, wie der Gläubige Jesum anschaut und in Abhängigkeit von Ihm seinen Weg geht.

Noch einmal denn: Lasst uns allezeit mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit unseres Herrn, des verherrlichten Menschen zur Rechten Gottes, anschauen, mit aller Freimütigkeit, nicht fragend oder zweifelnd! Das ist die Pflicht und das Vorrecht aller Gläubigen, nicht nur einiger Bevorzugter. Gott Selbst hat es uns gegeben. Lasst uns mit immer steigender Bewunderung die Wege, die Gedanken und Ratschlüsse Gottes betrachten, die mit dem verherrlichten Menschensohn verbunden sind, und so unseren Weg durch diese Welt gehen als Erlöste des Herrn, die in Seiner Gnade ruhen und immer mehr hineinwachsen in Sein gesegnetes, herrliches Bild!

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Von Gott getröstet *)

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 274ff

„Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi, der Vater der Erbarmungen und Gott alles Trostes, der uns tröstet in all unserer Drangsal, auf dass wir die trösten können, die in allerlei Drangsal sind, durch den Trost, mit welchem wir selbst von Gott getröstet werden“ (2. Kor. 1, 3, 4).

Ich denke gerade an Matth. 6, 8 und Lied 86, wo wir singen:

Du wirst mich nie beschämen,

weil Du mich innig liebst;

Ich werde reichlich nehmen,

was gut ist, Du mir gibst.

Wie gut haben wir es doch, dass wir von solch treuen Vaterhänden geleitet werden! Nach dem Urteil der Welt ist es ja nichts Großes und Bedeutungsvolles, wenn ein Christ in einfacher Weise durch das Leben geht; aber für den, welcher die Liebe Gottes an seinem Herzen erfahren hat, und welcher durch Seine Gnade sich ein Kind Gottes nennen kann, ist es herrlich und köstlich, auf dem Wege durch das Tränental täglich und stündlich zu gewahren, mit welcher Sorgfalt und Treue und in wie großer Langmut und Güte der himmlische Vater Seine Kinder durch die Wüste führt. Wie glücklich sind unsere Herzen, wenn wir Ihm kindlich in allem vertrauen! „Jehova der Heerscharen! Glückselig der Mensch, der auf Dich vertraut“ (Ps. 84, 12)!

Glückselig, wer dem Herrn vertraut!

Der kann es täglich sehen,

wie Er in Lieb herniederschaut;

´s ist gar nicht zu verstehen,

wie Er in Weisheit alles lenkt:

Es ist der Herr, der an uns denkt!

Sein Name ist ja „Wunderbar“,

drum sind nicht zu ergründen

die Höhn und Tiefen, denn fürwahr

in Ihm wir alles finden.

Es ist ihm nichts zu groß, zu klein,

denn Er ist unser, wir sind sein.

Ja, wahrlich, eine reiche Füll

der Liebe sich ergießet;

versenke ich darein mich still,

mein Herz dann überfließet;

und weil ich es nicht fassen kann,

so staune ich und bete an.

Aus seiner Fülle nehm ich nur

tagtäglich Gnad um Gnade,

und folge Seiner Segensspur

auf schmalem, steilen Pfade;

mein Herr und Heiland lässt mich nicht,

bis dort ich schau sein Angesicht!

Wie köstlich ist es, zu sehen und zu schmecken, dass der Herr gütig ist (Ps. 34, 8), und dass Seine Güte alle Morgen neu und Seine Treue groß ist (Klagel. 3, 22. 23)! Wie belebend und stärkend ist auch das Bewußtsein, dass Er, als der ewige Gott, nicht ermüdet noch ermattet (Jes. 40, 28 — 31), und dass Er weiß, den Müden durch ein Wort aufzurichten! (Jes. 50, 4; Ps. 146, 8.) Wie gesegnet ist es, zu erfahren, dass Er der Vater der Erbarmungen und der Gott alles Trostes ist! Von Ihm getröstet, erquickt und gestärkt zu werden und auf der Pilgerreise täglich neu Seine Gnadenerweisungen zu erfahren, ist wohl der Mühe wert und bringt immer mehr zu dem Lohe hinzu, welches bald voll ertönen wird droben in der Herrlichkeit.

Wie herrlich und kostbar ist es ferner, hienieden den Frieden Gottes zu genießen, der allen Verstand übersteigt! Welch eine Ruhe bei aller Unruhe, welch eine Stille bei allem Sturm, welch eine Tröstung bei allem Schmerz, welch eine Freude bei aller Trauer, welch eine Kraft bei aller Schwachheit, welch eine Fülle bei aller Leere, und welch ein Reichtum bei allem Mangel erfüllt dann unser Herz, wenn wir ruhen in Ihm, der unser Friede ist! Kostbar ist es, sich wie die Braut in der Wüste, wovon wir in Hohel. 8, 5 lesen, auf den Geliebten zu lehnen, wie der Jünger Johannes an der Brust Jesu zu liegen (Joh. 13, 25), und zu tun wie Maria, die sich zu Seinen Füßen niedersetzte und Seinem Wort zuhörte (Luk. 10, 39). Welch ein herrlicher Platz, ist das! Möchten wir da viel verweilen!

Der Augenblick rückt immer näher, wo wir in die ewige Ruhe einziehen werden, und wie wohl wird uns dann sein! Wenn es uns jetzt schon so wohl ist im Herrn, wie wohl wird uns erst dort beim Herrn sein, wo Sünde und Kummer fern sind!

O mein Jesu, welch Entzücken

wird’s für meine Seele sein,

Dich verherrlicht zu erblicken,

ewig Dir mein Lob zu weihn!

Einige Zeilen möchte ich noch hinzufügen. Es ist immer eine Freude, auch von anderen Leidensgefährten zu hören, dass sie sich der Trübsale rühmen. In Hoffnung sich freuen, in Trübsal ausharren, im Gebet anhalten, das sind drei Goldstücke, wie einmal eine Schwester sich ausdrückte, als sie meinen Wandspruch (Röm. 12, 12) sah. „Ei“, meinte sie, „davon kannst du noch auszahlen“. Ich musste ihr beistimmen. Im Besitz des unverlierbaren Vermögens nach Psalm 23: „Jehova ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ u. s. w., darf der Becher überfließen, und nach Spr. 8, 21 werden die Vorratskammern immer reichlich gefüllt nach jeder Seite hin. Wie gern teilt man dann auch anderen ein wenig von dem Reichtum mit, der, wie wir in einem Liede singen, nicht erbleicht und veraltet und nicht zu ergründen ist! Ach, wie viele sind um uns her, die noch nichts kennen von diesen herrlichen Schätzen, welche wir in Gottes Schatzkammern finden! Wie wird das Herz bewegt, wenn man an solche denkt! Doch der Herr steht über allem und wirkt in Seiner großen Gnade .und Barmherzigkeit und in Seiner unermesslichen Liebe. Daher dürfen wir nicht mutlos werden und wollen die Zuversicht nicht wegwerfen. (Hebr. 10, 35).

Vor einigen Wochen wurden wir sehr erschüttert durch den plötzlichen Tod zweier Tanten, Schwestern unserer Mutter, welche beide an einem Tage in die Ewigkeit abgerufen wurden. Wie traurig, wenn in einem solchen Falle die lebendige Hoffnung die Herzen nicht belebt! Wie ernst ist derartiges auch für uns, die wir durch die Gnade vom ewigen Verderben errettet sind! Da ist es besonders wichtig, das Augenmerk auf das letzte der erwähnten drei Goldstücke zu richten: im Gebet anzuhalten.

Kann man’s auch nicht allen sagen,

kann man doch inbrünstig flehn,

dass in diesen letzten Tagen

viele noch zu Jesu gehn.

Auch in dieser Hinsicht ist es der Mühe wert, noch ein wenig auszuharren. Des Werkes des Herrn, der Brüder, die sich in Seinem Dienst befinden, und der Heiligen überhaupt fürbittend zu gedenken, ist eine besondere Aufgabe für die Kranken. Möge der Herr Gnade schenken, dass wir das, was Er uns ausgibt, treu erfüllen: sei’s tätig sein und wirken, sei’s stille sein und ruhn! Er hat in Weisheit die Talente ausgeteilt, dem einen so, dem anderen so. . . . .

Fußnote:

*) Aus dem Briefe einer kranken Schwester, die seit Jahren bettlägerig ist.

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Lasst uns!

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 278ff

Die Wünsche und Neigungen der neuen Natur sind so verschieden und so weit entfernt von denen der alten, wie der Himmel von der Erde oder wie der Osten von dem Westen. Die neue Natur liebt die himmlischen, unsichtbaren Dinge, die alte die irdischen, sichtbaren. Die neue trachtet nach dem, was droben ist, die alte nach dem, was auf der Erde ist. Die neue hat Wohlgefallen an allem, was rein, wahr und lieblich ist; die alte bewegt sich in Unreinheit, Unwahrheit und Unlauterkeit. Die eine liebt, die andere hasst. Die eine ist sanftmütig und demütig, die andere gewalttätig und hochmütig.

Gerade so entgegengesetzt wie ihre Neigungen, sind naturgemäß auch die Kundgebungen und Früchte der beiden Naturen. Die alte Natur sagt: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sterben wir“ (Jes. 22, 13)! Sie sucht ihr Genüge in der Befriedigung der Lüste des Fleisches und lebt nur für heute. Oder wenn sie an die Zukunft denkt, geschieht es, um sich zu erheben und sich einen Namen zu machen: „Wohlan, lasst uns Ziegel streichen . . . und uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, und machen wir uns einen Namen“ (1. Mose 11, Z. 4)! Sie lehnt sich auf gegen Gott und Seinen Gesalbten und ruft: „Lasst uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Seile“ (Ps. 2, 2. 3)! Sie „isst das Brot der Gesetzlosigkeit und trinkt den Wein der Gewalttat“.

Wie ganz anders wirkt und offenbart sich die neue Natur! Sie sagt: „Lasst uns im Gutestun nicht müde werden . . . , lasst uns das Gute wirken gegen alle, am meisten gegen die Hausgenossen des Glaubens“ (Gal. S, 9. 10)! Oder: „Lasst uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit“, —— „lasst uns einander lieben“ (1.Joh. 3, 18; 4, 7.) Im Hebräerbrief begegnen wir dem „Lasst uns“ wiederholt, und es ist höchst bemerkenswert, mit wie vielen Dingen der Heilige Geist, der in der neuen Natur wirkt, diese Aufforderung in Verbindung bringt.

Im 4. Kapitel hören wir dreimal: „Lasst uns Fleiß anwenden, in jene Ruhe einzugehen · . . lasst uns das Bekenntnis festhalten . . . lasst uns mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen usw.“ (V. 11. 14. 16). Die neue Natur ist nicht daheim hienieden, sie strebt dem himmlischen Ziele zu und zieht von dort Kraft, Trost und Gnade.

In Kapitel 6, 1 heißt es: „Das Wort von dem Anfang des Christus lassend, lasst uns fortfahren zum vollen Wuchse!“ Die neue Natur begehrt die volle Ausgestaltung des Menschen in Christo. „Die Wahrheit festhaltend in Liebe, lasst uns heranwachsen in allem, zu Ihm hin, der das Haupt ist“ (Eph. 4, 15)! Sie will da sich bewegen, wo ihr eigentlicher Bereich ist: „Da wir Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum . . . , lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen . . . Lasst uns das Bekenntnis der Hoffnung unbeweglich festhalten!“ Denn das Ziel ist noch nicht erreicht, und weil es viele Gefahren auf dem Wege dahin« gibt, so ,,lasst uns aufeinander achthaben zur Anreizung zur Liebe und zu guten Werken“ (Kap. 10, 22· 23. 24)! Ja, „lasst uns . . . mit Ausharren laufen den vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend auf Jesum“, und, ,,da wir ein unerschütterliches Reich empfangen, lasst uns Gnade haben, durch welche wir Gott wohlgefällig dienen mögen mit Frömmigkeit und Furcht“ (Kap. 12, 1. 28)!

Im letzten Kapitel finden wir das „Lasst uns“ noch zweimal, und zwar in Verbindung mit dem Kreuz und der Schmach Christi und mit der Herrlichkeit droben: „Lasst uns zu Ihm hinausgehen, Seine Schmach tragend“, und: „Durch Ihn nun lasst uns (da wir hienieden keine bleibende Stadt haben) Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die Seinen Namen bekennen“ (V. 13. 15)!

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Die Zerstreuten unter den Nationen

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 281ff

Die mannigfachen Seelenübungen, wie wir sie in diesen Kapiteln bei Esther und Mordokai wahrnehmen, sind ein Gegenstand von großem Interesse. Die Hand und der Geist Gottes wirken hier miteinander in der Geschichte Israels, und zwar in derselben wunderbaren Weise, wie sie uns in den Psalmen und in den Propheten entgegentritt. Gottes Hand gestaltet die Umstände, der Geist bildet den Sinn. Von diesen beiden Dingen, mit denen sich ein sehr großer Teil des prophetischen Wortes beschäftigt, erhalten wir hier lebendige, persönliche Illustrationen in den Herzensübungen, durch welche wir diese beiden Heiligen Gottes hindurchgehen sehen, sowie in den wunderbaren Umständen, durch welche sie geführt werden.

Nachdem der verhängnisvolle Befehl erlassen ist, zerreißt Mordokai seine Kleider, fastet und legt Sacktuch an. Dabei rechnet er aber doch auf Befreiung. Eine solche Verbindung ist kostbar. Im Leben des Elia finden wir auch ein Beispiel davon. Er wusste, dass der Regen kommen würde; aber trotzdem wirft er sich zur Erde nieder und tut sein Angesicht zwischen seine Knie, wie einer, der sich in "inbrünstigem Gebet" befindet. (vgl.1. Könige 18; Jakobus 5,16-18) Der Herr selbst gibt uns ein zweites Beispiel. Er weiß und bezeugt, das Er im Begriff steht, Lazarus vom Todesschlafe aufzuwecken; aber Er weint, wenn Er sich dem Grabe nähert. Ähnlich ist es hier mit Mordokai. Er will von seiner Trauer nicht ablassen. Er weist auch jeden Trost zurück, so lange der Befehl gegen sein Volk bestehen bleibt, obwohl er ganz fest auf Befreiung in der einen oder anderen Weise rechnet. Das ist eine andere jener Verbindungen, welche zur Bildung eines Charakters von sittlicher Schönheit notwendig sind, und wovon wir bereits ein Beispiel in diesem Israeliten "sonder Trug" wahrgenommen haben.

Esther ist, als das schwächere Gefäß, ebenso schön in ihrem Geschlecht. Wohl mag sie nötig haben, von Mordokai gestärkt zu werden; aber ihr Mitgefühl für die Not ihres Volkes ist zart und tief. Sie sieht Schwierigkeiten und fühlt Gefahren, und eine zeitlang redet sie von ihren Umständen. Aber darin liegt nichts Verkehrtes. Sie sagt Mordokai, welch ein Wagestück es sei, wenn sie unaufgefordert in die Gegenwart des Königs trete. Ich wiederhole, es war nicht verkehrt, so von ihren Umständen zu reden, obwohl Schwachheit sich darin offenbaren mochte. Aber Mordokai tritt ihr, als das stärkere Gefäß, mit einem Rat zur Seite, und er erscheint als einer, der in der Sache Gottes und Seines Volkes über Umständen und menschlichen Gefühlen steht. Er sendet Esther, trotzdem er sie so lieb hatte, eine Antwort, die keinen Einspruch erlaubt; und sein Herz ist ruhig und fest inmitten der Gefahren. Er thront gleichsam auch auf Wasserfluten, in der kostbaren Macht Dessen, der die Wogen für uns betreten hat. Es gibt, wenn ich mich so ausdrücken darf, in dem Opfer, das er darbringt, weder Sauerteig noch Honig. Er geht nicht mit Fleisch und Blut zu Rate, noch blickt er auf die höher und höher steigenden Gewässer. Sein Glaube ist siegreich, und das schwächere Gefäß wird durch ihn gestärkt. Esther entschließt sich, zu dem König hineinzugehen. Wenn sie umkommt, so kommt sie um; aber sie fühlt sich durch die erhaltene Belehrung im Stande, alles für Ihr Volk zu wagen. Dabei "achtet" sie, obwohl sie unter der Prüfung nicht "ermattet", dieselbe doch auch nicht "gering". Sie wünscht, dass Mordokai und alle ihre Volksgenossen in demütigem, abhängigem Geist vor Gott für sie beschäftigt seien, auf dass sie Gnade erlange und ihr Weg in die Gegenwart des Königs seinen Zweck erfülle.

Demzufolge begibt sie sich am Ende des dreitägigen Fastens, ihr Leben aufs Spiel setzend, in den inneren Hof des Königshauses, wo der Herrscher auf seinem königlichen Throne sitzt. Doch die Herzen der Könige sind in der Hand des Herrn. Das zeigt sich auch hier. Esther erlangt Gnade in den Augen des Ahasveros, und er reicht ihr das goldene Zepter.

Darin war alles eingeschlossen. Der Ausgang der ganzen Angelegenheit war damit gegeben. Alles hing von der Bewegung des goldenen Zepters ab. Es war Gottes Ratschluß, Sein Wohlgefallen, Seine unumschränkte Gnade, welche alles ordnete. Das Volk war gleichsam schon gerettet. Das Zepter hatte alles zu Gunsten der Juden und zum Verderben ihrer Widersacher entschieden, mochten diese auch noch so hoch und mächtig, noch so zahlreich und listig sein. Gott hatte die Sache in Seine Hand genommen. Und wenn Er für uns ist, wer könnte dann wider uns sein? "Sei fern von Angst", so sprach der Herr auch hier zu Seinem Volke, "denn du hast dich nicht zu fürchten, und von Schrecken, denn er wird dir nicht nahen. 

Siehe, wenn man sich auch rottet, so ist es nicht von mir aus; wer sich wider dich rottet, der wird um deinetwillen fallen. Siehe, ich habe den Schmied geschaffen, der das Kohlenfeuer anbläst und die Waffe hervorbringt, seinem Handwerk gemäß; und ich habe den Verderber geschaffen, um zu zerstören. Keiner Waffe, die wider dich gebildet wird, soll es gelingen; und jede Zunge, die vor Gericht wider dich aufsteht, wirst du schuldig sprechen." (Jesaja 54,14-17)

Esther nahte herzu und rührte das Zepter an. Sie machte Gebrauch von der Gnade, die sie besucht hatte; aber sie tat es in aller Ehrerbietung, und das Zepter blieb sich treu. Es erweckte keine Hoffnungen, die es auch nicht zu verwirklichen bereit war. Es hatte bereits von Frieden zu ihr geredet; und Friede, weit mehr als Friede, sollte ihr zu teil werden. "Was ist dir, Königin Esther?" sagt Ahasveros zu ihr, "und was ist dein Begehr? Bis zur Hälfte des Königreichs, und sie soll dir gegeben werden!"

Das ist sehr gesegnet. Ich wiederhole, das Zepter blieb sich selbst treu. Welch eine Wahrheit finden wir hierin zum Ausdruck gebracht! Die Verheißung Gottes und das Werk des Herrn Jesu, sie gleichen diesem Zepter. Sie sind Pfänder, die uns unter der gütigen Hand unseres Gottes zum voraus gegeben sind, und die Ewigkeit wird sich ihnen treu erweisen; ja, endlose Zeitalter der Herrlichkeit, Zeugen des vollendeten Heils, werden sie einlösen. Nichts ist zu groß für die Einlösung solcher Pfänder, wie hier das halbe Königreich der Esther zu Füßen gelegt wird.

Die Art und Weise indes, wie Esther von der ihr so gebotenen Gelegenheit Gebrauch macht, ist eine der herrlichsten und köstlichsten Früchte des Lichtes und der Kraft des Geistes, welche wir unter den vielen Wundern entdecken, die Gottes Meisterhand uns in diesem Buche vor Augen führt.

Anstatt um die Hälfte des Königreichs zu bitten, anstatt sogleich das Haupt des gewaltigen Amalekiters zu fordern, ersucht sie nur darum, dass der König und Haman zu einem von ihr bereiteten Male kommen möchten. Das ist in der Tat merkwürdig! Wer hätte eine solche Verwertung eines nahezu unbeschränkten Versprechens erwartet? Die Bitte erinnert uns an die Antwort, welche der göttliche Meister selbst, Er, der "die Weisheit Gottes" ist, dem samaritischen Weibe gab. Sie bat um das lebendige Wasser, und Er forderte sie auf, ihren Mann herbeizuholen. Schien das nicht unerklärlich seltsam zu sein? Aber es war, wie wir wissen, ein Strahl des reinsten Lichtes, der von der Quelle des Lichtes selbst ausging. 

Ähnlich ist es hier. Die Bitte Esthers war wirklich seltsam. Aber sie war, wie wir gleich sehen werden, nichts Geringeres als ein Zeugnis von der vollkommenen Weisheit des Geistes, der diese Frau erleuchtete und leitete. Es war der Weg, um den großen Widersacher zur vollen Ausreifung seines Abfalls zu bringen, zur Erreichung jenes mächtigen Höhepunktes von Stolz und Selbstbefriedigung, von welchem ihn herabzustürzen die Hand Gottes von Anfang an Vorbereitungen getroffen hatte. Esther handelte unter der Leitung des Geistes in ähnlicher Weise mit Haman, wie die Hand Gottes einst mit dem Pharao in Ägypten gehandelt hatte. Das Gefäß des Zornes bereitet sich wieder selbst zum Gericht zu (vgl.Römer 9,22), und es muß von einer Höhe herabgestürzt werden, zu welcher seine eigenen Lüste und der Gott dieser Welt es hinaufgetrieben haben. 

Esther wird in Gottes Hand das Werkzeug, welches ihm Gelegenheit gibt, seinen Abfall voll zu machen. Sie zeigt sich hier in wunderbarer Weise in das Geheimnis aller dieser Dinge eingeweiht. Auch am zweiten Tage bittet sie Haman und den König zum Mahle, nur diese beiden miteinander. Damit war die schwindelnde Höhe erreicht, von welcher der Abtrünnige fallen sollte.

Er kann alles dieses nicht ertragen. Es ist zu viel für ihn. Sein Herz ist überladen; befriedigter Stolz hat es bis zum Überlaufen gesättigt. Er kann sich nicht bezwingen. Gerade seine Verderbtheit treibt ihn auf dem Wege der Natur weiter. Aber so ist es stets. Es war naturgemäß, dass er alle seine Herrlichkeiten seinem Weibe und seinen Freuden kundtat. Fleisch und Blut vermögen so etwas zu schätzen, und der Stolz muß so viele Schmeichler und Verehrer um sich haben wie nur möglich. Zugleich verlangt er aber auch seine Opfer. Da Mordokai sich immer noch weigert Haman die Ehre zu erweisen, die er verlangt, wird ein fünfzig Ellen hoher Galgen aufgerichtet, an den er gehängt werden soll.

Das was Mordokai seiner Zeit dem König über seine beiden Kämmerer Bigthana und Teresch berichtet hatte, muss jetzt, nachdem es bis dahin vergessen oder wenigstens unbeachtet geblieben war, wieder ins Gedächtnis kommen. So werden auch die Tränen, die Küsse und die Salbe der liebenden Sünderin in Lukas 7und die entsprechenden Vernachlässigungen des Pharisäers für einen Augenblick stillschweigend übergangen; aber sie kommen alle ans Licht, ehe die Szene schließt. Denn es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werden wird. Gott läßt nichts unbeachtet vorübergehen. Mordokais Tat bleibt nicht auf immer vergessen. Sie kommt zu ihrer vollen Anerkennung, und das sogar angesichts des großen Widersachers, geradeso wie das liebende Tun der Sünderin ausführlich vor den Ohren ihrer Ankläger wiedererzählt wird. (Lukas 7,36-50)

Die Nacht nach dem ersten Mahle der Königin Esther verlief schlaflos für Ahasveros. Denn wie Gott Seinen Geliebten den Schlaf gibt, so hält Er zu Zeiten auch die Augen der Menschen für sie offen durch Gedanken des Hauptes auf ihrem Lager. Indem Er Unterweisung gibt durch Gedanken zur Nachtzeit, beschäftigt Er sich mit den Herzen der Menschenkinder. So war es auch hier. Der schlaflose König fordert das Gedächtnisbuch der Chroniken, in welchem die Tat des Mordokai aufgezeichnet war, und liest nun den Bericht über das, was sich einige Jahre vorher zugetragen hatte. Und so wie es wahr ist, dass "der Mensch alles was er hat für sein Leben gibt", so dünkt auch hier den König bei der unerwartete Entdeckung der Tat des Mordokai, durch welche sein Leben bewahrt worden war, nichts zu hoch oder zu ehrenvoll für seinen Retter.

Doch stehen wir hier einen Augenblick still, um die wunderbare Verkettung der Umstände in dieser Geschichte zu betrachten. Da ist Haupt- und Nebenplan, ein Rad inmitten eines Rades, wie wir es ausgedrückt finden (vgl.Hesekiel 1,16), ein Umstand abhängig vom anderen; und alles und jedes wirkt zusammen, um die wunderbaren Werke Gottes zu vollführen.

Da finden wir in dieser Geschichte das merkwürdige Auftauchen von Jude und Amalekiter nebeneinander. In der Tat, eine seltsame Erscheinung, wie ich es schon früher hervorgehoben habe. Jude und Amalekiter treten auf in dem fernen persischen Reiche, und zwar befinden sich beide in Stellungen der Gunst und Autorität vor dem dortigen Königsthron. Dann begegnen sich Vastis Laune und Esthers Schönheit. Weiter fällt die Tatsache auf, dass Mordokai als Einziger von dem Anschlag gegen das Leben des Königs vernimmt.

 Dann bestimmt das Los den Tag für die Ermordung der Israeliten, aber so, dass noch elf Monate übrigbleiben, um Pläne zur Reife kommen und Änderungen eintreten zu lassen. Da wird ferner das Herz des Königs bewegt, Esther das goldene Zepter entgegen zu reichen. Ferner sehen wir die Schlaflosigkeit des Ahasveros und seine auf das Gedächtnisbuch der Chroniken gerichteten Gedanken. Und schließlich muss Haman gerade zu diesem besonderen Zeitpunkt den Hof des Palastes betreten.

Welch eine innige Verwebung von Kette und Einschlag zeigt sich in diesem allem! Welch eine Einfädelung von Umständen, und wie geht schließlich aus allem ein so seltenes, farbenprächtiges Gewebe hervor; und doch tritt, wie wir gesehen und bereits gesagt haben, Gott in all der Zeit nicht hervor, ja, Sein Name wird nicht einmal genannt!

Wie gesegnet ist auch dies! Befriedigt durch das Werk Seiner Hand und in den Ratschlüssen Seines Geistes, kann der Herr eine zeitlang verborgen bleiben, ohne an die Öffentlichkeit zu treten oder die Ihm gebührende Verehrung zu empfangen. Wir sind auf unserem Pfade zu etwas Ähnlichem berufen. Wir sollen unser eigenes Werk prüfen, an uns selbst allein Ruhm haben, und nicht an den anderen (Galater 6,4), ohne unsere Geheimnisse auszuplaudern, oder die Blicke unserer Mitbrüder auf uns zu lenken. Es ist wahrlich groß, ungesehen zu wirken, unbeachtet zu dienen. O über die tiefen Ratschlüsse jener Weisheit, die das Ende von Anfang an kennt, und über das wunderbare Wirken jener Hand, welche selbst die Herzen von Königen lenken kann, wie es ihr gefällt!

Eine sprichwörtliche Redensart sagt: Wer kann voraussehen, was ein Tag gebiert? Das sehen wir auch in Hamans Geschichte. Schon ehe das Mahl des zweiten Tages beginnt, stehen Seresch und die Freunde einem ganz anderen Haman gegenüber, als dem, welchen sie nach Beendigung des ersten begrüßt hatten. Haman fällt; und wie fällt er! Wir müssen ein wenig dabei verweilen, um von dem Charakter dieses großen Ereignisses genaue Kenntnis zu nehmen; so wichtig ist es für die Darstellung des Gerichts Gottes.

1. Es wurde der Größe Hamans gestattet, so zuzunehmen und zu wachsen, damit er in der Stunde des höchsten Stolzes, der höchsten Vermessenheit fiele.

Das ist überaus lehrreich; denn so war Gottes Weise von jeher. Den Erbauern des Turmes zu Babel wurde erlaubt, ihr Werk fortzusetzen, bis sie ein Wunder daraus machten. Nebukadnezar wurde Zeit gegeben, seine große Stadt zu vollenden. Das Tier in der Offenbarung wird solange Gedeihen haben, bis die ganze Welt sich hinter ihm her verwundert. So wird auch hier Haman getragen, bis er auf dem Gipfelpunkt seiner Macht angelangt ist. Im Augenblick der stolzesten Erhebung sucht das Gericht Gottes alle diese heim. Auch Herodes, als ein weiteres Beispiel, wurde von Gott geschlagen und starb, als das Volk ihm zurief: "Eines Gottes Stimme, und nicht eines Menschen!" (vgl. Psalm 37,34.36 )

2. Haman wird in seiner eigenen Schlinge gefangen. Die Ehrung, die er sich selbst zugedacht hatte, wird Mordokai zuteil, und an den Galgen, den er für Mordokai errichtet hatte, wird er selbst gehängt.

Das enthält ebenfalls eine Belehrung für uns. Denn auch dies war Gottes Weise und wird es fernerhin sein. Daniels Ankläger werden in die Grube geworfen, welche sie für ihn bestimmt hatten; und die Feuerflamme tötete die Männer, welche die Kinder der Gefangenschaft in den feurigen Ofen warfen. Und so finden wir das Schicksal der Widersacher und Abtrünnigen der letzten Tage in der Geschichte dieser Welt vorhergesagt: "Er lässt ihre Ungerechtigkeit auf sie zurückkehren". (vgl. Psalm 7, 9, 10, 35, 57, 141 usw.) Satan selbst, der die Gewalt des Todes hat, wird durch den Tod überwunden. (Hebräer 2,14)

So wird es dem letzten großen Feinde ergehen. Das Gericht des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht, wie der Blitz, der von Osten ausfährt und bis gen Westen leuchtet. "In einer Stunde", heißt es von dem Babylon der Offenbarung, "ist ihr Gericht gekommen." Die Gerichte über die Welt vor der Flut und über die Städte der Ebene fanden in gleicher Weise statt; sie sind, gleich dem Fall des Agagiters, Vorbilder von einem kommenden Gericht.

Sein Untergang ist ein vollständiger. Dasselbe Schicksal wird den großen Feind und mit ihm diesen gegenwärtigen Zeitlauf treffen.

Die Nachkommen des Verräters werden ausgerottet (vgl. Psalm 109), die Kindlein Edoms hingeschmettert an den Felsen (Psalm 137), Hamans Söhne sämtlich nach ihm gehängt; sie alle zeigen im Bild den gänzlichen Fall und die Vernichtung alles dessen, was sich jetzt wider Gott erhebt, die Reinigung von allem durch den Besen des göttlichen Gerichts. Der "Mühlstein" in Offenbarung 18 sagt es uns, und Prophezeiung auf Prophezeiung hat es seit langem angekündigt.

Der Sturz des großen Amalekiters ist in all den Zügen, die bei ihm hervortreten, voll vorbildlicher Bedeutung. Wir leben in einer Zeit der Weltgeschichte, die seine Person besonders bedeutungsvoll und belehrend für uns macht. Täglich können wir beobachten, wie der Herrn die Absichten der Welt immer mehr ihrer Vollendung näher kommen lässt, wie Er ihr erlaubt, alle ihre erstaunlichen Reize zu entfalten und ihr ganzes System zu entwickeln, bis sie schließlich, gleicht dem Turme zu Babel, die strafende Heimsuchung des Himmels auf sich herabzieht. Plötzlich, in einem Augenblick, und völlig wird das Werk des Gerichts vor sich gehen, und dann wird nicht eine Spur - wie herrlich ist es, das sagen zu können! - von der Welt des Menschen übrigbleiben. Ihr Stolz und ihre Zügellosigkeit, mit allen ihren bösen Früchten, werden dahin sein, und eine Welt, die passend ist für die Gegenwart des Herrn der Herrlichkeit, wird in strahlendem Glanze dastehen.

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Das Evangelium der Herrlichkeit

Bibelstelle: 2. Korinther 3 -5

Botschafter des Heils 1908 S. 292ff

II.

Gott ist Licht, und gar keine Finsternis ist in Ihm. Darum konnte Er uns nur gnädig sein, uns nur erretten, indem Er Seinen geliebten Sohn an unserer Statt opferte. Nur auf diesem Wege war es möglich; und diesen Weg ist Gott gegangen, und Christus ist nach vollbrachtem Werke in den Himmel zurückgekehrt. Wie wir gestern Abend hörten, sitzt jetzt ein verherrlichter Mensch zur Rechten Gottes. Der Mensch ist in der Person Jesu eingeführt in Gottes Gegenwart; nicht in die Stiftshütte, nicht in den Tempel, nein, in das Heiligtum droben. Dort, zur Rechten der Majestät in der Höhe, hat der Sohn des Menschen, als Haupt über alles, Seinen Platz genommen. Wir sehen Ihm noch nicht alles unterworfen, wie der Schreiber des Hebräerbriefes sagt, aber wir sehen Ihn mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Dass die Herrlichkeit, die von dieser Gnade ausstrahlt, jene, die mit dem gesetzlichen System in Verbindung stand, unendlich überstrahlen muss, ist offenbar. Sie bleibt deshalb auch. Es ist die überströmende Herrlichkeit, durch die das Herz des Apostels Paulus, des vornehmsten Trägers des Dienstes des Geistes und der Gerechtigkeit, für immer gewonnen wurde.

Suchen wir nach einem Vertreter des gesetzlichen Systems, so können wir keinen besseren finden, als den Apostel Paulus vor seiner Bekehrung. In ihm erblicken wir einen Mann, der die ganzen Vorzüge besaß, die ein Mensch im Fleische haben kann. Er sagt von sich: „Beschnitten am achten Tage, vom Geschlecht Israel, vom Stamme Benjamin, Hebräer von Hebräern", also nach jüdischen Begriffen floss nicht ein Tropfen unreinen Blutes in seinen Adern; „was das Gesetz betrifft, ein Pharisäer", ein Glied der strengsten religiösen Sekte; „was den Eifer betrifft, ein Verfolger der Versammlung, was die Gerechtigkeit betrifft, die im Gesetz ist, tadellos erfunden". - Ein Mensch, so achtbar, religiös und vollkommen nach menschlichem Urteil, dass es wohl kaum seinesgleichen gab. Und vergessen wir nicht, dass er, geleitet durch den Heiligen Geist, so von sich reden konnte. Da war nicht einer, der ihm hätte sagen können: Hier hast du verkehrt gehandelt, oder: dort bist du nicht gerecht gewesen. Nein, sein Wandel war vor den Augen der Menschen tadellos.

Und nun lasst uns diesen Mann auf dem Wege von Jerusalem nach Damaskus betrachten. Wir wissen ja, zu welchem Zweck er dorthin ging. Er hatte schon vorher die Christen gebunden und ins Gefängnis geschleppt, und hatte seine Stimme dazu gegeben, wenn sie gemartert und getötet wurden. Auch in die Ermordung des Stephanus hatte er eingewilligt. Doch nicht zufrieden damit, war er jetzt auf dem Wege zu der Hauptstadt von Syrien, um auch die dort wohnenden Jünger Jesu zu binden und nach Jerusalem zu bringen. So zieht er dahin. Ist er ein glücklicher Mensch? Man sollte es meinen. 

Hochgeachtet von Seiten seiner Zeitgenossen, völlig überzeugt von der Richtigkeit seines Weges, mit Vollmachten versehen von Seiten der Hohenpriester in Jerusalem, der anerkannte Vertreter des ganzen jüdischen Volkes - und doch nicht glücklich! Nein, tief unglücklich, friedelos! Drohung und Mord schnaubend, einem wütenden wilden Tiere gleich, so zieht er seine Straße nach Damaskus. Ach! wohin hatte ihn sein Eifer, seine gesetzliche Frömmigkeit gebracht? Sie hatte ihn zu einem erbarmungslosen Verfolger der Kinder Gottes gemacht, und zugleich zu einem unglücklichen, bedauernswerten Menschen. Das ist es, was die menschliche Religion grundsätzlich stets tut, wenn sie auch nicht lauter Saulusse hervorbringt; es gibt eben wenig Menschen, die so ernst angelegt sind wie Saulus. Aber je ernster ein Mensch es nimmt, je aufrichtiger und eifriger sein gesetzliches Streben ist, desto mehr wird er dem armen Saulus gleichen.

Aber Gottes Auge blickte auf diesen Mann. Gott hatte Gedanken des Friedens über ihn. Doch wie konnten sie zur Ausführung gebracht werden? Nur dadurch, dass Saulus in den Staub geworfen, dass er zerschmettert wurde in all seinen Hoffnungen und Erwartungen, dass seine eigene Gerechtigkeit ihm gleichsam vor die Füße in den Kot geworfen wurde. Wie das geschah, ist uns allen ja bekannt. Plötzlich, er war schon nicht mehr weit von Damaskus, und die Sonne stand in der Mittagshöhe, umstrahlte ihn vom Himmel her ein großes Licht, das den Glanz der Sonne übertraf und ihn widerstandslos zu Boden warf. Im Staube liegend, hörte er dann eine Stimme: „Saul, Saul, was verfolgst du mich"!

S a u l! - da war also Einer, der ihn kannte, mit Namen kannte, vor dem sein Leben, sein innerstes Wesen, sein ganzer Weg offen lag. Und die Stimme dieses Einen kam aus der himmlischen Herrlichkeit, aus dem strahlenden Glänze, der ihn zu Boden geworfen hatte. Zitternd fragt er: „Wer bist du, Herr?" Er fühlt, es ist ein gewaltiger, mächtiger Herr, Der da redet. „Ich bin Jesus, der Nazarder, den du verfolgst". Welch eine Entdeckung! Ich bin der verachtete Jesus von Nazareth, den ihr gekreuzigt habt, der Gegenstand deines Hasses, deiner bitteren Feindschaft, und ich bin hier in der Herrlichkeit, der verherrlichte Menschensohn, der Herr des Himmels und der Erde. Was verfolgst du mich? Weißt du nicht, dass diese armen Männer und Weiber, denen du erbarmungslos nachstellst, „ich" sind, mit mir verbunden in meiner Herrlichkeit, Glieder meines Leibes? Indem du sie verfolgst, verfolgst du mich. Jeder Schlag, der sie trifft, trifft mich. Was du an ihnen tust, tust du an mir. „Ich bin Jesus, den du verfolgst".

Noch einmal: welch eine Entdeckung für diesen frommen, selbstgerechten Mann, diesen Eiferer für Gott! Der Herr Selbst erscheint ihm und sagt: Du bist mein Feind! Du meinst, mir zu dienen, aber du verfolgst die Meinen auf der Erde, und indem du das tust, verfolgst du Mich. Wo war jetzt seine hochgepriesene Gerechtigkeit? Was war sein Eifer, und was galt seine Abstammung von Israel? Er war ein Feind Gottes, er war ein böser, in jeder Hinsicht verurteilter Sünder, der da auf seinem Angesicht lag in dem Licht der Herrlichkeit des Himmels! Mit all den Vorzügen und Auszeichnungen, die auf gesetzlichem Boden sein Teil gewesen waren, ja, mit Israel selbst (nach dem Fleische), für dessen Rechte er so eifrig gestritten hatte, war es jetzt aus. Für die Erde und für irdische Hoffnungen gab es keinen Raum mehr. 

Das Kreuz hatte alle Ansprüche derer, welche an dem Gesetz festhielten, für immer abgeschnitten; ein Mensch, der aus den Toten auferstanden war und Seinen Platz zur Rechten Gottes droben eingenommen hatte, stand mit dem einen Volke nicht mehr in Verbindung als mit dem anderen. Im Gegenteil, alle nationalen Vorrechte und Unterschiede waren aufgehoben, und eine himmlische Verbindung mit dem verherrlichten Christus wurde jetzt geoffenbart, die sich nicht gründete auf gesetzliche Gerechtigkeit und fleischliche Frömmigkeit, sondern auf den Glauben, den verachteten Jesus von Nazareth.

Die Bekehrung des sterbenden Räubers am Kreuz war ein überwältigender Beweis von der Größe und Herrlichkeit der Gnade Gottes; aber die Bekehrung dieses rasenden Feindes war es noch mehr. Dort redete ein am Kreuze hangender Christus, der verworfene Messias; hier sprach der verherrlichte, zur Rechten Gottes erhöhte Mensch „vom Himmel her". Beiden Männern erschien die „heilbringende Gnade Gottes", aber hier geschah es in einer Weise, die mit allen bisher bestehenden religiösen Beziehungen und Überlieferungen endgültig aufräumte und etwas ganz Neues einführte: „das Evangelium der Herrlichkeit des Christus".

Und was geschieht, als Saulus vernimmt, dass Jesus es ist, Der mit ihm redet? Eine wunderbare Umwandlung geht mit ihm vor. Mit einemmale ist alles bei ihm verändert. „Was soll ich tun, Herr"? fragt er. Der gewaltige, energische Wille, der bis dahin in diesem Manne gewirkt hatte, war zerbrochen, zermalmt. Wie ein gehorsames Kind fragt er: „Was willst du, Herr, dass ich tun soll? Hier bin ich. Mache mit mir, was du willst." Dem Herrn, Den er bis dahin verfolgt hatte, vor Dessen Namen er ausgespien hatte, gibt er sich jetzt willig hin und nennt ihn Herr. „Stehe auf und gehe nach Damaskus"', antwortet die Stimme, „daselbst wird dir von allem gesagt werden, was dir zu tun verordnet ist". Von seinen Begleitern an der Hand geführt, geht er hin und ist drei Tage und drei Nächte nicht sehend und isst und trinkt nicht. Was mag in diesen drei Tagen und Nächten in ihm vorgegangen sein!

Endlich kommt Ananias zu ihm, vom Herrn geschickt, und sagt ihm, nachdem ihm das Augenlicht wiedergeschenkt ist: „Der Gott unserer Väter hat dich zuvor verordnet, seinen Willen zu erkennen und den Gerechten zu sehen und eine Stimme aus seinem Munde zu hören. Denn du wirst ihm an alle Menschen ein Zeuge sein von dem, was du gesehen und gehört hast". Dann fordert er ihn auf, sich unverweilt taufen und seine Sünden abwaschen zu lassen. Saulus steht auf und lässt sich taufen auf den Namen Jesu, des verachteten Nazareners; denn dieser Name ist jetzt für ihn über alles kostbar geworden als der eine Name, in welchem allein Heil ist. Von nun an kennt er nichts und niemanden mehr außer diesem Einen, dem Sohne Gottes, Den er auf dem Wege nach Damaskus gesehen hat, dem Sohne des Menschen, verherrlicht zur Rechten Gottes. Und er geht hin und verkündigt diesen Namen nicht nur vor seinen Volksgenossen, sondern trägt ihn auch vor Nationen, vor Fürsten und Könige der Erde.

Lesen wir jetzt in Kapitel 4 des 2. Korintherbriefes weiter, wie dieser Mann von dem Dienste redet, der ihm auf dem Wege nach Damaskus von dem Herrn übertragen wurde. Damals war ihm gesagt worden, dass er zu Israel und zu den Nationen gehen solle, „um ihre Augen aufzutun, auf dass sie sich bekehren von der Finsternis zum Licht und von der Gewalt des Satans zu Gott, auf dass sie Vergebung der Sünden empfangen usw."

 Hier lesen wir: „Darum, da wir diesen Dienst haben, wie wir begnadigt worden sind, ermatten wir nicht; sondern wir haben den verborgenen Dingen der Scham entsagt, indem wir nicht in Arglist wandeln, noch das Wort Gottes verfälschen, sondern durch die Offenbarung der Wahrheit uns selbst jedem Gewissen der Menschen empfehlen vor Gott. Wenn aber auch unser Evangelium verdeckt ist, so ist es in denen verdeckt, die verloren gehen, in welchen der Gott dieser Welt den Sinn der Ungläubigen verblendet hat, damit ihnen nicht ausstrahle der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus, welcher das Bild Gottes ist" (V. 1 - 4).

Das also war der Dienst des Geistes und der Gerechtigkeit, von dem der Apostel im vorhergehenden Kapitel so eingehend geredet hat, in dem nicht der tote Buchstabe regiert, sondern der Leben und Kraft bringende Geist Gottes, Der den auferstandenen und verherrlichten Menschen zur Rechten Gottes zum Ausgangs-, Mittel- und Endpunkt hat. Der Dienst, welcher den Sünder da aufsucht, wo er ist, und ihn geradewegs mit diesem verherrlichten Menschen verbindet, ihn einführt in die Herrlichkeit droben. Ein Dienst, der nicht von dem Menschen Gerechtigkeit fordert, sondern ihm Gerechtigkeit bringt; wie es in Phil 3,9 heißt: „ ... indem ich nicht meine Gerechtigkeit habe, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christum ist - die Gerechtigkeit aus Gott durch den Glauben". Ein Dienst, in dem sich nicht nur erwies, dass Gottes Gerechtigkeit in dem Kreuze Christi vollkommen befriedigt worden ist, sondern auch, dass diese Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit aus Gott, jedem Glaubenden zuteil wird.

In der Ausübung eines solchen Dienstes hatte der Apostel wahrlich keine Ursache, zu ermatten, so schwer er auch sein und so viele Leiden er ihm bringen mochte. Er hatte auch keine Ursache, irgendwie das Wort, das ihm übertragen war, zu verfälschen; nein, die Botschaft war so herrlich, so wunderbar, dass, je lauterer und reiner er sie brachte, es um so herrlicher für die Zuhörer sein musste. Es ist ja heute noch so: je einfacher, reiner und lauterer ein Diener Gottes das Evangelium von Jesu predigt, oder die kostbaren Wahrheiten, die mit diesem Jesus in Verbindung stehen, seinen Hörern nahebringt, um so herrlicher und gesegneter ist es für sie; und umgekehrt: je mehr in dem Dienst eines Menschen von dem eigenen Ich oder von menschlichem Beiwerk zu finden ist, um so weniger gesegnet wird sein Dienst sein. Er mag Beifall finden und viele anlocken, aber das Ergebnis ist gering. Das Feuer, welches die Arbeit eines jeden erprobt, wird viel Holz und Stroh finden.

„Wir haben den heimlichen Dingen der Schande entsagt". Wir sind fertig mit dem, was nicht in dieses Licht, in diese Herrlichkeit hineinpasst, mit alledem, was unserem hochgelobten Herrn die furchtbaren Leiden am Kreuze eintrug. „Die vergangene Zeit ist uns genug, den Willen der Nationen vollbracht zu haben" (1. Petrus 4,3). Die im Fleische noch übrige Zeit gehört Dem, Der uns so teuer erkauft hat. Mögen andere fortfahren, den Willen des Fleisches und der Gedanken zu tun, der Diener des Evangeliums der Herrlichkeit wandelt in dem Lichtglanz dieses Evangeliums.

Wir verfälschen auch nicht Gottes Wort, sondern wir empfehlen uns durch die Offenbarung der Wahrheit jedem Gewissen der Menschen vor Gott. Welch eine Gnade ist ein solcher Dienst in einer Welt der Finsternis und inmitten der wechselnden Meinungen der Menschen! Die Wahrheit ist unveränderlich und bringt ihre Wirkungen hervor. Wenn ein Mensch den Christus Gottes predigt, die Wahrheit bringt, wie sie in Jesu ist, einfach, lauter und ungeschminkt, so wird jedes aufrichtige Gewissen in die Gegenwart Gottes gebracht und muss zugestehen: Der Mann bringt mir die Wahrheit, und ich bin verantwortlich, darauf zu hören. Der Redende empfiehlt sich dem Gewissen der Menschen. Und dies ist um so mehr der Fall, je mehr sein Leben, wie bei Paulus, im Einklang steht mit seinem Zeugnis.

Was nun die Botschaft angeht, die der Apostel verkündigte, so war sie so herrlich, dass er sagen konnte: „Wenn aber auch unser Evangelium verdeckt ist", (er benutzt das Bild aus dem vorigen Kapitel, wo wir von der Decke hörten, die Mose auf sein Angesicht legte, und die jetzt auf dem Herzen Israels liegt), d. h. also, wenn unser Evangelium nicht erkannt wird in seiner Schönheit und Herrlichkeit, „so ist es in denen verdeckt, die verloren gehen". In denen, die verloren gehen - furchtbares Wort! Wer sind diese? Es sind die, die auf dem breiten Wege bleiben, der zur Verdammnis führt, die sich nicht warnen lassen wollen.

 In ihnen ist das Evangelium verdeckt, auf ihrem Herzen liegt die Decke, und sie wollen nicht, dass sie weggenommen werde. Obwohl ihnen das Evangelium lauter und rein verkündigt wird, verhärten sie ihr Herz, verschließen ihr Ohr und gehen unaufhaltsam auf dem Wege der Sünde weiter. Wahrlich, es war nicht die Schuld des Apostels, dass es so aussah. Sein Dienst stand unter dem beständigen Einfluss des himmlischen Gesichts, das er gesehen hatte. Sein Herz brannte vor Verlangen, alle mit den herrlichen Gedanken Gottes über Seinen Christus bekanntzumachen. Aber da war (neben dem bösen Willen des Menschen) einer, der ihm entgegenstand und seinen Dienst unwirksam zu machen suchte, der Gott dieser Welt, der den Sinn der Ungläubigen verblendete, „damit ihnen nicht ausstrahle der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus".

Es gibt einen Gott dieser Welt, gerade so wie es einen Fürsten dieser Welt gibt. Der Gott dieser Welt und der Fürst dieser Welt sind eine und dieselbe Person: Satan. Er ist der listige und immer wachsame Widersacher Gottes und des Menschen. Er wird der Fürst dieser Welt genannt in der Stunde, da er die ganze Welt gegen Jesum ins Feld führte: Hohepriester und Älteste, Pharisäer und Schriftgelehrte, König und Landpfleger, Juden und Römer, als alle ihm willig zu Dienst standen. Aber er ist auch der Gott dieser Welt, der auf die Leidenschaften und Lüste der Menschen wirkt, dem sie sich unterwerfen, der sie nach seinem Willen leitet, und der ihre Herzen verblendet, damit sie in der Finsternis bleiben und nicht in den Lichtbereich des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus kommen.

Unwillkürlich fühlen wir uns hier versucht, einen Vergleich zu ziehen zwischen den Predigern des Evangeliums in jenen Tagen und der Mehrzahl der Führer der Christenheit in der Gegenwart. Wie schroff ist der Gegensatz! Wo sind heute die Herzen, die für Christum glühen, für Ihn, den Gott von Ewigkeit, das Fleisch gewordene Wort, das ewige Leben, das bei dem Vater war und uns geoffenbart worden ist, für Ihn, Der für den Sünder ans Kreuz ging, Der hinabstieg in die unteren Örter der Erde und dann wieder hinaufstieg über die Himmel, um so alles zu erfüllen! Ach! man will wohl noch einen Ideal-Menschen, den sogenannten geschichtlichen Christus; aber man verwirft Ihn als den Sohn Gottes, Welcher, wie es hier heißt, „das Bild Gottes ist". Man hat kein Auge, kein Verständnis für die Herrlichkeit des Christus. Der Gott dieser Welt hat die Herzen verblendet.

O über die Hunderte und Tausende von Theologen unserer Tage, deren Sinn verblendet und deren Herz verstockt ist! Wie schrecklich ist das Urteil Gottes über sie! Sie gehören zu denen, welche verloren gehen. Und nicht nur das, ach! sie reißen Millionen mit sich ins Verderben. Es ist wie ein Gericht von Gott über sie gekommen. Indem sie ihre Herzen von der Wahrheit abgewandt haben, hat Gott sie dahingegeben. 

Er hat ihnen das Evangelium von der Herrlichkeit des Christus vor Augen gestellt, aber sie wollen sich nicht unter diesen Jesus beugen. Sie gehen dahin, bis der Stein, den sie, die Bauleute, wiederum verworfen haben, auf sie fallen und sie zermalmen wird. Das Herz blutet bei dem Gedanken an die großen Massen, die auf sie lauschen und so abgelenkt werden von dem Christus Gottes, von Ihm, dem Bilde Gottes, in Welchem Gott Sich so wunderbar geoffenbart hat.

Möchte der Gott aller Gnade Sich noch über viele Verführer und Verführte erbarmen und sie herausbringen aus der Finsternis ihrer Herzen in Sein strahlendes Licht! Wie glücklich ist jedes Herz, das dahin gebracht wird, dieses Evangelium der Herrlichkeit im Glauben aufzunehmen! Vielleicht versteht es anfänglich noch nicht die Fülle, die ihm geschenkt ist; aber indem es die kostbare Botschaft aufnimmt, nimmt es sie in ihrer vollen Tragweite auf. Die ganze Kostbarkeit, die in Christo Jesu ist, gehört der gläubigen Seele. „Euch nun, die ihr glaubet, ist die Kostbarkeit" (1. Petrus 2,7). Die Seele macht Fortschritte in der Erkenntnis und wächst, gerade so wie ein Kind wächst. Aber von dem ersten Augenblick an, da sie glaubt, gehört die ganze Fülle, die in Christo ist, ihr. O möchten wir begehren, Ihn immer besser kennen und genießen zu lernen! Das war der Wunsch des Apostels Paulus, als er Ihn einmal gesehen hatte, auf dem Wege nach Damaskus. Von da an gehörte sein ganzes Herz Ihm. Christum zu gewinnen, Ihn zu erkennen und in Ihm erfunden zu werden, das war der einzige, alles beherrschende Gedanke seiner Seele.

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Als es Abend geworden war

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 304ff

Das Todesurteil, das der Mensch über den Sohn Gottes ausgesprochen hatte, war vollzogen. Der Ruf: „Kreuzige, kreuzige ihn!" war erfüllt. Er, von Dem geschrieben steht: „Er wird herrschen von Meer zu Meer, und vom Strome bis an die Enden der Erde" (Psalm 72,8), oder: „Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergehen, und sein Königtum ein solches, das nie zerstört werden wird" (Daniel 7,14), war am Fluchholz gestorben. Die Jünger hatten Ihn alle verlassen und waren geflohen. Die Feinde frohlockten, indem sie annahmen, dass sie nun endlich mit diesem verhassten Jesus von Nazareth fertig geworden seien. Nur einige Frauen standen bei dem Kreuze und weinten. Was konnten sie tun? Sie waren zu schwach, um dem Leib ihres geliebten Herrn den letzten Liebesdienst zu erweisen. Auch die Frauen, die Ihm von Galiläa nachgefolgt waren und „von ferne zusahen", waren außerstande zu helfen. Zudem war sein Grab schon „bei Gesetzlosen bestimmt." Noch einige Augenblicke, und Er würde eingescharrt werden, da wo auch die Leiber der beiden Räuber ein Grab finden sollten.

Inzwischen begann es Abend zu werden, und der Sabbat nahte heran. Was sollte werden? Da erscheint plötzlich ein Mann auf dem Schauplatz, den man wohl am allerletzten hier erwartet hätte. Ein reicher, angesehener Ratsherr aus Arimathia, einer Stadt der Juden, ein „guter und gerechter Mann", geht kühn zu Pilatus hinein und bittet um den Leib Jesu. Bis dahin hatte er es nicht gewagt, sich zu Jesus zu bekennen. Er war „aus Furcht vor den Juden nur ein verborgener Jünger Jesu" gewesen. Und jetzt, wo er nicht nur Ehre und Ansehen, sondern möglicherweise sein Leben aufs Spiel setzte, tritt er furchtlos vor den römischen Landpfleger hin, und nachdem er die erbetene Erlaubnis erhalten hat, bemüht er sich mit Nikodemus, der auch einst „bei Nacht" zu Jesu gekommen war, um den teuren Leib des Herrn. Wir erblicken in allem offenbar Gottes Hand. Er erlaubt nicht, dass Seinem Geliebten nach Vollendung Seines Werkes noch irgend eine Schmach zugefügt wurde. Jesus sollte „bei einem Reichen" sein in Seinem Tode. Aber das nimmt der Handlung Josephs nichts von ihrer Schönheit weg. Im Gegenteil, sie beweist, dass er sich in Übereinstimmung mit Gottes Gedanken befand.

Wie groß und herrlich war das, was er tun durfte, unterstützt von Nikodemus, der eine Mischung von Myrrhe und Aloe, bei hundert Pfund, herbeibrachte! Die beiden Männer nehmen den Leib Jesu vom Kreuz herab und wickeln ihn in feine Leinwand mit den Spezereien, „wie es bei den Juden Sitte ist, zum Begräbnis zuzubereiten". Die Nägel mussten aus den Füßen und Händen gezogen werden; und wie sorgfältig und behutsam wird Joseph das getan haben! Dann legte er den Leib des Herrn in seine eigene neue Gruft, die er in einem Felsen hatte aushauen lassen, und wälzte einen großen Stein vor die Tür der Gruft. Mehr konnte vor Anbruch des Sabbats nicht geschehen.

Es ist nicht von ungefähr, dass alle Evangelisten erzählen, was Joseph von Arimathia getan hat. Der Heilige Geist hat für eine vierfache Bezeugung dieser Handlung Sorge getragen. Warum wohl? Weil Gott die Ehre, die Seinem geliebten Sohn in gefahrvoller Zeit angetan wurde, hoch schätzte. Das was Joseph an jenem Abend getan hat, war so schön und wichtig, dass der Bericht darüber in keinem Evangelium fehlen durfte. Auch wir sind gleichsam an den Abend gekommen. Es wird immer dunkler um uns her. Ein großer Teil der Namenchristenheit meint heute, mit dem Jesus von Nazareth fertig geworden zu sein. Seine Gottheit wird geleugnet, Sein Erlösungswerk hinweggedeutelt, Sein Opfer zu einem bloßen Märtyrertode herabgewürdigt. Der Stein vor der Tür der Gruft ist versiegelt, und die es getan haben schreiten stolz erhobenen Hauptes von dannen: alles was da geredet wird von Christi Auferstehung und Himmelfahrt ist eine fromme Sage; ein ewiges Gericht und eine göttliche Bestrafung der Sünde gibt es nicht, höchstens eine zeitliche Vergeltung auf dieser Erde.

Was geziemt sich da für uns? Wollen wir aus Furcht vor den Juden nur „verborgene Jünger" sein? Sollen wir den Feinden Jesu das Feld lassen und ängstlich schweigen? Nein, das Tun des Joseph von Arimathia und die Anerkennung, welche es von Seiten Gottes gefunden hat, sollte uns ermuntern, auch furchtlos hervorzutreten und einzustehen für unseren geliebten Herrn. Freilich, Er hängt heute nicht mehr am Kreuz; es gilt nicht mehr, um Seinen Leib zu bitten und diesen zu begraben. Wohl aber gilt es, kühn einzutreten für Seine göttliche Person und die Ehre Seines Namens. Unsere Handlungen sollten es beweisen, dass wir Ihn lieben, und dass der Spott und die Feindschaft des Menschen uns nicht etwa abschrecken und niederbeugen, sondern vielmehr unsere Herzen mit Freude und Dank erfüllen, gleich den Knechten Jesu in den ersten Tagen, die „sich freuten, dass sie gewürdigt worden waren, für den Namen Schmach zu leiden" (Apg. 5,41).

Darum auf, ihr Jünger und Jüngerinnen des Herrn! Unser Herr und Meister braucht treue Knechte und Mägde. Ob ehrbare Ratsherren oder angesehene Geschäftsleute, ob Oberste und Gesetzgelehrte oder Beamte und Reiche dieser Welt, kommt hervor und denkt daran, was Jesus für euch getan hat! Denkt an jene letzte Nacht, in der Er mit Seinen Jüngern versammelt war und, obwohl Er alles wusste, was Ihm bevorstand, nur um sie besorgt war! Denkt an die Leiden, welche Ihn am nächsten Tage trafen, an Sein Verlassensein von Gott, an Seine bittere Not um eurer Sünden willen! Denkt an die eilende, fliehende Zeit und dass es, in der Ewigkeit, nicht mehr möglich sein wird. Ihm eure Liebe und Treue in der Weise zu zeigen, wie es heute geschehen kann!

Ja, wachet auf! Die Zeiten sind gedrängt,

und jeder Tag bringt uns dem Ziele näher.

Nicht lange mehr, und Er, der kommt, wird kommen,

und mit Ihm dann für Seine Knecht’ und Mägde

ein voller, reicher, überreicher Lohn.

Drum nutzt die Zeit! — Im Himmel gilt’s nicht mehr,

das Kreuz aufnehmend Christo nachzufolgen,

für Seinen Namen Spott und Schmach zu tragen;

Dort sind nicht Seelen mehr für Ihn zu werben,

Nicht Arme, Kranke, Witwen, Waisen

in ihrer Drangsal liebend aufzusuchen.

Jetzt ist die Zeit! —- und ach! wie flüchtig eilen

die Stunden hin, die uns von Gott gegeben,

um Frucht zu bringen, Ihm zum Preis und Ruhm!

Wie bald senkt sich der Abend auf die Fluren,

die eben noch im Mittagslicht erglänzten!

Der Tag ist hin, die Arbeit ist getan.

Drum nutzt die Zeit! — Dort in den höh’ren Sphären,

wohin des Glaubens Blicke jetzt schon dringen,

wird sel’ge Ruhe ewig euch erquicken.

Doch die Gelegenheiten, die uns hier

sich bieten, hier, wo Tod und Sünde herrschen, —

Gelegenheiten, um die Macht der Liebe,

die Gott in unsre Herzen ausgegossen,

zu offenbaren zu des Meisters Ehre,

die gibt’s dort nicht. — Drum gürtet eure Lenden,

schmückt eure Lampen, dass sie klar und hell

Ihr Licht verbreiten; und mit festem Tritte

verfolgt den guten Pfad, den viele

mit frohem Mute euch vorangegangen!

Bekennet ohne Scheu den teuren Namen,

der einst von Engelzungen ward verkündet

und bald auf Erden, wie im Himmel droben,

In tausendfachem Echo wiederklingt!

Ja, lasst uns nie vergessen, was Joseph von Arimathia an jenem Abend tat, und wie es das Herz Gottes erfreut hat! Möge es uns zu gleicher Treue und Entschiedenheit ermuntern! Bald kommt die Nacht, da niemand wirken kann.

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Die Zerstreuten unter den Nationen

Bibelstelle: Esther 8 - 10

Botschafter des Heils 1908 S. 309ff

Das Buch Esther schließt mit der Befreiung der Juden gerade in dem Augenblick, als das Verderben über sie hereinzubrechen drohte, sowie mit ihrer Erhöhung im Reiche und der Beschreibung ihrer Freudenfeier.

Welch ein geheimnisvolles Wirken der Hand Gottes haben wir in allem bisher Gesehenen wahrgenommen! Der Amalekiter, der große Widersacher, wird in der Stunde seiner stolzesten Erhebung zu Boden geschmettert, und sein Andenken wird gänzlich ausgetilgt; während der Jude, sein ersehntes und erwartetes Opfer, Befreiung aus aller Gefahr findet, als nur noch ein Schritt zwischen ihm und dem Tode war, worauf er zu Gunst und Ehren emporsteigt und seinen Platz unmittelbar neben dem Throne erhält.

Welch eine Geschichte! müssen wir wieder und wieder ausrufen. Wahr in allen ihren einzelnen Umständen, und zugleich von vorbildlicher Bedeutung, weil sie uns auf die letzten Tage der Geschichte der Juden und der ganzen Erde hin, auf jene Tage, von denen die Propheten immer wieder geredet haben, die Tage des Zusammenbruchs des Menschen der Erde und der Erhöhung des Volkes Gottes in Gottes Königreich.

Mordokai, anstatt wie bisher im Tore des Hofes zu stehen, tritt jetzt vor den König und erhält dessen Fingerring, das Zeichen von Amt und Gewalt. So erhält auch der Jude am Ende dieses Zeitalters seinen neuen Platz. Die ganze Schrift bereitet uns darauf vor, und hier sehen wir es bildlich dargestellt. Hiermit enden die geschichtlichen Schriften des Alten Testaments, und hiermit endet auch, vorbildlich, die Geschichte der Erde.

Die Hauptcharakterzüge in der Geschichte Israels, wie wir sie in den Propheten dargestellt finden, sind folgende:

1. Gegenwärtige Verwerfung der jüdischen Nation und Verbergen des Angesichts Gottes ihr gegenüber, verbunden mit ihrer durch die göttliche Vorsehung bewirkten Erhaltung inmitten der Völker der Erde.

2. Gegenwärtige Auswahl eines Überrestes und am Ende jene Buße, welche Israel, als Nation, ins Reich bringen wird.

3. Gericht ihrer Widersacher und Bedränger, Hand in Hand mit der Niederwerfung ihres großen ungläubigen Feindes.

4. Befreiung, Erhöhung und Segnung Israels in den Tagen des Reiches, wobei das Volk wieder die Führerschaft unter den Nationen in die Hand nehmen wird.

Diese vier Punkte, die zu den großen, von den Propheten behandelten Gegenständen gehören, finden wir auch in dem kleinen Buche Esther. Ich wiederhole deshalb: Dieser letzte alttestamentliche Bericht von dem Volke Israel versinnbildlicht und verbürgt ihre gegenwärtige Bewahrung während der ganzen Dauer der Herrschaft der Nationen, sowie ihre Herrlichkeit in den letzten Tagen, wenn das Gericht an ihren Feinden vollzogen werden wird.

Verschiedene besondere Züge des kommenden Tausendjährigen Reiches finden sich gleicherweise hier dargestellt. Die Furcht vor den Juden fällt auf ihre Feinde, auf alle, welche um sie her wohnten, so dass diese von jedem Versuch, ihnen Schaden zuzufügen, abgehalten werden. Diese Erscheinung war in der Blütezeit des Volkes wahrgenommen worden, und sie ist durch die Propheten vorhergesagt als dass dereinstige Teil Israels. Susan, die Hauptstadt der heidnischen Welt in jenen Tagen, jauchzt über die Erhöhung des Juden; ebenso wird, wie alle prophetischen Schriften uns sagen, die ganze Welt fröhlich sein unter dem Schatten des Thrones Israels zur Zeit des zukünftigen Reiches. 

Viele von dem Volke des Landes wurden Juden; dasselbe lesen wir wieder und wieder als der Zukunft vorbehalten in den Propheten. So heißt es z. B. in Jes 2,3 : "Viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt und laßt uns hinaufziehen zum Berge Jehovas, zum Hause des Gottes Jakobs! Und Er wird uns belehren aus Seinen Wegen, und wir wollen wandeln in Seinen Pfaden. Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen, und das Wort Jehovas von Jerusalem." Der Thron, welcher den Juden erhöht und seinen Bedrücker zu Fall gebracht hat, übt eine allumfassende Herrschaft aus, indem er dem Lande und den Inseln des Meeres eine Abgabe auferlegt; so wird auch der König in Zion "herrschern von Meer zu Meer, und vom Strome bis an die Enden der Erde".

Hier, in unserem Buche, möchte ich noch hinzufügen, stellt Ahasveros die Macht oder die königliche Autorität auf Erden dar. Der Thron, auf welchem er saß, war damals der erste unter den Nationen. Er verkörpert gleichsam "die Macht" und stellt so, in einem schwachen Vorbilde, die Macht dar, welche in den zukünftigen Tagen des Reiches von einem göttlichen Haupte ausgeübt werden wird. Freilich entfaltete sich diese Macht in der Hand des Persers zuerst im Bösen, indem sie die gottlosen Plänen Hamans diente; aber hernach erhöhte sie den Gerechten. Jedenfalls stellt Ahasveros, wie gesagt, die Macht, die königliche Autorität auf Erden, dar. Wie Salomo in Jerusalem, so hat auch er persönlich Böses verübt. Wohl mag er Reue darüber empfunden haben, aber immerhin waren seine persönlichen Wege zwischen böse und gut geteilt. Nichtsdestoweniger finden wir in ihm in allgemeiner bildlicher Weise die Darstellung der Macht, und so ist er ein Schatten von Christo auf dem Throne der Herrlichkeit, jenem Thron, der die Welt in Gerechtigkeit richten wird.

Alles das ist voll vorbildlicher Schönheit und Bedeutung. Die Tage des Ahasveros und des Mordokai waren Tage Salomos und Tage der Prophezeiung, welche auf die Zeit des kommenden Tausendjährigen Reiches, der Herrschafts Gottes auf Erden und unter den Nationen, hinwiesen. Sie waren die Tagen Josephs in Ägypten vergleichbar. Mordokai in Persien nahm eine ähnliche Stellung ein wie Joseph in Ägypten. So enthält denn das erste wie das letzte geschichtliche Buch des Alten Testaments diese verschiedenen, aber verwandten Berichte von dem, was kommen wird zur Zeit des Endes und des Gerichts über die Reiche der Nationen.

Die Tage der Purim verherrlichen alles dieses. Sie feiern den Triumph nach dem Siege, die Freude des Reiches nach der Errichtung desselben. Die Juden legte es sich auf, dem Worte Mordokais und Esthers gemäß, den 14. und 15. Tag des zwölften Monats, des Monats Adar, zu Tagen des Gastmahls und der Freude zu machen, weil sie an diesen Tagen Ruhe erlangt hatten vor ihren Feinden und ihre Trauer sich in Freude, Glanz und Ehre verwandelt hatte. Die Purimtage erinnern uns an das Passah; sie verherrlichten die Befreiung vom Lande der Perser, wie das Passah die Befreiung vom Lande Ägypten darstellte.

 Oder, wenn man es lieber so will, die Purim waren ein zweiter Sang am Roten Meere, oder ein zweites Lied der Debora und des Barak nach der Vernichtung des Kanaaniters - eine kleine Probe von dem Gesang, der an dem gläsernen Meer erschallen wird (Off 15 ), oder wiederrum, wenn man es lieber so will, von der Freude Israels in den zukünftigen Tagen des Reiches, wenn sie Wasser schöpfen werden aus den Quellen des Heils. (vgl. Jes 12 ) die Psalmen 124 und 126, welche für die zukünftigen Tage der Herrlichkeit und Freude Israels zuvor bereitet sind, atmen denselben Geist, der Israels in den Tagen Mordokais und Esthers beseelt haben muß.

Es ist lieblich und ermunternd, alles dieses zu verfolgen, diese immer wiederkehrenden vorbildlichen Erzählungen zu lesen, während wir noch auf dem Wege sind und auf den vollen Chor ewiger Harmonieen in Gegenwart der Herrlichkeit warten. Die Kirche in ihrem Kindesalter, wie wir sie in Apostelgeschichte 4 dargestellt finden, nimmt in diesem Geist Bezug auf den zweiten Psalm, geschaffen wie er ist für den Tag, an welchem Gottes König auf dem Berge Zion sitzen wird, nachdem der Feind seinen Untergang gefunden hat und die Könige der Erde gelernt haben, sich vor Ihm niederzuwerfen. 

Gott hat Wohlgefallen an Seinen Werken. "Denn du hast alle Dinge erschaffen, und deines Willens wegen waren sie und sind sie erschaffen worden", singen die vierundzwanzig Ältesten in Offenbarung 4 . Er erhält daher die Werke Seiner Hände, als ihr Schöpfer. Er hat Wohlgefallen an den Ratschlüssen Seiner Gnade und Weisheit. Deshalb hat Er bis zu diesem Tage das Volk der Juden erhalten, und Er wird es erhalten, bis die Frucht Seiner Ratschlüsse in Seinem Reiche in die Erscheinung treten wird. Sein Reich wird sich auf den Ruinen und dem Gericht der Nationen aufbauen, und Christi Welt, "der zukünftige Erdkreis", wird glänzen in Herrlichkeit und Reinheit und Segnung, nachdem die "gegenwärtige böse Welt" zusammengefallen und hinweggetan sein wird.

Von diesem zukünftigen Reich, dem Tausendjährigen Zeitalter, haben die Propheten in der mannigfaltigsten Weise gesprochen; es ist aber auch von Anfang an in allen möglichen Arten von Vorbildern und ganzen oder teilweisen Abschattungen, in geschichtlichen Bruchstücken und dergleichen, dargestellt worden, so wie wir es z. B. hier am Schluss des Buches Esther erblickt haben. Verordnungen, Prophezeiungen und Geschichten - aller haben dazu auf ihre Art und Weise beitragen müssen:

Schon ehe die vor der Flut lebenden Heiligen diesen Schauplatz verließen, redete der Geist der Prophezeiung durch Lamech und rief ihnen ein die Erde betreffendes Verheißungswort zu: Zu seiner Zeit sollte Tröstung statt Fluch auf ihr sein. (s. 1. Mose 5 )

In Noah, dem Menschen der neuen Welt, erblicken wir eine bildliche Erläuterung dieser Prophezeiung: nach dem Gericht durch die Flut ersteht die Erde gleichsam wieder in neuer, oder in Auferstehungs-Gestalt; ein Pfand, ein Vorbild von der Tausendjährigen Zeit, liegt also vor uns.

Das Land Ägypten unter der Regierung Josephs ist ein ähnliches Bild.

Unter dem Gesetz finden wir Schatten von derselben Tausendjährigen Ruhe in dem wöchentlichen Sabbath, dem jährlichen Laubhüttenfest und in dem alle fünfzig Jahre wiederkehrenden Jubeljahre.

Auch jene leider nur so kurz währende Zeit, wo die Stämme Israels in den Tagen Josuas ins Land einzogen und hier als ein beschnittenes Volk das Passah feierten und dann ungesäuerte Kuchen von dem Erzeugnis des Landes aßen, zeugt, wenn auch in anderer Form, von demselben glücklichen Geheimnis. (vgl. Josua 5 )

Später redete die blühende Regierung Salomos in ausgedehnterer Form, voll und reich, von dem gleichen Geheimnis.

Ja, was ich noch erwähnen möchte, selbst die Begegnung Jethros mit dem befreiten Israel am Berge Gottes, in den Tagen ihrer Wüstenreise, war, obwohl in anderer Gestalt, ein Vorbild von demselben zukünftigen Tage der Herrlichkeit. (vgl. 2. Mose 18 )

Und so haben wir hier, in den Tagen der Zerstreuung, die nämliche Sache vor uns.

Prophezeiungen auf Prophezeiungen begleiten diese Verordnungen und diese Geschichten. Nicht nur durch viele, sondern auch durch ganz verschiedenartige Zeugnisse wird uns die Wahrheit von dem Reich, das noch errichtet, und von der Herrlichkeit, die noch geoffenbart werden soll, bestätigt. Immer wieder werden wir auf die großen und herrlichen Ausgänge der Ratschlüsse Gottes hingewiesen, auf jenen Vorsatz, der seine Erfüllung finden wird "in der Verwaltung der Fülle der Zeiten".

Das Neue Testament gibt uns ähnliche bildliche Erläuterungen und Verheißungen. Die Verklärung ist eine davon. Die "Wiedergeburt“ in Mt 19,28 weist ebenfalls darauf hin. Die ersten Geschehnisse in der Offenbarung sind bahnbrechend für das, was da kommen soll; und am Ende des Buches sehen wir das Reich der Herrlichkeit vor unseren Augen erscheinen, wenn die heilige Stadt vom Himmel herabkommt, "die Herrlichkeit Gottes habend", und wenn dann die Nationen, welche dem Tausendjährigen Reiche angehören, in ihrem Lichte wandeln.

So finden wir denn, dass das Ende des Buches Esther in Verbindung steht mit Dingen aus dem allerersten Anfang bis zum letzten Ende der Zeiten, und zwar durch "das ganze Buch" hindurch, in all den Handlungen und Aussprüchen Gottes im Fortschreiten der Geschichte dieser Welt. Das ist wunderbar. Welch ein Zeugnis ist es für die Schriften, die das Wort Gottes ausmachen! Welch ein Beweis von dem Wehen desselben Geistes in allen seinen Teilen! Wie redet es zu uns von dem Gott, der "von Anfang an das Ende verkündet, und von alters her was noch nicht geschehen ist"! (Jes 46,10 ) Auch wir, teurer Leser, haben unseren besonderen Platz in den Gedanken Gottes und nehmen eine Stelle ein in Seinem großen Ratschluss.

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Irdische Sorgen eine himmlische Zucht

Bibelstelle:

Botschafter des Heils 1908 S. 317ff

Es gibt wohl nichts, das von vielen Gläubigen mehr als ein Hindernis für das geistliche Wachstum betrachtet wird, als „die Sorgen des Lebens“, und selbst der Herr zeigt uns, dass sie Dornen sein können, welche das Wort ersticken und keine Frucht zur Reife kommen lassen.

Wenn aber dies die notwendige und unvermeidliche Wirkung irdischer Sorgen wäre, so möchte man fragen: Warum hat denn die Vorsehung Gottes die Dinge so geordnet, dass diese Sorgen einen so großen Teil des menschlichen Lebens und dessen tagtäglicher Erfahrung ausmachen? Warum hat der Körper des Menschen solch tägliche und oft wiederkehrende Bedürfnisse? Warum gibt Gott zu, dass wir in einer Umgebung uns befinden, welche zu unserem inneren Leben in beständigem Widerspruch zu stehen scheint, die eine Bürde und ein Hindernis für dasselbe ist, während zu gleicher Zeit ein auf das Unsichtbare gerichteter Sinn und ein geistlicher Wandel von uns erwartet werden? 

Warum lässt Gott uns in einer Welt, wo die sichtbaren, zeitlichen Dinge notwendigerweise so viel von unseren Gedanken, unserer Zeit und Sorge in Anspruch nehmen, während Er uns doch sagt: „Sinnet aus das, was droben ist, nicht aus das, was aus der Erde ist“? Und warum sagt auch derjenige, der uns auf der Bahn einer richtigen christlichen Erfahrung voranleuchtet wie kein anderer: „Wir schauen nicht das an, was man sieht, sondern das, was man nicht sieht; denn das, was man sieht, ist zeitlich, das aber, was man nicht sieht, ewig“?

Das Wort Gottes lehrt uns, dass die Zeit unseres Lebens hienieden die Zeit der Erziehung Gottes für uns ist; dass alle die äußeren Verhältnisse und Dinge, die uns Freud und Leid, Hoffnungen und Befürchtungen, oder Bedürfnisse bringen, zu der Erziehung gehören, welche die Seele im Blick auf ihr ewiges Leben in der Gegenwart Gottes erhalten soll. Und da irdische Sorgen den größeren Teil fast jedes menschlichen Lebens ausmachen, so muss es doch möglich sein, sie so anzuschauen und ihnen so zu begegnen, dass sie vermöge der Gnade Gottes aus einem Feinde geistlicher Gesinnung und geistlichen Fortschritts zu einem Förderer derselben werden.

Man hört aber leider so oft die Klage: „Es scheint mir, als ob ich wohl einige Fortschritte im christlichen Leben machen könnte, wenn mich nur mein Geschäft nicht so stark in Anspruch nähme und die Sorgen des Lebens mich nicht so beschäftigten“. Ist es aber nicht Gott, der in Seiner weisen Vorsehung dir diese Sorgen zugeteilt hat (vorausgesetzt dass du sie dir nicht selbst aufgebürdet hast, und dir kein Entfliehen vor denselben gibt? Wenn dein geistliches Wachstum das große Ziel ist, das Gott mit dir verfolgt, so missverstehst du Ihn gewiss und verfehlst den Zweck Seiner Erziehungsmittel, wenn diese Dinge dasselbe nicht befördern. Ist es nicht gerade, wie wenn ein Schüler sagen würde: Es scheint mir, als ob ich wohl Fortschritte in der Wissenschaft machen könnte, wenn ich nur nicht so viel Zeit über meinen Büchern zubringen und so viel Mühe aus das Lernen verwenden müsste?

Wie können nun .aber irdische Sorgen zur himmlischen Zucht werden? Wie kann dieser „Schwerpunkt“ so verschoben werden, dass er den Geist nach oben und zu Gott treibt, statt nach unten und von Ihm weg? Wie soll die Wolke, welche sich zwischen uns und Ihm gelagert hat, zu einer Feuersäule werden, durch welche das Licht Seines Antlitz es auf uns niederstrahlt und uns leitet auf unserem Wege?

Die Hauptschwierigkeit scheint mir in dem Mangel an dem wirklichen und wahrhaftigen Glauben zu liegen, dass die Hand Gottes auch die kleinsten Einzelheiten unseres Lebens regiert. Man hört wohl oft von Gottes Willen und Führungen reden, doch gehen bei vielen Gläubigen die Begriffe nicht weiter, als dass Gott gewisse äußere und innere Gesetze geschaffen habe, durch welche nun das Leben so gestaltet werde, wie wir es um uns her sehen; dass Er auch gewissermaßen regiere, so dass die großen Ereignisse in der Welt nach Seinem Willen sich abwickeln, und so in einem gewissen allgemeinen Sinn alle Dinge denen, die Gott lieben, zum Guten mitwirken. Wenn aber ein einfacher, kindlich gesinnter Christ auch alle die kleinen Ereignisse des Lebens als direkt aus der Hand Gottes kommend und Seiner unmittelbaren Sorge um ihn entspringend annimmt, so gibt es nicht wenige, die etwas ungläubig darüber lächeln und denken, der gute Mann besitze mehr christliche Gefühle als gesunde Überlegung.

Da aber das Leben des einzelnen aus sogar kleinen Bruchstücken und unwichtigen Ereignissen zusammengesetzt ist, und da doch täglich und stündlich wiederkehrende kleine Dinge aus Gewohnheit und Charakter einen gar großen Einfluss haben, so ergibt sich, dass ein so unbestimmter und allgemeiner Glaube an eine Regierung und Leitung Gottes durchaus nicht hinreicht, um alle Erfahrungen unseres Lebens für uns zu heiligen und nutzbringend zu machen. Ein Gläubiger, der auf diese oder ähnliche Weise denkt, hört gar selten die Stimme des Herrn, die zu ihm spricht. Wenn die Hand des Todes sein Kind hinwegrafft, oder seine Eltern oder Brüder von einer schweren und plötzlichen Heimsuchung betroffen werden, dann fühlt er allerdings die Nähe des Herrn und sucht demütig Seine züchtigende Hand zu verstehen. 

Oder wenn durch unvorhergesehene Ereignisse sein ganzes irdisches Besitztum ihm entrissen wird, so kann er nicht anders als in einer so ernsten Sache die Hand Gottes sehen, die irgend eine Absicht mit ihm darin haben muss. Wenn aber kleinere Annehmlichkeiten ihm entzogen werden, kleinere Verluste ihm zustoßen, und die kleinen Plagen und Verdrießlichkeiten des Alltaglebens ihn drängen, so haben diese keine Stimme für ihn, und er vermag weder Gott, noch irgend eine Absicht Gottes in ihnen zu erkennen. Johannes Newton, ein als Astronom berühmter christlicher Mann, sagte einmal: „Es gibt Christen, welche den Verlust eines Kindes oder den Zusammenbruch ihres irdischen Glückes heldenmütig im Glauben ertragen, jedoch vollständig besiegt werden durch das Zerbrechen einer Schüssel oder durch die Ungeschicklichkeit einer Magd, und dann einen so unchristlichen Geist zeigen, dass man sich darüber wundern muss“.

Wird einem Mann durch Verleumdung oder Ungerechtigkeit von seiten anderer solcher Schaden zugefügt, dass sein guter Ruf oder sein zeitlicher Gewinn oder beides dadurch bedroht ist, so ist· er oft imstande hinter den Menschen Gott zu erblicken und in den ersten nur die Rute zu sehen, mit welcher die Hand seines Vaters ihn züchtigt.

 Doch die kleinere Ungerechtigkeit, der Tadel, dem mehr oder weniger ein jeder im täglichen Verkehr mit anderen ausgesetzt ist, die zufällig gehörte verwundende Bemerkung, der in unschuldige Worte gekleidete Hieb -— diese stets wiederkehrenden Anlasse, durch welche die Freude und Ruhe der Seele gestört werden, nimmt man so wenig aus Gottes Hand und als einen Teil Seiner Zucht und Arbeit an uns an. Und bei den hunderterlei Plackereien, welche uns aus dem Unverstand oder der Nachlässigkeit anderer oder auch daraus erwachsen, dass sie nicht zu unseren Charaktereigentümlichkeiten passen, oder uns durch Fehler, die in ihrer Veranlagung begründet sind, auf die Probe stellen, schauen so wenige über ihre nächste, alles dies verursachende Umgebung hinaus zu Dem, der diese Prüfungen für sie zulässt. Und doch bilden dieselben in manchen Fällen den größeren Teil der Zucht, ja, in einigen Lebensführungen fast die einzige äußerliche, welche Gott anwendet. 

Wie viel verlieren daher solche, welche diese Dinge nicht als für sie persönlich von Gott angeordnet oder erlaubt ansehen! Anstatt dass sie im Lichte der Gegenwart Gottes ihre Bedeutung erkennen, deucht es sie, als ob ihnen in der Tat »aus dem Staube Unheil hervorgehe“ und „Mühsal aus dem Erdboden sprosse“ (Hiob 5, 6). Sie tragen ihre Bürde in großem Maße allein und helfen sich mit natürlichen Trostgründen und Erleichterungsversuchen, so dass jene für ihren Geist mehr eine Zerstreuung und ein Hindernis, als eine Zucht Gottes ist.

Und hieraus entspringt dann leider so oft eine Kälte und Allgemeinheit und Zerstreutheit beim Gebet. Die Dinge, die einen beschäftigen und das Herz so erfüllen, dass man fast an nichts anderes denken kann, werden als zu klein und unwürdig beiseite gelassen, und statt dessen bittet man mit zerstreuten, herumfahrenden Gedanken um Dinge, von denen man denkt, dass man sie wünschen sollte: dass Gott die Verkündigung des Evangeliums überall segnen und viele bekehren und die Kranken und Notleidenden trösten wolle. Und dabei ist einem vielleicht die ganze Zeit das Herz schwer wegen einer untreuen Magd, die mit dem ihr Anvertrauten nicht sorgfältig umgeht; oder ein nachlässiger, ungeschickter Arbeiter hat viel Material oder Ware verdorben; die Erziehung eines Kindes gibt viel Mühe; ein Freund hat Versprechungen gemacht und sie nicht gehalten; ungerechte oder beißende Bemerkungen von Bekannten sind einem zu Ohren gekommen; oder ein neues Möbelstück ist durch Nachlässigkeit verdorben worden —- dies alles aber, obgleich es den Geist so niederdrückt, dass er sich kaum zu etwas anderem erheben kann, wird nicht kindlich genug zu einem Gegenstande des Gebetes gemacht. 

Würden wir aber Gott in Christo als den Freund unserer Seele kennen, dem wir jede aufsteigende Schwierigkeit anvertrauen dürfen, und zugleich glauben, dass Er zu erreichen, wie viel mehr herzlicher, wirklicher Verkehr würde dann zwischen Ihm und uns stattfinden! Welch eine ganz andere, ruhige und klare Atmosphäre würde die Seele atmen, in der gar viele ihrer Kümmernisse von selbst verschwinden und der Beschäftigung mit viel herrlicheren Dingen Platz machen würden.

Wer anders als Er versteht auch so genau, wie jede einzelne Sache uns berührt? Die Naturen sind so verschieden, dass das, was der einen eine Sorge und Bürde ist, für die andere eine ganz leicht zu bewältigende Schwierigkeit, ja, selbst eine Unterhaltung bildet, so dass oft ein Aussprechen der Gefühle unmöglich ist, weil man weiß, dass man damit bei anderen Erstaunen oder Geringschätzung hervorrufen würde. Wenn aber die Seele sich in sich selbst verschließt, so wird sie Verstimmt und kränklich; und wie traurig und peinlich die Erscheinung eines unzufriedenen, reizbaren und mürrischen Christen ist, wissen wir alle.

Für denjenigen aber, der den Plan und die Tätigkeit Gottes in den kleinsten Begebenheiten seines Lebens sieht und in Seiner Liebe und Teilnahme Ruhe findet, werden alle die kleinen Prüfungen zu ebenso vielen kostbaren Fäden, welche die Seele mit Gott verbinden. Der Verkehr mit Christo beschränkt sich dann nicht aus Stunden oder Augenblicke, wo man besonders gesammelt ist, und die Bekanntschaft mit Ihm nicht auf bloße Glaubenssätze, sondern man kennt Ihn wie ein Mann seinen Freund kennt, kennt Ihn aus all der Hilfe, welche man täglich und stündlich von Ihm empfängt, aus all der Teilnahme, die Er in jeder unserer Sorgen mit uns hat, aus dem Trost in der Trübsal, aus der Kraft in der Versuchung, die Er darreicht. Wir lernen Christum kennen, wie das kleine Kind seine Eltern kennen lernt, nämlich durch die Hilflosigkeit und Abhängigkeit, in der wir uns befinden. 

Und während wir so von Jahr zu Jahr voran gehen und erfahren, dass Er in jeder wechselnden Lage, in jeder Dunkelheit und Trübsal, beim leichtesten Kummer wie in den Augenblicken, da die Seele bis in ihre Tiefen erschüttert ist, immer gleich gegenwärtig ist mit einer stets allgenugsamen Gnade und Kraft, da scheint es fast, als ob unser Glaube in Schauen verwandelt würde. Da wird uns das, was wir in Christo haben, wirklicher und handgreiflicher als jede andere Hilfsquelle, und neue Sorgen und Prüfungen werden für uns nur zu neuen Verbindungen zwischen uns und dem, was droben ist.

Denken wir uns, dass in einer ruhigen Stunde des Abends oder der Nacht ein Bote von Gott uns dieses Wort von Ihm brächte: „Dieses Jahr wird für dich eine Zeit besonderer Erziehung und Übung sein, deren gesegnete Früchte für die Ewigkeit bleiben sollen. So erwäge wohl und beachte, was dir Tag für Tag begegnet; denn nichts wird von ungefähr kommen, sondern auch das Kleinste bildet ein notwendiges und unentbehrliches Glied einer Kette, welche dich aufwärts und näher zu Gott ziehen soll.“

Mit welch anderen Augen würden wir dann unser tägliches Leben betrachten! Und wenn wir auch gar keine Veränderung darin fänden, wenn die gleichen Sorgen, die gleichen Verlegenheiten, die gleichen uninteressanten Mühseligkeiten und Arbeiten darin vorkämen — welch neues Interesse würde dennoch alles für uns haben, und mit wie viel ruhigerem, heitererem Ernst könnten wir allem begegnen! Würde dir aber auch diese Botschaft direkt vom Himmel gebracht, Gott könnte sie dir nicht klarer und bestimmter sagen lassen, als Jesus sie schon ausgesprochen hat: „Kein Sperling fällt auf die Erde ohne euren Vater, und nicht einer von ihnen ist vor Gott vergessen. So fürchtet euch nun nicht; ihr seid vorzüglicher als viele Sperlinge. An euch sind selbst die Haare des Hauptes alle gezählt“ (Matth. 10; Luk. 12). Erst wenn die Seele gewohnheitsmäßig an diese Zusicherungen, und zwar in ihrem buchstäblichen Sinne, glaubt, wird das Leben für sie frei von niederdrückender .Plage und langweiliger Leere, voll dagegen von Interesse und göttlicher Bedeutung. Erst dann werden seine Bedürfnisse, Sorgen und Verdrießlichkeiten unter der Hand des Vaters zu dienstbaren Geistern, welche alle mitwirken in der Erziehung, die in dem vollkommenen Genuss Seiner Gegenwart in der Herrlichkeit enden wird.

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Das Evangelium der Herrlichkeit

Bibelstelle: 2. Korinther 3 -5

Botschafter des Heils 1908 S. 325ff

Doch was ist „das Evangelium der Herrlichkeit des Christus"! Ausdrücke wie: Evangelium des Reiches, Evangelium der Gnade, Evangelium des Heils, Evangelium Gottes usw. sind uns geläufig; aber selten redet man von „dem Evangelium der Herrlichkeit des Christus, welcher das Bild Gottes ist". Und doch ist es, wenn ich so sagen darf, gerade das Evangelium in seinem höchsten, herrlichsten Charakter. Es ist das, was der Apostel Paulus immer wieder sein Evangelium nennt. So z. B. in Römer 16,25. In 1. Timotheus 1,11 nennt er es „das Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes, welches mir (Paulus) anvertraut worden ist".

Warum heißt es also das Evangelium der Herrlichkeit des Christus? Weil es Jesum, den zur Rechten Gottes verherrlichten Menschen, zum Gegenstand hat; und weil es einen jeden, der an diesen Jesus glaubt, geradeswegs in jene Herrlichkeit einführt und in Sein Bild verwandelt. In den Evangelien, besonders in dem Evangelium des Johannes, sehen wir Gott in Christo hienieden vor den Menschen geoffenbart. „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen" (Johannes 14,9). Die Schriften des Paulus dagegen zeigen uns den Menschen in Gerechtigkeit vor Gott geoffenbart. 

Freilich redet auch Paulus (denn es gibt selbstverständlich nicht zwei verschiedene frohe Botschaften) von dem Herniederkommen Gottes in Liebe zu uns, dahin, wo wir als Sünder waren, und zeigt uns z. B. in Philipper 2 den ganzen Weg Christi vom Thron Gottes bis in den Tod am Kreuze und von dort zur Erhöhung über alles; aber er führt uns immer bis in die Herrlichkeit. In dem Evangelium der Herrlichkeit wird der Mensch nach seinem alten Zustande stets als völlig beiseite gesetzt betrachtet und als eingeführt in Christo in die Herrlichkeit, auf Grund des vollbrachten Werkes, das ihn vor Gott rechtfertigt und ihm einen Platz in jener Herrlichkeit gibt. Erblicken wir also in dem von Johannes Berichteten mehr die Größe der Liebe Gottes, so macht uns das Evangelium der Herrlichkeit vornehmlich mit den wunderbaren Wirkungen und Erfolgen des Werkes Christi bekannt.

Sobald deshalb ein Mensch verstanden hat, was das „Evangelium der Herrlichkeit" bedeutet, ist er völlig klar über seinen Platz in dieser Welt. Er weiß dann ganz genau, dass er nicht von dieser Welt ist. Er weiß auch, dass er hier gar nichts zu erwarten hat, und dass es für die gegenwärtige Zeit ganz verkehrt ist, das Königreich Christi, d. i. die Herrschaft Christi in Herrlichkeit auf dieser Erde, zu erwarten. Diese Herrschaft wird sicherlich kommen. Christus wird einmal als König herrschen. Aber es ist jetzt nicht die Zeit dazu. Jetzt wird das Evangelium der Herrlichkeit verkündigt, und der Mensch wird durch dieses aus einer verurteilten Welt herausgenommen und mit der Herrlichkeit Christi droben in Verbindung gebracht. Darum, wenn du des Herrn bist, so ist dein Platz droben. Nicht nur führt dein Weg dorthin, nein, jetzt schon ist dein Ein und Alles dort, wo Jesus ist. Jesus, „das Bild Gottes", gekommen aus der Herrlichkeit, um den Vater hienieden zu offenbaren, ist als Mensch in die Herrlichkeit zurückgekehrt und hat, als Haupt der neuen Schöpfung, uns mit Sich dort eingeführt. Dort ist jetzt der Platz des Gläubigen.

Wir können deshalb wohl verstehen, dass der Apostel weiter sagt: „Wir predigen nicht uns selbst". Wer einmal die Gedanken Gottes in Verbindung mit dem verherrlichten Menschen- und Gottessohn droben verstanden hat, ist froh, dass er sich ganz vergessen und nur von diesem Jesu reden darf. Er hat einen Gegenstand gefunden, so erhaben, herrlich und kostbar, dass er gern sein armes, elendes Ich vergisst.

„Wir predigen nicht uns selbst". O wie traurig ist es, wenn ein Mensch sich selbst predigt! Dass doch niemand dies tun möchte, angesichts eines solchen Gegenstandes der Predigt: Christus Jesus als Herr, der verachtete Jesus von Nazareth Herr über alles! Wir sehen Ihm freilich noch nicht alles unterworfen; aber wir sehen Ihn droben mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt und wissen, dass die Zeit kommt, wo alles unter ein Haupt in dem Christus zusammengebracht werden wird; und wir freuen uns darauf. Denn dann werden wir bei Ihm sein, Ihn in Seiner Herrlichkeit, als Mittelpunkt von allem, schauen und alles mit Ihm teilen.

So sind denn alle unsere Hoffnungen verbunden mit dem verherrlichten Menschensohn droben, und wenn Er wiederkehrt, um die Seinen heimzuholen, so kommt Er nicht auf diese Erde herab; nein, wir werden von dieser Erde weg Ihm entgegengerückt werden in die Luft. Er ist von dieser Erde verworfen worden; die Welt wollte Ihn nicht. Sie wird Ihn deshalb auch nicht wiedersehen, als nur zum Gericht, wenn Er kommt, um Seine Herrschaft anzutreten und die Nationen mit eisernem Zepter zu weiden. Dann werden Seine Füße wieder auf dem Ölberg stehen; alles Fleisch wird Ihn sehen, und zu Seiner Seite die Braut, die himmlischen Heiligen, die Er vorher ins Vaterhaus eingeführt hat und dann mit Sich bringt.

„Wir predigen nicht uns selbst, sondern Christum Jesum als Herrn, uns selbst aber als eure Knechte um Jesu willen". Ein Knecht der Gläubigen zu sein, ein Diener derer, die der Heilige Geist für Jesum aus der Welt, aus allen Völkern der Erde, herausholt, ist kostbar. Als Werkzeug in Gottes Hand zu dienen, um Seinen Kindern die Ratschlüsse mitzuteilen, welche in dem Vaterherzen waren vor Grundlegung der Welt, ihnen Seine innersten Gedanken über Christum und die Versammlung auszulegen, ist ein großes Vorrecht. Der Apostel empfand es als solches. Um ihn zur Ausübung dieses Vorrechts zu befähigen, hatte der Gott, Der einst aus der Finsternis Licht leuchten hieß, in sein Herz geleuchtet „zum Licht glänz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi". Derselbe Gott, der bei der ersten Schöpfung sprach: „Es werde Licht"! hatte es licht werden lassen in dem Herzen des Apostels und hatte ihn in besonderer Weise in den Stand gesetzt, die Wahrheit unverfälscht weiterzugeben.

Als Gott einst sprach: Es werde Licht! lag Finsternis auf der Tiefe, und alles war in Unordnung und Verwirrung auf der Erde. Geradeso ist es im Menschenherzen. Finster und wüst sieht es darin aus. Aber Gott lässt Sein Licht in diesem finsteren Herzen aufleuchten und erfüllt es mit der Erkenntnis Seiner Herrlichkeit. Es ist die Herrlichkeit Gottes Selbst, die von dem Angesicht des Menschensohnes uns entgegenstrahlt; nicht wie bei Mose ein Abglanz der Herrlichkeit der Gnade, auch nicht eine Herrlichkeit, die wir nicht ertragen können. Nein, es ist eine Herrlichkeit, die uns entgegenleuchtet aus dem Angesicht des Menschen Jesus Christus, des Bildes Gottes, Der uns Gott geoffenbart hat, Der für uns starb, Der unsere Sünden trug, Der uns für Gott erkaufte und uns passend machte für Gottes Gegenwart.

Gott Selbst musste dieses große Werk bei Paulus tun, und Er muss es heute bei uns tun. Es genügt nicht, einem Menschen die Wahrheit zu bringen. Kein Mensch kann sagen: Es werde Licht! Niemand kann hineinleuchten in das dunkle Herz eines Menschen. Das vermag Gott allein, und, Sein Name sei gepriesen! Er tut es auch. Er lässt zuweilen (wie in dem Falle des Apostels) das Licht wie einen Blitzstrahl aufleuchten, dass man mit einemmale das Verderben und die Sündhaftigkeit des Herzens erkennt. Dinge, die bis dahin dem Auge völlig verborgen geblieben waren, wie Selbstsucht, Eigenliebe, Stolz, Selbstgerechtigkeit und manches andere, erscheinen plötzlich in ihrer ganzen Hässlichkeit. Gott lässt in einem Augenblick Sein Licht in jeden Winkel hineinleuchten und verscheucht die Finsternis.

Es ist freilich eine ernste Stunde, wenn so etwas geschieht, wenn ein Mensch sich vor Gott so sieht, wie er ist. Aber, Gott sei Dank! es ist auch der Weg für ihn, um aus der Erkenntnis des eigenen Ichs, das ihn tief in den Staub hinabbeugt, hinübergeleitet zu werden zu der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi. Der Mensch sieht einerseits, was er ist: bloß und aufgedeckt steht er da vor dem heiligen Auge Gottes; aber er sieht andererseits auch, was Gott in Gnade ist, wie Er Sich geoffenbart hat in Christo. Und diese Erkenntnis zieht die Seele mit Macht zu Gott hin.

Was war es, das die große Sünderin einst mit unwiderstehlicher Gewalt in die Gegenwart des Heilandes brachte? Er kannte ihr Leben, Er kannte sie durch und durch, jeden Gedanken ihres Herzens; und doch kam sie zu Ihm. Sie wusste eben, dass Er kein Pharisäer Simon war, sondern ein Mann, Der sie liebte, Der ihr helfen konnte und, anstatt sie zu verstoßen, ihr freundlich zurief: Komm her zu mir, du mühselige und beladene Seele, ich will dir Ruhe geben!

Wie sollen wir uns über jede einzelne Seele freuen, in der Gott es hat Licht werden lassen! O möchten wir nicht aufhören, Ihn zu bitten, dass Er Sein Licht noch in viele Herzen hineinfallen lassen möge; aber auch, dass Er unsere Herzen, die bereits erleuchtet sind, weiterführe in der Erkenntnis der Herrlichkeit, wie sie in Jesu offenbart ist, damit sie ganz gewonnen werden für Ihn, und wir fähiger seien, diese Erkenntnis Seiner Herrlichkeit auch auf andere ausstrahlen zu lassen! Sobald es Gott gefallen hatte, Seinen Sohn in dem Apostel zu offenbaren, ging Paulus nicht mit Fleisch und Blut zu Rate, sondern zog hinaus, um Jesum da zu verkündigen, wo Er noch nicht bekannt war. Das Licht, das in seinem Herzen angezündet worden war, strahlte zu anderen aus, um auch sie zu der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi zu führen. So sollte es stets sein. Gott schenke uns allen die nötige Gnade dazu!

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Kurze Bemerkungen aus einer Besprechung über Kol. 2 und 3

Bibelstelle: Kolosser 2 und 3

Botschafter des Heils 1908 S. 317ff

(Eingesandt.) In Joh. 14, 20 sagt der Herr Jesus zu Seinen Jüngern: „An jenem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin, und ihr in mir und ich in euch«. Diese wenigen Worte enthalten die ganze Wahrheit des Christentums. Nach vollbrachtem Werke kehrte der Herr in den Himmel zurück. Er ist in dem Vater. Dann kam der Heilige Geist hernieder, um die an Christum Glaubenden zu einem Leibe zu taufen und sie über ihre neuen Beziehungen zu Christo, sowie über die Beziehungen Christi zu ihnen zu belehren. Er ist in ihnen, und sie sind in Ihm. Betreffs dieser Tatsachen lesen wir in Eph. 1, Z. 4: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christo, wie Er uns auserwählt hat in Ihm vor Grundlegung der Welt“. Ferner schreibt der Apostel an die Kolosser als die Heiligen Gottes, „denen Gott kundtun wollte, welches der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses sei unter den Nationen, welches ist Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kap. 1, 27).

Aus diesen beiden Stellen geht also zweierlei hervor: 1. Die Stellung der Gläubigen in Christo vor Gott, dem Vater, und 2. die Wahrheit, dass Christus in den Gläubigen ist. Sie sind ferner charakteristisch für den Epheser- und den Kolosserbrief. In beiden Briefen finden wir Christum als das Haupt Seines Leibes, der Versammlung; aber im Epheserbrief werden die Gläubigen in Christo in den himmlischen Örtern geschaut, während man über den Kolosserbrief die Überschrift setzen könnte: Christus in den Gläubigen auf der Erde.

Wenn man Vergleiche zwischen der Geschichte Israels und der Lehre des Kolosserbriefes ziehen will, so kann man sagen, dass der Kolosserbrief uns bis Gilgal bzw. bis jenseits des Jordan führt. Gilgal (Abwälzung) erinnert an die Bedeutung der Beschneidung: „Heute habe ich die Schande Ägyptens von euch abgewälzt“.(Jos. 5, 9.) Und bezüglich dieses Punktes lesen wir in Kol. 2: In welchem (Christus) ihr auch beschnitten worden seid mit einer nicht mit Händen geschehenen Beschneidung, in dem Ausziehen des Leibes des Fleisches, in der Beschneidung des Christus; und im B. Kapitel: Tötet nun eure Glieder, die auf der Erde sind: Hurerei, Unreinigkeit, Leidenschaft, böse Lust und Habsucht, welche Götzendienst ist“. Doch wird im Kolosserbrief auch schon das „Getreide des Landes« genossen; denn der Heilige Geist ermuntert uns im Z. Kapitel, zu suchen »was droben ist, wo der Christus ist“, ferner zu „sinnen auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist“.

Was den Apostel Paulus veranlasste, an die Kolosser zu schreiben, war der Umstand, dass sie in großer Gefahr standen, unter die verderblichen Einflusses der Philosophie und des Judentums zu kommen (Vergl. Kap. 2, 8. 16. 20). Die Weltweisheit sucht nach den Grundsätzen menschlichen Denkens über göttliche Dinge zu lehren und zu reden. Demgegenüber belehrte der Heilige Geist die Kolosser, dass sie nur in Christo Jesu die ganze Offenbarung Gottes kennen lernen konnten; „denn in Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kap. 2, 9). Gott hat sich in Christo ohne Hülle geoffenbart; und in diesem Christus sind wir vollendet, stehen vollkommen da vor Gott. Ferner gab es böse Arbeiter, welche die Kolosser unter das Judentum zu bringen suchten, und anscheinend nicht ohne Erfolg.

 Wenn aber die Kolosser sich dem Judentum unterwarfen, so richteten sich die jüdischen Satzungen gegen sie. Und doch hatte Christus die ,,Handschrift in Satzungen, die wider uns (die Juden) war«, aus der Mitte hinweggetan, indem Er sie an das Kreuz nagelte. Die Aufstellungen der Philosophie, die Überlieferungen der Menschen, die Satzungen des Judentums — alles wird im Kolosserbriefs als „Elemente der Welt“ bezeichnet. Ach! diese Elemente sind auch in der heutigen Christenheit in erschreckender Weise zu sehen; man richtet sich „nach den Geboten und Lehren der Menschen . · „zur Befriedigung des (religiösen) Fleisches«. Man hat einen „eigenwilligen Gottesdienst“, bei welchem Gott nicht die Ehre bekommt, und zu dem Gott sich auch nicht bekennen kann.

Um die gläubigen Kolosser vor den erwähnten schädlichen Einflüssen zu bewahren, stellt der Heilige Geist ihnen im ersten Kapitel die Herrlichkeit des Hauptes vor. Das ist stets das Mittel zur Bewahrung hienieden. Wenn das Auge des Glaubens, erleuchtet durch den Heiligen Geist, Christum in der Herrlichkeit betrachtet, wenn Jesus auf diese Weise der Gegenstand der Zuneigungen des Herzens ist, so tritt die gesegnete Wirkung zu Tage, um welche der Apostel durch Gebet und Schrift „kämpfend rang“. Die Herzen werden getröstet, vereinigt in Liebe und zu allem Reichtum der vollen Gewissheit des Verständnisses, zur Erkenntnis des Geheimnisses Gottes“.

Anknüpfend an die Tätigkeit des Epaphras, der den Kolossern die Gnade Gottes verkündigt hatte und nun allezeit für sie rang in den Gebeten, ermahnt Paulus: „Wie ihr nun den Christus Jesus, den Herrn, empfangen habt) so wandelt in Ihm, gewurzelt und auferbaut in Ihm und befestigt in dem Glauben, so wie ihr gelehrt worden seid“ (Kap. 2, 6. 7). Die Kolosser hatten den Herrn Jesum als das Haupt Seines Leibes in Seiner ganzen Fülle empfangen, und nun galt es, das festzuhalten, in Jesu zu bleiben. Wie der Baum durch seine Wurzeln aus dem Boden Nahrung und Kraft zieht, so kann der Gläubige nur dann wachsen und befestigt werden, wenn er in Christo „gewurzelt“ bleibt und in Ihm auferbaut wird. Die gesegneten Folgen eines solchen Zustandes werden sich in jeder Hinsicht offenbaren.

Jesus hat am Kreuze „die Fürstentümer und Gewalten ausgezogen“, d. h. entwaffnet, und durch das Kreuz „Über sie einen Triumph gehalten“ (Kap. 2, 15). Worte des Triumphs waren z. B.: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein“, und: „Es ist vollbracht!“

„Lasst niemanden euch um den Kampfpreis bringen“ (Kap. 2, 18)! Das musste unfehlbar geschehen, wenn die Kolosser sich dem Judentum oder den eigenwilligen Überlieferungen der Menschen unterwarfen. Was die jüdischen „Feste, Neumonde und Sabbate betraf, so waren diese nur Schatten, „der Körper aber ist Christi“. Das will sagen: alle jene Dinge hatten in Christo ihre Verwirklichung oder Verkörperung gefunden. Indessen ist Christus unendlich mehr als die Verwirklichung dieser jüdischen Vorbilder; denn »in Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“. Es galt also, Ihn „festzuhalten“, das Haupt Seines Leibes. (V. 19.) Zugleich war es für alle Glieder dieses Leibes nötig und gut, solche Brüder anzuerkennen, die ihnen Christum, so wie Er uns von Gott geschenkt ist, vorstellten, oder die ihnen in irgend einer Weise dienten. So wurde das Wachstum des ganzen Leibes befördert, wie der Apostel sagt: aus welchem (dem Haupte) der ganze Leib, durch die Gelenke und Bande Darreichung empfangend und zusammengefügt, das Wachstum Gottes wächst“.

Die Worte: „Wenn ihr mit Christo den Elementen der Welt gestorben seid, was unterwerfet ihr euch Satzungen“ u. s. w. (Kap. 2, 20), und: „Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt worden seid, so suchet was droben ist“ (Kap. 3, 1), gründen sich auf das, was mit dem Gläubigen geschehen ist. Sie knüpfen an den 11. und 12. Vers des zweiten Kapitels an, wo dargetan wird, dass der Gläubige mit Christo gestorben und auferweckt ist. Der Tod Christi hat uns von dem Alten getrennt, und die Auferstehung hat uns in das Neue eingeführt. So sollten denn die Gedanken und Ziele des Gläubigen stets himmlische sein, entsprechend der Ermahnung: „Suchet was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet auf das, was droben ist, nicht aus das, was auf der Erde ist“ (Kap. 3, 1. 2). Als ein erläuterndes Beispiel zu dieser Stelle kann uns die Geschichte Rebekkas dienen. Sie beschäftigte sich auf dem Wege zu ihrer neuen Heimat mit Isaak und mit dem, was Elieser ihr von ihm erzählte. Das erhielt sie stark und glücklich und ließ sie alles vergessen, was sie um seinetwillen ausgegeben hatte.