Inhaltsverzeichnis: Botschafter des Heils in Christo 1857 | Seite |
Das Mitleiden Jesu | 1 |
Die Liebe des Vaters | 14 |
Grundzüge der Geschichte Davids | 18 |
Gegenwärtiger und zukünftiger Zeitlauf - 1/9 | 21 |
Gedanken über Psalm 1 und 2 | 40 |
Eins aber thue ich | 41 |
Gegenwärtiger und zukünftiger Zeitlauf - 2/9 | 47 |
Gegenwärtiger und zukünftiger Zeitlauf - 3/9 | 61 |
Trost in der Wüste | 73 |
Gedanken über Psalm 94 | 78 |
Gegenwärtiger und zukünftiger Zeitlauf - 4/9 | 81 |
Mose in Ägypten und Midian | 92 |
Gegenwärtiger und zukünftiger Zeitlauf - 5/9 | 101 |
Gedanken zu Jak 1,2.3 | 113 |
Gegenwärtiger und zukünftiger Zeitlauf - 6/9 | 121 |
Esther | 131 |
Das Kreuz | 138 |
Gegenwärtiger und zukünftiger Zeitlauf - 7/9 | 141 |
Gedanken zu 2. Kor 7,1 | 153 |
Der Blinde, welcher bettelnd am Wege sitzt | 160 |
Gegenwärtiger und zukünftiger Zeitlauf - 8/9 | 161 |
Gehorsam ist die Freiheit der Heiligen | 172 |
1. Sam 1,1.2 | 178 |
Gegenwärtiger und zukünftiger Zeitlauf - 9/9 | 181 |
Endziel Gottes und Mittel Jakobs | 195 |
Der gegenwärtige und der zukünftige Zeitlauf *)
(Eine Schriftforschung)
„Unser Herr Jesus Christus hat sich selbst für unsere
Sünden hingegeben, auf daß er uns aus dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf herausnähme, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters, welchem die Herrlichkeit sei
von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen" (Gal. 1, 4, 5).
I.
Vorwort
Der Herr Jesus ist geboren, um König zu sein; dazu ist Er in die Welt gekommen, um der Wahrheit Zeugnis abzulegen. Da Ihn aber die Seinen nicht aufgenommen haben, so
entsagt Er für einige Zeit, hienieden zu regieren; und in den Himmel zurückgegangen, sammelt Er Sich von dort aus eine Versammlung, welche, als Sein Weib, mit Ihm das Reich ererben soll. Diese Zeit der Abwesenheit Jesu ist für uns der gegenwärtig e bös e Zeitlauf .
Wenn diese Versammlung vollständig, und zu Ihm aufgenommen ist, so wird Er mit ihr kommen, um Seine Rechte geltend zu machen; und als wahrer Melchisedek wird Er Seinem Szepter der Gerechtigkeit und des Friedens alle Reiche, welche unter allen Himmeln sind, unterwerfen. Dies wird das Reich Gottes sein, oder der zukünftige Zeitlauf **).
*) Aus dem Französischen übersetzt. — Die Leser werden aber besonders ersucht, die angeführten Bibelstellen selbst nachzuschlagen. **) Wir sagen, der gegenwärtige Zeitlauf sei die
Zeit der Abwesenheit des Herrn, und es ist dies in jedem Falle für uns wahr. Aber wann hat denn dieser Zeitlauf angefangen? Vielleicht bei der Sündflut. Deshalb wären dann die Zeiten des
Herrn und Seiner Apostel „die letzten Zeiten oder die letzten Tage" genannt (Hebr. 1, 1).
Wäre Jesus aufgenommen worden, so wären es wirklich die letzten Tage gewesen, weil Sein herrliches Reich den zukünftigen Zeitlauf eingeführt hätte. Obwohl übrigens der Anfang dieses Zeitlaufes nicht genau angegeben ist, so ist es doch sein Charakter. Der Christ ist aus einem bösen Zeitlauf herausgenommen (Gal. 1, 4); aus einem Zeitlauf der Finsternis, dessen Weltbeherrscher und Gott der Teufel ist (Eph. 6, 12; 2. Kor. 4, 4); dessen Kinder den Kindern
des Lichtes, entgegengestellt sind (Luk. 16, 8). Die, welche diesen Zeitlauf liebgewinnen, verlassen Gott und Seine Kinder (2. Tim. 4, 10). Auch soll man nicht diesem Zeitlauf gemäß handeln (Röm. 12, 2).
Der zukünftige Zeitlauf fängt offenbar mit der Ankunft des Herrn an und entspricht der Zeit Seines Reiches. Dieses Reich ist ein herrliches und wünschenswertes, weil diejenigen, welche „würdig gehalten werden, jenes Zeitlaufes und der Auferstehung aus den Toten teilhaftig zu sein, nicht mehr sterben können" (Luk. 20, 35. 36). Es ist der Zeitlauf der Vergeltung (Mark. 10, 30; Luk. 18, 30), und zwar offenbar derjenigen, welche bei der Auferstehung der Gerechten statt haben wird (Luk. 14, 14). Endlich ist es der Zeitlauf der Auferstehung, des Lebens und der Herrlichkeit. Oft verwechselt man die Welt und den Zeitlauf, was zu großen Irrtümern führt.
Die Welt kosmos oder oikumene, ist die Erde, welche wir bewohnen. Der Zeitlauf aion ist ein bestimmter Zeitlauf dieser Welt, oder eine Zeitspendung Gottes gegen diese Welt und ihre Bewohner. Sie sind gleichsam wie zwei gleichlaufende Linien, die sogar manchmal in gleicher
Entfernung von denselben Ereignissen durchschnitten und doch immer unterschieden sind.
Wenn der gegenwärtige Zeitlauf bei der Sündflut angefangen hat, so entspricht er in seiner Dauer dem, was man die jetzige Welt nennen kann, im Gegensatz zur alten Welt, das heißt der vorsündflutlichen Welt.
Der durch die Ankunft des Herrn eingeführte zukünftige Zeitlauf entspricht auch der zukünftigen Welt, oder dem zukünftigen Erdkreis (Ps. 8; Hebr. 2, 5), d. h. der durch den Herrn
hergestellten Welt, auf welcher alle Kreaturen Ihm unterworfen sein werden.
Ferner entsprechen sich auch die Charakterzüge der jetzigen Welt und des jetzigen Zeitlaufes. Wenn dieser Zeitlauf „böse" ist, so „liegt auch die ganze Welt im Argen", und „alles,
was in der Welt ist, — die Lust des Fleisches, die Lust der Augen, und der Hochmut des Lebens —ist nicht aus dem Vater, sondern aus der Welt. Und die Welt vergehet mit ihrer Lust."
Wie man deshalb den jetzigen Zeitlauf nicht lieben, noch ihm gemäß handeln soll, so soll man auch die Welt nicht lieben, noch was in der Welt ist (1. Joh. 2, 15 - 17; Jak. 4, 4). Wenn der
Teufel der Weltbeherrscher dieses Zeitlaufes ist (Eph. 2, 2), so ist er auch der Fürst dieser Welt genannt (Joh. 12, 31; 14, 30; 16, 11). „Wenn man nach dem Zeitlauf dieser Welt wandelt, so
wandelt man nach dem Fürsten der Gewalt der Luft, des Geistes der jetzt in den Söhnen des Ungehorsams wirksam ist"
(Eph 2, 2); auch ist jetzt das Reich des Herrn Jesu weder von diesem Zeitlauf noch von dieser Welt (Joh. 18, 36). Daß es nicht von diesem Zeitlauf ist, wird durch das Wort „jetzt" bezeichnet, und daß es nicht von dieser Welt ist, durch das Wort „von hier"; aber es wird sich im zukünftigen Zeitlauf über eine erneuerte Welt erstrecken.
Ungeachtet dieser Beziehungen, ist Welt und Zeitlauf nicht dasselbe und sollen nicht verwechselt werden. Man tut es aber in Matth. 13, 39. 40. 49 und 24, 3, wenn man anstatt „Ende des Zeitlaufes" — „Ende der Weit" liest, ujas glauben macht, daß es sich dort um Zerstörung von Himmel und Erde handle, und um das Gericht, das dann stattfinden wird (Offb. 20), während es sich in diesen Stellen, so wie in Matth. 25, das nur eine nähere
Entwicklung davon ist, keineswegs um das Ende der Welt handelt, sondern um das Ende des jetzigen bösen Zeitlaufes, und um das Gericht, welches dann vom Herrn ausgeführt wird, um den zukünftigen Zeitlauf einzuführen. Der gegenwärtig e Zeitlauf und der zukünftige Zeitlauf, dies ist in wenigen Worten der Gegenstand, den wir in diesen Aufsätzen erforschen möchten, indem wir besonders den Charakter und den Beruf der Versammlung Jesu Christi, durch diese beiden Haushaltungen hindurch zu entscheiden suchen.
Wie könnten wir, die Glieder dieser Versammlung, unseres Berufes würdig wandeln, wenn wir nicht zuerst einen klaren und bestimmten Begriff davon haben? Laßt uns deshalb das Licht der Prophezeiung nicht verachten, welches unseren Weg beleuchten kann, indem es mit seinen Strahlen das herrliche Ziel unserer Pilgrimschaft erhellt, und unsere Schritte durch den dunklen Ort dieser Welt, durch welche wir zu gehen haben, leitet und sicher macht.
Gebe der Herr in Seiner Gnade, daß diese einfachen Forschungen einigermaßen zu diesem Zweck dienen.
5
II,
INatur der Versammlung
Die Versammlung ist keineswegs die Gesamtheit aller Heiligen seit dem Anfang bis zum Ende der Welt. Sie ist der Leib des Christus, am Tage der Pfingsten durch Seinen Geist gebildet, und seitdem gesammelt, um zu ihrem Haupte versammelt zu werden, ehe Er kommt, um über die Welt Gericht zu halten, und um Sein Reich aufzurichten. Sie ist sogar ein Geheimnis, welches in früheren Zeiten nicht offenbart worden ist. Dies lehrt uns das Wort, und insbesondere Paulus, der Diener der Versammlung und Verwalter dieses Geheimnisses (Eph. 3, 1—12; Kol. 1, 18—27). Deshalb:
1.
Ist die Versammlung- gänzlich, sowohl von Israel in vergangenen Zeiten, als auch von Israel und den Nationen im zukünftigen Zeitalter unterschieden?
a) Israel war ein Volk nach dem Fleische, äußerlich von allen anderen Völkern getrennt, in einem besonderen ihm zur Wohnung angewiesenen Lande. Die Versammlung ist ein Volk, welches aus allen anderen genommen ist, obschon es mitten unter ihnen wohnt. Sie ist auf der ganzen Erde zerstreut; und aller nationaler Unterschied ist darin gänzlich ausgelöscht (Gal. 3, 26; Eph. 2, 11—12; Kol. 3, 11; Apg. 15, 14).
b) Israel war ein Volk nach dem Fleische. Wer von israelitischen Eltern geboren und am achten Tage beschnitten wurde, war Israelit. Die Versammlung ist ein Volk nach dem Geiste. Weder die Geburt nach dem Fleische, noch irgendeine Zeremonie macht zum Christen, sondern nur der Glaube und die Geburt nach dem Geiste (Joh. 1, 12. 13).
c) Nicht nur dies, sondern die Versammlung ist ein „Haus Gottes im Geist", „der Tempel Gottes", sowie dies auch jedes Glied derselben ist (1. Kor. 3, 16; 4, 17; 2. Kor. 6, 16; Eph. 2 20—22; l.Petr. 2,5). „Der Leib Christi", in welchem folglich Sein Geist lebt, wie der Geist des Menschen im Menschen lebt (Eph. 1, 22. 23; 4, 4 usw.) Deshalb ist auch die Gottesverehrung der Versammlung bezeichnet durch „im Geist und in der Wahrheit" (Joh. 4, 21), im Gegensatz zur jüdischen,
welche in „Schatten und Satzungen des Fleisches" bestand (Kol. 2, 17; Hebr. 9, 1. 10). Israel hatte wohl eine Wohnung Gottes bei sich in seiner Stiftshütte oder in seinem Tempel; da aber dieser Tempel selbst von „dieser Schöpfung" war, so war er nur ein Schatten der himmlischen Güter, und die Opfer, die man dort darbrachte, waren in Beziehung mit den Segnungen, welche Israel verheißen waren, d. h. wieder von dieser Schöpfung: Lämmer, Früchte, Wein, ö l usw., nicht geistliche Opfer, wie in der Versammlung.
d) Das Königtum und das Priestertum in Israel gehörten von rechtswegen einer Familie, und waren demgemäß Rechte nach dem Fleische. Jeder Sohn Aaron's war bei erreichtem Alter, wie sein Charakter im übrigen auch sein mochte, Priester (2. Mose 28,1; 3. Mose 8). Die Leviten allein
konnten im Tempel dienen und das Volk belehren (5. Mose 33, 10; 2. Chron. 35, 3).
Die Versammlung hat einen einigen Hohenpriester in dem Himmel, Jesum, wie es der Brief an die Hebräer zeigt. Alle Glieder der Versammlung sind Könige und Priester durch den Geist, der in ihnen ist (1. Petr. 2, 5. 9). Der Dienst ist nicht das Recht einer Familie, und ist an keine Stellung nach dem Fleische gebunden, sondern hängt einzig von den Gaben ab, welche der Geist jedem zuteilt, wie Ihm gefällt (Röm. 12,3—8; 1. Kor. 12, 6.11; 1. Petr. 4,10.11).
e) In Israel wollte Gott, daß man Ihm nur an einem Ort diene, den Er Sich Selbst erwählt hatte, und wo Sein Name wohnte (5. Mose 12, 11; 16, 5. 6). In der Versammlung gibt es kein e heiligen Örter. Da, wo zwei oder drei in dem Namen des Herrn versammelt sind, ist Er mitten unter ihnen (Matth. 18, 20). Dies ist ebenfalls eine Folge der Innewohnung des Geistes in den Gläubigen. Da dieser Geist in ihnen ist, so sind sie selbst der Tempel Gottes.
f) Der Bund, den Gott mit Israel, wenigstens als Volk, gemacht hatte, war ein Bund des Gesetzes und unter der Bedingung des Gehorsams (3. Mose 18, 5; 2. Mose 19, 5. 6; 5. Mose 27,12 — 26. 28). Die Versammlung aber steht vor Gott auf dem Grunde einer unbedingten und unabhängigen Gnade (Joh. 3, 16. 17. 36; Eph. 2, 4—6).
g) Die an den Bund mit Israel geknüpften Segnungen waren alle irdisch (3. Mose 26, 3—12; 5. Mose 7,12—15; 8,7— 18; 11,8—15.21; 28,1—14). Die Versammlung ist mit geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern gesegnet (Eph. 1,3; Kol. 3,1—4; Phil. 3,18—21). Auf der Erde hat sie Trübsal und Kreuz zu erwarten (Joh. 12, 25. 26; 15,18—21; 16,1—4; 2. Tim. 3,11.12 usw.)
h) Israel war von Gott berufen, seinen Feinden den Krieg zu machen und sie auszurotten (3. Mos. 10, 9; 5. Mos. 7, 12. 16-26). Die Waffen der Versammlung aber sind nicht fleischlich; sie soll kein anderes Schwert kennen, als das des Geistes. Und wenn es sich um Feinde Gottes handelt, so soll der Christ sie tragen, wie auch sein Heiland tat (2. Kor. 10, 4; Eph. 6, 10—17; Matth. 13, 30; Luk. 9, 54. 55).
Können zwei Haushaltungen*), deren Charakterzüge so verschieden sind, eine und dieselbe Haushaltung bilden?
Mit anderen Worten, kann die Versammlung nur die Fortsetzung von Israel sein?
Man wird sagen, daß die Versammlung, so wie sie heutzutage besteht, ein Fortschreiten der Gemeine von Israel sei, und daß die Versammlung der letzten Tage, in welchen ganz Israel errettet und die Erde mit der Erkenntnis des Herrn bedeckt sein wird, wieder ein Fortschreiten der jetzigen Versammlung sei. Aber kann man wohl das Ersetzen gewisser Grundsätze durch andere, oft ganz entgegengesetzte Grundsätze, ein Fortschreiten nennen? Was wird endlich die Idee einer einigen Versammlung durch alle Haushaltungen hindurch werden, wenn die hauptsächlichsten Charakterzüge der vergangenen Haushaltung, wieder in der zukünftigen Haushaltung erscheinen? Das ist es aber, was uns gerade das Wort zeigt, mit Ausnahme zweier oder dreier Fälle, in welchen Verschiedenheit, sogar Gegensatz zwischen dem alten Israel und dem Israel der letzten Tage ist.
Um nun mit den Verschiedenheiten anzufangen, so war der Bund, den Gott einst mit Israel auf Sinai gemacht hatte, wie wir gesehen haben, nach dem Gesetz, und die Segnungen hingen vom Gehorsam ab. Der Bund, den Gott mit Israel in den letzten Zeiten machen wird, wird im Gegenteil
*) Das Wort „Haushaltung" ist in seiner eigentlichen Bedeutung, nach meiner Meinung, auf die Versammlung, als solche, nicht anwendbar; allein ein anderer Ausdruck, etwa „Periode", würde hier weniger für Israel passend sein. (Anm. d. Herausg.) ein Bund der unbedingten Gnade sein. In diesem ist er neu, im Vergleich mit dem Bund auf Sinai. Deshalb werden auch die Segnungen dieses Bundes so lange währen wie Himmel und Erde, während die Segnungen des Bundes des Gesetzes ein Ende genommen haben (Jer. 31, 31—37; 33, 11—26; Hes. 37, 25—28).
Übrigens hat dieser Bund der unbedingten Gnade, seinen Grund in dem Bunde, welcher (mit Abraham) schon vierhundert Jahre vor dem Gesetz — gemacht war; ein Bund, auf welchen sich die Heiligen in Israel immer vor Gott berufen, und nie auf den Bund des Sinai (Ps. 105, 8 usw.; Mich.
7, 20 in Verbindung mit dem ganzen Kapitel. Luk. 1, 72. 73).
Dies macht uns auch begreiflich, warum Jesus „der Mittler des neuen Bundes", Sein Blut, „das Blut des neuen Bundes" und der Kelch des Abendmahls, „der neue Bund im Blute Jesu" genannt wird (Hebr. 9, 15; Matth. 26, 28; Luk. 22, 20). Es macht uns ferner die Anwendung von Jer. 31, 31—37, in
Hebr. 8, 8—12 und 10, 16. 17 verständlich. Ehe die Versammlung bestand, war auch Israel das einzige Volk auf Erden, mit welchem Gott einen Bund machte, und dessen Gott Er Sich nannte. Im zukünftigen Zeitlauf wird es nicht so sein; denn es werden sich im Gegenteil „mehrere Nationen an diesem Tage zum Herrn tun, und sein Volk werden." „Ihre Brand- und Schlachtopfer sollen ihm
angenehm sein auf seinem Altar; und sein Haus wird heißen ein Bethaus allen Völkern" (Sach. 2,11; Jes. 56, 3. 6. 7).
Jedoch laßt uns jetzt auf die Beziehungen zwischen dem alten Israel und dem der letzten Tage zurückkommen.
a) Der Herr sagt zu der Tochter Zion allein: „Siehe, ich komme, und will in dir wohnen; denn der Herr wird Juda erben als sein Teil in dem heiligen Lande, und wird Jerusalem wieder erwählen" (Sach. 2,10.12). Kurz, unter den, alsdann gesegneten Völkern, wird Israel eine Vorrang-Stellung einnehmen. Wer könnte daran zweifeln, nachdem er Stellen, wie Jes. 14, 1. 2; 49, 22. 23; 54, 3; 60, 3—16 usw. gelesen hat?
b) Wie vormals die Heiligen in Israel zur Austilgung ihrer Feinde berufen waren, so wird es wieder der Fall sein. Während „ihr Mund erhöhet, werden sie zweischneidige Schwerter in ihren Händen haben, daß sie die Rache üben unter den Heiden, Strafe unter den Völkern" (Ps. 149, 6—9).
Die, welche den Herrn fürchten, „werden die Gottlosen zertreten wie Asche unter den Füßen", „wie Kot auf der Straße" (Mal. 4, 3; Micha 4, 13; 5, 8. 9; 7, 10).
c) Wie Gott in der vorherigen Haushaltung einen einzigen Ort auf der Erde erwählt hatte, um Seinen Namen daraufzulegen, und um dort die Verehrung der Heiligen anzunehmen, so wird Er es wieder tun, und der Ort wird derselbe sein, nämlich Jerusalem, „die Stadt des großen Königs", von
welchem Er gesagt hat: „Meine Augen und mein Herz werden immer dort sein." Da wird Er wieder mitten unter Israel wohnen, da wird nicht nur das wiederhergestellte Israel sondern es werden alle Nationen hinkommen, um „den Herrn der ganzen Erde" anzubeten (Jes. 2, 2. 3; Jer. 3, 17; Micha 4, 1. 2; Hes. 20, 40. 41; 43, 7; Sach. 8, 1—3; 20—23; 14, 16—21).
d) Der Gottesdienst wird, wenigstens in manchen Beziehungen, den fleischlichen und irdischen Charakter annehmen, den er früher in Israel hatte. Man wird wieder Brandund Schlachtopfer, Kuchen und Weihrauch, opfern, und man wird wieder das Laubhüttenfest halten. Seht die vorherigen Stellen und Jeremias 33, 17. 18.
e) Wie vor dem Bestand der Versammlung, die Segnungen, mit welchen Gott Seine Heiligen belohnte, irdische Segnungen waren, so wird es in der letzten Zeit wieder der Fall sein (Jes. 60; 61, 4. 5. 6; 64, 11—25; Jer. 31, 12—14. 23—28; Hes. 36, 24; Hos. 2, 18—22; Arnos 9, 13—15).
Nun frage ich, wie kann man aus diesen Charakterzügen der Heiligen der letzten Zeit, diejenigen der Versammlung machen, ohne die bestimmtesten Belehrungen des Wortes über die Versammlung und den Beruf ihrer Glieder, umzuwerfen? — Können die Christen je den Rockzipfel eines Juden fassen, um Gott in Jerusalem zu suchen, und um dort das Laubhüttenfest zu halten (Sach 8, 23), sie, die von ihrem Meister gelernt haben, daß man in der Versammlung den Vater weder auf dem Berge von Samaria, noch in Jerusalem anbeten wird; sondern daß Gott wahrhaftige Anbeter verlangt, welche Ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten?
Werden sie je das Schwert nehmen können, um sich an ihren Feinden zu rächen — sie, denen gesagt ist: „Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und betet für die, welche euch beeinträchtigen und verfolgen" (Matth. 5, 44). — Können die Christen je, ohne
untreu zu sein, ihre Segnungen auf der Erde erwarten — sie, denen gesagt ist, „zu trachten nach dem, was droben ist und nicht nach dem, was auf der Erde ist?" (Kol. 3, 2). — Sollen
sie endlich einmal die Knechte und Mägde Israels sein, seine Ackersleute *und Weingärtner, und sich damit beschäftigen, die zerstörten Mauern wieder aufzubauen — sie, welche ge10
lernt haben, daß in der Versammlung „weder Jude, noch Grieche ist?" (Kol. 3, 11).
Das ist aber noch nicht alles. Der Herr hat gesagt: „Wer überwindet, und meine Werke bis ans Ende hält, dem werde ich Gewalt über die Nationen geben; und er wird sie weiden mit einer eisernen Rute" (Offb. 2, 26. 27). Und wir sehen diese Verheißung in Offenb. 20 erfüllt, wo die Glieder der
Versammlung, nachdem sie die Begleiter des Herrn geworden sind, mit Ihm, wenn Er kommt, um den Boshaftigen zu zerstören, leben und regieren werden tausend Jahre über Nationen, welche Satan nicht mehr verführt. Diese vor den Verführungen Satans geschützten Nationen beziehen
offenbar die Heiligen dieser glücklichen Zeiten, wo die Erde mit der Erkenntnis des Herrn bedeckt sein wird, in sich.
Wenn aber die Heiligen nur eine Fortsetzung der Versammlung sind, wenn sie wieder die Versammlung selbst sind, wie es Einige sagen, was geht daraus hervor? Daß ein Teil
der Versammlung von dem Himmel aus über einen anderen Teil der Versammlung auf der Erde, regieren wird. Ist aber das annehmbar? Ist das die Einheit des Leibes, welche uns
Paulus lehrt, wenn er sagt: „Ei n Leib, und ei n Geist, wie ihr auch in eine r Hoffnung eurer Berufung berufen seid?" (Eph. 4, 4).
Wenn einmal eine einzige Wahrheit angenommen ist, so macht sie alle diese Unmöglichkeiten aufhören, und diese Widersprüche verschwinden. Die Versammlung ist der Leib
des Christus, der seit Pfingsten durch Seinen Geist gesammelt wird; und wenn er einmal vollständig ist, wird er mit seinem Haupte vereinigt, und zwar ehe Er kommt, um über
die Welt das Gericht zu halten und Sein Reich aufzurichten.
Wenn diese Versammlung aus der Welt entrückt ist, so nimmt Gott. Seine unterbrochenen Beziehungen zu Israel wieder auf, und nachdem Er es gerichtet hat, erfüllt Er in Seiner Gnade, alle dem Abraham und den Vätern gemachten Verheißungen. Da sehen wir, weshalb wir Israel in den letzten Zeiten in vielen Beziehungen in ähnlichen Stellungen und Charakterzügen finden, wie diejenigen, welche es ehemals hatte. Nur konnte es ehemals, unter dem Bund des
Gesetzes, seine Segnungen, die ihm dargestellt waren, verlieren; in den letzten Zeiten, unter dem (mit Abraham gemachter!) Bund der Gnade wird es die Segnungen, die ihm
beigelegt werden, nicht verlieren. Doch wir kommen darauf zurück. Jetzt wollen wir unsere Forschungen über die Natur der Versammlung fortsetzen.
11
2.
Das von den Zeitaltern her verborgene Geheimnis, die Versammlung, befindet sich im Alten Testament nur in Schatten und Bildern Die Versammlung ist „das Geheimnis des Christus, welches in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kund gemacht worden, wie es jetzt seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist offenbart worden
ist, daß nämlich die Nationen Miterben und ein Teil ein und desselben Leibes, und mitteilhaftig seiner Verheißung in dem Christus durch das Evangelium sein sollten... das Geheimnis, welches von den Zeitaltern her verborgen war in Gott" (Eph. 3, 1—10; Kol. 1, 14—27).
Man kann fragen, ob denn der Gegenstand dieses Geheimnisses nicht einfach die Berufung der Heiden sei? Nein, denn die einfache Tatsache, daß Heiden zur Erkenntnis Gottes berufen werden, ist kein im Alten Testament verborgenes Geheimnis, denn man findet darin oft Erklärungen
wie folgende: „Es ist ein Geringes, daß du mein Knecht bist,
die Stämme Jakob aufzurichten, und die Erhaltenen in Israel wieder zu bringen; sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, daß du seiest mein Heil bis an
der Welt Enden" (Jes. 49, 6). „Es werden gedenken, und sich zum Herrn bekehren aller Welt Enden, und vor dir anbeten alle Geschlechter der Heiden" (Ps. 22, 28). Eine so klargeoffenbarte Tatsache ist kein verborgenes Geheimnis. Hingegen, die Berufung einiger Auserwählten aus den Nationen, um mit einigen aus den Juden, „Miterben, und einTeil ein und desselben Leibes und mitteilhaftig seiner Verheißung in dem Christus durch das Evangelium" (Eph. 3, 6.10), zu sein;
„Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit";. ein neuer Mensch, wo nicht ist „Grieche und Jude, sondern" alles und in allem — Christus" (Kol. 1,27; 3,10.11); —dies ist das Geheimnis, welches den Heiligen und Propheten des Alten Testamentes unbekannt war. Und wenn wir aufmerksam erforschen, was jene von der Berufung der Heiden gesagt haben, so werden wir unter anderem sehen, daß sie immer von ganzen Nationen sprechen, von Nationen als Nationen, mit ihren Fürsten und Königen; wir werden sehen, daß, obschon diese Nationen Gott kennen, und an Seinen Segnungen Teil haben, sie dennoch eine von Israel sich unterscheidende Stellung einnehmen; wir werden sehen, daß sich diese Nationen infolge von schrecklichen Gerichten, welche 12
der Herr über sie ausübt, bekehren. Dies alles sind aber Dinge, welche nicht die Versammlung betreffen. Wir haben auch schon bemerkt, daß der Kultus dieser bekehrten Nationen nicht der der Versammlung ist. So ist es also nicht eigentlich und insbesondere die Berufung von Heiden zu r Versammlung , von welcher die Propheten gesprochen haben, — diese war für sie ein Geheimnis.
Warum aber wenden denn die Apostel auf die Versammlung solche Stellen der Propheten an, welche von der Berufung der Heiden sprechen? Ohne Zweifel deshalb, weil die
besondere Berufung einiger Heiden, um mit einigen Juden
einen und denselben Leib zu bilden — den durch Seinen
Geist belebten Leib — eine besondere Tatsache ist, welche
in der allgemeinen Tatsache der Berufung der Heiden enthalten ist, wie die Erstlinge in der Ernte enthalten waren
(5. Mos. 26). Denn wenn es Erstlinge gibt (Offb. 14,1—4), so
sind wir himmlische Erstlinge, wir, die wir zuvor auf Christum gehofft haben (Eph. 1, 12; Jak. 1, 18).
Wir sind in gewisser Beziehung diese Garbe und dieser Fruchtkorb, welche der fromme Israelit auf seinem Felde sammelte, um sie Gott im Tempel darzubringen. Die in den letzten Tagen bekehrten Israeliten und Heiden hingegen, sind die Ernte. Das, was man von der Ernte sagen konnte,
konnte man auch in vielen Beziehungen von den Erstlingen sagen. Die einen wie die anderen wuchsen auf demselben Boden, unter demselben Regen und unter derselben Sonne;
in anderen Beziehungen waren sie verschieden, denn die Erstlinge wurden vor der Ernte eingesammelt und gehörten Gott; die Ernte hingegen gehörte dem Volk. So kann auch
vieles, was von den in den letzten Tagen bekehrten Israeliten und Heiden gesagt ist, von der Versammlung gesagt werden. Es sind dieselben Sünder, welche durch denselben Namen errettet sind, „denn es ist den Menschen kein anderer Name gegeben, durch welchen sie können errettet werden" (Aag. 4, 11). Sie sind in demselben Blut gewaschen; denn der offene Born, welcher einst dem Hause David und den Bürgern zu Jerusalem wider die Sünde und Unreinigkeit eröffnet wird, ist dasselbe Blut, welches heute von aller Sünde de n reinigt, welcher daran glaubt (Sach. 13, 1; 1. Joh. 1, 7). Kurz, wir sind jetzt gleich wie es auch Israel und die Nationen sein werden, kraft eines Gnadenbundes, in welchem Gott unserer Sünden nicht mehr gedenkt, und die Ungerechtigkeiten vergibt, errettet, und nicht kraft des Bundes vom Sinai, der niemand errettet hat. Dies sind allerdings Ähnlichkeiten, aber es gibt auch Verschiedenheiten, wie wir
13
schon gesehen haben, wie z. B., daß die Versammlung vor der Bekehrung Israels und der Nationen gesammelt wird.
Die Versammlung ist mit geistlichen und himmlischen Segnungen gesegnet, Israel und die Nationen mit irdischen
Segnungen.
In allen diesen Beziehungen könnte man von der Versammlung nicht sagen, was von Israel und den Nationen gesagt ist. Man lese nur die von den Aposteln angeführten
Stellen in den Propheten selbst, im Zusammenhang mit dem,
was vor- und nachher steht, so wird man gewöhnlich Einzelheiten finden, welche unmöglich auf die Versammlung
Bezug haben können; sie sind nur einerseits auf sie anwendbar; und von dieser einen Seite betrachten sie die Apostel, weshalb sie sie anführen.
In Röm. 15 zum Beispiel, wendet Paulus auf die Versammlung Stellen an, welche Bezug auf die Berufung der
Nationen haben, weil die Versammlung ein Pfand und ein
Anfang dieser Berufung ist. Man sieht darin diese Berufung,
wie der Bürger Jerusalems in der Darbringung der Erstlinge, das Pfand der Ernte sah.
Wenn der Apostel den Hebräern im 8. Kapitel, Jer. 31,
31—34 anführt, so ist sein Zweck zu zeigen, daß, da der
Bund des Sinai nichts zur Vollkommenheit bringen konnte,
ein anderer Bund, der der unbedingten Gnade, eingeführt
werden mußte. Da nun sowohl der Bund des zukünftigen
Zeitlaufes mit Israel, als der jetzige mit der Versammlung
ein solcher ist*), so konnte sich der Apostel bei dieser Gelegenheit der Worte des Propheten bedienen. Wenn der Apostel diese Stelle in Hebr. 10 wieder anführt, so geschieht es,
um zu zeigen, daß, da eine unbedingte Vergebung angekündigt und verheißen ist, notwendigerweise auch ein großes
und vollkommenes Opfer, wie das des Herrn Jesu, diese
Vergebung erwirkt haben müsse. Dies ist nun, wie wir schon
gesehen haben, gleich wahr von dem Bunde Gottes mit der
Versammlung, wie von dem Bunde mit Israel in den letzten
Zeiten. Man lese aber diese Worte in Jeremias selbst in
Verbindung mit dem, was vor- und nachher folgt, so wird
man bald sehen, daß sie sich nicht eigentlich auf die Versammlung beziehen. „Ich werde mit dem Hause Israel und
mit dem Hause Juda einen neuen Bund machen" — wir sind
weder das eine noch das andere; — „nicht nach dem Bunde,
welchen ich mit ihren Vätern machte, da ich sie bei der
*) Das Wort „Bund" kann, nach meiner Meinung, weniger
auf die Versammlung, als solche, als auf die Gläubigen, als Volk betrachtet, angewandt werden. (Anm. d. Herausg.)
14
Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen." Gott hat
aber unsere Väter weder aus Ägyptenland geführt, noch
einen Bund mit ihnen gemacht, — wir, die wir Sünder aus
den Nationen sind, von welchen im Gegenteil gesagt ist, daß
wir „entfremdet dem Bürgerrecht Israels waren, und Fremdlinge in Betreff der Bündnisse der Verheißung" (Eph. 2, 11
u. 12). In diesem Bunde verheißt Gott ferner, daß Jerusalem
wieder gebaut werde „vom Turm Hananeel an bis ans Ecktor. Und die Richtschnur wird vor demselben weiter hinausgehen bis an den Hügel Gareb, und sich gen Goath wenden,
und das ganze Tal der Leichen und Asche, samt allen Feldern bis an den Bach Kidron bis zu der Ecke am Roßtor
gegen Morgen, wird dem Herrn heilig sein, daß es nimmermehr ausgerissen noch abgebrochen werden soll." Wie kann
man dies alles auf die Versammlung anwenden?
Laßt uns aber unsere Forschungen fortsetzen, indem wir
als Beispiele einige Stellen der Propheten nehmen, in welchen man mit dem meisten Grund erwarten könnte, die
Versammlung zu finden; und wir wollen sehen, ob sie wirklich darin zu finden ist, oder ob diese Stellen sogar die Versicherung Pauli, daß es nämlich ein Geheimnis sei, welches
in früheren Zeitaltern den Menschenkindern nicht offenbart worden sei, bestätigen.
Die Verheißung, welche Gott dem Abraham gab, daß in
seinem Samen alle Völker der Erde gesegnet werden sollen
(l.Mos. 12, 3; 22,18; 28,14), ist in einem Sinne auf die Versammlung angewendet (Gal.3,8 usw.); doch ist sie es immerhin nur insofern, als die Versammlung die Erstlinge der Bekehrung der Welt ausmacht, und nicht in einem bestimmten
und unbedingten Sinne. In der Versammlung ist es auf hundert oder tausend Familien eine, welche im Samen Abrahams gesegnet ist, und nicht alle Familien der Erde, und
werden es in Zukunft ebenso wenig sein, als jetzt, weil „die
bösen Menschen und Betrüger im Bösen fortschreiten werden, verführend und verführt werdend", bis der Abfall
kommt und der Mensch der Sünde, welchen der Herr Selbst
durch die Erscheinung Seiner Ankunft vernichten wird
(2. Tim. 3, 13; 2. Thess. 2, 3—8). Wenn aber Gott sagt: „Alle
Familien der Erde", so sind es auch alle diese Familien, und
nicht eine kleine Anzahl aus ihnen. Dieses Wort hat also
seine völlige Erfüllung nicht in der Versammlung; es wird
sie aber dann haben, wenn die Versammlung hinweggerückt, wenn der Boshaftige vernichtet und „die Erde mit der
Erkenntnis des Herrn bedeckt sein wird, wie Wasser den
Meeresgrund bedecket" (Jes. 11, 4—9).
15
Und wenn der Herr sagt, „daß Abraham seinen Tag sah
und sich freute" (Joh. 13, 56), so will Er nicht von Seiner
ersten Ankunft in der Niedrigkeit sprechen. Wie hätte sich
der Vater der Gläubigen freuen können, seinen Herrn durch
seine ungläubigen Nachkommen verworfen und gekreuzigt
und diese, infolge ihres Unglaubens, von Gott verworfen und
auf der ganzen Erde zerstreut zu sehen, und ihr Land verflucht und öde? Dies aber ist die Bestimmung Israels während der Dauer der Versammlung hier unten. Der Tag
Christi hingegen, welchen Abraham und alle Väter und alle
Propheten von ferne gesehen haben, und ihn mit Frohlokken begrüßten, nennt das Wort Gottes immer mit diesem
Namen (2. Kor. 1,14; 2. Thess. 2,1) — die Zeit Seines herrlichen Reiches. An diesem Tage werden nicht nur alle Nationen der Erde im Samen Abrahams gesegnet sein (Sach. 8,13.
20—23; Ps. 72,17), sondern er wird auch noch vermehrt werden wie die Sterne des Himmels und wie der Sand am Meere
(Jes. 27, 6; Jer. 31, 27; 33,22; Hes. 36, 9—11. 37.38).
Wenn Jakob auf seinem Sterbebett weissagt, „daß dem
Schiloh die Völker anhangen werden" (1. Mos. 49, 10), so
spricht er nicht von der Versammlung, sondern von den
Völkern, welche sich in den letzten Tagen wider Jerusalem
sammeln werden, um es zu zerstören, und in der Wirklichkeit aber vom Herrn gerichtet, und dann gesegnet werden;
— eine Tatsache, von welcher die Propheten oft reden (Jes.
46, 18; Joel 3, 2. 11; Zeph. 3, 8. 9; Sach. 14, 2; Micha 4, 11—13;
Matth. 25, 31 usw.; Offenb. 19, 17—21).
Auf diese Sammlung und dieses Gericht der Völker bezieht sich auch Matth. 25, 31 usw., wo man mit Unrecht die
Versammlung zu sehen glaubte, als wenn die schon gerecht
gemachte, auferstandene und in den Himmel versetzte Versammlung mit den Bösen vor Gericht zu erscheinen hätte,
um entweder ihre Verdammung oder ihre Lossprechung zu
vernehmen, während doch gesagt wird, daß sie nicht in das
Gericht kommt (Joh. 5,14). Auch ist dies nicht das letzte Gericht, welches in Offenb. 20, 11. 12 beschrieben ist (Vergl.
Matth. 25, 31. 32 mit Joel 3, 17 und Jer. 3, 17).
Wenn dann die Völker wider Jerusalem versammelt sein
werden, wird Juda wie ein Löwe rechts und links zerreißen
(Micha 5, 8; Sach. 12, 1—8). Dann oder doch bald nachher
werden die Vorbilder irdischen Glückes, wie sie in 1. Mos.
49, 11. 12, Joel 3, 23, Arnos 9, 13, enthalten sind, verwirklicht
werden. Diesen herrlichen Tag der Ankunft ihres Herrn, um
Sein Volk, die Kinder Jakobs, die Nachkommen Israels, zu
erkaufen, erwarten die Erzväter.
16
Man könnte ähnliche Bemerkungen über die Weissagung
Rileams machen (4. Mos. 23,11—14; 24, 5—9.17—19); über das
Lied Moses (5. Mos. 32,11—43); der Hanna (1. Sam. 2,1—11);
Davids (2. Sam. 22. 23); endlich über die meisten Gesänge des
Alten Testamentes, welchen man noch die der Maria und des
Zacharias beifügen kann (Luk. 1, 46—55. 68—71). Diese Lobgesänge, welche in den besonderen Umständen derjenigen,
die sie aussprachen, und sich teilweise auf diese Umstände
beziehen, ihren Grund hatten, reichen gewöhnlich bis zur
zweiten Ankunft des Herrn und zur Herstellung Seines herrlichen Reiches, ohne sich bei Jesu, als Haupt der Versammlung, aufzuhalten.
Der 2. Psalm gibt uns ein auffallendes Beispiel hiervon,
daß nämlich in den Offenbarungen des Alten Testamentes
nicht von der Versammlung die Rede ist. „Warum toben die
Völker, und reden die Nationen Eitles? Die Fürsten ratschlagen miteinander wider den Herrn und seinen Gesalbten." —
„Wahrlich, ja in dieser Stadt sind wider deinen heiligen
Knecht Jesum, den du gesalbet hast, versammelt, — Herodes
und Pontius Pilatus, mit den Nationen und den Völkern Israels, um alles zu tun, was deine Hand und dein Ratschluß
zuvor verkündigt hat, daß es geschehen solle" (Apg. 4, 25—
28). Dennoch haben diese Worte des Psalmes wenigstens
schon ihre erste Erfüllung in der Verwerfung des Herrn gehabt. Man hätte nun erwarten können, daß dieser Psalm im
Folgenden von der Versammlung und ihrer Bestimmung
spräche. Das wäre dann ein Verfolgen der Tatsache gewesett;
aber tut er es?—'Nein, gewiß nicht! Denn während der Zeit
der Versammlung ist Jesus nicht König in Zion, indem es im
Gegenteil die Zeit ist, wo Zion ohne König ist, eine Witwe
und verlassen. In der Versammlung spricht Gott zu den Völkern nicht in Seinem Zorn, und Sein Sohn zerschlägt sie
nicht mit eisernem Szepter, und zerschmeißt sie nicht wie
Töpfe. Da Israel seinen König verworfen hat, und deshalb
selbst verworfen ist, so hält Gott im Gegenteil Seinen Zorn
zurück, welcher, wenn er nach der Weissagung seinen Lauf
hätte, alsbald das Gericht der Erde herbeiführte. Er läßt eine
Zeit der Geduld und der Gnade eintreten, während welcher
Er jeden Menschen ohne Unterschied einladet, sich zu bekehren, und zu glauben, damit er errettet werde. Der Sohn
Seinerseits stößt niemand von Sich, der zu Ihm kommt. Es
ist die Zeit der Bildung der Versammlung in diesem Psalm
gänzlich mit Stillschweigen übergangen, und diese Weissagung wird erst dann wieder ihren Lauf und ihre völlige Erfüllung bekommen, wenn die christianisierten Völker selbst,
indem sie die Gnade Gottes mit Füßen treten, sich aufs neue
16 17
gegen den Herrn unter der Anführung des Antichristen verbinden werden. Dann wird Gott im Zorne mit ihnen reden,
seinen König in Zion einsetzen und Ihm alle Reiche der Welt
zum Erbe geben (Offenb. 11, 15; 19, 11 usw.; 2, 26 und 27).
Der Psalm 60 gibt zu ähnlichen Bemerkungen Veranlassung. Es sind achtzehnhundert Jahre seit das erste Wort dieses Psalms durch die Himmelfahrt Jesu und durch Sein
Sitzen zur Rechten des Vaters erfüllt ist; während der übrige Teil seine Erfüllung noch erwartet. Ohne Zweifel ist
Jesus jetzt schon unser großer Hohepriester, aber Er bringt
jetzt das Opferblut hinter dem Vorhang dar, innerhalb des
Allerheiligsten, wo Er unsichtbar ist, und aus welchem Er
noch nicht herausgekommen ist, um Sein Volk zu segnen;
Er ist, mit einem Wort, als der wahre Melchisedek, Priester
und König, welcher Gerechtigkeit und Friede auf der Erde
regieren macht, nicht geoffenbart worden. Um dies auszurichten, muß Er zuerst alles voll Erschlagene machen, und
das Haupt, welches über ein großes Volk herrscht, vernichten, wie es in 5. Mos. 32, 42 steht: „Ich will meine Pfeile
trunken machen ... . mit dem Blut der Erschlagenen; vom
Haupt an soll am Feind gerächt werden." Er muß endlich
die zunichte machen, welche die Erde verderben, was Er in
der gegenwärtigen Zeit nicht tut, indem Er den größten
Sünder einladet, zu Ihm zu kommen, um das Leben zu haben.
So geht also der Prophet unmittelbar von der Himmelfahrt
Jesu, auf Seine herrliche Wiederkunft, um Sein Reich auf
der Erde aufzurichten, über, und sagt nichts von der Versammlung, welche den Zwischenraum zwischen diesen beiden Ereignissen ausfüllt.
Auch der 8. Psalm hat eine anfängliche Erfüllung gehabt,
als die, Menge, welche dem Herrn Jesu nachfolgte, sowie
die Kinder schrieen: „Hosianna, dem Sohne Davids!" (Matth.
21, 8—16). Damals war das Reich gleichsam auf dem Wege,
sich zu gestalten, als aber die Obersten diese Huldigungen
hinderten, und sogar das Volk dahin trieben, den Tod Dessen zu verlangen, der als ein sanftmütiger König zu ihm
kam, da wurde das Reich auf eine noch zukünftige Zeit hinausgeschoben. „Wir sehen noch nicht alle Dinge ihm unterworfen", sagt der Apostel den Hebräern (Kap. 2, 8). Dies
wird erst erfüllt sein, wenn Jesus vom Himmel offenbart,
und wenn die Erde durch Seine herrliche Gegenwart erneuert sein wird; dies ist der „zukünftige Erdkreis" (Hebr. 2, 5),
hier durch den Psalmisten beschrieben, in welchem die ganze
Schöpfung von dem Dienst der Eitelkeit befreit, den Herrn
loben wird (Röm. 8, 20; — Ps. 148). Aber von der Versammlung, welche zwischen der Himmelfahrt Jesu und der Er18
richtung des zukünftigen Erdkreises entstanden ist, sagt der
Psalmist nichts.
Jesaja 11. Die beiden ersten Verse bezeichnen offenbar
den Herrn in Seiner ersten Zukunft. Von da an bis zum
fünften Vers ist er als der gerechte und getreue Richter dargestellt, was den Charakter Seiner 2. Ankunft ausmacht
(Offenb. 19 11). „Wenn er aber wiederkommt, so wird er
die Sanftmütigen im Lande mit Billigkeit richten, und die
Erde mit dem Stabe seines Mundes schlagen, und den Gottlosen mit dem Hauch seines Mundes verzehren" (2. Thess. 2,
8). Dann, weil Er Seine Auserwählten, welche Tag und Nacht
zu Ihm schreien, gerächt haben wird, wird man sagen können: „Ich habe einen Gottlosen, einen Gewalttreibenden gesehen, der sich ausbreitete wie ein grünender Lorbeerbaum;
aber er ist vergangen und siehe er war dahin. Ich suchte ihn
und er war nirgends zu finden" (Ps. 37, 35. 36). Die Sanftmütigen werden hingegen das Erdreich besitzen und sich am
großen Frieden ergötzen (Ps. 37,11). Dann wird endlich die
Erde mit der Erkenntnis des Herrn bedeckt sein, wie der
Meeresgrund von den Gewässern bedeckt ist, und die ganze
Schöpfung wird erneuert sein. Es macht also auch hier die
erste Ankunft des Herrn mit Seiner zweiten nur Eine aus,
weil die zwischen diesen beiden Ankünften inneliegende Versammlung, welche den Zwischenraum ausfüllt, nicht erwähnt wird.
Untersuchen wir nun Dan. 9, 24—27, ohne uns an dem
Anfang dieser Prophezeiung, über welchen man gewöhnlich
einig ist, aufzuhalten. Nach 69 Jahrwochen „wird der Messias ausgerottet werden, aber nicht um seinetwillen", oder
wie man auch übersetzen kann, „und er wird nichts haben"
(Jes. 49, 4. 5). Dies ist erfüllt, wie man weiß. Nach diesem
,.wird ein Volk des Fürsten kommen", das Volk des vierten
Königreiches, aus welchem der kommende Fürst, nämlich
der Antichrist, entstehen, „und die Stadt samt dem Heiligtum verwüsten wird." Auch dies ist in der Zerstörung Jerusalems durch Titus erfüllt worden. Ist es nun möglich, die
siebzigste Woche gleich nach der neunundsechzigsten folgen
zu lassen? Schon die Zerstörung Jerusalems, welche nach der
neunundsechzigsten Woche angeführt ist, obschon sie ungefähr vierzig Jahre nach dem Tode des Heilandes erfolgte, hat
einen Zwischenraum zwischen diese beiden Wochen gebracht. Wenn man übrigens vielleicht sagen könnte, daß
während Z% Jahren, welche auf den Tod Christi folgten, durch
den Bund der Gnade die Vielen gestärkt wurden, welches ist
dann das Schlacht- und Speisopfer, das abgetan wurde? Sind
es die jüdischen Opfer? In der Absicht Gottes haben diese
19
beim Tode Christi, der sie unnötig machte, aufgehört, was
der im Tempel mitten entzwei gerissene Vorhang andeutete;
in Wirklichkeit aber haben sie bei der Zerstörung des Tempels, welche sie unmöglich machten, aufgehört; aber weder
im einen noch im anderen Falle war es eine halbe Woche,
oder 3'/2 Jahre nach dem Tode des Herrn. Unter „greulichen
Flügeln der Verwüstung" versteht man gewöhnlich einen in
den Tempel gesetzten Götzen. Das kann man aber nicht auf
das Heer des Titus anwenden; denn der Tempel wurde gegen
seinen Willen, und ehe man ihn durch einen Götzen hätte
verunreinigen können, verbrannt; und endlich fand dies
nicht in der siebzigsten Woche statt. Demgemäß bleibt das,
was von der siebzigsten Woche gesagt ist, unerklärbar, wenn
man sie gleich auf die neunundsechzigste folgen läßt. Wenn
man aber zwischen beiden Wochen, die ganze Zeit der Versammlung annimmt, und wir haben gesehen, daß man es in
mehreren anderen Stellen tun muß, dann verschwinden viele
Schwierigkeiten. Nach der neunundsechzigsten Woche ist der
Messias ausgerottet worden, und der Augenblick, der die
Segnungen über Israel hätte bringen sollen, wird der seiner
Verwerfung. Da nun Israel von da an nicht mehr als das
Volk Gottes auf der Erde anerkannt ist, so hört die Zeit auf,
für dasselbe zu zählen. — „Das Ende wie durch eine Wasserflut, und die bestimmte Verwüstung bis zum Ende des Streites" ist die Zerstörung Jerusalems, die Verwüstung, welche
darauf gefolgt ist, und welche nur mit Krieg endigen wird,
der Streit, den der Herr mit Seinem Volk hat. Es ist die
„lange Zeit", während welcher Israel „ohne König und ohne
Teraphim sein wird" (Hos. 3, 4). Es ist eben gerade die Zeit
der Versammlung. Sobald aber die Versammlung in den
Himmel eingegangen ist, so tritt Gott wieder mit Seinem
irdischen Volke in Verbindung, um es zuerst zu richten, und
dann zu segnen. Die Zeit fängt wieder an für dasselbe zu
zählen. Es ist die siebzigste Woche' oder die Zeit des Antichrist's; denn weil sie Jesum, der im Namen Seines Vaters
kam, nicht annahmen, so wird ein anderer in seinem eigenen Namen kommen, den sie aufnehmen werden. Während
der ersten Hälfte dieser Woche oder 3V2 Jahre, wird dieser
mit vielen in Israel, welche er durch Schmeichelworte gewinnt, einen starken Bund machen; aber in der zweiten
Hälfte, wenn er die Maske abwirft, und sich als Gott anbeten lassen will, wird er das beständige Opfer abtun, dessen Wiederherstellung er erlaubt hatte; und in demselben
Tempel, wo Gott sollte gedient werden, setzt er das Bild des
Tieres, einen Greuel, der eine Quelle des Verderbens ist,
weil alle die, welche sich weigern, es anzubeten, getötet wer20
den, bis das „Verderben auf den Verderber trifft", d. h. auf
den Antichristen, welcher unter den Schlägen des Herrn
selbst fällt. Dann erfüllen sich „an dem Volk und an der
heiligen Stadt" alle Segnungen, welche im 24. Vers angekündigt sind. Die beiden Hälften dieser letzten Woche sind dann
diese Zeitabschnitte, welche in der Weissagung eine so große
Rolle spielen, die eine Zeit, die zwei Zeiten, und die halbe
Zeit, die 1260 Tage, und die 42 Monate (Dan. 7, 25; 12, 7;
Offenb. 11, 3; 12, 6. 14; 13, 5). *)
Was Joel 2, 28—32, in Apg. 2, 16—21 angeführt, betrifft,
so genügt es, diese Worte zu lesen, um zu sehen, daß sie zu
Pfingsten nicht ihre völlige Erfüllung hatten. Wenn dazumal
eine Ausgießung des Geistes stattfand, und demgemäß eine
teilweise Erfüllung der Weissagung, so daß Petrus sagen
konnte: „Dies ist durch den Propheten Joel gesagt worden";
so wurden doch keine Wunderzeichen am Himmel und auf
Erden getan, als Blut, Feuer, Rauch und Dampf, die Sonne
in Finsternis verwandelt, noch der Mond in Blut verkehrt,
und vor allem ist der große und schreckliche Tag nicht gekommen. Was muß man daraus schließen? Daß diese sich
auf die Herstellung des Reiches Christi beziehende Weissagung, zur Zeit Petri nur eine anfängliche Erfüllung hatte,
weil das dazumal dem Israel dargebotene Reich, das aber
*) Diese Unterbrechung in den Wegen Gottes in Bezug auf
Sein irdisches Volk, entspricht dem Geheimnis der Versammlung, und ist gleichsam ein Schlüssel zum Verständnis der Weissagung. Sie erklärt auch sehr gut das Schweigen der Weissagung in Bezug auf die Völker der Christenheit seit der Verwerfung Israels. Da Israel der Mittelpunkt der Absichten Gottes auf der Erde ist, so läßt Gott von den Nationen nur vom
Gesichtspunkt ihrer näheren oder weiteren Beziehungen mit Israel weissagen. Da nun dieses Volk seit achtzehnhundert Jahren nicht mehr als Volk besteht, so schweigt die Weissagung
seit dieser Zeit über die Bestimmungen der Nationen. Sie
nimmt sie erst wieder auf, wenn sich diese Nationen wieder um
Jerusalem sammeln, d. h. im Augenblick, wo Sich Gott wieder
zu Jerusalem wendet, um es durch das Gericht zu reinigen, und
«m es dann in seine herrlichen Vorrechte wieder einzusetzen.
Wenn man das verstanden hätte, so hätte man nicht im Propheten Daniel und in der Prophezeiung im allgemeinen den
Papst, Mohammed, die Gothen, Sarazenen, Attila, Karl den
Großen, Napoleon, alle Könige und alle Revolutionen der neueren Geschichte gesucht. Man hätte auch nicht daran gedacht,
das Jahr der Ankunft des Herrn zu bestimmen. Man hätte endlich nicht alle diese Systeme gesehen, welche schon so oft von
den Tatsachen widerlegt, den Ungläubigen Veranlassung zum
Spott geben und die Frommen von der Erforschung der Weissagung ferne halten.
21
bald darauf von ihm zurückgestoßen wurde, der Versammlung Platz gemacht hat; und erst bei der Wiederkunft des
Herrn wird diese Weissagung in Gang kommen, und wie das
Reich selbst, ihre völlige Erfüllung haben. Dann werden
wirklich Zeichen im Himmel und auf der Erde geschehen,
der große und schreckliche Tag wird da sein, und eine Ausgießung des Geistes, welche für Israel der Herbstregen sein
wird, wie die Pfingsten der Frühlingsregen war (Jes. 13, 6-13;
29,6; Hos. 6,3; Sach. 12,10 usw.) Dies wird auch die Erfüllung von Matth. 24 und Offenb. 6—20, sein.
Endlich führt man oft Arnos 9, 11. 12, verglichen mit Apg.
15, 15—17 an, um zu beweisen, daß das wiederhergestellte
Israel und die Versammlung ein Zusammenhängendes bilden. Wenn man im Propheten das darauf Folgende liest, so
sieht man, daß in diesem Fall die Versammlung alle Völker
und insbesondere Edom in Besitz erhalten müßte. Übrigens
fassen wir die Worte Jakobi recht ins Auge: „Gott hat zuerst die Nationen besucht" und bringen wir sie in Verbindung mit: „Darnach", welchem im Propheten die Worte: „Zu
derselben Zeit" entsprechen. Wir sehen, daß Jakobus, indem
er durch den Heiligen Geist sprach, die Worte Hosea nicht
auf die Versammlung anwendet, sondern auf die Wiederherstellung Israels. Er sagt: „Gott hat zuerst die Nationen besucht, um in seinem Namen ein Volk aus ihnen anzunehmen." Hiermit ist die Versammlung klar angekündigt und
charakterisiert, aber Jakobus kündigt sie so an, und nicht
Hosea. Dann: „Darnach", nach der Zeit der Versammlung,
„wird Gott die verfallene Hütte Davids wieder aufbauen
usw.". Dies ist die Wiederherstellung Israels. „Damit sie die
Übrigen in Edom besitzen", oder: „damit die Übrigen der
Menschen den Herrn suchen", sagt der Apostel, welcher sich
nicht bei den kriegerischen Unternehmungen Israels in den
letzten Tagen aufhalten wollte, obschon es eine klar geoffenbarte Tatsache war; sondern vielmehr bei der Bekehrung der Völker durch den Dienst Israels.
Nein, die Versammlung, der Leib Christi, befindet sich
nicht im Alten Testament, oder doch nur in Christo darin, in
welchen sie eingeschlossen und verborgen ist, wie Eva in
Adam verborgen war, ehe Gott sie aus ihm herausgenommen hatte. Sie befindet sich nur in Schatten und Bildern darin. Sie die jetzt aus der durchbrochenen Seite ihres Mannes
herausgenommene Eva, während jener auf dem Thron Seines Vaters ausruht, und welche Ihm bei Seinem Erwachen,
als herrliches Weib, ohne Flecken und Runzeln dargestellt
wird, um mit Ihm über eine von Gott gesegnete Schöpfung
zu regieren. Sie ist Henoch, welcher, hier unten durch den
22
Glauben mit Gott wandelt, dann zu Ihm entrückt wird, ehe
die Flut Seines Zornes über einer von der Sünde erfüllten
Erde, überfließt. Sie ist Rebekka, welche ein vom Vater gesandter himmlischer Elieser, Seinem vielgeliebten Sohne zur
Braut sucht, welche Er durch Seine reichen Geschenke tröstet, und durch die Wüste zur Wohnung ihres Gemahls leitet,
welcher ihr entgegenkommt. Aber das himmlische Geheimnis, welches in diesen rührenden Darstellungen enthalten ist,
ist selbst denen verborgen geblieben, welche die Hauptpersonen dabei waren. Was die Propheten Israels klar, und
ohne ein Geheimnis daraus zu machen, verkündigen, sind
„die auf Christum kommenden Leiden, und die darauf folgenden Herrlichkeiten" (1. Petr. 1, 11). Dies ist das Reich,
welches der Menschensohn bei Seiner herrlichen Wiederkunft herstellen wird (Dan. 2, 44; 7,13.14. 27), in welchem alle
Reiche Ihm unterworfen und dienstbar sein werden; es ist
das „Königreic h Gottes" , weil der Herr dann König
der ganzen Erde sein wird (Sach. 14, 9); das „Königreic h
d e r Himmel" , weil Der, welcher es errichtet, vom Himmel kommt (Dan. 7,13; Matth. 26, 64). "Übrigens wird Er darin
ebensowohl Seine Herrlichkeit im allerhöchsten Himmel in
Seinen himmlischen Heiligen, als auch in denjenigen, welche
auf der Erde sein werden, offenbaren; — das „König -
reic h Israels " (Apg. 1,16), weil Israel den ersten Rang
auf der Erde einnimmt, indem seine Söhne Fürsten auf der
ganzen Erde sein werden (Mich. 4, 8. 9), besonders weil derjenige, der dann regieren wird, Der ist, dessen Wohlgefallen
es war, sich der Welt als Sohn Davids zu offenbaren, und
der sich dann wieder König Israels nennen wird (Jes. 23. 20—
22; Zeph. 3, 14. 15).
3.
Die erste Erscheinung der Versammlung-
im Neuen
Testament, und ihre Bildung durch den Heiligen Geist
Wenn wir nun zum Neuen Testament übergehen, so
sehen wir die Versammlung zum ersten Mal in den Belehrungen des Herrn, bei der Gelegenheit als Israel Ihn verwarf, erscheinen. Dann sehen wir sie — nachdem sie durch
den Heiligen Geist auf den Grund des gestorbenen und auferstandenen Jesus gebildet war — an die Stelle Israels und
Seines Reiches gesetzt, welches von da an bis auf spätere
Zeiten verschoben wird.
23
So verkündigt auch der Engel der Maria den Köni g
diese s Reiche s und nicht das Haup t de r Ver -
sammlung , wenn er ihr sagt: „Du wirst einen Sohn gebären, und sollst seinen Namen ,Jesus' heißen. Dieser wird
groß sein, und Sohn des Höchsten genannt werden, und der
Herr Gott wird ihm den Thron seines Vaters David geben;
und er wird über das Haus Jakobs in die Zeitalter herrschen;
und seines Reiches wird kein Ende sein" (Luk. 1, 31—33).
Jesus saß nie in der Versammlung auf dem Throne Davids; auch herrschte Er nicht über das Haus Jakobs, welches;
im Gegenteil verworfen und ohne König ist. Aber dies war/
Israel verheißen (2. Sam. 7, 12—16; Jes. 9, 6; Jer. 23, 5. 6; 33J'
15—17 usw.). I
Dieses Reich verkündigte Johannes der Täufer: „Tuj
Buße! denn das Reich der Himmel ist nahe gekommen'
(Matth. 3, 2.) Und die ganze Folge seiner Predigten steht in
Beziehung mit diesem Anfang. Er gibt sich für die Stimm*
aus, von welcher Jesaias, Kap. 40, 3 usw. gesprochen hatte,
welcher in der Wüste ruft: „Bereitet dem Herrn den Weg'];
und, wie der Prophet selbst sagt, würde dann „die Herrlichkeit des Herrn offenbart werden, und alles Fleisch würde
miteinander sehen, daß des Herrn Mund redet." Ist nun dies
die Zeit der Versammlung? Bejaht man diese Frage, so
bringt man den Johannes in offenbaren Widerspruch mit
dem Apostel Paulus, welcher diese Zeit der Versammlung
als die Zeit bezeichnet, wo die ganze Kreatur zusammen
seufzt und in Geburtswehen liegt; auch wir selbst, die wir
die Erstlinge des Geistes haben, seufzen in uns selbst; uiid
dieses Seufzen hat nur die Erlösung unseres Leibes zum Ausgangspunkt, nämlich unsere herrliche Auferstehung bei der
Ankunft des Herrn (Röm. 8,19—22). Ja, die Zeit, wo alle Täler erhöhet und alle Berge erniedrigt werden, wo das Ungleiche eben gemacht, und wo die Herrlichkeit des Herrn
sich offenbaren wird, ist das Gegenteil von dem, was wir
jetzt sehen, das Gegenteil von der Seufzenszei t 4 e r
Schöpfung; es ist die Zeit der Erquickung und der Herstellung aller Dinge „von dem Angesicht des Herrn" (Apg. 3,
20. 21). Dann wird Er alle hohen Berge und alle erhabenen
Hügel erniedrigen, damit Er allein hoch und erhaben sei
(Jes. 2, 14—17). Dann wird auch die Erde voll werden von
der Erkenntnis der Ehre des Herrn, wie das Wasser flas
Meer bedecket (Hab. 2, 14; Jes. 11, 9). Dies ist es, was Johannes der Täufer ankündigte. So auch, wenn er sagt: „Er
hat seine Worfschaufel in seiner Hand, und er wird seine
Tenne ganz und gar reinigen, und den Weizen auf seinen
Speicher sammeln, die Spreu aber mit unauslöschlichem
24
Feuer verbrennen" (Luk. 3,17). Diese Worte versetzen uns
in die Zeit der Ernte; denn im Morgenland folgt das Sichten
des Kornes und das Reinigen der Tenne alsbald auf die
Ernte und macht einen Teil derselben aus; es kann jedenfalls nie vor ihr geschehen. Die „Ernte aber ist das Ende des
Zeitlaufes" (Matth. 13, 37—43). Johannes kündigt also das
Gericht des Herrn an, das am Ende dieses Zeitlaufes stattfinden wird, wenn Er diejenigen, welche die Erde verdorben,
zerstören und Sein Reich aufrichten wird. Johannes kündigt
aber nicht die Versammlung an. Zu jener Zeit wird diese
ihren Lauf hier unten vollendet haben, und wird bei ihrem
Herrn sein.
Wenn Johannes den Herrn Jesum als „das Lamm Gottes,
welches die Sünde der Welt wegnimmt", ankündigt, so
schließt dies allerdings die Versammlung in sich, weil sie in
der Welt mit inbegriffen ist, aber auch dies wird seine völlige Erfüllung erst im zukünftigen Zeitlauf haben, wenn die
ganze Welt an den Früchten des Opfers Jesu Teil haben
wird. Er ist jetzt das Versöhnungsopfer für unsere Sünden,
— für uns, die wir Glieder der Versammlung sind, — und
dann wird Er es für die ganze Welt sein (1. Joh. 2, 2). Ohne
Zweifel war es dem Johannes gegeben, dies in der Zukunft
zu sehen. Er schaute, als Seher des irdischen Volkes, wie
alle alten Propheten, die großen und herrlichen Dinge,
welche der Herr auf der Erde herstellen wird, wenn Er Sein
Reich aufrichtet; aber die Versammlung, in dem was sie besonders hat: ihren Beruf, ihren Wandel hienieden, ihre Entrückung, war für ihn noch das verborgene Geheimnis. Nur
Jesus, der vom Himmel kam, konnte diese Dinge offenbaren.
Dies bedeuten auch ohne Zweifel diese Worte des Johannes:
„Der von der Erde ist, ist von der Erde und redet von der
Erde; der vom Himmel kommt, ist über Alle. Und was er
gesehen und gehört hat, dieses bezeugt er." Auch kann man
bemerken, daß Johannes sich nicht allein nicht für den Bräutigam, oder den Christus ausgibt, sondern sich ebensowenig,
als die Braut, die Versammlung, oder als einen Teil derselben, darstellt; er nennt sich vielmehr „Freund des Bräutigams" (Joh. 1, 28—31).
Johannes lud also Israel zur Buße ein, um dem herrlichen
Reich des Herrn, welches er ankündigte, den Weg zu bereiten; aber die Obersten, indem sie sich der Taufe des Johannes weigerten, „machten den Ratschluß Gottes gegen sich
selbst wirkungslos" (Luk. 7, 30). Und die Versuchung des Johannes bestand ohne Zweifel darin, daß das Reich, welches
er angekündigt hatte, durch die Verwerfung Jesu unterbrochen werden sollte; wie es auch Elias nicht ertragen konnte,
25
daß sein Zeugnis in Betreff der Bekehrung Ahabs und Israels wirkungslos blieb (1. Kön. 19, 3—15; Luk. 7, 19—28).
Jesus Selbst fängt an zu predigen: „Die Zeit ist erfüllet,
und das Reich Gottes ist nahe gekommen" (Mark. 1, 15;
Matth. 4,17). Die siebzigste Woche des Daniel war in der Tat
da. Die Zeit des Reiches und aller seiner Segnungen war gekommen. Damit Israel in den Genuß desselben komme, hatte
es nur nötig, den Aufforderungen des Herrn zu gehorchen:
„Tut Buße, und glaubet an das Evangelium." („Das Evangelium des Reiches Gottes") (Mark. 1, 14).
Folgen wir jetzt dem Herrn Jesu in die Synagoge zu Nazareth. Er wickelt die Rolle des Propheten Jesaias auf und
liest: „Der Geist des Herrn ist auf mir, deswegen hat er mich
gesandt, die zerknirschten Herzens sind, zu heilen; den Gefangenen die Befreiung zu verkündigen, und den Blinden
das Gesicht; die Zerschlagenen in Freiheit wegzuschicken; das
angenehme Jahr des Herrn zu verkündigen" (Luk. 4, 16—21).
Wenn wir nun selbst das 61. Kapitel des Jesaias lesen, so
werden wir sehen, daß es die Rückkehr der Gunst Gottes
über Israel, sowie die Rückkehr aller der Segnungen, welche
Sein Sabbaths- und Sein Jubeljahr vorbedeuteten, und klar
ankündigt, nämlich die Loslassung der Schulden, die Befreiung der Knechte, die Ruhe und Segnung der Erde (2. Mos.
23, 10. 11; 3. Mos. 25; 5. Mos. 15). Jesus bot also Israel das
wahre Jubeljahr, nämlich das Reich mit allen seinen Segnungen an, indem Er die Worte des Jes. 61, 1 und 2 gebrauchte. Johannes der Täufer und Jesus hatten schon einigermaßen den Versöhnungstag gepredigt, indem sie sagten:
Tut Buße! (3. Mos. 25, 9.10; 23,27—32). Nun bringt Jesus dem
Volke Israel, nach der Versöhnung, das Jubeljahr, d. h. nach
der Demütigung der Buße, das Reich mit allen seinen Segnungen, indem Er zu dem Volk sagt: „Heute ist diese Schrift
vor euren Ohren erfüllet."
Warum hält nun aber der Herr inne, indem Er die Rolle
vor den Worten: „und den Tag der Rache unseres Gottes"
zuwickelt? Weil Er nicht die Rache brachte, sondern die Segnung. Wenn Israel Ihn dazumal aufgenommen hätte, so
hätten die Verheißungen der Propheten ihre Erfüllung gehabt. Wir wissen aber, wie Er bei dieser Gelegenheit Selbst
aufgenommen wurde. Bei den Bewohnern Nazareths folgte
auf eine augenblickliche Bewunderung bald der Zorn, und
sie wollten Ihn von dem Berge, an welchem ihre Stadt erbaut war, hinabstürzen. Da nun Israel, den Tag seiner
Heimsuchung nicht erkennend, seinen König, der sanftmütig
zu ihm kam, der das geknickte Rohr nicht brach und den
brennenden Docht nicht löschte, verwarf, so wird es ihn mit
26
vorhergehenden großen und schrecklichen Zeichen kommen
sehen müssen; — „die Menschen verschmachtend vor Furcht
und Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen ... " Dies sind die Tage der Rache, damit alles, was geschrieben ist, erfüllt werde" (Luk. 21; Jes. 34, 4; 63, 4). Dies
wird „der große und erschreckliche Tag des Herrn sein"
(Joel 2, 31; Mal. 4, 5). Und erst dann, wenn die Israeliten den
Tag der Versöhnung verwirklicht haben werden (Sach. 12,
10—13, 1), wird das wahre Jubeljahr kommen. „Sie werden
wieder bauen, was verwüstet war, und werden die verlassenen Orte wieder herstellen." Dann werden sie genannt werden: „Die Priester des Herrn, die Diener unseres Gottes."
Unterdessen genießt die Versammlung, welche an die Stelle
des durch Israel verworfenen Reiches gesetzt ist, diese Segnungen in einem geistlichen Sinne.
Was Jesus zu Nazareth gepredigt hatte, predigte Er von
Ort zu Ort; denn „er ging umher durch alle Städte und Dörfer, lehrend in ihren Synagogen, und verkündigend das
Evangelium des Reiches, und heilend jede Krankheit und
jedes Gebrechen" (Matth. 9, 35). Als Er Seine Zwölfe erwählt,
gibt Er ihnen Macht über die bösen Geister, um sie hinauszutreiben, und um alle Arten Krankheiten und Gebrechen
zu heilen, sogar Tote zu erwecken. Dann befiehlt Er ihnen,
weder zu den Heiden, noch in eine samaritische Stadt zu
gehen, sondern zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel, um ihnen zu sagen: „Das Himmelreich ist nahe gekommen" (Matth. 10). Derselbe Auftrag ist den Siebzig gegeben;
und wenn man sie in einer Stadt nicht aufnehmen wollte, so
sollten sie auf die Straßen hinausgehen und sagen: „Auch
den Staub, der uns aus eurer Stadt anhängt, schütteln wir
gegen euch ab; doch dieses wisset, daß das Reich Gottes
nähe zu euch gekommen ist" (Luk. 10).
So wie aber Israel den Vorläufer seines Königs verworfen hatte, so verwarf es auch Seinen König selbst und dessen
Gesandten. „Mein Volk aber gehorcht meiner Stimme nicht,
und Israel will mein nicht" (Ps. 81, 11—16); und Jesus muß
ausrufen: „Wem soll ich dies Geschlecht vergleichen? Es ist
den Kindern gleich, welche auf den Märkten sitzen und ihren
Gespielen zurufen und sagen: Wir haben euch gepfiffen und
ihr habt nicht getanzt; wir haben euch Klagelieder gesungen,
und ihr habt nicht gewehklagt; denn es ist Johannes gekommen, weder essend noch trinkend, und sie sagen: Siehe! ein
Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Sünder und Zöllner"
(Matth. 11,16—19). Man muß wohl bemerken, daß Jesus erst
nach diesem Ausspruch anfängt, Seine Versammlung anzukündigen. „Wer sagen die Menschen, daß ich, der Sohn des
27
Menschen, sei? Sie aber sagten: Die einen: Johannes der
Täufer; —andere: Elias; — andere aber: Jeremias, oder einer
der Propheten. Spricht er zu ihnen: Ihr aber, wer sagt ihr,
daß ich sei? Simon Petrus aber antwortete und sprach: Du
bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes! Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Glückselig bist du, Simon, Bar Jona! denn Fleisch und Blut haben es dir nicht
offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist. Aber
auch ich sage dir, daß du bist Petrus, und auf diesen Felsen
will ich meine Versammlung bauen, und die Pforten -des
Hades werden sie nicht überwältigen" (Matth. 16, 13—18).
Da Petrus von Gott die Gnade erhalten hatte, Jesum
nicht nur als den Sohn Davids oder als den Messias Israels
zu erkennen, sondern als Soh n de s lebendige n Got -
tes ; und da er Ihn als solchen bekannt hatte, antwortet
Jesus auf dieses Bekenntnis mit einer neuen Offenbarung,
ungefähr, als wollte Er sagen: Es ist so wahr, daß ich der
Sohn des lebendigen Gottes bin, daß nicht nur Mich die
Pforten des Hades (ein unsichtbarer Ort, welcher die Seelen
nach dem Tode innehält [Jes. 38,10.11]) nicht zurückbehalten werden, — nicht nur werde Ich, nachdem ich in denselben hinunter gestiegen sein werde, aus demselben als Sieger
hervorgehen; sondern ich werde auch meine Versammlung
daraus hervorgehen lassen; „denn wie der Vater das Leben
in sich selbst hat, also hat er auch dem Sohne gegeben, das
Leben in sich selbst zu haben; und wie der Vater die Toten
auferweckt und lebendig macht, also macht auch der Sohn
lebendig, welche er will" (Joh. 5, 21. 26). Weil Ich lebe, soll
auch Meine Versammlung leben (Joh. 16, 19).
So haben wir also hier, die erste Offenbarung der Versammlung, und ihrer Teilnahme am Leben ihres gestorbenen und auferstandenen Jesus. Es ist ungefähr derselbe Gedanke, welchen Jesus später Seinem lieben Jünger zum
Trost und zur Ermutigung zuruft (Offenb. 1,17.18). Beobachtet wohl, daß der Herr nicht sagt „Ich hab e gebaut", sondern: „Ich werd e bauen" meine Versammlung. Würde Er
wohl also gesprochen haben, wenn diese Versammlung von
Anfang der Welt bestanden hätte? Nein, denn zu jener
Stunde war sogar noch nicht einmal der Grund dazu gelegt;
denn dieser Grund ist der verworfene, gekreuzigte und auferstandene Jesus. Auch war es „von de r Zeit an, daß Jesus
begann, seinen Jüngern zu zeigen, daß er nach Jerusalem
gehen müsse, und vieles leiden von den Ältesten und Hohenpriestern, und getötet, und am dritten Tage auferweckt
werden" (Matth. 16, 21); und so verband Er den Gedanken
28
Seiner Verwerfung, Seines Todes und Seiner Auferstehung,
mit dem der Versammlung.
Als der Herr ein wenig später erklärt, daß da, „wo zwei
oder drei in seinem Namen versammelt seien, er mitten
unter ihnen sei", bezeichnet Er eine Verfassungs-Grundlage
dieser Versammlung, die uns die Natur derselben begreiflich
macht; und wir haben das Glück, auf diese Grundlage, selbst
inmitten des Verfalls unserer Zeit, uns zu stützen.
Es ist wahr, daß Israel später noch einen Augenblick bereit schien, seinen König aufzunehmen. Als eine Menge
Volks erfuhr, daß Jesus zum Feste kam, gingen sie vor Ihm
her und riefen: „Hosianna dem Sohne Davids! Gesegnet sei,
der da kommt, im Namen des Herrn!" Die Kinder im Tempel wiederholten: „Hosianna, dem Sohne Davids!" (Matth. 21,
8—16). Auch Griechen, welche gekommen waren, um in Je -
rusalem anzubeten, wünschten Ihn zu sehen; und eine
Stimme vom Himmel gab Ihm Zeugnis (Joh. 12, 20—29). Es
schien, als ob sich alles zu Seinem Triumphe bereitete. Aber
den Obersten des Volkes gelang es wieder, diese guten Neigungen zu ersticken, und somit die Erlösung Israels und der
ganzen Welt zu verhindern. Sie machten sogar dem Herrn
Jesu Seine Macht streitig. Darnach kündigte ihnen Jesus
auch offen ihre Verwerfung an. Jn dem Gleichnis von den
Weingärtnern nötigte Er sie, ihre Verdammnis selbst auszusprechen, indem Er sagte: „Er wird jene Bösewichter übel
verderben, und den Weinberg wird er an andere Ackerbauer
austun, die ihm die Früchte zu ihren Zeiten abgeben werden." Dann fügt Jesus hinzu: „Habt ihr nie in den Schriften
gelesen: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der
ist zum Eckstein geworden; dieses ist vom Herrn geschehen,
und es ist wunderbar in unseren Augen? Deswegen sage ich
euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einer
Nation gegeben werden, welche dessen Früchte bringen wird.
Und wer auf diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden;
den aber, auf welchen er fällt, wird er zermalmen" (Matth. 21,
41—46). — So war also dieser Stein zuerst auf der Erde. Man
stieß sich an ihm, und wird zerschmettert werden. Dies bedeutet offenbar den Herrn Selbst in der Erniedrigung bei
Seiner ersten Ankunft, — welcher Israel ein Ärgernis war,
und der es der Welt noch immer ist (Apg. 4, 10—12). Dann
fällt der Stein — weil er vorher erhöht worden ist — und
derjenige, auf welchen er fällt, wird zermalmt. Dies bedeutet den in der Herrlichkeit wiederkommenden Herrn, um
Sein Reich durch die Vernichtung Seiner Feinde aufzurichten. Es ist der ohne Hände losgemachte Stein, welcher das
große Bild, in seinen teils irdenen, teils eisernen Füßen, zer29
malmt (Dan. 2, 35. 44. 45). Was während der Zeit Seiner Verwerfung auf diesen Stein gebaut wird, ist die Versammlung,
das „Haus Gottes im Geist" ,welches auf „dem lebendigen
Stein, der von Menschen zwar verworfen, von Gott aber auserwählt ist", ruht (Matth. 16, 18 verglichen mit Vers 21 u.
l.Petr. 2, 4—10). Was auf den vom Himmel gekommenen und
seine Feinde zermalmenden Stein gebaut wird, ist das Reich
(Jes. 28,16), in welchem man den 118. Psalm, besonders Vers
21—26 singen wird. Ungefähr dieselben Gedanken sind in
dem Gleichnis vom Edelmann dargestellt (Luk. 19, 12 usw.)
Nachdem Er den blinden Führern Seines blinden Volkes
„Wehe!" zugerufen hatte, nimmt Jesus Seinen rührenden
Abschied von Jerusalem: „Jerusalem, Jerusalem! die du die
Propheten tötest, und die, welche zu dir gesandt sind, steinigst; wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie
eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel versammelt, und
ihr habt nicht gewollt. Siehe! es wird euch euer Haus wüste
gelassen werden. Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von
jetzt an nicht sehen, bis ihr sagt: „Gesegnet, der da kommt
im Namen des Herrn!" (Matth. 27, 33—39).
Man sieht es aber, daß es nicht ein Abschied für immer
ist: ihr werdet mich nich t sehen, bi s ihr sagt usw. Dies
hatte der Herr schon durch Seinen Propheten gesagt: „Ich
werde wieder an meinen Ort gehen, bis sie erkennen, daß
sie gesündigt haben, und mein Angesicht suchen" (Hos. 5,15).
Die Zeit wird also kommen, wo Israel zu seinem König und
Gott umkehrt, und indem es Ihn kommen sieht, wird es Ihn
aufs neue mit dem Zuruf begrüßen: „Gesegnet, der da
kommt im Namen des Herrn!" (Hos. 3, 5; Ps. 118, 26). Das
Reich ist bis auf jenen Augenblick verschoben, und bis zu
jenem Augenblick ist es durch die Versammlung ersetzt.
Endlich ist bekannt, was Israel mit seinem König machte;
es übergab Ihn den Heiden, daß sie Ihn töteten, indem es
rief: „Kreuzige, kreuzige ihn!" Als Pilatus zu ihnen sagte:
„Soll ich euren König kreuzigen?" da antworteten die Ältesten: „Wir haben keinen anderen König als den Kaiser."
Zur Krone flocht man Ihm Dornen, zum Szepter gab man
Ihm ein Rohr und zum Thron ein Kreuz, auf welchem man
jedoch zum Ärger Seiner Feinde in griechischer, lateinischer
und hebräischer Sprache lesen mußte: „Jesus von Nazareth,
der König der Juden", um gleichsam der Welt bekannt zu
machen, daß, wenn Israel von jetzt an ohne König sei, es
nicht daran liege, daß der König Seinem Volke untreu geworden, sondern daran, daß das Volk seinen König verworfen und gekreuzigt habe.
Israel war, wie seine Väter, an den Grenzen des verhei30
ßenen Landes angekommen (4. Mos. 13 u. 14). Das Himmelreich war ihm nähe gekommen, es war ihm angeboten worden; aber es verhinderte, wie auch seine Väter, durch seinen
Unglauben die Erfüllung der Verheißung, und jetzt, bevor
sie erfüllt ist, muß es viele Tage in der „Wüste der Völker",
„ohne König, ohne Fürst, ohne Opfer und ohne Altar, ohne
Ephod und ohne Theraphim", umherirren (Hes. 20, 35; Hos. 2,
14; 3, 4).
Doch Jesus hatte am Kreuze für Seine Mörder gebeten:
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun",
und als Antwort auf - diese Bitte wurde das Reich ihnen
abermals angeboten. Man kann den Worten Petri keinen
anderen Sinn geben, wenn er sagt: „Und jetzt, Brüder, ich
weiß, daß ihr in Unwissenheit gehandelt habt, gleichwie
eure Obersten. Gott aber hat, was er durch den Mund aller
seiner Propheten zuvorverkündigt hat, daß der Christus leiden sollte, also erfüllt. — So tut nun Buße und bekehret
euch, daß eure Sünden ausgetilgt werden, daß Zeiten der
Erquickung von dem Angesichte des Herrn kommen möchten, und daß er euch den zuvorverordneten Jesum Christum
senden möchte; welchen freilich der Himmel empfangen
muß, bis zu den Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge,
wovon Gott von jeher durch den Mund seiner heiligen Propheten geredet hat" (Apg. 3, 17—26). Wenn nun auch einige
glaubten, so verhärtete sich jedoch die Masse auf den Zuruf
der Apostel, wie sie es auch bei dem Zuruf ihres Meisters tat.
Stephanus wandte sich nochmals zu Israel, als zu dem
Volke Gottes, und bat dasselbe auf das dringendste, den
Vorvätern nicht nachzuahmen, welche voll Neid Joseph,
welchen Gott als Erretter seiner Familie und der Welt erweckt hatte, verkauften — noch zu tun, wie die Hebräer in
Ägypten, welche zu Moses sagten: „Wer hat dich zum Fürsten und Richter über uns gesetzt?" denn dieser Moses, den
sie verworfen hatten, war der Mann, den Gott zum Fürsten
und Befreier gesandt hatte. Aber die Juden, noch mehr als
ihre Väter verhärtet, steinigten den Stephanus und schickten
ihn, sozusagen, dem Herrn nach, wie den Knecht im Gleichnis, um damit zu sagen: „Wir wollen nicht, daß dieser über
uns herrsche!" Von da an wurde dieser Leib, welchen der
Heilige Geist aus Kindern Abrahams gebildet hatte, auch
aus Samaritern und bald auch aus den Nationen gesammelt
(Apg. 5 u. 13). Demgemäß nahm er den Charakter der Versammlung dieses neuen Menschen an, in welchem weder
Jude noch Grieche gilt; die Versammlung trat an die Stelle
des Reiches. Zur selben Zeit erweckte Gott aus der Zahl der
Mörder des Stephanus denjenigen, welcher der Diener der
31
Versammlung, der „Verwalter dieses von den Zeitaltern her
verborgenen Geheimnisses" sein sollte (Kol. 1, 24—29). Und
es scheint, daß er in seiner Berufung selbst die Versamm-»
lung als den Leib, der hier unten mit dem gestorbenen und
auferstandenen Jesus wandelt, kennenlernen sollte. „Saul,
Saul, warum verfolgst du mich?" sagte ihm der Herr, und
als Paulus antwortete: „Wer bist du, Herr?" antwortete Er:
„Ich bin Jesus, den du verfolgst" (Apg. 9, 4 u. 5).
Die Versammlung hatte in der Tat vor Paulus begonnen,
jedoch ohne von denen, welche sie bildeten, selbst verstanden zu sein. Als z. B. Petrus den Befehl erhielt, den Heiden
das Wort zu bringen, gehorchte er, sozusagen nur mit Widerwillen und ohne Verständnis; er ergab sich erst dann vollständig darin, als er sah, daß der Heilige Geist den Heiden,
nachdem sie glaubten, gegeben wurde. Diese Tatsache wurde
ihm zum Beweis, daß er nicht das Recht habe, ihnen das
Wasser zu wehren. „Wer war ich, um Gott zu widerstehen?"
Petrus verstand zwar die Tatsache, daß Heiden durch den
Glauben errettet worden waren, aber er begriff damals die
Einheit der mit Christo für Gott in eine m Leib gesammelten Gläubigen nicht. Gewiß war es Paulus vorbehalten,
der Verwalter dieses Geheimnisses zu sein, welches er ohne
Zweifel „sein Evangelium" nennt (Röm. 16, 25; 2. Tim. 2, 8).
So sind wir denn wieder bei unserem Ausgangspunkt angekommen, nämlich bei den Belehrungen Paulus über die
Natur der Versammlung, welche wir nun besser verstehen
können.
4.
Zusammenstellung der Belehrungen Paulus über die
besondere Natur der Versammlung
a) Die wichtigste dieser Belehrungen, diejenige, welche
gewissermaßen alle anderen einschließt, und auf welche
Paulus am meisten zurückkommt, ist die, daß die Versammlung „der Leib des Christus" ist (Eph. 1, 22. 23; 2,16; 3,6; 4,
1—16; 5, 23—32; Kol. 1,18. 24; 1. Kor. 12,12—27).
Konnte nun dieser Leib existieren, ehe Jesus verworfen
war? Nein, denn wir haben gesehen, daß Jesus gekommen
war, um Sich auf den Thron Davids, Seines Vaters, zu setzen, und um über das Haus Jakobs zu regieren, und nicht
um einen Leib zu bilden, und zwar aus den aus allen Nationen erkauften Sündern. Deshalb verbindet er auch, wie wir
32
gesehen haben, den Gedanken der Versammlung mit demjenigen Seiner Verwerfung: Die Versammlung ist das im
Geist auf den verworfenen Stein gebaute Haus. Paulus lehrt
uns auch, daß die, welche ferne waren, im Blut Christi nahe
gebracht worden sind, um mit denen, welche nahe waren,
nur einen neuen Menschen zu bilden; und daß beide vor
Gott durch das Kreuz eine n Leib ausmachen (Eph. 2, 13
usw.). Kaiphas, indem er durch den Geist weissagte, sagte
selbst, daß Jesus „nicht nur für das Volk sterben sollte, sondern auch, damit er die zerstreuten Kinder Gottes in Ein s
versammelte" (Joh. 11, 49—52). Dieses Versammeln der bis
dahin zerstreuten Kinder Gottes in Eins — mit anderen
Worten: des Leibes Christi — ist also eine Frucht Seines
Todes.
Aber die Versammlung ist nicht der Leib eines für immer gestorbenen Christus, noch eines irdischen Christus, der
noch sterben kann, sondern eines Christus, der tot war und
auferstanden ist, der folglich nicht mehr sterben kann, sondern von Ewigkeit zu Ewigkeit lebt (Matth. 16,16—18; Röm.
6, 9; Offenb. 1, 17). Achten wir in der Tat darauf, daß der
Christus, „welcher der Versammlung, seinem Leib, zum
Haupt gegeben ist", der Christus ist, „welcher von den Toten auferstanden, und zur Rechten Gottes in den himmlischen örtern gesetzt ist, über alle Fürstentümer und Gewalt
und Macht und Herrschaft und jeglichen Namen, der genannt wird, nicht allein in diesem, sondern auch im zukünftigen Zeitalter" (Eph. 1, 20—23). Dieser Leib konnte demgemäß nicht existieren, ehe Jesus auferweckt und verherrlicht
war.
Da endlich die Versammlung der Leib Christi ist, so muß
der Geist Christi in ihr wohnen und sie beseelen, wie der
Geist des Menschen im Menschen wohnt. Das ist uns auch
in diesen Worten gelehrt: „Ihr seid der Tempel Gottes, und
sein Geist wohnt in euch." Die „Versammlung ist das Haus
Gottes im Geist"; „ein Leib und ein Geist" (1. Kor. 3, 16; 6,
19; 2. Kor. 6, 16; Eph. 2, 21.22; 4, 4; 1. Petr. 2, 4. 5). Es war aber
notwendig, daß unsere gerechtfertigte und verherrlichte
menschliche Natur, in der Person Christi in den Himmel
eingegangen ist, damit der Heilige Geist von dorther herabkommen konnte, um in den von Natur armen Sündern, als
in Seinem Tempel zu wohnen (Joh. 7, 37—39; 16, 7). Dieser
durch Seinen Geist beseelte Leib konnte also nicht existieren, ehe der Geist von oben herabgesandt war. Gewiß waren
alle Heiligen aller Zeiten durch den Geist Gottes gelehrt, erneuert und geheiligt — durch Ihn haben auch die Männer
Gottes gesprochen — aber es ist nie von Eine m unter ihnen
17 33
noch von eine r Versammlun g unter ihnen gesagt,
daß sie der Leib des Christus, Seine Glieder, der Tempel
Seines Geistes seien.
b) Paulus lehrt uns auch, daß die Versammlung „ein heiliger Tempel im Herrn ist, eine Behausung Gottes im Geist,
auferbaut auf die Grundlage der Apostel und Propheten, wo
Jesus Christus selbst Eckstein ist" (Eph. 2, 20—22), Sind nun
die Propheten, von weichen hier die Rede ist, die des Alten
oder des Neuen Testamentes? (Apg. 13,1; 1. Kor. 12; 14). Man
wird sich überzeugen, daß es die Letzteren sind, wenn man
darauf merkt, daß sie immer nach den Aposteln angeführt
werden (Eph. 2, 20; 3,5; 4,11; 1. Kor. 12, 28. 29). In der letzteren Stelle ist sogar gesagt: „Gott hat in der Versammlung
gesetzt: erstens Apostel, zweitens Propheten usw." Und in
Eph. 4, 11 ist es offenbar, daß diese Propheten eine Gabe
des Geistes sind, welche infolge Seiner Himmelfahrt gekommen sind. Es ist also in diesen Stellen von den Propheten
des Neuen Testamentes die Rede. Wenn nun die Versammlung auf die Grundlage der Apostel und Propheten des
Neuen Testamentes gebaut ist, so kann sie nicht die Gesamtheit aller Gläubigen von Anbeginn der Welt sein, da die
meisten vor diesen Aposteln und Propheten gelebt haben,
und aiso nicht auf diese Grundlage haben gebaut sein können. Dieses bestätigt und entwickelt einigermaßen das, was
wir in Bezug auf das Wort Jesu zu Petrus gesagt haben:
„Auf diesen Felsen werd e ich bauen, nicht hab e ich gebaut meine Versammlung."
c) Nach den Worten des Apostels Paulus erhebt sich auch
die Versammlung auf den Trümmern der Zwischenwand —
die Gebote in Satzungen — welche früher Juden und Nationen schied, als eine neuer Mensch (Eph. 2, 11. 12). Konnte
nun die Versammlung existieren, als diese Zwischenwand
noch bestand? Mit anderen Worten, konnte die Versammlung, in welcher weder Jude noch Grieche ist, existieren,
wenn im Gegenteil eine tiefe unüberschreitbare Kluft zwischen Juden und Nationen da war? Wird sie existieren können, wenn diese Scheidelinie, obwohl weniger bezeichnet,
weniger tief, wieder bestehen wird, wie wir gesehen haben,
daß es im zukünftigen Zeitlauf der Fall sein wird?
d) Endlich sagt uns Paulus (Eph. 4,11.12), daß „Christus
die einen als Apostel, die anderen als Propheten, die anderen
als Evangelisten, die anderen als Hirten und Lehrer zur
Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die
Auferbauung des Leibes des Christus gegeben habe." Wenn
nun die Versammlung alle Heiligen von Anbeginn der Welt
34
in sich schließt, woher kommt es, daß der Apostel, indem er
von den Gaben spricht, welche Gott dieser Versammlung zu
ihrer Auferbauung gegeben hat, nicht ein Wort von den Pa -
triarchen, Königen und Propheten des alten Bundes sagt?
Haben diese Männer nicht zur Auferbauung der Heiligen
ihrer Zeit gedient? Gewiß, aber für Paulus ist die Versammlung der Leib des Christus, der zu Pfingsten durch Seinen
Geist belebt wurde, und der erst seit diesem Augenblick Leben hat. Deshalb spricht er nur von den Gaben und Diensten, welche seit Pfingsten durch diesen Geist mitgeteilt sind,
wie der Zusammenhang es klar zeigt.
Ja, es gibt eine Versammlung, welche weder die Fortsetzung von Israel, noch das wiederhergestellte Israel und die
gesegneten Nationen des zukünftigen Zeitlaufs ist, sondern
welche die Gesamtheit derjenigen ist, welche der Heilige
Geist, während der Zeit der Verwerfung Israels, zu Jesu
führt, um Seine Braut, Sein Leib, ein neuer Mensen zu sein,
wo nicht ist Grieche und Jude, Beschneidung und Vorhaut,
Barbar, Scythe, Sklave, Freier, sondern alles in allem —
Christus (Gal. 3, 26—28; Kol. 3, 10. 11). Weil Christus Sich
Selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, und bis
zum Tod am Kreuz gehorsam war, deswegen hat Ihn „Gott
auch hoch erhoben, und ihm einen Namen gegeben, der über
jedem Namen ist, auf daß vor dem Namen Jesu sich jedes
Knie der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen
beuge, und auf daß jede Zunge bekenne, daß Jesus Christus
,Herr' ist, zur Verherrlichung Gottes des Vaters" (Phil. 2,
6—11; Eph. 1, 20—23).
Diese herrliche Stellung, welche Sich Jesus durch Seine
Erniedrigung und Seine Leiden zur Rechten Gottes in den
himmlischen örtern, über alle Fürstentümer und alle Macht
erworben hat, ist auch die Stellung, welche Seiner Versammlung, als Seinem Leib, zugesichert ist. Deshalb ist gesagt:
„Gepriesen sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu
Christi, der uns mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen örtern in Christo gesegnet." „Als wir in Vergehungen
tot waren, hat er uns mit dem Christus lebendig gemacht, —
durch die Gnade seid ihr errettet; — und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in
Christo Jesu" (Eph. 1,3; 2,5.6).
Weil wir der Leib, die Glieder Dessen sind, der jetzt in
den himmlischen örtern sitzt, und weil Sein Geist uns mit
Ihm verbindet, so sind wir jetzt schon in gewisser Beziehung in den himmlischen örtern. Dahin hat uns die Liebe
des Vaters versetzt, als Er uns von Ewigkeit her erwählte —
uns die toten Glieder des Leibes Adams — um uns Christo,
35
dem Fürsten des Lebens, als Seine Glieder einzuverleiben.
Da ist unsere Gerechtigkeit, unser Friede, der Anker unserer Hoffnung; „unser Leben", „mit Christum in Gott verborgen" (Kol. 3, 3). Wer wird es uns rauben? (Röm. 8, 27—38;
10, 6—8). Laßt uns mit diesen köstlichen Wahrheiten uns
nähren; denn nur in dem Maße, als wir dieses tun, werden
wir ein Auferstehungserleben führen können, als uns selbst,
der Sünde und der Welt Gestorbene, als Gott Lebende, durch
Jesum Christum.
Da wir der Leib des Christus sind, „seine Braut, Bein
von seinem Bein, Fleisch von seinem Fleisch", so sind wir
Seine Fülle, „die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt."
Denn die Glieder bis zu den kleinsten hin sind die Fülle oder
die Vervollständigung des Hauptes; und der Leib ist nur
dann vollständig, wenn ihm keines seiner Glieder mangelt.
Das Weib ist die Vervollständigung ihres Mannes, der nur
m i t seinem Weibe vollständig ist; sie ist seine Ehre (1. Kor.
11, 7). So ist es auch mit Christo. Er wird gewissermaßen
erst der „vollkommene Mann" sein, und wird „das Maß des
vollen Wuchses" (Eph. 4,14) erst dann erreicht haben, wenn
Sein Leib durch die Hinzufügung des letzten Gliedes vervollständigt sein wird (1. Kor. 12,12). Der ganze Leib wird
in dieser Stelle „der Christus" genannt. Denn wenn der
zweite Adam „sich selbst seine Versammlung verherrlicht,
ohne Flecken und Runzeln, dargestellt hat", wird Er Sich in
ihr verherrlichen, wie geschrieben ist: „um in seinen Heiligen verherrlicht zu werden, und bewundert in allen denen,
die geglaubt haben" (2. Thess. 1,10); und mit ihnen wird Er
über Sein Erbe, Israel und die Nationen, regieren.
Fragt man, warum der Herr die Versammlung wie auch
jedes einzelne Glied zu einem so hohen Beruf, der denjenigen aller übrigen Klassen von Heiligen so weit übertrifft,
berufen hat, so finden wir die Antwort allein in dem Wohlgefallen Gottes. Aus keinem anderen Grund haben wir, die
wir glauben, die Liebe zur Wahrheit erhalten, als aus dem,
weil uns Gott „zuvor verordnet hat für sich selbst durch Jesum Christum, nach dem Wohlgefallen seines Willens" (Eph.
1, 5). Wir würden umsonst einen anderen Grund der Berufung der Versammlung suchen. Man muß in einem wie im
andern Fall dahin kommen, zu sagen: „Ja, Vater, denn also
war es wohlgefällig vor dir" (Matth. 11, 26). Übrigens offenbart uns das Wort in Bezug auf den Zweck, den Sich Gott
hierin vorsetzte, folgendes: „Damit er in den kommenden
Zeitaltern den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade
durch seine Güte an uns in Christo Jesu erweise" (Eph. 2, 7)
und ferner: „auf daß nun den Fürstentümern und Gewalten
36
in den himmlischen Örtern durch die Versammlung die
mannigfaltige Weisheit Gottes kundgemacht sei (Eph. 3, 10).
Wie sehr erhebt dies noch den Gedanken, den wir uns von
der Versammlung und ihrer Berufung machen können! Ein
Denkmal der Weisheit Gottes in den himmlischen Örtern,
und des überschwenglichen Reichtums Seiner Gnade in den
kommenden Zeitaltern zu sein!
Wenn es jemandem als Hochmut vorkommen sollte, an
diese hohe Berufung zu glauben, so bedenke man, daß „die
Wege Gottes nicht unsere Wege, und seine Gedanken nicht
unsere Gedanken sind; sondern so viel die Himmel höher
sind, als die Erde, so sind auch seine Wege hoher als unsere
Wege, und seine Ratschläge höher, als unsere Ratschläge"
(Jes. 55, 8. 9). Man bedenke vor allem, daß die wahre Demut
nicht darin besteht, unter dem Vorwand der Unterwürfigkeit, die Gnade, die uns Gott darbietet, von uns zu stoßen
(Joh. 13, 8). Denn wessen sind wir würdig? — Die Demut besteht vielmehr darin, mit Anbetung das anzunehmen, was
Gott uns darreicht, indem wir es weit höher schätzen, als
unsere liebsten Gedanken, als die ältesten Überlieferungen
und die ehrwürdigsten Belehrungen. Laßt uns in diesem
Sinne die Belehrungen, welche uns das Wort über die Versammlung gibt, annehmen. Demütigen wir uns; denn was
ist geeigneter um uns zu demütigen, als die Betrachtung der
überschwenglichen Gnade Gottes gegenüber unserem Elend?
Sollte man sich dann nicht sagen: „Was hast du, das du
nicht empfangen hast, und wenn du es empfangen hast,
warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?"
(1. Kor. 4, 7). Laßt uns deshalb demütig, aber auch gläubig
sein; laßt uns anbeten und danksagen und gestärkt sein, um
würdig der Berufung, zu welcher wir berufen sind, zu wandeln, indem wir den unergründlichen Reichtum der Liebe
Gottes betrachten.
37
III.
Verfall der Versammlung
Israel hätte durch seinen Gehorsam und die damit verbundenen sichtbaren Segnungen allen Völkern der Erde zeigen sollen, wie „glücklich das Volk ist, dessen Gott Je -
hov a ist" (Ps. 144, 15). Allein dieses so sehr bevorzugte
Volk war ungehorsam und verwarf Jehova. Gott aber wird
von Israel und den Nationen im zukünftigen Zeitlauf verlangen, daß sie sich, indem sie die dann geoffenbarte Herrlichkeit des Sohnes Davids betrachten, freudig diesem wahren Melchisedek unterwerfen, welcher sie in Friede und Gerechtigkeit regieren wird.
Die während der Abwesenheit Jesu hier unten wandelnde Versammlung ist berufen, durch ihren geistlichen
und himmlischen Wandel der Welt zu zeigen, daß dieser
Jesus, welchen sie verworfen hat, im Himmel lebt, indem Er
in der Versammlung durch Seinen Geist diese himmlische
Gesinnung und Neigung bewirkt; und diese Zeit Seiner Geduld ist bestimmt, sich zu Ihm zu bekehren.
Hätte die Versammlung ihrer Berufung gemäß den bewunderungswürdigen Anblick eines aus allen Völkern gesammelten einigen Leibes stets dargeboten, — eines Leibes,
der durch eine bis dahin unbekannte Macht in der Einheit,
Liebe und Erwartung seines Hauptes erhalten wurde, so
würde dies ohne Zweifel für sie ein reicher Segen und für
die Welt ein gewaltiges Zeugnis geblieben sein. Doch dazu
hätte sich die Versammlung dem Geiste völlig überlassen
müssen, welcher alsdann reichlich gewirkt hätte. Was sieht
man aber statt dessen jetzt in der Christenheit? Der Katholizismus entzieht den Gläubigen das Vorrecht, durch den
Geist geleitet zu werden, und räumt dem Klerus allein das
Recht dazu ein. Unter den Protestanten ist der Heilige Geist
nur eine tote unfruchtbare Lehre. Diejenigen sogar, welche
Dessen Wirkung in ihrer Wiedergeburt erfahren haben, und
sich Ihm für ihren eigene n Wandel anvertrauten, scheinen oft, wenn es sich um den gemeinschaftliche n
Wandel oder um die Versammlung handelt, zu vergessen,
daß es einen Heiligen Geist gibt. Sie verkennen den so ein38
fachen Grundsatz, daß, so wie die Gesamtversammlung der
durch den Geist beseelte Lei b Christ i ist, so auch die
Versammlung eines jeden Ortes, die vom Heiligen Geist geleitete Versammlung der Glieder Christi an diesem Ort ist;
und daß folglich alles, was diese Glieder zu tun haben, darin
besteht, sich gemeinschaftlich im Namen des Herrn zu versammeln, um im Geist und in der Wahrheit anzubeten. Dies
ist die Versammlung und ihr Gottesdienst.
Statt dessen aber sucht man da, wo man es nach seiner
eigenen Weisheit zweckmäßig findet, Versammlungen zu
machen. Man richtet Schulen ein, in welchen man durch Erlernung der Wissenschaften, vielleicht auch in Verbindung
mit einem orthodoxen Glauben, Hirten, Lehrer, kurz Diener
für diese Versammlungen bildet. Man vergißt, daß der Geist
in der Versammlung Seine Gaben austeilt, „wie er will"
(1. Kor. 12, 4-12). Man bringt das, was der Geist Selbst durch
Seine mächtige und freie Wirkung hervorbringen sollte, in
Verfassungen und Formen; während diese Dinge vor Gott
nur insofern wahr sind und einen Wert haben, als sie durch
diesen Geist hervorgebracht sind. Wie sollte die Welt für
den Glauben gewonnen werden, wenn sie sieht, daß diejenigen, welche an diesen Geist zu glauben bekennen, sich in
Wirklichkeit nicht diesem Geist anvertrauen, sondern gleich
ihnen, sich auf die Weisheit ihrer Formen und auf das Talent und die Redekunst ihrer Lehrer verlassen? Und sollte
sich der hierdurch betrübte Geist nicht zurückziehen? Sie
sind wie Israel, welches sein Vorrecht, Gott zum König zu
haben, verkannte, und sagte: Wir wollen einen König haben,
gleichwie auch die anderen Nationen.
Die Versammlung sollte von dem Leben ihres auferstandenen Hauptes Zeugnis ablegen, indem sie Ihn täglich vom
Himmel erwartete, wie sie es auch anfänglich tat. Wenn man
die Briefe der Apostel einfältig liest, so ist es unmöglich,
nicht zu erkennen, daß die ersten Christen den Herrn auf
eine ganz andere Weise erwarteten, als es die meisten Christen heutzutage tun. Sie erwarteten Ihn wirklich , und
nicht geistig ; sie glaubten, daß Er jeden Augenblick
kommen könne. Die Ankunft war für sie einer der Zwecke,
wofür sie bekehrt waren, eine Triebfeder zur Erfüllung aller
ihrer Pflichten und ein Trost in all ihrem Leid (1. Thess. 1,
9. 10; 2,19.20; 4,18; Titus 2,13; Hebr. 10, 36. 37; Jak. 5, 7—9).
Man hat sich aber so sehr von der Gesinnung dieser ersten
Jünger entfernt, daß, da man ihre Sprache nicht mehr verstand, man ihren einfachsten Ausdrücken einen fremden
und gezwungenen Sinn gegeben hat. Die Ankunft des Herrn
wurde für viele nur die Zerstörung Jerusalems oder der
39
Tod; oder auch etwas, was man eine geistige Ankunft nannte,
um ein sogenanntes geistiges Reich aufzurichten, von welchem aber das Wort nichts weiß.
Die meisten kennen keine andere Ankunft des Herrn, als
diejenige, in welcher Er die Welt richten wird, und verwechseln so den Ta g de s Zorne s de s Lammes , mit
dem liebliche n un d herrliche n Ta g Seine r
Vereinigun g mi t Seine r vielgeliebte n Braut .
Und wenn ihr sie an die Belehrung des Wortes über diesen
Punkt erinnert, so werden sie euch, wie Festus dem Paulus,
sagen: „Deine große Gelehrsamkeit bringt dich zur Raserei."
Mit der täglichen Erwartung des Herrn ist auch die Einheit der Jünger, ihre Trennung von der Welt, das geistliche
und himmlische Leben, welches sie anfänglich auszeichnete,
verschwunden. Als der Knecht in seinem Herzen sagte:
„Mein Herr verzögert zu kommen", begann er seine Mitknechte zu schlagen und mit den Trunkenen zu essen und
zu trinken (Matth. 24, 48 usw.) Als die Versammlung aufhörte nach oben zu blicken, um den Herrn vom Himmel zu
erwarten, blickte sie nach unten, um da ihre Ruhe, ihre Bequemlickkeit, Reichtümer und Ehre zu suchen. Sie ist irdisch geworden und ein Feind des Kreuze s Christi. Sie
verband sich zu dem Punkt mit der Welt, daß sie derselben
das Bürgerrecht in ihr einräumte und ihr ihren Gottesdienst
und ihr Mahl des Herrn preisgab. Endlich suchte sie ihre
Ehre in ihrer Schande — in einer anerkannten, ruhigen und
geehrten Stellung mitten in der Welt, welche ihr Haupt gekreuzigt hat.
Nicht nur haben sich die Christen mit der Welt verbunden, sondern sie haben sich auch unter sich getrennt. Anstatt von der Einheit des Geistes, die sie zu der Einheit des
Leibes beseelte, zu zeugen, hat sich die Versammlung in unzählige Parteien geteilt, welche sich untereinander durch
Namen von Menschen, von Nationen oder Lehren unterscheiden. Ach! das war es nicht, was der Herr für sie erbat,
als Er sagte: „daß sie alle ein s seien, gleichwie du, Vater,
in mir und ich in dir; auf daß auch sie in uns ein s seien,
auf daß die Welt glaube, daß du mich gesandt hast" (Joh.
17, 21). Das war auch nicht der Anblick, den die ersten
Jünger dargeboten, als sie „alle zusammen waren" und „als
die Menge derer, die gläubig geworden waren, e i n Herz
und ein e Seele war" (Apg. 2, 44—47; 4, 32. 33). Auch war
große Gnade über ihnen allen, und viele glaubten. Es ist
zwar wahr, daß diese glückliche Einheit in Korinth einen
ernsten Stoß erlitt, als der eine sagte: „Ich bin des Paulus,
ein anderer: ich des Apollos" (1. Kor. 1,11—13). Das Geheim40
nis der Bosheit fing schon an zu wirken (2. Thess. 2, 3—8).
Das Übel war jedoch weit entfernt, die Ausdehnung zu haben, die es heute hat, die Versammlung des Diotrephes vielleicht ausgenommen (3. Joh. V. 9.10). Es ist gewiß, daß man
zur Zeit der Apostel an einem Ort nie mehr als ein e Herde
sah. Man stellte sich gewiß nicht vor, daß eine Zeit kommen würde, wo man in ein und derselben Stadt oder Dorf,
drei, vier, fünf oder sechs verschiedene Versammlungen
sehen würde, deren jede ihren Glauben, ihre Organisation,
ihr Abendmahl und ihren Dienst haben würde. Trotz dieser
Trennungen sagt man, daß im Grunde doch eine Einigkeit
unter diesen Versammlungen sei (falls sie alle auf demselben Grund ruhten) und daß der Herr von dieser fundamentalen und unsichtbaren Einheit habe reden wollen, als Er
für die Einheit Seiner Jünger bat. Aber diese unsichtbare
Einheit genügt nicht, um die Welt zum Glauben zu bringen;
sie bedarf einer sichtbaren Offenbarwerdung. Wenn nun die
Einheit wirklich existiert, warum denn diese Trennungen,
welche Veranlassung so vieler Sünden und beständige Ursache von Gebrechen in der Versammlung sind? Denn die
Gaben, welche den Christen der verschiedenen Versammlungen gegeben sind, welche, durch die Einheit noch vermehrt, ihnen Überfluß an Erbauung und Tröstung geben
würden, reichen jetzt, da sie getrennt sind, nur hin, um ein
armseliges, kraftloses Leben zu führen, wenn sie nicht gar
gebraucht werden, um sich gegenseitig zu bekämpfen. Sie
sind Israel und Juda gleich, welche die Sünde voneinander
trennte, und welche, anstatt ihre Kräfte gegen ihre gemeinschaftlichen Feinde zu vereinigen, diese gebrauchten, um
einarider den Krieg zu machen; und riefen sogar Ägypten
und Assyrien zu Hilfe.
Um den Verfall der Versammlung zu erkennen, würde es
genügen, sich dessen zu erinnern, was sie nach dem Vorsatz
Gottes ist, und dann einen Blick darauf zu werfen, was sie
in der Christenheit geworden ist. Wir haben aber übrigens
über diesen Gegenstand die klarsten und genauesten Aussprüche. Paulus sagt der Versammlung zu Rom im 11. Kap.
Vers 22: „Siehe die Güte und die Strenge Gottes; an denen,
die gefallen sind, Strenge; an dir aber Güte, wenn du an
der Güte bleibst; sonst wirst auch du ausgeschnitten werden." Er stellt also die Möglichkeit eines Abfalles vor; und
in diesem Fall kündigt er nicht ein Wiederaufstehen an,
sondern ein Ausgeschnittenwerden; jedoch nicht ein sogleich erfolgendes Abhauen, weil es nach der Treue Gottes
nicht möglich ist, daß ein einziger der Auserwählten umkomme, obschon sie infolge des Falles zu leiden haben. Und
41
diesen Abfall, vor welchem Paulus die Christen in der Versammlung zu Rom warnte, verkündigt er auf bestimmte
Weise den Ältesten der Versammlung Ephesus (Apg. 20, 29.
30): „Ich weiß dieses, daß nach meinem Abschied verderbliche Wölfe zu euch hereinkommen werden, die der Herde
nicht schonen. Und aus eurer eigenen Mitte werden Männer
aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her" (Siehe auch 2. Petr. 1, 12—15, vergl,
mit dem ganzen 2. Kap., besonders mit Vers 1). Was ist nun
nach all diesem die Aufeinanderfolge des apostolischen Amtes, und das Alter der Lehre, auf welche sich so viele Kirchen stützen? Ach! nur die Lehre des Wortes ist einzig und
allein wahr, und nur de r Dienst ist Gott angenehm, der
vom Geiste ausgeteilt wird.
übrigens warteten die falschen Lehrer und die verderblichen Lehren nicht einmal den Abschied der Apostel ab,
um in die Versammlungen hineinzudringen. Es gibt wenige
apostolische Versammlungen, in welchen man nicht an einigen Zügen ihre Gegenwart bemerkt, — von der Versammlung zu Ephesus an, bis zu der des Diotrephes, wo man den
Apostel Johannes und die, welche ihn aufnehmen wollten,
verjagte (Man sehe 1. Kor. 3, 1—4; 5; 6; 11, 17—22; 15, 12. 33.
34; Gal. 1,6. 7; 2,4.5; 3,1; 5,7—15; 6,12—13; Kol. 2, 8.16—23).
Und weit entfernt, daß diese Unordnungen in der Folge
verschwinden sollten, lehren uns die Apostel, daß das Verderben bis ans Ende immer zunehmen werde.
„Der Geist aber sagt ausdrücklich, daß in den letzten
Zeiten etliche von dem Glauben abfallen werden, Acht habend auf Geister des Irrtums und Lehren der Teufel, die in
Heuchelei Lügen reden, und was ihr eigenes Gewissen betrifft, wie mit einem Brenneisen gehärtet sind; verbietend
zu heiraten, und gebietend sich von Speisen zu enthalten,
welche Gott für die, welche glauben und die Wahrheit erkennen, zur Annahme mit Danksagung geschaffen hat"
(1. Tim. 4,1—3). „Dieses aber wisse, daß in den letzten Tagen
schwere Zeiten entstehen werden. Denn die Menschen werden sein eigenliebig, geldgierig, prahlerisch, hochmütig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, heillos, gefühllos, unversöhnlich, verleumderisch, unenthaltsam, grausam,
das Gute nicht liebend, verräterisch, verwegen, aufgeblasen,
mehr Freunde der Wollust als Gottes, welche die Form der
Gottselig"keit haben, ihre Kraft aber verleugnen. Von diesen halte dich fern!" „Alle aber auch, die gottselig in Christo
Jesu leben wollen, werden verfolgt werden. Böse Menschen
aber und Betrüger werden im Bösen fortschreiten, verführend und verführt werdend" (2. Tim. 3, 1—5. 12. 13). „Es
42
waren aber auch falsche Propheten unter dem Volk, wie
auch unter euch falsche Lehrer sein werden, welche Sekten
des Verderbens neben einführen werden, und den Gebieter,
der sie erkauft hat, verleugnen, sich selbst schnelles Verderben zuziehend. Und viele werden ihren Ausschweifungen
nachfolgen, wegen welchen der Weg der Wahrheit verlästert
wird usw." Zuerst dies wissend, daß am Ende der Tage
Spötter kommen werden mit Spötterei, nach ihren eigenen
Lüsten wandelnd und sagend: Wo ist die Verheißung seiner
Ankunft? denn seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt
alles von Anfang der Schöpfung an" (2. Petr. 2,1—3; 3, 3—5).
Welch trauriges Gemälde der letzten Tage des Zeitlaufes!
Und trotzdem können einige die Fortschritte des Evangeliums und des Reiches Gottes dabei sehen. Was die letzten
Tage in den Augen der Apostel charakterisierte, war nicht
der Triumph des Evangeliums, sondern das Vorhandensein
vieler Antichristen: „wie ihr gehört habt, daß der Antichrist
kommt, so sind jetzt schon viele Antichristen geworden; daher wissen wir, daß es die letzte Stunde ist" (1. Joh. 2, 18).
Auch kündigte Paulus den Thessalonichern an, daß „der Tag
Christi nicht komme, es sei denn, daß zuvor der Abfall
komme, und der Mensch der Sünde, der Sohn des Verderbens, offenbart sei, welchen der Herr Jesus mit dem Hauch
seines Mundes verzehren, und durch die Erscheinung seiner
Ankunft vernichten wird" (2. Thess. 2); nicht aber, wie die
meisten Christen heutzutage meinen: Es sei denn, daß zuvor
die Wahrheit über den Irrtum triumphiere, daß das Evangelium alles durchdrungen habe und die Erde von der Erkenntnis des Herrn erfüllt sei. — Auch der Apostel Judas
lehrt uns, daß das Verderben, welches er schon in die Versammlungen einschleichen sah, bis zur Ankunft des Herrn,
anstatt zu verschwinden, wachsen würde, weil er, nachdem
er ein schreckliches Gemälde der verdorbenen Menschen seiner Zeit gemacht hatte, hinzufügt: „von welchen auch der
Siebente von Adam, Henoch, geweissagt: usw." Er sieht
also, wie sie sich fortpflanzen und eine ununterbrochene
Kette bilden, bis zu dem Augenblick, wo, wenn das Übel
seinen Höhepunkt erreicht hat, der Herr kommt, um sie
durch die Erscheinung Seiner Ankunft zu zerstören.
Dieses lehrte auch schon der Herr in den Gleichnissen
des 18. Kapitels Matthäus, welche die Geheimnisse des Himmelreichs enthalten.
In dem ersten zeigt uns der Herr die Saat des Reiches,
und schon da sehen wir drei Teile des Samens verloren und
nur einen, der aufkeimt und wirklich Frucht bringt.
Das zweite zeigt uns den auf dem Speicher gesammelten
43
Weizen; aber vorher zeigt es uns das vom Feind gesäte Unkraut und zwar da, wohin der Mensch guten Samen gesät
hatte, nämlich in der Christenheit. Die Knechte des Menschen, wie auch gewisse Christen, sind willens, das Unkraut
auszurotten und den Acker zu reinigen; aber Er sagt ihnen:
„Laßt es beides zusammen wachsen bis zur Ernte; und zur
Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: Leset zuerst
das Unkraut zusammen und bindet es in Bündel, um es zu
verbrennen; den Weizen aber sammelt auf meinen Speicher." „Die Ernte aber ist die Vollendung des Zeitlaufes",
nämlich des jetzigen; und keineswegs das Ende der Welt,
welche wir bewohnen und welche der Acker ist, wo die Saat
gesät wurde. „Gleichwie nun das Unkraut zusammengelesen
und im Feuer verbrannt wird, also wird es in der Vollendung dieses Zeitlaufes sein; usw." So wird also in dieser
Welt das Böse mit dem Guten bis zur Ernte gemischt bleiben, das heißt, bis ans Ende des Zeitlaufes und bis zu dem
vom Herrn Selbst ausgeführten Gericht (Joel 3, 13; Offenb.
14, 15. 16).
Übrigens ist hier keineswegs von der Versammlung die
Rede, noch von der Zucht, durch welche man den Bösen von
ihr hinaustut. Wenn man dieses Gleichnis als Beweis gegen
die Zucht gebraucht, so bringt man den Apostel Paulus in
Widerspruch mit dem Herrn. Dieser sagt: „Laßt es beides
zusammen wachsen (die Söhne des Bösen und die Söhne des
Reiches) bis zur Ernte." Jener sagt im Gegenteil: „Tut den
Bösen aus eurer Mitte" (1. Kor. 5,12.13). Wenn hier von denselben Personen unter denselben Umständen die Rede ist, so
ist offenbarer Widerspruch vorhanden; aber eine einfache
Bemerkung macht es klar und läßt jeden Widerspruch verschwinden. Der Herr, indem Er vom Reich spricht, sagt, man
solle die Bösen nicht aus der Wel t tun, denn „der Acker
ist die Welt". Paulus hingegen, indem er sich an die Glieder
der Versammlung wendet, sagt: „Tut den Bösen aus eurer
Mitte", nämlich aus der Versammlung . Das sind zwei
gleichwahre Sachen, welche vollkommen übereinstimmen.
Paulus bestätigt sogar die Belehrung des Gleichnisses, indem er sagt: „Was habe ich die, welche draußen sind, zu
richten? die aber draußen sind, wird Gott richten." Er
sagt aber auch: „Richtet ihr nicht, die drinnen sind? Tut
den Bösen aus eurer Mitte."
Es gehört also nur dem Herrn an, das Böse und den Bösen aus der Welt zu tun, und Er wird es tun, wenn Er am
Ende des Zeitlaufes erscheint. Die Versammlung aber muß,
indem sie Ihn erwartet, in ihrem Schöße Zucht ausüben und
den Bösen aus ihrer Mitte tun.
44
In Matth. 13, 31 u. 32 hören wir weiter: daß das Reich
der Himmel gleich einem Senfkorn ist. Die Versammlung,
welche als eine kleine Herde, fremd und pilgernd, hier unten
in der Verachtung und Armut, gleich ihrem Herrn und Meister, sein sollte, ist ein Weltinstitut geworden, ein großer
Baum wie der des Nebukadnezar, „den man bis ans Ende
der Erde sah, dessen Äste schön waren und viele Früchte
trugen, davon Alles zu essen hatte usw." (Dan. 4, 9). In der
mit Gütern und Ehren dieser Welt bereicherten Versammlung hat man, wie in jedem weltlichen Institut seine Gelüste nach Titeln und Einkommen befriedigen können. Es
hat für alle zu essen gegeben, welche auf seinen Zweigen
wohnen wollten; aber es ist auch gesagt worden: „Hauet den
Baum um, behauet ihm die Äste, streicht ihm das Laub ab
und zerstreut seine Früchte, damit die Tiere unter ihm wegfliehen und die Vögel von seinen Zweigen" (Dan. 4, 11).
„Wenn du nicht an der Güte Gottes bleibst, wirst du auch
ausgeschnitten werden" (Röm. 11, 22). Seht hier das ausgesprochene Gericht über die weltliche Herrlichkeit und Größe,
mit welcher sich die Versammlung umgeben hat; und erst
nachdem Gott den großen Baum erniedriget und den grünen
Baum verdorrt haben wird, wird er den verdorrten Baum
wieder grünen machen und wird ihn zu einer großen Zeder
werden lassen auf den Bergen Israels. —
„Das Reich der Himmel ist dem Sauerteig gleich, den ein
Weib nahm und unter drei Scheffel Mehl verbarg, bis alles
gesäuert ward." Viele sehen hierin, wie im vorhergehenden
Gleichnis, eine Darstellung der Fortschritte des Evangeliums
in der Welt, d. h. für sie stellt das Mehl nur die Kinder dieser Welt dar und der Sauerteig das Evangelium. Aber das
Wort gibt diesen Bildern einen ganz entgegengesetzten Sinn.
Der gute Same, oder das Getreide sind die Kinder des Reiches, und der Sauerteig bedeutet immer einen schlechten
Einfluß. Jesus sagte zu Seinen Jüngern: „Hütet euch vor
dem Sauerteig der Pharisäer und Saduzäer." — Paulus sagte
den Korinthern: „Wißt ihr nicht, daß ein wenig Sauerteig
die ganze Masse durchsäuert? Darum fegt den alten Sauerteig aus, auf daß ihr eine neue Masse werdet, gleichwie ihr
ungesäuert seid." Und im 5. Kapitel an die Galater sagt er
ebenfalls: „Ein wenig Sauerteig versäuert den ganzen Teig."
— So bedeutet also Sauerteig immer etwas Schlechtes unter
dieser oder jener Form. Wie hätte sich der Herr in diesem
Gleichnis dieses Wortes bedienen können, um im Gegenteil
das Beste, was es gibt, zu bezeichnen? Übrigens scheint
schon die Handlung des Verbergens an und für sich anzudeuten, daß dieser Sauerteig etwas Schlechtes ist. O, es ist
45
gewiß der Sauerteig der modernen Pharisäer und Sadduzäer,
das Formwesen, der Unglaube, der alte Sauerteig des unbekehrten, boshaften Herzens, von welchem der Herr in diesem Gleichnis reden will; es ist das Geheimnis der Bosheit,
welches in den Tagen des Paulus begann, und welches wir
ganz entwickelt finden werden in der Hure, welche auf ihrer
Stirn geschrieben trägt: „Geheimnis, Babylon, die große, die
Mutter der Huren und der Greuel der Erde" (Offb. 17, 5).
So erscheinen uns also die Geheimnisse des Reiches, die
in diesen Gleichnissen dargestellt sind, als die Geheimnisse
des Verderbnisses des Reiches, oder, wenn man will, als die
Geschichte dieses Reiches, wie der Mensch dasselbe gemacht
hat, indem er es der Absicht Gottes zuwider mit der Versammlung verwechselte. Diese Gleichnisse sind in gewisser
Hinsicht für das Reich dasselbe, was auch die sieben Briefe
an die Versammlungen in Asien für die Kirche sind. In diesen Gleichnissen haben wir, wie wir soeben gesagt haben,
die Geschichte des Reiches, wie es durch die Sünde des Menschen verdorben ist, und welches also bleiben wird, bis der
König in Person kommt, um alle Dinge wieder herzustellen.
In den sieben Briefen haben wir die Geschichte der Versammlung — nicht wie sie nach der Absicht Gottes sein sollte,
sondern wie sie durch die Sünde des Menschen geworden ist
— bis der Herr kommt, um die Seinigen aus dieser Unordnung herauszunehmen, und um nachher alle Völker zu
richten.
Ohne Zweifel sind die sieben Briefe in Offb. 2 u. 3 an
ebensoviel dazumal wirklich bestehende Versammlungen
geschrieben, und haben an ihnen ihre erste Erfüllung gehabt; aber man kann nicht zweifeln, daß sie auch wie das
ganze Buch, einen prophetischen Charakter haben und daß
sie uns ein Bild der verschiedenen Veränderungen der Geschichte der Versammlungen hier unten darbieten. Und was
zeigen sie uns, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, anders, als einen zunehmenden Verfall inmitten teilweiser
und augenblicklicher Belebungen — von der Versammlung
zu Ephesus an, welche ihre erste Liebe verlor, bis zu Pergamus, der Gemeine der weltlichen Größe, welche da wohnt,
wo der Sitz Satans ist; und von Thyatria an, wo die Lüge
offen gelehrt wird und welche nur einen Überrest hat, bis
zu Laodicea, der Gemeine, welche aus dem Mund des Herrn
gespieen und mit den Völkern gerichtet wird? „Wenn du
nicht an der Güte bleibest, so wirst auch du ausgeschnitten
werden." „Ich werde dich aus meinem Munde speien", sagt
der Herr zu dem, was am Ende noch den Namen,, Versammlung" auf der Erde trägt. Und was ist der Rest der Offen46
barung bis zum 19. Kap. anders, als ein düsteres Gemälde
der schrecklichen Gerichte, welche am Ende auf eine abgefallene Christenheit kommen werden? Wir finden in der Zeit,
wo diese Kapitel ihre Anwendung haben, nichts mehr auf
der Erde, was den Charakter der Braut Christi trägt. Wir
sehen wohl einzelne Heilige, welche für das kommende
Reich ihres Herrn inmitten vieler Wehen, Zeugnis ablegen,
und welche selbst die Erde mit vielen Plagen schlagen (Offb.
11, 5. 6); allein dies ist nicht der Charakter der Glieder
Christi (Luk. 9, 55). Im Himmel hören wir das Lied der Versammlung (Offb. 5) und au s dem Himmel sehen wir sie
kommen (Offenb. 19), um den Herrn zu begleiten, wenn Er
kommt, Sein Reich in Besitz zu nehmen. Sie ist also vorher
dorthin versammelt worden. Ja, in der Tat, die Treue Gottes
kann nie fehlen; Er hat es gesagt, daß Seine Auserwählten
durch die Macht Gottes für das Heil bewahrt werden. Er
hat Seinen Jüngern, ehe Er die Erde verließ, gesagt (Joh. 14,
2. 3): „Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten usw." Es
muß, trotz des Verfalls und der Zerrüttung der Gemeine
durch die Sünde des Menschen, dies Wort des Herrn sich erfüllen, —• wie es auch geschehen mußte, daß Paulus, ungeachtet des Unterganges des Schiffes, welches ihn trug, dem
Kaiser dargestellt wurde.
Aber wan n findet die Vereinigung der Versammlung
mit ihrem Haupte statt? Sollte es nicht in Philadelphia sein,
dieser Versammlung mit einer kleinen Kraft, welche aber
den Namen ihres Meisters nicht verleugnet, und das Wort
Seines Ausharrens gehalten hat? Deshalb sagt der Herr:
„Ich werde dich bewahren vor der Stunde der Versuchung,
welche über den ganzen Erdkreis kommen wird usw." (Offb.
3, 7—13). Was kann diese Versuchung anders sein, als die
große Drangsal, welche wir in Jesaias 2, 10—19, Jer. 30, 6—9,
23 u. 24, Daniel 12, 1, Matth. 24, 22 usw. beschrieben finden.
Ohne Zweifel könnte Philadelphia in der Mitte dieser Versuchung bewahrt werden, wie Noah inmitten der Sintflut.
Dies letztere wird auch mit den Heiligen geschehen, welche
dann auf der Erde sein werden, aber in diesem Fall wäre
Philadelphia nicht „v o r der Stunde der Versuchung bewahrt." Zu diesem Zweck muß sie nicht nur an einem Ort
sein, wo die Versuchung nicht durchdringt, sondern sogar an
einem Ort, wo. die Stunden nicht mehr gezählt werden. Sie
muß in dem Himmel sein, wie Henoch, welcher dorthin entrückt und also vor der Stunde der Sintflut bewahrt wurde.
Und ist nicht die Tür des Himmels vor dir offen? Wenn es
aber also ist, was ist dann die von so vielen geträumte
„Kirche der Zukunft", die hier unten das Ideal der Gemeine
47
verwirklichen soll. O, es ist eine Täuschung, deren Wirkung
ist, daß die Gedanken und Hoffnungen sich an die Erde
knüpfen, die nach oben gehen sollten! Ja, es gibt, wenn man
will, eine Kirche der Zukunft, es gibt selbst zwei, Phila -
delphia , die jetzt gesammelt und morgen vielleicht dem
Herrn entgegengerückt wird; Laodicea , welche dann aus
Seinem Mund ausgespieen und mit den Völkern gerichtet
wird, mit welchen sie Hurerei getrieben hat. Aber es gibt
im jetzigen Zeitlauf keine andere Versammlung.
Die Zerstörungen, welche die Sünde in Israel gemacht
hatte, sollten nur durch den Herrn bei Seiner Ankunft völlig
gehoben werden. Das zeigt ein aufmerksames Lesen der
Propheten auf jeder Seite. Auch wollten die von dem Heiligen Geist Unterrichteten das Reich Israel nicht selbs t
wiederherstellen oder sich an die Stelle der verlorenen Bundeslade eine neue machen; sondern sie erwarteten in dem
Gefühl Dessen, was ihrem Volk mangelte, demütig den
„Trost Israels" —• jene Zeiten, welche durch die Propheten
vorhergesagt waren, wo der Herr Selbst aus David einen
„gerechten Zweig" hervorgehen ließe, welcher als König
herrschen sollte; und in dessen Tagen Juda erlöst, Israel in
Sicherheit wohnen und Jerusalem selbst der „Thron des
Herrn" sein würde (Luk. 2, 25—28; Jer. 3,16. 17; 23,5.6).
Nun ist es für die Versammlung in gewisser Hinsicht
dasselbe. Jede Hoffnung, sie also, wie sie in den ersten Tagen war, herzustellen, ist Einbildung und ohne Grund; denn
sie könnte nur Grund in der Verheißung des Herrn haben,
deren es aber keine der Art gibt. Bedenken wir vielmehr
im Gegenteil: 2. Thess. 2, 1—8. Wie könnte einer so be-r
stimmten Erklärung gegenüber eine solche Hoffnung bestehen? Doch soll dies nicht in dem Werk der Erbauung der
Heiligen entmutigen; denn die Segnungen, welche der Herr
über die Zerstreuten ausbreiten will, welche mitten im Verfall in Aufrichtigkeit auf Ihn harren, können nicht begrenzt
werden. Wir haben, um sicher zu dem Ziel unserer Berufung
geführt zu werden, das Wort und den Geist Gottes. Paulus
scheint dies den Ältesten zu Ephesus ins Gedächtnis rufen zu
Wollen, als er, nachdem er ihnen den schrecklichen Verfall
der Versammlung verkündigt hatte, hinzufügt: „Nun befehle
ich euch, Brüder, Gott und dem Wort seiner Gnade, welches
mächtig ist, aufzuerbauen und euch ein Erbe unter allen Geheiligten zu geben" (Apg. 20, 32).
Wir haben die köstliche Verheißung, daß der Herr da,
wo zwei oder drei in Seinem Namen versammelt sind, in
ihrer Mitte ist. Laßt uns nun nicht in eigener Kraft das tun,
48
w as uns der Herr nicht geboten hat, und wozu wir keine
Verheißung haben; laßt uns nicht durch Organisationen und
Anordnungen, welche nur Hindernisse unter den Schafen
des Herrn sind, das herstellen wollen, was nicht hergestellt
werden kann.
Laßt uns als „Jünger", als „Brüder" im Namen des Herrn
und auf Seinen Geist uns verlassend, uns vereinigen. Unsere
Versammlung der Zukunft sei die des Himmels; und ich
wiederhole, daß wir den Segnungen, welche der Herr noch
über uns verbreiten wird, keine Grenzen setzen können.
Aber das erste Mittel, um diese Segnungen zu erhalten, ist
die Demütigung; denn Gott erniedrigt den, der sich erhöht
und erhöht den, der sich erniedrigt. Dies haben wir in der
Erlösung jedes Einzelnen von uns erfahren, indem wir erst
dann, nachdem wir uns erniedrigt, verdammt und vernichtet
hatten, Erhöhung, Friede und Gewißheit fanden. Warum
sollte Gott, wenn es sich um die Versammlung handelt, von
diesem Grundsatz abgehen? Wenn jemand, befriedigt von
seiner Versammlung, seinem Leben und seinen Fortschritten
sagen würde: wozu soll ich mich für die Untreuen anderer
demütigen? so ist sehr für ihn zu befürchten, daß er von
dem Geiste des Pharisäers in dem Gleichnis, oder wenigstens von dem der Juden habe, welche bei den Aufforderungen der Propheten, antworteten: „der Tempel des Herrn,
der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn!" Jer. 7) indem
sie sich eines Dienstes rühmten, an dem Gott keinen Gefallen mehr hatte, und eines Tempels, welchen Er verlassen
wollte. In jedem Falle wäre dies Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit, — Kurzsichtigkeit , nur in seiner Versammlung, seiner Sekte, Glieder Christi unterscheiden zu
können, — Engherzigkeit , nicht das Bedürfnis zu
fühlen, sich für das Elend, in welchem die zerstreuten Glieder des Leibes Christi seufzen, zu demütigen.
Ohne Zweifel ist die Christenheit nicht der Leib Christi;
wenn es aber, wie man nicht zweifeln kann, in ihren verschiedenen Teilen Gläubige gibt, d. h. von unseren Gliedern,
unserem Fleisch, unserem Blut, so haben wir uns für diese
Zertrennung selbst zu demütigen, als über etwas, welches
den Absichten des Herrn und Seinem Ruhm entgegen ist.
Wir haben uns für verschiedenartige Untreuen, in welchen
unsere Brüder verwickelt sind, und infolge derer sie leiden,
zu demütigen; denn wenn ein Glied leidet, so leiden alle
Glieder mit (1. Kor. 12, 26). Als Daniel für sein Volk zu Babel
bat, zögerte er nicht, zu sagen: „W i r haben gesündigt; wi r
sind gottlos gewesen, w i r haben übel gehandelt, w i r sind
Empörer gewesen usw." (Dan. 9).
18 49
Wäre denn die Gemeinschaft und die Verbindlichkeit der
Versammlung unter sich weniger enge, als diejenige, welche
zwischen den Gliedern des Volkes Israel existierte? Übrigens tragen wir alle das, was den Verfall der Versammlung
herbeigeführt hat, in uns. In diesem Sinne haben wir alle
Teil daran, und wir leiden alle darunter; wir leiden alle an
der Schwachheit der geistlichen Gaben, an dem Mangel und
der Kraft der himmlischen Hebe, weil der die Früchte hervorbringende Geist so mannigfach betrübt worden ist. Wir
leiden infolge unserer Trennungen, infolge der Schwachheit,
infolge vorgefaßter Meinungen und infolge des Erkaltens der
brüderlichen Liebe, welches dadurch entsteht. Laßt uns
denn in einer gemeinsamen Demütigung uns vereinigen, und
uns darnach gegenseitig trösten und ermuntern durch die
Hoffnung, daß der Herr bald kommt, um uns von allem Bösen zu befreien und uns in Sein himmlisches Reich einzuführen.
IV.
Entrückung der Versammlung
„Wenn wir glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist, also wird auch Gott die Entschlafenen durch Jesum
mit ihm bringen. Denn dies sagen wir euch im Wort des
Herrn, daß wir, die Lebenden, die bis zur Ankunft des
Herrn übrig bleiben, den Entschlafenen nicht zuvorkommen
werden. Denn der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf,
mit der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes
vom Himmel herabsteigen; und die Toten in Christo werden
zuerst auferstehen. Darnach werden wir, die übrig gebliebenen Lebenden, zugleich mit ihnen in den Wolken dem
Herrn entgegengerückt werden in die Luft, und also allezeit
bei dem Herrn sein. So ermuntert nun einander mit diesen
Worten" (1. Thess. 4, 14—18).
In diesen Worten haben wir die klarste und vollkommenste Offenbarung über die Entrückung der Versammlung.
Es werden uns darin drei Dinge, welche durch den Herrn in
Seiner Zukunft erfüllt werden, dargestellt:
1. Die Auferstehung der bis dahin gestorbenen Glieder
der Versammlung.
2. Die Verwandlung der übriggebliebenen Lebenden.
3. Die Entrückung, sowohl der einen, als der anderen,
dem Herrn entgegen.
1. Die Tatsache, daß mehrere voneinander getrennte Auferstehungen stattfinden werden, geht schon aus diesem einen
Ausdruck hervor: „Auferstehun g au s de n Toten "
(Apg. 4, 2; Luk. 20, 35; Phil. 3,11). Sie wird uns aber auch in
mehreren besondern Aussprüchen klargestellt; z. B. Luk. 14,
14: „Glückselig wirst du sein, weil sie nicht haben, dir zu
vergelten; denn es wird dir i n de r Auferstehun g
d e r Gerechte n vergolten werden."
Luk. 20, 35: „Die aber für würdig gehalten sein werden,
jenes Zeitlaufes und de r Auferstehun g au s de n
Tote n teilhaftig zu sein, werden weder heiraten, noch verheiratet werden. Denn sie können auch nicht mehr sterben;
51
denn sie sind Engeln gleich und sind Söhne Gottes, weil sie
Söhn e de r Auferstehun g sind." Dies ist keine Auferstehung alle r Toten, weil nur einige dieser Auferstehung, sowie jenes Zeitlaufes für würdig gehalten werden;
und weil sie infolge dieser Auferstehung den Engeln gleich
sind — „Söhne Gottes, weil sie' Söhn e de r Auferste -
hung " sind — so wie Jesus Christus Selbst durch Seine
Auferstehung, als Sohn Gottes in Kraft erwiesen wurde
(Röm. 1, 4).
Phil. 3, 11: „Ob ich auf irgend eine Weise zu r Aufer -
stehun g au s de n Tote n hingelangen möge." Paulus
hätte nicht so sprechen können, wenn es nur ein e Auferstehung gäbe, zu welcher sowohl Gerechte als Ungerechte
gleicherweise und ohne irgendwelche Anstrengung gelangen
würden.
Die Belehrung, welche Paulus den Korinthern über die
Ordnung, in welcher die Auferstehung geschieht, gibt,
stimmt völlig mit dem Gedanken einer besondere n
Auferstehung der Versammlung bei der Zukunft Christi
überein, worauf dann eine andere für die Übrige n der
Toten erfolgt, wie wir sogleich sehen werden. „Denn gleichwie in dem Adam alle sterben, so werden auch in dem Christus alle lebendig gemacht werden, jeglicher aber in seiner
eigenen Ordnung. Christus — Erstling. Darnach die, welche
des Christus sind bei Seiner Ankunft. (Dies kann in keinem
Fall auf die Bösen Bezug haben.) Dann das Ende" (1. Kor.
15, 22. 23).
Halten wir uns jedoch einen Augenblick bei Joh. 5, 28. 29
auf, weil man diese Stelle oft als Beweis für eine einzige
Auferstehung anführt, und suchen wir den Gedanken des
Herrn hier recht zu fassen. Jesus, von den Juden der Gotteslästerung angeklagt, weil Er Sich Sohn Gottes nannte, rechtfertigt Sich, indem Er zeigt, daß der Vater dem Sohne Macht
gegeben hat, das alles auch zu tun, was der Vater Selbst tut.
Dem Vater aber gehört die Lebendigmachung, die Auferweckung und das Gericht; und der Sohn tut ganz dieselben
Dinge, wie wir vom 14. Vers an lesen.
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort höret
und glaubet dem, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben
und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod
in das; Leben hinübergegangen." Dies ist die Lebendigmachung der Geistlich-Toten durch den Glauben an das Wort
Jesu. Hiermit ist alles über diesen Gegenstand gesagt.
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, daß die Stunde kommt
und ist jetzt, wo die Toten die Stimme des Sohnes Gottes
hören werden, und die sie gehört haben, werden leben."
52
Geht nun der Herr, indem Er hier den obenerwähnten Gedanken wiederholt, nicht weiter, und umfaßt Er nicht auch
darin die leibliche Auferstehung derjenigen, welche geistlicher Weise durch den Glauben an Sein Wort lebendig gemacht sind? Wenn es nicht so wäre, so würde dieser Vers zu
dem vorigen nichts hinzufügen. Bei dieser Voraussetzung
aber ist das Wort „werden leben" um so besser gewählt, indem es ebensowohl die Verwandlun g der lebenden
Heiligen, in welcher das Sterbliche vom Leben verschlungen
wird (2. Kor. 5,4), als auch die Auferstehun g der gestorbenen Heiligen, welche aus ihren Gräbern hervorgehen,
bezeichnet. Es ist zwar wahr, daß Jesus diesen Augenblick
mit den Worten bezeichnet: „Es kommt die Stunde, und ist
schon jetzt", eine Ausdrucksweise, welcher Er Sich bei der
Samariterin bediente, um die Zeit der Versammlung zu bezeichnen (Joh. 4, 23). Es geschieht dies deshalb, weil in der
Tat die herrliche Lebendigmachung der Versammlung nur
die volle Offenbarung des Lebens Christi ist, welches von
jetzt an in ihr ist (Kol. 3, 3. 4). Ihre Lebendigmachung ist
durch kein Ereignis, noch durch irgend eine Zwischenzeit
von der Stunde ihrer Pilgrimschaft hier unten getrennt. Sie
ist nur der letzte „Augenblick", der „letzte Nu" derselben
(1. Kor. 15, 52). Warum sollte sie in den Worten des Herrn
getrennt sein?
„Denn gleich wie der Vater das Leben in sich selbst hat,
also hat er auch dem Sohne gegeben, das Leben in sich
selbst zu haben" (V. 26). Dieses erinnert an die Worte Jesu
zu Petrus: „Auf diesen Felsen (den Sohn des lebendigen
Gottes) will ich meine Versammlung bauen, und die Pforten
des Hades werden sie nicht überwältigen" (Matth. 16, 18).
Als Sohn des lebendigen Gottes habe ich das Leben in mir,
wie der Vater das Leben in Sich Selbst hat; und wie ich das
Leben habe, so werden diejenigen, welche mir angehören, es
auch haben. Wie ich siegreich aus dem Hades hervorgegangen bin, so werden auch sie daraus hervorgehen. Weil ich
lebe, werden auch sie leben. „Unser Leben ist mit dem
Christus in Gott verborgen. Wenn der Christus, unser Leben,
offenbart sein wird, dann werden auch wir mit ihm in
Herrlichkeit offenbart werden" (Kol. 3, 3. 4).
„Und er hat ihm Gewalt gegeben, auch Gericht zu halten, weil er des Menschen Sohn ist" (V. 27). Nach der herrlichen Lebendigmachung und Himmelfahrt der Versammlung
durch die Stimme „des Sohnes Gottes" kommt das durch
„den Sohn des Menschen" ausgeübte Gericht; ein Gericht,
welches sich von dem Gericht über die Nationen bei Seiner
Ankunft, bis zu dem der Toten, Geringen und Großen, vor
dem großen weißen Thron erstreckt.
„Wundert euch darüber nicht; denn es kommt die Stunde,
53
in welcher alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden, und es werden hervorkommen, die, welche Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber,
welche Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts"
(V. 28.29). Wundert euch nicht darüber, daß der Sohn des
Menschen richten wird, denn Ihm kommt es auch zu, die
Toten auf zuerwecken. „Die Stunde kommt . . . . " Di e
Stund e de r Versammlung , das verborgene Geheimnis, hat schon 1800 Jahre gedauert; und wir können nicht
sagen, wie lange sie währen wird. Und nichts tritt dem Gedanken entgegen, daß d i e Stunde, von welcher hie r die
Rede ist, nicht mindestens tausend Jahre dauere; und sie
ist sowohl eine Stunde der Auferstehung, als auch des Gerichtes. — Es findet am Anfang derselben Auferstehung statt,
bei der Ankunft des Sohnes des Menschen, gleich nach der
großen Trübsal. Von dieser Auferstehung, oder wenigstens
von einem Teil dieser Auferstandenen, nämlich derjenigen,
welche zum Leben auferstehen, redet Jesus in Luk. 20, 35;
denn hier trägt alles einen jüdischen Charakter. Dies e
Auferstehung war es auch, welche Daniel in Kapitel 12, 2 sah
(und nicht die de r Versammlung) , weil sie nach der
großen Trübsal erfolgt. Übrigens sagt auch der Prophet an
dieser Stelle: „Viele " (nicht alle) , „welche im Staub
der Erde schlafen." Es entspricht also dem, was Jesus sagte,
nicht genau: „Alle , die in den Gräbern sind usw." Dies
kommt daher, weil in der Tat, nach den tausend Jahren die
Auferstehung derer stattfindet, welche bis dahin in den
Gräbern geblieben sind, um vor dem großen weißen Thron
zu erscheinen. Der Ausdruck des Herrn: „Alle welche in den
Gräbern sind", bezeichnet wie mir scheint die Gesamtheit
dieser, außer der Versammlung der Auferstandenen, und
zwar aller, ohne daß ein einziger fehlt.
Vor allem aber haben wir in Offenbarung 20, 4—6, zwei
sich klar unterscheidende Auferstehungen: „Die erst e Auferstehung", welche für immer von der Macht des zweiten
Todes befreit, und die „Auferstehung de r übrige n de r
Toten. " Wir erfahren ferner, was nirgends sonst gesagt
ist, daß der Zwischenraum zwischen diesen beiden Auferstehungen mindestens tausend Jahre beträgt.
Wird man sagen, daß die erst e Auferstehung eine
geistliche Auferstehung sei? Dann würde aber die zweite ,
welche aus „den Übrigen der Toten" besteht, es ebenfalls
sein; denn dieser Ausdruck: de n Übrige n au s de n
Toten " zeigt an, daß diese mit denen, welche schon zum
voraus von ihnen herausgenommen, von gleicher Natur sind;
und in diesem Falle gäbe es keine Auferstehung. Übrigens
finden wir die Versammlung im ersten Teil des 4. Verses:
„Und ich sah Throne, und sie saßen darauf, und es ward
54
ihnen Gericht gegeben (1. Kor. 6, 2). Denn sehen wir noch
andere Heilige, welche auch einen Teil der Auferstehung
bilden, aber nicht zur Versammlung gehören, weil sie durch
die große Trübsal gegangen sind, vor welcher Stunde die
Versammlung die Verheißung hat, bewahrt zu werden. Sie
haben weder das Tier noch sein Bild angebetet, und haben
das Malzeichen nicht auf ihre Stirn noch auf ihre Hand angenommen. Sind es nicht diejenigen, von welchen Offb. 6,
9—11 die Rede ist; sowohl diejenigen, welche dann schon
getötet worden sind, als auch diejenigen, welche es von
diesem Augenblick an sein werden?
So kann also die gewöhnliche Annahme einer einzigen
Auferstehung der Gerechten und Ungerechten, die in dem
Augenblick vor dem letzten Gericht stattfinden soll, nicht
bestehen, wenn wir die auf diesen Gegenstand bezüglichen
Stellen nur einigermaßen ernstlich untersuchen.
Wenn es nur eine einzige Auferstehung gibt, welche im
Augenblick, wo Himmel und Erde vor dem großen weißen
Thron entfliehen, stattfindet (Offenb. 20, 11—13), wie soll
man sich denn Römer 8, 18—23 erklären, wo die Wiederbelebung diese r Schöpfung offenbar an die Erlösung der
Leiber der Heiligen, nämlich an ihre Auferweckung geknüpft
ist? Wie soll man sich auch Stellen erklären, wie Matth. 19,
28. 29; 1. Kor. 6, 2; Offb. 2, 26. 27; Jes. 25, 8—10; verglichen
mit 1. Kor. 15, 54? Wir sehen in der Tat in Jes. 25, 8—10,
daß, nachdem der Tod durch den Sieg verschlungen ist, der
Herr Moab zertreten wird, wie man das Stroh zertritt, um
Dünger daraus zu machen. Diese Worte sind aber 1. Kor. 15,
54 gebraucht für die Auferstehung der Heiligen, so daß also,
nachdem diese Auferstehung stattgefunden haben wird,
Moab zertreten wird. Man versucht dies in dem System
einer einzigen Auferstehung zu erklären!
Nicht allein di e Versammlun g wird vor den Bösen,
welche bis zum Schlußgericht in den Banden des Todes gehalten werden, auferstehen, sondern auch, wenn der Sohn des
Menschen in Seiner Herrlichkeit kommt, um die Welt zu richten und Israel zu befreien, werden auch die Heiligen die -
s e s Volkes, und andere, welche in Beziehung zu Ihm waren,
auferstehen, um am Reich Teil zu haben, so wie auch, wie
es scheint, Böse, um gerichtet zu werden. Dann wird ein
Daniel, ein Jesajas usw. auferstehen, und sie werden „ihr
Los am Ende der Tage" haben.
Aber Etliche werden zu vielfältiger Schmach und ewiger
Schande erwachen, denn „die Zeit der Toten, um gerichtet
zu werden, ist gekommen, und den Lohn zu geben deinen
Knechten, den Propheten, und den Heiligen und denen,
welche deinen Namen fürchten, den Geringen und den Großen, und die zu verderben, welche die Erde verderben"
55
(Offenb. 11, 18; Jes. 25, 8; 26, 19. 21; Dan. 12, 2. 13; Matth.
11, 20—25; 12, 41. 42; Luk. 10, 12—14; 11, 30—33; 2. Tim. 4, 1;
1. Petr. 4, 5). Dann wird endlich die Erlösung Israels durch
den Sohn des Menschen in Herrlichkeit stattfinden, und die
Auferstehung der gestorbenen Heiligen dieses Volkes ist
nur der erste Akt dieser Erlösung, wie die Auferstehung der
Toten der Versammlung, der erste Akt der Erlösung der
Versammlung ist.
Zwar sind diese verschiedenen Auferstehungen manchmal in zwe i zusammengefaßt: in die Auferstehung der
Gerechten, und in die der Ungerechten (Joh. 5, 29), oder in
die erste Auferstehung und in die der Übrigen der Toten
(Offenb. 20). Und in der Tat gibt es in Betreff des Cha -
rakter s der Auferstandenen, nur zwei Klassen, Gerechte
und Ungerechte; nämlich solche, welche zum Leben, und
solche, welche zum Gericht auferstehen. Ebenso kann man
sie in Betreff der Zei t dieser Auferstehungen, in zwei zusammenfassen: die einen werden bei der Ankunft des Herrn
(im allgemeinsten Sinne des Wortes genommen, ohne Seine
Ankunft für die Versammlung, und die für Israel zu unterscheiden) auferstehen, und bilden zusammen die „erste Auferstehung"; die anderen bilden die „Übrigen der Toten."
Was auch übrigens die Schwierigkeiten sein mögen,
welche dieser Gegenstand, falls man ihn ein wenig ergründen will, darbieten kann, so bleibt es doch klar (und dies
wollten wir hauptsächlich darzutun suchen), daß die Auferstehung der Versammlung, von der Auferstehung der Bösen gänzlich getrennt ist, sowohl in Betreff de r Zeit , als
auch in Betreff der darin wirkende n Grundsätze .
In Betreff de r Zei t bleiben die Bösen — mit Ausnahme
derer, welche in Beziehung zu Israel waren, und welche im
Augenblick der Erlösung dieses Volkes gerichtet werden, —
in den Banden des Todes, bis daß sie der Herr zum Gericht
vor den großen weißen Thron ruft. Die Versammlung, als
Erstlinge der neuen Schöpfung, steht vor der Vollendung des
Zeitalters auf, bei der Ankunft des Herrn, und wird Ihm
entgegengerückt. „Jeglicher in seiner Ordnung. Christus —
Erstling. Darnach die, welche des Christus sind bei seiner
Ankunft" (1. Kor. 15, 23).
In Betreff der dari n wirkende n Grundsätz e
stehen die Bösen durch eine unüberwindliche Kraft des
Herrn, welcher sie zum Gericht ruft, auf. Die schon gerechtfertigte, des geistlichen Lebens ihres Hauptes teilhaftig gewordene Versammlung, steht durch das Herannahen dieses
herrlichen Hauptes, dessen leibliches Leben sich Seinen im
Staub der Erde schlafenden Gliedern mitteilt, auf. Die in
Christo Entschlafenen sind wie ein erstarrter Leib, der
wieder Leben gewinnt, und der beim Herannahen des le56
bendigen Hauptes, welcher ihn ruft, und welcher kommt,
um sich mit ihm zu vereinigen, sich erhebt.
2. „Darnach werden wir, die übrig gebliebenen Lebenden,
zugleich mit ihnen in den Wolken dem Herrn entgegen gerückt werden in die Luft." Wenn nun schon die Verwandlung der Lebenden hier nicht eigentlich bezeichnet ist, so ist
sie doch darunter verstanden; denn wir können nicht mit
diesen schweren und gebrechlichen Leibern, in den Wolken
dem Herrn entgegen gerückt werden in die Luft, und können nicht den Himmel bewohnen und seine Freuden genießen. Paulus sagt anderswo: „Fleisch und Blut können das
Reich Gottes nicht ererben; auch erbt die Verwesung nicht
die Unverweslichkeit." Er fügt auch zugleich hinzu: „Siehe!
ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, in einem
Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune. Denn posaunen wird es, und die Toten werden unverweslich auferweckt werden, und wir werden verwandelt werden. Denn
dies Verwesliche muß Unverweslichkeit anziehen, und dies
Sterbliche Unsterblichkeit anziehen. Wenn aber dies Verwesliche Unverweslichkeit anziehen wird, und dies Sterbliche Unsterblichkeit anziehen wird, dann wird das Wort erfüllt werden, welches geschrieben steht: Verschlungen ist der
Tod in einen Sieg" (1. Kor. 15, 50—54). „Dann, wenn er offenbart ist, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden
ihn sehen, wie er ist" (1. Joh. 3, 2).
„Wir erwarten vom Himmel als Heiland den Herrn Je -
sum Christum, der den Leib unserer Niedrigkeit umgestalten wird, daß er dem Leib seiner Herrlichkeit gleichförmig
sei, nach der Wirkung, womit er vermag alle Dinge sich
untertänig zu machen" (Phil. 3, 20. 21).
Paulus erwartete demnach die Verwandlung und nicht
den Tod, wie er es in 2. Kor. 5, 4 sagt: „Wir wünschen nicht
entkleidet, sondern überkleidet zu werden, damit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde"; obschon er gleich bereit war durch den Tod abzuscheiden, wenn ihn Gott dazu
berufen würde; was ihm immer weit besser schien, als in
diesem Leib abwesend vom Herrn zu sein (Phil. 1, 21—24).
Aber anstatt diese Erwartung des Paulus zu bewahren,
und mit ihm zu wiederholen: „Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden", hat
man sich nicht gescheut, ihn der Lügen zu strafen, indem
man sagt: Dies ist gewiß, daß wir alle sterben müssen; und
so hat man die Seelen und Herzen der Christen von der Erwartung des Herrn hinweggezogen, welche nach der Gnade
die kräftigste Triebfeder jeder wahren Hingabe und jedes
freudigen Gehorsams ist, um sie auf den Tod, diesen Sold
57
der Sünde, zu lenken, welcher an und für sich nur einen gezwungenen und knechtischen Gehorsam hervorbringen kann;
Doch man sagt oft, indem man glaubt, ein Wort der Schrift
anzuführen, es sei allen Menschen verordnet, einma l zu
sterben. Aber nein, das Wort sagt das nicht, denn es wäre
im Widerspruch mit sich selbst. Es sagt: „Gleich wie es den
Mensche n obliegt, einmal zu sterben, darnach aber das
Gericht, also wird auch der Christus, einmal geopfert, um
Vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Mal ohne Sünde denen, die ihn erwarten, zur Seligkeit erscheinen" (Hebr. 9,
27. 28).
Demgemäß sagt es uns, daß es de n Menschen , den
meisten Menschen, obliegt, einmal zu sterben, und erinnert
uns zugleich daran, daß Christus ein zweites Mal, ohne
Sünde, von einigen gesehen wird, welche also nicht sterben
werden, nämlich von denen, welche, Ihn zur Seligkeit erwartend, im Augenblick Seiner Ankunft leben werden.
3. In diesem Augenblick, in diesem Nu, werden sowohl
die Auferstandenen als die Verwandelten „zusammen in den
Wolken dem Herrn entgegengerückt werden in die Luft."
Henoch und Elias hatten schon das Vorrecht, die Erde zu
verlassen, um in den Himmel aufzufahren ohne durch den
Tod zu gehen. Henoch hatte, wie es scheint, keine Zeugen
Seiner Entrückung, über welche wir nichts Näheres wissen.
Elias, als Prophet de s Bundes, welcher unter Sturm, Blitzen
und Donnern gegeben wurde, wurde in einem Sturmwind,
durch einen Feuerwagen und durch Feuerrosse entrückt.
Jesus als Mittler eines besseren Bundes, eines Bundes der
Gnade, wurde auf Wolken entrückt. Die Versammlung, Sein
Leib, wird wie Er entrückt.
Es wird übrigens keine langsame und schmerzhafte Umwandlung sein, wie die der Puppe, deren Neugeborener
lange seine schlaffen und ungeschickten Flügel schütteln
muß, ehe er sich fröhlich in die Luft erheben kann.
Es wird nicht einmal, wie bei der Auferstehung des Lazarus sein, der aus seinem Grab mit Tüchern gebunden herauskam, die man losmachen mußte, damit er gehen konnte.
In einem Augenblick, in einem Nu wird diese Auferstehung
der gestorbenen Heiligen und die Verwandlung der Lebenden stattfinden, so wie auch ohne Zweifel die Entgegenrükkung dem Herrn, der einen wie der anderen.
Also wird die köstliche Verheißung, welche der Herr Seinen Jüngern, ehe Er sie verließ, gab, erfüllt: „Im Hause
meines Vaters sind viele Wohnungen; wenn es aber nicht so
wäre, so würde ich es euch gesagt haben. Ich gehe hin, für
euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingegangen bin
und euch eine Stätte bereitet habe, komme ich wieder und
58
werde euch zu mir nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr
seid" (Joh. 14, 2. 3).
So vollendet sich endlich das Werk Gottes in Seinen Auserwählten. Diese Vollendung ist gleichsam das letzte Wort
unserer himmlischen Berufung, ohne welches wir nie einen
klaren und vollkommenen Begriff von ihr haben würden.
Die Versammlung ist die himmlische Eva, welche, nachdem sie aus der Seite ihres Mannes, während Er auf dem
Throne des Vaters ruhte, genommen ist, Ihm bei Seinem Erwachen als herrliches Weib, „ohne Flecken und Runzeln,
noch etwas dergleichen, sondern heilig und tadellos dargestellt wird" (Eph. 5, 27).
Da uns Gott vor Grundlegung der Welt in Christo Jesu
erwählt hat, so hat Er uns auch damals „lebendig gemacht,
auf erweckt und in die himmlischen örte r versetzt", denn
„welche er zuvor erkannt hat, die hat er auch zuvor bestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit
er der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei" (Röm. 8, 29;
Eph. 1,2.3; 2,5.6). Diesen Vorsatz der freien und gnadenvollen Liebe des Vaters aber, hat der Sohn in uns angefangen zu verwirklichen, als Er uns zu Sich zog und durch den
Glauben mit Sich vereinigte. So mit Ihm in Gemeinschaft
gesetzt, haben wir in einem gewissen Grad Seine Gesinnung
angenommen und sind ein Widerschein Seines Bildes. Dies
will Er nun vollenden, indem Er unsere toten Leiber lebendig macht und sie zur Gleichförmigkeit Seines herrlichen
Leibes umgestaltet. Der Herr hat uns in einer Beziehung
schon von der Welt getrennt, indem Er uns ihre Nichtigkeit
und ihr Verderben zu erkennen gab und unsere Neigungen
und unsere Gesinnung zu Sich hinzog. Auch dieses will Er
in uns vollenden, indem Er uns zu Sich auf den Wolken
außerhalb der Welt zieht.
Das vom Herrn zu diesem bewunderungswürdigen Werk
angewandte Mittel ist immer dasselbe, nämlich Sein Wort.
Sein Wort, vielleicht aus dem Munde eines schwachen und
von der Welt verachteten Gläubigen herkommend, ist es,
das uns lebendig macht, und uns von der Welt trennt, um
uns mit Ihm zu verbinden. Sein Wort wird es auch sein,
aber als gebietender Zuruf, der vom Himmel mit der Stimme
des Erzengels und mit der Posaune Gottes ertönt, welches
das letzte Teilchen unserer Leiber lebendig macht und uns
mit Ihm für immer vereinigt. Die, welche Seine Stimme,
die zum Glauben und zur Bekehrung rief, hörten, und ihr
folgten, werden Seine herrliche Stimme entweder in den
Gräbern hören und daraus hervorgehen, oder sie in der Gebrechlichkeit dieses sterblichen Leibes vernehmen und verwandelt werden. Diejenigen hingegen, welche sich weiger59
ten, sie zu hören und ihr zu gehorchen, als dieselbe sie zur
Bekehrung rief, werden in den Banden des Todes bleiben,
bis daß sie zum Gericht auferstehen.
So erfüllt Dein Wort, Herr Jesu, Deine gesegnete Stimme
alles in den Deinen, wie Du es auch gesagt hast: „Meine
Schafe hören meine Stimme und sie folgen mir."
O! wieviel süßer und köstlicher würde uns die liebliche
Stimme Jesu klingen, wenn wir immer daran dächten, daß
sie bald in den Wolken erschallen wird, um unsere sterblichen Leiber lebendig zu machen und um uns zu Ihm in den
Himmel zu ziehen, auf daß, wo Er ist, auch wir seien! Ach!
wenn der Ungläubige glauben könnte, daß die Stimme, welche ihn jetzt im Evangelium beruft, und die ihm nur als
Schwachheit und Torheit erscheint, die einzige ist, welche
nicht nur seiner Seele Frieden geben, sondern auch seinen
Leib lebendig machen kann! Wenn er glauben könnte, daß
diese Stimme, welche jetzt von Gnade und Vergebung
spricht, sich in ein zweischneidiges Schwert verwandeln
wird, um die Völker damit zu schlagen, und in eine Feuerflamme, um denen Vergeltung zu geben, die Gott nicht kennen und dem Evangelium nicht gehorchen! Wenn er endlich
glauben könnte, daß es die allmächtige Stimme Dessen ist,
welchem man wohl gehorchen muß, wenn sie die Toten, die
Geringen und die Großen zwingen wird, vor Ihm zu erscheinen, um nach ihren Werken gerichtet zu werden! Doch dies
sind Dinge, welche der Geist allein offenbaren kann.
An uns ist es denn, vielgeliebte Brüder im Herrn, „und
Teilnehmer der himmlischen Berufung", Gott ohne Aufhören zu danken, „daß er uns von Anfang zur Seligkeit erwählt hat, in Heiligkeit des Geistes und im Glauben an die
Wahrheit, wozu er uns durch das Evangelium berufen hat,
zur Erlangung der Herrlichkeit unseres Herrn Jesu Christi"
(2. Thess. 2, 13. 14).
Möchte diese glückselige Hoffnung, indem wir sie immer
mehr im Glauben erfassen, immer mehr zu unserem Trost
und zu unserer Heiligung dienen, wie auch gesagt ist: „Tröstet euch nun mit diesen Worten." „Und jeder, der diese
Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich selbst, gleichwie er
rein ist" (1. Thess. 4, 18; 1. Joh. 3, 3).
Weinen wir über geliebte Freunde, die im Herrn entschlafen sind? Lasset uns doch nicht traurig sein; denn Er
Selbst wird bald vom Himmel erscheinen, und auf Seinen
Zuruf werden diese Vielgeliebten zuerst auferstehen, und
wir, die wir leben, werden zusammen mit ihnen in den Wolken dem Herrn entgegengerückt werden in die Luft und
allezeit bei Ihm sein. Dann endigen alle diese durch die Umstände auferlegten Trennungen, diese bitteren Notwendig60
keiten des Lebens, diese oft noch schmerzhafteren Trennungen, welche die Sünde zwischen denen herbeigeführt hat,
welche, da sie nur e i n Leib sind, auch nur ei n Herz und
ein e Seele sein sollten. Im Hause des Vaters werden alle
Kinder um den „Erstling der Entschlafenen" versammelt sein,
ohne daß ein einziges fehlt, und ohne je wieder irgend eine
Trennung befürchten zu müssen. Sollten wir aber weinen,
so laßt uns nicht weinen wie die, die keine Hoffnung haben,
sondern trösten wir einander mit dem Gedanken, „daß wir
allezeit bei dem Herrn sein werden."
Ist uns dieser Leib durch seine Gebrechlichkeiten eine
Last, welche wir mühsam nachschleppen müssen, hindern
uns jene, den Herrn durch unsere Tätigkeit also zu verherrlichen, wie wir es wünschen, so laßt uns stets daran gedenken, daß der Herr, wenn Er kommt, unseren Leib der Niedrigkeit verwandeln und ihn Seinem Leib der Herrlichkeit
gleichgestalten wird. Wie wir jetzt das Bild des irdischen
Adams tragen — eine Quelle der Schmerzen und Seufzer —
so werden wir das Bild des himmlischen Adams tragen —
eine Quelle der Herrlichkeit und des Glückes. Dann werden
wir den Herrn von Angesicht zu Angesicht sehen und Ihm
ohne Ermüdung und Gebrechlichkeit dienen. Habt denn
noch ein wenig Geduld und Mut, Ihn zu verherrlichen, wenn
Er uns in Leiden und Gebrechlichkeiten dazu beruft. „Er
wird bald kommen, und nicht verziehen."
Leiden wir infolge der Armut, der Ungerechtigkeit der
Menschen oder ihrer Verfolgungen, so weiset uns auch da
das Wort zu unserem Trost auf die Ankunft des Herrn (Jak.
5, 7), indem es uns also lehrt, daß die Gewalttätigkeit, die
Ungerechtigkeit und die Unterdrückung auf der Erde herrschend sein werden, bis der Herr kommt, diejenigen zu verderben, welche sie verderben, und um alle Dinge durch
Seine herrlicheGegenwart neu zu machen. Aber vor diesem
Tag werden wir zu Ihm versammelt sein, fern von der Welt
und den Bösen. „So habt denn Geduld, Brüder, bis zu der
Ankunft des Herrn! Siehe, der Ackermann wartet auf die
köstliche Frucht der Erde und hat Geduld über derselben,
bis sie den Frühregen und den Spätregen empfange. Habt
auch ihr Geduld, befestigt eure Herzen; denn die Ankunft
des Herrn ist nahe gekommen."
Wie würden wir in allen unseren Nöten getröstet sein,
wenn wir immer diesen glücklichen Augenblick vor Augen
hätten, wo uns der Herr für immer bei Sich vereinigen wird!
Denn welche Not wird dann nicht wie ein Traum am
Morgen verschwinden? Und wie würde nicht selbst diese
Tröstung zu unserer Heiligung beitragen! Denn woher
kommt Murren, Eifer, Neid, Geiz und so viele Lüste, welche
61
wider die Seelen streiten, wenn nicht daher, daß die Hoffnung unserer baldigen Vereinigung mit dem Herrn nicht lebendig in uns ist? Dann hängen sich unsere armen Herzen,
welche wie das Efeu ein Bedürfnis haben, sich an etwas anzuschließen, an die Erde, da sie sich nicht an den Himmel
hängen können. Wenn aber diese Hoffnung uns belebt, so
wird der Eifer, das Murren usw. einer sanften und geduldigen Erwartung Platz machen, sogar der Freude und der
Danksagung; und anstatt zu dem Irdischen, werden wir zum
Himmlischen hingezogen sein; dann wird auch, während
unsere Füße noch hier unten wandern, unser Herz schon im
Himmel sein.
So heiligt der Heiland die Seinigen; zuerst durch Seine
Gnade und dann durch die Hoffnung Seiner Herrlichkeit,
welche gleichsam eine Ergänzung derselben ist. Als Er uns
in Seiner Gnade sagte: „Gehe hin in Frieden, deine Sünden
sind dir vergeben!" da nahm Er von unseren Herzen die
Last, welche sie fast erdrückte; Er führte uns zu Sich, beschämt von unserer Bosheit und Seiner Liebe. Wir fühlten
dann das Bedürfnis, nicht mehr uns selbst zu leben, sondern
Dem, der uns geliebt und Sich Selbst für uns dargebracht
hat. Indem Er uns sagt: „Ich komme wieder und werde euch
zu mir nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr seid", versetzt
Er unsere Hoffnung, unseren Schatz, unser Leben in den
Himmel. Er macht Himmelsbürger aus uns, welche hier unten für eine kleine Zeit Fremdlinge und Pilgrime sind (Tit.
2,11—14). Der Herr aber richte unsere Herzen zu der Liebe
Gottes und zu dem Ausharren des Christus! (2. Thess. 3, 5).
62
V.
Letzte Entwicklung des Bösen im gegenwärtigen Zeitlauf; seine Zerstörung und die
Einführung des zukünftigen Zeitlaufs
durch den Herrn in Person
1.
Die Entrückung der Versammlung, welche der Welt
unsichtbar ist, läßt diese in ihrem Unglauben
Nicht nur hat die Welt an der Entrüekung der Versammlung keinen Teil, sondern sie sieht sie auch nicht. Dies
scheint wenigstens aus folgenden Erwägungen hervorzugehen:
a) Nichts von dem, was das Wort von dieser Entrückung
sagt, gibt Veranlassung zu glauben, daß sie der Welt sichtbar sei.
b) Die Reden des Herrn, die Er an Seine Jünger richtete
(Joh. 14), lassen uns vielmehr das Gegenteil schließen. Er
sagt ihnen im 19. Vers: „Noch ein wenig und die Welt sieht
mich nicht mehr. Ihr aber sehet mich; weil ich lebe, werdet
auch ihr leben." Eine aufmerksame Erforschung dieser ganzen Rede zeigt uns, daß, wenn der Heiland sagt: „Ich gehe
hin", es nicht „zum Tode" gemeint ist, — im Gegenteil betrachtet Er Sich, indem Er über den Tod hinweggeht, als
hätte Er schon Sein Werk vollbracht (Joh. 13, 31; 17, 4 usw.),
— sondern zum Vater; Er geht in das Haus des Vaters (Kap.
14,2.6.12.28; 16,16—23. 28). — Als Er starb, befahl Er zwar
Seinen Geist in die Hände des Vaters (Luk. 23,46); aber erst
nach Seiner Auferstehung, als Er auf dem Punkte war, in
den Himmel zurückzukehren, sagte Er zu Seinen Jüngern:
„Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott" (Joh. 20, 17). Das „noch ein wenig", welches auf dem Hingang des Heilandes folgte, ist
nicht die Zwischenzeit zwischen Seinem Tod und Seiner
63
Auferstehung, wenn es auch wahr ist, daß Sich Jesus nach
Seiner Auferstehung nur den Jüngern zeigte, und nicht der
Welt. Wir finden aber, daß Seine Jünger Ihn noch nach der
Auferstehung fragten (Joh. 16, 23) und Er warf ihnen ihren
Mangel am Verständnis vor (Luk. 24, 25). — Seine Jünger
wurden nach Seiner Auferstehung auch nicht Seines Lebens
teilhaftig gemacht; denn dies wird erst bei Seiner Wiederkunft stattfinden (Kol. 3, 2. 3). Dann werden sie „erkennen",
daß Jesus in Seinem Vater ist, und sie in Ihm, und Er in
ihnen; dann werden sie Ihn nicht mehr fragen, sondern Ihn
von Angesicht zu Angesicht sehen, und Ihn anbeten und
preisen. Wir sagen also, daß das „noch ein wenig", welches
auf den Hingang des Heilandes folgt, nicht die Zwischenzeit
von Seinem Tode bis zu Seiner Auferstehung ist, sondern
die Zwischenzeit von Seiner Himmelfahrt bis zu Seiner Wiederkunft, die Zeit der Versammlung — ein Geheimnis, welches die Apostel dazumal noch nicht begriffen; welche Zeit
sie aber später mit demselben Ausdruck — „noch um ein gar
Kleines" — bezeichneten (Hebr. 10, 37). Was nun aus diesem
allem folgt, ist dieses, wenn der Herr zu Seinen Jüngern
sagt: „Noch ein wenig und die Welt sieht mich nicht mehr;
Ihr aber sehet mich; weil ich lebe, werdet auch ihr leben",
so kann sich dies nur auf Seine Ankunft, um Seine Versammlung zu holen, beziehen, eine Ankunft, welche also
der Welt unsichtbar bleibt.
Dasselbe wird uns in Hebr. 9, 27 u. 28 gelehrt, wo gesagt
ist, „daß der Herr zum zweiten Mal ohne Sünde denen, die
ihn erwarten, zur Seligkeit erscheinen wird." Er wird also
nicht von allen gesehen werden, wie es später sein wird,
wenn Er kommt, um die Welt zu richten.
c) Alle Vorbilder von der Entrückung der Versammlung
geben uns Veranlassung, diese Entrückung als eine der Welt
unsichtbare zu betrachten. Von Henoch ist gesagt, daß, nachdem er mit Gott gewandelt war, „er nicht mehr vorhanden
war, weil ihn Gott hinweg nahm" (1. Mos. 5, 24); „daß er entrückt wurde, damit er den Tod nicht sehen sollte; und ward
nicht gefunden, weil Gott ihn entrückt hatte" (Hebr. 11, 5).
Dies setzt voraus, daß niemand seine Entrückung sah.
Als Elias gen Himmel entrückt wurde, erhielt Elisa, als
eine besondere Gunst, die Erlaubnis, ihn auffahren zu
sehen. Die Prophetenkinder selbst sahen nichts davon, und
obschon sie von dieser Entrückung benachrichtigt waren,
wollten sie doch, nachdem sie geschehen war, nicht daran
glauben (2. Kön. 2). Wenigstens meinten sie, daß der Geist
Gottes ihn auf irgend einen Berg oder in ein Tal geworfen
hätte.
Der Herr Jesus Selbst, der Erstling Seiner Versammlung,
wurde bei Seiner Himmelfahrt nur von den Jüngern ge64
sehen. So wird es auch der Versammlung gehen. Sie wird
nicht mehr gefunden werden, weil Gott sie hinweggenommen haben wird. Und also wird sie auch in ihrer Entrükkung den Titel „Geheimnis", welchen das Wort ihr gibt,
rechtfertigen; sie ist ein Geheimni s in ihrer Bildung
(Kol. 3, 10. 11), und ihrer Zusammensetzung (Joh. 1, 12. 13),
ein Geheimni s in ihrem verborgenen Leben mit Christo
in Gott (Kol. 3, 3. 4), ein Geheimni s in ihrer Wanderschaft durch diese Welt, welche sie nicht kennt (2. Kor. 6;
9. 10), wie auch endlich ein Geheimni s in ihrem Hingang aus dieser Welt.
Es ist zwar wahr, daß ein so außerordentliches Ereignis
nicht unbemerkt vor sich gehen kann. Man wird dieses Verschwinden bemerken; man wird davon ohne Zweifel in Bewegung gebracht werden, und davon reden, wer weiß?
Einige werden vielleicht in ihrer menschlichen Weisheit darüber urteilen, wie auch die Prophetenkinder über die Entrückung des Elias; aber die Welt wird sich deshalb nicht bekehren. Und wenn wir nicht begreifen können, wie es möglich ist, daß sie einem so großen Zeichen widerstehen kann,
so erinnern wir uns, was bei der Auferweckung des Lazarus
und bei der des Herrn Jesu Selbst geschah. Als Lazarus angesichts einer Menge Juden auferweckt wurde, glaubten
nur einige; die andern gingen hin und erzählten die Sache
den Pharisäern; und diese, darüber erzürnt, daß man zu Lazarus lief, als einem Zeugen der Macht Jesu, suchte man
beide, sowohl Jesum als auch Lazarus, zu töten (Joh. 11, 46;
12, 10. 11). Wir wissen, was sie bei der Auferstehung Jesu
Christi machten, als sie dieselbe nicht leugnen konnten
(Matth. 28, 11—15).
So weit geht die Verhärtung des menschlichen Herzens,
wenn dasselbe von Gott verlassen ist; und dies wird dann
für eine Welt, welche die Wahrheit lange von sich gestoßen
hat, der Fall sein. Es werden aber etliche sich bekehren;
denn Gott hat zu allen Zeiten Seine Auserwählten und Heiligen. Etliche werden sich bekehren und werden die Verkündiger des Evangeliums des Reiches sein, indem sie die
unterbrochene Predigt des Johannes des Täufers wieder aufnehmen. Sie werden sagen: „Tut Buße, denn das Reich der
Himmel ist nahe gekommen Schon ist die Axt an die
Wurzel der Bäume gelegt. Jeder Baum denn, der nicht gute
Früchte bringt, wird abgehauen und in das Feuer geworfen."'
Als Prediger der Gerechtigkeit werden sie gleich Noah, unter einem verdorbenen Geschlecht, sagen: „Fürchtet euch
vor Gott, und gebet ihm die Ehre; denn die Stunde seines
Gerichts ist gekommen!" (Offenb. 14, 7). Denn wie nach der
Entrückung Henochs das Verderben der Menschen zunahm,
bis daß die Sündflut über eine mit Ungerechtigkeit erfüllte
19 65
Welt hereinbrach, so wird es auch sein, wenn die Versammlung aus der Welt genommen ist. Das Böse wird überströmend sein, bis daß es durch die Lästerungen des Menschen
der Sünde auf dem Höhepunkt angekommen, das Gericht
des Herrn über sich herabzieht.
Laßt uns nun schnell diese finsteren Tage — diesen traurigen Schluß des gegenwärtigen bösen Zeitlaufes — welche
jedoch Vorläufer des herrlichen zukünftigen Zeitlaufes sind,
durchlaufen.
2.
Das vierte wiederauferstandene Tier und das Weib,
welches auf ihm sitzt, oder die Hure
Nachdem Gott dem Volke Israel in Seinem Zorn einen
König gegeben hatte, nahm Er ihn in Seinem Grimm wieder
weg, obwohl Er lange mit großer Geduld die Verirrungen
dieses halsstarrigen Volkes ertrug. Seitdem die Sünde Salomo's die Lostrennung der zehn Stämme und ihre Abgötterei
herbeigeführt hatte, warnte sie Gott lange durch Seine Diener, die Propheten. Als aber Israel nicht zu seinem Gott umkehrte, wurde es endlich durch Salmaneser, den König von
Assyrien, gefangen geführt, und ist nie wieder zurückgekehrt. Juda bestand von der Zeit an noch über hundert
Jahre; als es aber in den Wegen Israels wandelte, und Jerusalem es sogar noch schlimmer trieb, als ihre Schwester Samaria, da entbrannte der Grimm Jehovas so sehr, daß kein
Hilfsmittel mehr übrig blieb. Und Gott ließ den König der
Chaldäer gegen sie kommen (2. Chron. 36), welcher, nachdem
er die Stadt und den Tempel zerstört hatte, das Volk gefangen nach Babylon führte. So ging die Universal-Herrschaft,
welche immer das Vorrecht Israels geblieben wäre, wenn es
in den Wegen Jehovas gewandelt hätte, in der Person des
Nebukadnezar, auf die Nationen über; wie es auch Daniel
diesem selbst sagte: „Du, o König, bist der König der Könige, dem der Gott des Himmels die Herrschaft, die Macht
und die Gewalt und die Herrlichkeit gegeben; und überall,
wo Menschenkinder wohnen, Tiere des Feldes und Vögel des
Himmels, hat er sie in deine Hände gegeben und dich über
sie alle zum Herrscher gemacht; du bist das Haupt von Gold"
(Dan. 2, 37. 38). Es ist wahr, daß nach siebzig Jahren Juda
wieder in sein Land zurückkehrte, seine Stadt und seinen
Tempel wieder aufbaute; denn der Gesalbte mußte es in
Seiner Gnade besuchen. Aber die Macht wurde ihm nicht
wiedergegeben, und es wird sie auch nicht wiedererhalten,
bis Derjenige gekommen sein wird, welchem „das Reich ge66
hört", der Sohn Davids, der gesalbte König Zions, welcher
auf der Erde Gericht und Gerechtigkeit ausüben und ewig
über das Haus Jakobs regieren wird (Hes. 21, 30—32; Jer. 23,
5. 6). Bis zu de r Zeit gehört die Herrschaft den Nationen;
und diese Zeit nennt das Wort Gottes „die Zeiten der Nationen" (Luk. 21, 24).
Wir kennen die vier Königreiche, welche durch das große
Bild, welches Nebukadnezar sah, und durch die vier Tiere
Daniels dargestellt sind (Kap. 2, 7). Diese Königreiche entsprechen gerade der Zeit der Nationen. Wir wissen, daß die
drei ersten dieser Reiche, das babylonische, das persische
und das griechische ein Ende genommen haben, nachdem sie
zu ihrer Zeit den Absichten Gottes gedient haben. Das vierte
(das römische Reich) hat auch schon bestanden; und unter
demselben erschien der Heiland. Infolge der Verordnung des
Hauptes dieses Reiches, des Kaisers Augustus, gingen Joseph und Maria nach Bethlehem, der Stadt Davids, um dort
eingeschrieben zu werden. Unter einem anderen dieser Kaiser, dem Tiberius, ertönte zum ersten Mal in den Ländern
Judäa's das Wort „Tut Buße, denn das Reich der Himmel ist
nahe gekommen." Da die drei ersten Reiche nur von kurzer
Dauer waren, so hätte man denken können, daß es mit diesem auch also sein würde, und daß dann, nach Beendigung
der Herrschaft der Nationen, bald alle Reiche unter allen
Himmeln, dem Sohn des Menschen unterworfen sein würden. Dies war auch wahrscheinlich die Erwartung vieler;
aber Israel verwarf seinen König. Es lieferte denselben diesem vierten Reiche sogar aus, indem es Ihn in die Hände
seines Repräsentanten, des Pilatus, überlieferte. Darnach
wurde dieses Reich die Rute Gottes, um sein empörerisches
Volk zu züchtigen. Als Christus ausgerottet war, kam das
Volk des Fürsten, der kommen wird, und zerstörte die Stadt
und das Heiligtum.
Später verblich dieses Reich selbst, und in seinem sechsten Haupte, der kaiserlichen Regierung in Rom, tödlich verwundet unterlag es den Angriffen der Völker des Nordens.
Aber seine tödliche Wunde soll geheilt werden; und die
ganze Erde, darüber verwundert, wird ihm anhängen (Offb;
13, 3). „Und es werden die staunen, welche auf der Erde
wohnen (deren Namen vor Grundlegung der Welt in dem
Buch des Lebens nicht geschrieben sind), wenn sie das Tier
sehen, welches war, und nicht ist, und da sein wird" (Offb.
" , 8).
Ungefähr zur Zeit der Entrückung der Versammlung, nähern sich die zerstreuten Glieder dieses vierten Tieres, und
es steht wieder auf, schrecklich, fürchterlich, greulich, um
alles zu erfüllen, was geschrieben steht. Dieses Gesicht
schaute Johannes, „Und ich sah aus dem Meer heraus ein
6?
wildes Tier aufsteigen, das zehn Hörner und sieben Köpfe
hatte, und auf seinen Hörnern zehn Diademe, und auf seinen
Köpfen Namen der Lästerung. Und das wilde Tier, welches
ich sah, war gleich einem Pardel, und seine Füße wie eines
Bären, und sein Maul wie ein Löwenmaul. Und der Drache
gab ihm seine Macht und seinen Thron und große Gewalt"
(Offb. 13, 1. 2).
Gewiß ist dies das vierte Tier des Daniel, welches wir
hier wiedererscheinen sehen, um unter den Schlägen des
Herrn bei Seiner herrlichen Ankunft zu endigen (Offb. 19).
a) Es kommt aus dem Meer wie das des Daniel (Kap. 7,
23), d. h. aus dem Wogen, den Revolutionen der Völker. Von
der Hure, welche uns> in der Folge als auf dem Tier sitzend,
dargestellt wird, ist gesagt, daß sie auf vielen Wassern sitze:
„Die Wasser, welche du sähest, wo die Hure sitzt, sind Völker und Volkshaufen, und Nationen und Sprachen" (Offb.
17, 1. 15).
b) Wir finden darin etwas von jedem dieser drei ersten
Tiere Daniels wieder. Es hat den Leib eines Leoparden, die
Füße eines Bären und das Maul eines Löwen. Man bemerkt
aber gerade die umgekehrte Ordnung Daniels, und zwar
ohne Zweifel deshalb, weil der Prophet diese Reiche in der
Zukunft sah; Johannes hingegen in der Vergangenheit.
So sind die vier Tiere Daniels in demjenigen des Johannes vereinigt, weil jedes Reich die vorhergehenden Reiche
mehr oder weniger in sich schloß, und weil das wiedererstandene Rom in seinem weiten Reiche die Trümmer aller
vorhergehenden in sich vereinigen wird. Wir sehen sie auch
in der Tat alle im Gericht wiedererscheinen. Wenn der ohne
Hände losgemachte Stein das Bild in seinen tönernen und
eisernen Füßen zermalmt, „dann sind auf einmal nicht nur
Ton und Eisen, sondern auch Erz, Silber und Gold zermalmt und werden wie Spreu auf der Sommertenne sein,
die der Wind hin- und herweht" (Dan. 2, 34. 35. 45; 7,11.12).
c) Das Tier des Johannes hat „einen Mund, der große
Dinge und Lästerungen redet" (Kap. 13, 5); das des Daniel
hatte „einen Mund der große Dinge redete" (Kap. 7, 8. 20).
d) Die Heiligen sind eine Zeit, zwei Zeiten und eine
halbe Zeit, d. h. dreiundeinhalb Jahr, in die Hände des Tieres des Daniel gegeben (Kap. 7,25). Dem Tier des Johannes
ist die Gewalt zweiundvierzig Monate (Offb. 13, 5), also die
nämliche Zeitdauer verliehen.
e) Das Tier des Daniel hat zehn Hörner, oder zehn Könige, die aus diesem Reiche aufstehen werden (Kap. 7, 24),
wie auch die Füße des Bildes in zehn Zehen geteilt waren;
68
und das Tier des Johannes hat ebenfalls zehn Hörner, von
denen Vers 12 gesagt ist: „die zehn Hörner, die du gesehen
hast, sind zehn Könige usw."
Diese zehn Könige sind übrigens noch nicht erschienen;
denn sie empfangen ein e Stunde mit dem wilden Tier Gewalt, wie Könige, und zwar zu dem Zwecke, um die Hure zu
zerstören (Offb. 17,12.17). Die Barbaren, welche im vierten
Jahrhundert das Römische Reich verheerten, entsprechen gar
nicht den zehn Hörnern oder den zehn Zehen. Die zehn
Hörner sind zehn Könige, welche aus diesem Königreich
selbst kommen werden, während jene Könige der Barbaren
nicht aus dem Schöße des Römischen Reiches, sondern aus
dem äußersten Norden kamen, um dieses Reich zu zerreißen
und dessen Trümmer unter sich zu verteilen. Die zehn Hörner kommen aus dem siebenten Haupte, dem Ergebnis aller
vorhergehenden Häupter und entsprechen offenbar den zehn
Zehen, welche aus den beiden Füßen (nicht nur aus einem)
des Bildes kommen. Bis jetzt aber war nie das ganz e
Römische Reich in zehn Königreiche geteilt.
Wer kennt heutzutage zehn Reiche der Westgoten, Ostgoten, Vandalen usw., wenn es je zehn gab? Einige Gelehrte
bemühen sich in ihren Studierzimmern, die Könige der Barbaren auf diese Zahl zu bringen, aber auf diese Weise erfüllen sich die Prophezeiungen nicht. Als die vier Reiche
Israel beherrschten, war es selbst dem Unwissendsten bewußt, ob er die Babylonier, die Perser, die Griechen oder
die Römer zu Herren hatte. So wird es ebenfalls sein, wenn
das vierte Tier mit seinen zehn Hörnern auferstehen wird.
f) Das Tier des Johannes wird im Feuer verbrannt wie
das des Daniel (Offb. 19; Dan. 7, 11).
Wenn man auf diese Beziehung achtet, so wird man
überzeugt sein, daß das Tier des Johannes nur die Fortsetzung des vierten Reiches des Daniel ist, welches alle übrigen zusammenfaßt — das wiederauferstanden e
viert e Tier . Es sind aber einige Züge beigefügt, um es
in seinem neuen Zustand zu beschreiben:
a) Es hat einen teuflischen Charakter; „der Drache gibt
ihm seine Macht, seinen Thron und große Gewalt" (Offb. 13,
2). Es wird aus dem Abgrund aufstehen und ins Verderben
gehen (Kap. 17, 8). Wenn es uns Johannes zuerst zeigt, als
aus dem Meer aufsteigend, wie das des Daniel, so steigt es,
wenn es wieder erscheint, aus dem Abgrund auf.
b) Es hat sieben Köpfe oder Häupter (Kap. 17, 9. 10),
welche sieben Berge sind, auf denen das Weib sitzt, und
welche Rom zu bezeichnen scheinen. Es sind auch sieben
69
Könige, von denen fünf zur Zeit des Johannes gefallen waren. Diese bezeichnen ohne Zweifel die von allen Geschichtsschreibern angeführten ersten fünf römischen Regierungsformen. Die sechste Form, die kaiserliche, bestand zur Zeit
des Johannes; und wenn das siebente in der Verbindung der
vereinigten zehn Königreiche wird erschienen sein, so wird
das Tier selbst ein achter König sein.
c) Was uns dieses wilde Tier in seinem neuen Zustand besonders darbietet, ist die Hure, welche auf ihm sitzt. Bemerken wir hier zuerst, daß das Gesicht über dieses Weib,
das auf dem Tier sitzt (Offb. 17), welches von Johannes erst
nac h dem im 13. Kapitel erwähnten Tier gesehen wird,
diesem in der Reihenfolge der Zeit jedoch nicht ganz nachsteht. Wir glauben im Gegenteil, daß es zwischen dem 4. und
5. Vers des 13. Kapitels gehört, bevor von dem Munde, welcher große Dinge und Lästerungen redet (V. 5), gesprochen
ist; und also noch vielmehr vor das zweite Tier, welches
zwei Hörner hat gleich einem Lamm, und welches redet wie
ein Drache (V. 11).
Dies könnte im ersten Augenblick manchem willkürlich
erscheinen; aber es erklärt sich, wenn wir uns daran erinnern, daß die Propheten auf diese Weise verfahren. Sehr
oft ist die Reihenfolge ihrer Geschichte keine Reihenfolge
der Zeit, welche den Ereignissen, die sie sehen, entsprechen;
sondern nachdem sie zuerst in einem Gesicht die Ereignisse,
welche sie verkündigen sollen, gleichsam in einem Gesamtbild gesehen haben, haben sie nachher neue Gesichte, welche
das erste, allgemeine Gesicht entwickeln und ergänzen, und
sich in dasselbe, als ebenso viele einzelne Bilder einreihen.
Dies bemerkt man vornehmlich im Propheten Daniel.
Was ist denn nun die Hure? Was könnte sie anders sein,
als das mit der materiellen Gewalt verbundene religiöse
Prinzip, als die Staatsreligion, welche dann in der Christenheit den höchsten Grad ihrer Verdorbenheit erreicht hat.
Die Versammlung, welche berufen ist, als eine keusche
und reine Braut ihren Bräutigam zu erwarten, hatte mit den
Mächten der Erde nichts anderes zu tun, als, während ihres
Durchgangs durch ihre Staaten, dem Kaiser zu geben, was
des Kaisers ist, und für Gott zu bewahren, was Gottes ist;
und keine andere Stütze noch Schutz zu suchen, als die ihres
himmlischen Hauptes. — Gestützt auf Seinen unsichtbaren
Arm und mit gen Himmel gerichteten Augen sollte sie als
Fremdling diese Wüste durchreisen. Aber bald wurde sie
ihrer Vereinzelung, ihrer Unscheinbarkeit, ihrer Armut und
der unaufhörlichen Kämpfe, welche die Folge ihres Wandels
im Glauben waren, müde. Sie wurde in ihren Neigungen
und Hoffnungen irdisch; und bald gelang es ihr, Massen von
70
Menschen zu umfassen. Und nachdem sie selbst eine Macht
der Erde geworden war, unterhandelte sie mit den Mächten.
Sie verkaufte diesen ihren Einfluß auf die Gewissen für
eine anerkannte Stellung in dieser Welt, wo ihr Meister
keine hatte, für Purpur und Scharlach, womit Er nur aus
Spott bekleidet war. Endlich ist sie dahin gekommen, —
wer hätte es geglaubt! — mit der Welt ein e Körperschaft
zu bilden, mit de r Welt, von welcher Jesus den Seinigen
sagte: „Ihr seid nicht von der Welt; denn ich habe euch von
der Welt erwählt." Anstatt deren Verfolgungen zu erdulden,
hat sie sich selbst zum Verfolger derer gemacht, welche ihre
Gewissen nur Christo unterwerfen und kein anderes Haupt
als Ihn anerkennen wollen; sie hat sie dem Tier überliefert,
und dieses hat sie mit Füßen zertreten, zerrissen, so daß ihr
Blut auf die Hure zurückspritzte und sie bedeckte. O gewiß!
dies ist ein Geheimnis, wie auch die Einigung der wahren
Versammlung mit dem Christus, Dessen Leib sie ist — Bein
von Seinem Bein und Fleisch von Seinem Fleisch, — ein Geheimnis ist. Nur ist dieses das Geheimnis der Gottseligkeit,
jenes aber das der Bosheit. Dieses Geheimnis sah Paulus
schon zu seiner Zeit sich regen und mit dem Menschen der
Sünde endigen. Auch trägt die Hure auf ihrer Stirn geschrieben: „Geheimnis, Babylon, die große, die Mutter der
Huren und der Greuel der Erde!" Unter diesem Bild wird
sie uns dargestellt (Kap. 17, 5.18); gerade das Gegenteil der
Braut, des Weibes des Lammes, welche „die große Stadt ist,
das heilige Jerusalem, herniederkommend aus dem Himmel
von Gott" (Kap. 21, 9. 10 usw.).
Es ist wahr, daß dieses an die Meinung einiger erinnert,
welche an ein Wiederaufleben Babylons glauben, um das zu
erfüllen, was davon gesagt ist, indem es nicht ganz erfüllt
zu sein scheint. Wir wissen aber, daß Babylon oder Babel
Verwirrun g bedeutet; und welches System verdiente
wohl mehr diesen Namen, als dasjenige, mit welchem wir
uns hier beschäftigen? Gab es je eine unermeßlichere und
abscheulichere Verwirrung? Die Versammlung Jesu Christi
mit der Welt, ihrem Feinde, vereinigt!
Wenn uns übrigens dieses System, als über Völker und
Zungen herrschend, dargestellt wird (Kap. 17, 1. 15), so erscheint Rom dennoch als Mittelpunkt, wenn gesagt wird, daß
„die sieben Häupter sieben Berge sind, auf welchen das
Weib sitzt." Wenn wir uns daran erinnern, daß das vierte
Reich dann wieder auferstanden sein wird, ist es da nicht
natürlich, zu denken, daß seine alte Hauptstadt ihre frühere politische und religiöse Bedeutung geltend machend,
ihren Platz wieder einehmen, und der Mittelpunkt dieses
Systems in seiner neuen Form sein wird? Sie kann dann
71
Babylon genannt werden, wie Jerusalem „Sodom und Ägypten" genannt ist (Mos. 32, 32; Jes. 1, 10; Offb. 11, 8), und das
um so mehr, als die tönernen und eisernen Füße, die Fortsetzung des goldenen Hauptes sind1 so daß in einem gewissen Sinne Eom und Babylon nur ein s bilden.
Der Luxus der Hure und das Blut, von welchem sie trunken ist, scheint zwar mehr das Papsttum, oder die vergangene Christenheit, als die Christenheit in ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Zustand zu charakterisieren. Aber
außerdem, daß wir nicht wissen, was sie werden kann, muß
man daran denken, daß, wenn eine Versammlung oder ein
Volk zum Gericht Gottes erscheint, es mit seiner ganzen Vergangenheit beladen erscheint: „Erfüllet das Maß eurer Väter!" sagt Jesus den Juden (Matth. 23, 32—36), „daß alles gerechte Blut, vergossen auf der Erde, auf euch komme, von dem
Blute Abels, des Gerechten, an, bis zum Blut des Zacharia,
des Sohnes Barachiä, den ihr zwischen dem Tempel und dem
Altar ermordet habt." Nach diesem muß, obschon die Hure
nicht eigentlich und einzig das päpstliche Rom, sondern vielmehr die ganze abtrünnige Christenheit ist, dasselbe, da es
einen bedeutenden Teil der Christenheit ausmacht, hier in
seinen Hauptzügen, in seinem Purpur, Scharlach und Blut
der Heiligen, von welchem es trunken geworden ist, unter
dem vierten, wiederauferstandenen Reich, nochmals erscheinen. Vielleicht geht der Herr noch weiter zurück und sieht
dieses System der Erdrückung der Gewissen unter den Staat,
in seiner ganzen Dauer der Zeit der Nationen, von Nebukadnezar und seinem goldenen Bild an, *) bis zu dem Ende
des abgefallenen Rom.
Weil nun die Hure dieses System in den letzten Tagen
darstellt, könnte man wohl buchstäblich von ihr sagen: „Das
Blut von Propheten und Heiligen und aller derer, die auf
der Erde geschlachtet sind, ist in ihr gefunden worden"
(Offb. 18, 24).
Das Ende der Hure erinnert uns daran, daß, „wer das
Schwert nimmt, durch das Schwert umkommt"; und daß,
„wenn jemand ins Gefängnis führt, er ins Gefängnis geht;
wenn jemand mit dem Schwert töten wird, er mit dem
Schwert getötet werden muß" (Matth. 26, 52; Offb. 13, 10).
Die Hure hat bei den Königen Stütze und Schutz gesucht,
um sie nachher zu beherrschen, und um durch sie zu verfolgen. Die Könige, endlich müde geworden, ihre willigen
Werkzeuge zu sein, lassen ihren längst zurückgehaltenen
Haß ausbrechen, machen sie öde und nackt, fressen ihr
Fleisch und verbrennen sie mit Feuer." Dies ist die Absicht
*) Man denke daran, daß Nebukadnezar zuerst eine Staatsreligion einführte. (Anm. des Übers.)
72
der gerechten Rache Gottes, welche zu tun, Er in ihre Herzen gegeben hat; denn ihre Sünden sind bis zum Himmel
aufgehäuft (Offb. 17, 16. 17; 18, 5. 6).
Die Belehrung, die aus all diesem hervorgeht, ist: „Gehet
aus von Babylon, mein Volk, auf daß ihr nicht ihrer Sünden mitteilhaftig seid, und daß ihr nicht von ihren Piagen
empfanget" (Offb. 18, 4).
Wir sind nun berufen, den Geist Babylons, da, wo er
wirkt, zu unterscheiden und uns davon fern zu halten, damit unsere Seelen nicht davon leiden. Dieser Geist aber ist
die Vermengung der Dinge Gottes mit den Dingen dieser
Welt. Befleißigen wir uns deshalb, jedem zu geben, was ihm
gehört: „Gott, was Gott gehört, und dem Kaiser, was dem
Kaiser gehört." Lasset uns den hochgestellten Mächten untertänig sein: die Steuer geben, dem die Steuer, und den
Zoll, dem der Zoll gebührt. Weit entfernt die Mächte zu verachten und die Majestäten zu lästern, lasset uns vielmehr
für sie bitten, damit wir eine ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit (1. Tim. 2,
1, 2). Aber zugleich lasset uns eingedenk sein, daß Jesus
allein das Haupt Seiner Versammlung ist, das Haupt, aus
welchem „der ganze Leib wohl zusammengefügt und zusammenbefestigt durch jedes Gelenk der Darreichung, das
Wachstum schafft, usw. (Eph. 4,15.16; 5,29.30). Er hat niemandem diese Macht und diese Sorge übertragen; Er hat
niemand beauftragt, Ihn in diesem zu ersetzen, die Obrigkeit ebensowenig, als den niedrigsten ihrer Untertanen. Da
wir Glieder dieses gesegneten Leibes sind, so laßt uns unser
himmlisches Haupt nicht verleugnen, indem wir jemand anders als Ihm irgend welche Gewalt in der Versammlung geben. Laßt uns nicht Seinen Geist verleugnen, indem wir uns
diesen toten Formen beigesellen, durch welche eine blinde
Volksmenge Gott einen angenehmen Dienst zu bringen
glaubt. Wenn wir Seines Geistes teilhaftig geworden sind,
so laßt uns alle diejenigen aufsuchen, aus welchen Sein Geist
lebendige Steine gemacht hat, um mit ihnen dieses Haus
Gottes im Geist zu bilden, in welchem wir, als heilige Priester, Gott durch Jesum Christum wohlgefällige Opfer bringen mögen. Mit einem Wort, lasset uns, was das Irdische
und Menschliche betrifft, unterworfene Untertanen des Kaisers sein, ihm in allem gehorchen, was nicht dem Willen
Gottes zuwider ist. Was aber die Versammlung betrifft, so
lasset uns kein anderes Haupt anerkennen, als Christum,
und keine anderen Eingebungen, als die Seines Wortes und
Seines Geistes.
In der Geschichte der Hure könnt ihr Christen, die ihr
euch bemüht, die Bande, welche die Kirche mit dem Staat
73
verbinden, noch enger zu schließen, indem ihr hofft, die
Kirche so zu heben, um endlich alle Völker in ihrem Schoß
zu bergen, euren Irrtum erkennen. Und auch ihr, Brüder,
die ihr vielzusehr in Bewegung seid, diese Bande zu zerreißen, indem ihr glaubt, der Versammlung durch ihre Unabhängigkeit auch ihr ehemaliges Leben wieder zu verschaffen,
auch ihr könnt hier eure falsche Einbildung erkennen. Das
Wort lehrt uns, daß die Zeit kommt, wo die Völker und die
Könige, ermüdet von den Anmaßungen einer hurerischen
Kirche, und vom Joch einer heuchlerischen Form, welche sie
ihnen auferlegen will, dieses Joch abwerfen und diese Ketten zerreißen werden; sie werden die Hure hassen, öde und
nackt machen, ihr Fleisch fressen und im Feuer verbrennen.
Werden sie es aber tun, um sich Gott und Seinem Christus
zu unterwerfen? Keineswegs, sondern um ihre Macht dem
Tiere zu geben, welches mit den Königen der Erde und ihren
Herren dem, welcher „Wort Gottes" heißt, den Krieg erklären wird. Es ist also ein unnützes Sich-Zerarbeiten, wenn
man Babylon reformieren will und sich zu diesem Zweck in
die eitlen Projekte der Völker und Könige mischt. Es ist uns
nicht befohlen, mit Babylon zu unterhandeln, sondern von
ihm auszugehen. „Wir wollten Babylon heilen, aber sie ist
nicht heil geworden; verlasset sie und laßt uns ziehen" (Jer.
51, 51, 9; Offb. 18, 4). Ein jeder Einzelne muß aus Babylon
ausgehen, um dem Herrn außerhalb des Lagers zu folgen,
Seine Schmach tragend. Dies ist's, wozu uns das Wort beruft.
Doch die Hure ist noch nicht die völlige Entwicklung des
Übels, noch nicht der letzte Triumph Satans. Dieser Engel
der Finsternis hat nie seine listigen Anschläge aufgegeben,
die er schon in Eden offenbarte, um den Menschen dahin zu
treiben, sich vermessener Weise an die Stelle Gottes zu
setzen. Diesen Gedanken, an dessen Verwirklichung er seit
Jahrhunderten gearbeitet hat, und in welchem das stolze
Herz des Menschen ihm behilflich ist, wird er am Ende verwirklichen. Und zu diesem Zweck wird er sich einen Menschen erwählen, in welchem er alle seine Gaben vereinigen
wird, indem er ihn mit allem ausrüstet, was dem Fleische
gefällt, und was die Volkshaufen nach sich ziehen kann.
Dann wird er ihn den Natione n als denjenigen darbieten, welcher endlich die Einbildungen von irdischem Glück,
welchen sie schon so lange nachjagen, verwirklichen soll;
und wird ihn den Jude n als den Messias, welchen sie erwarten, darbieten. Den einen wie den andern als das Ideal,
in welchem der Mensch sich rühmen und selbst anbeten soll.
Die Entehrung, welche das auf dem Tier sitzende Weib mit
den heiligen Dingen so lange vor den Nationen getrieben
hat, der eingewurzelte Haß der Juden gegen Jesum von Nazareth, dies alles, vereint mit dem Stolz und mit der Bosheit
74
des menschlichen Herzens, wird dieses teuflische Unternehmen gelingen lassen. Wie sich Juden und Nationen schon
einmal vereinigt haben, um den Heiland, welchen Gott
ihnen gesandt hatte, zu kreuzigen und zu verwerfen, so werden sie sich nochmals vereinigen, um den Menschen, in
welchem Satan eingefleischt ist, aufzunehmen und anzubeten. Dann erfüllt sich, was eine große Stimme vom Himmel
spricht, wenn Satan aus demselben geworfen wird: „Wehe
der Erde und dem Meer! denn der Teufel ist zu euch hinabgekommen und hat große Wut" (Offb. 12,12). Dann wird für
die Heiligen, welche auf der Erde sind, für die in Israel insbesondere, „die große Drangsal sein, wie sie von Anfang der
Welt bis jetzt nicht gewesen ist, und auch nicht werden
wird." Dann ist aber auch die Ernte, welche das Ende des
Zeitlaufes ist, und die Weinlese bereit; denn die Trauben
der Rebe der Erde werden reif seih, um in die Kelter des
Zornes Gottes geworfen zu werden.
Laßt uns nun sehen, ob diese allgemeine Übersicht, den
Belehrungen des Wortes gemäß ist.
3.
Der Antichrist und seine hauptsächlichsten
Kennzeichen
Dieser Stellvertreter Satans ist im Gegensatz „zu dem
Herrn des Heils, welches Gott Israel in dem Hause Davids,
seines Knechtes, aufgerichtet hatte" (Luk. 1, 69), das kleine
von Daniel gesehene Hörn (Dan. 7, 8. 24 - 26), welches zwischen den zehn Hörnern hervorkommt, vor welchem drei
von den vorigen Hörnern ausgerissen werden, und welches
Augen hat wie Menschenaugen und ein Maul, das große
Dinge redet.
Es ist auch das von demselben Propheten gesehene kleine
Hörn in Kap. 8, 9 - 14. 23 - 25. Und im Gegensatz zu Jesu,
„dem sanftmütigen König", ist er „der freche und tückische
König, der mächtig sein wird, doch nicht durch seine Macht;
der wunderliches Verderben anrichten wird; und es wird
ihm gelingen, daß er's ausrichte, und er wird die Starken
samt dem heiligen Volke verstören; und durch seine Klugheit wird ihm der Betrug geraten, und er wird sich in seinem Herzen erheben, und durch Sicherheit (oder unversehens) wird er viele verderben und wird sich auflehnen wider
den Fürsten aller Fürsten; aber er wird ohne Hand zerbrochen werden."
Er ist im Gegensatz zu „Christo, dem Fürsten" — „der
Fürst, der kommen wird" (Dan. 9, 26).
75
Er ist im Gegensatz zu Jesu, dessen Speise es war, den
Willen Seines Vaters zu tun (Joh. 5,30; 6, 38) — „der König,
welcher tun wird, was er will, und sich erhebt, und sich aufwirft wider alles, was Gott ist, und der wider Gott wunderliche Dinge reden wird, und es wird ihm gelingen bis der
Zorn vorüber ist" (Dan. 11, 31—45).
Ist er nicht auch im Gegensatz zu dem König von Zion —
dieser König von Babel, welchen Israel höhnt, nachdem sein
hartes Joch von ihm genommen ist? dieser „Morgenstern",
(wir wissen, daß Jesus Sich Selbst diesen Titel gibt (Offb.
22, 16) der in seinem Herzen spricht: „Ich will in den Himmel steigen, und meinen Thron über die Sterne Gottes erhöhen; ich will mich setzen auf dem Berge der Zusammenkunft im äußersten Norden, und will auf der Wolken Höhen
steigen, und gleich sein dem Allerhöchsten" (Jes. 14). Alle
diese Züge haben eine eigentümliche Beziehung mit dem,
was anderswo von dem Antichristen gesagt ist. Ebenso ist
es auch wahr, daß besonders das, was Jes. 13, 19 vorangeht
und das, was auf Kap. 14, 22 folgt, buchstäblich Babel und
einen König von Assyrien anzudeuten scheint.
Der Antichrist ist im Gegensatz zum himmlische n
Menschen (l.Kor. 15,47), und zu dem Gerechten in den Psalmen — „der Mensch von der Erde" (Ps. 10,18), „der Tor, der
Übeltäter , der in seinem Herzen spricht: Es gibt keinen
Gott!" (Ps. 14,53), „der Feind, der Tyrann, der sich rühmt,
Böses tun zu können" (Ps. 52).
Er ist dieses „Haupt", an welchem in den letzten Tagen
des Zeitlaufes das Gericht des Herrn ausgeübt wird (5. Mos.
32,42.43; Ps. 110, 6), weil sich in ihm der Stolz des Menschen
und seine Empörung gegen Gott in jenem erhabenen Augenblick konzentriert.
Im Gegensatz zu Jesu, dem Heiligen und Gerechten, der
Sich Selbst erniedrigte und Knechtsgestalt annahm (Phil. 2,
6—11), ist der Antichrist „der Mensch der Sünde, der Sohn
des Verderbens ... , welcher widersteht und sich selbst über
alles, was Gott heißt, oder ein Gegenstand der Verehrung
ist, erhöht, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt, und
sich selber darstellt, als sei er Gott dieser Gesetzlose,
welchen der Herr Jesus mit dem Hauch Seines Mundes verzehren, und durch die Erscheinung seiner Ankunft vernichten wird" (2. Thess. 2, 3—10; Jes. 11, 4).
Er ist derjenige, von welchem der Herr zu den Juden redete, als Er ihnen sagte: „Ich bin im Namen meines Vaters
gekommen, und ihr nehmet mich nicht auf; wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, den werdet ihr aufnehmen" (Joh. 5, 43).
76
Er ist endlich „der Antichrist, welcher den Vater und den
Sohn leugnet" (1. Joh. 2, 22; 4, 2. 3).
In der Offenbarung ist er nacheinander dargestellt: als
„ein Mund, der große Dinge und Lästerungen redet"; als
„das wilde Tier, das zwei Hörner hatte gleich einem Lamm,
und redete wie ein Drache"; als „ein achter König"; und
endlich als „der falsche Prophet" (Offb. 13, 5. 11—18; 17, 11;
19, 19. 20).
Wenn man sich wundert, daß dieselbe Persönlichkeit
nacheinander durch so viele verschiedene Bilder dargestellt
ist, so möge man beachten, wie sehr diese Bilder im Grunde
übereinstimmen, obgleich sie dem besonderen Gesichtspunkt
eines jeden der heiligen Schreiber entsprechend sind. Daniel,
welcher von den mit seinem Volk und mit seiner heiligen
Stadt in Beziehung stehenden Nationen und Reichen weissagt, sieht in dem Antichristen den falschen Propheten, welcher, nachdem er die verirrten Kinder seines Volkes verführt hat, die Getreuen verfolgen wird, und zwar als der
letzte König dieser Nationen, in deren Hände Jerusalem für
einige Zeit überliefert worden ist.
Für die Versammlung, welche sich nicht mit den Nationen dieser Welt, noch mit ihren Revolutionen abgibt, sondern alles von dem geistlichen und himmlischen Gesichtspunkt aus betrachtet, ist dieser König „der Mensch der
Sünde, der Sohn des Verderbens, der Antichrist."
Die Offenbarung, welche in ihren Gesichten über die
letzten Tage den Himmel und die Erde zusammenfaßt, stellt
uns den Antichristen als König, Prophet, und endlich als ein
in gewisser Beziehung dem Lamme ähnliches Tier dar, welches aber wie der Drache redet. Auch bemerken wir, daß
das kleine Hörn des Daniel (Kap. 7,8) Augen hat wie Menschenaugen, und einen Mund, der große Dinge redet. Dies
alles bezeichnet sehr gut den Propheten, den man in Israel
Sehe r nannte (1. Sam. 9,9), und der auch ein „Mund" ist
(2. Mos. 4, 16 verglichen mit 7, 1). Dies wird auch von einer
anderen Seite bestätigt, indem der falsche Prophet (Offb. 19,
20) gerade dasselbe ausübt, was auch das Tier mit den zwei
Hörnern tut (Kap. 13). Der Antichrist kann ein achter König
sein, sei es als achte Form der römischen Herrschaft, wovon
sechs bis heute vorhanden gewesen sind, und die siebente,
die Genossenschaft der zehn Könige, dann ihre Zeit vollendet haben wird, sei es, weil er neben und über den sieben
Königen, dem Rest der zehn ist, welche durch zehn Hörner
dargestellt sind, von denen er drei ausgerissen hat.
Wenn wir endlich das Endziel von diesem allem, wie es
uns in Daniel und in der Offenbarung mitgeteilt wird, zusammen vergleichen, so haben wir in Daniel das Tier mit
seinen sieben Hörnern, den Rest der zehn und das kleine
77
Hörn, nämlich das Tier oder das wiedererstandene Römische
Reich, die sieben Könige und den Antichristen. Diese werden getötet und ins Feuer geworfen. In der Offenbarung
(Kap. 19, 19. 20) haben wir das Tier, die Könige der Erde,
und den falschen Propheten. Diese wurden in den Feuersee
geworfen, welcher mit Schwefel brennt. Und die Übrigen
wurden durch das Schwert dessen getötet, welcher auf dem
Pferde saß.
Das fortschreitende und außerordentliche Wachstum dieser
Persönlichkeit erklärt auch die Verschiedenheit der Bilder,
unter welchen er dargestellt ist. Im Buch Daniel haben wir
zuerst nur ein kleines Hörn, welches zwischen den zehn Hörnern hervorkommt; aber bald reißt es drei aus. Man sieht
in ihm Augen wie Menschenaugen, und einen Mund, der
große Dinge redet, und sein Ansehen ist größer, als das seiner Gefährten (Dan. 7, 8. 20). In der Offenbarung ist zuerst
dem Tier nur ein Mund gegeben; aber bald wird es selbst
ein zweites Tier, welches alle Macht des ersten Tieres in
seiner Gegenwart ausübt; ein Tier mit zwei Hörnern, denen
des Lammes ähnlich, was ohne Zweifel die bürgerliche und
religiöse Macht dieser Person darstellt, welche der große
Staats- und Kriegsmann ist und zugleich der verführerische
Prophet, der große Wunder tut und die Bewohner der Erde
verführt. Man hat schon mehr als einmal Ähnliches gesehen.
Personen, gering und unbeachtet in ihrem Ursprung, erhoben sich nach und nach und wie das kleine Hörn in der
Mitte der Zehn, und indem sie diejenigen, welche ihre
Oberen waren, beherrschten und durch ihre Redekunst,
durch ihre bürgerliche Klugheit und ihre Kriegstalente, der
Mund und der Arm der Nation wurden, welche sie hervorgebracht hatte, vereinigten sie endlich alle Macht in ihrer
Hand und wurden selbst eine Macht.
Was den Ursprun g dieser Persönlichkeit betrifft, so
scheint er uns dadurch bezeichnet, daß dieselbe in Daniel 7,8
aus dem vierten Tier zur Zeit der zehn Könige, d. h. aus
dem wiedererstandenen Römischen Reich hervorkommt; und
Kap. 8, 9 aus dem dritten Königreich. Dies erklärt sich durch
die Annahme, daß diese Person aus einem Teil des Reiches
Alexanders kommt, welcher mit dem Römischen Reich vereinigt sein wird. Der Antichrist könnte nach diesem sogar
ein Jude sein, wie einige, auf Grund von 1. Mos. 49, 17. 18, in
Verbindung mit der Abwesenheit Dan's in Offb. 7, 5—8 und
nach Nahum 1, 11; Jer. 8, 16; 5. Mos. 33, 22; Joh. 5, 43; 2. Thes.
2, 4 glauben.
In jedem Falle wird er in Verbindung mit Judäa und den
Juden treten, welche dann in ihrem Lande im Unglauben
gesammelt sein werden. Das kleine Hörn (Dan. 8,9) „wächst
gegen Mittag, und gegen Morgen, und gegen das werte
78
Land", d. i. Judäa (Hes. 20, 6). „Dem frechen und tückischen
König", welchen dieses kleine Hörn vorstellt, „wird es gelingen; er wird die Starken, samt dem heiligen Volke verstehen. Durch seine Klugheit wird ihm der Betrug geraten;
und er wird sich in seinem Herzen erheben, und durch Sicherheit (oder unversehens) wird er viele verderben." Dies
scheint anzudeuten, daß er durch seine Schmeicheleien viele
aus den Kindern Israels verderben wird. Das sind die „vielen, welchen er den Bund stärkt", oder „mit welchen er
einen starken Bund macht", und zwar am Anfang der letzten Woche (Dan. 9, 27). Dies ist auch wahrscheinlich in Dan.
11, 30. 32 angezeigt: „Er wird auf die, welche den heiligen
Bund verlassen haben, achtgeben und den Bundbrüchigen wird er mit süßen Worten schmeicheln."
So werden also die Kinder Juda, weil sie Den nicht aufnahmen, welchen Gott ihnen in Seiner Treue sandte, um sie
zu segnen, indem Er einen jeglichen unter ihnen von seiner
Ungerechtigkeit erlöste, preisgegeben den Verführungen und
Verfolgungen dieses Ungeheuers von Ungerechtigkeit, dem
es gelingen wird bis der Grimm Gottes ein Ende genommen
hat (Dan. 11,36; Joh. 5, 43). Weil sie den gute n Hirten verwarfen, welcher kam, „um das Verlorene zu suchen, das Verjagte zurückzubringen, das Verwundete zu verbinden, das
Schwache zu stärken", werden sie für etliche Zeit in die
Hände de s Hirten fallen, „der das Verkommene nicht heimsucht, den Jungen nicht nachfragt, das Verwundete nicht
heilt, das Stillstehende nicht versorgt, sondern das Fleisch
der fetten Schafe frißt, und ihre Klauen abreißen wird"
(Hes. 43, 15. 16; Sach. 11, 16).
Er wird aber nicht nur bei der Rolle eines Verführers
stehen bleiben. Durch sein Gelingen stolz gemacht, wird er
sich in seinem Herzen erheben, und „wird wider den Allerhöchsten reden", „wird wider den Gott aller Götter wunderliche Dinge reden" (Dan. 7, 25; 11,36). Während der Herr Je -
sus nicht gekommen ist, das Gesetz und die Propheten aufzulösen, sondern sie durch eine gänzliche Unterwerfung unter den Willen Gottes zu erfüllen (Matth. 5, 17); wird sein
Gegner „sich unterstehen, Zeiten und Gesetz zu verändern"
(Dan. 7, 25), d. h. das Gesetz und die Rechte Moses, welche
dann in Israel in Kraft sein werden. Er wird insbesondere
das tägliche Opfer abschaffen (Dan. 9, 27; 11, 31 usw.), welches dann durch die Juden wieder aufgerichtet sein wird,
und vielleicht aufgerichtet unter dem Schutz des Antichristen selbst, als er ihnen noch schmeichelte. Dann wird er,
indem er keinen Gott annimmt, und sich wider alles erhebt,
an seinem Ort den Abgott der Gewalt ehren (Dan. 11,38. 39);
ohne Zweifel die Gewalt des Menschen, welche in dem Bild
des vierten Reiches, dessen Haupt er selbst ist, personifiziert
79
ist. Er ist das Bild des Tieres, welchem er eine lebendige
Seele geben kann, daß es redet, und welches man bei Todesstrafe anbeten muß (Offb. 13, 13—15). Er ist „der Greuel
der Verwüstung an heiligem Orte", welchen Jesus Seinen
Jüngern ankündigte, und von welchem der Prophet Daniel
zuvor gesprochen hatte (Matth. 24,15). „Greuel" — so nannten die Juden die Götzen (1. Kön. 11, 5—8) — „der Verwüstung" oder der Trostlosigkeit, weil alle, welche sich weigern, ihn anzubeten, getötet werden. Dies ist es, was der
Welt zur Anbetung dargestellt wird! So will dieser freche
Lästerer alles, was an Gott, an Sein Gesetz und Seinen
Dienst erinnert, sowohl den Menschen im allgemeinen, als
auch Israel insbesondere, hinwegtun, um sich selbst als Gott
darzustellen. Ja, dies ist „der Mensch der Sünde, der Sohn
des Verderbens; welcher widersteht, und sich selbst über
alles, was Gott heißt, oder ein Gegenstand der Verehrung
ist, erhöht, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt, und
sich selber darstellt, als sei er Gott" (2. Thess. 2, 3. 4).
Er ist im Keim und im Bilde in Pharao, dem stolzen Feind
Gottes und Seines Volkes, welcher sagt: „Wer ist der Herr,
daß ich seiner Stimme gehorche?" Er ist der Nebukadnezar,
der bei Todesstrafe gebietet, daß alle Völker und Sprachen
vor dem goldenen Bild, welches er in der Landschaft Babylons hatte errichten lassen, niederfallen sollen (Dan. 3). Er
ist ein Darius, welcher verbot, daß jemand etwas begehre
von irgend einem Gott oder einem Menschen, es sei denn
von ihm (Dan. 6). Er ist Alexander, genannt der Große, der
sich als Sohn Jupiters ausgeben wollte, d. h. des großen Gottes des Himmels. Er ist das heidnische Rom, welches sich in
den Symbolen seiner Macht, den Bildern seiner Kaiser, vor
welchen man bei Todesstrafe Weihrauch anzünden mußte,
anbeten ließ. Denn Satan hat nie seinen Vorsatz aufgegeben, den Menschen dahin zu bringen, daß er sich an die
Stelle Gottes setze, und sich also selbst anbete; und die Reiche der Nationen waren besonders der Schauplatz seiner Anstrengungen. Er ist, wenn man will, der Papst, der sich in
seinem Bischofssitz anbeten läßt; er ist in allen falschen
Lehrern, welche auf irgend eine Weise, Jesum Christum, den
im Fleisch geoffenbarten Gott, verleugnet haben, oder Ihn
einiger Strahlen Seiner Herrlichkeit beraubten. Alle diese
waren vom Geist des Antichristen beseelt, diesem Geiste,
welcher schon zur Zeit des Johannes in der Welt war; sie
waren Antichristen , aber nicht de r Antichris t
(1. Joh. 2, 18; 4, 3).
Dies waren nur Versuche, durch welche Satan von dem
ein Vorspiel machte, was er in den letzten Tagen des Zeitlaufes, in dem letzten Haupt des vierten Reiches, erfüllen
80
wird, wenn er offen den Vater und den Sohn leugnen, und
keinen anderen Gott, als sich selbst, anerkennen wird.
Gewiß wird er dann durch die Wirkung Satans kommen;
denn Satan gibt ihm nicht nur seinen Thron, diese Reiche
der Welt und ihre Herrlichkeit, welche Jesus anzunehmen
verweigerte (Matth. 4, 8—10), sondern er gibt ihm auch seine
Macht und große Gewalt, um große Zeichen zu tun, daß er
sogar Feuer vom Himmel auf die Erde vor den Menschen
herniederkommen macht (Offb. 13, 2. 13 —15). „Er kommt",
dieser Mensch der Sünde, „in aller Kraft und Zeichen und
Wundern der Lüge" (2. Thess. 2, 9). Es scheint selbst, daß er
nicht der einzige Besitzer dieser teuflischen Macht sein wird,
weil der Herr, als Er von diesem Augenblick spricht, sagt:
„Es werden falsche Christi und falsche Propheten aufstehen,
und werden große Zeichen und Wunder tun, so daß sie,
wenn möglich, selbst die Auserwählten verführen würden"
(Matth. 24, 24). Übrigens wird ihnen Gott (allen denen, die
verloren gehen, weil sie die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben) „die Wirkung des Irrtums schicken, daß sie
der Lüge glauben, auf daß alle, die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern Wohlgefallen an der Ungerechtigkeit gefunden haben, gerichtet werden" (2. Thess. 2, 10—12).
Ach! wie schrecklich sind diese Zeiten! Welch eine Zukunft für die Welt! Wenn schon heute, wo Gott die Seelen
zum Glauben nötigt, um sie zu erretten, die Wahrheit für
die meisten so wenig Anziehendes, und der Irrtum so große
Wirkung hat, was wird es dann erst sein?
Der Antichrist wird übrigens mit allen seinen Verführungen schreckliche Verfolgungen verbinden, und zwar gegen alle die, welche sich seinem Willen nicht unterwerfen,
noch das Bild des Tieres anbeten wollen; denn „er wird die
Heiligen des Allerhöchsten zerstören" (Dan. 7,25; 8,24). Es
wird ihm gegeben, mit den Heiligen Krieg zu führen und sie
zu überwinden (Offb. 13, 7. 8). Er wird insbesondere diese
beiden Zeugen töten (wahrscheinlich Moses und Elias, Luk.
9, 30. 31; 2.Kön. 1, 10; 1. Kön. 17, 1; Jak. 5, 17; 2. Mos. 7, 17)
welche weissagen, angetan mit Säcken, in dieser Stadt Gottes, welche dann nur noch Sodom und Ägypten ist (Offb. 11,
3—12). Auch schreien die Getreuen in ihrer Angst zu Gott,
und sagen: „Herr, warum stehst du von ferne? warum verbirgst du dich zur Zeit der Not? .. . Hilf, Herr, denn die Heiligen haben abgenommen, und der Wahrhaftigen, der Getreuen sind wenig unter den Menschenkindern .. . Der Gottlose spricht in seinem Herzen: Es ist kein Gott Sie verschlingen mein Volk, als verschlängen sie Brot.. . Wer wird
dem Israel das Heil aus Zion geben!" (Ps. 7,10.11.12.13.14.
52. 53 usw.). „Schaue vom Himmel herab", sagen sie, „schaue
20 81
herab von der Höhe deines Heiligtums und deiner Herrlichkeit: Wo ist nun dein Eifer und deine Stärke, die Menge deiner Erbarmungen?" „Ach, daß du den Himmel zerrissest und
herabstiegest!" (Jes. 63, 15 — Jes. 64, 1).
Aber es ist das ungestüme Wetter des Herrn, Sein grimmiger Zorn, der ausgeht Der Zorn des Herrn wird sich
nicht wenden, bis er die Ratschläge Seines Herzens vollbracht und ausgerichtet hat (Jer. 23, 19. 20). Dies sind „die
Tage der Rache, damit alles, was geschrieben steht, erfüllt
werde" (Luk. 21, 22 — 27). Alle Völker sammeln sich zur
Schlacht gegen Jerusalem, welches auch mit Donner und
Erdbeben, mit Zeichen im Himmel und auf der Erde, mit
Blut und Feuer heimgesucht wird (Jes. 29, 6; Matth. 24, 29).
Die Stadt wird genommen, die Häuser geplündert, und der
halbe Teil der Stadt wandert in die Gefangenschaft (Sach.
14). Das Blut der Heiligen wird vergossen um Jerusalem her
wie Wasser; ihre Leichname werden den Vögeln unter dem
Himmel zu fressen gegeben, und ihr Fleisch den Tieren im
Lande" (Ps. 79, 2. 3).
Dies ist „die große Trübsal, dergleichen nicht gewesen ist,
seit Völker gewesen sind, und wie sie nicht mehr werden
wird" (Jerm. 30, 4—7; Dan. 12, 1; Matth. 24, 21). Dies ist die
Versuchung, welche über den ganzen Erdkreis kommen
wird, um die, welche auf Erden wohnen, zu versuchen, und
vor welcher Stunde die Versammlung, die Verheißung hat,
bewahrt zu werden (Offb. 3,10). In der Tat ist sie zu dieser
Stunde bei ihrem Herrn, außer dem Bereich Satans und der
Boshaftigen.
Die Verständigen unter den Heiligen auf der Erde werden sich jedoch, wenn sie den Greuel an heiliger Stätte stehen sehen, der Worte des Herrn erinnern und in die Wüste
fliehen (Matth. 24,15—18); Jes. 26, 20. 21). Von dort aus werden sie zu Gott schreien, wie ein Hirsch nach frischem Wasser schreit (Ps. 42. 43. 44. 74 usw.). Sie sind das Weib, welchem ein Ort in der Wüste bereitet ist, auf daß es dort fem
von dem Angesicht der Schlange 1260 Tage, oder zwei Zeiten,
eine Zeit und eine halbe Zeit, ernährt werde (Offb. 12, 6.14);
und dies ist gerade die Zeit der großen Macht des Antichristen (Dan. 7, 25). Sie stellen den mitten in den Wassern der
Sündflut in der Arche bewahrten Noah dar, um die Welt
wieder zu bevölkern, — so wie der vor dem Gericht entrückte Henoch, die Versammlung vorstellt.
Nun sind wir freilich sehr weit von dem System, entfernt,
welches aus dem Papst den Antichristen macht. Allein wenn
man einmal diese große Grundlage verstanden hat, daß die
Versammlung, mit allem, was sie betrifft, den Sehern des
alten Volkes ein verborgenes Geheimnis war — wenn man
82
gesehen hat, daß dieser durch die Gesamtheit der Weissagung gerechtfertigte Grundsatz ein Schlüssel wird, um mehrere Stellen, welche sonst unerklärlich wären, zu verstehen,
wie könnte man dann noch an einem System festhalten,
nach welchem, ganz in Widerspruch mit diesem Grundsatz,
Daniel im kleinen Hörn die ganze Geschichte des Papsttums
gesehen hätte?
Wenn übrigens, wie wir gesehen haben, die zehn Könige,
dargestellt durch die zehn Hörner, erst in dem vierten wiedererstandenen Reiche erscheinen, so kann der durch das
kleine Hörn dargestellte König nicht der Papst sein, weil er
erst nach ihnen aufsteht. „Die zehn Hörner sind zehn Könige, die aus diesem Reich aufstehen werden; und nach denselben wird ein anderer aufstehen" (Dan. 7, 24). Er folgt sogar erst auf die Zerstörung der Hure, weil diese durch die
zehn Könige zerstört wird (Offb. 17,16), während das kleine
Hörn, indem es drei zerstörte, dieselben auf sieben herabsetzt.
Wenn das kleine Hörn des 7. und des 8. Kapitels des Daniel, wie wir gesehen haben, ein und dieselbe Persönlichkeit
bezeichnet, so kann diese nicht der Papst sein, weil er, um
sowohl die eine als die andere Prophezeiung zu erfüllen, aus
einem Teil des Reiches Alexanders, welches mit dem Römischen Reich vereinigt ist, herkommen muß — weil er, „gegen
das Ende des Zornes" erscheinen (Kap. 8, 19), weil er „sehr
stark gegen Mittag, gegen Morgen und gegen das werte Land
wachsen" (Kap. 8, 9—13), und weil er endlich den Tempel
wiederhergestellt finden, und dann das wieder eingeführte
tägliche Opfer abschaffen muß.
Man hat in dem kleinen Hörn des 8. Kapitels auch den
Mohammed gesehen; aber unter allen Zügen, welche diese
Prophezeiung bezeichnet, könnte nur ein einziger sich besser
auf ihn beziehen, als auf den Papst, nämlich der, daß er gegen Mittag, gegen Morgen und gegen das werte Land wächst.
Was seinen Ursprung betrifft, so ist Mohammed aus Arabien gekommen, ein Land, welches, weit entfernt dem Alexander und den Römern unterworfen gewesen zu sein. Er
kann also das kleine Hörn nicht sein, weil es von den Kindern Israels stammt, diesem „wilden Esel, dessen Hand wider jedermann sein wird, und jedermanns Hand wider ihn,
und der vor allen seinen Brüdern wohnen wird" (1. Mos.
16, 12).
Der Antichrist soll sich in den Tempel Gottes setzen und
vorgeben, er sei Gott (2. Thess. 2, 4). In welchen Tempel nun
setzt sich der Papst? Etwa in die Peterskirche zu Rom? Aber
wie schon gesagt, man tut einem Götzentempel zu viel Ehre
an, wenn man ihn Tempel Gottes nennt. Das Wort, welches
sich immer selbst erklärte, kennt keinen anderen Tempel
83
Gottes, als das Haus, das Ihm auf dem Berge Zion zu Jerusalem gebaut wurde, und von welchem Er sagte: „So habe
ich nun dieses Haus erwählt und geheiligt, daß mein Name
daselbst sein soll ewiglich" (2. Chron. 7, 16); dann wird der
Leib des Christen Tempel Gottes genannt (1. Kor. 6,19), und
endlich die Versammlung; aber di e Versammlung, welche
aus Heiligen in Christo Jesu zusammengesetzt ist, und nicht
die abgefallene Christenheit (1. Kor. 3,16. 17 vergl, mit Kap.
1, 1—9. 6, 11). Da sich nun der Antichrist in diesen beiden
letzteren Bedeutungen nicht in den Tempel Gottes setzen
kann, so kann also nur der Tempel zu Jerusalem gemeint
sein. Dies ist übrigens durch andere Einzelheiten der Prophezeiung bestätigt, z. B. das Erwähnen des täglichen Opfers,
welches kein anderes sein kann, als das, von dessen Aufrichtung wir 2. Mos. 29, 38—42 lesen.
„Dies ist der Antichrist", sagt die Schrift (1. Joh. 2, 22),
„welcher den Vater und den Sohn leugnet." Der Papst aber
hat nie eigentlich weder den einen noch den anderen geleugnet. Im Gegenteil baut er auf ihre Existenz das Lehrgerüst
seiner Irrtümer. Und wenn man dahin kommt, den Vater
und den Sohn völlig zu verwerfen, so wird man auch den
Papst, der sich für ihren Stellvertreter ausgibt, verwerfen.
Der wesentlichste Charakterzug des Antichristen ist der
Gegensatz, in welchem er zu Christo in seinen Ämtern und
Aufträgen steht, wie der Name selbst es andeutet. Wo ist
aber zum Beispiel von Jesu, der als Mensch in Israel einen
Dienst von drei bis vier Jahren versieht, und sich diesem
Volk als König und Prophet darstellt, der Gegensatz in dem
Papsttum, das ist in einem religiösen System, oder wenigstens in einer Reihenfolge von Menschen verschiedener Charaktere, welche während Jahrhunderten im Westen aufeinanderfolgen, ohne etwas mit den Juden zu tun zu haben?
Der Gegensatz mangelt hier gänzlich. Hingegen besteht er
in seiner ganzen Kraft, wenn der Antichrist ein Mensch ist,
der in Israel während dreieinhalb Jahren ein Amt versieht,
indem er sich diesem Volk als König und Prophet darstellt
und von demselben aufgenommen wird. Man begreift dann
dieses sonst unverständliche Wort Jesu: „Ich bin im Namen
meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht auf.
Wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, den
werdet ihr aufnehmen" (Joh. 5, 43).
Endlich sollte man glauben, daß eine ruhige Beobachtung
dessen, was in der Christenheit vor sich geht, genügen
würde, um aufzuhören aus dem Papsttum den Antichristen
zu machen. Findet man denn nur im Papsttum die falschen
Lehrer, den Rationalismus, die Liebe zur Welt, zu deren Güter und Herrlichkeit? Was für traurige Christen sind die
meisten, welche Gegner des Papstes sind! Was wäre das für
84
ein Reich Gottes, wenn man von der Christenheit den Papst
und die Päpstlichen weggetan hätte! Und dann, wo soll man
heutzutage im Papsttum diese Macht der Verblendung suchen, welche dem Antichristen Massen nachziehen soll, wo
die Auserwählten selbst verführt würden, wenn es möglich
wäre? Er kann diese Macht bis auf einen gewissen Punkt
gehabt haben, als die Völker noch ein Bedürfnis nach einer
Religion hatten; aber Satan hat unterdessen mit Erfolg gearbeitet, um sie davon abzubringen. Wenn das Papsttum
seine Anhänger behält, so ist es, weil wenigstens die meisten
zu einem solchen Grad des Unglaubens und der Gleichgültigkeit gelangt sind, daß es ihnen abgeschmackt vorkommt,
irgend eine religiöse Überzeugung ernst genug zu nehmen,
um sich der einen mehr als der anderen anzuschließen. Sie
bleiben, wie auch die meisten Protestanten, da, wo ihre Geburt sie hinstellte. Das Papsttum ist heutzutage ein von den
unterirdischen Feuern des Unglaubens untergrabenes Feld,
das nur mit einer dünnen Lage falschen Christentums überdeckt ist; sobald diese Lage verschwindet, wird der Unglaube wie ein Vulkan in Empörung und Lästerung gegen
Gott und Seinen Gesalbten ausbrechen.
Der wahrhaftige, antichristische Geist ist in der ganzen
Christenheit, im Protestantismus ebensogut wie im Katholizismus; er ist der Unglaube, welcher den Menschen an Gottes Stelle setzt, und der Materialismus, welcher aus der Erde
seinen Himmel macht. Dies ist das AntiChristentum, vor
welchem wir uns hauptsächlich heutzutage in Acht zu nehmen haben, denn wir können es bis in die Kirche hinein
einatmen.
Wenn man sich z. B. zum Richter macht, bis zu welchem
Grad, dieser oder jener Teil der Schrift Vertrauen verdient,
oder wenn man dessen bestimmteste Aussprüche fruchtlos
macht, indem man sie vergeistigt; wenn man in der Kirche
dem menschlichen Talent, dem Geld oder einer hohen weltlichen Stellung einen Platz einräumt, was ist das anders, als
den Menschen an Gottes Stelle setzen? Wenn man, anstatt
den Seine Versammlung abholenden Herrn zu erwarten, um
sie aus der Welt zu nehmen, sich hier unten ein vermeintliches durch das Evangelium herbeigeführtes Reich Gottes
zurecht macht, mit Hilfe aller Zivilisationsquellen; wenn
man denselben Eifer zeigt wie die Kinder dieses Zeitlaufes,
um Geld zu gewinnen, um sich die Annehmlichkeiten dieses
Lebens und den Genuß des Luxus zu verschaffen; heißt das
nicht aus der Erde seinen Himmel machen?
85
4.
4.
Vernichtung des Antichristen und Einführung des
zukünftigen Zeitlaufs durch den Herrn in Person
„Siebenzig Wochen", ward dem Daniel gesagt (Kap. 9, 24-
27), „sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige
Stadt, um die Übertretung zu schließen, die Sünden zu versiegeln und die Missetat zu versöhnen und die ewige Gerechtigkeit zu bringen, auch das Gesicht und die Propheten
zu versiegeln und das Allerheiligste zu salben." Wenn also
die letzte dieser siebenzig Wochen gekommen ist, wenn der
Antichrist viele, mit denen er einen starken Bund machte,
verführt haben wird, und die Nationen die heilige Stadt
zweiundvierzig Monate lang, trotz der Zeugen, welche, mit
Säcken angetan, während dieser Zeit oder während dieser
1260 Tage weissagen, zertreten haben werden (Offb. 11, 2. 3),
und wenn er endlich in der zweiten Hälfte dieser letzten
Woche das tägliche Opfer abgeschafft, und seine zweiundvierzig Monate, während welcher Zeit er die Heiligen verfolgt, welche eine Zeit, etliche Zeiten und eine halbe Zeit
seinen Händen übergeben worden (Offb. 13, 5; Dan. 7, 25),
vollendet haben wird, — dann muß das Verderben auf den
Verwüster triefen. Der Gottlose muß durch den Hauch des
Mundes des Herrn verzehrt, und durch die Erscheinung Seiner Ankunft vernichtet werden. Ja, wenn die Bedrängnis
Israels zu dem Punkt gekommen sein wird, daß es weder
von sich noch von irgend einem Menschen etwas zu erwarten hat (Jes. 26, 17. 18), wenn die Nationen ihrerseits den
Höhepunkt ihrer Empörung erreicht haben werden, indem
sie die Stadt, über welche Gott die Augen immer offen hat,
entheiligen, dann wird der Herr um Sein Land besorgt sein,
und wird sich Seines Volkes erbarmen (Joel 2,17.18; Sach. 1,
14—17; 8,2; 12,5; 14,1—5). „Der Herr wird ausziehen wider
diese Völker zu streiten... Seine Füße werden alsdann auf
dem ölberg stehen, der vor Jerusalem gegen Morgen liegt...
und Jehova, mein Gott, wird kommen, und alle Heiligen mit
ihm." So wird also der vom Himmel offenbarte Jesus mit
großer Macht und Herrlichkeit auf demselben ölberge erscheinen, von welchem aus Er gen Himmel fuhr. Er wird
die Nationen im Tale Josaphat versammeln, und da wird
Er mit ihnen rechten wegen Seines Volkes und Seines Erbteils Israels (Joel 3). Diese Ankunft des Herrn erwarteten
alle Heiligen der früheren Zeiten, und diese wird so oft in
den Weissagungen angekündigt (Ps. 96; 98; Jes. 25; 26 besonders V. 8. 9.19—21; 40,9—11; 59,20.21; 62,11.12; 63,1—6; 64,
1—5; 66, 5—16; Hab. 3, 3—16; Sach. 2; 14; Matth. 24, 27—30;
86
25, 31 usw.; 26, 64; 2. Thess. 1, 7—10; 2,8; Jud. 15; Offb. 1,7;
19, 11—21 usw.).
Das Ergebnis von diesem ist also die Vernichtung derjenigen, welche die Erde verderben. Das Tier und der falsche
Prophet werden lebendig in den Feuersee, der mit Schwefel
brennt, geworfen werden. Die Könige der Erde und ihre
Heere werden getötet durch das Schwert, welches aus dem
Munde des Herrn geht, und die Vögel des Himmels werden
von ihrem Fleisch gesättigt werden.
Dies ist die Ernte und die Kelter der Erde (Joel 3, 13;
Matth. 13, 36. 43; Offb. 14, 15—20). Dann wird die Erde mit
der Rute des Mundes des Herrn geschlagen, und der Gesetzlose mit dem Hauch Seines Mundes verzehrt (Jes. 9, 4;
2. Thess. 2, 8). Die empörerischen Nationen werden vom
Herrn in Seinem Zorn zerschmissen werden wie irdene Gefäße (Ps. 2). Dies ist das Bild Nebukadnezars, welches durch
den ohne Hände losgemachten Stein, der auf seine eisernen
und tönernen Füße fällt, zermalmt wird (Dan. 2). Es ist das
vierte Tier desselben Propheten, welches getötet wird, und
dessen Leib verderbt und in ein brennendes Feuer geworfen wird (Dan. 7). Dies ist endlich das große Ereignis, auf
welches die ganze Prophezeiung des Alten Testamentes hinzielt. Und darüber darf man sich nicht wundern; denn es
ist das Ende „der Zeit der Nationen" und folglich „der Ungnade Gottes über Israel." Durch die Vernichtung des Tieres
ist die Mach t den Nationen genommen, und sie kehrt
wieder zu ihrem Ursprung zurück, zu demjenigen, der der
König der Könige und der Herr der Herren ist. Aber dieser
Allmächtige ist auch der Sohn Davids, der König Zions, der
wiederkommt zu der Tochter Zions, welche Er für einen
Augenblick verlassen hatte, der sich wieder zu Jerusalem
wendet (Jes. 54; Sach. 1; 2). „Tröstet, tröstet mein Volk!"
wird Er dann sagen (Jes. 40, 1—11), „redet mit Jerusalem
freundlich und rufet ihr zu, daß ihr Streit vollendet, und
daß ihre Missetat versöhnt ist; denn sie hat von der Hand
des Herrn Zwiefältiges empfangen, um all ihrer Sünden
willen." Und das Volk, welches ehemals seinen König verwarf, wird seinerseits dann Ihn aufnehmen und sagen: „Gesegnet sei der Kommende im Namen des Herrn" (Ps. 118;
Matth. 23, 39). Bis dahin sind die starken Stäbe in Zion abgerissen und mit Feuer verbrannt, und es gibt keinen Stab
mehr, welcher zu einem Regentenstab tauglich wäre (Hes.
19, 11—14). „Zerstört, zerstört, zerstört will ich sie machen;
auch soll sie nicht sein, bis der kommt, dem das Gericht gehört und welchem ich es übergebe", spricht der Herr (Hes.
21, 27). In kurzer Zeit wird Er groß sein bis an die Enden
der Erde; denn als gesalbter König in Zion hat Er die Nationen zum Erbe und die Enden der Erde zum Eigentum,
87
und Er wird Frieden machen (Micha 5, 4. 5; Ps. 2, 8). Der
Herr ist König auf der ganzen Erde. Dies ist das Reich Gottec oder der zukünftige Zeitlauf, der auf diesen gegenwärtigen bösen Zeitlauf folgt.
Das Reich Gottes oder der zukünftige Zeitlauf ist in der
Tat stets als eine Folge der herrlichen Ankunft des Herrn
dargestellt. Wenn der auf das Bild gefallene Stein dasselbe
zermalmt hat, wird er selbst ein großer Berg, der die ganze
Erde erfüllt. Wenn das Tier ins Feuer geworfen ist, wird
die Herrschaft, die Ehre und das Reich dem Sohn des Menschen gegeben und mit Ihm den Heiligen des Allerhöchsten
(Dan. 2; 7; Offb. 19, 11 — 21 in Verbindung mit Kap. 20, 4.
Siehe auch: Jes. 2, 20. 21; 11, 4 in Verbindung mit V. 6—10;
Jes. 26, 17—21; 25; 62; 63, 1—9; 66, 5. 24; Sach. 2, 10—13;
14 usw.). Diese Zeit des Reiches ist auch „die Zeit der Erquickung vom Angesicht des Herrn" ... die Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, wovon Gott von jeher durch den
Mund seiner heiligen Propheten geredet hat" (Apg. 3, 20. 21).
Es ist die „Wiedergeburt", in welcher die zwölf Apostel auf
zwölf Thronen sitzen werden, um die zwölf Stämme Israels
zu richten (Matth. 19, 28). Es ist endlich die Zeit, welche man
oft das tausendjährige Reich nennt, weil man in Offb. 20,
1—7 sieht, daß es tausend Jahre währen wird.
Die Geschichte der Herstellung des Reiches, oder der
Einführung des zukünftigen Zeitlaufes läßt sich in Folgendes zusammenfassen: „Zuerst Gerichte und dann Segnungen
über Israel und die Nationen. Dies hat man schon oft in
den Wegen Gottes bemerken können, und es geht auch aus
mehreren Aussprüchen hervor (z.B. Jes. 4; Zeph. 3, 8. 9; Mal.
3, 1—6 usw.). Das Reich wird nicht nur durch die Vernichtung des Antichristen und seiner Anhänger hergestellt; sondern weil es ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens
ist, werden sich die Gerichte auf alle Gottlosen ausdehnen
(Jes. 11,14; 19,1—17; 30, 31), ohne von dem Gericht des Gog
zu sprechen, über dessen Zeitpunkt wir nichts feststellen
(Hes. 37; 38). Und in diesen Gerichten werden die Kinder
Israels selbst als die Hämmer und Kriegsinstrumente Gottes
gebraucht werden (4. Mos. 23, 23. 24; 24, 7. 9; Jes. 41, 10—16).
Endlich wird das Böse, wo es erscheint, unverzüglich
durch die Gegenwart des Herrn unterdrückt und der Sünder
zerstört, oder doch wenigstens gezüchtigt werden (Ps. 101, 8;
Sach. 14, 16—19). Wenn dieser König, der nach Gerechtigkeit regiert, gekommen sein wird, so wird die Gerechtigkeit
vor Ihm hergehen, und Er wird sie überall aufpflanzen, wo
Er vorübergeht. Und der Lohn der Gerechtigkeit wird
Friede sein, und ihre Frucht Ruhe und Sicherheit ewiglich.
Dann wird Sein Volk in der Herberge des Friedens wohnen,
88
und in sicheren Wohnungen und in stillen Ruheplätzen (Jes.
32, 1. 17. 18).
So folgt also die Segnung auf das Gericht, zuerst für Israel und dann für die Nationen. Eine der ersten Segnungen
wird die Sammlung Israels und dessen Vereinigung mit Juda
sein, um sie zu eine m Volke zu machen. Man muß nicht
vergessen, daß Juda allei n den Herrn verworfen und gekreuzigt hat, weil Israel dazumal schon zerstreut war. Deshalb ist es auch Juda allein , welches als Strafe für dieses
Verbrechen durch die große Trübsal gehen muß, und den
Verführungen und Verfolgungen des Antichristen übergeben wird. Wenn aber der Herr den Boshaften durch den
Hauch Seines Mundes verzehrt haben wird, „wird er zum
zweiten Mal seine Macht gebrauchen, um die Übriggebliebenen seines Volkes zu sammeln, die von den Assyrern,
Ägyptern, Pathrösern, Mohren, Elamiten, Chaldäern, von
Hamath und den Inseln des Meeres übriggeblieben sind;
und er wird ein Zeichen unter den Heiden aufrichten, und
die Verjagten Israels zusammenbringen" (Jes. 11, 11 —16).
„Zur selben Zeit wird die große Posaune erschallen, und es
werden diejenigen kommen, welche im assyrischen Lande
verloren, und die, welche in Ägypten zerstreut waren, und
werden den Herrn zu Jerusalem auf dem heiligen Berge
anbeten" (Jes. 27,13). So werden Israel und Juda, indem sie
nur ei n Volk bilden, wie in den schönsten Tagen Salomos,
alle die den Vätern gegebenen Verheißungen an sich erfüllt
sehen (Jer. 50, 4. 5; Hes. 37, 15—28). Dann werden sie als
Diener der Segnung, wie sie es für das Gericht waren, zu
den Nationen gehen, welche nichts vom Herrn gehört, noch
Seine Herrlichkeit gesehen haben, und Seine Ehre unter
ihnen verkündigen (Jes. 61, 6; 66,19). Diese, gedemütigt und
lenksam, werden, um anzubeten, nach Jerusalem kommen,
welches dann die politische und religiöse Hauptstadt der
Welt sein wird — der Mittelpunkt der Segnung, welche sich
von da wie ein Strom bis an die Enden der Erde ausdehnen
wird.
5.
Gegeneinanderstellung der Ankunft des Herrn, um
Seine Versammlung abzuholen, und Seines Kommens,
um die Welt zu richten
a) Wenn der Herr kommt, um Seine Versammlung abzuholen, dann kommt Er nicht auf die Erde herab, sondern
nur in die Luft, wo die Versammlung in den Wolken Ihm
entgegengerückt wird (1. Thess. 4, 16. 17).
89
Wenn Er zum Gericht der Erde kommt, „dann werden
seine Füße zu der Zeit auf dem Ölberge stehen, der vor Jerusalem gegen Morgen liegt" (Sach. 14, 4). „Alle Nationen
werden zusammengebracht und in das Tal Josaphat hinabgeführt; und er wird mit ihnen daselbst rechten" (Joel 3, 7).
b) Wenn der Herr kommt, um Seine Versammlung abzuholen, so wird Er nur von denen gesehen, welche Ihn zur
Seligkeit erwarten, wie wir es schon bemerkt haben. Wenn
Er zum Gericht kommt, so ist es: „gleichwie der Blitz ausfährt vom Aufgang und scheinet bis zum Niedergang ... .
dann werden alle Stämme der Erde wehklagen; sie werden
an ihre Brust schlagen, und werden den Sohn des Menschen
sehen, kommend auf den Wolken des Himmels, mit Macht
und vieler Herrlichkeit" (Matth.24, 27. 30). „Siehe! Er kommt
mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn schauen, auch die,
welche ihn gestochen haben; und alle Geschlechter der Erde
werden über ihn wehklagen. Ja Amen!" (Offb. 1, 7).
c) In der Ankunft des Herrn, um Seiner Versammlung zu
begegnen, ist nur Liebliches und Ermutigendes, „ein gebietender Zuruf" oder der Aufmunterung, wie man auch übersetzen kann, „eine Stimme des Erzengels, und die Posaune
Gottes"; aber weder Feuerflamme, noch Zorn, noch Rache.
Wie ist es aber so ganz anders, wenn Er Sich aufmacht, um
die Erde zu richten, als Derjenige, welcher recht richtet und
streitet. „Seine Augen sind wie Feuerflammen; sein Kleid
ist von Blut gefärbt; aus seinem Munde g.eht ein zweischneidiges Schwert, um die Nationen damit zu schlagen; denn er
wird sie mit eiserner Rute regieren; und er tritt die Kelter
des Weines des Grimmes Gottes, des Allmächtigen" (Offb.
19,11-21; Jes. 63,1-6). „Denn siehe, Jehova kommt im Feuer,
und wie der Sturmwind sind seine Wagen, auszulassen in
Glut seinen Zorn, und sein Schelten in Feuerflammen. Denn
mit Feuer rechtet Jehova, und mit seinem Schwerte gegen
alles Fleisch; und viel sind der Erschlagenen" (Jes. 66,15.16).
„Er kommt in einer Feuerflamme, um denen Vergeltung zu
geben, die Gott nicht kennen, und denen, die nicht dem
Evangelium unseres Herrn Jesu Christi gehorchen, welche
Strafe leiden werden, ewiges Verderben von dem Angesicht
des Herrn und von der Herrlichkeit seiner Stärke" (2. Thess.
1, 7 — 9), Auch werden die Menschen „in die Felsenspalten
und Bergklüfte kriechen vor dem Schrecken Jehovas und
vor seiner herrlichen Majestät, wenn er sich aufmachen
wird, die Erde zu schrecken"; „und sie werden zu den Bergen und Felsen sagen: „Fallet auf uns und verberget uns
vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor
dem Zorn des Lammes. Denn der große Tag seines Zornes
ist gekommen; und wer kann bestehen?" (Jes. 2, 21; Offb. 6,
90
16.17). Gewiß, dies ist nicht der ersehnte und glückliche Tag
der Hochzeit des Lammes.
Übrigens ist der Gegensatz, welchen wir soeben zwischen
der Wiederkunft des Herrn für die Versammlung, und Seiner Wiederkunft für Israel und die Welt bezeichnet haben,
nur eine Folge des Gegensatzes, welchen wir ebenfalls zwischen der Abwesenheit des Herrn in Bezug auf Seine Versammlung, und Seiner Abwesenheit in Bezug auf Israel und
die Nationen bemerken,
Das Hingehen Jesu in den Himmel, welches für Israel
und die Nationen, den irdischen Völkern, ein Gericht ist, ist
für die Versammlung, dem himmlischen Volke, eine Quelle
der Segnungen. Wenn aber der Herr, Seiner Drohung gemäß,
wieder an Seinen Ort ging und Sein Volk ohne König ließ
(Hosea 3, 4; 5, 15), so war dies ähnlich dem, was ein Vater
tut, wenn er, nachdem er umsonst alles versucht hat, um
sein Kind zu bessern, dasselbe, wenigstens für einige Zeit,
sich selbst überläßt. Hingegen ist die Gegenwart Jesu im
Himmel für die Versammlung die Quelle der köstlichsten
Segnungen. So kann Er vor Gott, als ihr Stellvertreter,
Sachwalter und Vorläufer, für sie erscheinen, und ihr auch
alle Hilfe und Tröstungen des Geistes verschaffen (Joh. 7,
38. 39; 14, 1—13; 16, 7 usw.).
Daher kommt denn auch der Unterschied Seiner Ankunft
für die Versammlung und Seiner Ankunft für Israel. Wenn
Er wiederkommt, um Seine Versammlung abzuholen, so geschieht es, um sie in den Besitz der Güter zu setzen, welche
Er ihr erworben hat, und wegen welcher Er in den Himmel
ging, um sie für sie zu bereiten. Wenn Er wieder unter Israel und die Nationen kommt, welche Ihn verworfen haben,
so muß Er mit Richten und Strafen anfangen, damit Er,
nachdem Seine Ungnade ein Ende genommen hat, nachher
segnen kann (Luk. 19, 12—27; 20, 9—18; Jes. 9).
d) Wenn der Herr kommt, um Seine Versammlung abzuholen, so ist es „de r Soh n Gottes " (1. Thess. 1, 10); welches sehr an den himmlischen Charakter dieser Brüder erinnert, welchen Er, ehe Er in den Himmel ging, sagte: „Ich
fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem
Gott und zu eurem Gott" (Joh. 20, 17).
Wenn Er kommt, um die Welt zu richten, nennt Er Sich
„Soh n de s Menschen " (Dan. 7,13; Matth. 24, 27. 30. 37.
39.44; 26; 64); welches mit dem Charakter jenes Augenblicks
in Beziehung ist, indem Er als Sohn Davids kommt, um die
Ihm bestrittenen Rechte, als König Israels, in Anspruch zu
nehmen. Er kommt, um den Thron Davids, Seines Vaters,
in Besitz zu nehmen, um über das Haus Jakob ewiglich zu
regieren (2. Sam. 7, 12—16; Luk. 1, 32).
91
e) Wenn Jesus der Versammlung entgegenkommt, so geschieht es, um sie zu Sich zu nehmen, damit da, wo Er ist,
auch sie sei.
Wenn Er erscheint, um die Welt zu richten, so kommt
Seine Versammlung zu Ihm, denn sie bildet einen Teil dieser
himmlischen Heere, welche Seine glorreiche Begleitung ausmachen. Wie könnte man daran zweifeln, wenn man darauf
achtet, daß diese Heere „mit weißer reiner Leinwand angetan sind" und daß „die Leinwand die Gerechtigkeiten der
Heiligen sind?" (Offb. 19, 8. 14). Übrigens sagte schon Henoch, der siebente nach Adam: „Siehe, der Herr kommt mit
seinen heiligen Tausenden, Gericht wider alle auszuführen,
und alle ihre Gottlosen von allen ihren Werken der Gottlosigkeit, welche sie gottlos getan haben, und von all den
harten Worten, welche gottlose Sünder wider ihn geredet
haben, völlig zu überführen" (Jud. 15). Diese einfache Bemerkung sollte schon allein genügen, um diese beiden Erscheinungen des Herrn zu unterscheiden. Wenn Er mit Seinen Heiligen kommt, um die Welt zu richten, so müssen doch
diese Heiligen vorher zu Ihm aufgenommen worden sein.
f) Wenn Jesus kommt, um die Versammlung abzuholen,
so ist Er „de r Morgenstern" , welcher, solange die
Nacht noch die Erde bedeckt, den Tag ankündigt, und der
nur von denen gesehen wird, welche wachen (2. Petr. 1, 19;
Offb. 2,28; 22, 16).
Wenn Er zum Gericht kommen wird, so wird Er „di e
Sonn e de r Gerechtigkeit " sein, welche, nachdem sie,
brennend wie der Ofen, alle Verächter und Boshaftigen verzehrt haben wird, den Sanftmütigen der Erde das Heil
bringt, — denjenigen nämlich, welche inmitten der großen
Versuchung ausharrten, auf dasselbe zu warten; „denjenigen, welche sein Wort fürchten und welche von ihren Brüdern, um seines Namens willen, gehaßt werden" (Mal. 3, 16;
4, 1. 2; Jes. 66, 5).
Wenn Jesus kommt, um die Versammlung abzuholen, so
ist Er gleichsam der Hausvater, welcher kommt, um die
Erstlinge einzusammeln, um sie Gott in Seinem Tempel darzubringen (5. Mos. 26). Denn „nach seinem eigenen Willen
hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt, auf daß
wir in etwa Erstlinge seiner Schöpfung seien ... . wir, die
wir zuvor auf den Christus gehofft haben" (Jak. 1, 18;
Eph. 1, 12).
Wenn Er kommt, um die Welt zu richten, so ist Er gleichsam der Hausvater, welcher kommt, um die Ernte einzusammeln, welcher das Unkraut zusammenbindet, um es mit
dem Stroh in dem Feuer, welches nicht erlischt, zu verbrennen, und welcher den Weizen auf den Speicher sammelt,
92
und also Seine Tenne ganz und gar reinigt (Matth. 3, 12;
Matth. 13, 30).
g) Für die Ankunft des Herrn zum Gericht gibt es vorlaufende Zeichen. Ohne von dem Zeichen des Sohnes des
Menschen zu reden, welches alsdann im Himmel erscheinen
wird (Matth. 24, 30), und von welchem wir nichts wissen, als
was uns hier davon gesagt ist, ohne, sage ich, von diesem
Zeichen zu reden, müssen, ehe der Sohn des Menschen Selbst
erscheint, die Juden in ihr Land zurückgekehrt und Jerusalem wieder aufgebaut sein, der Abfall unter dem Antichristen seinen Höhepunkt erreicht haben, und das Evangelium
vom Reich auf der ganzen Erde gepredigt sein.
Aber es ist uns kein Zeichen gegeben, welches der Ankunft des Herrn, um Seine Versammlung abzuholen, vorangehen müsse. Für sie ist Er immer „der Kommende!" „denn
noch um ein gar Kleines, und der Kommende wird kommen
und nicht verzögern" (Hebr. 10, 37). „Ich bin das Alpha und
das Omega, Anfang und Ende! — spricht der Herr Gott, der
ist, der war, und der kommt, — der Allmächtige" (Offb. 1,
4. 8; 8, 11; 22, 7. 20).
Die Zeit des Aufenthaltes der Versammlung auf der Erde
ist sogar nie nach Jahren oder Monaten oder Wochen und
Tagen gemessen — mit einem Wort, nicht nach den Umdrehungen der Sonne oder des Mondes bestimmt worden, wie
dies bei Israel und den Heiligen der Erde der Fall ist, weil
es im Himmel, von wannen die Versammlung ist, weder
Stunde, noch Jahr, noch Jahreszeit gibt, und auch wohl ohne
Zweifel deshalb, weil der Herr will, daß sie Ihn beständig
erwarte. Es ist immer „um ein gar Kleines" (Joh. 14, 19; 16,
16; Hebr. 10, 37).
Man sagt zwar, daß Paulus die Thessalonicher gelehrt
habe, auf die Zeichen achtzuhaben, welche der Ankunft des
Herrn, um sie abzuholen, vorangehen würden (2. Thess. 2,1-3).
Wenn aber dies die Absicht Paulus gewesen wäre, so
hätte er sich widersprochen, indem er so oft seine Brüder
ermahnte, in einer beständigen Erwartung des Herrn zu
stehen. Und hieße das nicht, sich auf die offenbarste Weise
widersprechen, wenn man ermahnt, den Herrn täglich zu erwarten, und zu gleicher Zeit lehrt, daß, ehe Er kommt,
diese und jene noch zukünftigen Dinge erfüllt werden müssen, daß der Abfall seinen Höhepunkt erreicht, daß der Antichrist geoffenbart sein müsse usw.? Wenn alle diese Dinge
geschehen müssen, ehe der Herr kommt, um Seine Versammlung abzuholen, so habe ich nur diese Zeichen zu erwarten, welche sich nicht in eine m Tag verwirklichen
können, und bis dahin kann ich in der Gewißheit leben, daß
der Herr noch nicht kommt. — Nein, dies war nicht der Ge93
danke des Paulus; man hatte aber die Thessalonicher beunruhigt, indem man ihnen sagte und schrieb, daß „der Tag
Christi da sei"; gerade wie es heutzutage einige Christen
machen, welche in jeder Revolution, jedem Kriegsgeschrei,
jedem Ereignis, welches ein wenig außerhalb des gewöhnlichen Laufes der Dinge ist, die Zeichen der Ankunft des Sohnes des Menschen sehen (Matth. 24), und ebenfalls sagen:
„Der Tag Christi ist da." Wenn dies wäre, so hätten wir Ursache, bestürzt zu sein, wi r nämlich, die wir, wie die Thessalonicher, Jesum vom Himmel erwarten, uns vor dem zukünftigen Zorn zu erretten", denn wir hätten uns in unserer
Erwartung, unserem Haupte entgegengerückt, um mit Ihm
vereinigt zu sein, bevor Er auf diese Welt Seine Zornschalen
ausgießen wird, getäuscht. Dieser Beunruhigung wollte gerade Paulus bei seinen Brüdern in Thessalonich zuvorkommen. Deshalb erinnert er sie, daß, ehe der Tag Christi komme,
(d. h. das Gericht und das Reich), der Abfall kommen, und
der Mensch der Sünde geoffenbart sein müsse; aber er sagt
keineswegs, daß der Herr Seine Versammlung nicht abholen
werde, ehe diese Dinge geschehen sein würden. Im Gegenteil wollte er sie in dieser Hoffnung, welche er ihnen eingeflößt hatte, und welche durch irrige Belehrungen in Gefahr
stand, erschüttert zu werden, befestigen. Deshalb erinnert
er sie Vers 13, daß sie nicht zum Zorn erwählt seien, sondern
zur Seligkeit und zur Erlangung der Herrlichkeit. So hatte
er ihnen in Thess. 5, 8, schon gesagt: „Angetan mit dem Helm
der Hoffnung zur Seligkeit; denn Gott hat uns nicht zum
Zorn gestellt" — nicht gesetzt, um den Tag des Zornes des
Lammes durchzumachen, weil wir im Gegenteil an jenem
Tag mit Ihm die Welt richten werden, —• „sondern zur Erlangung der Seligkeit durch unseren Herrn Jesum Christum,
der für uns gestorben ist, auf daß wir, sei es, daß wir wachen oder schlafen", — d. h. sei es, daß wir leben, wenn Er
kommen wird, oder vorher gestorben sind — „zusammen
mit ihm leben." Denn alle, sowohl die Auferstandenen, als
die Verwandelten, werden miteinander Ihm entgegengerückt
werden, um allezeit bei Ihm zu sein.
Haben wir nun erkannt, daß die Ankunft des Herrn, um
Seine Versammlung abzuholen, und Sein Kommen, um die
Welt zu richten, zwei verschiedene Tatsachen sind, so kann
man nur noch fragen, was uns berechtigt, zwischen diese
beiden Tatsachen die große Trübsal zu setzen, und daß demgemäß die Versammlung nicht durch diese hindurchzugehen hat.
Wir hatten schon Gelegenheit, auf die Verheißung des
Herrn, in Betreff der Versammlung zu Philadelphia, aufmerksam zu machen: „Ich werde dich vor der Stunde der
Versuchung bewahren", worauf dann Laodicea aus dem
94
Munde des Herrn gespieen wird. Verdient dies nicht ernstlich in Betracht gezogen zu werden? Und wie kann man eine
genaue und genügende Erklärung von diesen Offenbarungen geben, wenn man nicht die Entrückung der Versammlung vor der Stunde der Versuchung darin sieht? Dem System, welches lehrt, daß die ganze Welt sich am Ende der
jetzigen Zeitperiode bekehren werde, ist es gewiß befremdend, zu hören, daß der Herr der Versammlung dieser Zeit
zu der Versammlung des Endes sagt: „Ich werde dich aus
meinem Munde ausspeien!" Zwar steht der Herr auch noch
nach diesem vor der Tür und klopft an, damit, wenn jemand
Seine Stimme höre und Ihm auftue, Er zu diesem einkehre
und mit ihm Abendmahl halte. So hat also der Herr auch
dann noch Seine Auserwählten; aber diese Auserwählten
haben nicht den Charakter der Glieder der Versammlung,
wie wir es auch Seite 69 schon gesehen haben.
Wenn der Apostel Paulus den Thessalonichern sagt:
„Schon ist das Geheimnis der Gesetzlosigkeit wirksam, nur
ist jetzt der, welcher zurückhält, vorhanden, bis er aus dem
Wege ist; und dann wird der Gesetzlose offenbart werden
usw." (2. Thess. 2, 7. 8); will er da nicht von der Versammlung
sprechen? Ist es nicht die Versammlung dieses dem Namen
des Herrn geweihten Volkes, welches hier unten für Ihn
Zeugnis ablegend, noch heute das Hindernis ist, daß der Gesetzlose geoffenbart wird? Wenn aber die Versammlung aus
dem Wege sein wird, d. h. aus der Welt entrückt und in die
himmlischen örter gesammelt, dann wird Satan aus diesen
vertrieben, und, indem er mit großem Zorn auf die Erde
herabkommt, wird er daselbst den Antichristen, das Werkzeug seiner boshaften Absichten, erwecken. Dann wehe den
Bewohnern der Erde, weil dies die Stunde der großen Trübsal sein wird (Offb. 12, 7. 12).
Diesen Betrachtungen ist noch dieses hinzuzufügen. Es
gibt eines der wichtigsten Bücher der Schrift, welches sich
offenbar auf die Zeit des Endes des Zeitlaufes bezieht, und
worin wir jeden Augenblick Gefühle ausgedrückt finden,
welche nicht der Versammlung angehören können; es ist das
Buch de r Psalmen . Wer es ohne Vorurteile liest, wird
bald darin die lieblichen Gesänge Israels, nach eingegebenen
Ausdrücken, erkennen (2. Sam. 23, 1), in welchen es durch
den Geist Seinen Messias, Seine Leiden, die Kämpfe und die
Herrlichkeiten Seines Reiches besingt, wie dies von den Propheten im allgemeinen gesagt ist (l.Petr. 1,11). Die Seufzer,
die Gebete, welche durch die Lästerungen und die Verfolgungen des Gottlosen in den Getreuen hervorgerufen werden, die Hoffnungen, die Triumph- und Dankgesänge, welche
die Wiederkunft ihres Königs, die Zerstörung Seiner Feinde
95
u n d die Aufrichtung Seines Reiches ihne n eingibt, — dies
alles bildet gleichsam eine prophetische Geschichte de r Zeit
des Endes.*) — Wir habe n nu n gesagt, da ß mehrer e dieser
in den Psalme n ausgedrückten Gefühle nicht in de r Versammlun g sein können, wie zum Beispiel:
a) Di e Psalme n sprechen beständig von Israe l un d den
Nationen als Völkern, sogar als Gott feindlichen Völkern,
weil sie Feinde Seine s Volkes sind. Dan n zeigen sie un s
*) Wenn die Psalmen nicht die Gesänge der Versammlung
sind, und wenn diese nicht berufen ist, dieselben unmittelbar
auf sich anzuwenden, so geht daraus nicht hervor, daß sie das
Lesen derselben vernachlässigen soll, oder daß sie etwas dabei
verlieren würde. Denn zunächst gibt es allgemeine Grundsätze
darin, von welchen Gott in Seinen Wegen gegen die Menschen
nie abgeht, und die sich also in allen Haushaltungen vorfinden,
— Sein Haß gegen das Böse, welches Er früher oder später bestraft, indem Er den Weisen in seiner Klugheit erhascht und
den Bösen in die Grube fallen läßt, die Er gegraben hatte;
Seine Erbarmungen, die alle Seine Werke übertreffen; die Leiden und der vollkommene Gehorsam Seines vielgeliebten Sohnes, kraft dessen Er die Ungerechtigkeiten vergibt und die Gebrechen derer heilt, die sich Ihm anvertrauen. Diese in den
Psalmen betrachteten Wege Gottes werden stets die Lust des
Christen sein. Wenn er nur vom Geiste gelehrt worden ist, in
allem diesem die besondere Seite für Israel zu unterscheiden,
so läuft er nicht Gefahr, sich in falsche Anwendungen zu verirren, wie man es oft gemacht hat, und Gedanken und Hoffnungen an die Erde knüpfte, welche sich nur nach oben richten
sollten.
Wenn man übrigens in den Psalmen eine prophetische Geschichte der Zeit des Endes erblickt, so gewinnen sie ein ganz
besonderes Interesse. Es eröffnet sich uns in dem unendlichen
und herrlichen Felde der Offenbarungen Gottes eine neue Aussicht. Viele Stellen, welche uns bis dahin nur einen unbestimmten Sinn darboten, oder welche wir sogar auf keine Weise mit
unserem Verständnis in den Wegen Gottes vereinbaren konnten, werden für uns, wenn sie dann ihren wahren Platz finden,
einfach und klar sein. Wir haben ohne Zweifel das Vorrecht,
während den traurigen Tagen des Endes des Zeitlaufs nicht mehr
auf der Erde zu sein; das, was aber Gott nach Seinem Wohlgefallen uns darüber offenbart hat, ist deshalb nicht ohne Interesse.
Könnte uns etwas, was den Kampf unseres Herrn gegen Seine
Feinde betrifft, Sein schließlicher Triumph, und die Aufrichtung
Seines Reiches auf der Erde, gleichgültig sein, wenn wir den
Herrn lieben, und wenn wir uns daran erinnern, daß wir mit
Ihm triumphieren und regieren sollen? Nein, indem wir die
Anwendung der Psalmen, sowie auch aller übrigen Propheten,
unmittelbar auf Israel beziehen, verlieren wir nichts; wir machen uns nicht ärmer, es sei denn, daß das sich arm machen
heiße, wenn man zum Erbe den Himmel lieber als die Erde
nimmt: denn der Unterschied zwischen Israel und der Versammlung kommt immer auf dieses zurück.
96
dieselben gezüchtigt und hernach mit ihren Königen und Regenten gesegnet. In der Versammlung ist nicht von Völkern
die Rede, sondern von Sündern, wovon jeder persönlich für
sich verloren ist, und in Christo persönlich errettet, ohne
irgendwelchen Unterschied des Volkes.
b) In den Psalmen bitten die Heiligen um Rache für ihre
Feinde. „Zerbrich ihre Zähne in ihrem Maul sie müssen
zergehen wie Wasser, das dahinfließt... der Gerechte wird
sich freuen, wenn er solche Rache sieht und wird seine Füße
baden in des Gottlosen Blut; daß der Mensch sagen wird:
der Gerechte hat ja Frucht! Es ist ja Gott Richter auf Erden ... . Schütte deinen Grimm auf die Nationen, die dich
nicht kennen, und über die Königreiche, die deinen Namen
nicht anrufen (Ps. 58; 59 79; 83; 140). Dies ist nicht die Gesinnung der Versammlung.
c) Endlich ist die Hoffnung der Gerechten in den Psalmen diese: die Bösen von der Erde ausgerottet zu sehen, daß
sie selbst aber darauf bleiben, um in allerlei irdischen Segnungen gesegnet zu sein. „Die Bösen werden ausgerottet,
aber die auf Jehova harren, werden das Land erben. Es ist
noch um ein Kleines, so ist der Gottlose nicht mehr; du achtest auf seine Stätte, und er ist nicht mehr. Aber die Sanftmütigen werden das Land erben und Lust haben in großem
Frieden" (Ps. 37, 9—11 usw.). Ist dies die Hoffnung der Versammlung? Nimmermehr. Die schon gerechtfertigte Versammlung kommt nicht mit dem Gottlosen ins Gericht, und
vor allem bleibt sie nicht nach demselben auf der Erde, um
daselbst mit irdischen Segnungen überhäuft zu werden. Im
Gegenteil, ihre Hoffnung ist mitten aus den Bösen herausgenommen zu werden, welche sie hier unten dem Gericht
Gottes überläßt, um zu ihrem Heiland zu gehen.
Wer fühlt nicht den großen Unterschied des Charakters,
welcher eine so verschiedene Hoffnung voraussetzt? Da nun
der Charakter der Heiligen dieser Zeit nicht der der Glieder
der Versammlung sein kann, so kann die Versammlung
dann also nicht mehr auf der Erde sein und muß folglich
vor der großen Trübsal entrückt worden sein.
Dies ist übrigens in vollkommener Übereinstimmung mit
dem, was wir von ihrer Natur und ihrer Bestimmung gesehen haben.
Es kommt auch auf diesen so einfachen Grundsatz zurück. Die göttliche Gesinnung, wovon jede Haushaltung die
besondere Offenbarung ist, ist die Gesinnung, welche der
Geist Gottes den Heiligen der betreffenden Haushaltung
insbesondere einflößt. Es wäre sonst Widerspruch in Gott,
indem Sein Geist Seinen Heiligen Gesinnungen einflößen
würde, die denen, welche Er Selbst empfindet, entgegen wä21 97
ren und deren Verwirklichung Er in diesem Augenblick will.
Da die Versammlung die vollkommenste Offenbarung der
Gnade und der Geduld Gottes gegen die Welt ist, so soll sie
diese vollkommene Gnade verkündigen, ohne jedoch von
dem, was das Reich des Herrn betrifft, zu schweigen. Ihr
Zeugnis ist: „Wer an den Sohn glaubt, hat das ewige Leben,
und er kommt nicht ins Gericht, sondern er ist vom Tod
zum Leben hindurchgedrungen", — und ihr Gebet: „Komm,
Herr Jesu!" (Offb. 22, 20). Aber wenn die Geduld Gottes erschöpft und Seine Versammlung gesammelt sein wird, erhebt Er Sich von Seinem Thron, um die Welt mit Seinen
Plagen heimzusuchen; dann verkündigen auch Seine Heiligen, indem sie Seine Gefühle teilen, das herannahende Gericht. Und wie könnten sie dann noch die Gnade anbieten,
die der Versammlung angeboten wurde, wenn dieselbe zu
ihrem Herrn gesammelt ist? Es bleibt denjenigen Heiligen,
die dann noch auf der Erde wohnen, keine andere Aussicht
mehr, als diejenige, durch die Gerichte hindurch errettet zu
werden, wie Noah durch die Wasser der Sündflut. Auch ist
dann das Zeugnis der Heiligen in diesem Augenblick:
„Fürchtet euch vor Gott und gebt ihm Ehre; denn die
Stunde seines Gerichts ist gekommen" (Offb. 14, 7). Sie flehen: „Der Sünder müsse ein Ende werden auf Erden und die
Gottlosen nicht mehr sein" (Ps. 104, 33—35).
98
VI.
Gegeneinanderstellung des gegenwärtigen
u n d zukünftigen Zeitlaufes
1.
Israel
Im gegenwärtigen Zeitlauf ist Israel, weil es seinen König und Gott verworfen hat, auch von Ihm verworfen. Gott
sagt zu ihm: „Ihr seid nicht mein Volk, und ich will nicht
euer Gott sein" (Hosea 1, 9). Es ist dies „die lange Zeit",
während welcher die Kinder Israel „ohne König und ohne
Obersten und ohne Opfer und ohne Säule und ohne Brustkleid und ohne Ephod und ohne Theraphim" sein werden
(Hos. 3, 4). Sie sind hingegeben, um unter allen Völkern gesichtet zu werden, „wie man mit einem Sieb sichtet, und
kein Körnlein auf die Erde fällt" (Arnos 9, 9), „und ihr Herz
ist verstockt, ihre Ohren sind dick, daß sie mit ihren Herzen nicht verstehen, mit ihren Ohren nicht hören, damit sie
bekehrt würden" (Jes. 6, 10). „Eine Decke ist über ihren
Augen, wenn sie den Moses lesen" (2. Kor. 3, 14. 15).
Im zukünftigen Zeitlauf wird der Grimm Gottes, nachdem Er das Volk Israel, wie in einem Tiegel mitten in Jerusalem zusammengeschmolzen, und wie in einem Feuerofen
alle Stolzen und Boshaften verzehrt hat (Jes. 4, 4; 65, 8—10;
Hes. 22, 18—22; Mal. 3, 2. 3; 4, 1), ein Ende nehmen; und in
Seiner Barmherzigkeit wird Sich der Herr wieder zu ihnen
kehren. Er sagt: „Über das Haus Davids und über die Einwohner zu Jerusalem will ich den Geist der Gnade und des
Gebets ausgießen, und sie werden auf mich, den sie durchstochen haben, schauen, und werden eine Klage über ihn
führen, wie man einen Klage über einen Eingeborenen führt
und werden sich um ihn betrüben, wie man sich betrübt
über einen Erstgeborenen ... . Zu derselben Zeit wird das
Haus Davids und die Einwohner Jerusalems einen offenen
Born haben wider die Sünde und Unreinigkeit. Und zu der
Zeit, spricht der Herr Zebaoth, will ich euch die Namen der
Götzen aus dem Lande ausrotten, daß man ihrer nicht mehr
gedenken soll. Ich will auch die falschen Propheten und den
99
unreinen Geist aus dem Lande hinwegtun" (Sach. 12,10—13,
1. 2). „In denselben Tagen und auf dieselbe Zeit, spricht der
Herr, werden die Kinder Israels kommen, samt den Kindern
Juda's; sie werden weinend daherziehen und werden den
Herrn, ihren Gott, suchen. Sie werden forschen nach Zion;
sie werden ihre Angesichter dahin kehren: Kommt, lasset
uns dem Herrn anhangen mit einem ewigen Bund, der nimmer vergessen werden soll" (Jer. 50, 4. 5). „Ich will euch denn
unter den Völkern wegnehmen, und aus allen Ländern zusammenlesen, und euch wieder in euer Land bringen. Und
ich will reines Wasser über euch sprengen, und ihr werdet
rein werden. Ich will euch von aller eurer Unreinigkeit und
von allen euren Götzen rein machen, und ich will ein
neues Herz und einen neuen Geist in euch geben; ich will
das steinerne Herz aus eurem Leibe wegnehmen und euch
ein fleischernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euch
geben, und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln, und meine Rechte halten und darnach tun. Also werdet ihr in dem Lande wohnen, welches
ich euren Vätern gegeben habe, und ihr werdet mein Volk
sein, und ich will euer Gott sein" (Hes. 36, 24—28; Jer. 23, 5.
6.; 30; 31, 31; 33, 14—18). Darnach werden sich die Kinder
Israels bekehren und den Herrn, ihren Gott, und David,
ihren König, suchen; und werden in den letzten Tagen zu
dem Herrn und seiner Gnade eilen" Hos. 3, 5). Ja, „der ganze
Samen Israels wird in dem Herrn gerechtfertigt werden,
und sich seiner rühmen"; „denn Gottes Gnadengaben und
die Berufung sind unbereubar" (Jes. 45, 25; Röm. 11, 26—29).
Im gegenwärtigen Zeitlauf ist Jerusalem wüste gelassen
(Matth. 23, 37—39). Von den Völkern zertreten, ist es kinderlos, besonders verlassen von Dem, der seine Herrlichkeit,
sein König und sein Gott ist; denn Er ist wieder an Seinen
Ort gegangen, bis sie erkennen, daß sie gesündigt haben
und Sein Angesicht suchen (Hos. 5, 15).
Die letzen Tage des Zeitlaufes werden noch schrecklicher
für dasselbe sein, als die ersten. Es wird von den zornigen
Völkern umgeben, genommen und geplündert werden; und
zu gleicher Zeit wird es vom Herrn der Heerscharen mit
Wetter und Erdbeben und mit großem Donner, Ungewitter,
Wirbelwind und mit Flammen verzehrenden Feuers heimgesucht werden. Dies wird endlich die große Trübsal sein,
„wie sie von Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist,
und auch nicht werden wird" (Jes. 29, 6; Dan. 12, 1; Sach.
13, 8. 9. 14; Matth. 24; Luk. 21). —
Im zukünftigen Zeitlauf wird sich Zion der Schande seiner Witwenschaft nicht mehr erinnern, denn: „So spricht der
Herr der Heerscharen: Ich habe für Zion geeifert mit großem Eifer, und mit großem Zorn für sie geeifert. Also
100
spricht der Herr: Ich will mich wieder zu Zion wenden, und
mitten in Jerusalem wohnen. Alsdann wird man Jerusalem
die treue Stadt nennen, und den Berg des Herrn der Heerscharen, den heiligen Berg. Also spricht der Herr der Heerscharen: Es werden noch ferner auf den Gassen zu Jerusalem alte Männer und alte Frauen sitzen, die alle an Stäben
gehen vor großem Alter. Zudem werden die Gassen der
Stadt voll Knaben und Mägdlein sein, welche auf den Gassen spielen werden. Also' spricht der Herr der Heerscharen:
Obgleich dieses dem übriggebliebenen Volk dieser Zeit wunderbar dünkt, so ist es doch nicht wunderbar in meinen
Augen, spricht der Herr der Heerscharen" (Sach. 8, 2—6).
„Und von dieser Zeit an soll der Name der Stadt sein: Der
Der Herr ist daselbst!" (Hes. 48, 35). „Jerusalem wird bewohnt werden ohne Mauer, vor der Menge der Leute und
des Viehes, die darin sein werden; denn ich will ihr ringsherum zu einer feurigen Mauer sein, und will in ihr meine
Herrlichkeit erzeigen, spricht der Herr" (Sach. 2, 4. 3. 10; 11;
14, 11; Jer. 31, 38—40; Zeph. 3, 14—17).
Im gegenwärtigen Zeitlauf ist das Land Israel verwüstet.
Es ist nicht besät, es bringt nichts hervor, und kein Kraut
wächst darin. Das Land ist verwüstet, die Städte verlassen,
und zwar so sehr, daß seine Feinde darob erstaunt sind
(3. Mos. 26, 31—35; 5. Mos. 29, 22—27).
Im zukünftigen Zeitlauf „wirst du Jungfrau Israel
auf den Bergen Samariens wieder Weinberge pflanzen; und
die Pflanzer werden pflanzen und die Frucht genießen. Denn
es wird die Zeit kommen, in welcher die Wächter auf dem
Berge Ephraim schreien werden: Kommet, lasset uns gen
Zion hinaufgehen, zu dem Herrn, unserem Gott!... Sie werden kommen und auf der Höhe des Berges Zion frohlocken,
und werden zu den Gaben des Herrn strömen, zum Getreide,
Most, ö l und zu den jungen Schafen und Kälbern, und ihre
Seele wird sein wie ein gewässerter Garten, und werden
nicht mehr trauern So sagt der Herr: Man wird noch
dies Wort wiederum reden im Lande Juda und in seinen
Städten, wenn ich ihr Gefängnis wenden werde: Der Herr
segne dich, du Wohnung der Gerechtigkeit, du heiliger Berg!
Und daselbst werden Juda und alle ihre Städte beisammen
wohnen, die Ackersleute und die, so mit der Herde umherziehen" (Jer. 31, 4—40; 33, 7—14)... „Ihr Berge Israels sollt
wieder grünen und eure Früchte tragen meinem Volke Israel, und es soll in kurzem geschehen. Denn siehe, ich will
mich wieder zu euch wenden und euch ansehen, daß ihr gebaut und besät werdet. Ich will bei euch der Menschen viel
machen, das ganze Haus Israel allzumal, und die Städte sollen wieder bewohnt, und die Trümmer erbaut werden. Ich
101
will bei euch der Menschen und des Viehes viel machen, daß
sie sich mehren und wachsen sollen. Ich will euch bewohnt
sein lassen, wie vorhin; ja, ich will euch mehr Gutes beweisen als je zuvor, und ihr sollt erfahren, daß ich der Herr
bin .. . Alsdann wird man sprechen: Dieses verwüstete Land
ist wie ein Garten Eden worden, und diese Städte waren
zerstört, öde und zerrissen und stehen nun fest gebaut. Alsdann werden die übrigen Heiden, welche um euch her liegen, erfahren, daß ich der Herr bin, der ich das Abgebrochene wieder baue und das Verwüstete wieder pflanze. Ich
der Herr habe es geredet und werde es auch tun" (Hes. 36).
„Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß das Ackern
ah die Ernte und das Keltern an die Aussaat reichen wird.
Die Berge werden von Most triefen und alle Hügel fruchtbar sein. Und ich will das Gefängnis meines Volkes Israels
wenden, daß sie die wüsten Städte wieder bauen und bewohnen werden, Weinberge pflanzen, und ihren Wein davon
trinken, Gärten machen, und Früchte daraus essen. Und ich
will sie in ihr Land pflanzen, daß sie aus ihrem Boden, welchen ich ihnen gegeben habe, nimmermehr ausgerottet werden sollen. Dieses hat der Herr, dein Gott, gesprochen"
(Arnos 9, 13—15).
Endlich scheint es im gegenwärtigen Zeitlauf, als hätte
Gott alle dem Israel gemachten Verheißungen vergessen
und wollte nur Seiner Drohungen gedenken. Wie sollten sich
auch die Verheißungen erfüllen, solange Israel Den verwirft,
in welchem diese alle Ja und Amen sind? (2. Kor. 1, 20). Im
zukünftigen Zeitlauf hingegen, wenn Gott durch Seine freie
Gnade Israel Sinnesänderung und den Aufblick auf Seinen
Geliebten geschenkt hat, wird es Seine Freude sein, dasselbe mit Seinen Segnungen um Seinetwillen zu überschütten.. Dann werden alle Verheißungen erfüllt werden; denn
es wird „die durch die Propheten angekündigte Zeit der
Wiederherstellung aller Dinge" sein (Apg. 3, 19—21). Dann
wird man sagen „Frohlocket, ihr Himmel, denn der Herr hat
es getan! Jauchzet, ihr Tiefen der Erde! Frohlocket, ihr
Berge und Wälder samt allen Bäumen, die darinnen sind;
denn der Herr hat Jakob erlöst und wird herrlich sein in
Israel!" (Jes. 44, 3).
O, wie erhaben sind die Gemälde, welche die Propheten,
angetan mit dem Heiligen Geist, von diesen herrlichen Zeiten dargestellt haben! Nur einige herausgerissene Stellen
können uns keinen Begriff davon geben. Doch wir lesen
Jes. 4; 11; 30,18—33; 35; 40,1—11; 49; 54; 55; 60; 61; 62. 65,
16—25; 66, 5—24; Jer. 30; 31; 32, 37—44;. 33; Hes. 34, 11—31;
36; 37; 38; 39; Joel 3; Micha 4; 5; 7, 7—20; Sach. 2; 3; 8; 12;
13; 14. Seht auch die Gebete, welche der Heilige Geist in
den Heiligen Schriften niederlegte, um die Ankunft dieser
102
Tage zu beschleunigen, z. B. Jes. 62, 1. 6. 7; 63, 15—19; 64.
Ebenso die Triumphgesänge, welche der Heilige Geist bei
der Anschauung dieser Zeiten in das Herz der alten Seher
legte und welche dann in Israel gesungen worden, z. B. Jes.
12; Ps. 65; 95; 97; 99; 118.
2.
Die Nationen
Im gegenwärtigen Zeitlauf sind die Nationen vom Satan,
,,dem Fürsten dieser Welt", „dem Gott dieses Zeitlaufes",
verführt (Joh. 12, 31; 14, 30; 2. Kor. 4, 4). Die Nationen sind
selbst diese Welt, deren Fürst Satan ist; sie sind von diesem
Zeitlauf dessen Gott Satan ist.
Einige rufen zwar den Namen Gottes und Seines Gesalbten für sich, für ihre Regierungen, ihre Gerichtshöfe, ihre
Politik an; aber sie entheiligen und verunehren auf diese
Weise nur diesen heiligen Namen, indem sie dem Herrn eine
Politik zuschreiben, die Er nie bestätigte und die meistens
geradezu im Widerspruch mit Seinem Geist und Wort ist.
Sie offenbaren also ihre unwissende Einbildung — Israel,
als Volk Gottes, auf der Erde zu ersetzen.
Es ist wahr, daß Gott die Herrschaft, indem Er Israel
dieselbe wegnahm, den Nationen in der Person des Nebukadnezar gab, mit welchen die Zeiten der Nationen angefangen haben; aber nie gab Gott irgend einem anderen irdische n Volk, als Israel, die Verheißung, Sei n Volk zu sein,
und das Recht, Ih n Seinen Köni g und Gott zu nennen. Ihm
allein gab Er eine bürgerliche, politische und religiöse
Staatsverfassung, ihm allein hat Er verheißen, seine Schlachten zu leiten und ihm den Sieg über seine Feinde zu geben.
Nie waren die Könige der Nationen die Gesalbten Jehovas;
vor allem bekamen sie nie irgendwelche Macht, um Seine
Versammlung zu regieren, noch sie zu beherrschen. Diese
Nationen, die Trümmer des Römischen Reiches, welche den
christlichen Namen angenommen haben, sind es auch gerade,
welche uns der Geist unter dem Bild dieses vierten schrecklichen Tieres darstellt, das ins Feuer geworfen wird, wenn
der Sohn des Menschen das Reich empfängt (Dan. 7). Ihre
Könige und Heere sind es, welche wir unter der Leitung des
Tieres und des falschen Propheten versammelt sehen, um
dem, welcher auf dem Pferd sitzt, und Seinem Heer den
Krieg zu machen, und welche endlich der Raub der Vögel
des Himmels werden, die zum Abendmahl des großen Gottes
eingeladen sind (Offb. 19). Dies ist das Ende der Nationen,
der Christenheit im gegenwärtigen Zeitlauf. Dies ist der
schreckliche Tag, zu welchem der Herr sie durch Seinen Pro103
pheten zusammenruft, indem Er sagt: „Rottet euch zusammen, und kommet her, alle ihr Völker ringsherum, und versammelt euch! Die Völker werden sich aufmachen und in
das Tal Josaphat hinaufziehen; denn daselbst will ich sitzen,
die Nationen ringsherum zu richten. Schlagt die Sichel an,
denn die Ernte ist schon reif! Kommet herab, denn die Kelter ist schon voll; ja, die Keltertröge fließen über, denn
ihrer Bosheit ist viel. Es werden Haufen an Haufen Volks
sein im Tal des Urteils; denn des Herrn Tag ist nahe im
Tal des Urteils" (Joel 3, 16—19).
Aber bis dahin trägt der Herr diese Völker mit einer
großen Geduld. Er besucht sie zuerst in Seiner Gnade, um
aus ihnen ein Volk für Sich zu nehmen, nämlich die Versammlung, das einzige Volk, welches Gott, während der Zeit
der Zerstreuung Israels, anerkennt, und dessen Gott Er
sein will.
Im zukünftigen Zeitlauf wird Satan, der diese Völker
verführt, tausend Jahre gebunden und in den Abgrund geworfen (Offb. 20,1—3). Nachdem die Völker der Gegenstand
der schrecklichen Gerichte des Herrn gewesen sein werden,
werden sie die Gerechtigkeit lernen (Jes. 26, 9); und wie Nebukadnezar, ihr erstes Haupt und ihr Vertreter, Gott die
Ehre geben (Dan. 4). Sie werden zu dem Lichte Zions, und
ihre Könige zu dem Glanz, der über dasselbe aufgegangen
sein wird, wandeln; denn wenn die Verwerfung Israels die
Versöhnung der Welt war, was wird seine Annahme anders
sein, als Leben aus den Toten? (Jes. 60, 3; Röm. 11, 15). Es
wird die Zeit der Erfüllung der dem Abraham gemachten
Verheißungen sein, daß alle Familien der Völker in seinem
Samen sollten gesegnet sein. Denn an jenem Tage wird es
geschehen, daß die Völker die Wurzel Isai's suchen werden,
die den Völkern zu einem Panier gemacht ist; und seine
Ruhe wird Herrlichkeit sein (1. Mos. 12, 1—3; 22, 18; Ps. 22,
27 usw.; Jes. 11, 9.10). „Dann werden viele Völker gehen und
sagen: Kommet, lasset uns auf den Berg des Herrn gehen,
zum Hause des Gottes Jakob, daß er uns lehre seine Wege,
und wir wandeln auf seinen Steigen. Denn von Zion wird
das Gesetz ausgehen, und des Herrn Wort von Jerusalem.
Er wird richten zwischen den Nationen und zurechtweisen
viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen
und ihre Spieße zu Rebmessern schmieden. Es wird kein
Volk wider das andere ein Schwert aufheben, und werden
hinfort nicht mehr kriegen lernen. Ein jeglicher wird unter
seinem Weinstock und seinem Feigenbaum wohnen, daß niemand sie schrecke; denn der Mund des Herrn Zebaoth hat's
geredet" (Jes. 2, 2—4; Micha 4, 2—4; Sach. 8, 20—23).
104
So werden die Träume des Glücks, welche die Völker seit
so vielen Jahrhunderten durch Revolutionen, Zerstörungen
und Blut vergeblich erwarten, Träume von guten Regierungen, von Staatsreligion, von Universalfrieden usw. verwirklicht sein. Solange die Völker dieses ihrer eigenen Weisheit
verdanken wollen, so werden sie sich nur in ihren hochmütigen Gedanken verirren, und Satan wird sich zuletzt derselben bedienen, um sie unter der Anführung des Antichristen in eine offene Erhebung wider Gott und Seinen Gesalbten zu stürzen. Wenn aber Dieser in Seiner Herrlichkeit,
triumphierend über Seine Feinde, erschienen sein wird, so
werden alle diese Bedürfnisse in Ihm ihre Befriedigung finden. Als „gerechter Herrscher unter den Menschen, in der
Furcht Gottes" wird Er das Gericht und die Gerechtigkeit
wahrhaftig ausführen (2, Sam. 23, 3; Jer. 23, 5). Alsdann wird
Er Seine Macht auf das Herz der Menschen, in welches Er
Selbst Sein Gesetz schreiben wird, ausdehnen (Jer. 31, 32—
34; Sach. 3, 9), so wie auch über die materielle Schöpfung,
die Er gänzlich erneuern wird, und nichts wird dann dem
Glück Seiner gesegneten Untertanen mehr mangeln. Dann
wird auch die Religion wirklich die Staatsreligion sein, denn
es wird nur e i n en König und nur eine n Gott für die
ganze Erde geben; und dieser wird Jesus sein, der Sohn Davids, Mittelpunkt der Religion, sowie der Politik aller Völker. Unter diesem wahren Melchisedek wird der Friede die
Wirkung der Gerechtigkeit sein, so daß man wird sagen
können: „Kommet her und schaut die Werke des Herrn, der
auf Erden Zerstörungen anrichtet; der den Kriegen steuert in
aller Welt; der Bogen zerbricht und Spieße zerschlägt, Wagen mit Feuer verbrennt. Lasset ab, und erkennet, daß ich
Gott bin (Ps. 46, 8—10). Dann werden die Worte der Engel,
welche einstweilen nur ein prophetischer Gesang und ein
frommer Wunsch sind, ihre Erfüllung erhalten: „Friede auf
Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen" (Luk. 2, 14).
3.
Die Versammlung
Im gegenwärtigen Zeitlauf lebt die durch den Heiligen
Geist aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen
gesammelte Versammlung durch den Glauben vom Leben
ihres Hauptes, ein Leben, das mit Christo in Gott verborgen
ist. Seine Glieder sind zwar von jetzt an Kinder Gottes, was
sie aber einst sein werden, ist noch nicht geoffenbart. Von
den Kindern dieses Zeitlaufes aber sind sie verworfen, wie
es auch noch ihr Haupt ist, sie sind als Auskehricht der Welt
geachtet. Da sie durch ihren Leib dieser Schöpfung, welche
105
seufzt, angehören, so seufzen sie selbst wegen ihrer Gebrechlichkeit. Es ist die Zeit der Zerstreuung und des Weinens,
während sich die Welt freut (Joh. 16, 20).
Einige sind schon im Herrn entschlafen und erwarten
die Auferstehung ihrer mit dem Staub verbundenen Leiber.
Die Zurückgebliebenen beweinen sie, da sie selbst, solange
sie in diesem Leib daheim sind, ausheimisch vom Herrn
sind. Wieviele Kämpfe gibt es auch für sie gegen eine Gott
feindliche Welt, gegen das Fleisch, gegen den Teufel, welcher beständig sie belauert, um jemanden von ihnen zu verschlingen und dem es nur zu gut gelingt, sie durch seine
Schlauheit hier unten zu verführen! Ach, dieser Zeitlauf ist
sicherlich für sie der gegenwärtige, böse Zeitlauf, und sie
könnten dessen Last nicht tragen, wenn sie nicht den Glauben, die Hoffnung und die Liebe zu ihrer Unterstützung
hätten (1. Kor. 13, 13).
Im zukünftigen Zeitlauf werden alle bei der Stimme ihres
himmlischen Hauptes auferweckten und verwandelten Glieder der Versammlung Ihm entgegen in den Himmel gerückt
sein und allezeit bei Ihm sein. Wenn sie Ihn sehen, so wie
Er ist, werden sie Ihm nicht nur in Seiner Gesinnung und in
Seinen Gedanken gleich sein, sondern auch in demselben
Leib. Dieser, welcher jetzt das Bild des irdischen Adams
trägt, wird dann das Bild des himmlischen Adams tragen.
Die Zeit der Zerstreuung, des Kampfes und des Weinens
wird für immer vergangen sein. Der Augenblick ist dann
gekommen, von welchem der Heiland Seinen Jüngern
sprach, indem Er sagte: „Ich werde euch wieder sehen und
euer Herz wird sich freuen, und niemand wird diese Freude
von euch nehmen" (Joh. 16, 22). Die ermüdeten Pilgrime
werden in ihr Vaterland eingegangen, die Braut mit ihrem
vielgeliebten Bräutigam vereinigt sein. Nachdem sie Sein
Gefolge gebildet hat, wenn Er gekommen sein wird, um sich
an Seinen Feinden zu rächen und Sein Reich in Besitz zu
nehmen, wird sie mit Ihm über Sein Erbe, Israel und die
Nationen, herrschen. Seine zwölf Apostel werden auf zwölf
Thronen sitzen, um die zwölf Stämme Israels zu richten,
und Seine Heiligen werden die Welt richten (Matth. 19, 28;
1. Kor. 6, 2. 3). „Und ich sah Throne, und sie saßen darauf,
und es ward ihnen das Gericht gegeben ... . und sie lebten
und herrschten mit dem Christus die tausend Jahre. Die übrigen der Toten aber wurden nicht lebendig bis die tausend
Jahre vollendet sind. Dies ist die erste Auferstehung. Glückselig und heilig ist der, welcher Teil hat an der ersten Auferstehung! Der zweite Tod hat keine Gewalt über sie; sondern sie werden Priester Gottes und des Christus sein, und
werden mit ihm tausend Jahre herrschen" (Offb. 20, 4—6).
So wird das Lied verwirklicht, in welches die Versammlung
106
von jetzt an durch den Glauben einstimmen kann: „Du hast
uns Gott erkauft durch dein Blut aus jedem Geschlecht und
Sprache und Volk und Nation; und hast sie unserem Gott zu
Königen und Priestern gemacht; und sie werden über die
Erde herrschen" (Offb. 5, 9. 10).
4.
Die Schöpfung
Im jetzigen Zeitlauf seufzt die ganze Schöpfung und liegt
in Geburtswehen; sie ist der Eitelkeit unterworfen (nicht
mit Willen, sondern um deswillen, der sie unterworfen hat)
auf Hoffnung (Röm. 8, 18—22). Denn in der Tat, als der
Mensch durch seinen Ungehorsam das Band, das ihn mit
Gott verband, samt der ganzen Schöpfung, deren Haupt er
war, gebrochen hatte, wurde ihm gesagt: „Verflucht sei der
Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf
nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiß
deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis du wieder
zur Erde kehrest, davon du genommen bist. Denn du bist
Staub und zum Staube sollst du wiederkehren" (1. Mos. 3,
16—19). Dies ist der Ursprung des Seufzens und sehnsüchtigen Harrens der Schöpfung. Von diesem Augenblick an
bedeckte sich die Erde, welche den Menschen mit herrlichen
Früchten ernährte, mit Dornen und Disteln; und er erhielt
von ihr seine Nahrung nur dadurch, daß er sie im Schweiße
seines Angesichtes bebaute. Die Tiere, welche vorher zu
Adam kamen, und welchen er Namen gab, flohen bei seinem
Anblick oder machten ihm den Krieg, als ihrem Tyrannen.
Die Ermüdung, die sein Leib erlitt, der Schweiß, der von
seinem Angesicht rann, erinnerte ihn, daß er in sich die
Krankheit und den Tod trage; denn von da an war das Leben für den Menschen nur noch ein Kampf gegen den Tod.
Er trat in dasselbe unter Tränen und Seufzen ein, und so
ging er auch hinaus.
Die Wehen der Schöpfung wuchsen noch durch die sich
einander folgenden Empörungen des Menschen. Man kann
z. B. nicht bezweifeln, daß die Sündflut den Zustand der
Schöpfung tief eingreifend verändert habe, indem sie die
Kraft der belebten Wesen verminderte und ihr Leben abkürzte. Während die Gewächse bis dahin der Nahrung des
Menschen genügten, so wurden ihm dazumal die Tiere übergeben, damit er sich von ihrem blutigen Fleische nähre.
Wenn^ wie es wahrscheinlich ist, es dazumal zum erstenmal
regnete, so mußte es auch zu der Zeit sein, daß die Gewitter,
die Überschwemmungen anfingen, welche seitdem so oft di»
107
Erde verheert haben. Und wieviel Demütigungen und Ermüdungen hat nicht die Verwirrung der Sprachen, die Folge
der Empörung des Menschen zu Babel, gekostet? Wieviel
Kriege hat sie nicht verursacht durch die Trennung der Familien in besondere sich einander beneidende Nationen?
Sind es endlich nicht die Sünden Sodoms, NiniveS, Israels
insbesondere, welche die schönsten Gegenden der Erde in
Einöden verwandelt haben?
Ja, die ganze Schöpfung harrt und seufzt. Es seufzen die
Tiere, die sich einander zerreißen, die die Menschen ihrerseits mit einer unersättlichen Begierde verfolgen, um ihren
Geiz oder ihre Eßlust zu befriedigen; sie sind seine Arbeitsund Leidensgenossen und haben oft nichts anderes als eine
barbarische Behandlung und Verwünschungen zum Lohn.
Es seufzen die Pflanzen, obschon noch in ihren Wundern die
Herrlichkeit des Schöpfers verkündigend, haben sie dennoch
ihre erste Schönheit verloren und leiden heute an geheimnisvollen Krankheiten. Es seufzt die Erde, die anfangs verflucht, und seitdem so oft wegen der Sünde ihrer Bewohner
Veränderungen erlitt, die seit den Tagen Abels so oft das
Blut des Menschen durch Bruderhand vergossen, getrunken
hat, die noch jeden Tag unseren Schweiß und unsere Tränen
aufnimmt und die sich zuletzt öffnet als eine große Begräbnisstätte, um in ihrem Busen unser Verderbnis zu verbergen. Alles miteinander seufzt; aber nicht, um zu seufzen,
hat der Schöpfer, der die Liebe ist, alles geschaffen; und
auch war gewiß die ganze Schöpfung nicht in diesem
Zustand, als Er ansah, was Er gemacht hatte, und siehe, es
war alles gut! Alles seufzt in der Hoffnung, einmal von der
Knechtschaft des Verderbens befreit zu werden, um an der
Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes Teil zu nehmen.
Und auch wir, die Ursache des Seufzens; wir, welche durch
unseren gebrechlichen Leib dieser Schöpfung, welche seufzt,
angehören, die wir aber durch den Geist die verständigen
Dolmetscher ihrer unverständlichen Seufzer sind; auch wir
seufzen in uns selbst, erwartend die Kindschaft, nämlich die
Erlösung unseres Leibes. Dann werden unsere Seufzer aufhören, wenn Der, „welchen wir vom Himmel erwarten, unseren niedrigen Leib verwandelt haben wird, um ihn seinem
verherrlichten Leibe ähnlich zu machen." Dann wird auch
die Befreiung der Schöpfung nahe sein; denn die Macht,
durch welche Er das letzte Teilchen unseres verweslichen
Leibes verherrlicht haben wird, wird Er auch bald nachher
gebrauchen, „um sich alle Dinge zu unterwerfen" (Phil. 3,
20. 21). Nachdem der mächtige und himmlische Boas die
Ruth, die Moabitin, genommen hat, wird er nicht zögern,
auch ihr Erbe zu kaufen. „Dann", d. h. im zukünftigen Zeit108
lauf, nachdem der Herr die Erde mit der Rute Seines Mundes geschlagen, und den Bösen durch den Hauch Seines
Mundes getötet hat, „werden die Wölfe bei den Lämmern
wohnen und die Pardel bei den Böcklein; Kälber und junge
Löwen und Mastvieh werden beieinander sein und ein kleiner Knabe wird sie treiben. Kühe und Bären werden miteinander weiden, daß ihre Jungen beisammen liegen; und
der Löwe wird Stroh essen wie das Rindvieh. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter; und ein Entwöhnter
wird seine Hand in die Höhle des Basilisken stecken" (Jes.
11,6—8). „Zur selben Zeit", sagt der Herr in Betreff Seiner
Auserwählten, „will ich ihnen einen Bund machen mit den
Tieren auf dem Felde, mit den Vögeln in der Luft und mit
allem, was sich auf der Erde regt. Ich will Bogen und
Schwert und Krieg aus dem Lande zerbrechen, und machen,
daß sie sicher wohnen (Hos. 2, 18). Die Schlange allein scheint
dieser Erneuerung fremd bleiben zu müssen, um ein ewiges
Zeugnis der Verführung zu sein, deren Werkzeug sie war
(Jes. 65, 25). „Die Wüste und die dürren Plätze werden sich
freuen; und die Einöde wird frohlocken und wie eine Rose
blühen. Sie wird lieblich blühen und sich erfreuen mit
Frohlocken und Jauchzen" (Jes. 35,1. 2). „Die Berge und Hügel werden sich vor euch freuen mit Gesang und alle Bäume
des Feldes in die Hände klatschen. Anstatt der Dornen werden Tannen wachsen, und Myrten anstatt der Hecken. Und
dieses wird dem Herrn zu einem Namen, zu einem ewigen
Zeichen sein, das nicht ausgerottet werden wird" (Jes. 55,
12. 13).
Selbst der Tod, diese Quelle der Trauer und des Seufzens, — wird er nicht in diesem Zeitlauf, wenigstens für die
Gerechten, abgeschafft werden? Dies ist wahrscheinlich,
wenn man bemerkt, daß nur vom Ted des Gottlosen ausdrücklich die Rede ist, welcher, wenn er hundertjährig
stirbt, noch jung sein wird; hingegen in Bezug auf die Gerechten: „Es wird kein Einwohner sagen: Ich bin schwach"
und „es werden weder Kinder noch Alte mehr sein, die ihre
Tage nicht erfüllen sollen ... . Die Tage meines Volkes werden einem Baume gleich sein und das Werk ihrer Hände
wird alt werden" (Jes. 33, 24; 35, 10; 65,19—22). Wir wissen
aber, daß die Bäume bis tausend Jahre leben, ein Zeitabschnitt, welchem schon die ersten Menschen nahe kamen,
ohne ihn jedoch zu erreichen. Dies ist auch wahrscheinlich
der Sinn der Worte Jesu an Martha: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, wenn
er auch gestorben ist; und jeder, der lebt, und an mich
glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben" (Joh. 11, 25. 26). Die,
welche an den Herrn geglaubt haben, und zur Zeit der Ein109
führung des zukünftigen Zeitlaufes leben, werden während
der ganzen Dauer dieses Zeitlaufes nicht sterben, und die,
welche gestorben sind, werden in diesem Augenblick wieder
auferstehen, wie es der Herr anderwärts gesagt hat: „Die
aber für würdig gehalten werden, jenes Zeitlaufes und der
Auferstehung aus den Toten teilhaftig zu sein ... . können
nicht mehr sterben, denn sie sind den Engeln gleich und
sind Söhne Gottes, weil sie Söhne der Auferstehung sind"
(Luk. 20, 35. 36).
Wie dem auch sei, so sind dies „die Zeiten der Erquikkung vom Angesicht des Herrn" für eine ermüdete Schöpfung (Apg. 3,19). So wird sie befreit werden von der Knechtschaft des Verderbnisses, um in der Freiheit der Herrlichkeit
der Kinder Gottes zu sein. Denn während heute Satan und
seine Engel, die Beherrscher dieser finsteren Welt, von oben
herab ihren bösen Einfluß ausüben, so wird dann die ihrem
Haupte vereinigte Versammlung in den himmlischen Örtern
der Kanal der Segnungen sein, welche dieser über die ganze
Schöpfung verbreiten wird. Dann wird man singen: „Lobet
den Herrn vom Himmel, lobet ihn in der Höhe! Lobet ihn,
alle seine Engel, lobet ihn, alle seine Heerscharen! Lobet
ihn, Sonne und Mond, lobet ihn, alle ihr leuchtenden Sterne!
Lobet ihn, ihr höchsten Himmel, und ihr Wasser, die über
dem Himmel sind! Diese alle sollen den Namen des Herrn
loben, denn er hat geboten, und sie sind erschaffen worden!
Und er hat sie befestigt, daß sie immer und ewig währen.
Er hat eine Ordnung gemacht, die nicht vergehen wird.
Lobet den Herrn von der Erde, ihr Walfische und alle Tiefen! Feuer und Hagel, Schnee und Dampf, samt dem Sturmwind, der seinen Befehl ausrichtet; Berge und alle Hügel,
die fruchtbaren Bäume und alle Zedernbäume; die Tiere
und alles Vieh, die kriechenden Tiere und das Geflügel! Ihr
Könige auf Erden, und alle Völker, ihr Fürsten und alle
Richter auf Erden! Ihr Jünglinge und Jungfrauen, ihr Alten
und Jungen. Diese sollen loben den Namen des Herrn;
denn sein Name allein ist hoch, seine Herrlichkeit ist über
die Erde und den Himmel!" (Ps. 148).
5.
Der Herr Jesus
Der auf Erden verworfene Jesus hat Sich im gegenwärtigen Zeitlauf in den Himmel zurückgezogen, wo Er, sitzend
auf dem Throne Seines Vaters, das erwartet, was noch zu
erfüllen ist, nämlich, daß Seine Feinde zum Schemel Seiner
Füße gelegt, und alle Dinge Ihm unterworfen werden. Wohl
sehen wir jetzt Den, der ein wenig unter die Engel ernied110
rigt war, Jesum, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt; aber
wir sehen Ihm noch nicht alles unterworfen. Letzteres ist
das Ergebnis dessen, was uns der Apostel in Hebr. 2, 5—9
lehrt. Der zukünftige Erdkreis, welchen der 8. Psalm beschreibt, muß unter die Füße des Sohnes des Menschen gelegt werden; und dies ist noch nicht geschehen. Im Gegenteil ist die Schöpfung der Eitelkeit unterworfen, unter welcher sie harrt und seufzt. So ist also Jesus noch nicht als
Sohn des Menschen oder als zweiter Adam verherrlicht; und
Er ist es auch nicht als der Same Abrahams, in welchem alle
Völker sollen gesegnet werden und welchem die Gesamtheit
der Völker gehören. Wenn auch schon große Völker und
mächtige Nationen sich heute nach Seinem Namen nennen,
so geschieht dies mehr im Geist des Aberglaubens oder der
menschlichen Weisheit, als im Geiste des Evangeliums.
Die Kinder Israels ihrerseits, ferne davon, Ihn als ihren
König und Gott anzuerkennen, lästern noch Seinen Namen
in ihren Synagogen; und indem sie sich Glück wünschen,
ihren Bruder verkauft zu haben, sagen sie immer noch: Wir
wollen sehen, was aus diesen Träumen wird. Wer endlich
erkennt Ihn als das Haupt des Leibes, der Versammlung, als
den himmlischen Bräutigam der Braut, welche Seine Herrlichkeit teilen soll?
Im zukünftigen Zeitlauf wird es anders sein. Wenn Er
in Seinen Heiligen verherrlicht sein wird, und bewundert in
allen Glaubenden, dann wird die Welt erkennen, aber zu
spät, daß dieser Jesus, welchen sie verworfen hat, ein s mit
dem Vater, und daß Seine Versammlung ein s mit Ihm ist
— Seine Braut, Sein Leib. Alsdann wird „er offenbart werden mit den Engeln Seiner Macht, in einer Feuerflamme, um
denen Vergeltung zu geben, die Gott nicht kennen, und denen, die nicht dem Evangelium unseres Herrn Jesu Christi
gehorchen." Alle Seine Feinde werden vor Ihm umgebracht.
Die Übrigen Israels, welche im Schöße dieser Herrlichkeit
den Bruder erkennen, welchen sie den Fremden verkauft
haben, werden Ihn aufnehmen mit Tränen der Reue und der
Freude, unter dem Zuruf: „Hosianna! gelobet sei, der da
kommt im Namen des Herrn!" „Der Herr Gott wird ihm den
Thron seines Vaters Davids geben; und er wird über das
Haus Jakobs in die Zeitalter herrschen, und seines Reiches
wird kein Ende sein" (Luk. 1, 32. 33). „Siehe, es kommt die
Zeit, spricht der Herr, daß ich dem David einen gerechten
Sproß erwecken will; und soll ein König regieren, der es
weislich ausführen wird und Recht und Gerechtigkeit anrichten auf Erden. Zu derselbigen Zeit soll Juda geholfen
werden, und Israel sicher wohnen. Und dies ist sein Name,
dabei man ihn nennen wird: Herr, der unsere Gerechtigkeit
ist!" (Jer. 23, 5. 6).
111
Als Joseph sich seinen Brüdern zu erkennen gab und
über sie weinte, da entstand ein großes Aufsehen im Hause
des Pharao; was aber wird es erst in der Welt sein, wenn
der himmlische Joseph sich den Kindern Israels zu erkennen
gibt, und diese Den anschauen, in welchen sie gestochen
haben, und über Ihn Leid tragen, wie man über einen einzigen Sohn Leid trägt. Dann „werden gedenken und sich
zum Herrn bekehren aller Welt Enden, und vor dir anbeten
alle Geschlechter der Völker" (Ps. 22, 27—30). Während Jesus
im gegenwärtigen Zeitlauf sagt: „Nun aber ist mein Reich
nicht von hier" (Joh. 18, 36), so werden dagegen dann die
großen Stimmen vom Himmel sich erfüllen, welche sagen:
„Das Reich der Welt ist unseres Herrn und seines Christus
geworden, und er wird in die Zeitalter der Zeitalter herrschen" (Offb. 11, 15). Dann wird Ihm die Schöpfung Selbst
unterworfen sein: „Schafe und Ochsen allzumal, dazu auch
die wilden Tiere; die Vögel des Himmels und die Fische des
Meeres und was in den Straßen der Meere geht." Dann wird
man diesem verherrlichten Menschensohne sagen: „Herr,
unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen" (Ps. 8). Dies ist die Verwaltung der Fülle der Zeiten,
in welchen Gott „alle Dinge, die in den Himmeln und die
auf der Erde, unter e i n Haupt in dem Christus zusammenbringt" (Eph. 1,10). Es wird alsdann unser hochgelobter Heiland, der in Seiner Niedrigkeit für uns mit Dornen gekrönt
wurde, alle Kronen tragen, welche Ihm als König Israels
und der Nationen und der Welt gehören. Dann wird Er,
nachdem Er mit Seinem eisernen Szepter Seine Feinde zerschmettert hat, anstatt des Rohrs, des Symbols der Schwachheit, welches Er für uns annahm, Sein goldenes Szepter,
das Pfand der Gnade und der Segnung, über die ganze
Schöpfung ausstrecken. Dann wird Er nicht mehr mit spöttischer Verehrung umgeben sein, wie Er es im Hofe des Pilatus war, und wie Er es jetzt noch so oft in der Christenheit ist, welche sich nach Seinem Namen nennt; sondern weil
Er gehorsam war bis zum Tod am Kreuze, wird Er einen
Namen über alle. Namen haben, damit vor Seinem Namen
sich jedes Knie der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen beuge. Und wir, elende Sünder von Natur, die wir
durch Seine Gnade zu Königen und Priestern gemacht sind,
werden unsere Kronen zu Seinen Füßen niederlegen und
werden Ihn ewig loben, daß Er uns durch Sein Blut Gott
erkauft hat aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und
Sprachen.
Man könnte sagen: Wenn Jesus zu jener Zeit mit Seiner
Versammlung im Himmel ist, wie kann Er dann zu Jerusalem auf dem Throne Davids regieren? Wenn aber irdische
112
Herrscher mehrere Residenzen in den verschiedenen Provinzen ihres Reiches gehabt haben, warum sollte dies nicht
auch im Reiche des großen Königs der Fall sein können?
(Ps. 95, 3). Da es in diesem Reiche einen Bräutigam gibt, der
König ist, eine himmlische und eine irdische Braut, Freunde
des Bräutigams, Diener und Untertanen; so gibt es auch
himmlische und irdische Wohnplätze. Und wenn der auferstandene Jesus, obgleich Er noch auf Erden war, bei verschlossenen Türen plötzlich in die Mitte Seiner Jünger treten konnte, was wird es erst sein, wenn die Zeit Seines Reiches gekommen ist und Er in Herrlichkeit offenbart sein
wird? Laßt uns auch daran denken, daß die Himmel dann
geöffnet sein werden und zwischen Himmel und Erde eine
glückselige Verbindung hergestellt sein wird. Dies stellt uns
auch schon die Himmelsleiter vor, deren Fuß die Erde und
deren Spitze den Himmel berührte und auf deren Sprossen
Jakob die Engel Gottes auf- und niedersteigen sah (1. Mos.
28). „Von nun an", sagte Jesus den wahren Israeliten, welche
gleich dem Nathanael Ihn als Sohn Gottes, den König Israels, erkennen werden, „von nun an werdet ihr den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf den Sohn des
Menschen auf- und niederfahren" (Joh. 1, 52). Die Himmel
werden also über der Erde geöffnet sein, und wer kann alle
die herrlichen Geheimnisse dieses Ausspruches und alle die
verschiedenen Herrlichkeiten nennen, welche auf diesen verschiedenen Stufen Platz finden werden, von der sich dann
im Himmel befindlichen Versammlung an, bis zu dem irdischen Israel, welches die Plätze Seiner irdischen Stadt einnehmen wird? Und wer ist, der den Herrn Jesum und Seine
Herrlichkeit liebt, die Leiden dieser Schöpfung mitfühlt und
sich nicht freut beim Gedanken an diese herrlichen und gesegneten Zeiten der Zukunft?
Es ist wahr, daß sogar der zukünftige Zeitlauf durch eine
Empörung des Menschen und mit einem Gericht Gottes auf
der Erde endigt; und i n diese r Beziehun g gleicht er
dem gegenwärtigen Zeitlauf, anstatt einen Gegensatz zu
demselben zu bilden. Seit der Erschaffung dieser Welt hat
die Sünde des Menschen immer das Werk Gottes verdorben
und hat Ihn genötigt, auf anderen Grundlagen immer wieder neue Schätze der Weisheit und Liebe zu offenbaren. So
geschah es in Eden und in der alten Welt; ebenso in Israel,
welches durch seine Verstockung die Absichten (Lottes in
Betreff seiner, wenigstens für einige Zeit, zunichte gemacht
hat; sogar die Versammlung verherrlicht den Herrn nicht
ihrem Beruf gemäß; und so wird es auch am Ende des
künftigen Zeitlaufes sein, wenn der Mensch, nachdem er ein
Zeuge der Herrlichkeit des Herrn war, nochmals durch die
22 113
Loslassung Satans auf die Probe gestellt wird. Die Nationen,
welche an den vier Ecken der Erde sind, der Gog und Magog, ohne Zweifel eifersüchtig auf die Herrlichkeit Israels,
werden heraufkommen und das Heerlager der Heiligen und
die werte Stadt umgeben; aber Gott wird Feuer vom Himmel fallen lassen, welches sie verzehrt (Offb. 20, 7—9); vielleicht dasselbe Feuer, welches auch Himmel und Erde verzehren wird. Der Teufel wird dann nicht nur gebunden
werden, sondern in den See des Feuers und des Schwefels
geworfen, wo das Tier und der falsche Prophet sind. Ein
großer weißer Thron wird aufgerichtet, und es setzt sich jemand darauf, vor dessen Angesicht Erde und Himmel entflieht. Dann erscheinen die Toten, Geringe und Große, vor
Gott, um nach ihren Werken gerichtet zu werden. „Und
wenn jemand nicht im Buche des Lebens geschrieben ge runden ward, so ward er in den See des Feuers geworfen", wohin auch der Tod und der Hades geworfen werden (Offb. 20,
11—15). Dies ist das Ende des zukünftigen Zeitlaufes; und
zu gleicher Zeit das Ende der Welt, d. h. der gegenwärtigtn
Wohnung des Menschen. Es ist der Augenblick, wo der Heir
Jesus, nachdem Er Sein Werk als Vermittler vollendet hat,
das Reich Gott, Seinem Vater, überliefern, und Gott in den
neuen Himmeln und auf einer neuen Erde, wo die Gerechtigkeit wohnt, alles in allem sein wird (1. Kor. 15, 28;
2. Petr. 3). Der Apostel spricht in diesen Stellen vom „Tag
Gottes" oder vom „Tag des Herrn" als von dem Augenblick,
wo Himmel und Erde vergehen; weil dieser Tag nichts anderes ist, als der zukünftige Zeitlauf selbst, wie es auch
diese Worte andeuten: „Ein Tag ist vor dem Herrn wie tausend Jahre, und tausend Jahre wie ein Tag."
Der zukünftige Zeitlauf ist in der Tat der Tag Gottes, an
welchem die Erde von der Erkenntnis Seiner Herrlichkeit
erfüllt sein wird, im Gegensatz zu dem jetzigen Zeitlauf, wo
die Völker für das Feuer arbeiten, und müde werden für
nichts, und wo die ganze Schöpfung in Wehe seufzt (Hab. 2,
13.14); Röm. 8,19.—22). Es ist der Tag des Gerichts und der
Zerstörung der gottlosen Menschen; denn der Herr ist an
demselbigen geoffenbart als Derjenige, welcher recht richtet
und streitet (Jes. 11, 1—5; Offb. 19, 11; Juda 15).
Zur Zeit der Dämmerung dieses Tages wird die dann
auferstandene und verwandelte Versammlung entrückt, wie
auch ihr Haupt früh am Morgen, als es noch finster war,
auferstand (Mark. 16, 2; Joh. 20, 1).
Am Morgen kommt der Herr wieder mit Seinen Heiligen.
Er ist die Sonne der Gerechtigkeit, welche die Gottlosen
verzehrt und den Elenden Heilung bringt (Mal.'4, 2; Sach.
14, 6 usw.).
114
Am Ende des Tages vergehen Himmel und Erde. — Wenn
man fragen würde: Warum sich soviel mit dem zukünftigen
Zeitlauf beschäftigen, der zuletzt doch nur der Vorhof der
Ewigkeit ist?, so würden wir antworten: Weil sich das Wort
Gottes soviel damit beschäftigt. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß auf dreißig Seiten, welche uns vom zukünftigen Zeitlauf sprechen, das Wort kaum eine Seite über die
eigentliche Ewigkeit enthält. Es wird uns oft, aber ohne
Einzelheiten, vom ewigen Leben, vom unverwelklichen Erbe,
das nicht befleckbar ist und das uns im Himmel aufbewahrt
wird, gesprochen. Es ist uns gesagt, daß „wenn alle Dinge
dem Sohne unterworfen sein werden, dann auch der Sohn
selbst de m unterworfen sein wird, der ihm alle Dinge unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei" (1. Kor. 15, 28).
Es wird uns von neuen Himmeln und einer neuen Erde, in
welchen die Gerechtigkeit wohnt, gesprochen, wo Gott Seine
Wohnung bei den Menschen aufrichten und alle Tränen von
ihren Augen abwischen wird, wo der Tod nicht mehr sein
wird, wo es kein Leid, kein Geschrei, keine Mühe mehr geben wird, weil die ersten Dinge vergangen sind und alles
neu geworden ist (2. Petr. 3; Offb. 21,1—8). Wenn der übrige
Teil des Kapitels und die ersten Verse des folgenden sich
nicht auf den zukünftigen Zeitlauf beziehen, sondern auf
die darauf folgende Ewigkeit, so sind dies gerade die ausführlichsten Belehrungen, welche das Wort über diesen Gegenstand enthält; aber was ist dies im Vergleich mit den
zahlreichen Gemälden, welche es uns vom zukünftigen Zeitlauf darstellt? Was können wir aber Besseres tun, als uns
vom Worte leiten lassen, indem wir jeder Sache den Platz
einräumen, welchen dasselbe ihr anweist? Wenn man von
dem sprechen will wovon das Wort nicht spricht, so übergibt man sich müßigen und eitlen Spekulationen; denn jede
Forschung, welche nicht das Wort zur Grundlage hat, besonders noch, wenn es sich um die Zukunft handelt, verdient nur diesen Namen; aber „die Offenbarungen Gottes
sind unser und unserer Kinder ewiglich" (5. Mos. 29, 29).
115
Schlußwort
Die herrliche Erscheinung Jesu Christi in Person ist es,
die den zukünftigen Zeitlauf, oder das Reich Gottes hier
unten einführt und ihm seinen Charakter gibt.
Übrigens hat uns der Herr, als Er noch in der Schwachheit und im Leiden war, schon gezeigt, was Seine Gegenwart für die seufzende Schöpfung ist. Wenn Er mit einigen
Broten und Fischen die hungernde Menge sättigte, wenn Er
beim Hilferuf Seiner erschreckten Jünger, dem Wind und
den Wogen gebot, und sie sich legten, — welch ein Pfand hat
Er uns schon dadurch von der Fülle und von der Ruhe,
welche die Welt genießen wird, wenn Er als zweiter Adam
regiert, gegeben? Wenn Er durch ein Wort oder durch eine
Berührung alle die Ihm zugeführten Kranken heilte; — denn
es ging eine Kraft von Ihm aus, welche sie Alle heilte (Luk.
6, 19); wenn Er den Tod und die Gräber — überall wo diese
Feinde des Menschen sich in Seiner Gegenwart zu zeigen
wagten, — nötigte, ihre Opfer herzugeben; welch eine liebliche Voraussicht des Lebens und der Gesundheit ist dies
für die glücklichen Bewohner der Erde in den Tagen, wo Je -
sus als der verherrlichte Sohn des Menschen darauf offenbart sein wird! Wenn Er endlich die Teufel austrieb und sie
nötigte, die von ihnen Besessenen zu verlassen, und diese
Ihn baten, daß Er sie nicht in den Abgrund schicken möchte,
da zeigte Er Sich der Welt als Der, welcher den Starken
binden und ihm seinen Raub nehmen wird, als der Überwinder Satans, welchem Er das an sich gerissene Reich dieser Schöpfung wegnehmen wird. Auch sagte Er: „Wenn ich
die Teufel durch den Geist Gottes austreibe, so ist denn das
Reich Gottes zu euch gekommen" (Luk. 11,18—22). Aber sie
waren für alle diese Liebe gefühllos, und diese mächtigen
Taten des Heilandes sind als Zeugnis geblieben für das, was
Er bei Seiner herrlichen Wiederkunft erfüllen wird. Ja, Je -
sus ist der König, dessen Herrlichkeit wie die Salomons
das ganze Reich erfüllt. Er ist die Sonne, deren Strahlen die
ganze Schöpfung des zukünftigen Zeitlaufes beleben, von
den Höhen des Himmels an, wo Ihn die Versammlung anbetet, bis zu den Eingeweiden der Erde, von welcher Er den
Fluch wegnimmt, und bis zu den Tiefen des Meeres, deren
unzählige Bewohner Ihm unterworfen sein werden.
Was macht ihr denn, die ihr vermittelst der Künste, der
Wissenschaften, der Industrie, der politischen Berechnungen
oder sogar durch die Predigt des Evangeliums von einer Zeit
der Erneuerung und des Glückes für die Erde träumt? Was
tut ihr anders, als euch an Jesu Statt setzen, und Ihm die
gebührende Ehre rauben? Übrigens verwechselt ihr Dinge,
116
die einander ganz entgegengesetzt sind. Ihr verwechselt
diese Zeit, wo die Welt im Argen liegt, mit der, wo sie mit
der Erkenntnis und Herrlichkeit des Herrn erfüllt sein wird;
die Zeit des Seufzens der Schöpfung mit der Zeit ihrer Erquickung; die Zeit der Leiden und der Tränen der Versammlung mit der Zeit ihrer Freude und ihres Reiches; die Zeit
der Erwartung Jesu mit der Zeit Seiner herrlichen Gegenwart. Ihr verwechselt endlich den gegenwärtigen Zeitlauf
mit dem zukünftigen, und indem ihr sie miteinander verwechselt, nehmt ihr dem einen wie dem anderen seine Natur. Dem gegenwärtigen Zeitlauf nehmt ihr seinen unheilbaren Charakter des Verderbnisses, welchen ihm das Wort
gibt. Er ist nicht mehr der gegenwärtige böse Zeitlauf (Gal.
1, 4), weil ihr euch versprecht, ihn durch eure Bemühungen
gutzumachen; er ist nicht mehr der Zeitlauf der Gewalt der
Finsternisse (Eph. 6), weil ihr einen durch das Licht des
Evangeliums erleuchteten Zeitlauf daraus machen wollt.
Demgemäß sind es auch nicht mehr dieselben Beweggründe,
die da wirken, um die Welt nicht lieb zu haben, noch sich
ihr gleich zu stellen (2. Tim. 4, 10; Röm. 12, 2). Andererseits
nehmt ihr dem zukünftigen Zeitlauf, indem ihr ihn der Gegenwart des Herrn beraubt, seine herrlichsten Wirklichkeiten; ihr macht daraus ein Reich ohne König, ein Frühjahr
ohne Sonne. Wie sollte er auf diese Weise seine Wirkung
bewahren, um unsere Herzen zu ihm zu ziehen und sie vom
gegenwärtigen Zeitlauf loszumachen; um uns in unserer
Vereinzelung und in den Kämpfen, welche diese Trennung
immer nach sich zieht, zu trösten und zu stärken?
Wollt ihr wissen, welchen Wert die Wissenschaft, die
Künste und die Politik in den Augen Gottes für die Wiedergeburt und das Glück der Erde haben? Gedenkt an Babylon
mit seinen hohen und starken Mauern, seinen ehernen Türen, seinen hängenden Gärten, seinen Palästen und Tempeln, welche sich bis an den Himmel erhoben. Gedenket an
Susan, in deren Palästen die medischen und persischen Könige Gastmähler von 180 Tagen hielten, an die Statthalter
der 127 Provinzen, von Indien an bis gen Äthiopien, welche
in goldenen Gefäßen Wein tranken und auf goldenen und
silbernen Betten lagen (Esther 1, 1—7). Gedenket an die
Griechen mit allen ihren großen Männern, ihren Weisen,
ihren Künstlern; an das römische Volk, dessen Politik so geschickt war, dessen Reich fast alles umfaßte, deren Räte
den Fremden, welche die Ehre hatten darin aufgenommen
zu werden, als eine Versammlung von Königen erschien.
Erinnert euch aller dieser Weltreiche und ihrer Herrlichkeit,
und sehet dann, was sie für den Heiligen Geist sind; — ein
schrecklicher Götze, welcher zermalmt und wie das Stroh
117
der Sommertenne werden soll, das der Wind dahintreibt; —
vier wilde Tiere, deren letztes, ein schreckliches, greuliches
Ungeheuer ohne Namen, getötet und dessen Leib dem Feuer
übergeben werden soll, damit die Herrschaft, die Ehre und
das Reich dem Sohn des Menschen gegeben werde, und damit alle Geschlechter, alle Nationen und Sprachen Ihm
dienen.
Es ist wahr, diese Zivilisationen waren nicht die christliche Zivilisation. Sie verhießen durch ihren Vereinigungsgeist und ihre Menschenliebe, durch die Entwicklung der
Wissenschaften, des Handels und der Industrie, der Welt
Wunder, welche diese aber nie gesehen hat. Dies alles aber
hindert nicht, daß gerade di e Völker, welche das Licht des
Evangeliums mitten unter sich haben und es für ihre Zivilisation benutzen, diejenigen sind, unter welchen die Empörung gegen Gott sich am Ende auf die auffallendste Weise
offenbaren wird. Sie bilden zuletzt dieses Tier, welchem der
Drache seine Macht, seinen Thron und eine große Gewalt
gibt und welchem die ganze Erde in Bewunderung nachziehen wird... . Und wie schrecklich dies auch sein mag, so
ist es doch den Belehrungen des Wortes gemäß. Denjenigen,
welche mit dem Wort in Berührung kommen und sich nicht
durch dasselbe erleuchten lassen, dient gerade dies Wort zur
Verfinsterung und zur Verhärtung. „Denn das Land, welches
den häufig über dasselbe kommenden Regen trinkt, und
Kraut hervorbringt, Denen geeignet, um welcher willen es
auch bebaut ist, empfängt Segen von Gott; welches aber
Dornen und Disteln hervorbringt, ist unbewährt und dem
Fluche nahe, dessen Ende zur Verbrennung ist" (Hebr. 6, 7. 8).
Es waren nicht blinde Heiden, welche ihren Gott kreuzigten,
sondern Israel, — damals das einzig e Volk, welchem sich
Gott offenbart hatte; und in Israel war es nicht das Volk ,
das am meisten zu dieser Kreuzigung beitrug, sondern die
Angesehenen , die Pharisäe r und Schriftge -
lehrten , die Oberste n und die Priester . So wird
zuletzt diese christliche Zivilisation, die man so sehr rühmt,
nur ein Mittel mehr in den Händen des Fürsten der Welt
sein, um den Menschen dahin zu treiben, sich selbst zu verherrlichen, und zwar bis zu dem Punkte, daß er sich wider
Gott erhebt und Seinen Namen lästert. Dann aber, wenn
der Kelch der Gottlosigkeit überströmt, wird das Gericht
hereinbrechen. Der ohne Menschenhände losgerissene Stein
wird das Bild zermalmen und selbst ein großer Stein werden, der die Erde erfüllt. Das Tier wird getötet und dem
Feuer übergeben werden. Dann wird die Herrschaft, die
Ehre und das Reich dem Sohn des Menschen gegeben, damit
alle Völker und Sprachen Ihm dienen (Dan. 2; 7; Offb. 19).
118
Dies ist „der längst vom Herrn Zebaoth bestimmte Tag, der
über alles Hoffärtige und Hohe und über alles Erhabene
gehen wird, damit es erniedrigt werde; und über alle hohen
und erhabenen Zedern Libanons, und über alle Eichen Basans; über alle hohen Berge und über alle erhabenen Hügel;
über alle hohen Türme und über alle festen Mauern; über
alle Schiffe im Meere, und über alle köstlichen Gebilde; daß
sich bücken muß aller Stolz der Menschen, und niedrig werden, was hohe Männer sind; und der Herr allein hoch sei zu
der Zeit" (Jes. 2, 10—22).
Was der Mensch auch sage, siehe, dies ist das Ende der
Industrie, der Wissenschaft, der Künste, der Politik mit all
ihrer feinen Berechnung, ihren arbeitsvollen Anstrengungen,
sogar mitten in der Christenheit. Wie könnte derjenige, der
dem Wort Gottes glaubt, noch nach allem diesem, von diesen
Dingen das Glück und die Wiedergeburt der Erde erwarten?
Man wird sagen: Wir erwarten die Bekehrung der Welt
und die Errichtung des Reiches Gottes vom Evangelium,
dessen mächtige Wirkung ihr außer acht laßt. Nein, wir wissen, daß das Evangelium mächtig ist, um den elendesten
und verzweifeltsten Sünder zu erretten. Das ist für uns völliger Trost und Freude; aber das Evangelium kann unsere
Leiber nicht erwecken noch verwandeln; es kann die Schöpfung nicht erneuern und nicht so viele Wunder auswirken,
wie in dem Reich Gottes ausgewirkt werden sollen. Wenn
man die Aufrichtung dieses Reiches Gottes dem Evangelium
zuschreibt, so entsagt man den Verheißungen des Wortes;
denn wenn man sie vergeistigt, so entsagt man ihnen; man
macht sie sozusagen zunichte. Das Evangelium mit seiner
ganzen Wirksamkeit wird immer nur de n Zweck ausrichten, zu welchem Gott es gegeben hat, und dieser Zweck ist
nicht die Bekehrung und Erneuerung der Welt in dieser
Haushaltung, sondern die Sammlung eines dem Herrn eigentümlich gewidmeten Volkes mitten aus der Welt heraus,
wie Jakobus sagte: „Gott hat zuerst die Nationen besucht,
um aus ihnen ein Volk für seinen Namen zu nehmen"
(Apg. 15, 14).
Vom Evangelium die Bekehrung der Welt und die Aufrichtung des Reiches Gottes zu erwarten, heißt dem Wort
auf die bestimmteste Weise zu widersprechen. Man werfe
nur einen Blick auf die schon auf der 42. und 43. Seite bei
Gelegenheit des Verfalles angeführten Stellen. Verkündigen
diese denn einhellig für die letzten Tage dieses Zeitlaufes
die Bekehrung der Welt, oder ein zunehmendes Verderben?
Wenn wir diesen Erklärungen noch mehr beifügen sollten,
so würden wir nur an die Worte des Heilandes Selbst erinnern: „Gleichwie es in den Tagen Noahs geschah, also wird
119
es auch in den Tagen des Sohnes des Menschen sein: — sie
aßen, sie tranken, sie heirateten, sie wurden verheiratet, bis
zu dem Tage, wo Noah in die Arche hineinging, und die
Sündflut kam und sie alle umbrachte." „Desgleichen auch",
sagte ebenfalls der Heiland, „wie es in den Tagen Lot's geschah: sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie
pflanzten, sie bauten. An demselbigen Tage aber, wo Lot
aus Sodom herausging, regnete es Feuer und Schwefel vom
Himmel und brachte sie alle um. Demgemäß wird es an dem
Tage sein, wo der Sohn des Menschen offenbart wird" (Luk.
17,28—30). Kann man etwas Bestimmteres und Klareres
verlangen? Wenn es nur diese Erklärung allein in der
Schrift gäbe, sollte sie nicht jedem Gläubigen genügen, um
ihn zu überzeugen, daß es vor der Ankunft des Herrn keine
Bekehrung der Welt, kein Reich Gottes auf Erden geben
wird?
Und ist uns je der Herr bei dieser Ankunft Selbst dargestellt als Der, welcher unter dem Zuruf Seiner getreuen
Untertanen in ein zu Seiner Aufnahme ganz bereites Reich
kommt? Wenn der Herr kommt, um Seine Versammlung abzuholen, so geschieht es, um sie zu Ihm in den Himmel zu
entrücken, und um sie vor der großen Versuchung, die über
den ganzen Erdkreis kommen wird, in Sicherheit zu bringen. Das Reich Gottes wird also dan n nicht aufgerichtet.
Wenn Er der Welt mit Seinen Millionen von Engeln offenbart wird, so ist es in Gestalt eines mißkannten und verhöhnten Königs, der da kommt, um Sich an Seinen Feinden
zu rächen. Er wandelt dann unter den Völkern in Seinem
Zorn und zertritt sie in Seinem Grimm, und ihr Blut spritzt
auf Seine Kleider; der Tag der Rache ist dann in Seinem
Herzen. Er übt das Gericht über die Nationen aus; Er erfüllt alles mit Leichen; Er zerbricht das Haupt, welches über
ein großes Volk herrscht. Er zerschmettert die Nationen mit
einem eisernen Szepter; Er zerschmeißt sie wie Töpfergefäße
(Jes. 63, 1-6; Dan. 2; 7; Ps. 2; 110; Offb. 19, 11-21). Ich frage,
wie soll man dies vereinigen mit dem Gedanken, daß zu der
Zeit das Reich Gottes durch das Evangelium aufgerichtet,
und seine Grenze bis an die Enden der Erde ausgedehnt
sein soll?
Es ist traurig und entmutigend, werdet ihr sagen, zu denken, daß die Welt sich nicht durch die Predigt des Evangeliums bekehren wird. Ja, es ist traurig und demütigend für
unsere Natur; denn es ist nur ein neuer Beweis von ihrem
verzweifelten Verderben; und dies ist auch ohne Zweifel der
Grund, weshalb diese Wahrheit überall so vielem Widerstand begegnet. Wenn ihr einem Unbekehrten sein Verderben und die Unmöglichkeit, seine Übertretungen selbst zu
tilgen und sich Gott angenehm zu machen, verkündigt habt,
120
und dieser sagen würde: Das ist doch traurig und entmutigend; so würdet ihr sehr gut verstehen, demselben zu bemerken, daß es sich nicht sowohl darum handle, zu wissen,
ob dies traurig sei, sondern vielmehr darum, ob dies wahr
sei, mit andern Worten, ob Gott es gesagt habe. Ihr würdet
ohne Zweifel hinzufügen, daß die Wahrheit dieser Sache
wirklich weniger traurig sei, als die Einbildungen, durch
welche man sie zu ersetzen und zu beseitigen suche; weil
diese Einbildungen vom Heile fern halten und zum Tode
führen, während ein völlig umsonst dargebotenes und vollkommenes Heil jedem angeboten ist, welcher durch die Erkenntnis seines Elendes dahin gebracht worden, ein Verlangen darnach zu haben. Ähnlich verhält es sich in dem Falle,
wovon wir reden, d. i. mit der Nichtbekehrung der Welt in
diesem Zeitlauf. Es ist nicht die erste und größte Frage, ob
es traurig sei, sondern ob es wahr sei? Und es ist auch die
Wahrheit über diesen Punkt, so traurig er auch ist, weniger
traurig als die Einbildungen, durch welche man sie zu ersetzen sucht. Was gibt es in der Tat auch Traurigeres, als
die, unter dieser oder jener Form, immer wieder erneuerten
Projekte für die Bekehrung der Welt, während man nur
nötig hat, um sich zu schauen, um gleich zu sehen, daß die
Herde Jesu Christi eine kleine bleibt, und daß die Welt immer ungläubiger wird, immer mehr mit ihrem Vergnügen
und ihren Interessen beschäftigt ist. Ja, dies ist traurig, und
das um so mehr, als diese Einbildungen von der wahren,
dem Christen vorgesteckten Hoffnung entfernen, von derjenigen, den Herrn bald zu sehen und in Sein Bild und zu
Seiner Ähnlichkeit umgestaltet zu werden. Wie könnte sich
derjenige mit dieser Hoffnung nähren, der jetzt das Reich
Gottes hier unten aufgerichtet glaubt, und nur von dessen
Förderung spricht? Wenn das Reich Gottes jetzt aufgerichtet ist, so kann es sich nicht mehr darum handeln, es durch
die herrliche Erscheinung Jesu Christi Selbst zu erwarten,
und noch viel weniger darum, den Herrn vor der Aufrichtung dieses Reiches zu erwarten, um uns zu Sich in den
Himmel zu sammeln. So verschwindet die Erwartung der
nahen Wiederkunft Christi, diese, nach der Gnade, mächtigste Quelle unserer Tröstungen und unserer Kraft, um der
fernen und eingebildeten Hoffnung auf eine durch das Evangelium erneuerten Welt Platz zu machen.
Glaubt man übrigens, daß sich Henoch, weil er von seiner
baldigen Entrückung, von dem wachsenden Verderben der
Welt und dem schrecklichen Gericht, das diese bedrohte, benachrichtigt war, deshalb zurückhielt, den Menschen seiner
Zeit die Sinnesänderung zu verkündigen? Mußte er sich
nicht im Gegenteil um so mehr gedrungen fühlen, es zu tun,
121
als die Zeit der Geduld Gottes ihrem Ende nahe war? Nun
denn, warum sollte es denn heute bei demjenigen anders
sein, der dem Worte gemäß glaubt, daß die bösen Menschen
böser werden, verführen und verführt werden, bis das Gericht über sie kommt? Anstatt sich deshalb von der Verkündigung des Evangeliums zurückzuhalten, sollen im Gegenteil alle diejenigen, die dazu fähig sind, sich zu dieser Verkündigung gebrauchen lassen, ohne irgendwie anders als vom
Herrn dazu berufen, und ohne anders als durch Seinen Geist
dazu geweiht zu sein. Aber man muß es verkündigen, so wie
es ist, ohne es, in der eitlen Hoffnung, die Welt zu bekehren,
dem Geschmack derselben anzupassen; ohne über irgendeine
der Torheiten dieses Evangeliums zu erröten, sogar nicht
über die letzte, die vielleicht die größte aller ist, daß nämlich die Versammlung dem Herrn aus einer Welt, welche
zum Gericht heranreift, entgegengerückt wird. Anstatt die
Welt in ihrem falschen Frieden einzuschläfern, indem man
sie in die trügerische Hoffnung einer fortschreitenden Verbesserung und allgemeinen Bekehrung der Welt einwiegt,
muß man ihr erklären, daß ihr Gericht naht, und daß jede
über ihr Heil geängstigte Seele außerhalb des Lagers zu
Jesu gehen muß. Man muß das Evangelium verkündigen,
ohne von der Welt weder Anleitungen, noch Schutz, noch
Hilfe zu verlangen, damit sie wisse, daß sie keinen Teil an
dieser Sache habe, und damit der Herr in den Seinigen verherrlicht werde (1. Sam. 17, 45—47; Esra 4, 1—3; 8, 21—23;
3. Joh. 7). Mit einem Wort, man muß aus der Welt ausgehen,
um in der Welt zu evangelisieren; denn wenn man in Sodom bleibt, wenn man darinnen pflanzt und baut, wie sollte
man zu den Einwohnern sagen: Gehet aus, der Herr wird
die Stadt zerstören? Man muß vor allem ausgehen, um dem
Herrn zu dienen, mit denjenigen, welche aus Gnaden errettet und in Seinem Geist getauft sind und welche Gott für
Sein Heil danken, und Ihn im Geist und in Wahrheit anbeten können.
Dahin führt auch eine verständige Einsicht in den gegenwärtigen und in den zukünftigen Zeitlauf. Wenn man die
Wissenschaft, die Politik, die Industrie, sogar die christliche
Zivilisation mit allen ihren Kräften in einem schrecklichen
Gericht des Herrn endigen sieht, an dem Tag, wo Er Sich
erhebt, um die Erde zu richten; wenn man erkannt hat, wie
vor diesem Tage, die Versammlung außerhalb dem Schauplatz dieser Erde, entrückt wird, um bei ihrem Herrn zu
sein; dann hat man nicht mehr den fremdartigen Gedanken,
für das Werk Gottes Stützen zu suchen in dem, was unter
den Schlägen Seines Gerichtes fallen wird; dann versteht
man, daß, wenn man, in welcher Weise es auch sei, die Ver122
Sammlung mit den Nationen dieser Welt — ihrem Gottesdienst, ihren Hoffnungen, ihrer Politik — verbindet, daß dies
einen Lebenden an einen Toten binden heißt, wie ein alter
Tyrann es gemacht haben soll. Indem man die Toten ihre
Toten begraben läßt, geht man vorwärts durch die Wüste
zum himmlischen Kanaan und sieht nur auf Jesum, und erwartet nur von Ihm sein Licht und sein tägliches Brot. Auf
dem Wege begegnet man denen, welche, wie auch wir aus
Ägypten ausgegangen, nur Jesum zur Stütze und nur Sein
Wort und Seinen Geist zum Führer wollen. Wenn unzähliges Elend uns jeden Tag erinnert, daß wir bis ans Ende in
Mängel und Gebrechen wandeln werden, und welches uns
nach der Erlösung seufzen macht, so laßt uns doch wenigstens zwischen dem Herrn und uns, und zwischen uns und
unseren Brüdern keine verschiedenartige Einrichtungen und
Überlieferungen, welche Früchte der Politik und der
menschlichen Weisheit sind, setzen.
Die wahre Politik des Christen ist sehr einfach und besteht darin, mit Christum im gegenwärtigen Zeitlauf zu leiden, unterstützt durch die Hoffnung mit Ihm im zukünftigen Zeitlauf zu leben und zu regieren. Dies war die Politik Paulus, wie wir es in seinen Worten, an Christen gerichtet, welche auch vor der Zeit regieren wollten, sehen: „Schon
seid ihr satt geworden, schon seid ihr reich geworden; ohne
uns habt ihr geherrscht; und ich wollte wohl, daß ihr herrschtet, auf daß auch wir mit euch herrschen möchten. Denn
ich denke, daß Gott uns, die Apostel, als die Letzten dargestellt hat, als zum Tode hingegeben, weil wir der Welt, und
Engeln, und Menschen ein Schauspiel geworden sind. Wir
sind Narren um Christi willen, ihr aber seid klug in Christo;
—-wir schwach, ihr aber stark; — ihr herrlich, wir aber verachtet usw" (1. Kor. 4, 8-14). Auf diese Weise machte er seinen Dienst empfehlenswert, indem er in seinem Fleische,
was von den Trübsalen des Christus für Seinen Leib noch
rückständig war, erfüllte, nicht aber durch weltliche Titel
und Vorrechte (2. Kor. 4, 5-12; 6, 4-10; Kol. 1, 24).
So war auch die Politik des vielgeliebten Jüngers, der
sich „Mitgenosse in der Drangsal und in dem Königtum und
in dem Ausharren Jesu Christi nennt (Offb. 1, 9); indem er
uns also daran erinnert, daß bis zur Aufrichtung des Reiches, an welchem er Teil hat, es für den getreuen Jünger nur
Ausharren mitten in den Drangsalen gibt. In der Tat dauert
dieses „Nun" , von welchem Jesus sagte: „Nu n aber ist
mein Reich nicht von hier", noch, und wird dauern bis zu
Seiner Wiederkunft. Da regieren wollen, wo der Meister
nicht regiert, und Seine Verwerfung in Erwartung Seiner
Wiederkunft nicht teilen können, heißt an der Ausharrung
123
Christi mangeln, und dem Knechte gleichen, der, die Ausharrung verlierend, weil sein Meister zu kommen zögerte,
anfängt, zu trinken und zu essen mit den Trunkenbolden.
O, liebe Brüder! Möchten wir immer besser verstehen
lernen, daß wir weder von diesem Zeitlauf, noch von dieser
Welt sind; sondern daß der Herr Jesus, indem Er Sich Selbst
für unsere Sünde dahingab, uns aus dem gegenwärtigen
bösen Zeitlauf herausgenommen hat, um aus uns zu machen
die Erstlinge der neuen Schöpfung, welche bei Seiner Ankunft offenbart wird. Dies wird uns unseren Weg in der
Nacht dieser gegenwärtigen Zeit zeigen, und wird uns mehr
Kraft geben, darinnen zu wandeln, als viele Ermahnungen.
Und Du, lieber Leser, der Du diese Blätter durchgelesen
hast, vielleicht angezogen durch das Bedürfnis nach etwas
Besserem, als Dir die Welt geben kann, wisse, daß Du nur
in Jesu da s findest, was Deine Seele wünscht. Die Leere,
die Unruhe, welche wir in uns fühlen, kommt von der
Sünde, welche uns von Dem getrennt hat, für welchen wir
geschaffen, und welche den Fluch in unser Gewissen gebracht hat. Das Blut Jesu Christi kann aber allein das Gewissen reinigen, und ihm den Frieden geben. Das Bedürfnis
einer besseren Welt, das uns überall verfolgt, ist wie ein
Andenken an Eden und wie ein Sehnen darnach. Der gestorbene und auferstandene Jesus kann uns aber allein, indem Er uns mit dem Rock Seiner für uns durch Blut erworbenen Gerechtigkeit bedeckt, vor Gott bestehen machen,
und uns in die himmlischen Wohnungen einführen, dem
neuen Eden, nach welchem unsere Seele seufzt, ohne es zu
kennen. Jesus allein konnte den Abgrund ausfüllen, welchen die Sünde zwischen Gott und uns gegraben hatte; aber
in Ihm, wenn wir Ihn durch den Glauben angenommen
haben, finden wir alles, was wir durch die Sünde verloren
hatten, und noch weit mehr. Denn „wenn durch die Übertretung des eine n der Tod durch den Eine n geherrscht
hat; vielmehr werden die, welche die Uberschwenglichkeit
der Gnade und der freien Gabe der Gerechtigkeit empfangen, im Leben herrschen durch den Einen , Jesum Christum" (Röm. 5,17). Das Leben, dessen uns Adam durch seine
Sünde beraubte, so herrlich es auch war, war doch nur ein
irdisches Leben, das verloren werden konnte, und das verloren ging. Das Leben, das wir, an Jesu glaubend, finden,
ist ein himmlisches und unvergängliches Leben; es ist das
Leben des auferstandenen und verherrlichten Jesus selbst;
denn „wir sind gestorben und unser Leben ist mit dem Christus in Gott verborgen. Wenn aber Christus, unser Leben,
offenbart sein wird, dann werden auch wir mit Ihm in
Herrlichkeit offenbart werden" (Kol. 3, 3. 4).
124
„Und dies alles ist aus Gnaden, durch den Glauben, damit Aller Mund gestopft werde, und niemand sich rühme;
sondern wer sich rühmet, der rühme sich im Herrn." Wenn
Du warten willst, bis Du dieses Heils würdig bist, oder auf
irgendeine Weise zubereitet, um es zu empfangen, so widersprichst Du Gott, der Dir sagt, daß Du aus Dir selbst nichts
kannst, und der Seine Gnade dadurch verherrlichen will,
daß Er Dir Deine Übertretungen umsonst vergibt. Noch
einige Zeit die unreinen Vergnügen der Welt, des Fleisches
und Deines eigenen Willens, genießen wollen, heißt das Blut
Christi verachten, das vergossen worden ist, um uns von
diesem eitlen Lebenswandel zu erkaufen; das heißt auf eine
Zukunft rechnen, die Dir nicht gehört. Noch diese Nacht
kann der Herr kommen, oder auch Deine Seele von Dir fordern, und was wird aus Dir, wenn Du keinen Heiland hast?
Gehe denn ohne Zögern zu Jesu, der Dich ruft, um Dir das
Leben zu geben.
„Der Geist und die Braut sagen: Komm! und wer höret,
spreche: Komm! und wen da dürstet, komme; und wer da
will, nehme das Wasser des Lebens umsonst" (Offb. 22, 17).
125
Das Mitleiden Jesu
„Denn der Mann ist das Haupt des Weibes, wie auch
der Christus das Haupt der Versammlung ist; er ist des
Leibes Heiland" (Eph. 5, 23).
Die Vortrefflichkeit des Hohenpriesteramtes Christi ist
ein beständiger Gegenstand der Erquickung für Seine Erkauften; nur indem wir diesen teuren Erlöser betrachten,
können wir in Seiner Liebe bleiben; und es kann nicht ohne
den Geist des Gebets und der Sammlung sein, daß wir unsere Blicke auf Den richten, der gekommen ist, uns die
Worte des Vaters zu geben, auf daß Seine Freude in uns
wohne. Dieser teure Erlöser wolle uns, während wir untereinander Sein heiliges Wort betrachten, vor allem Übel bewahren, auf daß unsere Freude auch völlig sei, indem wir
vor allen Dingen wissen, daß wir ohne Ihn nichts tun
können.
Indem das Werk der Erlösung vollkommen ist, freut sich
der Herr der Gemeinschaft, in die Er Seine Erkauften mit
dem Vater durch Sein fortwährendes Hohenpriestertum versetzt hat; von der andern Seite erfordert die Heiligung der
Erkauften eine beständige Tätigkeit der Liebe des Herrn,
bis daß der Letzte der Erwählten vollendet ist.
Deshalb müssen wir Jesum betrachten, nicht allein als
vollkommenen Erretter der Versammlung, welche Sein Leib
ist, sondern auch als Haupt, als Mann der Versammlung,
während der Bildung und der Geburt derselben. — Das, was
unsere Brüder schon besitzen, ist viel mehr als alles, was
wir ihnen bieten können; denn sie besitzen Jesum, in welchem alle Reichtümer der Liebe des Vaters eingeschlossen
sind; jedoch kann uns dies in der fortwährenden Betrachtung des Wortes nicht aufhalten; es kann uns ebenso wenig
verhindern, uns mit den Brüdern über alles das zu unterhalten, was darin enthalten ist; und wir vertrauen der
Gnade des Herrn, daß Er durch diese Betrachtung die Brüder im Kampfe stärken, in der Heiligung ermutigen und
unter ihnen die Tragsamkeit, die Liebe, das Mitleiden und
das Mitgefühl vermehren werde. Er wolle uns einen klaren
Blick, ein einfältiges und wachsames Auge geben, um Ihn zu
betrachten in Seiner Eigenschaft als Haupt des Leibes, dessen Heiland Er ist, und besonders noch als Mitträger der Lei126
den und der Gebrechlichkeiten aller Glieder zusammen und
jedes einzelnen.
Aber bevor wir das Mitleiden Christi mit Seinen Erlösten
betrachten, müssen wir die Grundlage, worauf wir gegründet sind, darstellen, nämlich, daß Jesus vollständig und vollkommen das Werk vollendet hat, welches der Vater Ihm
übertragen hatte*) (Joh. 17, 4), d. i. Gott auf der Erde zu
verherrlichen.
Ferner ist der Dienst Jesu als Heiland des Leibes ausreichend, vollkommen und vollendet (Röm. 8, 2); denn durch
Seinen Tod hat Er die Sünde, die Verdammnis und den Tod
auf Sich genommen und von uns abgewälzt. Durch Seine
Auferweckung haben wir die Rechtfertigung und das Leben,
und diese Auferweckung selbst ist ein Beweis der Ausreichung Seines Todes (Joh. 11, 25; l.Petr. 1, 3; Röm. 4, 25; 5,
18; 5, 5).
Indem Er einmal für die Sünden gelitten, Er, der Gerechte für die Ungerechten (1. Petr. 3,18) ist Er gekreuzigt
worden in Schwachheit (2. Kor. 13, 4) **), um uns zu Gott zu
führen.
Die Leiden Jesu in der Niedrigkeit und unter dem Fluche,
der unseren Sünden zukam, haben vollständig unser Löse-
*) Das Opfer Christi ist ein für allemal dargebracht. „Jesus,
nachdem er ein Opfer für die Sünden dargebracht, hat sich für
immerdar zur Rechten Gottes gesetzt, denn durch ein Opfer hat
er in Ewigkeit vollendet, die geheiligt werden" (Hebr. 10,10.12.
14. 18. 26). Der verherrlichte Jesus hat Sich in Seiner Eigenschaft
als Hoherpriester und als Opfer, welches die Sünden für immer
wegnimmt, gesetzt, und so wartet Er, bis Seine Feinde unter
Seine Füße gelegt werden (Hebr. 10, 12; 1, 13).
**) Diese Stelle, 2. Kor. 13, 4, ist übereinstimmend mit Röm.
1, 3. 4, Röm. 9, 5. „Denn, wenn er gekreuzigt ward in Schwachheit (oder infolge der Schwachheit des Fleisches), so lebt er
durch die Macht Gottes." Es ist der Gegensatz zwischen dem
Samen Davids und dem- Sohn Gottes, zwischen dem Sohn des
Menschen in Niedrigkeit und dem Sohn des Menschen in Herrlichkeit.
Hinsichtlich des Wortes: Schwachheit, (Gal. 4,13; Hebr. 4, 15;
5, 2; 7, 28; 1. Kor. 15, 43; 2. Kor. 12, 9) sehen wir, daß die Macht
Gottes sich in der Schwachheit des Fleisches verherrlicht, sei es
durch die Auferweckung des Sohnes des Menschen in Herrlichkeit, des Christus, der unser Haupt ist, oder sei es indem dasselbe durch dieselbe Macht an uns, die wir Seine Glieder sind,
geschieht.
So hat Christus in Schwachheit sein müssen, zuerst als Diener, um Sich Selbst zu erniedrigen. Er ist eine Zeitlang unter
die Engel erniedrigt worden, aber durch die Macht Gottes, die
in Ihm war (Joh. 10, 18) hat Er Sein heben wiedergenommen,
um dadurch der Erstgeborene unter vielen Brüdern zu sein.
127
geld bezahlt; die Gerechtigkeit Gottes ist ganz und gar befriedigt worden. Als Erretter der Versammlung hat Jesu
also vollständig und vollkommen unser Heil und unsere
Rechtfertigung durch Seinen Tod und Seine Auferstehung
vollbracht. Von diesem köstlichen Gesichtspunkte aus ist das
Herz Jesu mit Freude erfüllt, wenn Er die Versammlung betrachtet.
Die Gläubigen der Jetztzeit betrachten das Werk, auf
welchem ihr Heil beruht, als eine geschehene Tatsache; während die Gerechten des alten Bundes durch den Glauben es
im voraus gesehen und den Tag Christi begrüßt haben. Doch
für jene sowohl, als für diese ist das ewige Leben und die
Rechtfertigung aus Gnaden und umsonst durch den Tod
Christi und für die Ewigkeit reichlich erworben.
Wir haben also dargestellt, daß Jesus als Heiland des
Leibes alles vollbracht hat, was Ihm zu tun oblag, und daß
Er als Anführer unserer Errettung durch Leiden einmal
und für immer*) zur Vollkommenheit gebracht wurde
(Hebr. 2, 10).
Jetzt wollen wir untersuchen, wie es nötig ist, daß Seine
Erkauften, bevor sie zur Herrlichkeit geführt werden,
ihrerseit s leiden, und zwar während der Bildung des
*) Joh. 19, 30. Als unser Heiland noch lebend am Kreuze war,
sagte Er: „Es ist vollbracht!" So lange der Herr Sein Leben
nicht gelassen hatte, war aber noch nicht alles vollbracht,
was unsere Seligkeit betrifft. Es war sogar nach Seinem
Tode noch nötig, daß Er auferstand; ohne Seine Auferstehung
wäre unser Glaube eitel, und wir wären noch in unseren Sünden. Jesus mußte noch in dem Augenblick, wo Er die obigen
Worte aussprach, erst sterben, dann verherrlicht und in den
Himmel aufgenommen werden; und darnach war es nötig, daß
Er Seinen Jüngern den Sachwalter, den Heiligen Geist, sandte.
Jetzt sind die verheißenen Dinge noch nicht erfüllt, da wir
nur in Hoffnung selig sind (Röm. 8, 24), bis daß diese Seligkeit
in der letzten Zeit durch unsere Wiederkunft mit Christo nach
der ersten Auferstehung offenbart wird. Der Herr hat also
nicht gesagt: „Alles ist vollbracht", sondern: „Es ist vollbracht." Das, was die Schrift von dem Messias in der Niedrigkeit vorhergesagt hatte, war erfüllt.
In Wirklichkeit, wenn alle Dinge dem Lamm, welches auf
dem Throne wartet, unterworfen sein werden (Hebr. 2, 9; Offb.
5, 6-12) und der letzte Feind, der Tod, in den Pfuhl, der mit
Feuer und Schwefel brennt, geworfen sein wird; alsdann wird
das Alte vergangen und alles neu gemacht worden sein; und
dann wird Christus, das Alpha, Sich als das Omega offenbaren.
Derjenige, welcher unser Haupt gewesen ist, und der Erste
aller Dinge, wird auch der Letzte sein; Er wird alle Dinge in
Sich Selbst zusammenfassen.
128
Leibes. Dies wird dazu beitragen, uns zu unserer Freude das
Mitgefühl und das unablässige Mitleiden Dessen besser verstehen und begreifen zu lassen, welcher das herrliche Haupt
und zu gleicher Zeit der geliebte Heiland der Versammlung
ist (Joh. 16, 33; Apg. 14, 22). Alles, was die Schrift uns über
die Leiden des Leibes Christi sagt, ist in einem Sinne anwendbar auf Jesum Selbst, als Haupt des Leibes; und wenn
die Gemeinschaft des Herrn und die Erforschung Seiner Gedanken der gewöhnliche Zustand der Christen wäre, so würden die Leiden Dessen, der ihr Haupt ist, eine Ursache des
Schmerzes und der Gebete, besonders aber der Wachsamkeit
und der Demütigung für diese sein, indem sie der Gegenstand dieser Leiden des Herzens Jesu sind.
Wenn wir sagen, daß die Leiden des Leibes in einem
Sinne diejenigen des Hauptes sind, so haben wir immer dabei die Teilnahme Christi an unseren Leiden und an unseren Schmerzen durch Sein Mitgefühl und Sein Mitleiden im
Auge; und wir wenden diese Worte an, wie sie die Schrift
anwendet, als gleichbedeutend mit den Worten:
„Mitleiden , teilnehme n a n de n Leide n
anderer. "
Die Stunde des Leidens ist für die Versammlung gekommen, seitdem Jesus zu Dem zurückgekehrt ist, welcher Ihn
gesandt hatte. Durch Geburtsschmerzen geht die Versammlung ihrer Vollendung in Christo entgegen; und dieser Zustand des Leidens wird dauern, bis wir alle uns in dem
Maße des vollen Wuchses des Christus begegnen werden, bis
wir alle durch unseren Durchgang durch die Prüfungen dieses Lebens einzeln und allmählich in Dem vollendet werden,
der das Haupt über alle Dinge ist, für die Versammlung,
welche Sein Leib ist, damit Er in allen Dingen den Vorrang
habe.
Die Auferbaüung des Leibes Christi ist also eine Zeit der
Schmerzen und das Haupt nimmt Teil an all den vielen und
verschiedenen Leiden, welche die Glieder, sei es in dem
Kampfe des Geistes gegen die Sünde zu ihrer Heiligung, sei
es wegen der Feindschaft einer Welt, aus der die Gnade
Gottes sie herausgeführt hat, erdulden müssen. Die Stellung der Versammlung der Erkauften, betrachtet in ihrer
Tätigkeit, muß ihr, während ihrer Bildung durch die Jahrhunderte hindurch, notwendigerweise Verfolgungen zuziehen, wenn sie treu ist, — oder einen falschen Frieden und
eine gefährliche Ruhe, wenn sie untreu oder geschwächt ist.
In den Augen Gottes ist die Versammlung die Fortsetzung Jesu auf der Erde; sie soll Ihn gegenüber der Welt
vertreten, um den Vater zu verherrlichen. Die Aufgabe der
23 129
Versammlung ist fortwährend das Andenken Jesu zu erhalten, bis Er kommt, Seinen Fußstapfen durch die Hilfe des
Heiligen Geistes zu folgen, und die Welt, welche Ihn gekreuzigt hat, von der Sünde, von der Gerechtigkeit und von
dem Gericht zu überführen (Joh. 16, 8—11; Apg. 17, 31).
Jesus hat besonders zwei Dinge auf der Erde getan: E r
w a r gehorsa m un d ha t gelitten . — Die Versammlung soll diesem Vorbilde folgen. Sie wird demnach den
Obrigkeiten der Welt in allem gehorchen, soweit deren Befugnisse gehen; und sie gehorcht Gott, indem sie sich von
allem trennt, was schon gerichtet ist. Auf diese Weise gibt
sie Zeugnis fü r die Rechte Jesu und gege n die Unrechtmäßigkeit des Besitzes Seines Reiches durch den Feind. Die
Versammlung ist also gerade dadurch, daß sie Seinem Vorbilde folgt, gewiß, auch so zu leiden, wie Er gelitten hat. Ihr
einziger Trost und ihre einzige Freude hienieden besteht in
der Gemeinschaft mit ihrem Haupte und in der herrlichen
Hoffnung, in der sie durch die völlige Gewißheit des Glaubens die künftigen und unsichtbaren Güter genießt. Jesus
ist, während Seines Wandels auf der Erde als Mensch in
der Schwachheit —ein Mensch der Schmerzen gewesen, weil
Er in der Gesinnung der göttlichen Reinheit, in Knechtsgestalt ohne Sünde, von der Sünde umgeben war, und verworfen von de r Welt, welche zu suchen, um sie zu erretten
und zum Vater zu führen, Er gekommen war.
Jesus war durch den Vater geheiligt, d. h. abgesondert
worden; Er hatte Sich Selbst geheiligt in Seiner Eigenschaft
als Gesandter (Joh. 10, 36; 17, 18. 19), und zwar für die Seinigen, damit auch sie Geheiligte seien in Wahrheit. Der besondere Zweck dieser Absonderung von der Welt war, die
Gnade des Vaters vermittelst dieses abgesonderten und Seinem Namen geweihten Volkes zu verherrlichen (Apg. 15, 14;
Tit. 2, 14).
Jesus hat an keiner einzigen Freude dieser Welt teilgenommen, es sei denn, um dadurch Seine Herrlichkeit zu offenbaren (Joh. 2, 11), welches die Herrlichkeit des Vaters
war. Derjenige, welcher Ihm folgen will, muß bei sich und
bei den anderen alles, was von der Welt ist, hassen. Er
nimmt sein Kreuz auf sich und geht durch die Wüste, wie
ein Pilger, welcher ein besseres Vaterland sucht. Aber das
Herz Christi wird hier stets die Quelle sein, woraus wir
Sanftmut, Geduld, Tragsamkeit gegen die Kinder dieser
Welt schöpfen. Christus hat immer gesegnet, getragen, mit
Liebe alle Seelen gerufen, welche Er auf Seinem Wege fand.
Laßt uns denn Demjenigen nachahmen, welcher nicht gekommen war, um zu richten, sondern um zu erretten, wel130
eher die Sünde haßte, aber die armen Sünder liebte, diesem
Jesus, welcher sanftmütig und von Herzen demütig war.
Das Mittel, um in unserem Leben die Demut, die Liebe
und die Absonderung von den Freuden und den Gütern dieser Welt zu verwirklichen, besteht darin, anstatt unser Vertrauen auf diese Güter zu setzen — den Herrn in Seinem
Leben und in Seinem Tode mit Ernst zu betrachten.
„Allezeit das Sterben Jesu am Leibe umhertragend, auf
daß auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbart
werde" (2. Kor. 4, 10; Mark. 10, 24; Gal. 6, 17). Wie groß
auch zu irgend einer Zeit die Duldsamkeit der Welt gegen die
Versammlung sein möge, so ist sie deshalb doch nicht weniger eine gegen Gott feindlich gesinnte Welt, welche Jesum
gekreuzigt hat, und welche durch Satan, ihren jetzigen Fürsten, beherrscht wird. Immer wird von Seiten der Welt gegen die Kinder Gottes, wenn sie treu darin sind, ihren Vater
zu verherrlichen, Feindschaft sein. Wenn gar kein Widerspruch von seiten der Welt für die Treue der Christen Zeugnis gibt, so ist nötig aufmerksam den Zustand der Versammlung zu untersuchen. Denn wenn die Welt uns liebt, so ist
es ein Beweis, daß wir den Menschen dieser Welt ähnlich
sind; während, wenn wir den Fußstapfen Jesu folgen, die
Welt uns hassen wird; denn die Welt hat das Ihrige lieb
(Joh. 15, 18. 19; 17, 14. 16).
Warum die Versammlung nichts von der Welt erwartete,
wenn sie nichts von ihr annähme; wenn sie, — anstatt sich
durch einen falschen Frieden mit dem Feinde einzuschläfern,
und sich mit ihm zu verbinden — getrennt davon lebte;
wenn sie von der schönen Stellung, außer ihr zu stehen, um
mit der Macht der Gnade in der Welt und auf sie einzuwirken, und von der bevorstehenden Wiederkunft des wahren
Königs in Seiner großen Macht Zeugnis gäbe; — dann würde
jedes ihrer Glieder sehen, daß es nur Trübsal zu erwarten
habe, und daß wir durch viel Leiden in das Reich Gottes
eingehen müssen (Joh. 16, 33; Apg. 14, 22). — Sind wir denn
wirklich hienieden wie auf einer Reise durch die Wüste? Ist
das Zeugnis der Glieder des Leibes Jesu einstimmig, oder
wenigstens mächtig genug, um den Feind zu erschrecken
und zu erzürnen? Sind wir nicht mitten in einer christlichen Welt und einem verweltlichten Christentum, und seufzen wir über diese Verwirrung? Nehmen nicht die meisten
Brüder aus der Hand dieser Welt an, was sie ihnen, an die
Stelle der wirklich evangelischen Gaben und Ämter, bietet?
Die Predigt des Evangeliums, die Taufe, die Lehre, der Gottesdienst, die Ämter — sind sie nicht zum sehr großen Teil
abhängig von dem Willen und der Ermächtigung der Welt,
131
und ist dieses Übel nicht das Werk des Widersachers und
das Zeichen einer großen Verwirrung?
Jesus, unser Haupt, hatte notwendigerweise von allen diesen Gebrechen jedes einzelnen Gliedes und aller Glieder zusammen, während der allmählichen Bildung Seines Leibes
ein tiefes Gefühl, und wenn unser Zeugnis so elend ist, ist das
denn nicht für uns immer aufs neue ein Gegenstand der Demütigung und des Gebetes? — Das Gebet und die Gemeinschaft mit dem Herrn sind die einzigen Genüsse, welche das
Teil der Gläubigen in dieser Welt sind; es sind innere und
geistliche Segnungen, welche sie nur finden können, indem
sie sich in die Nähe des Herrn zurückziehen, fern von der
Sünde, welche uns so leicht umstrickt.
Die Gemeinschaft mit dem Herrn verschafft uns unter
anderen Segnungen auch die Gemeinschaft mit den Brüdern, und das Verständnis der Bedürfnisse und der Leiden
des ganzen Leibes Christi. Je mehr wir also in der Nähe des
Herrn sind, desto mehr verstehen wir, daß wir hienieden
unsererseit s unser Teil der Leiden, welche der Leib
Christi noch während seiner Bildung erdulden soll, zu tragen haben.
Es ist möglich, es ist nach dem, was der Herr oft in Seinen Wegen gegen die Kirche offenbart hat, sogar wahrscheinlich, daß der Geist, welcher jetzt viele Brüder zu der
Betrachtung Jesu, wie Er in Seiner Liebe handelt, antreibt,
und welcher die Braut auf die ganze Macht und List des
Feindes aufmerksam macht, auf diese Weise sie auf irgend
ein großes Ereignis vorbereiten will. — Die Gnade Gottes
stärkt immer Seine Kinder, wenn es nötig ist und wenn böse
Zeiten nahen, wo könnten wir wohl einen mächtigeren
Schild in den Prüfungen finden, als die Gemeinschaft mit
unserem Haupte, als die brüderliche Liebe, als die Kraft,
welche in jedem Gliede durch das Gefühl seiner Verantwortlichkeit und seiner Solidarität (gegenseitige Verpflichtung)
gegen den ganzen Körper, hervorgebracht wird? Keine Betrachtung scheint uns geeigneter, als die des Mitgefühls und
des Mitleidens Christi, um die Selbstsucht und die Trägheit,
und sogar die Feigheit zu zerstören und zu vertreiben,
welche die Brüder verhindern, sich in der Gemeinschaft des
Herrn und im Gebet zu vereinigen, sich wegen des Übels,
welches die Versammlung zertrennt, zu demütigen und
selbst, um es zu erkennen. Nichts kann uns mehr antreiben
einer des anderen Last zu tragen, als die Beteiligung Christi
an allen diesen Nöten.
Das wahre Mittel, um uns nicht in einem leeren Bekenntnis des Christentums einzuschläfern, um nicht tot zu sein,
132
indem wir den Schein des Lebens haben, besteht darin, uns
zu der Betrachtung des Herrn Jesu in der Tätigkeit Seiner
Liebe für uns, zu ermahnen. — Es war wegen unserer
Schwachheit nötig, daß Jesus Sich unserem Glauben unter
verschiedenen Gestalten offenbarte; daß Er Sich uns in Seinen verschiedenen Eigenschaften und in Seinen verschiedenen Ämtern zu erkennen gab, indem Er sie uns jedes durch
Sich Selbst erklärte, und uns in allem Seine Einheit mit dem
Vater und dem Heiligen Geiste offenbarte. — Wir wissen,
daß Jesus in der Krippe derselbe ist, wie Jesus an dem
Kreuze, daß der Sohn Gotte s in der Niedrigkeit derselbe ist, wie der Sohn des Mensche n in Macht; wir
glauben alle, daß Jesus Gott ist, hochgelobt in Ewigkeit;
aber wir bedürfen in diesem Augenblick besonders, Jesum
in Seiner verherrlichte n Menschhei t zu betrachten. Die Menschheit des Herrn Jesu ist unsere Menschheit;
darin ist Er der Sohn des Menschen. In unserer Menschheit hat Er die Gerechtigkeit Gottes befriedigt, und hat uns
in die Gemeinschaft Gottes gebracht. Unsere Menschheit ist
in Jesu verherrlicht und ebenso wie das Leben Christi schon
jetzt auf der Erde in uns ist, ebenso ist auch durch Christum
jetzt unsere Menschheit im Himmel verherrlicht.
Um das Mitleiden und das Mitgefühl Christi, Seine Teilnahme an dem Zustande der Versammlung wohl zu verstehen, dürfen wir Ihn nicht allein als Heiland in der Herrlichkeit, sondern auch als Haupt der Versammlung in Seiner
verherrlichten Menschheit betrachten. So ist Er das Haupt
des Leibes, welchen Er errettet hat; unter diesem für unsere
Seelen so köstlichen Gesichtspunkt ist Er der Erstgeborene
unter vielen Brüdern, das Haupt der Versammlung, so ist
Er tätig und in lebendigen und wirksamen Beziehungen mit
Seiner Versammlung. — Vielleicht haben die Erkauften diese
Seite Christi etwas aus den Augen verloren; deshalb ist es
nötig, dahin zurückzukehren, weil die Auferstehung und die
Verherrlichung Jesu das Handgeld für unsere eigene Auferstehung in Herrlichkeit und das Unterpfand Seiner Tätigkeit, Seines Mitgefühls und Seiner Fürbitte für Seine Brüder, für Seine Versammlung vor dem Gnadenthrone des
Vaters sind.
Paulus wurde bekehrt durch den Anblick des verherrlichten Jesus; er sah Ihn in Seiner Einheit mit der Braut. Dieser
Paulus, welcher vorher die Versammlung zerstörte, welcher
den Leib Christi verfolgte (Gal. 1, 13), verstand dieses Geheimnis, als Jesus aus der Höhe der Herrlichkeit zu Ihm
sagte: „Saul! Saul! was verfolgst du mich ? Ich bin Je -
sus , welche n du verfolgst." — War es nicht das Haupt
133
der Versammlung, welches Sich über das Übel, das man Seinen ersten Gliedern auf der Erde zufügte, beklagte? Und ist
der Leib nicht jetzt noch auf der Erde? Lebt, leidet, bildet
er sich nicht auf derselben? — Paulus wurde selbst Glied
dieses Leibes; er wurde von diesem Augenblick an mit verbunden, und die Leiden, welche er von da an erduldete, waren nicht ein besonderer und bezeichnender Teil seines Dienstes; sondern er hatte die Gesinnung Christi; er litt und
starb sogar alle Tage; den n di e Leide n Christ i waren bei ihm in Fülle vorhanden (2. Kor. 1, 5). Was Paulus
unter allen seinen Brüdern auszeichnet, ist nicht, für den
ganzen Leib zu leiden, sondern vielmehr das Übermaß seiner Trübsale.
Wenn es wahr ist, daß wir auch den Geist und die Gesinnung Christi haben (1. Kor. 2,16), so müssen wir, während
unserer Prüfung hienieden, sorgfältig untersuchen, welches
die Leiden und Schmerzen der Glieder Seines Leibes sind,
damit wir unseren Anteil an diesen Trübsalen tragen und
so unser Gestorbensein der Welt mit Christo und unser Leben mit Ihm in Gott verwirklichen. Dann werden wir ausrufen: „Wer ist schwach, und wir sind es nicht? wer wird
geärgert, und wir brennen nicht?" Wir haben sogar Wohlgefallen an Schwachheiten, an Leiden und Ängsten für Christum (2. Kor. 11,29; 12,10). Wenn ein einziges der Glieder
des Leibes in einem Zustand des Verfallenseins, der
Schwachheit, der Weltlichkeit unter einer Prüfung oder
unter einem Gericht ist, so leiden alle Glieder, wenigstens
wenn der Leib in seinem richtigen Zustand ist, und das
Haupt ist nicht abgesondert, noch für diese Unordnungen
unempfindlich. Denn wir sind der Leib Christi, und ein Teil
Seiner Glieder; und wenn ein Glied leidet, so leiden alle
Glieder mit; denn der Leib ist nicht ein einziges Glied, sondern viele Glieder (1. Kor. 12,14. 26. 27), und Christus ist das
Haupt jedes Mannes; so daß Er nicht allein an den Leiden
aller Glieder, als Versammlung betrachtet, teilnimmt, sondern Er teilt auch die Trübsale eines jeden von uns insonderheit. So zeigt uns die Schrift unsere unvermeidlichen
Leiden und unseren unaufhörlichen Kampf, als Trübsale
Christi, unseres Herrn, welcher voll Mitleiden und Erbarmen ist (Jak. 5, 11).
So müssen wir denn das, was von jedem Falle eines unserer Brüder gesagt ist, auf unsere eigenen Fälle anwenden,
damit wir, indem wir den schmerzlichen Eindruck betrachten, welchen sie dem Haupte und dem ganzen Leibe verursachen, in der Heiligung wandeln, Gott in allen Dingen zu
verherrlichen suchend. Christus, welcher treu ist über Sein
134
ganzes Haus, reinigt uns immerdar von unseren Befleckungen, und hat als Hoherpriester Mitleiden mit unserer
Schwachheit.
Dieser Dienst Christi über Sein Haus ist auch ein Dienst
der Liebe gegen Seine Versammlung; aber wie sehr wird
Sein Herz auf tausendfache Art betrübt, während Er ihn
ausübt? Unsere Pflicht ist demnach, diese ganze Sache als
unsere eigenen Angelegenheiten zu Herzen zu nehmen, vor
Gott und in Seiner Liebe unseren eigenen elenden Zustand
(denjenigen unserer Brüder im Glauben), und den Zustand
der Trennung und der Schwachheit, worin sich der ganze
Leib befindet, zu betrachten. Dann werden wir, wenn die
Liebe Christi uns treibt, auch wie in Geburtswehen sein, bis
daß Christus in den Erwählten gestaltet worden sei, welche
in den elenden Elementen der Welt gefangen gehalten werden oder dahin zurückgekehrt sind (Gal. 4, 19).
Was auch die Art der Leiden unserer Brüder sein mag,
wir sollen daran teilnehmen, wie die Hebräer die Banden
Pauli und die Leiden ihrer Brüder mitfühlen (Hebr. 10, 32.
37); denn wir sehen, daß der Apostel dieses Mit-Leiden auf
dieselbe Linie stellt (hinsichtlich der Belohnung, welche es
erhalten sollte) als die Leiden selbst, und als die durch die
Hebräer wirklich erduldeten Trübsale. Es war auch die
brüderliche Liebe, welche bei den Korinthern eine große
Geduld hervortreten ließ, um dieselben Leiden wie Paulus
zu erdulden (2. Kor. 1, 3—8). Dieser Letztere lobt sie wegen
dieses Mitgefühls, sodaß die Trübsale Pauli den Korinthern
Heil und Trost bringen, weil sie an dem Heil und dem Trost
teilnehmen werden, nachdem sie an den Trübsalen teilgenommen haben. In dieser letzteren Stelle finden wir immer
den Hauptgedanken wieder, welcher für unsere Herzen so
süß ist, nämlich diesen: Wenn di e Leide n Christu s
reichlich über uns kommen, ebenso auch unse r Tros t
durc h Christu m reichlich sein wird.
Wir werden auf diese Weise jedesmal mi t Christo leiden, wenn wir mit Ihm an den Leiden teilnehmen, welche
sich in Seiner Versammlung während ihres Kampfes wider
die Weltbeherrscher der Finsternis und wider die geistlichen
Mächte der Bosheit in den himmlischen örtern, zeigen (Eph.
6,12) aber wir haben außerdem auch fü r Christum zu leiden; und wir begegnen gewiß dieser letzteren Art Leiden,
wenn wir dem Evangelium treu sind. Wenn wir ein kräftiges und ernstes Zeugnis zur Ehre Dessen, der uns erkauft
hat, ablegen wollen, so werden wir auch, als gute Streiter
Jesu Christi, Leiden zu erdulden haben (2. Tim. 2,3); und
135
hier, wie überall, werden wir durch die mächtige Kraft und
durch die starke Hand unseres Hauptes getragen.
Die Verachtung einer Welt, welche sich christlich nennt
die Beschuldigung vieler Brüder, welche selbst die Beweggründe nicht kennen, die uns von jeder Einrichtung, die von
der Welt herkommt, trennen, sind gewiß genügend, um uns
zu veranlassen, unser Kreuz auf uns zu nehmen und unslals
Teilnehmer an den Leiden des Leibes Christi zu betrachten.
Wenn auch die Zeiten offener Verfolgung augenblicklich unser Teil nicht sind, so sind wir doch glücklich, wenn wir auf
irgend eine Art um des Namens Christi willen geschmäht
werden; weil der Geist der Herrlichkeit und der Geist Gottes auf uns ruht. Laßt uns denn fest im Glauben sein, wissend, daß dieselben Leiden über alle unsere Brüder, welche
in der Welt sind, ergehen, und wenn wir ungerecht leiden,
indem wir das Gute tun, so ist das eine Gnade von Gott;
denn hierzu sind wir berufen, weil auch Christus, der Gerechte für Ungerechte, gelitten hat, uns ein Exempel hinterlassend, auf daß wir Seinen Fußstapfen nachfolgen (1. Petr.
4, 4; 2. Kor. 4, 17; Apg. 7, 54. 56; Röm. 8, 18; 1. Petr. 3, 18;
4, 1. 2. 6).
Christus, als Heiland des Leibes, freut Sich Seines vollkommenen Werkes (Eph. 5, 23); aber als Bräutigam der Versammlung und als Haupt des Leibes nimmt Er ebensowohl
an den Trübsalen dieses Leibes, während seiner Bildung,
als an dem Elend und den Schwachheiten jedes Seiner Glieder, tätigen Anteil.
Wenn wir diese so ermutigende Wahrheit verstanden
haben, so werden wir dahin gedrängt werden, sowohl das
Ziel dieses Zustandes der Dinge, als die Belohnung, welche
denen verheißen ist, die an all dieser Arbeit und an allen
diesen Mühseligkeiten Teil genommen haben, zu untersuchen. Dieses Ziel ist uns im vierten Kapitel des ersten Briefes an die Thessalonicher und Kap. 5, 13—18 vorgestellt; —
der Augenblick der Freude wird kommen, wenn der Bräutigam wiederkommen wird auf den Wolken, um all die Seinigen mit Sich in der Luft durch die herrliche Auferwekkung der Heiligen zu vereinigen. Dann wird jeder seine
Belohnung empfangen; dann wird der Bräutigam vor den
Augen der ganzen Schöpfung offenbart werden, bekleidet
mit der Herrlichkeit und der Macht des Sohnes Gottes. Laßt
uns denn unsererseits in unserem Fleische unser Teil der
Leiden Christi tragen und dadurch unser Gestorbensein der
Welt mit Christo und unser Leben in Gott durch Christum
verwirklichen; aber laßt uns auch durch unser Sehnen und
unsere Gebete diesen gesegneten Augenblick, nämlich der
136
Wiederkunft de s Herrn, welcher immer unseren Herzen
durch den Glauben nahe sein soll, beschleunigen.
Nicht allein die ganze Schöpfung und die leblosen Dinge
seufzen, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlinge des
Geistes haben, seufzen und sind beschwert, erwartend die
Kindschaft, die Erlösung unseres Leibes (Röm. 8,19 usw.). Sollten wir weniger verständig sein als die ganze Schöpfung,
welche seufzet und seit so vielen Jahrhunderten in Geburtswehen ist bi s jetzt , und den Augenblick der Wiederkunft Christi mit Seinen Heiligen erwartet, um von der
Knechtschaft, der Eitelkeit und des Verderbens befreit zu
werden? Sollten wir, die erwählten Glieder des Leibes
Christi, während unseres Durchgangs durch dieses Übel,
welches die Sünde Adams hervorgebracht hat, nicht auch
seufzen? Denn wir sind Erben Gottes, Miterben Christ^
wenn wir anders mi t Ih m leiden , mit Christo, welcher
wegen Seiner Liebe für uns und Seiner innigen Verbindung
mit uns, leidet.
Es darf uns nicht einfallen, daran zu denken, mit Christo
Seine ausgestandenen Leiden, sowohl während Seines Wandels, als auf dem Kreuz zu tragen. Diese Leiden des Heilandes sind immer für Ihn allein gewesen; denn Er allein
war fähig, sie zu erdulden; und wir können daran nicht anders Teil nehmen, als indem wir Anbetung, Ehre und Lob
Dem darbringen, welcher sie erduldet hat. Aber wenn wir
mit Ausharren leiden, so werden wir auch mit Ihm herrschen; und Ausharren tut uns in den Trübsalen not, auf daß
wir, nachdem wir de n Wille n Gotte s geta n haben,
die Verheißung erlangen (2. Tim. 2, 11. 12; Hebr. 10, 36).
„Weil ihr der Leiden des Christus teilhaftig seid, so freut
euch, auf daß ihr auch in der Offenbarung seiner Herrlichkeit mit Frohlocken euch freut"; „denn der Ackerbauer muß
um die Früchte zu genießen, zuerst arbeiten" (l.Petr. 4, 13;
2. Tim. 2, 6). Eine der köstlichsten Früchte unserer Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus in Seiner Gesinnung und in Seinen Leiden voll Liebe ist gewiß die bessere Auferstehung
(Hebr. 11,35); denn Paulus rief aus: „Daß ich ihn kenne, und
die Kraft seiner Auferstehung, und die Gemeinschaft seiner
Leiden, indem ich seinem Tode gleichgestaltet werde; ob ich
auf irgendeine Weise zur Auferstehung aus den Toten hingelangen möge" (Phil. 3, 10).
Der Apostel Johannes sagt Offb. 1, 9: „Ich Johannes, euer
Bruder und Mitgenosse in der Drangsal und in dem Königtum und in dem Ausharren*) Jesu Christi." Hier ist das
*) Offb. 13, 10; 14, 12; Jak. 5, 11; Luk. 21, 19; Hebr. 10, 36.
137
Königtum allein etwas Zukünftiges, welches durch die Teilnahme an der gegenwärtigen Drangsal und dem Ausharren
Jesu Christi während des Lebens des geliebten Jüngers erlangt wird. Diese Drangsale, wie wir sie bis jetzt entwickelt
haben, sind diejenigen des Herrn, wegen Seiner Verbindung
mit der Versammlung und wegen Seiner mitleidigen Barmherzigkeit gegen Seine Erkauften; und diese sowohl als das
Ausharren Christi sind auch das Teil der treuen Glieder
Seiner Versammlung; es sind ihre kostbarsten Titel.
Viele Christen geben die Folgerungen dieser Lehre zu;
sie wollen wohl die Gegenseitigkeit anerkennen, welche alle
Glieder des Leibes Jesu zusammen verbindet, und auch die
Verantwortlichkeit jedes einzelnen Gliedes für das Übel,
welches in Allen und in der Mitte Aller ist; sie leiden über
die Verfolgungen, welche die Versammlung an mehreren Orten auf der Erde erduldet; sie seufzen über das Übel, welches sie mehr und mehr zertrennt; sie beklagen in ihrem
Herzen die Sünden, die "Untreue und das Elend jedes Bruders; aber sie nehmen die Lehre nicht an, welche uns dieses
Mitgefühl zur Pflicht macht, weil sie uns Christum als
Haupt zeigt, als Mittel- und Vereinigungspunkt aller der allgemeinen und besonderen Leiden. Diese Brüder folgen so
dem Trieb eines guten natürlichen Herzens, aber sie nehmen
den einzigen Grundsatz, welcher dieses Mitleiden heiligen
kann, nicht an, nämlich die Gemeinschaft mit Christo, als
die Quelle und die Triebfeder dieser christlichen Gesinnungen. — Andere, die nur die herrlichen und unaussprechlichen
Vorrechte unserer schon vollendeten Einheit mit dem Haupt
des Leibes begreifen, scheinen nur zu oft sich allein ihrer
Hoffnung zu rühmen; aber sie scheinen andererseits zu vergessen, sich der Niedrigkeit zu rühmen und sich mit dem
verfolgten Christus, mit dem leidenden Haupte Seines eigenen Leibes ein s zu wissen.
Es ist wahr, daß die Lehre von den gegenwärtigen Leiden Christi unter den Christen vielfach durch den Mißbrauch, welchen andere Gemeinschaften damit getrieben haben, vernachlässigt worden ist. Was uns betrifft, die wir
den Herrn von allen Seiten zu betrachten wünschen, wir
sind versichert, daß die Lehre von dem Mitgefühl Christi
für die Versammlung während ihrer Bildung, der Lehre
von der vollständigen Befriedigung Gottes durch den Tod
Jesu keinen Abbruch tun kann.
Außer der Betrachtung der Liebe des Vaters und des
Sohnes, der Sein Leben für Seine Feinde gelassen hat, finden wir nichts Rührenderes, als dies Mitleiden des Herrn
Jesu, welcher an allen unseren Schmerzen Teil nimmt, wel138
eher uns ohne Unterbrechung mit einer ewigen Liebe liebt,
welcher leidet, indem Er uns noch mit unserem Kreuze beladen sieht, — Er, welcher alle Sünden Seiner Erkauften
getragen, die Verdammnis und den Tod für sie und an ihrer
Stelle auf Sich genommen hat.
Wie groß ist die Liebe Christi! Übersteigt sie nicht alle
Erkenntnis? Sind wir nicht eben durch die immer tätige
Macht dieser Liebe mehr als Überwinder in allem, durch
Den welcher uns geliebt hat, und welcher jetzt noch für uns
bittet? (Röm. 8, 26. 33. 38).
Und doch wird die Auferstehung Dessen, was von dem
Leibe Christi noch zu bauen übrig ist, immer mühsamer
und schwieriger; denn der Mangel an Liebe, die Trägheit,
die Selbstsucht bei jedem von uns, der Mangel an Zuneigung und der Gemeinschaft unter den Brüdern, aber besonders unser Widerwille, mit Christo zu leiden — vermehren
sehr die Schwierigkeiten, der letzten Zeiten, in denen wir
leben.
Die Liebe und die Zuneigung des Herrn und der Brüder
sind das letzte Mittel, welches uns bleibt; aber wie wenden
wir es an? Wenn wir Jesum unaufhörlich betrachteten; wenn
wir Ihn unablässig im Worte durch den Geist suchten, so
würden wir einigermaßen Seine Liebe und Sein göttliches
Mitleiden verwirklichen können. Nur dadurch, und nicht
indem wir, die Liebe betrachten, die in uns oder in irgend
einem anderen Menschen ist, werden wir in der Liebe des
Vaters und im Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit
Gottes, im Angesicht Jesu Christi, bleiben (2. Kor. 4, 6).
Die Liebe findet sich nur in Christo; es ist uns unmöglich, sie anders zu verwirklichen, als in der Gemeinschaft
mit Ihm durch den Geist, welcher von Dem, was Christi ist,
nimmt, um es uns zu geben. Wenn wir an der Quelle trinken, so werden Ströme des lebendigen Wassers von uns fließen. Wenn wir von Christo genährt werden, so verstehen
wir alles, was uns mangelt, und alles, was in der Versammlung mangelt. Möge der Herr Selbst die Härte unserer Herzen brechen und unsere strafbare Selbstsucht überwinden,
damit wir auch unsererseits an Seinen Gedanken und an
den Leiden unserer geliebten Brüder auf der ganzen Erde
teilnehmen und mit Vertrauen dem Ziel entgegen gehen
können, indem wir wissen, daß Jesus, der Sohn Gottes,
unser großer Hohepriester ist, welcher, nachdem Er in allem
versucht worden ist, gleichwie wir, doch ohne Sünde, mit
unserer Schwachheit Mitleiden haben kann.
In diesen Gesinnungen, welche von oben sind, werden
wir freudig unsere Schritte dem himmlischen Vaterland zu139
zuwenden, indem wir unterwegs immer auf die Ruhe und
die Befreiung warten, und beständig in der lebendigen Erwartung Seiner Ankunft dem Herrn entgegen gehen.
Dann, meine Brüder, wenn Christus, der unser Leben ist,
offenbart sein wird, werden wir in wahrer unvermischter
Liebe verbunden sein. Dann werden wir uns wahrhaft in
dem Herrn freuen und nicht mehr in Hoffnung. Indem wir
warten, laßt uns suchen, was droben ist, wo unser Leben mit
Ihm in Gott verborgen ist. „Denn noch um ein gar Kleines
und der Kommende wird kommen und nicht verziehen."
Die Liebe des Vaters
Die Liebe zu erkennen, womit der Vater den Sohn liebt,
ist eine gegenwärtige Segnung für uns; wir haben das Vorrecht, diese zu genießen. Wie muß es unsere Seele erquikken, wenn wir hören, daß die Liebe, womit die Heiligen von
Gott geliebt sind, dieselbe ist, mit welcher Er Jesum liebt,
— „w i e d u mic h gelieb t ha s t." Unsere Gemeinschaft
mit dem Herrn in Herrlichkeit wird die völlige Offenbarung
dieser Liebe sein, und dann wird es auch die Welt erkennen.
Allein wi r sollten nicht warten, bis zu diesem Tage der Offenbarung; schon jetzt soll das Bewußtsein der Liebe Gottes
durch den Geist unser Herz erfüllen und uns schon hienieden erfreuen und trösten.
Wie hat sich nun die Liebe des Vaters gegen uns offenbart, meine Brüder? In der Gabe Seines Sohnes, als „Versöhnung für unsere Sünden." — Wer unter uns weiß dieses
nicht? Aber wir können weiter gehen, und bekennen, daß
der Geist uns fähig gemacht hat, an den Sohn zu glauben
und Ihn anzubeten. Es wird wohl niemandem unter uns einfallen, zu denken, daß die Macht, an den Sohn zu glauben,
von geringem Wert sei, als ob das menschliche Herz an und
für sich dazu tüchtig wäre. Es gehört gewiß nicht zur Fähigkeit des menschlichen Geistes, die beste und gesegnetste
Gabe Gottes, „de n Sohn " zu würdigen; und gewiß denken
wir oft zu wenig an die Größe der Gnade, welche uns zum
Glauben leitete. Doch laßt uns noch weiter gehen. Wir wissen alle, daß das Kommen des Herrn Jesu in diese Welt,
nicht aus dem Menschen hervorgegangen ist; es war allein
Gotte s Gabe . — Wir wollen jedoch nicht länger hierbei
verweilen, und vielmehr einige Worte von der Liebe des Vaters zu dem Sohne, an welcher wir durch unsere Einheit mit
140
demselben so völligen Anteil haben, reden. Die Gnade, welche uns fähig machte, den Sohn aufzunehmen, macht uns
auch tüchtig, immer mehr von der Fülle und Tiefe dieser
Liebe zu verstehen. Die besondere Liebe des Vaters ist unser Teil. Ich spreche nicht davon, daß wir Christum haben,
sondern von dem, was wir in Ihm haben.
Wir lesen Johannes Kap. 17, 25. 26: „Gerechter Vater! und
die Welt hat dich nicht erkannt. — Ich aber habe dich erkannt, und diese haben erkannt, daß du mich gesandt hast.
Und ich habe ihnen deinen Namen kund getan, auf daß die
Liebe, womit du mich geliebt hast, sei in ihnen und ich in
ihnen." Hier ist von einer Liebe gesprochen, welche bei uns
bleibt, weil wir an Jesum glauben und Ihn lieben. Wir wissen alle, daß wir den Herrn Jesum nicht lieben konnten, als
nur durch den Geist; aber wenn wir Ihm, als unserem Heiland begegnet sind, wenn wir die Schönheit in Ihm, in welchem der Vater mit Lust und Wonne wohnt, gesehen haben,
dann ruht auch unser Herz dort und begegnet der vollen
Liebe des Vaters. Dies ist ein köstlicher Gedanke.
In Johannes Kap. 16, 26. 27 lesen wir: „Ich sage euch nicht,
daß ich den Vater für euch bitten werde. Denn der Vater
selbst liebt euch, weil ihr mich geliebt und geglaubt habt,
daß ich von Gott ausgegangen bin." Was will diese Stelle
sagen? Will sie den Trost der Fürsprache des Herrn Jesu von
uns wegnehmen? Gewiß nicht! sondern sie beabsichtigt, dies
Gefühl aus unseren Herzen zu entfernen, als ob der Herr
Jesus die Liebe des Vaters erst erwecken müßte. Er hat nur
dem reichen Strom derselben, den Weg zu uns gebahnt. Es
ist ein ganz falscher und sogar nachteiliger Begriff, zu denken, daß die Stellung des Herrn Jesu nur die sei, das Gericht eines zürnenden Gottes von uns abzuwenden. Die Liebe
des Vaters konnte aber, das ist wahr, nicht eher völlig gegen
uns ausströmen, bis das Werk des Sohnes für uns vollbracht
war. Es kam aber die Gabe des Sohnes aus der Liebe Gottes
hervor. „Hierin ist die Liebe: nicht, daß wir Gott geliebt
haben, sondern daß er uns geliebt, und seinen Sohn, als eine
Versöhnung für unsere Sünden gesandt hat."
Das Bewußtsein der Liebe des Vaters gegen uns, macht
unsere Herzen recht frei und glücklich und läßt uns Seine
Gemeinschaft genießen. Solange aber dieses Bewußtsein
nicht in uns verwirklicht ist, haben wir Furcht. Und wie
können wir diese Liebe preisen und verherrlichen, wenn wir
nicht überzeugt sind, daß sie reichlich vorhanden ist? Wir
suchen alsdann der Gemeinschaft mit dem Vater mehr auszuweichen, als daß wir sie zu genießen trachten. Unsere
Freude wird aber völlig sein, wenn wir verstehen, daß die
14!
Liebe in dem Herzen des Vaters, die Quelle aller Segnungen
ist, und daß sie selbst, durch die Gabe des Sohnes, Sorge getragen hat, um ihrer reichen Strömung gegen uns freien
Lauf zu lassen. Jetzt, nachdem die Gerechtigkeit Gottes
durch das Opfer Christi völlig befriedigt ist, steht Seiner
väterlichen Liebe und Zuneigung gegen uns nichts mehr im
Wege. Jede Sorge, jede Bemühung für uns hat diese überströmende Liebe zur Quelle.
Noch ein anderer Gedanke wird dann, wenn wir die vollkommene Liebe des Vaters gegen uns erkannt haben, sehr
köstlich und gesegnet für uns sein. — Ehe unser geliebter
Herr aus dieser Welt ging, vertraute Er uns Seinem Vater
an. Wir lesen Joh. 17, 11 und ferner: „Heiliger Vater! be -
wahr e si e in deinem Namen, in welchem du sie mir gegeben hast.. . Ich bitte nicht, daß du sie von der Welt wegnehmest, sondern , da ß d u si e vo r de m Böse n be -
wahre s t." So sind wir also jetzt unter die besondere Obhut des Vaters gestellt; und wenn unsere Herzen geistlich
genug sind, Seine Liebe zu erkennen und in Seiner Gemeinschaft voranzugehen, so werden wir überall der Fürsorge
Seiner Liebe begegnen. Gott wollte einen Gegenstand hienieden haben, gegen den Er als Vater die ganze Fülle Seiner
Liebe und Zuneigung ausströmen lassen konnte. Jesus war,
als Er auf dieser Erde wandelte, allei n dieser Gegenstand;
jetzt aber sind auch wir es, weil wir „angeneh m ge -
mach t sin d i n de m Geliebten. " Und der Vater hat
darin, daß wir Ihm von Seinem geliebten Sohn anvertraut
sind, sozusagen einen neuen Beweggrund für Seine Liebe
und Fürsorge gegen uns gefunden; und wie sehr muß dies
Bewußtsein unsere Herzen mit Freude und Trost erfüllen.
„Jetzt aber komme ich zu dir und rede dieses in der Welt,
damit sie meine Freude völlig in sich haben."
Weiter: .. . „Wer mich liebt, der wird von meinem Vater
geliebt werden; und ich werde ihn lieben und mich ihm offenbar machen" (Joh. 14, 21). — Hier sehen wir die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne, verbunden mit dem
Gehorsam, — eine weitere Freude über die Liebe des Vaters,
als Folge unseres Gehorsams. Der Gehorsam selbst aber muß
das Ergebnis der Liebe sein; denn nur dann führt sie in den
vollen Genu ß der Liebe des Vaters selbst ein. — War dies
nicht die praktische Seite der Liebe, in welcher Jesus Selbst
verharrte, als Er hienieden war; Er sagt: „Ic h hab e di e
Gebot e meine s Vater s gehalten , un d bleib e
i n seine r Liebe " (Joh. 15,10). Was ist dies anders, als
die einfache Versicherung, daß, wenn wir gleicherweise
durch die Kraft der Einheit mit Ihm also wandelten, wir die
142
volle Offenbarung dieser Liebe genießen würden. Aber
dann wird natürlich die Frage in der Seele entstehen, ob der
Ungehorsam diese Liebe hindert? — Dies eine glaube ich
gewiß, daß die Offenbarun g des Vaters und des Sohnes
in unserer Seele im Verhältnis zu unserem Gehorsam steht.
Die Verwirklichung unserer Einheit mit Jesu zur rechten
Hand Gottes wird den Gehorsam in uns wirken. Und dann
wird jeder Schritt, den wir tun, jede Handlung der Liebe,
jeder Ausdruck der Gnade in der Fürbitte für Andere, uns
zu der weiteren Offenbarung der Liebe des Vaters den Weg
öffnen. Die Seele wird durch Seine Liebe, womit Er uns so
überströmend geliebt hat, fortgedrängt, und in einen weiteren Genuß derselben eingeführt. Es ist eine Handlung der
Gnade Gottes, eine Seele zum Gehorsam vorwärt s z u
treiben , und eine andere Handlung derselben Gnade, ihr
auf dem Wege des Gehorsams z u begegne n und sie z u
segnen .
Wir sehen, daß die ganze Bürde der Gebote des Herrn
Jesu darin besteht, daß wi r un s untereinande r
lieben . Was ist aber der Charakter dieser Liebe, welche
wir gegeneinander offenbaren sollen? — Derselbe Charakter
den die Liebe Jesu offenbarte, — sich selbst zu verleugnen,
sich selbst hingeben, arm werden, um andere zu bereichern,
Dinge verlassen, nicht nur solche, welche verwerflich, sondern, wenn es sein muß, auch solche, die an und für sich
ganz unschuldig sind. Der glückliche und heilige Lauf eines
Christen besteht darin, in der Gemeinschaft Christi alle
Dinge mit Verleugnung seiner selbst zu verlassen, wenn er
dadurch Andern zum Heil, zur Stärkung und zum Gehorsam
dienen kann. Dies ist der Weg, auf welchem er immer mehr
das genießt, was auch Jesus genoß, — di e Lieb e de s
Vaters . Ihr werdet mich nicht mißverstehen, teure Brüder, wenn ich sage, daß der gesegnete Sohn Gottes hienieden
lernte, was Er, wenn ich so reden darf, nie so völlig hätte
lernen können, nämlich: di e Lieb e de s Vaters . Hienieden in den Umständen der Schwachheit und der Prüfungen und der Drangsale lernte Er sie praktisch in einer Weise,
wie Er es zur rechten Hand des Thrones Gottes nicht hätte
tun können. Und hier inmitten der Stürme und der Versuchungen des Lebens, sind auch wi r berufen, den eigentlichen Charakter der Liebe des Vaters zu lernen. — Gerade in
dem Tode, in der Angst des Herzens, und in der Hingabe
Seiner Selbst, lernte der Herr Jesus diese eigentümliche
Liebe des Vaters; und hier ist es auch allein, wo unsere
Seele, wenn wir durch die Gnade auf Seinem Wege geleitet
werden, die Eigentümlichkeit dieser Liebe, welche bei uns
143
bleibt, aus Erfahrung verstehen und kennen lernt. Wenn
wir uns selbst vergessen, wenn wir bereitwillig sind, schwach
zu sein, damit Andere stark werden, für Andere Schmach
zu tragen, für Andere zu sterben, dann ist der Weg eines
tieferen Verständnisses der Liebe Gottes für uns geöffnet;
doch können wir in allen unseren Versuchungen nur glücklich sein, wenn wir mit Christo darin sind.
Der Herr lasse uns, geliebte Brüder, die Fülle der Liebe
Gottes immer mehr verstehen, welche ist in Seinem Sohne,
und welche auch ewiglich bei uns bleiben wird.
(Übersetzt»
Einige Grundzüge der Geschichte Davids *)
Die Einfachheit des Glaubens erhält den David in der
Stellung der Pflicht und in der Zufriedenheit, ohne daß er
aus dieser Stellung herauszukommen begehrt, weil ihm Gottes Billigung genügt. Hier rechnet er, infolge davon, auf
Gottes Hilfe, als die ihm völlig sicher ist; er handelt nach
dem Glauben. Der Löwe und der Bär fallen unter seinem
Knabenarm. Waru m auch nicht, wenn Gott da war? In
gleicher Einfalt folgt er dem Saul; dann kehrt er mit derselben Zufriedenheit zur Besorgung seiner Schafe zurück.
Hier, im Verborgenen, hatte er durch den Glauben begriffen, daß Jehova mit Israel war; er hatte die Natur und
Kraft dieses Verhältnisses verstanden. Er sieht in dem Zustand Israels etwas, was diesem Verhältnis nicht entspricht;
aber für seine Person hält sein Glaube sich an Gottes Treue.
Ein unbeschnittener Philister fällt ebenso wie der Löwe. Er
dient dem Saul als Harfenspieler in derselben Einfalt wie
früher. Mag er nun bei Saul sein, oder mag dieser ihn als
Obersten über Tausend ausschicken: er legt die Probe seines
Wertes ab. Er unterwirft sich den Befehlen des Königs. Endlich vertreibt der König ihn; aber David ist immer in der
Stellung des Glaubens. Doch sind es nicht mehr Waffentatfn, sondern es ist die Unterscheidung dessen, was sich geziemt, als die geistliche Kraft in ihm, und das göttliche Ansehen äußerlich in anderen Händen war. David verfehlt sich
gegen diese Stellung nicht. Die Schwierigkeiten dienen nur
dazu, die ganze Schönheit der Gnade Gottes und die Früchte
des Werkes des Geistes Gottes desto mehr hervortreten zu
*) Aus den „Betrachtungen des göttlichen Wortes".
144
lassen, während sie zugleich auf ganz besondere Weise seine
geistigen Zuneigungen und innigen Beziehungen zu Gott, als
seiner einzigen Hilfsquelle, enthüllen. Dies ist es insbesondere, was zu den Psalmen Anlaß gegeben hat. Der Glaube
genügt, um durch alle Schwierigkeiten der ihm angehörenden Stellung hindurchzuschreiten, und hier ist es, wo derselbe alle seine Schönheit und Gnade entfaltet. Der Adel
des Charakters, den der Glaube dem Menschen verleiht, und
welcher der Wiederschein des Charakters Gottes ist, bringt
in den verhärtetsten Seelen, selbst in solchen, welche, nachdem sie Gott verlassen haben, von Ihm verlassen sind (ein
Zustand, wo die Sünde, der Eigennutz und die Verzweiflung
ihr Verhärtungswerk treiben), Gefühle natürlicher Zuneigung, Gewissensbisse hervor, die von einer Natur sind, welche erwacht unter dem Einfluß von etwas, was ihrer Bosheit überlegen ist, und was, da diese Natur nur augenblicklich und ohnmächtig ist, sein peinliches Licht auf die Finsternisse wirft, welche den unglücklichen Sünder umgeben,
welcher nichts von Gott will*). Weil der Glaube sich nahe
an Gott hält, um oberhalb des Bösen zu sein, entzieht er
selbst der Natur ihre Macht, obwohl die Natur selbst keine
hat, um sich zu beherrschen. Aber Gott ist mit dem Glauben; auch achtet der Glaube alles, was Gott achtet, und bekleidet den, welcher etwas von Ihm trägt, mit der Achtung,
welche dem, was Ihm angehört, und was an Ihn erinnert,
gebührt, mit der Zuneigung, die der Glaube auf alles überträgt, was von Gott ist, oder sich auf Ihn bezieht. Dies sieht
man immer in Jesu und überall da, wo Sein Geist Sich befindet, und dies ist es, was so viel Schönheit, solche Erhabenheit dem Glauben gibt, welcher sich mit dem Adel Gottes
adelt, indem er das anerkennt, was in Seinen Augen, und
wegen seiner Beziehung zu Ihm edel ist, was auch immer
die Ungerechtigkeit und der herabwürdigende Zustand derer, welche damit bekleidet sind, sein mag. Der Glaube handelt im Namen Gottes und offenbart Ihn inmitten der Umstände, anstatt von diesen beherrscht zu werden. Seine
Überlegenheit über Seine Umgebung ist augenscheinlich.
Welch eine Ruhe, ihn zu sehen, mitten unter dem Kot dieser
armen Welt! Jesus ist der vollkommene Ausdruck davon.
Aber, obwohl der Glaube in der Stellung, worin er uns in
dieser Welt versetzt, für alles, welchem wir hier begegnen,
genügt, — ach! die Gemeinschaft mit Gott ist nicht vollkom-
*) Dies tritt uns namentlich in der Gesinnung Sauls gegen
David entgegen als dieser oul clf.r Flucht ist, und jener ihn
veriolgt.
24 145
men in uns. Anstatt in allem, was es auch sei, unsere Pflicht
zu tun, ohne zu ermüden, weil ja Gott mit uns ist; und anstatt, wenn wir den Löwen getötet haben, bereit zu sein,
den Bären zu töten, und eben hierdurch noch mehr bereit,
uns des Goliath zu entledigen; — ermüdet die Natur von
den Kämpfen, wenn der Glaube durch die Siege gestärkt
sein sollte; wir treten aus der wahren Stellung des Glaubens heraus, um uns herabzuwürdigen und uns selbst zu
entehren. Welch ein Unterschied zwischen David, wie er,
durch die Gnade, das Herz Saulus weinend macht, indem er
die Kanäle seiner Zuneigung, für den Augenblick wenigstens, wieder öffnet, und zwischen dem David, welcher unfähig ist, seine Hand wider die, von ihm so oft geschlagenen
Philister zu erheben, und der sich noch rühmt, daß er bereit
ist, wider Israel und Saul, den er geschont hatte, zu kämpfen.
Meine Brüder! Halten wir uns in der Stellung des Glaubens, welche dem Anschein nach schwieriger ist, aber wo
Gott Sich befindet, und wo die Gnade, das einzige Köstliche
in dieser Welt, blüht, und das Herz mit tausend Banden der
Zuneigung an Gott knüpft, als Den, welcher uns erkannt,
und Sich zu unseren Bedürfnissen und zu den Seufzern unserer Herzen herabgelassen hat. Der Glaube gibt Energie;
der Glaube gibt Geduld, und oft entwickeln sich hier die
köstlichsten Neigungen; Neigungen — welche, wenn die
Energie des Glaubens uns auf der Erde dienen läßt, selbst
den Himmel glücklich machen, weil Er, welcher deren Gegenstand ist, Sich dort befindet, und ihn vor dem Vater ausfüllt.
Die Natur gibt uns Ungeduld über die äußern Umstände,
weil wir Gott nicht genug verwirklichen, und sie reißt uns
auf einen Boden fort, wo es unmöglich ist, Ihn zu verherrlichen. Andererseits ist es gut, zu bemerken, daß, nachdem
der Mensch vollständig gefehlt hat, als der Glaube Davids
selbst schwach geworden ist, und er sich unter die Philister
gestürzt hat, indem er sich von Israel entfernte, Gott ihm
das Königtum gegeben hat. Hoch über allen Fehlern ist die
Gnade. Gott muß Sich Selbst in denen verherrlichen, welche
Sein sind.
146
Gedanken über Psalm 1
Jesus, der Sohn des Menschen, ist hier in Seiner Heiligkeit und persönlichen Vollkommenheit vorgestellt; dann
aber auch in Seinen erlangten Segnungen: „Der ist wie ein
Baum, gepflanzt an Wasserbächen" (Jer. 17, 7. 8). Seine Segnungen bestanden zunächst in Seiner Auferstehung, aber
andere warten Seiner in Seinem Königreich oder in „dem
Gericht". Dort werden die Gerechten Seine Segnungen teilen,
während die Gottlosen nicht bestehen können.
Dieser Psalm ist sehr köstlich für das gläubige Herz. Wir
sehen hier, daß der gottselige Mensch einzig und allein der
Gegenstand der Sorgen und der Leitung Gottes ist. Nichts
zeigt sich hier, was die Ruhe und Sicherheit des Gerechten
stören könnte, welcher seinen Weg unaufhaltsam verfolgt,
um die Segnung zu erlangen. Und wie süß ist es, dieses
Buch in solcher Weise beginnen zu sehen, indem es unseren
Blicken den Anteil des gottseligen Menschen anweist, der in
der Gunst Gottes allein sein Glück findet. Möchten doch unsere Seelen mehr und mehr dieses Glück kennen, welches
ihre Kraft ist, um das Ziel zu erreichen!
Gedanken über Psalm 2
Hier fühlt man nicht mehr die milde Atmosphäre des
vorigen Psalms; sie ist gänzlich verschwunden, weil die Welt
in die Szene eintritt. Es ist nicht mehr die Vertraulichkeit
Gottes und des gottseligen Menschen. In diesem Psalm begegnet man dem heftigen Widerstand einer gottlosen und
verfolgenden Welt.
„Leiden und Herrlichkeit", — das ist es, was wir hier
haben: die Wut des Menschen gegen den Gesalbten Gottes,
und dann: die Weise, in welcher sich Gott erhebt und Seinen Gesalbten triumphieren läßt. — Jesus, der Christus oder
der Gesalbte Gottes, ist uns hier in Seiner Gnade und in
Seiner Macht vorgestellt; wir treffen hier die Nichtigkeit
der Anstrengungen derer, welche Ihm widerstreben, und
das Glück derer, welche sich zu Ihm begeben.
147
Der Bund der Nationen und ihrer Könige gegen Christum, wovon hier geredet ist, kam zur Ausführung als Jesus
gekreuzigt wurde (Apg. 4, 25. 26), und er wird gerichtet und
bestraft werden, wenn Er kommt und von Seinem Königreich Besitz nehmen wird (Luk. 19). Aber im Grunde existiert dieser Bund noch immer. Obwohl dem Gericht übergeben, aber durch eine Wirkung der Langmut Gottes aufgespart, handelt der Zeitlauf dieser Welt immer nach den
Wünschen und dem Verstand der alten Schlange, des Fürsten dieser Welt, der ein Lügner und Mörder ist von Anfang
(1. Mos. 3).
Dieser Bund möchte gern Gott entthronen; aber Der,
welcher in den Himmeln wohnt, lachet ihrer listigen Anschläge. Mit welcher Macht drückte dieses die Tat des Engels aus, indem er den Stein von der Tür des Grabes Jesu
wälzte und sich darauf setzend, den Schrecken und das Urteil des Todes in die Herzen derer warf, welche die Wache
hatten (Matth. 28,2.4). Was war dieses anders, als daß der
Herr im Bunde erklärte, daß Er ihrer lache? Allein es war
mehr als dieses. Der Ratschluß Gottes ist der große Gegenplan wider den der Gegner; und dieser Ratschluß, welcher
hier durch den Herrn Selbst geoffenbart wird, zeigt uns die
Eigenschaft des Sohnes und diejenige des Erben. Nun, als
Sohn Gottes ist Er bereits in Kraft erwiesen (Röm. 1, 4; Apg.
13, 30-39); was die Erbschaft betrifft, so wird sie Ihm bald
in der Herrlichkeit gegeben werden.
Wenn wir diese beiden Psalmen zusammen betrachten, so
zeigt uns der erste Jesum unter dem Gesetz, erprobt von
Gott und erwerbend den Segen durch Seine Gerechtigkeit;
in dem zweiten sehen wir Jesum als Zeugnis oder als Gesalbter dem Widerstand des Menschen ausgesetzt, aber durch
Gott erhoben, befestigt Er den Segen derer, welche Ihm angehören.
148
„Eins aber tue ich"
(Phil. 3)
Es gibt zwei Dinge, durch welche uns Gott mit Sich
Selbst verbindet und Sich in der Welt ein Zeugnis aufrichtet: da s Lebe n Christ i I N de r Seele , un d di e
Gegenwar t eine s verworfene n un d verherr -
lichte n Christu s VO R de r Seele . — Jedes wahrhaftige Zeugnis für Christum in einer Welt, die Ihn verworfen hat, und jeder wahrhaftige Dienst für Seinen Namen,—
d. i. die wirklich lebendige Kraft des Christentums in der
Welt — ruht auf diesem einfachen Grunde.
Dies sage ich nicht deshalb, weil es eine anerkannte
Wahrheit ist, sondern wegen des Bedürfnisses der gegenwärtigen Zeit, wo es für den Geist so erforderlich ist, von
den gesammelten menschlichen Gedanken, zu Gottes einfacher Kraft eines lebendigen Christentums zurückzukehren.—
„Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit", drückt
unendlich mehr aus, als eine Lehre oder ein Dogma. Es ist
der einfache Beweis einer lebenden und wirksamen Kraft in
unseren Herzen.
Nichts ist falscher in der Christenheit, als der Begriff
über „die Nachfolge Christi". Ein einziger Satz einer Epistel
lehrt in dieser Beziehung weit mehr, als ganze Werke von
„Kempis". — „Christus muß i n mi r leben" , wenn ich
w i e Christus oder fü r Christum leben will. Alles andere
ist beklagenswerte Nachahmerei; ja es ist noch mehr: Es ist
gleichsam, Christum vor der Welt lächerlich machen, durch
einen Versuch, Ihn darzustellen, während Sein wahrer Charakter und Seine Herrlichkeit unbekannt sind.
Denn was war Christus in Seinem moralischen Wandel
in dieser Welt? Und was ist Christus, als verachtet und verworfen von der Welt, und um in Herrlichkeit geoffenbart zu
werden? Ich spreche nicht von Seiner wirklichen Gottheit,
welche alle Orthodoxen zugeben, indem sie Seinem Opfer
die Wirksamkeit und den Wert ihrer himmlischen Hoffnungen zuschreiben. Aber die gesegnete Person Christi und
Seine Herrlichkeit haben einen anderen Anblick als dieses;
und Sein Kreuz hat eine andere Kraft. „Um ih n z u ken -
nen " offenbart uns das erste, und „durc h welche n
i c h de r Wel t gekreuzig t bin" , leitet zu dem anderen.
149
Aber was war die moralische Darstellung des Lebens
Christi auf der Erde? Es war ein Leben, in welchem jede
Handlung, jeder Beweggrund, jedes Gefühl und alle Liebe
völlig von oben, vom Himmel war, — ein Leben, welches das
völligste Gegenstück von all dem war, was von unten, von
dieser versunkenen und verdorbenen Welt ist. Ich spreche
nicht von der moralischen Erhabenheit des Charakters
Christi, welcher auch die Bewunderung der Ungläubigen
gewann, und wovon sie zu ihrer eigenen Verdammnis ausgesprochen haben, daß Er göttlich sei; sondern ich spreche von
dem Lebensbild in seinen Einzelheiten, welches die Evangelien von Seinem Alltagsleben entwerfen, wo Er als der Geliebte und von Gott Anerkannte, aber von der Welt Verachtete und Verworfene dasteht. Wie kann ich nun berufen
sein, dieses Leben darzustellen, und wie kann ich meinen
Platz mit Ihm in Beziehung zu der Welt einnehmen, wenn
ich nicht durch Seine Gnade Seine Stellung mit Ihm im
Himmel eingenommen habe? Und wie kann ich es, wenn
nicht alle Quellen des himmlischen Lebens und der himmlischen Gemeinschaft und des ewig bleibenden Friedens und
der wahren Freude mein sind?
Dies aber ist die wahrhaftige Kraft des Christentums;
und es ist das, was das volle Herz Christi Seinen Jüngern
entfaltet. — Verworfen von der Welt, hat Seine Liebe auch
sie als bleibendes Zeugnis für Gott in die Welt gestellt, während Er abwesend ist. — Er bereitet (Joh. 14) für sie eine
Heimat im Himmel, und sie sind Seiner Rückkunft versichert. Sie haben eine gewisse Erkenntnis des Vaters, welchen sie in Ihm gesehen und erkannt haben; sie haben eine
unbeschränkte Zuversicht, in Seinem Namen zu bitten, und
Seine eigene Liebe als Pfand für die Erfüllung jeglicher Verheißung. Die Gegenwart eines anderen Sachwalters, welcher
nicht so sehr die Kraft des Zeugnisses, als der Gefährte
ihrer Einsamkeit ist, offenbart ihnen die unaussprechliche
Tiefe der Einheit des Vaters mit dem Sohne und ihre eigene
lebendige Einigung mit Ihm, so daß hinfort ihr Leben mit
dem Seinigen eins ist: „Weil ich lebe, sollt auch ihr leben."
Und schließlich, obwohl dies nur ein schwaches Bächlein der
überströmenden Quelle ist, sagt Er ihnen, daß Seine Stelle
in der Welt nun die ihrige geworden sei; — aber inmitten
der Kälte, des Hasses und des Spottes der Welt, nicht ohne
„seinen Frieden" und die Gegenwart Seiner Liebe, um ihre
gehorsamen Herzen, während sie in die Welt, welche nicht
ihr Ruheort ist, gesandt sind, zu erfreuen.
Dies ist der kurze Inbegriff eines Christen-Laufes in der
Welt: „Wer da sagt, daß er in ihm bleibt, der ist schuldig,
selbst auch so zu wandeln, wie e r gewandelt hat." Mögen
150
unsere Herzen auf dem einzigen Wege, auf welchem es gelernt werden kann, ihre himmlische Kraft lernen! „Das
Reich Gottes besteht nicht in Worten, sondern in Kraft." Wer
irgendein Herz für Christum hat, kann das Bild des Apostels „Nachfolge Christi", wie es im dritten Kapitel des PhiHpper-Briefes entworfen ist, nur mit Bewunderung anstaunen. Aber in der Tat, nur wenige haben das Geheimnis
jener gesegneten Stellung, Seine Nachfolger zu werden, wie
er Christi, ergründet. — Vielleicht ist schon ein jeglicher
in einer gewissen Lebensperiode freiwillig ein Held gewesen; aber im Christentum, — ach! wie geneigt sind wir da,
Christo mehr durch Vorsätze, als in der Tat zu leben. Es
ist eine seltene Darstellung des Evangeliums, einen Menschen zu sehen, dem es völlig darum ging: „Ein s zu tun."
Laßt uns nicht nur die Beweggründe anschauen, welche
den Apostel leiteten, den Charakter und das Leben Christi
darzustellen; denn zu oft vermißt man, indem man bei diesen Beweggründen stehen bleibt, was der Geist in dem Apostel zu enthüllen beabsichtigte, welches augenscheinlich hier
nicht das Resultat, sondern die verborgene Quelle eines Lebens ist, welches eine unbegrenzte Heiligung zum Gegenstand hatte. Was er in seinem Laufe hingibt und welchen
Wert er auf gegenwärtige Dinge setzt, ist uns vorgestellt,
und seine zukünftige Erwartung ist ebenfalls zu finden; und
er konnte sagen: „Unser Wandel ist in den Himmeln", — was
viel gesagt ist, wenn die Kraft dieses Ausdrucks verstanden
wird. Er konnte ferner hinzufügen: „woher wir auch als
Heiland den Herrn Jesum Christum erwarten", — was den
heiligen und himmlischen Charakter seiner Hoffnung stempelte. Aber sein Schmerz war ungemildert, wenn er daran
dachte, daß „das Kreuz Christi" mit niedrigen Zwecken
„durch Irdischgesinntsein" verknüpft wurde.
Doch wie erreichte er diese Höhe, und was setzte oder
hielt diese himmlischen Sympathien in Bewegung? Es gibt
nur einen einfachen und unveränderlichen Beweggrund, sei
es im Anfang, sei es bei der Fortsetzung, oder sei es am
Schluß seines Laufes. Der Ausgang oder das Resultat ist so
einfach wie sein Anfang oder Ursprung. War Christus der
Anfang oder Ursprung seines Tuns, so war auch das Ende
desselben nur Christus.
Es war die Offenbarung Christi in seiner Seele, welche
ihn zuerst von der Welt, von sich selbst und von alledem,
was ihm Gewinn war, losmachte; und es war derselbe ungetrübte Anblick Christi, welcher ihn in einem unverlöschlichen Eifer der Liebe erhielt, um Ihm auf dem Pfade der
Verwerfung zu folgen, und sich in unermüdlichem Dienst,
inmitten einer gefühllosen und feindlichen Welt dem, was
151
Christo teuer war, zu widmen. Es war einzig und allein derselbe gesegnete Christus in Herrlichkeit, welcher die Zukunft seiner Seele erleuchtete, und welcher den Horizont
seiner ernsten und unfehlbaren Hoffnung erfüllte. „Unser/
Wandel ist in den Himmeln; von woher wir auch als Hei-!
land Jesum Christum erwarten", spricht von Dem, auf wel^
chen sein Auge gerichtet war. „Um ihn zu kennen", offerfbart den einfachen Strom des ersten und letzten Eifefs
seines Herzens, worin er ganz und gar versunken war. /
Aber ist dies der Christus, Den w i r kennen? Ist es dieselbe Sonne, welche die Tage der ernsten Arbeit Paulus Erwärmte, erfreute und erleuchtete, welche auch jetzt für uns
scheint? Oder glühte sie in den Tagen des Apostels in ihrem
Scheitelpunkt, während deren Strahlen durch die Länge der
Zeit uns jetzt nur schräg erreichen können? Oder sind unsere Herzen in der Welt alt geworden, und wollen sie uns in
ihrer schwachen und gelähmten Bewegung sagen, daß die
Zeit für sie vorüber sei, um unter ihrer zeugenden Glut Leben zu erwecken? Es ist dem nicht so; aber wir haben den
Scheitelpunkt, von wo Er noch immer Seine heißen Strahlen
sendet, verlassen, und sind in den Nebel, und die Dünste,
und die Feuchtigkeit der morastigen Ebenen hier unten hinabgesunken.
„Jesus Christus gestern und heute und in die Zeitalter
derselbe", ist eine Wahrheit, welche das Herz befestigen
kann, wenn alles ringsumher das Zeichen des Verfalls an
sich trägt, und alles, was den Namen Christi trägt, sich
schnell zu der Lauheit und der Verwerfung der Laodicäer
neigt. Christus will aber ein Zeugnis in der Welt haben, bis
Er wiederkommt. Und die Wahrheit, daß Elias ein Mensch
von gleicher Beschaffenheit war, wie wir, möge das einsam
hinschmachtende Herz zu dem Gott des Elias hinwenden,
trotz der Abtrünnigkeit Israels, der Gottlosigkeit Ahab's
und der Verderbnis Isabels.
Der Ausdruck: „kein Vertrauen auf Fleisch haben" ist der
leitende Zug in dem oben angeführten Kapitel, der bei unserer Nachfolge nicht übersehen werden darf. Es ist die
Rückseite der Denkmünze, welche auf der andern Seite die
Inschrift hat: „Unser Wandel ist in den Himmeln."
Nur die völlige Offenbarung eines gekreuzigten und verherrlichten Christus, eines Christus, den Seine Liebe von des
Himmels Herrlichkeit zu „des Todes Raub" für uns brachte;
eines Christus, den die Welt verworfen hatte, und der uns
nun vom Throne unseres Gottes nach oben zu Seiner Herrlichkeit winkt, kann diese Wirkung in uns hervorbringen:
„kein Vertrauen auf Fleisch zu haben"; und diese Offenbarung, wenn sie in der Seele wahr und klar ist, kann und
152
tut es allein. Gleicherweise entfernt sie die Forderungen
und Ansprüche eines selbstgerechten und sündigen Ichs.
Sie kann und muß es tun, weil „nicht ich lebe, sondern
Christus in mir lebt."
Es ist nicht die Welt, weder in ihrem Reichtum, noch in
ihrer Annehmlichkeit, noch in ihrem Ruhm oder ihrer Achtung, welche hier hervorragt. Sie ist eine von den Gedanken
des Apostels so entfernte Sache, die so gänzlich allen Halt,
welchen sie auf seine Neigungen hätte machen können, verloren, daß er bloß Tränen hat, wenn er jene erwähnt, die
sich einbildeten, daß sie einen Augenblick mit dem Kreuze
vereint werden könnten. Er fügt einem solchen Gedanken
die ernste Erklärung bei, „daß die, welche irdisch gesinnt
sind, die Feinde des Kreuzes Christi seien." Dieser Mehltau
der Christenheit, welcher sich beinahe auf alle, die jetzt den
Namen Christi tragen, so dicht gelegt hat, wurde von dem
Apostel nur als etwas erkannt, was im völligsten und tödlichsten Widerstand zu dem Kreuze war. Und sein entschiedenes Urteil darüber ist in dem kurzen Ausdruck enthalten:
„Ich bin der Welt gekreuzigt, und die Welt ist mir gekreuzigt."
Aber in diesem „kein Vertrauen auf Fleisch haben" liegt
alles, was das Fleisch nur als irgend einen Gewinn betrachten könnte, seien es die Dinge der Welt, Reichtum und Ehre,
oder sei es der Gottesdienst des Fleisches und was damit zusammen hängt; und dies alles hat er um Christi willen für
einen Verlust geachtet; ja alles, was er um Seinetwillen verloren hat, achtet er im Vergleich zu Seiner überschwenglichen Erkenntnis nur als einen Haufen Kot.
„Die Gerechtigkeit, welche aus Gott durch den Glauben
ist"; „die Gerechtigkeit, welche durch den Glauben an Christum kommt", setzt gänzlich die Selbstgerechtigkeit, oder
das, was vom Gesetz kommt, beiseite; und das „in ihm befunden zu werden", während die Macht der Auferstehung
Christi ihn durch ein Leben von Leiden hindurchführt, ist
der alleinige „Weg zu der Auferstehung aus den Toten."
Wenn er dem Tode Christi gleichgestellt zu sein wünscht, so
ist es, weil er darin den moralischen Pfad zur Herrlichkeit
sieht, wohin seine Seele eilt, wie der Laufende nach
seinem Ziel.
Sein Leben im einzelnen, inmitten solch sehnlicher
Wünsche, solcher Verachtung der Welt, solch himmlischer
Beweggründe, war in gewisser Beziehung gewöhnlich genug:
Es hatte bloß diesen Vorzug, daß die Welt in dem Maße, in
welchem seine Seele Himmel und Herrlichkeit, Christum,
besaß, auf ihn Verachtung, Spott und Verfolgung brachte.
153
„Bis auf die jetzige Stunde leiden wir sowohl Hunger als
Durst, und sind nackt, und leiden Backenstreiche und haben
keine bestimmte Wohnung, und bemühen uns, mit eigenen
Händen arbeitend. Werden wir geschmäht, — wir segnen;
verfolgt, — wir dulden; gelästert, — wir bitten. Wir sind
wie Auskehricht der Welt geworden, ein Auswurf aller bis
jetzt." Aber seufzte er deshalb, weil er so ganz von der Welt
ausgestoßen wurde? Nein; er hatte weder Zeit noch ein Herz
daran zu denken, ausgenommen, wenn schwankende Seelen,
die noch an der Welt hingen, es nötig hatten, ermahnt zu
werden, daß derjenige, welcher die Herrlichkeit des Himmels besitzt, durch der Welt Spott ging, und daß unser Gott
uns zu demselben Erbe „durch Herrlichkeit und Tugend"
berufen hat.
E i n Ziel hatte er vor Augen, eine n Gegenstand und
eine r allein begrenzte seinen Blick — „Unser Wandel ist in
den Himmeln, woher wir auch als Heiland Jesum Christum
erwarten" — und obgleich jeder Schritt ihn näher brachte,
so glaubte er doch noch nichts erreicht zu haben, solange
dieses noch vor ihm war.
Seine eigene, sowie der Versammlung Verwandtschaft
mit Christo hatte er völlig erkannt; der letzte Gegenstand,
für welchen Christus ihn ergriffen hatte, war jetzt unverrückt vor seinem Geist, und weder Glück noch Unglück
konnte ihn abhalten, demselben nachzujagen, bis er ihn ergriffen hatte. „Nicht, daß ich es schon ergriffen habe . . .
Eins aber tue ich, das, was hinter mir liegt, vergessend,
strebe ich, das vorgesteckte Ziel immer anschauend, hin zu
dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christo
Jesu." Aber ist er zufrieden, allei n in diesem feurigen
Laufe zu stehen? Nein! Er streckt seine freundliche Hand
zu denen aus, welche aus Schwachheit zurückbleiben, und
er ruft ihnen zu: Vorwärts! Vorwärts! „Werdet zusammen
meine Nachfolger, Brüder!" Und er wirft auch einen
schmerzlichen Blick auf die, welche in ihrem Lauf „durch
Irdischgesinntsein" eingehalten haben. Er weint über ihren
Zustand, und traurig spricht er die warnenden Worte aus:
„Sie sind die Feinde des Kreuzes Christi . . . ihr Ruhm ist
ihre Schande." Aber er kann sich selbst nicht aufhalten. Er
wischt die Tränen ab, welche, als er herniederblickt, seine
Augen durch Betrübnis verdunkelten; und indem er aufwärts- und vorwärtsschaut, wird sein Angesicht von der
herrlichen Hoffnung wieder glänzend, und er ruft aus: „Unser Wandel ist in den Himmeln, von woher wir auch als
Heiland den Herrn Jesum erwarten, der den Leib unserer
Niedrigkeit umgestalten wird, daß er dem Leib seiner Herr154
lichkeit gleichförmig sei, nach der Wirkung, womit er vermag, auch alle Dinge sich untertänig zu machen."
Geliebte Brüder in dem Herrn! Ist dies der einfache
Charakter des Christentums, zu dem wir uns bekennen? Ist
Christus so einzig und allein der Gegenstand unserer Seelen, daß wir durch Seine Kraft alles, woran wir uns hier gehängt haben, alles, was uns umstricken und uns vom Kreuze
wegziehen will, alle Pläne und Erwartungen, alle Furcht
oder Hoffnungen für die Zukunft fahren lassen können? Für
das Herz des Apostels war Christus alles . — O, möchte
die köstliche Gnade dieses Gottes, welche ihn von seiner
Mutter Leib abgesondert und durch Seine Gnade berufen
hat, indem es Ihm wohlgefiel, Seinen Sohn in ihm zu offenbaren, damit er Ihn unter den Nationen verkündigte; —
möchte diese köstliche Gnade Ihn auch uns zum einzigen
Gegenstand unserer Seelen machen, damit Er in unserem
Herzen völlig offenbart und wieder hergestellt werde. Leider
geht so oft das Maß unserer Gottseligkeit, das Lesen der
Schrift, unser Gebet, unsere Selbstverleugnung, nicht über
das eigene Ich, oder doch nicht über die Grenzen des Dienstes, welche sich das Herz für Christum vorgesetzt hat, hinaus. Diese Dinge sind zwar notwendig, um unseren christlichen Charakter zu behaupten, und das Herz zu bewahren,
daß es durch den Strom der Welt nicht fortgetrieben werde;
aber dies ist noch „kein Wandel in den Himmeln"; Christus
erfüllt nicht ganz und gar unsere Herzen; wir können nicht
mit dem Apostel sagen: „Eins aber tue ich!"
Es gibt eine Hand, welche jeden Flecken von unseren
verdunkelten Augen wegnehmen kann, um uns mit aufgedecktem Angesicht, wie in einem Spiegel, die Herrlichkeit
des Herrn schauen zu lassen, und um in dasselbe Bild von
Herrlichkeit zu Herrlichkeit verwandelt zu werden, als
durch den Herrn den Geist; — und dann, ja dann allein,
werden wir sagen können: „Ein s abe r tu e ich! "
(Übersetzt)
155
Trost in der Wüste
„Lasset uns den vor uns liegenden Wettlauf mit Ausharren laufen, von allem absehend auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens, welcher für die ihm
vorliegende Freude das Kreuz erduldete und der Schande
nicht achtete, und sitzt zur Rechten auf dem Throne
Gottes" (Hebr. 12, 2).
Die vielen Versuchungen dieses Lebens, die Leiden mannigfacher Art bewirken in unserer Seele ein starkes Bedürfnis nach Trost von oben, um auf dem so rauhen Weg
durch diese Wüste immer weiter fortwandeln zu können.
Und Er, der so überströmend nicht allein nach unseren Bedürfnissen, sondern nach der Fülle Seines allgütigen Herzens darreicht, gibt nicht nur das, was für den Augenblick
erhalten, lindern und befähigen kann, um weiter vorwärts
zu dringen, sondern Er verleiht auch neue Kraft und neues
Leben, wodurch wir unsere Pilgerreise mit größerer Freudigkeit und erneuertem Mut fortsetzen können. Gern
möchte ich hier einige Gedanken über den Segen des
Kampfes und der Leiden in dieser Wüste niederschreiben. —
1. Unser e Herze n werde n durc h dieselbe n
z u m Gehorsa m gebracht . — Eine aufrichtige Seele
wird immer besser verstehen lernen, daß die vielfachen
Segensbezeugungen des Herrn ihren Grund in Seiner Liebe
haben, und daß sie stets unserem besonderen Bedürfnis
hienieden in der Wüste entsprechen. Hier ist der Ort des
Kampfes und der Leiden. Und wir werden nie wieder Gelegenheit haben, Glauben, Liebe und Gehorsam i n Prü -
fungen zu beweisen, weil diese nicht dem Himmel angehören. Dort werden Liebe und Gehorsam ihren freien und
ungehinderten Lauf haben; aber hier gibt es fortwährend
etwas zu bekämpfen und zu besiegen. Darum ist es auch
die gegenwärtige Zeit, in welcher wir vor Engeln, Teufel
und Menschen beweisen können, daß eine solche Gesinnung
dem Herzen Gottes Freude bereitet, und daß gerade jetz t
ein stiller, friedlicher, heiliger und gerechter Wandel so
großen Wert in Seinen Augen hat, um so mehr, da demselben so vieles entgegen ist. —
2. Kamp f un d Leide n habe n de n Zweck , un s
i n tiefer e Bekanntschaf t mi t Got t einzu -
führen . — Nur in diesem Zeitraum unseres Lebens ist es
uns möglich mit der Barmherzigkeit, der Langmut, der
156
Liebe, der Fürsorge, dem Mitgefühl und der Bewahrung unseres Gottes in besonderer Weise vertraut zu werden. Wie
könnten wir dieses alles auch besser kennen lernen, als in
unseren mannigfachen Nöten? Denn wir wissen, daß wir
es im Himmel, wo nur Freude und Wonne herrscht, nicht
können; und daß es nur hier ist, wo Gott mit liebender
Sorgfalt und Barmherzigkeit in jedes Leiden, das uns trifft,
eingreift. — Seine süßen Trostworte, Sein Herz voll Mitleid
und Seine treue und segnende Hand erhalten, stärken und
tragen uns durch alles hindurch. Selbst in der Herrlichkeit
droben, wo eine ununterbrochene Glückseligkeit herrscht,
eine persönliche Vertrautheit mit der göttlichen Natur und
ihrem Wesen stattfinden wird, haben wir keine solche Gelegenheit, unseren Gott auf eine solch e Weise kennen zu
lernen. Diese Wüste allein mit ihren mannigfachen Versuchungen gibt uns diese kostbare Gelegenheit. Und ich
glaube fest, daß wir in der Freude des Himmels durch alle
Zeitalter hindurch mit Anbetung und Dankbarkeit des
Kampfes und der Leiden gedenken werden, die uns unseren
Gott in der Wüste so teuer machten. —
3. Durc h di e Leide n werde n wi r z u de r Ver -
wirklichun g de r Gesinnun g Gotte s imme r
meh r zubereitet . — In dieser Wüste allein haben wir
Gelegenheit, bei den Leiden Anderer Nachahmer unseres
Gottes zu sein, sowohl in Seiner herzlichen Güte und Seinem liebevollen Erbarmen, als auch in Seinem innigen Mitgefühl; hier allein in den schweren, zeitlichen Verhältnissen
haben wir Gelegenheit, unserem Gott in der Geduld, Milde
und Liebe gegen die Feinde nachzufolgen. Sollten wir, dies
wissend, nun wohl wünschen können, den Prüfungen zu
entgehen, und nicht vielmehr in dieser Zeit der Langmut,
Barmherzigkeit und Gnade Gottes stets nach einer innigeren Gemeinschaft mit Ihm trachten? — Ach! wie wenig erkennen wir noch die unsichtbare Kette, durch welche unser
Leben und Wandel hienieden mit der zukünftigen Herrlichkeit in Verbindung steht! —
4. Got t gib t Sic h un s imme r meh r un d meh r
i n de n Leide n z u erkennen . — Nur in den Trübsalen dieses Erdenlebens hat unser Gott die Freude, uns zu
trösten; nur hier vermag Er vor Engeln und Menschen diese
beglückenden, segensreichen Züge Seines Charakters zu enthüllen, welche sonst für immer verborgen blieben. Deshalb
können wir so getrost und guten Mutes in allen Versuchungen sein, weil diese unserem treuen Gott ja die kostbare
Gelegenheit geben, Sich in Seinem herrlichen Wesen an uns
mehr und mehr zu offenbaren, und durch welche Er unseren Herzen immer teurer wird. Es gereicht selbst den
157
Engeln zu größerer Wonne und Glückseligkeit, diesen
Schauplatz unaussprechlicher Segensbezeugungen zu sehen,
wodurch auch sie eine besondere Erkenntnis ihres herrlichen
Schöpfers erhalten, auf welche sie stets mit erneuerter Bewunderung, Anbetung und Entzücken hinblicken. Sie sind
aber nicht, gleich uns, in solchen Verhältnissen, durch welche
jene herrlichen Eigenschaften Gottes in lebendiger Erfahrung erkannt werden. — Gewiß aber erscheint unserem Gott
diese Zeit sehr wichtig; und wie wichtig würde sie uns erscheinen, wenn wir besser deren ganze Tragweite auf die
Zukunft verständen? Und selbst wie unbedeutend würden
wir unsere Leiden und Trübsale ansehen, wenn wir stets
daran dächten, was es dem Herzen unseres Gottes gekostet
haben muß, sechstausend Jahre lang diesem Ärgernis des
Satans durch die Menschen zuzusehen. Betrachten wir im
Glauben, was geschrieben steht, wie die Sünde vor der
Sündflut überhand nahm, wie dieselbe zuletzt zu einem
solchen schauderhaften Grad heranwuchs, daß Gott in Seinem Herzen darüber erzürnt wurde und die Welt vertilgte.
Dann wieder zu der Zeit des Ausgangs des Volkes Gottes
aus Ägypten bis zu dem Augenblick, wo sie den Jordan erreichten. Gott Selbst spricht hierüber: „Vierzig Jahre verdroß mich dieses Geschlecht" (Ps. 95,10). Und wiederum sagt
der Psalmist: „Wie oft empörten sie sich über ihn in der
Wüste und erzürnten sein Herz in der Einöde" (Kap. 78, 40).
Und als Jehova sie endlich nach Kanaan gebracht und ihnen
das gute Land zum Eigentum gegeben hatte, wie oft lesen
wir davon in den Propheten, in den Königen und in den
Psalmen, wie sie Jehova in dem Lande, das Er ihnen gegeben, „versuchten" , — „betrübten" , — „reiz -
ten " und „Ärgerni s gaben" , — bis Er Sich endlich
genötigt sah, sie hinauszustoßen? — Und als der Gesalbte,
der Heilige, zuletzt Selbst erschien, wieviel hat es da dem
Herzen des Vaters gekostet, Seinen Sohn zu opfern, Seinen
Geliebten, an welchem Er Sein Wohlgefallen hatte, hinzugeben, weil auf keine andere Weise Rettung für uns war?
— Und von dem Pflngstfest bis zu der heutigen Stunde ist
dem Heiligen Geist widerstrebt, Seinem segensreichen Wirken entgegengearbeitet und Sein Zeugnis verschmäht und
verworfen worden. Seit dem Sündenfall bis zu dem heutigen
Tag ist die Welt durch den Satan ein Schauplatz des Leidens für Gott, den Vater, Gott, den Sohn, und Gott, den
Heiligen Geist, geworden. — Ist es nicht wunderbar, daß
der allmächtige Gott, der Herr des Himmels und der Erde,
durch Geschöpfe wie wir, erfreut oder auch betrübt werden
kann? — Welche alles übersteigende Wahrheit, daß Er mit
dem Menschen, den Er aus dem Erdenklos gebildet hat, in
eine solche enge Verbindung treten wollte, daß Er leidet ,
158
wenn sie leiden, Sich freut , wenn es ihnen wohlgeht; und
daß Freude im Himmel ist (bei allen Engeln) über eine n
Sünder, der sich bekehrt (Luk. 15, 10). Lesen wir nicht, wie
Sein Herz froh ist, wenn wir weise vor Ihm wandeln? (Spr.
27,11) wie Er frohlockt, wenn wir Gutes reden? (Kap. 23,16)
wie unser Gebet Ihm wohlgefällt? (Kap. 15, 8) und wie unsere Lobpreisungen Ihn verherrlichen? (Ps. 50, 23). Ach! wie
wenig wissen wir von unserem herrlichen Gott; denn sonst
würde Er zu jeder Zeit in unserem Herzen sein, und in zunehmender Erkenntnis würden wir nur für Ihn leben. Was
auch dann unser Weg hienieden sein möchte, wieviel Dornen
und Unebenheiten sich auch auf demselben befinden würden — der Laut des teuren Vaternamens würde immer in
unseren Herzen innige Liebe hervorrufen. Doch wie wenig
verstehen selbst die Geistlichen und Geistreichen unter uns
von der Fülle, die in Ihm ist, durch welche wir nur befähigt
sind, des Apostels Ermahnung an die Philister ganz zu fassen und in unserem Leben zu verwirklichen: „Freuet euch
in dem Herrn allewege; und abermals sage ich: Freuet euch!"
5. Kamp f un d Leide n führe n z u de r Ver -
herrlichun g Seine s Namens . — Noch eine kurze
Zeit und alle Sünde, alle Traurigkeit, alles Leiden wird für
immer von der Erde verschwunden sein. Wir sind dann die
Gefährten Seines herrlichen Triumphs, nämlich dann, wenn
Er, das Haupt der Versammlung, das Loblied anstimmen
wird, wie von Ihm geschrieben steht: „Inmitten der Versammlung will ich dir lobsingen" (Hebr. 2,12). Dann werden
gewiß auch alle jene Beweise der errettenden, hilfreichen
und tröstenden Liebe, die wir während unseres Pilgerlebens
hienieden von Ihm erfahren haben, nicht vergessen sein. —
Ja, dann erst werden wir dieselben, in ihrer durch alle
Zeiten hinlaufenden Bedeutung, wahrhaft verstehen. Der
Anführer unseres Heils, welcher durch Leiden zur Vollkommenheit gebracht ist (Hebr. 2, 10), wird Seine Gelübde erfüllen (Ps. 116,14; 22,26). Die treue Liebe, welche Ihn durch
Seine ganze Pilgerschaft hienieden begleitete, wie wir in
vielen Psalmen lesen, ja alle die einzelnen Begebenheiten
in Seinem Wandel werden dann ganz besonders der Gegenstand Seines Ruhmes und Seines Dankes sein. Und wahrlich, die Versammlung kann für die unzähligen Gnadenbezeugungen, welche jedem einzelnen Glied zuteil geworden
sind, mit überströmender Freude und Wonne einstimmen.
Der Grund des Lobens und Dankens, welcher am meisten
im Wort Gottes erwähnt wird, — ich erinnere hier nur an
Ps. 22, 24. 25 — ist die Erhörung der Gebete in Leiden und
Kampf. Sicherlich können wir in jene Dank- und Loblieder
einstimmen, um Seinen und unseren Vater für alle Seine gna159
denreichen Führungen, deren wir uns hier in jedem Kampf
und in allen Leiden zu erfreuen hatten, zu preisen. Dort
werden wir eine Erinnerungsfähigkeit besitzen, gleich der
unseres verherrlichten Hauptes, wodurch es uns möglich
sein wird, alles klar in seinem Zusammenhang mit der Jetztzeit unter Anbetung, Lob und Preis zu betrachten; und vor
dem Herrn Jesu Christi niederfallend, werden wir mit tiefer
inniger Dankbarkeit Ihm unaufhörlich Lob und Preis darbringen — Ihm, der uns vom ewigen Tod errettet und Gott
dargebracht hat, sagend: „Du wurdest geschlachtet und hast
uns durch dein Blut Gott erkauft aus jedem Geschlecht und
Sprache und Volk und Nation" (Offb. 5, 9).
6. Zusamenhan g de s Kampfe s un d de r Lei -
d e n mi t de r zukünftige n Herrlichkeit . —
Wenn der Schmerzensmann, der den Leidenskelch bis zum
letzten Tropfen austrinken mußte (Jes. 53, 3), der tot war
und lebt (Offb. 2, 8), der Sich mit uns verlobte, als wir in
der Wüste waren — wenn Er uns, Seine Braut, geschmückt
für Ihn, den Gemahl, zu Sich nehmen wird, damit sie Seine
Freude teile und Mitgenossin Seiner Herrlichkeit sei, wie
sie jetzt Seine Gefährtin im Kampf und in Leiden ist —
alsdann wird Er uns in die himmlischen Wohnungen einführen, nicht als die Gemahlin des Königs , des Herrn ,
sondern als das Weib des Lammes . —
Uns allen ist der Ausdruck „Braut" bekannt. Wir verbinden damit Glück und Freude; aber wir wissen auch, daß
das Wort „Weib" eine weit vollkommenere Verbindung ausdrückt, eine solche, die durch vielfache, gemeinschaftliche
Prüfungen und in schweren Kämpfen in dieser Welt geknüpft wurde.— Was das Wort „Lamm " betrifft, so wissen wir, daß jeder Name von Jesu auch seine Bedeutung
hat, dessen Erklärung wir schon in der Bibelstelle, mit
welcher derselbe verbunden ist, selbst finden; und jeder
Name, welcher Ihm im Alten oder Neuen Testament gegeben ist, soll unserem Geist und unserem Herzen die Umstände, welche die verschiedenen Charakterzüge unseres
hochgelobten Emanuels enthüllen, tief einprägen. Und gewiß, es ist nicht ohne Ursache, daß der Name „Lamm " so
oft in dem Buch der Offenbarung vorkommt. „Das Lamm,
das geschlachtet ward", führt die ganze Kette der Leiden in
der Wüste an unserem Geiste vorüber, nämlich den ganzen
langen Kampf des Heiligen, den Martertod des sanften, demütigen und gehorsamen Menschensohnes. Ich glaube daher,
daß die Versammlung, das Weib des Lammes, diesen ihren
schönsten Namen deshalb empfangen hat, weil sie ein s
mit Dem ist, der verworfen ward, ein s mit Ihm in den
Leiden, den Prüfungen und der Schmach, aber auch ein s
160
mit Ihm in den Wünschen und Hoffnungen. Ich finde in der
Schrift keine Wahrheit, welche mehr geeignet wäre, uns zu
demütigen; aber auch keine, welche uns mehr zu ermuntern
und zu stärken vermöchte. —
7. Di e folgerecht e Beziehun g de s Kampfe s
u n d de r Leide n z u de r zukünftige n Herr -
lichkeit . — Wir alle wissen, daß unsere Erweckung aus
der Erkenntnis der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes, welche Er in Christo Jesu kundgetan hat, entspringt.
Während unserer ganzen Wallfahrt hienieden aber lernen
wir Ihn immer besser kennen; und kommen wir zu dem
Richterstuhl Christi, so finden wir, daß die Stellung in der
Herrlichkeit völlig derjenigen entspricht, welche wir hier
im Kampfe und in Leiden mit dem Vater und dem Sohne
verwirklicht haben. Der Herr aber allein kennt das Verborgene des Herzens; Er allein vermag die wahre und falsche
Ähnlichkeit mit dem Vater und dem Sohne zu unterscheiden; ja, Er kennt das, was an jenem Tage bestehen wird.
Dies erinnert uns daran, daß wir selbst nicht vor der Zeit
zu richten haben. — Der Sieg über das Temperament, den
Eigenwillen und die Begierden dient ebenso sehr dazu, das
Bild Gottes in uns zu verwirklichen, als der äußere Dienst
in der Darreichung der leiblichen Notdurft unter den Kindern Gottes, oder der Dienst am Wort des Lebens; weil das
eine wie das andere auf dieselbe Sache hinzielt, nämlich auf
eine größere Gleichförmigkeit mit Jesu, dem vollkommenen
Bilde des Vaters. Sei es nun, daß wir in unserem Kämmerlein für andere beten oder zu Gott flehen um mehr Kraft im
Kampf für uns selbst, sei es, daß wir mit unseren Familien
in verschiedener Weise, entweder als Dienende oder als Regierende, als Eltern oder als Kinder zu tun haben; sei es,
daß unsere Beschäftigungen zu Hause oder außerhalb demselben, im öffentlichen oder Privatleben sind, oder in welcher Weise wir auch immer zu wirken haben, — überall und
in allem kommt es stets darauf an, daß wir in unserem inwendigen Menschen nach dem Ebenbild des Herrn Jesu
Christi heranwachsen. Wenn dies der Fall ist, so werden
wir immer zu allem guten Wort und Werk, je nachdem wir
die Fähigkeit und auch die Gelegenheit dazu haben, bereit
sein. Und ist es Wahrheit, daß die verschiedenen Stellungen
in der Herrlichkeit dem Wesen nach de r Ähnlichkeit entsprechen werden, welche wir mit dem Vater und dem Sohne
hienieden verwirklicht haben, dann können wir auch leicht
daraus folgern, daß durch die ganze Ewigkeit hindurch eine
beseligende Erinnerung an unsere irdische Pilgerreise stattfinden wird, nämlich dort in der Herrlichkeit, wo jede Traurigkeit, jede Versuchung und Sünde für ewig verschwunden
sein wird. — (Übersetzt)
25 161
Einige Gedanken über Psalm 94
Bei dieser Betrachtung möchte ich besonders einen
Augenblick bei den Tröstungen Gottes in den Versuchungen
der Heiligen hienieden verweilen. — In Vers 11—13 lesen
wir: „...de r Herr kennet die Gedanken des Menschen, daß
sie eite l sind" (V. 11). Und dann: „Hei l dem Manne, den
du Herr züchtigst usw." (V. 12. 13).
Die Erhebung des Menschen ist Torheit, und ebenso all
sein Vornehmen. Seine „Gedanken" sind nicht geringer ,
als die Weisheit Gottes, sondern sie sind „ e i t e I." Alles ist,
vom Anfang bis zum Ende, in dem Herzen des Menschen
„Eitelkeit", und nichts anderes. Wie sich auch der Zustand
der Dinge um uns her gestalte, wie sehr diese auch geeignet
sein mögen, unsere Herzen mit Kummer zu erfüllen — Gott
urteilt, daß alles „eitel" ist. Jede Schutzwehr von Menschenhand bereitet, jede Kraftanstrengung und jeder noch so
scharf durchdachte Plan ist nur „Eitelkeit". Mag aber dem
Herrn auch alle s entgegenwirken, — Seine Gedanken,
welche Er bei Sich Selbst beschlossen hat, d. i. di e Ver -
herrlichun g Christ i un d unser e mi t Ihm ,
wird Er vollkommen erfüllen. Der Mensch aber hat diesen
Zweck Gottes nicht zu dem seinigen gemacht, deshalb müssen alle seine Gedanken und Pläne nur „Eitelkeit" sein. Der
Zweck Gottes aber wird erreicht werden. Mögen auch alle
Anstrengungen der Menschen dahin gerichtet sein, denselben zu verhindern — ihr Ende wird nichts anderes als
„Eitelkeit" sein.
Nehmet einen Menschen aus der Welt, den größten Gelehrten, oder den klügsten Staatsmann, gewiß, ein armer,
elender Heiliger ist weiser, und hat zur Ausführung seiner
Pläne mehr Sicherheit als jener; denn das Herz des einfachsten, schwächsten Heiligen läuft in demselben Gleis mit
Gott; und obgleich jener selbst keine Kraft hat, so ist doch
Gott seine Kraft.
In diesem Psalm finden wir zunächst den Aufruhr der
Feinde, und dann — was Gott darin getan hat. So ist es gewöhnlich mit den Heiligen in ihrer Trübsal; sie sehen das
Werk Satans zuerst, und dann — Gottes Hand, welche sie
segnet. Die Wirkung dieser Handlungen des Gottlosen für
uns ist gegenwärtig diese: „Hei l dem, den du, Herr,
züchtigst , und lehrest ihn aus deinem Gesetz; daß du
ihn ruhi g machst an dem bösen Tage, bis des Gottlosen
162
Grube gegraben ist." Diese Grube ist aber bis jetzt noch
nicht gegraben und der Thron der Ungerechtigkeit noch
nicht erniedrigt. — Wenn aber auch in der Züchtigung die
ganze Macht des Bösen gegen uns ist, so bleibt doch des
Herrn Absicht diese: „An dem bösen Tage uns Ruhe zu
geben."
Ich spreche nicht nur von den Leiden für Christum, wenn
wir um Seines Namens willen geschmäht werden, was ja
nur Freude, Triumph und Ruhm für uns ist, sondern von
jenen Dingen, welche geeignet sind, viel Bekümmernis in
uns zu erwecken, wenn wir sehen, daß wir unbeständig und
nachlässig in den Wegen des Herrn gewandelt haben. Und
dennoch heißt es: „Hei l dem Manne, den du, Herr, züch -
tigs t ! " Der Herr züchtigt uns nicht ohne eine bestimmte
Absicht. Wenn irgend eine Sünde oder eine Nachlässigkeit
im Wandel vorhanden ist, welche Züchtigung nach sich
zieht, so benutzt Er diese Gelegenheit der Zucht, um das
Übel des Herzens zu heilen. Er richtet nicht nur das Vergehen, sondern auch die Quelle, aus welcher dieses hervorkam. Hierdurch wird die Seele fähig gemacht, das Wort
Gottes in Kraft auf sich anzuwenden. Sie ist unterwiesen,
weshalb sie gezüchtigt ist; und nicht nur dies: sie ist auch
in die Gedanken des Herzens Gottes eingeweiht; sie erkennt
mehr von Seinem Charakter, „daß er sein Volk nicht verstoßen, noch sein Erbe verlassen wird" (V. 14). Was Gott für
uns wünscht, ist nicht nur, daß wir Vorrechte, sondern auch
daß wir mit Ih m Gemeinschaft haben. Durch diese Züchtigung aber wird das Herz mehr in die Nähe Gottes gebracht, und zugleich in der Gewißheit der Hoffnung gestärkt und befestigt.
Betrachten wir den Petrus, nachdem der Feind gesichtet
hatte, so sehen wir, daß er, obgleich sein Fall sehr demütigend und schmerzlich war, viel tiefe*-
in die Erkenntnis
Gottes und in das Gefühl seiner Abhängigkeit von Ihm eindrang. — Der Herr „macht unsere Seele ruhig am bösen
Tage" und zwar durch die Gemeinschaft mit Ihm — aber
nicht nur Gemeinschaft in der Freude, sondern auch in der
Heiligkeit. Die Umstände werden benutzt, um die Tür des
Herzens zu öffnen und Gott einzulassen. Und Gott ist der
Seele nahe, wenn Er inmitten der Umstände in Seiner Liebe
erkannt wird.
Der Herr züchtigt niemals, ohne irgendeine Veranlassung
dazu zu haben, und dennoch: „Hei l dem Manne, welchen
du, o Herr, züchtigst! " Das ist gewiß ein wunderbarer
Ausdruck! Ich sage nicht, daß ein Christ dies immer während der Züchtigung sagen kann, denn das Selbstgericht ist
oft mit Angst und Sorge verbunden; aber die Wirkungen
163
sind gesegnet. Was wir wünschen ist, daß alle unsere Gedanken und Wege und Handlungen des eigenen Willens hinweggetan sein möchten, und daß Gott alle s sei. — Jede
Züchtigung muß im Grundsatz den Charakter des Gerichts
in sich tragen; denn der Herr handelt mit Seinem Volke
nach Gerechtigkeit, — wie geschrieben steht: „Wenn ihr als
Vater de n anrufet, der ohn e Ansehe n der Person nach
eines jeglichen Werk richtet usw." (1. Petr. 1,17) —und nicht
nach dem unumschränkten Beichtum der göttlichen Gnade.
Gott erlaubt nichts in dem Herzen, was mit der Heiligkeit,
woran Er die Heiligen hat teilnehmen lassen, nicht übereinstimmend ist. Es ist in der Tat die gesegnetste Gnade
und Liebe des Vaters, welcher Sich so viele Mühe mit uns
gibt; doch ist dies nicht an und für sich der Charakter der
Züchtigung.
Was wir notwendig bedürfen, ist der Umgang des Herzens mit Gott — zu ruhen in Seiner Ruhe, obgleich alles um
uns her Verwirrung und Aufruhr ist. Wenn wir, umgeben
von Ungerechtigkeiten aller Art, Seinem Herzen nahe sind,
so werden wir auch Seine Tröstungen erfahren, wie geschrieben steht: „Wenn ich viel Bekümmernis habe in meinem Herzen so ergötzen deine Tröstungen meine Seele"
(V. 19). Unser Teil ist nicht nur die Reichtümer der Gnade
Gottes, sondern das Geheimnis des Herrn zu kennen, mit
Ihm in Seiner Heiligkeit innige Gemeinschaft zu haben.
Wie sehr auch immer die Umstände uns entgegen sein mögen, die Seele ruht immer glücklich und zufrieden in Ihm.
Wenn wir stets einen völligen und ungetrübten Frieden
und eine innige Gemeinschaft mit Gott und untereinander
hätten, wenn wir inmitten der Umstände und Versuchungen
von diesen nicht bewegt würden, so würden wir nicht nur
die Erkenntnis haben, daß alle Dinge in Christo unser sind,
sondern auch eine Bekanntschaft mit Gott Selbst, wie geschrieben steht: „...fruchtbringend in jedem guten Werk,
und wachsend in der Erkenntnis Gottes." — Möchte doch
Seine Gnade Ihm jeden Weg zu unseren Herzen öffnen.
(Übersetzt)
164
Moses in Ägypten und Moses in Midian
(Apg. 7, 20—36)
Jeder wahre Dienst ist mit dem Bewußtsein verbunden,
daß wir vo n Got t dari n erhalte n werden . Dasselbe finden wir auch i n de m vollkommene n
Diens t de s Herr n Jes u Christi . Wir lesen Jes.
42, 1: „Siehe meinen Knecht, welchen ich erhalte; meinen
Auserwählten, an welchem meine Seele Wohlgefallen hat."
Der große Charakterzug Seines Dienstes war, daß Er nimmer
aus Sich Selbst handelte. — „Ic h kan n nicht s vo n
m i r selbs t tun ; s o wi e ic h höre , richt e ich ;
und mein Gericht ist gerecht; denn ich suche nicht meinen
Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat"
(Joh. 5, 30). „Wenn ihr den Sohn des Menschen werdet erhöhet haben, dann werdet ihr erkennen, daß ich es bin,
u n d da ß ic h vo n mi r selbs t nicht s tue , son -
der n die s rede , so wi e mic h mei n Vate r ge -
lehr t hat . Un d de r mic h gesand t hat , de r is t
m i t mir ; de r Vate r ha t mic h nich t allei n ge -
lassen , den n ic h tu e allezeit , wa s ih m wohl -
gefälli g ist " (Joh. 8, 28. 29). — Sobald ein Knecht unabhängig handelt, handelt er aus sich selbst, und nicht in
seinem Charakter als Knecht.
Es ist nicht zu leugnen, daß wir in der gegenwärtigen
Zeit unter den Christen um uns her viele Wirksamkeit Anden; allein es ist auch ebenso gewiß, daß dabei der wahr e
Dienst Gottes oft mißverstanden wird. Ich bin aber überzeugt, daß es Gottes Absicht ist, sowohl das, was der natürliche Verstand und die natürliche Kraft des Menschen,
als auch das, was die Macht und Weisheit des Heiligen Geistes vermag, sehr bestimmt zu bezeichnen. Unsere Gabe als
Christ ist der Geist des Herrn — der Geist der Weisheit und
des Verstandes, der Geist der Besonnenheit und der Macht,
der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn — um
unsere Einsicht in der Furcht Gottes zu beleben.
Wen n wi r vo r Mensche n anstat t vo r Got t
leben , so wird stets Sorge und Unruhe in uns sein. Wir
mögen Verlangen haben, viele Dinge, welche in dem Wort
Gottes geschrieben stehen, zu tun, aber sie werden nicht in
ruhiger und seliger Freude getan; und wir werden nie ganz
vor Heuchelei bewahrt bleiben, wenn wir nicht vor Gott
leben. Dies Lebe n vo r Got t ist aber auch das beste
165
Heilmittel, um von dem Eigendünkel, wozu das Herz so
sehr geneigt ist, befreit zu werden.
Laßt uns jetzt die Geschichte Moses, des Knechtes Gottes,
ein wenig untersuchen, und wir werden über diesen Gegenstand reiche Belehrung für uns finden.
Moses ist ein ausgezeichnetes Vorbild auf den Herrn Jesum. — Und ich könnte hier beiläufig bemerken, daß beide
die einzigen Personen sind, welche in der Schrift erwähnt
werden, deren Lebenslauf wir von ihrer Geburt bis zur
Herrlichkeit verfolgen können.
Es ist beachtenswert, daß das Leben Mose in drei unterschiedene Perioden von je vierzig Jahren eingeteilt ist. •—
Die ersten vierzig Jahre brachte er in Ägypten als „Sohn
der Tochter Pharaos" zu, — die nächsten in der Wüste, die
Herden seines Schwiegervaters weidend. Dort auf dem
Berge Gottes hatte er ein Gesicht von der Herrlichkeit, welches ihm in Ägypten nicht offenbart werden konnte. — In
den letzten vierzig Jahren haben wir seinen schweren und
versuchungsreichen Lauf, welchen er als Knech t Gotte s
zu durchwandern hatte. Wir sehen, wieviel er von dem
Volke Israel erdulden mußte, indem er die Last dieses
Volkes trug.
Der erste Teil seines Lebens wurde also in Ägypten zugebracht. Stephanus sagt in dem oben angeführten Kapitel
der Apostelgeschichte V. 22: „Und Moses ward in aller Weisheit der Ägypter unterwiesen; er war aber mächtig in seinen Worten und Werken." Doch diese Weisheit der Ägypter
war nicht etwas, das Gott anerkennen konnte. Ohne Zweifel wußte Moses, daß Gott ihn als Befreier Seines Volkes
gebrauchen wollte; aber das, was er in Ägypten erworben
hatte, konnte des Herrn Volk nicht au s Ägypten befreien.
Die Eltern des Moses erkannten das Außergewöhnliche
ihres Kindes. Wir lesen Hebr. 11, 23: „Durch den Glauben
ward Moses, als er geboren war, drei Monate von seinen
Eltern verborgen, weil sie sahen, daß das Kind schön war;
und sie fürchteten sich nicht vor dem Gebot des Königs." —
Und Moses selbst verweigerte durc h de n Glauben ,
als er groß geworden war, Sohn der Tochter Pharaos zu
heißen, lieber wählend, mit dem Volke Gottes Ungemach zu
leiden, als die zeitliche Ergötzung der Sünde zu haben, indem er die Schmach Christi für größeren Reichtum hielt,
als die Schätze Ägyptens; denn er schaute auf die Belohnung hin" (V. 24-26).
„Als ihm aber eine Zeit von vierzig Jahren erfüllt war,
kam es in seinem Herzen auf, seine Brüder, die Söhne Israels, zu besuchen" (Apg. 7, 23). — Welche Bequemlichkeit und
Freude auch immer den Moses in dem Hause des Pharao
166
hätten erfreuen können — alles war ja sein, der Luxus und
die Annehmlichkeit des Hofes, die Schätze Ägyptens, — so
trauerte doch sein Herz über seine Brüder und schaute auf
ihren Druck. — „Und als er einen unrecht leiden sah, verteidigte er ihn, und rächte den Unterdrückten, und erschlug
den Ägypter (V. 24). Er war ,mächtig im Handeln', und zwar
zum Besten des Volkes Gottes; aber er handelte in der
Energi e de s Fleische s und nicht als von Got t
gesandt . Er dachte daran, als Mose s das Volk zu befreien. „Er meinte aber, daß seine Brüder verstehen würden,
daß Gott ihnen durch seine Hand Rettung gebe" (V. 25).
Aber nein, sie verstanden ihn nicht. Moses hatte eine andere Aufgabe zu lernen. Gott mußte ihn zuerst unterweisen,
daß Er Sich nur de r Macht und Kraft bedienen würde, die
von Ihm Selbst kam, und nicht der Macht und Weisheit
Ägyptens. Es gibt keine zwei Dinge von größerer Verschiedenheit, als wenn jemand in der Energie des Fleisches oder
wenn er in der Macht des Geistes handelt. In dem ersten
Fall gibt es bei dem Fehlschlagen unserer Anstrengungen
immer viel Widerwärtigkeit und Verdruß.
Als Moses vierzig Jahre, sozusagen in Untätigkeit in der
Wüste zugebracht hatte, sehen wir (2. Mos. 3), daß er auf die
Berufung Gottes: „S o geh e nu n hin , ic h wil l dic h
sende n " also antwortete: „We r bi n ICH , daß ich
zu Pharao gehe und führe die Kinder Israels aus Ägypten?"
— Als er von Gott gesandt werden sollte, da erfüllte ihn
ein tiefes Gefühl der Verantwortlichkeit, welche auf ihn gelegt wurde, und er erschrak davor. Früher, als er in der
Energie des Fleisches voranging, sah er sich bei den Widerwärtigkeiten, die ihm begegneten, bitter getäuscht, — jetz t
nachdem er seine Untüchtigkeit gelernt hatte, sagte er:
„W erbi n ICH? " — Und so ist es immer. Wenn ein Heiliger fühlt, daß er von Gott zu irgend einem Dienst gesandt
werden soll, so ist immer die tiefste Beugung des Geistes
da. Dies wird oft durch schmerzliche Züchtigungen in der
Seele hervorgebracht; aber das Ende der Erziehung Gottes
ist: alles Selbstvertrauen in der Seele zu brechen, so daß,
wenn zuletzt die also zubereitete Person im Dienste vorangeht, es mit dem Gefühl geschieht: „Werbi n ICH? " —
Ein großer Charakterzug des Fleisches aber ist die Abneigung gegen dies: „We r bi n ich? " Und diese Abneigung
ist durch den so langen Aufenthalt in Ägypten genährt worden. Gott aber muß in uns zuvor diese Beugung in Wahrheit erwecken, ehe Er uns in Seinem Dienst gebrauchen
kann. Der ausgebildetste Verstand, die menschliche Weisheit oder Kraft werden nie in irgend einer Weise im Dienst
Gottes standhalten.
167
„Und am folgenden Tage zeigte er sich ihnen, als sie sich
stritten, und trieb sie zum Frieden, sagend: Männer! ihr
seid Brüder; warum tut ihr einander Unrecht? — Der aber,
welcher dem Nächsten Unrecht tat, stieß ihn weg, sagend:
Wer hat dich zum Obersten und Richter über uns gestellt?
— Willst du mich töten, wie du gestern den Ägypter getötet
hast?" (V. 26. 28). — Er wurde gänzlich von jenen, welchen
er zu dienen suchte, mißverstanden. Als er der Mann des
Friedens sein wollte, da wurde Verachtung sein Lohn: „Wer
hat dich zum Obersten und Richter gestellt?"
Laßt uns dieses wohl beachten, geliebte Brüder. Moses
war in einem gewissen Sinne von der Gemeinschaft mit
Gott beseelt. Er wußte, was diese Gemeinschaft war; aber
er hatte noch nicht gelernt auf die Kraft und Weisheit
Ägyptens völlig zu verzichten. Doch wir werden nie in diesem Kampf überwinden, wenn wir auf unsere eigenen Kosten Kriegsdienste tun.
Mancher Heilige geht eine Zeitlang mehr oder weniger
in seiner natürlichen Kraft und in dem Eifer des Fleisches
voran. Er mag vielleicht die richtige n Dinge tun, aber
er tut sie nicht im Geiste der Abhängigkeit von Gott. Nach
und nach erschlafft seine Kraft; und er hat das Gefühl, als
ob er ganz unbrauchbar wäre, als ob Gott ihn nie wieder in
Seinem Dienste gebrauchen könne. Dies ist eine nützliche
Aufgabe, obgleich eine tiefe Demütigung für ihn. Der Herr
erzieht oft den Einzelnen in dieser Weise, um ihn später in
der Versammlung zu benutzen.
Ebenso war es mit Moses. — „Moses aber entfloh bei
diesem Worte und ward Fremdling im Lande Midian, wo
er zwei Söhne zeugte" (V. 29).
Diese ersten vierzig Jahre in dem Leben des Moses sind
vorübergegangen, wenig von Gott beachtet. Ohne Zweifel
würden wir, wenn der Mensch die Geschichte Moses geschrieben hätte, eine wundervolle Mitteilung über alles das,
was er in diesem Lande getan und gesagt, erhalten haben;
aber der Geist Gottes schweift darüber. Und warum, Geliebte? Weil die „Weisheit" Ägyptens „Torheit" bei Gott,
und die „Kraft" Ägyptens „Schwachheit" bei Gott ist.
Während der nächste n vierzig Jahre hat Moses Ägypten und Israel verlassen; und er war allein mit Gott. In der
Einsamkeit begegnet ihm (2. Mos. 3) Jehova auf Horeb, „dem
Berge Gottes." Und ich zweifle nicht, daß Horeb also genannt ist, weil es ein Platz war, wo sich Moses der Gemeinschaft Gottes erfreute, und wo er eine Aufgabe lernte, die
er nie in Ägypten gelernt haben würde, — Abhängig -
kei t vo n Gott . Im Verborgenen wurde er für alle jene
168
mächtigen Taten vorbereitet, welche er vor Pharao, Ägypten
und Israel ausführen sollte.
Gott lehrt Sein Volk vornehmlich in der Verborgenheit.
Unser geliebter Herr Jesus suchte auf dieser Erde zu
Seiner Stärkung mit Gott allein zu sein. Und dies ist auch
der Weg, auf welchem ein Heiliger seine Schwachheit und
Gottes Kraft kennenlernt. Er dringt ein in die Tiefen seines
eigene n Verderbens , aber auch in die Tiefen der
Gnad e Gottes . Er lernt sich selbst verleugnen — alle
Vernunftschlüsse und alle Höhe, die sich wider die Erkenntnis Gottes erhebt, zu unterwerfen. Er erprobt die Notwendigkeit des Kreuzes.
„Lange Zeit aber darnach starb der König von Ägypten.
Und die Kinder Israels seufzten über ihre Arbeit und
schrieen; und ihr Schreien über ihre Arbeit kam vor Gott.
Und Gott erhörte ihr Wehklagen und gedachte an seinen
Bund mit Abraham, Isaak und Jakob; und sah an die Kinder Israels, und erkannte es wohl" (2. Mos. 2, 23-25). „Die
Zeit der Verheißung" war endlich gekommen, und jetzt finden wir den Moses zubereite t und gesandt , um
Führer und Befreier Israels zu sein.
Ein Teil seiner Vorbereitung hatte vierzig Jahre gedauert, die er in der Einsamkeit zugebracht hatte — im Verborgenen in der Wüste von Gott erzogen. Jetzt aber war etwas
anderes nötig: di e Offenbarun g de r Herrlich -
kei t Gottes . — „Und als die vierzig Jahre erfüllt waren,
erschien ihm in der Wüste des Berges Sinai ein Engel des
Herrn in einer Feuerflamme eines Busches" (V. 30). Nie war
etwas derartiges in Ägypten gesehen worden; denn Ägypten
war nicht der Ort, wo Gott Seine großen Gesichte offenbarte. Die Wunder der Natur waren dort zu finden, z. B. in
dem periodischen Austreten des Flusses und dergleichen;
aber hier war etwas, was Moses während seiner Erziehung
in der ägyptischen Weisheit, nicht gesehen hatte. — „Als
aber Moses es sah, verwunderte er sich des Gesichts" (V. 31),
—• „der Busch brannte mit Feuer, und ward nicht verzehrt."
— Erst dann, wenn die Weisheit Gottes in unserem Herzen
ist, verstehen wir, w;arum der Busch von dieser Flamme
nicht verzehrt wurde. Dieselbe Herrlichkeit aber wurde in
der Feuersäule gesehen, welche das Volk Israel durch die
Wüste geleitete; und sie wird wiederum gesehen werden,
wenn der Herr in einer Feuerflamme offenbart werden
wird, um Seine Widersacher zu zerstören.
„Als aber Moses hinzutrat, es zu betrachten, geschah eine
Stimme vom Herrn zu ihm: Ich bin der Gott deiner Väter,
der Gott Abrahams, und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs" (V. 31. 32). — Wir mögen nun den Menschen von die169
sem Gesicht erzählen; allein sie werden uns nicht glauben.
Nie kann durch einen ägyptischen Mund so etwas ausgesprochen, noch durch ein ägyptisches Ohr verstanden werden; wir müssen mit Augensalbe gesalbt sein, um es zu
sehen. Es geht über alle menschlichen Begriffe; und dies
eben beweist uns, daß die menschliche Weisheit zu tadeln ist.
In dem armen, schwachen und wertlosen Busch, in dessen Mitte das Feuer brannte, ohne ihn zu verzehren, haben
wir ein Sinnbild von dem, was — obgleich schwach und unvollkommen in sich selbst — dennoch mit der Herrlichkeit
Gottes umgeben ist, nämlich die Versammlung . Und
was Mose s lernte, war dieses: daß es Gottes Absicht war,
Israel mit Seiner Eigenen Herrlichkeit zu umgeben. Woher
kommt es aber, sowohl was Israel, als auch was die Versammlung betrifft, daß sie von dieser Herrlichkeit nicht
verzehrt werden? Das Heil , welches Gott bereitet hat,
umgibt beide und erhält sie.
Solange jemand die Sicherheit der Versammlung nicht
kennt — wie köstlich sie vor Gott ist, und daß nichts wider
sie etwas vermag — ist er nicht fähig, ein Knecht Gottes
darin zu sein. Gott hat Sein gnadenreiches Heil für sie als
Bollwerk und Schutzwache bestimmt. —
Welch eine wunderbare Sache, daß sich auf dieser Erde
ein kleiner schwacher Busch, wie es ja die Versammlung ist,
befindet, welcher alle s entgegen ist, und doch nichts imstande ist, etwas dawider zu vermögen! Gott hat sie mit
Seiner Eigenen Heiligkeit eins gemacht. Und dies ist eine
tiefe und wichtige Wahrheit. Wie würde sie anders bestehen können, da ja „unse r Got t ei n verzehren -
d e s Feue r ist? " — Und dieser Charakter Gottes ändert
sich nicht; deshalb erlaubt Er auch nicht, daß irgend eine
Sünde, verbunden mit der Versammlung, vor Ihn kommt.
Er hat sie an dem Kreuze gerichtet. Das Urteil ist nicht
allein darüber ausgesprochen, sondern auch vollzogen worden. Wenn die Kraft des Kreuzes wirklich verstanden ist,
so finden wir, daß gerade dieselbe Heiligkeit Gottes, welche
gesehen wird, die Bürgschaft für die Sicherheit der Versammlung ist.
Der Herr sagte zu Moses: „Löse die Sandalen von deinen
Füßen, denn die Stätte, worauf du stehst, ist heiliges Land"
(V. 33). — Wir sind durch die Gnade an den Ort der Heiligkeit gebracht und erfreuen uns derselben. Hier lernt die
Seele in Wahrheit verstehen, was die Sünde ist; sie sieht
nicht nur ihr eigenes Nichts, sondern auch ihre Empörung
gegen Gott. Hier lernt sie verstehen, daß es Errettung durch
Gnade vom Ersten bis zum Letzten sein muß. Und sobald
wir von der Welt errettet sind, werden wir an diesen Ort
170
der Heiligkeit gebracht, und Gott handelt jetzt in diesem
Charakter mit uns. Der Zweck Seiner Züchtigung und Bestrafung ist, „seiner Heiligkeit" teilhaftig zu werden. Er
wünscht, daß wir Ihm so nahe im Geist sein möchten, als
wir es auch unserem Haupte sind.
Was mögen die Gedanken des Moses in Betreff der Herrlichkeit Gottes gewesen sein, als er sich seitwärts wandte,
um dies „große Gesicht" zu sehen? Und was würden die unseren in Betreff der Welt sein, wenn das Auge immer fest
auf die Herrlichkeit Gottes gerichtet bliebe? Als Moses in
die Einsamkeit versetzt war, die Herde in der Wüste zu
weiden, da mag wohl einige Sehnsucht nach der Herrlichkeit Ägyptens gewesen sein; aber dies wird aufgehört haben, nachdem er diese Offenbarung von der Herrlichkeit
Gottes gemacht hatte — „des Gottes Abrahams, des Gottes
Isaaks und des Gottes Jakobs." Ebenso ist es mit uns. Wenn
wir von der wahren Herrlichkeit der Versammlung erfüllt
sind, so sind wir fähig, auf die Herrlichkeit Ägyptens zu
schauen, und sie zu verachten, indem wir uns von derselben
wie auch von der Macht und Weisheit Ägyptens entwöhnt
fühlen. Aber wenn unsere Seelen nur auf ihre eigenen
Schwächen schauen, so werden wir sehr bald versucht werden, uns nach Ägypten und nach seinen Schätzen umzuschauen. Laßt uns auch das Folgende wohl beachten:
„Sehend habe ich gesehen die Mißhandlung meines Volkes
in Ägypten, und habe ihr Seufzen gehört, und bin herabgekommen, sie herauszureißen; — und nun komm', ich werde
dich nach Ägypten senden. Diesen Moses, den sie verleugneten, sagend: Wer hat dich zum Obersten und Richter bestellt? — Diesen hat Gott zum Obersten und Richter gesandt durch die Hand des Engels, der ihm in dem Busch erschien" (V. 34. 35). — Zuerst mußte Gott den Moses aus
Ägypten bringen; denn Ägypten war nicht der Ort, um ihm
solche Mitteilungen zu machen. Lesen wir z. B. die Geschichte des Abraham, so finden wir, daß sein Aufenthalt in
Ägypten kein Segen für ihn war. Er hatte dort keinen Altar. Und ebenso ist auch unsere gesegnete Gemeinschaft mit
dem Herrn unterbrochen, wenn wir in die Welt gehen, d- h.
wenn unsere Herzen in den Dingen dieser Welt leben.
Was nun Gott zuerst dem Moses offenbart, ist Sei n
Name : „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs" (2. Mos. 3, 6). —
Dann offenbart Er ihm Sein e Gnade : „Sehend habe ich
gesehen die Mißhandlungen meines Volkes usw." (V. 7). Wie
köstlich ist es, versichert zu sein, daß keine Sorge, keine
Last auf dem Volke Gottes liegt, die Er nicht völlig kennt.
Und endlich erteilt ihm Gott Seine n Auftrag : „So
171
gehe nun hin; ich will dich zu Pharao senden, daß du mein
Volk, die Kinder Israels, aus Ägypten führest" (V. 10).
Moses aber sagt zu Gott: „Wer bin ich , daß ich zu Pharao gehe, und führe die Kinder Israel aus Ägypten?" (V. 11).
Nachdem er mit entblößten Füßen in der Gegenwart Gottes
angebetet hatte, erschrak er über das, was Gott jetzt auf
seine Schulter legen wollte, obgleich er vierzig Jahre vorher,
mit wildem Eifer einen ähnlichen Dienst ausführen wollte.
Es ist aber auch stets eine feierliche Sache, mit dem Volke
Gottes zu tun zu haben. Wir treten dadurch in eine Verantwortlichkeit, unter deren Gewicht wir zusammensinken
würden, wenn sie uns selbst überlassen wäre. Dennoch ist
es nötig, sowohl den Wert dieses Volkes in den Augen Gottes zu erkennen, als auch unsere Verantwortlichkeit in dem
Dienst selbst zu fühlen; doch in dem Bewußtsein, daß es
eine Verantwortlichkeit nicht unter dem Gesetz, sondern
unter der Gnade ist.
Moses wußte, daß er, wenn er Israel freimachen sollte,
viel Schimpf und Schande zu erwarten hatte. Daher auch
dieses Zögern, welches er anwandte. Ebenso ist es in Betreff
des Dienstes in der Versammlung. Wenn Paulus „ein auserwähltes Gefäß sein sollte, um seinen Namen vor Nationen
und Königen und Söhnen Israels zu tragen", so fügt der
Herr, der dies dem Ananias offenbarte, hinzu: „Ich werde
ihm zeigen, wieviel er um meines Namens willen leide n
muß" (Apg. 9, 15. 16). Und was war die nachherige Erfahrung des Paulus? Er selbst sagt: „Ich habe Wohlgefallen an
Schmähungen, an Schwachheiten, an Nöten, an Verfolgungen, Drangsalen für Christum" (2. Kor. 12, 10). Und wiederum: „Ich will aber sehr gern für eure Seelen alles verwenden, wenn ich auch, je mehr ich euch liebe, um so weniger geliebt werde" (V. 15). Paulus befand sich auf dem
Wege der Verleugnung vom Anfang bis zum Ende. Er ging
in seinem Dienst nicht in der Energie des Fleisches vorwärts, sondern als einer der wohl wußte, daß es nötig war,
bis ans Ende auszuharren .
Wie oft denkt ein junger Christ: „Ich will diesem oder
jenem von der Liebe des Herrn erzählen, und er wird mir
glauben"; oder: „Ich will den Christen die Vollkommenheit
der Versammlung, die himmlische Berufung der Heiligen,
die Ankunft des Herrn usw. verkündigen, und sie werden
es annehmen." Doch wie bald sieht er sich getäuscht. Wir
haben nötig zu lernen, daß wir nicht alles nach eigenem
Gutdünken vor uns hertragen können. Wo aber die meiste
Überzeugung von der Sendun g Gotte s ist, da ist auch
immer die tiefst e Demut . Wenn Paulus von seinem
schwierigen Dienst spricht, so sagi er: „Ich habe mehr ge172
arbeitet, denn sie alle; doc h nich t ich , sonder n di e
Gnad e Gottes , welch e mi t mi r w a r."
Die Zubereitung zu dem wahren Dienst geschieht, wie
wir gesehen haben, in dem verborgenen Umgang mit Gott.
In Seiner Gemeinschaft lernen wir verstehen, was wir sind.
Es ist für uns nötig, ruhig zu den Füßen des Herrn zu sitzen,
um von Seinen Lippen unsere Erkenntnis der Gnade und
Wahrheit zu nehmen. Die Kraft des Dienstes wird nicht in
dem Dienst selbst erlangt, sondern in dem Umgang mit Gott.
In der Verborgenheit mit Ihm muß zuerst die Schlacht geliefert werden. Unseren Dienst können wir aber auch nur
als Anbeter verrichten. Diese Stellung wird das Gefühl unserer Verantwortlichkeit gegen Gott wach erhalten; und sie
gerade ist es, worin wir für uns und andere Segen finden.
Der Dienst vor Gott ist aber auch ein großes Vorrecht für
uns. Wir sind gesegnet, wenn wir Seine Kraft erkennen,
wenn wir im Geist und in der Wahrheit zu dienen verstehen, wenn wir stets in dem Gefühl unseres Nichts, und
daß alles Sein ist, darin einhergehen. Die wahre Stellung
des Knechtes ist, sich selbst zu verbergen und Gott allezeit
zum Vorschein kommen zu lassen. Dies charakterisierte den
Dienst des vollkommene n Knechtes; ohne welches
aber auch die glänzendste Tat kein Dienst ist.
Der Gott aller Gnade aber wolle uns stärken, gründen
und befestigen und uns durch Seinen Geist fähig machen,
in seliger und ruhiger Freude in diesem heiligen Dienst vorwärts zu gehen. Er bedarf unserer zwar nicht; doch wir sind
gesegnet, wenn Er an unserem Leib und Geist, welche Sein
sind, verherrlicht wird.
Haltet es für lauter Freude, meine Brüder, wenn ihr
in mannigfache Versuchungen geratet, wissend, daß
die Bewährung eures Glaubens Ausharren bewirkt
(Jak. 1, 2)
Ehe wir dieses ebenso köstliche als wunderbare Trostwort näher betrachten, geliebte Brüder, ist es gut, daß wir
den Charakter dieser mannigfache n Versuchun -
gen , wovon der Apostel Jakobus hier redet, verstehen. Wir
lesen im 14. Vers desselben Kapitels: „Jeglicher aber wird
versucht, wenn er von seiner eigenen Lust fortgezogen und
173
gelockt wird usw.". Auch hier ist von Versuchungen die
Rede, und doch tragen diese einen ganz anderen Charakter.
Jenen begegnen wir dann am meisten, wenn wir in Christo
Jesu gottselig leben wollen. Diese aber sind dann besonders
wirksam, wenn jene mehr oder weniger aufgehört haben,
uns zu begegnen. Jene waren bei der Versammlung zu der
Zeit reichlich vorhanden, als sie in ihrer ersten Liebe, getrennt von der Welt und in der Erwartung ihres geliebten
Herrn, wandelte, — deshalb reden auch die Briefe der Apostel so oft hiervon; — von diesen aber spricht man soviel in
der jetzigen Zeit, wo die Christen in so mannigfacher Beziehung weltlich geworden sind; ja die meisten von ihnen
kennen kaum eine andere Versuchung, als die, „wenn sie
von ihrer eigenen Lust fortgezogen und gelockt werden." •—
Unter dem oben angeführten Wort „mannigfache Versuchungen", versteht der Apostel also vornehmlich solche Versuchungen, die sich auf unserem Wege durch diese Wüste
uns entgegenstellen — Leiden und Trübsale aller Art,
Schmach und Verfolgung, schwierige Lagen, worin wir uns
befinden, oder welche uns bevorstehen, Versuchungen in unserem äußeren Stand oder Beruf — mit einem Wort alles,
gering und groß, was uns als Christen Unangenehmes oder
Schwieriges auf unserem Pilgerlauf hienieden begegnet.
Durch diese Versuchungen ging auch Jesus, als Er in Seiner
Niedrigkeit auf dieser Erde wandelte, wo Er Sich Selbst zu
nichts machte, und Gott durch einen vollkommenen Gehorsam verherrlichte; aber die Worte: „Jeglicher wird versucht,
wenn er von seiner eigenen Lust fortgezogen und gelockt
wird", finden auf Ihn kein e Anwendung. Der Apostel
sagt Hebr. 4, 15 von Ihm: „...de r in allem gleichwie wir
versucht worden ist, ausgenommen die Sünde." Auch Paulus
und die übrigen Apostel hatten viele Versuchungen dieser
Art zu erdulden (Röm. 8, 36; 1. Kor. 15, 30-32; 2. Kor. 1,8. 9;
11,23-26; Phil. 2,17; Apg. 12, 4; 16, 22-24 usw.). Ebenso finden
wir die Versammlungen zu Philippi, Thessalonich usw. in
vielen und schweren Drangsalen. Wir lesen von den Hebräern: „Erinnert euch der vorigen Tage, in welchen ihr,
erleuchtet geworden, einen große n Kamp f de r Lei -
d e n ausgehalte t hab t " (Hebr. 10, 32-34).
Dies wird genügen, um den Charakter der mannigfachen
Versuchungen, wovon der Apostel Jakobus in obiger Stelle
redet, zu verstehen. Allein es könnte sich uns hier leicht die
Frage aufdrängen: Wie ist es möglich, es für lauter Freude
zu halten, wenn wir in diese mannigfachen Versuchungen
geraten? Dieses ein wenig näher zu untersuchen ist der
Zweck dieser Zeilen.
Haben wir unsere Stellung in dieser Welt wirklich ver174
standen, so erkennen wir, daß wir, gleich Israel in der Wüste
sind. Wir haben Ägypten, d. i. die Welt verlassen, und unsere Füße haben den dornenvollen Weg nach dem himmlischen Kanaan betreten. Wir haben den Wert und die Kraft
des Blutes Christi, des Lammes Gottes, welches alle unsere
Sünden getilgt, und die Gerechtigkeit Gottes in Betreff unserer völlig befriedigt hat, erfahren; wir haben das Rote
Meer durchschritten, indem die Kraft des Todes und der
Auferstehung Christi in uns verwirklicht worden ist. Jetzt
sind wir in der Wüste. Obgleich wir durch den Glauben
schon in das himmlische Kanaan in Christo mitversetzt sind,
so bleibt es dennoch wahr, daß wir hienieden in der Wüste
sind, wo wir Versuchungen aller Art zu erdulden haben. Wir
sind hier Fremdlinge, und nirgends ist für uns eine bleibende Stadt; aber wir wissen, daß wir Hausgenossen Gottes
sind, deren Vaterhaus droben ist. Wir sind Sein Volk, und
werden nach dem Wert und der Kraft des Blutes Christi in
Gnade, Langmut und Liebe von Ihm getragen und geleitet.
Es ist uns bekannt, wieviel Schwierigkeiten und Kämpfe
dem Volke Israel auf seinem Wege durch die Wüste begegneten, und wie traurig es sich in all den Versuchungen benommen hat, indem es stets Mißtrauen und Unglauben
gegen seinen Gott an den Tag legte. Wir sehen aber auch,
welch große Zahl Ägypten verließ, das Rote Meer durchschritt und in der Wüste mit großer Geduld und Langmut
von Jehova getragen wurde, und wie doch so wenige von
den Ausgezogenen das verheißene Land wirklich erreichten.
Dies zeigt uns die Verantwortlichkeit des Volkes Gottes;
Israel verantwortlich nach dem Gesetz und wir nach der
Gnade. Also auch auf uns liegt eine Verantwortlichkeit,
und nicht umsonst stellt uns der Apostel in 1. Kor. 10 das
traurige Verhalten dieses Volkes, als ein warnendes Beispiel
vor unsere Augen, und sagt uns in Hebr. 3, 19, daß jene
wege n Unglaube n nicht hätten eingehen können. Dies
Volk hielt die mannigfachen Versuchungen nicht für lauter
Freude, sondern vielmehr für Traurigkeit.
Laßt es uns aber auch verstehen, geliebte Brüder, daß
uns in Christo eine viel größere Errettung zuteil geworden
ist, und daß deshalb der Apostel sagt: „Wie aber wollen wir
entfliehen, wenn wir eine so große Errettung vernachlässigen!" (Hebr. 2, 3) und daß der ernste Zuruf an die Hebräer
auch uns gilt: „daß niemand von der Gnade Gottes zurückbleibe" (Kap. 12, 15). Doch wie ermunternd und Zuversicht
erweckend ist es, was wir in Hebr. 10, 19-22 lesen: „Da wir
denn, Brüder, zum Eintritt in das Heiligtum Freimütigkeit
haben, durch das Blut Jesu, auf einem neuen und lebendigen Wege, welchen er uns eingeweiht hat, durch den Vor175
hang, das ist sein Fleisch, und einen großen Priester über
das Haus Gottes, so laßt uns hinzutreten mit wahrhaftigem
Herzen, in voller Gewißheit des Glaubens, besprengt an den
Herzen (und also gereinigt) vom bösen Gewissen, und gewaschen am Leibe mit reinem Wasser." — Wir haben einen
großen Hohenpriester, der mit Seinem Eigenen Blut ein für
alle Mal in das Heiligtum, den Himmel, eingegangen ist, um
für uns vor Gott zu erscheinen, um uns kraft Seines Blutes
allezeit zu vertreten und unsere Beziehungen mit Gott aufrecht zu erhalten. Wir haben einen unbeschreiblich großen
Vorzug vor Israel; wir haben das wahre Wesen in Christo,
während jene nur den Schatten davon hatten. Unser Heil
ist fest gegründet; für immer ist der Eintritt in das Heiligtum uns erlaubt, und der neue und lebendige Weg uns eingeweiht, und für immer behält das Blut Christi für uns Seinen ganzen Wert und Seine vollkommene Kraft. Nur der Unglaube kann uns die Freimütigkeit rauben und den Genuß
der Segnungen verkümmern, sonst nichts. Es gibt keine Lage,
noch irgend einen Zustand eines Christen, worin er weniger Freimütigkeit haben dürfte; weil diese Freimütigkeit
in keiner Weise von unserem Wandel, sondern allein von
dem Blute Christi, welches sich für immer vor dem Gnadenthron befindet, abhängt. Dieses Blut hat uns den Zugang
für immer geöffnet und nichts kann ihn schließen; nur
kann, wie gesagt, der Unglaube unseren Zutritt verhindern.
So köstlich nun auch dieser Gegenstand ist, so will ich doch
jetzt nicht weiter in denselben eingehen, und vielmehr auf
die Versuchungen in der Wüste zurückkommen.
Wenn wir unsere Verantwortlichkeit verstehen, so wissen wir, daß es sich darum handelt, daß wir bis ans Ende
ausharren. „Wer beharret bis ans Ende, der wird errettet
werden." Warum haben wir Ägypten, d. i. die Welt und ihre
Freuden verlassen? Ist es der Wüste wegen, oder der Erfahrungen wegen, die wir auf diesem Wege machen können?
Gewiß nicht, sondern um das köstliche Ziel, das himmlische
Kanaan wirklich zu erreichen. Die Versuchungen in der
Wüste aber benutzt Gott, unseren Glauben zu bewähren
und also unser Ausharren bis ans Ende zu bewirken. Und
hierin liegt zunächst der Grund, weshalb wir die mannigfachen Versuchungen für lauter Freude halten können.
Das Fleisch liebt den Weg nach Kanaan nicht; es erschwert und verkümmert uns nur denselben. Es fängt vielleicht mit guten Vorsätzen an; aber es schreckt vor der
kleinsten Versuchung zurück und zeigt nichts als Furcht und
Ohnmacht- Nach jeder Durchhilfe von Seiten des Herrn ist
es zu neuen Vorsätzen bereit; aber es wird auch immer aufs
neue sein wahres Wesen offenbart werden, und wir werden
176
erfahren, daß Fleisch stets Fleisch bleibt. —Wir können nur
mit Gott sicher durch diese Wüste gehen; und da wir Ihn
nicht mit unseren Augen sehen, so ist unser Wandel ein
Wandel durch den Glauben. Durch diesen sind wir sowohl
von Seiner Gegenwart, als auch von Seiner Macht und Liebe
überzeugt. Durch diesen wandeln wir, als sähen wir den Unsichtbaren, und also verwirklichen wir auf diesem Wege das,
was Er uns ist. Es ist nicht zu leugnen, daß es auf diesem
Weg viele Schwierigkeiten gibt, die uns in Sorge und Unruhe
bringen können; aber wir gehen hindurch, sobald wir im
Glauben wandeln. Was uns einzig und allein vor diesen Versuchungen zurückschrecken läßt, sind nicht die Versuchungen selbst, sondern wenn wir un s selbst , d. i. das Fleisch
durch den Unglauben hineinbringen; ja wir erschrecken
schon vorher, und suchen zu entfliehen, wenn wir unsere
Kraft mit der vor uns liegenden Schwierigkeit messen.
Durch den Glauben aber halten wir uns an Gott, wir vertrauen allein auf Seine Kraft und also bleiben wir getrost.
Nur dann, wenn wir völlig von unserem Nichts überzeugt
sind, wenn wir unsere ganze Abhängigkeit von Gott fühlen,
sind wir fähig in der Wüste voranzugehen; ruht aber das
Auge auf den Schwierigkeiten oder auf uns, dann schrecken
wir zurück oder fallen.
Diese Versuchungen nun, meine Brüder, denen Gott erlaubt, uns in der Wüste zu begegnen, haben den Zweck, unseren Glauben zu bewähren und unser Ausharren zu bewirken. Durch den Glauben machen wir in den Versuchungen
immer neue Erfahrungen von der Macht, Liebe und Gnade
Gottes, überall begegnen wir Seiner treuen Hand, und dies
gerade befestigt den Glauben und macht uns immer mehr
zum Ausharren geschickt. Dieselben Schwierigkeiten, die
für so viele durch den Unglauben ein Anlaß zum Zurückweichen werden, werden durch den Glauben für uns ein
Mittel, bis ans Ende zu beharren. Gehen wir in Gemeinschaft mit Gott durch die mannigfachen Versuchungen, so
sind freilich unsere Füße in der Wüste, aber mit unseren
Herzen wandeln wir im Himmel. Wir gleichen sozusagen
dem Paulus und Silas im Gefängnis zu Philippi. Ihre Füße
befanden sich unter vielen Schmerzen im Stock, aber ihre
Herzen waren droben und sangen Lobgesänge. „Die Freude
am Herrn ist unsere Stärke." Und je mehr wir die Gemeinschaft Gottes in unserem Wandel verwirklichen, und je
mehr wir unseren Wandel in den Himmeln — woher wir
Jesum erwarten — haben, desto geistlicher und himmlischer
wird unsere Gesinnung werden, und desto mehr werden wir
geeignet sein, bis ans Ende auszuharren. Wir können aber,
wie schon gesagt, in den vielen Versuchungen nicht anders,
26 177
als durch den Glauben und in der Gemeinschaft mit Gott
bestehen, und deshalb wird es uns nicht schwer sein, zu erkennen, wie gut und nötig dieselben sind, weil wir beim
Ausharren in den Schwierigkeiten, der steten Gemeinschaft
mit Gott bedürfen, wodurch gerade unsere Gesinnung immer mehr ein himmlisches Gepräge erhält, und wir also
zum Ausharren immer fähiger werden. — Wie wunderbar
ist es doch, daß selbst die ein e Versuchung dazu dient, um
uns zur Beharrung in einer anderen zuzubereiten. Unser
treuer Gott aber ist es, der uns diesen reichen Segen in der
Versuchung finden läßt; wir werden in allen Umständen
und Schwierigkeiten Seine fürsorgende Liebe für uns wirksam finden, um uns zu segnen. Wie groß ist doch Seine
Weisheit und Liebe, daß Er gerade das, was uns das Schwierigste auf dem Wege zu sein scheint, in einen so reichen
Segen für uns verwandelt hat, daß gerade unter der Leitung
Seines Geistes die mannigfachen Versuchungen dazu dienen,
unseren Glauben immer mehr zu bewähren, unsere Herzen
zu befestigen und unser Ausharren zu bewirken. Deshalb
haben wir gewiß Ursache, geliebte Brüder, wenn es uns
anders von Herzen darum geht, unser Kanaan, d. i. die
himmlische Herrlichkeit, wirklich zu erreichen, die mannigfachen Versuchungen für lauter Freude zu achten, und haben keinen Grund, davor zu erzittern noch zurückzuschrekken, weil unser Gott uns nur Liebe und Segen darin finden
läßt. Er wolle uns reichlich Weisheit geben, um dies recht
zu verstehen.
Noch in anderer Beziehung haben wir, meine Brüder,
Grund genug, die mannigfachen Versuchungen für lauter
Freude zu achten. — Wir sind Kinder Gottes und sind überzeugt, daß unser Vater uns nicht verlassen, noch versäumen
kann; wir wissen, daß unser Gott die Liebe ist, und wir verstehen dieses, weil Seine Liebe, durch den uns mitgeteilten
Geist, in unsere Herzen ausgegossen ist. Er hat Seinen eingeborenen Sohn für uns dahingegeben und dies gerade ist
der vollkommene Beweis Seiner großen Liebe gegen uns.
„Der doch seinen eigenen Sohn nicht verschonet, sondern
ihn für uns alle hingegeben hat; wie wird er uns mit ihm
nicht auch alles schenken?" (Röm. 8, 32).
So verstehen wir, daß Gott die Liebe ist und daß Er die
Liebe gegen uns ist; aber das Kind wird gerade in den mannigfachen Versuchungen am meisten Gelegenheit haben, das
Herz des Vater s kennen zu lernen. Seine Güte und Treue,
Seine Liebe, Langmut und Gnade werden wir dann am
reichlichsten erfahren, wenn wir in unserer Schwachheit
durch die Versuchungen dieser armen Erde gehen. Er trägt
und leitet uns hindurch, und läßt uns überall, wenn wir an178
ders Augen dafür haben, Seine beseligende Gegenwart
empfinden; überall können wir erfahren, daß „der Gott und
Vater unseres Herrn Jesu Christi, der Vater der Erbarmungen und der Gott allen Trostes ist" (2. Kor. 1, 3). Diese Erfahrungen machen unser Herz glücklich und getrost.
Betrachten wir die Versuchungen von dieser Seite, so
werden sie uns nichts anderes als Freude sein; wir werden
in ihnen nur eine Gelegenheit sehen, in welcher unser Gott
und Vater auf eine besondere Weise offenbaren kann, was
Er gegen uns ist, und wir werden darin eine Gelegenheit
finden, immer besser das Herz unseres treuen Vaters zu
verstehen.
Doch noch mehr; die mannigfachen Versuchungen sind
nicht nur für unseren Gott eine Gelegenheit Sich in Seiner
Macht und Liebe a n un s zu verherrlichen, sondern auch
für uns eine Gelegenheit, Ih n vor der Welt zu verherrlichen. Wandeln wir im Glauben durch die Versuchungen,
harren wir darin aus, so beweisen wir dadurch, daß wir
etwas haben und kennen, das höher und köstlicher für uns
ist, als die Welt und ihre Freuden, daß wir für das Unsichtbare, für unseren Gott und Seine Herrlichkeit, das Sichtbare
verleugnen. Wir geben dadurch zu verstehen, daß Seine
Ehre und Sein wohlgefälliger Wille uns mehr gelten, als die
Ehre und der Wille der Menschen, und daß es uns köstlicher
ist, in den Leiden Ihm zu gehorchen und unterworfen zu
sein, als in den Freuden der Welt Seiner zu vergessen.
Ebenso wissen wir, teure Brüder, daß wir uns selbst
nicht mehr angehören, sondern Dem, der für uns gestorben
und auferstanden ist, daß wir Sklaven Jesu Christi sind. Ist
Er uns nun teuer und köstlich, ja ein und alles geworden,
dann wird uns nichts mehr am Herzen liegen, als daß Sein
Name an uns verherrlicht werde. Wir wünschen dann mit
Paulus, daß „Christus an unserem Leibe hoch erhoben
werde, sei es durch Leben, sei es durch Tod"; es wird uns
eine Freude und eine Ehre sein, für Seinen Namen Schmach
zu leiden (Phil. 1, 20). Dann verstehen wir auch die Worte
des Apostels in 2. Kor. 12, 9-11: „Daher will ich mich denn
vielmehr am allerliebsten meiner Schwachheit rühmen, auf
daß die Kraft des Christus mir innewohne. Deshalb habe
ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Schmähungen, an
Nöten, an Verfolgungen, an Drangsalen, für Christum. Denn
wenn ich schwach bin, dann bin ich mächtig." —
Dies Wenige reicht schon hin, um uns verstehen zu lassen, wieviel Ursache wir haben, die mannigfachen Versuchungen für lauter Freude zu halten. — Ehe ich jedoch diese
Zeilen schließe, möchte ich noch für einen Augenblick unsere Gedanken auf einige ernste Aussprüche des Apostels
179
Jakobus, die auf den 2. und 3. Vers des angeführten Kapitels
folgen, lenken. Zuerst ermahnt er uns, „das Ausharren sein
vollkommenes Werk haben zu lassen" (V. 4). Es ist nicht
genug, nur für eine Zeit in den Versuchungen zu beharren,
sondern bis ans Ende. Sind wir durch den Glauben in der
Kraft Gottes bis dahin gebracht, dann hat das Ausharren
sein vollkommenes Werk, und wir werden von allen Kämpfen und Mühsalen ausruhen. Im 5. Vers fügt er eine köstliche Zusage hinzu, die uns in unserer Schwachheit und Unweisheit so not tut. „Wenn aber jemandem von euch Weisheit mangelt, so bitte er von Gott, welcher allen willig gibt,
und nichts vorwirft; und es wird ihm gegeben werden." Wie
tröstlich ist es für uns zu wissen, meine Brüder, daß Gott
Sich nicht durch unsere Mängel beschränken läßt, sondern
uns die auf unserem Pilgerwege so nötige Weisheit willig
darreicht. Er stillt nach dem Reichtum Seiner Gnade und
Liebe alle unsere Bedürfnisse.
In Vers 6 und 7 sehen wir, wie traurig der Unglaube ist,
und wie leer der Zweifler ausgeht; er bekomm t „nichts".
„Ein doppelherziger Mann", sagt der Apostel, „ist unstet in
in allen seinen Wegen." Ein solcher will es mit Gott halten
und doch die Dinge dieser Welt nicht fahren lassen; er unterwirft den Willen Gottes seinen Vernunftschlüssen und folgt
nur dann, wenn es keine Verleugnung kostet. Und dies eben
bringt in allen seinen Handlungen nichts weiter als Verwirrungen hervor. — Ebenso zeigt uns der Apostel in dem
9. und 10. Vers die Nichtigkeit allen Reichtums. Nicht nur
gleicht dieser des Grases Blume, sondern auch der Mensch,
dessen Schatz der Reichtum dieser Welt ist, wird in seinen
Wegen verwelken. Wie töricht ist es deshalb, in dieser Welt
etwas zu suchen und zu besitzen, wie töricht ist es, sein
Herz an irgend etwas Sichtbares zu hängen! denn noch ein
wenig und „die Sonne ist mit der Glut aufgegangen und hat
das Gras gedörrt, und seine Blume ist abgefallen, und die
Zierde seines Ansehens ist verloren." —
Doch „glückselig der Mann, welcher in der Versuchung
aushält! Denn wenn er bewährt ist, wird er die Krone des
Lebens empfangen, welche der Herr denen, die ihn lieben,
verheißen hat." — Die Krone des Lebens ist der kostbare
Kampfpreis, welcher dem Ausharrenden am Ziel seiner
Wanderschaft zuteil wird. Wo der Reiche dieser Welt nichts
mehr hat, da findet der, welcher ausgeharrt hat, ein unverwesliches und unbeflecktes und unverwelkliches Erbteil. Um
wieviel köstlicher sind deshalb alle die mannigfachen Versuchungen in der Wüste, die Leiden und Trübsale, welche
für den Bewährten eine Brücke zur ewigen Glückseligkeit
geworden sind, als alle die Freuden dieser Welt, die nichts
180
als Kummer und Herzeleid zurücklassen. Ja, „glückselig ist
der Mann, welcher in der Versuchung aushält." — Deshalb,
geliebte Brüder, laßt uns nicht ermatten, sondern die mannigfachen Versuchungen für lauter Freude halten, laßt uns
in der Verleugnung des Sichtbaren erkennen, daß wir unseren Gott mehr lieben als alles, so wird Er am Ende unserer Laufbahn uns die herrliche Krone des Lebens darreichen. Und wir werden auch nicht mehr weit bis zu unserem Ziel haben; denn wenn je, so gilt uns jetzt besonders
das liebliche Trostwort des Apostels an die Hebräer: „denn
noch um ein gar Kleines und der Kommende wird kommen
und nicht verzögern" (Hebr. 10, 38). So lasset uns denn in
diesen wenigen Tagen es „fü r laute r Freud e hal -
ten , wen n wir in mannigfach e Versuchunge n
geraten" , und nicht ermatten. —• Das wolle der treue
Herr durch Seine Gnade in uns allen reichlich verwirklichen.
Esther
„Die Furcht des Herrn ist Zucht zur Weisheit, und der
Herrlichkeit geht Leiden vorher" (Spruch. 15, 33).
„Dem Verderben geht Stolz vorher und dem Falle
Hochmut" (Spruch. 16, 18).
Zuers t Leiden , un d dan n Herrlichkeit .
Dies ist der bezeichnende Charakter des Pfades oder der
Geschichte der Heiligen, wie wir es schon von alter Zeit her
bestätigt finden. Erinnern wir uns nur, in Verbindung mit
dieser Wahrheit, an die Geschichte des Joseph, des Moses,
des David und andere. Aber gewöhnlich ist auch der Augenblick des tiefsten Druckes der Vorabend der Befreiung. In
Ägypten hatte der Druck beinahe den höchsten Gipfel erreicht, als der Herr den Moses für die Befreiung zubereitete.
Gerade dann ist der Teufel am eifrigsten bemüht, seine armen Gefangenen recht tief in die Trübsale hineinzuziehen
und sie unter noch empfindlicheren Schmerzen schreien zu
machen, wenn der Herr mit Seiner Erlösung nahe ist. In
den letzten Tagen, wenn Israels „Kraft vergangen und kein
Verschließen noch Aufhören mehr da ist", wenn der Feind
gleich einer Flut hineingedrungen — dann wird der Herr
Seine Standarte aufpflanzen und eine bessere Ordnung der
Dinge einführen. Die Vorbereitun g dieser besseren
181
Ordnung aber ist gewiß nicht eine Zeit des lieblichen Anblicks, sondern im Gegenteil; es ist gleichsam die Rückseite
des so herrlichen Bildes.
Dies alles aber kann uns erfreuen und ermutigen. Während die Knospe bitter ist, verbreitet in demselben Augenblick die Blume ihren duftenden Wohlgeruch. Aber nicht
nur sind zuerst Leiden und dann Herrlichkeit, sondern gewöhnlich Leiden der empfindlichsten Art, gerade zu de r
Zeit , wenn die Herrlichkeit und die Errettung vor der
Tür ist.
Es gibt eine Wahrheit, welche mit dieser in Verbindung
steht, oder, ich möchte lieber sagen, ihr gegenüber steht, —
nämlidi diese: de r Hochmu t zuerst , un d dan n
d e r Untergan g ode r da s Gericht , un d die s
gerad e i n de m Augenblic k de r höchste n un d
völligste n Erhebung .
Die Erbauer Babels hatten einen großen Bund gemacht;
und ihre stolze Absicht, welche ihre Herzen erfüllte, war
keine geringere, als eine Stadt zu erbauen und einen Turm,
dessen Spitze bis in den Himmel reichen sollte, und sie
streckten ihre Hände aus, diesen stolzen Plan auszuführen.
Aber in der Stunde der hochmütigsten Erhebung kam der
Herr im Gericht hernieder (1. Mos. 11). — Pharao suchte sich
zum ersten Manne in der Welt zu erheben; und in dem Gedanken an seine Größe und in dem Gefühl seiner Unabhängigkeit hatte er den Joseph vergessen; und er erklärte,
daß er von dem Gott Israels nichts wisse. Aber gerade dann
fingen die Schalen des Zornes von der Hand Jehovas an,
sich über ihn auszugießen (2. Mos. 5). — Nebukadnezar wandelte in seinem Palast und bewunderte seine Größe und er
sagte: „Ist nicht diese große Babel, welch e ic h erbau t
habe? " Doch der Herr wachte über den Bösen, und während das Wort des Hochmuts und der Erhebung in seinem
Munde war, und e r sic h erhob , wurd e e r ernied -
rig t (Dan. 4). — Herodes wurde von dem Volke gepriesen,
als ein Gott; und in demselben Augenblick machte das Gericht Gottes ein schreckliches Schauspiel aus ihm (Apg. 12).
Solche furchtbare Heimsuchungen in der Stunde des
größten Glückes und in dem höchsten Stolz des Herzens sind
uns sowohl in den Propheten vorher gesagt, als auch in den
Geschichten dargestellt. Der „Morgenstern" in Jesajas, der
„Fürst von Tyrus" in Hesekiel, „der Mensch der Sünde" in
dem Brief an die Thessalonicher, das „wilde Tier" in der
Offenbarung Johannes — diesen allen ist der Untergang in
dem Augenblick ihrer höchsten Vermessenheit angekündigt.
Diese so wichtigen und interessanten Wahrheiten —• die
Erhebung des Gerechten in dem Augenblick des tiefsten
182
Druckes, und die Erniedrigung des Hochmütigen in seiner
höchsten Selbstgefälligkeit — treten uns in dem Buch der
Esther in einer sehr bestimmten und ausgezeichneten Weise
entgegen. Dieses Buch schließt die Geschichtsbücher des
Alten Testaments, und unter allen enthält es die völligste
und lebendigste Darstellung dieser zwei großen Grundsätze
in den Wegen Gottes.
In dem Verzeichnis jener Hochmütigen, welche in ihrem
höchsten Stolz ihrem Untergang begegneten, möchte ich besonders Haman, den Agagiter, hervorheben. Er war aus dem
Geschlecht der Amalekiter, einem Geschlecht, womit der
Herr immer Streit hatte, welches Seine Herrlichkeit verachtete, und schon in der traurigsten Wüste, in den ersten
Augenblicken der Geschichte Israels anfing, seinen eigenen
Glanz zu enthüllen (4. Mos. 17). — Das Glück hatte diesen
Haman auf eine merkwürdige Weise begleitet. „Der König
Ahasveros erhob ihn über alle Fürsten, die bei ihm waren.
Und alle Knechte des Königs, die im Tore des Königs waren, beugten die Kniee und beteten Haman an Da tat
der König seinen Ring von der Hand und gab ihn Haman .. .
Und der König sprach zu Haman: das Silber sei dir gegeben,
dazu das Volk, daß du damit tust, was dir gefällt" (Kap. 3,
1. 2.10.11). Dieses alles erfüllte das Herz des Haman so sehr
mit Stolz, daß er keinen Widerspruch vertragen konnte, —
und wenn der Diener Gottes ihn nicht ehren wollte, so mußte
das ganze Volk Gottes dafür büßen. In den Tagen dieses
Amalekiters erscheint Esther. Sie war eine arme Gefangene aus dem Lande Israels und war jetzt in dem Lande
der Perser. Und nicht nur nahm sie teil an der allgemeinen
Betrübnis und den Leiden ihres Volkes, sondern ihr Herz
hatte noch für sich besonders Kummer und Trübsal durchzumachen. Sie war eine in jeder Beziehung hilflose Waise,
die nur unter der Mühe und Sorge ihres gottseligen Verwandten Mordokai stand.
Im Laufe der Zeit wurde sie, ohne irgend welche Bemühung oder einen Wunsch von ihrer Seite, das am meisten
begünstigte Weib des persischen Königs; und nicht allein
kam sie in diese Stellung ohne ihr Bemühen und ihren
Wunsch, sondern sie hatte auch, obgleich sie an dem königlichen Hofe war, gleich Daniel und anderen, ihre Absonderung für Gott unter den Gebräuchen der Nationen bewahrt
(Kap. 2,15). Sie wollte keine Schuldnerin der Menschen sein,
und nahm, gleich Abraham, von dem Könige zu Sodom
(1. Mos. 14) nichts, ausgenommen das Nötigste. Es war der
Herr, und nicht ihr Schmuck, welcher ihr in den Augen
aller, die sie anschauten, Gunst verlieh. Selbst der König
war von ihr eingenommen, und die königliche Krone wurde
183
auf ihr Haupt gesetzt. Dennoch blieb sie das einfache, jüdische Mädchen und gehorchte dem Mordokai gerade so wie
an dem Tage, als dieser sie in sein Haus brachte.
Das war ein glücklicher Anfang. Sie fing be i sic h
selbs t an, indem sie sich rein bewahrte; und deshalb war
sie ein Gefäß für den Hausherrn gebräuchlich (2. Tim. 2).
Jerusalem konnte sich einer solchen Tochter rühmen, obgleich sie in dem Palast zu Susan war. Sie stand als ein
Zeugnis der prophetischen Wahrheit da: „Ihre Nasiräer waren glänzender als Schnee, weißer als Milch; röter waren sie
am Leibe als Korallen, wie Saphir ihre Gestalt" (Klagl. Jer.
4, 7). Und als sie im ferneren Verlauf der Zeit den Kummer
ihres Volkes hörte, vergaß sie, gleich dem Moses, dem Nehemias und anderen, alles, was sie besaß — die Gemächlichkeit, die Annehmlichkeit und die Ehren des Palastes, und
gedachte nur an die Bürden ihrer Brüder.
Das war ein glücklicher Fortgang. Sie hatte sich selbst
vor der Befleckung bewahrt und machte sich jetzt eins mit
den Leiden der anderen. Sie hatte gegen die persönlichen
Verirrungen gewacht, und war jetzt frei und fähig, zu dienen. Schon stand sie umgürtet da und wartete nur auf einen
Ruf. Dies ist der wahre Zustand eines jeden Nachfolgers
Jesu, ja der einzig wahre und geeignete Zustand, in welchem jemand als Diener des Hauses Gottes berufen werden
kann. Esther, die Königin, war jetzt auf das sorgsamste bemüht, sich mit dem Zustand ihres Volkes in dem ganzen
Reich der königlichen Lande vertraut zu machen; und sie
stellt sich völlig unter dessen Last.
Israel befand sich in dem gegenwärtigen Augenblick unter dem größten Druck. Der Hochmut Hamans, welcher in
dieser Zeit die persische Monarchie zu befehligen hatte,
konnte die heilige Widersetzlichkeit des Juden Mordokai
welcher sich weigerte, vor ihm nieder zu fallen, nicht ertragen; und er gewann so sehr die Oberhand, daß es ihm gelang, das ganze Volk der Juden (die zerstreuten Gefangenen
in allen persischen Provinzen) unter das Urteil des Todes zu
bringen. Aber der Herr, wie wir gesehen haben, hatte schon
einen verborgenen Pfeil in Seinem Köcher; der errettende
Stein des Baches war schon für die Schlinge bereit (1. Sam.
17, 40).
Wir haben Esther gut anfangen und auch gut fortfahren
sehen. In der Gemeinschaft des Herrn wurde sie durch Sein
Licht und Seine Kraft geleitet. Sie hatte einen verborgenen
und sehr gesegneten und vertrauten Umgang mit Ihm, obgleich wir nichts von Gesichten oder Entzückungen oder irgend etwas anderem der Art hören, — und ich darf auch
sagen, daß in diesen Tagen keine Offenbarungen durch Ge184
sichte stattfanden. Es war aber in ihr erreicht, was allein in
der Stellung des Glaubens in jedem Stande und Alter erreicht werden kann —• Gemeinschaf t mi t Gott .
Sie vertraute allein auf Gott, wie Sadrach und andere
(Dan. 3). Wenn es Ihm wohlgefiel, so konnte Er sie befreien;
daran zweifelte sie nicht. Aber ob es Ihm wohlgefiel oder
nicht, sie hatte nur ihre Pflicht zu tun; und sie konnte und
wollte alles in der Sache des Dienstes Christi wagen. Ihre
Seele war, gleich der des Sadrach und seiner treuen Begleiter, für jede Folge vorbereitet: „Komme ich um, so komme
ich um", sagte sie. Welch eine kostbare und liebliche Arbeit
in der Hand des Herrn! Sie war in der Tat, sowohl zu einem
demütigen als auch zu einem brauchbaren Gefäß Seines
Hauses zubereitet.
Doch noch mehr. Wir sehen, in welch naher Gemeinschaft
Esther mit den Gedanken Gottes stand. Sie scheint die göttliche Methode mit ihren stolzen Widersachern beobachtet zu
haben; denn sie schlägt mit diesem bösen Haman genau
Gottes eigenen Weg ein. Sie handelt nicht in unruhiger
Eile, sondern bereitet ruhig ihre Pläne vor, um diesem Amalekiter, dessen Herz bis an den Rand mit Hochmut angefüllt war, gemäß des göttlichen Weges zu Fall zu bringen,
und zwar in dem Augenblick seines höchsten Eigendünkels.
— Das goldene Zepter des Königs war gegen sie ausgereckt,
und zugleich erhielt sie die königliche Verheißung, ihr alles
zu geben, was immer sie verlangen möchte, selbst bis zur
Hälfte des Königreiches. Dennoch verharrt sie in Geduld,
und ladet den König und Haman zu einem Festmahle ein.
Beide kommen — und wiederum wird das halbe Königreich
zu ihrer Verfügung gestellt. Aber sie verhält sich immer
noch geduldig und ladet sie zum zweiten Male ein. —• War
denn aber dies nichts anderes als Geduld, oder als Ruhe und
Selbstverleugnung? War es nicht mehr (wie vortrefflich dies
auch immer sein mag) als ein Widerstand der Gärung und
Leidenschaftlichkeit des Bösen? Oder war es nur Tugend
und ein wohlgeartetes Herz, im Gegensatz zu dem leidenschaftlichen Weg einer Herodias? (Mark. 6, 23). Dies alles
mag es gewesen sein; aber es war auch mehr. Es war das
Verhalten einer Person, welche den Weg Gottes kannte und
welche in den gleichen Fällen Seinen Weg nachahmte. Der
Herr, im Besitz aller Macht, ist geduldig; und über vierhundert Jahre kann Er ausharren mit einem Amoriter, bis
das Maß seiner Sünden voll ist (1. Mos. 15, 13-15). Ebenso
hier; die eine , welche von Ihm gelernt hatte, die eine ,
welche in der Schule Seiner Gemeinschaft gewesen war,
konnte, obgleich im Besitz der Hilfsquellen eines Königrei185
dies, so geduldig sein, und den Menschen der Erde zu dem
vollen Maß seiner Sünden voran gehen lassen.
Sie ladet also Haman und den König zum zweiten Male
zu ihrem Festmahl ein; und gerade an diesem Tag ging Haman mit voller Freude und mit einem fröhlichen Herzen
einher. Er erzählte seinem Weib und seinem Freund von
seiner Größe und seinem Glück, und fügt, indem seine hochmütigen Gedanken und seine Selbstgefälligkeit sich steigern, mit großer Freude hinzu, daß die Königin Esther ihn
und den König allein zu ihrem Mahl eingeladen hätte. Dies
ist wohl zu beachten. Ich werde aber nicht nötig haben, daran zu erinnern, wie dieser Mensch in seiner stolzen Erhebung in einem einzigen Augenblick erniedrigt wurde, und
wie das Gericht Gottes plötzlich über dies alles hernieder
fuhr. Diese Geschichte wird uns bekannt sein. Ebenso werde
ich nicht nötig haben davon zu reden, wie Esther und ihr
Volk in dem Augenblick des tiefsten Druckes befreit wurden, und wie dieser Streit zwischen Furcht und Hoffnung
in dem ruhmvollsten und wunderbarsten Triumph der Hoffnung endigte. Die Juden hatten das Urteil des Todes in sich
selbst; aber da war einer, welcher den Tod aufhob und den
Schatten des Todes in einen lieblichen Morgen verwandelte.
„Den Juden ward Licht und Freude und Wonne und Ehre.
Und in allen und jeglichen Landschaften und in allen und
jeglichen Städten, wohin das Wort des Königs und sein Befehl gelangte, war Freude und Wonne unter den Juden,
Gastmahl und Festtag. Und viele von den Einwohnern und
den Ländern wurden Juden; denn die Furcht vor den Juden
war auf sie gefallen" (Kap. 8,16.17). Der so traurige Monat
hatte seine Sorgen in Freude und seine Trauer in einen
fröhlichen Tag verwandelt. Esther war Königin und was
den Mordokai betrifft, so „war er der Zweite nach dem
König Ahasveros, und groß bei den Juden, und wohlgefällig
der Menge seiner Brüder, der das Beste seines Volkes suchte,
und redete zum Heil für all seinen Samen" (Kap. 10, 2. 3).
Wie gesegnet ist es doch, den Geist in dem Pfade dieses
teuren und ehrenwerten Weibes zu beobachten. Zunächst ist
sie besorgt, sich selbst rein zu bewahren, und ist voll der
tiefsten Sympathien für ihr Volk. Sie vertraut allein auf den
Herrn und ist völlig bereit, mit aller Aufopferung Seinen
Willen zu tun. Welch eine Fülle von Belehrung stellt dies
eine Beispiel vor unsere Seele. Und doch sehen wir, wie
man zu sagen pflegt, wie sehr die Umstände entgegen waren.
Sie war in einer Lage des Lebens, welche einen echten Israeliten erforderte, einen wahren Nasiräer, der viel Wachsamkeit und Selbstverleugnung besaß. Allein ihr Wandel
und ihr Umgang mit dem Herrn war so verborgen, so innig
186
und rein, daß es schien, als sei sie in die tiefsten Geheimnisse Seiner Gedanken eingedrungen. Sie handelte gegen
den großen Widersacher, wie wir schon gesehen haben, genau nach Gottes eigenem Weg und in einer steten nahen
Gemeinschaft mit Ihm. Wir sehen auch, daß, sobald der Plan
gegen den Stolz Hamans zur Reife gekommen war, der Herr
in demselben Augenblick anfing, gegen ihn zu handeln und
die Werkzeuge seines Verderbens vorzubereiten. Es war
nämlich genau in derselben Nacht zwischen den beiden Tagen, an welchen die Königin Esther ihre Festmahle bereitet
hatte, daß der Herr in das Herz des Ahasveros den Traum
gab, welcher den Amalekiter in seinem Hochmut erniedrigte (Kap. 6). Deshalb möge niemand sagen, daß die Umstände gegen ihn seien. Es ist nur nötig, daß wir mit aller
Entschiedenheit des Herzens und mit aller Einfalt des Auges
mit de r Kraft in Gemeinschaft bleiben, welche für alle
Umstände passend ist, wie uns die Königin Esther hier ein
so schönes Exempel gegeben hat.
Schon habe ich am Anfang an die zwei großen Grundsätze erinnert, die wir in der Geschichte der Esther und des
Haman in einer so ausgezeichneten Weise verwirklicht finden: di e Erhebun g de s Gerechte n i n de m
Augenblic k de s tiefste n Druckes , un d di e
Erniedrigun g de s Mächtige n i n de r Stund e
seine r hohen , stolze n Gedanken ; und diese
Grundsätze in den Wegen Gottes werden sich immer wieder
aufs neue in der Geschichte der Menschen bewahrheiten.
Es wird aber noch eine Krise in der Geschichte dieser
Erde kommen, welche die schrecklichste und ausgedehnteste
von allen ist, wogegen jede vorhergegangene nur eine Vorübung und Schatten war. Sie wird in eine Zeit fallen, wo
die Menschen, wie zu der Zeit des Noah, in einer stolzen
und schrecklichen Sicherheit dahinleben, wo sie, gleich jenen, inmitten ihrer Hochzeitsfeste, in ihrem Kaufen und
Verkaufen nichts ahnen, bis die Flut der Gerichte Gottes
über sie hereinbricht. Äußere Wohlfahrt und Selbsterhebung sind gewöhnlich in Gesellschaft und werden auch diese
Tage auszeichnen. Und sehen wir nicht jetzt schon, wie alles
wirksam ist, um solche Zeiten herbei zu führen? Nehmen
die Bequemlichkeiten und Verschönerungen des menschlichen Lebens nicht auf eine wunderbare Weise zu? Wünscht
sich dieses Geschlecht nicht Glück wegen der Vorzüge,
welche es genießt, indem es im stillen jene bedauert, welche
in den Staub dahin sanken, ehe diese Vorzüge bekannt waren? Und sind sie nicht auf das eifrigste bemüht, alle Hilfsquellen zu vervielfältigen, um die Tage des irdischen Glücks
herbei zu führen, wo sie sagen können: „Nun iß und trink',
187
liebe Seele, und sei guten Mutes?" — Ja, dies alles sehen
wir; und der treue Gott gebe uns recht einfältige Augen und
einen wahrhaft nüchternen Sinn, um dies alles mit Seinen
Augen zu sehen und zu entfliehen. Er mache uns durch Seinen Geist recht fähig, um uns selbst, wie wir es hier bei
Esther gesehen haben, von allem unbefleckt zu bewahren,
um einen steten verborgenen und innigen Umgang mit Ihm
zu verwirklichen und auf die Ankunft des Herrn zu warten.
Das Kreuz
„Mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, es sei denn in
dem Kreuze unseres Herrn Jesu Christi, wodurch mir
die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt" (Gal. 6, 14).
I n de m Kreu z finden wir das gänzlich e End e
unsere s eigene n Lebens ; es führt uns in unser
Nicht s zurück. Wir verstehen in unserem praktischen Leben noch wenig davon, was wir dann am tiefsten fühlen
werden, wenn wir auf Jesum sehen; ja dann werden wir
erkennen, wie wenig noch die Kraft des Kreuzes in unseren
Seelen verwirklicht ist, wie wenig wir noch gelernt haben,
uns selbs t beiseit e z u setzen .
Jesus besaß alle Gerechtigkeit, und zugleich „wohnte in
ihm alle Fülle der Gottheit leibhaftig." Doch was für einen
Pfad wandelte Er? Was war das Kreuz für Ihn? Wie offenbarte Er Sich darin? Er setzte diese ganze Gerechtigkeit und
diese ganze göttliche Macht völli g beiseite . Die vollkommene Stärke Seiner Liebe wurde geprüft; nicht nur darin, „daß er sich nicht selbst zu gefallen suchte", daß Er,
„obgleich er in der Gestalt Gottes war, es nicht für eine
Beute hielt, Gott gleich zu sein", daß Er „sich selbst zu
nichts machte und Knechtsgestalt annahm.. . sich selbst erniedrigte" und diesen Platz für unseren Ungehorsam einnahm, sondern darin, daß Er in diesem Platz der Liebe zufrieden war, gänzlich verworfen und vernichtet zu werden,
damit die wahre Kraft dieser Liebe offenbar werden möge.
Das Fleisch in uns ist klug, sehr klug. Wenn wir Liebe
zeigen, so erwarten wir, daß es auch anerkannt werde.
Wird irgend eine erwiesene Wohltat gar nicht erwidert, vielleicht nicht einmal durch ein freundliches Wort, so fangen
unsere Herzen an, in der Übung der Liebe matt und kalt zu
188
werden. — Verstehen wir, geliebte Brüder, die Worte des
Apostels an die Korinther: „Wenn ich auch, je mehr ich euch
liebe, um so weniger geliebt werde." Das wahre Wesen der
Erniedrigung offenbart sich dann, wenn wir in den Beweisen der Liebe unermüdlich fortfahren, obgleich wir gerade
deshalb noch immer mehr erniedrigt werden.
Also war es mit Jesu. Voll Geduld und Milde setzte Er
Sich der Macht und Bosheit Satans aus. — Und was fand Er
in uns, als Er dieses Werk der Liebe vollbrachte? Der
Mensch nahm durch Seine so tiefe Erniedrigung Veranlassung, Ihm mit der größten Geringschätzung zu begegnen.
„Er war die Schmach der Menschen, die Verachtung des Volkes." Von allen Seiten war Er eingeschlossen: „Hunde haben
mich umgeben; der Bösewichter Rotte hat mich umringt; sie
durchgraben meine Hände und meine Füße" (Ps. 22, 17).
„Mich umgeben große Stiere, Gewaltige Basans umringen
mich, sperren ihren Rachen wider mich auf, gleich reißenden, brüllenden Löwen" (V. 13. 14). Er suchte Tröster, aber
Er fand keine. Einer von denen, mit welchen Er in einem
so herzlichen und vertrauten Umgang hienieden gestanden
hatte, hob seine Ferse gegen Ihn auf; und gerade jener Jünger, welcher der erste war, Ihm Seine Anhänglichkeit zu bekennen — „wenn sich auch alle ärgern werden; ich aber
nicbt* — „verleugnete ihn mit Schwüren und Flüchen."
Sein Kummer fand hier keinen Ausweg; Er fand keinen
Trost bei den Menschen; und verschmäht und verworfen
von denen, zu welchen Er in Liebe kam, um sie zu erretten,
wandte Seine Seele Sich zu Gott und rief: „Sei d u nicht
ferne von mir, o mei n Gott! " Aber Gott hatte Sein Angesicht vor Ihm verborgen: „Mein Gott, mein Gott, warum
hast du mich verlassen?" Finsternis und Zorn fiel bis auf
das Äußerste auf Ihn, und kein Zuspruch kam von irgend
einer Seite — der tiefste Haß der Menschen um Ihn her und
Finsternis über Ihm! Außer der Macht der Liebe blieb nichts
mehr für Ihn übrig. „Ich tauchte in tiefen Schlamm, ohne
Grund, sank in Wassertiefen, und Flut überströmte mich"
(Ps. 69, 3). Alle Wogen und Wellen gingen über Ihn, und
außer der Liebe war in diesen Wogen alles untergegangen.
Nur diese Liebe hielt Ihn aufrecht; sie war größer als alles
— und sie war wirksam für uns.
Wenn wir Ihn in dieser Erniedrigung und gänzlichen
Vernichtung betrachten, so finden wir die unergründliche
Tiefe der Liebe. Diese blieb und entfaltete sich dann am
herrlichsten, als Er von allem entblößt war; denn Er ist
Gott und „Gott ist Liebe." — Wir, teure Brüder, haben die
Fülle der Liebe in Jesu gefunden, und welche Freude! Sie
wird unser immerwährendes Teil sein; für immer werden
189
wir sie kennen und genießen. Als Jesus umherging und
Seine wunderbare Macht im Gutestun offenbarte, da fand
das natürliche Herz etwas, was es anerkennen und gutheißen mußte. Es freute sich, wenn die Kranken geheilt
wurden, wenn geliebte Freunde wieder ins Leben zurückkehrten usw.; aber in dem Kreuze wurde diese Macht nicht
offenbart; hier gab es keine Wunder — nur Schwach -
hei t un d Niedrigkeit . „E r is t i n Schwach -
hei t gekreuzig t worden. " Geprüft von den Menschen, versucht vom Satan, verlassen von Gott — was blieb
da noch außer Seiner Liebe übrig, als die Tiefe, die Fülle
und der Reichtum dieser Liebe, welche für immer unser gesegnetes Teil bleiben wird.
Das natürliche Herz in einem jeden von uns haßt die
Kraft des Kreuzes. Wir wünschen etwas zu haben, worauf
das Auge ruhen kann; wir suchen ein wenig Ehre usw., —
das Kreuz aber steht allem Stolz und aller menschlichen
Ehre entgegen; und deshalb lieben wir es nicht. Fragen wir
uns selbst, Geliebte, ob wir wirklich zufrieden sind, das
Kreuz in dieser seiner wahren Gestalt auf uns zu nehmen
und zu sagen: Ich wünsche nichts mehr? „Mir aber sei es
ferne, mich zu rühmen, es sei denn in dem Kreuze unseres
Herrn Jesu Christi, wodurch mir die Welt gekreuzigt ist
und ich der Welt." — Möchten doch unsere Seelen stets in
dieser gesegneten Zuversicht ruhen: Jesus ist unser immerwährendes Teil; und zu ruhen in Ihm, heißt ruhen in Gott
— und „Gott ist Liebe." Diese Liebe aber werden wir um
so völliger genießen, je mehr wir von allem andern entblößt
sind. Ehre, Talent, Gelehrsamkeit, Reichtum, Freunde, Ansehen, und etwas derartiges, was den natürlichen Menschen
ergötzt, ist sehr geeignet, den Stolz in uns zu nähren, und
Christum weniger kostbar und den Genuß Seiner Liebe
weniger völlig zu machen. Deshalb wolle der treue Herr uns
reichlich zu erkennen geben, was es heißt, mi t de r Wel t
gekreuzig t z u sein ; aber laßt uns auch, geliebte Brüder, stets Gott preisen für alles, was uns erniedrigt.
190
Da wir nun diese Verheißungen haben, Geliebte, laßt
uns von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes
uns reinigen, die Heiligkeit in der Furcht Gottes
vollendend"
(2. Kor. 7, 1)
Dieser erste Vers des 7. Kapitels steht noch im Zusammenhange mit dem vorigen Kapitel. Der Apostel sagt: „Da
wir nun solch e Verheißunge n haben, Geliebte usw."
Er knüpft die Ermahnung dieses ersten Verses an seine Verheißung des Herrn, die er im vorigen Kapitel ausgesprochen hatte. Wir lesen daselbst Vers 17 und 18: „Darum
gehet aus ihrer Mitte und sondert euch ab, spricht der Herr,
und rühret nichts Unreines an, — un d ic h werd e euc h
aufnehmen ; un d ic h werd e euc h zu m Vate r
sein , un d ih r werde t mi r z u Söhne n un d
Töchter n sein , sprich t de r Her r de r All -
mächtige. " Ebenso in Vers 16: „Ich will unter ihnen
wohnen und wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und sie
sollen mein Volk sein" (3. Mos. 26, 11. 12).
Es gibt wohl keine Verheißung, meine Brüder, die für
uns in den mannigfachen Versuchungen auf dem Weg durch
diese Wüste tröstlicher und köstlicher wäre, als diese, und
keine, die wir in unserer Schwachheit so sehr bedürfen. Es
ist der Herr, der Allmächtige Selbst, welcher uns versichert:
„Ich werde euch aufnehmen; und ich werde euch zum Vater
sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein." Er,
für dessen Größe und Herrlichkeit es keine Worte gibt und
von Dem wir in unserer Schwachheit so wenig verstehen,
Er, vor Dem alle heiligen Engel auf ihre Angesichter niederfallen und anbeten, is t unse r Vate r und wir Sein e
Kinder . Es gibt keine Kreatur, weder im Himmel noch
auf der Erde, welche sich eines solchen gesegneten Vorrechtes zu rühmen hätte. Jesus war der einzige, welcher sagen
konnte: „Mei n Vater! " — der einzige, zu welchem Gott
sagte: „D u bis t mei n Sohn! " Allein Jesus hat durch
Sein gnadenreiches Werk uns in eine solche Stellung gebracht, daß Er zu uns sagen konnte : „Mei n Got t —
eue r Gott ; mei n Vate r — eue r Vater. " Wir
haben jetzt den Geist der Kindschaft empfangen, durch
welchen wir rufen: „Abba, Vater!"
Unsere Aufnahme bei Gott und unser Eintritt in das
191
Kindesverhältnis zu Ihm ist aber, wie wir hier sehen, an
eine Bedingung geknüpft. „Daru m gehe t au s ihre r
Mitt e un d sonder t euc h ab , sprich t de r Her r
u n d rühre t nicht s Unreine s an, — und ich werde
euch aufnehmen usw.". Der Herr sonderte Israel von allen
übrigen Völkern ab. Es war zwar ein irdisches Volk, bestimmt für diese Erde und deren Segnungen; aber es war
ausgezeichnet vor allen anderen Völkern, weil es das Volk
Gottes war, und sollte deshalb auch von allen anderen abgesondert wohnen. — Wenn der Herr anfängt, uns zu suchen, so findet Er uns inmitten der Welt, der Sünde und
dem Verderben preisgegeben. In diesem Zustand ist Er
weder unser Vater, noch sind wir Seine Kinder; sondern wir
befinden uns inmitten einer Welt, die der Ausführung eines
schrecklichen Gerichts, welches der Herr schon lange über
sie ausgesprochen hat, entgegentaumelt; und wir selbst haben auch nichts anderes als dieses zu erwarten, solange wir
in diesem Zustand beharren. Und gewiß ist es eine große
Täuschung und Verblendung des Herzens, in dieser Stellung Gott seine n Vate r zu nennen, oder Ihn als V a t e r
anzurufen. Gott sagt ja Selbst, daß Er uns dann aufnehmen und unser Vater sein will, wenn wir aus der Mitte derer ausgehen und uns von ihnen absondern, unter welchen
wir uns von Natur befinden, und keine Gemeinschaft mehr
mit dem haben, was unrein und vor Gott verwerflich ist. Es
ist dies zwar keine so äußerliche und leibliche Absonderung
wie bei Israel, dem irdischen Volke Gottes, sondern eine
Absonderung in Gesinnung, Wort und Wandel von allem,
was vor Gott nicht wohlgefällig ist, obgleich wir uns äußerlich in der Mitte der Welt der Sünde befinden. Eine solche
Absonderung geziemt dem Volke Gtottes, welches für den
Himmel bestimmt ist. Der Zweck des Opfers und des ganzen
Werkes Christi war ja auch kein anderer als der, uns von
jeder Sünde und Unreinigkeit zu befreien; und der auf die
Erde herniedergesandte Heilige Geist ist beschäftigt, dieses
Werk bei uns zu verwirklichen. Er überführt von der Sünde,
von der Gerechtigkeit und von dem Gericht; Er bringt die
Kraft des Blutes Christi auf unser Gewissen in Anwendung
und reinigt uns durch dasselbe von allen toten Werken. Er
sondert uns von der Welt und ihren Werken ab, nimmt
Selbst Besitz von Unseren Herzen und stellt uns also für
Gott bei Seite. Jetzt erst findet das köstliche Wort, welches
wir in 2. Kor. 6, 16 lesen, auf uns seine Anwendung: „Ihr
seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat:
Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und ich werde
ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein" (2. Mos. 26,
11. 12).
192
Die Art und Weise unserer Bekehrung zeigt uns also
deutlich, an welche Bedingung Gott Selbst unser Verhältnis
zu Ihm geknüpft hat. Ohne unsere Absonderung durch den
Heiligen Geist könnten wir unmöglich in diesem so gesegneten und köstlichen Verhältnis zu Ihm stehen. Welch ein
Vorrecht aber für solche armen und elenden Sünder, wie
wir von Natur sind, daß wir durch die Innewohnung des
Heiligen Geistes Sein Tempel geworden, worin Er wohnt
und wandelt, Sein Volk und Seine Kinder, deren Gott und
Vater Er ist; ja daß Er uns ganz und gar für Sich genommen und uns Seiner göttlichen Natur teilhaftig gemacht hat.
Und um uns in dieses Verhältnis zu bringen — welche
Liebe, welche Gnade, welche Arbeit und Mühe hat es von
Seiten Gottes gekostet! Ist es deshalb nicht sehr traurig, um
nicht mehr zu sagen, wenn wir dies alles so wenig anerkennen und so leicht vergessen; wenn wir leichtsinnig und
nachlässig wandeln und uns durch die Dinge beflecken, wovon wir gereinigt sind, und wenn wir mit der Welt in Dingen Gemeinschaft haben, von welchen uns der Heilige Geist
abgesondert hat. Die Worte: „Darum gehet aus ihrer Mitte
und sondert euch ab, spricht der Herr, und rühret nichts
Unreines an, — und ich werde euch aufnehmen usw." verlieren nie ihre Geltung. Soviel wir selbst jetzt, nachdem wir
Kinder Gottes geworden sind, dieser Absonderung gemäß
leben, soviel werden wir auch die Segnung und die Kraft
dieses Kindesverhältnisses genießen. Der Heilige Geist fand
es für nötig, die Korinther an die köstliche Verheißung des
Herrn und die damit verbundene Absonderung zu erinnern;
und dies wird auch immer bei uns nötig sein, besonders
dann, wenn wir uns in Betreff unseres Wandels mit ihnen
in einem ähnlichen Zustand befinden.
Nur dann, wenn wir die Natur unseres Verhältnisses zu
Gott recht erkannt haben, sind wir auch imstande zu verstehen, was für ein Wandel diesem Verhältnis allein geziemt, nämlich ein Wandel in Untertänigkeit, im Gehorsam,
in dem Gefühl der Abhängigkeit und in der Liebe. Sobald
unser Wandel nicht diesen Charakter hat, vernachlässigen
wir unsere Stellung und unser Verhältnis zu Gott. Die Welt
erkennt und versteht nichts davon; das göttliche Leben ist
ihr ganz und gar fremd. Deshalb ermahnt auch der Apostel:
„Seid nicht in einem ungleichen Joch mit den Ungläubigen!
Denn welche Genossenschaft hat Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? Und welche Übereinstimmung hat Christus mit
Belial? Oder welches Teil hat der Gläubige mit dem Ungläubigen? Und welchen Zusammenhang hat der Tempel
Gottes mit Götzenbildern?" (2. Kor. 6, 14. 15). Eine solche
Gemeinschaft würde im vollsten Widerspruch zu der Natur
27 193
unseres Verhältnisses stehen. Die Welt hat den Herrn aus
ihrer Mitte geworfen und gekreuzigt, weil sie Ihn nicht
kannte; die Glaubenden aber sind Seine Tempel, worin Er
wohnt und wandelt und sind Seiner Natur teilhaftig geworden. Wie wäre es nun aber möglich, daß jene und diese Gemeinschaft haben können? Gewiß nicht anders, als wenn
die Gläubigen ihre Natur verleugnen und sich der Welt
gleichstellen.
Fragen wir, inwieweit diese Absonderung und Reinigung stattfinden soll, so finden wir die Antwort in dem
oben angeführten Vers: „...Geliebte , lasse t un s
v o n alle r Befleckun g de s Fleische s un d de s
Geiste s un s reinigen , di e Heiligkei t i n de r
Furch t Gotte s vollende n d." Also eine völlige Absonderung und Reinigung. Gott will nicht, daß wir eine geringere Heiligkeit haben sollen, als Er Selbst; und es ist ein
unendliches Glück für uns, daß uns Gott an Seiner eigenen
Heiligkeit teilnehmen läßt! Und wenn wir je wünschen oder
nur daran dächten, weniger heilig zu sein als Er, so würden
wir dadurch nur eine große Verachtung Seiner Gnade und
Liebe, und eine Geringschätzung gegen Seine Heiligkeit
und unser eigenes Heil an den Tag legen.
Wir lesen 1. Petri 1, 14-16: „Als Kinder des Gehorsams
euch nicht nach den Lüsten, welche früher in eurer Unwissenheit euch beherrschten, bildend, sondern dem Heiligen
gemäß, der euch berufen hat, seid auch ihr selbst im ganzen
Wandel heilig! Sintemal geschrieben steht: Seid heilig, denn
ich bin heilig" (3. Mos. 11, 44). Es ist ganz naturgemäß, wenn
das Kind sich nach dem Vater bildet, der es gezeugt hat;
und so ist es ja auch ganz naturgemäß, wenn wir in der
Heiligkeit unseres Gottes und Vaters wandeln. Gewiß, es
wird auch also sein, daß, wenn wir die Bedingung unserer
Annahme kennen, die Natur unseres Verhältnisses zu Gott
verstehen und die Gnade, Liebe und Heiligkeit Gottes, so
wie unser kostbares Heil wirklich ehren und hochschätzen,
daß wir uns in dieser Welt von allem trennen, was dem
Herrn nicht wohlgefällt, daß wir eifrig sind, von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes uns zu reinigen und
unsere Heiligkeit in der Furcht Gottes zu vollenden, oder
mit einem Wort, daß wir uns von alledem getrennt halten,
wovon der Herr Selbst getrennt ist.
Nun ist es aber auch wahr, daß „alle diejenigen, welche
gottselig in Christo Jesu leben wollen", — einen Wandel in
der Furcht Gottes führen wollen — „verfolgt werden"
(2. Tim. 3,12). Je unbefleckter wir uns vor der Welt zu bewahren suchen, desto mehr wird diese uns schmähen, hassen
und verwerfen! je mehr wir der Gesinnung unseres Herrn
194
Jesu Christi gemäß, der in stetem Gehorsam gegen Gott
wandelte und Sich von der Welt völlig unbefleckt erhielt,
einhergehen, desto mehr werden wir auch in dieser Welt erfahren, was Er Selbst hier erfuhr. Aber wir finden auch
etwas, was wir nie in der Welt finden konnten, und was unendlich köstlicher ist als alles, was diese uns je darbieten
kann, nämlich die Verheißung Gottes . . . „und ich werde
euch aufnehmen; und ich werde euch zum Vater sein, und
ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der
Herr der Allmächtige." Befinden wir uns in der Stellung
des Gehorsams, die uns allein geziemt, so wird der Herr
auch die ganze Kraft und Tragweite dieser Verheißung an
uns offenbaren und verwirklichen. Überall werden wir Seiner väterlichen Sorgfalt, Seiner tröstenden Liebe, Seiner
wunderbaren Hilfe und Seiner göttlichen Langmut begegnen. Nie wird Er uns versäumen noch verlassen und wir
dürfen stets, wie auch der Apostel den Hebräern Kap. 13, 6
schreibt, mit aller Kühnheit sagen: „Der Herr ist mein Helfer, und ich will mich nicht vor dem fürchten, was mir ein
Mensch tun wird."
Besonders beruhigend und tröstlich ist auch der Schluß
der Verheißung in 2. Kor. 6, 18: „ .. . spricht der Herr , der
Allmächtige. " Unser Vater, der uns aufgenommen hat,
Dessen Söhne und Töchter wir sind und in Dessen Obhut
wir zu jeder Zeit stehen, ist der Herr , der Allmäch -
tige . Er ist Her r über alles und ist auch allmächtig ,
und gewiß hat der Heilige Geist dies Trostwort deshalb hinzugefügt, um unsere Herzen in allen Versuchungen, in allen
Drangsalen und Verfolgungen mit Mut und Trost zu erfüllen. Unser Gott und Vater will und kann uns in jeder
Lage das völlig sein, was Er uns auch verheißen hat; denn
Er ist de r Herr , de r Allmächtige .
Der Herr wolle durch diese köstliche Verheißung einen
lebendigen Eifer für Seine Heiligkeit in unseren Herzen erwecken. Es kommt immer darauf an, welchen Eifer wir für
Ihn Selbst haben; denn dieser bedingt das Maß unseres
wahren Eifers fü r alles, was gut und heilig und vor Ihm
wohlgefällig ist, und ebenso das Maß unseres Eifers gege n
alles, was Sünde, was ungöttlich und was vor Ihm mißfällig ist. Dann auch können wir sagen, daß wir soviel Eifer
für Ihn und Seine Heiligkeit haben, als das Bild Christi,
welcher das Ebenbild Gottes ist, in uns eine Gestalt gewonnen hat, oder als Seine Gesinnung in uns verwirklicht ist.
Der Heilige Geist ist fortwährend bemüht, unsere Absonderung, welche vor Gott in Christo schon vollkommen ist, auch
in unserem praktischen Leben völlig zu machen; und die
Züchtigungen des Vaters haben, wie wir in Hebr. 12, 10
195
lesen, denselben Zweck: „Er aber züchtigt uns zum Nutzen,
daß wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden." Es ist also
nicht allein Jesus, der uns durch Sein Opfer ein für alle Mal
reinigte, um uns für immer in die Gemeinschaft Gottes zu
bringen, sondern wir sehen auch die Sorgen des Vaters und
die Wirksamkeit des Heiligen Geistes beschäftigt, um uns
praktisch in unserem Wandel zu reinigen und abzusondern.
Wie ernst und gesegnet ist diese Wahrheit! und sie wird
uns gewiß nicht leer und unfruchtbar und in dem Wachstum
zur Vollendung der Heiligkeit in der Furcht Gottes gleichgültig sein lassen, wenn anders unsere Herzen ein wahres
Gefühl für die Liebe Gottes haben.
In den Briefen an die Korinther findet der aufmerksame
Leser in dieser Beziehung viele ernste und köstliche Ermahnungen und Exempel. Hier, wie überall in den Briefen
des Apostels Paulus, begegnen wir dessen nachahmungswürdigem Eifer, sowohl in seinem Dienst als auch in seinem
Leben. Er sagt von sich selbst: „Ich zerschlage meinen Leib
und führe ihn in die Knechtschaft." Dieser Eifer für die
Heiligkeit Gottes, diese Absonderung von allem Bösen,
machte ihn fähig, ein Diener Gottes zu sein; und auch wir
werden nur dann in Wahrheit tüchtig sein, anderen zu dienen, wenn wir uns selbst unbefleckt erhalten; denn nur in
dieser Gesinnung haben wir einen wahren Eifer für die
Reinigung anderer. Wir finden dies ebenfalls in dem Dienst
des Apostels bewahrheitet. Er ist stets auf das eifrigste bemüht, wie wir es besonders in seinen Briefen an die Korinther wahrnehmen, jede Art des Bösen aus der Versammlung zu entfernen. Er sagt 2. Kor. 11, 2: „Ich eifere über
euch mit Gottes Eifer; denn ich habe euch einem Manne
verlobt, um euch als keusche Jungfrau dem Christus darzustellen." Sein Herz ist voll überströmender Freude, als er
durch die Ankunft des Titus von den Korinthern erfährt,
daß sein erster Brief eine gute Aufnahme gefunden hatte
und ein Mittel für die Reinigung der Versammlung geworden war. Er sagt in 2. Kor. 7, 4-8: „Ich bin mit Trost erfüllt; ich bin von Freuden ganz überströmend bei aller unserer Trübsal, denn auch als wir nach Mazedonien kamen,
hatte unser Fleisch keine Ruhe, sondern allenthalben waren
wir bedrängt; von außen Kampf, von innen Furcht- Aber
der Gott, der die Niedrigen tröstet, tröstete uns durch die
Ankunft des Titus. Nicht allein aber durch seine Ankunft,
sondern auch durch den Trost, womit er über euch getröstet
ward, indem er uns euer Verlangen, eure Trauer, euren
Eifer um mich kund tat, so daß ich mich desto mehr freute."
— Solch ein überschwenglicher Trost und solch eine tiefe
Freude konnten nur in dem Herzen eines Mannes Raum
196
finden, der also für Gott und Seine Versammlung eiferte.
Und der Gott allen Trostes, der den Kummer Seines demütigen und treuen Knechtes verstand, kannte auch das rechte
Mittel, um ihn aufzurichten — durch die Ankunft des Titus
mit einer guten Botschaft von Korinth. O möchte doch dieser köstliche und gesegnete Eifer des Apostels auch in unseren Herzen reichliche Nachahmung finden.
Es wird uns noch etwas in diesem siebenten Kapitel mitgeteilt, was auf den Gegenstand unserer Betrachtung Bezug
hat, und wohl beobachtet zu werden verdient; ich meine
eben die Mitteilung über den Zustand der Versammlung zu
Korinth, welcher den Apostel mit so großem Trost erfüllte.
Der Eifer für den Herrn und Seine Heiligkeit, sowie der
Eifer gegen das Böse war in die Versammlung zurückgekehrt. Wir lesen Vers 9—11: „Jetzt freue ich mich, nicht,
daß ihr betrübt worden, sondern daß ihr zur Buße betrübt
worden seid; denn ihr seid Gott gemäß betrübt worden, damit ihr in nichts von uns beschädigt würdet. Denn die
Betrübnis Gott gemäß, bewirkt die unbereubare Buße zum
Heil; aber die Betrübnis der Welt bewirkt den Tod. Denn
siehe eben dieses, daß ihr Gott gemäß betrübt worden seid,
— welchen Fleiß hat es in euch bewirkt! — sogar Verantwortung, sogar Unwillen, sogar Furcht, sogar Verlangen, sogar Eifer, sogar Ahndung! — Ihr habt euch in allem dargestellt, daß ihr an der Sache rein seid." — Es gibt eine Freude
wie auch eine Betrübnis, welche der Welt gemäß ist. Wir
finden sie bei denen, die in den zeitlichen Dingen dieser
Welt ihr Leben haben; und die eben durch diese Dinge entweder erfreut oder betrübt werden. Das Ergebnis aber ist
ein trauriges, es bringt den Tod. Und wie betrübend ist es,
wenn die Heiligen Gottes sich in diese Dinge einmischen,
und an dieser Freude und dieser Traurigkeit teilnehmen.
Für die Geliebten Gottes, für die Kinder des himmlischen
Vaters paßt nur d i e Freude und d i e Betrübnis, welche
Gott gemäß ist und Heil bewirkt, — es ist d i e Freude, die
wir bei dem Apostel Paulus, und d i e Betrübnis, die wir
hier bei den Korinthern finden.
Es ist nicht zu verkennen, daß unter den Heiligen in der
gegenwärtigen Zeit beides sehr mangelhaft ist, und dies hat
sicher seinen Grund in der so schwachen Erkenntnis Gottes
und in dem so geringen Gefühl für Seine Heiligkeit und für
Seinen Haß gegen die Sünde. Beides aber kann nur der
Herr in uns erwecken. Er allein kann alles in uns schaffen,
was vor Ihm wohlgefällig ist und wodurch Sein heiliger
Name verherrlicht wird. Er wolle es tun und auch diese
kurze Betrachtung über diesen kostbaren Gegenstand dazu
dienen lassen.
197
Der Blinde, welcher bettelnd am Wege sitzt
(Mark. 10, 46—52)
Welch ein treffendes Bild von dem Menschen ist dieser
Blinde, welcher bettelnd am Wege sitzt! Er ist verfinstert
am Verstand (Eph. 4,18) und am Herzen (Röm. 1, 21) und an
dem Sinne (2. Kor. 4, 4); seine Krone und seine Reichtümer
verloren, sitzt er da, ein unglückseliger Sträfling aus Eden,
arm am Wege.
Wohl ihm! wenn er, wie Bartimäus, sich nicht durch Hinnem rechten Namen um Erbarmen anruft, und weil er blind
ist, nicht mit dem Pharisäer sagt, daß er sehend sei, und
deswegen in seinen Sünden bleibt oder wie später Laodicea:
„Ich bin reich und habe reichlich und bedarf nichts."
Wohl ihm! wenn er wie Bartimäus sich nicht durch Hindernisse, woher sie auch kommen mögen, von Jesu abhalten
läßt, und von Ihm sehend, ja von Finsternis zum Licht in
dem Herrn gemacht wird (Eph. 5, 8; Offb. 21, 24) und Ihm
dann auf dem Pfad des Leidens zur ewigen Herrlichkeit
folgt (Offb. 3, 4; 14, 4).
Gehorsam ist die Freiheit der Heiligen
(Hebr. 13, 17—25)
Der Geist des Gehorsams ist das große Geheimnis aller
Gottseligkeit, und die Ungläubigkeit des Willens ist die
Quelle alles Bösen von Anfang an. Der Gehorsam ist der
allein wahre Zustand der Kreatur, oder Gott müßte aufhören der Höchste zu sein, ja Er müßte aufhören Gott zu
sein. Wo Unabhängigkeit ist, da ist auch immer die Sünde.
Wenn wir uns stets an diese Regel erinnerten, so würden wir
darin eine kräftige Stütze für unser ganzes Verhalten finden.
Es gibt keinen Fall, der uns berechtigt, unserem eigenen
Willen zu folgen. Geschieht dieses aber, so haben wir weder
die Fähigkeit, zu beurteilen ob unser Verhalten richtig sei,
noch die Fähigkeit,, es vor Gott zu bringen. Würde ich auch
198
von der höchsten Autorität der Welt auf das dringendste
aufgefordert, unabhängig zu handeln, so wäre dies kein
Grund für mich, meinen eigenen Willen zu tun.
Die Freiheit des Heiligen besteht nicht in der Erlaubnis,
seinen eigenen Willen zu tun. Eine gänzliche Entsagung unserer selbst — und dies geht sehr weit, wenn wir die Schlauheit des menschlichen Herzens kennen — ist das alleinige
Mittel, um in dem vollen Segen zu wandeln, welcher mit
unserer glücklichen Stellung in dem Dienst Gottes, in dem
Dienst unserer Brüder und dem der Menschheit, verknüpft
ist. Wenn irgend etwas die Freiheit unseres Herrn Jesu hätte
aufheben können, so würde es das gewesen sein, was Ihn
verhindert hätte, allezeit den Willen Gottes zu tun. Alles,
was sich in der Sphäre des menschlichen Willens bewegt,
ist Sünde.
Wir sind geheiligt zum Gehorsam (1. Petr. 1, 2). Das
wahre Wesen der Heiligung besteht darin, selbst keinen
Willen zu haben. Wenn ich auch der Weiseste wäre, und
dies dient dazu, meinen eigenen Willen zu tun, so würde
alle meine Weisheit doch nur Torheit sein. — Die wahre
Sklaverei besteht darin, ein Sklave seines eigenen Willens
zu sein, und die wahre Freiheit darin, seinen eigenen Willen ganz und gar beiseite gesetzt zu haben. Beim Tun unseres eigenen Willens bildet das „Ich" unser Zentrum.
Der Herr Jesus „nahm Knechtsgestalt an, indem er in
Gleichheit der Menschen geworden ist und in (Seiner) Stellung wie ein Mensch befunden, sich selbst erniedrigt hat
und bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz gehorsam
ward" (Phil. 2, 4-8). Der Sünder als solcher hat aufgehört
ein Knecht Gottes zu sein, obgleich Er in der Sünde und in
der Empörung der Sklave eines mächtigeren Rebellen ist, als
er selbst ist. Wenn wir geheiligt sind, so sind wir sowohl in
die Stellung der Knechte, als auch in die der Söhne gebracht. Der Geist der Kindschaft (Sohnschaft) offenbarte
sich gerade in Jesu, indem Er kam, den Willen Seines Vaters zu tun. Satan suchte Ihn durch alle Mittel in diesem
Gehorsam zu schwächen, aber der Herr Jesus wollte von
Anfang bis zum Ende Seines Lebens nie etwas anderes, als
den Willen Seines Vaters tun.
In dem oben angeführten Kapitel wird der Geist des Gehorsams gegen die geltend gemacht, welche die Leitung in
der Versammlung haben. „Gehorchet euren Führern und
gebet nach" (V. 17). Es wird in jeder Sache zu unserem
Nutzen sein, wenn wir nach diesem Geiste trachten. „Sie
wachen zum Besten eurer Seelen" sagt der Apostel, „als die
da Rechenschaft zu geben haben." Jene, welche der Herr in
den Dienst gestellt hat, macht Er Sich Selbst verantwortlich.
199
Dies ist das Geheimnis jedes wahren Dienstes. Nie sollte
das Rech t die, welche vorstehen, wie auch die, welche gehorchen, leiten. Jene sind Diener, und hierin besteht ihre
Verantwortlichkeit. Ein großer Schaden für sie, wenn sie
nicht leiten, nicht ermahnen, nicht zurechtweisen, nicht
tadeln usw.; wenn sie es nicht tun — der Her r wird es
von ihnen fordern. Auf der anderen Seite werden die, die
unter der Leitung stehen, dem Herr n für den Gehorsam
verantwortlich gemacht.
Der große bewahrende Grundsatz von allem Verhalten
in der Versammlung Gottes ist die persönliche Verantwortlichkeit gegen Gott. Zwischen das persönliche Gewissen und
Gott kann nie die Leitung eines anderen treten. Jene, von
welchen in diesem Kapitel als den Führern gesprochen wird,
haben Rechenschaft zu geben, nicht anstat t der Seelen,
die ihnen übergeben, sondern wegen ihres persönli -
che n Verhaltens. Rechenschaft anstat t der Seelen anderer zu geben kann nicht sein, denn: „ein jeglicher von uns
wird für sich selbst Gott Rechenschaft geben" (Röm. 14, 12).
Die persönliche Verantwortlichkeit sichert immer die Aufrechterhaltung der Autorität Gottes. Wenn jene, die zum
Besten der ihnen anvertrauten Seelen wachen, in ihrem
Dienst treu gewesen sind, so werden sie in Betreff ihrer
selbst nicht nötig haben, „mit Seufzen" Rechenschaft zu
geben; es würde ihre Treue aber kein Nutzen für die anderen sein, wenn diese in Ungehorsam gewandelt hätten.
Wenn nicht der Gehorsam unsere Herzen leitet, so ist
alles unrecht, alles Sünde. Nie sollte der Grundsatz, der uns
in unserem Verhalten regiert, der sein: Ich muß tun, was
ich für Recht halte; sondern: Ich muß Gott gehorchen! (Apg.
5, 29). —
Dann sagt der Apostel: „Betet für uns, denn wir sind
der Zuversicht, daß wir ein gutes Gewissen haben, indem
wir willens sind, in allem ehrbar zu wandeln" (V. 18). Es
gibt immer besondere Gefahren für jene, welche fortwährend mit den Dingen Gottes beschäftigt sind, um das „gute
Gewissen" zu verlieren. Keiner ist so sehr einem Falle ausgesetzt als der, welcher stets das Wort Gottes lehrt, wenn
er nicht immerdar Acht hat, ein „gutes Gewissen" zu bewahren. Das beständige Sprechen über die Wahrheit und
das fortwährende Beschäftigtsein mit anderen ist sehr geeignet, das eigene Gewissen einzuschläfern und zu verhärten. Der Apostel sagt nicht: „Betet für uns; denn wir arbeiten mit großem Fleiß u. dergl.", sondern das, was ihm Zuversicht gibt, ihre Gebete in Anspruch zu nehmen, ist, da ß
e r ei n „gute s Gewissen " hat . Wir sehen, daß in
1. Tim. 1, 19 von demselben Grundsatz die Rede ist: „Indem
200
du den Glauben und ein gutes Gewissen bewahrest, welches
etliche von sich gestoßen und was den Glauben betrifft,
Schiffbruch gelitten haben." Wenn wir nicht allen Fleiß anwenden, um ein „gutes Gewissen" zu bewahren, so kommt
Satan und zerstört das Vertrauen zwischen der Seele und
Gott, oder wir kommen in ein falsches Vertrauen. — Wo das
Gefühl der Gegenwart Gottes ist, da ist der Geist des demütigen Gehorsams *). In dem Augenblick, wo ein Christ
sehr im Dienste beschäftigt ist, oder auch, wenn er viel Erkenntnis besitzt und auf irgend eine Weise eine Stellung in
der Versammlung einnimmt, ist immer Gefahr vorhanden,
nicht ein „gutes Gewissen" zu haben.
Es ist sehr gesegnet, zu sehen, welchen Weg der Apostel
in Vers 20 und 21 nach aller Übung und Versuchung des
Geistes einschlägt: Seine Zuflucht ist Gott, und zwar der
„Gott des Friedens". Er, der Apostel, war von ihnen genommen und befand sich selbst in Gefangenschaft und Versuchung; aber dennoch geht er mit der innigsten Teilnahme
in alle die Versuchungen dieser Heiligen hinein. Er ist
ihretwegen, wie uns der ganze Brief zeigt, sehr besorgt; aber
er ist fähig, sich mit aller Ruhe des Herzens zu Gott, als zu
dem „Gott des Friedens" zu wenden.
Wir sind im Frieden berufen. Paulus schließt seine
zweite Epistel an die Thessalonicher mit den Worten: „Er
selbst aber, der Herr des Friedens, gebe euch den Frieden
immerdar auf allerlei Weise." Es gibt beinahe nichts, was
die Seele des Gläubigen mehr zu fühlen nötig hat, als daß
sie des Ausharrens bedarf" (Hebr. 10, 36); wenn sie aber
durch irgend etwas verhindert wird, um zu finden, daß Gott
„der Gott des Friedens" ist, wenn etwa Kummer und Sorgen oder Versuchungen anderer Art dieses für sie verbergen, so ist der Will e de s Fleische s wirksam. Nie
kann der Wille Gottes in Ruhe getan werden, wenn das
Herz durch tausendfache Dinge gequält und verwirrt wird.
Es ist aber beständig unser Vorrecht, im Frieden zu wandeln; in der Gegenwart Gottes von aller Unruhe frei zu
sein, und in völliger Ruhe Seinen Willen zu erforschen. Es
ist unmöglich, diesen Willen zu verstehen und darin zu wandeln, es sei denn, daß wir Gott als „den Gott des Friedens"
*) Das Gefühl der Gegenwart Gottes wird jede Sache auf
ihrem Platz erhalten. — Derselbe Herr hat gesagt: „Ihr alle seid
Brüder"; und: „Stärke deine Brüder!" Um aber in Wahrheit
jähig zu sein, sie zu stärken, wird immer eine schmerzliche Erfahrung des eigenen Willens nötig sein, wie auch in dem Falle
des Petrus. Zwar ist dies nicht etwas, was der Mensch würde
bestimmt haben; aber Gott hat es also geordnet.
201
kennen. Wenn alles, außer Christo, vor dem Angesicht Gottes weggetan ist, so wird auch Gott völlig als „der Gott des
Friedens" erkannt. Das Gefühl meiner Mängel und Gebrechen, meiner Schwachheit und Unvollkommenheit wird
diese Erkenntnis nicht verringern, solange das Auge des
Glaubens Christum in der Gegenwart Gottes erblickt. Verliere ich aber diesen Blick, sehe ich etwa auf die tausendfachen Schwierigkeiten auf dem Wege, seufzt mein Herz
unter den mannigfachen Bürden und Sorgen dieses Lebens,
hat praktisch für mich Gott aufgehört der „Gott des Friedens" zu sein. Es fehlt das einfache, nüchterne Auge, um
Ihn als solchen zu erkennen und zu begreifen.
Es gibt drei Fußstapfen für den Glauben, die wir nie
aus den Augen verlieren dürfen. Zuerst, daß Gott Frieden
gemacht hat durch das Blut des Kreuzes (Kol. 1, 20). Dies
gibt uns Frieden mi t Gott (Röm. 5, 1). — Dann haben wir
in Betreff aller unserer Sorgen und Bekümmernisse die
Verheißung, daß, wenn wir um Nichts in Unruhe sind, sondern in allem durch Gebet und Flehen mit Danksagung
kund werden lassen, „de r Fried e Gottes" , der jede
Vernunft übersteigt, unsere Herzen und Sinne in Christo
Jesu bewahren wird (Phil. 4, 6. 7). Gott Selbst nimmt alle
unsere Sorgen auf Sich; Er beladet Sich mit allem, was uns
trifft; und dennoch ist Er nie beschwert, nie in Unruhe, und
es ist gesagt, daß „sein Friede" unsere Herzen bewahren
wird. Wenn Jesus auf dem unruhigen See wandelte, so war
Sein Herz ebenso ruhig wie immer; denn es ruhte da, wohin
die Wogen und Wellen nicht drangen. — Endlich ist Er „der
Gott des Friedens", allezeit mit uns und wirkt in uns, das
zu wollen und zu tun, was vor Ihm wohlgefällig ist. „Der
Gott aber des Friedens, der den großen Hirten der Schafe,
unseren Herrn Jesum, in dem Blute des ewigen Bundes aus
den Toten wiederbrachte, vollende euch in jedem guten
Werk, um Seinen Willen zu tun, in euch schaffend, was vor
Ihm wohlgefällig ist, durch Jesum Christum, welchem sei
Herrlichkeit in die Zeitalter der Zeitalter! Amen" (V. 20, 21).
Die heilige Kraft Gottes wird hier als solche dargestellt,
welche die Seele in jenen Dingen, die vor Ihm in Christo
Jesu wohlgefällig sind, wandeln läßt.
Es gab Kampf — Kampf mit Satan und in unseren eigenen Gewissen. Dieser Kampf ist auf dem Kreuze des Herrn
Jesu zur Entscheidung gebracht. In dem Augenblick, als Er
aus den Toten auferstanden war, wurde Gott völlig, als der
„Gott des Friedens verkündigt. Er konnte Seinen Sohn nicht
im Grabe lassen. Die ganze Macht des Feindes wurde in
ihrer vollsten Ausdehnung angewandt; aber Gott brachte
den Herrn Jesum in die Stellung des Friedens, und in Ihm
202
auch uns, welche an Ihn glauben; und Gott wurde nichts
weniger als der „Gott des Friedens."
Er ist der „Gott des Friedens", sowohl im Blick auf unsere Sünde, als auch auf unsere Umstände; aber nur in Seiner Gegenwart ist dieser Frieden festgestellt. In dem Augenblick, wo wir uns in Betreff der Umstände in menschliche
Gedanken und Erfindungen einlassen, kommen wir in Unruhe. Nicht nur ist der Friede für uns durch die Genugtuung Christi bereitet worden, sondern er ist auch auf die
Macht Dessen gegründet, welcher Jesum aus den Toten
wieder auferweckt hat; und deshalb kennen wir Ihn als den
„Gott des Friedens". Die Segnung der Heiligen ist nicht
nach den Grundsätzen des alten Bundes, in welchem der
Mensch stets ein Übertreter blieb, ist also nicht auf die
Treue der Heiligen gegründet, sondern auf de n Gott, welcher durch alle Not und Angst und durch die ganze Macht
Satans hindurch, unseren Herrn Jesum aus den Toten wiederbrachte, und also eine ewige Erlösung sicherte (Hebr.
9, 12). Alles, was Gott Selbst als Gericht gegen die Sünde
ausgesprochen, und die ganze gottlose Macht Satans lag auf
Jesu am Kreuz, und Gott Selbst hat Ihn aus den Toten auferweckt. Hier findet die Seele ihren völligen Trost und ihre
vollkommene Zuversicht. Der Glaube spricht: „Nichts vermag uns zu scheiden von der Liebe, die in Christo Jesu, unserem Herrn, ist" (Röm. 8,39). Nachdem alle unsere Sünden
auf Jesum gelegt waren, schritt Gott in der Kraft Seiner
Stärke ein und brachte den großen Hirten der Schafe, unseren Herrn Jesum, in dem Blute de s ewige n Bunde s
aus den Toten wieder. Das Blut war sowohl der Beweis und
das Zeugnis der Liebe Gottes gegen den Sünder, als auch
Seiner Gerechtigkeit und Seiner Majestät gegen die Sünde.
Dieser Bund ist gegründet auf die Wahrheit und die Heiligkeit des ewigen Gottes, welcher in dem Kreuze des Herrn
Jesu völlig befriedigt ist; ja, Sein kostbares Blut hat jede
Forderung Gottes vollkommen zufriedengestellt. Wenn Gott
nicht „der Gott des Friedens" wäre, so müßte das Blut Seines teuren Sohnes für die Sünde nicht hinreichend sein.
Und dies ist aber, wie wir wissen, unmöglich; Gott ruht darin, als in einem lieblichen Geruch.
Die Wirkung von diesem allem auf das Leben des Heiligen ist diese: Sie bringt die Erkenntnis der Gemeinschaft
mit Gott, und die Freude, Seinen Willen zu tun, hervor; Er
„schafft in uns", wie hier geschrieben steht, „was vor ihm
wohlgefällig ist durch Jesum Christum." — Der Gedanke an
das Tun des Willens Gottes ist wohl geeignet, in den Herzen mancher Heiligen die Furcht zu erwecken, daß sie von
Christo getrennt werden könnten. Geschieht dies, so ist
203
dies nur ein Beweis, daß Gott nicht als „der Gott des Friedens" erkannt wird. Sollte auch wohl die Freude in der
Herrlichkeit, wo wir bei Christo sind, durch einen solchen
Gedanken getrübt werden? Und gewiß, das Tun Seines Willens wird auch hier unsere Freude sein, wenn wir Ihn als
„den Gott des Friedens" kennen. Der Apostel sagt: „Nach
meiner sehnlichen Erwartung und Hoffnung, daß ich in
nichts werde zu Schanden werden, sondern mit aller Freimütigkeit, wie allezeit, so auch jetzt, Christus an meinem
Leibe hoch erhoben werden wird, sei es durch Leben, sei es
durch Tod. Denn zu leben ist für mich Christus, und zu
sterben Gewinn. Soll es aber sein, daß ich im Fleische leben
bleibe, so ist es für mich der Mühe wert; und was ich erwählen soll, weiß ich nicht. Beides aber liegt mir hart an,
indem ich Lust habe abzuscheiden und bei Christo zu sein;
denn es ist weit besser. Das Bleiben aber im Fleische ist
nötiger um euretwillen; und in dieser Zuversicht weiß ich,
daß ich bleibe, und zu eurer Förderung und Freude des
Glaubens bei und mit euch allen bleiben werde" (Phil. 1, 20
bis 24). Hier finden wir die Zuversicht zu Gott, als zu „dem
Gott des Friedens" und die Zuversicht zu Seiner bewahrenden und erhaltenden Macht während des Wandels hienieden. Wenn die Seele in der Unruhe des eigenen Geistes
handelt, so kann sie nicht den Segen von der Erkenntnis
von Gott als dem „Gott des Friedens" haben. — Das Fleisch
ist so leicht in Tätigkeit, und wir bedürfen oft der Erinnerung: „Ich bitte euch aber, Brüder, ertraget das Wort der
Ermahnung" (V. 22). Der Geist des Gehorsams ist der
alleinige Geist der Heiligkeit. Der Herr aber schenke uns
die Gnade, allezeit in Seinen Wegen zu wandeln.
Gedanken über 1. Sam. 1, 2
Das, was von Elkana, welcher zwei Frauen hatte, gesagt
ist, scheint uns ein Vorbild auf Christus, sowie auf Israel
und die Kirche zu sein. Hanna repräsentierte die in Gnaden
wieder aufgenommenen Juden, und Peninna die beiseite gesetzten Heiden. Dieses ist es, was wir in dem prophetischen
Gesang Hannas unterscheiden können.
Auch sehen wir das Verderben des Priestertums, sowie
das dem Hause Eli's angekündigte Gericht Gottes. Das Priestertum Aarons und seiner Söhne war ein Vorbild der
Kirche.
204
Die Umstände des jüdischen Volkes unter Samuel, dem
Propheten, unter Saul und David bis zur Erhebung Salomons auf den Thron, bilden die vorbereitenden Begebenheiten ab, welche das Regiment des Messias einführen, d. h.
sie stellen im Vorbild die hauptsächlichsten Tatsachen dar,
welche sich zutragen werden seit dem Augenblick, wo Gott
für dieses Volk wieder zu wirken beginnen wird, bis Jesus
kommen und Sich auf den Thron Davids in Jerusalem
setzen wird.
Das dem Eli angekündigte Wort Gottes ist das gegen
dieses Priestertum abgelegte Zeugnis vor der Ausübung Seines Gerichts. Die Kirche, welche die Kenntnis dessen, was
sich ereignen wird, besitzt, soll ebenfalls zeugen, daß Gott
das christliche Heidentum richten und verwerfen wird. Das
Gericht Gottes wird ausgeführt werden hinsichtlich derer,
welche an dem in der Kirche eingeführten Verderben Anteil
haben (Juda 15).
Unter dem Priestertum Eli's und seiner Söhne beginnt
die Erfüllung des Gerichts gegen diese Ordnung der Dinge.
Als Priester hatte Eli nicht mehr die erforderliche Einsicht:
in einem solchen Zustand ist das Ohr nicht mehr aufmerksam, um den Tadel zu verstehen; auch ist, was sehr bemerkenswert, das dem Eli vorgeführte Zeichen da s Gerich t
selbst , welche s Got t anwende n wil l (Kapitel 2, 4).
Das Gericht gegen das Haus Eli findet erst zur Zeit der
Erhebung Salomons auf den Thron seine Erfüllung (1. Kön.
2, 27-35). Das durch Salomon gegründete Priestertum ist
nach dem Wort Jehovas, welches dem Eli durch den Mann
Gottes angekündigt ward: ei n beständige r Prie -
ster.. . welche r wandel n wir d vo r meine m
Gesalbte n immerda r (V. 35). Die Erfüllung dieses,
unter dem Königtum Salomons dargestellten Vorbildes wird
stattfinden, wenn Christus Sich auf den Thron Seiner Herrlichkeit in Jerusalem setzen wird; — es ist das Priestertum,
welches in der Beschreibung der Ordnung des Tempels erwähnt ist (Hes. 44, 15).
Aaron und seine Söhne repräsentieren das himmlische
Priestertum in dem Charakter und der Stellung, welche Je -
sus durch Seine Auferstehung eingenommen hat; die Stellung der Kirche ist die des Christus, als des vor Gott dem
Vater verherrlichten Menschen. Diese, welche als stellvertretend angekündigt und welche verworfen ist, ist vo r
Seine m Gesalbten . Es ist ein Priestertum in einer
anderen Stellung und ist himmlisch, wie es in der Stiftshütte, de m Sinnbil d de r himmlische n Ding e
vorgebilde t wa r (Hebr. 9, 24), während das andere auf
205
der Erde für den Tempel in Jerusalem in den Tagen ausgeübt wird, wo der Messias auf dem Thron Davids sitzt. Dieses Priestertum wird ebensowenig fallen, wie das wiederhergestellte jüdische Volk, weil Christus die Regierung in
die Hand genommen haben wird. Das, was unter die Hände
des Menschen, unter die Verantwortlichkeit gestellt war,
hat freilich fallen können; aber Gott hat nach Seiner Gnade
Seine Auswahl erhalten. Sein ist die ganze Herrlichkeit.
Eine Unterweisung von einer für uns aus den Nationen
großen Wichtigkeit, leuchtet aus den Versen 27. 28 des 2. Kapitels hervor. Vor der Ausübung des Gerichts dessen, was
sich verderbt hat, erinnert Gott immer, was die Segnung
betrifft, die unter die Hände der Menschen, dieser Gegenstände Seiner Güte, gestellt ist, an die Natur Seiner Berufung nach Seiner Gnade. Gott sagt zu Eli: „Hab e ic h
mic h nich t de m Haus e deine s Vater s ge -
offenbart , d a si e in Ägypte n waren , im Haus e
Pharaos? " Das Haus Aarons war der Gegenstand einer
ganz speziellen Gnade inmitten der Stämme Israels gewesen.
Allein diese Gnade hatten sie vergessen. Deswegen, weil
das Gedächtnis an die Güte Gottes in Betreff ihrer verschwunden war, waren sie in einen Zustand gänzlicher Verderbnis gefallen; und auf diese Weise ist das Gericht das
letzte Hilfsmittel, welches Gott zu ihrer Wiederherstellung
oder zu ihrer unwiderruflichen Ausschließung anwendet.
Ebenso verhält es sich in Betreff der Kirche; auch sie hat
vergessen, die Güte Gottes, dem Ruf Seiner Gnade gemäß;
auch sie wird ihrer unwiderruflichen Ausscheidung durch
das schließliche Gericht Babylons (Offb. 18) entgegen gehen.
Es ist also von der höchsten Wichtigkeit für den Christen,
die Gnade Gottes in Betreff Seiner ursprünglichen Berufung
nicht zu vergessen; erinnern wir uns, woher uns Gott genommen hat, um der Anwendung der Drohung Jesu in Laodicäa: „Ic h wil l dic h ausspeie n au s meine m
Munde" , zu entgehen (Offb. 3, 16).
Das Endziel Gottes und die Mittel Jakobs
(1. Mose 35)
Im 13. Kapitel des 1. B- Mose sehen wir, daß Abraham,
nachdem sich Lot von ihm getrennt hatte, dem Herrn einen
Altar baute. Gott erschien ihm; aber nicht wie das erste
206
Mal, um ihn auf den Weg des Glaubens zu b r i n g e n. Kr
ist auf dem Weg des Glaubens; die Verheißungen sin d
ihm gemacht. Gott gibt ihm jetzt eine genauere Kenntnis
von der Tragweite dieser Verheißungen. „Hebe deine Augen
auf, und siehe von der Stätte, da du stehest, gegen Mitternacht, gegen Mittag, gegen Morgen und gegen Abend. Denn
alles Land, das du siehst, will ich dir geben, und deinem
Samen ewiglich ... . Mache dich auf und ziehe durch das
Land, in die Länge und in die Breite; denn dir will ich's
geben (1. Mos. 13,14-17). Hier haben wir einen großen Grundsatz in Betreff der Trennung von aller Welt.
Wir wollen jedoch jetzt einen anderen Altar betrachten,
den, welchen Jakob bei seiner Zurückberufung bei Bethel errichtete, und diesen ein wenig mit dem Ringkampf Gottes
mit Jakob, als er aus Mesopotamien zurückkehrte, vergleichen. In der Fremde hatte dieser keinen Altar. —
Die Geschichte Jakobs ist die Geschichte eines solchen,
der in der Gunst Gottes steht; der aber auf einem hin- und
herschwankenden Weg und in vielen Fehltritten erzogen ist.
Die Treue Gottes erwies sich in allen seinen Mängeln und
Wanderungen, selbst in seinen Versuchen, die Segnung auf
einem fleischlichen Weg zu erlangen. Dieses Ergebnis drückt
er selbst in seiner Unterredung mit Pharao aus (Kap. 47). Er
naht dem großen Beherrscher der Welt und segnet ihn, ohne
im geringsten zu stocken, während er zu gleicher Zeit eine
sehr traurige Mitteilung über sein eigenes Leben macht. Wir
sehen seine augenscheinliche Überlegenheit in der Gegenwart der Welt; aber im Vergleich mit anderen Heiligen ist
sein Leben ein trauriges gewesen. „Weni g und bös e
waren die Tage meines Lebens." Wenn der geringste Heilige dem höchsten Herrscher der Welt gegenüber gestellt
wird, so ist er doch immer der größte. Es ist aber sehr lieblich, in Jakob diese Niedrigkeit, als ein Ergebnis seiner we -
nige n und böse n Tage, zu sehen. Der Heilige mag zu
seiner eigenen Beschämung manche Fehler vor der Welt zu
bekennen haben; seine Seele aber ist in Gemeinschaft mit
Gott und im Bewußtsein Seiner Segnungen.
Was den Charakter Jakobs betrifft, so war er gewiß ein
Gläubiger, der Gottes Verheißungen schätzte. Esau tat es
nicht; die Schrift redet von ihm, als einer „unheiligen Person". Während Jakob die Verheißungen schätzte, verkaufte
Esau seine Erstgeburt für ein Linsengericht. Doch finden wir
in Jakob nicht diesen Charakter des Glauben s — das
Vertrauen auf Gott, daß Er die Verheißungen auch ausführe.
Er schätzte sie wirklich; aber er gebrauchte fleischliche Mittel, um sie zu erlangen; er verließ sich auf menschliche
Klugheit, anstatt auf Gott. Am Ende sehen wir ihn geseg207
net; aber sein Betragen konnte Gott nicht billigen. Auf seinen Wegen wurde ihm mit demselben Maß gemessen, mit
welchem auch er gemessen hatte. Er wurde selbst stets der
Gegenstand eines ähnlichen Betruges. Er sagt zu Laban:
„Des Tages verschmachtete ich vor Hitze und des Nachts vor
Frost; und es floh der Schlaf von meinen Augen. Also habe
ich diese zwanzig Jahre in deinem Hause zugebracht; habe
dir gedient vierzehn Jahre um deine beiden Töchter, und
sechs um deine Herde, und du hast mir meinen Lohn zeh n
M a l verändert " (Kap. 31, 40. 41). Betrogen mit seinem
Weibe, übervorteilt in seinem Lohn, fern vom Hause seines
Vaters und ein Sklave Labans, ging er auf einem betrügerischen Wege einher, anstatt sich auf die Erfüllung der Segnungen Gottes zu verlassen. In diesem allem sehen wir tatsächliche Züchtigungen für seine Unlauterkeiten. Gott ließ
ihn die Ruhe fühlen; aber zu gleicher Zeit unterstützte Er
ihn auch. Und in dieser Weise verfährt der „Vater der Geister" immer mit den Seinigen.
Als sich Jakob auf seiner Flucht vor Esau am Abend
niedergelegt und einen der umherliegenden Steine als Kopfkissen benutzt hatte, träumte er: „Und siehe, eine Leiter
war gestellt auf die Erde, die rührte mit der Spitze an den
Himmel; und siehe! die Engel Gottes stiegen daran auf und
nieder, und siehe! der Herr stand über ihr und sprach: Ich
bin der Herr, der Gott Abrahams, deines Vaters, und der
Gott Isaaks; das Land worauf du liegst will ich dir und deinem Samen geben; und dein Same soll werden wie der
Staub auf Erden, und du sollst dich ausbreiten gegen Abend,
Morgen, Mitternacht und Mittag; und durch dich und deinen Samen sollen die Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe! ich bin mit dir, und will dich behüten überall, wo du hinziehest, und will dich wieder herbringen in
dies Land; denn ich will dich nicht lassen, bis daß ich tue,
was ich dir geredet habe" (Kap. 28, 12-15). Aber trotz dieser
köstlichen Verheißung und dieser trostreichen Zusage gebrauchte Jakob immer List und menschliche Mittel, um sein
Ziel zu erreichen, sowohl in Betreff des Geburtsrechtes und
des Segens, als auch der Herde Labans (Kap. 30).
Nach einer gewissen Zeit sieht er ein, daß er nicht länger
bei Laban bleiben kann; und er stiehlt sich heimlich von
dort weg, obgleich Gott ihm geboten hatte, in das Land seiner Verwandtschaft zurückzukehren. Laban verfolgte ihn;
aber Gott tritt dazwischen, und wenn jener auch wollte, er
durfte ihm keinen Schaden zufügen. Jakob richtet zum
Zeugnis einen Steinhaufen auf (Kap. 31).
Als er zum ersten Mal vor Esau floh, sah er ein Gesicht
von Engeln, und es wurde ihm offenbart, daß er ein Gegen208
stand der Gunst Gottes sei. Ebenso jetzt. — Zu Bethel hatte
er den Stein, welchen er zu seinen Häuptern gesetzt, als ein
Denkmal aufgerichtet; er hatte ö l darauf gegossen und ein
Gelübde getan. Und darnach sehen wir, daß er durch eine
Reihe von Züchtigungen geht.
Nicht länger fähig bei Laban zu bleiben, erschien ihm
der Herr wieder, und indem Er ihm gebot, in das Land seiner Väter zurückzukehren, sagte Er ihm: „Ich will mit dir
sein!" Und es begegneten ihm die Heere Gottes auf dem
Wege, und er nennt diesen Ort: „Mahanaim", d. h. ZweiLager (Kap. 32, 1. 2).
Jetzt aber hat sich Esau aufgemacht, um ihm zu begegnen, und wiederum offenbart sich in Jakob derselbe Charakter des Unglaubens. Anstatt sich der Worte Gottes zu
erinnern: „Ich will mit dir sein!" und der Tatsache zu gedenken, daß Gottes Heere ihm begegnet sind, nimmt er aufs
neue seine Zuflucht zu fleischlichen Auswegen, um Gnade
zu finden „vor den Augen Esau's", und um „zu versöhnen
meinen Herrn Esau." Wären viertausend Mann anstatt vierhundert bei Esau gewesen, was lag daran? — „Wenn Gott
für uns ist, wer wider uns?" Und dann auch: Welches Recht
und welcher Titel gebührt Esau? Wir erniedrigen uns immer
unter die Kinder der Welt, wenn wir menschliche, hinterlistige Wege in unserem Handeln mit ihnen einschlagen.
Doch der Herr begegnet dem Jakob in Barmherzigkeit! —
Dieser sendet einen Haufen Vieh nach dem andern und auch
Knechte. Nach diesen folgen die Kinder und die Weiber;
und ganz am Ende er selbst. „Und Jakob blieb allein übrig"
(Kap. 32, 24). — Trauriges Bild eines Menschen, der nicht mit
Gott wandelt! Befreit von der Verfolgung Labans, ermutigt
durch die Verheißung Gottes: „Ich will mit dir sein!" und
durch das Gesicht der Heere Gottes zu Mahanaim, — und
doch gab dies alles ihm keinen Mut, und warum nicht? Sein
Herz war nicht mit Gott. Und Gott mußte Selbst die Sache
in Seine Hand nehmen; aber wenn Er den Jakob von der
Hand Esau's befreien sollte, so mußte Er zuvor mit Jakob
selbst zu tun haben.
Auf seiner Flucht nach Mesopotamien hatte Jakob dem
Herrn ein Gelübde getan und gesagt: „So Gott mit mir sein
wird und mich behütet auf diesem Wege, den ich reise, und
mir Brot zu essen geben wird und Kleider anzuziehen, und
ich mit Frieden wiederkehre zu meines Vaters Haus, so soll
der Herr mein Gott sein" (Kap. 28, 20. 21); und jetzt sagt er:
„Gott meines Vaters Abraham, und Gott meines Vaters
Isaak, Herr, der du mir gesagt hast: Ziehe wieder in dein
Land und in deine Heimat, ich will dir wohltun. Ich bin zu
gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an dei28 209
nem Knechte getan hast; denn mit meinem Stab ging ich
über diesen Jordan, und nun bin ich zwei Heere geworden.
O, errette mich von der Hand meines Bruders, von der Hand
Esau's! Denn ich fürchte mich vor ihm, daß er nicht komme
und schlage mich, die Mutter samt den Kindern. Du hast
ja gesagt: Ich will dir wohltun, und deinen Samen machen
wie den Sand am Meere, den man nicht zählen kann vor
Menge" (Kap. 32, 9-12). So sprach er; aber er verstand nicht
auf Gott zu vertrauen.
Wir sehen in Jakob einen Menschen, welcher den Herrn
liebt und Seine Verheißungen schätzt; aber einen Heiligen
Gottes, welcher fortwährend gezüchtigt, und dessen Herz
dennoch nicht gebrochen ist. Gott Selbst mußte sogar mit
ihm ringen. — Ähnlich finden wir es bei dem Petrus. Dieser
liebte auch wirklich den Herrn; aber er hatte nicht den geringsten Begriff von dem, was das Fleisch ist, und deshalb
mußte er durch Läuterungen gehen. „Simon, Simon! siehe,
der Satan hat euer begehrt, euch zu sichten, wie den Weizen. Ich aber habe für dic h gebetet, auf daß dein Glaube
nicht aufhöre, und bist du einst zurückgekehrt, so stärke
deine Brüder" (Luk. 22, 31. 32). Auf dem Weg der Läuterung
wurde er bewahrt. „Ic h hab e fü r dic h gebetet! "
An der Furt Jabbok begegnete der Herr dem Jakob allein.
„Da rang ein Mann mit ihm bis die Morgenröte anbrach."
Dies ist aber nicht das Ringen Jakobs im Glauben mit Gott,
wie oft gesagt wird. „Und da er sah, daß er ihn nicht übermochte, berührte er das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs ward über dem Ringen mit ihm verrenkt" (Kap. 32, 24. 25). Es ist kein Ringen, in welchem alle
Kräfte Jakobs sich zeigen; und in der Folge, während er
fühlte, was es heißt, ein gebrochenes Herz und ein verwelktes Fleisch zu haben, konnte zu ihm gesagt werden: „Du
hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen." — Er empfängt einen Segen: Gott nennt ihn „Israel"*); aber Er weigert Sich, Seinen Namen zu offenbaren.
Und konnte Er als ein Ringender, Seinen Namen kundtun?
— eine Stellung, wozu Er sozusagen durch Jakob genötigt
worden war. „Warum", sagt Er, „fragst du wie ich heiße?
Und Er segnete ihn daselbst." Hier gibt es keine friedliche
und ruhige Kenntnis der wunderbaren Gnade Gottes. Durch
das Ringen ist Jakob der starke Mann Gottes; aber Gott
muß das Fleisch schwächen. Er wird immer die Seele früher
oder später durch Seine Züchtigungen heimsuchen, wenn
das Fleisch nicht geschwächt ist.
*) d. i. der mit Gott kämpft — Kämpfer vnd Überwinder
Gottes.
210
Es war ein Segen, solch einen Namen wie „Israel" zu erhalten — ein Segen, der einem hinkenden Heiligen zukam.
Er hinkte jetzt alle Tage seines Lebens, und Gott hatte Sich
geweigert, Seinen Namen zu offenbaren. Nicht so bei Abraham. Derr Herr sprach zu diesem: „Ich bin Gott, der Allmächtige, wandle vor mir und sei vollkommen!" ..Und als
Er Seine Rede mit ihm geendigt, stieg Gott auf von Abraham." Hier finden wir eine friedliche Gemeinschaft; und
Abraham kann sich für andere verwenden, anstatt für sich
selbst zu ringen (Kap. 17. 18). Nach diesem sagte Gott zu
Jakob: „Mache dich auf und ziehe gen Bethel, und wohne
daselbst und mache daselbst einen Altar dem Gott, der dir
erschien, da du flohest vor deinem Bruder Esau" (Kap. 35,1).
Es scheint in diesem Kapitel, als wenn Gott hier mit Jakob
zuerst anfinge, und gleichsam alles Vorhergehende übersähe,
als wenn noch nichts vorgefallen wäre. „Da sprach Jakob
zu seinem Hause und zu allen, die mit ihm waren: Tut von
euch die fremden Götter, so unter euch sind, und reinigt
euch und wechselt eure Kleider; und lasset uns auf sein und
gen Bethel ziehen, daß ich daselbst einen Altar mache dem
Gott, der mich erhöret hat zur Zeit meiner Trübsal und is t
m i t mi r gewese n au f de m Wege , de n ic h ge -
zoge n b i n " (V. 2. 3). Rahel hatte ihres Vaters fremde
Götter lange mit sich umhergetragen (Kap. 31,19. 30-35). Jakob gedenkt jetzt daran, aber früher hatte er es nicht beachtet. In welch einem geteilten Zustand befand sich sein
Herz! Und so ist es immer, wenn wir nicht auf Gott vertrauen. Jetzt aber, da Jakob in die Gegenwart Gottes treten
will, fühlt er, was sich in dieser Gegenwart geziemt oder
nicht; sein Unterscheidungsvermögen zwischen rein und unrein ist erwacht. Nach allen den Züchtigungen erinnert er
sich jetzt der Liebe und Treue Gottes, die ihm in all seinen
Wegen gefolgt ist. „Da gaben sie Jakob alle fremden Götter,
die unter ihren Händen waren" (V. 4. 5).
Jetzt wird Gott wieder geehrt, und zwar als der treue
Gott, der dem Jakob in den Tagen seiner Trübsal geantwortet hatte, und der auf dem ganzen Wege mit ihm gewesen
war. Zu der Zeit, als Gott den Jakob unter Seine Zucht
brachte, sagte Er: „Ich bin mit dir und will dich erhalten
in allen Orten, wohin du gehst!" — Jetzt sagt Jakob: „Er ist
mit mir gewesen!" — Ja, Er ist der Gott, der, während wir
auf dem Wege fehlen, dennoch auf dem ganzen Wege stets
mit uns ist.
„Und Gott erschien Jakob abermals, nachdem er aus Mesopotamien gekommen war und segnete ihn und sprach zu
ihm: „D u heißes t Jakob ; abe r d u solls t nich t
meh r Jako b heißen , sonder n Israe l solls t d u
211
heißen . Un d als o heiß t ma n ih n Israel " (Vers
9. 10). Dies ist eine lange Zeit nach dem Ringkampf. Jakob
hatte alle seine fremden Götter abgeschafft und begegnet
Gott da, w o E r Sic h ih m offenbare n kann , und
wo Er ihm den neuen Namen „Israel" gibt. Er tut es jetzt,
als wenn Er es nie zuvor getan hätte, und gedenkt nicht seiner früheren Übertretungen. Gott betrachtet ihn als einen,
der stark bei Ihm ist.
„Und Gott sprach zu ihm: Ich bin de r allmächtig e
Got t ! sei fruchtbar, mehre dich: Völker und Völkerhaufen
sollen von dir kommen, und Könige sollen aus deinen Lenden hervorgehen. Und das Land, das ich Abraham und
Isaak gegeben habe, will ich dir geben; und will deinem Samen nach dir dies Land geben. Un d Got t fuh r au f
v o n ihm , a n de m Orte , d a e r mi t ih m gerede t
hatte " (V. 11-13). Das ist es gerade, was Er auch bei Abraham getan hatte. Er macht ihn jetzt nicht hinkend, noch
ringt Er mit ihm, noch verbirgt Er jetzt Seinen Namen.
Vielmehr offenbart Er ihm diesen in allem friedlichen Vertrauen. „Un d e r geh t au f vo n ihm. " Früher hatte
Gott von der Spitze der Leiter zu ihm geredet; jetzt aber
kommt Er zu ihm hernieder. „Und Jakob richtete ein Mal
auf, an dem Ort, da er mit ihm geredet hatte, ein steinernes
Mal, und goß Trankopfer darauf, und begoß es mit öl. Und
Jakob hieß den Ort, d a Got t mi t ih m gerede t
hatte , „B e t hei" , d.i. Haus Gottes (V. 14.15). Da ist kein
Fürchten, kein halbes Verehren. „Wie heilig ist diese Stätte!
usw." (Kap. 28, 17). Sein Name war Jakob , d. i. „Übertreter". Gott aber kann ihm diesen Namen nicht geben; Er
nennt ihn Israel . Er offenbarte sich ihm als Gott, der
Allmächtige ; und Jakob ist fähig, den Ort zu nennen:
„das Haus Gottes."
Hier haben wir die köstliche Belehrung, daß, wenn Gott
mit uns handelt, es nicht nur darum ist, uns die Segnung
des Landes Kanaan zu geben, und die damit verbundene
Freude, sondern daß Er uns züchtigt, um das Fleisch zu demütigen, damit Er Sich uns in friedlicher Gemeinschaft offenbaren kann. Wir mögen, wie Petrus, wirkliche Liebe für
den Herrn haben, oder wie Jakob die Verheißungen in
Wahrheit schätzen; wenn aber das Fleisch nicht gerichtet
ist, so ist dessen Erniedrigung zuerst nötig. Dies mag oft im
Anfang, oft durch Umstände auf dem Wege, oft erst auf
dem Sterbebett geschehen; aber früher oder später muß das
Fleisch, entweder auf eine friedliche oder eine peinliche
Weise gerichtet werden. In Jakob sehen wir das Vertrauen
auf das Fleisch; er stützt sich auf dasselbe zur Erlangung
der Verheißungen Gottes; deshalb gibt es auf seinem ganzen
212
Weg allerlei Züchtigungen; aber am Ende ist die Segnung.
Es kann ein gewisses Trauen auf die Treue Gottes, verbunden mit Glauben an Seine Verheißungen und mit Freude
darin, vorhanden sein, und dennoch, anstatt sich auf die
Macht Gottes in Betreff ihrer Erfüllung zu verlassen, zu
solchen unheiligen Mitteln Zuflucht genommen werden, die
nur Züchtigung und Sorge zur Folge haben. „Irret euch
nicht" sagt der Apostel, „Gott läßt sich nicht spotten! denn
was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten. Denn
wer für sein eigenes Fleisch sät, wird von dem Fleische
Verderben ernten" (Gal. 6. 7. 8).
„Ich bin mit dir und will dich behüten überall, wo du
hinziehest!" (Kap. 28, 15). Dies war das Teil Jakobs beim Beginn; — am Anfang und am Ende fand er die Treue Gottes;
aber er verstand nicht, sich auf dem Wege darauf zu verlassen. An Gott genug zu haben, und nicht auf die Nichtigkeit des Fleisches zu vertrauen, muß gelernt werden; entweder auf eine friedlich e Weise, wenn wir mit Gott
wandeln, oder auf eine schmerzliche , wenn wir einundzwanzig Jahre auf einem fleischlichen Weg einhergehen.
Jakob konnte erst dann im Frieden in Bethel sein, nachdem
er gelernt hatte: „kein Vertrauen auf das Fleisch zu haben."
Er liebte zwar nicht die fremden Götter; aber nie war er zu
Hause durch sein Gewissen genötigt worden, sie hinwegzutun. Jetzt aber war es geschehen, und wir finden ihn im
friedlichsten und überaus glücklichen Selbstgericht vor Gott.
Dahin muß es stets mit uns kommen; mögen auch die Mittel
Gottes, uns dahin zu bringen, noch so verschieden sein; Gott
kann nicht eher mit Seinem Kinde in Bethel sein, bis Er es
von seinem Vertrauen auf das Fleisch entwöhnt hat.
Der Herr gebe uns, auf Ihn allein zu vertrauen, — nicht
allein am Ende, sondern auf dem ganzen Wege! (Übersetzt)
213