Botschafter des Heils in Christo BdH 1862

01/25/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Botschafter des Heils in Christo Jahresband 1862 Seite
Betrachtungen über den ersten Brief des Apostels Paulus an die
Versammlung in Korinth 3 3
Die persönliche Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde 70 70
Der Pharisäer und der Zöllner 101 101
Der Unterschied zwischen der Ankunft Christi und Seiner Erscheinung 107 107
Philippus findet Nathanael 132
Saul von Tarsus 133
Die stete Bemühung Gottes um die Seinen . 138
Meinen Frieden gebe ich euch ... . 140
Das Mitgefühl und die Gnade Jesu 141
Danksaget dem Gott und Vater allezeit für alles 146
Was hat das Blut Christi für uns getan? 149
Trophimus 153
Gewinn für mich . 155
Des Christen Mundschenk 156
Gleichwie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt 156
Hoffen und Besitzen 157
Was ist Friede 158
Vorrecht und Verantwortlichkeit ... . 163
Epaphras 168
Wir sehen aber Jesum ..... . 172
Die Hand des Hirten 173

1862 Die persönliche Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde*) Einleitung

Das Werk Christi war vollbracht, der verheißene Sachwalter, der Heilige Geist, am Tage der Pfingsten herniedergesandt, und in Jeru­salem sah man sehr bald die erste reiche Frucht jenes Werkes und die erste gesegnete Wirkung dieser erfüllten Verheißung. An einem Tage wurden an die tausend Seelen gläubig. Und von dieser großen Schar hören wir das schöne Zeugnis: „Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel, und in der Gemeinschaft, und in dem Brechen des Brotes, und in den Gebeten . . . Die Gläubigen alle aber waren zusammen und hatten alles gemein. Und sie verkauften die Güter und die Habe, und verteilten sie an alle, wie jeder Bedürf­nis hatte. Und indem sie einmütig im Tempel verharr­ten, und zu Hause Brot brachen, nahmen sie Speise mit Frohlocken und Einfalt des Herzens, und lobten Gott und hatten Gunst bei dem ganzen Volke" (Apg. 2, 42—47). — 

Eine solche Versammlung hatte diese Erde noch nie gesehen. Es war die Erstlingsfrucht einer unumschränkten Gnade — einer Gnade, die alle himmlischen Heerscharen mit Bewunderung und Anbetung erfüllte; es waren die Erstlinge aus der Mitte eines Volkes, das seinen Heiland auf eine schreckliche Weise verworfen und gekreu­zigt hatte. Auf diese schändliche Tat antwortete Gott mit einer voll­kommenen Gnade. „D er Herr tat täglich zu der Versamm­lung hinzu, die gerettet werden sollten" (V. 47). Und nichts fehlte dieser so gesegneten Versammlung zu ihrer völligen, Glück­seligkeit, als die persönliche Gegenwart ihres verworfenen und nun in den Himmel aufgenommenen Herrn, dessen Rückkehr verheißen war.

*) Die große Wichtigkeit dieses Gegenstandes veranlaßt mich, den gläu­bigen Leser im Voraus dringend zu bitten, die vorliegende Betrachtung mit Aufmerksamkeit zu lesen, und- auch im Worte Gottes seihst darüber weiter zu forschen. Die wahre Würdigung dieser Tatsache der persön­lichen Gegenwart des Helligen Geistes auf Erden hat sowohl für die Versammlung als auch für den einzelnen Gläubigen die ge­segnetsten Folgen, und darum ist es gewiß der Mühe wert, ihr alle Beach­tung zu schenken.

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 Der Herr aber erwartete vorher die Buße Seines armen und verblen­deten Volkes, und ach! Israel tat keine Buße. Es verhärtete sein Herz immer mehr und mehr und verwarf endlich auch das Zeugnis des Heiligen Geistes. Stephanus, ein Mann voll Glaubens und Heiligen Gei­stes, voll Gnade und Kraft, wurde gesteinigt (Apg. 6. 7), und die Versammlung verfolgt und vertrieben. Israel hatte das Maß seiner Sünden voll gemacht.                                           

Die schreckliche Sünde Israels aber brachte für die Versammlung neue Gedanken der Gnade aus dem Herzen Gottes hervor. Die Welt zwar wurde für sie eine Wüste; sie war ein Fremdling darin; denn sie war verworfen, wie auch ihr Heiland Selbst. Allein derselbe Himmel, der sich für Ihn geöffnet hatte, stand auch für sie offen. Stephanus, der erste Blutzeuge aus dieser verworfenen Versammlung, sah den Himmel geöffnet und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes ste­hen (Apg. 7, 56). Er sah Jesum, als den verherrlichten Men­schen, im Himmel zur Rechten Gottes. Er sah Ihn bereit stehen, Sein irdisches Volk zu richten. Vorher aber sammelte Er Sich ein himmlisches Volk, und offenbarte demselben neue und himmlische Segnungen. Israel, als Volk, wurde für eine Zeit beiseite gesetzt, aber den Natio­nen wurde die Tür geöffnet. Das Evangelium des R e i c h s in Bezug auf diese Erde verstummte vorläufig, aber das Evangelium der Gnade und der himmlischen Herrlichkeit ertönte um so lauter und mächtiger. Der Blick der auf der Erde verworfenen Versammlung wurde zum Himmel gerichtet, wo von jetzt an allein ihr köstliches Teil war.

 Die gesegnetsten Beziehungen zu Gott dem Vater und zu Christo Jesu wurden ihr eröffnet. Eins mit Christo war sie in Ihm gesegnet mit geistlichen Gütern in himmlischen Örtern. Verordnet zur Kindschaft war sie die Erbin Gottes und die Miterbin Christi — Seine Braut — Sein Leib (Eph. 1. 3—23). Ihre innige Beziehung zu Ihm hatte zuerst Saulus in einer schrecklichen und doch für ihn so gesegneten Stunde aus Seinem eigenen Munde gehört. „Saul! Saul! was verfolgst du mich?" Jesus Selbst war es, den er verfolgte — ein Teil von Ihm — Sein Leib. Ein armer, verachteter und verworfener Leib auf Erden hatte sein verherrlichtes Haupt im Himmel. Ein unauflösliches Band, gegründet auf eine vollkommene Liebe, hatte sie auf ewig mit Ihm verbunden. 

Gesegnete Wahrheit! Alle Gläubigen  aus den Juden und den Nationen bildeten von da an einen Körper; jede Scheidewand war abgebrochen; sie waren durch einen Geist zu einem Leibe getauft. „E i n Leib, und ein Geist, wie ihr auch in einer Hoffnung berufen seid: E in Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über alle, und dur.ch alle, und in uns allen ist" (Eph. 4, 4—6). Es gab auf der ganzen Erde nur eine Versammlung — durch die Örtlichkeit allein getrennt — und diese Versammlung war der Leib Christi. Das von Ewigkeit her in Gott verborgene Geheimnis war jetzt enthüllt (Eph. 3, 3—6). Es war in an­deren Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kund gemacht wor­den. Wenn auch nach der Offenbarung desselben, im Alten Testament liebliche Vorbilder gesehen werden, so waren diese doch vorher ganz unbekannt. Die Versammlung erst enthüllte den unausforschlichen Reichtum des Christus, und durch die Versammlung wurde den Fürsten-

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 tümern und Gewalten in den himmlischen Örtern die mannigfaltige Weisheit Gottes kund gemacht (V. 8. 10).

In dieser Versammlung wirkte, ordnete und waltete ein Geist — der Heilige Geist in eigener Person. Und wie schön und herrlich stand sie in ihrer ersten Blüte da! Ihre Liebe und Hingebung, ihre Gemein­schaft und Einheit bezeugten laut, wes Geistes sie war. Ein herrlich und reich geschmückter Tempel von lebendigen Steinen erhob sich in einer öden und dürren Wüste. Alles daran war schön und wohlgeordnet und verkündigte die Weisheit Dessen, der ihn bewohnte. Aber ach! der Feind Gottes, der bis dahin auf der Erde alle Werke Seiner Liebe und Macht durch Betrug der Sünde verdorben hatte, fand auch in die Ver­sammlung seinen Weg. 

Werfen wir unseren Blick auf ihren gegenwär­tigen Zustand, so müssen wir vor Scham und Schande unsere Augen niederschlagen. Vergebens suchen wir jene Versammlung voll Energie des Glaubens, voll Liebe und Treue — vergebens jene Gemeinschaft und Einheit. Beraubt, entzweit, verweltlicht und verworren liegt alles da; nur schwache und elende Trümmer jenes schönen und herrlichen Gebäudes sind übrig geblieben. Und im Blick auf diesen traurigen Zu­stand wird ein liebliches und vom Geist Gottes erfülltes Herz, wie einst Israel an den Füßen Babylons, sich niedersetzen und weinen.

Woher aber kam diese große und traurige Veränderung? Wodurch gelang es dem Feinde, eine solch schreckliche Verwirrung hervorzu­bringen? Einfach dadurch, daß er die der Versammlung am gesegnet­sten und wirksamsten Wahrheiten in den Herzen schwächte oder gar verdunkelte. Und dieses gelang ihm vor allem darin, daß er sie des lebendigen Bewußtseins und der Anerkennung der persönlichen Gegenwart des Heiligen Geistes beraubte — der Gegen­wart Dessen, der ihr als Leiter und Sachwalter gegeben, und dessen alleiniger Dienst es ist, in ihrer Mitte alles zu wirken, zu leiten und zu ordnen, in den Herzen der einzelnen das Leben und die Gesin­nung Christi immer mehr zu verwirklichen und deren Heiligung zu vollenden. An die Stelle des Geistes aber wurde das Fleisch gesetzt — der Mensch fing an, nach seiner eigenen Weisheit und Einsicht zu han­deln — und ach! sehr bald war alles in Verwirrung und Unordnung.

So groß nun aber auch der Verfall sein mag — die Wahrheit Gottes verfällt nicht; und darum bleibt auch diese Wahrheit der persönlichen Gegenwart des Heiligen Geistes unwandelbar fest. Der Herr Selbst hat bei der Verheißung dieses Sachwalters zu den Seinigen gesagt: „Er wird bei euch bleiben in E w i g k e i t." Und glückselig sind diejenigen, die Seinem Worte trauen und mit dankbarem Herzen die empfangene Gabe zu würdigen wissen! Aus diesem Grunde schon ist es sicher der Mühe wert, sich mit dieser Wahrheit recht vertraut zu machen, zu wis­sen, was Gott in Bezug auf dieselbe Wahrheit von uns erwartet, und um so mehr, da die Folgen ihrer Anerkennung oder Vernachlässigung so unermeßlich groß sind. Zugleich laßt uns auch hierin das gesegnete Wort des Herrn beherzigen: „Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung "bei ihm machen."

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 Um einen besseren Überblick über den vor uns liegenden Gegen­stand zu bekommen, wollen wir ihn unter fünf Gesichtspunkte bringen, bei deren Betrachtung uns der Herr durch Seinen Geist leiten wolle.

1. Der Heilige Geist im Alten Testament.

2. Der Heilige Geist während des Wandels Jesu auf Erden.

3. Die Seinen Jüngern vom Herrn verheißene Sendung des Heiligen Geistes.

4. Die Ausgießung des Heiligen Geistes und deren Wirkung.

5. Die Lehre in Betreff der Person und der Wirksamkeit des Heili­gen Geistes in den Briefen der Apostel.

1. Der Heilige Geist im Alten Testament

Der Gedanke an die verschiedenen Verheißungen des Heiligen Gei­stes, an die wunderbare Ausgießung desselben an jenem denkwürdigen Pfingsttage in Apg. 2, und an das Wort des Johannes: „Der Heilige Geist war noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war" (Joh. 7, 39), muß jedem gläubigen Leser der Schrift, der es mit der Wahrheit treu und redlich meint, eine Behauptung wie diese, daß der Heilige Geist immer auf Erden gewesen sei, sehr bedenk­lich erscheinen lassen. Warum denn jene Verheißung Seiner Sendung, wenn Er schon längst da war? Warum Seine Ausgießung an jenem Pfingsttage, wenn Er schon vorher auf Erden war? Und wie konnte Johannes sagen: „Der Heilige Geist war noch nicht," wenn Er doch war? Gewiß, jene Behauptung entbehrt jeglichen Grundes.

 Wenn aber ge­sagt wird, daß der Heilige Geist vom Beginn der Schöpfung an wirk­sam gewesen sei, so ist das die völlige Wahrheit; aber bis zu Seiner Ausgießung wohnte Er nicht auf derselben; Er war nicht als eine bestimmte Person der Gottheit, unterschieden von dem Vater und dem Sohne, offenbart. Und es ist sehr wichtig und zum Verständnis der Schrift durchaus erforderlich, diese Seine Offenbarung von Seiner Wirksamkeit auf der Erde bestimmt zu unterscheiden; denn an­ders kommt man in Gefahr, das helle Licht und die großen Vorrechte des Neuen Testaments durch die Schatten des Alten zu verdunkeln.

Getreu dem Worte im 5. Mos. 6, 4: „Der Herr, unser Gott, ist ein einiger Herr," hat Sich Gott in dem Alten Testament bis zur An­kunft Christi stets als der Einige offenbart. Wenn wir auch durch die Belehrung des Neuen Testaments auf das bestimmteste wissen, daß Gott von Ewigkeit her in drei Personen — in Vater, Sohn und Heili­ger Geist — unterschieden war, so hat Er sich doch bis zur Ankunft Christi in keiner dieser Personen besonders und auf eine bestimmte Weise offenbart. Wir finden im Alten Testament die Verheißung und die Wirksamkeit des Sohnes Gottes, aber nicht Seine persönliche Offenbarung auf dieser Erde, — Er ist als eine vom Vater und dem Heiligen Geist unterschiedliche Person weder bestimmt offenbart, noch gekannt. Ebenso finden wir im Alten Testament die Verheißung und Wirksamkeit des Heiligen Geistes, aber nicht Seine persönliche Offen-

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 barung auf dieser Erde, — auch Er war eine vom Vater und dem Sohne unterschiedliche Person weder bestimmt offenbart, noch gekannt. Beide, sowohl der Sohn Gottes als auch der Heilige Geist, waren fortwährend wirksam, und es wird auch wohl niemand daran zweifeln, daß es bei Gott möglich ist, Sich wirksam zu erweisen, ohne Sich auf eine be­stimmte Weise zu offenbaren.

In Bezug auf die Verheißung des Sohnes Gottes wurde Adam und Eva verkündigt, daß der Samen des Weibes der Schlange den Kopf zertreten sollte, und dem Abraham, Isaak und Jakob verheißen, daß in ihrem Samen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden sollten. Jakob verkündigte diesen Samen als den aus Judas Stamm entsprosse­nen Löwen, Moses als den Propheten, den der Herr aus Israel erwecken würde, David als den Messias, den Gesalbten des Herrn und Jesajas als den Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater. 

Der Hohepriester in Israel war ein Vorbild Dessen, der jetzt zur Rechten Gottes sitzt, und die Opfer des Alten Bundes waren Schatten und Vorbilder des einen Opfers, das auf Golgatha dargebracht wurde. Viele andere Bilder und Ausdrücke des Alten Testaments lassen uns auf das Dasein einer zwei­ten Person in der Gottheit ganz bestimmt schließen, aber die wirkliche Offenbarung derselben, als solche, finden wir nirgend. Selbst ihr Dasein, ihr Charakter und die Verheißung ihrer Erscheinung — dies alles traf erst nach und nach aus dem Dunkel hervor, und zeigte sich immer deutlicher und deutlicher, bis es sich endlich in der Offenbarung des Fleisch gewordenen Wortes völlig erfüllte und- auch geschaut wurde.

Was nun die Wirksamkeit des Sohnes Gottes betrifft, so war Er der Schöpfer aller Dinge. „Denn durch Ihn sind alle Dinge, die in den Himmeln und die auf der Erde sind, die sichtbaren und die unsichtbaren . . . alle Dinge sind durch Ihn und für Ihn geschaffen" (Kol. 1. 16. 17). „Du Herr, hast im Anfang die Erde gegründet und die Himmel sind Werke Deiner Hände" (Hebr. 1. 10). — „Alles ward durch das Wort, und ohne Da s-s eibige ward nicht eins, was geworden ist" (Ev. Joh. 1. 3). — Ohne allen Zweifel war es der Sohn, der im Paradies mit Adam redete, der zu verschie­denen Malen dem Abraham, Isaak und Jakob, dem Moses und so vie­len anderen erschien; ohne allen Zweifel war Er es, der Israel aus Ägypten führte, der ihm einen Weg durch das Meer bahnte, der in einer Wolken- und Feuer-Säule in der Wüste vor ihm herzog, der es speiste und tränkte (1. Kor. 10, 4), der auf Sinai einen Bund mit ihm autrichtete, der es in das Land der Verheißung einführte und ihm Rich­ter, Könige, Propheten und Lehrer erweckte. 

Aus Sacnarja 12 ersehen wir deutlich, daß der Jehova Israels kein anderer war, als Der, in den sie gestochen haben — als der auf Golgatha gekreuzigte Christus. Überall begegnen wir den unverkennbaren Spuren Seiner Wirksamkeit; denn alle Offenbarung Gottes ist durch den Sohn (vergl. Ev. Joh. 1. 18;

14, 9; Matth. 11, 27); die persönliche Offenbarung Seiner Selbst aber — sei es in Seinem Charakter als Sohn Gottes oder auch als Messias — finden wir nirgend, ausgenommen als Verheißung.

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 Ebenso vergeblich werden wir in den Schriften des Alten Testa­ments die wirkliche Offenbarung der Person des Heiligen Geistes suchen; wohl aber finden wir in verschiedenen Verheißungen Seine Ausgießung angekündigt. Die vornehmsten Stellen darüber sind in Hesekiel 39 und in Joel 3, auf deren letztere der Apostel Petrus am Pfingsttage, in seiner Ansprache an die jüdische Nation, als sich erfül­lend, hinweist (Apst.-Gesch. 2, 16—21). Außer den beiden angeführten Stellen gibt es noch einige andere, in Jesajas 32, 15; 44, 3; Hes. 11, 19;

36, 26. 27. Alle diese Stellen bezeugen unzweideutig, daß .die Offen­barung oder Ausgießung des Heiligen Geistes eine noch zu erwartende und nicht eine schon erfüllte Tatsache war.

Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes wird ebenfalls im ganzen Alten Testament deutlich wahrgenommen. Ehe noch der Erde ihre jetzige Gestalt gegeben war, schwebte der Geist Gottes über den Was­sern (1. Mos. 1. 2). Und durch Ihn empfingen die Richter und Könige Weisheit und Macht (vergl. 5. Mos. 34, 9; Rieht. 3, 10; 6, 34; 11, 29; 14, 6;

l. Chron. 13, 18 usw.); durch Ihn dichteten die heiligen Sänger Psalmen und Lobgesänge, und durch Ihn redeten die Propheten von zukünftigen Dingen; denn die Weissagung — sagt der Apostel — ward ehemals nicht durch den Willen des Menschen her­vorgebracht, sondern getrieben vom Heiligen Geiste, redeten die heiligen Männer Gottes" (2. Petr. 1. 21). Er wirkte oft auf eine ganz wunderbare und kräftige Weise; aber Er wohnte nicht in den Gläubigen. Selbst Seine Wirksamkeit war oft vorübergehend und teilte sich sogar Unbekehrten mit (vergl. 4. Mos.11, 25; Kap. 23. 24; 1. Sam. 10, 10; 16, 14).

Voni Beginn der Schöpfung an bis zu jenem Pfingsttage in Apst.-Gesch. 2 war also der Heilige Geist auf dieser Erde wirksam; aber nicht als eine vom Vater und dem Sohne Gottes unterschiedliche Person be­stimmt offenbart und gekannt. Dies will sagen, daß Er für die, in wel­chen und durch welche Er wirkte, nicht eine besondere Person in der Gottheit war; es war immer der einige Gott, der da wirkte — der Geist Gottes, der Geist des Herrn — die in Gott wirkende und von Ihm ausgehende Kraft Gottes, und nicht der persönliche Heilige Geist. Von einer wirklichen Ausgießung des Heiligen Geistes oder einer Sendung desselben auf dieser Erde, finden wir — außer in Verheißungen — im ganzen Alten Testament kein Wort; selbst kein Wort von Seinem Woh­nen im Himmel. Wir finden nur, daß der Geist Gottes wirkte, und -wissen durch die Unterweisungen des Neuen Testaments, daß dieser Geist Gottes die dritte Person in der Gottheit, der Heilige Geist, war.

Diese Offenbarung oder Ausgießung des Heiligen Geistes konnte nicht eher geschehen, bis der Sohn Gottes verherrlicht war (Ev. Joh. 7, 39; 16, 7. 8.), bis Er Sein Werk auf Erden vollbracht und zur Rech­ten Gottes Seinen Platz eingenommen hatte. Das Blut der Versöhnung mußte erst vor dem Gnadenthron sein, ehe der Heilige Geist auf eine schuldbeladene Erde wohnend hernieder kommen konnte; die Herzen der Heiligen mußten zuvor durch den Glauben an dieses kostbare Blut gereinigt sein, ehe Er darin, als in Seinem Tempel, Wohnung nehmen konnte; denn nur durch dieses Blut ist Sein „Bleiben in Ewigkeit" ge­sichert. — Über Israel, als Volk, konnte und wird Er erst dann aus-

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 gegossen werden, wenn sie durch Buße und Glauben zu ihrem verwor­fenen und gekreuzigten Jehova zurückgekehrt sind. — In Bezug auf die Welt kam Er, wie der Herr Selbst sagt, „um sie von der Sünde und von der Gerechtigkeit und von dem Gericht zu überführen. Von der Sünde — weil sie nicht an mich glauben; von der Gerechtigkeit — weil ich zu meinem Vater gehe, und ihr mich nicht sehet; von dem Ge­richt — weil der Fürst dieser Welt gerichtet ist" (Joh. 16, 8—10). Dies alles aber bezeugt uns ganz klar, daß vorher das kost­bare Blut Christi vergossen, daß Er Selbst von der Erde verworfen und im Himmel verherrlicht sein mußte, ehe der Heilige Geist Seinen blei­benden Wohnplatz auf dieser Erde nehmen konnte.

Als nun der Herr erschienen und in Vollendung Seines Werkes nahe war, da tröstet Er Seine Jünger .zu verschiedenen Malen mit die­ser köstlichen Verheißung und verkündigt deren Erfüllung als nahe be­vorstehend, Und sicher, die Herzen der Jünger, die während der Ab­wesenheit ihres geliebten Herrn in einer gefahrvollen Welt zurückge­lassen wurden, konnten durch keinen süßeren Trost beruhigt werden. Ein anderer Sachwalter sollte ihnen gesandt werden, um sie hienie­den zu vertreten, zu leiten, zu unterweisen, zu trösten und zu ermah­nen; und Er sollte bei ihnen bleiben „in Ewigkeit". Waren sie auch für eine Zeit der persönlichen Gegenwart ihres teuern Herrn beraubt, so lebten sie doch im Geiste fortwährend mit Ihm in Gemeinschaft und empfingen stets neue Segnungen aus Seiner unermeßlichen Fülle; denn Er Selbst hatte gesagt: „Von dem Meinen wird Er empfan­gen und euch verkündigen." Gesegnetes Vorrecht! Die Gläu­bigen des Alten Testaments konnten es nicht genießen. 

Sie konnten sich weder das völlige Bewußtsein einer ewigen und vollkommenen Ver­söhnung und Erlösung, einer steten und bleibenden Inwohnung und Versiegelung des Heiligen Geistes, noch einer ungetrübten und vollkom­menen Stellung in der unmittelbaren Gegenwart Gottes erfreuen; denn das Blut der Versöhnung war noch nicht vor dem Gnadenthrone, der Vorhang noch nicht zerrissen und der Heilige Geist noch nicht ausge­gossen. Die Heiligen des Alten Testaments glaubten dem Worte, tröste­ten sich im Glauben der Verheißungen und dieser Glaube wurde ihnen zur Gerechtigkeit gerechnet aber sie standen weder in besonderer Be­ziehung zu dem Vater, noch zu dem Sohne, noch zu dem Heiligen Geiste, weil der Einige Gott Sich noch in keiner dieser unterschiedlichen Per­sonen auf eine bestimmte Weise offenbart hatte; und es ist klar, daß sie nicht über das hinausgehen konnten, was offenbart war. Selbst das völligste Licht über die Verheißungen als solche, und der festeste Glaube daran, konnte ihnen die Erfüllung derselben oder die Offenbarung selbst nicht ersetzen, und darum waren sie auch nicht im Stande, • die Früchte zu genießen, die mit der wirklichen Offenbarung in Ver­bindung standen und davon abhängig waren. Sie erfreuten sich der Ver­heißung und empfingen durch den Glauben ein Zeugnis; „aber" — sagt der Apostel — sie trugen die Verheißung nicht da­von, da Gottfür uns etwas Besseres vorgesehen hat, auf daß sie nicht ohne uns vollkommen gemacht wür­den" (Hebr. 11, 39. 40).

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 Noch ein Wort möchte ich hier hinzufügen. David, der Mann nach dem Herzen Gottes, betete: „Erneuere in meinem Innern einen festen Geist! Verwirf mich nicht von Deinem Antlitz und den Geist Deiner Heiligkeit nimmnicht von mir" (PS. 51, 10. 11)! Würde uns dieses Gebet nicht befremden müssen, wenn dem David die persönliche und bleibende Inwohnung des' Geistes offenbart und bekannt gewesen wäre? Jetzt aber, da dies nicht der Fall, war, und er an die traurigen Erfahrungen Sauls und an seinen tiefen Fall gedachte, konnte er nur mit dieser Bitte vor Gott hintreten. Ebenso sehen wir in Hes. 39 und anderen Stellen, daß der Herr oft vor Israel, wenn es Ihn mit seinen Sünden erzürnt hatte, Sein Antlitz verbarg; und dies konnte geschehen, weil der Heilige Geist noch nicht über dasselbe ausgegossen war. Bei der Verheißung dieser Ausgießung aber sagt der Herr: „Und ich werde mein Antlitz nicht mehr vor ihnen verbergen; denn ich habe mei­nen Geist über das Haus Israel ausgegossen, spricht der Herr" (V. 29). — Oh, glückselig alle, die für immer mit diesem Geist, der ein Geist der Gnade und der Herrlichkeit ist, getauft sind! Sie erfreuen sich in einer ewigen Freiheit der vollkommenen und un­unterbrochenen Gunst und Gnade Gottes.

2. Der Heilige Geist in Verbindung mit der persönlichen Gegenwart Jesu auf Erden.

Der Sohn Gottes war erschienen. „Das Wort ward Fleisch," sagt Johannes, „und wohnte unter uns" — „und wir haben Seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingebornen von [Seinem] Vater — voller Gnade - und Wahrheit" (Ev. Joh. 1. 14). Er kam in Sein Eigentum, und ging umher und lehrte und tat Gutes — Er kam aus dem Schoß des Vaters, um in einer abgefallenen Welt denselben zu offenbaren und den Men­schen zu Gott zurückzuführen; aber ach! die Seinigen nahmen Ihn nicht auf und die Welt kannte Ihn nicht. Jene überlieferten Ihn in die Hände der Nationen, und Er wurde ans Kreuz geschlagen. Gott empfing Ihn aus dem Tode wieder; und auf erweckt durch die Herrlichkeit des Vaters, wurde Er in den Himmel aufgenommen und zur Rechten Gottes gesetzt. — Wir wollen jedoch hier nicht länger bei diesem Gegenstande verwei­len. Durch die Erscheinung Christi in der Welt war die persönliche Offenbarung der zweiten Person in der Gottheit auf Erden auf eine ganz deutliche und bestimmte Weise erfüllt. Alle die Verheißungen der Jahrtausende, die Ihn angekündigt hatten, verstummten, und alle Vor­bilder und Schatten des Alten Testaments wurden in Ihm verwirklicht Und verkörpert.

Was finden wir nun aber während der persönlichen Gegenwart des Herrn auf der Erde in Betreff der Person des Heiligen Geistes? Was wir auch im Alten Testament gefunden haben: Seine Wirksam­keit und Seine Verheißungen; nicht aber Seine Ausgießung oder bestimmte Offenbarung auf Erden, als eine vom Vater und dem

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 Sohne unterschiedliehe Person*). Um dies Letztere klar und eindeutig darzutun, möchte ich hier nur drei Stellen anführen. Die erste finden wir in Matth. 3, "il, wo Johannes der Täufer sagt: „Ich freilich taufe euch mit Wasser zur Buße; der hinter mir her Kommende ist mächtiger als ich. ... Er wird euch mit dem Heiligen Geist taufe n." Jesus war schon auf die Erde herniedergekommen; aber die Taufe mit dem heiligen Geiste war noch eine zu erwartende Sache (vergl. Luk. 3, 16). — Die zweite Stelle ist im Ev. Joh. 7, 38. 39, wo Jesus an dem letz­ten, dem großen Tage des Laubhüttenfestes im Tempel zu Jerusalem ausruft: „Wer an mich glaubt, gleichwie die Schritt sagt,, aus dessen Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen." Und erklärend fügt Johannes hinzu: „Dieses aber sagte Er von dem Geiste, welchen die an Ihn Glaubenden empfangen sollten; denn der Hei­lige Geist war noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war." — Es ist auch hieraus ganz klar, daß die Sendung des Heiligen Geistes noch zu erwarten stand. 

— Die dritte Stelle endlich finden wir in Apst.-Gesch. 1. 5, wo Jesus im letzten Augenblick vor Seiner Auffahrt gen Himmel Seinen Jüngern b'ezeugt: „Johannes taufte wohl mit Wasser; ihr aber werdet nach nicht vielen Tagen mit <1 e m Heiligen Geist getauft werde n." — Also auch da war diese Sache noch nicht vollzogen und blieb immer noch eine zu erwar­tende Sache. Es ist daher völlig gewiß, daß deren Erfüllung bis zu je­nem Pfingsttage in Apst.-Gesch. 2 in keiner Stelle der Heiligen Schrift als verwirklicht gefunden wurden, und also auch von einer bleibenden Inwohnung Seiner Person in den Herzen der Gläubigen nicht die Rede sein kann. Und wie könnte auch überhaupt noch eine Verheißung statt­finden, wenn die verheißene Sache schon vorhanden wäre? Wenn wir also den Heiligen Geist vor Seiner Ausgießung in Verbindung mit den Menschen sehen, so kann nur von Seiner Wirksamkeit — Seiner Kraftäußerung und Seinen Gaben die Rede sein, nicht aber von Seiner bleibenden Inwohnung. — Laßt uns nun, unter der Leitung des Geistes, zunächst diejenigen Stellen der vier Evangelien untersuchen, die auf Seine Wirksamkeit Bezug haben, und dann die darin enthalte­nen Verheißungen etwas näher betrachten.

Zunächst erinnern wir an die Stelle in Luk. 1. 15, wo dem Zacha-rias in Bezug auf den ihm verheißenen Sohn Johannes gesagt wird:

„Er wird groß sein vor dem Herrn; weder Wein noch starkes Getränk wird er trinken, und schon vom Mutterleibe an mit dem Hei­ligen Geiste erfüllt werden." — Wenn hiermit nun nicht, wie wir vorhin gesehen haben, die bleibende und persönliche Inwoh­nung des Geistes ausgesprochen ist, was ist dann damit gemeint? Jo­hannes wurde vom Mutterleibe an in einer außerordentlichen Weise mit der Kraft und den Gaben des Heiligen Geistes erfüllt, wie es Sei­ner bevorzugten Stellung, als Vorläufer des Herrn, angemessen war. — Ebenso lesen wir von Elisabeth, seiner Mutter, daß sie bei dem Gruß der Maria mit dem Heiligen Geiste erfüllt wurde; und sie weissagte über sie und über die gesegnete Frucht ihres Leibes (Luk.

*) Über Seine Offenbarung bei der Taufe Christi werden wir später reden.

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 1. 40—45). Und ebenso wurde Zacharias bei der Beschneidung seines Sohnes mit dem Heiligen Geiste erfüllt; und wurde gleichfalls dadurch befähigt, über jenen und besonders über Christum zu weis­sagen. Wir haben hier also einfach die Wirksamkeit des Geistes, eine besondere Mitteilung Seiner Kraft und Seiner Gaben, die den Johannes -zu seinem Amte ausrüstete und Zacharias und Elisabeth zu weissagen befähigte. — Daß aber eine solche besondere Erweisung der Kraft und Wirksamkeit des Heiligen Geistes nicht Seine Inwohnung selbst war, erhellt schon daraus, daß jene auch sogar dann stattfinden konnte, wenn diese schon verwirklicht war. So wurde Petrus, als er mehrere Tage nach jenem Pfingsttage vor dem hohen Rat stand, mit dem Heili­gen Geiste erfüllt (Apst.-Gesch. 4, 8), und gab mit der größten Freimütigkeit Zeugnis von ihrer Sünde in der Verwerfung Christi. Und ebenso lesen wir in V. 31 desselben Kapitels, als Petrus und Johannes aus jenem Verhör zu den Ihrigen zurückgekehrt waren und sie ein­mütig ihre Stimme zu Gott erhoben hatten, daß „sie alle mit dem Heilig e n Geiste erfüllt wurden" und das Wort Gottes mit Freimütigkeit redeten. — Dies Erfülltsein und die persönliche Inwoh­nung des Heiligen Geistes waren also zwei verschiedene Dinge, die so­wohl zusammen, als auch getrennt vorhanden sein konnten.

Eine andere Stelle in Betreff der Wirksamkeit des Heiligen Geistes finden wir in Luk. 1. 35, wo der Engel Gabriel der Jungfrau Maria er­scheint und ihr verkündigt: „Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten;

darum wird auch das Heilige, was geboren wird, Gottes Sohn genannt werden." Und in Matth. 1. 18 wird bezeugt, daß Maria schwanger f., erfunden wurde von dem Heiligen Geiste, und dem »Joseph, ihrem Verlobten, im Traum gesagt: „Fürchte dich nicht, Maria, .ttein Weib, zu dir zu nehmen; denn was in ihr gezeuget ist, .:;ii3 t v o m H e i l i g e n Geist e" (V. 20). ,Hier haben wir also eine ganz |3fe:e sondere Art der Wirksamkeit des Geistes — Seine Zeugung des, ySohnes Gottes im Mutterleibe der Maria.

Weiter lesen wir von dem alten Simeon, der auf den Trost Israels artete, daß der Heilige Geistauf ihm war (Luk. 2, 25). • stand unter der besonderen Weisung und Leitung dieses Geistes, wie »?lr dies schon bei den Gläubigen des Alten Testaments gesehen haben. |3Ss war ihm von dem Heiligen Geiste ein göttlicher Ausspruch ^worden: er solle den Tod nicht sehen, bevor er den Christ des Herrn lesehen habe. Und er kam durch den Geist in den Tempel" (V. 26. El). —Dies sind wohl die einzigen Stellen in den vier Evangelien, wo |t»B dem Heiligen Geiste, als wirkend in den Gläubigen, die Rede ist, |l|»gleich außerdem noch von Seiner Wirksamkeit im allgemeinen ge­brochen wird. Im Ev. Joh. 6, 63 sagt Jesus: „Der Geist ist es, der le-teendig macht"; in Luk. 12, 12 beruhigt Er Seine Jünger in Bezug auf gare Verantwortung vor der Obrigkeit durch die Worte: „Der Heilige @-e ist wird euch in der Stunde lehren, was ihr sagen sollt," und im 6y. Joh. 3, 5 bezeugt Er dem Nikodemus, daß der Eingang ins Reich Bottes von einer Wiedergeburt aus Wasser und Geist abhängig sei. — ihe wir aber zu den Verheißungen des Heiligen Geistes über­ehen, müssen wir noch vorher einige Stellen in Bezug auf Seine Ver-

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 bindung mit der Person Christi, während Seines Wandels auf Erden, betrachten.

Wenn wir auch mit einer heiligen Scheu in diesen Gegenstand ein­gehen, da er immer unsere Begriffe übersteigen wird, so dürfen wir doch davon reden, weil er zu den geoffenbarten Wahrheiten gehört. Es hängt bei diesem so wunderbaren Geheimnis alles von dem Charakter der Stellung ab, die der Herr auf dieser Erde einnahm. Obwohl von Ewigkeit her Selbst Gott und eins mit dem Vater, obwohl Herr des Himmels und der Erde,' Schöpfer und Erhalter aller Dinge, so verließ Er doch um unseretwillen Seine Herrlichkeit und war auf der Erde in Gleichheit des Fleisches der Sünde, machte Sich Selbst zu nichts, nahm Knechtsgestalt an und verherrlichte als ein völlig abhängiger und ge­horsamer Mensch stets Seinen Vater. Überall begegnen wir bei Seinem Wandel dieser Abhängigkeit und Unterwürfigkeit, und Er Selbst be­zeugt: „Ich kann nichts von mir Selbst tun . . . Denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen Des­sen, der mich gesandt hat" (Ev. Joh. 5, 30). „Mein Vater i,s t großer als ich" (Ev. Joh. 14, 28). „Siehe, ich komme . . . Deinen Willen, o Gott, zu tun" (Hebr. 10, 7; PS. 40, 7. 8). In dieser Unterwürfigkeit redete und handelte Er; und alles, was Er re­dete, und alle Seine Handlungen und Wunderwerke waren durch die Kraft des Heiligen Geistes, den „Er nicht nach Maß besaß" (Ev. Joh. 3, 34). Durch diesen Geist wurde Er in die Wüste geführt (Matth. 4, l;

Luk. 4, l), um vom Teufel versucht zu werden; durch diesen Geist lehrte, tröstete und heilte Er (Luk. 4, 18) und in Kraft dieses Geistes trieb Er Teufel aus (Matth. 12, 28). — Auf eine ganz besondere und ausgezeich­nete Weise kam dieser Geist auf Ihn hernieder, als Er von Johannes getauft wurde. Er unterzog Sich dieser Taute, um Sich mit dem treuen Überrest Israels zu vereinigen, der, gehorsam dem Worte Gottes, sich der Taufe des Johannes unterwarf, um auf einem neuen Grunde — auf dem der Buße und Vergebung der Sünde — mit Gott in Verbindung zu treten. Und als Jesus aus dem Wasser heraufstieg, wurde der Him­mel aufgetan und der Heilige Geiststieg in leiblich er Ge­stalt, gleichwie eine Taube, auf Ihn hernieder; und es geschah eine Stimme aus dem Himmel, welche sagte: „Du bist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe" (Markus 1. 10; Luk. 3, 21. 22; Joh. 1. 32. 33). — Zum ersten Male haben wir hier die drei Personen der Gottheit deutlich offenbart. 

Der Vater zeugt vom Himmel, daß Jesus, der auf der Erde war, Sein geliebter Sohn sei; wir sehen hier Jesum, den Sohn Gottes, und sehen den Heili­gen Geist, in leiblicher Gestalt auf Ihn hernieder kommend. Den­noch war dies nicht die Ausgießung des Heiligen Geistes in die Herzen der Gläubigen, noch Sein persönliches Wohnen auf der Erde; sondern Er kam allein auf Jesum; und Er, der Sohn Gottes, war der Einzige, der während Seines Wandels auf der Erde die Person des Heiligen Geistes in Sich wohnend hatte

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3. Die Seinen Jüngern vom Herrn verheißene Sendung des Heiligen Geistes

Erst am Ende der Laufbahn des Herrn, auf dieser Erde hören wir aus Seinem Munde diese Verheißungen. Drei Jahre lang hatten die Jün­ger ihren geliebten Herrn begleitet, waren vom Ihm belehrt, ermahnt, vor allem Übel bewahrt und mit vieler Langmut getragen worden. Jetzt war der Augenblick nahe gerückt, wo Er von ihnen scheiden mußte; — Er ging, um für sie zu sterben. Die Erde konnte Ihn nicht länger behalten; Er mußte dahin zurückkehren, von wo Er ausgegan­gen war; und diesmal konnten -Ihm Seine vielgeliebten Jünger nicht folgen. Sie mußten auf einer Erde zurückbleiben, wo di& Sünde wohnte und wo Satan seine Herrschaft ausübte — in einer Welt, die Ihn ver­warf und kreuzigte. Was war da natürlicher, als daß ihre Herzen traurig wurden, wenn Er vom Weggehen sprach? In Ihm verloren sie ihren Rat­geber und Führer — ihren besten Freund, der ihr völliges Vertrauen und ihr ganzes Herz besaß; sie verloren den, an dem sie, verbunden durch das zärtlichste Band der Liebe, mit aller Innigkeit ihres Herzens hingen, von dessen Lippen sie die Worte des Lebens gehört und auf dessen Gegenwart sie ihre ganze Hoffnung gesetzt hatten.

Was konnte da den Jüngern näher liegen, als tief betrübt zu sein, um so mehr, da sie noch so wenig die große Bedeutung und Notwendigkeit Seines Hingangs verstanden, und darin nidits anderes erblickten, als eine gänzliche Auf­lösung ihrer süßen Hoffnungen in Betreff der Erlösung Israels und ein völliges Zerreißen jenes lieblichen Verhältnisses, das bis dahin ihre Herzen so glücklich gemacht hatte? Der Herr Selbst aber wußte, was in ihren Herzen vorging. Er kannte ihre Gefühle und verstand ihren gan­zen Schmerz; und Er beruhigt sie mit dem süßen Trost, daß sie nie mehr von Ihm getrennt werden sollten — nur für eine kurze Zeit dem Leibe nach. Er blieb ewig mit ihnen verbunden; sie waren und blieben Seinem Herzen für immer teurer, und Er ging nur hin, um durch Seinen Tod dieses Band unauflöslich zu machen, und durch Seinen Hingang zum Vater ihnen droben die Stätte zu bereiten. Dann wollte Er zurückkom­men und sie zu Sich nehmen, auf daß sie für immer bei Ihm seien ; und zu gleicher Zeit verheißt Er ihnen einen anderen Sachwalter, der vorher kommen sollte, um auf ewig bei ihnen und i n ihnen zu sein. „Ich werde den Vater bitten und Er wird euch einen anderen Sachv/alter geben, daß Er bei euch bleibe in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht siehe t, noch ihn kennet. Ihr aber kennt Ihn, denn Er bleibt bei euch und wird in euch sein" (Ev. Joh. 14, 16, 17.) „Der Sachwal­ter aber, der Heilige Geist, welchen der Vater in meinem Name n" senden wird, Jener wird euch alles lehren und wird euch an alles, was ich euch gesagt habe, erinnern" (V. 26). „Wenn aber der Sachwalter gekommen ist, welchen ich euch von dem Vater sen­den werde, der Geist der Wahrheit, der von dem Va­ter ausgeht, Er wird von mir zeugen" (Ev. Joh. 15, 26). 

 „Wenn aber Jener, der Geist der Wahrheit, gekom­men sein wird, wird Er euch in die ganze Wahrheit leiten; denn Er wird nicht aus Sich Seiher reden, sondern alles, was Er immer hören wird, wird Er re­den unddas Kommende wird Er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinigen wird Er empfangen und euch verkündigen" (Ev. Joh. 16, 13. 14).

Dies sind die bestimmten Verheißungen des Herrn in Betreff der Sendung des Heiligen Geistes. Er verheißt den betrübten Jüngern einen anderen Sachwalter, der ihnen Seine Stelle auf der Erde ersetzen sollte; Er verheißt ihnen die Person des Heiligen Geistes, und nicht — wie oft behauptet worden ist — nur eine besondere Kraft. Dies geht ganz unzweideutig aus den Eigenschaften hervor, die der Herr bei Seiner Verheißung dem zu sendenden Geiste beilegt; denn eine Kraft kann nicht lehren, Zeugnis ablegen, in die Wahrheit leiten, das Hö­rende reden und das Kommende verkündigen. Dies kann nur von einer Person gesagt werden. Wohl sagt der Herr in Apst.-Gesch. 1. 8: „Ihr werdet Kraft empfangen, indem der Heilige Geist auf euch kommt;" aber dies will doch keinesfalls sagen, daß sie die Kraft empfangen sollten, ohne die Person des Heiligen Geistes, sondern mit derselben; und wir sehen namentlich in der ersten Zeit nach der Aus-gießung desselben, daß Er Sich sowohl durch die Apostel als auch durch andere in dieser Kraft auf eine ausnehmende Weise offenbarte.

Ganz in Übereinstimmung mit dem oben Gesagten lesen wir in Apst.-Gesch. 13, 2: „Als sie aber dem Herrn dienten und fasteten, sprach der Heilige Geist: Sondert mir nun den Barnabas und den Saulus aus zu dem Werke, wozu ich sie berufen habe;" weiter in Apst.-Gesch. 15, 28: „Es hat dem Heiligen Geiste und uns gut geschienen usw."; und in 1. Korinth. 12, 11 bezeugt der Apostel: „Alle diese Dinge wirkt ein und derselbe Geist, jegli­chem insbesondere austeilend, wie Er wil l." Es kann aber nur von einer Person und nicht von einer Kraft gesagt wer­den, daß sie redet, zum Werke beruft, ihre Meinung kundgibt und selb­ständig Gaben austeilt; daher ist es ohne allen Zweifel, daß die Jünger die Person des Heiligen Geistes empfangen sollten, um in Ewigkeit bei ihnen zu bleiben — nicht, wie Jesus, eine Zeitlang von ihnen weg­gehen; — Er sollte aber nicht nur ewiglich bei ihnen bleiben, sondern auch in ihnen sein.

Wann aber sollte der Heilige Geist hernieder kommen? Der Herr Selbst gibt die Antwort. „Doch ich sage euch die Wahrheit; es ist euch nützlich, daß ich hingehe. Denn wenn ich nicht hingehe, wird der Sachwalter nicht zu euch kommen. Wenn ich aber hingehe, werde ich Ihn zu euch senden" (Ev. Joh. 16, 7). Zuerst mußte der Herr Sein Erlösungswerk vollbracht haben und in den Himmel eingegangen sein, ehe Er Seinen Jüngern den verheißenen Geist senden konnte. Diese Sendung war also von Seinem Hingang ab­hängig; der Heilige Geist konnte vorher Seine Wohnung nicht auf der Erde nehmen. Wenn Er kam, sollte „Er die Welt von der Sünde, von der Gerechtigkeit und von dem Gericht überführen (V. 8—10). Seine

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 Gegenwart war für die Welt der Beweis ihrer Sünde, die sich in der Verwerfung Christi konzentriert hatte — der Beweis der Gerechtig­keit Gottes, der den Gerechten, den sie verworfen, zu Sich aufgenom­men, und der Beweis von dem Gericht des Fürsten dieser Welt, als solchem, der wider seinen Willen die Absichten Gottes in Gnade erfüllt hatte, wodurch seine Macht gebrochen und der Macht des Geistes völlig unterworfen war.

Bevor nun der Herr kurz vor Seiner Himmelfahrt die Verheißung in Betreff des Heiligen Geistes noch einmal wiederholt, wird uns in Joh. 20, 21—23 ein Ereignis mitgeteilt, bei dem wir einen Augenblick verweilen müssen. — Als Sich Jesus nach Seiner Auferstehung in der Mitte Seiner Jünger befand, die bei verschlossenen Türen versammelt waren, sagte Er: „Friede euch! Gleichwie mich der Vater gesandt hat, sende ich euch. Und als Er dieses gesagt hatte, hauchte Er sie an und spricht zu ihnen: Empfanget (den) Heiligen Geist. Wel­chen ihr irgend die Sünden vergebet, denen sind sie vergeben, und welchen ihr irgend sie behaltet, denen sind sie behalten." — Der auf­erstandene Christus brachte hier Seinen Jüngern den Frieden, den Er gemacht, und den sie infolge Seines Werkes und Seines Sieges besaßen;

und bekleidet und erfüllt mit demselben, sendet Er sie in die Welt, gleichwie der Vater Ihn gesandt hatte, um auch Anderen diesen Frie­den zu bringen. Zu diesem Zwecke gibt Er ihnen auch (den) Heiligen Geist, damit sie fähig seien, gemäß Seiner Macht die Vergebung der Sünden in eine Welt zu tragen, die unter dem Joch ihrer Sünden seufzt und dem Verderben entgegengeht. Wenn nun aber nachher der Herr in Apst.-Gesch. 1. 4. 5 Seine Verheißung in Betreff der Sendung des Hei­ligen Geistes wiederholt, so kann bei dieser Mitteilung des Geistes kei­nesfalls die Erfüllung dieser Sendung oder Ausgießung stattgefunden haben, da sonst die wiederholte Verheißung ganz überflüssig gewesen wäre. 

Vielmehr empfingen die Jünger in dieser Mitteilung des Heiligen Geistes in Joh. 20 den Odem des göttliyhep- T.phens Jesus führte sie auf dem Auferstehtmgsgrunde, alsErstlinge, in die neue Schöpfung ein, indem Er ihnen das Auferstehungsleben einhauchte, so wie Gott dem Adam, bei dessen Einführung in die erste Schöpfung, den Odem des Lebens in seine Nase blies. Wir haben hier also den Geist als Le­ben und nicht als bei und in ihnen bleibende Person, wie bei der Ausgießung am Ptingsttage; denn — ich sage noch einmal — wenn der Herr im letzten Augenblick Seiner Himmelfahrt Seine Verheißungen wiederholt und Seinen Jüngern befiehlt, „sich nicht von Jerusalem zu entfernen, sondern die Verheißung des Vaters zu erwar­ten," und wenn Er ihnen sagt: „Ihr werdet nach nicht vielen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft werden," daß man jene Verheißungen, sowie alle vorhergehenden des Alten Testa­ments erst am Pfingsttage in Apst.-Gesch. 2 ihre wirkliche und be­stimmte Erfüllung gefunden haben. Und mit dieser Überzeugung gehen wir jetzt zu diesem so unermeßlich wichtigen und gesegneten Ereignis selbst über.

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4. Die Ausgießung- des Heiligen Geistes und deren Wirkung

Die Verheißungen Gottes können nimmer fehlen. Getröstet über den Hingang ihres geliebten Herrn, dessen Rückkehr jene beiden Män­ner in weißem Kleide bei Seiner Himmelfahrt aufs neue verkündigten (Apst.-Gesch. 1. 10. 11), kehrten die Jünger vom Ölberg nach Jerusalem zurück, und blieben daselbst auf einem Obersaal. „Und alle hielten sich einmütig am Gebet und Flehen mit de'n Weibern und mit Maria, der Mutter Jesu, und mit Seinen Brü­dern" (Kap. 1. 14). „Und als der Tag der Pfingsten erfüllt wurde, waren sie alle einmütig zusammen. Und plötz­lich geschah aus dem Himmel ein Brausen, wie eines rauschenden, gewaltigen Windes, und erfüllte das ganze Haus, wo sie saßen. Und es erschienen ihnen zerteilte Zungen wie von Feuer, undes setzte sich auf einen jeglichen von ihnen. Und sie wurden alle mit dem Heiligen Geiste erfüllt, und fingen an, in frem­den Sprachen zu reden, wie der Geist es ihnen auszu­sprechen gab" (Kap. 2, l—4). — Jetzt waren alle Verheißungen, sowohl Alten als Neuen Testaments, in Betreff der Sendung des Heili­gen Geistes auf dieser Erde, erfüllt und verstummten für immer. Die dritte Person in der Gottheit war jetzt auf eine deutliche und bestimmte Weise den Menschen geoffenbart. Jesus war zur Rechten Gottes ver­herrlicht und der Heilige Geist unter sichtbaren und herrlichen Zeichen vom Himmel hernieder gekommen und in den für Ihn bereiteten Wir­kungskreis eingetreten.

Dies wunderbare Ereignis brachte die Menge der Juden zusammen. „Von allem Volk derer, die unter dem Himmel waren" (V. 5), waren an jenem Pfingstfeste in Jerusalem versammelt, und wurden bestürzt, als sie aus dem Munde dieser armen und ungelehrten Galiläer, die großen Taten Gottes, ein jeglicher in seiner eigenen Mundart, verkündigen hörten. Andere auch sagten spottend: „Sie sind voll süßen Weines" (V. 6—13).

„Da stand Petrus mit den Elfen auf, erhob seine Stimme und sprach zu ihnen: .... Diese sind nicht trunken, wie ihr meint, . . . sondern dies ist es, was durch den Propheten Joel gesagt ist: „Und es wird in den letzten Tagen geschehen, spricht Gott, ich werde von mei­nem Geist auf alles Fleisch ausgießen usw." (V. 14—21;

vergl. Joel 3, l—5). — Auf die schreckliche Sünde Israels hatte Gott in Gnade geantwortet, indem Er jene gesegnete Verheißung in Erfüllung brachte. Dieser Jesus, den sie gekreuzigt hatten, hatte die Verheißung des Vaters empfangen und das ausgegossen, was diese Wirkung, die sie hörten und sahen, hervorbrachte (V. 33). Sie hatten den Gerechten ge­tötet; aber Gott hatte Ihn auf erweckt und zu Seiner Rechten gesetzt. Der Heilige Geist war hernieder gekommen und gab Zeugnis davon. Und dieses Zeugnis von dem auferstandenen Christus und von der Herrlichkeit Gottes in der Person des Heiligen Geistes in der Mitte Is­raels bewies die noch fortdauernde Handlungsweise Gottes in Gnade, obgleich mit neuer Verantwortlichkeit verbunden. Als das Gehörte ihre Herzen durchdrang und sie fragten: „Was sollen wir tun,

 Männer, Brüder?" da antwortete Petrus: „Tuet Buße, und jeder von euch werde getauft auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden; und ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistes empfangen" (V. 37. 38). Zunächst handelte es sich noch um Israel; — „denn euch ist die Verheißung und euren Kindern"; aber dann ging diese Gnade weiter: — „und allen, die inder Ferne sind, so viele der Herr, unser Gott, herzurufen wird" (V. 39).

Gott fing an, ein neues Haus zu errichten, gegründet auf den Namen Jesu. Zwar gehörte Israel und seinen Kindern die Verheißung des Hei­ligen Geistes; aber die Erlangung derselben war von der Aufnahme in jenes Haus, worin der Heilige Geist wohnte, abhängig; und in dieses Haus konnte ein jeglicher nur auf dem Wege „der Buße und der Taufe auf den Namen Jesu, zur Vergebung der Sünden aufgenommen werden." Israel aber, als Volk, entsprach auch- jetzt seiner Verantwortlichkeit nicht; es tat keine Buße. Nur ein Überrest, zunächst dreitausend Seelen, nahmen bereitwillig das Wort an und wurden getauft (V. 41). Die Masse aber verhärtete sich, verwarf den Heiligen Geist und Sein Zeugnis in der Person des Stephanus (Kap. 7), und wurde, als Volk, für eine Zeit beiseite gesetzt. Die durch den Propheten Joel angekündigten Ereig­nisse, die mit der Ausgießung des Heiligen Geistes in Verbindung stan­den, wurden nur teilweise erfüllt und bis auf eine spätere Zeit verscho­ben. 

Die aber gläubig wurden, „verharrten in der Lehre der Apostel, und in der Gemeinschaft, und in dem Bre­chen des Brotes, und in den Gebeten" (V. 42). Das Haus war errichtet, und die Gegenwart des Heiligen Geistes in demselben bezeugte dessen Anerkennung von Seiten Gottes. Es war Seine Versammlung, gegründet auf den Felsen, wovon Petrus bezeugte: „Du bist Chri­stus, der Sohn des lebendigen Gottes" (Matth. 16, 15. 16). Es war die Wohnstätte des Heiligen Geistes, der Platz Seiner Wirksam­keit, um zu lehren, zu trösten, zu ermahnen, zu leiten, zu vertreten und zu regieren. Seine Inwohnung war sowohl das Vorrecht der einzelnen Gläubigen, als auch das des Hauses oder der Versammlung, als ein Leib betrachtet.

Die Gegenwart des Heiligen- Geistes war also nicht nur für die Pre­digt des Evangeliums, sondern auch vor allem für die Gläubigen selbst von den gesegnetsten Folgen. Im nächsten Abschnitt, beim Betrachten der apostolischen Briefe über diesen Gegenstand, wird uns dies noch deutlicher entgegentreten. Ehe wir aber dazu übergehen, wollen wir noch an einige Zeugnisse aus der Apostelgeschichte erinnern, in denen die mächtige Wirkung der persönlichen Gegenwart des Heiligen Gei­stes auf Erden, namentlich in allerlei Zeichen, Kräften und Wundern, auf das augenscheinlichste erwiesen und bestätigt wurde. Der Fürst die­ser Welt war gerichtet, das Gefängnis gefangen geführt und den Men­schen wurden Gaben gegeben. — Wir haben schon bei der Ausgießung am Pfingsttage gesehen, daß die mit dem Heiligen Geiste Erfüllten in „fremden Sprachen redeten, wie der Geist es ihnen auszusprechen gab." Und dies war nicht nur das Vorrecht jener, sondern auch vieler ande­rer. Vergl. Apst.-Gesch. 10, 46 und Kap. 19, 6. In der Versammlung zu

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 Korinth sehen wir die Gläubigen von dieser Gabe reichlich Gebrauch machen, obgleich es nicht zu ihrem Nutzen geschah (1. Kor. 14).

Weiter tritt uns beim Lesen der Apostelgeschichte die Freimütig­keit und die Kraft entgegen, womit sowohl die Apostel als auch an­dere Gläubige Zeugnis ablegten. Wir sehen auch hierin, wie durch die Sendung des Heiligen Geistes die Verheißung des Herrn erfüllt war:

„Ihr werdet Kraft empfange n." Vor Obrigkeiten und Gewal­ten redeten sie mit einer Unerschrockenheit und einer Überzeugung, die nur durch die Gegenwart Dessen in ihnen bewirkt werden konnte, wo­von der Herr gesagt hatte: „Er wird euch in derselbigen Stunde lehren, was ihr sagen s o 111" (Luk. 12, 11. 12. Vergl. Apg. 4, 8 und f.; Kap. 5. 7. 22 usw.).

Eine andere mächtige Wirkung und ein unzweideutiger Beweis von Seiner Gegenwart waren die zahlreichen Heilungen allerlei Krankhei­ten, sowie auch der Besessenen.. Wir lesen in Apst.-Gesch. 5, 12 bis 16:

„Durch die Hände der Apostel geschahen viele Zeichen und Wunder un­ter dem Volk ... so daß sie die Kranken auf die Straßen hinaustru­gen und auf Betten und Lager legten, auf daß, wenn Petrus käme, auch nur sein Schatten einen von ihnen überschatten möchte. Es kam aber auch die Volksmenge der umliegenden Städte nach Jerusalem zusam­men, und brachten Kranke, und die von unreinen Geistern geplagt wa­ren; — welche alle geheilt wurden." Und wir lesen in Kap. 19, 11. 12 von Paulus, „daß man sogar Schweißtücher oder Schürzen von seinem Leibe auf die Kranken legte, und die Krankheiten von ihnen wichen und die bösen Geister ausfuhre n." War auch früher die Gegenwart des Herrn auf der Erde durch allerlei Zeichen und Wunder kund gemacht, so geschah dies in einer noch aus­nehmenderen Weise bei der Gegenwart des Heiligen Geistes:

denn das Erlösungswerk war vollbracht und Jesus zu Seinem Vater zu­rückgekehrt (Joh. 14, 12).

Einen ändern klaren Beweis von Seiner persönlichen Gegenwart liefert uns die traurige Geschichte von Ananias und Sapphira, in Apo­stelgeschichte 5. Sie hatten von dem Kaufpreise ihres Ackers einen ge­wissen Teil bei Seite geschafft, was sie aber leugneten; und Petrus sprach deshalb zu Ananias: „Warum hat Satan dein Herz erfüllt, daß du den Heiligen Geist belogen . . ." (V. 3)? Der Heilige Geist war in der Versammlung gegenwärtig, und deshalb hatten beide, Ananias und sein Weib, „nicht Menschen, sondern Gott belogen" (V. 4) und wur­den mit dem Tode bestraft (V. 5. 10).

Unter anderen Beweisen von der Gegenwart des Heiligen Geistes möchte ich nur noch auf die Zeugnisse in Apst.-Gesch. 8, 29. 39; 10, 19, 11, 12; 13, 2. 4; 15, 28 aufmerksam machen, wo uns namentlich Seine personliche Tätigkeit auf Erden im Werke des Herrn so klar entge­gentritt.

Es war also nicht nur die Ausgießung des Heiligen Geistes mit wunderbaren und herrlichen Zeichen vom Himmel begleitet, sondern Seine Gegenwart auf der Erde brachte auch, wie wir gesehen haben, eine große und mächtige Bewegung hervor. An einem Tage wurden dreitausend Seelen gläubig und bildeten eine Versammlung, die täg­lich vermehrt wurde (Apst.-Gesch. 2, 47) und worin der Heilige Geist

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 wohnte und wirkte, und durch welche Er Seine Gegenwart vor den Augen des ganzen Volkes in allerlei Zeichen, Kräften und Wundern offenbarte. Sind nun auch diese Gaben, die eine Zierde der Versamm­lung waren, ihrer Untreue wegen von ihr weggenommen worden, so ist doch der Heilige Geist Selbst geblieben; denn nicht von jenen, aber wohl von Diesem haben wir aus dem Munde des Herrn die gewisse Zusage: „Er wird bei euch bleiben in Ewigkeit;" und Er wird zu aller Zeit diejenigen Gaben darreichen, die zur Auferbauung der Ver­sammlung dienlich und nötig sind. 0 möchte doch keiner beim Seufzen über den Verlust jener äußeren Gaben und beim Trachten darnach die weit wichtigere Gegenwart des Heiligen Geistes Selbst vergessen und vernachlässigen!

5. Die Lehre in Betreff der Person und der Wirksamkeit des Helligen Geistes in den Briefen der Apostel.

Wir kommen jetzt zu dem wichtigsten Abschnitt unseres Gegen­standes. In der Apostelgeschichte ist, wie wir gesehen haben, die Offenbarung der persönlichen Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde namentlich erwiesen durch allerlei Zeichen, Kräfte und Wunder, wodurch Gott Selbst Seine Gegenwart auf der Erde kund machte, der Versammlung Seine Anerkennung bezeugte und die Verkündigung der Wahrheit befestigte. Jene Erweisungen würden völlig hinreichen, uns von der Gegenwart des Heiligen Geistes zu überzeugen; doch wird diese herrliche Tatsache erst in ihrer ganzen Schönheit und Wichtigkeit und in ihren unermeßlich gesegneten Folgen gesehen und erkannt, wenn wir die Lehre betrachten, die uns die Briefe .der Apostel über diesen so köstlichen Gegenstand darbieten. Wir finden darin zweierlei: Seine Inwohnung in den einzelnen Gläubigen und Seine In­wohnung in der Versammlung, als Einen Leib betrachtet. Als wohnend in den einzelnen Gläubigen ist Er der Geist des Lebens, der Kraft, der Freiheit, der Kindschaft, der Herrlichkeit, der Versiege­lung — Er ist das Unterpfand ihres Erbes, und ihr Vertreter in ihren Schwachheiten hienieden. 

Als wohnend in der Versammlung, die durch Ihn gebildet ist, ist Er das Band ihrer Einheit, der Spender ihrer Ga­ben — Der, welcher alles in derselben wirkt, ordnet und leitet. Jemehr wir nun die Köstlichkeit und die Tragweite all dieser Segnungen er-" kennen, die mit der Gegenwart des Heiligen Geistes in Verbindung ste­hen und davon abhängig sind, desto mehr werden wir die tröstliche Zusage des Herrn zu würdigen wissen: „Er wird bei Euch bleiben in Ewigkeit." — Betrachten wir nun zur besseren Übersicht zuerst:

a. Die Inwohnung des Helligen Geistes und deren Wirkung in den einzelnen Gläubigen.

Das Erlösungswerk ist vollbracht und das Blut Christi vor dem Gnadenthron. Alle, die an Ihn glauben, sind mit diesem kostbaren Blute besprengt, von all ihren Sünden gereinigt, und also fähig ge­macht eine Wohnstätte Gottes im Geist zu sein. Christus hat, als die

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 ewige Gerechtigkeit der Seinigen und als das Haupt der Versammlung für Seine Glieder den Heiligen Geist empfangen (Apst.-Gesch. 2, 33). Er ist im Namen des Sohnes vom Vater hernieder gesandt. Er wohnt in den einzelnen Gläubigen, versichert sie ihrer Erlösung, ihrer Kind­schaft und der ewigen Herrlichkeit, und befähigt sie zugleich, das Werk des Herrn auf der Erde zu vollbringen. Dies alles werden wir bei Un­tersuchung der betreffenden Schriftstellen deutlich dargestellt finden. In 1. Korinth. 6, 19 lesen wir: „W isset ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist?" — So wie Gott ehedem im Tempel zu Jerusalem wohnte, so wohnt Er jetzt in der Person des Heiligen Geistes in den Gläubigen. Gereinigt durch das Blut Christi, ist unser Leib das geheiligte Gefäß, das Sich Gott zu Seiner Wohnung auserkoren hat. Durch beides, durch die Blut-besprengung Christi und durch die Inwohnung des Geistes, sind wir jetzt völlig für Gott abgesondert — Gefäße Seiner Ehre und Seines Dienstes; denn „wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (2. Kor. 3,17).

„Wir aber haben nicht den Geist der Welt, sondern den Geist, der aus Gott ist, empfangen, auf daß wir die Dinge wissen, die uns von Gott aus Gnaden gegeben sind" (1. Kor. 2, 12). — Wenn hier auch weniger von der Inwohnung des Heiligen Geistes in allen Christen die Rede ist, sondern von Ihm, als Dem, der gegeben ist, die Geheimnisse Gottes zu offenbaren, so bezeugt diese Stelle doch ganz deutlich, daß Er gegeben und gegenwärtig ist. Er gibt Er­kenntnis von den Dingen Gottes (V. 10); Er teilt sie mit (V. 13), und Er befähigt zu ihrer Annahme (V. 14).

In seinem Briefe an die Galater fragt Paulus: „Habt ihr aus Ge­setzes Werken den Geist empfangen, oder aus der Kunde des Glaubens" (Kap. 3, 2)? Zu dieser Frage gab die Verwirrung Anlaß, die unter, den Galatern entstanden war, indem sie, verführt durch Irrlehrer, die Gnade in Christo mit des Gesetzes Werken zu vermengen suchten. In dieser Frage ist aber ganz deutlich ausgedrückt, daß sie den Geist empfangen hatten. — Dasselbe bezeugt Johannes, wenn er in sei­nem ersten Briefe den Gläubigen schreibt (Kap. 3, 24): „Hieran wissen wir, daß Er (Gott) in uns bleibt: an dem Geiste, den Er uns ge­geben hat" (Vergl. Kap. 4, 13).

Wir wollen jetzt einige Stellen folgen lassen, die zu gleicher Zeit die Inwohnung des Heiligen Geistes als die Versiegelung des Gläubigen bis auf den Tag der Erlösung und als Unterpfand der verheißenen Herrlichkeit bezeichnen. Der Apostel schreibt an die Epheser: „Nachdem ihr an Ihn (Jesum) gläubig gewor­den, seid ihr mit dem Heiligen Geiste der Verheißung versiegelt worden, welcher das Pfand unseres Erbes ist, bis zur Erlösung des erworbenen Besitzes, zum Lobe Seiner Herrlichkeit" (Kap. 1. 13. 14). Durch die Mittei­lung des Geistes hat Gott das ewig gültige Siegel auf alle gedrückt, die an Jesum glauben. Und diese Versiegelung gibt unseren Herzen die völlige Sicherheit von dem, was wir glauben, und ist ein Unter­pfand für das, was wir zu erwarten haben. Bis zur Erlösung des von Christo erworbenen Besitzes, bis zur wirklichen Empfangnahme unseres

 Erbes besitzen wir den Heiligen Geist als Unterpfand. Diese Versiege­lung ist aber für den Gläubigen nicht mehr eine Sache, die noch ge­schehen soll, sondern geschehen ist; denn es heißt: „Ihr seid ver­siegelt worden." Dasselbe wird uns bezeugt in Ephes. 4, 30, wo der Apostel ermahnt: „Betrübet nicht den Heiligen Geist, mit wel­chen ihr auf den Tag der Erlösung versiegelt sei d." — Ebenso lesen wir in 2. Kor. 1. 22: „Der uns auch versiegelt hat, und das Pfand des Geistes in unsere Herzen ge­geben." — Ferner in Kap. 5, 5, wo von der Überkleidung oder Ver­wandlung des Gläubigen in Betreff seines Körpers die Rede ist: „Der uns aber eben hierzu gebildet hat, ist Gott, der uns auch das Pfand des Geistes gegeben ha t." — Diese Stellen bezeugen zugleich, daß der Heilige Geist hienieden nicht von uns genommen wer­den kann; denn die Versiegelung des Geistes ist bis auf den Tag der Erlösung — der Erlösung unseres Leibes (vergl. Röm. 8, 23), und Seine Inwohnung als Unterpfand bis zur Erlösung des erworbenen Besitzes — der Erlangung der verheißenen Herrlichkeit. Wir haben jetzt schon den Geist der Herrlichkeit empfangen, wie geschrieben steht:

„Der Geist der Herrlichkeit und der Geist Gottes ruht auf euch" (1. Petr. 4, 14).

Die Inwohnung des Heiligen Geistes macht uns also unserer Erlö­sung und der zu erwartenden Herrlichkeit völlig gewiß; und so un­ermeßlich wichtig schon deshalb diese Tatsache ist, so wird doch diese Wichtigkeit durch andere Segnungen, die mit Seiner Inwohnung in Ver­bindung stehen, noch erhöht. — Zunächst charakterisiert Er unsere neue Stellung vor Gott. „Ihr aber seid nicht in dem Fleische, son­dern in dem Geiste, wenn anders der Geist Gottes in euch wohnt. Wenn aber jemand den Geist Christi nicht hat, dieser ist nicht Sein" (Röm. 8, 9). Unsere Stellung vor Gott ist nicht mehr im Fleische — nicht mehr in dem ersten Adam, in seiner Natur und in seinem Willen. Wir werden, wenn anders der Geist Gottes in uns ist, vor Gott als lebend in dem Geiste be­trachtet. Durch Seine Inwohnung sind wir versichert, daß Gott Selbst in uns ist. Zugleich ist Er der Geist Christi, durch dessen Kraft Christus gelebt, gewirkt und sich geopfert hat, und durch welchen Er auferweckt ist. 

Durch diesen Geist, der in uns wohnt, besitzen wir die­selbe Kraft, die in Ihm war. Durch Ihn sind wir fähig, die Wünsche und Neigungen des neuen Lebens zu erfüllen und die des Fleisches niederzuhalten; durch Ihn vermögen wir die „Handlungen des Leibes zu töten" (Röm 8, 13). Von diesem Geiste spricht Paulus, wenn er sei­nem geliebten Timotheus, um ihn in seinem verleugnungsvollen Berufe zu ermuntern, schreibt: „Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit gegeben" (2. Timoth. 1. 7). — Der in uns wohnende Geist ist aber nicht nur die Quelle und die Kraft des neuen Lebens, sondern auch das Leben selbst, denn alle seine Früchte sind Gerechtigkeit; während die Nei­gungen und Früchte des Leibes, wenn dessen Wille wirksam ist, nichts als Sünde sind, wodurch dieser dem Tode unterworfen ist. Dies be­zeugt der Apostel in Röm. 8, 10: „Wenn aber der Christus in uns ist, so ist der Leib zwar tot, der Sünde wegen, der Geist aber Leben.

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 der Gerechtigkeit wegen." Christus, im Geiste in uns, ist das Leben;

und an diesem Leben wird auch selbst unser Leib in der Auferstehung völlig Teil haben; denn es steht geschrieben: „Wenn der Geist Dessen, der Jesum aus den Toten auferweckte, in euch wohnt, so wird Der, welcher den Christus aus den Toten auferweckte, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wegen Seines in euch wohnenden Geistes (V. 11). Wir haben hier drei Charaktere des Geistes: Es ist der Geist Gottes, im Gegensatz zu dem Fleische (V. 9), der Geist Christi, der unseren Wandel in der Welt charakterisiert, und der Geist des Lebens, in Verbindung mit unserer Auferweckung (V. 11).

Ferner wird durch den in uns wohnenden Heiligen Geist unsere Beziehung zu Gott, dem Vater, charakterisiert. „Ihr habt nicht den Geist der Knechtschaft, wiederum zur Furcht, empfangen" — d. h. ihr seid nicht nach Sinai zurückgebracht — „sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in welchem wir rufen: Abba, Vater (Rom. 18, 15)! — Unter dem Gesetz gab es keine Kindschaft, keine Freiheit, sondern nur Knechtschaft und Furcht; und darum konnte auch der Heilige Geist, als Geist der Kindschaft, in Kei­nem wohnen, der unter dem Gesetz war. Aber aufgenommen in das Haus Gottes haben wir für immer den Titel: „Söhne", und haben als solche den Geist des Sohnes empfangen wie wir auch in Gal. 4, 6 lesen:

„Weil ihr aber Söhne seid, so sandte Gott den Geist Seines Sohnes aus in unsere Herzen, welcher Abba, Vater! ruft." Dieser Geist charakterisiert also unsere Stellung als Kinder, unser Ver­hältnis zu Gott, als unserem Vater, und unterscheidet uns auf das Be­stimmteste von den Gläubigen des Alten Testaments. Wir haben den Heiligen Geist als Geist der Kindschaft empfangen; der Geist des Sohnes ist in unsere Herzen gesandt, und Er wird — nach der Ver­heißung des Herrn — ewig b e i uns und i n uns bleiben. Wohl können wir Ihn durch Nachlässigkeit im Wandel, durch allerlei Sünden und Untreuen betrüben (vergl. Eph. 4, 30), und Sein Zeugnis in uns schwä­chen; wohl kann aus Mangel an Erkenntnis der Wahrheit und an dem Bewußtsein der Befreiung der Ruf. „Abba, Vater!" mit Furcht begleitet sein; aber der Geist Selbst wird nimmer von uns weichen, weil der Herr dies verheißen hat, und Sein Wort wahrhaftig ist. Durch Seine Gegenwart in uns gibt Er Zeugnis mit unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind. Er ist als Person von unserem Geiste getrennt, aber im Zeugnis mit ihm vereinigt. Wir rufen: „Abba, Vater!" denn als solchen kennen wir Gott durch die inwohnende Gegenwart des Heiligen Geistes;

und zugleich ist Er der Geist des Sohnes, gesandt in unsere Herzen, der diesen Ruf hervorbringt und die Gefühle und Neigungen eines Kindes in uns erweckt. Er gibt uns das Zeugnis und das Bewußtsein unserer Kindschaft; und dies Zeugnis ist in völliger Harmonie mit dem unseres Geistes, des durch den Heiligen Geist in uns gewirkten Lebens.

Wir sehen dann weiter in diesem Kapitel, wie der Geist und das Leben in praktischer Weise in uns vereinigt sind. Die ganze Schöpfung seufzt unter der Knechtschaft des Verderbens und liegt gleichsam in Geburtswehen (V. 21. 22). Sie wartet auf die Offenbarung der Herr­lichkeit der Söhne Gottes. Durch unseren Leib sind wir mit dieser Schöpfung verbunden, und insofern auch ihren Leiden mit unterworfen;deshalb „seufzen auch wir, die wir die Erstlinge des Geistes haben, in uns selbst, erwartend die Kindschaft — die Erlösung un­seres Leibes" (V. 26). Gleichwie nun einst Jesus, als Mensch hienieden, diese Leiden der Schöpfung, hervorgebracht durch die Sünde, mit­fühlte, und an unseren Leiden und Schmerzen völlig Teil nahm, ebenso auch jetzt der Heilige Geist, als wohnend in uns. Durch Ihn steigen unsere Gebete und Seufzer hinauf zu Gott, und zugleich gibt Er ihnen den wahren Ausdruck. Wenn wir in diesen Umständen nicht auf die rechte Weise zu beten wissen, so nimmt Er Sich unserer Schwachheiten an" und „der Geist Selbst bittet für uns in nicht aus­zusprechenden Seufzern" (V. 26). Dies Seufzen geschieht in und nicht außer uns; denn „Der, welcher die Herzen erforscht, weiß, was der Sinn des Geistes ist" (V. 27). Gott findet dies Seufzen des Gei­stes in unsern Herzen; wie aber würde dies möglich sein können, wenn Er nicht Wohnung in uns gemacht hätte?

Ich möchte hier noch gleich ein anderes Zeugnis von der Gegenwart des Geistes hinzufügen, obgleich es weniger mit den einzelnen Gläubi­gen als mit der ganzen Versammlung in Verbindung steht. Nachdem Gott in dem Buch der Offenbarung Seinen Knechten durch den Apostel Johannes gezeigt hat, „was i s t und was nach diesen Dingen sein wird" (Kap. 1. 19), nachdem Er von all den kommenden Gerichten (Kap. 4—20) und darnach von der Herrlichkeit des neuen Jerusalem gesprochen hat (Kap. 21. 22), kündigt sich der Herr Selbst in Kp. 22, 16 als der glänzende Morgenstern an, und „der Geist und die Braut sagen: Komm" (V. 17)! So wie sich also der Geist mit uns eins macht in jenem Seufzen nach Erlösung des Leibes, so macht Er Sich auch mit der Versammlung eins in jenem ruhigen und sehnlichen Verlangen nach der Ankunft Christi. Er ist auf der Erde gegenwärtig; Er ist es, der dem Sünder zuruft: „Komm!" und Er ist es, der in Gemeinschaft mit der Braut dem Herrn entgegenruft: „Komm!"

Eine andere Segnung, die mit der Gegenwart des Heiligen Geistes in Verbindung steht und alle Beachtung verdient, finden wir in Ev. Joh. 14, 20, wo bezeugt wird, daß wir durch den in uns wohnenden Geist die Erkenntnis unserer Vereinigung mit Jesu besitzen. Als der Herr in Vers 16 und 17 jenes Kapitels Seinen Jüngern die ewig bleibende Inwohnung des Geistes verheißen hatte, fügt Er Vers 20 hinzu:

„An jenem Tage werdet ihr erkennen, daß ich in mei­nem Vater bin, und ihr in mir und ich in euch." Diese Vereinigung mit Christo, deren Band und Kraft der Heilige Geist ist, kann nicht eher verstanden werden, bis dieser in unseren Herzen Woh­nung gemacht hat. Derselbe Christus, der in dem Vater ist, ist auch in uns, und wir in Ihm nach der Macht der Gegenwart des Heiligen Geistes, durch welche Gegenwart der Wunsch des Herrn in Ev. Joh. 17, 21: „Auf daß die Liebe, womit Du mich geliebt hast, sei in ihnen, und ich in ihnen," völlig erfüllt ist. — Ebenso ist die wahre An­betung Gottes von der Gegenwart und Inwohnung des Heiligen Geistes abhängig. Der Herr sagt zu dem samaritischen Weibe am Ja­kobsbrunnen: „Es kommt die Stunde und ist jetzt, wo die wahrhafti­gen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten wer­den; denn der Vater sucht auch solche, die Ihn anbeten. Gott ist ein

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 Geist, und die Ihn anbeten, müssen Ihn in Geist und Wahrheit anbeten" (Ev. "Joh. 4, 23. 24). Die Anbetung im Geist steht im Ge­gensatz zu den Formen und Satzungen, ja, zu der- ganzen Religion, de­ren das Fleisch fähig ist. Es ist eine Anbetung nach der Kenntnis der wahren Natur Dessen, den wir anbeten, und nach der Gemeinschaft, die der inwohnende Geist in uns wirkt. Wir beten in Wahrheit an, wenn wir Ihn nach der Offenbarung, die Er von Sich Selbst gegeben hat, anbeten. Solche Anbeter will auch der Vater. Seine Liebe und Gnade verlangt sie; und der Geist der Kindschaft erweckt in uns die Erkennt­nis, die Gefühle und die Gemeinschaft, die uns zur wahren Anbetung befähigen. Selbst der schwächste Christ hat jetzt diese Befähigung durch die Inwohnung des Geistes. Wir lesen in 1. Joh. 2, 13: „Ich schreibe euch, Kindlein, weil ihr den Vater erkannt habt." Wäre der Heilige Geist nicht hernieder gekommen, und hätte Er nicht Wohnung gemacht in unseren Herzen, so würde diese Erkenntnis mangeln; wir würden weder zu jener Anbetung „in Geist und Wahrheit," noch zu einer wah­ren Ausübung der Gemeinschaft mit Gott dem Vater, und dem Herrn Jesu Christo fähig gewesen sein, weil das Band und die Kraft dieser Gemeinschaft gefehlt hätte. 

Es ist durch den Heiligen Geist, daß der Vater und der Sohn in uns wohnen, daß wir mit dem Himmel in Ver­bindung gebracht und die unmittelbare' Gemeinschaft Gottes genießen. — Endlich ist die Inwohnung des Geistes in uns zum Segen für An­dere. Wir lesen in Ev. Joh. 7, 37—39: „Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen. — Dieses aber sagte Er von dem Geiste, welchen die an Ihn Glaubenden empfangen sollten," fügt Johannes hinzu. Sie trinken zuerst für • sich selbst, stillen ihr persönliches Bedürfnis, und dann werden durch sie auch Andere dieser Segnung teilhaftig. Der erquickende und belebende Strom geleitet sie selbst durch diese Wüste und fließt zu­gleich aus von ihrem Herzen, wie von dem Herzen Jesu, mit dem sie vereint sind, um alle zu beleben und zu erfrischen, die mit diesem himmlischen und gesegneten Wasser in Berührung kommen. Es ist aber wohl zu beherzigen, und die Ermahnungen der Schrift bezeugen es deutlich (siehe Eph. 4, 30), daß wir diesen Geist betrüben können. Wir können Sein Zeugnis in uns und durch uns für Andere durch Nach­lässigkeit und Untreue ganz und gar schwächen und großen Schaden an­richten. Der Herr möge uns deshalb erleuchtete Augen geben, und unseren Herzen sowohl die unermeßliche Segnung als auch die ernste Verantwortlichkeit, die mit dieser köstlichen Wahrheit verbunden sind, aufs tiefste einprägen!

Endlich möchte ich noch daran erinnern, daß wir die Zusage des Herrn in Betreff des Geistes: „Er wird euch in alle Wahrheit leiten," in den Briefen der Apostel völlig bestätigt finden. Johannes schreibt den Gläubigen, um sie von den Einflüssen der Irrlehrer zu bewahren: „Dies habe ich euch von denen, die euch verrühren, geschrie­ben. Und ihr —'die Salbung, welche ihr von Ihm empfan­gen habt, bleibt in euch; und ihr bedürft nicht, daß euch jemand lehre; sondern wie dieselbe Salbung euch über alle Dinge Lehrt, und wahr ist und keine

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 Lüge ist, und wie sie euch gelehrt hat, so werdet ihr in Ihm bleiben" (1. Joh. 2, 26, 27). Diese Salbung ist die Inwoh­nung des Heiligen Geistes, der in uns bleibt und uns lehrt. Durch Ihn werden wir erleuchtet und immer mehr zu einer tieferen Erkenntnis Gottes, des Vaters, und unseres Herrn Jesu Christi geführt, so wie zur Erkenntnis der Hoffnung Seiner Berufung und des Reichtums der Herrlichkeit des Erbes in den Heiligen, und zur Erkenntnis der über­schwenglichen Größe Seiner Macht, womit Er Christum aus den Toten auferweckt und Ihn über alles zu Seiner Rechten gesetzt hat, und uns mit und in Ihm (Eph. 1. 15 — Kap. 2, 10).

So wenig wir nun auch im Stande sein mögen, die ganze Kraft und Ausdehnung, alle die gesegneten Resultate dieser Wahrheit von der In­wohnung des Heiligen Geistes in den Gläubigen zu erfassen, so ist doch das bisher Gesagte schon hinreichend, uns die große Wichtigkeit der­selben fühlen zu lassen. Doch betrachten wir jetzt die andere Seite dieses gesegneten Gegenstandes:

b. Inwohnung des Helligen Geistes in der Versammlung.

Der Heilige Geist wirkt durch das Evangelium, um die Liebe und Gnade Gottes zu verkündigen, und um die Auserwählten zu sammeln und aus ihnen einen Leib, den Leib Christi, zu bilden. Jede Seele, die das Leben Christi empfangen und mit dem Heiligen Geist versiegelt ist, gehört zu diesem Leibe; sie ist ein Glied Christi, des himmlischen Hauptes. „Denn durch Einen Geist sind wir alle zu einem Leibe getauft worden, es seien Juden oder Griechen, es seien Sklaven oder Freie, und sind alle in einem Geist getränkt" (1. Kor. 12, 13). Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch in einer Hoffnung eurer Berufung berufen seid" (Eph. 4, 4). Es gibt nur eine Versammlung, und diese Versammlung ist der Leib Christi, der durch die Taufe des Heiligen Geistes gebildet ist. Jeder wahre Gläubige auf der ganzen Erde gehört dazu, weil er ein Glied Christi ist. Nicht irgendwelche Anerkennung menschlicher Einrichtun­gen und Satzungen, nicht die Annahme gewisser Formen oder die Ab­legung irgend eines Glaubensbekenntnisses, noch die Aufnahme von Seiten der Menschen in ihre besondere Partei befähigen oder berech­tigen jemand, diesem Leibe anzugehören, sondern allein das Leben Christi und der Heilige Geist, womit alle versiegelt sind, die in Wahr­heit an Christum glauben. Derselbe Geist, der um des Blutes Christi willen, womit wir besprengt und gereinigt sind, in uns wohnt und un­seren Leib zu einem Tempel Gottes gemacht hat, wohnt auch aus dem­selben Grunde in der Versammlung, als dem Leibe Christi; und des­halb steht geschrieben: „Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und daß der Geist Gottes unter euch wohnt" (1. Kor. 3, 16). In dieser Stelle haben wir ein unzweideutiges Zeugnis Seiner Gegenwart in der Versammlung. Und gleich wie unser Leib nichts tun kann, ohne den Geist, also ist auch die Versammlung von der Gegenwart des Heiligen Geistes völlig abhängig. Er ist in der­selben die Quelle aller Kraft und aller gesegneten Wirkungen. Und

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 durch Seine Gegenwart hat auch jeder nationale und bürgerliche Un­terschied aufgehört, da ist weder Jude noch Grieche, weder Knecht noch Freier. Alle haben „durch Christum in einem Geiste Zugang zu dem Vater" (Eph. 2, 18).

In 1. Korinther finden wir eine sehr klare und ausführliche Be­lehrung über die Gegenwart und Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Wir haben schon in dem vorhin angeführten 13. Verse dieses Kapi­tels deutlich gesehen, daß es der Heilige Geist ist, durch welchen die Versammlung zu einem Leibe gebildet und zusammengefügt ist. Und wohnend in diesem Leibe ist Er es auch, der alles darin ordnet und wirkt, der die verschiedenen Gaben austeilt und durch Seine Macht zu deren Ausübung befähigt. „Jeglichem aber wird die Offenba­rung des Geistes zum Nutzen gegeben. Dem einen wird durch den Geist die Rede der Weisheit gegeben und einem anderen die Rede der Erkenntnis nach demselben Geist, und einem än­dern Glauben in (der Kraft) desselben Geistes usw. Alle diese Dinge aber wirket ein und derselbe Geist, jeg­lichem insbesondere austeilend, wie Er will" (V. 7—11).

 Diese Worte bezeugen auf eine sehr bestimmte Weise die Autorität und Macht, die der Heilige Geist in der Versammlung besitzt und ausübt, indem Er alles wirkt und selbständig Gaben austeilt, welchem Er will. Zunächst ist die Welt Sein Wirkungskreis, um die Sünder durch das Evangelium Christum zuzuführen; aber dann ist die Versammlung Seine Werkstätte, wo Er alles nach eigenem Willen ordnet, leitet und wirkt. Durch Ihn sind nicht allein jene Wirkungen oder Gaben, die beim An­fang der Versammlung dazu dienten, die Verkündigung der christli­chen Wahrheit zu befestigen, die Gegenwart Gottes in der Person des Heiligen Geistes zu offenbaren (vergl. 1. Kor. 14, 22) und ihre Anerken­nung von Seiten Gottes zu bezeugen, sondern auch die Gaben zur Sammlung und Erbauung der Kirche. Sind Erstere auch, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten, und namentlich der Untreue der Versamm­lung wegen, weggenommen worden, so werden doch Letztere bleiben, so lange die Versammlung auf der Erde ist. Christus als Haupt der Versammlung, der Heiland Seines Leibes, wird nicht aufhören, sie zu ernähren, zu pflegen, zu erbauen und zu unterweisen, und wird nim­mer Seinen Geist aus ihrer Mitte wegnehmen. Zwar sind durch die Untreue der Christen, wie durch die der ganzen Versammlung, auch diese Gaben zur Erbauung der Kirche, die durch die Gegenwart und Kraft des Heiligen Geistes ausgeübt werden, in ihrer öffentlichen Wirk­samkeit, sowohl in den einzelnen Gläubigen als auch in der Versamm­lung selbst, unklar und geschwächt, weil der Geist Gottes betrübt ist;

aber dessen ungeachtet können wir immer auf die Treue des Herrn rechnen, der unfehlbar Seine Versammlung besorgen wird, wenn wir auch in Einzelheiten unserer Untreue wegen gedemütigt wurden.

In Epheser 4 ist ebenfalls von den Gaben die Rede, aber nament­lich von denen, die zur Bildung und Erbauung der Versammlung die­nen. Sie werden dort als Gaben Christi bezeichnet, die von Ihm, als dem Haupte der Versammlung, hervorkommen, und durch die Wirkung des Heiligen Geistes ihr Dasein in den Gläubigen haben. „Christus ist in

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 die Höhe hinaufgestiegen und hat die Gefangenschaft gefangen geführt und hat den Menschen Gaben gegeben" (Eph. 4, 8). Die Gläubigen sind so vollkommen befreit, daß sie, anstatt Sklaven Satans zu sein, die Ge­fäße der Kraft Christi geworden sind, um Sein Werk wider den Feind fortzusetzen. Er erfüllt hier nicht als Schöpfer, sondern als Mensch alles. Er ist hinabgestiegen dahin, wo die Kraft Satans und des Todes war, und ist in die Herrlichkeit über alles hinaufgestiegen (V. 9. 10), und hat vom Staube des Todes bis zum Throne Gottes alles erfüllt. Satan und Tod haben jedes Anrecht verloren. Zwar ist dies noch nicht alles verwirklicht, indem Christus noch nicht völlig Seine Macht ausübt;

aber Er erfüllt Etliche mit Seiner Kraft und beehrt sie mit Seinen Ga­ben. Er hat die Versammlung der Knechtschaft des Feindes entrissen;

und diese kann jetzt nach der Kraft des in ihr wohnenden Geistes das Gefäß dieser Macht und dieses Zeugnisses sein. Die empfangenen Gaben dienen dazu, die Heiligen vollkommen zu machen (V. 12), hier im Glau­ben und dort in Herrlichkeit. Dies ist das Ziel Gottes: — die Vollen­dung der Heiligen nach dem Willen Seines Herzens; das Mittel dazu ist der Dienst durch die Gaben; und während Christus zur Rechten Gottes sitzt, ist die Versammlung der einzige Leib, der das Gefäß dieses Dienstes und des Geistes ist. Er ist durch diese Gaben zusammengefügt, wächst durch ihre gegenseitige Wirksamkeit, bis er hingelangt zu dem Maße des vollen Wuchses der Fülle des Christus. Jeder Gläubige ist, als Glied dieses Leibes, durch die Wirksamkeit des Geistes mit irgend einer Gabe betraut, und ist verpflichtet, Gott gemäß damit zu handeln, die Seelen zu gewinnen, die Gläubigen zu erbauen und Christum zu ver­ehren (V. 13—16).

Diese unzweideutigen und zahlreichen Zeugnisse in den Briefen der Apostel werden hinreichen, uns völlig zu überzeugen, daß der Heilige Geist sowohl in jedem einzelnen Gläubigen als auch in der Versamm­lung, dem Leibe Christi, wohnt; und es wird unsere Herzen mit großer Freude und Gewißheit, und auch mit Lob und Dank gegen Gott er­füllen, wenn wir im Blick auf die unermeßlichen Segnungen, die mit Seiner Gegenwart, sowohl für das christliche Leben, als auch für den praktischen Zustand der Versammlung, verbunden sind, auf das Wort des Herrn, vertrauen: „Er bleibet bei euch in Ewigkeit." Im Gegen­teil aber, wenn diese Zusage fehlte, oder das Bleiben des Heiligen Gei­stes von unserer Treue im Wandel abhängig wäre, so hätten wir alle Ursache, bange und verzagt zu sein. Gott aber sei Dank, daß Seine Ge­genwart und Sein Bleiben, sowohl in den einzelnen Gläubigen als auch in der Versammlung, nur eine Frucht des Werkes Christi und von die­sem Werke allein abhängig ist.

Wir können diese Betrachtung nicht gut schließen, ohne noch vorher einen kurzen Blick auf die traurigen Folgen zu werfen, die durch die Vernachlässigung dieser gesegneten Wahrheit: die persönliche Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde, sei es aus Mangel an Erkenntnis derselben, sei es aus Mangel an wahrer Got­tesfurcht und Unterwürfigkeit des Herzens, hervorgerufen sind. — Wenn der christliche Leser mit Aufmerksamkeit, und mit der heiligen Schrift

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 in der Hand, dieser Betrachtung von Abschnitt zu Abschnitt gefolgt ist, so wird er sicher die Überzeugung gewonnen haben, daß der Hei­lige Geist, obwohl Er von Ewigkeit her war und von Anfang der Schöp­fung an gewirkt hat, dennoch während der Periode des Alten Testa­ments nicht auf der Erde wohnte, und daß die Erfüllung der man­nigfachen Verheißungen Seiner persönlichen Offenbarung oder Ausgießung erst am Pfingsttage nach der Himmelfahrt des Herrn erfüllt wurde, daß Er von jenem Tage an bis in Ewigkeit bei und in den Gläu­bigen bleiben wird, und daß Er, solange die Versammlung auf dieser Erde besteht, der Sachwalter, Ordner, Leiter und Lehrer derselben ist. Wir haben gesehen, daß durch Seine Inwohnung in den Gläubigen die Herzen derselben ihrer Erlösung und der zukünftigen Herrlichkeit vollkommen gewiß macht und von der Welt und Sünde völlig abgeson­dert sind, und daß jedes Verhältnis, in welches sie zu Gott, dem Vater, und Christo Jesu gebracht sind, so wie die gesegnete Gemeinschaft mit beiden, durch Seine Gegenwart und Kraft verwirklicht und genossen wird. 

Ebenso haben wir gesehen, daß durch Seine Inwohnung in der Versammlung, die durch Seine Gegenwart gebildet ist, Er einem jeglichen insbesondere austeilt, wie Er will, daß Er alles darreicht, was zur Bildung und Erbauung der Versammlung nötig ist. Wo aber diese Wahrheit geglaubt und auf die Gegenwart des Heiligen Geistes ver­traut wird, da wird auch völlige Hingabe und Unterwürfigkeit sein. Man wird sich sorgfältig hüten, selbst mit Furcht und Zittern, um nicht durch eigenmächtiges Wirken in das Amt des Geistes einzugreifen und Seine Autorität und Seine Wirksamkeit zu schwächen. Es bedarf aber nicht viel Licht, um zu sehen, wie sehr die Versammlung oder Kirche hierin gefehlt hat und noch immer fehlt. In einer schrecklichen Ausdeh­nung ist die Gegenwart und die Autorität des Heiligen Geistes in der­selben verkannt und beiseite gesetzt worden. Und gerade in dem Maße, wie dieses geschehen, hat sich der Mensch an Seine Stelle gesetzt. Er hat nach eigenem Gutdünken Einrichtungen getroffen, Ordnungen ein­gerührt — sogar neue Ämter geschaffen, wovon die Schrift nichts weiß — und hat auf diese Weise die Kirche zu vergrößern und zu erbauen getrachtet.

 Man hat Personen in sogenannte geistliche Ämter eingeführt und mit Diensten betraut denen nicht nur jede Begabung des Geistes zu einem solchen Dienste, sondern oft sogar der lebendige Glaube an Christum fehlt. Man sucht die Gabe des Geistes durch die Weisheit dieser Welt zu ersetzen", man sucht durch Studium zu erlangen, was allein der Heilige Geist nach Seinem freien Willen austeilt. Wenn wir dieses ganze Verfahren im Lichte jener Wahrheit, die uns in 1. Korinth. 12 und anderen Stellen der Schrift offenbart ist, betrachten, so muß jeder Gläubige, selbst der schwächste bekennen, daß es dabei nicht mehr der Heilige Geist ist, „der jeglichem ins Beson­dere austeilt, wie Er will," sondern daß der Mensch es tut, wie er will. Und wenn wir dies erkennen, was erwartet der Herr von uns? Diese Frage wird für uns wichtig sein, wenn anders die Liebe und Furcht Gottes und das Bewußtsein unserer ernsten Verantwortlichkeit in unsern Herzen wohnt; und wir werden dann sicher zugeben, daß Er von uns erwartet, daß wir uns in keiner Weise an einer Sache beteiligen, wodurch die Gegenwart und die Autorität

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 des Heiligen Geistes tatsächlich verkannt und beiseite gesetzt wird. Wenn wir es schon für unsere Pflicht halten, nicht da am Tische des Herrn zu erscheinen, wo der Nichtbekehrte, sobald er nur gewissen Formen genügt hat, eingeführt wird und erscheinen darf, oder wenn dieser Tisch zum Tische einer besonderen Partei erniedrigt wird, wo es, um Teil zu haben und mit allen dasselbe Vorrecht zu genießen, nicht genügt, einfach ein Glied des Leibes Christi zu sein, sondern auch noch gewisse Einrichtungen und Satzungen anerkannt werden müssen — wie vielmehr ist es unsere ernste Pflicht, uns von jeder Sache fernzuhal­ten, wodurch der Heilige Geist, der Selbst Gott ist, in Sei­ner eigenen Person betrübt und verunehrt wird! 

Und dies geschieht nicht allein in jener groben Weise, wo es auch dem schwächsten Auge nicht entgehen kann, sondern auch in einer feineren, in den vielen klei­nen Parteien oder Sekten; denn wenn wir auf die Gegenwart des Gei­stes unser Vertrauen setzen und mit Unterwürfigkeit des Herzens Seine Autorität anerkennen, so werden wir nichts anderes tun, als uns einfach im Namen Jesu versammeln, um die Wirksamkeit des Heiligen Geistes bitten, auf die Offenbarung der Gaben desselben warten und die offenbar gewordenen anerkennen und benutzen. Gewiß, dies ist es, was der Herr von uns erwartet. Und Er hat Seine Versammlung völlig lieb;

Er wird es an nichts mangeln lassen, was zu ihrer Auferbauung nötig ist. Oh, möchten deshalb alle die Seinigen im Vertrauen auf Seine Gnade und Liebe, und im Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit, sich von Allem fernhalten, wodurch Sein Name verunehrt, der Heilige Geist in der Versammlung betrübt und Seine Autorität nicht anerkannt wird, und sich "mit aller Unterwürfigkeit des Herzens Seiner Leitung überlassen!

Es wird nun ferner bei der Untersuchung dieses köstlichen Gegen­standes für jeden Leser ganz unzweifelhaft sein, daß es sich in der Schrift, wenn von dem Heiligen Geiste die Rede ist, um die wirkliche Person des Geistes, um die dritte Person in der Gottheit, und nicht um eine abhängige Kraft oder um einen göttlichen Einfluß han­delt, wie von Etlichen behauptet worden ist. Eine solche Behauptung aber schwächt nicht nur das Gefühl unserer Verantwortlichkeit, sondern erniedrigt auch die Person des Heiligen Geistes Selbst, und zwar eben­sosehr, wie einst der Herr Jesus erniedrigt wurde, wenn man Ihn für nichts weiter als den Sohn des Zimmermanns hielt. Er wohnt und wirkt als Person, sowohl in den einzelnen Gläubigen, als auch in der Ver­sammlung; und also spricht die Schrift von Ihm. 

Er wirkt mit dem Vater und dem Sohne. Er teilt nach eigenem Willen einem jeglichen ins Be­sondere aus. Es sind Verschiedenheiten von Gnadengaben, von Dien­sten, von Wirkungen; aber es ist derselbe Geist; derselbe Herr '' und derselbe Gott (1. Kor. 12, 4—6). Der Heilige Geist ist eine freie und selbständige Person «und diese Person ist Gott (vergl. 1. Kor. 12, 6 und 11). Er ist von dem Vater und dem Sohne hernieder gesandt und wohnt seit jenem Pfingsttage (Apst.-Gesch. 2) "persönlich auf der Erde. Sowohl der einzelne Gläubige als auch die Versammlung im Allgemei­nen, als Leib betrachtet, sind Seine beständige Wohnung hienieden. Jene sind, wie wir gesehen, mit diesem Geiste gesalbt und versiegelt bis auf den Tag der Erlösung, und sie haben die bestimmte Zusage des Herrn: Er bleibt bei euch in Ewigkeit. — Diese Wahrheit leitet uns aber noch auf einen anderen Punkt.

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 Es ist in unseren Tagen fast allgemein unter den Gläubigen das Bedürfnis gefühlt und ausgesprochen worden, um eine neue Aus-gießung des Geistes zu bitten, und in vielen großen und kleinen Gebetsversammlungen, nah und fern, ist diese Bitte kund ge­worden. Wir möchten nun aber fragen: Ist es der Heilige Geist, der dieses Bedürfnis erweckt hat, und kann eine solche Bitte i m Namen Jesu geschehen? Diese Frage ist von der größten Wichtigkeit;

und sie muß, wie jeder Gläubige, der diese Betrachtung ohne vorge­faßte Meinung gelesen hat, völlig überzeugt sein wird, auf das Be­stimmteste verneint werden, wenn darunter eine ähnliche Aus-gießung, wie am Pfingsttage in Apst.-Gesch. 2, gemeint ist. Wie kann der Heilige Geist eine solche Bitte in unseren Herzen erwecken, da Er uns durch den Mund des Apostels versichert hat, daß wir durch Ihn bis auf den Tag der Erlösung — d. i. der Erlösung unseres Leibes — versiegelt seien? Und wie kann der Herr eine solche Bitte unter­stützen, nachdem Er uns die bestimmte Zusage gegeben: „Er wird bei euch bleiben in Ewigkeit und wird i n euch sein?" Gewiß, eine solche Bitte kann nur eine Geringschätzung dieser Zusage und zugleich ein großes Mißtrauen gegen das Wort des Herrn kund geben. Was aber der Herr gesagt hat, das hält Er gewiß. Wir können stets auf Seine Treue und Wahrheit rechnen. 

Hat die Versammlung auch ihrer Untreue wegen jene Gaben verloren, die eine Zierde und ein Zeugnis der Aner­kennung Gottes vor den Augen der Welt waren, so wird doch der Geist Selbst ihr bleiben, weil dessen Bleiben ohne Bedingung zu­gesichert ist; und der Heilige Geist in Seiner Person ist mehr wert als alle Gaben zusammen, so überaus wichtig und notwendig diese auch immerhin sind. Versteht man aber unter jener Bitte eine größere Wirksamkeit des Geistes, eine größere Fülle Seiner Gaben und Seiner Kraftäußerung in den Gläubigen, um befähigt zu sein, mit grö­ßerer Energie und Freimütigkeit durch Wort und Wandel Zeugnis von Christo abzulegen, dann ist sie völlig an ihrem Platze. Solche Bitten und deren Erhörung finden wir auch in der Heiligen Schritt Apst.-Gesch. 4, 29—31). — Im allgemeinen aber hat man bei solchen Bitten um eine Ausgießung des Heiligen Geistes außergewöhnliche Erweckungen und Bekehrungen im Auge; allein zu diesem Zwecke ist keine besondere Ausgießung und Sendung, sondern nur eine größere Wirksamkeit des Heiligen Geistes nötig. 

Wenn man aber jene Ausgießung am Pfingsttage für nichts weiter, als eine außergewöhnliche Erweckung hält, so hat man jenes gesegnete Ereignis noch nie verstanden. In diesem Falle glaubt man nicht an die Ausgie­ßung oder Offenbarung der Person des Heiligen Geistes, sondern nur an einen göttlichen Einfluß oder an eine abhängige Kraft, die an jenem Tage in reichem Maße auf der Erde wirksam war, und um deren Wieder­holung man bittet. Bei solchen Gedanken aber haben wir unsere eigene Meinung und nicht das Wort Gottes; — und was wird die Folge sein? Ein unberechenbarer Schaden, sowohl in Bezug auf unser inneres Le­ben als auch in Bezug auf unsere Stellung als Glied des Leibes Christi. 0 möchten wir dies nicht für gering achten! Das, was uns in gegenwär­tiger Zeit so besonders Not tut und zur Verherrlichung des Namens Gottes gereichen würde, ist die gläubige Annahme Seines Wortes, die

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 vertrauensvolle Anerkennung der persönlichen Gegenwart des Heiligen Geistes, herniedergekommen vom Himmel, um auf ewig bei den Gläubigen und i n ihnen zu sein und eine völlige Unterwerfung unter Seine Leitung. Dies ist's — ich wiederhole es — was der Herr von uns erwartet und was zu unserer Heilung in Bezug auf viele Dinge gerei­chen würde. Ja, dies ist es, was uns vor allem Not tut, und gegenwär­tig, in Bezug auf uns selbst, sogar mehr Not tut, als große Erweckungen, so segensreich und wünschenswert diese auch in der Tat sind. Wir sind aber leider viel eher bereit, um solche außerordentliche Erweckungen zu bitten und sie zu bewundern, ja uns selbst sogar in ihnen zu rüh­men, als uns persönlich der einfachen Wahrheit mit Demut zu unter­werfen.                                                        

Es könnte nun aber jemand einwenden, daß doch selbst die Apo­stel für die Gläubigen in Samaria um den Heiligen Geist ge­betet hätten (Apst.-Gesch. 8, 15). Doch untersuchen wir diese Stelle etwas näher. — In jenem Kapitel, Apst.-Gesch. 8, wird uns erzählt, daß Philippus in eine Stadt von Samaria hinabging und Christum verkün­digte (V. 5). Und viele glaubten dem Philippus und wurden getauft, so­wohl Männer als Weiber (V. 12). Als aber die Apostel, die in Jerusalem waren, hörten, daß Samaria das Wort Gottes angenommen habe, sand­ten sie den Petrus und Johannes zu ihnen (V. 14). Und dies geschah wohl aus folgender Ursache. Bisher war das Evangelium nur den Ju­den verkündigt worden; jetzt aber hatten es auch die Samariter ange­nommen, die keine Juden waren, obwohl sie mit jenen mehr in Ver­bindung standen, als mit den Heiden, weshalb auch die Apostel keine Bedenken hatten, dort hinzugehen. 

Diese kamen nun, um durch ihre Autorität das Werk zu bestätigen, und auch die Samariter verstehen zu lassen, daß das Heil von den Juden komme (Ev. Joh. 4, 22). „Die Apostel nun, als sie hinabgekommen waren, beteten für sie, daß sie den Heiligen Geist empfangen möchten. (Denn Er war noch nicht auf Einen von ihnen gefallen, sondern sie waren allein auf den Namen des Herrn Jesu getauft). Da legten sie ihnen die Hände auf und sie empfingen den Heiligen Geist" (V, 15 —17). Dies nun war doch keinesfalls eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes vom Himmel, wie am Pfingsttage, sondern eine Mitteilung des Geistes, der schon herniedergekommen war und Seine Wohnung auf der Erde genommen hatte. Man könnte höchstens aus diesem Ereignis schlie­ßen, daß jemand eine Zeitlang gläubig sein könnte, ohne den Heiligen Geist zu haben. Jedenfalls geht der Glaube der Mitteilung des Geistes voraus, wie wir auch sehr deutlich in Eph. 1. 12 lesen: „Nachdem ihr an Ihn (Jesum) gläubig geworden, seid ihr mit dem Heiligen Geiste der Verheißung versiegelt worden." Eins ist aber gewiß, daß alle in Ephesus, die an Jesum glaubten, mit diesem Geist versiegelt worden waren. Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben, und zugleich alle durch Christum erworbenen Segnungen; deshalb wird auch ein jeglicher, der an Ihn glaubt, mit dem Geist der Verheißung versiegelt.

Ähnliches finden wir in Apst.-Gesch. 10, wo uns die Bekehrung des Kornelius mitgeteilt wird. Petrus wagte nicht eher bei einem Heiden einzukehren, bis ihm der Herr erschienen war; und selbst nachdem er dem Kornelius und seinem Hause das Evangelium verkündigt hatte;

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 mußte noch der Herr, um ihm seine Vorurteile ganz zu benehmen, auf eine besondere Weise, ähnlich der des Pfingstfestes, ihm zeigen, daß Er auch die Heiden angenommen habe, welches aus den Worten Petri deut­lich hervorgeht: „Kann auch jemand das Wasser verwehren, daß diese, welche, gleichwie auch wir, den Heiligen Geist empfangen ha­ben, nicht getauft werden" (V. 47). In demselben Augenblick, als diese Heiden das Wort von Jesu hörten und an Ihn glaubten, empfingen sie den Heiligen Geist — ein Ereignis, was sich noch täglich wiederholt; — sie wurden des Geistes teilhaftig, der schon in der Versammlung Seine Wohnung genommen hatte.

Ein drittes Ereignis ähnlicher Art finden wir in Apst.-Gesch. 19, l—6. Paulus fand in Ephesus etliche Jünger, die mit der Taufe des Jo­hannes getauft waren und von der Ausgießung des Heiligen Geistes noch nichts wußten. Sie erkannten von Jesu nur so viel, als Johannes ihnen davon hatte mitteilen können. Dies aber war nicht hinreichend, indem Johannes mit der Taufe der Buße taufte und das Volk auffor­derte, an den nach ihm Kommenden zu glauben, das ist an Christum Jesum. „Als sie es aber gehört hatten, wurden sie auf den Namen des Herrn Jesu getauft, und als Paulus ihnen die Hände aufgelegt hatte, kam der H e i l i g e G e i s t auf sie" (V. 5. 6). Auch dies war natür­lich nichts anderes als eine Mitteilung des Geistes, der seit Pfingsten auf der Erde persönlich gegenwärtig war.

Es würde nun gewiß sehr töricht sein, bei diesen Ereignissen an eine besondere Ausgießung des Heiligen Geistes vom Himmel zu den­ken, und dadurch seine Gebete um eine solche Ausgießung zu recht­fertigen. Dies aber werden wir um so weniger tun können, wenn wir dem Worte Gottes glauben, das uns, wie wir bei dieser Betrachtung gesehen haben, auf eine klare und ausführliche Weise belehrt, daß der Heilige Geist nicht als eine abhängige Kraft oder ein göttlicher Ein­fluß, sondern als eine freie und selbständige Person, als eine dritte Person in der Gottheit, an jenem Pfingsttage ausgegossen ist, und in Ewigkeit bei und in den Gläubigen bleiben wird. — Oh, der Herr gebe, daß alle die Seinigen mit einfältigem und demütigem Herzen zu die­ser gesegneten Wahrheit zurückkehren, daß sie die bleibende Gegenwart des Geistes sowohl in den einzelnen Gläubigen als auch in der Ver­sammlung mit Danksagung anerkennen und sich Seiner Leitung mit aller Demut unterwerfen!

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Lukas 18 1862 Der Pharisäer und der Zöllner

(Luk. 18. 9—14).

Wir alle sind von Natur sehr abgeneigt, unserm wahren Zustande genau ins Angesicht zu schauen; wir hören ungern die ganze Wahrheit über uns selbst. Wir sind geneigt, an der Oberfläche stehen zu blei­ben, und scheuen uns, in die Tiefe zu dringen. Wir fürchten, die Wurzel unseres Zustandes zu berühren. Wir möchten uns gern überreden, daß wir nicht ganz so schlecht seien, wie wir wirklich sind. Mit einem Wort, der Mensch ist unwissend über sich selbst, und er hat nicht den Wunsch, daß es anders sei. Dies ist aber — wenn er nur erkennen könnte — ein großer Verlust für ihn. Denn sich für etwas anderes als für einen ver­lorenen Sünder zu halten, ist ein höchst trauriger Irrtum; denn das ist es genau, was der Mensch ist. Er ist in sich selbst hoffnungslos ver­loren. Er mag liebenswürdig, moralisch, aufrichtig und sogar religiös sein, wie wir sagen; aber er ist verloren. Er kam in diese Welt als ein armes, hilfloses, nacktes, bedürftiges, wertloses, verlorenes Wesen, in­soweit als sein natürlicher Zustand in Betracht kommt. Dies ist es, was er war, — und dies ist es, was er ist von Natur.

Das ist die Wahrheit in Betreff des Menschen, so befremdlich es manche finden mögen, „welche auf sich selbst vertrauen, daß sie ge­recht seien." Dennoch ist es so zu allen Zeiten gewesen, so ist es jetzt, und so wird es noch ferner sein. So war es auch bei den Pharisäern in dem vor uns liegenden Gleichnisse. Lasset uns seinen Zustand etwas näher betrachten.

Zwei Menschen gingen in den Tempel, zu beten, der eine war ein Pharisäer und der andere ein Zöllner." Die Wahrheit Gottes zerlegt jedes Ding in seine einfachst mög­lichen Bestandteile. Sie nimmt keine Notiz von den Unterschieden, welche unter den Menschen Geltung haben. Daher spricht sie hier von „zwei Menschen" zwei Söhnen des gefallenen Adams — zwei Sün­dern. Vor Gott war kein Unterschied in ihrem natürlichen Zustande. Sie waren beide „verlöre n". Es ist wahr, der eine war ein verlorener Pharisäer, und der andere ein verlorener Zöllner; aber sie waren beide verloren. Das Wort Gottes verkündigt: „Es ist kein Unterschied," und zwar aus einer zweifachen Ursache. Erstens, „denn alle haben gesün­digt" (Röm. 3, 23); zweitens, „denn derselbe Herr von allen ist reich für alle, die Ihn anrufen" (Röm. 10, 12). Es ist gut, dies zu erkennen. Das Urteil ist leicht in Verwirrung gebracht durch die zahllosen Unter­schiede, Namen, Grade und Schattierungen des menschlichen Charak­ters, welche sich um uns her befinden. Sie werden aber alle auf „zwei" zurückgeführt, nämlich auf diejenigen, welche auf sich selbst ver-

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 trauen, und auf diejenigen, welche auf Christum vertrauen. So steht es; der Schreiber und der Leser dieser Zeilen stehen in diesem Augenblicke durch den einen oder den anderen von diesen zweien dar­gestellt und vertreten, und je früher der wahre Zustand von dem Her­zen und Gewissen erkannt wird, desto besser.

Es gibt einen Charakterzug, welcher unveränderlich die sich selbst Vertrauenden kennzeichnet, und dieser ist: sie haben nur eine einseitige Ansicht über ihren Zustand. Dieser Zug ist sehr auffallend in dem vor uns befindlichen Bilde — ein Bild, es möge daran erinnert werden, durch den Pinsel des Meisters Selbst gemalt. „Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: „O Gott, ich danke Dir." Beachte wohl:

„er betete bei sich selbst." Das Pharisäertum .weiß nichts von Gemein­schaft. Es ist eine eisige Abgeschlossenheit darin. Sein Grundriß und der ganze Bau ist Selbst-Werk und als eine Folge davon Selbst-Besitz. Es ist für keinen anderen Raum darin, als für sein Ich. Und laßt uns fra­gen, wofür dankte der Pharisäer Gott? Für die vielen tausend Gnadenerweisungen Seiner freigebigen Hand? Für die Erkenntnis der Erlösung, durch die Heimsuchung der Morgenröte des anbrechenden Tages der Gnade? Oder für Seine Langmut und Güte gegen einen armen, unwür­digen Sünder? Leider! nein; der' Pharisäer weiß von solchen Ursachen der Danksagung nichts. Er sagt, „ich danke Dir, daß i c h ..." Er sagte nicht, ich danke Dir, daß Du." Er war mit dem „Ich'' und nicht mit dem „Du" beschäftigt und erfüllt. Dies macht in der Tat einen wichtigen Unterschied. Der wahre Beweggrund der Danksagung ist der, daß die Seele irgend eine erfreuliche Entdeckung in Ansehung Gottes gemacht, daß sie irgend etwas von der köstlichen Offenbarung Seiner Natur und Seines Charakters geschmeckt, daß sie die seligmachende Erkenntnis der Erlösung durch das Blut des Lammes erlangt hat. Aber ein Pha­risäer weiß nichts, bedarf nichts, sucht nichts dieser Art.

Wofür dankt denn ein Pharisäer Gott? Es ist von höchster Bedeu­tung! Er sagt: „Ich danke dir, daß ich nicht bin." Wie sonderbar! Er sagt nicht: „Ich danke Dir, das ich bin." Er hatte niemals daran ge­dacht oder betrachtet, was er war. Wären seine Augen jemals geöff­net gewesen, um zu sehen, was er war, so hätte er nicht länger so voll von Selbst-Genügsamkeit bleiben können. Selbst-Erkenntnis zerstört das Selbstvertrauen. Es ist nichts in eines Menschen Natur, Zustand oder Charakter vorhanden, wofür er sich einbilden könnte, Danksagung darzubringen, wenn er nur sehen könnte, wie Gott ihn sieht. Es mag alles sehr wohl stehen, so lange als ein Mensch bloß das betrachtet, was er nicht ist; aber laßt ihn dahin gebracht werden, zu sehen, was er ist, und die ganze Szene wird verwandelt sein.

Nun, wir finden stets, daß, wenn Gott mit einer Seele handelt, so offenbart Er, was ein Mensch ist, und nicht, was er nicht ist. Als der Lichtglanz der Herrlichkeit Jehovas auf den Propheten Jesajas her­abschien, was offenbart er da? Etwa das, was er nicht war? Nein;

sondern was er war; und daher finden wir Jesajas nicht sagend: „Ich danke dir, daß ich nicht bin wie andere Menschen." Ganz das Gegenteil. Er sagt: „Wehe mir, denn ich vergehe; weil ich ein Mensch bin von un­reinen Lippen!" Wie lernte er dieses? Wahrlich nicht durch Betrach­tung seines Nächsten. Dies würde ihm niemals seinen wirklichen Zu-

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 stand offenbart haben. Wie denn lernte er erkennen, was er war? „Meine Augen haben den König gesehen, den Herrn der Heerscharen" (Jes. 6. 1. 3). Ebenso war es mit Hiob, wenn er sagt: „Nun mein Auge Dich siehet, darum verwerfe ich mich" (Hiob 42, 5. 6). Ebenso war es mit Petrus, als er „zu den Knien Jesu niederfiel, sagend: Gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr" (Luk. 5, 8)! Er sagt nicht:

„ich danke Dir, daß ich nicht so böse bin, wie Jakobus und Johannes." 0 nein; die Menschen werden niemals so etwas sagen oder denken, wenn sie sich in der Gegenwart Gottes finden. Hiob konnte sich rüh­men, als „die Leuchte Gottes über seinem Haupte schien;" aber er fand sich verwerflich, als Gott in sein Herz schien (vergl. Hiob 29 mit Kap. 42).

So wirkt die Wahrheit Gottes auf das Herz und Gewissen. Sie offen­bart, was der Mensch ist. So wird es sein vor „dem großen weißen Throne," wenn „die Bücher werden aufgetan werden." Die Menschen werden nicht mit dem beschäftigt sein, was sie nicht sind, sondern was sie sind. Nichts kann wertloser sein, als das zu betrachten, was nicht vorhanden ist in meinem Zustande. Ich mag in eingebildeter Länge fortfahren und sagen: „Ich bin nicht dies — ich bin nicht das — ich bin nicht jenes;" aber zuletzt muß doch die Frage gestellt werden:

„Was bin ich?" Ich bin sicherlich irgend etwas; und mit diesem „etwas", was es auch sei. muß Gott handeln, entweder in Gnade oder im Gericht, entweder muß Er ihm mit dem Blute des Lammes be­gegnen, oder es auf ewig dem feurigen See übergeben. Ja, ich mag nicht sein „wie andere Menschen"; aber es ist ganz gewiß, ich bin nicht, was ich sein sollte; und wenn ich daher auf mich selbst vertraue, so ver­traue ich auf das, was nicht so ist, wie es sein sollte, und ich muß ewig verloren gehen. Dies ist sehr klar. So lange ich mich bloß mit „anderen Menschen" vergleiche, mag ich einige Ursache zum Rühmen haben. denn es wird kaum einen verurteilten Verbrecher geben, der nicht noch einen anderen Verbrecher finden könnte, welchen er für schuldiger als sich selbst hielte. 

Die Frage ist daher nicht: „Gibt es noch andere, die böser sind als ich?" — „Hast du dich nun jemals, mein lieber Leser, in die Einsamkeit der Gegenwart des Allmächtigen zurückgezogen und dort bestimmt und feierlich die Frage an Dein Herz gerichtet: „Was bin ich?" Wenn nicht, so tue es j e t z t, ich bitte dich. Verlasse dich darauf, wenn du diese Frage mit Ernst und Aufrichtigkeit an dich rich­test, du wirst aus der Tiefe deiner Seele zu dieser einen Antwort zurück­kommen — „ein verlorener Sünder!" Und was bedarf ein ver­lorener Sünder? Erlösung! Nicht eine halbe Erlösung — nicht eine Hoffnung der Erlösung — nicht eine zweifelhafte Erlösung; sondern eine völlige, freie, gegenwärtige, persönliche, vollkommene und ewige Erlösung. Dies ist es, was der Sünder bedarf — dies ist es, was das Evangelium offenbart und dies ist es, was der Zöllner fand.

Der Pharisäer war dieser Erlösung nicht bedürftig. Und warum nicht? Weil er nicht erkannte, was er war. Er war mit dem beschäf­tigt, was er nicht war. Er verglich sich mit „ändern Menschen". Er maß sich mit einem unvollkommenen Maßstabe und konnte deshalb keine wahre Antwort bekommen. Bis ein Mensch über sich selbst die Wahrheit erkannt hat, ist er der Erlösung Gottes nicht bedürftig. Er

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 gibt sich der Täuschung hin. Der • Pharisäer dachte, daß zweimaliges Fasten in der Woche und das Verzehnten aller Dinge, welche er besaß, ein Genüge sei allen Ansprüchen Gottes gegenüber. Wenn er überhaupt an seine Sünden gedachte, so bildete er sich ein, daß Fasten und Zehn­ten sie austilgen könnten. Trauriger Betrug! Seelenverderblicher Irrtum! Und ach! wieviel Tausende sind an diesem Felsen zerscheitert! Lieber Leser, halte dich frei davon. Siehe, daß du jetzt ruhen kannst in der vollkommenen Versöhnung, vor neunzehnhundert Jahren auf Golgatha vollbracht; dort wurde das Werk vollbracht, in welchem der Sünder sichere und ewige Ruhe finden kann.

Laßt uns jetzt zu dem Zöllner zurückkehren. „Und der Zöllner von ferne stehend." Dies war sein aufrichtiger Platz, den er als ein Sünder einnahm. „Ihr, die ihr einst ferne wäret" (Eph. 2, 13). Er fühlte, daß er kein Recht hatte aus sich selbst, „heraufzurücken". Er kannte die Wahrheit in Betreff seines wirklichen Zustandes. Er war nicht mit dem beschäftigt, was er nicht war. „Er wollte sogar die Augen nicht aufheben gen Himmel." So weit von dem Gedanken entfernt, daß er irgend ein Recht habe, im Himmel zu sein, wagte er nicht, seine Augen dahin zu richten. „Aber er schlug an seine Brust," als wollte er sa­gen: „Hier — tief in diesem meinem Busen ist die Quelle allen Übels, die Wurzel der Krankheit, der alte Sitz meines tiefen Schadens." „Er schlug an seine Brust, sagend: 0 Gott, begnadige (oder versöhne) mich, den Sünder." Der Zöllner sah und fühlte, was er war. Und was war die Folge? Waren Fasten und Zehnten ein Genüge in seinem Zustande? Konnten sie seine Sünden auslöschen, oder ihn rechtfertigen im Ange­sichte Gottes? Auf keine Weise. Da war ein Gegenstand, und nur einer in dem ganzen Weltall, worauf er sich stützen konnte, und der war das versöhnende, genugtuende Opfer Christi. Er bedurfte Versöhnung für seine Sünden. Er wußte, daß er „fern e" war, und bedurfte „nahe gebracht zu werden, und nichts als Blut vermochte dies zu tun. Er fühlte, daß nichts als Blut die göttliche Gerechtigkeit versöhnen und der beleidigten himmlischen Majestät genugtun konnte. Mit einem Worte, er stützte sich auf die herrliche Lehre des Blutes, in welcher ein jeder Sünder, der erkannt, was er ist, für sein schuldiges Gewissen Ruhe finden muß. Ein Pharisäer mag Ruhe finden in Fasten und Zehnten, aber ein überführter Sünder kann nur Ruhe finden in dem Blute des Lammes. Und, gepriesen sei Gott, es gibt eine Ruhe dort — eine Ruhe so vollkommen, daß ihr nichts mehr hinzuzufügen bleibt. Jesus hat ein völliges Sühneopfer dargebracht. Er hat die Versöhnung vollbracht. „W eichen Gott dargestellt hat zu einem Gnadenstuhl, durch den Glauben an Sein Blut, zur Erweisung Seiner Gerechtigkeit wegen des Hinge­henlassens der früher geschehenen Sünden unter der Nachsicht Gottes; zur Erweisung Seiner Gerech­tigkeit in der jetzigen Zeit, daß Er gerecht sei, und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesum ist" (Röm. 3, 25. 26).

Das war die Grundlage, worauf der Zöllner seinen Standpunkt nahm. Es war nicht im mindesten eine Frage bei ihm, in dem Werte seiner Gebete vor Gott .zu kommen, wie einige uns lehren möchten. Er

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 setzte nicht mehr Vertrauen auf seine Gebete, als auf Fasten oder Zehn­ten. Er suchte einfach Zuflucht in „der Gerechtigkeit Gottes durch Glauben an Jesum Christum zu allen hin, und auf alle, welche glauben." Dies alles ist völlig in dem schönen Worte, welches er gebraucht, ent­halten. Ohne Zweifel dürfen wir zu Gott schreien, dürfen wir beten ohne Aufhören. Es ist des Gläubigen höchstes und süßestes Vorrecht, unaufhörlich zu seinem himmlischen Vater zu beten. Aber der Zöllner kam nicht vor Gott, gestützt auf Gebete, sondern auf Blut. Das Blut Jesu ist der Ruheplatz für alle, welche auf demselben Standpunkt mit dem Zöllner stehen. Fasten, Zehnten und Gebete sind der Ruheplatz für alle, welche mit dem Pharisäer denselben Standpunkt einnehmen. Der Zöllner nahm seine Stellung genau da, wo Abel, Jesaja, Petrus und Paulus sie nahmen, nämlich auf dem vollbrachten Werke Christi.

Und was war die Folge? Es war genau das, was erwartet werden durfte. „Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus." Beachte, ihm war nicht bloß vergeben oder verziehen, sondern er ging „gerecht­fertigt" — gerecht gemacht — hinab. „Er," gleich Abel, „erlangte Zeug­nis, daß er gerecht war" (Hebr. 11, 4). Es war nichts wider ihn. Das Sühnopfer Christi, wozu er seine Zuflucht nahm, machte ihn zu einem völlig gerechtfertigten Menschen. Er hatte nichts damit zu tun. Jesus ist die Versöhnung. Fasten konnte nicht versöhnen, noch Zehnten, nach Gebete, sondern das kostbare Blut Christi allein vermag es; und alle, welche daran glauben, „sind gerechtfertigt von allem, worin sie In dem Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konnten" (Apst.-Gesch. 13, 39). So groß ist der unendliche Wert des Opfers Christi, daß alle, welche darauf ihr Vertrauen setzen, von Gott als völlig gerecht befrachtet wer­den. Als ein vollkommenes Werk macht es gleicherweise alle vollkom­men, welche darauf bauen. Die Opfer unter dem Gesetz konnten nie­manden in Ansehung seines Gewissens vollkommen machen, weil sie selbst nicht vollkommen waren, aber Christi Opfer ist vollkommen, und daher kann es ein vollkommen gereinigtes Gewissen geben (Hebr. 9 und 10). Wenn deshalb jemand bekennt, Christo anzugehören und hat noch keinen Frieden, der ist nicht vollkommen gerechtfertigt und leug­net den Wert des Blutes Christi.

Dies ist der wahre Zustand der Sache. Hat Christus Sein Werk voll­endet oder nicht? Hat Er durch das Opfer Seiner Selbst die Sünde voll­kommen hinweggetan? Ist ein Teil Seines Werkes ungetan geblieben und bleibt noch etwas hinzuzufügen? Ist nicht eine göttliche Versöh­nung in Seinem Blute? Hat nicht Jehova verkündigt: „Ich habe ein Lösegeld gefunden?" auf diese Fragen gibt das Wort nur eine Antwort. Und sollte nicht jedermann, welcher gleich dem Zöllner sich auf das Blut stützt, versichert sein, daß er auch gleich dem Zöllner „gerechtfertigt" ist. Ganz gewiß. Mein teurer Leser möge einmal die zwei Worte zusammenstellen, um die treffende Verbindung zu sehen. Der Zöllner sagt: „Begnadige (oder versöhne) mich, den Sünder." Christus sagt: „Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus. Der Zöllner setzte das ganze Werk seiner Versöhnung in die Hände Gottes, und Gott ließ ihm Seine völlige Gunst zuteil werden und er­klärte ihn für einen gerechtfertigten Menschen. Der Zöllner, als ein Sünder, begegnete Gott als einem E r l ö s e'r , und die ganze Frage

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 war ein für alle Mal entschieden. Und so ist es in jeglichem Falle. Die Ursache, warum man so oft die Einfachheit von dem Wege Gottes in Betreff der Erlösung nicht sieht, ist, weil man mehr mit dem beschäf­tigt ist, was man nicht ist, als mit dem, was man ist. Gerade so wie ich bin, begegnet mir Gott — auf dem Kreuze. Er hat Vorsorge getroffen wegen aller Schuld, welche Er Selbst an mir sieht, und aller Sünde, die Er in mir kennt. Der Glaube hieran muß mir gewissen Frieden ge­ben. Jemehr ich die Größe meiner Schuld und meines Verderbens er­kenne, desto mehr erkenne ich die Größe und Tiefe der Versöhnung. Ich kann freilich meine Schuld niemals so sehen, wie Gott sie sieht;

aber Er hat sie hinweggetan nach der Größe, wie Er sie sieht. Er Selber sagt mir, daß Er das getan habe; und wenn ich dieses glaube, so habe ich süßen Frieden. „Gerechtfertigt durch Glauben, ha­ben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum C h r i s t u m" (Röm. 5, l).

Ich möchte nur noch zum Schluß bemerken, daß das Wörtchen „mehr" in Vers 14 ein Zusatz ist und verhüten soll, die Wahrheit der ganzen Stelle zu verdunkeln. Wir dürfen nicht meinen, daß darin irgend eine Vergleichung in Betreff des Maßes der Rechtfertigung liege. Durch­aus nicht. Die einfache Wahrheit ist, daß der Zöllner vollkommen ge­rechtfertigt war, und daß der Pharisäer keineswegs gerechtfertigt war. Und warum? Weil der Zöllner sein Vertrauen auf die von Gott gewirkte Versöhnung setzte, während der Pharisäer sein Vertrauen auf Fasten und Zehnten setzte. Der Erstere ruhte in dem Blute; der Letztere ruhte in seinen Werken.

Lieber Leser, zu welchem von den beiden gehörst nun Du? Ver­trauest du dir selbst, daß du gerecht seiest, oder bist du von Gott „ge­rechtfertigt", durch den einfachen Glauben an das köstliche Blut Christi? Ja, zu welchem? Gedenke, wenn du dich selbst als einen verlorenen Sünder siehst, und dein Vertrauen allein auf das Blut Christi setzest, dann bist du so gerechtfertigt, wie dieses Blut dich rechtfertigen kann. Es ist alsdann nicht mehr die Frage, was für eine Art von Sünder du bist, noch was für eine Art von Erlöser Jesus ist. — Oh, möge Gott dir dieses zu erkennen geben!

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Der Unterschied zwischen der Ankunft Christi zur Aufnahme Seiner Heiligen und Seiner Erscheinung mit ihnen in Herrlichkeit.

Es ist vielfach vorausgesetzt worden, daß das Wort Gottes, wenn irgend welche, so doch nur wenige, bestimmte Beweise liefere, um die Idee eines wirklichen Unterschiedes zwischen diesen beiden Ereignissen zu unterstützen, und daß alles, was man zu dessen Gunsten vorbringen könne, eigentlich nur auf ziemlich lockeren und Ungewissen Schluß­folgerungen beruhe.

Der Zweck dieser Zeilen ist deshalb, zu zeigen, daß wir in Bezug auf diese so wichtige Sache ein so vollständiges und ausführliches Zeug­nis haben, als beinahe für irgend eine Wahrheit der Schrift hervor­gebracht werden kann. Dies Zeugnis ist dreifacher Art, und besteht:

1. in bestimmten Erklärungen,

2. in klaren und berechtigten Folgerungen, und geht

3. deutlich aus dem allgemeinen Zusammenhang und der ganzen Har­monie der Schrift mit demselben hervor; während solche Systeme der Auslegung, die diesen Unterschied nicht zugeben, mit vielen wohlbekannten Grundsätzen der Schrift ganz und gar unverein­bar sind, und zugleich eine Verletzung der göttlichen Ordnung welche sich über diesen Gegenstand erstreckt, einschließen.

Wir werden uns auch bald überzeugen, daß die oben angedeutete Voraussetzung entweder daher kommt, daß dieses Zeugnis nicht mit genügsamer Klarheit und Bestimmtheit dargestellt wird, oder daß es von der» Christen im allgemeinen, bald aus Nachlässigkeit, bald aus Mangel an der rechten Würdigung der Wahrheit, die ihm gebührende Beachtung und Aufmerksamkeit nicht empfängt.

Es ist nicht gerade notwendig, daß dies Zeugnis in der oben ange­führten Ordnung dargestellt werde, sondern wir können einfach der Ordnung folgen, "in welcher es in der Schrift behandelt -wird, und der Leser kann selbst urteilen, unter welche Rubrik es zu stellen sei.

Die Frage selbst ist von der größten Wichtigkeit für die Versamm­lung Gottes, weil von der Antwort, die das Wort Gottes uns darüber gibt, sowohl die Stellung als auch die Pflicht der Versammlung, wäh­rend sie auf der Erde ist, abhängig ist. Wenn die Seele wirklich fühlt, daß ihr abwesender Herr jeden Augenblick zurückkommen kann, so wird die Treue des Herzens gegen, Ihn, und falls diese fehlt, die Furcht, nicht bereit zu sein, sie zur Wachsamkeit zu bewegen, bis Er kommt. Wenn aber verschiedene, Seiner Ankunft vorhergehende Ereignisse

offenbart sind, so wird der Herr nicht in derselben Weise erwartet wer-

 

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 den. Seine Ankunft wird in der Ferne gesehen, und dadurch wird die praktische und gesegnete Wirkung jener Ungewißheit Seiner Ankunft auf die Seele sehr geschwächt, wenn nicht gar vernichtet werden. Wenn gesagt würde, daß sieben oder noch mehr Jahre vor der Ankunft des Herrn verlaufen müßten, so würde es niemand als dieselbe Sache oder für so notwendig finden, sich bereit zu halten, als wenn ihm gesagt wird, daß der Herr noch vor Anbruch des nächsten Tages kommen kann. Jenes wird die Kraft dieser Erwartung, sich von der Welt zu trennen, das Herz auf die himmlischen Dinge zu richten, oder es in Trübsal zu trösten, sicher sehr schwächen.

Wenn das vorhin Gesagte sorgfältig erwogen wird, so wird es die­jenigen, welche die ausdrücklichen Vorschriften und Gebote des Hei­landes mit Ehrfurcht betrachten, mißtrauisch gegen jedes System von Auslegung machen, welches Seine Ankunft notwendig in die Ferne stellt Nichts ist klarer, als die Ermahnung an Seine Jünger: zu wachen und Seiner Ankunft unausgesetzt entgegen zu sehen, in welcher Zeit der Nacht, d. i. die gegenwärtige Periode, sie auch geschehen möge. Immer aufs Neue. stellt Er ihnen vor, daß sie „gleich sein möchten den Men­schen, die ihren Herrn erwarten, wenn Er irgend von einer Hochzeit aufbrechen wird, damit, wenn Er kommt und anklopft, sie Ihm alsbald aufmachen. Glückselig jene Knechte, welche der Herr, wenn Er kommt, wachend finden wird . . . Und wenn Er in der zweiten Wache kommt und in der dritten Wache kommt und findet sie also — glückselig sind jene Knechte" (Luk. 12, 36—38; Matth. 25, l—13 usw.). 

In demselben Augenblicke, wo der Knecht anfängt zu sagen: „Mein Herr verzögert zu kommen!" wird er in der Erfüllung seiner Pflichten nachlässig und untreu (Luk. 12, Matth. 24, 42—51); und in dem Gleich­nis von den klugen und törichten Jungfrauen wird uns die ganze Kirche, als ihre allein wahre Stellung wieder einnehmend, vorgestellt. Sie war ursprünglich mit dem Gedanken ausgegangen, ihrem Bräutigam zu be­gegnen; allein sie schlief ein, und wurde jetzt durch das Geschrei:

„Siehe, der Bräutigam kommt; gehet aus ihm entge­gen!" zu dieser gesegneten Erwartung wieder aufgeweckt.

In den Briefen werden die Heiligen, in Übereinstimmung mit die­ser Ermahnung, als unaufhörlich der Ankunft Jesu entgegenharrend, beständig dargestellt. „Ihr seid von den Götzenbildern zu Gott bekehrt," sagt der Apostel Paulus zu den Thessalonichern, „dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und Seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten" (1. Thess. 1. 9. 10). An die zu Philipp! schreibt er: „Un­ser Wandel ist in den Himmeln, woher wir auch als Heiland unsern Herrn Jesum Christum erwarten" (Phil. 3, 20). Das war ihre Erwartung und ihre Stellung, wie der Apostel es selbst in dieser und vielen anderen Stellen beschreibt. Ist hiermit die Annahme in Übereinstimmung zu bringen, daß sie die vorhergehende Erfüllung aller in der Offenbarung beschriebenen Gerichte voraussetzten — die Rückkehr der Juden in ihr Land — ihre Niederlassung daselbst — das Offenbarwerden und die Herrschaft des Antichrist's und die sieben Jahre, die das jüdische Volk unter ihnen durchzumachen hat — außer anderen Ereignissen, zu zahlreich, um sie hier alle zu erwähnen? Würde das die Erwartung „Seines Sohnes aus den Himmeln" sein, und hätte dies von

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 ihnen gesagt werden können, wenn sie auf eine alltägliche Entwicklung aller jener Ereignisse zu warten hatten, ehe es möglich gewesen wäre, Ihn wieder zu sehen? Das sind Fragen, die wir uns beim Beginn dieser Untersuchung vorlegen sollten, bevor wir uns 'erlauben, irgend eine An­sicht zu haben, welche die klaren Absichten und Belehrungen des Herrn und Seiner Apostel zerstört.

Laßt uns jetzt fortfahren, einige Stellen, die weiteres Licht über diese Punkte verbreiten, zu untersuchen. — In dem Augenblicke, wo unser gesegneter Herr Seine Jünger verließ, um zu Seinem Vater zu­rückzukehren, sagte Er ihnen, daß Er hingehe, um in Seines Vaters Hause für sie eine Stätte zu bereiten, und gab ihnen zugleich die herr­liche Verheißung, daß Er zurückkommen würde, um sie zu Sich zu neh­men, auf daß, wo Er sei, auch sie seien (Joh. 14, l—3). Dieses sagte Er, um ihre Hoffnung fest zu machen und ihre Herzen mit Sehnsucht zu erfüllen. Sie sollten eine Wohnung haben; und es war Seine eigene Wohnung, zubereitet durch Ihn Selbst, um erfreut zu werden bei Ihm, dessen Liebe es war, ihnen diesen gesegneten Platz zu verschaffen. Nicht mit dem Glänze und der Herrlichkeit des Königreichs suchte Jesus sie zu trösten, sondern mit etwas, das für das erneuerte Herz weit köst­licher und anziehender war. Es war der Vater und des Vaters Haus, wohin Jesus Selbst ging, als Er sagte: „Wo ich hingehe, wisset ihr, und den Weg wisset ihr," und: „Wo ich hingehe, kannst du mir jetzt nicht folgen; du wirst mir aber nachher folgen." Das ist der Platz, wohin Er die Seinigen zu bringen Sich verbürgt. Es wird hier kein Wort von der Regierung über die Erde gesprochen, wiewohl wir wisse», daß auch diese zu seiner Zeit stattfinden wird; sondern es wird die Ankunft des Herrn für Seine Heiligen mit ihrem Hingang zum Hause des Vaters in genaue Verbindung gebracht; und Seine Ankunft ist zur Erfüllung dieses Zweckes, sodaß wir, beim Betrachten dieses gesegneten Ereignis­ses, der Aufnahme der Heiligen zum Hause des Vater einen Platz einräumen müssen, als den ersten Akt, den uns der Herr in Verbin­dung mit Seiner Ankunft gegeben hat.

Wenn die Erfüllung dieser Erwartung nicht auf einmal stattfin­det, dann müssen wir fragen: „Wann und wie kann sie erfüllt werden, wenn es nicht die Sache eines Augenblicks ist? Wird sie bis ins Unend­liche verschoben werden oder werden wir über die Erde herrschen und unsere Vorrechte, die wir als Söhne besitzen, ausüben, ehe wir dem Vater als Seine geliebten Kinder vorgestellt sind, ehe wir uns des Hau­ses, welches auf ewig des Herrn und unsere Wohnung sein wird, er­freuen? Welcher Augenblick könnte gefunden werden, der geeigneter wäre, als dieser, mit dem es verbunden ist, wenn überhaupt vor Been­digung des Tausendjährigen Reiches einer gefunden werden kann? Ge­wiß, die durch den Herrn gebrauchte Art der Mitteilung muß uns ganz natürlich dahin leiten, zu erwarten, daß wir auf einmal bei Seiner Ankunft zu unserer Wohnstätte aufgenommen werden, und daß Er kommt, um uns dorthin zu bringen, und nicht um uns in der Luft zu empfangen und uns sogleich wieder mit Sich zurück auf die Erde zu nehmen.

Die weitere Untersuchung der Schrift wird uns zeigen, daß das, was hier nur angedeutet, in anderen Stellen mit der größten Bestimmt-

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 heit ausgedrückt wird. In 1. Thess. 4, 15—17 wird der Herr uns, als mit gebietendem Zuruf vom Himmel in die Luft kommend, darge­stellt, und von dort aus ruft Er Seine Heiligen — die Entschlafenen wie die Lebenden — um sich mit Ihm zu vereinigen; und diese werden, auferstanden und verwandelt und vereinigt zu einem Leibe, Ihm in die Luft entgegengerückt werden. Die Worte: „dem Herrn entgegenge­rückt zu werden", beweisen, daß der Wunsch und die Tat gegenseitig sind. Er steigt unseretwegen vom Himmel hernieder, und wir, angezo­gen durch Seine gesegnete Gegenwart und auferweckt durch Seine Kraft, steigen zu Ihm hinauf. Wir sehen hieraus, daß der Herr in der Luft bleibt, während dies alles stattfindet und bis die ganze Versammlung zu Ihm hingelangt ist.

Wir sehen hier deshalb nur das, was mit den Heiligen in Verbin­dung steht — nichts, was Seine Erscheinung für die Welt und- Seine Handlung gegen dieselbe andeutet — nichts von Seiner Erscheinung „in einer Feuerflamme oder mit den Engeln Seiner Macht." Es ist hier keine Spur von irgend welchem Ereignis in Bezug auf die Erde, und daß Er in diesem Augenblicke etwas anderes beabsichtige, als die Hei­ligen und ihre Aufnahme. Der Heilige Geist fügt nur hinzu: „Also werden wir allezeit bei dem Herrn sein" (V. 17). Unsere Zukunft ist verloren in der unseres gesegneten Heilandes, der vom Himmel kommt, um uns zu Sich zu rufen, damit wir für immer bei Ihm seien. Wo Er darnach sein wird, sehen wir aus anderen Schriftstellen.

Nachdem dies himmlische Ereignis stattgefunden hat, fährt der Apo­stel in einem ganz verschiedenen Tone fort und als begänne er einen ganz anderen Gegenstand: „Was aber Zeit und Zeiten betrifft, Brüder, so habt ihr nicht nötig, daß man euch schreibe" (Kap. 5, l). Warum nicht, wenn diese „Zeit und Zeiten" auf die Erfüllung ihrer Hoffnung Bezug haben? Hat der Herr nicht Selbst, als Er auf Erden war, Seinen Jüngern gesagt, besonders Acht zu haben auf die Fortschritte der Er­eignisse auf Erden — Ereignisse, die mit der Erscheinung des Tages des Herrn, wovon hier die Rede ist, verbunden sind — und hat Er Sich nicht derselben Worte bedient, um Seine plötzliche Erscheinung und das damit verbundene Gericht zu beschreiben? Er gab ja eine be­stimmte Erklärung über „Zeit und Zeiten", und wollte, daß sie darauf achteten, und durch die aufeinander folgenden Ereignisse auf die Nähe ihrer Erlösung aufmerksam würden. Die Kriege und Kriegsgerüchte — Der Greuel der Verwüstung — die Zeit großer Drangsale, wie sie nie vorher gewesen — die Zeichen im Himmel — alle diese Dinge (wie das Ausschlagen des Feigenbaumes zeigt, daß der Sommer nahe ist) sind da, um ihnen zu sagen, daß die Zeit der Offenbarung des Menschen­sohnes nahe gekommen ist. 

Hier aber will der Apostel nicht bei diesen Dingen verweilen, wie er sicher getan haben würde, wenn sie die Ver­sammlung betroffen hätten. Er ermuntert sie nicht, auf „die Zeit und Zeiten" zu warten, denn es reichte für sie hin, die allgemeine Tatsache des Weges, in welchem „der T a g" erscheinen sollte, zu kennen, und zwar deshalb, weil sie Kinder des Lichts und des Tages sind, und weder der Nacht,' noch der Finsternis dieser Welt, welche dieser Tag richten soll, angehören. Weil sie einen Teil des Tages ausmachen, der vom Himmel über diese Erde kommen soll, so kann er nicht über s i e

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 kommen, noch weniger kann er sie überraschen. So wird in Matth. 13 gesagt: „Sie werden leuchten wie die Sonne," welche den Tag bringt, zurückstrahlend die Herrlichkeit Christi im Reiche ihres Vaters.*) Wie verschieden ist dieser Gedanke von dem einer langsamen und leidens­vollen Erwartung der allmählichen Annäherung, durch die stufenweise Erfüllung der vorhergehenden Ereignisse. Die Sonne kann nicht über jene hereinbrechen, wie über diese Welt, noch kann sie ohne dieselben erscheinen, denn sie haben Teil daran. Wenn sie ihren Glanz entfaltet, so werden sie als ein Teil dieses Lichtes, das sie verbreitet, gesehen werden; und damit dieses stattfinden kann, müssen sie vorher aufge­nommen werden, oder die Sonne würde ohne sie erscheinen und sie wür­den durch dieselbe überrascht werden.

Es ist deshalb nicht auffallend, daß der Apostel, anstatt auf „die Zeit und Zeiten" näher einzugehen, es für genügend hält, zu sagen:

„Ihr seid nicht in Finsternis, daß euch der Tag wie ein Dieb ergreife;

denn ihr seid alle Söhne des Lichts und Söhne des Tages" (V.4. 5). Er konnte in keiner bestimmteren und deutlicheren Weise die Grund­losigkeit ihrer Befürchtungen, daß sie durch den kommenden Tag über­rascht werden könnten, darstellen; denn alles, was den Tag ausmacht, kann nicht mit der Erde und ihren Bewohnern, über welche er däm­mert, verwechselt werden, noch das Licht mit der Finsternis, der Tag mit der Nacht, der Himmel mit der Erde oder die Sonne mit denen, auf welche sie scheint. Die Sprache, welche der Apostel hier führt, ist viel deutlicher, als wenn er in die Einzelheiten der Ereignisse, die dem Tage vorangehen müssen, näher eingegangen wäre; dieses war aber auch nach der Darstellung der Aufnahme im vorigen Kapitel nicht nötig.

Er gibt nur das große Resultat dieses Tages und was der Platz der Heiligen an diesem Tage sein wird. Es ist auffallend, daß in gleicher Weise der Herr Selbst nach Seiner Auferstehung Sich weigert, mit Seinen Jüngern in die Frage über „Zeit und Zeiten" näher einzu­gegen, wiewohl Er mit ihnen über die Ausgießung des Heiligen Geistes und über das Zeugnis, welches sie auf der Erde für Ihn ablegen sollten, redete (Apst-Gesch. 1. 6—11). Die Worte, auf welche diese Weigerung die Antwort ist, sind sehr bemerkenswert, weil sie uns zeigen, worauf diese „Zeit und Zeiten" sich beziehen. Die Jünger fragen: „Herr, stellst Du in dieser Zeit das Reich dem Israel wieder her?" Jesus ant­wortet: „Es ist nicht eure Sache, Zeit oder Zeiten zu wissen, die der Vater in Seine eigene Gewalt gesetzt hat" (V, 7). Er verbindet also „die Zeit und Zeiten" ganz bestimmt mit der Wiederherstellung des Rei­ches dem Israel, und zugleich sehen wir, daß Er nicht geneigt ist, auf

*) Dieser Unterschied wird noch mehr hervortreten, wenn man diese Stelle mit Maleachi 4, 2 vergleicht: „Euch aber, die ihr meinen Namen fürch­tet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit, und Heilung unter ihren Flügeln." Die verherrlichten Heiligen, die den Herrn, wenn Er kommt, begleiten, bilden einen Teil der Strahlen Seiner Herrlichkeit und leuchten wie die Sonne, indem sie einen Teil ihres Lichtes ausmachen, während die Sonne jenen Heiligen, die auf der Erde sind, aufgeht, und diese deshalb auf das Anbrechen des Tages warten.

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 den Fortschritt der Ereignisse auf der Erde in Verbindung mit diesem Reiche, näher einzugehen, sondern Er richtet die Blicke der Jünger vorwärts, auf den Augenblick hin, an welchem Er kommen wird, wie sie Ihn jetzt gen Himmel auffahren sahen. Er teilt ihnen das mit, was auf sie und auf Seine Wiederkunft Bezug hatte, während Er ihre Frage wegen der Aufrichtung Seines irdischen Reiches, in Verbindung mit Israel, unbeantwortet läßt.

Wie kommt es, könnten wir fragen, daß die Unterweisungen des Herrn nach Seiner Auferstehung so sehr von denen vor derselben ver­schieden sind, und daß Er jetzt zu Seinen Jüngern sagt: „Es ist nicht eure Sache, Zeit oder Zeiten zu wissen?" Und wie kommt es, daß der Apostel Paulus dieselbe Art der Belehrung verfolgt, und wiewohl er den Thessalonichern eine vollkommene Offenbarung über die Ver­wandlung der Versammlung und ihrer himmlischen Hoffnung gibt, es für überflüssig hält, um ihnen über „Zeit und Zeiten" zu schreiben? Die Ursache liegt einfach darin, daß es, um in den Himmel aufgenommen zu werden und dort unsere Segnungen zu genießen, nicht nötig ist, daß ein einziger der Ratschlüsse in Betreff der Erde in Erfüllung gehe, wäh­rend diejenigen, deren Erwartung •mit der Aufrichtung des Reiches auf der Erde und mit den Segnungen, die dasselbe mitbringt, verbunden ist, warten müssen, bis Israel und die Erde alle die für sie bestimmten Trübsale durchgemacht haben. 

Das Reich kann nicht eher aufgerichtet werden, bis der Antichrist überwunden und der ganze, zuvor angekün­digte Lauf der Ereignisse auf der Erde vollendet ist. Diejenigen, welche nach der Aufnahme der Versammlung gläubig werden, sind ganz be­rechtigt, irdische Hoffnungen zu hegen; sie müssen aber durch alle die beschlossenen Trübsale auf der Erde hindurchgehen; ihre Erlösung kann nicht vorher stattfinden. Während ihnen diese Zeichen in Aussicht ge­stellt sind und ihre Blicke dahin gerichtet werden und sie sich durch deren allmähliche Erfüllung unter einander trösten, gibt es nach der Ausgießung des. Heiligen Geistes, um die Versammlung oder Kirche zu bilden, von der Apostelgeschichte bis zur Offenbarung, keine einzige Stelle, welche die Glieder der Versammlung ermuntert, auf diese Zeichen Acht zu haben; im Gegenteil, die wenigen Stellen, die darauf hindeuten, sagen entweder, wie wir gesehen haben, daß sie nicht für sie sind, oder wenden ihre Aufmerksamkeit davon ab, weil sie nicht das Teil der Heiligen ausmachen, deren Hoffnungen himm­lisch sind.

Kein verständiger Christ wird es fremd finden, daß die Versamm­lung berufen ist, hienieden zu leiden. Das Wort Gottes stellt überall diese Leiden als ein Vorrecht vor; sie sind eine ehrenvolle Unterschei­dung für Solche, die dazu berufen werden. Die Trübsale aber, welche über die Welt, als eine Folge ihres Unglaubens und ihrer Verwerfung, hereinbrechen werden, durchzumachen, ist eine andere Sache. Die vor­hin erwähnte große Drangsal ist die göttliche Heimsuchung für die Sünde. Das Wort Gottes sagt uns, daß von Anfang der Schöpfung nichts dergleichen gewesen sei, noch fernerhin sein würde (Mark. 13, 19. 20. Matth. 24, 21. 22). Um der Auserwählten willen, welche die Segnungen der Erde unter der friedlichen Regierung Christi genießen sollen, wer­den die Tage verkürzt, weil sonst kein Fleisch errettet werden würde.

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 In Offenb. 12, 10—12 erfreuen sich die Heiligen droben, daß der Ver­kläger ihrer Brüder hinabgeworfen ist, und fügen hinzu: „Wehe der Erde und dem Meere! denn der Teufel ist zu euch hinabgekommen, und hat große Wut, da er weiß, daß er wenig Zeit hat."

Ist es ein Vorrecht, durch dieses Wehe zu gehen, welches über die­jenigen kommt, die um der Freude dieser Welt willen den Fürsten der­selben Christo vorzogen und sich ihm freiwillig unterworfen haben, um durch ihn irre geleitet zu werden? Ist es nicht weit glücklicher, zu de­nen zu gehören, die sich im Himmel erfreuen und dort den Augenblick der völligen Überwindung Satans erwarten? Ohne Zweifel hat die' Ver­sammlung in vielen Dingen gefehlt, vornehmlich in der Aufrechterhal­tung der Herrlichkeit des Sohnes Gottes und in der Erwartung Seiner Ankunft vom Himmel, — daß sie aber die Stunde der Trübsal, welche über die Welt kommt, weil diese den Heiland verworfen hat und noch immer verwirft, sollte durchmachen müssen, würde ungeachtet ihrer Fehler, ein Gedanke sein, unwürdig dessen, der Sich für sie dahingegeben und sie zu Seinem Eigentum erkauft hat. Schwach und irrend, wie sie ist, hat sie gewiß an Ihn geglaubt, Ihn geliebt und Ihn als ihren Herrn bekannt, während die Welt sich geweigert hat, Ihm zu vertrauen und sich Ihm zu unterwerfen. 

Außerdem würde der beklagenswerte Zustand, worin die wenigen Heiligen sich befinden, welche die schreck­lichen Verfolgungen des Antichrists überleben, es gar nicht wünschens­wert machen, daß die Versammlung während dieser Periode noch auf der Erde sei. „Wenn die Tage nicht verkürzt würden, so würde kein Fleisch errettet werden; und wegen des Überhandnehmens der Gesetz­losigkeit wird die Liebe Vieler erkalten"; und endlich sagt der Herr Selbst, obgleich die Auserwählten in der Kürze gerächt werden sollen, dennoch: „Wenn der Sohn des Menschen kommen wird, wird Er den Glauben finden auf der Erde?" Diese wenigen übriggebliebenen Hei­ligen sind also in einen solchen Zustand gebracht, daß der Glaube ganz aufgehört hat. Diese Sprache scheint doch den Gedanken, daß die Ver­sammlung noch da sei, gänzlich auszuschließen; denn es würde anzei­gen, daß Christus ein geistliches Leben des niedrigsten Zustandes des Verfalls und kaum eine Versammlung vorfinden würde — ein Gedanke, gänzlich verschieden von der Lehre anderer Stellen, wie Matth. 25, l—3 und anderswo, und gänzlich unvereinbar mit der Tatsache, daß der Heilige Geist in der Versammlung hienieden gegenwärtig ist und so lange in ihr verbleibt, als sie sich auf Erden befindet. Die bestimmte Verheißung, welche der Versammlung zu Philadelphia gegeben ist, stellt diesen Punkt vielmehr außer aller Frage: „Weil du das Wort meines Ausharrens bewahrt hast, werde auch ich dich vor der Stunde der Versuchung bewahren, welche über den ganzen Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen, welche auf der Erde wohnen" (Offb. 3, 10). Dies ist eine bestimmte Erklärung, daß die Versammlung als Belohnung ihres Wartens auf Ihn, vor jener schrecklichen Trübsal der Welt bewahrt bleiben soll; und nicht allein vor dieser, sondern auch vor „der Stunde," wann jene Trübsal über dieselbe kommen wird. Dies kann nicht anders geschehen, als durch ihre Aufnahme vor den Gerichten. Wenn sie noch auf der Erde wäre, so würde sie sich unbedingt in „der Stunde" befinden, selbst wenn sie vor den Trüb salen bewahrt bleiben könnte — etwas kaum Mögliches bei der Stel­lung der Versammlung auf der Erde und der Ausdehnung der Gerichte, welche den ganzen Erdkreis umfassen werden. Doch die Verheißung ist deutlich und bestimmt, daß die Versammlung bewahrt bleiben soll vor „der Stunde" dieser Ereignisse, welches weit mehr ist, und augen­scheinlich ihre Aufnahme vor dieser Zeit in sich schließt.

In der Offenbarung werden wir auf eine natürliche Weise dahin geleitet, uns nach der Gewißheit hinsichtlich des Ortes und der Stellung der Versammlung während des fraglichen Zeitraums umzusehen, zu er­forschen — ob dieselbe sich im Himmel oder auf der Erde befindet — ob sie auferstanden und verherrlicht, oder noch wartend ist; und in welchem Charakter wir diejenigen Heiligen antreffen, welche zu dieser Zeit auf der Erde leben.

Eine wohlbekannte Einteilung des Inhalts des Buches wird im er­sten Kapitel gegeben, als dem Apostel gesagt wird zu schreiben: 1. „die Dinge, welche er gesehen hat"; 2. „die Dinge, welche sind"; 3. „das, was nach diesen Dingen geschehen wird." „Die Dinge, welche er gesehen hat," beziehen sich augenscheinlich auf das Gesicht von Kap. l; „die Dinge, welche sind," auf die sieben Versammlungen, welche von dem Herrn angeredet werden; und „das, was nach diesen Dingen geschehen wird," auf den bestimmteren prophetischen Teil des Buches, von Kapitel 4 an bis zum Schluß desselben. Die Gewähr für diese letzten zwei Ein­teilungen findet man im 1. Verse des vierten Kapitels. „Komm hier herauf und ich werde dir zeigen, was nach diesen Dingen geschehen muß." Denn es ist einleuchtend, daß, nachdem der letzte Teil mit Ka­pitel 4 begonnen, „die Dinge, welche sind," nur auf die unmittelbar vor­hergehenden Kapitel und ihren Inhalt bezogen werden können. Wenn man diese Worte und den Gebrauch, welchen der Heilige Geist davon macht, erwägt, so wird einiges Licht auf diejenigen Teile des Buches geworfen werden, worauf sie angewendet und welche zu charakteri­sieren sie bestimmt sind. „Die Dinge, welche sind" — den Zustand der Versammlung, während sie auf der Erde ist, ausdrückend — entfalten die aufeinander folgenden Stufen ihrer Geschichte während der gegen­wärtigen Zeitperiode. Und obgleich dies beim ersten Blick nicht so augen­scheinlich sein mag, so wird man dennoch von dem Charakter des Aus­drucks: „die Dinge, welche sind," und von dem folgenden: „das, was nach diesen Dingen geschehen wird," kaum an ihrer Anwendung auf den Zustand der Versammlung auf' der Erde zweifeln können.

 Eine solche Bezeichnung wie: „die Dinge, welche sind," die nach dem natür­lichen Wortsinne alles umfaßt, was in dem Sinne Christi auf der Erde eine Wichtigkeit hat, würde kaum gebraucht werden, um allein diese wenigen Versammlungen in einer kleinen Provinz Klein-Asiens darzu­stellen, so daß es notwendig scheint, derselben eine größere Tragweite zu geben. Zugleich bemerken wir, daß ihrer nicht Wenige sind — und nur für solche kann diese Untersuchung nützlich sein — die Kap. 4 u. ff. auf das anwenden, was noch zukünftig ist, und glauben, daß die Erfüllung des Restes des Buches, d. i. „das, was nach diesen Dingen geschehen wird," noch nicht begonnen habe. Dies erheischt, daß die Bedeutung, welche man „den Dingen, welche sind," gegeben hat, nur den Zustand der Versammlung beschreibe, oder es würde das, was

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 nach diesen Dingen geschehen wird," keinen Sinn haben; denn die Worte würden gänzlich unanwendbar sein, wenn der lange Zeit­raum, welcher zwischen dem ursprünglichen Zustande der sieben Ver­sammlungen und der noch zukünftigen Erfüllung des Restes des Bu­ches liegt, dazwischen treten sollte.

Nun ist es klar, daß, wenn dieser Unterschied in diesen beiden Teilen des Buches besteht, ausdrücklich in „den Dingen, welche sind" und in „dem, was nach diesen Dingen geschehen wird," sie nicht zu gleicher Zeit vorhanden sein können. Während „die Dinge, welche sind," fortgehen, können „die Dinge, welche nach ihnen geschehen werden," nicht begonnen haben. Nur wenn der erste Zustand der Dinge aufge­hört hat, kann der andere erfüllt werden. „Die Dinge, welche sind," müssen geschlossen sein und die Versammlung kann daher nicht län­ger ihren Platz auf der Erde haben, wenn Kapitel 4 beginnt. Und dies werden wir in Übereinstimmung finden mit dem übrigbleibenden Teil des Buches.

In Kapitel 4 und 5, ehe die Siegel geöffnet sind, oder eins der fol­genden Gerichte verhängt ist, werden die Heiligen an der Stätte gese­hen, die Gott ihnen nach dem Ratschlüsse Seiner Gnade bestimmt hat, unter dem Bilde der vierundzwanzig Ältesten.

Sie sitzen auf Thronen, rings um den Thron Gottes, als Könige und Priester, angetan mit weißen Kleidern, und auf ihren Häuptern goldene Kronen. In Kapitel 5 haben sie außerdem Harfen und goldene Schalen voller Rauchwerk; sie singen den Ruhm Dessen, welcher sie erkauft hat aus jeglichem Geschlecht, und Sprache, und Volk, und Nation; und sie erfreuen sich im voraus einer Regierung über die, Erde, welche noch zukünftig ist. Alles dies bezeichnet sie als die Versammlung. Sie sind erkauft worden durch das Blut Christi, Und gesammelt von verschie­denen Teilen dieser Erde. Es ist klar, daß es nicht Seelen sind; denn Seelen können nicht auf Thronen sitzen oder Kronen tragen; und wenn in diesem Buche von Seelen die Rede ist, so sind sie ausdrücklich als solche bezeichnet (Kap. 6, 9 usw.). Es sind auferstandene und verherr­lichte Heilige, in dem vollen Besitz jener Herrlichkeit und jener Vor­rechte, welche Christus in Seiner Liebe für sie erworben hat.

Es wird indessen von einigen angenommen, daß diese liebliche Szene vorbildlich sei. Aber wovon vorbildlich? möchten wir fragen. Von etwas, das wirklich stattfinden wird, oder nicht? Ohne Zweifel, wird man antworten um buchstäblich erfüllt zu werden, wie es hier gegeben ist. Wenn dem so ist, wie, wo und wann, wenn nicht zu der Zeit und in der Ordnung der Ereignisse, wie es berichtet wird? Wie können die Heiligen sehen, daß das Lamm das Buch — um es zu öff­nen — aus der Hand Dessen nimmt, welcher auf dem Throne' saß; wie können sie Ihm Anbetung darbringen, wenn Er solches' tut — Er, der allein würdig ist, diese Siegel zu öffnen — wenn sie nicht als Zeu­gen dieser Handlung im Himmel sind, wenn sie nicht eher dort sein werden, bis alle Siegel geöffnet und die Gerichte, welche jene veran­lassen, erfüllt sind? Wie, möchten wir abermals fragen, können sie ihren Platz im Himmel auf diesen Thronen einnehmen, und auf die zukünftige Regierung der Heiligen über die Erde hinsehen, wenn sie erst

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 dann aufgenommen werden, nachdem Christus den Himmel verlassen und vorher alle Siegel geöffnet hat, und- anstatt mit Ihm dorthin zu­rückzukehren, sich nur mit Ihm auf Seinem Wege zur Erde, wenn Er hernieder kommt zu regieren und zu richten, vereinigen, wenn alles, was hier stattfindend dargestellt ist? Wo ist bei solchem Gedanken noch Raum für die Erfüllung dessen, was hier in einer solchen Weise und unter solchen Umständen, wie wir sie beschrieben finden, vor­gestellt ist?

Diese Betrachtungen werden zur Genüge zeigen, wie höchst einfach und natürlich es ist, nach der Erzählung — als dem einzigen Wege, in welchem die Stelle wirklich erfüllt werden kann — anzunehmen, daß die Versammlung schon in den Himmel versetzt worden ist und dort ihre Stätte eingenommen hat, um von dort Zeuge der Gerichte zu sein, welche auf die Erde ausgegossen werden, ehe sie Christum begleitet, wenn Er kommt, um Seine Regierung- anzutreten. Es könnten noch an­dere Stellen aus der Offenbarung angeführt werden, um diese Ansicht zu unterstützen, allein die schlagendste wird man in Kap. 19 finden. Dort wird, nach der Verwertung und dem Gericht des Weibes, welche das Bild der abgefallenen Versammlung oder Kirche ist, die Hochzeit des Lammes, als im Himmel stattfindend, beschrieben, in Verbindung mit dem Hochzeitsmahl und der Glückseligkeit derjenigen, welche dazu berufen sind., Die Braut, das Weib des Lammes, hat sich bereitet und ist hochzeitlich geschmückt. Wie kann dies geschehen, fragen wir noch­mal, wenn sie sich nicht im Himmel befindet und nicht dahin aufge­nommen worden ist? Die Hochzeit kann nicht stattfinden, während sie auf der Erde und abwesend von Christo ist, noch gibt es irgendwelche Möglichkeit für die Erfüllung dessen, was hier dargestellt ist, wenn sie Ihm erst dann begegnet, nachdem Er vom Himmel herabgestiegen, um über die Erde zu herrschen.

 Außerdem würde der seltsame Fall ein­treten, daß eine Braut mit den öffentlichen Würden und Ehren, welche ihr als solcher angehören, bekleidet wäre und in der offenkundigen Ausübung derselben sich befände, ehe sie sich der Gemeinschaft Dessen erfreute, von dem sie alle entspringen. Sie würde mit Christo als Seine Braut regieren, ehe sie mit Ihm vereinigt wäre, und würde ihren Platz bei Ihm in offenbarter Herrlichkeit eingenommen haben, ehe sie die persönlichen Freuden und "Rechte geschmeckt haben würde, welche Seine eigene Liebe in Ihm Selbst geschenkt hat.

Doch die folgenden Verse geben uns den bündigsten Beweis des Gegenteils, und daß die Versammlung zu dieser Zeit im Himmel ist. Der Apostel sieht den „Himmel geöffnet," und Christum auf einem weißen Pferde hervorkommen; und er fügt hinzu: „die Heere, welche im Himmel sind, folgten Ihm nach auf weißen Pfer­den, angetan mit weißer reiner Leinwand'1 (V. 14). Wir wissen, daß dies die Heiligen sind, welche also an dem Siege Christi teilnehmen, weil sie mit weißer reiner Leinwand angetan sind, welche gerade vor­her als die Gerechtigkeit der Heiligen bezeichnet und der Braut ver­liehen worden ist, um damit vor der Hochzeit bekleidet zu werden. Es ist gewiß, daß die Heiligen Christo aus dem Himmel nicht fol­gen könnten, der, um ihnen Bahn zu machen, geöffnet ist, wenn sie

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 sich nicht darin befänden, und nicht vorher darin aufgenommen wor­den wären. Wenn wir also keine weitere Stelle hätten, so würde dies allein hinreichend beweisen, daß ein Zeitraum zwischen der Aufnahme der Versammlung und ihrer Rückkehr mit Christo, um zu richten und zu regieren, bestehen muß, während welchen Zeitraums sie im Himmel ist. Es muß jedem, der an. eine zukünftige Erfüllung der in Offbg. 4—19 beschriebenen Szenen glaubt, einleuchtend sein, daß das gegenwärtige Amt Christi nicht das des ötfnens der Siegel ist, welches die Gerichte Gottes auf diejenigen herniederbringt, die auf der Erde wohnen, son­dern daß jene Handlung einen Zeitraum bezeichnet, in welchem ein gänzlicher Wechsel des göttlichen Verfahrens stattgefunden — daß die Zeit der Gnade Gottes im Evangelium, wie sie jetzt vorhanden, aufge­hört hat — und daß alles, was vom Throne Gottes herniederkommt, Gericht ist oder Gericht verkündigt.

 Gott will von der Erde Besitz nehmen, und ehe Er dieses tut, verhängt Er alle diese Heimsuchungen über diejenigen, welche Seine Gnade verachtet haben und begleitet dieselben mit der Ankündigung der persönlichen Ankunft des Menschen­sohnes. Das Zeugnis ist nicht länger das der unbedingten Gnade Gottes gegen Sünder, sondern das der Ansprüche Gottes auf die Erde, welche Er in der Person Christi erhebt und wovon diese Gerichte ein Zeugnis sind. In Folge hiervon erheben sich in großem Maßstabe die Verfolgungen über die Knechte Gottes, welche dieses Buch mitteilt;

während dagegen, so lange das Evangelium verkündigt wird und die. Versammlung auf der Erde ist, Gott allein Seine Liebe zu dem Sünder bezeugt und ein Volk für den Himmel sammelt und die rechtmäßigen Ansprüche Christi auf diese Erde unberücksichtigt läßt. Sobald aber Gott Seine Absicht kund tut, Besitz von ihr zu nehmen, erhebt sich die ganze Feindschaft des natürlichen Herzens des Menschen gegen Gott, wie vor Alters, als Christus gegenwärtig war und sie sagten: „Dies ist der Erbe, laßt uns Ihn töten, und das Erbteil wird unser sein." 

Mit an­deren Worten: die Handlungen Gottes und Christi haben dann eine solche Gestalt angenommen, daß in demselben Augenblicke, in wel­chem Er das Buch nimmt und die Siegel zu öffnen beginnt, ein dem­selben entsprechender Wechsel ,in dem Charakter des Zeugnisses und seiner Wirkungen auf die Gemüter der Menschen, welche es hören, stattfindet. Und so sehr ist dies der Fall, daß, als eine Wirkung des öffnens eines der Siegel, die Menschen die Berge und Felsen anrufen, auf sie zu fallen und sie zu verbergen vor dem Angesicht Dessen, wel­cher auf dem Throne sitzt, und vor dem Zorne des Lammes. In der gegenwärtigen Zeit ist es die Gnade des Lammes und das Blut des Lammes, wodurch Christus wirkt, und welches Seine Jünger verkündi­gen, und in keiner Weise das, was den Zorn des Lammes ausdrückt.

Während wir uns mit diesem Buche beschäftigen, wird es nützlich sein, mehr im Besonderen zu betrachten, wer die Heiligen sind, welche sich während der Gerichte auf der Erde befinden, und welches ihre un­terschiedenen Umstände sind.

Man wird bemerken, daß in dem ganzen, mehr prophetischen Teil des Buches, von Kap. 6—18 einschließlich, die Versammlung nicht ein einziges Mal genannt, noch der Heiligen auf der Erde unter dieser Be­zeichnung erwähnt ist oder darauf angedeutet wird. Im Gegenteil, die

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 Unterschiede zwischen Jude und Heide, welche verschwinden, sobald wir Glieder der Versammlung, des Leibes Christi, werden, treten wie­der hervor.

Die Versiegelten in Kap. 7 sind aus den Stämmen Israels. Die Heiligen in Kap. 11, als Anbeter im Tempel und Altar dargestellt, welche gemessen werden, um zu zeigen, daß sie bis zu einer gewissen Ausdehnung besonders für Gott beiseite gestellt sind und deren An­betung Er wiederum annimmt, müssen sicherlich Juden sein. Der Hof außerhalb des Tempels ist in die Hände der Heiden oder Natio­nen gegeben, welche Jerusalem, das wieder als „die heilige Stadt" er­scheint, zertreten, während das Weib *) (die jüdische Nation) und ihr Same die besonderen Gegenstände des prophetischen Interesses und Zeugnisses sind (Kap. 12). Alles dies bestätigt den Gedanken, daß die Versammlung fort ist und zeigt uns, daß die Wiederaufnahme der Hand­lungen und Wege Gottes gegen Sein altes Volk stattgefunden, und seit­dem dies geschehen, Satans Feindschaft und Angriffe gegen dasselbe gerichtet sind. Aber die moralischen Kennzeichen dieser Personen be­zeichnen noch klarer, wer sie sind. In Kap. 6 rufen sie mit großer Stimme um Gericht, daß Gott „i h r B l u t" an ihren Verfolgern „rächen" möge. Da dies nun der Ausdruck dessen ist, was der Heilige Geist in ihren Mund legt, so müssen diese Gefühle und deren Ausdruck dem Geiste Gottes gemäß sein, oder der Geist Gottes würde es niemals so eingeben und erzählen. Jetzt ist der Tag der Gnade, „die angenehme Zeit, der Tag des Heils." 

Und in Folge hiervon würde jenes Gebet un­passend für uns sein, und ebenso dem Willen Gottes jetzt widersprechen, wie es dann demselben entsprechend sein wird, wenn „die Tür ver­schlossen" und die Zeit der Langmut, Gnade und Geduld vorüber ist. Ein ähnlicher Zustand ist in dem Gleichnis vom ungerechten Richter ausgedrückt, worin die Heiligen jener Zeit unter dem Bilde einer Witwe dargestellt sind, welche ruft: „Schaffe mir Recht von meinem Widersacher," und welchem Gleichnis der Herr hinzufügt: „Gott aber, wird Er nicht das Recht Seiner Auserwählten, welche Tag und Nacht zu Ihm rufen, ausführen, wenn Er in Betreff ihrer auch langsam ist?" Eine solche Sprache kann nicht die der Christen sein, denn sie wäre gänzlich unpassend in dem Munde derjenigen, welche gelehrt sind, ihre Feinde zu lieben und für diejenigen zu beten, die sie beeinträch­tigen und verfolgen. Die Versammlung braucht nicht um die Vernich­tung ihrer Feinde zu rufen, um sich ihrer Segnungen zu erfreuen, denn sie ist in den Himmel aufgenommen und außerhalb dem Bereich aller dieser Szenen; aber diejenigen, welche ihr Teil auf der Erde haben, müssen sich nach dem Sturze ihrer Widersacher sehnen, sowohl we­gen ihrer eigenen Befreiung, als auch wegen der Aufrichtung des Rei­ches, auf welches sie warten.

*) Es ist ein offenbarer Widerspruch, das Weib als die Versamm­lung zu betrachten, denn dasselbe gebührt dem männlichen Sohn (Christus), der alle Nationen mit eiserner Rute weiden soll, und Er wird zu Gott und Seinem Thron entrückt; aber es ist von Israel deutlich gesagt: „Von wel­chem dem Fleische nach Christus kam." Das Teil Israels ist irdische Gewalt und Herrschaft (1. B. Mos. 37, 9).

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 Ebenso ist das Zeugnis der zwei Zeugen in Kap. 11 von Gerichten begleitet, ähnlich denen von Moses und Elias.*) Feuer geht aus ihrem Munde hervor und verzehrt ihre Widersacher.**) Sie verschließen den Himmel und schlagen die Erde mit Plagen, während doch der bloße Vor­schlag, Feuer vom Himmel herabfallen zu lassen auf diejenigen, welche Jesum, als Er auf Erden war, nicht aufnehmen wollten, den Jüngern den Verweis zuzog: „Ihr wisset nicht, wessen Geistes ihr seid."

Der merkwürdige Wechsel, welchen wir in dem Geiste und den Ge­fühlen der Heiligen bemerkt haben, von denen in diesem Buche die Rede ist, und welcher augenscheinlich die göttliche Genehmigung und Bestätigung hat, ist, wie wir gesehen haben, eine Folge der Änderung, die in den Wegen Gottes stattgefunden hat. Dieser Wechsel zeigt sich gleichzeitig mit der Aufnahme der Versammlung, welche, als ein Zeug­nis der Gnade und Langmut Gottes, für den Himmel gesammelt worden und dort in den vierundzwanzig Ältesten auf Thronen ein Zeugnis für uns ist. Alsdann trifft Gott Vorkehrungen, um diejenigen ihrer Macht zu entsetzen, welche die Regierung der Erde so lange an sich gerissen hatten. Das Lamm nimmt das Buch, nachdem Seine Anrechte auf das Erbteil kund gemacht worden, und öffnet die Siegel. In dieser Zeit ver­kündigen die Heiligen die Rechte Gottes auf die Erde, die der Mensch nicht anerkennt — das kommende Gericht (Kap. 14, 6. 7), und den Tag der göttlichen Rache über die Gottlosen, um deßwillen die Gebete jener hinaufsteigen, welche uns lebhaft an ähnliche Züge in den Psalmen er­innern, in welchen dieselben Rechte und dasselbe Reich der beständige Gegenstand sind. — 

Daß es Heilige gibt, welche zu verschiedener Zeit und in anderer Weise, ganz ungleich der der Versammlung entrückt werden, ist aus der in Kap. 11 gegebenen Beschreibung der Aufnahme der zwei Zeugen augenscheinlich, besonders wenn, wie es höchst wahr­scheinlich ist, wir sie als Symbole eines Zeugnisses von doppel- -tem Charakter betrachten. Da ist kein Herniederkommen des Herrn vom Himmel in der Luft um. ihretwillen — keine Begegnung anderer Heiliger in den Wolken und eine nachherige Vereinigung mit dem Herrn, noch ist das Ganze in einem Augenblick vollbracht; sondern .wenn sie ins Leben zurückgerufen, stehen sie auf der Erde und werden von ihren Feinden gesehen. Hiernach sagt eine Stimme: „Steiget hier herauf!" und sie steigen auf zum Himmel in einer Wolke. Sie sind aber nicht begleitet von den entschlafenen und lebendigen Heiligen, obgleich sie in den Himmel gehen, wie jene vor ihnen. Zugleich ist dies ein

*) Es ist durchaus nicht die Absicht, den Irrtum und die schriftwidrige Meinung zu begünstigen, daß Moses und Elias die hier gemeinten Personen seien, welche, wie wir aus der Geschichte der Verklärung lernen, sich offen­bar in einem verherrlichten Zustand befinden, und jetzt nicht fähig sind, Zeugnis auf die Erde zu bringen und zu leiden und zu sterben, wie hier erzählt wird.

**) Vergleiche auch die Wirkungen, welche durch die Gebete der Heiligen in Kap. 8, 4—7 hervorgebracht werden.

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 fernerer Beweis, daß die Annahme, daß Christus den Himmel verlas­sen, um den Heiligen in der Luft zu begegnen und mit ihnen sogleich auf die Erde zu kommen, ohne erst in den Himmel aufzu­steigen, gänzlich unbegründet ist. Diese Zeugen sind wegen ihres Zeugnisses für die Wahrheit erschlagen worden, ebensowohl wie die­jenigen, deren Seelen wir unter dem Altar gesehen haben. Andere, er­schlagen wegen ihrer Weigerung, das Tier und sein Bild anzubeten, während die ganze Welt es verehrte, werden im Himmel an dem glä­sernen Meer gesehen (Kap. 15), welches vorher unbesetzt und für die­selben frei geblieben war. Diese alle, welche getötet worden sind, kön­nen keine irdische Stätte oder Anteil haben, und wir finden sie daher in Offb. 20. an der Glückseligkeit der ersten Auferstehung teilnehmen, im Gegensatz zu der zweiten, der Auferstehung • des Gerichts (Joh. 5, 29), während die erste alle diejenigen einschließt, welche vor der Offen­barung Christi in Herrlichkeit auferstanden sind.

Man findet vielleicht anfänglich einige Schwierigkeit darin, daß die Stellung scheinbar unbestimmt ist, welche durch diejenigen eingenommen wird, die hienieden, nachdem die Versammlung im Him­mel ist, der Wahrheit Zeugnis geben, und warum die Jünger, während unser Herr auf Erden wandelte, als die Repräsentanten derselben be­trachtet sind. Aber ebenso wie viele Aussprüche des Alten Testaments, hinsichtlich des Tausendjährigen Reiches, anfangs nicht leicht verständ­lich waren, nachher sehr einfach wurden, so wird man es hier finden, und meist aus demselben Grunde. Die eigentliche Lösung der Schwie­rigkeit in beiden Fällen liegt in dem Wechsel der Haushaltungen und in der Tatsache, daß wir uns so schwer in Umstände zu versetzen und unter die Leitung von Grundsätzen zu stellen vermögen, welche von den unsrigen so sehr verschieden sind.

Die gegenwärtige Zeitperiode ist eine ganz und gar eigentümliche und außergewöhnliche, und die Wege Gottes unterscheiden sich wäh­rend derselben gänzlich von denjenigen, welche ihr vorhergingen oder ihr folgen werden. Gott läßt jetzt die Erde beiseite und beruft ein Volk für den Himmel. Nach der Aufnahme der Versammlung wird eine Über­gangszeit eintreten, ähnlich der Zeit, als unser Herr auf Erden wan­delte, mit welcher sie manche übereinstimmende Züge haben wird. Da­mals wurde das Evangelium vom Reich gepredigt und das wird wie­derum geschehen (Matth. 24, 14; Offbg. 14, 6. 7). Es wird auch einer erscheinen, der eine Stelle einnimmt, die der des Johannes des Täufers entspricht, als Vorläufer Christi, Sein Kommen ankündigend (Matth. 11, 14; Kap. 17, 11.; Mal. 4, 5. 6). Die Juden werden wieder in ihrem Lande und für kurze Zeit unter der Herrschaft der Heiden (Nationen) sein und werden abermals die Jünger Christi verfolgen; während Gott im Begriff steht, Seinen Sohn aufs Neue in diese Welt zu senden.

Während der früheren Zeitperiode sandte der Herr Seine Jünger mit einer besonderen Botschaft zu der jüdischen Nation, mit diesem Auftrage: (Matth. 10, 5) „Gehet auf keinen Weg der Nationen und gehet in keine Stadt der Samariter hinein. Gehet aber vielmehr zu den ver­lorenen Schafen des Hauses Israel. Indem ihr aber hinzieht, predigt und sagt: Das Reich der Himmel ist nahe herbei gekommen." Nach

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 einigen ferneren Unterweisungen hinsichtlich dessen, was ihrer warten würde, fügt Er in V. 23 hinzu: „Wenn sie euch aber verfolgen in dieser Stadt, entfliehet in die andere. Denn wahrlich, ich sage euch: Ihr wer­det mit den Städten Israels nicht zu Ende sein, bis der Sohn des Men­schen kommen wird." Die Personen, auf welche das Zeugnis beschränkt war, der Gegenstand dieses Zeugnisses, sowie die Umstände desselben und die Unterweisungen, Womit es angeordnet wurde, alles unterschei­det sich gänzlich von dem, was Gott dem Menschen seit dem Tode und der Auferstehung Christi hat zuteil werden lassen. Das Evangelium wird nun weit und breit den Heiden (Nationen) verkündigt, und es ist auch weit davon entfernt, eine bloße Ankündigung des herannahen­den Reiches auf der Erde zu sein. Den Evangelisten jetzt ist nicht ge­boten, gänzlich unversorgt auszugehen (Luk. 22, 34—37), und es kann auch sicherlich nicht gesagt werden, daß die Berufung der Versamm­lung zu irgend einer Zeit die gewesen sei, durch die Städte Israels zu ge­hen, wie die Jünger, oder wie diejenigen, welche dieses Zeugnis wie­derum aufnehmen werden, wenn der Sohn des Menschen kommt. Die Fortdauer desselben bis zum Ende ist besonders bemerkenswert. Die­jenigen, welche es wieder aufnehmen werden, „wenn der Sohn des Menschen kommt," sind beauftragt, durch „die Städte Israels" zu ge­hen, und sie werden also angeredet: „Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende sein" usw., sodaß wir die Autorität des Herrn Selbst haben für die Gleichstellung (und Einerleiheit) des Zeugnisses Seiner Jünger an die Juden, während Er auf Erden war, mit demjenigen, wel­ches der Jüdische Überrest unmittelbar vor Seiner Rückkehr geben wird, und ebenso für die Gleichstellung der Jünger mit diesem Überrest.


Lasset uns noch einige andere, dieselbe Zeit betreffende Stellen betrachten, um uns Gewißheit zu verschaffen, .auf wen sie sich eigentlich beziehen. Matth. 24 handelt von einer Zerstörung Jerusalems, welche noch künftig ist. Dies ist augenscheinlich nach V. 29. 30, wo das Kom­men Christi als kurz auf die Drangsal folgend angezeigt ist (vergl. Dan. 12, 12), wie wir auch von Sach. 14, l—5 lernen, wo die Erscheinung des Herrn mit Seinen verherrlichten Heiligen zur Befreiung der Stadt un­mittelbar nach ihrer Einnahme stattfindet. — Es gibt gewisse Heilige zu dieser Zeit in besonderer Verbindung mit Jerusalem und Judäa, mit jüdischen Vorstellungen und in jüdischen Umständen. Sie werden ge­warnt, sich nicht verführen zu lassen, da viele in dem Namen Christi kommen und behaupten würden, Christus oder der Messias der Juden zu sein; es wird ihnen gesagt, daß falsche Propheten aufstehen und viele verführen würden; daß sie fliehen sollten, wenn sie sähen den Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte; sie werden auf­gefordert, zu beten, daß ihre Flucht nicht am Sabbath oder im Winter geschehe; daß, wenn die Tage der Trübsal nicht würden verkürzt wer­den, kein Fleisch errettet werden würde; daß sie nicht auf diejenigen hören sollten, welche ihnen sagen möchten: „Siehe, hier der Christus, oder hier!" — wenn sie sagten: „Siehe, er ist in der Wüste!" so sollten sie nicht dahin gehen, oder: „Siehe, in den Gemächern!" so sollten sie es nicht glauben (Matth. 24, 13—26).

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 Wie unhaltbar würde die Voraussetzung sein, daß solche Unter­weisungen anderen als jüdischen Heiligen gegeben oder auf sie ange­wendet werden könnten. Ist es wahrscheinlich, daß die Versammlung in Judäa ist, wo sie würde fliehen müssen? Sollte sie angefangen ha­ben, den Tempel in Jerusalem als die heilige Stätte anzusehen (Hebr. 9, 24), und den jüdischen Sabbath oder Samstag als einen heili­gen Tag zu halten? Ist es wahrscheinlich, durch Betrüger verführt zu werden, welche sich selbst für Christum auszugeben versuchen, oder durch andere, die da sagen, Er sei in diesem oder jenem Gemach ver­borgen und es sei notwendig, dorthin zu Ihm zu gehen? Dagegen ist alles dieses sehr natürlich, wenn wir die hier dargestellten Personen als jüdische Gläubige betrachten. Die beschriebenen Gefahren und die gegebenen Warnungen sind gerade passend für sie. Sie werden als Juden natürlich den Messias in dieser irdischen Weise erwarten, und bedürfen daher dieser Unterweisungen, um nicht verführt und betrogen zu werden. 

Der Tempel wird die heilige Stätte für sie sein; der jüdische Sabbath wird von ihnen beobachtet werden, und, da ihre Hoffnungen irdisch sind, da sie ihr Teil, wenn Christus kommt, um zu regieren, an den Segnungen der neuen Erde haben sollen, so ist es zu diesem Zweck notwendig, daß ihr Fleisch gerettet werde, oder mit anderen Worten, daß sie lebend durch all diese Trübsale gehen. Aber wartet die Ver­sammlung hierauf, oder hat es irgend eine Wichtigkeit für sie, ob ihr Fleisch bewahret bleiben wird, indem sie weiß, daß sie aufgenommen und verwandelt werden muß, um die Herrlichkeit Christi zu teilen? Glaubt sie Ihn in den Gemächern, oder kann sie in irgend einer Gefahr sein, durch solch ein Vorgehen betrogen zu werden, sie, die den Augen­blick erwartet, wo Er aus dem Himmel kommt, um sie aufzunehmen, wo sie Ihm in de'r Luft begegnen und allezeit bei Ihm sein wird? — In Dan. 12, wo dem Volke Daniels Befreiung verbeißen wird, ist hinzu­gefügt: „Alle, die im Buche geschrieben stehen," welches genau dem hier in Matthäus gebrauchten Ausdrucke „Auserwählte" entspricht.

 Fer­ner in Luk. 17, 31, wo von derselben Zeit und denselben Umständen die Rede ist, und wo ähnliche Unterweisungen gegeben sind, ist hinzu­gefügt: „An jenem Tage, wer auf dem Hause sein wird und sein Ge­räte im Hause hat, der steige nicht hinunter, um es zu holen; und wer auf dem Felde sein wird, der kehre desgleichen nicht um zu dem, was hinter ihm ist." Ist es nun nicht ganz begreiflich, wie eine solche Sprache an einen himmlischen Heiligen gerichtet werden könnte, welcher Gottes Sohn um seinetwillen vom Himmel herabkommen sieht, und sich selbst in demselben Augenblick in Sein Bild verwandelt findet und, in den Wolken emporsteigend, Ihm begegnet? Er wird sicher nicht zurück­kehren, um sein Gerät aus dem Hause zu holen! Von welchem Werte könnte es möglicherweise für ihn sein, oder wie könnte von einem ver­wandelten und verherrlichten Heiligen so etwas vorausgesetzt werden? Für jemanden, welcher auf der Erde verbleibt und dort gesegnet wird, wenn Christus sie regiert, würde solch eine Warnung ganz passend sein. Für ihn ist es gut, daß er Christo entgegengeht und auf seine irdischen Besitzungen keine Rücksicht nimmt, wie nützlich sie ihm nachher auch sein mögen. Christus wird in allen Sachen Sorge für ihn

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 tragen, und es sollte sein Herz alsdann nur von Christo erfüllt sein, obgleich er ein Heiliger ist, der sein Teil an den irdischen Segnungen hat.

Es ist durchaus nicht überraschend, daß die Apostel als die Reprä­sentanten dieser Personen betrachtet werden. Wir wissen, daß nach dem göttlichen Ratschlüsse sie hernach den Kern der Versammlung bil­deten; und bisweilen werden sie von unserem Herrn in Voraus nach dem angesehen, was sie sein würden, wenn der Sachwalter gekommen sein würde. Aber sie waren in ihrem eigentlichen Charakter sicherlich mehr jüdische Gläubige, als das, was wir Christen nennen, ein Name, welcher ihnen viel später gegeben wurde; auch war die Versamm­lung zu jener Zeit noch nicht gebaut oder gebildet (Matth. 16, 18; Ap.-Gsch. 2, 47). Sie waren nicht fähig, die Notwendigkeit zu verstehen, daß Christus leiden mußte, noch nach Seinem Tode und Begräbnis, daß Er aus den Toten wieder auferstehen würde, obgleich Er beides ausdrück­lich vorhergesagt hatte. Sie hofften, daß Er der sei, der Israel erlösen sollte (Luk. 24, 21). Sogar nach Seiner Auferstehung fragten sie Ihn, wie wir schon gesehen haben: (Apg. l) „Herr! stellst Du in dieser Zeit das Reich dem Israel wieder her?" Wir sehen hieraus, daß ihre Gedanken und Hoffnungen selbst damals noch mit den Zuständen und Erwartungen ihrer Nation verbunden waren und sich nicht darüber erhoben.

 Es ist klar, daß sie die Ratschläge Gottes, hinsichtlich der Versammlung und ihrer Stellung in derselben, nicht zu fassen vermoch­ten, und daß ihr Verständnis erst nach der Ausgießung des Heiligen Geistes — welcher kam, um dieselbe zu bilden — geöffnet wurde, sonst hätten sie eine solche Frage nicht tun können. Sie waren bis zu diesem Zeitpunkte jüdische Gläubige, welche Jesum als ihren wahren Messias anerkannten und als solchen auf Ihn hofften — Gläubige, die ihre Ge­danken und Gefühle als Juden beibehielten und auf Ihn in Seiner Ver­bindung mit der jüdischen Nation hinblickten, und sich selbst als einen Teil derselben betrachteten. Sie glaubten an die diesem Volke  gege­benen Verheißungen Gottes und erwarteten, daß Er sie nunmehr erfül­len würde. Dies macht sie so besonders fähig, die Repräsentanten derer zu sein, welche an einem noch zukünftigen Tage sich fast in denselben Umständen befinden, fast dieselben Gefühle und Hoffnungen, ja fast dasselbe Licht und dasselbe Vertrauen in Bezug auf Christum, als die Hoffnung Israels, haben werden; und in dieser Weise betrachtet sie der Herr, wie wir gesehen haben, in Stellen, wie Matth. 10. und 24., Mark. 13. und Luk. 17. und 21. —

Viele Stellen, welche sich auf die Rückkehr des Herrn, um diese Erde zu richten, beziehen, haben einen so besonderen, nur ihnen eige­nen Charakter, und sie sind so abweichend von denjenigen, die auf Seine Ankunft für die Versammlung Bezug haben, daß es unerklärlich erscheint, wie sie jemals haben darauf angewandt werden können. In Offbg. 1. 7 wird z. B. Seine Ankunft folgendermaßen angekündigt:

„Siehe, Er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird Ihn schauen, auch die, welche Ihn gestochen haben; und alle die Stämme des Lan­des werden über Ihn wehklagen." Ferner: „Und sie werden den Sohn des Menschen sehen, kommend auf den Wolken des Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit" (Matth. 24, 30). Und: „Gleich wie der Blitz ausfährt vom Aufgang und scheinet bis zum Niedergang, also wird

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 auch die Ankunft des Sohnes des Menschen sein" (Matth. 24, 27). Hier ist Seine Ankunft auf den Wolken; sie ist gleich dem Blitzstrahl, wel­cher sich von einem Ende des Himmels ausbreitet bis zum ändern; jedes Auge sieht Ihn, und Furcht und Schrecken sind die unmittelbare Folge. Wenn Er für Seine Heiligen kommt, wie in 1. Thess. 4 erzählt wird, so kommt Er nicht auf den Wolken welche ein Symbol richterlicher Macht­vollkommenheit sind. Er wird nicht gesehen von jedem Auge, noch lesen wir, daß irgend solche Wirkungen hervorgebracht werden. Da ist nicht ein Anzeichen richterlichen Charakters; Er kommt nur mit einer Botschaft der Liebe, um Seine Braut, die Er mit Seinem Eigenen Blute erkauft hat, zu Sich zu nehmen — sie, die Er zu Seiner himmlischen und ewigen Gefährtin erwählt hat. Seine Sorge betrifft die Versamm­lung — Seine Heiligen, und diese allein — um sie zu suchen und für alle Zeit zu Sich zu nehmen; denn das ist das Verlangen Seines Herzens.

Er .kommt als ein Erlöser — ein Heiland — ein Bräutigam; und jeg­licher Gedanke, außer der Erfüllung der Absichten und Verheißungen der Liebe, ist ausgeschlossen. Er kommt, um endlich „die Versammlung Sich Selbst' verherrlicht darzustellen, die weder Flecken noch Runzel, noch etwas dergleichen habe, sondern daß sie heilig und tadellos wäre" (Eph. 5, 27). Wie verschieden ist dies von der Art und Weise, in wel­cher, wie wir gesehen haben, Seine Rückkehr auf die Erde geschildert wird. Sie wird der Sündflut verglichen, welche die gottlosen Bewohner der Erde dahinraffte: „Gleichwie die Tage Noahs, also wird auch die Ankunft des Sohnes des Menschen sein. Denn gleich wie sie in den Tagen vor der Sündflut waren: sie aßen und tranken, heirateten und wurden verheiratet, bis an den Tag, wo Noah in die Arche einging; und sie es nicht erkannten, bis, die Sündflut kam, und sie alle hinwegnahm, — so wird auch die Ankunft des Sohnes des Menschen sein" (Matth. 24, 37—39). Sie wird ferner dem Feuer verglichen, welches Gott vom Him­mel regnen ließ, um Sodom und Gomorrah zu zerstören: — „Desglei­chen auch, wie es in den Tagen Lots geschah; sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten. An demselben Tage aber, wo Lot aus Sodom herausging, regnete es Feuer und Schwe­fel vom Himmel und brachte sie alle um. Ebenso wird es an dem Tage sein, wo der Sohn des Menschen offenbart wird" (Luk. 17, 28—31). 

Sind die Sündflut und das Feuer, welches Gott vom Himmel sandte, passende Sinnbilder der Ankunft Christi, wenn Er Seine Versammlung aufnimmt? Hat dieselbe irgendwie diesen Charakter, oder sind solche Züge in ihr enthalten, wie sie uns in 1. Thess. 4 und ähnlichen Stellen dargestellt werden? Man beachte, es ist „die Ankunft" Christi, die mit diesen Dingen verglichen wird und die diese Merkmale hat: „Er kommt" auf den Wolken des Himmels; „Seine Ankunft" ist gleich dem Blitz, der Sündflut und dem Feuer vom Himmel. Wird Er für Seine Heiligen kommen als eine Flut, oder als Feuer, oder als Blitz? — Wird Er für Seine Braut als Richter kommen, oder mit einem zweischneidigen Schwerte, aus Seinem Munde hervorgehend, und einer eisernen Rute in Seiner Hand, oder mit einem in Blut getauchten Gewande bekleidet, wie Er in Offbg. 19 dargestellt ist; und diesen Cha­rakter wird Er in demselben Augenblicke haben, wenn Er aus dem Himmel kommt, sodaß nicht gesagt werden kann, daß Er, nachdem Er

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 den Himmel verlassen. Seine Gestalt verwandle und dieselbe in dem einen Charakter aufgebe, während Er sie, ehe Er die Erde erreicht habe, in einem anderen annehme?

Wie sehr muß die Vermischung dieser beiden Ereignisse jener freu­digen und herrlichen Erwartung schaden, welche durch die Gewißheit hervorgebracht wird, daß der Herr für Seine Heiligen in jedem Augenblick kommen kann, und welche eine Stelle wie diese erwecken muß: „Also wird auch der Christus . . . zum zweiten Mal ohne Sünde denen, die Ihn erwarten, zur Seligkeit erscheinen" Hebr. 9, 28); denn es ist offenbar daß die Wirkung auf das Herz davon abhän­gig sein wird, auf welche Weise der Gläubige die Rückkehr des Herrn betrachtet.

Ebenso wie die ehemals gewöhnliche Idee von einem allgemeinen Gericht und einer Verbrennung des Weltalls, in Verbindung mit der zweiten Ankunft des Herrn, diese ihres lieblichen und anziehenden Charakters entkleidete, ja sie sogar für Sein Volk in ein Schreckbild verwandelte, ebenso bewirkt die Verwechselung mit Seinem Kommen zum Gericht eine Abschwächung, wenn nicht Zerstörung jener süßen und glücklichen Gefühle mit welcher die Braut Christi das Kommenihres Bräutigams, um sie zu Sich zu nehmen, erwarten sollte.

Daß die schon oben gegebene Erklärung, daß, wenn Christus kommt, um die Versammlung aufzunehmen, kein Auge Ihn sehen wird, genau ist, geht deutlich aus Kol. 3, 4 hervor, wo uns gesagt wird: „Wenn der Christus, unser Leben, offenbart sein wird, dann werdet auch ihr mit Ihm in Herrlichkeit offenbart werden;" sodaß, wenn Er von der Welt gesehen wird, die Schrift ganz bestimmt erklärt, daß wir bei Ihm sein und mit Ihm gesehen werden in Seiner Herrlichkeit. — Wir müs­sen daher vorher aufgenommen sein, um bei Ihm sein zu können, so­daß, wenn Er kommt mit den Wolken und jedes Auge Ihn sieht, dies nicht Sein Kommen für uns sein kann, oder Er würde ohne uns er­scheinen, anstatt mit uns, und wir würden nicht bei Ihm sein, wenn Er in Herrlichkeit erscheint. 

Ebensowenig kann es auf Sein Kommen als der Blitz angewandt werden, ein Bild, welches gebraucht ist, um ausdrücklich das zu bezeichnen, was allen offenbar und augenscheinlich sein wird, im Gegensatz zu dem, was verborgen und geheim ist. Dies wird auch durch den Apostel Judas bestätigt, welcher sagt: „Siehe, der Herr kommt mit Seinen heiligen Tausenden, Gericht wider alle auszu­führen" (Juda 14, 15; Sach. 14, 5). Irn 2. Thess. 2. macht der Apostel Pau­lus selbst den klaren Unterschied zwischen der Aufnahme der Ver­sammlung und dem Tage des Herrn: — „Wir bitten euch aber, Brüder, um der Zukunft unseres Herrn Jesu Christi willen, und unserer Ver­sammlung zu Ihm, daß ihr nicht schnell in eurer Gesinnung erschüt­tert noch bestürzt werdet, weder durch Geist, noch durch Wort, noch durch Brief als von uns, als ob der Tag des Herrn da sei." Die Thessalonicher hielten, wie es scheint, „die Verfolgungen und Trübsale," welche sie „erduldeten", für die Gerichte, die den Tag des Herrn beglei­ten werden, und glaubten in Folge dessen, derselbe müsse begonnen haben. Dieser Gedanke beunruhigte ihre Herzen und schwächte ihr Vertrauen und gab dem Apostel Veranlassung, sie zu beschwören um der Ankunft Christi willen und ihrer Versammlung zu Ihm, — welches

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 vorher stattfinden mußte — nicht der Meinung oder der Befürchtung Raum zu geben, daß der Tag des Herrn vorhanden sei. Auf diese Weise unterschied er diese beiden Ereignisse und bat die Thessalonicher kraft des einen, was sie selbst so nahe betraf und ihre vorherige Aufnahme voraussetzte, sich wegen des ändern nicht beunruhigen zu lassen.

Ein anderer wichtiger Punkt, welcher in dieser Epistel berichtet wird, ist die Macht, welche den Fortschritt und die Entwicklung des Bösen und die Offenbarung des Antichrist's aufhält: „Und nun, was zurückhält," sagt der Apostel, „wisset ihr, daß er zu seiner Zeit offen­bart werde. Denn schon ist das Geheimnis der Gesetzlosigkeit wirksam;

nur ist jetzt der, welcher zurückhält, (vorhanden), bis er aus dem Wege ist" (V. 6. 7). Der Apostel sagt uns nicht, was diese Macht war, die das Übel aufhielt; wir können daher nur aus den gebrauchten Aus­drücken und aus anderen Schriftstellen darauf schließen.

Die Versammlung wurde erst dann gebildet, als der Heilige Geist am Tage der Pfingsten zu diesem Zweck herabkam. Vor dem Tode Christi war die Zwischenwand der Umzäunung zwischen Jude und Heide vorhanden, und es konnte daher von einer Vereinigung derselben in einem Leib nicht die Rede sein; noch konnte dieser Leib ein Dasein haben, bis dessen Haupt im Himmel und verherrlicht, und der Heilige Geist herniedergesandt war, um in demselben zu wohnen und ihm seine Einheit zu geben. Um dieser zwei Dinge willen ist es offenbar not­wendig, weil ein jeder natürliche Leib Leben hat, daß er erstens ein Haupt haben und daß zweitens ein Geist in ihm sein muß, um ihn zu beleben und ihm die Einheit des Lebens zu geben. Während Christus auf Erden war und ehe Er gestorben, hatte diese Einheit nicht be­gonnen, denn sie war etwas weit höheres als eine Einheit des Glau­bens an Seine Person. Er sagt von Sich Selbst: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein; wenn es aber stirbt, so bringt es viele Frucht" (Joh. 12, 24), sodaß wir in Seiner Auferstehung und kraft derselben dieses Leben in Ihm haben und nicht vor derselben (vergl. auch Ephes. 2, 5. 6). Es war daher nicht nur notwendig, daß Er ein Mensch werden, sondern daß Er auch sterben und wieder auferstehen mußte, ehe ein einziger Gläubiger mit Ihm in demselben Leben, welches Er hatte, ver­einigt werden konnte (Joh. 14, 19), da die Versöhnung für die Sünde die Grundlage von allem ist. — Es ist indes nicht allein das Leben, welches den Leib bildet, sondern die Gegenwart des Heiligen Geistes hienieden, welcher jetzt, da es einen erhöhten und verherrlichten .Men­schen als Haupt im Himmel gibt, gekommen ist, um uns mit Ihm als solchem zu vereinigen und durch Seine Gegenwart hier auf Erden alle lebenden Heiligen zu einem Leib zu verbinden; „denn" sagt der Apo­stel, „durch einen Geist sind wir alle zu einem Leibe getauft worden" (1. Kor. 12, 13).

Diese persönliche Gegenwart des Heiligen Geistes auf Erden ist das große Kennzeichen der gegenwärtigen Zeitperiode und des Daseins der Versammlung. Als Jesus Seine Jünger verließ, verhieß Er ihnen einen anderen Sachwalter, welcher „bei ihnen bliebe in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit." Diese Verheißung wurde am Tage der Pfingsten erfüllt, und alsobald war die Versammlung auf Erden gegründet, so-

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 daß gesagt werden konnte: „Der Herr aber tat täglich zu der Versamm­lung hinzu, die gerettet werden sollten," und die Erfüllung des frü­heren Ausspruches Christi: „Auf diesen Felsen (Seine Eigene Person) will ich meine Versammlung bauen," hatte ihren Anfang genommen. Seit dieser Zeit ist der Heilige Geist auf Erden in der Versammlung geblieben. Alle Tätigkeiten in ihr beruhen auf Seiner Wirksamkeit (1. Kor. 12, 11; Ap.-Gesch. 13, 2 usw.). Durch Ihn wird die Versamm­lung auferbaut zu einer Behausung Gottes (Eph. 2, 22). Diese Gegen­wart Gottes m der Person des Heiligen Geistes in dem Leibe Christi und Seine Wirksamkeit in Gnade und Macht und Segen sind ganz und gar unterschieden von Seiner providentiellen (von der göttlichen Vor­sehung bewirkten) Regierung in der Welt, welche vom Anfang an vor­handen war, und nachdem jene Gegenwart aufgehört hat, vorhanden sein wird, ebensowohl wie die Wirkungen Seiner Gnade auf die Herzen der Einzelnen in allen Haushaltungen niemals aufgehört haben. In gewissen Teilen der Offenbarungen Johannes, nämlich in denen, welche den Gerichten vorhergehen und folgen, haben wir ein weiteres Zeugnis dieser Wahrheit. In den Sendschreiben an die Versammlungen heißt es: „Wer Ohr hat, der höre, was der Geist den Versammlun­gen sagt; und dies wird oft wiederholt; und in Kap. 22 ist der Geist hienieden gemeinschaftlich mit der Versammlung dargestellt, als auf Christum hinblickend und Seine Rückkunft erbittend. „Der Geist und die Braut sagen: Komm!" Diese Stellen beziehen sich auf die ge­genwärtige Zeit, während welcher die Versammlung noch auf Erden ist, und wir werden darin die Kraft von des Apostels Behauptung er­blicken, daß „jetzt Der, welcher zurückhält, vorhanden ist, bis er aus dem Wege ist."

Während der Heilige Geist sich auf der Erde in der Versammlung befindet, ist Seine Gegenwart ein Hindernis für die völlige Offen­barung des Bösen. Wenn schon die Gegenwart eines Mannes Gottes in dieser Weise auf eine Gesellschaft gottloser Menschen wirkt, wie wir das oft gesehen haben, wie kann es uns Wunder nehmen, daß die Ge­genwart des Geistes Gottes sowohl, als auch das Licht, was Er auf der Erde verbreitet, in derselben Weise wirksam sein sollte. Wenn einst die Versammlung entrückt und der Heilige Geist nicht länger hier ist, dann wird der zurückhaltende Einfluß aufhören, das Böse sich ohne Hindernis ausbreiten, und der Antichrist erscheinen. Daher die Eigen­tümlichkeit des Ausdrucks: „nur ist jetzt der, welcher zurückhält, vor­handen, bis er aus dem Wege ist," welches Seine plötzliche Ent­rückung mit der Versammlung entsprechend beschreibt. Dies stimmt mit dem überein, was wir schon angemerkt haben, daß es nämlich eine unhaltbare Voraussetzung sei, daß der Heilige Geist hier sein könne, wenn der Sohn des Menschen kommt, um Rache zu nehmen, und kaum" Glauben findet auf Erden. Die alte Idee, daß das Römische Reich -es sei, welches der Offenbarung des Antichrists im Wege stehe, würde letzt nicht mehr den Anforderungen der Stelle genügen, weil dieses Reich längst aufgehört hat zu sein, und ein persönlicher Antichrist noch nicht erschienen ist; noch kann, glauben wir, irgend eine andere haltbare Auslegung von denjenigen gegeben werden, welche gegen un­sere oben gegebene Darstellung Einwendungen machen.

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 Es gibt ohne Zweifel viele Stellen, die von dem Tage des Herrn in Verbindung mit dem Wandel und dem Dienst der Heiligen reden. Denn während die Entrückung allein auf deren Vorrechte Bezug hat, ist der Tag des Herrn der große Tag ihrer Verantwortlichkeiten. Die Ursache findet man darin, daß die Diener berufen sind, Rechen­schaft abzulegen und Belohnung zu empfangen, nachdem ihr Herr vor­her Sein Reich empfangen hat, und daher mit der Machtvollkommen­heit bekleidet ist, durch welche Er strafen oder belohnen kann, je nach­dem Er es gerechtfertigt findet. Der Evangelist Lukas sagt uns (Kap. 19, 15), daß Er, nachdem Er das Reich empfangen hatte, zurück­kam, und Seine Knechte, denen Er das Geld gegeben hatte," zu Sich kommen ließ, „damit Er wüßte, was jeder erhandelt hätte." 

Der Apo­stel Paulus redet von einer „Krone der Gerechtigkeit, welche ihm der Herr, der gerechte Richter, an jenem Tage geben werde, und nicht allein ihm, sondern auch allen, die Seine Erscheinung lie­ben" (2. Timoth. 4, 8). Der Herr, der gerechte Richter, ist es also, wel­cher diese Krone verleiht, und als solcher einen Unterschied machen wird zwischen denen, welche Ihn geliebt und Ihm gedient und denen, welche dies nicht getan haben. Diese Krone wird nicht eher als an je­nem Tage verliehen, wenn Er kommt und in jenem Charakter offen­kundig in der Welt auftritt. Dem Timotheus wird gesagt, das, was ihm anvertraut war, zu bewahren, bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesu Christi. Timotheus entschlief vor Jahrhunderten mit den heimgegan-genen Heiligen, dennoch wird er nicht eher Rechenschaft ablegen und seine Belohnung empfangen bis zu jener Zeit.

Es bleiben noch einige Stellen zu betrachten übrig, die in einigen Gemütern Schwierigkeiten hervorgerufen haben. Nachdem in Matth. 13 über den Fortschritt des Christentums in der Welt und sein Ver­derben durch den Feind berichtet worden, ist in dem Gleichnisse vom Unkraut unter dem Weizen von der Ernte — als einer Scheidung der beiden — die Rede. Diese Ernte nun, wie es in natürlichen Dingen der Fall, ist ein mehr oder weniger ausgedehnter Zeitraum, wie wir aus den Worten lernen, „zur Zeit der Ernte," — „die Ernte ist die Voll­endung des Zeitalters;" und verschieden aufeinander folgende Ereig­nisse werden mitgeteilt, welche während ihrer Dauer stattfinden sol­len. Es ist gerade so, wie es bei der Begebenheit, von welcher diese Erläuterung genommen, gewöhnlich der Fall ist: Das Feld ist geschnit­ten, so daß die Ernte auf dem Felde fertig steht, ehe sie eingebracht wird. Das Unkraut wird zuerst gesammelt und in Bündel gebunden — der Weizen auf den Boden gebracht, und darnach das Unkraut mit Feuer verbrannt; und noch später wird gesagt: „Dann werden die Ge­rechten hervorleuchten wie die Sonne, in ihres Vaters Reich." Diese bei­den letzten Umstände, welche in der Erklärung des Gleichnisses (V. 40 —43) hervortreten, gehen über die vorhergehenden Darstellungen hin­aus und machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Aufnahme der Versammlung, und ihrer öffentlichen Erscheinung in der Herrlich­keit Christi.

Der den Schluß dieses Gleichnisses beschreibende Ausdruck: „Die Zeit der Ernte" möge die Schwierigkeit beseitigen helfen, welche von einigen hinsichtlich der Meinung einer Aufnahme verschiedener Hei-

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 ger zu verschiedenen Zeiten gefühlt wird, da der Ausdruck anzudeuten scheint, daß der ganze Zeitabschnitt den Charakter einer Einsammlung der Heiligen trägt. Aber was diese Schwierigkeit hauptsächlich hat aufkommen lassen, ist eine irrtümliche Ansicht von Offbg. 20, indem man unrichtigerweise voraussetzte, daß diese Stelle die Auferstehung der Versammlung beschreibe, während sie in Wirklichkeit annimmt, daß dieselbe stattgefunden hat, obgleich sie keinen Bericht darüber gibt. Die Stelle lautet also: „Und ich sah Throne, und sie saßen darauf, und es ward ihnen Gericht gegeben; und die Seelen derer, welche um des Zeugnisses Jesu und um des Wortes Gottes willen enthauptet wa­ren, und diejenigen, die das wilde Tier nicht angebetet, noch sein Bild und das Malzeichen an ihrer Stirn und an ihrer Hand angenommen hatten, und sie lebten und herrschten mit dem Christus die tausend Jahre" (V. 4). Der Apostel hatte die Versammlung vorher in der Herr­lichkeit gesehen — in Kap. 4 usw. als die Ältesten auf den Thronen, und in Kap. 19 als die Braut; und er hatte sie auch gerade zuvor mit Christo aus dem Himmel kommen sehen, als Er im Triumph auf einem weißen Pferde herabkam, um die antichristlichen Heerscharen zu be­siegen.

 Er sieht jetzt Throne, welche von den Heiligen besetzt sind, und „das Gericht wird ihnen gegeben;" aber er fügt hinzu, daß die­jenigen, welche enthauptet worden waren, und welche er vorher als Seelen gesehen hatte, lebten und ebenfalls mit Christo regierten. Es war unnötig, von der Auferstehung der Versammlung zu reden, denn die Glieder derselben waren seit langem auferstanden und entrückt worden; sie waren als auf dem Throne sitzend beschrieben und ihrer oft in verherrlichtem Zustande erwähnt worden, und sie hatten soeben Christum vom Himmel begleitet, um mit Ihm zu herrschen; daher sagt er nur: „Ich sah Throne und sie setzten sich darauf, und Gericht ward ihnen gegeben," indem er durch den Ausdruck „sie" diejenigen bezeich­net welche mit Christo in Kap. 19, 14 herabgekommen waren. Auch die Märtyrer, die enthauptet worden waren, sagt er uns jetzt, waren auferweckt, um an den Segnungen der Regierung Christi teilzuneh­men; — als Seelen konnten sie keinen Anteil daran haben, — und • daher sagt er von ihnen, und nur von ihnen, daß „sie lebten," um „mit Christo" zu regieren. „Die übrigen Toten aber," fährt er fort, „wur­den nicht lebendig, bis die tausend Jahre vollendet sind. Dies ist die erste Auferstehung," sodaß der Ausdruck „erste Auferstehung" auf alle angewandt ist, welche vor dem Anfang des Tausendjährigen Reiches auferweckt waren, im Gegensatz zu denjenigen, welche nicht auferweckt wurden bis am Ende desselben. 

Der Apostel schließt diese verschiedenen Heiligen darin ein, welche er nun mit Christo regieren sieht, und. nennt es alles: „die erste Auferstehung." Mancher mag es zwei oder mehr Auferstehungen nennen, und solcher Einwand mag auf den ersten Blick scheinbar etwas für sich haben; allein dieser Schein wird verschwinden, sobald es uns klar geworden, daß der Heilige Geist diesen Ausdruck „erste Auferstehung" im Gegensatz zu dem gebraucht, was nach den tausend Jahren stattfindet und einen gänzlich verschie­denen moralischen Charakter hat. Es ist offenbar, daß Henoch, Moses und Elias, die längst entrückt waren, ebensowohl zur ersten Aufer­stehung gerechnet werden, als diejenigen Heiligen, welche, wie Matthäus

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 erzählt (Kap. 27, 52. 53) bei der Auferstehung unseres Herrn auferweckt wurden; auch müssen die zwei Zeugen, deren Himmelfahrt in Kap. 11 beschrieben, wurde, Teilhaber derselben sein, sodaß der Versuch, das ganze auf einen Zeitpunkt zu beschränken, gänzlich verfehlt ist. Die verschiedenen in Offbg. 20, 4 genannten Scharen, obgleich sie an der ersten Auferstehung und ihrer Herrlichkeit teilnehmen, bilden nicht einen Teil der Versammlung, der Braut Christi, oder deren Auferste­hung würde nicht hier gegeben sein, nachdem die Hochzeit statt­gefunden hat; außerdem können wir nicht annehmen, daß, wenn Chri­stus zurückkommt, um Sich Selbst der Versammlung darzustellen, sie unvollendet ist. Der Geist und die Braut sagen „Komm!" zu dem Herrn, welcher Sich Selbst als „die Wurzel und das Geschlecht Davids — den glänzenden Morgenstern" — darstellt (Offbg. 22, 16); und wir können nicht denken, daß, wenn sie also als eine Braut dargestellt ist, die ihren Bräutigam bittet, um ihretwillen zu kommen, Er, wenn Er kommt, nur einen Teil derselben findet; auch sind diejenigen Heiligen wovon die Offenbarung handelt, niemals, als an solcher Gemeinschaft teilhabend, dargestellt.

Ein häufig geltend gemachter Einwurf, und in seiner Natur dem oben behandelten ähnlich, ist der, daß die hier vertretenen Ansichten, mehr als eine „Ankunft" notwendig machen. Diese Behauptung wird bei näherer Betrachtung gänzlich grundlos und ohne wirkliche Kraft erfunden werden. Man würde der Wahrheit näher kommen, wenn man sagt: die Ankunft des Herrn scheine in zwei Teile geteilt, was eine ganz andere Sache ist und ganz in Gemäßheit der Schrift steht. Er kommt zur Aufnahme Seiner Heiligen, und um dieser Absicht willen steigt Er herab, zuerst bis zur Begrenzung dieses irdischen Luftkreises (1. Thess. 4), und nicht weiter, daß also die Finsternis und der Schlum­mer dieser Welt ungestört bleibt, soweit diese in Frage kommt. Er kommt dann eigentlich nicht; denn der übrigbleibene Teil seines We­ges wird nicht zurückgelegt, bis später, wenn Er, begleitet von Seinen Heiligen, auf die Erde zurückkehrt. Der erste Akt Seiner „Ankunft" oder „Gegenwart" ist der, wenn Er für Seine Heiligen herabkommt, der zweite, wenn Er für die Welt kommt, was vorher nicht der Fall war. 

Dies letztere ist das, was Seine „Erscheinung" oder „Offenbarung" genannt ist, und welche niemals auf die Entrückung, sondern stets auf die Erscheinung in Herrlichkeit mit Seinen Heiligen angewendet wird, während man die Ankunft bald in dem einen bald in dem ändern Falle gebraucht findet, je nachdem der Zusammenhang oder die angeredeten Personen, oder die Art und Weise es bestimmen, in welcher davon die Rede ist, denn Er kann zu verschiedenen Personen in verschiedener Weise kommen. Man kann denselben Unterschied zwischen der Geburt Christi und dem, was gewöhnlich Seine „Erscheinung" bei Seiner er­sten Ankunft genannt wird, beobachten, obgleich dies nur als eine Er­läuterung und zu keinem weiteren Zweck angeführt werden soll. Der Einwand indessen hängt bloß am Buchstaben und ist nicht auf irgend eine Darlegung oder Anwendung des Ausdrucks im Worte Gottes be­gründet, denn dieses gebraucht den Ausdruck zweite, im Gegensatz zu Seiner ersten Ankunft; und wir alle wissen, daß Seine „erste Ankunft" eine große Reihe verschiedener Umstände und Erscheinun-

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 gen in sich begreift, ebenso wie es beim Gebrauch dieses Ausdruckes in der Schrift selbst und im gewöhnlichen Sprachgebrauch der Fall ist. Wir haben gesehen, wie deutlich es erklärt wird, daß die Heiligen mit Christo aus dem Himmel hervorkommen, zur Vernichtung des Antichrist's und seiner Scharen (Offenb. 19), dem entgegen, neben den schon angeführten Stellen, eine bloß menschliche Meinung über den Gebrauch des Ausdrucks „zweite Ankunft" sich nicht behaupten kann.

Einige haben aus dem "in Offbg. 11, 15—18 Gesagtem geschlossen, daß die öffentliche Übernahme Seines Reichs durch Christum alsdann wirklich stattfinde. Dieses würde hinsichtlich des Punktes, welchen wir hier betrachten, von keiner großen Wichtigkeit sein, selbst wenn es genau wäre; aber bei näherer Untersuchung wird es anders gefunden werden, und zwar, daß jenes ein Ausdruck ist, der zum voraus, wäh­rend der Posaune des siebenten Engels, von den im Himmel befind­lichen Heiligen ausgeht.

Dies wird durch die Betrachtung des folgenden Kapitels klar wer­den, wo beinahe dieselben Worte gebraucht sind, wenn Satan, als aus dem Himmel geworfen, dargestellt wird (V. 10). „Und ich hörte eine große Stimme aus dem Himmel, sagend: Jetzt ist das Heil und die Macht und das Reich unseres Gottes, und die Gewalt Seines Christus gewor­den; denn hinabgeworfen ist der Verkläger unserer Brüder, der sie Tag und Nacht vor unserem Gott verklagte," obgleich sich in V. 14 eine bestimmte Andeutung findet, daß noch drei und ein halbes Jahr verfließen müssen, ehe Christus Sein Reich wirklich übernimmt. 

Auch der Be­richt in der betreffenden Stelle (Kap. 11, 18), daß die Zeit des Gerichts der Toten gekommen sei, macht dies offenbar, da wir aus anderen Schriftstellen wissen, daß sie nicht vor dem Ende der tausend Jahre ge­richtet werden. Zu diesem können wir hinzufügen, daß dann noch das letzte Weh? zu erdulden bleibt, daß der Tempel im Himmel geöffnet ist, und die dritte oder schließliche Reihe der Gerichte noch verhängt wird, d. i. die sieben letzten Schalen ausgegossen werden. Hiertür ist die siebente Posaune die Einleitung, ebenso wie das siebente Siegel es für die Posaune war. Die Kapitel 12—14 bilden eine Einschaltung. Es ist eine Tatsache, daß die Heiligen im Himmel, welche, als an den gött­lichen Handlungen teilnehmend, dargestellt werden, und fähig, deren Bedeutung zu verstehen, auch im voraus sich der völligen Wirkung er­freuen, den der Hall der letzten Posaune und die Verwerfung Satans auf die Erde haben, und welches endlich dem folgen wird, was dann im Himmel stattfindet.

Im Laufe der vorhergehenden Bemerkungen sind viele Punkte berührt worden, welche unmöglich innerhalb der uns hier gesteckten Grenzen ausführlicher behandelt werden können und welche, wenn wir näher darauf eingehen wollten, uns zu weit von dem. Gegenstande entfernen würden, den wir unmittelbar vor uns haben. Die Absicht war, einen allgemeinen Umriß von dem Zeugnis der Schrift darüber zu geben und mehr die Grundsätze, welche darin enthalten, darzustel­len, als in alle Einzelheiten der Erfüllung und Weissagung einzugehen. Daher sind viele Gegenstände der Weissagung bloß flüchtig in ihrem Verhältnis zu der Hauptfrage angedeutet worden und viele Schrift-131

 stellen, welche mehr oder weniger Licht darauf werfen, besonders im Alten Testament, ganz unberücksichtigt gelassen.

Daß diese Ansichten vergleichungsweise, wenigstens in unseren Ta­gen, neu sind, ist von keinem Gewicht in Betrachtung derselben; denn dasselbe kann von allem gesagt werden, was über diese Gegenstände geschrieben ist. Es ist noch nicht lange her, daß man alle Weissagun­gen im Alten Testament, hinsichtlich des irdischen Volkes Gottes, der Juden, allgemein auf die Versammlung bezog und als Beschreibung ihrer zukünftigen Herrlichkeit betrachtete, wie dies sogar bis zu diesen Tagen von einer großen Anzahl Christen geschieht. Außerdem wissen wir, wie groß die Verschiedenheit der Meinungen in Betreff prophe­tischer Einzelheiten ist, sodaß, unter so Ungewissen und oft so wenig übereinstimmenden Behauptungen, wir uns völlig frei fühlen in der Untersuchung irgend einer prophetischen Frage, welche uns eine kla­rere und bestimmtere Zukunft offenbart, und in größerer Überein­stimmung mit dem Worte Gottes im Allgemeinen steht, als wir vor­mals geglaubt haben, allein auf die wichtige Bestätigung vertrauend, welche dieses Wort unter der Belehrung des Heiligen Geistes gibt.

Man wird finden, daß es nicht der Mangel einfacher, verständ­licher Zeugnisse im Worte der Wahrheit ist, daß die Herzen der Chri­sten über diese Punkte im Zweifel bleiben, sondern leider! daß es so viele Vorurteile und vorgefaßte Meinungen sind, wovon sie sich zu befreien haben; außerdem daß das Herz träge ist, (wie bei den Jün­gern vor Alters) die Größe der Liebe Christi zu schätzen und alles das, was Er um Seiner Braut willen, diesen Gegenstand Seiner Liebe, zu tun beabsichtigt. Dazu kommt noch, daß Satan bemüht gewesen ist, denjenigen, welche am Suchen waren, Staub in die Augen zu werfen, und zwar dadurch, daß die Gegner solche Stellen hervorheben, die aus Mangel an Kenntnis ihrer wirklichen Bedeutung Mißverständnisse ver­ursachten und ein Hindernis zur völligen Begründung in der Wahr­heit wurden. Er weiß sehr gut, daß eine Herabsetzung und Zerstörung der himmlischen Hoffnungen, welche Gott gegeben hat, die Empfin­dung und den Genuß der Liebe Christi verdunkelt, welche, wenn sie richtig verstanden wird, so mächtig auf das Herz wirkt, indem sie das Gemüt von allem ändern abzieht und trennt, und es allein auf Ihn ge­richtet sein läßt. 

Es ist daher notwendig, daß unser Gemüt in der rich­tigen Stellung und die Augen unseres Herzens erleuchtet seien, um diese Dinge zu erkennen und zu verstehen, damit Christus unser ein­ziges Verlangen werden möge. Denn der Apostel sagt: „Der, welcher geistlich ist, beurteilt alle Dinge," und er bezeugt dort, welch ein gro­ßes Hindernis der fleischliche Sinn der Korinther für sie, wie für seine Unterweisung in diesen Dingen gewesen sei (1. Kor. 2, 6, und Kap. 3, l). — Gott gebe uns allen durch die Kraft Seines Geistes die volle Glück­seligkeit Seiner Ratschlüsse und Wege gegen die Versammlung zu er­kennen und zu genießen; und „Ihm sei die Herrlichkeit in der Ver­sammlung in Christo Jesu, in alle Geschlechter des Zeitalters der Zeit­alter! Amen."

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Johannes 1 Philippus findet Nathanael

(Joh. 1. 45)

Wie einfach und natürlich "ist dieser Ausdruck: „Philippus findet Nathanael." Ehe aber Philippus den Nathanael fand, hatte er Christum gefunden. Er konnte mit aller Gewißheit und allem Vertrauen sagen:

„Wir haben Ihn gefunden." Er sagt nicht: „Wir suchen Ihn und hoffen Ihn zu finden; komm und hilf uns diesen köstlichen Gegenstand su­chen." Dies war für Philippus nicht mehr nötig; sein ernstes Suchen hatte in einem freudigen Finden geendigt, so wie es immer der Fall ist; und als er Christum gefunden hatte, ging er hin und fand den Na­thanael. Sobald die Seele, im letzten Kapitel der Offenbarung, aus dem Himmel das herrliche Wort: „Komm!" gehört hat, wendet sie sich zurück und ruft allen zu: „Komm!" So war es mit dem Philippus. So­bald er für sich selbst Christum gefunden hatte, ging er hin, um einen Mitsünder zu suchen und ihn zum Mitgenossen derselben Botschaft zu machen.

Es ist klar, daß hier nicht die Rede von einem Dienste oder einer besonderen Gabe ist. Es war allein die Kraft des göttlichen Lebens, welche den Philippus hinaustrieb, den Nathanael zu suchen. Es ist der Ausfluß von dem Strom der Gnade in einem liebenden Herzen, glück­lich durch die Entdeckung eines neuen Gegenstandes, dem es seine Liebe widmen kann. Ich hebe dieses deshalb hervor, um den Einwür­fen eines eingeschlummerten Herzens zu begegnen, das sich hinter dem Mangel einer besonderen Gabe und Berufung versteckt und zurück­bleibt, die Kraft des göttlichen Lebens zu offenbaren. Man sagt: „Ich habe keine Gabe; ich bin nicht dazu berufen." »Das ist möglich, aber hast Du kein Leben? Du magst nicht berufen sein, um vor einer großen Versammlung aufzutreten, aber kannst du keinen Nathanael finden? Kennst du niemand, zu dessen Ohren du diese frohe Botschaft bringen kannst: „Ich habe Ihn gefunden"? Hast du keinen Freund, kei­nen Nachbarn — Niemand, dem Du zurufen könntest: „Komm!"? Hierzu hat man nicht die Gaben eines Paulus, eines Luther, eines Calmers, eines Monod nötig. 

Was du nötig hast, ist ein Herz, was mit unaus­sprechlicher Freude über den neugefundenen Schatz erfüllt ist. Das ist alles, was du bedarfst. Wenn es mehr suchende Philippus gäbe, so würden auch mehr Nathanaels gefunden werden. Würde ein jeder tun, wie Philippus tat, wie gesegnet würde dann das Werk der Verkündi­gung des Evangeliums voran gehen! Dies ist der Weg, der eingeschla­gen werden müßte, und dies ist der Weg, der eingeschlagen werden würde, wenn es mehr Menschen gäbe, welche mit freudiger Zuver­sicht sagen könnten: „Wir haben Ihn gefunden." Die Zweifel darüber, der Mangel an heiligem Vertrauen zu dem Zeugnis Gottes, die Ungewißheit in Betreff der Fülle und der Allgenugsamkeit der Ver­söhnung und der persönlichen Anwendung derselben verursachen leider zu oft diese Unlust und diese Unfähigkeit, anderen von Christo zu zeugen; doch ich wiederhole nochmals, ehe Philippus den Nathanael finden konnte, mußte er erst Christum finden. Beides geht zusammen. Zuerst muß ich selbst den Weg zu den Füßen des Heilandes gefunden

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 haben, ehe ich irgend einen anderen Sünder dort hinführen kann. Es ist etwas anderes, über den Gottesdienst zu sprechen, als sagen zu kön­nen: „Ich habe Christum gefunden." Das Letztere ist das Geheimnis aller fruchtbringenden Evangelisation. Es ist ein trauriger Irrtum, ja eine schreckliche Torheit und Sünde, wenn jemand ändern Christum verkündigen will, ehe er Ihn selbst gefunden hat. Niemand ist in einem gefährlicheren Zustand, als ein Prediger ohne Christum, als jemand, der über den Gottesdienst redet, ohne Christum.

Erlaube mir, mein lieber Leser, einige ernste Fragen an dein Ge­wissen zu richten. Wie steht es in diesem Augenblicke um deine un­sterbliche Seele? Kannst du mit dem Philippus sagen: „Ich habe Chri­stum gefunden"? Bist du in der Liebe des Heilandes glücklich? Hast du in Seinem versöhnenden Blute Vergebung und Frieden gefunden? Kannst du mit völliger Gewißheit antworten: „Gott sei Dank, ja!"? Dann frage ich dich weiter: Suchst du einen Nathanael? Tust du, was du kannst, um das Zeugnis von Jesu auszubreiten? Beherzige, o ich bitte dich, diese kleine Geschichte des Nathanael. Sie ist zwar sehr kurz, aber sie umfaßt einen reichen Schatz von köstlicher Belehrung. „Am folgenden Tage wollte Jesus nach Galiläa ausgehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach... Philippus findet den Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben Den gefunden, von welchem Moses und die Propheten im Gesetz ge­schrieben haben, Jesum, den Sohn Josephs, den von Nazareth .... Komm und siehe!"

Saul von Tarsus

Bei der Betrachtung des Charakters dieses höchst merkwürdigen Mannes werden uns einige der klarsten Grundsätze evangelischer Wahr­heit entgegentreten, welche wert sind, mit Aufmerksamkeit betrachtet zu werden. Es scheint, daß gerade er besonders geeignet gewesen ist, zu zeigen, zuerst, was die Gnade Gottes zu tun vermag, und dann, was die größte Anstrengung gesetzlicher Tätigkeit nicht vermag.

Wenn es je einen Menschen auf dieser Erde gab, dessen Geschichte einen Beleg der Wahrheit gibt, daß „wir durch die Gnade errettet sind, ohne Gesetzes Werk," so war Saulus von Tarsus dieser Mensch. In der Tat, es scheint fast, als ob Gott in der Person des Saulus hätte ein lebendiges Beispiel darstellen wollen, erstens von der Tiefe, bis zu welcher ein Sünder fallen, und zweitens von der Höhe, bis zu welcher ein gesetzlicher Mensch gelangen kann. Er war zu gleicher Zeit der allerschlechteste und der allerbeste der Menschen, der vornehmste der Sünder und der vornehmste der Ge­setzesmenschen. Er fiel herab bis zu der niedrigsten Stufe mensch­licher Gottlosigkeit, und er stieg hinauf bis zu dem höchsten Gipfel menschlicher Gerechtigkeit. Er war ein Sünder der Sünder, und ein Pharisäer der Pharisäer.

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 Laßt uns ihn denn zuerst betrachten als den vornehmsten der Sünder.

„Das Wort ist gewiß, und aller Annahme wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu retten, von welchen ich der vornehmste bin" (1. Tim. 1. 15). Der Leser möge insbesondere- bemerken, daß der Geist Gottes hinsichtlich Saul von Tarsus es ausspricht, daß er der vornehmste der Sünder war. Es ist nicht der Ausdruck der Demut Paulus, obgleich er ohne Zweifel in dem Bewußtsein dessen, was er gewesen, demütig war. Wir haben uns nicht mit den Gefühlen eines vom Heiligen Geist getriebenen Schreibers zu beschäftigen, sondern mit den Berichten des Heiligen Geistes Selbst, welcher ihn getrieben. Es ist gut, dies zu be­achten. Sehr viele reden von den verschiedenen heiligen Schriftstel­lern in einer Weise, welche die Kraft und Bedeutung jener köstlichen Wahrheit: die völlige Eingebung der heiligen Schrift, abschwächt.

Sie mögen dies nicht beabsichtigen, aber in einer Zeit wie die ge­genwärtige, worin sich soviel Tätigkeit, so viel Vernunft, soviel mensch­liche Spekulation breit macht, können wir uns nicht genug schützen gegen alles, was sich, selbst dem Scheine nach, gegen die Reinheit und Unfehlbarkeit des Wortes Gottes auflehnen möchte. Wir sind ernstlich bemüht, daß unsere Leser die allerhöchsten Gedanken hinsichtlich dieses heiligen Buches unterhalten und hegen; daß sie es in der tiefsten Emp­findung ihres Herzens schätzen, nicht als den Ausdruck menschlicher Gefühle, wie fromm und preiswürdig diese auch sein mögen, sondern als den Schatzkasten der Gedanken Gottes. „Denn die Weissagung ward niemals durch den Willen des Menschen hervorgebracht, sondern getrieben vom Heiligen Geiste, redeten die heiligen Männer Gottes" (2. Petr. 1,21).

Indem wir daher 1. Timoth. 1. 15 lesen, haben wir es nicht mit den Gefühlen eines Menschen, sondern mit der Urkunde Gottes zu tun; und diese Urkunde erklärt, daß Paulus der vornehmste der Sün­der war. Es ist nicht ein einziges Mal von irgend einem ändern gesagt, daß er der vornehmste der Sünder gewesen sei. Ohne Zweifel wird, in einem untergeordneten Sinne, ein jedes von der Sünde überführte Herz sich selbst, soweit seine Erkenntnis reicht, als das böseste Herz fühlen und bekennen; aber dies ist eine ganz andere Sache. Der Hei­lige Geist hat von Paulus, und von keinem ändern erklärt, daß er der vornehmste der Sünder sei, und die Tatsache, daß Er uns dies durch die Feder des Paulus selbst berichtet hat, trübt oder schwächt nicht im geringsten die Wahrheit und den Wert des Berichtes selbst. Paulus war der vornehmste der Sünder. Wie schlecht irgend jemand auch sein mag, Paulus konnte sagen: „ich bin der vornehmste." Wie niedrig sich irgendjemand auch fühlen mag, wie tief versunken in den Abgrund des. Verderbens — eine Stimme ertönt an sein Ohr von einer noch tieferen Stufe: „ich bin der vornehmste." Es kann keine zwei „vornehmste" geben; denn wenn es so wäre, so konnte nur gesagt werden, daß Pau­lus einer von ihnen gewesen sei, während es mit der größten Be­stimmtheit bezeugt wird, daß er der „vornehmste" war.

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 Aber laßt uns die Wege Gottes mit dem vornehmsten der Sünder näher betrachten. „Deswegen aber habe ich Barmherzig­keit empfangen, auf daß an mir zuerst Jesus Chri­stus die ganze Langmut erzeige, um ein Exempel de­nen darzustellen, die an Ihn zum ewigen Leben glau­ben würde n," Der vornehmste der Sünder ist im Himmel. Wie kam er dorthin? Allein durch das Blut Jesu; und er ist sogar von Christo als ein „Exempel" dargestellt. Alle mögen ihn anschauen und sehen, auf welche Weise auch sie errettet werden sollen; denn in derselben Weise wie der „vornehmste" errettet wurde, müssen alle nachfolgen­den errettet werden. Die Gnade, die den vornehmsten erreichte, kann alle erreichen. Das Blut, welches den vornehmsten reinigte, kann alle reinigen. Das Recht, durch welches der vornehmste in den Himmel ein­ging, ist das Recht für alle. Der verworfenste Sünder unter dem Himmel möge aufhorchen, wenn Paulus sagt: „ich bin der vornehmste, und den­noch habe ich Barmherzigkeit empfangen. Siehe in mir ein Exempel der Langmut Jesu Christi." Es gibt keinen Sünder diesseits der Pforte zur Hölle, sei er ein Abtrünniger oder irgend etwas anderes, der außer­halb des Bereichs der Liebe Gottes, des Blutes Christi, oder des Zeug­nisses des Heiligen Geistes steht. Wir wollen jetzt zu der anderen Seite von Sauls Charakter zurückkehren, und ihn betrachten als

den vornehmsten der Gesetzesmenschen.

„Ob ich schon habe, auch auf Fleisch zu vertrauen. Wenn irgend ein anderer meint, daß er habe auf Fleisch zu vertrauen — ich noch mehr (Phil. 3, 4). Hier haben wir einen höchst wichtigen Punkt vor uns. Saul von Tarsus stand in der Tat auf dem wirklich erhabensten Felsen der Anhöhe menschlicher Gerechtigkeit. Er hatte die höchste Stufe der Leiter menschlicher Re­ligion erreicht. Er wollte nicht einen einzigen Menschen über sich dul­den. Seine religiösen Vorzüge waren wirklich von höchstem Range; denn er sagt: „Und ich nahm zu im Judentum über viele mei­nes Alters in meinem Geschlecht, indem ich über­mäßig ein Eiferer war für die Überlieferungen mei­ner Väter" (Gal. 1. 14). Niemand übertraf ihn in dem Ringen nach einer Selbst-Gerechtigkeit. „Wenn irgend ein anderer meint, daß er habe auf Fleisch zu vertrauen — ich noch mehr." Ist irgend ein anderer, welcher auf seine Mäßigkeit „vertraut"? Paulus konnte sagen:

„ich noch mehr." Ist irgend ein anderer, welcher auf seine Moralität „vertraut"? Paulus konnte sagen: „Ich noch mehr." Ist irgend ein an­derer, welcher auf Satzungen, auf Sakramente, auf religiöse Beobach­tungen oder fromme Gebräuche „vertraut"? Paulus konnte sagen: „Ich noch mehr." Ist irgend ein anderer, der auf das pomphafte Gewand der Rechtgläubigkeit „vertraut", in das er sich stolz einhüllt? Paulus konnte sagen: „Ich noch mehr." Mit einem Worte: lasset einen Men­schen die Anhöhe gesetzlicher Gerechtigkeit ersteigen, so hoch als der hochfliegendste Ehrgeiz oder der glühendste Eifer ihn zu führen ver­mag, und er wird aus einer noch größeren Höhe eine Stimme an sein Ohr ertönen hören: „Ich noch mehr."

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 Alles dies verleiht der Geschichte Sauls von Tarsus einen beson­deren Wert. Er lag in der tiefsten Tiefe des Abgrundes des Verderbens und er stand auf dem höchsten Gipfel der Selbst-Gerechtigkeit. So tief irgend ein Sünder mag gesunken sein, Paulus noch tiefer. So hoch ir­gend ein Gesetzesmensch mag gestanden haben, Paulus stand noch hö­her. Er vereinigte in seiner Person den allerschlechtesten und den aller­besten der Menschen. In ihm sehen wir mit einem Blick die Kraft des Blutes Christi und die äußerste Wertlosigkeit des schönsten Gewan­des der Selbst-Gerechtigkeit, das jemals die Person eines Gesetzes­menschen bedeckte. Schaut man auf ihn — kein Sünder braucht zu verzweifeln; schaut man auf ihn — kein Gesetzesmensch kann sich rüh­men. Ist der vornehmste der Sünder im Himmel, so kann auch ich dorthin gelangen. Ist der religiöseste, gesetzlichste und werkgerech­teste Mensch, welcher jemals gelebt hat, herab gekommen von der Leiter der Selbst-Gerechtigkeit, so hat es keinen Wert für mich, h i n -a u f zu steigen. Saulus von Tarsus kam herauf aus der Tiefe, und . herab von der Höhe, und fand seine Ruhestätte zu den Füßen — den durchgrabenen Füßen Jesu von Nazareth. Seine Schuld war kein Hin­dernis, und seine Gerechtigkeit ohne Nutzen. Die erstere war hinweg­gewaschen durch das Blut, und die letztere in Unrath und Dreck um­gewandelt durch die Herrlichkeit Christi. Es ist gleichgültig, ob von ihm es hieß: „ich vornehmster" oder: „ich noch mehr;" — das Kreuz war das alleinige Heilmittel. 

Mir aber sei es ferne," fügt dieser vor­nehmste der Sünder und Fürst der Gesetzesmenschen hinzu, „mich zu rühmen, es sei denn in dem Kreuze Jesu Christi, wodurch mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt" (Gal. 6, 14). Paulus dachte eben­sowenig daran, auf seine Gerechtigkeit zu vertrauen, als auf seine Übel­taten. Es war ihm erlaubt worden, in dem großen gesetzlichen Ringen mit „vielen seines Alters in seinem Geschlecht" den Sieges-Lorbeer zu gewinnen, nur, damit er ihn als verwelktes, wertloses Ding am Fuße des Kreuzes niederwürfe. Es war ihm erlaubt worden, auf der dunklen Laufbahn der Sünde alle zu übertreffen, nur, damit er ein Exempel der Kraft der Liebe Gottes und der Wirksamkeit des Blutes Christi sei. Das Evangelium hat eine zwiefache Stimme. Es ruft den Sklaven des Lasters, der sich in dem Schlamme moralischer Befleckung wälzt, und sagt: „Komm herauf." Es ruft den geschäftigen Selbst-Gerechten, der sich vergeblich abmüht, den jähen Abhang des Sinai zu erklimmen, und sagt: „Komm herab." Saul war Christo nicht näher als der vornehmste der Gesetzesmenschen, wie er es war als der vornehmste der Sünder. 

Es war kein größerer Wert zu seiner Rechtfertigung in seinen edelsten Anstrengungen in der Schule des Gesetzes, als in sei­ner Rechtfertigung in seinen edelsten Anstrengungen in der Schule des Gesetzes, als in seiner wildesten Verfolgung des Namens Christi. Er wurde errettet durch Gnade, errettet durch Blut, errettet durch Glauben. Es gibt keinen anderen Weg für den Sünder, wie für den Gesetzesmenschen.

Soviel von Saulus von Tarsus in seinem doppelten Charakter, als vornehmster der Sünder und vornehmster der Gesetzesmenschen. Es gibt aber noch einen anderen Punkt in seiner Geschichte, worauf wir in der Kürze einen flüchtigen Blick werfen müssen, um die lebendigen

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 Früchte der Gnade Christi, wo immer diese Gnade erkannt wird, zu zeigen. Dies wird ihn in unserer Betrachtung darstellen als

den arbeitsamsten der Apostel.

Als Paulus aufhören lernte, für seine Gerechtigkeit zu arbeiten, da lernte er auch anfangen, für Christum zu arbeiten. Wenn wir auf der Straße, die nach Damaskus führt, die zertrümmerten Bruchstücke des schlechtesten und besten der Menschen sehen — wenn wir diese feierlichen Worte aus der Tiefe eines gebrochenen Herzens hören: „Herr, wer bist Du?" — wenn wir diesen Mann sehen, wie er, Drohung und Mord schnaubend, eben Jerusalem verlassen hatte, und nun die Hand blinder Hilflosigkeit ausstreckt, um wie ein kleines Kind nach Damas­kus geführt zu werden, so sind wir geneigt, uns die höchste Erwartung hinsichtlich seiner ferneren Laufbahn zu bilden; und wir werden nicht getäuscht.

 Man sehe den Fortschritt und die Zunahme dieses höchst merkwürdigen Mannes, sehe seine riesenhaften Arbeiten in dem Wein­berge Christi; sehe seine Tränen, seine Mühen, seine Reisen, seine Ge­fahren, seine Kämpfe; sehe ihn, wie er seine goldenen Garben in die himmlische Scheuer bringt und sie zu den Füßen des Meisters nieder­legt; sehe ihn die ehrende Bande des Evangeliums tragen, und end­lich sein Haupt auf eines Märtyrers Block legen, und nun sage man, ob das Evangelium von der freien Gnade Gottes — das Evangelium von der freien Errettung Christi die guten Werke beseitigt oder ob es sie hervorbringt? Nein, lieber Leser, jenes Evangelium ist die allein wahre Grundlage, auf welcher das Gebäude guter Werke allein errichtet werden kann. Moralität ohne Christentum ist eine eisige Moralität;

Wohlwollen ohne Christum ist ein wertloses Wohlwollen; Satzungen ohne Christum sind kraftlos und nutzlos. Rechtgläubigkeit ohne Chri­stum ist herzlos und fruchtlos. Wir müssen mit dem Selbst zu Ende kommen, einerlei, ob es ein schuldiges oder religiöses Selbst ist, und müssen Christum als den allein befriedigenden Teil unserer Herzen finden, für jetzt und immerdar. Dann werden wir fähig sein, in Wahr­heit zu sagen:

„Ich fühl's, Du bist's, Dich muß ich haben,

Ich fühl's, ich darf für Dich nur sein.

Nicht im Geschöpf, nicht in den Gaben,

Mein Ruhort ist in Dir allein."

Also war es mit Saulus von Tarsus. Er hatte sich selbst aufgege­ben und sein Alles in Christo gefunden, und wir hören daher, beim Betrachten seiner denkwürdigen Geschichte, aus der dunkelsten Tiefe moralischen Verderbens die Worte: „ich bin der vornehmste," — von der erhabensten Stufe gesetzlichen Wesens die Worte: „ich noch mehr, " —und von dem goldenen Felde apostolischer Arbeit die Worte:

„ich habe mehr gearbeitet, denn sie alle."

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Die stete Bemühung Gottes um die Seinigen.

Es gibt wohl keine Sache die das Herz des Christen in dieser Wüste, in der Gegenwart des Feindes, umgeben von Versuchungen aller Art und im Blick auf seine eigene Schwachheit, so zu beruhigen ver­mag, als das Bewußtsein der steten Sorge und Bemühung Gottes um die Seinigen. Er kann uns nie versäumen, nie in den Umständen uns allein lassen; und der Beweggrund Seiner Bemühung sind nicht nur unsere Bedürfnisse, sondern die völlige Liebe und das zärtlichste Mit­gefühl Seines Herzens. Es ist Seine eigene Freude, die Befriedigung Seiner eigenen Liebe, sich um uns zu bemühen. Sind. einerseits die mannigfachen Versuchungen dieses Lebens auch da, um uns zuzuberei­ten, so sind sie andererseits für unsern Gott und Vater stets eine Gele­genheit, uns zu zeigen, wie groß Seine Liebe und Sein Mitgefühl gegen uns ist. 0 möchte dies Bewußtsein nie schwach bei uns werden, so würde in allen Umständen unser Herz ruhig und mit Lob und Dank erfüllt sein! Wir würden nicht so leicht an Selbsthilfe denken, sondern auf Seine Güte warten. Alle Selbsthilfe verhindert Ihn, sich an uns zu verherrlichen, und Ihn für Seine Hilfe zu preisen.

Wenn wir aber in der Heilgen Schrift die Wege der einzelnen Hei­ligen oder des Volkes Gottes im Allgemeinen verfolgen, so finden wir oft das Fehlen der Seinigen, ihren Mangel an Vertrauen; aber eins finden wir nie: das Nachlassen der Treue und Liebe Gottes gegen sie. Überall begegnen wir den Fußstapfen Seiner Liebe. Sein Auge wacht, Sein Ohr ist geöffnet, Sein Arm ist ausgestreckt, sein Mund zum Trö­sten bereit und Sein Herz mit dem zärtlichsten Mitgefühl erfüllt. Und wie wir Ihn in Seinem Worte finden, so ist Er immer; Seine stete Be­mühung um die Seinigen ist unveränderlich, wie Seine Liebe und Treue.

Seine Sorge erstreckt sich aber nicht allein auf unsere Bewahrung und Durchhilfe in den äußeren Umständen, sondern ist ebenso völlig auf unsere innere Erziehung bedacht, auf unser Wachstum in der Gnade und Erkenntnis nach dem Bilde Dessen, der. uns erschaffen hat. Unsere Blicke mögen oft mehr auf jenes als auf diesßs gerichtet sein; aber ein treuer Vater ist am meisten für die Erziehung Seiner Kinder be­sorgt, und der „Vater der Geister" wird sich sicher nicht durch einen „Vater nach dem Fleische" beschämen lassen. Die Heilige - Schrift — so­wohl das Alte als das Neue Testament — liefert uns auch in dieser Beziehung die deutlichsten Beweise der unermüdlichen Sorge Gottes um die Seinigen. Und Er ist stets Derselbe geblieben. Blicke in Dein eigenes Leben, geliebter Leser, wenn du anders Sein Eigentum bist, und du wirst mit mir bekennen müssen: Gott hat es seinerseits weder an Zeit, noch an Gelegenheit, weder an Mitteln, noch an Gaben fehlen lassen, um uns zu unterweisen, zu befestigen und zu einem würdigen Wandel zu leiten. Doch erlaube mir in der Gegenwart dieses treuen und tür­sorgenden Gottes die ernste Frage, die für mich selbst gleich wichtig

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 ist, an dein Gewissen zu richten: Wie hast du diese stete Bemühung Gottes um dich bisher gewürdigt und angewandt? Du hast Sein Wort, die Offenbarung Seines Ratschlusses und Seines Willens, in deinem Hause; welchen Gebrauch machst du davon? Forschest du mit-^Eifer darin, um immer tiefer in Seine herrlichen Geheimnisse einzudringen? Richtest du dich im Lichte Seiner alles erforschenden Wahrheit und lassest du Sein Wort reichlich in dir wohnen? Gottes treue Fürsorge hat es durch alle die Jahrhunderte hindurch für uns aufbewahrt und uns ganz nahe gebracht; wie sehr sollte schon dieses uns ermuntern, stets mit dankbarem Herzen einen gesegneten Gebrauch davon zu machen!

Noch mehr. Ich setze voraus, — denn bei den meisten Lesern die­ses Buches darf ich es voraussetzen, — daß du das köstliche Vorrecht genießt, dich mit anderen Gläubigen zu versammeln zum Brechen des Brotes, zum Gebet, zur gegenseitigen Erbauung, Ermunterung, Er­mahnung und Belehrung. Betrachtest du dieses in Wahrheit als ein gesegnetes Vorrecht? Erblickst du darin die treue Fürsorge und Bemü­hung Gottes um das Wohl deiner Seele? Oder ist deine Teilnahme mehr Gewohnheit oder Rücksicht gegen andere? Nimmst du aus jenen Stun­den, wo du mit den Seinigen versammelt bist, immer etwas mit in dein Haus, in deine Familie, in deine Werkstatt, in dein tägliches Le­ben? Dienen sie in Wahrheit dazu, dich immer mehr mit der Erkennt­nis Seines Willens zu erfüllen und zu einem immer treueren und wür­digeren Wandel zu leiten? Wenn das ist, so ist in der Tat Gottes Für­sorge für dich auf diesem Wege nicht umsonst, und Sein Herz erfreut sich an deiner Freude und deinem Frieden.

Noch mehr. Gott hat dafür Sorge getragen, daß das, was zu deiner Erbauung und Belehrung dienlich ist, nicht nur durch das- gesprochene Wort in der Versammlung, sondern auch durch verschiedene Schriften dir nahe gebracht wird. Was für einen Gebrauch machst du nun von sol­chen Schriften, die wirklich zu deiner Auferbauung und Belehrung ge­segnet sein können? Nimmst du auch diese Gabe mit Danksagung aus der Hand Dessen, der so bemüht um dich ist? Erkennst du auch darin Seine liebende Fürsorge? Liest oder betrachtest du diese Schriften mit Eifer und mit Nutzen für deine Seele? Tust du es, so wirst du sicher auch dadurch gesegnet sein und die Liebe Dessen preisen, der auf alle Weise Seine Bemühung um dich an den Tag legt.

Noch mehr. Gott erweist Seine Fürsorge auch in speziellen, brüder­lichen Ermahnungen gegen dich. Doch was für einen Wert hat diese Seg­nung für dich? Sind dir solche Ermahnungen unlieb oder willkommen? Betrachtest du sie als eine Bemühung Gottes oder als eine lästige Zu­dringlichkeit? Beurteilst du den Ermahner und die Art und Weise seiner Ermahnung, oder erblickst du dann den Herrn und Seine fürsorgende Liebe gegen dich? 0 wie oft wird gerade in dieser Sache, die doch für unseren gesegneten Fortgang von so großer Wichtigkeit ist, die Bemü­hung Gottes um uns verkannt oder gering geschätzt!

Endlich erinnere ich an die mannigfachen Führungen des Herrn, an die Umstände, worin wir versetzt sind, an die Züchtigungen und Demü­tigungen, die uns hienieden zuteil werden und .deren alleiniger Zweck es ist, uns zu erziehen, uns der Heiligkeit Gottes immer mehr teilhaftig zu machen. Auch du, geliebter Leser, wirst sicher hierin nicht vergessen

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 sein. Doch ich frage dich: Nimmst du alles als eine Gnadenspendung aus Seiner Hand? Sprichst du in allen seinen Wegen und Führungen mit ge­beugtem Herzen: „Der Herr ist da, um mich zu segnen; der stets um mich besorgte Vater hat mir etwas zu sagen?" 0 wie glücklich und getrost würde es dein Herz machen, wenn deine Augen in Wahrheit überall die fürsorgende Liebe Gottes erblicken, und wie gesegnet für dich, wenn Seine Bemühung von dir anerkannt und beherzigt würde! Das möge der Herr allen den Seinigen in Gnaden verleihen!

Johannes 14 Meinen Frieden gebe ich euch

(Joh. 14, 27)

Herrliche Gabe! In dieser Welt hat die Sünde jede Spur von Frie­den verwischt. Sie hat in Aller Herzen nichts zurückgelassen, als Un­ruhe und Furcht, oder einen Scheinfrieden, der seinen Haltpunkt allein in den nichtigen Dingen dieses Lebens hat, und darum durch die ge­ringsten Umstände erschüttert und zerstört werden kann. Wie kann auch in einem Herzen wahrer Frieden sein, wo die Sünde ihre Herr­schaft hat? Wie kann er in einer Welt gefunden werden, deren Fürst Satan ist, oder in Dingen, die der Eitelkeit unterworfen sind? Wie kann er endlich in der Entfernung von Gott, der alleinigen Quelle des Friedens, besessen und genossen werden! Nur Einer ging im vollkom­menen Frieden durch diese friedlose Welt; nur Einer ging durch die schwierigsten Umstände, ja, selbst durch den Tod, und nichts konnte Seinen Frieden antasten oder erschüttern.

 Es war Jesus Christus, der Sohn Gottes, der selbst angesichts des schrecklichsten Todes in voll­kommener Ruhe zu Seinen Jüngern sagte: „M einen Frieden gebe ich e u c h." Diese köstliche Gabe sollte von jetzt an auch ihr Vorrecht sein. Er Selbst mußte sie für einen kleinen Augenblick verlassen; aber der Friede, der Ihn im Bewußtsein der Liebe des Vaters, inmitten einer fluchbeladenen Welt erquickt und erfreut hatte, sollte auch ihr Herz allezeit erquicken und erfreuen. Er ging hin, um durch das Opfer Seiner Selbst jedes Hemmnis aus dem Wege zu räumen, damit die überströ­mende Gnade und Liebe Gottes jetzt ohne Störung auf sie hernieder­fließe, wie auf Ihn, damit der Friede Gottes ebenso völlig ihr Teil sei, wie er das Seinige war. Sein Herz war nur dann völlig befriedigt, wenn die Seinigen sich derselben ununterbrochenen Gunst Gottes erfreuten, worin Er Selbst allezeit Seine Freude hatte. Anbetungswürdige Liebe!

Jetzt ist Sein Werk vollbracht, jedes Hindernis ist beseitigt, und der Strom der göttlichen Gunst und Liebe fließt in vollkommenem Maße auf alle die Seinigen hernieder. — Ruht nun dein Glaube, ge­liebter Leser, mit völliger Gewißheit in dieser gesegneten Wahrheit, in dieser unwandelbaren Liebe Gottes, dann wird auch der Friede, der das Herz Jesu erfüllte, dich in all den Versuchungen dieses Lebens er­freuen. Nie ist er von Ihm gewichen; denn obwohl Er durch eine ver­suchungsreiche Welt ging, so war Er doch stets in der Gemeinschaft des Vaters und genoß die Süßigkeit Seiner Liebe; und nie wird Sein Friede von dir weichen, so lange dein Herz in der Gemeinschaft Gottes und im Bewußtsein Seiner unveränderlichen Gnade und Liebe hienieden

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 wandelt. Sein Friede wird mit dir gehen durch die mannigfachen Um­stände dieses Lebens, durch alle Hindernisse und Schwierigkeiten, wird dich aufrecht erhalten, wenn alles um dich her wankt und schwankt, wird dich begleiten in deine Familie, deine Werkstatt, und in deine täglichen Beschäftigungen, wird sich mit dir niederlegen und wieder auf­stehen und wird deinem ganzen Wandel hienieden die wahre Weihe geben. Ohne Ihn aber sind wir unfähig zu allem; unser ganzes Tun und Lassen ist unsicher und ungesegnet; in keiner Lage, in keiner Stel­lung handeln wir auf eine würdige Weise. Sobald der Friede Gottes unser Herz nicht regiert, ruhen wir auch nicht in der Liebe Gottes, der Quelle aller Segnungen und aller Kraft. — 0 wie ernst und wichtig ist es deshalb, zuerst und zu jeder Zeit die köstliche Gabe Jesu, Seinen Frieden, in unsere Herzen aufzunehmen, ehe wir in irgend einer Sache, so gering sie auch scheinen möge, vorangehen und handeln. Der Herr Selbst aber möge unsere Herzen allezeit auf diese gesegnete Gabe unseres geliebten Herrn richten!

Matthäus 14 Markus 6 Das Mitgefühl und die Gnade Jesu.

(Lies aufmerksam Matth. 14, l—21 und Mark. 6, 30—44)

In den beiden angeführten Schriftabschnitten "sind uns zwei ver­schiedene Zustände des menschlichen Herzens vorgestellt, welche beide in dem Mitgefühl und der Gnade Jesu ihre Antwort finden. Laßt uns sie recht genau betrachten; und der Heilige Geist möge uns befähigen, aus ihrer köstlichen Belehrung einen reichen Nutzen zu ziehen.

Es war ohne Zweifel ein Augenblick des tiefsten Schmerzes für die Jünger Johannes, als ihr Meister durch das Schwert des Herodes ge­fallen war, als der eine, an den sie sich zu lehnen gewohnt waren, von dessen Lippen sie die gesegnetsten Belehrungen empfangen hatten, auf eine so traurige Weise von ihnen genommen war. Wir dürfen sicher überzeugt sein, daß dies ein Augenblick großen Kummers und tiefer Betrübnis für die Anhänger des Täufers war.

Doch einer war da, zu dem sie in ihrem Kummer kommen, zu des­sen Ohr sie ihre Trauerbotschaft bringen konnten — Einer, von dem ihr Lehrer oft gesprochen, zu dem er hingewiesen, und von dem er gesagt hatte: „Er muß wachsen; ich aber geringer werden." Zu Ihm wandten sich die beraubten Jünger, wie wir in Matth. 14, 12 lesen:

„Und sie kamen herzu, nahmen den Leib und begruben ihn. Und s i e kamen und berichteten es Jes u.'' Das war das beste, was sie tun konnten. Es gab auf der ganzen Erde kein anderes Herz, in welchem sie eine solche Antwort würden gefunden haben, als in dem Herzen — dem zärtlichen und liebenden Herzen Jesu. Sein Mitgefühl war vollkommen und Er kannte ihren ganzen Kummer; Er kannte ihren Verlust und wußte, was sie darüber fühlten. Gewiß, sie handelten weisheitlich, als „sie kamen und berichteten es Jesu." Sein Ohr war immer geöffnet, und Sein Herz hatte immer Muße, zu lindern und mit­zufühlen. Er verwirklichte vollkommen die Vorschrift, die später der Heilige Geist den Seinigen gab: „Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden" (Röm. 12, 15).

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 0 wie schätzbar ist wahres Mitgefühl! Sicher ist niemand fähig, den Wert von jemanden zu ermessen, der in Wirklichkeit alle deine Leiden und Freuden zu den seinigen machen kann. Und Gott sei Dank! Einen, der es vermag: Unser geliebter Herr. Sind wir auch nicht fähig, Ihn mit unserem leiblichen Auge zu sehen, so kann doch der Glaube Ihn genießen, und zwar in der ganzen Köstlichkeit und Macht Seines vollkommenen Mitgefühls. Wir können, wenn anders unser Glaube ein­fältig und kindlich ist, von dem Grabe, in welches wir soeben die Über­reste eines innig geliebten Gegenstandes gelegt haben, zu den Füßen Jesu hineilen, und dort den Kummer eines beraubten und zerrissenen Herzens ausschütten. Wir werden dort keiner schnöden Abweisung be­gegnen, keinem herzlosen Tadel über unsere Torheit und Schwachheit in Betreff eines zu tiefen Gefühls, noch einer ungeschickten Bemühung, uns irgend etwas passendes zu sagen, uns auf eine oberflächliche Weise Beileid zu bezeugen. 0 nein; Jesus weiß wirklich mitzufühlen mit einem Herzen, das unter dem schweren Gewicht des Kummers seufzt und niedergedrückt ist. Er hat ein vollkommen menschliches Herz. — Welch ein Gedanke! Welch ein Vorrecht, zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Umständen Zutritt zu haben zu einem vollkommenen menschlichen Herzen! Hienieden werden wir dieses vergeblich suchen, ja vergeblich, nicht nur in der Welt, sondern auch in der Versammlung. Es mag in vielen Fällen ein Verlangen da sein, wirklich mitzufühlen;

aber die Fähigkeit wird gänzlich mangeln. Ich kann in Stunden des Kummers mit jemandem zusammen sein, der nichts von meinem Kum­mer und dessen Quellen weiß, wie kann er Mitgefühl haben? Und wenn ich ihm mein Herz öffne, so ist möglicherweise sein Herz mit anderen Dingen beschäftigt, sodaß er für meinen Schmerz keinen Platz und keine Muße hat.

Es ist aber nicht so mit dem vollkommenen Menschen Jesu Christo. Er hat beides, Platz und Muße, für jeden und für alles. Es bleibt sich gleich, wann, wie und womit du kommst, das Herz Jesu ist immer ge­öffnet. Er weist nie ab; und nie fehlt noch täuscht Er. Was sollten wir deshalb tun, wenn irgend ein Kummer unser Herz niederbeugt? Das­selbe, was die Jünger Johannes taten: „Hingehen und es Jesu sagen." Dies zu tun ist stets das beste. Laßt uns direkt vom Grabe zu den Fü­ßen Jesu eilen. Er wird unsere Tränen trocknen, unseren Kummer stil­len, unsere" Wunden heilen und unsere Leere ausfüllen. 0 möchte der Heilige Geist uns immer mehr ermuntern, in all unseren Umständen zuerst zu unserem geliebten Jesus zu kommen und vor Ihm unsere Herzen auszuschütten!

Wir wollen jetzt einen anderen Zustand des Herzens betrachten, der sich uns in den zwölf Aposteln darstellt, als sie von einer erfolg­reichen Mission zurückgekehrt waren. „Und es versammeln sich die Apostel zu Jesu, und sie erzählten Ihm alles, beides, was sie getan und was sie gelehrt hatten" (Mark. 6, 30). In diesem Falle handelt es sich nicht um Kummer oder Beraubung sondern um Freude und Ermun­terung. Die Zwölf nahmen ihren Weg zu Jesu, um ihren Erfolg zu erzählen, so wie jene Jünger Johannes zu Ihm kamen, um Ihm ihren Verlust mitzuteilen. Jesus war für beides passend. Er konnte sowohl dem Herzen begegnen, das durch Kummer niedergebeugt, als auch dem

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 Herzen, das stolz auf seinen Erfolg war. Er wußte das eine wie das andere zu behandeln, zu mildern und zu leiten. Gepriesen sei für immer Sein herrlicher Name!

„Und Er sprach zu ihnen: Kommt ihr selbst an einen wüsten Ort besonders und ruhet ein wenig aus! — denn es waren viele, welche kamen und fortgingen, und sie fanden nicht einmal Muße, um zu essen" (V. 31). Hier sind wir nun zu einem Punkte gebracht, wo die moralische Herrlichkeit Christi in einem ungewöhnlichen Glänze hervorstrahlt, und die Selbstsucht unserer armen, engen Herzen korrigiert. Wir werden hier mit unverkennbarer Klarheit belehrt, daß Jesus nie, wenn wir Ihn zum Aufbewahrer all unserer Gedanken und Gefühle machen, in uns einen Geist stolzer Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit oder ein Gefühl der Verachtung gegen Andere bewirkt. Ganz das Gegenteil. Jemehr wir mit Jesu zu tun haben, desto mehr werden unsere Herzen geöffnet sein, dem menschlichen Bedürfnisse in seinen verschieden­artigen Formen, die sich von Tag zu Tag unseren Blicken darstellen, zu begegnen. Wenn wir zu Jesu kommen und unser ganzes Herz vor Ihm ausschütten, wenn wir Ihm unseren Schmerz und unsere Freuden mitteilen und unsere ganze Bürde zu Seinen Füßen niederlegen, so werden wir in Wahrheit lernen, ein Gefühl für Andere zu haben.

Eine wunderbare Schönheit und Kraft liegt in den Worten „Kommt ihr selbst besonders." Er sagt nicht: „Geht." Dies würde Er nie tun. Es ist von keinem Nutzen, an einen wüsten Ort besonders zu gehen, wenn Jesus nicht dort hingeht. Ohne Jesum in die Einsamkeit zu ge­hen, ist nur, um unsere kalten und engen Herzen noch kälter und enger zu machen. Ich kann mich voll Unmut und getauchter Erwartung von der Szene um mich her zurückziehen, um mich in eine unempfindliche Selbstsucht einzuhüllen; ich kann meinen, daß meine Umgebung nicht genug aus mir gemacht habe und mich zurückziehen, um selbst recht viel aus mir zu machen; ich kann mich zum Mittelpunkt aller meiner Gedanken machen, und werde dann ein kaltherziges, verschlossenes und elendes Geschöpf sein. 

Wenn aber Jesus sagt: „Komm!" so ist das eine andere Sache. Unsere schönsten, moralischen Aufgaben haben wir allein bei Jesu gelernt. Wir können die Atmosphäre Seiner Gegenwart nicht einatmen, ohne daß unsere Herzen erweitert werden. Würden die Apostel ohne Jesum in die Wüste gegangen sein, so würden sie ohne Zweifel die Brote und Fische selbst gegessen haben; als sie aber mit Ihm hingingen, da lernten sie etwas anderes. Er wußte sowohl dem Bedürfnis einer hungrigen Menge zu begegnen, als auch einer Anzahl niedergebeugter oder sich freuender Jünger; das Mitgefühl und die Gnade Jesu sind vollkommen. Er kann allen begegnen. Ist jemand be­schwert, so kann er zu Jesu gehen; ist jemand glücklich, er kann zu Jesu gehen; ist jemand hungrig, er kann zu Jesu gehen. Wir können mit allem zu Jesu kommen; denn in Ihm wohnt die ganze- Fülle; und — gepriesen sei Sein Name! — Er sendet nie jemand leer zurück.

' Nicht aber war es so mit Seinen Jüngern. Wie niedrig erscheint ihre Selbstsucht, wenn sie im Lichte Seiner anbetungswürdigen Gnade betrachtet werden. „Und als Jesus heraustrat, sah er eine große Volks­menge, und wurde innerlich bewegt über sie; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben; und Er fing an, sie vieles

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 zu lehren" (V. 34). Er war an einen wüsten Ort gegangen, um Seinen Jüngern Buhe zu geben; aber kaum zeigte sich das menschliche Be­dürfnis, da strömte augenblicklich der tieffließende Strom des Mitleids aus Seinem Herzen hervor.

„Und als es schon spät an der Zeit war, traten Seine Jünger zu Ihm und sagten: Der Ort ist wüste, und es ist schon spät an der Zeit;

entlaß sie" (V. 35). Ach, welche Worte kommen hier von den Lippen der Menschen, die soeben von der Predigt des Evangeliums zurück­gekehrt waren!" „Entlaß sie!" Es ist sicher eine andere Sache, Gnade zu predigen, als Gnade auszuüben. Es ist ohne Zweifel gut, sie zu predigen, aber es ist auch gut, sie auszuüben; und in der Tat, wird die Predigt wenig Wert haben, wenn sie sie nicht mit der Ausübung verbunden ist. Es ist gut, den Unwissenden zu belehren;

aber es ist auch gut, den Hungrigen zu speisen. Das Letztere ist oft mit mehr Verleugnung verbunden, als das Erstere. Es mag uns nichts kosten, jemanden zu predigen; aber es mag wohl etwas kosten, jeman­den zu speisen; und wir lieben es nicht, unseren eigenen Vorrat zu verringern. Das Herz weiß oft tausend Entschuldigungen hervorzubrin­gen: „Was soll es mit mir, was mit meiner Familie werden? Wir müssen weislich handeln. Wir müssen auch an uns selbst denken. Wir können doch auch nicht alles tun." Diese und ähnliche Überlegungen bringt das selbstsüchtige Herz hervor, wenn sowohl die eigenen, als auch die Bedürfnisse Anderer an uns herantreten.

„Entlaß sie!" Was bewog die Jünger, also zu sprechen? Was war die eigentliche Quelle dieser selbstsüchtigen Forderung? Einfach der Unglaube. Hätten sie daran gedacht, daß Derjenige in ihrer Mitte war, der in der Wüste vierzig Jahre lang „sechshunderttausend Mann" gespeist hatte, so würden sie sicher gewußt haben, daß Er nicht eine hungrige Menge entlassen würde. Gewiß, dieselbe Hand, die während einer so langen Zeit ein großes Heer ernährt hatte, konnte leicht fünf­tausend Mann mit einem einfachen Mal versorgen. Also würde der Glaube urteilen; aber ach! der Unglaube verfinstert den Verstand und .verschließt das Herz. Nichts ist so häßlich, als der "Unglaube, und nichts verschließt so sehr die Gefühle des Mitleids. 

Glaube und Liebe gehen immer zusammen, und in dem Maße, als jener wächst, wächst auch diese. Der Glaube öffnet die Schleuse des Herzens und läßt den Strom der Liebe hervorfließen. Der Apostel konnte zu den Thessalonichern sagen: „Euer Glaube wächst sehr, und die Liebe von euch allen zuein­ander ist überströmend." Das ist die göttliche Regel. Ein Herz, das mit Glauben erfüllt ist, ist fähig, zu lieben; ein ungläubiges Herz aber ist zu nichts fähig. Der Glaube bringt das Herz in die unmittelbare Nähe des unerschöpflichen Schatzes Gottes und erfüllt es mit aller Art selbst­süchtiger Besorgnis. Der Glaube leitet uns in die reine, das Herz er­weiternde Atmosphäre des Himmels; der Unglaube hüllt uns ein in die verdorbene Atmosphäre dieser herzlosen Welt. Der Glaube befähigt uns, auf die gnadenreichen Worte Christi zu horchen: „Gebt ihr ihnen zu essen"; der Unglaube läßt uns unsere eigenen herzlosen Worte ausspre­chen: „Entlaß die Menge." Mit einem Wort, da ist nichts, was das Herz so weit macht, als der einfache Glaube, und nichts, was es so sehr ver­schließt, als der Unglaube. 0, daß doch dieser Glaube sehr wachsen

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 möge, damit auch unsere Liebe immer mehr und mehr überströmend werde; und möchten wir aus dieser Betrachtung des Mitgefühls und der Gnade Jesu einen bleibenden Segen ernten!

Welch ein schlagender Gegensatz ist zwischen diesem: „Entlaß die Menge!" und diesem: „Gebt ihr ihnen zu essen!" Und so ist es immer. Gottes Wege sind nicht unsere Wege; und jemehr wir Seine Wege betrachten, desto mehr lernen wir unsere Wege richten. Jesus korri­giert in dieser lieblichen Szene die Selbstsucht Seiner Jünger, zuerst, indem Er sie zu den Kanälen macht, durch welche Seine Gnade der Menge zuströmt, und dann, indem Er sie „zwölf Körbe voll der übrigen Brocken" für sich sammeln läßt.

Dies ist aber noch nicht alles. Nicht nur wird die Selbstsucht ge­tadelt, sondern auch das Herz auf„rias gesegnetste unterrichtet. Die Na­tur möchte sagen: „Was können fünf Brote und zwei Fische für so viele helfen? Gewiß, wer eine solche Menge mit diesem kleinen Vorrat sätti­gen kann, der kann es auch ohne denselben." So möchte die Natur ur­teilen; aber Jesus belehrt uns, „daß jede Kreatur Gottes gut, und nichts verwerflich ist" (1. Timoth. 4; 4). Wir haben das zu benutzen, was wir durch Gottes Segnung empfangen haben. Dies ist eine schöne, moralische Aufgabe für das Herz. Die Frage ist: „Was hast du in deinem Hause?" Es ist gerade das, und nichts anderes, was Gott benutzen will. Es ist leicht, freigebig mit dem zu sein, was wir nicht haben; aber es handelt sich darum, das hervorzubringen, was' wir haben, und es mit Dank­sagung zu dem vorliegenden Bedürfnis anzuwenden.

Ebenso verhält es sich mit dem Sammeln der übrigen Brocken. Das törichte Herz möchte sagen: „Warum ist es nötig, die Überbleibsel aufzubewahren? Wer ein solches Wunder tun kann, hat diese übrigge­bliebenen Brocken nicht nötig." Ja, aber wir haben die Kreatur Gottes nicht zu verschleudern. Wenn wir beim Gebrauch der Brote und Fische belehrt sind, die Kreatur Gottes nicht zu verachten, so sind wir beim Sammeln der übrigen Brocken belehrt, sie nicht umkommen zu lassen. Laßt uns der menschlichen Not freiwillig begegnen; aber laßt uns auch besorgt sein, daß nicht ein Krümchen umkomme. Wie göttlich vollkommen, und — wie ungleich wir! Zu einer Zeit sind wir karg und zur anderen verschwenderisch. Jesus war nie, weder das eine noch das andere: „Gebt ihr ihnen zu essen;" aber: „laßt nichts umkommen." Welch eine vollkommene Gnade und Weisheit! Mö­gen wir uns in dem Bewußtsein erfreuen, daß Der, der alle diese Weis­heit und Gnade offenbart, unser Leben ist! Christus ist unser Leben, und das praktische Christentum ist die Offenbarung dieses Lebens. Es ist nicht ein Leben, hervorgebracht durch Anordnungen und Vorschrif­ten, sondern das Wohnen Christi im Herzen durch Glauben — es ist Christus, die Quelle des vollkommenen Mitgefühls und der vollkom­menen Gnade.


Epheser 5 Danksaget dem Gott und Vater allezeit für alles, im Namen unseres Herrn Jesu Christi.

(Epheser 5, 20)

Wenn jemand sich allezeit in allem erfreuen und alle­zeit für alles danksagen kann, so muß er überzeugt sein, daß er ein gutes Teil besitzt. Der natürliche Mensch kann ein Wort, wie dieses, nicht annehmen. Die Freude, welche einen solchen Geist kenn­zeichnet, ist nicht eine Freude im Fleische; denn während diese von dem äußeren Glück abhängig ist, wird jene in ihrer höchsten Ausübung in schmerzlichen Umständen gefunden. Gott scheint an dieser Stelle zu sagen: „Mein Kind, du wirst in keine Umstände, in keine Lage kommen, wo du nicht Ursache hast, zu danken." Dies Danksagen ist uns die Antwort für das, was wir in Gott sehen, es ist der glückliche Ausdruck unseres Gemüts für das, was wir in Ihm ge­funden haben. Es bildet auch nicht, so zu sagen, einzelne, abgebrochene Glieder einer Kette, sondern es ist beständig, ununterbrochen, anhaltend.

In dem Herrn Jesu Christo und in Hiob erhalten wir viel Auf­klärung über diese Stelle; doch in entgegengesetzter Weise. In Matth. 11 triumphiert Jesus im Danksagen inmitten der demü­tigendsten Umstände. Chorazin, Bethsaida und Kapernaum hatten be­reits Seine Rechte verworfen und eine Botschaft von Johannes meldete Ihm, daß dieser in seinem Glauben an Ihn irre geworden war; allein gerade unter diesen entmutigenden Erfahrungen hören wir Ihn sagen:

„Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde." In allen Umständen sank Er still" und gelassen in den Schoß Gottes, Seines Vaters, zurück; in völliger Ergebung und Unterwürfig­keit der Seele ruhte Sein Blick auf dessen Ratschlüssen. Er wußte, daß, wenn auch alle hienieden fehlten. Er nicht fehlen konnte; und Er war ganz unterworfen, ganz abhängig von Ihm. Überall begegnen wir der Demut und der Niedriggesinntheit Seines Herzens. So lange Er auf der Erde war, wandelte Er im Himmel und in Gott dem Va­ter. Er nahm hienieden den Platz des Zeugnisses von Seinem Vater ein. Und wie gesegnet war die Frucht dieser Unterwürfigkeit für die Seele Jesu! Er wurde der Offenbarer Seines Vaters. Man möchte fragen:

Wie konnte der Sohn Gottes, Er, der der Erbe des Thrones Davids war, unter solch einer demütigenden Verwerfung danksagen? Doch Er tat es;

Er rief aus: „Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde;" und stets nahm Er nachher unter all den schweren und nie­derdrückenden Lasten den Platz als Offenbarer Seines Vaters ein. In Ihm sehen wir Den, der in allen Dingen danksagen konnte; und dies Geheimnis bestand allein darin, daß Er hienieden im Himmel und mit Gott wandelte. Hierin lagen die geheimen Quellen Sei­ner Kraft. Und will Er dieses Geheimnis für Sich Selbst behalten? 0 nein; Er sagt: „Diese Quellen habe ich für euch geöffnet. Ich möchte euch in mein Geheimnis: „allezeit und für alles zu dank­sagen", eintreten lassen. Nehmt auf euch mein Joch und ler-

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 net von mir; denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht."

Das Straucheln Hiobs erscheint wie ein dunkler Hintergrund zu diesen Vollkommenheiten, die in dem Sohne Gottes so hell hervor­strahlen. Wir sehen in Kap. 1. 13—21, daß Hiob, obwohl er niederfiel, und den Namen Jehovas pries, Ihm doch nicht für alle seine Trübsale danksagte. Dies geht deutlich aus dem 3. Kapitel hervor. Hiob erfreute sich im Glücke — nicht im Herrn, sondern in seinem Wohlstande. Er lebte in den Umständen; er sagte gleichsam stets zu sich selbst: „Jene köstlichen Dinge, woran ich meine Freude habe — meine Söhne und Töchter und meine Kamele usw. — werde ich vielleicht in einigen Ta­gen verlieren; ich muß bei dem Gedanken, an ihre Entbehrung immer zittern." Dies geht deutlich aus den beiden letzten Versen dieses Ka­pitels hervor, wo er ausruft: „Denn das ich fürchte, kommt über mich, und das ich besorge, trifft mich. Ich habe keine Stille, und kann nicht rasten und nicht ruhen, und kommt immerdar Ungemach." Hiob hatte jene Hoheit der' Seele, die ein Wandel über den Umständen hervorbringt, nicht er­reicht; und hierin finden wir auch die eigentliche Wurzel von Hiobs Straucheln. Er war mit den Umständen beschäftigt und nicht mit dem Gott der Umstände; denn sobald jene angetastet wurden, verfluchte er seinen Tag (V. l).

Wenn uns die Umstände überwältigen, so kommt es daher, daß wir nicht als Kinder „in Gott dem Vater und dem Herrn Jesu Christo" leben. Das Beispiel Hiobs ist in dieser Beziehung sowohl belehrend als auch warnend. Was ist gewöhnlicher, als ein Kind Gottes sagen zu hören: „Ich sehe nicht ein, wie ich Gott für diesen Weg, für dieses Lei­den, für diese Demütigung danksagen könnte." — Diese Einsicht aber fehlt dir deshalb, geliebter Leser, weil du nicht mit Gott und mit Ihm gewandelt hast. Andere mögen ausrufen: „O, wir beklagen uns nimmer, wir. sind immer bereit, zu nehmen, was Gott schickt und Ihm dafür zu danken." Doch ich frage: Ist es wirklich so? Erinnerst du dich keiner Sache, vielleicht etwas aus der vergangenen Woche, auf welches Gott hinweisen und fragen könnte: „War das ein Danksagen?" —

Ich möchte nun doch noch darauf aufmerksam machen, daß etwas überaus Köstliches in den Worten liegt, welche diese Ermahnung in Betreff des Danksagens begleiten: „dem Gott und Vater im Na­men unseres Herrn Jesu Christi." Es sind die Pfeiler, durch welche die Wahrheit in ihrer Kraft zu der Seele hernieder gebracht wird. Wie gewaltig auch das Ungewitter toben und der Sturm wüten mag, Gott hat, so zu sagen, ein Schirmzelt über dich ausgebreitet, und diese Worte sind wie die vier Pfeiler, auf denen das Zelt getragen wird. Es ist der Vater, der deinen Titel, als Sohn; der deine gesegnete Stellung mit dem Herrn Jesu Christi in Verbindung bringt, sodaß Du im Stande bist, bei jedem Ungemach, was dir begegnet, zu sagen: „Es liegt für mich ein Segen darin." Seine Liebe ist in allen Umständen bemüht um uns. Wir sind Seinem Herzen teuer und stets ein Gegen­stand Seiner zärtlichsten Fürsorge. Er leitet uns an Seiner treuen Va­terhand und führt uns stets die besten Wege. Es mag uns an Einsicht fehlen, den Segen eines Weges oder eines Ungemachs zu erkennen; aber

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 wir werden immer fähig sein, Ihn für alles zu preisen, wenn wir un­verrückt in Seiner Gegenwart wandeln. Möchten wir auf allen Wegen Ihm nur willig folgen, und nicht auf das Fleisch Rücksicht nehmen, wel­ches fortwährend die Umstände anschaut und spricht: „Siehe, jene Hindernisse, jene Schwierigkeiten, jene raubgierigen Löwen — wie kannst du es wagen, zu folgen?" — Nie gab eine Seele Gott die Ehre, ohne einen Segen darin zu finden.

Vielleicht gibt es auch irgend ein gefährliches Geschwür — etwas, das Gott in einem stolzen Herzen sieht — ein Geschwür, welches ge­öffnet werden muß, um von seiner eiternden Flüssigkeit gereinigt zu werden; und wenn wir dies nicht hinter dem Vorhange haben lernen wollen, so müssen wir es außer demselben tun. Wenn wir uns nicht im Verborgenen Seiner Gegenwart richteten, so wird das Übel heraus­treiben und wir werden schmerzliche Wege durchmachen müssen, David würde seine ernsten Züchtigungen nicht nötig gehabt haben, wenn das Böse auf einem gelinderen Wege hätte unterjocht werden können. Gott benutzt bei uns, wie auch bei David, die Fehltritte, um uns zu reinigen, „auf daß wir Seiner Heiligkeit teilhaftig werden." Er ruft uns gleichsam immer zu: „Ihr seht, welch eine Art von Gemeinschaft und Verwandtschaft ich zwischen euch und mir errichtet habe.

 Ich bin ' euer Gott und ihr seid meine Knechte; ich bin euer Vater und ihr seid meine Söhne. Ich meine es in allem, was ich auch über euch kommen lasse, gut mit euch; ihr werdet immer gesegnet sein, wenn ihr alles mit mir, als eurem Gott und Vater und mit dem Herrn Jesu Christo in Verbindung bringt." Von diesem allem aber erkennen wir nichts, so lange wir mit uns selbst oder mit den Umständen beschäftigt sind. Ge­blendet durch Unglauben, sehen wir dann nur auf das, was geeignet ist, unsere Herzen mit Unruhe und Furcht zu erfüllen. Wir sind nieder­gedrückt und voll Sorge; aber die Danksagung eines mit Friede und Freude erfüllten Herzens fehlt. Was kann auch in uns oder in den Din­gen um uns her gefunden werden, das unsere, Herzen in Wahrheit er­freuen könnte? Da ist ja alles dem Wechsel und der Nichtigkeit unter­worfen. Der Gegenstand unserer Freude kann nur der Herr sein; und nur das, was Er ist, und was Er zu jeder Zeit und in allen Umständen für uns ist, kann allein unsere Herzen mit Lob und Dank erfüllen. Verwirklicht Ihn unser Glaube da, wo Schwierigkeiten und Hindernisse sind, wo Trost und Kraft 'mangelt, wo das Auge nicht sieht und die Hand nichts findet, so haben wir stets genug, und das Herz 'wird mit Danksagung durch alles hindurchgehen. Der Apostel ermahnt die Phi­lipper, alle ihre Anliegen nicht nur mit Bitten und Flehen, sondern auch mit Danksagung vor Gott kund werden zu lassen. Fehlt Letz­teres, so mögen wir wohl in den Umständen Vertrauen zu der Macht Gottes haben; aber da ist kein völliges Vertrauen zu Seiner Liebe;

denn wo dieses ist, da ist auch Danksagung und zugleich Ergebung iß den Willen Gottes, weil das Bewußtsein vorhanden ist, daß alle Dinge zum Guten für uns mitwirken, und alle Seine Wege für uns gesegnet sind.

Der Herr mache uns deshalb fähig, in allen Umständen uns Ihm völlig zu ergeben und auf allen Eigenwillen zu verzichten; denn also geziemt, es uns!                                     

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Hebräer 9 Was hat das Blut Christi für uns getan?

(Hebr. 9, 7—14)

Keine Feder vermag niederzuschreiben und keine Zunge auszuspre­chen, was die Blutvergießung Jesu vollbracht hat. Die wunderbaren Früchte dieses einen Opfers sind sowohl zu Gott als auch zu den Menschen hin, unendlich in ihrer Mannigfaltigkeit. Der wesentliche Wert dieses Blutes ist allen Ansprüchen Gottes, jeder Forderung des Gesetzes und dem ganzen Bedürfnis des Menschen aufs völligste begeg­net. Es hat eine sichere Grundlage gegeben, oder es bildet vielmehr in sich selbst die Grundlage für die völlige und ewige Darstellung der Herrlichkeit Gottes und für die vollkommene Segnung Seines Volkes. Sein Wert wird in den höchsten Höhen des Himmels empfunden und dort in einer Weise geschätzt, wovon, wir hier keinen Begriff haben. Doch zu seiner Zeit wird Seine Kraft in dem ganzen Weltall geoffen­bart werden. Frühlingsfrische eines jeden Blattes, einer jeden Blume und eines jeden Grashalms, — das spielende Lamm und der harmlose Löwe — die Herrschaft des Friedens und die reiche Fülle in der gan­zen Schöpfung werden in den Tagen Seiner tausendjährigen Herrlich­keit zusammen die Erlösungskraft des Blutes des Kreuzes verkünden. Auf der anderen Seite werden die schrecklichen Folgen für den Sünder, der dieses kostbare Blut verachtet, in den tiefsten Tiefen eines unaus­sprechlichen Wehes auf ewig fortdauern. Seine Kraft muß üb e r a 11 gefühlt werden.

Dem Gläubigen aber, der auf dieses köstliche Blut sein Ver­trauen setzt, hat es die Perlentore des Himmels geöffnet und die fin­steren Pforten der Hölle für immer verschlossen. Es hat ausgelöscht die Flammen des brennenden Sees und geöffnet die ewigen Quellen der erretteten Liebe Gottes. Es hat ihn wie einen Brand aus dem Feuer ge­rissen, von jedem Flecken der Sünde gereinigt und ihn, in Kleidern von unbeflecktem Glänze, in die unmittelbare Gegenwart Gottes gesetzt. Für niemand hat das Blut Christi so viel getan, als für den Sünder, der die Hölle verdient hat. Kein Wesen in den herrlichen Räumen des Him­mels ist je fähig, den Wert dieses Blutes zu erfahren, oder das Herz, . von welchem es floß, so zu schätzen, als der erlöste Sünder. Es war kein Engel, sondern einer der Ältesten, der dem weinenden Pro­pheten von dem Einen erzählte, der allein würdig war, das durch sie­ben Siegel verschlossene Buch zu öffnen. „Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe, der aus dem Stamme Juda ist, die Wurzel Davids, das Buch und seine sie­ben Siegel zu öffnen" (Offb. 5,5). In diesem heiligen Worte sind Tiefen enthüllt, die nur ein erretteter Sünder kennen lernen kann,

Unter all den köstlichen und gesegneten Früchten der Blutvergie­ßung Jesu für uns, ist besonders eine so überaus köstlich für mein Herz. Es ist vielleicht unrecht, eine solche Auswahl zu machen, weil alle göttlich vollkommen sind und aus derselben Quelle fließen. Doch sagt mir, geliebte Freunde, habt ihr je daran gedacht, wie wunderbar gesegnet es ist, zu Gott gebracht zu werden? Ich meine nicht nur in den Himmel, sondern zu Gott, und sogar in Gemeinschaft mit Jesu — eins mit Ihm. Liegt nicht etwas überaus Süßes für unser

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 Herz in dem Bewußtsein, daß wir von unserer Wanderschaft im fernen Lande in das Haus des Vaters — in die Heimat des Vaters — an das Herz des Vaters — in die Fülle der Segnung in Seiner Gegenwart ge­bracht worden sind? Ich habe oft daran gedacht, daß der verlorene Sohn so sehr von des Vaters Liebe überschüttet wurde, daß er nichts anderes sehen, noch an etwas anderes denken mochte. Würde sein Auge mehr auf dem Kleide, dem Ringe, dem Feste geruht haben, als auf der Liebe Seines Vaters, würden wir dann nicht ausrufen: „Unwürdiger! Unwürdiger!" — Ach, was sind Juwelen, wie kostbar sie auch sein mö­gen — Kronen, wie glänzend sie auch sein mögen — Feste, wie kost­spielig sie auch sein mögen — was sind sie im Vergleich zu der tiefen und unveränderlichen Liebe des Herzens und sogar des Herzens des Vaters! Diese Liebe wird unser Himmel und die Vollendung der himm­lischen Segnung sein. Mit Jesu und gleich Jesu im Hause des Vaters und in Seiner Gegenwart werden wir alle unsere Glückseligkeit dort finden. Der Apostel hat den Höhepunkt erreicht, wenn er sagt, „Wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesum Christum" (Röm 5, 11). Höher kann er nie kommen, und Besseres nie erlangen.

Drei Dinge hat das Blut Christi für uns vollbracht, um diesen un­endlich gesegneten Zweck, uns zu Gott zurückzuführen, zu erfüllen.

l. Der Weg in die Gegenwart Gottes wurde durch das Blut Christi geöffnet. (Er war zwar durch Glauben immer für den Sünder zum Heil geöffnet; aber es handelt sich hier mehr um Anbetung). Bis zu jener Zeit „war der Weg zum Heiligtum noch nicht offenbart" (Hebr. 9, 8). Gott wohnte hinter dem Vorhang und Sein Volk Israel betete Ihn außerhalb desselben an; aber dieselbe Hand des Ge­richts, die das Lamm tötete und Sein Blut vergoß, zerriß auch den Vor­hang von oben bis unten, und öffnete auf diese Weise den Weg in die unverhüllte Gegenwart Gottes. Das Blut der Böcke und Kälber konnte dies nie tun. Wir lesen in 3. Mose Kap. 16, daß Aaron an dem großen Tage der Blutvergießung das Blut der Farren auf den Gnadenthron und sieben Mal vor denselben sprengen sollte, wodurch er die Beziehung . Gottes zum Volke und den Grund ihres Zutritts für die nächsten zwölf Monate aufrecht erhielt. Es gab kein Zerreißen des Vorhangs, auch keine Freiheit, Gott zu nahen, außer durch den Hohenpriester, und dies einmal im Jahr, und nie ohne das Blut der Versöhnung.

Das Blut des Lammes jedoch, welches auf Golgatha floß, hat alles für uns vollbracht. Der Vorhang ist zerrissen, der Gnadenthron auf­gerichtet und der Weg dazu sieben Mal besprengt. Die Zahl Sieben bedeutet Vollkommenheit. Jesus hat alles vollkommen erfüllt. Vom Kreuze bis zum Throne haben wir einen mit Blut besprengten Pfad. 0 wie köstlich ist diese Wahrheit! Jeder Schritt dieses Weges ist mit des Heilands Liebe bezeichnet. Wie sehr sollte dies unsern Glauben stärken und unsere Herzen zu Ihm ziehen! Der Weg zu Gott ist allezeit offen, für Juden und Heiden, ja sogar für den größten der Sünder. Im Glauben an dieses • kostbare Blut kann selbst der Schuldige kommen. Kommen — wohin? — In das Allerheiligste. Da findet er das Blut für sich. Gott ist befriedigt. Sein Charakter sowohl als auch Seine Rechte sind in dem Werke Seines Sohnes verherrlicht. Er ruht mit göttlichem

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 Wohlwollen auf dem mit 'Blut besprengten Gnadenthron. Aber wie be­gegnet Er dem Sünder, wenn er kommt? Mit dem Gericht über Seine Sünden? 0 nein; dies ist am Kreuz vollendet. Nur Liebe ist übrig ge­blieben, um den zurückkehrenden Sünder zu empfangen. Wie! nichts über seine Sünden? Nein, diese Frage wurde am Kreuz völlig beant­wortet. Gott wird sie nie mehr bei dem armen Sünder, der auf Jesum vertraut, erheben; Er vergibt und vergißt. Hat der Vater zu dem ver­lorenen Sohn etwas über dessen Sünden gesagt? Kein Wort. Der ver­lorene Sohn bekannte seine Sünden, und dies war recht von ihm. Gott aber hat nicht nötig, davon zu reden; denn in Betreff der Sünde hat Er in Christo auf dem Kreuze alles beseitigt, Liebe, grenzenlose Liebe strömt hernieder, um dem Sünder zu begegnen und ihn im Hause zu bewillkommnen. Keine Grenze versperrt seinen Weg; dieser ist voll­kommen frei. 

Christus selbst hat ihn geöffnet. Wohlan denn, verlorner Sünder, komm! Kehre zurück zu des Vaters Haus! Deine Rückkehr wird Ihn erfreuen. Sein Arm um deinen Hals wird alle deine Furcht verbannen und deine Seele mit einer neuen und himmlischen Freude erfüllen. Es ist weit besser im Himmel zu wohnen, als auf immer in der Hölle zu sein. Christus hat diesen Weg geöffnet; das Blut der Ver­söhnung ist da. Fürchte dich nicht, komm nur! Komm und vertraue auf dieses errettende und Frieden gebende Blut! Vertraue auf das Blut Jesu und du bist für immer errettet. Alle, die dieses Blut durch das Ver­trauen ihrer Herzen ehren, erlangen den höchsten und besten Platz im Himmel.

2. Das Blut Christi hat den Gläubigen fähig ge­macht, durch den geöffneten Weg einzugehen, und mit „vollkommenen Gewissen" in der Gegenwart Got­tes zu stehen (V. 8—14 und Kap. 10, 1. 2). Gesegnete Wahrheit! Keine Sünde ist auf dem Gewissen geblieben. Es gibt kein Gewissen von Sünden mehr, obwohl wir das Bewußtsein der Sünde in uns ha­ben, während wir hienieden sind. Das Blut Christi reinigt uns von aller und nicht nur von einiger Sünde. Wenn noch eine übrig geblieben wäre, so könnten wir nicht in den Himmel kommen. — Die Sünde ist so weit von dem Anbeter in der Gegenwart Gottes entfernt, als von Christo Selbst, der sie trug. Wir werden nie nötig haben, uns im Him­mel unserer Kleider zu schämen oder uns hinter Myriaden von Strah­len zu verbergen. Unsere Bekleidung ist die Gerechtigkeit Gottes. Der höchste Engel wird nie ein solches Kleid haben. Wenn in der Seele eines Engels Neid entstehen könnte, so wäre es nur, weil das Kleid eines Sünders glänzender ist als das seinige. Die in Blut gewaschenen Klei­der werden die weißesten im Himmel sein, wie das Kleid Christi selbst. Gepriesen sei Sein Name!

Es gibt hier aber noch etwas Bemerkenswertes über unsere Fähig­keit, in den Himmel einzugehen: wir gehen nämlich auf demselben Wege ein wie Christus Selbst. Er ist durch Sein Eigenes Blut eingegangen (V. 12) — in Kraft Seines Eigenen Blutes, und ebenso auch wir. Er wollte nicht auf dem Grunde Seiner Eigenen Gerechtigkeit, sondern auf demselben Wege eingehen wie Sein Volk. Weiche Heiligkeit, welche Gnade' Den „Übeltätern gleich gerechnet," ging Er durch denselben Weg ein, der auch für sie da ist. Deshalb ist es klar, daß dasselbe Willkommen,

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 denselben Platz in der Nähe des Thrones, wie Christus Selbst, alle zu erwarten haben, die im Glauben an dieses Blut kommen. Die Tore waren aufgetan, die Türen weit geöffnet, als der siegreiche Herr zu­rückkehrte; und wir haben durch Ihn denselben Anspruch, dasselbe Recht und dasselbe frohe Willkommen zu erwarten. Wohin also, ge­liebte Freunde, stellt dieses kostbare Blut den Gläubigen? Nicht nur an die Schwelle des Himmels, sondern ins Allerheiligste — so nahe wie Christus Selbst ist. Als ich vor einiger Zeit über die Nähe und die innige Gemeinschaft, zu welcher wir durch Christum gebracht sind, sprach, erwiderte ein christlicher Freund: „O ich verlange nicht so sehr darnach; ich bin befriedigt, wenn ich nur ein Türhüter sein kann." — „Aber wäre Christus befriedigt?" fragte ich. „Sollte ein so liebender Bräutigam zugeben, daß Seine teure Braut eine Türhüterin sei." — Was denkst du darüber, geliebter Leser? Sollte ein Bräutigam seinen Sitz an der fröhlichen Tafel nehmen und zugeben, daß die Geliebte seines Herzens an der Tür stehe, um den Anklopfenden zu öffnen? Das ist eine falsche Demut. Solche Gedanken sind nicht zur Ehre Christi. Es ist wahr, in Bezug auf diese Welt wäre es weit besser ein Türhüter im Hause Gottes zu sein, als den höchsten Platz' in den Zelten der Gott­losigkeit zu haben. Aber die Braut des Lammes muß sein wo Er ist und wie Er ist, und zwar auf ewig.

Wie ging der errettete Räuber am Kreuz in den Himmel ein? Mit Christo in all Seiner Vollkommenheit. „Heute sollst du mit mir im Paradiese sein!" Er sollte nicht an der Schwelle sein, sondern mit Christo, wo dies auch sein mochte. 0 diese gesegneten Worte: „Mit mir!" Sie bezeichnen alles, was unseren Himmel betrifft. „Mit mir" — „mit Christo" — „mit dem Lamme," wohin es auch geht. Wenn Er auf dem Throne ist, so werde ich es auch sein; wenn Er auf den Myrrhenbergen ist (Hohel. 4, 7), so werde ich auch da sein; wenn Er im dunklen Grabe ist, so bin ich auch dort; wenn Er beim Festmahl ist, so werde ich es auch sein. 0 welch ein Himmel wird unser sein! Immer mit Christo und immer wie Er. Der Himmel wäre ohne Christum für uns eine traurige öde und für Ihn wäre er eine traurige öde ohne uns. Wir können in Ewigkeit nicht von Ihm getrennt werden. Die Glieder müssen da sein, wo das Haupt, und der Bräutigam da, wo die Braut ist. Das Bewußtsein Seiner Liebe erfüllt unsere Herzen mit Sehnsucht, bei Ihm zu sein.

Wären alle meine geliebten Leser bereit, mit Jesu zu gehen, wenn Er in dieser Nacht käme? 0 macht jetzt Bekanntschaft mit dem Lamme! Seine Liebe ist süß, Sein Blut kostbar. Seine Heimat lieblich. Mit aus­gebreiteten Armen wartet Er, um jede Seele, die Ihm vertrauen will, zu umarmen und in Seinem Herzen willkommen zu heißen. Es scheint mir eine so leichte Sache zu sein. Ihm völlig zu vertrauen. Ich wünsche, daß ihr alle Ihn lieben möchtet, ja Ihn lieben möchtet um Seinetwillen. Glückselig jene, die den gesegneten Herrn lieben!

3. Das Blut Christi hat für uns „eine ewige E r l.ö -s u n g erfunden" (V. 12). 0, geliebte Freunde, welch ein Wort ist das für eine unsterbliche Seele, und es ist sogar in dem Buch Gottes geschrieben zu finden! Da steht es; leset es selbst. „Ewige Erlösung!" —Es ist genug; Jesus hat sie erfunden. Alle Segnungen, von denen wir

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 gesprochen haben, sollen ewig sein. Das Blut Christi hat uns nicht nur den Weg zum Himmel geöffnet, nicht nur uns befähigt, dort zu sein und uns ein Anrecht auf alle Segnungen gegeben, sondern es hat auf alles, was es uns bereitet und auf alles, worin es uns gebracht hat, das göttliche Wort „e w i g" eingeprägt. Nicht nur ist alles vollkommen, sondern ewig. 0 gerade dieses ist unsern unsterblichen Seelen ange­messen. „Ewige Erlösung!" — Das ist genug; es überströmt das Herz. Meine Seele ist ewig — Gottes Herrlichkeit ist ewig — die Liebe Jesu soll ewig währen; sie wird in meine Seele strahlen und in die eurige, wenn ihr glaubt, durch die unzähligen Jahre der Ewigkeit hindurch. Kein Wunder, daß die Erlösten im Himmel soviel von dem Blute Christi singen. Es scheint, als wenn es die Hauptnote in ihrem Liede wäre. „Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden in Seinem Blut gewaschen hat" (Offb. 1. 5). Es ist eine Note, die keine Engelstimme je erreichen kann. Sie steht zu weit über der Linie der Engelchöre. 0 wie laut und anhaltend und frohlockend wird unsere Note des Lebens sein, die wir Dem singen, der den Kelch des Zorns für uns trank und alle unsere Sünden abwusch, der uns von unserem niedrigen Zustande erhob, um uns an den höchsten Platz in den Himmel zu setzen, der uns erwählt hat, die Begleiter auf Seinen Wegen und Miterben Seiner ewigen Herrlichkeit zu sein!

Und jetzt, meine geliebten Leser, ist wohl jemand unter euch, der des Erlösers Liebe zurückweisen, der dieses kostbare Blut, sowie die kommende Herrlichkeit geringschätzen und ein so großes Heil vernach­lässigen kann? Das sei ferne! Seine Liebe ist bereit, euch zu empfan­gen — Sein Blut, euch zu reinigen — Sein Heil, euch zu segnen — alles ist auf Seiten Gottes bereit. Seid ihr bereit, jetzt bereit, den Erlöser zu umarmen — bereit, Ihm eure Herzen zu schenken? Erfordert es Zeit, zu erwägen, ob Jesus mit aller Seiner Liebe und Herrlichkeit, oder die Welt, Sünde und Hölle zu erwählen sei? Ihr müßt wählen, und ihr habt zwischen dem Wege zur Hölle und dem Wege zum Himmel zu wählen. Wie könnt ihr da zögern? 0 kommt zu Jesu, vertraut Ihm, lie­bet Ihn, und wählet den neuen und lebendigen Weg, der zur Herrlich­keit. Ehre, Unsterblichkeit und ewigem Leben führt.

2 Timotheus 4 1862 Trophimus

(2. Tim. 4, 20)

„Trophimus habe ich in Milet krank zurückge­lassen." Wie merkwürdig! Paulus, der große Apostel der Heiden, begabt mit der Gabe der Heilung, durch welche er so viele gesund ge­macht hatte, ließ seinen Freund krank hinter sich zurück. Auf der Insel Melite heilte er den Vater des Publius, den Vornehmsten der Insel .(Apg. 28, 7, 8); aber hier hören wir, daß er den Trophimus krank in Milet zurücklassen mußte. Es mußte dazu irgend eine Notwendigkeit vorhanden sein. Gott setzt in Seiner Regierung zuweilen Seine Kinder bei Seite.v Der Vater findet es dann und wann nötig, Seine Hand zu einer heilsamen Züchtigung auszustrecken. Es ist oft sehr gut, sehr heilsam, sehr notwendig, in dem Zustande des Trophimus in Milet ge-

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 lassen zu werden. Die Natur .liebt es nicht; aber wir dürfen versichert sein, daß es heilsam ist. Trophimus hatte auf dem Krankenbette zu Milet eine Aufgabe zu lernen, die er nirgend anderswo würde gelernt haben, selbst nicht als Pauli Gefährte in der Arbeit. Die Einsamkeit, die Kraft- und Hilflosigkeit eines Krankenbettes sind oft sehr nütz­lich für die Seele. Der Geist Gottes macht Gebrauch davon, um uns die heiligsten Aufgaben zu lehren. Sehr oft ist es geschehen, daß die Zeit einer leiblichen Krankheit die Zeit der Prüfung und des feierlich­sten Selbstgerichts in der Gegenwart Gottes wurde. Wie nötig sind diese Dinge, und doch wie oft werden sie unter dem Geräusch einer bestän­digen Arbeit und dem Verkehr 'mit Anderen vernachlässigt!

Es ist sehr lehrreich, die Stellung des Trophimus in Apg. 21, 29 seiner Stellung in 2. Timoth. 4, 20 gegenüber zu stellen. In der ersten sehen wir ihn in den Straßen Jerusalems in Gemeinschaft mit Pauli;

in der letzten finden wir ihn in der Zurückgezogenheit eines Kranken­zimmers zu Milet. Es war seine Gegenwart bei Paulus, die alle die bitteren Vorurteile der Juden erregte, weil sie meinten, daß Paulus ihn in den Tempel hereingebracht habe. In Ephesus möchten Paulus und Trophimus in Gemeinschaft gewandelt haben, ohne den geringsten Argwohn zu erwecken; doch nicht so in Jerusalem. Einen Juden und einen Heiden in Jerusalem zusammen zu sehen, wurde als eine öffent­liche Beschimpfung der jüdischen Würde betrachtet. Es war auch in der Tat ein Niederreißen der Zwischenwand der Umzäunung, und ein kühner Wandel mitten durch die Trümmer;, und. darauf waren die Juden nicht vorbereitet. Sie sahen auf die beiden Gefährten mit einem Auge finsteren Argwohns; und die ungewöhnliche Gemeinschaft blies die Flamme an, die so schnell und mit so furchtbarer Gewalt um den geliebten Apostel der Heiden hervorbrach. Man ist geneigt, zu sagen, daß die beiden Freunde nicht in den Straßen zu Jerusalem sollten ge­funden werden. 

Jene Straßen waren augenscheinlich nicht das dem Paulus angewiesene Arbeitsfeld. „Ich werde dich fern zu den Nationen aussenden," war des Herrn Wort. Aber Paulus wollte nach Jerusalem gehen; und als er dort war, so konnte er sich nimmer weigern, in Gemeinschaft mit einem Epheser zu gehen. Er war zu aufrichtig dazu. Er konnte nicht, gleich dem armen Petrus, aus Furcht vor den Juden, von seinen heidnischen Brüdern fern stehen bleiben. Aber die Zere­monien des Tempels und die Gemeinschaft mit Trophimus gehören nicht zusammen. Hier lag die Schwierigkeit. Wenn die Verordnungen des Tem­pels noch sollten verehrt und beibehalten werden, warum dann diese Gemeinschaft mit einem unbeschnittenen Fremden? Wenn aber beide, Paulus und Trophimus, als Mitbürger des himmlischen Jerusalems ein­getragen waren, warum dann noch in irgend einer Weise mit dem alten System Gemeinschaft machen?

Diese Betrachtungen geben dem Namen des Trophimus ein be­sonderes Interesse. Es ist sehr schön und lehrreich, die drei Stellen zu betrachten, wo wir diesem Namen begegnen. Zuerst finden wir Tro­phimus als einen der Gefährten, die Paulus in Asien begleiteten (Apg. 20, 4); dann sehen wir ihn in der Gesellschaft des Apostels in der Stadt Jerusalem (Apg. 21, 29); und endlich finden wir ihn auf dem Kranken­bette in Milet zurückgelassen. Hier konnte er mit Ruhe auf die ganze

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 Vergangenheit zurückblicken und zugleich mit Zuversicht vorwärts in die Zukunft schauen. Er konnte nicht mehr in Asien arbeiten, noch in den Straßen Jerusalems mit dem ergebendsten und aufrichtigsten der Menschen einhergehen. Er war ein Invalide zu Milet, und Paulus ein Gefangener zu Rom; aber beide konnten mit ungetrübtem Auge auf­wärts schauen zu jener herrlichen und gesegneten Ewigkeit, zu der sie beide hineilten, und wo sie jetzt sicher und für immer geborgen sind.

Philipper 3 Gewinn für mich

„Aber, was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust gehalten."

(Phil. 3, 7)

Welch eine wunderbare Veränderung! Saulus hatte viele Quellen des Gewinnes gehabt. Sein Name war mit vieler Ehre bekleidet, und über viele seines Geschlechts hatte er im Judentume zugenommen. Er hatte eine Gerechtigkeit im Gesetz erlangt, an welcher niemand einen Flecken finden konnte. Sein Eifer, seine Kenntnis und seine Moralität waren von allerhöchstem Range. Aber von dem Augenblick an, als Christus Sich ihm offenbarte, entstand eine vollkommene Umwälzung. Alles war verändert. Seine Gerechtigkeit, sein Wissen, seine Moralität — kurz alles, was irgendwie Gewinn für ihn sein konnte, wurde Ver­lust und Dreck. Er spricht nicht von offenbaren Sünden, sondern von solchen Dingen, welche mit Recht als Gewinn für ihn angesehen werden konnten. Die Offenbarung der Herrlichkeit Christi aber hatte die ganze Richtung seiner Gedanken so vollständig verändert, daß er dieselben Dinge, welche er einst als ausgemachten Gewinn ansah, nun als wirk­lichen Verlust betrachtete.

Und warum? Einfach deshalb, weil er sein Alles in Christo ge­funden hatte. Der gepriesene Eine hatte alles andere aus dem Herzen Pauli verdrängt. Alles, was ihm gehört hatte, war für Christum ab­gesetzt. Und wäre es nicht auch wirklicher Verlust für ihn gewesen, irgendwelche Gerechtigkeit oder Weisheit, Heiligkeit oder Moralität in sich selbst zu besitzen, nachdem er alles dieses in göttlicher Vollkom­menheit in Christo gefunden hatte? Wenn Christus für mich zur Ge­rechtigkeit von Gott gemacht ist, — ist es dann nicht Verlust für mich, irgend etwas von meiner Gerechtigkeit zu haben? Ganz offenbar! Wenn ich das bekommen habe, was göttlich ist, — bedarf ich dann irgend etwas von dem, was menschlich ist? Sicher nicht! Je völliger ich ent­kleidet und entleert bin von allem, dessen i c h mich rühmen konnte, oder das mir Gewinn war — desto besser ist es, weil es mich nur desto fähiger macht, Christum in mir wachsen zu lassen, der vollkommenes und vollständiges Genüge für mich ist. Was es auch immer sein mag, das zur Selbsterhebung gereicht, ob es Religiosität, Moralität, Ansehen, Gesundheit, Ehre, persönliche Schönheit» Verstand, oder sogenannte Menschenliebe ist, — es ist ein wirkliches Hindernis unserer Freude in Christo, der allein der wahre Frieden des Gewissens und der würdige Gegenstand des Herzens ist. — 0 möge der Geist Gottes Christum Selbst stets köstlicher machen für unsere Herzen!

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Des Christen Mundschenk

Der Glaube ist für den Christen dasselbe, was Nehemia für Artaxerxes war (Neh. 11, l). Er ist der Mundschenk des Christen, der ihm alle Segnungen der Gnade zuführt. Christus allein ist die Quelle aller Segnungen, und aus Ihm nimmt sie der Glaube und erquickt und er­freut das Herz des Christen. Der Glaube ist gleichsam der Kundschaf­ter, der durch den Geist alle Fülle in Christo entdeckt und der Seele über alles, was er in Ihm erblickt und erkennt, Bericht erstattet. Durch den Glauben wachsen wir in Christo und verwirklichen das, was in Ihm ist.

Ist aber der Glaube nicht wirksam — o, wie matt und traurig sit­zen dann die armen Kreaturen an dem Tische der Verheißungen! Gleich Hanna weinen sie und essen nicht; ach nein, sie dürfen so dreist nicht sein! Sobald aber der Glaube da ist, dann greift die Seele zu, und ge­nießt in der Tat ein reichliches Mahl. Kein Gericht ist auf dem Tische — der Glaube muß es kosten. Der Glaube weiß, daß Gott die Speisen nicht aufsetzt, damit sie unberührt gelassen werden, sondern durch eine demütige und doch kühne Gesinnung weiß er, daß er nicht so zu­dringlich gegen Gott in Seinem eigenen Hause sein kann, daß er nicht willkommen wäre. „Ich lebe durch den Glaubendes Sohnes Gottes."

Drei Dinge sind es, welche der Glaube verrichtet, nämlich: „Er reinigt das Herz (Apg. 15, 9); er wirkt durch die Liebe (Gal. 5, 6); er überwindet die Welt (1. Joh. 5, 4). Er wirkt auf die Quelle aller meiner Gefühle und Neigungen. Er äußert seinen heiligenden Einfluß auf alle meine verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Und, endlich, macht er mich zum Überwinder über die Umstände und Einflüsse, welche mich umgeben.

1 Johannes 4 1862 Gleichwie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt.

(1. Joh. 4, 17)

Er ist gestorben. — Röm 6, 10.

Wir mit Ihm. — Röm. 6, 2; Kol. 3, 3. Er ist auferweckt. — 1. Kor. 15, 20; Röm. 6, 9. 10.

Wir mit Ihm. — Kol. 2, 12; 3, 1. Eph. 2, 6. Er ist in den himmlischen Örter n. — Eph. 1. 20.

Wir in Ihm. — Eph. 2, 6. Er ist vollendet. — Hebr. 5, 9.

Ebenso auch wir. — Hebr. 10, 14. Er ruht in der Liebe des Vater s. — Joh. 5, 20.

Ebenso auch wir. — Joh. 17, 23. 26. Er ist wartend. — Hebr. 10, 13.

Ebenso auch wir. — 1. Kor. 1. 7; Phil. 3, 20.

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Hoffen und Besitzen

Es ist ein großer Unterschied, die Errettung zu hoffen oder sie wirklich zu besitzen. Viele scheinen nie über das erstere hinauszu­kommen, während es doch ihr Vorrecht ist, sich über das letztere zu erfreuen. Wenn das Evangelium in seiner göttlichen Fülle aufgenom­men ist, so erweist es sich als die „Kraft Gottes zum Heil" (Röm. 1. 16). Seine Sprache ist: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren" (Luk. 19, 9). Es gibt „Seinem Volke Erkenntnis des Heils in Vergebung ihrer Sünden" (Luk. 1. 77). In jedem Falle, wenn das Evangelium wirklich erfaßt ist, teilt es Frieden und Freude mit. Als der äthiopische Eunuch dasselbe durch die Predigt des Philippus aufgenommen hatte, „zog er seinen Weg mit Freuden" (Apg. 8, 39). Der Kerkermeister zu Philippi, „an Gott glaubend, frohlockte mit seinem ganzen Hause" (Apg. 16, 34). „Da wir nun sind gerechtfertigt worden aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesum Christum" (Röm. 5, l). Es könnte nicht das Evangelium, nicht die gute Botschaft Gottes sein, wenn es irgend jemand im Zweifel ließe.

 Wie könnte Gott den Men­schen eine frohe Botschaft senden, um sie in Zweifel zu lassen? Un­möglich. Wenn Gott spricht, so muß Sein Wort eine Gewißheit geben, die ihm angemessen ist. Wenn uns eine wahrheitsliebende Person eine Sache erzählt, so sind wir gewiß; und unsere Gewißheit steht im Ver­hältnis zu der Wahrhaftigkeit des Mitteilers. Wären wir ungewiß, so würden wir einfach Seine Wahrhaftigkeit in Frage stellen, oder wir würden wenigstens kundgeben, daß Sein Wort nicht hinreichend sei, uns zu überzeugen. „Wenn wir nun das Zeugnis der Men­schen annehmen, das Zeugnis Gottes ist größer; denn dies ist das Zeugnis Gottes, welches Er über Seinen Sohn gezeugt hat. Wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das Zeugnis in sich selbst; wer Gott nicht glaubt, hat Ihn zum Lügner gemacht, weil er nicht an das Zeug­nis, welches Gott über Seinen Sohn gezeugt, ge­glaubt ha t. Und dies ist das Zeugnis; daß Gott uns das ewige Leben gegeben hat; und dieses Leben ist in Seinem Sohne" (1. Joh. 5, 9—11),

Das Evangelium überredet nicht die Menschen, über sich selbst etwas zu glauben. Es fordert mich nicht auf, zu glauben, daß ich ein Christ bin. Es ist ein großer Irrtum, zu denken, daß der Gegenstand des evangelischen Zeugnisses etwas über uns sei! — es ist etwas über Christum. Es ist etwas, das Gott mir über Seinen Sohn erzählt;

und wenn ich durch Gnade es glaube, so macht es mich ganz glücklich. Es gibt mir Leben und Gerechtigkeit, Frieden und Freude, Ruhe und Sicherheit. Ich bin berufen, ganz und gar von mir abzusehen, allein auf Christum hin. Der Gegenstand, welchen Gott darstellt, ist Sein Sohn;

es ist keine Ungewißheit darin. Derjenige, welcher diesen Gegenstand darstellt, ist Gott; es ist keine Ungewißheit darin. Meine Autorität ist das Wort; es ist keine Ungewißheit darin. Sobald ein Mensch den Grund seines Vertrauens oder seines Friedens in sich selbst sucht, hat er sich verirrt. Er. versinkt in Zweifel und Verwirrung. Unser Glaubensauge muß unverrückt auf das Wort, auf Christum und auf das Opfer gerich­tet sein. Dies wird uns von uns selbst wegbringen und uns mit einem

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 göttlichen Gegenstande erfüllen, in welchem wir alles finden können, was wir bedürfen. Der Teufel wird nie die Zuversicht dessen erschüt­tern können, der einmal im Evangelium des Christus völlig befestigt war. Es mag Kampf, Versuchung, Schwierigkeit, Druck, Kummer und dergleichen da sein; aber nichts kann den Frieden erschüttern, der wirk­lich auf das Wort Gottes gegründet ist. Er ist ewig und göttlich. Er hat Teil an dem Charakter jenes Wortes, auf welches er gegründet ist, und an dem Opfer, von welchem jenes Wort Zeugnis gibt. „Die Anbeter sollen, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr haben von Sünden" (Hebr. 10, 2). Das ist einfach. „Einmal ge­reinigt" zu sein, bringt alles in Ordnung. „Wer gebadet ist, hat nicht nötig, als sich die Füße zu waschen, sondern ist ganz rein" (Joh. 13, 10). Ihr seid schon rein" um des Wortes willen, welches ich zu euch geredet habe" (Joh. 15, 3).

Es gibt etliche, welche der Meinung zu sein scheinen, daß die Mög­lichkeit, errettet zu werden, das einzige Resultat des Opfers Christi sei. Die Erkenntnis des Heils, die Gewißheit, errettet zu sein, be­trachten sie als Anmaßung, als die Wirkung eines geistlichen Hoch­muts, als ein sich für besser halten als andere. Es ist aber ein großer Irrtum — ein Irrtum, der dadurch entsteht, daß der wahre Grund der Errettung nicht gesehen und die wahre Autorität des Bewußt­seins, daß wir errettet sind, nicht erkannt wird. Jenes haben wir in dem Blute Christi und dieses in dem Worte Gottes. Das eigene Ich hat weder mit diesem noch mit jenem etwas zu tun. Gott macht uns mit einer „guten Botschaft" bekannt; Er spricht zu uns von der Errettung durch den Namen Jesu, von der vollkommenen Sündenvergebung durch das Blut des Kreuzes. Jetzt ist die Frage, ob Gottes Wort Gewißheit geben kann oder nicht. 

Wenn Er uns eine frohe Botschaft sendet, sollte sie nicht geglaubt werden; und wenn geglaubt, sollte sie uns nicht fröh­lich machen? Wie könnte die frohe Botschaft Gottes uns in Zweifel las­sen? Wo Zweifel ist, da wird das Wort Gottes nicht geglaubt, die Fülle Christi nicht gesehen und der Wert Seines Blutes nicht erkannt. Das eigene Ich ist der Gegenstand vor der Seele, und darum ist da kein Frieden, keine Freude, keine Glückseligkeit, keine Heiligkeit. Die Seele, welche sich in der finsteren Region des Zweifels aufhält, kann weder heilig noch glücklich sein.

Mein teurer Leser, ich bitte dich, nicht zufrieden zu sein, die Er­rettung zu hoffen. Ruhe nicht, bis du sie besitzest. Adam wußte, daß er errettet war, als Gott ihn bekleidete (1. Mos. 3). Noah wußte, daß er gerettet war, als der Herr hinter ihm zuschloß (1. Mos. 7, 16). Der Israelit wußte, daß er mit dem Blute auf den Türpfosten sicher war (2. Mos. 12), sobald er in die Freistadt eintrat (4. Mos. 35). Rahab wußte, daß sie unter der Bedeckung der roten Schnur völlig sicher war (Josua 2). So ist es in jedem Falle; wo Gottes Heilmittel offenbart und Sein Wort geglaubt ist, da ist Gewißheit und Frieden. Es ist nicht ein Gegenstand des Hoffens, sondern des Besitzens. Es ist Gottes und Seines Wortes würdig, dem Herzen, welches Ihm vertraut, einen sicheren Frieden zu geben. Gott hat kein Wohlgefallen daran, irgend' eine Seele in Zwei­fel oder in Ungewißheit zu lassen. Ich soll gerade eine so völlige Ge­wißheit besitzen, als Gottes Wort mir mitzuteilen im Stande ist.

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 Möge der Herr dem ängstlichen Leser ein ungekünsteltes Vertrauen auf das göttliche Zeugnis und auf den Wert Seines Blutes geben!

Was ist Friede?

„Hast du Frieden gefunden?" ist eine Frage, welche heutzutage oft an die Menschen gerichtet wird: und es mag manche Gläubige geben, Welche diese Frage nicht recht verstehen, oder sie zu beantworten wis­sen. Man betrachtet den Frieden als ein gewisses Gefühl ruhiger Stille im eigenen Herzen, und insoweit, als man dieses nicht in sich wahr­nimmt, kommt man zu dem Schluß, daß man noch keinen Frieden ge­funden habe.

Dann gibt es viele, welche meinen, ohne die Erfahrung dieses Gefühls der Ruhe durchaus keine Christen sein zu können; und, indem sie wahrnehmen, daß jene Erfahrung nicht vorhanden ist, schließen sie, daß sie weder Anteil noch Anrecht an der Sache haben.

Endlich findet man solche, welche meinen, wenn sie diesen Frie­den besäßen, sie nimmer die inneren Wirkungen des Bösen fühlen würden. Sie bilden sich ein, daß der wahre Friede des Evangeliums und die inwohnende Sünde ganz unerträglich zusammen seien; — und indem sie sehen, daß sie sich einer Menge inneren Übels bewußt sind, schließen sie, daß sie auf den Genuß des Friedens noch zu warten haben.

Auf diese Weise vermehren solche Seelen nur ihre schmerzhafte Unruhe, weil sie unrechte Gedanken über den Gegenstand des Frie­dens nähren.

l. Laßt mich nun zuerst auf das bestimmteste und nachdrücklichste erklären, daß der wahre, evangelische Friede nicht ein bloßes Gefühl stiller Ruhe im Herzen, sondern etwas weit Festeres und Sichereres ist. Es ist ein unumstößlicher Vertrag, in welchen der Gläubige durch das Versöhnungswerk Christi am Kreuze aufgenommen und einge­schlossen ist. Lies die folgenden Schriftstellen: „Da wir nun ge­rechtfertigt sind aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott, durch unsern Herrn Jesum Christum" (Röm 5, l). Ist dies ein bloßes Gefühl im Herzen? Gewiß nicht; es ist eine gesegnete Stellung, in welche der Gläubige durch den Tod und die Auferweckung Christi eingesetzt ist. Ohne Zweifel wird das Herz in demselben Maße sich glücklich fühlen und Frieden genießen, als der Glaube einfältig diese große Wahrheit ergreift, daß alle Sünden vergeben sind, und daß die Seele so gerechtfertigt ist, wie Christus sie zu rechtfertigen vermag, —so gerecht wie Christus Selbst. Aber der Apostel sagt nicht: „Da wir nun sind gerechtfertigt worden aus Glauben, haben wir ein Gefühl des Friedens im Herze n." Das könnte nichts helfen. Unsere Gefühle sind so ungewiß und wetterwendisch wie die Winde. Der Friede aber, von welchem diese herrliche Stelle redet ist so fest, wie der Thron Gottes selbst.

Ferner: „... Frieden verkündigend durch Jesum Christum" (Apg. 10, 36). Sollte dies soviel heißen, als „verkün­digend ein gewisses Gefühl im Herzen?" 0 nein; sondern es ist die herrliche Verkündigung des Friedens zwischen Gott und den

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 Menschen, gegründet auf das vollbrachte Werk Christi, welcher, nach­dem Er durch das Blut Seines Kreuzes Frieden gemacht hat. Selbst unser Friede in der Gegenwart Gottes ist. Es würde ein sehr schlim­mer Irrtum sein, vorauszusetzen, daß „der Friede", wovon in obi­gen Stellen die Rede ist, nur ein ruhiger und glücklicher Zustand des Gemütes sei. Es ist weit mehr; er besteht nicht in unserem Gefühl, son­dern in Gott; und das ist ein großer Unterschied. Wir sollten nie unsere Gefühle über eine Sache mit der Sache selbst verwechseln, — eine offenbare Tatsache mit dem Eindrucke, den dieselbe auf uns hervorbringt, wenn wir sie erfahren.

Nehmt ein Beispiel: Als 1871 zwischen Deutschland und Frank­reich Friede geschlossen und proklamiert wurde, war dies ein bloßes Gefühl in dem Herzen eines Deutschen oder eines Franzosen? Es war weit mehr; es war eine bestimmte Bedingung, auf welche beide Nationen durch die Unterzeichnung eines Friedensvertrages sich ver­pflichteten. Ohne Zweifel mochte jeder, welcher die Nachricht des Frie­densschlusses hörte und glaubte, das Gefühl der Freude in sich haben, welches solche Nachricht zu erzeugen vermochte; aber wer erkennt nicht den Unterschied zwischen jenem Gefühl und dem Ereignis, durch welches dasselbe hervorgebracht wurde?

Noch ein anderes Beispiel: Wenn durch den Sieg der nordamertkanischen Union über die südlichen Sklavenstaaten die Regierung der ersteren die Macht erlangen sollte, einen Freibrief für alle Sklaven zu erlassen, welcher jedem Sklaven die Freiheit verkündigte, — würde dieses Ereignis nichts mehr sein, .als ein bloßes Gefühl in dem Herzen eines Sklaven? Ö gewiß; es würde weit mehr sein; es würde ein bestimmter Zustand sein, in welchen der Sklave durch den Freibrief gebracht wäre. Wenn ein Sklave die Nachricht hörte und glaubte, dann würde er freilich ein sehr freudiges Gefühl der Freiheit haben; er würde nicht länger seine Ketten fühlen oder die rauhe Stimme des Aufsehers hören; aber wer erkennt nicht den Unterschied zwischen einem Gefühl der Freiheit und der Grundlage, auf welcher das Gefühl ruht?

Nun gebe ich gern zu, daß dies bloß menschliche und deshalb un­vollkommene Beispiele von dem göttlichen Gegenstande sind, von wel­chem wir reden; aber sie stellen wenigstens den Unterschied zwischen einem Zustande und einem Gefühl — zwischen unserer Empfindung von einer Sache und der Sache selbst — zwischen einem Ereignis und dessen Folgen dar. In dem Evangelium empfange ich eine göttliche Wahrheit, welche auf dem Wege Gottes zu mir gelangt und göttliche" Früchte erzeugt. Es ist nicht eine verstandesmäßige Einwilligung in einen gewissen Vorschlag, den ich als wahr betrachte, weil ich keine Ursache habe, ihn zu bezweifeln; sondern ein armer, schuldiger Rebell — ein Sklave — ein Feind empfängt aus Gnaden Vergebung, Freiheit und Versöhnung von Gott, durch das kostbare Opfer am Kreuze. Wird ein solcher keine glücklichen Gefühle haben? Ganz gewiß; aber die Gefühle dürfen nie verwechselt werden mit der gesegneten Wahrheit, welche ihnen ihr Dasein gibt. Friede ist eine göttliche, unabhängige, unveränderliche Wirklichkeit, gegründet auf das Blut Christi, verkün digt durch die Autorität des Wortes Gottes, und empfangen durch Glau­ben durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Wenn ich deshalb gefragt würde: „Hast du Frieden?" sollte ich dann in mich hinein sehen und meine Antwort demgemäß geben, was ich da finde? — Gewiß nicht; ich sollte vielmehr sagen: „Ja, Gott sei Dank, ich habe Frieden, — vollkommenen Frieden, — einen Frie­den, so vollkommen, wie Christus ihn machen, oder Gott ihn geben konnte." Auch kann nichts meinen Frieden stören weil Gott Selbst ihn mir zugesichert hat durch Jesum Christum, den Herrn über alles. Wenn irgend etwas meinen Frieden stören könnte, dann würde Jesus Christus nicht „der Herr über alles" sein; denn das, was die Störung verursachen könnte, würde Herr sein über Ihn; und dieses auch nur einen Augenblick zu denken, würde Gotteslästerung sein. Meine Gefühle können leicht gestört werden, aber was Gott gegründet hat, kann nimmermehr angetastet werden.

2. Jetzt ein Wort an diejenigen, welche meinen, daß, wenn sie nicht dieses innere Gefühl der Ruhe haben, sie gar keine Christen seien. Ich glaube nicht, daß ihre Ansicht durch die heilige Schrift oder auch durch die christliche Erfahrung entstanden ist. Nicht, daß ich Zweifel und Verzagtheit in Schutz nehmen will, oder jemanden überreden möchte, mit sich selbst oder mit seinem gegenwärtigen, praktischen Zustande zufrieden zu sein — gewiß nicht. Ich bin völlig überzeugt, daß Zweifel und Kleinglaube ebensowohl den Namen Christi entehren, als sie den eigenen wahren Frieden des Herzens stören. 

Sie sind gar nicht zu entschuldigen. Sie entspringen in manchen Fällen aus einem falschen Begriff von der wahren Natur des Friedens des Evangeliums, — oder entstehen dadurch, daß wir uns selbst anstatt Christum betrachten, — daß wir unseren Genuß des Friedens mit dem Frie­den selbst verwechseln, — daß wir darauf blicken, was wir für Gott sind, anstatt darauf zu schauen, was Er für uns Ist. Aber einerlei, aus welcher Ursache jener Zweifel und Kleinglaube entsprin­gen, wir haben sie stets zu richten und sie nicht zu dulden, eben so wenig, wie jeden anderen bösen Gedanken und jedes andere böse Ge­fühl, das in unserem Herzen entsteht.

Während es aber ohne Frage unrecht ist, Zweifel zu hegen, wenn Gott gesagt hat: „Friede", — oder Furcht zu haben, wenn Christus Frieden gemacht hat, — so ist es noch weit mehr unrecht, unser Ver­hältnis zu Christo deswegen in Frage zu stellen, weil wir uns nicht ganz so glücklich fühlen, als wir es möchten oder sollten. Dadurch ge­statten wir dem Satan, uns zu übervorteilen. Würde ich mein natür­liches Dasein, mein natürliches Leben deswegen in Zweifel ziehen, weil ich mich unwohl fühle? Sicher nicht! Und warum sollte ich denn mein geistliches Dasein, — mein Leben in Christo, — deswegen bezweifeln, weil mein Herz nicht so glücklich ist, als ich wünsche, daß es sein möchte? Sehr viele wahre Christen — aufrichtige, ernste, fromme See­len — werden zuweilen von Zweifeln und Furcht geängstigt. In der Tat, ihre Angst wird sogar im gleichen Verhältnis mit ihrem Ernst stehen, bis sie es lernen, von sich selbst abzusehen und einfach in

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 Christo zu ruhen. Keine Angst zu fühlen, so lange ich nicht durch die Autorität Gottes weiß, daß Christus alle meine Sünden weggenommen

— daß Er vollkommen die Anklagen gegen mich vor dem Throne Gottes zurückgewiesen hat — das würde nur Härte des Herzens und Gleich­gültigkeit gegen die Sünde und gegen die Heiligkeit Gottes beweisen. Möge Gott den Leser vor solcher Gleichgültigkeit bewahren! Gott möge dich behüten, daß du ja nicht diese Angst verlierst, bis sie durch das Blut des Kreuzes ausgetrieben wird! Es ist zu befürchten, daß manche in einer leichtfertigen Weise über den Frieden sprechen und Frieden finden, was einen sehr oberflächlichen Begriff von dem Übel der Sünde, den Anforderungen göttlicher Heiligkeit und der ernsten Wahrheit des Kreuzes offenbart. Wir haben stets daran zu gedenken, daß, obschon ohne irgend eine Anforderung an uns Friede gemacht ist, es Christum alles gekostet hat. Wir verlieren nichts von der Einfach­heit und Gewißheit des göttlichen Friedens dadurch, daß wir seinen Ernst tief fühlen und erkennen; ganz das Gegenteil. Je völliger ich verstehe, was vollbracht werden mußte, desto dankbarer bin ich gegen Christum, daß Er es vollbracht hat; aber ich darf nie vergessen, was es Ihn gekostet hat, um es zu vollbringen.

3. Schließlich laßt mich noch ein Wort für diejenigen hinzufügen, welche durch den Gedanken beunruhigt werden, daß die Freude über den geschlossenen Frieden unvereinbar sei mit dem Gefühl der inwoh­nenden Sünde. Dies ist ein trauriger Irrtum, der große Dunkelheit und Beschwerde für die Seele hervorbringen muß. Der am meisten vorge­schrittene Gläubige' auf Erden hatte Sünde in sich wohnend: „In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes;" und dies wird bis zum Ende unseres Laufes unser Bekenntnis bleiben müs­sen. „Wenn wir sagen, daß wir (Gläubige) keine Sünde ha­ben, so belügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns" (1. Joh. 1. 8).

Es ist lehrreich und tröstlich für uns, daß im Gesetz über die Sühn­opfer (3. Mos. 7, 13) gesäuertes Brot als Opfer vorgeschrieben war, und zwar um des Bösen willen, das in dem war, der den Gottesdienst tat; denn Sauerteig ist, ohne eine einzige Ausnahme, in der Heiligen Schrift nur das Symbol des Bösen.

Ebenso wurde es erlaubt, in den beiden Webebroten (3. Mos. 23, 17)

— ein Vorbild des Volkes Gottes — Sauerteig zu haben, weil jeder, der zu diesem Volke gehört. Böses in sich hat, und es so lange haben wird, als er im Leibe ist. Gott kennt uns ganz genau. Er weiß das aller­schlimmste von uns; aber dennoch liebt Er uns und hat das Nötige vor­gesehen wegen des Übels, welches Er in uns sieht, sodaß es nicht im allergeringsten unseren Frieden zu stören braucht. Wenn wir aber der Sünde zu wirken und sich zu offenbaren erlauben, so wird sie unseren Genuß des Friedens sicher stören und uns dazu bringen, unsere Knie vor dem Herrn im Bekenntnis und im Selbstgericht zu beugen. Gott der Heilige Geist, welcher in uns wohnt, kann nicht einen einzigen bösen Gedanken in uns dulden, den wir nicht richten. Alles muß gerichtet werden. Der Kampf darf nicht aufhören. „Das Fleisch gelüstet

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 wider den Geist, und der Geist wider das Fleisch." Dieser Streit wird nie aufhören in dem Gläubigen, bis zu jenem seligen Augenblicke, wo er den Leib der Niedrigkeit ablegen wird. Wenn nun die inwohnende Sünde unsern Frieden hindern könnte, dann würde kein einziges Glied der Familie Gottes auch nur einen Augenblick denselben genießen können. Dank aber sei Gott, daß dies nicht der Fall ist! Unser Friede beruht nicht auf sündlosem Fleische, sondern auf einem vollkommenen Opfer.

5 Mose 20 1862 Vorrecht und Verantwortlichkeit.

(Lies 5. Mos. 20, 1—9)

Vorrecht und Verantwortlichkeit! Ja, dies ist die göttliche Ordnung;

und wie wichtig ist es beim Gebrauch der Dinge Gottes, dieselben in d i e Ordnung zu stellen, in welche Er sie stellt, und sie darin zu lassen! Das menschliche Herz ist immerdar geneigt, die Dinge Gottes aus ihrem rechten Platz zu bringen; und daher kommt es auch, daß man so häufig die Pflichten des Volkes Gottes auf diejenigen zu legen sucht, welche noch in ihren Sünden sind. Dies ist ein großer Fehler. Erst muß ich eine Stellung einnehmen, bevor ich die Pflichten erfüllen kann, welche damit verknüpft sind. Ich muß erst in einer Verwandtschaft sein, bevor ich die Gesinnung kennen kann, welche ihr eigen sind. Wenn ich kein Vater bin, — wie kann ich die Gesinnung eines Vater­herzens kennen oder äußern? Unmöglich! Ich kann sie rühmen und preisen; ich kann es versuchen, sie zu beschreiben; aber um sie zu füh­len, muß ich Vater sein.

So ists auch in den Dingen Gottes. Ich muß eine Stellung,' ein Ver­hältnis einnehmen, bevor ich mich mit den Pflichten vertraut machen kann, welche damit verknüpft sind. Ich muß in einer Verwandtschaft sein, bevor ich die Zuneigungen verstehen kann, welche daraus ent­springen. Der Mensch ist in aller möglichen Weise auf die Probe ge­stellt: — bei der Schöpfung — unter der göttlichen Regierung — unter dem Gesetz — unter Satzungen — durch die Sendung von Propheten — durch das Amt der Gerechtigkeit in der Person Johannes des Täu­fers — durch das Amt der Gnade in der Person Christi — durch das Amt des Heiligen Geistes. — Und was ist der Erfolg von all den Proben gewesen? Ein gänzliches Mißlingen! — Eine ununterbrochene Kette des Zeugnisses, vom Paradiese an bis zum Pfingsten hin, hat nur dazu ge­dient, die völlige Verderbtheit des Menschen in jeder möglichen Weise offenbar zu machen. In jeder Stellung einer Verantwortlich­keit, in welche der Mensch gebracht ist, hat er sich als untauglich erwiesen. Nicht eine einzige Ausnahme kann genannt werden.

Soweit, was die Verantwortlichkeit des Menschen betrifft. Er hat sich selbst in jeder Sache als untreu bewiesen. Er hat nicht einen ein­zigen Zoll breit Grund, worauf er sich stellen und steifen könnte. Er hat sich selbst verderbt, — aber in Gott ist seine Hilfe. Die Gnade ist ins Mittel getreten in der Person Christi, und sie ist der verzweifelten Lage des Menschen vollkommen begegnet. Das Kreuz ist das göttliche

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 Heilmittel für all das Elend, und durch dieses Kreuz ist der Gläubige auf einen Platz göttlichen und immerwährenden Vorrechts gestellt. Christus ist all der Not begegnet, hat alle Anforderungen erfüllt, jeder Verantwortlichkeit entsprochen; und nachdem Er dieses durch Seinen Tod am Kreuze vollbracht hat, ist Er in der Auferstehung die Grund­lage aller Vorrechte der Gläubigen geworden. Wir haben alles in Christo, und wir empfangen Ihn, nicht weil wir allen Anforderungen, die an uns ergingen, entsprochen haben, sondern weil Gott uns liebte, selbst als wir in allen Dingen gefehlt hatten. Wir finden uns, ohne irgend­welche Bindung, an einem Platz unaussprechlichen Vorrechts. Wir ha­ben uns nicht dahin gearbeitet; — wir haben uns nicht dahin ge­weint; — wir haben uns nicht dahin gebetet; — wir haben uns nicht dahin gefastet. Wir wurden aufgenommen aus der Tiefe un­seres verlorenen Zustandes, aus jener tiefen Grube, in welche wir ge­fallen waren, weil wir in jeder Verantwortlichkeit gefehlt hatten; — wir sind durch Gottes freie Gnade in eine Stellung unaussprechlichen Segens und Vorrechts versetzt worden, welche nichts je uns rauben kann. Nicht die vereinigten Mächte der Hölle und der Erde — nicht die ganze Bosheit Satans und seiner Werkzeuge — nicht die ganze Macht der Sünde, des Todes und Grabes, in ihrer furchtbaren Schlachtord­nung aufgestellt — können jedem, der an Jesum glaubt, den Platz des Vorrechts rauben, in welchem er durch Gnade steht.

Der Leser kann in seiner Vorstellung darüber nicht einfach genug sein. Wir erlangen nicht unsere Stellung des Vorrechts als eine Frucht unserer Treue in der Stellung der Verantwortlichkeit. Gerade das Ge­genteil. Wir haben allenthalben uns untreu bewiesen. „Alle haben gesündigt und erreichen die Herrlichkeit Gottes nicht." Wir verdienten den Tod; aber wir haben das Leben empfan­gen. Wir verdienten die Hölle; aber wir haben den Himmel empfan­gen. Wir verdienten ewigen Zorn; aber ewige Gunst haben wir emp­fangen. Die Gnade ist dazwischen getreten, und sie herrscht durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesum Chri­stum, unsern Herrn.

Daher wird in der Haushaltung der Gnade das Vorrecht die Grundlage der Verantwortlichkeit, und dies wird in der zu Anfang angeführten Schriftstelle aufs klarste und schönste beleuchtet: „Wenn du in einen Krieg ziehst wider deinen Feind, und sie -hest Rosse und Wagen, ein Volk, das größer ist, denn du, so fürchte dich nicht vor ihnen; denn der Herr dein Gott ist mit dir, der dich aus Ägyptenland geführet hat." „Wenn ihr nun anrücket zum Streit: so soll der Priester herzutreten und mit dem Volke re­den und zu ihnen sprechen: Höre Israel! Ihr ziehet heute in den Streit wider eure Feinde; euer Herz verzage nicht! Fürchtet euch nicht, und erschreckt nicht, und lasset euch nicht grauen vor ihnen; denn der Herr euer Gott gehet mit euch, daß Er für euch streite mit euren Feinden, euch zu helfen" (V. l—4).

Hier finden wir die Vorrechte Israels bestimmt hervorgehoben: — „Der Herr, dein Gott, ist mit dir", — und zwar in demsel-

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 ben Charakter, in welchem Er sie aus Ägypten geführt hatte. Er war mit ihnen in der Macht jener unumschränkten Gnade, welche sie von dem eisernen Joch Pharaos befreit hatte — welche sie durch das Rote Meer geführt und in der „großen und schrecklichen Wüste" geleitet und behütet hatte. Dies machte den Sieg gewiß. Unmöglich konnte ein Feind Jehova widerstehen, der in steter Gnade auf der Seite Seines Volkes stritt.

Und mögen wir es sorgfältig beachten, daß in der angeführten Stelle nicht eine einzige Bedingung durch den Priester gemacht wird. Er bestätigt in der unumschränktesten Weise die Verwandtschaft und das daraus entstehende Vorrecht des Israels Gottes. Er sagt nicht: „Der Herr, dein Gott, wird mit dir sein, wenn du dies und das tust." Dies würde nicht die geeignete Sprache für denjenigen sein, der vor dem Volke Gottes stand als der Verwalter jener Vorrechte, welche die Gnade ihm verliehen hatte. Die Gnade macht keine Bedingungen, er­richtet keine Schranken, stellt keine Verträge auf; ihre Sprache ist:

. „Der Herr, dein Gott, ist mit dir, — Er geht mit dir, — Er streitet für dich, — Er errettet dich." Wenn Jehova für Sein Volk streitet, so ist es des Sieges gewiß. „Wenn Gott für uns ist, — wer mag wider uns sein?" Verbürge mir nur Ues, daß Gott mit mir ist, und ich rechne auf völligen Sieg über T^den geistigen Feind.

So weit über die Frage des Vorrechts. Laßt uns jetzt für einen Augenblick die Verantwortlichkeit betrachten.

„Und die Amtleute sollen mit dem Volke reden, und sagen: Wo jemand ist, der ein neues Haus gebaut hat, und hats noch nicht eingeweiht, der gehe hin und kehre wieder zu seinem Hause, auf daß er nicht sterbe im Kriege, und ein anderer -weihe es ein. Und wo jemand ist, der einen Weinberg gepflanzt hat, und hat ihn noch nicht gemein gemacht, der gehe hin und kehre wieder zu seinem Hause, daß er nicht im Kriege sterbe, und ein anderer mache ihn gemein. Und wo jemand ist, der sich einem Weibe verlobt hat, und hat sie noch nicht heimgeholt, der gehe hin und kehre wieder zu seinem Hause, daß er nicht im Kriege sterbe, und ein anderer hole sie heim. Und die Amt­leute sollen weiter mit dem Volke reden und spre­chen: Wo jemand ist, der sich fürchtet und ein ver­zagtes Herz hat, der gehe hin und kehre wieder zu seinem Hause, auf daß nicht auch seiner Brüder Herz feig werde, wie sein Herz ist. Und wenn die Amtleute ausgeredet haben mit dem Volke, so sollen sie Haupt­leute an des Volkes Spitze stellen" (V. 5—9).

Eine ungemeine Schönheit liegt in der Ordnung, in welcher der Priester und die Amtleute in dieser Stelle eingeführt werden. Der Erstere ist der Verwalter von Israels Vorrechten; der Letztere von Israels Verantwortlichkeit. Aber wie wichtig ist es, zu sehen, daß zu­erst der Priester sie mit ihren köstlichen Vorrechten bekannt gemacht hatte, ehe es den Amtleuten erlaubt wurde, die Gemeinde auf ihre

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 große Verantwortlichkeit hinzuweisen. Stelle dir den umgekehrten Fall vor! Denke dir, des Amtmanns Stimme wäre zuerst gehört worden, was würde die Folge davon gewesen sein? Furcht, Niedergeschlagenheit und Verzagtheit. Verantwortlichkeit zu übernehmen, ehe ich meine Stellung kenne — Gesinnungen der Liebe verlangen, ehe ich in der Familie bin — das heißt ein unerträgliches Joch auf den Nacken wer­ten, eine unleidliche Last auf die Schulter legen. Dies ist Gottes Weise nicht. Wenn du vom 1. Buch Mose bis zur Offenbarung suchst, so wirst du finden, ohne eine einzige Ausnahme, daß die göttliche Ordnung ist: Vorrecht und Verantwortlichkeit, und nicht: Ver­antwortlichkeit und Vorrecht. Stelle mich auf den Fels des Vorrechte, und ich bin im Stande, meine Verantwortlichkeit zu verstehen und zu erfüllen; aber wenn du mir von Verantwortlichkeit redest, während ich noch in der Grube des Verderbens, in dem Schlamm der Gesetzlichkeit oder in dem Sumpf der Verzweiflung liege, so raubst du mir dadurch alle Hoffnung, jemals zu jener heiligen Höhe erhoben zu werden, auf welche das Sonnenlicht göttlicher Gunst sich in lebendigem Glänze er­gießt, und wo allein Pflichten, zum Ruhme des Namens Jesu, erfüllt werden können.

Es gibt manche, welche von „Bedingungen des Evangeliums" zu uns reden. Wer hörte aber je von einer frohen Botschaft, die von Bedingungen umzäunt war? Wir kennen Bedingungen des Geset­ze s ; aber ein Evangelium mit Bedingungen ist ein anderes Evan­gelium, als Paulus uns gebracht hat (Gal. 1. 6—7), so es doch kein an­deres gibt. Bedingungen, welche durch das Geschöpf erfüllt werden müssen, gehören nicht zu dem Evangelium sondern zum Gesetz. Der Mensch ist unter allen nur möglichen „Bedingungen" auf die Probe gestellt worden. Und was ist der Ausgang gewesen? Übertretung! Ja, Übertretung allein — Übertretung beständig. Der Mensch ist eine Ruine — ein Wrack — ein Bankerott, Welchen Nutzen kann es irgend­wie haben, einen solchen unter Bedingungen zu stellen, selbst wenn man diesen den ungereimten Namen „Bedingungen des Evangeliums" beilegen sollte. Gar keinen Nutzen! Der Mensch kann sich unter jeder Art von Bedingungen nur als untreu beweisen. Er ist in der Waage gewogen und zu leicht erfunden worden. Er ist gerichtet worden — Wurzel samt Zweige. „Diejenigen, die im Fleische sind, können Gott nicht gefallen"(Röm. 8, 8). Dies heißt nicht:

„Diejenigen, die im Leibe sind"; sondern: „im Fleische". Aber der Gläubige ist nicht im Fleische, obschon er im Leibe ist. Er wird nicht betrachtet, als stehend in der alten Schöpfung — in dem Zustande des alten Adams, in welchem er versucht und gerichtet worden ist. Christus ist hernieder gekommen und unter dem vollen Gewicht der Schuld des Menschen gestorben. Er hat die Stelle des Sünders mit all dessen Verbindlichkeiten eingenommen, und hat durch Seinen Tod alles und jedes in Ordnung gebracht. Er lag im Grabe, nachdem Er jedem Anspruch Genüge geleistet und jeden Feind zum Schweigen gebracht hatte: Gerechtigkeit, Gesetz, Sünde, Tod, Zorn, Gericht, Satan und alles, was gegen den Menschen war. Da lag der göttliche Bürge in dem schweigsamen Grabe, und Gott trat ins Mittel, erweckte Ihn vom Tode auf, setzte Ihn zu Seiner Rechten in den Himmel, sandte

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 den Heiligen Geist herab, um von einem auferstandenen und erhöh­ten Erlöser zu zeugen, und um mit Ihm, dem Auferstandenen und Er­höhten, alle zu vereinigen, welche an Seinen Namen glauben.

Hier gelangen wir dann zu einem gänzlich neuen Grunde, um darauf zu stehen vor unserem Gott. Wir vermögen jetzt dem „Amt­manne" zuzuhören, wenn er uns die Anforderungen Christi an alle, welche mit Ihm vereinigt sind, kund tut. Der Priester hat zu uns ge­sprochen, und uns den unvergänglichen, festen Grund mitgeteilt, auf welchem wir stehen, die unzerstörbare Verwandtschaft, in welche hin­ein wir wiedergeboren sind; und nun sind wir in der Lage, auf die Worte Desjenigen zu lauschen, welcher vor uns steht, als der Verwal­ter unserer hohen und heiligen Verantwortlichkeit. Wäre der „Amt­mann" zuerst gekommen, so hätten wir seine Gegenwart fliehen müs­sen, entmutigt und zu Boden geworfen durch das Gewicht und den Ernst seiner Worte, und wären zu der verzweifelten Frage getrieben worden: „Wer kann dann selig werden"? Aber nachdem der „Priester" — der Vermittler der Gnade — der Verwalter des Vorrechts

— unsere Füße auf den Grund der neuen Schöpfung gestellt, und un­sere Herzen durch die Entfaltung der freien, unbedingten Gnade, in welcher wir stehen, gestärkt hat, vermögen wir den „G e b o t e n" des „Amtmanns" zuzuhören und finden sie „nicht schwer", weil sie vom Thron der Gnade an uns ergehen

Und was sagt der „Amtmann" zu uns? Dieses ists: „Niemand, der Kriegsdienste tut, verwickelt sich in Beschäfti­gungen des Lebens, auf daß er dem, der ihn ange­worben, gefalle" (2. Timoth. 2, 4). Dies ist die Summe und der Inhalt der Botschaft des „Amtmanns". Er verlangt von den Streitern Gottes eine völlige Hingabe des Herzens. Es ist dies nicht eine Frage der Errettung, oder ob man ein Kind Gottes, ein wahrer Israelit sei;

es ist einfach eine Frage der Fähigkeit für einen treuen Kriegsdienst;

und klar ist es, daß ein Mann nicht wohl streiten kann, wenn sein Herz verflochten ist mit „einem Hause" — „e i n e m W e i n b e r g e"

— „einem Weibe".

Auch war es nicht eine Frage, ob man solche Dinge besitzen dürfe oder nicht; keineswegs. Tausende von denen, welche auszogen, um das Schlachtfeld zu betreten und Siegesbeute zu sammeln, hatten Häuser und Äcker und Familien. Die Amtleute hatten keine Einwendung ge­gen den Besitz dieser Dinge zu erheben; der einzige Punkt, um den es sich handelte, war, nicht mit denselben verflochten zu sein. Der Apo­stel sagt nicht: „Niemand, der Kriegsdienste tut, läßt sich in die Be­schäftigungen dieses Lebens ein." Hätte er dies gesagt, so müßten wir alle im Müßiggang und in der Einsamkeit leben, während er uns an­derswo bestimmt erklärt, daß, „w er nicht arbeiten will, auch nicht essen soll." Der große Gegenstand, um den es hier sich han­delt, ist, das Herz unverflochten zu halten. Gottes Streiter müssen freie Herzen haben, und der einzige Weg, um frei zu sein, ist: alle unsere Sorgen auf Den zu werfen, Der für uns sorgt. Ich kann auf dem Kampfplatz mit einem freien Herzen stehen, wenn ich mein Haus, meinen Weinberg und mein Weib in die göttliche Ob­hut gestellt habe.

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 Aber dann müssen die Streiter Gottes auch mutige Herzen haben, ebensowohl wie freie Herzen. „Die Furchtsamen und Feig­herzigen" können nimmer im Streite stehen, oder den Lorbeer des Sieges davon tragen. Unsere Herzen müssen sowohl von der Welt los und ledig, als auch durch ein kindliches Vertrauen auf Gott mutig sein;

und möge es wohl bedacht werden, daß diese Dinge nicht „Bedin­gungen des Evangeliums", sondern „Folgen des Evangeliums" sind — ein sehr wichtiger Unterschied! Welch ein Irrtum, von den Be­dingungen der frohen Botschaft zu sprechen! Dies heißt nichts anderes, als den alten Sauerteig der Gesetzesgerechtigkeit in einer neuen und sonderbaren Form wieder aufzurichten, und ihn mit einem Namen zu belegen, der in sich selbst einen Widerspruch einschließt. Wenn jene köstlichen Trauben, welche die Frucht der Vereinigung mit dem lebendigen Weinstock sind, dargestellt werden als die notwendigen Bedingungen dieser Vereinigung — was muß dann aus dem Sünder werden? Wo sollen wir Früchte tragen, als allein in Christo? Und wie werden wir mit Christo vereinigt? Durch Bedingungen? 0 nein, sondern durch Glauben.

Möge der Heilige Geist meinen geliebten Leser über die göttliche Ordnung der Dinge recht erleuchten, nämlich: „Vorrecht und Verantwortlichkeit."

Kolosser 4 Epaphras.

(Kol. 4, 12) Es gibt einen höchst auffallenden Unterschied zwischen den inspi­rierten Berichten über das Volk Gottes und allen menschlichen Biogra­phien. Von jenen kann in Wahrheit gesagt werden: „Viel in Weni­gem;" während man oft von diesem sagen muß: „Wenig in Vielem." Die Geschichte eines alttestamentlichen Heiligen — eine Geschichte, die sich über eine Periode von 365 Jahren erstreckt, ist in zwei kurzen Sätzen zusammengefaßt. „Henoch wandelte mit Gott; und er war nicht, denn Gott nahm ihn hinweg" (1. Mos. 5, 24). Wie kurz! Aber doch wie voll! wie umfassend! Wie viele Blätter würde der Mensch mit der Auf­zeichnung eines solchen Lebens gefüllt haben? Und doch, was würde mehr gesagt werden können? Zu wandeln mit Gott, umfaßt alles, was möglicherweise von jemand gesagt werden kann. 

Ein Mensch mag um die ganze Erde reisen, mag in jedem Erdstrich das Evangelium predi­gen, mag für das Werk Christi leiden, mag den Hungrigen speisen, den Nackten kleiden, den Kranken besuchen, mag lesen, schreiben, drucken und verbreiten — kurz, er mag alles tun, was je getan ist oder getan werden könnte, so läßt sich doch dies alles in dieses kurze Sätzchen zusammenfassen: „Er wandelte mit Gott." Und glücklich für ihn, wenn es so zusammengefaßt werden kann. Es kann jemand beinahe alles tun, was vorhin aufgezählt worden ist, und doch nicht eine einzige Stunde mit Gott wandeln — ja, er mag nicht einmal verstehen, was es heißt, mit Gott zu wandeln. Der Gedanke darüber ist höchst ernst und praktisch. Es würde uns zu der eifrigen Ausübung des verborge­nen Lebens führen, ohne welches der glänzendste Dienst sich nur als Flachs und Rauch erweisen wird.

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 Die Art und Weise, in welcher der Name des Epaphras zu unserer Beachtung in das Neue Testament eingeführt ist, enthält etwas beson­ders Belehrendes. Die Anspielungen auf ihn sind sehr kurz; aber sehr bestimmt und kraftvoll. Er scheint einer von denen gewesen zu sein, die wir auch in gegenwärtiger Zeit so sehr bedürfen. Seine Arbeiten, so weit der inspirierte Schreiber sie aufgezeichnet hat, scheinen nicht sehr glänzend oder anziehend gewesen zu sein. Sie waren nicht berech­net, um dem menschlichen Auge zu begegnen, oder das menschliche Lob hervorzurufen; aber sie waren höchst köstlich, unvergleichlich, unschätzbar. 

Es waren Arbeiten im verborgenen Kämmerlein — Ar­beiten innerhalb der verschlossenen Tür — Arbeiten im Heiligtum — Arbeiten, ohne welche alle die übrigen sich als unfruchtbar und wertlos erweisen müssen. Er ist durch den inspirierten Biographen nicht vor uns hingestellt als ein gewaltiger Prediger, als ein fleißiger Schreiber, als ein großer Reisender, obgleich er dies gewesen sein mag, und wel­ches alles an seinem Platze recht schätzbar ist; doch der Heilige Geist hat uns wenigstens nicht mitgeteilt, daß Epaphras einer von jenen war. Er hat diesen, einfachen, anziehenden Charakter vielmehr in einer Weise vor uns hingestellt, die berechnet ist, die Tiefen unseres moralischen und geistlichen Seins in Bewegung zu bringen. Er hat ihn vor uns hin­gestellt als einen Mann des Gebets — des ernsten, inbrünstigen und ringenden Gebets — des Gebets, nicht für sich selbst, sondern für Andere. Laßt uns das Zeugnis des Geistes über ihn mit aller Aufmerk­samkeit betrachten:

„Es grüßen euch Epaphras, der von euch ist, ein Knecht Christi, allezeit ringend für euch in Gebe­ten, auf daß ihr stehet vollkommen und vollendet in allem Willen Gottes. Denn ich gebe ihm Zeugnis, daß er große Mühe um euch, und um die zu Laodicäa und um die zu Hierapolis hat" (Kol. 4, 12. 13). Ein solcher war Epaphras. 0 möchten in unseren Tagen Hunderte ihm gleich sein! Wir sind dankbar für Prediger, dankbar für Schreiber, dankbar für Reisende in der Sache Christi; aber wir bedürfen Männer des Gebets, Männer im verborgenen Kämmerlein, Männer gleich Epaphras. Wir sind glück­lich, die Füße derer zu sehen, die Christum verkündigen — glücklich, sie befähigt zu sehen, die Feder eines fertigen Schreibers in dieser edlen Sache fleißig zu handhaben — glücklich, sie in wahrem evange­lischem Geiste ihren Weg „über uns weiter hinaus" nehmen zu sehen — glücklich, sie in dem wahren Geiste eines Hirten wieder und wieder hingehen zu sehen, um in jeder Stadt ihre Brüder zu besuchen.

 Gott behüte, daß wir solche ehrenvolle Dienste unterschätzen oder verklei­nern sollten; ja, wir schätzen sie höher, als Worte auszudrücken ver­mögen. Doch in allem bedürfen wir einen Geist des Gebets, — des ern­sten, inbrünstigen und ringenden Gebets. Ohne dieses kann nichts ge­deihen. Ein gebetsloser Mann ist ein kraftloser Mann; ein gebetsloser Prediger ist ein unnützer Prediger; ein gebetsloser Schreiber wird un­fruchtbare Schriften hervorbringen; ein gebetsloser Evangelist wird nicht viel Gutes stiften; ein gebetsloser Hirte wird nur wenig Nahrung für die Herde haben. Wir bedürfen Männer des Gebets — Männer gleich

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 Epaphras — Männer, deren Kämmerlein von ihren ringenden Arbei­ten Zeugnis gibt. Dies sind ohne Frage die rechten Männer für die gegenwärtige Zeit.

Es gibt unermeßliche Vorteile, welche die Arbeiten des Kämmer­leins begleiten — Vorteile ganz eigentümlicher Art, sowohl für die, die damit beschäftigt sind, als auch für diejenigen, für welche diese Be­schäftigung geschieht. Es sind ganz ruhige, nicht lästige Arbeiten. Sie werden in der Zurückgezogenheit, in der heiligen, alles unterwerfenden Einsamkeit der göttlichen Gegenwart betrieben, ohne von dem mensch­lichen Auge gesehen zu werden. Wie wenig würden die Kolosser von dem lieblichen und eifrigen Arbeiten des Epaphras gewußt haben, wenn der Heilige Geist sie nicht erwähnt hätte. Es ist möglich, daß sogar einige von ihnen ihn in der eifrigen Sorge für sie für unzulänglich ge­halten haben.

 Es ist zu vermuten, daß es dort Personen gab, wie es auch jetzt solche gibt, welche die Sorge und die Sympathie eines Mannes nach seinen Besuchen oder Briefen abmessen. Allein dies würde ein falsches Kennzeichen sein. Sie müßten ihn auf seinen Knien sehen, um seine Sorge und Sympathie in Wahrheit ermessen zu können. Die Reise­lust könnte mich nach London und nach Paris führen, um die Brüder zu besuchen; die Schreiblust könnte mich leiten, Briefe nach allen Orten hinzusenden. Aber nichts, als eine Liebe für die Seelen, eine Liebe für Christum, könnte je mich leiten für das Volk Gottes zu kämpfen, wie Epaphras tat, „daß sie in allem Willen Gottes vollkommen und voll­endet stehen möchten."

Die köstlichen Arbeiten des Kämmerleins erfordern keine spezielle Gabe, keine besonderen Anlagen, keine hervorstechende, geistige Be­gabung. Jeder Christ kann darin beschäftigt sein. Er mag nicht die Fä­higkeit haben, zu lehren, zu schreiben oder zu reisen; aber et kann be­ten. Man hört oft von einer Gabe des Gebets reden, ein Ausdruck, der höchst unpassend ist. Man versteht darunter nicht selten nur ein ein fließendes Vortragen gewisser, bekannter Wahrheiten, die das Ge­dächtnis behält und die Lippen aussprechen, und ist nur zu oft nichts weniger als ein Gebet. Das war nicht die Weise des Epaphras; das ist auch nicht das, was wir jetzt bedürfen und wonach wir uns sehnen. Wir bedürfen einen wirklichen Geist des Gebets; wir bedürfen einen Geist, der in die gegenwärtige Not der Kirche eintritt, der diese Not trägt und sie in beharrlicher, inbrünstiger und gläubiger Fürbitte vor den Thron der Gnade bringt; dieser Geist kann zu aller Zeit und in allen Umständen in Übung gebracht werden. 

Der Morgen, der Mittag, der Abend und die Mitternacht werden für den Arbeiter im verborge­nen Kämmerlein passend sein. Zu jeder Zeit kann das Herz mit Gebet und Flehen zum Thron der Gnade aufspringen. Das Ohr unseres Va­ters ist immer geöffnet, und Seine Gegenwart immer zugänglich. Wir mögen kommen, wann oder womit wir wollen, Er ist immer be­reit zu hören und immer bereit zu antworten. Er ist der Hörer, der Antwortgeber und der Freund des zudringlichen Gebets. Es gibt keine Sprache, die Er mehr liebt, als diese: „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!" Er Selbst hat gesagt: „Bitte — suche — klopfe an;" — „man soll zu jeder Zeit beten und nicht nachlassen." — „Alles, was

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 ihr irgend im Gebet bittet, glaubet, daß ihr es empfanget;" — „wenn jemanden von euch Weisheit mangelt, so bitte er von Gott." Diese Worte erleiden eine allgemeine Anwendung. Sie sind auf alle Kinder Gottes auszudehnen. Das schwächste Kind Gottes kann beten, kann wachen, kann eine Antwort empfangen und Dank sagen.

Ferner ist nichts so berechnet, uns ein tiefes Interesse für das Volk Gottes zu. geben, als die Gewohnheit des beständigen Gebets für sie. Epaphras war in einem hohen Grade mit Teilnahme erfüllt für die Christen zu Kolossä, für die zu Laodicäa und für die zu Hierapolis. Seine Teilnahme ließ ihn beten und seine Gebete erweckten und ver­mehrten diese Teilnahme. Jemehr Teilnahme wir für jemand haben, desto mehr werden wir für ihn beten; und jemehr wir beten, desto mehr wird unsere Teilnahme wachsen. 

Wenn wir für das Volk Gottes mit Gebet anhalten, so werden wir uns sicher an seinem Wachstum und an seiner Wohlfahrt erfreuen. Ebenso ist es in Betreff der Unbe-kehrten. Wenn wir dahin gebracht sind, für sie auf Gott zu warten, so wird ihre -Bekehrung mit der tiefsten Besorgnis gesucht; und wenn sie statt gefunden, mit ungeheuchelter Dankbarkeit begrüßt werden. Dieser Gedanke sollte uns reizen, dem Epaphras nachzuahmen, dem der Heilige Geist, in Verbindung mit seinen Gebeten für das Volk Gottes in den ehrenvollen Titel: „ein treuer Diener Christi" beigelegt hat (Kap. 1. 7).

Der höchste Beweggrund endlich, welcher dargestellt werden kann, den Geist des Epaphras in uns zu erwecken, ist die Tatsache, daß er in Übereinstimmung mit dem Geiste Christi ist. Dies ist der erhabenste Beweggrund. Christus ist für Sein Volk beschäftigt. Er wünscht, „daß sie in allem Willen Gottes vollkommen und vollendet stehen möch­ten", und diejenigen, welche im Gebet in Betreff dieses Gegenstandes vorangehen, haben das Vorrecht, die hohe Gemeinschaft mit dem gro­ßen Vermittler oder Fürbitter zu genießen. Wie wunderbar, daß es armen, schwachen Geschöpfen hier unten erlaubt ist, über das zu beten, was die Gedanken und das Interesse des Herrn der Herrlichkeit so völlig in Anspruch nimmt! Welch ein mächtiges Band war zwischen dem Herzen des Epaphras und dem Herzen Christi, wenn jener in­brünstig arbeitete für seine Brüder zu Kolossä!

Geliebte Brüder, laßt uns das Beispiel des Epaphras erwägen; laßt es uns nachahmen! Laßt uns im Gebet für die Christen inbrünstig be­schäftigt sein. Wir leben in einer höchst ernsten Zeit — in einer Zeit, worin Männer, wie Epaphras, ein dringendes Bedürfnis sind — Män­ner, die bereit sind, für das Werk des Herrn auf ihren Knien zu ar­beiten oder die edlen Bande des Evangeliums, wenn es sein sollte, zu tragen. Ein solcher war Epaphras. Die erste Kunde, welche wir über ihn haben, zeigt uns ihn als einen Mann des Gebets (Kol. 4, 12) und die letzte als einen Gefährten in den Banden mit dem so völlig erge­benen Apostel der Heiden (Philem. V. 23).

0 möge der Herr unter uns einen Geist des ernstesten Gebets und der anhaltensten Fürbitte erwecken; ja, möge Er recht viele solcher erwecken, die im Geiste des Epaphras für das Werk des Herrn arbeiten! Dies sind die Männer, welche die gegenwärtige Zeit so sehr bedarf. —

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Hebräer 2 Wir sehen aber Jesum

(Hebr. 2.9)

Es ist sehr lehrreich, beim Lesen der Evangelien zu bemerken, daß uns darin nicht ein System von Lehren vorgestellt ist, sondern eine lebendige Person,, sogar der Herr Jesus Christus, der Sohn Gottes. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns — und wir haben Seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingebornen von [Seinem] Vater — voller Gnade und Wahrheit" (Joh. 1. 14). In den ein­fachen, aber lebendigen und äußerst schönen Erzählungen der Evange­listen lebt und webt Er vor uns. Wir hören Seine Worte der Gnade und sehen Seine Handlungen der Liebe. Die Jünger hingen an Ihm, und waren beschäftigt mit Ihm. Sie waren in mancher Wahrheit un­wissend; aber sie kannten Ihn, der die Fleisch gewordene Wahrheit ist, und welcher nun herniedergekommen unter die Menschen, als die lebendige Wahrheit und Gnade, offenbart war. So sagte Petrus für sich und die übrigen Jünger: „Herr! zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir glauben und wissen, daß Du der Christus, der Sohn Gottes bist" (Joh. 6, 68. 69). Ebenso ist es jetzt. Es ist wahr, der Herr Jesus ist „für unsere Sünden gestorben"; aber Er ist auch „wieder auferweckt". „Denn wenn wir, da wir Feinde waren, Gott durch den Tod Seines Sohnes versöhnt wurden, vielmehr werden wir, da wir versöhnt sind, durch Sein Leben errettet werden" (Röm. 5, 10). Das Auge des Glaubens ist nicht auf einen gestorbenen Christus, sondern auf einen auferstandenen, lebendigen und verherr­lichten Heiland gerichtet.

Die beständige Bemühung Satans ist, unsere Gedanken und Herzen von Christo abzuziehen. Wie leicht ist es, mit Satzungen, Lehren, oder sogar mit unserem Dienst für Christum beschäftigt zu sein, anstatt in einer beständigen und unmittelbaren Gemeinschaft mit Jesu Selbst einherzugehen. Es wird oft mehr an das Juwelenkästchen gedacht, als an die Juwelen, und das Kleid mehr beobachtet, als die Person. Doch die wahre Segnung der Seele wird darin gefunden, daß das Auge des Glaubens unverrückt auf die herrliche Person unseres Herrn Jesu Christi, gerichtet bleibt. „Wir aber alle, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden in dasselbe Bild ver­wandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist (2. Kor. 3, 18).

Vor ungefähr sieben Jahren wurde in dem Dorfe C. für die Predigt des Evangeliums und Auslegung der heiligen Schrift ein Zimmer ge­öffnet. Unter denen, welchen der Herr das Herz auftat, um auf Sein Wort acht zu haben, war J. B. Die einfache Auslegung des Wortes Gottes war etwas ganz neues für sie; aber der Erfolg bewies, daß der Herr dies gebraucht hatte, ihrem Geiste eine neue Gedankenrichtung zu ge­ben, und sie fand einen reichen Segen darin. Nach einiger Zeit vereinte sie sich in Gemeinschaft mit dem Volke Gottes am Tische des Herrn;

doch konnte sie der Entfernung und ihrer Kränklichkeit wegen nicht regelmäßig daran teilnehmen. Es kam endlich ihre letzte Krankheit, und in dieser Zeit öffnete sie mehr ihr Herz, und war fähig, die emp­fangene Gnade zu offenbaren. Bei einer Gelegenheit sagte sie': „Bevor

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 ich so einfach das Wort Gottes darstellen hörte, kannte ich die Lehre;

aber da erst fand ich den Herrn Selbst." Das war das Geheimnis ihrer Kraft. Sie konnte sich in Dem erfreuen, der gestorben und auf-i erstanden war und wiederkommen wird. Ihre Leiden waren groß; aber ihr Friede des Herzens war beständig, und ihre geduldige Unterwürfig­keit in den Willen Gottes dauerte bis ans Ende.

Noch später öffnete der Herr ihr das Herz, um „Jene gesegnete Hoffnung" zu erfassen: die Wiederkunft des Herrn Jesu Christi in Herrlichkeit, um Seine Versammlung zu Sich zu nehmen, und zu re­gieren über Israel und über die ganze Erde. Inmitten ihrer Leiden suchte sie Belehrung in dieser erfreuenden und belebenden Wahrheit über Den, den sie gefunden hatte.

Geliebter Leser, glaubst du auch an den Sohn Gottes? Kannst du zu Ihm aufschauen und sagen: „Mein Heiland, mein Herr, und mein Gott?" Wenn nicht, so höre Ihn jetzt zu Dir sagen: „Komm, siehe und lebe." Vergebung und Errettung von Sünden werden allein in Seiner kostbaren Blutvergießung gefunden; und wenn du dich Ihm gänzlich übergibst, so wird Er dein Leben, deine Gerechtigkeit und dein herr­licher Hoherpriester droben in der Gegenwart Gottes sein. Bist du aber schon durch Glauben an Jesum, den Sohn Gottes, lebendig ge­worden, so erlaube mir diese Frage: Suchst du eine tägliche und bestän­dige Gemeinschaft mit Ihm? Ruft dein Herz: „Komm, Herr Jesu; komm bald, Du glänzender Morgenstern?" Amen, „ja, komm, Herr Jesu!"

Johannes 10 Die Hand des Hirten.

(Joh. 10, 28, 29)

In dem Evangelium Johannes finden wir einen großen Trost in diesen Tagen der Verwirrung. Der Dienst ist hier unbeschränkt und frei. Der Herr arbeitet allein und zwar auf einem Schauplatze aner­kannten Abfalles. Die Seinigen, zu denen Er gekommen, hatten Ihn nicht aufgenommen; die Welt, die Er geschaffen, kannte Ihn nicht; Er war von allem ausgeschlossen. Aber in diesem Zustande rief Er Seine Schafe zu Sich. Er findet sie hier und dort. Allen Orten in der. Wüste widmet Er Seine Tätigkeit, es sei Samaria, oder Judäa. Er beschäftigt Sich mit Seelen unmittelbar, persönlich, im Stillen und in der Einsam­keit. Er beschäftigt Sich persönlich mit ihnen: „So viele Ihn aber annahmen, denen gab Er das Recht, Kinder Gottes zu werden" (Joh. 1. 12). Er ging zu ihnen ein durch die Tür, indem Er aus dem Schöße Seines Vaters auf dem Wege der Gnade zu Sündern kam. Die Schafe wurden durch einen Charakter unterschieden: ihre Ohren waren durch den Geist geöffnet, um die Stimme Dessen zu hö­ren, der zu ihnen kam durch Gnade vom Vater mit Worten des Lebens und des Heils.

In dieser Weise finden wir es in den ersten Kapiteln dieses Evan­geliums, wo uns der Dienst des Herrn mitgeteilt wird. Wir sehen die, welche Er findet und um sich versammelt, lebendig werden, um Seine Stimme zu hören und Ihm zu folgen. Dem Andreas, dem Petrus, dem Philippus und dem Nathanael (Kap. l), der Samariterin (Kap. 4), dem

 

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 überzeugten Sünder (Kap. 8), dem blinden Bettler (Kap. 9), — allen diesen sind Ohren gegeben, um hören zu können, und alle haben, so zu sagen, ihre Ohren horchend gelehnt an Seine Türpfosten. Mit anderen Worten, ihre Herzen sind befestigt, .ihre Gedanken auf einem Punkte vereinigt, ihr Vertrauen ist gegründet; und Er ist der Gegenstand aller. Alle ihre Bedürfnisse sind an Sein Herz niedergelegt.

Sie hören, sie kennen Seine Stimme, sie folgen. Dieses Hören ist des Sünders Weisheit, des Sünders Errettung. Er ist weise, stille zu sein; denn er kann nichts zu seinen Gunsten sagen, er ist, ohne zu reden, errettet, wenn er die Gelegenheit ergreift, auf Jesum zu hören. Und in dieser Stellung befanden sich jene. Sie hören, sie kennen Seine Stimme, sie folgen. Der eine hat schneller gehört, als der andere; aber das tut nichts; ihre Ohren sind geöffnet für Ihn.

Man sieht sie nicht zusammen verbunden; aber ein jeder ist um Ihn versammelt. Wir finden einen sich frei bewegenden Dienst; und die Auserwählten werden nicht zusammen verbunden gesehen; es sei denn in dem Charakter, den ich bezeichnet habe, daß nämlich jeder ein Ohr habe, die Stimme dieses Hirten zu hören, der durch die Tür eingegangen und aus dem Schöße des Vaters gekommen ist, um Seine Werke zu tun und Seine Worte zu reden.*)

In solchem Charakter tritt in den ersten Kapiteln des Ev. Johannes der Herr in Gnade auf jeden Schauplatz. Dieses ist sehr leicht zu sehen. Er betritt den Platz, wo Andreas und seine Genossen Ihm als dem Lamme Gottes begegnen. Er geht ein in die Gedanken des in der Einsamkeit sich befindenden Nathanaels, als der Einzige, der für denselben den Himmel öffnen kann; Er geht ein in die Gedanken des Nikodemus, als der Einzige, den der Vater zur Hei­lung und zum Leben gesandt hat. Er tritt vor das Gewissen der Samariterin als die Gabe Gottes. Er steht vor dem Kranken zu Bethesda, als dessen unmittelbarer Arzt, wirkend nach dem Vorbilde Seines Vaters. Er tritt unter die Menge als der Gesalbte des Vaters, um der Welt das Leben zu geben. Er begegnet der Schuld des überzeugten Sünders als das Licht des Lebens. Er begegnet der Blindheit des armen Bettlers als das Licht der Welt.

Also eingehend durch die Tür als der Hirte der Schafe, errettet und segnet Er, macht lebendig und weist alle anderen zurück. Er will weder Richter, noch König sein, weder Seine Macht entfalten, noch Sich Selbst einen Namen in dieser Welt verschaffen. Er kam aus dem Schöße des Vaters; Er offenbarte den Vater; Er war voll Gnade und Wahr­heit; und zu der Herde eingehend, war Sein einziger Zweck, zu segnen.

Und weiter muß ich bemerken, daß Er ihnen in allen Zuständen begegnete; dem einen heute, dem anderen morgen. Wir finden also in den ersten Kapiteln des Ev. Johannes einen sich frei bewegenden, un­begrenzten Dienst. Er bildet kein Ganzes aus ihnen. Durch Ihn gehen

*) Der Leser muß wohl bedenken, daß das oben Gesagte allein auf die ersten Kapitel des Ev. Johannes Bezug hat. In der Apostelgeschichte und in den Episteln wird uns gezeigt, daß die Gläubigen zusammengefügt wer­den mußten. „Es ist Ein Geist und Ein Leib" hier auf der Erde.

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 sie zur Tür ein und finden Errettung und Weide und Leben in Über­fluß. Aber eine Herde und ein Hirte ist es. Er bringt sie weder um die Stiftshütte, noch bringt Er sie unter die Schatten des Libanons. Läßt Er sie dann aber unbeschützt? Werden sie versammelt, um Ge­fahren ausgesetzt zu sein? Im 10. Kapitel, wo wir Seine eigene Erklä­rung über Seinen Dienst finden, beantwortet Er diese Frage. Er sagt uns, daß sich, wiewohl Seine Schafe nach Seiner freien Weise versam­melt sind, dieselben auf einem Platz ewiger Sicherheit befinden. Sie waren gefunden in einer Welt voll Abfall, auf einem Schauplatz unend­licher Verwirrung, in einer pfadlosen Wüste, wo Tod und Finsternis herrschten, und wo alle Fundamente morsch waren. Der Herr hatte etliche in Samaria, etliche in Galiläa, etliche in Judäa gefunden; und versammelt um Ihn, hatte Er ewige Ruhe und Sicherheit für sie. Sie sind zu Ihm Selbst gekommen und haben dort einen Platz gefunden voll Kraft — eine Festung, einen starken Turm, einen unerschütter­lichen Felsen, der allen Angriffen der Feinde trotzt. Es ist Seine eigene Hand und des Vaters Hand. Ein sicherer Platz! Eine Herde, durch diese Hand festgehalten, ist für ewig geborgen. Niemand kann sie aus Seiner Hand reißen.

Noch einmal sage ich: in diesem allen liegt für uns ein großer Trost;

denn wir befinden uns auf einem Schauplatz voll Verwirrung und Ab­fall, wie der Dienst des Herrn im Ev. Johannes uns sehen läßt. Das Werk Christi durch Seinen Geist und Sein Evangelium ist jetzt ebenso unumschränkt und frei, wie damals. Seine Auserwählten werden überall gefunden; aber sie haben Ohren empfangen, um Seine Stimme zu hören. — Ohren, die horchend an Seine Türpfosten gelehnt sind. Sie sind um Ihn versammelt, um Heil, Weide und Leben im Überfluß zu finden und werden gehalten durch die unbesiegbare Stärke Seiner und des Vaters Hand.

Möchten wir, geleitet durch den Geist, und belehrt durch das Wort, unseren Platz in der Versammlung Christi einnehmen, wie wir den­selben hier in der Hand Christi sehen! Mochten wir denselben nicht allein erkennen, sondern Gnade empfangen, unsere Berufung zu ge­nießen und vor Ihm zu wandeln, der als Haupt über alles der Ver­sammlung gegeben ist!

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1.Korinther Betrachtung

Einleitung

Der erste Brief an die Korinther behandelt mancherlei Gegen­stände, ganz verschieden von denen, die uns im Briefe an die Römer beschäftigt haben. Er behandelt weder die Fundamental-Wahrheiten des Christentums, das Werk Christi, noch die gesegneten Resultate die­ses Werkes, sondern spricht fast ausschließlich von dem Zustande der Versammlung, von ihren Mängeln und Gebrechen.

So sehr man nun auch bei Betrachtung dieses Briefes auf der einen Seite durch die traurige Schwachheit des Menschen, der in jedem Verhältnis zu Gott gefehlt hat, niedergebeugt wird, ebenso sehr ist er auf der anderen Seite ein köstliches Zeugnis von der unfehlbaren Liebe und Treue Gottes, der die Seinigen selbst in dem beklagenswertesten Zustande nicht versäumt, sondern sie mit aller Geduld und Sanftmut in Dingen unterweist, deren Erkenntnis man bei jedem nüchternen und geistlichen Herzen voraussetzen darf; und gerade dieses macht den vor­liegenden Briet so überaus wertvoll. 

Behandelt er auch speziell die Zu­stände der Versammlung zu Korinth, gibt er auch hie und da über Ge­genstände Belehrungen — wie z. B. über das Verhalten in Bezug auf das Essen der Götzenopfer, und über das Reden in fremden Sprachen usw. — die wir auf die jetzigen Zustände nur grundsätzlich an­wenden können, so finden wir doch in diesem Briefe für alle Zeiten, und besonders auch für die gegenwärtige, gesegnete Belehrungen über die innere Ordnung der Versammlung Christi und über die verschiede­nen Beziehungen und Pflichten der einzelnen Glieder gegeneinander.

Was war nun die Veranlassung zum schreiben dieses Briefes? — Zur Beantwortung dieser Frage ist es zunächst nötig, den Zustand der Versammlung etwas näher kennen zu lernen.

Korinth war eine der reichsten und blühendsten Handelsstädte von Achaja. Paulus kam auf seiner zweiten Missionsreise dorthin, (Apstgesch. 18) kehrte bei einem Juden, Namens Aquila ein, der wie auch er Zeltmacher war, und lehrte ein Jahr und sechs Monate das Wort Gottes. Viele der Korinther, die das Zeugnis von Christus, dem Gekreuzigten, hörten, wurden gläubig; „denn der Herr hatte ein großes Volk in dieser Stadt." Doch der stets beschäftigte Feind des Werkes

 Gottes schlummerte auch hier nicht. Bald nach der Abwesenheit des Apostels tauchten in dieser so zahlreichen und durch mancherlei Gna­dengaben bevorzugten Versammlung allerlei Übel auf, die das geseg­nete Werk schon bald wieder zu zerstören drohten.

Zunächst begann der Geist der Weltweisheit, die in Korinth auf einer so hohen Stufe stand, seinen verderblichen Einfluß gel­tend zu machen, Streitigkeiten zu erwecken, Parteiungen hervorzuru­fen und somit die Versammlung ihres wahren Charakters, ihrer Ein­heit in Christo, zu berauben und die einfache, göttliche Wahrheit mit der heidnischen Philosophie zu vermengen. Schon war man bemüht, gewisse Systeme aufzustellen, wo der eine diesem und der Andere je­nem huldigte und entweder in Paulus oder in Apollos oder Kephas oder sogar in dem Herrn Selbst das Haupt seines Systems erkannte und ver­ehrte (Kap. 1. 12). Die unzähligen Parteien, in welche jetzt die Kirche Gottes auf der Erde zersplittert ist, liefern den traurigen Beweis, wie sehr, selbst unter den wahren Gläubigen, der menschlichen Weisheit gehuldigt wird und wie sehr es also dem Feinde gelungen ist, seinem verderblichen Werke, wozu er in der Versammlung zu Korinth den ersten Grund zu legen suchte, die weiteste Ausdehnung zu verschaffen.

 Und ach! so tief sind diese Grundsätze der Weltweisheit eingewurzelt, daß ihre traurigen Resultate in der Kirche Gottes auf Erden nicht nur wenig erkannt und bedauert werden, sondern daß selbst Gläubige die­sen verderblichen Machwerken des Feindes nicht selten das Wort reden, indem sie in den verschiedenen Parteien einen Vorteil für die allseitige Erkenntnis der Wahrheit zu erblicken meinen. Doch nicht so dachte der Apostel. Mit dem größten Ernst und mit der völligsten Entschieden­heit tritt er, namentlich in den ersten Kapiteln des vorliegenden Briefes, diesem schrecklichen Übel, welches die Versammlung so bald zu verder­ben drohte, entgegen, und sucht es in seinem ersten Keime zu ersticken;

und wenn er in Kap. 11, 19 sagt: „Es müssen Parteiungen unter euch sein", so sagt er dieses sicher nicht, um dieselben gut zu heißen, son­dern, wie er selbst hinzufügt: „damit die Bewährten unter euch offenbar werden" — nämlich jene, die sich nicht durch den Geist der heidnischen Philosophie, sondern durch den Geist Gottes leiten ließen und sich von allem Parteiwesen fern hielten.

Eine andere Gefahr drohte der korinthischen Versammlung i n d e r Einschieichung der Sittenverderbnis. Das, wegen seines großen Übermaßes sogar zu einem Sprichwort gewordene üppige und schwelgerische Leben in der reichen Stadt Korinth fing an, seinen ver­derblichen Einfluß auch auf die dortige Versammlung auszuüben und Viele zu verunreinigen. Namentlich war es die Sünde der Hurerei, ge­gen welche der Apostel so ernst und entschieden auftreten mußte. Er zeigte ihre gänzliche Verwerflichkeit vor Gott und ihre Verderben brin­gende Wirkung für die Heiligen Gottes, deren Stellung als Tempel Gottes und der Glieder Christi (Kap. 6, 15—19), durch diese Sünde völlig verunehrt und verleugnet wird.

Die dritte Gefahr endlich, welche die Versammlung zu Korinth be­drohte, war der Einfluß der falschen Lehrer, namentlich solcher, die aus dem Judentum waren. Diese suchten nicht nur Pauli Berufung und Autorität als Apostel, sondern auch die lautern Beweg­

 gründe in der Ausführung seines Amtes zu untergraben und zu verdäch­tigen und somit seine gesegnete Wirksamkeit zu vernichten. Dies Letz­tere war die unausbleibliche Folge des Ersteren. War das Ansehen und die lautere Absicht des Apostels bei den Korinthern in Frage gestellt, so war es auch sein Wort und sein Werk. Dieses stand und fiel mit je­nem. Aus diesem Grunde war der Apostel auch oft genötigt, sowohl in diesem, als auch in seinem zweiten Briefe, von sich selbst, von seinem Verhalten unter den Korinthern zu reden. Das köstliche Vorrecht der Gläubigen späterer Zeit bis jetzt, auch die Schriften des Neuen Testa­ments als Autorität und untrüglichen Prüfstein der Wahrheit zu be­sitzen, hatten natürlich jene noch nicht, und jemehr Gott durch Paulus in Betreff der Versammlung Segnungen offenbarte die im Alten Testa­ment nur dunkel angedeutet oder auch gar nicht kund gemacht waren (Kap. 15. 51. 52; Ephes. 3, 2—6), ein umso weiteres Feld hatten die jüdi­schen Irrlehrer, die schwachen Seelen zu berücken.

Heidnische Philosophie, Sittenverderbnis, beson­ders die Sünde der Hurerei, und falsche Lehre waren also die drei Hauptübel, wodurch der Feind bemüht war, seinen verderblichen Ein­fluß auf die Versammlung zu Korinth auszuüben und die gesegnete Wirksamkeit der Wahrheit zu zerstören. Wenn dort auch noch einige an­dere Übelstände vorhanden waren, so hingen diese doch mit jenen ge­nannten mehr oder weniger zusammen und waren meist nur ein Aus­fluß derselben.

Dies war also mit wenigen Worten der Zustand der korinthischen Versammlung, wie wir nachher aus dem Briefe selbst ersehen werden. — Paulus war in Ephesus, wo ihm der Herr eine große und wirkungs­volle Tür geöffnet hatte (Kap. 16, 9), als er erfuhr — teilweise „von Denen im Hause der Chloe" (Kap. 1. 11), teilweise durch umlautende Gerüchte (Kap. 5, l) und teilweise durch einen von den Korinthern an ihn geschriebenen Brief, worin sie sich über verschiedene Dinge von ihm Aufschluß erbaten (Kap. 7,1 etc.), — wie viel traurige Übel inmitten jener Versammlung vorhanden waren. Es war sein Plan gewesen, von Ephesus aus über Korinth nach Mazedonien zu reisen, und die Ver­sammlung sowohl auf seinem Hinwege, als auch, wenn er von dort zu­rückkam, zu besuchen, „damit sie", wie er selbst sagt, „eine doppelte Gnade hätten" (2. Kor. 1. 15. 16); allein wenn er unter den jetzigen Um­ständen hinkam, so war er genötigt, von seiner apostolischen Gewalt (2. Kor. 10, 2—6) Gebrauch zu machen, und unter seinen Kindern mit der Rute zu erscheinen (1. Kor. 1. 21); und dazu konnte seine väterliche große Liebe gegen sie sich nicht entschließen (2. Kor. 1. 23). Er schreibt ihnen einen Brief, und gedenkt erst auf seiner Rückkehr von Mazedo­nien sie zu besuchen (1. Kor. 16, 5), bis zu welcher Zeit er von seinem Briefe einen gesegneten Erfolg erwartete, um dann mit Freuden unter ihnen sein zu können. Welch eine schonende Zärtlichkeit zeigt uns dieses Benehmen des Apostels! Und zugleich nimmt der Heilige Geist von die­sen traurigen Zuständen in' Korinth Gelegenheit, der wunderbar lieb­lichen Kette der Offenbarung Gottes eine unschätzbare Perle hinzuzu­fügen.

Was nun die einzelnen Teile dieses Briefes betrifft, so ist ihre Unter­scheidung nicht schwer, weil der Übergang von dem einen Gegenstande

 zum ändern meist ganz deutlich hervortritt. — Ehe aber der Apostel mit den einzelnen Ermahnungen beginnt, ehe er irgend ein tadelndes Wort ausspricht, erwähnt er zuerst den unermeßlichen Reichtum der Gnade, womit Gott die Korinther schon gesegnet hatte, und noch ferner segnen würde. Diese Erwähnung und Anerkennung der empfan­genen Gnade von Kap. 1. l—9 bildet gleichsam die Einleitung zu diesem Briefe. Darnach spricht er in den vier ersten Kapiteln namentlich von dem Charakter des Dienstes, und indem er von den Spaltungen und der Weisheit dieser Welt redet, zeigt er deren völligen Gegensatz zu der Offenbarung und Weisheit Gottes. — In Kap. 5 spricht er von der Ver­derbnis der Sitten, und von dem Verhalten gegen solche Christen, die in offenbaren Sünden wandeln. — In Kap. 6 tadelt er das gegenseitige Rechten in Betreff der irdischen Angelegenheiten, und stellt die Ver­werflichkeit der Hurerei dar. Zugleich sehen wir in diesem Kapitel, wie der Apostel die höchsten Vorrechte der Christen in die niedrigsten Dienste einführt. — 

Das 7. Kapitel behandelt die Frage des Heiratens, spricht zuerst von der Verpflichtung Derer, die verheiratet sind und er­mahnt dann hauptsächlich, in der Stellung zu bleiben, in welche man berufen ist. — Kapitel 8 handelt vom Essen der Götzenopfer und stellt den allgemeinen Grundsatz fest, das schwache Gewissen nicht zu ver­letzen. — In Kap. 9 spricht der Apostel von seinem Amte, und daß er von seinem Rechte in demselben bei den Korinthern keinen Gebrauch gemacht und was ihn dazu veranlaßt habe. — Kapitel 10 zeigt, daß man mit der Kirche oder Versammlung, mit der Taufe und mit dem Abend­mahl in Verbindung sein und doch verloren gehen kann. Dann spricht er in demselben Kapitel von der Gefahr der Korinther, durch den Götzen­dienst oder durch die den Götzen geweihten Feste mißgeleitet zu wer­den, und bringt zum besseren Verständnis der Sache das Mahl des Herrn hinein. — In Kap. 11 haben wir das Verhalten in gottesdienstlichen Dingen, sowohl außerhalb der Versammlung (V. l—16), als auch inner­halb derselben (V. 17 u. f.). — Kapitel 12 spricht von dem wahren Cha­rakter und der Ausübung der geistlichen Gaben. — In Kapitel 13 zeigt der Apostel, daß die Liebe jede andere Gabe weit übertreffe. — Er fährt in Kapitel 14 damit fort und spricht dann zugleich von der rich­tigen Anwendung der Gaben. — In Kapitel 15 beweist er mit vielen Gründen die Lehre von der Auferstehung, die von Etlichen geleugnet wurde, und die überaus wichtigen Folgen derselben, und spricht am Schluß des Kapitels von der Verwandlung der bei der Ankunft des Herrn übrig gebliebenen Lebenden und von dem Triumph Derer, die durch Auferstehung oder Verwandlung des verweslichen Leibes von den letzten Folgen der Sünde, d. i. dem Tode, für immer befreit sind. — In Kapitel 16 endlich ermuntert der Apostel zu einer Kollekte für die Armen in Judäa, ermahnt die Korinther, Denen Untertan zu sein, welche ohne Berufung von Menschen, allein durch die Kraft des Heiligen Gei­stes, sich selbst zum Dienste der Heiligen verordneten und darin treu erfunden würden — eine wichtige Weisung für alle Zeiten — und schließt dann den Brief mit einigen Grüßen. — Kehren wir jetzt zum Anfange des Briefes zurück, um in den ganzen Inhalt etwas näher einzugehen.

Kapitel 1

„Paulus, berufener Apostel Jesu Christi durch Gottes Willen" (V. l). — In diesen Eingangsworten erinnert Paulus an das, was seinem Apostelamte die rechte Weihe und die wahre Autori­tät gab. Gott Selbst hat ihn mit diesem Amte betraut, und in diesem Bewußtsein verwaltete er es auch. — Der darauf folgende Gruß (V'. 2) zeigt uns dann die innige Beziehung der Versammlung zu Gott, ihre gesegnete Stellung vor Ihm in Christo, so wie auch den himmlischen Charakter ihrer Berufung. Er ist zugleich an alle wahren Anrufer des Namens Jesu Christi gerichtet, weil die überschwengliche Gnade Gottes in Ihm alle in dieselbe nahe und innige Verwandtschaft mit Gott ge­bracht hat, und weil in den speziellen Ermahnungen in Bezug auf die Zustände in der Versammlung zu Korinth nicht weniger allgemeine Grundsätze für die Christen aller Zeiten und aller Orte enthalten sind. Zugleich gibt uns dieser Gruß deutlich zu verstehen, womit es dieser Brief eigentlich zu tun hat: — Trennung von der Welt und ihren Grund­sätzen, Reinigung von der Sünde, besonders der Hurerei und Nicht­verehrung des Menschen. Als „Versammlung Gottes"' und Ge­heiligte in Christo Jesu" sind wir von der Welt und der Sünde abgesondert und haben unsere Stellung vor Gott in Christo; der Titel:

„berufene Heilige" bezeichnet den wahren Charakter unseres praktischen Wandels hienieden, und endlich ist „der Name u n s e r s ' Herrn Jesu Christi" allein der Gegenstand der Verehrung Aller.

So traurig und beklagenswert auch die Zustände in der korinthi­schen Versammlung sein mochten, so tastete dies doch nicht im min­desten ihre gesegnete Stellung vor Gott an, weil diese allein auf das vollendete Werk Christi gegründet und von nichts anderem abhängig war. Wir sind aber nur dann fähig, die Christen bei einem nachlässigen Wandel in dieser Stellung zu betrachten, wenn wir selbst recht nahe beim Herrn sind. Dies war Paulus, deshalb konnte er, in vollem Be­wußtsein der in Korinth eingerissenen Übel, die doch sein Herz mit tiefem Schmerz erfüllten, zu der Gnade Gottes zurückkehren und mit vollkommener Ruhe und Freimütigkeit von ihrer innigen Beziehung zu Gott und von dem Reichtum dieser Gnade reden, die in Christo Jesu so überströmend geworden war (V. 4. 5). Nichts war im Stande, ihn daran zu verhindern. Mochte es dem Feinde auch noch so sehr gelingen, die Heiligen in Korinth zu verwirren, zu schwächen und zu verunreinigen — hier war etwas, das er nicht schwächen noch verunreinigen konnte;

die Gnade Gottes in Christo Jesu gegen sie war unantastbar. Sie war zugleich die nie versiegende und reine Quelle, die den Mut und das Vertrauen des Apostels auch in dem traurigen Zustande der korinthi­schen Versammlung aufrecht erhielt und sein Herz ihretwegen mit stetem Dank gegen Gott erfüllte (V. 4). Ebenso bot sie ihm eine will­kommene Gelegenheit dar, seine Liebe, die er, wie er selbst sagt, na­mentlich zu den Korinthern hatte, und die auch in keinem der übrigen Briefe so deutlich ans Licht tritt, frei ausströmen zu lassen — alles zu sagen, was er für sie zu sagen hatte; und nichts war mehr geeig­net, ihm zu den Herzen der Korinther einen Weg zu bahnen, als diese Liebe.

 Das Fleisch möchte hier fragen: Wird aber dieses Bewußtsein der unveränderlichen Gnade nicht noch mehr zur Gleichgültigkeit Anlaß geben? Gewiß nicht; Denn wenn etwas fähig ist, die ganze Wirkung der Heiligkeit Gottes auf unser Gewissen zu tragen, der Sünde gegenüber Scham und Absonderung zu bewirken und unsere Herzen für die Er­mahnungen empfänglich zu machen, so ist es das Bewußtsein der un­umschränkten Gnade Gottes in Christo Jesu. Sind wir in die unmittel­bare Gegenwart Gottes gebracht, sind wir im Lichte dieser Gegenwart und im Bewußtsein unserer herrlichen und gesegneten Beziehungen zu Ihm mit unserer Sünde beschäftigt, so wird sie in Wahrheit weit tiefer und völliger erkannt, gefühlt und gerichtet werden, als unter den Schrecken Sinais; und zugleich ist das Bewußtsein, in einer so inni­gen und nahen Verwandtschaft mit Gott zu stehen, so überaus reich gesegnet zu sein, viel zu köstlich, als daß man noch länger in der Sünde vorangehen könnte.

Christus wird hier, so wie nachher, als der einzige Gegenstand der Seele, als der wahre Mittelpunkt aller Segnungen vorgestellt. In Ihm hatten die' Korinther alles empfangen; „inihmwaren sie inallem reich gemacht worden, in aller Rede und aller Er­kenntnis" (V. 5). In Erlangung dieser äußeren Gnadengaben: „Rede und Erkenntnis," war das Zeugnis von Christo durch die Kraft des Heiligen Geistes unter ihnen bestätigt worden (V. 6). Sie waren in keiner Gabe verkürzt worden; nichts mangelte ihnen mehr; sie „erwarteten die Offenbarung unseres Herrn Jesu Christi" (V. 7). Diese Erwartung war jetzt ihr gesegnetes Vorrecht; — Es ist selbstre­dend, daß hier der Apostel nicht speziell von der Aufnahme der Ver­sammlung spricht, weil er dies Geheimnis erst in Kap. 15 offenbart, son­dern von der Ankunft Christi im Allgemeinen zur Verherrlichung der Seinigen und zum Gericht der Welt.

Nachdem nun der Apostel mit wenigen, aber sehr lieblichen Wor­ten die den Korinthern so reichlich zuteil" gewordene Gnade ans Licht gestellt hat, spricht er auch ebenso einfach und bestimmt von der Treue Gottes gegen sie. Diese Treue war der Grund seines Vertrau­ens, wenn er an ihr Ausharren, an ihre Befestigung bis ans Ende dachte; denn er sagt: „Welcher euch auch bis ans Ende be­festigen wird, daß ihr an dem Tage*) unseres Herrn Je s u Christi untadel i g seid. Gott ist treu, durch wel­chen ihr in die Gemeinschaft Seines Sohnes Jesu Christi, unseres Herrn, berufen seid" (V. 8.9). — Gottes Treue war es also, welche die Heiligen zu Korinth befestigte, damit sie an diesem ersten und feierlichen Tage ohne Tadel dastehen möchten. Er Selbst hatte sie „in die Gemeinschaft Seines Sohnes Jesu Christi beru­fen," und Er war es auch, der diese Berufung völlig verwirklichte. An diese Gemeinschaft knüpfen sich alle unsere Segnungen. Gott bleibt stets uns, was Er auch Ihm ist. — Die Gnade und Treue Gottes

*) Die Verantwortlichkeit des Christen steht in Verbindung mit dem Tage Christi, aber die Vorrechte desselben mit Seiner Ankunft (vergl. Vers 7 und 8).

 waren also das unbewegliche Fundament, worauf der Apostel die Ko­rinther stellte, worauf er seine Belehrungen und Ermahnungen an sie gründete, und worauf er auch selbst seinen Platz, nimmt, wenn er sich anschickt, ihren wankenden Fuß zu befestigen und ihre ermattenden Hände wieder aufzurichten.

In Vers 10 beginnt nun der Apostel mit seinen Ermahnungen, oder vielmehr mit seinen Bitten, und stellt als Beweggrund den Namen Dessen vor ihre Seele hin, in dem sie, wie sie vorhin gesehen, alle Seg­nungen empfangen hatten; er bittet „durch den Namen unseres Herrn Jesus Christu s." Und das, was zunächst sein Herz bewegte, war die große Gefahr, welche die Einheit der Versammlung bedrohte. Es waren Spaltungen unter ihnen ausgebrochen, die zwar bis jetzt noch keine äußerliche Trennung hervorgerufen hatten, aber doch bald dahin führen konnten; denn Streitigkeiten sind der Anfang zur Trennung. Dem inneren Zwiespalt folgt bald der äußere, so wie auch die innere Einheit die äußere bewahrt. 

Darum bittet der Apostel die Korinther so dringend, daß sie sowohl in der Rede, als auch in der Gesinnung und Meinung völlig zusammengefügt sein möchten. Wie sehr nun streitet diese ernste Ermahnung des Apostels gegen die Meinung so vieler in unseren Tagen, die in der Verschiedenheit derselben sogar einen Vor­teil für die Wahrheit zu sehen glauben! Sie beweisen aber dadurch nur, daß sie den wahren Charakter der Versammlung, ihre Einheit als Leib Christi, nicht kennen, und darum auch nicht den furchtbaren Riß, wozu jene verschiedenen Reden und Meinungen den ersten Grund leg­ten, mit tiefer Betrübnis betrachten. Gerade die Nichtbeachtung dieser ernsten Ermahnung des Apostels hat so große Verwirrung und unab­sehbare Trennungen in der Kirche Gottes hervorgebracht, und alle An­strengungen der Menschen, diese Brüche zu heilen, alle großartigen Zusammenkünfte der verschiedenartigsten Parteien, diese Spaltungen mit einem gewissen Scheine von Einheit zu übertünchen, sind ganz umsonst, und dienen höchstens dazu, uns selbst zu täuschen.

 Der innere Bruch bleibt, und die Spaltungen vermehren sich, bis wir mit nüch­ternem und demütigem Herzen zu der Weisheit Gottes zurückkehren und unter Sein Wort uns beugen, bis wir alle Anmaßungen in Bezug auf die Dinge Gottes aufgeben und uns völlig der Anordnung und Lei­tung Seines Geistes unterwerfen. Die göttliche Weisheit einigt, aber die menschliche entzweit und verwandelt die einfache und gesegnete Wahrheit in ein .trauriges Zerrbild kraftloser Systeme. Hiervon sehen wir den Anfang in der Versammlung zu Korinth. „Ich sage aber dieses, daß ein jeglicher von e u c h sagt: Ich bin des Paulus, und ich des Apollos, und ich des Kephas, und ich Christi" (V. 12). Sie betrachteten die vornehmsten Diener Christi, ja Ihn Selbst, als Häupter bestimmter Systeme. Diese letztern, welche sich den Namen Christi beilegten, waren nicht weniger parteiisch, als auch die übrigen, -weil sie ebenfalls diesen Namen gebrauchten, um eine Scheidewand zwischen Brüdern aufzurichten. Auf diese Weise aber wurde Christus zerteilt (V. 13), die Einheit Seines Leibes zerstört, Sein Werk zum Teil verkannt und verleugnet und Er hörte auf, die alleinige Quelle aller Segnungen und der alleinige Gegenstand der Ver­ehrung zu sein. Das Verfahren in der korinthischen Versammlung hatte

 also die traurigsten Folgen, und deshalb tritt ihm auch der Apostel mit so großem Eifer entgegen.

Er dankt Gott, daß er niemanden von den Korinthern getauft habe, außer Crispus und Gajus und das Haus des Stephanas, damit da­durch nicht jemand Anlaß nehmen könne, sich nach seinem Namen zu nennen, als habe er ihn durch die Taufe in sein System eingeführt (V. 14—16). Er hatte aber eigentlich aus dem Grunde nicht getauft, weil er von Gott keinen bestimmten Auftrag dazu empfangen hatte, wie es bei den übrigen Aposteln der Fall war (vergl. Apgsch. 27, 18 und Kap. 13, 3 mit Matth. 28, 19); sein Auftrag war, das Evangelium zu verkün­digen (V. 17).

In den folgenden Versen dieses Kapitels wird uns nun der wahre Charakter der menschlichen Weisheit, die in der korinthischen Ver­sammlung ihre verderbliche Wirkung auszuüben begann, vorgestellt — ihre Verwerfung von Gott, ihre Torheit, ihre Nichtigkeit und ihr völliger Gegensatz zu der Weisheit Gottes. — Paulus war gesandt, das Evan­gelium zu verkündigen; aber „nicht in Redeweisheit" — nicht nach den vernunftgemäßen Grundsätzen der menschlichen Weisheit — „au-f daß nicht das Kreuz Christi zunichte gemacht werde" (V. 17). Denn das Kreuz Christi als solches offenbart die Kraft Gottes; menschliches Zutun macht dieselbe in ihrer Wirkung auf das Herz des Menschen zunichte; denn wenn dem Kreuz seine wahre, d. i. niedrige Gestalt, genommen wird, wird ihm auch seine Kraft und Wirkung geraubt. Nicht Redeweisheit errettet, sondern „das Wort vom Kreuz". Wohl ist dieses Wort „Denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes­kraft. 

Denn es steht geschrieben: „Ich will die Weis­heit der Weisen zerstören, und den Verstand der Ver­ständigen will ich wegtun" (V. 18,19). Vergeblich waren alle Anstrengungen der Menschen nach Glückseligkeit. Weise, Schriftgelehrte und Schulstreiter dieses Zeitlaufs tauchten in Menge auf und gingen wieder unter (V. 20); ein System verdrängte das andere; aber alle Weis­heit der Weisen und aller Verstand der Verständigen offenbarte nur Eitelkeit und Torheit — das menschliche Herz blieb unbefriedigt und die wahre Glückseligkeit verborgen, weil sie durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannten (V. 21), und gerade dieses zeigt deutlich, daß Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht hat. Und als diese Torheit völlig erwiesen war, „gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predi-gt die, welche glauben, zu erretten; sintemal die Juden Zeichen fordern und dieGriechenWeisheitßuchen"(V.21. 22). Was war in den Augen der Menschen törichter und schwächer als ein gekreuzigter Christus;

auf der niedrigsten Stufe —. am Kreuz und inmitten der Räuber — Den zu sehen, der allein von Gott, und gerade in dieser Gestalt, zum Heil der Menschen bestimmt und gegeben ist? Ach, wie unfähig ist die Weis­heit des Menschen, darin die Weisheit und Kraft Gottes zu erblicken, und wie erniedrigend für ihn, darin den einzigen Weg zu seinem Heil zu finden! Gewiß, Gott hätte auch beides in keiner niedrigeren Gestalt offenbaren können! Deshalb ist auch die „Predigt von Christo, dem Gekreuzigten, den Juden ein Anstoß und den Na-

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 tioneneine Torheit" (V. 23). Beides, sowohl die eigene Gerechtig­keit jener, als auch die Weisheit dieser finden in Christo, dem Gekreu­zigten, keine Nahrung; die eine wie die andere erblickt im Gegenteil dort ihr Ende. Deshalb war auch Christus in dieser Gestalt für jene ein Ärgernis und für diese eine Torheit; „den Berufenen selbst aber, sowohl Juden als Griechen, ist Christus Gottes Kraft und Gottes Weisheit" (V. 24). Die Berufenen aus den Juden fanden in dem gekreuzigten Christus das, was sie wegen des Ver­derbens ihres Fleisches im Gesetz vergeblich gesucht hatten — „Gottes Kiraft", und die aus den Griechen das, was sie durch all ihre philo--sophischen Aufstellungen nie erkannt hatten — „Gottes Weisheit";

„denndas Törichte Gottesist weiser als die Menschen, und das Schwache Gottes ist stärker als die Men­schen" (V. 25). Das Törichte und Schwache Gottes — der gekreuzigte Christus — überströmt weit alle menschliche Kraft und menschliche Weisheit, weil jenes das in Wirklichkeit und vollkommen offenbart, was diese vergeblich zu erlangen suchte.

Ebenso beweist auch die Berufung der Christen, daß Gott kein Fleisch ansieht. Er hat nicht das auserwählt, was mächtig, was ange­sehen, was edel, was hoch ist, sondern das, was schwach, was töricht, was niedrig, was nichtig ist, auf daß Er die Weisen, die Mächtigen und Hohen zu Schanden mache, „daß sich vor Ihm kein Fleisch rühme" (V. 26—29). Die Berufenen sind aber nicht nur ein Beweis, daß Gott das Törichte, das Unedle und das Schwache vor den Weisen und "Mächtigen der Welt erwählt, sondern weit mehr als das; denn der Apostel fügt hinzu: „Aus Ihm aber seid ihr in Christo Jesu" (V. 30). Wir sind aus Gott; wir smd Seiner göttlichen Natur teilhaftig geworden;

unser Leben, unser Wesen, unsere Stellung als Christen haben wir aus Ihm. Und von Ihm ist auch Christus für uns, um alles, was nötig ist, zu vollbringen. Er ist auf Seiten Gottes „für uns Weisheit und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung gewor­den." Und dies alles steht im völligsten Gegensatz zu den Anmaßungen des menschlichen Geistes, welche Gott verworfen hat, und zu der fal­schen Gerechtigkeit der Juden unter dem Gesetz, und zu dem Mittel, dem Charakter und dem Maß der Heiligkeit, welche durch das Gesetz dargestellt ist, und ebenso zu der menschlichen Schwachheit, von der Gott auch die letzte Spur hinwegwischen wird, wenn Er endlich Seine ganze Macht in Christo offenbart und den letzten Akt der Gnade zur völligen Erlösung der Seinigen ausgeübt hat; ja, dann wird alles, was vom Menschen ist, für immer verschwunden sein. Darum, „w er sich rühmet, der rühmet sich im Herrn" (V. 31). Der Mensch hat alles verloren, und Gott allein kann ihm alles wiedergeben. Das Kreuz Christi offenbart deshalb sowohl die völlige Verwerfung des Menschen und alles dessen, was von ihm ist, als auch die Gabe Gottes zu seiner ewigen Glückseligkeit. Wir sehen hier den Menschen völlig entblößt und von Gott wieder bekleidet; gänzlich verarmt und von Gott wieder reich gemacht. Darum kann auch nur der Herr, und alles das, was wir in Ihm und durch Ihn empfangen haben, ein Gegenstand unseres Rühmens sein. Und in diesem Rühmen werden wir nie zu Schanden werden; denn der Herr bleibet ewiglich. Selbst beim Verschwinden aller menschlichen

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 Weisheit und beim Hinsinken aller menschlicher Kraft findet hier die Seele ein köstliches Fundament, worauf sie alle ihre Hoffnungen ohne Furcht bauen kann. Gott Selbst hat dies Fundament gelegt, Er Selbst hat uns Christum gegeben; — welch eine vollkommene Sicherheit für das Herz! —

Kapitel 2

Es war nun in diesem Geiste, nämlich die Kraft in der göttlichen und nicht in der menschlichen Weisheit zu suchen, daß der Apostel im Anfang unter den Korinthern wirksam war. Er kam, als er das Zeug­nis Gottes in ihrer Mitte verkündigte, „nicht nach Vortreff­lichkeit der Rede oder Weisheit" (V. l), nicht nach Ver­nunftgemäßen Beweisgründen, gleich der heidnischen Philosophie, son­dern stellte einfach Christum vor ihre Seele, und zwar Christum in Seiner niedrigsten Gestalt, als Gegenstand des Hohnes und der Verachtung der Menschen — „Christum als Gekreuzigten" (V. 2). In Übereinstimmung mit der Weisheit Gottes hielt Er es für gut, nur mit diesem törichten Zeugnisse unter ihnen zu sein, um den Stolz des Menschen zu demütigen und die Anmaßungen seiner falschen Weisheit zunichte zu machen.*)

Es trug aber nicht allein der Gegenstand des Zeugnisses, son­dern auch der Träger desselben, Paulus selbst, das Gepräge der Niedrigkeit und Schwachheit an sich. Er fühlte sich in der großen Welt-und Sündenstadt Korinth in der Gegenwart des Feindes, und dies blieb nicht ohne Wirkung auf sein Herz; denn er sagt; „Und ich bin bei

*) Es mag für Viele nicht unnötig sein, zu bemerken, daß der Apostel durch diese Worte nicht, wie man oft meint, das Kreuz Christi, als den alles umfassenden Gegenstand seines Zeugnisses, hervorzuheben gedenkt, sondern einjach sagen will, daß er Christum, Ihn Selbst, und zwar in der Gestalt vor ihre Seele hingestellt habe, wodurch alle Weisheit und Kraft der Menschen zu Schanden gemacht werde — „Christum, den Gekreuzigten, den Juden ein Anstoß und den Nationen eine Torheit." Das Kreuz Christi zeigt uns das Gericht Gottes unserer Sünden und Übertretungen wegen; es offenbart uns Seine Gerechtigkeit und das Ende alles Fleisches und zugleich — gepriesen sei Sein Name — die vollkommene Gnade und Liebe Gottes gegen uns; aber dennoch wird die Seele unsicher und mit Furcht erfüllt bleiben, wenn sie nur bis zum Kreuz und nicht weiter geführt wird. Die Auferstehung Christi zeigt uns den vollkommenen Triumph über Sünde, Tod und Teufel, und versichert den Glaubigen seiner völligen Recht­fertigung und seiner Annahme hei Gott, und offenbart ihm zugleich den festen Grund seiner Hoffnung. Es kann also nur Unkenntnis oder falsche Demut sein, Christum einzig und allein auf dem Kreuze, unter der Last unserer Sünde und im Gericht Gottes, betrachten zu wollen und nicht zu­gleich als Den, der unserer Rechtfertigung wegen auferweckt ist; und die Folge einer solch mangelhaften Erkenntnis und Annahme des ganzen Werkes Christi wird nicht nur, wie schon gesagt, Unsicherheit und fortwäh­rende Furcht sein, sondern es wird auch die wahre Danksagung eines glück­lichen Herzens und der würdige Wandel zur Verherrlichung Gottes mangeln.

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 euch gewesen in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern" (V. 3), in Schwachheit, weil er nichts aus sich selbst vermochte — in Furcht und vielem Zittern, weil er gerade dort mit so vielen .Schwierigkeiten und Gefahren zu kämpfen hatte. Er war ein Mensch und fühlte wie ein Mensch.

Endlich war es auch nicht durch hinreißende Beredsamkeit, noch durch fleischliche, dem menschlichen Stolz schmeichelnde Überredungs­kunst, wodurch er seinem Zeugnis Eingang zu verschaffen und die Her­zen der genußsüchtigen und Weisheit suchenden Korinther mit fortzu­reißen und zu gewinnen suchte; nein, vor den Augen der Menschen war allem, was mit diesem Zeugnis in Verbindung stand -r- sowohl dem Gegenstande als dem Träger desselben, sowie endlich auch der Art der Darstellung — der Stempel der Niedrigkeit und der Verachtung auf­gedrückt. Der Geist Gottes aber bestätigte dasselbe durch Seine Ge­genwart, in Erweisung mancherlei Wunder und Kräfte und Gaben (V. 4); und also ruhte der Glaube der Korinther nicht auf eiteln, wenn auch schönen Worten menschlicher Weisheit, sondern auf der Kraft Gottes (V. 5). Er hatte eine sichere und feste Grundlage — eine Grundlage, die nimmer wanket.

In dem folgenden Teil dieses Kapitels erklärt nun der Apostel zunächst, daß er und die mit ihm verbundenen Zeugen, in der Tat Weisheit verkündigten, die Weisheit Gottes; dann zeigt er das Mittel, wodurch dieselbe offenbart und mitgeteilt wird, und wer endlich allein fähig ist, diese Weisheit zu erkennen und anzunehmen. — „W i r r e -den aber Weisheit unter den Vollkommenen" — unter solchen, die in der Lehre des Heils in Christo unterwiesen und befestigt sind, für Erwachsene in Christo — „Weisheit aber nicht die­ses Zeitlaufs, noch der Fürsten dieses Zeitlaufs, die zunichte werden" (V. 6). Die Fürsten sowohl, als auch ihre Weis­heit, und selbst der Zeitlauf, worin sie ihre Glückseligkeit suchen — kurz, alles erreicht sein Ende; während der Ausgang der Weisheit Gottes unsere ewige Herrlichkeit ist. Diese Weisheit, einge­hüllt in ein Geheimnis, war der verborgene und jetzt durch den Heili­gen Geist offenbarte Ratschluß Gottes; sie umfaßt das, was Gott vor den Zeltaltern in Seinem unabänderlichen Ratschluß zu unserer Herr­lichkeit zuvorbestimmt hat (V. 7). Den Fürsten dieses Zeitlaufs aber blieb diese Herrlichkeit trotz all ihrer Weisheit völlig unbekannt; "denn wenn sie diese erkannt hätten, so würden sie wohl den Herrn der Herrlichkeit"— Jesum, der diese Herrlichkeit in Seiner eigenen Person besaß, der sie offenbarte und mitteilte, und in dem sie ganz erfüllt werden soll — „nicht gekreuzigt ha­ben" (V. 8). Ach! die Weisheit der Menschen erkennt nichts von die­ser Herrlichkeit; sie sieht in Ihm nur Torheit und Schwachheit.

In dem Briefe an die Epheser verweilt der Apostel länger bei die­sem Gegenstande, weil die Epheser geistlicher und am Verständnis nicht mehr Kinder waren, die der Milch bedurften, wie die Korinther. Er sieht dort die Versammlung schon im Himmel und zeigt auf eine erhabene Weise die Fülle und Tragweite der Ratschlüsse Gottes in ihrer Vollendung, während er bei den Korinthern den Gegenstand dieses Geheimnisses nur vorübergehend und in seinem völligen Gegen-

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 satz zu der nichtigen Weisheit dieses Zeitlaufs erwähnt. Er will hier nur die Torheit des Menschen ans Licht stellen; denn was auch ihre falsche Weisheit mag ersonnen und was auch die Fürsten dieses Zeit­laufs mögen gesehen, gehört und genossen haben — hier ist etwas, wovon bezeugt wird: „Was kein Auge gesehen, und kein Ohr gehört hat, und in keines Menschen Herz gekom­men ist, was Gott denen bereitet hat, die Ihn lieben" (V. 9). Der Zusatz: „Denen, die Ihn lieben", zeigt uns, daß Gott, wenn es sich um den Besitz der Herrlichkeit handelt, nie das innere Leben von derselben trennt.

Es ist jetzt wichtig, den Weg zu bemerken, auf welchem Gott Seine Weisheit mitgeteilt hat. Er hat das, was in keines Menschen Herz ge­kommen ist, durch Seinen Geist geoffenbart, wie geschrieben steht:

„Uns aber hat Gott es durch SeinenGeist geoffenbart;

denn der Geist erforschet alle Dinge, gelbst die Tie­fen Gottes. Denn wer von den Menschen weiß die Dinge des Menschen, (die er nicht mitteilt) als der Geist des Menschen, der in ihm ist? Also weiß auch nie­mand die Dinge Gottes, als der Geist Gottes" (V. 10. 11). Welch eine genaue Verbindung, ja, welch eine innige Zusammen­schmelzung dieser beiden Personen! Gott und der Geist sind eins. Wenn irgend ein Geheimnis offenbart werden soll, so muß der Geist als Kanal dienen; und wiederum kann der Geist nichts offenbaren ohne den bestimmten Willen Gottes. Ohne diesen Willen und ohne diesen Geist ist keine Offenbarung.

Der Apostel spricht hier nacht von der Inwohnung des Geistes in aUen Christen, sondern von Ihm, als Dem, der gegeben war, Ge­heimnisse zu offenbaren. Der Geist der Welt kann nur die Dinge wissen, die in der Welt sind, nicht aber die Dinge Gottes. Um die Dinge zu wissen und zu verstehen, die uns Gott aus Gnaden gegeben hat, müssen wir den Geist aus Gott haben (V. 12). Er allein ist das Werkzeug, uns die Dinge Gottes zu offenbaren.

Zunächst waren es die Apostel, welche Gott als Gefäße Seiner Offenbarung auserwählte („uns", in V. 10), und diese teilten es den übrigen Gefäßen der Offenbarung mit. Diese Mitteilung geschah ebenfalls dur<h die Kraft desselbigen Geistes. „W eiche Dinge wir auch reden, nicht in Worten, gelehrt durch mensch­liche Weisheit, sondern in Worten, gelehrt von dem Geiste; mitteilend geistliche Dinge durch geistliche Mittel" (V. 13). — Also nicht nur die Erkenntnis der Dinge Got­tes (V. 10), sondern auch die Mitteilung oder das Mittel dazu (V. 13) ist durch den Heiligen Geist. Endlich steht auch die An­nahme dieser Dinge mit der Wirksamkeit des Heiligen Geistes in Verbindung: „Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen; denn es wird geistlich beurteilt. Der Geistliche aber beurteilt alle Dinge; er selbst aber wird von niemanden beur­teilt" (V. 14. 15).

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 Ohne den Geist ist also der Mensch unfähig, die Dinge Gottes anzunehmen, weil ihm das Licht und die Kraft fehlt, wodurch allein sie nach der Wahrheit beurteilt und angenommen werden können. -Er verwirft sii.e entweder als eine Torheit, oder seine Erkenntnis, die er darüber zu haben meint, ist eine eingebildete und scheinbare — eine Erkenntnis, die für Herz und Gewissen ohne Wirkung bleibt. Der Geistliche aber ist durch das Licht des Heiligen Geistes fähig, alle Dinge nach der Wahrheit zu beurteilen; und derselbe Geist erweckt in ihm Grundsätze und Beweggründe, befähigt ihn zu einem Wandel, den niemand zu beurteilen vermag, der nicht den Geist Christi hat;

„denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, der Ihn unterweise" (V. 16)? Niemand ist fähig, den Sinn des Herrn, Sein innerstes Wesen, Seine Gedanken und Ratschlüsse zu erforschen und zu beurteilen, um Ihn zu unterweisen. „W i r aber" — dies geht zu­nächst auf die Apostel, und hier besonders auf die in Kap. 1. 12 er­wähnten Diener Christi, — „wir aber haben Christi Sinn;" und deshalb war es. unmöglich, daß sie durch die menschliche .Weis­heit, wie die Korinther es taten, beurteilt werden konnten.

Kapitel 3

In der vorhergehenden Unterweisung hat der Apostel zugleich den normalen und wahren Zustand des Christen dargestellt, und zeigt jetzt, wie wenig die Gesinnung und das Verhalten der Korinther diesem Zu­stande entsprach. In Betreff ihrer Stellung waren sie keine natürliche Menschen mehr, sondern geistliche; aber in Bezug auf ihren prakti­schen Zustand waren sie fleischlich und wandelten nach dem Fleische;

in Betreff ihrer Erkenntnis glichen sie unmündigen Kindern. Deshalb konnte der Apostel auch nicht zu ihnen reden „als zu Geistlichen, sondern als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christo" (V. l). Ihr damaliger, so wie auch ihr gegenwärtiger Zu­stand war der Art, daß der Apostel sie mit Milch ernähren, d. h. in Dingen unterweisen mußte, die eigentlich nur dem schwachen Anfänger des Christentums gehören, und nicht mit Speise — nicht mit einer völligeren Unterweisung des Geheimnisses, mit einem tieferen Eindrin­gen'in die Gedan"ken und Ratschlüsse Gottes, womit die Erwachsenen ernährt werden (V. 2). Wie sehr mußte dieser Vorwurf den Hochmut der Korinther demütigen!

Was veranlaßte den Apostel zu diesem harten Urteil: „Ihr seid noch fleischlich?" Zunächst war es der Eifer, der Streit und die Zwietracht unter ihnen (V. 3), hervorgerufen durch die Grundsätze der menschlichen Weisheit, wodurch sie ihrem Stolz Nahrung gaben. Sie fingen an, wie wir schon' im ersten Kapitel gesehen haben, die Wahr­heit in unterschiedliche Systeme einzuteilen, die Diener Christi aJs Häupter und Vertreter von diesem oder jenem derselben zu betrach­ten, über die Vorzüge des einen vor dem ändern und über viele andere unwichtige Dinge zu streiten, und also ganz und gar nach der Menschen Weise zu handeln. Sowohl dies Disputieren, Eifern und Streiten, selbst über höchst unwürdige und verwerfliche Dinge, als auch ihr Anschlie­ßen an eine jener Personen, oder an ein bestimmtes Lehrsystem, kenn-

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 zeichnete die Korinther als Fleischliche. „Denn wenn einer sagt:

Ichbin des Paulus; der andere aber: Ich des Apollos;

seid ihr nicht fleischlich?" Bis jetzt war zwar die Trennung nur dem Grundsatz und nicht der Verwirklichung nach vorhanden;

aber dennoch sagt der Apostel: „Ihr seid, fleischlich!"

Einfacher und bestimmter konnte sich der Apostel über diesen Ge­genstand nicht ausdrücken; seifast für den Einfältigsten ist er ver­ständlich. Wie tief aber muß es uns beugen und demütigen, wenn wir mit diesem klaren und ernsten Zeugnis vor uns, unsern Blick auf den gegenwärtigen Zustand der Versammlung Christi auf der Erde rich­ten! Wie wenig ist die Wahrheit Gottes in diesem so wichtigen Teile anerkannt und beherzigt worden! Der Geist der Zwiespalt, den wir in Korinth in seinen ersten Anfängen erblicken, hat die ganze Kirche nach und nach durchsäuert und unzählige Spaltungen hervorgerufen. Es würde sicher ein Buch von mehr als 500 Seiten gefüllt werden, wenn man darin die Parteien oder Sekten selbst in der größten Kürze beschrei­ben wollte. Hunderte von verschiedenen Benennungen sind eingeführt, deren Glieder, anstatt den ernsten Vorwurf des Apostels: „Ihr seid fleischlich auf sich selbst anzuwenden, sich einander beneiden und anfeinden; und doch ist jede Partei — ob groß oder klein, ob alt oder neu — mitschuldig, daß die Versammlung ihres göttlichen und erkenn­barsten Charakterzuges — ihrer Einheit im Bande der Liebe und des Friedens — beraubt worden ist. Welch eine Erniedrigung für diese, und noch vielmehr für das Haupt derselben — Christum! Das gesegnete Bewußtsein des Einen Leibes, worin jeder Gläubige durch die Taufe des Heiligen. Geistes als ein Glied eingeführt ist, ist fast ganz ver­schwunden. Man spricht davon, als von einer unsichtbare-n Kirche — ein von Menschen ersonnener Ausweg, um sich in seiner falschen Stellung zu beruhigen. Man betrachtet es sogar als Sektiererei, als fleischlichen Hochmut, sich einfach im Namen Jesu zu versammeln, Ihn gemeinschaftlich zu verehren und die geschenkten Segnungen zu ge­nießen, sich untereinander als Glieder eines Leibes zu erbauen^, zu er­mahnen, zu ermuntern und zu tragen. 

Dagegen nennt man geistlich, was der Apostel fleischlich nennt. Denn wo finden wir in unseren Ta­gen die große Masse — nicht der Ungläubigen, sondern — der wahren Gläubigen? Den einen in dieser, den anderen in jener Partei, und die meisten in solchen, die zwar mehr oder weniger an den Fundamental­wahrheiten des Christentums festhalten, aber, verbunden mit Formen, die dem religiösen Gefühl des natürlichen Herzens entsprechen und aus Mangel an christlicher Zucht, am meisten Anerkennung in der Welt finden — in solchen, die wegen der Jahrhunderte ihres Bestehens und ihrer weiten Ausdehnung eine größere Berechtigung beanspruchen zu dürfen meinen. 0 traurige Wirklichkeit! Und zudem hört man diesen Zustand noch von so vielen Gläubigen verteidigen, entschuldigen und sogar als Fortschritt rühmen. — Können aber Zeit und Umstände schlechte Grundsätze heiligen? Kann das, was zu Pauli Zeit fleischlich war, in unseren Tagen geistlich genannt werden? Oder hat der Heilige Geist den 3. und 4. Vers dieses Kapitels nicht auch für uns aufzeichnen lassen? Kann etwa jenes ernste Urteil auf unseren Zustand nicht mehr angewendet werden? Bedenken wir wohl, daß es sich hier nicht um

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 das Urteil eines Menschen, sondern um das Urteil Gottes handelt. Mag der Mensch urteilen, wie er will, mag er durch den allgemeinen Einwand, daß die Zeiten verändert sind, oder durch sein Seufzen und Klagen über Abfall, Unglauben und Zwiespalt sich zu beruhigen suchen, immer gilt ihm, solange er selbst einer Partei angehört — sei deren Einrichtung auch scheinbar noch so schriftgemäß und noch so anerkannt —- das ernste Urteil Gottes: „Ihr aber seid fleischlich!" Vor dem Richterstuhl Christi, wo alles ins wahre Licht gestellt sedn wird, wird mancher Gläu­bige auf sein Leben zurückblicken, wo er, anstatt einfach als Jünger Christi für die Verherrlichung Seines Herrn bemüht zu sein, um reiche Früchte zu ernten, in einer Stellung verharrte und für Dinge eiferte, die von Gott nicht anerkannt werden. 0 der Herr voller Gnade wolle das Auge der Seinigen einfältig und das Herz recht nüchtern machen, um das, was der Heilige Geist fleischlich nennt, im Lichte dieses Geistes zu erkennen und durch die Kraft desselben aufzugeben, und wolle vor allem ein völliges Vertrauen zu dem gesegneten Namen Jesu erwecken, damit Sein Name allein als Grundlage und Beweggrund unseres Zu­sammenkommens anerkannt werde!

Paulus ist nun bemüht, auf das Gewissen der Korinther zu wirken, 'um das Übel in seinem Anfang zu ersticken. Wer, fragt er mit Nach­druck, sind doch die Männer, nach denen ihr euch nennt? „W er -ist denn Paulus? Und wer Apollos? Diener, durchweiche ihr geglaubt habt, und zwar wie der Herr einem J e g -liehen gegeben hat" (V. 5). Sie sind nichts anderes als Werkzeuge des großen Meisters. Sei es Paulus, Apollos oder Kephas — sie verkün­digen alle dasselbe Evangelium, wie es ihnen der Herr anvertraut hat, und ein jeder nach der ihm verliehenen Gabe. Paulus hatte gepflanzt, Apollos begossen; Gott aber hatte das Wachstum gegeben (V. 6). Beide waren eins und beide waren nichts; alle Ehre kommt allein Gott zu. Er ist von allem die Quelle und darum kann auch nur alles zu Seiner Ver­herrlichung da sein (V. 7). Wenn nun aber auch beide — Paulus und Apollos — nichts waren, so bekam doch ein jeder seinen eigenen Lohn und zwar nach seiner eigenen Mühe; denn sie waren Gottes Mit­arbeiter (V. 8). Es gibt hier zwei beachtenswerte Grundsätze. 

Ein jeder wird seinen Lohn nach seiner Mühe und Treue erhalten, und nicht nach der Größe seiner Gabe, oder seiner Erkenntnis, oder seinem An­sehen. Diese Dinge erhöhen zwar die Verantwortlichkeit, aber sie be­dingen nicht den Lohn. Sicher wird viel Arbeit, die hier das Lob und die Anerkennung der Menschen erntete und große Ausdehnung erlangte, dort unbelohnt bleiben; wo hingegen manches stille Gebet und manches tröstende und ermunternde Wort im Verborgenen seinen vollen Lohn finden wird. Der andere Grundsatz ist: „Wir sind Gottes Mit­arbeiter" (V. 9). Sein ist das Ackerfeld und das Gebäu.-Er beruft in dasselbe Seihe Arbeiter und bedient Sich ihrer. Er wirkt nicht mit u n s, sondern wir mit Ihm; wir haben, wenn Er uns in Seinen Dienst berufen hat, das gesegnete Vorrecht, Seine Mitarbeiter zu sein. Unser Flehen zu Ihm kann also nicht sein, daß Er unser, sondern S e i-n Werk segnen möge. — Die Worte: „Gottes Ackerfeld, Gottes Gebäu seid ihr," zeigen uns zugleich die Versammlung als den

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 einen und gemeinschaftlichen Boden, worauf die verschiedenen Arbei­ter ihr Werk fortsetzen.

Paulus hatte nun nach der ihm verliehenen Gnade als ein weiser Baumeister den Grund gelegt (V. 10). Seine Weisheit erwies sich darin, daß er einen guten Grund gelegt hatte; denn der von ihm gelegte Grund war Christus. Die Versammlung zu Korinth war durch ihn gegründet. Andere bauten auf diesem Grund, indem sie das Werk der Er­bauung der Seelen fortsetzten. „Ein jeder aber," ermahnt mit feierlichem Ernst der Apostel, „sehe zu, wie er darauf bauet" (V. 10). Es gibt nur einen Grund — Christus, und dieser Grund war gelegt (V. 11). Es konnte jetzt nur noch darauf weiter fortgebaut wer­den, und es handelte sich dabei um die wichtige Sache, w i e man darauf baute, mit guten oder mit schlechtem Material: „mit Gold, Silber und köstlichen Steinen" — mit Dingen, die das Feuer nicht zu zerstören vermag — oder „mit Holz, Heu, Stroh" — mit Dingen, die das Feuer verzehrt; ob man der Seele Nahrung darbot zu ihrer Erhaltung und zu ihrem Wachstum, oder Nahrung, die ihr zum Schaden gereichte (V. 12). Das Feuer soll das Werk eines jeglichen offenbar machen. Schon die Versuchungen, die hienieden über dieses Werk kommen, können zur-Offenbarwerdung desselben dienen; und die Geschichte der Kirche lie­fert uns viele ernste und traurige Belege dafür.

 Manches Gebäude, in den Tagen des Wohlstandes aufgerichtet und geschmückt, hat der Regen und Sturm zusammengestürzt. Die völlige Offenbarwerdung eines jeg­lichen Werkes aber wird erst am Tage des Herrn, am Tage des Gerichts stattfinden — an dem Tage, „der in Feuer offenbar werden wird; und das Feuer wird bewähren, welcherlei das Werkeines jeglichen ist" (V. 13). Hat jemand mit gutem Material gebaut,-so wird das Werk bestehen (V. 14); wenn aber mit schlechtem, so wird es verbrennen, und statt Lohn wird er Schaden haben. Die Frucht seiner Arbeit ist verloren und Zeit und Mühe sind vergeblich angewandt. Der Arbeiter aber selbst wird in diesem Falle errettet werden, weil er, an Christum glaubend, Ihn als den wahren Grund an­erkannte und darauf baute (V. 15). Doch wird seine Errettung wie durchs Feuer sein; sie wird geprüft und geläutert werden. Wohl wird das Feuer die Anerkennung und das gläubige Vertrauen auf Chri­stum — den wahren Grund, worauf er baute — nicht anzutasten ver­mögen; aber wenn er erkennt, daß er für seine Arbeit, die er doch für echt hielt, nur Schaden statt Lohn erntet, wenn all die Triebfedern und Beweggründe, die ihn bei seiner Arbeit leiteten, als verwerflich erfun­den werden, dann wird er sogar in Betreff seiner eigenen Errettung in Unsicherheit und Not kommen; seine Verbindung mit dem einen wah­ren Grunde und seine Zuversicht zu demselben wird erschüttert werden.

Ernster noch wird die Verantwortlichkeit, wenn die Versammlung als der Tempel Gottes, worin der Geist Gottes Seine Wohnung hat, betrachtet wird. Sowohl der einzelne Gläubige, wie wir in Kap. 6, 19 sehen, als auch die Versammlung in ihrer Gesamtheit, als ein Leib betrachtet, hat das hohe und erhabene Vorrecht, der Tempel Gottes zu

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 sein.*) Wir lesen in Vers 16: „Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und daß der Geist Gottes unter euch woh­net?" Diese gesegnete Stellung zeigt die Verwerflichkeit jeglicher Trennung, so wie auch die Verantwortlichkeit eines jeglichen Arbeiters in einem noch weit höheren Lichte. „Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, diesen wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig, welcher ihr seid" (V. 17). Wenn das Werk dessen, der, wie wir in Vers 14 gesehen haben, mit schlechtem Material auf einem guten Grund baute, verbrennen und er Schaden statt Lohn haben wird, so wird er selbst doch noch errettet werden; aber an dieser Stelle wird ausdrücklich erklärt, daß der, wel­cher den Tempel Gottes verdirbt — der Lehren einführt, die den echten Grund verfälschen und also die Fundamental-Wahrheit zerstören — selbst verdorben wird, d. i. verloren geht.

 Welch eine ernste Warnung für den Arbeiter im Werke des Herrn! Wie groß ist seine Verantwort­lichkeit, und darum wie nötig für ihn, die erforschende Frage an sein Gewissen zu richten: „Wird mein Dienst nach dem Wohlgefallen des Herrn erfunden und meine Arbeit von Ihm anerkannt werden?" — eine Frage, die nicht nur bei jenen Zuständen in Korinth, sondern für alle Zeiten, so lange die Versammlung Gottes auf der Erde ist, und für jeden Arbeiter von der größten Wichtigkeit ist.

Jetzt kommt der Apostel noch einmal auf die menschliche Weisheit zurück. „Niemand betrüge sich selbs t," warnt er mit feier­lichem Ernst. Alle noch so klugen Ratschläge und noch so weisen Ein­richtungen in Bezug auf die Versammlung Gottes werden, insofern sie Produkte der menschlichen Weisheit sind, von Ihm als Torheit erfunden werden, und lassen das Herz im Selbstbetrug dahingehen. Es ist darum nötig, zu der Einfalt des Glaubens zurückzukehren und die ernste Er­mahnung des Apostels zu beachten: „Wenn jemand unter euch den Anschein hat, weise zu sein, der werde ein Narr in diesem Zeitlauf, auf daß er weise werde" (V. 18). Auf" diesem Wege allein erlangt man die wahre Weisheit. 

Wir werden zwar, wenn wir auf die Weisheit dieses Zeitlaufs verzichten und uns ihrer Leitung nicht unterwerfen, als Toren betrachtet werden; aber wir be­sitzen die Weisheit Gottes, die uns nimmer täuschen und nimmer be­trügen wird. Die Weisheit dieser Welt hingegen führt zum Verderben. Gott erhascht die Weisen in ihrer Arglist." Ihre Klug­heit läßt sie nicht entrinnen; sie werden durch ihre eigenen, listigen Ratschläge gefangen werden (V. 19. 20). Wie töricht nun waren die Ko­rinther, nach dieser Weisheit zu handeln, sic

h diesem oder jenem Sy­stem anzuschließen und sich der Menschen zu rühmen (V. 21); ja, wie töricht für alle Heiligen Gottes, die in Christo eine so große Fülle von

*) Es ist bemerkenswert, daß Gott nicht eher unter den Menschen wohnte — wohl sie besuchte, wie den Adam, Abraham usw. — bis nach der Erlösung. Selbst unter Israel wohnte Er erst dann, als sie aus Ägyptenland errettet waren, deren Errettung ein Vorbild von der Errettung durch Chri­stum ist. Nur das kostbare Blut Christi hat es bewirkt, daß Gott 'jetzt in Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit unter den Seinigen wohnen kann.

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 Segnungen und so unaussprechliche Vorrechte besitzen, wenn sie fort­fahren, in den Fußstapfen jener zu wandeln. „A lies ist euer!" — ruft der Apostel aus — „es sei Paulus oder Apollos, oder Kephas; es sei Welt, oder Leben, öde r-Tod, oder Ge­genwärtiges, oder Zukünftiges; — Alles ist euer" (V. 22). — Gott hatte nicht nur einen, sondern die verschiedenen Arbei­ter zu ihrem Dienste gestellt; und sie hatten das Vorrecht, von allen zu ihrer Auferbauung bedient zu werden. Es war deshalb ganz töricht, den einen zu erwählen und den anderen zu verwerfen! Ebenso war alles, was in der Welt war, zu ihrem Nutzen vorhanden. Auch das Leben gehörte ihnen, weil Christus ihr Teil war. Er war ihr Leben hier und dort. Selbst der Tod, dem sie früher unterworfen waren, mußte ihnen jetzt dienen; denn Sterben war für sie Gewinn. Es befreite sie für immer von allen Schwachheiten, Leiden und Kämpfen dieser Zeit, und führte sie in die glückselige Gegenwart Dessen, der sie vollkommen liebte. Gegenwärtiges und Zukünftiges, ja, alles gehörte ihnen; der ganze unausf erschliche Reichtum, des Christus war durch die Gnade ihr Teil geworden, weil sie Dem angehörten, durch Den und für Den alle Dinge erschaffen sind, die Dinge in den Himmeln und die auf der Erde, die Sichtbaren und die Unsichtbaren; es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten; — alle Dinge sind durch Ihn und für Ihn geschaffen (1. Kol. 1. 16). „Ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes" (V. 23). Diese wenigen und gesegneten Worte offenbaren uns hier namentlich unsere Abhängigkeit von Christo — eine Stellung, die uns alle jene Vorrechte auf eine würdige Weise genießen läßt — so wie auch die Abhängigkeit-Christi Selbst, und zei­gen uns zugleich unsere innige Verbindung durch Ihn mit Gott — eine Verbindung, die uns aller jener Segnungen für immer teilhaftig macht. Endlich sehen wir darin, wie alles zu der einzigen Quelle jeder guten und vollkommenen Gabe, zu Gott, dem Anfang und dem Ende unseres Heils, zurückgeführt wird.

Kapitel 4

Paulus kommt jetzt noch einmal auf sich und seine Mitarbeiter zu­rück, und ermahnt die Korinther, sie einfach zu betrachten als Diener eines Herrn, die mit der Verwaltung ein und desselben Gegenstandes betraut waren, und nicht als Vorsteher und Vertreter unterschiedlicher Systeme. „Dafür halte man uns — für Diener Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes" (V. l). Der Herr Selbst hatte sie mit diesem Dienste und dieser Verwaltung betraut, und des­halb waren sie auch Ihm allein verantwortlich, von Ihm allein abhän­gig und Seinem Urteil allein unterworfen. Und was erwartete der Herr von ihnen? Das, was man von jedem Verwalter erwarten darf: — ..Treue". Übrigens sucht man an den Verwaltern, daß einer treu erfunden werde" (V. 2). Das Urteil der Korinther, sowie überhaupt das Urteil irgend eines menschlichen Gerichts konnte den Apostel wenig kümmern; sogar war sein eigenes Urteil durchaus nicht maßgebend (V. 3). Wenn er sich auch keiner schlechten Handlung bewußt war, so rechtfertigte ihn dies doch keineswegs. Der

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 Herr allein, dessen Diener er war, hatte das Recht, ihn zu beurteilen;

und Seinem Urteil, wovon alles abhing, übergab er sich völlig <V. 4). Die Korinther waren also weder berechtigt, den Apostel und seine Mit­arbeiter zu verurteilen, noch war die rechte Zeit dazu vorhanden. Wenn der Herr kommt, so wird Er alles ans Licht bringen, selbst das, was am tiefsten verborgen ist. Er wird die geheimen Ratschläge der Herzen offenbaren, und dann wird einem jeden das ihm gebührende Lob von Gott zuteil werden (V. 5).

„Dieses aber, Brüder, fährt der Apostel fort, „habe ich auf mich und Apollos gedeutet um euretwillen, da­mit ihr an uns lernet, nicht über das hinaus zu den­ken, was geschrieben ist; auf daß niemand sich auf­blähen möge für den einen, wider den anderen" (V. 6). Der Apostel war bemüht, die Korinther von dem Stolze ihrer mensch­lichen Weisheit zurückzubringen und zu der wahren Einfalt in Christo hinzuführen. Die demütige und niedrige Gesinnung, die er hier in Be­treff seiner und des Apollos, die beide in Korinth gewirkt hatten an den Tag legte, sollte auch ihre Herzen zur Demut und Niedrigkeit füh­ren. Während sie sich für den einen wider den anderen aufblähten und ihre Namen mit ihren fleischlichen Einteilungen verbanden, sagt der Apostel zu ihnen: „Wir sind nichts; denn das Wachstum kommt von Gott allein. Wir arbeiten in Seinem Werke; wir sind einfach Diener und Verwalter der Geheimnisse Gottes und sind in diesem Dienste dem Herrn, der uns damit betraut hat, verantwortlich." — Zugleich zeigt er hier die Torheit der menschlichen Weisheit, die alles der Kreatur zu­schreibt, die den Menschen bewundert und unterscheidet und ganz und gar vergißt, daß alle Ehre und aller Ruhm allein dem Herrn gebührt, von dem jede gute Gabe kommt, der Seine Diener beruft und sie mit allem, was zum Dienste nötig ist, ausrüstet. 

Durch jene traurigen Grund­sätze der menschlichen Weisheit ließen sich die Korinther leiten, indem sie sich der Gnadengaben Gottes, als Erzeugnisse ihrer eigenen Gedan­ken und Werke, rühmten (V. 7). Und diese Grundsätze verdarben den ganzen Zustand der Versammlung; sie riefen in derselben die traurig­sten Spaltungen hervor und bewirkten überhaupt eine ganz falsche Stellung in ihrer Pilgrimschaft hienieden. „Schon seid ihr satt geworden, schon seid ihr reich geworden; ohne uns habt ihr geherrscht; und ich wollte wohl,ihr herrsch­tet, auf daß auch wir mit euch herrschen möchten" (V. 8). Ein ernster Vorwurf! Ihre Bedürfnisse und Wünsche waren schon gestillt; die Hoffnung auf die zukünftige Herrlichkeit hatte für ihre Herzen keine Ermunterung, keinen Reiz mehr. Im Schöße des Luxus und der Gemächlichkeit fühlten sie sich befriedigt; sie waren angese­hen und wurden bewundert, und sie herrschten gleich Königen. Aber ach! diese Herrschaft war nicht von Gott, sie war eine falsche und un­zeitige; denn Paulus und seine Mitapostel waren davon ausgeschlossen. Der Apostel wünscht wohl, daß sie schon herrschen möchten. Wenn er auch mit Freuden die Schmach und die Leiden dieses gegenwärtigen bösen Zeitlaufs ertrug, so fühlte er doch ihr Gewicht in reichem Maße;

und er sehnte sich nach dem glückseligen Augenblick, wo die Heiligen mit Christo auf Seinem Throne sitzen werden, weil es dann auch das

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 gesegnete Vorrecht des Apostels und seiner Mitarbeiter war, mit Christo und in Gemeinschaft mit allen Heiligen zu herrschen. Doch dieser Augen­blick war bis jetzt noch nicht gekommen. Die schmach- und leidens­volle Stellung der Apostel hienieden — eine Stellung, die im völligen Gegensatz zu der der Korinther war, gab hinlänglich Zeugnis davon. Die Darstellung dieses Gegensatzes, die zwar etwas ironisch klingt, war doch der Art, daß die Korinther aufs tiefste erschüttert werden mußten, wenn nicht jedes Gefühl in ihnen erstorben war. Er wählt zunächst ein Bild von den damals üblichen Schauspielen, um ihre niedrige und schmachvolle Stellung in dieser Welt recht anschaulich zu machen. Die Apostel waren in dem großen Welttheater vor Menschen und Engeln zur Schau gestellt, und der Wut und Brutalität der Kinder dieser Welt preisgegeben. Im Blick auf die Propheten des Alten Testaments und anderer Boten Gottes vor ihnen waren sie gleichsam die letzten; und sowie bei jenen heidnischen Schauspielen an dem letzten Tage der herrlichste und feierlichste Akt stattfand, so übertrafen auch ihre Lei­den und Versuchungen die ihrer vorangegangenen Brüder (V. 9). 

Wäh­rend nun die Korinther für weise und mächtig galten und angesehen waren, waren sie Narren um Christi willen, und waren schwach und verachtet (V. 10). Sie litten bis zu der gegenwärtigen Stunde — also auch dann noch, als Paulus diesen Brief schrieb — Hunger und Durst, waren nackt und wurden geschlagen; sie hatten keine bestimmte Woh­nung und mußten mit ihrer Hände Arbeit ihr Brot verdienen (V. 11). Während die Korinther in Gemächlichkeit und Luxus lebten, während sie in Ansehen und Ehre standen, waren Paulus und seine Mitarbeiter wie Auskehricht der Welt, ein Auswurf aller bis zu jenem Augenblicke. Versuchungen aller Art, ununterbrochene Leiden, unaufhörliche Kämpfe waren von Tag zu Tag ihr Teil hienieden. Und was waren ihre Waffen dagegen? — Sanftmut und Geduld. — Auf welche Weise rächten sie sich an ihren Feinden? Sie segneten und flehten" (V. 12. 13).

Wie ernst und ergreifend ist diese ganze Darstellung! Unverkenn­bar ist der tiefe Schmerz, womit das Herz des Apostels in Betreff der Korinther erfüllt war; aber dieser Schmerz bringt zugleich die rührendste Liebe Und das innigste Zartgefühl für sie ans Licht. „Nicht euch zu beschämen, schreibe ich dieses; sondern ich ermahne euch als meine geliebten Kinder. Denn wenn i h'r zehn­tausend Zuchtmeister in Christo hättet, so doch nicht viele Väter; denn in Christo Je s u habeich euch gezeugt durch das Evangelium. Darum bitte ich euch, seid meine Nachahmer" (V. 14—16). Der Apostel allein konnte so sprechen. Er war ihr Vater; er hatte sie in Christo Jesu gezeugt und war jetzt bemüht, sie von allen verderblichen Einflüssen zu befreien und zur Einfalt und Nüchternheit des Glaubens in 'Christo zurückzu­führen. Der Heilige Geist, der in die Versammlung herniedergekommen und an ihren Leiden und Schwierigkeiten aufs völligste teilnimmt, er­füllte seine Seele mit dem innigsten. Mitgefühl und mit der zärtlichsten Sorge. Alles, was in der Versammlung vorging, berührte und bewegte ihn aufs tiefste; und geleitet durch den Geist und erfüllt mit der Liebe Christi, trat er mit göttlicher Weisheit in alle diese Umstände ein, flehte, ermahnte, belehrte, wirkte auf Herz und Gewissen, und dies

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 alles tat er, um die Korinther von dem zu befreien, worin menschliche Weisheit sie gefangen hielt. Ja, mit allen Gefühlen eines Vaters — ihres Vaters in Christo — war er bemüht, sie auf den rechten Weg zu leiten. Und alle diese Gefühle, dieser Schmerz, diese Sorge der Liebe und diese Weisheit im Händeln waren Gott gemäß, bewirkt durch den Heiligen Geist, der auf diese Weise das Band zwischen dem Apostel und der Versammlung immer fester knüpfte und die Herzen unter ein­ander immer mehr zusammenschmolz. — Wie kalt und herzlos, war dagegen das Benehmen eines Zuchtmeisters! Er konnte wohl korrigieren und richten, aber kein Herz für sie haben, wie Paulus — nicht das Herz eines liebenden Vaters gegen seine eigenen Kinder; ja, zehn­tausend Zuchtmeister ersetzen nicht einen Vater.

Paulus hatte den Timotheus, sein geliebtes und treues Kind, zu ihnen gesandt, um die verderblichen Gewässer, die den schützenden und hemmenden Damm zu durchbrechen drohten, abzuleiten, und durch seine bewährte Treue seine geliebten Brüder, die in ihrer Treue etwas nachgelassen hatten, zu ermuntern, sie an die heilsamen und gesegneten Wege des Apostels zu erinnern und in seiner Lehre zu be­festigen (V. 17). Paulus wollte aber auch selbst kommen. Einige, erfüllt mit Stolz und Eigendünkel, stellten dies zwar in Abrede, indem sie dachten, daß er es unter solchen Umständen nicht wagen würde; und sie benutzten gerade seine Abwesenheit, um sich zu erheben (V. 18). Allein Paulus wollte kommen und alles auf die Probe stellen. Er wollte dann aber nicht die Worte der Aufgeblasenen, die mit ihrem philoso­phischen Eigendünkel erfüllt waren, anerkennen, sondern die Kraft (V. 19). Das Reich Gottes hat mit diesen eitlen und leeren Worten nichts zu tun, sondern es besteht in Kraft (V. 20). — Aber wie sollte er kommen? „Mit der Rute?" — sollte er., wenn er zu ihnen kam, von seiner apostolischen Macht Gebrauch machen und sie züchtigen? — „oder in Liebe und im Geiste der Sanftmut" (V. 21)? Diese Frage läßt uns klar durchblicken, warum der Apostel bisher gezögert hatte, zu kommen. Sie gibt uns ein schönes Zeugnis von seiner zärt­lichen und innigen Liebe, der es so schwer fällt, von der Rute Gebrauch zu machen.

Hier endet nun der erste Teil dieser Epistel, in welcher wir die apostolische Autorität und die Zärtlichkeit eines Vaters auf eine so bewunderungswürdige Weise miteinander verbunden sehen. Und ge­rade in dem völligen Bewußtsein dieser Autorität von Seiten Gottes ist Paulus fähig, mit aller Zärtlichkeit und Liebe gegen die zu handeln, die seinem Herrn so teuer waren, und sich zugleich der Hoffnung hin­zugeben, daß es nicht nötig sei, dieselbe auf andere Weise auszuüben.

Kapitel 5

Hier kommt nun der Apostel auf das Sittenverderbnis, welches in der korinthischen Versammlung einzureißen drohte. Zu­nächst rügte er mit großem Ernst eine unter ihnen vorhandene Sache in Betreff der Hurerei — eine Sache, die von der größten Verhärtung des Gewissens Zeugnis gab, welche selbst unter den Nationen nicht zu finden war, daß nämlich einer seines Vaters Weib hatte (V. l). Und

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 die Herzen der Korinther waren so wenig geistlich und so wenig von der Gegenwart des Heiligen Geistes erfüllt, daß sie nicht einmal die Schlechtigkeit und Verwerflichkeit dieser Sache fühlten. Es mag sein, daß sie über das Hinwegtun oder das Ausschließen eines solchen Sün­ders nicht unterwiesen waren, daß sie weder die Verpflichtung kannten, die ihnen darin oblag, noch wußten, daß sie von Gott die Macht dazu empfangen hatten; aber eins wußten sie durch den Apostel selbst:

„nicht mit Hureirn Verkehr zu haben" (V. 9).; und wenn sie durch ein richtiges moralisches Gefühl gegen das Böse geleitet worden wären, so würden sie sich über die vorliegende Sache vor Gott gede­mütigt und gemeinschaftlich Leid getragen haben, damit das Böse aus ihrer Mitte hinweg geschafft worden wäre. Sie waren aber im Gegen­teil aufgeblasen und von sich selbst eingenommen (V. 2).

Die hier an die ganze Versammlung gerichteten Worte: „Und ihr seid aufgeblasen und habt nicht vielmehr Leid getragen," geben uns ein schönes Zeugnis von der praktischen Einheit derselben. Nur e i n Glied hatte diese schreckliche Sünde be­gangen; aber der Apostel wendet sich nicht an diesen einen, sondern an die ganze Versammlung, indem er sie alle in Verbindung mit dieser Sünde betrachtet, und deshalb die Demütigung aller erwartet. Wenn auch nur an einem Gliede des Körpers ein böses Geschwür aufbricht, so ist offenbar der ganze Körper nicht recht gesund. Ebenso ist es mit der Versammlung; und diese ist auch nur dann fähig, auf eine würdige Weise die Zucht auszuüben, wenn sie sich vorher mit der Sünde des gefallenen Bruders vor Gott eins gemacht hat, indem sie sich darüber vor Ihm demütigt und Leid trägt; denn das an einem oder mehreren Gliedern offenbar gewordene Böse zeigt entweder, daß der Zustand der Versammlung selbst moralisch nicht besser, oder doch, wenn er wirk­lich geistlich ist, daß sie es wenigstens an dem nötigen „Achthaben auf einander" hat fehlen lassen, — immer aber, wenn anders das Bewußt­sein der Einheit der Versammlung und das Gefühl der Heiligkeit Gottes vorhanden ist, wird sie sich zuerst vor Ihm demütigen, und dann erst die notwendig gewordene Zucht ausüben. In diesem Geiste handelte der Apostel. 

Tief betrübt über die Entheiligung des Hauses Gottes, ist er zuerst bemüht, in den Herzen der Korinther Scham und Demütigung zu erwecken, indem er ihnen das Schändliche der Sünde, ihrer Sünde, vor Augen stellt, und dann übt er mit aller Energie und mit seiner ganzen apostolischen Autorität die Zucht aus, indem er die sofortige Ausschließung des in offenbarer Schande lebenden Sünders bewerk­stelligt. Er handelt aber nicht ohne die Versammlung, in eigener Machtvollkommenheit; denn er sagt: „Denn ich, zwar dem Leibe nach als abwesend, aber im Geist gegenwärtig, habe, wie gegenwärtig, schon über den geurteilt, der die­ses also getan hat: Im Namen unseres Herrn Jesu Christi, w,enn ihr und mein Geist m,i t der Macht un­seres Herrn Jesu Christi versammelt seid, solchen dem Satan zu überliefern, zum Verderben desi Flei­sches, auf daß der Geist am Tage des Herrn Jesu des Heils teilhaftig werde" (V. 3—5).

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 Bei dieser ernsten und feierlichen Handlung haben wir also nicht nur die Tätigkeit der Versammlung, sondern auch die Macht des -Geistes, deren Gefäß und Kanal hier der Apostel ist, und die Macht des Herrn Selbst, als das Haupt. Seines Leibes. Würde die Versammlung eine solehe Zucht nicht in der Gemeinschaft mit Jesu und geleitet durch die Gegenwart des Heiligen Geistes ausüben, so würde dieselbe sowohl für sie selbst, als auch für den schuldigen Sünder ohne Frucht bleiben;

denn man würde vergessen die Gerechtigkeit in Liebe auszuüben. Bei Ausübung der Zucht in der Versammlung gibt es namentlich zwei Ge­fahren, die oft ihre gesegnete Wirkung verhindert haben; man kann entweder in einem richterlichen Geiste handeln, oder gegen das Böse gleichgültig sein. Gnade und Liebe, verbunden mit Ab­scheu gegen die Sünde, müssen jede Handlung der Versammlung be­zeichnen. Nichts muß weiter von uns entfernt sein, als die Angelegen­heiten des Hauses Gottes auf eine richterliche Weise zu behan­deln. Geschieht dieses, so hat die Versammlung weit mehr den Charak­ter eines Gerichtshofes, als den der Wohnung Dessen, der sanftmütig und von Herzen demütig war. Ebenso verwerflich ist aber auch die Gleichgültigkeit gegen das vorhandene Böse; denn es verrät nicht weniger Gleichgültigkeit gegen die Ehre des Hauses selbst und gegen die Heiligkeit Dessen, der es bewohnt. Wenn in unserem eigenen Hause irgend eine schändliche und entehrende Tat begangen wäre, so würde sich sicher das ganze Haus dadurch entehrt fühlen; kein einziges Glied der Familie würde dagegen gleichgültig bleiben und sagen können:

„Das kümmert mich nicht.". Oder wenn es gar nötig wäre, einen gott­losen Sohn, um seinen schädlichen Einfluß auf die übrigen Glieder der Familie zu verhindern, aus dem Hause zu entfernen, ihn zur Umkehr zu bewegen, ohne Erfolg geblieben wären, so würde gewiß ein solcher Auftritt ein Gegenstand der Thränen, des Kummers und des Leid­tragens für alle im Hause sein. Unmöglich würde irgend ein wahres Glied der Familie bei solch einer ergreifenden Szene gleichgültig sein oder auch, im Gefühl der eigenen Gerechtigkeit, mit Lieblosigkeit und Härte über den armen, verblendeten und verhärteten Bruder urteilen können. 

Und dieselben Gefühle werden bei der Ausübung der Zucht in der Versammlung offenbar werden, wenn das Bewußtsein der Ein­heit derselben, in dem Bande der Liebe und des Friedens, vorhanden ist, wenn die Liebe Christi die Herzen erfüllt, und die eigene Schwach­heit erkannt wird. Denn zu welchem Zweck wird die Zucht ausgeübt? Um den Schuldigen zu strafen? 0 nein; um ihn zu retten und wie­der zurückzubringen; — „auf daß der Geist am Tage des Herrn Jesu des Heils teilhaftig werde." Die Zucht darf also nur im Geiste der Liebe ausgeübt und als eine schuldige Pflicht, nie als ein Recht betrachtet werden.

Die Versammlung ist die Wohnstätte Gottes im Geist; die Welt hingegen ist der Schauplatz der Macht des Feindes, der stets beschäf­tigt ist, irgend ein Glied durch das Fleisch und durch die Dinge der Welt zu betören und von Christo abzuziehen. Und ach, wie unzählige Male ist es ihm in der Versammlung Gottes gelungen, was ihm schon damals in Korinth gelang! — Weil nun jeder Gläubige durch seinen Wandel nach dem Fleische Gott und Seine Versammlung verunehrte, so mußte

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 er durch die Macht des Geistes ausgeschieden und dem Feinde, über­geben werden, der wider seinen Willen, wie wir, obgleich unter anderen Umständen, so deutlich bei Hiob zu sehen, ein Diener der Ratschlüsse Gottes sein muß. Weil jener nicht fähig war, sein Fleisch für gekreu­zigt oder tot zu halten, und deshalb durch dasselbe moralisch unter die Macht Satans gebracht wurde, so mußte er jetzt auf diesem ernsten Wege der Zucht, durch Übergabe an den Feind, zur Zerstörung sei­nes Fleisches — sei es durch Krankheit oder andere Übel — gedemütigt und geläutert werden. Auf diesem Wege sollte er von der Täuschung, in welcher das Fleisch ihn gefangen hielt, befreit werden; er sollte praktisch erfahren, was die Sünde im Lichte der Heiligkeit Gottes ist und wie elend sie den Sünder macht. Das Gericht Gottes wurde an ihm vollzogen und es war nicht mehr nötig, daß es am Tage des Herrn ge­schah, an welchem das Gericht zur Verdammnis derer sein wird, die verloren gehen. Das zeitliche Gericht ist demnach ein großer Segen, wenn auch in schrecklicher Form. Es offenbart uns ein wunderbares Exempel der Regierung Gottes, daß Er Selbst die Feindschaft des Wider­sachers gegen die Heiligen zu deren geistlicher Segnung ausschlagen läßt. Er denkt nur an ihr Heil, und diese Gesinnung zeigt uns aufs deutlichste, wie verwerflich es ist, wenn die Zucht in der Versamm­lung in einem richterlichen Geist ausgeübt wird, wenn bei diesem ernsten und ergreifenden Akt nicht das tiefste Mitgefühl und die zärt­lichste Liebe die Herzen durchdringt und leitet. Ebensowenig dürfen wir aber auch außer Acht lassen, daß die Versammlung, was auch ihre moralische Fähigkeit, um das Schwert des Herrn zu handhaben, sein mag, stets für die Ausführung der Zucht verantwortlich ist; denn in dem letzten Vers dieses Kapitels befiehlt der Apostel ausdrücklich:

„Tut den Bösen aus eurer Mitte!" Um sie aber auf eine würdige und gesegnete Weise auszuüben, muß, wie schon gesagt, sowohl die eigene Demütigung der Versammlung vorhergehen, als auch die Ausübung selbst in Gemeinschaft des Herrn Jesu und des Heiligen Geistes ge­schehen. Abscheu gegen die Sünde, und Liebe und Mitgefühl für den Sünder sind die wahren Motive, die bei dieser ernsten und feierlichen Handlung Aller Herzen erfüllen müssen.

Die korinthische Versammlung gibt uns in dieser Sache ein war­nendes Beispiel. Sie hatten Ursache, sich tief zu schämen und Leid zu tragen, aber sie waren vielmehr aufgeblasen: „Euer Ruhm", sagt der Apostel, „ist nic.ht gut; wisset ihr nicht, daß ein wenig Sauerteig die ganze Masse durchsäuert?" (V. 6). — Diese Worte bestätigen aufs Neue die Einheit der Versammlung. Durch die Sünde des einen war die ganze Versammlung verunreinigt. So wie der Sauerteig nicht nur einen Teil, sondern die ganze Masse durch­säuert, so verunreinigt auch die eine böse Tat die ganze Versamm­lung, und sie hat nötig, wieder gereinigt zu werden. Diese Reinigung geschieht entweder dadurch, daß das Böse beseitigt wird, indem der Sünder sich vor Gott demütigt und richtet und nicht länger in der Sünde vorangeht, oder dadurch, daß er selbst, wenn sein Gewissen verhärtet ist, ausgeschlossen und alle brüderliche Gemeinschaft mit ihm abgebrochen wird.

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 Der Ruhm der Korinther war nicht gut. Wie groß auch ihre Gaben sein mochten, nichts stand ihnen schlechter an, als aufgeblasen zu sein, während das Böse in ihrer Mitte auf eine so traurige Weise wucherte, _ ein schlagender Beweis, daß die reichlich empfangenen Gnadengaben, wie z. B. Rede und Erkenntnis, nur zur Unehre des Herrn und zur Er­hebung des Menschen gereichen, wenn sie nicht mit einem demütigen Herzen begleitet sind. — Es war jetzt, in der Versammlung in Korinth notwendig geworden, den alten Sauerteig — in der heiligen Schrift immer ein Bild des Bösen — auszufegen, um auch in der Praxis eine neue Masse zu werden, wie sie es vor Gott in Christo war. „Darum feget den alten Sauerteig aus, auf daß ihr eine neue Masse werdet, gleich wie ihr ungesäuert seid" (V. 7). Im Geist und nur als Versammlung betrachtet, waren sie ungesäuert; sie waren Geheiligte in Christo Jesu. Gott sieht die Versammlung vor Sich in ihrer neuen Natur in Christo, sie ist ungesäuert; aber durch die Kraft des Heiligen Geistes soll sie es auch in der Praxis sein. Das Fleisch ist zwar vorhanden; aber sie soll durch den Glauben fähig sein, dasselbe für tot zu halten, und so zu wandeln, wie es ihrer ge­segneten Stellung in Christo gemäß ist. 

Diese Stellung selbst kann zwar durch das Eindringen des Sauerteigs nicht angetastet werden, die Versammlung bleibt ungesäuert; aber gerade dies köstliche Bewußtsein soll in allen Herzen den Eifer erwecken, sich auch praktisch von dem alten Sauerteig zu reinigen. „Denn auch unser Passah, Chri­stus, ist für uns geschlachtet. Darum laßt uns Fest­feier halten, nicht mit altem Sauerteig, noch mit Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit ungesäuertem Brote der Lauterkeit und Wahr­heit" (V. 7. 8). Um auf eine würdige Weise Festfeier zu halten, und von Christo, dem wahren Passah, zu essen, hat also die Versammlung nötig, zuerst den alten Sauerteig hinwegzutun, sich praktisch von dem vorhandenen Bösen zu reinigen. Schon das Passah des alten Bundes durfte nur mit ungesäuertem Brote .gegessen werden, wie vielmehr ge­ziemt es der Versammlung, nur mit ungesäuertem Brote, d. i. mit einem reinen Herzen und einer Gesinnung der Lauterkeit und Wahrheit, von Christo, dem Passah des neuen Bundes, zu genießen.

Der Apostel hatte den Korinthern — vielleicht in einem frühere» Brief — geschrieben, „nicht mit Hurern Verkehr zu haben "' (V. 9); doch hatte er damit keineswegs den gewöhnlichen und nötigen Verkehr mit den Kindern dieser Welt gemeint; denn dann hätten sie aus der Welt gehen müssen (V. 10), sondern sie sollten von dem sich trennen, der Bruder genannt wurde, und in offenbaren Sünden • lebte. Mit einem solchen sollten sie keinen Verkehr haben, selbst nicht mit ihm essen, weder am Tische des Herrn noch bei etwaigen brüderlichen und gemeinschaftlichen Mahlzeiten (V. 11). Durch diese strenge Abson­derung sollten sie aber keineswegs ihre Härte oder Gleichgültigkeit gegen den Sünder, sondern ihren Abscheu gegen das Böse an den Tag legen, sie sollten öffentlich beweisen, daß sie keine Gemeinschaft mit der Sünde und darum auch nicht mit dem haben konnten, der darin lebte und durch dieselbe verunreinigt war. Leider aber findet auch

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 diese ernste und bestimmte Ermahnung des Apostels selten die rechte Würdigung. So wie es bei Ausübung der Zucht oft an der nötigen Lang­mut und Liebe mangelt, so mangelt es im Verhalten gegen die Aus­geschlossenen, die mit Gleichgültigkeit in der Sünde oder ihrem schlech­ten Zustande beharren, nicht selten an der entschiedenen Absonderung. Anstatt sich in beiden-Fällen durch das Wort und den Geist leiten zu lassen, läßt man sich durch seine eigenen Gefühle leiten, ist auf der einen Seite zu hart und auf der anderen zu weich und zu schlaff, und nicht selten wird durch ein solches Verhalten der Zustand des eigenen Herzens offenbar.

Der Apostel unterscheidet bei Ausübung der Zucht die, welche drau­ßen sind und ihr Teil in der Welt haben, und die, welche drinnen sind, und mit Christo ihr Teil haben — eine Unterscheidung, die leider durch menschliche Einrichtungen, welche Bekehrten und Unbekehrten in Be­zug auf die Vorrechte der Versammlung Gottes hienieden gleiche Be­rechtigung eingeräumt haben, vielfach verdunkelt und sogar vernichtet worden Ist. Dennoch bleibt die Kirche für die Ausübung der Zucht ver­antwortlich; und noch immer gilt das Wort des Apostels: „Denn was habe ich die, welche draußen sind, zu richten? Ihr, richtet ihr nicht,die drinnen sind? Die aber draußen sind, wird Gott richten; tut den Bösen aus eurer Mitte" (V. 12. 13). Die Versammlung hat also die ernste Verpflichtung, diejenigen zu richten, d. i. Zucht an ihnen auszuüben, die drinnen sind;

aber die, welche draußen sind, dem Urteil Gottes zu überlassen. Sie ist ernstlich ermahnt, jeden Bösen, der in den vom Apostel hier näher bezeichneten oder auch in anderen offenbaren Sünden lebt, oder in einem durch solche Sünden verunreinigten Zustande gleichgültig ver­harrt, aus ihrer Mitte hinweg zu tun.*) — 0 möchte doch der Herr durch den Geiät der Heiligkeit in den Seinigen wirken, damit die heil­same Zucht, die sowohl zur Verherrlichung Seines Namens als auch zum Wohl Seiner Versammlung dient, wieder auf eine würdige und Gott gefällige Weise anerkannt und ausgeübt werde!

Kapitel 6

Der erste Teil dieses Kapitels läßt uns voraussetzen, daß in der korinthischen Versammlung viele Streitigkeiten über zeitliche Dinge vorhanden waren; und sowohl dieser Umstand, als auch noch vielmehr ihr Verhalten darin, liefert uns einen neuen Beweis ihres schwachen Zu­standes. Sie trugen keine Bedenken, ihre Rechtsangelegenheiten den welt­lichen Richtern zur Entscneidung vorzulegen. Der Apostel drückt seinen ernsten Tadel darüber aus, indem er tragt: „Wagt jemand unter euch, der eine Sache wider den ändern hat, zu rech-.ten vor den Ungerechten und nicht vor den Heiligen"

*) Es wird wohl kaum nötig sein, auf den Unterschied, welcher zwischen diesem Befehl des Apostels und dem des Herrn in Matth. 13 besteht, auf­merksam zu machen. Paulus sagt in Bezug auf die Versammlung:

„Tuet den Bösen aus eurer Mitte!" -und der Herr Jesus in Bezug auf das Reich, dessen Acker die Welt ist: „Lasset beides zusammen wachsen!"

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 (V. l)? Das Ungeziemende ihrer Handlungsweise durch das Recht von jenen, die der Apostel nach ihrem allgemeinen Charakter als „Un­gerechte" bezeichnet, erscheint aber im Blick auf die gesegneten Vorrechte der Heiligen in einem noch weit traurigeren Lichte. „W i s s e t ihr nicht," fragt der Apostel, „daß die Heiligen die Welt richten werden? Und wenn die Welt durch euch ge­richtet wird,seid ihr für die geringsten Rechtsachen unfähig? Wisset ihr nicht, daß wir Engel richten werden? Und nicht einmal die Sachen des täglichen Lebens" (V. 2. 3). Wenn der Herr kommen wird, um die Welt zu richten und über Engel sein Urteil zu sprechen, dann wird die Ver­sammlung, die hienieden mit Ihm ausgeharrt und Seine Schmach ge­tragen hat, dort mit Ihm vereinigt sein und an Seinem Gericht teil­nehmen. „Wenn wir ausharren, werden wir auch mitherrschen," sagt der Apostel an einer anderen Stelle (2. Timoth. 2, 12; vergl. Luk. 22, 28—30; Offenb. 2, 26. 27). Und weissagend spricht Henoch: „Siehe, der Herr kommt mit Seinen heiligen Tausenden, Gericht wider alle aus­zuführen ..." (Judas V. 14. 15). Wie beschämend war es nun im Blick auf diese hohe und herrliche Berufung für die Korinther, daß sie nicht einmal fähig waren, über die niedrigen Dinge des täglichen Lebens zu richten, die doch so wenig geistige Fähigkeit erforderten, daß selbst, „die gering geachteten in der Versammlung," die Schwäch­sten in derselben, tüchtig genug sein mußten, um darüber zu ent­scheiden (V. 4). 

Und wie demütigend müßte es für die sich weise dünkenden Korinther die Frage des Apostels sein: „Ist so gar kein Weiser unter euch? auch nicht einer, der fähig sei, zwischen Bruder und Bruder zu urteilen; sondern es rechtet Bruder mit Bruder, und dieses vor Ungläu­bigen? Es ist ja nun schon überhaupt ein Fehler an euch, daß ihr miteinander rechtet" (V. 5—7). 0 gewiß, hätten die Korinther ihre hohe und erhabene Berufung erkannt, so würden sie nimmer daran gedacht haben, ihr Recht bei den Unge­rechten zu suchen; hätten sie im Glauben ihr himmlisches Teil, die zu erwartende Herrlichkeit, angeschaut, hätten sie im Blick auf die Nich­tigkeit alles Sichtbaren in Wahrheit beherzigt, daß für sie eine bessere und bleibende Habe im Himmel lag, so würden sie es sicher nicht der Mühe wert geachtet haben, sich einen Augenblick bei diesen niedri­gen und vergänglichen Dingen aufzuhalten oder gar mit Brüdern darüber zu rechten; und hätten sie endlich den wahren Charakter ihrer Stellung als Fremdlinge in dieser Welt verstanden, so würde es ihnen nicht ein­mal in den Sinn gekommen sein, ihre Ansprüche und ihr Recht darin geltend zu machen. 

Die freie und unumschränkte Gnade hat uns er­rettet, die freie und unumschränkte Gnade ist unser Fundament und das stets uns bergende Schirmzelt, und darum geziemt es auch uns, stets und gegen alle nach dieser freien und vollkommenen Gnade zu handeln. „W arum lasset ihr euch nicht viel lieber Un­recht tun? Warum lasset ihr euch nicht lieber über­vorteilen?" Eine solche Gesinnung allein ist dem Geiste Christi gemäß. Hier haben wir zu vergeben, zu leiden, zu dulden und zu ver­leugnen; haben gleich Ihm Unrecht zu leiden und uns übervorteilen

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 zu lassen, vimd nicht unser Recht zu suchen; hier besteht unsere Zierde und unser Vorrecht darin, als Jünger Christi das Kreuz unseres hoch­gelobten Meisters zu tragen und Ihm in Demut nachzufolgen, bis Er Selbst das Szepter in Seine Hand nimmt und Seine Rechte über die ganze Erde geltend macht. Dann werden wir auch dort Seine Stellung mit Ihm teilen; denn „wenn wir ausharren, werden wir auch mit Ihm herrschen."

Wie sehr aber hatten die Korinther ihre Berufung vergessen! Wie sehr stand ihre Gesinnung und Handlungsweise in dieser Sache im völligen Gegensatz zu dem Geiste Christi! Anstatt das Unrecht zu leiden, konnte von ihnen gesagt werden: „Aber ihr, ihr tut Unrecht und übervorteilt, und dieses an Brüdern" (V. 8). Das war Christi Geist nicht, „der, gescholten, nicht wieder schalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem befahl, der recht richtet" (1. Petr. 2, 23). Und ach, wie Wenige gibt es auch in unseren Tagen unter den Seinigen, die sich im Kampf wider die Ungerechtigkeiten in dieser Welt durch den Geist der Sanftmut oder Geduld Christi leiten lassen! '— Zugleich erinnert hier der Apostel dia Korinther an ihre Verantwortlich­keit, welche durch die göttliche Unumschränktheit der Gnade nicht aufgehoben wird. „W isset ihr nicht, daß die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden" (V. 9)? Dies bleibt das Urteil Gottes, was Er Selbst den Gläubigen ins Bewußt­sein bringt, falls sie anfangen, gegen das Unrecht gleichgültig zu wer­den. Er läßt ihnen zurufen: „Irret euch nicht" (V. 9)! Wie frei und überströmend auch Seine Gnade ist, so werden doch die Unge­rechten das Reich Gottes nicht ererben, noch wird die Verantwortlich­keit der Heiligen in Betreff des praktischen Lebens aufhören. Wie könnten diese auch fähig sein, jene am Tage des Herrn zu richten, wenn sie selbst an ihren gottlosen Werken Wohlgefallen gefunden hätten? Freilich hatten sie früher in demselben Zustande gelebt.

 Et­liche von ihnen hatten sich sogar in den Reihen derer befunden, die vor allem als solche bezeichnet sind, die das Reich Gottes nicht ererben sollen. Jetzt aber standen sie auf einem ganz anderen Boden, Die un­umschränkte Gnade Gottes hatte sie errettet und das Blut Christi sie gereinigt. „Ihr aber seid abgewaschen, ihr aber seid ge­heiligt, ihr aber seid gerechtfertigt in dem Namen unseres Herrn Jesu Christi, und durch den Geist un­seres Gottes" (V. 11). Das war ihre gesegnete und unantastbare Stellung in Christo Jesu vor Gott. Sie war durch die Kraft des Heiligen Geistes und nach dem Werte des Namens Jesu; allein sie war praktischer Weise völlig verkannt und verleugnet, sobald sie an der Gesinnung und Handlungsweise derer teilnahmen, die das Reich Gottes nicht er­erbten.

Der Apostel kommt dann in diesem Kapitel noch auf zwei andere Übel, welche in der Versammlung zu Korinth gefährlich zu werden drohten. Auf der einen Seite war es der Geist der Gesetzlichkeit oder des Judaismus und auf der anderen Seite der Geist der Gesetz­losigkeit oder der Welt. Jener verleitete sie, ihr Heil in äußeren Formen, in der Heiligkeit des Fleisches zu suchen und dieser, gleich-

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 gültig gegen die Sünde zu sein und den Begierden freien Laut zu las­sen. Durch diese beiden Übel hat der Feind zu aller Zeit und an allen Orten die Christen zu verderben gesucht. In Bezug auf das erste sagt nun der Apostel: „Alles steht mir frei; aber nicht alles ist nützlich. Alles steht mir frei; aber ich werde mich von Keinem überwältigen lassen. Die Speisen dem Bauch und der Bauch den Speisen; — Gott aber wird beide,diesen und jene vernichten. Der Leib aber nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der Herr dem Leibe" (V. 12. 13). In Betreff der Speisen habe ich vollkommene Freiheit, weil mir alles erlaubt ist; aber ich wandle erst dann in wah­rer Freiheit, wenn ich mich von keinem Dinge in Knechtschaft bringen lasse. Die Speise und der Bauch stehen miteinander in Verbindung und werden beide miteinander vernichtet werden .

Der Leib aber hat eine höhere Bestimmung. Er ist nicht für Hure­rei, sondern für den Herrn, um Ihm zu dienen, und der Herr für den Leib, um ihn zu erlösen (V. 13); und mit dieser Wahrheit tritt der Apo­stel der anderen Gefahr entgegen. Unser Leib — derselbe Leib, den wir jetzt umhertragen, wird das Sterbliche ablegen und das Unsterbliche anziehen. „Gott hat den Herrn auferweckt, und wird uns auferwecken durch Seine Macht" (V. 14). Das Blut Christi ist auch das Lösegeld für unsern Leib. Wir sind ganz von Ihm erkauft, und die Auferweckung des Leibes wird das End-Resultat dieser gesegneten Tatsache sein. Zugleich sind wir infolge dieser Erkaufung durch Sein Blut jetzt schon, auch sogar dem Leibe nach, auf das innigste mit Christo vereinigt; denn mit Nachdruck fragt der Apostel: „Wisset ihr nicht, daß eure Leiber Glieder Christi sind? Soll ich nun die Glieder Christi nehmen, und sie zu Glie­dern einer Hure machen?.— Das sei ferne" — (V. 15)! Das höchste Vorrecht und die ernsteste Verantwortlichkeit in Betreff unseres Leibes begegnen sich hier. Unsere Leiber sind Christi Glieder;

sie sind ein Teil von Ihm; und wie schrecklich und verwerflich ist es deshalb, wenn ich — nicht einfach meinen Leib als solchen, sondern — die Glieder Christi nehme und zu Gliedern einer Hure mache! Diese gesegnete Beziehung zeigt uns die Sünde der Hurerei in ihrem wahren Lichte und offenbart uns ihre ganze Abscheulichkeit. — Sollte es uns etwa auffallend sein, daß der Apostel es für nötig fand, mit einer Versammlung Gottes über die Verwerflichkeit eines solchen Lasters so eingehend und ernst zu reden, so möge man bedenken, daß die Hurerei, die nach unseren gegenwärtigen Sitten und Gewohnheiten freilich eine verurteilte Sache ist, in dem heidnischen Korinth sogar einen Teil ihrer gottesdienstlichen Feierlichkeiten ausmachte. Die Aufhebung derselben war also eine ganz neue Sache, und darum mußte auch das Gefühl ihrer Verwerflichkeit in den Herzen der Gläubigen zuerst geweckt wer­den. Und nichts ist so sehr im Stande uns von der Verwerflichkeit aller Hurerei zu überzeugen, als diese gesegnete Tatsache, daß unsere Leiber Christi Glieder sind.

Eine andere, mit dieser in Verbindung stehende Wahrheit enthüllt uns der 16. und 17. Vers. So wie durch die Verbindung gemäß des Fleisches zwei zu einem Leibe werden, so fst auch der, der dem Herrn

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 anhanget, ein Geist mit Ihm, Der Geist, der in Christo ohne Maß, in vollkommener Fülle wohnte, ist derselbe Geist, der auch in uns wohnt und uns mit Ihm vereinigt hat. Nach Seele, Geist und Leib gehören wir dem Herrn an und sind durch ein unauflösliches Band mit Ihm ver­bunden. — Der Apostel bezeichnet die Hurerei als die einzige Sünde, womit wir gegen unsern Leib sündigen, indem wir durch seine Über­gabe an eine Hure praktisch sein Band mit Christo brechen, seine Be­ziehung zu Ihm entweihen und das durch Sein Eigenes Blut Sich erwor­bene Anrecht Christi an denselben völlig verleugnen (V. 18).

Es gibt endlich noch eine sehr gesegnete und bevorzugte Stellung unseres Leibes, die ebenfalls alle Hurerei völlig ausschließt. „ Wisset ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist, welchen ihr von Gott habt, und daß ihr nicht euer selbst seid" (V. 19)? Unser Leib ist also ein Tempel des Heiligen Geistes. Er wohnt darin als in Seinem Hause, und jede Verunreinigung und Befleckung des Leibes durch Sünde ist darum eine Entweihung des Tempels Gottes, eine Ver­letzung der Ehre und Heiligkeit Dessen, der ihn bewohnt. — Wir sehen in Joh. 2, wie sehr der Herr für die Reinigung des Tempels zu Jerusa­lem eiferte; und sollten wir nun weniger für die Heiligkeit des Tem­pels besorgt sein, der durch das kostbare Blut Christi erkauft und ge­reinigt und von Gott Selbst zu Seiner Wohnung auserkoren ist? Wir gehören ja auch uns selbst nicht mehr an, wir haben kein Recht, über uns selbst zu verfügen; „denn," sagt der Apostel, „ihr seid um einen Preis erkauft" (V. 20). Wir sind völlig das Eigentum Des­sen, der uns erkauft hat; wir sind die Sklaven Christi. Soviel wir uns jetzt selbst leben, soviel entwenden wir von den Rechten Dessen, der uns um einen so kostbaren Preis erkauft hat. Unsere wahre Freiheit besteht darin, Gott anzugehören, Ihm allein zu leben und selbst an unserem Leib nur Ihn zu verherrlichen.

Wie ernst und ergreifend sind diese gesegneten Wahrheiten, die unserm ganzen Verhalten den wahren Charakter verleihen — wie mächtig die Beweggründe, unser ganzes Leben völlig dem Herrn zu widmen! Unsere Leiber sind Christi Glieder — wir sind ein Geist mit dem Herrn — unser Leib ist der Tempel Gottes — wir sind um einen Preis erkauft. Ja, heilig und unantastbar sind die Rechte Gottes über uns, und fest und unauflöslich ist das Band, das uns mit Ihm verbindet. Außerhalb dieser Beziehung sind wir nur Sklaven Satans, werden durch Selbstsucht geleitet und finden unser Ende — o schrecklicher Gedanke! — in der ewigen Ver­bannung von der einzigen Quelle aller Liebe. In Christo Jesu aber sind wir die besonderen Gegenstände und die gesegneten Gefäße dieser Liebe, und werden es ewig sein.

Kapitel 7

In Verbindung mit dem Vorhergehenden beantwortet der Apostel jetzt eine an ihn gerichtete Frage, die zwar verschiedene Punkte be­rührt, aber ihre allgemeine Beantwortung in den wenigen Worten des 17. Verses findet: „Wie d-e r Herr einem jeglichen ausge-

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 teilthat, wie Gott einen jeglichen berufen hat, also wandle er." — Wie niedrig die fraglichen Gegenstände dieses Kapitels, welche die Herzen der Korinther beschwerten, an und für sich auch sein mögen, so zeigt uns doch die Verfahrungsweise des Apostels ein bewundernswürdiges Beispiel von Weisheit und Milde. Zuerst beruhigt er die Herzen durch einfache Belehrung, und dann ist er ernst­lich bemüht, alle ihre Gedanken von diesen niedrigen Dingen, von die­sen unfruchtbaren Beschäftigungen abzulenken, zu dem gesegneten Dienst Christi hin, dem gegenüber alles andere hienieden unwert und nichtig ist. In allen Umständen, Lagen und Verhältnissen dieses Lebens gibt es für den Christen nur eine wichtige Frage: Wie kann ich darin am besten dem Herrn dienen? -So lange sein Herz mit den Umständen selbst beschäftigt ist, so lange diese im Stande sind, seinen Frieden zu stören, so lange ist er noch unmündig in Christo und wenig geeignet zu Gottes Verherrlichung hienieden zu wandeln.

Was nun zunächst das Heiraten oder Nichtheiraten betrifft, so sagt der Apostel im Allgemeinen: „Es ist gut für den Menschen, daß er kein Weib berühre" (V. l). Es könnte aber hier gefragt werden: Hat nicht der Herr bei Adam gesagt: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei?" Es ist wahr, Gott Selbst hat das Verhältnis zwischen Mann und Frau geschaffen, und sicher wird Er den nicht ungestraft lassen, der es entweiht und verachtet. Es ist aber die Sünde hineinge­kommen und hat alles, was der Natur, was der Kreatur angehört, ver­dorben. Nun hat Gott eine andere Macht eingeführt — eine Macht, die außerhalb der Natur und über derselben steht — die Macht des Geistes;

und wer dieser Macht gemäß wandelt, hat das beste Teil erwählt; wer frei von den Ansprüchen der Natur sich in dieser Welt dem Dienste des Herrn zu widmen vermag, tut wohl, wenn er diese Gabe benutzt. Doch ist es eine Gabe, die nur wenige besitzen; und nicht selten hat das Stehen außerhalb dieses Verhältnisses, welches Gott nach der Natur verordnet hat, geheime und offenbare Sünden zur Folge gehabt. Aus diesem Grunde ist es besser, verheiratet zu sein (V. 2). Und sobald ein eheliches Verhältnis besteht, treten gegenseitige Verpflichtungen ein. „Der Mann leiste dem Weibe die schuldige Pflicht, desgleichen auch das Weib dem Manne" (V. 3). Keiner kann in dieser Beziehung mehr eigenmächtig über seinen Leib verfü­gen. Der Mann ist das Eigentum seines Weibes und das Weib das Eigen­tum ihres Mannes (V. 4). Sie können sich zwar aus beiderseitiger Be­willigung eine Zeitlang enthalten, um sich auf eine besondere Weise dem Gebet und dem Umgang mit Gott zu widmen; aber darnach sollen sie unter Anerkennung des gegenseitigen Bandes wieder zusammen kommen, auf daß sie wegen ihrer Unenthaltsamkeit nicht vom Satan versucht werden (V. 5). Wenn sie keine Kraft haben, sich länger zu ent­halten, so kann Satan diesen Mangel an Enthaltsamkeit leicht benutzen, um in ihren Herzen allerlei Zweifel zu erwecken und ihr Vertrauen auf Gott und Seine Liebe zu schwächen.

Diese Anordnung in Betreff des Verhaltens im ehelichen Leben war nicht ein Gebot des Herrn, gegeben durch Inspiration — durch Eingebung des Heiligen Geistes — sondern war eine Frucht von Er-

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 fahrungen, die der Apostel in einem Leben voll hingebender Treue durch die Kraft und Hilfe des Heiligen Geistes erlangt hatte. Wenn der Apostel in diesem Kapitel so bestimmt hervorhebt: „Dies sage ich, nicht der Herr," so gibt uns dies einerseits einen deutlichen Beweis von der Niedrigkeit der Dinge, um welche es sich hier handelt, indem der Heilige Geist es nicht für nötig zu erachten scheint, in solch gering­fügigen Angelegenheiten besondere Unterweisungen durch Inspiration zu geben, da die geistlichen Erfahrungen des Apostels, seine Weisheit und Einsicht, die er zwar durch den Geist, aber in Verbindung mit den Übungen seines eigenen persönlichen Lebens erlangt hatte, ihn völlig befähigten, in solchen Dingen Anweisungen zu geben und Ratschläge zu erteilen, die Gott gemäß, waren. Andererseits sehen wir in diesem Kapitel so deutlich, welch einen genauen Unterschied der Apostel zwi­schen solchen, aus seiner eigenen Erfahrung hervorgehenden Unter­weisungen und denen macht, die durch Inspiration gegeben sind, wo­durch die Eingebung seiner Schriften auf das bestimmteste bestätigt wird. In den wenigen Fällen, wo diese nicht vorhanden war, wird es ausdrücklich bemerkt. Doch waren diese Eingebungen des Geistes, der in ihm wohnte, zugleich seine eigenen Gedanken und in Übereinstim­mung mit seinen eigenen Erfahrungen, während die Propheten des Alten Testaments selbst untersuchen mußten, was sie auf Eingebung des Geistes ausgesprochen hatten (1. Petr. 1. 10 11).

Der Apostel wünscht nun in Betreff des Heiratens, daß alle Men­schen sein möchten, wie er selbst; „aber," fügt er hinzu, „jeder hat seine eigene Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so" (V. 7); und dies Bewußtsein ist geeignet, jede Überhebung in dieser Sache in Bezug auf uns und jede Geringschätzung in Bezug auf Andere niederzuhalten.

In Betreff der Ledigen und Witwen sagt der Apostel, daß es gut sei, wenn sie blieben, wie er (V. 8). Wenn sie sich aber nicht enthalten konnten, wenn sie nicht fähig waren, ihre Natur in Unterwürfigkeit zu halten und ihr Herz in Keuschheit zu bewahren, so war es besser, zu heiraten. Die Nichtunterwürfigkeit der Begierde übt auf das christliche Leben einen verderblichen Einfluß aus, und in diesem Falle ist immer das Band der Ehe vorzuziehen (V. 9). — Die Verheirateten aber sollen sich nicht trennen. Dies war der bestimmte Befehl des Herrn und nicht der Rat christlicher Erfahrung (V. 10). Weder sollte die Frau von dem Manne sich scheiden, noch dieser Jene entlassen. Selbst wenn sie ge­trennt lebten, so sollte dennoch das Band der Ehe dadurch nicht als aufgelöst betrachtet werden; entweder sollten sie ledig bleiben oder sich gegenseitig aussöhnen (V. 11). Dies fand namentlich auf solche Ver­hältnisse seine Anwendung, wo beide, Mann und Frau, gläubig waren.

Es gab aber auch solche Ehen, wo der Mann gläubig und die Frau ungläubig war, und umgekehrt. Gefiel es nun dem ungläubigen Teil, bei dem Gläubigen zu wohnen, so sollte dieser keine Trennung herbei­führen (V. 12. 13). Das Gesetz des Alten Bundes erklärte zwar, daß sich ein Mann durch Verbindung mit einer heidnischen Frau verunreinigte und war deshalb genötigt, dieselbe mit ihren Kindern zu entlassen (siehe Esra, 10, 3); nicht aber war es also unter der Gnade. „Denn," sagt der Apostel, „der ungläubige Mann ist geheiligt durch das

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 Weib, und das ungläubige Weib ist geheiligt durch den Mann" (V. 14). Der persönliche Zustand des Ungläubigen verun­reinigte also dieses Verhältnis nicht — es wurde vielmehr durch den Gläubigen geheiligt — und deshalb hatte dieser auch nicht nötig, sich von jenem zu trennen. Würde aber in diesem Falle das Verhältnis un­rein gewesen sein, so waren auch die Kinder einer solchen Ehe unrein, und machten gleichfalls eine Trennung notwendig; wie auch der Apostel sagt: „Sonst wären eure Kinder unrein, nun aber sind sie heilig" — nicht ihrer Natur, sondern ihrer Stellung nach. Durch das geheiligte Verhältnis von dem Unreinen abgesondert befan­den sie sich äußerlich mit dem gläubigen Vater oder der gläubigen Mutter auf demselben Boden der Segnungen, indem sie sich nicht nur einer durch den Heiligen Geist geleiteten Zucht und Unterweisung von Seiten des Gläubigen zu erfreuen hatten, sondern auch als die Kinder derer, die die besonderen Gefäße der Liebe und Gunst Gottes sind, eine bevorzugte Stellung in Seinem Herzen emnahmen. Allein ebensowenig, wie das Geheiligtsein des ungläubigen Mannes oder Weibes eine per­sönliche Bekehrung unnötig macht, wie wir ganz deutlich in Vers 16 sehen, ebensowenig konnten diese in Wirklichkeit an den Vor­rechten der Versammlung teilnehmen, es sei denn durch ihren persön­lichen Glauben an Jesum Christum.

Es hatte also der gläubige Mann seine ungläubige Frau nicht fort­zuschicken, oder die gläubige Frau ihren ungläubigen Mann zu ver­lassen; wenn aber der ungläubige Teil, sei es Mann oder Frau, sich be­stimmt trennte, so konnte der Gläubige diese Trennung anerkennen. Er war frei und nicht mehr gebunden, sich mit jenem in einem ehelichen Verhältnis zu betrachten (V. 15). Doch hatte Gott sie zum Frieden be­rufen; und dies Bewußtsein sollte sie bewahren, daß sie nicht auf ir­gend eine Weise eine solche Trennung herbeizuführen suchten. Außer­dem gab es noch einen anderen Beweggrund, um jegliche Trennung der Art zu vermeiden. „Denn was weißt du, Weib, ob du den Mann erretten wirst? oder was weißt du, Mann, ob du das Weib erretten wirst" (V. 16)?

Übrigens hat ein jeglicher zu wandeln nach der ihm vom Herrn verliehenen Gabe und nach der ihm von Gott zuteil gewordenen Be­rufung (V. 17). Dies war die allgemeine Regel, die nun der Apostel von Vers 18—27 auf die verschiedenen Stellungen und Beschäftigungen in dieser Welt anwendet. Wollte der eine darin einen besonderen Vorzug erblicken, daß er in seiner Stellung als Heide, und der andere, daß er als Jude von Gott berufen war, und falls dies nicht geschehen, durch Zeugung einer Vorhaut oder durch Beschneidung sich dieses Vorzuges teilhaftig machen (V. 18), so sagt der Apostel, daß weder das eine noch das andere vor Gott Wert habe, sondern nur das Wandeln in Seinen Geboten (V. 19). Ebensowenig kommt es auf den äußeren Stand oder Beruf an, in welchem wir sind. Wir können in dem Stande blei­ben, worin uns Gott bei seiner Berufung findet, es sei denn, daß wir nicht mit einem guten Gewissen vor Gott darin bleiben können. Es ist deshalb nicht wichtig, in was für einer Beschäftigung wir sind, sondern ob wir mit Gott darin wandeln und Seinen Namen verherrlichen. In jedem Stande, in jeder Lage und in jedem Verhältnis hienieden ist dies

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 die allein nötige und wichtige Sache. Dünkt uns das eine oder andere zu niedrig und zu kleinlich für uns, so stehen wir hoch in unsern eige­nen Augen. Oder beschäftigen wir uns mit den Unannehmlichkeiten und Verleugnungen in einer Stellung, und sind deshalb bemüht, aus derselben herauszukommen, so verlieren wir die Zeit, den Namen des Herrn darin zu verherrlichen. Wir denken oft, an einem anderen Ort oder in einer anderen Stellung, Gott besser dienen zu können; aber Gott gedenkt uns da zu segnen und da unsern Dienst entgegen zu neh­men, wo "wir uns gerade befinden. Der Sklave sollte sich trösten, ein Befreier zu sein; aber im Blick auf die Schwierigkeit, den Willen eines heidnischen und Ungeistlichen Herrn mit dem Willen Gottes in Über­einstimmung zu bringen, sollte er die Gelegenheit, frei werden zu kön­nen, benutzen; dagegen sollte der Befreite nicht vergessen, daß er ein Sklave Christi war (V>22). Er war völlig Sein Eigentum, denn Christus hatte ihn um einen Preis erkauft; und diese gesegnete Tatsache sollte ihn nicht nur in steter Unterwürfigkeit erhalten, sondern ihn auch be­wahren, sich jemals als Sklave an irgend einen Menschen zu verkau­fen und somit seine äußere Freiheit zum Opfer bringen (V. 23). Übri­gens bleibt zu jeder Zeit und in allen Lagen das Wort des Apostels be­herzigenswert: „Ein jeglicher, Brüder, worin er berufen worden ist, darin bleibe er bei Gott" (V. 24).

Der Apostel hat nun bisher in Betreff der Ehe von den Ledigen, Witwen und Verheirateten gesprochen, und kommt jetzt auf jene, die nie in irgend einer ehelichen Verbindung gewesen waren. In diesem Punkte hat er kein bestimmtes Gebot vom Herrn und konnte nur als einer, der vom Herrn begnadigt war, treu zu sein, seine Meinung mit­teilen (V. 25). Schon im Blick auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten und die Anforderungen eines christlichen Lebens hienieden, hielt er es für gut, wenn sie blieben, wie sie waren (V. 26). „B ist du an ein Weib gebunden, so  suche nicht loszuwerden; bist du aber los vom Weibe, so suche kein Weib" (V. 27). Es war besser, nicht zu heiraten; wer aber heiratete, der sündigte nicht. „D och solche," sagt der Apostel, „werden Trübsal im Fleische haben" (V. 28). Die Trübsale sind heilsam für die, welche außer der Ehe nicht im Stande sind, ihr Fleisch in Unterwürfigkeit zu halten; sie sind ein mächtiges Gegengewicht für die unbezwingbare Natur. — Paulus dachte in Betreff der Korinther nur an Schonung, weshalb er auch in diesem Punkte so viel Freiheit ließ; doch im Blick auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten, die bis zur Ankunft des Herrn fortdauern und nicht erlauben werden, in äußerlicher Ruhe dem Herrn zu leben, spricht er die ernsten und beherzigenswerten Worte aus: — „Dieses aber sage ich, Brüder: die Zeit ist gedrängt;

— übrigens, daß auch die, welche Weiber haben, sei­en, als hätten sie keine; und die Weinenden, als nicht Weinende, und die sich Freuenden, als sich nicht Freuende, und die Kaufenden, als nicht Be­sitzende, und die dieser Welt Gebrauchenden, als ihrer nicht als Eigentum Gebrauchende; denn die Gestalt dieser Welt vergeht" (V. 29—31). In der Tat, eine ernste und sehr beherzigenswerte Ermahnung für alle Zeiten und für

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 alle Christen, die in dieser Welt in solchen Beziehungen gefunden wer­den! Hienieden an sich selbst zu denken, und für sich selbst besorgt zu sein, bringt keinen Nutzen, sondern vielmehr Schaden. Das Bewußt­sein der schnell dahineilenden Pilgrimzeit und die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge und Verhältnisse soll uns stets bewahren, uns durch das Sichtbare einnehmen und aufhalten zu lassen, und darum ist es nötig, in allen Dingen unsere Natur niederzuhalten und uns selbst zu verleugnen. Der Dienst des Herrn ist viel zu wichtig und zu gesegnet, als daß wir uns durch Selbstsucht und durch die niedrigen Dinge dieses Lebens darin sollten aufhalten lassen.

Der Apostel wünschte, daß die Korinther ohne Sorgen ihren Pilger­lauf vollbringen und ungeteilt ihrem Herrn dienen möchten (V. 32). Doch nur der Unverheiratete kann sich dieses Vorrechtes erfreuen, wenn die Liebe und die ungeteilte Sorge für die Dinge des Herrn ihn eine solche Stellung haben wählen lassen. Er lebt gemäß des Geistes und nicht gemäß der Natur, sogar in jenen Dingen, welche Gott mit Rücksicht auf die Natur als gut verordnet hat, während der Verheiratete für die Dinge dieses Lebens besorgt sein muß, indem das eheliche Ver­hältnis ihm stets Verpflichtungen gegen seine Frau und Kinder auf­erlegt (V. 33. 34). Doch kann er jetzt, da durch das eheliche Band die Anforderungen seiner Natur zum Schweigen gebracht sind, mit einem ruhigen Herzen vorangehen und Gott durch einen heiligen und Ihm wohlgefälligen Wandel verherrlichen.

Der Apostel gab aber nicht deshalb dem. ledigen Stande so entschie­den den Vorzug, um dadurch die Herzen der Korinther zu beunruhigen und sie ihrer Freiheit zu berauben, sondern zu ihrem Nutzen. Es war in der Tat eine löblich Sache, um des Herrn willen dem ehelichen Leben zu entsagen, weil sie nur dann im Stande waren, Ihm ungeteilt ihren ganzen Dienst und ihr ganzes Leben widmen zu können (V. 35). Wenn aber jemand denkt, daß er mitseiner Jungtrau­schaft nicht anständig handle, wenn diese über die Jahre seiner Blüte hinausgeht,, und daß 'es also sein muß, — so tut er, was er will; er sündigt nicht; — sie mögen heiraten. Wer aber im Herzen feststeht, und keine Not, aber Macht über seinen eigenen Willen hat, und dieses in seinem Kerzen beschlossen hat, seine Jungfrauschaft zu bewahren, der tut wohl. Also wer heiratet, tut wohl, und wer nicht heiratet, tut besser" (V. 36—38). Es handelt sich hier nicht, wie man nach anderen Übersetzungen vermuten sollte, um die Tochter eines Christen, sondern um die persönliche Stellung eines Unverheirateten — sei es Jüngling oder Jungfrau. Wenn es jemand für passend hält, zu heiraten, so hat er die Freiheit, es zu tun — er sündigt nicht; hat er aber Macht über sich selbst — ist er fähig, seine Natur in Unterwürfigkeit zu halten und ohne Not und Unruhe seines Herzens ledig zu bleiben — und ist er in seinem Herzen dazu entschlossen, so ist es besser. — Dieselbe Freiheit hat auch eine Frau, deren Mann gestorben ist: „Sie ist frei, zu heiraten, welchen sie will; doch aber im Herrn" (V. 39), d. i. in Gemeinschaft mit Ihm. „G lückseliger ist sieaber, wenn sie also bleibt, meiner Meinung nach; — ich

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 denke aber, daß auch ich Gottes Geist habe" (V. 40). Diese Ratschläge sind zwar nicht direkt durch die Eingebung des Geistes Gottes, aber es sind die Ratschläge eines Mannes, der, geleitet durch diesen Geist, mit Einsicht und Weisheit erfüllt war, und der, wenn jemand, sagen konnte: „Auch ich habe den Geist Gottes." Und in der Tat ist es sehr bewundernswürdig, die Heiligkeit zu sehen, die in allen diesen Anordnungen, in Dingen, die so nahe die Wünsche des Fleisches berühren, uns entgegenströmen — Anordnungen, die uns nach allen Seiten hin ein sicheres Geleit in den gegenwärtigen Umständen und gegenüber der Sünde geben, und uns zugleich ein herrliches und voll­kommenes Zeugnis von der Liebe und Herablassung Gottes gegen Sein Volk, während dessen Pilgrimschaft hienieden, darstellen.

Kapitel 8

Der Apostel beantwortet in diesem Kapitel eine Frage in Betreff des Götzenbildes und des ihm dargebrachten Opfers (V. l), wobei er den allgemeinen Grundsatz feststellt, das schwache Gewissen nicht zu verletzen. Zuerst nimmt er durch diesen Gegenstand Veran­lassung, einige Worte über die Wertlosigkeit der bloßen Erkenntnis zu sagen (V. 2). Sie bläht den auf, der sie besitzt und bringt dem anderen keinen Nutzen; während die Liebe erbaut, und also des Nächsten Vor­teil bewirkt. Wenn ich an meiner Erkenntnis'über eine Sache Gefallen habe, so beweise ich zunächst, daß diese Erkenntnis darüber eine äußer­liche und oberflächliche ist (V. 2), daß ich jene Sache nicht nach ihrem wahren und wesentlichen Inhalt in mir aufgenommen habe, und dann, daß ich Gefallen an dem habe, was ich in m i r finde, was ich als m e i n Teil betrachte, an meiner Erkenntnis, und ich dünke mich groß in meinen eigenen Augen; während hingegen die wahre christliche Er­kenntnis durch das, was offenbart ist, etwas in Gott findet; und jemehr Gott Selbst erkannt wird, desto größer wird Er der Seele, und desto geringer alles, was in uns ist. Gott ist die Liebe; und nur wer liebt, erkennt Ihn und ist auch von Ihm erkannt, und nicht der Wissende (V. 3). Die, welche Erkenntnis ohne Liebe haben, denken nur an sich, und richten andere, deren Erkenntnis oder Wissen schwächer ist;

die Liebe aber verleugnet sich stibst und erbaut andere; und diese Liebe war auch in der vorliegenden Sache allein fähig, auf eine ge­segnete Weise zu handeln.

Die erhobene Frage über das Essen des Götzenopfers bewies deut­lich, daß nicht alle durch geistliche Einsicht in das völlige Licht darü­ber gebracht waren. — Der Apostel geht nun in diesen Gegenstand näher ein, in dem er sagt: „Denn wiewohl a, u c h sind, welche Göt­ter genannt werden, sei es im Himmel oder auf der Erde; (wie es viele Götter und viele Herren gibt) für uns aber ist ein Gott, der Vater, aus welchem alle Dinge sind, und wir zu Ihm, und ein Herr, Jesus Chri­stus, durch welchen alle Dinge sind, und wir durch I h n" (V. 5. 6). Die Heiden hatten viele Götter und viele Herren oder vermittelnde Wesen. Der Apostel bestätigt selbst, daß es solche Ober-

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 gewalten und Herrschaften gibt (vergl. Ephes. 6, 11), — Wesen, die mit den Menschen in Verbindung sind und in gewisser Beziehung über ihnen stehen. Er sagt in Kap. 10, 20: „Das, was die Nationen opfern, opfern sie den Teufel n." Für uns aber ist nur ein Gott, der Vater, der die Quelle aller Dinge ist, und wir gehören Ihm, und Jesus Christus, der Herr, der die Kraft und das Mittel ist, wo­durch alle Dinge sind, und wir durch Ihn. Er ist unser Herr, und durch Ihn sind wir von jeder anderen Macht befreit.

Doch diese Erkenntnis war nicht in allen (V. 7); nicht ein jeder war in seiner Einbildung von den falschen Göttern befreit. Wenn auch viel­leicht wider seinen Willen, so waren sie doch noch etwas für ihn. Sein schwaches Gewissen wurde beim Essen beunruhigt indem er das, was den Götzen geopfert war, nicht einfach als eine von Gott gegebene Speise aß. Die Idee von der Existenz eines wirklichen und mächtigen Wesens fand beim Essen derselben Raum in seinem Herzen und deshalb wurde sein Gewissen befleckt (V. 7). Vor Gott hatte das Essen oder Nichtessen durchaus keinen Wert. „Speise aber empfiehlt uns vor Gott nicht;'denn weder, wenn wir essen, sind wir vorzüglicher, noch wenn wir nicht essen, sind wir geringer" (V. 8). Doch wurde die Freiheit des Essens wichtig, sobald es sich um das schwache Gewissen des Bruders handelte, indem ihm dadurch ein Stein des Anstoßes auf den Weg gelegt wurde, und des­halb ermahnt der Apostel: „Sehet aber zu, daß nicht etwa diese eure Freiheit den Schwachen zum Anstoß werde" (V. 9). Wenn der, dessen Gewissen stark genug war, im Götzentempel zu essen, durch seine Freiheit den, der nicht Licht genug hatte, ermutigte, dasselbe zu tun, so wurde dessen Gewissen untreu und befleckt. Er tat es nicht aus Glauben; und alles, was nicht aus Glauben kommt, ist Sünde. Auf diese Weise verdarb jener, soweit es von ihm abhing, durch seine Erkenntnis einen Bruder, indem er dessen Gewissen befleckte, und ihn durch Untreue von Gott abwendig machte. Wenn auch Gott in Gnaden dazwischen kam, um ihn von der Wirkung dieser Untreue zu befreien, so verringerte dies doch in keiner Weise die Sünde dessen, welcher den Schwachen verleitet hatte, gegen sein Gewissen zu handeln, dadurch dieser in Betreff seiner Verantwortlich­keit ruiniert wurde. Wenn ich auf eine solche Weise wider einen Bru­der sündige, welch ein Unterschied ist dann zwischen mir und Christo! Ich verderbe durch eine Speise den, den Er durch Seinen To'd errettet hat. Ich kann für einen Bruder ni'cht einmal meine Freiheit in Betreff einer Speise aufgeben, während Christus für ihn, da er noch Sünder war, Sein Leben gelassen hat (V. 11). Zugleich aber sündige ich auch wider Christum Selbst, indem ich den verderbe, den Er durch die Hingabe Seines eigenen Lebens errettet und durch Sein eigenes Blut Sich erworben hat; ich zerstöre Sein Eigentum (V. 12). Deshalb wird der, der die Liebe Christi'im Herzen hat, gewiß weit lieber nie Fleisch essen, oder etwas anderes der Art tun, als da­durch seinen Bruder irgend einen Anstoß zu geben und ihn zum Strau­cheln zu bringen (V. 13). Zu dieser Entsagung war der Apostel, der für den Herrn und Seine Versammlung ein ganzes Herz hatte, aufs völligste bereit.

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Kapitel 9

In diesem Kapitel tritt der Apostel namentlich der Anklage falscher Lehrer entgegen, welche ihn in seiner Wirksamkeit gewinnsüchtiger Absichten beschuldigten, daß er nämlich sich deshalb die Christen unter­würfig zu machen suche, um für sich selbst Nutzen daraus zu ziehen. Paulus rechtfertigt sein Amt und beweist aus seinem Verhalten einmal gegen die Korinther, daß er in dem ihm anvertrauten Dienste nicht einmal von seinem Rechte und seiner Freiheit darin Ge­brauch gemacht habe. Er erklärt öffentlich, daß er ein Apostel sei, ein Augenzeuge der Herrlichkeit Christi, der ihm auf dem Wege nach Da­maskus erschienen war (V. l). War er auch für andere kein Apostel, so war er es doch jedenfalls für die Korinther, da er das Mittel zu ihrer Bekehrung gewesen war. Ihr Glaube, ihre Stellung im Herrn waren der Beweis und das Siegel seines Apostelamtes (V. 2); und so groß war sein Vertrauen zu ihnen, daß er sich in seiner Verantwortung gegen die, welche ihn zur Untersuchung zogen, mit aller Freimütigkeit auf sie be­rief (V. 3).

Weiter zeigt dann der Apostel die Berechtigung dessen, der das Evangelium verkündigt, sich auch vom Evangelium zu ernähren. Zur Beschämung seiner Gegner fragt er, ob er nicht, wie andere Leute, ein Recht habe, zu essen und zu trinken, oder wie die anderen Apostel, und die Brüder des Herrn, und Kephas, eine Schwester als Frau mit sich umherzuführen, oder ob Bamabäs und er allein genötigt seien, sich durch Hände Arbeit, und nicht vom Evangelium, zu ernähren (V. 4. 5)? In den Verhältnissen des täglichen Lebens wurde es ebenso gehalten;

da empfing der Kriegsmann seinen Sold aus der Hand dessen, dem er diente und der Hirt ernährte sich von der Milch der Herde, die er wei­dete (V. 7). Dem Arbeiter gebührt auch der Lohn seiner Arbeit. Dieses Recht ist selbst durch das Gesetz festgestellt; denn wenn geschrieben steht: „Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden" (5. Mos 25, 4), so will Gott dadurch nicht Seine Fürsorge gegen die Ochsen an den Tag legen und deren Rechte fest­stellen, sondern vielmehr unser Recht; und ebenso steht geschrieben:

„daß der, welcher pflügt, auf Hoffnung pflügen soll, und der, welcher drischt, auf Hoffnung, dessen teil­haftig zu werden" (V. 9. 10). Er erwartet, von seiner Arbeit er­nährt zu werden; und dieselbe Erwartung darf doch auch der hegen, der das Evangelium verkündigt. Er sät das Geistliche, und darf zum allerwenigsten hoffen, dafür das Leibliche zu ernten — für das Himm­lische das Irdische (V. 11). Wenn nun sogar andere für ihre geringe Mühe dieses Rechts bei den den Korinthern teilhaftig werden, wie vielmehr Paulus und Barnabas, die mit so vieler Mühe unter ihnen gearbeitet hatten; und dennoch hatten gerade sie von diesem Rechte bei ihnen keinen Gebrauch gemacht, um nicht auf irgend eine Weise dem Eingang des Evangeliums ein Hindernis in den Weg zu legen oder dem Feinde irgendwelchen Anlaß zu ihrer Verdächtigung zu geben (V. 12). Gott Selbst, der schon im alten Bunde verordnet hatte, daß die, welche den Altar bedienten, mit dem Altar teilen sollten, hatte ebenso auch für die, welche das Evangelium verkündigten, verordnet, sich

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 vom Evangelium zu ernähren (V. 13. 14); aber, wie schon bemerkt, der Apostel hatte dieses Recht bei den Korinthern in keiner Weise für sich in Anspruch genommen; und auch jetzt sprach er nicht davon, um es zu beanspruchen; denn er wollte lieber sterben, als daß ihm dieser Ruhm, das Evangelium umsonst verkündigt zu haben, zunichte ge­macht würde (V. 15). Das Evangelium zu predigen, das war für ihn kein Ruhm. Er war durch die Berufung des Herrn dazu verpflichtet, und wehe ihm, wenn er es nicht tat (V. 16)! „Denn wenn ich dies freiwillig tue," — sagt er — „so habe ich Lohn, wenn aber nicht freiwillig, — so bin ich mit einer Verwal­tung betraut"' (V. 17). Sein Ruhm war, es kostenfrei zu tun, um allen Anlaß zur Verdächtigung gegen ihn und alle Ursache zur Erhe­bung denen wegzunehmen, welche diesen Anlaß suchten (2. Kor. 11, 12). Was war aber nun der Lohn seiner bereitwilligen und kostenfreien Verkündigung des Evangeliums (V. 18)? Die Antwort finden wir wohl in Vers 23: „Dieses aber tue ich um des Evangeliums wil­len, aufdaß ich mit ihmteilhaben möge. — Von allem frei seiend machte er sich freiwillig zu einem Knecht aller, damit er so viel als möglich gewinne (V. 19). Dies bezieht sich natürlich auf seinen Dienst. Er paßte sich nicht der Welt an, um dem Ärgernis des Kreuzes zu ent­gehen. Er ging einfach in der Predigt von Christo, dem Gekreuzigten voran (Kap. 2, 2); aber er richtete sich in seiner Verkündigung nach der religiösen Fähigkeit und Denkweise des einen oder des anderen, nach den religiösen Gebräuchen, sowohl der Juden als auch der Heiden, ohne aber dieselben für sich selbst anzunehmen. 

Und dies alles tat er nur, um der Wahrheit in dem Herzen Bahn zu machen. Es war die Macht der zärtlichsten Liebe, die sich selbst in allen Dingen verleugnet, um der Sklave Aller zu sein, und nicht die Sehnsucht, welche unter dem Verwände, Andere zu gewinnen, sich selbst mit der größten Nach­sicht behandelt. Er wurde den Juden ein Jude — denen, die unter Gesetz waren, als unter Gesetz, obwohl er selbst nicht unter Gesetz war — denen, die ohne Gesetz waren, als ohne Gesetz, wiewohl er nicht ge­setzlos vor Gott, sondern Christo gesetzmäßig unterworfen war (V. 20 21). Er handelte nicht nach eigenem Gutdünken oder eigener Macht, sondern unterwarf sich in allem dem Willen Christi. Den Schwachen wurde er ein Schwacher (V. 22), indem er ihr unfreies und schwaches Gewissen berücksichtigte, seine eigene Freiheit verleugnete und lieber in Ewigkeit kein Fleisch essen wollte, als irgend einem Bruder Anstoß zu geben. Er wurde allen alles, um auf alle Weise Etliche zu erretten;

und er tat es allein um des Evangeliums willen, damit er Teilhaber desselben sein möchte. Er stellt mit diesen Worten das Evangelium als eine Person hin, die das Werk der Liebe Gottes in der Welt aus­übt (V. 23).

Und jetzt ermuntert der Apostel die Korinther, indem er das Bild eines irdischen Wettkampfes gebraucht, zum Eifer und zum Ausharren, damit sie den vor ihnen liegenden Kampfpreis erlangen möchten (V. 24). Dieser bestand nicht, wie bei jenen, in einer verwelklichen, sondern in einer un verwelklichen Krone; und wenn es zur Erlangung einer ir­dischen Krone nötig war, sich aller Dinge zu enthalten, so erforderte sicher die Erlangung der himmlischen eine noch weit völligere Ent-

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 sagung und Verleugnung in allem (V. 25). Der Apostel stellt sich selbst als Muster in diesem Kampfe hin. Er, der den Philippern sagen konnte:

„Eins aber tue ich: das, was hinter mir liegt, vergessend, und nach dem, was vor mir liegt, mich ausstreckend, strebe ich, das vorgesteckte Ziel immer anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christo Jesu" (Phil. 3, 14), konnte auch jetzt den Korin­thern sagen: „Solaufeichnunalso,nichtautsUngewisse;

•also treibe ich Faustkampf, nicht als einer, der die Luft schlägt, sondern ich zerschlage meinen Leib, und führe ihn in Knechtschaft, daß ich, nachdem ich anderen gepredigt habe, nicht selbst verwerflich werde" (V. 26. 27). Paulus lief nicht mit Ungewissen Tritten, wie einer, der das wahre Ziel nicht kennt oder nicht vor sich sieht, oder wie einer, der es nicht mit Ernst und Eifer als eine gekannte und für ihn höchst wertvolle Sache verfolgt. Gewiß, er kannte das herrliche Ziel; er wußte, was er verfolgte; und er verfolgte es mit aller Energie, mit aller Ver­leugnung und Aufopferung seiner selbst, wie es die Erlangung dieses Kampfpreises erheischte und wie es dessen Natur würdig war. Er ging nicht selbstsüchtig oder gemächlich seinen Weg; er kämpfte nicht wie einer, der die Luft schlägt, der einen Kampf ohne Zweck kämpft, son­dern wie einer, der den herrlichen Kampfpreis stets vor Augen hat, wie einer, der die Schwierigkeit und die mächtigen Feinde, die entge­genstehen, wohl kennt. 

Angetan mit der Waffenrüstung Gottes stand er inmitten der Welt, worin die Sünde wohnt und Satan seine Herr­schaft hat, und kämpfte den guten Kampf des Glaubens. Seinen eigenen Leib führte er in Knechtschart; er behandelte ihn wie seinen Sklaven, um nicht durch ihn in seinem Lauf gehindert zu werden. Sein Blick war nicht auf das Sichtbare gerichtet, sein Herz ließ sich nicht durch die eiteln und vergänglichen Dinge dieser Welt täuschen, sondern unver­rückt schaute er auf „das Kleinod der himmlischen Berufung nach oben in Christo Jesu;" und was er ändern predigte, übte er selbst aus, und zwar mit einer Energie und einer Verleugnung seiner selbst, die allen anderen als Muster vorleuchten konnte. Anders hätte es möglich sein können, daß, während er anderen predigte, nicht nur die Frucht seiner Arbeit, sondern er selbst verloren war. Paulus war aber nicht mir ein guter Arbeiter, sondern auch ein guter Christ; ja, gerade deshalb war er ein guter Arbeiter, weil er zuerst ein guter Christ war. — Und also laufend und kämpfend erwartete er mit Geduld und Ausharren den glückseligen Augenblick, wo er aus der Hand seines geliebten Herrn die unverwelkliche Krone empfangen würde, um sie wieder mit allen Heiligen in Demut an Seinem Throne niederzulegen, zu den Füßen Des­sen, der ihn mit Seinem eigenen kostbaren Blute erkauft, der ihn durch Seine Gnade zu einem so gesegneten Kampf verordnet und bereitet hatte und der allein würdig ist, Herrlichkeit, Ehre und Macht zu emp­fangen (Offb. 4, 10. 11).

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Kapitel 10

Der große Ernst und die stete Selbstverleugnung in allen Dingen, womit der Apostel, um den kostbaren Kampfpreis nicht zu verfehlen, persönlich seinen Lauf vollbrachte und den Kampf des Glaubens kämpfte und wozu er auch die Korinther ermunterte, konnte leicht zu der Frage Veranlassung geben: „Ist denn das himmlische Kleinod für den Gläubigen noch so unsicher, und ist dessen Erlangung von seiner Treue im Wandel oder von der unwandelbaren Gnade und Treue Gottes abhängig?" Zu solchen Fragen ist die Natur, wenn Gott von unserer Verantwortlichkeit redet, nur zu geneigt; man vermengt so leicht diese Verantwortlichkeit mit Seiner unveränderlichen Gnade und Treue, und schwächt das eine durch das andere. Man möchte oft gern die göttliche Wahrheit in ein schönes, philosophisches System abrunden, und denkt nicht daran, daß man sie gerade dadurch ihrer wirksamen Kraft auf Herz und Gewissen beraubt. Das Wort Gottes aber — sowohl das Alte als auch das Neue Testament — stellt in Geschichte und Lehre, beide jener Wahrheiten in ihrer ganzen Kraft und Tragweite vor uns hin, und das demütige Herz unterwirft sich, glaubt und betet an.

 Es ist gewiß, daß Gottes Gnade und Treue nimmer fehlen können — ge­priesen sei sein Name! — aber dies hebt nicht im geringsten unsere Ver­antwortlichkeit unter dieser Gnade auf. Gott läßt den Gläubigen zu­rufen : „Wer zustehen sich dünkt, sehe zu, daß er nicht falle" (V. 12)! Wir gehen hienieden durch eine versuchungsreiche Wüste, wo wir stets in Gefahr sind, durch Betrug der Sünde und durch die listigen Anläufe Satans von Christi abgezogen und auf einen Weg hingestellt zu werden, dessen Ende der Tod und die Verdammnis ist. Und was stellt uns sicher von dieser Gefahr? Etwa unsere Teilnahme an geistlichen Segnungen und Vorrechten — an Taufe und Abendmahl oder unser Absondern von der Welt? Gewiß nicht; denn wie mancher, der einst fein lief und dies alles genoß, hat aufs neue seinen Fuß auf jenen schlüpfrigen Pfad gestellt. Und ach! nicht selten suchen solche sich auch dann noch mit den empfangenen Segnungen zu beruhigen und sich ihrer Teilnahme an den Vorrechten der Heiligen zu rühmen. Sie sprachen noch immer von der unwandelbaren Treue und Gnade Gottes, von deren Mißbrauch ihr eigener Zustand den klarsten Beweis liefert. 0 es ist nichts törichter und gefährlicher, als sich da zu beruhi­gen, wo das Wort Gottes und das Zeugnis des Heiligen Geistes uns keine Ruhe gibt'

Auf diese große Gefahr macht nun der Apostel in vorliegendem Ka­pitel die Korinther aufmerksam, indem er die Wege Gottes mit Israel vor ihre Blicke hinstellt — Wege, die aufs klarste die Verantwortlich­keit des Volkes Gottes hienieden beweisen und wovon der Apostel be­zeugt, daß sie unsere Vorbilder seien — nicht Israel, sondern das, was mit Israel geschah; die Wege Gottes mit diesem Volke sind zu unse­rer Ermahnung niedergeschrieben worden. Der Herr bewies mit Israel auf eine augenscheinliche Weise, daß es Sein Volk war. In Seiner Güte und Treue gegen sie fehlte Er nimmer, aber sie fehlten gegen Ihn ia ihrer Verantwortlichkeit, und die traurige Folge war, daß sie das

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 köstliche Land nicht erreichten, sondern in der Wüste umkamen; und diese Dinge werden uns als ein warnendes Exempel vorgestellt. Wen­den wir uns jetzt zu dem Kapitel selbst.

Zuerst erinnert der Apostel an die von Israel empfangenen Seg­nungen und Vorrechte. „Ich will aber nicht, daß euch un­bekannt sei, Brüder, daß unsere Väter alle unter der Wolke waren, und alle durch das Meer hindurchge­gangen sind. Und alle sind in der Wolke und in dem Meer auf Moses getauft" (V. 1. 2). Die Wolke ging nicht nur als Wegweiser vor den Kindern Israel her, sondern deckte sie auch, wie wir z. B. bei den Nachstellungen der Ägypter sehen (2. Mos. 14, 19. 20), und das Meer brachte sie in völlige Sicherheit; es trennte sie für immer sowohl von Ägyptenland, als auch von Pharao und seinem Heer. Am jenseitigen Ufer ertönte der Lobgesang des glücklichen und befrei­ten Volkes (2. Mos. 15). Zu gleicher Zeit aber wurde Israel in der Wolke und in dem Meer auf Moses getauft, indem sie durch dieses Mittel ihm, als ihrem Führer und Mittler, angeschlossen wurden. Sie waren vor­bildlich ein Volk — gestorben für Ägypten und allem, was dazu gehörte. 

Die Wolke und das Meer war für sie, was das Kreuz und das Grab Christi für uns ist. Das Kreuz Christi trennt uns von allem, was gegen uns sein könnte, und wir stehen auf der himmlischen Seite des leeren Grabes Christi. Von da beginnt unsere Reise durch die Wüste, und wäh­rend wir als Pilger zu dem verheißenen Lande vorwärts eilen, essen wir von dem himmlischen Manna und trinken von den_ Strömen des geistlichen Felsen. So war es mit Israel. Die fürsorgende Liebe Gottes sorgte für alle ihre Bedürfnisse in der Wüste. „Alle haben die­selbe geistliche Speise gegessen und alle haben den­selben geistlichen Trank getrunken. [Denn sie tran­ken aus dem geistlichen Fels, welcher folgte. Der Fels aber war Christus]" (V. 3. 4).

Das Manna, wiewohl eine irdische Speise, wird hier geist­lich genannt, weil es dhekt von Gott aus dem Himmel kam. Es war die Nahrung des Volkes Gottes während seiner Pilgerreise nach Kanaan, und stand im völligsten Gegensatz zu den Fleischtöpfen, den Zwiebeln und dem Knoblauch Ägyptens. Es war ein Vorbild von Christo, als dem wahren Brote des Lebens, herniedergekommen vom Himmel, während die Ströme des Felsen den Heiligen Geist, ausgegossen in Kraft des auf dem Kreuz vollendeten Werkes Christi, vorbildeten. „Der Fels aber, der mitfolgte, war der Christus"; denn Er ist es, der die Seinigen begleitet und die Ströme des lebendigen Wassers dar­reicht; Er ist der geschlagene Fels, der die Wasser des Lebens hervor­strömen läßt, um Sein Volk während dessen Pilgerreise in einer öden und dürren Wüste zu tränken. Köstliche Gnade! Herrliches Vorrecht! Verstand Israel auch weniger die wahre Bedeutung und den wesent­lichen Charakter dieser Segnungen, weil ihnen der Gesalbte noch nicht offenbart war, so sahen sie doch augenscheinlich die wunderbare Für­sorge, Liebe und Treue Gottes. — Doch jetzt folgt ein schreckliches „Aber" — ein Aber, das uns plötzlich von der gesegneten Seite Gottes auf die traurige Seite des Menschen versetzt, das nicht nur im Lichte dieser Segnungen und der Liebe und Treue Gottes das undankbare und

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 treulose Verhalten des Menschen um so deutlicher hervortreten läßt, sondern auch zugleich die traurigen Folgen dieses Verhaltens offen­bart. „Aber an vielen derselben hatte Gott nicht Wohl­gefallen; denn sie sindin der Wüste niedergestreckt worden" (V. 5). Viele verließen durch Unglauben den wahren und lebendigen Gott und wandten sich zu den toten Götzenbildern; andere ergaben sich der Hurerei; andere versuchten den Herrn; noch andere murrten wider Ihn und Seine Wege (V. 7—10); und was war das trau­rige Ende von diesem allen? — „Sie sind in der Wüste niedergestreckt worden." — Alle verließen Ägypten, alle betraten die Wüste, alle er­fuhren die Macht und Treue Gottes, alle wurden durch Seine Segnungen erquickt; aber ach! nur sehr Wenige erreichten das Land der Verhei­ßung; die große Masse ereilte das Gericht des Herrn und bereitetet ihr ein Grab in der Wüste. Ernste, erschütternde Warnung! So kann auch jetzt jemand ein Christ genannt werden, die Welt verlassen haben, ge­tauft sein, das Abendmahl feiern, ja, selbst unter Kindern Gottes sei­nen Verkehr haben und dennoch nicht das himmlische Kanaan errei­chen; denn —an die Versammlung zu Korinth und mit ihnen zugleich an uns sich wendend — fügt der Apostel die ernsten Worte hinzu:

„Alle diese Dinge aber widerfuhren jenen als Vor­bilder; aber zu unserer Ermahnung sind sie geschrie­ben, auf welche die Vollendung der Zeitalter gekom­men ist" (V. 11). Wir befinden uns am Ende der Haushaltungen Gottes;

denn was jetzt folgt, ist das Gericht Gottes, wo diese Beispiele nicht mehr für das Leben des Glaubens dienen können. — Sind aber die Wege Gottes mit Israel Vorbilder für uns, sind sie zu unserer Ermah­nung niedergeschrieben worden, so ist es klar, daß die gesegnete Stel­lung unter der Gnade unsere Verantwortlichkeit nicht aufhebt. Gott bleibt der Sünde gegenüber immer derselbe heilige und gerechte Gott. Darum mögen wir wohl dies kurze, aber sehr ernste Wort zu Herzen nehmen: „Wer zu stehen sich dünkt, sehe zu, daß er nicht falle" (V. 12). Die Gefahr ist groß; das Vertrauen auf eigene Kraft hält uns nicht aufrecht und die Sünde findet immer ihren gerech­ten Lohn. Andererseits können wir aber stets auf dre Treue Gottes rech­nen. Er erlaubt nicht, daß wir über unser Vermögen versucht werden und sorgt zugleich für einen Ausweg, damit wir nicht straucheln. Keine Versuchung hat euch ergriffen", — schreibt der Apostel an die Korinther — „als nur eine menschliche" — die nämlich für eine menschliche Natur berechnet war. „Gott aber ist treu, der nicht zulassen wird, daß ihr über euer Vermögen versucht werdet, sondern mit der V-e r s u -chung aus auch den Ausgang verschaffen wird, um es ertragen zukönne n" (V. 13).

Im Blick auf die Verantwortlichkeit des Christen ist nun der Apo­stel bemüht, die Gläubigen zu Korinth von jedem Einfluß des Götzen­dienstes zu befreien, da derselbe nur zu geeignet war, ihre Herzen von Christo abzuziehen und zu verderben. „Darum, meine Ge­liebten, fliehet den Götzendienst" (V. 14). Es war in der Tat eine ernste und wichtige Sache; denn die Gemeinschaft dieses Dienstes führte sie in die Gemeinschaft derer, denen er geweiht war,

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 d. i. den Dämonen oder Teufeln. Zum Beweis dieser Behauptung er­innert der Apostel an zwei andere Handlungen, wovon die eine dem christlichen und die andere dem jüdischen Kultus angehörte, und wen­det sich damit an das eigene Urteil der Korinther, um von der Kraft und Gemeinschaft dieser Handlungen auf die Kraft und Gemeinschaft des Götzendienstes zu schließen. — Zuerst weist er auf den Tisch des Herrn hin, indem er sagt: „Der Kelch der Segnung, welchen wir segnen, — ist er nicht die Gemeinschaft des Blu­tes des Christus? Das Brot, welches wir brechen, — ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Chri­stus? Denn ein Brot — ein Leib sind wir, die Vielen;

denn wir alle sind des einen Brotes teilhaftig" (V. 15— 17). Alle, welche am Tische des Herrn teilhaben, haben mit diesem Tische Gemeinschaft mit dem gebrochenen Leib und dem vergossenen Blute Dessen, zu dessen Ehre dieser Tisch angeordnet ist. Welch eine gesegnete Wahrheit! Sie warf aber zugleich ein helles Licht auf die Gemeinschaft des Tisches, der zu Ehren der Teufel angeordnet war. Noch mehr. Alle, welche am Tische des Herrn Teil nehmen, sind ein Brot und ein Leib, weil alle des einen Brotes teilhaftig worden sind. Es gibt keine Handlung, durch welche die völlige Einheit der Gläubigen untereinander, die aus der Einheit mit dem Haupte des Leibes ent­springt, so völlig offenbart und ausgedrückt werden könnte, als durch den Tisch des Herrn. Aber welch ein Licht warf auch diese Tatsache auf die Gemeinschaft jener, die zusammen am Götzenopfer teilnahmen?

— Dann richtet der Apostel ihren Blick auf den jüdischen Kultus und sagt: „Sehetan das Israel nach dem Fleisch! Sind nicht die, welche die Schlachtopfer essen, Teilnehmer am Altar" (V. 18)? Sie waren völlig eins mit demselben; weil sie die Opfer mit ihm teilten; und dieselbe Verbindung bestand auch zwischen dem Altar der Götzen und denen, welche Mitteilhaber der Götzenopfer waren.

Es hätte nun den Korinthern scheinen können, als ob der Apostel die in Kap. 8, 4 aufgestellte Behauptung, daß nämlich ein Götzenbild nichts sei in der Welt, hier widerrufen wolle, und kommt deshalb darauf zurück, indem er fragt: „W assage ich denn? Daß ein Götzen­bild etwas ist? Oder daß ein Götzenopfer etwas sei" (V. 19). An und für sich war beides nichts; aber es wurde dadurch wich­tig, „daß da s" — wie auch schon in 5. Mos. 32, 17 geschrieben stand

— „w äs die Nationen opfern, sie den Teufeln opfern, und nicht Gott. Ich will aber nie ht" — fügt der Apostel hin­zu — ,id a ß ihr in Gemeinschaft der Teufel seid" (V. 20). Weil diese existierten, so konnte man auch mit denselben in Gemein­schaft sein. Der Tisch, an dem die Götzendiener teilnahmen, war der Tisch der Teufel; — und der Kelch, den sie tranken, war der Kelch der Teufel; — ein wichtiger Grundsatz für die Versammlung Gottes! „Ihr könnt nicht des Herrn Kelch und der Teufel Kelch trinken; ihr könnt nicht des Herrn Tisches und des Tisches der Teufel teilhaftig sein" (V. 20). Wollen wir es wagen, den Herrn, durch solch eine Gleichstellung mit den Teufeln, zu reizen, wie Israel tat, wovon geschrieben steht: „Sie haben mich ge-

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 reizt an dem, was nicht Gott ist, mit ihren Eitelkeiten haben sie mich erzürnt" (5. Mos. 32, 21)? Sind wir etwa stärker als Er, daß wir Seinen Zorn nicht zu fürchten haben (V. 22)? Diese Erwägung ist wohl geeig­net, uns zu reizen, mit heiligem Eifer alles zu vermeiden, wodurch die Ehre des Herrn angetastet wird, und was uns zur Sünde und zum Falle verleiten könnte.

Der Apostel kommt jetzt auf das Essen von Speisen zurück, indem er seinen in Kapitel 6 geäußerten Grundsatz aufs Neue bestätigt, daß er nämlich in dieser Beziehung völlige Freiheit habe; doch wollte er sich von keinem dieser Dinge in Knechtschaft bringen lassen. Auch machte er aus seiner Freiheit kein Gesetz, sondern er gebrauchte sie einfach zum geistlichen Wohl anderer — zu deren Nutzen, zu deren Auterbauung (V. 23). Er bringt die ernste Ermahnung damit in Ver­bindung: „Niemand suche das Seine, sondern ein jeg­licher, was des Ändern ist (V. 24), — eine Ermahnung, die in dieser, wie in jeder anderen Sache, alle Beherzigung verdient. —

Die Gläubigen sollten alles, was auf dem Fleischmarkte verkauft wurde, ohne Gewissensskrupel essen (V. 25); denn alles, was gegeben ist, ist zur Befriedigung unserer. leiblichen Bedürfnisse gegeben, und ist ein Geschöpf Gottes; „denn die Erde und ihre Fülle ist des Herrn" (V. 26). Gott hat alles gegeben, damit es von uns mit Danksagung und zu Seiner Ehre gebraucht werde. — War jemand von einem Ungläubigen geladen, so konnte er alles essen, was ihm vorge­setzt wurde, ohne zu untersuchen; sobald aber jener, der ihn geladen hatte, sagte: „Es ist Götzenopfer," so war diese Bemerkung ein Beweis, daß es für ihn eine Gewissenssache war, und dann sollte er um jenes Gewissens willen nicht davon essen (V. 27. 28). Was aber seine eigene Freiheit betraf, so konnte sie nicht nach dem Gewissen eines ändern beurteilt werden (V. 29); denn als Lehre, und wo Erkenntnis darüber ist, gilt der Grundsatz, daß ein Götzenbild nichts ist in der Welt. Alles Erschaffene ist einfach das Geschöpf Gottes und nichts anderes. Und „wenn ich mit Danksagung Teil habe, warum werde ich über das gelästert, wofür ich danksage" (V: 30). Die Danksagung beweist, daß ich Gott als den Schöpfer desselben aner­kenne und es aus Seiner Hand empfange; und alles, was aus Seiner Hand kommt, ist heilig und rein für mich.

Außerdem ist es nötig, alles zu vermeiden, was Gott nicht wohl­gefällt, sei es auch noch so gering und unbedeutend. Jede Entsagung aber hat nur dann Wert, wenn sie nicht das Gesetz, sondern die Liebe und die Ehre Gottes zur Quelle hat. Es mag etwas an und für sich keine Sünde sein, und kann doch nicht zur Ehre Gottes und zum Nutzen An­derer gereichen; deshalb ermahnt der Apostel: „Sei es nun, daß ihr esset, oder trinket, oder irgend etwas tut — tut alles zur Ehre Gottes" (V. 31); und da es weit gesegneter ist, meine Freiheit, die ich durch Erkenntnis der Wahrheit erlangt habe, zu verleugnen, als das schwache Gewissen des anderen auf irgend eine Weise zu verletzen, so fügt er zugleich hinzu: „Seid unanstößig für die Juden und die Griechen und die Versamm­lung Gottes" (V. 32). Der Apostel selbst gab darin ein würdiges Beispiel. Sich selbst verleugnend war er stets bemüht, sich allen nütz-

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 lieh zu machen. Er suchte in keiner Sache seinen Vorteil, sondern den der Vielen, auf daß sie selig würden (V. 33). Voll hingebender Liebe und Selbstverleugnung, war sein ganzes Tun und Lassen, all sein Dich­ten und Trachten stets auf die Errettung und Auferbauung Anderer gerichtet In dieser Gesinnung war er der treue Nachahmer Christi, der um unsertwillen Sich Selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt an­nahm und Sich Selbst erniedrigte bis zum Tode am Kreuze. Und in­dem der Apostel mit Ausharren in den Fußstapfen seines geliebten Herrn wandelt, ruft er allen Gläubigen ermahnend zu: „Seid meine Nachahmer!" 0 möchte dieser Zuruf viele geneigte und willige Herzen finden!

Kapitel 11

Mit dem ersten Verse dieses Kapitels, worin der Apostel, wie wir gesehen haben, die Korinther ermuntert, seine Nachahmer zu sein, schließt er seine Anordnungen in Bezug auf die verschiedenen, an ihn gerichteten Fragen, und beginnt mit dem zweiten Verse namentlich über ihr Verhalten in den Versammlungen zu sprechen und dasselbe zu ordnen. Bei dieser Gelegenheit stellt er, besonders in den folgenden Kapiteln, die Lehre von der. Gegenwart und der Wirksamkeit des Hel­ligen Geistes in der Versammlung so klar ans Licht, welche Lehre zu allen Zeiten für dieselbe von der höchsten Wichtigkeit ist.

Zunächst lobt der Apostel die Korinther, daß sie seiner in allen Dingen gedachten und an den von ihm empfangenen Überlieferungen festhielten (V. 2). Dann gibt er Vorschriften über das Verhalten der Frauen beim Beten, daß sie nämlich nicht beten sollen, ohne ihr Haupt bedeckt zu haben. Er entscheidet diese Frage einfach durch das, was anständig und geziemend war, indem er zugleich die erhabensten Grund­sätze des Christentums zur Grundlage seiner Beweisführung stellt. Er zeigt die. Beziehung und deren Ordnung, welche zwischen dem Manne, als dem Träger der Herrlichkeit Gottes, und Gott Selbst besteht, und bringt auf diese Weise den Menschen und sein Verhalten mit Gott Selbst in Verbindung. „Ich will aber, daß ihr wisset, daß der Christus das Haupt jedes Mannes ist; des Weibes Haupt aber der Mann, Christi Haupt aber Gott ist" (V. 3). Dies ist die Ordnung der Macht, die bis zu Gott Selbst, der der Höchste ist, hinaufsteigt; und Seine Ehre ist der einzig wahre Beweg­grund, der in jedem Verhältnis uns leiten soll. Betete nun der Mann mit bedecktem Haupt vor anderen, so entehrte er sein Haupt, nämlich Christum, und betete das Weib unbedeckt, so entehrte sie ihr Haupt — den Mann (V. 4. 5). Es wurde aber nicht nur die gegenseitig? Beziehung verletzt, sondern es war auch zugleich ungeziemend. -„Denn wenn das Weib nicht bedeckt ist, so werde auch ihr Haar verschnitten; wenn es aber für ein Weib schändlich ist, daß ihr Haar verschnitten oder sie bescheren werde, so lasset sie sich bedecken" (V. 6). — Der Mann hatte sein Haupt nicht zu bedecken, weil er eine Autorität darstellte, und in dieser Stellung mit der Herrlichkeit Gottes, als dessen Bild, be-

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 kleidet war. Keine Macht auf Erden ist über ihm und darum darf er auch keine Macht auf dem Haupte haben. Das Weib aber mußte ihr Haupt bedecken, zum Beweis ihrer Unterwürfigkeit unter den Mann;

ihre Bedeckung war ein Zeichen der Macht, der sie unterworfen war;

sie war des Mannes Ehre oder Herrlichkeit (V. 7).

Es ist überhaupt wichtig, über die Gedanken Gottes in Betreff der Beziehung zwischen Mann und Weib Einsicht zu haben. Bei der Schöp­fung sehen wir • ganz deutlich, daß der Mann sowohl das Haupt des Weibes, als auch das der Schöpfung ist. Das Weib steht unter ihm und nimmt gleichsam den zweiten Rang unter den vernünftigen Geschöpfen ein. „Denn der Mann ist nicht aus dem Weibe, sondern das Weib aus dem Manne; denn der Mann ward auch nicht um des Weibes willen geschaffen, sondern das Weib um des Mannes willen" (V. 8. 9). Gott Selbst hat den Mann zum Herrn der Schöpfung gemacht; und wie tief der Mensch auch gefallen sein mag, so bleiben doch die Gedanken Gottes in Be­treff der Ordnung in der Schöpfung immer dieselben. Auch Jakobus be­zeugt, daß der Mensch „nach dem Bilde Gottes geworden ist" (Kap. 3, 9);

und obgleich er in Betreff seines moralischen Zustandes nötig hat, von Neuem geboren zu werden, um das Bild Gottes zu sein, so bleibt er doch in Betreff seiner Stellung in der Welt, als Haupt und Mittelpunkt aller Dinge — was nie ein Engel gewesen ist, — das Bild Gottes. Das Weib ist die Teilnehmerin seiner Herrlichkeit; doch ist sie ihm unter­worfen. Wenn nun auch dieses Bild in seiner vollkommenen Schönheit in Betreff des Mannes — in Christo, und in Betreff des Weibes — in der Kirche oder Versammlung gesehen wird, so bleibt es doch immer wahr in sich selbst und behält als göttliche Ordnung seine Rechte. Und aus diesem Grunde sollte auch schon „um der Engel wil­len", das Weib eine Macht auf dem Haupte haben (V. 9), um vor ihnen, den Zuschauern der mannigfaltigen Weisheit Gottes, die Ordnung jener Beziehung nach den Gedanken Gottes zu offenbaren, damit auch hierin die wunderbare Wirkung der vollbrachten Erlösung von ihnen gesehen und bewundert werde. Um nun aber den Mann vor Überhebung und das Weib vor Kleinmut zu bewahren, fügt der Apostel die Worte hinzu:

„Dennoch ist weder das Weib ohne den Mann, noch der Mann ohne das Weib in dem Herrn. Denn gleich­wie das Weib aus dem Manne, also ist auch der Mann durch das Weib; alles aber ist aus Gott" (V. 11. 12). Beide sind eins in Christo; kein Teil kann ohne den ändern sein; beide be­dürfen einander nach Gottes eigener Anordnung; beide kommen von Ihm her und sollen sich, ungeachtet jener Unterwürfigkeit des Weibes, als Gottes unmittelbare Geschöpfe betrachten, die in Christo völlig eins sind. Hier handelte es sich einfach um die Frage des Anstandes in Be­treff des Weibes, wenn sie vor den Augen Anderer betete. „Urteilt bei euch selbst: Ist es anständig, daß ein Weib unbe­deckt zu Gott bete" (V. 13)? — Zugleich beruft sich der Apostel auf die Anordnung der Natur. Das lange Haar war eine Schande für den Mann, wogegen es für das Weib eine Ehre und ein Schmuck war. Ihr langes Haar gab aber schon ganz deutlich zu verstehen, daß sie eine Macht auf ihrem Haupte haben sollte, und es. ihr nicht gestattet

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 war, sich mit der Freimütigkeit ihres Mannes vor allen darzustellen. Ihr Haar, als ein Schleier gegeben, gab diese Bescheidenheit und Un­terwürfigkeit zu erkennen, und zeigte, daß hierin ihre besondere Ehre und ihre wahre Stellung hienieden bestände (V. 15).

Der Apostel hat nun nach allen Seiten hin diese Sache beleuchtet und ihr nach den Gedanken Gottes den gebührenden Platz angewiesen. Zugleich aber haben wir darin einen neuen Beweis von der Milde und Langmut Gottes, womit Er selbst in den untergeordnetsten Dingen be­müht ist, den schwachen Gläubigen hienieden zu leiten und zu unter­weisen; und darum ist es um so betrübender, wenn diese Bemühungen Gottes übersehen und Seine liebevollen und langmütigen Unterwei­sungen nicht beachtet werden, und wir im Gegenteil nach unserem eige­nen Gutdünken handeln oder gar die Gedanken Gottes beurteilen und Einrede dagegen machen. Der Apostel kannte sehr wohl diese traurige Neigung des menschlichen Herzens und suchte ihr schon im Voraus mit den Worten zu begegnen: „Wenn es aber jemand gut dünkt, streitsüchtig zu sein, so haben wir solche Gewohn­heit nicht, noch die Versammlung Gottes" (V. 16).

Der Apostel kommt jetzt auf die Art und Weise ihres Zusam­menkommens; und wenn er sie auch wegen ihrer Folgsamkeit in Be­treff der empfangenen Überlieferungen (V. 2) loben konnte, so konnte er es doch in dieser Beziehung nicht, weil sie „nicht zum Bessern, son­dern zum Schlechtem" — zu ihrer Verschlimmerung — zusammen­kamen (V. 17). Es offenbarte sich in ihren Zusammenkünften ein Geist der Zwiespalt, der das Band der Einheit gänzlich zu zerreißen drohte, und welcher, falls er nicht gehemmt wurde, die Versammlung in offen­bare Sekten oder Parteien zertrennen mußte. Diese wurden dann zur Heilung des Schadens sogar notwendig, um den Bewährten die Augen zu öffnen, und ihnen Gelegenheit zu geben, sich als solche durch Ab­sonderung von denselben zu offenbaren (V. 19). Für sie wurde alsdann der Schaden zum Segen gewandt.

Dieser Zwiespalt der Parteien zeigte sich nun zunächst beim Abend­mahl, bei der Gedächtnisfeier des Todes des Herrn, und zwar auf eine so traurige Weise, daß der Apostel ihnen sagen mußte: „Wenn ihr aber an einem Orte zusammenkommt, so ist das nicht das Abendmahl des Herrn essen. Denn jeder, wenn er ißt, nimmt sein eigenes Abendmahl vorab, und einer ist hungrig, der andere trinkt sich satt" (V. 20. 21). Gerade das Abendmahl, das in einer besonderen Weise der Einheit des Leibes, d. i. der Versammlung, seinen wahren und wesentlichen Ausdruck verleiht, offenbarte in der Versammlung zu Korinth den trau­rigen Zwiespalt. Viele dachten nur an sich und nicht an die Versamm­lung. Durch Selbstsucht geleitet, kamen sie an den Ort ihrer Zusam­menkünfte, warteten nicht auf die Übrigen, sondern nahmen ihr eige­nes Abendmahl vorab und tranken sich satt, während die später kom­menden hungrig waren. Welch eine Unehre für den Herrn und welch eine Verunstaltung der Feier Seines Todes! Hungrige und Trunkene waren versammelt, um das Abendmahl des Herrn zu halten. Das war in der Tat eine höchst unwürdige Weise, wodurch der wahre Charak­ter des Zusammenkommens, als Versammlung Gottes, und der ernste

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 und feierliche Zweck desselben gänzlich verloren ging. Selbstsucht und Zwietracht erfüllte die Herzen derer, die zusammengekommen wa­ren, um den Tod Dessen zu feiern, der die Liebe ist, der Sich Selbst zu nichts gemacht und Sich für sie alle dahingegeben hatte. Der Tod, den zu verkündigen sie gekommen, und dessen Gedenkzeichen vor ihnen ausgebreitet waren, war gerade der höchste Beweis dieser Liebe und Hingebung. Wie unwürdig war es nun, hier an sich selbst zu denken, Parteizwecke zu verfolgen, ein verengtes Herz für andere oder gar für die Versammlung Gottes zu haben, wofür Christus Sein kostbares Blut vergossen hatte, ohne Mitgefühl für die Armen zu sein, — ja, wie un­würdig, hier "mit seinen leiblichen Bedürfnissen beschäftigt zu sein, oder gar die Begierden seines Fleisches zu befriedigen! Das war in der Tat nicht mehr „das Abendmahl des Herrn essen." Sie machten Seinen Tisch zu dem gewöhnlichen Tische eines Menschen und entweihten ihn. Sie kamen nicht mehr, um ihre geistlichen, sondern um ihre leiblichen Bedürfnisse zu befriedigen; und deshalb fragt der Apostel: Habt ihr denn nicht Häuser, um zu essen und zutrinken? Oder verachtet ihr die Versammlung Gottes, und beschä­met die, welche nichts haben" (V. 22). 

Dadurch, daß ein jeder sein eigenes Abendmahl, was er sich vielleicht mitgebracht hatte, vorab nahm, wurde die Versammlung Gottes, als solche, nicht mehr gewür­digt, sondern im Gegenteil verachtet, und der Arme, der nichts hatte, beschämt gemacht. In den beiden letzten Versen dieses Kapitels kommt der Apostel noch einmal hierauf zurück, indem er anordnend sagt: „D a -her, meine Brüder, wenn ihr zu essen zusammen­kommt, so wartet aufeinander. Wenn jemand hun­gert, der esse daheim, auf daß ihr nicht zum Gericht zusammenkomm t." Wohl war es löblich, wenn sie zum essen z u -sammenkamen ; aber sie sollten warten, bis die ganze Versamm­lung gegenwärtig war und das Essen gemeinschaftlich gesche­hen konnte; und damit nicht etwa jemand durch den Hunger versucht wurde, dieser Anordnung entgegen zu handeln, sollte er vorher daheim essen. Ihre bisherige Handlungsweise aber war durchaus nicht lobens­wert (V. 22).

Der Apostel benutzt dann diese Gelegenheit, um ihnen die wahre Natur und Wichtigkeit des Abendmahls ans Herz zu legen, und ihnen zu zeigen, welch ein Interesse dieser Gegenstand, während unseres gan­zen Wandels hienieden, in den Gedanken Gottes einnimmt. Schon die traurige Wirkung, welche auf die Vernachlässigung und Geringschätzung dieser Anordnung folgte, bestätigte sehr bestimmt deren Wichtigkeit und bewies, wie sehr der Herr deren Beachtung wünscht. Der Apostel war im Begriff, von der Macht des Heiligen Geistes, offenbart in Seinen Gaben, zu sprechen, so wie von der Notwendigkeit, für die Ordnung und die Erbauung der Versammlung besorgt zu sein; bevor er aber dieses tut, stellt er zuerst das Abendmahl des Herrn, als den morali­schen Mittelpunkt, als den erhabenen -Gegenstand der Versammlung hin. Durch eine besondere Offenbarung wurde es ihm mitgeteilt und dessen Fortdauer bestätigt (V.23—25); und auch dieses läßt uns auf den Wert schließen, den der Herr in Betreff unseres geistlichen Zustandes auf dasselbe legt. Der Tod Christi, Sein für uns hingegebener Leib und

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 Sein vergossenes Blut — gegenwärtig für den Glauben — wird als das Fundament des ganzen Kultus vor unsere Seele hingestellt. Auf diese wundervolle Tat ist die Kirche oder Versammlung gegründet und alle ihre Segnungen sind davon abhängig. Ihre Errettung, ihre Freude in der christlichen Freiheit, die Gegenwart des Heiligen Geistes, die Aus­übung Seiner mannigfaltigen Gaben zu ihrer Auferbauung — kurz, alles hat seinen Ausgangspunkt in der Liebe Gottes und dem Opfer Christi in dieser einfachen und feierlichen Tat. so schwach und nichtig sie in ihrer Erscheinung auch sein mag. Der Heilige Geist gibt stets Zeugnis davon und ist bemüht, die Wichtigkeit derselben in den Herzen der Heiligen zu bewahren.

Der Herr Selbst, ehe Er diese Welt verließ und zum Vater ging, forderte die Seinigen auf, durch die Feier des Abendmahls Seines To­des zu gedenken. Seine eigene Freude, das Sehnen Seines eigenen Herzens war es, bei jenem letzten Passahmahle diese Feier mit Seinen Jüngern zu begehen, damit sie von Seinen eigenen Lippen diese wun­derbar köstlichen Worte hören möchten: „Das ist mein Leib — gegeben für euch," und: „das ist mein Blut — vergossen für e u c h." So wichtig auch jeder andere Zweck unseres Zusammenkom­mens sein mag — der Feier des Abendmahls gebührt der erste und vornehmste Platz. 

Keine andere Sache ist so geeignet, wie das Abend­mahl des Herrn, uns unsere ganze Abhängigkeit und Nichtigkeit füh­len zu lassen. Christus und Seine Liebe sind hier der alleinige Gegen­stand unseres Herzens und unserer Anbetung; hier muß jeder Gedanke an uns selbst völlig ausgeschlossen sein. Bezeugt auch unser Gewissen, daß wir der Reinigung bedürfen, und von Natur nichts anderes als arme, verwerfliche Sünder sind, so verkündigen uns doch die Pfänder der Liebe, die wir hier vor uns haben, auf das völligste, daß wir für immer errettet und daß alle unsere Sünden ausgetilgt sind. Deshalb ist es auch ein Fest der Danksagung und der Freude, und nicht der Seufzer und der Traurigkeit. Die innersten Gefühle der Liebe und der Anbetung werden daselbst in Anregung gebracht. Es war in derselben Nacht, in welcher Jesus überliefert wurde, und auch alles wußte, was Ihm be­vorstand, als Er dieses Gedächtnis Seines Todes und Seiner Liebe ein­setzte. So wie das Passahlamm den Auszug der Kinder Israel, der durch das in Ägypten dargebrachte Opfer bewirkt wurde, in Erinnerung brachte, so sollte auch das Abendmahl des Herrn, das Opfer Christi und die dadurch bewirkte Erlösung von unseren Sünden in Erinnerung brin­gen. Christus ist jetzt in der Herrlichkeit und der Heilige Geist hernie­dergekommen; aber unser Gedächtnis an Ihn soll nicht verschwinden;

und bei diesem Gedächtnis ist Sein in den Tod gegebener Leib und Sein vergossenes Blut der hohe und erhabene Gegenstand vor unserer Seele. Wie haben stets das Vorrecht, die Gemeinschaft des verherrlichten Christus zu genießen; aber beim Abendmahl vergegenwärtigen wir durch den Glauben den Gekreuzigten, und nehmen Teil an Seinem gegebenen Leibe und Seinem vergossenen Blute. Es ist nicht ein Christus, wie Er gegenwärtig ist; denn Sein Leib ist jetzt verherrlicht; noch han­delt es sich um die Verwirklichung dessen, w a s Er ist; denn das würde kein Gedächtnis sein; sondern es ist die Erinnerung an das, was Er auf dem Kreuze war. Es ist aber die Erinnerung derer, die jetzt im Geiste

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 mit Ihm in der Herrlichkeit, in welche Er schon eingfegangen ist, ver­einigt sind. Bei jenem Male ist der in den Tod gegebene Leib unseres Hei­landes vor ihren Augen, und Sein vergossenes Blut nimmt .alle ihre Gefühle in Anspruch. Es ist ein überlieferter und getöteter Christus, an den sie gedenken und nicht der, welcher jetzt zur Rechten Gottes sitzt. Ihre Erinnerung aber umfaßt Ihn Selbst, Seine eigene Person, und nicht nur den Wert SeinesOpters. Es ist auch nicht so sehr die Absicht des Geistes Gottes, uns in dieser Stelle die Wirkung Seines Todes vor­zustellen, sondern vielmehr das, was das Herz, beim Andenken an Sei­nen Tod, an Ihn Selbst kettet. Wir feiern „den Tod des Herrn." 0, wie viel köstliche Gedanken knüpfen sich für uns an diese zwei Worte: „Tod des Herrn!" — Wie unermeßlich ist die Gnade und Liebe, die sie in sich bergen, und wie unausforschlich der Wert und die Tragweite ihrer Wirkung! Durch sie wird das Gewissen völlig zum Schweigen gebracht und das Herz mit seliger Ruhe erfüllt. Zu gleicher Zeit aber sehen wir hier auch das Ende der Beziehung Gottes mit der Welt auf Grund der Verantwortlichkeit des Menschen — nur das Ge­richt ist noch über sie. Dieser Tod hat jedes Band mit ihr gebrochen und die Unmöglichkeit jeder Beziehung zwischen Gott und dem Men­schen, als Kind des ersten Adams, völlig erwiesen. 

Wir aber verkün­digen diesen Tod '(V. 26) der uns das Leben brachte, der uns aus dem Verderben erlöste und alle unsere Sünden für immer hinwegnahm; wir feiern ihn als den Triumph über Welt, Sünde, Tod und Teufel, bis der verworfene Herr zurückkommt, und uns zu Sich in den Himmel auf­nimmt, um uns völlig an dem gesegneten Bande teilnehmen zu lassen, was zwischen Ihm und Gott besteht. Welch eine frohe Aussicht in einem Augenblicke, wo uns die Fülle der Liebe Dessen entgegenströmt, der, Seinen Leib für uns gegeben und Sein kostbares Blut für uns vergossen hat! Gewiß, unaussprechlich reich sind die Segnungen, die mit der Feier des Abendmahls des Herrn in Verbindung stehen. Wir gedenken an Seine Liebe; wir verkündigen Seinen Tod; wir bekennen die Einheit des Leibes, die Einheit mit allen denen, die mit uns eines Brotes teilhaftig sind (Kap. 10, 14), und erwarten Seine Wie­derkunft; und der Herr Selbst ist es, der unsere Gedanken auf diese Anordnung richtet, und zwar in der rührendsten Weise, in der­selben Nacht, als Er überliefert wurde. Es ist daher ganz natürlich, daß sich derjenige der Verachtung des Leibes und Blutes schuldig macht oder sich daran versündigt, der auf eine unwürdige Weise daran teil­nimmt (V. 27). Es handelt sich hier nicht darum, wer am Tische des Herrn erscheinen darf, ob sich jemand dazu würdig fühlt, sondern ein­fach um die Art und Weise, in welcher er daran teilnimmt. Jeder Gläu­bige hat das Vorrecht, dort zu sein, wenn nicht irgend eine bestimmte Sünde ihn davon ausschließt. Wenn sich aber ein Christ nicht selber rich­tet, sondern auf eine leichtfertige Weise am Tische des Herrn teilnimmt, ohne das zu würdigen, was das Abendmahl vor seine Seele hinstellt und was Christus damit verbunden hat, und also zwischen dem Tische des Herrn und einer gewöhnliehen Mahlzeit keinen Unterschied macht, so verachtet und verunehrt er den gebrochenen Leib und das vergossene Blut des Herrn, und es erfolgt Züchtigung. Deshalb sagt der Apostel:

„Der Mensch aber prüfe sich selbst und also esse er

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 vondemBroteundtrinkevondemKelche.Dennwerauf unwürdige Art isset und trinket, der isset und trin­ket sich selber das Gericht, weil er nicht den Leib des Herrn unterscheidet" (V. 28. 29). Gegen eine solche Sorg­losigkeit kann der Herr nicht gleichgültig sein. Er kann nicht zugeben, jene Sache, welche diesen Tod, den Er für die Sünde litt, darstellt, durch Nachlässigkeit zu entweihen. Es hieße den Leib des Herrn Selbst ent­weihen, Der lieber sterben wollte, als zu erlauben, daß Sünde vor Gott sei. Und wie höchst verwerflich und unwürdig wäre es, wenn wir mit Seinem Tode, wodurch Er alle unsere Sünden tilgte, gleichgültig die Sünde vermischen wollten! Geschieht aber dieses, unterscheiden wir nicht den Leib des Herrn, nehmen wir an dem Abendmahl des Herrn, diesem sichtbaren Mittelpunkte der Gemeinschaft und dem Ausdruck Seines Todes für unsere Sünden, auf eine unwürdige und leichtfertige Weise Teil, so wird uns Gott durch Züchtigung begegnen. Er wacht mit heiligem Eifer über das, was zur Heiligkeit bestimmt und wofür das Blut Seines Geliebten geflossen ist. Sobald wir vergessen haben, uns selber zu richten, dann tritt Er mit Seinen Züchtigungen ein, um uns zu bessern und zu reinigen. Diese Züchtigungen können sogar bis zum Tode gehen. So geschah es in Korinth. „Deshalb sind viele u n -tereuch schwachund krank und ein gutTeil sind ent­schlafen," d. i. gestorben (V. 30), (vergl. 1. Joh. 5, 16. Jak. 5, 14. 15).

Es ist also notwendig, daß wir uns selber richten. Dieses Selbst­gericht besteht aber nicht nur in dem Bekennen begangener Sün­den, sondern zu gleicher Zeit in der Verurteilung des Zustandes des Herzens, woraus das Böse hervorkam. Wir müssen uns selber rich­ten, unsere Neigungen, unsere Nachlässigkeit, wodurch unser Fall ver­ursacht wurde, kurz alles, was nicht in Gemeinschaft mit Gott ist, oder dieselbe verhindert. Sobald dies Selbstgericht in Wahrheit stattgefunden hat, sind wir von dem Bösen, wodurch wir uns befleckt hatten, gerei­nigt und die Gemeinschaft mit Gott ist wieder hergestellt. Der Herr aber erwartet nicht nur unser Bekenntnis, sondern auch die Un­terscheidung des Zustandes unseres Herzens, wodurch wir vor dem Falle, sei es in Gedanken oder in der Tat, bewahrt bleiben und nicht nötig haben, vom Herrn gerichtet zu werden (V. 31). 

Zu dieser Unter­scheidung sind wir aber nur dann fähig, wenn wir im Lichte wandeln, wie Gott Selbst im Lichte ist. Sobald wir aber gefallen sind oder gleich­gültig in Dingen vorangehen, woran Gott Sein Mißfallen hat und uns nicht selber richten, so tut es der Herr. „W enn wir aber gerich­tet werden, so werden wir vom Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht mit der. Welt verdammt werden" (V.32). Welch ein tröstliches Wort inmitten der Züchtigung! Der Herr ist immer für das Beste der Seinigen besorgt und deshalb kann Er uns nicht in einem unreinen Zustand hingehen lassen; aber wir können nicht „mit der Welt verdammt werden," weil Christus für uns gestorben ist und alle unsere Sünden getilgt hat. Sein Tod ist das Fundament, worauf wir für immer gestellt sind; aber wir werden vom Herrn gezüchtigt. Die Sünde entgeht weder dem Auge, noch dem Gericht Gottes. Er kann unmöglich das Böse in Seinem Hause dulden, weil es sich mit Seiner Heiligkeit nicht verträgt. Er reinigt uns durch die Züchtigung und stellt

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 uns wieder her; aber Er verdammt uns nicht mit der Welt. In Seinem Herzen ist nur Liebe gegen uns und kein Zorn mehr. Alle Seine Hand­lungen gegen uns haben die Liebe zur Quelle, selbst die Züchtigung. Ist ihre Ausübung auch ein Akt der Gerechtigkeit, so bezeugt sie doch aufs deutlichste Seine unabläßliche Mühe und Fürsorge für die Seinigen.

Kapitel 12

Der Tod Christi bildet also den Mittelpunkt der Gemeinschaft in der Versammlung und findet seinen Ausdruck im Abendmahl des Herrn. Außerdem finden wir in der Versammlung die Gegenwart und die Gaben des Heiligen Geistes — eine Wahrheit, die uns namentlich im vorliegenden Kapitel in ihrer Wichtigkeit, Kraft und Tragweite dargestellt wird. Und so wie das Abendmahl des Herrn mit der Einheit der Versammlung und mit der Verantwortlichkeit jedes einzelnen Gläubigen in Verbindung steht, so auch diese Wahrheit, was sie unserer Betrachtung noch ganz besonders anempfiehlt. Ehe aber der Apostel in diesen Gegenstand hier weiter eingeht, macht er vorher auf die bestimmten Kennzeichen aufmerksam, wodurch der Geist Gottes von den Dämonen oder bösen Geistern unterschieden werden konnte. Diese suchten sich nämlich in die Versammlung zu Korinth einzuschlei­chen und alles zu verderben. Sie ahmten die Wirkungen des Geistes nach und verführten die Gläubigen. Der größte Teil der korinthischen Versammlung waren früher Heiden gewesen und „zu den stummen Götzenbildern hingegangen, wie sie geführt wurden" (V. 2), und darum war bei ihnen die Gefahr umso größer, durch die falschen Nachahmun­gen der geistlichen Macht betrogen zu werden. — Es ist aber auch zu jeder Zeit Gefahr vorhanden, und die Gläubigen bedürfen stets der Wachsamkeit, um nicht durch den Betrug Satans mit fortgerissen zu werden.

 Er versucht dies auf alle Weise, bald auf eine gröbere, wie in Korinth, bald auf eine feinere; er richtet sich stets nach Zeit und Um­ständen. Er nimmt selbst die Gestalt eines Engels des Lichts an, und seine Diener die Gestalt als Diener der Gerechtigkeit (2. Kor. 11, 14. 15). Das Wort Gottes gibt uns in dieser Beziehung viele ernste Warnungen. Der Apostel Petrus spricht von falschen Lehrern, die nach ihm aufste­hen würden (2. Petri, 2, l); Johannes ermahnt: „Geliebte! Glaubet nicht jeglichem Geiste, sondern prüfet die Geister, ob sie aus Gott sind; denn viele falsche Propheten sind in die Welt ausgegangen" <1. Joh. 4, l). Paulus nennt „das Verbieten, zu heiraten und das Gebieten, sich von Speisen zu enthalten", Lehren der Teufel (1. Tim. 4, l—3). Auch sagt er in 2. Thessal. 2 und anderen Stellen ausdrücklich, daß der Be­trug und die Verführung immer mehr zunehmen und am Ende eine schreckliche Höhe erreichen würden. Und deshalb darf es uns nicht wundern, daß in der gegenwärtigen Zeit so viele gefährliche und ver­derbliche Irrtümer vorhanden sind — Irrtümer, die auf eine höchst traurige Weise das Werk des Herrn schwächen und verstümmeln und sogar Seine Person verunehren und erniedrigen; und es ist sehr betrü~ bend, daß oft sogar Gläubige ohne Bedenken und ohne Prüfung mehr

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 oder weniger solche falsche Lehren annehmen oder sich doch nicht mit allem Ernst von denen abwenden, die darin verharren! Wie wenig wird in unseren Tagen die Ermahnung der Apostel beachtet: einen in der Lehre sektierischen Menschen abzuweisen (vergl. Tit. 3, 10; 2. Joh. V. 10)! Es zeugt sicher von einem großen Mangel an Eifer für die Ehre des Herrn und Seines kostbaren Werkes.

Die Gefahr, durch die List Satans betrogen zu werden, ist also im­mer vorhanden, und wir haben deshalb, wie schon gesagt, zu jeder Zeit nötig, recht wachsam und nüchtern zu sein, und vor allem, den Herrn fleißig anzurufen, daß er uns bewahre und mit dem Geist er­fülle, der die Kraft der Wahrheit in unsere Herzen ausgießt. Wenn dies aber mangelt, so ist es leicht möglich, daß wir, verblendet durch den Betrug Satans, nicht mehr fähig sind, die Wirkung des Geistes von der des Feindes zu unterscheiden. Die Geschichte zeigt uns, was alles der Mensch zu glauben fähig ist, zu welchen Torheiten er mit fortge­rissen werden kann, wenn er in Gegenwart der Macht des Feindes sich selbst überlassen ist.

Das wahre Kennzeichen nun, um die echten von den falschen Gaben oder Zeichen zu unterscheiden, war die Person Christi. „D a r u m tue ich euch kund, daß niemand, in dem Geiste Gottes redend, sagt: Verflucht sei Jesus! — und niemand sagen kann: Herr Jesus! als nur in dem Heiligen Geiste" (V. 3). Es handelte sich beim Aussprechen dieses Namens hier nicht um Bekehrte oder Unbekehrte, sondern um das Bekenntnis desselben durch die Geister (vergl. 1. Joh. 4, l—3), die durch ver­schiedene Personen in der Versammlung auftraten und wirksam waren. Ein falscher Geist bekannte jenen Namen nicht; er sagte nicht: „Herr Jesus4" — Und so groß war schon der'Einfluß dieser dömonischen Macht in der korinthischen Versammlung, daß man die Wichtigkeit des Namens Jesu vergaß, oder wenigstens nicht bemerkte, daß jene falschen Geister denselben nicht bekannten.

Nach dieser notwendigen ErÖrter ung spricht nun der Apostel von der Gegenwart des Heiligen Geistes unter den Chri­sten — von der Erweisung dieser Gegenwart durch die Gaben, die vermittelst der Glieder des Leibes Christi ausgeübt wurden, und ent­weder zur Bildung und Erbauung der Versammlung, oder zum Beweise ihrer Anerkennung von Seiten Gottes dienten. Gott Selbst war jetzt auf der Erde gegenwärtig. Er wohnte sowohl in den einzelnen Gläubi­gen, als auch in der Versammlung, Seinem geistlichen Tempel. Bis zur Ausgießung an jenem Pfingsttage in Apostel-Geschichte 2 war der Heilige Geist verheißen und auf der Erde wirksam; aber jetzt wohnte Er auf derselben. Er war die Offenbarung der Gegenwart Gottes, so­wohl in Seiner Herrlichkeit, als auch in Seiner Macht und in Bezeu­gung dessen, was Er ist. Zugleich war Er das Band der Gemeinschaft zwischen der Versammlung und Christo, sowie auch zwischen dem ein­zelnen Gläubigen und Ihm. Seine Inwohnung ist die Verwirklichung und die Kraft unserer Gemeinschaft mit Gott, dem Vater, und Christo Jesu, unserm Herrn, ohne welche Gemeinschaft wir völlig unfähig sein wür­den, den wohlgefälligen Willen Gottes zu erkennen und zu erfüllen.

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 Die Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde ist die Frucht des Werkes Christi und Seines Sitzens zur Rechten Gottes. Sein Werk ist vollbracht; die Versammlung ist durch Sein Blut erlöst und gereinigt, und vereinigt in einem Leibe, ist sie das Gefäß und das Zeugnis der Macht Christi, die in Seinen Gliedern wirksam ist. „Er ist in die Höhe hinaufgestiegen, und hat das Gefängnis gefangen geführt und den Men­schen Gaben gegeben" (Eph. 4, 8). Die an Christum Glaubenden sind durch Sein Erlösungswerk vollkommen von der Macht Satans befreit, sind Gefäße der Gnade und der Kraft, die von Ihm, dem Haupte der Versammlung, herabfließt, und sind durch die ihnen verliehenen Gaben hienieden Werkzeuge eines abwesenden Christus. Diese Gaben können nun entweder als Gaben Christi betrachtet werden, wie wir in Ephe-ser 4, oder als Einwirkung und Mitteilung des Heiligen Geistes:

wohnend in der Versammlung, wie in vorliegendem Kapitel. Auch sind die Gaben, wie schon vorhin angedeutet zweierlei: — solche, die zur Sammlung und Erbauung des Leibes Christi dienen und solche, welche Zeichen vor der Welt sind, sichtbare Zeichen von der Gegenwart Gottes in der Person des Heiligen Geistes in der Versammlung. In Epheser 4 finden wir nur erstere, während in diesem Kapitel von beiden die Rede ist. Diese Unterscheidung ist nicht ohne Wichtigkeit. So lange die Ver­sammlung auf der Erde ist, werden jene Gaben, die zu ihrer Bildung und Erbauung dienen, bleiben, weil Christus treu ist und Seine Ver­sammlung vollkommen liebt. Diese aber, die eine Zierde der Versamm­lung und ein Beweis ihrer Anerkennung von Seiten Gottes Waren, sind ihrer Untreue wegen weggenommen; aber dennoch sind sie nach Gottes weiser Anordnung so lange geblieben, als es nötig war, um das Zeug­nis der Wahrheit zu befestigen.

Betrachten wir jetzt die Belehrung selbst, die uns das vorliegende Kapitel über diesen so wichtigen Gegenstand darbietet. „Es sindver­schiedenheiten von Gnadengaben, aber derselbe Geist" (V. 4). Es waren keine verschiedenen Geister, wie bei den Dämonen, sondern es war ein und derselbe Geist, der Sich aber in verschiedenen Gaben offenbarte. — „Es sind Verschie­denheiten von Diensten, aber derselbe Herr" (V. 5). Je­der, der ein Gabe empfangen hat, tritt damit in den Dienst Christi. Er darf nicht selbständig und nach eigenem Gutdünken handeln, sondern in der völligen Abhängigkeit von Christo, dessen Diener er ist — unter Anerkennung der Herrschaft Dessen, dem allein er Rechenschaft zu ge­ben schuldig ist. Christus wird uns hier nicht in Seiner abhängigen Stellung, sondern als unumschränkter Herr dargestellt. — „Es sind Verschiedenheiten von Wirkungen; aber es ist der­selbe Gott, deralles in allem wirkt" (V. 6). Er ist die Quelle aller Kraft und aller Wirkungen. — In diesen Versen ist zugleich die Ordnung und Beziehung ausgedrückt, in welche der Mensch durch die Kraft des Heiligen Geistes zu Gott und Christo gebracht ist.

Weiter nun heißt es: „Jeglichem aber wird die Offenba­rung des Geistes zum Nutzen gegeben" (V. 7). Das Vorhan­densein und die Wirksamkeit der Gaben offenbaren die Gegenwart und die Kraft des Heiligen Geistes in der Versammlung. Sie sind sowohl für die einzelne Seele, als auch für die Versammlung im Allgemeinen zum

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 Nutzen gegeben, und stellen die damit Betrauten als Diener Christi hin, die als solche für deren Ausübung verantwortlich sind. Wir sehen dies sehr deutlich in Matth. 25, in dem Gleichnis von den Talenten, die den drei Knechten anvertraut waren. Die beiden ersteren wurden von ihrem zurückkehrenden Herrn gelobt und belohnt, weil sie mit ihren Talen­ten gehandelt hatten; der letztere aber wurde getadelt und bestraft, weil er aus Mißtrauen gegen seinen Herrn das Talent vergraben hatte. Man gibt einem Menschen nicht Stoff und Werkzeuge, um sie nicht zu gebrauchen; und ebenso werden auch diese Gaben nicht mitgeteilt, um sie unbenutzt zu lassen. Ihr Vorhandensein gibt dem Gläubigen nicht nur die vollkommene Bevollmächtigung zu ihrem Gebrauch, sondern legt ihm auch die heilige Pflicht auf, sie stets in dem Bewußtsein aus­zuüben, daß er Christo, dem Herrn und dem Haupte der Versammlung, und nicht Menschen verantwortlich ist. Auch der Apostel Petrus er­mahnt: „Je nachdem jeder eine Gnadengabe empfangen hat, dienet ein­ander damit, als gute Verwalter der mannigfaltigen Gnade Gottes" (1. Petri 4, 10).

Es werden nun verschiedene dieser Gaben aufgezählt. „D e m e i n e n wird durch den Geist die Rede der Weisheit gegeben" (V. 8), — die Gabe, auf alle Umstände, durch welche wir hienieden zu gehen haben, das göttliche Licht anzuwenden, alle Dinge in diesem Lichte zu beurteilen, und in allen Wegen den wohlgefälligen Willen Gottes zu erkennen; — „und einem ändern die Rede der Er­kenntnis nach demselben Geist", das Verstehen und Mit­teilen der Gedanken Gottes, wie sie offenbart sind; — „und einem anderen Glauben in (der Kraft) desselben Geistes" (V. 9), — nicht der Glaube an das Evangelium, der das Eigentum aller Chri­sten ist, sondern der Glaube als die von Gott mitgeteilte Kraft, um in­mitten der größten Schwierigkeiten und Verfolgungen das Auge voll Vertrauen auf den Herrn gerichtet zu halten; — „und einem ande­ren Gnadengaben der Heilungen in (der Kraft) dessel­ben Geiste s", — um allerlei Krankheiten durch das bloße Wort oder Anrühren zu heilen; — und einem anderen Wirkungen der Wunder" (V. 10), — um Dinge zu verrichten, die ganz und gar außer dem Bereich der menschlichen Kraft liegen; — und einem än­dern Prophezeiung" — um mit Einsicht und Kraft von der ge­offenbarten Wahrheit zur Erbauung Anderer Zeugnis abzulegen; — „und einem anderen Unterscheidungen der Geister", nicht um den Zustand der Seele zu unterscheiden, sondern wahre und falsche Lehre, wahre und falsche Begeisterung, den Geist Christi und den Geist des Teufels; — „und einem anderen (verschiedene) Arten S p r a ch e n" — d. i. in allerlei Sprachen zu reden ohne sie vor­her gelernt zu haben, wie wir am Pfingsttage bei der Ausgießung des Heiligen Geistes sehen; — „und einem anderen Auslegung der Sprache n." Auch dies war eine besondere Gabe, indem oft selbst der in einer Sprache Redende nicht fähig war, dieselbe auszu­legen (vergl. Kap. 14, 13).

„Alle diese Dinge wirket ein und derselbe Geist, jeglichem insbesondere austeilend, wie Er wil 1"(V. 11). Der Apostel wiederholt hier noch einmal, daß es ein und derselbe Geist

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 ist, welcher selbständig und nach Seinem eigenen Willen einem jegli­chen ins Besondere austeilt. In Vers 6 werden Gott die verschiedenen Wirkungen zugeschrieben und hier dem Heiligen Geiste; und eben dieses bezeugt uns auf das Bestimmteste, daß der Heilige Geist nicht nur ein gewisser Einfluß oder eine untergeordnete und abhängige Kraft ist, sondern eine freie und selbständige Person — Gott Selbst. Wo Er wirkt, da wirkt Gott; aber diese Wirkungen sind Gaben in dem Men­schen, die der Heilige Geist nach Seinem eigenen Willen austeilt. Er wird also in dieser Austeilung als persönlich wirkend und als G o 11 auf das Bestimmteste dargestellt — eine Wahrheit, die von der höchsten Wichtigkeit ist. Der Heilige Geist ist der Mittelpunkt und die lebendige Kraft des ganzen Leibes.

 Er wirkt in den einzelnen Gliedern und durch dieselben; und diese sind in der Ausübung ihrer Gaben Glieder ein und desselben Leibes, der durch die Gegenwart und Kraft des Heiligen Gei­stes gebildet ist. — Im Lichte dieser Wahrheit muß uns jedes selbstän­dige Handeln, jede eigenmächtige Anordnung des Menschen in Betreff der Bildung und Erbauung der Kirche oder Versammlung nur als eine traurige Anmaßung des Fleisches erscheinen, wodurch die Gegenwart des Heiligen Geistes tatsächlich verkannt, Sein Ansehen vernichtet und Seine freie Tätigkeit beseitigt wird. Es gibt wohl kaum eine andere Sünde, die in einer so ausgedehnten Weise das Wachstum des Leibes verhindert, Seine Einheit zerstört, den Herrn, das Haupt der Versamm­lung, verunehrt und den in ihr wohnenden Heiligen Geist betrübt. 0 möge der Herr Seinen Kindern über diesen so wichtigen Gegenstand immer mehr erleuchtete Augen geben!

In den folgenden Versen wird uns nun die Lehre in Betreff des Leibes und der Glieder Christi auf eine einfache und klare Weise dar­gestellt. Der Heilige Geist vereinigt alle Christen zu einem Leibe. „Denn gleich wie der Leib einer ist, und viele Glieder hat, alle die Glieder des einen Leibes aber, (obgleich) viele, ein Leib sind; also ist auch der Christus" (V. 12). Durch diesen Ausdruck ist die Einheit der Versammlung mit ihrem Haupte auf eine wunderbar schöne Weise ausgedrückt. Anstatt bei diesem Vergleich mit dem menschlichen Körper zu sagen: „Also ist auch die Versamm­lung", sagt der Apostel: „Also ist auch der Christus;" denn die Versammlung ist Er Selbst — Sie ist Sein Leib. Obwohl da auch viele Glieder sind, welche alle besondere Gaben empfangen und besondere Dienste zu verrichten haben, so machen sie doch zusammen einen Leib aus. Es ist „Ein Leib und ein Geist" (Eph. 4, 4).

 „Denn auch durch einen Geist sind wir alle zu einem Leibe getauft wor­den, es seien Juden oder Griechen, es seien Sklaven oder Freie; und sind alle in einem Geist getränkt" (V. 13). Die Einheit des Leibes, so wie die "Verbindung der einzelnen Glieder untereinander, ist durch die Taufe des Heiligen Geistes hervor­gebracht. Er ist zugleich die Kraft dieser Einheit, während das Abend­mahl des Herrn der sichtbare Ausdruck derselben ist. Die unterschiede­nen Charaktere von Juden und Griechen haben in diesem Leibe auf­gehört, der Unterschied zwischen Knecht und Freier ist darin ver­schwunden. Alle sind in einem Geist getränkt, sind ein und desselben Geistes teilhaftig geworden, sind durch ein und denselben Geist gesalbt,

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 und bilden zusammen das harmonische Ganze, den einen Leib wovon Christus, der Herr der Herrlichkeit, das Haupt ist. Gleichwie der menschliche Körper aus vielen Gliedern besteht, und alle diese Glieder ihren besonderen Platz empfangen und ihre besonderen Dienste zu ver­richten haben, so ist es auch mit dem Leibe Christi. Alle Glieder darin haben ihren besonderen Platz und ihre besondere Gabe (V. 14—20). Sie üben dieselben aus als Diener Christi, zur Sammlung und Auferbauung des ganzen Leibes, dessen Glieder sie sind. Zugleich sind sie Glieder untereinander, sind voneinander abhängig, haben einander nötig und stehen zueinander in inniger Verwandtschaft. So wie der Fuß zu der Hand nicht sagen kann: „Ich bedarf deiner nicht", — ebensowenig kann ein Christ also zum anderen sprechen. Betrachtenrwir den menschlichen Körper, wie Gott ihn nach Seiner Weisheit zusammengefügt hat, so finden wir sogar, daß die schwächeren Glieder am notwendigsten sind, daß die unehrbaren und unanständigen am meisten bekleidet und ge­schmückt werden; sie werden mit größerer Ehre umgeben, als die schö­neren Teile des Körpers, die es nicht bedürfen (V. 21—25). Ebenso ver­hält es sich mit dem Leibe Christi, wo die glänzendsten Gaben im Ver­gleich zu den unansehnlicheren den geringsten Wert haben. Übrigens haben alle Glieder einander gleich nötig und sind zum Wachstum des ganzen Leibes, ein jedes in seiner besonderen Stellung, förderlich.

Es ist leider wahr, daß durch die Untreue der Versammlung eine große Verwirrung eingetreten und die Ausübung der verschiedenen Ga­ben wenig zu sehen ist; aber dessenungeachtet bleibt es ebenso wahr, daß jedes Glied irgend eine Gabe empfangen hat, für welche es Verantwort-wortlich ist; es kann sie ausüben oder vergraben — zum Nutzen an­wenden oder zum Schaden vernachlässigen. 

Der Herr bleibt immer treu und behält Seine Versammlung zu jeder Zeit vollkommen lieb. Sobald wir, getrennt von der Welt und allem Parteiwesen, uns einfach im Namen Jesu versammeln, können wir auf Seine Gegenwart und die Offenbarung Seiner Gnade und Liebe rechnen. Er wird es an nichts mangeln lassen, was zum Wachstum in der Gnade und der Erkenntnis nötig ist.

Die innige Verwandtschaft der einzelnen Glieder untereinander wird sehr schön in den folgenden Worten ausgedrückt: „U n d s e i e s , daß ein Glied leide, so leiden alle Glieder mit; sei es,daß ein Glied verherrlicht werde, so freuen sich alle Glieder mit" (V. 26). Diese gegenseitige Teilnahme ist die natürliche Folge der Einheit des Leibes, der durch einen Geist gesalbt ist. Alle Glieder sind innig miteinander verbunden und haben Leid und Freude gemein. Der Heilige Geist, der alle beseelt, erweckt diese Ge­fühle. Es sind dieselben Gefühle, die in Christo Jesu Selbst sind; denn die Versammlung ist Sein'Leib. „Ihr aber seid der Leib Chri­sti, und Glieder in Sonderheit" (V. 27). In diesen köstlichen Worten ist sowohl die Größe unseres Vorrechts als auch unsere tiefe Verantwortlichkeit ausgedrückt.

Es ist auch bemerkenswert, daß, obwohl die Versammlung zu Ko-rinth nur ein Teil des ganzen Leibes war, Paulus hier dennoch von dem ganzen Leibe redet. Und dies konnte er deshalb, weil die Versamm­lung in dieser Stadt dem Grundsatze nach, wonach sie sich versammelte,

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 der Leib Christi war. Die dortigen Christen lebten und handelten als Glieder eines Leibes. Diese Tatsache ist von der größten Wichtigkeit. In ihrer Stellung vor Gott werden die Christen eines Ortes als die ganze Versammlung darstellend betrachtet, und nicht als getrennt und unabhängig von den übrigen. Im ganzen Neuen Testament ist keine Rede von Gliedern dieser oder jener Versammlung — wenigstens wird dieser Ausdruck nie in dem Sinne gebraucht, wie es heutigen Tages ge­schieht — sondern nur von Gliedern des Leibes Christi.

„Und Gott hat etliche in der Versammlung gesetzt, aufs erste Apostel, aufs zweite Propheten, aufs dritte Lehrer, darnach W u n d e rkr ä f t e , dann Gaben von Heilungen, Hilfsleistungen, Regierungen, (ver­schiedene) Arten von Sprachen" (V. 28). Man beachte wohl, daß Gott diese verschiedenen Gaben nicht in einer, sondern in d e r Ver­sammlung setzte, und daß Gott sie setzte und nicht die Versamm­lung selbst. 

Wenn aber der Heilige Geist die verschiedenen Gaben zum Nutzen des ganzen Leibes gibt, so müssen sie auch von den ein­zelnen Gliedern ausgeübt und anerkannt werden. Die Versammlung hat weiter nichts zu tun, als sich ganz und gar der Leitung ihres Sach­walters zu unterwerfen, auf die Offenbarung der nötigen Gaben zu warten und von den offenbar gewordenen mit dankbarem Herzen Ge­brauch zu machen. In keinem Falle ist sie berufen, mehr zu tun, als die vorhandenen Gaben anzuerkennen und zu benutzen. Alles, was sie darüber hinaus tut, ist nur eine Störung der freien Wirksamkeit des Heiligen Geistes.

Durch jene Aufzählung der verschiedenen Gaben in Vers 28 soll nicht so sehr ein ausführliches Verzeichnis derselben gegeben, als viel­mehr ihre Rangordnung angedeutet werden; und wir sehen, daß die fremden Sprachen, worauf die Korinther den meisten Wert legten, den letzten Platz erhalten — wie beschämend für ihren Hochmut! Der Unter­schied in Betreff der Wichtigkeit der Gaben hängt allein von dem Maße ab, in welchem sie zu der Auferbauung des Leibes beitragen, und hier­zu trugen die Sprachen am wenigsten bei. Der Apostel ermuntert des­halb die Korinther, nach solchen Gaben zu trachten, wodurch die Ver­sammlung am meisten erbaut würde. „Strebet aber nach den besseren Gnadengabe n. Und einen noch vortreffli­cheren Weg zeige ich euch" (V. 31). — Über all diesen herr­lichen Gaben, die eine Offenbarung der Macht Gottes und des Geheim­nisses Seiner Weisheit waren, war etwas zu erlangen, was in den Augen Gottes am köstlichsten war — die Liebe. Sie ist Seine Eigene Natur — der Ausdruck Seines Wesens; 'denn Gott ist die Liebe." Und durch die Liebe stehen wir mit Ihm in der innigsten und völligsten Verwandt­schart, und durch die Offenbarung derselben verwirklichen wir Seine Gesinnung und die Freude Seines Herzens.

Kapitel 13

In diesem Kapitel spricht nun der Apostel zunächst von der Wert-losigkeit der glänzendsten Gaben ohne die Liebe, zeigt dann den wah­ren Charakter dieser Liebe und ihre ewige Dauer im Gegensatz zu den übrigen Gaben, die alle ihr Ende erreichen werden. Die Liebe ist die

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 Natur des unveränderlichen Gottes; sie ist die unversiegbare Quelle aller Seiner Handlungen gegen uns; und deshalb ist auch nur das allein wertvoll und köstlich vor Ihm, was aus derselben Quelle entspringt. Alles andere ist nichtig, so sehr es auch die Bewunderung der Menschen auf sich ziehen mag. Würde ich auch alle Sprachen der Menschen und sogar der Engel reden, würde ich Prophezeihung haben, und alle Ge­heimnisse und alle Erkenntnis, würde ich allen Glauben haben, also daß ich Berge versetzte, würde ich alle meine Habe austeilen und selbst meinen Leib zum Verbrennen hingeben —ja, würde ich dies alles kön­nen und tun, und dieserhalb von allen Menschen bewundert, als hoch bevorzugt betrachtet und glücklich und selig gepriesen werden, so wäre ich dennoch nichts und würde auch nichts damit gewinnen, wenn die Liebe fehlte, wenn sie nicht die Quelle und der alleinige Beweggrund aller meiner Handlungen wäre (V. l—3). Ernste und beherzigenswerte Wahrheit! — eine Wahrheit, die alle Selbstsucht und allen eitlen Hoch­mut des Menschen zu Boden schlägt. Ach, wie manches Dichten und Trachten, im Lichte dieser Wahrheit, dem alleinigen Maßstabe Gottes, betrachtet, würde aufhören, und wie manche Bwunderung dahinsinken! Der Mensch sucht so gerne die Größe des Menschen; Gott aber sucht die Liebe, die Gleichförmigkeit Seiner Natur.

 Die Liebe Gottes ist aus­gegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der die Kraft der­selben ist. In ihr besitzen wir die göttliche Natur und sind fähig ge­macht, Gottes Nachahmer zu sein. In völligem Gegensatz zu der Eigen­liebe, des Menschen sucht sie den Beweggrund ihrer Ausübung nicht in dem Gegenstande, womit sie beschäftigt ist, sondern findet ihn in sich selbst; sie liebt, weil sie Liebe ist. Sie fragt nicht zuerst nach der Wür­digkeit des Gegenstandes, noch sucht sie die Anerkennung und Gegen­liebe desselben. Keine Schwachheit bei anderen vermag sie zu schwä­chen und kein Haß oder irgendwelche Kränkung ihre Quelle zu ver­stopfen. Sie ist frei von aller Selbstsucht des Menschen, frei von aller Empfindlichkeit des Fleisches. Die vollkommene Offenbarung dieser Liebe finden wir in der Person Christi, als Er auf Erden wandelte und auf dem Kreuz Sein Leben für uns hingab. Verfolgen wir Seinen Pfad hienieden von Schritt und Tritt, so haben wir die vollkommene Verwirk­lichung dessen, was uns in diesem Kapitel von der Liebe gesagt wird. Und nur in Gemeinschaft mit Christo, der Sich Selbst für uns, als Dar­bringung und Opfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch hingegeben hat (Eph. 5, 2), sind auch wir fähig, in Liebe zu wandeln und Gott zu verherrlichen.

Laßt uns jetzt mit ernster Aufmerksamkeit jenes schöne Verzeichnis der verschiedenen Eigenschaften der Liebe betrachten, welches der Apostel hier von Vers 4—7 vor unseren Blicken darstellt. „Die Liebe ist langmütig." Sie erträgt lange; sie ist nicht geschwind und über­eilend gegen die, welche ihr Kummer und Schaden zu bereiten suchen. Sie ist langsam zum Zorn, und sucht vielmehr den Fehlenden mit Ge­duld und Erbarmen zur Einsicht zu bringen — „Sie ist güti g." Sie ist stets bemüht, allen wohlzutun und Gutes zu erweisen, und ist weit davon entfernt, Böses mit Bösem zu vergelten, sondern das Böse mit dem Guten zu überwinden (Röm. 12. 17. 21). „Die Liebe eifert n i c h t," oder ist nicht mißgünstig. Anstatt mit Eifersucht und Neid

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 das Wohlergehen und die Vorzüge anderer zu betrachten, ist sie viel­mehr voll Freude darüber. — „Die Liebe tut nicht gro ß." Sie ist fern von aller Prahlerei und allem Haschen nach fremdem Beifall;

und sucht sich nie auf Kosten anderer zu erheben und ihre eigenen Vorzüge ans Licht zu stellen. — „Sie bläht sich nicht au f." Sie ist nicht mit Dünkel und Einbildung, nicht mit einer hohen Meinung von sich selbst erfüllt. — „Sie gebärdet sichnichtunanstän-d i g," weder durch ungeziemende Worte, noch durch schlechte Hand­lungen. Stets auf das Wohl und den Nutzen aller bedacht, liegt Ord­nung, Anstand und Zucht ihr am Herzen. — „Sie sucht nicht das ihre." Die Selbstsucht des Menschen denkt nur an sich und lebt nur für sich; die Liebe aber ist mit anderen und für andere beschäftigt und stets für deren Wohl besorgt. Anstatt auf Anerkennung und Gegenliebe zu warten, ist sie sogar fähig, um so reichlicher zu lieben, je weniger Erwiderung sie findet (vergl. 2. Korinth. 12, 15). — „Sie läßt sich nicht erbittern." Sie vergibt die Beleidigungen gern und trägt nicht das Geringste im Herzen nach (V. 4, 5).

Bei den bis jetzt aufgezählten Eigenschaften der Liebe ist S e l b s t -Verleugnung der hervorragende Charakter; ihr beständiger Gegen­stand ist das Wohlergehen der anderen. Die folgenden Eigenschaften bezeugen mehr ihre Freude am Guten und ihr Verhalten gegen das Böse. Sie läßt sich nicht durch die so tief gewurzelte Neigung der mensch­lichen Natur leiten, die so gern das Böse bei ändern voraussetzt, sondern „sie denkt nichts Bös es." Sie läßt nie einem unbegründeten Argwohn Raum, noch fällt sie ein Urteil auf bloße Vermutungen hin oder nach der Erkenntnis der Tiefe des Bösen im eigenen Herzen oder nach den traurigen Erfahrungen und Täuschungen, die sie im Umgang mit anderen gemacht hat, sondern setzt immer das Beste voraus. — „Sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrh&it" (V. 6). Weit davon entfernt, selbst das Böse zu tun, hat sie auch keine Freude daran, wenn andere in Ungerechtigkeit wandeln; sondern in Übereinstimmung mit der Wahr­heit erfreut sie sich stets der Heiligkeit, Lauterkeit und Rechtschaffen-heit. — „Sie deckt alles z u."

 Wenn sie auch das Gute nicht sieht, so vermutet sie es; und wenn sie das Böse sieht, so erträgt sie es mit Langmut und Geduld. So lange das Wohl anderer es nicht durchaus er­fordert, sucht sie es nicht aufzudecken; ja, ihr innigster Wunsch ist, es für immer begraben zu können. — „Sie glaubt alles, s ie hofft alles, sie erduldet alles" (V. 7). Sie ist ohne Mißtrauen, legt alles zum Guten aus, hofft immer das Beste und läßt sich selbst durch die erfahrenen Kränkungen nicht darin irre machen. Auch denkt sie nicht im geringsten daran, für das ihr zugefügte Unrecht oder die ihr zuteil gewordenen Beleidigungen Rache auszuüben. — 0 möchte der Heilige Geist diese Liebe immer mehr in uns kräftig und wirksam sein lassen, damit ihre herrlichen Eigenschaften immer völliger in unserem ganzen Wandel zur Verherrlichung Gottes und zum Nutzen der Seinigen hervorstrahlen!

Die Liebe ist nun ewig, weil sie die Natur Gottes ausmacht. „D i e Liebe vergeht nimmer. Seien es aber Prophezeihun-gen, sie wer den weggetan werden; seien es Sprachen,

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 sie werden aufhören; sei es Kenntnis, sie wird weg­getan werden" (V. 8). Die Mitteilung der Gedanken Gottes, sowie auch das Mittel dieser Mitteilung, die Kenntnis, die wir hienieden er­langen — dies alles erreicht sein Ende; aber die Liebe bleibt. Wir er­kennen auch hienieden die Wahrheit, obwohl sie ganz offenbart ist, nur stückweise (V. 9); wir sind nicht im Stande, uns das Ganze derselben auf einmal vorzustellen, sondern immer nur einzelne Teile; und darum ist unsere Erkenntnis auch unvollkommen. „W enn aber das Voll­kommene gekommen sein wird, dann wird das, was stückweise ist, weggetan werden" (V. 10); dann wird auch unsere Erkenntnis eine vollkommene sein. Wie groß ist nicht der Un­terschied zwischen dem Fassungsvermögen eines Kindes und dem eines Mannes, zwischen der Art und Weise ihrer Anschauung, der Wahl eines Gegenstandes und ihrer Freude darüber! aber noch weit größer wird der Unterschied zwischen einem Christen hienieden, umgeben mit Schwachheiten aller Art, und einem Christen in der Herrlichkeit droben sein, wo jede Unvollkommenheit verschwunden ist (V. 11). Jetzt se­hen wir mittels eines Spiegels im Rätsel; dann aber von Angesicht zu Angesicht.

 Jetzt erkenne ich stück­weise; dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt worden bin" (V. 12). Jeder Nebel ist dort verschwun­den; jeder Schatten hat einer vollkommenen Klarheit Platz gemacht. Wir werden alle Dinge im Lichte Gottes in ihrer wahren Wirklichkeit verstehen und erkennen. „Nun aber bleibet Glaube, Hoff­nung, Liebe, diese drei; — die Größte aber von diesen ist die L i e b e" (V. 13). Hienieden können wir weder ohne Glauben, noch ohne Hoffnung den Pfad unserer Pilgrimschaft vollenden. Sie sind das gesegnete Vorrecht derer, die hienieden keine bleibende Stätte haben, sondern die zukünftige suchen — die durch eine Wüste wandeln, wo nichts das Herz erfreuen und erquicken kann; aber so gesegnet und notwendig auch Glaube und Hoffnung sein mögen, so ist dennoch die Liebe, auch selbst hienieden schon, größer als beide; denn sie ist die Gleichförmigkeit der Natur Gottes, der lebendige Ausdruck dessen, was Er ist. Ihr Besitz und ihre Ausübung offenbaren, daß wir Seiner Natur teilhaftig geworden und mit Seinen Gefühlen und Handlungen in Über­einstimmung sind.

Kapitel 14

Es ist also vor allem wichtig, nach der Liebe zu trachten, wie auch der Apostel hier in Vers l ausdrücklich ermahnt, weil sie das höchste und bleibende Gut ist; aber außerdem ist es wohl auch Gott wohlge­fällig, um die geistlichen Gaben zu eifern; doch weniger um solche, die .nur den eigenen Vorteil bezwecken, als um solche, die das Wohl aller im Auge haben, die zur Erbauung der Versammlung dienen. Die Liebe verlangt darnach, weil sie weiß, daß der Herr wünscht, daß Seine Versammlung in Gnade und Erkenntnis aufwachsen möge. Ein Christ, der wirklich den Herrn liebt, wird nicht zufrieden sein, die Erbauung

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 der Versammlung allein durch andere besorgt zu sehen sondern wird selbst mit Einfalt nach solchen Gaben trachten, die jene Erbauung be­fördern. Es ist aber völlig verwerflich vor Gott, bei jedem Trachten an sich selbst zu denken, und nicht allein an das Wohl der Versamm-, lung.

Wer in einer fremden Sprache redete, redete nicht den Menschen, sondern Gott (V. 2). Niemand verstand ihn, und deshalb konnte auch niemand durch ihn erbaut werden; vielleicht verstand er sich selbst nicht einmal (vergl. V. 13). Er war das Organ des Geistes und fühlte, daß er mit Gott in Gemeinschaft war und die Worte Gottes sprach;

aber diese Worte hatten keinen Nutzen für andere; nur im Geist redete er Geheimnisse. „Wer aber weissagt, rede t. den Menschen Erbauendes und Ermahnendes und Tröstendes" (V. 3). Die Weissagung oder Prophezeihung ist nicht nur die Vorhersagung zukünftiger Dinge, sondern auch die Mitteilung der Gedanken Gottes durch den, der,, mit Gott in Gemeinschaft ist. Durch diese Mitteilung wird die Versammlung erbaut, während der in Sprachen Redende sich selbst erbaute (V. 4). Die Gabe der Prophezeihung oder Weis­sagung war also weit wichtiger als die, in fremden Sprachen zu reden;

weshalb auch der Apostel in Vers 5 sagt: „Ich wollte aber, daß ihr alle in Sprachen redetet; vielmehr aber, daß ihr weissagtet. Denn der, welcher weissagt, ist mehr, als der in fremden Sprachen redet; es sei denn, daß er auch auslege, auf daß die Versammlung Erbauung empfang e." Das war ein beschämendes Wort für den Hochmut der Korinther, die, wie schon früher erwähnt, auf das Reden in fremden Sprachen einen so großen Wert legten und gleich Kindern damit zu glänzen suchten. Der Wille Gottes aber ist die Erbauung der Versamm­lung; und darum verdienen jene Gaben stets den Vorzug, durch welche diese befördert wird; das Reden in fremden Sprachen aber hatte nur in­soweit Wert für die Versammlung, als es durch Auslegung zu demselben Zwecke dienen konnte.

„Nun aber, Brüder," — fährt der Apostel fort, — wenn ich zu euch komme und in Sprachen rede — was werde ich euch nützen, wenn ich zu euch nicht entweder in Offenbarung, oder in Erkenntnis, oder in Weissa­gung, oder in Lehre redete" (V. 6). Unter „Offenbarung ist hier namentlich die Mitteilung von bisher verborgenen Wahrheiten verstanden, während die „W e i s s a g u n g" mehr darin besteht, die schon geoffenbarten Wahrheiten auf Herz und Gewissen anzuwenden. „Erkenntnis und Lehre" bezeichnen das Verständnis der ge­offenbarten Wahrheit und die Auslegung derselben. Die Gabe der Lehre dient mehr zur Erbauung derer, die geistlich sind, während durch die

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 Weissagung auch solche Erbauung finden, die es weniger sind; ihr Ge­wissen wird durch die Kraft des Wortes angefaßt und beurteilt.

Alle die hier genannten Gaben haben einfach die Erbauung zum Zweck. Das Reden in fremden Sprachen aber glich einer Pfeife oder Harfe, wenn sie keine unterschiedlichen Töne geben, oder einer Posaune, die einen undeutlichen Ton hervorbringt. Niemand ist im Stande, die Bedeutung jener Töne zu verstehen, und niemand in einem Heere wird sich bei solch einem undeutlichen Posaunenton zum Kampf rüsten; eben­sowenig kann man auch wissen, was geredet ist, wenn man nicht durch die Sprache eine verständliche Rede gibt; man wird in die Luft reden (V. 7—9). Es gibt verschiedene Arten von Stimmen oder Sprachen in der Welt, und jede hat den Zweck, sich dem Hörenden verständlich zu machen. „Wenn ich nun nicht" — sagt der Apostel — „die Bedeutung des Tones erkenne, so werde ich dem, welcher redet, ein Barbar*) sein, und der, welcher redet, wird mir ein Barbar sein (V. 11).

Der Apostel ermahnt deshalb die Korinther, welche Eiferer um Geister waren, ihren Eifer für die richtige Begabung zur Erbauung der Versammlung zu benutzen (V.12); und wenn sie in einer fremden Sprache redeten, so sollten sie um Auslegung bitten, damit auch dieses zur Erbauung der Übrigen gereichte (V. 13). Das Wachstum der Ver­sammlung sollte bei Ausübung aller Gaben der erste und vornehmste Zweck bleiben. Er wehrte ihnen nicht, im Geist zu beten, zu lobsingen und zu danksagen; aber sie sollten es zugleich mit dem Verstande tun, d. h. auf eine verständliche Weise, damit alle erbaut würden und auch die Unkundigen auf die Danksagung Amen sprechen könnten (V. 14—17). — Es liegt in dieser einfachen und ausführlichen Darstellung zugleich eine ernste Ermahnung für die Christen aller Zeiten. Ist auch nicht mehr die Gefahr vorhanden, durch die Gabe, in fremden Sprachen zu reden, sich selbst zu suchen, weil diese Gabe nicht mehr da ist, so kann es doch auf eine andere Weise geschehen. Jeder Dienst in der Versamm­lung aber ist nutzlos, wenn er nicht ihre Erbauung zum Zweck hat und 'wirklich befördert.

Wenn nun der Apostel bei den Korinthern so sehr auf eine verständ­liche Rede in der Versammlung drang, so geschah es nicht aus Eifer­sucht, denn er sagte: „Ich danke Gott, weil ich mehr als ihr alle, in Sprachen rede. Aber ich wollte in der Ver­sammlung lieber fünf Worte durch meinen Verstand reden, auf daß ich auch andere unterweise, als zehn­tausend Worte in einer Sprache" (V. 18. 19). Der Apostel schenkte jener Gabe alle Beachtung, denn sie kam von Gott und war

*) So nannten die Griechen alle die übrigen Völker.

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 ein merkwürdiger Beweis Seiner Macht und Seiner Gegenwart in der Versammlung; aber er war erhaben über alle fleischliche Eitelkeit und über die Bewunderung durch andere, beim Anblick dieser Gabe. Sein einziger Wunsch war, anderen zu dienen, die Versammlung zu erbauen, und nicht, um vor jenen zu glänzen. Die Liebe und Selbstverleugnung, wozu er seine Brüder ermunterte, wurde bei ihm selbst gefunden; und mit großem Ernst ruft er den Korinthern zu: „Brüder, seid nicht Kinder am Verständnis, sondern an der Bosheit seid Kinder; am Verständnis aber seid Erwachsene" (V. 20). Zu prahlen und groß zu tun mit dem, was glänzte, und das Nützliche dadurch zu vernachlässigen, war tatsächlich kindisch. Kinder zu sein, war sehr gut, — aber dann an der Bosheit und nicht am Verständnis.

Der Apostel führt uns noch einen anderen Beweis an, um den Ko­rinthern zu zeigen, daß sie keine Ursache hatten, so sehr nach dem Re­den in fremden Sprachen zu haschen und sich darin zu gefallen. Dies Reden war durch den Propheten Jesajas (Kap. 28, 11. 12) als ein Gericht für Israel angekündigt, und deshalb keine so sehr wünschenswerte Sache (V. 21). Es war kein Zeichen für die Gläubigen, sondern für die Ungläubigen, — es war nicht von Gott gegeben, um in der Versamm­lung zu deren Erbauung benutzt zu werden, sondern um die Ungläubi­gen von der Macht und Gegenwart Gottes zu überzeugen, wie es am Pfingstfeste in Jerusalem geschah, wo ein jeder die Apostel in seiner eigenen Mundart reden hörte. Gott wird zu Seinem Volke in dessen eigener Sprache reden; wenn Er es aber in einer fremden tut, so ist das, wie auch aus obiger Stelle deutlich hervorgeht, ein Beweis Seiner Un­zufriedenheit.

In den nächstfolgenden Versen kommt der Apostel noch einmal auf diesen Gegenstand zurück. Wir sehen hier, daß die Ungläubigen, ob­gleich von der Versammlung getrennt, doch völlige Freiheit hatten, die­selbe zu besuchen und das Wort anzuhören. Wenn nun ein solcher hineinkam, und hörte alle in fremden Sprachen reden, wovon er kein Wort verstand, so mußte er denken, daß sie von Sinnen wären; wenn er sie aber alle Weissagen, d. i. in verständlicher Sprache zur Erbauung reden hörte, dann wurde er in seinem Gewissen von allen überführt und beurteilt, und dadurch genötigt, auf sein Angesicht niederzufallen und Gott anzubeten, und zu bekennen, daß Gott wirklich in ihrer Mitte war (V. 23—25). Es war also die Ausübung der Gabe der Weissagung in der Versammlung, sowohl für diese als auch für die ungläubigen Zu­hörer, von großem Nutzen, während das Reden in fremden Sprachen für alle nutzlos war, wenn es nicht zugleich ausgelegt wurde.

Jetzt geht nun der Apostel in Verbindung mit dem Vorhergehen­den dazu über, die Gedanken Gottes in Betreff der Ordnung und der Ausübung der Gaben bei den Zusammenkünften der Gläubigen oder

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 der Versammlung mitzuteilen. In der Versammlung zu Korinth waren viele Gaben, was der Apostel selbst in Kap. 1. 4—6 bezeugt. Durch diese aber, indem die Herzen der Korinther mit Selbstgefälligkeit erfüllt waren, wurde in der Versammlung Verwirrung hervorgerufen. Jeder wollte vor dem anderen sprechen, und die Folge davon war, daß oft mehrere zusammen sprachen. Gegen diesen Mißbrauch warnt nun der Apostel mit großem Ernst: „Was ist es denn, Brüder? Wenn i-hr zusammenkommt, so hat jeder von euch einen Psalm, hat Lehre, hat Sprache, hat Offenbarung, hat Auslegung. Alles geschehe zur Erbauung" (V. 26). Der Apostel tadelt nicht, daß ein jeder, wenn sie versammelt waren, etwas mitzuteilen hatte; aber er tadelt es, wenn einer vor dem anderen spre­chen wollte, und dadurch Unordnung und Nichterbauung stattfand. — Die Freiheit der Gaben wird hier völlig anerkannt, und durch diese Stelle auf eine deutliche Weise bestätigt; aber der Heilige Geist erlaubt nicht, daß diese Freiheit in Zügellosigkeit ausarte und die Ordnung Gottes beiseite gesetzt werde. Ein jeder ist vollkommen frei, das in der Versammlung zu reden, was der Geist ihm zu reden gibt; nur muß es in einer bestimmten Ordnung geschehen. Wenn jemand in Sprachen redete, so muß ein Erklärer oder Ausleger da sein, damit die Versamm­lung erbaut wurde.

 Auch war es nicht gut, daß bei einer Zusammen­kunft mehr als zwei oder drei in Sprachen redeten; wenn aber der Aus­leger fehlte, dann sollte in der Versammlung keiner von dieser Gabe Gebrauch machen (V. 27. 28). Ebenso konnten nacheinander zwei oder drei Propheten reden, und die übrigen über das Gesagte urteilen (V. 29). Wenn aber einem anderen etwas offenbar wurde, so sollte der erste schweigen; „denn", — sagt der Apostel, — „ihr könnt alle ein­zeln weissagen, auf daß alle lernen und alle getrö­stet werden. Und die Geister der Propheten sind den Propheten Untertan" (V. 31. 32). Wir haben hier zwei wichtige Grundsätze: die völlige, aber ordnungsgemäße Freiheit der Gaben und die Untertänigkeit der Geister der Propheten, d. i. die Regung der Kraft bei Ausübung der Gaben. Wenn die Unordnung der Korinther sich da­rin zeigte, daß oft mehrere zu gleicher Zeit sprachen, so erweist sie sich heutzutage meist darin, daß die Freiheit der Ausübung der Gaben ganz und gar beschränkt wird, indem man oft die ganze Erbauung der Ver­sammlung einem Einzigen überträgt. Ebenso widerspricht der 32. Vers allen Schwärmern, welche vorgeben, nicht schweigen zu können, indem sie von einer unwiderstehlichen Gewalt mit fortgerissen würden. Die Propheten waren bei der Ausübung der Gaben Herr über sich selbst;

sie-waren keine machtlosen Werkzeuge einer wilden Begeisterung, wie dies bei den armen Heiden der Fall war, die gänzlich unter der Leitung und dem Einfluß ihrer Dämonen standen; denn anders würde die Ge­genwart des Geistes Unordnung hervorgebracht haben. „Gott aber

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 ist nicht ein Gott der Unor d'n ung, sondern des Frie­dens, wie in allen Versammlungen der Heiligen" (V. 33). — Es ist sehr bewundernswürdig und wird alle einfältigen und auf­richtigen Seelen mit Lob und Dank erfüllen, hier die Treue und Für­sorge unseres Gottes zu sehen, der uns selbst bis zu den geringsten Ein­zelheiten hin die Ordnung vorschreibt, wie sie in der Versammlung ge­handhabt werden soll. Bei der völligen Freiheit in Betreff der Ausübung der Gaben und der freien Wirksamkeit des Geistes, haben wir uns die­ser Ordnung zu unterwerfen; denn es ist die Ordnung Gottes. 

Jede Ab­weichung von derselben ist Unordnung. Mag man auch ein noch so schö­nes System von Ordnung einführen, um den in Korinth entstandenen Übeln vorzubeugen; mag man z. B. allen in der Versammlung Schweigen auferlegen und nur einem einzigen die Macht zu reden geben, mag man Leiter und Vorsitzende erwählen und andere dergleichen Dinge tun, wodurch sich dem Auge der Menschen oft die schönste Ordnung dar­stellt, — das Auge Gottes sieht darin nur eine Zerstörung Seiner Ordnung, eine Untergrabung der Freiheit in der Ausübung der Gaben, die der Heilige Geist zur Erbauung der Versammlung gegeben hat. Mö­gen wir aber auch wohl beherzigen, daß wir für beides verantwortlich sind, sowohl für die Aufrechterhaltung der von Gott festgestellten Ord­nung in der Versammlung, als auch dafür, daß wir die empfangenen Gaben zu Seiner Verherrlichung und zum Besten anderer, namentlich zum Nutzen der Versammlung ausüben.

In Bezug auf die Frauen sagt der Apostel eintach: „Lasset eure Weiber schweigen in den Versammlungen; denn es ist ihnen nicht zu reden erlaubt, sondern unterwür­fig zu sein, wie auch das Gesetz sagt. Wenn sie aber etwas lernen wollen, so lasset sie daheim ihre Män­ner fragen; denn es ist schändlich für Weiber, in der Versammlung zu reden" (V. 34. 35). Das Verhalten der Frauen soll stets, und namentlich in der Versammlung, den Charakter der Be­scheidenheit und Zurückgezogenheit an sich tragen, und sich vor allem durch Unterwürfigkeit auszeichnen. Hierzu ermahnt das Wort oft; und nur in dieser Gesinnung wird Gott durch sie verherrlicht.

Das bisherige Auftreten und Verhalten Vieler in der Versammlung zu Korinth ließ fürchten,, daß sie sich weigern würden, den verschiede­nen Anordnungen sich zu unterwerfen, und deshalb fragt der Apostel:

„Ist das Wort Gottes von euch ausgegangen? Oder ist es allein zu euch gelangt" (V. 36)? Beides mußten sie verneinen, so groß auch ihre Gaben sein mochten, und sie hatten sich deshalb der allgemeinen Ordnung in der Versammlung zu unterwerfen. Wenn sie vorwandten, durch den Heiligen Geist geleitet zu werden, so war ge­rade die Anerkennung dessen, was Paulus schrieb, der beste Beweis

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 dafür (V. 37). Er schrieb durch den Heiligen Geist; seine Anordnungen waren die Gebote des Herrn; und wenn jemand sie nicht befolgte, so verwarf er nicht eines Menschen,, sondern Gottes Wort. Erkannte man . aber nicht, daß der Apostel durch den Geist schrieb, oder glaubte es nicht, so war nicht zu helfen — man mußte in seiner Unwissenheit blei­ben (V. 38). — Der geistliche und einfältige Christ aber erkennt es; er ist überzeugt, daß diese Anordnungen des Apostels hier direkt -von Gott gekommen und der Ausdruck der Weisheit Gottes sind. Er wird willig seine eigenen Gedanken fahren lassen und sich völlig den Gedanken Gottes unterwerfen und seine Wege nach der Offenbarung der Weisheit Gottes einrichten.

 — Zu gleicher Zeit sind die Worte des Apostels hier von großer Wichtigkeit für die göttliche Eingebung seiner Briefe. Er erklärt ganz bestimmt, daß es die „G e b o t e des Herrn" seien, die er mitteile. Alles, was er hier also in Betreff der Ordnung in der Ver­sammlung vorschreibt, ist durch den Heiligen Geist und nach dem aus­drücklichen Willen Gottes, und' niemand hat ein Recht, davon abzu­weichen und etwa zu sagen: „Das war für jene Zeit." So lange nicht gezeigt werden kann, daß die hier gegebenen Anordnungen durch eine spätere Offenbarung des Geistes aufgehoben und verändert sind, sind wir schuldig, uns denselben mit Einfalt und Gehorsam zu unterwerfen. „Lasset alles anständig und in Ordnung geschehen" (V. 40). Dies bleibt des Apostels ernste Ermahnung; aber er denkt nicht an eine menschliche, sondern nur an die gottliche Ordnung.

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Kapitel 15

Außer den vielen Mängeln, die in der Versammlung zu Korinth ge­funden wurden, war es Satan auch gelungen, einen großen Irrtum ein­zuführen, nämlich das LeugnenderAuferstehungderToten. Es handelte sich zwar nur um die Auferstehung des Leibes; aber durch diesen Irrtuni wurde die Grundlage des ganzen Christentums angetastet. Gab es keine Auferstehung, so war auch Christus nicht auferstanden, und war Christus nicht auferstanden, so waren auch unsere Sünden nicht weggenommen, und somit war das Evangelium nur eine Fabel. — Ehe aber der Apostel in diesen Gegenstand weiter eingeht, erinnert er die Korinther zuerst an das Evangelium, das er ihnen verkündigt hatte, das sie auch angenommen, in welchem sie auch standen und in welchem sie das Heil besaßen, wenn sie anders an dem verkündigten Worte test­hielten; es sei denn, daß sie vergeblich geglaubt hatten (V. 1. 2). Und das Evangelium, was Paulus selbst empfangen und ihnen überliefert hatte, war dieses: „daß Christus für uns gestorben ist, nach den Schriften; unddaßEr amdrittenTageauferweckt ist, nach den Schriften" (V. 3. 4). — Die Auferstehung ist eins der wichtigsten Stücke des Evangeliums; denn wenn Christus nicht auf­erstanden wäre, welche Sicherheit würden wir dann, haben, daß unsere Sünde weggenommen wäre? Hätte der Tod Ihn unter seiner Herrschaft behalten, so wären wir nicht erlöst, und unser Glaube wäre umsonst.

Der Apostel wählte also für seine Beweisführung der Auferstehung ein sicheres Fundament; denn die Errettung der Korinther, so'wie aller Gläubigen ist von der Tatsache der Auferstehung ganz und gar abhängig und auf's innigste damit verbunden. Deshalb sucht nun der Apostel diese Tatsache durch eine Menge glaubwürdiger Zeugen außer allen Zweifel zu stellen. Die meisten von diesen leben noch und verkündigten fortwah­rend den auferstandenen Christus. Paulus konnte aber auch sein eigenes Zeugnis hinzufügen; denn auch er hatte den Herrn in Herrlichkeit ge­sehen. Die Auferstehung Christi war also eine unleugbare Tatsache, wenn man nicht alle jene Zeugen als Betrüger oder Schwärmer erklä­ren wollte. „Er ist gesehen worden von Kephas; darnach von den Zwölfen. Darnach ist Er von mehr als fünf­hundert Brüdern auf einmal gesehen worden, von welchen die meisten bis jetzt übrig geblieben, etliche aber auch entschlafen sind. Darnach ist Er von Jako-bua gesehen worden, darnach von allen den Aposteln ;

am letzten aber nach allen ist Er auch von mir, als einer unzeitigen Geburt — d. i. außer der Zeit*) — gesehen

*) Die Bekehrung Pauli, die durch die Erscheinung Christi in Herrlichkeit bewirkt wurde, ist ein Vorbild der Bekehrung Israels in den letzten Tagen. Auch sie werden D e n in Herrlichkeit sehen, in welchen sie gestochen haben, und-durch eine unumschränkte Gnade errettet werden. Diese Zeit war aber noch nicht da; und deshalb nennt sich Paulus eine „unzeitige Gehurt", weil er vor dieser Zeit durch die Erscheinung Christi die Errettung erlangt hatte.

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 worden. Denn ich bin der geringste unter den Apo­steln, der ich nicht würdig bin, ein Apostel genannt zu werden, weil ich die Versammlung Gottes ver­folgt habe" (V. 5—9). — Welch ein nachahmungswürdiges Bei­spiel von Demut! Paulus hatte nicht vergessen, was er gewesen war und was er getan hatte. Er bekannte es mit aller Offenheit und zugleich mit dem tiefsten Gefühl des Schmerzes. Er schlug seine Sünde nicht deshalb weniger hoch an, weil er sie in der Unwissenheit und Unbe-kehrtheit seines Herzens getan hatte, wie dies leider so oft geschieht, sondern er betrachtete sie im Lichte Gottes, und darum konnte er nicht anders als mit tiefer Betrübnis und Beugung seines Herzens in die Ver­gangenheit zurückblicken, besonders beim Gedanken an seinen Haß gegen die Versammlung Gottes, in welcher er den geliebten Herrn, dessen Leib sie ist, Selbst verfolgt hatte. Doch beim Rückblick auf diese trau­rige Vergangenheit vergaß er nicht, die Gnade zu preisen, welche sich an ihm, dem Unwürdigsten, auf eine so ausnehmende Weise verherr­licht hatte. „Durch die Gnade Gottes aber bin ich, was ich brn ; und Seine Gnade an mir ist nicht vergeblich ge­wesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet, als sie alle; nicht aber ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir war" (V. 10). Wo wahre Erkenntnis unserer Sünde und un­seres Nichts ißt, da ist auch wahre Erkenntnis und Erhebung der Gnade Gottes.

Die Auferstehung Christi war also eine Tatsache, die durch eine große Menge glaubwürdiger Zeugen bestätigt und verkündigt wurde (V. 11). Und deshalb fragt der Apostel: „Wenn aber Christus ge­predigt wird, daß Er aus den Toten auferweckt, ist, — wie sagen etliche unter euch, daß es keine Auferste­hung der Toten gebe (V. 12)? Dann zeigt er die unermeßlichen Folgen, die mit der Leugnung dieser Tatsache verknüpft waren. Alles war in Frage gestellt: der Glaube, die Rechtfertigung, die Hoffnung'— kurz, das ganze Christentum. „Denn wenn es keine Auferste­hung der Toten gibt, so ist auch Christus nicht auf­erweckt. Wenn aber Christus nicht auterweckt ist, so i st denn unsere Predig t vergeh l ich; a berauch euer Glaube ist vergeblich. Wir werden aber auch als fal­sche Zeugen Gottes erfunden, weil wir von Gott ge­zeugt haben, daß Er den Christus auferweckt hat, welchen Er nicht auferweckt hat, wenn wirklich die Toten nicht auferweckt werden. Denn wenn die Toten nicht auferweckt werden, so ist auch Christus nicht auterweckt worden. Wenn aber Christus nicht aufer­weckt worden ist, so ist euer Glaubeeitel, so seid ihr noch in euren Sünden. So sind denn auch die, welche in Christoentschlafen sind, verloren. Wenn wir allein in, diesem Leben auf Christum h offen,-s o sind wir die elendesten unter allen Menschen (V. 13—19); denn nur Ver­leugnung, Haß und Verfolgung von Seiten der Welt ist das Teil der Gläubigen hienieden.

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 Welch eine Tragweite hatte dieser eine Irrtum, der doch an und für sich so gering zu sein schien! War er eine Wahrheit, so war das ganze Christentum Lug und Trug und der Glaube nur ein eitler Wahn. 0 möchte doch dieses Beispiel uns lehren, jeden Irrtum, so unbedeutend er auch scheinen möge, im Lichte Gottes zu betrachten und mit dem Ernst Gottes zu behandeln!

Mit dieser Lehre von der Auferstehung sind zugleich die gesegnet­sten Wahrheiten für unser Herz verbunden. Christus, der in Gnaden unsern Platz unter dem Tode einnahm, um uns zu erretten, ist durch die Macht Gottes auferweckt worden. Er hat das Werk der Erlösung vollbracht, hat uns von der Sünde, von der Macht des Todes und des Satans völlig befreit. Seine Auferstehung ist das Siegel dieses Werkes, sowie die öffentliche Darstellung des Sieges im Menschen über alle Macht des Feindes. Beladen, mit unseren Sünden, und für uns zur Sünde ge­macht, starb Er am Kreuze, empfing den Sold der Sünde, und stieg hinab ins Grab; aber ohne Sünde ist Er wieder auferstanden und hat Sich als Überwinder über Sünde, Welt, Tod und Teufel zur Rechten Gottes gesetzt. 

Der Tod konnte Ihn nicht behalten, weil Er das Leben war. Und teilhaftig geworden Seines Lebens, sind auch wir von der Sünde und all ihren Folgen, von der Macht des Todes und der Herr­schaft dessen, der des Todes Gewalt hat, völlig befreit. Deshalb werden auch alle, die in Christo entschlafen sind, wegen ihrer Teinahme an Seinem Leben und vermöge des in ihnen wohnenden Heiligen Geistes, auferweckt werden. Unter diesen aber nimmt Christus einen besonderen Platz ein; Er ist der „Erstling der Entschlafenen" (V. 20). Würde Er nicht den Sieg davongetragen haben, so hätten auch wir für immer unter der Gewalt des Todes und unter der Herrschaft Satans bleiben müssen. Jetzt aber, Seines Lebens und Seines Geistes teilhaftig geworden, sind wir völlig gewiß, daß wir an Seinem Siege und an all den gesegneten Folgen desselben vollkommen Teil haben werden, und daß also auch der Leib unserer Niedrigkeit einmal dem Leibe Seiner Herrlichkeit gleichförmig sein wird.

Diese Auferstehung nun ist nicht einfach eine Auferstehung der Toten, sondern die im Herrn Entschlafenen werden, als Gegen­stand der Gunst Gottes, aus ihren Gräbern auferweckt werden. Un­zertrennlich mit Christo vereinigt, werden sie nicht nur den Tod ver­lassen, sondern wie Er, die Toten; sie werden aus den Toten auf­erstehen (Vergl. Luk. 20, 35; Phil. 3, 11). Ohne Zweifel werden alle Menschen aus den Gräbern hervorgerufen werden, und zwar durch Christum, dem alles Gericht übergeben ist; aber die Auferstehung der Gottlosen wird mit der der Gerechten weder nach denselben wirken­den Grundsätzen, noch zu derselben Zeit sein. Die Einen kommen zur Auferstehung des Lebens, die Ändern zur Auferstehung des Gerichts — d. i. der zweite Tod. Die Einen werden auferweckt, weil sie den Geist und das Leben Christi haben; die Anderen, entblößt von diesem Geist und diesem Leben, werden durch den herrlichen Machtruf Christi aus ihren Gräbern hervorgerufen, um gerichtet zu werden.

 Die Einen ha­ben Teil an der ersten Auferstehung, die vor dem tausendjährigen Reiche Christi stattfinden wird; die Anderen werden erst nach Voll­endung dieses Reiches auterweckt und vor den großen, weißen Thron

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 gestellt werden (Vergl. Offenb. Joh. 20). Dieser Unterschied ist in dem Worte Gottes deutlich offenbart, und ist von größer Wichtigkeit.

Die Auferstehung nun muß durch den M e n s ehe n sein; „denn weil durch den Mens ehe n der Tod (gekommen ist), so auch durch den Menschen die Auferstehung der Toten" (V. 21). In diesen Worten werden uns zwei große Grundsätze vorgestellt. Der Mensch hat alles verloren; er lag gefangen unter der Sünde und ihren Folgen, und nur durch einen Menschen konnte er aus diesem Zu­stande errettet werden. Gott Selbst trat ins Mittel. Er sandte Seinen eingebomen Sohn in die Welt; und als Mensch ist Christus für den Menschen gestorben und als Mensch für den Menschen wieder aufer­standen. Sein Sieg ist unser Sieg. Eine Pflanze mit Ihm in Seinem Tode wie in Seiner Auferstehung, sind wir völlig aus jenem Zustande errettet, wo Sünde und Tod uns gefangen hielten, und sind in eine Stellung versetzt, wo das Böse seinen verderblichen Einfluß nicht mehr ausüben kann. Die Sünde und die Macht des Feindes bleiben für immer außerhalb der neuen Schöpfung, in welche wir durch die Auferstehung gebracht sind. 

Es ist die Frucht der Macht Gottes, die uns für immer von aller Verantwortlichkeit, worin wir von Natur waren, befreit hat. Wir haben in und mit Christo einen herrlichen und vollkommenen Sieg erlangt. „Denn gleichwie indem Adam alle sterben, al.so w e r den auchin dem Christus alle lebendig gemacht w erde n" (V. 22). Hier werden uns die beiden Häupter zweier Ge­schlechter oder Familien vorgestellt — Adam und Christus. Die Familie ist von dem Haupte hervorgegangen und in gewisser Beziehung von demselben abhängig. Adam nun brachte den Tod in die Mitte seiner Nachkommen; er kam über alle, die mit ihm in Verbindung waren;

„denn der Tod ist zu allen Menschen hindurchgedrungen." Christus, in welchem das Leben ist, bringt das Leben in die Mitte der Seinigen;

alle besitzen es in Ihm, die an Seinen Namen glauben. So wie der Tod den ersten Adam und sein Geschlecht charakterisiert, so charakterisiert das Leben den zweiten Adam und die, welche Sein sind; aber dieses Leben ist in der Macht der Auferstehung, ohne welche es den Seinigen nicht mitgeteilt werden könnte. Das Weizenkorn war zwar vollkommen in sich selbst, aber ohne in die Erde zu fallen würde es allein geblieben sein. Christus aber ist für ihre Sünden gestorben; und jetzt, nachdem Er alle ihre Sünden getilgt hat, teilt Er ihnen das Leben mit.

In der Auferstehung aber gibt es, wie schon vorhin angedeutet wor­den, eine gewisse Ordnung, nach welcher die Ratschlüsse Gottes ihre Erfüllung finden. „Christus—Erstling.Därnachdie, wel­che des Christus sind, bei Seiner Ankunft. Danndas Ende, wenn Er das Reich dem Gotfund Vater überlie­fert, wenn Er alles Fürstentum und alle Gewalt und Macht weggetan haben wird" (V. 23. 24). Paulus geht hier nicht weiter in die Einzelheiten ein, sondern gibt nur eine allgemeine Übersicht von' dem, was geschehen wird. Sein Zweck ist, die Auferste­hung zu beweisen, und deshalb führt er die einzelnen Tatsachen nur kurz an, und auch nur insoweit, als sie mit diesem Gegenstände in Ver­bindung stehen. Christus ist also die Erstlingsfrucht der Auferstehung, und damach jene, welche Sein sind, bei Seiner Ankunft. Sie werden

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 lebendig gemacht gemäß der Kraft des Lebens, welches in Christo ist;. es ist die Auferstehung des Lebens. Er hat den Vater verherrlicht und darum hat Er von Ihm Gewalt, über alles Fleisch empfangen, damit Er das ewige Leben gebe allen, die Er Ihm gegeben hat (Ev. Joh. 17, 2) Und für diese hat Er die Herrschaft des Todes über sie zerstört, und sie des ewigen Lebens teilhaftig gemacht; und dieses Leben wird bei der Auferweckung auch an ihrem Leibe offenbart werden. Die Aufer­stehung der Gottlosen findet hier keine Erwähnung; denn nachdem der Apostel von der der Gerechten bei der Ankunft Christi gesprochen hat, sagt er: „Dann das Ende, wenn Er das Reich dem Gott und Vater überliefert etc: etc." Wir wissen aber nach Offb. Joh. 20, daß zwischen diesen beiden Tatsachen wenigstens ein Zeitraum von tausend Jahren liegt, Während welcher Periode Christus als König über die ganze Erde herrschen wird, auf welcher dann Friede und Gerechtigkeit wohnen werden.

 „Denn Er muß herrschen,bis daß Er alle Feinde unter Seine Füße gelegt hat. Der letzte Feind, *der weggetan wird, ist der. Tod" (V. 25. 26). Alles wird Ihm unter­worfen werden, alles muß anerkennen, sei es freiwillig oder gezwun­gen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes des Vaters. Wenn Er kommt, wird Er Sein Reich empfangen, und wird mit großer; Macht handeln. Er wird Sich alles unterwerfen, wird alle Autorität und Gewalt abschaffen und alle Feinde unter Seine Füße legen  zuletzt auch den Tod. Die Zerstörung desselben steht in Verbindung mit der Auferste­hung der Gottlosen, die durch den Machtruf Christi aus ihren Gräbern hervorgerufen werden. Christus hat durch Seine Auferstehung und Ver­herrlichung des Vaters Gewalt über alles empfangen; auch der Tod hat Seine Herrschaft über die Gottlosen verloren. Er zerstört jenen, indem Er diese auferweckt, um sie auf ewig dem zweiten Tode, dem See des Feuers, zu übergeben. Darnach wird) das Ende sein, wenn Er das Reich dem Gott und Vater überliefert. „Er (Gott) hat alles Seinen Füßen untergeordnet (PS. 8, 7). Wenn Er aber sagt, daß alles untergeordnet ist, so ist es klar, daß es mit Aus­nahme Dessen ist, welcher Ihm alles untergeordnet hat. Wenn Ihm aber alles untergeordnet ist, dann wird auch der Sohn Selbst Dem untergeordnet sei n, der Ihm alles untergeordnet hat, auf daß Gott Alles in Allem sei" (V. 27. 28). Bei dieser Unterordnung des Sohnes han­delt es sich nicht um Seine Natur, sondern um Seine Stellung als Mensch und um Seine Herrschaft über alle Dinge. Wenn alle Macht und Ge­walt zunichte gemacht, wenn alle Dinge Seinen Füßen unterworfen, alle Feinde zur Anerkennung Seiner Herrschaft gebracht sind, und zuletzt auch der Tod hinweggetan ist, dann gibt Er alles dem Vater zurück, der es Ihm untergeordnet hat; ja. Er Selbst ist dann in Seiner Stellung als Mensch völlig untergeordnet, wie Er es auch hienieden war, damit Gott Alles in Allem sei. Er hört nie auf, eins mit dem Vater zu sein, ebensowenig wie dies der Fall war, als Er in Niedrigkeit auf dieser Erde wandelte; aber nachdem alles erfüllt ist, was in Psalm 8 und Hebr. 2, in Betreff der Unterwertung aller Dinge unter den Menschen, unter Christum, gesagt ist, wird Er alles der Alleinherrschaft Gottes übergeben. Er Selbst wird dann für immer Seinen Platz als Mensch,

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 als Haupt der Familie der Erlösten einnehmen, obwohl Er zu gleicher Zeit Gott ist, hochgelobt in Ewigkeit, und eins mit dem Vater.

In diesem kurzen Abschnitt von V. 20—28, der gleichsam eine Paranthese bildet, finden wir also in Verbindung mit der Auferstehung höchst wichtige Grundsätze und herrliche Ratschlüsse Gottes entfaltet. Der Tod ist durch den Menschen und das Leben ist durch den Men­schen; der Tod durch den ersten, das Leben durch den zweiten Adam. In der Auferstehung ist Christus der Erstling, darnach die, welche Sein sind, bei Seiner Ankunft.

Sie stehen mit Ihm in der innigsten Ver­wandtschaft; sie sind Teilhaber Seines Lebens, Seines Geistes und Sei­nes Sieges über Sünde, Welt, Tod und Teufel. Christus, der auferstan­dene Mensch, ist Herr über alle Dinge, und hat Macht über alles Fleisch. Er zerstört zuletzt den Tod, nachdem Er auch die Gottlosen durch ihre Auferweckung zum Gericht seiner Herrschaft entrissen hat, und über­gibt dann das Reich dem Gott und Vater, und ist Selbst als Mensch Dem untergeordnet, der Ihm alles untergeordnet hat.

In Vers 29 nimmt nun der Apostel den mit dem 19. Verse abge­brochenen Faden der Gedanken wieder auf; und wir werden die Er­klärung dieser Stelle nicht schwierig finden, sobald wir sie in Verbin­dung mit dem 18. und 19. Verse betrachten. Dort hatte der Apostel ge­sagt, wenn es keine Auferstehung gäbe, so wären die in Christo Ent­schlafenen verloren, und die Gläubigen wären die elendesten unter allen Menschen; und hier fährt er im Blick auf jene Leugnung der Auferstehung fort, zu fragen: „Was werden sonst die tun, die für die Toten getauft werden, wenn überhaupt Tote nicht auferweckt werden? Warum werden sie auch für sie getauft" (V. 29)? Die Gläubigen werden hier gleichsam wie ein Kriegsheer betrachtet, welches in dieser Welt für den Namen Jesu und für die hoffende Herrlichkeit kämpft und in diesem Kampfe viele Entbehrungen und Verfolgungen, und mancher sogar, wie namentlich zu jener Zeit, den Tod zu erdulden hat. War es nun nicht töricht, ein Christ zu werden, oder in die Stelle jener einzutreten, die, wenn es keine Auferstehung und also auch keine Hoffnung der Herrlichkeit gab. nichts als den Tod gefunden hatten? War es nicht töricht, sich durch die Taufen in die Reihen jenes Heeres einführen zu lassen, um nichts weiter als Elend und Tod zu finden? Und in diesem Gedanken fort­gehend, fragt der Apostel weiter: „Warum sind auch wir jede Stunde in Gefahr? Täglich s t er t» e ich, bei Eurem Rüh­men, welches ich in Christo Jesu, unserm Herrn, habe. Wenn ich nach Menschenweise einen Tier­kampf in Ephesus bestanden habe, — was nützt es mir, wenn Tote nicht auferweckt werden" (V. 30—32)? Gewiß würde es große Torheit gewesen sein, wenn er ohne Zweck und Nutzen einen Weg verfolgt hätte, der ihm jede Stunde neue Gefahren brachte, und auf dem der Tod von allen Seiten auf ihn lauerte, sodaß er, was sein Gefühl betrat, täglich starb; denn dies war sein Ruhm in Christo, für dessen Namen er sich einer steten Lebensgefahr aussetzte. Besonders war dies in Ephesus der Fall, wo die Wut der Menschen eine solche Höhe erreichte, daß er gleichsam einen in jener Zeit üblichen Tierkampf zu bestehen hatte (Vergl. 2. Kor. 1. 8. 9; 1. Kor. 4, 8—12).

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 Jedenfalls ist dieser Kampf bildlich und nicht buchstäblich zu verste­hen, wie wir eine ähnliche Redensart auch wohl an anderen Stellen finden wie z. B. in 2. Timoth. 4, 17, wo Paulus sagt, daß 'er aus dem „Rachen des Löwen" gerettet sei. Was würde nun für ihn dies alles für einen Nutzen gehabt haben, wenn die Toten nicht auferweckt wurden?

Bei dieser Frage der Auferstehung handelt es sich aber nicht um die Unsterblichkeit der Seele, obgleich es wahr ist, daß der Tod dieselbe nicht antasten kann, sondern um die Auferstehung des Menschen. Gott hat es mit dem Menschen zu tun, und der Mensch besteht aus Seele und Leib. Er muß von alledem, was er im Leibe getan hat, Rechen­schaft ablegen; und dies wird er tun, nachdem er auf erweckt ist. Im Tode wird die Seele vom Leibe getrennt, mag der Mensch glücklich oder unglücklich, errettet oder verloren sein; und in diesem Zustande ist der Gläubige weder mit Herrlichkeit bekleidet, noch wird an dem Ungläubigen das Gericht ausgeübt werden. Sobald man deshalb die Auferstehung leugnet, leugnet man die wahren Beziehungen Gottes zu den Menschen, und man macht den Tod zum Ende desselben. Wohl würde dies eine Übereinstimmung mit dem Willen des natürlichen Men­schen sein; aber der Apostel ruft mit großem Ernst den Korinthern zu: „Laßt euch nicht verführen! Böser Verkehr ver­dirbt gute Sitten. Werdet nüchtern in Gerechtigkeit und sündigt nicht; denn Etliche sind in Unkennt­nis von Gott; ich sage es euch zur Schande (V. 33. 34). Paulus betrachtet die Unsittlichkeit als die Quelle der Leugnung der Auferstehung; und dies ist sehr wahr; denn wenn es keine Auferste­hung gibt, so „lasset uns" — gleich dem unvernünftigen Geschöpf — „essen und trinken, denn morgen sterben wir" (V. 32).

„Es wird aber Jemand sagen", fährt dann der Apostel weiter fort:

„Wie werden die Toten auferweckt? und mit welchem Leibe kommen sie" (V. 35)? Auf diese neugierige Frage aber gibt er keine bestimmte Antwort. Er bezeichnet vielmehr einen solchen Frager als einen Toren, indem er täglich Gelegenheit hat, im Reiche der Natur eine genügende Antwort zu finden. Das in, die Erde gewor­fene Samenkorn muß zuvor sterben, ehe ein neuer Körper, wie er ihm nach dem Willen des Schöpfers gegeben wird, hervorkommt; und Er gibt jeglichem von dem Samen seinen eigenen Körper (V. 36—38). Ebenso ist auch der Auferstehungsleib eine Frucht der Macht Gottes und nach dem freien Willen Dessen, der ihn der Seele zu einer herr­lichen Wohnung gibt.

 Immer aber wird es ein wahrhaft menschlicher Leib bleiben. Es wird ein Leib sein, der für seinen Bewohner ganz und gar geeignet ist. So wie es aber verschiedene Arten von Fleisch gibt, so gibt es auch himmlische und irdische Körper, und so wie sich die Herrlichkeit der Sonne von der des Mondes und die verschie­denen Sterne untereinander sich an Herrlichkeit unterscheiden, so un­terscheidet sich auch die Herrlichkeit der himmlischen von der Herr­lichkeit der irdischen Körper (V. 39—41). Daß hier nicht von verschie­denen Stufen oder Graden der Herrlichkeit desselben die Rede sein kann, geht sehr deutlich aus 1. Joh. 3, 2 hervor, wo gesagt ist: „Wir wissen aber, daß, wenn (Er) geoffenbart ist, wir Ihm gleich sein

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 werden; denn wir werden ihn sehen, wie Er ist." Wenn wir aber alle, auch dem Leibe nach. Ihm gleich sind, so werden wir es auch untereinander sein; und es kann hier also von verschiedenen Graden in unserer Herrlichkeit durchaus keine Rede sein. Wir sagen: unsere Herrlichkeit; denn es ist die Herrlichkeit der Versammlung, welche die Fülle Dessen ist, der alles in allem erfüllt. Sie wird Ihm vollkommen gleich sein. Sie gehört, wie Er, dem Himmel an und wird deshalb auch der himmlischen Herrlichkeit teilhaftig werden. Es gibt aber auch eine irdische Herrlichkeit, wovon aber an dieser Stelle nicht weiter die Rede ist. Die himmlische Herrlichkeit bezeichnet den Charakter unserer Auf­erstehung. Unsere Leiber werden unverweslich und herrlich, Gefäße der Kraft und geistig sein. „Es wird gesäet in Verwesung;

es wird auferweckt in Unverweslichkeit. Es wird ge­säet in Unehre; es wird auferweckt in Herrlichkeit;

es wird gesäet in Schwachheit, es wird auferweckt in Kraft; es wird gesäet ein natürlicher Leib; es wird auferweckt ein geistiger Leib. Es gibt einen natür­lichen Leib, und es gibt einen geistigen Leib" (V. 42—44). Alles, was an die Sünde, an den Staub und das Irdische erinnert, wird bei unserer Auferstehung vollkommen verschwunden sein. Der verwesliche Leib mag entseelt, mag in die Erde gelegt und ganz und gar zu Staub werden — bei der Auferstehung aus den Toten wird er in Herr­lichkeit und Ehre wieder zum Vorschein kommen, ohne die geringste Spur seines früheren niedrigen Zustandes an sich zu tragen.

Indem nun der Apostel in diesen köstlichen Gegenstand weiter ein­geht, kommt er auf den großen Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Adam, und zwischen denen, die mit dem ersten und denen, die mit dem zweiten Adam in Verbindung sind. „Also stehet auch geschrieben: Der erste Mensch, Adam, ist ge­worden zu einer lebendigen Seele (1. Mose 2, 2); der letzte Adam zu einem lebendigmachenden Geist. Aber das Geistige war nicht zuerst, sondern das Natür­liche, darnach das Geistige. Der Mensch ist von der Erde, von Staub; der zweite Mensch — der Herr vom Himmel" (V. 45—47). Der Leib des ersten Adams war ein natürlicher Leib, aus demselben Staube gemacht, wie der aller Tiere; sein Leben war das einer lebendigen Seele. Nachdem Gott den Adam aus dem Staub der Erde gebildet hatte, blies Er ihm den Odem des Lebens in seine Nase.

 Hierdurch kam er in Verbindung mit Gott, oder wie Paulus dies auf dem Areopagus in Athen ausdrückte: „Wir sind göttlichen Geschlechts!" Sein Betragen hätte diesem entsprechen sollen, und Gott Selbst würde Sich ihm offenbart haben, um ihn moralisch in dem Zu­stande zu erhalten, worin er durch diesen Odem des Lebens gekommen war. Allein obwohl er frei vom Tode war, weil ihm Gott den. Odem des Lebens eingehaucht hatte, so blieb er dennoch nur eine lebendige Seele. Er hätte nie zu einem lebendigmachenden Geist werden können, weil er das Leben nicht als sein Eigentum, als aus ihm selbst hervor­kommend, besaß, sondern als von Gott gegeben, durch dessen Macht es auch bewahrt werden mußte. Die Bedingung für ein fortdauerndes Leben in diesem Zustande war ein vollkommener Gehorsam gegen die

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 Gebote Gottes; und sobald dieser aufhörte, war auch zugleich die Be­ziehung zu Gott zerstört, und der Tod mit all seinen Schrecken stand vor der Tür. „An dem Tage, wo ihr davon esset, werdet ihr des Todes sterben." Adam hat gegessen, und darum war seine Beziehung zu Gott vernichtet und der Tod sein Teil. Wir alle sind nun nach seinem Falle aus ihm hervorgekommen, und haben deshalb den Zustand, in welchen die Sünde ihn gebracht, mit all seinen Folgen von ihm geerbt. Wenn nun Gott uns wieder mit Sigh in Verbindung bringen wollte, so mußte Er uns einen Anderen aus dem Himmel senden, der ein lebendig­machender Geist war, und also die Macht hatte, uns das Leben mitzu­teilen. Und diese Macht finden wir in dem letzten Adam; Er ist zu einem lebendigmachenden Geist geworden.

 Er hat nicht nur das Leben einer lebendigen Seele, sondern hat das Leben in Sich Selbst, und kann des­halb lebendig machen, welchen Er will. Dies ist von großer Wichtigkeit, weil Er als ein wahrhaftiger Mensch auf der Erde war. Es ist jetzt nicht allein Gott, der lebendig macht, welchen Er will, sondern auch der letzte Adam, Christus, das Haupt eines neuen Geschlechts, hat diese Macht in Sich Selbst; denn es steht geschrieben: „Gleichwie der Vater das Leben in Sich Selbst hat, so hat Er auch dem Sohne gegeben, das Leben in Sich Selbst zu haben" (Ev. Joh. 5, 26). Und in Bezug auf uns ist gesagt: „Dies ist das Zeugnis: daß Gott uns das ewige Leben gege­ben hat, und dieses Leben ist in Seinem Sohne. Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht" (1. Joh 5, 11. 12).

Dies ist aber nicht alles, was uns hier mitgeteilt wird. Der Apostel sagt weiter: „Der erste Mensch ist von der Erde, Von Stau b." Er hat Seinen Ursprung von der Erde, und dies nicht nach, sondern vor seinem Falle. Gott machte ihn aus dem Staub der Erde, und weil er gefallen ist, so muß er auch wieder zum Staub zurückkehren:

Der zweite Adam aber, obwohl Er ebenso wahrhaft Mensch ist, als der erste, ist der Herr vom Himmel. Und wir, als zum ersten Adam gehö­rend, sind von der Erde, von Staub; und „wie Der von Staub ist, so sind auch Die, welche von Staub sind;" aber sobald wir das Leben des zweiten Adam empfangen haben, haben wir Teil an der Herrlichkeit, die Er als Mensch besitzt. Wir sind Ihm gleich; denn „wie der Himmlische ist, so sind auch die Himmlischen" (V. 48). Ehe dies aber stattfinden konnte, mußte Christus zuerst alle Gerechtigkeit erfüllt, eine Versöhnung für die Sünde gemacht, den Tod überwunden und die Macht Satans gebrochen haben.

 Er mußte ein Ende machen mit dem ganzen Zustand des ersten Adam, damit Er dar­nach als der zweite und letzte Adam, als der lebendigmachende Geist, das Haupt eines neuen geistlichen Geschlechts werden konnte — eines Geschlechts, das vollkommen mit Ihm vereinigt ist, welches teilnimmt, an allen Vorrechten, die dem Zustande vor Gott angehören, worin Er nach der Kraft des Lebens, wodurch Er sie lebendig gemacht hat, ge­kommen ist. Also mit dem zweiten Adam vereinigt und durch Seinen Geist lebendig gemacht, sind wir in einen Zustand versetzt, der uns nicht allein von dem traurigen und elenden Zustand eines Sünders völlig getrennt hat, sondern auch zu gleicher Zeit himmelweit von dem Zu­stande verschieden ist, worin Adam vor dem Falle war, weil wir des

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 Lebens teilhaftig geworden, welches von 'Ewigkeit her bestand und bis in alle Ewigkeit bestehen wird, und wir mit dem Herrn vom Himmel völlig eins geworden sind.

Dies ist das Resultat unserer herrlichen Erlösung: „Wie wir das Bild Dessen von Staub getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen trage n" (V. 49). Dem Geiste nach sind wir schon dem Herrn vom Himmel gleichförmig; aber es wird auch der Augenblick kommen, w<? diese irdische Hütte wegge­nommen werden wird und wir einen Leib empfangen werden, der gleich ist dem herrlichen Auferstehungsleibe Dessen, der als unser Erlöser und Bräutigam schon Seinen Platz zur Rechten Gottes eingenommen hat, um uns dort im Hause Seines Vaters eine Stätte zu bereiten, damit wir nicht allein an Seinem Leben, sondern auch an Seiner Herrlichkeit Teil haben. „Dieses aber sage ich, Brüder: daß Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben können;

Auch die Verwesung nicht die Unverweslichkeit erbt" (V. 50). Es ist unmöglich, daß wir mit diesem verweslichen und irdischen Leibe die Herrlichkeit des Himmels anzuschauen vermögen, und deshalb ist es nötig, daß, ehe wir in- dieselbe eingehen, unser Leib verwandelt und dem unseres geliebten Herrn und Heilandes Jesu Christi gleich­förmig sei. Und es ist der Geist Gottes und Christi, der in uns wohnt und uns für die Gewißheit unserer herrlichen Verwandlung völlige Bürgschaft leistet.

Alle die herrlichen Wahrheiten, die uns in diesem unschätzbaren Kapitel mitgeteilt sind, werden jetzt noch durch eine neue Offenbarung gekrönt: auf welche Art und Weise nämlich alle Heiligen, sowohl die noch lebenden als auch die schon entschlafenen, zu der Gleichförmig­keit mit dem verherrlichten Christus gelangen werden — eine Offenbarung, die bis zu jenem Augenblicke für die Korinther noch ein Ge­heimnis war, und ach! obwohl jetzt vollkommen offenbart, von so vielen Gläubigen unserer Tage wenig geschätzt wird. „Siehe! ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle ent­schlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune.*) Denn posaunen wird es, und die Toten w e r -

*) Man hat bei diesem Ausdruck: „l e t z t e P o s a u n e" oft an die siebente Posaune in Offenbarung 11 gedacht, und dann selbstredend daraus gefolgert, daß die Auferstehung und Verwandlung der Heiligen in jenen Zeitpunkt fallen müsse. Doch stehen nach unserem Dafürhalten die sieben Posaunen in der Offenbarung, die erst lange Zeit nach diesem Briefe an die Korinther und selbst nach dem Tode Pauli offenbart wurden, in gar keiner Verbindung mit der hier erwähnten Posaune, noch mit der in Matth. 24 und den jüdischen Propheten. Jene sieben Posaunen sind symbolisch, und müssen in Verbin­dung mit dem übrigen Inhalt des Buches der Offenbarung und in ihrem eigenen Zusammenhange betrachtet werden, wie dies auch bei den übrigen Ereignissen geschehen muß.

Hier in 1. Korinth 15, 52 spricht nun Paulus einzig und allein von den auferstandenen und verwandelten Hei­ligen, und darum muß auch die hier erwähnte Posaune auf diesen Gegen­stand beschränkt werden. In Jesajas 27, 13, wo ebenfalls von einer Posaune

SO

 den unverweslich auferweckt werden, und wir wer­den verwandelt werden" (V. 51. 52). Welch ein wunderbares und herrliches Geheimnis wird hier dem Glauben der Heiligen eröffnet! In einem Nu, in einem Augenblicke, beim Schall der Posaune, werden die Heiligen aus ihren Gräbern hervorgehen — nicht mehr bekleidet mit einem sterblichen und verweslichen Leibe, sondern mit einem un­sterblichen und unverweslichen, gleich dem Glänze der Herrlichkeit des Himmels und gleichgestaltet 'dem Leibe des Überwinders über Tod und Grab — und in demselben Augenblicke werden die noch lebenden Heiligen, wo sie auch sein mögen, plötzlich verwandelt werden. „Denn dies Verwesliche muß Unverweslichkeit anziehen, und dies Sterbliche Unsterblichkeit anziehen" (V. 53). Die Hütte, gebildet aus dem Staub der Erde, wird auf einmal m eine himmlische verwandelt, vollkommen geeignet, um die Herrlichkeit Christi zu schauen und mit Ihm zu bewohnen und zu genießen. In, dem Augenblicke, wo die entschlafenen Heiligen auferweckt und die lebenden verwandelt werden, werden sie zusammen in den Wolken dem Herrn entgegengerückt werden in der Luft, um für immer bei Ihm zu sein (Vergl. 1. Thess- 4, 13—18).

Das ist das große und herrliche Geheimnis, welches der Apostel hier den Korinthern offenbart, und wodurch jedes Herz, das den Herrn kennt und liebt, mit großer Freude erfüllt, wird. Paulus selbst lebte in der steten Erwartung dieses glückseligen Augenblicks; denn sowohl hier als auch im Briefe an die Thessalonicher sagt er: „Wir werden ver­wandelt werden." Er erwartete überkleidet und nicht entkleidet zu wer­den. Er liebte seinen Herrn; er kannte Seine Verheißung und sehnte sich nach deren Erfüllung. Wußte er auch nicht die Stunde, so wußte er doch gewiß, daß Er wiederkam, und er erwartete Ihn jeden Augen­blick. Sein liebendes und verlangendes Herz setzte keine Zeit zwischen seine Erwartung und deren Erfüllung, weil auch der Herr keine gesetzt hatte. 0 möchten doch alle Heiligen seine Gesinnung teilen!

„Wenn aber" — so fährt der Apostel fort — „dies Verwes­liche Unverweslichkeit anziehen und dies Sterb­liche Unsterblichkeit anziehen wird, dann wird das Wort (erfüllt) werden, welches geschrieben steht: „Ver­schlungen ist "der Tod in Sieg" (V. 54. Vergl. Jes. 25, 8). —

die Rede ist, verbindet der Herr dieselbe mit der Einsammlung des israe­litischen Überrestes. Zwischen diesen beiden Ereignissen nun — der Auferstehung und Verwandlung der Heiligen und der Versammlung des israelitischen Überrestes — werden jene sieben Posaunen in der Offenbarung erfüllt, wenn man nicht die letzte der­selben als zusammenfallend mit der Aufforderung an das zerstreute Israel denkt. — Zugleich scheint es uns, daß dieser Ausdruck: „letzte Posaune" einfach eine Anspielung auf etwas ist, das in der damaligen römischen Welt allgemein bekannt war — auf das Endsignal zum Abmarsch, nachdem die vorhergehenden Weisungen zum Aufbruch des Lagers gegeben und erfüllt waren. Alle standen bereit und warteten auf den letzten Ton der Posaune, um gemeinschaftlich aufzubrechen. Und dies bezeichnet die Stellung der Ver­sammlung in der gegenwärtigen Zeit.

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 Pur den Christen ist der Tod ganz und gar überwunden; er ist in seinem moralischen Charakter vernichtet. Der Gläubige besitzt in dem aufer­standenen Christus ein Leben, welches ihn über den Tod erhebt — vielleicht nicht körperlich, jedenfalls aber moralisch. Der Tod, als Frucht der Sünde und als Gericht, hat seine ganze Macht, über seine Seele ver­loren. Er ist so vollkommen, überwunden, daß selbst viele da sein wer­den, die nicht sterben. Alle Gläubigen besitzen Christum als ihr Leben Während Er abwesend ist — und dies wird so lange der Fall sein, als Er zur Rechten des Vaters sitzt und unser Leben mit Ihm in Gott verborgen ist — werden wir körperlich sterben, d. h. die Seele wird vom Körper getrennt werden. Sobald Er aber zurückkommt, sobald Er den Thron Seines Vaters verläßt, um die Seinigen zu Sich zu nehmen — und dies wird Er tun, bevor die Gerichte über diese Welt hereinbrechen — wird Er völlig Seine Macht an ihnen ausüben, und der Tod ist nicht im Stande, irgendwelchen Widerstand zu bieten. Alle die Lebenden werden, ohne zu sterben, in Seine Herrlichkeit eingehen.

 Sicher war die Bildung des Menschen aus dem Staub der Erde ein. herrlicher Beweis von der All­macht des Schöpfers; aber einen noch weit herrlicheren Beweis der all­mächtigen Kraft Gottes ist die Auferstehung des aus dem. Staube wie­derkehrenden Menschen. Doch über diesem allem steht die Verwandlung der lebenden Heiligen bei der Ankunft Jesu, weil sie uns auf eine herr­liche Weise zeigt, wie vollkommen Christus über den Tod gesiegt und wie vollkommen Er auch die letzte Spur der Sünde getilgt hat. Ja, durch Seine Gnade bringt Er den elenden, schuldigen und feindlichen Sünder zu der höchsten Stufe der Ehre, weil Er an ihm die ganze Kraft Seiner göttlichen Allmacht ausübt. Und diese vollkommene Erlösung, obwohl wir sie noch immer erwarten, können wir doch Jetzt schon mit dem Auge des Glaubens in der Herrlichkeit der Person Christi anschauen;

denn Er hat Sich zur Rechten Gottes gesetzt, nachdem Er Sich dem Zustande des Menschen unter dem Tode der Sünde wegen unterwor­fen hatte. Und Er hat eine vollkommene Erlösung vollbracht — eine Erlösung, die uns, nachdem alle Sünde getilgt, die Gerechtigkeit Gottes verherrlicht und die Macht Satans vernichtet war, in Kraft einer ewigen Versöhnung, und eines Lebens das den Tod überwunden hat, in eine ganz neue Sphäre versetzt, wohin die Sünde und ihre Folgen nicht zu dringen vermögen, und wo die Gunst Gottes uns vollkommen und für ewig in Herrlichkeit bestrahlen wird. Und diese große und herrliche Veränderung wird in einem Nu, in einem Augenblick durch die Macht Gottes vollbracht werden: die in Christo Entschlafenen werden aufer­stehen und wir werden verwandelt werden.

Die Anführung der Stelle aus Jesajas 25, 8: „Verschlungen ist der Tod in Sieg" (V. 54), ist sehr merkwürdig. Der Apostel führt hier nur einfach die Tatsache an, daß der Tod in Sieg verschlungen ist;

wenn wir aber jene Stelle in Jesajas selbst in Zusammenhang mit dem übrigen Inhalt des Kapitels betrachten, so. finden wir, daß dies Ereig­nis nicht am Ende der Welt stattfinden wird, sondern in der Periode. wenn durch Aufrichtung des Reiches Gottes in Zion die Decke wegge­nommen sein wird, unter welcher die Heiden in Finsternis und Un­wissenheit zugebracht haben. Die ganze Erde wird in dieser Periode erleuchtet, wird voll Erkenntnis des Herrn sein. — Die völlige Gewiß-

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 heil nun, daß der Tod weggenommen werden wird, erfüllt unser Herz mit Vertrauen, obgleich er noch vorhanden ist. Schon jetzt können wir voll Zuversicht ausrufen: „Wo ist, o Tod, dein Stachel, wo ist, o Hades, dein Sie g" (V. 55). Der Stachel des Todes ist zer­brochen und der Sieg des Hades vernichtet. Die triumphierende Gnade Gottes hat alles verändert. Für die; welche in Christo sind, hat der Tod auch jetzt schon, während er noch herrscht, seinen eigentlichen Cha­rakter verloren, weil er für sie allein in dem Verlassen oder der Tren­nung von dem, was sterblich ist, besteht. Er erfüllt sie nicht mit Schrecken beim Gedanken an das Gericht Gottes und an die Macht Sa­tans, weil Christus in jenem Gerichte war und diese Macht für sie über­wunden hat. Nicht allein aber das: Er hat auch die Quelle, den Stachel des Todes, hinweggenommen. „Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft aber der Sünde — das Gesetz" (V. 56). Das Gesetz stellte dem Gewissen die Gerechtigkeit Gottes vor, welche die Erfüllung jenes Gesetzes forderte und alle mit einem Fluch bedrohte, die darin fehlten. Und durch dieses gab es der Sünde seine Kraft über das Gewissen und machte den Tod umso schrecklicher. Chri­stus aber wurde zur Sünde gemacht und trug den Fluch des Gesetzes, indem Er ein Fluch wurde für die, die unter dem Gesetz waren. Er hat die Seinigen von Beidem, von der Sünde und vom Gesetz, vollkommen erlöst, weil Er in Bezug auf Beides Gott vollkommen verherrlicht hat;

und zugleich hat Er uns völlig befreit von der Macht des Todes, aus dem Er als Sieger auferstanden ist. Das Einzige, was der Tod jetzt an uns tun kann, ist, uns aus der gegenwärtigen Szene worin er seine Macht ausübt, hinwegzunehmen, um uns an den Ort zu bringen, wo er keine Macht mehr besitzt. „Sterben ist Gewinn". Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt, durch unsern Herrn Jesum Christum" (V. 57). Gott ist die Quelle jener Gedanken der Gnade, die Seine Macht erfüllt. Und anstatt uns vor dem Tode zu fürch­ten, ist unser Herz mit Dank gegen Den erfüllt, der uns durch Jesum Christum eine vollkommene und ewige Befreiung, einen vollkommenen und ewigen Sieg gegeben hat. Bald werden wir für immer bei Jesu sein, Ihm gleich, und werden Ihn sehen, wie Er ist. Dies ist das große und herrliche Resultat von allem. Der Schauplatz unserer Arbeit ist jetzt noch da, wo der Tod seine Macht ausüben und Satan ihn benutzen kann, wenn anders Gott es ihm erlaubt, uns auf unserm Wege hienieden still stehen zu lassen — da, wo Schwierigkeiten aller Art uns begegnen und die Feinde uns umringen; aber wir sind gewiß, daß das Ende herrlich und selig sein wird. Unser Gott wird Seine herrlichen Ratschlüsse und die Größe Seiner Macht, welche wir geschaut haben in Christo Jesu, der das Haupt und die Offenbarung der Herrlichkeit ist, die wir mit Ihm auf ewig genießen werden, auch an uns ausüben. Und bei Ihm, unserm geliebten Jesus, werden wir auch die Frucht unserer Arbeit finden, die wir hienieden in Seinem Namen und im Vertrauen auf Seine Gnade und Macht vollbracht haben. Deshalb gibt der Apostel zum Schluß dieses Kapitels die ernste und trostreiche Ermahnung: „S o d e n n , meine geliebten Brüder, werdet fest, unbeweglich, allezeit überreich fleißig in dem Werke des Herrn, wissend, daß eure Mühe in dem Herrn nichtvergeblich ist"(V. 58).

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Kapitel 16

Der praktische Zustand der korinthischen Versammlung war, wie wir bei Betrachtung dieses Briefes deutlich gesehen haben, sehr schwach. In ihrer Mitte fand man Spaltungen, Weltlichgesinntheit, fleischliche Begierden, Unordnungen beim Abendmahl und falsche Lehre. Satan suchte alles zu verderben — zuerst das Leben und dann die Lehre;

zuerst die Gerechtigkeit und dann den Glauben. Es ist deshalb wohl zu begreifen, daß das Herz des Apostels über sie besorgt und beschwert war, um so mehr, wenn wir an die väterliche Liebe und Zärtlichkeit denken, womit er an ihnen hing. Ihr Zustand war in der Tat ein höchst trauriger; aber er diente dazu, all die Gefühle und Liebe seines Herzens, die er sonderlich zu den Korinthern hatte, hervorströmen zu lassen, wie uns dies namentlich im zweiten Briefe so deutlich hervortritt. Auch in diesem Kapitel redet er sie auf eine sehr liebliche und Vertrauen erweckende Weise an, gibt ihnen Anweisungen in Betreff eines Dienstes für die dürftigen Heiligen in Jerusalem und ermuntert sie dazu. Er gibt ihnen die Weisung, für jene eine Kollekte zu veranstalten, wie solches unter den Aposteln verabredet war, zur Zeit als Paulus, als anerkannten Apostel der Nationen, Jerusalem verließ. Er bittet, daß an jedem ersten Wochentage ein jeder nach seinem Vermögen etwas bei sich zurücklege; und später, wenn er bei ihnen war, wollte er etliche Brü­der, die sie für tüchtig erkannten, mit Briefen nach Jerusalem senden, um ihre zusammengelegte Gabe der Liebe hinzubringen; auch war er bereit, selbst hinzureisen, wenn es gut war (V. l—4).

Ungeachtet ihres traurigen Zustandes wollte also dennoch der Apo­stel von ihrem Dienste Gebrauch machen; und dies ist wahrlich sehr tröstlich und lehrreich für unsere Herzen. Er betrachtet und behandelt sie noch immer als Christen; sie standen noch immer auf dem Boden der Wahrheit und bildeten die Versammlung Gottes zu Korinth; und diese Tatsache veranlaßt den Apostel, ihnen mit einem um so größeren Ernst zu schreiben. Doch obwohl sein Herz durch das Schreiben dieses Briefes einigermaßen erleichtert worden war, indem er vertraute, daß der Herr es an ihren Herzen segnen würde, so konnte er sich doch noch nicht entschließen, persönlich dort hinzukommen, was zuerst sein Vornehmen gewesen war. Er wollte nämlich durch Korinth nach Mazedonien reisen, und sie dann auf der Rückkehr von dort zum zwei­ten Male sehen (2. Kor. 1. 15. 16). Er unterläßt es aber, ohne) ihnen einen weiteren Grund darüber anzugeben; auch spricht er mit Ungewißheit über seinen Aufenthalt bei ihnen: „Vielleicht aber werde ich bei euch bleiben oder auch überwintern . . . denn ich hoffe, einige Zeit bei euch zu bleiben, wenn es der Herr erlaubt." (V. 7). Im zweiten Briefe teilt er ihnen mit, daß ihr gegenwärtiger Zustand die Ursache gewesen, warum er nicht zu ihnen gekommen sei. Paulus gedachte bis Pfingsten in Ephesus zu bleiben; „denn" — sagte er — „eine große und wirkungsvolle Tür steht mir offen, und der Wi­der s a c h e r s i n d Viele" (V. 8. 9). Diese beiden Tatsachen — „die geöffnete Tür und die vielen Widersacher" — waren für ihn eine Ur­sache, zu bleiben, und sie sind zu jeder Zeit ein sehr beachtenswertes Kennzeichen für den Arbeiter im Werke des Herrn. Die geöffnete Tür

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 ist ein Beweis, daß Gott da ist und die Wirksamkeit gutheißt, und die Tätigkeit des Widersachers macht das Bleiben um des Feindes willen notwendig. Man hält oft den Widerstand für eine geschlossene Tür;

allein diese ist nur dann geschlossen, wenn kein Bedürfnis da ist, um das Wort zu hören, und Gott nicht wirkt, um die Aufmerksamkeit zu erwecken. Wenn aber Gott wirkt, so ist der Widerstand des Feindes nur eine Ursache, um das Werk nicht aufzugeben. Es scheint, daß Paulus schon viel zu Ephesus gelitten hatte (Kap. 15, 32), und dennoch setzte er das Werk fort. Der Aufruhr, den Demetrius hervorrief (Apg. 19), schloß die Tür und ließ Paulus von dort weggehen.

Wir wissen aus Apg. 19, 22, daß Paulus den Timotheus nach Maze­donien gesandt hatte, und war, wie wir in diesem Kapitel sehen, der Meinung, daß er bis Korinth durchreisen würde. Er gibt deshalb die Ermahnung: „Wenn aber Timotheus kommt, so sehet zu, daß er ohne Furcht bei euch sei; denn er treibt das Werk des Herrn, wie auch i(,h. Es verachte ihn denn niemand. Geleitet ihn aber in Frieden u. s. w." (V 10.11). Zu dieser Ermahnung gab wohl besonders die Jugend des Timotheus Veranlassung. Paulus mußte befürchten, daß sie ihren Mangel an Unter­würfigkeit, wie dies leider oft geschieht, durch die Jugend des Arbei­ters zu rechtfertigen suchen würden. Deshalb erinnerte er sie, daß Timo­theus, wie er selbst, das Werk des Herrn treibe; und wahrlich, er trieb es mit großer Treue. Und dies allein Ist genug, uns für unsere Unter­würfigkeit. völlig verantwortlich zu machen. — Was den Apollos betraf, so hatte der Apostel ihn sehr gebeten, daß er mit den Brüdern nach Korinth gehen möchte, und dies bewies, wie frei seine Seele von allern Neid war. Er wußte, daß Apollos unter den Korinthern im Segen ge­wirkt hatte, und dies erwartete er auch ferner. Apollos war aber bis jetzt noch nicht entschlossen, dorthin zu reisen. Wie es scheint, wollte er nicht durch seine Gegenwart Veranlassung geben, zu denken daß er das Wegbleiben des Apostels tadele, besonders da sich Etliche daselbst nach seinem Namen nannten (V. 12).

Nach diesen verschiedenen Anordnungen und Mitteilungen wendet sich dann der Apostel noch einmal mit einer lieblichen, aber zugleich sehr ernsten Ermahnung an die Korinther: „Wachet, stehet im Glauben, seid männlich, seid stark. Alles lasset bei euch in Liebe geschehe n" (V. 13. 14). Wie weit umfassend sind diese wenigen Worte! Es ist der dringendste Wunsch des Apostels, daß sie bis zum Ende fest und treu bleiben und daß die Liebe die Quelle aller ihrer Handlungen sein möchte. Er liebte die Korinther mit väter­licher Liebe; denn sie waren seine Kinder, die er durch das Evange­lium gezeugt hatte; und so groß auch ihre Gebrechen sein mochten, so blieben sie doch stets seinem Herzen teuer.

Weiter finden wir in diesem Kapitel einen deutlichen Beweis, daß sich ein Jeder, ohne besonderen Beruf, allein durch die Kraft des Hei­ligen Geistes zum Dienst der Versammlung widmen kann, und daß, wenn ein solcher treu dient, die Anderen schuldig sind, ihn anzuerken­nen und sich ihm zu unterwerfen. „Ich ermahne euch aber, Brüder: Ihr kennet das Haus des S-tephanas, daß es die Erstlinge von Achajasind, unddaß siesichselbst

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 den Heiligen zum Dienst verordnet haben; auf daß auch ihr solchen und jedem, der mitwirkt, und sich bemüht, Untertan seid" (V. 15. 16). Der Herr Selbst erkennt solche freiwillige Arbeiter an, die, getrieben durch die Liebe Christi und geleitet durch den Heiligen Geist, sich dem Dienst der Heiligen wid­men, und Er erwartet auch von uns die Anerkennung eines solchen Dienstes und die Unterwürfigkeit unter solche Arbeiter. Dies ist von großer Wichtigkeit, besonders auch für die gegenwärtige Zeit, wo man oft einen solchen freiwilligen Dienst nur als einen Eingriff in irgend ein geistliches Amt betrachtet, und an nichts weniger als an Anerkennung und Unterwürfigkeit denkt, indem man nur solche zu jenem Dienst berechtigt glaubt, die durch eine besondere Berufung und Einweihung dazu gelangt sind. Im Worte Gottes aber finden wir das Gegenteil. — Ebenso hören wir nichts von einer besonderen Berufung des Apollos. Er war in Bezug auf andere ein ganz und gar unabhängiger Arbeiter. Zum Teil durch andere Arbeiter unterwiesen, handelte er frei nach der empfangenen Gnade, wie er es vor Gott wohlgefällig hielt.

Zugleich mochte ich hier noch auf eine andere, sehr beachtenswerte Sache aufmerksam machen, die mit dem vorhin Gesagten mehr oder weniger in Verbindung steht. Dieser Brief, obwohl er in alle die Einzel­heiten des inneren Zustandes der Versammlung zu Korinth eingeht, erwähnt jedoch mit keinem Wort der Ältesten oder anderer angestellten Personen, die doch im allgemeinen vorhanden waren. Gab es nun auch in Korinfch solche, so hätte man erwarten sollen, daß der Apostel, bei den vielfachen Mängeln und Gebrechen in der Versammlung, sich na­mentlich an jene gewandt und sie zur Treue und Wachsamkeit ermun­tert und an ihre Verantwortlichkeit erinnert hätte; aber im Gegenteil, er machte alle verantwortlich; und dies ist sehr zu beherzigen. Wir haben das Wort, und in diesem Worte hat Gott für den Wandel einer Versammlung zu aller Zeit gesorgt, und hat auch, wie wir gesehen haben, darin Ermahnungen gegeben, alle anzuerkennen und sich allen zu unterwerfen, die sich durch die Kraft des Geistes zum Dienst der Heiligen mit Treue widmen, ohne auf eine besondere Weise berufen oder angestellt zu sein. Weder der allgemeine Verfall der Kirche, noch der Mangel solcher angestellten Personen wird diejenigen, welche dem Worte gehorchen wollen, verhindern können, es in allen Dingen, die für die christliche Ordnung nötig sind, zu befolgen. Der Herr wird zu aller Zeit, auch inmitten aller Verwirrung und Trennung, uns das darrei­chen, was wir zu unserer Erbauung nötig haben, wenn wir uns nur ein­fach an Seinem Worte halten und uns durch Seinen Geist leiten lassen.

Der Apostel erwähnt hier drei Personen, die durch ihre persönliche Teilnahme und ihren persönlichen Dienst sein Herz erfreut und erquickt hatten- „Ich treue mich aber über die Ankunft des S t e -phanas und des Fortunatus und Achaikus; denn was eurerseits mangelte, haben diese erstattet. Denn sie habenmeinen Geisterquickt und den eure n. Erkennet solche an" (V. 17. 18). Es scheint nach diesen Versen nicht, daß sie sein Herz durch angenehme Berichte über die Versammlung oder durch einen Beweis deren Liebe zu ihm erfreut hätten. Sein Herz war viel­mehr durch jene persönlich erquickt worden; und er wollte, daß die

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 Korinther hieran teilhaben möchten, indem er voraussetzte, daß sie Liebe genug für ihn besaßen, um durch semen Trost mitgetröstet zu werden. Ihre Liebe hatte vorher nicht darüber gedacht; aber er spricht sein Vertrauen aus, daß sie sich an dem Gedanken, daß er erquickt worden sei, erfreuen würden. Es ist rührend zu sehen, wie die Liebe des Apostels bemüht ist, in den Herzen der Korinther das Gefühl der Liebe und der Gemeinschaft durch die Mitteilung zu erwecken, daß diese drei Brüder der Versammlung ihm gedient hätten, und wie er seine Freude mit der ihrigen zu verbinden sucht, um auf diese Weise das Band der Gemeinschaft zu erneuern und zu befestigen.

Wie groß auch die Unordnung der Versammlung zu Korinth sein mochte, so erkennt dennoch der Apostel, wie wir schon bemerkt haben, die Glieder derselben als wahre Christen an, und er will, daß sie sich auch untereinander durch den Kuß der Liebe — der allgemeine Aus­druck der brüderlichen Zuneigung — als solche anerkennen möchten. „Grüßet einander mit heiligem Kuß" (V. 20). — Es mag hier auch bemerkt werden, daß der Apostel, wie wir in Vers 21 und anderen Stellen sehen, einige gebrauchte, um für ihn zu schreiben. Die Epistel an die Galater macht davon eine Ausnahme. Er bewahrheitete seine Briete an die Versammlung dadurch, daß er die Grüße am Ende der­selben mit eigener Hand schrieb.

Am Schluß des Briefes haben wir noch einmal Gelegenheit zu sehen, wie völlig der Apostel die Korinther anerkannte. Er sprach ein feierliches Anathema über alle aus, welche den Herrn Jesum nicht lieb hatten (V. 22). Wenn es solche gab, so wollte er sie nicht anerkennen;

aber weit davon entfernt, dies bei ihnen vorauszusetzen, schreibt er ihnen im Gegenteil im letzten Verse: „Meine Liebesei miteuch allen in Christo Jesu" (V. 24). — Wenn nun schon das Herz des Apostels mit solch inniger Zuneigung an einer Versammlung hing, de­ren Zustand doch so schwach und mangelhaft war, wenn es ihm ein großer Trost war, fähig zu sein, sie alle in Liebe anzuerkennen, wie vielmehr konnteni sie dann, und wir mit ihnen, überzeugt sein von der Liebe Dessen, der, um uns vom ewigen Verderben zu erretten, Sein teures Leben in den schmählichen Kreuzestod dahingegeben hat, und der, obwohl Er mit heiligem Ernst uns ermähnt und züchtigt, uns zu gleicher Zeit mit so vieler Geduld, Liebe und Sanftmut trägt und leidet. Auch dieser Brief ist ein Zeugnis Seiner innigen Liebe und Fürsorge gegen uns. Er hat die traurigen Zustände in Korinth benutzt, um uns mancherlei Unterweisungen zu geben, um uns in vielen Stücken, sowohl in Betreff unserer selbst als auch in Betreff der Versammlung, Seinen wohlgefälligen Willen verstehen zu lassen. 0 möchten auch durch die Gnade unsere Herzen recht willig und bereit sein, nicht allein mit Eifer Seinen wohlgefälligen Willen zu erforschen, sondern ihn auch durch die Kraft des Heiligen Geistes mit Treue zu erfüllen!