1. die Quelle des Evangeliums 1868 BdH

01/13/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Es wird das „Evangelium Gottes" genannt (Röm 1, 1); daraus geht hervor, daß seine Quelle in Gott ist. Auch heißt es wohl das „Evangelium Christi", weil es Ihn offenbart. Aber hier spricht der Apostel von dem Ursprung und nicht von dem Gegenstand des Evangeliums; und dies ist eine große und gesegnete Wahrheit, die eine nicht geringe Macht ausübt im Werke der Evangelisation. Er, an den der natürliche Mensch mit Furcht und Zittern denkt, offenbart Sich als die Quelle aller seiner Segnungen. 

Dies ist der erste Gedanke im Brief an die Römer; und gerade dieser Brief ist mehr als jeder andere so­wohl an die Juden als auch an die Heiden gerichtet. Er wendet sich an den Menschen als solchen, an die „ganze Welt". Aber bevor das Urteil Gottes über den Zustand des Menschen ver­hängt ist, wird Seine Liebe zu dem Menschen völlig geoffen­bart. Dem verlorenen Sünder wird versichert, daß die Quelle des Heils im Herzen Gottes ist, daß Der, Den er so sehr fürchtet, und dem er in jeder Weise zu entfliehen sucht, der Ursprung aller Erbarmungen ist, und daß Gott ihm in dem Evangelium mit allen Segnungen Seiner Gnade begegnet. Welch ein Ge­danke ! 

Welch eine Wahrheit! Welch ein Evangelium! Der Gott aller Gnade naht Sich dem Sünder in Seiner eigenen Güte, in den Wirkungen Seiner eigenen Natur mit der frohen Botschaft des Heils. Aber Er betritt nur immer einen und denselben Pfad. Einen anderen Pfad gibt es nicht. Es gibt keine Segnung für den Sünder als nur durch Christum, in Christo und mit Christo. „Was dünkt euch von dem Christus"? (Mt 22, 42) ist stets die Frage des Vaters. Sein großer Zweck im Evangelium ist die Verherrlichung Christi. „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe" (Mt 3, 17). Hier ist der Prüfstein. Gott wird dem Sünder diesen Punkt nie erlassen.

Leider ist es oft der Fall, daß viele erweckte Seelen jahrelang, ja gar während ihrer ganzen irdischen Laufbahn, ohne Frieden einhergehen. Und dennoch sagt die Schrift deutlich genug:

„Durch diesen Menschen, — durch Ihn". Erkenne Christum an, blicke auf Christum, vertraue auf Christum, widme Ihm deine Gedanken, deine Neigungen, deine Anbetung, und was wird die Folge sein? Jede Segnung, die das Herz des Vaters zu spenden gedenkt, gehört dir. Er will dich an allem teilnehmen lassen, was Christo gehört; Er will aus dir einen „Erben Gottes und einen Miterben Christi" machen.

 Aber es versteht sich, daß die Wahrheit geglaubt werden muß, wenn man sich ihrer erfreuen will. Das ist die Bedingung zwischen Gott und der Seele. Die zweifelnde, unglückliche Seele sagt: „Wenn ich doch fühlen könnte, ob diese Segnung für mich sei, o wie glücklich würde ich sein". Ach! und wie oft ist diese Sprache gehört und beantwortet worden! Und dennoch hört man sie täglich und stündlich wieder, und immer gilt nur die alte Antwort: „Blicke auf Jesum und glaube dem Worte Gottes"! 

So lange eine Seele ihre Blicke auf ihre Gefühle gerichtet hält, gilt ihr praktisch weder Christus, noch das Wort Gottes etwas. Alles, was uns Gott in betreff Seiner Liebe offenbart, alles, was Christus für uns getan und gelitten hat, alles, wovon uns der Heilige Geist Zeugnis geben will, alles setzt die arme, durch Zweifel beunruhigte Seele praktisch beiseite und opfert es den schwankenden Gefühlen des Herzens. Wie traurig ist ein solcher Zustand und wie oft findet man ihn. Doch Gott kann Sein Wort nicht verändern. Er sagt: „Küsset den Sohn, daß er nicht zürne und ihr umkommet auf dem Wege, ... Glückselig alle, die auf ihn trauen" (ps 2,12)! 

Und wenn Gott eine Seele „glückselig" preist, so muß sie es gewiß sein. „Ge­priesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himm­lischen Örtern in Christo" (Eph 1, 5). Möchte doch jede von Zweifeln geplagte Seele bedenken, daß Christus unseres voll­sten Vertrauens würdig ist, wie auch immer unsere Gefühle sein mögen. Sollten wir nicht über uns selbst beschämt sein, wenn wir Ihm nicht vertrauen, der für uns starb und jetzt in Macht und Herrlichkeit lebt? Wenn wir Ihm nur völlig ver­trauten, würden bald die Gefühle in die richtigen Bahnen ge­ll

leitet werden! Lassen wir daher jede Furcht und jeden Zweifel schwinden, auf immer schwinden in der Gegenwart einer Liebe, die sich nie von ihrem Gegenstand abwendet, in der Gegenwart eines Werkes, das vollbracht ist, in der Gegenwart eines Heilandes, Der Gewalt hat im Himmel und auf Erden, und von Dessen Liebe uns keine Macht zu trennen vermag!

Indes gibt es etliche, die zwar in etwa auf Jesum vertrauen, aber dennoch keinen Frieden haben. Was ist die Ursache? Das Vertrauen der Seele ist zu schwach; die ganze Wahrheit Gottes findet keinen Glauben. Anstatt auf Jesum und dann auf das Wort Gottes zu schauen, blicken sie auf Jesum und dann auf sich selbst. Sie denken, wenn ihre Gebete Erhörung gefunden haben würden, daß dann auch ein völliger Friede, völlige Ge­wißheit und was sie sonst noch erwarten, ihr Teil sein würden. Da nun aber ihre Gebete nicht von solchen Erfolgen gekrönt werden, so schließen sie daraus, daß keine Erhörung stattge­funden hat, daß Gott Sein Antlitz abgewendet habe, und daß der Friede weiter entfernt sei als je. Doch dies ist nichts als ein Fallstrick Satans.

Ein interessanter Vorfall, der vor etlichen Jahren von einem Missionar mitgeteilt wurde, liefert für das soeben Gesagte einen treffenden Beleg. Ein afrikanischer Häuptling wurde in seinen alten Tagen bekehrt. Ein Leben voller Verbrechen lag hinter ihm. Jetzt war es sein heißes Verlangen, lesen zu lernen, um durch das Wort Gottes mehr bekannt zu werden mit Jesu, der die Afrikaner liebte und für sie gestorben war. Wie schwer es ihm auch wurde, er überwand doch endlich alle Schwierig­keiten und las bald ohne Anstoß. Eines Tages kam der Missi­onar an seiner Hütte vorüber und sah den alten Häuptling unter einem Palmbaum sitzen. 

Er hemmte seine Schritte und bemerkte, daß ein Buch auf seinen Knien lag. Nachdem nun der Alte eine Zeitlang aufmerksam in dem Buch gelesen hatte, erhob er sein Haupt, faltete die Hände, richtete sein Auge gen Himmel und bewegte betend seine Lippen. Nach wenigen Augenblicken aber widmete er wieder seine ganze Aufmerk­samkeit dem Buch. Der Missionar mochte diese feierliche Szene nicht unterbrechen und ging unbemerkt vorüber. Einige Zeit später aber fand er Gelegenheit, den Häuptling an diese Szene

zu erinnern, deren Zeuge er einige Tage vorher gewesen war, indem er ihn fragte, was er damals getan habe. „O Massa", war die Antwort, „wenn ich blicken in das Buch und lesen, dann Gott mit mir sprechen; und wenn ich innehalten und aufblicken, dann ich reden mit Gott". — Mögen wir beide, Schreiber und Leser dieser Zeilen, etwas lernen aus dem Bei­spiel dieses Häuptlings.

Wir wünschen von Herzen, daß jede beunruhigte Seele einen ähnlichen Weg einschlägt. Blicke an, blicke empor; aber blicke nicht in dich hinein! Hast du auf Jesum geschaut, dann schaue in das Wort Gottes und lies aus Seinem eigenen Buche Seine Antwort heraus. Sein Wort ist entscheidend und verändert sich nie. Der Gegenstand deines Glaubens ist nicht in dir, sondern außer dir. Und was sagt das Wort jeder Seele, die auf Christum blickt? „Du bist gerettet". Was sagt es denen, die zu Jesu kommen unter dem drückenden Gefühl ihrer Sünde und ihrer Wertlosigkeit und in Seinem Erbarmen Schutz suchen? 

Höre und glaube! Die Antwort ist: „Deine Sünden sind vergeben, dein Glaube hat dich gerettet; gehe hin in Frieden" (Luk 7, 56—50). Das ist in allen Fällen die Antwort des Buches Gottes. Eine erweckte Seele, im Schatten einer heidnischen Finsternis und wegen der Anklagen eines schuldbewußten Gewissens im Zustand der Verzweiflung, mag ausrufen: „Ihr Herren, was muß ich tun, auf daß ich errettet werde" (Apg 16, 50)? Siehe, es gibt für einen solchen eine Antwort in diesem Buche. Es redet mit ihm von einer Errettung, indem es ihm zuruft:

„Glaube an den Herrn Jesum und du wirst errettet werden" (V. 51). Aber was konnte der Kerkermeister zu Philippi von Jesus Christus und vom Glauben an Ihn wissen? Wir können überzeugt sein, daß seine Erkenntnis darüber gering war. Doch die Errettung seiner Seele war nicht von seiner Erkenntnis ab­hängig, sondern von Christo. In jenem Augenblick gab es keine Zeit zu langen Erläuterungen. Der Apostel sieht die mächtige Wirkung des Heiligen Geistes und ruft: „Glaube an den Herrn Jesum, und du wirst errettet werden". Als ob er hätte sagen wollen: „Verbirg dich hinter dem Heiland der Sünder, wirf dich, wie du bist und wo du bist, zu den Füßen Jesu und glaube, im Vertrauen auf Ihn, daß du gerettet bist". Und den Worten des Apostels glaubend, wurde er gerettet,

belehrt, mit Freude erfüllt und zu Früchten des Glaubens fähig gemacht. Sein edles Beispiel war der segensreiche Anfang zur Rettung seines ganzen Hauses. Ein anderer mag gleich dem verlorenen Sohn gegen seine Erkenntnis, gegen die Liebe und jede Art von Güte gesündigt haben, dennoch wird die Antwort seinem Zustand entsprechend sein. Er wird mit offenen Armen und mit dem Kuß der vollkommenen Versöhnung empfangen. In dieser Weise wird jeder verlorene Sohn bewillkommt. 

Wer dieses verneinen wollte, würde dem Worte Gottes widerspre­chen, ja, schlimmer noch, er würde sagen, daß das Wort zu Irrtümern führe. In dem „Evangelium Gottes" handelt Gott aus Sich Selbst und durch Sich Selbst und für Seine eigene Verherrlichung. Der Vater eilt dem verlorenen Sohn entgegen. Sein Herz strömt über von Mitleid und Erbarmen; denn als der Sohn noch ferne war, „sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn sehr" (Luk 15, 20). Das Herz des Vaters bleibt allewege ein Vaterherz. „Gott ist die Liebe"; Er handelt trotz unseres Unglaubens in einer Weise, die Seiner würdig ist.

In fast allen Gemütern, die in betreff ihrer Errettung nicht in Ruhe sind, sind die Gedanken mehr vorherrschend über das, was sie für Gott sein sollten, als über das, was Gott für sie ist, Dies ist eine der feinsten Schlingen Satans. Aber vorausgesetzt, der Kerkermeister zu Philippi hätte, statt dem ihm zugerufenen Wort, einfach zu glauben und auf Christum völlig zu vertrauen, mit dem Apostel über das, was er gewesen war und was er jetzt fühle, hin und her disputieren wollen, was würde der Erfolg gewesen sein? 

Nur Jammer statt der Freude. Und so ist es in allen Fällen. Und doch zeigt sich dieser Irrtum bei zahlreichen Christen und bildet in tausend verschiedenen Arten jene entsetzliche Quelle endloser Beunruhigungen. Der Geist des Gesetzes drängt die Seele zurück in sich selbst, um dort etwas zu suchen; und jede Seele, die mit sich selbst beschäftigt ist, folgt dem Grundsatz der Gesetzlichkeit. Die Gnade dagegen offenbart der Seele Christum als ihren eigenen Gegenstand;

und nicht nur dies, sie versetzt auch den Glaubenden in Ihn,

Nachdem Christus allen Anforderungen Gottes und allen Be­dürfnissen des Sünders entsprochen hat, findet der Glaube

vollkommene Ruhe in Seinem vollbrachten Werke. Wenn Chri­stus in dieser Weise durch den Glaubenden aufgenommen wird, so wird Er der Gegenstand seiner höchsten Freude, seine Zuflucht in allen Trübsalen und seine Antwort auf alle Fragen. Er kann dann sagen: „Einer, der mich so sehr liebt, daß Er Sein Leben für mich hingab, ist meines ganzen Vertrauens würdig". Aber in dem Maße, wie die Seele mit dem Gedanken beschäftigt ist, was sie für Gott sein sollte, hat sie die Gnade aus dem Gesicht verloren, und ist mit vollen Schritten auf dem Wege, das Werk Christi, ihre Annahme in Ihm und das Zeug­nis des Wortes in betreff ihrer Einheit mit Ihm vollends aus dem Auge zu verlieren.

Indes könnte hervorgehoben werden, daß Gott Ansprüche auf den Menschen habe und daß, obwohl nur Israel als eine Nation förmlich und bestimmt unter das auf Sinai gegebene Gesetz gestellt sei, dieses dennoch allgemein angewendet werden müsse. Das ist wahr in betreff des menschlichen Zustandes;

aber der Bund auf Sinai ist nicht das Evangelium der Gnade Gottes. Das Gesetz fordert Gerechtigkeit von dem Menschen;

die Gnade bringt göttliche Gerechtigkeit dem Sünder; und so­bald der Sünder sich beugt vor Jesu als seinem Erretter, tritt er ein in dessen ganzen Wert und in die volle Segnung Seines Opfers. Auch dürfen wir nicht aus dem Gedächtnis verlieren, daß der Gläubige, wenn er auch noch so jung im Glauben ist, nicht einen Boden betreten hat, wo das Gesetz wirkt. Seine Stellung ist weder die Stellung der Heiden, noch die der Juden. Der Apostel sagt: „Ihr aber seid nicht im Fleische, sondern im Geiste, wenn anders Gottes Geist in euch wohnt" (Röm 8, 9). Das Gesetz beschäftigt sich mit dem Menschen im Fleische, dem „ersten Menschen, Adam" (1. Kor 15, 45).

 Der Christ aber befindet sich im zweiten Menschen, dem letzten Adam, der ein lebendigmachender Geist ist (1. Kor 15,45). Das Gesetz ist für den Ungerechten gegeben; aber der Gläubige ist die Gerechtigkeit Gottes geworden in Christo Jesu. Daher kann das Gesetz sich nicht mit denen beschäftigen, „die in Christo Jesu sind". Der Apostel sagt klar und bestimmt: „Ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade" (Röm 6,14). Als Gott durch das Gesetz den Menschen Seine Anforderungen kundgab, kam alsbald ans Licht, daß nicht einer ihnen

entsprechen konnte; und natürlich versanken alle unter den Fluch eines übertretenen Gesetzes. Was konnte geschehen mit einem Menschen, einem Sünder, einem Übertreter des Ge­setzes? Er mußte entweder hoffnungslos verdammt sein, oder Gott mußte, in Übereinstimmung mit Sich Selbst, einen Weg ausfindig machen, um Barmherzigkeit üben zu können. Und — gepriesen sei Sein Name! Er hat einen solchen Weg bereitet;

das Kreuz legt Zeugnis davon ab. Er gab Seinen Sohn. Christus kam zur bestimmten Zeit. Er begegnete allen Anforderungen Gottes in bezug auf den Menschen, trug den Fluch, löschte alle Sünden aus, starb anstelle des Sünders und öffnete den Weg in Gerechtigkeit für die Liebe und das Erbarmen Gottes, daß sie ausströmen konnte und noch ausströmen kann. — Das ist die unerschütterliche Grundlage des „Evangeliums Gottes", die Offenbarung Seiner grenzenlosen Gnade, selbst gegen den sündigsten der Sünder.

Wenn der verlorene Zustand des Menschen völlig ins Licht gestellt ist, so kann nichts Gutes — weder in seinen Gedanken und Gefühlen, noch in seinen Handlungen erwartet werden. Der Gedanke an das, was ich für Gott sein sollte, muß daher gänzlich beiseitegestellt werden und Christus alles in allem sein. „Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt" (Röm. 7, i8). Welch eine Erlösung! Welch eine Befreiung! Das Ich ist als ein untaugliches Ding erkannt und verworfen. „Ich bin mit Christo gekreuzigt", sagt Paulus;

„und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir" (Gal 2, 20). Und wiederum sagt er: „Indem wir dieses wissen, daß unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, auf daß der Leib der Sünde abgetan sei, daß wir der Sünde nicht mehr dienen. Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde. Wenn wir aber mit Christo gestorben sind, so glauben wir, daß wir auch mit ihm leben werden" (Röm 6, 6. 7. 8). Sicher, diese wie viele andere Stellen, die angeführt werden könnten, sollten jede ängstliche, beunruhigte Seele belehren, daß das Ich in jeder Form als unnütz beiseitegestellt ist. Wie könnten wir Gutes finden in etwas, das von Gott verworfen ist? In der Natur des ersten Adam gibt es nichts für Gott. Im Angesichte Gottes wird sie als eine gekreuzigte, begrabene und vergessene Sache betrachtet. Wie könnten wir etwas anerkennen, was

Gott als durchaus schlecht verworfen hat? Aber solange wir dies tun, bleiben unsere Befürchtungen und Schwankungen;

unsere Ruhe und Frieden können nicht unser Teil sein. Als Kind des ersten Menschen fand der Gläubige am Kreuz sein Ende. Christus ist sein neues, ewiges Leben; er ist in Christo von den Toten auferstanden und steht jetzt in Ihm vor Gott. „Ihr in mir und ich in euch" (Joh 17). Das ist Gnade, wunder­bare, herrliche Gnade.

Und was sollten jetzt, angesichts solcher Schriftstellen, die Ge­danken, die Gefühle und die Sprache eines jeden an Christum Glaubenden sein? Schöpfen wir die Antwort aus dem Worte Gottes, so werden wir uns sicher der vollen Freiheit und der vollen Segnung des Evangeliums vor Gott erfreuen. Die Seele ist so nahe zu Gott gebracht, wie Christus es ist; denn sie ist in Ihm und mit Seiner Anmut geziert. Könnte sie mehr brau­chen? Könnte sie mehr wünschen? Sie ist von Sünde, Tod und Gericht ebensoweit entfernt, wie Christus Selbst, welcher sagt:

„Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin". Wo solche Wahrheiten im Glauben aufgenommen werden, da ist das Herz mit einer himmlischen Freude erfüllt. „Und dies schreiben wir euch, auf daß eure Freude völlig sei" (1. Joh 1. 4). Es soll also, beachten wir es wohl, nicht nur Freude, sondern eine Fülle von Freude in ihnen geweckt werden. Und warum auch nicht? Zu wissen, daß „Christus, der Gerechte für die Ungerechten, für Sünden gelitten hat, auf daß er uns zu Gott führe" (1. Petr 5, 18), ist sicher genug; wir brauchen nicht mehr, um unser Herz völlig zufriedenzustellen. 

Ein zu Gott gebrachter Sünder ist gestorben, auferstanden und vereinigt mit Ihm, Der starb und wieder auferstand. „Getötet nach dem Fleische, aber lebendig gemacht nach dem Geiste" (1. Petr 5, 18). Dies ist die große Fundamental-Wahrheit des vollkommenen Friedens der Seele in der Gegenwart Gottes. Alles, was dem ersten Menschen, Adam, angehört, ist zerstört und zurückgelassen, und der Gläubige steht vor Gott in der ganzen Segnung des auferstandenen, erhöhten und verherrlich­ten Menschen. Die Heilige Schrift bezeichnet ihn jetzt als einen Christen, einen König, einen Priester, als ein Kind Gottes, einen Erben Gottes und Miterben Christi. Sein Bürgertum ist in den Himmeln; er gehört der neuen Schöpfung, der neuen

Welt Gottes an. „Das Alte ist vergangen; siehe, alles ist neu geworden". Und um die Segnung der neuen Schöpfung zu krönen, fügt der Apostel hinzu: „Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesum Christum" (2. Kor 5, l7. 18). Diese Schriftstellen beschäftigen sich nicht, wie dies leider viele gelehrt und viele geglaubt haben, mit den Gefühlen und den Erfahrungen des Gläubigen. Die alte Natur in den am weitesten geförderten Christen ist nicht ver­ändert, sondern das Alte ist „vergangen". 

Die Stelle bezieht sich auf die neue Schöpfung, auf unsere Vereinigung mit Christo in der Auferstehung; Er ist der Mittelpunkt, das Leben und die Herrlichkeit der neuen Schöpfung. Und dort ist, wie wir lesen, „Alles aus Gott". Es ist die neue Welt Gottes. Jedes Ding in der alten Schöpfung trägt die Inschrift: „Vergangen". Aber jedes Ding in der neuen Schöpfung trägt den Stempel der Vollkommenheit und der Unwandelbarkeit Gottes. Welch glückseliger Gedanke! Welch gesegnete Wahrheit! Alles ist vollkommen und unveränderlich. „Ich habe erkannt, daß alles, was Gott tut, für ewig sein wird; es ist ihm nichts hinzuzu­fügen, und nichts davon wegzunehmen" (Pred 5, 14). — Be­trachten wir jetzt

2. das Evangelium Gottes als verheißen durch die Propheten 1868 BdH

01/13/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Es wird indes nützlich sein, den Unterschied in den Ausdrük­ken: das „Evangelium Gottes" und die „Kirche Gottes" näher zu beleuchten. Die Unterscheidung dieser Begriffe, wie wichtig sie auch ist, wird gar zu oft aus den Augen verloren. Wie eng diese beiden Begriffe auch miteinander verbunden sind, sie sind doch völlig verschieden. 

Die Kirche Gottes, wie sie uns im Neuen Testament dargestellt ist, war kein Gegenstand der Offenbarung oder der Verheißung Gottes im Alten Testament, während das Evangelium schon von Anfang an verheißen war, wenn auch die Fülle der Gnade erst dann verkündigt worden ist, als das Werk Christi vollbracht war. Die Kirche als eine Tatsache nahm am Pfingsttage ihren Anfang. Die Wahrheit über sie wurde dem Apostel Paulus geoffenbart; die anderen Apostel berühren diesen Gegenstand kaum. Paulus spricht oft davon als von „einem Geheimnis" (z. B. Eph 5). Doch hat das Wort „Geheimnis" im Neuen Testament nicht Bezug auf etwas,

was schwer zu verstehen ist oder was gar nicht verstanden werden kann, sondern auf etwas, das bis dahin noch nicht geoffenbart, sondern verborgen geblieben war. Es war ein Geheimnis, welches, wie der Apostel sagt, „in anderen Ge­schlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden war". Das Evangelium Gottes dagegen war nie ein Geheimnis, nie eine verborgene Sache. Wir dürfen sagen, daß es schon im Garten Eden geoffenbart worden ist; das Verderben des Men­schen und die Gnade Gottes bildeten seine Grundlage. Des Weibes Samen sollte der Schlange den Kopf zertreten.

Wenn wir unsere Blicke auf die Propheten richten, so finden wir die große Wahrheit des Evangeliums in den verschieden­artigsten Formen als einen Gegenstand der Verheißung und als nahe bevorstehend angekündigt. „Ich habe meine Gerech­tigkeit nahe gebracht; sie ist nicht fern und mein Heil zögert nicht; denn ich gebe in Zion Heil, und Israel meine Herrlich­keit" (Jes 46, 15). 

Wiederum: „So spricht Jehova: Wahret das Recht und übet Gerechtigkeit! Denn mein Heil steht im Be­griff zu kommen, und meine Gerechtigkeit, geoffenbart zu werden" (Jes 56, 1). In dem Propheten Daniel finden wir eine vollständige Darstellung und die gesegneten Folgen des Wer­kes Christi: „Siebenzig Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt, um die Übertretung zum Ab­schluß zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen, und die Ungerechtigkeit zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen, und Gesicht und Propheten zu versiegeln, und ein Allerheiligstes zu salben" (Dan 9, 24).

Wir sehen also, daß das Evangelium schon in den Zeiten des Alten Testaments verheißen, nirgends aber gepredigt worden ist; denn das geschah erst im Neuen Testament. Der Apostel Paulus war, wie er sagt, „abgesondert zum Evangelium Gottes, welches er durch seine Propheten in heiligen Schriften zuvor verheißen hat" (Röm 1,1.2). Hier sehen wir also den Unter­schied zwischen den Zeiten des Alten und des Neuen Testa­ments in bezug auf das Evangelium. Damals wurde es als eine kommende große Segnung Gottes angekündigt; jetzt wird es gepredigt als gekommen in die Welt in seiner ganzen Fülle und Freigebigkeit. Zu gleicher Zeit werden wir versichert, daß Gott

zu allen Zeiten Zeugnis von Sich, ein Zeugnis von Seiner Gnade, abgelegt hat, und daß alle, die glaubten nach der Offen­barung, die Er von Sich Selbst gegeben hatte, errettet wurden:

„Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird errettet werden", ist eine Stelle aus dem Propheten Joel. Und keine Darstellung des Evangeliums könnte deutlicher sein, als diese; aber die Größe der Errettung wurde erst erkannt, als Christus kam. „Das Gesetz wurde durch Moses gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden" (Joh 1. 17).

Jetzt eröffnet das Evangelium eine herrliche Aussicht vor un­seren Blicken. Die von altersher verheißene Gerechtigkeit Got­tes ist eingeführt und das vollkommene Heil Gottes wird ge­predigt. „Die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn" (Röm. 5, 2l). Der Gläubige ist jetzt, kraft der Autorität des Wortes Gottes, gewiß, daß er im Besitz des ewigen Lebens und der göttlichen Gerechtigkeit ist. Ohne Zweifel hatten auch die Heiligen des Alten Testaments ewiges Leben; jedoch scheinen sie kein Be­wußtsein davon gehabt zu haben. 

Die Gnade, die jetzt hervor­leuchtet unter dem Titel: „Das Evangelium Gottes", begegnet dem Glaubenden mit den reichsten Segnungen des Himmels. Nicht eine einzige fehlt. Und welch ein Trost liegt für uns darin, zu wissen, daß es von jeher die Absicht Gottes war, uns so zu segnen. Ewiges Leben war verheißen in Christo Jesu, bevor die Welt gegründet war; und die Gerechtigkeit Gottes war bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Das Herz Gottes war stets die Quelle der Gnade Gottes. 

Gott ist die Liebe und die Gnade ist die freie Gabe, die aus der Liebe segnend hervorströmt. Ihre Ströme mögen sich nach verschie­denen Richtungen ergießen, ihre Wirkung mag tausendfältig sein; ihre Quelle ist nur eine Quelle. Als die Zeit herannahte, wo der Weg durch den Tod und die Auferstehung Christi er­öffnet werden sollte, kündete sich die Gnade im voraus durch die Worte an: „Ich habe meine Gerechtigkeit nahegebracht, sie ist nicht fern; und mein Heil zögert nicht; denn ich gebe in Zion Heil und Israel meine Herrlichkeit". 

Doch jetzt, da Chri­stus gekommen ist, und Er Sein Werk, das Ihm der Vater zu tun gegeben hatte, vollbracht hat, ist Gottes Gerechtigkeit geoffenbart und Sein Heil völlig gekommen. Jede Segnung ist enthüllt in dem „Evangelium Gottes". Durch das Kreuz wurde jede Schranke niedergerissen und jedes Hindernis beseitigt. Die höchsten Anforderungen des Himmels fanden völlige Befriedi­gung, die Sünde wurde getilgt und der Vorhang im Tempel zerriß von oben bis unten. Auch dient das Kreuz zur Erweisung der Gerechtigkeit Gottes in betreff der Vergebung der Sünden des Gläubigen, bevor Christus erschien. Es ist der große Mittel­punkt aller Wege Gottes (Röm 5, 19—26).

Unter dem Gesetz war es eine Frage der Gerechtigkeit von selten des Menschen; unter dem Evangelium ist göttliche Ge­rechtigkeit von selten Gottes geoffenbart; es ist „Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden". Unter dem Gesetz hatte der Mensch zu wirken. „Tue das, so wirst du leben". Gott war, als Er das Gesetz gab, hinter der Wolke und wohnte in dichter Finsternis. „Und das Volk stand von ferne, und Mose nahte sich zum Dunkel, wo Gott war" (2. Mo 20, 21). In dem Evan­gelium dagegen ist Gott der wirkende Teil; und der Mensch hat nur zu glauben. Aber nachdem er durch Glauben ewiges Leben und göttliche Gerechtigkeit empfangen hat, ist er nicht nur befreit von toten Werken, sondern auch befähigt, dem lebendigen Gott zu dienen; und jetzt erst beginnt sein Tun, sein Wirken.

So hat also, wie wir gesehen haben, der Tod Christi alles ver­ändert. Der Charakter des Verhältnisses des Menschen zu Gott ist ein anderer geworden. Sogar der Himmel ist seit dem Tode Jesu verändert. Jetzt befindet sich Christus dort als der aufer­standene Mensch und als der große Hohepriester Seinesvolkes;

und auch Sein Volk genießt jetzt das Vorrecht, dort mit Ihm anbeten zu dürfen. Die Anbetung im Vorhofe ist gänzlich auf­gehoben; alle Christen sind Priester; und die Stätte ihrer An­betung ist im Allerheiligsten.

Eine erweckte Seele wird oft durch die Versicherung in Ver­legenheit gebracht, daß die Sündenfrage in betreff derer, die im Vertrauen auf Christum zu Gott zurückkehren, nie mehr aufgeworfen werde. Das bereits Gesagte zeigt den Grund dieser wunderbaren Gnade. Die Sündenfrage ist auf dem Kreuz zwischen Gott und dem Menschen in Ordnung gebracht

worden; sie kann nie wieder erhoben werden zwischen Gott und dem, der an Jesum glaubt. Wählen wir ein Beispiel. Setzen wir voraus, daß der schreck­lichste Sünder von seinen Sünden überführt und unter dem Gefühl ihrer Größe und Menge voll Furcht und Zittern zu Gott geführt wurde. Er naht im Glauben; er ist überzeugt, daß Christus für Sünder starb, und daß Sein Blut völlig genügend ist, ihn von seinen Sünden zu reinigen. Vielleicht mag er nicht fähig sein, diese Dinge so aufzustellen, wie sie niedergeschrie­ben sind; aber ihrem Wesen nach sind sie in seiner Seele. Wohlan, was begegnet ihm? Wie wird er empfangen? 

Soweit wir die Wege Gottes in Gnade gegen den Sünder verstehen, sollten wir sagen, daß er angenommen, anerkannt, geehrt und gesegnet werde nach dem Maße dessen, was Christo als dem Heiland der Sünder zukommt. Aber nein, weit mehr, er wird empfangen wie Christus Selbst, „begnadigt in dem Geliebten". Das Wort Sünde wird nie wieder erwähnt. Würde Gott diese Frage dem Sünder gegenüber aufwerfen, so würde dieser auf tausend nicht eins antworten können: er würde unbedingt in die Verdammnis gehen müssen. Aber gepriesen sei der Gott aller Gnade, der Vater unseres Herrn! 

Der Verlorene wird mit offenen Armen empfangen und mit dem Kuß des völligen Friedens bewillkommt. Offenbar ist das Werk Christi der Grund, und der Reichtum göttlicher Gnade der Maßstab aller Segnungen. „In welchem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen nach dem Reichtum sei­ner Gnade" (Eph 1. 7). Würde der Sünder empfangen, was ihm gebührt, so würde sein unvermeidliches Los die unmittelbare Verdammnis sein. Gott würde in der Verdammnis des Sünders seine Gerechtigkeit erweisen; aber auf dem Grunde des Wer­kes Christi ist Er „gerecht und rechtfertigt den, der des Glau­bens an Jesum ist" (Römer 5,19—26). 

Jetzt unter der Gnade, — der Mensch glaubt und Gott handelt. Dies ist es, was wir verstehen unter dem Ausdruck: „das Evangelium Gottes", oder, was dasselbe ist: „die Gerechtigkeit Gottes". Es ist die Offenbarung Gottes Selbst in Seinen gna­denreichen Handlungen gegen den Menschen nach der Größe Seiner eigenen Güte und der Ansprüche Christi — des aufer­standenen Menschen in Herrlichkeit.

Der hochgelobte Herr hat Gott so verherrlicht und unsere Sünde am Kreuze so völlig getilgt, daß Gott dem zurückkehren­den Sünder wie Christo Selbst begegnen kann; dies ist die Darstellung des „Evangeliums Gottes". Und wir glauben be­stimmt behaupten zu können, daß das Evangelium erst dann wirklich verstanden wird, wenn es als das „Evangelium Gottes" erkannt ist. Welch herrliches Evangelium! Welch eine köstliche Botschaft für den schuldigen Menschen! Welche Gnade! Welche wunderbare Gnade!

Und gerade dieses Zeugnis der Gnade Gottes macht die Folgen für den Hörer so ernst und bedeutungsvoll. Wie groß wird die Schuld derer sein, die solch ein Evangelium vernachlässigen oder gar verachten! Und ach, wie bitter muß die Angst einer Seele sein, wenn sie in den Tiefen eines unaussprechlichen Wehes die schrecklichen Erfolge ihrer selbst erwählten Wege erblickt. Alle Hoffnung ist dann dahin, der Tag der Gnade ist vorübergegangen, die Gnadentür ist verschlossen, und kein Ohr lauscht mitleidig auf dein verzweiflungsvolles Gestöhn. 

Und ach! schmerzliche Erinnerungen quälen dein Herz. Jeder Tag, jede Stunde der Vergangenheit, alles erhebt seine Ankla­gen gegen dich! Alle blendenden Täuschungen des Unglaubens machen einer schrecklichen Wirklichkeit Platz. Alle auf der Erde so gewöhnlichen Dinge finden keinen Raum in der Hölle. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft — alle zeigen sich in ihrer wahren, entsetzlichen Gestalt. Schlummer, Rast und Ruhe sind für immer geflohen; Angst, Entsetzen und Ver­zweiflung füllen dann deine unsterbliche Seele. Ach, in welchem Jammer wird sich eine Seele befinden, die in dieser Weise dem Verderben anheimgegeben ist, zumal, wenn sie einst Gelegen­heit gehabt hatte, das Evangelium zu hören. 0 Sünder! Sünder! höre, glaube! 

Deine Tage sind gezählt, deine letzte Stunde wird bald schlagen, täusche dich nicht! Wende dich heute noch zu Jesu, dem Heilande der Sünder! Wo die Sünde überströmend ist, da ist die Gnade noch über­schwenglicher. An diesem Tage der wunderbaren Gnade sind deine Sünden, wie groß ihre Menge auch sein mag, alle von dem Augenblicke an vergeben, wo du im Glauben zu Jesu nahst. Viele verlorene Söhne, welche die Bitterkeit der Sünde fühlen, nachdem der Reiz der Sünde verschwunden ist, würden gern

in ihr irdisches Vaterhaus zurückkehren; aber sie fürchten die Vorwürfe ihres Vaters und die Schmach und Schande, die ihr Los sein würde, und sie können nicht zurückkehren. Wären sie gewiß, daß der Vater sie fröhlich willkommen heißen und ihnen ihre Vergehungen vergeben würde, so würden sie sicher wie auf Flügeln des Windes zu ihm eilen. Aber ach! der Ge­danke an das zürnende Auge des Vaters und an seine strengen Worte rauben dem Herzen allen Mut; und unter so trostlosen Aussichten möchte der unglückliche Sohn lieber in seinem Elend umkommen, als sich einer solchen Erniedrigung preiszugeben. 

Doch jetzt, du beunruhigte Seele, lausche auf die Worte von jemanden, der wie du die Bitterkeit der Sünde, aber auch die Süßigkeit der vergebenden Gnade kennengelernt hat. Bei Gott, der gern in Christo dein Vater sein möchte, stehen die Dinge anders. Nicht nur wirst du willkommen sein, sondern Gott wird dir mit offenen Armen entgegeneilen, und kein Vorwurf in betreff deines vergangenen Lebens wird dir begegnen. Die Vergangenheit des Glaubenden ist nicht nur vergeben, sondern auch vergessen. 

Welch eine Gnade! Welch ein Trost, dies zu wissen! Die Freude, die das Herz des Vaters bei der Rückkehr des verlorenen Sohnes füllt, füllt auch die Herzen aller, die Ihn umgeben. Kein tadelnder Blick wird dir dort je begegnen;

nicht ein Platz in einem fernen Winkel des Hauses wird dir angewiesen werden. Du bist so nahe gebracht und so geliebt, wie Christus Selbst, du wirst dargestellt sein in Seiner Herr­lichkeit und Schönheit und wirst als Sohn des Vaters bewill­kommnet und mit allen Würden und Ehren empfangen werden, womit Seine Liebe dich zu zieren vermag. 0 welche Feder kann imstande sein, die Herrlichkeiten eines Kindes Gottes, eines durch die unumschränkte Gnade Gottes geretteten Sünders zu schildern?

Und dennoch, ach, wie viele Tausende verkaufen, gleich Esau, die Glückseligkeit des Himmels für ein Linsengericht dieser Erde! Wieviele ziehen ein gegenwärtiges, schnell vorübergehen­des Glück der künftigen Herrlichkeit vor! Ein gegenwärtiges Glück hat mehr Macht über ihr armes Herz, als das sichere Anrecht auf eine himmlische Erbschaft. Ist dies auch bei dir der Fall, mein Leser? Hast du keine Wünsche für deine kostbare Seele? 0 bedenke doch! deine unsterbliche Seele wird entweder

für immer glücklich, oder für immer elend sein. Vielleicht in gar kurzer Zeit wird sie entweder im Himmel oder in der Hölle sein. 0 mein Leser, es ist deine eigene Seele, ruiniere sie nicht, ich bitte dich! Sie ist fähig, sich Gottes und einer ewigen Herrlichkeit zu erfreuen; darum stürze sie nicht in die Tiefen der Hölle, in die bodenlosen Abgründe des Verderbens! 

Es ist deine Seele; und sie sollte für dich ein Gegenstand der zärt­lichsten Besorgnis auf Erden sein. Wird es nicht entsetzlich bitter sein, einst sagen zu müssen: „Ich habe das ganze Ver­derben und das ganze Elend durch eigene Schuld über mich gebracht, und kein Entrinnen ist mehr möglich"? Ach! dann gibt es keine Hoffnung. Schreckliche Verzweiflung wird dein Herz zu Boden drücken, und du wirst fern sein von allen, die einst Mitgefühl für dich hatten, die einst dich warnten, für dich beteten und vielleicht Tränen über dich vergossen. Dann wird die Erinnerung ihren verwundenden Stachel fühlen lassen, Ge­wissensbisse werden dich quälen und deine bebenden Lippen werden sich zu der Klage öffnen: „Ach! daß ich einst die Ge­legenheit vorübergehen ließ, die Warnungen verachtete, dem Licht aus dem Wege ging, und die Stimme des Gewissens zum Schweigen brachte! Wehe, wehe mir"!

Aber warum sollte der Schreiber dieser Zeilen bei so entsetz­lichen Szenen noch länger verweilen? Gewiß liebt er nicht ein solches Thema, aber er möchte aus Liebe gern die warnen, die in Gefahr sind, sich hoffnungslos in das entsetzliche Elend zu stürzen. Hast du, mein Leser, dein Herz zu Jesu gewandt, dann schließe ich gern diesen Abschnitt und wende mich mit dir zum Herrn, um mit dir zu trinken aus dem Born einer grenzenlosen Gnade, geoffenbart in Christo Jesu, unserem hochgepriesenen Herrn! Ihm allein gebührt Ehre, Lob und Anbetung!