Botschafter des Heils in Christo 1877

01/25/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Inhaltsverzeichnis

Die beiden Schwestern von Bethanien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Die verschiedenen Perioden der Auferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Völlige Hingabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Der erprobte Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Erklärung einer Schriftstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Der Gott des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Nehemia oder das Bauen der Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Das Werk eines Evangelisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Das Werk eines Evangelisten (Apg 16,13–34) (Schluss) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Eine Betrachtung über Sacharja 12,10–13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Die verschiedenen Bezeichnungen des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Betrachtungen über Johannes 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Was ist eine Sekte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
„Dieses erwägt!“ (Phil 4,8–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Im Heiligtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Außerhalb des Lagers – Teil 1/2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
“Erlöst“ und “Erkauft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
Außerhalb des Lagers – Teil 2/2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Josaphat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
Die Versammlung Gottes nach der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
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  Inhaltsverzeichnis
Die Versammlung Gottes nach der Schrift (Schluss) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Die Belagerung von Samaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Die Belagerung von Samaria (Schluss) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Die christliche Zucht – Teil 1/2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Was ist die Hoffnung des Gläubigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Die christliche Zucht – Teil 2/2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Der Morgenstern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
Ein Wort über den freien Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Bibelstellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161



Die verschiedenen Perioden der Auferstehung
Man kann mit Recht sagen, dass in dem 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes tiefe und herrliche
Wahrheiten verborgen liegen, die es in der Tat verdienen, dass wir einige Augenblicke unsere ganze
Aufmerksamkeit darauf richten. Man könnte diesem Abschnitt die Überschrift geben: „Die Geschichte
der Gnade und der Herrlichkeit, betrachtet im Licht der Auferstehung.“ Zunächst wünsche ich den
Inhalt dieses Kapitels in Kürze anzudeuten, um dann in einer mehr ausführlichen Weise bei den
Versen 20–28 zu verweilen.
In den Versen 1–4 wird die Auferstehung des Herrn Jesus als eine vollendete Tatsache dargestellt.
Dann nden wir in den Versen 5–11 diese Tatsache gleichsam durch verschiedene Zeugen bestätigt,
und Zwar durch diejenigen, welche Ihn nach seiner Auferstehung hier auf Erden geschaut haben, und
überdies durch jemanden, der Ihn, nachdem Er bereits gen Himmel gefahren war, in der Herrlichkeit


  Die verschiedenen Perioden der Auferstehung
sondern in einem Nu verwandelt werden sollen, so dass wir mit Recht ausrufen können: „Verschlungen ist der Tod in Sieg. Wo ist, o Tod, dein Stachel? wo ist, o Hades, dein Sieg?“ Der Apostel schließt dann
dieses Kapitel mit der Ermahnung: „Daher, meine geliebten Brüder, seid fest, unbeweglich, allezeit
überströmend in dem Werk des Herrn, da ihr wisst, dass eure Mühe nicht vergeblich ist im Herrn“
(V 58).
Doch lasst uns die Verse 20–28 etwas näher betrachten. Wie bereits bemerkt, belehrt uns darin der
Apostel, nachdem er in dem ersten Teil dieses Kapitels die Wahrheit und die Notwendigkeit der
Auferstehung dargetan hat, über die verschiedenen Perioden dieser Auferstehung, sowie über die
Dinge, welche damit in Verbindung stehen.
Zunächst ersehen wir aus diesen Versen, dass der Herr Jesus im Augenblick seiner Auferstehung
ganz allein war. Keiner der Seinen befand sich dort bei Ihm; keiner war in dieser Beziehung mit Ihm
vereinigt. Er stand dort allein als ein Auferweckter. „Christus war der Erstling“, sagt der Apostel. Es
war eine Auferstehung aus den Toten, eine siegreiche Auferstehung: das Leben triumphierte über die
Macht des Todes; „wie es denn nicht möglich war, dass Er von dem Tod behalten würde“ (Apg 2,24).
Und warum nicht? Weil Er selbst den Sieg davongetragen, weil Er alle Forderungen eines gerechten
Gottes befriedigt hatte. Darum ist Er auch auferweckt worden durch die Herrlichkeit des Vaters
(Röm 6,4); darum konnte Er sogar vor seinem Leiden und Sterben sagen: „Brecht diesen Tempel ab,
und in drei Tagen werde ich ihn ausrichten“ (Joh 2,19).
Dieses alles konnte nur von Ihm gesagt werden; nur auf Ihn allein – ich brauche dieses kaum zu
wiederholen – war dieses alles anwendbar. Kein anderer besaß oder besitzt in sich selbst die Macht,
um aus den Toten aufzuerstehen. Diese Macht war nur in Christus. Darum sehen wir Ihn am ersten
Auferstehungsmorgen allein; darum wird Er der Erstling genannt. Herrlich und sehr treend wird
uns dieser Standpunkt, den Christus allein einzunehmen würdig war, durch die „Garbe der Erstlinge“
vorgestellt, welche die Kinder Israel vor dem Einsammeln der Ernte, ja bevor sie noch eine einzige
Ähre genossen hatten, dem Priester darbringen mussten, um dieselbe vor dem Angesicht Jehovas zu
weben (3. Mo 23,9–14).
Jedoch hat das Wort „Erstling“ auch noch eine anders Bedeutung. Ja, es verkündigt uns noch eine
andere Wahrheit; es deutet uns an, dass auch eine Ernte sein wird, denn wo es keine Ernte gibt,
da schneidet man auch keine Erstlingsgabe ab. Ja sicher, es wird eine Ernte stattnden. Wir lesen
am Ende des 23. Verses unserer Betrachtung: „Sodann die, welche des Christus sind bei seiner
Ankunft.“ Unzählige Scharen werden dort anwesend sein: alle die Auserwählten vom Beginn der
Welt an bis zu diesem Augenblick; denn alle diese sind „Kinder der Auferstehung“ (Lk 20,36). Auch
diese Auferstehung wird, gleich derjenigen von Christus, eine Auferstehung aus den Toten sein,
ein Triumph über Tod und Teufel; eine Auferstehung, die sich von der Auferstehung Christi nur
dadurch unterscheidet, dass sie ein Triumph ist, den die Gläubigen nicht durch sich selbst erlangt
haben, sondern der ihr Teil aus freier Gnade geworden ist, – eine Auferstehung, deren sie nicht gleich
Christus würdig sind, sondern die ihnen aus unaussprechlicher Liebe geschenkt ist, geschenkt durch
Ihn, der der „Erstling“ oder, wie Er an einer anderen Stelle genannt wird, der „Erstgeborene aus den
Toten“, gewesen ist. Sie stehen, triumphierend über die Macht des Todes, auf aus den Toten, weil sie,
wie wir hier lesen, „des Christus sind.“ Christus ist auferstanden, weil in Ihm das Leben war, während
sie auferstehen werden, weil sie die Seinen sind. Das ist die in 3. Mose 23 vorbildlich angedeutete
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  Die verschiedenen Perioden der Auferstehung
Ernte, welche der Darbringung der Erstlingsgabe folgt. Herrliche Wahrheit! Wir, von Natur arme,
verlorene Sünder, sollen dereinst als Sieger über Tod und Sünde auferstehen durch Ihn, der uns erlöst
und auf einen solch erhabenen Standpunkt gestellt hat. „Neun aber der Geist dessen, der Jesus aus
den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird Er, der Christus aus den Toten auferweckt hat,
auch eure sterblichen Leiber lebendig machen, wegen seines in euch wohnenden Geistes“ (Röm 8,11).
Aber dann, nachdem alle, die des Christus sind, aus den Toten auferweckt sind, (ein Ereignis,
welches Paulus in 1. Thessalonicher 4 noch näher bespricht) folgt eine neue, man könnte sagen, eine
dritte Auferstehungsperiode, die in unserem Kapitel das „Ende“ genannt wird (V 24). Doch diese
Auferstehung trägt einen ganz anderen Charakter, als die, von welcher bisher die Rede war. Sie ist
keineswegs eine Auferstehung aus den Toten, keineswegs ein Triumph über Sünde, Tod und Teufel,
o nein, sie ist nur eine Auferstehung der Toten, ein Verlassen des Grabes von Seiten derjenigen,
deren Namen nicht geschrieben sind in dem Buch des Lebens, um durch Ihn, der sich gesetzt hat auf
den großen, weißen Thron, nach ihren Werken gerichtet zu werden. Sie ist keine Auferstehung des
Lebens, sondern eine Auferstehung des Gerichts (vgl. Joh 5,29 mit O 20,11–15).
Dieses Ereignis trägt einen ganz besonderen Charakter: und es ist der Mühe wert, einige Augenblicke
dabei zu verweilen. Die Auferstehung aus den Toten, worüber wir zuerst gesprochen haben, und
diese Auferstehung, welche die Toten vor den Thron des Gerichts ruft, sind zwei ganz und gar
voneinander unterschiedene Tatsachen und werden zu ganz verschiedenen Zeiten stattnden. Die
ganze Schrift stellt uns diesen Unterschied klar vor Augen. Der Psalmist sagt: „Das Gedächtnis deiner
großen Güte werden sie hervorströmen lassen und deine Gerechtigkeit jubelnd preisen.“ Es ist daher
von großem Gewicht, dass wir verstehen lernen, wie die Schreiber der Heiligen Schrift, getrieben
durch den Heiligen Geist, sich Mühe geben, um uns einerseits die Freude der Auferstehung aller
Erlösten, die Freude der „ersten Auferstehung“ vor Augen zu stellen (O 20,6), und uns andererseits
das entsetzliche Ende derer zu zeigen, die, weil sie in dieser „Zeit der Gnade“ und an diesem „Tage
des Heils“ Christus als ihren Erlöser nicht annehmen wollen, keinen Teil an der ersten Auferstehung
haben. Ja, wir wiederholen es, überall in der Schrift ist die Rede von einer Auferstehung aus den
Toten und von einer Auferstehung der Toten zum Gericht. „Es kommt die Stunde, in welcher alle, die
in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden; und es werden hervorkommen, die das Gute getan
haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber das Böse getan haben, zur Auferstehung des Gerichts“
(Joh 5,28–29).
Jedoch werden wir durch den Apostel nicht nur einfach auf die Tatsache der Auferstehung der Toten
am letzten Tage hingewiesen, sondern der Heilige Geist richtet unsere Gedanken auch noch auf
besondere Einzelheiten in Bezug auf das Verfahren Gottes mit dieser Welt und in Bezug auf die
Entfaltung seiner Majestät und Kraft. Nicht nur wird die Welt unter die Regierung irdischer Personen
und Gesetze kommen, sondern es wird auch die Zeit hereinbrechen, wo Christus auf Erden sein
Reich in Besitz nehmen, wo Er als König über alle Völker herrschen wird, und wo alle, die jetzt
seine Feinde sind, seinen Füßen unterworfen sein werden. Ja, selbst der größte, der schrecklichste
und Zugleich der letzte Feind – der Tod – wird durch Ihn vernichtet werden. Aber, wenn Er dann,
wie Er dieses in jedem anderen Verhältnis getan, als König seinen Vater verherrlicht haben wird,
wird Er sein Königreich den Händen Gottes, seines Vaters, übergeben, damit Gott sei alles in allem.
Die Herrlichkeit Gottes wird dann in einer unaussprechlich schönen Weise, die seiner würdig ist,
entfaltet werden, weil Christus, sowohl in Gnade während des Tages des Heils, als auch in Macht
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  Die verschiedenen Perioden der Auferstehung
während der zukünftigen herrlichen Regierung hier auf Erden, in jeder Beziehung den Willen seines
Vaters vollbracht hat.
Mit dieser Übergabe des Königreichs wird zu gleicher Zeit die dritte Auferstehungsperiode, die oben
angedeutete Auferstehung der Toten zum Gericht stattnden. Die Toten werden vor den großen
weißen Thron gerufen und dort gerichtet werden, um für ewig von Gott getrennt zu sein und ihr Teil
im Feuersee zu empfangen. Alles dieses wird den Beweis liefern, dass der Herr Jesus alles seinen
Füßen unterworfen hat, und dass Er die Macht hat, dieses tun zu können (Phil 3,21). Ist dieser Beweis
geliefert, dann ist für Christus die rechte, die herrliche Zeit gekommen, um alle Macht bei Seite zu
stellen und sein Königreich dem Vater zu übergeben. Dann wird das Herrschen der Gerechtigkeit
dem Wohnen der Gerechtigkeit Platz machen (Heb 1,8 und 2. Pet 3,13).
Jedoch wünsche ich noch auf etliche Dinge, die mit unserer Betrachtung in naher Verbindung stehen,
die Aufmerksamkeit des Lesers zu richten. Christus wird also, wie wir hier lesen, das Königreich
übergeben. Dieses wird während des ganzen Verlaufs der Weltgeschichte, in der langen Kette von
Reichen und Thronen das erste Mal sein, dass eine Herrschaft den Händen dessen zurückgegeben
wird, der sie anvertraut hat. In dem Buch Daniels lesen wir, dass allen unter dem Bild von Tieren
dargestellten Reichen der Reihe nach die Herrschaft weggenommen wird. Und warum? Weil sie nicht
treu geblieben waren und nicht taten, was ihnen befohlen war. So ist es allezeit gewesen, und so ist
es noch. Kein einziges Reich hat existiert, welches die Forderungen Gottes erfüllte; und darum ist
auch allen die Herrschaft weggenommen. Noch niemand hat das „Zepter der Aufrichtigkeit“ geführt,
und darum ist auch jedes Reich zertrümmert worden. Dieses sehen wir deutlich in Jesaja 15–24 und
Jeremia 25, wo Gott einem Volk nach dem anderen seinen Zorn ankündigen lässt, wo über alle das
Urteil ihres Verfalls ausgesprochen wird. Ja, es braucht kaum erwähnt zu werden, auch Israel machte
keine Ausnahme; auch dieses Volk hat treulos gehandelt; auch die Herrscher dieses Volkes haben
gefehlt und selbst mehr gefehlt als viele andere. Doch einmal, wenn Christus auf diese Erde kommt,
dann wird eine Herrschaft geübt werden, die allen Forderungen Gottes entspricht. Er, der Messias
seines Volkes, wird den Namen führen: „Treu und Wahrhaftig“ (O 19,11). Er allein ist es, der mit
Gerechtigkeit herrschen, der sein Zepter mit Weisheit führen und alles nach dem wohlgefälligen
Willen Gottes tun wird (Ps 101). Darum kann auch keinem anderen, der dessen so würdig wäre, das
Reich gegeben werden: denn Er allein kann vollkommen Rechenschaft geben von all seinem Tun,
oder, um die Worte in Lukas 16 zu gebrauchen, von seiner Verwaltung: an seiner Herrschaft wird
nichts auszusetzen sein (Ps 72). Von Ihm wird und kann die Herrschaft nicht weggenommen werden;
nein, Er selbst wird sie den Händen Gottes, seines Vaters, übergeben.
Schließlich möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers noch gern auf einen Punkt lenken, nämlich
darauf, dass der einzige Feind, der hier als derjenige, den Christus unter seine Macht bringen will,
genannt wird, der „Tod“ ist. Es ist zwar im Allgemeinen gesagt, dass alle Feinde vernichtet werden
sollen, doch hier wird nur der Tod als solcher angeführt. Dieses ist nicht ganz ohne Bedeutung,
zumal wenn es sich um den Gegenstand unserer Betrachtung handelt. Die Propheten des Alten
und teilweise auch des Neuen Testaments reden zu uns von anderen Feinden, über welche Christus
triumphieren wird. Daniel teilt uns mit, dass Er jedes andere Königreich zerstückeln und zerstören,
aber dass sein Reich die ganze Erde erfüllen werde. Jesajas sagt uns, dass in jenen Tagen die Erde voll
sein werde der Erkenntnis des Herrn, wie die Wasser das Meer bedecken. In den Psalmen nden wir
zu wiederholten Malen, dass die ganze Schöpfung Ihm in seiner Herrschaft huldigen werde. Johannes
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  Die verschiedenen Perioden der Auferstehung
nennt Ihn „den König der Könige, den Herrn der Herren;“ und er Hort, wie die ganze Kreatur ausruft:
„Halleluja! denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat die königliche Herrschaft übernommen.“ –
Dieses alles und noch viel mehr wird uns durch die Schreiber der Heiligen Schrift mitgeteilt: aber von
diesem allen ist in dem vorliegenden Kapitel keine Rede. Keine andere Macht, kein anderer Feind, der
durch Christus vernichtet werden soll, wird hier genannt, als nur der „Tod.“ Und dieses ist, wie schon
gesagt, nicht ohne Bedeutung im Blick auf die Auferstehung, wovon das ganze Kapitel handelt. Gott
sei Dank, dass nicht nur einmal eine Auferstehung stattnden, sondern dass auch der Tod, dieser
entsetzliche Feind, für immer vernichtet werden soll. Wir können daher mit Recht ausrufen: „Wo ist,
o Tod, dein Stachel? wo ist, o Hades, dein Sieg?“
  21
  Völlige Hingabe
Völlige Hingabe
Man muss die Erfahrungen in Jona 4 kennen gelernt haben, um die Erfahrungen in Philipper 1
machen zu können. In Jona nden wir, dass es ein zweifacher Tod ist, durch welchen die Seele gehen
muss, für die „das Leben Christus“ ist. Zunächst ist es der Tod in Bezug auf uns selbst, und dann der
Tod bezüglich alles dessen, was um uns her ist. Marta und Maria liefern uns in dieser Beziehung ein
klares Beispiel.
Jesus unterhält sich mit der Einen und wandelt mit der Anderen dieser beiden Schwestern. Er redet
mit Marta; Er weint mit Maria. Er wird mit allen Gläubigen reden; aber es gibt nur wenige, mit denen
Er wandelt. Beides nden wir in Hebräer 4. Dass Er zu uns redet, sagen uns die Worte: „Denn das
Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer denn jegliches zweischneidige Schwert, und
durchdringend bis zur Zerteilung der Seele und des Geistes, sowohl der Gelenke als des Markes, und
ein Richter der Gedanken und Gesinnungen des Herzens.“ Und sein Wandeln und Weinen mit uns
zeigen uns die Worte: „Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht Mitleiden haben kann mit
unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise, ausgenommen
die Sünde. Lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir
Barmherzigkeit empfangen und Gnade nden zur rechtzeitigen Hilfe.“ Wir müssen Ihn kennen
gelernt haben auf dem Weg des Todes, bevor Er zu uns sagen kann: „Ich will mit euch gehen.“ Auf
diesem Weg lernte Maria Ihn kennen: und also wurde sie fähig gemacht für seine Gemeinschaft. Es
war zuerst Mitgefühl, dann Gemeinschaft; und also muss es immer sein.
Hier haben wir den Unterschied zwischen dem, was Sympathie oder Mitgefühl, und dem, was
Gemeinschaft ist. Es ist Sympathie, wenn Er sich mir in meinen Umständen zur Seite stellt; es ist
Gemeinschaft, wenn ich an die Seite des Herrn trete. Wir müssen sein Mitgefühl kennen, bevor wir
seine Gemeinschaft genießen können. Habe ich jemanden, der mich auf meinem Weg begleitet und
wird mein Herz durch ihn gebildet, so dass seine Gedanken mich erfüllen, so ist das Gemeinschaft.
Es ist wunderbar zu sehen, dass der Tod, der als eine schreckliche Schmach auf uns lastete, von Gott
zu einer Tür umgewandelt ist, durch welche uns so mannigfache Segnungen zugeführt werden. Es
ist für die Seele oft sehr schwierig, den Tod von dieser Seite zu betrachten; und dennoch muss ich
Christus in dem Tod alles dessen, was mir lieb ist, kennen lernen, bevor ich fähig bin, mich Ihm ganz
zu widmen.
In dem Alten Testament nden wir mehrere Beispiele dieser Art. Jonatan erblickt den David, der ein
schönes Bild von Christus ist. Es gibt für die Seele drei Stufen, um zur wahren Freiheit zu gelangen.
David geht dem Feind entgegen, und Jonatan ist in ängstlicher Spannung zu erfahren, wie der Kampf
ablaufen wird. Dann sieht er den Goliat am Boden liegen, und ist voll Honung. Endlich erblickt er
das Haupt Goliats in der Hand Davids, und ist in völliger Ruhe. Jetzt folgt die Anwendung. Jonatan
denkt weder an sich selbst, noch an Goliat, sondern ist mit David beschäftigt. David war der einzige
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  Völlige Hingabe
Gegenstand vor seinen Augen. „Jonatan liebte ihn wie seine Seele. Und er zog das Oberkleid aus, das
er anhatte, und gab es David, und seinen Rock bis auf sein Schwert und seinen Bogen und seinen
Gürtel“ (1. Sam 18,4). – Er tat dieses vor den Augen des ganzen Heeres; denn seine Gedanken waren
nur auf David gerichtet, und darum widmete er sich ihm ganz und gar.
In Rut nden wir ein zweites Beispiel. Sie ist eine Witwe, und Noomi, ihre einzige Freundin, ist
ebenfalls eine Witwe. Diese besteht darauf, dass ihre Schwiegertöchter sie verlassen; aber Rut sagt:
„Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, hinter dir weg umzukehren: denn wohin du gehst, will ich
gehen, und wo du weilst, will ich weilen: dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott; wo
du stirbst, will ich sterben und daselbst will ich begraben werden. So soll mir Jehova tun und so
fortfahren; nur der Tod soll scheiden zwischen mir und dir“ (Rt 1,16–17). Das war wahre Widmung;
sie folgt ihrer Schwiegermutter Noomi überall.
Ebenso kann ich auf zwei Beispiele im Neuen Testament hinweisen, nämlich auf die beiden
Älabasteräschchen. In Lukas 7 ist es eine Sünderin, die zerknirschten Herzens in das Haus eines
Pharisäers kommt und dort ihren Heiland ndet. Sie steht weinend hinten zu seinen Füßen; und das
ist das Persönliche, welches allein zwischen Ihm und ihr vorgeht. Dann beginnt sie, „Seine Füße mit
Tränen zu benetzen und mit ihren Haaren abzutrocknen, und sie mit der Salbe zu salben;“ das ist es,
was allgemein und oenbar ist. Sie opfert Ihm das, was sie für sich selbst hätte behalten können. So
handelt die Liebe stets; sie denkt nicht an sich, sondern beschäftigt sich mit ihrem Gegenstand.
Die zweite Alabasterasche nden wir in Johannes 12. Lazarus war gestorben und wieder auferweckt;
er sitzt nun mit dem Herrn beim Abendessen, während Marta dient. „Da nahm Maria ein Pfund Salbe
von unverfälschter, sehr kostbarer Narde und salbte die Füße Jesu und trocknete seine Füße mit ihren
Haaren. Das Haus aber ward von dem Geruch der Salbe erfüllt.“ Warum tat sie dieses? Warum nahm
sie das Kostbarste, was sie besah, um es über Ihn auszuschütten? Es geschah, weil Er ihr Herz in
jener Stunde erquickt hatte, als der Tod ihr das entrissen, was ihrem Herzen am teuersten auf dieser
Erde gewesen war. Und jetzt, nachdem die nstere Wolke vorübergezogen und ihr geliebter Bruder
wieder auferweckt worden war, tritt sie mit ihrer kostbaren Salbe vor Ihn hin, und zwar umgeben
von Gläubigen, und nicht, wie jene Sünderin, von der Welt. Diese hatte vor den Augen des Pharisäers
ihren Gefühlen Ausdruck gegeben; denn die Welt kann es sehen, wenn eine Seele bekehrt wird und
ihren Erretter und Heiland hochschätzt. Aber Maria bendet sich in der Umgebung von Gläubigen –
denn die Welt wird es nimmer wertschätzen und ihr Auge darauf richten, wenn ein Gläubiger nichts
aus sich selber macht und alles, was für die Natur einen Wert hat, gleichsam auf dem Grab Jesu
ausschüttet.
Wie sträubt sich die Natur, wenn der Tod seine kalte Hand auf etwas legt, womit sie sich verbunden
fühlt, und dennoch kann niemand wissen, was Christus persönlich ist, bis er mit Ihm durch den Tod
gegangen ist, bis er gelernt hat zu sagen: „Ich habe nichts als Christus.“ Wir alle haben irgendwelche
Bande auf Erden, irgendwelche Genüsse hienieden. Keiner von uns wird es gleichgültig ansehen,
wenn er alles dessen, was er liebt, beraubt wird; wir sind nicht fähig, ohne einen Wunderbaum zu
sein. Selbst für den Apostel Paulus war Jerusalem ein solcher Wunderbaum.
Ich erinnere mich einer Frau, die mir von einer Zeit erzählte, in welcher sie nicht das Geringste
besessen habe, um die Bedürfnisse der Ihrigen stillen zu können; und sie sagte: „Das war der
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  Völlige Hingabe
glücklichste Augenblick meines Lebens.“ – „Nie war das möglich?“ fragte ich. „Nun“, antwortete sie,
„war es denn nicht eine Ehre für mich, dass der Herr mein Vertrauen zu seiner Güte stärkte?“
Der Wunderbaum war für Jona in der Tat ein Gegenstand, der ihm angenehm war und zu seinem
Trost diente; und da Gott einen Wurm bestellte und den Wunderbaum verdorren ließ, so hören wir
ihn murrend sagen: „Es ist mir besser zu sterben, denn zu leben.“ Die Schrift verblümt die Dinge nicht;
sie teilt uns unverhohlen die einfache Wahrheit mit. Dein Mund kann vielleicht die herrlichsten
Dinge hersagen, und dabei Zugleich dein Herz so unmutig als nur möglich sein. Jona sagt: „Billig
zürne ich bis zum Tod.“ Aber wie Gott das Herz dieses Propheten zubereiten wollte, so sagt Er auch
zu dir: „Ich führe dich durch alle diese Umstände in der Absicht, damit du meine eigenen Gefühle
kennen und verstehen lernst.“
Der Tod ist in der Tat für die Gläubigen von den reichsten Segnungen begleitet, nicht allein für
diejenigen, welche durch denselben aus dieser argen Welt hinweggenommen werden, sondern auch
für uns, die wir zurückbleiben und uns dessen beraubt sehen, woran unser Herz hängt. Ich muss
nun anstatt dessen, was Gott mir genommen hat, Christus zu nden lernen. Gott führt uns in seine
eigenen Gefühle. Er sagt: „Du sprichst über deinen Wunderbaum; warum gehst du nicht in meine
Gefühle ein?“ Er nahm den Wunderbaum hinweg, um Jona in seinen eigenen Gedankengang zu
leiten. Er wollte ihm zeigen, mit welchen Gedanken sein Herz in Bezug auf Ninive erfüllt war. Der
Prophet sollte diese Gedanken mit Ihm teilen. Das ist wahre Gemeinschaft mit Gott.
Ich sage nicht, dass du dieses stets auf dem Weg der Trübsal, durch Verluste lernen musst; denn ich
glaube, dass der Tisch des Herrn der Platz ist, um dergleichen zu lernen. Hier führt mein Weg durch
den großen Tod, der ja über mich gekommen ist – durch den Tod Christi. Ich durchschreite diese
Welt wie jemand, an welchem der Tod das schlimmste vollbracht, aber welchem der Tod zu gleicher
Zeit die wunderbarste Person oenbart hat. Ich habe Gemeinschaft mit dem Blut und mit dem Leib
Christi.
Geistliches Wachstum geht stets Hand in Hand mit natürlicher Erniedrigung, während natürliches
Wachstum stets mit äußerer Erhebung gepaart geht. Als z. B. der Herr mit Jakob rang, und dieser einen
großen Segen empng, wurde dieser ein Krüppel, während Lot, bei welchem man eine natürliche
Zunahme gewahrte, nach außen sich erhob. Wenn der Herr mir ein Kind durch den Tod hinwegnimmt,
so hat Er mein geistliches Wachsen im Auge; aber ich werde gedemütigt.
Ich kann in Wahrheit den Herrn nicht in dem, was Er ist, kennen lernen, bevor ich ganz allein auf
Ihn geworfen bin. Das ist in der Tat die Kraft der Worte in Psalm 73: „Wen habe ich im Himmel? und
neben dir habe ich an nichts Lust auf der Erde.“
Müssen wir denn alles verlieren? O nein; denn Gott weiß, was für mich das Beste ist, um es zu
besitzen; Er lässt mir das, was ich haben muss. Wenn Er mir aber das wegnimmt, was ich liebe, so
geschieht es nur, damit ich in Christus etwas entdecken soll, das mir bisher verborgen war.
Wenn man an Rut die Frage gerichtet haben würde: „Warum folgst du der armen, alten Witwe?“ – so
würde sie sicher geantwortet haben: „Ich habe in den Stunden der Trübsal in ihr etwas gefunden,
was ich sonst nirgendwo gefunden habe. In einer Zeit, wo niemand für mich sorgte, stand sie mir zur
Seite. Sie ist meine Stütze, meine Hilfe, mein Trost, die Freundin meiner Seele gewesen; darum fühlt
sich mein Herz auch mit ihr verbunden; ich werde sie nimmer verlassen.“
  24
  Völlige Hingabe
Als Maria die Füße des Herrn salbte, befand Er sich auf dem Weg, in den Tod zu gehen. Darum war
für sie nichts zu kostbar, um es in sein Grab zu werfen. Es ist eine Tatsache, dass wir nie in die Nähe
Jesu kommen, ohne seinen Tod zu sehen. Wenn Johannes seinen Blick zur Herrlichkeit richtet, so
erblickt er „inmitten des Thrones ein Lamm wie geschlachtet.“ Er, der sich inmitten des Thrones
bendet, ist derselbe, der alles zwischen uns und Gott in Ordnung gebracht hat; und das ist es, was
die Schrift uns vorstellt.
Es gibt eine natürliche Furcht vor dem Tod; und doch stellt Gott alles, was groß und wahr ist, durch
denselben ins Licht. Wenn ich auf den Tod des Herrn sehe, dann muss ich sagen: „Dieser Tod fand
statt, damit Gott sagen konnte: Nun führe ich einen Menschen ein nach meinen eigenen Gedanken
und nach meinem eigenen Herzen.“
Wir müssen Jona als einen bekehrten Menschen betrachten. Gott gibt ihm einen Auftrag; aber er
führt ihn nicht aus. Was anders blieb daher dem Herrn übrig, als den Willen seines Knechtes zu
brechen? Jona beharrt in seinen eigenen Wegen, und anstatt sich in günstige Umstände zu bringen,
ndet er seinen Platz auf dem Grund des Meeres. Hier ndet die Wiederherstellung seiner Seele statt;
und aus Befehl Gottes geht er aus, um der gottlosen Stadt Ninive ihren Untergang anzukündigen. Da
aber die Einwohner der Stadt Buße taten und es Gott „reute des Übels, das er geredet, ihnen zu tun“,
da wurde Jona zornig und rief: „Ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam
zum Zorn und von großer Güte, und der sich des Übels reuen lässt.“ Und er setzte sich nieder, um
zu sehen, was aus der Stadt werden würde. Doch jetzt musste er lernen, dass er nichts habe, außer
dem Herrn, worauf er sein Vertrauen setzen könne. Der Wunderbaum schwand, und das war der
Weg, um ein völlig abhängiger Arbeiter des Herrn zu werden und Gemeinschaft machen zu können
mit Ihm, der „gnädig und barmherzig und von großer Langmut“ ist. In dieser Stellung ist eine wahre
Widmung des Herzens möglich.
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  Der erprobte Glaube
Der erprobte Glaube
Ein Handwerksmann war Glied einer Versicherungsgesellschaft, und längere Zeit hindurch fand er
dieses gut und nützlich. Er sah darin eine gute Fürsorge für seine Frau und seine Kinder in solchen
Zeiten, wenn er krank werden oder gar sterben sollte. Später jedoch konnte er in diesem Gedanken
keine Freude mehr nden; vielmehr füllte, so oft er daran dachte, eine zunehmende Unruhe sein
Herz. Die Worte des Apostels Paulus in 2. Korinther 6: „Seid nicht in einem verschiedenen Joch
mit Ungläubigen“, wirkten auf sein Gewissen. Und je mehr diese Worte vor seinen Geist traten,
desto mehr fühlte er, wie viel besser es sei, sein Vertrauen auf den lebendigen Gott, als auf einen
von Menschen errichteten Verein zu setzen. Wohl machte der Unglaube seine Einwendungen; aber
endlich nach vielem Gebet entschloss er sich, seine Mitgliedschaft zu kündigen.
Es war vorauszusehen, dass viele seiner Freunde sich bemühten, ihm die Torheit seines Schrittes vor
Augen zu stellen. Selbst viele Gläubige behaupteten, dass es die Picht eines jeden Familienhauptes
sei, sich aus Fürsorge für die Seinen einer solchen Vereinigung anzuschließen. Doch unser Freund
wankte nicht, sondern wurde immer mehr überzeugt, dass er um jeden Preis dem Wort Gottes
gehorchen müsse. Mochten andere nach ihrem Gutdünken handeln, er verurteilte sie nicht; aber was
ihn selbst betraf, so fühlte er, dass es für ihn ein Gebot sei, mit Gott zu wandeln und Ihm allein zu
vertrauen. Und er hatte Recht.
Seine Freunde verliehen ihn und zuckten die Achseln. „Das ist alles gut und wohl“, sagten sie, „solange
Johann fähig ist, mit seinen Händen zu arbeiten; aber wenn er einmal krank wird, dann wollen wir
sehen, wie weit sein Glaube ausreicht.“
Und in der Tat, es geel dem Herrn, unseren Freund aufs Krankenlager zu werfen. Er war gezwungen,
wochenlang das Bett zu hüten und verdiente in all dieser Zeit natürlich keinen Groschen. Seine
kleinen Ersparnisse gingen allmählich zur Neige, so dass an einem Samstagabend kein Geld mehr im
Beutel und kein Brot mehr im Schrank war. Das war eine gar schwere Prüfung. Die Kinder Hunger
leiden zu sehen, das war für das Herz der Mutter unerträglich; und ohne ihrem kranken Mann ein
Wort zu sagen, ging sie im Lauf des Abends in einen benachbarten Laden, um das Eine und das
Andere auf Kredit zu holen. Doch als sie zurückkehrte, richtete der Kranke die Frage an sie, wie sie
an diese Vorräte gekommen sei; und ohne Umschweife teilte sie es ihm mit.
„Ach, liebe Frau“, sagte er traurig aber mit einem bestimmten Ton, „es schmerzt mich tief. Dir
entgegentreten und deine Handlungsweise missbilligen zu müssen. Aber wir dürfen keine Schulden
machen. Denn das Wort Gottes sagt: ‚Seid niemandem irgendetwas schuldig.‘ Drum musst du diese
Dinge unbedingt sofort wieder zurückbringen und dich bei dem Krämer für das Vertrauen bedanken,
welches er uns geschenkt hat, aber ihm Zugleich auch sagen, dass ich durchaus keine Schulden
machen möchte. Der Herr kennt unsere Not; und sicher wird Er uns bald in den Stand setzen, diese
geborgten Sachen für bares Geld holen zu können.“
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  Der erprobte Glaube
Das arme Weib gehorchte seufzend; und Johann wandte Ach wieder an den Herrn. Ungefähr eine
Stunde später klopfte jemand an die Tür, und ein Mann trat ein, der nichts von den Umständen
unseres Freundes wusste, sondern ihn nur besuchte, weil er von der Treue desselben gegen das
Wort Gottes gehört hatte. Nach einer längeren Unterhaltung drückte der Fremde beim Abschied
dem Kranken einen Fünftalerschein in die Hand; und Johann war, wie er gesagt hatte, im Stande, die
geborgten Sachen für bares Geld aus dem Laden holen lassen zu können.
Wie schon und herrlich ist Gehorsam in allen Dingen gegen das Wort Gottes! Dasselbe Wort, welches
sagt: „Seid nicht in einem verschiedenen Joch mit den Ungläubigen“, sagt auch: „Seid niemandem
irgendetwas schuldig.“ Unser Freund gehorchte diesen beiden göttlichen Vorschriften. Er widerstrebte
nicht; er suchte das Wort keineswegs mit seinen eigenen Gedanken in Übereinstimmung zu bringen.
Er gehorchte einfach, und Gott segnete ihn, wie Er dieses zu allen Zeiten tun wird. Die Prüfung
machte unseren Freund in seinem Glauben nicht schwach, sondern im Gegenteil, sie stärkte seinen
Glauben und ließ ihn umso klarer ins Licht treten.
Ja, lieber Leser, es tut Not, dass wir unserem Gott ein größeres Vertrauen schenken und seinem Wort
eine völligere Unterwerfung widmen. Unsere Herzen sind oft so voll Vertrauen gegen die Menschen
und ihre Einrichtungen und werden darum auch so oft getäuscht. Wir sehen uns in so mancher Not
nach menschlicher Hilfe um, ohne an die Tür Gottes zu klopfen, der uns allein helfen kann. Wir
setzen unser Vertrauen so oft auf durchlöcherte Wasserbrunnen und auf zerbrochene Stäbe, während
ein unversiegbarer Born unser Teil ist, und wir den Felsen der Zeitalter zu unserer Stütze haben. Und
wie oft sind wir in unserem Vertrauen, das wir auf Menschen setzten, zu Schanden geworden! Wie
oft sind, wir schon durch die Besten unter den Menschen getäuscht worden! Nur wo auf den Herrn
vertraut, wird nimmer zu Schanden und wird nimmer getäuscht werden. Wohl können Proben und
Prüfungen kommen; wohl kann es dem Herrn gefallen, das Wasser bis an die Kehle dringen zu lassen;
aber nimmer werden wir beschämt werden. Unser ausharrender Glaube wird stets gekrönt werden.
Nichten wir unsere Blicke nur auf Abraham. Gott befahl ihm, seinen eingeboren Sohn Isaak zu
opfernden Sohn, mit welchem die Verheißungen Gottes verknüpft waren. Welch ein schwerwiegendes
Gebot! Wie wird sich das Vaterherz gesträubt haben! Aber Abraham gehorchte dem Wort Gottes
ohne Murren; er unterwarf sich in festem Vertrauen auf die Weisheit und Liebe des Herrn. Und wie
herrlich war der Ausgang! So wird es allezeit sein. Wenn wir den Willen Gottes erfüllen und uns Ihm
und seinem Wort ganz unterwerfen, dann mag es zwar oft scheinen, als ob alles gegen uns wäre, und
als ob der Herr uns vergessen habe. Aber verzagen wir nicht; das Ende wird stets herrlich sein. Gott
wird uns seine Gnade zeigen und uns seine Hilfe und Rettung nicht vorenthalten. Glückselig, wer
Ihm vertraut!
Bedenken wir wohl, wie sehr Gott durch den Mangel unseres Vertrauens und dadurch, dass wir uns
auf Menschen stützen, verunehrt wird. „Verucht der Mann, der auf einen Menschen vertraut und
Fleisch macht zu seinem Arm!“ lesen wir im Alten Testament; und obwohl wir durch die Gnade
Gottes jedem Fluch entronnen sind, so ersehen wir doch aus diesen Worten, wie verwerich es vor
Gott ist, wenn wir, anstatt auf Ihn, unser Vertrauen auf Menschen setzen. Es genügt nicht, zu sagen,
dass wir auf Gott vertrauen; wir müssen es in Wirklichkeit tun. Es dürfen dieses nicht nur leere
Worte sein, die oft so leicht über unsere Lippen gleiten, sondern wir müssen unser Vertrauen in
Wahrheit und durch die Tat kund werden lassen. Der Herr will unser ganzes Herz haben. Er will uns
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  Der erprobte Glaube
ganz und gar besitzen. Dadurch wird sein Name verherrlicht: und darin besteht Zugleich die Freude
unserer Seele. Es gibt keine größere Glückseligkeit, als völlig von Gott abhängig zu sein, und auf Ihn
das ganze Vertrauen zu setzen. Das macht das Herz ruhig inmitten aller Umstände und Stürme des
Lebens und lasst uns die Segnungen des Umgangs mit Gott, sowohl die Freude seiner Treue als auch
seiner väterlichen Liebe genießen.
„Glückselig der Mensch, der auf Ihn vertraut!“
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  Erklärung einer Schriftstelle
Erklärung einer Schriftstelle
Es fragte uns jemand vor etlichen Tagen, wie die Worte: „Gleichwie Jonas drei Tage und drei Nächte
im Bauch des großen Fisches war, also wird der Sohn, des Menschen drei Tage und drei Nächte in
dem Herzen der Erde sein“ (Mt 12,40), zu verstehen seien, da der Herr doch nicht drei volle Tage und
nur zwei Nächte im Grab gelegen habe.
Die Erklärung liegt in dem jüdischen Sprachgebrauche. Der Teil eines Tages wurde als einen
ganzen Tag angesehen, und die Nacht gehört mit zu dem Tag. Der Herr wurde am Freitag vor
Sonnenuntergang begraben. Mit der vorangegangenen Nacht war dieses der erste Tag und die erste
Nacht. Von Freitagabend um 6 Uhr bis Samstagabend um 6 Uhr war der zweite Tag und die zweite
Nacht; und da der Herr am Sonntagmorgen das Grab verließ, so war dieses der dritte Tag und die
dritte Nacht.
In unserem Sprachgebrauch nden wir etwas Ähnliches. Wenn wir z. B. sagen: „Heute vor acht
Tagen“, so verstehen wir darunter eine Woche von sieben Tagen.
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  Der Gott des Friedens
Der Gott des Friedens
Der Titel, unter welchem der Heilige Geist Gott hier einführt, ist besonders ausdrucksvoll. Er nennt
Ihn „den Gott des Friedens.“ Das ist Er für uns, und zwar in Verbindung mit dem geöneten Grab
des „großen Hirten“ und auf Grund „des Blutes des ewigen Bundes.“ Wir haben hier den Gott des
Friedens und den Herrn Jesus, das Blut des ewigen Bundes und die Auferstehung aus den Toten.
Es gibt jedoch noch einen anderen Titel, unter welchem Gott erkannt werden muss, bevor die Seele
sich in Ihm, als „dem Gott des Friedens“, erfreuen kann, und zwar als „der Gott des Gerichts.“ Vom
Frieden zu reden, bevor den Anforderungen Gottes bezüglich dieses letzten Charakters entsprochen
ist, ist die größte Torheit. Gott kann in keiner Weise Frieden mit der Sünde haben. Solange sie nicht
hinweggetan ist, kann kein Frieden mit Gott vorhanden sein. Da mag der Frieden der Unwissenheit,
der Frieden einer eischlichen Sicherheit, eines verhärteten Herzens oder eines völlig abgestumpften
Gewissens sein; aber da ist kein Frieden mit Gott, solange die Sünde ungerichtet bleibt.
Auf was für einem Grund aber kann der Apostel von „dem Gott des Friedens“ reden? Der Grund
ist dieser: „der Gott des Gerichts“ begegnete dem Sündenträger auf dem Kreuz und brachte dort die
ganze Frage der Sünde für immer in Ordnung. Der göttliche Stellvertreter machte Frieden durch
das Kreuz, damit „der Gott des Friedens“ uns ohne Gericht begegnen könnte an dem geöneten
Grab. Alles, was der Gott des Gerichts gegen meine Sünden hatte, legte Er auf das Haupt meines
Stellvertreters auf dem Kreuz, damit ich Ihn als den Gott des Friedens kennen und genießen mochte.
Dies ist die Fundamentalwahrheit, welche, wenn sie einfach geglaubt wird, dem Gewissen einen
bestimmten Frieden geben muss. Die Gerechtigkeit Gottes ist in Betre der Sünde völlig befriedigt
worden durch den Tod Christi. Noch mehr: Gott ist in Betre der Sünde durch den Tod Christi
verherrlicht worden. Durch das Blut des Kreuzes ist Gott nicht nur vollkommen befriedigt, sondern
auch für immer verherrlicht worden. Dies muss jedem Frieden geben, der einfach glaubt.
Ach, wie schwach sind unsere Gedanken bezüglich des Evangeliums trotz seiner moralischen Größe,
worin es in der Heiligen Schrift vor uns erscheint! Es wird oft in einer Weise vorgestellt, dass man
meinen sollte, die Vergebung der Sünden sei die Frucht der Ausübung der Gnade auf Kosten der
Gerechtigkeit, oder die Gerechtigkeit willige ein, bei Seite gesetzt zu werden, damit die Gnade vergebe
und errette. Wie verschieden ist dies von den bewundernswürdigen Gedanken der Erlösung, die
aus dem Herzen Gottes hervorgegangen sind! Sie haben ihren Ursprung in den Ratschlüssen Gottes
vor Grundlegung der Welt, sie sind vollzogen durch „das Blut des ewigen Bundes“, sind durch den
Heiligen Geist in den Schriften der Wahrheit oenbart und werden durch den Glauben aufgenommen
in den Herzen derer, welche durch die Gnade versiegeln, dass „Gott wahrhaftig ist.“ Da sind Gnade
und Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden völlig vereinigt, so dass der Sünder ebenso bestimmt durch
Gerechtigkeit und Wahrheit, als durch Gnade und Frieden errettet ist. Erstere sind ebenso sehr für
ihn als letztere. Gerechtigkeit und Gericht sind die Pfeiler des mit Blut besprengten Throns der Gnade,
dem der errettete Sünder in Anbetung naht.
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  Der Gott des Friedens
Woher aber kann ich wissen, fragst du vielleicht, dass der Gott des Gerichts Christus auf dem Kreuz
begegnet ist und die große Frage der Sünde für immer in Ordnung gebracht hat? Muss ich es nicht
in mir fühlen, oder muss nicht irgendetwas in mir vorgehen, oder habe ich nicht etwas zu tun,
bevor ich es wissen kann? Nichts von alle dem; „der Gott des Friedens hat den großen Hirten aus
den Toten wiedergebracht.“ Hierdurch weih ich, dass die Frage der Sünde für immer in Ordnung
gebracht ist. Wäre sie nicht in Ordnung gebracht, so würden wir nie etwas von „dem Gott des
Friedens“ vernommen, nie etwas von dem geöneten Grab „des großen Hirten“ gehört und nie etwas
von der unwandelbaren Wirksamkeit „des Blutes des ewigen Bundes“ gewusst haben. „Der Gott
des Friedens“ würde nie auf dem Schauplatz erschienen sein, wenn nicht alle Forderungen „des
Gottes des Gerichts“ völlig befriedigt waren – befriedigt durch das Blut des ewigen Bundes. Nichts
anders konnte nützen. Alle guten Werke, die je von Menschen unter dem Himmel geschehen, alle
Ehrbarkeit, alle eischliche Frömmigkeit, alle gesetzliche Gerechtigkeit, alle gespendeten Wohltaten
– ja dieses alles und zehntausendmal mehr würde nimmer die Forderungen des Gottes des Gerichts
in Bezug auf meine Sünden befriedigt haben. Aber der Tod Christi hat sie völlig für mich befriedigt.
Das Opfer seiner selbst steht vor dem Auge einer unendlichen Heiligkeit in all seinen einzelnen
Vollkommenheiten, in all seiner göttlichen Vollgültigkeit. Es braucht nichts hinzugefügt zu werden;
es entspricht jedem Bedürfnis. Was bedarf ich noch mehr als Grund meines Friedens? Nichts mehr:
Gott ist völlig befriedigt und ebenso ich; die Sache ist für immer in Ordnung gebracht; sie kann durch
niemand und durch nichts je erschüttert werden.
Bist du befriedigt, geliebter Leser? Ist Christus genug, für dich? Hat Er genug getan, um den
Anforderungen deines Gewissens zu begegnen? Hast du nötig, zu seiner vollgültigen Versöhnung
noch etwas hinzuzufügen? Wenn nicht, worauf wartest du denn? Du sagst vielleicht: Ich fühle es
nicht. Freilich, wir werden nicht durchs Gefühl, sondern durch Glauben errettet. „Der Gerechte wird
– nicht durchs Gefühl, sondern – durch Glauben leben.“ Erkennst du nicht, dass du, indem du sagst:
ich fühle es nicht, schon auf einem gesetzlichen Grund – auf dem Grund der Werke bist? Du magst
das äußerliche Wirken zwar aufgegeben haben, allein du blickst auf das innerliche. Das Eine aber ist
so wertlos, wie das Andere. Gib beides als einen Grund der Errettung völlig auf und nimm Christus
an. Dies ist es, was du bedarfst, um wirklich glücklich zu sein. Wenn du jemand sagen hörtest: Ich
bin jetzt glücklich, ich habe Frieden mit Gott, weil ich tausend Taler an die Armen gegeben habe,
würdest du das nicht für Selbstbetrug halten? Ohne Zweifel; und doch sagst du: Wenn ich es fühlen
könnte, würde ich glücklich sein. Worin liegt der Unterschied zwischen „tun“ und „fühlen?“ Ist nicht,
als Grundlage für den Frieden eines Sünders, das Eine ebenso unsicher wie das Andere? Würde
es nicht besser sein, an Stelle von beiden Christus zu setzen? Ist in Ihm nicht genug ohne unsere
Gefühle und ohne unsere Werke? Wenn deine Gefühle oder deine Werke notwendig gewesen wären,
warum hat denn „der Gott des Friedens unseren Herrn Jesus aus den Toten wiedergebracht?“ Ist
es nicht augenscheinlich, dass du etwas anderes als Grund des Friedens suchst, als das, was dir im
Evangelium dargestellt wird? – Ich wünsche von Herzen, dass du jetzt und für immer in Christus
ruhen mögest, dass Er für dich genug sei, wie Er für Gott genug ist. Deine Gefühle und Werke der
rechten Art werden gewiss hervorkommen; doch nicht als ein Grund des Friedens, sondern als die
vor Gott angenehmen Früchte einer erlangten Errettung, als der Aususs eines Lebens, das durch
den Glauben Christus besitzt.
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  Nehemia oder das Bauen der Mauer
Nehemia oder das Bauen der Mauer
In Nehemia 1 begegnen wir einem vor Gott stehenden Mann. Er hat den Zustand der entronnenen
Juden, die von der Gefangenschaft übriggeblieben waren, kennen gelernt und hat erfahren, dass
die Mauer Jerusalems zerrissen und verwüstet war. Mit rührendem Ernst tritt dieser Mann Gottes
vor Jehova für das gefallene Volk, welches doch einmal erlöst worden war durch seine große Kraft
und seine starke Hand. „Ach Herr!“ so ruft er, „lass doch dein Ohr aufmerken auf das Gebet deines
Knechtes und auf das Gebet deiner Knechte, die Verlangen haben, deinen Namen zu fürchten!“
(Kap 1,11)
Auf diese Weise sehen wir ihn vor dem Herrn, und zwar in dem Gefühl des tiefsten Schmerzes über
den Zustand Israels und der Stadt des großen Königs. Er erkennt völlig die schreckliche Sünde ihres
Abfalls von dem Herrn; denn er sagt: „Wir haben sehr verkehrt wider dich gehandelt und haben nicht
gehalten die Gebote und Satzungen und Rechte, die du deinem Knecht Mose geboten hast“ (V 7).
Da nun diese Dinge uns als Vorbilder aufgezeichnet sind, so ist die Frage an ihrem Platz: Sind auch
wir in solcher Weise mit tief gefühltem Bekenntnis, bezüglich des gegenwärtigen Zustandes der
Versammlung Gottes, vor dem Angesicht des Herrn gewesen? Haben auch wir also geweint und
getrauert und geeht für das Volk des Herrn in unseren Tagen? Lasst uns nicht nur disputieren,
sondern werfen wir uns vielmehr vor dem Herrn nieder und vergleichen wir den gegenwärtigen
Zustand der Versammlung in der Welt mit ihrem Zustand im Anfang. Ist nicht auch ihre Mauer
niedergerissen worden? Als Gott durch den Heiligen Geist die Versammlung baute, da bestand eine
Scheidewand zwischen ihr und der Welt. Zu jener Zeit waren alle Gläubigen zusammen und bildeten
einen Leib, sowie die Häuser der alten Stadt mit ihrer starken und hohen Mauer das eine Jerusalem
ausmachten. So lesen wir auch von dieser einen Versammlung Gottes: „Von den Übrigen aber wagte
keiner, sich ihnen anzuschließen“ (Apg 5,13). Haben wir uns schon zu diesem Zweck vor dem Herrn
niedergeworfen? Nun dann mögen wir unsere Blicke zurückwerfen in die nsteren Perioden, in
welchen diese von der Welt trennende Scheidewand niedergerissen worden ist.
Sowie Gott durch diese tiefen Übungen der Seele vor seinem Angesicht seinen Knecht Nehemia für
sein Werk zubereitete, so hat es Ihm Wohlgefallen, auch in unseren Tagen etliche Knechte zu berufen
und für seine Arbeit zuzubereiten. Doch auch bei ihnen muss diese Seelenübung vorausgehen.
Nach dieser tiefen Demütigung vor Gott im ersten Kapitel, nden wir im zweiten, als Wirkung
derselben, göttliche Gefühle und Tätigkeiten der Liebe für das Wohl des Volkes Gottes.
Und hier begegnen wir zum ersten Male dem Sanballat, einem Horoniter, sowie dem Tobija, einem
ammonitischen Knechte: und da diese Personen und ihre Anhänger im Verlauf der Geschichte sich
stets während des Bauens der Mauer als die Feinde und Widersacher Nehemias und seines Werkes
vor Gott oenbaren, so ist es von Wichtigkeit, zu erfahren, wer sie waren und was sie darstellten.
Die Feinde waren teils Horoniter, teils Ammoniter und Araber. Nichtsdestoweniger bewohnten sie
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  Nehemia oder das Bauen der Mauer
das Land Israel. Demzufolge redete Sanballat in Kapitel 4,2 in Gegenwart seiner Brüder und des
Heeres von Samaria. Samaria war ein Teil des Landes Israel. Sie waren eifrige, hochmütige und
schlaue Männer, genossen Ansehen im Land, gehörten demselben aber nicht an. Sind sie daher nicht
ein treues Bild der Klasse jener Menschen, die, obwohl in der bekennenden Kirche, dennoch vor
Gott Fremdlinge sind und nicht seiner Kirche angehören, sondern sich im Gegenteil stets als Feinde
und Widersacher derer oenbaren, welche dadurch, dass sie die Gläubigen bedienen und, um ihre
Trennung von der Welt zu bewirken, die göttliche Scheidewand aufzurichten bemüht sind, das Werk
Gottes zu fördern trachten?
Indem wir die Geschichte dieser Männer in dem Buch Nehemias verfolgen, entdecken wir sieben
verschiedenartige Formen, in denen sich die Feindschaft gegen das Werk Gottes oenbart. „Und als
Sanballat, der Horoniter, und Tobija, der ammonitische Knecht, das hörten, so verdross es sie gar
sehr, dass ein Mann gekommen war, das Gute der Kinder Israel zu suchen“ (Kap 3,10). Und wenn Gott
in unseren Tagen jemanden erweckt, der für die Versammlung Gottes das „Gute“ sucht, wie viele
werden dann gesunden, die darüber ihr Missfallen an den Tag legen! Wie groß war z. B. das Missfallen
derer, die sich Geistliche nannten, als Gott einen Wiklef, einen Huß, einen Luther für sein Werk
berief! Ebenso ist auch dieser siebenfältige Hass gegen das Werk Gottes in den letzten fünfzig Jahren
ans Licht getreten! Wie viele drücken ihr Missfallen aus, dass Gott auch in unseren Tagen Männer
erweckt hat, die für die Versammlung oder Kirche Gottes das „Gute“ suchen, die aber von ihnen als
Sektierer verschrien werden! Vor Jahren wurden mehrere solcher Männer, wie einst Nehemia, vor
Gott auf ihre Knie gebracht. Betrübt über das Abweichen der Versammlung von den Geboten ihres
Herrn, beugten sie sich, ihre Schuld bekennend und stehend, vor Ihm nieder. Und der Heilige Geist
wirkte in ihren Herzen ein brennendes Verlangen nach „Gutem“ für die eine Versammlung Gottes.
Der Standpunkt der Versammlung zu Philadelphia (O 3) steht in Übereinstimmung mit demjenigen
des Nehemia. Man muss, um diesesfassen zu können, längere Zeit mit Gott allein gewesen sein. Es gab
nur wenige, die sich mit Nehemia des Nachts aufmachten; und er tat es keinem Menschen kund, was
Gott ihm ins Herz gegeben hatte (Kap 2,12). Machen wir gleich ihm einen Zug um Jerusalem; und wir
werden beim Anblick der verwüsteten Versammlung überall zerstörte Mauern und niedergebrannte
Tore nden. Also ist die Versammlung in den Händen der Menschen geworden.
Die Heilige Schrift hat dieses alles deutlich vorausgesagt. In 2. Timotheus 3 und in 2. Petrus 2 nden
wir eine genaue Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes der Christenheit; und während uns in
Oenbarung 2 und 3 der Verlauf der Geschichte derselben in sieben Perioden vor Augen gestellt wird,
so sehen wir in Oenbarung 17 und 18 das Ende davon. Auch werden wir nirgends eine Andeutung
nden, dass die erste Herrlichkeit je wiederhergestellt werden soll. In Philadelphia nden wir nur
einen kleinen Überrest, der das „Wort“ und den „Namen“ Christi nicht verleugnet und das „Wort
seines Ausharrens“ bewahrt hat.
Sowie Nehemia die zerrissenen Mauern und die vom Feuer verzehrten Tore Jerusalems besichtigt, so
lasst auch uns Umschau halten und den Zustand betrachten, in welchen das Christentum verfallen ist.
Fragen wir uns, welches, sowohl in Betre der römischen, als auch der protestantischen Kirche, die
Gedanken Gottessein mögen. Betrachten wir diese Dinge, wie sie sich zeigen, in der Gegenwart Gottes
und in seiner Furcht. Legte Nehemia, wie in Verzweiung, seine Hände in den Schoß? Keineswegs.
Vielmehr sagt er zu seiner Umgebung: „Ihr seht das Elend, in dem wir sind, dass Jerusalem wüste ist,
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  Nehemia oder das Bauen der Mauer
und seine Tore mit Feuer verbrannt sind. Kommt und lasst uns die Mauer Jerusalems bauen, dass wir
nicht mehr zur Schmach seien.“ Und nachdem er ihnen die Hand Gottes, „die gut über ihm gewesen“,
kundgetan hatte, antworteten seine dadurch ermutigten Begleiter: „Lasst uns auf sein und bauen!“
(Kap 2,17–18)
Jetzt wird uns die zweite Form des Widerstandes vor Augen gestellt. „Und Sanballat, der Horoniter,
und Tobija, der ammonitische Knecht, und Gesem, der Araber, hörten es und spotteten unser und
verachteten uns und sprachen: Was ist das für eine Sache, die ihr tut? Wollt ihr euch wider den
König empören?“ (V 19) Die erste Form der Feindschaft war Missfallen, die Zweite ist Verachtung.
Im Vergleich mit dem ganzen Volk waren sie in der Tat nur ein geringer und verächtlicher Überrest.
Sie verlangten die heilige Stadt durch die Mauer der Absonderung umgeben zu sehen. Und sollte ihnen
Jerusalem, die Stadt des großen Königs, teurer sein, als uns die heilige Vereinigung der Gläubigen
um Christus, ihren Mittelpunkt? Wie Nehemia den Überrest ermunterte, die Mauer zu bauen, so
hat der Heilige Geist jetzt einzelne Männer berufen und jedem von ihnen seinen bestimmten Platz
gegeben, um diese solange niedergerissene Mauer wiederaufzurichten. In welch einem hohen Gerade
aber haben die Sanballats unserer Tage ihr Missfallen und ihre Verachtung an den Tag gelegt! „Was
ist das für eine Sache, die ihr schwachen und unscheinbaren Christen tun wollt?“ Ja, wir haben das
Missfallen und die Verachtung erbitterter Gegner kennen gelernt.
In Kapitel 3 wird der Bau der Mauer und der Tore in Angri genommen. Jedes Häuein ist an
seinem Platz am Werk tätig. Ist das nicht eine treende Darstellung dessen, was in den letzten
Tagen geschehen ist? Überall, wo die Wahrheit des einen Leibes Christi – der einen Versammlung
oder Kirche Gottes – in der Furcht des Herrn erkannt worden ist, hat jede kleine Versammlung
derer, die einfach im Namen Jesu zusammenkommen, nach diesem Grundsatz gehandelt und die
Absonderungsmauer aufgeführt; und der göttliche Baumeister hat jedes einzelne Teilchen zu einem
Mauerwerk wohl zusammengefügt. Es ist das Werk Gottes; seine gute Hand ist mit dem geringen
Überrest.
Der Mensch mag über eine solche Arbeit urteilen, wie er will: es ist genug, dass Gott sie anerkennt.
Man mag die Arbeiter tadeln, dass sie einen großen Haufen durch ihr Werk ausschließen; ihre Arbeit
ist ihnen von Gott aufgetragen. Man kann unmöglich eine Mauer bauen, ohne eine „Ausschließung“
zu bewerkstelligen. Wozu anders dienen die Tore einer Stadt oder die Grenzen eines Landes, als
diejenigen, welche drinnen sind, zu schützen, und diejenigen, welche draußen sind, auszuschließen?
Wir können nicht die gesegnete Wahrheit des einen Leibes annehmen, ohne jede Art von Sektiererei
auszuschließen. Können wir die Wahrheit, dass es nur einen Gott gibt, annehmen und Zugleich das
Dasein der Götter der Heiden billigen? Ebenso wenig können wir uns zu der Wahrheit des einen
Leibes Christi bekennen, und zu gleicher Zeit die verschiedenen Körperschaften und Vereinigungen
der Christen anerkennen.
Doch wenden wir uns jetzt zu der dritten Form des Widerstandes. Wir nden sie in Kapitel 4.
„Und es geschah, als Sanballat hörte, dass wir die Mauer bauten, ward er zornig und sehr entrüstet,
und er spottete der Juden“ (V 1). Erst hatten wir Missfallen, dann Verachtung: und jetzt, wo das
Bauen der Mauer eine Tatsache ist, begegnen wir dem Zorn. Hat dieses nicht alles in der traurigsten
Weise vor unseren Augen stattgefunden? Der Zorn Sanballats gegen diejenigen, welche die Mauer
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  Nehemia oder das Bauen der Mauer
Jerusalems bauten, konnte sicher nicht bitterer sein, wie der Hass gegen die heilige Einschließung
der Seelen, die sich um Christus, dem wahren Mittelpunkt, versammeln. „Wie“, sagt man, „wollt
ihr unsere verschiedenen Kirchengemeinsamsten nicht anerkennen? Wollt ihr alles ausschließen,
was nicht eure Meinung teilt?“ (d. h. sich Christus unterwirft) Sanballat sprach in der Gegenwart
seiner Brüder und des Heeres zu Samaria: „Was machen die ohnmächtigen Juden?“ Und in der Tat,
welche Bedeutung hatten diese auch im Blick auf das Heer zu Samaria? Und – sagt und denkt man in
unseren Tagen – was machen diese schwachen Christen? Ja, in Wahrheit, was sind sie im Vergleich
zu den Scharen von Christen um sie her? Werden sie im Stande sein, die Schutthaufen hinwegräumen
und beseitigen zu können? Werden diese geringen, unscheinbaren Menschen etwas vermögen gegen
das mächtige Gebäude der Kirche, wie sie sich historisch entwickelt hat?
Diesem Zorn folgt die vierte Widerstandsform, der Spott, auf dem Fuß nach. „Und Tobija, der
Ammoniter, stand neben ihm, und sprach: Auch was sie bauen, wenn ein Schakal hinaufspränge,
würde er ihre steinerne Mauer zerreißen!“ (V 3) So wird der Feind, während er das Werk Gottes mit
der ganzen Bitterkeit seines Herzens hasst, sich stets dennoch den Schein geben, dass er eine solche
Arbeit für nichts anders, als einen Gegenstand des Spottes halte. Auch in unseren Tagen zeigen sich
dieselben Erscheinungen. Allein der Feind mag sein Missfallen, seine Verachtung, seinen Zorn und
seinen Spott kund werden lassen, so nimmt das Werk doch ungestört seinen Fortgang. Die Mauer
wird von Stufe zu Stufe aufgeführt. Das Werk Gottes breitet sich aus. In Europa, Amerika, Indien,
Syrien usw. hören die Seelen die Stimme des guten Hirten, und jeden von Menschen aufgerichteten
Schafhof verlassend, werden sie in die Mitte des heiligen Kreises, der den großen Hirten Christus
Jesus zum alleinigen Mittelpunkt hat, zusammengebracht. Der Name Christi wird großgemacht und
alles ausgeschlossen, was Ihn nicht verherrlicht. Der Mensch hat hier keine Bedeutung.
Was wird nun Sanballat samt seinem Anhang tun? Er wird zu der fünften Form seines Widerstandes
greifen. „Und sie machten allesamt eine Verschwörung, zu kommen und zu streiten wider Jerusalem
und sie in Verwirrung zu bringen“ (V 8). Erst war es das Missfallen, die Verachtung, der Zorn und
der Spott – nun ist es der Streit, eine festbeschlossene Gegenwirkung.
Ist es in unseren Tagen nicht ebenso? Haben sich nicht alle Parteien der Christenheit zum Streit
erhoben gegen das Aufbauen der Mauer der Absonderung und die Vereinigung um Christus allein?
Und wie zu Nehemias Zeiten die Verschwörer sich beratschlagten, die Juden unverhot zu überfallen,
so ist auch jetzt der Feind, wenn Gott irgendwo sein Wort segnet, nicht selten aufgetreten, um durch
Lästerungen und Widerstand die Arbeit zu verhindern und die Arbeiter zu verwirren. Sicher haben
die bösen Geister in den himmlischen Örtern sich dahinter verborgen. Zwar bedürfen wir der ganzen
Waenrüstung Gottes, doch „Gott wird für uns streiten.“ Das Werk zu Jerusalem nahm ungestört
seinen Fortgang: und so geht es auch jetzt. Je größer der Widerstand ist, desto mehr nehmen wir
unsere Zuucht zu Gott, und desto schneller schreib das Werk vorwärts. Der Schall der Posaune wird
mit jedem Tag deutlicher; und wo man diesen Schall vernimmt, da versammeln sich die Gläubigen
(V 20).
Dasfünfte Kapitel enthält ernste Unterweisungen. Es zeigten sich verkehrte Dinge unter dem Überrest
selbst. „Auch wir sind Menschen von gleichen Empndungen“, sagt Paulus (Apg 14,15); und auch wir
wissen, dass viel Verkehrtheit im Schoß der Versammlung gefunden werden kann. Sind wir in uns
selbst besser als andere? Keineswegs. Es ist nur die Gnade, die uns um den hoch gepriesenen Herrn
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  Nehemia oder das Bauen der Mauer
versammelt, zu welchem niemand kommt, es sei denn, dass der Vater ihn zieht. Der Herr Jesus selbst
sagt: „Es steht geschrieben in den Propheten: ‚Und sie werden alle von Gott gelehrt sein.‘ Jeglicher,
der von dem Vater gehört und gelernt hat, der kommt zu mir“ (Joh 6,45). Der Vater versammelt die
Seelen nicht um schwache, irrende Menschen, sondern um seinen eingeborenen Sohn.
Die Menschen haben sich zu verschiedenen Kirchengemeinschaften vereinigt, in denen hervorragende
Männer oder deren Systeme den Mittelpunkt bilden; aber Gott hat durch seinen Geist die solange
vergessene Wahrheit des einen Leibes Christi, wo Christus der einzige wahre Mittelpunkt ist, ans
Licht gebracht. Es ist jetzt eine unbestreitbare Tatsache, dass der Bau der Mauer, die von jeder
menschlichen Vereinigung trennt, in Angri genommen ist. Es ist das Werk des Geistes Gottes in
unseren Tagen. Aus derselben Grundlage, wie am Pngsttag, werden die Seelen versammelt, wiewohl
sie nur einen kleinen Überrest außerhalb des Lagers der Christenheit bilden, wo sie, versammelt um
Christus, seine Schmach tragen.
Dieses führt uns zu der sechsten Form des Widerstandes, deren sich Sanballat und seine Gefährten
bedienten, als sie vernahmen, dass Nehemia den Bau vollendet hatte. „Da sandte Sanballat und Gesem
zu mir und sprach: Komm, und lass uns zusammenkommen in den Dörfern im Tal Ono. Sie aber
gedachten mir Übles zu tun. Und ich sandte Boten zu ihnen und sprach: Ich tue ein großes Werk und
kann nicht hinabkommen. Warum soll das Werk ruhen, wenn ich es lasse und zu euch hinabkomme“
(Kap 6,2–3).
Nach den fünf bereits behandelten Formen des Widerstandes: Missfallen, Verachtung, Zorn, Spott,
Streit – haben wir es jetzt mit der List des Feindes zu tun. Die Gegner sagten mit anderen Worten:
„Sei doch nicht so einseitig und abgeschlossen; verlas den engen Raum und komm in eines der Dörfer
‚im Tal‘ Ono, damit wir uns dort gemeinschaftlich versammeln. Verlass den wahren Mittelpunkt des
Gottesdienstes innerhalb der Mauern Jerusalems und komm hinab nach Ono ‚im Tal der Werkleute.‘“
(Siehe Kap 11,35) – Die schlauen Feinde erkannten es nur zu gut, dass, wenn die Stätte der Anbetung
innerhalb des abgeschlossenen, heiligen Raumes von Gott bestätigt wurde, ihr gewinnbringendes
Gewerbe in Gefahr kommen werde; und wie in späteren Tagen Demetrius, der Silberschmied von
Ephesus, werden auch sie gedacht haben: „Männer, ihr wisst, dass aus diesem Erwerb unser Wohlstand
ist“ (Apg 19,25).
Wir haben hier also einerseits das Lager von Samaria mit seinen Dörfern und mit seinen Werkleuten,
welche die äußerste Toleranz zeigen, um mit allen zu beraten und sich mit allen zu versammeln,
und andererseits eine Handvoll schwacher Juden, abgesondert versammelt auf göttlicher Grundlage
innerhalb der verhassten ein– und ausschließenden Mauer. Aber durch Gottes Hilfe beharrt das
kleine, geringe Häuein in seiner Stellung und handelt als solche, welche wissen, dass sie sich gerade
dort benden, wo Gott sie haben will, und dass sie tun, was in seinen Augen angenehm ist.
Nicht einmal oder zweimal, sondern viermal sandte Sanballat seine Boten zu demselben Zwecke,
um die Knechte Gottes zu bestimmen, ihr einseitiges, ausschließendes Handeln aufzugeben und von
ihrem erhabenen Standpunkt zu der Ebene von Ono, ins „Tal der Werkleute“, hinab zu steigen. Doch
Gott bewahrte die kleine Schar. Nehemia antwortete ihnen stets in derselben Weise (V 4). Er verwarf
jede Art von Nachgiebigkeit, wenn es sich um das Werk und den Willen Gottes handelte. Darauf
sandte Sanballat seinen Knaben zum fünften Male mit einem oenen Briefe in der Hand, worin die
Worte enthalten waren: „Unter den Nationen ist es gehört worden, und Gasmu sagt es: Du und die
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  Nehemia oder das Bauen der Mauer
Juden, ihr gedenkt euch zu empören; darum baust du die Mauer, und du wirst ihr König werden
nach diesen Reden . . . so komme nun, dass wir zusammen beraten“ (V 6–7). Aber wie bestimmt ist
die Antwort Nehemias! Es sind Worte, die eines Mannes, der im Frieden mit Gott wandelt, würdig
sind, wenn er sagt: „Es ist nicht geschehen nach diesen Worten, die du sagst, sondern du hast sie
aus deinem Herzen erdichtet.“ Hätte Nehemia in dem Hochmut eines durch Selbstsucht geleiteten
Herzens gehandelt, dann konnte seine Tätigkeit nicht einseitiger, engherziger, ja verächtlicher sein;
aber er handelte in der Furcht des Herrn (Kap 1,11); und so war sein Verhalten schön und treu.
Finden wir in diesem allen nicht ein treues Bild von den Vorgängen auf christlichem Gebiet in
unseren Tagen? Auf der einen Seite sehen wir die heilige Absonderung einiger wenigen schwachen
Gläubigen, versammelt um Christus, den einzigen wahren Mittelpunkt; auf der anderen Seite das
große Lager der verschiedenen Kirchengemeinschaften. Und wie in jenen Tagen noch viele Juden in
Babylon in der Gefangenschaft waren, so weiden auch noch heutzutage viele Christen in dem großen
Lager dieser kirchlichen Gemeinschaften zurückgehalten. Die Schrift hat dieses vorausgesehen, und
darum lesen wir: „Es waren aber auch falsche Propheten unter dein Volk, wie auch unter euch
falsche Lehrer sein werden, welche Sekten des Verderbens neben einführen werden, und den Gebieter
verleugnen, der sie erkauft hat, und sich selbst schnelles Verderben zuziehen. Und viele werden
ihren Ausschweifungen nachfolgen, um welcher willen der Weg der Wahrheit verlästert werden
wird. Und durch Habsucht werden sie euch verhandeln mit erkünstelten Worten“ (2. Pet 2,1–3). –
Ist diese schreckliche Schilderung nicht vielfach zur Wirklichkeit geworden? Neun wir aber noch
eine andere Beschreibung des heutigen Lagers von Samaria hören wollen, so brauchen wir nur unser
Auge auf 2. Timotheus 3 zu richten. Gott hat durch die Macht seiner Gnade bereits viele Seelen aus
jenem Lager befreit; und dieselbe Macht wird fortfahren in ihrer Tätigkeit, um diejenigen zu erlösen,
die noch darin zurückgehalten werden. Satan gibt sich, wie ehemals Sanballat, große Mühe, um die
Gläubigen zu verlocken, in eines der Dörfer im Tal Ono hinabzusteigen. „Du hast weiter nichts nötig“,
sagt man, „als den einseitigen, kleingeistigen, abgeschlossenen Standpunkt zu verlassen und nach
unten in das niedrige Gebiet der Werkleute zu kommen; du brauchst nur durch deine Gegenwart das
herrschende System mit seinen so genannten Ämtern anzuerkennen, und dann kannst du weiter
glauben, was du willst. Verlass den inneren Raum der verhassten Mauer; denn wenn du dieses nicht
tust und dem, was da ist, deine Anerkennung versagst, so bist du nichts weiter, als das Glied einer
Sekte in Jerusalem, und zeigst die Neigung, Vorsteher und Leiter derselben zu sein. So komme denn,
dass wir zusammen beraten.“
Das ist die verführerische Sprache des Feindes. Allein sie, die für Christus abgesondert sind, können
darauf antworten: „Du hast dieses alles aus deinem Herzen erdichtet. Du weißt, dass wir keine Sekte
sind; du weißt, dass wir nicht jemanden ausschließen, der durch Gott zu Christus gebracht ist, und
der allein seine Ehre und Herrlichkeit sucht.“ – O es ist ein schreckliches Ding, dem Werk Gottes in
unseren Tagen zu widerstehen, wie einst Sanballat es tat!
Wir können nicht bei dem Heer zu Samaria und Zugleich bei den wenigen innerhalb der Mauer der
Absonderung sein. „Deshalb lasst uns zu Ihm hinausgehen außerhalb des Lagers, Beine Schmach
tragend“ (Heb 13,13). Möge der Herr durch seinen Geist dir darüber Verständnis geben! Wie könnten
die Gläubigen, die sich außerhalb des Lagers um Christus versammelt haben, in das „Tal Ono“
hinabsteigen und die dortigen „Werkleute“ anerkennen? Nein, jene Zwanzigtausend in der Ebene
Ono werden meine Seele von Christus zu trennen vermögen.
  37
  Nehemia oder das Bauen der Mauer
Das Werk, welches Gott jetzt durch den Heiligen Geist zu Stand bringt, ist ungleich größer, als
dasjenige, welches Er durch Nehemia verrichtete. Der Überrest innerhalb der Mauern Jerusalems
war nicht mehr unterschieden von dem Lager zu Samaria, wie die um Christus versammelten Seelen
es sind von dem Lager der Christenheit. Möchten sie, die also um Christus sich versammeln, nur
aufrichtiger für Christus sein! Sie haben oft gefehlt; aber sie können darum die einzige wahre
Grundlage – das Versammeltsein um Christus – nicht aufgeben. Sie erkennen ihre Mängel und
Gebrechen; aber Christus verlassen sie nicht.
Jetzt haben wir noch die siebente oder letzte Form der Verhinderung des Werkes Gottes – Gefahr
von innen. Hier tritt vor allem die List Satans an den Tag. Im vorigen Fall war es die Versuchung
von außen, um ins Tal Ono hinab zu steigen und die Werkleute der Christenheit anzuerkennen. Jetzt
aber haben wir es mit dem Bösen im Innern zu tun. Beachten wir dieses mit aller Aufmerksamkeit.
„Und ich kam in das Haus Semajas, des Sohnes Delajas, des Sohnes Mehetabeels; er hatte sich aber
eingeschlossen. Und er sprach: Lass uns zusammenkommen im Haus Gottes, im Innern des Tempels,
und die Tür des Tempels verschließen, denn sie kommen, dich zu erschlagen: und in der Nacht
kommen sie, dich zu erschlagen“ (Kap 6,10).
War das nicht ein annehmbarer Vorschlag? Es ist doch sicher gut, im Haus Gottes zusammen zu
kommen. . . . Doch das Schließen der Tempeltüren würde für uns so viel sein, als das Stellen des
Lichts unter den Scheel. Die Versuchung liegt oft nahe, das Zeugnis verstummen zu lassen. Wenn
wir uns nicht mit den kirchlichen Werkleuten im Lager vereinigen wollen, dann tritt die Versuchung
heran, aus Selbstsucht oder aus Menschenfurcht uns abzuschließen und nur an uns selbst zu denken.
Vielleicht naht sich eine Gefahr; aber sollen wir deshalb, und selbst wenn unser Leben auf dem
Spiel stände, unser Zeugnis ausgeben? Sollen wir iehen und uns aus Furcht abschließen? Ist das
der Wille Gottes? „Ich erkannte“, sagt Nehemia, „und siehe, Gott hatte ihn nicht gesandt. . . . Tobija
und Sanballat – hatten ihn gedungen“ (V 12). Möchte das ruhige Vertrauen Nehemias uns zur
Nachahmung dienen! Sicher, die größte Versuchung scheint mir die zu sein, welche von falschen
Brüdern herstammt. Der Feind wusste, dass die Mauer aufgerichtet war. „Sie sanken sehr in ihren
Augen, und sie erkannten, dass dieses Werk von unserem Gott geschehen war“ (V 16). Aber was
taten die falschen Brüder? „In jenen Tagen liehen die Edlen von Juda viele Briefe an Tobija gehen. . . .
Denn viele in Juda waren seine Mitverschworenen“ (V 17–18). Das ist in der Tat eine höchst traurige
Erscheinung und schwere Prüfung, wenn solche, welche äußerlich den Platz des Versammeltseins
um Christus eingenommen haben, dennoch – gleich den gemischten, Ehen in Juda – die Grundsätze
des Lagers mit den Grundsätzen Gottes zu vereinigen suchen. Wir werden uns jedoch nicht wundern,
wenn wir an die Worte des Apostels denken: „Und aus euch selbst werden Menschen aufstehen, die
verkehrte Dinge reden“ (Apg 20,30). Ohne Zweifel sind diese doppelherzigen Brüder die größten
Steine des Anstoßes für Seelen, die nach Wahrheit suchen.
Das sind also in Kurzem die sieben Stadien, welche der Widerstand gegen das Werk Gottes durchläuft.
Das Missfallen des Feindes (Kap 2,10), seine Verachtung (Kap 2,19), sein Zorn (Kap 4,1), sein Spott
(Kap 4,3), der Streit (Kap 4,8), die List von außen (Kap 6,1–9), und die List und Gefahr von innen
(Kap 6,10). Und gewiss wird mancher Leser anerkennen, dass er diesen siebenfachen Widerstand
gegen das Werk Gottes auch in unseren Tagen entdeckt habe.
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  Nehemia oder das Bauen der Mauer
Nichtsdestoweniger aber war die Mauer aufgeführt. Kein noch so starker Widerstand hat das
Werk Gottes zu zertrümmern vermocht. Und so ist es auch jetzt. Es werden Gläubige um Christus
versammelt: die Mauer wird gebaut, die Tore werden eingesetzt, und Gott hat treue Männer zu
Wächtern berufen. In siebenfältiger Weise hat man die Treuen angegrien: aber Gott hat den heiligen
Grundsatz der Absonderung bewahrt. Ihm sei die Ehre! Wir bedürfen sicher der ganzen Waenrüstung
Gottes. Unser Sanballat ist, wenn auch überwunden, nicht tot. Der siebenfältige, d. h. der volle
Widerstand wird fortdauern bis zur Ankunft des Herrn.
Es könnte jemand sagen: „Wenn Gott, wie im Anfang, Seelen um Christus versammelt hat, und
wenn die Wahrheit, dass es nur eine Versammlung Gottes gibt, jede menschliche Sekte ausschließt,
so muss doch auch, wie ehedem, die Grundlage geräumig genug sein, um jedes gehorsame Kind
aufzunehmen.“ – Nun, ist es denn nicht eine wunderbare Wahrheit, dass alle Gläubigen den einen Leib
Christi bilden, dass sie alle eins sind? Und wenn nun Christus in der Verwaltung der Versammlung,
bezüglich ihrer Gaben sowie ihrer Anbetung im Geist, der Ihm gebührende Platz eingeräumt wird, so
bietet sicher diese Stätte Raum genug, um darin zu verweilen. Oder fehlt es etwa an Raum für jeden
Christen auf Erden, welcher in der Furcht des Herrn und nach seinem Wort zu wandeln begehrt? Wo
diese Wahrheit erkannt wird, da schwindet das Bedürfnis nach irgendeiner Sekte, die der Mensch
aufgerichtet hat. Aber wenn der Raum soweit und so gesegnet ist, woher kommt es doch, dass
sich so wenige dort benden? Nun in Jerusalem nden wir dasselbe. „Die Stadt aber war geräumig
und groß, und wenig Volkes darin, und es waren keine Häuser gebaut“ (Kap 7,4). Im Verhältnis
zu du Räumlichkeit gab es also nur wenige Bewohner; aber in Kapitel 7 nden wir das genaue
Geschlechtsverzeichnis derer, welche aus der Gefangenschaft, sowie auch derer, die von Tel–Mela,
Tel–Harsa, Cherub–Addon und Immer hinaufgezogen waren, welche Letztere jedoch nicht das Haus
ihrer Väter und ihren Samen angeben konnten, ob sie aus Israel wären (V 61). Auch von anderen wird
gesagt, dass sie ihre Schrift in den Geschlechtsverzeichnissen suchten, aber nicht fanden, und darum
als Unreine vom Priestertum ausgewiesen wurden. „Und der Thirsatha sprach zu ihnen, dass sie
nicht essen dürften vom Hochheiligen, bis ein Priester aufstände mit dem Urim und dem Tummim“
(V 64–65).
Dieses alles ist höchst lehrreich. Wenn die Vermengung mit den Heiden die Israeliten in Bezug
auf ihre Nationalität unsicher gemacht hatte, ist es da ein Wunder, dass, in Folge der Vermengung
der Kirche mit der Welt, so viele bezüglich ihrer Rettung und Stellung ungewiss geworden sind?
Und das ist eine der Hauptursachen, dass so viele den gesegneten Platz der durch den Heiligen
Geist um Christus Versammelten Kinder Gottes nicht einnehmen. Wie so viele Israeliten ihr
Geschlechtsverzeichnis nicht aufzuweisen vermochten, so fühlen sich auch unzählige Christen
dazu außer Stand. Die falsche Stellung, in der sie sich benden, hat sie so sehr verwirrt, dass sie nicht
recht mehr wissen, ob ihre Namen in den Himmeln angeschrieben sind, oder nicht. Auch wird dieses
in den großen Kirchengemeinschaften durchaus nicht als wichtig betrachtet. Und dennoch, wenn
wir diese Gewissheit nicht besitzen, so sollen wir auch nicht von dem Hochheiligen essen (V 63). Wir
müssen Jesus, als den großen Hohepriester in der Gegenwart Gottes kennen – Ihn, der, nachdem
Er unsere Sünden auf dem Kreuz getragen, nun mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt ist. Als unsere
Gerechtigkeit, auferstanden aus den Toten, schauen wir Ihn jetzt mit dem Urim und Tummim. In
seinem Antlitz strahlt das Licht (Urim) und die Vollkommenheit (Tummim) Gottes. Wie kannst du in
das Heiligtum eingehen durch das Blut Jesu, solange dir die Gewissheit der Errettung fehlt? O suche
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  Nehemia oder das Bauen der Mauer
doch dein Geschlechtsverzeichnis, geliebter Leser, und ruhe nicht, bis diese ernste Frage gelöst ist.
Richte doch mit Ernst die Frage an deine Seele: Ist mein Name in den Himmeln angeschrieben? Bin
ich gewiss, dass meine Sünden für ewig hinweggetan sind? Ist Gott wirklich mein Rechtfertiger?
Wird mich nichts zu scheiden vermögen von der Liebe Gottes in Christus? Bin ich versichert, dass
ich, wenn ich sterbe, bei Christus sein werde? Bin ich gewiss, dass, wenn ich bei seiner Ankunft lebe,
Er mich ausnehmen wird, um allezeit bei Ihm zu sein?
Nie aber wirst du auf diese ernsten Fragen eine Antwort nden im Blick auf dein Inneres, auf deine
Gefühle und Erfahrungen. Nein, es muss der Blick des Glaubens sein, gerichtet auf Ihn, der erhöht
worden und nun zur Rechten Gottes sitzt. Selten begegnete ich einer Seele, welche diese herrliche
Gewissheit besaß und genoss, die wirklich Frieden mit Gott hatte, und sich dabei Zugleich in dem
Lager der Christenheit, fern von der Schmach Christi, behaglich fühlte. Nur solche Seelen, denen
die völlige Gewissheit mangelt, nden es bequemer, in menschlichen Systemen zu verbleiben, als
„hinaus zu gehen außerhalb des Lagers, die Schmach Christi tragend.“ Darum ist die Zahl derer, die
sich um Christus, als ihren einzigen Mittelpunkt, versammeln, so äußerst gering, und darum das
Zeugnis für den Herrn so schwach.
Hier drängt sich uns, sowohl im Blick auf den ehemaligen, als auch den jetzigen Überrest, eine sehr
wichtige Frage auf. Wenn die Israeliten weder das Innere der Trennungsmauer verlassen und zu
den Werkleuten hinabsteigen, noch sich im Tempel abschließen durften, was blieb ihnen dann noch
zu tun übrig? Wenn wir den uns von Gott angewiesenen Platz – den Grundsatz des einen Leibes
und der Leitung des Heiligen Geistes – nicht verlassen, wenn wir die Wahrheit Gottes nicht durch
Zugeständnisse an die herrschenden Systeme und an das, was die Menschen als ihren Gottesdienst
bezeichnen, aufs Spiel setzen und uns andererseits ebenso wenig abschließen dürfen, was bleibt, frage
ich, uns noch zu tun übrig? In Kapitel 8 nden wir die Antwort auf diese Frage. Das Volk „versammelte
sich wie ein Mann. . . . Und Esra, der Priester, brachte das Gesetz herbei vor die Versammlung. . . . Und
sie lasen aus dem Gesetzbuch Gottes deutlich, und gaben den Sinn an und machten es verständlich
beim Lesen“ (V 1–8). Es war das Gesetzbuch Gottes. Welch ein Segen! Und wie aufmerksam lauschte
das Volk! „Die Ohren des ganzen Volkes waren auf das Gesetzbuch gerichtet“, während Esra las „vom
lichten Morgen bis zum Mittag vor den Männern und den Weibern und denen, die verständig waren“
(V 3).
Das ist das Wert derer, die für Christus abgesondert sind; das ist es, was sie zu tun haben. Welch
einen geringen Einuss räumt man dem Wort Gottes im Lager ein! Ganz anders geziemt es sich für
die, welche Christus als ihren alleinigen Mittelpunkt anerkennen. Sie sollten alle Männer der Bibel
sein. Ihre Sache ist es, das „Buch Gottes“ zu oenen, es deutlich zu lesen und anderen verständlich
zu machen. In diesem Buch spricht Gott zu uns. Und wie zu Nehemias Zeiten die Zuhörer „mit
Aufheben ihrer Hände: Amen, Amen!“ riefen, und „sich neigten und bückten vor Jehova mit dem
Angesicht zur Erde“ (V 6), so wird sich auch in unseren Tagen die Macht des Wortes Gottes erweisen.
Ja, wenn unser Thirsatha1
, (Geber) der Heilige Geist, uns das köstliche Wort verstehen lasst, dann
freuen wir uns des Herrn, dann rühmen wir uns Gottes. Aber sollen nur wir an dieser Freude Teil
haben? Keineswegs. Wir hören die Worte: „Geht hin, esst Fettes und trinkt Süßes und sendet dem
Teil, welchem nichts zubereitet ist, denn der Tag ist heilig unserem Herrn; und betrübt euch nicht,
1 Der Beiname Nehemias. „Nehemia“ bedeutet „der Trost Gottes.“
  40
  Nehemia oder das Bauen der Mauer
denn die Freude Jehovas, sie ist eure Stärke“ (V 10). Und das Volk tat also; „denn sie hatten die Worte
verstanden, die man ihnen kundgetan hatte“ (V 12).
Es ist durchaus verkehrt, wenn wir nur auf unsere eigene persönliche Erbauung bedacht sind. Das
ist geistliche Selbstsucht. Zunächst müssen wir freilich selbst in der Fülle des Christus – in den
Gesinnungen unseres teuren Herrn, in der Lieblichkeit seines Lebens hier auf Erden, und in seiner
fortdauernden, unwandelbaren Liebe – unsere Nahrung gefunden haben. Erfüllt der Wohlgeruch
seiner anbetungswürdigen Person nicht den Himmel der Himmel? O lasst uns das „Fette“ essen und
das „Süße“ trinken, lasst uns erfüllt sein von Christus! Dann aber lasst uns beschäftigt sein, um auch
denen „Teile“ zu senden, welchen nichts zubereitet ist. Ja, geliebte Brüder, das ist unsere Arbeit,
unsere ununterbrochene Arbeit selbst gegenüber solchen, die uns nicht verstehen, ja, die uns nicht
verstehen wollen, die uns lästern, die in Unwissenheit alles Böse uns nachsagen. Vergelten wir nicht
Böses mit Bösem, nicht Scheltwort mit Scheltwort, sondern, im Gegenteil, suchen wir das geistliche
Wohl aller, senden wir „Teile“ der ganzen Versammlung Gottes. Bedenken wir, wie der Herr dem
wütenden Verfolger, dem Saulus von Tarsus entgegenkam. Auch in unseren Tagen sind nicht wenige,
die früher bittere Widersacher waren, durch den Vater belehrt worden, ans dem Lager hinaus zu
gehen zu dem Herrn Jesus, dem wahren Mittelpunkt der Versammlung. Möge das, was dem Herrn
gefällt, auch uns wohlgefällig sein! „Denn die Freude des Herrn ist unsere Stärke.“
Und welche Folgen hatte das Lesen des Buches Gottes und das Verstehen der Worte, die dem
Volk kundgetan worden waren? Am zweiten Tage ihrer Zusammenkunft „fanden sie im Gesetz
geschrieben, dass die Kinder Israel in Laubhütten wohnen sollten am Fest am siebenten Monat. . . .
Und die ganze Versammlung derer, die zurückgekommen waren aus der Gefangenschaft, machten
Hütten und wohnten in Hütten. Denn also hatten die Kinder Israel nicht getan seit den Tagen
Josuas, des Sohnes Nuns, bis auf selbigen Tag: und es war eine sehr große Freude“ (V 14.17). Ist das
nichtsehr beachtenswert? Sie waren im Vergleich mit Israel in den Tagen Salomos nur ein geringer,
unansehnlicher Überrest, und dennoch war dieses Fest seit Josuas Zeiten nicht also gefeiert worden.
Das Sitzen der Israeliten in Laubhütten war ein schönes Bild von den Segnungen der tausendjährigen
Regierung ihres solange ersehnten Messias und Herrn. Und tausend Jahre hinter einander hatte Israel
dieses Fest der Laubhütten nie so gefeiert, wie es jetzt der schwache Überrest tat mit „sehr großer
Freude.“
Es ist aber ebenso beachtenswert, dass die Versammlung oder Kirche Gottes seit den Tagen des
Apostels Paulus die Erwartung des Herrn außer Acht gelassen hat, bis Gott in unseren Tagen einen
geringen Überrest außerhalb des Lagers um Christus versammelt hat. In den Tagen des Paulus
erwiesen sich die Gläubigen als solche, die sich „von den Götzenbildern zu Gott bekehrt hatten, zu
dienen dem lebendigen und wahren Gott, und zu erwarten seinen Sohn aus den Himmeln“ (Man
lese unter Gebet 1. Thes 1,9–10; 2,19; 3,13; 4,15–18). Müssen wir nicht bekennen, dass wir beinahe
achtzehnhundert Jahre vergeblich in der Kirchengeschichte diese Erwartung des Herrn suchen? Zwar
wurde in den Tagen schwerer Verfolgung etwas dergleichen wahrgenommen: aber kaum ließ der
Druck von Seiten der Welt nach, so wurde die Kirche selbst verweltlicht und nahm ihren Platz in der
Welt ein, als wäre sie von der Welt. „Als aber der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und
schliefen ein“ (Mt 25,5).
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  Nehemia oder das Bauen der Mauer
Was hat nun in den Tagen, seitdem Gott begonnen, einen Überrest um Christus zu versammeln,
stattgefunden? Haben die Schriften nicht eine ähnliche Wirkung ausgeübt, wie sie es taten in
den Tagen Nehemias? Die gesegnete, solange verwahrloste Honung der Versammlung ist wieder
lebendig geworden. Der versammelte Überrest ist durch den Geist Gottes dahin gebracht, den Sohn
Gottes aus den Himmeln zu erwarten; und das ist eins „sehr große Freude.“ Welch eine gesegnete
Wahrheit, dass, „wie es dem Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht, also
auch der Christus, einmal geopfert, um vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Male ohne Sünde
erscheinen wird denen, die Ihn erwarten zur Seligkeit!“ (Heb 9,28) Ja, „wir wissen, dass, wenn Er
oenbart ist, wir Ihm gleich sein werden, denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist“ (1. Joh 3,2). Diese
Honung ist das gerade Gegenteil von der schreckenerregenden, düsteren Erwartung des Tages des
Gerichts, um vor dem Richterstuhl Gottes gerichtet zu werden. Es herrscht jetzt eine „sehr große
Freude“, weil wir wissen, dass Er uns geliebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem
eigenen Blut; und es ist nun unser herrliches Vorrecht, Ihn aus den Himmeln zu erwarten mit der
unaussprechlichen Freude jenes Augenblicks des kommenden Triumphes. „Amen, komm, Herr Jesu!“
Und wie im Gesetz geboten wurde, dass die Kinder Israel alles, was sie vernommen, „verkündigen und
einen Ruf ergehen lassen sollten durch alle ihre Städte“ (V 15), so ist es auch des Herrn Wille, dass wir
mit einer heiligen Freimütigkeit die erkannte Wahrheit anderen mitteilen. Wir haben Gemeinschaft
mit Gott und unter einander; unser Verständnis für sein geschriebenes Wort ist geönet; wir können
seinen Sohn aus den Himmeln erwarten. Neckt das nicht ein Bedürfnis, auch andere mit der Wahrheit
bekannt zu machen?
So war also die Mauer gebaut. Die „sehr große Freude“ ließ allen Hass der Menschen vergessen.
Indes konnte der eine oder der andere Leser ausrufen: „Wie, diese Handvoll Leute sollten auf der
ganzen Erde allein auf dem wahren, von Gott geheiligten Boden stehen und allein um den einzig
wahren Mittelpunkt versammelt sein? Ist das nicht Selbstgefälligkeit, Einbildung und Hochmut?“ In
Kapitel 9 nden wir das Gegenteil. „Die Kinder Israel versammelten sich mit Fasten und in Säcken
und Erde auf ihnen. Und es sonderte sich der Same Israels ab von allen Kindern der Fremde; und sie
traten hin und bekannten ihre Sünden und die Ungerechtigkeiten ihrer Väter“ (V 1–2). Man las im
Gesetzbuchs Gottes, man bekannte, man betete an. Ist das Selbstüberhebung oder Hochmut? Alles
war göttlich geordnet. Die Trennung vom Bösen bringt uns zum Selbstgericht vor Gott. Je mehr wir
sein Wort lesen, desto mehr haben wir zu bekennen; und je mehr wir bekennen, desto mehr werden
wir anbeten.
Dann hören wir, wie die Leviten mit lauter Stimme Gott anrufen. Selbstgericht bringt das Gefühl der
Abhängigkeit und das Vertrauen des Glaubens. „Steht auf, preist Jehova, euren Gott, von Ewigkeit zu
Ewigkeit. Und man preise den Namen deiner Herrlichkeit, der erhaben ist über allen Preis und Ruhm“
(V 5). So steht Jehova vor ihren Seelen. Wie sehr sie auch ihre und ihrer Väter Sünden anerkennen
müssen, so steht doch Gott in allem, was Er getan hat und was Er für sie ist, in jedem Vers dieses
ganzen Kapitels im Vordergrund. Und diese Erscheinung zeigt sich überall, wo eine Seele wirklich um
Christus versammelt wird. Hiob sagt: „Mein Auge sieht dich; darum verabscheue ich mich und bereue
in Sack und Asche.“ Je näher man bei Gott ist, desto mehr wird sich, sowohl bei einzelnen Personen,
als auch in einer Versammlung von Gläubigen, das Fleisch als gekreuzigt erweisen. Es ist nicht die
Frage, was wir sind; denn ach, wir haben alles verdorben, sondern es ist die Frage, was Gott ist,
und was Er für uns getan hat. Gewiss, tiefe und wirkliche Demut geziemt denen, die sagen können,
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  Nehemia oder das Bauen der Mauer
dass sie durch nichts anderes von dem Feuersee getrennt sind, als durch das Blut Christi. Ihm allein
gebührt Lob und Herrlichkeit! Er allein ist würdig, alle seine Erlösten ohne Flecken und Runzeln
in seine eigene Stätte zu führen, die Er für sie bereitet hat. „Lasst uns denn zu Ihm hinausgehen
außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend.“ „Durch Ihn lasst uns Gott stets das Opfer des Lobes
darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen!“
Wie lehrreich ist dieses alles für die gegenwärtige Zeit! Wo bendest du dich, mein Leser? Bist du
noch in dem religiösen Lager der Welt, getrennt von der wahren göttlichen Grundlage? Oder hast du
dich, gleich jenem Überrest, zurückführen lassen auf den Boden, den die Versammlung im Anfang
einnahm? Bist du in Betre des gegenwärtigen Zustandes der Christenheit vor Gott tätig gewesen,
wie einst Nehemia es war in Betre der heiligen Stadt? Kennst du etwas von dem siebenfältigen
Widerstand gegen das Werk Gottes in unseren Tagend Hast du die Gewissheit, dass dein Name in
den Himmeln angeschrieben ist, oder suchst du noch vergeblich an deinem Geschlechtsverzeichnis?
Bist du als Kind Gottes dahin gebracht, das Wort Gottes zu untersuchen, das „Fette“ zu essen und
das „Süße“ zu trinken? Macht es dir Freude, „Teile“ zu senden denen, welchen nichts zubereitet
ist? Erwartest du Jesus aus den Himmeln? Hast du inmitten der Trennungsmauer dein Haupt zum
Bekenntnis und zur Anbetung vor Gott gezeugt? Bendest du dich auf der Grundlage, die Gott gelegt,
dann sei auf deiner Hut gegen die Männer von Tyrus (Kap 13,16), die ihre verlockenden Waren bis
vor die Mauer bringen. Halte die Tore geschlossen und bewache sie sorgfältig (V 19). Latz nichts
eindringen, was deine Sabbatruhe in Christus, deine Freude in Gott stören könnte. – Der Herr aber
heilige uns mehr und mehr durch sein Wort, welches die Wahrheit ist! Stille unsers Herzens Sehnen,
Herr Jesu, komm!
Führ' uns aus dem Land der Tränen,
Herr Jesu, komm!
Hier, wo Feinde uns umringen,
Satan uns legt tausend Schlingen,
Will Dein Lob nur schwach erklingen.
Herr Jesu, komm! Ganz zertrennt die Heil'gen stehen,
Herr Jesu, komm!
Einheit ist nicht mehr zu sehen.
Herr Jesu, komm!
Satans List hat sie zerstöret,
Sünd' und Welt manch Herz betöret,
Ach, wie sehr wirst Du entehret!
Herr Jesu, komm! Dort wird enden alles Klagen,
Herr Jesu, komm!
Jedes Herz für Dich nur schlangen,
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  Nehemia oder das Bauen der Mauer
Herr Jesu, komm!
Jeder wird Dich froh begrüßen,
Beten an zu Deinen Füßen
Und in ew'gem Lob zerießen.
Herr Jesu, komm! Herrlich wirst Du dann erscheinen,
Herr Jesu, komm!
In der Mitte all der Deinen.
Herr Jesu, komm!
Erd' und Himmel werden spenden
Ruhm und Preis an allen Enden.
Alles wird zu Dir sich wenden!
Herr Jesu, komm!
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  Das Werk eines Evangelisten
Das Werk eines Evangelisten
Bei der Betrachtung unseres Gegenstandes können wir wohl nichts Besseres zu Grund legen, als
einen Abschnitt aus der Missionsgeschichte eines der größten Evangelisten. Die oben angeführte
Schriftstelle zeigt uns drei verschiedene Klassen von Hörern und ebenso die Art und Weise, wie der
große Apostel der Nationen, geleitet durch den Heiligen Geist, ihnen begegnet. Wir haben zuerst
den ernsten Sucher, zweitens den falschen Bekenner und drittens den verhärteten Sünder. Diesen
drei Klassen begegnen die Arbeiter des Herrn überall und zu allen Zeiten, und deshalb können wir
dankbar sein für eine inspirierte Mitteilung, welche uns die richtige Methode im Verkehr mit ihnen
anweist. Es ist sehr wünschenswert, dass diejenigen, welche das Evangelium verkündigen, Erfahrung
oder Geschicklichkeit besitzen, um den verschiedenen Seelenzuständen, die ihnen von Tag zu Tag
vorkommen, auf die rechte Weise zu begegnen; und es gibt wohl kein wirksameres Mittel, um diese
Geschicklichkeit zu erlangen, als das sorgfältige Studium der Beispiele, die uns durch den Heiligen
Geist vor Augen gestellt werden.
Lasst uns nun zunächst einen Blick auf die Geschichte des ernsten Suchers werfen. Der stets tätige
Apostel kam auf seinen Missionsreisen nach Troas und dort erschien ihm in der Nacht ein Gesicht:
„Es war ein gewisser mazedonischer Mann, der dastand und ihn bat und sprach: Komm herüber
nach Mazedonien und hilf uns! Als er aber das Gesicht gesehen hatte, suchten wir sogleich nach
Mazedonien abzureisen, indem wirschlossen, dass der Herr uns gerufen habe, ihnen die gute Botschaft
zu verkündigen. Wir fuhren nun von Mazedonien ab und liefen gerade in Samothraze ein und am
folgenden Tage nach Neapolis und von da nach Philippi, welche die erste Stadt jenes Teiles in
Mazedonien ist, eine Kolonie. In jener Stadt aber verweilten wir einige Tage. Und am Tag des Sabbats
gingen wir hinaus vor das Tor an einen Fluss, wo es gebräuchlich war, das Gebet zu tun: und wir
setzten uns nieder und redeten zu den Weibern, die zusammengekommen waren. Und ein gewisses
Weib, Namens Lydia, eine Purpurkrämerin aus der Stadt Thyatira, welche Gott anbetete, hörte zu,
deren Herz der Herr auftat, dass sie Acht gab auf das, was von Paulus geredet ward. Als sie aber
getauft worden war und ihr Haus, bat sie und sagte: Wenn ihr urteilt, dass ich treu sei dem Herrn, so
kehrt in mein Haus ein und bleibt. Und sie nötigte uns“ (Apg 16,9–15).
Hier haben wir ein rührendes Bild – etwas, das wert ist, bewundert und betrachtet zu werden. Es ist
das Bild einer Seele, die durch die Gnade ein gewisses Maß von Licht erhalten hat, die dem gemäß
lebt und ernstlich sucht, mehr zu erlangen. Lydia, die Purpurkrämerin, gehört zu derselben Klae, zu
welcher auch der Eunuch aus Äthiopien (Apg 8) und der Hauptmann von Cäsarea gehörte (Apg 10).
Alle drei erscheinen in der Heiligen Schrift als erweckte Seelen, die nicht befreit, nicht beruhigt
und nicht befriedigt sind. Der Eunuch war von Äthiopien nach Jerusalem gereist, um dort etwas
zu suchen, worauf seine geängstigte Seele ruhen konnte. Allein er hatte jene Stadt unbefriedigt
verlassen und las mit Andacht und Ernst in dem gesegneten Buch der göttlichen Eingebung. Das
Auge Gottes ruhte auf ihm: Er sandte seinen Diener Philippus, um ihm eben das zu verkündigen, was
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  Das Werk eines Evangelisten
nötig war, seine Schwierigkeiten zu beseitigen und seine Fragen zu beantworten; und seine Seele
fand die ersehnte Ruhe. Gott weiß einen Philippus und einen Eunuchen zusammenzubringen; Er
weiß das Herz für die Botschaft zuzubereiten und die Botschaft für das Herz. Der Eunuch war ein
Anbeter Gottes; aber Philippus wird zu ihm gesandt, um ihn zu unterweisen, Gott in der Person
Jesu Christi zu sehen. Und dies war es, was er bedurfte. Es war ein Strahl des hellen Lichtes, der auf
seinen ernsten Geist el, der sein Herz und sein Gewissen zur Ruhe brachte und ihn seinen Weg mit
Freuden ziehen ließ. Er war aufrichtig dem Licht gefolgt, als es in seine Seele drang, und Gott gab
ihm mehr.
So ist es immer; „dem, der hat, wird gegeben werden.“ Eine Seele, die aufrichtig das ihr geschenkte
Licht benutzt, wird immer mehr Licht empfangen. Dies ist sehr tröstlich und ermunternd für alle, die
mit aufrichtigem Herzen suchen. Wenn du, mein Leser, zu dieser Klasse gehörst, so fasse nur Mut.
Wenn du einer von denen bist, in welchen Gott zu wirken angefangen hat, so sei versichert, dass
Er, der angefangen hat, auch vollenden wird. Möge aber niemand seine Hände in den Schoß legen
und gleichgültig sagen: „Ich muss warten, bis Gott mir mehr Licht gibt; ich kann nichts tun, meine
Anstrengungen sind nutzlos; wenn Gottes Zeit kommt, werde ich bereit sein, bis dahin muss ich
bleiben, wie ich bin.“ Dies waren nicht die Gedanken und Gefühle des äthiopischen Eunuchen. Er
war einer von den ernsten Suchern; und alle ernsten Sucher werden glückliche Finder werden. Es
kann nicht anders sein, denn „Gott ist denen, die Ihn suchen, ein Belohner“ (Heb 11,6).
Ebenso war es auch mit dem Hauptmann von Cäsarea. Er war ein Mann von derselben Gesinnung:
er lebte dem ihm gegebenen Licht gemäß. Er fastete, betete und gab dem Volk Almosen. Es wird
uns nicht erzählt, dass er die Bergpredigt gehört hatte: aber es ist bemerkenswert, dass er sich in
drei Hauptzweigen der praktischen Gerechtigkeit übte, die durch unseren Herrn im 6. Kapitel des
Evangeliums Matthäus dargestellt werden, nämlich im Almosengeben (V 2), im Gebet (V 5), und
im Fasten (V 16). Kornelius richtete seinen Weg und sein Betragen nach der Richtschnur ein, die
Gott ihm vorgezeichnet hatte. Seine Gerechtigkeit übertraf die der Schriftgelehrten und Pharisäer,
und deshalb ging er in das Reich ein. Er war durch die Gnade wirklich ein Mann, der ernstlich dem
Licht folgte, als es in seine Seele drang; und er wurde bis zu dem vollen Glänze des Evangeliums
der Gnade Gottes geführt. Gott sandte dem Kornelius einen Petrus, wie Er dem Eunuchen einen
Philippus gesandt hatte. Die Gebete und Almosen waren hinaufgestiegen in das Gedächtnis vor Gott;
und Petrus wurde zu ihm gesandt mit der Botschaft einer vollkommenen Errettung durch einen
gekreuzigten und auferstandenen Heiland.
Nun ist es wohl möglich, dass es gegenwärtig in der Christenheit Tausende von Personen gibt, die,
eingeschläfert in der Wiege eines oberächlichen, evangelischen Bekenntnisses und auferzogen
in den geläugen Formen einer selbstgenügsamen und den Weg zum Himmel leichtmachenden
Religion, bereit sind, das gottesfürchtige Verhalten des Kornelius zu verurteilen und als eine Frucht
der Unwissenheit und Gesetzlichkeit zu bezeichnen. Solche Personen haben aber wohl nie erfahren,
was es heißt, einer Mahlzeit zu entsagen, oder eine Stunde in wirklichem, ernstem Gebet zuzubringen,
oder die Hand zu wahrem Wohltun zu önen und den Bedürfnissen der Armen zu begegnen. Sie
haben gehört und vielleicht gelernt, dass die Errettung nicht durch solche Mittel erlangt wird – dass
wir durch Glauben ohne Werke gerechtfertigt werden – dass das Heil für den ist, der nicht wirkt,
sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt. Alles dieses ist wahr: aber welches Recht haben
wir, zu denken, dass Kornelius betete, fastete und dem Volk Almosen gab, um dadurch die Errettung
  46
  Das Werk eines Evangelisten
zu erlangen? Durchaus keins – wenigstens wenn wir uns durch die Mitteilung der Schrift leiten
lassen; und ein anderes Mittel haben wir nicht, um irgendetwas über diese wirklich ausgezeichnete
und interessante Person zu wissen. Er wurde durch den Engel benachrichtigt, dass seine Gebete und
Almosen hinaufgestiegen seien in das Gedächtnis vor Gott. Ist das nicht ein klarer Beweis, dass diese
Gebete und Almosen nicht der Schmuck der Selbstgerechtigkeit waren, sondern einer Gerechtigkeit,
die sich auf du Erkenntnis, die er von Gott hatte, gründete? Sicher, die Früchte der Selbstgerechtigkeit
und Gesetzlichkeit wären nie in das Gedächtnis vor Gott hinaufgestiegen, noch hätte Petrus von
einem rein gesetzlichen Menschen sagen können, dass er ein Mann sei, welcher Gott fürchtete und
Gerechtigkeit wirkte.
Ja, mein Leser, Kornelius war ein durchaus ernster Mann. Er lebte dem gemäß, was er wusste,
und er würde verkehrt gehandelt haben, wenn er weitergegangen wäre. Die Errettung seiner
unsterblichen Seele, der Dienst Gottes und die Ewigkeit waren für ihn große, alles in Anspruch
nehmende Wahrheiten. Er war keiner von jenen Gelehrten, die voll von geläugen, geist– und
wertlosen Reden, aber ohne Taten sind. Er gehörte einer ganz anderen Klasse an; er war ein Freund
der Tat und nicht der Worte. Er war einer, auf dem das Auge Gottes mit Wohlgefallen ruhte.
Und so war es auch mit Lydia, der Purpurkrämerin von Thyatira. Sie befand sich mit dem Hauptmann
und dem Eunuchen auf gleichem Standpunkt. Es ist in der Tat köstlich, diese drei teuren Seelen zu
betrachten, und es ist außerordentlich erfrischend, solche oenen, energischen und ernsten Seelen
mit vielen in unseren Tagen des gepriesenen Lichtes und der Aufklärung zu vergleichen – mit vielen,
die den so genannten Heilsplan in ihrem Kopf und die Lehre von der Gnade auf der Zunge haben,
aber die Welt im Herzen; deren einziger, alles in Anspruch nehmender Gegenstand vom Morgen bis
zum Abend das eigene Ich ist – wahrlich, ein erbärmlicher Gegenstand!
Wir wenden uns jetzt zu der Lydia; und wir müssen bekennen, dass dies ein weit angenehmerer
Gegenstand ist. Es ist klar, dass Lydia, ebenso wie Kornelius und der Eunuch, eine erweckte Seele
war; sie war eine Anbeterin Gottes. Sie war gewiss sehr froh, dass sie ihren Purpurhandel ein wenig
bei Seite setzen und sich zu einer Gebetsversammlung begeben konnte, wo geistlicher Vorteil zu
erlangen war, und wo man sich mit besseren Dingen beschäftigte. Wir nden sie an dem Ort, wo
einige gottesfürchtige, verwandte Seelen sich zu versammeln pegten, um ihr Gebet zu verrichten.
Welch eine liebliche Szene! Es tut dem Herzen wohl, mit diesem tiefen Ernst in Berührung zu kommen.
Sicherlich hat der Heilige Geist auch diese Erzählung, wie alle anderen, zu unserer Belehrung
geschrieben. Sie ist uns als ein Beispiel vorgestellt, und wir tun wohl, es zu beachten. Wir sehen,
wie Lydia die Gelegenheit zur Förderung ihrer Seele benutzte; sie brachte in der Tat die wirklichen
Früchte des ewigen Lebens hervor, die wahren Triebe der neuen Natur. Sie legte nicht ihre Hände in
den Schoß, um in strafbarer Nachlässigkeit und Trägheit zu warten, bis etwas Außerordentliches
und geheimnisvolles von oben über sie kommen würde. Nein, sie ging in eine Gebetsversammlung –
an den Ort, wo man Segen erwartete, und dort begegnete ihr Gott, wie Er sicherlich einem jeden
begegnen wird, der in dem Geist der Lydia solche Zusammenkünfte besucht. Gott hält sich nie ferne
von einem verlangenden Herzen. Er hat gesagt: „Sie werden nicht beschämt werden, die auf mich
harren;“ und wie ein klarer und lieblicher Sonnenstrahl glänzt in der Heiligen Schrift jene wichtige
und die Seele ermunternde Stelle: „Gott ist denen, die Ihn suchen, ein Belohner.“ Er sandte Philippus
zu dem Eunuchen in der Wüste Gaza; Er sandte Petrus zu dem Hauptmann in der Stadt Cäsarea; Er
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  Das Werk eines Evangelisten
sandte Paulus zu der Purpurkrämerin in den Vorstädten von Philippi; und Er wird auch dem Leser
dieser Zeilen eine Botschaft senden, wenn er wirklich ein ernster Sucher des göttlichen Heils ist.
Es ist immer ein feierlicher Augenblick, wenn eine zubereitete Seele mit dem vollen Evangelium der
Gnade Gottes in Berührung gebracht wird. Es mag sein, dass diese Seele eine lange Zeit in ernster und
schmerzlicher Weise Ruhe suchte, ohne sie zu nden. Der Herr war durch seinen Geist beschäftigt,
den Boden für den guten Samen zuzubereiten. Er machte die Furchen tief, damit der kostbare Same
seines Wortes reichlich Wurzel schlagen und Früchte zu seinem Lob hervorbringen möchte. Der
Heilige Geist ist nie eilig; sein Werk ist tief, sicher und gewiss. Seine Panzen sind nicht wie der
Kürbis des Propheten Jonas, der in einer Nacht entstand und in einer Nacht verging. Alles, was Er
tut, wird bestehen: gepriesen sei sein Name! Wenn Er eine Seele bekehrt und befreit, so wird das
Siegel seiner eigenen ewigen Hand auf allen Teilen seines Werkes zu erkennen sein.
Auch für Lydia muss es ein Augenblick von hohem Interesse gewesen sein, als sie mit dem herrlichen
Evangelium, das Paulus verkündigte, in Berührung kam (Apg 16,14). Sie war vollkommen für seine
Botschaft zubereitet und sicherlich die Botschaft auch für sie. Er verkündigte ihr Wahrheiten, die
sie nie gehört und woran sie nie gedacht hatte. Als eine gottesfürchtige und ernste Frau war sie
gekommen, um anzubeten, um nach den Beschwerden der Woche Erfrischung für ihren Geist zu
bekommen. Wie wenig dachte sie daran, dass sie in jener Versammlung den größten Prediger hören
würde, der – einen ausgenommen – je gelebt hat, und dass sie die herrlichste Botschaft der Wahrheit
vernehmen würde, die je sterbliche Ohren vernommen haben! Nie wichtig war es für Lydia, in jener
denkwürdigen Versammlung gegenwärtig zu sein! Wie gut war es, dass sie es nicht machte wie so
viele heutigen Tages, die des Sonntags nach einer Woche von Arbeit und Mühe in den Geschäften,
Fabriken und Werkstätten oder auf dem Acker, nur an ihre leibliche Ruhe oder Ausspannung denken,
die keine Sorge tragen für ihre Seelen, keine Sorge für die Ewigkeit und für Christus! Sie sind nur
besorgt für sich selbst, für ihre Familie, für die Welt und für das Geld.
Lydia gehörte durchaus nicht zu dieser Klasse von Menschen. Ohne Zweifel betrieb sie mit Fleiß
ihr Geschäft, wie das jeder aufrichtig Gesinnte tun wird. Aber sie benutzte den Sabbat nicht, um
sich zu pegen, oder mit dem, was sie in der Woche zu tun hatte, beschäftigt zu sein. Auch glauben
wir nicht, dass sie zu jenen gehörte, die sogar ein Regenschauer abhalten kann, die Versammlung
zu besuchen. Nein, Lydia war eine ernste Frau, welche fühlte, dass sie eine Seele hatte, die errettet
werden musste, welche eine Ewigkeit vor sich sah und einen lebendigen Gott, dem sie dienen und
den sie verherrlichen musste.
Möchte der Herr uns mehr solcher Lydias in unseren Tagen geben! Es würde dem Werk eines
Evangelisten einen Reiz, ein Interesse und eine Erfrischung verleihen, wonach sich viele Arbeiter
des Herrn vergeblich sehnen. Wir leben in einer Zeit schrecklicher Gleichgültigkeit bezüglich der
göttlichen und ewigen Dinge. Männer, Frauen und Kinder sind eifrig genug, wenn es sich um ihren
Verdienst, ihre Bestrebungen und Vergnügungen handelt; aber ach, wenn die Dinge Gottes, die Dinge
der Seele und der Ewigkeit in Frage kommen, so ist der Anblick des Menschen der einer trägen
Gleichgültigkeit. Aber der Augenblick kommt mit furchtbarer Schnelligkeit – jeder Pulsschlag bringt
uns ihm näher – wo die trage Gleichgültigkeit sich in „Heulen und Zähneknirschen“ verwandeln wird.
Würde dies tiefer gefühlt, so würden wir gewiss mehr solcher Lydias haben, mehr jener zubereiteten
Seelen, die der Predigt des Evangeliums ein oenes Ohr leihen.
  48
  Das Werk eines Evangelisten
Welche Kraft und Schönheit liegt in den Worten:„Deren Herz der Herr auftat, dasssie Acht gab auf das,
was von Paulus geredet ward!“ Lydia gehörte gewiss nicht zu denen, die christliche Versammlungen
besuchen und anstatt an das, was von den Boten des Herrn verkündigt wird, an allerlei andere Dinge
denken. Sie war nicht mit ihrem Purpur oder dessen Preis oder mit dem etwaigen Gewinn oder
Verlust beschäftigt. Wie viele von denen, die bei einer Predigt des Evangeliums gegenwärtig sind,
mögen wohl dem Beispiel der Lydia folgen? Ach, ich fürchte, dass ihre Zahl oft sehr gering sein
wird. An das Geschäft, den Stand des Marktes, das Geld, das Vergnügen, die Kleider – kurzum an
tausenderlei Dinge denkt man und beschäftigt sich damit, so dass das arme unstete und üchtige
Herz sich an den Enden der Erde bendet, anstatt Acht zu haben auf das, was geredet wird.
Dies ist höchst ernst, und sollte wirklich sehr beachtet und zu Herzen genommen werden. Viele, ach,
sehr viele denken nicht an die Verantwortlichkeit, die mit dem Hören der Predigt des Evangeliums
verbunden ist. Sie scheinen nicht im Geringsten berührt zu werden von der wichtigen Tatsache, dass
das Evangelium einen unbekehrten Menschen nie da lässt, wo es ihn ndet. Er wird entweder durch
das Annehmen desselben errettet, oder durch das Verwerfen schuldiger werden. Viele besuchen
vielleicht die Orte, wo das Evangelium verkündigt wird, nur aus. Gewohnheit, oder um das religiöse
Gefühl zu befriedigen, oder weil sie gerade nichts anderes zu tun haben; viele auch, weil sie denken,
dass das bloße Hingehen etwas Verdienstliches sei. Auf diese Weise hören Tausende die Predigten, in
welchen Diener Christi, wenn auch nicht mit den Gaben, der Kraft und der Erkenntnis eines Paulus,
die unendliche Gnade Gottes ans Licht stellendes Gottes, der seinen eingeborenen Sohn in die Welt
gesandt hat, um uns von ewigem Verderben und Elend zu erretten. Die Kraft und Wirksamkeit des
versöhnenden Todes des göttlichen Heilands, des Lammes Gottes, die erhabenen Wahrheiten der
Ewigkeit, die furchtbaren Schrecken der Holle und die unaussprechlichen Freuden des Himmels –
alle diese ernsten und feierlichen Dinge werden vorgestellt nach dem Maß der Gnade, die dem Boten
des Herrn gegeben ist, und doch ist oft der Eindruck ein so überaus geringer. Denkt vielleicht jemand,
seine Verwerfung des Evangeliums damit zu entschuldigen, dass er unfähig sei, es zu glauben? Will
er sich auf den vor uns liegenden Fall berufen und sagen: „Der Herr önete Lydias Herz; und sobald
Er bei mir dasselbe tun wird, werde ich auch sicher Acht geben, aber vorher kann ich nichts tun.“
Wir antworten, und zwar mit allem Ernst: Solch eine Entschuldigung oder Beweisführung wird dich
am Tag des Gerichts sicher nicht befreien. Wir sind auch vollkommen überzeugt, dass du alsdann es
nicht einmal wagen wirst, sie vorzubringen. Du machst einen falschen Gebrauch von der köstlichen
Erzählung von Lydia. Wahr ist es, der Herr tat ihr das Herz auf; und Er ist auch bereit, das deinige
aufzutun, wenn in dir nur ein kleiner Teil von dem Ernst der Lydia gefunden würde. Es ist ganz
einfach und klingt sehr, schön, zu sagen: „Ich kann nichts tun.“ Aber wer hat dir das gesagt? Wo hast
du das gelernt? Wir fragen dich in der Gegenwart Gottes: Kannst du zu Ihm aufblicken und sagen:
„Ich kann nichts tun, – ich bin nicht verantwortlich?“ Ist denn das Heil deiner unsterblichen Seele die
einzige Sache, in der du nichts tun kannst? Du kannst eine Menge Dinge im Dienst der Welt, deiner
selbst und des Satans tun; aber wenn es sich um Gott, um deine Seele und die Ewigkeit handelt,
dann sagst du mit kalter Gleichgültigkeit: „Ich kann nichts tun, – ich bin nicht verantwortlich.“ Doch
damit wirst du dem schrecklichen Gericht nicht entrinnen. Deine ganze Beweisführung ist die Frucht
einer einseitigen Theologie. Sie ist das Resultat der sehr verderblichen Urteile des menschlichen
Geistes über gewisse Wahrheiten in der Schrift, die verdreht und ganz falsch angewandt werden.
Aber es wird nicht Stich halten; und dies möchten wir dem Leser dringend ans Herz legen. Es ist
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  Das Werk eines Evangelisten
von gar keinem Nutzen, in dieser Weise Schlüsse zu machen. Der Sünder ist verantwortlich, und
alle Vernunftschlüsse, alle bezüglichen, obgleich scheinbar richtigen Einwürfe, die hervorgebracht
werden konnten, sind nicht im Stande, diese sehr wichtige und ernste Tatsache zu beseitigen.
Deshalb bitten wir den Leser, gleich der Lydia ernstlich an das Heil seiner Seele zu denken, und jede
andere Frage, jeden anderen Gegenstand, im Vergleich mit dieser einen so wichtigen Sache – dem
Heil seiner unsterblichen Seele – für äußerst unwichtig zu halten. Dann kann er versichert sein,
dass Gott, der den Philippus zu dem Eunuchen, Petrus zu dem Hauptmann und Paulus zu der Lydia
sandte, auch ihm einen Boten und eine Botschaft senden und auch sein Herz auftun wird. Hierüber
kann unmöglich ein Zweifel vorhanden sein, da die Schrift sagt: „Gott will, dass alle Menschen
errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ Alle, welche verloren gehen, nachdem
sie die Botschaft des Heils gehört haben – die köstliche Botschaft von der freien Liebe Gottes, von
dem Tod und der Auferstehung eines Heilands – werden verloren gehen ohne einen Schatten von
Entschuldigung, werden in die Hölle fahren mit ihrem Blut auf ihren eigenen schuldigen Häuptern.
Dann werden ihre Augen geönet sein, um die Nichtigkeit aller Beweise zu sehen, wodurch sie
sich in einer falschen Stellung zu stützen und sich selbst in Sünde und Weltlichkeit einzuschläfern
suchten.
Doch lasst uns einen Augenblick bei dem verweilen, was von Paulus geredet wurde. Der Heilige
Geist hat es nicht für nötig erachtet, uns eine genaue Mitteilung von der Rede des Paulus in jener
Versammlung zu geben; wir müssen deshalb andere Schriftstellen zu Hilfe nehmen, um uns eine Idee
von dem zu machen, was von seinen Lippen gehört wurde. Lasst uns z. B. jene schöne Stelle nehmen,
wo Paulus die Korinther an das Evangelium erinnert, das er ihnen gepredigt hatte.
„Ich tue euch aber kund, Brüder, das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, welches ihr auch
angenommen habt, in welchem ihr auch steht, durch welches ihr auch errettet werdet, (wenn ihr an
dem Wort festhaltet, das ich euch verkündigt habe) es sei denn, dass ihr vergeblich geglaubt habt.
Denn ich habe euch zuerst überliefert, was ich auch empfangen habe: dass Christus gestorben ist für
unsere Sünden, nach den Schriften; und dass Er begraben und dass Er auferweckt worden am dritten
Tage, nach den Schriften“ (1. Kor 15,1–4).
Wir können sicher sein, dass diese Stelle ein Verzeichnis von dem enthält, was von Paulus in jener
Versammlung zu Philippi geredet wurde. Das Hauptthema der Predigt des Paulus war Christus –
Christus für den Sünder, wie für den Gläubigen – Christus für das Gewissen wie für das Herz –
Christus alles und in allem. Er erlaubte sich nie, von diesem Hauptgegenstand abzugehen, sondern
machte ihn stets mit bewunderungswürdiger Konsequenz zum Mittelpunkt aller seiner Predigten
und Belehrungen.
Bei dem vorliegenden Fall gibt es in der Predigt des Paulus drei Hauptteile, auf welche wir die
Aufmerksamkeit des Lesers lenken möchten: auf die Gnade Gottes, auf die Person und das Werk
Christi und auf das Zeugnis des Heiligen Geistes, welches in den Heiligen Schriften gefunden wird.
Wir beabsichtigen nicht, auf diese Gegenstände hier näher einzugehen; wir berühren sie nur und
bitten den Leser sie zu beachten und darüber nachzudenken.
1. Die Gnade Gottes – seine freie, unumschränkte Gnade ist die Quelle, aus der die Errettung kommt –
eine Errettung in der ganzen Länge, Breite, Höhe und Tiefe dieses kostbaren Wortes, – eine Errettung,
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  Das Werk eines Evangelisten
die sich gleich einer goldenen Kette von dem Schoß Gottes zu der tiefsten Tiefe des schuldigen und
verdorbenen Sünders und wieder zurück zum Thron Gottes erstreckt, die allen Bedürfnissen des
Sünders begegnet und Gott in der völligsten Weise verherrlicht.
2. Die Person Christi und sein vollendetes Werk sind der einzige Kanal, durch den die Errettung zu
dem verlorenen und schuldigen Sünder gelangen kann. Nicht durch die Kirche und ihre Sakramente,
nicht durch die Religion und ihre Zeremonien, nicht durch den Menschen oder sein Tun, was es auch
sein möge, sondern allein durch den Tod und die Auferstehung Christi. „Er starb für unsere Sünden,
er wurde begraben und am dritten Tage wieder auferweckt.“ Das war das Evangelium, welches
Paulus verkündigte und durch welches die Korinther errettet waren; und der Apostel erklärt feierlich:
„Wenn irgendeiner ein anderes Evangelium predigt, der sei verucht.“ Schreckliche Worte für die
gegenwärtige Zeit!
3. Die Autorität, in der wir die Errettung empfangen, ist das Zeugnis des Heiligen Geistes: es ist
„nach den Schriften.“ Dies ist eine sehr wichtige und trostreiche Wahrheit. Es handelt sich nicht um
Gefühl, Erfahrungen oder Wahrscheinlichkeiten, sondern einfach um den Glauben an Gottes Wort,
der durch den Geist Gottes im Herzen gewirkt wird.
Es ist ein ernster Gedanke für den Evangelisten, dass überall, wo der Geist Gottes wirkt, auch der
Satan sicher beschäftigt ist; und es ist gut, wenn wir uns hieran erinnern und immer darauf vorbereitet
sind. Der Feind Christi und der Seelen ist stets wachsam und ist auf alle Weise bemüht, das Werk
des Evangeliums zu verhindern oder zu verderben. Dies braucht den Arbeiter weder zu erschrecken,
noch zu entmutigen; aber es ist wichtig, daran zu denken und wachsam zu sein. Satan wird nichts
unversucht lassen, um das gesegnete Werk des Geistes Gottes zu zerstören. Von den Tagen Edens
bis zu dem gegenwärtigen Augenblick hat er sich als ein unermüdlich wachsamer Feind des Werkes
gezeigt.
Wenn wir nun das Wirken Satans betrachten, so nden wir ihn in zwei Charakteren tätig, nämlich als
Schlange oder als Löwe; entweder benutzt er List oder Gewalt. Er wird zuerst trachten zu verführen,
und wenn er damit nichts erreicht, wird er Gewalt gebrauchen, d. h. wenn der Herr es ihm zulässt.
So ist es auch in dem vorliegenden Fall. Das Herz des Apostels wurde erfreut und erquickt durch die
Bekehrung der Lydia. Es war eine direkte, bestimmte und augenscheinliche Bekehrung; sie nahm
Christus in ihr Herz auf und betrat gleich den christlichen Boden, indem sie sich der bedeutungsvollen
Anordnung der Taufe unterzog. Doch dies war nicht alles; sie önete auch gleich ihr Haus den Boten
des Herrn. Ihr Bekenntnis war nicht nur auf ihren Lippen, sie sagte nicht nur, dass sie glaubte, nein,
sie bewies auch ihren Glauben, indem sie sich taufen ließ und sich und ihr Haus auf diese Weise
mit dem Namen und der Sache des Gesegneten vereinigte, den sie durch den Glauben in ihr Herz
aufgenommen hatte.
Aber sofort erscheint auch die Schlange auf dem Schauplatz in der Person des falschen Bekenners.
„Es geschah aber, als wir zum Gebet gingen, dass uns eine gewisse Magd begegnete, die einen
Wahrsagegeist hatte, die ihren Herren vielen Gewinn brachte durch Wahrsagen. Diese folgte dem
Paulus und uns nach, schrie und sprach: Diese Menschen sind Knechte des höchsten Gottes, die
euch den Weg des Heils verkündigen. Dieses aber tat sie viele Tage. Paulus aber ward ganz betrübt,
  51
  Das Werk eines Evangelisten
und er wandte sich und sprach zu dem Geist: Ich gebiete dir in dem Namen Jesu Christi, von ihr
auszufahren! Und er fuhr aus zu derselben Stunde“ (V 16–18).
Hier haben wir einen Fall, der ganz darauf berechnet war, die Lauterkeit und Geistlichkeit des
Evangelisten zu prüfen. Die meisten Menschen würden diese Worte von den Lippen der Magd als
ein zu dem Werk ermunterndes Zeugnis begrüßt haben. Warum war denn Paulus betrübt? Warum
erlaubte er ihr nicht, noch ferner von dem Gegenstand seiner Mission Zeugnis abzulegen? Sagte sie
nicht die Wahrheit? Waren sie nicht die Knechte des höchsten Gottes? Und verkündigten sie nicht
den Weg des Heils? Warum gebot er einem solchen Zeugnis, zu schweigen? Weil es von Satan kam:
und sicher wollte der Apostel von ihm kein Zeugnis annehmen. Er konnte dem Satan nicht erlauben,
ihm in seinem Werk behilich zu sein. Ohne Zweifel hätte er durch die Straßen von Philippi gehen
können, anerkannt und geehrt als ein Knecht Gottes, wenn er nur dem Teufel erlaubt hätte, ihn in
seinem Werk zu unterstützen. Aber Paulus konnte dies nimmer erlauben; er konnte nimmer zugeben,
dass der Feind sich in das Werk des Herrn mischte. Hätte er es zugegeben, so hätte er dadurch dem
Zeugnis zu Philippi den Todesstoß verseht, und die ganze Mission in Mazedonien würde vollständig
Schibruch gelitten haben.
Es ist für die Arbeiter des Herrn von großer Wichtigkeit, dies zu erwägen. Wir können sicher sein,
dass die Erzählung bezüglich dieser Magd zu unserer Belehrung geschrieben ist; dass es nicht nur
die Erzählung eines Ereignisses ist, sondern ein Beispiel von dem, was vorkommen kann und was
auch in der Tat jeden Tag vorkommt. Die Christenheit ist voll falschen Bekenntnisses; es gibt in
diesem Augenblick, soweit das Christentum sich verbreitet hat, Millionen falscher Bekenner. Es ist
traurig, dies sagen zu müssen; aber es ist wahr. Wir sind auf allen Seiten von solchen umringt, die den
Wahrheiten des Christentums nur mit dem Mund zustimmen. Sie gehen von Woche zu Woche, von
Jahr zu Jahr voran und bekennen, dass sie an Dinge glauben, woran sie in Wirklichkeit nicht glauben.
Es gibt Tausende, die an jedem Tag des Herrn bekennen, dass sie an die Vergebung der Sünden
glauben; aber wollte man solche Personen ein wenig näher prüfen, so würde man bald entdecken,
dass sie entweder gar nicht daran denken oder, falls sie daran denken, es für die höchste Anmaßung
halten, wenn jemand die Gewissheit ausspricht, dass seine Sünden vergeben sind.
Dies ist sehr ernst. Man denke sich einen Menschen, der in der Gegenwart Gottes aufsteht und
sagt: „Ich glaube an die Vergebung der Sünden“, während er nicht daran glaubt! Kann es noch
etwas geben, was das Herz mehr verhärtet und das Gewissen mehr abstumpft? Es ist unsere völlige
Überzeugung, dass die Formen und Satzungen der bekennenden Christenheit mehr dazu beitragen,
unsterbliche Seelen zu verderben, als tausend andere Dinge. Es ist wirklich schreckenerregend, die
unzählbaren Massen zu betrachten, die in diesem Augenblick auf dem breitgetretenen Wege des
religiösen Bekenntnisses den ewigen Qualen der Hölle entgegeneilen. Wir fühlen uns gedrungen,
eine warnende Stimme zu erheben und den Leser in der feierlichsten Weise aufzufordern, dies zu
beherzigen.
Wir haben nur ein spezielles Beispiel angeführt, weil es sich auf einen Gegenstand von allgemeinem
Interesse und allgemeiner Wichtigkeit bezieht. Wie verhältnismäßig wenige sind gewiss und beruhigt
in Bezug auf die Frage der Vergebung ihrer Sünden! Wie wenige sind fähig, mit Ruhe, Bestimmtheit
und Einsicht zu sagen: „Ich weiß, dass alle meine Sünden getilgt sind!“ Wie wenige erfreuen sich
wirklich der völligen Vergebung ihrer Sünden durch den Glauben an das kostbare Blut Christi, das
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  Das Werk eines Evangelisten
von aller Sünde reinigt! Wie ernst ist es daher, jemanden die Worte aussprechen zu hören: „Ich glaube
an die Vergebung der Sünden“, wenn er tatsächlich nicht daran glaubt! Hast du, mein Leser, nicht
auch schon solche Worte feierlich ausgesprochen und bekannt? Glaubst du sie denn wirklich? Bist
du durch Glauben gewiss, dass deine Sünden vergeben sind? Bist du gewaschen in dem kostbaren
Blut Christi? Wenn nicht, was hält dich auf? Der Weg ist oen: es ist kein Hindernis da. Die freien
Gaben des versöhnenden Werkes Christi stehen in diesem Augenblick völlig für dich bereit. Mögen
auch deine Sünden sein wie Scharlach, mögen sie schwarz sein wie die Nacht, mögen sie wie ein
schrecklicher Berg vor deiner beunruhigten Seele aufsteigen und dich in ewiges Verderben zu stürzen
drohen; dennoch leuchten diese Worte mit göttlichem und himmlischem Glanz in der Heiligen Schrift:
„Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde“ (1. Joh 1,7). Gehe doch nicht von
Woche zu Woche voran, indem du Gottes spottest, dein eigenes Gewissen verhärtest und durch ein
falsches Bekenntnis das System des großen Feindes Gottes zur Schau trägst. Dies ist genau dasselbe,
was wir in der Magd, die einen Wahrsagegeist hatte, sehen. Dies ist der Punkt in ihrer Geschichte,
in welchem sie mit dem gegenwärtigen schrecklichen Zustand der Christenheit übereinstimmt.
Was war der Inhalt ihrer Rede während jener vielen Tage, in denen der Apostel aufmerksam ihren
Zustand beobachtete? „Diese Menschen sind Knechte des höchsten Gottes, die euch den Weg des
Heils verkündigen.“ Aber sie war nicht errettet, sie war nicht erlöst, sie war während der Zeit unter
der Macht Satans. Und das nicht allein, sondern Satan suchte sie zu benutzen, um seinen Vorsatz, das
Werk des Evangeliums zu verderben und zu hindern, auszuführen.
So ist es mit der Christenheit, so ist es mit jedem falschen Bekenner in der ganzen bekennenden
Kirche. Wer da bekennt, dass er an die Vergebung der Sünden glaubt und doch nicht daran glaubt, ja
nicht einmal glaubt, dass jemand dies wissen könne vor dem Tag des Gerichts – ein solcher Mensch
steht, dem Grundsatz nach, auf dem Boden der Magd, die den Wahrsagegeist hatte. Was sie bekannte,
war völlig der Wahrheit gemäß, aber in ihr war die Wahrheit nicht, indem sie es bekannte: und das war
das Traurige in diesem Fall. Es ist sehr verschieden, etwas zu bekennen oder dem zuzustimmen, was
der Wahrheit gemäß ist, als selbst in der Wahrheit zu sein, indem man es bekennt. Von welchem Wert
konnte es sein, von Tag zu Tag die Formel auszusprechen: „Sie verkündigen euch den Weg des Heils“,
während sie in demselben ungeretteten und ungesegneten Zustand blieb? Gewiss von keinem; und es
gibt, selbst in dem sittlich Schlechten oder in dem nsteren Heidentum, kaum etwas Schrecklicheres,
als den Zustand von sorglosen, verhärteten, selbstgenügsamen und falschen Bekennern, die an jedem
Tag des Herrn in ihren Gebeten oder Gesängen Worte aussprechen, die, soweit es sie selbst betrit,
vollständig falsch sind. Schon der Gedanke daran ist sehr niederdrückend. Wir können nicht länger
dabei verweilen; es ist wirklich zu schmerzlich. Wir haben noch einmal den Leser feierlich vor jedem
Schatten und jedem Grad des falschen Bekenntnisses gewarnt. Möge er nicht länger irgendetwas
vor Gott sagen oder singen, was er nicht von Herzen glaubt! Der Teufel ist im Hintergrund jedes
falschen Bekenntnisses und sucht durch dieses Mittel dem Werk des Herrn Schande zu bringen.
Welch wohltuende Erfrischung ist es, die Handlungen des treuen Apostels in diesem Fall zu sehen.
Hätte er seine Ehre gesucht, oder wäre er nur ein Diener der Religion gewesen, er würde die Worte
der Magd willkommen heißen als ein vortreiches Mittel, ihn bei dem Volk in Ansehen und Gunst
zu bringen und das Interesse seiner Sache zu fördern. Aber Paulus war nicht nur ein Diener der
Religion; er war ein Diener Christi – eine ganz verschiedene Sache – und wir mögen beachten, dass
die Magd nicht ein Wort von Christus sagt. Sie spricht den kostbaren, unvergleichlichen Namen Jesu
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  Das Werk eines Evangelisten
gar nicht aus. In Bezug auf Ihn herrscht völliges Schweigen: und dies stempelt die ganze Sache zu
einem Werk des Feindes. Ein falscher Geist wird Jesus nicht als Herrn bekennen. „Niemand kann
sagen: Herr Jesus! als nur durch den Heiligen Geist“ (1. Kor 12,3). Die Menschen sprechen wohl von
Gott oder von Religion, aber Christus hat keinen Platz in ihren Herzen. Die Pharisäer konnten zu
dem Blindgeborenen sagen (Joh 9): „Gib Gott die Ehre.“ aber in Bezug auf Jesus sagen sie: „Dieser
Mensch ist ein Sünder.“
So ist es immer bei einer verdorbenen Religion oder einem falschen Bekenntnis: und so war es bei der
Magd in Apostelgeschichte 16, da war kein Wort in Bezug auf Christus; da war keine Wahrheit, kein
Leben, keine Wirklichkeit. Das Bekenntnis war verstellt und falsch. Es war von Satan, und deshalb
wollte und konnte Paulus es nicht annehmen; er war betrübt darüber und wies es weit von sich ab.
Möchten doch alle ihm gleichen! Möchte doch die Einfalt des Auges und die Lauterkeit des Herzens
vorhanden sein, um das Werk Satans in allem, was uns umgibt, zu entdecken und zurückzuweisen.
Wir sind völlig überzeugt, dass der Heilige Geist die Erzählung betres dieser Magd zu unserer
Belehrung geschrieben hat. Es mag vielleicht gesagt werden, dass wir solche Fälle jetzt nicht haben.
Wir erwidern: „Zu welchem Zweck hat denn der Heilige Geist diese Geschichte aufgezeichnet?“ Ach,
es gibt in diesem Augenblick Tausende von Fällen, die dem Charakter dieser Begebenheit entsprechen.
Wir müssen sie als ein Beispiel betrachten – als eine Vorstellung des falschen Bekenntnisses der
Christenheit, worin die Schlauheit und der listige Betrug des Feindes weit mehr gefunden werden,
als in den mannigfachen Formen der sittlichen Versunkenheit. Jedermann kann über Trunkenheit,
Diebstahl oder dergleichen urteilen; aber es erfordert ein mit himmlischer Augensalbe gesalbtes
Auge, um die listige Tätigkeit der Schlange hinter dem schönen Bekenntnis einer getauften Welt zu
entdecken.
Ein solches Auge besaß Paulus durch die Gnade. Er konnte nicht betrogen werden; er sah, dass die
ganz? Sache eine Anstrengung Satans war, der sich in das Werk zu mischen suchte, um es auf diese
Weise ganz und gar zu verderben. „Paulus aber ward ganz betrübt, und er wandte sich und sprach
zu dem Geist: Ich gebiete dir in dem Namen Jesu Christi, von ihr auszufahren! Und er fuhr aus zu
derselben Stunde“ (V 18). Dies war eine wahrhaft geistliche Handlung. Paulus hatte gar keine Eile, um
mit dem Bösen in Streit zu kommen oder überhaupt über die Sache zu sprechen; er wartete viele Tage.
Sobald aber der Feind wirklich entdeckt war, widerstand er ihm und schlug ihn mit unvergleichlicher
Energie zurück. Ein weniger geistlicher Arbeiter würde die Sache haben gehen lassen; er würde
gedacht haben, dass sie dem Werk Gewinn bringen und es fördern könne. Paulus aber dachte nicht
so, und er hatte Recht. Er wies die Hilfe Satans von sich; er war nicht gewillt, durch eine solche
Vermittlung das Werk des Herrn auszurichten, und deshalb schlug er Satan in die Flucht in dem
Namen Jesu Christi – in jenem Namen, den der Feind so anhaltend aufschloss. Aber kaum war Satan
als Schlange zurückgetrieben, so nahm er auch schon den Charakter des Löwen an. Als die List
fehlgeschlagen war, versuchte er die Gewalt. „Als aber ihre Herren sahen, dass die Honung ihres
Gewinns dahin war, grien sie Paulus und Silas und schleppten sie auf den Markt zu den Vorstehern.
Und sie führten sie zu den Hauptleuten und sprachen: Diese Menschen, welche Juden sind, verwirren
ganz und gar unsere Stadt und verkündigen Sitten, die uns nicht erlaubt sind, anzunehmen, noch
zu tun, da wir Römer sind. Und die Volksmenge erhob sich Zugleich wider sie, und die Hauptleute
rissen ihnen die Kleider ab und befahlen, sie mit Ruten zu schlagen. Und als sie ihnen viele Schläge
gegeben, warfen sie sie ins Gefängnis und befahlen dem Kerkermeister, sie sicher zu verwahren“
  54
  Das Werk eines Evangelisten
(V 19–23). So versuchte der Feind zu triumphieren; doch beachten wir wohl, dass die Streiter Christi
ihre glänzendsten Siege durch scheinbare Niederlagen davontragen. Der Teufel machte einen großen
Fehler, als er den Apostel ins Gefängnis werfen ließ; und es ist in der Tat sehr tröstlich zu sehen, dass
er nie etwas anderes getan hat, als Fehler machen, und zwar von dem Augenblick an, da er seinen
ersten Zustand verließ, bis zu dem gegenwärtigen Augenblick. Seine ganze Geschichte von Anfang
bis zu Ende ist nur ein Gewebe von Missgrien.
Wie gesagt machte der Teufel einen großen Fehler, als er Paulus ins Gefängnis führen ließ. Schien
es auch nach dem Urteil der Natur nicht so zu sein, so war doch nach dem Urteil des Glaubens der
Diener Christi, der Wahrheit wegen im Gefängnis, weit mehr an seinem richtigen Platz, als wenn
er in Freiheit gewesen wäre auf Kosten der Ehre seines Herrn. Paulus hätte sich sicher retten und
ein geehrter Mann sein können, angesehen und anerkannt als „ein Knecht des höchsten Gottes“,
wenn er nur das falsche Bekenntnis der Magd angenommen und dem Teufel erlaubt hätte, ihm in
seinem Werk behilich zu sein. Aber es war unmöglich für ihn, und deshalb musste er leiden. Jetzt,
möchte vielleicht mancher gedacht haben, ist das Werk des Evangelisten in Philippi zu Ende: jetzt ist
dem Predigen auf eine wirksame Weise Einhalt getan. Keineswegs, in jenem Augenblick war das
Gefängnis gerade der Platz für den Evangelisten. Dort war sein Werk. Innerhalb der Mauern des
Gefängnisses sollte er mit Personen zusammentreen, denen er draußen nicht begegnet war. Doch
dies führt uns zu dem dritten und letzten Fall, nämlich zu dem verhärteten Sünder.
Es war sehr unwahrscheinlich, dass der Kerkermeister je den Weg zu der Gebetsversammlung an dem
Fluss gefunden hätte. Augenscheinlich machte er sich über solche Dinge wenig Sorge. Er war weder
ein ernster Sucher, noch ein falscher Bekenner; er war ein verhärteter Sünder, der eine Beschäftigung
hatte, die sehr geeignet war, das Herz hart und gefühllos zu machen. Kerkermeister haben es meist
mit der sittlich versunkensten Klasse von Menschen zu tun. Viele Verbrechen kommen zu ihrer
Kenntnis und viele Verbrecher unter ihre Bewahrung. An das Rohe und Gemeinde gewöhnt, werden
sie leicht selbst roh und gemein, obwohl wir überzeugt sind, dass es rühmliche Ausnahmen geben
wird.
Wenn wir aber nach der vorliegenden Erzählung urteilen, so möchten wir bezweifeln, dass der
Kerkermeister in Philippi zu diesen rühmlichen Ausnahmen gerechnet werden konnte. Wenigstens
scheint er Paulus und Silas gegenüber nicht viel Zartgefühl an den Tag gelegt zu haben. „Er warf sie
in das innerste Gefängnis und befestigte ihre Füße im Stock.“ Er scheint das äußerste getan zu haben,
um ihnen ihr hartes Los recht fühlbar zu machen.
Doch Gott besaß eine Fülle von Gnade für diesen armen, gefühllosen und verhärteten Kerkermeister;
und da es unwahrscheinlich war, dass er sich aufmachen würde, um das Evangelium zu hören, so
sandte der Herr das Evangelium zu ihm, und zwar machte er den Teufel zum Werkzeug derAusführung
dieser Sendung. Der Kerkermeister wusste wenig davon, wen er in das innerste Gefängnis warf
– wenig ahnte er davon, was sich ereignen würde, ehe ein neuer Tag anbrach. Und wir mögen
hinzufügen, dass auch der Teufel wenig daran dachte, was er tat, als er die Prediger des Evangeliums
in den Kerker sandte, um dort das Mittel zur Bekehrung des Kerkermeisters zu sein. Aber der Herr
Jesus wusste, was Er zu tun vorhatte mit einem armen, verhärteten Sünder. Es war sein Vorsatz, den
Kerkermeister zu erretten: und weit entfernt davon, dass Satan fähig gewesen wäre, diesen Vorsatz
zu vereiteln, wurde er vielmehr, ohne es zu wissen und zu wollen, zum Werkzeug seiner Ausführung
  55
  Das Werk eines Evangelisten
gemacht. „Gottes Vorsatz wird bestehen, und Er tut alles nach seinem Wohlgefallen.“ Und wenn
Er seine Liebe auf einen armen, verdorbenen und schuldigen Sünder wirft, so wird Er ihn einst im
Himmel haben, trotz aller Bosheit und Wut der Hölle.
In Bezug auf Paulus und Silas ist es sehr augenscheinlich, dass sie im Gefängnis an ihrem richtigen
Platze waren. Sie waren dort um der Wahrheit willen, und der Herr war bei ihnen. Deshalb waren
sie ganz glücklich; obgleich sie in den düsteren Mauern eines Gefängnisses eingeschlossen und ihre
Füße in dem Stock befestigt waren, so war doch ihr Geist nicht eingeschlossen. Nichts kann die
Freude dessen hindern, der den Herrn bei sich hat. Schadrach, Meschach und Abed–Nego waren
glücklich inmitten des Feuerofens; Daniel war glücklich in der Löwengrube; und Paulus und Silas
waren glücklich in dem Kerker zu Philippi. „Aber um Mitternacht beteten Paulus und Silas und
lohsangen Gott; und es hörten sie die Gefangenen.“
Welche Töne drangen aus dem inneren Gefängnis! Solche Töne waren sicher nie von jenem Ort
her gehört worden. Flüche, Verwünschungen und Lästerungen mochte man vernommen haben;
Seufzen, Schreien und Stöhnen mochte oft aus diesen nsteren Räumen hervorgekommen sein: aber
stattdessen Laute des Gebets und des Lobgesangs um die Mitternachtsstunde zu vernehmen, mühte
sicher höchst befremden. Der Glaube aber kann ebenso fröhlich in einem Gefängnis singen, wie
in einer Gebetsversammlung. Es kommt nicht darauf an, wo wir sind, vorausgesetzt, dass wir den
Herrn bei uns haben. Seine Gegenwart erhellt die dunkelste Zelle und macht einen Kerker zur Pforte
des Himmels. Er vermag seine Diener überall glücklich zu machen; Er vermag sie über die widrigsten
Umstände siegen zu lassen und sie dahin zu bringen, vor Freude zu jauchzen in Umständen, in
welchen die Natur von Traurigkeit überwältigt werden würde.
Doch der Herr hatte sein Auge auf den Kerkermeister gerichtet. Er hatte vor Grundlegung der Welt
seinen Namen in das Buch des Lebens des Lammes geschrieben und war jetzt beschäftigt, ihn zu der
vollen Freude seiner Errettung zu führen. „Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so dass die
Grundfesten des Gefängnisses erschüttert wurden, und sogleich öneten sich alle Türen und aller
Bande wurden gelöst“ (V 36).
Wäre Paulus jetzt nicht in wirklicher Gemeinschaft mit den Gedanken und dem Herzen Christi
gewesen, so würde er sich sicher zu Silas gewandt und gesagt haben: „Jetzt ist für uns der Augenblick
gekommen, zu entiehen. Gott ist augenscheinlich ins Mittel getreten und hat uns die Türen geönet.
Wenn je ein Gefängnis durch göttliche Vorsehung geönet worden ist, so ist es sicher jetzt der Fall.“
Aber nein, Paulus erkannte es besser. Er war völlig vertraut mit den Gedanken seines geliebten Herrn
und in völliger Übereinstimmung mit dem Herzen seines teuren Meisters. Deshalb machte er keinen
Versuch, zu entiehen. Das Verkündigen der Wahrheit hatte ihn ins Gefängnis gebracht, und die
Tätigkeit der Gnade hielt ihn dort zurück. Die Vorsehung önete die Tür; aber der Glaube weigerte
sich, hinauszugehen. Die Menschen sprechen davon, durch die Vorsehung geleitet worden zu sein;
aber wenn sich Paulus durch sie hätte leiten lassen, so würde der Kerkermeister nie ein Edelstein in
seiner Krone geworden sein (Schluss folgt).
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  Das Werk eines Evangelisten (Apg 16,13–34) (Schluss)
Das Werk eines Evangelisten (Apg 16,13–34) (Schluss)
„Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf aufgeweckt ward und die Türen des Gefängnisses geönet
sah, zog er das Schwert und wollte sich toten, indem er meinte, die Gefangenen wären entohen“
(V 27). Dies beweist sehr klar, dass das Erdbeben mit allen dasselbe begleitenden Umständen das
harte Herz des Kerkermeisters nicht berührt hatte. Er vermutete natürlich, als er die Türen geönet
sah, dass die Gefangenen entohen wären. Er konnte sich nicht denken, dass eine Anzahl Gefangener
ruhig im Kerker sitzen würde, wenn die Türen geönet und ihre Bande gelöst waren. Und was
sollte dann aus ihm werden, wenn die Gefangenen entohen waren? Wie hatte er vor die Obrigkeit
treten können? Unmöglich; alles andere, nur das nicht; der Tod, selbst durch eigene Hand, war dem
vorzuziehen.
So hatte der Teufel diesen verhärteten Sünder bis an den Rand des Abgrundes gebracht und war eben
im Begri, ihm den letzten verhängnisvollen Stoß zu geben und ihn dann für immer den ewigen
Flammen der Hölle zu überliefern, als eine Stimme der Liebe sein Ohr berührte. Es war die Stimme
Jesu in dem Mund seines Dieners – eine Stimme zarten und tiefen Erbarmens. „Tue dir nichts Übles.“
Dieser Stimme vermochte er nicht zu widerstehen. Ein verhärteter Sünder konnte einem Erdbeben
begegnen, er konnte dem Tod selbst entgegentreten; aber der mächtigen, schmelzenden Macht der
Liebe vermochte er nicht zu widerstehen. Das härteste Herz muss dem moralischen Einuss der
Liebe nachgeben. „Er aber forderte Licht und sprang hinein; und zitternd geworden el er vor Paulus
und Silas nieder. Und er führte sie heraus und sprach: Ihr Herren, was muss ich tun, auf dass ich
errettet werde?“ (V 29–30) Die Liebe vermag das härteste Herz zu brechen; und sicher waren jene
Worte: „Tue dir nichts Übels“ – Worte der Liebe, die von den Lippen eines Mannes kamen, dem er
einige Stunden vorher so viel Übels getan hatte.
Und man beachte es wohl, dass von Paulus nicht ein Wort des Vorwurfs oder Tadels gegen den
Kerkermeister ausgesprochen wurde. Dies war wahrhaft Christus ähnlich; es war der Weg der
göttlichen Gnade. Wenn wir die Evangelien durchforschen, so nden wir nie, dass der Herr dem
Sünder Vorwürfe macht. Er hat Tränen des Kummers: Er hat rührende, zärtliche Worte der Gnade,
aber keine Vorwürfe, keinen Tadel, keine Verweise für den armen, unglücklichen Sünder. Wir können
jetzt nicht dabei verweilen, die vielen Beweise für diese Behauptung aufzuzählen, der Leser braucht
sich nur zu den Evangelien zu wenden, um ihre Wahrheit bestätigt zu sehen. Er denke z. B. an den
verlorenen Sohn, an Judas, an den sterbenden Räuber – bei allen diesen hören wir kein tadelndes
Wort.
So ist esstets bei dem Herrn; und so war es auch bei Paulus. Nicht ein Wort über die harrte Behandlung,
nicht ein Wort über das Werfen ins innerste Gefängnis und den Stock. „Tue dir nichts Übles.“ Und
dann: „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden, du und dein Haus“ (V 31).
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  Das Werk eines Evangelisten (Apg 16,13–34) (Schluss)
Das ist die reiche und kostbare Gnade Gottes; sie scheint in dieser Szene mit ungewöhnlichem Glänze.
Sie hat ihre Wonne daran, verhärtete Sünder aufzunehmen, ihre harten Herzen zu erweichen und zu
besiegen, und sie zu dem Sonnenlicht der ewigen und völligen Errettung zu führen; und sie tut dies
alles in einer ihr eigentümlichen Weise. Wenn Gott einen verlorenen Sünder errettet, so tut Er es in
einer Weise, die völlig ans Licht stellt, dass sein ganzes Herz bei der Sache ist. Es ist seine Freude,
einen Sünder zu retten, selbst den vornehmsten; und Er tut es auf eine seiner würdigen Weise.
Und nun lasst uns die Frucht von all diesem betrachten. Die Bekehrung des Kerkermeisters war
deutlich zu sehen. Gerettet vom Rand der Hölle, wurde er in die Atmosphäre des Himmels gebracht.
Bewahrt vor Selbstvernichtung wurde er in die Sphäre der Seligkeit Gottes geführt; und die Beweise
dafür sind so klar und deutlich, wie man sie nur wünschen kann. „Und der Kerkermeister nahm sie
in jener Stunde der Nacht zu sich, wusch ihnen die Striemen ab und ward getauft, er und alle die
Seinen sogleich. Und er führte sie in sein Haus, setzte ihnen einen Tisch vor und frohlockte, an Gott
glaubend, mit seinem ganzen Haus“ (V 33–34).
Welch eine merkwürdige Veränderung! Der gefühllose Kerkermeister ist ein gefühlvoller und
freigebiger Wirt geworden „Wenn jemand in Christus ist, – eine neue Schöpfung, das Alte ist
vergangen, stehe, alles ist neu geworden.“ Wie klar können wir jetzt sehen, dass Paulus Recht hatte,
als er sich das Önen der Vorsehung nicht zu Nutze machte! Wie viel besser und gesegneter war
es, auf ein Önen der Gnade zu warten! Es würde ein ewiger Verlust für ihn gewesen sein, wenn
er durch die geönete Tür hinausgegangen wäre. Wie viel gesegneter war es, durch dieselbe Hand
hinausgeleitet zu werden, die ihn hereingeworfen hatte – eine Hand, die einst das Werkzeug der
Gefühllosigkeit und Sünde war und jetzt das Werkzeug der Gerechtigkeit und Liebe! Welch ein
herrlicher Triumph! Wie wenig hatte der Teufel solch ein Ergebnis von der Einkerkerung der Diener
des Herrn vorhergesehen! Er war gänzlich überlistet, das Blatt hatte sich vollständig gegen ihn
gewandt. Erdachte, das Evangelium zu hindern, und siehe, er wurde benutzt, es auf eine herrliche
Weise zu fördern. Er hatte gehot, von zweien der Diener Christi befreit zu werden und siehe, er
verlor einen der seinigen. Christus ist stärker als Satan; und alle, die ihr Vertrauen auf Ihn setzen und
nach seinen Gedanken einhergehen, werden sicherlich hier an den Triumphen seiner Gnade Teil
nehmen und dort für immer leuchten in dem Glanz seiner Herrlichkeit.
Hiermit schließen wir unsere Betrachtung über „das Werk eines Evangelisten.“ Solcher Art sind die
Szenen, durch welche er zu gehen hat – solcher Art die Fälle, mit denen er in Berührung kommt. Wir
haben gesehen, wie der ernste Sucher befriedigt, der falsche Bekenner zum Schweigen gebracht und
der verhärtete Sünder errettet wurde. Möchten alle, die sich mit dem Evangelium der Gnade Gottes
beschäftigen, von Gott selbst unterwiesen sein, den verschiedenen Seelenzuständen, die sie auf ihrem
Weg antreen, auf die rechte Weise zu begegnen! Möchten ihre Herzen stets im Licht der Gegenwart
Gottes weilen und von den mannigfachen, verderblichen Einüssen des Feindes befreit bleiben!
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  Eine Betrachtung über Sacharja 12,10–13
Eine Betrachtung über Sacharja 12,10–13
Er, welcher hier sagt: „Ich werde ausgießen usw.“, ist, wie wir im ersten Verse des zwölften Kapitels
nden, Jehova selbst, – „Er, der den Himmel ausspannt und die Erde gründet und des Menschen
Geist in seinem Innern bildet.“ Jehova nimmt, gegenüber dem Wüten des Antichristen (Kap 11,16–17),
Partei für Juda, macht Jerusalem zu einem „Laststein allen Völkern“, verfolgt die Nationen, welche
sich wider diese Stadt erheben und gießt über das Haus Davids und über die Bewohner Jerusalems
den Geist der Gnade und des Flehens aus, wodurch sie zur Einsicht und Neue über ihre gräuliche
Sünde gelangen, die ihren Gipfelpunkt in der Verwerfung und Kreuzigung ihres Messias hat.
„Sie werden mich anschauen, den sie durchstochen haben“, sagt Jehova. Wie entsetzlich wird dieses
Anschauen sein! Wohl haben die Bewohner zu Jerusalem zurzeit, als sie den Herrn kreuzigten,
gewusst, dass sie Jesus von Nazareth ans Holz nagelten: doch sie wussten nicht, „was sie taten“
(Lk 23,34). Sie verstanden nicht, dass Er, den sie an das Fluchholz hingen, Jehova selbst und zwar in
Knechtsgestalt war, und sie werden es nicht verstehen, bis sie zur Erfüllung der den Vätern gegebenen
Verheißungen gelangt sind. Hätten sie es erkannt, so würden sie „den Herrn der Herrlichkeit nicht
gekreuzigt haben.“ Doch nun ward Er ihnen ein Ärgernis. Sie glichen den Brüdern Josephs, die,
als sie ohne Erbarmen den geliebten Sohn ihres Vaters für zwanzig Silberlinge verkauften, nicht
vermuteten, dass sie den zukünftigen Beherrscher Ägyptens und den Erhalter eines „großen Volkes“
den Nationen überlieferten. Wie überraschend und niederschmetternd aber war der Eindruck, als sie
in diesem hochgeehrten Beherrscher Ägyptens denselben Joseph erkannten, der ehemals als einer
von ihnen unter ihnen gewandelt hatte und der ein Opfer ihres Neides und Hasses geworden war.
Diese Oenbarung seiner Person konnte jedoch Joseph nicht eher geschehen lassen, bis sie Beweise
geliefert hatten, dass sie sich unter der Wirkung eines anderen Geistes befanden. Juda – derselbe,
der in jenen Tagen den Rat gegeben, den Geliebten des Vaters an die Ismaeliten zu verkaufen – war
später derjenige, der sein eigenes Leben darbot, um den Geliebten des Vaters – den Benjamin – aus
drohender Sklaverei loszukaufen. Das war in der Tat ein klarer Beweis, dass eine andere Gesinnung
sie beherrschte, wie in früheren Tagen. Die Noch und die Mühsale, durch welche sie gegangen waren,
hatten die Wirkung gehabt, dass sie zur Einsicht und zur Erkenntnis ihrer Bosheit gekommen waren
(1. Mo 42,21); und kaum war diese Umkehr ihres Herzens ans Licht getreten, so stillte Joseph auch
schon ihre Unruhe und überschüttete sie mit Segnungen, während die Brüder fast außer Stand waren,
der Überzeugung Raum zu geben, dass ihr schnödes Vergehen, dessen sie sich schuldig gemacht,
bedingungslos vergeben sei.
So wird es einmal mit den Juden geschehen. Die Drangsal, welcher sie unter dem Antichristen
bloßgestellt sein werden, wird ihr Herz brechen. Viele Tätigkeiten und Hebungen der Seele werden
bei dem Überrest zum Vorschein gerufen werden. Die gegen Jerusalem sich erhebenden Völker
werden vertilgt werden; doch über das Haus Davids und über die Bewohner Jerusalems wird Jehova
den Geist der Gnade und des Flehens ausgießen, und – sie werden Ihn anschauen, welchen sie
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  Eine Betrachtung über Sacharja 12,10–13
durchstochen haben. Ja, welch ein Anblick wird das sein! in der Gegenwart dessen, den sie gekreuzigt
haben, und unter der Wirkung des Geistes der Gnade und des Flehens, werden sie dann es tief
fühlen, was es gewesen ist, dass sie „den Herrn der Herrlichkeit“ ans Fluchholz genagelt haben. Unter
dem Einuss der das Herz zerschmelzenden Gnade und des Anschauens dessen, der vergebens auf
„Mitleiden wartete“ (Ps 69,20; 1. Mo 42,21), und dessen Füße und Hände sie durchgraben haben, wird
ein tiefes Weh ihre Seele ergreifen, welches sich durch lautes Klagen und Jammern Luft machen wird,
wie gegenüber dem Erstgeborenen, den der Tod hinweggerissen hat. Das Kennzeichen ihrer wahren
Neue über ihre Sünde wird mit darin bestehen, dass nicht nur ein allgemeines und dadurch oft
ein unbestimmtes Wehklagen stattnden wird, sondern im Gegenteil werden „jegliches Geschlecht
besonders und ihre Weiber besonders“ ihre Wehklage laut werden lassen (Kap 12,12–14). Ein jeglicher
wird seinen Anteil an der Sünde vor Augen haben und tiefe Reue fühlen. Dann wird erfüllt werden,
was der Herr selbst zum Voraus gesagt hat, dass „alle Stämme des Landes wehklagen“ (Mt 24,30) und
auch die Weiber von Jerusalem weinen werden (Lk 23,29).
Wie herrlich und Zugleich wie lehrreich ist es, diese Gnadenwirkung wahrzunehmen! Wie treend
wird uns hier vor Augen gestellt, was in jeder Seele vorgeht, die sich unter der Wirkung der Gnade
Gottes bendet! Jeder Mensch, dem Gott Gnade erweisen, und den Er, damit er nicht in die Grube
hinabfahre, Versöhnung nden lassen will, wird erfahren müssen, dass „das Fleisch abzehrt, dass man
es nicht mehr sieht, und dass seine Knochen, die nicht gesehen wurden, entblößt sind“ (Hiob 33,21).
Ja, Gott scheut keine Mühe, den Menschen oft die schmerzlichsten Wege gehen zu lassen, damit
derselbe unter der Erleuchtung seines Geistes zur wahren Anerkennung seines Zustandes und zu
dem Bekenntnis: „Ich habe gesündigt“, und dann zu dem Freudenruf gebracht werde: „Aber Gott hat
meine Seele erlöst.“ Das wahre Kennzeichen einer Seele, die unter der Wirkung des Heiligen Geistes
zum Schuldbekenntnis gebracht ist, besteht darin, dass eine solche Seele nicht mehr die unbestimmte
Erklärung: „Wir alle sind Sünder!“ abgibt, sondern dass sie sich mit ihrem eigenen Zustand und mit
ihrem besonderen Anteil an der Sünde beschäftigt.
„An selbigem Tag wird eine Quelle geönet sein dem Haus Davids und den Bewohnern Jerusalems
für Sünde und für Unreinigkeit“ (Kap 13,1). In demselben Augenblicke also, wo die Juden ihre
Sünde beweinen, ist für sie eine Quelle für die Sünde geönet. Und – o Wunder der Gnade! – die
Quelle entspringt aus der Seite dessen, der sich von ihnen anschauen lässt als der, welchen sie
durchstochen haben. „Alsbald kam Blut und Wasser hervor“, sagt Johannes, der zugegen war, als
sie Ihn durchstachen. Das Blut zur Versöhnung der Sünde und das Wasser zur Wegnahme der
Unreinigkeit entsprang aus der Seite des durchstochenen Christus. Welch eine Entdeckung wird das
für die Juden sein! Sicher war es ihre Bosheit und Sünde, die sie zu beweinen gelernt haben; aber
dennoch haben sie selbst die Quelle geönet, aus welcher gerade das hervorsprudelt, was ihre Sünde
versöhnt und ihre Unreinigkeit wegnimmt. Und wie wunderbar ist die Gnade Gottes! Wie Joseph zu
seinen Brüdern, so kann Jesus zu den Juden sagen: „Ihr zwar, ihr gedachtet Böses wider mich, Gott
aber gedachte es zum Guten, auf dass Er täte, wie es an diesem Tag ist, um ein großes Volk am Leben
zu erhalten“ (1. Mo 50,20).
Die Bosheit der Menschen macht Gott dienstbar für die Ausführung der Absichten seiner Gnade.
Was sie gegen Ihn unternommen, lässt Er für sie zum Guten wirksam sein. Das ist Gottes würdig.
Darin liegt seine Herrlichkeit. Welch ein Herz hat Gott! Welch eine erhabene Gesinnung, dass Er,
nachdem die Sünde ihren Höhepunkt erreicht, ein Wohlgefallen daran hat, seine Gnade über diesen
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  Eine Betrachtung über Sacharja 12,10–13
Höhepunkt hinaus emporsteigen zu lassen! . . . Und wie groß ist das Glück derer, die einen solchen
Gott als ihren Gott und Vater kennen!
Dann sehen wir weiter, dass Jehova den Namen der Götzen, der falschen Propheten und der unreinen
Geister aus dem Land hinwegschaen wird (Kap 13,2). Was die Juden selbst in das Land eingeführt
haben, führt Er wieder aus. Wie der Herr einst die Wechsler und Käufer aus dem Tempel trieb, weil
dieser Tempel das Haus seines Vaters war, so wird Jehova die Götzen, die falschen Propheten und
die unreinen Geister aus dem Land austreiben, weil es sein Land, seine Besitzung, sein Erbe ist
(5. Mo 32,9). Wird Jehova in seinem Land Einzug halten (Kap 14,5), dann muss es ein gereinigtes Land
sein, sowie auch das Volk gereinigt sein muss, in dessen Mitte Er verweilt. Es wird ein williges Volk
sein. Wenn jemand, nachdem Jehova die falschen Propheten aus dem Land getrieben hat, dennoch
vermessen genug sein sollte, zu weissagen, so wird ein solcher von seinem eigenen Vater und von
seiner eigenen Mutter durchstochen werden. Kein falscher Prophet wird ungestraft auftreten können,
um das Volk hinter dem Herrn hinweg zu locken. Und wenn es dennoch jemand wagen sollte, zu
weissagen, so werden selbst die, von denen er eine schonende Behandlung hätte erwarten können,
wider ihn auftreten und ihm sagen: „Du darfst nicht leben“ (V 3). Niemand wird dann „einen härenen
Mantel anlegen, um zu betrügen“ (V 4). Wie herrlich ist die Umwandlung bei dem Volk, sobald es
seine Sünde mit einem gebrochenen Herzen beweint hat! Früher hatten sie Ihn durchstochen, den
sie nun als den Herrn der Herrlichkeit anschauen; jetzt aber weinen sie darüber und durchstechen
ihre eigenen Kinder, wenn dieselben wider diesen Herrn aufzutreten wagen. Damals töteten sie den
wahren, jetzt den falschen Propheten. Wie der Herr die falschen Propheten ausrottet, so tun sie es
gleicherweise, selbst wenn der falsche Prophet ihr eigenes Kind wäre. Gott hat früher seinen eigenen
Sohn durchstechen lassen, ja Er hat selbst sein Schwert wider Ihn zu Gunsten seines Volkes erhoben
(V 7), jetzt durchstechen sie ihren eigenen Sohn zu Gunsten seiner Ehre und seiner Herrlichkeit.
Wie mächtig ist doch die Wirkung der Gnade auf das Herz des verstockten Bösewichts! Nicht nur,
dass sie ihn dahin bringt, von seinen bisherigen Taten abzulassen, sondern er beweint und beklagt
auch das, woran er früher seine Freude fand, und er tut gerade das Gegenteil. Wer früher ein Dieb
war und das Gut des Anderen raubte, stiehlt jetzt nicht mehr, sondern arbeitet vielmehr und wirkt
mit den Händen, was gut ist, damit er dem Dürftigen mitzuteilen habe (Eph 4,28). Und das ist in
der Tat ein sprechender Beweis, dass eine andere Gesinnung, ein anderer Wille, ein anderes Leben
da ist. Etwas aufzugeben, was man früher tat, das vermochte auch wohl ein nicht wiedergeborener
Mensch auszuführen. Ein Dieb kann aufhören zu stehlen, ein Mörder aufhören zu morden: doch der
Mörder, der einem anderen das Leben nahm, kann nicht sein eigenes Leben für andere hingeben;
der Dieb, der das Gut des Anderen raubte, kann nicht sein eigenes Gut an andere verschenken, es
sei denn, dass beide eines neuen Lebens teilhaftig geworden sind, welches Neigungen hat, die dem
eigenen Leben gegenübergestellt sind. Es ist daher unmöglich, dass jemand, der wiedergeboren ist,
„in der Sünde verharre, damit die Gnade überströme“ (Röm 6). Er ist eines neuen Lebens teilhaftig
geworden, auf dass er auch in der Neuheit des Lebens wandeln kann. Tut er es nicht, so fühlt er
sich unglücklich, weil er den Bedürfnissen des neuen Lebens, welches sein Leben geworden, nicht
entspricht. Er ist gleich einem Vogel, der wiewohl geschaen, um sich in der Luft zu bewegen, gegen
seine Natur im Wasser leben sollte.
Wie ganz anders würde in mancher Beziehung unser Wandel sein, wenn wir dieses allezeit
verwirklichten! Üben wir uns daher, „allezeit ein gutes Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott
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  Eine Betrachtung über Sacharja 12,10–13
und den Menschen“, gleich dem Apostel Paulus (Apg 24,16), der den Besitz eines neuen Lebens so
herrlich dadurch oenbarte, dass er sich für dieselbe Versammlung, die er ehemals bis zum Äußersten
verfolgte, aufzuopfern bereit war, und es sogar als eine Ursache der Freude betrachtete, als „ein
Trankopfer gesprengt zu werden“ (Phil 2; 2. Tim 4).
Nachdem uns nun in einer so herrlichen Weise die Folgen der Ausgießung des Geistes der Gnade
und des Flehens über das Haus Davids und über die Bewohner Jerusalems vor Augen gestellt sind,
wollen wir noch etliche Augenblicke bei den Versen 5–7 verweilen, worin uns die Grundlage aller
Handlungen Gottes in Gnade gegen die seinigen, nämlich das Werk Christi gezeigt wird. Wir nden
hier Christus vom Anfang bis zum Ende seiner Laufbahn voller Selbstverleugnung und Aufopferung.
Die falschen Propheten traten auf mit der Anmaßung und dem Eigendünkel des Selbstgefallens,
während Er, der sich nicht selber gefallen hat (Röm 15,3), ohne Anmaßung kam. Er rühmte sich nicht,
ein Prophet zu sein, wiewohl Er es dennoch war. Er hatte das Recht, sich dienen zu lassen; aber Er
kam, um zu dienen. Er sprach: „Ich bin ein Ackermann; denn Menschen haben mich besessen von
meiner Jugend an“ (V 5). Der Mensch, der sich selbst zu einem Sklaven der Sünde hat anwerben
lassen, hat es, wenn Gott die Pläne seiner Liebe ausführen sollte, nötig gemacht, dass der Herr, der
Gebieter über alles und über alle, sich zu einem Knecht, zu einem Sklaven auf Erden anwerben ließ.
Er, der „in Gestalt Gottes und Gott gleich war, nahm Knechtsgestalt an, indem Er in Gleichheit der
Menschen geworden ist, und, in seiner Stellung als Mensch erfunden, erniedrigte Er sich selbst.“ Er
ging umher und tat Gutes. Er machte die Blinden sehend, die Lahmen gehend, die Tauben hörend;
Er reinigte die Aussätzigen, weckte Tote auf und predigte den Armen das Evangelium. Er lebte und
arbeitete für andere; für sich selbst suchte Er nichts. Als müder Pilger saß Er hungrig und durstig
am Jakobsbrunnen; aber es war für Ihn Speise und Erquickung, als Er eine arme Samariterin der
Gabe Gottes teilhaftig machen konnte. Für Ihn gab es, als Er kam, „keinen Platz“ in der Herberge;
aber ein Stall und eine Krippe genügten Ihm schon. In dem Flecken der Samariter fand Er keine
Aufnahme, als Er sein Angesicht gerichtet hatte, um nach Jerusalem zu gehen; aber lieber wollte Er
als ein Scheusal abgewiesen werden, als – wie Elias es getan – Feuer vom Himmel fallen und seine
Verächter verschlingen zu lassen. Als sich die Jünger um den ersten Platz stritten, sagt Er, dass Er nicht
gekommen sei, um sich dienen zu lassen, sondern um selbst zu dienen und sein Leben als Lösegeld für
viele zu geben. Wie ernst ermahnt uns der Heilige Geist, wenn Er sagt: „Die Gesinnung sei in euch,
die auch in Christus Jesus war“ (Phil, 2). Nie verschieden ist die Gesinnung Christi von der Gesinnung
der Menschen, wie sie von Natur sind. Der Mensch, der unter den Engeln war, wollte sich über die
Engel bis zur Höhe Gottes erheben, während Er, der „bei Gott“ und „Gott“ war, hoch erhaben über
den Engeln, sich unter die Engel erniedrigt hat und dahin hinabgestiegen ist, wo wir uns befanden.
In dem ersten Menschen, Adam, schauen wir all die moralische Scheußlichkeit der Selbstüberhebung
mit ihren traurigen Folgen für sein ganzes Geschlecht. In dem zweiten Menschen, Christus, erblicken
wir die moralische Schönheit der Selbsterniedrigung mit ihren gesegneten Folgen für sein ganzes
Geschlecht. Dass wir nicht mehr mit Adam, sondern mit Christus verbunden sind, und dass wir nicht
mehr das alte Leben, sondern das neue Leben besitzen, können wir nicht besser an den Tag legen,
als dadurch, dass wir uns erniedrigen und uns als ein Opfer hingeben. Ein Christ sollte unter einer
Menge gewöhnlicher Menschen auf den ersten Blick in seiner Knechtsgestalt erkannt werden; und
nichts muss das geistliche Auge deutlicher in ihm wahrnehmen, als die Selbstverleugnung und die
Selbstübergabe. So wie der natürliche Mensch zu herrschen trachtet, muss es die Lust des Christen
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  Eine Betrachtung über Sacharja 12,10–13
sein, zu dienen. Hierin liegt der Verweis seiner moralischen Gleichförmigkeit mit Christus, seinem
Herrn, der, ob Er zwar der Herr des Himmels und der Erde war, herniederkam, um als ein Knecht auf
Erden zu dienen.
Was war nun aber das Teil des dienenden Jesus von Seiten derer, um welcher willen Er sich so tief
erniedrigte? Welchen Lohn gaben sie Ihm für all die Liebe, die Er unter ihnen oenbart hatte? –
Schmach und Schande, Hohn und Spott, Feindschaft in Worten und Werken, – siehe, das war es,
wodurch man seine selbstverleugnende und dienende Liebe vergalt. „Und wenn jemand zu Ihm
spricht: Was sind das für Wunden in deinen Händen? – so wird Er zu ihm sagen: Es sind die Wunden,
womit ich geschlagen worden im Haus derer, die mich lieben“ (V 6). Sie haben Ihn gesehen in seiner
moralischen Schönheit: Er hatte Werke unter ihnen verrichtet, die niemand anders zu verrichten
vermochte; allein dieses alles hatte keine anderen Folgen, als dass sie sowohl Ihn, als auch den Vater,
den Er oenbart hatte, hassten mit einem vollkommenen und unversöhnlichen Hass (Joh 15,24). Von
der Höhe der Berge wollten sie Ihn hinunterstürzen; mit Stöcken und Schwertern umringten sie Ihn,
um Ihn gefangen zu nehmen. Als Er in Fesseln vor ihnen stand, spien sie Ihm ins Angesicht und
schlugen Ihn mit Fäusten. Das Angesicht des Barrabas – und Barrabas war ein Mörder – konnten
sie ertragen: aber das Gesicht Jesu, der ihnen Gutes getan hatte, mochten sie nicht anblicken. Sie
verurteilten Ihn zum Tod, durchgruben seine Hände und seine Füße, nagelten Ihn ans Fluchholz, und
zeigten durch ihren Hohn und ihre Schmähung, wie sehr sie sich seiner Leiden freuten.
Dieses alles war sein Lohn und zwar nicht von Seiten der blinden Nationen, die nichts von Ihm
wussten, und denen kein Messias verheißen war, sondern von Seiten der Juden, zu denen Er als die
Erfüllung der Verheißung, die den Vätern gegeben, gekommen war, und in deren Mitte Er lebte, als
der Sohn Davids, der Nachkomme des großen Königs, und als der Sohn Abrahams, als dessen Kinder
sie sich auch selbst betrachteten. Keine wilden, unwissenden Kannibalen hatten Jesus an das Kreuz
genagelt, sondern das einzige Volk der Erde, zu welchem Gott je geredet hatte, und welches einen
Gottesdienst besaß und einen würdigen Namen trug – ja, dieses Volk hat sich des scheußlichsten
Mordes schuldig gemacht, der je begangen worden ist, solange die Welt besteht. „Er kam in das Seine,
und die Seinen nahmen Ihn nicht auf.“ „Er ist geschlagen worden in dem Haus derer, die Ihn liebten.“
Das israelitische Volk hat Ihn, „der allein des Ehrennamens ‚Israel‘ würdig war“, nicht unter sich
leben lassen wollen. Er wusste, als Er in ihre Mitte trat, was Er zu erwarten hatte; niemand brauchte
Ihm zu sagen, was in dem Menschen war. Er selbst wusste es sehr gut. Mit der völligen Erkenntnis
dessen, was seiner harrte und wie sie Ihn empfangen würden, kam Er zu ihnen und wandelte unter
ihnen mit keiner anderen Gesinnung, als um ihnen zu dienen und seine Seele als Lösegeld für sie
hinzugeben. Sein erstes Wort am Kreuz, an welches seine Hände durch die ihrigen genagelt waren,
war das Gebet für sie: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ In dem Maß ihr Hass
sich steigerte, vermehrte sich seine Liebe; ja, mit dieser unbegreiichen Liebe begegnete Er ihrem
unbegreiichen Hasse.
Wie furchtbar und schrecklich ist doch die Bosheit des Menschen! Dem „Mörder“, Satan, gestattete
er den Eintritt in das Paradies; den Fürsten des Lebens, der gekommen war, um ihm das Leben zu
bringen, trieb er weg von dieser Erde. Dem Ersteren gestattete er, über ihn zu herrschendem Letzteren
gestattete er nicht, ihm zu dienen. Gegenüber dem dienenden Jesus hat er, ohne es zu wissen und
zu wollen, den wahren Charakter der Sünde, als Feindschaft wider Gott, ins Licht gestellt. Wenn Er
nicht gekommen wäre, würde die Sünde nicht in dem ganzen Umfange ihrer Hässlichkeit an den
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  Eine Betrachtung über Sacharja 12,10–13
Tag getreten sein. In der Verwerfung des Messias aber hat der Mensch gezeigt, dass Er ein Feind des
Gottes ist, der in der Hingabe seines geliebten Sohnes die vollkommenste Liebe an den Tag gelegt
hat; und wir ersehen daraus, von welcher Art die Sünde des Menschen ist. Nur in dem Licht des
Geistes Gottes und auf dem sicheren, unerschütterlichen Standpunkt der Gnade sind wir fähig, die
Sünde in ihrer außerordentlichen Hässlichkeit kennen zu lernen und über sie zu trauern und zu
weinen. Wir können zwar in Betre unserer selbst die Überzeugung in uns tragen, dass es im Blick
auf unsere Sünden und Vergehungen einmal kein gutes Ende nehmen wird, und dass es, um dem
Gericht und dem zukünftigen Zorn zu entiehen, durchaus kein anderes Rettungsmittel gibt, als dass
wir zu Jesu unsere Zuucht nehmen; ja, wir können auch wirklich zu Ihm geeilt sein und mithin
Rettung gefunden haben; allein dieses alles ist etwas ganz anderes, als die Sünde zu sehen und zu
beurteilen, wie Gott sie sieht und beurteilt. Um dieses zu können, müssen wir uns in der Nähe Gottes
benden. Es ist ein großer Unterschied, ob das menschliche, oder das göttliche Urteil sein Licht über
die Sünde ausstrahlen lässt.
Und wenn wir in diesem Licht unsere ganze Aufmerksamkeit auf das richten, was Gott am Kreuz tat,
wo der Hass der Juden gegen Jesus ihren Höhepunkt erreichte, so sehen wir die Größe der Liebe
Gottes mit der Größe der Sünde des Menschen in einem Punkt zusammentreen. In dem Kapitel 13,7
unserer Betrachtung lesen wir die Worte: „Schwert, erwache wider meinen Hirten und wider den
Mann, der mein Genosse ist! spricht Jehova der Heerscharen. Schlage den Hirten, und die Herde
wird zerstreut werden! Und ich werde meine Hand zu den Kleinen wenden.“
Hier redet, hier handelt also Gott selbst. Er ist es, der seinem Schwert gebietet, sich zu erheben; und Er
ist es, der sein Schwert niederfallen lässt auf das Haupt Jesu. Wollte Er sich in Gnade oenbaren und
Sünde vergeben, wie es die Lust und die Freude seines Herzens war, dann war Er vorher gezwungen,
die Sünde zu strafen und die Sünde zu richten, dann musste Ec die Früchte und den ganzen Stamm
samt der Wurzel des bösen Baumes, der „keine guten Früchte zu bringen“ vermochte, zunichtemachen,
damit der gute Baum, der „keine bösen Früchte bringen kann“, seinen Platz einnehmen könne. Nur
durch den Weg der Gerechtigkeit hindurch vermochte die Gnade zu herrschen. Gott war es sich selbst
schuldig, vorher mit der Sünde nach den unwandelbaren Forderungen seiner eigenen Gerechtigkeit
und Heiligkeit zu handeln. Er hätte das Recht gehabt, an uns also zu handeln; denn wir hatten
gesündigt, wir waren Sünder; allein es war nicht sein Wille, dieses an uns, die wir es verdient hatten,
zu vollziehen, sondern an seinem eigenen Sohn, der Sünde nicht kannte und in dessen Mund kein
Betrug gefunden ward, und der vielmehr das Gegenteil verdient hatte. Hätte Er das Gericht über die
Sünde an uns vollzogen, so wären wir nicht nur unter seinem Zorn für ewig vernichtet, sondern
auch darunter begraben geblieben. Doch in diesem Fall hätte man die Frage erheben können: „Wo ist
die Liebe Gottes?“ Hätte Er andererseits die Sünden nicht bestraft und die Sünde nicht gerichtet, aber
uns dennoch Gnade zu Teil werden lassen, dann allerdings wäre die Frage am Platz gewesen: „Wo
ist die Wahrheit, die Majestät, die Gerechtigkeit Gottes?“ Da nimmt Gott seinen eigenen Sohn, der
seinerseits sich freiwillig und ohne Zwang dazu hingab, und macht „Ihn, der Sünde nicht kannte, für
uns zur Sünde.“ Selbstredend in diesem Fall mühte nun auch der Sohn die Strafe tragen und sich dem
Gericht unterwerfen, das wir verdient hatten. Denn sobald Er unseren Platz einnahm, mühte Er auch
unser Teil werden. Die Schläge, die uns hätten treen müssen, mussten dann unausbleiblich auf Ihn
niederfallen. Das brachte sein? Stellung, in welche Er um unsertwillen eingetreten war, mit sich. Und
da die Sünde ein „großes Unrecht“ gegen Gott war, so musste die Majestät Gottes selbst das Urteil
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  Eine Betrachtung über Sacharja 12,10–13
fällen, und die Gerechtigkeit Gottes mühte es ausführen. Die Größe und Schwere der Strafe über
die Sünde konnte allein Gott bestimmen; denn um die Tiefe dessen ermessen zu können, was der
Mensch getan, da er die Majestät Gottes verhöhnt, die Ehre Gottes geschändet hat, müsste man Gott
sein. Weder die Menschen, noch die Engel würden zu fühlen und zu beurteilen fähig sein, was es
heißt, wenn Gott entehrt ist; denn da sie nicht Gott selbst sind, so vermögen sie sich unmöglich in
das zu versetzen, was Gott fühlen mochte, als der Mensch, sein Geschöpf, das Haupt wider Ihn erhob.
Ein Mensch kann fühlen, was es ist, wenn ein Mensch gekränkt und beleidigt wird; ein Engel kann
beurteilen, was es ist, wenn man die Ehre eines Engels antastet. Darum kann es auch nur Gott allein
wissen, was es ist, wenn man Ihn verachtet. Und nach der Vollkommenheit der Kenntnis Gottes in
Betre der Sünde war es seine Sache, die Größe der Strafe und die Schwere des Gerichts über die
Sünde zu bestimmen.
Dieses Gericht nun – das vollkommene Gericht über die Sünde – vollstreckte Gott selbst: und Er
vollstreckte es an seinem eigenen Sohn, den Er liebte; an seinem Eingeborenen, an dem Er sein ganzes
Wohlgefallen hatte.2 Was aber dort auf dem Kreuz in jenem schrecklichen Augenblicke zwischen
Gott und seinem Sohn vorging, darauf vermögen wir zwar hinzuweisen, aber wir sind außer Stand,
es zu fühlen und zu beschreiben. Die Tiefe jener unbeschreiblichen Leiden zu ergründen, die der
Sohn Gottes fühlen mühte, als – nachdem die Bosheit der Menschen nicht weitergehen konnte – die
Gerechtigkeit Gottes sich gegen Ihn erhob und der Zorn Gottes, der vollkommene Zorn über die
Sünde, über seinem Haupt entbrannte, – dazu ist kein Geschöpf weder im Himmel noch auf der Erde
fähig.
Wer würde im Stande sein, sich eine Vorstellung zu machen von dem, was in der Seele des am Kreuz
hängenden Sohnes Gottes vorging, als das Angesicht Gottes, welches stets mit Wohlgefallen auf
Ihn gerichtet war, sich nun im Zorn von Ihm abwandte? Wer würde es beurteilen können, was
es für den geliebten Sohn war, geschlagen zu werden mit dem Schwert Gottes selbst? Und wer
würde andererseits sich eine Vorstellung zu machen vermögen von dem, was in dem Herzen Gottes
vorging, als Er seinen eigenen Sohn nicht behandelte nach der Liebe, welche Er stets zu Christus
als seinem Sohn in sich trug, und auch nicht nach der Liebe, welche Er gerade hier zu Ihm fühlen
musste, wo Christus Ihn im höchsten Gerade verherrlichte, als Er Ihn behandeln musste nach dem
ganzen Abscheu und Widerwillen, den Er, der Heilige und Gerechte, gegen die Sünde fühlte nachdem
verzehrenden Eifer, den Er gegen das Böse in sich trug? – Alles was wir zu tun im Stande, sind, ist,
dass wir im Geist, voll Bewunderung und Anbetung, dabeistehen und zuschauen; aber es ist durchaus
unmöglich, dass wir uns ein klares Bild machen können von dem, was dort am Kreuz, und zwar um
unsertwillen, zwischen Gott und Christus stattgefunden hat. Die Frage, in Betre unserer Sünde und
2 Wir sprechen hier nicht über den Wert des Werkes Christi selbst, über die Hingabe seiner selbst in den Tod, um die
unserseits geschändete Ehre Gottes wiederherzustellen. In diesem Fall würden wir hervorheben, wie allein Christus,
weil Er Gott war, die Forderungen dieser verletzten Ehre Gottes erkennen und erfüllen konnte. Wer eine Schuld
bezahlen will, muss vorher wissen, wie groß sie ist. Niemand aber – mochte er ein Mensch oder ein Engel sein – konnte
wissen, wie groß die Schuld war, die der Mensch bei Gott gemacht hatte, als nur Er, der selbst Gott war. Christus hat
nach der göttlichen Kenntnis, die Er in Betre der Forderungen der geschmähten und verunehrten Majestät Gottes
besaß, dieser Forderung vollkommen genügt und auf diesem Weg Gott verherrlicht im Blick auf unsere Sünde. – Dass
Er dieses tun konnte und getan hat, darin liegt seine eigene Herrlichkeit. Der Herr Jesus selbst sagt: „Jetzt ist der Sohn
des Menschen verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in Ihm“ (Joh 13,31). Ernste, köstliche, beachtenswerte Wahrheit!
  65
  Eine Betrachtung über Sacharja 12,10–13
Zugleich unserer Versöhnung war es, die dort am Kreuz, ohne uns zu Rat zu ziehen, allein zwischen
Gott und Christus gelöst und behandelt worden ist.
Es ist höchst beachtenswert, dass in demselben Augenblick, wo Christus der Gegenstand des
allgemeinen Hasses und der Verachtung des ganzen Volkes war, ja, in dem Augenblick, wo Er
das Bild der äußersten Schwachheit und des tiefsten Elends zur Schau trug, Gott selbst in der soeben
angeführten Schriftstelle die Ehre seines Sohnes aufrechterhält, indem Er Ihn nennt: „den Mann,
der mein Genosse ist.“ Wenn Gott auf der einen Seite um des Platzes willen, den Christus einnahm,
gezwungen war, Ihm gegenüber das Schwert zu entblößen, so gab es auf der anderen Seite doch
keinen Augenblick, wo Ihm Christus hätte teurer sein können, als gerade jetzt, wo derselbe Ihn
vollkommen verherrlichte. Dadurch, dass Er an diesem Platz und in diesem Augenblick Christus
als den Mann, der sein Genosse ist, bezeichnet, sorgt Er hinreichend dafür, dass man es nimmer
vergessen kann, wer jene Person war, die das tiefste Elend und die schmählichste Verhöhnung zur
Schau stellte. Gott richtet auf diese Weise an den Menschen die ernsten Worte: „Hältst du Ihn nicht
für würdig, dein Genosse zu sein, so erkläre ich dir hiermit, dass Er mein Genosse ist. Verleugnest
und verwirfst du Ihn, so bekenne ich mich zu Mm und verherrliche Ihn.“ O es ist erquickend für das
Herz, hier dieses Zeugnis zu vernehmen und zu sehen, wie Gott die Person dessen hochstellt, „der
um unserer Übertretungen willen verwundet, um unserer Ungerechtigkeit willen zerschlagen ist“,
und der um unsertwillen als „der Unwürdigste unter den Menschen“ geachtet wurde.
Doch wie unaussprechlich groß erscheint hier die Liebe Gottes, der „den Mann, der sein Genosse ist“,
für unsere Sünde büßen lässt! Ja, wahrlich, „Gott erweist seine Liebe gegen uns, indem Christus, da
wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist“ (Röm 5,8). Das Sterben des Christus wird uns hier als
ein Beweis der Liebe Gottes, nicht aber als ein Beweis der Liebe Christi vorgestellt, wie dieses z. B.
in Epheser 5 der Fall ist. Auch war es die Gnade Gottes, dass Christus für alle den Tod geschmeckt
hat (Heb 2). Die Liebe Gottes gegen uns ist nicht nur durch Worte ausgedrückt und durch die Taten
Christi während seines Lebens an den Tag gelegt, sondern auch in einer unaussprechlichen Weise in
dem Tod Christi „erwiesen“ worden, weil Gott selbst es war, der Ihn für uns sterben ließ.
Wer aber könnte an diese Liebe Gottes denken, ohne sich – wiewohl hier nicht die Rede davon ist –
der unaussprechlich großen Liebe des Christus zu erinnern, der im Voraus wusste, welch schreckliche
Dinge seiner von Seiten Gottes am Kreuz harrten,3 dessen Seele bei dem Gedanken an den schweren
Kampf bis „in den Tod bestürzt“, aber der dennoch bereit war, den Kelch zu trinken, den Ihm der
Vater geben würde (Joh 18,11). Er allein kannte die volle Bedeutung und die ganze Tragweite der
angeführten Worte in Sacharja 13; aber wiewohl Ihm nichts unbekannt war, so vermochte Ihn doch
nichts zurück zu schrecken. Das Bedürfnis seiner Seele, um Gott, seinen Vater, zu verherrlichen, war
so groß und die Liebe zu armen, verlorenen Sündern so unendlich, dass Er mit völliger Kenntnis
dessen, was der Kelch für Ihn enthielt, denselben annahm und bis aus den letzten Tropfen leerte. Ach,
wie bewundernswürdig, wie anbetungswürdig ist doch seine Liebe gegen uns! Indem Er die Worte:
„Ich werde den Hirten schlagen“, aus dem Kapitel unserer Betrachtung anführt, – Worte, die für Ihn
so schreckenerregend sein mussten, so vergisst Er doch in diesem verhängnisvollen Augenblicke
nicht, den Nachsatz hinzuzufügen: „Und die Schafe der Herde werden zerstreut werden“ (Mt 26,31);
3 Er führt selbst die Stelle in Sacharja 13,7 in seinen Unterhaltungen mit seinen trauernden Jüngern an (Siehe Mt 26,31;
Mk 14,27).
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  Eine Betrachtung über Sacharja 12,10–13
und wie sehr ist Er bemüht, die Schafe, die sobald zerstreut werden sollten, zu ermutigen, zu stärken
und zu trösten!
„Und ich werde meine Hand zu den Kleinen wenden“ (V 7). Wie süß sind diese Worte, die Jehova
der Heerscharen seinen ernsten, schwerwiegenden Aussprüchen beifügt! Während Er seine Hand
gegen den Mann, der sein „Genosse ist“, ausstreckt, wendet Er dieselbe zu den Kleinen, d. h. zu dem
schwachen, geprüften, hartbedrängten Überrest der Juden. Während Er seine Genossen die Schärfe
seines Schwertes fühlen lässt, gibt Er ihnen die Sanftmut und Zärtlichkeit seines Herzens zu kosten.
Ja, nachdem Er das Eine getan hat, kann Er auch das Andere tun. Nachdem Er das Durchstechen
seines Gesalbten von Seiten der Hand der Juden durch das Durchstechen mit eigener Hand, und zwar
nicht an den mordlustigen Juden, sondern an dem „Mann, der sein Genosse ist“, bestraft hat, kann Er
nach der Lust und Freude seines Herzens sich erbarmen über den niedergebeugten, reumütigen und
wehklagenden Teil, welcher, unter dem Einuss seines Geistes, seine Sünde erkannt und bekannt hat.
So wird Gott zu seiner Zeit mit dem wahren Israel derletzten Tage handeln; und so handelt Gott bereits
jetzt mit uns, die wir „zuvor“, d. h. vor der Erfüllung dieser dem Volk Israel gegebenen Verheißung,
„auf Christus gehot haben“ (Eph 1,13). Jetzt sind wir vor Ihm die Kleinen, denen Er seine Hand
zuwendet, und zwar nicht nur, wie Er sich in Sacharja nennt, als der Jehova der Heerscharen, sondern
als „der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“, der auch „unser Gott“ und „unser Vater“
ist, wie uns das Zeugnis Jesu selbst, sowie das Zeugnis des Apostels in dem Brief an die Epheser
erkennen lässt. Zu uns wendet Er seine Hand und sein Herz. In welchem Zustand wir auch sein
mögen, verlassen von den Menschen, ja von unseren eigenen Freunden, verachtet von der Welt,
gehasst von den Selbstgerechten und Religionsleuten dieser Erde, – die Hand unseres Gottes und
Vaters wendet sich stets zu uns. Mögen wir krank und schwach, elend und vergessen, auf unserem
Schmerzenslager ausgestreckt, durch Kummer niedergebeugt oder durch Unglücksfälle betroen
sein, – die Hand unseres Gottes und Vaters wendet sich stets zu uns. Mögen wir unter dem Gefühl
unserer namenlosen Schuld als Sünder von früher, oder unserer Schwachheit als Christen von heute
niedergebeugt sein; mögen wir das Bewusstsein haben, nicht tüchtig zu sein von uns selbst, etwas zu
denken, als aus uns selbst (2. Kor 3,5), noch etwas tun zu können, als durch uns selbst, – die Hand
unseres Gottes und Vaters wendet sich stets zu uns. Und „wenn Gott für uns ist, wer wider uns? Er,
der doch seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird Er
uns mit Ihm nicht auch alles schenken?“ (Röm 8,31–32)
Welch ein Vorrecht, zu der Zahl dieser Kleinen zu gehören, die an Jesus glauben! Und wenn wir
dieses als ein Vorrecht betrachten, so lasst uns in dem Bewusstsein unserer Ohnmacht in aller Demut,
Sanftmut, Langmut und Niedriggesinntheit unseren Weg fortsetzen und nicht danach trachten, um
zu herrschen, sondern bereit sein, alles zu ertragen und zu leiden und selbst die zu segnen, die uns
uchen, und denen wohl zu tun, die uns beleidigen. Bedenken wir, dass, wie Gott seine Hand zu den
Kleinen wendet, dieselbe Hand sich gegen die Hochmütigen wendet. Ja, seien wir „mit Demut fest
umhüllt; denn Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt Er Gnade“ (1. Pet 5,5).
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  Die verschiedenen Bezeichnungen des Reiches
Die verschiedenen Bezeichnungen des Reiches
1. Das Reich Gottes ist die Oenbarung der regierenden Macht Gottes (Mt 12,28), unabhängig von
einzelnen besonderen Umständen. In Römer 14,17 und 1. Korinther 4,20 wird der innere oder göttliche,
in Lukas 13,18.20 der äußere oder menschliche Charakter des Reiches Gottes beschrieben.
2. Das Reich der Himmel. Dieser Name ist eine Anspielung auf Darstellungen, die wir im Gesetz
(5. Mo 11,18–21), in den Psalmen und in den Propheten nden (Ps 89,29; Dan 4,29). Durch die
Verwerfung des Königs nahm dieses Reich einen verborgenen Charakter an, in welchem es seinen
Lauf fortsetzt und noch nach der Aufnahme der Versammlung bis zum Beginn des tausendjährigen
Reiches bestehen, sich dann in seiner wahren Gestalt zeigen, jedoch erkannt werden wird teils als:
3. Das Reich des Vaters, insoweit es Beziehung hat zu dem, was droben ist (Mt 13,23.43), und teils als:
4. Das Reich des Sohnes des Menschen, insoweit es Beziehung hat zu dem, was auf der Erde ist
(Ps 8; Mt 13,41). So wird also das tausendjährige Reich einen „himmlischen“ und einen „irdischen“
Charakter zur Schau tragen und im ersten Fall nur verherrlichte Heiligen, im letzteren aber auch
solche Gläubigen in sich schließen, deren Leiber noch nicht verherrlicht sind.
5. Das Reich des Sohnes seiner Liebe (Kol 1,13) ist der Kreis, in welchem Christus, als der Gegenstand
der Liebe des Vaters, der Mittelpunkt ist und zu welchem – wiewohl Christus durch die Welt nicht
erkannt ist – wir, die Gläubigen, gebracht sind.
6. Das ewige Reich unseres Herrn und Heilands Jesu Christi ist im Gegensatz zu den Dingen um uns
her (2. Pet 1,11), die vergänglich sind, von ewiger Dauer. Es liegt vor uns: wir haben hineinzugehen;
und zwar soll uns „der Eingang reichlich dargereicht werden.“
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  Gedanken
Gedanken
Es ist nötig, sowohl an die Macht, die für uns ist, zu denken, als auch an die, welche gegen uns ist.
Wenn ich die Macht, die für mich ist, nicht erkenne, so habe ich keine Ruhe, weil ich stets fühle,
wie wenig ich fähig bin, den Umständen, die um mich her sind, zu begegnen: ich werde aufgeregt,
anstatt sie zu beherrschen, bis ich erkannt habe, dass ich eine Macht, die für mich und über den
Umständen ist, besitze. „Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?“ Wenn dies Bewusstsein mich erfüllt,
so vermögen auch die hinderlichsten Umstände mich nicht zu erschüttern.
Ich muss in der Tat zuerst gelernt haben, dass Gott über allem und für mich ist, oder ich bin ganz
unfähig, mit ruhigem Herzen durch diese versuchungsvolle und feindselige Welt zu gehen. Je mehr
ich die Natur und die Absicht der Macht, die gegen mich ist, erkenne, desto weniger werde ich durch
ihren Angri überrascht und darauf unvorbereitet sein; und je mehr ich die Kraft meines Feindes
entdecke, desto mehr werde ich auf meine Hilfsquellen in Gott rechnen. Wer den Feind als gering
betrachtet, rechnet auch auf geringe Hilfe; wer ihn aber in seiner wahren Kraft und Gewalttätigkeit
anschaut, schaut und rechnet auf eine entsprechende Hilfe von Gott und empfängt sie.
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  Betrachtungen über Johannes 13
Betrachtungen über Johannes 13
Wir nden in dem vorliegenden Schriftabschnitt zwei Gegenstände, die wir sowohl ihrer moralischen
Gedankenreihe als auch ihrer historischen Ordnung nach zu betrachten wünschen, nämlich die
praktische und wirkliche Reinigung, deren wir bedürfen, um mit Christus Teil zu haben, sowie die
Ruhe, die daraus entspringt.
Wer den gegenwärtigen Zustand des Volkes Gottes genau betrachtet, wird sicher bald die Entdeckung
machen, dass sich unter den Gläubigen die wirkliche Ruhe der Seele höchst mangelhaft vorndet.
Wir wollen dadurch keineswegs in Abrede stellen, dass Ernst, Wirksamkeit, Eifer, Erkenntnis und
Verständnis heutzutage – vorhanden sind; allein man kann alle diese Dinge, oder wenigstens etliche
davon oenbaren und dennoch des wirklichen Friedens und der wahren Ruhe ermangeln. Es gehört in
unseren Tagen in der Tat zu den größten Seltenheiten, jemanden zu nden, der sich eines bleibenden,
unerschütterlichen Friedens erfreut. Warum? Habt ihr euch, meine geliebten Leser, diese Frage wohl
schon je mit Ernst vorgelegt? Woher kommt es denn, dass sich so viele der Vergebung der Sünden
erfreuen, und dennoch dieses Friedens ermangeln? Aus diese Frage möchte ich die richtige Antwort
geben.
Zwei Grundsätze sind in unseren Tagen unter einer zahlreichen Menge von Gläubigen wirksam
– Grundsätze, durch welche sie ihrer Seele Ruhe und Frieden zu verschaen trachten. Der Eine
derselben ist der Eifer, in irgendeinem Dienst unablässig wirksam und tätig zu sein. Das Herz ist mit
Dingen beschäftigt, die, an und für sich betrachtet, völlig gut und schätzenswert sind, aber die als
solche der Seele die wahre Ruhe weder geben, noch zu geben vermögen, sondern die im Gegenteil
nur zu oft den Mangel an wahrer Ruhe ins Licht stellen. Ach, wie oft begegnet man jemandem, dessen
Herz der wahren Ruhe entbehrt, und der seine Wirksamkeit als ein Mittel betrachtet, um diese Ruhe
zu erlangen! Der zweite Grundsatz, dem man ebenso oft begegnet, ist das unablässige Trachten
nach der Besserung des Fleisches, um auf diesem Weg zur Ruhe zu kommen. Nie viele, sonst ernste,
aufrichtige Christen haben schon die Behauptung aufgestellt, dass durch eine feste Willenskraft
die Unterwerfung des eigenen Willens bewirkt werden könne, und dass durch die Übergabe des
eigenen Willens derselbe sich gleichsam selbst tote, und man durch diese Handlung der Energie die
wahre Ruhe erlange! Ach, wer sein eigenes Fleisch wahrhaft erkannt und gerichtet hat, wird das
Anmaßende einer solchen Behauptung gar bald entdecken.
Nun ist es unsere Absicht, nach der Schrift das Hindernis einer wahren Seelenruhe, welche in
Johannes 13 ihren Ausdruck ndet, und von welcher uns der im Schoß Jesu ruhende Johannes ein
Beispiel liefert, zu bezeichnen und Zugleich festzustellen, worin diese Ruhe besteht und welches ihre
Resultate sind.
Nach unserer Meinung liegt ohne Zweifel die Ursache jenes Mangels an Ruhe und Frieden bei den
Gläubigen in dem Umstand, dass ihre Füße nicht gewaschen sind. Daraus entspringt die Unfähigkeit,
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  Betrachtungen über Johannes 13
in praktischer Weise mit Christus, wo Er ist, Gemeinschaft zu haben. Dieses aber ist – man beachte
es wohl – die Hauptwahrheit, die uns in Johannes 13 vor Augen gestellt wird. Es ist und bleibt
vollkommen wahr, dass der Herr Jesus uns von den tagtäglichen Beeckungen während unseres
Wandels reinigt: aber wir Zweifeln nicht daran, dass uns hier noch eine tiefere Wahrheit ans
Herz gelegt wird, nämlich die Fähigkeit, bei Christus, wo Er ist, zu bleiben. Es handelt sich hier
um eine Reinigung, welche uns in den Stand setzt, mit Christus – mit Ihm in Herrlichkeit – an
gemeinschaftlichen Interessen Teil zu haben. Das sind unseres Erachtens die Hauptgedanken in
Johannes 13.
Zunächst sehen wir hier den Herrn „während des Abendessens“ als den Mitgenossen der Seinen in
dieser Welt: dann aber, „vom Abendessen ausstehend“, bricht Er diese Genossenschaft ab und zeigt
seinen Jüngern, wie Er die Macht besitzt und bereit ist, sie zum Eintritt in ein besseres Verhältnis zu
befähigen. Diese Handlung ist von höchster Bedeutung, und jedenfalls will der Herr damit sagen:
„Bis jetzt war ich in eurer Stellung euer Mitgenosse; nun aber will ich euch befähigen, in meiner
neuen Stellung meine Mitgenossen zu sein; ich will euch zu solchen machen, die mit mir in der neuen
Sphäre und in der neuen Stätte, in welche ich jetzt eintrete, Gemeinschaft haben können.“ – Darauf
nimmt Er das Waschbecken, das Wasser und das Leintuch; und in dem vollen Bewusstsein, „dass
seine Stunde gekommen“, und „dass Er von Gott ausgegangen war und zu Gott hingehe“, steht Er
von dem Abendessen auf, um das Werk seines neuen Dienstes an den Seinen zu erfüllen. Dass die
Liebe die Quelle und die Triebfeder aller seiner Wirksamkeit für sie ist, sagen uns die Worte: „Da er
die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende.“ – Wie köstlich ist diese
Liebe des Herrn! Wie wunderbar seine Gnade! Und vergessen wir es nicht, dass diese Zuneigung und
diese Liebe trotz allem Wechsel der Zeiten und der Umstände in seinem Herzen ewig fortdauern.
Es ist daher durchaus nötig, auf die Quelle und Triebfeder der Handlungen des Herrn unverwandt
unsere Blicke zu richten. Es ist dieses unser gesegnetes Vorrecht; und dennoch, ach, wie wenig
verstehen unsere Herzen, dass alle Beweggründe seines Tuns in Ihm selbst zu suchen und zu nden
sind! Nichtsdestoweniger aber ist es eine unumstößliche Tatsache, dass die Beweggründe, welche
das Getriebe seiner Gnade in Tätigkeit setzen, in seinem eigenen Herzen ihren Platz haben. Nur weil
es das Wohlgefallen seines Willens ist, befähigt Er die Seinen, in seiner Gegenwart zu erscheinen
und mit Ihm in der neuen Stellung, in welche Er getreten ist, Gemeinschaft zu haben. Nur Er vermag
das zu vollbringen, was seinem eigenen Herzen entspricht. Habt ihr, geliebte Leser, das Gefühl,
dass dem Herzen dieses teuren Herrn nichts köstlicher, nichts angemessener ist, als euch für seine
Gegenwart fähig zu machen? Seid ihr wirklich in euren Seelen überzeugt, dass es das Verlangen
seines Herzens war, solche Elende, wie wir von Natur sind, zu befähigen, um mit Ihm in der neuen
Stellung, in welche Er eingetreten ist, Gemeinschaft machen zu können? Ja wahrlich, nicht nur unser
Elend und unsere Bedürfnisse, sondern die Zuneigungen seines Herzens sind die Triebfedern seiner
Wirksamkeit gewesen, um uns für Ihn, wo Er ist, passend zu machen. Zu diesem Zweck „goss Er
Wasser in das Waschbecken und ng an, die Füße der Jünger zu waschen und abzutrocknen mit dem
Leintuch, womit Er umgürtet war.“
Der freundliche Leser möge mir erlauben, folgende Fragen an ihn zurichten: Kennst du die Bedeutung
dieser Handlung, die der Herr Jesus an dir vollzieht? Erkennst du es als eine Tatsache der Gegenwart,
dass Er deine Füße in seiner Hand hält? Weißt du es zu schätzen, der Gegenstand einer solchen, von
Ihm geübten Handlung zu sein – einer Handlung, die nichts Geringeres bezweckt, als jede Spur von
  71
  Betrachtungen über Johannes 13
Beeckung zu entfernen, die dein Verbleiben in seiner Gemeinschaft verhindern könnte, an welcher
sein Herz eine weit größere Freude genießt, als du selbst in deiner Gemeinschaft mit Ihm? Hast
du das Bewusstsein, dass deine Füße gewaschen sind, und unterwirfst du dich, dass sie gewaschen
werden? Hältst du dem Herrn bereitwillig die Füße hin, dass Er die Waschung vollziehe? Findest
du es für notwendig, dass Er sich um deinetwillen umgürtet, um durch das Waschen deiner Füße
alles zu entfernen, was dich für Ihn selbst und für seine Gemeinschaft unpassend macht? Alle diese
Fragen umfassen einfache, vielleicht dir längst bekannte Dinge aber solch alte Dinge müssen öfters
in die Erinnerung zurückgerufen werden; denn wie schnell, gerade weil sie längst bekannt sind,
entschwinden sie unserem Bewusstsein, zumal das, was in und um uns vorgeht, ganz dazu angetan
ist, unsere Blicke von denselben abzulenken!
Ich habe diese Fragen gestellt, um dadurch die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Fußwaschung
von Seiten unseres Herrn hervor zu heben. Ach, wie wenig fühlen die meisten Christen, in der
gegenwärtigen Zeit die hohe Bedeutung dieser gesegneten Handlung! Ja, wir dürfen es uns nicht
verhehlen, dass es im Allgemeinen mehr oder weniger bei uns allen an einer völligen Unterwerfung
unter die Kraft des durchbohrenden, zerteilenden, die Seele durchdringenden Wortes mangelt, um
alles, selbst das Geringste, was für die Gemeinschaft mit Christus ungeziemend und unpassend ist,
zu richten und hinweg zu tun. Ich will bei dieser Gelegenheit an eine Schriftstelle erinnern, welche
uns die hohe Bedeutung der Fußwaschung aufschließt, und welche stets in unserem Herzen einen
Platz nden sollte. „Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer denn jegliches
zweischneidige Schwert, und durchdringend bis zur Zerteilung der Seele und des Geistes, sowohl
der Gelenke als des Markes, und ein Richter der Gedanken und Gesinnungen des Herzens; und kein
Geschöpf ist vor Ihm unsichtbar, sondern alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem
wir es zu tun haben“ (Heb 4,12–13).
Hier haben wir also die göttliche Erklärung von der Art und Weise, in welcher der Herr – und zwar
durch das Wort Gottes – alles, was unsere Gemeinschaft mit Ihm stört und verhindert, aufdeckt
und hinwegräumt. Dass unter dem Wasser das Wort Gottes zu verstehen ist, zeigt uns die Heilige
Schrift an verschiedenen Stellen. Das Wasser ist die reinigende Kraft, die alles beseitigt, was mit der
Gegenwart des Herrn nicht verträglich ist. Wenn das lebendige Wort das Gewissen und die Seele
durchdringt, so bringt es uns in die Gegenwart Gottes: und das göttliche Urteil wirkt durch dasselbe
auf alles, was sich in uns bendet. Auch ist es höchst beachtenswert, dass in dieser angeführten
Stelle sowohl das geschriebene, als auch das eischgewordene Wort einen Platz ndet; denn zuerst
lesen wir: „Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer denn jegliches zweischneidige
Schwert, usw.“ und dann: „kein Geschöpf ist vor Ihm unsichtbar, sondern alles bloß und aufgedeckt
vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben.“ Von wessen Augen ist hier die Rede? Ohne
Zweifel von den Augen Gottes. Nun, was von Gott wahr ist, ist auch von seinem Wort wahr; und
die Vollkommenheiten des hochgelobten Gottes – die durchdringende, wirkende Kraft dessen, der
die Überlegungen und Gesinnungen des Herzens kennt – sind auch seinem Wort zugeschrieben.
Ich hebe dieses mit ganz besonderem Nachdruck hervor, weil ich fürchte, dass unseren Seelen oft
das Gefühl von der erhabenen Nichtigkeit des Wortes mangelt; denn wie ganz anders würde es oft
auf unser Gewissen wirken, wenn wir es wirken ließen unter dem Eindruck, dass wir es mit Gott
selbst zu tun haben! Wir sollten stets die Frage an uns richten; „Nimmt das Wort Gottes wirklich in
unserem Herzen den Platz ein, den die Heiligen der vergangenen Zeiten demselben einräumten?“ Es
  72
  Betrachtungen über Johannes 13
ist zwar durchaus nicht zu leugnen, dass die Christen unserer Tage im allgemeinen eine weit klarere
Erkenntnis besitzen und auch vielleicht einen größeren Eifer an den Tag legen, als die Gläubigen
vor etwa fünfzig Jahren; aber ich frage, ob die Macht, die das Wort Gottes damals auf die Seelen
ausübte, auch heutzutage in demselben Gerade ihren Einuss auf die Gewissen derer besitzt, die da
ernten, was andere gesät haben? Ach, ich fürchte, dass es nicht viele Christen gibt, die es als ein
köstliches Vorrecht betrachten, jeden Gedanken, jeden Beweggrund, jede Handlung des Lebens der
durchdringenden, zerteilenden Kraft des lebendigen Wortes zu unterwerfen.
Kann es unter solchen Umständen unsere Verwunderung erregen, wenn man in unseren Tagen so
vielen Seelen begegnet, welche keine wirkliche Ruhe, keinen wahren Frieden genießen? Wenn es
an der Anwendung des Wassers, d. h. an der Anwendung des Wortes Gottes auf unser Gewissen
mangelt, so dass wir nicht von allem, was mit der Gegenwart Gottes unverträglich ist, gereinigt
werden, so ist es selbstverständlich, dass keine wahre Ruhe vorhanden sein kann; ja, es ist in der Tat
die Güte Gottes, die uns den Genuss dieser Ruhe nicht gestattet, solange wir uns in einem Zustand
benden, der für seine heilige Gegenwart unpassend ist.
Indes möchte ich im Blick auf die Fußwaschung noch die Bemerkung hinzufügen, dass wir die hohe
Bedeutung dieser Handlung sehr unterschätzen, wenn wir darin nur die Reinigung von dem erblicken,
was mit seiner heiligen Gegenwart durchaus unverträglich ist. Vielmehr sollten wir auch daran
denken, dass unser teurer Heiland unzählige Dinge voraussieht und unzähligen Dingen zuvorkommt,
die, wenn sie in uns Eingang und Duldung fänden, die Gemeinschaft sofort stören würden. Dieses ist
mir so recht zu klarem Bewusstsein gekommen, als ich kürzlich von demselben Gesichtspunkt aus
einen anderen Abschnitt des Wortes betrachtete. Wer wollte die Fußwaschung – die Tatsache der
Wiederherstellung von Seiten des Herrn in Gnade – in ihrer vollen Tragweite leugnen? Aber wie
viele Fälle in der Geschichte der Heiligen würden wir in einem ganz anderen Licht betrachten, wenn
unsere Herzen begreifen lernten, wie oft der Herr der Wirksamkeit solcher Grundsätze zuvorkommt,
die unbedingt eine moralische Entfernung zwischen Ihm und uns hervorbringen würden. Ja, wahrlich,
Er zeigt in seiner gnadenreichen Fürsorge eben sowohl seine vorbeugende, als auch seine reinigende
Kraft. Diesesist eine Erfahrung, die der Apostel Paulus gemacht hat; denn wir lesen in 2. Korinther 12,7
die Worte: „Und auf dass ich mich nicht durch die Überschwänglichkeit der Offenbarungen überhebe,
ward mir ein Dorn für das Fleisch gegeben, ein Engel des Satans, auf dass er mich mit Fäusten schlage,
auf dass ich mich nicht überhebe.“ – Hier war für den Augenblick, wie wir sehen, keine Ursache zu
einer moralischen Trennung zwischen dem Apostel und Christus vorhanden. Das Fleisch war in
Paulus nicht wirksam gewesen: aber das Fleisch war vorhanden und konnte wirksam werden; es war
der Grund da, aus welchem eine solche Trennung hätte entstehen können. Alles, was das Fleisch zur
Wirksamkeit treiben kann, ist im Menschen vorhanden, selbst wenn er bis in den dritten Himmel
entrückt worden ist. Darum sagt der Apostel: „Auf dass ich mich nicht überhebe, ward mir ein Dorn
für das Fleisch gegeben.“
Dieser Gedanke findet leider oft nicht die ihm gebührende Beachtung und übt daher auch nicht seinen
vollen Einfluss über unsere Herzen aus. Wir begnügen uns, zu wissen, dass der durch die Wirksamkeit
des Fleisches hervorgebrachte Übelstand der gestörten Gemeinschaft in Folge der fortdauernden
Tätigkeit des Herrn wieder gehoben wird, und wir geben zu wenig dem Wunsch Raum, dass Er sich
vorbeugend der Mittel bedienen möge, um das Eintreten einer solchen Gemeinschaftsstörung zu
verhindern. Sicher, ein ruhiges Nachdenken über diese Dinge würde ein helles Licht auf den Weg
  73
  Betrachtungen über Johannes 13
werfen, den wir geführt werden; und wir würden die Leiden und Trübsale, sowie andere unserer Natur
widerlichen Umstände mit ganz anderen Augen betrachten und, mit einem göttlichen Bewusstsein
im Herzen, es klar erkennen, dass Er, der hinaufgestiegen, uns mit ewiger Liebe liebt und immerfort
an uns denkt und mit uns beschäftigt ist. Er weiß, dass sich in uns eine Natur bendet, auf welche
die verschiedenartigsten Einüsse wirken, um uns aus seiner Nähe zu entfernen: aber Er kennt auch
genau den Augenblick, wo es nötig ist, um durch seine gnadenreiche Dazwischenkunft einer solchen
Entfernung vorzubeugen. Ein solcher Gedanke stellt selbst in den dunkelsten Tagen die Dinge in
das hellste Licht. Wie köstlich und anbetungswürdig ist diese Liebe, die sich nicht nur herablässt,
um die Beeckungen der Seele abzuwaschen, sondern die auch der Wirksamkeit der bösen Natur in
mir zuvorkommt, – einer Wirksamkeit, die mich moralisch von Ihm trennen und zwischen Ihm und
meinem Herzen eine Schranke aufrichten würde!
Außerdem gibt mir diese gnadenreiche Dazwischenkunft des Herrn das Vorrecht, in Gemeinschaft
mit Gott zu lernen, was das Fleisch ist, so dass ich nicht nötig habe, es erst dann kennen zu lernen,
nachdem Satan an mir seine Macht ausgeübt und mich durch Betrug der Sünde überlistet hat: denn
auf die eine, oder auf die andere Weise müssen wir das Fleisch kennen lernen. Wer es nicht mit Gott
wie Paulus in 2. Korinther 12 kennen lernt, der muss es mit dem Teufel wie Petrus kennen lernen.
Wie ernst ist dieser Gedanke! Für Paulus aber war es die erbarmende, zuvorkommende Liebe des
Herrn, die ihn sagen ließ: „Es ward mir ein Dorn für das Fleisch gegeben!“ O welch ein Vorrecht,
einen solchen Heiland, einen solch treuen Hirten, einen solchen Freund zu besitzen, für dessen Herz
solch elende Geschöpfe, wie wir sind, einen Wert haben, weil wir die Gabe seines Vaters und die
Frucht seiner unvergleichlichen Liebe sind!
Geliebter Leser! Weißt du jetzt, was es heißt, für die Gemeinschaft mit dem Herrn passend zu sein?
Hat dein Herz in Bezug auf diese Gemeinschaft etwas empfangen? Ach, ich fürchte, dass nur wenige
diese praktische Gemeinschaft wirklich genießen, und dass mancher sogar nicht einmal diesen
Mangel fühlt und sich nach einem solchen Genüsse sehnt. Sind deine Gefühle, deine Gedanken in
Übereinstimmung mit denen des Christus in der Herrlichkeit? Oder musst du bekennen, dass dein
Herz wenig davon versteht? Vielleicht sagst du: „Ich bin glücklich!“ Dieses mag völlig wahr sein; ich
zweie nicht daran; allein durch die Fußwaschung für die Gegenwart Gottes befähigt zu sein, so dass
alles, was nicht mit dieser Gegenwart harmoniert, hinweggetan ist, ist eine ganz andere Sache. Denn
erst in diesem Fall gibt es für uns kein Hindernis mehr, in völliger Gemeinschaft mit Ihm, wo Er ist,
zu sein und die aus dieser Gemeinschaft entspringende Ruhe zu genießen.
Die Ursache des Mangels an Ruhe unter den Gläubigen liegt also darin, dass, weil ihre Füße nicht
gereinigt sind, sie kein Teil mit Christus haben. Ja, ihre Füße sind nicht gewaschen, und dadurch
ist zwischen ihrem Herzen und Christus eine Kluft entstanden. Sollte das nicht auch in diesem
Augenblick bei dir der Fall sein, mein Leser? Besteht nicht etwa auch in deinem Herzen eine Schranke
zwischen dir und Christus? Ist die Gemeinschaft nicht in irgendeiner Weise gestört? Ach, du solltest
stets das Gefühl haben, dass wenig dazu gehört, um diese Störung zu bewirken. Aber wie bedenklich
ist es, wenn wir unsere Füße seinen Händen entziehen und Ihn eine Zeitlang verhindern, sie uns
zu waschen, oder das Wort unsere Gewissen durchdringen zu lassen. Ich rede hier nicht von dem
Selbstgericht, welches bei uns vorhanden sein sollte, und welches eine natürliche Folge seiner
Tätigkeit sein wird, sondern nur von dem, was Er in der Fußwaschung zu unseren Gunsten tun
will. Die Fußwaschung ist seine Sache, und nicht die unsrige. Aber wir können unsere Füße seinen
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  Betrachtungen über Johannes 13
teuren Händen entziehen und Ihn an der Tätigkeit seiner Liebe verhindern, so dass die moralische
Entfernung zwischen Ihm und uns bestehen und seiner Liebe nichts anders übrigbleibt, als uns
auf dem Weg schwerer Züchtigungen zu belehren und wiederherzustellen. Doch bedenken wir,
welch ein wunderbares Werk ist die Fußwaschung für uns arme Geschöpfe! Welch eine Gnade, die
sich erniedrigt, um uns die Füße zu waschen und uns von allem zu reinigen, was nicht mit Ihm
im Einklang steht! Es ist nicht das Geringste, oder Er ist bemüht, es sorgfältig zu beseitigen; denn
gerade darin zeigt sich die Vollkommenheit seiner Liebe, dass Er nichts durchgehen lässt. Unsere
Selbstsucht, unsere Eigenliebe würde manches hindurchschlüpfen lassen; aber seine Liebe stellt alles
ins Licht. Die Selbstsucht bewegt sich in ihrem eigenen Kreis; die Liebe aber beschäftigt sich mit
einem Gegenstand und opfert sich für denselben auf; sie denkt nur an das Wohl dieses Gegenstandes
und duldet an demselben nicht das Geringste, was nicht mit ihr im Einklänge steht. Und warum?
Um die Freude zu genießen, ihren Gegenstand so zu sehen, wie sie selbst ist. Wer vermöchte die
Freude des Herrn Jesus zu ergründen? Wer wäre im Stande, diese seine Freude, uns bei sich in seiner
Gemeinschaft zu haben, auch nur in geringem Maß mit Ihm zu fühlen? O sicher wird seine Freude,
mit uns Gemeinschaft zu haben, ungleich größer und tiefer sein, als unsere Freude, wie vollkommen
wir sie auch droben in seiner Herrlichkeit genießen werden. Und diese Freude ist der Beweggrund
und die Triebfeder jener herrlichen Handlung, die uns in Johannes 13 vor Augen gestellt wird.
In der gegenwärtigen Zeit, wo so viel Eifer und äußere Tätigkeit in die Erscheinung tritt, und wo
man so leicht die gesegnete Person dessen, dem unsere ganze Arbeit gewidmet sein sollte, aus dem
Auge verlieren kann, ist es vor allem nötig, gerade das mit allem Nachdruck hervorzuheben, was das
Teil des Herrn Jesus ist. Ich bin völlig überzeugt, dass das Herz Jesu in unseren Tagen kein anderes
Zeugnis von den Seinen begehrt, als sie zu nden, nicht als solche, welche sich durch große Dinge
auszeichnen und Großtaten vollbringen, sondern als solche, welche sein Gott und Vater selbst mit
dem Zeugnis bezeichnen kann, dass sich ihre Herzen ganz der Macht und dem Einuss seines viel
geliebten Sohnes unterwerfen und es laut bezeugen, wie in Ihm alle Fülle ist. In der Tat, Er sucht
Zeugen der Gnade und der Macht Jesu, auf dass Er andere, schwache, niedergebeugte Herzen zu
ihnen führen und sagen könne: „Mein geliebter Sohn kann für euch tun, was Er für sie getan hat.“
Hast auch du, mein geliebter Leser, in dir das göttliche Bewusstsein, dass Gott dich in dieser Welt
zurückgelassen als ein Beispiel dessen, was Christus für solch armselige Geschöpfe, wie wir sind, zu
tun vermag? Er kann unsere Herzen so erfüllen, dass sie überströmen und fähig sind, Ihn an jener
herrlichen Stätte zu genießen, wo Er sich in ewiger Ruhe und Freude befindet. Der Herr möge uns
daher Gnade geben, dass wir uns seinen Händen nicht entziehen, sondern uns beständig vor Ihm
im Licht seines Wortes benden mögen, um durch dasselbe alle Beweggründe unseres Herzens zu
beurteilen und auf diesem Weg seine völlige Freude und Ruhe zu genießen. Er wird es in seiner Liebe
nicht vermeiden, unsere Gewissen die Schärfe seines Wortes fühlen zu lassen. Aber fürchten wir uns
nicht, jeden Gedanken unseres Herzens, jeden Trieb unserer Seele der durchdringenden Kraft seines
Wortes zu unterwerfen; fürchten wir uns nicht, und durch dieses Wort durchbohren zu lassen? Wir
sollten keine andere Befürchtung haben, als dieses teure Wort von uns zu entfernen und uns der
das Herz erforschenden Wirkung desselben zu entziehen. Vor dem Wort Gottes aber sollten wir uns
nimmer fürchten. Sollten wir die Liebe fürchten, die stets bemüht ist, das Beste für uns zu tun? Es ist
die Liebe Jesu. Die Gedanken und Gefühle seines Herzens sind, uns zu segnen. Wir sind die Gefäße,
die Er so gern dazu bereiten möchte, damit seine Freude in uns bleibe und unsere Freude völlig sei.
  75
  Betrachtungen über Johannes 13
Nur auf diesem Weg werden wir die Erfahrungen der wirklichen Ruhe, des wahren Friedens machen:
denn dann wird jedes Hemmnis, jedes Hindernis beseitigt sein. Wie rührt es unsere Herzen, wenn
wir die einfachen Worte lesen: „Johannes lag in dem Schoß Jesu.“ Hast auch du, mein teurer Leser,
das Bewusstsein, dass Er deine Füße gewaschen hat, so dass du auch in seinem Schoß ruhen kannst?
Das Eine muss notwendig dem Anderen vorausgehen. Welch ein gesegneter Platz für ein ermüdetes
Herz! Ja noch mehr. Das Mitgefühl Jesu reicht völlig hin, um jeden Heiligen in seinem Schoß Platz
finden zu lassen.
Ruhst du wirklich in seinem Schoß, an seiner Brust, mein teurer Leser? Es ist dieses das Bild einer
herrlichen Sache. Bist du Ihm so nahe, bist du so vertraut mit Ihm, dass Er die vollkommene Ruhe
deiner Seele ist? Es handelt sich hier nicht um das, was wir von Ihm empfangen, sondern Er selbst
will unsere Ruhe sein. Tritt etwas zwischen uns und Christus, so können wir, solange dieses etwas
vorhanden ist, keine wahre Ruhe genießen; denn in einem solchen Zustand scheut unser Herz
seine Gegenwart, weil in derselben das, was zwischen uns und Ihm besteht, eine Beleuchtung und
Beurteilung veranlassen würde. Das aber ist die Ursache, dass so wenige Seelen das Alleinsein mit
Jesu und mit Gott zu ertragen vermögen. Um dieses zu können, muss zwischen Ihm und uns alles in
Ordnung sein. Als Jakob allein gelassen ward, kam ein Mann, der mit Ihm rang, bis die Morgenröte
aufging. Joseph – allein mit seinen Brüdern – gab sich ihnen zu erkennen. Kein anderer war zugegen.
Ach, wie viele Christen suchen Zerstreuung in den Dingen, womit sie sich umgeben, und selbst
in den christlichen Dienstleistungen, die sie vom Morgen bis zum Abend ausüben, um nur nicht
mit Christus und mit Gott allein zu sein! Traurige Wahrheit! Wenn zwischen Ihm und uns nichts
vorhanden ist, dann können wir und werden wir gern mit Ihm allein sein und werden unsere Ruhe
in seiner Gegenwart finden: ja, seine Gegenwart ist dann die Ruhe unseres Herzens. Darum, noch
einmal, mein Leser: Ruhst du im Schoß Jesu?
Mit einem Wort: Ich muss in der Nähe Jesu sein, da wo Er ist. Es ist nicht genug, Ihn als meinen
Heiland, meinen Sündentilger zu haben; es ist auch nicht genug, bei Ihm in den Tagen der Trübsal
Zuflucht und Hilfe zu suchen, sondern ich muss einen Christus haben, der meine Füße wäscht, der
mich von allem reinigt, was nicht in die Gegenwart Gottes passt, damit kein Hindernis vorhanden
sei, um in die Umstände Christi einzugehen. Wer sich im Genüsse des Segens der Gemeinschaft
mit Christus befindet, der kann mit dem Apostel sagen: „Ich vergesse, was dahinten, und strecke
mich nach dem, was da vorne ist.“ Der Genuss dessen, was droben ist, lenkt mein Herz ab von dem,
was eine trügerische Nachbildung jener wahren Güter ist. Die Kinder dieser Welt trachten nach
dem Irdischen, weil sie das wahre Gut nicht besitzen. Neun sie es besäßen, so wäre ein richtiger
Maßstab in ihrer Hand, um die irdischen Dinge beurteilen zu können, nach denen sie sicher nicht
begehren würden. Niemand kann erkennen, was nach dem Urteil Gottes falsch ist, es sei denn, dass
er das Nähre kenne. Wer die Wahrheit nicht erkennt, wird nicht die Wahrheit und den Irrtum zu
unterscheiden vermögen, während, wenn man das Bessere besitzt, man das Geringere erkennt und
es nicht begehrt.
Wenn ich mit Christus ein gemeinschaftliches Interesse habe, so weile ich gern in seiner unmittelbaren
Nähe. Seine Gegenwart ist die Ruhe meiner Seele. Wo diese Ruhe zu finden ist, zeigt uns der 23.
Psalm. Derselbe leitet uns nicht zu irgendeiner irdischen Stätte; denn die Erde besitzt keine „grüne
Auen;“ und ebenso wenig fließen hienieden die „Wasser der Ruhe.“ Wie könnten im Sand der Wüste
„grüne Auen“, wie könnten in den Stürmen dieser Welt „die Wasser der Ruhe“ zu finden sein? Nein,
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  Betrachtungen über Johannes 13
hienieden gibt es weder „grüne Auen“, noch „Wasser der Ruhe;“ hienieden gibt es nur Eitelkeit und
Unruhe. Aber von dem Augenblick an, wo mein Herz die Nähe Jesu kostet und mich an diesem
Genuss nichts hindert, kehre ich den irdischen Dingen, ja, den besten Gütern dieser armen Erde den
Rücken. Dann werden auch die Nachbildungen Satans und alle seine verführerischen Kunstgriff
auf einmal bloßgestellt und richtig von mir beurteilt. Ich finde durch den Glauben im Himmel die
„grünen Auen“ und die „Wasser der Ruhe:“ und die Freude meines Herzens macht mich fest gegen
alles, was nicht mit der Gegenwart Christi harmoniert; denn nur Er allein ist es, der meine Seele
völlig befriedigt.
Noch möchte ich hervorheben, dass, wenn wir, liegend in dem Schoß Jesu, in seiner Nähe zur Ruhe
gebracht sind, wir uns an der rechten Stelle benden, um seine Mitteilungen zu empfangen. O wie
gesegnet ist es, in seiner Gegenwart zu sein und auf die Mitteilungen seines Mundes lauschen zu
können! Dort vergisst man sich selbst und alles, was um uns ist; dort versteht man es, die Welt und
ihre Unruhe bei Seite zu setzen und einzugehen in seine göttlichen Gedanken. Betrachten wir diesen
Gegenstand im Licht des vorliegenden Kapitels, wo wir die Worte lesen: „Als Jesus dieses gesagt
hatte, ward Er erschüttert im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, dass
einer von euch mich überliefern wird. Da blickten die Jünger sich einander an, zweifelnd, von wem
Er rede. Einer aber von seinen Jüngern, den Jesus liebte, lag zu Tische im Schoß Jesu. Diesem nun
winkt Simon Petrus, damit er forschen möchte, wer es wohl wäre, von welchem Er rede. Jener aber,
sich an die Brust Jesu lehnend, spricht zu Ihm: Herr, wer ist es?“ (V 21–25) Welch eine Ruhe zeigt sich
in dem Benehmen des im Schoß Jesu liegenden Jüngers! Wie zutraulich und vertrauensvoll wendet er
sich an seinen geliebten Herrn und Lehrer! Was könnte gesegneter sein! Demjenigen, der sich in der
unmittelbaren Nähe des Herrn bendet, räumen die Anderen das Vorrecht ein, sich wie ein Freund in
dieser zutraulichen Weise an Ihn zu wenden. Der etwas entfernt stehende Petrus gebraucht die Nähe,
worin sich Johannes bendet, um nicht nur die Zweifel seines eignen Herzens zu beschwichtigen,
sondern auch um die Geheimnisse des Herzens Christi zu erfahren. Petrus fühlte, dass der im Schoß
Jesu ruhende Gefährte diese Geheimnisse zu erforschen fähig sei und deren Oenbarung erfahren
werde.
O mein geliebter Leser, wie wichtig ist dieses! Der Herr Jesus kann die Geheimnisse seines Herzens
nicht dem fernstehenden Jünger mitteilen. Befindest du dich nicht in der Nähe, so kannst du weder
seine Geheimnisse, noch seinen Willen, noch sein Verlangen und die Wünsche seines Herzens
erfahren. Ich sage nicht, dass Er dich nicht liebt, aber wenn du einen entfernten Platz eingenommen
hast, so kann keine Vertraulichkeit zwischen dir und Ihm stattfinden, und es bleibt der Tätigkeit
seiner Liebe nichts anders übrig, als dich praktisch in seine Nähe zu bringen, damit Er die Freude
habe mit dir verkehren zu können, denn dieses zu tun, ist das Verlangen seines Herzens. Die anderen
Jünger waren nicht nahe genug, um die Geheimnisse des Herzens Christi erfahren zu können. Nur
Johannes war dazu fähig; er vermochte mit aller Zuversicht die Frage an den Herrn zu richten: „Herr,
wer ist es?“ Er befand sich in völliger Ruhe, um die Antwort seines geliebten Herrn und Lehrers
empfangen zu konnten. Ich frage noch einmal: „Befindest du dich in dieser gesegneten Ruhe? Ist
auch dein Herz von diesem Vertrauen erfüllt und durch diese Ruhe erquickt?“ Ich weiß aus eigener
Erfahrung, dass wir Ihm öfters Mitteilungen machen, aber dass wir uns fetten in völligem Frieden
und in seiner unmittelbaren Nähe befinden, die für Ihn geeignet erscheint, um uns Mitteilungen
machen zu können. Und eben weil diese süße, verborgene Gemeinschaft mit Ihm so mangelhaft
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  Betrachtungen über Johannes 13
ist, so tragen wir auch so wenig das Bewusstsein in uns, dass es das Verlangen seines Herzens ist,
uns in seiner Nähe zu haben, ja, dass es seine höchste Freude ist, uns alles, was Er an Liebe in sich
schließt, ohne Rückhalt offenbaren zu können. O möchte der Herr uns doch diese Ruhe der Seele,
dieses geöffnete Ohr verleihen, um mit Begierde auf das horchen zu können, was Er uns nach dem
Wohlgefallen seines Herzens so gerne sagen möchte!
Lasst uns mit denselben Gefühlen, die uns bei Betrachtung des uns vorliegenden Kapitels geleitet
haben, auch einen Blick werfen auf die Szene, die uns in Kapitel 21 desselben Evangeliums vorgeführt
wird. Hier lesen wir die Worte: „Da sagt der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr!“ Auch
das ist eine Wirkung der Nähe des Herrn. Man ist fähig, die Handlung des Herrn zu verstehen, wenn
man die handelnde Person kennt; denn die Handlung steht mit der Person in Verbindung. Jedoch ist
es nötig, hinzu zu fügen, dass wir nicht seine Nähe suchen und seine Gegenwart genießen sollen,
um seine Mitteilungen und Offenbarungen zu erfahren, und um sagen zu können: „Es ist der Herr!“
sondern dass wir diesen gesegneten Platz um seiner selbst willen einnehmen müssen. Nur aus diesem
Grund können wir uns in den Schoß dessen legen, der seine Nonne daran hat, uns dort zu sehen,
und zwar deshalb, weil die Liebe zu seiner Person uns dahin geführt hat.
Hiermit schließe ich. Meine Worte sind schwach, vielleicht noch schwächer, als ich es selbst fühle.
Der Herr aber möge jedes Hindernis aus unseren Herzen entfernen und uns bereitmachen, unsere
beschmutzten Füße seinen Händen anzuvertrauen, damit Er sie waschen und uns durch sein Wort
von allem reinigen könne, was uns zum Bleiben in seiner Gegenwart, in der Gemeinschaft mit Ihm,
dort an jener herrlichen Stätte, wo Er ist, moralisch unfähig macht. Auf diesem Weg wird sich nichts
zwischen Ihn und uns zu drängen vermögen, und wir werden, was das Verlangen und der Wunsch
seines Herzens ist, wie Johannes in der zutraulichsten Weise unser Haupt an die Brust Jesu legen
können. Wir können versichert sein, dass es kein vorgezogenes Kind in der Familie Gottes gibt,
und dass niemand bevorzugt ist, einen Platz über den Anderen einzunehmen; nein, dieser Platz am
Herzen Jesu ist allen geöffnet, und für alle ist dort Raum vorhanden. Der Schoß Jesu, sein Herz und
seine Zuneigungen sind für alle die Seinen; alle sind eingeladen, ihr Haupt an seine Brust zu lehnen,
dorthin wo Johannes das seinige lehnte.
Möge es uns der Herr schenken, in einer Zeit der Unruhe, der Verwirrung und der Wirksamkeit
auf religiösem Gebiet, – in einer Zeit, wo der menschliche Geist mehr nach der Quantität (Menge),
als nach der Qualität (Güte) seines Tuns trachtet – an das zu denken, was dem Herzen und den
Zuneigungen Christi entsprechend ist! Möge Er uns fähig machen, uns zu der Hohe unserer Berufung
zu erheben, das Glück, in unserem geringen Maße arbeiten zu können, zu genießen, und auf dem
einsamen, vielleicht beschatteten Pfad mit dem Bewusstsein zu wandeln: „Es ist meine Freude, den
Zuneigungen, den Erbarmungen des Herzens dessen zu dienen, der sich selbst für mich hingegeben
hat.“
  78
  Was ist eine Sekte?
Was ist eine Sekte?
Der Ausdruck „Sekte“, eine Übersetzung des griechischen Wortes „hairesis“ findet sich sechsmal
in der Apostelgeschichte4 und bezeichnet eine Lehre oder ein System auf philosophischem oder
religiösem Gebiet, dargestellt durch diejenigen, die gemeinschaftlich diese Lehre oder dieses System
angenommen haben. Die Bezeichnung dieses Wortes hat in unseren Tagen einigermaßen eine
Veränderung erfahren, da der größte Teil der Christenheit sich den Namen „katholische, d. h.
allgemeine Kirche“ beigelegt hat. Jede religiöse Körperschaft, jede christliche Versammlung, welche
nicht dieser so genannten katholischen Gemeinschaft angehört, wurde von diesem Augenblick an
durch dieselbe als eine Sekte betrachtet. Dadurch aber hat das Wort eine falsche Deutung bekommen.
Alle christlichen Körperschaften werden oft „Sekten“ genannt, sobald sie sich von den Christen im
Allgemeinen, oder von denen trennen, welche diesen Namen tragen. Jedoch trägt das Wort „Sekte“
an und für sich schon mehr oder weniger eine Missbilligung dessen, von dem man ausgegangen ist,
zur Schau, indem die, welche einer Sekte angehören, durch eine besondere Lehre oder unter einem
besonderen Namen vereinigt sind. Man kann nicht sagen, dass diese Anschauungsweise ganz falsch
ist; die Anwendung kann falsch sein, nicht aber der Begriff selbst. Das, was für uns von Wichtigkeit
ist, besteht darin, zu untersuchen, was uns das Recht gibt, eine Vereinigung von Christen eine „Sekte“
zu nennen. Da nun das Wort „Sekte“ auf christliche Versammlungen oder Körperschaften angewandt
wird, so muss man, um richtig zu urteilen, den wahren Grundsatz kennen, nach welchem die Christen
sich vereinigen dürfen. Alles, was nicht auf diesen Grundsatz gestellt ist, ist tatsächlich eine „Sekte“.
Obgleich die Anwendung, welche seitens der so genannten Katholiken von dieser Wahrheit gemacht
wird, höchst falsch und verkehrt ist, so ist es dennoch nicht weniger wahr, dass die Einheit der Kirche
oder der Versammlung für die Christen – sei es die Einheit aller, als Personen in der Welt dargestellt
(Joh 17), sei es die Einheit des durch den Heiligen Geist gebildeten Leibes Christi (Apg 2; 1. Kor 12), –
von höchster Bedeutung ist.
So betet, nach Johannes 17, der Herr, hinschauend auf die durch das Wort der Apostel an Ihn
Glaubenden, zum Vater: „Auf dass sie alle in uns eins seien, auf dass die Welt glaube, dass du mich
gesandt hast“ (V 21). Dieses ist die praktische Einheit der Christen in der Gemeinschaft mit dem Vater
und dem Sohn. Die Apostel mussten durch die Wirkung eines und desselben Geistes eins sein in der
Gesinnung, in den Gedanken und Handlungen, gleich wie der Vater und der Sohn in der Einheit
der göttlichen Natur (V 11); danach mussten die durch ihr Wort an Ihn Glaubenden eins sein in
der Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes (V 21); und endlich werden wir vollkommen sein in
der Einheit der Herrlichkeit. Doch auch jetzt schon müssen wir diese Einheit offenbaren, auf dass
die Welt glaube (V 21). Überdies hat der auf Pfngsten herniederkommende Heilige Geist alle die
4 Außer in der Apostelgeschichte finden wir diesen Ausdruck auch noch in Galater 5,20, in 2. Petrus 2,1 und in 1. Korinther 11,19, in letzterem Fall aber durch „Parteiungen“ übersetzt.
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  Was ist eine Sekte?
Gläubigen zu einem Leib getauft und sie als Leib mit Christus, dem Haupt, vereinigt, um auf der
Erde diese Einheit zu offenbaren (1. Kor 12,13). Man sieht deutlich, dass das 12. Kapitel des ersten
Korintherbriefes durch die Erklärung: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; wenn ein
Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle Glieder mit“, – die Stellung der Gläubigen hier auf Erden
bezeichnet: denn im Himmel kann man nicht leiden. Und der Heilige Geist fügt hinzu: „Ihr aber seid
der Leib Christi, und Glieder in Sonderheit“ (V 26–27).
Das ganze Kapitel behandelt dieselbe Wahrheit; aber die angeführten Stellen beweisen zur Genüge,
dass von der Versammlung auf Erden die Rede ist. Wir haben hier also die durch den Heiligen Geist
gewirkte wahre Einheit, und zwar die Einheit der Gläubigen unter einander und die Einheit des
Leibes.
Es ist der Sektengeist, worin man die Gläubigen auf einer anderen und nicht auf dieser Grundlage der
Einheit vereinigen will; es ist der Sektengeist, wenn man dieses oder jenes Bekenntnis zur Grundlage
macht, oder wenn man diejenigen, welche gewisse Wahrheiten in derselben Art und Weise ans Licht
stellen, mittelst dieser Formel zu einem Leib stempeln will. Eine solche Einheit wurzelt nicht in dem
Grundsatz der Einheit des Leibes oder der Vereinigung der Gläubigen. Wenn einzelne Personen sich
in dieser Weise zu einer Genossenschaft vereinigt haben und sich unter einander als Glieder dieser
Vereinigung anerkennen, so bilden sie in der Tat eine „Sekte;“ weil der Grundsatz einer solchen
Versammlung nicht die Einheit des Leibes Christi ist, und weil die Glieder derselben sich nicht –
obwohl sie es sein mögen – als Glieder des Leibes Christi, sondern als Glieder einer besonderen
Genossenschaft vereinigen. Alle Christen sind Glieder des Leibes Christi und machen ein Auge, oder
eine Hand, oder einen Fuß dieses Leibes aus. Mitglied irgendeiner Kirche zu sein, ist ein Begriff, der
in der Heiligen Schrift nirgends gefunden wird. Der Heilige Geist stellt die Versammlung auf Erden
als einen Leib dar, wovon Christus das Haupt ist (Eph 1; Kol 1).
Jeder Christ ist ein Glied dieses Leibes, nämlich des Leibes Christi. Die Mitgliedschaft einer besonderen
Genossenschaft ist ein ganz anderer Begriff. Die Feier des Abendmahls ist der Ausdruck dieser Einheit,
wie wir dieses in 1. Korinther 10,17 finden, so dass, wenn eine christliche Genossenschaft das Recht,
am Tisch des Herrn zu sitzen, nur ihren Gliedern als solchen zuerkennt, hierdurch eine Einheit
anerkannt wird, die in der Tat mit der Einheit des Leibes Christi im Widerspruch steht. Es ist möglich,
dass dieses aus Unkenntnis getan wird; es ist möglich, dass diese Christen es nie begriffen haben, was
die Einheit des Leibes Christi ist, und dass es Gottes Wille ist, diese Einheit auf Erden zu offenbaren;
aber tatsächlich bilden sie eine Sekte und leugnen die Einheit des Leibes Christi. Es gibt viele, die
Glieder des Leibes Christi, aber keine Glieder dieser Genossenschaft sind; und ihr Abendmahl ist,
obwohl die Glieder in einer frommen Gesinnung daran teilnehmen, nicht der Ausdruck der Einheit
des Leibes Christi, sondern nur der Einheit dieser Genossenschaft.
Nun aber stellt sich eine Schwierigkeit vor unser Auge. Die Kinder Gottes sind zerstreut. Viele fromme
Brüder sind Glieder der einen oder der anderen Genossenschaft, oder klammern sich an den einen
oder den anderen Punkt der Wahrheit, und vielleicht stehen sie sogar bezüglich ihres Gottesdienstes
in mancher Hinsicht mit denen, die von der Welt sind, in Verbindung. Ach, wie viele gibt es, die gar
keine Vorstellung von der Einheit des Leibes Christi haben, oder die die Notwendigkeit, diese Einheit
auf Erden zu offenbaren, durchaus nicht anerkennen! Doch dieses alles macht die Wahrheit Gottes
nicht kraftlos. Sie, die sich als Glieder einer Genossenschaft oder einer Vereinigung versammeln,
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  Was ist eine Sekte?
sind, wie bereits gesagt, grundsätzlich nichts anders als eine Sekte. Wenn ich alle Christen als Glieder
des Leibes Christi anerkenne, wenn ich sie liebe und sie – vorausgesetzt, dass sie in der Wahrheit
und Heiligkeit wandeln und den Herrn aus reinem Herzen anrufen (2. Tim 2,19–22) – am Tisch des
Herrn mit Freuden empfange, dann – wenn ich auch nicht alle Kinder Gottes zusammen zu bringen
vermag – wandle ich nicht im Sektengeist; denn ich wandle nach dem Grundsatz der Einheit des
Leibes Christi, und ich strebe nach der praktischen Vereinigung der Gläubigen. Wenn ich mich mit
anderen Gläubigen vereinige, um einfach als Glied des Leibes Christi, und nicht als Glied irgendeiner
kirchlichen Gemeinschaft, am Tisch des Herrn zu sitzen, – wenn ich in der Tat in der Einheit des
Leibes bereit bin, alle Christen, die in der Gottseligkeit und in der Wahrheit wandeln, an der Feier
des Abendmahls Teil nehmen zu lassen, dann bin ich kein Glied irgendeiner Sekte, sondern ich bin
nur ein Glied des Leibes Christi. Aber jede Vereinigung auf irgendeinem anderen Grundsatz, und
zwar um eine kirchliche Körperschaft zu bilden, ist Sektiererei. Der Grundsatz ist sehr einfach. Die
Schwierigkeiten in der Verwirklichung desselben sind wegen des wirklichen Zustandes, worin sich
die Versammlung Gottes bendet, durchaus nicht gering. Doch Christus ist für alles völlig genügend,
und wenn wir zufrieden sind, in den Augen der Menschen gering zu erscheinen, dann ist die Sache
so schwierig nicht.
Eine Sekte ist also eine kirchliche Körperschaft, die sich nach einem anderen Grundsatz, als dem der
Einheit des Leibes Christi vereinigt. Eine solche religiöse Körperschaft ist systematisch eine Sekte,
wenn die, welche einen Teil derselben ausmachen, als deren Glieder betrachtet werden. Auch wandelt
man im Sektengeiste, wenn man nur gewisse Personen anerkennt und zulässt. Wir sprechen hier
nicht von der Zucht, welche in der Mitte des einen Leibes Christi ausgeübt wird, sondern von dem
Grundsatz, nach welchem man sich vereinigt. Das Wort Gottes spricht nicht von der Mitgliedschaft
irgendeiner Kirchengemeinschaft, sondern nur von den Gliedern des Leibes Christi. Diese Glieder
nun sind berufen, die Einheit zu offenbaren, und zwar dadurch, dass sie zusammen wandeln. Wir
können auf Matthäus 18,20 hinweisen, als auf eine köstliche Ermunterung in diesen Tagen der
Zersplitterung, in dieser bösen Zeit des Endes, wo der Herr uns verheißen hat, in der Mitte zu sein
überall, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind.
Inmitten der um uns herrschenden Verwirrung besitzen wir auf dem Weg, der uns zu gehen verordnet
ist, einen Leitfaden in den Worten: „In einem großen Haus aber sind nicht allein goldene und silberne
Gefäße, sondern auch hölzerne und irdene; und die Einen zur Ehre, die Anderen aber zur Unehre.
Wenn sich nun jemand von diesen reinigt, der wird ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich
dem Hausherrn, zu jedem guten Werk bereitet. Die jugendlichen Lüste aber fliehe; strebe aber
nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden mit denen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen“
(2. Tim 2,20–22). J. N. D.
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„Dieses erwägt!“ (Phil 4,8–9)
Die wiederholten Ermahnungen des Wortes Gottes in Bezug auf das gegenseitige Verhalten des
Mannes und des Weibes, der Eltern und der Kinder, der Herren und der Knechte, der Älteren und
der Jüngeren, zeigen uns, welch einen Wert der Herr auf diese irdischen Beziehungen legt. Der
Geist Gottes setzt sie durchaus nicht bei Seite; er befähigt uns vielmehr, sie Gott wohlgefällig zu
verwirklichen. Aber ach, wie vielfach wird darin gefehlt! Nicht wenige sind sogar der Meinung,
dass das himmlische Verhältnis, als Brüder im Herrn, das irdische mehr oder weniger bei Seite setze.
Wie oft sieht und hört man z. B., dass jüngere Brüder die älteren sich völlig gleichstellen. Sie reden
und verkehren mit ihnen, als wenn sie gleichen Alters wären. Manche denken, dass es also sein
müsse: andere tun es aus Überhebung und zu ihrem eigenen Schaden; aber die Einen wie die Anderen
handeln im Widerspruch mit dem Wort Gottes (1. Tim 5,1–2; 1. Pet 5,5). Der Herr gebe, dass wir
seinem Wort auch in diesen Dingen alle Beachtung schenken.
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  Im Heiligtum
Im Heiligtum
„Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu, den
neuen und lebendigen Weg, den Er uns eingeweiht hat durch den Vorhang, das ist sein Fleisch, und
einen großen Priester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in
voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen Gewissen und
den Leib gewaschen mit reinem Wasser“ (Heb 10,19–22).
Herrliche Worte! Wessen Herz klopft nicht in heiliger Freude, wenn anders diese unendliche Gnade
Gottes kennen gelernt worden ist? Wir haben Freimütigkeit, um in das Heiligtum, in den Himmel
selbst, in die unmittelbare Gegenwart Gottes einzugehen. Ein armer, verlorener Sünder, ein unreines,
schuldiges Geschöpf, ein Feind Gottes, ein Sklave Satans ist für die Heiligkeit des Hauses Gottes, für
die Gegenwart des heiligen und gerechten Gottes fähig gemacht. Welch ein Gedanke! Nimmer würde
ein solcher in dem Herzen eines Menschen aufgekommen sein. Er ist zu erhaben, zu wunderbar. Aber,
Gott sei gepriesen! Es ist dennoch eine Wahrheit. Gott hat es gesagt; Er kann nicht lügen. Er bezeugt
es uns; Er selbst hat dieses Wunder verrichtet. Was bei dem Menschen unmöglich ist, das ist bei
Ihm möglich. Uns bleibt nichts übrig als ein Amen auf seine Zusicherungen, auf seine Verheißungen
zu sagen. Wo Er spricht, da geziemt es sich für uns, zu glauben und anzubeten. Um dieses aber in
Wirklichkeit tun zu können, bedarf es unserseits eines klaren Verständnisses der Gedanken des Herrn.
Nichten wir daher unsere ganze Aufmerksamkeit auf die oben angeführten Worte und prüfen wir
ihre herrliche Bedeutung unter der Leitung des Heiligen Geistes.
Wir haben Freimütigkeit, um in das Heiligtum einzugehen. Diese Freimütigkeit war nicht das Teil
der Gläubigen des Alten Testaments. Sie durften den Vorhof nicht überschreiten. Zwar wohnte
Gott inmitten seines Volkes Israel, aber Er wohnte in einem unzugänglichen Orte. Die Stiftshütte
bestand aus zwei Abteilungen, aus dem Heiligen und dem Allerheiligsten; und ringsum war der
Vorhof. In dem Allerheiligsten, zwischen den Cherubim der Herrlichkeit, die den Versöhnungsdeckel
überschatteten, wohnte der Herr. Niemand durfte diese Stätte betreten, weder das Volk, noch selbst die
Priester. Nur einmal des Jahres betrat der Hohepriester das Allerheiligste jedoch nicht um anzubeten,
sondern um Versöhnung zu tun; und darum ging er nicht ohne Blut, welches er für sich selbst und
für die Verirrungen des Volkes darbrachte zum Zeichen (Heb 9,7), dass sie von Rechtswegen den
Tod verdient hatten und durch die Heiligkeit des Herrn vertilgt werden mussten. Die Wohnung
Gottes war also für den Menschen verschlossen; der Weg zum Heiligtum war noch nicht oenbart
(Heb 9,8). Der Tod würde die unvermeidliche Folge gewesen sein, wenn jemand es gewagt hätte,
in der Gegenwart Gottes zu erscheinen. Und nicht nur dieses, sondern es konnte auch niemand
Gott nahen ohne Vermittlung der Priester. Der Israelit, selbst der gläubige Israelit blieb im Vorhof;
weiter durfte er nicht kommen. Zwischen ihm und der Wohnstätte Gottes war nicht nur der Vorhang,
sondern auch eine Schar von Priestern, mittelst welcher sein Nahen zu Gott allein möglich war. Er
mühte Opfer darbringen; aber das Opfern konnte nicht durch seine, sondern durch die Hand der
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  Im Heiligtum
Priester geschehen. Welch ein Unterschied zwischen ihnen und uns! Wir haben Freimütigkeit, um in
das Heiligtum einzugehen. In welches Heiligtum? In die Stiftshütte? O nein; dieses Heiligtum war
nur ein Gegenbild des wahrhaftigen; und dieses wahrhaftige Heiligtum ist der Himmel (Heb 9,24).
Wir haben Freimütigkeit, um in die unmittelbare Gegenwart Gottes zu treten. Kein Vorhang hindert
uns – der Vorhang ist zerrissen. Kein Priester steht ferner zwischen uns und Gott; wir selbst sind
Priester; Gott, der da wohnt in einem unzugänglichen Licht, ist für uns zugänglich geworden.
Wie nun aber ist dieses möglich geworden? Was bei dem Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott
möglich. Das sollte schon genug sein, um uns völlig zufrieden zu stellen; allein Gott selbst gibt uns
darüber Aufschluss, wie und warum dieses möglich ist. Wir haben Freimütigkeit zum Eintritt in das
Heiligtum durch das Blut Jesu; ja, durch das Blut Jesu. Warum war die Wohnstätte Gottes für den
Menschen verschlossen? Weil der Mensch ein Sünder ist. Gott ist „zu rein von Augen, um das Böse zu
sehen“ (Hab 1,13). Solange also die Sünde nicht weggetan ist, kann niemand in der Gegenwart Gottes
erscheinen. Die Sünde aber war unter dem alten Bunde nicht hinweggetan. Wie viele Millionen
Opfer auch gebracht wurden, wie viel Blut auch strömen mochte, – die Sünden wurden dadurch
nicht ausgelöscht: denn das Blut der Stiere und Böcke konnte unmöglich die Sünde hinwegnehmen.
Im Gegenteil war das fortdauernde Blutvergießen der Beweis, dass die Sünden noch nicht beseitigt
waren. Es gab alljährlich ein Erinnern der Sünden. Kein Israelit hatte oder konnte das Bewusstsein
haben, dass alle seine Sünden ausgelöscht seien. Selbst wenn er die Überzeugung hatte, dass diese
oder jene Sünde, die er vor Gott bekannt hatte, vergeben war (siehe u. a. Ps 32 und 51), so wusste
er doch keineswegs, dass alle seine Sünden vergeben waren. Wir aber haben dieses Bewusstsein.
Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde. Was das Blut der Stiere und
Böcke nicht vermochte, das hat das Blut Jesu getan. „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott,
zu tun“, sagte Er: und diesen Willen hat Er vollbracht. Er gab sich selbst hin zu einem Opfer für die
Sünde. Mit unseren Sünden beladen und zur Sünde gemacht, ging Er in den Tod. Es oh sein Blut.
Als ein eckenloses Lamm gab Er für uns sein Leben in den Tod. Und sein Blut ist völlig genügend.
Gott nahm es an; ja, was noch mehr sagt, Gott gab es; denn Er hat seines eigenen Sohnes nicht
geschont, sondern Ihn für uns alle dahingegeben. Nach diesem Opfer folgt kein anderes. In Israel
musste alljährlich Versöhnung geschehen, ein Beweis, dass sie noch nicht vollbracht war. Jetzt aber ist
eine ewige Versöhnung zuwegegebracht, Jesus stirbt nicht zum zweiten Mal; ja es bedarf dessen auch
nicht; denn „durch ein Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden.“ Die
Sünden aller, welche glauben, sind für immer hinweggetan. Keine einzige ist unversöhnt geblieben.
Das Blut Jesu hat sie alle ausgelöscht. Darum haben wir Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum
durch das Blut Jesu. Was uns den Eintritt versagte, ist beseitigt. In den Augen Gottes sind wir rein, so
rein, wie das Blut Jesu uns machen kann.
Doch noch mehr. Wir gehen ins Heiligtum durch das Blut Jesu auf einem neuen und lebendigen
Wege; auf einem neuen Wege gegenüber dem alten Wege des alten Bundes, und auf einem lebendigen
Wege gegenüber dem toten Wege des Gesetzes. Das Gesetz ist, wie Paulus in 2. Korinther 3 sagt,
der Dienst des Todes. Diesen neuen und lebendigen Weg hat Jesus für uns eingeweiht, geönet,
zugänglich gemacht durch den Vorhang, das ist sein Fleisch. In dem Brief an die Hebräer bezieht
sich alles auf die Schatten des Alten Testaments. Der Vorhang schied den Menschen von Gott. Durch
diesen Vorhang bezeugte Gott, dass Er den Menschen in seiner Gegenwart nicht dulden konnte.
Der Zustand, worin sich der Mensch befand, war die Ursache davon. Der Mensch war ein Sünder,
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  Im Heiligtum
und die Gerechtigkeit Gottes forderte dessen Bestrafung. Sollte Gott bleiben, wie Er ist, so musste
diese Gerechtigkeit befriedigt werden. Jesus, der nicht nur ohne Sünden war, sondern an welchem,
selbst da Er als Mensch auf Erden wandelte, Gott seine ganze Wonne hatte, gab sich hin in den
Tod. Er unterwarf sich der Strafe. Alle Wogen des Zornes Gottes gingen über Ihn. Was wir verdient
hatten, trug Er, der nichts verdient hatte, als Ehre und Herrlichkeit. Also wurde Er im Gericht unser
Stellvertreter. Die Hand Gottes traf Ihn. Der Zorn Gottes kam hernieder auf sein Haupt; und auf
diesem Weg befriedigte Er die Forderungen Gottes. Darum auch, als Jesus starb, zerriss der Vorhang
in zwei Stücke von oben bis unten; und also hatte Gott selbst den Zugang zu seiner Wohnung dem
Menschen geönet. Was Ihn verhinderte, um mit dem Menschen Gemeinschaft machen zu können,
war durch den Tod Jesu aus dem Weg geräumt. Teurer Heiland! Wie unaussprechlich viel hast du für
uns getan, welch ein herrliches Werk hast du für uns vollbracht! Ja, Zerrissen ist der Vorhang und
der Himmel oen,
Das Leben und die Herrlichkeit sind unser Los.
Der Zorn, den wir verdient, hat dich für uns getroen, O Gottes Lamm, dein' Lieb' ist
groß! Dein Werk ist jetzt vollbracht! Du hast dein Blut getragen
Ins inn're Heiligtum, wo du jetzt für uns bist;
Wo du uns immerdar vertrittst in allen Lagen,
Bis jedes Glied verherrlicht ist. Aber noch mehr. Wir haben nicht nur Freimütigkeit zum Eintritt in
das Heiligtum durch das Blut Jesu, den neuen und lebendigen Weg, durch den zerrissenen Vorhang
hindurch, sondern wir haben auch einen großen Priester über das Haus Gottes. Welch herrliche
Wahrheiten treten hier ins Licht! Nachdem der Herr auf dem Kreuz ein Opfer geworden war, ist
Er Hohepriester im Himmel geworden. Auf Erden war Er kein Hohepriester; denn dann hätte Er
vom Stamm Levi sein müssen, sondern Er ist Hohepriester im Himmel. „Wir haben einen großen
Hohepriester, der durch die Himmel gegangen ist“ (Heb 4,14). „Die Hauptsumme aber dessen, was
wir sagen, ist: Wir haben einen solchen Hohepriester, der sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones
der Majestät in den Himmeln“ (Heb 8,1). „Denn der Christus ist nicht eingegangen in das mit Händen
gemachte Heiligtum, sondern in den Himmel selbst, um jetzt zu erscheinen vor dem Angesicht Gottes
für uns“ (Heb 9,24). „Wir haben einen großen Priester über das Haus Gottes.“ Sein eigenes als Opfer
für uns vergossenes Blut brachte Er in das himmlische Heiligtum vor den Thron Gottes; und Gott
nahm es an und war dadurch befriedigt. Jesus setzte sich als Hohepriester zur Rechten Gottes, und
Gott krönte Ihn mit Ehre und Herrlichkeit. Welch ein Herrliches Zeugnis von der Vollkommenheit
seines Werkes! Welch ein unumstößlicher Beweis von der Zufriedenheit Gottes bezüglich dieses
seines Opfers! Er sitzt stets zur Rechten Gottes; und durch seine fortdauernde Dazwischenkunft
halt Er unsere Beziehung zu Gott aufrecht und sichert uns für immer den Eingang in das Heiligtum.
Und Er, der zur Rechten Gottes sitzt, ist Mensch. Als Sohn Gottes gehörte Ihm die Herrlichkeit
von Rechtswegen; dennoch gab Er sie hin, um Mensch zu werden, und nachdem Er Gott auf Erden
verherrlicht und das Werk vollbracht hat, kommt Er, der Mensch Christus Jesus, zum Vater und sagt:
„Und nun verherrliche du mich, Vater, bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich der dir hatte, ehe die
Welt war“ (Joh 17,5). Und Gott hat Ihn verherrlicht und Ihm einen Platz gegeben zu seiner Rechten.
Der Mensch ist also in der Herrlichkeit. Dort wird einmal unser Wohnplatz sein; und jetzt schon
können wir in denselben durch den Glauben eintreten. Hinschauend auf diese Freude, nicht allein,
  85
  Im Heiligtum
sondern mit all den Seinen im Vaterhaus zu wohnen, hat Jesus das Kreuz erduldet und der Schande
nicht geachtet.
Sicher hatte daher der Apostel volle Ursache zu sagen: „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum
Eintritt in das Heiligtum usw.“ Ja, wir haben Freimütigkeit. Nichts steht uns im Weg, nichts hindert
uns. Der Weg ist gebahnt. Das Haus steht oen; und wir sind für dieses Haus passend gemacht. Man
merke es indessen wohl, dass der Apostel nicht sagt: „Da wir nun, Brüder, Freiheit haben“, sondern er
sagt: „Da wir Freimütigkeit haben.“ Freiheit und Freimütigkeit sind zwei ganz verschiedene Begrie.
Wenn der König dich an seinen Hof lädt, so hast du Freiheit, um der Einladung Folge zu leisten.
Warum? Nun, weil der König dich eingeladen hat. Aber vielleicht sagst du: „Ich kann nicht gehen;
denn mein Anzug ist nicht passend für die Gegenwart des Königs.“ Du hast also volle Freiheit; aber
es fehlt dir die Freimütigkeit. Die Freiheit ist eine Folge der Einladung des Königs: die Freimütigkeit
aber hängt davon ab, ob du für den königlichen Hof paend bist. Man denke an den verlorenen
Sohn. Der Vater konnte ihn wohl in seine Arme nehmen und küssen, als der Sohn noch in seinen
Lumpen vor ihm stand; aber er konnte ihn nicht in seinem Haus empfangen. Darum wurde derselbe
erst für das Haus passend gemacht und erst dann zu dem Festmahl zugelassen. Wir haben also die
Freiheit zum Eintritt in das Heiligtum, weil Gott es önete und uns zum Kommen einlädt: aber wir
haben auch Freimütigkeit, weil wir durch das Werk Jesu – durch seinen Tod, seine Auferstehung und
Himmelfahrt – für die Gegenwart Gottes passend gemacht worden sind. Wir sind gerade so, wie
jemand sein muss, welchem der Eingang in den Himmel gestattet wird, und der sich dort zu Haus
fühlt. Wir sind geheiligt, gerechtfertigt, verherrlicht. Wir sind durch ein Opfer für immer vollkommen
gemacht. Nicht nur sind unsere Sünden ausgelöscht, sondern wir sind auch in den Zustand gebracht,
der für die Gegenwart Gottes vollkommen geeignet ist.
Wir haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum. Der Himmel ist geönet. Im Alten Testament
war der Himmel geschlossen. Gott war für den Menschen unzugänglich. Selbst in der Stiftshütte, wo
Er sinnbildlich zwischen den Cherubim wohnte, war seine Wohnung geschlossen. Aber als Jesus auf
die Erde kam, ward der Himmel geönet. Wie hatte dieses auch anders sein können? Wenn der Sohn
Gottes, die Wonne des Vaters und die Freude des Himmels, die Erde als seine Wohnstätte wählt, so
muss der Himmel sich önen. Es war das Bedürfnis des Vaters, sein ganzes Wohlgefallen an Ihm
auszudrücken, der auf die Erde herabgestiegen war, um seinen Willen zu erfüllen. „Dieser ist mein
geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“ Das war die Stimme, die aus dem Himmel
kam. Und die Engel mussten auf– und niedersteigen auf den Sohn des Menschen (Joh 1,52). Er, der
Gegenstand ihrer Freude und Anbetung, befand sich auf Erden, wie hätten sie ruhig im Himmel
bleiben können? Ihre Augen waren auf Ihn gerichtet. Sie kamen, um sein Lob zu verkünden, um
Ihm ihre Huldigung und Anbetung darzubringen, um sich seiner vollkommenen Schönheit, die Er
auch als Mensch besaß, sowie seines unter allen Umständen vollkommenen Gehorsams gegenüber
dem Willen des Vaters zu erfreuen, und um Ihm zu dienen und Ihn zu stärken. Welch eine herrliche
Oenbarung der Gnade Gottes! Ja wahrlich, es war nichts natürlicher, als dass, da der Sohn Gottes auf
Erden wandelte, der Himmel sich önete; aber weißt du auch, mein Leser, aus welchem Grund dieses
geschah? Der Sohn Gottes kam aus dem Himmel und betrat diese Erde, um für uns den Himmel zu
önen. Er unterwarf sich dem ganzen Elend und der Traurigkeit eines Lebens auf Erden, um uns den
Weg ins Heiligtum droben zu bahnen.
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  Im Heiligtum
Und Er hat diesen Weg gebahnt. Ja, Er ist in den Himmel zurückgekehrt. Er hat die Herrlichkeit
empfangen, die Er vor Grundlegung der Welt besaß und auf welche Er als Sohn stets ein Recht hatte,
aber Er hat die Herrlichkeit als Mensch empfangen – als Mensch ist Er durch Gott mit Ehre und
Herrlichkeit gekrönt und zu seiner Rechten gesetzt. Und dieses ist nicht nur um seinet–, sondern
auch um unsertwillen geschehen. Er sagte zu seinen Jüngern: „In dem Haus meines Vaters sind viele
Wohnungen . . . ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingegangen und euch eine
Stätte bereitet habe, so komme ich wieder und will euch zu mir nehmen, auf dass, wo ich bin, auch
ihr seid“ (Joh 14,2–3). Ja, diese Stätte sollte nicht allein für Ihn, sondern auch für uns sein. Hören wir,
wie Er zum Vater betet: „Vater, ich will, dass die du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin,
auf dass sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast“ (Joh 17,24). Man erinnere sich nur
der Begebenheiten, die bei dem Kreuzestod Jesu stattfanden. „Und siehe, der Vorhang des Tempels
zerriss in zwei Stücke von oben bis unten: und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die
Grüfte wurden aufgetan, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt, und sie
gingen nach seiner Auferweckung aus den Grüften und gingen in die heilige Stadt und erschienen
vielen. Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten, das Erdbeben sahen und das, was
geschah, fürchteten sie sich sehr und sprachen: Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn!“ (Mt 27,51–54)
Wir sehen hier also drei Beweise für die Kraft und Vollkommenheit des vollbrachten Werkes Jesu: 1.
Der Eingang zu Gott war aufgeschlossen, der Himmel geönet – geönet für den durch den Tod
Jesu von Sünde, Fluch und Gericht befreiten Menschen. 2. Die Grüfte wurden geönet und viele
Leiber der Heiligen auferweckt, die nach der Auferweckung Jesu, als Zeugen seiner Auferstehung
aus dem Grab, vielen in Jerusalem erschienen. Der Tod Jesu war der Weg zum ewigen Leben. Bei
seiner Auferstehung aus den Toten traten Leben und Unverderblichkeit ans Licht und wurden allen
Glaubenden mitgeteilt. 3. Der heidnische Hauptmann erkannte, erleuchtet durch den Heiligen Geist,
in Ihm, der da starb, den Sohn Gottes und wurde also der Erstling in der langen Reihe derer, welche
an den gekreuzigten Christus, als die Ursache und den Bewirker ihres Heils, glauben sollten.
Doch es ist uns noch mehr als dieses oenbart. Nicht nur Worte, sondern auch Tatsachen sind uns
mitgeteilt. Wir sehen wirklich den Himmel geönet; und in dem geöneten Himmel sehen wir Jesus
– den Sohn Gottes und den Sohn des Menschen – sitzen zur Rechten Gottes. Es wird uns dieses nicht
nur versichert und als ein Lehrsystem angekündigt, dass der Himmel, und zwar für den Menschen,
für uns, geönet sei, sondern es wird uns durch Tatsachen bewiesen. Es haben Menschen diesen
Himmel geönet gesehen, und Menschen haben in der unmittelbaren Gegenwart Gottes Eingang
gefunden. Man erinnere sich des Mörders am Kreuz. An demselben Tage ging er mit Jesu vom Kreuz
in das Paradies Gottes. Gibt es wohl einen stärkeren Beweis für die Kraft der Gnade Gottes, für
die Vollkommenheit des Wertes Christi? Wir sehen einen Mörder am Kreuz, der die Strafe, die er
trug, verdient hatte, und der noch in der Frühe des Morgens ein Lästerer Jesu gewesen war, noch an
demselben Abend mit Ihm, der ihn erlöste, teilnehmen an der Freude des himmlischen Paradieses. –
Man denke an Stephanus, den ersten Märtyrer der Christenheit. Sein Angesicht leuchtete in Folge
der Gegenwart des Herrn wie das Angesicht eines Engels. Als ein Gegenstand des wütendsten Hasses
der Juden zur Stadt hinausgeschleppt und mit Steinen beworfen, sinkt er auf seine Kniee; er sieht den
Himmel geönet und Jesus, gleichsam bereit, um seinen Jünger zu sich aufzunehmen, zur Rechten
Gottes stehen, und mit den Worten: „Herr Jesu, nimm meinen Geist auf!“ geht seine Seele zu Ihm,
der ihn rief. Das war keine Vision, keine Erscheinung, nein, es war Wirklichkeit. Der Himmel war
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  Im Heiligtum
wirklich geönet; und Stephanus sah in der Tat Jesus in der Herrlichkeit des Himmels. – Und kurze
Zeit nachher liegt wieder ein Mann auf den Knien am Boden; und auch sein Auge sieht in dem
geöneten Himmel Jesus zur Rechten Gottes. Freilich ist es hier eine ganz andere Szene; aber eine
Szene, die uns dieselbe Wahrheit oenbart. Wir sehen hier keinen durch die Wut der Menschen
zu Tod gesteinigten Märtyrer, sondern es ist der Zeuge des Todes des Stephanus, ein Verfolger der
Versammlung, der, durch die Erscheinung des Herrn zerschmettert, auf der nach Damaskus führenden
Landstraße am Boden liegt. „Saul, Saul! was verfolgst du mich?“ tönt es aus dem Himmel. Köstliche
Worte, die es laut bezeugen, dass die Gläubigen auf Erden eins sind mit Ihm, der zur Rechten Gottes
verherrlicht ist! Die leidenden Gläubigen und der verherrlichte Jesus bilden zusammen einen Leib, so
dass ihre Verfolgung seine Verfolgung ist. Dort hat Saulus den Herrn gesehen; er hat Ihn gesehen,
nicht wie die Zwölf Ihn sahen, sondern er hat Ihn gesehen im Himmel, mit Ehre und Herrlichkeit
gekrönt (1. Kor 15). Und etliche Zeit nachher wurde Paulus in den dritten Himmel entrückt, wo
er „unaussprechliche Worte hörte, die der Mensch nicht sagen darf.“ Wenn er dieses wunderbare
Ereignis den Korinthern mitteilt, dann sagt er nicht: „Ich, Paulus, bin bis in den dritten Himmel
entrückt worden“, sondern er sagt: „Ich kenne einen Menschen in Christus“ (1. Kor 12), um dadurch
auszudrücken, dass ihm dieses Vorrecht zu Teil geworden, nicht weil er Paulus, sondern weil er ein
Mensch in Christus war. Denn obwohl wir sonst niemanden kennen, der in den Himmel entrückt
worden ist, so würde doch jeder Christ, gemäß seiner Stellung in Christus, jeden Augenblick von
dieser Erde in den Himmel entrückt werden können. Und dieses wird tatsächlich mit allen Gläubigen
geschehen bei der Ankunft des Herrn. In einem Nu, in einem Augenblick werden, nachdem der
sterbliche Leib in den unsterblichen verwandelt worden, alle in den geöneten Himmel eingehen
und die für sie bereitete Statte im Vaterhaus einnehmen. Welch eine herrliche, glückselige Aussicht!
Der Himmel ist also geönet. Wir haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum. Daraus folgt
selbstredend, dass es auf Erden kein Heiligtum mehr gibt. Solange ein Heiligtum auf Erden bestand,
wohnte Gott hinter dem Vorhang, und der Weg zu Gott war noch nicht geönet. Aber da jetzt der
Vorhang zerrissen, das irdische Heiligtum verwüstet und das himmlische Heiligtum geönet ist, so
kann von einem Heiligtum Gottes auf Erden keine Rede mehr sein. Darum sagte der Herr Jesus zu
dem samaritischen Weibe, dass die Stunde gekommen sei, in welcher die wahren Anbeter Gottes Ihn
weder auf dem Berg Garizim, noch in Jerusalem anbeten würden. Die wahren Anbeter beten den
Vater im Geist und in der Wahrheit an. Hier auf Erden ein Heiligtum aufrichten zu wollen und von
einem Haus Gottes hienieden zu sprechen, ist ein zurückkehren zu den Schatten und Bildern des
Alten Testaments und ein Verkennen der Vollkommenheit des Werkes Christi. Und dieses ist von dem
Augenblick an geschehen, als man einen besonderen Stand von Priestern oder Gläubigen einführte.
Alle Gläubigen sind Priester; alle haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum: niemand ist
davon ausgeschlossen. Alle haben das Vorrecht, Gott ihre geistlichen Opfer darzubringen. Unsere
Stellung bildet zu derjenigen des Alten Testaments geradezu einen Gegensatz. Das Volk Gottes
bendet sich nicht mehr im Vorhof, sondern im Heiligtum, in der unmittelbaren Gegenwart Gottes.
Ach, wie tief ist die Versammlung Gottes ihrem Standpunkt entrückt! Das allgemeine Priestertum der
Heiligen ist so sehr in den Hintergrund geschoben, dass viele kaum wissen, ob es noch vorhanden ist.
Überall hat man stolze Gebäude aufgerichtet und sie mit dem Namen von Gotteshäusern gestempelt;
überall hat man einen besonderen Stand von Priestern oder Geistlichen eingeführt und dadurch die
Gläubigen ihrer herrlichen Vorrechte beraubt. Ach, möchte das Auge der Kinder Gottes sich doch
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  Im Heiligtum
wieder über diesen Punkt önen! Möchte man doch wieder zu der Einfalt des Glaubens und der
Wahrheit des Wortes Gottes zurückkehren! Wie viel größer würde dann der Genuss und die Freude,
wie viel würdiger die Verherrlichung und Anbetung Gottes sein!
Doch es ist nicht genügend, dieses alles zu sehen und unsere Vorrechte zu kennen; wir müssen auch
Gebrauch davon machen. Mag der Himmel geönet sein, mögen wir Freimütigkeit zum Eintritt in das
Heiligtum haben, was wird es der Verherrlichung Gottes und unserer Freude nützen, wenn wir nicht
wirklich eintreten. Darum ruft uns der Apostel ermahnend zu: „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit
haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu, – so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem
Herzen, in voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen
Gewissen, und den Leib gewaschen mit reinem Nasser.“ Wir sind Priester Gottes, und darum erwartet
uns Gott als Priester in seinem Heiligtum. Er will durch uns bedient und verherrlicht werden. Das
ist sein Recht und unser Vorrecht. Tun wir es nicht, so entziehen wir Ihm das, was Ihm zukommt,
und wir berauben uns selbst des Segens und der Freude, die in seinem Dienst genossen werden. Ja,
geliebte Brüder, lasst uns hinzutreten! Lasst uns als Priester Gottes unsere Opfer darbringen – nicht
mehr Opfer von Weihrauch und Wein, sondern Opfer des Lobes und der Danksagung, und auch
Opfer des Wohltuns und des Mitteilens (Heb 13)! Machen wir Gebrauch von unseren herrlichen
Vorrechten! Erfreuen wir uns der Gegenwart des Herrn! Wir benden uns in einer Stellung, um es tun
zu können. „Lasst uns hinzutreten“, sagt der Apostel, „die Herzen besprengt und also gereinigt vom
bösen Gewissen, und den Leib gewaschen mit reinem Wasser.“ Auch dieses ist wieder eine Anspielung
aus das Alte Testament. Ein jeder, welcher Priester wurde, musste in dem Wasser des kupfernen
Gefäßes ganz gewaschen, dann mit der priesterlichen Kleidung bekleidet, mit Blut besprengt und mit
Öl gesalbt werden. Dann konnte er den priesterlichen Dienst üben. Ebenso sind auch wir als Priester
von Gott ganz gereinigt und zur priesterlichen Bedienung fähig gemacht. „Ihr seid abgewaschen,
ihr seid geheiligt, ihr seid gerechtfertigt“, schreibt Paulus an die Korinther. Wir sind durch das Wort
geheiligt oder abgesondert, mit Blut besprengt, mit den Kleidern des Heils und der Gerechtigkeit
bekleidet und mit dem Heiligen Geist gesalbt. Glückseliges Vorrecht! O möchten wir doch einen
völligen Gebrauch davon machen!
Geliebte Brüder! Lasst uns doch hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen und in voller Gewissheit des
Glaubens. Wir haben in der Tat dazu alle Ursache. Wir haben keinen Grund, um Zweifelnd fern zu
stehen. Der Herr hat alles zuvor gesehen und für alles gesorgt. Wollt ihr dem Zeugnis Gottes keinen
Glauben schenken? O ich weiß es wohl, dass es viele gibt, die es nicht anzunehmen wagen, denen die
Segnungen Gottes zu groß, zu herrlich sind. Aber habt ihr wohl einmal darüber nachgedacht, dass
ihr Gott zu einem Lügner macht, wenn ihr sein Zeugnis nicht annehmt? Das wollt ihr zwar nicht, ich
weiß es wohl; aber ihr tut es dennoch. Wie oft zeigt ihr auf Abraham und David hin, um euch zu
entschuldigen. Ach, tut es nicht; denn Abraham und David werden euch sonst einmal verurteilen. Sie
glaubten dem, was Gott zu ihnen sprach; tut desgleichen! Glaubt, was Gott euch oenbart hat. Wenn
ihr das tut, so verherrlicht ihr Gott, und ihr werdet euch unaussprechlich freuen. Ja, die Freude einer
Seele, die in Bezug auf Jesus und sein Werk dem Zeugnis Gottes glaubt, ist nicht zu beschreiben. –
Der Herr gebe uns allen ein wahrhaftiges, aufrichtiges Herz und eine volle Gewissheit des Glaubens,
um in das himmlische Heiligtum einzutreten, wo Jesus der Hohepriester ist, und wo wir mit voller
Freimütigkeit erscheinen dürfen – jetzt durch den Glauben, später in Wirklichkeit, um dann ungestört
und ewig die Nähe und die Freude des Herrn zu genießen!
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  Außerhalb des Lagers 1/2
Außerhalb des Lagers – Teil 1/2
Welch eine wichtige Übereinstimmung und welch einen bemerkenswerten Gegensatz bilden diese
Worte zu denen in Hebräer 10, die wir soeben betrachtet haben! Auch hier ist von dem Heiligtum die
Rede. Das Blut des Sündopfers ist ins Heiligtum getragen: und darum haben wir, die Glaubenden,
Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum. Aber die, welche in das Heiligtum eingehen, müssen
hinausgehen außerhalb des Lagers. Welch ein Gegensatz! Keine zwei Plätze sind in moralischer Weise
so weit voneinander getrennt, als der Platz im Heiligtum und derjenige außerhalb des Lagers. Im
Heiligtum wohnte die Herrlichkeit Gottes; außerhalb des Lagers ward das Sündopfer verbrannt, zum
Zeichen, dass Gott gegen die Sünde einen Abscheu hat und mit dem Sünder keine Gemeinschaft
machen kann. Und dennoch werden, wie weit diese Plätze auch voneinander geschieden sein mögen,
dieselben hier zusammengebracht. Welch eine Gnade! Der Sünder ist zu Gott gebracht; der Heilige
verlässt die Welt. Der Platz des Gläubigen ist im Heiligtum und außerhalb des Lagers; auf beiden
Plätzen nden wir Jesus: im Heiligtum mit seinem Blut; außerhalb des Lagers mit seinem Segen.
Welch reiche Schätze breiten daher die oben angeführten Worte vor unseren Augen aus! Verweilen
wir etliche Augenblicke bei ihnen mit tiefer Andacht.
Wie überall in dem Brief an die Hebräer, müssen wir auch hier, um uns die Worte des Apostels
zu erklären, die Einrichtungen des Alten Testaments ins Gedächtnis zurückrufen. Das Blut des als
Sündopfer geschlachteten Stiere ward durch den Hohepriester in das Heiligtum getragen, und der
Leib desselben außerhalb des Lagers verbrannt. Niemand durfte davon essen, weder der Priester,
noch der, welcher das Opfer darbrachte. Es gab freilich etliche Sündopfer, wovon die Priester essen
mussten;5
(siehe 3. Mo 6,26.29) „Aber alles Sündopfer, von dessen Blut in das Zelt der Zusammenkunft
gebracht worden, um im Heiligtum Versöhnung zu tun, soll nicht gegessen werden; es soll mit Feuer
verbrannt werden“ (3. Mo 6,30). Eine üchtige Prüfung der Ursache wird uns die tiefe Bedeutung
dieser Bestimmung verstehen lassen. Dieser als Sündopfer geschlachtete Stiere wurde zum Träger
der Sünden gemacht. Mit den Sünden beladen, wurde er getötet, zum Zeichen, dass der Sünder den
Tod verdient hatte. Das Blut dieses Stiere aber wurde in das Heiligtum getragen, während der mit
den Sünden beladene Leib außerhalb des Lagers, fern von dem Angesicht und der Wohnung Gottes,
verbrannt wurde, zum Beweis, dass der Herr nicht in der geringsten Beziehung zu dem Sünder zu
stehen vermag.
Wohlan, geliebter Leser, dieses Vorbild hat in Jesu seine Erfüllung gefunden. „Darum hat auch Jesus“,
sagt der Apostel, „auf dass er durch sein eigenes Blut das Volk heiligte, außerhalb des Tores gelitten.“
Ja, Jesus, der Sohn Gottes, der Heilige und Vollkommene, die Wonne des Vaters und die Freuds des
5 Dieses bedeutete ein völliges Einswerden mit der Sünde. Der Priester musste die Sünde anderer auf sich nehmen und
vor Gott bringen. Und da es dazu eines höheren Maßes priesterlicher Kraft bedurfte, um die Sünde anderer zu der
seinigen zu machen, durfte nur „alles Männliche unter den Priestern“ davon essen. So können auch wir als Priester, so
wir anders geistlich genug, sind, die Sünden anderer vor Gott bekennen und für sie Vergebung von Gott erehen.
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  Außerhalb des Lagers 1/2
Himmels, ist der Träger unserer Sünden geworden und ist für uns zur Sünde gemacht. Außerhalb
des Tores hat Er gelitten. Gott ließ Ihn außerhalb des Lagers bringen, um Ihn dort zu einem Opfer
für unsere Sünden zu machen. Richten wir unseren Blick auf das Kreuz. Dort sehen wir Ihn in der
Mitte zweier Mörder. Von Gott und Menschen verlassen, umgibt Finsternis den Hochgelobten. Er
neigt das Haupt und stirbt. Sicher war der Herr Jesus auch in diesem Augenblick die Wonne des
Vaters. Vergessen wir dieses nicht. Alle Opfer des alten Bundes fanden in Ihm ihre Erfüllung. Er war
sowohl Brandopfer, als Sündopfer, sowohl Speisopfer, als Schuldopfer. Was in Schatten und Vorbildern
durch besondere Opfer vorgestellt werden musste, nden wir vereinigt in seinem einen Opfer. Sein
eckenloses, heiliges, vollkommenes, Gott wohlgefälliges Leben endigte in seiner vollkommenen
Hingabe in den Tod. Er verherrlichte Gott in allem. Er war gehorsam bis zum Tod des Kreuzes: und
wie ein duftender Wohlgeruch stieg dieses Opfer zu Gott empor. Dieser Tod setzte seinem ganzen
Leben die Krone auf. In Ihm wurde Gott durch den Menschen verherrlicht. Und darum können wir
überzeugt sein, dass es keinen Augenblick gab, in welchem Jesus vor Gott angenehmer war, und in
welchem das Auge Gottes mit mehr Wohlgefallen auf Ihm ruhte, als gerade diesen Augenblick, wo Er
sich hingab in den Tod, um auf diesem Weg den Willen des Vaters zu vollbringen und unsere Erlösung
zu bewirken. In dieser Weise betrachtet, ist Er das Brandopfer. Ein duftender Wohlgeruch stieg von
dem Kreuz zu Gott empor. Aber zu gleicher Zeit war Er das Sündopfer. War Er nun als Brandopfer ein
duftender Wohlgeruch für Gott, so musste Gott vor Ihm, als dem Sündopfer, das Angesicht verbergen.
Sobald Er – und dieses geschah während der Finsternis – mit unseren Sünden beladen und für uns
zur Sünde gemacht war, wurde Er von Seiten Gottes als der Sündenträger behandelt und demzufolge
von Gott verlassen. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Wie abscheulich ist die Sünde in den Augen Gottes! Der Leib des Sündopfers musste außerhalb des
Lagers verbrannt werden; und darum musste auch Jesus, wollte Er anders ein Opfer für unsere Sünden
werden, außerhalb des Tores leiden. Er wandelte während seines ganzen Lebens in der Gemeinschaft
Gottes. So oft der Himmel geönet wurde, bezeugte Gott sein ganzes Wohl gefallen an Ihm. „Der
Vater erhört mich allezeit“, sagte der Herr. Dieses geschah selbst in Gethsemane, ja sogar in den ersten
Stunden auf dem Kreuz. Doch sobald Jesus zur Sünde gemacht und mit unseren Sünden beladen
war, veränderte sich alles. Gott verbarg sein Antlitz; der Schrei Jesu fand keine Antwort; Finsternis
umgab Ihn, Er war von Gott verlassen. Das war unser Platz, Geliebte! Vergessen wir es nicht. O
wenn wir erlöst sind und uns der Gnade Gottes rühmen dürfen, dann lasst uns nicht vergessen,
wodurch wir erlöst sind. Es hat unaussprechlich viel gekostet. Der Kaufpreis war unendlich groß.
Die Gnade herrscht durch die Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit Gottes hat Ihn getroen, der sich
an unseren Platz gestellt hat. Er litt, was wir verdient hatten. Unsere Sünde hat Gott, wenn Er uns
erlösen wollte, gezwungen, seinen geliebten Sohn in den schmählichen Kreuzestod hinzugeben. Sind
wir davon wirklich durchdrungen, dann werden wir die Sünde hassen und iehen. Wer würde mit
einem Blick auf das Kreuz, wo Jesus so unaussprechlich viel gelitten, in Betre der Sünde gleichgültig
sein können?
Doch Zugleich fühlen wir uns innig verbunden mit Ihm, der dieses alles für uns tat. O wie sehr
muss der Herr Jesus uns geliebt haben, umso viel für uns leiden zu können! Nicht nur verließ Er
die Herrlichkeit droben, um Mensch zu werden; nicht nur entäußerte Er sich seiner Herrschaft im
Himmel und auf Erden und wurde ein Knecht, sondern Er gab sich selbst – sein eigenes teures Leben
hin. Er tat es nicht gezwungen; Er tat es freiwillig. Freilich, Er kam, um den Willen des Vaters zu
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  Außerhalb des Lagers 1/2
tun; Er wurde durch den Vater gesandt; der Vater hat seines eigenen Sohnes nicht geschont sondern
hat Ihn für uns alle dahingegeben. Doch Er kam auch freiwillig. Es war seine Speise, den Willen des
Vaters zu tun. Er gab sich selber hin. Gleich einem Lamm ließ Er sich zur Schlachtbank führen. Für
die vor Ihm liegende Freude, nämlich uns bei sich im Himmel zu haben, erduldete Er das Kreuz und
achtete der Schande nicht. Wenn wir daran denken und uns darin vertiefen, dann fühlen wir uns
unwiderstehlich zu Ihm hingezogen: ja dann lernen wir mit Paulus sagen: „Ich achte alles für Verlust
wegen der Vortreichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn.“ –
Und welches sind nun die Folgen dieses Werkes Christi? „Darum hat auch Jesus, auf dass Er durch
sein eigenes Blut das Volk heiligte, außerhalb des Tores gelitten.“ Der Leib des Sündopfers ward
außerhalb des Lagers verbrannt; aber das Blut wurde zur Versöhnung ins Heiligtum getragen. Wohlan,
so hat es auch Jesus getan. Um durch sein Blut das Volk zu heiligen, hat Er außerhalb des Tores
gelitten, ja, durch sein eigenes Blut alle, die durch Ihn zu Gott gehen, geheiligt, d. h. abgesondert
von der Sünde und sie zu Gott gebracht. Er unterwarf sich der Strafe, die wir verdient hatten; Er
war unter dem Gericht, welches über uns hätte kommen müssen. Er starb an unserem Platz. Seine
Auferweckung ist der Beweis, dass die Gerechtigkeit Gottes vollkommen befriedigt ist. Und das Blut,
welches Er als Sündopfer vergoss, trug Er als Hohepriester ins Heiligtum, so dass auch wir jetzt
eintreten können. Aber darum können auch wir von dem Sündopfer essen. Völlig gereinigt von der
Sünde und in die Gegenwart Gottes gebracht, können wir Jesus als Sündopfer genießen und mit Ihm
in Gemeinschaft sein. „Wir haben einen Altar, von welchem kein Recht haben, zu essen, die der Hütte
dienen.“ Sie, die Diener der Hütte, die Priester, durften nicht von dem Sündopfer essen; denn dasselbe
musste ganz verbrannt werden. Aber wir dürfen, davon essen. Weil das große Versöhnungsopfer für
die Sünde dargebracht ist, und wir, von der Sünde befreit, auf immerdar vollkommen gemacht sind,
so können wir mit Ihm, der das Sündopfer für uns geworden ist und außerhalb des Tores gelitten
hat, Gemeinschaft machen. Er, der außerhalb des Tores gelitten hat und dort von Gott gerichtet ist,
bendet sich jetzt im Heiligtum: und durch Ihn sind auch wir dort. Auch dieses zeigt uns aufs Neue
den großen Unterschied zwischen uns und den Heiligen des Alten Testaments. Sie durften von dem
Sündopfer nicht, essen, und wir dürfen es. Sie hatten nur die Erinnerung an die Abscheulichkeit der
Sünde und an die Strenge des Gerichts Gottes, ohne die Gewissheit, dass die Gerechtigkeit Gottes
völlig befriedigt war, während wir nicht nur wissen, wie Gott über die Sünde und den Sünder denkt,
sondern auch, dass die Versöhnung zu Wege gebracht ist und wir für immer in der Gegenwart Gottes
sind.
Der Tisch des Herrn ist der Ausdruck dieser unserer Stellung. In dem gebrochenen Brot und in dem
Kelch wird uns Jesus vorgestellt, der sich selbst für uns dahingegeben und sein Blut für uns vergossen
hat. „Dieses ist mein Leib, der für euch gegeben, dieses ist mein Blut, das für euch vergossen ist zur
Vergebung der Sünden“ – sprach der Herr. Und durch das Essen dieses Brotes und durch das Trinken
dieses Kelchs bekennen wir, Gemeinschaft zu haben mit dem Leib und Blut des Herrn (1. Kor 10).
Unter den Zeichen des Brotes und des Kelchs steht Jesus vor uns, sowie Er sich als Sündopfer in den
Tod gegeben hat. Also wird es auch im Himmel sein. Wir werden dann freilich kein Brot und keinen
Kelch, sondern Jesus selbst in unserer Mitte haben. Rings um den Thron versammelt, werden wir
Ihn, als das geschlachtete Lamm, mit seinem menschlichen Leib – der zwar verherrlicht sein, aber
stets die Zeichen seines Leidens und Sterbens tragen wird – in unserer Mitte stehen sehen und Ihn
dort vollkommen genießen.
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  Außerhalb des Lagers 1/2
Wie gesagt, ist der Tisch des Herrn der Ausdruck dieser Gemeinschaft; jedoch dürfen wir uns unter
dem Tisch des Herrn nicht den Altar vorstellen, wovon der Apostel spricht. Der Apostel bedient
sich, wie man aus dem Zusammenhang ersieht, der bildlichen Sprache. Seine Absicht ist, den großen
Unterschied zwischen den Priestern des Alten Bundes und uns ins Licht zu stellen, und er muss
deshalb über die Einrichtungen der Stiftshütte sprechen. Ich weiß wohl, dass man aus dem Tisch
des Herrn einen Altar gemacht hat; aber nichts ist von der Absicht Jesu weiter entfernt. Von einem
Opfern zur Versöhnung ist keine Rede mehr; und ein Altar ohne Opfer ist ein Unding. Das stets
vollgültige Opfer ist gebracht worden: und der Tisch des Herrn ist die Darstellung dieses vollbrachten
Opfers. Auch denke man nicht, dass wir nur am Tisch des Herrn das Sündopfer genießen; o nein, wir
stehen fortwährend damit in Verbindung. Jesus kann als der Gekreuzigte, als das Opfer für unsere
Sünden, stets vor unseren Augen stehen und durch uns genossen werden. Aber das Abendmahl ist
der Ausdruck, die sichtbare Darstellung davon; und in diesem Charakter ist es von unschätzbarem
Wert.
Doch, geliebte Brüder, wo nden wir diesen gestorbenen Jesus, mit dem wir Gemeinschaft haben,
und den wir genießen? „Im Himmel“, werdet ihr sagen, und ihr habt Recht. Ja, Er ist im Himmel:
Er war tot; aber Er lebt jetzt und hat uns den Eingang in den Himmel geönet. Aber vergeht nicht,
dass Er außerhalb des Tores gelitten hat, und dass uns dieses den Platz anweist, den wir hienieden
einzunehmen haben. Ist uns durch sein Leiden und Sterben der Eingang in den Himmel geönet, so
zeigt uns die Stätte, wo Er litt, unsere Verwerfung von Seiten der Erde. Sein Tod bereitete uns eine
Stadt dort oben; der Platz, wo Er gestorben, macht uns los von einer Stadt hienieden. „Deshalb lasst
uns zu Ihm hinausgehen außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend; denn wir haben hier keine
bleibende Stadt, sondern wir suchen die zukünftige.“
Um Christus genießen und wahre Gemeinschaft mit Ihm haben zu können, müssen wir das Lager
verlassen. Im Lager ist Er nicht; Er hat außerhalb des Tores gelitten. Dieses musste, um ein Opfer für
unsere Sünden werden zu können, nach dem bestimmten Ratschluss Gottes also sein. Man vergesse
nicht, dass die Welt Ihn verworfen hat. In der Welt ward Er verachtet, verhöhnt und schließlich
getötet. Und du, der du sein Jünger bist, möchtest in dieser Welt bleiben wollen? – in einer Welt,
die deinen Erlöser verwarf und ermordete? Könntest du wünschen, mit der Welt auf gutem Fuß zu
bleiben und sie so hoch als möglich zu schätzen? Solltest du dich da zu Haus fühlen können, wo dein
Jesus nicht ist? Bedenke doch, dass du nicht von der Welt bist, gleich wie Er nicht von der Welt ist,
dass Er dich von der Welt auserwählt hat, und zwar zu welch hohem Preis! Ach, welch eine Schmach
für Christus, welch eine Verachtung seiner Leiden, wenn du dich – in welcher Weise es auch sein
mag – vereinigst und eins machst mit der Welt, welche Ihn hasst und Ihm in großer Feindschaft
gegenübersteht, die einst ihr „Kreuzige Ihn!“ gerufen hat und bald wegen ihres an dem Sohn Gottes
begangenen Mordes zur Rechenschaft gezogen werden wird! (Schluss folgt)
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  “Erlöst“ und “Erkauft“
“Erlöst“ und “Erkauft“
„Den Gebieter verleugnend, der sie erkauft hat.“ Dieser Ausdruck hat schon vielen Lesern der Heiligen
Schrift Schwierigkeit bereitet, und zwar deshalb, weil sie keinen Unterschied zwischen „erkauft“ und
„erlöst“ machten. Es wird niemals in der Schrift gelehrt, dass der Herr einen Ketzer oder irgendeinen
anderen Menschen, der nicht errettet war, erlöst hat. In dem Wort Gottes ndet sich keine Silbe,
welche die Gewissheit des ewigen Lebens für den Gläubigen abschwächt; aber nichtsdestoweniger
lehrt es, dass der Herr einen jeden Menschen, sei er nun errettet oder nicht, sei er gläubig oder
ungläubig, erkauft hat. Das Resultat für den Menschen hat nichts zu tun mit dem Erkaufen von Seiten
des Herrn. Er hat die Welt und alles, was zu ihr gehört, erkauft. Dies nden wir überall, sei es im
Gleichnis oder in der Lehre, in den Evangelien oder in den Briefen; es ist die beständige Aussage des
Geistes Gottes. Jene bösen Menschen waren daher ebenso gut erkauft wie auch die übrigen.
„Erlösung“ aber ist ein ganz anderer Begri. Der Zweck einer Erlösung ist, eine Person von der Macht
des Gegners zu befreien, oder einen Gefangenen aus der Sklaverei zu bringen und ihn durch die
Zahlung des Losegeldes in Freiheit zu setzen. Dieses ist nur wahr in Bezug auf den Gläubigen; er
allein ist aus der Gefangenschaft herausgerissen und freigemacht worden. Es ist eine tatsächliche
Befreiung, und sie gehört nur dem Glauben an. Es handelt sich dabei nicht allein um ein Kaufgeld; das
würde nicht hinreichend sein für die Erlösung, bei der die Befreiung eines Sklaven oder Gefangenen
in Frage steht; und eine solche Befreiung hat nur da stattgefunden, wo eine Seele an Christus
glaubt. Das Erkaufen dagegen ist eine ganz andere Sache. Du läufst vielleicht irgendeinen leblosen
Gegenstand, und er gehört nach dem Kauf dir an, dient aber möglicherweise zum Bösen und zur
Schande. Angenommen, du könntest eine Person kaufen, was würde die Wirkung dieser Handlung
sein? Du würdest jene Person zu einem Sklaven machen. Das steht aber im völligen Gegensatz zur
Erlösung. Erlösung macht den Sklaven frei, während der Kauf das Gekaufte zu deinem Eigentum
oder zu deinem Sklaven macht.
Diese zwei Tatsachen sind beide wahr in Bezug auf den Christen und begegnen sich in dem Blut
Christi. Der Christ ist beides: erlöst und erkauft. Er allein ist erlöst; doch außerdem ist er erkauft durch
das Blut Christi und deshalb sein Sklave geworden. Er ist ein Leibeigener Jesu Christi. Völlig befreit
durch die Erlösung, wird er durch das Erkaufen zu einem Sklaven gemacht. Doch ist jedermann, wie
schon oben bemerkt, erkauft, und wer den Herrn verleugnet, der verleugnet seinen Gebieter, welcher
ihn erkauft hat.
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  Außerhalb des Lagers 2/2
Außerhalb des Lagers – Teil 2/2
Ach, es gibt viele Jünger des Herrn, die sich mehr oder weniger mit der Welt vereinigen. Wie sehr
nimmt in unseren Tagen die weltliche Gesinnung zu! Ja, viele Gläubige verteidigen und begünstigen
sogar diese Gemeinschaft mit der Welt. Sie jagen: „Man muss das Licht leuchten lassen, man muss
das Salz der Erde sein, man muss alles durch seine Gegenwart heiligen“, – während Paulus einst
klagte: „Demas hat mich verlassen, da er den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen.“ Es ist sicher nichts
als Irrtum und Selbsttäuschung, wenn man meint, durch ein Sich–Gleichstellen mit der Welt sein
Licht leuchten lassen zu können. Das Gegenteil ist wahr. Man wird je länger je mehr von dem Herrn
abweichen und zum Schluss der Welt ganz gleichförmig sein. Eine Menge von Beispielen dieser Art
könnte man aufzählen. Nichts ist natürlicher als dieses. Im Lager ist Jesus nicht. Dort kann man seine
Gemeinschaft nicht genießen. Um dieses zu können, muss man zu Ihm hinausgehen außerhalb des
Lagers.
Aber kann man denn kein Gläubiger sein, wenn man im Lager ist? Ei freilich; aber kein solcher, der
Jesus genießt. Auch Lot, obwohl er in Sodom wohnte, war ein Gläubiger: aber hatte er Gemeinschaft
mit Gott? Wahrlich nicht. Der Herr, der mit Abraham sprach und bei Abraham einkehrte, ging nicht
zu Lot. Selbst die Engel weigerten sich, in Lots Haus einzukehren. Das ist in der Tat beachtenswert.
Man kann ein Gläubiger sein, selbst wenn man sich im Lager bendet; aber ach, wie viel entbehrt
man! Wie viele Genüsse waren das Teil Abrahams, und wie viele Plagen hatte Lot durchzumachen!
Was Jesus in all seiner Schönheit und Herrlichkeit, in all seiner Liebe und Gnade ist, das kann man in
der Welt nicht kosten. In Ihm gibt es so vieles zu genießen, dass man alles, was in der Welt, alles, was
dort schön, herrlich und anziehend ist, für Schaden und Dreck achtet.
Aber wenn ich die Welt verlasse, dann werde ich Schmach und Spott, Leiden und Verdruss nden.
Sicher. Der Apostel sagt: „Lasst uns zu Ihm hinausgehen, seine Schmach tragend.“ Die Welt hat Ihn
verworfen, sollte sie uns nicht verwerfen? Sie hasst Ihn, sollte sie uns nicht hassen? Aber das ist
unsere Ehre, unsere Freude. Oder ist es für einen Jünger keine Ehre, seinem Herrn gleich geachtet zu
werden? War es für Stephanus keine Ehre, von derselben Stadt, die Jesus verworfen hatte, ebenfalls
verworfen zu werden? Die Apostel freuten sich, dass sie würdig geachtet wurden, um seines Namens
willen Schmach zu leiden. Und ist es nicht unsere Freude, in dieser Schmach den Beweis zu sehen, dass
wir wahre Jünger Jesu sind? Mit Ihm, selbst im Leiden und im Tod, Gemeinschaft zu haben, war für
Paulus unaussprechlich herrlich. Wenn wir mit Ihm leiden, werden wir mit Ihm verherrlicht werden.
Jakobus sagt: „Achtet es für lauter Freude, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Versuchungen
fallt.“ – Aber, wird man vielleicht sagen, es ist doch unerträglich, so ganz verworfen zu werden. – Für
das Fleisch gewiss, aber für den geistlich gesinnten Menschen keineswegs. War es für Stephanus
unerträglich, aus der Stadt geschleppt und gesteinigt zu werden? O nein; sein Angesicht glänzte wie
das Angesicht eines Engels; er sah Jesus zur Rechten Gottes stehen, und seinen Geist befahl er den
Händen Jesu. War es für Paulus und Silas unerträglich, im Gefängnis zu Philippi zu sein? O nein; sie
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  Außerhalb des Lagers 2/2
sangen Loblieder. Und für Petrus? O nein; er schlief ruhig in seinem Kerker, obwohl er am folgenden
Tage getötet werden sollte. Ist das Herz mit Jesu verbunden, dann zieht man die Schmach, den Spott,
ja selbst den Tod außerhalb des Lagers tausendmal der Ehre und der Anerkennung im Lager von
Seiten derer vor, die Ihn hassen und verachten. Um seinetwillen verlässt man gern den angesehensten
Platz in der Welt. Moses verließ den Hof Pharaos und die Herrlichkeit Ägyptens, „lieber wählend,
mit dem Volk Gottes Ungemach zu leiden, als die zeitliche Ergötzung der Sünde zu haben, indem er
die Schmach Christi für größeren Reichtum hielt, als die Schätze Ägyptens; denn er schaute auf die
Belohnung.“
Wir müssen indessen bedenken, dass hier unter dem Lager Jerusalem verstanden wird; Jerusalem ist
das Bild der religiösen Welt. Nicht nur die gottlose, unsittliche Welt hat Jesus verworfen, sondern
auch die religiöse Welt. Israel war das Volk Gottes auf Erden, Jerusalem die Stadt des großen Königs.
Mit Recht konnte ein Israelit auf den Tempel mit seinen prächtigen Einrichtungen, mit seinem
Priestertum, seinen Opfern und all seinen Zierden hinweisen in dem Bewusstsein, dass Gott alles
gegeben habe. Und dieses Israel, die Stadt, wo allein auf der ganzen Erde der Name des allein wahren
Gottes angerufen wurde, verwarf den Sohn Gottes und kreuzigte Ihn. Ja, die religiösen Menschen
unter dem Volk riefen am lautesten:„Kreuzige Ihn!“ Von diesem Lager müssen wir ausgehen. Nicht nur
aus der Welt mit ihren Vergnügungen und Zerstreuungen, mit ihren Sünden und Ungerechtigkeiten,
sondern auch aus der Welt mit ihren religiösen Formen und Systemen. Du kannst den Herrn Jesus
im Lager nicht genießen; Er ist außerhalb desselben. Jerusalem, als der Mittelpunkt der Handlungen
Gottes, ist bei Seite gestellt, so dass es auf Erden keine heilige Stätte mehr gibt. Christus hat seinen
Platz als Dulder außerhalb des Kreises der religiösen Welt eingenommen, ja außerhalb alles dessen,
was der Welt angehört. Um Ihm zu begegnen, muss man zu Ihm hinausgehen außerhalb des Lagers.
„Zu Ihm“, – ja, darin liegt die Kraft. Nicht aus dem einen System in das andere, nicht aus der einen
Vereinigung in die andere. Nein, geht von allem aus, was, gleich Israel oder Jerusalem, den Namen
eines Lagers verdient; geht aus zu Ihm, der außerhalb des Tores gelitten hat. Der Herr Jesus bendet
sich jetzt dort eben sowohl, wie vor achtzehn Jahrhunderten. Die religiöse Welt jener Zeit trieb Ihn
hinaus; und sie ist in Gesinnung und im Grundsatz die religiöse Welt von heute. Die Welt ist und
bleibt die Welt. Mag sie sich auch in den Mantel des Christentums eingehüllt haben, so ist sie doch
stets voll Hass und Feindschaft gegen Christus. Selbst je religiöser die Menschen sind, ohne bekehrt zu
sein, desto feindseliger zeigen sie sich gegen die Oenbarung des wahren Gottesdienstes. Man denke
nur an den Hass der Pharisäer gegen Jesus. O täuschen wir uns selbst nicht! Wenn wir mit einem
verworfenen Christus wandeln wollen, so werden wir ebenfalls verworfen sein. Ehre und Ansehen
wird dann nicht unser Teilsein. Nein, die Welt kennt uns nicht, wie sie Ihn nicht gekannt hat. Die große
Menge wendet sich von uns ab. Wir sind ein kleines Häuein. Aber welch herrliche Verheißungen
sind unser Teil! „Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch
das Reich zu geben“ – so sprach einst Jesus zu seinen Jüngern, und so spricht Er auch jetzt noch. O
möchte diese Herrlichkeit uns anziehen! Möchten wir, gleich Abraham, die Gemeinschaft mit dem
Herrn den wasserreichen Ebenen Sodoms vorziehen! Möchten wir, schauend auf die Belohnung, wie
Moses, die Schmach Christi für größeren Reichtum halten, als die Schätze Ägyptens! Möchten wir,
wie Paulus, alle unsere Vorrechte nach dem Fleisch – Reichtum, Ehre, Ansehen, Wissenschaft und
Gelehrsamkeit – für Schaden und Dreck achten wegen der Vortreichkeit der Erkenntnis Christi Jesu,
unseres Herrn! Dann werden alle mit der Gemeinschaft Jesu verbundenen Genüsse von uns gekostet
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  Außerhalb des Lagers 2/2
werden. Mit Ihm zu wandeln ist wahre Freude. Das Anschauen seiner Herrlichkeit und Schönheit
erhebt uns über alle irdischen Dinge. An seinem Tisch zu sitzen und hier seine unendliche Liebe zu
genießen, ist der Vorgeschmack der himmlischen Ruhe. Dieses alles kennt man im Lager selbst nicht.
Der Ungläubige spottet darüber, und der Gläubige kann sich keine Vorstellung davon machen. Nur
sie, die zu Jesu hinausgegangen sind außerhalb des Lagers, erfahren es. Selbst die Schmach bereitet
ihnen Freude. Der Blick erhebt sich nach oben; das Herz fühlt sich emporgezogen; und dort ndet
man die „zukünftige Stadt“ – „die Stadt, welche Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott
ist“, und wo Jesus unser harrt in ewiger Herrlichkeit. Ja, dorthin richten sich unsere Schritte. Von
dem Platz außerhalb des Lagers führt der Weg uns ins innere Heiligtum, um dort völlig zu genießen,
was hienieden nur stückweise erkannt wird. Wir haben hier keine bleibende Stadt. Die Welt mit
all ihrer Eitelkeit zieht schnell an uns vorüber: bald wird der letzte Streit gestritten sein. Nur noch
wenige Augenblicke, und wir gehen aus den Leiden in die Herrlichkeit. Darum mutig vorwärts auf
dem steilen Pfad! Kümmern wir uns nicht um das Urteil der Menschen. Die Anerkennung von Seiten
des Herrn ist unendlich mehr wert. Lebt Er wirklich in unserer Seele, so werden wir von ganzem
Herzen singen: Ein Vorrecht ist's, hinaus zu gehen,
Zu folgen deinen Schritten nach;
Mit dir vom Lager fern zu stehen,
Und willig tragen deine Schmach.
Zum Lobe Gottes sich zu weih'n,
Bis du uns führst zur Ruhe ein.
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  Josaphat
Josaphat
In 2. Chronika 17 nden wir einen Teil der Geschichte Joschafats, des Königs von Juda. Wir sehen
hier, wie Jehova in der Hand dieses Königs das Königreich befestigt, und wie das Volk denselben
als seinen Herrscher anerkennt (V 5). Die erste Handlung, die von Joschafat aufgezeichnet steht, ist
jedoch die, dass er sich „stärkte wider Israel“ (V 1). Das ist sehr beachtenswert. Israel und der König
Israels dienten ihm beständig zum Fallstrick. Aber im Anfang seiner Regierung, in den Tagen seiner
ersten Frische sehen wir ihn sich stärkend wider Israel.
Oft wird diesesin der Lebensgeschichte einzelner Christen beobachtet. Das Böse, dasihnen in späterer
Zeit zur gefährlichsten Schlinge diente, war gerade dasselbe, gegen welches sie in den ersten Tagen
die sorgfältigste Wachsamkeit an den Tag legten. Ein Glück ist es, wenn der Geist der Wachsamkeit
mit dem Wachsen in der Erkenntnis der Neigungen und Empfänglichkeiten unseres Herzens gleichen
Schritt hält. Doch leider ist dies nicht immer der Fall. Wie nden wir im Gegenteil so oft, dass die
Gläubigen sich nach wenigen Jahren mit Dingen einlassen, denen ihr Gewissen in früherer Zeit mit
aller Entschiedenheit entgegentrat! Dieses mag den Schein des Ablegens eines gesetzlichen Geistes
haben; aber sollte man es nicht viel eher als das Ablegen eines zartfühlenden Gewissens betrachten?
Es würde in der Tat sehr zu beklagen sein, wenn ein sorgloses Gemüt und ein abgestumpftes Gewissen
die Folge einer mehr klaren Einsicht wären, und wenn ein tieferes Eindringen in die Wahrheit dazu
diente, um diejenigen, welche sich früher verleugneten, gleichgültig und weltförmig zu machen.
Doch dieses ist nicht der Fall. Ein Wachsen in der Erkenntnis der Wahrheit ist ein Wachsen in der
Erkenntnis Gottes; und ein Wachsen in der Erkenntnis Gottes ist ein Wachsen in der praktischen
Heiligkeit. Das Gewissen, welches ohne Beschuldigung solche Dinge geschehen lassen kann, vor
denen es früher zurückschreckte, steht nicht unter dem Einuss der Wahrheit Gottes, sondern im
Gegenteil unter dem verhärtenden Einuss des Betruges der Sünde.
Joschafat nahm nicht nur alles in Besitz, was Asa, sein Vater, erobert hatte, sondern tat auch Schritte,
um sein Königreich zu befestigen und durch Ergreifung geeigneter Maßregeln zu verwalten. Überall
zeigte sich die größte Ordnung: „Und Jehova war mit Joschafat: denn er wandelte in den früheren
Wegen seines Vaters David und suchte nicht die Baalim, sondern er suchte den Gott seines Vaters und
wandelte in seinen Geboten und nicht nach dem Tun Israels. Und Jehova befestigte das Königreich
in seiner Hand, und ganz Juda gab dem Joschafat Geschenke, und er hatte Reichtum und Ehre die
Menge. Und sein Herz wurde gehoben auf den Wegen Jehovas, und er tat ferner weg die Höhen
und Ascherim aus Juda“ (V 3–6). – das war das wahre Geheimnis seines Glücks. „Sein Herz wurde
gehoben auf den Wegen Jehovas.“ Wenn das Herz also „gehoben“ wird, bewegt sich alles in gutem
Geleise.
Doch in Kapitel 16 nden wir die Dinge in einer ganz anderen Lage. Das Glück Joschafats wird für
ihn in der Hand des Teufels zu einem Fallstrick: „Und Joschafat hatte viel Reichtum und Ehre in
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  Josaphat
Überuss, und er verschwägerte sich mit Ahab“ (V 1). Wir haben bereits angedeutet, dass er sein
Königreich befestigte, aber der Feind tritt ihm, ohne dass er es ahnt, in den Weg und überfällt nichtsein
Königreich, sondern sein Herz. Er kommt nicht gleich einem Löwen, sondern gleich einer Schlange.
Er bedient sich nicht der Kriegsleute, sondern der „Schafe und Rinder“ Ahabs. Eine Kriegserklärung
von Seiten Ahabs würde Joschafat nur zu Jehova getrieben haben; darum wählt jener einen anderen
Angrisplan. Das Königreich Joschafats ist wider die feindseligen Maßregeln Ahabs erstarkt; aber das
Herz Joschafats liegt oen für die Verlockungen Ahabs. Das war von großer Wichtigkeit. Wir sind oft
wachsam gegen das Böse in der einen Form, während wir dasselbe in einer anderen auf uns einwirken
lassen. Joschafat hatte sich anfangs wider Israel gestärkt, während er sich jetzt mit dem König Israels
verschwägert. Und warum? War vielleicht irgendeine Veränderung zum Guten in Aussicht gestellt,
und hatte sich das Herz des gottlosen Königs Ahabs etwa zu Jehova gewandt? Keineswegs. Er war
derselbe geblieben; aber das Gewissen Joschafats hatte viel von dem früheren Zartgefühl eingebüßt;
er hatte sich mehr dem Bösen zugeneigt und war in geheime Berührung mit demselben gekommen;
er war, wie man zu sagen pegt, mit Pech umgegangen und hatte sich besudelt. Er verschwägerte
sich mit Ahab. Das war der Kern der Sache. Und dieses Böse muss, wie langsam es auch wirken
mag, früher oder später seine eigenen Früchte tragen. „Wer für sein eigenes Fleisch sät, wird von
dem Fleisch Verderben ernten“ (Gal 6,8). Diese Wahrheit wird sich unvermeidlich bestätigen. Es
mag die Gnade uns unsere Sünden vergeben; aber die Frucht derselben wird zu seiner Zeit zum
Vorschein kommen. Jehova nahm die gegen Uria begangene Sünde Davids weg; aber das Kind starb;
und Absalom empörte sich. So ist es immer. Wenn wir für das Fleisch säen, müssen wir Verderben
ernten; das Fleisch kann nichts anders hervorbringen.
In dem Fall Joschafats geschah es erst nach Jahren, dass sich die Folgen seines verkehrten Schrittes
oenbarten. „Und nach Verlauf von einigen Jahren zog er hinab zu Ahab nach Samaria, und Ahab
schlachtete für ihn Schafe und Rinder in Menge, und für das Volk, das mit ihm war, und beredete
ihn, hinaufzuziehen gen Ramot in Gilead“ (V 2). Satan kennt das Terrain – er weiß, wo der böse
Same Wurzel gefasst hat – er sieht das Herz, welches bereit ist, seinen Verlockungen Gehör zu geben
– er begreift, dass die Verschwägerung, in welche der König von Juda mit dem König von Israel
getreten, den ersteren zu weiteren Schritten in einer verkehrten Gesinnung vorbereitet hat. Sobald
ein Christ mit der Welt in Verbindung tritt, bringt er sich selbst in Gefahr, durch die Welt „beredet“
oder angespornt zu werden, um unchristliche Handlungen zu begehen. David nahm Zicklag aus
der Hand des Philisterkönigs Achisch (1. Sam 27,6), und der folgende Schritt bestand darin, dass er
sich mit Achisch wider Israel verbündete (1. Sam 28,1). Die Welt wird einem Kind Gottes nimmer
etwas schenken, ohne ihrerseits große Forderungen zu stellen. Nachdem der König von Juda die
Schafe und Rinder Ahabs für sich hatte schlachten lassen, musste er es schwer nden, das Begehren
Ahabs bezüglich des Geleites gen Ramot in Gilead abzuschlagen. Der sicherste Weg ist daher, der
Welt nichts schuldig zu sein. Joschafat hätte mit Ahab nichts zu schaen haben, sich „von der Welt
unbeeckt“ erhalten müssen (Jak 1,27). Jehova war nicht mit Ahab; und obwohl die Wiedereroberung
einer der Freistädte aus Feindes Hand als eine wünschenswerte Sache erscheinen mochte, so hätte
auch Joschafat wissen sollen, dass das Böse nicht ausgeführt werden darf, damit das Gute daraus
hervorgehe.
Ramot in Gilead war von alters her als eine Freistadt für den Todschläger bezeichnet worden
(5. Mo 4,43); und diese Stadt aus den Händen des Königs von Syrien wieder zu erobern, war der Zweck
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  Josaphat
des Kriegszuges Ahabs. Aber trotz diesem allen werden wir den Fallstrick des Feindes wahrnehmen,
der sich sicher wenig um die Stadt bekümmerte, aber der große Stücke darauf hielt, einen Diener
Gottes von dem Pfad der Absonderung und Reinheit ablocken zu können. Dazu weiß der Teufel nur
zu gut, welch einen mächtigen Einuss religiöse Dinge aus das Herz eines Gläubigen auszuüben
vermögen. Er naht sich nicht mit etwas, das oenbar sündig ist; er stellt nicht an das Kind Gottes
die Forderung, sich bezüglich schlechter Dings mit der Welt zu vereinigen, weil er weiß, dass das
Gewissen davor zurückschrecken würde, sondern er stellt vielmehr eine an und für sich ehrenwerte
Sache in Aussicht und verbirgt seine wahren Absichten unter dem Mantel der Religion oder des
Wohlwollens, um auf diesem Weg die Seele in die Fall zu locken. Es gibt aber eine Wahrheit, die,
wenn angewandt, den Christen wirklich von jeder Verbindung mit der Welt abhalten würde. Der
Apostel belehrt uns nämlich durch den Heiligen Geist, dass die Ungläubigen „zu jedem guten Werke
unbewährt“ seien (Tit 1,16).
Das ist genügend für eine gehorsame Seele. Wie können wir uns mit solchen vereinigen, die als
„unbewährt“ bezeichnet werden? Es geschieht nicht, was sie uns vor Augen malen, mag es ein Werk
der Liebestätigkeit oder ein Werk der Religion sein. Die Heilige Schrift belehrt uns, dass, wiewohl sie
vorgeben, Gott zu kennen, sie zu jedem guten Werke unbewährt sind. Eines Weiteren bedarf es nicht.
Gott kann weder anerkennen noch annehmen die Werke oder Opfer solcher, deren Herzen weit von
Ihm entfernt sind: wie kann daher die Versammlung sich mit ihnen vereinigen, selbst wenn es sich
um die Ausführung eines guten Werkes handelt? „Erhalte dich selber unbeeckt!“ ist eine ernste
Ermahnung, die uns allen gilt. „Gehorsam ist besser, denn Opfer; aufmerken besser, denn das Fett
der Widder.“ Wie viel besser würde es gewesen sein, wenn Joschafat sich von aller Verbindung mit
Ahab ferngehalten hatte, anstatt mit ihm gen Ramot in Gilead zu ziehen, um diese Stadt den Syrern
wieder zu entreißen.
Nichtsdestoweniger musste er dieses alles auf dem Weg bitterer Erfahrungen lernen. Und auf diesem
Weg müssen auch die meisten von uns lernen, was wir zu lernen haben. Wir können sprechen,
viel sprechen über gewisse Punkts der Wahrheit, während wir wenig aus Erfahrung kennen. Als
Joschafat sich im Anfang wider Israel stärkte, dachte er wohl kaum daran, dass er bald durch den
schlechtesten aller Israeliten umstrickt werden würde. Das einzige Bewahrungsmittel gegen das
Böse ist die Gemeinschaft mit Gott. Wenn wir das Böse im Licht der Heiligkeit Gottes betrachten,
sehen wir nicht nur auf die Tat, sondern auch auf den Grundsatz; und wenn der Grundsatz nicht
taugt, so dürfen wir uns, wie auch der Erfolg sein mag, durchaus nicht damit einlassen. Um aber
das Böse in dieser Weise zu behandeln, bedarf es einer steten Tätigkeit der Seele vor Gott, einer
großen Geistlichkeit, einer ununterbrochenen Wachsamkeit und eines fortdauernden Gebetslebens.
Möge der Herr uns diese Dinge verleihen, sowie eine größere Zartheit und Empndlichkeit des
Gewissens! Wir denken oft gar zu wenig an die traurigen Folgen eines verkehrten Schrittes bei einem
Kind Gottes. Die große Zahl dieser Folgen kommt nicht immer zu unserer Kenntnis; aber der Feind
sorgt, dass er Nutzen davon zieht, nicht nur in Betre des Schadens derer, die den verkehrten Weg
einschlagen, sondern auch derer, die davon berührt werden. Joschafat el nicht nur selbst in die
Schlinge, sondern zog auch andere mit hinein. Er sagte nicht nur: „Ich will sein wie du“, – sondern
auch: „Und mein Volk wie dein Volk.“ – Welch ein niedriger Standpunkt für einen Mann Gottes, und
welch ein niedriger Standpunkt für das Volk Gottes: „Ich will sein, wie du“, sagte Joschafat: und es
war ein Glück für ihn, dass seine Worte nicht tatsächlich zur Wahrheit wurden. Gott betrachtete ihn
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  Josaphat
nicht als eins mit Ahab; und das war, selbst inmitten der schrecklichsten Folgen seiner Sorglosigkeit,
seine Rettung. Er war am Ende seiner Laufbahn nicht dem Ahab gleich, wie enge er sich auch mit
ihm verbündet hatte, um ihm in der Ausführung seiner Pläne hilfreich zur Seite zu stehen. Er stand
nicht auf einem Boden mit Ahab, als derselbe von einem Pfeil durchbohrt wurde; er war nicht eins
mit Ahab, als die Hunde Ahabs dessen Blut leckten. Der Herr hatte einen Unterschied zwischen ihm
und Ahab gemacht.
Es ist indes nicht zu leugnen, dass, wenn ein Christ zu irgendeinem Zweck sich mit der Welt verbindet,
er – wie Joschafat zu Ahab – dadurch ausdrückt: „Ich will sein wie du!“ Frage ein jeder sich selbst, ob
dieses nicht wahr ist. Mit der Entschuldigung, über andere nicht urteilen zu wollen, werden wir nicht
auskommen; denn Joschafat hätte urteilen sollen, wie dies deutlich aus den Worten Jehus hervorgeht,
welcher ihm zuruft: „Sollst du dem Gesetzlosen helfen und lieben, die Jehova hassen?“ (Kap 19,2) Wie
hätte er wissen können, wer gesetzlos war, oder wer den Herrn hasse, wenn er darüber kein Urteil
fällen durfte? Wir haben sicher nichts mit dem Richten derer zu tun, die draußen sind; aber wir sind
Zugleich berufen, diejenigen zu beurteilen, mit denen wir in Verbindung treten. Es ist selbstredend,
dass hier von keiner Selbstüberhebung die Rede sein kann. Nicht weil ich heiliger bin, als ein anderer,
sondern weil Gott heilig ist, muss ich mich auf seine Seite stellen. Nicht auf Grund dessen, was ich
bin, sondern auf Grund dessen, was Gott ist, habe ich mich von dem Bösen getrennt zu halten. „Seid
heilig, denn ich bin heilig“, ruft Gott uns zu.
Der Fehltritt Joschafats brachte auch andere zu demselben Fehltritt. Das ist eine ernste Lehre für
uns. Wir müssen bedenken, dass Joschafat durch seine frühere Frömmigkeit auf das Herz seines
Volkes einen bedeutenden Einuss erlangt hatte: er hatte in einem gewissen Sinn mit Macht ihr
Vertrauen und ihre Zuneigung gewonnen. Es ist sicher nicht verwerich, wenn man denen, welche
treu wandeln, Liebe und Vertrauen schenkt; allein hernach müssen wir gegen die Gefahr eines bloß
persönlichen Einusses auf unserer Hut sein. Nur jemand, der ein ausgedehntes Vertrauen genießt,
kann sagen: „Mein Volk wird sein wie dein Volk.“ denn im anderen Fall würde er nur sagen konnten:
„Ich will sein, wie du.“ – sein außerhalb der Gemeinschaft mit Gott ausgeübter Einuss macht ihn nur
umso fähiger, ein Werkzeug in der Hand des Feindes zu sein. Satan wusste dieses und kannte sein Ziel;
er bediente sich nicht eines gewöhnlichen Mannes aus Juda, sondern wählte den ausgezeichnetsten
und einussreichsten Mann, den er aufzunden vermochte, da er wohl wusste, dass, wenn es ihm
gelang, denselben aus dem Geleise zu bringen, die Anderen ihm von selbst schon folgen würden.
Und er täuschte sich nicht. Mancher Bewohner Judas wird vielleicht gesagt haben: „Warum sollte es
verwerich sein, dass wir an Ahabs Kriegszüge teilnehmen? Sicher wenn darin etwas Böses läge,
würde ein so vortreicher Mann wie Joschafat nicht Teil daran nehmen. Solange wir ihn dort sehen,
brauchen wir uns nicht darüber zu beunruhigen.“ – Doch wenn dieses auch in den Tagen Joschafats
die Sprache nicht gewesen wäre, so ist es doch sicher die Sprache vieler in unseren Tagen. Wie oft
hören wir einen Gläubigen sagen: „Warum sollte dieses oder jenes nicht gut sein, da wir doch so viele
vortreiche Menschen darin wandeln sehen?“ – Ach, wie grundfalsch ist eine solche Folgerung! Wir
sind – was andere auch tun mögen – mit unseren Handlungen Gott verantwortlich. Wir müssen durch
die Gnade fähig sein, zwar in aller Demut, aber auch mit völliger Bestimmtheit von unserem Tun und
Lassen Rechenschaft zu geben. Es ist uns dazu nicht unbekannt, dass auch die Gläubigen verkehrte
Dinge verrichten und verkehrte Pfade einschlagen und daher nicht unsere ausschließlichen Leiter
sein können. „Er steht und fällt seinem eigenen Herrn.“ Wir bedürfen in ganz besonderer Weise einer
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  Josaphat
geistlichen Gesinnung, eines durch das Wort Gottes erleuchteten Gewissens, eines Verständnisses
unserer persönlichen Verantwortlichkeit und einer Aufrichtigkeit bezüglich unserer Absichten. Wo
diese Dinge fehlen, da schlagen wir verkehrte Pfade ein.
Vielleicht sagt man: „Es gibt aber sehr wenige, die eine Stellung bekleiden, welche ihnen einen so
bedeutenden Einuss einräumt, wie Joschafat ihn besaß.“ Als Antwort wird es vielleicht von Nutzen
sein, auf einige Augenblicke bei einer Wahrheit zu verweilen, die leider in unseren Tagen nur zu
leicht aus dem Auge gesetzt wird, – nämlich bei der Wahrheit der Einheit des Leibes Christi und bei
der Wirkung, die das Verhalten jedes einzelnen Gliedes auf den ganzen Leib ausübt.
Es ist zu fürchten, dass die Hauptwahrheit der Einheit der Versammlung auf Erden selbst von Seiten
der geistlich Gesinnten und Unterwiesenen des Volkes Gottes wenig erkannt und wenig verwirklicht
wird. Die Ursache liegt klar am Tag. Diese Wahrheit wird mehr in dem Licht des gegenwärtigen
Zustandes der Versammlung, als in dem Licht des Neuen Testaments betrachtet; und in diesem Fall
kann die Einheit nicht gut verstanden werden. Wenn wir uns einfach durch die Schrift leiten lassen,
so werden wir nimmer fehlen. Dort lesen wir: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit.“ Der
Wandel selbst des unscheinbarsten Gliedes übt in gewissem Maß auf alle Glieder seine Wirkung aus.
„Denn auch in einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft, es seien Juden oder Griechen, es seien
Sklaven oder Freie, und sind alle zu einem Geist getränkt.“ Wenn daher irgendein Gläubiger sorglos
und leichtfertig wandelt, wenn er nicht ausharrt im Gebet, wenn er sich selber nicht richtet, so dient
er unausbleiblich dem ganzen Leib zum Schaden, während er bei einer geistlichen Gesinnung sicher
den Segen und das Glück aller befördern wird.
Sicher war der Schritt Joschafats mit Kampf verbunden. Die Tätigkeit seines Gewissens leuchtet
hervor aus den Worten: „Frage doch heute das Wort Jehovas“ (Kap 18,4). Aber ach, wie bedeutungslos
war dieses, nachdem er gesagt hatte: „Ich will sein wie du, und mein Volk wie dein Volk!“ (V 3)
Es ist nichts als Täuschung, wenn wir, nachdem unser Herz bereits seinen Entschluss gefasst hat,
nach dem Willen des Herrn fragen. Und doch wie oft geschieht dieses! Ach, wie verwerich! Wir
ehren dann Gott mit den Lippen, während das Herz sich wider Ihn auehnt. Haben wir in diesem
Fall, anstatt den Willen des Herrn zu erfahren, nicht vielmehr die Zusendung eines Lügengeistes
zu erwarten (V 21)? Ahab hatte keinen Mangel an Beratern; er versammelte sofort vierhundert
Propheten, die bereit waren, ihm einen Rat zu erteilen, der mit den Wünschen seines Herzens ganz im
Einklang war. Sie sprachen: „Ziehe hinauf, und Gott wird sie in die Hand des Königs geben“ (V 5). Das
fehlte ihm noch gerade. Auch darf es uns nicht verwundern, dass Ahab mit solchen Prophezeiungen
durchaus zufrieden war. Joschafat aber hätte selbst den Schein, jene Männer als Propheten Gottes
anzuerkennen, vermeiden sollen; aber stattdessen sagte erblos: „Ist hier nicht noch ein Prophet
Jehovas?“ Wäre er dem Herrn treu gewesen, so würde er diesen falschen Propheten das Recht, Rat zu
geben, nicht eingeräumt haben. Aber ach, er verlieh dem Gottesdienst der Welt und dessen Dienern
seine Anerkennung. Er fürchtete durch ein treues Handeln gegen diese Propheten die Gefühle Ahabs
zu verletzen. Wie traurig ist es doch, sich in einem Seelenzustand zu benden, wo wir unfähig sind,
gegen die Diener Satans ein klares und treues Zeugnis abzulegen!
Da nun Joschafat so tief gesunken war, dass er aus Gefälligkeit gegen Ahab die falschen Propheten
anerkannte, wie konnte da ein klares Zeugnis vor Gott stattnden? Ein jeder schien bis zu dieser
untersten Stufe herabzusinken, und der Feind das Feld zu behaupten; die Stimme der Wahrheit war
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  Josaphat
erstickt und Gott vergessen. So geht es stets. Die Anstrengung, um die Wahrheit denen, die von der
Welt sind, annehmbar zu machen, kann nur gänzlichen Abfall zur Folge haben. Ein gegenseitiges
Übereinkommen ist nicht möglich. Die Wahrheit muss auf der ihr eigenen himmlischen Höhe bleiben;
die Gläubigen müssen ganz und unbeweglich an ihrer Seite stehen; sie müssen die Sünder einladen,
zu ihnen hinauf zu kommen, anstatt selbst bis zu den niedrigen Sitten und Gewohnheiten der Welt
hinab zu steigen, wodurch sie nur die Schärfe und Kraft der Wahrheit einbüßen. Übrigens ist es
nichts als Täuschung, wenn wir glauben, dem Kind dieser Welt die Wahrheit dadurch angenehm
zu machen, dass wir uns nach seinen Wegen richten; vielmehr geben wir dadurch die Wahrheit,
anstatt sie angenehm zu machen, dem Hohn und der Verachtung preis. Dadurch, dass Joschafat die
Wege Ahabs einschlug und die Rechte der falschen Propheten anerkannte, schädigte er die Sache der
Wahrheit. Der Mann, der die Wege der Welt betritt, wird ein Feind Christi und ein Feind des Volkes
Gottes. Es kann nicht anders sein. Die Freundschaft der Welt ist Feindschaft wider Gott. Wer nun
irgendein Freund der Welt sein will, stellt sich als Feind Gottes dar (Jak 4,4).
Welch einen unumstößlichen Beweis liefert hierfür der König Joschafat! Er wird der Freund und
Genosse Ahabs, der den treuen Diener Gottes hasste; und ob er auch nicht persönlich diesen treuen
Zeugen verfolgte, so saß er doch an der Seite Ahabs und sah es, ohne Widerspruch zu erheben,
ruhig an, dass der Prophet Jehovas zuerst geschlagen und hernach deshalb ins Gefängnis geworfen
wurde, weil er seine Aussage nicht aus Gefälligkeit gegen den gottlosen König Israels mit den Lügen
der vierhundert falschen Propheten in Einklang bringen wollte. Was mag Joschafat gefühlt haben,
als er sah, dass sein Bruder wegen eines treuen Zeugnisses gegen einen Kriegszug, dem er selbst
sich angeschlossen hatte, geschlagen und eingesperrt wurde? Ja, in diesen Zustand hatte ihn sein
Bündnis mit Ahab gebracht, dass er nicht nur kein Zeugnis gegen dessen Handlungen ablegte,
sondern sogar dessen Genosse war. Wenn sich jemand mit der Welt verbindet, muss er auch in ihrer
Weise handeln; der Feind ist mit halben Maßregeln nicht zufrieden, sondern wird alles anwenden,
um einen Gläubigen, der sich außerhalb der Gemeinschaft mit Gott bendet, im Bösestun bis zum
äußersten zu treiben. Kleine Anfänge ziehen die erschreckendsten Folgen nach sich. Anfangs ist
die Berührung mit der Sünde höchst unscheinbar; dann nähert man sich derselben nach und nach
immer mehr, schließt sich ihr immer enger an und übergibt sich ihr schließlich so gänzlich, dass nur
eine unmittelbare Dazwischenkunft Gottes daraus befreien kann. – Joschafat verschwägerte sich mit
Ahab: dann machte er Gebrauch von dessen Gastfreundschaft, wurde zu einem öentlichen Bündnis
mit demselben überredet und nahm schließlich seinen Platz ein in der Schlacht bei Ramot in Gilead.
Er hatte zu Ahab gesagt: „Ich will sein wie du:“ und Ahab hielt ihn beim Wort und richtete an ihn die
Auorderung: „Ich will mich verstellen und in den Streit ziehen: du aber ziehe deine Kleider an“ (V 29).
So völlig gab Joschafat in den Augen der Kinder dieser Welt seine persönliche Stellung auf, dass „es
geschah, als die Obersten der Wagen den Joschafat sahen – denn sie sprachen: Das ist der König von
Israel.“ – (V 31) Welch eine gefahrvolle Stellung für Joschafat! Dass man ihn für den gottlosesten
aller Könige Israels hielt, war ein trauriger Beweis von der Gemeinschaft mit den Kindern der Welt.
Ein Glück war es für ihn, dass Jehova ihn nicht beim Wort hielt, als er zu Ahab sagte: „Ich will sein
wie du.“ Der Herr wusste, dass Joschafat nicht Ahab war, obwohl die Menschen ihn dafürhielten. Die
Gnade hatte ihn von Ahab unterschieden; und der Wandel hätte beweisen sollen, was die Gnade aus
ihm gemacht hatte. Gepriesen sei Gott! „Er weiß die Gottseligen aus der Versuchung zu retten:“ und
Er führte in Gnade seinen Diener aus dem Bösen, worin derselbe sich gestürzt hatte, und worin er
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  Josaphat
auch umgekommen sein würde, wenn Gott seine Hand nicht ausgestreckt hätte, um ihn zu befreien.
„Und Joschafat schrie, und Jehova half ihm, und Gott lenkte sie von ihm“ (V 31).
Hier haben wir den Wendepunkt in dieser Periode des Lebens Joschafats. Er erkannte die Stellung, in
welche er sich selbst gebracht hatte; und da er den Irrtum seines Weges begri, so erkannte er auch
die Gefahr, worin er schwebte. Umzingelt von den syrischen Obersten, vermochte er einigermaßen
zu fühlen, was die Einnahme des Platzes Ahabs in sich hatte. Ein Glück war es für ihn, dass er aus
der Tiefe seines Elends zum Herrn emporschauen und Ihn am Tag seiner Bedrängnis anrufen konnte.
Hatte er dieses nicht getan, so würde der Speer des Feindes tief in sein Herz gedrungen und die
traurigen Folgen seiner ungöttlichen Verbindung ins Licht gestellt haben. „Joschafat schrie“, und
sein Notschrei drang empor zum Herrn, dessen Ohr stets geönet ist für den Ruf derer, die ihre
Not fühlen. „Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.“ Der verlorene Sohn sagte: „Ich will mich
aufmachen und zu meinem Vater gehen.“ . . . „Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und ward
innerlich bewegt und lief hin und el ihm um seinen Hals und küsste ihn sehr.“ So kommt der Herr
Gott stets denen entgegen, die in der Erkenntnis, dass sie sich geborstene Gruben, die kein Wasser
halten, ausgegraben haben, zu Ihm, der Quelle des lebendigen Wassers, zurückkehren.
Ganz anders verhielt es sich mit Ahab. Obwohl tödlich verwundet, so blieb er doch „stehend in dem
Wagen bis zum Abend“, um seine Schwäche zu verbergen und seinen Zweck zu erreichen. Von ihm
drang kein Schrei aus der Tiefe: sein Auge blickte nicht nach oben. Man sieht an ihm nur das, was
ihn stets kennzeichnete. Er starb, wie er gelebt hatte, und tat bis ans Ende, was böse war in den
Augen Jehovas. Wie eitel war seine Anstrengung, um sich aufrecht zu erhalten! Der Tod hatte die
Hand auf ihn gelegt, und wiewohl er sich eine Zeitlang auf den Füßen zu halten gedachte, so starb er
doch „zurzeit des Sonnenuntergangs.“ Ein schreckliches Ende! – Das Ende dessen, der sich verkauft
hatte, das Böse zu wirken! Wer möchte ein Anhänger dieser Welt sein wollen? Wer möchte – wenn
er anders auf ein Leben von Reinheit, auf einen friedsamen und gottseligen Wandel einigen Wert
setzt – sich mit der Welt und ihren Gewohnheiten eins machen wollen?
Lasst uns jetzt einen Blick auf Kapitel 19 werfen! Hier nden wir eine gesegnete Frucht von dem,
was Joschafat durchgemacht hatte. „Er kehrte in Frieden zurück nach seinem Haus, nach Jerusalem“
(V 1). Ein herrlicher Ausgang! In Folge der Dazwischenkunft des Herrn war er aus dem Strick des
Vogelstellers befreit worden; und wir dürfen voraussetzen, dass sein Herz erfüllt war mit Dank gegen
Ihn, der, trotz seiner Worte: „Ich will sein wie du“, einen Unterschied zwischen ihm und Ahab gemacht
hatte. Ahab war mit Scham und Schande ins Grab gesunken, während Joschafat in Frieden nach
seinem Haus zurückkehrte. Doch welch eine Erfahrung! Er war nahe am Rand des Abgrunds gewesen.
Dieses sollte und musste er fühlen. Wiewohl der Herr ihn in Frieden nach Jerusalem zurückkehren
ließ und es dem Feind nicht gestattete, ihn zu verderben, so musste sein Gewissen doch wegen seiner
Sünde in Tätigkeit gebracht werden. „Da ging ihm entgegen Jehu, der Sohn Hananis, der Seher, und
sprach zu dem König Joschafat: Sollst du dem Gesetzlosen helfen und lieben, die Jehova hassen? Und
um dessentwillen ist Zorn über dir von Jehova“ (V 2). Das war eine ernste Anklage, und sie hatte ihre
besondere Wirkung. Joschafat „zog wiederum aus unter das Volk von Beerscheba bis zum Gebirge
Ephraim und brachte sie zurück zu Jehova, dem Gott ihrer Väter“ (V 4). Wie Petrus dem Wort des
Herrn: „Bist du einst zurückgekehrt, so stärke deine Brüder!“ gehorchte, so tat es auch Joschafat; und
es ist gesegnet, wenn durch die Gnade des Herrn die Irrtümer und Fehltritte zu einem solchen Ende
führen. Nur göttliche Gnade kann solches bewirken. Wenn wir, die wir Joschafat anfangs inmitten
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  Josaphat
der syrischen Obersten gefunden, ihn jetzt das Land durchziehen sehen, um seine Brüder in der
Furcht des Herrn zu unterweisen, dann fühlen wir uns zu dem Ausruf gezwungen: „Das hat der Herr
getan.“ Auch war Joschafat dazu der geeignete Mann. Wer in seiner eigenen Person die traurigen
Folgen einer leichtfertigen Gesinnung erfahren hat, kann mit dem größten Nachdruck sagen: „Seht
zu, was ihr tut!“ (V 6) Ein wiederhergestellter Petrus, der selbst den Heiligen verleugnet hatte, war
das auserwählte Gefäß, um anderen die Worte: „Ihr habt den Heiligen und Gerechten verleugnet“
(Apg 3,14), zuzurufen und ihnen das kostbare Blut anzupreisen, welches ihn von aller Schuld gereinigt
hatte. Ebenso kam Joschafat aus der Schlacht bei Ramot in Gilead, um mit feierlichem Ernst den
Richtern zuzurufen: „Seht zu, was ihr tut!“ Er, der soeben dem Strick entronnen war, konnte am
besten über den Strick sprechen und vor demselben warnen.
Wie bezeichnend sind die Worte Joschafats, wenn er sagt: „Bei Jehova, unserem Gott, ist kein
Unrecht und kein Ansehen der Person und kein Annehmen von Geschenk!“ (V 7) Für ihn war das
Geschenk Ahabs geradezu zu einer Schlinge geworden. „Ahab schlachtete für ihn Schafe und Rinder
in Menge, und für das Volk, das mit ihm war, und beredete ihn, hinaufzuziehen gen Ramot in Gilead.“
Joschafat ließ sein Herz durch Ahabs Geschenke einnehmen und wurde dadurch umso leichter von
den Überredungen desselben fortgeschleppt. Wir können nimmer mit geistlicher Nüchternheit die
Scheingründe und Einüsterungen der Welt einer Prüfung unterwerfen, solange wir in ihrer Sphäre
leben und ihre Freundschaft annehmen. Wir müssen uns außerhalb derselben benden und von
ihr unabhängig sein; denn nur dann sind wir in der passenden Stellung, um ihre Zumutungen zu
verwerfen und über ihre Versuchungen zu triumphieren. Die Gemeinschaft mit Gott ist die sichere
Bewahrung gegen jede Versuchung; denn es gibt keine Sünde, die uns versuchen könnte, von welcher
wir nicht das Entgegengesetzte in Gott nden; und wir können das Böse nur durch die Gemeinschaft
mit dem Guten vermeiden. Das ist eine sehr einfache, aber praktische Wahrheit. Wäre Joschafat in
Gemeinschaft mit Gott gewesen, so würde er die Gemeinschaft mit der Welt nicht gesucht haben.
Sicher ist dieses der einzige richtige Gesichtspunkt, von welchem aus wir die Verbindung mit der
Welt zu betrachten haben. Fragen wir uns: Ist diese oder jene Verbindung vereinbar mit unserer
Gemeinschaft mit Gott? Darauf kommt alles an. Wie kann ich alle die Segnungen des Namens Jesu
genießen und Zugleich diesen Namen dadurch entehren, dass ich mich mit den Kindern dieser Welt
vermenge und mit ihnen einen und denselben Standpunkt einnehme? Wie deutlich wird diese Frage
beantwortet, wenn wir sie vor das Angesicht Gottes und unter das oenbarmachende Licht seines
Wortes bringen! „Sollst du dem Gesetzlosen helfen und lieben, die Jehova hassen?“ Die Wahrheit
Gottes schiebt die falsche Hülle hinweg, womit sich ein Herz, außerhalb der Gemeinschaft mit Gott,
zu bedecken pegt. Nur wenn die Wahrheit ihren hellen Strahl auf unseren Pfad fallen lasst, sehen
wir die Dinge in ihrer wahren Gestalt.
Joschafat hatte Ursache, für die durch seinen Fall empfangene heilsame Lehre dankbar zu sein: er war
dadurch von der Notwendigkeit überzeugt worden, mehr in der Furcht des Herrn zu wandeln und
dieses auch anderen ans Herz zu legen. Das war von großer Bedeutung. Zwar war es ein trauriger
und beschwerlicher Weg, auf welchem er zu lernen hatte, aber es ist gesegnet, wenn wir selbst durch
unsere Fehltritte lernen. Möchten wir dieses alle tief fühlen!
In Kapitel 20 nden wir Joschafat in einer gesegneteren Stellung, wie dieses in Kapitel 18 der Fall
war. Er ist hier unter der Feuerprobe des Feindes. „Und es geschah nach diesem, da kamen die Kinder
Moab und die Kinder Ammon und mit ihnen von den Ammonitern wider Joschafat zum Streit“ (V 1).
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  Josaphat
Hier, wo Joschafat die Zielscheibe der Feindseligkeiten des Widersachers ist, ist weniger für ihn
zu fürchten, als da, wo ihm derselbe freundlich mit Geschenken entgegenkommt. Im ersten Fall
bleibt ihm nichts übrig, als sich einfach auf den Gott Israels zu werfen, während er in dem letzten
Fall Gefahr läuft, in die Schlinge Satans zu geraten. Der rechte Platz für ein Kind Gottes ist, sich
den Feinden Gottes geradezu gegenüber, nicht aber sich mit ihnen in Reih und Glied zu stellen.
Wir können nimmer aus das Mitgefühl Gottes und auf seine Bewahrung rechnen, wenn wir uns zu
unseren Feinden gesellen. Wie töricht war es (Kap 18,4), das Wort des Herrn zu erfragen in einer
Sache, die Joschafat als verkehrt hätte erkennen sollen. In Kapitel 20 ist es ganz anders. Er meinte
es aufrichtig, als er „sein Angesicht richtete, Jehova zu suchen, und ein Fasten ausrief in ganz Juda“
(V 3). Jetzt war es ihm um den Rat des Herrn zu tun. Nichts als die Drangsal von Seiten der Welt treibt
so sehr den Gläubigen aus nach dem Platz der Absonderung von ihr. Wenn die Welt uns schmeichelt,
sind wir in Gefahr, von ihr überlistet zu werden; wenn sie uns aber zürnt, werden wir ausgetrieben
zu unserer Zuucht und Stärke in Gott – und dieses ist sehr gesegnet und heilsam. Joschafat sagte
nicht zu den Kindern Moab und zu den Kindern Ammon: „Ich will sein, wie du:“ denn er wusste
wohl, dass dieses nicht der Fall war; auch hätten sie ihn vielleicht das Gegenteil erkennen lassen.
In dem Gebet Joschafats nden wir drei unterschiedene Punkte (V 6–12). Zunächst die Größe und
Macht Gottes, dann die dem Abraham gegebene Verheißung Gottes in Betre des Landes, und
schließlich die Anstrengung des Feindes, um den Samen Abrahams aus dem Land zu vertreiben.
Dieses Gebet ist sehr lehrreich und schön. Joschafat macht die vorliegende Streitsache ganz zu einer
Frage zwischen dem Gott Abrahams und den Kindern Moab. Ammon und Seir. So macht es der
Glaube zu allen Zeiten: und die Folgen werden stets dieselben sein. Er sagt: „Sie kommen, uns zu
vertreiben aus deinem Besitztum, das du uns erblich gegeben hast.“ Wie einfach! Sie wollen nehmen,
was Gott gegeben hat. Er wirft es, so zu sagen auf Gott, damit Gott seinen Bund aufrecht halte. „Unser
Gott, willst du nicht richten über sie? Denn in uns ist keine Kraft vor dieser großen Menge, die wider
uns kommt, und wir wissen nicht, was wir tun sollen, sondern auf dich sind unsere Augen gerichtet“
(V 13). Sicher, der Sieg war in der Hand dessen, der also vor Gott stehen konnte. Das fühlte auch
Joschafat. Denn als er sich mit dem Volk beraten hatte, „bestellte er Sänger Jehovas, die da lobpriesen
in heiliger Pracht, indem sie vor den Gerüsteten her auszogen und sprachen: Lobsingt Jehova, denn
seine Güte währt ewiglich.“ Nur durch den Glauben war es möglich, einen Lobgesang anzustimmen,
selbst noch ehe die Schlacht begonnen hatte. Sowie der Glaube den Abraham in den Stand setzte,
seinen Samen im Besitz Kanaans zu sehen, machte derselbe auch den Joschafat fähig, zu vertrauen,
dass Gott diesen Samen darin erhalten werde; und er hatte daher, um seinen Lobgesang zu erheben,
nicht nötig, vorher den Sieg abzuwarten. Der Glaube konnte durch Moses sagen: „Du hast durch
deine Güte geleitet das Volk, das du erlöst, hast es geführt durch deine Stärke zu der Wohnung deiner
Heiligkeit“ (2. Mo 15,13), wiewohl man noch erst kaum den Fuß in die Wüste gesetzt hatte.
Doch welch ein seltsamer Anblick muss es für die Feinde Joschafats gewesen sein, als sie eine Zahl
Männer, anstatt mit Waen in der Hand, mit Musikinstrumenten auf sich zukommen sahen! Es
war fast dieselbe Art von Kriegführung, wie wir sie später bei Hiskia nden, der sich, anstatt mit
einer Waenrüstung, mit einem Sack bekleidete (Jes 37,1). Beide waren auch in derselben Schule
unterwiesen worden, und beide kämpften unter demselben Banner. O möchte doch unser Kampf
gegen die Grundsätze der gegenwärtigen Zeit auch in derselben Weise geführt werden! „Über alles
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  Josaphat
ergreift den Schild des Glaubens, mit welchem ihr auszulöschen vermögt alle die feurigen Pfeile des
Bösen“ (Eph 6,16).
Welch ein Gegensatz zwischen Joschafat, als er zu Ramot in Gilead den Ahab repräsentierte, und
Joschafat, als er hier mit dem Herrn den Feinden gegenüberstand! Ja, in allem zeigt sich dieser
Gegensatz. Seine Weise, Hilfe und Rat bei dem Herrn zu suchen, seine Weise, das Schlachtfeld zu
betreten – ja, alles war verschieden. Und wie verschieden war auch das Ende! Anstatt vom Feind
überrumpelt zu werden und aus der Tiefe des Elends und der Gefahr einen Notschrei ausstoßen zu
müssen, bricht er jetzt jubelnd aus in Lob und Dank gegen den Gott seiner Väter, der ihm, ohne
einen Schlag zu tun, den Sieg verliehen hat. Ja, welch ein Unterschied! Möchten wir doch dadurch
zu einer bestimmten Wahl des Pfades der Absonderung und der Abhängigkeit von der Güte und
Treue des Herrn geleitet werden! Das Tal Beracha (V 26), das Tal des Lobes, ist stets der Platz, wohin
der Geist Gottes uns leiten will. Jedoch kann Er uns dahin nicht bringen, wenn wir uns den Ahabs
dieser Welt zugesellen und ihre Pläne mit ihnen ausführen helfen. „Geht weg aus ihrer Mitte und
sondert euch ab, spricht der Herr, und rührt Unreines nicht an; und ich werde euch aufnehmen, und
ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr,
der Allmächtige“ (2. Kor 6,17–18).
Die weltliche Gesinnung verhindert oder vielmehr vernichtet den Geist der Danksagung. Sie ist in
bestimmter Weise feindselig gegen diesen Geist: und wo man ihr einen Raum gestattet, da führt sie
uns zu Beängstigungen und Zweifeln und endlich gar zu oenbarem Abfall von aller Gottseligkeit.
Joschafat wurde durch Angst und Streit hindurch gedemütigt, aufgerichtet und zu großem Segen
geführt.
Wer hätte nun denken können, dass Joschafat nach diesen ernsten Erfahrungen sich dennoch wieder
mit den Gesetzlosen vereinigen würde, um ihre ehr– und habsüchtigen Pläne zu befördern? Gewiss
nur jemand, der sein eigenes Herz kennen gelernt hat, begreift dieses. „Und hernach verband sich
Joschafat, der König von Juda, mit Ahasja, dem König von Israel, der gesetzlos handelte in seinem
Tun. Und er verband sich mit ihm, Schie zu bauen, um nach Tarsis zu fahren; und sie bauten Schie
zu Ezeon–Geber. Und es weissagte Elieser, der Sohn Dodavas, von Maresa, wider Joschafat und
sprach: Weil du dich mit Ahasja verbunden hast, so hat Jehova dein Werk zerrissen. – Und die
Schie wurden zertrümmert und vermochten nicht nach Tarsis zufahren“ (V 35–37). Was ist doch
der Mensch! Ein armes, strauchelndes, gebrechliches Geschöpf, das sich von einer Torheit in die
andere stürzt. Joschafat war kaum von seiner Verbindung mit Ahab zurückgebracht, und schon tritt
er wieder mit Ahasja in einen Bund. Er war mit Mühe oder vielmehr durch die besondere und gnädige
Dazwischenkunft des Herrn den Pfeilen der Syrer entronnen, und wiederum nden wir ihn im Bund
mit den Königen von Israel und Edom (2. Kön 3,7 usw.), um gegen die Moabiter zu streiten.
Das ist Joschafat und seine merkwürdige Laufbahn. Es wurde etwas Gutes in ihm gefunden; aber die
Gemeinschaft mit der Welt wurde ihm zur Schlinge; und was wir aus seiner Geschichte zu lernen
haben, ist, uns vor dem Bösen zu hüten. Die Worte: „Geht aus ihrer Mitte und sondert euch ab“
mögen fortdauernd zu unseren Ohren dringen. Wir können uns nicht mit der Welt vereinigen und
uns durch ihre Grundsätze leiten lassen, ohne in unserer eigenen Seele Schaden zu leiden und unser
Zeugnis zu schwächen.
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift
Die Versammlung Gottes nach der Schrift
1. Was ist die Versammlung?
Die erste Andeutung bezüglich der Versammlung nden wir in Matthäus 16,18 Nachdem Petrus das
Bekenntnis: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“, abgelegt, und der Herr Jesus
diese Erkenntnis seiner Person als eine Oenbarung des Vaters bezeichnet hat, fügt der Herr hinzu:
„Auch ich sage dir, dass du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Versammlung,
und des Hades Pforten werden sie nicht überwältigen.“ Christus, der Sohn des lebendigen Gottes,
oenbart durch den Vater, war der Felsen, auf welchen die Versammlung gebaut werden sollte. Petrus
sollte ein Stein in diesem zukünftigen Gebäude sein. Dass dieses die wahre Deutung der Worte des
Herrn ist, beweisen andere Schriftstellen. „Denn einen anderen Grund kann niemand legen, außer
dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“ (1. Kor 3,11). Jesus Christus selbst ist der Eckstein
(Eph 2,20). Es ist daher klar, dass zurzeit, als der Herr auf Erden war, die Versammlung noch nicht
bestand. „Ich will meine Versammlung bauen.“ Er sagt nicht: „Ich habe gebaut“, oder „ich baue“,
sondern: „Ich will bauen.“
Die darauolgende Stelle, welche auf die Versammlung Bezug hat, zeigt sich in Matthäus 18,17 Auch
hier handelt es sich um die Zukunft; denn solange der Herr auf Erden war, wurde die Angelegenheit
eines Bruders, der gesündigt hatte, vor Ihn gebracht. Hier aber sagt Er: „Wenn er aber nicht auf sie
hören wird, so sage es der Versammlung; wenn er aber auf die Versammlung nicht hören wird, so sei
er dir wie der Heide und der Zöllner.“
Andere auf die Versammlung bezügliche Schriftstellen nden wir nicht eher, als bis zur Auferbauung
derselben am Pngsttag.
Im Alten Testament können wir zwar viele Vorbilder auf die Versammlung, als den Leib oder die Braut
Christi, anwenden: allein diese konnten nicht verstanden werden, bevor es Gott geel, den einen
Leib durch die Apostel und Propheten des Neuen Testaments zu oenbaren (Eph 3). Beantworten
wir nun, mit dem Wort Gottes in der Hand, einige Fragen über diesen höchst wichtigen Gegenstand.
1. Was ist die eigentliche Bedeutung des Wortes ecclesia, welches durch „Kirche“, oder „Gemeinde“,
oder „Versammlung“ übersetzt wird?
Bei einer sorgfältigen Prüfung jeder Stelle in der Schrift, wo wir dieses Wort nden, tritt
es klar an den Tag, dass dieser Ausdruck im allgemeinen eine Versammlung bezeichnet. Aus
Apostelgeschichte 19,32.39.41 wird es klar, dass eine andere Übersetzung dieses Wortes unzulässig
ist. Das griechische Wort bezeichnet, also im Allgemeinen eine Versammlung von Menschen und
wird durch den Heiligen Geist gebraucht, um damit in ganz besonderer Weise die Versammlung, die
Vereinigung der Glieder Christi, zu kennzeichnen.
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift
2. Finden wirim Wort Gottes, dass, wie oben erwähnt, das Pngstfest der Geburtstag der Versammlung
ist?
Nichts ist deutlicher in der Schrift, als diese höchst wichtige Tatsache. Die Apostel mussten in
Jerusalem bleiben, bis sie „mit Kraft aus der Hohe angetan“, oder „mit dem Heiligen Geist getauft“
sein würden (Lk 24,49; Apg 1,5). „Und als der Tag der Pngsten erfüllt wurde, waren sie alle an
einem Ort beisammen. Und plötzlich geschah aus dem Himmel ein Brausen, wie eines rauschenden,
gewaltigen Windes . . . und sie wurden alle mit dem Heiligen Geist erfüllt“ (Apg 2,1–4). Dann folgt eine
ausführliche Geschichte des ersten Tages der Versammlung Gottes. Es war die erste Verkündigung
des Evangeliums von dem gekreuzigten und auferweckten Christus, aufgefahren zur Rechten Gottes.
Und Gott bediente sich dieser Predigt zur Bekehrung von 3 000 Seelen. „Und es wurden hinzugetan
an jenem Tag bei dreitausend Seelen. Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der
Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten. Es kam aber jegliche Seele Furcht an,
und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle die Gläubigen aber waren
zusammen und hatten alles gemein“ (Apg 2,41–44). Ein solch wunderbares Ereignis hatte bisher noch
nie stattgefunden. „Der Herr aber tat täglich zu der Versammlung hinzu, die gerettet werden sollten“
(V 47). Es war einzig und allein das Werk Gottes. Der Heilige Geist stieg vom Himmel hernieder. Der
Herr führte die Seinen zur Versammlung. Darum war diese Versammlung vom ersten Tage ihres
Bestehens an die Versammlung Gottes. Sie konnte nicht mit dem Heiligen Geist getauft werden, bevor
der Heilige Geist ausgegossen war: und derselbe konnte nicht ausgegossen werden, bevor der Herr
Jesus verherrlicht war (Joh 7,39). Jesus aber konnte nicht als unser Stellvertreter verherrlicht werden,
bevor Gott auf dem Kreuz verherrlicht war. Nachdem jedoch dieses geschehen, konnte der Vater Ihn
sofort verherrlichen, und zwar nicht nur dadurch, dass Er Ihn aus den Toten auferweckte, sondern
auch dadurch, dass Er Ihn in seine Herrlichkeit aufnahm; und nun konnte die Versammlung auferbaut
werden. Wir werden später in den Briefen nden, wie die Versammlung mit der Herrlichkeit Gottes
verbunden ist.
3. Aber wurde denn niemand errettet, bevor Christus aus den Toten auferstanden und der Heilige
Geist ausgegossen war? Und wenn die Gläubigen der früheren Zeit nicht zu der Versammlung Gottes
gehörten, wozu gehörten sie dann?
Sicher waren alle, welche an die Verheißung Gottes glaubten, durch den Glauben gerettet und
gerechtfertigt: aber auch als Gerettete blieben sie auf sich selbst beschränkt und waren entweder
gerettete Juden oder gerettete Heiden. Jetzt aber heißt es: „Da ist nicht Jude noch Grieche, . . . denn
ihr alle seid einer in Christus“ (Gal 3,26).
4. Wenn nun das Pngstfest der Anfang der Versammlung Gottes ist und wenn sie in Folge der
Ausgießung des Heiligen Geistes auferbaut wurde, was ist demzufolge in der Apostelgeschichte zu
nden?
Die Apostelgeschichte teilt unsin der Tat die Handlungen des Heiligen Geistes mit, welcher die von der
Welt auserwählten Gläubigen, als einen Leib, versammelt. Er bediente sich dazu verschiedener Mittel;
jedoch wenn man die Geschichte dieser wunderbaren Vereinigung liest, so wird man nden, dass, wo
immer der Heilige Geist wirkte, es stets sein Zweck war, die Versammlung Gottes aufzubauen. Die
Kraft Gottes und nicht die eines Menschen wurde überall gesehen. In Apostelgeschichte 3 lesen wir
von einem Menschen, welcher sagen konnte: „Silber und Gold habe ich nicht;“ aber die Oenbarung
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift
der Kraft des Namens Jesu war so groß, dass ganz Jerusalem in Bewegung kam: und obwohl alle sich
wider diesen heiligen Namen auehnten, so konnte doch niemand die Kraft Gottes leugnen.
Die Versammlung war die Oenbarung der, Kraft Gottes. Lesen wir nur das in der Apostelgeschichte
aufgezeichnete Gebet in der ersten Betstunde der Versammlung. „Und nun, Herr, siehe an ihre
Drohungen und gib deinen Knechten, dein Wort zu reden mit aller Freimütigkeit, indem du deine
Hand ausstreckst zur Heilung, und dass Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen deines
heiligen Knechtes Jesu. Und als sie gebetet hatten, bewegte sich die Stätte, wo sie versammelt waren;
und sie wurden alle mit dem Heiligen Geist erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimütigkeit.
Die Menge aber derer, die gläubig geworden, war ein Herz und eine Seele; und auch nicht einer sagte,
dass etwas von seiner Habe sein eigen wäre, sondern es war ihnen alles gemein. Und mit großer
Kraft gaben die Apostel Zeugnis von der Auferstehung des Herrn Jesus; und große Gnade war auf
ihnen allen“ (Apg 4,29–33).
Welch eine Szene! Eine Versammlung, ein Herz, eine Seele, die Verherrlichung Jesu! Der Heilige war in
ihrer Mitte. Ach, tiefe Traurigkeit muss unser Herz erfüllen, wenn wir jene liebliche Erscheinung mit
dem gegenwärtigen Zustand des Christentums vergleichen. Und wie vermochte diese Versammlung
dem Hass und der Feindschaft der ganzen Welt Widerstand zu bieten! Gott – die göttliche Person des
Heiligen Geistes – war mit ihnen.
Es ist von großer Wichtigkeit, in der Geschichte der Versammlung Gottes wahrzunehmen, dass der
Heilige Geist stets gegenwärtig ist, um die Versammlung zu leiten. Diese Gegenwart ist die Grundlage
der Auferbauung der Versammlung auf Erden.
Petrus sagt zu Hananias: „Warum hat der Satan dein Herz erfüllt, dass du den Heiligen Geist belogen
hast?“ (Apg 5,3) Stephanus sagt: „Ihr widerstrebt allezeit dem Heiligen Geist“ (Kap 7,51). Der Geist
sagte zu Petrus: „Siehe, drei Männer suchen dich. Stehe aber auf, gehe hinab und ziehe mit ihnen,
nicht zweifelnd, weil ich sie gesandt habe“ (Kap 10,19–20). Und Petrus selbst teilt mit: „Und der Geist
hieß mich mit ihnen gehen, ohne zu zweifeln.“ In Kapitel 11 werden die gläubigen Heiden durch
den Heiligen Geist in die Versammlung zu Antiochien eingeführt. In Kapitel 13 nimmt der Heilige
Geist denselben Platz göttlicher Leitung ein, wie in der Versammlung zu Jerusalem. „Als sie aber
dem Herrn dienten und fasteten, sprach der Heilige Geist: Sondert mir nun Barnabas und Saulus aus
zu dem Werk, wozu ich sie berufen habe. Da fasteten und beteten sie; und als sie ihnen die Hände
aufgelegt hatten, entließen sie sie. Sie nun, ausgesandt von dem Heiligen Geist, kamen hinab nach
Seleuzia.“
Wenn durch die Versammlung zu Jerusalem über eine Sache von hoher Wichtigkeit ein Beschluss
gefasst werden mühte, so gewahrte man deutlich die Gegenwart des Heiligen Geistes; denn wir lesen:
„es hat dem Heiligen Geist und uns gut geschienen . . . usw“ (Kap 15,28). Auch die Apostel standen
unter der Leitung dieser göttlichen Person. „Als sie aber Phrygien und die Landschaft von Galatien
durchzogen hatten und von dem Heiligen Geist verhindert wurden, das Wort in Asien zu reden,
kamen sie nach Mysien und versuchten nach Bithynien zu reisen, und der Geist Jesu erlaubte es
ihnen nicht“ (Kap 16,6–7).
Kurz, wir sehen überall in der Apostelgeschichte die Versammlung Gottes unter der bestimmten
Leitung des Heiligen Geistes. Die traurige Abweichung von dieser Regel wird uns in Kapitel 20,28–30
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deutlich vor Augen gestellt. Nichtsdestoweniger aber verändert die Untreue und Unvollkommenheit
des Menschen die Wahrheit Gottes nicht. Christus ist verherrlicht; der Heilige Geist ist ausgegossen
und hat seine Wohnung in der Versammlung. Ach, wie groß ist der Irrtum der Christenheit, wenn sie
die göttliche Gegenwart und Leitung des Heiligen Geistes in Frage stellt! Ich bitte dich, lieber Leser,
vergleiche einmal deinen Zustand und den Zustand derer, mit denen du Gemeinschaft pegst, mit
dem, was wir in der Apostelgeschichte vorgezeichnet nden. Die durch den Heiligen Geist gebildete
Versammlung Gottes ist ein unzertrennliches Ganzes. Sekten und Parteien sind nicht aus Gott; sie
sind eischlich und aus dem Menschen.
5. Ist dieses deutlich oenbart in dem Wort Gottes?
Nichts könnte deutlicher sein. „Ich sage aber dieses, dass jeder von euch sagt: Ich bin des Paulus,
ich aber des Apollos, ich aber des Kephas, ich aber Christi. Ist der Christus zerteilt? Ist Paulus für
euch gekreuzigt, oder seid ihr auf Paulus Namen getauft worden?“ (1. Kor 1,12–13) „Denn ihr seid
noch eischlich. Denn da Eifer und Streit unter euch ist, seid ihr nicht eischlich und wandelt nach
Menschenweise?“ (1. Kor 3,3) O möchten wir doch alle, die Gott so sehr verunehrende Sünde der
Trennung erkennen und in aufrichtigem Selbstgericht zu Ihm zurückkehren! Wie traurig, dass die
Christenheit den herrlichen Standpunkt jener gläubigen Menge, die ein Herz und eine Seele war,
verlassen hat! Zu jener Zeit gab es nur ein Ziel – die Verherrlichung Christi; und alle waren erfüllt
mit dem Heiligen Geist. Welch eine Verschiedenheit zwischen damals und jetzt! Kann Gott diesen
Ungehorsam gutheißen?
6. Was lehren uns die Briefe in Bezug auf die Versammlung?
Sie richten das Wort an die Kinder Gottes, als an die eine Versammlung Gottes. „An die Versammlung
Gottes, die in Korinth ist usw.“ „An die Versammlung der Thessalonicher in Gott, dem Vater, und
dem Herrn Jesus Christus.“ usw. Wir hören, dass die Versammlung vor Grundlegung der Welt von
Gott in Christus auserwählt und durch Gott „mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen
Örtern in Christus gesegnet“ war, und zwar „zum Preis der Herrlichkeit seiner Gnade, worin er uns
begnadigt hat in dem Geliebten, in welchem wir haben die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung
der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner Gnade.“ In Epheser 1 wird dieses alles deutlich vor
unsere Augen gestellt. Dort sehen wir Ihn auferweckt aus den Toten und zur Rechten Gottes gesetzt,
„über jedes Fürstentum und jede Gewalt und Kraft und Herrschaft und jeglichen Namen, der genannt
wird, nicht allein in diesem Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen, und hat alles unterworfen
unter seine Füße und Ihn als Haupt über alles der Versammlung gegeben, welche sein Leib ist, die
Fülle dessen, der alles in allem erfüllt“ (V 21–22).
War Er denn nicht stets im Besitz dieser Herrlichkeit? Freilich. Als der ewige Sohn Gottes besaß
Er bei dem Vater die Herrlichkeit, ehe die Welt gegründet war. Allein jetzt hat Gott Ihm als dem
Menschen, der nach den Schriften für unsere Sünden starb, als dem Stellvertreter, der auf dem Kreuz
von Gott verlassen ward, die höchste Herrlichkeit gegeben, nachdem Er Gott verherrlicht und das
Werk vollbracht hatte. Und dieses alles um derer willen, welche glauben; dieses alles als dem Haupt
der Versammlung, welche sein Leib ist.
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift
In der Apostelgeschichte haben wir die Person des Heiligen Geistes in seiner göttlichen Kraft, und
zwar als den Gründer der Versammlung auf Erden gesehen; hier begegnen wir dem Herrn der
Herrlichkeit, der als das Haupt der Versammlung über jede Macht und Herrschaft erhoben ist.
7. Gehören denn nur die würdigsten unter den Menschenkindern zu der Versammlung Gottes?
Wenn wir Epheser 2 lesen, so nden wir gerade das Gegenteil. Dort hören wir: „Euch, als ihr tot
wärt in euren Vergehungen und Sünden“, und uns, die wir „von Natur Kinder des Zornes waren, wie
auch die Übrigen“, hat Gott mit Christus lebendig und mit Ihm eins gemacht in seiner Herrlichkeit.
Es ist einzig und allein Gottes Werk – Gottes neue Schöpfung. Ja, die Versammlung ist eine neue
Schöpfung Gottes. Der ehemals verworfene Jesus ist jetzt der Herr der Herrlichkeit. „Er ist das Haupt
des Leibes, der Versammlung, welcher ist der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten, auf dass Er
in allen Dingen den Vorrang habe“ (Kol 1,18). Beachten wir es wohl: Er ist das Haupt des Leibes,
nicht das Haupt verschiedener Leiber oder verschiedener Körperschaften in der Christenheit. Davon
nden wir in der Schrift keine Spur. Dergleichen ist nicht aus Gott, sondern aus dem Menschen und
aus dem Teufel, der stets beschäftigt ist, um die Versammlung Gottes, den Leib Christi, wo möglich
zu verderben. O möchten wir ihn doch darin nicht unterstützen! Diese wunderbare Oenbarung
der reichsten Gnade übersteigt alle menschlichen Gedanken. Wer die Unterscheidung des Geistes
besitzt, möge die Worte beachten: „Denn gleich wie der Leib einer ist und viele Glieder hat, alle die
Glieder des Leibes aber, obgleich viele, ein Leib sind, also auch der Christus“ (1. Kor 12,12). Ist das
nicht wunderbar? Sowie die Glieder des menschlichen Leibes mit dem Haupt vereinigt sind und
gemeinsam einen Leib ausmachen, so sind auch die Gläubigen mit Christus, dem aus den Toten
Auferweckten und zur Rechten Gottes Verherrlichten, vereinigt, und sind eins mit Ihm.
8. Aber ist es denn möglich, dass, wie oben behauptet worden ist, alle Gläubigen dem einen Leib
angehören?
Untersuchen wir die Schrift! „Denn auch in einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft, es seien
Juden oder Griechen, es seien Sklaven oder Freie, und sind alle zu einem Geist getränkt“ (1. Kor 12,13).
Das ist die Versammlung Gottes, sowie die Schrift sie uns kennzeichnet: es ist die Versammlung
Gottes, weil sie aus Gott ist. „Gott hat die Glieder gesetzt, ein jedes von ihnen an dem Leib, wie Er
gewollt hat.“ „Gott hat den Leib zusammengefügt, . . . auf dass keine Spaltung in dem Leib sei.“ – „Ihr
seid der Leib Christi, und Glieder in Sonderheit“ (1. Kor 12,18.24–25.27). „Ein Leib und ein Geist,
wie ihr auch berufen seid zu einer Honung eurer Berufung. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein
Gott und Vater aller“ (Eph 4,1–6) Wenn jemand die solange verdeckte und dennoch ungeschwächte
kostbare Wahrheit versteht und glaubt, dass, wie es nur einen Herrn und einen Gott gibt, auch nur ein
Leib besteht, und dass in der Schrift nimmer von mehreren Leibern oder kirchlichen Körperschaften
die Rede ist, dann ist die Verherrlichung Gottes die notwendige Folge davon. Erkennt man es als
eine Wahrheit an, dass dieser eine Leib aus Gott, ein Werk Gottes ist, so folgt daraus, dass jede Sekte
und jede Partei ein Zeichen der Empörung wider Gott ist. Wahrlich – bekennen wir es – es ist eine
traurige und beschämende Entdeckung, dass das, worauf wir so oft mit Stolz geblickt haben, eine
Frucht der Sünde und der Auehnung gegen Gott ist. Bekennen wir es mit einem demütigen Herzen.
Auch wird die Versammlung Gottes in der Schrift als die Braut Christi, das Weib des Lammes,
dargestellt. Sicher übersteigt eine solche Gnade alle menschlichen Begrie. Und obschon das
Geheimnis dieser göttlichen Liebe solange verborgen blieb, bis es den Aposteln und Propheten der
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift
Versammlung gestattet wurde, es zu oenbaren (Eph 3), so liefert uns dennoch das Alte Testament
die treichsten Vorbilder davon.
Schon im Paradies sagt Gott: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe
machen, seines Gleichen“ (1. Mo 2,18). Gott wollte in seiner Liebe dem Adam einen Gegenstand
geben, welchem derselbe seine Liebe mitteilen konnte. In diesem Vorbild dessen, der kommen sollte,
machte Gott seinen ewigen Ratschluss kund: die Versammlung, den einen Leib, die Braut, das Weib zu
bilden, damit der in Herrlichkeit aufgenommene Mensch nicht allein sein, sondern einen Gegenstand
besitzen sollte, an welchem die unendliche Liebe seines Herzens ein ewiges Wohlgefallen nde. Und
wie bezeichnend ist die Art und Weise der Schöpfung des Weibes von Seiten Gottes! Adam war in
einen tiefen Schlaf gefallen – ein Vorbild von den Tiefen des Todes, in welche Jesus, um seine Braut
zu erlangen, hinabsteigen musste. Als Vorbild ward aus der toten Rippe das lebende Weib geschaen,
welches dem Adam, da er erwachte, als eins mit ihm vorgestellt wurde. „Es ist Gebein von meinen
Gebeinen und Fleisch von meinem Fleisch“, – ruft er aus. Es gab in dem Paradies viele herrliche
Geschöpfe; aber nur eines derselben entsprach den Gefühlen und Neigungen Adams. Gott schuf eine
Eva; und Gott schuf eine Braut für Christus.
Welch ein Gedanke! „Gleichwie auch der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie
hingegeben hat, auf dass Er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser durch das
Wort, auf dass Er sich selbst die Versammlung verherrlicht darstellte, die nicht Flecken oder Runzel,
oder etwas dergleichen habe, sondern dass sie heilig und tadellos sei.“ – „Denn wir sind Glieder seines
Leibes, von seinem Fleisch und von seinen Gebeinen“ (Eph 5,25–27.30).
Es ist gesegnet, wenn der Gläubige auf Christus, den Gegenstand seiner Liebe, schaut; aber hier
nden wir etwas ganz anderes. Hier ist die Versammlung Gottes, die Braut Christi, der Gegenstand
der Liebe und der Wonne Christi. Wer daher aus dem Tod in das Leben hinübergegangen ist, der hat
Teil an diesem einen Leib, an dieser einen Versammlung, der Braut Christi, dem Gegenstand seiner
Liebe. Welch ein köstlicher Gedanke!
Auch in der Berufung Rebekkas nden wir ein treendes Vorbild von der Braut Christi, Isaak musste
zuvor geopfert und im Gleichnis aus dem Tod zurückgegeben werden. Sara ein Bild der jüdischen
Haushaltung wurde bei Seite gesetzt. Danach sandte Abraham den Elieser aus Kanaan nach fernem
Land, um für Isaak eine Braut zu holen. Zunächst empng Rebekka Kleinodien und Kleider; dann
verließ sie alles mit Freuden um dem Bräutigam entgegen zu gehen, den sie liebte, wiewohl sie
ihn nimmer gesehen hatte. Dann folgte die Begegnung. Sie ist der Gegenstand der Liebe Isaaks; sie
ist seine Braut. Ebenso hat Gott, nachdem Er seinen viel geliebten Sohn aus dem Tod empfangen
und Ihn in das himmlische Kanaan aufgenommen, den Heiligen Geist in das fern gelegene Land
gesandt, um eine Braut für Christus zuzubereiten. Zunächst empfängt sie ihre Kleinodien, die in
dem Kreuzestod oenbarte Gerechtigkeit Gottes, sowie ihre Kleider, nämlich Christus, aus den Toten
auferweckt, als ihre Rechtfertigung. Dann ndet die Trennung statt von allem, was hienieden ist;
und wie einst Elieser, so geleitet jetzt der Heilige Geist die Braut durch die Wüste, um sie dem
himmlischen Bräutigam entgegen zu führen. Der Schrift gemäß hat die Versammlung die Stellung
des Harrens auf Christus. Den Schluss von allem bildet – o herrlicher Augenblick! – die Begegnung.
Wie Isaak ihr entgegenkam, so kommt Christus seiner Braut entgegen. Und wie Rebekka werden
auch wir bald unsere Blicke erheben und „Ihn sehen, wie Er ist“ (1. Mo 24; 1. Joh 3,2).
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift
Noch ein bemerkenswertes Vorbild liefert uns das Alte Testament in Rut. In ihr nden wir eine Person,
die durch ihre Geburt keinen Anteil an den Bündnissen der Verheißung Israels hatte, und über deren
Hauspforte der Tod geschrieben stand. Sie war eine Moabitin, und ihr Mann war gestorben. Ihre
Geschichte stellt uns in treender Weise die Gnade Christi bezüglich der Zubereitung einer Seele
vor Augen. In der Traurigkeit ihres Herzens wird sie durch Noomi in die Felder des Boas geführt.
Erinnern sich meine Leser der Traurigkeit nicht, in der sie sich befanden, als der Heilige Geist sie zu
Christus führte? Wie willkommen war Rut in den Feldern des Boas! Hat sie Durst? Sie darf trinken.
Hat sie Hunger? Sie darf essen. Also oenbart sich die Gnade unseres hochgelobten Heilands. Bist du
niedergebeugt in der Erkenntnis deines verlorenen Zustandes? Bei Jesu bist du willkommen. Bist du
durstig? Bei Ihm ist das Nasser des Lebens. Bist du hungrig? Bei Ihm ist das Brot des Lebens. Hat Er
nicht Hände voll Korn auf deinen Pfad gestreut? Doch es folgt noch mehr. „Meine Tochter, sollte ich
dir nicht Ruhe suchen, dass es dir wohlgehe?“ sagt Noomi. Und was sie als eine Blutsverwandte nicht
hatte tun können, das tat Boas. Er erwählte sie zu seiner Braut. Die Nettesten waren seine Zeugen
(Kap 4,9). Wie sie vorher ein Gegenstand seines Erbarmens gewesen, so war sie jetzt ein Gegenstand
seiner Liebe. War sie vorher eine Fremde gewesen, so hatte sie jetzt den besten Platz auf Erden als
die geliebte Braut des Boas, deren Spross David war.
Hat Gott nicht ebenso mit uns gehandelt? Wir sollen in den Feldern Christi nicht eine bloße Nachlese
halten, sondern sollen mit Ihm eins sein, die Braut des Lammes.
Während uns nun in der Apostelgeschichte die Art und Weise mitgeteilt wird, in welcher Gott die
Versammlung gegründet und gebaut hat, nden wir in den Briefen die herrliche Oenbarung dessen,
was die Versammlung ist.
Bevor wir nun aber auf die Bedienung übergehen, müssen wir auf zwei Dinge in der Schrift unsere
Aufmerksamkeit richten, und zwar zunächst auf des Herrn Abendmahl. „Der Kelch der Segnung, den
wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes des Christus? Das Brot, das wir brechen, ist es
nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus? Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die vielen, denn wir
sind alle des einen Brotes teilhaftig“ (1. Kor 10,16–17). Ist das nicht die vollkommene Gemeinschaft des
einen Leibes Christi? Ist nicht jeder Gläubige zu derselben Gemeinschaft der göttlichen Segnungen
gebracht worden? Und sondert uns diese Gemeinschaft nicht gänzlich von der Welt ab. „Ihr könnt
nicht des Herrn Kelch trinken und der Teufel Kelch: ihr könnt nicht des Herrn Tisches teilhaftig
sein und des Tisches der Teufel“ (V 21). In dem folgenden Kapitel wird diese Gemeinschaft durch
Paulus noch deutlicher entwickelt. Was aber bezüglich der Verkündigung des Todes Jesu, bis Er
kommt, ganz besonders ins Licht tritt, ist der Umstand, dass dieses die Handlung der ganzen einen
Versammlung ist. Hier nden wir keinen Priester mit seiner Messe, keinen Prediger mit seinem
Sakrament. Sowohl der Eine wie der Andere würde die Gemeinschaft aufheben. Die Schrift zeigt uns
weder den römisch–katholischen Priester, die kirchlichem Zeremonien mit all ihren Überlieferungen,
noch irgendeinen anderen Pfarrer, der den Auftrag hätte, das Sakrament zu verabreichen: vielmehr
erkennen wir, dass dieses alles von dem Menschen eingeführt ist. Nicht eine Spur ndet sich davon
im Wort Gottes. Ach, welch eine traurige Dazwischenkunft von Seiten des Menschen! Welch eine
Anmaßung, in einer solchen Weise gegen Gott zu handeln!
Das Zweite, worauf wir unser Augenmerk zu richten haben, ist, dass die Schrift uns den Abfall
der Versammlung auf Erden deutlich vorausgesagt hat. Schon zu Lebzeiten der Apostel zeigte sich
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der Anfang dieses Abfalls (Siehe 1. Kor 11,18–21). Von schändlichen Sünden, von Spaltungen, von
Trunkenheit ist die Rede. In Titus hören wir von zügellosen Schwätzern und dergleichen reden; und
Petrus und Judas sprechen von den scheußlichsten Sünden. Doch vor allem beschreibt der Heilige
Geist in 2. Timotheus 3 genau den entsetzlichen Abfall in den letzten Tagen. „Dieses aber wisse, dass
in den letzten Tagen schwere Zeiten sein werden“, lesen wir und dann folgt bis zum Ende des Kapitels
die ausführliche Beschreibung dieser letzten Tage. Die Christenheit ist gleich einem Baum geworden,
in dessen Zweigen die Ungerechtigkeit wohnt, oder, wie wir in 2. Timotheus 2 lesen, gleich einem
großen Haus mit allerlei Gefäßen. Wie hat nun der Gläubige in diesen letzten Tagen zu wandeln?
Muss er in Gemeinschaft mit dem Bösen bleiben oder muss er sich davon trennen?
Hören wir die Antwort Gottes!
„Der Herr kennt, die sein sind; und: Ein jeglicher, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der
Ungerechtigkeit. In einem großen Haus aber sind nicht allein goldene und silberne Gefäße, sondern
auch hölzerne und irdene; und die Einen zur Ehre, die Anderen aber zur Unehre. Wenn sich nun
jemand von diesen reinigt, der wird ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu
jedem guten Werk bereitet“ (2. Tim 2,19–21). Und wiederum: „Von diesen wende dich weg“ (2. Tim 3,5).
II. Die Bedienung der Versammlung
Ich erinnere den Leser daran, dass, indem wir in der Apostelgeschichte die Geschichte der
Versammlung verfolgen, ein höchst wichtiger Grundsatz bezüglich der Bedienung der letzteren
vor unser Auge tritt, nämlich die Gegenwart der Person des Heiligen Geistes. Im Blick auf diese
Tatsache wird es nötig sein, dass wir den drei Kapiteln, 1. Korinther 12–13–14, die ich durchzulesen
bitte, eine ganz besondere Aufmerksamkeit widmen. In Kapitel 12 nden wir die Grundsätze der
christlichen Bedienung, in Kapitel 13 den Geist, in welchem dieselbe geübt werden muss, und
in Kapitel 14 die Art und Weise ihrer Ausübung. Der Geist Gottes wird nimmer die Person Jesu
erniedrigen oder geringschätzen – wahrlich, ein wichtiger Grundsatz in unseren Tagen! Und niemand
kann die Gottheit Jesu erkennen, als nur durch den Heiligen Geist. Esist daher von großer Wichtigkeit,
zu verstehen, dass die verschiedenen Gaben der Bedienung nicht einer Person anvertraut sind. „Es
sind Verschiedenheiten von Gnadengaben, aber derselbe Geist; und es sind Verschiedenheiten von
Diensten, aber derselbe Herr; und es sind Verschiedenheiten von Wirkungen, aber derselbe Gott,
der alles in allen wirkt . . . Alles dieses aber wirkt ein und derselbe Geist, jeglichem insbesondere
austeilend, wie Er will“ (Kap 12,6–11).
In Bezug auf den Dienst in der Versammlung nden wir also Jesus, als den Herrn im Himmel, und
den Heiligen Geist als den, welcher die Gaben auf Erden nach seinem Gutdünken austeilt. Wenn man
behauptet, dass etliche dieser Gaben nicht mehr vorhanden seien, so ist das eine Wahrheit; allein
daraus folgt keineswegs, dass der Heilige Geist nicht jetzt wie damals die Gaben austeilt, wie Er will.
Wir lesen: „Und Gott hat etliche in der Versammlung gesetzt: erstens Apostel, zweitens Propheten,
drittens Lehrer“ usw.; aber nirgends nden wir den Gedanken, dass Gott eine Person angestellt hat,
um Priester oder Prediger der Versammlung zu sein. Wie wichtig ist dieses für alle, welche über das,
was die Schrift über diesen Gegenstand lehrt, unterwiesen zu werden wünschen.
Ferner nden wir in 1. Korinther 13, welchen Platz die Liebe in der christlichen Bedienung einnimmt.
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Der Grundsatz, dass der Heilige Geist als der, welcher nach seinem Willen die verschiedenen Gaben
austeilt, in der Versammlung wohnt, ist uns also deutlich vor Augen gestellt. Alles ist aus Gott,
doch hier auf Erden unter der Leitung des Heiligen Geistes. Obwohl in Korinth – wer könnte es
leugnen? – große Verwirrung herrschte, so wurde die Anordnung Gottes dennoch durch den Heiligen
Geist gehandhabt (Siehe 1. Kor 14,26). Gott hat nicht etwa gesagt: „Da meine bisherige Vorschrift
nicht beachtet worden ist, so stellt euch jemanden zu eurem Prediger an.“ O nein, vielmehr lesen
wir: „Propheten aber lasst zwei oder drei reden, und die Anderen lasst urteilen. Wenn aber einem
anderen, der da sitzt, eine Oenbarung wird, so schweige der Erste. Denn ihr könnt Einer nach dem
Anderen alle weissagen, auf dass alle lernen und alle getröstet werden. . . . Wenn sich jemand dünkt,
er sei Prophet oder geistlich, der erkenne, was ich euch schreibe, dass es Gebote des Herrn sind“
(Kap 14,29–37).
Das ist die bestimmte Ordnung Gottes in Bezug auf den Dienst. Und wie wir in Epheser 4 lesen,
hat Christus, der hinaufgestiegen ist über alle Himmel, „etliche gegeben als Apostel und etliche als
Propheten und etliche als Evangelisten und etliche als Hirten und Lehrer, zur Vollendung der Heiligen:
für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes Christi.“ Die Gaben sollen bleiben. Es
sind die Gaben Christi; und der Heilige Geist teilt sie einem jeglichen insbesondere aus, wie Er will.
Vergessen wir seine persönliche Gegenwart nicht.
Aber lesen wir denn in Apostelgeschichte 14,33 nicht, dass Paulus und Barnabasin jeder Versammlung
Älteste wählten, und dass dem Titus dasselbe zu tun befohlen wurde (Tit 1,5)?
Allerdings; aber wir werden nirgends lesen, dass Paulus oder Barnabas oder Titus einen Hirten oder
einen Evangelisten oder einen Lehrer angestellt haben. Das sind Gaben des verherrlichten Christus.
Aber gibt es denn in der Schrift durchaus keinen Befehl zur Anstellung eines Hirten oder Lehrers für
eine Versammlung?
Nirgend ndet sich in der Schrift eine Spur eines solchen Befehls. Die ganze Sache ist eine rein
menschliche Erndung. Älteste und Aufseher wurden angestellt. Ein Ältester und Aufseher ist
dieselbe Person; dieses sehen wir deutlich in Titus 1,5–7. Dieselbe Person ist in Vers 5 ein Ältester
und in Vers 7 ein Aufseher.
Die also gewählten oder angestellten Ältesten traten in ein Amt; zu der Stellung eines Hirten,
Lehrers oder Evangelisten aber berechtigen nur die von Gott verliehenen Gaben. Ich bewege mich,
indem ich dieses behaupte, strenge in den Grenzen der Heiligen Schrift, in welcher der Älteste stets
eine von einem Hirten, Lehrer oder Evangelisten unterschiedene Stellung einnahm. Die Ältesten
der Versammlung zu Ephesus waren Aufseher (Apg 20), (episkopos) und als solche berufen, die
Versammlung Gottes zu hüten.
Aber schließt das Wörtchen „hüten“ nicht den Begri in sich, dass sie Lehrer oder Hirten waren?
Dieses durch hüten oder weiden übersetzte Wort wird im Neuen Testament durch den Heiligen Geist
elfmal gebraucht: Matthäus 2,6; Lukas 17,7: Johannes 21,16: Apostelgeschichte 20,33; 1. Korinther 9,7;
1. Petrus 5,2; Judas 12; Oenbarung 2,27:7,17; 12,5; 19,15. Eine sorgfältige Prüfung dieser Stellen
wird zeigen, dass hier weniger von einer Darreichung geistlicher Speise die Rede ist, sondern dass
sie vielmehr im Sinn von Verwaltung oder Regierung aufzufassen sind. Die Ältesten waren mithin
Brüder, die, mit Weisheit ausgerüstet, den Beruf hatten, auf die Versammlung Acht zu haben und ihre
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift
Angelegenheiten zu verwalten. Der für dieses Amt berufene und befähigte Älteste musste seinem
eigenen Haus wohl vorstehen und musste das Maul der Zügellosen Schwätzer zu stopfen wissen.
Konnte denn dieselbe Person nicht ein Ältester und Zugleich ein Lehrer sein?
Ohne Zweifel ebenso gut, wie eine und dieselbe Person Dichter und Zugleich Kaufmann sein kann.
Aber beweist dieses, dass ein Dichter ein Kaufmann ist? Während daher Älteste – mochten sie Gaben,
um zu lehren oder zu evangelisieren, empfangen haben, oder nicht – von den Aposteln und ihren
Gesandten angestellt wurden, um in jeder Stadt auf die Versammlung Acht zu haben und sie zu hüten,
so nden wir doch nirgends in der Schrift irgendeine Anleitung, um jemanden, der eine Gabe von
Christus empfangen, anzustellen oder zu ordinieren, oder in der Ausübung seiner Gaben zu hindern.
Finden wir denn nirgends ein solches Beispiel in der Schrift?
Nein nirgends. Um also zu handeln, muss man zwei Dinge außer Acht lassen, nämlich die Regierung
des Herrn der Herrlichkeit und die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Versammlung. Das ist
höchst ernst und beachtenswert. Sicher gibt uns keine einzige Stelle in der Schrift das Recht, einen
Priester oder einen Prediger anzustellen.
Aber gibt uns Apostelgeschichte 6, wo mehrere Personen angestellt werden, nicht eine Anleitung
dazu?
Keineswegs. Jene „Männer von gutem Zeugnis, voll Heiligen Geistes und Weisheit“, wurden einfach
angestellt, um die Tische zu bedienen und für die Armen Sorge zu tragen. Sie als Prediger der
Versammlung anzustellen, davon ist durchaus nicht die Rede. Wie die Ältesten, so konnten auch
diese Diener Gaben empfangen haben, um zu lehren oder das Evangelium zu verkündigen ja, etliche
von ihnen besaßen sogar solche Gaben; aber niemand dachte daran, sie als Prediger anzustellen.
Es ist eine Gott entehrende Handlung, wenn ein Lehrer, Hirte oder Evangelist, der mit Gaben
ausgerüstet und durch den Heiligen Geist befähigt ist, Christus zu verkündigen, durch die Kirche
oder durch irgendeine Person angestellt oder ordiniert wird; denn dadurch bezeichnet man Christus,
der die Gaben verliehen, als nicht genügend. Die Versammlung Gottes ist berufen, die Gaben, welche
Christus der Versammlung gibt, anzuerkennen; denn eine Nichtanerkennung würde Ungehorsam
gegen Christus sein.
Aber nden wir denn nicht in Apostelgeschichte 13 eine Auorderung, einen Lehrer oder einen
Hirten für die Versammlung anzustellen?
Man betrachte die dortigen Vorgänge mit einiger Aufmerksamkeit, und es wird klarwerden, dass
von einer Anstellung eines Predigers in der Versammlung durchaus nicht die Rede ist. Jene
gottesfürchtigen Männer, Paulus und Barnabas, waren schon längst als Propheten und Lehrer
anerkannt; sie wurden durch den Heiligen Geist zu einem besonderen Werk ausgesondert, und
in diesem Sinn legte man ihnen von Seiten der Versammlung in feierlicher Weise die Hände auf. Es
ist traurig, dass so viele der Anstellung von Predigern ihre Zustimmung geben, ohne je das Wort
Gottes zu untersuchen.
Gibt es denn durchaus keine Schriftstelle, welche annähernd beweist, dass eine Person der Lehrer
einer Versammlung sein muss?
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift
Nirgend ist eine solche Stelle zu nden. Es ist unmöglich, dass Gott mit sich selbst in Widerspruch
sein kann. Sobald wir anerkennen, dass die Anordnung der Versammlung aus Gott ist, dass, wie wir
gesehen, Jesus das Haupt der Versammlung ist, und dass der Heilige Geist, als der Leiter derselben,
Gaben, die zur Auferbauung der Versammlung dienen sollen, austeilt, wie Er will, so wird es uns
klar sein, dass wir durch die Anstellung eines Lehrers, als eines ausschließlichen Vorgängers in der
Versammlung, die Gegenwart des Heiligen Geistes und die durch Christus verliehene Freiheit des
Redens Zweier oder Dreier geradezu leugnen und bei Seite setzen. Unmöglich kann eine Person
ausschließlich der Vorgänger sein; der Heilige Geist ist frei, um zu gebrauchen, wen Er will.
Wissen denn die Vorsteher des kirchlichen Systems, dass sie für ihr sogenanntes Amt keinen Grund
im Wort Gottes haben?
Wie seltsam es klingen mag, so muss dennoch leider behauptet werden, dass viele es wissen. Mehrere
von ihnen, welche über kirchliche Zustände geschrieben haben, erkennen es völlig, dass die Schrift
nicht ihre Grundlage ist.
Aber worauf gründen sie sich denn?
Auf geschichtliche Überlieferungen. Etliche behaupten, dass die jetzige Ordnung der kirchlichen
Verhältnisse am Ende des apostolischen Zeitalters, andere, dass sie in einer noch späteren Periode
ihren Anfang genommen habe. Mehrere sogar leiten den Ursprung derselben aus den letzten Tagen
des Apostels Johannes in Kleinasien her, mit dem Hinzufügen, dass dieser Apostel sie anerkannt und
gutgeheißen habe.
Die Briefe des Apostels Johannes zeigen uns jedoch gerade das Gegenteil. Man lese nur seinen dritten
Brief. Er gibt dort dem geliebten Gajus das Zeugnis, dass er in der Wahrheit wandle. Seine größte
Freude bestand darin, wenn die Kinder Gottes in der Wahrheit wandelten. Er sagt: „Geliebter, du tust
treulich, was irgend du an den Brüdern, und zwar an den Fremden, tust“ (V 5). Diese Brüder waren um
des Namens Jesu willen ausgegangen, ohne etwas von den Nationen genommen zu haben, und hatten
von der Liebe des Gajus vor der Versammlung Zeugnis gegeben. Wandelnd in der Wahrheit, erkannte
er die Ordnung Gottes, und geleitet durch den Grundsatz der Liebe (1. Kor 13), nahm er diese unter
der Leitung des Heiligen Geistes stehenden Brüder, die um des Namens Christi willen ausgegangen
waren, mit Freuden auf; und Johannes schreibt: „Wir nun sind schuldig, solche aufzunehmen, auf
dass wir Mitarbeiter der Wahrheit werden“ (V 8). O wie köstlich ist diese Gemeinschaft im Dienst der
Wahrheit! Wir haben diese Brüder, die um des Namens Christi willen ausgehen, aufzunehmen, auf
dass wir mit der Wahrheit Gemeinschaft haben. Dieses war ein durch Gott eingesetzter christlicher
Dienst. „Wir sind schuldig, solche aufzunehmen.“
Jetzt kommen wir zu einem anderen Zeugnis. Johannes schreibt: „Ich schrieb etwas an die
Versammlung, aber Diotrephes, der gern unter ihnen der Erste sein will, nimmt uns nicht an“
(V 9). Beachten wir diese Worte wohl! Hier ist ein Mann, der in der Versammlung der Erste sein will.
Um dieses sein zu können, musste er dem Heiligen Geist widerstehen, die Freiheit der Bedienung
verkennen und sogar den alten und geliebten Apostel Johannes und die mit ihm verbundenen Brüder
verleugnen. Die erste Oenbarung eines klerikalen Geistes zeigt sich unzweideutig im Widerspruch
mit der Verordnung Gottes. Hat Johannes dieses gutgeheißen? Im Gegenteil sagt er: „Deshalb, wenn
ich komme, will ich seiner Werte gedenken, die er tut, indem er mit bösen Worten wider uns schwatzt,
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift
und, sich hiermit nicht begnügend, nimmt er selbst die Brüder nicht auf und wehrt denen, die es
wollen, und stoßt sie aus der Versammlung“ (V 10). Und fragen wir uns: Bezeichnen diese Worte
nicht genau den hochmütigen Geist einer geistlichen Anmaßung in unseren Tagen?
Das ist wahr. Aber kann man denn behaupten, dass jeder in der Versammlung oder Kirche angestellte
Prediger den Geist eines Diotrephes besitzt?
Das sei ferne. Mancher geliebte, demütige Diener des Herrn seufzt unter diesem verkehrten Zustand.
Aber wir ersehen aus jenen Worten, dass ein jeder, der diesen ersten und ausschließlichen Platz im
Dienst einnimmt, sich in direktem Widerspruch mit dem Geist und dem Wort Gottes bendet.
Es hat Gott gefallen, die Versammlung, in Bezug auf deren Einrichtung und Bedienung, zur Kenntnis
seiner Vorschriften zurückzuführen. Man fängt an, die Gegenwart des Heiligen Geistes und die
Freiheit des christlichen Dienstes anzuerkennen. Wie in den Tagen Nehemias zeigt sich ein geringer
und unscheinbarer Überrest, der, wiewohl er sich vieler Schwachheiten bewusst ist, dennoch von
Gott gesegnet wird. Dieser geringe Überrest liefert den Beweis der Allgenügsamkeit Gottes. Aber
welche Erfahrungen macht dieser kleine Bruchteil der Versammlung Gottes? Auf allen Seiten, in allen
kirchlichen Parteien regt sich die Feindschaft gegen das kleine Häuein, und Flugschriften, Bücher,
Traktate, voll von den verkehrtesten Darstellungen, verlassen die Presse, um der freien Wirksamkeit
des Geistes Gottes in den Weg zu treten.
Der angeführte dritte Brief des Johannes beschreibt sehr genau den Streit unserer Tage. Auf der einen
Seite benden sich einige wenige, die, wie Gajus, gelernt haben, den Geboten Christi in Betre des
Dienstes Gehör zu geben: auf der anderen Seite, ach! eine große Schar, die den festen Entschluss
gefasst zu haben scheint, dem Gebot Gottes Widerstand zu bieten und die durch Diotrephes begonnene
menschliche Verordnung zur Bedienung zu handhaben – sicher in vielen Fällen aus Unwissenheit.
Das Wort Gottes nennt das Eine gut, das Andere schlecht. Gott zu gehorchen, ist gut; den Menschen
zu folgen ist böse.
Wenn nun nach der Schrift Älteste angestellt wurden, warum tut es denn jetzt die Versammlung
nicht?
Einfach weil dieses nicht eine Sache der Versammlung, sondern der Apostel und ihrer Gesandten
war. Nirgend lesen wir, dass die Versammlung Älteste angestellt habe.
Wie deutlich ist doch alles, wenn wir in Wahrheit dem Wort Gottes unterworfen sind! Lasst uns
daher, geliebte Brüder, zum Herrn zurückkehren! Die Verheißung, dass da, wo zwei oder drei in
seinem Namen versammelt sind, Er in ihrer Mitte sein will, ist immer noch in Kraft. Er allein genügt
vollkommen. O wie sehr wünschen wir, dass alle Kinder Gottes die unaussprechliche Freude seiner
Gegenwart genießen möchten! Eine Stunde in dieser kostbaren Gemeinschaft, ist besser, als alles.
Jeder Christ, der zur Wahrheit der Schrift zurückkehrt, wird sich ohne Zweifel irgendeiner Art
von Verfolgung aussetzen, aber keine Feder vermag den Segen und die Freude zu schildern, die in
Gemeinschaft mit Christus genossen wird, und die das Teil jedes Gläubigen ist, der sich in seinem
gesegneten Namen versammelt.
O möchte doch niemand denken, dass es eine geringfügige Sache sei, die durch Christus verliehenen
Gaben, sowie die Leitung des Heiligen Geistes in der Versammlung zu missachten und an ihren Platz
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift
irgendeine angestellte Person zu setzen! Wird nicht in dieser Weise der Heilige Geist betrübt und
ausgelöscht? Ohne Zweifel. Möchte doch jeder Gläubige diese Wahrheit beherzigen! Mein teurer
Leser, untersuche die Schriften! Oder fühlst du kein Bedürfnis dazu? Willst du dem Wort Gottes nicht
gehorchen? Erkennst du die Autorität des Wortes Gottes nicht an? Der Herr gebe dir Entschiedenheit
und einen festen Herzensentschluss. Durch die Liebe Christi gedrungen, schreibe ich diese Zeilen.
Von ganzem Herzen wünsche ich deine Befreiung: und ich bin nicht unbekannt mit den Listen Satans,
die er anwendet, um dich zu halten, wo du bist. Meine Worte sind ernst; aber für die Kinder Gottes
liegt die Kraft in der Wahrheit.
Bedenke einmal: Wenn alle Gläubigen in einer Stadt im Namen des Herrn Jesus versammelt wären,
Ihn in Wahrheit als das Haupt anerkennend, wenn alle der Leitung des Heiligen Geistes unterworfen
wären und alle, ein Herz und eine Seele, nur einen Gegenstand – die Verherrlichung Christi und
die freie Ausübung seiner Gaben – im Auge hätten, welch einen Einuss würde das auf die Welt
haben! Ach, die Gaben werden so sehr bei Seite gestellt und verworfen, dass wir uns kaum eine
Vorstellung davon machen können, wie viele derselben unbenutzt bleiben. Man kann sich kaum
etwas Traurigeres vorstellen, als den durch Menschen eingerichteten Dienst, der in Rom seinen
Ursprung hat, und der die Ausübung der Gaben völlig verhindert und ausschließt.
Möge der Herr in seiner Gnade die Augen der Seinen önen, damit sie diesen großen Verfall in der
Christenheit erkennen, und möge Er ihnen ein Herz geben, das die Wahrheit liebt und mit göttlichem
Eifer für die Ehre des Herrn erfüllt ist! (Schluss folgt)
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift (Schluss)
Die Versammlung Gottes nach der Schrift (Schluss)
Aber ist es denn auch schriftwidrig, dass sich eine Versammlung von Gläubigen ihren eigenen Hirten
oder Lehrer ernennt?
Ganz gewiss. Die Lehrersind Gaben Christi in der Versammlung: und hat denn eine Versammlung über
die Gaben Christi zu verfügen? Die Verherrlichung Christi sowie der göttliche Wert des christlichen
Dienstes werden ganz und gar durch dieses menschliche System ihrer Kraft beraubt. Ich spreche hier
nicht von den Streitigkeiten, den Spaltungen und anderen traurigen Vorfällen, von welchen einssolche
Ernennung oder Wahl gewöhnlich begleitet ist, sondern nur von dem Grundsatz der Verleugnung der
Allgenügsamkeit Christi und der Leitung des Heiligen Geistes. Mängel und Gebrechen ndet man
überall: aber die Untreue der Menschen verändert die Grundsätze Gottes nicht. Auch das Verhalten
und Wirken von Vereinigungen auf dem Gebiet göttlicher Dinge ndet man nirgends in der Schrift.
Kein Mensch und auch kein Verein von Menschen hat über die Diener des Herrn zu verfügen. Gott
kann durch irgendeinen seiner Knechte in dieser oder jener Stadt wirken: ein menschlicher Verein
aber sagt: „Dieser oder jener Diener muss unserem Ruf folgen; er muss den Platz seiner bisherigen
Wirksamkeit verlassen und mit einem anderen, den wir ihm anweisen, vertauschen.“ – Könnte man
wohl etwas dergleichen im Wort Gottes nden? Unmöglich. Selbst kein Apostel hat je die Anordnung
Gottes bei Seite gestellt.
Aber ehen denn die Glieder einer solchen Vereinigung nicht, dass der Heilige Geist sie bei der
Ernennung ihres Lehrers leiten möge?
O ja; aber was ist solch ein Gebet vor Gott? Wie können sie Ihn um seine Leitung bitten, während
sie völlig gegen sein Wort handeln? Gewiss, jeder geistlich gesinnte Christ wird es für nötig nden,
alle die menschlichen Einrichtungen, in denen er sich bendet, zu verlassen, um sich einfach im
Namen Jesu zu versammeln. Sie bilden einen schwachen Überrest, welcher sich nicht anmaßt, die
Versammlung Gottes zu sein. Sie sind versammelt wie im Anfang der christlichen Kirche und erkennen
nichts anderes an, als das, was sie im Wort Gottes nden.
Mein teurer Leser! Vielleicht sagst du: „Ich erkenne die Wahrheit alles dessen, was mir hier vorgestellt
ist, völlig an; ich sehe den verkehrten Zustand, indem ich mich bende, mit klaren Blicken; aber ich
bin nun einmal in diesen Verhältnissen auferzogen, fühle mich durch tausend Bande damit verknüpft
und sehe nirgends einen Ausweg, um mich davon losmachen zu können. Ich würde ohne Zweifel
meinen Broterwerb verlieren; und gewiss würden mich meine Familie und alle meine Freunde im
Stich lassen, wenn ich entschieden dem Wort Gottes folgen wollte.“
Ja, ich begreife dieses alles, und Satan wird sicher nicht unterlassen, diesen Schwierigkeiten und
Hindernissen noch andere hinzuzufügen. Aber ist denn Gott nicht für uns? Ist Er nicht mächtiger, als
alle diese Umstände? O ja, ich fühle mit dir die unausbleiblichen Folgen eines entschiedenen Wandels
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift (Schluss)
in der Wahrheit; aber Gott wird mit dir sein; es ist sein Weg, sein Wille (Lies Ps 119,59–60). III. Die
Zukunft der Versammlung
Es ist nötig, darauf zu achten, dass wir die Zukunft der Versammlung nicht mit der durch die
Propheten des Alten Testaments angekündigten Zukunft Israels verwechseln oder vermengen. Ohne
Zweifel wird jede diesem Volk gegebene Verheißung ihre Erfüllung nden, wiewohl dasselbe nach
Römer 11 jetzt bei Seite gestellt ist. Ich mache diese Bemerkung, weil im allgemeinen die Neigung
vorherrscht, die Versammlung in der Stellung Israels zu erblicken.
Die der Versammlung gegebenen Verheißungen sind himmlisch, während die Verheißungen Israels
irdisch sind. Die Vermengung dieser beiden Zukunft Fragen hat zu derfalschen Meinung Veranlassung
gegeben, als ob die Versammlung das Mittel zur Bekehrung der Welt sein sollte. Das Sammeln der
Kirche oder der Versammlung ist ein abgesondertes Werk, eine getrennte Periode, eine Zwischenzeit
in der Geschichte Israels. Der Augenblick, in welchem die Versammlung vollzählig sein wird, ist
allein unserem Gott bekannt. Dann wird erfüllt werden die Verheißung Christi: „In dem Haus meines
Vaters sind viele Wohnungen; wenn es nicht so wäre, würde ich es euch gesagt haben: denn ich gehe
hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingegangen und euch eine Stätte bereitet habe, so
komme ich wieder und will euch zu mir nehmen, auf dass, wo ich bin, auch ihr seid“ (Joh 14,2–3).
In welch einer völligen Übereinstimmung ist hiermit das erste Vorbild der Versammlung. Als das
Paradies bereitet war, und Adam sich darin befand, gab Gott dem Menschen die Eva. Ist unser teurer
Heiland nicht gen Himmel gefahren, um für uns dort eine Stätte zu bereiten, damit das Verlangen
seines Herzens gestillt werde? „Vater, ich will, dass die du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo
ich bin, auf dass sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast“ (Joh 17,24). Welch eine
Zukunft! Sie sollen bei Ihm sein, wo Er ist. Durch das Wort unseres Herrn haben wir die Versicherung,
dass Er selbst zu uns herniederkommen will. Er wird zum Sammeln der für das irdische Königreich
auserwählten Juden seine Engel senden: aber zum Abholen seiner Versammlung will Er in eigener
Person vom Himmel kommen, mögen wir zu den übriggebliebenen Lebenden oder zu den im Herrn
Entschlafenen gehören. Ja Er, der auf diese Erde kam, um für uns am Kreuz zu sterben, wird zum
zweiten Male in der Luft erscheinen. Welch eine Liebe! Da gibt es kein Gericht wegen unserer
Sünden; o nein, dieses Gericht hat Er getragen; und nun wird Er ohne Sünde erscheinen denen, die
Ihn erwarten zur Seligkeit.
Und wie erhaben und feierlich klingen die Worte: „Wir wissen, dass, wenn Er oenbart ist, wir Ihm
gleich sein werden: denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist“ (1. Joh 3,2). Welch eine herrliche Honung!
Wir sollen Ihm gleich sein – vollkommen gleich dem himmlischen Menschen in Herrlichkeit – heilig,
rein, unverderblich. Wir sind nun „begnadigt in dem Geliebten“; sein vollkommenes Werk ist uns
zugerechnet; wir sind gestorben mit Ihm, auferstanden mit Ihm, eins mit Ihm. Aber dann sollen wir
ewig Ihm gleich sein. Verlangen unsere Herzen nicht danach? Sollten wir nicht mit dem Psalmisten
jubelnd ausrufen: „Ich werde schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit, werde erfüllt werden, wenn ich
erwache, mit deinem Bild?“ Wie wunderbar! Sind es nicht die Worte unseres Herrn selbst? Wir sind
so wirklich mit Ihm vereinigt, dass seine Auferstehung gleichsam die Erstlingsfrucht ist. Sein Leib,
die Versammlung – die unzählbaren Scharen der aus dem Staub auferweckten oder in einem Nu
verwandelten Erlösten werden Ihm gleich sein; sie werden Ihn sehen, wie Er ist. Dann wird Er die
Arbeit seiner Seele anschauen, und Fülle von Freude wird bei Ihm sein. An seiner Freude werden wir
unseren Anteil haben. Den Augenblick, in welchem die Braut Ihm vorgestellt werden wird, hat Er
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift (Schluss)
von Ewigkeit her vorausgesehen. Aber sobald dieser Augenblick kommt, so freut sich seine Seele mit
unaussprechlicher Freude.
Ist es nicht unbeschreiblich wunderbar, dass Er auf uns wartet und nach uns verlangt? Er hat nicht
nur die Versammlung geliebt und sich für sie hingegeben, auf dass Er sie heiligte, sie reinigend durch
die Waschung mit Wasser durch das Wort, sondern auch um sie sich selbst verherrlicht darzustellen.
Ja, das ist die Sehnsucht seines Herzens. Er hat alles getan und tut alles, „auf dass er sich selbst die
Versammlung verherrlicht darstellte, die nicht Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe,
sondern dass sie heilig und tadellos sei“ (Eph 5,27). Siehe, das ist die Zukunft der Versammlung
Gottes, die Frucht seines Werkes auf dem Kreuz. „Euch, die ihr einst entfremdet und Feinde wärt,
– hat Er versöhnt in dem Leib seines Fleisches durch den Tod, um euch heilig und untadelig und
unsträich vor sich hinzustellen“ (Kol 1,22). „Welcher euch auch befestigen wird bis ans Ende, dass
ihr tadellos seid an dem Tag unseres Herrn Jesus Christus“ (1. Kor 1,8). „Um eure Herzen tadellos in
Heiligkeit zu befestigen vor unserem Gott und Vater, bei der Ankunft unseres Herrn Jesus mit allen
seinen Heiligen“ (1. Thes 3,13).
Wir sollen Ihn sehen, wie Er ist: wir sollen Ihm gleich sein, heilig und untadelig, in eckenloser
Reinheit; und dann wird das Herz unseres ewigen Bräutigams für immer befriedigt sein. Er wird bald
kommen, um uns hinaus zu führen aus dieser mühevollen Wüste. O dann wird der verwüstende
und kalte Winter für immer an uns vorübergezogen sein. Dann wird kein Seufzer über die in uns
wohnende Sünde mehr vernommen werden, dann wird keine Sünde, keine Schwachheit, kein Kampf,
keine Traurigkeit mehr vorhanden sein; alles, alles ist dann hinter uns. Und wenn die Versammlung
bereit ist, bis in alle Ewigkeit die Wonne Christi zu sein, sowie einst Eva – eins mit Adam, von
seinem Fleisch und von seinen Gebeinen – der Gegenstand seiner Liebe war, sollte dann Christus
nicht schon jetzt der einzige Gegenstand der Versammlung sein? Er ist derselbe gestern und heute
und in Ewigkeit. Die Liebe, die wir in der eckenlosen, reinen und ewigen Herrlichkeit genießen
sollen, ist dieselbe, womit Er uns liebt, während wir diese dürre Wüste durchschreiten. O möchten
unsere Herzen doch in dieser seiner kostbaren Liebe ruhen! Welch ein Reichtum von Gnade, um
solch elenden Geschöpfen, wie wir sind, eine solch herrliche Zukunft zu schenken! Wir sind eine
neue Schöpfung, rein und heilig, Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und von seinen Gebeinen.
Richte ich meinen Blick auf den Menschen in Herrlichkeit, dann darf ich sagen: „Ich werde Ihm
gleich sein.“ Was könnte ich noch mehr begehren?
Gibt uns die Schrift keine weiteren Aufschlüsse über die Versammlung, nachdem sie aufgenommen
sein wird, um Ihm entgegen zu gehen und bei Ihm zu sein (1. Thes 4)? Wo wird die Versammlung sein
in der Zeit der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen soll? Wo wird sie sein am Tag jener
großen Drangsal, „dergleichen von Anfang der Welt bis jetzt hin nicht gewesen ist und auch nicht
werden wird?“ Wo, wenn die bekennende Christenheit weggetan werden wird? Wo während des
tausendjährigen Reiches für Israel auf Erden? Welches ist während all dieser Vorgänge die Zukunft
der Versammlung? Ist uns darüber nichts oenbart?
Gewiss. Wenn ihre Geschichte auf Erden beendigt und das äußere Zeugnis der bekennenden Kirche
bei Seite gesetzt und diese aus dem Mund des Herrn ausgespien sein wird, dann ist der Schleier
hinweggenommen, dann sind wir für immer droben eingegangen. Die Erlösten werden durch
vierundzwanzig Älteste repräsentiert. Gott sitzt auf seinem Thron. Auch die Heiligen ruhen und
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift (Schluss)
sitzen auf Thronen rings um den Thron Gottes. Wenn die Seram und Cherubim, sowie die vier
lebendigen Wesen Herrlichkeit und Ehre und Danksagung geben Ihm, der auf dem Thron sitzt, so
werden die Erlösten niederfallen und Gott, den Schöpfer aller Dinge, anbeten (O 4).
Der Mensch in Herrlichkeit wird warten, bis das letzte Glied der Versammlung hinzugefügt ist, um
dort bei Ihm zu sein; dann erst wird Er das Buch der Ratschlüsse und der Gerichte Gottes aus der
Hand dessen nehmen, der auf dem Thron sitzt. Welch eine Szene! Der Mensch, das geschlachtete
Lamm, ist würdig, das Buch aus der Rechten Gottes zu nehmen. Bis zu diesem Augenblick hatte Er
auf dem Thron des Vaters gesessen; jetzt aber wird Er inmitten des Thrones gesehen – der erste
Schritt, um alle Dinge sich zu unterwerfen. Das gibt Veranlassung, das neue Lied der Erlösten zu
singen und die starke Stimme vieler Engel wachzurufen, die sich dem Lob der Erlösten anschließen.
Wunderbare Oenbarung! Wir sehen die Vereinigung der Heiligen mit Christus während der
Zeit der Wehen, welche auf die Erde kommen werden. Dort verweilen sie, während die Siegel
geönet, die Schreckenstöne der Posaunen vernommen und die Schalen des Zornes Gottes über diese
Erde ausgegossen werden; dort ist ihr Platz während der plötzlichen Erscheinung des römischen
Reiches, während des vollkommenen Abfalls Babylons und während der furchtbaren Gottlosigkeit
der Christenheit und ihres entsetzlichen Gerichts. Dann folgt die Hochzeit des Lammes; denn sein
Weib hat sich bereitet (O 19); und nach diesem herrlichen Ereignis wird der Herr Jesus kommen, um
die Lebendigen zu richten. Alle, welche während der Zeit des entsetzlichen Abfalls um des Wortes
und des Zeugnisses Gottes willen getötet sind, werden aus den Toten auferweckt werden und Teil
haben an der ersten Auferstehung.
Dann nimmt das tausendjährige Reich der Segnung seinen Anfang, bis nach Ablauf desselben
der weiße Thron zum Gericht der Toten erscheint und schließlich der ewige Zustand beginnt.
Während all dieser Ereignisse, von dem Beginn des Gerichts bis zur Hochzeit des Lammes, wird
die Versammlung in geistlicher Anbetung gefunden. Wie deutlich ist ihre Zukunft im Wort Gottes
oenbart! Alles ist himmlisch und von Gott, nichts irdisch und von dem Menschen, selbst nicht
während des tausendjährigen Reiches. In Oenbarung 31,9 wird uns dieses alles deutlich vor Augen
gestellt.
„Komm her“, sagt einer der sieben Engel, „ich will dir die Braut, das Weib des Lammes zeigen.“ Und
was schaute Johannes? „Die heilige Stadt Jerusalem, herniederkommend aus dem Himmel von Gott.“
Welch einen Gegensatz wird das bilden zu dem, was jetzt auf Erden gesehen wird! „Die heilige
Stadt Jerusalem, herniederkommend aus dem Himmel von Gott!“ Welch eine Reinheit! Mein teurer
Leser, gehörst du zu dieser himmlischen Braut, die von Gott ist und welche die „Herrlichkeit Gottes“
genannt wird? Diese Worte können nicht auf Engel oder Erzengel, auf Fürstentümer und Gewalten
angewandt werden. „Die Herrlichkeit Gottes!“ O wunderbare Gnade! „Ihre Leuchte war gleich dem
köstlichsten Edelstein, wie ein kristallheller Jaspisstein.“ Welch ein Wechsel! Hier eine sündige Welt,
dort himmlische Reinheit und eckenlose Heiligkeit.
Die große und hohe Mauer zeugt von der vollkommenen Sicherheit der Braut während dieser Zeit
der Regierung. Die Pforten der Stadt zeigen uns den wunderbaren Platz, den die Versammlung in der
Regierung des zukünftigen Zeitlaufs einnehmen wird, und zwar in Verbindung mit dem irdischen
Volk, dem wiederhergestellten Israel. Jeder kostbare Stein wird genannt, um die Herrlichkeit des
Gebäudes Gottes zu bezeichnen. Die Stadt bildet ein Viereck mit gleicher Länge und Breite, ein
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift (Schluss)
Bild himmlischer Vollkommenheit. Mag sie im Himmel oder auf Erden gesehen werden – alles ist
göttlich vollkommen. „Die Stadt ist reines Gold, gleich reinem Glas“, – ein treendes Bild von der
untadeligen, vollkommenen, eckenlosen Reinheit und göttlichen Gerechtigkeit. Alles von innen
und von außen ist vollkommen rein; also werden wir in Christus Gerechtigkeit Gottes sein. „Der
Herr, Gott, der Allmächtige, ist ihr Tempel, und das Lamm.“ Wir schauen nun und in alle Ewigkeit
das Lamm. Wir alle gehören dem geschlachteten Lamm. „Und die Stadt bedarf nicht mehr der Sonne,
noch des Mondes; denn die Herrlichkeit Gottes hat sie erleuchtet, und ihre Lampe ist das Lamm.“
Welch ein Platz ist uns in Aussicht gestellt! Alles steht unerschütterlich fest und ist sicher. Jeder
Augenblick bringt uns, ja, die ganze Versammlung Gottes naher zu jener Stätte, die bereitet ist in der
himmlischen Wohnung der Liebe und des Friedens.
In Oenbarung 21,1–8 nden wir die Beschreibung des Zustandes der Ewigkeit. Wird auch dort von
der Zukunft der Braut, von ihrer Zukunft in Ewigkeit gesprochen? O ja; wenn der erste Himmel und
die erste Erde vergangen sein werden und das Meer nicht mehr ist, dann wird sie beschrieben als
dieselbe „heilige Stadt, das neue Jerusalem, herniederkommend aus dem Himmel von Gott, bereitet wie
eine für ihren Mann geschmückte Braut.“ Sie ist für ewig das Weib des Lammes. Welch eine Ewigkeit
wartet unser! Die Sünde ist zunichtegemacht; alles bendet sich in seliger Unterwerfung unter Gott.
Hier gibt es keine Mauern, keine Pforten; mit Gott ist alles in ewiger Ruhe. Die Versammlung ist die
„Hütte Gottes bei den Menschen;“ das ist ihr ewiger Zustand. Wir haben hier nur eine kurzgedrängte
Schilderung von der Zukunft der Versammlung, der Braut des Lammes, gegeben. Möge der Herr
diese wenigen Worte segnen, damit seine Kinder aufgeweckt werden, in seiner Gegenwart und unter
der Leitung des Heiligen Geistes die Schriften zu untersuchen!
Wir haben also gesehen, dass nach der Schrift die Versammlung Gottes aus allen zusammengesetzt
ist, welche seit der Gründung der Versammlung auf dem Pngstfest aus Gott geboren sind und an
Jesus geglaubt haben, und dass alle Gläubigen durch einen Geist zu einem Leib getauft sind.
Ferner ist uns klargeworden, dass der wahre christliche Dienst unmittelbar von Christus, dem
verherrlichten Haupt der Versammlung, kommt, dass die durch Christus geschenkten Gaben –
Hirten, Lehrer oder Evangelisten – nie, weder durch die Versammlung, noch durch die Apostel,
angestellt werden, und dass eine solche Handlung eine Leugnung und Beiseitesetzung der gesegneten
Anordnung Christi in sich schließt.
Ferner haben wir gesehen, dass das Wort Gottes nirgends das Recht der Anstellung eines Lehrers
für eine so genannte Gemeinde einräumt. Die Gegenwart des Heiligen Geistes ordnet alles in der
Versammlung: Er teilt die Gaben aus, wie Er will, und niemand darf Ihn in dieser Tätigkeit stören
oder hindern. Mag die Christenheit auch die Anordnung, die wir bezüglich der Versammlung im
Wort Gottes nden, missachtet und bei Seite gestellt haben, so haben wir dennoch kein Recht, dem
Wort Gottes ungehorsam zu sein und den Überlieferungen der Menschen zu folgen.
Schließlich haben wir unsere Aufmerksamkeit auf Diotrephes, die erste Person gerichtet, welche
die Gebote Gottes in Betre der Bedienung dadurch übertrat, dass er der Erste sein wollte, und sich
dadurch die strengste Zurechtweisung von Seiten des Apostels Johannes zuzog. Wir haben gesehen,
dass die Meinung der Menschen, als ob die Versammlung berufen sei, den gegenwärtigen bösen
Zeitlauf zu verbessern, eine völlig irrige, und dass die Zukunft der Versammlung eine himmlische ist.
Ja, bald wird sie aus dieser Welt der Sünde und der Drangsal aufgenommen werden. Die Stätte im
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  Die Versammlung Gottes nach der Schrift (Schluss)
Vaterhaus ist bereitet. Der Mensch in Herrlichkeit harrt dem Augenblick entgegen, in welchem Er
kommen wird, und wir Ihm in der Luft begegnen werden. Wie Isaak seiner Rebekka entgegenharrte,
so wartet unser Herr auf uns, seine erkauften Erlösten. Bald werden wir Ihn sehen, um uns nimmer
wieder von Ihm zu trennen, um allezeit bei Ihm zu sein.
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  Die Belagerung von Samaria
Die Belagerung von Samaria
Samaria war die Hauptstadt des Königreichs Israel oder der zehn Stämme. Gebaut durch Omri, einen
ihrer gottlosen Könige, wurde sie der Königssitz seines Sohnes Ahab, von welchem gesagt wird,
dass er seine Seele verkauft habe, um zu tun, was böse war in den Augen Jehovas. Wegen seiner
Gottlosigkeit wurde über ihn und sein Haus das Gericht ausgesprochen, welches jedoch Gott in seiner
Langmut nicht in den Tagen Ahabs, sondern erst in den Tagen des ebenso schuldigen Thronfolgers
in Ausführung brachte.
In dem vor uns liegenden Schriftabschnitt nden wir Joram, den Sohn Ahabs. Derselbe scheint in
seiner Gottlosigkeit und in seinem Widerstand gegen Gott nicht so weit gegangen zu sein, wie sein
Vater oder wie sein Bruder Ahasja. Er tat die Säule Baals, die sein Vater gemacht, hinweg. „Nur an
den Sünden Jerobeams blieb er hängen: er wich nicht davon“ (Kap 3,3). Augenscheinlich war es
seine Eigengerechtigkeit, welche ihn drängte, sich auf äußere Formen des Gottesdienstes zu stützen;
denn hätte ihn die Gottesfurcht einer Seele beherrscht, welche die Gnade und Treue Gottes kennt, so
würde er sich nicht damit begnügt haben, nur die von seinem Vater eingeführten groben Formen des
Götzendienstes zu beseitigen, sondern würde sicher die „goldenen Kälber Jerobeams“, vernichtet
haben, durch deren Anbetung sich die zehn Stämme von ihrem Gott getrennt hatten. Solange das Volk
in dieser schrecklichen Sünde voranging, war nichts im Stande, das Missfallen Gottes abzuwenden;
und so geschah es, dass in den Tagen dieses selbstgerechten Königs, der in den Augen der Menschen
weit besser als viele seiner Vorfahren war, die ersten Tropfen der herannahenden Zornut Gottes
nieder zu fallen begannen. Wir werden aus dem Verlauf unserer Geschichte sehen, von wie geringem
Wert eine äußere Gottesfurcht ist.
Wir nden hier aufs Neue den Beweis, wie trage das Herz des Menschen ist, um zu glauben, dass
Gott einen Abscheu gegen die Sünde hat. Die Schrift verbirgt uns diese Wahrheit nicht. Freilich ist
Gott langsam zum Zorn und seine Langmut groß über uns; aber wenn Er sich einmal zum Gericht
erhebt, dann werden „sich stolze Helfer unter Ihn beugen“ (Hiob 9,13). Das Wort Gottes oenbart uns
nicht jene falsche Nachsicht, welche die fahr verblümt oder hinwegleugnet, bis es zum Entrinnen
zu spät ist. Nein, es sind unzweideutige und feierliche Ausdrücke, wenn wir lesen: „Gott ist ein
gerechter Richter, und Gott zürnt den ganzen Tag“ (Ps 7,11). „Es werden umkehren zum Scheol die
Gesetzlosen, alle Nationen, die Gottes vergessen“ (Ps 9,17). „Wenn ihr nicht Buße tut, so werdet ihr
alle auf dieselbe Weise umkommen“ (Lk 13,3). „Denn es wird oenbart Gottes Zorn vom Himmel
über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit
besitzen“ (Röm 1,18). „In der Oenbarung des Herrn Jesus vom Himmel, mit den Engeln seiner
Macht, in ammendem Feuer, um Vergeltung zu geben denen, die Gott nicht kennen, und denen,
die dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen, welche Strafe leiden werden,
ewiges Verderben vom Angesicht des Herrn und von der Herrlichkeit seiner Stärke“ (3.Thes 1,7–9).
Ja, lieber Leser, Gott ist langsam zum Zorn; Er ist „langmütig, da Er nicht will, dass irgendwelche
  127
  Die Belagerung von Samaria
verloren gehen“ (2. Pet 3,9); aber seine Rache ist umso fürchterlicher, weil es die Rache dessen ist,
der mit der Vergeltung bis zum Ende hin gezögert hat. „Weil ich gerufen, und ihr euch geweigert,
meine Hand ausgestreckt, und niemand darauf geachtet, und ihr verworfen habt all meinen Rat und
meine Zucht nicht gewollt: so will auch ich bei eurem Untergang lachen; ich will spotten, wenn
euer Schrecken kommt“ (Spr 1,24–26). Weil das Gericht zögert, bilden sich die Menschen ein, dass es
nimmer kommen werde. Aber Gott sagt: „Solches hast du getan, und ich schwieg: du dachtest, ich sei
ganz wie du. Ich will dich strafen und es ordentlich unter deine Augen stellen“ (Ps 50,21). Und wie
voll Gnade ist die Warnung, die unmittelbar diesen Worten folgt: „Merkt doch dieses, die ihr Gottes
vergesst, damit ich nicht zerreiße und sei kein Retter da!“ (V 22)
Aber nicht nur oenbaren die warnenden Aussprüche der Schrift den Abscheu Gottes gegen die
Sünde und seinen Entschluss, sie zu bestrafen, sondern es werden uns auch viele Beispiele, wo Gott
durch sichtbare, zeitliche Gerichte seinen Hass gegen die Sünde kundgibt, vor Augen gestellt. Er
hat nicht das Gift der Lüge der Schlange im Herzen der Menschen wirken lassen, ohne Zugleich
ein Gegengift zu geben. Die Sintut, die Verwüstung Sodoms, die Plagen Ägyptens, die Ausrottung
der Kanaaniter – alles dieses bezeugt, dass die Sünde nicht ungestraft bleiben kann. Vor allem aber
liefert uns die Geschichte Israels beachtenswerte Beispiele dieser Art. Auch die Belagerung von
Samaria ist eins von diesen. Viele Jahrhunderte vorher hatte Gott sein Volk Israel auf die Folgen
der Empörung wider Ihn aufmerksam gemacht. Er hatte von Plagen und Trübsalen gesprochen,
die sie, wenn sie ungehorsam wären, treen würden; ja, Er hatte ihnen sogar vorausgesagt, dass
ihr Unglück sie dahintreiben werde, das Fleisch ihrer Kinder zu essen. „Die Weichlichste unter dir
und die Üppige, die nicht versuchte, ihre Fußsohle auf die Erde zu setzen vor Üppigkeit und vor
Weichlichkeit, deren Auge wird scheel sehen auf ihre Kinder, die sie geboren hat, denn sie wird sie im
Geheimen aufessen, in Mangel an allem, in der Belagerung und in der Bedrängnis, wenn dich dein
Feind bedrängen wird in deinen Toren“ (5. Mo 29,56–57). Und ist diese angekündigte schreckliche
Strafe nicht erfüllt? Gewiss, sie ist, wie wir in dem Abschnitt unserer Betrachtung lesen, buchstäblich
erfüllt worden (2. Kön 6,29). Gott richtet nicht bloß seine Drohungen an die Menschen, sondern führt
sie auch aus, wenn die Zeit des Gerichts gekommen ist. Und hat Er nicht das ewige Verderben als
die unausbleibliche Folge des fortdauernden Unglaubens und Beharrens in der Sünde angekündigt?
Er wird sicher diese Drohung erfüllen. Man täusche sich nicht mit dem Gedanken, dass seine Liebe
Ihn verhindern werde, sie auszuführen. Er ist wahrhaftig: und Er würde nimmer ein solches Gericht
über die Widersacher des Evangeliums ausgesprochen haben, wenn es nicht die einfache, nackte
Wahrheit wäre. Gott bewahre jeden unserer Leser vor einer solch falschen, verderblichen Vorstellung
von der Gnade Gottes!
Und gerade die Erfüllung der in 5. Mose 28 angekündigten Dinge war es, die den wahren Charakter
der Scheinfrömmigkeit des Königs ins Licht stellte. Er war kein oenbarer Gotteslästerer; er war auch
nicht gleichgültig angesichts der Leiden seines Volkes, vielmehr suchte er durch seine Bußübungen
und durch sein Fasten den Herrn zu bewegen, die Drangsale hinweg zu nehmen. Diese Drangsale
waren aber auch in der Tat nicht gering. „Und es war eine große Hungersnot in Samaria, und siehe,
sie belagerten es, bis ein Eselskopf achtzig Silberlinge galt, und ein viertel Kab Taubenmist fünf
Silberlinge“ (V 25). Und das war noch nicht das Schlimmste. „Und es geschah, als der König auf der
Mauer einherging, da schrie ein Weib ihn an und sprach: Hilf, mein Herr König! Und er sprach:
Jehova hilft dir nicht, woher sollte ich dir helfen? von der Tenne oder von der Kelter?“ – Wie sehr
  128
  Die Belagerung von Samaria
drücken diese ironischen Worte die Bitterkeit seines Herzens aus! Befand er sich doch selbst fast
am Rand der Verzweiung. Dennoch aber fragte er das Weib nach der Ursache ihrer Klage, und
sie antwortete ihm: „Dieses Weib sprach zu mir: Gib deinen Sohn, und wir wollen ihn heute essen,
und meinen Sohn wollen wir morgen essen. Und wir kochten meinen Sohn und aßen ihn, und ich
sprach zu ihr am anderen Tage: Gib deinen Sohn, dass wir ihn essen. Da verbarg sie ihren Sohn“
(V 28–29). Diese haarsträubende Mitteilung macht deutlich oenbar, was in dem Herzen des Königs
ist. „Er zerriss seine Kleider – er ging aber auf der Mauer einher – und das Volk sah, und siehe,
es war ein Sack auf seinem Leib unter dem Oberkleid“ (V 30). Ach, pharisäische Frömmigkeit und
Eigengerechtigkeit kann wehklagen und fasten, kann eine traurige Miene aufsetzen und sich viele
Dinge auegen, um dadurch die Gunst Gottes zu erlangen. So war es auch bei Joram. Solange noch
ein Schimmer Honung übrigblieb, vermochte er den Schein von Gottesfurcht aufrecht zu erhalten;
aber sobald sich seine Gebete als fruchtlos erwiesen, sein Sitzen in Sack und Asche keinen Vorteil
brachte, die Belagerung fortdauerte und die Hungersnot ihren höchsten Gipfel erreichte, da warf er
sich der Verzweiung in die Arme und oenbarte sich als ein öentlicher Feind des Gottes, dem er
bisher zum Schein gehuldigt hatte.
Gott selbst war außer seinem Bereich: aber es gab jemanden, von dem er wusste, dass er völlig eins
war mit dem Namen und der Sache Gottes; und an diesem – dem Propheten Elisa – beschoss er
den Zorn zu stillen, der in seinem Herzen gegen Gott entbrannt war. „So soll mir Gott tun und so
fortfahren, wenn der Kopf Elisas, des Sohnes Schafats, heute auf ihm bleibt!“ (V 31) Der König war
sich bewusst, dass dieser Prophet zu jener Zeit in Samaria und wohl auch in ganz Israel bei Gott in
der nächsten Nähe war: und darum beschloss er, sich an ihm zu rächen. Elisa, der in seinem Haus
sitzt, benachrichtigt die um ihn sitzenden Nettesten von dem Kommen des königlichen Boten und
teilt Zugleich mit, dass der Schall der Tritte des Königs hinter demselben sei. Kaum aber hat er seine
Worte vollendet, so erscheint auch schon der angekündigte Bote und sagt: „Siehe, das Unglück ist
von Jehova; was soll ich noch auf Jehova harren?“ (V 32–33) Der König hatte von sich die Meinung,
Gott gedient zu haben; jetzt aber, wo der Leidenskelch bis zum Überießen gefüllt ist, wirft er das
sich selbst auferlegte Joch ab und schiebt öentlich alle Schuld auf Gott, anstatt sich zu beugen in
der demütigen Erkenntnis, dass er alles Elend verdient habe. „Das Unglück ist von Jehova; was soll
ich noch auf Jehova harren?“ Mit anderen Worten: „Ich dachte Ihn mit meinen Gebeten und meinem
Fasten erweicht zuhaben: aber ich sehe nun, dass Er unerbittlich ist; das Unglück kommt von Ihm:
aber ich werde mich rächen.“
Wie gering ist die Entfernung zwischen der Eigengerechtigkeit und dem Ermorden des Volkes Gottes!
Wie nden wir Kam, den ersten Menschen, der seine Hände beeckte mit dem Blut seines Bruders?
War er ein oenbar ungläubiger, ein gottloser Mann? Keineswegs: vielmehr war er auf seine Art
ein Anbeter Gottes. Er hatte seinen Altar und brachte Gott sein Opfer. Und was verleitete ihn zu
dem Mord seines Bruders? – Die Täuschung in den Erwartungen seiner Eigengerechtigkeit. Als er
sah, dass das Opfer seines Bruders angenommen, sein eigenes aber verworfen wurde, ersann und
vollführte er die entsetzliche Tat.
Ebenso dachte Joram in der uns vorliegenden Geschichte sich durch das, was er sein „Harren auf
Jehova“ nannte, bei Gott angenehm zu machen; aber als er erfuhr, dass die züchtigende Hand Gottes
immer schwerer und schwerer auf ihm ruhte und sich nirgends eine Aussicht auf eine Veränderung
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  Die Belagerung von Samaria
kundgab, da ließ er die Maske fallen, und der religiöse Mann streckte seine Hand zum Mord aus; in
seinem Hass gegen den Gott Elisas verschwört er sich, an dem Propheten Rache nehmen zu wollen.
Nichtsdestoweniger teilt uns die Schrift noch einen höheren Grad menschlicher Bosheit mit. Der
König Israels kannte, wie gesagt, niemanden, der näher bei Gott war, wie der Prophet Elisa. Aber
in der Fülle der Zeiten sandte Gott seinen Sohn und kam in Ihm dem Menschen so nahe, dass
alles, was in eines Menschen Herz gegen Gott war, unmittelbar gegen Ihn ausgesprochen werden
konnte. Und welcher Empfang harrte des Sohnes Gottes? Als Er in seiner unaussprechlichen Liebe
und Gnade Mensch ward, ja sich bis zum Knecht der Menschen erniedrigte, um der Arzt ihrer
Wunden, der Tröster in ihren Trübsalen zu sein, – als Er, Gutes tuend, umherging, alle die Siechen
und die vom Teufel Besessenen heilte, – wie wurde Er von denen, welchen Er diente, aufgenommen?
Wie haben – um den Vergleich vollkommen zu machen – vor allen die religiösen Menschen jener
Tage Ihn behandelt? Wie empngen sie den hochgelobten Sohn Gottes? Wie beantworteten sie die
unaussprechliche Liebe, die Ihn trieb, um in ihrer Mitte zu wohnen? Er selbst sagt uns dieses in
den ernsten, feierlichen Worten: „Sie haben gesehen und gehasst beide, mich und meinen Vater“
(Joh 5,24). Sie selbst aber drücken ihre Antwort aus in dem Ruf: „Weg, weg! Kreuzige Ihn!“ Von Wut
entbrannt forderten sie sein Blut. „Und sie nahmen Jesus hin und führten Ihn fort.“
Wie aber begegnete Gott diesen Ergüssen der menschlichen Bosheit? Welche Antwort gab Er auf
diese Äußerungen des gegen Ihn entbrannten Menschenhasses? Ließ Er die Donnerschläge seiner
Rache auf das Haupt des Königs Joram fallen, als dieser seine Hand ausstreckte, um den Propheten
zu ermorden? Verfolgte Er die, welche seinen eingeborenen Sohn ermordet hatten, sofort mit der
Rute seines Zornes? O nein, in beiden Fällen bewahrheitete sich das Wort: „Wo aber die Sünde
überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwänglicher geworden“ (Röm 5,20). Ja, Gott
beantwortete die Wut Jorams mit der Oenbarung seiner überreichen Güte und Gnade. „Da sprach
Elisa: Hört das Wort Jehovas! So spricht Jehova: Morgen um diese Zeit wird ein Maß Feinmehl einen
Schekel gelten und zwei Maß Gerste einen Schekel im Tor von Samaria“ (Kap 7,1). Es ist, als ob der
Herr hätte sagen wollen: „Jetzt, nachdem dein Charakter ans Licht getreten und es klar erwiesen
ist, dass du ein oenbarer Feind Gottes bist, kann ich handeln nach der Freiheit meiner eigenen
überschwänglichen Gnade und sofort der ausgehungerten Stadt in Überuss meine Gaben darreichen.
Solange du fastetest und einen Sack auf deinem Leib trugst, würde eine solche Dazwischenkunft deine
Selbstgerechten Handlungen gebilligt haben; aber jetzt, wo du im Begri bist, meinen Propheten zu
ermorden, kann ein solcher Irrtum nicht mehr stattnden. Die Errettung der Stadt kann allein den
Reichtum meiner Gnade verherrlichen, und die Gnade wird ihren freien Lauf haben.“
Doch wie herrlich dieser Triumph der Gnade auch sein mag, was ist sie im Vergleich mit jener Gnade,
die am Kreuz Christi zur Schau gestellt wird? Nie zuvor war die Feindschaft des Menschen gegen Gott
in einer solchen Weise oenbar geworden, als in dem Tod Christi. Wenn jemand eine Geschichte liest,
in welcher die Grausamkeit und Gottlosigkeit eines Menschen gegen seine Mitgeschöpfe oenbar
gemacht wird, so hört man ihn vielleicht mit Entrüstung sagen: „Wie ist es möglich, dass Gott
in seiner Langmut eine Welt dulden kann, in der solche Gräuel geschehen?“ Und doch schaute
Gott einmal aus dem Himmel, und sein Auge sah den Mord seines viel geliebten Sohnes. Dieselbe
Barmherzigkeit, die Er anderen erwiesen hat, wird von Seiten der Menge als eine Beschimpfung
gegen Ihn benutzt. „Andere hat Er gerettet; sich selber kann Er nicht retten“, rufen sie Ihm höhnend
zu. Ja, so war die Schreckensszene auf welche das Auge Gottes herniedersah. Und was folgte darauf?
  130
  Die Belagerung von Samaria
Etwa die unmittelbare Vertilgung der Mörder seines Sohnes, die sofortige Zertrümmerung der von
ihnen repräsentierten Welt? O nein. Es war auf dem Kreuz, wo die größte Feindschaft des Menschen
gegen Gott durch die Ausströmung der vollkommensten Liebe Gottes beantwortet wurde. Das durch
Menschenhände vergossene Blut wurde als eine Sühnung für des Menschen Sünde angenommen,
und Gott ließ verkündigen, dass ein jeder, welcher sein Vertrauen auf dieses kostbare Blut sehe,
Vergebung der Sünden und ewiges Leben empfangen und teilhaben werde an den Segnungen und an
der Herrlichkeit mit dem Herrn Jesus Christus.
Wer vermochte die hier entfaltete Gnade zu schildern! Wenn Jorams öentliche Feindschaft wider
Gott es klarwerden ließ, dass die Errettung Samarias nur aus „Gnaden“ und nicht aus „Werken“
möglich war, so ist sicher die Versöhnung für eine Welt, die sich des Mordes des viel geliebten Sohnes
Gottes schuldig gemacht hat, erst recht der Ausdruck einer unvergleichlichen, unumschränkten
Gnade. „Gott war in Christus, die Welt mit sich selbst versöhnend.“ Und selbst nachdem die Welt
die Friedensangebote Gottes durch die Ermordung seines eischgewordenen Sohnes beantwortet
hatte, sandte Er, anstatt unmittelbar Rache zu nehmen, eine neue Gesandtschaft aus, welche rief:
„So sind wir nun Gesandte für Christus, als ob Gott durch uns ermahnte. Wir bitten an Christi Statt:
Lasst euch versöhnen mit Gott.“ Dieses ist nicht eine bloße Fortsetzung oder Wiederholung jener
Angeboten, die vor dem Tod Christi geschehen waren, sondern die Vergebung der Sünden ist gerade
auf diese Tatsache gegründet. Die Menschen in ihrer Bosheit waren das Werkzeug der Ermordung
Christi; aber das, was das Evangelium uns verkündigt, ist der Anteil Gottes an diesem wunderbaren
Ereignis. Denn „Ihn, der Sünde nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden
Gottes Gerechtigkeit in Ihm“ (2. Kor 5,19–21). Ja, wahrlich, nun kann gesagt werden: „Wo die Sünde
überströmend geworden, da ist die Gnade noch überschwänglicher geworden.“
Doch wir kehren zu unserer Betrachtung zurück. Der Mann Gottes hatte angekündigt, dass binnen
vierundzwanzig Stunden ein Überuss an Lebensmitteln in Samaria sein sollte. Und wasfür Menschen
waren es, die zuerst von diesem Überuss Gebrauch machten? Es waren vier Männer, die außerdem,
dass sie mit ihren Mitbürgern das Elend der Belagerung zu erdulden hatten, auch noch an ihren
eigenen Leibern eine Qual mit sich herumtrugen, welche sie mehr noch als alle anderen das Gewicht
dieses Elends fühlen ließ. Sie befanden sich in einem verzweiungsvollen Zustand, und sie fühlten
dieses. Sie waren aussätzig und mithin von allen übrigen Stadtbewohnern getrennt. Sie saßen
am Eingang des Tores; und es ist leicht zu begreifen, dass, da selbst die ekelhafteste Speise so
außergewöhnlich hoch im Preis stand, man sicher an die unglücklichen Aussätzigen nicht dachte
oder sie mit Nahrungsmitteln versah: „Und es waren vier Männer, Aussätzige, am Eingang des Tores,
und sie sprachen einer zum anderen: Was bleiben wir hier, bis wir sterben? Wenn wir sprechen: Lasst
uns in die Stadt gehen, so ist der Hunger in der Stadt, und wir sterben daselbst: und wenn wir hier
bleiben, so sterben wir auch. Und nun kommt und lasst uns zum Lager der Syrer fallen; wenn sie uns
leben lassen, so leben wir, und wenn sie uns töten, so sterben wir“ (V 3–4).
Wie wunderbar sind die Wege Gottes! Man kann mit Recht sagen: „Wo der Mensch endet, da fängt
Gott an.“ Auch der Glaube hat dort seinen Anfang; und wie wenig der Glaube auch die Triebfeder zu
dem Entschluss dieser Aussätzigen sein mochte, so haben wir doch in ihrem verzweifelten Vornehmen
eine treende Aufklärung der Bewegungen, die dem Glauben oft vorangehen und das Geleit geben.
Die gewöhnlichen Hilfsmittel waren erschöpft; sowohl ein längeres Verweilen, als auch ein Eintreten
in die Stadt stellten nichts anders als einen gewissen Tod in Aussicht. Dagegen bot ein Besuch des
  131
  Die Belagerung von Samaria
Lagers der Syrer doch noch irgendeine Möglichkeit der Errettung; und war dieses nicht der Fall, so
war das Schlimmste, was sie treen konnte, der Tod, dem sie, wenn sie blieben oder in die Stadt
gingen, unabweislich verfallen gewesen wären. Welch ein treues Gemälde der Gefühle, mit denen so
mancher beladene, zitternde und verzweifelnde Sünder zu den Füßen Jesu niedergesunken ist, als
wollte er gleich diesen Aussätzigen sagen: „Ich kann nichts mehr als umkommen; und wenn dieses,
so komme ich zu den Füßen Jesu um.“
Aber nie ist jemand hier umgekommen. Gott war diesen armen, mit dem Tod ringenden Aussätzigen
vorausgegangen und hatte in dem Lager der Syrer ein Werk vollbracht, welches zum Mittel der
Errettung Samarias dienen sollte. Während alle Bewohner der Stadt ratlos waren und der König sich
der Verzweiung in die Arme geworfen hatte, hatte Gott selbst für sie gekämpft, indem Er die Syrer
ein Getöse hören und sie glauben ließ, dass ein mächtiger Feind ihnen auf den Fersen sei. Und dieses
hatte sie mit einer solchen Furcht erfüllt, dass sie in wilder Flucht ihre Zelte verlassen und selbst
ihre Schätze und ihre Speisevorräte zurückgelassen hatten, um nur ihr nacktes Leben zu retten. Die
Aussätzigen wussten davon nichts, als sie ihren verzweifelten Entschluss fassten, in das Lager der
Syrer zu gehen. Ohne Zweifel hatte Gott diesen Entschluss in ihnen geweckt. Er wusste, dass die
Belagerer aus einander getrieben und in die Flucht gejagt waren. Die Aussätzigen wussten, dass es
im Lager der Syrer einen Speisevorrat zur Stillung ihres Hungers gab; und es war ja möglich, dass
der Feind Mitleiden mit ihnen habe und sie am Leben lasse. Freilich konnte auch der Tod ihr Los sein.
Aber wie wunderbar! Das Lager war leer. Die Lebensmittel waren vorhanden, während die Syrer die
Flucht ergrien hatten. Der Kampf war bereits gekämpft, der Sieg errungen; und statt der Feinde, die
sie zu fürchten hatten, fanden sie Zelte, angefüllt mit Vorräten, um ihre gegenwärtigen Bedürfnisse
zu befriedigen und auch noch für die Zukunft Überuss zu haben, ohne dass die Gegenwart auch
nur eines einzigen Feindes ihnen den Besitz streitig gemacht hätte.
Der einzige Unterschied zwischen den Aussätzigen und einem armen Sünder, der seine Zuucht zu
Jesu nimmt, besteht darin, dass jene von Seiten Gottes keine Versicherung ihrer Rettung im syrischen
Lager besaßen, während der Sünder das Wort Gottes vor sich hat, welches ihm versichert, dass in
Christus, und zwar in Christus allein, eine völlige Errettung zu nden ist. Ach, wie wenige gibt es, die
ihre Zuucht zu Christus nehmen, bis sie, so zu sagen, durch das Gefühl ihres vollkommenen Elends
und ihres verzweiungsvollen Zustandes, worin sie sich benden, dazu gezwungen werden! Wie
viele unter denen, die diese Zeilen lesen, können es bezeugen, dass, solange ihnen noch irgendeine
Honung auf sich selbst oder auf etwas in der Umgebung übrigblieb, sie sich weigerten zu Christus zu
kommen! Solange der Mensch noch sein Vertrauen setzen kann auf seine Werke, auf seine Buße, auf
seine religiösen Verrichtungen, ndet die Vorstellung des Evangeliums bei ihm kein aufmerksames
Ohr. Erst dann, wenn er die Erfahrung macht, dass sein Zustand honungslos ist, dass alle Stützen
der Eigengerechtigkeit morsch und nutzlos sind – wenn er nichts sieht als seine Sünden in der
Vergangenheit, sein böses Herz in der Gegenwart, ein unausbleibliches Gericht in der Zukunft, einen
gerechten, allwissenden Richter über sich, und einen klaenden Abgrund des Elends unter sich, ohne
dass irgendwo eine rettende Hand sich zeigt, dann erst ruft er sich zu: „Ja, ich bin honungslos,
elend und unter dem Zorn eines ewigen Richters; aber spricht denn nicht Gott von einer Erlösung in
Christus? Und sagt Christus nicht selbst: ‚Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinauswerfen?‘ O
dann gibt es auch noch Honung für mich, denn ich erkenne, dass mich nur eine freie, vollkommene
Gnade erretten kann.“
  132
  Die Belagerung von Samaria
Und wie furchtsam sich auch eine Seele heranwagt um sich auf Christus und auf das Zeugnis, welches
Gott von Ihm gegeben, zu stützen, so wird sie doch nie beschämt werden; und welch eine Fülle von
Freude genießt sie, wenn sie erfährt, dass kein Grund zur Furcht mehr vorhanden ist! Ja, sie hat
mehr gefunden, als sie gesucht hat! Sicher, alle Erwartungen werden weit übertroen, sobald wir
im Glauben zu Christus gekommen sind. Wir vertrauen dann auf ein Werk, welches lange vorher
vollbracht, auf einen Sieg, der lange vorher errungen worden ist; und wir sehen uns als Teilhaber alles
dessen, was Christus getan hat und was Er ist. Weder der König, noch die Bewohner, noch selbst die
Aussätzigen wussten etwas von dem, was außerhalb der Stadt im syrischen Lager vorgegangen war;
nur Gott wusste alles: und auf dieses Wissen war das Zeugnis des Propheten gegründet, dass binnen
vierundzwanzig Stunden in der ausgehungerten Stadt Überuss sein sollte. Und so war es auch uns
unbekannt, was Gott in Christus getan. Ja selbst für die, welche Augenzeugen der Kreuzigung waren,
blieb die volle Bedeutung und das große Gewicht dieser Tatsache verborgen. Und dennoch war es
auf dem Kreuz, wo alles, was uns im Weg stand, hinweggetan worden ist. Dort wurde das glorreiche
Werk vollbracht, wodurch jedem Sünder, der durch Gnade an Jesus glaubt, eine ewige Erlösung zu
Teil wird.
Als die vier Aussätzigen an das Ende des Lagers der Syrer kamen – „da war kein Mensch daselbst“
(V 5) Statt der Feinde, die sie gefürchtet hatten, „gingen sie in ein Zelt und aßen und tranken und
nahmen von dannen Silber und Gold und Kleider und gingen hin und verbargen es“ (V 8). Ebenso
ist es, wenn ein mühseliger und beladener Sünder sich in die Arme Jesu wirft und das Zeugnis
Gottes über seinen Sohn annimmt. Er wird dann erfahren, dass alle Feinde durch Ihn vernichtet und
überwunden sind, und dass er mit Ihm nur die Beute des von Ihm errungenen Sieges zu teilen hat.
Fürchtest du das Gesetz noch? „Christus hat uns losgekauft vom Fluch des Gesetzes, indem Er ein
Fluch für uns geworden ist“ (Gal 3,13). Fürchtest du den Zorn Gottes über die Sünde? Christus hat
sie an unserer statt getragen. Seine Sprache am Kreuz war: „Alle deine Wogen und deine Wellen sind
über mich hingegangen“ (Ps 42,7). Drückt die Sünde dich nieder? „Er ist einmal in der Vollendung
der Zeitalter oenbart worden zur Abschaung der Sünde durch das Schlachtopfer seiner selbst“
(Heb 9,36). Denkst du mit Furcht an den Tod? „Er hat durch den Tod zunichtegemacht den, der die
Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und befreite alle, die durch Furcht des Todes während des
ganzen Lebens der Knechtschaft unterworfen waren“ (Heb 2,14–15). Erfüllt die Heiligkeit Gottes
dich mit Schrecken? Gott hat das Versöhnungsblut Christi angenommen, und Er ist durch dieses
herrliche Opfer so vollkommen befriedigt und verherrlicht, dass Er Jesus aus den Toten auferweckt
und Ihn zu seiner Rechten gesetzt hat. Gott selbst ist es, welcher von dem Wert des allgenügsamen
Blutes Christi Zeugnis ablegt, indem Er erklärt, dass dieses Blut reinige von aller Sünde. „Gott ist es,
welcher rechtfertigt“ (Schluss folgt).
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  Die Belagerung von Samaria (Schluss)
Die Belagerung von Samaria (Schluss)
Gehst du gebeugt unter dem Joch der Sünde einher? „Die Sünde wird nicht über euch herrschen; denn
ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“ (Röm 6,14). Der Sieg Christi ist so vollkommen, und
die Folgen sind für den Sünder, der an Jesus glaubt, so gesegnet, dass er mit dem Apostel sagen kann:
„Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?“ (Röm 8,31) Das Leben, die Gerechtigkeit, die Kindschaft,
der Heilige Geist, als Siegel und Salbung, eine vollkommene Teilhaftigkeit mit Christus an allen
Segnungen und an der Herrlichkeit, zu welcher Er als der auferstandene Mensch erhöht ist – das sind
die Schätze, die das Teil derer sind, welche das Zeugnis Gottes über seinen Sohn angenommen haben.
Aber zu welchem Zweck ist uns ein solcher Gnadenreichtum verliehen worden? Diese Frage wird in
uns durch das wachgerufen, was unsere Geschichte uns in Betre der vier Aussätzigen mitteilt zuerst
stillen sie ihren Hunger und dann bereichern sie sich mit der Beute, welche sie in dem feindlichen
Lager vornden. Doch jetzt erinnern sie sich, dass es noch andere in der Stadt gibt, für welche dieser
Überuss ebenso wohl, wie für sie, bestimmt ist. „Und sie sprachen einer zum anderen: Wir tun nicht
recht. Dieser Tag ist ein Tag guter Botschaft; und schweigen wir und harren bis zum Morgenlicht, so
wird uns Schuld treen. Und nun kommt und lasst uns hineingehen und es berichten im Haus des
Königs“ (V 9).
Und gibt es nicht, wie damals, hungernde und dürstende Seelen, denen wir die „gute Botschaft“
gerade aus dem Grund bringen sollen, weil wir selbst aus Gnaden diese „gute Botschaft“ kennen
gelernt haben? Es ist ohne Zweifel – nötig, dass zuerst wir selbst bezüglich unserer eigenen Seligkeit
zur Ruhe gebracht sind. Es ist nötig, dass wir zuerst uns durch den Glauben die Beute aneignen, die
durch Jesus, den Überwinder des Todes und der Hölle, erworben ist. Gott sendet niemanden mit der
frohen Botschaft seiner Erlösung aus, der nicht selbst diese Erlösung gekostet hat. Aber dann haben
wir auch die Frage zu erwägen: Ist uns Christus nur unseres eigenen Glücks wegen oenbart? Ist es
nur geschehen, damit wir seine Miterben sein sollen? O nein, gewiss nicht. Dieser Tag ist ein Tag
guter Botschaft: es geziemt sich nicht zu schweigen.
O geliebter Leser! Wenn du geschmeckt hast, dass der Herr gütig ist – wenn du gegessen hast
das Fleisch des Sohnes des Menschen und getrunken sein Blut (Joh 6,53), dann erinnere dich der
ausgehungerten Seelen, denen diese himmlische, lebengebende Speise noch unbekannt ist. Gedenke
ihrer mit Mitgefühl und erzähle ihnen die Wunder, die vor deinen Augen enthüllt sind. Du bedarfst
dazu keiner besonderen Fähigkeiten, keiner Schulweisheit, um diesen Dienst der Liebe auszuüben.
Die Aussätzigen beschränkten sich auf die bloße Mitteilung dessen, was sie gefunden hatten. „Wir
kamen zu dem Lager der Syrer, und siehe, da war kein Mensch, kein Laut eines Menschen, sondern
die Rosse angebunden, und die Esel angebunden, und die Zelte so wie sie waren“ (V 10). Das war
genügend. Zelte, die mit Lebensmitteln angefüllt waren, und nirgends ein Feind, der ihnen den
Besitz streitig machen konnte – das war Leben und Rettung für eine Stadt, deren Bewohner dem
Hungertod nahe waren. Weiter brauchte nichts gemeldet zu werden, als dass drüben im Lager Speise
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  Die Belagerung von Samaria (Schluss)
die Fülle war. So ist es auch mit Seelen, die in Wahrheit ihren elenden, verlorenen Zustand fühlen.
Es bedarf bei ihnen keiner beredten Worte; sie haben kein anderes Verlangen, als zu wissen, wie
Gott auf ihre ängstlichen Zweifel, sowie auf die Seufzer ihrer beschwerten, mit Sünden beladenen
Herzen antwortet. Und kannst du diese Antwort nicht geben? Kannst du ihnen nicht erzählen, wo
die Ketten, mit denen auch du einst gebunden wärst, von dir abgefallen sind, wo du Vergebung und
Frieden, Freiheit und heilige Freude gefunden hast? Kannst du ihr Auge nicht richten auf das Kreuz,
wo Er ausrief: „Es ist vollbracht!“ und wo Er dann den Geist aufgab? Kannst du sie nicht führen
zu dem leeren Grab, wo die Jünger und die Weiber Ihn am Morgen des dritten Tages vergeblich
suchten? Hast du seine Worte: „Friede euch!“ vergessen, als Er, der Überwinder des Todes und der
Hölle, in der Mitte seiner furchtsamen Jünger erschien und ihnen seine Hände und seine Seite zeigte?
Kannst du nicht mit ihnen sprechen von seiner Erhöhung zur Rechten Gottes, von dem Heiligen
Geist, der herniedergekommen, um zu bezeugen, dass das auf Erden vergossene Blut Jesu im Himmel
angenommen, und dass droben eine Stätte, ein Thron, eine Heimat bereitet ist, und zwar für jeden
Sünder, der zu dem vergossenen Blut seine Zuucht nimmt? Sind das nicht noch größere Wunder,
als die verlassenen, mit vergänglicher Speise angefüllten Zelte, und als der ganze Reichtum eines
syrischen Lagers? Ja, es ist in der Tat ein Tag „guter Botschaft“, und wir dürfen nicht schweigen.
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Annahme, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ (2. Kor 6,2) Der Herr gebe
den Lesern und dem Schreiber dieser Zeilen, dass es während der noch übrigen Zeit ihres kurzen
Lebens ihre Freude sei, die „gute Botschaft“ zu verkündigen!
Doch unsere Geschichte sagt uns noch mehr. Sie stellt uns ein treendes Beispiel von den Folgen des
Unglaubens vor Augen. Wo diese Folgen auch nicht ganz und gar zum Verderben führen, so sehen
wir doch den Einuss des Unglaubens in dem Zögern beim Eintritt der Erlösung. Als der Bericht
der vier Aussätzigen dem König zu Ohren kam, konnte sein düsterer, argwöhnischer Geist, anstatt
darin eine Erfüllung des Wortes Elisas und eine Dazwischenkunft der Macht und Gnade Gottes zu
Gunsten der armen Stadt zu erkennen, keinem anderen Gedanken Raum geben, als dass die Syrer
eins List zum Verderben der Seinen ersonnen haben würden, um die Belagerten, deren Hungersnot
sie kannten, durch eine Aussicht auf Speise aus der Stadt zu locken und sie aus einem Hinterhalt
zu überfüllen und zu vernichten. O die Vernunft des Unglaubens! Er konnte fasten, sich in Sack
und Asche hüllen, das Haupt wie ein geknicktes Rohr hängen lassen; aber als Gott durch solche,
welche die Befreiung gekostet hatten, diese Befreiung ankündigen ließ, da fehlte der Glaube, um
die Hand der Rettung zu erfassen. Jedoch gab es in der Umgebung des Königs Männer, die durch
die Hungersnot weiser geworden waren, als der König selbst; und auf ihren Rat wurden zwei Boten
ausgesandt, um die Aussage der Aussätzigen zu prüfen. Sie aber fanden Kleider und Gerüche, die die
Syrer in ihrer übereilten Flucht weggeworfen hatten, auf dem Weg umhergestreut, so dass über die
Entfernung der Feinde nicht mehr der geringste Zweifel herrschen konnte. Jetzt wurden die Schätze
in großer Hast aus dem Lager nach der Stadt gebracht, so dass sich des Herrn Wort als buchstäblich
erfüllt erwies. „Und es galt ein Maß Feinmehl einen Schekel und zwei Maß Gerste einen Schekel,
nach dem Wort Jehovas“ (V 16).
Doch wie ernst begegnet hier Gott dem Spötter und Verächter seines Wortes. Der Anführer, auf
dessen Hand sich der König lehnte, hatte auf die Ankündigung des Propheten mit Geringschätzung
geantwortet und gesagt: „Siehe,so Jehova Fenster am Himmel machte, würde dieses Wort geschehen?“
(V 2) Welche Anmaßung! Der Gott, der nicht lügen kann, bestimmt, was Er tun will und dieser Mann
  135
  Die Belagerung von Samaria (Schluss)
wagt es, darüber zu spotten, so dass der Prophet ihm zurufen muss: „Siehe, du wirst es sehen mit
deinen Augen, aber nicht davon essen.“ – Und dieses Wort wurde erfüllt. Das Lager der Syrer lieferte
jenen Überuss, von welchem der stolze Anführer erklärte, dass es dazu der Fenster am Himmel
bedürfe. Das Wort Gottes wurde erfüllt, und der Überuss strömte vor den Augen des Spötters in die
Stadt hinein. Doch auch kein Jota des Wortes Gottes sollte unerfüllt bleiben. Der König hatte den
Anführer ins Tor gestellt, und das Gedränge war so groß, dass ihn das Volk im Tor zertrat, so dass er
starb (V 17). Welch eine ernste Predigt! „Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten!“
Möge der Herr einen jeden meiner Leser vor einem solchen Gericht bewahren! Das Wort Gottes wird
noch immer verkündigt und ladet einen jeden ein, zu Jesu zu kommen, um bei Ihm Vergebung der
Sünden, Frieden, Freiheit, ewiges Leben und ein unverwelkliches Erbteil mit Christus zu nden. Es ist
möglich, dass du, der du diese Zeilen liest, bisher das Zeugnis der Liebe Gottes unbeachtet gelassen
hast. Dein Herz ist vielleicht unberührt geblieben, oder gar verwirfst du, gleich jenem Anführer
Samarias, das Wort Gottes bis auf diesen Augenblick. Aber bevor du dieses Blatt, auf dem dein Auge
ruht, aus der Hand legst, lass dir dieses eine Wort noch sagen, dass, wenn du lebst und stirbst in
der Verwerfung des Wortes Gottes, sicher und gewiss einmal der Tag anbrechen wird, wo du von
der Wahrheit dieses Wortes überführt werden wirst. Ja, „du wirst es sehen mit deinen Augen, aber
nicht davon essen.“ Du wirst den Erlöser, den du verachtet hast, in der Herrlichkeit schauen, und
viele deiner jetzigen Genossen wirst du in seiner Umgebung sehen, viele, die ebenfalls große und –
nach deiner Schätzung – noch größere Sünder als du gewesen sind, aber durch Gnade das Zeugnis,
welches du jetzt verwirfst und missachtest, angenommen haben. Sie erfahren dann die Wahrheit
dieses Zeugnisses zu ihrem ewigen Glück; du wirst es mit deinen Augen sehen, aber nicht davon
genießen.
Möge der Herr dich in seiner Gnade, ehe es zu spät ist, durch diese Warnung bewegen und dich
sowohl die Torheit, als auch die Gottlosigkeit des Unglaubens erkennen lassen. Möge Er dein Ohr
önen für die süße Stimme Jesu, der dich einladet und dir zurufen lässt: „Wer zu mir kommt, den
will ich nicht hinauswerfen.“
  136
  Die christliche Zucht 1/2
Die christliche Zucht – Teil 1/2
Die Segnungen, die für den Gläubigen aus dem Werk Christi hervorstießen, sind unermesslich. Nicht
nur ist er von aller Sünde gereinigt und eine Wohnstätte des Heiligen Geistes geworden, nicht nur
hat er ein neues Leben, das ewige Leben, empfangen, sondern er bendet sich auch in einer ganz
neuen Stellung vor Gott: er ist in Christus eine neue Schöpfung. „Gleichwie er ist“, sagt Johannes, „so
sind auch wir in dieser Welt“ (1. Joh 4,17). Welch eine Gnade gegen arme, verlorene und feindselige
Sünder! Doch wollen wir hier nicht bei diesen Segnungen verweilen, noch bei dem praktischen
Wandel, der damit verbunden ist, sondern uns vielmehr mit den Mitteln beschäftigen, welche nach
Anleitung des göttlichen Wortes in der Versammlung Gottes anzuwenden sind, um den Wandel
der Christen auf einer jenen Segnungen entsprechenden Höhe zu erhalten: in einem Wort, mit der
christlichen Zucht, ihrer Notwendigkeit und der Picht sie auszuüben, sowie dem Geist, in welchem
sie geschehen soll.
Die Anführung einiger Schriftstellen wird völlig hinreichen, um klar zu zeigen, in welcher Weise der
Christ hienieden zu wandeln hat. „Ich ermahne euch nun . . . dass ihr würdig wandelt der Berufung,
mit der ihr berufen worden, mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe,
euch beeißigend, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Band des Friedens“ (Eph 4,1–3). „Seid
nun Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder, und wandelt in Liebe, gleich wie auch der Christus uns
geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat, als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem
duftenden Wohlgeruch“ (Eph 5,1–2). „Wie der, der euch berufen hat, heilig ist, seid auch ihr heilig
in allem Wandel“ (1. Pet 1,15). „Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war usw“
(Phil 2,5). „Wer da sagt, dass er in Ihm bleibe, der ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie Er
gewandelt hat“ (1. Joh 2,6).
Die Gesinnung und der Wandel Christi sind also der vollkommene Maßstab für die Gesinnung und
den Wandel des Christen. Aber ach, mit tiefer Beschämung müssen wir bekennen, dass wir weit,
weit hinter dem uns vorgestellten Muster unseres Wandels zurückbleiben. So oft sind wir nachlässig
in der Wachsamkeit und im Gebet, schwach im Glauben inmitten einer versuchungsreichen Welt;
so oft versäumen wir, die ganze Waenrüstung Gottes anzulegen, die allein uns fähig macht, im
Kampf wider den Fürsten dieser Welt, den Fürsten der Finsternis, der auf alle Weise uns zu verderben
trachtet, den Sieg davon zu tragen. Aber Gott, der die Liebe ist und uns um einen so teuren Preis
erkauft hat, kann uns nimmer aufgeben; im Gegenteil, Er kommt uns auf alle Weise zu Hilfe, um
uns aufrecht zu erhalten: Er ist stets um uns bemüht, selbst auf dem Weg der Züchtigung. Doch
in welcher Weise Er sich auch mit einem jeden von uns beschäftigen mag, so ist doch allezeit die
Liebe zu uns sein einziger Beweggrund und unser Wohl sein einziger Zweck. „Denen, die Gott lieben,
müssen alle Dinge zum Guten mitwirken.“ Köstliches Bewusstsein! Wir werden nachher sehen, dass
auch wir berufen sind, in derselben Gesinnung und zu demselben Zweck auf einander Acht zu haben,
einander zu ermahnen, zu warnen und zurechtzuweisen.
  137
  Die christliche Zucht 1/2
Die Heilige Schrift belehrt uns ferner, dass der Herr sich nicht allein mit dem Zustand des einzelnen
Gläubigen in seinem persönlichen Verhältnis als Kind Gottes beschäftigt, sondern auch mit der
Gesamtheit der Christen, als ein Leib, als die Versammlung oder das Haus Gottes betrachtet. Der
Apostel schreibt an Timotheus, in der Honung, bald zu ihm zu kommen: „Wenn ich aber zögere,
auf dass du weißt, wie du dich verhalten sollst im Haus Gottes, welches ist die Versammlung des
lebendigen Gottes, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“ (1. Tim 3,15). Dieses Haus, als
solches, ist ebenso wie der einzelne Gläubige ein Tempel des Heiligen Geistes. „Wisst ihr nicht,
dass ihr Gottes Tempel seid, und der Geist Gottes unter euch wohnt?“ (1. Kor 3,16); und wiederum:
„Ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: Ich will unter ihnen wohnen und
wandeln“ (2. Kor 6,16). In welchem Zustand soll nun dieser Tempel allezeit gefunden werden? Wir
lesen in Psalm 93,5: „Deinem Haus geziemt die Heiligkeit.“ Wir sehen, mit welch einem Eifer der
Herr bemüht war, die Reinheit des Hauses seines Vaters aufrecht zu erhalten, als Er die Käufer und
Verkäufer hinaustrieb. Er konnte sagen: „Der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt.“ Ebenso zeigen
uns die Briefe an die Korinther und andere, mit welch einem Eifer der Apostel Paulus, dieser treue
Diener des Herrn, die Heiligkeit im Haus Gottes zu bewahren trachtete. Es ist nun ebenso die Picht
aller Gläubigen, über diese Heiligkeit des Hauses Gottes zu wachen und eifrig bemüht zu sein, sie
aufrecht zu erhalten. Unter keinen Umständen darf das Böse in der Versammlung geduldet werden;
„ein wenig Sauerteig durchsäuert die ganze Masse.“ Deshalb ermahnt der Apostel die Korinther mit
feierlichem Ernst: „Fegt den alten Sauerteig aus, auf dass ihr eine neue Masse werdet, gleich wie ihr
ungesäuert seid.“ – „Nun aber habe ich euch geschrieben, keinen Verkehr zu haben, wenn jemand,
der Bruder genannt wird, ein Hurer ist, oder Habsüchtiger, oder Götzendiener, oder Lästerer, oder
Trunkenbold, oder Räuber, mit einem solchen selbst nicht zu essen“ (1. Kor 5,7.11.13).6
„Tut den Bösen
von euch selbst hinaus.“ {Man hat sich oft bemüht, diese ernste Ermahnung durch die Behauptung zu
entkräften, dass der Herr den Judas zum Abendmahl zugelassen habe, obwohl er als sein Überlieferer
bekannt gewesen sei. Es steht nun unerschütterlich fest, dass Gottes Wort in keiner Sache ja und nein
zugleich sagen kann, dass es sich nie widerspricht, sondern dass jeder scheinbare Widerspruch in uns,
in dem Mangel unserer geistlichen Einsicht, und nicht im Wort Gottes zu suchen ist. Andererseits
verrät es immer einen großen Mangel an Unterwürgkeit unter das Wort, wenn man solch einem
bestimmten, unzweideutigen Ausspruch gegenüber nur irgendwie daran denkt, ihn durch eine andere
Schriftstelle oder auch durch Vernunftschlüsse zu entkräften. Es ist der Geist Gottes, Gott selbst, der
die Versammlung ermahnt, den Bösen aus ihrer Mitte hinweg zu tun.
Was nun Judas betrit, dessen Zulassung zum Abendmahl man in Lukas 22 zu nden meint, so
wird jeder Leser, der nur mit einigem Verständnis das Wort Gottes erforscht, zugeben, dass uns der
Heilige Geist in Lukas keine historische Reihenfolge der in den Evangelien mitgeteilten Tatsachen
liefert, sondern eine moralische Zusammenstellung derselben, ohne irgendwie auf die Zeit, in der sie
stattfanden, Rücksicht zu nehmen, wie dies aus vielen Stellen dieses Buches ganz ersichtlich ist. Die
historische Reihenfolge wird uns am völligsten in Matthäus gegeben. Es geht nun aus Matthäus 26,
Markus 14 und Johannes 13 unzweideutig hervor, dass Judas beim Passahmahl durch den Herrn als
Überlieferer bezeichnet wurde, und wir lesen in Johannes 13,30: „Als nun jener (Judas) den Bissen
genommen hatte, ging er sogleich hinaus.“ Dann erst, nachdem der Überlieferer beim Passahmahl
6 Derselbe soll nicht nur vom Tisch des Herrn, sondern auch von jedem Mahl, das den Zweck hat, der brüderlichen
Gemeinschaft Ausdruck zu geben, ausgeschlossen sein.
  138
  Die christliche Zucht 1/2
bezeichnet und sofort hinaus gegangen war, setzte der Herr das Abendmahl ein. Wenn nun Lukas
diese Bezeichnung des Judas nach dem Abendmahl erwähnt, so können wir überzeugt sein, dass der
Heilige Geist auch hier nicht die Absicht hat, die geschichtliche Reihenfolge, sondern das schreckliche
Verhalten des verhärteten Jüngers im Licht dieser unvergleichlichen Liebe des Herrn, welche im
Abendmahl so wunderbar hervorstrahlt, vor unsere Augen zu stellen.}
Das Wort Gottes fordert uns also auf das bestimmteste auf, das Haus Gottes rein zu erhalten, das
Böse hinweg zu tun, darauf zu achten, „dass nicht jemand an der Gnade Gottes Mangel leide, dass
nicht eine Wurzel von Bitterkeit aufsprösse und beunruhige, und viele durch diese verunreinigt
werden“ (Heb 12,15). Wir sollen auf das unzweideutigste beweisen, dass wir mit dem Bösen keine
Gemeinschaft haben. Der Apostel schreibt den Thessalonichern in Bezug auf solche unter ihnen, „die
nicht arbeiteten, sondern fremde Dinge trieben“ (2. Thes 3,11): „Wir gebieten euch aber, Brüder, im
Namen unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr euch entzieht von jeglichem Bruder, der unordentlich
wandelt und nicht nach der Überlieferung, die ihr von uns empfangen habt.“ – „Wenn aber jemand
unserem Wort durch den Brief nicht gehorcht, den bezeichnet und habt keinen Umgang mit ihm, auf
dass er beschämt werde, und haltet ihn nicht als Feind, sondern weist ihn zurecht als einen Bruder“
(V 6.14.15).7
In seinem 2. Brief lobt der Apostel die Korinther, dass sie durch ihre aufrichtige Buhe und ihr
entschiedenes Handeln in Bezug auf das in ihrer Mitte vorhandene Böse auf eine unzweideutige
Weise bewiesen hatten, dass sie an der Sache rein waren (2. Kor 7,9–11).
Das Wort Gottes fordert uns aber nicht nur in Bezug auf moralische Übel zur Wachsamkeit und zu
entschiedenem Handeln auf, sondern ebenso sehr, wenn die Reinheit der Lehre in Frage steht. Wir
sehen den Apostel in diesem Fall, wenn möglich, in noch größerem Ernst und Eifer handeln. Der
aufmerksame Leser wird dies nden, wenn er z. B. der Brief an die Galater, wo der Feind durch eine
Vermischung des Gesetzes mit der Gnade das Evangelium zu verderben trachtete, vergleicht mit den
beiden Briefen an die Korinther, wo viele moralische Nebel zu Tage traten: und dasselbe wird er bei
vielen anderen Gelegenheiten deutlich wahrnehmen. Wenn es sich um die Entstellung der Wahrheit
handelt, so kommt nicht nur das Verderben der Seelen, sondern vor allem die Ehre Gottes in Betracht,
und für diese eiferte Paulus mit der ganzen Energie seines Herzens und mit einer brennenden Liebe
zu seinem Herrn. Aber ach, wie schwach ist dieser Eifer und diese Liebe in unseren Tagen unter den
Heiligen geworden! Welche Schlaheit und Gleichgültigkeit zeigt sich oft, wenn es sich um die Ehre
und die Wahrheit Gottes handelt, selbst da, wo noch eine gewisse Entschiedenheit nicht (selten in
einem gesetzlichen Geist) bezüglich der moralischen Nebel vorhanden ist, wobei Zugleich die eigene
Ehre mehr oder weniger in Betracht kommt. Ich führe hier nun einige Stellen der Schrift an, die uns
unser Verhalten gegen falsche Lehrer bestimmt vorschreiben: „Ich ermahne euch aber, Brüder, dass
ihr Acht habt auf die, welche Zwiespalt und Ärgernisse anrichten, entgegen der Lehre, die ihr gelernt
habt, und wendet euch ab von ihnen“ (Röm 16,17). „Einen sektiererischen Menschen weise ab nach
7 Es heißt hier nicht: „So sei er dir wie der Heide und der Zöllner“, wie der Herr in Matthäus 18,17 zu demjenigen sagt,
dessen. Bemühungen, seinen Bruder, der wider ihn gesündigt, zur Einsicht zu bringen, bis zum Ende hin ganz erfolglos
bleiben; noch heißt es: „Tut den Bösen von euch selbst hinaus“, wie in 1. Korinther 5, sondern: „Habt keinen Umgang
mit ihm“, und: „Weist ihn zurecht als einen Bruder.“ Wir sollen allen Verkehr mit ihm meiden, auf die deutlichste Weise
zu erkennen geben, dass wir seinen unordentlichen Wandel auf das entschiedenste verwerfen; aber andererseits jede
Gelegenheit benutzen, ihn mit Ernst und in brüderlicher Liebe auf sein trauriges Verhalten aufmerksam zu machen.
  139
  Die christliche Zucht 1/2
einer ein– und zweimaligen Zurechtweisung“ (Tit 3,10). „Wenn jemand zu euch kommt und diese
Lehre, (die Lehre des Christus) nicht bringt, so nehmt ihn nicht ins Haus auf und grüßt ihn nicht;
denn wer ihn grüßt, nimmt Teil an seinen bösen Werken“ (2. Joh 1,10–11).
Aus den angeführten und vielen anderen Stellen der Schrift sehen wir also ganz klar, dass der Herr
nicht allein unsere eigene, persönliche Absonderung von aller Art des Bösen in der Lehre wie im
Wandel will, sondern auch unsere Wachsamkeit und unseren Eifer, das Haus Gottes von demselben
rein zu erhalten, und alle diese Ermahnungen verlieren nie ihre Kraft. Sie vernachlässigen oder gar
ganz bei Seite setzen (und ach, in welch großem Maß ist dies in unseren Tagen der Fall) heißt nichts
anders, als Gott und seine Ehre vernachlässigen und bei Seite setzen. Es ist oenbarer Ungehorsam
gegen sein Wort, und wir werden nichts vorbringen können, was uns vor Ihm entschuldigen wird,
selbst nicht die Behauptung, dass die große Verwirrung und der traurige Verfall in der Christenheit
alle Zucht unmöglich machen. Der Herr hat an diese Zeit gedacht und in seiner Güte und Liebe gegen
uns Vorsorge getroen. Er kannte die Untreue des Menschen; Er wusste, dass sich die Versammlung
oder Kirche auf der Erde von ihrer Einfalt gegen Christus abwenden und in den traurigsten Zustand
verfallen würde. Deshalb hat Er, noch ehe die Versammlung gegründet war, die köstliche Verheißung
gegeben: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 13,20).
Er gibt dadurch, selbst für diese traurige Zeit, seinen treuen Jüngern das Vorrecht, den wahren
Charakter der Versammlung zu verwirklichen. Seine Gegenwart ersetzt alles und genügt für alles.
Sein Name ist aufs innigste mit der Versammlung verknüpft; deshalb soll sie auch jede Handlung
in seinem Namen verrichten. Und aus diesem Grund sagt der Herr in den beiden vorhergehenden
Versen: „Was irgend ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein, und was irgend
ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel gelöst sein;“ und ferner: „Wenn zwei von euch werden
einstimmig sein auf der Erde über irgendeine Sache, um welche sie bitten, diese ihnen werden wird
von meinem Vater, der in den Himmeln ist“ (V 18–19). Welch ein köstliches Vorrecht für zwei oder
drei, die im Namen Jesu versammelt sind! Welch eine Ehre, Ihn selbst, die Quelle alles Segens, in
ihrer Mitte zu haben! Aber seine Gegenwart entkräftet auch zu aller Zeit jede Entschuldigung, die
bezüglich der Vernachlässigung der Zucht vorgebracht werden könnte. Dem, der auf Ihn, die Quelle
aller Kraft, sich zu stützen versteht, wird es nie an Kraft gebrechen, und wem die Ehre des Herrn am
Herzen liegt, wird stets für die Reinheit seines Hauses eifern. Ach, es ist ein großer Verlust, wenn
dieser Eifer erschlat ist. So war es in Korinth: und wir sehen, wie sehr der Apostel bemüht war, ihn
wieder wachzurufen! Er wandte seine ganze apostolische Autorität und Macht an, um die dortige
Versammlung zur Erkenntnis und zum Wegtun des in ihrer Mitte vorhandenen Bösen zu bewegen
(1. Kor 5). Er war über ihre Nachlässigkeit in dieser Beziehung aufs tiefste betrübt, und nur der aufs
Neue erwachte Eifer der Korinther für die Reinheit der Versammlung vermochte ihn zu trösten und
zu beleben (2. Kor 7). Möchte seine Gesinnung in Bezug auf die Ehre des Herrn und das Wohl der
Seinen uns stets zur Nachahmung ermuntern!
Wir haben also gesehen, dass das Wort Gottes uns auf das bestimmteste ermahnt, die Reinheit im
Haus Gottes aufrecht zu erhalten, und dass es uns die dazu erforderliche Zucht als eine ernste Picht
auferlegt. Es zeigt uns aber auch ebenso klar, in was für einem Geist oder in welcher Gesinnung
diese Zucht ausgeübt werden soll. Wenn sich einerseits eine schreckliche Vernachlässigung oder gar
gänzliche Beiseitesetzung der Zucht im Haus Gottes kundgibt, so ndet andererseits ihre Ausübung
da, wo sie noch beachtet wird, nicht immer in dem richtigen Geist statt, so dass es oft nötig wäre, an
  140
  Die christliche Zucht 1/2
denen Zucht auszuüben, die bei anderen damit beschäftigt sind. Für jeden Christen, wenn er geistlich
ist, wird die Ausübung der Zucht eine ernste, feierliche Sache sein – eine Sache, die ihn mit innerer
Furcht erfüllt und ihn antreibt, mit Gebet und Flehen zu Gott aufzublicken. Er erkennt sein eigenes
Nichts, er weiß, dass er in sich selbst nur ein elender, hiloser Sünder ist, der durch Gnade errettet
worden und durch Gnade geleitet und bewahrt wird, und er ist ermahnt, andere höher zu achten als
sich selbst, ein Diener der Heiligen und Geliebten Gottes zu sein. Ja, diese Erwägung lässt uns die
Zucht stets als eine höchst ernste Sache erscheinen; aber sie bewahrt uns auch vor Überhebung, als
seien wir besser als andere; sie lässt dem Fleisch, das so gerne den Vorrang hat, sich selbst erhebt und
über andere zu Gericht sitzt, keinen Raum. Wer vom Fleisch oder durch das Gesetz geleitet wird, ist
nie fähig, die Zucht auf eine Gott wohlgefällige Weise auszuüben. Er wird nach seinen Gedanken mit
dem Bösen beschäftigt sein, er wird sein Urteil darüber fällen; aber das, was er im besten Fall sucht,
ist seine eigene Befriedigung, nämlich das Bewusstsein, recht gehandelt zu haben. Die Ausübung
der Zucht ist allerdings ein Akt der Gerechtigkeit; aber sie wird nur dann auf eine dem Geist Christi
angemessene Weise gehandhabt, wenn die Liebe ihr Beweggrund, ihre Triebfeder ist – die Liebe
zu Gott, die um jeden Preis die Heiligkeit seines Hauses aufrecht zu halten trachtet – die Liebe zu
dem Bruder, der gefehlt hat, die nichts unversucht lässt, um ihn wiederherzustellen und glücklich zu
machen.
Die Liebe Christi allein kann die wahre Quelle eines jeden Gott gemäßen Dienstes unter den Heiligen
sein, also auch der Zucht, und der Herr selbst ist das vollkommene Vorbild oder Muster in der
Ausübung einer Liebe, die aufs zärtlichste bemüht ist, den Fehlenden wiederherzustellen. Petrus hatte
Ihn, trotz aller Warnung, auf die traurigste Weise verleugnet. Dennoch verfährt der Herr nicht hart
mit ihm, sondern in der Zartheit der Liebe; aber Er geht gründlich zu Werke, indem Er ihn auf die
Wurzel seines Falles, seine Selbsterhebung über die Anderen, hinführt (Mt 26,33), und Er ruht nicht
eher, bis Petrus tief betrübt wird, ein Zeichen, dass der Zweck erreicht war. Dann aber verhinderte
Ihn selbst die so schmähliche Verleugnung des Petrus, der jetzt wiederhergestellt war, nicht, ihm
mit dem größten Vertrauen zu begegnen und ihm sein Teuerstes auf dieser Erde zur Besorgung zu
übergeben: „Weide meine Schafe!“ (Joh 21,15–17) Die Liebe denkt nicht an sich, sucht nicht das ihre,
sondern ist nur für die Wohlfahrt dessen besorgt, mit dem sie beschäftigt ist. Ja, die Liebe allein,
verbunden mit Einsicht, vermag uns bei Ausübung der Zucht vor einer falschen Stellung zu bewahren.
Wenn sie fehlt, so ist die Zucht eine schreckliche Sache und wird meist nur zum Schaden der Seele
und zur Unehre des Herrn ausschlagen. Mag sie von einem Einzelnen oder von der Versammlung
ausgeübt werden – nie dürfen die handelnden Personen den Charakter eines Richters oder eines
Gerichtshofs annehmen. Die Zucht hat es sowohl mit verborgenen, als auch mit oenbar gewordenen
Sünden zu tun, mit dem schlechten Zustand, dem Selbstvertrauen, der Unlauterkeit usw. und mit
den daraus erwachsenen Früchten. Die ersteren, die verborgenen Sünden, die nur vermutet werden
können, oder der schlechte Zustand einer Seele, sind mehr Gegenstand der Beschäftigung Einzelner.
In solchen Fällen aber, wo sich für die Vermutung keine bestimmten Anhaltspunkte ergeben, würde
ein starres Festhalten an Wahrscheinlichkeiten, sowie eine Ausforschung durch allerlei Hin– und
Herfragen nicht der Liebe gemäß sein. „Die Liebe denkt nichts Arges.“ Bei oenbar gewordenen und
nicht Gott gemäß gerichteten Sünden dagegen hat die Versammlung zu handeln.
Wir nden nun im Wort Gottes dreierlei Arten von Zucht, die von vielen Christen, und sicher zum
Nachteil der Seelen, mit einander vermengt werden. Es gibt uns Anleitung
  141
  Die christliche Zucht 1/2
1. Über das Verhalten des einen Bruders gegen den Anderen, wenn dieser wider ihn gesündigt hat.
2. Über das Verhalten des Einzelnen gegen die Schwachen und Irrenden – die Ausübung einer Zucht,
mit der sich namentlich der Hirtendienst zu beschäftigen hat.
3. Über die von der Versammlung auszuübende Zucht, wenn es sich um die Aufrechthaltung der
Reinheit des Hauses Gottes, als solches, handelt.
Lasst uns nun an der Hand des Wortes Gottes und unter Leitung des Geistes auf jede einzelne Art
der Zucht etwas näher eingehen. 1. Das Verhalten des einen Bruders gegen den Anderen, wenn
dieser wider ihn gesündigt hat, wird uns in Matthäus 18,15–17 vom Herrn selbst klar vorgestellt.
„Wenn dein Bruder wider dich sündigt, so gehe hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein. Wenn
er dich Hort, so hast du deinen Bruder gewonnen. Wenn er aber nicht hört, so nimm hinzu mit
dir noch einen oder zwei, damit aus dem Mund zweier oder dreier Zeugen jegliche Sache bestätigt
sei. Wenn er aber nicht auf sie hören wird, so sage es der Versammlung; wenn er aber auch auf
die Versammlung nicht hören wird, so sei er dir wie der Heide und der Zöllner.“ – Es handelt sich
hier also lediglich um das Verhalten eines Bruders, der von einem anderen durch Wort oder Tat
beleidigt worden ist. Es ist möglich, dass in solchem Fall zuletzt auch die Versammlung handeln, d. h.
den, der gesündigt hat, ausschließen muss; allein davon ist an dieser Stelle nicht die Rede. Der in
Matthäus 18 angegebene Fall spricht nur über das Verhalten eines Bruders, wider den ein anderer
gesündigt hat, und nur zu ihm wird gesagt, nachdem jede Bemühung, den Beleidiger zur Einsicht
zu bringen, erfolglos geblieben ist: „So sei er dir wie der Heide und der Zöllner“ d. h., dass er nichts
mehr mit ihm zu schaen haben soll.
Was hat nun ein Bruder zu tun, wenn ein anderer wider ihn gesündigt, ihm Böses zugefügt hat – eine
Sache, die außer ihnen beiden niemand bekannt ist? Hat er zu warten, bis der Bruder zu ihm kommt
und sich demütigt? Das Fleisch wünscht dieses: und wenn es nicht geschieht, so möchte es sich
nicht weiter um seinen Beleidiger bekümmern, sondern ihn von Sünde zu Sünde dahingehen lassen.
Wie aber hat Gott mit uns gehandelt, als wir auf tausendfache Weise wider Ihn gesündigt hatten?
Hat Er gewartet, bis wir zu Ihm kamen und unsere Sünden bekannten? Ach, dann würden nie und
nimmer unsere Sünden hinweggetan worden sein. Er hat seinen eingeborenen Sohn gesandt, um uns
zu suchen und zu erretten. Lässt sich Christus mit den Seinen, die wider Ihn gesündigt haben, erst
dann wieder ein, wenn sie zurückgekehrt und gedemütigt sind? O nein; Er ist gerade dann mit Ihnen
beschäftigt, wenn sie verunreinigt sind. Er ist ihr Sachwalter beim Vater; Er wäscht ihre Füße. Durch
sein Wort wirkt Er auf ihr Gewissen, um sie zum Bewusstsein und zum Bekenntnis ihrer Schuld zu
bringen, damit sie gereinigt werden. „So seid denn Gottes Nachahmer, als geliebte Kinder.“ Auch
wir haben nach jenem göttlichen Grundsatz zu handeln, wenn ein Bruder wider uns gesündigt hat.
„Gehe hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein:“ suche ihn zur Einsicht über sein begangenes
Unrecht zu bringen, damit er wiederhergestellt und gewonnen werde.
Die brüderliche Liebe hat nur die Wiederherstellung des Bruders im Auge. Sie ist gern bereit, von
der Unumschränktheit der Gnade Gebrauch zu machen und „siebzigmal siebenmal“ zu vergeben. Es
ist die Tätigkeit der Liebe, die in Christus Jesus ist, und die Er an dieser Stelle in Matthäus 18 auf
seine Jünger überträgt. Er macht sie zum Kanal seiner eigenen Liebe.
  142
  Die christliche Zucht 1/2
„Zwischen dir und ihm allein.“ Ein Dritter hat zunächst nichts mit dieser Sache zu tun. Es ist immer
zu tadeln, wenn ein solcher Vorfall, ohne dass es nötig ist, einem anderen mitgeteilt wird, und
namentlich, wenn es geschieht, bevor man in Liebe versucht hat, den betreenden Bruder von seinem
Unrecht zu überzeugen und ihn zu gewinnen. Durch ein solches Verhalten geben wir deutlich zu
erkennen, dass die uns zugefügte Beleidigung unser Herz mehr beschäftigt, als die Ehre Gottes und
die Wiederherstellung dessen, für den Christus gestorben ist. Und was ist in uns beleidigt? Das
Fleisch. – Es ist gewiss keine große Sache, jemandes Sünde zu sehen und zu richten; dazu war auch
ein Jude unter dem Gesetz fähig. Die Gnade aber geht dem Verirrten nach und sucht in aller Liebe
ihn zurückzubringen.
Ist die wahre Frische der Liebe in meinem Herzen,stehe ich für mich selbst im Genuss der Liebe Gottes,
so werde ich auch des Bandes gedenken, das mich mit dem verbindet, der wider mich gesündigt hat: er
ist mein Bruder; ich bin betrübt über ihn. Es ist mein herzlichstes Verlangen, dass er wiederhergestellt
werde. Die mir dadurch etwa zu Teil werdende Rechtfertigung tritt völlig in den Hintergrund. „Wenn
er dich hört, so hast du deinen Bruder gewonnen.“ Das ist der honungsvolle Gedanke, von dem allein
mein Herz erfüllt ist, mag auch die geschehene Handlung noch so böse gewesen sein; und ist dieses
Ziel erreicht, so ist die Sache beendigt. Der traurige Vorfall wird weder zwischen uns beiden je wieder
in Erwähnung gebracht, noch irgendeinem anderen mitgeteilt; er bleibt für immer hinweggetan und
vergessen.
„Wenn er aber nicht hört, so nimm hinzu mit dir noch einen oder zwei, damit aus dem Mund zweier
oder dreier Zeugen jegliche Sache bestätigt sei.“ Die brüderliche Liebe kann sich, wenn der erste
Schritt ihrer Bemühung erfolglos geblieben ist, nicht zufriedengeben. Sie sieht nicht den Beleidiger,
sondern den Bruder, und ihr innigstes Verlangen ist, ihn zu gewinnen. Sie kann nicht Sünde auf ihm
sehen und gleichgültig sein. Selbst das Gesetz verwarf eine solche Gleichgültigkeit. Wir lesen in
3. Mose 19,17: „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen; du sollst deinen Nächsten
ernstlich strafen und sollst die Sünde auf ihm nicht ertragen.“ Wie vielmehr geziemt dies solchen,
die unter der Gnade stehen und in deren Herzen die Liebe Gottes ausgegossen ist! Diese Liebe ist
tief betrübt, wenn sie den Bruder durch Sünde verunreinigt weih, und kann nicht eher ruhen, bis sie
alles versucht hat. Sie nimmt noch zwei und drei hinzu; vielleicht wird das vermehrte Zeugnis den
Bruder überführen und gewinnen. Allein wenn er auch dann widersteht, so wird es der Versammlung
mitgeteilt.8 Vielleicht bringt das Zeugnis aller ihn zur Einsicht. Wenn aber auch die Bemühung der
Versammlung erfolglos ist, wenn ihre dringenden Bitten und ernsten Ermahnungen ohne Wirkung
bleiben, wenn er trotz allem in seinem Eigenwillen und hartnäckigen Stolz beharrt, „so“, sagt der
Herr, „sei er dir wie der Heide und der Zöllner;“ brich jede Gemeinschaft als Christ mit ihm ab.
Vielleicht ist es, wie gesagt, nötig, dass die Versammlung in gleicher Weise mit ihm zu handeln hat,
dass sie ihn ausschließen und jede christliche Gemeinschaft mit ihm abbrechen muss; allein der Herr
unterweist uns hier nur, wie der Bruder, dem das Unrecht zugefügt ist, sich gegen seinen Beleidiger
zu verhalten habe. Doch wie groß ist die Schuld, die ein solcher Mensch auf sein Gewissen lädt,
wenn er all diese Bemühungen der Liebe, all diese ernsten Zeugnisse und Warnungen zurückweist
und in seinem ungebrochenen Zustand beharrt! 2. Bei dem Verhalten gegen die Schwachen und
Irrenden – der Ausübung einer Zucht, mit der sich namentlich der Hirtendienst zu beschäftigen
hat, handelt es sich nicht um irgendwelche Beleidigung gegen mich; sie ndet da ihren Platz, wo
8 Natürlich ist die örtliche Versammlung gemeint, mit welcher jener in Gemeinschaft ist.
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  Die christliche Zucht 1/2
jemand durch Wort oder Wandel in seinem Charakter als Kind fehlt. Doch ist es eine Zucht, die,
wie die brüderliche, von einzelnen Personen und nicht von der Kirche oder Versammlung ausgeübt
wird; es ist die persönliche Sorge des Einen für den Anderen. Es ist selbstverständlich, dass nicht
alle in demselben geistlichen Zustand sind, dass nicht alle dieselbe Gabe, noch dasselbe Maß der
Gabe empfangen haben. Es gibt eine Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit sowohl bezüglich der
Gnade, als auch der Gabe; und der Eine wird dem Anderen überlegen sein. Wozu aber sollen wir
diese Überlegenheit benutzen? Allein dazu, den Brüdern im Geist der Liebe und Sanftmut zu dienen
und behilich zu sein; denn dazu haben wir die Gaben empfangen; und nichts darf uns verhindern,
dieses Vorrecht der Liebe, ein Diener anderer zu sein, festzuhalten und auszuüben. Steht jemand
an Gnade und Weisheit über einem anderen, der sich, weil er noch unerfahren ist und sich und die
Welt wenig kennt, in irgendeine Sache verstrickt oder einen verkehrten Weg einschlägt, so hat er
ihn mit väterlicher Sorgfalt zu ermahnen, ihn auf die Gefahren aufmerksam zu machen und ihm die
Erfahrungen, die er selbst oder andere in ähnlichen Fällen gemacht haben, zur Warnung vorzustellen.
Der Hirtendienst hat es hauptsächlich mit noch verborgenen Nebeln zu tun, deren Ausbruch er zu
verhindern sucht. Zeigt sich aber jemand hartnäckig und widerspenstig, so darf es auch an ernsten
Zurechtweisungen nicht fehlen. Immer aber haben wir uns zu erinnern, dass wir selbst mannigfach
gefehlt und so viele Geduld und Nachsicht von Seiten anderer bedurft haben, und dass wir noch stets
den Versuchungen aller Art ausgesetzt sind. „Brüder, wenn auch ein Mensch von einem Fehltritt
übereilt würde, so bringt ihr, die Geistlichen, einen solchen wieder zurecht im Geist der Sanftmut,
und siehe auf dich selbst, dass nicht auch du versucht wirst“ (Gal 6,1). Durch eine solche Gesinnung
und ein solches Verhalten zeigt der Christ, dass er wirklich geistlich ist. In seinem Herzen sind die
Gefühle eines Vaters für sein schwaches Kind, und seine geistliche Einsicht, seine mannigfachen
Erfahrungen und seine Gemeinschaft mit Gott bezüglich der Sache, worin ein Bruder fehlt, befähigen
ihn, das Übel zu erkennen und sich auf eine angemessene Weise damit zu beschäftigen, obwohl sein
Tun vielen unverständlich sein mag.
Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Zucht, deren Ausübung den Geist eines Vaters erfordert, in
noch höherem Grad, als die in Matthäus 18 erwähnte, ein Vorrecht der Gnade ist; sie ist das besondere
Vorrecht derer, die irgendeine Hirtengabe empfangen haben. Außer der persönlichen Gemeinschaft
mit dem Herrn gibt es nichts köstlicheres und gesegneteres als die Sorge eines Hirten, der die Herde
des Herrn weidet – der, gedrungen durch die Liebe Christi, alle Mühen und Beschwerden, alle
Bekümmernisse und Versuchungen, alles Elend und alle Sünden einer Seele auf seinem Herzen trägt,
sie vor Gott bringt und von Ihm alles das ereht, was zur Ermunterung und Befreiung dieser Seele
gereichen kann. Der Dienst eines Hirten, wie viel Schmerz und Kummer auch damit verbunden
sein mag, erzeugt Bande, wie sie in dieser Welt nicht köstlicher und gesegneter sein können. Er ist
aber auch Zugleich mit einer großen Verantwortlichkeit verknüpft. Es sind die Schafe Christi, für
welche der Hirte Sorge zu tragen hat. Welch ein Gefühl von Verantwortlichkeit, welchen Eifer, welche
Sorgfalt und Wachsamkeit muss dies Bewusstsein in ihm hervorrufen! Diese Verantwortlichkeit wird
noch dadurch erhöht, dass die ganze Versammlung in einem Zustand der Schwachheit ist: die Schafe
Christi haben umso nötiger mit aller Sorgfalt überwacht und gepegt zu werden. Die Gabe eines
Hirten ist in der Tat eine der notwendigsten und gesegnetsten für die Versammlung, und wer die
Schafe Christi liebt, wem ihr Gedeihen am Herzen liegt, wird zum Herrn stehen, dass Er ihnen wahre
Hirten gebe. Freilich ersetzt der Herr alles, wo sie mangeln; Er, der „große Hirte der Schafe“, kann
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  Die christliche Zucht 1/2
ohne Unterhirten seine geliebte Herde pegen und bewahren. Er bedarf unser nicht, es sei denn, um
uns seine herablassende Liebe und Gemeinschaft erkennen und genießen zu lassen. Wenn wir dies
vergessen, so legen wir uns eine Wichtigkeit bei, die wir nicht haben: wir nehmen den Platz Christi
ein und betrachten seine Herde als die unsrige. Nie aber wird im Wort Gottes von einem Hirten und
seiner Herde gesprochen, ausgenommen wenn von Jesu die Rede ist. Es ist immer seine Herde, über
welche ein Christ, der die Gabe eines Hirten empfangen, zu wachen hat; und wie gesegnet wird sein
Dienst sein, wie viel Kummer und Schmerz wird er stillen, wie viele Sünden verhüten und bedecken,
wenn er mit Demut und aufopfernder Liebe von der ihm verliehenen Gabe Gebrauch macht!
Nirgendwo tritt uns wohl die Ausübung des Hirtendienstes in allem Eifer, aller Zärtlichkeit und
Sorgfalt, so klar und lieblich entgegen, wie in den beiden Briefen an die Korinther. Außer der groben
Sünde in 1. Kor 5, von der wir bei Betrachtung der dritten Art der Zucht reden werden, oenbarten
sich in der Versammlung zu Korinth allerlei Nebel; das Fleisch zeigte sich nach verschiedenen Seiten
hin wirksam. Doch wie sehr zögert der Apostel mit der Anwendung seiner apostolischen Gewalt,
durch welche er im Stande war, jeden Ungehorsam zu ahnden (2. Kor 10,6). Er nimmt seine Zuucht
zu der väterlichen Zucht und übt sie aus mit ausharrender Geduld, mit der zärtlichsten Liebe, mit aller
schonenden Milde, verbunden mit einem würdigen Ernst. Überall tritt uns beim Lesen dieser Briefe
sein väterliches Herz gegen die Korinther entgegen. Kein Undank, keine Geringschätzung, keine
noch so empndliche Zurücksetzung von Seiten derer, die er in Christus Jesus durch das Evangelium
gezeugt hatte (1. Kor 4,15), vermochte ihn zu beleidigen oder seine Gefühle für sie zu schwächen. Im
Gegenteil, wir lesen in 2. Korinther 12,15: „Ich will aber sehr gern alles verwenden und verwendet
werden für eure Seelen, wenn ich auch, je überschwänglicher ich euch liebe, umso weniger geliebt
werde.“ Er dachte nicht im Geringsten an sich, nicht im Geringsten an das ihm zugefügte Unrecht,
sondern nur an das Wohl der teuer erkauften Seelen. „Wir beten zu Gott, dass ihr nichts Nebels tut,
nicht auf dass wir bewährt erscheinen, sondern auf dass ihr tut, was recht ist, wir aber als Unbewährte
seien“ (2. Kor 13,7).
Das ist die wahre Gesinnung, die allein zu einer gesegneten Ausübung dieses Dienstes fähig macht.
„Die Liebe ist langmütig, ist gütig; die Liebe eifert nicht, die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht
auf, sie gebärdet sich nicht unanständig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie
denkt nichts Böses usw“ (1. Kor 13,4–5). Diese Liebe, verbunden „mit Erkenntnis und aller Einsicht“,
wird die Zucht stets als eine heilige Picht erkennen und dem Geist Christi gemäß ausüben; wenn
die Liebe nicht wirksam ist, so wird die Ausübung der Zucht nur eine tote, kalte und wirkungslose
Form sein und allerlei Streit erzeugen.
Es können Fälle eintreten, dass sich jemand für unfähig oder nicht für geeignet hält, einen Bruder, den
er in Gefahr sieht, zu ermahnen oder zurechtzuweisen. Es mag sein, aber der Weg, den betreenden
Bruder mit Gebet und Flehen vor den Herrn zu bringen, steht ihm immer oen; ebenso kann er, wenn
er dazu Gelegenheit hat, mit einem begabten Bruder über die Sache reden. In beiden Fällen aber hat
er über sich zu wachen, einerseits dass er nicht in einem pharisäischen Geist, der sich besser hält als
andere, sondern im Geist der Gnade vor Gott komme, und andererseits dass ihn nur die Liebe zu dem
Bruder treibe, die Sache mitzuteilen, und nicht ein geheimes Wohlgefallen, ihn anzuklagen und seine
Sünde aufzudecken.
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  Die christliche Zucht 1/2
Es ist ein sehr verwericher Gedanke, wenn man meint, jedes Böse allen mitteilen oder vor die
Versammlung bringen zu müssen. Ein solches Verfahren ist gewiss nicht nach der Natur der Liebe. Ihr
Streben geht nie dahin, das Böse aufzudecken, sondern es zuzudecken d. h. dafür Sorge zu tragen, dass
es hinweggetan und nie mehr daran gedacht werde. „Vor allen Dingen aber habt unter einander eine
inbrünstige Liebe; denn die Liebe bedeckt eine Menge Sünden“ (1. Pet 4,8). Sie ist sowohl durch ihren
Dienst bemüht, die Sünden zu verhindern, als auch sie aus dem Weg zu räumen, wenn sie vorhanden
sind. Ist dies auf eine Gott gemäße Weise geschehen, so haben sich andere nicht damit zu beschäftigen
und sie auch folglich nicht zu wissen. Es handelt sich hier natürlich nicht um Sünden, wobei die
ganze Versammlung in Mitleidenschaft kommt, um Sünden, die schon oenbar sind (Schluss folgt).
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  Was ist die Honung des Gläubigen?
Was ist die Hoffnung des Gläubigen?
Unsere Honung als Gläubige ist die persönliche Rückkehr des Herrn, um uns zu sich zu nehmen,
wie Er gesagt hat: „Ich will wiederkommen und euch zu mir nehmen“ (Joh 14,3). Ja, das ist es. Sein
Kommen ist „unsere gesegnete Honung“, und dass wir Ihm gleich sein und Ihn sehen werden, wie
Er jetzt im Haus des Vaters ist, das ist unsere reichste Segnung.
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  Die christliche Zucht 2/2
Die christliche Zucht – Teil 2/2
Für die Zucht, die der Einzelne und zwar in einem väterlichen Geist auszuüben hat, gibt es ein
weites Feld. Sollte jemand gleichgültig gegen das Verhalten seines Bruders sein und sich nicht für
verpichtet halten, auf ihn Acht zu haben, der verrät die Gesinnung Kains, der dem Herrn antwortete:
„Bin ich meines Bruders Hüter?“ Niemand hat ein Recht, sich auszuschließen, wenn der Apostel die
Thessalonicher ermahnt: „Warnt die Unordentlichen“ (1. Thes 5,14); oder die gläubigen Hebräer:
„Lasst uns auf einander Acht haben“ – freilich nicht, um das Böse zu sehen und es oenbar zu machen,
sondern – „zur Anreizung der Liebe und guter Werke“ (Heb 10,24). Darf es jemand wagen, solche und
ähnliche Ermahnungen von sich abzuweisen? – Doch gibt es selbstverständlich im Wort Gottes auch
Anweisungen, die nur für solche sind, welche eine besondere Gabe empfangen haben. Paulus schrieb
an Timotheus in Bezug auf diejenigen, in deren Mitte er sich befand: „Überführe, strafe, ermahne mit
aller Langmut und Lehre“ (2. Tim 4,2); und ebenso wird Titus ermahnt, die Kreter strenge zurecht zu
weisen, auf dass sie gesund sein möchten im Glauben (Tit 1,13).
Diese und viele andere Schriftstellen der Art lassen uns leicht verstehen, dass es eine Zucht gibt,
womit der Einzelne sich zu beschäftigen hat. Es ist eine persönliche Handlung. Die Energie des
Geistes in dem Einen übt im Dienst der Gnade und Wahrheit ihren Einuss auf das Gewissen des
Anderen aus. Wird der Zweck der Liebe erreicht, so bleibt die in Frage stehende Sache für immer
vergessen. Wenn aber jemand sich gegen die bittende und warnende Stimme des Einzelnen verhärtet,
so mag in einem solchen Fall auch die Zucht der Versammlung notwendig werden.
Ehe ich jedoch von dieser Zucht rede, möchte ich noch die Ermahnung des Apostels an Timotheus
erwähnen, die uns die angemessene Gesinnung und das Verhalten eines Knechtes Christi inmitten
derer, die Böses tun, so klar anweist: „Ein Knecht des Herrn soll nicht streiten, sondern gegen alle
milde sein, lehrfähig, der Böses ertragen kann, der in Sanftmut zurechtweist die Widersacher, ob
ihnen Gott nicht etwa Buße gebe zur Erkenntnis der Wahrheit usw“ (2. Tim 2,24–25). Dieser Dienst
hat sich der Gnade und Wahrheit gemäß mit dem Bösen zu beschäftigen: dasselbe zu verhüten oder
zu beseitigen. Wie bald aber werden wir, im Blick auf unsere eigene Schwachheit, in einem solchen
Dienst ermatten, wenn wir nicht allezeit im Gebet und Flehen beharren! Das Fleisch ist nur zu gern
bereit, jemand seinen Weg gehen zu lassen und sich damit zu beruhigen, dass er es nicht besser
haben will; aber ist der Geist und die Liebe Christi in unseren Herzen wirksam, so sind wir nur dann
beruhigt, wenn der Irrende zurückgekehrt ist. Kein Weg, keine Mühe wird gescheut, kein Mittel
unversucht gelassen, bis der gesegnete Zweck erreicht ist. Weder kaltes zurückstoßen, noch lieblose
Behandlung kann die Liebe Christi im Herzen aufhalten, noch verringern. Sie wird mit Bitten, Flehen
und Tränen den Irrenden zurückzubringen suchen. „Gedenkt daran“, rief Paulus bei seinem Abschied
den Ephesern zu, „dass ich drei Jahre Nacht und Tag nicht aufgehört habe, einen jeglichen mit Tränen
zu ermahnen“ (Apg 20,31). O möchte von dieser unermüdlichen, sich selbst aufopfernden Liebe mehr
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  Die christliche Zucht 2/2
unter uns gefunden werden! Sie allein macht uns wahrhaft fähig, die väterliche Zucht dem Herrn
wohlgefällig und zum Segen der Seinen auszuüben.
3. Bevor wir auf die dritte Art, auf die von der Versammlung auszuübende Zucht, näher eingehen, wird
es nötig sein, uns zuerst den Begri „Versammlung“ klar zu machen. Im weiteren Sinne betrachtet
Gott die ganze bekennende Christenheit, ihrer Verantwortlichkeit nach, als die Versammlung oder
Kirche auf der Erde (vgl. O 3,14 usw.). Sie bildet nach 2. Timotheus 2,20 „das große Haus“, worin es
„Gefäße zur Ehre und Gefäße zur Unehre“ gibt. Das Vorhandensein der letzteren beweist, dass die
Kirche ihrer Verantwortlichkeit nicht entsprochen, dass sie die Ermahnung des Apostels: „Tut den
Bösen von euch selbst hinaus“, völlig vergessen und bei Seite gesetzt hat. Sie ist von den Gedanken
Gottes bezüglich seiner Versammlung, d. h. von der Wahrheit immer mehr abgewichen und wird
damit fortfahren bis zu ihrem endlichen Gericht.
Was haben nun diejenigen zu tun, die bereit sind, sich dem Wort Gottes zu unterwerfen? Sie können
das Haus selbst, die verantwortliche Kirche, nicht verlassen, aber sie haben sich abzusondern von
dem Bösen, das darin vorgeht, von den Gefäßen der Unehre, ihrem Dichten und Trachten, ihrem Tun
und Lassen, auf dass sie „Gefäße zur Ehre, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu allem guten Werk
bereitet“ seien (V 21).
Im engeren Sinne werden im Wort Gottes die wahren Gläubigen als das Haus oder die Versammlung
Gottes bezeichnet. Sie sind „der Tempel Gottes“ und „die Wohnung des Heiligen Geistes“ (1. Kor 3,16–
17; 2. Kor 6,16); sie bilden alle zusammen einen Leib – den Leib Christi (1. Kor 10,17; 12,20.27;
Eph 1,23; 4,4–16; 5,30); sie sind „ein heiliger Tempel im Herrn, eine Behausung Gottes im Geist“
(Eph 2,19–22), „die Hausgenossen – die Kinder Gottes“, also die Familie Gottes auf der Erde (Eph 2,19;
Röm 8,14; Phil 2,15; 1. Joh 3,1); sie sind die „lebendigen Steine, aufgebaut auf den lebendigen Stein
(Christus), ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um darzubringen geistliche Schlachtopfer,
Gott wohlannehmlich durch Jesus Christus“ (1, Pet 2,4–5).
Alle wahren Gläubigen zusammen bilden also das Haus oder die Versammlung Gottes, sie sind durch
einen Geist zu einem Leib getauft (1. Kor 12,13). Durch die jetzt herrschende allgemeine Verwirrung
aber sehen wir auf traurige Weise die Verwirklichung der Zusammengehörigkeit oder vielmehr der
Einheit der Gläubigen gehindert. Die Mehrzahl derselben befolgt noch nicht einmal die Auorderung
Gottes, sich von den Ungläubigen abzusondern: von denjenigen aber, welche diesen Schritt getan
haben, sind viele wieder in Parteien gespalten. Die gläubigen Korinther, die schon den Anfang damit
machten, dem Parteigeist in ihrer Mitte Raum zu geben und sich Parteibenennungen beizulegen,
wurden deswegen von dem Apostel Paulus strenge getadelt und als eischlich bezeichnet. Dieses
Urteil trit also auch die Gläubigen unserer Tage, die sich zu einer Partei oder zu einer besonderen,
abgeschlossenen Gemeinschaft konstituieren, wodurch sie die übrigen Gläubigen als außerhalb der
von ihnen ausgerichteten Umzäunung stehend bezeichnen, und wodurch sie trennen, was so innig
zusammengehört, wie die Glieder eines und desselben Leibes. Die Gläubigen können nur dadurch
ihrem Charakter als Versammlung Gottes entsprechen und der Wahrheit, dasssie alle zusammen einen
Leib bilden, Ausdruck geben, dass sie einerseits getrennt von der ungläubigen Welt und andererseits
außerhalb aller Parteien sich einfach als Gläubige im Namen Jesu um den Tisch des Herrn versammeln.
Dieser Tisch ist in jedem Ort der Sammelpunkt und der Ausdruck der Einheit aller Gläubigen, da allein
ist der Gott wohlgefällige Platz aller wahren Christen. Diejenigen, die dieses gesegnete Vorrecht
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  Die christliche Zucht 2/2
ausüben, halten den Platz für die übrigen Gläubigen, die von ihrem Vorrecht keinen Gebrauch
machen, oen, indem sie sich mit allen zu einem Leib verbunden wissen. Sie repräsentieren dadurch
die Versammlung Gottes und haben als solche die von dem Wort vorgeschriebene Zucht auszuüben.
Freilich entziehen sich viele Gläubige diesem gesegneten Dienst brüderlicher Gemeinschaft, indem
sie, wie schon gesagt, sich in eine Partei einschließen oder dem außerhalb der Parteien aufgerichteten
Tische des Herrn fernbleiben. Die Versammlung kann dann eben ihrer Verantwortlichkeit nur soweit
entsprechen, als ihr Bereich geht, d. h. als die Gläubigen sich von ihrer Pege erreichen lassen.
Kehren wir jetzt zu dem Gegenstand unserer Betrachtung zurück. Die von der Versammlung
auszuübende Zucht hat es mit der Reinhaltung des Hauses Gottes oder der Versammlung zu tun.
Alle sind verantwortlich, die Reinheit dieses Hauses unter allen Umständen aufrecht zu halten. Der
Zustand derer, die in diesem Haus sind, soll mit der Natur desselben in Übereinstimmung sein. Je
treuer und wirksamer nun der im vorigen Abschnitt behandelte Hirtendienst oder die Zucht im Geist
eines Vaters ausgeübt wird, umso weniger wird das Einschreiten der Versammlung nötig werden,
weil das Haus aus jenen Gläubigen besteht, womit der Hirtendienst sich beschäftigt. Der Vater selbst,
dem der Sohn die Seinen übergeben hat (Joh 17), übt Zucht aus; Er reinigt die Neben, auf dass sie
mehr Frucht bringen. Doch ist diese Sorge des Vaters nicht mit der Zucht „des Sohnes über sein Haus“
zu verwechseln. Jene Sorge hat es mit einzelnen Personen zu tun: aber der hauptsächliche Zweck der
Zucht von Seiten der Versammlung ist, die Reinheit des Hauses aufrecht zu erhalten. Wenn auch die
Wiederherstellung einer Seele, die in einem schlechten Zustand ist oder gesündigt hat, immer eine
große Gnade ist, so nimmt doch die Ehre des Herrn, die mit der Reinheit des Hauses verknüpft ist,
stets den ersten Platz ein, und darum muss alles Unreine sorgfältig aus demselben entfernt werden.
Es mag dieses, und sollte es immer tun, großen Schmerz und Kummer bei allen hervorrufen, weil
aller Gewissen dabei beteiligt ist: aber es gibt keinen Grund, die Ehre des Herrn in irgendeiner Weise
bei Seite zu setzen. Sicher leben wir in einer Zeit, wo der Verfall und die Verwirrung in der Kirche
einen sehr hohen Grad erreicht hat, und nur ein kleiner, schwacher Überrest, der sich im Namen
Jesu versammelt, ist vorhanden; aber dieser ist deshalb nicht weniger für die Reinheit des Hauses
verantwortlich. Der Herr gebe, dass wir diese Verantwortlichkeit tief fühlen und mit göttlichem Eifer
über seine Ehre wachen!
Die Zucht der Versammlung ndet nur bei solchen Sünden ihre Anwendung, die oenbar sind, denn
vorher wird das Gewissen der Versammlung nicht dadurch berührt. Ist aber eine Sünde oenbar
geworden, so bleibt sie solange auf dem Gewissen der ganzen Versammlung, bis sie hinweggetan
ist. Bei Ausübung aller Zucht soll der erste und nächste Zweck die Wiederherstellung der Seele
sein, und gewiss werden nur sehr wenige Fälle vorkommen, wo dieser gesegnete Zweck, wenn
anders die Zucht mit göttlicher Weisheit und Liebe geschieht, nicht erreicht wird. Sind aber alle
Bemühungen der Liebe fruchtlos, bringen die brüderlichen Ermahnungen das Herz nicht zu einer
Gott gemäßen Betrübnis und dadurch zu einer „Buße zum Heil“, so bleibt nichts anderes übrig, als
dass die Versammlung diesen Unbußfertigen von der Gemeinschaft der Gläubigen ausschließt und
die Einzelnen alle brüderlichen Beziehungen zu ihm brechen. Dass es überhaupt zu so oenbaren
Sünden kommen konnte, beweist, dass vorher das Herz schon gegen die Stimme des Geistes und
die brüderlichen Ermahnungen verhärtet, dass die Wurzel, welche so böse Früchte hervorbrachte,
nicht erkannt und gerichtet war. Sobald aber eine förmliche Trennung nötig geworden und vollzogen
ist, so kann die Versammlung nichts mehr für einen solchen tun, als fortfahren, das Erbarmen des
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  Die christliche Zucht 2/2
Herrn über ihn herabzuehen. Vielleicht bringt die Trennung von aller christlichen Gemeinschaft, die
Entfernung aus dem Haus Gottes ihn zum Bewusstsein seiner Entfernung von Gott und zur wahren
Zerknirschung seines Herzens. Paulus überlieferte im Namen Jesu Christi und in Gemeinschaft mit
der Versammlung den Hurer zu Korinth dem Satan zum Verderben des Fleisches, auf dass der Geist am
Tag des Herrn Jesus gerettet würde; und wir wissen, dass er auf diesem Weg später wiederhergestellt
wurde (vgl. 1. Kor 5,4–5 mit 2. Kor 2).
Der Fall in 1. Korinther 5 gibt uns ernste und beherzigenswerte Unterweisungen. Der Apostel sucht
zunächst das Bewusstsein in der Versammlung wachzurufen, dass das in ihrer Mitte ausgeübte
und oenbar gewordene Böse ihr Böses sei. „Es ist Hurerei unter euch . . . und ihr habt nicht Leid
getragen, auf dass der, welcher diese Tat begangen, aus eurer Mitte hinweggetan würde“ (V 1–2).
„Wisst ihr nicht, dass ein wenig Sauerteig die ganze Masse durchsäuert?“ (V 6) Das in der Mitte
der Versammlung zu Korinth ausgeübte Böse gab Zeugnis, dass der ganze Zustand derselben ein
krankhafter war, so wie das Geschwür an einem Glied des Leibes auf den krankhaften Zustand des
ganzen Leibes schließen lässt. Dieser Grundsatz ist in Bezug auf die Versammlung sehr zu beherzigen.
Die Versammlung zu Korinth war durch das in ihrer Mitte verübte Böse mitschuldig geworden
und bedurfte der Reinigung. Es war ihr Böses, und sie trug kein Leid darum, sondern war vielmehr
aufgeblasen (V 2). Das charakterisierte ihren ganzen Zustand. Wir sehen, welchen Ernst und Eifer
der Apostel anwendet, um das Bewusstsein der Mitschuld in dem Gewissen der Versammlung
hervorzubringen. Sie hatte zunächst nötig, ihre Schuld zu erkennen und sich zu demütigen und dann
den Bösen aus ihrer Mitte zu entfernen. Nie kann sich die Versammlung ihrer Verantwortlichkeit
bezüglich der Reinheit des Hauses entziehen und hat sich in jedem Fall mit der in ihrer Mitte
begangenen Sünde in enge Verbindung zu setzen: entweder im Geist der Gnade vor Gott, wenn ihr
Zustand ein guter und geistlicher ist, obwohl sie in der Wachsamkeit gefehlt haben mag, oder indem
sie die Sünde als ihre eigene anerkennt und Leid trägt, falls ihr moralischer Zustand nicht besser
ist, als der Zustand dessen, der das Böse begangen hat. Geschieht dies nicht, so ist sie unfähig, die
Zucht auf eine dem Geist Christi angemessene Weise auszuüben. Sie mag es der Form nach tun und
in einem richterlichen Geist verfahren, aber nie wird der Herr die Art und Weise ihres Verfahrens
gutheißen, und sie selbst wird nach wie vor in einem krankhaften und unreinen Zustand bleiben;
denn der krankhafte Zustand des ganzen Körpers wird nicht gebessert durch die Beseitigung eines
örtlichen Übels. Die Versammlung hat vor allem sich selbst zu demütigen, ihre Schuld an dem in
ihrer Mitte ausgeübten Bösen vor Gott zu bekennen und sich durch Selbstgericht davon zu befreien.
Hieran erinnert der Apostel die Korinther, wenn er ihnen zuruft: „Und ihr seid aufgeblasen und habt
nicht vielmehr Leid getragen.“ Wären sie geistlich gewesen, so würde der Gedanke an das Böse, das
in ihrer Mitte einen solch hohen Grad erreicht hatte, ihre Herzen mit tiefem Kummer und Schmerz
erfüllt haben, und der Böse wäre hinausgetan worden; allem ihr Zustand entsprach so wenig ihrer
gesegneten Stellung in Christus, dass das Gefühl für seine Ehre und für die Reinheit seines Hauses
fast ganz erloschen war.
Wir sehen ferner in 1. Korinther 5, wie sehr der Apostel bemüht war, sich bei Ausübung der Zucht
aufs innigste mit der Versammlung zu verbinden (V 3–5). Dasselbe nden wir in seinem zweiten Brief
bei der Niederaufrichtung des Gefallenen, als er aufrichtige Beweise von seiner Buße gab (Kap 2). In
beiden Fällen handelte er in völliger Gemeinschaft mit der Versammlung. War er auch dem Leib nach
abwesend, so war er doch dem Geist nach in ihrer Mitte; und auf diese Weise gegenwärtig, überliefert
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  Die christliche Zucht 2/2
er, in Gemeinschaft mit ihnen, im Namen Jesu Christi den Bösen dem Satan, und vergibt später dem
Reumütigen (V 10) „in der Person Christi“ und in Gemeinschaft mit der Versammlung. Satan war
bemüht, zwischen Paulus und der Versammlung eine Trennung hervorzurufen: zuerst dadurch, dass
er die Korinther gegen die Ehre Christi und die Reinheit seines Hauses gleichgültig machte, während
Paulus für diese Ehre eiferte und die Reinheit des Hauses aufrecht zu halten trachtete, und später, als
die Sünde zur Beschämung der Korinther vorhanden war, dadurch, dass er sie zu bewegen suchte,
den Geist des Gerichts walten zu lassen, während Paulus nach der Gnade handeln wollte. Der Apostel
erkannte die Absicht des Feindes, und, geleitet durch den Geist Christi, gelang es seinen Bemühungen,
die Anstrengungen Satans zu nichts zu machen. Das Böse wurde entfernt, die Versammlung zum
Bewusstsein ihrer Schuld und zur Demütigung gebracht und also das Haus gereinigt (2. Kor 7,8–11),
der Geist der Gnade aufrecht gehalten und das Band der Einheit in Liebe bewahrt.
Durch sein Verhalten in diesen Umständen hat der Apostel uns eine höchst wichtige Unterweisung
für alle Zeiten gegeben. Ist es nötig, dass jemand ausgeschlossen, oder, nachdem er gedemütigt ist,
wieder ermuntert und aufgerichtet wird, so haben wir danach zu trachten, dass wir in Einmütigkeit
handeln. Doch ist es selbstredend, dass diese Einmütigkeit nicht unter allen Umständen vorhanden
sein muss; denn es könnte jemand aus irgendwelchem Grund eine oenbare Sünde unterstützen. In
einem solchen Fall dürfte sich eine Versammlung nicht aufhalten lassen, die Zucht auszuüben; ja, es
kann sogar nötig gefunden werden, sich auch von einem solchen zu trennen, da er sich durch sein
Verhalten der Mitschuld teilhaftig macht. Doch kann es vorkommen, dass ein aufrichtiger Bruder
ernste Bedenken hat, sich dem Urteil der Übrigen anzuschließen, und in einem solchen Fall ist es
gewiss besser, mit dem Ausschluss zu zögern und den Willen Gottes in dieser Sache noch tiefer zu
erforschen. In ähnlicher Weise haben wir zu verfahren, wenn es sich um die Wiederaufrichtung
eines Gefallenen oder um Zulassung zur Gemeinschaft handelt. In keinem Fall dürfen persönliche
Rücksichten uns leiten. Wir haben bei Ausübung der Zucht uns immer zu erinnern, dass es die
Zucht „des Sohnes über sein Haus“ ist. Ebenso verwerich ist der Eigenwille, der sich darin oenbart,
dass jemand, wie es wohl vorkommt, sich selbst vom Tisch des Herrn zurückzieht, weil ihm diese
oder jene Person nicht gefällt, an deren Bekehrung oder Aufrichtigkeit er vielleicht zweifelt. Ein
solcher bedenkt nicht, welch eine Tragweite sein Verhalten hat: er schließt sich entweder selbst oder
die ganze Versammlung aus. Solange aber eine Versammlung in ihrer Mitte das Böse nicht duldet,
sondern Zucht ausübt, ist jede Absonderung von derselben ganz verwerich und dem Geist Christi
völlig zuwider: denn „ein Brot, ein Leib sind wir, die vielen, denn wir alle sind des einen Brotes
teilhaftig“ (1. Kor 10,17).
Es ist nun zwar schon im Allgemeinen von dem Geist, in welchem die Zucht ausgeübt werden soll,
die Rede gewesen, doch möchte ich hier, weil es von so unermesslicher Nichtigkeit ist, noch etwas
spezieller darauf eingehen. Nichts ist unpassender und in dieser Zeit der Gnade und des Heils dem
Geist Christi mehr zuwider, als wenn die Versammlung bei Ausübung der Zucht gleichsam einen
Gerichtshof darstellt, vor dem der Schuldige zu erscheinen und sein Urteil anzuhören hat. Nichts
sollte uns mehr widerstreben, als die Angelegenheiten im Haus Gottes auf eine richterliche Weise
zu behandeln, wobei die Gnade und Liebe, die Quelle unseres Lebens, mehr oder weniger bei Seite
gesetzt werden. Wenn die Ausübung der Zucht in diesem Haus nötig ist, so sollte es nie anders als
im tiefsten Mitgefühl und in der innigsten Verbindung mit dem geschehen, der gesündigt hat. Die
Versammlung sollte mit Beschämung anerkennen, dass das Böse in ihrer Mitte ausgeübt worden; alle
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  Die christliche Zucht 2/2
sollten tief fühlen, dass einer von ihnen diese schlechte Tat begangen hat. Zudem ist das in ihrer Mitte
oenbar gewordene Böse nicht selten, wie in Korinth, ein sprechender Zeuge von dem traurigen
Zustand der ganzen Versammlung. Vielleicht hat die Wachsamkeit und die Nüchternheit im Gebet
sehr nachgelassen, vielleicht ist der Eifer für den Herrn und für die Reinheit seines Hauses erschlat
und die Liebe erkaltet, und Gleichgültigkeit und Weltlichkeit haben die Lücke im Herzen ausgefüllt.
Und ach, in einem solchen Zustand sind wir nur zu geneigt, andere zu richten und uns selbst zu
vergessen. Aber ein solches Gericht wird nur zu unserem eignen Schaden ausschlagen; es gilt uns
das Wort: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet; denn mit welchem Gericht ihr richtet,
werdet ihr gerichtet werden usw“ (Mt 7,1–2). In einem solchen Zustand gibt es nur einen Ausweg für
die Versammlung: aufrichtiges Selbstgericht. Das in ihrer Mitte oenbar gewordene Böse wird zu
ihrem Heil ausschlagen, wenn sie darin ihren traurigen Zustand erkennt, sich über das Böse, als das
ihrige, vor Gott anklagt und demütigt. Geschieht diese Demütigung mit Aufrichtigkeit des Herzens,
so bringt sie einerseits immer ein tiefes Mitgefühl mit dem Sünder hervor, aber andererseits Abscheu
wider die Sünde, Kummer und Trauer über ihr Vorhandensein, Scham und Reue vor dem Herrn, und
ein inniges Verlangen nach der Reinheit seines Hauses. Nur unter solchen Gefühlen kann die Zucht
dem Geist Christi gemäß ausgeübt und der Böse, wenn es nötig ist, aus der Mitte der Versammlung
hinweggetan werden, aber dann hat ein solcher Akt, so betrübend er auch immerhin ist, nichts von
dem Charakter eines Gerichtshofs, obwohl die Gerechtigkeit gehandhabt wird. Die Liebe eifert stets
für das Gute; „sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit.“ Wenn
sie um des Guten willen gezwungen ist, mit einem heiligen Ernst gegen den zu handeln, der sich
zum Bösen wendet, so tut sie es immer mit dem zärtlichsten, innigsten Mitgefühl; nichts liegt ihr
ferner als ein kalter richtender Geist, der nur an sich selbst denkt und seine eigene Ehre sucht.
Es ist ebenso verwerich, die Ausübung der Zucht als ein der Versammlung eingeräumtes Recht zu
betrachten. Dass sie notwendig ist, ist ein klares Zeugnis unserer Schwachheit, aber nie wird ein
wahrhaft geistlicher Christ ihre Ausübung als ein ihm verliehenes Recht beanspruchen: er wird sie
nur als eine Picht erkennen, als eine ernste Picht, der er sich, so schwer es ihm auch fallen mag,
um der Ehre des Herrn und seines Hauses, sowie um der Heiligen selbst willen, nicht entziehen darf.
Die Zucht hat, wie wir gesehen haben, den Zweck, die Heiligen vor dem Bösen zu bewahren, die
Reben zu reinigen, dass sie mehr Frucht bringen, dann aber auch, das Haus selbst rein zu erhalten
und das vorhandene Böse hinweg zu tun, damit dieses Haus dem Charakter dessen entspreche, der es
besitzt. Doch nie darf die Zucht als eine Sache des Rechts, nie als ein Akt betrachtet werden, worin
Sünder Sünder richten, sondern als ein Dienst, der durch die Wirksamkeit des Geistes Christi im
Haus Gottes ausgeübt wird, für dessen Reinheit ein jeder in seinem Maß verantwortlich ist. Dieser
Dienst wird aber stets mit Kummer und Schmerz begleitet sein, besonders wenn es nötig wird, die
ergreifendste aller Pichten im Haus Gottes zu erfüllen, nämlich irgendein Glied desselben der Sünde
wegen hinaus tun zu müssen. Wir wissen, dass es unsere Picht ist, dass der Herr es will, und dass
wir im Namen Jesu versammelt sind und handeln, aber dies Bewusstsein, obwohl es unsere Herzen
im Blick auf unsere Handlung völlig beruhigt, kann nicht die Betrübnis bezüglich der Sache selbst
wegnehmen. Würden nicht, falls ein Familienglied eine böse, das ganze Haus entehrende Handlung
begangen hätte, alle die übrigen Glieder der Familie ganz traurig und niedergeschlagen sein? Würde
irgendeiner unter ihnen gleichgültig und teilnahmslos bleiben können? Oder wenn etwa ein böser,
ungeratener Sohn, bei dem alle angewandten Mittel zur Besserung wirkungslos geblieben waren,
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  Die christliche Zucht 2/2
aus Liebe zu den Übrigen, die in Gefahr ständen, durch das Böse beeinusst zu werden, aus dem
Familienkreis ausgeschlossen und entfernt werden mühte – würden dann nicht alle Herzen der
Übrigen mit dem größten Schmerz erfüllt sein? Würde es nicht ein Gegenstand der Tränen und
des Kummers, der tiefsten Zerknirschung und Scham der ganzen Familie sein? Gewiss, man würde
nicht anders daran denken und davon reden können als mit beschwertem und tiefbetrübtem Herzen,
wenn anders das Band der Liebe vorhanden wäre. Sollte es nun im Haus Gottes, wo die Liebe Christi
die Herzen verbindet, anders gefunden werden? Sollte unser Schmerz ein geringerer sein, wenn
irgendein Glied, zum Wohl der Übrigen, aus dem Haus Gottes ausgeschlossen werden muss? Ach,
leider ist dies nur zu oft der Fall, und gerade dieses sollte die tiefste Demütigung in uns wachrufen.
Die Ausübung der Zucht als eine Rechtssache oder als ein uns zustehendes Recht zu betrachten und
zu behandeln, ist eine Unehre für den Herrn, der in unserer Mitte ist, wenn wir in seinem Namen
versammelt sind, ein Betrüben des Geistes, der in uns wohnt und uns leitet, und eine Verletzung der
Gnade und Liebe, der wahren Quelle eines jeden Dienstes in der Versammlung. Möge der Herr uns
vor einer solchen Gesinnung bewahren und, wenn sie in irgendeiner Weise vorhanden sein sollte,
uns völlig davon befreien!
Wenn wir uns mit Ausübung der Zucht beschäftigen, so haben wir es stets in einem priesterlichen
Geist zu tun. Das Verhalten der Priester beim Darbringen der Sündopfer für die Gemeinde liefert uns
hierin ein bemerkenswertes Vorbild. Es wurde ihnen geboten, die Sündopfer zu essen (3. Mo 10,17–
18), d. h. sich völlig eins zu machen mit dem für die Sünde dargebrachten Opfer, d. i. mit der Sünde
selbst. Und das ist es gerade, was wir als Priester vor Gott zu tun haben. Wenn ein Einzelner oder
die Versammlung, ihrer Picht gemäß, an einem Bruder, der gesündigt hat, Zucht ausüben will, so
ist es zunächst nötig, sich durch den priesterlichen Dienst zu dieser Handlung vorzubereiten, sich
in Gnade vor Gott mit der Sünde eins zu machen. Dies ist aber etwas ganz anderes, als wenn die
Versammlung selbst in einem schlechten Zustand ist und die in ihrer Mitte oenbar gewordene Sünde
als ihre eigene Schuld anzuerkennen und sich vor Gott zu demütigen hat, um selbst gereinigt zu
werden. Ich kann mich nur dann in einem priesterlichen Geist mit der Zucht beschäftigen, wenn
mein eigenes Gewissen vor Gott rein ist. Nur in diesem Fall kann ich mich im Geist der Gnade in der
Gegenwart Gottes mit der Sünde meines Bruders eins machen und sie bekennen und richten, als
hätte ich sie selbst begangen. Ich ehe Zugleich für den, der vielleicht in großer Gleichgültigkeit
dahingeht, um Erbarmen und Gnade. In diesem Geist handelte Daniel (Kap 9), als er seine Sünde
und die seines Volkes Israel vor Jehova bekannte. Persönlich völlig schuldlos an der Gefangenschaft
seines Volkes und beharrlich treu in seinem ganzen Wandel, machte er sich in seinem Gebet und
Flehen, in seinem Bekenntnis vor Jehova doch völlig eins mit der Sünde seines Volkes. „Wir haben
gesündigt und Unrecht getan und gesetzlos gehandelt und uns empört und sind abgewichen von
deinen Geboten und deinen Rechten. Und wir haben nicht gehört auf deine Knechte, die Propheten . . .
die Beschämung des Angesichts ist unser . . . denn wir haben uns empört wider dich usw“ (V 5–6.8–9).
Dieses Gebet zeigt uns den wahren priesterlichen Geist, der uns befähigt, die Zucht auf eine Gott
wohlgefällige Weise auszuüben und der den Einzelnen wie die Versammlung davor bewahrt, im Haus
Gottes in richterlicher Weise zu verfahren. Aber ach, wie wenig oenbart sich dieser Geist unter uns
in diesen Tagen der Schwachheit und des Verfalls, wo er doch in ganz besonderer Weise Not tut!
Es gab aber noch eine andere Sache, die mit dem priesterlichen Dienst in Verbindung stand. Wir
lesen in 3. Mose 10,9–10: „Und Jehova redete zu Aaron und sprach: Wein und starkes Getränk sollst
  154
  Die christliche Zucht 2/2
du nicht trinken, du und deine Söhne mit dir, wenn ihr ins Zelt der Zusammenkunft eingeht, auf dass
ihr nicht sterbt – eine ewige Satzung bei euren Geschlechtern – und um zu unterscheiden zwischen
dem Heiligen und Unheiligen und zwischen dem Reinen und Unreinen usw.“ Die Priester sollten alles
vermeiden, was die Sinne erregte, um stets mit wahrer Nüchternheit und Besonnenheit unter dem
Reinen und Unreinen unterscheiden zu können; ihr ganzer Zustand musste dem Heiligtum, worin
sie ihren Dienst verrichteten, entsprechen. Ebenso haben auch wir uns von allem in dieser Welt zu
enthalten, was irgendwie unser geistliches Urteil beeinussen könnte. Nur in wahrer Absonderung
von der Welt und ihrem Wesen und in Gemeinschaft mit Gott, in Gemeinschaft mit seinen Gedanken
und Absichten sind wir praktisch fähig, jeden uns anvertrauten Dienst im Haus Gottes auszuüben,
fähig, zwischen dem Reinen und Unreinen zu unterscheiden. Möchten wir dies doch stets beherzigen!
Der Herr aber möge alle die Seinen immer mehr zubereiten, die Zucht in seinem Haus zu seiner
Ehre und zum Besten der Seinen auszuüben. Er lasse in seiner Gnade auch dieses Schriftchen dazu
gesegnet sein!
  155
  Der Morgenstern
Der Morgenstern
Viermal lesen wir im Wort Gottes vom Morgenstern, und zwar in Jesaja 14,2. Petrus 1; Oenbarung. 2
und 22. Die erste dieser angegebenen Stellen steht, wie wir deutlich wahrnehmen können, im
Gegensatz zu den drei letzten; es ist darin nicht von Christus, sondern von seinem Widersacher
die Rede. In den drei anderen Stellen wird uns Jesus als der Morgenstern, der in himmlischer
vollkommener Gnade einst erscheinen wird, dargestellt und Zugleich als der Herr oenbart, der alle
Rechte über alle Dinge besitzt.
Dies ist von großer Bedeutung für uns, weil seine Anerkennung als „Herr“ Einuss hat auf unseren
Wandel und denselben so zu sagen bildet. Ich kann die vollkommene Gnade kennen und dennoch
schlecht wandeln, wenn ich nicht verstehe, dass mein Heiland Zugleich auch mein Herr ist. Wenn
verstanden wird, dass Christus nicht nur Heiland, sondern auch Herr ist und demgemäß alle Rechte
auf uns hat, so begreift man auch, dass der eigene Wille nicht ausgeübt werden darf, sondern dass
man dem, welcher Herr ist, Gehorsam zu leisten verpichtet ist. Diese beiden Wahrheiten: die
vollkommene Gnade in Jesu als Heiland, und seine vollkommenen Rechte als Herr, können nicht
getrennt werden; sie gehen zusammen. Jesus wird nie die Vollkommenheit seiner Gnade schwächen
zum Nachteil seiner Rechte, noch wird Er sich jemals seine Rechte zum Nachteil seiner Gnade
schmälern lassen.
In manchen Stellen der Schrift nden wir diese kostbare Wahrheit dargestellt. Aus den vielen
Beispielen will ich nur einige hervorheben. In Lukas 10,9 sagt Jesus: „Heilt die Kranken“, – das
ist Gnade; aber Er fährt weiter fort: „Sprecht: Das Reich Gottes ist nahe zu euch gekommen“, –
dies drückt die Rechte seiner Person aus. Er ist es, der dieses Reich antreten wird, Er ist der König
desselben. In Apostelgeschichte 20 nden wir ähnliches in der Rede des Paulus an die Ältesten zu
Ephesus: „Ich achte nichts, noch halte ich mein Leben für mich selbst teuer, auf dass ich meinen
Lauf mit Freuden vollende und den Dienst . . . zu bezeugen das Evangelium der Gnade Gottes.“ Dann
sagt er: „Und nun siehe, ich weiß, dass ihr alle, unter welchen ich, das Reich Gottes predigend usw.“
Wir sehen, dass sein Dienst diese zwei Seiten hat: die Verkündigung der Gnade Gottes und die
Verkündigung des Reiches Gottes.
Ebenso sagt Paulus in Römer 1, er sei berufener Apostel, „abgesondert zum Evangelium Gottes“, und
später, er habe empfangen Gnade und Apostelamt für seinen Namen „zum Glaubensgehorsam“
unter all den Nationen. Im „Evangelium Gottes“ sehen wir die Person Christi als Heiland, im
„Glaubensgehorsam“ haben wir Ihn als Herr, dem sich alles zu unterwerfen hat. –
Ich sage, dass diese Seite der Wahrheit, die uns Jesus als Herrn in seinen Rechten zeigt, für uns von
höchster Bedeutung ist. Nicht als ob ich irgendwie die Gnade in ihrer Vollkommenheit schwächen
wollte. Keineswegs! Ich lasse sie an ihrem Platz. Auch will ich nicht unverständliche, neue und hohe
Dinge lehren, sondern so einfach als möglich bleiben; aber ich wünsche, dass wir auch diese Seite
  156
  Der Morgenstern
der Wahrheit, nämlich dass Jesus Herr ist und demzufolge alle Rechte über uns hat, verstehen und
beherzigen möchten. Wenn der Apostel z. B. sagt: „Alles, was immer ihr tut, alles tut im Namen“ – –
in welchem Namen? Sagt er: im Namen des Heilands? Nein, sondern: „Alles tut im Namen des Herrn
Jesus.“ Jesus hat nicht nur Gnade gebracht, Er ist auch unser Herr, dem wir unterworfen sind und
dessen Rechte sowohl als dessen Gnade wir anerkennen und festhalten sollen. Wenn ich mich müde
fühle und ich will nach meiner Wahl der Ruhe pegen, so vollbringe ich das, was ich will, meinen
eigenen Willen: weiß ich aber, dass ich mir nicht selbst angehöre, dass ich im Dienst des Herrn stehe,
so werde ich fragen: „Was willst du, dass ich tun soll?“
Ich habe gesagt, dass diese zwei Seiten der Wahrheit, seine Gnade und seine Rechte, uns auch in den
drei angeführten Stellen, welche vom Morgenstern sprechen, gezeigt werden.
Wir sehen in 1. Petrus 1, dass, bevor vom Morgenstern etwas gesagt wird, der Apostel vom Herrn
redet, wie er Ihn und die mit Ihm waren, gesehen habe in der Herrlichkeit seines Reiches. Durch das,
was sie sahen, wurde ihnen das prophetische Wort, welches von seinem Reich, seiner Macht und
Herrlichkeit spricht, befestigt. Jesus ist der Mittelpunkt aller Prophezeiungen. Alle Verheißungen
hinsichtlich dieses Reiches und seiner Herrlichkeit werden in Ihm und durch Ihn ihre Erfüllung
nden.
In Oenbarung 2 nden wir wieder diese Seite der Wahrheit bestätigt. Bevor es heißt: „Ich will ihm
den Morgenstern geben“,sagt der Herr:„Wer überwindet und meine Werke bewahrt bis ans Ende, dem
will ich Gewalt geben über die Nationen, und er wird sie weiden mit eiserner Rute, wie Töpfergefäße
Zerschmettert werden usw.“ Jesus wird nach Psalm 2 die Nationen zum Erbteil haben und zum
Besitztum die Enden der Erde. Mit eisernem Zepter wird Er sie zerschmettern, wie Töpfergefäße sie
zerschmeißen. Er ist der Herr, dem alles angehört, und Er wird denen, die überwinden, auch Teil an
seiner Regierung geben.
In Oenbarung 22 sehen wir den, der sich als glänzender Morgenstern vorstellt, zuerst sich nennen:
„Wurzel und Geschlecht Davids.“ Er ist nicht nur von David entsprossen, sondern ist selbst die Wurzel,
aus welcher David hervorgegangen ist. Als solcher wird Er das Reich Davids einst in Besitz nehmen.
Wenn der Herr Jesus in der Vollkommenheit seiner himmlischen Gnade für die Seinen kommt, dann
bringt Er den Tag der Oenbarung dieser himmlischen Gnade; da wird keine Frage hinsichtlich
unseres Wandels erhoben werden. Kommt Er aber für die Welt, redet das Wort Gottes von der
Erscheinung Christi, so ist Zugleich von unserer Verantwortlichkeit die Rede. Es ist nicht der Heiland,
der bei seiner Erscheinung die Krone der Gerechtigkeit geben wird, sondern der „Herr, der gerechte
Richter“ wird sie geben.
Das Teil des auf der Erde pilgernden Christen ist, wie wir aus 2. Petrus 1 sehen, nicht sowohl die
Lampe, das prophetische Wort, sondern besonders der Morgenstern. Das prophetische Wort ist die
Lampe, welche leuchtet in einem dunklen Ort. Um die Gegenstände in einem dunklen Zimmer zu
erkennen, bedarf es einer Lampe. Das prophetische Wort ist diese Lampe für die Finsternis dieser
Welt. Will ich in Bezug auf das, was mit dieser Welt geschieht, Licht haben, so greife ich zu dem
prophetischen Wort. Der Christ aber hat mehr als dieses, er ist nicht in dem dunklen Zimmer, er ist
außerhalb desselben und hat den Morgenstern. Er sieht in seinem Herzen durch den Glauben, da
die Nacht weit vorgerückt ist, den Aufgang des Morgensterns. Als ich vor mehreren Jahren mich
  157
  Der Morgenstern
auf einer Reise befand, musste ich einmal mit der Eisenbahn eine Nacht durchfahren. Es war eine
klare Sommernacht. Nachdem die Mitternachtsstunde vorüber war, sah ich plötzlich über den Bergen
den prächtigen Morgenstern aufgehen in einem Glänze, der die ganze Gegend erhellte, fast wie
das Licht des Mondes. Wer dieses nie gesehen, macht sich kaum einen Begri von der Schönheit,
der Pracht und dem Glanz dieses Sternes. Nun, auch wir sind über die Mitternachtsstunde hinüber;
wenigstens ist der Ruf der Mitternachtsstunde: „Siehe, der Bräutigam!“ erschollen. Vielleicht nimmt
dieser Ruf noch zu: aber die Nacht ist weit vorgerückt, der Tag ist nahe. Wir wandeln, so zu sagen,
im Zwielicht des Morgensterns. Auf ihn schauen wir; unser Herz ist gerichtet auf ihn, wir sehen in
unseren Herzen schon seinen Aufgang. Das Teil der Christen ist also mehr, als nur die Lampe; uns
leuchtet der Morgenstern, wir wandeln durch den Glauben in dem Schein des himmlischen Lichtes.
In Oenbarung 2 haben wir mehr das persönliche Teil eines jeden, der inmitten des ihn umgebenden
Verderbnisses treu bleibt und überwindet. Das Teil eines Überwinders ist nicht nur die Ankunft des
Herrn, welche ihn dorthin führt, wo Erist,sondern Erselbst istsein Teil.„Ich will ihm den Morgenstern
geben.“ Das persönliche Teil eines jeden Überwinders wird Er selbst sein, nichts Geringeres. Hier
handelt es sich nicht um die Verschiedenheit der Belohnung für die Treue, nicht darum, ob einer
fünf Städte oder eine erhält, sondern ein jeder wird Ihn selbst empfangen: „ich will ihm geben den
Morgenstern.“
Aber es gibt noch etwas für die Kirche oder Versammlung, als solche. Dieser, seiner Braut, stellt Er
sich als der glänzende Morgenstern vor. Lasst uns beachten, dass es nicht nur heißt: „Ich bin der
Morgenstern“, sondern Er gibt seiner Versammlung eine Beschreibung von sich selbst: „Ich bin der
glänzende Morgenstern.“ Er stellt sich seiner geliebten Braut vor in seiner Pracht, seinem Glanz und
seiner Schönheit, und zieht so ihre Aufmerksamkeit auf sich hin. Und sogleich, wenn Er so sich
vorstellt, antwortet der Geist und die Braut und sagen: „Komm!“ Und weil keiner ausgeschlossen ist,
wird gesagt: „Wer es hört, der spreche: komm!“ –
In Jesaja 14 ist, wie schon bemerkt, auch die Rede von einem Morgenstern: aber welch ein Unterschied
gegen den Morgenstern, von dem wir gesprochen haben: es ist der höllische Morgenstern! Es ist von
jeher so gewesen, dass der Satan das nachmacht, was er bei Gott erblickt. Gott hat einen Sohn, der
Mensch geworden ist; Satan rüstet den Menschen der Sünde aus, den Sohn des Verderbens. Gott
hat eine Stadt: Jerusalem: Satan macht auch eine Stadt: es ist Babylon. Gott hat einen Morgenstern,
auch Satan hat einen. Aber welch ein Gegensatz! Jesus erniedrigte sich selbst und ward dann erhöht
in den Himmel; dieser aber erhöht sich selbst zum Himmel, über die Sterne Gottes: er wird in den
Scheol hinabfahren zur Seite der Grube. Jesus wird die Seinen sich entgegen führen in die himmlische
Herrlichkeit; dieser wird bei seinem Hinabfahren den Scheol in Bewegung setzen, seiner Ankunft
entgegen.
  158
  Ein Wort über den freien Willen
Ein Wort über den freien Willen
Die Lehre von dem freien Willen ist ganz in Übereinstimmung mit den Anmaßungen des natürlichen
Menschen, der sein gänzliches Verlorensein leugnet. Alle Menschen, welche keine tiefe Überzeugung
von Sünde gehabt haben, und alle, bei denen diese Überzeugung eine Folge grober, äußerer Sünden ist,
glauben sämtlich mehr oder weniger an einen freien Willen. Esist dieses die Lehre der Wesleyaner oder
Methodisten, die Lehre aller Philosophen: sie verändert den Haupt– und Grundsatz des Christentums
und wirft ihn ganz über den Haufen.
Da Christus gekommen ist, um das Verlorene zu retten, so bleibt für den freien Willen kein Platz mehr
übrig. Dieses soll indessen nicht heißen, dass Gott den Menschen verhindere, Christus anzunehmen;
im Gegenteil setzt Er alle nur möglichen Mittel in Bewegung, um denselben zu Christus zu bringen.
Aber selbst wenn Gott sich all dieser Mittel bedient und alles anwendet, was irgendwie Einuss
ausüben kann auf das Herz des Menschen, so dient dieses doch zu nichts anderem, als ans Licht
zu stellen, dass der Mensch von diesem allem nichts wissen will, dass sein Herz so verdorben ist
und sein Wille so entschieden dem Willen Gottes entgegensteht, dass nichts ihn bewegen kann, den
Herrn anzunehmen und sich von der Sünde loszusagen. Wenn man unter dem freien Willen versteht,
dass niemand den Menschen zwinge, den Herrn zu verwerfen, so hat man Recht. Aber wenn man
damit andeuten will, dass der Mensch das Vermögen besitze, um zwischen dem Guten und Bösen zu
wählen, so täuscht man sich über alle Maßen. Nein, der Mensch, der unter der Herrschaft der Sünde
und mutwillig ein Sklave derselben ist, kann unmöglich seinen Zustand verlassen und dem Guten
nachjagen, „weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott; denn sie ist dem Gesetz
Gottes nicht untertan; denn sie vermag es auch nicht. Die aber, welche im Fleisch sind, können Gott
nicht gefallen“ (Röm 8,7–8).
Und hiermit berühren wir den Grund der Frage: Wird der alte Mensch unterwiesen, verändert und
geheiligt? Oder empfangen wir, um errettet zu werden, eine neue Natur? Die Schrift lehrt uns das
Letztere. Der Mensch will das Erstere, indem er meint, durch Christus in seiner Stellung als Kind
Gottes wiederhergestellt zu werden. Doch das ist keine Erlösung. Die Methodisten lehren solches.
Sicher, es sind wahre Gläubige unter ihnen; und diese werden, trotz ihrer Lehre, durch Gott dazu
gebracht zu fühlen, dass sie außer Christus verloren sind und erlöst werden müssen. Jedoch sind
auch diese durch ihre Sucht, die Glieder ihrer Partei zu vermehren – eine Mischung von Liebe und
von der natürlichen Gesinnung des Herzens – sowie durch ihr Vertrauen auf ihre eigene Kraft und
durch ihre Furcht vor der unvermischten Gnade sehr von ihrer Lehre eingenommen und leugnen die
gänzliche Verdorbenheit des Menschen.
Was mich betrit, so sehe ich in der Schrift und erkenne in mir selbst den vollkommenen Fall des
Menschen. Ich sehe, dass das Kreuz das Ende all jener Mittel ist, deren sich Gott bediente, um das
Herz des Menschen zu gewinnen, und die den unwiderlegbaren Beweis geliefert haben, dass das
  159
  Ein Wort über den freien Willen
menschliche Herz für Gott verschlossen ist. Gott hat alle seine Mittel erschöpft; und der Mensch
hat gezeigt, dass er unverbesserlich schlecht ist. Das Kreuz Christi verurteilte den Menschen. Da
diese Verurteilung indessen in der Art stattgefunden hat, dass ein anderer sie unverdienter Weise
auf sich genommen, so bietet sie die Erlösung allen an, welche glauben. Für uns, die Glaubenden,
liegt das Gericht, der Lohn der Sünde, hinter uns; das Lehen durch die Auferstehung ist die Folge
davon. „Wir sind der Sünde gestorben, Gott aber lebend in Christus Jesus, unserem Herrn.“ Wenn man
diese Wahrheit in Bezug auf den alten Menschen nicht festhält, so verliert das Wort Erlösung seine
Kraft. Wenn man an eine Veredlung oder Verbesserung der alten Natur, an eine praktische Befreiung
von einem moralischen Zustand denkt, so ist das keine Erlösung durch das vollbrachte Werk eines
Anderen. Das Christentum lehrt den Tod des alten Menschen und dessen gerechte Verurteilung,
und dann die durch Christus zuwege gebrachte Erlösung, sowie ein neues Leben, das ewige Leben,
welches in seiner Person aus dem Himmel herniedergekommen ist und uns, wenn Christus durch
das Wort Wohnung in uns zu machen beginnt, mitgeteilt wird. Die Pelagianer behaupten, dass der
Mensch wählen könne, und dass, wenn dieses geschehen, der alte Mensch verbessert werde durch
die Sache, welcher er sich angeschlossen habe. In diesem Fall aber würde der erste Schritt ohne die
Gnade stattnden: und es ist der erste Schritt, worauf hier alles ankommt.
Ich glaube, dass wir uns am Wort halten müssen. Jedoch möchte ich noch die Behauptung hinzufügen,
dass die Lehre vom freien Willen, aus einem philosophischen und moralischen Gesichtspunkte
betrachtet, eine falsche und ungereimte Theorie ist. Freier Wille ist ein Zustand der Sünde. Der
Mensch muss keinen freien Willen haben und keine Wahl treen wollen. Er muss gehorchen und im
Frieden Gott genießen. Es muss seine Freude sein, in der Abhängigkeit Gottes zu leben. Es ist ein
Zustand der Sünde, wenn er, getrennt vom Guten, wählen muss. Und überhaupt, wenn er das Gute
wählen muss, so beweist dieses, dass er es nicht besitzt. Er bendet sich, solange er noch keinen
Entschluss gefasst hat, außerhalb dessen, was in sich selbst gut ist. Jedoch ist es eine Tatsache, dass
der Mensch geneigt ist, dem Bösen zu folgen. Welch eine Grausamkeit, dem Menschen, der sich
bereits dem Bösen zugewandt hat, Pichten vorzuschreiben! Philosophisch gesprochen, würde er
gleichgültig sein müssen; denn anders hat er, was sein Wille betrit, bereits gewählt. Doch wenn er
vollständig gleichgültig ist, was wird ihn dann zu einer Wahl bestimmen? Ein Geschöpf muss einen
Beweggrund haben; und einen solchen hat der Mensch nicht, wenn er gleichgültig ist. Ist er aber
nicht gleichgültig, so hat er bereits gewählt.
Im Paradies war der Mensch frei; jedoch damals war er im Genüsse dessen, was gut war. Und wie
gebrauchte er seinen Willen? Er übertrat das Gebot Gottes und wurde ein Sünder. Sobald er seine
Abhängigkeit von Gott verlor, wurde er ein Knecht der Sünde. Er hat einen Willen und Begierden,
und diese leiten ihn zu allem, was böse ist. Am Guten hat er kein Wohlgefallen. Gott hat ihn in jeder
nur möglichen Weise auf die Probe gestellt und ihm die Wahl überlassen; jedoch keineswegs, weil er
wählen kann, sondern um sein Gewissen von der Tatsache zu überzeugen, dass er in keinem einzigen
Fall an dem Guten oder an Gott ein Wohlgefallen habe. Es ist in der deutlichsten Weise erwiesen,
dass der Mensch ein Feind Gottes ist. J. N. D.
  160
  Bibelstellenverzeichnis
Bibelstellenverzeichnis
1. Mose
2,18 . . . . . . . . . . . . . . . 113
24 . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
42,21 . . . . . . . . . . . . . . 59 f.
50,20 . . . . . . . . . . . . . . . 60
2. Mose
15,13 . . . . . . . . . . . . . . 106
3. Mose
6,26.29 . . . . . . . . . . . . . 90
6,30 . . . . . . . . . . . . . . . . 90
10,9 . . . . . . . . . . . . . . . 154
10,17 . . . . . . . . . . . . . . 154
19,17 . . . . . . . . . . . . . . 143
23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
23,9 . . . . . . . . . . . . . . . . 18
5. Mose
4,43 . . . . . . . . . . . . . . . . 99
11,18 . . . . . . . . . . . . . . . 68
28 . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
29,56 . . . . . . . . . . . . . . 128
32,9 . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Ruth
1,16 . . . . . . . . . . . . . . . . 23
1. Samuel
18,4 . . . . . . . . . . . . . . . . 23
27,6 . . . . . . . . . . . . . . . . 99
28,1 . . . . . . . . . . . . . . . . 99
2. Könige
3,7 . . . . . . . . . . . . . . . . 107
6,29 . . . . . . . . . . . . . . . 128
2. Chronika
17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
Nehemia
1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Hiob
9,13 . . . . . . . . . . . . . . . 127
33,21 . . . . . . . . . . . . . . . 60
Psalm
2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
7,11 . . . . . . . . . . . . . . . 127
8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
9,17 . . . . . . . . . . . . . . . 127
32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
42,7 . . . . . . . . . . . . . . . 133
50,21 . . . . . . . . . . . . . . 128
51 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
69,20 . . . . . . . . . . . . . . . 60
72 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
73 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
89,29 . . . . . . . . . . . . . . . 68
93,5 . . . . . . . . . . . . . . . 138
101 . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
119,59 . . . . . . . . . . . . . 122
Sprüche
1,24 . . . . . . . . . . . . . . . 128
Jesaja
14 . . . . . . . . . . . . 156, 158
15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
37,1 . . . . . . . . . . . . . . . 106
Jeremia
25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Daniel
4,29 . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Jona
4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Habakuk
1,13 . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Sacharja
13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
13,7 . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Matthäus
2,6 . . . . . . . . . . . . . . . . 116
7,1 . . . . . . . . . . . . . . . . 153
12,28 . . . . . . . . . . . . . . . 68
12,40 . . . . . . . . . . . . . . . 29
13,20 . . . . . . . . . . . . . . 140
13,23.43 . . . . . . . . . . . . 68
13,41 . . . . . . . . . . . . . . . 68
16,18 . . . . . . . . . . . . . . 108
18 . . . . . . . . . . . . 142, 144
18,15 . . . . . . . . . . . . . . 142
18,17 . . . . . . . . . . 108, 139
18,20 . . . . . . . . . . . . . . . 81
24,30 . . . . . . . . . . . . . . . 60
25,5 . . . . . . . . . . . . . . . . 41
26 . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
26,31 . . . . . . . . . . . . . . . 66
26,33 . . . . . . . . . . . . . . 141
27,51 . . . . . . . . . . . . . . . 87
Markus
14 . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
14,9 . . . . . . . . . . . . . . . . 16
14,27 . . . . . . . . . . . . . . . 66
Lukas
7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
10 . . . . . . . . . . . . . . . . 11 f.
10,9 . . . . . . . . . . . . . . . 156
10,38 . . . . . . . . . . . . . . . . 5
13,3 . . . . . . . . . . . . . . . 127
13,18.20 . . . . . . . . . . . . 68
16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
17,7 . . . . . . . . . . . . . . . 116
20,36 . . . . . . . . . . . . . . . 18
22 . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
23,29 . . . . . . . . . . . . . . . 60
23,34 . . . . . . . . . . . . . . . 59
24,49 . . . . . . . . . . . . . . 109
Johannes
1,52 . . . . . . . . . . . . . . . . 86
2,19 . . . . . . . . . . . . . . . . 18
  161
  Bibelstellenverzeichnis
5,24 . . . . . . . . . . . . . . . 130
5,28 . . . . . . . . . . . . . . . . 19
5,29 . . . . . . . . . . . . . . . . 19
6,45 . . . . . . . . . . . . . . . . 36
6,53 . . . . . . . . . . . . . . . 134
7,39 . . . . . . . . . . . . . . . 109
9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
11 . . . . . . . . . . . . . 6, 8, 12
11,1 . . . . . . . . . . . . . . . . 11
12 . . . . . . . . . . . 12, 14, 23
13 . . . . . . . . . 70 f., 75, 138
13,30 . . . . . . . . . . . . . . 138
13,31 . . . . . . . . . . . . . . . 65
14,2 . . . . . . . . . . . . 87, 122
14,3 . . . . . . . . . . . . . . . 147
15,24 . . . . . . . . . . . . . . . 63
17 . . . . . . . . . . . . . 79, 150
17,5 . . . . . . . . . . . . . . . . 85
17,24 . . . . . . . . . . . 87, 122
18,11 . . . . . . . . . . . . . . . 66
21,15 . . . . . . . . . . . . . . 141
21,16 . . . . . . . . . . . . . . 116
Apostelgeschichte
1,5 . . . . . . . . . . . . . . . . 109
2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
2,1 . . . . . . . . . . . . . . . . 109
2,24 . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2,41 . . . . . . . . . . . . . . . 109
3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
3,14 . . . . . . . . . . . . . . . 105
4,29 . . . . . . . . . . . . . . . 110
5,3 . . . . . . . . . . . . . . . . 110
5,13 . . . . . . . . . . . . . . . . 32
6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
13 . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
14,15 . . . . . . . . . . . . . . . 35
14,33 . . . . . . . . . . . . . . 116
16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
16,9 . . . . . . . . . . . . . . . . 45
16,14 . . . . . . . . . . . . . . . 48
19,25 . . . . . . . . . . . . . . . 36
19,32.39.41 . . . . . . . . . 108
20 . . . . . . . . . . . . 116, 156
20,30 . . . . . . . . . . . . . . . 38
20,31 . . . . . . . . . . . . . . 148
20,33 . . . . . . . . . . . . . . 116
24,16 . . . . . . . . . . . . . . . 62
Römer
1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
1,18 . . . . . . . . . . . . . . . 127
5,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
5,20 . . . . . . . . . . . . . . . 130
6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
6,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
6,14 . . . . . . . . . . . . . . . 134
8,7 . . . . . . . . . . . . . . . . 159
8,11 . . . . . . . . . . . . . . . . 19
8,14 . . . . . . . . . . . . . . . 149
8,31 . . . . . . . . . . . . 67, 134
11 . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
14,17 . . . . . . . . . . . . . . . 68
15,3 . . . . . . . . . . . . . . . . 62
16,17 . . . . . . . . . . . . . . 139
1. Korinther
1,8 . . . . . . . . . . . . . . . . 123
1,12 . . . . . . . . . . . . . . . 111
3,3 . . . . . . . . . . . . . . . . 111
3,11 . . . . . . . . . . . . . . . 108
3,16 . . . . . . . . . . . 138, 149
4,15 . . . . . . . . . . . . . . . 145
4,20 . . . . . . . . . . . . . . . . 68
5 . . . . . . . . 139 f., 145, 151
5,4 . . . . . . . . . . . . . . . . 151
5,7.11.13 . . . . . . . . . . . 138
9,7 . . . . . . . . . . . . . . . . 116
10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
10,16 . . . . . . . . . . . . . . 114
10,17 . . . . . . .80, 149, 152
11,18 . . . . . . . . . . . . . . 115
11,19 . . . . . . . . . . . . . . . 79
12 . . . . . . . . . . 79, 88, 115
12,3 . . . . . . . . . . . . . . . . 54
12,12 . . . . . . . . . . . . . . 112
12,13 . . . . . . .80, 112, 149
12,18.24 . . . . . . . . . . . 112
12,20.27 . . . . . . . . . . . 149
13 . . . . . . . . . . . . 115, 118
13,4 . . . . . . . . . . . . . . . 145
14,26 . . . . . . . . . . . . . . 116
15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
15,1 . . . . . . . . . . . . . . . . 50
15,51 . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2. Korinther
2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
3,5 . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
5,19 . . . . . . . . . . . . . . . 131
6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
6,2 . . . . . . . . . . . . . . . . 135
6,16 . . . . . . . . . . . 138, 149
6,17 . . . . . . . . . . . . . . . 107
7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
7,8 . . . . . . . . . . . . . . . . 152
7,9 . . . . . . . . . . . . . . . . 139
10,6 . . . . . . . . . . . . . . . 145
12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
12,7 . . . . . . . . . . . . . . . . 73
12,15 . . . . . . . . . . . . . . 145
13,7 . . . . . . . . . . . . . . . 145
Galater
3,13 . . . . . . . . . . . . . . . 133
3,26 . . . . . . . . . . . . . . . 109
5,20 . . . . . . . . . . . . . . . . 79
6,1 . . . . . . . . . . . . . . . . 144
6,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Epheser
1 . . . . . . . . . . . . . . 80, 111
1,13 . . . . . . . . . . . . . . . . 67
1,23 . . . . . . . . . . . . . . . 149
2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
2,19 . . . . . . . . . . . . . . . 149
2,20 . . . . . . . . . . . . . . . 108
3 . . . . . . . . . . . . . 108, 113
4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
4,1 . . . . . . . . . . . . 112, 137
4,4 . . . . . . . . . . . . . . . . 149
4,28 . . . . . . . . . . . . . . . . 61
  162
  Bibelstellenverzeichnis
5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
5,1 . . . . . . . . . . . . . . . . 137
5,25 . . . . . . . . . . . . . . . 113
5,27 . . . . . . . . . . . . . . . 123
6,16 . . . . . . . . . . . . . . . 107
Philipper
1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
2,5 . . . . . . . . . . . . . . . . 137
2,15 . . . . . . . . . . . . . . . 149
3,21 . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Kolosser
1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
1,13 . . . . . . . . . . . . . . . . 68
1,18 . . . . . . . . . . . . . . . 112
1,22 . . . . . . . . . . . . . . . 123
1. Thessalonicher
1,9 . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
3,13 . . . . . . . . . . . . . . . 123
4 . . . . . . . . . . . 17, 19, 123
4,13 . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
5,14 . . . . . . . . . . . . . . . 148
2. Thessalonicher
3,11 . . . . . . . . . . . . . . . 139
1. Timotheus
3,15 . . . . . . . . . . . . . . . 138
5,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
2. Timotheus
2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
2,19 . . . . . . . . . . . . 81, 115
2,20 . . . . . . . . . . . . 81, 149
2,24 . . . . . . . . . . . . . . . 148
3 . . . . . . . . . . . 33, 37, 115
3,5 . . . . . . . . . . . . . . . . 115
4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
4,2 . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Titus
1,5 . . . . . . . . . . . . . . . . 116
1,13 . . . . . . . . . . . . . . . 148
1,16 . . . . . . . . . . . . . . . 100
3,10 . . . . . . . . . . . . . . . 140
Hebräer
1,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
2,14 . . . . . . . . . . . . . . . 133
4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
4,12 . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4,14 . . . . . . . . . . . . . . . . 85
8,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
9,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
9,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
9,24 . . . . . . . . . . . . . . . 84 f.
9,28 . . . . . . . . . . . . . . . . 42
9,36 . . . . . . . . . . . . . . . 133
10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
10,19 . . . . . . . . . . . . . . . 83
10,24 . . . . . . . . . . . . . . 148
11,6 . . . . . . . . . . . . . . . . 46
12,15 . . . . . . . . . . . . . . 139
13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
13,13 . . . . . . . . . . . . . . . 37
Jakobus
1,27 . . . . . . . . . . . . . . . . 99
4,4 . . . . . . . . . . . . . . . . 103
1. Petrus
1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
1,15 . . . . . . . . . . . . . . . 137
4,8 . . . . . . . . . . . . . . . . 146
5,2 . . . . . . . . . . . . . . . . 116
5,5 . . . . . . . . . . . . . . 67, 82
2. Petrus
1 . . . . . . . . . . . . . . . . 156 f.
1,11 . . . . . . . . . . . . . . . . 68
2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2,1 . . . . . . . . . . . . . . 37, 79
3,9 . . . . . . . . . . . . . . . . 128
3,13 . . . . . . . . . . . . . . . . 20
1. Johannes
1,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
2,6 . . . . . . . . . . . . . . . . 137
3,1 . . . . . . . . . . . . . . . . 149
3,2 . . . . . . . . . 42, 113, 122
4,17 . . . . . . . . . . . . . . . 137
2. Johannes
1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Judas
12 . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
Oenbarung
2 . . . . . . . . . . . . . 33, 157 f.
2,27 . . . . . . . . . . . . . . . 116
3 . . . . . . . . . . . . . . . 12, 33
3,14 . . . . . . . . . . . . . . . 149
4 . . . . . . . . . . . . . . 15, 124
17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
19 . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
19,11 . . . . . . . . . . . . . . . 20
20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
20,6 . . . . . . . . . . . . . . . . 19
20,11 . . . . . . . . . . . . . . . 19
21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
21,1 . . . . . . . . . . . . . . . 125
22 . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
31,9 . . . . . . . . . . . . . . . 124
32,6 . . . . . . . . . . . . . . . 124