Botschafter des Heils in Christo 1883

01/29/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Botschafter des Heils in Christo Inhaltsverzeichnis: 1983 Seite
An dem Brunnen zu Sichar......... 1
Betrachmngen über die Ep. an die Römer 
(Forts.) 19, 29,57,99
19
Die Bibel  38
2. Mose 3, 5..................... 56
Die vernünftige und unverfälschte Milch .. 71
Auserwählt in Christo... 74
„Er wurde innerlich bewegt".... 78
Bruchstücke.................81
Ein Wort über kirchliche Unabhängigkeit.... 85
„Ich warte auf Christum".... 111
„Ich liebe" ............. 113
Einige Bemerkungen über den Wert
des Abendmahls 127, 155
127
Zu spät!. 135
Jericho und Achor..............141, 169 141
Jesus allein (Gedicht) ........ 167
Wie sollen wir die Schrift lesen?.. 182
Auf daß ich Christum gewinnet".... 185
Du hast mein Wort bewahrt"........ 189
Der Tod............................ 192
„Sterben ist Gewinn" (Gedicht)  195
Das Gebot Jehova's und die Einwürfe Satans . . 197, ^5 197
Die eherne Schlange............ 209
Gedanken üb. das Zusamenkommen d. Gläubigen
 H?7, 236, 270, 281
236
Ueberführung, Buße und Vergebung 244
„Friede, tief wie ein Strom!". 250
Das Gebet des Herrn................ 253, 293 253
Psalm 84 .
Bruchstücke. 304
Kanaan und die Waffenrüstung Gottes 309
„Eins weiß ich". 329


An dem Brunnen zu Sichar.(Joh. 4.)

Es ist überaus köstlich für ein Herz, das den Herrn

Jesum lieb hat, Ihn auf Seinem Wege durch diese Welt

zu begleiten und in allen Seinen Worten und Handlungen

die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater hervorstrahlen

zu sehen. Wie bewunderungswürdig ist Seine Weisheit,

mit der Er allen entgegentrat Er hatte niemals ein und

dieselbe Antwort für diejenigen, welche in Seine Nähe

kamen. O nein, Seine Worte waren stets dem Zustande

der Seele völlig angepaßt; sie enthielten gerade das, was

die betreffende Seele bedurfte. Wenn wir z. B. das

unsrer Betrachtung vorliegende Kapitel (Joh. 4.) mit dem

vorhergehenden vergleichen, so werden wir finden, wie

völlig verschieden der Herr zwei Fälle behandelt, die allerdings

in sich selbst verschieden waren, deren Verschiedenheit

aber, nach unserm natürlichen Verstände zu urteilen, gerade

die entgegengesetzten Antworten von Seiten des Herrn erfordert

hätte. In dem dritten Kapitel teilt uns der

Evangelist mit, wie Nikodemus, ein Leiter des jüdischen

Volkes, ein Lehrer in Israel, ein geachteter, religiöser

Mann, zu dem Herrn kommt, um von Ihm, als einem

Lehrer, „von Gott gekommen," zu lernen. Er erkennt

die göttliche Macht, die in Jesu und durch Ihn wirkte,

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völlig an; und obwohl er furchtsam bei der Nacht kommt,

so zeigt er doch gerade dadurch, wie viel er durch sein

Kommen aufs Spiel setzt, wie sehr er seinen Ruf bei dem

Bolke gefährdet. Trotzdem aber kommt er, um ehrerbietig

anzuerkennen, daß der verachtete Nazarener „ein Lehrer

ist, von Gott gekommen," und um sich, obwohl er selbst

ein Lehrer ist, als ein unwissender Schüler zu Seinen

Füßen niederzusetzen.

Sollten wir nicht denken, der Herr würde einem

solchen Manne sogleich Sein ganzes Herz erschlossen und

ihn aufs Freundlichste ermuntert haben? Gerade das

Gegenteil ist der Fall. Die ersten Worte des Herrn an

Nikodemus sind: „Du mußt von neuem geboren werden."

Das ist nicht die freundliche Stimme des Evangeliums.

Es ist ganz falsch, zu denken, daß es in dem Evangelium

irgend ein: „Du mußt," geben könnte. Sobald

es heißt: „Du mußt," ist es kein Evangelium mehr.

Was soll ein Mensch thun, um dieser neuen Geburt teilhaftig

zu werden? Was hat sein ganzes vergangenes

Leben für einen Wert? Nicht den geringsten. Was soll

er thun in Bezug auf die Zukunft? Er muß alles von

neuem beginnen; aber wie? Um ein neues Leben führen

zu können, muß er erst von neuem geboren werden.

Was aber kann ein Mensch in dieser Sache thun? Er

hat nichts zu thun mit seiner natürlichen Geburt. Was

könnte er im Blick auf die geistliche Geburt thun? —

Nichts, gar nichts!

Der Mensch steht vor einer verschlossenen Thüre.

Doch warum, möchtest du fragen, verschließt der Herr die

Thür vor einem Manne wie Nikodemus? Ich will dir

sagen, weshalb. Nikodemus war ein Pharisäer, einer der

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Führer Israels, welche das Volk ganz verkehrt leiteten;

er war ein Mann, der mit all seiner Aufrichtigkeit, seiner

Ehrbarkeit und seinem Verlangen, belehrt zu werden, thatsächlich

nicht wußte -- trotz der Schriftstellen, auf welche

der Herr ihn hinwies — was nötig war, um in das

Reich Gottes einzugehen. Er gehörte zu einer Klasse von

Menschen, welche vor Gott hintreten und in gewissem

Sinne aufrichtig, obwohl in großer Selbsttäuschung, sagen

konnten: „O Gott, ich danke Dir, daß ich nicht bin, wie

die übrigen der Menschen: Räuber, Ungerechte, Ehebrecher,

oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der

Woche, ich verzehnte alles, was ich erwerbe." (Luk. 18,

11. 12.) War es nicht wahr, was dieser Mann sagte?

Ganz gewiß; der Herr sagt kein Wort, daß es nicht

wahr sei. Und warum hätte er es nicht sagen sollen?

Er macht keinen Anspruch auf Vollkommenheit, noch sagt

er, daß das, was er gethan, ohne die Hülfe Gottes geschehen

sei. Er dankt Gott dafür: „Gott, ich danke Dir,

daß ich nicht bin, wie die übrigen der Menschen." Er

war nicht nur ein sittenreiner, sondern auch ein religiöser

Mensch. Er war hingebend und selbstverleugnend, denn

er verzehntete alles, was er erwarb, und fastete zweimal

in der Woche. War das nicht ein sehr ehrenwerter Mann? War

er nicht ernst, moralisch, religiös? Und doch, was finden

wir? Die Thür wird ihm gegenüber wenn möglich noch

fester verschlossen, als vor Nikodemus. „Der Zöllner,

von ferne stehend, wollte sogar die Augen nicht aufheben

gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach:

O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!" Und „dieser

ging gerechtfertigt hinab in sein Haus." Er fand die

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Thür geöffnet, der Andere fand sie verschlossen. Verstehst

du jetzt den Unterschied, mein lieber Leser?

Nikodemus gehörte zu dieser Klasse von Menschen,

und was der Herr ihm sagte, war gerade das, was er

bedurfte, denn der Herr machte nie einen Fehler. Nikodemus

mußte lernen, daß alle seine eigene Gerechtigkeit

vor Gott nur ein unflätiges Kleid war. „Du hast noch

gar nicht angefangen zu leben," sagt der Herr ihm gleichsam,

„du mußt von neuem geboren werden." Und dasselbe

Wort gilt allen, die auf Grund ihrer eigenen Gerechtigkeit

vor Gott bestehen wollen. „Aber was muß

ich denn thun?" ruft so mancher ärgerlich aus, wenn

man ihn auf die Unzulänglichkeit seiner Werkgerechtigkeit aufmerksam

macht. Ach! nichts fällt dem Menschen so schwer,

als zu erkennen, daß er gar nichts thun kann, daß

er einzig und allein auf Gott geworfen ist. Sein Stolz

und sein Hochmut bäumen sich auf gegen diese Erkenntnis.

Sehr bemerkenswert ist es, daß der Herr nur an

dieser einen Stelle von der Notwendigkeit einer neuen

Geburt redet, und daß es gerade ein Pharisäer ist, dem

Er sie vorstellt. Wir erkennen hierin Seine göttliche

Weisheit. Er will Nikodemus in einen Zustand bringen,

in welchem er fähig ist, das Evangelium aufzunehmen.

Mit all seiner Ehrbarkeit, mit all seiner Moralität, ja

selbst mit all seiner Religion mußte Nikodemus von neuem

geboren werden.

Wenden wir uns jetzt zu dem 4. Kapitel, so finden

wir eine Person von ganz entgegengesetztem Charakter —

ein einsames Weib, aber einsam aus offenbar anderen

Gründen, als Nikodemus. Er kam bei der Nacht, um

seinen Ruf vor den Menschen zu wahren; das Weib kam

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allein bei Tage, weil niemand mit ihr etwas zu schaffen

haben wollte. Der eine ist ein angesehener Mann und

wünscht, seinen ehrbaren Ruf nicht zu verlieren; die andere

ist eine Person, welche ihre Mitmenschen um ihren guten

Ruf bringen würde, wenn sie mit ihr umgingen.

Sie kommt allein, aber nicht, um Jesu zu begegnen.

Sie sucht Ihn nicht. Sie kommt mit ihrem Wasserkrug,

wie sie es vielleicht schon unzählige Male gethan hat, um

Wasser zu schöpfen. Es war kein Bedürfnis der Seele,

das sie zu dem Brunnen führte. Sie war, wie jeder

Mensch von Natur, ein geistlich totes, gefühlloses Geschöpf.

Welch trauriges Leben sie hinter sich hatte, wissen wir.

Woher kommt es nun, daß der Herr sie in einer ganz

anderen Weise behandelt, wie den Nikodemus? Wie sollen

wir es verstehen, daß Er die Thür angesichts des Pharisäers

schließt, während Er sie vor der Sünderin weit

öffnet? Gerade deshalb, weil sie eine Sünderin ist —

denn für Sünder ist Christus gestorben. Sündern kann

Gott Gnade erweisen. Sünder besitzen keine eigene Gerechtigkeit,

von der sie erst entkleidet werden müssen, sie

haben keinen guten Ruf zu verlieren, für sie giebt es keine

Schranken dieser Art, welche sie an der Annahme des

Evangeliums hindern. Der Herr selbst erklärt dies sehr

deutlich, wenn Er zu den Pharisäern sagt: „Wahrlich,

ich sage euch, die Zöllner und die Huren gehen euch vor

in das Reich Gottes." (Matth. 21, 31.) Warum gehen

sie vor? Weil Christus für Sünder gestorben ist. Die

Liebe Gottes sucht verlorene Sünder.

In Folge dessen ergeht die Einladung Gottes an

die ganze Welt. Sie schließt niemanden aus; aber ich

kann mich selbst ausschließen. Und ach! wie mancher thut

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dies, indem er sich dem Urteil Gottes, daß er ein Sünder,

und nichts anderes als ein Sünder ist, nicht unterwerfen

will. Die Einladung Gottes richtet sich an alle Sünder,

groß und klein, ehrbar und gottlos, reich und arm.

Er will nicht, daß irgend einer verloren gehe. Wäre

Christus nur für die Ehrbaren und Gerechten gekommen,

so könnten nicht alle eingeladen sein. Aber jetzt, da Er

für Sünder gestorben ist, wendet sich die Einladung an

alle. Aber bedenke es wohl, geliebter Leser, daß der

Mensch dahin kommen muß, sich auf den Platz zu stellen,

der ihm vor Gott gebührt — auf den Platz eines verlorenen,

verdammungswürdigen Sünders — ehe Gott ihn

erretten und ihm in Christo einen Platz zu Seiner Rechten

in den Himmeln geben kann. Es ist ein ewig feststehender

Grundsatz bei Gott: „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht

werden." Der Mensch muß sein völliges Nichts

erkennen, er muß eine wahre, aufrichtige Stellung vor

Gott einnehmen. Gott kann nicht einen Menschen retten

mit einer Lüge auf seinen Lippen. Er kann nicht einen

Menschen erheben, der sich selbst erhebt. Er kann und

will dem vornehmsten der Sünder Gnade, Erbarmen und

Liebe erzeigen, aber ach! der Mensch schließt sich selbst

davon aus, indem er seine eigenen Bedingungen an die

Stelle der göttlichen setzt. Nikodemus wollte auch auf

Grund seiner eigenen Bedingungen in das Reich Gottes

eingehen, und deshalb ist der Herr genötigt, ihm ein:

„Du mußt!" entgegenzustellen; das Weib aber befand

sich, als eine Sünderin, auf dem Boden, wo der Herr

ihrem Bedürfnis begegnen konnte.

Er sagt zu ihr: „Wenn du die Gabe Gottes kanntest

und wer es ist, der zu dir spricht: Gieb mir zu trinken,

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so würdest du Ihn gebeten haben, und Er härte dir

lebendiges Wasser gegeben." (V. 10.) Welch eine

köstliche, gesegnete Versicherung für eine jede Seele,

die sich auf demselben Boden befindet, wie jenes Weib!

Ja, es ist ganz gewiß: wenn jemand den Herrn Jesum

in Wahrheit und Aufrichtigkeit bittet, so wird Er geben.

Wer zu Ihm kommt, wird nicht hinausgestoßen. Es ist

gar nicht möglich, daß ihm seine Bitte abgeschlagen werden

könnte. Der Herr giebt, wenn nur der Mensch den

Platz des Empfängers einnehmen und Ihn zu einem Geber

machen will, anstatt, wie er es so gern thut, den Platz

des Gebers einzunehmen und den Herrn zu einem Empfänger

zu machen.

Das Weib versteht nicht, was der Herr mit dem

„lebendigen Wasser" meint. Ihre Gedanken erheben sich

nicht über den Brunnen und das Schöpfgefäß in ihrer

Hand, und sie fragt deshalb: „Bist Du größer, denn unser

Vater Jakob, der uns den Brunnen gab? Und er selbst

trank aus demselben und seine Söhne und sein Vieh."

(V. 12.) Sie ist erstaunt, wer dieser Fremdling Wohl

sein mag, der die Forderungen des Gesetzes ganz außer

Acht läßt und sie, ein samaritisches Weib, um einen Trunk

Wasser bittet. Sie weiß nicht, was sie von Seinen merkwürdigen

Worten über die „Gabe Gottes," welche Gott

dem Menschen so bereitwillig anbietet, denken soll. Doch

für wie viele ist es auch heute noch eine ganz neue, unbekannte

Sache, daß Gott weit mehr bereit ist, zu geben,

als der Mensch bereit ist, zu empfangen, und daß in

Seinem Herzen Liebe ist gegen den Sünder, gegen den,

der gar nicht an Ihn denkt, noch nach Ihm fragt! Und

dennoch ist es die völlige Wahrheit. Das verlorene Schaf

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sucht nicht den Hirten, sondern der Hirte das Schaf.

Er geht dem verlorenen nach, bis Er es findet, und dann

ist die Freude des Himmels nur der Abglanz Seiner

eigenen Freude. Auf diese Weise können wir auch heute

noch dem Herrn zu trinken geben. Wir können die Liebe

befriedigen, welche sucht, indem wir ihr erlauben, das mit

uns zu thun, was sie zu thun wünscht.

Das Herz des Weibes ist gerührt, ihr Interesse ist

geweckt, und was noch mehr sagen will — Gott steht

vor ihrer Seele. Das Licht, in welchem sie sich selbst

kennen lernen soll, bescheint sie. Nur in der Gegenwart

Gottes lernen wir, was wir sind. Doch hören wir, waS

der Herr ihr zur Antwort giebt. „Jesus antwortete und

sprach zu ihr: Jeglicher, der von diesem Wasser trinkt,

wird wiederum dürsten; wer irgend aber von dem Wasser

trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird nicht

dürsten in Ewigkeit; sondern das Wasser, das ich ihm

geben werde, wird in ihm zu einer Quelle Wassers werden,

das in das ewige Leben guillt." (V. 13. 11.) Jetzt

tritt ein Wendepunkt ein. Das Weib, angezogen durch

die Freundlichkeit des Herrn, beginnt zu bitten. „Herr,

gieb mir dieses Wasser," sagt sie, „damit ich nicht dürste

und nicht hierher komme, um zu schöpfen." Indessen weiß

sie immer noch nicht, wovon der Herr redet. Die Worte:

„Damit ich nicht dürste rc." zeigen dies deutlich. Der

Herr entgegnet ihr in Seiner gesegneten, wunderbaren

Weise: „Gehe hin, rufe deinen Mann und komm hierher."

Er kennt alle die Geheimnisse ihres Herzens, weiß, weshalb

sie zu so ungewöhnlicher Stunde einsam und allein

zu dem Brunnen kommt, ja Er wußte dies alles schon,

als Er von der Gabe Gottes zu ihr redete, welche Er

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bereit war, ihr zu geben, wenn sie Ihn nur darum bitten

wollte. Und Er zeigt ihr, daß Er alles weiß, aber

mit welch einer Zartheit thut Er es! Wie ein Arzt berührt

Er nur den wunden Fleck und fragt gleichsam:

„Giebt es da nicht irgend etwas, was nicht in Ordnung

ist?" Er nennt es nicht, sondern deutet nur leise darauf

hin, als wenn Er fragen wollte: Willst du mir nicht

Vertrauen schenken? — Anbetungswürdiger Herr!

Indes findet diese Frage keine Antwort, und so muß

Er weiter gehen und ihr zeigen, daß Ihm ihr ganzes

Leben bekannt ist. Aber auch jetzt thut Er es in den

einfachsten Worten, indem Er sie weder verurteilt, noch

ihr Vorwürfe macht. Er „wirft nichts vor." DasGe-

wissen mochte ihr Vorwürfe machen, und zwar mit allem

Recht; der Herr aber trug nur Sorge, sie in die Gegenwart

Gottes und Seiner Liebe zu bringen, damit sie sich

selbst dort in Wahrheit verurteilen lernen möchte. Ach!

wie wenig gleichen wir oft unserm geliebten Herrn in der

Behandlung der Seelen! Wir sind gleich bereit, sie zu

verurteilen, und nichts ist leichter als das; aber dies bringt

keine Befreiung. Selten wird jemand unsere Verurteilung

annehmen, nie uns dafür danken. Die Seelen müssen

dahin kommen, sich selbst zu verurteilen, aber dazu haben

sie etwaS anderes nötig, als unsre Verurteilung.

Der Herr sucht vor allem das Vertrauen des Weibes

zu gewinnen und sie in das Licht Gottes zu stellen, so

daß es für sie die einfachste und natürlichste Sache ist,

zu diesem Herrn ihre Zuflucht zu nehmen, sobald das

Geheimnis ihres Lebens offenbar wird. ES ist ihr ganz

klar, daß der Fremdling, der da vor ihr sitzt, nicht ihr

Feind ist. Seine Worte geben Zeugnis davon, daß Er

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nicht gegen sie ist. Sicher ist Er gegen die Sünde, nicht

aber gegen sie. Und ebenso ist Gott auch heute nicht der

Feind des Sünders, nein, Er liebt ihn und geht ihm

nach, um ihn zu erretten. Obwohl der Herr das Leben

des Weibes kannte, so hatte Er ihr doch schon gezeigt,

daß Er für sie war. Er hatte sie eingeladen, eine Gabe

von Ihm anzunehmen. Wird sie jetzt jene Worte über

das lebendige Wasser besser verstehen, nachdem sie entdeckt

hat, daß Er alles weiß und daß Er ein Prophet ist?

Das letztere muß sie anerkennen, und sie thut es niit den

Worten: „Herr, ich sehe, daß Du ein Prophet bist."

Sie läuft nicht weg. Sie hat Ihn um eine große, geheimnisvolle

Gabe gebeten, und Er hat ihr die Versicherung

gegeben, daß sie dieselbe erhalten soll. Sie

fühlt sich angezogen von Seiner Liebe, und es dämmert

in ihr das Bewußtsein, daß Er und die Gabe, von welcher

Er redet, doch mehr sein müssen, als sie anfänglich gedacht

hat. Er hat ihr soeben eine Last gezeigt, die entfernt

werden muß, wenn ihr irgend eine Segnung von

Gott zu teil werden soll, und sie wendet sich an Ihn mit

einer Frage, die für sie keineswegs unwichtig war. Sie

stellt sie auch nicht, um dadurch den Anklagen ihres Gewissens

zu entgehen. Sie fragt den Herrn, wie man

Gott nahen solle: „Unsre Väter haben auf diesem Berge

angebetet, und ihr saget, zu Jerusalem sei der Ort, wo

man anbeten müsse." (V. 20.)

Sicher hat schon mancher Fragen über gottesdienstliche

Formen als ein willkommenes Ausfluchtsmittel benutzt,

wenn das Gespräch eine zu ernste Wendung für

ihn nahm. Doch dies war durchaus nicht der Fall bei

der Samariterin. Ihr Leben war vor ihren Augen auf

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gedeckt worden; sie hatte den Herrn als einen Propheten

anerkannt, und der Gottesdienst oder die Anbetung war

für sie, wie es heute noch für so viele ist, ein Mittel,

wodurch sie einen beleidigten Gott Zu versöhnen gedachte.

Die Weise Jakobs, das Herz seines Bruders Esau zu

gewinnen, gefällt immer noch dem natürlichen Menschen,

selbst wenn es sich um weit wichtigere Dinge und eine

weit höhere Person handelt. „Ich will sein Angesicht

versöhnen mit dem Geschenk, das vor mir hergeht," sagt

Jakob, „und darnach will ich sein Angesicht sehen; vielleicht

wird er mich annehmen." (1. Mos. 32, 20.)

Ach, wie mancher führt auch heute Gott gegenüber eine

ähnliche Sprache! Aber ein solcher bleibt in Bezug auf

seine Annehmung von Seiten Gottes in derselben Ungewißheit

wie Jakob. Ein „vielleicht," oder ein „ich hoffe"

ist das Höchste, wozu er gelangt. Eine feste, unerschütterliche

Gewißheit, eine beständige Freude über seine Errettung

und Annahme sind ihm völlig unbekannte Dinge.

Mit Zittern und Zagen muß er dem Augenblick seiner

Begegnung mit Gott entgegen sehen. Denn wie kann er

jemals wissen, wann er genug gethan hat? O, mein lieber

Leser, wenn deine Religion von dieser Art ist, so hast du

allen Grund, zu erschrecken. Denn nimm einmal an, daß

das, was du für genügend hältst, Gott zu befriedigen,

in den Augen Dessen, der Herzen und Nieren prüft und

vor dem die Himmel nicht rein sind, keine Anerkennung

fände? Willst du dein ewiges Glück von einem „vielleicht"

abhängig machen? Schlage diesen Weg nicht

ein, ich bitte dich. Deine Ungewißheit muß dir ja

schon zeigen, daß du den Friedensweg Gottes noch

nicht betreten hast. Denn ein jeder, der auf diesem

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Wege wandelt, genießt wahren Frieden und wahre

Ruhe.

Doch kehren wir zu unserm Kapitel zurück. Der

Herr beantwortet die Frage des Weibes in einer Weise,

welche zeigt, daß Er sie nicht für eine unwichtige oder

unpassende hält. Die Stunde nahte heran, wo es sich

bei der Anbetung nicht länger um Jerusalem oder irgend

einen andern Ort auf dieser Erde handeln sollte. „Es

kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen

Anbeter den Vater im Geist und in Wahrheit anbeten

werden." (V. 23.) Um Gott anbeten zu können, muß

man Ihn kennen. ES ist völlig unmöglich, einen unbekannten

Gott wirklich anzubeten, weil die Anbetung eine

Sache des Herzens ist. Sie besteht nicht in einem Beugen

meiner Kniee vor Gott, noch in gewissen Gebräuchen, die

ich bei dem Gebet beobachte, sondern in dem Ausschütten

meines Herzens in aufrichtigem Lob und Dank gegen

Gott. Um Gott anbeten zu können, muß ich etwas in

Ihm sehen, was meine Anbetung wachruft; mit einem

Wort, ich muß Ihn kennen. Viele Tausende der bekennenden

Christen glauben, Gott anzubeten, wenn sie —

vielleicht mit andächtigem Ernst — ihre auswendig gelernten

Gebete hersagen; sie denken selbst, Gott damit

wohlzugefallen. Ach! sie haben nicht das geringste Verständnis

über den Charakter einer wahren Anbetung Gottes.

Vielleicht nennen sie Gott ihren „Vater" und reden Ihn

mit diesem Namen an, aber sie thun eS, weil sie so gelehrt

worden sind, nicht aber weil sie Ihn in diesem köstlichen,

innigen Verhältnis kennen gelernt haben. Um den

„Vater" im Geist und in Wahrheit anbeten zu können,

muß vorher die Frage der Annahme geordnet sein. Ist

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diese nicht geordnet, wie kann sich ein sündiger Mensch

wohl fühlen in der Nähe eines heiligen Gottes? Es geht

ihm wie jenem Sohne, der seinem Vater so lange Jahre

gedient hatte und für den dennoch Musik und Reigen

in seines Vaters Hause eine ganz fremde Sache war.

Fragt man einen solchen: „Hast du Frieden mit Gott?

Erfreust du dich der Liebe Seines Vaterherzens und all

der herrlichen Dinge, die Er für dich in Christo Jesu

bereitet hat?" so wird er, wenn er anders aufrichtig ist,

antworten: „Nein, das sind mir ganz unbekannte Dinge."

„Wie?" muß man unwillkürlich weiter fragen, „du sagst,

du habest Gott schon so lange gedient, und du kennst Ihn

nicht einmal?"

„Ihr betet an — ihr wisset nicht was," sagt der

Herr, „wir beten an und wissen was, denn das Heil

ist aus den Juden." Hörst du das, mein lieber Leser?

Gott ist gekannt, der Vater ist gekannt — wodurch?

Durch das Heil, durch die Errettung. Erkennst

du nicht, daß, wenn Gott nicht als ein Heiland-Gott

gekannt ist, Er gar nicht gekannt werden kann? Wie

kennst du Ihn? Als einen Richter, vor dem du einst

erscheinen mußt, wo es sich dann Herausstellen wird, ob

du angenommen oder verworfen bist? Das ist nicht Errettung.

Mußt du vor Gott, als deinem Richter, erscheinen,

so bist du trotz alles deines Thuns verloren.

Die Errettung ist Sein, nicht dein Werk. Der Mensch

kann sich nicht selbst retten, ein andrer muß ihn retten,

und dieser andere ist Gott, ein Heiland-Gott. Gott hat

ein Heil, eine ewige Errettung vorgesehen. Christus vermag

völlig zu erretten alle, die durch Ihn zu Gott

kommen. Und nicht allein das; was diese Errettung so

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überaus köstlich macht, ist, daß sie uns Gott zum Vater

giebt und uns fähig macht, Ihn im Geist und in Wahrheit

anzubeten.

Was mußte das Herz des verlorenen Sohnes empfinden,

als er in die Nähe des Vaterhauses kam, und — anstatt

des erwarteten kalten Empfangs, der väterlichen Vorwürfe

und im besten Falle der Aufnahme als ein Tagelöhner —

die überströmende Liebe des Vaterherzens fand, die Küsse

des Vaters fühlte und die Worte aus seinem Munde

vernahm: „Bringet das vornehmste Kleid her und ziehet

es ihm an, und gebet einen Ring an seine Hand und

Sandalen an seine Füße, und bringet das gemästete Kalb

her und schlachtet es, und laßt uns essen und

fröhlich sein!" (Luk. 15, 22. 23.) Aehnliches erfährt

auch der Sünder heute, wenn er von seinen bösen Wegen

umkehrt und zu Gott seine Zuflucht nimmt, wenn er

findet, daß Gott ihm gerade da begegnet, wo er ist, daß

Er für ihn ist, für ihn, den Verlorenen, ja daß Er

ihn, den Hassenswürdigen, liebt mit einer unaussprechlichen,

vollkommenen Liebe. Die Erkenntnis und der Genuß

Gottes wird jenen „Quell des lebendigen Wassers" in

ihm hervorsprudeln lassen. Die Seele ist befriedigt, ihr

Durst ist für immer gestillt, und sie trägt das erquickende

Lebenswasser stets mit sich umher.

Fragst du, wo dieser Ort ist, an welchem sich Gott

und der Sünder begegnen können? Begehrst du zu wissen,

was Gott gethan hat, um den Sünder segnen zu können?

O, dann blicke auf das Kreuz. Da ist der Ort, wo Gott

und der Mensch zusammentreffen: der Mensch in seinem

Elend und Verderben, „fern von Gott und ohne Hoffnung

in dieser Welt" — Gott in Seiner überströmenden Gnade

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und Liebe, und zugleich in Seiner unbestechlichen Heiligkeit

und Gerechtigkeit. Der Mensch ist in der That unter

dem Fluche, und der Zorn Gottes ruht auf ihm. Wäre

es sonst nötig gewesen, daß der Herr Jesus den Fluch

auf sich nahm? Warum mußte der gepriesene Sohn Gottes

in der tiefsten Seelennot schreien: „Mein Gott, mein

Gott, warum hast Du mich verlassen?" Er hätte diesen

schrecklichen Platz nicht einzunehmen brauchen, wenn es

wirklich wahr wäre, daß der Mensch, wie so viele sagen

und denken, zwar nicht gut genug für den Himmel, aber

auch nicht böse genug für die Hölle sei. Kannst du, geliebter

Leser, auf das Kreuz blicken und sagen: „Dort starb

Christus für mich?" — „Er starb für alle," antwortest

du vielleicht. Doch dann möchte ich dich fragen: wenn

Er für alle starb, wenn Er den Platz des Gerichts einnahm

für alle, welcher Platz gebührt dann diesen allen?

Willst du einen Unterschied machen zwischen Sündern,

deren Errettung und Hinführung zu Gott, dem Vater,

einen solchen Tod nötig machten? Willst du noch länger

dafür streiten, daß du doch noch lauge nicht so schlecht

seiest, wie mancher andere? Vielleicht ist es so, vielleicht

bist du vor vielen groben Sünden durch die Gnade Gottes

bewahrt geblieben; aber was hilft eS dir, wenn nach

allem das Kreuz des Missethäters sowohl dein wie jener

Platz ist?

Ach! bedenke doch, daß es nicht ein Feind ist, der

Zu dir redet über deine Sünden und über deinen verlorenen

Zustand. Es ist die göttliche Liebe, die für dich

herniedergekommen ist und dir gerade durch das Opfer,

welches sie für dich bringen mußte, sagt, was du bist.

„Denn die Liebe des Christus dringt uns, indem wir

also urteilen: daß, wenn einer für alle gestorben ist, somit alle

gestorben find," d. h. daß sie sich alle unter dem Urteil des

Todes befinden. (2. Kor. 5,14.) Du bist gerade der Sünder,

der einen solchen Tod nötig machte. Gerade für solche, wie

du bist, ist Christus gestorben. Das Kreuz ist der Ort,

wo du Gott begegnen kannst, und wenn du heute im

Glauben deinen Blick auf das Kreuz richtest, so wirst du

sehen, wie Gott dort für dich ein vollkommenes Heil

bereitet hat. „DaS Wort ist treu und aller Annahme

wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist,

Sünder zu erretten." (1. Tim. 1, 15.) Kannst du mit

dem Apostel hinzufügen: „von welchen ich der erste bin,"

so hast du das erste Anrecht auf dieses Werk. Bist du

ein Sünder? Das ist alles, was Gott braucht. Nimm

einfach und aufrichtig diesen Platz vor Gott ein; aber

füge nichts hinzu. Sage nicht: „ich bin ein ehrbarer

Sünder;" für solche ist Christus nicht gestorben. Dem

Sünder bietet Gott Gnade und Vergebung an. Ja,

der Vater sucht aus der Mitte der Sünder solche, die

Ihn im Geist und in Wahrheit anbeten. Der Herr sagt

dies zu dem Weibe. Der Mensch sucht Gott nicht, sondern

der Vater sucht den Menschen, den Verlorenen.

„Ich weiß," antwortet das Weib, „daß der Messias

kommt, der Christus genannt ist; wenn jener kommt, wird

Er uns alles verkündigen."

„Jesus spricht zu ihr: „Ich bin's, der mit

dir redet."

Welch eine Botschaft für das arme Weib! Das

Kreuz war zwar noch nicht; aber der lange erwartete

Messias, der Christus, war da; Er saß neben ihr am

Rande des Brunnens und redete mit ihr, der großen

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Sünderin, obwohl Er ihre ganze Vergangenheit kannte,

in solch unbegreiflicher Güte und Huld. Er verkündigte

ihr die Gnade, welche allein ihrem traurigen Zustande

begegnen konnte. Sie nimmt diese Gnade auf, sie glaubt

dem Worte des Herrn, sie trinkt das Wasser des Lebens,

welches Er ihr reicht, und es wird in ihr „zu einer Quelle

Wassers, das in das ewige Leben quillt."

Welch eine liebliche Scene! Ja, mein lieber Leser,

Christus ist es, den du nötig hast. Fühlst du dich beleidigt,

wenn du die Evangelien öffnest und findest Ihn

in der Gesellschaft von Sündern? Sagst du mit den

selbstgerechten Pharisäern: „Dieser nimmt die Sünder

auf und isset mit ihnen?" Oder ist dir die Botschaft,

daß Er gekommen ist, zu suchen und zu erretten, was

verloren ist, köstlich, köstlicher, als dem verschmachtenden

Wüstenwanderer das Wasser der Oase? Hast du diesen

Christus kennen gelernt, der Sünder aufnimmt und niemanden

von sich stößt, der zu Ihm kommt, ja alle einladet

— weil alle Sünder sind — zu Ihm zu kommen?

Kennst du Den, der gesagt hat: „Kommt her zu mir,

alle Mühselige und Beladene, und ich werde euch Ruhe

geben? Was auch euer Leben, eure Erfahrungen, eure

Gefühle sein mögen, kommt her zu mir!" Was kann ein

Sünder anders haben, als schlechte Gefühle und schlechte

Erfahrungen? Was ist ein Sünder anders, als ein

Mensch von schlechtem Lebenswandel?

Der Herr hatte zu dem Weibe geredet, obwohl Er

alle ihre Umstände kannte, und Er war der Christus, der

ebendige Ausdruck dessen, was Gott ist. Alles war da

für sie, und sie hatte nach der Fülle Seiner Gnade von

Ihm empfangen. Und jetzt läuft sie fort, um den Leuten

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in der Stadt — denen, die sie sehr gut kannten — zu

sagen, daß sie einen Menschen gefunden, der ihr alles

gesagt habe, was sie gethan habe. Sie denkt nicht mehr

daran, weshalb sie gekommen ist, noch fragt sie darnach,

was die Leute von ihr sagen werden — nur ein Gegenstand

erfüllt ihr ganzes Herz: sie hat jemanden gefunden,

der ihr alles gesagt, was sie gethan hat. Ein jeder, der

an sich selbst erfahren hat, was es heißt, mit allen seinen

Sünden vor Gott gewesen zu sein, wird die Gefühle,

welche das Herz des Weibes erfüllten, verstehen. Wenn

einmal zwischen Gott und mir die Rede über meine Sünden

gewesen und kein Rückhalt mehr im Herzen vorhanden

ist, so kann ich auch vor andern rückhaltlos mein Leben

aufdecken. Doch kannst auch du sagen, mein lieber Leser:

„Er hat mir alles gesagt, was ich gethan habe?" Wenn

du es sagen kannst, wenn du mit allen deinen Sünden

in Seiner Gegenwart gewesen bist, so wirst du auch hinzufügen

können: „Er hat mir alles vergeben, hat meine

Sünden für immerdar hinweggethan und mir, dem Sünder,

nichts als Liebe bewiesen."

Doch noch eins. Wenn unser Herz voll von Freude

ist, so ist es das Seinige noch weit mehr. Wie wunderbar

ist der Gedanke, daß, wenn Er uns gegeben hat, wir

auch Ihm gegeben haben! Als die Jünger aus der Stadt

zurückkehrten und Ihn aufforderten, Speise zu sich zu

nehmen, wollte Er nicht essen. Der gute Hirte hatte Sein

Schäflein gefunden, und jetzt brauchte Er keine. Speise

mehr. Wenn die Freude eine gewisse Höhe erreicht, so benimmt

sie uns Hunger und Durst. So war es bei unserm

gepriesenen Herrn. Einer armen Sünderin begegnet zu sein

und sie zur Ruhe und zu dem Vater gebracht zu haben, war

19

Speise und Trank für Ihn und erfüllte Sein Herz mit tiefer,

unaussprechlicher Freude. Und immer noch ist Er derselbe —

gestern, heute und in Ewigkeit derselbe Jesus!

Ach! zu Seinen Jüngern mußte Er sagen: „Ich habe

eine Speise zu essen, dieihrnichtkennet." Wie wenig

kennen auch wir oft diese Speise! Wie wenig Interesse

findet sich in unsern Herzen zu armen, verlorenen Seelen,

wie wenig Liebe zu unserm Gott und Vater! Möchte doch

die Erfahrung Seiner Liebe auch in unsern Herzen eine wahre,

brennende Liebe zu Ihm, sowie zu den Gegenständen Seiner

Liebe entzünden! Möchten wir mehr und mehr erfahren, wie

köstlich es ist, den Willen Dessen zu thun, der auch uns

gesandt hat, und Sein Werk zu vollbringen!

Betrachtungen über die Epistel an die Römer.

(Fortsetzung.)

Kapitel 7.

Der Apostel behandelt in diesem Kapitel eine neue

Frage: Was ist die Wirkung des Gesetzes in Bezug

auf unsere neue Stellung? Der Grundsatz ist einfach. Wir

sind mit Christo gestorben; ein Gesetz aber herrscht nur

über den Menschen, so lange er lebt. Wenn ein Mörder

zum Tode verurteilt wird und er stirbt den Tod des

Gerichts, so kann die Obrigkeit weiter nichts mit ihm thun.

Nun sind wir gestorben; doch wenn wir durch das Gesetz

allein getötet wären, so wären wir nicht nur gestorben,

sondern auch verdammt. Nun aber sind wir mit Christo

gestorben, und Er hat die Folgen der Sünde, als Schuld,

für uns getragen. Wir sind also tot, und das Gesetz

übt demnach keine Herrschaft mehr über uns aus. An

die Stelle des Gesetzes ist Christus getreten. Anstatt

20

eines Gesetzes, welches die Sünden und die Gelüste verbot

und uns notwendig verdammen mußte — weil das

Fleisch, an welches das Gesetz seine Forderungen richtete,

demselben nicht unterworfen war, noch sein konnte —

besitzen wir, indem wir durch den Glauben das Fleisch,

welches zur Sünde geneigt ist, für tot halten, in Christo

ein neues Leben. Der Apostel wendet als Beispiel die

Ehe an; der Tod löst die Verbindung zwischen Mann

und Weib auf. So sind wir tot in Bezug auf das

Gesetz und find mit einem andern Manne verbunden,

nämlich mit dem auferstandenen Christus. Das Bild

wird hier in umgekehrter Weise angewandt: nicht das

Gesetz, sondern wir, als solche, die ihr Leben im Fleische

hatten, sind gestorben. (V. 4.)

Das ist die Lehre. In dem Folgenden redet der

Apostel von der Erfahrung. Diese stößt den wichtigen

Grundsatz keineswegs um, sondern bestätigt vielmehr die

Befreiung der Seele von dem Gesetz durch das Gestorbensein

mit Christo, der jetzt unser neues Leben geworden

ist. Nach dem von dem Apostel angewandten Bilde von

der Ehe sind wir mit Christo ehelich verbunden und dadurch

zu Gott in ein ganz neues Verhältnis, in das der Verwandtschaft

getreten. Es heißt deshalb: „Als wir im

Fleische waren." „Im Fleische sein" heißt: aufdemBoden

oder in der Stellung des ersten Adam vor Gott stehen

und Ihm nach dieser Stellung verantwortlich sein. Es

handelt sich hier nicht um die Schul.d, sondern um die

Befreiung der Seele von dem Joch der Sünde. Wenn

man gesetzlos ist und sucht nichts anderes als sein Vergnügen,

so kann das Gewissen wohl einmal aufwachen;

aber die Kraft der Sünde wird nicht gefühlt. Man schwimmt

21

mit dem Strom und fühlt nicht, daß man unter der

Herrschaft der Sünde steht. Wenn man bekehrt wird,

so ist man zuerst mit der Schuld beschäftigt, mit der Last

der Sünden. Selbst wenn man die Vergebung der Sünden

kennen gelernt hat und glaubt, daß man ein Kind Gottes

ist, so mag die Form der Erfahrung wohl verändert sein,

weil es sich nicht mehr um Rechtfertigung handelt, aber

nichts destoweniger ist die Seele betrübt, so lange sie nicht

auf dem Wege der Erfahrung von der Kraft der in uns

wohnenden Sünde befreit ist. Immer aufs neue entsteht

die Frage: Wie kann Gott mich annehmen, oder wie

kann Er Wohlgefallen an mir haben, da doch die Sünde

noch vorhanden ist, die ich nicht überwinden kann? So

lange man die Vergebung nicht kennt, ist die Frage:

„Wie kann ich Vergebung finden?" Hat man sie gefunden,

so bleibt immer noch die Frage: „Was bin

ich vor Gott, wie kann ein solcher, wie ich bin, angenommen

werden? Sollte ich mich auch wirklich nicht getäuscht

haben?" Mit einem Wort, das Auge ist nur auf das gerichtet,

was wir in uns selbst vor Gott sind, und da sieht

es, daß die Sünde noch vorhanden ist; und doch sollte

ein Christ den Sieg über die Sünde davontragen. Ein

solcher ist in der That, oder im Zustande seines Geistes,

in seiner Gesinnung, immer noch im Fleische.

Wir haben schon bemerkt, daß die Stellung sich

in den ersten vier Versen findet. Der fünfte und sechste

Vers leiten dann auf die Erfahrung über. Wir waren

im Fleische ehelich verbunden mit dem Gesetz. Dasselbe

gab kein Leben, keine Kraft, kein Vertrauen auf Gott.

Es verbot die Sünden und rechnete sie mir zu. Doch

nicht allein das, sondern es gab auch der Sünde im

— 22 —

Fleische Anlaß, wirksam zu werden, um dem Tode Frucht

zu bringen. Es brachte die Sünden und Gelüste vor

das Herz, indem es sie verbot. Wenn ein Haufen Geld

auf dem Tische liegt, und es wird mir gesagt: Du darfst

nichts davon nehmen, so wird alsbald die Lust in mir

erwachen, es zu thun. Oder wenn ich sage: Ich habe

hier etwas in dieser Schublade, aber niemand darf wissen,

was es ist, so wird jeder, klein und groß, Lust verspüren,

die Schublade zu öffnen. Die Leidenschaften der Sünde

sind durchaus nicht von dem Gesetz, sondern durch

dasselbe. Es setzt aber voraus, daß das Fleisch vorhanden

ist, und daß wir die Kraft Christi nicht besitzen.

Jetzt aber (in Christo) sind wir von dem Gesetz los gemacht,

weil wir dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten

wurden. Wir waren im Fleische unter dem

Joch des Gesetzes; das Fleisch war die Quelle der Sünden;

und jetzt ist es für den Glauben gestorben, auf daß wir

in Neuheit des Geistes dienen. Der Tod des Fleisches,

des alten Menschen, bildet die Grundlage für den Ueber-

gang aus der Knechtschaft im Fleische zur Freiheit im

Geiste; zugleich steht dieser Tod in Verbindung mit der

Erlösung.

Aber wie kann dieses Ziel erreicht werden? Es ist

dies etwas ganz anderes, als darnach zu verlangen. Die

Lehre ist im Worte Gottes ganz klar und einfach dargestellt.

Aber es giebt viele, die dieser Lehre gemäß wissen,

daß der Christ mit Christo gestorben und sogar mit Ihm

auferstanden ist; die auch glauben, daß sie mit Ihm gestorben

sind, weil das Wort Gottes dieses so klar ausspricht;

die nicht daran zweifeln, daß sie Kinder Gottes

sind, und daß eine solche Stellung dem Kinde Gottes

23

angehört, und die trotz alledem nicht befreit sind. Es giebt

selbst solche aufrichtige Seelen, die, wenn sie nicht so

wandeln, wie sie gerne möchten, anfangen zu zweifeln

und zu fragen, ob sie nicht Heuchler sind, ob sie sich

nicht getäuscht haben. Sie glauben, und das mit Recht,

daß Gott etwas anderes bei ihnen sehen möchte, als was

Ersieht. Sie machen alles abhängig von dem, was sie

in sich selbst vor Gott sind. Das ist aber Gesetz und

nicht Gnade. Die Antwort auf die Frage, wie der Zustand

der Freiheit erlangt wird, wird vom siebenten Verse

an entwickelt.

Um wahrhaft befreit zu werden, muß man lernen,

und zwar durch die Erfahrung, daß man von der Kraft

der Sünde gefangen ist und keine Kraft hat, sich selbst

zu befreien, selbst wenn man gern frei sein möchte. Hierzu

benutzt Gott das Gesetz und das Verlangen des neuen

Menschen, frei zu werden vom Joch der Sünde, die er

haßt. So lernt der Christ, nicht daß er gesündigt hat —

das ist hier nicht der Gegenstand der Betrachtung —

sondern daß in ihm, während er gern die Heiligkeit erlangen

möchte, ein Grundsatz der Sünde im Fleische

wirksam ist. Das Gesetz lehrt ihn, daß Gott dieses nicht

erlauben kann; seine erneuerte Gesinnung erkennt, daß

Gott es nicht erlauben darf; er selbst will es auch nicht.

Und dennoch ist dieser Grundsatz der Sünde vorhanden,

kräftig wirksam, zu kräftig für ihn, um sich davon befreien

zu können. Deshalb hat das Gesetz nicht allein die

Pflichten für alle menschlichen Verhältnisse mit göttlicher

Autorität festgestellt, sondern hat auch hinzugefügt: „du

sollst nicht begehren." Das ist ein Prüfstein für den

Menschen und stellt, selbst wenn er nicht äußerlich ge

24

sündigt hätte, selbst wenn sein Wollen durch die Bekehrung

auf die Heiligkeit gerichtet ist, seinen Zustand klar

ins Licht. Diese Heiligkeit, nach der er trachtet, kann

er nicht erreichen. Als er ohne Gesetz war, fühlte sein

Gewissen, wenn er nichts gethan hatte gegen die Stimme

desselben, den Richterspruch des Todes nicht. Er lebte

ruhig voran, ohne das Gefühl der Verurteilung mit sich

herumzutragen. Aber das Gesetz kam und sprach über

das „Begehren" die Verdammnis aus; die Erfahrung

lehrt, daß dieses Begehren im Herzen vorhanden ist,

und nun fühlt das Gewissen das Urteil der Verdammnis;

das Begehren selbst wird geweckt, und alles

kommt ans Licht. Das Gewissen fühlt den Richterspruch;

man möchte das Gute thun, aber man findet, daß stets

das Böse vorhanden ist.

Das Gesetz sagt: „Thue dieses, und du wirst leben."

Der bekehrte Mensch, aus dessen Gewissen das Gesetz

seine Kraft ausübt, sieht dasselbe als Gottes Gesetz an;

die Furcht Gottes ist in seinem Herzen, und er möchte

thun, was das Gesetz sagt. Wir sprechen hier von dem

Zustande eines Bekehrten, nicht eines Befreiten. Weil

das Gesetz dem, der es halten würde, das Leben verhieß,

so war es also zum Leben gegeben; weil aber das Fleisch

dem Gesetz nicht unterworfen ist, so erweist dasselbe sich

in Wirklichkeit dem Menschen zum Tode; dies erfährt

die aufrichtige bekehrte Seele. Es ist gut, hier den Unterschied

zu beachten zwischen einem natürlichen Menschen,

der nur ein Gewissen hat, und dem Zustande eines Menschen,

>vie er uns hier vorgestellt wird. Das Gewissen unterscheidet

zwischen Bösem und Gutem; Gott hat dafür gesorgt,

daß der Mensch, nachdem er sündhaft geworden.

25

das Gewissen mit in die Welt bringt. Es verurteilt

seiner Natur nach das, was böse ist; nichtsdestoweniger

thut der Mensch das Böse. Ein Heide, dessen Wille

nicht verändert ist, könnte sagen: ich gebe dem, was besser

ist, zwar meinen Beifall, aber ich will nicht das, was

gut ist, und folge dem Bösen. So aber ist es nicht bei

dem Menschen, von welchem der Apostel hier redet. Sein

Wille ist erneuert; er hat Wohlgefallen am Gesetz Gottes.

Das ist die Gesinnung Christi selbst und der Beweis,

daß ein Mensch, in welchem sich diese Gesinnung findet,

bekehrt ist und im Grunde des Herzens ein neues Leben

empfangen hat. Das Gewissen in dem unbekehrten Menschen

läßt diesen anerkennen, was gut ist, aber der Wille des

Fleisches bleibt immer derselbe; er lebt eben im Fleische,

hat wohl ein Gewissen, aber keinen neuen Willen. Dagegen

fehlt dem in Römer 7 geschilderten Menschen nicht

der Wille, sondern die Kraft zum Thun dessen, was

er will. Es handelt sich hier um den Zustand einer

Seele, die das Gute will.

Im 13. Verse geht der Apostel dazu über, die

Wirkung des Gesetzes auf die Erfahrung der Seele zu

beschreiben, die also das Gute will. Im Verse vorher

wird anerkannt, daß das Gesetz heilig sei und das Gebot

heilig, gerecht und gut. Naturgemäß entsteht nun die

Frage: „Ist denn das Gute mir zum Tode geworden?"

Keineswegs. Die Sünde aber wirkte den Tod durch

das, was gut ist (das Gesetz), auf daß die Sünde völlig

offenbar würde, ihren wahren Charakter annähme und

überaus sündig würde, indem sie das Gute gebraucht hat,

nm den Tod hervorzubringen. Das Böse offenbart sich

nicht allein als böse an und für sich, sondern auch als

26

Ungehorsam, da es verboten ist, und wird so durch

das Verbot überaus sündig. Die Sünde hat einen starken

Willen im Menschen, daß er thun will, was böse ist,

selbst wenn Gott es verboten hat. Wenn mein Kind

umherläust, anstatt seine Aufgaben zu machen, so ist das

eine schlechte Gewohnheit; wenn ich ihm aber verbiete,

hinauszulaufen, und es folgt dennoch jener schlechten Gewohnheit,

so ist das außerdem noch Ungehorsam. Durch

das Gebot ist die Sünde überaus sündig geworden. Es

zeigt, daß in mir nicht allein böse Gelüste sind, sondern

daß auch ein Eigenwille vorhanden ist, welcher das Böse thut,

trotz des Verbotes Gottes; man verachtet Gott und Sein Wort.

Doch wird durch das Gesetz noch mehr gelernt, nämlich

unsre Schwachheit, selbst wenn wir das Gute thun wollen.

Es gelingt dem bekehrten, aber nicht befreiten Menschen

nicht, zu thun, was er gern thun möchte; die Kraft fehlt

ihm. Er findet, daß er fleischlich ist, unter die Sünde

verkauft, das heißt ein Sklave derselben. Er weiß, daß

das Gesetz geistlich ist, er aber ist im Fleische, fleischlich,

unter dem Joch der Sunde, der er als Sklave verkauft

ist. Das Gewissen ist thätig nach dem Maße, wie er

den Willen Gottes aus dem Gesetz kennt, und zwar erblickt

er im Gesetz nicht allein äußerliche Vorschriften, sondern

etwas, was die Quellen des Bösen im Herzen verurteilt.

Äußerlich kann man wohl tadellos sein; Saulus

und viele andere waren es, aber sie waren dadurch voll

Eigengerechtigkeit. Wenn das Gesetz aber die Begierde

verbietet, so könnte es uns ebenso gut verbieten, Menschen

zu sein. Darum hat Gott den Geboten hinzugefügt: „Laß

dich nicht gelüsten."

Es handelt sich hier also nicht um das, was ich

gethan habe, sondern um das, was ich bin, und da

entdecke ich zuerst, daß in mir nichts Gutes ist. Ich will

das Gute thun, aber ich thue es nicht. Ich bin unter

dem Joch der Sünde, im Fleisch. Ich erkenne an, daß

das Gesetz gut ist; ich hasse die Sünde, und doch thue

27

ich sie. Was ich aber hasse, das bin ich nicht selbst; ich

hasse sie ja. So lerne ich, durch Gott belehrt, einen

Unterschied machen zwischen mir und dem, was ich thue,

wie der Apostel sagt: „Wenn ich aber das, was ich nicht

will, ausübe, so wirke nicht mehr ich dasselbe, sondern

die in mir wohnende Sünde." Doch dies ist nicht die

Freiheit; dieselbe erfordert Kraft. Immerhin aber ist es

eine sehr wichtige Erquickung auf dem Wege, nicht allein

gelernt zu haben, daß in mir nichts Gutes wohnt, sondern

auch zu unterscheiden zwischen mir und der Sünde, die

in mir wohnt. Ich habe Wohlgefallen am Gesetz nach

dem inneren Menschen; das Gewissen ist thätig und der

Wille ist in Ordnung gebracht. Was noch fehlt, ist die

Kraft, und diese ist nicht vorhanden, weil die Erlösung

noch nicht klar gekannt wird. Durch die Erfahrung lernt

man nicht allein, daß man das Gute nicht thut, sondern auch daß

man eS nicht thun ka n n; immer ist das Joch der Sünde da.

Und das ist es gerade, was man zu lernen hat, nämlich daß

man „keine Kraft" hat, den Willen Gottes zu thun.

Drei durch die Erfahrung zu erlernende Wahrheiten

sind es also, wovon bis jetzt die Rede gewesen ist:

1. Im Fleische wohnt nichts Gutes.

2. Wir haben zu unterscheiden zwischen uns selbst, die

wir das Gute wollen, und der in uns wohnenden

Sünde.

3. Es ist keine Kraft in uns, so lange wir nicht

befreit sind, die Sünde im Fleische zu überwinden;

vielmehr werden wir durch sie überwunden.

Wir können uns also selbst nicht befreien, müssen

vielmehr befreit werden, und zu dieser Erkenntnis muß

die Seele gebracht werden. „Wer wird mich frei machen?"

ist der Ausdruck des Bewußtseins, das wir selbst es nicht

können; wir sehen uns nach einem Andern um. Das ist

es, was wir lernen mußten — nicht unsre Schuld, sondern

unsre Schwachheit, unsre völlige Kraftlosigkeit, unsre Abhängigkeit

von Gott. Doch haben wir hier Verschiedenes

zu bemerken.

28

Es kann nur derjenige diesen Zustand beschreiben,

der selbst darin gewesen ist, sich aber jetzt außerhalb desselben

befindet. Ein Mensch, der in einen Sumpf geraten

ist, kann unmöglich ruhig diese Lage beschreibeu, so lange

er sich darin befindet. Er fühlt nur, daß er sinkt und

am Umkommen ist, so daß er nichts anderes thun kann,

als um Hülfe rufen. Nachdem er aber errettet ist, kann

er ruhig alles beschreiben. Einer, der nie in einer solchen

Lage war, wird vielleicht zu ihm sagen: Warum bist du

nicht voran gegangen, bis du festen Boden fandest? Ja,

sagt der andere, das ist leicht gesagt, aber wenn ich im

Sumpf einen Fuß aufhob, so sank der andere nur um

so tiefer hinein. Das ist auch der Zustand der Seele

in Römer 7, und zwar beschrieben durch einen Christen,

der sich selbst darin befunden hat, jetzt aber befreit ist.

Ich sage „durch einen Christen;" denn wenn der Apostel

sagt: „wir wissen," (V. 14.) so ist das christliche

Erkenntnis. Die Erfahrung aber ist das Bewußtsein

einer einzelnen Person. Wenn er also sagt: „ich bin,"

so ist das Erfahrung und nicht Lehre. Alles ist in

diesen mitgeteilten Erfahrungen noch durchaus gesetzlich.

Die betreffende Person stimmt dem Gesetz bei, daß es

recht sei; ja, sie hat Wohlgefallen an dem Gesetz. Das Gewissen

und der Wille sind in göttlichen Dingen richtig;

beide aber haben das Gesetz zum Gegenstand und Maßstab.

Wir hören kein Wort von Christo, noch von dem Geiste;

das Gesetz ist der einzige Gegenstand der Seele. In

Vers 25 aber wird die wahre Befreiung erreicht, und

der befreite Christ dankt Gott. Wohl setzt sich der

Kampf immer fort; wir finden dies in Gal. 5, 16 — 18.

Doch wird an dieser Stelle gesagt, daß das Fleisch gelüstet

wider den Geist, der Geist aber wider das

Fleisch. Wenn wir aber durch den Geist geleitet werden,

so sind wir nicht unter Gesetz, d. h. nicht in dem Zustande,

der im siebenten Kapitel des Römerbriefes beschrieben ist.

(Forts, folgt.)

Betrachtungen über die Epistel an die Römer.

(Fortsetzung.)

Kapitel 8.

Diese Befreiung steht in der engsten Verbindung mit

der Erlösung, nicht sowohl hinsichtlich der Vergebung, als

vielmehr hinsichtlich unsers Gestorbenseins mit Christo.

Wir haben schon gesehen, daß es zwei Hauptpunkte in

dieser Erlösung giebt, nämlich die Vergebung der Sünden

oder die Rechtfertigung, und die Befreiung: Freiheit vor

Gott, und Freiheit vom Joche der Sünde im Fleische.

Wenn wir aber mit Christo gestorben find, so sind wir

der Sünde gestorben und sind nicht mehr im Fleische

vor Gott. Das fleischliche Leben ist nicht mehr unsre

Stellung, weil Christus, nachdem Er gestorben, unser

Leben geworden ist. Die Sünde im Fleische ist verurteilt,

verdammt — nicht vergeben — und zwar im Tode

Christi auf dem Kreuze. Die Kraft des Lebens Christi

ist in mir, ist mein Leben. Doch nicht allein das. Die

Sünde im Fleische, die meine Qual war, ist schon verurteilt,

aber in einem Andern, so daß es für mich wegen

des Fleisches keine Verdammnis mehr giebt. Da wo diese

Verdammnis, das Gericht des Fleisches, ausgeübt worden

ist, ist der Tod eingetreten, und diejenigen, die in Christo

Jesu sind, sind mit Ihm gestorben, so daß es für sie

keine Verdammnis mehr giebt. Was an Ihm geschehen

30

ist, ist an uns geschehen: Er ist der Sünde gestorben,

und die Verdammnis ist vorbei. Das ist unser Zustand,

betreffs der Sünde im Fleische. So klar wie im ersten

Teile des Briefes von dem Wegthun der Sünden gesprochen

wird, eben so klar wird hier das Wegthun der

Sünde im Fleische und der Verdammnis vorgestellt;

ja, für den Glauben ist das Fleisch selbst beseitigt, da

wir gestorben sind.

Dieser Zustand wird in den drei ersten Versen des

achten Kapitels beschrieben. Der Christ befindet sich in

einer ganz neuen Stellung: er ist in Christo. Nicht

allein hat sich die Gnade Gottes darin geoffenbart, daß

die Sünden des alten Menschen vergeben sind, sondern

auch seine Stellung ist eine ganz neue geworden: wir

sind erlöst. Es heißt nicht: „Also ist jetzt keine Verdammnis

mehr für die, welchen die Sünden vergeben

sind," sondern: „für die, welche in Christo Jesu sind."

Diese Stellung ist das Resultat des Werkes Christi, der

Erlösung. Der Christ ist mit Christo aus der Stellung

des Fleisches befreit, weil er mitgestorben ist und teil hat

an dem Leben des auferstandenen und verherrlichten Christus.

So steht er vor Gott nicht mehr als ein Kind Adams,

verantwortlich im Fleische, sondern als einer, der diese

Stellung wirklich verlassen hat durch den Tod, und der

lebendig ist in Christo. Das Fleisch wird betrachtet als

tot, als verdammt, als nicht mehr vorhanden, sondern als

verschwunden im Tode Christi. Der Christ ist lebendig in

Christo, er ist nicht mehr im Fleische. (Vergl.Gal. 2, IS. 20.)

Der Ausdruck: „das Gesetz des Geistes des Lebens

in Christo Jesu" rc. im zweiten Verse unseres Kapitels

mag manchem Leser auffallend erscheinen. Es soll dadurch.

31

wie ich glaube, angedeutet werden, daß der Geist des

Lebens in Christo Jesu beständig und ununterbrochen nach

ein und demselben Grundsätze wirkt, damit das Fleisch

tot sei in dem Gläubigen, indem es in einem Anderen

verurteilt wurde. Durch das Leben Christi und den

Heiligen Geist ist der Gläubige in Christo. Wie könnte

es da noch Verdammnis geben? Gott hat sich schon mit

der Sünde im Fleische am Kreuze beschäftigt und ist jetzt,

wenn man so sagen darf, fertig damit. Das neue Leben

und der Heilige Geist geben dem lebendig gemachten

Gläubigen seinen Platz in Christo; er ist erlöst und vor

Gott lebendig in Christo. Es handelt sich hier nicht, wie

schon gesagt, um die Vergebung der Sünden des alten

Menschen, sondern um eine neue, lebendige Stellung in

Christo. Das ist es, was in den drei ersten Versen des

achten Kapitels dargestellt wird.

Nachdem im siebenten Kapitel die Erfahrung der

ersten Stellung, sowie die Befreiung durch die Erlösung

in Christo und die Fortdauer der zwei Naturen, als

wirkliche Thatsache, beschrieben worden, wird in den drei

ersten Versen des achten Kapitels die neue Stellung in

Christo, im Gegensatz zu der Stellung im Fleische oder

der Stellung im ersten Adam, dargestellt. Im ersten

Verse — keine Verdammnis ; im zweiten — die Kraft

des Lebens; im dritten — die Verurteilung der Sünde

im Fleische in Christo auf dem Kreuz. Was den zweiten

Vers charakterisirt, ist das Leben in Christo nach der

Kraft des Heiligen Geistes, und zwar als ein unaufhörlich

wirkender Grundsatz. Den dritten kennzeichnet die Verurteilung

der Sünde im Fleische im Sündopfer Christi.

Die Sünde ist zwar noch da, und wenn wir nicht treu

32

sind, wenn wir nicht praktisch das Sterben des Herrn

Jesu umher tragen, so ist sie wirksam in uns; wir verlieren

die Gemeinschaft mit Gott und entehren den Herrn

durch unsern Wandel, indem wir nicht nach dem Geiste

des Lebens wandeln, würdig des Herrn. Aber wir stehen

nicht mehr unter dem Gesetz der Sünde, sondern,

mit Christo gestorben und eines neuen Lebens in Ihm

und des Heiligen Geistes teilhaftig geworden, sind wir

von diesem Gesetz befreit; wir befinden uns in einer neuen

Stellung, sind in dem zweiten Adam vor Gott, und

unser naturgemäßer Wandel ist nach dem Geiste — nicht

nach dem Fleische. So wird das Gesetz Gottes und sein

Recht in uns erfüllt. Darüber hinaus geht die Lehre

hier nicht, weil man das Gesetz wollte. Das Gesetz

aber ist nicht der Maßstab des christlichen Wandels; es

wird nur gesagt, daß der, welcher nach dem Geiste wandelt,

eS erfüllt. Als ich im Fleische war, konnte ich es nicht

erfüllen, weil das Fleisch sich dem Gesetz nicht unterwirft,

es auch nicht vermag, sondern nur seinem eignen Willen

folgt. Der Geist aber wird uns sicher nicht in das leiten,

was gegen das Gesetz Gottes ist. Das Gesetz wird

praktisch erfüllt, indem wir nicht unter dem Gesetz, sondern

unter der Leitung des Geistes stehen. Wir stehen unter

dem Einfluß des Geistes, und es handelt sich nicht um

ein Gesetz außer uns, sondern um eine Natur in uns,

die den für sie passenden Gegenstand besitzt. Die, welche

nach dem Geiste leben, dem neuen Menschen gemäß, begehren

die Dinge, die des Geistes sind; die aber, welche

nach dem Fleische sind, sinnen auf die Gegenstände der

fleischlichen Gelüste. Es handelt sich nicht um ein auferlegtes

Gesetz, sondern um eine neue Gesinnung, die Gesinnung

33

einer Natur, welche vom Geiste geboren ist und das sucht,

was geistlich ist — eine heilige Freiheit, indem der Mensch,

als gestorben mit Christo, vom Joche der Sünde befreit

ist, eine aus Gott geborene heilige Natur besitzt, heilige

Gegenstände vor Augen hat und eine Wohnung des

Heiligen Geistes ist, der im Herzen heilige Gedanken hervorbringt

und die Dinge offenbart, welche droben sind.

Die Gesinnung des Fleisches ist der Tod der Seele, hat

keine Frucht und trennt die Seele von Gott, sowohl jetzt,

als in der Ewigkeit. Die Gesinnung des Geistes aber

ist Leben, eine Quelle in uns, die in das ewige Leben

quillt und die Seele mit Frieden erfüllt. Die Gesinnung

des Fleisches lehnt sich gegen die Autorität Gottes auf.

Weil sie die Thätigkeit des natürlichen Menschen ausmacht,

so hat sie es mit dem Gesetz zu thun, welches der Ausdruck

dieser Autorität Gottes über den Menschen und die

Richtschnur seiner Verantwortlichkeit als Geschöpf Gottes

ist. Aber sie unterwirft sich dem Gesetz nicht und vermag

es auch nicht, weil der eigene Wille seinen eigenen Weg

gehen will; auch liebt sie durchaus nicht das, was Gott

wohlgefällt. So können also die, welche im Fleische sind,

welche sich vor Gott in der Stellung des ersten Adam befinden

und nach dem Leben des ersten Adam wandeln,

Gott nicht gefallen.

In Vers 9 begegnen wir einem sehr wichtigen Grundsatz.

Wann kann jemand sagen: ich bin nicht im Fleische?

Antwort: wenn der Heilige Geist in ihm wohnt. Es

kann jemand bekehrt sein, sich aber noch in dem im siebenten

Kapitel beschriebenen Zustande befinden, wie z. B. der

verlorene Sohn, bevor er seinem Vater begegnet war. Er

war bekehrt und auf dem rechten Wege; doch wollte er

34

nur ein Tagelöhner seines Vaters werden. Sobald er

aber mit dem Vater zusammengetroffen war, hören wir

nichts mehr davon, sondern nur von dem, was sein Vater

war und was derselbe für ihn that. Die Befreiung

findet statt durch das persönliche Bewußtsein dessen, was

der Vater ist, gekannt in Christo Jesu, durch das Bewußtsein

der Erlösung. Und dieses Bewußtsein findet

sich nur in einer Seele, in welcher der Heilige Geist

wohnt. Ein bekehrter Mensch ist als solcher erst dann

in der christlichen Stellung, wenn er gesalbt worden ist.

Gewissen und Herz waren bei dem verlorenen Sohne,

als er sich auf dem Wege zum Vaterhause befand, durch

die Gnade erreicht und richtig geleitet; aber er war noch

nicht mit dem vornehmsten Kleide bekleidet und kannte auch

das Vaterherz noch nicht. Er trat erst dann in die christliche

Stellung ein, als er den Vater erreicht hatte, und

von diesem Augenblick an hören wir nichts mehr von

ihm, sondern nur von dem Vater. Vorher war sein Zustand

nicht passend für das Haus.

In Vers 10 sehen wir die andere Seite deS christ-

lichen Verhältnisses. Im Anfang des Kapitels heißt es:

„welche in Christo Jesu sind," und hier: „wenn

Christus in euch ist." Der Christ ist also einerseits „in

Christo," und andererseits ist „Christus in ihm." In

Christo sind wir nach Seiner Vollkommenheit vor Gott;

Christus in uns ist der Grund und Maßstab unsrer

Verantwortlichkeit, wobei Er aber die Quelle unsrer Kraft

ist, und zwar nach dem, was im Anfang des Kapitels

gesagt worden ist. Ein Christ ist ein Mensch, der nicht

allein neu geboren ist — was durchaus notwendig ist —

sondern in welchem auch der Heilige Geist wohnt. Dieser

35

lenkt den Blick des Gläubigen auf das Werk Christi und

lehrt ihn den Wert desselben würdigen; Er giebt ihm

das Bewußtsein, daß er in Christo ist und Christus in

ihm, (Joh. 14.) und erfüllt sein Herz mit der Hoffnung

der Herrlichkeit, mit der Gewißheit, daß er gleich Christo

und bei Christo sein wird für immer und ewig. Wenn

der Bekehrte weiß, daß seine Sünden vergeben sind, wenn

er „Abba, Vater!" rufen kann, wenn er das Bewußtsein

hat, daß es für ihn keine Verdammnis mehr giebt, so ist

er befreit; er steht in der Freiheit vor Gott und ist

befreit von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Aber

er ist erst dann ein vollendeter Christ, vollkommen, wenn

er durch den Heiligen Geist versteht, daß er die Stellung

Christi einnimmt, daß Gott in derselben Weise sein

Vater und sein Gott ist, wie Er der Gott und Vater

unsers Herrn Jesu Christi ist — wenn er versteht, daß

er aus der Stellung Adams in die Stellung Christi

hinüber gegangen, daß er mit Christo gestorben ist und

also selbst nicht mehr lebt, sondern Christus in ihm.

(Gal. 2, 20.)

Diese Freiheit wird im Römerbrief ganz klar vorgestellt

und entwickelt, doch nur insofern, als der Gläubige

darin betrachtet wird, als mit Christo gestorben und

Christum als sein Leben besitzend, wodurch er befreit

worden ist von dem Gesetz der Sünde sowohl, als auch

von dem mosaischen Gesetz, weil dieses über einen Menschen

herrscht, so lange er lebt, und nicht weiter gehen

kann. Der Brief behandelt jedoch nicht die Ratschlüsse

Gottes und die Herrlichkeit unsrer neuen Stellung. Wohl

geben die Verse 29 u. 30 des achten Kapitels einen Anknüpfungspunkt

für diese Lehre; im allgemeinen aber be

36

handelt der Brief die Verantwortlichkeit des Menschen,

sowie das, was Gott gethan hat, um uns von unsrer

Schuld zu reinigen und zu rechtfertigen, und er lehrt zugleich,

wie wir durch unser Gestorbensein mit Christo vom Gesetz

der Sünde und des Todes befreit sind. Jene beiden

Verse eröffnen einen etwas weiteren Blick, doch wird die

neue Stellung nicht näher entwickelt. Der Brief geht

nicht über die Wahrheit hinaus, daß wir durch Christum

lebendig gemacht sind; er redet nicht von unsrer

Auferweckung mit Ihm. Diese — den Ausgangspunkt

unsrer neuen Stellung — müssen wir im Kolosserbrief

suchen. Der Epheserbrief entwickelt diese Lehre dann noch

weiter, jedoch von einem andern Gesichtspunkte aus. Dort

hören wir nicht, daß ein Kind Adams sterben und auferstehen

muß, und daß der Gläubige gestorben ist, obwohl

er als auferstanden mit Christo dargestellt wird. Der

unbekehrte Mensch wird vielmehr in dem Epheserbries betrachtet

als tot in den Sünden, und alles ist eine neue

Schöpfung. Wir finden darin alle die Ratschlüsse Gottes,

sowohl in Bezug auf die mit Christo anferstandenen

Gläubigen, als auch in Bezug auf Christum selbst, auf

die Kinder Gottes und unsre Einheit mit Christo, als

Sein Leib.

Es wird gnt sein, zu bemerken, daß, wie in den

ersten drei Versen des achten Kapitels die Grundsätze

der Befreiung dargestellt sind, so in den acht folgenden

Versen der praktische Charakter und das Resultat der

Befreiung beschrieben wird. Der Heilige Geist ist

wirksam in dem neuen Leben, anstatt eines außerhalb

stehenden Gesetzes, dem selbst das Fleisch einen unüberwindlichen

Widerstand entgegen setzte. Der Geist versieht

37

das neue Leben mit. himmlischen Gegenständen, in welchen

dasselbe seine Freude und Ernährung findet. „Die Gesinnung

des Geistes ist Leben und Frieden." Dies alles

ist abhängig von dem Wohnen des Heiligen Geistes in

uns. „Wenn jemand den Geist Christi nicht hat, der ist

nicht Sein." Wir haben schon gesagt, daß der Zustand eines

solchen demjenigen des verlorenen Sohnes gleich sei, bevor

derselbe seinen Vater gefunden hatte. Wenn dagegen

der Geist des Christus in dem Bekehrten wohnt, so ist

der Leib für ihn tot, der Sünde wegen, der Geist aber

Leben, der Gerechtigkeit wegen. Wenn der Leib lebt kraft

seines eignen Lebens, so bringt er nichts als Sünde hervor;

der geistliche Mensch hält ihn nach Kapitel 6 für tot.

Der Geist ist von dem neuen Leben nicht zu trennen.

Er ist die Quelle des Lebens und charakterisirt dasselbe.

Weil nun der Geist Dessen, der Jesum auferweckt hat, in

uns wohnt, so wird Der, welcher Christum aus den Toten

auferweckt hat, auch unsre sterblichen Leiber auferwecken

wegen Seines in uns wohnenden Geistes. Das ist das

gesegnete Ende des Lebens des Geistes in Christo Jesu,

oder vielmehr der Anfang desselben in seiner wahren Vollkommenheit.

Der Geist ist Gottes Geist. Gott hat Jesum,

die menschliche Person, auferweckt; Jesus ist Sein persönlicher

Name. Er lag aber nicht für sich unter den

Toten; Christus ist Sein Name, als für andere gekommen.

Wenn deshalb der Geist Gottes in uns wohnt,

so wird Der, welcher Ihn, den Erstgeborenen, auferweckt

hat, auch die erlösten Schafe auferwecken.

Dem Heiligen Geist werden hier drei charakteristische

Namen beigelegt: Geist Gottes (V. 9.) im Gegensatz

Zum Fleische; Geist Christi, als die Bildungskraft des

38

neuen Menschen, und Geist Dessen, der Christum

aus den Toten auferweckt hat, weil Er das Unterpfand

der Auferstehung in uns ist.

Der herrliche Zweck der befreienden Gnade ist erreicht.

Die Umstände, welche uns umgeben, bleiben freilich

dieselben, und unsere Stellung vor Gott in Verbindung

mit diesen Umständen wird in den folgenden Versen des

achten Kapitels dargestellt. (Forts folgt.)

Die Bibel — das Buch Gottes. *)

Die Bibel ist das Buch aller Zeitalter. Sie ist

das Buch Gottes, Seine vollkommene Offenbarung. Seine

eigene Stimme spricht zu einem jeden von uns. Sie ist

ein Buch für alle Zeiten, für alle Länder, für alle Klassen

von Menschen, hoch und niedrig, reich und arm, gelehrt

und ungelehrt, alt und jung. Sie redet eine so einfache

Sprache, daß ein Kind sie verstehen kann, und doch wieder

so tief, daß der schärfste Verstand sie nicht zu ergründen

vermag. Zudem spricht sie unmittelbar zu dem Herzen;

sie dringt hinab bis zu den verborgensten Quellen unsrer

Gedanken und Gefühle und ergründet die geheimsten Winkel

unsers moralischen Seins — sie richtet und beurteilt uns

durch und durch. Kurz, das Wort Gottes ist, wie der

inspirirte Apostel sagt, „lebendig und wirksam und schärfer,

denn jegliches zweischneidige Schwert, und durchdringend

bis zur Zerteilung der Seele und des Geistes, sowohl

der Gelenke, als des Markes, und ein Urteiler der Gedanken

und Gesinnungen des Herzens." (Hebr. 4, 12.)

*) Auszug aus der Einleitung zu den Betrachtungen über

das 5. Buch Mose von 6. It. A.

3!)

Auch muß es unsere Bewunderung erregen, wie allumfassend

dieses Buch ist. Es behandelt die Gewohnheiten

und Gebräuche, die Sitten und Grundsätze des neunzehnten

Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung mit derselben Be

stimmtheit und Schärfe, wie diejenigen der frühesten Periode

des menschlichen Daseins. Es entfaltet eine vollkommene

Bekanntschaft mit dem Menschen in jedem Abschnitt

seiner Geschichte. Das London oder Paris von

heute finden ihr Spiegelbild mit derselben Treue und Genauigkeit

auf den Blättern der Heiligen Schriften, wie

das Tyrus vor dreitausend Jahren. Wir sehen in diesem

wunderbaren Buche, welches Gott uns so gnädig zu unserer

Unterweisung gegeben hat, das Bild der menschlichen Geschichte,

auf jeder Stufe ihrer Entwicklung, von einer

Meisterhand gezeichnet.

Welch ein Vorrecht, ein solches Buch^zu besitzen, eine

göttliche Offenbarung in unsern Händen zu halten, Zugang

zu haben zu einem Buche, von welchem jede Zeile durch

göttliche Inspiration eingegeben ist, eine göttliche Schilderung

der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu

besitzen! Wer könnte ein solches Vorrecht genügend

schätzen?

Doch, wie gesagt, dieses Buch richtet den Menschen,

richtet seine Wege, beurteilt die Gedanken und Ueber-

legungen seines Herzens. Es sagt ihm die Wahrheit über

sich selbst. Deshalb liebt der Mensch das Buch Gottes

nicht. Er zieht eine Zeitung oder eine spannend geschriebene

Erzählung der Bibel weit vor. Er liest noch lieber einen

Bericht über irgend eine interessante Gerichtsverhandlung,

als ein Kapitel aus dem Neuen Testament. Daher auch

seine fortwährenden Anstrengungen, Goties gesegnetes Buch

40

Von dem Platze zu stoßen, den es behauptet. Ungläubige

aller Zeiten und aller Stände haben sich die größte Mühe

gegeben, Fehler und Widersprüche in der Heiligen Schrift

zu entdecken. Die entschiedenen Feinde des Wortes GotteS

finden sich nicht nur in den Reihen der Ungebildeten oder

sittlich Verkommenen, sondern auch unter den Gelehrten,

den Gebildeten und Wohlerzogenen. Es ist heute nicht

anders, wie zu den Zeiten der Apostel. So wie damals

„gewisse böse Männer vom Gassenpöbel" und „anbetende

und vornehme Weiber und die Ersten der Stadt" —

zwei in gesellschaftlicher wie in sittlicher Hinsicht einander

so ferne stehende Klassen — in der Verwerfung des

Wortes Gottes und derer, die es predigten, (Apgsch. 13,50;

17,^5.) eine Sache fanden, in welcher sie im Grunde

des Herzens übereinstimmeu konnten, so erfahren wir auch

heute, daß die Menschen, mögen sie sich in allein anderen

noch so fern stehen, sofort einig sind, wenn es sich um den

Widerspruch gegen die Bibel handelt. Um andere Bücher

kümmert man sich wenig. Niemand denkt daran, in

Virgil, Horaz, Homer oder Herodot *) nach Fehlern und

Widersprüchen zu suchen; nur die Bibel kann der Mensch

nicht unbehelligt lassen, weil sie ihm die Wahrheit sagt

über sich selbst und über die Welt, zu der er gehört.

*) Dichter und Geschichtschreiber der ulten Römer und

Griechen.

Und war es nicht genau so mit dem lebendigen

Wort, dem Sohne Gottes, dem Herrn Jesu selbst, als

Er hienieden unter den Menschen wandelte? Sie haßten

Ihn, weil Er ihnen die Wahrheit sagte. Sein Dienst,

Seine Worte, Seine Wege, Sein ganzes Leben war ein

41

beständiges Zeugnis gegen die Welt; daher ihr bittrer

und beharrlicher Widerspruch. Alle andern Menschen

konnten unbehindert ihres Weges ziehen; Er aber wurde

auf Schritt und Tritt bewacht und belauert. Die Führer

und Leiter des Volkes „suchten Ihn in Seiner Rede zu

fangen;" sie suchten eine Gelegenheit, um Ihn der weltlichen

Macht überliefern zu können. So war es während

Seines ganzen Lebens. Und als es endlich dem menschlichen

Hasse gelungen war, den Herrn der Herrlichkeit

ans Kreuz zu bringen, Ihn zwischen zwei Mördern ans

Fluchholz zu nageln, waren es nicht diese, auf welche

die Schmähungen der Vorübergehenden gehäuft wurden.

Für sie, die wegen ihrer Schandthaten Schmach und Spott

verdient hatten, gab es hie und da vielleicht noch einen

mitleidigen Blick, ein bedauerndes Achselzucken. Wenigstens

dachten die Hohenpriester und Schriftgelehrteu nicht

daran, in grausamem Spott über sie ihre Häupter zu

schütteln. O nein; alle Beschimpfung, aller Spott, aller

Hohn und alle Herzlosigkeit galten Dem, der an dem mittleren

Kreuze hing, dem reinen, fleckenlosen Lamme Gottes.

Doch was ist die wirkliche und eigentliche Quelle

alles Widerspruches gegen das Wort Gottes, sowohl gegen

das lebendige als auch gegen das geschriebene Wort?

Es ist gut, dies zu verstehen; eS wird uns befähigen,

diesen Widerspruch nach seinem wahren Werte zu schätzen.

Ter Teufel haßt das Wort Gottes, und zwar mit

einem vollkommenen Haß; er benutzt daher die Gelehrsamkeit

jener Ungläubigen, indem er durch sie Bücher schreiben

läßt, welche beweisen sollen, daß die Bibel nicht Gottes

Wort ist, daß sie es nicht sein kann, weil es Irrtümer

und Widersprüche in ihr giebt. Und nicht allein das;

42

jene Gelehrten behaupten auch, daß wir im Alten Testament

Gesetze und Verordnungen, Gewohnheiten und Gebräuche

finden, die eines gnädigen und wohlwollenden Wesens ganz

und gar unwürdig sind.

Auf alle Beweisführungen dieser Art haben wir nur

eine kurze und bestimmte Antwort; von allen diesen ungläubigen

Gelehrten sagen wir einfach: Sie wissen und

verstehen nichts, absolut nichts von der ganzen Sache. Sie

mögen gelehrt, befähigt und Wohl bewandert sein in der allgemeinen

Literatur, sie mögen ein richtiges Urteil über irgend

einen Gegenstand auf dem Gebiete der natürlichen und

moralischen Philosophie fällen können und im Stande

sein, tief und selbständig zu denken, sowie wissenschaftliche

Fragen jeder Art genau zu untersuchen. Sie mögen ferner

liebenswürdig im Umgang, von ehrenwertem Charakter,

gütig, wohlwollend, menschenfreundlich, beliebt und geachtet

im öffentlichen Leben sein. Alles das ist möglich; aber

wenn sie unbekehrt sind und der Geist Gottes nicht in

ihnen wohnt, so sind sie völlig unfähig, sich über das

Wort Gottes ein Urteil zu bilden, und noch unfähiger,

ein solches abzugeben. Was würde man von einem Menschen

denken, der, völlig unbekannt mit der astronomischen

Wissenschaft, sich anmaßen wollte, über die Grundsätze des

kopernikanischen Systems zu Gericht zu sitzen? Würde man

ihm nicht einstimmig sagen, er sei völlig unfähig, über einen

solchen Gegenstand zu urteilen, und verdiene nicht, angehört

zu werden? Es ist ein allgemein anerkannter Grundsatz,

daß niemand das Recht hat, ein Urteil über einen

Gegenstand zu fällen, mit dem er gänzlich unbekannt ist;

und wir handeln nur gerecht, wenn wir diesen Grundsatz

auf den vorliegenden Fall anwenden.

43

Nun sagt aber der inspirirte Apostel in seiner ersten

Epistel an die Korinther, daß „der natürliche Mensch

nicht annimmt, was des Geistes Gottes ist, denn es ist

ihm eine Thorheit, und er kann es nicht erkennen,

denn es wird geistlich beurteilt." Das ist entscheidend.

Paulus spricht von dem Menschen in seinem natürlichen

Zustande, sei er noch so gelehrt oder gebildet. Er spricht

nicht von einer bestimmten Klasse von Menschen, nicht

von einem in grobe Unwissenheit versunkenen Barbaren,

sondern einfach von dem Menschen in seinem unbekehrten

Zustande, ohne den Geist Gottes, er spricht von dem „natürlichen

Menschen," mag er nun ein gelehrter Philosoph oder

ein unwissender Bauer sein. „Er kann nicht erkennen,

was des Geistes ist." Wie kann ein solcher Mensch es

nun wagen, zu beurteilen, was Gottes würdig und was

Seiner unwürdig ist? Wie kann er ein Urteil fällen über

das Wort Gottes, wie zu Gericht sitzen über Gott selbst?

Und wenn er dennoch kühn genug ist, dies zu thun —

leider ist er es ja! — wer wird so thöricht sein, auf ihn

zu hören? Seine Beweise sind grundlos, seine Meinungen

und Behauptungen wertlos, seine Bücher nur passend für

den Papierkorb. Und alles dies, ich wiederhole es, nach

dem eben angeführten Grundsatz, daß keiner Ansprüche

machen kann, in einer Sache gehört zu werden, über die

er völlig unwissend ist..

So und nicht anders können wir den ganzen Schwarm

der ungläubigen Schriftsteller betrachten. Wer wollte nur

daran denken, einem blinden Manne ein Urteil über Licht

und Schatten zuzutrauen? Und dennoch hat ein solcher

Mann noch weit mehr Anspruch auf das Recht, gehört

zu werden, als ein »»bekehrter Mensch, der über das Wort

44

Gottes und über göttliche Inspiration abzuurteilen wagt.

Menschliche Gelehrsamkeit und menschliche Weisheit, so

umfassend und tief sie auch sein mögen, können einen

Menschen nicht befähigen, sich ein Urteil über Gottes

Wort zu bilden. Ein Gelehrter kann ohne Zweifel, wenn

es sich einfach um Kritik in Bezug auf den Text handelt,

die alten Handschriften der Bibel prüfen und vergleichen;

er kann sogar sehr fähig sein, sich ein Urteil über die

richtige oder unrichtige Lesart einer besonderen Stelle zu

bilden; allein das ist etwas ganz anderes, als wenn ein

ungläubiger Schriftsteller es unternimmt, die göttliche

Offenbarung selbst zu beurteilen, welche uns Gott in Seiner

unendlichen Güte gegeben hat. Wir behaupten, daß kein

Mensch dies zu thun vermag. Die Heiligen Schriften

können allein durch den Heiligen Geist verstanden und gewürdigt

werden, durch denselben Geist, der sie eingegeben

hat. Das Wort Gottes muß auf seine eigene Autorität

hin ausgenommen werden. Wenn der Mensch es mit seiner

Vernunft beurteilen könnte, dann wäre es nicht mehr Gottes

Wort. Hat uns Gott eine Offenbarung gegeben oder

nicht? Wenn Er es gethan hat, so muß diese Offenbarung

auch in jeder Hinsicht unbedingt vollkommen sein

und als solche gänzlich über dem Bereich menschlicher Beurteilung

stehen. Der Mensch ist eben so wenig befugt,

die Schrift zu beurteilen, als über Gott selbst zu Gericht

zu sitzen. Die Schrift beurteilt den Menschen,

nicht der Mensch die Schrift.

Nichts verdient unsre Verachtung mehr, als jene

Bücher, welche von Ungläubigen gegen die Bibel geschrieben

werden. Jede Seite, jeder Abschnitt, ja jeder Satz beweist

die Wahrheit der Worte des Apostels: „Der natür

45

liche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes

ist, denn es ist ihm eine Thorheit, und er kann es nicht

erkennen, denn es wird geistlich beurteilt." Ihre grobe

Unwissenheit über den Gegenstand, mit welchem sie sich

zu beschäftigen unterfangen, hält nur gleichen Schritt mit

ihrer Dreistigkeit und ihrem Selbstvertrauen. Von ihrer

Geringschätzung der Bibel wollen wir schweigen; denn wer

würde in den Schriften von Ungläubigen nach Ehrfurcht

vor dem Worte Gottes suchen? Ein wenig mehr Bescheidenheit

dürften wir vielleicht erwarten; aber wir wissen

ja wohl, welch ein Geist bitterer Feindschaft alle diese

Schriften hervorrnft und durchweht und sie unsrer Beachtung

völlig unwürdig macht. Andere Bücher unterzieht

man einer unbefangenen, ruhigen Prüfung; aber an das

kostbare Buch Gottes tritt man stets mit der Voraussetzung

heran, daß es keine göttliche Offenbarung ist, weil

die Ungläubigen sagen, daß Gott uns keine geschriebene

Offenbarung Seiner Gedanken geben könne.

Wie sonderbar! Der Mensch kann dem andern seine

Gedanken Mitteilen, und die Ungläubigen haben es in

ihren Büchern so klar und deutlich gethan; aber Gott

kann es nicht. Welch eine Thorheit! Welch eine Vermessenheit!

Wir dürfen mit allem Recht fragen: Warum

kann Gott Seine Gedanken Seinen Geschöpfen nicht mitteilen?

Warum soll das unglaublich, ein Ding der Unmöglichkeit

sein? Es giebt keinen andern Grund dafür,

als daß es die Ungläubigen einmal so haben wollen.

In diesem Falle ist sicher der Wunsch der Vater des Gedankens.

Schon vor ungefähr sechstausend Jahren ist

durch die alte Schlange im Garten Eden die Frage aufgeworfen

und durch alle Jahrhunderte hindurch von allen

46

Zweiflern, Vernunftgläubigen und Ungläubigen wiederholt

worden: „Ist es wirklich so, daß Gott gesagt hat?"

Wir erwidern mit inniger Freude und Wonne: Ja! gepriesen

sei Sein heiliger Name! Er hat gesprochen —

gesprochen zu uns! Er hat uns Seine Gedanken geoffenbart

; Er hat uns Sein Wort, die Heiligen Schriften, gegeben.

„Alle Schrift ist von Gott eingegeben und

nütze zur Lehre, zur Ueberfiihrung, zur Zurechtweisung,

zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, daß der Mensch

Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk völlig geschickt."

<2. Tim. 3, 16. 17.) „Denn alles, was zuvor geschrieben

ist, ist zu unsrer Belehrung geschrieben, auf daß wir durch

das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften

die Hoffnung haben." (Röm. 15, 4.)

Der Herr sei gepriesen für solche Worte! Sie versichern

uns, daß alle Schrift von Gott eingegeben und

uns geschenkt ist. Welch eine kostbare, gesegnete Verbindung

zwischen der Seele und Gott! Welche Zunge vermöchte

-en Wert derselben auszusprechen? Gott hat gesprochen —

zu uns gesprochen. Das Wort Gottes ist ein Fels, an

welchem alle die Wogen ungläubiger Meinungen und

Lehren machtlos zerschellen; sie vermögen seine göttliche

Kraft und ewige Dauer nicht zu erschüttern. Durch nichts

kann das Wort Gottes angetastet werden. Die vereinigten

Mächte der Erde und der Hölle, der Menschen und der

Teufel, vermögen nimmermehr das Wort des lebendigen

Gottes nmzustoßen. Es steht da in der ihm eigentümlichen,

moralischen Herrlichkeit und Macht von Zeitalter zu Zeitalter,

trotz aller Angriffe seiner zahlreichen Feinde. „In

Ewigkeit, o Jehova, steht fest Dein Wort in den Himmeln."

„Du hast Tein Wort herrlich gemacht wie Deinen Namen."

47

Was bleibt für uns zu thun übrig? Nur das Einer

„Dein Wort habe ich bewahrt in meinem Herzen, daß

ich nicht sündige wider Dich." Darin liegt das tiefe Geheimnis

des Friedens. Das Herz ist verbunden mildem

Throne, ja mit dem Herzen Gottes selbst, vermittelst des

kostbaren Wortes, und ist dadurch im Besitz eines Friedens,

welchen die Welt weder geben noch nehmen kann. Was

können alle die Meinungen, Vernünfteleien und Beweise

der Ungläubigen bewirken? Nichts. Sie sind gleich dem

Staube der Dreschtenne des Sommers. Für den, der

durch die Gnade wirklich gelernt hat, auf das Wort Gottes

zu vertrauen, auf der Autorität der Heiligen Schrift zu

ruhen, für einen solchen sind alle Bücher der Ungläubigen,

so viele je geschrieben wurden, völlig wert- und kraftlos;

sie zeigen ihm nur die Unwissenheit und schreckliche Anmaßung

ihrer Schreiber. Aber das Wort Gottes werden

sie lassen, wo es immer gewesen ist und in Ewigkeit sein

wird, „festgesetzt in den Himmeln," so unerschütterlich wie

der Thron Gottes selbst. *) So wenig die Angriffe der

Ungläubigen den Thron Gottes zu erschüttern vermögen,

eben so wenig können sie Sein Wort erschüttern, und eben

so wenig, gepriesen sei Sein Name! vermögen sie den

Frieden anzutasten, der ein jedes Herz erfüllt, welches

auf dieser ewig feststehenden Grundlage ruht. „Große

*) Welch eine traurige, niederdrückendc Thatsache ist cs,

das; wir heute die bei weitem gefährlichsten ungläubigen Schriftsteller

unter denen zu suchen haben, welche sich Christen nennen.

Wenn man früher das Wort „ungläubig" hörte, dachte man

sogleich an einen Tom Paine oder einen Voltaire. Heute aber

und cs selbst sogenannte Bischöfe und Lehrer der bekennenden

Kirche, welche als Feinde des Wortes Gottes auftreten und Seine

göttliche Autorität leugnen.

48

Wohlfahrt haben die, die Dein Gesetz lieben, und keinen

Anstoß gibt es für sie." (Pf. 119, 165.) „Das Wort

unsers Gottes bestehet in Ewigkeit." (Jes. 40,8.) „Alles

Fleisch ist wie Gras, und alle seine Herrlichkeit wie die

Blume des Grases. Das Gras ist verdorrt, und seine

Blume ist abgefallen; aber das Wort des Herrn bleibet

in Ewigkeit. Dies aber ist das Wort, das euch verkündigt

worden ist." (1. Petr. 1, 24. 25.)

Hier haben wir wieder dasselbe kostbare Band. Das

Wort Gottes, welches uns in der Form einer guten

Botschaft erreicht hat, ist das Wort des Herrn, welches

„bleibet in Ewigkeit," und daher sind unsere Errettung

und unser Friede ebenso fest gegründet, als das Wort

selbst, auf welchem sie ruhen. Wenn alles Fleisch wie

Gras ist und alle Herrlichkeit des Menschen wie des

Grases Blume, was sind dann die sämmtlichen Beweise

der Ungläubigen wert? Sie sind wertloser als verdorrtes

Gras oder eine verwelkte Blume, und wer sie aufstellt

oder sich durch sie beeinflussen und leiten läßt, wird ihre

völlige Wertlosigkeit früher oder später erkennen müssen.

O welch eine sündhafte Thorheit ist es, zu streiten wider

das Wort unsers Gottes — zu streiten wider das Einzige,

was in dieser Welt dem armen, müden Menschenherzen

Trost und Ruhe geben kann, was armen, verlorenen

Sündern die frohe Botschaft der Errettung bringt, unmittelbar

von dem Herzen Gottes hinweg!

Vielleicht ist es hier am Platze, einer oft aufgeworfenen

Frage zu begegnen, welche schon viele beunruhigt

hat und zu der Tausende ihre Zuflucht nehmen;

es ist die Frage von der „Autorität der Kirche." Eigentlichlautet

die Frage so: „Wie können wir wissen, daß das

49

Buch, welches wir die Bibel nennen, Gottes Wort ist?"

Unsere Antwort hierauf ist einfach; sie lautet: Der, welcher

uns in Seiner Gnade dieses gesegnete Buch geschenkt hat,

kann uns auch allein die Gewißheit geben, daß es von

Ihm ist. Derselbe Geist, welcher die verschiedenen Schreiber

der Heiligen Schriften inspirirt hat, kann heute noch in

uns die Erkenntnis bewirken, daß diese Schriften wirklich

die Stimme Gottes sind, die zu uns redet. Diese Erkenntnis

kann aber auch nur durch den Heiligen Geist hervorgebracht

werden, wie wir bereits gesehen haben: „Der natürliche

Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes

ist, denn es ist ihm eine Thorheit, und er kann es nicht

erkennen, denn es wird geistlich beurteilt." Wenn der

Heilige Geist uns nicht die Erkenntnis und die Gewißheit

giebt, daß die Bibel Gottes Wort ist, so ist überhaupt

keine Gewißheit zu erlangen; denn kein Mensch, noch

irgend eine menschliche Körperschaft vermag sie uns zu

verschaffen; und andererseits, wenn Er sie uns gegeben

hat, so bedürfen wir sicherlich keines menschlichen Zeugnisses

mehr.

Wenn über dieser großen Frage auch nur ein Schatten

von Ungewißheit läge, es wäre für uns die größte Qual,

das größte Unglück. Doch wer kann uns Gewißheit geben?

Gott allein. Wenn alle Menschen auf der Erde eins

wären in ihrem Zeugnis über die Autorität der Heiligen

Schriften; wenn alle Kirchenversammlungen, die je abgehalten

wurden, alle Lehrer, die je gelehrt, alle Väter, die

je geschrieben haben, der Lehre von der Inspiration ihre

Zustimmung gegeben hätten; wenn die ganze Kirche, wenn

alle Parteien in der Christenheit die Wahrheit bestätigten,

daß die Bibel in der That Gottes Wort sei; mit einem

— 50 —

Wort, wenn wir alle erdenkliche menschliche Autorität für

die Echtheit des Wortes Gottes besäßen — es würde

uns dies alles keinen festen Grund der Gewißheit geben:

wenn unser Glaube auf einer solchen Autorität ruhte, so

wäre er völlig wertlos. Gott allein kaun uns die Gewißheit

geben, daß Er gesprochen hat; und, gepriesen sei

Sein Name! wenn Er sie giebt, daun sind alle die Beweise,

alle die Vernunstgründe, alle die Untersuchungen

der alten und neuen Ungläubigen gleich dem Schaume

auf den Wogen des Meeres. Der wahre Gläubige verwirft

alles dieses als ebenso viel wertlosen Auskehricht

und ruht in heiligem Seelenfrieden auf der unvergleichlichen

Offenbarung, welche unser Gott uns gegeben hat.

Es ist von der höchsten Wichtigkeit, dieser Frage

gegenüber durchaus klar und bestimmt zu sein, um einerseits

vor den Einflüssen des Unglaubens, und andererseits

vor den Verirrungen des Aberglaubens bewahrt zu bleiben.

Der Unglaube erkühnt sich, zu sagen, Gott habe uns keine

schriftliche Offenbarung Seiner Gedanken gegeben, habe

sie nicht geben können; der Aberglaube behauptet, Gott

habe zwar eine solche Offenbarung gegeben, aber man

könne dies ohne eine menschliche Autorität nicht gewiß

wissen, noch auch die Offenbarung ohne menschliche Auslegung

verstehen. Es liegt auf der Hand, daß uns beide

in gleicher Weise die kostbare Gabe des Wortes rauben

wollen. Und das ist gerade das Ziel, welches Satan verfolgt.

Er wünscht uns des Wortes Gottes zu berauben;

und er kann diesen Zweck eben so gut durch den Aberglauben

erreichen, der demütig und ehrerbietig weise und gelehrte

Menschen als Autoritäten anerkennt, als durch den Unglauben,

welcher alle göttliche und menschliche Autorität frech verwirft.

51

Nehmen wir ein Beispiel an. Ein Vater schreibt an

seinen in Kanton weilenden Sohn einen Brief voll der zärtlichsten

Ausdrücke der Liebe eines Vaterherzens. Er erzählt

ihm von seinen Plänen und Einrichtungen; er schreibt

ihm alles, wovon er glaubt, daß es das Herz des Sohnes

interessiren könnte, alles, was die Liebe eines Vaterherzens

nur zu ersinnen vermag. Der Sohn fragt bei dem Postamt

in Kanton an, ob nicht ein Brief von seinem Vater

für ihn angekommen sei. Einer der Postbeamten antwortet

ihm, es sei kein Brief da, sein Vater habe nicht

geschrieben, er könne gar nicht schreiben, könne überhaupt

durch ein solches Mittel seine Gedanken nicht mitteilen;

es sei eine Thorheit von ihm, so etwas nur zu

glauben. In demselben Augenblick tritt ein anderer Postbeamter

an das Schalter und sagt: „Ja, es ist doch ein

Brief für Sie da, aber Sie können ihn unmöglich verstehen;

er ist ganz und gar nutzlos für Sie, da Sie unfähig

sind, ihn richtig zu lesen. Sie müssen ihn daher

in unsern Händen lassen, und wir werden einige Stellen,

die wir für Sie passend halten, aus demselben aussuchen

und Ihnen den Inhalt erklären." Der erste dieser Beamten

stellt den Unglauben, der zweite den Aberglauben

vor. Beide wollen den Sohn des lang ersehnten Briefes,

der kostbaren Mitteilungen des Vaterherzens berauben.

Doch was würde der Sohn jenen Beamten erwidern?

Seine Antwort würde sicher sehr kurz und bestimmt lauten.

Er würde dem ersten sagen: „Ich weiß, daß mein Vater

mir seine Gedanken durch einen Brief mitteilen kann, und

daß er es gethan hat." Und dem zweiten würde er antworten:

„Ich weiß, daß mein Vater mir seine Gedanken

viel besser verständlich machen kann, als Ihr eS zu thun

vermöget. Deshalb gebt mir sofort den Brief meines

VaterS heraus! Er ist an mich adressirt, und niemand

hat ein Recht, mir denselben vorzuenthalten."

Ebenso entschieden wird der einfältige Christ der Anmaßung

des Unglaubens und der Unwissenheit des-

Aberglaubens entgegentreten und diese beiden besonderen

Werkzeuge Satans in unseren Tagen zurückweisen. Er

wird ihnen einfach sagen: „Mein Vater hat mir Seine

Gedanken mitgeteilt, und Er kann mir Seine Mitteilungen

allein verständlich machen." „AlleSchriftistvonGott

eingegeben." Und „ alles, was zuvor geschrieben ist,

ist zu unserer Belehrung geschrieben." Gott sei

Dank, daß Er uns diese herrliche Antwort für jeden Feind-

Seines unvergleichlichen und kostbaren Wortes gegeben hat!

Nie hat es in der Geschichte der Kirche eine Zeit

gegeben, in welcher es dringender geboten gewesen wäre,

dem Gewissen des Menschen die Notwendigkeit eines unbedingten

Gehorsams unter das Wort Gottes vorzustellcn,

als gerade jetzt. Leider wird das so wenig gefühlt! Der

größte Teil der bekennenden Christen scheint es als ein

Recht zu betrachten, den eigenen Gedanken, der eigenen

Vernunft, dem eigenen Urteil oder dem eigenen Gewissen

zu folgen. Man glaubt nicht mehr, daß die Bibel ein

göttliches und in allen Einzelheiten des Lebens leitendes

Buch ist. Man denkt, es gebe viele Dinge, in welchen

man seiner eigenen Entscheidung folgen müsse. Daher

die zahllosen Sekten, Parteien, Glaubensbekenntnisse und

Richtungen. Wenn menschliche Meinungen überhaupt anerkannt

werden, dann hat selbstverständlich der Eine so

gut ein Recht, der seinigen zu folgen, als der Andere-,

und so ist es gekommen, daß die bekennende Kirche wegen

— 53 —

ihrer Zersplitterung zu einem Sprichwort geworden ist.

Und welches ist das einzige, wirksame Mittel gegen

diese allgemein verbreitete Krankheit ? Es ist, wie schon

oben gesagt, eine absolute und vollständige Unterwerfung

unter die Autorität der Heiligen

Schrift. Nicht daß der Mensch an das Wort Gottes

herantreten sollte, um seine Meinungen und seine Ansichten

darin bestätigt zu finden, sondern er sollte es lesen

mit der Absicht, die Gedanken Gottes über alle Dinge

zu erfahren, und er sollte sein ganzes moralisches Sein

unter die göttliche Autorität des Wortes beugen. Eine

ehrerbietige Unterwerfung unter die Autorität des Wortes

Gottes ist eine dringende Notwendigkeit für die Tage,

in welchen wir leben. Ohne Zweifel giebt es eine große

Verschiedenheit in dem Maße unseres geistlichen Verständnisses,

in der Art und Weise, wie wir die Schriften erfassen

und wertschätzen. Aber was wir allen Christen

dringend ans Herz legen möchten, ist jener Zustand der

Seele, welcher sich in den Worten des Psalmisten ausgedrückt

findet: „Dein Wort habe ich bewahrt in meinem

Herzen, daß ich nicht sündige wider Dich." Eine solche

Herzensstellung ist sicherlich Gott angenehm. „Aber auf

diesen will ich blicken: auf den Armen und Zerschlagenen

im Geiste, und der da zittert vor meinem Wort."

Hierin liegt auch das Geheimnis unserer moralischen

Sicherheit. Unsere Kenntnis der Schrift mag sehr beschränkt

sein, aber wenn wir eine tiefe Ehrfurcht vor ihr

hegen, werden wir dennoch vor tausend Irrtümern und

Fallstricken bewahrt bleiben. Es wird dann auch ein

stetes Wachstum zu bemerken sein. Wir werden wachsen

in der Erkenntnis Gottes, in der Erkenntnis Christi und

54

des geschriebenen Wortes. Wir werden mit Freude und

Wonne aus den unergründlichen Tiefen des lebendigen

Wortes schöpfen und durch jene grünen Auen wandern,

welche eine unbegreifliche Gnade für die Herde Christi

ausgeschlossen hat. Das Leben aus Gott wird auf diese

Weise genährt und gekräftigt; das Wort Gottes wird unsern

Seelen von Tag zu Tage köstlicher, und wir werden durch

die Macht des Heiligen Geistes immer mehr in die Tiefe,

Fülle, Majestät und Herrlichkeit der Heiligen Schrift eingeführt.

Wir werden völlig befreit von den verdorrenden

Einflüssen aller theologischen Systeme, und das ist wahrlich

eine gesegnete Befreiung! Wir werden im Stande

sein, den Vertretern aller theologischen Schulen, die es

unter der Sonne giebt, zu sagen: Wenn ihr auch einzelne

Elemente der Wahrheit in euern Systemen haben möget,

so besitzen wir doch die göttliche Vollkommenheit im Worte

Gottes. Wir besitzen die Aussprüche Gottes, nicht entstellt

und verdreht, um sie für das eine oder andere System

passend zu machen, sondern an ihrem wahren Platze in

dem weiten Kreise der göttlichen Offenbarung, die ihren

Mittelpunkt in der gesegneten Person unsers Herrn und

Heilandes Jesu Christi findet.

Es giebt in dem ganzen inspirirten Buche nicht einen

einzigen unnötigen Satz, nicht eine einzige überflüssige Bemerkung,

nicht einen einzigen Ausspruch, der ohne bestimmte

Bedeutung und ohne direkte Anwendung wäre.

Ach, würde diese kostbare Wahrheit doch völliger verstanden

in diesen unsern Tagen! Es ist von der höchsten Wichtigkeit,

daß das Volk des Herrn fest gewurzelt und gegründet

sei in der so überaus wichtigen Lehre von der

göttlichen Eingebung der ganzen Heiligen Schrift. Leider

55

hat die Entschiedenheit in Bezug auf diesen Gegenstand

in der bekennenden Kirche in erschreckender Weise abgenommen.

Es gehört fast zum guten Ton, die Lehre von

einer unbedingten, göttlichen Inspiration verächtlich zurückzuweisen.

Man redet davon als von einem überwundenen

Standpunkt kindlicher Leichtgläubigkeit. Viele halten es

für einen Beweis tiefer Gelehrsamkeit, hohen Verstandes

und selbständigen Denkens, vermeintliche Fehler in dem

kostbaren Buche Gottes aufzuspüren. Der Mensch maßt

sich an, über die Bibel und damit über Gott selbst zu

Gericht zu sitzen. Die Folge davon kann nichts anderes

sein, als die äußerste Finsternis und Verwirrung, sowohl

für jene gelehrten Doktoren selbst, als auch für diejenigen,

welche so thöricht sind, auf ihre Lehren zu horchen. Und

was wird das Ende aller dieser Verächter des Wortes

Gottes sein? Wahrlich, ein Endemit Schrecken! Sie werden

sich vor dem Richterstuhl Christi zu verantworten haben wegen

der Sünde, das Wort Gottes gelästert und Hunderte und

Tausende durch ihre ungläubigen Lehren irre geleitet zu haben.

Wir verweilen jedoch nicht länger bei der sündhaften

Thorheit jener Ungläubigen und Zweifler, noch bei ihren

ohnmächtigen Anstrengungen, Schmach auf das unvergleichliche

Buch zu häufen, welches durch die gnädige

Fürsorge Gottes zu unserer Unterweisung geschrieben worden

ist. Sie werden eines Tages ihren verhängnisvollen Irrtum

erkennen müssen. Gott gebe, daß es für sie dann

nicht für ewig zu spät sei! Was uns aber anbetrifft,

so laßt es unsre stete Freude sein, über das Wort unsers

Gottes nachzusinnen, um immer neue Schätze aus der

unerschöpflichen Goldgrube zu heben und immer neue

Herrlichkeiten in der göttlichen Offenbarung zu entdecken!

56

2. Mose 3, 5.

Und Jehova sprach: „Nahe nicht hierher! Ziehe

deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf

dem du stehest, ist heiliges Land/'

Woher kommt es, daß der Ton, der in unsern Zusammenkünften

zum Brechen des Brodes oder zum Gebet

herrscht, oft ein so niedriger ist? Woher die beklagenswerte

Trockenheit, Dürre und Teilnahmlosigkeit? Warum

sind unsre Gebete und unsre Danksagungen oft so

weit von dem entfernt, was sie sein sollten — ein

lieblicher Wohlgeruch für das Herz unsers Gottes und

Baters? Warum mangelt unsern Zusammenkünften so

oft der wahre Charakter der Anbetung? Schon mancher

hat sich diese Fragen vorgelegt, und wie mußte er sie

beantworten? Ach! man vergißt die hohe Wichtigkeit dessen,

was man thut. Man denkt nur wenig daran, in wessen

Gegenwart man tritt. Man kommt mit einem Herzen,

das von weltlichen Gedanken erfüllt ist, oder gar mit

einem verunreinigten Gewissen. Man vergißt, daß man

mit Schnhen, an denen der Schmutz der Wüste klebt,

nicht den heiligen Boden der Gegenwart Gottes betreten

kann. Und da sind die oben beschriebenen traurigen

Folgen unausbleiblich. Das Herz vermag sich nicht zu

erheben zu den Höhen des Heiligthums droben; es wird

immer wieder herabgezogen zu den nichtigen, eiteln Dingen

dieser armen Welt. Anstatt Christum zu betrachten, ist

es beschäftigt mit sich selbst, mit seiner Schwachheit und

seinen Bedürfnissen. Wie betrübend ist dies für das Herz

unsers liebenden Vaters, und welch ein Verlust für uns!

Betrachtungen über die Epistel an die Römer.

Kapitel 8.

(Fortsetzung.)

„So sind wir denn nicht Schuldner dem Fleische, um

nach dem Fleische zu leben." (V. 12.) Dasselbe hat uns

in einen üblen Zustand und in eine üble Stellung gebracht;

auch sind wir nicht mehr im Fleische, sondern

von demselben befreit durch die Erlösung; wir sind durch

des Erlösers Tod in eine neue Stellung gebracht, wovon

wir durch die Kraft des in uns wohnenden Heiligen

Geistes auch das Bewußtsein haben. Die zwei Leben,

die zwei Grundsätze sichen zn einander in schroffem Gegensatz,

und es ist wichtig zu beachten, (was schon im

zweiten Kapitel als Grundsatz aufgestellt wurde) daß

diese Naturen da, wo sie wirksam sind, ihre naturgemäßen

Folgen hervorbringen. Ich kann das Fleisch durch den

Geist überwinden. Ich habe das Recht und die Pflicht,

es für tot zu halten. Aber wenn das Fleisch lebt, so

bringt es den Tod hervor, und wenn ich nach dem Fleische

lebe, so ist der Tod mein Los. Die Natur und die

Wirkung dieser Natur — ihre Folge — ist immer dieselbe:

Gott kann mir eine neue Natur geben, und —

Sein Name sei dafür gepriesen! — Er giebt sie mir in

Christo, und zwar in einer Weise, daß ich dadurch teil

habe an der Errettung, und daß ich durch die Kraft des

Geistes, die alte Natur überwinden und nach dem Geiste

58

wandeln kann. Aber die Natur des Fleisches ist nicht

verändert, noch auch an und für sich die Folge derselben:

wenn ich nach dem Fleische lebe, so muß ich sterben. Die

Gnade erlöst, giebt mir ein neues Leben, worin ich nach

dem Geiste wandle und das Fleisch für tot halte, und

giebt mir endlich die Herrlichkeit. Dieses neue Leben aber

lebt nicht nach dem Fleische, ja es kann nicht darnach

leben. Wenn ich nach dem Fleische lebe, so sterbe ich,

entfernt von Gott; denn die Frucht und der Lohn des

Lebens des Fleisches ist der Tod. Wenn ich aber durch

den Geist die Handlungen des Leibes töte, so lebe ich

und werde für immer leben mit Gott, von dem dieses

Leben meiner Seele zufließt, und dessen Geist die Kraft

und der Leiter dieses Lebens ist.

Dies giebt dem Apostel Anlaß, von der Stellung

derer zu reden, die durch den Geist Gottes geleitet werden,

und zwar zunächst von ihrem Verhältnis zu Gott. Der

Geist, den sie empfangen haben, ist der Geist der Kindschaft;

sie besitzen Ihn, weil sie Kinder sind. Aus diesem

Verhältnis aber entspringen ausgedehnte Segnungen: wenn

sie Kinder sind, so sind sie auch Erben — Erben Gottes

und Miterben Christi. Indessen ist der Zustand der

Kreatur, die uns hienieden umgiebt, und insonderheit der

Zustand unseres eigenen Leibes, noch nicht wiederhergestellt.

Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft

gegen Gott; gleicherweise ist auch die Freundschaft der

W e lt Feindschaft gegen Ihn. Die Grundsätze des Fleisches

wie der Welt leisten uns Widerstand; beide sind der

Knechtschaft des Verderbnisses unterworfen. Weil die

Welt, welche wir zu durchpilgern haben, von Gott entfernt

und unter der Herrschaft Satans ist, so giebt sie

59

uns zahllose Quellen der Trauer und des Schmerzes. Der

Herr war in dieser Welt „ein Mann der Schmerzen und

mit Leiden bekannt." Eine Welt der Sünde, gegenüber

Seiner Heiligkeit — eine Welt der Trauer und

der Leiden, gegenüber Seiner Liebe — konnte für

Sein Herz nur eine Quelle der Trauer und der Leiden

fein. Er stand vereinzelt und allein in einer solchen Welt

und wurde nicht einmal von Seinen Jüngern verstanden.

Während Er voll von Mitgefühl war für alle, fand Er

für sich nirgendwo Mitgefühl. Wenn ein solches je

einmal die Finsternis des menschlichen Herzens durchbrach,

so war dies etwas so Wunderbares, daß der Herr sagt:

„Wo immer das Evangelium gepredigt werden wird in

der ganzen Welt, da wird auch gesagt werden, was diese

gethan hat, zu ihrem Gedächtnis." (Mark. 14,9.) Können

wir, wenn wir den Geist Christi haben, durch dieselbe

Welt gehen, ohne ihren Zustand zu fühlen? Sollten

unsre Herzen nicht traurig sein, wenn wir auf Schritt und

Tritt die Herrschaft der Sünde erblicken und täglich die

Leiden des sündhaften Menschen vor Augen haben? wenn

wir sehen, daß alles der Knechtschaft des Verderbnisses

unterworfen ist? Die Zeit wird kommen, wo unsre Augen

die allgemeine Segnung der Welt sehen und wo wir uns

mit Gott selbst darin erfreuen werden. Jetzt aber können

wir, als solche, die im Herzen erneuert und befreit sind,

nur leiden inmitten einer unbefreiten Schöpfung.

Beachten wir jedoch, daß dies ein Leiden ist mit

Christo, nicht für Ihn. Die Leiden für Christum sind

ein Vorrecht, eine besondere Gabe Gottes. (Phil, l, 29.)

Man kann kein Christ sein, ohne mit Christo zu leiden;

denn wie könnte der Geist Christi eine Gesinnung in uns

60

Hervorrufen, verschieden von derjenigen, welche in Christo

war, als Er diese arme Welt durchpilgerte? Die Herrlichkeit

der Kinder Gottes ist ein Gegenstand der Hoffnung;

jetzt werden die Leiden Christi in Schwachheit wieder

hervorgebracht in einem Herzen, in welchem Christus wohnt.

Wir leiden da, wo Christus gelitten hat, als Miterben

des Reiches der Liebe, worin alles Freude und Wonne

sein wird. Obwohl wir jetzt schon Kinder, oder vielmehr

Söhne, und deshalb auch Erben sind, so besitzen wir doch

die Erbschaft noch nicht, ja, wir können sie noch nicht

besitzen, da dieselbe jetzt noch verdorben und verunreinigt

und in diesem Zustande nicht passend ist für uns. Christus

sitzt zur Rechten Gottes, bis Seine Feinde zum Schemel

Seiner Füße gelegt sind. Dann werden wir mit Ihm

herrschen und Ihm gleich sein.

Deshalb konnte der Apostel, der wohl wußte, was

Leiden sind, sagen: „Ich halte dafür, daß die Leiden der

Jetztzeit nicht wert sind, verglichen zu werden mit der Herrlichkeit,

die an uns geoffenbart werden wird." Wir besitzen

das Verhältnis der Sohnschaft und haben auch das Bewußtsein

dieses Verhältnisses und deshalb keine Furcht

mehr. Wo Furcht ist, da ist die Kenntnis dieser Stellung

nicht im Herzen. Der Geist in uns ruft: „Abba, Vater!"

und kann nichts anderes rufen, denn Er ist erst gekommen,

nachdem alles das vollbracht war, waS uns in dieses

Verhältnis versetzt hat. Christus hat uns Seine eigene

Stellung vor Gott gegeben. Nachdem Er alles vollbracht

hatte, was erforderlich war, sowohl für die Herrlichkeit Gottes,

als auch für unsre Erlösung, und zwar da, wo es für

beides geschehen mußte, nämlich in der Stellung der Sünde

— „zur Sünde gemacht" — ist Er als Mensch in den

61

Himmel hinausgestiegen. Ein Mensch ist in Ihm eingegangen

in die Herrlichkeit Gottes, jenseits der Sünde,

jenseits des Todes, jenseits der Macht Satans, jenseits

des Gerichts Gottes über die Sünde, so daß Er den

Jüngern durch Maria Magdalena die Botschaft senden

konnte: „Sage meinen Brüdern: ich fahre auf zu meinem

Vater und zu euerm Vater, zu meinem Gott und zu

enerm Gott." Darauf sandte Er den Heiligen Geist hernieder,

als die gesegnete Folge dieses Hinaufsteigens des

Menschen in den Himmel, nachdem Er alles zu unsrer

Erlösung vollbracht hatte. Dieser Geist wohnt in den

Gläubigen, die dem Werte Seines Blutes vertrauen, so

daß ihr Leib ein Tempel Gottes ist. (1. Kor. 6.) Sie

sind durch den Geist versiegelt und haben das Unterpfand

des Erbteils, das Bewußtsein, Kinder Gottes zu sein.

Er vergegenwärtigt Christum, der im Himmel ist, und

läßt uns die unsichtbaren Dinge genießen. Er kaun deshalb

unmöglich ein Geist der Furcht oder der Knechtschaft

sein.

Der Geist aber wirkt zweierlei in uns: Er lehrt

uns die Herrlichkeit, die vor uns steht, würdigen, und

giebt uns das Gefühl, daß die Leiden, in welche wir

durch das Streben, diese Herrlichkeit zu erlangen, und

durch die Treue für Christum gebracht werden — nicht

wert sind, verglichen zu werden mit der Herrlichkeit, die

an uns geoffenbart werden soll, so daß wir mit Ausdauer

und getrostem Mute den Weg Gottes gehen können.

Desgleichen nimmt Er sich auch unsrer Schwachheit an,

auf daß wir Gott gemäß teil nehmen an diesen

Leiden und unser Herz durch den Geist das Gefäß des

Mitgefühls ist, dem Herzen Christi entsprechend, indem

62

wir durch unser Seufzen dem Seufzen der leidenden Kreatur

zu Gott einen Ausdruck geben. Welch eine köstliche

Stellung, auf diese Weise die Herrlichkeit und die Liebe

Dessen, der in die Mitte der leidenden Schöpfung hernieder

kam, verwirklichen zu können, so daß unsre Herzen,

indem wir dem Leibe nach teil haben an der gefallenen

Schöpfung, durch den Geist der Mund der ganzen Schöpfung

sein und ihrem Seufzen zu Gott einen Gottgemäßeu Ausdruck

geben können! Mit diesem Gefühl war das Herz Christi

in völliger Liebe und in Vollkommenheit erfüllt. Weil Er,

obgleich wahrhaftiger Mensch, persönlich durchaus frei

war von der Sünde, die diese Leiden über die Schöpfung

gebracht hatte, so war Sein Mitgefühl mit den Folgen

der Sünde für uns um so vollkommener. „Er hat unsre

Leiden getragen, und unsre Schmerzen hat Er auf sich

geladen." (Vergl. Matth. 8, 17.) Als Er an der Gruft

des Lazarus die Maria und alle die Inden weinen sah,

seufzte Er tief im Geiste und erschütterte sich. *) So ist

es auch uns, obgleich wir als gefallene Menschen in

Schwachheit und Unvollkommenheit sind, durch den in uns

wohnenden Geist gegeben, teil zu nehmen an den Leiden

der Kreatur, und zwar nicht in der Ungeduld der Selbstsucht,

weil wir selbst leiden, sondern Gott gemäß. Die

Darstellung, die uns der Apostel von dem Zustande der

uns umgebenden Schöpfung giebt, wird diese Erfahrung

klarer machen. Obgleich wir in dem Vorhergehenden schon

verschiedene Punkte betrachtet haben, so können wir doch

noch einmal mit dem 19. Verse beginnen.

Die beiden nu dieser Stelle in dem griechischen Urtext

gebrauchten Wörter sind sehr starke Ausdrücke für eine innere

Bewegung.

63

Es ist schon gesagt worden, daß wir in der Welt

zu leiden haben, weil alles in der Sünde liegt und in

Unordnung ist, wahrend wir zu Gott zurückgebracht sind:

und ferner, daß wir auch im Herzen zu leiden haben,

weil wir inmitten einer unbefreiten Schöpfung wohnen.

Die Augen des Glaubens aber sind auf die vor uns

liegende Herrlichkeit gerichtet, und sowohl diese erfreuliche

Aussicht, als auch unsere Genieinschaft mit Gott, die wir

schon hienieden genießen, läßt uns fühlen, daß alles um

uns her unversöhnt ist.

Diese Schöpfung erwartet ihre Erlösung; aber sie

kann nicht eher befreit und wiederhergestellt werden, bis

die Kinder Gottes in der Herrlichkeit des Reiches bereit

sein werden, sie als Miierben Christi in Besitz zu nehmen.

Christus sitzt zur Rechten Gottes, bis diese Miterben

gesammelt sind. Es ist ein köstlicher Gedanke, daß,

wie wir die irdische Schöpfung unter die Knechtschaft des

Verderbnisse? gebracht haben, sie auch jetzt aus unsere

Verherrlichung warten muß, um wiederhergestellt und

von dieser Knechtschaft befreit zu werden. (V. 19.)

Nicht der Wille der Kreatur hat sie dieser Knechtschaft

unterworfen; wir haben es gethan — aber auf

Hoffnung; denn dieser Zustand wird nicht immer bleiben:

die Schöpfung wird wiederhergestellt werden. Gott beginnt

jedoch in den Ratschlüssen Seiner Gnade mit den

Schuldigen, mit den am weitesten Entfernten — mit

denen, an welchen Er in den kommenden Zeitaltern den

überschwänglichen Reichtum Seiner Gnade in Güte gegen

uns in Christo Jesu erweisen will. (Eph. 2, 7; vergl.

Kol. 1, 20. 21.) Die Kreatur könnte, weil sie nur

physisch ist, nicht in die Freiheit der Gnade eintreten:

64

sie muß die Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes

erwarten. Wenn diese befreit sind und ihre Leiber, die

zu der Kreatur gehören, umgewandelt und verherrlicht

sein werden und wenn Satan gebunden ist, dann wird

auch die Kreatur freigemacht werden von der Knechtschaft

des Verderbnisses, in welcher sie gefangen liegt.

Denn wir wissen — wir, die wir in der christlichen

Lehre unterrichtet sind — daß die ganze Kreatur zusammen

seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt.

Wir wissen dies aber noch viel mehr, weil wir die Erstlinge

des Geistes haben, und — „wir seufzen in uns

selbst, erwartend die Sohnschaft: die Erlösung unsers

Leibes." So harren wir darauf, das zu besitzen, was

errettet ist in Hoffnung; nicht allein das ewige Leben,

als Leben, zu besitzen — dieses haben wir schon — sondern

verherrlicht zu werden, indem unser Leib, der zu der

Kreatur gehört, umgewandelt wird und wir Christo, dem

Herrn, gleich gestaltet werden, nach der Kraft, womit Er

alle Dinge sich zu unterwerfen vermag. (Phil. 4, 21.)

Der Friede ist also gemacht, unsre Sünden sind

hinweggethan, wir haben ein neues Leben, besitzen das

Unterpfand des Geistes, die Herrlichkeit liegt vor uns in

Hoffnung, und wir werden dem Herrn gleich sein. So

lange wir jedoch diese Herrlichkeit noch nicht erreicht haben,

seufzen wir mit der Kreatur. Denn indem wir unsere

herrliche Hoffnung verwirklichen, fühlen wir, da wir durch

unsern Leib mit der gefallenen Schöpfung verbunden

sind, den traurigen Zustand der ganzen Schöpfung.

Frei vor Gott, frei vom Gesetz der Sünde und des

Todes, erfüllt mit der Hoffnung der Herrlichkeit, werden wir

durch die Kenntnis dieser Herrlichkeit und der vollkommenen

Befreiung der Kreatur zu einem Seufzen gebracht, welches

die Stimme ihres Seufzens zu Gott ist. Unser Seufzen

aber ist nicht eine Klage, eine Frucht der Unzufriedenheit,

sondern die Wirkung des Heiligen Geistes im Herzen.

Dieser Geist richtet unsre Blicke auf die Herrlichkeit, wo

wir keinen Anlaß mehr zum Seufzen haben werden, und

läßt unS nach der Liebe Gottes das Leid einer geknechteten

Schöpfung fühlen; wir fühlen eS mit, da wir mit

unserm Leibe noch zu ihr gehören. Der Geist Gottes,

der in uns wohnt, bildet diese Gefühle Gott gemäß.

Gott erforscht das menschliche Herz, und in dem Herzen

des befreiten Christen findet Er diese Wirkung des

Geistes. Der Geist selbst ist da die Quelle des göttlichen

Mitgefühls mit einer seufzenden Schöpfung. (V. 27.)

Die Blicke des Christen werden durch den Heiligen Geist,

der in ihnen wohnt, nach oben gerichtet, auf die Herrlichkeit

und die Ruhe Gottes, wo alles Segnung ist.

Er verwirklicht das, was vor ihm liegt, mit Freude. Da

er aber noch im Leibe ist, so fühlt er umsomehr den

Zustand der gefallenen Schöpfung, nimmt teil an ihrem

Seufzen und macht sich dadurch zur Stimme der seufzenden

Schöpfung vor Gott. Doch geschieht sein Seufzen

im Geiste der Liebe, Gott gemäß, weil er in seinem Verhältnis

zu Gott vollkommen frei ist. Hinsichtlich seines

Zustandes ist er errettet in Hoffnung; vor Gott aber

ist sein Herz frei, im Bewußtsein Seiner Liebe. Er kann

sich freuen in Hoffnung, in der Hoffnung der Herrlichkeit;

sein Gewissen ist vollkommen; die Liebe Gottes ist ausgegossen

in sein Herz durch den Heiligen Geist. Und so

kann er nach dieser Liebe an dem allgemeinen Elend, das

ihn umgiebt, teilnehmen. Er weiß zwar nicht, nm was

66

für ein Heilmittel er bitten soll; vielleicht giebt es keins.

Aber die Liebe kann die Bedürfnisse ausdrücken und thut

es nach der Wirkung des Geistes; und obgleich der Christ

nicht weiß, um was er bitten soll, so findet doch Der,

welcher die Herzen erforscht, in feinem Seufzen die Gesinnung

deS Geistes; denn der Geist ist es, der im Grunde

des Herzens den Gefühlen des Bedürfnisses Ausdruck

giebt. Dies ist umsomehr Mitgefühl, da wir selbst noch

im Leibe sind und also in unserm eignen Zustande einen

Teil der seufzenden Schöpfung ausmachen und auf die

Erlösung unseres Leibes warten.

Doch obgleich wir oft nicht wissen, um was wir

bitten sollen, so giebt es doch etwas, was wir vollkommen

gewiß wissen, nämlich, daß Gott alles zusammen wirken

läßt zum Besten derer, die Ihn lieben, die Er nach

Seinem Vorsatz berufen hat.

Welch ein Vorrecht ist uns durch die Gnade zu teil

geworden, ein Vorrecht, das wir durch den Heiligen Geist

genießen! Wir sind Kinder Gottes, kennen unser Verhältnis

zu Gott und können es durch den Heiligen Geist

verwirklichen; wir rufen „Abba, Vater!" sind Kinder und

deshalb Erben, „Erben Gottes und Miterben Christi."

Der Geist offenbart uns unser Erbteil und läßt uns verstehen,

was es ist: wir werden Christo gleich sein in der

Ruhe Gottes und in Seiner eigenen Ruhe, vollkommen

zur Ehre Christi, und werden mit Ihm herrschen über

alles. Als Menschen auf der Erde richten wir unsre

Blicke auf die Herrlichkeit Gottes, die unsre Hoffnung

ist, und die wir mit Christo teilen werden, da, wo alles

rein ist, der Reinheit Gottes gemäß. Im Blick auf diese

niedrige Welt sind unsre Herzen von der Liebe Gottes

67

erfüllt, in welcher wir an den Leiden der unbefreiten

Schöpfung teilnehmen, und zwar Gott gemäß, so daß

Der, welcher die Herzen erforscht, die Gesinnung des

Geistes darin findet, welcher dieses Mitgefühl mit den

Leiden der gefallenen Schöpfung in uns hervorbringt,

auf daß wir durch unser Seufzen der Mund der Schöpfung

vor Gott werden. Und weil wir ans Mangel an Erkenntnis

nicht immer wissen, um was wir bitten sollen,

so tröstet uns das Wort Gottes, indem es uns versichert,

daß Gott nach Seinem eignen Willen und nach Seiner eignen

Liebe alles zusammen wirken läßt zu unserm Besten.

Dieses führt den Apostel dahin, einige Worte über

den Ratschluß Gottes zu sagen, obwohl dies nicht der

Gegenstand des Briefes ist. Er spricht hier nur davon,

um die Grundlage aller Segnungen zu zeigen. Sonst

handelt der Brief, wie schon früher bemerkt, von der

Berantwortlichkeit des Menschen, sowie von der Gnade

und dem Werke Gottes, nm uns von den Folgen dieser

Verantwortlichkeit zu erretten.

Für die Berufenen ist Gott immer wirksam; denn

Er hat sie zuvorgekannt, und die Er zuvorgekannt hat,

die hat Er zuvor bestimmt, Seinem eignen Sohne gleichförmig

zu sein. „Welche Er aber zuvor bestimmt hat,

diese hat Er auch berufen; und welche Er berufen hat,

diese hat Er auch gerechtfertigt; welche Er aber gerechtfertigt

hat, diese hat Er auch verherrlicht." Alles ist

Gnade, und daher ist alles sicher. Deshalb beendigt

Gott auch die Reihenfolge Seiner Gnadenerweisungen

nicht eher, bis der Zweck erreicht ist: die Wirksamkeit der

Gnade Gottes hört nicht eher aus, bis die Berufenen

verherrlicht sind. Die ganze Lehre des Evangeliums

68

führt uns auf Gott zurück und auf Seine Gedanken,

die nicht fehlen und nicht verhindert werden können. Und

da finden wir — Sein Name sei dafür gepriesen! —

daß Gott für unS ist. Diese Lehre entwickelt hier

der Apostel in Vers 31 — 39. Wir sehen den Beweis

dafür, daß Gott für uns ist, zunächst in dem, was Er

giebt, dann darin, daß Er uns rechtfertigt, und endlich

darin, daß nichts uns von Seiner Liebe trennen kann.

Dies ist die gesegnete Folgerung aus der ganzen Lehre

des Briefes: „Gott ist für uns;" es ist die Quelle der

Segnung; es ist die Folgerung des Herzens aus allem,

was uns hier von Ihm geoffenbart wird. Nicht allein ist

die Gerechtigkeit Gottes verherrlicht und befriedigt

worden durch das Werk Christi, sondern wir sehen auch,

daß die Liebe Gottes die Quelle von allem ist, und das

verändert alle unsre Gedanken in Bezug auf Gott. Gerade

in diesem Punkte war die Lehre der Reformatoren des

sechzehnten Jahrhunderts mangelhaft. Ferne sei es von

mir, den Wert dieser Männer herabsetzen zu wollen!

Niemand könnte dankbarer sein für die Befreiung von

dem Aberglauben, die uns durch die Reformation zu teil

wurde, niemand den Glauben derer, die selbst ihr Leben

um der Wahrheit willen aufgeopfert haben, höher schätzen,

als ich es thue. Ich würde heute ja unmöglich über den

Biangel ihrer Lehre ruhig schreiben können, wenn sie ihr

Leben nicht freudig hingegeben hätten, um die Wahrheit

aufrecht zu halten. Aber dennoch bleibt die Wahrheit in

dem Worte Gottes immer dieselbe. Die Reformatoren

lehrten zwar, daß Christus alles gethan habe, was nötig

war, um die Gerechtigkeit Gottes zu befriedigen, nicht

aber, daß die Lieb e Gottes das Lamm, Seinen eigenen

69

Sohn, dahin gab, um das Werk zu vollbringen. Nach

ihnen war Gott immer der Richter, Wohl versöhnt mit

uns durch das Werk Christi, nicht aber gekannt als Der,

welcher uns lieb hatte, als wir noch Sünder waren. In

Ioh. 8, 14 sagt der Herr: „Des Menschen Sohn muß

erhöhet werden;" denn Gott ist ein heiliger und gerechter

Gott. Dann aber folgt im 16. Verse die Ursache von

allem: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß Er

Seinen eingebornen Sohn gegeben." Die praktische Folgerung

aus der Lehre der Reformatoren war — ohne

daß sie dies vielleicht gedacht oder gewollt haben — daß

die Liebe in Christo ist und Gott auf dem Richterstuhl

sitzt als ein kalter Richter. Aber „die Gnade

herrscht durch die Gerechtigkeit." (Röm. 5, 21.) Am

Tage des Gerichts wird die Gerechtigkeit herrschen.

Die Liebe hat die Gerechtigkeit Gottes zu unsern Gunsten

in Christo festgestellt. Die Gerechtigkeit war nötig —

die Liebe hat sie verschafft.

Wir wissen also, daß Gott für uns ist nach Seiner

unendlichen Liebe und nach Seiner ewigen und unveränderlichen

Gerechtigkeit. Der erste Beweis dafür ist,

daß Er Seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern

Ihn für uns hingegeben hat; „wie wird Er uns mit

Ihm nicht auch alles schenken?" Ja, wir können auf

Ihn rechnen, daß Er uns alles Gute geben wird. —

Aber wie kann Er, der Heilige, für uns sein im Blick

auf unsre Sünden? Gerade da haben wir gesehen,

wie vollkommen Er für uns ist; denn Er hat ja eben

für unsre Sünden Seinen Sohn gegeben. Wer wird

wider die Anserwahlten Gottes Anklage erheben? Gott

selbst rechtfertigt uns — wer wird uns verdammen?

70

Beachten wir, daß hier alles Gott zugeschrieben wird.

Es heißt nicht: wir sind vor Gott gerechtfertigt, sondern:

„Gott rechtfertigt;" so daß der Apostel wohl ausrufen

kann: wer wird verdammen, wer es auch sei?

Dann verändert er in etwa die Form des Satzes.

Er muß an Christum denken, und da sieht er durch

Ihn auch alle Schwierigkeiten des Weges verschwinden.

Nicht als ob sie nicht vorhanden wären; sie

sind da, aber sie verschwinden, weil Er selbst alle Schwierigkeiten

durchgemacht hat. Mensch geworden in Seiner

Liebe, hat Er alle die Prüfungen des Weges, alle menschlichen

Schmerzen, alles, wodurch der Feind dem treuen

Diener Gottes auf dem Wege der Heiligkeit, selbst bis

zum Tode, Widerstand leistet, erfahren. Nicht allein also

überwinden wir durch Seine bewährte Kraft, sondern wir

machen auch die Erfahrung Seiner Liebe in besonderer

Weise. Die Leiden sind das Unterpfand einer

besseren Herrlichkeit. Und weil Er als Mensch alles erfahren

hat, so hat Er dadurch Seine unendliche Liebe

als Gott erwiesen, und wir wissen, daß von der Liebe

Gottes, die in Christo Jesu ist, uns nichts trennen kann.

In jeder Beziehung ist Gott für uns. Köstliche

Wahrheit! Er hat Seinen eignen Sohn gegeben — Er

wird alles geben. Er selbstrechtfertigt uns — wer wird

verdammen? Und von der Liebe, die sich also erwiesen

hat, kann nichts uns trennen. Alles, was aus dem Wege

zur Herrlichkeit wider uns ist, kann, als Kreatur, nicht

größer sein, als Er, der Herr über alles ist. Gott ist

für uns in Christo, in Dem, welcher alles überwunden

hat. Nicht allein ist der Weg, auf dem Er gewandelt

hat — als Mensch, um leiden zu können, und als Gott,

71

um alle Liebe in den Leiden zu offenbaren — der Beweis

Seiner Liebe, sondern, indem wir Ihm auf diesem

Wege folgen, machen wir auch die Erfahrung Seiner

Liebe. Nichts kann uns von dieser Liebe trennen.

(Schluß folgt.)

Die vernünftige, unverfälschte Milch.

„Wie neugeborene Kindlein seid begierig nach der

vernünftigen, unverfälschten Milch, auf daß ihr dadurch

wachset zur Errettung." (1. Petr. 2, 2.)

Diese Stelle wird oft mißverstanden. Will sie sagen,

daß wir stets Kindlein in Christo bleiben und immer

wieder zu den ersten Elementen der Ernährung zurückkehren

sollen? Ohne Zweifel wird sie von vielen so ausgelegt.

Allein eine kurze aufmerksame Betrachtung wird

genügen, um uns zu überzeugen, daß dies nicht der

wahre Sinn des Verses sein kann.

Wir alle wissen, daß es in unserm Leben als Christen

einen Abschnitt giebt, in welchem wir notwendiger- und

richtiger Weise „Kindlein" sind. An solche richtet sich

der Apostel Johannes, wenn er schreibt: „Ich schreibe

euch, Kindlein, weil ihr den Vater erkannt habt." (I.Joh.

2, 13.) Doch sollen wir in diesem Zustande der Kindheit

beharren? Die Korinther werden getadelt, weil sie es

thaten, und zwar war ihre Fleischlichkeit der Grund, weshalb

sie keine Fortschritte machten: „Und ich, Brüder,

konnte nicht zu euch reden als zu Geistlichen, sondern

als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christo."

(1. Kor. 3, 1.) Und der Apostel fügt in vorwurfsvollem

Tone hinzu: „Ich habe euch Milch gegeben, nicht Speise;

72

denn ihr vermochtet es noch nicht, aber ihr vermöget es

auch jetzt noch nicht." Auch die Hebräer wurden von

dem Apostel getadelt, daß sie „der Milch bedurften, und

nicht der festen Speise; denn da ihr der Zeit nach Lehrer

sein solltet, bedürft ihr wiederum, daß man euch lehre

welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes

sind." (Hebr. 5, 12.) Die letzten Worte machen es ganz

klar, was wir unter der „Milch" in diesen beiden Stellen

zu verstehen haben.

In 1. Petr. 2 aber ist der Gedankengang ein ganz

anderer. Hier bezeichnet Petrus das Wort Gottes, und

zwar das ganze Wort, mit dem Ausdruck „vernünftige,

unverfälschte Milch," und nach diesem Worte sollen wir

begierig sein, nicht einfach wie Kinder, sondern wie neugeborene

Kinder. Was ist die Milch für ein neugeborenes

Kind 2 Sein Leben selbst; denn ohne Milch muß

es unfehlbar zu Grunde gehen. Dasselbe aber ist das

Wort Gottes für uns, und als solches sollten wir es

schätzen und nach ihm begierig sein, wie ein Säugling

nach der Muttermilch begierig ist. Das ganze Wort

hat Gott uns gegeben, und wir würden die Gabe sowohl,

wie den Geber verunehren, wenn wir nur gewisse Teile

für uns auswühlen und das Uebrige als zur Nahrung

unpassend verwerfen wollten. Das ganze Wort ist für uns

nützlich zur Nahrung. Wir bedürfen sowohl des Alten,

als auch des Neuen Testaments, sowohl des Evangeliums,

als auch der späteren hohen Offenbarungen Gottes über

die Kirche. Die Wege und Handlungen Gottes mit Seinem

irdischen Volke sind nicht weniger nützlich für uns, als

Seine Wege und Handlungen mit uns, der himmlischen

Braut des Lammes.

73

Und nun fragen wir uns: Nimmt wirklich das Won-

Gottes in unsern Gedanken und in unsern Herzen den

Platz ein, der ihm gebührt und den es nach dem Willen

Gottes haben sollte? Begehren wir täglich, von dieser

unverfälschten, kostbaren Milch zu trinken? oder ist es

Satan gelungen, uns in Bezug auf diesen Schatz, den

wir durch die Gnade Gottes besitzen, gleichgültig zu machen ?

Sind wir träge geworden im Lesen und Erforschen der

Schriften? O, geliebte Brüder, laßt uns bedenken, was

der Apostel seiner Ermahnung noch hinzufügt! Er sagt:

„Seid begierig .... auf daß ihr dadurch wachset

zur Errettung." Es kann unmöglich von einem gesunden

Wachstum die Rede sein, wenn wir versäumen,

uns von dem Worte Gottes zn nähren. So wie ein

Kind zu Grunde gehen muß, wenn ihm die Milch entzogen

wird, so muß auch das geistliche Leben in uns verkümmern,

wenn wir ihm die Speise entziehen, die zu

seiner Erhaltung und Stärkung notwendig ist. Anstatt

zu wachsen, nimmt es ab und wird von Tag zn Tage

schwächer und schwächer. Warum sehen wir heute so viele

Kinder Gottes in einem ähnlichen schwachen Zustande wie

die Korinther? Weil sie, anstatt das geistliche Leben, das

in ihnen ist, zu nähren, dem fleischlichen und natürlichen

Nahrung zuführen. In dem Maße aber, wie dieses

wächst, muß jenes abnehmen. Und haben wir uns nicht alle

tief zu demütigen über den traurigen, niedrigen Zustand,

der im allgemeinen unter uns herrscht? Wo ist Hulse zu

finden? Nur in einem aufrichtigen Bekenntnis und Selbstgericht

und in einer Rückkehr mit ganzem Herzensent-

schluß zu dem, was wir verlassen haben. Der Herr

gebe es uns allen in Seiner reichen Gnade!

— 74 —

Auserwählt in Christo.

(Eph. 1, 3—7.)

Wenn wir zurückblicken in die Tiefen der Ewigkeit

vor der Gründung der Welt, so sehen wir Gott mit den

Gedanken und Ratschlüssen beschäftigt, welche der Heilige

Geist uns im Anfänge des Epheserbriefes mitteilt. Ja,

wir werden hier zurückgeführt weit vor die Zeit unsrer

Bekehrung, vor den Tod des Herrn Jesu, vor Seine

Fleischwerdung, vor alle die Handlungen Gottes mit dem

Menschen innerhalb des alttestamentlichen Zeitraums von

viertausend Jahren, ja vor den Augenblick, da Satan in

das Paradies eintrat und Eva sündigte. Wir waren auserwählt

in Christo „vor Grundlegung der Welt." Was

könnte die Ratschlüsse und Gnadenabsichten Gottes je

verändern? Bevor die Zeiten begannen, bevor Gott

Himmel und Erde ins Dasein rief, erwählte Er uns in

Ihm, dem Geliebten, daß „wir heilig und tadellos seien

vor Ihm in Liebe." (V. 4.)

Ja, Er beschloß, uns in diesen wunderbaren Platz

der Annehmlichkeit, „vor Ihm in Liebe," zu versetzen. So

groß war die Liebe des Vaters gegen uns von Ewigkeit

her. „Zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade, worin

Er uns begnadigt hat in dem Geliebten." (V. 6.) Welch

ein Gedanke, vor Ihn hingestellt zu sein nach der Liebe

Seines Herzens — „in Liebe," „begnadigt in dem Geliebten,"

zugleich „heilig und tadellos!" Und nichts vermag

die ewigen Ratschlüsse Gottes umzustoßen oder auch

nur anzutasten. Nein, sie sind jetzt schon erfüllt. „Er

hat uns begnadigt in dem Geliebten. Er hat uns

mit und in Christo gesegnet. So wahr es ist, daß Er

uns in Christo vor Grundlegung der Welt anserwählt

hat, ebenso wahr ist es auch, daß Er uns in Ihm begnadigt

und vor sich hingestellt hat „heilig und tadellos in Liebe."

Wenden wir jetzt unsern Blick auf das Verhältnis,

in welches Gott uns gebracht hat, so sehen wir, daß Er

„uns zuvorbestimmt hat zur Sohnschaft durch Jesum

Christum für sich selbst." O, wie viel näher stehen

wir Ihm, als selbst Adam im Paradiese! Er war ein

unschuldiges, reines Geschöpf, aber kein Kind Gottes.

Weit näher auch, als Israel, als Volk betrachtet, näher

als Abraham, der Freund Gottes; ja unser Platz ist

weit näher, als derjenige, dessen die Engel, diese heiligen

und reinen Wesen, die Thäter Seines Wohlgefallens, sich

erfreuen. Sie stehen um Seinen Thron; aber Jesus

ist hingegangen, um eine Stätte für uns im Vaterhause

zu bereiten; wir sollen auf Thronen sitzen in dem

wolkenlosen Licht der Herrlichkeit Gottes, so nahe, daß

die Myriaden von Engeln um diesen Platz der Nähe geschart

stehen. Ja, wir sind zuvor bestimmt, diesen bevorzugten

Platz mit dem Sohne Seiner Liebe, als Kinder,

zu teilen — „zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade."

Wie erfreut es das Herz und stimmt es zu anbetender

Bewunderung, wenn wir lesen, daß Gott uns zur

Sohnschaft „für sich selbst" bestimmt hat! Es war

das „Wohlgefallen Seines Willens," solch arme, elende

Kreaturen, wie wir sind, in ihrem Elend zu besuchen, sie

aus ihrem Verderben zu befreien, um sie für sich selbst,

für Sein eignes Herz und für ewig als Söhne in Seiner

nächsten Nähe zu haben. Der Heilige Geist trägt Sorge,

uns ausdrücklich dieses besonderen Wunsches Gottes und

Seines unbegreiflichen Interesses an uns zu versichern.

Er liebte uns, als wir noch Sünder und Feinde waren;

76

-Er sandte Jesum, Seinen Geliebten, und stellte Ihn an

unsern Platz, um uns für alle Ewigkeit einen Platz an

Seinem Vaterherzen zu bereiten. Nichts anderes konnte

Seine Liebe zu uns befriedigen, nichts Geringeres Seinen

Gedanken iiber uns genügen. Er wollte Kinder haben,

und Er erwählte sie aus der Mitte verlorener, verdammungswürdiger

Sünder. Wer könnte eine solche Liebe

ergründen? Die Engel begehren, in diese herrlichen Ratschlüsse

und Wege der göttlichen Liebe hineinzuschauen,

deren Gegenstände wir sind.

„Geliebte, jetzt sind wir Gottes Kinder, und es ist

noch nicht geoffenbart worden, was wir sein werden; wir

Wissen, daß, wenn Er geoffenbart ist, wir Ihm gleich

sein werden, denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist."

(1. Joh. 3, 2.) Hier sehen wir, daß die Gedanken Gottes

noch weiter gehen. Wir sollen dem Heiligen, Verherrlichten

gleich sein, dessen baldiger Ankunft wir entgegensehen,

Ihm selbst verherrlicht dargestellt, ohne Flecken oder Runzel

oder etwas dergleichen. (Eph. ö, 27.) Gott konnte kein

Wohlgefallen haben an jenen Opfern, die niemals Sünden

hinwegzunehmen vermochten. Jetzt aber sind Seine ewigen

Vorsüve, die teuersten Wünsche Seines Herzens erfüllt in

unserer vollkommnen Annahme in Christo und in unsrer

Gleichheit mit Ihm.

In Dan. 7, 9 sehen wir den „Alten der Tage,"

dessen Kleid „weiß ist wie Schnee, und das Har Seines

Hauptes wie reine Wolle." Ebenso erscheint in Offbg. 1

der Herr Jesus dem Propheten Johannes: „Sein Haupt

Liber und Seine Hare waren weiß wie weiße Wolle, wie

Schnee." Demselben Bilde fleckenloser Reinheit begegnen

wir ferner auf dem Berge der Verklärung: „Und Er

ward umgestaltet vor ihnen. Und Sein Angesicht leuchtete

wie die Sonne, Seine Kleider aber wurden weiß wie das

Licht." (Matth. 17, 2.) Und nun möchte man fragen:

Ist eS möglich, daß wir, die wir solche Sünder gewesen

sind, diesem Herrn gleich sein können, „so wie Er ist?"

Ja, dieselben Bilder werden durch den Heiligen Geist gebraucht,

wenn Er von der Reinigung unsrer Sünden redet.

„Kommt denn und lasset uns rechten mit einander, spricht

Jehova. Wenn eure Sünden sind wie Scharlach, wie

Schnee sollen sie weiß werden; wenn sie rot sind wie Kar-

semin, wie Wolle sollen sie werden." (Jes. 1, 18.)

ES ist gesegnet für unsre Herzen, in dem unumschränkten

Gnaden-Ratschluß Gottes zu ruhen. Die Erlösung,

die wir besitzen, ist das Resultat dieses Ratschlusses.

„Das Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, reinigt uns

von aller Sünde." (1. Joh. 1, 7.) „Hierin ist die Liebe

mit unS vollendet worden, auf daß wir Freimütigkeit haben

an dem Tage des Gerichts, daß, gleich wie Er ist,

auch wir sind in dieser Welt." (1. Joh. 4, 17.)

Laßt uns denn von der Höhe Gottes herabblicken und die

Versammlung betrachten, so wie Er sie sieht, wie Er sie

betrachtet, „tadellos" und „begnadigt in dem Geliebten!"

Unsere Herzen können unmöglich den Gedanken fassen, daß

wir Ihm gleich sind, wenn wir nicht verstehen, wie Gott

unS betrachtet. Laßt uns nie vergessen, daß wir trotz aller

Wut Satans, trotz aller gegenteiligen Meinungen der ungläubigen

Menschen, in Christo auserwählt sind vor diesem

allen, vor Grundlegung der Welt! Möchten wir jeden Tag

erfunden werden in der Erwartung Seiner Ankunft und des

glückseligen Augenblicks, wo wir unsern geliebten Herrn

sehen und Ihm auch hinsichtlich unsers Leibes gleich sein

78

werden! Der Herr ist nahe! „Ermuntert einander mit

diesen Worten!"

Er wurde innerlich bewegt."

„Und als Jesus heraustrat, sah Er eine große

Volksmenge und wurde innerlich bewegt über sie, denn

sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und Er

sing an, sie vieles zu lehren." (Mark. 6, 34.)

Wie köstlich ist es, in einer Welt des Elends und

der Not Einen Zu besitzen, der alle Bedürfnisse kennt, sie

gleichsam zu Seinen eignen macht, und dessen erbarmende

Liebe sich uns sichtbar und fühlbar offenbart!

„Er wurde innerlich bewegt." Diese Gefühle waren

nicht vorübergehender Natur; nicht nur damals fand das

menschliche Elend eine Stätte in dem Herzen des Herrn. O

nein; Er, welcher „derselbe ist gestern und heute und in Ewigkeit,"

wird, obwohl Er jetzt auf dem Throne des Vaters

in der Herrlichkeit sitzt, immer noch innerlich bewegt,

wenn Er herabblickt auf all das Elend und die Not hie-

nieden, wenn Er das Seufzen und Flehen vernimmt,

das in immer dringenderen Lauten zum Throne der

Gnade emporsteigt.

Wenn der Hirte Israels innerlich bewegt ward bei

dem Anblick der Kinder Abrahams, die wie Schafe ohne

Hirten in der Wüste umherirrten, wie tief muß dann

Seine Bewegung sein, wenn Er jetzt auf die von neuem

weit zerstreuten Kinder Gottes blickt! Welch eine schreckliche

Verwüstung haben die „verderblichen Wölfe" in der

„Herde Gottes" angerichtet! Wie haben die Verkündiger

„verkehrter Dinge" die Jünger abgezogen „hinter sich

her!" (Apstg. 20, 29. 30.) Welch eine Spaltung und

79

welch ein Aergernis haben diejenigen angerichtet, die „nicht

unserm Herrn Jesu Christo, sondern ihrem eigenen

Bauche dienen!" Sicherlich muß dies alles das Herz

Dessen tief bewegen, welcher „die Versammlung geliebt

und sich selbst für sie hingegeben hat." (Eph. 5, 25.)

Doch war dies das Einzige, daß Jehova's Volk

„wie Schafe war, die keinen Hirten haben?" Hatten sie

nicht auch selbst gesündigt? Standen ihre Herzen in

der rechten Gesinnung zu Ihm, dem guten Hirten? Hatten

sie standhaft in „dem Bunde" beharrt? O, der Herr

wußte nur zu wohl, daß dies durchaus nicht der Fall

war. Er kannte die lange, traurige Geschichte dieses verkehrten,

hartnäckigen Volkes von Anfang bis zu Ende.

Wie oft hatte Er Seine Hände vergeblich nach ihnen ausgestreckt,

wie oft umsonst durch Seine Propheten, durch

-Gnadenerweisungen und Gerichte zu ihnen geredet! Sie

harten sich geweigert, in Seinen Geboten zu wandeln; sie

hatten Seinen Bund gebrochen und die großen Wunderwerke

vergessen, die Er sie hatte schauen lassen. Und

doch ward der Herr innerlich bewegt über sie! „Er war

barmherzig und vergab ihre Ungerechtigkeiten." (Ps. 7».)

Wenden wir jetzt unsern Blick auf die Kirche des

lebendigen Gottes, so müssen wir fragen: Hat sie auch

nur durch falsche Lehrer und schlechte Führer gelitten?

Hat sie eine bessere Geschichte hinter sich als das Volk

Israel? Ist sie weniger verkehrt und halsstarrig gewesen?

Hat sie Sein Wort gehalten? Standen die

Herzen derer, die Er mit Seinem eignen kostbaren Blute

erlöst hat, stets in der rechten Gesinnung zu Ihm? Ach!

wie wohl weiß der Herr, daß die höheren Vorrechte und

besseren Verheißungen, die ihnen zu Teil geworden sind,

80

nur einen um so tieferen Fall, um so größere Sünde

und verhältnismäßig eine um so schwächere Antwort auf

Seine Liebe hervorgebracht haben. Ja wahrlich, jedes

gläubige Herz weiß dieses. Wie köstlich nun, in unsern

Tagen sich zu Dem wenden zu dürfen, dessen Mitgefühl nie

aufhört, der die Deinigen, die in der Wett sind, liebt

bis ans Ende!

Tief bewegt von erbarmender und vergebender Liebe,

„fing Er an, sie vieles zu lehren." Auch heute noch

redet der Herr zu uns, und wenn Er auch im Himmel

ist, so ist der Himmel doch offen für uns, und für den

Glauben giebt es keine Entfernung. Fehler und Unwissenheit

umgeben uns von allen Seiten. Um ein richtiges

Gefühl über die ersteren zu haben und der letzteren

zu Hülfe zu kommen, ist es unbedingt notwendig, wahre

Gemeinschaft mit Ihm zu machen, der, erhaben über allem

Bösen, alles sieht. Von Ihm allein können wir lernen,

in allem eine Gelegenheit zur Ausübung der Liebe zu

finden. Wünschen wir, in irgend welchem Blaße den Schafen

Christi in diesen letzten, bald zu Ende gehenden Tagen

zu dienen, so bedürfen wir sehr, die Bedeutung jener

Worte zu erwägen, die der Herr vor Alters an den

Propheten Sacharja richtete: „So spricht Jehova der

Heerscharen, sagend: Richtet ein wahrhaftiges Gericht und

er weis et Güte und Barmherzigkeiten einer dem

andern!" (Kap. 7, 9.) Vor allem aber haben wir nötig,

im Geiste viel mit jenem treuen und „barmherzigen Hohenpriester"

zu verkehren, der in allem versucht worden ist,

gleichwie wir, ausgenommen die Sünde, und der Mitleid

Zu haben vermag mit dem Schwachen und Irrenden.

81

Bruchstücke.

Wenn ein Gläubiger in Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit

wandelt, so verändert dies zwar nicht seine

Stellung vor Gott, noch benimmt es ihm sein Anrecht

an dieselbe, aber es bringt ihm einen großen, unersetzlichen

Verlust, indem es ihn des Genusses dieser Stellung

und der Gemeinschaft mit Gott beraubt. Und ich glaube,

dies ist einer der Gründe, weshalb so viele Gläubige

immer wieder und wieder von der Hinwegnahme ihrer

Sünden zu hören begehren. Gerade weil sie nicht treu

sind in ihrem Wandel, kommen sie nie zu wahrer Ruhe.

Ihr Gewissen verklagt sie, und sie fühlen immer von

neuem das Bedürfnis, zu hören, daß Gott unsrer Sünden

und Uebertretungen nie mehr gedenken will. Der Gedanke

an den „heiligen" Gott hat für sie stets etwas

Beängstigendes. Sie haben keine Freimüthigkeit zu diesem

Gott, noch fühlen sie sich glücklich in dem Lichte Seiner

Gegenwart. Sie kommen selten zu dem Genusse ihrer

wahren Stellung vor Gott, da ihr praktischer Zustand

dieser Stellung nicht entspricht.

Die Kraft Gottes ist gerade passend für die Schwachheit

des Gläubigen, und umgekehrt, die Schwachheit des

Gläubigen gerade passend für die Kraft Gottes. So

passen wir einer zum andern.

Alles, was wir hienieden thun, ist stets in Uebereinstimmung

mit dem Zustande, in welchem wir uns

augenblicklich befinden, nicht aber immer in Uebereinstimmung

mit unsrer Stellung. Es ist für uns, die wir

ettvaS von unsrer Stellung verstanden haben, Gefahr vor-

82

Handen, daß wir unsern Zustand übersehen. Wir sind

beunruhigt, bis wir unsre Stellung kennen; eine größere

oder geringere Gesetzlichkeit ist so lange in uns wirksam,

bis wir diese Stellung erkannt und eingenommen haben.

Einer Seele, die sie zuerst kennen lernt, ist es gerade so zu

Mute, als wenn die Sonne aufginge nach einer finstern Nacht.

Aber wenn eine solche Seele dabei stehen bleibt, so wird sie

sicher über kurz oder lang Rückschritte machen. Wie

mancher Gläubiger hat sich unaussprechlich gefreut, als er

seine wunderbare Stellung in Christo vor Gott kennen

lernte, aber wie bald hat er diese Freude wieder verloren,

weil er nicht wachsam genug gewesen ist, einen dieser

Stellung entsprechenden Zustand zu bewahren! Die Stellung

ist unser ohne jede Anstrengung von unsrer Seite, aber

die Bewahrung eines entsprechenden Zustandes erfordert

stete Wachsamkeit, unaufhörliches Gebet, unermüdlichen

Kampf. Unser Zustand muß sowohl der Heiligkeit des

Gottes entsprechen, mit dem wir es zu thun haben, als

auch passend sein, um dem Bösen in diesem gegenwärtigen

Zeitlauf in der rechten Weise zu begegnen. Je mehr er

ein solcher ist, desto mehr sind wir fähig, zu handeln

nach der Kraft, die in uns wirkt.

Unser Pfad durch die Wüste ist mit zahllosen Gnadenerweisungen

Gottes bestreut, und doch braucht nur eine

Wolke von der Größe einer Hand am Horizont aufzusteigen,

um uns jene reichen Segnungen mit einem Male

vergessen zu lassen. Und wie oft zeigt es sich am Ende,

daß gerade diese Wolke, vor der wir uns so sehr fürchteten,

nichts als Segen über uns ausgegossen hat

83

Nichts entehrt Gott mehr, als die Offenbarung eines

klagenden Geistes von Seiten derer, die Ihm angehören.

Es erfordert einen himmlischen Geschmack, um sich

stets von „dem Brode ans dem Himmel" zu nähren.

Die Natur kann an einer solchen Nahrung keinen Geschmack

finden. Sie wird sich immer wieder nach Aegypten

zurücksehnen, und deshalb muß sie im Tode gehalten werden.

Das Manna war so rein und zart, daß es keine

Berührung mit der Erde vertragen konnte. Es siel auf

den Tau (Vergl. 4. Mos. 11, 9.) und mußte gesammelt

werden, ehe die Sonne aufging. Ein jeder Israelit

mußte daher frühe aufstehen und seine tägliche Portion

einsammeln. Ebenso ist es jetzt mit dem Volke Gottes.

Das himmlische Manna muß jeden Morgen frisch gesammelt

werden. Das Manna von gestern genügt nicht

für heute, noch das heutige für morgen. Wir müssen

uns Tag für Tag von Christo nähren, mit immer neuer

geistlicher Energie; anders werden wir aufhören zu wachsen.

Das neue Leben in dem Gläubigen kaun nur durch

Christum genährt und erhalten werden. Und wenn ich

mit Gott durch die Wüste wandle, so werde ich völlig

mit der Nahrung zufrieden sein, die Er mir darreicht;

und diese Nahrung ist Christus.

Es ist höchst beklagenswert, Christen zu finden, die

nach den Dingen dieser Welt trachten. Es beweist nur

zu klar, daß sie des himmlischen Manna's überdrüßig

geworden sind und es als eine „lose Speise" betrachten.

Sie dienen dem, was sie töten sollten.

84

Gerade so wie im natürlichen Leben der Hunger

in demselben Maße zunimmt, wie die Kräfte des Körpers

angestrengt werden, ebenso fühlen wir im geistlichen Leben

um so mehr das Bedürfnis, uns jeden Tag von Christo

zu nähren, je mehr unsre erneuerten Fähigkeiten und

Kräfte in Ausübung kommen.

Zu wissen, daß wir Leben haben in Christo, verbunden

mit einer vollkommenen Vergebung und Annahme

vor Gott, ist eine Sache; aber eine ganz andere ist

es, in täglicher, praktischer Gemeinschaft mit Ihm zu

fein. Sehr viele bekennen, Vergebung und Frieden in

Jesu gefunden zu haben, während sie sich in Wirklichkeit

von allerlei Dingen nähren, die in gar keiner Verbindung

mit Ihm stehen.

Das Verhalten eines Menschen zeigt stets am getreuesten

seine Wünsche und Absichten an. Wenn ich

daher einem Christen begegne, der seine Bibel vernachlässigt,

während er Zeit genug findet, Zeitungen und

andere weltliche Sckriften zu lesen, so kann ich in meinem

Urteil über ihn nicht im Unklaren sein. Ich kann ruhig

sagen, daß er ungeistlich ist, daß er sich nicht von Christo

nährt, nicht für Ihn lebt, noch für Ihn zeugt.

Man hört oft Personen, sei es im Gebet. oder bei

andern Gelegenheiten, hohe Bekenntnisse machen und Ausdrücke

der tiefsten Hingebung äußern, .während in der Stunde

der Prüfung nicht die nötige geistliche Kraft vorhanden ist,

um das auszuführen, was die Lippen geredet haben.

Ein Wort

über kirchliche Unabhängigkeit.

i.

ES ist eine höchst gefährliche Sache, das persönliche

Urteil mit dem Gewissen zu vermengen. Die

völlig gereifte Frucht dieser Vermengung sehen wir in

dem gegenwärtigen Zustande des Protestantismus: das

persönliche Urteil wird dazu benutzt, um die Verwerfung

alles dessen zu rechtfertigen, mit welchem der Einzelne

nicht einverstanden ist. Die Verschiedenheit zwischen dem

persönlichen Urteil und dem Gewissen ist einfach. Wir

alle erkennen die Autorität eines Vaters an. Wenn es

sich nun um eine Sache des Gewissens handelt, sei es

in bezug auf die Autorität Christi oder das Bekenntnis

Seines Namens, so kann selbstverständlich die väterliche

Autorität nicht berücksichtigt werden. Ich bin verpflichtet,

Christum mehr zu lieben, als Vater und Blutter. Wenn

ich aber die Autorität meines Vaters in allem verwerfe,

worin mein persönliches Urteil von dem seinigen betreffs

dessen, was recht ist, abweicht, so hat alle Autorität aufgehört.

Es mag Fälle geben, in welchen ich ängstlich

nach dem, was meine Pflicht ist, zu suchen habe, und in

denen nur ein geistliches Unterscheidungsvermögen zu einem

richtigen Urteil kommen kann. Solche Fälle giebt es in

dem ganzen christlichen Leben. Wir müssen geübte Sinne

haben, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden —

86

nicht uuweise sein, sondern verstehen, was der Wille des

Herrn ist; und solche Uebungen sind nützlich.

Doch die Vermengung eines Urteils, welches ich

mir einfach über das, was richtig ist, bilde, mit dem

Gewissen ist im Grunde nichts anders, als eine Vermengung

des Willens mit dem Gehorsam. Ein

wahrhaftiges Gewisfen ist immer gleichbedeutend mit Gehorsam

gegen Gott; aber wenn ich das, was ich einsehe,

für genügend erachte zur Bestimmung meines Thuns, so ist

eine verderbenbringende Wirkung unausbleiblich. Unterwirft

man sich nur dann der Autorität eines Vaters, wenn er, selbst

in unwichtigen Dingen, eine Schriftstelle für das, was er

wünscht, anzuführen vermag? Erhebt ein solcher Grundsatz

nicht das eigene Ich und den eigenen Willen auf den Thron?

Doch ich gehe zu der Sache über, von der ich eigentlich

reden will. Nehmen wir an, in einer Versammlung

ist jemand wegen einer bösen Sache ausgeschlossen worden.

Alle erkennen an, daß ein solcher, wenn er in Wahrheit

gedemütigt ist, wieder ausgenommen werden sollte. Die

Versammlung glaubt, daß er wirklich gedemütigt ist; ich

hingegen bin überzeugt, daß er es nicht ist. Man nimmt

ihn auf. Soll ich nun mit der Versammlung brechen,

oder mich weigern, mich ihrer Handlung zu unterwerfen,

weil ich glaube, daß sie im Irrtum ist? Nehmen wir

den umgekehrten Fall an — ein Fall, der das Herz noch

mehr auf die Probe stellt — daß ich nämlich von der

Demütigung des Betreffenden überzeugt bin, während die

Versammlung eS nicht ist. Was soll ich jetzt thun? Ich

unterwerfe mich einfach einem Urteil, das ich für irrig

halte, und blicke auf den Herrn, daß Er es berichtigen

möge. Es ist dann eine Demut vorhanden, welche das

87

eigene Ich an den ihm gebührenden Platz stellt und die eigene

Meinung andern gegenüber nicht zur Geltung bringen will,

obwohl man überzeugt sein mag, daß man im Recht ist.

Hiermit steht eine andere Frage in Verbindung, daß

nämlich die Handlung der einen Versammlung für die

andere bindend ist. Unabhängige Versammlungen erkenne

ich nicht an, weil die Schrift es nicht thut. Da ist nur

ein Leib, der Leib Christi, und alle Christen sind Glieder

desselben; und die Versammlung Gottes an einem Orte

repräsentirt die ganze Versammlung und handelt in ihrem

Namen. Daher werden im ersten Briefe an die Korinther,

wo dieser Gegenstand behandelt wird, in der Anrede an

die Versammlung zu Korinth alle Christen mit eingeschlossen;

die Versammlung, als solche, aber wird als der

Leib behandelt und örtlich verantwortlich gemacht, die

Reinheit der Versammlung aufrecht zu halten; der Herr

Jesus wird als in ihr gegenwärtig betrachtet, und was

gethan wurde, geschah in dem Namen des Herrn

Jesu Christi. Dies wird völlig außer acht gelassen,

wenn man, wie es oft geschieht, im Blick auf eine Versammlung,

von sechs oder sieben fähigen, einsichtsvollen

und von einer Anzahl unwissender Christen spricht. Man

setzt die Gegenwart des Herrn in der Mitte einer Versammlung

bei Seite. Das Fleisch, sagt man, ist oft

wirksam in der Versammlung; aber warum setzt man

voraus, daß es in einer Versammlung wirkt, und vergißt,

daß es in einer einzelnen Person wirken kann?

Und ferner, wenn der Herr in der Versammlung

ist, warum redet man davon, daß man zuerst dem Herrn

und dann der Versammlung gehorchen müsse? Dies ist

nichts anders, als das Aufstellen eines persönlichen Urteils

88

gegenüber dem Urteil einer Versammlung, die in dem

Namen Christi mit Seiner Verheißung zusammenkommt

(wenn sie nicht in dieser Weise zusammenkommt, so habe

ich nichts mit ihr zu thun); ich sage dadurch einfach, daß

ich mich für weiser halte, als diejenigen, die so versammelt

sind. Ich verwerfe es durchaus als schriftwidrig, wenn

man sagt: „Zuerst Christus und dann die Versammlung."

Wenn Christus nicht in der Versammlung ist, so erkenne

ich sie gar nicht an. Jener Ausspruch setzt voraus, daß

die Versammlung Christum nicht hat, indem er aus Christo

und der Versammlung zwei Parteien macht. Ich kann einer

Versammlung gegenüber meine Meinung äußern und ihr

behülflich sein, weil ich ein Glied Christi bin und daher, wenn

es anders eine Versammlung ist, zu ihr gehöre. Aber wenn

ich sie als eine Versammlung Gottes anerkenne, so kann ich

nicht annehmen, daß Christus nicht in ihr ist. Ich leugne

dadurch einfach, daß sie eine Versammlung Gottes ist. Vielfach

fehlt das Verständnis über den wahren Charakter der

Versammlung Gottes. Dies kann uns nicht Wundern; allein

es verfälscht notwendig das Urteil über den in Frage

stehenden Punkt; man fragt alsdann nicht, ob ein Wort der

Schrift dafür vorliege, sondern sagt einfach: „Ich sehe das

Wort dafür nicht ein." Man traut somit dem eigenen Urteil

mehr zu, als demjenigen der Andern und der Versammlung

Gottes. Es ist eine andere Sache, wenn Lästerungen

gegen Christum in Frage stehen. Es wäre wirklich

Bosheit, eine solche Frage auch nur für einen Augenblick

auf den oben beschriebenen Boden zu stellen. Jeden Versuch,

solche Lästerungen durch kirchliche Fragen oder durch

Berufung auf das persönliche Gewissen zuzudecken, verabscheue

ich mit völligem Abscheu.

89

Der Leser erlaube mir, über Fragen von geringerer

Wichtigkeit noch ein Wort zu sagen. Angenommen, ich

gehöre zu einer Versammlung, welche nach meiner Mell

nung irgend eine Sache in verkehrter Weise beurteilt. Soll

ich nun meine persönliche Meinung ihr aufd rang en?

Wenn nicht, was habe ich zu thun? Soll ich die Versammlung

Gottes verlassen, wenn es eine solche ist (wenn

nicht, so gehe ich nicht hin)? Wenn ich nicht in einer

Versammlung bleiben will, weil sie mit mir nicht in allen

Punkten übereinstimmt, so kann ich zu keiner Versammlung

Gottes in dieser Welt gehören. Alles dieses ist einfach

eine Leugnung der Gegenwart und Hülfe des Geistes

Gottes und der Treue Christi gegen Sein Volk. Ich

kann keine göttliche Demut darin entdecken.

Wenn eine Versammlung als solche in einem Falle

der Zucht geurteilt hat, nachdem alle brüderliche Mitteilungen

und Vorstellungen angehört worden sind, so

sage ich mit Bestimmtheit, daß eine andere Versammlung

im Blick hierauf ihre Handlung aunehmen sollte. Wenn

der Böse in Korinth hinausgethan war, sollte Ephesus

ihn aufnehmen? Wo war dann die Einheit, wo der

Herr inmitten der Versammlung? Was mich aus dem

System hinausgeführt hat, war die Einheit des Leibes;

wo diese nicht anerkannt, und wo nicht aus Grund derselben

gehandelt wird, dahin werde ich nicht gehen. Unabhängige

Versammlungen halte ich für ebenso verkehrt oder

noch verkehrter, als die Nationalkirche. Und jede Versammlung,

die unabhängig von der andern handelt und

in einer von ihr unabhängigen Weise Personen ausnimmt, hat

jene Einheit verworfen und ist eine unabhängige Versammlung.

Die praktische Einheit des Leibes ist verschwunden.

»0

Niemand aber wird mich je zu einer solchen Bosheit

verleiten können, die Aufnahme von Lästerern als eine

kirchliche Frage zn behandeln. Wenn jemand mit solchen

zu wandeln wünscht, oder ihre Duldung am Tische des

Herrn unterstützt, so werde ich keine Gemeinschaft mit

ihm machen. Es ist meine bestimmte Ueberzeugung, daß

die von solchen Leuten verteidigten Grundsätze einen

Mangel an persönlicher Demut verraten und das wahre

Wesen der Versammlung Gottes zerstören. Doch ich will

die beiden Fragen nicht mit einander vermischen. Ich

gebe nicht zu, daß man mir meine geistliche Freiheit nehme.

Wir sind eine Herde, nicht ein umzäunter Hof. (Vergl.

Joh. 10.) Aber in Fragen der Zucht, wo kein Grundsatz

der Wahrheit verleugnet wird, stelle ich nicht mein Urteil

demjenigen der Versammlungen Gottes in den Dingen,

die ihrer Sorge von Gott anvertraut sind, gegenüber.

Wenn ich es thue, so stelle ich mich dadurch selbst als

weiser hin und beachte nicht das Wort Gottes, welches

der Versammlung gewisse Pflichten auferlegt hat — einer

Versammlung, die Er an ihrem Platze ehren wird.

Ich füge hinzu, daß es vor allem wichtig ist, in dem,

was wir erkannt haben, zu gehorchen. Ueber die möglichen

Forderungen nachzusinnen, die im Gehorsam an uns gestellt

werden können, da, wo wir lieber frei wären, unsern

eigenen Weg zu gehen, ist eine zweite Sache. „Dem, der

da hat, wird mehr gegeben werden." Das, was wir erkennen,

im Gehorsam zu thun, ist der beste Weg, um

Fortschritte in der Erkenntnis zu machen.

Weiter wird gesagt, „daß die Anerkennung Christi

als Herr das Band der Einheit zwischen den Versammlungen

bilde." Allein die Schrift redet, wenn es sich um

91

Einheit handelt, tein Wort über Versammlungen, noch

über ein Band zwischen den Versammlungen, noch besteht

endlich die Einheit aus einer Vereinigung von Versammlungen.

Herrschaft ist durchaus persönlich, und es ist

ichriftwidrig, von einem Herrn des Leibes zu reden.

Ehristus ist Herr über einzelne Personen; Er ist Haupt

des Leibes, Haupt über alle Dinge. Einheit besteht nicht

durch Herrschaft. Sicher wird der persönliche Gehorsam,

gleich jeder wahren Gottseligkeit, zur Bewahrung der Einheit

beitragen; aber die Einheit ist eine Einheit des Geistes,

und zwar in dem Leibe, nicht in Leibern. Sowohl

der Brief an die Epheser, als diejenigen an die Korinther

geben uns bestimmte Belehrung darüber, daß die Einheit

in dem Geiste und durch denselben ist, und daß Christus

in dieser Beziehung den Platz des Hauptes, nicht den

des Herrn hat; der letztere Titel bezieht sich aus Christen

versönlich. Der Irrtum, von dem ich eben gesprochen,

würde, wenn man ihn praktisch aussührte, die ganze Stellung

der Versammlungen verfälschen, bloße Dissidenten

aus ihnen machen und in keiner Weise den Gedanken

Christi entsprechen.

2.

Autorität mit Unfehlbarkeit zu vermengen,

ist eine armselige und leicht zu durchschauende Sophisterei.

In hundert Fällen kann man verpflichtet sein, zu gehorchen,

wo von Unfehlbarkeit keine Rede ist. Wäre es nicht so,

so könnte eS in der Welt überhaupt keine Ordnung mehr

geben. Unfehlbarkeit ist nicht in ihr vorhanden, wohl

aber ein gutes Teil Eigenwillen; und wenn da, wo es

keine Unfehlbarkeit giebt, auch kein Gehorsam, keine Ergebung

in das, was von andrer Seile entschieden ist, mehr

92

bestehen soll, so ist jede Schranke sür den Eigenwillen

beseitigt, und das Bestehen jeder öffentlichen Ordnung unmöglich

gemacht. Es handelt sich darum, ob man zu

etwas befugt, nicht ob man unfehlbar ist. Ein Vater ist

nicht unfehlbar, aber er besitzt eine ihm von Gott gegebene

Autorität, und es ist Pflicht, sich derselben zu unterwerfen.

Ein Polizeibeamter ist nicht unfehlbar, aber

er hat die Befugnis, in den Fällen Autorität auszuüben,

welche seiner Gerichtsbarkeit unterworfen sind. Es mag

Diittel gegen den Mißbrauch der Autorität geben, oder

in gewissen Fällen auch eine Verweigerung des Gehorsams

am Platze sein, wenn eine höhere Autorität uns

dazu zwingt, wie z. B. ein Gewissen, das durch Gottes

Wort geleitet wird. „Wir sollen Gott mehr gehorchen,

als den Menschen." Aber nienials wird in der Schrift dem

menschlichen Willen als solchem Freiheit gegeben. Wir sind

geheiligt zu dem Gehorsam Christi. Und dieser Grundsatz

— unsere Erfüllung des Willens Gottes in einfältigem

Gehorsam, ohne daß wir jede Frage, die erhoben

werden könnte, zu lösen suchen — ist ein Pfad des

Friedens, welchen viele derer, die sich für weise halten,

verfehlen, weil eS der Pfad der Weisheit Gottes ist.

Das Hineinbringen der Unfehlbarkeitsfrage ist daher

eine bloße Sophisterei, welche den Wunsch verrät, einen

freien Willen zu haben, sowie das Vertrauen, daß das

persönliche Urteil über allem steht, was bereits entschieden

ist. Es giebt eine richterliche Autorität in der

Kirche Gottes, und wenn dies nicht der Falt wäre, so

würde sie die schrecklichste Ungerechtigkeit auf Erden sein,

weil jede Ungerechtigkeit durch den Namen Christi geheiligt

werden würde. Und dies ist es, was von jenen, welche

93

die hier behandelten Fragen angeregt haben, gesucht und

verteidigt wird: daß nämlich, welche Ungerechtigkeit oder

welcher Sauerteig auch in einer Versammlung geduldet werden

möge, die Versammlung selbst nicht davon durchsäuert werden

könne. Solche Behauptungen haben in gewissem Sinne auch

Gutes gewirkt, indem jede aufrichtige Seele und ein jeder,

der nicht das Böse zu rechtfertigen sucht, sie von Herzen

verabscheut und verwirft.

Die Versammlung Gottes übt ihre richterliche

Autorität aus Gehorsam gegen das Wort aus: „Ihr,

richtet ihr nicht, die drinnen sind? Die aber draußen

sind, wird Gott richten; thut den Bösen von euch selbst

hinaus." Und ich wiederhole noch einmal: wenn die

Versammlung diese Autorität nicht auSübt, so wird sie

gleichsam zur Beglaubigerin jeder Art von Sünde und

Schlechtigkeit, und ich versichere in der bestimmtesten Weise,

daß, wo dieselbe ausgeübt wird, andere Christen verpflichtet

find, sie zu achten. Für die Thätigkeit des Fleisches in der

Versammlung sind Heilmittel vorhanden in der Gegenwart

des Geistes Gottes unter den Gläubigen und in der

unumschränkten Autorität des Herrn Jesu Christi; aber

diese Heilmittel finden sich sicher nicht in der traurigen

und ganz schriftwidrigen Anmaßung derer, welche einem

jeden, der es sich in den Kopf setzt, für sich selbst,

unabhängig von dem, was Gott fest gestellt hat,

zu urteilen, dazu die Befugnis zuerkennen. Dies ist, von

dem günstigsten Gesichtspunkte aus betrachtet, nicht so sehr

persönliche Anmaßung, obwohl dies sein wahrer Charakter

ist, der Charakter des seit den Tagen Cromwell's so wohlbekannten

und schriftwidrigen Systems des Jndependentis-

mus, nach welchem jede christliche Gemeinde, als eine

94

freiwillige Vereinigung, von der andern unabhängig ist»

Vielmehr wird hierdurch die Einheit des Leibes, sowie die

Gegenwart und Thätigkeit des Heiligen Geistes in demselben

direkt geleugnet.

Nehmen wir an, wir bildeten eine Körperschaft von

Freimaurern, und ein Mitglied wäre nach den Ordensregeln

von einer Loge ausgeschlossen. Einige Logen

glaubten nun, es wäre dem Betreffenden Unrecht geschehen,

aber anstatt von der ersten Loge zu erwarten, daß sie den

Fall noch einmal untersuche, würden sie den Ausgeschlossenen

auf ihre eigene unabhängige Autorität hin aufnehmen

oder abweisen — wo wäre dann die Einheit des Freimaurersystems

? Sie hätte offenbar aufgehört zu bestehen.

Eine jede Loge wäre ein unabhängiger, für sich selbst

handelnder Körper. Es wäre nutzlos zu behaupten, daß

ein Unrecht geschehen und die Loge nicht unfehlbar sei.

Die Befugnis der Logen, Autorität auszuüben, und die

Einheit des Ganzen wären dahin. Das System wäre

aufgelöst. Es mag für derartige Schwierigkeiten Vorsorge

getroffen fein, und dies ist ganz gut, wenn es notwendig

ist. Aber das, was die unzufriedenen Logen thun, ist

nichts anders, als eine Anmaßung des Vorrangs über

die erste Loge und muß unfehlbar die Auflösung des

Freimaurerordens herbeiführen.

Ich verwerfe in der bestimmtesten Weise die

vorgebliche Befugnis einer einzelnen Kirche oder Versammlung,

eine andere zu richten. Es ist dies eine schriftwidrige

Leugnung der ganzen Art und Weise, wie die

Versammlung Gottes zusammengefügt ist. Es ist Unabhängigkeit

— ein System, das ich schon vor vierzig

Jahren gekannt habe und dem ich mich niemals anschließen

95

würde. Wenn jemand dieses System liebt, so muß er

sich ihm eben anschließen; es ist vergebliche Mühe, zu

behaupten, daß es nicht Unabhängigkeit sei. Unabhängigkeit

ist einfach ein System, in welchem jede Kirche für sich

selbst, unabhängig von der andern, urteilt, und das ist

alles, was man fordert. Ich streite nicht mit denen,

welche dieses System vorziehen, indem sie selbständig zu

urteilen lieben; nur bin ich völlig überzeugt, daß es in

jeder Hinsicht durchaus schriftwidrig ist. Die Kirche ist

kein willkürliches System; sie ist nicht gebildet aus einer

Anzahl unabhängiger Körperschaften, welche jede für sich

selbst handelt. Man hat nie daran gedacht, was man

auch als Heilmittel betrachten mochte, daß Antiochien

Heiden zulassen und Jerusalem sie zurückweisen, und doch

alles vorangehen konnte nach der Ordnung der Versammlung

Gottes. Es findet sich in dem Worte keine Spur von

solcher Unabhängigkeit und Unordnung. Dasselbe lehrt

vielmehr und enthält alle möglichen thatsächlichen Beweise

dafür, daß es nur einen Leib auf der Erde gab, dessen

Grundlage der Segnung jene Einheit bildete, deren

Bewahrung die Pflicht eines jeden Christen war. Der

Eigenwille mag wünschen, daß es sich anders verhalten

möchte, aber sicherlich nicht die Gnade, noch auch der

Gehorsam gegen das Wort.

Es mögen sich Schwierigkeiten erheben, die nicht, von

einem apostolischen Mittelpunkt, wie er sich in jenen

Tagen zu Jerusalem befand, geordnet werden können.

Wir haben einen solchen Mittelpunkt nicht mehr: aber

unsere Zuflucht ist die Wirksamkeit des Geistes in der

Einheit des Leibes, die Thätigkeit der heilenden Gnade

und hülfreicher Gaben, sowie die Treue eines gnädigen

96

Herrn, welcher verheißen hat, uns nie zu verlassen noch

zu versäumen. Was in Jerusalem geschah nach dem

15. Kapitel der Apostelgeschichte, ist ein Beweis, daß die

schriftgemäße Versammlung nie an eine unabhängige Handlungsweise,

worauf man jetzt besteht, gedacht oder eine

solche angenommen hat. Die Thätigkeit des Heiligen

Geistes entfaltete sich in der Einheit des Leibes, und so

ist es immer. Die Handlungsweise, wie sie durch den

Apostel in Korinth vorgeschrieben wurde, (und dieselbe

ist als Gottes Wort bindend für uns) betraf die ganze

Versammlung Gottes, und deshalb wendet sich der

Apostel in seiner Anrede an alle Christen. Könnte wohl

jemand behaupten, daß jede Versammlung noch einmal für

sich selbst zu urteilen hatte, ob der Manu, welcher in Korinth

richterlicher Weise hinausgethan war, ausgenommen werden

dürfe, und daß jene richterliche Handlung für nichts

gegolten habe, oder doch nur für Korinth wirksam gewesen

sei, und daß Ephesus oder Kenchreä nachher nach Belieben

habe handeln können? Welchen Zweck hätte dann die

ernste Handlung und Anweisung des Apostels gehabt?

Nun, jene Autorität und jene Anweisung ist auch heute

noch für uns das Wort Gottes.

Ich weiß Wohl, daß man sagen wird: „Sie haben

Recht; aber Sie können dieses Wort nicht richtig befolgen,

da das Fleisch wirksam sein kann." Allerdings ist die

Möglichkeit vorhanden, daß das Fleisch sich wirksam

erweis:; aber ich bin völlig überzeugt, daß das, was die

Einheit der Versammlung leugnet, was sich eigenmächtig

erhebt und dieselbe in unabhängige Körperschaften zersplittert,

daß dies die Auflösung der Kirche Gottes bedeutet, schriftwidrig

und nichts als Fleisch ist. Dasselbe ist deshalb.

!)7

was mich betrifft, verurteilt, bevor ich einen Schritt weiter

gehe. Ohne Zweifel kann das Fleisch wirksam sein, aber für

demütige Seelen giebt es, wie ich bereits gesagt habe, ein

Heilmittel, ein gesegnetes, köstliches Heilmittel, in der Hülfe

des Geistes Gottes, in der Einheit des Leibes und in

der Liebe und Sorge des treuen Herrn, nicht aber in

deni anmatzungsvollen Willen, der sich eigenmächtig erhebt

und die Versammlung Gottes leugnet. Meine Antwort

ist daher, daß der Einwurf jener eine Sophisterei ist,

indem sie Unfehlbarkeit mit einer göttlich angeordneten

Autorität verwechseln — einer Autorität, welche von

demütigen Herzen, in denen die Gnade wohnt, anerkannt

wird. Das System, welches man erstrebt, ist der

anmaßende Geist der Unabhängigkeit, eine Verwerfung

der ganzen Autorität der Schrift in ihrer Belehrung über

die Versammlung; es stellt mit einem Wort den Menschen

an den Play Gottes.

Wenn zwei oder drei mit einander versammelt sind,

so bilden sie offenbar eine Versammlung und, wenn dem

Worte gemäß versammelt, eine Versainnilung^ Gottes;

wenn sie aber keine Versammlung Gottes sind, was sind

sie dann? Sind sie die einzige Versammlung an einem

Orte, so bilden sie Versammlung Gottes an diesem

Orte, wiewohl ich in praktischer Beziehung dagegen bin,

diesen Titel anzuiiehmen, weil die Versammlung Gottes

an einem Orte eigentlich alle dort wohnenden Gläubigen

umfaßt; und es ist Gefahr vorhanden, daß man diesen

Namen annimmt, indem man den allgemeinen Verfall der

Äirche aus dem Auge verliert und sich anmaßt, etwas

zu sein. Indessen ist es in dem gesetzten Falle

nicht falsch. Wenn irgendwo eine solche Versammlung

— 9!^ —

besteht, und es wird, unabhängig von derselben, eine

zweite durch den Willen des Menschen aufgerichtet, so ist

nur die erste moralisch, in Gottes Augen, die Versammlung

Gottes. Die zweite ist es durchaus nicht, weil sie in

Unabhängigkeit von der Einheit des Leibes aufgerichtet

ist. Ich verwerfe völlig und ohne Zögern das ganze

independentistische System als schriftwidrig und als ein

wirkliches Uebel. Nachdem die Einheit des Leibes wieder

dargestellt und die fchriftgemäße Wahrheit derselben bekannt

ist, ist jenes System einfach ein Werk des Feindes.

Unkenntnis der Wahrheit ist unser gemeinsames Los in

vielen Beziehungen; aber Widerstand gegen dieselbe ist

etwas ganz anderes. Ich weiß, daß behauptet wird, die

Kirche sei jetzt so sehr im Verfall, daß eine schriftgemäße

Ordnung, der Einheit des Leibes gemäß, nicht aufrecht

erhalten werden könne. Ein jeder, der so spricht, muß,

wenn er anders ehrlich ist, bekennen, daß er eine schrift-

widrige Ordnung, oder besser Unordnung, sucht. In

Wahrheit ist eS in diesem Falle durchaus unmöglich, zum

Brotbrechen zusammen zu kommen, es sei denn in Auflehnung

gegen das Wort Gottes; denn die Schrift sagt: „Ein

Brot, ein Leib sind wir, die Vielen, denn wir alle sind

des einen Brotes teilhaftig." Wir bekennen, ein Leib

zu sein, so oft wir Brot brechen, die Schrift weiß von

nichts anderem; und man wird finden, daß die Schrift

ein zu starkes und vollkommenes Band ist, als daß

menschliche Vernünfteleien es zerreißen könnten.

I. N D.

Betrachtungen über die Epistel an die Römer.

(Schluß.)

Kapitel 9.

Die Lehre des Briefes ist mit dem achten Kapitel

beendigt. Die zwei Hauptfragen, um die es sich für den

sündigen Menschen handelt: seine Schuld und sein sündhafter

Zustand, oder das, was er gethan hat, und das,

was er ist, sind vollständig betrachtet worden. Christus

ist für unsre Sünden gestorben, so daß wir (die Gläubigen)

gerechtfertigt sind, und wir sind mit Christo gestorben,

so daß wir von der Macht der Sünde und des

Fleisches befreit werden. Alle Thaten des Fleisches sind

uns vergeben, und wir sind nicht mehr im Fleische,

sondern in Christo. Deshalb giebt eS für uns keine

.Verdammnis und keine Trennung von Gott mehr.

Doch diese an und für sich vollkommene Lehre ließ

noch eine schwierige Frage unbeantwortet, nämlich die Frage

hinsichtlich des Zustandes der Juden. Der Apostel hat ausführlich

dargethan, daß der Jude schuldig sei, weil er das

Gesetz übertreten habe, und daß es also keinen Unterschied gebe

zwischen dem Juden und dem Heiden; alle haben gesündigt, sind

vor Gott schuldig und Seinem Gericht verfallen. Daß

die Juden das Gesetz übertreten hatten, konnten sie nicht

leugnen, aber sie konnten sich berufen auf die ihnen in

Abraham und andern Vorvätern gemachten unbedingten

Verheißungen. Und dieser Schwierigkeit begegnen die Kapitel

9 bis 11.

Es giebt allerdings unbedingte Verheißungen, die

dem Volke Israel gemacht sind. Zunächst aber find nicht

alle, welche zu dem Stamme Israel gehören, dadurch

Israel; und, was noch wichtiger ist, sie haben Den, in

100

welchem diese Verheißungen erfüllt werden füllten und in

dem ihnen die Erfüllung derselben angeboten wurde, verworfen,

und dadurch haben sie alles Anrecht auf diese Erfüllung

verloren. „Sie haben sich gestoßen an dem Stein

des Anstoßes." Dann aber, nachdem alle Segnung, für sie

nicht minder wie für die Heiden, eine Sache der reinen

Gnade geworden, zeigt der Apostel, daß Gott, der unveränderlich

treu ist, aus Gnade alles erfüllen wird, was

Er verheißen hat. Den Beweis dieser Grundsätze finden

wir in den Kapiteln 9 bis 11.

Zunächst giebt der Apostel seiner unveränderlichen

Liebe zu seinem Volke Ausdruck. Sein Herz war mit

Trauer erfüllt über die Beseitigung desselben, ja, er war

so weit entfernt von aller Gleichgültigkeit in dieser Beziehung,

daß er, anstatt des geliebten Volkes, lieber sich

selbst als verflucht von Christo getrennt gesehen hätte. Wie

Christus selbst über Jerusalem weinte wegen der Halsstarrigkeit

des Volkes, als Er von dem Gipfel des Del-

berges aus die Stadt vor Seinen Augen ausgebreitet

liegen sah, oder wie einst Mose (2. Mose 32, 32.) für

Las götzendienerische Volk eintrat, so begegnen wir hier in

dem Apostel dem Ausdruck derselben Gefühle der Liebe

und des Schmerzes. Sein Wunsch war nicht der Ausdruck

einer ernsten, ruhigen Erwägung, auch gehörte er

nicht der Gegenwart an, sondern er war ausgestiegen aus

einem Herzen, das durch den Gedanken an die Verwerfung

des von Gott geliebten Volkes — seiner Verwandten nach

dem Fleische — tief niedergedrückt war. Es war der

Ausruf eines Herzens, das seine überströmenden Gefühle

nicht zu unterdrücken vermochte. Er zählt ihre Vorrechte

auf — denn sein Herz war noch erfüllt von alle dem,

101

was ihnen in Verbindung mit Gott gehörte — bis zu

dem Messias hin, der dem Fleische nach von ihnen ab-

stammte. Auch spricht er nicht, als ob das Wort Gottes sein

Ziel verfehlt hätte; denn nicht alle, welche von Israel ab-

stammen, sind deshalb auch Israel, noch sind sie alle

Kinder, weil sie Abrahams Samen sind. In Isaak allein

hat der Same seine Kindes-Stellung vor Gott. Die

Kinder nach dem Fleische sind dadurch nicht auch Kinder

Gottes, sondern allein die Kinder nach der Verheißung

werden als Samen gerechnet. Ismael gehörte nicht zu

diesem Samen Gottes; denn das Wort: „Nach dieser

Zeit Will ich kommen, und Sarah wird einen Sohn haben/'

ist ein Verheißungswort und bezog sich nicht aus Ismael.

Wollte man einwenden: „Aber Hagar war ja auch unreine

Sklavin, ein Kebsweib," so war dies doch bei Rebekka

nicht der Fall, und zu ihr wurde gesagt in bezug cutt

die Kinder, die von ihr, von ein und derselben Frau, in

ein und derselben Geburt geboren werden sollten, und

zwar bevor dieselben geboren waren und weder Gutes

noch Böses gethan hatten (auf daß der Vorsatz Gottes

nach der Gnadenwahl feststnudet: „Der Größere wird

dem Kleineren dienen;" wie geschrieben steht: „den Jakob

habe ich geliebt, aber den Esau habe ich gehaßt." Wenn

also die Juden nicht die Unumschränktheit Gottes anerkennen,

sondern auf ihrer Abstammung von Abraham nach

dem Fleische bestehen wollten, so mußten sie auch die

Edomiter und Jsrnaeliter zulassen, um Anteil an den Verheißungen

zu haben; davon aber wollten sie nichts wissen.

Doch, so wichtig dies auch sein mag, so ist es doch

nicht alles, was der Apostel als Beweis seiner Auseinandersetzung

anzuführen hat. Er fragt: „Ist denn

— 1l>2 —

Ungerechtigkeit bei Gott? — das sei ferne!" Nach

Seinem göttlichen Recht kann Er ohne Zweifel Barmherzigkeit

erweisen, wem Er will, wie Er auch zu Mose

sagt: Ich werde Barmherzigkeit ausüben, au wem ich

will. Es liegt also nicht an dem, der da will, noch an

dem, der da läuft, sondern an Gott, der Barmherzigkeit

erweist. Und bei welcher Gelegenheit hat Gott zu Mose

jenes Wort gesagt? Als Israel das goldene Kalb gemacht

hatte — zu einer Zeit, wo Gott, wenn Er sich nicht in

Seine eigne Unumschränktheit, in welcher Er frei war,

Gnade zu erweisen, zurückgezogen hätte, das ganze Volk,

ausgenommen Mose und Josua, hätte vernichten müssen,

so daß dann, dem fleischlichen jüdischen Grundsatz nach,

die JSmaeliter und Edomiter Erben der Verheißungen

hätten werden müssen, während Israel ausgeschlossen

gewesen wäre. Demselben Grundsatz begegnen wir bei

der Befreiung Israels aus der Knechtschaft in Aegypten.

Gott hatte das Herz Pharao's nicht schlecht gemacht

— das war eS schon — sondern verhärtet, damit Er

Seine Diacht und Seinen Namen verherrliche auf der

ganzen Erde. Er erweist also Barmherzigkeit, wem Er

will, und Er verhärtet, wen Er will. Seine Wege mit

Israel selbst waren ein klarer, unwiderleglicher Beweis

davon; denn anders würden ihre Feinde Erben der Verheißungen

geworden, sie selbst aber ausgeschlossen und der

glorreiche Anfang ihrer Geschichte verfälscht worden sein.

Weiterhin betrachtet der Apostel die Lehre, die mit

dieser Auseinandersetzung in Verbindung steht, und wendet

das Ganze an auf die Wege Gottes mit Israel und mit

den Heiden jener Zeit, indem er den Einwürfen des

Fleisches: wo bleibt da die Verantwortlichkeit des Menschen?

103

warum rechnet denn Gott dem Menschen die Sünde noch

zu? wer hat Seinem Willen widerstanden? entgegentritt.

Der Apostel beantwortet diese Fragen in dreifacher Weise.

Zunächst haben wir, als Geschöpfe Gottes, nicht das

Recht, Sein Thun zu beurteilen; das, was gemacht ist,

kann nicht zu dem, der es gemacht hat, sagen: warum

hast du mich also gemacht? Dieses absolute Recht Gottes

bildet die Grundlage der Auseinandersetzungen des Apostels.

Wenn die Rechte der Geschöpfe aufrecht erhalten werden

müssen, wie viel mehr muß dann der allmächtige

Gott die Deinigen haben! Er richtet die Menschen, aber

die Menschen sind nicht fähig, Ihn zu richten. Hierauf

geht der Apostel zu den Thatsachen über und zeigt, wie

Gott die Bösen, um Seine von ihnen verachtete Macht

zu bestätigen, mit vieler Langmut getragen hat und Seinen

Zorn wider die halsstarrige Bosheit in ihnen offenbart;

wie Er dagegen den Reichtum Seiner Herrlichkeit an den

Gefäßen der Begnadigung kund thut, die Er zur Herrlichkeit

zuvorbereitet hat. Gott unterwirft sich nicht

dem Gutachten der Menschen. Die Ordnung Seiner

geoffenbarten Wege aber ist, daß Er die Bösen, für

welche das Gericht passend ist, trägt und die Gefäße der

Barmherzigkeit, d. h. die Christen aus den Juden und an?

den Heiden, für die Herrlichkeit zuvarbereitet.

Die Kraft und Tragweite der Auseinandersetzungen

des Apostels ist also diese: Wenn Gott nicht ganz frei

nach Seiner Gnadenwahl und nach Seinem bestimmten

Vorsatz handeln sollte, und die Juden sich stützen wollten

auf ihre natürliche Abstammung (wie sie dies wirklich

thaten), so mutzten sie auch die Jsmaeliter zulasfen; verweigerten

sie aber deren Zulassung unter dem Vorwande,

104

daß Ismael der Sohn einer Sklavin gewesen sei, so

konnten sie die Edomiter doch unter keinem Vorwand

zurückweisen. Aber nicht allein das; die Juden hätten,

mit alleiniger Ausnahme der Familie von Mose und

oielleichr derjenigen von Josua, selbst ausgeschlossen werden

müssen, weil sie nur durch den Willen Gottes am Sinai

verschont geblieben waren. Weil Gott aber thut, was

Gr will, so errettet Er auch Seelen aus der Mitte der

Heiden, wie in Hosea geschrieben steht. Der Apostel sagt

in Vers 24: „uns, die Er auch berufen hat, nicht allein

aus den Juden, sondern auch aus den Nationen." Demnach

findet der 2l>. Vers seine Anwendung auf das Volk

Israel, der 26. aber auf die Heiden, die nicht Sein

Volk genannt sind, sondern „Söhne des lebendigen

Gottes." Petrus, der an die Juden schreibt, führt blos

die erste Stelle an. Zum Beweis dafür, daß die Beteiligung

Israels von Gott vorhergesehen und geweissagt

war, führt Paulus noch eine Stelle aus dem Propheten

Jesaia au. Nur ein Ueberrest sollte verschont werden;

wäre dies nicht der Fall gewesen, so wären sie „wie

Sodom geworden und Gomorra gleich gemacht worden."

Tie Heiden, die nicht der Gerechtigkeit nachgestrebt,

halten also die Gerechtigkeit erlangt, die Gerechtigkeit aber,

die aus Glauben ist; während Israel, dem Gesetz der

Gerechtigkeit nachstrebend, das Ziel verfehlte. Und warum?

Weil sie die Gerechtigkeit vermittelst des Gesetzes suchten

und nicht durch den Glauben. Denn sie haben sich gestoßen

an dem Stein des Anstoßes, wie geschrieben steht:

„Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und

einen Fels des Aergernisses, und ein jeglicher, der an

Ihn glanbt, wird nicht beschämt werden."

105

Kapitel 10.

Auf diesen Gegenstand, den Unterschied zwischen der

gesetzlichen Gerechtigkeit und der Gerechtigkeit aus Glauben,

der Gerechtigkeit Gottes, geht der Apostel dann noch

näher ein. Derselbe ist von der höchsten Wichtigkeit.

Gesetzliche Gerechtigkeit ist menschliche Gerechtigkeit.

Zwar giebt es keine solche, aber das Gewissen fühlt, daß

der Mensch Gerechtigkeit haben muß, und es hat Recht.

Wenn man Vertrauen zu sich selbst hat, so maßt man

sich an, diese Gerechtigkeit vollbringen und sie Gott zur

Annahme darbieten zu können. Daß der Mensch verantwortlich

ist, ist völlig wahr; aber er hat die Erfüllung

seiner Verantwortlichkeit nicht allein nie durchgeführt,

sondern er hat nicht einmal den Anfang damit gemacht,

weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht Unterthan ist

und es nicht sein kann. Der fleischliche Mensch ist gegen

Gott. Die Gerechtigkeit Gottes ist in Gott selbst, in

Seinem Wesen; sie wird nach der Gnade gegen die

Menschen ausgeübt und ihnen durch Christum zugerechnet.

Die eigene Gerechtigkeit ist nichts als Hochmut und Mangel

an Gewissen; sie findet sich nur da, wo das Herz nicht

durch das Licht Gottes erleuchtet ist. Denn das Licht

Gottes läßt uns klar erkennen, daß wir Sünder sind,

und bringt uns dieses vor Gott zum Bewußtsein. In

diesem Lichte kann uns auch das Gesetz, vom Heiligen

Geiste angewandt, von der Sünde überzeugen, aber es

kann keine Gerechtigkeit für uns bewirken; denn der

Dienst des Gesetzes ist der Dienst deS Todes und der

Verdammnis. (2. Kor. 3.)

Die Gerechtigkeit Gottes ist in dem Evangelium

geoffenbart, (Röm. 1, 17.) und wir sind diese Gerechtig-

106

leit in Christo geworden. (2. Kor. 5, 21.) Untersuchen

wir, auf welche Weise dies geschehen ist. Auf dem

Kreuze ist Christus für uns zur Sünde gemacht worden

und hat dort alle Sünden des Gläubigen getragen. In

dieser Stellung hat Er Golt vollkommen verherrlicht:

Seine Majestät, Seine Wahrheit, Seine Gerechtigkeit

wider die Sünde, Seine Liebe zu den Sündern, ja alles,

was Er ist, und zwar dadurch, daß Er Seinen Gehorsam

bis zum Tode und Seine Liebe gegen Seinen Vater in

völliger Selbstaufopferung erwiesen hat. Der Beweis

der Gerechtigkeit Gottes, und zwar in betreff dessen, was

Er selbst, was die Sünde und was das Verhältnis der

Sünde zu Ihm ist, ist nun darin gegeben, daß Gott

Christum, der Ihn in allem, was Er ist, in dieser

Stellung der Sünde vollkommen verherrlicht hat — da,

wo alles dieses durch die Sünde des Menschen veruuehrt

worden war — verherrlicht und den gestorbenen Menschen,

Seinen eigenen Sohn, zu Seiner Rechten gesetzt und mit

göttlicher Herrlichkeit gekrönt hat. So sagt der Herr im

Blick auf Seinen Tod, nachdem Judas hinausgegangen

war: „Jetzt ist der Sohn des Menschen verherrlicht, und

Gott ist verherrlicht in Ihm. Wenn Gott verherrlicht ist

in Ihm, so wird auch Gott Ihn verherrlichen in sich

selbst, und alsbald wird Er Ihn verherrlichen." (Joln 13,

31. 32.) Der Menschensohn hat Gott auf dem Kreuze

verherrlicht, und Gott hat Ihn bei sich selbst verherrlicht;

ein Mensch ist in die Herrlichkeit Gottes hinausgestiegen.

(Siehe Joh. 17, 4. 5 und Phil. 2, 5—11.) Darin ist

die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart, daß Er dem Christus,

der Ihn verherrlicht hat, einen Platz bei sich selbst in

göttlicher Herrlichkeit gegeben hat. In Joh. 16, 10 wird

107

Lies bestimmt erklärt: Das Herniederkommen und die

Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde ist der

Beweis der Gerechtigkeit, während in der Welt keine vorhanden

war, da sie nicht an den Sohn glaubte, sondern

Ihn verworfen hatte. Ebenso ist die Gegenwart des

Heilands im Himmel, zur Rechten Gottes, der Beweis

der Gerechtigkeit Gottes: dieselbe Person, die von der

Welt verworfen wurde, ist von Gott ausgenommen worden

und ist jetzt, als in Gnade gekommen, für immer von

der Welt getrennt.

Jetzt aber erhebt sich die Frage: Wie können wir

hieran teil haben? Nun, weil das Werk, welches Ihn in

die Herrlichkeit gebracht hat, für uns vollbracht worden

ist. Er hat Gott dadurch verherrlicht. Würden wir,

die wir an Ihn glauben, nicht gerechtfertigt sein und

Ihm gleich gemacht werden, so würde Er „die Frucht der

Mühsal Seiner Seele" nicht sehen. Es macht einen Teil

der Gerechtigkeit Gottes aus, Ihm diese Frucht zu geben.

Persönlich ist Er allerdings verherrlicht; aber ein Erlöser

ohne Erlöste würde den Lohn Seines Werkes und Seiner

Leiden verloren haben. Wir bilden einen Teil der Verherrlichung

Christi, und es ist eine tiefe Quelle der

Freude für unsre Seelen, daß wir durch unser Gleichsein

mit Ihm in Ewigkeit den Beweis von dem Werte des

Werkes Christi bilden werden: Gott erweiset nur Seine

Gerechtigkeit gegen Christum, wenn Er uns dieselbe Herrlichkeit

mit Ihm giebt. Wie sicher ist unsre Hoffnung!

Wir werden in Ihm die Gerechtigkeit Gottes in Ewigkeit sein.

Die Juden wollten ihre eigene Gerechtigkeit nach

dem Gesetz haben, eine menschliche Gerechtigkeit, wenn

eine solche überhaupt vorhanden gewesen wäre, was aber

108

nicht der Fall war; deshalb stießen sie sich an Christo,

dem Steine des Anstoßes, weil Er zu diesem Zweck erniedrigt

werden sollte. Sein Tod war nötig, um uns

zu erlösen und die Gerechtigkeit, ja die Herrlichkeit, nach dem

Ratschluß Gottes für uns zu erwerben. So war also Christus

des Gesetzes Ende, jeglichem Glaubenden zur Gerechtigkeit.

Unmöglich konnte das Gesetz noch länger als Regel

und Maßstab der Gerechtigkeit für den Menschen festgehalten

werden, nachdem die göttliche Gerechtigkeit in

Christo geoffenbart und den Glaubenden geschenkt war.

Die Gerechtigkeit nach dem Gesetz war eine menschliche und

dazu gar nicht vorhandene; die dem Glaubenden nach der

Gnade zugerechnete Gerechtigkeit war eine göttliche und vollbrachte.

Das Gesetz hat für die, welche unter dem Gesetz waren,

seine Gültigkeit nicht verloren, denn die, welche unter dem

Gesetz gesündigt haben, werden nach dem Gesetz gerichtet

werden. Aber wir sind mit Christo und in Ihm gestorben,

und das Gesetz herrscht nur über einen Menschen,

so lange er lebt. Jeder, der die menschliche Gerechtigkeit

haben will, muß sie für sich selbst erfüllen; denn, wer

die Forderungen des Gesetzes thut, wird dadurch leben.

Der Apostel führt dann eine Stelle aus dem fünften

Buche Mose (Kap. 30, 12 — 14.) an, worüber ich einige

Worte sagen möchte. In diesem Buche hatte Mose die

Gebote Gottes verkündigt, au deren Beobachtung der

Besitz des Landes geknüpft war, in welches Israel eingeführt

werden sollte. Er hatte die Segnungen als Folge

des Gehorsams und den Fluch als Folge des Ungehorsams

vorgestellt. Dann wird in dem angeführten 30. Kapitel

vorausgesetzt, daß Israel in Folge seines Ungehorsams

das Land verlieren würde, und es wird eine Verheißung

109

gegeben in betreff dessen, was die Barmherzigkeit des Herrn

thun würde, nachdem das in Gefangenschaft schmachtende

Volk durch die Gnade zur Buße geleitet sein wird. Da

sich diese Verheißung in Christo erfüllen wird, so Wender

der Apostel die Verse 12—14 im 30. Kapitel auf Christum

an. Die Erfüllung des Gesetzes ist für Israel in einem

fremden Lande nicht möglich; wenn aber das Volk mir

feinem Herzen zu Jehova und zum Gehorsam zurückgekehrt

sein wird, dann wird Gott es segnen, obgleich das

Gesetz nicht bewahrt werden konnte. Da also das Thun

des Gesetzes unmöglich war, so wird diese Segnung statt-

finden auf Grund einer Gerechtigkeit nach dem Glauben,

wie Paulus dies im 6. Verse andeutet. Christus wird

hier daher, weil Er selbst für einen Juden der Gegenstand

der Hoffnung war, als der Wiederhersteller des

Volkes eingeführt. Der Apostel sagt: Es ist nicht nötig,

weit zu geben, biuuus- oder Hinabzusteige», nm Christum

zu finden. Wenn das Wort, welches Christum nach der

Kraft des Heiligen Geistes als auferweckt aus den Toten

offenbart, im Herzen ist, wenn man sich mit aufrichtigem

Herzen zu Ihm bekennt, so wird man errettet. Denn

mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, und mit

dem Munde, das heißt öffentlich, legt man Bekenntnis ab

zur Errettung. Und dies gilt ebensowohl für die Heiden,

als auch für die Juden; denn „ein jeglicher, der an Ihn

glaubt, (wer es auch sei) wird nicht beschämt werden?'

Da ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche; denn

derselbe Herr, der Herr über alle, ist reich an Gnade

gegen alle, die Ihn anrufen. Wie schön ist dieser Vers,

wenn man ihn mit Kap. 3, 22. 23 vergleicht! Dort ist

kein Unterschied, denn alle haben gesündigt — hier ist

110

kein Unterschied, denn derselbe Herr über alle ist reich an

Gnade gegen alle, die Ihn anrufen. „Denn ein jeglicher,

(wer es auch sei) der den Namen des Herrn anrufen wird,

wird errettet werden." (Vers 13.) Um Ihn aber anrufen

zu können, muß man an Ihn glauben, und um an Ihn

glauben zu können, muß man von Ihm gehört haben, um

aber von Ihm zu hören, muß Er verkündigt werden, und

dazu muß ein Predigerda sein. Wie geschrieben steht: „Wie

lieblich sind die Füße derer, die das Evangelium des Friedens,

das Evangelium des Guten —d.h. göttlicher Segnungen —

verkündigen!" Aber nicht alle haben dem Evangelium gehorcht,

wie JesaiaS sagt: Herr, wer hat unsrer Verkündigung geglaubt?

So wird also der Glaube durch eine Verkündigung

bewirkt, die Verkündigung aber ist durch das Wort Gottes.

Der Apostel weist dann auf das Verhältnis der

Juden und Heiden, dieser Verkündigung gegenüber, hin.

Von den Juden sagt Jesaias: Wer hat geglaubt, was

wir verkündigt haben? Es war aber der Vorsatz Gottes,

daß das Zeugnis bis an das Ende der Erde erschallen

und von den Heiden gehört werden sollte. Denn Mose

erklärt, daß Gott Israel durch ein Nicht-Volk und durch

eine unwissende Nation erbittern und zum Neid reizen

würde. — — — — — — —

Hiermit schließen die Betrachtungen über den Römerbrief

ab. Leider war es, wie schon früher mitgeteilt,

dem Schreiber derselben, I. N. Darby, nicht vergönnt,

seine wertvolle Arbeit zu Ende zu führen. Sein körperlicher

Zustand war in den letzten Wochen und Monaten

seines Hierseins ein so leidender, daß ihm die Fortsetzung

des Werkes unmöglich wurde.

111

„Ich warte auf Christum."

„Ich warte auf Christum," so sagt heute so mancher

Christ. Aber ach! wie sehr ist zu befürchten, daß dieses

Warten bei vielen keine lebendige Wirklichkeit, kein herzerhebender

Gedanke mehr ist! Wartest du wirklich

aus Christum, mein lieber Leser? Wenn ich auf der Reise

bin zur Heimat und mein Herz sehnt sich nach dem Anblick

der Meinen, so bekümmert es mich wenig, ob ich

unterwegs hie und da eine unbequeme Herberge finde.

Vielleicht wünsche ich, daß sie besser sein möchte; aber

ich bin nicht unglücklich darüber, weil ich weiß, daß ich

nur wenige Tage bleiben und bald das ersehnte Ziel

erreichen werde, wo die Liebe der Meinen mich alles

erlittene Ungemach vergessen läßt.

Gehst du so durch diese Welt? Wartest du jeden

Tag auf die Erscheinung unsers Herrn und Heilandes

Jesu Christi, des Sohnes Gottes vom Himmel, der uns

dorthin führen wird, wo ein unverwesliches, unbeflecktes

und unverwelkliches Erbteil unser wartet, wo die Liebe

eines Vaterherzens uns empfängt und der Herr uns für

immer und ewig bei sich selbst haben wird? Nichts ist

von größerer praktischer Wichtigkeit für unser Tagewerk

und unsern Dienst hienieden, als ein stetes Warten auf

den Sohn Gottes vom Himmel, ein unverrücktes Ausschauen

nach dem Hellen, glänzenden Morgenstern. Ist

dies in Wirklichkeit bei uns vorhanden, so drückt es

unserm ganzen Thun und Lassen, unserm Denken und

Fühlen seinen Stempel auf und giebt unserm Leben einen

ganz besondern Charakter. Dasselbe wird dann zn einem

112

Gegenstände, den Gott benutzt „zu Lob und Herrlichkeit

und Ehre in der Offenbarung Jesu Christi."

Doch fragen wir uns aufrichtig: Welch eine Wirkung

würde die Ankunft Christi auf unsere Seelen ausüben?

Würde sie uns bereit finden, um mit jubelndem

Herzen aus einer Welt voll mannigfacher Versuchungen

zu Ihm zu gehen, der uns zuerst geliebt und uns so

teuer erkauft hat? Oder würde sie uns überraschen?

Würde sie uns beschäftigt und verwickelt finden in allerlei

Dinge, die wir dahinten lassen müßten? Was sind die

Gefühle unsers Herzens, wenn van der Ankunft des Herrn

Jesu die Rede ist? Wallt es über von Freude und Sehnsucht

nach Ihm? Oder bleibt es kalt und unberührt?

Jung oder alt — würde die Ankunft des Herrn uns in

Verbindung finden mit Dingen, die wir über Bord zu

werfen hätten? oder mit diesem Gefühl: Er, auf den ich

so lange gewartet habe, kommt jetzt, um mich zu sich zu

nehmen; alle Versuchungen, alle Herzensübungen haben

jetzt ein Ende? Hierin liegt die Ursache des großen Unterschiedes

zwischen den Christen. Ist die Erfüllung des

Willens des Herrn der Zweck meines Lebens, das, was

mein ganzes Thun und Lassen regiert, so werde ich hie-

nieden die für mich notwendigen Uebungen und Prüfungen

erfahren, aber Seine Ankunft wird dann auch für meine

Seele nichts anders sein, als die Erfüllung ihres sehnlichsten

Wunsches. Er kommt, um mich zu sich zu

nehmen. Nichts ist dann köstlicher für mich, als dieser

Gedanke.

„Ich liebe."

(Pst 116.)

„Ich liebe." Mit diesem kurzen, aber inhaltsreichen

Satze beginnt einer jener Psalmen, welche die Gefühle

des treuen gläubigen Ueberrestes Israels nach seiner Befreiung

aus der Macht seiner Feinde und aus dem Ofen

der Trübsale zum Ausdruck bringen. Der ganze Psalm

redet von der Gnade und Treue Jehova's im Erretten.

Der Gläubige, der in den Drangsalen gewesen ist und

da die Hülfe des Herrn auf sein Schreien erfahren hat,

erfreut sich darin, aufzuzählen, was Jehova an ihm gethan

hat, und voll Lob und Dank anzuerkennen, was Er

ist. Doch sehr bemerkenswert und überaus köstlich ist

die Art und Weise, wie der Gläubige beginnt. Sein

Herz treibt ihn, der Liebe und den Zuneigungen Ausdruck

zu geben, welche ihn erfüllen. Er nennt den Gegenstand

seiner Liebe nicht, ebenso wenig wie Maria am Grabe,

wenn sie dem Herrn antwortet: „Herr, wenn du Ihn

weggetragen, so sage mir, wo du Ihn hingelegt hast, und

ich werde Ihn wegholen." (Joh. 20, 15.) Es ist ganz

selbstverständlich, wer der Gegenstand dieser Liebe ist.

Wer könnte es anders sein, als der „Ausgezeichnete vor

Zehntausenden," an welchem „alles sehr köstlich" ist?

Welch ein glückseliger Augenblick ist es, wenn zum

ersten Male die wahre, göttliche Liebe ins Herz einzieht,

wenn der Glaube an Jesum, den Heiland des Sünders,

114

diese erste, lieblich duftende Blüte treibt! Seine Person

und Sein Werk füllen die Seele ganz und gar aus und

lassen keinen Raum mehr für andere Dinge. Liebe charak-

terisirt den aus Gott Geborenen. Wo keine Liebe ist,

da ist auch kein Leben aus Gott. In einem natürlichen

Menschen kann es wohl natürliche Liebe geben, aber

wahre Liebe, Liebe zu Gott, Liebe zu den Brüdern, ja

Liebe zu dem, was in sich selbst vielleicht gar nicht liebenswürdig

ist, kennt er nicht. „Denn die Liebe ist aus

Gott; und ein jeglicher, der liebt, ist aus Gott geboren

und kennet Gott." (1. Joh. 4, 7.) Wie kann der

natürliche Mensch einen Gott lieben, den er nicht kennt?

Erst wenn er erfahren hat, wer Gott ist, wenn er durch

den Glauben einen Blick gethan hat in die unergründlichen

Tiefen Seiner Liebe und Gnade, mit einem Wort,

wenn er aus Gott geboren ist — erst dann liebt er „Den,

der geboren hat," und „den, der aus Ihm geboren ist."

Seine ganze Natur ist verändert; was er früher haßte,

liebt er jetzt; die Gegenwart Gottes, die er früher fürchtete

und mied, ist jetzt sein liebster Aufenthaltsort geworden;

diejenigen, welche er einst verspottete und deren

Gesellschaft er floh, sucht er jetzt auf, freut sich mit ihnen

und trauert mit ihnen. Kurz, „er liebt." Er hat Liebe

erfahren und wünscht Liebe zu üben.

Nichts köstlicheres giebt es für Gott, als wahre

Liebe — das, was Sein eigenes Wesen ausmacht — in

denen thätig zu sehen, die Er für sich erkauft hat durch

das Blut Seines Eingeborenen. Er ist Liebe, und je

mehr wir Liebe offenbaren, desto mehr kommt Sein Bild,

Seine Natur in uns zum Vorschein. Nichts hat solchen

Wert in den Augen Gottes, wie die Liebe. Glaube,

115

Hoffnung, Ausharren, Fleiß, Erkenntnis in den Wegen

Gottes, Tugend, Gottseligkeit — so schön und begehrenswert

diese Dinge an und für sich sind, so reichen sie doch

nicht zu der Liebe hinan. Sie ist das Höchste und

Größeste; Glaube und Hoffnung hören aus, die Liebe

aber bleibt ewig. Darum ist auch da, wo die Liebe

nicht mehr in ihrer ersten Frische vorhanden ist, das Köstlichste

für das Herz des Herrn — das, was allem andern

erst seine Weihe giebt und einen duftenden Wohlgeruch

verleiht — verschwunden. „Ich kenne deine Werke und

deine Arbeit und dein Ausharren, und daß du die Bösen

nicht ertragen kannst .... aber ich habe wider dich,

daß du deine erste Liebe verlassen hast," so

klagt der Herr in dem Sendschreiben an die Versammlung

zu Ephesus. Mit welcher Macht redet dieses zu

unsern Herzen gerade in der jetzigen Zeit, wo inmitten

vieler Arbeit und ausgedehnter Thätigkeit oft so wenig

wahre Liebe und infolge dessen so wenig Duldsamkeit und

Tragsamkeit und so wenig Eifer für die Ehre des Herrn

gefunden wird! Was war es, das Petrus befähigte,

nachdem er wiederhergestellt war, die Herde Christi zu

weiden? Seine Liebe zu Christo. Darin war die Liebe

zu den Schafen eingeschlossen. Er besaß das, was ihn

allein befähigen konnte, seinen Auftrag Gott wohlgefällig

auszuführen.

Welch ein inniges Verbundensein mit Jehova und

welch ein Verständnis Seiner Gedanken verrät es daher,

wenn der Psalmist zuerst seiner Liebe Ausdruck giebt!

Und warum liebt er? Weil er in den Tagen der größten

Drangsal und der tiefsten Not die Hülfe des Herrn erfahren

hat. Der Herr hat sein Schreien gehört und

116

Sein Ohr nicht vor der Stimme seines Flehens verschlossen.

Das Gebot, Jehova zu lieben, erweckt, so ost

es auch wiederholt werden mag, keine Liebe zu Ihm in

der Seele; aber die Offenbarung Seiner Gnade und

Liebe erweckt Gegenliebe und ruft Zuneigungen hervor,

die nie vorher gekannt wurden. Als ihn die Wehen des

Todes umfingen und die Bedrängnisse Scheols fanden,

da rief er an den Namen Jehova's: „O Jehova, errette

meine Seele!" (V. 4.) Und was war die Folge? Er

kann jetzt sagen: „Gnädig ist Jehova und gerecht, und

unser Gott ist barmherzig." (V. 5.) Die Barmherzigkeit

Jehova's sah ihn in seinem Elend, und nach Seiner

Gnade und Gerechtigkeit hat Er ihn errettet. Deshalb

will er Ihn „anrufen in allen seinen Tagen." Er hat

den Wert, die Macht und die Güte Gottes kennen gelernt,

er hat erfahren, welch eine mächtige Stütze der

Herr in der größten Drangsal ist und wie Er zu erretten

vermag. Deshalb will er Ihn anrufen, so lange er lebt.

Und erfährt nicht der Sünder genau dasselbe, wenn

er zu einem Bewußtsein seines Zustandes vor Gott erwacht?

Was sieht er? Ein Leben voll Sünde und Ungerechtigkeit,

einen Pfad, bedeckt mit unzähligen Ueber-

tretungen der Gebote Gottes, und dem gegenüber einen

heiligen und gerechten Gott, einen Gott, der zu rein von

Augen ist, um das Böse zu sehen, der Licht ist und gar

keine Finsternis in Ihm, der keinen Flecken von Sünde

in Seiner reinen und heiligen Gegenwart dulden kann.

Angst und Schrecken erfüllen seine Seele, Tod und Gericht

stehen drohend vor ihm, und aus tiefster Not schreit

er zu Gott: „O Gott, erbarme Dich meiner! O Gott,

errette meine Seele!" Und dann erfährt er, daß Gott

117

nicht nur Licht, sondern auch Liebe ist, daß Er nicht will

den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und

lebe, ja daß Freude ist im Himmel, Freude vor den

Engeln Gottes, Freude in dem Herzen Gottes selbst, wenn

ein Sünder, ein armes, elendes, verdammungswürdiges

Geschöpf, Buße thut. Welch eine Entdeckung! Ueberwältigt

von einer solchen Liebe sinkt er nieder und betet an. Die

Barmherzigkeit Gottes sah ihn in seinem traurigen,

verderbten Zustande, die Liebe bereitete einen Weg, auf

dem er errettet werden konnte, und ging ihm nach auf

seinen eigenen bösen Pfaden, die Gnade vergab alle

seine Vergehungen, und die Gerechtigkeit rechtfertigte

ihn. „Gott aber, weil Er reich ist an Barmherzigkeit,

wegen Seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt,

als wir in den Vergehungen tot waren, hat uns

mit dem Christus lebendig gemacht, (durch Gnade seid

ihr errettet) und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen

in den himmlischen Oertern in Christo Jesu, auf daß Er

erwiese in den kommenden Zeitaltern den überschwänglichen

Reichtum Seiner Gnade in Güte gegen uns in

Christo Jesu." (Eph. 2, 4—7.) Der begnadigte, errettete

Sünder ist so vollkommen sicher gestellt, die Gerechtigkeit

Gottes so völlig befriedigt, ja alles, was in Gott ist, so

vollkommen verherrlicht, daß er sich nicht nur der Gnade

und Barmherzigkeit, sondern auch der Gerechtigkeit Gottes

rühmen kann. Kraft des auf Golgatha geflossenen Blutes

Jesu ist Gott gerecht, wenn Er den rechtfertigt, der

des Glaubens an Jesum ist. (Vergl. Röm. 3, 21 — 26.)

Eine unbeschreibliche, erquickende Ruhe erfüllt das

Herz, sobald es diese Wahrheiten erkennt und von der

schweren Last, die es bedrückte, befreit worden ist. Doch

118

nur der „Einfältige" lernt diese Ruhe kennen, nur der,

welcher sich rückhaltlos dem Zeugnis Gottes über seinen

Zustand unterwirft und mit kindlicher Einfalt annimmt,

was Gott ihm in Seiner Gnade darbietet. „Wenn ihr

nicht werdet wie die Kindlein, so werdet ihr nicht in

das Reich der Himmel eingehen." (Matth. 18, 3.) Der

auf seine Vernunft und die Kräfte seines Geistes vertrauende

und seinem eigenen Willen folgende Mensch kommt

nicht zu Jesu und lernt deshalb nie die Ruhe kennen,

die der Herr dem mühseligen, beladenen Menschenherzen

umsonst anbietet und umsonst giebt. Ruhelos denkt und

sinnt, forscht und grübelt er; nie aber findet er wahre

Befriedigung, nie kann er sagen: Jetzt bin ich völlig

zufrieden, völlig glücklich. Eine Enttäuschung folgt

der anderen. In dieser Welt giebt es keine Ruhe,

giebt es nichts, was das Herz in Wirklichkeit befriedigen

könnte. Nur in Jesu und in dem Glauben an Ihn ist

Ruhe und in Seiner Erkenntnis wahre Befriedigung zu

finden.

Und so wie nur der Einfältige zu Jesu kommt, so

ist es auch der Einfältige, der von Jehova auf dem

rechten Wege und inmitten der Gefahren und Schwierigkeiten

bewahrt wird. Denn der Einfältige, der in seinen

Augen nichts ist und wohl weiß, daß es ihm an Kraft

und Weisheit mangelt, blickt zu Gott empor und läßt sich

von Ihm leiten. Wie schön ist eine solche Gesinnung,

aber ach! wie wenig wird sie bei uns gefunden, wie schwer

wird es uns oft, an ihr fest zu halten! Der Einfältige

vertraut nicht auf seinen eigenen Verstand , sondern ist

demütig, und Jehova bewahrt ihn. Gott ist treu, Er

kann sich selber nicht verleugnen. Er ist gnädig, barm

119

herzig und gerecht. Welch eine Zuflucht, in Gotl selbst

Schutz und Sicherheit zu finden! Diese Erfahrung hat

auch der Ueberrest gemacht; er war erniedrigt, aber der

Herr hat ihn errettet, denn „Jehova bewahrt die Einfältigen."

(V. 6.) Während er in der Bedrängnis, dem

Tode nahe war, setzte er sein Vertrauen auf Jehova,

und er wurde nicht zu Schanden. Jehova hat wohlgethan

an ihm, und er kann zu seiner Seele sagen: „Kehre

wieder, meine Seele, zu deiner Ruhe!" (V. 7.) O, wie

wird das kleine, schwergeprüfte Häuflein des treuen Ue-

berrestes die köstliche Ruhe des tausendjährigen Reiches

genießen! Es wird wandeln vor Jehova im Lande der

Lebendigen. (V. 9.) Derselbe Herr, den sie einst verworfen

haben, und der lange Zeit hindurch Sein Angesicht

vor ihnen verbarg, um sie zu prüfen und zu läutern,

um ihre „Schlacken aufs lauterste zu fegen und wcgzu-

nehmen all ihr Zinn," (Jes. 1, 25.) wird von neuem

Sein Antlitz freundlich über ihnen leuchten lassen. Er

wird ihnen „Ruhe geben von ihrer Mühsal und von

ihrer Unruhe und dem harten Dienst, darin man sie hat

dienen lassen;" „sie werden auf deu Wegen weiden, und

auf allen Höhen wird ihre Weide sein. Sie werden nicht

hungern und nicht dürsten, und die Hitze und die Sonne

wird sie nicht stechen; denn ihr Erbarmer wird sie führen

und wird sie leiten an die Wasserquellen." (Jes. 14, 3;

49, 9. 10.) Ja, wie herrlich wird diese Ruhe für sie

sein, nach all den dunklen, schweren Tagen, wie selig und

erquickend nach all ihrer Plage und Mühsal!

Und wie lieblich tönt dieses Wörtchen „Ruhe" auch

in unsre Ohren! Es ist wahr, wir sind, was unsre

Seelen betrifft, zur Ruhe gebracht. Wir können mit dem

120

Psalmisten sagen: „Du hast meine Seele errettet vom

Tode, meine Augen von Thränen, meinen Fuß vom

Straucheln." (V. 8.) Der Tod ist nicht mehr ein Schrecken

für uns, er ist „unser," und der zweite Tod hat keine

Gewalt mehr über uns; wir haben nicht länger Ursache,

zu trauern und zu klagen, sondern uns „allezeit zu

freuen in dem Herrn," und wir sind von der Macht

Satans und der Herrschaft der Sünde befreit, so daß

wir wandeln können zur Ehre des Herrn und durch Seine

Macht davor bewahrt werden, zu straucheln. Aber dennoch

befinden wir uns, so lange wir hienieden pilgern, in der

Wüste, sind den Schwierigkeiten und Gefahren des Weges

und den Versuchungen dieser Welt ausgesetzt und haben

allezeit zu wachen und zu kämpfen. Wir sind noch nicht

in unsre ewige Ruhe eingegangen, sondern werden ermahnt,

allen Fleiß anzuwenden, um in dieselbe einzugehen.

(Hebr. 4, 11.) Aber sie kommt! Bald sind wir

am Ziele unsers Weges angelangt, bald ist der letzte

Kampf gestritten und der letzte Seufzer ausgestoßen. Wir

sind ans dem Wege zu unsrer himmlischen Heimat, zu

unsrer ewigen, seligen Ruhe. „Also bleibt noch eine

Sabbatruhe dem Volke Gottes." O wie herrlich ist dieses!

Wie erhebt es uns über die nichtigen Dinge dieser Welt

und läßt uns alles so eitel, so schal und verwerflich erscheinen

! Ja, geliebte Brüder, wir werden wandeln, nicht

„nur im Lande der Lebendigen," sondern „im Hause

des Vaters" immer und ewiglich, vereinigt mit unserm

geliebten Herrn, mit Ihm alle Seine Herrlichkeit teilend

und allezeit Ihn anbetend und bewundernd. O, möchte

diese glückselige Hoffnung lebendiger in unsern Herzen

sein! Der Herr wolle uns fähiger machen, unsern Blick

121

von allem, was uns hienieden umgiebt, abzuwenden und

nach Oben zu richten, dahin, wo der Christus ist!

Doch kehren wir zu unserm Psalm zurück. „Ich

glaubte, darum redete ich; ich bin sehr gedrückt gewesen.

Ich sprach in meiner Bestürzung: Alle Menschen sind

Lügner!" (V. 10. 11.) Die Seele des frommen Juden

war tief bekümmert in ihrer Not, aber sie vertrante auf

Gott. Der Glaube war in ihr thätig und befähigte sie,

sich über die Umstände zu erheben. Sie suchte nicht so

sehr Trost und Hülfe, als Gott selbst. Dies ist sehr

beachtenswert. Der Herr selbst stand vor ihr. Alle

Menschen erwiesen sich als unzuverlässig, der Herr allein

blieb. Aehnliches erfuhr auch Paulus auf seinem schwierigen,

leidensvollen Pfade. Auch er war zu Zeiten völlig

verlassen, doch der Herr stand ihm bei. Obwohl allenthalben

bedrängt, war er doch nicht verengt, keinen Ausweg

sehend, doch nicht ohne Ausweg, verfolgt, doch nicht

verlassen, niedergeworfen, doch nicht umkommend. Der

Glaube war in ihm thätig, und so konnte er inmitten der

schwierigsten Umstände sagen: „Da wir aber denselben

Geist des Glaubens haben, (nach dem, was geschrieben

steht: „Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet;") so

glauben auch wir, darum reden wir auch." (2. Kor. 4,13.)

Mögen die Drangsale noch so groß sein und die Schwierigkeiten

sich noch so hoch auftürmen, der Glaube rechnet

auf Gott und weiß, daß Er nicht verfehlen wird, zur

rechten Zeit einen Ausweg zu schaffen. Darum redet er

frei und offen darüber. In vollkommener Weise erfuhr

der Herr selbst die Unzuverlässigkeit der Menschen, als

Er hienieden war. Obwohl. Er in Seiner Gnade den

Jüngern sagen konnte: „Ihr seid es, die mit mir aus

122

geharrt haben in meinen Versuchungen," so kam doch die

Stunde, wo Er sagen und fühlen mußte: „Ihr werdet

euch alle an mir ärgern in dieser Nacht und mich allein

lassen."

Vielleicht findet der Herr es für gut, auch uns nach

unserm geringen Maße in Umstände zu führen, wo wir

entdecken, daß auf den Menschen kein Verlaß ist, um uns

dahin zu bringen, auf Ihn allein unser Vertrauen zu

setzen und in Ihm allein unsre Zuflucht zu suchen. Und

wenn die Prüfung dies in uns bewirkt, welch ein reicher

Gewinn! Wie sehr sind wir geneigt, uns auf menschliche

Stützen zu lehnen und zu irdischen, menschlichen Hülfs-

guellen unsre Zuflucht zu nehmen! Wie schwach ist unser

Glaube, wie gering unser Vertrauen auf den lebendigen

Gott, der unser Vater geworden ist und gleichsam Seine

Ehre zum Pfande unsrer Bewahrung und Erhaltung eingesetzt

hat! Er wird uns in keiner Not verlassen. „Er,

der doch Seines eigenen Sohnes nicht verschont, sondern

Ihn für uns alle hingegeben hat, wie wird Er uns mit

Ihm nicht auch alles schenken?" Was könnte uns scheiden

von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist,

unserm Herrn? Nichts im Himmel und auf Erden,

keine Macht der Menschen oder der Teufel.

Angesichts der großen Errettung, die der Gläubige

erfahren hat, kommt ersetzt zu der Frage: „Was soll ich

Jehova wiedergeben für alle Seine Wohlthaten an mir?"

(V. 12.) Wahrlich, eine berechtigte, natürliche Frage, die

in jedem Herzen, das die Liebe Gottes kennen gelernt hat

und Seiner Errettung teilhaftig geworden ist, aufsteigen

wird! Doch was kann der Gläubige thun für Den, dem

der Erdkreis und Seine ganze Fülle gehört, der die

123

Himmel gemacht hat und der der Hülfe von feiten Seiner

Geschöpfe nimmer bedarf? Was kann er dem Gott bringen,

für den „der Libanon nicht hinreicht zum Brennen und

sein Getier nicht hinreicht zum Brandopfer," der da sagen

kann: „Silber und Gold ist mein?" Wie kann er dem

Gott des Himmels und der Erde Seine Wohlthaten vergelten?

Was kann er Ihm Wohlgefälliges bringen? Der

Psalmist giebt selbst Antwort auf diese Fragen, die einzige,

die überhaupt gegeben werden kann. Er sagt: „Den

Becher der Errettungen will ich nehmen und anrufen den

Namen Jehova's. Ich will Jehova bezahlen meine Gelübde,

ja in der Gegenwart Seines ganzen Volkes."

(V. 13. 14.) Er kann zu der Herrlichkeit Gottes nichts

hinzufügen, aber er kann das nehmen, was er von Gott

empfangen hat, und es anbetend Ihm darbringen. Er

kann Gott preisen und von Seiner Güte singen. Und

er will dieses thun in Gegenwart des ganzen Volkes.

Alle sollen hören, welch große Dinge der Herr an ihm

gethan hat. Er war gebunden und geknechtet, aber der

Herr hat ihn befreit und seine Bande gelöst. (V. 16.)

Als ein Befreiter und Erretteter kann er Gott jetzt anbeten;

erfleht nicht mehr um Errettung und mach t Jehova Gelübde

— er ist errettet, und als solcher erfüllt er seine

Gelübde und betet an. Welch eine schöne Stellung!

Und diese Stellung gehört heute schon dem Christen.

Er ist errettet, aus der Macht Satans befreit und aus

dem gegenwärtigen, bösen Zeitlauf herausgenommen. Er

ist auferweckt mit Christo und in Ihm versetzt in die

himmlischen Oerter, er ist eine neue Schöpfung, er ist

versöhnt, gerechtfertigt, und alle seine Bande sind gelöst.

Und als solcher ist er fähig gemacht, als ein heiliger

124

Priester vor Gott hinzutreten, „um darzubringen geistliche

Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich durch Jesum Christum."

(1. Petr. 2, 5.) Es ist sein glückseliges Vorrecht, mit

allen Heiligen, inmitten der Versammlung, Dem Ehre und

Anbetung zu bringen, „der uns liebt und uns von unsern

Sünden gewaschen hat in Seinem Blut und uns gemacht

hat zu einem Königtum, zu Priestern Seinem Gott und

Vater." (Offbg. 1, 5. 6.) Er hat Freimütigkeit zum

Eintritt in das Heiligtum droben durch das Blut Jesu,

und ist berufen, hinzuzutreten „mit wahrhaftigem Herzen,

in voller Gewißheit des Glaubens, die Herzen besprengt

und also gereinigt vom bösen Gewissen und den Leib gewaschen

mit reinem Wasser." (Hebr. 10, 22.)

Ist es nun eine Anerkennung der großen Dinge, die

Gott an uns gethan hat, oder ist es eine Entehrung

Seines großen und herrlichen Namens, wenn Christen

aus irgend welchem Grunde sich weigern, diese Stellung

anzuerkennen und diesen Platz einzunehmen? Ist es Glaube

oder Unglaube, wenn sie, trotzdem das Wort Gottes so

klar und unzweideutig über diese Dinge redet, sagen:

Diese Stellung ist höchst gefährlich, ich wage nicht, sie

einzunehmen? Es sieht aus wie Demut, aber es ist nichts

als Unglaube und Eigenwille. Der Glaube nimmt Gott

einfach bei Seinem Worte und glaubt dem, was Er sagt,

ohne zu zweifeln und zu überlegen. Er blickt nicht auf

sich, noch mißt er die Gabe, die ihm angeboten wird,

nach seiner Würdigkeit ab, sondern Er blickt auf Gott

und mißt die Gabe an der Größe, Macht und Liebe

Gottes und an der Würdigkeit Jesu Christi, Seines Eingeborenen.

Würde uns Gott nach unserer Würdigkeit

geben, was würden wir empfangen? Darum laßt uns in

125

voller Gewißheit des Glaubens nehmen, was Gott uns

giebt, und je mehr wir von der Köstlichkeit und Unermeß-

lichkeit Seiner Gabe verstehen, um so mehr Ihn preisen.

„Dir will ich opfern Opfer des Dankes und anrufen

den Namen Jehova's. Ich will Jehova bezahlen meine

Gelübde, ja, in der Gegenwart Seines ganzen Volkes, in

den Vorhöfen des Hauses Jehova's, in deiner Mitte,

Jerusalem." (V. 17—19.) Der Tempel, das HauS

Jehova's, mag heute zerstört darniederliegen, aber die Zeit

kommt, wo er in neuer, herrlicher Pracht, nach der Beschreibung

des Propheten Hesekiel, wieder aufgebaut werden

wird. Der Glaube weiß, daß alles, was Jehova gesagt

hat, erfüllt werden wird. „So spricht Jehova der Heerscharen,

sagend: Siehe, ein Mann, Sein Name ist Sproß,

und Er wird aufsprossen aus Seinem Orte und den Tempel

Jehova's bauen. Und Er wird den Tempel Jehova's

bauen, und Er wird Herrlichkeit tragen und wird sitzen

und herrschen auf Seinem Throne." (Sach. 6, 12. 13.)

Der Herr selbst, „der Sproß," wird den Tempel wieder

aufbauen und „Jerusalem Frohlocken und Seinem Volke

Freude" schaffen. (Jes. 65, 19.) „Jehova baut Jerusalem,

die Vertriebenen Israels sammelt Er." (Ps. 147,2.)

Die Stimme des Jubels und des Frohlockens wird wieder

gehört werden in den Straßen Jerusalems und in den

Vorhöfen des wieder erbauten Tempels Jehova's. „Denn

in Freuden werdet ihr ausziehen und in Frieden geleitet

werden. Die Berge und die Hügel werden vor euch ausbrechen

in Jubel, und alle Bäume des Feldes werden

mit den Händen klatschen." (Jes. 55, 12.) „Das ganze

Land wird sich umwandeln wie die Ebene.... und sie

werden darin wohnen, und es wird kein Bann mehr sein,

126

und Jerusalem wird sicher wohnen." (Sach. 13, 11.)

„Und der Name der Stadt soll von selbigem Tage an

sein: Jehova daselbst." (Hes. 48, 35.)

Wir haben schon gesagt, welch ein Teil des Christen

wartet. So herrlich die Segnungen Israels auch sein

mögen, seine Erwartungen sind noch höher, um so viel

höher, als der Himmel über der Erde ist. Seine Hoffnung

geht ins Vaterhaus hinaus. Da wird er weilen

und wohnen, da wird er ein- und ausgehen mit den zahllosen

Scharen der Erlösten, da wird er das Lamm schauen

nud mit lautem Jubel verkündigen, was es an ihm gethan

hat. In Ewigkeit wird die Versammlung oder die Kirche

Gottes ihren besondern Platz haben. Wenn diese Schöpfung

vergangen nnd ein neuer Himmel und eine neue Erde

geschaffen sein werden, dann kommt sie hernieder aus dem

Himmel von Gott, wie eine für ihren Mann geschmückte

Brant, die Herrlichkeit Gottes habend. Sie ist „die

Hütte Gottes bei den Menschen," und „Gott wird bei

ihnen wohnen, und sie werden Sein Volk sein, und Gott

selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott. Und Er wird jegliche

Thräne abwischen von ihren Augen, und der Tod wird

nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch Pein

wird mehr sein: denn das Erste ist vergangen." (Offbg. 21,

3. 4.) Dann ist die Zeit gekommen, wo der Sohn dem

Vater alles übergeben und Gott „alles in allem" sein

wird. Der unveränderliche Zustand ewiger Segnung,

ewiger Ruhe nnd ewiger Glückseligkeit ist dann gekommen.

Alles ist neu gemacht, und Gott ruht mit Wonne in Seiner

neuen Schöpfung, und zwar für ewig.

Der Psalm schließtunit den Worten: „Lobet Jehova!"

Wenn die Freude des Herzens eine gewisse Höhe erreicht

127

hat, so strömt sie über. Das Herz kann sie nicht allein

mehr fassen, es muß andern sein Glück mitteilen und sie

auffordern, sich mit ihm zu freuen und mit ihm zu loben

und anznbeten. Ja, „es ist gut, Psalmen zu singen

von unserm Gott, denn es ist lieblich; es geziemt sich

das Lob."

T, möchten auch wir jeden Tag neue Ursache finden,

unsern Gott zu preisen und anzubeten! Seine Größe ist

unausforschlich, Sein Reichtum unergründlich, Seine

Wege unausspürbar, Seine Liebe unendlich und Seine

Gnade unermeßlich. Möchten auch wir uns gegenseitig

ermuntern, den Namen unsers Gottes zu erhöhen, Ihm

zu dienen und Ihm unser ganzes Leben zu weihen!

Einige Bemerkungen über den Wert

des Abendmahls.

Tas Formenwesen der Christenheit, wovon diejenigen

ausgegangen sind, die sich einfach im Namen Jesu versammeln,

hat in vielen von ihnen manche unklare Vorstellungen

über den Tisch des Herrn zurückgelassen. Es

ist deshalb wichtig, in dem Worte Gottes zu untersuchen,

was der Herr durch die Einsetzung dieses Gedächtnisses

Seiner Person und Seines Todes beabsichtigte. Auf der

anderen Seite sind diese Gläubige, die sich dem Worte

gemäß versammeln und, nach dem Beispiele der Jünger

in TroaS, (Apstgsch. 20.) jeden ersten Wochentag zusammen-

tommen, „um Brot zu brechen," in Gefahr, sich an die

häufige Wiederholung dieses Mahles in einer Weise zu

gewöhnen, daß sie in das Gegenteil der äußeren Feier

128

lichkeit verfallen, womit die Landeskirche diese Handlung

umgiebt. Dort nimmt man ja an der sogenannten „Kommunion"

nur in längeren Zwischenräumen, dann aber

mit aller Feierlichkeit in der äußeren Form, teil, weil

man leider das Wesen wenig versteht.

Das Abendmahl ist nur das Vorrecht der Erlösten,

der Glieder des Leibes Christi, dieses „einen" Leibes,

welcher das unmittelbare Werk des Herrn selbst ist. Seine

Glieder sind „alle in einem Geiste zu einem Leibe

getauft." (1. Kor. 12, 13.) Das Brechen des Brotes

unter ihnen ist der Ausdruck der Einheit dieses Leibes:

„Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die Vielen, denn

wir alle sind des einen Brotes teilhaftig." (1. Kor. 10,

17.) Daher ist es so wichtig, sich auf dem Boden der

Einheit dieses Leibes zu versammeln; jedes Versammlen

auf einem andern Boden muß einen sektirerischen Charakter

tragen.

Nach den beiden ersten Evangelien (Matthäus und

Markus) fand die Einsetzung des Abendmahls während

der Feier des jüdischen Passah statt. Im Evangelium

Johannes (Kap. 13.) finden wir eigentlich weder das

Passah, noch die Einsetzung des Abendmahls, obwohl das,

was uns dort mitgeteilt wird, geschichtlich an demselben

Abend und bei derselben Gelegenheit stattfand. Johannes

spricht nur von einem gemeinschaftlichen Abendessen des

Herrn mit Seinen Jüngern. Dies hat seinen Grund in

der Eigentümlichkeit dieses Evangeliums, welches die Offenbarung

des Vaters und des ewigen Lebens ist. Im

Evangelium Lukas, dessen Charakter allgemeiner ist, werden

Passah und Abendmahl getrennt dargestellt, indem wir

die Feier des Passah im 14.—18., die Einsetzung des

129

Abendmahls im 19. u. 20. Verse des 22. Kapitels finden.

Der Herr, geboren unter Gesetz, (Gal. 4, 4.) ißt das

Passah mit Seinen Jüngern; sie bildeten Seine Familie.

(2. Mose 12, 3. 4.) Er betrachtet sie als die Erstlinge

des treuen Ueberrestes Israels. Dieses Passah war das

Letzte, so zu sagen der Abschluß des Vorbildes, welches

am folgenden Tage durch das Opfer Christi seine Erfüllung

finden sollte: „Denn auch unser Passah, Christus,

ist geschlachtet." (1. Kor. 5, 7.) Mit Sehnsucht hatte

der Herr sich gesehnt, dieses Passah mit Seinen Jüngern

zu essen, ehe Er litt, und Er erklärt ihnen, daß Er „nicht

mehr davon essen werde, bis es erfüllt sein werde im

Reiche Gottes." Auch sagt Er, daß Er nicht mehr von

dem Gewächs des Weinstocks (der Freude des Reichestrinken

Werde, bis dieses Reich (d. i. das tausendjährige)

komme. Und nachdem Er so diesem treuen Ueberrest gezeigt

hat, daß die Aufrichtung des Reiches noch der Zukunft

angehöre, setzt Er das Abendmahl ein, indem Er

gleichsam in Seinen Gedanken diesen treuen jüdischen

Ueberrest in Christen verwandelt und ihnen sagt: „Ich

kehre in das Haus meines Vaters zurück, wo ich euch

teil mit mir gebe; ich gehe hin, euch dort eine Stätte zu

bereiten und komme wieder, euch zu mir zu nehmen; aber

während meiner Abwesenheit thut dies zu meinem Gedächtnis."

Doch bevor wir von dem Werte des Abendmahls,

reden, verweilen wir noch einen Augenblick bei den Umstünden,

unter welchen der Herr es eingesetzt hat. Während

Er mit den Seinigen in dem Obersaal das Passah aß,

beriet man sich in der Stadt, wie man Ihn umbringen

sollte. Die „Dinge, welche Ihn betrafen," gingen ihrer

130

Bollendung entgegen. Aber anstatt die Gedanken der

Seinigen auf Seine Umstände zu richten, ist Er beschäftigt,

ihnen ein Zeichen Seiner Liebe zu geben und sie verstehen

zu taffen, was Er während Seiner Abwesenheit von ihrer

Liebe erwartet. Der Apostel Paulus erinnert uns daran,

daß der Herr dieses Mahl einsetzte „in der Nacht,

da Er überliefert ward." In der Nacht vor

Seinem Tode, im Bewußtsein der Verräterei des Judas

und alles dessen, was Ihm auf dem Kreuze bevorstand,

zeigte Er den Seinigen, wie Sein Herz nur mit ihnen

beschäftigt war und wie Er sehnlich begehrte, daß sie sich

Seiner während der Zeit Seiner Abwesenheit gemeinschaftlich

erinnern sollten. Ein Herz, welches Ihn liebt,

findet etwas überaus Köstliches in der Thatsache, daß der

Herr gewünscht hat, daß wir uns Seiner erinnern.

Wohl ist das Abendmahl das Gedächtnis Seines

Todes, Seines vollkommenen Werkes für uns, und Er

hat uns darin für die ganze Dauer unsers Weges eine

Erinnerung an die Vollkommenheit und Unwandelbarkeit

dieses Werkes geben wollen; aber beachten wir wohl, daß

der Herr sagt: „Thut dieses zu meinem Gedächtnis."

Er zeigt uns dadurch, welch einen Wert Seine anbetungswürdige

Person für unsre Herzen haben sollte. Er sagt

gleichsam: „Erinnert euch meines Werkes zum Gedächtnis

meiner Person." Dies ist von hoher Wichtigkeit;

denn man sieht nicht selten, daß Christen sich anstrengen,

auf ihre Weise das Werk Christi hervorzuheben, während

sie die Heiligkeit und die Herrlichkeit Seiner anbetungswürdigen

Person wenig beachten.

„Thut dieses zu meinem Gedächtnis!" Wie könnten

unsre Herzen unempfindlich sein für diesen Wunsch? Sein

131

Auge ruht auf den Seimgen, die auf der Erde versammelt

find, und Er selbst ist in ihrer Mitte. Es ist eine

Freude für Sein Herz, daß es in dieser Welt, wo Er

verworfen wurde, einige giebt, die glücklich sind, in Seinem

Namen versammelt zu sein, um Seiner zu gedenken. Und

wir thun das, indem wir Ihn erwarten: „Denn so oft

ihr dieses Brot esset und den Kelch trinket, verkündigt

ihr den Tod des Herrn, bis Er kommt." (1. Kor.

11, 26.) Er ist gestorben, um uns zu erretten, Er

kommt wieder, um uns zu sich zu nehmen, und zwischen

diesen beiden großen Thatsachen gedenken wir Seiner.

Der Tod Christi — die Ankunft Christi — das Abendmahl

zwischen beiden! Ich habe euch erkauft, sagt Er,

gedenkt meiner während meiner Abwesenheit, dann werde

ich kommen, euch zu mir zu nehmen.

ES ist bemerkenswert, wie die beständige Erwartung

des Herrn sich an die häufige Feier des Abendmahls

knüpft. Als der Herr gen Himmel fuhr, bezeugten die

Engel den Jüngern, daß Er auf dieselbe Weise wiederkommen

werde. Dann kam der Heilige Geist auf sie

hernieder, und wir lesen, daß „sie verharrten in der

Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen

des Brotes und in den Gebeten..... und indem

sie täglich einmütig im Tempel verharrten und zu Hause

das Brot brachen, nahmen sie Speise mit Frohlocken

und Einfalt des Herzens, lobten Gott und hatten Gunst

bei dem ganzen Volk." (Apstgfch. 3.) Ebenso sehen wir

in Apstgsch. 20, 7, daß die Gläubigen in Troas am

ersten Wochentage versammelt waren, um Brot zu

brechen. ES war dies der besondere Zweck ihres Zusammenkommens.

132

Ferner finden wir in den Episteln, daß der Apostel

die Heiligen gelehrt hatte, beständig den Herrn zu erwarten.

Den Korinthern sagt er: „Ihr verkündigt den

Tod des Herrn, bis Er kommt;" (1. Kor. 11, 26.)

weiterhin schreibt er ihnen: „Siehe, ich sage euch ein

Geheimnis: wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir

werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in

einem Augenblick, bei der letzten Posaune; denn posaunen

wird es, und die Toten werden auserweckt werden unverweslich,

und wir werden verwandelt werden." (1. Kor.

15, 51. 52.) Durch die Worte: „wir werden verwandelt

werden," stellt sich der Apostel hier, wie in 1. Thess.

4, unter die Zahl derer, welche noch am Leben sein

werden, wenn der Herr kommt. Ueberhaupt stellten der

Herr und Seine Apostel diese Ankunft stets so dar, als

wenn sie stattfinden würde während der Dauer des Lebens

derer, welchen sie angekündigt wurde. Es war und ist

eine gegenwärtige Hoffnung. Die ersten Christen erwarteten

den Herrn zu ihren Lebzeiten, und wir haben

im 3. und 20. Kapitel der Apostelgeschichte gesehen, daß

sie das Abendmahl häufig feierten.

DaS Brotbrechen und die Erwartung des Herrn

sind also, wie wir gesehen haben, enge mit einander verbunden;

man verkündigt den Tod des Herrn, bis Er

kommt. Deshalb finden wir auch, daß die Christen, sobald

sie die Ankunft des Herrn und die persönliche Gegenwart

des Heiligen Geistes, welcher mit der Braut ruft:

„Komm!" aus den Augen verloren, auch kein Bedürfnis

mehr hatten, häufig das Brot zu brechen, während in

unsern Tagen, nachdem die herrliche Wahrheit von der

Ankunft des Herrn zur Aufnahme der Heiligen wieder

133

auf den Leuchter gestellt worden, das Bedürfnis von

neuem erwacht ist, nach dem Beispiel der ersten Christen,

an jedem Tage des Herrn das Brot zu brechen. Der

Ausgangspunkt des Abendmahls ist also das Kreuz —

der Zielpunkt: die Ankunft des Herrn.

Wir gedenken des Todes des Herrn, als unsrer vollkommenen

Befreiung. Er hat Seinen Leib für uns gegeben

und Sein Blut vergossen, um uns von unsern

Sünden rein zu waschen; aber wir feiern Seinen Tod

zum Gedächtnis der anbetungswürdigen Person, die sich

so für uns hingegeben hat. Und während wir dies thun,

sind wir in Verbindung mit Ihm als dem Lebendigen,

welcher tot war, aber lebt in die Zeitalter der Zeitalter und

die Schlüssel des Todes und des Hades hat. (Offbg. 1, 18.)

Wir verkündigen also Seinen Tod, bis Er kommt, mit

dem Bewußtsein unsrer Vereinigung mit Ihm in Seinem

Auferstehungsleben.

Die Feier des Abendmahls ist eine gemeinschaftliche

Sache; ein Einzelner kann es nicht feiern. Die

gemeinschaftliche Teilnahme an diesem Mahle ist der Ausdruck

der Einheit des Leibes, denn wir, die Vielen, sind

ein Brot, ein Leib, denn wir alle sind des einen

Brotes teilhaftig. (1. Kor. 10, 17.) Jeder zur Feier

des Abendmahls aufgerichtete Tisch muß diesem Grundsatz

der Einheit des Leibes entsprechen.

Um am Abendmahl teil zu haben, muß man nicht

allein bekehrt, sondern auch mit dem Heiligen Geist versiegelt

sein; „denn in ein/m Geiste sind wir alle zu

einem Leibe getauft." (1. Kor. 12, 13.)

Bevor wir jedoch auf die Einsetzung dieses Gedächtnismahles

des Todes des Herrn näher eingehen, möchten

134

Wir die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Heiligkeit und

Vollkommenheit des Herrn als Mensch hienieden lenken.

Er hat die menschliche Natur angenommen, um für uns

sterben zu können. Er war ein wirklicher Mensch, und

dies ist von der höchsten Wichtigkeit. Ohne Zweifel war

Er der Sohn Gottes, ja Er war Gott selbst, aber Er war

auch wirklicher Mensch hienieden. Indes blieb Er als

solcher ganz und gar allein bis nach Seinem Tode und

Seiner Auferstehung; erst dann hatte Er Brüder, und zwar

kraft der Erlösung, welche Er für sie am Kreuze vollbracht

hat. Er war der zweite Mensch, der letzte Adam,

welcher an der gefallenen Natur des ersten nach keiner

Seite hin und in keiner Weise teil haben durfte, noch

konnte. Denn was ist Sein Ursprung als Mensch? „Der

Heilige Geist wird über dich kommen," so sagte der Engel

zu Maria, „und die Kraft des Höchsten wird dich

überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren

wird, Gottes Sohn genannt werden." (Luk. 1, 35.)

Er war also selbst hinsichtlich des Fleisches geboren aus

dem Heiligen Geiste, ohne Sünde. Er hat an Fleisch

und Blut teil genommen, (Hebr. 2, 14.) aber Er war

das Gegenbild des in 3. Mose 2 beschriebenen Speisopfers,

ohne Sauerteig, mit Oel gemengt. „Was aus

dem Fleische geboren ist, ist Fleisch; und was aus dem

Geiste geboren ist, ist Geist." (Joh. 3, 6.) So ist der

Herr, selbst hinsichtlich des Fleisches, im Schoß der Jungfrau,

aus dem Geiste geboren; Er war also ein Mensch

aus dem Geiste. Deshalb öffnet sich auch der Himmel

über einem solchen Menschen; (Matth. 3.) der Geist

kommt auf Ihn hernieder, und der Vater verkündigt, daß

dieser Mensch Sein geliebter Sohn sei, an dem Er Wohl

135

gefallen gefunden habe. Zum erstenmal begegnen wir

einem Menschen auf der Erde, welcher als solcher ein

Gegenstand des Wohlgefallens des Himmels ist. — Er

ist gerechtfertigt worden im Geiste. (1. Tim. 3, 16.)

Seine Werke, Seine Worte, alles in Ihm war der Beweis

Seines Ursprungs, als eines Menschen aus dem

Geiste. So hat Sein Leben Seinen Ursprung gerechtfertigt,

ebenso wie daS Leben des natürlichen Menschen

dessen Ursprung als Sünder beweist. — In Hebr. 9, 14

wird von Christo gesagt, daß Er durch den ewigen

Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat. Sein

ganzes Leben war ein Speisopfer, ein Feueropfer lieblichen

Geruchs dem Jehova, und Sein Tod zugleich ein Sünd-

opfer und ein Brandopfer. „Er hat sich selbst für uns

hingegeben als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu

einem duftenden Wohlgeruch." (Eph. 5, 2.) Deshalb, wenn

Er durch die Gnade für uns in den Tod ging, so that Er

es als der Heilige Gottes. „Du wirst Deinen Heiligen

nicht hingeben, Verwesung zu sehen." (Apostgsch. 2,27.31.)

Denn so wenig Er in irgend welcher Weise an der gefallenen

Natur Adams teil haben konnte, als Er von der

Jungfrau geboren wurde, ebenso wenig konnte Er teil

daran haben, als Er im Grabe lag; und Seine Auferstehung

war der Beweis dessen, was Er war: „Er ist

als Sohn Gottes in Kraft erwiesen, dem Geiste der Heiligkeit

nach, durch Toten-Auferstehung." (Röm. 1, 4.)

Dieses Geheimnis der Person des Sohnes Gottes war

so groß, daß, wie Er selbst sagt, niemand Ihn kannte, als

nur der Vater. (Matth. 11, 27.) Niemand kann die Vereinigung

der Gottheit und der Menschheit in dieser heiligen

Person, „Gott geoffenbart im Fleische," verstehen; es ist

I3ti

eine unergründliche Herrlichkeit, die Gott allein kennt. Der

Mensch dieser Welt spottet darüber, aber der Christ betet an!

Es ist den Menschen gestattet worden, diese anbetungswürdige

Person im Garten Gethsemane zu binden, zum

Hohn mit Purpurmantel und Dornenkrone umher zu führen,

zu schlagen und endlich ans Kreuz zu nageln, wo sie

öffentlich dem Spott preisgegeben wurde, „damit Er durch

Gottes Gnade für alles den Tod schmeckte." (Hebr. 2, 9.)

(Schluß folgt.)

Zu spät!

Zu spät! Wahrlich, ein kurzes, aber ein ernstes

Wort! Ein Wort, das unabweisliche Folgen in sich

birgt. Mit welcher Reue und mit welchem Kummer ruft

mancher dieses Wort aus, ohne im Stande zu sein, etwas

an seiner furchtbaren Wirklichkeit zu ändern! Mag er

auch noch so oft verzweifelnd wiederholen: „Hätte ich

doch so und so gehandelt!" mag er die Hände

ringen und unter strömenden Thränen die verlorene Zeit,

den versäumten rechten Augenblick zurückwünschen — es

ist zu spät, unwiderruflich zu spät!

Ein jeder hat sicher in der einen oder andern Weise,

in höherem oder geringerem Maße, in wichtigeren oder

unwichtigeren Dingen die Bedeutung dieser ernsten Worte

erfahren. Wenn man die Welt durchreisen und der Ursache

all des Elends, das in ihr herrscht, all der Thränen,

die in ihr vergossen werden, nachforschen könnte, so würde

man finden, daß das meiste Elend, die meisten Thränen

sich auf Versäumnis der rechten Zeit, auf Gleichgültigkeit

und Leichtsinn zurückführen lassen. Der eine erfährt die

137

traurigen Folgen einer verwahrlosten Erziehung, der andre

betrauert das Verwerfen eines guten Rates, der dritte

bejammert ein verlorenes Leben, der vierte die Folgen

seines Eigensinns, seines Jähzorns, seiner Thorheit oder

was es sonst sein mag. Hier möchte einer gern sein

ganzes, sauer erworbenes Vermögen darum geben, wenn

er eine übereilte That ungeschehen machen könnte, dort

wäre ein anderer bereit, zehn Jahre seines Lebens einzubüßen,

wenn ihm dadurch nur noch einmal angeboten

würde, was er einst leichtsinnig verschmähte. Wenn es

nur möglich wäre, die verlorene Zeit noch einmal zu

leben, eine vorschnelle That ungeschehen, ein übereiltes

Wort ungesprochen zu machen — wie mancher würde

mit Freude und Dankbarkeit jede Gelegenheit dazu ergreifen,

kostete es, was es wollte. Aber es ist unmöglich.

Wie ein nagender Wurm, der jede Freude vergällt

und das Leben unerträglich macht, lebt in dem einen

Herzen der Gedanke an einen unbewachten Augenblick, in

dem andern die Erinnerung an den ersten Schritt auf der

abschüssigen Bahn der Sünde, in dem dritten das Bild

einer glücklichen Zeit, die durch eignes Verschulden verloren

wurde.

Doch so oft auch das „Zu spät!" aus dem Munde

eines Menschen ertönen und so oft es beweint oder beklagt

werden mag, so kommt doch eine Zeit, wo es verstummt.

Einmal schließt der Tod die klagenden Lippen,

das unruhige, bekümmerte Herz hört auf zu schlagen,

und alle Reue, alle Gewissensbisse haben für dieses Leben

ein Ende. Aber dann kommt die Ewigkeit! Und so

ernst ein „Zu spät!" für dieses Leben sein mag, so ist

es doch noch weit ernster, weit schrecklicher im Blick auf

138

die endlosen Zeitalter der Ewigkeit. Wenn es möglich

wäre, für einen Augenblick den Schleier zu lüften und

einen Blick hinüber in das „Jenseits" zu werfen, welch

ein Jammergeschrei, welche Klagen über ein verlorenes,

so rasch dahin geflogenes Leben würde man hören!

Tausende und Millionen sehnen sich dort nach der Zeit

zurück, wo ihnen das Wort der Gnade verkündigt wurde,

und erinnern sich, wie Gott ihnen nachgegangen ist und sie

gewarnt hat, um sie vor dem ewigen Verderben zu bewahren.

Der eine sieht die Thränen seiner Mutter, ein

anderer hört die bittende Stimme seines Vaters, einem

dritten klingt der gute Rat seines Freundes vorwurfsvoll

in den Ohren, wieder andere werden unaufhörlich verfolgt

von den lieblichen Worten Jesu: „Kommt her zu mir,

alle Mühselige und Beladene, und ich will euch Ruhe

geben!" Aber es sind jetzt Worte, die ihnen nicht Ruhe,

sondern Unruhe bringen. Wie viele Seufzer auch ausgestoßen

und wie viele Thränen geweint werden mögen,

es ist alles „zu spät!" Schreckliches Wort! Zu spät

für ewig! Der Gedanke daran erfüllt das Herz mit

Schreck und Entsetzen, und doch ist es die Wahrheit.

Kein Widerrufen, keine Umkehr ist dann mehr möglich.

Keine Minute der Vergangenheit kehrt wieder, kein Wort

der Gnade wird mehr gehört, so sehnlich es auch begehrt

werden mag. Es ist zu spät, für immer und ewig

zu spät!

O ihr, die ihr noch ohne Jesum auf dieser Erde

wandelt, für die es noch heißt: „Siehe, jetzt ist die Zeit

der Annehmung, siehe, jetzt ist der Tag des Heils," möchtet

ihr doch bedenken, wie schrecklich das „zu spät!" in der

Ewigkeit klingen wird! Ihr, für die Jesus noch bereit

139

steht, um euch mit offnen Armen zu empfangen, an welche

Er das freundliche, ermunternde Wort richtet: „Wer zu

mir kommt, den werde ich nicht hinauswerfen," bedenkt

es doch, wie gern manche Seele, die bereits in die Ewigkeit

hinübergegangen ist, an eurer Stelle sein würde, um

dann die Zeit der Gnade besser zu benutzen, als sie es

gethan hat! Ihr, an welche so manches Mal die Bitte

gelangt ist: „Wir bitten euch an Christi Statt, als ob

Gott durch uns ermahnte: „Lasset euch versöhnen mit

Gott!" „bedenkt es, daß diese Bitte in der Ewigkeit nicht

mehr gehört werden wird! Ja, ihr alle, die ihr diese

Zeilen leset und Jesum noch nicht kennt, die ihr Ihn

noch nicht besitzt als euern Erlöser, in dessen Blut Vergebung

ist für alle Sünden, laßt dieses Wort der Warnung

in eure Herzen dringen, auf daß das „Zu spät!"

nie auf euch seine Anwendung finden möge!

Denkt nicht, daß dieses: „für ewig zu spät," im

Widerspruch stehe mit der Liebe und Gnade Gottes. Wohl

ist die Liebe Gottes so groß, daß Er Seinen eingeborenen

Sohn für Sünder in den Tod gab, wohl ist Seine Gnade

so überströmend, daß sie für jeden Sünder, so viel BöseS

er auch gethan haben möge, völlig hinreicht; aber diese

Liebe und Gnade hören für den Sünder auf, sobald er

diese Erde verläßt. Dann ist für ihn „die Zeit der An-

nehmung" zu Ende und „der Tag des Heils" vorüber.

Und ich möchte fragen: Ist dies nicht völlig genügend?

Ist dem Menschen nicht Zeit genug gelassen, sich zu bekehren

? Wendet Gott nicht alle Mühe auf, um den verlorenen

Sünder mit seinem Zustande bekannt zu machen

und ihm die Gnade vorzuhalten? Giebt es irgend ein

Hindernis, das dem Sünder im Wege stände, um errettet

140

zu werden? Ist von feiten Gottes nicht alles geschehen,

um den Menschen vor einer ewigen Verdammnis zu bewahren

? Hat Er nicht Jesum gegeben, den Sohn Seiner

Liebe, und ladet Er nicht den Sünder ein, umsonst zu

nehmen, was Er für ihn bereitet hat? Was verlangst du

noch mehr? Alle, die Jesum besitzen, preisen Gott für

die Geduld, die Er ihnen bewiesen, und für die Langmut,

mit welcher Er sie getragen hat, anstatt zu klagen, daß

die Zeit, welche ihnen zur Bekehrung gegeben worden, zu

kurz war. Nein, mein lieber Leser, die Hindernisse, welche

man so oft anführen hört, werden in der Ewigkeit mit

keiner Silbe erwähnt werden. Die erbärmliche Ausflucht,

daß man sich doch selbst nicht bekehren könne, oder daß

man nicht wisse, ob man auserwählt oder nicht auserwählt

sei, wird dort gewiß von niemandem vorgebracht

werden; denn alle ohne Ausnahme werden dort in dem

durchdringenden Licht der Gegenwart Gottes stehen und

sich selbst als die Ursache ihres Verderbens anklagen

müssen. Jeder Mund wird verstopft werden, und auf

tausend wird der Mensch nicht eins zu antworten wissen.

Wie ernst ist dieses alles! Möchte doch ein jeder, der

diese Zeilen liest, sich durch die Liebe Gottes ziehen lassen,

so lange die Zeit der Gnade noch währt, damit nicht

auch in seinem Ohre dereinst das schreckliche „Zu spät!"

Wiedertöne! Möchte er eilen zu Jesu, zu Dem, der gekommen

ist, „zu suchen und zu erretten, was verloren ist!"

„Heute, wenn ihr Seine Stimme höret, verhärtet

eure Herzen nicht!" (Hebr. 3, 7. 8.)

„Wie werden wir entfliehen, wenn wir eine so große

Errettung vernachlässigen?" (Hebr. 2, 3.)

Jericho und Achor.

(Josua 6 u. 7.)

1.

Bevor ich beginne, möchte ich den Leser bitten, die

beiden angedeuteten Kapitel, Josua 6 u. 7, mit Aufmerksamkeit

zu lesen. Sie schildern in treffender und eindringlicher

Weise die doppelte Wirkung, welche die Gegenwart

Gottes auf Sein Volk ausübt. In Kapitel 6 werden wir

belehrt, daß die göttliche Gegenwart einen vollständigen Sieg

über die Macht des Feindes sicherte, und in Kapitel 7, daß

sie ein unnachsichtliches Gericht über das Böse forderte,

welches sich in der Mitte des Volkes zeigte. Die Ruinen

von Jericho erläutern den ersten Grundsatz, der große

Haufe Steine im Thale Achor den zweiten.

Diese beiden Dinge gehen stets mit einander. Dieselbe

Gegenwart, welche den Sieg sichert, fordert Heiligkeit.

Möchten wir diese Wahrheit stets in unsern Herzen

bewahren! Sie hat sowohl eine persönliche, als auch eine

allgemeine Anwendung. Wollen wir mit Gott wandeln,

oder besser gesagt, soll Gott mit uns wandeln, so müssen

wir alles richten und hinwegthnn, was nicht in Seine

heilige Gegenwart paßt. Er kann bei Seinem Volke kein

ungerichtetes Böses dulden. Er kann vergeben, heilen,

wiederherstellen und segnen, aber Er kann das Böse nicht

ertragen. „Denn auch unser Gott ist ein verzehrendes

Feuer." „Denn es ist die Zeit, daß das Gericht anfange

am Hause Gottes." (Hebr. 12, 29; 1. Petr. 4, 17.)

142

Sollte der Gedanke hieran irgend ein aufrichtiges

Kind Gottes entmutigen oder niederdrücken? Keineswegs.

Es sollte uns nicht entmutigen, wohl aber sehr wachsam

machen im Blick auf unsre Wege, Gewohnheiten, Worte

und Werke. Wir brauchen nichts zu fürchten, so lange

Gott mit uns ist, aber Er kann in den Seinigen unmöglich

das Böse gutheißen, und ein jeder, der in Wahrheit

die Heiligkeit liebt, wird Ihm hierfür von Herzen

danken. Er wird nicht für einen Augenblick den Maßstab

der Heiligkeit Gottes zu erniedrigen wünschen. Alle,

die in Wahrheit Seinen Namen lieben, freuen sich der

kostbaren Wahrheit, daß die Heiligkeit Seinem Hause geziemt

für immer und ewig. „Seid heilig, denn ich bin

heilig." Es handelt sich nicht darum, was wir sind,

sondern was Er ist. Unser Charakter und Wandel sollen

sich bilden nach dem, was Gott ist. Welch eine Gnade

und welch ein Vorrecht!

Gott muß die Seinigen sich selbst gleich haben. Wenn

sie dies vergessen, so wird Er sie sehr bald daran erinnern.

Wenn Er in Seiner unendlichen Gnade Seinen Namen

und Seine Herrlichkeit mit uns verbindet, so geziemt es

uns sicher, wohl auf uns acht zu haben, damit wir keine

Schmach auf diesen Namen bringen und den Glanz dieser

Herrlichkeit nicht trüben. Ist dies eine gesetzliche Knechtschaft?

O nein, es ist im Gegenteil eine hohe, heilige

Freiheit. Wir können versichert sein, daß wir nie weiter

von jeder Gesetzlichkeit entfernt sind, als wenn wir jenen

Pfad wahrer Heiligkeit wandeln, welcher allen denen geziemt,

die den Namen Christi tragen. „Da wir nun

diese Verheißungen haben, Geliebte, so laßt uns uns selbst

reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des

143

Geistes und die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes/'

<2. Kor. 7, 1.)

Diese große Wahrheit gilt für alle Zeiten. Was

tvar es, das die hohen Mauern und gewaltigen Bollwerke

Jericho's in einem Augenblick umstürzte? Es war die

Gegenwart Jehova's. Ja, wenn das ganze Land von

Dan bis Bersaba mit Festungen übersät gewesen wäre,

so würden sie doch alle durch dieselbe unbesiegliche Biacht

dem Boden gleich gemacht worden sein. Doch was bedeutete

die demütigende Niederlage vor der unansehnlichen

Stadt Ai? Wie kam es, daß die Heere Israels, die so

eben noch über Jericho triumphirt hatten, mit Schmach

bedeckt vor einer Handvoll Menschen fliehen mußten? Ach!

die Antwort ist schmerzlich, aber für uns höchst belehrend.

Möchten wir uns durch dieselbe warnen lassen und Nutzen

aus ihr ziehen! Sie ist zu unsrer Belehrung durch den

Heiligen Geist niedergeschrieben worden, und wehe einem

jeden, der sein Ohr vor Seiner warnenden Stimme verschließt!

Hier ist die Antwort:

„Und die Kinder Israel begingen Untreue an dem

Verbannten; und Achan, der Sohn Charmi's, des SohneS

Sabdi's, des Sohnes Serahs, vom Stamme Juda, nahm

von dem Verbannten; und der Zorn Jehova's entbrannte

über" — wen? Ueber Achan allein, oder über seine

Haushaltung oder Familie? O nein, sondern — „über

die Kinder Israel." (Kap. 7, 1.) Die ganze Gemeinde war

gleichsam in das Böse eingeschlossen. Woher kam dies ?

Die göttliche Gegenwart verlieh dem ganzen Volke den

Charakter der Einheit und verband sie so innig mit einander,

daß alle in die Sünde des Einzelnen eingeschlossen

waren. Sie bildeten eine Gemeinde, eine Versammlung,

144

und daher war es unmöglich, daß sich einer von ihnen

auf einen getrennten, unabhängigen Boden stellen konnte.

Die Sünde des Einzelnen war die Sünde aller, weil Jehova

in ihrer Mitte wohnte. Die ganze Versammlung

hatte sich von dem Bösen zu reinigen, bevor Jehova sie

zu weiteren Siegen führen konnte. Hätte Er ihnen erlaubt,

über Ai zu triumphiren, so würde dies bewiesen

haben, daß Er gleichgültig war gegen die Sünde Seines

Volkes. Doch dies anzunehmen, wäre eine Lästerung

Seines heiligen Namens.

„Und Josua sandte Männer von Jericho gen Ai, die

bei Beth-Aven liegt, östlich von Bethel, und sprach zu

ihnen und sagte: Gehet hinauf und kundschaftet das Land

aus. Und die Männer gingen hinauf und kundschafteten

Ai aus. Und sie kehrten zurück zu Josua und sprachen

zu ihm: Laß nicht das ganze Volk hinaufziehen, bei zweitausend

Mann oder bei dreitausend Mann mögen hinaufziehen

und Ai schlagen" — dies war leichter gesagt als

gethan — „bemühe nicht das ganze Volk dahin, denn

ihrer sind wenig" — doch viel zu viel für Israel mit

einem Achan im Lager. „Und es zogen vom Volke hinauf

bei dreitausend Mann, aber sie flohen vor den Männern

von Ai. Und die Männer von Ai schlugen von ihnen

bei sechs und dreißig Mann und jagten ihnen nach bis

vor das Thor bis Sebarim und schlugen sie am Abhange.

Da zerschmolz das Herz des Volkes und ward wie Wasser.

Und Josua zerriß seine Kleider und fiel auf sein Angesicht

zur Erde vor der Lade Johova's bis an den Abend, er

nnd die Aeltesten Israels, und sie warfen Staub auf ihre

Häupter." (V. 2 — 6.)

Das war eine unerwartete, niederschmetternde Er

145

fahrung. „Und Josua sprach: Ach Herr, Jehova, warum

hast Du dieses Volk je hinüberziehen lassen über den

Jordan, um uns in die Hand der Amoriter zu geben, um

uns zu Grunde zu richten? O, hätten wir es uns gefallen

lassen und wären jenseits des Jordans geblieben! Bitte,

Herr, was soll ich sagen, nachdem Israel den Rücken gekehrt

hat vor seinen Feinden? Und werden es die Kananiter und

alle Bewohner des Landes hören, so werden sie uns umzingeln

und unsern Namen ausrotten von der Erde. Und

was willst Du Deinem großen Namen thun?" (V. 7—9.)

Josua, der treue und geehrte Knecht Gottes, verstand

nicht, daß gerade die Herrlichkeit dieses „großen Namens"

die Niederlage zu Ai nötig machte. In dieser Herrlichkeit

gab es noch andere Elemente als Macht. Da gab es auch

Heiligkeit, und gerade diese machte es für Gott unmöglich,

da zu sein, wo ungerichtetes Böses vorhanden war. Josua

Hütte schließen können und sollen, daß in dem Zustande

des Volkes etwas nicht in Ordnung sein mußte. Dieselbe

Gnade, welche ihm por Jericho den Sieg verliehen hatte,

würde sicher auch zu Ai nicht gefehlt haben, wenn alles

in Ordnung gewesen wäre. Aber ach! dies war nicht

der Fall, und daher gab es Niederlage anstatt Sieg.

Wie konnten sie siegen mit einem „Bann" in ihrer Mitte?

Unmöglich. Entweder mußte Israel das Böse richten,

oder Jehova sah sich genötigt, Israel zu richten. Die

göttliche Gegenwart erforderte ein unbedingtes Gericht über

das Böse; und ehe dieses Gericht ausgeübt war, konnte

von der weiteren Eroberung Kanaans keine Rede sein.

„Deinem Hause geziemt die Heiligkeit, Jehova, für lange

Tage." (Ps. 93, 5.)

„Und Jehova sprach zu Josua: Stehe auf! warum

146

liegst du da auf deinem Angesicht? Israel hat gesündigt"

— nicht blos Achan — „und auch haben

sie meinen Bund übertreten, den ich ihnen geboten habe,

und auch haben sie von dem Verbannten genommen und

auch gestohlen und es auch verleugnet und es auch unter

ihre Geräte gelegt. Und die Kinder Israel werden

nicht vermögen, zu stehen vor ihren Feinden;

sie werden den Rücken kehren vor ihren Feinden, denn sie

sind zum Bann geworden. Ich werde fortan nicht mehr

mit euch sein, wenn ihr nicht den Bann vertilgt aus eurer

Mitte." (V. 11. 12.)

Dies ist äußerst ernst. Die ganze Versammlung

wird für das Böse verantwortlich gemacht. „Ein wenig

Sauerteig durchsäuert die ganze Masse." Der Unglaube

mag fragen, wie denn die Sünde eines Einzelnen alle angehen

konnte, aber das Wort Gottes entscheidet die Frage

in ganz unzweideutiger Weise. „ Israelhat gesündigt" —

„sie haben meinen Bund übertreten" — „sie haben gestohlen"

— „sie haben verleugnet." Die Versammlung

war eins — eins in ihren Vorrechten und eins in

ihrer Verantwortlichkeit. Die Sünde des Einzelnen war

die Sünde aller, und alle waren berufen, sich zu reinigen,

indem sie den Bann aus ihrer Mitte Hinwegthaten. Nicht

ein einziges Glied jener großen Gemeinde blieb von der

Sünde Achans unberührt. Dies mag der Natur unerklärlich

erscheinen, aber es ist die göttliche Wahrheit. Und

so wie es einst in der Versammlung Israels war, so ist

es sicherlich auch heute in der Kirche Gottes. Keiner

konnte sich in Israel auf einen unabhängigen Boden

stellen, und noch viel weniger ist dies in der Kirche GotteS

möglich. Da waren sechsmalhunderttausend Männer,

147

die, menschlich gesprochen, gar nichts davon wußten, was

Achan gethan hatte, und doch sagte Gott zu Josua:

„Israel hat gesündigt." Alle waren eingeschlossen, alle

waren verunreinigt und hatten sich zu reinigen, ehe Jehova

wieder mit ihnen ziehen konnte. Die Gegenwart Gottes

in der Mitte der Gemeinde machte die Einheit aller aus,

und ebenso ist die Gegenwart des Heiligen Geistes in

der Kirche Gottes, dem Leibe Christi auf der Erde, das

Band einer göttlichen, unauflöslichen Einheit. Wer daher

von Unabhängigkeit redet, leugnet die Grundwahrheit der

Kirche Gottes und beweist ohne alle Frage, daß er nichts

von ihrem Charakter, noch von ihrer Einheit versteht.

Doch wenn sich nun Böses in eine Versammlung

eingeschlichen hat, wie ist demselben zu begegnen. Hören

wir, was Jehova zu Josua weiter redet. „Stehe auf,

heilige das Volk und sprich: Heiliget euch auf morgen.

Denn so spricht Jehova, der Gott Israels: Ein Bann

isr in deiner Mitte, Israel, du wirst nicht vermögen, zu

stehen vor deinen Feinden, bis ihr den Bann hinwegthut

aus eurer Mitte." (V. 13.) Waren sie eins in ihren

Vorrechten? Waren sie eins in dem Genuß der Herrlichkeit

und Macht, welche die Gegenwart Gottes verlieh?

Eins in dem glänzenden Triumph zu Jericho? Niemand

wird dies in Frage stellen. Aber warum wollen wir

dann zweifelnd fragen, ob sie auch eins waren in ihrer

Verantwortlichkeit, eins im Blick auf das Böse in ihrer

Mitte und auf alle seine demütigende Folgen? Sicher,

wenn es eine Einheit gab in dem Einen, so gab es auch

eine Einheit in dem Andern, ja in allem. Wenn Jehova

der Gott Israels war, so war Er der Gott von allen,

der Gott eines jeden Einzelnen, und diese herrliche That-

148

fache bildete die Grundlage ihrer hohen Vorrechte sowohl,

als auch ihrer Verantwortlichkeit. Unmöglich konnte es

einen Bann in ihrer Mitte geben, ohne daß jedes Glied

der Gemeinde dadurch verunreinigt wurde. Nichts kann

die ernste Wahrheit aufheben, daß ein wenig Sauerteig

die ganze Masse durchsäuert.

Doch wie ist das Uebel zu entdecken? Die Gegenwart

Gottes macht eS offenbar. Dieselbe Macht, welche

die Mauern von Jericho umgeworfen hatte, enthüllte und

richtete die Sünde Achans. Die Gegenwart Gottes hat

stets diese doppelte Wirkung.

2.

In den WegenGottes mitSeinem Volke sind also Vorrecht

und Verantwortlichkeit unzertrennlich und innig mit einander

verbunden. Es ist ein trauriger, verhängnisvoller Fehler,

von Vorrechten zu reden und sie genießen zu wollen,

während man die daraus entspringende Verantwortlichkeit

aus dem Auge verliert. Wie groß waren z. B. die Vorrechte

Israels i Wer könnte das hohe Vorrecht würdig

schätzen, Jehova in der Mitte wohnend zu haben? Bei

Tag und bei Nacht war Er dort, um sie zu bewachen

und zu schützen, um jedem ihrer Bedürfnisse zu begegnen,

ihnen Brot aus dem Himmel zu geben und Wasser aus

dem Felsen hervorzubringen. Mit Gott in ihrer Mitte

hatten sie nichts zu fürchten. Er sorgte für alle ihre

Bedürfnisse; Er sah nach ihren Kleidern, daß sie nicht

veralteten, und nach ihren Füßen, daß sie nicht schwollen;

Er bedeckte sie mit Seinem Schilde, daß kein Pfeil sie

treffen konnte, und Er stand zwischen ihnen und jedem

Feinde. Niemand konnte sie antasten.

So groß waren ihre Vorrechte; aber beachten wir

14»

auch wohl, welch eine Verantwortlichkeit damit verbunden

war! „Denn Jehova, dein Gott, wandelt inmitten deines

Lagers, um dich zu retten und deine Feinde vor dir

dahinzugeben; und es soll dein Lager heilig

sein, daß Er nichts Schamwürdiges unter

dir sehe und sich abwende von dir." (5. Mos.

23, 14.) Hatte sich Jehova in Seiner unendlichen Gnade

herabgelassen, inmitten Seines Volkes zu wohnen und

ihr Reisegefährte zu sein, so durften sie nie vergessen,

daß Er nicht nur ein gnädiger, sondern auch ein heiliger

Gott war, und daß Seine Gegenwart eine heilige Reinheit

und Absonderung von dem Bösen erforderte. Nichts

durfte in dem Lager geduldet werden, was mit der Heiligkeit

und Reinheit, die der Gegenwart des Heiligen Israels

geziemte, im Widerspruch stand. „Gott ist gar sehr erschrecklich

in der Versammlung der Heiligen und furchtbar

über alle, die um Ihn her sind." (Ps. 89, 7.) Hätte

Achan daran gedacht, so würde es ihn gelehrt haben, die

Habsucht seines Herzens im Keime zu ersticken und so

die ganze Gemeinde vor vielem Schmerz zu bewahren.

Wie schrecklich ist der Gedanke, daß ein Mann, um eines

kleinen persönlichen Gewinnes willen, das ganze Volk in

die tiefste Trauer stürzte und — was noch schlimmer

ist — den heiligen Gott entehrte und betrübte, der in

Seiner wunderbaren Güte Seine Wohnung unter ihnen

aufgeschlagrn hatte! O, möchten wir doch alle, wenn

wir uns versucht fühlen, irgend eine verborgene Sünde

Zu begehen, uns fragen: „Wie kann ich so etwas thun?

Wie kann ich den Heiligen Geist betrüben, der in mir

ist, und Sauerteig in die Versammlung Gottes bringen?"

Laßt uns nie vergessen, daß unser persönlicher Wandel

150

einen unmittelbaren Einfluß auf alle die Glieder des

Leibes ausübti Entweder wir befördern oder wir hindern

die Segnung aller. Wir sind nicht unabhängige, selbständige

Teile, sondern Glieder eines Leibes, der durch die

Jnwohnung des Heiligen Geistes zu einem unauflöslichen

Ganzen verbunden ist; und wenn wir in einer weltlichen^

fleischlichen und gleichgültigen Gesinnung wandeln, so be-

nüben wir den Geist und fügen allen Gliedern Schaden

zu. „Aber Gott hat den Leib zusammengefügt . . .

auf daß keine Spaltung in dem Leibe sei, sondern die

Glieder dieselbe Sorge für einander haben. Und wenn

ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; wenn ein

Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle Glieder mit."

(1. Kor. 12, 24—26.)

Vielleicht fällt es uns schwer, diese wichtige Wahrheit

zu erfassen; aber entweder müssen wir sie annehmen,

oder jener traurigen Irrlehre beistimmen, daß jeder Christ

für sich selbst unabhängig sei und mit dem ganzen Körper

der Gläubigen in keiner Verbindung stehe. Wenn ich in

Wahrheit ein Glied an dem Leibe Christi bin, dessen

Glieder alle durch die persönliche Jnwohnung des Heiligen

Geistes mit dem Haupte verbunden sind, so folgt notwenig

daraus, daß mein Wandel und Verhalten auf die übrigen

Glieder Einfluß haben muß, ebenso wie alle Glieder des

menschlichen Körpers es fühlen, wenn ein Glied leidet.

Ist die Hand krank, so fühlt das auch der Fuß. Und

woher kommt dies? Weil das Haupt es fühlt. Der

Schmerz teilt sich zunächst dem Haupte und von dort aus

den Gliedern mit.

Achan war nicht ein Glied eines Leibes, wie der

Gläubige es ist; aber dennoch sehen wir, wie sein Ver

151

halten die ganze Versammlung berührte. Dieses ist nm

so treffender, weil die Wahrheit von dem einen Leibe

noch nicht geoffenbart war. Diese konnte erst geoffenbart

werden, nachdem das große Werk der Erlösung vollbracht

war, das Haupt sich auf den Thron Gottes gesetzt und

den Heiligen Geist herniedergesandt hatte, um den Leib

zu bilden. Wenn nun die verborgene Sünde Achans

Einfluß hatte auf das fernste Glied der Gemeinde

Israels, wie viel mehr, dürfen wir sagen, berührt die

verborgene Sünde eines Gliedes am Leibe Christi alle

die übrigen Glieder. Möchte diese ernste Wahrheit stets

vor unsern Augen und Herzen stehen!

Wir kommen jetzt zu der Art und Weise, wie die

Sünde Achans enthüllt und ihm selbst vor Augen gestellt

wurde. Auch dieses ist sehr ernst. Achan hatte wenig

daran gedacht, wessen Auge auf ihm ruhte, als er seine

Missethat, verborgen vor seinen Brüdern, ausführte. Er

hatte jedenfalls geglaubt, daß alles in bester Ordnung

sei, als er das Geld und den Mantel im Innern seines

Zeltes verbarg. Unglücklicher, bedauernswerter Mann!

Wie schrecklich ist die Sucht nach Geld, wie schrecklich die

verblendende Macht der Sünde! Sie verhärtet das Herz,

ertötet das Gewissen, verfinstert den Verstand und verdirbt

die Seele und brachte in dem vorliegenden Falle

Trauer und Schmerz über sechshunderttausend Menschen.

„Und Jehova sprach zu Josua: Stehe auf! warum

liegst du da auf deinem Angesicht?" Alles hat seine bestimmte

Zeit. Da ist eine Zeit, auf dem Angesicht zu

liegen, und eine Zeit, auf den Füßen zu stehen — eine

Zeit demütigen Niederbeugens und eine Zeit entschiedenen

Handelns. Die unterrichtete Seele wird die richtige Zeit

152

für beides kennen. „Israel hat gesündigt, und auch haben

sie meinen Bund übertreten, den ich ihnen geboten

habe .... Stehe auf, heilige das Volk und sprich:

Heiliget euch auf morgen. Denn so spricht Jehova, der

Gott Israels: Ein Bann ist in deiner Mitte, Israel, du

wirst nicht vermögen, zu stehen vor deinen Feinden, bis

ihr den Bann hinwegthut aus eurer Mitte." Das Volk

Gottes, das Seinen Namen trägt und Seine Wahrheit

bekennt, muß heilig sein und sich unbefleckt von der Welt

erhalten; anders muß Er die Zuchtrute nehmen und

ernstlich mit ihnen reden. „Und ihr sollt herzutreten am

Morgen nach euern Stämmen; und eS wird geschehen,

der Stamm, den Jehova treffen wird, soll herzutreten

nach den Geschlechtern, und das Geschlecht, das Jehova

treffen wird, soll herzutreten nach den Häusern, und das

Haus, das Jehova treffen wird, soll herzutreten nach den

Männern." (V. 17.)

Welch eine Aussicht für den armen, unglücklichen

Achan! Er mochte vielleicht die Hoffnung hegen, unter

den vielen Tausenden Israels zu entrinnen. Aber wie

sehr täuschte er sich! Seine Sünde mußte ihn finden.

Dieselbe Gegenwart, welche persönliche Segnungen brachte,

enthüllte auch mit erschreckender Treue die verborgensten

persönlichen Sünden. Ein Entrinnen war unmöglich.

Gott selbst brachte den Sünder ans Licht; Er zog ihn

aus seinem Schlupfwinkel hervor, damit er die Strafe

für seine Bosheit fände.

Wie wunderbar sind die Wege Gottes! Zunächst

werden die zwölf Stämme herzugerufen, und der Stamm

Juda wird durch das Los getroffen. Allein dieser Stamm

war so zahlreich, daß nach menschlichen Begriffen immer

153

noch ein Herausfinden des Thäters höchst unwahrscheinlich

war. Ja, bei Menschen war es unmöglich, aber nicht so

bei dem allsehenden und allwissenden Gott, dessen „Augen

die ganze Erde durchlaufen." „Und Josua ließ die Geschlechter

Juda's herzutreten, und es ward getroffen das

Geschlecht der Serahiter." Der Kreis zieht sich immer

enger zusammen; das Los Jehova's trifft mit untrüglicher

Sicherheit. „Und er ließ das Geschlecht der Serahiter

herzutreten, und es ward getroffen Sabdi." Immer näher

kommt das Verhängnis. Die Familie ist bestimmt, und

jetzt treten die Haushaltungen herzu, „nach den

Männern." „Und es ward getroffen Achan, der Sohn

Eharmi's, des Sohnes Sabdi's, des Sohnes Serahs,

vom Stamme Juda." So fand das durchdringende Auge

Jehova's den Sünder unter sechshunderttausend Männern

heraus und stellte ihn vor der ganzen versammelten Menge

Seines Volkes blos. O, was wird während dieser Handlung

in dem Herzen Achans vorgegangen sein! Wer

könnte die Gefühle beschreiben, die den unglücklichen, schuldbewußten

Mann bestürmt haben müssen, der, im Bewußtsein

des ernsten Urteilsspruches Jehova's, die Möglichkeit

des Entrinnens immer mehr schwinden sah? Der Herr

hatte zu Josua gesagt: „Und es soll geschehen, wer getroffen

wird mit dem Bann, der soll mit Feuer verbrannt

werden, er und alles, was er hat, weil er den Bund

Jehova's übertreten, und weil er eine Schandthat in

Israel verübt hat." (V. 15.)

„Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer." Er kann

das Böse bei den Seinigen nicht dulden. Dieses erklärt

die ernste Scene vor uns. Der natürliche Verstand mag

darüber nachgrübeln und sich verwundert fragen, wie denn

154

das Wegnehmen einer geringen Menge Silbers und Goldes

und eines Mantels aus der Beute einer eroberten Stadt

solch schreckliche Folgen nach sich ziehen und eine so furchtbare

Strafe auf den Schuldigen bringen konnte. Doch

wir müssen uns erinnern, daß der natürliche Verstand

ganz und gar unfähig ist, die Wege Gottes zu verstehen.

Aber nicht allein das; wir können auch mit Recht fragen:

Wie konnte Gott das Böse in Seinem Volke gutheißen?

Wie konnte Er damit vorangehend Wenn Er im Begriff

stand, Gericht über die sieben Völker Kanaans zu bringen,

konnte Er da gleichgültig sein gegen die Sünde inmitten

Seines Volkes? Sicherlich nicht. „Dich allein habe ich

gekannt von allen Geschlechtern der Erde, deshalb werde

ich dich züchtigen für deine Ungerechtigkeiten." Gerade die

Thatsache, daß Gott sich mit Israel verbunden hatte, war

die Ursache, daß Er mit ihnen handeln mußte in heiliger

Zucht.

Es ist die größte Thorheit, wenn der Mensch über

die. Strenge des göttlichen Gerichts oder über den scheinbaren

Mangel eines angemessenen Verhältnisses zwischen

der Sünde und der Strafe zu klügeln und zu rechten beginnt.

All solches Klügeln ist falsch, ja schlecht und

gottlos. Was war es, das Elend, Trauer, Armut, Krankheit,

Schmerz und Tod in diese Welt hineinbrachte? Was

war die Quelle aller dieser traurigen Erscheinungen? Nichts

anders als jene kleinliche Sache — wie der Mensch es

nennen würde — daß Eva von der verbotenen Frucht

nahm und aß. Aber gerade diese kleine, geringfügige

Sache war schrecklich in den Augen Gottes — sie war

Sünde, Sünde wider Gott! Und was war nötig, um

diese Sünde zu sühnen? Was steht ihr gegenüber als der

155

einzig passende Ausdruck des Gerichts Gottes? Der Brand

in dem Thäte Achor, oder die ewigen Flammen der Hölle ?

O nein, etwas weit höheres und weit ernsteres! Das

Kreuz des Sohnes Gottes! Der Tod Christi,

dieses reinen und fleckenlosen Lammes! Der schreckliche

Schrei aus der Tiefe Seiner geängstigten Seele: „Mein

Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" Daran

möge sich ein jeder erinnern und aufhören, zu klügeln und

mit Gott zu rechten. (Schluß folgt.)

Einige Bemerkungen über den Wert

des Abendmahls.

(Schluß.)

Wir kommen jetzt auf den Wert des Abendmahls

zurück. Die Teilnahme an diesem Mahle ist die Gemeinschaft

des Leibes und Blutes desHerrn,

der für uns am Kreuze starb. Möchten wir am Tische

des Herrn, zur Freude unsrer Seelen, den Gedanken

Jesu bei Einsetzung dieses Festes recht erfassen! Der

Feind sucht den Christen die Wirklichkeit dieser Segnung

zu rauben. Der Katholizismus macht aus dem äußeren

Zeichen einen Abgott, indem er lehrt, daß der Leib, das

Blut, die Seele und die Gottheit Jesu Christi sich zusammen

in dem Brote befinden; er macht aus dem Abendmahl

ein Sakrament der Nicht-Versöhnung durch die

Lehre, daß das Blut und das Fleisch zusammen in der

Hostie enthalten seien. Die lutherische Lehre, obwohl sie

Blut und Fleisch getrennt hält, steht in den äußeren

Zeichen den wirklichen Leib und das wirkliche Blut Christi

und verliert dadurch die ganze moralische Tragweite der

156

Einsetzung. Andere wieder verfallen in das entgegengesetzte

Extrem, indem sie in diesem Mahle nur Brot und

Wein, ohne die Gemeinschaft mit dem Opfer Christi, erblicken.

Untersuchen wir darüber das Wort.

In Luk. 22, 19. 20 lesen wir: „Und Er nahm

Brot und dankte und brach und gab es ihnen und sprach:

Dies ist mein Leib, der für euch gegeben ist; dieses thut

zu meinem Gedächtnis! Desgleichen auch den Kelch nach

dem Mahle und sagte: Dieser Kelch ist der neue Bund

in meinem Blut, das für euch vergossen ist."

Die Teilnahme an dem Brote des Abendmahls drückt

also die Gemeinschaft mit dem Leibe des für unsre

Sünden auf dem Kreuze leidenden und sterbenden Christus

aus. Der Herr sagt von diesem Brote: „Dies ist mein

Leib, der für euch gegeben ist." Damit will Er uns

nicht veranlassen, in diesem Brote buchstäblich Seinen

Leib zu sehen, sondern Er will unsern Geist, unser Herz„

unsern Glauben auf jenen erhabenen Augenblick hinlenken,

wo Er sich in Seiner anbetungswürdigen Person auf dem

Kreuze mit unsrer Schuld belud, als unser Stellvertreter

im Gericht Gottes. Wenn ich meinen Freunden das Bild

meines Vaters zeige, so sage ich: „Das ist mein Vater."

Ich sage nicht: „Das ist ein Stück Leinwand, auf dem

sich ein meinen Vater vorstellendes Gemälde befindet;"

und doch ist es nichts anderes. Wenn aber jemand beleidigende

Aeußerungen über dieses Bild thun würde, so

würde ich diese nur als eine Beleidigung meines Vaters

betrachten können. Es würde mir niemals der Gedanke

kommen, in diesem Bilde den wirklichen Körper meines

Vaters zu sehen, und doch ist es für mich tausendmal

mehr wert, als ein bloßes Stück Leinwand.

157

In 1. Kor. 11 erinnert der Apostel an die Einsetzung

des Abendmahls, wie sie ihm direkt durch den

Herrn geoffenbart worden war. Paulus war das aus-

erwählte Werkzeug zur Offenbarung des Geheimnisses von

der Versammlung, dem Leibe Christi. Da das Brotbrechen

der Ausdruck der Einheit des Leibes auf der Erde

ist, so sollte der Apostel, dem die Offenbarung dieser Einheit

anvertraut war, vom Herrn selbst, und nicht von einem

der bei jenem Abendessen anwesenden Apostel, die Worte

empfangen, durch welche Jesus das Abendmahl einsetzte.

Er sagt in Vers 23: „Denn ich habe von dem Herrn

empfangen, was ich auch euch überliefert habe, daß der

Herr Jesus in der Nacht, da Er überliefert ward, Brot

nahm, und als Er gedankt hatte, es brach und sprach:

Dies ist mein Leib, der für euch ist; dies thut zu meinem

Gedächtnis." Ja, in Wahrheit, er ist für uns, dieser

Leib, in welchem Er unsre Sünden getragen hat; er

ist für uns, nicht für die Welt, welche ihn verachtet;

wir find in Gemeinschaft mit diesem Leibe.

Im zehnten Kapitel desselben Briefes zeigt der

Apostel den Korinthern, wie sehr sie sich erniedrigten, wenn

sie teilnahmen an dem Essen der Götzenopfer, und beweist

ihnen, daß sie sich dadurch eins machten mit den

Götzen selbst und sich in die Gemeinschaft der Teufel

begaben. Doch beachten wir, wie er zu dieser Schlußfolgerung

kommt; er zieht sie aus der wunderbaren Thatsache,

welche er in den Worten ausdrückt: „Der Kelch

der Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft

des Blutes des Christus? Das Brot, das wir

brechen, ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des

Christus?" Welch eine gesegnete Sache ist es doch, dieses

158

Brot zu essen und diesen Kelch zu trinken! Wir sind so

in Gemeinschaft mit dem kostbaren Opfer Christi auf

dem Kreuze. Wenn wir um den Tisch des Herrn versammelt

sind und nach Seinem Beispiele danken, bevor

wir das Brot brechen und den Kelch unter uns teilen, so

geben wir dadurch Zeugnis, daß wir mit Dankbarkeit in

die Gedanken' des Herrn eingehen, der uns durch das

Genießen des Brotes und des Kelches mit Seinem Opfer

Gemeinschaft machen läßt. Laßt uns daher stets daran

denken, welchen Wert dieses Opfer hat, das für uns am

Kreuze dargebracht wurde!

Die Korinther machten sich des Leibes und Blutes

des Herrn schuldig, indem sie auf unwürdige Weise bei

ihren Mahlzeiten das Brot aßen und den Kelch des

Herrn tranken, (1. Kor. 11, 20—22.) und als Züchtigung

dafür waren viele unter ihnen schwach und krank und

nicht wenige sogar entschlafen.

Im Gegensatz zu den Korinthern, welche den Tisch

des Herrn mit Gleichgültigkeit behandelten, giebt es für

Personen, die ein zartes Gewissen haben, aber wenig in

der Gnade befestigt sind, eine andere Schwierigkeit. Es

ist vielleicht etwas zwischen ihnen und dem Herrn vorgefallen,

worüber sie sich vor Ihm haben demütigen müssen;

aber obwohl sie sich völlig vor Ihm gerichtet haben, wagen

sie es doch nicht, an Seinem Tische teil zu nehmen. Ja,

gerade ihre völlige Zerknirschung erzeugt in ihnen den Gedanken,

daß sie des Tisches des Herrn unwürdig seien,

und sie halten sich deshalb, als eine Art von Buße,

von demselben fern. Diese Seelen sind in dieser Beziehung

in einem Irrtum befangen; denn der Apostel

sagt in 1. Kor. 11, 28: „Der Mensch aber prüfe sich

15S

selbst, und also esse er von dem Brote und trinke

von dem Kelche." Indem wir uns selbst prüfen,

erkennen wir an, daß der Tisch des Herrn Rechte hat

an unsre Gewissen; wir verurteilen die Sünde, welche

den Tod des Herrn notwendig gemacht, aber durch die

Gnade in diesem Tode ihr Gericht gefunden hat. Sind

so die Rechte Gottes und Sein Gericht über die Sünde

in dem Gewissen anerkannt, so soll man essen von dem

Brote und trinken von dem Kelche.

Ich füge noch einige Worte hinzu über eine Stelle

in Joh. 6, welche oft auf das Abendmahl angewandt

wird, dadurch aber ihren eigentlichen Sinn verliert und

leicht die Bedeutung des Abendmahls verfälschen kann.

Es sind dies die Verse 53—56: „Wahrlich, wahrlich, ich

sage euch: Wenn ihr nicht esset das Fleisch des Sohnes

des Menschen und trinket Sein Blut, so habt ihr kein

Leben in euch selbst. Wer mein Fleisch isset und mein

Blut trinket, hat ewiges Leben, und ich werde ihn auf-

erweckeu am letzten Tage; denn mein Fleisch ist wahrhaftig

Speise, und mein Blut ist wahrhaftig Trank. Wer

mein Fleisch isset und mein Blut trinket, der bleibt in

mir und ich in ihm." In dieser Stelle zeigt der Herr

die unumgängliche Notwendigkeit Seines Todes als Erlöser.

Sollten wir das Leben haben, so war es nötig,

daß Sein Blut von Seinem Körper getrennt, und daß

Sein Tod Speise und Trank für uns wurde, als die

Befreiung und das Ende von unserm gefallenen Zustande

und von unsern Sünden. Unser ganzer Zustand in Adam

hat im Tode des Herrn sein Ende gefunden. Nur in

einem gestorbenen Eh'ristus konnten wir aus dem Tode,

in dem wir lagen, errettet werden, und indem wir mit

160

einem gestorbenen und jetzt auferstandenen Christus in

Verbindung gekommen sind nnd uns durch den Glauben

von Seinem Fleische und von Seinem Blute nähren, haben

wir das Leben, das Leben nach dem Tode, das ewige

Leben. Der Herr spricht hier von Seinem zukünftigen

Tode: „Und das Brot aber, das ich geben werde, ist

mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben

der Welt." (V. 51.) Er betont die Notwendigkeit Seines

Todes, auf daß wir das Leben hätten, redet aber nicht

von der Erinnerung und dem Gedächtnis an diesen Tod,

durch welchen wir nun das Leben empfangen haben.

Wenn an dieser Stelle von der Teilnahme am Abendmahl

die Rede wäre, so würde zweierlei die Folge

davon sein: Erstens, niemand würde das Leben haben,

bevor er das Abendmahl genossen hätte: „Wenn ihr

nicht esset das Fleisch des Sohnes des Menschen und

trinket Sein Blut, so habt ihr kein Leben in

euch selbst." Der Uebelthäter am Kreuz zum Beispiel

hätte das Leben nicht gehabt. Zweitens, alle,

welche das Abendmahl genommen hätten, wären errettet:

„Wer mein Fleisch isset und mein Blut trinket, hat

ewiges Leben." Dies ist sehr beachtenswert; denn

dann hätten alle, die je das Abendmahl gefeiert haben,

das ewige Leben. Deshalb sage ich, daß die direkte

Anwendung dieser Stelle auf das Abendmahl den Sinn

derselben verfälscht und das Abendmahl seiner wahren

Natur beraubt. Nur diejenigen, welche das Fleisch

des Sohnes des Menschen gegessen und Sein Blut getrunken

haben, haben Recht am Abendmahl, nicht aber,

um dort das Leben zu empfangen, sondern weil sie es

besitzen durch den Tod ihres Heilandes.

161

Möchten wir mit Einsicht und wahrer Gottseligkeit

den geistlichen Wert dieses Gedächtnisses des Todes unseres

Erlösers genießen!

Was nun den Kelch betrifft, so wird es nützlich sein,

zu untersuchen, was uns das Wort über das Blut

sagt. Wenn wir daran denken, welch eine große Menge

Blutes durch das Schlachten der Opfertiere vergossen

worden ist, als Vorbild der Vergießung des kostbaren

Blutes Christi, so können wir uns eine geringe Vorstellung

machen von dem Werte, den Gott dem Blute Seines

Opferlammes beilegt.

Schon gleich nach dem Falle des Menschen 'machte

Jehova Gott Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen,

welche doch nur von geschlachteten Tieren herrühren konnten.

Abel verstand denn auch, daß ein blutiges Opfer

nötig war zwischen Gott und dem Sünder, und so opferte

er von den Erstlingen seiner Herde. Später brachten

Noah, Abraham und Jakob dem Herrn solche Opfer dar,

und zwar bevor noch eine Verordnung bestand, welche

dieselben vorschrieb. Dann richtete Gott in Israel den

Opferdienst ein, durch welchen eine Menge Blut vergossen

wurde, betreffs dessen in der Epistel an die Hebräer gesagt

wird: „Christus aber, gekommen als Hoherpriester

der zukünftigen Güter, in Verbindung mit der größeren

und vollkommneren Hütte, die nicht mit Händen gemacht

(das ist nicht von dieser Schöpfung ist), auch nicht mit

Blut von Böcken oder Kälbern, sondern mit Seinem

eignen Blut, ist ein für allemal in das Heiligtum eingegangen,

als Er eine ewige Erlösung erfunden hatte.

Denn wenn das Blut von Stieren und Böcken und die

Asche einer jungen Kuh, auf die Unreinen gesprengt, zur

162

Reinigkeit des Fleisches heiligt, wie viel mehr wird das

Blut des Christus, der durch den ewigen Geist sich selbst

ohne Flecken Gott geopfert hat, euer Gewissen reinigen

von toten Werken, um dem lebendigen Gott zu dienen!

.. . Daher auch der erste Bund nicht ohne Blut

eingeweiht worden ist. Denn als jegliches Gebot, nach

dem Gesetz, von Moses zu dem ganzen Volke geredet

war, nahm er das Blut der Kälber und Böcke mit Wasser

und Purpurwolle und Mop und besprengte sowohl das

Buch selbst, als auch das ganze Volk, und sprach: „Dies

ist das Blut des Bundes, den Gott für euch geboten

hat." And auch die Hütte und alle die Gefäße des Dienstes

besprengte er gleicherweise mit dem Blute; und fast alle

Dinge werden mit Blut gereinigt nach dem Gesetz, und ohne

Blutvergießung ist keine Vergebung." (Hebr. 9, 11 — 14.

18-22.)

Alles dieses zeigte vorbildlich die Notwendigkeit der

Vergießung des Blutes Christi. Gott hat Christum dargestellt

zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an

Sein Blut. (Röm. 3, 25.) Der Herr sagt, daß der,

welcher Sein Fleisch isset und Sein Blut trinket, ewiges

Leben habe. (Joh. 6, 54.) Wir haben die Erlösung

durch Sein Blut. (Eph. 1, 7.) Wir haben Freimütigkeit

zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut

Jesu. (Hebr. 10, 19.) Wir sind gekommen zu dem

Blute der Besprengung. (Hebr. 12, 24.) Wir sind

erlöst worden von unserm eiteln, von den Vätern überlieferten

Wandel, nicht mit verweslichen Dingen, Silber-

oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blute

Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken;

welcher zwar zuvorerkannt ist vor Grundlegung der Welt,

163

aber geoffenbart worden am Ende der Zeiten um unsertwillen.

(1. Petri 1, 18—20.) Das Blut Jesu Christi,

Seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde. (1. Joh.

1, 7.) Dem, der uns liebt und uns von unsern Sünden

gewaschen hat in Seinem Blute . . . Ihm sei die

Herrlichkeit und die Macht in die Zeitalter der Zeitalter I

Amen. (Offbg. 1, 5.)

Dieses kostbare Blut ist aus Seiner durchbohrten

Seite hervorgeflossen, als Er schon gestorben war. „Als

sie aber zu Jesu kamen und sahen, daß Er schon gestorben

war, brachen sie Ihm die Beine nicht, sondern einer

der Kriegsknechte durchbohrte mit einem Speer Seine Seite,

und alsbald kam Blut und Wasser hervor." (Joh. 19,

33. 34.) Derselbe Apostel sagt im fünften Kapitel seiner

ersten Epistel: „Dieser ist es, der gekommen ist durch

Wasser und Blut, Jesus der Christus; nicht durch das

Wasser allein, sondern durch das Wasser und das Blut."

Dieses Blut ist einer von den drei Zeugen, welche „einstimmig"

sind in ein und demselben Zeugnis, nämlich

„daß Gott uns das ewige Leben gegeben hat, und dieses

Leben ist in Seinem Sohne" — nicht in dem ersten

Adam.

Einen solchen Wert legt das Wort dem Blute Christi

bei. Was aber macht dieses Blut so überaus kostbar?

Es ist das Blut eines Lammes ohne Fehl und Flecken.

Es ist das Blut Dessen, der sich ohne Flecken durch den

ewigen Geist Gott geopfert hat.

Der Tod unsers anbetungswürdigen Heilandes war

also nötig, damit die Vergießung dieses kostbaren Blutes

stattfinden konnte, als Gegenbild des Blutes aller der

Opfer, die seit dem Falle des Menschen geschlachtet worden

164

waren. Es war nötig, daß Sein Blut von Seinem

Fleische getrennt wurde. Er hat uns diesen Kelch gegeben

mit den Worten: „Trinket alle daraus; denn dies

ist mein Blut, das des neuen Bundes, welches für viele

vergossen wird zur Vergebung der Sünden," (Matth. 26,

27. 28.) und: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem

Blute, das für euch vergossen ist." (Luk. 22, 20.) In

1. Kor. 11 wird noch hinzugefügt: „Dies thut, so oft

ihr trinket, zu meinem Gedächtnis." Die Teilnahme an

diesem Kelche ist also ebenfalls die Gemeinschaft mit dem

Opfer des Heilandes auf dem Kreuz. „Der Kelch der

Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft

des Blutes des Christus?" (1. Kor. 10, 16.)

Wunderbare Thatsache! Der Herr fordert uns auf,

den Kelch zu trinken zu Seinem Gedächtnis, und das ist

nichts Geringeres, als die Gemeinschaft Seines kostbaren

Blutes. Indem wir daran teilnehmen, segnen wir diesen

Kelch durch Danksagung und setzen mit Anbetung unser

Siegel auf die Thatsache, daß wir, indem wir ihn trinken,

Gemeinschaft haben mit dem vergossenen Blute unseres

Heilandes. Es giebt für die Christen, welche einigermaßen

der Absicht des Herrn entsprechen, nichts Köstlicheres,

als so in der Wüste ihres anbetungswürdigen

Heilandes zu gedenken und Ihm gemeinschaftlich ihre Loblieder

zu singen.

Der Herr hat den Seinigen sowohl das Brot als

auch den Kelch, jedes für sich und nach einander, gegeben,

und wir haben versucht, den Wert eines jeden

einzelnen vorzustellen; jedoch dürfen wir nicht aus dem

Auge verlieren, daß beide zusammen unserm Glauben

die Wirklichkeit des Todes des Herrn verkündigen. „Denn

165

so oft ihr dieses Brot esset und den Kelch trinket, verkündigt

ihr den Tod des Herrn, bis Er kommt."

(1. Kor. 11, 26.)

Welch eine Fülle von Gedanken vereinigt sich in der

Feier des Abendmahls! Der Herr wollte, daß wir uns

Seiner erinnerten, als des Gegenstandes der geistlichen

Gefühle, aber auch zugleich als des Herrn, der verworfen,

verraten und für uns gestorben ist, und der durch

das Gericht, welches Er erduldet, unserm Zustande in

dem ersten Adam ein Ende gemacht hat. Dann verkündigen

wir in dem Abendmahl auch die Wiederkunft unsers

Herrn. Ferner giebt eS uns das köstliche Bewußtsein,

daß wir mit allen Gliedern Christi auf der Erde in

Ihm vereinigt sind, und wir verkündigen die große Thatsache

der Einheit des Leibes. Endlich wirkt der

Tod des Herrn auf unsre Gewissen, um bei uns die

praktische Trennung von der Sünde, die einen solchen

Tod nötig machte, hervorzubringen und aufrecht zu halten.

Alles dieses und noch vieles andre vereinigt sich in unsern

Gedanken an diesem Tische. Wir lernen dadurch verstehen,

wie das Abendmahl die Grundlage des Gottesdienstes

bildet, und wie wir, gereinigt vom bösen Gewissen,

einen freien Zugang haben zu der heiligen Gegenwart

Gottes in Seinem Heiligtum. Wir mußten vollkommen

gemacht sein, um nahen zu können. Wir mußten

gereinigt sein und kein Gewissen mehr haben von Sünden,

um Anbetung darbringen zu können. Und das ist es gerade,

was das Opfer Christi hervorgebracht hat. „Denn

durch ein Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht,

die geheiligt werden." (Hebr. 10, 14.) „Da wir

nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das

166

Heiligtum durch das Blut Jesu, den neuen und lebendigen

Weg, den Er uns eingeweiht hat durch den Vorhang,

das ist Sein Fleisch .... so laßt uns hinzutreten mit

wahrhaftigem Herzen, in voller Gewißheit des Glaubens,

die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen Gewissen

und den Leib gewaschen mit reinem Wasser."

(Hebr. 10, 19—21.) Aus dieser Grundlage sind wir

die wahren Anbeter, welche der Vater gesucht hat,

und von denen Er die Anbetung empfangen wollte in

Verbindung mit der Offenbarung Seines Vaternamens,

von denen das Lob Ihm dargebracht werden sollte, geleitet

durch den Sohn in der Mitte der Versammlung. (Vergl.

Psalm 22, 22 und Hebr. 2, 12.) Wir beten Gott an,

als Gott und als Vater, im Geist und in Wahrheit.

Schließlich geht noch etwas anderes aus dem bisher

Gesagten hervor, nämlich, daß das wirkliche Verständnis

der Feier des Abendmahls unsre Herzen dahin leitet, die

Heiligkeit der Person Christi nach allen Seiten hin zu

wahren und Ihm treu zu sein bis in die kleinsten Einzelheiten.

Wie aber verträgt es sich hiermit, wenn man

sich weigert, entschieden Zeugnis abzulegen gegen alles,

was diese heilige Person herabwürdigt, wenn man ferner

den Tisch des Herrn aufzurichten vorgiebt und doch zugleich

den Grundsatz der Einheit des Leibes beiseite setzt,

der im Brotbrechen seinen Ausdruck findet?

Möchten diejenigen, die der Herr so unaussprechlich

liebt und die Er erkauft hat durch Sein Blut, mehr Verständnis

haben für den Wert Seiner Person und Seines

Werkest Möchten sie ihr Glück darin finden, in Seinem

Namen versammelt zu sein, um gemeinschaftlich Seiner zu

gedenken, bis Er kommt! Möchten wir zu denen gehören,

167

welche der Herr als diejenigen anerkennen kann, die Sein

Wort bewahren und Seinen Namen nicht verleugnen l

Ja, laßt uns festhalten, was wir haben, auf daß niemand

unsre Krone nehme!

Jesus allein.

Wenn ich mich einsam fühle,

Verlassen und bedrückt,

So eil' ich hin zu Jesu,

Allzeit Er mich erquickt.

Bin ich versucht, schleicht Zweifel

Sich ein in mein Gemüt,

Ein Blick, ein Schrei zu Jesu,

Und Satan gleich entflieht.

Wenn vor der Sorgen Schwere

Mein schwaches Herz erbebt,

Wenn Stürme mich umtosen,

Das Meer sich wild erhebt,

Wenn alles mir entgegen

In diesem Thränenthal —

Wie scheucht ein Blick auf Jesum

Die Sorgen allzumal!

Wie köstlich ist's, zu wandeln

Mit Jesu ein und auS!

Er leitet Seine Schäslein

Getreu ins Vaterhaus.

Nichts kann mich jemals reißen

Aus Seiner starken Hand,

Stets hält mich fest und sicher

Der Liebe ew'ges Band.

168

Sollt' alles hier auch schwinden,

Worauf ich einst vertrant,

Und selbst der Freund mich lassen,

Auf den ich fest gebaut —

Ich weiß, mein Heiland-Jesus

Hält, was Sein Mund verspricht,

Trotz Welt, trotz Tod und Teufel

Läßt Er mich ewig nicht.

Er selbst ist mit im Schiffe,

Es steht in Seiner Hut,

Er steuert's durch die Wellen

Und Riffe treu und gut.

Bald langt es an der Küste

Des Himmels sicher an,

Bald ist der Lauf vollendet,

Bald ist das Werk gethan!

Wie voll wird dann ertönen

DaS Lob der sel'gen Schar!

Ein neues Lied sie singen

Dem Lamme immerdar.

Ja, Dank Dir, teurer Jesus,

Mein Heiland und mein Herr!

Jetzt und in alle Zeiten

Anbetung Dir und Ehr'!

Jericho und Achor.

(Josua 6 u. 7.)

(Schluß.)

3.

Der Christ sollte stets fähig sein, den Einwürfen,

welche der Unglaube im Blick auf die Wege und Handlungen

der Regierung Gottes macht, mit einer ruhigen

und entschiedenen Antwort zu begegnen. „Sollte der Richter

der ganzen Erde nicht Recht thun?" Wenn das Geschöpf

ein Recht hat, über den Schöpfer zu urteilen, so ist es

mit aller Regierung in dem weiten Weltall vorbei. Wenn

wir einen Menschen ein Urteil über die Wege Gottes aussprechen

hören, so drängt sich uns unwillkürlich die Frage

auf: „Wer hat denn eigentlich ein Recht, zu richten?"

Hat der Mensch Gott zu richten, oder Gott den Menschen?

Wenn das erstere der Fall ist, dann giebt es überhaupt

keinen Gott, und wenn das letztere, so hat der Mensch in

ehrerbietigem Schweigen sein Haupt zu beugen und seine

Unwissenheit und Thorheit anzuerkennen.

Wenn der Mensch die Regierungswege Gottes verstehen

und ergründen könnte, so wäre er thatsächlich nicht

länger ein Mensch, sondern er wäre Gott. Welch eine

Thorheit ist es daher, wenn ein armer, unwissender und

kurzsichtiger Sterblicher es versucht, ein Urteil über die

tiefen Geheimnisse der göttlichen Regierung zu fällen! Ein

solches Urteil ist nicht nur völlig wertlos, sondern auch

170

gottlos, es ist ein lästerlicher Angriff auf den Thron,

die Natur und den Charakter Gottes, für welchen der

Mensch sich sicherlich vor dem Richterstuhle Christi zu verantworten

haben wird, wenn er nicht vorher Butze thut

und Vergebung findet in dem Blute des Kreuzes.

Der Ungläubige mag sich versucht fühlen, das Gericht,

welches über Achan kam, zu streng zu nennen, er mag Vergleiche

anstellen zwischen der Sünde und der Strafe und

es ein Unrecht nennen, daß die Kinder Achans für die Sünde

ihres Vaters mitbützen mußten. Doch wir erwidern auf

alles dieses einfach: „Sind wir befugt, zu richten?" Wenn

jemand glaubt, er sei befugt, so drückt er dadurch aus,

daß er Gott für unfähig hält, die Welt zu regieren, und

daß eigentlich der Mensch Seine Stelle einnehmen sollte.

Das ist in der That die Wurzel der ganzen Sache. Der

Unglaube möchte gern gänzlich von Gott befreit fein und

den Menschen an die Stelle Gottes setzen. Wenn Gott

wirklich Gott ist, so liegen ohne alle Frage Seine Wege,

die Handlungen Seiner Regierung, die Geheimnisse Seiner

Vorsehung, Seine Ratschlüsse und Seine Gerichte weit

außer dem Bereich jeder menschlichen Beurteilung. Weder

Menschen, noch Engel, noch Teufel können die Gottheit begreifen.

Möchten die Menschen dies anerkennen und ihre

eitlen Vernünfteleien fahren lassen! Möchten sie die Sprache

Hiobs annehmen, nachdem seine Augen geöffnet waren:

„Und Hiob antwortete Jehova und sprach: Ich weiß, daß

Du alles vermagst und in nichts, woran Du denkst, verhindert

werden kannst. „Wer ist's, der den Ratschluß

verdunkelt ohne Kenntnis?" So habe ich nun ausgesprochen,

was ich nicht verstand, zu wunderbar für mich, was ich

nicht kannte. „Höre doch, und ich will reden, ich will

171

-ich fragen, und du belehre mich!" Mit dem Gehör des Ohres

habe ich von Dir gehört, aber nun siehet Dich mein Auge.

Darum verabscheue ich mich und bereue in Sack und Asche."

(Hiob 42,1 — 6.) Wenn die Seele in diesen Zustand kommt,

so hören alle ungläubige Fragen mit einem Male auf.

Doch wenden wir uns zu der feierlich-ernsten Scene im

Thale Achor zurück, indem wir uns erinnern, daß „alles,

was zuvor geschrieben, zu unsrer Belehrung geschrieben

worden ist." Möchten wir daraus lernen, mit heiligem

Eifer gegen die ersten Anfänge und Keime des in unserm

Herzen wirkenden Bösen zu wachen! Ueber diese sollte

der Mensch zu Gericht sitzen, nicht aber über die reinen

und vollkommenen Wege der göttlichen Regierung.

Die Worte Josua's an Achan sind ernst und wichtig:

„Mein Sohn, gieb doch Jehova, dem Gott Israels, Ehre

und thue Ihm Bekenntnis; thue mir doch kund, was du

gethan hast, verhehle es nicht vor mir." (V. 19.) Hier

ist die überaus wichtige Sache: „Gieb doch Jehova, dem

Gott Israels, Ehre." Alles kommt hierauf an. Die Ehre

des Herrn ist der einzig vollkommene Maßstab, nach

welchem alles gerichtet werden muß. Für das Volk Gottes

gilt zu allen Zeiten und in allen Lagen die Frage:

„Was ist passend für die Ehre Gottes?"

Im Vergleich mit dieser Frage sind alle andern minder

wichtig. Es handelt sich nicht darum, was für uns passend

ist, oder was wir ertragen und gutheißen können. Dies

ist in der That sehr unwichtig. Woran wir stets zu

denken und wofür wir zu sorgen haben, ist die Ehre und

Verherrlichung Gottes. Alles, was mit dieser Ehre nicht

in Uebereinstimmung steht, ist auch nicht passend für uns

und sollte weggethan werden.

172

Wie gut wäre es gewesen, wenn Achan hieran gedacht

hätte, als sein Ange auf den verbannten Schätzen

ruhte! Wie viel Elend und Schwerz würde er sich und

seinen Brüdern erspart haben! Doch ach! der Mensch

vergißt dieses, wenn die Lust seine Augen verblendet und

Eitelkeit und Habsucht sein Herz regieren; er geht voran

in der Befriedigung seiner Begierden, bis das Gericht

eines heiligen, die Sünde hassenden Gottes ihn erreicht.

Und dann maßt er sich noch an, ein solches Gericht für

unwürdig eines gnädigen und wohlwollenden Gottes zu

erklären. Welch eine Anmaßung! Der Mensch möchte sich

gern einen Gott machen, der seinen Gedanken und seiner

Einbildung entspricht, der es mit der Sünde nicht so

genau nimmt und allerlei Böses ertragen kann. Der

Gott der Bibel, der Gott und Vater unsers Herrn Jesu

Christi, gefällt dem Menschen nicht; er paßt nicht für

seine ungläubigen Vernünfteleien. Einen solchen Gott

will er nicht.

„Und Achan antwortete Josua und sprach: Fürwahr,

ich habe gesündigt an Jehova, dem Gott Israels, und so

und so habe ich gethan. Ich sah unter der Beute einen

schönen Mantel aus Sinear und zweihundert Sekel Silbers

und eine goldene Zunge, fünfzig Sekel ihr Gewicht, und

mich gelüstete darnach, und ich nahm sie; und siehe, sie sind

verborgen in der Erde im Innern meines Zeltes, und das

Silber darunter." (V. 20. 21.) Ach! der unglückliche

Mann hatte nur an eins gedacht, an die Befriedigung

seiner Habsucht. Er sah, ihn gelüstete, er nahm

und verbarg; und damit hielt er die Sache für beendigt.

Er wähnte sich unbemerkt und völlig sicher in dem Besitz

seines gestohlenen Gutes. Er dachte nicht an den Gott,

173

der alles sah, vor dessen Augen alles bloß und aufgedeckt

ist, und der seine Sünde vor allen offenbar machen würde.

Er hatte mit allen seinen Brüdern den bestimmten Befehl

Jehova's gehört: „Allein hütet euch vor dem Verbannten,

auf daß ihr euch nicht verbannet, und nehmet von dem

Verbannten und das Lager Israels" — nicht nur das

Zelt dessen, der persönlich das Verbot Gottes übertrat,

sondern das ganze Lager — „zum Banne machet

und es in Trübsal bringet. Und alles Silber und alles

Gold und alle ehernen und eisernen Geräte sollen Jehova

heilig sein; in den Schatz Jehova's soll es kommen."

(Kap. 6, 18. 19.)

Diese Worte waren so klar und deutlich, daß niemand

sie mißverstehen konnte. Es bedurfte nur eines aufmerksamen

Ohres und eines gehorsamen Herzens. Doch anstatt

das Wort Gottes in seinem Herzen zu verbergen, auf daß

er nicht sündigte, trat es Achan unter seine Füße, um

seine sündigen Wünsche zu befriedigen. O, wie schrecklich

ist es, dem armen Herzen zu erlauben, den nichtigen

Dingen dieser Welt nachzutrachten! Was sind sie alle

wert? Wenn wir alle die Kleider haben könnten, die jemals

in Babylon gemacht, all das Gold und Silber, das je

auf der Erde gesunden wurde, alle die Perlen und

Diamanten, die jemals an Königen, Fürsten und Edlen

dieser Welt glänzten — würden sie im Stande sein, uns

auch nur für eine Stunde wahres Glück zu verleihen?

Könnten sie einen einzigen Strahl himmlischen Lichtes in

unsre Seele fallen lassen? Könnten sie uns nur für einen

Augenblick einen reinen geistlichen Genuß bereiten? Niemals.

Sie sind in sich selbst nichts als vergänglicher

Staub, der von Satan zum Verderben der Menschen

174

gebraucht wird. Alle die Reichtümer dieser Welt sind

nicht wert, mit einer Stunde heiliger Gemeinschaft mit

unserm Gott und Vater und unserm Herrn und Heiland

verglichen zu werden. Warum sollten wir deshalb die

Schätze dieser Welt begehren? Ist es nicht genug, daß

Gott allen unsern Bedürfnissen begegnen will und begegnet

ist in Christo Jesu? Warum sollten wir unsre Herzen

richten aus die Reichtümer, Ehren oder Vergnügungen

einer verderbten Welt, die von Satan, dem Erzfeinde

unserer Seelen, regiert wird? Wie gut wäre es für Achan

gewesen, wenn er sich mit dem zufrieden gegeben hätte,

was der Gott Israels ihm schenkte! Wie glücklich hätte

er sein können, wenn er sich begnügt hätte mit der Güte

und Freundlichkeit Jehova's und mit der Ruhe, die ein

gutes Gewissen verleiht!

Doch ach! er war es nicht; und daher begegnen wir

der ergreifenden Scene im Thale Achor, deren Schilderung

das stärkste Herz mit Schrecken erfüllt. „Und Josua

sandte Boten hin, und sie liefen zum Zelte, und siehe,

es war verborgen in seinem Zelte, und das Silber darunter.

Und sie nahmen es aus dem Innern des Zeltes und

brachten es zu Josua und zu allen Kindern Israel und

stellten es hin vor Jehova. Da nahm Josua und ganz

Israel mit ihm Achan, den Sohn Serahs, und das

Silber und den Mantel und die goldene Zunge und seine

Söhne und seine Töchter und seine Ochsen und seine

Esel und seine Schafe und sein Zelt und alles, was er

hatte, und sie brachten sie hinauf in das Thal Achor.

Und Josua sprach: Wie hast du uns in Trübsal gebracht!

Jehova wird dich in Trübsal bringen an diesem Tage;

und ganz Israel steinigte ihu mit Steinen, und sie

175

verbrannten sie mit Feuer und bewarfen sie mit Steinen.

Und sie errichteten über ihm einen großen Steinhaufen,

der bis auf diesen Tag ist; und Jehova ließ ab von der

Glut Seines Zornes, darum nannte man den Namen

dieses Ortes das Thal Achor (d. i. Trübsal) bis auf

diesen Tag." (V. 22—26.)

Wie ernst ist alles dieses! Welch einen Warnungsruf

läßt es in unsere Ohren dringen! Laßt uns nicht

versuchen, unter dem Einfluß einer einseitigen Gnadenlehre,

die Schärfe und den tiefen Ernst dieser Schriftstelle

abzuschwächen! Laßt uns mit Aufmerksamkeit die Inschrift

jenes schrecklichen Denkmals im Thale Achor lesen! Wie

lautet sie? „Gott ist gar sehr erschrecklich in der Versammlung

der Heiligen und furchtbar über alle, die um

Ihn her sind." Und: „Wenn jemand den Tempel Gottes

verdirbt, diesen wird Gott verderben." Und endlich: „Unser

Gott ist ein verzehrendes Feuer."

Wahrlich, ernste, erforschende Worte! Sie sind nötig

in diesen Tagen eines gleichgültigen, leichtfertigen Bekenntnisses,

wo die Lehre von der Gnade so viel auf

unsern Lippen ist, aber die Früchte der Gerechtigkeit so

wenig in unserm Leben hervorkommen. Möchten sie uns

lehren, ernstlich zu wachen über unsre Herzen und über

unsern persönlichen Wandel, damit die Sünde nicht ihre

traurigen, schmerzlichen Früchte bringe zur Verunehrung

unsers Herrn und Zur Betrübnis und zum Schaden derer,

die mit uns durch die Bande der Gemeinschaft verbunden

sind!

4.

Wir finden in Hosea 2 eine bemerkenswerte Anspielung

auf „daS Thal Achor." Obgleich diese Stelle

176

nicht gerade in Verbindung steht mit den Wahrheiten,

welche uns augenblicklich beschäftigen, so möchten wir derselben

doch im Vorbeigehen kurz Erwähnung thun.

Jehova redet dort durch den Mund Seines Propheten

von Israel und spricht: „Darum siehe, ich werde sie locken

und sie in die Wüste führen und ihr zum Herzen reden.

Und ich werde ihr von dannen ihre Weinberge geben und

dasThalAchor zu einer Thür derHoffnung;

und sie wird daselbst singen wie in den Tagen

ihrer Jugend, und wie an dem Tage, da sie heraufzog

aus Aegypten." (V. 14. 15.) Welch eine rührende Gnade

strahlt aus diesen Worten hervor! „Das Thal Achor,"

der Ort der „Trübsal," der Ort tieser Beschämung und

Demütigung, der Ort, wo das Feuer des gerechten Zornes

Jehova's die Sünde Seines Volkes verzehrte — dasselbe

Thal soll dereinst „eine Thür der Hoffnung" für Israel

werden; dort soll das Volk singen wie in den Tagen

seiner Jugend. Wie wunderbar, in dem Thale Achor

von Lobliedern zu hören! Welch herrliche Triumphe der

Gnade! Welch eine glückselige, gesegnete Zukunft für

Israel!

„Und es wird geschehen an selbigem Tage,

spricht Jehova, daß du mich nennen wirst: Mein Mann,

und mich nicht mehr nennen wirst: Mein Baal. Und ich

werde wegschaffen die Namen der Baalim aus ihrem Munde,

und ihrer wird nicht mehr gedacht werden bei ihren Namen.

Und ich werde an selbigem Tage einen Bund

für sie machen mit den wilden Tieren des Feldes und

mit den Vögeln des Himmels und den kriechenden Tieren

der Erde, und Bogen und Schwert und den Krieg werde

ich zerbrechen aus dem Lande und werde sie in Sicher

177

heit wohnen lassen. Und ich will dich mir verloben

in Ewigkeit, und ich will mich dir verloben in Gerechtigkeit

und in Recht und in Gnade und in Barmherzigkeit;

und ich will dich mir verloben in Treue, und

du wirst Jehova kennen." (V. 16—20.)

Wir bitten jetzt den Leser, sich mit uns zu den ersten

Kapiteln der Apostelgeschichte zu wenden. Wir finden

dort dieselben beiden Resultate der Gegenwart Gottes in

der Mitte Seines Volkes, denen wir in den beiden unsrer

Betrachtung vorliegenden Kapiteln begegnet sind, nur in

noch weit herrlicherer Entfaltung, als hier. Am Tage

der Pfingsten kam Gott, der Heilige Geist, hernieder, um

die Kirche zu bilden und Seine Wohnung in ihr aufzuschlagen.

Diese große und glorreiche Thatsache war gegründet

auf die Erfüllung des Werkes der Versöhnung

und auf die Verherrlichung Christi zur Rechten des Vaters.

Wir können hier diese Wahrheit nicht weiter verfolgen;

wir möchten die Aufmerksamkeit des Lesers nur darauf

hinlcnken, daß sich auch hier die beiden genannten praktischen

Folgen der Gegenwart des Herrn — Vorrecht und

Verantwortlichkeit — enge mit einander verbunden finden.

War Er in der Versammlung, um zu segnen, so war

Er auch da, um zu richten.

Die gesegnete Folge der verwirklichten Gegenwart

des Heiligen Geistes bestand darin, die Herzen der Gläubigen

in heiliger und lieblicher Gemeinschaft mit einander

zu verbinden und sie dahin zu leiten, ihre persönlichen

Interessen dem gemeinsamen Wohl aufzuopfern. „Alle

die Gläubigen aber waren zusammen und hatten alles

gemein; und sie verkauften die Güter und die Habe und

verteilten sie an alle, je nachdem irgend einer Bedürfnis

178

hatte." (Apstg. 2, 44. 45.) Welch gesegnete Früchte l

Wenn wir nur auch heute mehr davon sähen! Es ist

wahr, die Zeiten haben sich geändert, aber Gott ist derselbe

geblieben und ebenso die Wirkung Seiner Gegenwart,

wenn sie in Wahrheit verstanden und verwirklicht

wird. Wir befinden uns allerdings nicht mehr in Apostelgeschichte

2. Die Zeit der Pfingsten ist vorüber, und die

bekennende Kirche liegt in hoffnungslosem Verfall. Alles

das ist leider nur zu wahr; aber Christus, unser Haupt,

bleibt in all Seiner lebendigen Kraft und unveränderlichen

Gnade derselbe. „Der feste Grund Gottes stehet" —

ebenso fest und unerschütterlich heute, wie in den Tagen

der Pfingsten. Hier giebt es, Gott sei Dank! keinen

Wechsel, und deshalb können wir mit allem Vertrauen

sagen, daß sich da, wo die Gegenwart des Herrn verwirklicht

wird, auch dieselben lieblichen Früchte zeigen werden,

wie ehemals, und wäre es nur durch „zwei oder drei."

die im Namen Jesu versammelt sind. Nicht daß in derselben

Weise, wie damals, die Güter von den Einzelnen

wieder zusammengebracht werden, um alles gemein zu

haben; aber dieselbe Gnade, welche einst diese besondere

Form annahm, wird die Herzen aufs engste mit einander

verbinden und in ihnen die Bereitwilligkeit wirken, nicht

nur ihren Besitz, sondern auch ihr Leben zum Besten der

Andern aufzuopfern.

Laßt uns nicht vergessen, daß — obwohl wir uns

nicht in den erfrischenden Tagen der Pfingsten, sondern

in den „schweren Zeiten" der „letzten Tage" befinden —

der Herr dennoch mit denen ist, „die Ihn anrusen aus

reinem Herzen," und Seine Gegenwart ist alles, was wir

bedürfen. Laßt uns Ihm vertrauen, uns auf Ihn stützen

179

und zusehen, daß wir stets in einer Stellung sind, in

welcher wir auf Seine Gegenwart rechnen können, in einer

Stellung gänzlicher Absonderung von alledem, was Er

„Ungerechtigkeit" nennt, von „den Gefäßen zur Unehre"

in dem „großen Hause," sowie von allen, welche eine

Form der Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen!

Dies sind die unumgänglich nötigen Bedingungen,

unter welchen die göttliche Gegenwart durch irgend eine

Gemeinschaft von Christen verwirklicht werden kann. Wir

mögen zusammenkommen und uns zu einer Versammlung

vereinigen, wir mögen bekennen, auf göttlichem Boden zu

stehen, und uns die Versammlung Gottes nennen, wir

mögen endlich alle jene Schriftstellen auf uns beziehen,

welche nur auf diejenigen ihre Anwendung finden, die

wirklich durch den Heiligen Geist zu dem Namen Jesu

versammelt sind — wenn aber die notwendigen Bedingungen

fehlen, wenn wir nicht „den Herrn anrufen aus reinem

Herzen," wenn wir mit „Ungerechtigkeit" und mit „Gefäßen

zur Unehre" verbunden sind, so dürfen wir nicht

erwarten, die Gegenwart des Herrn verwirklichen zu

können. Ebenso gut hätte Israel es erwarten können

mit einem Achan im Lager. Um göttliche Resultate

zu erzielen, müssen göttliche Bedingungen vorhanden und

erfüllt sein.

Wir reden jetzt nicht von der Errettung der Seele,

so köstlich und wichtig diese ist. Unser Gegenstand ist

die unzertrennliche Verbindung zwischen Vorrecht und Verantwortlichkeit

bei allen denen, die des Herrn Volk zu

sein bekennen, und wir möchten es mit allem Ernst auf

die Seele des Lesers binden, daß, trotz des hoffnungslosen

Verfalls der bekennenden Kirche, es dennoch das

180

glückselige Vorrecht von zweien oder dreien ist, im Namen

Jesu versammelt zu sein, getrennt von all dem Bösen

und all den Irrtümern um uns her, in Anerkennung

unsrer gemeinsamen Sünde, im Gefühl unsrer Schwachheit

und im Aufblick zu Ihm, daß Er bei uns sein und

uns segnen möge nach der unveränderlichen Liebe Seines

Herzens. Für alle, die so versammelt sind, hat unser

gnädiger und treuer Herr Segnungen ohne Maß. Sicher

werden sie fühlen, daß sie sich nicht in den Tagen von

Apostelgesch. 2 befinden, sondern in der Zeit leben, von

welcher der Apostel Paulus in 2. Timoth. 2 redet. Doch

Christus ist ebenso völlig genügend für diese Tage, wie

Er es war für jene. Die Schwierigkeiten mögen oft

groß sein, aber Seine Hülssquellen sind unerschöpflich.

Es wäre Thorheit, die Schwierigkeiten zu leugnen, aber

es wäre ebenso sehr Unglaube, die Allgenugsamkeit Christi

für alle Lagen und Umstände, für alle Schwierigkeiten

in Frage zu ziehen. Er hat verheißen, bei den Seinigen

zu sein „alle Tage, bis zur Vollendung des Zeitalters."

Aber Er kann keine Unaufrichtigkeit, noch unwahres Wesen

bei den Seinigen dulden. Er erwartet Wirklichkeit und

„Wahrheit im Innern."

O, möchten wir es nie vergessen, daß unser Gott

Seine Wonne hat an der Aufrichtigkeit unsrer Herzen

und der Redlichkeit unsrer Vorsätze und Absichten! Er wird

ein Herz, das auf Ihn traut, nimmer beschämen; aber

wir müssen Ihm auch völlig vertrauen. Es genügt nicht,

von einem Vertrauen auf Ihn zu reden, während wir

uns auf unsre eignen Anordnungen und Vorkehrungen

verlassen. Gerade hierin fehlen wir in so trauriger Weise.

Wir lassen Ihm nicht Raum, zu handeln in unsrer Mitte,

181

und berauben uns dadurch, weit mehr, als wir denken

können, der gesegneten Offenbarung Seiner Gegenwart

und Gnade in unsern Zusammenkünften. Sein Geist ist

gehindert, und wir fühlen uns arm und trocken, während

wir jubeln könnten in der Fülle Seiner Liebe und der

Macht Seines Dienstes. Unmöglich kann Er diejenigen

täuschen, welche, in Anerkennung ihres wahren Zustandes,

ernstlich auf Ihn blicken. Er kann sich selbst

nicht verleugnen, und Er wird niemals den Seinigen vorwerfen,

daß sie zu viel auf Ihn gerechnet hätten.

Wir haben in der gegenwärtigen Zeit keine besondere

Machtentfaltung in unsrer Mitte zu erwarten. Wir haben

weder Sprachen, noch Gaben der Heilungen, noch Wunder,

noch erfahren wir solch außerordentliche Offenbarungen

der Thätigkeit der Engel für uns, wie sie in den Tagen

der Apostel geschahen. Auch haben wir keine solch plötzliche

und schreckliche Ausübung des Gerichts zu erwarten,

wie sie uns in der Geschichte von Anamas und Sapphira

begegnet. Solche Dinge würden nicht im Einklang stehen

mit dem gegenwärtigen Zustand der Dinge in der Kirche

Gottes. Ohne Zweifel besitzt unser Herr Jesus alle

Macht im Himmel und auf Erden, und Er könnte, wenn

es Ihm so wohlgefiele, diese Macht heute so gut ausüben,

wie in den Pfingsttagen. Aber Er thut es nicht, und

wir können den Grund leicht verstehen. Wir haben gesündigt

und gefehlt und sind abgewichen von der heiligen

Autorität des Wortes Gottes. Dies dürfen wir nie vergessen.

Unser Teil ist es jetzt, in demütiger, niedriger

Gesinnung einherzugehen. Wir sollten zufrieden sein mit

einem sehr niedrigen und verborgenen Platze. Es würde

uns übel anstehen, wenn wir einen hervorragenden Platz

182

oder eine bevorzugte Stellung in dieser Welt suchen wollten.

Wir können nie zu klein sein in unsern eigenen Augen.

Doch zu gleicher Zeit können wir, wenn wir uns

an unserm richtigen Platze befinden und im rechten Geiste

stehen, völlig auf die Gegenwart Jesu rechnen; und wir

dürfen versichert sein: da, wo Er ist, wo Seine gnädige

Gegenwart gefühlt wird — da können wir die gesegnetsten

Resultate erwarten; sie wird sowohl unsre Herzen

in wahrer brüderlicher Liebe mit einander verbinden und

uns anleiten, gegen alle Menschen in Gnade und Freundlichkeit

zu handeln, als auch uns treiben, alles das Hinwegzuthun,

was Seinen Namen verunehren und Seiner

Kirche oder Versammlung Schaden bringen könnte.

Wie sollen wir die Schrift lesen ?

Es ist sehr schwierig, die richtige Weise vorzuschreiben,

in welcher wir die Heilige Schrift lesen und studiren

sollten. Die unendlichen Tiefen des Wortes Gottes erschließen

sich, gleich den unerschöpflichen Hülfsguellen, die

in Gott selbst sind, und den moralischen Herrlichkeiten der

Person Christi, nur dem Glauben und dem Bedürfnis.

Es sind nicht hohe Verstandeskräfte und besondere Veranlagungen

des Geistes, die wir bedürfen; was uns not

thut, ist die ungekünstelte Einfalt eines Kindes. Derselbe

Gott, der die Schriften eingab, muß auch unsern Verstand

öffnen, um ihre köstlichen Belehrungen aufnehmen

zu können. Und Er wird dies thun, wenn wir nur in

wirklicher Aufrichtigkeit des Herzens auf Ihn warten.

Indessen dürfen wir nie die wichtige Thatsache aus

-em Auge verlieren, daß unsre Erkenntnis nur in dem

183

Maße wachsen wird, als wir das, was wir erkannt haben,

in unserm praktischen Wandel verwirklichen. Es genügt

nicht, sich niederzusetzen und wie ein „Bücherwurm" die

Bibel von Anfang bis zu Ende durchzustudiren. Wir können

unsern Kopf mit einer Menge biblischer Wahrheiten anfüllen

und die Lehren der Bibel und den Buchstaben der

Schrift auswendig kennen, ohne dadurch die geringste

geistliche Kraft zu empfangen. Wir müssen an das Wort

Gottes herantreten, wie ein Durstiger zu der Quelle, ein

Hungriger zu dem gedeckten Tisch und ein Seemann zu

seiner Karte eilt. Wir müssen zu ihm gehen, weil wir es

nicht entbehren können — nicht nur, um es zu studiren,

sondern um uns von ihm zu nähren. Die Triebe der

göttlichen Natur führen uns naturgemäß zu dem Worte

Gottes, so wie das neugeborne Kind begierig ist nach der

Milch, durch welche es wachsen muß. Der neue Mensch

wächst nur dadurch, daß er sich von dem Worte nährt.

Wir sehen daraus, von welch praktischer Wichtigkeit

die Frage ist, wie wir die Schrift lesen sollen. Sie steht

in inniger Verbindung mit unserm ganzen moralischen und

geistlichen Zustand, mit unserm täglichen Wandel und

unsern Gewohnheiten und Wegen. Gott hat uns Sein

Wort gegeben, um durch dasselbe unsern Charakter zu

bilden, unser Verhalten zu leiten und unser ganzes Thun

und Lassen zu regieren. Wenn daher das Wort keinen

bildenden Einstuß und keine leitende Macht auf uns ausübt,

so ist es die größte Thorheit, eine Menge von Schriftwahrheiten

in unserm Verstände aufzuhäufen. Dies kann

uns nur aufblähen und irreleiten. Es ist äußerst gefährlich,

von Wahrheiten zu reden und sich des Besitzes derselben

zu rühmen, ohne daß Herz und Gewissen davon

— < 184 —

berührt sind; es betrübt den Geist, macht das Herz gleichgültig,

das Gewissen gefühllos und ist jedem wahrhaft

frommen Gemüt anstößig. Nichts ist mehr dazu angethan,

uns völlig den Händen des Feindes zu überliefern,

als eine ausgedehnte Kopf-Kenntnis der Wahrheit ohne

ein zartes Gewissen und ein aufrichtiges Herz. Gerade

dieses bloße Wkennen der Wahrheit, ohne daß dieselbe

aus das Gewissen Einfluß ausübt und in dem praktischen

Leben zu Tage tritt, ist eine der besonderen Gefahren

unsrer Zeit. Weit besser ist es, nur wenig, aber dieses

Wenige in Wirklichkeit und Aufrichtigkeit zu wissen, als

eine Menge von Wahrheiten zu bekennen, die kraft- und

wirkungslos in meinem Kopse ruhen und keinen bildenden

Einfluß auf mein Leben ausüben. Viel lieber will ich

ausrichtig in Römer 7 sein, als nur meiner Einbildung

nach in Römer 8. In dem ersten Falle bin ich sicher,

daß ich zurechtkommen werde, in dem letzteren aber weiß

niemand, wo ich enden mag.

Was den Gebrauch menschlicher Schriften bei dem

Studium des Wortes Gottes anbetrifft, so ist große Vorsicht

nötig. Ohne Zweifel kann und will der Herr die

Schriften Seiner Diener zu unsrer Unterweisung und

Auferbauung benutzen, ebenso wie Er ihren mündlichen

Dienst dazu gebraucht. Ja, in dem gegenwärtigen, zertrennten

Zustande der Kirche ist es wunderbar, die reiche

Gnade und zarte Sorge des Herrn zu bemerken, womit Er

die Schriften Seiner Knechte benutzt, um Seine teuer Erkauften

zu nähren und zu pflegen. Aber dennoch ist für uns

große Vorsicht nötig, damit wir nicht diese schätzenswerte

Gabe des Herrn mißbrauchen und dahin kommen, gleichsam

mit geborgtem Kapital Handel zu treiben. Wenn

185

wir wirklich abhängig sind von Gott, so wird Er uns stets

das Richtige geben — das rechte Buch und die für uns

passende Nahrung.

Aber vergessen wir nicht, daß menschliche Schriften,

so gut und gesegnet sie sein mögen, dennoch immer menschliche

Schriften bleiben, daß derMensch, wenn auch der

begabteste und aufrichtigste, in ihnen zu uns redet. Die

Heilige Schrift dagegen ist die Stimme Gottes, und

das geschriebene Wort gleichsam die Kopie des lebendigen

Wortes, des Sohnes Gottes. Gott selbst redet zu uns,

und der Heilige Geist führt uns in Sein Wort ein und

offenbart uns die unergründlichen Tiefen desselben. Die

Schrift ist es, die uns zurechtweist und uns unterweist in

der Gerechtigkeit, daß wir „vollkommen seien zu allem

guten Werke völlig geschickt." Sie ist die „vernünftige,

unverfälschte Milch," durch welche wir wachsen zur Errettung.

Laßt uns deshalb nach ihr begierig fein, wie

neugeborene Kindlein! Laßt sie unS lesen mit immer

neuem Hunger, mit einem aufrichtigen, unterwürfigen

Herzen, mit aller Demut und Ehrerbietung! Lassen wir

uns durch das Wort richten! Möge es in Wahrheit

eine Leuchte für unsere Füße und ein Licht auf unserm

Wege sein!

„Auf daß ich Christum gewinne!"

Das kurze Wort, welches die Ueberschrift dieses Artikels

bildet, vergegenwärtigt uns den ernsten Wunsch

eines Btannes, der in Christo einen Gegenstand gefunden

harte, welcher alle seine Gedanken und Wünsche in Anspruch

nahm und sein Herz regierte. Es ist der Ausruf eines

186

Herzens, dessen einziges Begehren es war, in der Erkenntnis

und Wertschätzung des Gesegneten zu wachsen, der alle

Himmel mit Seiner Herrlichkeit erfüllt. Die ganze Stelle,

aus welcher die obigen Worte herausgenommen sind, ist

voll lebendiger Kraft und Schönheit. Wir führen sie hier

an: „Aber was mir Gewinn war, das habe ich um

Christi willen für Verlust geachtet; ja wahrlich, ich achte

auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis

Christi Jesu, meines Herrn, um dessen willen ich

alles eingebüßt und es für Dreck achte, auf daß ich

Christum gewinne und in Ihm erfunden werde, nicht

habend meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern

die durch den Glauben an Christum ist — die Gerechtigkeit

aus Gott durch den Glauben." (Phil. 3, 7 — 9.)

Beachten wir besonders die Worte: „Was mir Gewinn

war." Der Apostel spricht hier nicht von seinen Sünden,

von seiner Schuld, von Dingen, deren er sich als Mensch

hätte schämen müssen. O nein; er redet von seinen Ehren,

von seinen Auszeichnungen, von seinen religiösen und

moralischen Vorzügen, mit einem Wort, von Dingen, die

dazu angethan waren, ihn zu einem Gegenstand des Neides

für seine Mitmenschen zu machen. Alle diese Dinge aber

achtete er für Verlust, auf daß er „Christum gewinne."

Ach, wie wenige unter uns verstehen etwas hiervon!

Wie wenige erfassen die Bedeutung und wahre Kraft des

Ausdrucks: „Auf daß ich Christum gewinne!" Die

meisten von uns sind zufrieden, an Christum zu denken,

als die Gabe Gottes, die Er dem Sünder schenkt. Wir

begehren nicht, ihn als unsern Preis zu gewinnen durch

das Aufgeben alles dessen, was die Natur liebt und schätzt.

Diese beiden Dinge sind durchaus verschieden. Als arme,

187

elende, schuldige und verdammungswürdige Sünder werden

wir nicht aufgefordert, etwas zu thun, oder zu geben oder

aufzugeben. Wir werden eingeladen, ja genötigt, zu nehmen,

umsonst zu nehmen. „Also hat Gott die Welt geliebt,

daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab." „Die Gabe Gottes

ist ewiges Leben durch Jesum Christum, unsern Herrn."

„Wenn du die Gabe Gottes kanntest und wer es ist, der

zu dir spricht: Gieb mir zu trinken, so würdest du Ihn gebeten

haben, und Er hätte dir lebendiges Wassers gegeben."

Alles dieses ist vollkommene, segensreiche Wahrheit.

Gott sei dafür gepriesen! Aber dann giebt es eine andere

Seite der Frage. Was meinte Paulus damit, wenn er

sagte: „Auf daß ich Christum gewinne?" Er besaß Christum

schon als die freie Gabe Gottes. Er hatte Ihn im Glauben

von Gott empfangen. Was bedurfte er nun noch mehr?

Er wünschte Christum zu gewinnen, als seinen Preis,

mochte es auch alles kosten, was er besessen hatte. So wie

Christus, der wahre Kaufmann, alles verkaufte, was Er

hatte, um die in Seinen Augen so „sehr kostbare Perle"

zu besitzen, wie Er sich Seiner Herrlichkeit entäußerte

und alle Seine Ansprüche als Mensch und als Messias

aufgab, um die Kirche für sich selbst zu besitzen — so

gab auch Paulus in seinem Maße alles auf, um jenen

herrlichen, unschätzbaren Gegenstand zu haben, der seinem

Herzen am Tage seiner Bekehrung geoffenbart worden war.

Er sah in dem Sohne Gottes eine solche Schönheit nnd

Vortrefflichkeit, eine solche moralische Herrlichkeit, daß er

freiwillig alle die Ehren, Auszeichnungen, Vergnügungen

und Reichtümer dieser Welt preisgab, damit Christus

jeden Winkel seines Herzens ausfüllen und alle seine

Kräfte in Anspruch nehmen möchte. Er begehrte Ihn

188

nicht nur zu kennen, als Den, der seine Sünden hinweggethan

hatte, sondern auch als Den, der alle die Wünsche seines

Herzens befriedigen und alles, was die Erde zu geben

vermochte, beiseite setzen konnte.

Lassen wir unsern Blick ein wenig auf diesem Gemälde

ruhen, mein lieber Leser! Betrachten wir diesen

treuen Diener Gottes in seiner Dahingabe, in seinem ernsten

Streben und Verlangen, Christum zu gewinnen und in Ihm

erfunden zu werden. Können wir nicht für uns eine beherzigenswerte

Lehre aus seinen Worten ziehen? Steht

nicht die Gesinnung, die ihn beseelte und in seinem ganzen

Wandel zum Ausdruck kam, in direktem Gegensatz zu dem

kalten, selbstsüchtigen, weltliebenden und vergnügungssüchtigen

Geiste unsrer Tage? Enthalten seine Worte

nicht einen scharfen Tadel im Blick auf die Gleichgültigkeit

und Herzlosigkeit, deren wir uns leider so oft anklagen

müssen und die in zahl- und namenlosen Fällen zum

Ausdruck kommen? Wo finden wir unter uns dieses

Streben und Sehnen, Christum zu gewinnen und in Ihm

erfunden zu werden? O möchten wir doch alle „also gesinnt"

sein, wie der treue, gesegnete Apostel es war, möchten

wir „in denselben Fußstapfen wandeln" und „seine Nachfolger"

werden! Er konnte sagen: „Eins aber thue

ich: Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend nach

dem, was davorne ist, jage ich, das vorgesteckte Ziel anschauend,

hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes

nach oben in Christo Jesu." Möchte dieses Eine sich

auch bei uns mehr und mehr finden!

189

Du hast mein Wort bewahrt."

In Joh. 14, 23 bezeichnet der Herr das Bewahren

oder Halten Seines Wortes als einen Beweis der Liebe

zu Ihm. „Wenn jemand mich liebt, so wird er mein

Wort — nicht „meine Worte" — halten." In Offenbarung 3

wird uns das Bewahren Seines Wortes als einer der

besonderen Charakterzüge Philadelphia's vorgestellt. Es

ist daher offenbar, daß wir demselben nicht zu viel Gewicht

beilegen können und wohl daran thun, zu untersuchen,

was denn das Halten des Wortes Christi bedeutet. Es

ist mehr als Gehorsam; man könnte sagen, es ist das,

was aus dem Gehorsam entsvringt. Es heißt das Wort des

Herrn so hochschätzen, daß man es in das Herz einschließt,

wo es dann durch die Macht des Heiligen Geistes wirksam

wird, göttliche Gedanken nnd Zuneigungen erweckt,

von dem Bösen trennt und reinigt, so wie Christus selbst

rein ist. So in dem Herzen bewahrt, wird es das Licht

für den täglichen Pfad des Gläubigen und regiert sein

ganzes Leben. Dann müssen wir uns erinnern, daß das

Wort Christi — d. i. die Summe Seiner Mitteilungen

an die Seinigen — thatsächlich die Offenbarung Seiner

selbst ist. Jede Vorschrift, die uns durch die Schriften

gegeben wird, ist daher ein Zug Seines eigenen Lebens.

Wenn wir z. B. ermahnt werden, „als Auserwählte Gottes,

Heilige und Geliebte, herzliches Erbarmen, Güte, Niedrig-

gesinntheit, Milde und Langmut anzuziehen," (Kol. 3,12.)

so geschieht es, weil Er auf Seinem Wege durch dies

Welt alle diese Dinge zur Schau trug, ja, weil Er dies

in That und Wahrheit ist. Denn diese Dinge sind nur

die Strahlen der Herrlichkeit, welche wir mit aufgedecktem

190

Angesicht in Ihm, der jetzt zur Rechten Gottes sitzt, entdecken.

Christus selbst ist deshalb, sowie Er in Seinem Worte

geoffenbart ist, unser einziges Muster, unser Maßstab für

Wandel und Heiligkeit; wenn wir daher Sein Wort halten,

so wird nur das, was Ihm wohlgefällig und mit Ihm

in Uebereinstimmung ist, von uns angenommen, alles

andere aber verworfen werden.

Der Ausdruck: „das Wort Christi halten oder bewahren,"

umfaßt also den ganzen Boden, auf welchem

der Gläubige steht — sein Leben und seinen persönlichen

Wandel, sein Verhältnis zu Christo und zu den übrigen

Gläubigen, mit denen er ein Glied am Leibe Christi bildet,

sowie endlich seine und ihre Thätigkeit im Gottesdienst

und im Werke des Herrn. Es ist indes möglich, daß

wir Sein Wort halten in bezug auf die äußere Stellung,

die wir einnehmen, und uns der Erkenntnis in demselben

rühmen, während wir es in Wort und Wandel verleugnen.

Wenn wir dies thun, so ist es der sichere Beweis, daß

wir uns selbst betrügen und einen laodicäischen Geist in

uns nähren. Ist jedoch der aufrichtige Wunsch in

unserm Herzen, Sein Wort zu halten, so werden wir es

unausgesetzt dazu benutzen, alle unsre Wege und Handlungen,

alle unsre Verbindungen, all unser Thun, sei es in

oder außer der Versammlung, in seinem Lichte zu prüfen.

Es braucht kaum gesagt zu werden, daß dies der

Pfad ist, auf dem wir allein Segnung erwarten können.

Es ist der Gegenstand des ganzen 5. Buches Mose,

ja, in gewissem Sinne, eines jeden Buches der Heiligen

Schrift. Wir finden es immer wieder bewahrheitet, daß

das Volk Gottes, so oft es seine Freude fand an Seinem

Worte, in ungestörtem Glück und in Sicherheit wohnte

191

und Tag für Tag die Güte, Gnade und Liebe des Herrn

erfuhr. Sobald es aber dieses Wort vernachlässigte, oder

gar verwarf, geriet es in Schwierigkeiten und Elend.

Das belehrt uns unzweideutig, daß das Mittel zu unsrer

Wiederherstellung, mögen die Zeiten und Umstände sein,

welche sie wollen, in einer aufrichtigen Rückkehr zu dem

Worte Christi besteht. Wir müssen beginnen mit Selbstgericht,

indem wir uns selbst und unsre Wege durch das

Wort beurteilen: „Denn das Wort Gottes ist lebendig

und wirksam und schärfer, denn jegliches zweischneidige

Schwert und durchdringend bis zur Zerteilung der Seele

und des Geistes, sowohl der Gelenke als des Markes,

und ein Urteiler der Gedanken und Gesinnungen des

Herzens; und kein Geschöpf ist vor Ihm unsichtbar, sondern

alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Dessen,

mit dem wir es zu thun haben." (Hebr. 4, 12. 13.)

Wir sollten mit allem Ernst untersuchen, wo und wie

wir zuerst von dem Worte abgewichen, alles prüfen, womit

wir durch diese Abweichung in Verbindung gekommen

sind, und ungesäumt hinwegthun, was nicht dem Worte

entspricht, so schön und anziehend es uns auch bisher

geschienen haben mag. Demütigen wir uns dann vor

Gott mit Bekenntnis und wahrem Gebrochensein des

Herzens und Geistes, bitten wir Ihn um die Gnade, daß

Sein Wort reichlich in uns wohne, so werden wir uns

bald von neuem Seiner Gegenwart und Seiner Segnungen

erfreuen. Der Herr Jesus muß den ersten Platz

in unserm Herzen haben, und praktisch geben wir Ihm

diesen Platz, wenn wir Seinem Worte unterworfen sind.

Sicher ist unser gegenwärtiger Zustand ein schwacher,

und die „schweren Zeiten," von welchen Paulus an

192

Timotheus schreibt, sind über uns gekommen; aber dennoch

können wir mit aller Gewißheit sagen, daß da, wo

eine Anzahl von Christen durch die Gnade Gottes

und die Macht Seines Geistes dahin geleitet wird, mit

aufrichtigem Herzensentschluß das Wort Christi zu halten,

reiche, unbegrenzte Segnungen ihr Teil sein werden. Sie

werden in einer bisher ungekannten Weise die Gegenwart

des Herrn in ihrer Mitte erfahren, wenn sie in Seinem

Namen versammelt sind; sie werden das Zeugnis Seines

Wortes begleitet sehen von der Kraft des Geistes und

persönlich den Genuß der reichsten aller Segnungen erfahren

— Christus selbst wird sich ihren Herzen offenbar

machen. (Joh. 14, 21- 23.) Möge der Herr in unsern

Herzen wirken und den sehnlichen Wunsch in uns wachrufen,

erfunden zu werden in dem Halten Seines Wortes

um Seines Namens willen!

Der Tod.

Es giebt zwei Gesichtspunkte, von welchen aus man

den Tod betrachten kann. Von feiten der Natnr betrachtet,

ist der Tod höchst schrecklich; er ist der letzte Feind des

Menschen, sein furchtbarster Gegner. Alles, was ich als

Mensch besitze, wird der Tod mir nehmen. Reichtümer,

Ehren, Würden, Vergnügungen, kurz alles, was das

menschliche Herz schätzt, was das Glück des Menschen

dieser Welt ausmacht und das Leben verschönert — alles

muß ich dahinten lassen, wenn der Tod seine kalte Hand

auf mich legt. Besäße ich auch zehnmal so viel, als

Salomo in den Tagen seiner höchsten Herrlichkeit sein

eigen nannte, ja, könnte ich über die Schätze des Weltalls

193

gebieten — nichts vermöchte mich zu retten vor dem

grausamen Könige der Schrecken, nichts auch nur für

eine Minute Aufschub von ihm zu erwirken. Wenn der

Tod kommt, so muß ich scheiden. Ich mag weinen

und klagen, flehen und seufzen, ich mag die geschicktesten

Aerzte zu Rate ziehen, die kostbarsten Arzneien einnehmen

und meine treuesten Freunde an mein Lager rufen — alles,

alles ist vergebens. Ich muß hinweg von allen meinen

Freuden, von allen meinen Vergnügungen und Liebhabereien,

hinweg von Freunden und Bekannten. Und

wohin? Das ist die ernste, überaus wichtige Frage, welche

früher oder später ihre Beantwortung finden muß. Es

nützt nichts, diese Frage von sich abzuweisen und sie im

Geräusch des täglichen Lebens zu vergessen zu suchen.

Sie tritt einmal an einen jeden heran und muß dann

beantwortet werden. Ja, wohin führt der Tod den

natürlichen Menschen? Zum Gericht und zu einer finstern,

nie endenden Ewigkeit! Welch ein überwältigender Gedanke l

Doch es giebt, wie gesagt, noch eine andere Seite,

von welcher aus man diese Frage betrachten kann. Hast

du jemals 1. Kor. 3, 22 gelesen? Dort werden die

wunderbaren Reichtümer, welche der Gläubige in Christo

besitzt, aufgezählt. „Alles ist euer," sagt der Apostel,

und unter diesem „allen" nennt er auch „den Tod."

Welch ein merkwürdiges Besitztum: „der Tod!" „Der

Tod ist euer." Wie ist das möglich? Wie konnte eS

geschehen, daß der meist gefürchtete Feind des Menschen —

sein bitterster Gegner, vor dem er mit Angst znrück-

schreckt — ein Teil seines Eigentums wurde? Das Kreuz

Christi liefert die Antwort. Christus starb für unsere

Sünden, „nach den Schriften," Er, der Gerechte, für

194

die Ungerechten. So hat Er dem Tode seinen Stachel

genommen — denn der Stachel des Todes ist die Sünde —

und seinen Charakter für den Gläubigen vollkommen verändert.

Er hat ihn aus einem schrecklichen Feinde zu

einem Freunde gemacht. Christus ist in den finstern

Strom des Todes hinabgestiegen, hat seine Fluten ausgetrocknet

und ihn für die Seinigen zu einem Pfade gemacht,

der sie hinüberleitet in ihr herrliches Erbe, aus

einer Welt der Sünde in das Reich des Lichts und

der Liebe.

So ist der Tod unser. Welch ein wunderbarer

Wechsel! Vom Standpunkte der Natur aus betrachtet,

gehört der Mensch dem Tode, vom Standpunkte des Glaubens,

der Tod dem Menschen. In der alten Schöpfung

giebt es gar nichts, was der Tod uns nicht nimmt.

In der neuen Schöpfung dagegen ist nichts, waS der Tod

uns nicht giebt. Alle unsre Segnungen und Vorrechte,

ja alles, was wir als Christen besitzen, verdanken wir

dem Tode. Wir haben Leben durch den Tod, Vergebung

der Sünden durch den Tod, ewige Gerechtigkeit durch

den Tod, ewige Herrlichkeit durch den Tod — und zwar

durch den kostbaren Tod Jesu Christi.

Welch eine glorreiche Thatsache: der Tod ist unser!

Sollten wir ihn noch länger fürchten? Sicherlich nicht.

Sein Charakter ist so völlig für uns verändert, daß er,

wenn er an uns herantritt, nur kommt, um uns den

besten Dienst zu erweisen, nämlich unsere Verbindung mit

alledem, was sterblich ist, zu lösen, das Band zu durchschneiden,

welches uns an einen Schauplatz der Trauer

und des Elends knüpft, uns zu befreien von einer Welt

der Sünde und der Bosheit und uns in die köstliche

Ruhe, die unaussprechlichen Segnungen der Herrlichkeit

und in die ungestörte Gemeinschaft unsers Herrn

und Heilandes einzuführen.

Woher kommt's nun, daß die Christen sich dennoch oft

so sehr vor dem Tode fürchten? Weil sie ihn von dem

195

Standpunkt der Natur und nicht von dem des Glaubens

aus betrachten. Weil sie zu viel in der Sphäre der

Natur und zu wenig in jener Sphäre leben, in welche

der Tod Christi sie eingeführt hat. Würden wir mehr

in der Kraft des himmlischen Lebens und weniger „als

Menschen" wandeln, würden wir unsre Herzen weniger

an die Dinge um uns her hängen, sondern mehr suchen,

was „droben" ist, so würden unsre Gedanken und Gefühle

hinsichtlich des Todes auch ganz andere sein. Wir

würden mit dem Apostel sagen können: „Ich habe Lust,

abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn es ist weit

besser." Der Herr gebe uns Gnade, daß wir mehr über

den Dingen leben, die uns umgeben, zum Preise Dessen,

der uns in Seine lebendige Gemeinschaft berufen hat!

„Sterben ist Gewinn."

(Phil. 1, 21.)

Wo ist, o Tod, dein Stachel,

O, HadeS, wo dein Sieg?

Seitdem am Stamm des Kreuzes

Dess' Mund erblassend schwieg,

Der nach dem schweren Kampfe

Mit Satans finstrer Macht,

Als Sieger triumphirend

Ausrief: „Es ist vollbracht!"

Wohl netzen heiße Thränen

Die Wange — und das Herz

Will brechen schier in herbem,

Unsäglich tiefem Schmerz,

Wenn Gott in Seiner Weisheit

Ruft eins der Deinen ab,

Wenn du vielleicht das Liebste

Still senkest in das Grab.

196

Doch ist es recht, zu klagen?

Jst's Eigenliebe nicht,

Wenn dann dein Mund, im Schmerze

Verzagend, also spricht:

„Warum, o Vater, nahmst Du

„Mir doch das Liebste fort?

„Seitdem ist mir die Erde

„Ein öder, leerer Ort."

O armes Herz, wie thöricht

Macht dich dein Leid und Harm!

Erheb' den Blick nach oben,

Wo in des Heilands Arm

Du siehst, was du geliebet,

In ungetrübtem Glück —

Möcht'st du es wirklich wünschen

Auf diese Erd' zurück?

Jst's nicht von allem Jammer

Und aller Sünde fern?

Ausheimisch von dem Leibe,

Einheimisch bei dem Herrn?

Nicht da, wo weder Trauer,

Noch Klage wird gehört,

Wo weder Pein noch Leiden

Das Glück der Sel'gen stört?

Jst's nicht bei Christo droben

In ew'ger, sel'ger Ruh'? —

Du sagst, du liebst's so innig —

Und dennoch seufzest du?

Nicht länger darfst du klagen,

Denn was du gabst dahin,

Hat sicher nichts verloren,

Nein: „Sterben ist Gewinn!"

Das Gebot Jehova's und die Einwürfe Satans.

„Und Mose und Aaron gingen hinein und sprachen

zu Pharao: So spricht Jehova, der Gott Israels: „Laß

mein Volk ziehen, daß sie mir ein Fest halten

in der Wüste!"" (2. Mos. 5, 1.)

Welch eine Fülle von Wahrheiten liegt in diesem

kurzen Gebote des Herrn eingeschlossen! Es ist eine jener

vielumfassenden, gedankenreichen Stellen, welche sich hie

und da in dem Worte Gottes zerstreut vorfiuden, und die

vor unsern Augen und Herzen ein weites Feld der kostbarsten

Wahrheiten erschließen. Sie macht uns in einfacher,

kräftiger Sprache mit dem gesegneten Vorsatz des Gottes

Israels bekannt. Sein Volk völlig aus Aegypten, dem

Hause der Knechtschaft, zu befreien, damit eS Ihm in der

Wüste ein Fest feiere. Nichts konnte im Blick auf das

Volk Sein Herz befriedigen, als dessen völlige Trennung

von dem Lande des Todes und der Finsternis. Er wollte

es nicht nur befreien von den Ziegelöfen und Frohnvögten

Aegyptens, sondern auch von seinen Tempeln und Altären,

von allen den Gewohnheiten und Verbindungen, den

Grundsätzen und Sitten seiner Bewohner. Mit einem

Wort, es mußte ein vollkommen abgesondertes Volk sein,

ehe es Ihm in der Wüste ein Fest halten konnte.

Und so wie es einst mit Israel war, so ist es heute

mit uns. Auch wir müssen ein in voller und bewußter

Weise befreites Volk sein, ehe wir Gott in Wahrheit

198

dienen, Ihn anbeten und mit Ihm wandeln können. Es

ist nicht genug, daß wir die Vergebung unsrer Sünden

und unsre gänzliche Befreiung von Schuld, Zorn, Gericht

und Verdammnis kennen, sondern wir müssen auch von

dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf und allem, was dazu

gehört, befreit sein, ehe wir dem Herrn einsichtsvoll zu

dienen vermögen. Die Welt ist für den Christen dasselbe,

was Aegypten für Israel war, mit dem Unterschiede

natürlich, daß unsere Trennung von der Welt nicht örtlich

oder physisch, sondern moralisch und geistlich ist. Israel

verließ Aegypten dem Leibe nach; wir verlassen die Welt

dem Geiste und dem Grundsätze nach. Israel verließ

Aegypten thatsächlich, wir verlassen die Welt im Glauben.

Es war für das Volk eine wirkliche, durchgreifende Trennung,

und ebenso ist es für uns. „Laß mein Volk

ziehen, daß sie mir ein Fest halten in der Wüste."

1. Gegen eine solch strenge Absonderung macht Satan,

wie uns allen Wohl bekannt ist, stets viele Einwendungen.

Der erste Einwurf, den er damals durch den Mund

Pharao's erhob, lautete: „Gehet hin und opfert euerm

Gott in dem Lande." (2. Mos. 8, 25.) Das waren

listige, klug berechnete Worte, ganz dazu angethan, ein

Herz zu bethören, das nicht in inniger Gemeinschaft mit

Gott stand und Seine Gedanken kannte. Ist es nicht,

hätte mit scheinbar vollem Recht gefragt werden können,

sehr entgegenkommend von feiten des Königs von Aegypten,

euch die Duldung eurer besondern Art von Gottesdienst

anzubieten? Ist es nicht ein hoher Beweis von Weitherzigkeit

und Wohlwollen, daß er eurer Religion einen

Platz in seinem Reiche geben will? Gewiß, ihr dürft eure

Religion ebenso gut ausüben, wie andere Leute. Da ist

199

Raum für alle. Warum fordert ihr denn Trennung?

Warum wollt ihr euch nicht mit euern Nachbarn auf

gleichen Boden stellen? Eine solche Engherzigkeit, wie ihr

sie offenbart, ist überflüssig und verkehrt.

Solche Worte mochten sehr vernünftig und klug klingen.

Aber was bedeuteten sie angesichts der deutlichen und bestimmten

Erklärung Jehova's: „Laß mein Volk ziehen!" ? Nichts

mehr und nichts weniger, als Ungehorsam. Die Worte

des Herrn ließen keine falsche Deutung zu; sie konnten

nicht mißverstanden werden. Es war unmöglich, einem

solchen klaren Gebot gegenüber in Aegypten zurückzubleiben.

Die überzeugendsten Vernunftgründe zerrinnen wie Nebel

in der Gegenwart der gebietenden Stimme Jehova's, des

Gottes Israels. Wenn Er sagt: „Laß mein Volk ziehen,"

so müssen wir gehen, und wenn alle Macht der Erde und

der Hölle, der Menschen und der Teufel wider uns wäre.

Alles Ueberlegen, Streiten oder Disputiren ist nutzlos;

wir müssen gehorchen. Die Aegypter mögen ihren eignen

Gedanken folgen; aber Jehova denkt für Israel, und die

Folge wird lehren, wer von beiden Recht hat.

Der Leser erlaube uns, im Vorbeigehen ein Wort

über die „christliche Engherzigkeit" zu sagen, von der wir

heutzutage so viel reden hören. Die eigentliche Frage ist:

„Wer hat die Grenzen oder Schranken des christlichen

Glaubens festzustellen? Ein Mensch oder Gott, menschliche

Meinung oder göttliche Offenbarung?" Sobald diese Frage

gelöst ist, erscheint die ganze Sache nicht mehr schwierig.

Viele schrecken zurück vor dem bloßen Worte: „Engherzigkeit."

Was ist denn eigentlich Engherzigkeit, und was ist

Weitherzigkeit? Nun, wir glauben, daß sich wahre Engherzigkeit

stets da vorfindet, wo man sich weigert, die

200

ganze Wahrheit Gottes aufzunehmen und sich durch

dieselbe leiten zu lassen. Ein Herz, das durch menschliche

Meinungen und Vernünfteleien, durch weltliche Grundsätze,

durch Eigenliebe und Eigenwillen regiert wird, ein solches

Herz erklären wir ohne Zögern für enge. Andrerseits

nennen wir ein Herz, welches sich der Autorität Christi

unterwirft und sich ehrerbietig vor der Stimme der

Heiligen Schrift beugt, das sich standhaft weigert, ein

Haarbreit über den geoffenbarten Willen Gottes, das geschriebene

Wort, hinauszugehen, ein Herz, das alles ohne

Ausnahme verwirft, was sich nicht auf ein: „So spricht

der Herr!" gründet — ein solches Herz nennen wir weit.

Ist dies nicht vollkommen richtig, mein lieber Leser?

Ist nicht das Wort Gottes — Seine Gedanken und

Sein Wille — weit umfassender und vollständiger, als

das Wort und der Geist des Menschen? Findet sich nicht

in den Heiligen Schriften eine unendlich größere Höhe,

Tiefe und Breite, als in allen menschlichen Schriften der

Welt? Erfordert es nicht eine viel ausgedehntere Weite

des Herzens und eine weit innigere Hingebung der Seele,

sich durch die Gedanken Gottes leiten zu lassen, als durch

unsere eignen Gedanken oder diejenigen unsrer Mitmenschen?

Auf diese Fragen giebt es wohl nur eine Antwort; und

daher läßt sich der ganze Gegenstand in das einfache, aber

so vielsagende Wort zusammenfassen: „Wir müssen so

enge sein, wie Christus, und so weit, wie Er."

Ja, hierin liegt die Lösung dieser, wie jeder andern

Schwierigkeit. Wir müssen alles von diesem gesegneten

Standpunkt aus betrachten; dann wird unser Blick ungetrübt

und unser Urteil ein gesundes sein. Bildet aber

der Mensch oder unser eignes Ich unsern Ausgangspunkt,

201

betrachten wir von dort aus alles um uns her, so sind

wir außer stände, ein gesundes Urteil zu fällen. Unsre

Augen sind kurzsichtig und verblendet, unser Herz und

Geist ohne wahres, göttliches Licht. Wir beurteilen und

betrachten alles falsch.

Ein einfältiges Auge und ein aufrichtiges Herz wird

alles dieses verstehen und ohne Zögern anerkennen. Und

in der That, wenn das Auge nicht einfältig und das Gewissen

dem Worte nicht unterworfen ist, wenn das Herz

nicht wahrhaft für Christum schlägt, so ist es verlorene

Zeit und Mühe, es von der Wahrheit des Gesagten überzeugen

zu wollen. Welchen Nutzen könnte es haben, mit

einem Manne zu streiten, der, anstatt dem Worte Gottes

zu gehorchen, nur seine Schärfe abzustumpfen sucht? Nicht

den geringsten. Es ist eine hoffnungslose Aufgabe, jemanden

überführen zu wollen, der nie die moralische

Kraft und Bedeutung des Wortes: „Gehorsam" kennen

gelernt hat.

In der Antwort Mose's aus den ersten Einwurf

Satans giebt es etwas ungemein Schönes. Er sagt:

„Es geziemet sich nicht, also zu thun, denn wir würden

der Aegypter Greuel opfern dem Jehova, unserm Gott;

siehe, wenn wir der Aegypter Greuel vor ihren Augen

opferten, würden sie uns nicht steinigen? Drei Tagereisen

wollen wir ziehen in die Wüste und Jehova,

unserm Gott, opfern, so wie Er zu uns reden wird."

(2. Mos. 8, 26. 27.) Die Gegenstände ägyptischer Anbetung

waren völlig unpassend, um sie Jehova als Opfer

darzubringen. Aber nicht nur das; viel wichtiger noch

war es, daß Aegypten nicht der rechte Platz war, um

dem wahren Gott daselbst einen Altar aufzurichten.

202

Abraham hatte keinen Altar, als er nach Aegypten hinabzog.

Er verließ seinen Gottesdienst und das Land seiner

Fremdlingschaft, als er sich dem Süden zuwandte; und

wenn Abraham dort nicht hatte anbeten können, so vermochte

es auch sein Same nicht. Ein Aegypter hätte

fragen können: Warum nicht? Aber es ist etwas anderes,

eine Frage zu stellen, als die Antwort zu verstehen.

Wie hätte ein Aegypter die Gründe verstehen können,

welche einen wahren, treuen Israeliten bei seinem Verhalten

leiteten? Unmöglich. Wie hätte er in die Bedeutung

jener „dreitägigen Reise" eindringen können? „Deswegen

erkennet uns die Welt nicht, weil sie Ihn nicht erkannt

hat." (1. Joh. 3, 1.) Die Beweggründe, welche den

wahren Gläubigen leiten, und die Gegenstände, welche ihn

beseelen, liegen weit über dem Gesichtskreis der Welt.

Wir können versichert sein, daß ein Christ, je mehr die

Welt seine Beweggründe verstehen und wertschätzen kann,

um so weniger seinem Herrn treu ist.

Wir reden selbstverständlich von den wahren Beweggründen

eines Christen. Ohne Zweifel giebt es

in dem Leben eines treuen Christen vieles, das die Welt

bewundern und achten kann. Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit,

Wahrheitsliebe, selbstlose Freundlichkeit, Sorge für die

Armen, Selbstverleugnung — alles das sind Dinge,

welche die Welt wohl verstehen und wertschätzen kann.

Trotzdem aber wiederholen wir mit allem Nachdruck die

Worte des Apostels: „die Welt erkennet uns nicht."

Wenn wir begehren, mit Gott zu wandeln, wenn wir

Ihm ein Fest feiern wollen, wenn es der aufrichtige und

ernste Wunsch unsers Herzens ist, einen wirklich himmlischen

Wandel zu führen, so müssen wir völlig mit der

203

Welt, sowie mit dem eigenen Ich brechen und unsern Platz

außerhalb des Lagers nehmen mit einem von der Welt

verworfenen, aber in den Himmel aufgenommenen Christus.

Möchten wir dies thun mit wahrem Herzensentschluß zur

Verherrlichung Seines glorreichen, heiligen Namens!

2. Der zweite Einwurf Satans ist dem ersten sehr

nahe verwandt. Wenn es ihm nicht gelingt, Israel ganz

in Aegypten zurückzuhalten, so will er wenigstens versuchen,

sie so nahe wie möglich zu halten. „Und Pharao

sprach: Ich will euch ziehen lassen, daß ihr Jehova, euerm

Gott, opfert in der Wüste, nur entfernt euch nicht

so gar weit." (Kap. 8, 28.)

Der Sache Christi wird weit mehr geschadet durch

ein scheinbares, teilweises, halbes Aufgeben der Welt, als

durch ein völliges Bleiben in ihr. Ein unentschiedener,

wankelmütiger Bekenner schwächt das Zeugnis und verun-

ehrt den Herrn weit mehr, als einer, der sich nie von der

Welt getrennt hat. Ferner dürfen wir wohl sagen, daß

zwischen dem Aufgeben gewisser weltlicher Dinge und dem

Aufgeben der Welt selbst ein sehr großer Unterschied besteht.

Es mag jemand gewisse Formen der Weltlichkeit

ablegen und dennoch zu gleicher Zeit der Welt in seinem

tiefsten Innern einen Platz aufbewahren. Er mag das

Theater, den Ballsaal, den Billardtisch und die Musikhalle

aufgeben und trotz alledem an der Welt hangen.

Ja, wir sind imstande, einige der schlechten Zweige abzuhauen,

um nur mit um so größerer Zähigkeit an dem

alten Stamme festzuhalten. Dies ist unserer ernstesten

Beachtung wert. Das, was Hunderte von bekennenden

Christen bedürfen, ist, nach unserer festen Ueberzeugung,

ein völligerer Bruch mit der Welt — ja, mit der Welt

204

in der ganzen, umfassenden Bedeutung des Wortes. Es

ist durchaus unmöglich, einen guten Anfang, oder gar

geistliche Fortschritte zu machen, so lange das Herz mit

den heiligen Ansprüchen Christi gleichsam spielt. Wir

behaupten mit aller Bestimmtheit, daß in Tausenden von

Fällen, wo Seelen über Befürchtungen und Zweifel, über

Unruhe und Beschwertheit, über Mangel an Licht, Trost,

Friede und Freude klagen, die Ursache darin zu suchen

ist, daß sie nie in Wirklichkeit mit der Welt gebrochen

haben. Entweder suchen sie dem Herrn ein Fest zu

feiern in Aegypten, oder sie bleiben doch so nahe, daß sie

leicht wieder zurückgezogen werden können, so nahe, daß

sie weder das Eine, noch das Andere, weder kalt, noch

warm sind, und daß aller Einfluß, den sie besitzen mögen,

wider Christum und für den Feind der Seelen ausschlügt.

Wie können solche Seelen glücklich sein? Wie kann

ihr Friede fließen gleich einem Strome? Wie können sie

wandeln in dem Lichte des Vaterantlitzes Gottes, oder

in dem Genuß der Gegenwart des Herrn? Wie können

die gesegneten Strahlen jener Sonne, welche in der neuen

Schöpfung scheint, sie erreichen inmitten der dumpfen

Atmosphäre, die das Land des Todes und der Finsternis

einhüllt? Unmöglich! Sie müssen brechen mit der Welt

und sich selbst mit ganzem Herzen und aller Entschiedenheit

Christo übergeben. Da muß, wenn wir so reden

dürfen, ein ganzer Christus für das Herz und ein

ganzes Herz für Christum sein. Hierin beruht das

große Geheimnis der Fortschritte eines Christen. Wir

müssen einen richtigen Anfang machen, bevor wir fortschreiten

können, und um richtig zu beginnen, müssen wir

alle die Bande, die uns mit der Welt verknüpfen, zer

205

reißen, oder besser gesagt, wir müssen die Thatsache

glauben und praktisch verwirklichen, daß Gott sie für uns

in dem Tode unsers Herrn Jesu Christi zerrissen hat.

Das Kreuz hat uns für immer von dem gegenwärtigen,

bösen Zeitlauf getrennt. Es hat uns nicht nur von den

ewigen Folgen unsrer Sünden befreit, sondern auch von

der Macht und Herrschaft der Sünde und von den Grundsätzen

und Gewohnheiten einer Welt, die in den Händen

des Bösen liegt.

Es ist eins der Meisterstücke Satans, daß er bekennende

Christen dahin bringt, sich mit einem Blick auf das

Kreuz zu ihrer Errettung zu begnügen, während sie in

der Welt zurückbleiben, oder sich doch „nicht so gar weit

von ihr entfernen." Vor dieser gefährlichen Schlinge

können wir den christlichen Leser nicht ernst genug warnen.

Eine aufrichtige Hingebung des Herzens an einen verworfenen

und verherrlichten Christus und eine innige

Gemeinschaft mit Ihm vermögen uns allein vor diesem

Fallstrick zu bewahren. Um mit Christo zu wandeln, an

Ihm uns erfreuen und von Ihm uns nähren zu können,

müssen wir von dieser gottlosen, bösen Welt getrennt sein

— getrennt von ihr in unsern Gedanken und Gesinnungen,

in den Neigungen unsrer Herzen, getrennt, nicht nur von

ihrem offenbaren Bösen, von ihrer Thorheit und Eitelkeit,

sondern auch von ihrer Religion, von all ihrem Thun und

Treiben.

Indes möchte man uns hier fragen: „Ist das

Christentum denn nichts anders, als ein Ablegen, ein

Ausleeren und Aufgeben? Besteht es nur aus Verboten

und Verneinungen?" Wir antworten mit Liefer Freude des

Herzens: Nein! tausendmal nein! Das Christen

206

tum ist vorherrschend bejahend, durchaus wirklich, göttlich

befriedigend. Was giebt es uns für das, was es uns

nimmt? Es giebt uns „unermeßliche Reichtümer" für

„Dreck und Kot." Es giebt uns ein „unverwesliches

und unbeflecktes und unverwelkliches Erbteil, welches aufbewahrt

wird in den Himmeln," für einen eitlen, schnell

verschwindenden Tand. Es giebt uns Christum, die

Wonne des Herzens Gottes, den Gegenstand der Anbetung

des Himmels und der Lieder der Engel, das ewige Licht

der neuen Schöpfung, statt einiger Augenblicke sündigen

Vergnügens und schuldigen Genusses. Es giebt uns endlich

eine Ewigkeit der reinsten Freuden und kostbarsten

Segnungen im Hause des Vaters, statt einer Ewigkeit

schrecklicher Qual in den Flammen der Hölle.

Was sagst du zu diesen Dingen, mein lieber Leser?

Ist das nicht ein guter Tausch? Findest du hierin nicht

die mächtigsten Beweggründe, um die Welt anfzugeben?

Man hört Christen zuweilen die Gründe aufzühlen, weshalb

sie diese oder jene Form der Weltlichkeit aufgegeben

haben; aber wir meinen, alle diese Gründe sollten sich in

einem einzigen vereinigen, und dieser sollte so lauten:

„Ich habe Christum gefunden, und deshalb habe

ich die Welt aufgegeben." Niemand findet es schwer,

Kohlen für Diamanten, Asche für Perlen, Dreck für Gold

hinzugeben. Und ebenso ist es für einen Menschen, der

einmal die Kostbarkeit Christi geschmeckt und erfahren hat,

nicht mehr schwierig, die Welt anfzugeben. Nein, es würde

eine Schwierigkeit für ihn sein, wenn er in ihr zurückbleiben

sollte. Wenn Christus das Herz erfüllt, so ist

die Welt nicht nur für eine Weile ausgeschlossen, sondern

sie wird stets fern gehalten. Wir wenden dem

207

Lande Aegypten nicht nur den Rücken, sondern entfernen

uns auch weit genug, um nie wieder dahin zurückzukehren.

Und zu welchem Zwecke thun wir das? Um unthätig die

Hände in den Schoß zu legen? Um alles verloren zu

haben und nichts mehr zu besitzen? Um niedergeschlagen,

gedrückt, traurig und melancholisch zu sein? O nein, sondern

um „dem Herrn ein Fest zu feiern." Wir

halten dieses Fest allerdings noch in der Wüste, aber

wenn wir Christum bei uns haben, so begehren wir nichts

weiter mehr. Wir haben an Ihm genug, und die Wüste

wird zum Himmel. Er ist, gepriesen sei Sein Name!

das Licht unsrer Augen, die Freude unsrer Herzen, die

Speise unsrer Seelen; ohne Ihn würde der Himmel kein

Himmel für uns sein, aber in Seiner herrlichen, herzerquickenden

Gemeinschaft verwandelt sich selbst die Wüste

in den Vorhof des Himmels. Wir genießen im voraus

etwas von den gesegneten Dingen, die in Ewigkeit unser

Teil sein werden.

Doch das ist noch nicht alles. Nicht nur ist das

Herz völlig von Christo erfüllt und befriedigt, sondern

auch das Gemüt ist vollkommen beruhigt im Blick auf

alle die Einzelheiten unsers Weges durch diese Welt —

im Blick auf die Schwierigkeiten, die Fragen, welche sich

erheben können, die Verwicklungen, denen diejenigen fortwährend

begegnen, welche die hohe Segnung nicht kennen,

Christum zu ihrem Standpunkte zu machen und alles in

unmittelbarer Verbindung mit Ihm zu betrachten. Wenn

ich z. B. in irgend einem Falle berufen bin, für Christum

zu handeln, und ich betrachte die Sache, anstatt sie einfach

nach ihrer Bedeutung für Ihn und Seine Verherrlichung

zu beurteilen, nach ihren Folgen für mich, so werde ich

208

ganz gewiß in Finsternis und hoffnungslose Verlegenheit

hineingeraten und zu einem verkehrten Schluß kommen.

Wenn ich aber einfach auf Ihn blicke und untersuche, wie

die Sache zu Seiner Verherrlichung ausschlagen kann, so

werde ich nicht nur völlig klar sehen, sondern auch mit

glücklichem Herzen und mit fester Entschiedenheit den gesegneten

Pfad gehen, welcher von den Strahlen des Vaterantlitzes

Gottes erleuchtet wird. Ein einfältiges Auge

blickt nie auf die Folgen, sondern unmittelbar auf Christum,

und dann ist alles klar und einfach; der ganze Leib ist

voll von Licht, und der Pfad wird durch eine unerschütterliche

Entschiedenheit gekennzeichnet.

Das ist es, was uns in diesen Tagen weltlicher

Religiosität, selbstsüchtiger Bestrebungen und des Jagens

nach dem Beifall des Menschen so sehr not thut. Wir

bedürfen es, Christum zu unserm alleinigen Standpunkt

zu machen, von Ihm aus das eigene Ich, die Welt

und die sogenannte Kirche zu betrachten, Ihn zum Mittelpunkt

zu haben, um welchen sich alles dreht, von Ihm

aus alles zu beurteilen, ohne im geringsten an die Folgen

zu denken. Stehen und handeln wir in Uebereinstimmung

mit Seinen Gedanken, so können wir die Folgen Ihm

ruhig überlassen. O, möchte es so mit uns sein! Möchten

wir der unendlichen und unveränderlichen Gnade Gottes

erlauben, in unsern Herzen zu wirken und das vor Ihm

Wohlgefällige hervorzubringen! Wir werden dann etwas

von der Fülle, Schönheit und Kraft des Wortes verstehen,

mit welchem wir diesen Artikel eingeleitet haben: „Laß

mein Volk ziehen, daß sie mir ein Fest halten in der

Wüste!" (Schluß solgt.)

209

Die eherne Schlange.(4. Mos. 21.)

Die Begebenheit, auf welche wir die Aufmerksamkeit

des Lesers in dieser kurzen Betrachtung richten möchten, ist

bekannt, ebenso ihre Anwendung. Dennoch aber bleibt

sie stets voll von Interesse, und es ist gut, „uns immer

wieder an diese Dinge zu erinnern," obwohl wir „sie

wissen." (Vergl. 2. Petr. 1, 12.) Die Bedeutung der

ehernen Schlange hat der Herr selbst in Seinen denkwürdigen

Worten an Nikodemus erklärt, so daß für die

Einbildung und Phantasie des Menschen nicht der geringste

Spielraum bleibt. „Gleichwie Moses in der Wüste die

Schlange erhöhte, also muß der Sohn des Menschen erhöht

werden, auf daß jeglicher, der an Ihn glaubt, nicht

verloren gehe, sondern ewiges Leben habe." (Joh. 3,

14.15.) Hier haben wir also die göttliche Bürgschaft, daß

wir dieses treffende Borbild auf unsern gepriesenen Herrn

und Heiland anwenden dürfen. Richten wir jetzt unsre

Aufmerksamkeit für einen Augenblick auf die Begebenheit

selbst, wie sie uns in 4. Mose 21 mitgeteilt wird.

„Und das Volk redete wider Gott und wider Mose:

Warum habt ihr uns heraufgeführt aus Aegypten, daß

wir sterben in der Wüste? Denn da ist kein Brot und

kein Wasser, und es ekelt unserer Seele vor dieser losen

Speise." (V. 5.) Welch ein Bild von dem menschlichen

Herzen, von dem deinigen und meinigen! „Sie redeten

wider Gott!" DaS ist es, was wir stets thun, wenn

wir murren und uns über unsre Umstünde beklagen. Es

handelte sich in dem vorliegenden Falle nur um Brot und

Wasser, um Speise und Trank. Israel bildete sich ein,

Gott habe sie heraufgeführt aus Aegypten, um sie sterben

210

zu lassen, während Er sie thatsächlich von den Ziegelöfen

und Frohnvögten Aegyptens erlöst hatte, damit sie Ihm

ein Fest feierten in der Wüste.

So war also gerade das Gegenteil von dem, was

sie sagten, der Fall. Und so ist es stets. Wenn wir

auf unsre verzagten, ungläubigen Herzen lauschen, so

werden sie uns sicher die gröbsten Lügen vorspiegeln, Lügen

in bezug auf Gott, auf Seinen Charakter, Seine Natur,

Seine Handlungen und Seine Wege. Alle Klagen über

unsre Umstände sind Lügen in bezug auf Gott. Und

woher kommen sie? Von dem Vater der Lügen, von der

alten Schlange, dem Teufel, von demselben, der sich in

den Garten Eden schlich und unsre ersten Eltern mit ihrer

Lage unzufrieden machte, der in ihnen den Glauben erweckte,

daß Gott nicht gütig sei, und daß sie nicht so

wohl daran wären, wie sie es sein könnten und sein

sollten. Das ist von jeher seine Thätigkeit gewesen nnd

wird es stets bleiben, so lange Gott ihm zu wirken erlaubt.

Wir sollten uns stets hieran erinnern. Laßt uns

nicht vergessen, daß alles Murren und Klagen thatsächlich

ein Reden wider Gott ist! Es ist die Stimme der Schlange,

redend durch den Mund eines Menschen. Wenn wir nicht

wachsam sind, so drückt Satan zunächst den Stachel der

Unzufriedenheit in unser Herz, und nicht lange nachher

dringen die Laute der Unzufriedenheit über unsre Lippen.

Wir reden wider Gott. Beachten wir die ernsten Folgen,

welche dieses Reden für das Volk Israel hatte: „Da

sandte Jehova feurige Schlangen unter das Volk, die das

Volk bissen, und es starb viel Volks aus Israel." (V. 6.)

Das war eine tiefernste, praktische Unterweisung für ihre

Herzen. Sie hatten gelauscht auf die Stimme der Schlange,

211

und so mußten sie auch den Biß der Schlange fühlen.

Es ist eine ernste, verantwortliche Sache, über unsre Umstände

zu murren. Thatsächlich erheben wir dadurch Anklage

gegen Gott. Wir sagen dadurch einfach, daß wir

uns in Seinen Händen nicht glücklich fühlen, und wenn

wir da nicht glücklich sind, wohin können wir anders gebracht

werden, als in die Hände der Schlange? Es giebt

hier keinen sogenannten neutralen Boden. Wenn wir mit

der Handlungsweise Gottes mit uns nicht zufrieden sind,

so muß Er uns dahingeben, damit wir die Behandlung der

Schlange kennen lernen. Möchten wir alle dieses ernstlich

erwägen! Es verwundet thatsächlich das Herz Gottes und

überliefert uns den Händen Satans, wenn wir in einem

Geiste murrender Unzufriedenheit einhergehen. Wir brauchen

nicht zu sagen, daß es eine schreckliche Sünde ist und notwendig

zu bittern Folgen führen muß. Laßt uns daher

sorgfältig gegen diese Sünde Wachen! Möchten wir in

einem glücklichen, zufriedenen und dankbaren Geiste, mit

einem wirklich unterwürfigen Herzen einhergehen! Möchten

wir allem, was uns begegnet, mit einem: „Ja, Vater,

denn also war es wohlgefällig vor Dir!" begegnen. Auf

diese Weise wird die Schlange überwunden nnd Gott

verherrlicht.

Doch kehren wir zu Israel zurück. „Da kam das

Volk zu Mose, und sie sprachen: Wir haben gesündigt,

daß wir wider Jehova und wider dich geredet haben;

bete Zu Jehova, daß Er die Schlangen von uns wegnehme.

Und Mose bat für das Volk." (V. 7.) Jetzt

nahmen sie den ihnen gebührenden Platz ein — den Platz

des Bekenntnisses und des Selbstgerichts. Das ist der

allein passende Platz für einen Sünder, der einzig

212

wahre Boden, auf dem er vor Gott steht. Sie hatten

geredet wider Jehova; jetzt reden sie wider sich selbst.

Dies ist richtig, stets und für alle richtig. „Ich sagte:

Ich will Jehova bekennen meine Uebertretungen, und Du

wirst mir vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünden."

(Ps. 32, 5.) Welch eine köstliche, unumschränkte, ewigwährende

Gnade! Preis und Anbetung Dem, der die

Quelle, der Kanal und die Kraft dieser Gnade ist —

Ihm, dem Vater, Sohn und Heiligen Geist!

„Und Jehova sprach zu Mose: Mache dir eine feurige

Schlange und setze sie auf eine Stange; und es soll geschehen,

wer gebissen ist und sie ansieht, der wird

leben. Und Mose machte eine Schlange von Erz und

setzte sie auf eine Stange; und es geschah, wenn jemanden

eine Schlange biß, so schaute er zu der ehernen

Schlange auf und lebte." (V. 8. 9.) Hier wird das

göttliche Heilmittel eingesührt: „eine eherne Schlange;"

gerade das Bild dessen, was das Unheil herbeigeführt

hatte, wird unter der Hand Gottes zu dem Mittel der

Befreiung. Die feurigen Schlangen wurden nicht entfernt;

nein, sie durften nach wie vor ihr schreckliches Werk thun.

Aber die Gnade ersah einen Weg der Rettung, und ein

jeder gebissene Israelit, der zu der ehernen Schlange aufschaute,

blieb am Leben und war nachher weit besser daran,

als wenn er nie gebissen worden wäre.

Allerdings mußte er die Bitterkeit der Sünde schmecken;

aber er wurde auch befähigt, die Köstlichkeit der Gnade

zu erfahren, welche Leben aus dem Tode hervorzubringen

und einen vollkommenen Sieg über die ganze Macht der

Schlange zu verleihen vermochte. Denn „gleichwie die

Sünde geherrscht hat im Tode, also" — gepriesen sei

213

Gott in alle Ewigkeit dafür! — „herrscht auch die Gnade

durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum,

unsern Herrn." (Röm. 5, 21.) In einer Welt der

Sünde, in einer Welt der Sünder, wo die Macht der

Schlange überall sichtbar ist und wo der Tod herrscht,

darf daher der arme, gebissene Sünder zu dem großen

Gegenbilde der ehernen Schlange aufschauen — zu jenem

gesegneten Heiland, der für uns auf das Kreuz erhöht,

für uns zum Fluche und zur Sünde gemacht und an

unsrer Statt zerschlagen und gerichtet wurde — und durch

einen Blick, durch einen einzigen Glaubensblick auf Ihn,

ewiges Leben empfangen.

Ja, mein lieber Leser, das ist das kostbare Geheimnis

des Lebens und der Errettung. Alles wird empfangen

durch einen einfachen Blick auf den göttlichen Gegenstand.

Sobald der gebissene Israelit zu der ehernen Schlange

emporschaute, war er gerettet. Er sah und lebte. Er

blickte nicht auf sich selbst, nicht auf seine Wunde, sondern

auf das göttliche Heilmittel. Das war die große, wichtige

Sache, welche er verstehen und erfassen mußte. Es

wäre völlig nutzlos gewesen, auf sich selbst zu blicken. Was

hätte er gesehen? Nichts anders, als ein gebissenes, verwundetes,

sterbendes Geschöpf. Er hätte versuchen können,

seine Wunde zu heilen, um dann, wenn sich sein Zustand

gebessert, auf die eherne Schlange zu blicken; er hätte

verwundert fragen können, welchen Nutzen denn ein Blick

auf die eherne Schlange haben könne. Aber was hätte

ihm alles das geholfen? Es wäre alles vergeblich gewesen,

ganz und gar vergeblich. Es gab nur einen Weg, auf

welchem das Leben zu erlangen war; aber dieser Weg

war göttlich vollkommen, es war ein Blick des Glaubens

214

auf das von Gott vorgesehene Heilmittel. Bevor dieser

Blick gethan war, war nichts geschehen. War er gethan,

so fehlte nichts mehr. In demselben Augenblick, da der

Israelit zu der Schlange aufblickte, lebte er, und er konnte,

ohne einen Schatten von Furcht, die feurigen Schlangen

um sich her kriechen sehen; er wußte jetzt, daß ihre Macht,

ihn zu verderben, verschwunden war. Ein Glaubensblick

ordnete die ganze Sache.

Doch ein jeder hatte diesen Blick zu thun, und zwar

ein jeder für sich selbst. Keiner konnte für den andern

glauben, keiner durch einen Stellvertreter auf die eherne

Schlange blicken. Es war eine durchaus persönliche Sache.

Ein jeder Gebissene durfte den Blick thun; die Thatsache,

daß er gebissen war, gab ihm das Recht dazu.

Aber er mußte auch aufblicken, wenn er anders Leben

haben wollte. Er war einzig und allein auf das Heilmittel

Gottes angewiesen; nur der Glaube konnte ihn

retten. Und so wie es damals mit dem sterbenden

Israeliten in der Wüste stand, so steht es heute mit jedem

sterbenden Sünder. Der Sohn des Menschen ist am

Stamme des Kreuzes erhöht worden, Er ist das einzige

Heilmittel, welches Gott für den Menschen vorgesehen hat.

Eine jede Seele, welche ihr Bedürfnis fühlt, ist willkommen;

sie darf kommen und im Glauben ihren Blick

auf das Kreuz richten. „Wen da dürstet, komme,

und wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst,"

so lautet die allumfassende Einladung Gottes.

Keiner ist ausgeschlossen, alle sind eingeladen und willkommen.

Aber ein jeder muß glauben, oder verloren

gehen. Es giebt da keinen Mittelweg, keinen neutralen

Boden. Blicke und lebe — blicke oder stirb! Ein Blick

215

genügt. In demselben Augenblick, da eine Seele in einfältigem

Glauben auf Jesum blickt, geht sie aus dem

Tode zum Leben hinüber — sie empfängt ein ewiges,

unvergängliches Leben. „Der Sohn des Menschen muß

erhöht werden, auf daß jeglicher, der au Ihn glaubt,

nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe."

Welch eine glorreiche, himmlische Zeitung! Welch

eine gesegnete, köstliche Botschaft! Möchten doch vieler

Ohren geöffnet werden, um zu hören, vieler Herzen, um

zu verstehen, vieler Augen, um diesen einen Glaubensund

Lebensblick zu thun! Doch wie steht es mit dir,

mein lieber Leser? Hast du schon die Entdeckung gemacht,

daß du ein armer, verwundeter, sterbender, verdammungswürdiger

Sünder bist? Hat der Geist Gottes deine Augen

geöffnet und dir deinen wahren Zustand gezeigt? Bist du

zu einem Bewußtsein deiner Schuld und Gefahr erwacht?

Wenn es so ist, warum willst du dann nicht jetzt — in

diesem Augenblick — auf Jesum blicken? Vielleicht

antwortest du: „Wie soll ich denn blicken? Ich weiß garnicht,

was ich unter diesem Blicken auf Jesum verstehen

soll!" Nun, so denke dir, du hättest am ersten des nächsten

Monats eine hohe Rechnung zu bezahlen, aber deine

Mittel seien so völlig erschöpft, daß du nicht einen Pfennig

mehr dein eigen nennen könntest. In deiner höchsten Not

aber käme ein reicher Freund zu dir und sagte: „Sei

unbesorgt über deine Rechnung; blicke einfach auf mich

und vertraue mir: Ich werde sie bezahlen." Sage mir:

Würdest du das verstehen?

Ohne Zweifel! Nun siehe, dieses Bild ist eine schwache

Erklärung von der Bedeutung eines Blickes auf Christum.

Auf Jesum blicken heißt: Ihm vertrauen, in Ihm ruhen,

216

glauben, daß Er deine Stelle vertreten und die Ansprüche

Gottes im Blick auf dich vollkommen befriedigt, daß Er

deine Sünden hinweggethan, deine Schuld bezahlt und

dich in Seiner eignen, unendlichen Annehmlichkeit Gott

nahe gebracht hat. Ewiges Leben, göttliche Gerechtigkeit und

ewige Herrlichkeit — alles das liegt in einem Glaubensblick

auf den Christus, der an das Holz genagelt wurde und

jetzt mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt ist. Möchte der

Heilige Geist auch dich befähigen, diesen einen Leben- und

Friedengebenden Blick noch heute zu thun!

Ehe wir jedoch diesen Abschnitt schließen, möchten

wir den Leser bitten, seine Aufmerksamkeit auf den

4. Vers in 2. Könige 18 zu richten. Er wird dort die

Worte finden: „Er (Hiskia) schaffte die Höhen ab und

zerbrach die Säulen und rottete die Aschera aus und zertrümmerte

die eherne Schlange, die Mose gemacht hatte;

denn bis zu jenen Tagen hatten die Kinder Israel ihr

geräuchert, und man nannte sie Nehustan" (eherner Götze).

So finden wir also in 4. Mos. 21 die eherne

Schlange als das Heilmittel Gottes, um dem Bedürfnis

des Menschen zu begegnen, und in 2. Kön. 18 dieselbe

Schlange als einen Götzen des menschlichen Herzens, um

Gott auszuschließen. Erinnert uns das nicht lebhaft

daran, welche Anwendung der Mensch auch von dem

Kreuze Christi gemacht hat und noch heute macht? Indem

er Den vergißt, der an dem Kreuze hing, betet er das

Holz an, an welches Er genagelt wurde!

217

Gedanken über das Zusammenkommen der

Gläubigen.

„Laßt uns unser Zusammenkommen nicht versäumen,

wie es bei etlichen Sitte ist." l Hebr. 10, 250

Der Zweck dieser Zeilen ist, einige der gesegneten

Wahrheiten in Erinnerung zu bringen, welche uns das

Wort Gottes im Blick auf das Zusammenkommen der

Heiligen vorstellt. Wir befinden uns in den „schweren

Zeiten," von welchen der Apostel in 2. Tim. 3, 1 redet.

Die Bemühung des Feindes zielt darauf ab, das Zeugnis,

welches Gott inmitten des Verfalls in den „letzten Tagen"

aufgerichtet hat, umzustoßen und die Gläubigen jene

Wahrheiten vergessen zu machen. Daher ist es so dringend

nötig für uns, stets zu den einfachen und köstlichen

Grundsätzen znrückzukehren, welche der Herr in Seiner

Gnade und nach Seinem Wohlgefallen uns kund gethan

hat. Vor allem gilt es, gewisser Punkte eingedenk zu

bleiben, welche von der höchsten Wichtigkeit sind, um uns

in einem Wandel zur Ehre Dessen zu leiten, der uns geliebt

und sich selbst für uns hingegeben hat.

Wenn der Apostel Johannes „der auserwählten Frau"

schreibt, um sie vor den Verführern zu warnen, so redet

er von der Wahrheit, von der Liebe und von dem Gehorsam

— von drei Dingen, welche enge mit einander verbunden

sind und die nicht getrennt werden dürfen, ohne

ihre Wirklichkeit und ihren wahren Ausdruck zu zerstören.

Ferner sagt der Apostel: „die ich liebe in der Wahrheit,"

und weiter: „Dies ist die Liebe, daß wir nach

Seinen Geboten wandeln." (V. 1. 6.)

Es hieße die Wahrheit nicht wirklich erkennen und

besitzen, wenn dieselbe keinen Einfluß auf unser Gewissen

218

ausübte, um uns vor den Gott zu bringen, der ein Recht

hat auf unsern Gehorsam und auf unsere Zuneigungen, um

sie an Den zu fesseln, der die Wahrheit ist. Christus ist

die Wahrheit, weil Er allein uns Gott, die Welt und

den Menschen in ihrer wahren moralischen Natur offenbart.

Diese Offenbarung aber findet nur statt in dem

Leben, welches durch den Heiligen Geist in uns hervorgebracht

wird. „Dies aber ist das ewige Leben, daß sie

Dich, den allein wahren Gott, und den Du gesandt hast,

Jesum Christum, erkennen." (Joh. 17, 3.) Der Gegenstand

dieses Lebens ist Christus, die Wahrheit. Sein

Charakter ist die Liebe, wie geschrieben steht: „Die Liebe

ist aus Gott; und ein jeglicher, der liebt, ist aus Gott

geboren und kennt Gott." (1. Joh. 4, 7.) Ohne die

Liebe ist die Erkenntnis der Wahrheit, welche man zu

besitzen vorgiebt, nichts als die Frucht der Ausübung

unserer natürlichen Fähigkeiten.

Die Wahrheit steht also in Verbindung mit einer

göttlichen Person. Der Heilige Geist, der Geist der Wahrheit,

offenbart dieselbe der Seele, indem Er sie lebendig

macht und auf diese Weise Liebe zu dieser gesegneten

Person in ihr hervorruft. Es ist daher offenbar, daß

die Liebe, die göttliche Liebe, nicht bestehen kann ohne

die Wahrheit. Alles, was die göttliche Wahrheit antastet,

kann nur die göttliche Liebe verletzen. Die Liebe erträgt

die Unwissenheit, sie erbarmt sich des Irrenden und weist

ihn zurecht, sie hofft, daß er zurückgebracht werde, und

hat Geduld; nie aber kann sie etwas dulden, was in irgend

einer Weise die Wahrheit, die Person und die Ehre

Christi antastet. „Sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit,

sondern sie freut sich mit der Wahrheit," (1. Kor. 13, 6.)

219

wie jemand gesagt hat: „Der Prüfstein der wahren Liebe

ist das Aufrechthalten der Wahrheit."

Doch was ist das Resultat und der Beweis der

wahren Liebe? Der Gehorsam. „Wenn ihr mich

liebt," sagt der Herr, „so haltet meine Gebote," und

weiterhin: „Wenn jemand mich liebt, so wird er

mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben."

„Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner

Liebe bleiben; gleichwie ich die Gebote meines Vaters

gehalten habe und in Seiner Liebe bleibe." „Dies ist

die Liebe Gottes, daß wir Seine Gebote halten."

(Joh. 14, 15. 23; 15, 10; 1. Joh. 5, 3.) Wahre

göttliche Liebe und Gehorsam können nie von einander

getrennt werden. Wenn wir in der Kraft des Heiligen

Geistes die Wahrheit kennen gelernt haben in der gesegneten

Person Christi, der uns geliebt und sich selbst

für uns hingegeben hat, so richten sich die Zuneigungen

des erneuerten Herzens auf Ihn hin; wir erkennen Seine

Autorität als Herr an, und es ist unsre Freude, zu

gehorchen. „Seine Gebote sind nicht schwer," weil das

Ich beiseite gesetzt ist und der Gehorsam als Frucht des

göttlichen Lebens hervorkommt. „Nicht mehr lebe ich,

sondern Christus lebt in mir." Der Christ ist berufen,

Christo zu gehorchen, mit der Wahrheit im Herzen

und der Liebe, als der Quelle von allem, und das ist

Christus. Gehorchen ohne Liebe, ist Gesetz; gehorchen

aus Liebe, ist Christus. Er selbst wandelte auf Erden in

der Liebe, nach der Wahrheit und in einem vollkommenen

Gehorsam. Möchten wir Seinen Fußstapfen nachfolgen!

Der Wandel in der Wahrheit und im Gehorsam ist

aber nichts anders, als der Wandel nach dem Worte, wie

220

der Herr sagt: „Dein Wort ist Wahrheit." (Joh. 17,17.)

„Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre,

zur Ueberführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung

in der Gerechtigkeit, daß der Mensch Gottes vollkommen

sei." (2. Tim. 3, 16. 17.) Die Schrift allein offenbart

uns Gott, Seine Ratschlüsse, Seine Gedanken und Wege;

sie allein darf Autorität über uns haben, um unsere

Gedanken zu bilden und unsern Wandel zu regeln in

allem. „Der Eingang Deines Wortes erleuchtet, giebt

Einsicht den Einfältigen." (Ps. 119, 130.) Zwar vermag

nur der Heilige Geist uns ein göttliches Verständnis

von dem Worte zu geben und es ans unsre Gewissen und

Herzen anzuwenden. Aber Er ist dem Christen gegeben,

um ihn in die ganze Wahrheit zu leiten. Dies schließt

notwendig jede Einmischung der Meinungen, der Vernunft-

schlüsse und des Willens des Menschen aus und erfordert

eine völlige Unterwürfigkeit und unbedingte Abhängigkeit

der Seele; anders kann der Geist Gottes uns nicht durch

das Wort belehren und leiten. Unsre Sprache sollte stets

sein:. „Rede, Herr, denn Dein Knecht höret."

Das natürliche Herz will von einer solchen Unterwürfigkeit

und Abhängigkeit nichts wissen; es sucht derselben

durch allerlei Vernünfteleien zu entgehen. Es will

hinzufügen, Ausnahmen machen und auslegen, da wo

Gott klar und deutlich geredet hat. Wie sehr haben wir

uns zn hüten vor diesem Geiste der Unabhängigkeit!

Derselbe nahm seinen Anfang im Garten Eden, als Eva

ihr Ohr den Einflüsterungen Satans lieh; er hat seitdem

fortgewirkt und zeigt sich heute überall, selbst unter den

Christen, und bald wird er seine völlige Offenbarung in

dem „Menschen der Sünde" finden, welcher „widersteht

221

und sich selbst erhöht über alles, was Gott heißt oder ein

Gegenstand der Verehrung ist." Ach! wie oft zeigt sich dieser

Geist auch in unserm persönlichen Wandel! Anstatt zu

Gott zu sagen: „Laß mich doch Deinen Weg wissen,

daß ich Dich erkenne," (2. Mos. 33, 13.) mühen wir uns

ab, den unsrigen zu finden, je nachdem die Umstände

liegen und es uns am besten gefällt.

Aber besonders im Blick auf den gemeinschaftlichen

Wandel, oder mit andern Worten, im Blick auf das

Zusammenkommen der Gläubigen, hat der Mensch —

indem er die Vorschriften des Wortes vernachlässigte oder

berufen zu sein glaubte, vermeintliche Lücken in demselben

auszufüllen — geglaubt, alles nach seiner Willkür ordnen

zu dürfen, als gäbe es in dem Worte keine bestimmte

Anweisungen über den göttlichen Boden und die göttlichen

Grundsätze dieses Zusammenkommens, zu welchen der Ge-

horsam alle diejenigen hinführen sollte, die da wünschen,

in der Wahrheit und in der Liebe zu wandeln. Laßt

uns deshalb untersuchen, was das Wort Gottes uns

über diese Dinge lehrt.

Man denkt und sagt gewöhnlich, die Christen sollten

sich versammlen als solche, die da einen Glauben haben,

die, erlöst durch denselben Heiland, Kinder eines Gottes und

Vaters und durch die Bande derselben Liebe verbunden

sind; aber im übrigen meint man frei zu sein und sich

einrichten zu dürfen, wie man will, und so gut man

kann. Allerdings ist es unmöglich, Gott gemäß versammelt

zu sein, wenn die eben erwähnten Charakterzüge

fehlen; aber keineswegs bilden dieselben jenen gesegneten

Boden, auf welchem alle die geliebten Kinder Gottes,

nach den klaren Unterweisungen des Wortes, zu

222

sammen kommen sollten, und der einzig und allein

weit genug ist, um sie alle zu vereinigen, und der, wenn

richtig erkannt, allen Spaltungen ein Ende zu machen

vermag.

Dieser Boden ist ein ganz anderer. Bei den Kindern

Israel gab es nur einen einzigen Ort, welchen

Gott erwählt hatte, um Seinen Namen daselbst

wohnen zu lassen. Nur dort durfte Er angebetet werden;

dort war der Mittelpunkt der Zusammenkünfte des

Volkes. Alles, was auf den Gottesdienst Bezug hatte,

war gottgemäß, weil Er selbst es angeordnet hatte. Auf

diese Weise wußten die Israeliten, wiewohl sie in ihrem

Gottesdienste nur die Schatten des Zukünftigen besaßen,

dennoch, was sie anbeteten. Sollten wir geringere Vorrechte

besitzen, als das irdische Volk, die wir doch das

„Ebenbild selbst" haben? Nein, wir besitzen in jeder

Beziehung mehr. Wir haben zwar keinen irdischen Mittelpunkt

des Zusammenkommens. „Es kommt die Stunde,"

sagt der Herr, „da ihr weder auf diesem Berge, noch zu

Jerusalem den Vater anbeten werdet." Die Anbetung

ist nicht an einen besondern Ort gebunden. „Die wahrhaftigen

Anbeter werden den Vater im Geist und in

Wahrheit anbeten." Das ist der Charakter der Anbetung:

„Im Geiste" — im Gegensatz zu einem äußerlichen,

für ein irdisches Volk geziemenden Gottesdienst;

zugleich zeigt es uns die Kraft, in welcher allein der

christliche Kultus ausgeübt werden kann — aber auch

„in Wahrheit," d. h. gemäß der Offenbarung Gottes als

Vater und unseres Verhältnisses zu Ihm. Dieser Wahrheit

gemäß haben wir, ebensowohl wie das irdische Volk,

einen einzigen Mittelpunkt des Zusammenkommens, und

223

dieser steht in Uebereinstimmung mit der Anbetung im Geiste

und mit unserer Stellung als ein himmlisches Volk.

Der Herr Jesus selbst macht uns in dem Worte

mit dem Boden bekannt, auf welchem wir nach den Gedanken

Gottes thatsächlich versammelt sein können, und

wo „Er auch für uns Seinen Namen wohnen"

läßt. Seine Gnade und Weisheit haben denselben bereitet

als einen vollkommenen Zufluchtsort für alle Zeiten, für

alle Orte und für alle Umstände, wie dies Anbetern „im

Geiste und in Wahrheit" angemessen war. „Wo

zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen,"

spricht der Herr, „da bin ich in ihrer Mitte."

Die Worte: „Wo zwei oder drei versammelt

sind," zeigen deutlich, daß weder der Ort von

Bedeutung ist, noch daß die große Zahl die Versammlung

ausmacht, oder ihren Charakter irgendwie

verändert; sie darf so bescheiden sein als möglich. Die

Worte: „In meinem Namen," geben dem Zusammenkommen

seinen eigentümlichen Charakter. Der Ausdruck:

„mein Name" bedeutet alles, was Er ist, und erinnert

an alles, was Er gethan hat. Es ist der Name, welcher

für Gott und für unsere Herzen so kostbar ist, in welchem

wir das Heil haben und der über alle andern Namen ist.

„In Seinem Namen" — oder genauer: „zu Seinem

Namen hin" — versammelt sein," will sagen, daß Er

Der ist, welcher uns gemeinschaftlich beschäftigt, um dessent-

willen wir einzig und allein versammelt sind. Das ist

es, was allein imstande ist, alle Kinder Gottes zu vereinigen.

Es schließt nur das aus, was den Namen

Christi verunehrt. „Da bin ich in ihrer Mitte," ist die

gesegnete Verheißung, welche zur Wirklichkeit wird, sobald

224

das Zusammenkommen wirklich in Seinem Namen geschieht

— eine köstliche Wirklichkeit, die unsern Zuneigungen

entspricht und unsere Herzen stärkt und ermuntert. Der,

welcher uns liebt, ist gegenwärtig, Der, dem alle Gewalt

gegeben ist. Er ist ebenso wirklich da, als Er am Abende

des Anferstehungstages (Joh. 20.) inmitten der Seinigen

war. Seine Gegenwart ist zwar eine geistliche, wie dies

Anbetern im Geiste angemessen ist, aber sie ist wirklich,

und der Glaube erfaßt sie.

Wir besitzen also, ebensowohl wie Israel, einen

einzigen Boden und einen einzigen Mittelpunkt unsers

Zusammenkommens: Wir versammeln uns „in Seinem

Namen," und Er ist in unserer „Mitte." Das Wort

Gottes weist uns keinen andern Boden an. Wie köstlich

ist dies l Dieser Boden kann nie fehlen, und er ist durchaus

einfach, vollkommen genügend, unendlich wertvoll für

das Herz und von völliger Sicherheit für die Seele. Man

versammelte sich nicht anders in den ersten Zeiten. (Vergl.

1. Kor. 5, 4; 14, 25.) Und jetzt, wo alles in Trümmern

liegt, wo das, was einst für einen kurzen Augenblick

durch die mächtige Wirksamkeit des Heiligen Geistes

so schön und glänzend dastand, verfallen ist, (Vergl.

Apstgesch. 2, 42—47.) jetzt, wo die Christenheit einem

großen Hause mit Gefäßen zur Ehre und zur Unehre,

gleich geworden ist, wo man nach allen Seiten hin nichts

als Spaltungen und Sekten erblickt — was bleibt uns

da zu thun übrig? Wohin sollen wir uns wenden?

Welcher religiösen Benennung sollen wir uns anschließen?

Wo ist der göttliche Boden, auf welchem man sich versammeln

kann? Wir antworten: „Da, wo er immer

gewesen ist." Gott sei Dank! Dieser Boden bleibt, trotz

aller Untreue des Menschen, so unerschütterlich, wie Christus

selbst. Immer noch können wir uns in Seinem Namen

versammeln, und immer noch ist Er da in der Mitte

derer, die, gestützt auf Seine Verheißung, sich also versammeln,

und wären sie auch nur zu zweien oder dreien.

(Fortsetzung folgt)

Das Gebot Jehova's und die Einwürfe Satans.

(Schluß.)

Es ist merkwürdig und doch auch wieder nicht merkwürdig,

zu sehen, wie hartnäckig Satan jeden Zollbreit

Boden verteidigt, wenn es sich um die Befreiung Israels

aus dem Lande Aegypten handelt. Er war bereit, ihnen

zu erlauben, in dem Lande oder doch wenigstens in der

Nähe des Landes ihren Gottesdienst auszuüben; aber

ihrer absoluten und völligen Befreiung von dem Lande

widersetzt er sich mit aller Kraft. Er läßt kein Mittel

unversucht, um diese zu Hintertreiben.

Doch Jehova, gepriesen sei Sein herrlicher Name!

steht über dem großen Feinde des Volkes Gottes; Er

will Sein Volk befreit fehen, und Er führt Seinen

Vorsatz aus trotz der vereinten Macht Satans und des

Menschen. Die Forderungen Gottes können nie um ein

Haarbreit vermindert werden. „Laß mein Volk ziehen,

daß sie mir ein Fest halten in der Wüste!" So lautete

das Gebot Jehova's, und es mußte erfüllt werden, wenn

auch der Feind zehntausend Einwürfe machen mochte.

Die göttliche Herrlichkeit stand in inniger Verbindung mit

der völligen Trennung Israels von Aegypten, sowie von

allen Völkern des Erdbodens. Israel sollte allein wohnen

und nicht unter die Völker der Erde gerechnet werden.

Dem widersetzte sich der Feind, und er wandte seine ganze

Macht und List an, um es zu verhindern. Zwei seiner

226

Einwendungen haben wir schon betrachtet; wir kommen

jetzt zu der dritten.

3. „Und Mose und Aaron wurden wieder zu Pharao

gebracht, und er sprach zu ihnen: Ziehet hin, dienet Jehova,

euerm Gott! Welche sind es, die ziehen sollen?

Und Mose sprach: Mit unsern Jungen und mit unsern

Alten wollen wir ziehen, mit unsern Söhnen und mit

unsern Töchtern, mit unsern Schafen und mit unsern

Rindern wollen wir ziehen, denn wir haben ein Fest Jehova'

s. Und er sprach: Jehova sei so mit euch, wie ich

euch und eure Kindlein ziehen lasse! Sehet, daß ihr

Böses vorhabt! Nicht also! Ziehet doch hin, ihr Männer,

und dienet Jehova, denn dieses habt ihr begehrt. Und man

trieb sie hinaus von Pharao." (2. Mos. 10, 8—11.)

Diese Worte enthalten eine sehr ernste Unterweisung

für die Herzen aller christlicher Eltern und enthüllen zugleich

die listige Absicht Satans. Wenn er die Eltern

nicht in Aegypten zurückhalten kann, so sucht er wenigstens

die Kinder zurückzuhalten, um auf diese Weise das Zeugnis

für die Wahrheit Gottes zu schwächen, Seine Verherrlichung

in Seinem Volke zu verhindern und dem

Volke selbst seine Segnung zu rauben. Die Eltern in

der Wüste und ihre Kinder in Aegypten — welch ein

Widerspruch! ES ist den Gedanken Gottes völlig entgegengesetzt

und macht Seine Verherrlichung in dem Wandel

Seines Volkes unmöglich.

Wie befremdend ist eS, daß christliche Eltern für

einen Augenblick vergessen können, daß ihre Kinder einen

Teil von ihnen selbst bilden! Gottes schöpferische Hand

hat sie dazu gemacht, und sicher, was der Schöpfer zusammengefügt

hat, wird der Erlöser nicht aus einander

227

reißen. Deshalb finden wir immer wieder in der Schrift,

daß Gott einen Menschen mit seinem Hause verbindet.

„Du und dein Haus," ist ein Wort von tiefer, praktischer

Bedeutung. EL schließt die wichtigsten Folgen ein und

enthält reichen Trost für jedes christliche Elternherz; und

wir dürfen Wohl hinzufügen, daß die Vernachlässigung

dieser Wahrheit in tausenden von Familien die traurigsten

Folgen herbeigeführt hat.

Ach! wie viele christliche Eltern haben, infolge einer

durchaus falschen Anwendung der Lehre von der Gnade,

ihren Kindern erlaubt, in Eigenwillen und Weltlichkeit aufzuwachsen!

Und indem sie dies thaten, haben sie sich mit

dem Gedanken getröstet, daß sie nichts thun könnten, und

daß Gott zu Seiner Zeit ihre Kinder, wenn sie anders

in den ewigen Ratschluß eingeschlossen seien, erretten

würde. Sie haben thatsächlich die große praktische Wahrheit

aus dem Auge verloren, daß der Gott, welcher das

Ende bestimmt hat, auch die Mittel anweist, um das

Ende zu erreichen, und daß es die höchste Thorheit ist, das

Ende erreichen zu wollen, ohne jene Mittel zu benutzen.

Soll das nun heißen, daß alle die Kinder christlicher

Eltern notwendig zu der Zahl der Auserwählten Gottes

gehören, daß sie unfehlbar errettet werden müssen, und

daß die Schuld nur an den Eltern liegt, wenn sie verloren

gehen? Nichts von alledem. Wir wissen in dieser

Beziehung nichts von den ewigen Vorsätzen und Ratschlüssen

Gottes. Ihm allein sind alle Seine Werke

von Anbeginn der Welt bekannt. Kein sterbliches Auge hat

jemals einen Blick in das Buch der geheimen Ratschlüsse

Gottes geworfen. Soweit erstreckt sich die Tragweite

jenes Ausdrucks: „Du und dein Haus," nicht. Dennoch

228

lehrt er uns zwei überaus wichtige Dinge. Zunächst

macht er uns mit einem köstlichen Vorrecht, dann aber

auch mit einer heiligen Verantwortlichkeit bekannt. Es ist

ohne alle Frage das Vorrecht aller christlicher Eltern,

für ihre Kinder auf Gott zu rechnen; zugleich aber ist

es ihre bestimmte Pflicht, sie für Gott zu erziehen.

Das sind die beiden Seiten dieser so wichtigen

Frage. Das Wort Gottes trennt nie den Hausvater von

seinem Hause. „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren."

„Glaube an den Herrn Jesum, und du wirst errettet

werden, du und dein Haus." (Luk. 19; Apstgsch. 16.)

Nach diesem wichtigen Grundsätze handelnd, haben wir

ohne Zögern den Boden Gottes für unsre Kinder einzunehmen

und sie sorgfältig für Ihn zu erziehen, indem wir

für das Resultat auf Ihn rechnen. Wir haben gleichsam

von ihrem ersten Atemzuge an zu beginnen und von Woche zu

Woche, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr ihre Erziehung

nach diesem Grundsatz fortzusetzen. Gerade so wie

ein geschickter und sorgsamer Gärtner seine Fruchtbäumchen,

wenn sie noch jung und biegsam sind, an der Mauer

hinaufleitet, damit sie der erwärmenden und belebenden

Sonnenstrahlen teilhaftig werden, so sollten auch wir

unsere Kinder, so lange sie noch jung und empfänglich

find, für Gott zu bilden suchen. Wäre es nicht höchst

thöricht, wenn jener Gärtner warten wollte, bis die Zweige

alt und knorrig geworden sind? Sie dann noch biegen

und leiten zu wollen, wäre ganz vergebliche Mühe. Und

ebenso würde es den höchsten Grad von Thorheit verraten,

wenn wir unsre Kinder jahrelang unter der bildenden

Hand Satans, der Welt und der Sünde belassen wollten,

um dann mit ihrer Erziehung für den Herrn zu beginnen.

229

Doch man möge uns nicht mißverstehen! Wir denken

durchaus nicht daran, daß die Gnade erblich sei, oder

daß man durch irgend eine Handlung oder durch die Erziehung

Kinder zu Christen machen könne. Nichts liegt

uns ferner! Die Kinder christlicher Eltern müssen ebenso

gut, wie alle andere, durch Wasser und Geist geboren

werden, anders können sie das Reich Gottes nicht sehen,

noch in dasselbe eingehen. Alles dieses ist so klar, wie

die Schrift es machen kann; aber ebenso klar und bestimmt

spricht die Schrift andrerseits von der Pflicht der

Eltern, ihre Kinder „aufzuziehen in der Zucht und Ermahnung

des Herrn."

Was bedeuten diese Worte? Worin besteht diese

Erziehung? Das sind in der That wichtige Fragen für

die Herzen und Gewissen aller christlicher Eltern. Es ist

zu befürchten, daß wenige von uns wirklich verstehen,

was christliche Erziehung ist und wie sie ansgeübt werden

muß. Sie besteht nicht darin, daß wir unsere Kinder

eine Menge von Bibelstellen und geistlichen Liedern auswendig

lernen lassen und die Bibel gleichsam zu einem

Ausgabenbuch für sie machen. Obwohl es sehr gut ist,

dem Gedächtnis des Kindes Bibelverse und gute Lieder

einzuprägen, so müssen wir uns doch wohl davor hüten,

das Christentum dem Kinde zu einer lästigen, beschwerlichen

Sache zu machen. Was uns not thut, ist, unsere

Kinder mit einer durchaus christlichen Atmosphäre zu umgeben.

Stets sollten sie die reine Luft der neuen Schöpfung

einatmen und in ihren Eltern die herrlichen Früchte eines

geistlichen Lebens erblicken — Liebe, Friede, Reinheit,

Zartheit, Freundlichkeit, Selbstlosigkeit, Geduld und eine

liebende Sorge für andere. Diese Dinge üben einen

230

mächtigen moralischen Einfluß auf das empfängliche Gemüt

des Kindes aus, und der Geist Gottes wird sie

sicherlich benutzen, um dadurch sein Herz zu Christo zu

ziehen, zu dem Mittel- und Ausgangspunkt aller dieser

lieblichen Eigenschaften.

Wer könnte auf der andern Seite die verderbliche

Wirkung beschreiben, die es auf unsre Kinder haben muß,

wenn sie an uns Eigenliebe, Zorn, Weltlichkeit oder ein

Trachten nach irdischen Gütern entdecken? Könnten wir

wohl unsere Kinder aus Aegypten herausführen, wenn

die Grundsätze und Gewohnheiten Aegyptens in unserm

ganzen Verhalten zu Tage treten? Vielleicht sagen wir

ihnen, daß wir nicht zu der Welt gehören, daß sie eine

Wüste für uns ist und wir uns auf der Reise zu dem

himmlischen Kanaan befinden; aber was nützt dies, wenn

unsere Wege, unser Thun und Lassen in völligem Widerspruch

stehen mit unserm Bekenntnis? Unsere Kinder

werden nur zu bald diesen großen Widerspruch entdecken;

sie haben dafür ein sehr scharfes Auge. Und wie verhängnisvoll

und verderblich die Folgen sind, können wir

jeden Tag beobachten.

Vielleicht wird man uns erwidern, die Kinder seien

doch verantwortlich, auch wenn ihre Eltern ihre Berufung

nicht erfüllten. Das ist wahr; aber kann dies solche

Eltern auch nur für einen Augenblick entschuldigen,

oder ihre Verantwortlichkeit verringern? Es steht uns

schlecht an, die Verantwortlichkeit unsrer Kinder angesichts

der Thatsache hervorzuheben, daß wir unsrer eigenen nicht

entsprochen haben. Sie sind ohne Zweifel verantwortlich;

aber auch wir find es. Und wenn wir es unterlassen,

unsern Kindern die lebendigen und unwidersprechlichen Be

231

weise zu liefern, daß wir Aegypten für immer verlassen

haben, brauchen wir uns dann zu wundern, wenn sie darin

zurückbleiben? Was kann es nützen, von der Wüste oder

von Kanaan zu reden, während unser ganzes Leben den

Geist der Welt verrät? Unser Leben redet eine weit eindringlichere

Sprache, als unsere Worte, und das erstere

straft die letzteren Lügen. Unsre Kinder urteilen aber

naturgemäß nach unserm Verhalten, nicht nach der Sprache

unserer Lippen. Wenn nun die beiden nicht in Uebereinstimmung

sind, was kann es anders in unsern Kindern

Hervorrufen, als Abneigung gegen alle Religion und den

Gedanken, daß das Christentum ein bloßer Schein ist?

Wie überaus ernst ist alles dieses! Wie sollten sich

alle christliche Eltern mit Aufrichtigkeit in der Gegenwart

Gottes prüfen, ob sie wirklich ihre Kinder in Abhängigkeit

von Gott erziehen und ihnen in allen Dingen ein

treues Vorbild sind! Die Frage der Erziehung unsrer

Kinder ist eine weit wichtigere, als manche von uns zu

denken scheinen. Nur die Macht des Heiligen Geistes

kann uns zu dem wichtigen und heiligen Werke passend

machen in diesen letzten schweren Tagen. Doch die Gnade

Gottes genügt auch hierfür. Wir dürfen das völlige

Vertrauen hegen, daß Gott die schwächste Bemühung

unserseits segnen wird, wenn wir anders aufrichtig

wünschen, unsre Kinder aus Aegypten herauszuführen.

Doch diese Bemühungen müssen geschehen, und zwar mit

dem wirklichen, ernsten Vorsatze unsrer Herzen. Und hier

möchten wir in brüderlicher Liebe allen christlichen Eltern

es ins Gedächtnis rufen, wie wichtig es ist, unsere Kinder

von ihrer frühesten Jugend an an einen unbedingten Gehorsam

zu gewöhnen. Wir glauben, daß in dieser Be

232

Ziehung auch unter uns viel gefehlt wird, und wir haben

uns dafür vor Gott zu richten und zu demütigen. Infolge

einer falschen Zärtlichkeit, oder auch aus Nachlässigkeit

lassen wir unsre Kinder oft ihrem eigenen

Willen und Vergnügen folgen; und haben wir ihnen einmal

erlaubt, diese Bahn zu betreten, so schreiten sie mit

Riesenschritten auf derselben voran. Und was ist das

Ende dieses Weges? Ein überaus trauriges! Wie mancher

Sohn ist auf diesem Wege dahin gelangt, die Ermahnungen

seiner Eltern zu verachten, ihre Autorität völlig von

sich abzuschütteln, die heilige Ordnung Gottes mit Füßen

zu treten und den Familienkreis zu einem Schauplatz der

beklagenswertesten Auftritte zu machen!

Wir brauchen nicht zu sagen, wie schrecklich dieses

ist und wie sehr cs mit den Gedanken Gottes, wie Er

sie uns in Seinem Worte geoffenbart hat, im Widerspruch

steht. Doch haben die Eltern solcher Kinder sich nicht

selbst dafür zu tadeln? Gott hat die Zügel der Regierung

und die Rute der Autorität in die Hände der Eltern gelegt;

wenn sie nun diese Zügel aus Nachlässigkeit ihren

Händen entgleiten lassen, oder aus falscher Zärtlichkeit

und Schwäche die Rute nicht anwenden, brauchen wir

uns dann über die Resultate zu wundern? Eine gute

Erziehung übt einen unermeßlichen Einfluß auf Charakter

und Gemüt des Kindes aus. Wir können es als eine

Regel aufstellen — obwohl es hie und da Ausnahmen

geben mag — daß mehr oder weniger das aus unsern

Kindern wird, was wir aus ihnen machen. Halten wir

sie zum Gehorsam an, so werden sie gehorsam sein; erlauben

wir ihnen, ihrem eigenen Willen zu folgen, so

wird das Gegenteil der Fall sein.

233

Sollen wir denn stets die Zügel straff anziehen und

unaufhörlich die Rute gebrauchen? Durchaus nicht. Eine

allzustrenge Behandlung ist ebenso verkehrt, wie eine zu

zarte. Ein Kind sollte von frühester Jugend an belehrt

werden, daß seine Eltern nur sein Bestes wollen, daß

aber auch ihr Wille unter allen Umständen ausgeführt

werden muß. Nichts ist einfacher als das. Für ein wohlerzogenes

Kind genügt schon ein Blick oder ein Wort,

um es von verkehrten Dingen zurückzuhalten. Das wahre

Geheimnis einer erfolgreichen Erziehung liegt unsers Erachtens

in der richtigen Anwendung der Strenge und der

Zärtlichkeit. Wenn Eltern von Anfang an ihre Autorität

aufrecht halten, so mögen sie so viel Liebe und Zärtlichkeit

beweisen, als ihre Herzen es nur wünschen mögen.

Empfängt das Kind wirklich das Gefühl und Bewußtsein,

daß die Zügel und die Rute unter der Leitung eines

gesunden Urteils und einer wahren Liebe stehen, so wird

es sich verhältnismäßig leicht erziehen lassen.

Mit einem Worte, Festigkeit und zärtliche Liebe sind

die beiden wesentlichen Grundsätze einer gesunden Erziehung

— eine Festigkeit, welche sich nie durch den Eigenwillen

des Kindes, noch auch durch die Gefühle falscher

Zärtlichkeit erschüttern läßt, und eine Liebe, welche jedes

wahren Bedürfnisses und jedes rechtmäßigen Wunsches des

Kindes Rechnung trägt. So handelt unser himmlischer

Vater auch mit uns, und Er ist hierin, wie in allem

andern, unser vollkommenes Vorbild. Wie geschrieben

steht: „Ihr Kinder, gehorcht euern Eltern in allem!" so

steht auch geschrieben: „Ihr Väter, ärgert eure Kinder

nicht, auf daß sie nicht mutlos werden." (Kol. 3, 20. 21.)

Und wenn an einer andern Stelle gesagt wird: „Ihr

234

Kinder, gehorcht euer« Eltern im Herrn, denn das ist

gerecht;" so wird auch sogleich hinzugefügt: „Und ihr

Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn, sondern

ziehet sie auf in der Zucht und Ermahnung des Herrn."

(Eph. 6, 1. 4.) Kurz, das Kind muß gehorchen lernen,

zugleich aber muß das gehorsame Kind das Vorrecht genießen,

in dem Sonnenschein elterlicher Zuneigung zu

wandeln. Das ist unsre Ansicht von christlicher Erziehung. *)

Und wir hoffen zum Herrn, daß die obigen Betrachtungen

für die Herzen und Gewissen vieler christlicher Eltern zum

Segen sein mögen, um in ihnen ein tiefes Bewußtsein

von der hohen und heiligen Verantwortlichkeit zu erwecken,

welche im Blick auf ihre geliebten Kinder auf ihnen ruht.

Indem wir jetzt diesen Gegenstand verlassen, kommen wir

zu dem vierten und letzten der Einwürfe Satans gegenüber

dem Gebote Jehova's.

*) Näheres über diesen Gegenstand findet der Leser in einem

(im Verlage des Botschafters) erschienenen Schriftchen: „Du und

dein Haus, oder der Christ -in seinem Hause."

4. „Und Pharao rief Mose und sprach: Ziehet hin

und dienet Jehova, nur eure Schafe und eure Rinder sollen

zurückbleiben; auch eure Kindlein mögen mit euch ziehen."

(2. Mose 10, 24.) Welch eine Hartnäckigkeit! Pharao

giebt jetzt zu, daß die Kindlein mit ihren Eltern ziehen

sollen; er kann sie nicht länger zurückhalten. Gottes Hand

liegt zu schwer auf ihm und auf feinem ganzen Lande.

Aber der Feind hat noch einen letzten Einwurf. Kann

er von dem Volke kein einziges Glied zurückhalten, so sollen

doch wenigstens ihre Schafe und Rinder zurückbleiben.

Er will sie auf diese Weise der Möglichkeit und der Mittel

berauben, dem Herrn zu dienen; er will sie leer entlassen.

235

Doch beachten wir die edle Antwort Mose's, des

treuen Knechtes Jehova's. Sie ist von hoher, moralischer

Schönheit. „Und Mose sprach: Auch Schlachtopfer und

Brandopfer mußt du in unsere Hände geben, daß wir

Jehova, unserm Gott, opfern; so muß auch unser Vieh

mit uns ziehen, nicht eine Klaue darf dahinten bleiben,

denn davon werden wir nehmen, Jehova, unserm Gott,

zu dienen; und" — erwägen wir Wohl diese inhaltsvollen

Worte! — „wir wissen nicht, womit wir Jehova

dienen sollen, bisdaß wirdaselbst hinkommen."

(V. 25. 26.)

Wir müssen völlig und mit klarem Bewußtsein auf

göttlichem Boden stehen, ehe wir uns irgend ein wahres

Urteil über die Natur und die Ausdehnung Seiner Ansprüche

bilden können. So lange wir uns in einer weltlichen

Atmosphäre bewegen und uns leiten lassen durch

einen weltlichen Geist, durch weltliche Grundsätze und

Gegenstände, ist es völlig unmöglich, ein richtiges Bewußtsein

von dem zu haben, was für Gott angenehm und

passend ist. Wir müssen stehen auf dem Boden einer vollbrachten

Erlösung, in dem vollen Lichte der neuen Schöpfung,

getrennt von diesem gegenwärtigen, bösen Zeitlauf, ehe

wir dem Herrn in der rechten Weise dienen können. Nur

dann, wenn wir durch die mächtige Wirksamkeit des in uns

wohnenden Geistes zu erkennen vermögen, wohin wir durch

den Tod und die Auferstehung Jesu Christi gebracht sind,

wenn wir die Bedeutung der „drei Tagereisen" verstehen,

sind wir fähig, zu unterscheiden, worin ein wahrer christlicher

Dienst besteht. Aber dann werden wir auch völlig

verstehen und erkennen, daß alles, was wir sind und haben,

Ihm angehört. „Wir wissen nicht, womit wir Jehova

236

dienen sollen, bis daß wir daselbst hinkommen." Kostbare,

gesegnete Worte! Möchten wir ihre Kraft und ihre praktische

Anwendung besser verstehen! Mose, der Mann Gottes,

begegnet allen Einwürfen Satans einfach damit, daß er

mit aller Entschiedenheit an dem Gebote Jehova's festhält:

„Laß mein Volk ziehen, daß sie mir ein Fest halten in

der Wüste!"

Das ist zu allen Zeiten und unter allen Umständen

der einzig wahre Grundsatz. Anders ist es unmöglich, Gott

zu dienen. Wir müssen völlig getrennt sein von Aegypten

und von seinen verderblichen Einflüssen. Das Gebot und

der Maßstab Gottes müssen aufrecht gehalten werden trotz

aller Einwürfe und Widersprüche des Feindes. Sobald

wir diesen Maßstab auch nur um eines Haares Breite

verlassen, hat Satan gewonnenes Spiel, und wahrer christlicher

Dienst und wahres Zeugnis für Gott sind unmöglich

gemacht. Möchten wir uns deshalb „unbefleckt

erhalten von der Welt," um unserm Herrn in würdiger

Weise zu dienen, bis Er kommt!

Schwere Ketten einst mich banden,

Doch der Herr zerbrach sie all'!

Herr behüte, Herr bewahre

Deinen Knecht vor jedem Fall!

Gedanken über das Zusammenkommen der

Gläubigen.

(Fortsetzung.)

Von welcher Wichtigkeit ist es daher, sich genaue

Rechenschaft zu geben über die Bedeutung und Tragweite

des Wortes: „im Namen Jesu versammelt!" Wie

bereits gesagt, erinnert uns der Name Jesu an alles das,

237

was Er selbst in Seiner Person und in Seinem Charakter

ist, sowie an das Werk, daS Er vollbracht hat zur

Verherrlichung Seines Gottes und Vaters und zur Errettung

der Seinigen und zu ihrer Versammlung um Ihn.

Jesus heißt: Jehova Erretter. Der, welcher diesen Namen

trägt, ist der eingeborne und vielgeliebte Sohn Gottes,

das Wort, welches Fleisch ward, um uns die völlige

Offenbarung Gottes, als Vater, zu geben. Es ist der

Menschensohn, gekommen, um zu leiden und zu sterben

für unsere Sünden, um das Opfer zur Abschaffung der

Sünde darzubringen, der aber, auferweckt durch die Herrlichkeit

des Vaters, erhöht und zum Herrn und zum

Christus gemacht worden ist. Droben ist Er unsere Gerechtigkeit

vor Gott. Er ist unser großer Hohepriester,

welcher für uns vor Gott erscheint und immerdar lebt,

um für uns zu bitten. Durch Ihn kann stets das Opfer

des Lobes aus unsern Herzen zu Gott emporsteigen. Doch

noch mehr. Gott hat auch alles Seinen Füßen unterworfen

und Ihn, als Haupt über alles, der Versammlung

gegeben, welche Sein Leib ist. Hinaufgestiegen in die

Höhe, hat dieses himmlische Haupt den Heiligen Geist

hernieder gesandt, welcher nicht allein die einzelnen Gläubigen

auf den Tag der Erlösung versiegelt, sondern sie

auch mit Christo vereinigt, als Glieder Seines Leibes,

und in ihnen insgesamt wohnt, als solchen, welche

aufgebaut werden zu einer Behausung Gottes im Geiste.

(Eph. 2, 21. 22.)

Das ist die glorreiche und gesegnete Person Dessen,

der sich in Seiner Gnade herabläßt, in der Mitte von

Zweien oder Dreien, die in Seinem Namen versammelt

sind, Platz zu nehmen. Und was Seinen Charakter be

238

trifft, so stellt uns das Wort Ihn nicht allein dar als

Den, der uns liebt und uns gewaschen hat von unsern

Sünden in Seinem Blute, sondern auch als den Heiligen,

den Wahrhaftigen und den Getreuen. So ist man denn,

indem man Ihn also anerkennt, in Seinem Namen versammelt.

Ohne Zweifel können errettete Seeleu, angezogen

durch die Gnade und Vortrefflichkeit der Person

Jesu, sich auf göttlichem Boden — „in Seinem Namen" —

versammeln, ohne daß sie sich genaue Rechenschaft zu

geben vermöchten über alles das, was Der ist, welcher

sich in ihrer Mitte befindet. Indes dürfen wir die Herrlichkeit

Seiner Person und die Vollkommenheit Seines

Werkes nicht erniedrigen; und zum richtigen Verständnis

des vollen Wertes, sowie des Ernstes des Zusammenkommens

in Seinem Namen ist es wichtig, Den immer

besser kennen zu lernen, um dessen gesegnete Person wir

uns versammeln und in welchem sich alle Hülssguellen

befinden, damit wir wohl gegründet seien in Ihm. Wir

haben alle zn wachsen „in der Erkenntnis unsers Herrn

Jesu Christi." Einem Herzen, das an Ihm hängt, offenbart

Er sich immer mehr. Maria Magdalena mochte noch

sehr unwissend sein, aber sie begehrte nichts anders, als

ihren Herrn, und Jesus giebt sich ihr zu erkennen in

der Fülle Seiner Gnade und als Den, der die Kinder

Gottes in eins versammelt. (Joh. 20.) Dasselbe wird

der Fall sein mit jeder aufrichtigen Seele, die nichts

anders wünscht, als die Verherrlichung Christi.

Aus dem bisher Gesagten geht indessen hervor, daß

das Zusammenkommen im Namen Jesu nur dann eine

Wirklichkeit sein kann, wenn Jesus für uns persönlich ein

Erretter ist, und wir uns der Errettung in bewußter

239

Weise erfreuen, das heißt, wenn wir die Gewißheit haben,

daß unsere Sünden vergeben und daß wir versöhnt sind

und Frieden haben mit Gott durch unsern Herrn Jesum

Christum. Welche Freude erfüllt das Herz, wenn wir,

versammelt im Namen des Heilandes, wissen, daß Derjenige,

in welchem wir eine ewige Erlösung gefunden haben,

in unserer Mitte gegenwärtig ist! Das Zusammenkommen

im Namen Jesu ist also nicht eine bloße Versammlung

von Gläubigen und Nichtgläubigen, nur zu dem Zweck,

eine Predigt zu hören, obwohl der Geist Gottes auch da

wirksam sein kann zum Segen der Seelen. Alle diejenigen,

welche Christum nicht kennen, können sich nicht

in Seinem Namen versammeln. Es sind die Erretteten,

welche dies im Namen ihres Erretters thun. Indessen

mögen, wenn sie also versammelt sind, auch Nichtgläubige

zugegen sein, und diese werden, wenn die Gegenwart des

Herrn verwirklicht wird, durch die Wirksamkeit des Geistes

dieselbe erkennen und ihre gesegneten Wirkungen verspüren

können. (Vergl. 1. Kor. 14, 24. 25.)

Derselbe Jesus, welcher Seine Gegenwart inmitten

derer, die in Seinem Namen versammelt sind, verheißen

hat, ist der Sohn Gottes, der gekommen ist, um uns den

Namen des Vaters zu offenbaren. (Joh. 17, 26.) Ja,

mehr als das; Er hat uns in das Verhältnis der Kindschaft

zu Gott eingeführt. Durch den Glauben an Ihn

werden wir Kinder Gottes; durch den Heiligen Geist wird

uns das Leben aus Gott mitgeteilt, (Joh. 1, 12. 13;

Z, 3. 5; 20, 17. 22.) und der Heilige Geist selbst, indem

Er in uns Wohnung gemacht, hat uns versiegelt auf den

Tag der Erlösung. Er ist der Geist der Sohnschaft, in

welchem wir rufen: „Abba, Vater!" und Er zeugt mit

240

unserm Geiste, daß wir Kinder Gottes sind. (Eph. 1, 13;

Röm. 8, 15. 16.) Wir ersehen hieraus, daß ein Zusammenkommen

im Namen Jesu voraussetzt, daß man das

Leben aus Gott, das ewige Leben besitzt, da es denen

zugehört, die da glauben an den Namen des Sohnes

Gottes; (1. Joh. 5, 13.) zweitens setzt eS voraus, daß

man sich in bewußter Weise seiner Gotteskindschaft erfreut,

da Jesus die Seinigen in dieselbe einführt; schließlich

sieht man, daß es der Heilige Geist ist, der uns um

Jesum versammelt und in uns die Kraft ist, um uns

alles das genießen zu lassen, was ein solches Zusammenkommen

in sich schließt. Es ist also nicht irgend eine

menschliche Einrichtung, durch welche wir uns so vereinigt

finden, sondern der Heilige Geist, welcher, von Christo gegeben,

uns zu Christo führt und uns die Fähigkeit giebt,

Seine Gegenwart zu genießen. Ist das nicht in Wahrheit

das einzig Passende für Kinder Gottes, für solche,

die das Leben aus Gott besitzen? Ist es nicht ein hohes

Glück für sie, sich hienieden schon unter dem Auge des

Vaters versammelt zu finden, und zwar um Den, welcher

der Erstgeborene ist unter vielen Brüdern?

Aber das ist noch nicht alles. Wenn wir versammelt

sind im Namen Jesu, so erkennen wir Ihn als Herrn

an, als Den, der ein Recht hat an den Gehorsam Seiner

Knechte, welchen Er einen Dienst anweist, wie es für

jeden Einzelnen passend ist. Wenn man sich daher nach

menschlichen Gedanken und menschlichem Gutdünken versammelt,

indem man irgend etwas einführt, was das Wort

nicht bestätigt, so ist das kein Zusammenkommen im

Namen Jesu; denn Jesum als Herrn anerkennen, heißt,

sich der Autorität unterwerfen, welche Er besitzt, um alles

241

zu ordnen und zu leiten; und Er thut dies durch Seinen

Geist in der Mitte derer, welche sich in der Abhängigkeit

von Ihm allein versammeln. Ihn als Herrn anerkennen

heißt, in Wahrheit und Heiligkeit Seinem Worte unterworfen

bleiben. Wenn diese Herrschaft Christi anerkannt

wird, so werden wir erfahren, daß Er, nach Seiner Treue,

inmitten jener „Zwei oder Drei" ist, so groß ihre Schwachheit

und so gering ihr Ansehen in den Augen der Menschen

auch sein mögen. Er ist da als Herr, um sie

durch Seine Macht zu bewahren und ihr Zeugnis zu

Seiner Verherrlichung zu erhalten. Welch eine Gnade

und Sicherheit! Welch eine Segnung! Möchten wir ein

solches Zusammenkommen um Jesum allein immer mehr

schätzen und es in der Kraft des Heiligen Geistes verwirklichen!

Wo könnten wir unter den vortrefflichsten Einrichtungen,

welche die Menschen zum Zweck des Zusammenkommens

zum Gottesdienste getroffen haben, etwas finden,

das den Bedürfnissen des göttlichen Lebens in uns besser

entspräche, als die Gegenwart Jesu unter uns? Diese

aber findet sich nur da, wo man sich in Seinem Namen

versammelt, und zwar in der Unterwürfigkeit unter Ihn,

als Herrn.

Indes ist Christus auch „das Haupt der Versammlung,

welche Sein Leib ist." Das Wort lehrt uns, daß

es „einen Leib und einen Geist" giebt, wie wir auch

berufen worden in „einer Hoffnung" unsrer Berufung.

Man wird nicht geboren als ein Glied dieses Leibes, denn

wir sind von Natur „Kinder des Zornes;" man wird es

auch nicht durch die Wassertaufe, noch durch irgend ein

religiöses Bekenntnis, sondern, wie der Apostel sagt: „In

einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe getauft."

242

(1. Kor. 12, 13.) Der Heilige Geist ist das göttliche

Siegel, das dem Gläubigen aufgedrückt wird, (Eph. 1, 14.)

so daß die Glieder des Leibes aus allen denen bestehen,

welche, nachdem sie „dem Worte der Wahrheit, dem Evangelium

ihres Heils," geglaubt haben, „versiegelt" worden

sind mit dem Heiligen Geiste der Verheißung," welche

Kinder Gottes sind und „den Geist der Sohnschaft"

empfangen haben, „in welchem wir rufen: Abba, Vater!"

Alle Glieder des Leibes sollten sich daher mit vollem Bewußtsein

der völligen, durch Christum vollbrachten Erlösung,

der Vergebung, des Friedens, sowie eines kraft Seines

Werkes vollkommnen Gewissens erfreuen. Aber-leider ist

dies infolge mangelhafter Belehrung nicht immer der Fall.

Der unermeßliche Schatz der Reichtümer der Gnade ist

Wohl da und gehört den Gläubigen, aber sie versäumen

es oft, dieselben zu genießen in der völligen Freiheit,

womit Christus sie frei gemacht hat — denn „wo der

Geist des Herrn ist, da ist Freiheit."

Von diesem also gebildeten einen Leibe ist Christus

das Haupt, und schon dieses beweist deutlich, daß die

Glieder wirklich des Lebens teilhaftig sein müssen, welches

das Haupt, d. i. Christus im Himmel, besitzt. Anders ist

eine solch innige Verbindung unmöglich. Und in der That sind

sie mit Ihm verbunden durch den Heiligen Geist, welchen

Er gesandt hat, nachdem Er hinaufgestiegen ist in die

Höhe; wie geschrieben steht: „Wer aber dem Herrn anhängt,

ist ein Geist mit Ihm." (1. Kor. 6, 17.) Als

Glieder des Leibes Christi sind wir zugleich je einer des

andern Glieder, desselben Lebens teilhaftig, verbunden mit

demselben Haupte durch denselben Geist. Das Wort Gottes

erkennt keinen andern Leib an und verurteilt ebendeshalb

243

die verschiedenen Benennungen, welche in der Christenheit

bestehen und thatsächlich diese Einheit leugnen. Wir können

uns, wie schon gesagt, nicht im Namen Jesu versammeln,

ohne Ihn als das Haupt der Versammlung anzuerkennen,

welche „Sein Leib ist, die Fülle Dessen, der alles in allem

erfüllt." Diesen Grundsatz der Einheit des Leibes, welcher

aus der Einheit des einen Geistes hervorgeht, haben wir

festzuhalten und zu bezeugen, und zwar sind wir berufen,

dies zu thun als ein Zeugnis gegenüber den fast zahllosen

Benennungen und Sekten der Christenheit; wir

sollen uns befleißigen, ihn zu verwirklichen, indem wir

uns versammeln auf dem einzigen Grunde, welchen uns

das Wort für die schweren Zeiten angiebt, nämlich „im

Namen Jesu," des Hauptes des einen Leibes.

Damit soll nicht gesagt sein, daß diejenigen, welche

sich im Namen Jesu versammeln, indem sie jenen Grundsatz

bekennen und aufrechthalten und sich befleißigen, durch

die Gnade des Herrn ihn zu verwirklichen, den einen Leib

bilden, mit Ausschluß aller übrigen Christen. Keineswegs

l Alle Gläubige, die wirklich mit dem Heiligen Geiste

getauft sind, gehören zu diesem einen Leibe, und wir freuen

uns, sagen zu dürfen, daß es solche Gläubige in allen

Benennungen giebt. Viele von ihnen kennen aber jene

Wahrheit nicht, oder verstehen doch nicht ihre Tragweite

und Wichtigkeit; andere nehmen sie zwar an, suchen aber

nicht, sie zu verwirklichen, oder denken, eine Verwirklichung

derselben sei unmöglich. Nichtsdestoweniger aber besteht

die Thatsache, daß es nur einen Leib giebt, sowie die

Verpflichtung für alle, die diese Wahrheit kennen, dieselbe

aufrechtzuhalten, samt allen ihren Folgerungen, eingedenk

dessen, daß in der Mitte derer, welche im Namen Jesu

244

zusammenkommen, Jesus, das Haupt des Leibes, gegenwärtig

ist. Auf diese Weise werden sie der Wahrheit

Zeugnis geben. Ohne Zweifel haben sie es in der Liebe

zu thun und mit Geduld gegen die Unwissenden, aber der

Wahrheit gemäß und im Gehorsam.

(Fortsetzung folgt.)

Ueberführung, Buße und Vergebung.

In 2. Sam. 12 werden uns diese drei wichtigen

Dinge: Ueberführung, Buße und Vergebung vor Augen

gestellt. Wir werden stets finden, daß dieselben unzertrennlich

mit einander verbunden sind, ja, daß das eine

notwendig aus dem andern hervorgeht.

David hatte sich einer schweren Sünde schuldig gemacht.

Er hatte Uria, den Hethiter, durch das Schwert

der Kinder Ammon ermorden lassen und dann das Weib

Uria's sich zum Weibe genommen. „Aber die Sache, die

David gethan, war übel in den Augen Jehova's." David

indes war blind über das Schreckliche seiner Sünde. Er

war ohne Zweifel verhärtet durch den Betrug der Sünde,

und vielleicht war es ihm nahezu gelungen, das Andenken

an das schreckliche Verbrechen, dessen er sich schuldig gemacht

hatte, aus seinem Herzen zu Verbannen.

Wir sehen hierin ein Bild des Menschen von Natur.

Er lebt in Unabhängigkeit von Gott und deshalb in

Sünde. Denn die Sünde ist Gesetzlosigkeit oder Unabhängigkeit

von Gott, und das ist es, was den natürlichen

Menschen kennzeichnet. Er sündigt, aber er vergißt

es wieder; und wenn hie und da sein Gewissen erwacht

und ihn verurteilt, so entschuldigt er sich, und es

245

gelingt ihm gewöhnlich, sein Gewissen wieder einzuschläfern.

Er sagt sich: „Ich bin nicht so sehr zu tadeln; ich habe

noch lange nicht so schlecht gehandelt, wie der oder jener,

und Gott ist ja barmherzig." Und damit beruhigt er sich

und geht unbeirrt seines Weges weiter.

Ohne Zweifel mußte auch David, der gefallene

König, zu solchen Mitteln seine Zuflucht nehmen, um die

Stimme seines Gewissens zum Schweigen zu bringen, und

wie es scheint, war ihm dies ziemlich gut gelungen. Denn

als der Prophet Nathan zu ihm kam und ihm das

Gleichnis von dem reichen Manne erzählte, der dem Armen

sein einziges Lamm raubt, um es für seinen Gast zu

schlachten, da wurde er zornig und rief: „So wahr Jehova

lebt, der Mann ist ein Kind des Todes, der dieses

gethan hat!" (V. 5.) Ach! wie schnell war er bereit,

andere zu richten — und er urteilte gerecht — aber wie

wenig war er darauf vorbereitet, durch den Propheten des

Herrn gerade jener Sünde beschuldigt zu werden, welche

seinen Zorn in so hohem Maße erregte! Mit welch niederschmetternder

Gewalt müssen die göttlich überführenden

Worte: „Du bist der Mann!" in sein Ohr gedrungen

sein!

Doch das, was Jehova damals durch Seinen Propheten

dem schuldbeladenen Könige zurufen ließ, dasselbe

läßt Er heute jedem Menschen von Natur verkündigen.

Der Mensch mag sich entschuldigen und seinen Nächsten

richten und verurteilen; Gott aber sendet Sein Wort zu

einem jeden und läßt ihm sagen: „Du bist der

Mann!" Ein jeder hat es persönlich mit Gott zu thun, und

das Evangelium überzeugt, durch die Kraft des Heiligen

Geistes, einen jeden von seiner Schuld. Es steht vor dem

246

Menschen und ruft ihm mit unfehlbarer Bestimmtheit zu:

„Du bist ein Sünder! Du bist der Mann!"

Gehst du noch auf den Wegen der Sünde dahin,

mein Leser, ohne Gott und ohne einen Heiland? Bist du

noch nicht überzeugt von deiner Schuld und von deinem

völligen Verderben? Sagst du: „Ich bin moralisch, religiös

und ehrbar? ich halte mich fern von allen Leidenschaften

und Lastern?" Siehe, Gottes Wort ruft dir zu: „Du

bist der Mann!" Das Gesetz Gottes sagt: „Verflucht

ist jeglicher, der nicht bleibt in allem, was geschrieben

ist im Buche des Gesetzes, es zu thun!" Du hast das

Gesetz tausendfach übertreten, und deshalb: „Du bist

der Mann!" Auch sagt es: „Die Seele, welche sündigt,

soll des Todes sterben." Du hast gesündigt, deshalb:

Du bist der Mann! Es handelt sich nicht um deinen

Nächsten, nicht um irgend einen Menschen auf der Welt,

sondern um dich: „Du bist der Mann!" Du stehst

vor Gott als ein überführter, schuldbeladener Sünder,

und deshalb bitte ich dich, die Worte Nathans in ihrer

ganzen Schärfe auf dich anzuwenden.

Jene vier Worte thaten ein Werk in Davids Gewissen,

das die aufrichtigste Buße hervorrief. Sie waren

der Pfeil Gottes, der sich tief in sein Gewissen eingrub

und ihn in ernster Demütigung vor Gott niederwarf.

Hören wir die Sprache seines gebrochenen Herzens: „Sei

mir gnädig, o Gott, nach Deiner Güte! Nach der Größe

Deiner Barmherzigkeit tilge meine Uebertretung! Wasche

mich völlig von meiner Ungerechtigkeit und reinige mich

von meiner Sünde! Denn ich kenne meine Uebertretungen,

und meine Sünde ist stets vor mir. An Dir, an Dir

allein habe ich gesündigt und das Böse in Deinen Augen

247

gethan, damit Du gerechtfertigt seiest in Deinem Reden,

rein in Deinem Richten." (Ps. 51, 1—4.) Eine wahrhaft

göttliche Ueberführung von der Sünde leitet stets

zu einer wahren, unbereubaren Buße. David ist vor das

Angesicht Gottes selbst gestellt; es ist nicht nur eine Sache

zwischen ihm und Uria, sondern er hat gesündigt

gegen Jehova. Hier sehen wir, was Sünde ist; sie

ist stets gerichtet gegen den Herrn. Er ist der Schöpfer

und Erhalter des ganzen Weltalls, und gegen Ihn

sündige ich, wenn ich gesetzlos handle. „Gegen den Herrn"

— „gegen Dich allein habe ich gesündigt" — das ist es,

was die Seele fühlt und bekennt, wenn sie göttlich überführt

wird. Wir mögen gegen unsere Mitmenschen gesündigt

haben, aber im Grunde ist es nichts anderes, als

ein Sündigen, ein Auflehnen Wider Gott.

Mein Leser, Gott „gebietet jetzt den Menschen, allenthalben

Buße zu thun." Hast du Seine Forderungen

anerkannt, hast du Seinem Worte in bezug auf deine

Sünden geglaubt und in wahrer, aufrichtiger Buße deine

Schuld vor Ihm bekannt? Gott erwartet und fordert

Buße, d. h. Er erwartet, daß die Seele ihre Schuld

und ihre Auflehnung gegen Seine Autorität wahrhaft

anerkenne und vor Ihm bekenne. Wahre Bekehrung besteht

nicht in bloßen Gefühlen; o nein, es muß eine

Sache des Herzens und des Gewissens sein. Sie besteht

auch nicht darin, daß ich meine bisherigen bösen Gewohnheiten

ablege, daß ich die Kirche fleißig besuche und meine

Zeit und mein Geld religiösen Zwecken widme. Nein,

mein Freund, du magst alles dieses gethan haben und

dennoch für immer verloren gehen. Du magst es gethan

haben, ohne daß dein Herz und Gewissen die Sünde

248

fühlte, und ohne daß du in wahrer Buße anerkanntest,

daß du gegen den Herrn gesündigt hast. Der Herr Jesus

sagte zu den religiösen Pharisäern, die sich für besser

hielten, als die Galiläer, deren Blut Pilatus mit ihren

Schlachtopfern vermischt hatte: „Wenn ihr nicht Buße

thut, so werdet ihr alle ebenso umkommen." (Luk. 13, 3.)

David stellte sich aus den Boden des schuldigen

Sünders und bekannte dem Herrn seine Uebertretungen,

und der Gott aller Gnade war da, um ihm mit Vergebung

zu begegnen. Sobald David zu Nathan sagt:

„Ich habe gesündigt wider Jehova," erhält er aus dem

Munde des Propheten die Versicherung: „Jehova hat auch

deine Sünde weggenommen, du wirst nicht sterben." Gott

war da, um dem Sünder in Gnade zu begegnen, sobald

sich wahre Buße zeigte und ein aufrichtiges Bekenntnis

hervorkam. Derselbe, gegen den David gesündigt hatte,

war auch allein imstande, die Sünde hinwegzunehmen,

und Er that es. „Jehova hat deine Sünde weggenommen."

Und ist es nicht heute noch gerade so? Gott, der

Gott aller Gnade, begegnet dem von seinen bösen Wegen

bußfertig zurückkehrenden Sünder mit derselben vergebenden

Gnade und errettenden Liebe, wie Er einst dem

David entgegen kam. Jesus, der Sohn Gottes, ist gestorben

für Sünder, für Verlorene; und jetzt ist Gott

fähig, in vollkommener Gerechtigkeit die Sünden zu vergeben

und den Gottlosen, der an den Herrn Jesum

Christum glaubt, zu rechtfertigen. Welch eine Vergebung

muß es sein, die uns von Gott zu teil wird als die

Frucht des kostbaren Blutes Seines geliebten Sohnes!

„OhneBlutvergießenist keineVergebung." Aber Blut ist vergossen

worden, und zwar das Blut des reinen und flecken

249

losen Lammes Gottes. Und dieses Blut ist jetzt droben

vor Gott in dem Innern des Heiligtums, so daß Er nur

Seine Gerechtigkeit erweist, wenn Er den rechtfertigt, der

an Jesum und an Sein vergossenes Blut glaubt. „Diesem

geben alle die Propheten Zeugnis, daß ein jeglicher, der

an Ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfangen wird

durch Seinen Namen." (Apstgsch. 10, 43.)

Von welch hohem, unaussprechlichem Werte sind solche

Worte, mein lieber Leser! Welch eine Fülle des Segens

enthalten sie! Wir haben uns nicht abzumühen, um durch

unsre Anstrengungen Vergebung der Sünden zu erlangen.

O, wie wäre es möglich, sie auf diesem Wege zu finden?

Nein, das Werk ist für immer und ewig vollbracht. „Es

ist vollbracht!" rief der sterbende Heiland, und jetzt sitzt

Er droben in der Herrlichkeit zur Rechten der Majestät

Gottes, als der Gegenstand unsers Glaubens und unsrer

Hoffnung. Wer an Ihn glaubt, wird nicht gerichtet,

wird nimmer beschämt werden. Gott selbst hat Ihn aus

den Toten auferweckt und Ihm Herrlichkeit gegeben, und

wir glauben durch Ihn an Gott, so daß unser Glaube

und unsre Hoffnung auf Gott ist. Könnte es einen

festeren, unerschütterlicheren Boden geben, als Gott selbst

und Sein lebendiges, ewig bleibendes Wort?

Doch erlaube mir die Frage: Kennst du Ihn als

den Gegenstand deines Glaubens und deiner Hofnung?

Kennst du Ihn als Den, der dich errettet hat? Kannst

du sagen, daß durch das kostbare Blut Christi deine

Sünden vergeben und für immer hinweggethan find?

Kannst du die herrlichen Worte auf dich anwenden: „Das

Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, reinigt uns von aller

Sünde?" (1. Joh. 1, 7.) Wenn du diese Fragen bejahen

250

kannst, o dann bist du glückselig zu preisen. Denn: „Glückselig

der, dessen Uebertretung vergeben, dessen Sünde

bedeckt ist! Glückselig der Mensch, dem Jehova die Ungerechtigkeit

nicht zurechnet und in des Geist kein Trug ist!"

(Ps. 32, 1. 2.) Könnte es ein höheres Glück geben, als

dieses? Sicherlich nicht! Aber dann solltest du jetzt auch

nichts anders begehren, als zur Ehre und Verherrlichung

Dessen zu wandeln, der so viel für dich gethan hat. Möchten

die Worte des treuen Apostels Paulus auch in bezug auf

einen jeden von uns Wahrheit sein: „Er hat mich geliebt

und sich selbst für mich dahingegeben," und deshalb: „Das

Leben für mich ist Christus!" (Gal. 2, 20; Phil. 1, 21.)

Friede, tief wie ein Strom!"

Welch ein köstliches Wort: „Friede!" — Mein

Leser, weißt du, was es heißt: „Frieden mit Gott

zu haben durch unsern Herrn Jesum Christum?"

Die wenigen Worte, welche die Ueberschrift dieses

kurzen Artikels bilden, waren das letzte Zeugnis eines

sterbenden Offiziers. Ein Sprengstück einer Granate hatte

ihm beide Kinnbacken zerschmettert und die Zunge weggerissen.

Er wurde aus dem Kampfe zum Verbandvlatz

getragen. Hier angekommeu, gab er dem ihn behandelnden

Arzte durch Zeichen zu verstehen, daß er etwas zu

schreiben wünsche. Man reichte ihm Papier und Bleistift.

Mit zitternder Hand schrieb er: „Friede, tief wie

ein Strom!" und fügte die Bitte hinzu, das Blatt

seiner Gattin zu übersenden. Wenige Augenblicke nachher

entschlief er.

Du siehst, mein lieber Leser, welch eine Ruhe und

251

welch ein Friede das Herz dieses Kriegsmannes erfüllten.

Sie befähigten ihn, ein solch herrliches Zeugnis zu hinterlassen.

Vielleicht erinnerte ihn das Blut, das in Strömen

aus seiner schrecklichen Wunde floß, an jenes kostbare Blut,

welches auf Golgatha vergossen worden ist, und durch welches

Jesus, der „Fürst des Friedens," für immerdar „Frieden

gemacht hat." (Vergl. Kol. 1, 20.) In seiner Seele gab

es keine Ungewißheit und Unruhe. Er brauchte nicht

mehr zu fragen: „Wie kann ich Frieden mit Gott erlangen?"

oder: „Was muß ich thun, daß ich errettet

werde?" Im Gegenteil, er wußte, an wen er geglaubt

hatte, und daß die Frage der Sünde zwischen Gott und

ihm für ewig geordnet sei durch den Tod und die Auferstehung

Jesu Christi. Er wußte nicht nur, daß Friede

mit Gott gemacht ist „durch das Blut Seines Kreuzes,"

sondern der zur Rechten Gottes verherrlichte Jesus war

Sein Friede. Deshalb bewahrte der „Friede Gottes"

sein Herz und seine Sinne auch in den letzten qualvollen

Augenblicken, und „der Gott des Friedens" war „mit

ihm." Wie wahr und wirklich ist dies, mein Leser, für

jede aufrichtige und einfältige Seele! Der Friede ist

gemacht; (Kol. 1, 20.) der Friede wird verkündigt,

(Apstg. 10, 36.) und Gott ist „der Gott des Friedens."

(Phil. 4, 9.) Was muß das Resultat sein für einen

jeden, der dem Worte Gottes glaubt? Er hat Frieden,

ewigen, unerschütterlichen Frieden.

Was sagst du zu diesem allen, mein lieber, unbekehrter

Leser? Sagst du: „Ich wünsche, ich gliche

jenem Offizier?" Das genügt nicht. Auch Bileam, dessen

trauriges Ende uns in 4. Mose 31, 8 mitgeteilt wird,

sagte einst: „Meine Seele sterbe den Tod des Aufrichtigen,

252

und mein Ende sei gleich dem seinigen!" Aber er wurde

erschlagen im Kampfegegen das auserwählte Volk Gottes.

Sagst du: „Ich weiß, daß es anders mit mir

werden muß, und ich habe den Vorsatz gefaßt, mein

Leben zu ändern?" Auch das genügt nicht, mein Freund.

Hast du nie gehört, daß der Weg zur Hölle mit guten

Vorsätzen gepflastert ist? Vorsätze, Wünsche und Hoffnungen

sind völlig ungenügend; sie können dir nie Frieden verschaffen.

Du hast mehr als das nötig. Du bedarfst der

Versöhnung mit Gott. Du bist ein Sünder, ein

Feind Gottes und kannst nichts anders aus dir machen.

Da ist kein Friede zwischen einem heiligen Gott und

einem schuldigen Sünder, wohl aber zwischen einem

Heiland-Gott und dem, der an Christum glaubt. Und wie

ist dies möglich? Weil Er (Jesus) „Frieden gemacht

hat durch das Blut Seines Kreuzes." Lausche auf die

Worte des Herrn, die Er nach vollbrachtem Werke in der

Mitte Seiner verzagten Jünger aussprach! Was sagte

Er? — „Friede euch!" und auf Seine durchbohrten

Hände und Füße weisend, zeigte Er ihnen, auf welche

Weise dieser Friede gemacht war. Derselbe, welcher

Frieden gemacht hat, verkündigt Frieden. Glaubst Du

an Ihn? Hast du Frieden mit Gott? Bist du gereinigt

von allen deinen Sünden durch Sein kostbares Blut? O

weise diese Fragen nicht gleichgültig oder gar verächtlich

ab! Beantworte sie vielmehr mit Aufrichtigkeit deines

Herzens! Es handelt sich um dein ewiges Heil, deine

ewige Errettung. „Wer an den Sohn glaubt, hat das

ewige Leben, wer aber dem Sohne nicht glaubt, wird

das Leben nicht sehen, sondern der Zorn

Gottes bleibt auf Ihm." (Joh. 3, 36.)

Das Gebet des Herrn.

(Math. 6, 9—13; Luk. 11, 2-4.)

Welches ist die Bedeutung des Gebets des Herrn

und auf welche Personen ist es anzuwenden? Ist sein

Gebrauch auf die Zeit des Wirkens Jesu auf Erden zu

beschränken, oder auch auf die Zeit nach Seinem Tode und

auf die Gegenwart auszudehnen? — Das sind Fragen,

welche oft gestellt werden, und deren Beantwortung schon

mancher aufrichtigen Seele Schwierigkeit gemacht hat.

Unter des Herrn Hülfe wollen wir versuchen, sie in dem

Nachfolgenden Seiner Wahrheit und Seinen Gedanken

entsprechend zu beantworten.

Zunächst sind es nur zwei Evangelisten, Matthäus

und Lukas, welche das Gebet des Herrn, und zwar in

verschiedener Form, erwähnen. Beide Formen sind ohne

Zweifel von gleicher, d. h. göttlicher Autorität, und wenn

Lukas zwei Bitten ausläßt, so hat dies nicht etwa seinen

Grund darin, daß ihm dieselben entfallen seien und sein

Gedächtnis ihn betrogen habe, sondern die Auslassung

steht in enger Verbindung mit dem Gegenstand, der vor

seinem Geiste, oder vielmehr vor dem Geiste dessen stand,

der ihn inspirirte. Das Evangelium nach Matthäus stellt

uns den Herrn in Seinem Charakter als der Messias,

der Sohn Davids vor, der in der Mitte Seines Volkes

erschienen war, nm alle die Verheißungen des Alten Testa

254

ments zu erfüllen. Der Herr redet deshalb dort als

Jehova — Messias, der nicht gekommen ist, um die

Satzungen Seines Knechtes Mose und die Gebote des

Gesetzes aufzulösen, sondern um in Seiner Autorität als

Herr ein neues, himmlisches Licht über dieselben zu verbreiten

und um so den Weg für andere weit höhere Dinge

zu bereiten. Deshalb begegnen wir zu wiederholten Malen

den Worten: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ... .

ich aber sage euch rc." In Uebereinstimmung damit wird

auch in Matthäus das Gebet in direkten Gegensatz gebracht

zu der jüdischen oder pharisäischen Sucht, von den

Leuten gesehen zu werden, und zu ihrem Mangel an

wahrer Frömmigkeit, und der Strom der erhabenen Sprache

desselben wird nicht unterbrochen.

In dem Evangelium nach Lukas tritt der Charakter

Jesu als des Sohnes des Menschen, als dessen, der

gekommen ist, um dem Zustande und den Bedürfnissen

des Menschen (nicht allein des Juden) zu begegnen,

mehr in den Vordergrund. Die erzählten Ereignisse und

Gleichnisse stehen damit in lieblicher Uebereinstimmung.

Wir finden in Lukas die Geschichte der großen Sünderin,

das Gleichnis von dem barmherzigen Samariter und dem

verlornen Sohne, die Geschichte von dem reichen Mann und

dem armen Lazarus, von Zachäus dem Oberzöllner u. s. w.

In dem ganzen Evangelium tritt unS das anbetungswürdige

Verlangen des Herzens Gottes entgegen, die im

Judentum aufgerichteten engen Schranken zu durchbrechen

und die Ströme Seiner Liebe überallhin ausfließen zu

lassen, wo die Sünde Not und Elend angerichtet hatte.

Deshalb steht hier das Gebet des Herrn auch nicht im

Gegensatz zu der eigengercchten und prahlerischen An

255

betung der Pharisäer, sondern ist vielmehr eins der Elemente,

welche zum geistlichen Leben notwendig sind. In

keinem Evangelium wird uns so oft erzählt, daß der

Herr betete, als gerade in Lukas, und dies ist wieder in

Uebereinstimmung mit dem ganzen Charakter des Herrn in

diesem Teile der Schrift. Er ist der Sohn des Menschen,

der in völliger Abhängigkeit von Gott, dem Vater, durch

diese Welt pilgert und nötig hat — ich sage dies mit

tiefer Ehrerbietung, denn es ist ein Beweis von der Vollkommenheit

Jesu als Mensch — von Gott gestärkt und

erquickt zu werden. Am Ende des 10. Kapitels sehen wir

Maria zu den Füßen Jesu, um aus Seinem Munde

Worte des ewigen Lebens zu vernehmen. Sie hat das

gute Teil, Ihn selbst, das lebendige Wort, erwählt. Doch

außer dem Worte Gottes haben wir ein anderes Element nötig.

Wir sind durch dieses Wort wiedergezeugt und werden

durch dasselbe belehrt, ernährt und gereinigt. Doch trotzdem

bedürfen wir als abhängige, schwache Menschen hienieden

noch etwas anderes und das ist das Gebet. Das

Gebet ist das praktische Mittel, uns in der Gegenwart

Gottes zu erhalten und das Wort nutzenbringend und

heiligend für uns zu machen. Und so finden wir in

Lukas das Gebet des Herrn als eine Antwort auf das

Bedürfnis der Jünger. Sie bitten Ihn: „Herr lehre uns

beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte." Die Auslassung

der dritten Bitte: „Dein Wille geschehe, wie im

Himmel also auch auf der Erde!" ist ein weiterer Beweis

für die Wahrheit unsrer Behauptung, daß wir in Lukas

auf ganz anderm Boden stehen, als in Matthäus. Für

einen Israeliten war jene Bitte völlig passend. Für ihn

bleibt es stets ein richtiger Wunsch, daß der Wille Gottes

256

auf Erden geschehe, wie im Himmel. Aber was wußte

ein armer Heide von den gerechten Erwartungen Israels

bezüglich der Erde.

Doch es würde uns zu weit führen, wollten wir den

Unterschied zwischen den beiden Formen des Gebets noch

länger verfolgen. Kehren wir deshalb zu der umfassenderen

Form, wie sie unS von Matthäus gegeben wird,

zurück, um an der Hand der Worte des Herrn unsre erste

Frage: „Welches ist die Bedeutung des Gebets des

Herrn, und auf welche Personen ist es anzuwenden?"

zu beantworten.

Der erste wichtige Punkt, auf welchen ich die Aufmerksamkeit

des Lesers richten möchte, ist die Uebereinstimmung

des Gebets mit dem Platze, den es einnimmt,

und mit dem Zwecke, welchen der Herr verfolgte. Es

findet sich bekanntlich in der sogenannten Bergpredigt, in

welcher der Herr sich an Seine jüdischen Jünger wendet,

um sie aus ihren bisherigen Gedanken, Gefühlen und

Wegen in die neuen Grundsätze des Reiches der Himmel,

das Er aufzurichten im Begriff stand, einzuführen. Wir

müssen dies durchaus festhalten, wenn wir anders die

Bedeutung und den Zweck des Gebets verstehen wollen.

Es ist nicht bestimmt für das ganze Menschengeschlecht

ohne Unterschied. (Dies geht auch deutlich aus dem

Evangelium nach Lukas hervor, wo wir lesen: „Und es

geschah, als Er an einem gewissen Orte betete, da Er

aufgehört, sprach einer Seiner Jünger zu Ihm:

Herr, lehre uns beten.") Es drückt nicht den Zustand,

die Bedürfnisse und Gefühle eines jeden Menschen aus,

der ein gewisses Verlangen nach Gott oder eine gewisse

Furcht vor dem kommenden Zorn hat. Der Zöllner, der

257

sich im tiefen Bewußtsein seiner Schuld und seiner Unwürdigkeit

Gott naht, wagt nicht einmal, seine Augen

aufzuheben, geschweige denn zu sagen: „Vater", oder:

Unser Vater, der Du bist in den Himmeln." Er denkt

nicht im entferntesten daran, die erhabenen Bitten auszusprechen,

mit welchen das Gebet des Herrn beginnt,

noch hat er den Mut, an das Erbarmen Gottes zu

denken und an Seine Bereitwilligkeit, dem Sünder zu

vergeben, wie wir sie in der letzten Hälfte des Gebets

ausgedrückt finden. „O Gott, sei mir, dem Sünder,

gnädig!" das war der richtige und passende Schrei, der

aus seinem zermalmten Herzen hervordrang. Und deshalb

ging er gerechtfertigt hinab in sein Haus, mehr denn

jener Pharisäer, der in seinem Gebet nur seiner Eigengerechtigkeit

Ausdruck gab und Gott für das dankte, was

er und nicht was Gott war.

Wenn wir nun fragen: Wie können wir wissen,

für wen das Gebet des Herrn bestimmt war? so giebt

es zwei Wege, auf welchen wir zu einer richtigen Antwort

kommen können. Zunächst haben wir zu untersuchen,

welche Personen der Herr im Auge hatte und in

welcher Verbindung das Gebet vorkommt, und dann müssen

wir die Natur der Bitten, getrennt und im Ganzen betrachten,

und wir werden finden, daß dieselben mit den

wahren Bedürfnissen derer, für welche das Gebet bestimmt

war, in völliger Harmonie standen.

Es ist offenbar, daß eine große Menschenmenge der

Bergpredigt zuhörte, aber ebenso klar geht aus dem Anfang

des fünften Kapitels hervor, daß der Herr Seine

Worte nicht unmittelbar an die Menge richtete. Er hatte

Seine Jünger vor sich, und für ihre Bedürfnisse trug Er,

258

Sorge, als solche, die sich noch immer unter dem Gesetz

befanden. „Als Er aber die Volksmenge sah, stieg Er

auf den Berg; und als Er sich gesetzt hatte, traten Seine

Jünger zu Ihm. Und Er that Seinen Mund auf, lehrte

sie und sprach: Glückselig die Armen im Geiste w." Die

Jünger bildeten eine Klasse von Personen, die (mit Ausnahme

von Judas) Jesum in Wahrheit als den von

Gott gesandten Messias angenommen hatten. Er hatte

sie auserwählt; sie waren um Ihn versammelt, als Seine

Zeugen, und schon damals in gewisser Beziehung —

wenn auch nach Seinem Tode und Seiner Auferstehung,

in der Kraft des vom Himmel gesandten Heiligen Geistes,

unendlich weit mehr — von dem übrigen Volke getrennt.

An sie wandte sich der Herr in Seiner Predigt, und sie

waren auch die Personen, an welche Er in Seinem

Gebet dachte.

Obwohl daher die Predigt aus einer bewunderungswürdigen

Darstellung der Grundsätze des Reiches besteht

und große und kostbare Wahrheiten verkündigt, welche

stets bleiben werden, so übersah der Herr in Seiner

Gnade doch nicht die damaligen thatsächlichen Umstände

Seiner Jünger. Im Gegenteil sind viele einzelne Stellen

ihrer vollen Bedeutung nach auf ihre Bedürfnisse anzuwenden

und ihrem Zustande angepaßt. Und der Herr

sorgte nicht nur für sie als Der, welcher infolge Seiner

göttlichen Allwissenheit alles kannte, sondern der als

Mensch, geboren von einem Weibe, geboren unter Gesetz,

aus Erfahrung wußte, was sie am meisten bedurften und

wo ihre wahren Gefahren lagen. Denn, obwohl Er

Sohn war, lernte Er an dem, was Er litt, den Gehorsam.

(Hebr. 5, 8.) Der Gehorsam war eine ganz neue

259

Sache für Ihn; nicht als ob Er eine rebellische, widerspenstige

Natur besessen hätte, wie wir — o nein, denn

Er war der Reine, der Heilige, Er war Gott selbst —

sondern weil Er das Wort war, welches alle Dinge, die

sichtbaren und die unsichtbaren ins Dasein gerufen hatte.

Deshalb mußte Er Gehorsam lernen, denn Er hatte

in diesem Sinne nie zu gehorchen brauchen, und Er lernte

ihn auf einem Pfade voller Leiden, wie sie niemand außer

Ihm kennen konnte. Was war nun Sein erster, letzter

und beständiger Gedanke, während Er durch diese Welt

pilgerte und in vollkommener Gnade Seinen Dienst ausübte?

Es war der Name Seines Vaters, wie Er an

einer Stelle sagt: „Der lebendige Vater hat mich gesandt,

und ich lebe des Vaters wegen." Er war gekommen, um

den Namen des Vaters zu offenbaren, und in Uebereinstimmung

damit stellt Er die Gefühle Seines eignen

Herzens als den ersten und vorherrschenden Gedanken

Seiner Jünger in ihrer Unterredung mit dem Vater

dar. Einige der Bitten, welche Er in ihren Mund legen

wollte, waren nur für sie passend, wie z. B. diejenige

bezüglich der Vergebung ihrer Sünden; aber Er

wollte, daß sie mit ihrem Vater, nicht mit sich selbst

beginnen sollten.

Dem entsprechend teilt sich das Gebet naturgemäß

in zwei Hälften. Der erste Teil besteht aus Wünschen,

die der Gerechtigkeit in ihrem weitesten und höchsten Sinne

angemessen sind; es ist, wenn wir so sagen dürfen, die

Atmosphäre, in welcher der Herr selbst hienieden lebte

und sich bewegte. Der zweite Teil setzt sich aus Bitten

zusammen, passend für solche, welche in jeder Beziehung

bedürftig, trotzdem aber die Gegenstände der Gnade waren.

260

Die drei ersten Bitten bilden den einen, die vier letzten

den andern Teil.

Der Titel, mit welchem Gott im Beginn des Gebets

angeredet wird, steht im völligen Einklang mit dem Evangelium

und der damaligen Stellung der Jünger: „Unser

Vater, der Du bist in den Himmeln." Es ist dies ein

Ausdruck, der häufig in dem Evangelium Matthäus, und

zwar hier allein, vorkommt. In dem Evangelium Lukas

heißt eS einfach: „Vater." Woher kommt dieser Unterschied?

Wie schon oben angedeutet, werden die Jünger

bei Matthäus mehr in ihrer Verbindung mit dem irdischen

Volke betrachtet; als solche waren sie gewöhnt, aus die

Erde zu blicken, als den Schauplatz, auf welchem ihr Volk

die verheißene Erhebung und Segnung zu erwarten hatte.

Der Herr aber ist beschäftigt, ihre rein jüdischen Bande

zu lösen, indem Er ihnen einen himmlischen Vater offenbart,

mit welchem sie es fernerhin zu thun haben würden.

Es ist hier nicht „der Herr der ganzen Erde," der den

Jordan zu einer Heerstraße für Sein siegreiches Volk

machte, so daß es trocknen Fußes hindurchziehen und das

Land in Besitz nehmen konnte; noch ist es „der Gott des

Himmels," der in unumschränkter Macht und nach Seinem

höchsten Willen den Nationen in der Person Nebukad-

nezars, die Herrschaft übergab, nachdem Sein Volk in der

traurigsten Weise gefehlt hatte. Aber ebensowenig findet

sich hier die Fülle des Segens, welche die Botschaft enthielt,

die durch Maria Magdalena von feiten des auferstandenen

Herrn den Jüngern gebracht wurde: „Gehe

aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich

fahre auf zu meinem Vater und zu euerm Vater, und

zu meinem Gott und zu eurem Gott."

261

Die Anrede trägt, wenn ich so sagen darf, einen

Zwischen-Charakter. Sie geht über die rein jüdische

Stellung hinaus, erreicht aber nicht die Höhe der christlichen.

Der Vater wird betrachtet, als im Himmel befindlich,

und diejenigen, welche zu Ihm emporblicken, sind auf der

Erde, gleichsam weit von Ihm entfernt und in einem

Zustande der Schwachheit, des Bedürfnisses und der Gefahr,

obgleich mit Herzen, die in einem gewissen Maße

sich nach Seiner Verherrlichung sehnen. *) Der Herr wünscht

ihren ersten Gedanken auf den Vater droben zu richten

und ihren Geist damit vertraut zu machen, auf Ihn zu

blicken, als den unendlich gesegneten und gnädigen und

zugleich höchsten Gott. In jenem Augenblick war das

Gefühl und Bewußtsein der Nähe, welche späterhin ihr

Vorrecht sein sollte, unmöglich. Nichtsdestoweniger behandelt

sie der Herr als wahre Gläubige aus den Juden und leitet

ihre Seelen, indem Er die Autorität des Gesetzes aufrecht

hält und seinen Bereich ausdehnt, zu höheren Dingen.

*) Wie unendlich höher ist die Segnung, welche wir in

Eph. 1, 3 und 2, 6 finden! Dort wird der Christ, selbst während

er noch in dieser Welt ist, betrachtet als versetzt in die himmlischen

Oerter, auf das innigste verbunden mit dem Gott und Vater unsers

Herrn Jesu Christi. Es ist ein unermeßlicher Schritt vorwärts.

Allein wir suchen vergebens nach einer Anspielung

auf das Erlösungswerk, sowohl in dem Gebet, als auch

in der ganzen Bergpredigt. Diejenigen, welche der Herr

zu beten lehrt, werden durchaus nicht als Anbeter betrachtet,

die, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden

haben. Sie waren so weit davon entfernt, einen solchen

Platz der Annehmung zu kennen und zu genießen, daß

sie damals eine solche Sprache gar nicht verstanden haben

262

Würden. Es findet sich hier keine Spur von einer Danksagung

dem Vater gegenüber, „der uns fähig gemacht

hat zu dem Anteil des Erbes der Heiligen in dem Lichte,

der uns errettet h a t aus der Gewalt der Finsternis und

versetzt in das Reich deS Sohnes Seiner Liebe." (Kol.

1, 12. 13.) Alles dieses und noch vieles andere konnte

damals nicht gesagt werden, weil das Werk der Erlösung

wohl verheißen, aber noch nicht vollbracht war. Dies

verleiht dem ganzen Gebet seinen besondern Charakter.

Gott übereilt nichts in Seinen Wegen. Die Gläubigen

konnten nicht eher die Resultate des Leidens Christi und

der Sendung des Heiligen Geistes kennen und genießen,

bis diese beiden glorreichen Thatsachen erfüllt waren.

Nicht daß ich dem Gebet des Herrn oder Seiner Predigt

eine Unvollkommenheit unterschieben wollte — Gott bewahre

mich vor einem solchen Gedanken! Ich betrachte im Gegenteil

einen jeden, der von dem einen oder andern in verächtlicher

Weise redet, als einen Lästerer.

Der Herr begegnet den Jüngern aus dem Boden,

welchen sie damals einnahmen. Hätte Er ihnen die Wahrheiten

mitgeteilt, welche erst geoffenbart wurden, nachdem

Er gestorben und der Heilige Geist herniedergerommen

war, so würde ihnen Seine Sprache völlig unverständlich

geblieben sein. Das Gebet war durchaus passend für

ihren damaligen Zustand und deshalb vollkommen. Ein

Gebet, welches der Stellung, der Erfahrung und Anbetung

entsprochen hätte, die einer vollendeten Erlösung angemessen

sind, würde für sie nicht das vollkommene Gebet gewesen sein.

Nehmen wir als Beispiel einen Majestätsverbrecher,

der im Gefängnis sitzt, und für den eine Bittschrift aufgesetzt

und an den König geschickt wird. Wenn dieselbe

263

richtig abgefaßt ist, so werden wenigstens zwei Dinge

sie kennzeichnen. Zunächst wird sie eine völlige Anerkennung

der beleidigten Majestät und dann ein demütiges, umfassendes

Bekenntnis der Schuld des Gefangenen enthalten.

Denn das ist die einzig passende Sprache unter solchen

Umständen. Der Gefangene mag Grund haben, zu hoffen,

daß seine Bittschrift in den Augen des Königs Gnade

finden werde. Aber diese Hoffnung gründet sich nicht auf

eine Unkenntnis der thatsächlichen Umstände, sondern vielmehr

auf sein freimütiges Bekenntnis und auf die Gnade

des Königs. Die Sprache eines freien Mannes zu führen,

würde ihm nicht geziemen.

Der Zustand derer, die sich unter dem Gesetz befanden,

war der Hauptsache nach demjenigen jenes Gefangenen

gleich, bis die vollbrachte Versöhnung alles änderte.

Sie besaßen Vertrauen auf Gott, daß Er sie retten würde,

und mit Recht; denn dieses Vertrauen gründete sich auf

eine gläubige Würdigung des Charakters Gottes und auf

Seine bestimmten Verheißungen, trotzdem die Israeliten

wußten, was sie selbst waren. Er hatte ihnen wieder

und wieder, durch Wort und Eid, in Vorbildern und

Prophezeiungen, ankündigen lassen, daß Er durch den

Messias die Befreiung aller vollführen würde, die ihr

Vertrauen auf Ihn setzten. Dennoch waren sie noch nicht

in Freiheit gesetzt, so gewiß sie sein mochten, daß es

geschehen würde, weil dies von Seiner Güte und Treue

abhing; und „Gott ist nicht ein Mensch, daß Er lüge."

Aber bis dahin war es nur eine Sache des Begehrens,

nicht des Besitzes, ein ersehntes und erbetenes Vorrecht;

es konnte nicht eher von ihnen als ein beständiges Teil

empfangen und genossen werden, bis der Tod und die

264

Auferstehung Christi es zu einer Forderung der Gerechtigkeit

Gottes machten, so mit dem Gläubigen zu handeln.

In den Psalmen finden wir den Ausdruck der

Gefühle und Erfahrungen des gläubigen Israeliten. Zuweilen

sind die Sprecher voll von Hoffnung, dann wieder

voll von Furcht; in dem einen Augenblick bekennen sie,

Schafe der Weide Gottes zu sein, und im nächsten sind sie

bange, von der Glut Seines Zornes verzehrt zu werden.

Alles dieses war die Erfahrung der Gläubigen, bevor das

Kreuz Christi eS dem Heiligen Geist möglich machte, der

Seele von dem vollkommenen und ewigen Hinwegthun der

Sünden Zeugnis zu geben. Es war gut und von Gott,

daß jene Gläubige ihren Zustand fühlten, aber es war

nicht die Erfahrung, welche der von dem Heiligen Geiste

unterwiesene Christ macht. Und in jenem Zustande befanden

sich die Jünger vor dem Tode des Herrn ebenfalls.

Viele Propheten und Könige hatten begehrt, zu sehen,

was sie sahen, und zu hören, was sie hörten; aber dennoch

war die Versöhnung mit allen ihren herrlichen Folgen

noch eine zukünftige Segnung; ihre Blicke waren auf dieselbe

hingerichtet, aber sie war noch nicht vollbracht. Das

Gebet des Herrn nun war der vollkommene Ausdruck

ihrer Wünsche und Bedürfnisse, bevor jener mächtige

Wechsel eintrat. Ich mache wiederholt hierauf aufmerksam,

da es zu einem klaren Verständnis des Gebets des Herrn

vor allem nötig ist, die Stellung derer zu erkennen,

welchen es ursprünglich gegeben wurde. Stets wird es

mißverstanden werden, wenn man den neuen Boden nicht

in Betracht zieht, auf welchen der Gläubige durch die

vollbrachte Erlösung gestellt ist.

Beachtenswert ist es auch, daß das Gebet der Aus

265

druck persönlicher Bedürfnisse ist. Ich meine nicht, daß

die Jünger eS nicht gemeinsam so gut wie einzeln gebraucht

haben mögen, allein nirgendwo setzt es Christen voraus,

die zu einem Leibe gebildet sind. Ein Gebet für die

Kirche oder Versammlung, als solche, ist es daher nicht;

denn nie geht es über den Begriff einer Gemeinschaft von

einzelnen Gläubigen hinaus, nirgendwo berücksichtigt es das

einigende Band des Geistes, welcher zu einem Leibe tauft.

Dies wird noch deutlicher ans Licht treten, wenn wir, so

kurz als möglich, einen Blick auf die einzelnen Teile werfen.

„Geheiligt werde Dein Name," ist die Grundlage

von allem, das erste und stärkste Gefühl eines erneuerten

Gemütes. Hervorfließend aus dem Bewußtsein der Heiligkeit,

welche dem Namen des Vaters angemessen und für

jede Seele, die mit Ihm zu thun hat, sowie für Sein

HauS auf ewig geziemend ist, schließt sich sogleich der

Wunsch nach der Herrlichkeit daran, in welcher alles dem

Herzen und Charakter des Vaters entsprechen wird.

„Dein Reich komme!" Es ist hier nicht gerade das

Reich Christi, sondern dasjenige des Vaters. Wir werden

finden, wenn wir das Evangelium Matthäus sorgfältig

lesen, daß es einen Unterschied giebt zwischen dem Reiche

des Vaters und demjenigen des Sohnes des Menschen.

Am Ende des gegenwärtigen Zeitalters wird der Herr

die Welt als Sein Reich übernehmen und es durch Seine

richterliche Macht, früher oder später, von allem Bösen

reinigen. (Vergl. Kap. 13, 41—43.) Das Reich des

Vaters trägt mehr einen himmlischen Charakter; in denselben

werden nur die Gerechten leuchten wie die Sonne.

Doch es genügt dem Herzen nicht, daß des Vaters

Wille nur im Himmel geschehe. Deshalb lautet die dritte

266

Bitte: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch

auf der Erde." Hiermit schließt der erste Teil des Gebets.

Es folgt dann das, was für die Jünger, als die Gegenstände

des göttlichen Mitgefühls, inmitten eines Schauplatzes

des Elends und der mannigfaltigsten Versuchungen,

passend war. Zunächst wird ihr leibliches Bedürfnis bekannt,

dann dasjenige der Seele. „Unser nötiges Brod

gieb uns heute, und vergieb uns unsere Schulden, wie

auch wir vergeben unsern Schuldnern." Die erste Bitte

bedarf keiner Erklärung, die zweite stellt die Jünger auf

den Boden des barmherzigen Geistes, welcher am Schluffe

des fünften Kapitels ihnen so nachdrücklich von dem Herrn

vorgehalten worden war. ES sollte nicht länger heißen:

„Auge um Auge, Zahn um Zahn," nicht länger sollte

Böses mit Bösem vergolten werden, sondern es galt jetzt,

nur Gutes und allezeit Gutes zu thun. Das vollkommene

Muster für die Jünger war ihr himmlischer Vater, nicht

nur Gott als Gott. In diesem letzeren Charakter hat

Gott von Zeit zu Zeit Sein Gericht über die Bösen

ausgeübt und sie Seinen starken Arm fühlen lassen, und

Er wird dies am Ende in vollkommener, gerechter Weise

thun. Als Vater im Himmel aber läßt Er Seine Sonne

aufaehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte

und Ungerechte. (Es handelt sich hier nicht nm

Seine innigen und ewigen Beziehungen zu Seinen Kindern;

diese genießen Seine Liebe in ihrer ganzen überströmenden

Fülle.) So belehrt denn der Herr auch Seine Jünger

dieselbe vergebende Liebe andern gegenüber zu offenbaren,

und zwar im Bewußtsein ihres eigenen Bedürfnisses derselben.

Israel als Volk war verantwortlich gewesen, nach

dem Gesetz zn wandeln, und der Charakter des Gesetzes

267

war nicht Gnade und Barmherzigkeit, sondern es erforderte

ein gerechtes Gericht über den Schuldigen. Aber jetzt

sollte in den Jüngern ein andrer Grundsatz herrschen,

nicht derjenige einer irdischen, vergeltenden Gerechtigkeit,

sondern einer himmlischen Gnade, welche die Macht hat,

den Sünder umzuwandeln und seine Schuld zu vergeben.

Die gläubigen Juden wurden so aus ihrer alten Stellung

herausgenommen und auf einen ganz neuen Boden versetzt,

wo sie es mit einem Vater im Himmel zu thun

hatten und verantwortlich waren, Seinen Charakter hienieden

wiederzuspiegeln.

Wieder thun wir wohl, uns daran zu erinnern,

welche Personen es waren, die der Herr belehrte, so mit

ihrem Vater zu reden. Es waren Jünger, welchen

auf diese Weise die beständige Notwendigkeit der Abhängigkeit

von dem Vater, sowie des Bekenntnisses ihrer Schuld

-gezeigt wurde. Nichtsdestoweniger wird der Vater gebeten,

die Schuld Seiner Kinder zu vergeben; es handelt sich

hier nicht im Geringsten um einen armen Sünder, der

über seine Sünden in Not ist und Christum nicht kennt.

Die Schrift hat an vielen andern Stellen Vorsorge für

einen solchen getroffen, aber hier stehen ganz andere

Personen in Frage. Macht Gott in irgend einer Weise

oder in irgend einem Maße die Vergebung der Sünden

eines Unbekehrten von der Vergebung, die dieser seinem

Mitmenschen zu Teil werden läßt, abhängig? Ganz

gewiß nicht. Das hieße in der That, an einen Menschen,

der sich in dem niedrigsten Zustande befindet, die höchstmögliche

Anforderung stellen; es hieße, dem Sünder ein

neues und weit verhängnisvolleres Gesetz auslegen, als

das vom Berge Sinai war. Mit einem Wort, es würde

268

das Evangelium leugnen, jede Hoffnung des Sünders

zerstören und die Errettung von Werken und nicht mehr

von der Gnade abhängig machen.

Diese Bitte, welche von Unwissenden oft angeführt

wird, um zu beweisen, daß die Menschen ohne Unterschied

hier gemeint seien, zeigt also gerade, wie völlig unmöglich

es ist, das Gebet des Herrn aus den Menschen von Natur

anzuwenden. Es setzt eine lebendige Verbindung mit Gott

durch den Glauben voraus. Diejenigen, zu welchen der

Herr redete, kannten allerdings weder die Versöhnung,

noch die neuen Rechte, welche die Erfüllung derselben

herbeiführen sollte; aber sie besaßen einen lebendigen

Glauben an den Herrn Jesum — es waren Personen,

die sicher in den Himmel gegangen wären, wenn Gott sie

damals abgerufen hätte. Sie standen insoweit auf demselben

Boden, wie die alttestamentlichen Heiligen; sie

wurden, wie jene, von Gott mit Nachsicht getragen, kraft

eines noch nicht vollendeten, aber sicheren Werkes; sie

waren in den Gedanken Gottes errettet, weil Er auf

jenes Werk hinblickte. Die Jünger besaßen das Vorrecht,

den Herrn in ihrer Mitte zu haben, aber von dem gesegneten,

vollkommenen Heil, welches Er durch Seinen

Tod und Seine Auferstehung herbeiführen wollte , hatten

sie nur eine höchst schwache, dunkle Vorstellung. In

dieser und für diesen Zustand der Dinge wurde das

Gebet des Herrn gegeben.

Weiter werden die Jünger belehrt, den Vater zu

bitten, sie nicht in Versuchung zu führen. Es ist offenbar,

daß eS sich hier nicht um Versuchungen in dem Sinne

von sündigen Begierden handelt; denn Gott versucht niemanden

zum Bösen. Vielmehr sind es Prüfungen und

269

Sichtungen, durch welche Gott die Seinigen nach Seiner

Weisheit gehen läßt. Eine Versuchung in diesem Sinne

war es, wenn Petrus auf die Probe gestellt wurde, ob

er, angesichts der Schmach und Schande, seinen Herrn

und Meister verleugnen würde. Der Herr hatte ihn gewarnt,

aber in seinem hoben Selbstvertrauen ließ der

Apostel die Warnung unbeachtet, schlief, als er hätte

wachen und beten sollen, und fiel infolge dessen wiederholt

in der traurigsten Weise. Es war daher ganz richtig,

wenn die Jünger, im Bewußtsein ihrer Kraftlosigkeit und

ihrer Geneigtheit zu fallen, den Vater baten, sie nicht in

solch versuchungsreiche Umstände zu führen. Die Folge

einer solchen Versuchung ist, daß da, wo es ungerichtetes

Böses im Herzen giebt, dasselbe zur eignen Demütigung

zum Vorschein kommt. Das im Innern verborgen wirkende

Böse wird dadurch ans Licht gebracht. Der Herr Jesus

ging durch jede Art von Versuchung hindurch, zuerst in

der Wüste und dann, am Ende Seines Weges, in Gethsemane,

wo die Macht der Finsternis Ihn aufs Äußerste

bedrängte. Allein E r hatte nichts in sich, auf welches Satan

hätte einwirken können, wie Er auch sagte: „Der Fürst

dieser Welt kommt und hat nichts in mir." In uns giebt

es etwas, das durch die Versuchung zum Vorschein gebracht

wird, und wenn wir uns dann nicht in aller Einfalt auf

den Herrn stützen, so fallen wir in Sünde gegen Ihn.

Deshalb wird auch sogleich die Bitte hinzugefügt: „Sondern

errette uns von dem Bösen." Denn die Wirkung

der Versuchung ist, wie gesagt, das Offenbarwerden deS

Bösen, wenn das Fleisch nicht gerichtet ist, und Satan,

die Quelle und der erste Anreger des Bösen, gewinnt

einen Vorteil über die Seele.

270

Auf die Lobpreisung am Ende des Gebets: „Denn

Dein ist das Reich re." welche sich in vielen Übersetzungen

findet, brauchen wir nicht näher einzugehen, da sie in den

meisten älteren Handschriften fehlt und wahrscheinlich im

Laufe des vierten Jahrhunderts von Abschreibern eingefügt

worden ist. (Schluß folgt.)

Gedanken über das Zusammenkommen der

Gläubigen.

(Fortsetzung.)

Die Kirche ist, was ihre äußere Offenbarung betrifft,

im Verfall. Wer könnte es leugnen? Wäre sie es nicht,

so würde sie in ihrer Gesammtheit der Beweis jener Einheit

des Leibes sein, anstatt das traurige Bild der völligsten

Trennung und Verwirrung darzubieten. Und auch

nur inmitten des Verfalls kann es ein Zeugnis geben,

und zwar nicht nur ein persönliches, wie es ein jeder

wahrer Christ in seinem Wandel durch diese Welt abzulegen

berufen ist, sondern auch ein gemeinschaftliches.

Worin besteht nun dieses Zeugnis? Es ist das Zeugnis

derer, welche in dem Wunsche, „das Wort" des Herrn zu

bewahren und „Seinen Namen" nicht zu verleugnen, und

in dem Begehren, in der Wahrheit und in der Liebe zu

wandeln, darnach trachten, nach den Grundsätzen dieses

Wortes sich zu versammeln. In den finstersten Zeiten

hat Gott stets Seine Zeugen gehabt, obwohl sie oft von

den Menschen ungekannt waren. Zur Zeit des Elias

gab es 7000 in Israel, welche ihre Kniee nicht gebeugt

hatten vor Baal. Sie waren ein Zeugnis gegen die

Abgötterei. Zudem legte der Prophet nicht allein das

gleiche Zeugnis ab, wie diese, sondern er gab auch —

271

und zwar in einer Zeit der völligen Spaltung und des

Verfalls — der Einheit Israels nach den Gedanken

Gottes dadurch Ausdruck, daß er einen Altar errichtete

von „zwölf Steinen," nach der Zahl der Stämme der

Söhne Jakobs, zu welchem das Wort Jehova's geschehen

war, da Er sprach: Israel soll dein Name sein."

(1. Kön. 18, 31.) Ebenso gab es selbst in den finstersten

Zeiten des Papsttums stets etliche, wenig beachtete, verborgene

und oft schrecklich verfolgte Zeugen gegen den

Götzendienst Jesabels. In der jetzigen Zeit, wo die Welt

die Kirche gleichsam überflutet hat, legen nicht minder

manche ein treues Zeugnis ab durch ein Leben der Absonderung

von der Welt. Sollte es aber außerdem bei

der großen Zahl der in der Christenheit bestehenden

Sekten und Benennungen kein gemeinschaftliches Zeugnis

von der Einheit des Leibes geben, einer Einheit, die da

besteht trotz allem, was der Feind gethan hat, um ihre

Offenbarung zu zerstören?

Gott sei Dank! Ein solches Zeugnis hat Er erweckt

in diesen letzten Tagen, indem Er an verschiedenen Orten

etlichen, oft nur „zweien oder dreien," gezeigt hat, aus

welchem Boden sie sich außerhalb jeder Benennung versammeln

können „im Namen Jesu." Und Gott ist mächtig,

dieses Zeugnis zu erhalten trotz allem Widerstand des

Feindes, und trotz der Schwachheit derer, die es ablegen.

Überall da, wo sich selbst nur „zwei oder drei" in Wahr­

heit im Namen Jesu nach dem Grundsatz der Einheit des

Leibes versammeln, besteht dieses Zeugnis. Und Er ist

treu, es zu bewahren, wie Er es verheißen hat. — Die

Thür, die der Heilige und Wahrhaftige geöffnet hat, kann

niemand schließen. Sie steht offen vor denen, welche eine

272

kleine Kraft haben, welche Sein Wort bewahren und

Seinen Namen nicht verleugnet haben, und die da

wünschen, alles festzuhalten, was mit diesem kostbaren

Namen in Verbindung steht. Indessen sind jene nichts

anders als ein Zeugnis für die Wahrheit inmitten des

Verfalls. Sie bilden nicht eine Sekte unter vielen andern

Sekten, noch eine lautere, zu dem ursprünglichen Vorbild

zurückgekehrte Kirche (es giebt ja nur eine Kirche); nein,

es ist vielmehr ein schwaches Zeugnis, abgelegt durch

diejenigen, welche inmitten der Verwirrung durch die

Gnade den Boden erkannt haben, auf dem man sich Gott

gemäß versammeln kann, und welche dahin gekommen

sind, um daselbst den Herrn zu finden. Wahrlich ein

gesegneter Boden! Da giebt es Platz für alle wahre

Christen; auf diesem Boden sollten sie sich alle versammeln.

Indes sollten diejenigen, welche in dieser Weise zusammenkommen,

nie vergessen, daß sie nur ein Zeugnis sind;

sobald sie anfangen, sich etwas zu dünken, werden

sie zu einer Sekte. So wie Der treu ist, in dessen Namen

sie sich versammeln, so sollten auch sie Ihm ihre Treue

bewahren in allen ihren Wegen.

Auf diesem Grunde des Zusammenkommens der

Gläubigen, als Glieder des einen Leibes, giebt es dem

Grundsatz nach keinen Raum für Nationalitäten. „Da

ist nicht Jude, noch Grieche .... denn ihr alle seid

einer in Christo Jesu." (Gal. 3, 28.) Ebenso wenig

sind da menschliche Anordnungen und Einrichtungen am

Platze. So groß der Verfall auch sein mag, die göttlichen

Grundsätze bleiben immer dieselben und wir haben uns

an ihnen zu halten. Der Mensch vermag in keiner Weise

zu heilen, was er selbst verdorben hat, aber die Hülfs--

213

quellen des Herrn sind für alle Zeiten vorhanden. Sein

Wort bleibt in Ewigkeit. Und Ihm steht es zu, alles

zu ordnen in Seinem Hause, und Sein Geist ist bei denen,

die sich in Seinem Namen versammeln, um alles zu leiten

„zum Nutzen" und „zur Erbauung." Würde es sich geziemen,

dem eignen Willen da, wo Jesus ist, Spielraum

zu lassen? Sicherlich nicht! Auf diesem Boden stehen wir

außerhalb alles dessen, was die natürliche Thätigkeit und

Unabhängigkeit des Menschen thun und einrichten möchten.

Ach! anstatt zusammen zu kommen im Namen Jesu, des

einen Herrn, der da alles durch Seinen Geist leitet,

haben sich die Christen um verschiedene Fahnen geschart,

indem sie nach ihrem eignen Willen eine Ordnung errichtet

haben, welche zu errichten dem Herrn allein gebührt.

Sie haben sich auf diese Weise in dem großen

Hause der Christenheit zerstreut, um sich innerhalb desselben

in verschiedene Abteilungen einzuschließen, indem

eine jede ihre eignen Satzungen, Glaubensbekenntnisse

und Verfassungen besitzt — alles Dinge, von welchen

wir im Worte Gottes keine Spur finden. Man hat die

göttliche Ordnung verlassen, indem man die alleinige

Autorität Christi, als des Herrn, aus dem Auge verlor,

sowie die alleinige Leitung des Geistes in den Zusammenkünften

der Gläubigen, um zu wirken „zum Nutzen" und

„zur Erbauung" durch diejenigen, welchen Er austeilt,

wie Er will. (1. Kor. 12, 11.) Indem wir uns im

Namen Jesu versammeln, haben wir stets daran zu denken,

daß wir von Ihm allein abhängig sind, und daß kein

Anderer uns leiten sollte, als allein der Heilige Geist.

Doch wie dem auch sein mag, der göttliche Boden

des Zusammenkommens bleibt stets bestehen, und für die,

274

welche sich auf demselben befinden, ist Jesus „in der

Mitte" sammt allen Seinen Hülfsguellen. Inmitten aller

Verwirrung und alles Verfalls, bleibt die Autorität des

Herrn, sowie die Gegenwart deS Heiligen Geistes, welcher

in der Versammlung oder der Kirche Gottes wohnt.

(1. Kor. 3, 16.) Die Fürsorge Christi für die Versammlung,

die Er geliebt und für welche Er sich hingegeben

hat, und die Er nährt und pflegt, hört nie auf. Die

Gaben „zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des

Dienstes, für die Auferbauung des Leibes Christi," bleiben

ebenfalls, können sich offenbaren und werden nicht aufhören,

„bis wir alle hingelangen zu der Einheit des

Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu

dem erwachsenen Manne, zu dem Maße des vollen Wuchses

der Fülle des Christus." (Eph. 4, 7—13.)

Doch sind hier zwei wichtige Bemerkungen am Platze.

Es giebt nach dem Worte nur einen einzigen Boden des

Zusammenkommens; alle Glieder Christi sollten sich da

befinden und in Folge dessen auch die Gaben Christi für

Seine Versammlung: Evangelisten, Hirten und Lehrer.

Jedoch stehen nicht alle auf diesem Boden, und so wie es

daher in den verschiedenen Sekten der Christenheit treue

und dem Herrn ergebene Seelen giebt, so finden sich in

diesen Parteien auch Gaben Christi zur Verkündigung des

Evangeliums und zur Seelsorge. Damit ist aber durchaus

nicht gesagt, daß ich, wenn ich die Wahrheit bezüglich

des Zusammenkommens der Gläubigen erkannt habe,

hinausgehen soll, um jene Gaben aufzusuchen.

Zweitens können errettete Seelen durch den Herrn

auf den Boden des Zusammenkommens in Seinem Namen

geführt werden und dennoch über die Bedeutung und Trag

275

weite der Stellung, die sie eingenommen haben, sehr unwissend

sein. Aber weit entfernt davon, solche zurückzuweisen,

ist es im Gegenteil sehr gut, sie aufzunehmen.

Denn wo sollten sie Fortschritte in der Erkenntnis machen,

wenn nicht da, wo Jesus sich befindet? Wo sollten sie

lernen und an Einsicht zunehmen, wenn nicht da, wo die

Wirksamkeit Seines Geistes ihre freie Ausübung findet?

Nach und nach werden sie, wenn sie anders dem Worte

unterworfen sind, all das Kostbare, was es in dem Namen

Christi giebt, kennen lernen. Gott sei gepriesen! es giebt

um Jesum Platz für alle. Welcher Christ, der seinen

Herrn lieb hat, möchte wissentlich sich von dem Boden

entfernen, bezüglich dessen Jesus gesagt hat: „Da bin ich

in ihrer Mitte?"

Indessen möchte gefragt werden: Giebt es denn auch

einen sichtbaren Ausdruck dieser Einheit des einen, durch

den Heiligen Geist gebildeten Leibes, dessen Haupt Christus

ist und dessen Glieder sich, außerhalb aller menschlichen

Einrichtungen und auf Grund jener Einheit, um Ihn als

Ihren einzigen Mittelpunkt scharen sollten? Gott sei

Dank, ja! Der Herr Jesus, der uns in Seiner Gnade

für unser Zusammenkommen in einer Zeit des Verfalls

«ine Hülfsquelle gegeben, hat uns auch, nach derselben

Gnade einen bleibenden Ausdruck von der Einheit hinterlassen,

von welcher diejenigen Zeugnis ablegen, welche

in Seinem Namen versammelt sind. Und dies ist Sein

Tisch: „denn," sagt der Apostel, „ein Brot, ein Leib

sind wir, die Vielen, denn wir alle sind des einen

Brotes teilhaftig." (1. Kor. 10, 17.) Zwar kann man

im Namen Jesu versammelt sein, ohne gerade das Brot

zu brechen, allein es ist unmöglich, dem Worte gemäß am

276

Tische des Herrn zum Brotbrechen versammelt zu sein,

es sei denn im Namen Jesu, denn es ist Sein Tisch;

und da, wo der Tisch des Herrn in einer im Namen

Jesu gebildeten Versammlung aufgerichtet ist, da ist derselbe

der örtliche Ausdruck der Einheit des einen Leibes,

von welcher man Zeugnis giebt.

„In Seinem Namen" drückt den Charakter des Zusammenkommens

aus; die Einheit des durch den Heiligen

Geist gebildeten Leibes ist der Grundsatz desselben, und

daher ist der Heilige Geist die Kraft, welche dieses Zusammenkommen

bewirkt und die allein darin wirksam sein

sollte, und endlich ist der Tisch, das eine Brot, der

sichtbare Ausdruck dieser Einheit. Ich spreche hier nicht

von alle dem Kostbaren, woran uns das Abendmahl des

Herrn persönlich erinnert, sei es die Liebe, die Person

oder das Werk Dessen, der sich für uns hingegeben und

gewollt hat, daß wir uns Seiner in Seinem Tode erinnern

sollten, noch rede ich von der Bedeutung des Tisches

des Herrn für uns insgesammt betreffs der brüderlichen

Gemeinschaft.

An dieser Stelle möchte ich einige Fragen beantworten,

die nicht selten erhoben werden. Zunächst: Hat ein Christ

nicht das Recht, sich zu vereinzeln, sich gleichsam in seiner

persönlichen Gottseligkeit einzuschließen? Nein; denn wenn

einerseits geschrieben steht: „ein jeglicher, der den Namen

des Herrn nennet, stehe ab von der Ungerechtigkeit" —

wenn es in einem großen Hause Gefäße zur Unehre giebt,

von denen man sich zu reinigen hat — so heißt es

andrerseits auch in demselben Kapitel, und zwar für

unsere Zeiten des Verfalls: „Strebe aber nach Gerechtigkeit,

Glauben, Liebe, Frieden mit denen, die den Herrn

277

anrufen aus reinem Herzen." (2. Tim. 2, 19 — 22.)

Das ist keine Vereinzelung. Wo aber könnte man so mit

einander zusammentreffen, wenn nicht auf dem Wege des

Gehorsams, als Glieder des eines Leibes? Ist das nicht

der Weg, auf den der Heilige Geist uns führen will,

und wo wir die Einheit des Geistes bewahren sollen in

dem Bande des Friedens? Sollten nicht diejenigen, welche

den Herrn anrufen aus reinem Herzen, sich in Seinem

Namen vereinigen wollen, um den Vorteil Seiner gnadenreichen

Verheißung zu genießen? Warum gäbe es einen

einzigen Leib, wenn die Glieder vereinzelt bleiben sollten?

Man hört zuweilen von sonst ernsten, in ihrem

persönlichen Wandel treuen Christen die Meinung aussprechen,

daß sie die Gegenwart Jesu besser verwirklichten,

wenn sie allein seien. Aber kommt dies nicht daher, daß

sie viel in sich selbst und auf sich selbst, sowie auf ihre

eigenen Gefühle blicken, anstatt auf Jesum? Sind nicht

gerade solche Personen sehr oft beunruhigt, wenn ihre

Gefühle verschwinden, oder auch nur an Stärke abzunehmen

scheinen? Ist man mit Jesu beschäftigt, so wird man

stets glücklich sein mit denen, welche sich ebenfalls mit

Ihm beschäftigen. Aber ach! wie oft blickt man hin auf

die Fehler und Mängel der andern, anstatt auf Jesum

zu schauen und die Seinigen in Ihm anzusehen und sie

mit derselben Gnade zu betrachten, mit welcher Er sie

betrachtet, und ihnen die Füße zu waschen, sowie Er es auch

thut. (Joh. 13, 14.) O wie glücklich sind wir, wenn

wir uns mit demselben Dienste beschäftigen, welchen

Christus ausübt! Wenn ein jeder den andern höher

achtet, als sich selbst, wenn ein jeder nicht auf das seinige

sieht, sondern auch auf das der andern, wird man sich

278

dann nicht glücklich fühlen, in einerlei Gesinnung, in derselben

Liebe und mit denselben Gefühlen versammelt zu

sein? Und ist es dieses nicht, was sich für die Glieder eines

und desselben Leibes geziemt? Zudem ist das Wort Jesu

untrüglich. Ist es wahr, daß Er mit uns ist in unserm

persönlichen Dienste, in unserm Kampfe wider den Feind,

(Vergl. Matth. 28. 20; Apstgsch. 18, 9. 10; 2. Tim.

4, 17.) daß Seine Liebe in dem Verborgenen unserer

Herzen thätig ist und uns mit Freude erfüllt, so bleibt

es nicht minder wahr, daß Er den zwei oder drei in

Seinem Namen Versammelten Seine besondere Gegenwart

verheißen hat. Welcher Christ, der dieses ernstlich bedenkt,

möchte eine solche köstliche Segnung vernachlässigen?

(Schliis; folgt)

Psalm 84.

Der 84. Psalm beschäftigt sich hauptsächlich mit den

Wohnungen Jehova's. Er beginnt mit den Worten:

„Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Jehova der Heerscharen!"

Zu allen Zeiten war es die Absicht und der

Wunsch Gottes, eine Wohnung zu haben; deshalb zeigt

Er Mose auf dem Berge ein Muster der Stiftshütte.

In seinem Lobgesang, bei Gelegenheit der Befreiung

Israels und des wunderbaren Durchgangs durch das Rote

Meer, sagt Mose: „Meine Kraft und mein Gesang ist

Iah, und Er ist mir zur Rettung geworden; dieser ist

mein Gott und ich will Ihn verherrlichen," oder „ich will

Ihm eine Wohnung machen." (2. Mos. 15, 2.) Doch Gott

sagt: „Ich selbst will mir ein Hausbauen;" und dieser

Wunsch Gottes wird am Ende der Zeitalter, nach

dem tausendjährigen Reiche erfüllt werden, wie wir in

Offbg. 21, 3 lesen: „Siehe, die Hütte Gottes bei den

Menschen! Und Er wird bei ihnen wohnen, und sie

werden Sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein,

ihr Gott."

Das Wort Hütte hat stets den Sinn eines Wohnens

Gottes bei den Menschen. Nachdem daher David gesagt

279

hat: „Wie lieblich sind Deine Wohnungen!" fügt er hinzu:

„Mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem

lebendigen Gott."

„Selbst der Sperling hat ein Haus gefunden, und

die Schwalbe ein Nest für sich, da sie ihre Jungen hinlegt."

(V. 3.) Dorthin blickte die Seele Davids. Gemäß

der Vorsehung Gottes, welche einen Platz der Ruhe für

jedes Geschöpf bereitet hat, sagt er durch den Glauben:

„Nun denn, wenn Du selbst für die Schwalbe und den

Sperling ein Nest gebaut hast, so hast Du auch eins für

mich bereitet; und er fügt hinzu: „Deine Altäre, o Jehova

der Heerscharen, mein König und mein Gott!" Das

ist das Nest oder der Ruheort, welchen er suchte. „Deine

Altäre, o Jehova der Heerscharen!" Und in der That,

die Anbetung Gottes ist die Ruhe der Seele.

Es giebt nur einen Menschen, der hienieden nie einen

Ruheplatz fand, und dieser Eine war Jesus. Er selbst

sagt: „Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des

Himmels Nester; aber der Sohn der Menschen hat nicht,

wo Er das Haupt hinlege." (Matth. 8, 20.) Und wenn

wir jetzt ein Nest, einen Ruheplatz in Gott besitzen, so ist

es, weil Jesus um unsertwillen ohne Ruhe war hienieden.

„Glückselig, die da wohnen in Deinem Hause —

stets werden sie Dich preisen!" (V. 4.) Glückselig sind,

nicht die Dein Haus besuchen oder dasselbe durchwandeln,

sondern „die da wohnen in Deinem Hause!" Unmöglich

kann man dort wohnen, ohne Ihn unaufhörlich zu preisen.

Indessen sind wir, in einem andern Sinne, nicht immer

in dem Hause. Wir gehen hinaus, um zu dienen, sowie

die Schwalbe ihr Nest verläßt, um Futter für ihre Jungen

zu suchen. Aber da sind Wege, welche zu dem Hause

führen, d. h. mancherlei Wege Gottes mit bezug auf uns,

welche in dem Hause endigen. Diese Wege sind nicht

selten steinigt, dornigt und sehr schmerzlich für das Fleisch;

aber es sind die Wege, auf welchen Gott uns wandeln

zu sehen wünscht, und der, dessen Herz im Hause ist,

wird den rauhen Weg, der zum Hause führt, dem leichten,

280

der von demselben ableitet, weit vorziehen. So waren

z. B. diese Wege für die ersten Jünger Hunger, Gefahren,

Verfolgungen und Tot, mit einem Wort, das Thal von

Baka, das Thränenthal; (V. 6.) alles, was sie fanden,

waren Leiden und schmerzliche Erfahrungen aller Art.

Aber sie „machten es zu einer Quelle." Das ist die

Art und Weise, in welcher für diejenigen, welche auf dem

Wege sind, alle Schwierigkeiten verändert werden; sie

werden zu Quellen gemacht, d. h. zu Quellen der Freude,

der Segnung und der Verherrlichung Gottes. „Ja, mit

Segnungen bedeckt es der Frühregen." Nicht nur kommen

die gewöhnlichen Arten des Beistandes dem zu Hülfe, der

auf dem Wege ist, sondern selbst der Regen, oder die

unmittelbare Hülfe Gottes erscheint unerwartet inmitten

der Wüste.

„Sie gehen von Kraft zu Kraft; vor Gott in Zion

wird ein jeder erscheinen." (V. 7.) Es giebt auf dem

Wege des Christen gleichsam Halteplätze, Prüfungen, aus

denen Quellen hervorsprudeln, die ihn von Kraft zu Kraft

gehen lassen. „Du, unser Schild, siehe, o Gott, und

schaue an das Antlitz Deines Gesalbten!" (V. 9.) Wir

können Gott stets mit Vertrauen Seinen Gesalbten, unsern

Herrn Jesum Christum, vorstellen und so uns trösten im

Blick auf das, was wir in uns selbst sind.

„Denn ein Tag in Deinen Vorhöfen ist besser, denn

sonst tausend; ich wollte lieber auf der Schwelle sein im

Hause meines Gottes, denn zu wohnen in den Zelten der

Gesetzlosen." (V. 10.) Viele der Kinder Gottes sind zufrieden

damit, auf der Thürschwelle zu sein, ja, es giebt

solche, welche sich selbst draußen aufhalten, während wir

eintreten und im Hause wohnen sollten. Doch wenn

unser Unglaube oder die Begierden unsers Herzens, welches

andere Gegenstände zu haben wünscht, als Gott allein,

uns verhindern, Fortschritte zu machen, so haben wir

wenigstens „die Thür," denn Christus ist „die Thür;"

und schon „die Thür" ist weit mehr wert als alles das,

was in der Welt ist.

Gedanken über das Zusammenkommen der

Gläubigen.

(Schluß.)

Es giebt also eine persönliche Gemeinschaft der Seele

mit dem Herrn und mit Gott; man wandelt mit Ihm.

Das aber schließt durchaus nicht die gemeinsame Gemeinschaft

aus, wie geschrieben steht: „Auf daß auch ihr mit

uns Gemeinschaft habet, und zwar ist unsere Gemeinschaft

mit dem Vater und mit Seinem Sohne Jesu Christo;"

und weiterhin: „So haben wir Gemeinschaft miteinander."

(1. Joh. 1, 3. 7.) Diese Gemeinschaft wird aber nicht

aufrecht gehalten und bezeugt, wenn man sich von einander

absondert. Wo aber könnten wir sie besser und völliger

verwirklichen, als bei dem Zusammenkommen im Namen

Jesu und an dem Tische des Herrn? Jesus erschien zwar

nach Seiner Auferstehung auch einzelnen Personen, und

dies war köstlich für sie, allein erst in dem Augenblick,

als die Seinen in Schwachheit versammelt waren, kam

Er in ihre Mitte, um ihnen Seine Gaben: Friede,

Freude und den Heiligen Geist, mitzuteilen und sie als

Seine Zeugen in die Welt zu senden. (Joh. 20,19—23.)

Also fügt der sich vereinzelnde Christ sich selbst Schaden

zu und geht einer kostbaren Segnung verlustig.

Andrerseits muß die Gemeinschaft unter einander der

Wahrheit entsprechend sein, denn sie entspringt aus der

282

Thatsache, daß wir Gemeinschaft mit Gott haben und in

dem Lichte wandeln, gleichwie Er selbst in dem Lichte ist.

(1. Joh. 1, 7.) Wir haben daher zu unterscheiden, ob

eine Zusammenkunft wirklich „im Namen des Herrn" geschieht,

und ob das, was Er ist, dabei festgehalten wird.

Wir dürfen nicht unter dem Vorwande der Gemeinschaft

und der Liebe uns mit irgend etwas verbinden, was

die Wahrheit und infolge dessen auch die Ehre des Herrn

verletzt. Denn dies hieße nicht Gemeinschaft mit Gott

haben im Lichte. Bevor wir an einem „Tische" Platz

nehmen, müssen wir uns fragen, ob die Autorität des

Herrn dort praktisch anerkannt wird; denn es ist unmöglich,

an einem Tische teilzunehmen, getrennt von denen, die sich,

an demselben befinden — man macht sich ja eins mit

ihnen. (1. Kor. 10, 18.) Das Brot und der Wein,

welche man mit einander nimmt, sind in der That das

innigste Zeichen der Gemeinschaft. Damit soll nicht gesagt

sein, daß ich als Christ nicht mit andern Christen eine

gewisse Gemeinschaft Pffegen könne, obwohl ich ihnen in

ihre Versammlung nicht folgen kann. Sie zu lieben mit

brüderlicher Liebe, ist mein hohes köstliches Vorrecht, aber

es muß in der Wahrheit geschehen, wenn es anders dem

Willen des Herrn entsprechen soll. Wenn ferner ein Christ

in Unwissenheit mit einem Tische verbunden ist, an

welchem die Rechte des Herrn praktisch nicht anerkannt

werden, so zweifle ich nicht daran, daß er dort persönlich

den Segen genießen kann, der mit der Feier des Gedächtnismahles

des Herrn verknüpft ist. Der Herr antwortet

seinem Glauben. Doch wir dürfen nicht vergessen,

daß der Christ nicht zur Unwissenheit berufen ist. Der

Apostel sagt vielmehr: „Wachset in der Erkenntnis

283

und in der Gnade des Herrn Jesu Christi." Auch müssen

wir uns wohl hüten, daß wir nicht unter dem Vorwande

der Unwissenheit unsern eigenen Willen verbergen; (ich habe

vorhin von solchen gesprochen, denen das Licht des Wortes

über den vorliegenden Gegenstand noch nicht vorgestellt

worden ist.) Endlich giebt es, außer jenem persönlichen

Genuß, den man am Tische des Herrn haben kann, noch

denjenigen, welcher mit der Gegenwart Jesu in einer Zusammenkunft

in Seinem Namen verbunden ist — eine

verlorene Freude für alle, die sich absondern.

Um noch einmal auf den Tisch selbst zurückzukommen,

so giebt es nur einen einzigen Tisch „des Herrn" für

alle die Seinigen, obwohl dieser eine Tisch an verschiedenen

Orten seinen lokalen Ausdruck finden mag in den im

Namen Jesu gebildeten Versammlungen. Hieraus folgt,

daß, wenn wir an einem Orte an einem solchen Tische

teilnehmen, wir auch an jedem andern, auf demselben

Grunde errichteten Tische teilhaben, wo sich derselbe auch

befinden möge. Und es giebt nur einen Tisch, weil es

nur ein Brot, nur einen Leib, einen Geist, einen Herrn,

sowie nur einen wahren Grund des Zusammenkommens giebt.

Die Thatsache, daß es in diesen Tagen des Verfalls

für die Heiligen, für die Kinder Gottes, einen solchen

Grund des Zusammenkommens nach dem Worte und den

Gedanken Gottes giebt, ist so köstlich und von solcher

Tragweite, daß ich noch ein wenig in einige sich eng daran

knüpfende Folgerungen eingehen möchte. Wenn sich an

einem Orte eine Anzahl von Christen, geleitet durch das

Wort und den Geist Gottes, von den mannigfaltigen

religiösen Systemen menschlicher Erfindung oder von den

großen Anstalten, die in den verschiedenen Ländern sich

284

anmaßen, die rechtmäßige Fortsetzung der ursprünglichen

Kirche zu sein, getrennt haben, und „im Namen Jesu" zusammenkommen,

in dem Sinne, wie wir es soeben besprochen

haben, so bilden sie daselbst eine Versammlung. Man

kann jedoch nicht sagen, daß sie die Versammlung

Gottes an jenem Orte ausmachen. Ein solcher Ausdruck

war vielleicht passend zu einer Zeit, als die Versammlung

an einem Orte noch den lokalen Ausdruck von

der ganzen Versammlung bildete, deren Einheit damals

äußerlich sichtbar war. (Vergl. 1. Kor. 1, 2; 10, 32;

2. Kor. 1, 1.) Er würde aber in einer Zeit des Verfalls

und der Verwirrung, wie die gegenwärtige, durchaus unpassend

sein, selbst dann, wenn sich alle wahre Christen

an einem Orte „im Namen Jesu" versammelten. Eine

solche Versammlung aber, so gering die Zahl derer, welche

sie bilden, und so groß ihre Schwachheit auch sein mögen,

ist eine Versammlung Gottes insofern, als sie auf dem

Boden steht, welchen uns das Wort angiebt. Beachten

wir ferner, daß die auf das Haus Gottes bezüglichen

Grundsätze nicht dadurch ihre Anwendbarkeit verloren haben,

daß durch die Untreue des Menschen der Verfall thatsächlich

herbeigeführt worden ist. Jene Grundsätze bestehen

fort, um uns in einer im Namen Jesu gebildeten

Versammlung zu leiten.

Wenn sich nun solche Versammlungen an verschiedenen

Orten in Unterwürfigkeit unter das Wort gebildet haben,

wie dies durch die Gnade des Herrn in den letzten Jahren

wirklich geschehen ist, dürfen sich dieselben dann als unabhängig

von einander betrachten? Darf jeder einzelne sich

absondern und sagen: Was anderswo geschieht, geht mich

nichts an? Keineswegs. Wir können uns in dem Zeug-

285

ms, das wir ablegen, ebensowenig allein stellen, als wir

uns von dem Verfall, in dessen Mitte das Zeugnis abgelegt

wird, ausschließen können. Allein beachten wir

wohl, daß diese Abhängigkeit oder gegenseitige Verbindlichkeit

der Versammlungen nicht die Folge irgend einer

Uebereinkunft oder Organisation ist, noch auch eine menschliche

Organisation nötig macht; sie geht einzig und allein

aus der Wahrheit selbst hervor und kann nur auf den

Grundsätzen derselben beruhen.

Der Boden, auf dem man sich versammelt, ist der

nämliche. Man steht auf demselben als Glieder des

einen Leibes, um demselben Herrn zu gehorchen; derselbe

Geist ist es, der da sammelt, und derselbe Tisch

vereinigt alle diejenigen, welche so versammelt sind, um

an demselben Brote teil zu nehmen, wenngleich an verschiedenen

Orten und unter verschiedenen Völkern. Wie

könnten nun diese Versammlungen von einander unabhängig

sein? Dies zu behaupten, würde heißen, sich von

dem einen Herrn und dem einen Geiste unabhängig erklären.

Die innigste Gemeinschaft verbindet die einzelnen

Versammlungen miteinander, so daß der Apostel sagen kann:

„Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, wenn

ein Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle Glieder

mit." (1. Kor. 12, 26.) Daß Paulus an dieser Stelle

nicht blos an ein Glied der Versammlung zu Korinth

denkt, sondern vielmehr an ein Glied des Leibes Christi

im allgemeinen, geht klar aus dem 12. Verse desselben

Kapitels hervor. Würde man die Einheit des Geistes

bewahren und die Worte verwirklichen: „wir sind alle zu

einem Geiste getränkt," wenn man die Versammlungen

für unabhängig erklären wollte? Eine solche Unabhängig

286

keit wäre die Verleugnung all der Wahrheiten, welche wir

oben behandelt haben und welche sämtlich auf die Thatsache

unsers Zusammenkommens im Namen Jesu Bezug

haben. Er ist „die Wahrheit," Er ist „der Wahrhaftige."

Dürfte man behaupten, in Seinem Namen versammelt zu

sein, wenn man die Wahrheit nicht festhielte?

Auch ist Jesus „der Heilige," und nur insofern wir

diesem Seinem Charakter entsprechen, können wir in

Seinem Namen versammelt sein und an Seinem Tische

teilnehmen. Diese Thatsache hat ohne Zweifel zunächst

eine persönliche Folge in betreff des Tisches: „Der Mensch

aber prüfe sich selbst, und also esse er von dem Brote

und trinke von dem Kelche." Diese Prüfung, welche ein

jeder von uns an sich selbst vorzunehmen hat, soll uns

nicht veranlassen, uns von dem Abendmahl fern zu halten;

im Gegenteil. Das Fleisch will uns allerdings einflüstern,

es sei richtig, wenn wir gefehlt haben, von dem Tische

des Herrn fern zu bleiben. Allein was würde das anders

heißen, als die Sünde annehmen und das Bekenntnis von

dem Werte des Todes Christi fallen lassen? Vielmehr

sollen wir uns selbst prüfen und dann zum Tische des Herrn

gehen. Auf diese Weise werden die Rechte des Todes

Christi in unserm Gewissen von neuem zur Geltung gebracht

— denn alles ist in diesem Tode vergeben und

gesühnt — und wir gehen zum Tische des Herrn, um diese

Rechte als den Beweis der unendlichen Gnade anzuerkennen.

Ebensowenig sollen wir uns von dem Tische des

Herrn aus dem Grunde fernhalten, weil jemand, unsers

Erachtens nach, sich gegen uns vergangen hat. Für solche

Fälle hat das Wort ebenfalls Vorsorge getroffen. (Vergl.

Matth. 18, 15 rc.; Kol. 3, 13.)

287

Allein diese Frage hat nicht nur eine persönliche

Seite. Die Heiligkeit, welche die Person Christi charak-

terisirt, muß auch durch die Versammlung, als solche, an

Seinem Tische aufrecht erhalten werden. Wenn eS in

bezug auf den Wandel des Einzelnen heißt: „Ein jeglicher,

der den Namen des Herrn nennet, stehe ab von

der Ungerechtigkeit," sollte dann nicht dieselbe Trennung

von dem Bösen auch die Versammlung derer charakterisiren,

welche im Namen des Herrn zusammenkommen? „Seid

nicht in einem verschiedenen Joche mit Ungläubigen . . .

sondert euch ab, und rühret Unreines nicht an." (2. Kor. 6.)

Dieser durch das Wort aufgestellte Grundsatz ist sicherlich

auch auf die Versammlung und auf den Tisch des Herrn

anzuwenden. Die Versammlung hat von dem Herrn die

nötige Autorität empfangen, um das Böse zu richten und

sich von demselben zu reinigen. „Thut den Bösen von

euch selbst hinaus," ermahnt der Apostel. (1. Kor. 5, 13.)

Wer ist nun dieser „Böse?" Kann nur der „böse"

genannt werden, welcher in eine der in genanntem Kapitel

aufgezählten Sünden gefallen ist? Offenbar nicht, denn

dann würde ein Mörder am Tische des Herrn bleiben

können. Der Böse ist derjenige, welcher der Natur und

dem Willen Gottes zuwider handelt. Die schlimmste und

bedenklichste Art des Bösen nun ist nicht das, was unsre

Gefühle als Menschen verletzt und schon von der Welt

verurteilt werden sollte, sondern das, was die Wahrheit,

die Herrlichkeit und die Rechte Christi antastet. Wir haben

uns nicht allein von der Befleckung des Fleisches, sondern

auch von derjenigen des Geistes zu reinigen. „Böse" in

dem Sinne der Schrift, ist nicht allein derjenige, welcher

in grobe Sünden fällt, sondern auch der, welcher sich

288

durch den Irrtum verführen läßt und darin beharrt.

Die im Namen Jesu versammelt sind, haben sich vom

Bösen zu reinigen, indem sie „den Bösen" aus ihrer

Mitte hinausthun; wie würden sie sonst dem Charakter

Dessen entsprechen, der „heilig" und „wahrhaftig" ist?

Die Thatsache, daß die Kirche oder Versammlung im

Verfall ist und nicht mehr dasteht, wie in den Tagen des

Apostels Paulus, kann unsre Verpflichtung, einem aus

der göttlichen Natur selbst hervorgehenden Grundsatz zu

gehorchen, nicht schwächen. Wir können nicht in Gemeinschaft

mit Gott sein, wenn wir das Böse dulden. Könnten

wir, wenn wirklich versammelt im Namen Jesu, einem

thatsächlichen, erkannten Bösen in unsrer Mitte zu weilen

erlauben? Wir stehen auf keinem andern Boden, als die

Versammlung zu Korinth damals stand. Der Zustand

des allgemeinen Verfalls, in dessen Mitte die „zwei oder

drei" — wenn wirklich treu — ein Zeugnis sind, erfordert

im Gegenteil ein um so treueres und strengeres

Festhalten an dem Worte. Werfen wir z. B. einen Blick

auf die armen Juden, welche einst unter Esra und

Nehemia in ihr Land zurückkehrten. Was charakterisirte

sie in ihrem Verfall und in ihrer Schwachheit? Das Festhalten

am Worte Gottes und die völlige Trennung von

dem Bösen. Sie thaten diejenigen hinaus, welche sich

durch unerlaubte Ehen verunreinigt hatten, ja, sie schlossen

alle von dem Priestertum aus, welche ihr Geschlechtsregister

nicht aufzuweisen vermochten.

Die Versammlung hat also die Pflicht, sich von dem

Bösen zu reinigen. Auch hat sie die Autorität dazu, so

gering die Zahl derer auch sein mag, welche sie bilden.

Bestände sie auch nur aus zweien oder dreien — sie hat

289

Macht, zu binden und zu lösen. Was ist denn die Quelle

dieser Autorität? Zunächst der Herr selbst, welcher gesagt

hat: „Was irgend ihr auf Erden binden und lösen

werdet, wird im Himmel gebunden oder gelöst sein," und

dann die Thatsache, daß Er gegenwärtig ist inmitten

derer, die in Seinem Namen versammelt

sind. Es handelt sich für die Versammlung

durchaus nicht um Unfehlbarkeit, sondern um Unterwürfigkeit

unter das Wort des Herrn, welcher der Versammlung

Berechtigung und Autorität verleiht. Er ist treu, und

wenn sich eine Versammlung, die in Seinem Namen

zusammenkommt und in Unterwürfigkeit unter das Wort

nach Seiner Verherrlichung trachtet, in die Notwendigkeit

versetzt sieht, zu binden oder zu lösen, oder einen Beschluß

zu fassen, so darf und soll sie auf die Treue des Herrn

rechnen, sowie auf Seine verheißene Gegenwart in ihrer

Mitte und auf die Gegenwart und Wirksamkeit des

Heiligen Geistes, daß derselbe sie bei dem zu fassenden

Beschluß leiten werde. Dies leugnen oder in Frage

stellen, heißt nichts anderes, als die Wirklichkeit der

Verheißung Jesu in Zweifel ziehen oder gar leugnen.

Bevor wir weitergehen, möchte ich noch eins bemerken.

Wir befinden uns nicht allein inmitten des

Verfalls, sondern auch in großer Schwachheit. Daher

kann es vorkommen, daß eine Versammlung in der Erkenntnis

und Verurteilung des Bösen langsam ist, und

daß alles, was sie thut, unter mancherlei Fehlern geschieht.

Was hat nun ein Glied einer solchen Versammlung

zu thun, wenn es das Böse erkennt, bevor die

Versammlung darüber beunruhigt ist? Soll sich ein solcher

von der Versammlung oder von dem Tische des Herrn

290

trennen? Nein; er kann sich an den Schuldigen wenden,

ihn persönlich zurechtweisen und warnen und, wenn er

nicht hören will, ihn meiden und sich von ihm fernhalten.

(Vergl. Tit. 3, 10. 11; Röm. 16, 17; 2. Th ess. 3, 6.)

Was die Versammlung anbetrifft, so hat er Geduld und

Langmut zu üben und auf Gott zu harren, daß Er auf

die Herzen und Gewissen wirken möge, um sie hinsichtlich

des Bösen aufzuwecken. Es mag und wird für ihn

ohne Zweifel nicht ohne Schmerz abgehen, allein es ist

gut, auf Gott zu harren, und der Herr ist treu und wird

alle, die zu Ihm emporblicken, nicht beschämen. Paulus

trennte sich nicht von den Korinthern, er ermahnte sie;

und wir sehen, wie auch der Herr voll von Geduld ist

gegen die Versammlungen, selbst wenn sie sich in dem

traurigsten Zustande befinden mögen. (Vergl. 1. Kor. 5;

Offbg. 2. 8.)

Indem wir jetzt auf den Fall zurückkommen, daß

eine Versammlung einen Beschluß gefaßt hat, so erhebt sich

die Frage: Was sollen die übrigen Versammlungen thun,

die sich auf demselben Boden versammeln, wie jene, und

mit ihr an demselben Tische Gemeinschaft haben? Die

Antwort ist einfach: Sie haben den gefaßten Beschluß

anzuerkennen. Dürfen sie nicht darauf rechnen, daß der

Herr auch jene bewahrt und geleitet haben wird, welche,

in Seinem Namen versammelt, zu einem Beschluß gekommen

sind? Und wenn dies der Fall ist, sollen sie dann

nicht in Unterwürfigkeit und Vertrauen — nicht gegen

eine Versammlung, sondern gegen den stets treuen Herrn

— den gefaßten Beschluß anerkennen, als einen solchen,

der Ihm selbst entspricht und Seine Billigung findet? Es

mag sein, daß es dabei Schwachheiten gegeben hat und

291

manche Fehler begangen worden sind. Ach! woran könnte

der Mensch seine Hand legen, ohne Fehler aller Art zu

begehen? Wollte man aber stets die Fehler in den Vordergrund

stellen, um auf diese Weise den gefaßten Beschluß

zu entkräften, so würde man dadurch nicht nur die Ausübung

jeder Thätigkeit, sich von dem Bösen zu reinigen,

unmöglich machen, sondern auch thatsächlich die Gegenwart

des Herrn inmitten derer, die in Seinem Namen versammelt

sind, sowie die Gegenwart des in der Versammlung

wirkenden Heiligen Geistes leugnen. Der Herr hat

verheißen, in der Mitte der „zwei oder drei" zu sein,

welche in Seinem Namen versammelt sind; Er hat ihnen

Autorität gegeben, zu binden und zu lösen. Ist es nun

nicht eine sehr ernste Sache, die Anerkennung dessen, was

in jener Gegenwart und mit jener Autorität geschehen ist,

unter dem Vorwande der etwa begangenen Fehler zu verweigern?

Könnte man nicht ebenso gut einem Menschen,

der sich vergeht — und „wir alle straucheln oft" — die

Wirklichkeit seines Christentums, seine Verbindung mit

Christo durch den inwohnenden Heiligen Geist und Seine

Gotteskindschaft abstreiten? Einen Versammlungsbeschluß

verwerfen heißt nichts anders, als die Einheit des Geistes

außer Acht lassen; ihn anerkennen, heißt, diese Einheit

und das Vertrauen zu dem Herrn bewahren. Gepriesen

sei Sein Name! Er hat uns nicht berufen, Thatsachen

zu untersuchen, die außer unserm Bereiche liegen, um

auf's neue eine Entscheidung zu treffen, welche bereits von

denen getroffen worden ist, welchen der Herr selbst die zu

entscheidende Frage vorgelegt hat; sondern Er giebt uns

die Versicherung, daß Er in ihrer Mitte ist. Wir

werden ermahnt, „einander unterwürfig zu sein in der

292

Furcht Christi." Möchten wir uns befleißigen, diese Ermahnung

des Geistes zu befolgen und uns hüten, unser

persönliches Urteil über das Urteil derer zu stellen, welche

im Namen Jesu versammelt sind, und welchen Er Seine

Gegenwart zugesagt hat! Möchten wir vor allem bewahrt

bleiben, was uns von der Unterwürfigkeit gegen den Herrn,

von der Abhängigkeit von Ihm und von dem Vertrauen zu

Ihm ableiten will!

Unser teurer Herr und Heiland hat also inmitten des

Verfalls, der Verwirrung der menschlichen Systeme und

der Bemühungen des Feindes, jedes Zeugnis von der

Wahrheit in den schweren Zeiten zu zerstören, in Seiner

Gnade einen einfachen Weg für die Einfältigen bereitet.

Und wie bisher, so wird Er auch fernerhin die bewahren,

welche einfältig auf Ihn blicken, als auf den Heiligen und

den Wahrhaftigen, der da öffnet und niemand schließt, und

schließt und niemand öffnet! Sie dürfen in Frieden das

Glück genießen, sich auf einem Boden versammelt zu finden,

von welchem das Ich, die natürliche Unabhängigkeit, ausgeschlossen

ist, weil Jesus, trotz all ihrer Schwachheit, da ist

mit der ganzen Gnade, Autorität, Vortrefflichkeit und All-

genugsamkeit Seiner gesegneten Person. Auch dürfen sie,

als Glieder des einen Leibes, getauft mit einem

Geiste und gesetzt an einen Tisch, das Glück einer wirklichen

Gemeinschaft genießen. Ist das nicht der einzig

wahre, passende Boden des Zusammenkommens für alle,

welche durch Christum errettet, mit Ihm gestorben und

auferstanden sind, und für die das Alte vergangen und

alles neu geworden ist? Wenn es sich um uns als einzelne

Personen handelt, so erkennen wir nach dem Worte

an — und wir sind glücklich, dies zu thun — daß es

293

mit dem alten Menschen, mit dem I ch aus ist, daß nicht

mehr wir leben, sondern Christus in uns. Sollten wir

denn, wenn es sich darum handelt, versammelt zu sein

zum Dienste und zur Anbetung unsers Gottes und Vaters,

wünschen, einer anderen Regel zu folgen und das „Ich"

wieder aufleben zu lassen? „Im Namen Jesu," Jesus

„in der Mitte," das ist das Passende für den Tag des

Verfalls und zugleich das Paffende für den neuen Menschen.

Laßt uns Acht haben, daß wir nicht in „unser Zusammenkommen"

die Anmaßungen und die Unabhängigkeit des

alten Menschen hineintragen!

O, möchten wir dieses Zusammenkommen im Namen

Jesu hochschätzen als das einzig Wahre, durch Ihn selbst

Angeordnete! Möchten wir durch den Glauben und in der

Kraft des Heiligen Geistes, wenn wir also versammelt

sind, Seine Gegenwart unter unS verwirklichen, indem wir

einmütig sind, eines Sinnes, dieselbe Liebe haben,

(Phil. 2, 2.) da wir ja ein und denselben Gegenstand

für unsere Herzen besitzen, Jesum selbst, auf welchen

ein und derselbe Geist unsere Gedanken und Zuneigungen

richtet!

Das Gebet des Herrn.

(Matth. 6, 9—13; Luk. 11, 2-4.)

(Schluß.)

Wir kommen jetzt zur Beantwortung der zweiten

Frage: Was war die Absicht des Herrn bezüglich des

Gebrauchs Seines Gebets? Ist dieser Gebrauch auf die

Zeit des Wirkens Jesu auf Erden zu beschränken, oder

auch auf die Zeit nach Seinem Tode und auf die Gegenwart

auszudehnen? Die Antwort auf diese Fragen ist

294

eigentlich schon in dem früher Gesagten eingeschlossen.

Wir haben gesehen, daß das Gebet genau dem Zustande

entsprach, in welchem sich die Jünger befanden, bevor der

Herr Sein Werk vollendet hatte. Hieraus folgt, daß,

sobald die Erlösung eine Thatsache und eine bekannte

Grundlage der Beziehungen zu Gott geworden war, für

diejenigen, welche im Genuß der vollen Resultate des

Erlösungswerkes standen, andere, ihren neuen Umständen

angemessene Gebete passend wurden. Mit andern Worten,

die Bitten jenes aus dem Gefängnis entlassenen Verbrechers

— um unser Bild weiter zu gebrauchen —

können nicht denjenigen gleich sein, welche er im Gefängnis

äußerte, er müßte sich denn in einer großen

Selbsttäuschung befinden. Wenn er nach seiner Befreiung

mit dem Könige zusammentrifft, wird er nicht sein

Gesuch um Begnadigung und Vergebung erneuern, sondern

im Bewußtsein der erhaltenen Begnadigung seinem Herrn

danken und ihm in Treue und Unterwürfigkeit sein Leben

lang dienen.

Aber wir wissen, daß außerdem die Erfüllung der

Versöhnung die Grundlage eines andern erhabenen Vorrechts

wurde, nämlich der Gabe des Heiligen Geistes in

einer Weise, von welcher die alttestamentlichen Heiligen

keine Erfahrung hatten. Wir müssen uns erinnern, daß

es gewisse Wirkungen des Geistes giebt, welche das gemeinsame

Teil aller Gläubigen jedes Zeitalters sind, wie

z. B. die neue Geburt, die Ueberführung von der Sünde

und die Hervorbringung eines heiligen Gehorsams in

Herz und Wandel. Noah, Abraham, David rc. waren

alle aus Gott geboren, sie waren gläubige Männer, und

der Heilige Geist wirkte in ihnen. Die Propheten des

295

Alten Testaments redeten, getrieben von dem Heiligen

Geiste. Aber während dies wohl alle Christen anerkennen,

giebt es eine andere Wahrheit, die nicht so allgemein

erkannt und angenommen wird. Als der Herr im Begriff

stand, Sein Werk auf Erden zu vollenden und zum Vater

zurückzukehren, verhieß Er Seinen Jüngern, ihnen den

Heiligen Geist in einer bisher unbekannten Weise zu

geben. Die Jünger waren dazumal ohne Zweifel Gläubige

und im Besitz des ewigen Lebens. Allein wir hören

aus dem Munde des Herrn kurz vor Seinem Weggang

die Worte: „Es ist euch nützlich, daß ich hingehe." Wie

konnte es nützlich für sie sein, ihren besten Freund und

ihren Heiland zu verlieren? War es für sie nicht weit

besser und in jeder Hinsicht vorzuziehen, wenn Er bei

ihnen blieb? Das Wort des Herrn ist klar und einfach:

„Es ist euch nützlich, daß ich hingehe; denn wenn ich

nicht hingehe, so wird der Sachwalter nicht zu euch

kommen; wenn ich aber hingehe, so will ich Ihn zu euch

senden." (Joh. 16, 7.) Zeigen diese Worte nicht deutlich,

daß den Jüngern eine neue, unermeßliche Segnung zuteil

werden sollte, welche sie bis dahin nicht gekannt und genossen

hatten? Ohne alle Frage. Aber mehr als das.

Manche wollen die Gabe des Heiligen Geistes auf

„Sprachen, Wunderkräfte, Gaben des Dienstes rc." beschränken.

Doch „der Sachwalter" darf nicht mit den

mannigfaltigen Kräften, die Er verleiht und hervorbringt,

verwechselt werden. Der Heilige Geist in Person war es,

welchen der Vater im Namen Jesu senden wollte. In

allen Gläubigen von Anfang an war der Heilige Geist

wirksam gewesen, aber der Herr belehrt hier Seine Jünger,

daß der Geist, außer diesem und über dieses hinaus, nach

296

Seinem Weggang herniederkommen würde, und zwar in

einer persönlichen, unmittelbareren Weise, als bisher, um

in und bei ihnen zu sein bis ans Ende. Der Sohn

Gottes war in einer besonderen Weise herniedergekommen

und hatte Fleisch und Blut angenommen, und jetzt sollte

der Heilige Geist kommen, nachdem Christus Sein Werk

vollendet hatte und hinaufgestiegen war in die Höhe.

Deshalb lesen wir in Apostelgeschichte 2: „Da Er nun

durch die Rechte Gottes erhöht worden und die Verheißung

des Heiligen Geistes vom Vater empfangen, hat Er ausgegossen

dieses, was ihr sehet und höret." Die wunderbaren

Kräfte, welche am Tage der Pfingsten ausgeteilt

wurden, lenkten die Aufmerksamkeit auf diese gesegnete,

göttliche Person, deren Gegenwart eben durch diese Kräfte

angezeigt wurde. Sie waren der äußere Beweis und die

Wirkung dieser nie dagewesenen Gabe, der Verheißung

des Vaters.

Das ist also die große Wahrheit, welche für die

Frage über das Gebet des Herrn von so hoher

Wichtigkeit ist. Dasselbe war bestimmt für solche, die

wahrhaft gläubig waren, für welche aber die Versöhnung

noch in der Zukunft lag und die den Heiligen Geist in

jener völligeren und bisher ungekannten Weise noch nicht

empfangen hatten. In dem Evangelium nach Lukas sagt

der Herr in unmittelbarem Zusammenhang mit dem von

Ihm gegebenen Gebet: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid,

euern Kindern gute Gaben zu geben wisset, wie viel mehr

wird der Vater, der vom Himmel ist, den Heiligen Geist

geben denen, die Ihn bitten!" Hier finden wir den Ausdruck

ihres wahren Zustandes. Sie waren errettet und

besaßen das Leben aus Gott, und doch sollten sie den

297

Vater bitten, ihnen den Heiligen Geist zu geben; offenbar

nicht, um sie zu Gläubigen zu machen — denn das waren

sie schon — sondern der Heilige Geist sollte ihnen persönlich

gegeben werden, um sie in die vollen Resultate des

Versöhnungswerkes Christi einzuführen und sie, in Gemeinschaft

mit Ihm, dem zur Rechten Gottes verherrlichten

Menschen, zu Gliedern Seines Leibes zn machen. Diese

Vorrechte, die von den Gläubigen vor dem Kreuze weder

gekannt noch genossen werden konnten, sind die wesentlichen

Charakterzüge des Christentums. Deshalb zögere ich nicht,

zu behaupten, daß das Gebet des Herrn, welches den

vollkommenen Ausdruck der Bitten der Jünger in ihren

damaligen Umständen und in ihrem thatsächlichen Zustande

bildete, aus eben diesem Grunde nicht dazu bestimmt war, der

Ausdruck ihrer Gefühle zu sein, nachdem ihre ganze Stellung

und ihr ganzer Zustand verändert war, nachdem das

Werk vollbracht, alle Uebertretungen vergeben und alle

Gläubige, ob Juden oder Griechen, durch den einen Geist

zu einem Leibe getauft und alle zu einem Geiste getränkt

waren.

Die Veränderung war in der That eine so vollständige

und überaus wichtige, daß der Herr selbst die

Jünger in Joh. 16 in feierlicher Weise darauf vorbereitet.

Nachdem Er ausführlich von der Sendung des Sachwalters

und Seines Bleibens in und bei ihnen gesprochen

hat, sagt Er: „An jenem Tage werdet ihr mich nichts

fragen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Alles, was

irgend ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen,

wird Er euch geben. Bis jetzt habt ihr nichts gebeten

in meinem Namen. Bittet, und ihr werdet empfangen,

auf daß eure Freude völlig sei.... . An jenem Tage

298

werdet ihr bitten in meinem Namen re." Was bedeuten

die Worte: „An jenem Tage werdet ihr mich nichts

fragen?" Dies war es, was die Jünger gethan hatten

während Seines Wandels durch diese Welt; sie waren

stets zu Ihm gegangen, als zu ihrem gesegneten und

gnädigen Messias, und sie hatten recht daran gethan.

Nie aber hatten sie bis dahin etwas in Seinem Namen

gebeten. Wie? nie etwas in Seinem Namen gebeten?

Hatten sie nicht das Gebet des Herrn schon seit mehreren

Jahren gebraucht? Ganz gewiß; und dennoch hatten sie

nichts in Christi Namen gebeten. Der Herr stellt Seine

Jünger hier auf einen ganz neuen Boden; nicht länger

sollten sie blos zu Ihm kommen und Ihn bitten, sondern

sie sollten den Vater bitten, und zwar in Seinem Namen.

Was bedeutet eS, in dem Namen Christi zu bitten? Genügt

es, am Ende eines Gebets blos zu sagen: „Wir

bitten dieses im Namen Jesu?" O nein. Die Bedeutung

ist vielmehr diese: Kraft der vollbrachten Erlösung und

der durch den Heiligen Geist bewirkten Verbindung mit

dem Herrn Jesu im Himmel, sollten die Jünger in dieselbe

Stellung versetzt werden, in welcher Er sich befand.

Deshalb heißt es in 1. Joh. 4: „Gleichwie Er ist, so

sind auch wir in dieser Welt;" und ebenso sagt Paulus

in 1. Kor. 6: „Wer dem Herrn anhängt, ist ein Geist

mit Ihm." Dies erklärt die Bedeutung des Bittens im

Namen Jesu, oder besser des Bodens, auf welchem es

beruht. Es heißt, den Vater bitten in dem Bewußtsein,

daß alle meine Sünden hinweggethan sind, daß ich in

Christo Gott nahe gebracht bin und in dem vollen Genuß

Seiner Gunst stehe, ohne daß es noch eine Frage oder

eine Wolke zwischen Gott und meiner Seele giebt; es

299

heißt, zu Gott gehen und zu Ihm flehen, als in dem

Besitz der vollen Segnung stehend, zu welcher ein Christus

droben und der Heilige Geist hienieden mich berechtigen.

Der Herr hatte Sein Gebet bereits gegeben, und

die Jünger hatten es ohne Zweifel gebraucht. Doch Er

teilt ihnen jetzt mit, daß sie in eine ganz neue Stellung

eingeführt werden sollten, und daß ihre Gebete eine dieser

neuen Stellung und der darin geoffenbarten vollkommenen

Gnade entsprechende Form anzunehmen hätten. Was ist

die Wirkung, wenn sich Gläubige jetzt selbst in die Stellung

versetzen, in welcher sich die Jünger vor Vollbringung des

Versöhnungswerkes befanden? Sie können niemals wissen,

was es heißt, einen wirklich gegründeten Frieden zu besitzen,

sie können nicht den Platz von Anbetern einnehmen,

die, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden

haben. Mit einem Wort, sie gehen, was ihren Genuß

anbetrifft, all der reichen und unermeßlichen Segnungen

verlustig, welche der Tod und die Auferstehung Christi

hervorgebracht haben.

Noch offenbarer ist der Fehler, wenn eine Gemeinschaft

von Gläubigen, oder gar von Gläubigen und Ungläubigen

das Gebet des Herrn als den Ausdruck ihres

gemeinsamen Bedürfnisses und ihrer gemeinsamen Anbetung

annimmt. In der Stelle selbst ist gar kein Gedanke an

einen solchen Gebrauch des Gebets von selten einer Körperschaft.

Nachdem der Herr Seine Jünger aufgefordert hat,

ins einsame Kämmerlein zu gehen, wenn sie beten wollten,

läßt Er das Gebet selbst folgen als die passende Sprache

für eine einzelne Person, um ihre Bedürfnisse Gott vorzutragen.

Alle, welche das Gebet des Herrn, sei es in

Gemeinschaft mit andern, sei es für sich allein gebrauchen,

300

begeben sich — ich wiederhole es — zurück in den Zustand

und die Stellung der Jünger unter dem Gesetz, bevor der

Herr Sein Werk vollbracht hatte, und offenbaren auf diese

Weise, obwohl unbewußt, eine Geringschätzung des Willens

Gottes, des Vaters, des Werkes Christi und des gegenwärtigen

Zeugnisses des Heiligen Geistes. (Vergl. Hebr. 10.)

Wenn eine Seele, die thatsächlich bekehrt ist, aber

wenig von den Wegen des Herrn und von der ganzen

Tragweite Seines vollbrachten Werkes kennt, niederknieen

und ihr Herz in den Worten ausschütten würde, welche

der Herr Seine Jünger lehrte, so würde ich völlig mit

ihr fühlen können; denn ein solcher Zustand des Herzens

und Gewissens ist demjenigen der Jünger, welche um den

Herrn versammelt waren, äußerst ähnlich. Nichtsdestoweniger

ist er jetzt, unter dem Evangelium von der völlig

geoffenbarten Gnade Gottes, kein richtiger. Eine solche

Seele geht gleichsam selbst vor das Kreuz, vor die Erlösung

zurück denn Gott führt sie nicht dahin. Obgleich

sie an Christum glaubt, so ist sie sich doch weder ihrer

völligen Rechtfertigung bewußt, noch weiß sie, daß sie sür

immer in der Gunst Gottes steht. Sie gebraucht ein

Gebet, das den Jüngern gegeben wurde, welche die Gefühle

nicht kennen konnten, die das Herz eines jeden Christen

seit dem Kreuze erfüllen, und welche seine Gebete mehr

oder weniger vor Gott zum Ausdruck bringen sollten.

Obwohl daher eine solche Seele ohne Zweifel in Christo

ihre ewige Sicherheit gefunden hat, so erkennt sie doch

ihre kostbarsten Vorrechte nicht an und macht sich so,

ohne es zu ahnen und zu wollen, einer wirklichen Herabwürdigung

der Leiden und der Verherrlichung Christi schuldig.

ES ist also Thatsache, daß das Gebet des Herrn für

301

Gläubige auf der Erde bestimmt war, bevor Christus starb

und wieder auferstand, und ehe der Heilige Geist vom

Himmel herniedergesandt wurde, um von der vollkommenen

Annahme des Gläubigen in dem Geliebten Zeugnis abzulegen.

Wollen wir Christum in Wahrheit ehren, so müssen

wir Seine Worte so anwenden, wie Er sie gemeint hat.

Haben unsre Seelen verstanden, daß wir Gott nahe gebracht,

daß alle unsre Sünden vergeben sind, und daß

wir den Heiligen Geist empfangen haben, um uns zu

versiegeln und mit einem im Himmel verherrlichten Christus

zu verbinden, so stehen wir auf einem ganz neuen Boden,

und unsre Gebete sollten davon Zeugnis ablegen; wir

sollten dann als geliebte Kinder den Vater bitten im

Namen des Sohnes.

Indessen möchte die Frage erhoben werden: Weshalb

hat der Herr uns das Gebet in Seinem Worte mitgeteilt,

wenn es nicht für den fortwährenden Gebrauch Seines

Volkes bestimmt war? Hierauf antworte ich: der Herr

hat vieles gesagt und gelehrt, was sich nicht auf alle die

Seinigen anwenden läßt, noch auch für sie alle bestimmt

war. Lesen wir z. B. das zehnte Kapitel des Evangeliums

Matthäus. Wir finden in diesem Kapitel viele Grundsätze,

die immer gültig bleiben und zu unsrer steten Belehrung

dienen; aber wer wollte es leugnen, daß die Sendung

der Zwölfe eine rein jüdische war? Wenn wir unter

Anführung des 5. und 6. Verses sagen wollten: „DaS

sind die eignen Worte des Herrn; wir haben auf keinen Weg

der Nationen zu gehen, noch in irgend eine Stadt der

Samariter einzutreten, sondern wir sollen nur zu den

verlorenen Schafen des Hauses Israel gehen," so würde

die Thorheit und Verkehrtheit einer solchen Sprache einem

302

jeden offenbar sein. Wir selbst, von Hause aus arme

Heiden, sind, wenn wirklich errettet, Beweis genug, daß

eine solche Anwendung der Worte des Herrn völlig falsch

sein muß, und man würde auf diese Weise einen einzelnen

Ausspruch der ganzen Lehre des Neuen Testamentes entgegenstellen,

welche gerade jenen Heiden eine überströmende

Gnade verkündigt. Und so wie der Herr damals Seine

Jünger mit einer besondern Botschaft aussandte, so hatte

Er auch vorher in dem Gebete für ihren damaligen Zustand

Vorsorge getroffen. Der Tod Christi hob notwendigerweise

das Verbot, zu den Heiden zu gehen, auf,

dehnte den Boden des Gebets weit aus und legte den

Grund zur Einführung einer ganz neuen Ordnung der

Dinge. Deshalb giebt der Herr auch (am Ende desselben

Evangeliums) den Jüngern nach Seiner Auferstehung den

Auftrag, hinauszugehen und alle die Nationen zu Jüngern

zu machen, und in dem Evangelium Johannes sagt Er

ihnen, im Vorausblick auf Seine Erhöhung zur Rechten

des Vaters, daß sie an jenem Tage den Vater bitten

würden in Seinem Namen, was sie bis dahin nicht

gethan hotten.

So tief ich daher die Schwierigkeiten derer fühle,

welche meinen, den Gebrauch des Gebetes des Herrn auch

auf die Gegenwart ausdehnen zu müssen, so glaube ich

doch, daß sie den Willen und das Wort des Herrn mit

Aufrichtigkeit prüfen sollten. Welches Verständnis kann

da sein, wo nicht einmal erkannt wird, daß das vollbrachte

Erlösungswerk und die Gabe des Heiligen Geistes

eine völlige Veränderung im Blick auf Gewissen, Gemeinschaft,

Anbetung und Wandel hervorgebracht haben?

Diese beiden Thatsachen haben uns aus der Knechtschaft

303

in die Freiheit geführt und infolge dessen auch unsre Gebete

auf eine ganz andre Grundlage gestellt, als sie vor

unsrer Befreiung für uns richtig und passend war.

Daher findet sich in der Apostelgeschichte nicht eine

Spur von einem solchen Gebrauche des Gebets des Herrn,

wie er in der Christenheit seit Jahrhunderten eingeführt

worden ist. Und wenn man die verschiedenen Gebete liest,

welche der Heilige Geist eingab, wie z. B. in dem Briefe

an die Römer, an die Epheser rc., so findet man, daß

überall der Tod, die Auferstehung und die Himmelfahrt

Christi die Grundlage und den wesentlichen Inhalt derselben

bilden. Die Bitten des Apostels gründen sich auf

die glorreichen Thatsachen, auf welchen auch unser Glaube

und unsre Hoffnung ruhen.

Fassen wir zum Schluß das Gesagte noch einmal

kurz zusammen. Wir alle glauben, daß das Gebet des

Herrn göttlich passend war für den Zustand der Jünger

zur Zeit, als der Herr es ihnen gab. Aber aus demselben

Grunde konnte es nicht den vollkommenen Ausdruck

ihrer späteren Beziehungen zum Vater, noch der Zuneigungen,

die diesen Beziehungen angemessen sind, bilden.

Alle diejenigen, welche die Tragweite des Wechsels, der

nach dem Tode Christi eingetreten ist, verstehen, können

aus jedem einzelnen Ausdruck in dem Gebete des Herrn

Nutzen ziehen, obwohl sie es nicht buchstäblich wiederholen.

Aber ein außer Achtlassen der Resultate des vollbrachten

Erlösungswerkes gereicht nicht zur Ehre des Herrn, sondern

ist vielmehr eine Geringschätzung der persönlichen

Gegenwart des Heiligen Geistes, sowie eine freiwillig

erwählte Armut inmitten der Reichtümer der Gnade,

welche über uns ausgeschüttet sind. Ein demütiges und

304

gehorsames Herz wird suchen, den Willen des Herrn

hierin, wie in allem andern, kennen zu lernen und zu thun.

Möchten wir doch stets alles so anuehmen, wie

es der Herr uns in Seinem Worte darbietet! Er wolle uns

Gnade und Kraft schenken, um uns über unsere natürlichen

Gedanken, unsere vorgefaßten Meinungen und hergebrachten

Vorurteile erheben zu können! Möchten wir alle in Ihm

wandeln, gewurzelt und auferbaut in Ihm und befestigt

in dem Glauben, so wie wir gelehrt worden, überströmend

in demselben mit Danksagung! (Kol. 2, 7.)

Bruchstücke.

Wir haben einen mächtigen Gegner, der stets darauf

ausgeht, uns von dem Pfade der Wahrheit und Reinheit

abzulenken und uns zu Fall zu bringen. Wir würden

nicht einen einzigen Augenblick unsern Weg fortsetzen können,

wenn nicht Gott in so gnädiger Weise für alle unsere

Bedürfnisse Vorsorge getroffen hätte in dem kostbaren

Tode und in der unaufhörlich thätigen, allumfassenden

Sachwalterschaft unsers Herrn Jesu Christi. Gepriesen

sei der Gott aller Gnade! Er ist allen unsern Bedürfnissen

in Seiner eignen, vollkommenen Weise begegnet,

und zwar nicht, um uns sorglos, sondern um uns wachsam

zu machen.

Möchten wir stets in dem Bewußtsein der vollkommenen

Reinheit stehen, in welche der Tod Christi uns

eingeführt hat, und in welcher Er uns zu erhalten bemüht

ist! Möchten wir nie vergessen, daß unser anbetungswürdiger

Herr und Heiland genötigt ist, den geringsten

305

Sklavendienst an uns zu versehen, uns die Füße zu

waschen, so oft wir sie im Wandel durch diese versuchungsreiche

Welt beschmutzen!

Die Prüfungen der Wüste stellen die Natur auf die

Probe; sie bringen hervor, was im Herzen ist. Freunde

verlassen uns; so manche Stütze, auf welche wir unser

Vertrauen gesetzt haben, bricht; Mitarbeiter ermüden oder

wenden sich von uns ab; Mirjam's und Aaron's sterben

— aber Gott bleibt. Und wenn unser Herz mit dem

lebendigen Gott erfüllt und unser Auge auf Ihn gerichtet

ist, so brauchen wir nichts zu fürchten. Wenn wir sagen

können: „Der Herr ist mein Hirte," so können wir auch

mit aller Gewißheit hinzufügen: „mir wird nichts mangeln

.... Güte und Huld werden mir folgen alle die

Tage meines Lebens." Die Hülfsquellen des Herrn sind

ganz und gar unerschöpflich. Er kann ein Herz, das Ihm

vertraut, nie beschämen. Laßt uns stets daran gedenken!

Es erfreut das Herz Gottes, wenn wir von Ihm und

Seiner Gnade einen ausgiebigen Gebrauch machen. Nie

wird es Ihm zu beschwerlich, nie ermüdet Er, die Bedürfnisse

der Seinigen zu stillen. Der Weg durch diese

Wüste bringt allerdings zum Vorschein, was in uns

ist — und das ist heilsam für uns — aber er offenbart

auch, was in Gott ist für uns.

Der Mensch möchte lieber in dem Lande der Finsternis

und des Todes bei den Fleischtöpfen sitzen, als

mit Gott durch die Wüste wandern und das Brot aus

dem Himmel essen.

Die Not und das Elend des Menschen haben stets

306

der Gnade und dem Erbarmen Gottes Gelegenheit gegeben,

sich zu entfalten. Als Israel murrte, war der tötliche

Biß der feurigen Schlangen die Antwort. Sobald es

aber seine Sünde bekannte, trat die Gnade Gottes in

Wirksamkeit und verschaffte in der ehernen Schlange ein

untrügliches Heilmittel.

Balak würde gerne das Volk Gottes verflucht haben,

aber, Gott sei gepriesen! Er erlaubt niemandem, Seine

Geliebten und teuer Erkauften anzutasten. Er selbst mag

mit ihnen im Stillen über manche Dinge zu verkehren

haben, aber Er wird niemandem erlauben, auch nur seine

Zunge gegen sie zu spitzen. Vielleicht muß Er sie auf

viele Dinge in ihrem Wandel aufmerksam machen, die

nicht mit Seiner Natur in Uebereinstimmung sind, vielleicht

sie züchtigen und schwere Wege führen, aber nie

wird Er es einem andern erlauben, wider Seine Auserwählten

Anklage zu erheben. Er selbst ist es, der da

rechtfertigt; wer will verdammens

Es handelt sich nicht so sehr darum, was der Feind

über das Volk Gottes denkt, oder was sie über sich selbst

und über einander denken. Die über alles wichtige Frage

ist vielmehr die: Was denkt Gott über sie? Gott kennt

uns vollkommen, mit Ihm allein haben wir es zu thun;

und deshalb können wir in der triumphirenden Sprache

des Apostels sagen: „Wenn Gott für uns ist, wer

wider uns?"

Wir dürfen nie unsre Stellung vor Gott nach unserm

praktischen Zustande messen, sondern haben vielmehr stets

unsern Zustand nach der Stellung zu beurteilen, in welche

307

Gott uns gebracht hat. Sobald wir beginnen, wegen

unsers praktischen Zustandes niedriger von unsrer Stellung

zu denken, als Gott sie uns in Seinem'Worte zeigt,

machen wir jeden Fortschritt im geistlichen Leben unmöglich.

Wenn ich daS Volk Gottes „von der Höhe des Gebirges"

herab betrachte, so sehe ich es so, wie Gott eS

sieht, nämlich bekleidet mit all der Annehmlichkeit Christi,

vollendet in Ihm, angenommen in dem Geliebten. Und

das wird mich befähigen, mit ihnen voranzugehen, mit

ihnen Gemeinschaft zu pflegen und mich über ihre Mängel

und Gebrechen, ihre Schwachheiten und Fehler zu erheben.

Christus sollte stets den Gegenstand und Inhalt

unsrer Anbetung bilden, und Er wird dies thun in demselben

Verhältnis, als wir uns durch den Geist Gottes

leiten lassen. Das Herz weiß davon zu erzählen, wie

oft es leider anders bei uns ist. Wie oft ist, sowohl in

der Versammlung, als auch in dem Kämmerlein, das Herz

beschwert und trocken, die Anbetung schwach und gehindert!

Woher kommt das? Ach! wir sind beschäftigt mit

uns selbst, anstatt mit Christo; und der Heilige Geist,

anstatt fähig zu sein, Sein Werk zu thun, d. h. von den

Dingen Christi zu nehmen und uns mitzuteilen, ist gezwungen,

uns mit uns selbst zu beschäftigen im Selbstgericht,

weil unsre Wege nicht in Uebereinstimmung waren

mit unsrer Berufung.

Es giebt nichts, was das Herz bedürfen könnte und

was es nicht fände in Jesu. Verlangt es nach aufrichtigem

Mitgefühl? Wo könnte es dasselbe finden, wenn

308

nicht in Ihm, der Seine Thränen mit denen der betrübten,

ihres geliebten Bruders beraubten Schwestern zu Bethanien

vermischte? Sehnt es sich nach dem Genuß einer innigen

Zuneigung? Wo gäbe es eine Liebe wie in jenem Herzen,

das aus Golgatha im Tode brach? Sucht es den Schutz

einer wirklichen Macht? Es braucht nur auf Den zu

blicken, der die Welten gemacht hat. Fühlt es das Bedürfnis

nach einer nie irrenden Weisheit? Es kann sich

getrost an Ihn wenden, der uns von Gott zur Weisheit

gemacht ist. Mit einem Worte, wir haben alles in Christo.

Beten und Pläne machen kann nie zusammengehen.

Thue ich das letztere, so stütze ich mich mehr oder weniger

aus meine Pläne. Wenn ich aber bete, so sollte ich mich

ausschließlich auf Gott stützen. Aber nicht eher werde ich

an das Ende meiner Pläne kommen, bis ich an dem Ende

meines eignen Ichs angelangt bin.

Es ist so überaus köstlich, sich von Einem abhängig

zu wissen, der Seine Freude darin findet, uns unaufhörlich

zu segnen. Indes ist es etwas anderes, auf Gott

zu vertrauen, wenn ich den Kanal vor Augen habe, durch

welchen die Segnung fließen soll, als wenn alle Kanäle

verstopft zu sein scheinen.

Gott wünscht Wirklichkeit zu sehen, und wo Er

sie findet, da ehrt Er sie. Er will nicht, daß wir in

Seinen Segnungen, sondern daß wir in Ihm selbst ruhen.

Kanaan und die Waffenrüstung Gottes.

(Einem Vortrage von I. N. D. nachgeschrieben.)

„Uebrigens, meine Brüder, seid stark in dem Herrn

und in der Macht Seiner Stärke. Ziehet an die ganze

Waffenrüstung Gottes, damit ihr bestehen könnt wider die

Listen des Teufels. Denn unser Kampf ist nicht wider

Fleisch und Blut, sondern wider die Fürstentümer, wider

die Gewalten, wider die Weltbeherrscher dieser Finsternis,

wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen

Oertern. Deshalb nehmet die ganze Waffenrüstung Gottes,

auf daß ihr zu widerstehen vermöget an dem bösen Tage

und, nachdem ihr alles ausgerichtet, stehet. Stehet nun,

eure Lenden umgürtet mit Wahrheit und angethan mit dem

Brustharnisch der Gerechtigkeit und beschuhet an den Füßen

mit der Zubereitung des Evangeliums des Friedens: über

alles ergreift den Schild des Glaubens, mit welchem ihr

auszulöschen vermöget alle die feurigen Pfeile des Bösen.

Nehmt auch den Helm des Heils und das Schwert des

Geistes, welches Gottes Wort ist; zu aller Zeit betend mit

allem Gebet und Flehen in dem Geiste, und eben hierzu

wachend in allem Anhalten und Flehen für alle Heilige und

für mich, auf daß mir gegeben werde die Rede im Aufthun

meines Mundes, um mit Freimütigkeit kund zu thun

das Geheimnis des Evangeliums, für welches ich Gesandter

bin in Ketten, damit ich darin unerschrocken sei, so wie ich

reden soll." (Eph. 6, 10—20.)

Es mag im ersten Augenblick befremden, daß in der

Epistel an die Epheser, in welcher sich die vollste Entfaltung

der Vorrechte der Kinder Gottes findet, von

Kampf die Rede ist. Indessen ist uns der Charakter

310

dieses Kampfes oft unbekannt, weil wir unsre Vorrechte

nicht kennen. Wir befinden uns hier in ganz besonderer

Weise im Kampfe, und zwar in einem Kampfe, von dem

wir nichts wissen und der auch nicht beginnt, bis wir die

Vorrechte verwirklichen, welche besonders in diesem Briefe

entfaltet werden.

In der Epistel an die Galater wird auch ein Kampf

erwähnt, aber es ist ein Kampf zwischen Fleisch und

Geist — das Fleisch gelüstet wider den Geist, und der

Geist wider das Fleisch. Im Epheserbriefe aber handelt

es sich nicht um das Fleisch, sondern um die geistlichen

Mächte der Bosheit in den himmlischen Oertern. Wohl

haben wir das Fleisch zu überwinden, und es besteht in

der That eine sehr innige Verbindung zwischen diesen

beiden Kämpfen, aber dennoch sind sie verschieden.

Im Epheserbriefe finden wir eine neue Schöpfung:

Christus ist „hinaufgestiegen in die Höhe, Er hat die

Gefangenschaft gefangen geführt und den Menschen Gaben

gegeben." So vollständig hat Er uns aus der Macht

Satans herausgeführt, daß Er uns zu Werkzeugen in

Seinem Dienste machen kann. Er hat uns aus der

Welt herausgenommen und dann wieder in dieselbe gesandt;

(vergl. Gal. 1, 4; Joh. 17, 18.) und wenn wir

so mit Christo vereinigt dastehen — was ja das Vorrecht

aller Christen ist, wenngleich es nicht alle verwirklichen —

so haben wir den ganzen Kampf zu erwarten, der mit

der Stellung verbunden ist, in welche wir gebracht worden

sind. Und in demselben Maße, in welchem wir unsre

Stellung als Gefäße eines himmlischen Dienstes verwirklichen,

erfahren wir auch den besondern Charakter

dieses Kampfes.

311

Man kann den Jordan nicht überschreiten, ohne die

Kananiter und die Perisiter im Lande zu finden. Es

giebt Prüfungen und Gefahren der Wüste, die unsre

Herzen üben — ein jeder kennt mehr oder weniger von

dem ermüdenden Wege, der unsre Herzen übt und offenbar

macht, was in ihnen ist — aber die Erfahrungen

der Wüste sind nicht gleichbedeutend mit dem Kampfe im

Lande. Erst dann, als Josua den Platz der Vorrechte

des Volkes Gottes betrat, befand er sich auf dem Platze

des Kampfes. Gott hat Christum, als Menschen, in die

Herrlichkeit versetzt, weil Er als Mensch Gott bezüglich

der Sünde vollkommen verherrlicht hat. Christus starb

nicht nur für unsre Sünden, sondern wir sind auch mit

Ihm gestorben, (und das gerade ist es, was der Jordan

bedeutet: gestorben mit Christo,) wir sind mit auferweckt

und in Ihm versetzt in die himmlischen Oerter. Also

mit Ihm vereinigt in Seinem Tode und in Seiner Auferstehung,

sind wir zu dem Platze gebracht, an welchem

der ganze Kampf stattfindet. Es ist überaus wichtig und

köstlich, dies genau zu verstehen; so mancher Christ hat

es nicht verwirklicht, so mancher befindet sich noch in

Egypten, kennt zwar den Wert des Blutes an den Thürpfosten,

lebt aber in völliger Unwissenheit über die im

Roten Meere geschehene Befreiung.

Israel hatte nichts anderes zu thun, als „festzustehen

und die Rettung Jehova's zu sehen;" dies entspricht dem

Tode und der Auferstehung Christi. Ich bin nicht mehr

in Egypten: das Gericht, das die Egypter traf, hat

mich gerettet. Gott hat Christum auferweckt und Ihm

Herrlichkeit gegeben, auf daß unser Glaube und unsre

Hoffnung auf Gott sei. Ebenso wie jeder arme Sünder

312

aus dem irdischen Paradiese ausgetrieben ist, weil die

Sünde in dem ersten Adam erfüllt ist, so bin ich in

dem zweiten Adam aus dieser Welt herausgenommen und

in das himmlische Paradies versetzt, weil die Gerechtigkeit

erfüllt ist. Daß Gott Christum auferweckt und Ihm

Herrlichkeit gegeben hat, beweist, daß die Frage der Sünde in

Christo am Kreuze vollständig geordnet worden ist, und kraft

dieses vollendeten Werkes sitzt Er jetzt zur Rechten Gottes.

Der Weg durch die Wüste hat den Zweck, uns zu demütigen

und zu versuchen; unser Ausharren wird von Gott

geprüft, indem Er uns den Pfad führt, auf welchem

Christus völlig treu erfunden wurde. Israel pilgerte

durch jene große und schreckliche Wüste, wo es feurige

Schlangen, Skorpionen und Dürre gab, wo sich kein

Wasser fand. Gott brachte ihnen Wasser hervor aus

dem Kieselfelsen und nährte sie mit dem Manna, um sie

zu demütigen und zu prüfen zu ihrem schließlichen Wohl.

Sie kamen an den Jordan, überschritten ihn, betraten

das Land, aßen von dem alten Korn, und das Land war

ihr Eigentum.

Die Wüste und das Land Kanaan stellen uns zwei

Seiten der christlichen Erfahrung dar, nämlich das Leben

hienieden und die Stellung in den himmlischen Oertern.

Wir sind nicht nur ein Zeugnis für die Welt, sondern

auch für die Fürstentümer und Gewalten in den himmlischen

Oertern. „Auf daß jetzt den Fürstentümern nnd

den Gewalten in den himmlischen Oertern durch die Versammlung

kund gethan werde die mannigfaltige Weisheit

Gottes." Er „hat uns mitauferweckt und mitsitzen

lassen in den himmlischen Oertern in Christo." Aber

obgleich dies hinsichtlich unsrer Stellung und unsrer An

313

rechte auf das Land völlig wahr ist, so sind die Kana-

niter und Perisiter doch noch im Lande und machen uns

den Besitz streitig. Wir besitzen unsern Platz in der

Macht des Geistes Gottes. Da Christus vorangegangen

ist, so ist unser Platz dem Glauben gewiß, aber die

Kananiter sind noch nicht ausgerottet, die Feinde Christi

sind noch nicht Seinen Füßen unterworfen, und somit wird

der Platz oder die Stellung, in welche die Erlösten des

Herrn gebracht sind, durch Kampf gekennzeichnet. Als

Josua in das Land kam, begegnete er einem Manne mit

gezücktem Schwerte. Kampf sollte die Besitznahme des

Landes charakteristren, und als Josua fragte: „Bist du

für uns, oder für unsere Feinde?" erhielt er zur Antwort:

„Nein, denn als der Fürst des Heeres Jehova's

bin ich jetzt gekommen."

Sie waren die Erlösten des Herrn, — des Herrn

Heer, ja so vollkommen des Herrn, daß Er sie als Seine

Knechte im Kampfe zur Unterwerfung Seiner Feinde gebrauchen

wollte. Aber sie mußten stark sein in dem Herrn

und in der Macht Seiner Stärke; sie konnten die Kämpfe

des Herrn nicht kämpfen, sobald das Fleisch wirksam war.

Mit einem Achan im Lager ist jeder Sieg unmöglich;

wir müssen, um erfolgreich kämpfen zu können, praktisch

tot sein, nicht nur uns für tot halten, sondern „allezeit

das Sterben Jesu am Leibe umhertragen, auf daß auch

das Leben Jesu au unserm Leibe offenbar werde."

Paulus ging als Diener stets in diesem Bewußtsein

einher; es war nicht ein bloßes Bekenntnis, sondern

„Paulus" wurde vollständig niedergehalten, indem er

allezeit das Sterben Jesu an seinem Leibe umhertrug.

Nichts von Paulus trat hervor, sondern Jesus allein.

314

Sobald die Israeliten den Jordan überschritten hatten,

cher Jordan ist ein Bild des Todes und der Auferstehung

mit Christo) wurden sie beschnitten — der Tod

wurde praktisch auf sie angewandt. In gleicher Weise

mußten sie nach dem Durchgang durch das Rote Meer

von dem bittern Wasser, dem Salzwasser, trinken; sie

waren durch dasselbe gerettet worden, und nun hatten sie

es zu trinken. „Herr, durch dieses lebt man, und in

diesem allen ist das Leben meines Geistes." (Jes. 38,16.)

Sobald wir in den himmlischen Oertern anlangen,

empfangen wir das „alte Korn," das Erzeugnis des Landes

— wir finden Christum dort, und wir nähren uns von

Ihm; aber wir müssen beschnitten werden, indem wir

praktisch den Leib des Fleisches ausziehen. Als die

Israeliten nach Kanaan kamen, mußten sie beschnitten

werden; sie kannten wohl ihr Anrecht auf das Land, aber

sie hatten noch nicht den Boden des praktischen Grstorben-

und Auferwecktseins (aus Egypten) betreten. Wenn ein

Mensch praktisch gestorben und auferweckt ist, was hat er

dann noch mit dieser Welt zu thun? Ein gestorbener und

auf diese Weise aus der Welt herausgenommener Mensch

hat, wenn es der Wille Gottes ist, durch die Welt zu

gehen und wieder in derselben zu leben. Unser Weg führt

durch die Wüste zur Herrlichkeit. Als einer, der mit dem

Herrn vereinigt ist, bin ich der Welt ein Zeugnis davon,

was ein himmlischer Christus ist. Ich habe ein Nachfolger

des Herrn, ein Nachahmer Gottes zu sein. Ich

soll andere Seelen dahin zu führen suchen, dieses mit mir

zu genießen. Werden uns nun, wenn wir uns befleißigen,

dem Herrn zu dienen, keine Hindernisse begegnen? Wird

Satan uns gewähren lassen, wenn wir das Volk Gottes

315

auf dem Platze der Treue zu erhalten suchend Wir werden

ohne Zweifel die Schlingen Satans auf dem Wege finden,

mit denen er die Gläubigen in seine Gewalt zu bekommen

sucht, und wir haben uns noch mehr vor seiner List zu

hüten, als vor seiner Gewalt.

Unglaube und Aberglaube in ihren mannigfaltigen

Formen stehen uns entgegen; wir bedürfen daher der

ganzen Waffenrüstung Gottes, sobald wir in den Kampf

treten. Wir werden nicht siegen durch eigne Kraft, wir

bedürfen der Kraft des Herrn und der Macht Seiner

Stärke; wir haben die ganze Waffenrüstung Gottes

nötig, nicht ein Stück darf fehlen. Auch muß die Rüstung

von Gott sein, denn eine menschliche Waffenrüstung wird

den Angriffen Satans nicht zu widerstehen vermögen;

setzen wir unser Vertrauen auf eine solche, so werden wir

einem Feinde, der stärker und listiger ist, als wir, in dem

Kampfe unterliegen. Doch laßt uns jetzt untersuchen,

worin diese ganze Waffenrüstung besteht.

„Stehet nun, eure Lenden umgürtet mit Wahrheit."

Das ist das erste von dem, was wir den subjektiven

Teil nennen möchten: Es handelt sich zunächst um

unsern persönlichen Zustand. Von einer Thätigkeit Gott

gemäß kann nicht eher die Rede sein, bis das Herz vollkommen

in Ordnung ist. Die Lenden sind, wenn gehörig gegürtet,

der Sitz der Stärke und stellen zugleich die inneren Neigungen

und Bewegungen des Herzens dar. Das Bild ist

den Gewohnheiten des Landes entnommen, wo diese Belehrungen

gegeben wurden; man trug lange Gewänder,

die das Arbeiten verhinderten, wenn sie nicht aufgeschürzt

wurden. Wir finden denselben Ausdruck in Hiob 38, 3:

„Gürte doch wie ein Mann deine Lenden."

316

ES ist die Macht der Wahrheit, angewandt auf alles,

was im Herzen vorgeht; es ist nicht so sehr Lehre, als

praktisch angewandte Wahrheit. „Heilige sie durch die

Wahrheit: Dein Wort ist Wahrheit." Gott hat Den,

der die Wahrheit ist, in die Welt gesandt, damit Er gottgemäß

offenbare, was der Mensch ist. Christus ist der

Mittelpunkt des Wortes; Er war das Licht der Welt;

Er machte die Gedanken vieler Herzen offenbar. Er war

hienieden als Mensch und offenbarte, was Gott war, und

dadurch wurde die Welt verurteilt. Er kam und brachte

alles, was göttlich und himmlisch ist in einem Menschen

(in Christo), in direkte Berührung mit alledem, was Gott

in dieser Welt entgegen ist. Satan, als der Gott dieser

Welt, führte den Menschen gegen Christum. Man hört

zuweilen die Meinung aussprechen, daß Satan aufgehört

habe, der Gott und der Fürst dieser Welt zu sein; aber

obgleich das Kreuz sein Anrecht auf diese Titel zu nichte

machte, so wurde er doch gerade erst am Kreuze (da, wo

sich der Mensch unter seiner Anführung offen gegen Gott

stellte) der Fürst derselben. Die Wahrheit kam in die

Welt, Christus selbst, d i e Wahrheit. Die Wahrheit Gottes,

den menschlichen Herzen nahe gebracht und auf sie angewandt,

offenbart deren Gedanken und Gesinnungen. Wenn

ich nun dieses Wort thatsächlich auf mich anwende, alles

in mir durch dasselbe richte, so besitze ich den Gurt

der Wahrheit.

Wenn alles das, was Gott in Seinem Worte gesagt

hat, sowie die unsichtbaren Wirklichkeiten, die Er offenbart,

ihre wahre Kraft und Anwendung für mein Herz haben,

so sind meine Lenden umgürtet, mein Gewand schleift

nicht durch den Kot dieser Welt, meine Gedanken wandern

317

nicht umher, und der Zustand meines Herzens ist gleichsam

aufgeschürzt und so zum Dienst bereit, worin derselbe

auch bestehen mag. Wir treten nicht eher in jenen Kampf

ein, bis wir diese Stellung einnehmeu. Um Satan zu

besiegen und den Streit des Herrn zu führen, muß ich

meine Stellung der Wahrheit gemäß verwirklichen, gerade

so wie Israel den Sieg davontrug, indem es sich an die

Verheißungen Gottes hielt.

Vor allem muß mein Herz völlig geprüft und dem

himmlischen Worte unterworfen sein. „Niemand," sagt

der Herr, „ist hinaufgestiegen in den Himmel." Christus

stellt diese himmlische Wahrheit vor uns und fragt: Stimmt

das, was in deinem Herzen ist, hiermit überein? Wenn

dieses Wort unsere bestimmte Freude wird, so schmecken

und schätzen wir die himmlischen Dinge — alles was liebreich

und was wohllautend ist — die Er uns gebracht

hat. Ich erkenne dann einerseits, daß das Fleisch in mir

völlig gerichtet ist, und erfahre andererseits die Segnung

dessen, was Christus ist. Wo irgend die Lenden umgürtet

sind mit Wahrheit, da wird auch Vertrauen des Herzens

vorhanden sein — die Seele wird feststehen; es wird keine

Umkehr im Kampfe stattfinden, um uns selbst zu richten,

unsere Seelen werden so zu sagen naturgemäß mit Gott

sein, das Herz ist beschäftigt mit Christo, und der Heilige

Geist nimmt von den Dingen Christi und macht sie uns

kund. Sind unsre Lenden so mit Wahrheit umgürtet, so

ist die Folge, daß unser ganzer Zustand durch die Wahrheit

gebildet wird. Das war der Zustand Christi; Er

war die Wahrheit, und mein Zustand wird demjenigen

Christi in dem Maße ähnlich sein, als die Wahrheit Wirkung

auf mein Herz hat. Steht es mit meinen Neigungen

318

und meinem Herzen richtig, so gehe ich im Geiste mit Ihm

durch die Welt. „Stehet nun, eure Lenden umgürtet

mit Wahrheit, und angethan mit dem Brustharnisch der

Gerechtigkeit." Beachten wir, daß es sich hier um praktische

Gerechtigkeit vor Gott handelt; wir brauchen keine Waffenrüstung

vor Gott, wir bedürfen sie gegen Satan.

Bin ich ein wankelmütiger Mann und unternehme

es, Gott zu dienen ohne die Waffenrüstung der Gerechtigkeit

zur Rechten und zur Linken — ohne praktische Gottseligkeit

— so wird Satan dies sicher zum Vorschein

bringen. Wenn ich z. B. predige und mein Wandel ist

ein unbeständiger, so wird die Welt sagen: Du bist nicht

besser als wir, und Satan wird etwas gegen mich vermögen.

Wandle ich aber Christo gemäß, weil mein Herz

in Uebereinstimmung mit Ihm ist, so habe ich den Brust-

harnisch der Gerechtigkeit. Wenn jemand kein gutes

Gewissen hat, so wird er zum Feigling und fürchtet sich,

offenbar zu werden. Mit einem guten Gewissen können

wir kühn voran gehen. Da wo Christus geoffenbart ist,

ist der Zustand der „Wahrheit," und der Wandel ist

völlig in Ordnung. Satan findet keinen Anhaltspunkt

für seine Angriffe.

Sind so meine Lenden umgürtet mit Wahrheit und

bin ich angethan mit dem Brustharnisch der Gerechtigkeit,

so habe ich darauf zu achten, daß meine Füße beschuht

sind mit der Zubereitung des Evangeliums des Friedens.

Ich gehe durch diese Welt mit beschuhten Füßen. „Wie

lieblich sind die Füße derer, welche das Evangelium des

Friedens verkündigen, welche das Evangelium des Guten

verkündigen!" Auf diesem Wege giebt es keine Selbstsucht;

die Selbstsucht sucht stets ihre eigenen Rechte aufrecht zu

319

erhallen, aber das heißt nicht, meine Füße beschuht zu

haben mit Frieden. Das Ich ist unterworfen, wenn ich

Christo Nachfolge. „Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig

und von Herzen demütig." Wer von Christo lernt,

trägt den Frieden bei sich, die Seele hat Frieden mit

Gott, das Gewissen ist in Ruhe; die Füße eines solchen

sind beschuht mit Frieden, und er offenbart in der Welt

den Geist und den Charakter Christi. Er ist angethan

mit dem Brustharnisch der Gerechtigkeit. Welches war

der Pfad unsers gepriesenen Herrn in dieser Welt? Bei

Ihm stand nichts in Frage bezüglich Seines Zustandes.

Er ging einher, unberührt von allem, was die Menschen

Wider Ihn bringen mochten; Seine Füße waren beschuht.

Ebenso ist es mit dem, der Christo nachfolgt; er kann

den Geist und den Charakter Christi zur Darstellung

bringen, wohin immer er geht. Es mag der Haß erwachen,

wie es bei Christo der Fall war — Seine vollkommene

Liebe rief den Haß der Menschen hervor —

aber ein unterwürfiger, gottesfürchtiger und aufrichtiger

Mann wird auch als ein friedlicher Btann durch diese

Welt gehen; und mögen auch die Menschen nicht in friedlicher

Weise mit ihm reden, so lebt er doch, so viel an

ihm ist, mit allen Menschen in Frieden. So wird der

Pfad einerseits durch den Geist der Gnade und des

Friedens charakterisirt, und andrerseits sind Gerechtigkeit

und Wahrheit vorhanden.

Es handelt sich also, wie wir gesehen haben, zunächst

darum, daß der Zustand des Herzens ein richtiger ist.

Habe ich dann meine Lenden umgürtet mit Wahrheit, bin

ich angethan mit dem Brustharnisch der Gerechtigkeit, sind

meine Füße beschuht mit Frieden, und ist meine Seele in

320

einem guten, richtigen Zustande, so kann ich den Schild

des Glaubens ergreifen. Stehe ich persönlich aus

dem richtigen Platze, so brauche ich nicht an mich selbst zu

denken. Mit einem Gewissen, das durch nichts beschwert

ist, bin ich frei; wandele ich aber nicht recht, so werde

ich mit mir selbst beschäftigt sein. Das bloße Vorhandensein

einer bösen Natur setzt nicht notwendig ein schlechtes

Gewissen voraus, wohl aber wird ein solches da sein,

wenn dieser Natur nachgegeben wird. Wir sind nicht ermahnt,

die Sünde zu bekennen, sondern die Sünden.

Es ist leicht, Sünde zu bekennen, leicht, zu sagen: „Ich

bin ein armes, sündiges Geschöpf;" aber man sagt das oft,

um die Sünden zu entschuldigen. Wenn ich sündige, so

habe ich darin gefehlt, das Fleisch niederzuhalten. Ich kann

freilich nie sagen, daß ich keine Sünde habe, aber wenn

ich nicht das Sterben Jesu am Leibe umhertrage, wenn

ich mich nicht praktisch für tot halte, so wird das

Fleisch mich sicher täuschen. Wir bedürfen dieser drei ersten

Elemente der Waffenrüstung, und haben dann nicht mehr an

uns zu denken. Praktisch im Lichte stehend, wie Er im

Lichte ist, mit einem Herzen, das in der richtigen Stellung

ist, ergreife ich den Schild des Glaubens, womit wir auszulöschen

vermögen alle die feurigen Pfeile des Bösen.

Dieser Schild setzt voraus, daß ich zu Gott aufblicken

kann mit völligem, gesegnetem Vertrauen. „Wer da sitzt

im Verborgenen des Höchsten, der wird bleiben im Schatten

des Allmächtigen ..... Mit Seinen Fittigen wird Er

dich decken, und Zuflucht wirst du finden unter Seinen

Flügeln, Schild und Tartsche ist Seine Wahrheit.

Du wirst dich nicht fürchten vor dem Schrecken der

Nacht, vor dem Pfeile, der des Tages fliegt." (Ps. 91.)

321

Gott steht über dem Satan. Satan mag seine Pfeile

abschießen, aber sie vermögen den Schild des Glaubens

nicht zu durchbohren. In Christo wurde der Sieg im

Menschen und für den Menschen gewonnen. Satan that

sein Aeußerstes an Christo, indem er Ihn zuerst in der

Wüste versuchte und dann in Gethsemane alle die Schrecken

des Todes vor Ihn stellte; aber er wurde vollständig

überwunden. Alle Macht Satans ist gebrochen und beseitigt.

Christus ist durch den Tod gegangen und hat den

zu nichte gemacht, der die Gewalt des Todes hat. Er

hat nicht nur unsere Sünden hinweggethan, sondern als

Mensch für uns dastehend, hat Er den Teufel völlig

überwunden. Uns wird nicht gesagt, den Teufel zu überwinden,

sondern ihm zn widerstehen, und dann wird er

von uns fliehen. Wenn wir ihm widerstehen, so begegnet

er Christo in uns und flieht. Die menschliche Natur kann

nicht widerstehen, sie wird stets nachgeben. Es handelt

sich unserseits nicht um Kraft, sondern darum, in einfältiger

Treue und im Aufblick zu Christo voranzugehen;

nicht daß wir stark sind, sondern die Kraft wird in

Schwachheit vollbracht. Was war je so schwach als Christus

— Christus, gekreuzigt in Schwachheit? Aber das

Schwache Gottes ist stärker, als die Menschen, und das

Thörichte Gottes ist weiser, als die Menschen. Nichts

könnte in den Augen der Menschen schwächer und thörichter

sein, als das Kreuz, aber wir wissen, daß es nichtsdestoweniger

die Krast und die Weisheit Gottes ist. Sind

wir nur bereit, unsere Schwachheit anzuerkennen, so ist

Kraft für uns da, die uns befähigt, zu überwinden. Satan

ist sehr listig. Wenn er sich mit dem Menschen (fern von

Gott) beschäftigt, so ist eS um diesen geschehen. Wie ist

322

es z. B. möglich, daß sich weise und gelehrte Männer

dieser Welt in solche Thorheiten, wie das religiöse Formenwesen

und dergleichen, fügen können? Satan, geschickter

als sie, steht hinter diesem allen und freut sich, wenn er

sie im Vertrauen auf ihre eigne Weisheit dahingehen sieht.

Die einfältige Seele, deren Herz in der richtigen Stellung

ist, kann nicht irre gehen. Satan hat keinerlei Macht

über sie, so lange sie im Gehorsam wandelt; darin beruht

das ganze Geheimnis. Wenn ich in Unbeständigkeit meinen

Weg gehe, so wird der Schild des Glaubens niedersinken,

und ich werde allen den feurigen Pfeilen Satans preisgegeben

sein. Stets sollte sich jenes glückselige Vertrauen

auf Gott bei uns finden, welches ans Christum rechnet,

als auf Den, der die Welt und den Teufel völlig überwunden

hat, nnd der die Macht des Bösen, das jetzt in

der Welt herrscht, bald beseitigen wird. Wir müssen im

Kampfe geübt werden, wie der Herr gesagt hat: „In der

Welt habt ihr Drangsal : aber seid gutes Mutes, ich habe

die Welt überwunden."

Bis hieher handelt es sich, wie wir gesehen haben,

nur um Verteidigung; von einer Thätigkeit unserseits

war noch nicht die Rede. Die zur Verteidigung dienende

Waffenrüstung kommt zunächst. Wir sind leider nur zu

träge, dies zu erfassen, und beginnen oft, eine Thätigkeit

zu entfalten, wenn wir ruhig sein sollten. Der Schild

ist eine Verteidigungswaffe. Satan ist thätig. Der Herr

mag uns in Seiner Gnade segnen und beistehen, aber so

mancher hat schon eine Wirksamkeit begonnen, ohne daß

er sich selbst kannte.

Der Helm des Heils ist ebenfalls noch ein Verteidigungsmittel;

wir haben die bewußte, die glückselige und

323

völlige Gewißheit, daß wir in Christo in die himmlischen

Oerter versetzt sind — die Seele wandelt in der vollen

Zuversicht, daß sie Christum dort besitzt, der sie aus der

Gewalt Satans befreit hat. Christus hat meinen Kampf

geführt und gesiegt. Ich kann mein Haupt erheben, weil

mir Heil widerfahren ist. Die köstliche Gewißheit, daß

ich in Christo bin, und daß Christus für mich ist, ist

mein Helm. Nunmehr kann ich thätig sein. Indem ich

das Fleisch verurteilt habe, gottselig wandle, friedlich

meinen Weg durch die Welt gehe mit Vertrauen auf Gott

und in der Gewißheit des Heils, kann ich das Schwert

des Geistes ergreifen — ich kann kämpfen, geschützt nach

meinem inneren Menschen und geborgen vor allen Angriffen

von Außen. Ich nehme das Schwert des Geistes, welches

Gottes Wort ist. Wir achten nicht immer darauf, daß

es so ist, daß nichts zwischen Gott und unsern Seelen

steht, so daß Er praktisch m i t uns im Kampfe sein kann.

Wandeln wir in dem Bewußtsein, daß Gott mit uns ist?

Wenn ein Achan im Lager ist, wie bei Israel, so wird

Gott nicht mit uns ziehen. Es ist von der höchsten

Wichtigkeit, hierüber klar zu sein. Paulus zerschlug seinen

Leib und führte ihn in Knechtschaft. Wenn wir in dem

Dienste des Herrn thätig sein wollen, so müssen wir aus

der Gegenwart des Herrn kommen, und zwar demgemäß,

was diese Gegenwart verleiht. „Darum übe ich mich auch,"

sagt Paulus, „allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben

vor Gott und den Menschen." Nur dann, wenn wir ein

stetes Selbstgericht üben und uns nahe bei Gott halten,

vermögen wir auszugehen, um andern zu dienen; wenn

auch nicht immer im öffentlichen Dienste, so doch auf dem

Pfade des täglichen Lebens.

324

Alsdann wird „das Geheimnis Jehova's" unser Teil

sein, wir werden das Bewußtsein haben, daß Gott mit

uns ist, unser Urteil wird ein klares sein, und wir werden

nicht durch allerlei Gedanken abgezogen und verwirrt werden.

Wir besitzen „das Geheimnis Jehova's;" es mag

sein, daß wir in aller Stille einhergehen, aber wir wandeln

mit Gott. Dann kommt, gleichviel wie thätig wir sein

mögen, die innere Zubereitung: „Zu aller Zeit betend mit

allem Gebet und Flehen in dem Geiste, und eben hierzu

wachend in allem Anhalten und Flehen für alle Heilige."

Wir haben schon von den inneren Neigungen und

dem Schwerte des Geistes gesprochen, jetzt aber begegnen

wir einer völligen Abhängigkeit. Diese beiden Dinge —

das Wort Gottes und das Gebet — finden wir

stets beisammen in der ganzen Schrift. So sagte der

Herr von Maria, die sich zu Seinen Füßen niedergelassen

hatte, um Sein Wort zu hören: „Maria hat das gute

Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden wird,"

und in den nächsten Versen lehrt Gr Seine Jünger

beten. Für die Wahl der Diakonen in Jerusalem wird

als Grund angegeben, daß die Apostel sich beständig dem

Gebet und dem Dienst am Worte hingeben könnten.

Wenn es einen Dienst zu verrichten giebt angesichts der

Listen des Teufels, so muß der halbe Kampf zuvor im

Gebet in der Gegenwart Gottes ausgekämpft werden.

Als der Fürst dieser Welt in dem Garten Gethsemane zu

dem Herrn kam, fand er Ihn ringend im Gebet. Petrus

schlief, während der Herr betete; die Folge davon war,

daß Petrus Ihn verleugnete, während unser gepriesener

Herr das „gute Bekenntnis" ablegte.

Nichts kann und darf an die Stelle dieses Ernstes

325

im Gebet treten; wenn wir Gott mit uns haben wolle»,

so müssen wir beten. Eine vollkommene Ruhe kennzeichnet

uns alsdann. Wenn wir Gott mit uns haben, so müssen

wir auch mit Gott sein, der unumschränkt ist in Liebe

und Güte und der uns an Seinen eigenen Interessen

teilnehmen läßt. Verlangt unser Herz nicht nach der Bekehrung

armer Sünder? Beten wir nicht darum, daß die

Herzen mehr von Christo kennen, daß die Gläubigen treuer

wandeln möchten? Gott wünscht dieses, und Er Hai uns

in dieser Welt auf einen Pfad gestellt, der mit Seinen

Interessen verbunden ist. Anhalten und Flehen für alle

Heilige sollte bei uns gefunden werden. Wenn ich eine

Seele in Gefahr sehe, abzugleiten, so komme ich ihretwegen

mit allem Anhalten und Flehen vor Gott; mein Herz ist

bei der Sache.

Dasselbe Wort, durch welches das ernstliche Beten

des Herrn in Gethsemane bezeichnet wird, findet sich auch

auf Epaphras angewandt: er rang in den Gebeten für

die Kolosser. Es ist ein Kampf des Herzens. Wer so

kämpft, fleht um den Segen Gottes von ganzem Herzen,

er fleht ernstlich darum und beschäftigt sich eingehend

damit, weil es zu den Interessen Gottes in der Welt

gehört. Diese Thätigkeit muß dem Feinde gegenüber,

der alle seine List und Kraft gegen uns aufbieten wird,

stets ausgeübt werden. Wie gesegnet ist es, zu wissen,

daß ich Kraft und Weisheit von Gott empfange, Gnade

und Weisheit zum praktischen Wandel. Wenn ich ein

Schwert führe, so muß ich auch wissen, wie es zu handhaben

ist. Welch eine gesegnete Stellung würde es sein,

wenn wir alle praktisch mit Gott vorangingen!

Für unsere eignen Seelen ist das Gebet überaus

326

nützlich, da es der Ausdruck gänzlicher Abhängigkeit und

zugleich des Vertrauens auf Gott ist. Ein Mann wie

Paulus, der in Schwachheit und in Zittern einhergeht,

von außen Kampf, von innen Furcht, erringt Sieg auf

Sieg. Er schreibt den Korinthern: „Ich war bei euch

in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern."

Es ist immer gut, sich seiner Schwachheit bewußt zu sein,

vorausgesetzt, daß Glaube an Gott vorhanden ist. Beständige

Abhängigkeit ist der beständige Ausdruck des

Glaubens an Gott, die Seele tritt vor Gott mit den

Angelegenheiten Gottes und giebt auf diese Weise zu erkennen,

wie sehr sie dieselben zu den ihrigen macht. Unser

teurer Herr ist in den Staub des Todes hinabgestiegen.

Satan übte seine Macht bis aufs Aeußerste aus, aber sie

wurde im Tode Christi völlig gebrochen. Christus stand

wieder auf, setzte sich zur Rechten Gottes und gebraucht

jetzt Sein Volk, das Er vollständig aus der Gewalt Satans

befreit hat, im Kampfe gegen Satan als die Werkzeuge

Seines Dienstes in der Welt. Ein wunderbar gesegneter

Platz, wenn wir nur verständen, ihn zn behaupten! Ja,

es ist gesegnet, zum Streiter des Herrn gegen Satan gemacht

zu sein. Doch je mehr wir uns im Vordertreffen

der Schlacht befinden, desto mehr werden wir den feurigen

Pfeilen ausgesetzt sein. Je mehr wir Zeugnis ablegen von

Gottes Gedanken, von Gottes Absichten und von der

Stellung, welche die Gläubigen in Gottes Gedanken einnehmen,

desto mehr werden wir das Ziel der Angriffe

Satans bilden. Wir werden notwendigerweise mehr Schlingen

und Gefahren ausgesetzt sein, als diejenigen, welche

zurückbleiben; und es giebt keine Stellung, in welcher Abhängigkeit

nötiger wäre und mehr gefühlt würde, als in dieser.

327

Für diejenigen, welche im Vordertreffen stehen, ist

mehr Kraft vorgesehen, um von den Rechten Christi gegen

Satan zu zeugen, und Satan wird dies nie ohne Widerstand

geschehen lassen. Wenn ich die ganze Waffenrüstung

angelegt habe, und ich ziehe aus, um das Schwert zu

schwingen, so habe ich nicht an die Waffenrüstung zu

denken, sondern an Gott und an Seine Absichten, „eben

hierzu wachend in allem Anhalten und Flehen für alle

Heilige." Ach! wie wenig kennen wir hiervon! Wenn

wir z. B. den heutigen Tag an unsern Augen oorüber-

gehen lassen, haben wir da alles, was uns begegnete, zu

einem Gegenstände des Gebets gemacht? Wenn ich die

Sache Christi wirklich aufrecht zu erhalten bemüht bin, so

wird mir alles Veranlassung zum Gebet geben. Dies ist

ein untrüglicher Prüfstein für den Zustand unserer Seelen.

Finden wir viel Bedürfnis in uns, für andere zu Gott

zu kommen? Giebt sich in unsern Fürbitten für alle

Heilige wahrer Ernst kund? Ist unser Herz so mit den

Interessen Christi erfüllt, daß wir ein dauerndes, beständiges

Interesse für andere haben? Ist mein Herz in

einem schlechten Zustande, so muß ich, wenn ich in die

Gegenwart Gottes komme, an mich selbst denken; ich habe

keine Freimütigkeit, für andere zu bitten. „Und für mich,"

sagt der Apostel, „auf daß mir gegeben werde die Rede

im Aufthun meines Mundes... so wie ich reden soll."

Wie steht es mit uns, geliebte Brüder? Es ist ein großer

Segen, so für andere thätig zu sein, aber wir sind unfähig

dazu, wenn unsere Seelen nicht richtig stehen, wenn

wir nicht in der Gegenwart Gottes sind. Nur insoweit

als wir jene Waffenrüstung anhaben, sind wir nützlich;

alles hängt davon ab, daß wir vor Gott einen Platz

328

einnehmen, auf welchem alles geordnet ist. Erst dann, wenn

das Blut an den Thürpfosten ist, wenn das Rote Meer

hinter uns liegt, der Jordan durchschritten und die Schmach

Egyptens von uns abgewälzt ist, kommt der Kampf im

Lande. Alles ist auf die Erlösung gegründet.

Wir dürfen versichert sein, daß wir den Schlingen

Satans auf die eine oder andere Weise begegnen werden.

Unser eigner Zustand und unser Gewissen werden leicht

offenbar, wenn unsre Herzen einfältig in der Wahrheit

stehen. Nicht daß wir Satans Listen und Schlingen zu

ftudiren hätten, aber wenn unsere Herzen einfältig sind,

so werden wir ihm mehr als gewachsen sein. Satan ist

weit geschickter, als wir, und da wo die Erlösung nicht

völlig gekannt ist, wird er sicher seine Betrügereien spielen.

Sobald aber an die Erlösung wirklich geglaubt wird, zerfallen

alle die Systeme des Aberglaubens, die so mächtig

in der Welt sind, in Nichts. Nie wird man, obwohl

noch manches von dem Alten zurückgeblieben sein mag,

jemanden unter der Macht des Aberglaubens finden, der

das Bewußtsein in sich trägt, daß Christus für ihn gestorben

ist und für ihn gelitten hat. Weise und gelehrte

Männer mögen dem religiösen Formen- und Ceremonien-

wesen huldigen, hinter welchem allen der Feind seine Hand

hat, aber von dem Augenblick an, da die Erlösung wirklich

erkannt wird, schwindet die Macht Satans. DaS

System jenes Formenwesens beruht auf dem Grundsatz,

daß Christus zu dem Menschen im Fleische sagen kann,

er sei nicht verloren und nicht tot in seinen Sünden; damit

aber ist eine vollständige und vollbrachte Erlösung geleugnet.

Von dem Augenblick an, wo meine Seele in

Christo feststeht, wird mir diese Schlinge des Feindes

329

nichts mehr zu schaden vermögen. Es mag jemand die

Wahrheit von der Fleischwerdung Christi kennen nnd schöner

von der Person des Herrn reden können, als selbst Christen,

aber bei alledem in Unwissenheit sein über die Erlösung.

Ich habe das Zeugnis Christi in mir; ich kenne Christum.

Dian mag versuchen, mich zu überzeugen, daß Christus

so und so sei, aber ich kenne Ihn, ich besitze Ihn; Er

wohnt in meinem Herzen, so daß ich durch nichts abgezogen

werde. Der Herr erhalte uns in einem beständigen

Bewußtsein der Abhängigkeit von Ihm, in einem Bewußtsein

dessen, was Er ist, ja abhängig von Ihm in jedem

Augenblick, damit wir uns nie aus der Gegenwart Gottes

entfernen! Denn sobald wir uns außerhalb dieser Gegenwart

befinden, ist Gefahr vorhanden.

Eins weiß ich."(Joh. 9, 25/)

In einer Zeit, wie die gegenwärtige, wo es so viel

Bekenntnis, aber so wenig wahres Leben ans Gott giebt,

thun wir wohl, uns ernstlich zu prüfen, ob wir es als

eine göttliche Wirklichkeit kennen, ob wirwissen, daß wir

„aus dem Tode in das Leben hinübergegangen find."

(Joh. 5, 24.) In den sogenannten christlichen Ländern,

in welchen wir leben, bekennen die meisten, Sünder

zu sein, ja die meisten behaupten selbst, an Christum

zu glauben. Aber ach! wie wenig weiß das Herz

oft von dem Bekenntnis des Mundes! Im 9. Kapitel

des Evangeliums Johannes lesen wir von einem Manne,

der blind war von Geburt au — ein treues, treffendes

Bild von jedem Menschen von Natur. Er ist blind von

330

seiner Geburt an, und er bedarf ebensosehr der Oeffnung

seiner Augen in bezug aus göttliche Dinge, wie der arme

Blindgeborne in dem genannten Kapitel es hinsichtlich der

irdischen bedurfte.

Sind deine Augen geöffnet worden, mein lieber

Leser? Sage nicht: Ich weiß es nicht. Jener Mann

wußte sehr wohl, was mit ihm geschehen war. Der Herr

Jesus kam in diese Welt herab, um „den Gefangenen Befreiung

zu verkündigen und den Blinden das Gesicht, in

Freiheit hinzusenden die Zerschlagenen, zu verkündigen das

Jahr der Annehmung des Herrn." (Luk 4, 18.) „Und

als Er vorüberging, sah Er einen Menschen, blind von

Geburt." (V. 1.) Konnte Er in Seiner Gnade und Güte

gefühllos an dem Armen vorübergehen? Konnte Der, dessen

Herz so manches Mal innerlich bewegt wurde von göttlichem

Mitgefühl und Erbarmen, Sein Auge verschließen

vor dem Elende des unglücklichen Blindgebornen? Unmöglich.

Indes war es nicht nur die äußere Not des

blinden Bettlers, die Seine Hülfe erforderte. Der Herr

las auch in dem Herzen des armen Mannes und sah

dort höhere Bedürfnisse. Er war eines jener in der Irre

gehenden Schafe, welches die Stimme des guten Hirten

hören sollte, das alles dessen bedurfte, was Jesus war

und was Er thun konnte. Und um diese Bedürfnisse zu

befriedigen, war Jesus gekommen. Er kam, zu suchen

und zu erretten, was verloren war.

„Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und

in Ewigkeit." (Hebr. 13, 8.) Er hat sich nicht verändert

und wird sich nimmermehr verändern. Ein jeder bußfertige

Sünder kann heute mit derselben Gewißheit auf

Seine Gnade und Liebe und auf Seine Bereitwilligkeit,

331

allen Bedürfnissen zu begegnen, rechnen, wie damals, als

Er hienieden wandelte und die Not aller derer stillte,

welche zu Ihm kamen. Jesus allein konnte dem Blinden

das Gesicht geben, und Er allein kann dem Sünder in

seinem verlornen, verderbten Zustande begegnen und ihn

von dem ewigen Verderben erretten.

Jesus salbt die Augen des Blinden und sendet ihn

zum Teiche Siloam, um sich zu waschen. Dieser thut,

wie ihm geheißen worden, in einfältigem Vertrauen auf

das Wort Dessen, der ihn gesandt hat, und empfängt

unmittelbare Hülfe. Er kommt sehend zurück. Um Hülfe

von Jesu zu empfangen, muß der Sünder mit Jesu in

Berührung kommen; aber sobald dies geschieht, ist ein

unmittelbarer Segen unausbleiblich. Das Weib in

Mark. 5, „das viel erlitten hatte von vielen Aerzten und

alle ihre Habe verwendet und keinen Nutzen davon gehabt

hatte" — vielmehr war es immer schlimmer mit ihr

geworden — hört nicht nur von Jesu, sondern sie

kommt zu Jesu und rührt Ihn an, und siehe da, alsbald

vertrocknet der Quell ihres Blutes, und sie erkannte,

wie der Mann in Joh. 9, daß sie von ihrer

Plage geheilt war. Möchtest du deshalb, mein lieber Leser,

wenn cs noch nicht geschehen ist, zu Jesu kommen und

erkennen, was es heißt, mit Dem zusammen zu treffen,

der darnach verlangt, dich zu segnen! „Glaube an den

Herrn Jesum, und du wirst errettet werden." (Apstg. 16,31.)

Die Veränderung in dem Blindgeborenen war so

offenbar, daß jedermann sie erkennen konnte. Ist es auch

so mit uns, die wir den Herrn kennen und aus der

Finsternis und Blindheit, in der wir gefangen lagen, in

Sein wunderbares Licht versetzt worden sind? Wir können

332

uns darin erfreuen, daß Er „unsre Sünde au Seinem

Leibe auf das Holz getragen," (1. Petr. 2, 24.) daß

Gott alle unsre Uebertretungen und Ungerechtigkeiten auf

Ihn gelegt hat, (Jes. 53, 6.) daß alle unsre Sünden

vergeben sind und nie mehr in das Gedächtnis vor Gott

kommen sollen, (Kol. 2, 13; Hebr. 10, 17.) daß wir

zu Gott geführt (1. Petr. 3, 18.) und begnadigt sind

„in dem Geliebten." (Eph. 1, 6.) Aber ist unser

Leben auch so dem Herrn gewidmet, daß alle unsre Freunde

und Bekannten, ja daß jedermann erkennen kaun, daß wir

mit Jesu zusammengetroffen sind? Erkennen alle, daß wir

mit Jesu sind? (Apstgsch. 4,13.) Prüfen wir uns ernstlich

darüber in der Gegenwart Gottes.

Jener Mann hatte nicht nur Segen von dem Herrn

empfangen, sondern Er gab auch Zeugnis von demselben

und von Jesu. Allerdings hatte er gar keine Klarheit

über die Person des Herrn, aber nach der geringen Erkenntnis,

die er besaß, bekannte er Christum. Die Veränderung

war, wie gesagt, so auffällig und wunderbar,

daß sie von allen erkannt wurde, die ihn früher gesehen

hatten, ehe seine Augen geöffnet wurden. Die Nachbarn

begannen, darüber zu reden und zu streiten; das Geschehene

war so unbegreiflich und unglaublich, daß einige

daran zweifelten, ob er wirklich derselbe sei, der als Bettler

am Wege gesessen hatte. Doch er versichert sie, daß er

der sei, welcher früher blind war und jetzt sieht. Man

bringt ihn zu den Pharisäern, und hier legt er wiederholt

dasselbe Zeugnis ab. Doch die Pharisäer können und

wollen seinen Worten nicht glauben, aus Haß und Feindschaft

gegen die gesegnete Person Dessen, der das Wunder

gethan hat. Ja sie nennen den heiligen, fleckenlosen

333

Sohn Gottes einen „Sünder," so wie sie im vorhergehenden

Kapitel von Ihm gesagt hatten, er sei ein Samariter und

habe einen Teufel. (V. 48.) So ist der Mensch, und zwar

der Mensch unter den größten Segnungen und Vorrechten.

Ist es nicht ein hohes Vorrecht, in einem christlichen

Lande zu wohnen? Und doch, wie wenige wissen,

trotz der Vorrechte, deren man sich so gerne rühmt, was es

heißt, für ewig errettet Zu sein durch das kostbare Blut

Jesu Christi, das da reinigt von aller Sünde! (1. Joh 1, 7.)

Und wie wenige selbst von dieser kleinen Zahl bekennen

Christum treu und einfältig in ihrem Wort und Wandel!

Bist du errettet, mein Leser? Oder laß mich anders

fragen: Verurteilst du, wieso mancher, diejenigen,

welche sagen, daß sie errettet seien? Und wenn du

es thust, welchen Grund hast du dazu? Der Errettete

hat nichts zu seiner Rettung beigetragen. Für ihn

ist jeder Ruhm ausgeschlossen. (Röm. 3, 27.- Er ist

errettet aus Gnade, und nicht aus Werken. (Eph. 2,8.)

Warum willst du ihn deshalb verurteilen? Hüte dich, es

zu thun; denn er ist Christo und dem Herzen des Vaters

überaus kostbar. Laß dich vielmehr warnen, „dem kommenden

Zorn zu entfliehen." (Matth. 3, 7.) Indem du

diejenigen verurteilst, welche durch die Gnade sagen können:

„Wir sind errettet," verurteilst du Christum, und Gottes

Wort sagt, daß jedes Knie sich vor Ihm beugen und

jede Zunge bekennen soll, „daß Jesus Christus Herr ist,

zur Verherrlichung Gottes, des Vaters." (Phil. 2, 10.11.)

Doch der Blindgeborene sollte nicht nur das Werk

Christi, sondern auch Seine gesegnete Person kennen

lernen. Viele Gläubige kennen das Werk Christi, welches

ihre Sünden hinweggethan und sie für die Gegenwart

334

eines heiligen Gottes passend gemacht hat; aber ist das

der Platz, wo Gott will, daß wir Halt machen sollen?

Nein, sicherlich nicht! Das ist nur der Anfang. Das

Wort Gottes offenbart uns nicht nur ein gesegnetes, kostbares

Werk, sondern auch eine wirkliche, lebende, anbetungswürdige

Person — Einen, der nicht nnr für den

Sünder gestorben ist und ihn kraft Seines vollbrachten

Werkes zu retten wünscht, sondern der zur Rechten Gottes

lebt für den Gläubigen.

In unserm Kapitel finden wir beides, das Werk

und die Person Christi. Als der Blindgeborene zum ersten

Male gefragt wurde, wie seine Augen aufgethan worden

seien, antwortete er: „Ein Mensch, genannt Jesus,

machte Kot und salbte meine Augen :c." (v. 10. 11.) Ja,

Er war wirklich ein Mensch — „der Mensch Christus

Jesus." Aber der Glaube erkennt weit mehr als das.

Er empfängt immer mehr Licht. Auf die Frage der

Pharisäer: „Du, was sagst du von Ihm, daß Er deine

Augen aufgethan hat?" antwortet der Geheilte: „Er ist

ein Prophet." (V. 17.) Schon hat er eine tiefere Offenbarung

von der Person Jesu, von Ihm selbst, empfangen.

Ein Prophet bedeutet nicht ausschließlich einen Menschen,

der zukünftige Dinge vorhersagt. So hören wir z. B. das

Weib in Joh. 4 sagen: „Herr, ich sehe, daß Du ein

Prophet bist." Was brachte diese Ueberzeugung in ihr

hervor? Die einfache Thatsache, daß sie sich in das Licht

Gottes, in Seine Gegenwart, gestellt sah. So ist es auch

hier in unserm Kapitel. Der Blindgeborene erkannte die

mächtige Wirksamkeit Gottes, und diese Erkenntnis ließ

ihn denen, die Ihn nicht kannten, jene gesegnete Antwort

geben: „Er ist ein Prophet."

335

Als man ihn nachher zum zweiten Male rufen läßt,

tritt er wieder mit derselben Freimütigkeit und Einfalt

des Glaubens den ungläubigen Fragern entgegen; es ist

ihm unbegreiflich, daß diejenigen, welche als die Führer

des Volkes betrachtet wurden, nicht einmal wußten, woher

dieser Jesus war. Und doch hatte Er ihm die Augen

aufgethan. Es ist herzerquickend, aus dem Munde dieses

Mannes die einfältige und doch so schlagende Beweisführung

des Glaubens zu vernehmen. „Wir wissen," sagt

er, „daß Gott Sünder nicht hört, sondern wenn jemand

gottesfürchtig ist und Seinen Willen thut, den hört Er.

Von Ewigkeit ist es nicht erhört, daß jemand die Augen

eines Blindgeborenen aufgethan hat. Wenn dieser

nicht von Gott wäre, so könnte Er nichts thun."

(V. 31 — 33.) Welch eine Belehrung für die Lehrer des

Volkes! Sie greifen zu dem letzten Mittel, welches der

arme, thörichte Mensch der überwältigenden Macht der

Wahrheit gegenüber kennt — sie werden böse und werfen

den unerschrockenen Bekenner Christi zur Synagoge hinaus.

Jesus hört, daß sie ihn hinausgeworfen hatten, und

geht ihm nach. O wie köstlich ist es, zu wissen, daß nicht

nur das Herz und die mächtige Hand Jesu uns gehören,

sondern daß auch Sein Auge und Ohr stets für die Bedürfnisse

der Seinigen geöffnet sind! Welch eine Ermutigung

für den geprüften, vielleicht von allen verlassenen Jünger

des Herrn! Ja, Er kennt die Seinen, und — Er ist

gekannt von den Seinen. Als Jesus den Hinausgestoßenen

fand, fragte Er ihn: „Glaubst du an den Sohn

Gottes?" — „Wer ist es, Herr, auf daß ich an Ihn

glaube?" — „Du hast Ihn gesehen, und der mit dir

redet, der ist's." Und alsbald fällt er vor Ihm nieder

336

und huldigt Ihm. Verstoßen von den Menschen, ja von

den religiösen Menschen dieser Welt, findet er Jesum und

lernt Ihn kennen als den Sohn Gottes. Mit Freuden

teilt er den Platz der Verwerfung mit Dem, der so

Großes an Ihm gethan.

Welch eine Veränderung ist mit diesem Btanne vorgegangen!

Im Anfang unsers Kapitels in Lumpen, ein

Bettler, blind, nichts besitzend für Zeit und Ewigkeit —

jetzt zu den Füßen Jesu, ein glücklicher Anbeter, mit sehenden

Augen, ein völliges Wunder für seine ganze Umgebung,

obwohl hinausgestoßen aus dem religiösen System

des Menschen. Aber mochten sie ihn hinausgeworfen

haben — er hatte unendlich weit mehr gefunden, als er

verloren hatte. Und er wußte, was er jetzt besaß.

Eins weiß ich, daß ich blind war und jetzt

sehe." Mein lieber Leser, weißt du dasselbe für dich?

Wenn es so ist, so danke Gott und suche, für Christum

zu leben. Wenn nicht, so eile noch heute zu Jesu, der

allein imstande ist, dir Gewißheit zu geben!


 Botschafter des Heils Geists.1883

„Der Herr ist nahe!" Phil. -1, 5.

Eiunnddreißigster Jahrgang.

R. BrockHans, Elberfeld.

1883.