Botschafter des Heils in Christo 1885

01/29/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Botschafter
des
ls i« Hhristr.
„Der Herr ist nahe!" Phil. 4, 5.
Dreiunddreißigfier Jahrgang.
L. Vrockhaus, Elberfeld.
1885.
Inhalts-Verzeichnis.
Scire.
Ter Dienst der Versöhnung...................................... 1. 29. 57. 85
Selbstverleugnung................................................................................25
Gedanken über Johannes 13, 1—11 40
Tie Hoffnung des Christen.............................................................. 53
Einige Worte üb. d. Feier d. Abendmahls nach d. Schrift 69. 100.118
Was ist die Wahl deines Herzens?.............................................. 82
Bruchstücke................................................................. 112. 223. 280
Danksaget in allem.........................................................................127
Der Tod..............................................................................................139
„Freuet euch allezeit!"................................................ 140
Der Weg der Glückseligkeit.................................................... 141. 169
Der Kreis der Zuneigungen der Braut........................................ 158
Paulus und Felix..............................................................................160
Die Herrlichkeit des Herrn..............................................................185
Drei kostbare Gaben........................................................................ 191
Ein Wort über Gebet und Gebetsversammlungen . . 197. 225
Der Charakter Nehemjas............................................................. 208
Der Richterstuhl Gottes und Christi............................................. 209
Die Sachwalterschaft Christi........................................................ 212
Ein gereinigtes Gewissen..............................................................220
Kurze Gedanken über die Rechtfertigung...................................241
Zachäus.............................................................................................. 248
Christum predigen...................................................... 253. 298. 325
Was ist die Kraft unsers Wandels............................................. 266
Gedanken über Hebräer 2..............................................................272
„Seid niemandem irgend etwas schuldig"...................................281
Kurze Gedanken über Kol. 3, 1—17 309
Neugierige Fragen weise beantwortet ........................................ 335
Druck uon A. Fastenrats) in Elberfeld.
Der Dienst der Versöhnung.
(2. Kor. 5, 18-21.)
1.
Das fünfte Kapitel des zweiten Briefes an die Korinther nimmt einen hervorragenden Platz unter den wichtigstenund inhaltsreichsten Abschnitten des inspirirten Wortes
ein. Die Schlußverse desselben behandeln den Gegenstand,
welcher die Ueberschrift dieser Zeilen bildet. Doch bevor
wir auf denselben näher eingehen, möchten wir die Aufmerksamkeit des Lesers auf einige Punkte richten, die sich
bei dem Lesen des ersten Teiles des Kapitels unwillkürlich unsrer eingehenden Betrachtung empfehlen.
Verweilen wir zunächst einen Augenblick bei den
Worten, mit welchen der Apostel unser Kapitel beginnt.
Er sagt: „Denn wir wissen rc." In diesen Worten
begegnen wir der Sprache christlicher Ueberzeugung. Es
heißt nicht: „Wir hoffen," und noch weniger: „Wir
fürchten," oder: „Wir zweifeln." Nein, eine solche
Sprache würde nicht der ruhigen, felsenfesten Gewißheit
Ausdruck geben, welche zu besitzen das Vorrecht selbst des
schwächsten Gläubigen ist, obwohl es leider wahr ist, daß
verhältnismäßig nur wenige der geliebten Kinder Gottes
diese gesegnete Gewißheit wirklich genießen. Es giebt
sogar viele, welche es für Anmaßung halten, zu sagen:
„Wir wissen." Sie scheinen zu denken, daß Zweifel und
Befürchtungen der Beweis von einem passenden Zustande
einer Seele seien, daß es unmöglich sei für irgend jemanden,
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Gewißheit zu haben, ja daß das Höchste, was wir erwarten
können, in der unbestimmten Hoffnung bestehe, einmal in den
Himmel zu kommen, wenn es Gott gefällt, uns abzurufen.
Wir müssen allerdings zugeben, daß es Thorheit sein
würde, an eine unumstößliche Gewißheit und Ueberzeugung
zu denken, wenn wir selb st etwas mit der Grundlage derselben zu schaffen hätten; in diesem Falle würde unsre
Hoffnung ohne Frage nur eine höchst unbestimmte und
schwankende sein können. Aber, Gott sei gepriesen! es
ist nicht so. Wir haben nichts, durchaus nichts mit der
Grundlage unsrer Gewißheit zu thun. Dieselbe liegt völlig
außer uns und illuß einzig und allein in dem ewigen und
lebendigen Worte Gottes gesucht werden. Dies macht die
Sache so einfach und klar. Es macht die ganze Frage von
der Wahrheit des Wortes Gottes abhängig. Warum bin ich
gewiß? Weil Gottes Wort wahr ist und nicht lügen kann.
Ein Schatten von Ungewißheit oder Zweifel meinerseits
würde beweisen, daß ich der Autorität und Untrüglichkeit
des Wortes Gottes nicht völlig vertraute. Die christliche
Gewißheit gründet sich auf die Treue und Unveränderlichkeit Gottes. Um jene zu erschüttern, müßten zunächst
diese erschüttert werden.
Wir können diesen einfachen Grundsatz am leichtesten
durch ein Beispiel aus dem täglichen Leben, aus dem Verkehr mit unsern Mitmenschen ins Licht stellen. Wenn
mein Nachbar mir etwas erzählt, und ich drücke den geringsten Zweifel an der Wahrheit des Gesagten aus, oder
ich hege diesen Zweifel nur, ohne ihn auszusprechen, so
ziehe ich dadurch die Glaubwürdigkeit des Sprechers in
Frage. Ist der Betreffende ein wahrheitsliebender, aufrichtiger Mann, von dem ich weiß, daß er nicht lügt, so 
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habe ich keine Veranlassung, seine Behauptungen im geringsten zu bezweifeln. Meine Gewißheit gründet sich auf
seine Glaubwürdigkeit. Nun, wir alle wissen, wieberuhigend
eS ist, in einer Sache, die uns nahe augeht und über
welche wir in Ungewißheit sind, das Zeugnis eines wahrheitsliebenden Menschen zu hören. Unsre Ungewißheit
schwindet und macht einer bestimmten Ueberzeugung Platz.
Wir sind völlig ruhig und gewiß, weil wir daS Zeugnis
eines treuen Zeugen gehört und geglaubt haben. ES handelt sich dabei also gar nicht um unsre Gefühle, sondern
um die Annahme des Zeugnisses. Und nun, „wenn wir
das Zeugnis der Menschen annehmen, das Zeugnis Gottes
ist größer." (1. Joh. 5, 9.) Ebenso sagte der Herr Jesus
zu den Menschen, die ihn umgaben: „Wenn ich die Wahrheit sage, warum glaubet ihr mir nicht?" (Joh. 8, 46.)
Die Wahrhaftigkeit Seiner Worte bildete die Grundlage,
auf welcher Er ihren Glauben erwartete und erwarten
konnte.
Dieser einfache, aber so überaus wichtige Grundsatz
sei der aufmerksamen Erwägung aller derer empfohlen,
welche ängstlich nach Gewißheit suchen, oder auch derer,
welche mit solchen ängstlichen Seelen in Berührung kommen.
Unsre armen, kleingläubigen Herzen sind beständig geneigt,
in uns nach einem Grunde der Gewißheit zu suchen, auf
gewisse Gefühle, Erfahrungen und Herzensübungen, sei es
in der Vergangenheit oder in der Gegenwart, zu bauen,
oder auf gewisse Eindrücke und Ueberzeugungen, die wir
empfangen haben, hinzublicken und darin den Grund unsers
Vertrauens, die Bürgschaft für die Echtheit unsers Glaubens zu finden. Doch alles das wird nie genügen, nie 
unsre Herzen glücklich machen. ES ist unmöglich, aus
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diesem Wege einen wahren Frieden und eine unerschütterliche Ruhe zu finden. Gefühle, so tief und wirklich sie
sein mögen, verändern sich und verschwinden früher oder
später. Erfahrungen, so ernst und gesegnet sie gewesen
sind, werden sich immer als mangelhaft erweisen. Eindrücke und Ueberzeugungen sind nicht selten völlig verkehrt
und falsch. Nichts von allem diesem kann daher die Grundlage christlicher Gewißheit bilden. Diese kann und muß
allein in dem Worte Gottes gesucht und gefunden werden —
nicht in Gefühlen, nicht in Erfahrungen, nicht in menschlichen Meinungen und Lehren, nicht in Ueberlieferungen,
sondern in dem unveränderlichen, ewig bleibenden Worte
Gottes. Dieses Wort, das auf ewig festgestellt ist in den
Himmeln und welches Gott groß gemacht und verherrlicht
hat, vermag allein dem Herzen Ruhe und der Seele beständigen Frieden zu geben.
Freilich sind wir nur durch den gnädigen Dienst des
Heiligen Geistes fähig, das Wort Gottes zu erfassen und
fest zu halten; aber dennoch ist es dieses Wort allein,
welches uns Gewißheit geben und den Christen in seinem
ganzen praktischen Leben und Wandel leiten und bestimmen
kann. Wir können in diesem Punkte nicht zu einfältig
sein; und wenn wir in Wahrheit das Wort Gottes zur
einzigen Grundlage unsers persönlichen Vertrauens machen,
so können wir von ganzem Herzen mit dem Apostel sagen:
„Denn wir wissen." Menschliche Autorität nützt hier
nichts. Tausende von Kindern Gottes haben schmecken
müssen, wie bitter es ist, sich auf die Gebote und Lehren
der Menschen zu stützen. Sie haben alle auf diesem Wege
nichts als Enttäuschung und Verwirrung gefunden. Das
Haus, welches auf den Sand menschlicher Autorität er­
baut ist, muß früher oder später einstürzen, während dasjenige, welches auf den Felsen der göttlichen Wahrheit
gegründet ist, für ewig bestehen wird. Das Wort Gottes
verleiht der Seele, welche sich auf dasselbe stützt, die ihm
eigentümliche Festigkeit und Beständigkeit. „Darum, so
spricht der Herr, Jehova: Siehe, ich gründe einen Stein
in Zion, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein
gegründeter Gründung; wer glaubt, wird nicht eilen."
(Jes. 28, 16.)
Wie die Grundlage, so ist der Glaube, der sich auf
dieselbe stützt. Daher ist es so überaus wichtig und ernst,
die Seelen dahin zu führen, daß sie ihr Vertrauen allein
auf das kostbare Wort Gottes setzen. Wie ängstlich war
der Apostel Paulus bemüht, die Herzen der Gläubigen
von der Unzulänglichkeit und Unsicherheit aller menschlichen
Autorität zu überzeugen! Hören wir, was er an die Korinther schreibt, die in großer Gefahr standen, durch falsche
Lehrer von dem Pfade der Wahrheit abgelenkt zu werden:
„Und ich, da ich zu euch kam, Brüder, kam nicht nach
Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit, euch das Zeugnis
Gottes verkündigend. Denn ich hielt nicht dafür, etwas
unter euch zu wissen, als nur Jesum Christum, und Ihn
als Gekreuzigten. Und ich war bei euch in Schwachheit
und in Furcht und in vielem Zittern; und meine Rede
und meine Predigt war nicht in überredenden Worten der
Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der
Kraft, auf daß euer Glaube nicht in Weisheit der Menschen,
sondern in der Kraft Gottes sei." (1. Kor. 2, 1—5.)
Hier haben wir ein schönes Vorbild für alle, die 
da predigen und lehren. Paulus verkündigte „das Zeugnis
Gottes," nichts mehr und nichts weniger, nichts anders
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als das. Ueberdies verkündigte er eS in einer Weise,
welche geeignet war, die Seelen seiner Zuhörer unmittelbar mit dem lebendigen Gott zu verbinden. Er wünschte
nicht, daß die Korinther sich auf ihn stützten; er zitterte
vielmehr bei dem Gedanken, daß sie versucht sein möchten»
das zu thun. Er würde ihnen großen Schaden zugesügt
und das traurigste Unheil angerichtet haben, wenn er in
irgend einer Weise seine Person zwischen ihre Seelen und
die wahre Quelle aller Autorität, die Grundlage alles
wahren Friedens und Vertrauens, gestellt hätte. Hätte
er sie angeleitet, ihr Vertrauen auf ihn zu sehen, so würde
er sie Gottes selbst beraubt haben, und das wäre in der
That ein großes Unrecht gewesen. Kein Wunder daher,
daß er unter ihnen gewesen war „in Furcht und in vielem
Zittern." Die Korinther waren offenbar sehr geneigt, sich
menschliche Führer aufzustellen und ihnen nachzufolgen und
auf diese Weise die Wirklichkeit der persönlichen Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott und der Abhängigkeit von
Ihm zu verlieren. Dies läßt uns die eifersüchtige Sorge
des Apostels verstehen, mit welcher er sich auf das einfache und lautere Zeugnis Gottes beschränkt und ihnen
nur das überliefert, was er von dem Herrn empfangen
hatte. (Vergl. 1. Kor. 11, 23; 15, 3.) Er war ängstlich
besorgt, daß der Strom des reinen Wassers auf dem
Wege von seiner Quelle in Gott zu den Herzen der Korinther nicht irgendwie gehemmt oder getrübt werde, und
daß er selbst die kostbare Wahrheit Gottes nicht in dem
geringsten Grade durch seine eignen Gedanken färben und
entstellen möchte.
Wir sehen dasselbe in dem ersten Briefe an die 
Thessalonicher. „Und darum," so schreibt der treue
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Knecht Gottes dort, „danken wir anch Gott unablässig, das;,
als ihr von uns empfinget das Wort der Kunde Gottes,
ihr es nicht als Menschenwort aufnahmet, sondern,
wie es wahrhaftig ist, als Gottes Wort,
das auch in euch, den Glaubenden, wirkt." (Kap. 2, 13.)
Hätte der Apostel an sich selbst gedacht und seine
eignen Interessen gesucht, so würde er froh gewesen
sein, Einfluß über die Thessalonicher zu erlangen, dadurch
daß er sie an sich selbst fesselte und sie anleitete, sich auf
seine Person zu stützen. Aber nein, er war ein treuer,
hingebender Arbeiter; erfreute sich, daß er sie in lebendiger
und wirklicher Verbindung mit Gott sah. Dies ist stets
die Wirkung eines treuen Dienstes, sowie das einzige
Ziel eines treuen Dieners. Wenn die Seelen nicht in
lebendige Verbindung mit Gott gebracht werden, so ist
in der That alle Arbeit umsonst, ja selbst verderblich.
Die bloße Nachfolge von Menschen, die Annahme dessen,
was sie sagen, weil sie es sagen, die Hinneigung zu
dem einen oder andern Prediger oder Lehrer, weil er in
der Art seines Vortrags oder in seinem Wesen etwas
besonders Anziehendes hat, oder weil er ein treuer und hingebender Arbeiter ist — alles das hat keinen Wert und
wird zu keinem guten Ende führen. Solche menschliche
Bande werden bald zerreißen. Der Glaube, welcher sich
in irgend einem Maße auf die Weisheit der Menschen
gründet, wird sich als leer und wertlos erweisen. Nichts
wird bestehen bleiben, nichts stand halten, als allein der
Glaube, welcher auf dem Zeugnis des allein wahren
Gottes ruht und in Seiner Kraft ist.
Mein lieber christlicher Leser, laß dich bitten, diesem
Punkte, der gerade in der gegenwärtigen Zeit von besonderer
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Wichtigkeit ist, deine Aufmerksamkeit zu schenken. Der
Feind sucht auf alle Weise und mit allen Mitteln die
Seelen von Gott, von Christo und von den Heiligen
Schriften abznleiten. Gelingt es ihm, sie zu einem Vertrauen auf irgend etwas neben der Wahrheit zu veranlassen, so ist er befriedigt. Es ist ihm einerlei, worin dasselbe besteht, wenn es nur nicht Christus ist. Es mag
Vernunft, Ueberlieferung, Religiosität, fleischliche Frömmigkeit und Heiligkeit, Moralität, Ehrbarkeit, Menschenliebe
oder irgend etwas dergleichen sein, wenn es nur etwas,
anderes ist, als Christus, als das Wort Gottes und ein persönlicher, lebendiger Glaube an den lebendigen Gott selbst.
Dieses Bewußtsein treibt uns, dem christlichen Leser
mit allem Ernst die Notwendigkeit vorzustellen, im Blick
auf den Boden, auf welchem er steht, völlig klar und
bestimmt zu sein. Nichts anders als eine völlige Gewißheit ist genügend. ES ist nicht genug, zu sagen: „Ich
hoffe." O, nein; ein jeder wahre Gläubige sollte fähig
sein, mit dem Apostel zu sagen: „Denn wir wissen,
daß, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird,
wir einen Bau aus Gott haben, ein Haus, nicht mit
Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln." Das ist
die Sprache des Glaubens, die Sprache eines Christen.
Alles ist klar und gewiß, weil alles von Gott ist. Im
Blick auf „das irdische Haus" mag es ein „wenn" geben;
es mag zerstört werden und zu Staub zerfallen. Alles,
was zu dieser Erde gehört, mag den Stempel des Todes
an sich tragen; es mag sich verändern und völlig vergehen, aber das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit, und
der Glaube, der dieses Wort erfaßt und fest hält, teilt
seine ewige Beständigkeit. Er befähigt einen Menschen,
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Zusagen: „Ich weiß, daß ich habe." Nur der Glaube
kaun so reden. Die Vernunft sagt: „Ich zweifle;" der
Aberglaube: „Ich fürchte;" der Glaube allein kann sagen:
„Ich weiß und bin überzeugt."
Ein ungläubiger Prediger sagte einst zu einer sterbenden
Frau, welcher er seine verderblichen Lehren eingeflößt
hatte: „Halten Sie nur fest, Frau N.!" — Was war
die Antwort des armen Weibes? „Ich kann nicht festhalten; denn Sie haben mir nichts gegeben, woran ich
mich halten könnte." — Welch ein schneidender Vorwurf!
Er hatte die unglückliche Frau zu zweifeln gelehrt, aber 
er hatte ihr nichts zu glauben gegeben; und als nun die
Kräfte schwanden und die ernsten Wirklichkeiten der Ewigkeit vor ihr standen und ihre Seele mit Schrecken erfüllten,
da erwiesen sich alle die Beweisführungen des Unglaubens
als kraft- und wertlos; sie vermochten ihr angesichts des
Todes und des Gerichts keine Ruhe und keinen Frieden
Zu geben. Wie ganz anders ist es mit dem Gläubigen,
mit einem Menschen, der in aller Einfalt des Herzens
und mit demütiger Gesinnung sich auf den unerschütterlichen Fels ter Zeitalter stützt! Ein solcher kann mit
völliger Ruhe sagen: „Die Zeit meines Abscheidens ist
vorhanden; ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe
den Lauf vollendet, ich habe den Glauben bewahrt, fortan
ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, die der Herr,
der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an
jenem Tage; nicht allein aber mir, sondern auch allen,
die Seine Erscheinung lieb haben." (2. Tim. 4, 6—tt.)
2.
Vielleicht werden es manche Leser schwierig finden,
die ruhige Gewißheit, die wir im ersten Verse ausgedrückt
10
finden, mit dem Seufzen im zweiten zu vereinigen. Doch
die Schwierigkeit wird verschwinden, sobald wir die wahre
Ursache dieses Seufzens kennen lernen. Der Apostel
schreibt: „Denn in diesem freilich seufzen wir, uns sehnend,
mit unsrer Behausung, die aus deni Himmel ist, überkleidet zu werden, so wir anders, wenn wir auch bekleidet
sind, nicht nackt erfunden werden. Denn wir freilich, die
in der Hütte sind, seufzen beschwert, wiewohl wir nicht
entkleidet, sondern überkleidet sein wollten, damit das
Lterbliche verschlungen werde von dem Leben."
Wir sehen aus diesen Worten, daß gerade die 
Gewißheit, „einen Bau aus Gott zu haben, ein Haus,
nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln,"
in uns das sehnende Seufzen nach dem Besitz desselben
hervorruft. Der Apostel seufzte nicht in Zweifel oder
Ungewißheit, auch nicht unter dem Bewußtsein einer noch
unbezahlten Schuld, oder in Furcht und Angst. Noch
weniger seufzte er, weil er die Wünsche des Fleisches
nicht erfüllen, noch sich mit den vergänglichen Reichtümern
dieser Welt umgeben konnte. Nein, er verlangte nach dem
Bau aus Gott, nach der himmlischen, göttlichen und ewigen
Behausung. Er fühlte die schwere Bürde der armen, zerbrechlichen Hütte, in welcher er weilte; sie war ein schmerzliches Hindernis für ihn. Sie bildete das einzige Band,
das ihn noch mit dem, was ihn umgab, verknüpfte, und
als solches war sie für ihn eine beschwerliche Last, von
welcher er befreit zu werden wünschte.
Sicherlich würde er nicht nach der himmlischen Behausung geseufzt haben, wenn er im Blick auf die Erlangung derselben irgendwie im Zweifel gewesen wäre.
Der Mensch trägt durchaus kein Begehren darnach, diesen Leib
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abzulegen, es sei denn, daß er sicher ist, etwas Besseres
dafür zu erlangen. Er ist vielmehr mit aller Sorgfalt bemüht,
das schwindende Leben festzuhalten, nnd er zittert bei dem
Gedanken an den Tod und das Grab. Der natürliche
Mensch seufzt bei der bloßen Erinnerung an die Möglichkeit, diese Hütte ablegen zu müssen; der Apostel seufzte,
weil er sich noch in derselben befand.
Dies zeigt den Unterschied in seiner ganzen Größe.
Die Schrift redet nie von dem Christen als einem Menschen,
der unter der Last seiner Sündenschuld, unter Zweifeln
und Befürchtungen seufzt, oder sich nach den Reichtümern,
Ehren und Vergnügungen dieser Welt sehnt. Leider
seufzen viele, weil sie weder ihre wahre Stellung in einem
auferstaudenen Christus, noch ihr Teil in den Himmeln
kennen, und leider, ja leider, neigen sich andere zu den
Dingen dieser Welt hin. Aber nie sagt die Schrift, daß
ein Christ so seufzen sollte. Der Apostel trug ein brennendes Verlangen, die irdische Hütte abzulegcn und mit der
himmlischen bekleidet zu werden. Tie Ausdrücke: „wir
wissen" und: „ wirseufzen" stehen deshalb in völligstem Einklang. Wenn wir nicht gewiß wüßten, daß wir
einen Bau aus Gott haben, so würden wir sicher unsre
irdische Hütte so lange als möglich zu behalten wünschen.
Aber weil wir wissen, daß dieses himmlische Haus für
uns bereit ist, so erscheint uns dieser Leib der Sünde
nnd des Tvdes als eine schwere Bürde, und wir sehnen
uns darnach, einen Leib zu empfangen, welcher der neuen
Schöpfung angehört, seinem neuen und ewigen Zustande
angepaßt und von jeder Spur der Sterblichkeit vollkommen
befreit ist. Doch dies kann nicht eher geschehen, bis der
herrliche Morgen der Auferstehung anbricht, bis jener
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lange ersehnte Augenblick kommt, wenn die Toten in
Christo auferstehen und die noch auf dieser Erde lebenden
Heiligen in einem Nu, in einem Augenblick werden verwandelt werden, wenn das Sterbliche Unsterblichkeit und
das Verwesliche Unverweslichkeit anziehen und der Tod in
Sieg verschlungen sein wird.
Das ist es, wonach wir uns seufzend sehnen, wiewohl wir nicht entkleidet, sondern üb er kleidet sein möchten.
Der Zustand der Entkleidung ist nicht der Gegenstand
der Hoffnung des Christen, obgleich wir wissen, daß,
wenn ausheimisch von dem Leibe, wir einheimisch bei dem
Herrn sein werden, und daß es weit besser ist, abzuscheiden und bei Christo zu sein, als noch hieniedeu zu
wandeln. Der Christ wartet vielmehr ans den glorreichen
Augenblick der Ankunft des Herrn; er erwartet Ihn aus den
Himmeln, nm Ihm mit verherrlichtem Leibe entgegengerückt zu
werdest in die Luft und für allezeit bei Ihm zu sein. Der Herr
wartet ebenfalls auf diesen gesegneten Augenblick „unsrer
Versammlung zu Ihm," und wir warten mit Ihm.
Unterdes seufzt die ganze Schöpfung und liegt gleichsam
in Geburtswehen. „Nicht allein aber sie, sondern auch
wir selbst, die wir die Erstlinge des Geistes haben, auch
wir selbst seufzen in uns selbst, erwartend die Sohuschaft,
die Erlösung unsers Leibes. Denn in der Hoffnung sind
wir errettet worden. Hoffnung aber, die gesehen wird,
ist keine Hoffnung; dmn was einer sieht, was hofft er
cS auch? Wenn wir aber dashoffen, was wir nicht sehen,
so warten wir mit Ausharren." (Röm. 8, 22—25.)
In diesen Versen finden wir eine bestimmte Antwort
ans die Frage: „Warum seufzt der Gläubige?" Er seufzt
beschwert; er seufzt in Uebereinstimmung mit einer seuf­
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zenden Schöpfung, mit welcher er durch einen Leib der
Sünde und der Schwachheit verbunden ist. Er erblickt
Tag für Tag die traurigen Früchte der Sünde um sich
her. Er kann nicht einen Schritt gehen, ohne die mannigfaltigsten Beweise von dem traurigen, verderbten Zustande
des Menschen vor Augen zu haben. Hier klingt ein Notschrei an sein Ohr, dort erregt ein tiefer Schmerzensseufzer sein Mitgefühl. Er sieht Unterdrückung, Gewaltthat, Verderben, Streit, Hader, herzlose Selbstsucht, Lug
und Trug auf allen Seiten. Er sieht den Dorn, die 
Distel und das Unkraut. Er bemerkt die zerstörenden
Kräfte in der Natur sowohl, als auch in der moralischen und
politischen Welt. Der Schrei des Armen und Bedürftigen,
der Witwe und der Waise dringt schmerzlich in sein Ohr.
Und wie könnte er anders, als aus tiefstem Grunde seines
Herzens einen Seufzer des Mitgefühls emporzusenden und
mit Sehnsucht nach dem gesegneten Augenblick auszuschauen,
da „auch selbst die Kreatur freigemacht werden wird von
der Knechtschaft des Verderbnisses zu der Freiheit der
Herrlichkeit der Kinder Gottes?" Es ist unmöglich für
einen wahren Christen, durch eine Welt, wie die gegenwärtige, zu gehen, ohne zu seufzen. Werfen wir einen
Blick auf unsern gepriesenen Herrn selbst. Seufzte Er
nicht? Ja, in der That, Sein Herz war von unaufhörlichem Schmerz erfüllt angesichts des Elends, das die
Sünde in die Welt gebracht hat. Betrachten wir Ihn,
wie Er sich mit den zwei weinenden Schwestern dem Grabe
des Lazarus näherte. „Jesus nun, als Er sie weinen
sah und die Juden, die mit ihr gekommen waren,
seufzte tief im Geiste und erschütterte sich und sprach:
Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sagen zu Ihm: Herr,
14
komme und siehe! Jesus vergoß Thränen."
<Joh. 11, 33- 35.)
Was war die Ursache dieser Thränen und dieses
Seufzens? Näherte der Herr sich nicht dem Grabe Seines
Freundes als der Fürst des Lebens, als der Sieger über
Tod und Grab und als Der, welcher die Toten lebendig
macht? Warum seufzte Er denn? Er seufzte in tiefem
Mitgefühl mit den Gegenständen Seiner Liebe und mit
der ganzen Scene, die Ihn umgab. Seine Thränen und
Seufzer kamen hervor aus den Tiefen eines vollkommen
menschlichen Herzens, welches Gott gemäß den wahren
Zustand der menschlichen Familie und des Volkes Israel
insonderheit fühlte. Er erblickte um sich her die mannigfaltigen Früchte und Folgen der Sünde, und Er fühlte
dies in seiner ganzen Vollkommenheit. Er war ein Manu
der Schmerzen, mit Leiden bekannt. Ja, wir können
sagen, daß Er nie einen Menschen heilte, ohne die ganze
Schwere dessen, womit Er beschäftigt war, auf sich zu
nehmen. Er verscheuchte nicht leichthin Tod, Krankheit
und Schmerz. O nein; Er ging als Mensch in alle
diese Dinge ein, und zwar nach der unendlichen Vollkommenheit Seiner göttlichen Natur. Er nahm gleichsam
alles vor Gott auf sich. Obgleich Er für Seine eigene
Person von den schrecklichen Folgen der Sünde befreit
war — denn Er war rein und heilig — so trat Er
doch durch Sein vollkommenes Mitgefühl freiwillig in
dieselben ein, um so alles in einer Weise zu schmecken,
zu prüfen und kennen zu lernen, wie kein Anderer dies
vermochte. Wir finden den vollen Ausdruck hiervon in
dem achten Kapitel des Evangeliums Matthäus, wo wir
lesen: „Als es aber Abend geworden, brachten sie viele
15
Besessene zn Ihm; und Er trieb die Geister aus mit
einem Worte, und Er heilte alle Sieche, damit erfüllt
würde, das geredet ist durch Jesaias, den Propheten, der
da spricht: „Er selbst nahm uusre Schwachheiten
und trug unsre Krankheiten." (V. 16. 17.)
Wir denken oft wenig daran, was das Herz Jesu
fühlen mußte, während Er durch diese sündige Welt ging.
Wir sind geneigt, Seine Leiden auf das, was Er auf
dem Kreuze erduldete, zu beschränken und anzunehmen,
daß Er das, was ein menschliches Herz zu fühlen vermag,
nicht fühlen konnte, weil Er Gott über alles war, gepriesen
in Ewigkeit. Doch dies ist ein unberechenbarer Verlust.
Der Herr Jesus wurde, als der Anführer unsrer Errettung, durch Leiden vollkommen gemacht. Und jetzt
haben alle wahre Gläubige das unaussprechliche Vorrecht,
zu wissen, daß da Einer zur Rechten der Majestät in
der Höhe ist, der, während Seines Wandels durch diese
Welt der Sünde und des Wehs, jede Form von Leiden
erduldete und jeden Leidensbecher kostete, der mit einem
Worte alles litt, was ein menschliches Herz zu leiden
fähig ist. Er konnte sagen: „Der Hohn hat mein Herz
gebrochen, und ich bin ganz elend; und ich habe auf
Mitleid gewartet, aber da war keines, und auf Tröster,
aber ich habe sie nicht gefunden." (Ps. 69, 20.)
Wie ergreifend ist dies alles! Wie redet e? zu
unsern Herzen! Doch wir können hier diesen Gegenstand
nicht weiter verfolgen, Der einsichtsvolle Leser wird nach
dem Gesagten nicht mehr in Verlegenheit sein, welche Antwort
er auf die Frage: „Warum seufzt der Gläubige?" zu
geben hat. Das Seufzen eines Christen geht hervor aus
der göttlichen Natur, die ihm in Christo zuteil geworden 
16
ist, sowie aus der Thatsache, daß er ewiges Leben besitzt,
aus dem gesegneten Bewußtsein, daß er ein Haus hat,
das nicht mit Händen gemacht ist, ein ewiges, in den
Himmeln, sowie endlich aus seiner Verbindung mit einer
seufzenden Schöpfung und aus seinem Mitgefühl mit
derselben. Wenn noch irgend ein Beweis für die Richtigkeit dieser Antwort nötig wäre, so würde ec in dem
fünften und sechsten Verse unsers Kapitels gefunden
werden, wo der Apostel fortfährt zu sagen: „Der uns
aber eben hierzu bereitet hat, ist Gott, der uns auch das
Unterpfand des Geistes gegeben. So sind wir nun allezeit gutes Mutes" — wieweit ist das von allen
Zweifeln und Befürchtungen entfernt! — „und wissen,
daß, weil einheimisch in dem Leibe, wir von dem Herrn
ausheimisch sind; (denn wir wandeln durch Glauben, nicht
durch Schauen;) wir sind aber gutes Mutes und möchten
lieber ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem
Herrn sein." (L. 5 — 8.)
In diesen Worten begegnen wir zwei Hauptwahrheiteu des Christentums, die von unberechenbarer Wichtigkeit sind. Zunächst: Der Gläubige ist das Werk Gottes,
und dann: Gott hat ihm das Unterpfand des Geistes gegeben. Wunderbare, herrliche Thatsache! Ein jeder, der
von Herzen an den Herrn Jesus Christus glaubt, ist das
Werk Gottes. Gott hat ihn in Christo Jesu um geschaffen. Deshalb kann cs unmöglich eine Ursache geben,
seine Annahme bei Gott zu bezweifeln, da Gott Sein
eigenes Werk nie in Frage stellen kann. Er wird und
kann dies ebensowenig in Seiner neuen Schöpfung thun,
wie Er es in der alten gethan hat. Wenn Gott Sein
Werk in den Tagen der Schöpfung ansah, so geschah es
17
nicht, um es zu beurteilen oder seine Güte in Zweifel zu
ziehen, sondern um es für „sehr gut" zu erklären. Und
ebenso sieht Gott heute, wenn Er ans den schwächsten
Gläubigen hinblickt, in demselben Sein eignes Werk, und
wie könnte Er diesem Werke jemals Seine Anerkennung
versagen? Gottes Werk ist vollkommen, und der Gläubige
ist das Werk Gottes, und weil er das ist, so hat ihn
Gott mit dem Heiligen Geiste versiegelt.
Wir finden dieselbe Wahrheit in dem zweiten Kapitel des Epheserbriefes, wo wir lesen: „Denn wir sind
Sein Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken,
welche Gott zuvor bereitet hat, auf daß wir darinnen
wandeln sollen." (V. 10.) Diese Worte zeigen uns, was
das Christentum thatsächlich ist. Es besteht uicht darin,
daß ein verderbter, verlorener und schuldiger Sünder sich
bemüht, etwas aus sich zu machen, was für Gott passend
wäre. Es ist vielmehr das gerade Gegenteil. ES ist
Gott, der in dem Reichtum Seiner Gnade, auf Grund
des Versöhnungstodes Christi, ein armes, wertloses, dem
Gericht verfallenes Wesen — einen schuldigen, verdammungswürdigen Sünder — nimmt und ihn in Christo Jesu zu
einer ganz neuen Schöpfung macht. Gott beginnt gleichsam von vorne, von neuern, bildet einen Menschen in
Christo und stellt ihn auf einen völlig neuen Boden, nicht
mehr als ein unschuldiges Wesen, wie einst Adam vor
dem Sündenfall war, sondern als einen gerechtfertigten
Menschen in einem auferstandenen Christus. Es ist nicht
eine durch irgend welche menschliche Anstrengungen hervorgebrachte Verbesserung des alten Zustandes, sondern ein
neues Werk Gottes in einem auferstandenen, erhöhten und
verherrlichten Christus. Es ist nicht das alte Kleid, das
18
durch menschliche Kunst in irgend eine andere Gestalt oder
Form gebracht worden ist, sondern das neue Kleid, welches
Gott selbst in Christo Jesu bereitet hat, der in den Staub
des Todes Hinabstieg, den gerechten Zorn Gottes wider
die Sünde auf sich nahm und, durch die Herrlichkeit des VaterS
aus den Toten auferweckt, das Haupt der neuen Schöpfung,
„der Anfang der Schöpfung Gottes," geworden ist.
Wenn aber Christus der Anfang der Schöpfung
Gottes ist, so ist es klar, daß, wenn wir nicht von vorne,
von Anfang, beginnen, all unser Mühen umsonst ist. Wir
mögen bis zum Aeußersten gehen, wir mögen Gelübde
thun und gute Vorsätze fassen, wir mögen unsern Zustand zu verbessern, unsern Wandel zu verändern und mit
aller Aufrichtigkeit ein neues Leben zu beginnen suchen —
aber trotz alledem sind und bleiben wir in der alten
Schöpfung, welche unter dem Gericht und unter dem Fluche
liegt. Wir haben nicht mit „dem Anfang" der neuen
Schöpfung Gottes begonnen, und deshalb sind wir keinen
Schritt vorwärts gekommen. Wir suchen ein Ding zu
verbessern, welches Gott beiseite gesetzt und verurteilt hat.
Wir gleichen, um ein schwaches Bild zu gebrauchen, einem
Manne, der seine Zeit, sein Geld und seine Kräfte dazu
benutzt, ein Haus zu bemalen und zu tapeziren, dessen
Abbruch wegen seiner durchaus schlechten Fundamente von
der Obrigkeit angeordnet ist.
Was würden wir von einem solchen Manne sagen?
Würden wir ihn nicht für einen Narren erklären? Ohne
Zweifel. Aber wenn es Thorheit ist, ein dem Abbruch
übergebenes Hans äußerlich verschönern zu wollen, was
sollen wir dann von solchen halten, die eine verderbte, dem
Gericht verfallene Natur, eine verurteilte Welt zu ver­
19
bessern suchen? Solche verfolgen, um das Geringste zu sagen,
einen Weg, der früher oder später in Enttäuschung und hoffnungsloser Verwirrung enden muß. Ach! wenn dies doch mehr
verstanden und beherzigt würde! Zahllose Scharen in dem
weiten Bereich der Christenheit sind heute mit der fruchtlosen
Arbeit beschäftigt, ein dem Gericht verfallenes Haus zu
bemalen und zu tapeziren — ein Haus, über welches
Gott wegen des hoffnungslos verderbten Zustandes seiner
Fundamente Sein Gericht ausgesprochen hat. Manche
thun es mit großer Aufrichtigkeit und dann unter tiefen
Seelenübungen und mit vielen Thränen, da sie erfahren
müssen, daß trotz aller Anstrengungen ihre Herzen nicht
befriedigt und noch weniger die gerechten Forderungen
Gottes erfüllt werden. Denn Gott muß eine vollkommene
Sache haben; Er kann nicht mit einer notdürftig ausgebesserten Ruine zufrieden sein. Er kann sich nicht mit
einem blos oberflächlichen Werke, mit einer hübschen Außenseite begnügen: das ganze Haus muß von Grund aus
neu aufgeführt werden.
Mein Leser, stehe hier einen Augenblick stille und
lege dir mit Aufrichtigkeit die Frage vor: „Suche ich eine
verfallene Ruine zu verschönern? Suche ich die alte Natur
zu verbessern? Oder habe ich wirklich meinen Platz in der
neuen Schöpfung Gottes gefunden, von welcher ein auferstandener Christus Haupt und Anfang ist?" O, bedenke
doch, daß nichts fruchtloser und vergeblicher sein kann,
als der Versuch, dich zu bessern. Deine Anstrengungen
mögen aufrichtig gemeint sein, aber sie werden sich über
kurz oder lang als völlig wertlos erweisen. Du wirst nie
von deiner unerneuerten Natur sagen können, daß sie „das
Werk Gottes" ist. Deine Anstrengungen, die Gebote
20
«Lottes zu halte», deine guten Werke, deine religiösen
Uebungen, kurz alles, was du thun kannst, kann nie „das
Werk Gottes" genannt werden. Es ist dein, aber nicht
Gottes Werk; und deshalb kann Er es nicht anerkennen,
oder durch Seinen Geist versiegeln. Es taugt zu gar
nichts. Wenn du nicht sagen kannst: „Der uns aber 
hierzu bereitet hat, ist Gott," so besitzest du in Wahrheit nichts. Du bist noch in deinen Sünden. Du bist
noch „im Fleische," und das Wort Gottes erklärt: „Die
aber, welche im Fleische sind, können Gott nicht
gefallen." (Röm. 8, 8.)
Das ist ein ernster und entscheidender Ausspruch.
Ein Mensch außer Christo ist „im Fleische;" und ein
solcher kann Gott nicht gefallen. So weit ein Mensch es
auch bringen mag in alledem, was in den Augen der
Menschen schön und liebenswürdig ist, so ist er dennoch,
wenn er nicht „in Christo" ist, noch in seinen Sünden,
in dem Fleische, in der alten Schöpfung. Beachten wir
wohl, daß hier nicht die Rede ist von groben Sünden,
von einem schändlichen Leben oder von unsittlichen Dingen,
sondern es heißt einsach: „Die aber, welche im Fleische
sind, können Gott nicht gefallen." Zur Erklärung des
Ausdrucks: „im Fleische" bemerken wir, daß die Schrift
von zwei Menschen redet; von dem „ersten" und von
dem „zweiten Menschen," oder von dem „ersten" und dem
„letzten Adam." Diese beiden Menschen werden als die
Häupter zweier Klassen oder Geschlechter dargestellt. Der
gefallene Adam ist das Haupt des ersten, der auferstandene Christus das Haupt des zweiten Geschlechts.
Die bloße Thatsache, daß es einen „zweiten Menschen"
giebt, beweist schon, daß der erste beiseite gesetzt worden
21
ist; denn wenn sich der erste als fehlerlos erwiesen hätte,
so wäre kein Raum gesucht worden für einen zweiten. Dies
ist klar und unbestreitbar. Der erste Mensch ist nichts
als eine unverbesserliche Ruine. Die Grundlagen des alten
-Gebäudes sind gewichen, und wenn auch in den Augen
der Menschen das Gebäude noch zu stehen und einer Wiederherstellung fähig zu sein scheint, so ist ?s doch in den
Augen Gottes völlig beiseite gesetzt, und ein zweiter Mensch,
ein neues Gebäude, aufgerichtet worden, und zwar auf
dem unerschütterlichen Boden einer vollbrachten Erlösung.
Daher lesen wir in dem 3. Kapitel des 1. Buches Mose,
daß Gott „den Menschen aus trieb; und Er ließ
wohnen gegen Osten vom Garten Edens die Cherubim
und die Flamme des zuckenden Schwertes, zu bewahren
den Weg zum Baume des Lebens." (V. 24.) Mit andern
Worten: Der erste Mensch wurde aus der Gegenwart
Gottes vertrieben, und jede Möglichkeit der Rückkehr zum
Baume des Lebens wurde ihm, als solchem, abgeschnitten. Er konnte nur auf einem „neuen und lebendigen
Wege" in die Gegenwart Gottes znrückkehren. Die einzige
Hoffnung, die ihm blieb, gründete sich aus „den Samen
des Weibes" — „den zweiten Menschen." Und so wie
der erste Adam, das Haupt des gefallenen Menschengeschlechts, ausgetrieben wurde, so ist jeder, der von ihm
abstammt, von Natur fern von Gott, ein verlorner, verdammungswürdiger Sünder. Er ist ein Glied des ersten
Adam, ein Teil des gefallenen, sündigen Geschlechts, ein
Stein in dem alten, gerichteten Hause.
Das Haupt und sein Geschlecht gehören zusammen.
Was von dem einen wahr ist, ist auch von dem andern
wahr. Sie sind in den Augen Gottes völlig eins. War
22
der erste Adam ein gefallenes, sündiges, aus der Gegenwart Gottes vertriebenes Geschöpf, so sind es auch alle,
die von ihm abstammen. Wie das Haupt, so sind die
Glieder — ein jedes Glied insonderheit und alle Glieder
zusammen. Und so wie dem Haupte jede Möglichkeit
zur Rückkehr abgeschnitten wurde, so ist es auch für ein
jedes Glied unmöglich, zu dem Baume des Lebens zurückzukehren. „Die, welche im Fleische sind," d. h. alle,
die zu der alten Schöpfung gehören, alle, welche Glieder
des ersten Adam und Teile an dem alten, verfallenen
Gebäude sind, „können Gott nicht gefallen." Sie müssen
„von neuem geboren" werden. Der Mensch muß in den
tiefsten Quellen seines Seins, von Grund aus, erneuert
werden. Er muß das Werk Gottes sein, „geschaffen in
Christo Jesu zu guten Werken, welche Gott zuvorbereitet
hat, auf daß wir darinnen wandeln sollen." Er muß mit
dem Apostel sagen können: „Der uns aber eben hierzu
bereitet hat, ist Gott."
Doch dies führt uns zu der Frage: Wie kann ein 
Mensch in diese gesegnete, neue Stellung gelangen? Wie
kann ein Mensch, dessen Augen über sein völlig hoffnungsloses Verderben geöffnet worden sind, jemals einen Platz
erreichen, auf welchem er Gott gefallen kann? Der Herr
sei gepriesen! Die Schrift giebt uns eine klare und bestimmte Antwort. Ein zweiter Mensch ist auf dem Schauplatz erschienen, der Same des Weibes, und zu gleicher
Zeit Gott über alles, gepriesen in Ewigkeit. In Ihm
ward ein völlig neuer Anfang gemacht. Er kam in diese
Welt, geboren von einem Weibe, geboren unter Gesetz,
rein und ohne Fehl, frei von jedem Flecken von Sünde,
den Folgen der Sünde nicht unterworfen; Er stand da
23
inmitten einer verderbten Welt und eines sündigen Menschengeschlechts als das reine, fleckenlose Weizenkorn. Wir
sehen Ihn als einen hülfloses Kind in der Krippe liegen,
unter der Leitung Seiner Eltern zu einem Jüngling
heranwachsen, als ein Mann in dem Handwerk Seines
Vaters thätig; wir sehen Ihn in die Wasser des Jordans
hinabsteigen, um von Johannes getauft zu werden —
Er selbst völlig ohne Sünde, aber alle Gerechtigkeit erfüllend, indem Er sich mit dem Ueberrest aus Israel
eins machte. Wir sehen Ihn gesalbt mit dem Heiligen
Geiste, um Sein Werk zu vollbringen; wir sehen Ihn
hungernd und dürstend in der Wüste, im völligen Gegensatz zu dem ersten Adam, der in ein Paradies gestellt wurde.
Wir sehen Ihn von Satan versucht, aber als Sieger
aus dem Kampfe hervorgehend; wir sehen Ihn auf dem
Pfade Seines öffentlichen Dienstes, unermüdlich thätig,
wachend und betend, hungernd und dürstend, weinend mit
den Weinenden und sich freuend mit den sich Freuenden.
Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des Himmels
Nester, aber der Sohn des Menschen hatte nicht, wo Er
Sein Haupt hinlegen sollte.
Das war das wunderbare Leben unsers gepriesenen
Herrn. Aber Er lebte nicht nur hienieden, sondern Er
ging auch freiwillig in den Tod, Er starb unter dem
Gewicht der Schuld des ersten Menschen. Er starb, um
die Sünde der Welt wegzunehmen und dus Verhältnis
Gottes zu der Welt völlig zu verändern, so daß Gott
jetzt mit der Welt und dem Menschen handeln kann auf
dem neuen Boden der Erlösung, statt auf dem alten der
Sünde. Er starb, der Gerechte für die Ungerechten. Er
litt um der Sünde willen. Er starb und ward begraben.
24
nach den Schriften. Er stieg hinab in den Staub des
Todes, in die unteren Oerter der Erde. Er erduldete
das Gericht, welches über den Menschen ausgesprochen
war. Er räumte alles hinweg, waS zwischen Gott und
dem Menschen stand und die Liebe Gottes auszuströmen
hinderte, und nachdem Er alles vollbracht halte,
übergab Er Seinen Geist in die Hände Seines Vaters,
und Sein gesegneter Leib ward in ein Grab gelegt, über
welches sich noch nie der Geruch des Todes verbreitet hatte.
Aber ist Er im Grabe geblieben? Nein, Er ist auferweckt worden durch die Herrlichkeit des Vaters. Triumphirend über alles, ging Er aus dem Grabe hervor. Er, das
Haupt der neuen Schöpfung, der Anfang der Schöpfung
Gottes, stand als der Erstgeborne aus den Toten, der
Erstgeborne vieler Brüder, wieder auf. Und jetzt ist der
zweite Mensch vor Gott, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.
Er befindet sich nicht in einem irdischen Paradiese, sondern
zur Rechten der Majestät in der Höhe. Dieser zweite
Mensch ist der letzte Adam, denn keiner ist, der nach
Ihm kommen könnte. Der erste ist beiseite gesetzt, der
letzte ist aufgestellt. Und so wie der erste das gefallene
Haupt eines gefallenen Geschlechts war, so ist der zweite
das auferstandene, verherrlichte Haupt eines erretteten,
gerechtfertigten und für ewig erneuerten Geschlechts.
Auch hier siud Haupt und Glieder unzertrennlich mit
einander verbunden, völlig mit einander eins. Da ist
kein Unterschied. „Wie Er ist, so sind anch wir
in dieser W elt." (1. Joh. 4, 17.) Gott betrachtet
die Glieder nicht anders als das Haupt, Er liebt sie,
wie Er Ihn liebt. Und diese Glieder sind Gottes Werk,
durch Seinen Geist dem Leibe Christi eingefügt; ihr Platz,
25
ihre Stellung ist „in Christo." Sie sind nicht mehr „inr
Fleische," sondern „im Geiste." Sie können Gott gefallen, weil sie Seine Natur besitzen, durch Seinen Geist
versiegelt sind und durch Sein Wort geleitet werden.
Der sie hierzu bereitet hat, ist Gott, und Gott
wird an Seinem eignen Werke stets Wohlgefallen finden.
Er wird nimmermehr das Werk Seiner Hand für unvollkommen erklären oder gar verdammen können. Sein Werk
ist vollkommen, und deshalb muß der Gläubige, als das
Werk Gottes, vollkommen sein. Er ist „in Christo," und
das ist genug — genug für Gott, genug für den Glauben,
genug in alle Ewigkeit.
Und wenn jetzt gefragt wird: „Wie kann dies alles
erlangt werden?" so antwortet die Schrift in ihrer Einfachheit und Klarheit: „Durch den Glauben."
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört
und glaubt Dem, der mich gesandt hat, hat ewiges
Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus
dem Tode in das Leben hinübergegangen." (Joh. 5, 24.)
(Fortsetzung folgt)

Selbstverleugnung.
Der Pfad eines wahren Christen ist ein Pfad der
Selbstverleugnung, nach dem Worte des Herrn: „Wenn
jemand mir nachkommen will, der verleugne sich selbst und
nehme sein Kreuz auf täglich und folge mir nach."
(Luk. 9, 23.) Beachten wir wohl, daß es nicht heißt:
„Der verleugne gewisse Dinge, die ihm angehören, oder 
gewisse Gewohnheiten, die ihm ankleben." Nein, wer
Jesu Nachfolgen will, der muß „sich selbst" verleugnen,
und zwar Tag für Tag. Jeden Morgen, wenn wir
26
Ans erheben und in die Beschäftigungen des täglichen
Lebens eintreten, haben wir dasselbe große und wichtige
Werk vor uns, uns selbst zu verleugnen.
Unser eignes, hassenswürdiges „Selbst" wird uns
«ns Schritt und Tritt begegnen; denn obwohl wir durch
die Gnade Gottes wissen, daß „unser alter Mensch mitgekreuzigt," daß er mit Christo gestorben und begraben
ist und vor den Augen Gottes nicht mehr existirt, so ist
dies doch nur wahr im Blick auf unsre Stellung in Christo
nach den Gedanken Gottes über uns. Wir wissen und
erfahren es täglich, daß unser eignes Ich verleugnet,
gerichtet und in Unterwürfigkeit gehalten werden muß.
Die Stellung, in welcher wir uns befinden, ist etwas
anders, als unsere praktische Verwirklichung
derselben. Gott sieht uns vollendet in Christo; wir sind
nicht mehr im Fleische, aber das Fleisch ist in uns, und
dasselbe muß durch die Macht des Heiligen Geistes niedergehalten werden. Und dies ist nicht nur wahr in bezug
auf die häßlichen Gewohnheiten und groben Ausschreitungen
desselben, sondern auch hinsichtlich seiner feineren und
scheinbar schönen Offenbarungen. Hieran denken wir oft
wenig und machen es wie Saul, nachdem er die Amalekiter
geschlagen hatte: wir verschonen das, was wir für „das
Beste" halten, und bringen die Schärfe des Schwertes
nur über „das Schwache und Verächtliche." (Vergl.
1. Sam. 15, 1 — 9.) Doch das wird nimmermehr genügen.
Das ganze „Ich," das eigene „Selbst" muß verleugnet werden — nicht nur einzelne Zweige, sondern
der ganze Stamm, nicht nur einige Auswüchse der Natur,
sondern die Natur selbst. Es ist verhältnismäßig leicht,
gewisse Dinge, die dieser alten Natur angehören, zu ver­
27
leugnen, während man zu derselben Zeit das eigene Ich
nährt und Pflegt. Es kann sein, daß ich mir viele Genüsse versage, nur um meine Geldliebe zu befriedigen.
Es ist möglich, daß ich mich sehr einfach kleide, während
ich in andern Dingen ganz verschwenderisch zu Werke gehe.
Das eigne Ich macht sich überall bemerkbar: im
Kämmerlein, in der Familie, auf der Straße, im Geschäft,
kurz zu allen Zeiten und unter allen Umständen. Es hat
seine besonderen Geschmacksrichtungen und Gewohnheiten,
seine Vorurteile und Voreingenommenheiten, seine Zuneigungen und Abneigungen. In allen diesen Dingen mutz
es verleugnet werden. In religiöser Beziehung z. B.
lieben wir solche, die mit uns übereinstimmen, unsre
Meinungen anerkennen oder unsre Erkenntnis bewundern.
Wir haben solche gern, die äußerlich angenehm und liebenswürdig sind. Alles das muß mit schonungsloser Energie
gerichtet werden, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen,
vielleicht einen treuen und ehrenwerten Christen gering zu
achten, einfach weil uns etwas an ihm nicht gefällt, oder
andrerseits einen gleichgültigen, wenig gediegenen Charakter
hoch zu schätzen, weil seine Person, sein Benehmen uns
zusagt und er unsrer Eigenliebe zu schmeicheln versteht.
Wie völlig verwerflich das ist, brauchen wir nicht zu 
sagen.
Wenn der Leserdas 8.—10. Kapitel des 1.Korintherbriefes mit Aufmerksamkeit studiren will, so wird er darin
eine höchst kostbare Unterweisung über den Gegenstand
finden, der uns gerade beschäftigt. Während der Apostel
keinen Zoll breit von der Wahrheit abwich, ging er in
der Verleugnung seines eignen Ichs bis zur äußersten
Grenze. Und so sollte es stets bei dem Christen sein.
28
Handelt es sich um die Wahrheit, so darf ich nichts
aufgeben, handelt es sich um mich, alles. „Wenn
«ine Speise meinem Bruder Aergernis giebt, so will ich
für immer kein Fleisch essen, damit ich meinem Bruder
kein Aergernis gebe." (Kap. 8, 13.) Welch ein edler Entschluß! Welch eine Bereitwilligkeit, um Andrer willen
alles anfzugeben! Möchte sich dieselbe Gesinnung bei
uns finden!
Im nächsten Kapitel lesen wir: „Wiewohl ich von
allen frei bin, so habe ich mich allen zum Sklaven
gemacht, auf daß ich so viele als möglich gewinne . . . .
Ich bin allen alles geworden, auf daß ich auf alle Weise
erliche errette." (V. 19—22.) War Selbstverschonung
der Zweck des Apostels, wenn er „allen alles" wurde?
O nein; er verschonte nie sich selbst, noch gab er ein
Iota von der Wahrheit Gottes auf, wie manche im Blick
auf diese Stelle gemeint haben, sondern in wahrer Verleugnung seiner selbst machte er sich zu einem Knechte
aller, zu ihrem Wohle und zur Verherrlichung Gottes.
Welch ein schönes Vorbild! Der Herr gebe uns Gnade,
ihm nachzuahmen! Wir sind nicht nur berufen, unsre
menschlichen Vorurteile, unsre Zuneigungen oder Abneigungen auszugeben, sondern auch unsre persönlichen
Rechte dem Besten Andrer zum Opfer zu bringen. Das
ist das tägliche Geschäft des Christen, und je mehr und
je fleißiger er dasselbe vollführt, desto mehr wandelt er
in den Fnßstapfen Christi, der sich all Seiner Herrlichkeit
entäußerte, um uns, Seine Feinde, zu gewinnen.
Der Dienst der Versöhnung.
(2. Kor. 5, 18—21.)
(Fortsetzung.)
3.
Der Leser, welcher uns mit Aufmerksamkeit durch
den ersten Teil unsers Kapitels gefolgt ist, wird etwas
von dem Ernst und der Wichtigkeit des Gegenstandes verstehen, welcher jetzt vor uns liegt; dieser Gegenstand ist
der Richterstuhl Christi. Wenn es wirklich wahr ist, daß 
der Gläubige das Werk Gottes und ein Glied Christi ist,
daß er unauflöslich mit dem letzten Adam, dem auferstandeneu und verherrlichten Menschen Christus Jesus,
verbunden ist — und Gott erklärt uns in Seinem Worte,
daß es so ist — dann muß es einem jeden einsichtsvollen Leser einleuchtend sein, daß der Richterstuhl Christi
unmöglich die Stellung des Christen antasten, noch sich
ihm in irgend einer Weise unfreundlich erzeigen kann.
Ohne Zweifel ist es eine höchst ernste und feierliche Sache, 
in dem Lichte dieses Richterstuhls offenbar zu werden,
eine Sache, die von den wichtigsten Folgen für jeden
Diener Christi begleitet und dazu angethan und bestimmt
ist, einen heilsamen Einfluß auf jeden Menschen auszuüben. Aber sie wird dies nur in dem Verhältnis thun,
als sie von dem richtigen Gesichtspunkte aus betrachtet
wird. Unmöglich kann z. B. jemand die göttliche Segnung,
welche mit der Betrachtung des Richterstuhls verbunden
ist, empfangen, der ihn für den Ort hält, an welchem
dereinst die große Frage seiner Errettung in Ordnung
30
gebracht werden wird. Und doch wie viele Christen betrachten ihn von diesem Gesichtspunkte aus! Wie viele
wahre Kinder Gottes giebt es, die — unbekannt mit der
Wahrheit, welche in den Worten: „Der uns aber eben
hierzu bereitet hat, ist Gott," eingeschlossen ist — den
Richterstuhl Christi als etwas betrachten, das sie schließlich
noch verurteilen und verdammen kann.
Das ist tief zu beklagen, da es sowohl den Herrn
verunehrt, als auch den Frieden und die Freimütigkeit
der Seele gänzlich zerstört. Denn wie könnte jemand
wahren Frieden genießen, so lange es noch eine einzige
Frage für ihn zu entscheiden giebt? Der Friede des
Gläubigen beruht ja gerade auf der Thatsache, daß jede
Frage in göttlicher Weise und für ewig geordnet ist.
Der Herr Jesus sagt im Blick auf diesen wichtigen Gegenstand: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort
hört und glaubt Dem, der mich gesandt hat, h a t ewiges
Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern
er ist aus dem Tode in das Leben hinübergegangen."
(Joh. 5, 24.) Und diese Worte stehen in unmittelbarer
Verbindung mit den vorhergehenden: „Der Vater richtet
niemanden, sondern das ganze Gericht hat Er dem Sohne
gegeben;" und mit den folgenden: „Denn gleichwie der
Vater Leben hat in sich selbst, also hat Er auch dem
Sohne gegeben, Leben zu haben in sich selbst; und Er
hat Ihm Gewalt gegeben, auch Gericht zu halten, wei
Er des Menschen Sohn ist." Der Eine also, dem alles
Gericht übergeben ist, der allein Gewalt hat, Gericht
anszuüben, versichert unZ, daß ein jeder, der Sein Wort
hört und an Den glaubt, der Ihn gesandt hat, nie ins
Gericht kommen wird.
31
Dies muß das Herz völlig beruhigen. Es muß
jede Wolke entfernen und jeden Zweifel verbannen. Wenn
Er, dem alle Gewalt zur Ausübung des Gerichts übergeben ist, mir versichert, daß ich nie ins Gericht kommen
werde, so bin ich vollkommen befriedigt. Ich glaube
Seinem Worte und ruhe in der seligen Gewißheit, daß
der Richterstuhl Christi, was er auch Andern gegenüber
sein mag, sich gegen mich niemals unfreundlich erzeigen
kann. Ich weiß, daß das Wort des Herrn in Ewigkeit
fest steht, und dieses Wort sagt mir, daß ich für ewig
allem Gericht entronnen bin.
Doch vielleicht möchte es der eine oder andere Leser
schwierig finden, diese völlige Befreiung von allem Gericht
mit den Worten des Herrn in Einklang zu bringen: „Ich
sage euch aber, daß von jedem unnützen Worte, das irgend
die Menschen reden werden, sie von demselben Rechenschaft
geben werden am Tage des Gerichts." (Matth. 12, 36.)
Indes ist thatsächlich keine Schwierigkeit vorhanden. Wenn
ein Mensch überhaupt dem Gericht begegnen muß, so ist
es offenbar, daß er auch von jedem unnützen Worte Rechenschaft zu geben hat. Wie ernst ist der Gedanke! Es
ist unmöglich, diesem allumfassenden, Herz und Nieren
erforschenden Gericht zu entrinnen. Es würde eine Unehre
für den Richterstuhl sein, wenn ein einziges unnützes Wort
der Beachtung des Richters entgehen würde; ja, die Annahme, daß ein einziger Flecken dem durchdringenden Blick
des Sohnes Gottes verborgen bleiben könnte, wäre geradezu
eine Lästerung Seines heiligen Namens. Das Gericht muß
für einen jeden, den es trifft, ein vollkommenes sein.
Wir möchten diese ernste Thatsache der eingehenden
Beachtung eines jeden unbekehrten Lesers dieser Zeilen
32
empfehlen. Ein Tag nähert sich mit raschen Schritten,
an welchem jedes unnütze Wort, jeder thörichte Gedanke
und jede sündige That ans Licht gebracht werden wird.
Wenn Christus als Richter vor unsre Blicke gestellt wird,
so begegnen wir Augen „gleich einer Feuerflamme" und
Füßen „gleich glänzendem Kupfer, als glühten sie im
Ofen." (Offbg. 1, 14, 15.) Nichts wird diesen Augen
entgehen, nichts vor der Gewalt dieser Füße bestehen
können. Er wird alle Seine Feinde zertreten, wie Töpfergefäß sie zerschmettern. Vor dem „großen weißen Thron"
wird es keine Gnade mehr geben; nichts als ein ernstes,
schonungsloses Gericht wird alle treffen, die vor diesem
Throne stehen müssen. „Und ich sah die Toten, Kleine
und Große, vor dem Throne stehen, und Bücher wurden aufgethan; und ein anderes Buch ward aufgethan,
welches das des Lebens ist. Und die Toten wurden gerichtet aus dem, was in den Büchern geschrieben war,
nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten,
die in ihm waren, und der Tod und der Hades gaben
die Toten, die in ihnen waren; und sie wurden gerichtet,
ein jeder nach seinen Werken. Und der Tod
nnd der Hades wurden geworfen in den Feuersee. Dies
ist der zweite Tod, der Feuersee. Und wenn jemand nicht
geschrieben gefunden ward in dem Buche des Lebens, so
ward er geworfen in den Feuersee." (Offbg. 20, l2—15.)
Beachten wir hier den Unterschied zwischen „den
Büchern" und „dem Buche des Lebens." In dem ganzen
Abschnitt wird uns das Gericht der „Toten" vorgestellt,
d. h. aller derer, die in ihren Sünden gestorben sind.
(Alle, die im Glauben sterben, gehören der ersten
Auferstehung, der Auferstehung des Lebens, an und wer­
33
den nicht gerichtet.) „Das Buch des Lebens" wird geöffnet, doch für alle diejenigen, deren Namen durch die
Hand der erlösenden Liebe in dasselbe eingetragen sind,
giebt es kein Gericht. „Die Bücher" werden aufgethan,
jene schrecklichen Verzeichnisse der Sünden eines jeden
Menschen, ob jung oder alt, von Anbeginn bis zum
Ende der Zeitalter. Keiner wird sich in der großen
Menge verlieren und dem Gericht entgehen können. Ein
jeder wird persönlich vor dem Richterstuhl stehen müssen
und gerichtet werden nach seinen Werken. In jenem 
feierlichen Augenblick wird der Blick eines jeden auf sich
selbst und auf seine Vergangenheit gelenkt werden; alles
wird in dem Lichte des großen weißen Thrones blos und
aufgedeckt sein.
Der Unläubige und Zweifler mag mancherlei Bedenken hiergegen erheben und allerlei Einwendungen machen.
Er mag fragen: Wie ist das alles möglich? Wie können
die Gestorbenen, deren Leiber seit Jahrtausenden zu Staub
zerfallen und wieder zur Erde geworden sind, wieder auserweckt werden? Wie kann diese ungeheure Zahl vor dem
Richterstuhl Gottes stehen? u. s. w. Doch die Antwort
des Glaubens ist sehr einfach. Allen diesen „Wie" und
„Aber" des Unglaubens stellt er das einzige Wort:
„Gott" entgegen. Der Gott, der jene Menschen erschaffen hat, wird sie auch wieder ins Dasein rufen können,
und Er wird für sie sowohl einen Platz vor dem Richterstuhl, als auch eine Stätte ewiger Qual bereiten. Gott
hat „einen Tag gesetzt, an welchem Er den Erdkreis richten
wird in Gerechtigkeit durch den Mann, den Er bestimmt
hat, und hat allen den Beweis davon gegeben, da Er
Ihn aus den Toten auferweckt hat." (Apstgsch. 17, 31.)
34
Wahrlich, ein erschreckender Gedanke für einen jeden, der
noch ans dem breiten Wege der Sünde dahingeht!
Vergessen wir auch nicht, daß ein jeder nach seinen
Werken gerichtet werden wird. Ein jeder hat seine eigenen Sünden begangen, und für diese wird er gerichtet und
mit ewiger Strafe belegt werden. Wir wissen wohl, daß
die Meinung sehr verbreitet ist, der Mensch gehe nur verloren
wegen seines Unglaubens. Doch das ist ein verhängnisvoller Irrtum. Die Schrift lehrt gerade das Gegenteil.
Sie erklärt einfach und bestimmt, daß der Mensch nach
seinen Werken gerichtet werden wird. WaS bedeuten
sonst die „vielen" und die „wenigen" Schläge in
Luk. 12? Was das Wort.' „Dem Sodomer Lande wird
es erträglicher ergehen am Tage des Gerichts, als
dir," in Matth. 11, 24? Belehren uns diese Aussprüche
des Herrn nicht deutlich, daß es einen Unterschied in der
Schwere des Gerichts und der Strafe geben wird? Und
sagt uns nicht der Apostel Paulus in Eph. 4 und Kol. 3
ganz bestimmt, daß der Zorn Gottes über die Söhne des
Ungehorsams kommt um gewisser Sünden willen,
vor welchen er die Gläubigen ernstlich warnt?
Wohl ist es wahr, daß die Verwerfung des Evangeliums den Menschen auf dem Boden des Gerichts stehen
läßt, gerade so wie der Gläubige durch die Annahme desselben von diesem Boden für immer entfernt wird. Aber
das Gericht wird in jedem Falle nach den Werken eines
Menschen sein. Wird Wohl ein armer Wilder, der inmitten der finstern Schatten des Heidentums gelebt hat
und gestorben ist, in demselben „Buche" gefunden, oder 
mit derselben Strenge bestraft werden, wie ein Mensch, der
seine Tage inmitten der Christenheit zugebracht und unter
35
dem Lichte des Evangeliums gestanden hat? Sicherlich
nicht. Beide, der Heide wie der getaufte Sünder, werden
gerichtet werden nach ihren Werken, aber ohne alle Frage
wird es dem einen weit erträglicher ergehen, als dem
andern. Gott weiß, wie er einen jeden zu behandeln hat,
und Er wird es thun nach den Grundsätzen Seiner vollkommenen Gerechtigkeit. Er erklärt uns in Seinem Worte,
daß Er einen Unterschied machen und einem jeden nach
seinen Werken geben wird.
Denke hierüber mit allem Ernst nach, mein lieber Leser.
Wenn du noch unbekehrt bist, so thue es um deiner selbst
willen; bist du bekehrt, um Andrer willen, wie der Apostel
sagt: „DaS Schrecken des Herrn kennend, überreden wir
die Menschen." Es ist unmöglich, an die Thatsache zu
denken, daß ein schreckliches Gericht herannaht, ohne sich
angespornt zu fühlen, Andere vor demselben zu warnen;
und es ist von der allerhöchsten Wichtigkeit, die Menschen
auf den Richterstuhl Christi hinzuweisen, damit ihre Gewissen aufwachen und sie den Ernst der Thatsache fühlen,
daß sie es mit Gott als einem gerechten Richter zu thun
haben werden, wenn sie die Zeit der Gnade versäumen.
Jetzt noch offenbart sich Gott in dem Evangelium als ein
Rechtfertiger, ja, als ein Rechtfertiger des gottlosesten
Sünders, wenn er an Jesum gläubig wird. Dieser Umstand
giebt den Dingen ein ganz anderes Aussehen für einen
jeden, der des Glaubens an Jesum ist. Nicht daß der
Gedanke an den Richterstuhl das Geringste von seinem
Ernst cinbüßte — er behält stets seine ganze Wichtigkeit
und ernste Bedeutung — aber der Gläubige betrachtet
ihn von einem ganz neuen Gesichtspunkte aus. Anstatt
als ein schuldiges Glied des ersten Adam an den Richter­
36
ftuhl zu denken, blickt er jetzt auf ihn als ein gerechtfertigtes und gereinigtes Glied des zweiten. Anstatt seinen
Blick auf ihn zu richten, als auf den Platz, wo die Frage
seiner ewigen Errettung oder Verdammnis entschieden
werden muß, betrachtet er ihn als ein Mensch, der da
weiß, daß er Gottes Werk ist, und daß er nie ins Gericht kommen kann, da er von dem Boden der Schuld, des
Todes und des Gerichts für immer hinweggenommen und
durch den Tod und die Auferstehung Christi auf einen
völlig neuen Boden versetzt ist, auf den Boden des Lebens,
der Gerechtigkeit und der wolkenlosen Gunst Gottes.
Es ist notig, über diese wichtige Grundwahrheit völlig
klar zu sein. Sehr viele Kinder Gottes entbehren dieser
Klarheit und sind daher stets besorgt und unruhig, wenn
sie an den Richterstuhl denken. Sie kennen Gott nicht
als Den, der vollkommen rechtfertigt. Ihr Glaube hat
Ihn in Wahrheit nicht als Den erfaßt, der Jesum aus
den Toten auferweckt hat. Sie betrachten Christum als
das Mittel, um Gott als Richter von sich fern zu halten,
ähnlich wie die Israeliten auf das Blut an den Thürpfosten blickten, als das Mittel, welches den Würgengel
von ihren Häusern fernhalteu sollte. (2. Mos. 14.) Doch
die Wahrheit, wie sie uns im Neuen Testament mitgeteilt
wird, geht viel weiter. Gott wird nicht als ein Zerstörer
und Richter von dem Gläubigen fern gehalten, sondern
Er wird eingeführt als ein Heiland und als ein rechtfertigender Gott. Ein Israelit würde nichts mehr gefürchtet
haben, als das Erscheinen GotteS in seinem Hause. Warum?
Weil Gott als ein Zerstörer und Richter durch das Land
ging. Der Christ dagegen findet seine höchste Freude
darin, in der Gegenwart Gottes zu sein. Und warum?
37
Weil Gott sich geoffenbart hat als Der, welcher den Gottlosen rechtfertigt; nnd zwar hat Er dies gethan, indem Er
Jesum, unsern Herrn, aus den Toten auferweckte.
Der inspirirte Apostel gebraucht im 3. und 4. Kapitel des Römerbriefs drei verschiedene Ausdrücke, wenn er
von dem Glauben redet, und wir sollten dieselben sorgfältig ihrer Bedeutung nach prüfen. In Röm. 3, 26
redet er von dem „Glauben an Jesum," in Kap. 4, ö
von dem „Glauben an Den, der den Gottlosen rechtfertigt," und im 28. Verse desselben Kapitels von dem
„Glauben an Den, der Jesum, unsern Herrn, aus den
Toten auferweckt hat." Wir brauchen nicht zu sagen,
daß die Schrift nie ohne bestimmten Zweck und ohne eine
tiefe Bedeutung verschiedene Ausdrücke gebraucht. Wenn
nun nach dem Unterschiede zwischen dem Glauben an
Jesum und dem Glauben an Den, der Jesum aus den
Toten auferweckt hat, gefragt wird, so glauben wir, daß
er in Folgendem besteht: Wir finden oft Seelen, die
wirklich an Jesum glauben und doch in der Tiefe ihrer
Herzen eine gewisse Furcht hegen bei dem Gedanken, Gott
zu begegnen. Sie zweifeln nicht daran, daß sie wirklich
errettet sind, noch auch haben wir Grund, ihre Errettung
in Frage zu stellen. Sie sind errettet, indem sie ihr
Glaubensauge auf Christum gerichtet haben; und alle, die
so ans Ihn blicken, sind der ewigen Errettung teilhaftig.
Dennoch aber haben sie eine unbestimmte Furcht vor Gott
und denken nur mit Zittern au den Tod. Sie wissen,
daß Jesus sie liebt, weil Er Sein Leben für sie gelassen
hat; aber sie kennen Gott nicht als Den, der sie schon
vor Grundlegung der Welt auserwählt hat in Christo,
und der Jesum, ihren Herrn, zn ihrer Rechtfertigung
88
auferweckt hat aus den Toten. Deshalb sind sie in steter
Ungewißheit und Besorgnis. Sie wissen nicht, wie es
mit ihnen am Ende noch gehen könnte. Zu Zeiten sind
sie glücklich, weil die neue Natur, deren sie teilhaftig geworden sind, mit Christo beschäftigt ist; aber dann sind
sie wieder unglücklich und niedergeschlagen, weil sie auf
sich selbst blicken und sich Gott stets als den gerechten
Richter vorstellen, mit dem noch die eine oder andere
Frage in Ordnung zu bringen bleibt. Sie haben das
Gefühl, als ob das Auge Gottes noch auf der in ihnen
wohnenden Sünde ruhe, und als ob sie über diesen Punkt
noch in der einen oder andern Weise mit Gott abzurechnen hätten.
So ist es mit Hunderten von wahren Gläubigen.
Sie kennen Gott nicht als Den, der die Sünde gerichtet
hat und den gläubigen Sünder rechtfertigt. Sie blicken
allein auf den gekreuzigten Christus als das Mittel, um
sie vor einem heiligen und gerechten Richter zu schützen,
anstatt Gott zu betrachten als Den, der uni ihrer
Rechtfertigung willen Jesum aus den Toten auferweckt hat. Unser gepriesener Herr ist unsrer Uebertretimgen wegen dahingegeben und unsrer Rechtfertigung
wegen auferweckt worden. Unsre Sünden sind vergeben;
die in uns wohnende Sünde, oder unsre böse Natur, ist
gerichtet und beiseite gesetzt. Sie hat keine Existenz mehr
vor Gott. Sie ist noch in uns, aber Gott sieht uns
nicht mehr in ihr. Er sieht uns vielmehr in einem auferstandenen Christus, und wir sind berufen, uns für
tot zu halten und, durch die Kraft des Heiligen
Geistes, unsre Glieder zu töten, die böse Natur, welche
noch in uns wohnt, zu verleugnen und in Unterwürfigkeit
— 39 —
zu Hallen, diese Natur, welche in uns sein wird, bis wir
unsern gegenwärtigen Zustand verlassen und sür immer
bei dem Herrn sein werden.
Dies macht alles so einfach und klar. Wir haben
im Anfang unsrer Betrachtung gesehen, daß die, welche
„im Fleische" sind, Gott nicht gefallen können. Aber der
Gläubige ist nicht im Fleische, obwohl das Fleisch noch
in ihm ist. Er ist noch im Leibe und auf der
Erde, aber weder im Fleische, noch von derWelt.
„Ihr aber seid nicht im Fleische, sondern im Geiste."
(Röm. 8, 8.) „Sie sind nicht von der Welt, gleichwie
ich nicht von der Welt bin." (Joh. 17, 16.)
Welch eine köstliche Ermunterung für ein Herz, das
unter dem Gefühl der inwohnenden Sünde niedergebeugt
ist und nicht weiß, was es mit derselben thun soll! Friede
und Trost strömen in die Seele eines Gläubigen, wenn
er erkennt, daß Gott die Sünde am Kreuze gerichtet hat
und ihn selbst in einem auferstandenen Christus rechtfertigt.
Wo sind seine Sünden? Sie sind ausgelöscht. Wo
ist seine Sünde? Gerichtet und beseitigt. Wo ist er
selbst? Gerechtfertigt nnd annehmlich gemacht in einem
auferstandenen Christus. Er ist zu Gott gebracht, ohne
daß ein einziger Schatten oder Zweifel zurückgeblieben
wäre. Ich fürchte Den nicht, der mich rechtfertigt; vielmehr
liebe ich Ihn, vertraue Ihm und bete Ihn an. Ich
freue mich in Gott, rühme mich in Hoffnung Seiner Herrlichkeit und stimme von ganzem Herzen in die Worte des
Apostels ein: „So sind wir nun allezeit gutes
Mutes nnd wissen, daß, weil einheimisch in dem Leibe,
wir von dem Herrn ausheimisch sind; (denn wir wandeln
durch Glauben, nicht durch Schauen;) wir sind aber
40
gutes Mutes und möchte» lieber ausheimisch von dem
Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein. Deshalb beeisern wir uns auch, ob einheimisch oder ausheimisch» Ihm
wohlgefällig zu sein." (V. 6 — 9.) ^Fortsetzung folgt.)
Gedanken
über Johannes LL, L—
(Nach einem Vortrag.)
Der vorliegende Abschnitt zeigt uns die Fürsorge des
Herrn für die Seinen» eine Fürsorge, deren Grundlage
jene unbegreifliche Liebe bildet, mit welcher Er die Seinen
bis ans Ende liebt. „Da Er die Deinigen, die in der
Welt waren, geliebt hatte, liebte Er sie bis ans Ende."
Welch ein köstlicher Gedanke! Die Liebe, mit welcher Er
die Seinen liebte, während Er hienieden bei ihnen war,
dauert auch jetzt noch ununterbrochen für sie fort, während
Er in der Herrlichkeit ist. Welche Veränderung auch in
betreff Seiner Stellung stattgefunden haben mag, so ist
doch Seine Liebe dieselbe geblieben; Sein Herz hat sich
für die Seinen nicht verändert.
Dieser Seiner Liebe gab der Herr am letzten Abend
Seines Zusammenseins mit den Jüngern auf zweierlei
Weise Ausdruck, und zwar in der Einsetzung des Abendmahls und in der Fußwaschung. Im ersten Falle zeigte
Er den Seinen, was Er für sie thun wollte. Er stand
im Begriff, für sie zu sterben und Sein kostbares Blut
für sie zu vergießen. Welch ein Ausdruck und welch ein
Beweis Seiner unergründlichen Liebe für sie! Er wollte
am Kreuze daS Werk ihrer Erlösung vollbringen, ihre
Versöhnung mit Gott, sowie die vollkommene Reinigung
41
von allen ihren Sünden bewirken. Und heute dürfen wir
sagen, daß Er dieses Werk vollbracht hat. Es ist eine
vollendete Thatsache, die niemals wiederholt zu werden
braucht, noch wiederholt werden kann. Er ist für uns
gestorben und hat „durch ein Opfer auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden." (Hebr. 10, 14.)
Den zweiten Ausdruck Seiner Liebe gab Er den
Seinen darin, daß Er vom Abendessen aufstand, sich mit
einem leinenen Tuche nmgürtete, das Waschbecken nahm
und ihnen die Füße wusch. Dieses Werk setzt Er gegenwärtig immer noch fort, während Er droben zur Rechten
Gottes ist. Nie vergißt Er sie; auch in der Herrlichkeit
gedenkt Er au sie, wacht über sie und hat so zu sagen
stets das Waschbecken in der Hand, um sie wieder zu
reinigen, wenn sie gefehlt haben.
Doch was ist der Zweck Seiner Liebe? Was der
Zweck der Fußwaschung? Auch dieser wird uns in unserm
Kapitel mitgcteilt. Der Herr wünscht, daß wir Teil mit
Ihm haben. (Vers 8.) Er will, daß wir Seine Stellung,
Seine Herrlichkeit, ja, alles was Er hat, mit Ihm teilen
und genießen sollen. Das ist der große Zweck, den Er
bei der Fußwaschung im Auge hat. Er ist dort verherrlicht und im Genuß alles dessen, was der Vater hat. Ter
Vater hat Ihm alles in die Hände gegeben, so daß Erjagen kann: „Alles, was der Vater hat, ist mein."
(Joh. 16, 15.) Er hat den Vater hienieden in allem
verherrlicht, und darum hat der Vater Ihn wiederum
verherrlicht und Ihn zu Seiner Rechten gesetzt, um Ihn
dort alles genießen zu lassen und Ihn in göttlich vollkommener Weise zu erfreuen mit alledem, was Seine Liebe
darznbieten vermag.
42
Wir aber sollen alles mit Ihm teilen; und die?
nicht erst dann, wenn wir dort sein werden, sondern vielmehr jetzt schon, während wir noch hienieden wandeln.
Er will, daß wir jetzt schon durch den Glauben Teil mit
Ihm haben. Wie aber kann dies geschehen? Gewiß setzt
cS voraus, daß wir rein sind, wie Er rein ist. Ohne
dieses ist es unmöglich. Niemand kann in Gemeinschaft
mit Ihm sein, der nicht in völliger Uebereinstimmung mit
Ihm, mit Seiner Natur und Seinem Wesen ist.
Aber, möchte vielleicht eingewandt werden, dann kann
kein Mensch mit Ihm in Gemeinschaft sein; denn niemand
ist rein. Allerdings, der Mensch ist von Natur ein verlorner Sünder; er hat das Paradies, die Ruhe, das
wahre Glück, den Frieden, ja alles, was er einst besaß,
verloren; er hat sich unglücklich gemacht nnd verderbt für
Zeit und Ewigkeit. Er hat sich von Gott entfernt, und
das ist die Quelle seines Elends und seines Unglücks;
denn von dem Augenblick an war es um seine Ruhe und
sein Glück geschehen. Und niemand kann ihm helfen, als
Jesus allein; nur Er kann ihn erretten und wieder zurücksühren in die Gegenwart Gottes, zu der Quelle des Glückes,
der wahren Ruhe nnd des vollkommenen Friedens.
Dennoch aber bleibt es wahr, daß niemand dort sein,
niemand einen Platz im Vaterhause haben kaun, der nicht
in vollkommener Uebereinstimmung mit Gott und nicht
ebenso rein ist, wie Er. Gott aber ist Licht. Dies ist 
der Ausdruck der vollkommensten, der göttlichen Reinheit. Nichts kann reiner sein, als das Licht; es läßt
sich mit nichts vermengen, es scheidet seiner Natur gemäß
alles aus, was nicht Licht ist. Wir müssen daher rein
sein wie das Licht, um Gemeinschaft mit Gott, oder, mir
43
andern Worten, Teil mit Jesu haben zu können. Und
die wichtige Frage ist: Sind wir so rein? Sind wir
passend gemacht für die Gegenwart Gottes? fähig, Ihn
zu genießen? Der Herr konnte von Seinen Jüngern, Judas
ausgenommen, sagen: „Ihr seid rein." Weshalb waren
sie rein? Das Wort, das der Herr zu ihnen geredet, hatte
seine reinigende Kraft auf ihre Herzen und Gewissen ausgeübt. (Bergt. Joh. 15, 3.) Sie waren wiedergeboren
durch dasselbe, und davon spricht hier der Herr. Ohne
Zweifel blickt Er aber auch voraus auf das Werk, das
Er zu vollbringen im Begriff stand. Ec betrachtet es als
bereits vollbracht, wie Er denn auch in Seinem Gebet 
zum Vater sagt: „Das Werk habe ich vollbracht, welches
Du mir gegeben hast, daß ich es thun sollte." (Kap. 17, 4.)
So ist jeder wahre Gläubige gereinigt durch das Wasser
(das Wort) und das Blut. Seine Sünden sind gesühnt,
sein ganzer Zustand als eines Kindes des ersten Adam
ist gerichtet und vor Gott hinweggethan, und er selbst ist
zu einer ganz neuen Schöpfung geworden, zu einem Menschen
mit ganz neuen Gedanken, Gefühlen und Beweggründen.
Die Reinigung des Gläubigen ist also ein für allemal geschehen, so daß von ihm, seiner Stellung nach, gesagt werden kann: Er ist rein. Und zwar ist er gereinigt
durch das Feuer des Gerichts, welches in Christo am Kreuze
über alle seine Sünden und seinen ganzen Zustand als
Sünder ergangen ist. Es sei mir erlaubt, zur Erläuterung
dieser Thatsache eine Begebenheit zu erzählen, die sich vor
längeren Jahren in Amerika zutrug. Eine Anzahl von
Reisenden durchwanderte in Begleitung eines Führers eine
jener ungeheuren Grasslächen, welche man Prairien nennt.
Man hatte bereits eine bedeutende Strecke zurückgelegt,
44
als das geübte Ohr des Führers eia fernes, eigentümliches
Getöse vernahm, während zugleich ein scharfer, brandiger
Geruch die Luft zu erfüllen begann. Mit den Gefahren
der Wildnis seit langen Jahren vertraut, erkannte er alsbald, in welch einer mißlichen Lage er sich mit seinen
Reisegefährten befand. Die Prairie stand hinter ihnen
in Brand, und der Wind trieb das Feuer, das in dem
hohen, dürren Grase reichliche Nahrung fand, mit rasender
Schnelligkeit auf sie zu. An ein Entrinnen war nicht zu
denken. Ehe sie das Ende der Prairie erreichen konnten,
hatte das Feuer sie längst eingeholt. Da war guter Rat
teuer. Doch der Führer hatte nicht umsonst so manches
Jahr in der Wildnis zugebracht. Nach kurzem Besinnen
sprang er vom Pferde und begann das hohe Gras um
sich her auszurausen, während er seine Gefährten aufforderte, dasselbe zu thun. Auf diese Weise wurde in kurzer 
Zeit eine kleine Fläche von dem Grase befreit. Hierauf
zündete der Führer das noch stehende Gras an verschiedenen Stellen an, und nicht lange nachher sah sich die
kleine Gesellschaft ringsum von Feuer umgeben, das sich
jedoch, Nahrung suchend, immer weiter von ihnen entfernte,
bis sie endlich auf einer weiten, leergebrannten Fläche
standen. Diese wurde ihnen zum sichern Bergungsort, von
wo aus sie mit völliger Ruhe dem herannahenden großen
und schrecklichen Feuer entgegensehen konnten. Sie waren
gerettet, da sie nunmehr auf einem Platze standen, vor
welchem das entfesselte Element Halt machen mußte, aus
dem einfachen Grunde, weil es dort keine Nahrung mehr
fand. Das Feuer hatte dort bereits sein Werk gethan,
und sie dadurch in Sicherheit gestellt vor dem kommenden
Feuer. — Ist das nicht ein treffendes Bild von der Er­
— 45 —
rettung des Gläubigen? Er kann sagen: Das Gericht hat mich
sicher gestellt vor dem kommenden Gericht; der Tod Christi,
der am Kreuze für mich starb und dort an meiner Statt
gerichtet wurde, war mein Gericht, und ich habe dort meine 
Strafe bereits empfangen, ich bin gerichtet. Er kann daher
ohne jede Furcht und Besorgnis dem kommenden Gericht
entgegensetzen, da es an ihm nichts mehr zu thun findet.
Welch eine köstliche Ruhe verleiht dies dem Herzen!
„Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christo
Jesu sind." (Röm. 8, 1.) Der Gläubige ist in vollkommene Sicherheit gestellt, vollkommen gereinigt durch das
Feuer des Gerichts.
Aber obgleich wir so unsrer Stellung nach, ein für
allemal gereinigt, errettet, versöhnt und des ewigen Lebens
teilhaftig geworden sind, so können wir uns doch sehr
leicht die Füße beschmutzen, so lange wir hienieden in
einer bösen und gottlosen Welt wandeln. Und die geringste Verunreinigung stört notwendigerweise unsre Gemeinschaft mit Christo, den Genuß unsers Teils mit Ihm.
Ein unreiner Gedanke, irgendwelche Unwachsamkeit oder 
Nachlässigkeit in unserm Wandel genügt, nus praktisch
von Ihm zu entfernen. Und weil Er dieses weiß, so ist
Er stets beschäftigt, uns die Füße zu waschen, uns immer
wieder zu reinigen und wiederherzustellen. Doch ich wiederhole noch einmal, daß wir dies nicht verwechseln dürfen
mit der Stellung des Gläubigen, gemäß welcher dieser
ein für allemal in Gemeinschaft mit Gott gebracht ist in
Christo. Johannes sagt: „Und zwar ist unsre Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem SohneJesu Christo."
(1. Joh. 1, 3.) Alle Gläubigen sind ihrer Stellung nach
dorthin gebracht und befinden sich schon im Lichte. Aber
46
iu bezug auf den praktischen Genuß dieser Gemeinschaft
sagt derselbe Apostel: „Meine Kinder, ich schreibe euch
dieses, auf daß ihr nicht sündigt," (weil durch die Sünde
diese Gemeinschaft gestört wird) „und wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Sachwalter bei dem Vater, Jesum Christum, den Gerechten." Als Sachwalter
ist Christus stets beschäftigt, unsre Gemeinschaft praktisch
wiederherzustellen, wenn dieselbe unterbrochen worden ist;
und dieses wird uns in der Fußwaschung bildlich dargestellt. Sie hat den Zweck, uns praktisch in der Reinheit
zu erhalten, welche sich für die Gegenwart Gottes und
für Seine heilige Nähe geziemt. Diese Waschung geschieht
daher nicht durch Blut, sondern durch Wasser, und sie
wird nicht auf den ganzen Menschen, sondern nur auf
die Füße angewandt. Wir finden hiervon ein treffendes
Vorbild in den Priestern des Alten Bundes. Nachdem
einmal ihr ganzer Leib mit Wasser gewaschen und e i nmal das Blut auf sie gesprengt war, hatten sie bei ihrem
täglichen Dienst in der Stiftshütte nur nötig, sich Hände
und Füße zu waschen. (2. Mos. 29. 30.) So ist auch
der Gläubige einmal gereinigt „durch die Waschung mit
Wasser durch das Wort," er ist wiedergeboren; auch ist
daS Blut der Versöhnung ein für allemal auf ihn
angewandt, und deshalb braucht weder das Blut noch
einmal auf ihn gesprengt, noch auch der ganze Leib noch
einmal mit Wasser gewaschen zu werden. „Wer gebadet
ist, hat nicht nötig, denn sich die Füße zu waschen, sondern ist ganz rein." (V. 10.)
Haben wir uns also durch unsre Nachlässigkeit praktisch
verunreinigt, so wird dadurch unsre Stellung als gereinigte Anbeter nicht angetastet, wohl aber unsre praktische
47
Gemeinschaft mit dem Vater und Seinem Sohne Jesu
Christo gestört. Wir sind unserm praktischen Zustande
nach nicht passend sür die Gegenwart Gottes. Unsre
Gewissen sind beschwert, unsre Herzen unruhig nnd unglücklich. Kann und will uns der Herr in diesem Zustande
lassen? O nein; Sein Name sei dafür gepriesen! Er
beschäftigt sich mit uns und ist für uns thätig vor dem
Vater, um uns wieder in den verlornen Genuß Seiner
Gemeinschaft zurückzuführen. Und dieses thut Er, so oft
wir uns vergessen und verunreinigt haben. Er bittet allezeit für uns; und die Wirkung Seiner Fürsprache ist,
daß der Geist Gottes anfängt, durch das Wort Gottes auf
unser Gewissen zu wirken. Dies ist eine große Gnade.
Wenn der Herr Jesus nicht auch unser Sachwalter wäre,
wie Er unser Erlöser ist, so würden wir, trotz des vollbrachten Werkes der Erlösung, hienieden kein Teil mit
Ihm haben können. Wir würden uns, wenn wir einmal
aus Seiner Gegenwart weggegangen wären, immer weiter
und weiter von Ihm entfernen. Denn so lange man im
Lichte ist, sieht man das Böse nnd richtet alles, was der
Gegenwart Gottes nicht angemessen ist. Das Anfhören
der Wachsamkeit und des Selbstgerichts ist nur ein Beweis,
daß man sich bereits aus dem Lichte entfernt hat; und
wir würden aus uns selbst nie daran denken, zurückzukehren,
wenn der Herr in Seiner unermüdlichen Liebe nicht als
Sachwalter für uns thätig wäre. Er ist für uns bei
dem Vater beschäftigt, Er betet für uns, und infolge dessen
wirkt der Geist Gottes durch das Wort auf unser Gewissen, wodurch wir zur Besinnung, zum Stillstand und
zum Selbstgericht geführt werden. Wir sehen dies deutlich
bei Petrus. Der Herr wußte, daß Petrus Ihn verleugnen
48
würde, und hatte deshalb für ihn gebetet, damit sein
Glaube nicht aufhöre. Wäre dies nicht geschehen, so
würde Petrus nicht zurückgekehrt sein, sondern gleich Judas
ein Ende in Verzweiflung genommen haben. Aber welch
eine unendliche Liebe! Der Herr sagt: „Ich aber habe für
dich gebetet." Ja, so groß ist Seine Liebe für uns, daß
Er nicht nur für uns starb, sondern auch jetzt noch in
Seiner Herrlichkeit unermüdlich für uns beschäftigt ist und
für uns bittet. Er kann die Seinen, für welche Er Sein
kostbares Leben hingegeben hat, nicht lassen; stets hat Er
sie im Auge.
Das Mittel zur Wiederherstellung des Gläubigen ist
also das Wort Gottes. Der Apostel sagt bezüglich der
Wirksamkeit desselben: „Denn das Wort Gottes ist
lebendig und wirksam und schärfer, als jedes zweischneidige
Schwert, und durchdringend bis zur Zerteilung der Seele
und des Geistes, sowohl der Gelenke als des Markes,
und ein Urteiler der Gedanken und Gesinnungen des Herzens." (Hebr. 4, 12.) Diese Worte zeigen uns die mächtige
Wirkung des Wortes Gottes. Es stellt uns ins Licht,
indem es unsre Herzen und Gedanken erforscht. Es beurteilt uns nicht nur nach unserm äußern Wandel, nach
dem, was vor Augen ist, sondern es geht tiefer und forscht
nach den Beweggründen, die uns leiten. Ja, es tritt an
einen jeden Gläubigen mit der tief erforschenden Frage
heran: Wo steht dein Herz? Denkst dn an dich und an
das, was hienieden ist? Oder denkst du an Jesum und
an das, was droben ist? Bewegt sich dein Herz in den
Dingen dieser Welt, oder kannst du sagen: Ich bin im
Lichte? Bist du thätig und eifrig aus Liebe für Christum,
oder leiten dich Selbstsucht und Eigenliebe? Solche und
46
ähnliche Fragen richtet das Wort in seiner zweischneidigen
Schärfe an einen jeden, und es dringt durch bis zu den
geheimsten Winkeln unsrer Herzen und beurteilt die Triebfedern und Beweggründe, die uns bei unserm Handeln
leiten. Und also ins Licht gestellt, werden wir unausbleiblich zum Selbstgericht alles dessen geführt, was diesem
Lichte nicht entspricht. Das ist der Weg zur Wiederherstellung unsrer praktischen Gemeinschaft mit Gott.
Wir werden zum Bekenntnis unsrer Schuld geführt. Und
„wenn wir unsre Sünden bekennen, so ist Er treu und
gerecht, daß Er uns die Sünden vergiebt und reinigt uns
von aller Ungerechtigkeit." (1. Joh. 1, 9.) Ueberhaupt
ist unsre Gemeinschaft mit Gott ohne ein fortgesetztes
Selbstgericht nicht denkbar, weil die Sünde in uns wohnt
und wir uns in einer bösen Welt befinden. Welch ein 
Vorrecht ist es daher, zu wissen, daß der Herr nicht müde
wird, Seinen Dienst als Sachwalter für uns zu versehen,
daß Er sich Tag für Tag in unbegreiflicher Liebe und
Geduld mit unsern Fehlern und Verirrungen beschäftigt,
ja, daß Er, der Herr der Herrlichkeit, sich herabläßt, diese
niedrigste aller Verrichtungen, das Waschen der Füße, an
uns zu versehen! Wie groß muß Seine Liebe sein! So
wie diese Liebe Ihn einst arm werden ließ, damit wir
reich würden, so läßt sie Ihn auch heute noch sich selbst
vergessen, um das Wohl und Glück Seiner teuer Erkauften zu fördern.
Wie aber kommt es nun, daß trotz dieser unaufhörlichen und unermüdlichen Thätigkeit des Herrn oft Kinder
Gottes lange Zeit hindurch in einem verunreinigten Zustande vorangehend Hat der Herr anfgehört, sich als Sachwalter für sie zu verwenden? Oder hat das Wort Gottes
50
seine reinigende Kraft verloren? Keins von beiden ist der
Fall. Vielmehr haben sich solche Gläubige der Wirksamkeit
des göttlichen Wortes entzogen. Ach! leider geschieht dieses
nur zu oft. Das Wort Gottes übt auf jeden, der sich ihm
unterwirft und dessen Ohr geöffnet ist, stets seine Wirkung aus. Wenn aber jemand nicht auf das Wort hört,
sei es nun daß es ihm unmittelbar durch den Geist Gottes,
oder mittelbar durch einen Bruder nahe gebracht wird, so
macht er es wirkungslos und bleibt in einem ungerichteten
Zustande.
Wie betrübend ist ein solcher Zustand! Da ist keine
Gemeinschaft mit dem Herrn, keine wahre Gemeinschaft
mit den Brüdern, kein Zeugnis für Christum. Ein solch
untreuer und ungehorsamer Christ häuft nur Unehre auf
den kostbaren Namen des Herrn und auf Seine Versammlung. Und wer kann wissen, was sein Ende sein würde,
wenn der Herr nicht in Seiner unendlichen Liebe auch
jetzt noch über ihn wachte? Er kann die Seinen, die Er
sich durch Sein kostbares Blut erkauft hat, nimmer lassen.
„Da Er die Seinigen, die in der Welt waren, geliebt
hatte, liebte Er sie bis ans Ende." Kann Er sie durch
Sein Wort nicht mehr erreichen, so wendet Er andre
Mittel an, und diese bestehen in den Regiernngswegen
Gottes.
Wir lesen in Joh. 15 von einer Reinigung, die
der Vater als Ackerbauer ausübt an den Reben, welche
Frucht bringen. So lange wir auf das Wort Gottes
hören und uns durch dasselbe leiten und richten lassen,
bleiben wir in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem
Sohne; vernachlässigen wir aber das Wort, so müssen
wir die Erfahrung der Wege Gottes machen; und diese
51
sind immer ernst. Züchtigungen aller Art, Leiden, Krankheiten, ja selbst der Tod können eintreten, wie wir dies
bei den Korinthern sehen, wo infolge der Züchtigungen
des Herrn viele schwach und krank und ein gut Teil entschlafen waren. Und der Apostel ruft ihnen zu: „Aber
wenn wir uns selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet. Wenn wir aber gerichtet werden, so werden wir
vom Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht mit der Welt
verurteilt werden." (1. Kor. 11, 30—32.) Ja,
selbst diese Züchtigungen sind nur ein Beweis der Liebe
des Herrn, der die Seinen nicht vorangehen lassen kann
auf einem Wege, auf welchem sie verloren gehen würden.
Er will sie um jeden Preis in Seine Gemeinschaft zurückführen, zu der Quelle des wahren Glückes, der wahren
Ruhe und der vollkommenen Freude. Er hat sie lieb, und
darum scheut Er kein Mittel und keinen Weg, um Seinen
Zweck zu erreichen.
Aber wie viele bittere Wege und ernste Züchtigungen
würden wir uns ersparen, wenn wir uns stets durch das
Wort und den Geist Gottes leiten ließen! Darum lesen
wir auch im 32. Psalm: „Ich will dich unterweisen und
dich lehren den Weg, in dem du wandeln sollst; mit meinem Auge will ich dir raten. Seid nicht wie ein Roß,
wie ein Maultier, das keinen Verstand hat, dessen Zierde
Zaum und Zügel ist zur Bändigung, wenn sie nicht wollen
zu dir kommen." (V. 8. 9.) Der Herr leitet alle die 
Seinen. Aber wie groß ist der Unterschied! Die Einen
kann Er mit Seinen Augen leiten, bei den Andern muß
Er Zaum und Zügel anwenden. Wir sehen von letzteren
ei» ernstes Beispiel in dem Propheten Jonas, welchem
der Herr befohlen hatte, nach Ninive zu gehen und den
52
Bewohnern dieser großen, gottlosen Stadt Buße zu predigen. Er aber wollte nicht hingehen und entfloh in
seinem Ungehorsam auf ein Schiff. Doch wie thöricht
war sein Beginnen! Konnte er der Hand des Herrn entrinnen? Gewiß nicht. Auf dem Schiffe überfiel ihn ein
großer Sturm; er wurde ins Meer geworfen, von einem
großen Fisch verschlungen und, nachdem er im Bauche
desselben die Angst und den Schrecken des Gerichts Gottes
erfahren hatte, wieder ans Land geworfen. Dann ging
er nach Ninive. Wie einfach würde sein Weg gewesen
sein, wenn er dem Gebot des Herrn sofort gehorcht hätte!
Alle jene bittern und schmerzlichen Erfahrungen würde er
sich erspart haben.
Möge der Herr in Seiner reichen Gnade uns ein
allezeit unterwürfiges Herz geben, das sich nur in Seiner
heiligen Nähe und in dem Genuß Seiner unendlichen
Liebe glücklich fühlt; ein Herz, das Sein Wort liebt und
höher schätzt als „Tausende von Gold und Silber" und
süßer „als Honig!" (Ps. 119, 72. 103.) Möchten wir
nie vergessen, daß Er uns gereinigt hat, und möchten
wir durch die Kraft des Geistes in dem steten Bewußtsein dieser vollkommnen Reinheit wandeln! Dies wird
nicht nur unsre Herzen mit Anbetung gegen den Herrn
erfüllen, sondern uns auch treu und vorsichtig machen in
unserm Wandel; und also wird uns „der Eingang in
das ewige Reich unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi
reichlich dargereicht werden." (2. Petr. 1, 11.) Petrus
sagt von denen, die abgeirrt sind, daß sie die Reinigung
ihrer vorigen Sünden vergessen haben, und dies ist
die Ursache des mannichfaltigen Strauchelns vieler Gläubigen. Wie vorsichtig wird zum Beispiel jemand wandeln.
53
der, bekleidet mit einem kostbaren Gewände, einen schmutzigen
Weg zu gehen hat, während jemand, dessen Kleider bereits besudelt sind, sich wenig daraus macht, ob noch
einige Flecken mehr hinzukommen oder nicht. Der Herr
gebe uns allen in Seiner Gnade, daß wir auf unserm
Pilgerwege durch diese böse und unreine Welt stets aus
die Worte des Apostels achten: „Wir wissen, daß ein
jeder, der aus Gott geboren ist, nicht sündigt; sondern
der aus Gott Geborene bewahrt sich, und der Böse
tastet ihn nicht an. Wir wissen, daß wir aus Gott sind,
und die ganze Welt liegt in dem Bösen." (1. Joh. 5,18,19.)
Die Hoffnung des Christen.
„Wir wollen aber nicht, Brüder, daß ihr, was die 
Entschlafenen betrifft, unkundig seid, auf daß ihr euch
nicht betrübt, wie auch die übrigen, die keine Hoffnung
haben." (1. Thess. 4, 13.)
Der natürliche Mensch hat keine Hoffnung. Tas,
was er Hoffnung nennt, ist keine wahre Hoffnung. Die
Gegenstände derselben sind so eitel, nichtig und vergänglich
wie jene selbst. In bezug auf die unvergänglichen, ewig
bleibenden Dinge hat er keine Hoffnung, weder für sich,
noch für die Seinigeu. Gefällt es Gott, eins der Seinen
wegzunehmen, so steht er tiefbekümmert, trostlos an dem
offenen Grabe. Er hat nichts, was ihn angesichts des
Todes, angesichts der Vergänglichkeit alles Irdischen, trösten
und aufrichten könnte. Wandern seine Gedanken über
das Grab hinaus, so sieht er nichts als eine finstere,
endlose Ewigkeit vor sich, eine Ewigkeit ohne einen Strahl
von Licht und Hoffnung.
— ö4 —
Nicht so der Gläubige. Er hat eine lebendige
Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi, eine Hoffnung, die ihn belebt, stärkt, tröstet und erquickt, die ihn
selbst angesichts des Todes nicht betrübt sein läßt, wie
die übrigen, ja, eine Hoffnung, die ihn nie beschämen
kann. Der Herr, au welchen er glaubt, hat über Tod
und Grab, über Hölle und Teufel triumphirt und ist,
als der auferstandene, verherrlichte Mensch, aufgefahren
in die Höhe und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät
Gottes. Dort sieht Ihn der Gläubige mit Ehre und
Herrlichkeit gekrönt, auf den Augenblick wartend, da Gott
alle Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße legen wird.
Und er weiß, daß Christus für ihn dort eingegangen
ist, um eine Stätte für ihn im Vaterhause zu bereiten.
Auf Ihn, den Auferstandenen und Verherrlichten, gründet
sich seine Hoffnung. Darum wird sie eine lebendige
Hoffnung genannt. Christus Jesus selbst und alles, was
Sein ist, alles, was der Vater Ihm gegeben hat, ist der
Gegenstand dieser Hoffnung. Sie umfaßt die Person des
Herrn und die ganze Herrlichkeit des Himmels, eine Ewigkeit von Friede, Freude und Glückseligkeit.
Ist es der Wille Gottes, daß der Gläubige durch
den Tod geht, so entschläft er. (Wie tröstlich ist es,
daß der Geist Gottes die Toten in Christo hier und an
andern Stellen nicht Gestorbene, sondern Entschlafene nennt!) Und während sein Leib auf den herrlichen
Augenblick der Auferstehung wartet, ist er selbst glücklich
bei Jesu. So ist Sterben nur Gewinn für ihn. Er
scheidet aus einer Welt der Sünde, verläßt einen Leib
der Schwachheit, um in vollkommener Ruhe bei Jesu zu
seiu. Der Tod hat keine Schrecken mehr für ihn. Sein
55
Stachel ist ihm genommen. Zu sterben und bei Jesu
zu sein, ist weit besser, als noch in dieser Wüste zu
wandeln, obwohl auch dies der Mühe wert ist, so lange
es dem Herrn gefällt, uns hienieden zu lassen. Denn so
lange wir hienieden sind, können wir ein Zeugnis für
Ihn sein und Ihm dienen.
Doch obschon auf diese Weise der Tod seinen Charakter für den Gläubigen völlig verändert hat, so ist derselbe doch nicht der Gegenstand seiner Hoffnung. Er hofft
im Gegenteil, nicht durch den Tod zu gehen. Der Gegenstand seiner Hoffnung ist, wie schon oben bemerkt,
Christus selbst. Ihn zu sehen, wie Er ist, Ihn zu
schauen in all Seiner persönlichen Schönheit, inmitten der
Herrlichkeit, die der Vater Ihm gegeben hat, das ist es,
worauf er hofft, wonach er verlangt und sich sehnt. Wird
sich diese Hoffnung erfüllen? Sicher und gewiß. „Denn
der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf . . . herniederkommen vom Himmel, und die Toten in Christo
werden zuerst auferstehen; darnach werden wir, die Lebenden, die übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und
also werden wir allezeit bei dem Herrn sein." — Der
Herr wird kommen. So wie Er einmal geoffenbart
worden ist, um Vieler Sünden zu tragen, so wird Er
zum zweiten Mal ohne Sünde erscheinen denen, die Ihn
erwarten zur Seligkeit.
Und wann wird Er kommen? Bald! Die Nacht
ist weit vorgerückt, der Anbruch des Tages kommt immer
näher heran. „Noch über ein gar Kleines, und der
Kommende wird kommen und nicht verziehen." (Hebr.
10, 37.) „Ich komme bald; halte fest, was du hast^
56
damit niemand deine Krone nehme." (Offbg. 3, 11.)
Ja, geliebte Brüder, „der Herr ist nahe." (Phil. 4, 5.)
„So ermuntert nun einander mit diesen Worten!" Laßt
uns nicht schlafen, wie die übrigen, die von der Finsternis
und von der Nacht lind! Wir sind Söhne des Lichts und
Söhne des Tages. So laßt uns denn wachen und nüchtern sein, laßt uns beständig ausschauen nach dem „glänzenden Morgenstern" und mit Sehnsucht rufen: „Komm,
Herr Jesu!" Laßt uns acht haben, daß wir diese köstliche Hoffnung nicht nur kennen, sondern, wie der
Apostel Johannes sagt, wirklich haben in unsern Herzen,
daß sie in uns lebendig sei und mit jedem Tage lebendiger
werde! Bald werden wir Ihn sehen und Ihm gleich sein;
und: „Wer diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich
selbst, gleich wie Er rein ist." (1. Joh. 3, 3.)
Der Herr thut Großes in diesen letzten Tagen. Er
sammelt in Eile Sein Volk. Wollen wir träge werden
und die letzten Tage vor Seiner Ankunft in Gleichgültigkeit und Weltförmigkeit zubringen? Gott bewahre uns
in Gnaden davor! „Halte fest) was du hast, damit
niemand deine Krone nehme!" so lautet der ernste Mahnruf des Herrn an uns. Möchte er sich tief in unser
aller Herzen eingraben, damit Er uns, wenn Er kommt,
allesammt wachend finden möge! „Glückselig jene Knechte,
die der Herr, wenn Er kommt, wachend finden wird.
Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich umgürten und sie
sich zu Tische legen lassen und hinzutreten und sie bedienen. Und wenn Er in der zweiten Wache kommt und in
der dritten Wache kommt und findet sie also — glückselig sind jene Knechte!" (Luk. 12, 37. 38.)

Der Dienst der Versöhnung.
(2. Kor. 5, 18—21.)
(Fortsetzung.)
Schon viele Christenherzen sind durch die Worte des
Apostels: „Denn wir müssen alle geoffenbart werden vor
dem Richterstuhl des Christus, auf daß ein jeder empfange,
was er in dem Leibe gethan, nach dem er gehandelt hat,
es sei Gutes oder Böses," ernstlich beunruhigt worden.
Doch, wie bereits früher bemerkt, enthalten diese Worte
thatsächlich nichts, was eine solche Beunruhigung rechtfertigen könnte. Was allein nötig ist, um die Stelle
klar zu verstehen, ist, sie von einem göttlichen Standpunkte
und mit einem einfältigen Herzen zu betrachten. So
wahr dies im Blick auf jeden Gegenstand, der im Worte
Gottes behandelt wird, auch sein mag, so ist es bezüglich
der vorliegenden Stelle doch in besonderer Weise erforderlich. Wir sind überzeugt, daß die Schwierigkeiten, welche
so manche Gläubige betreffs des Richterstuhls Christi
fühlen, aus dem Beschäftigtsein mit ihrem eigenen Ich
hervorgehen. Dies ist ohne Zweifel die Ursache, weshalb
man so oft fragen hört: „Kann es denn möglich sein,
daß alle unsre Sünden, alle unsre Schwachheiten und
Fehler, alle unsre thörichten und verkehrten Wege vor
dem Richterftuhl Christi, in Gegenwart von Myriaden von
Engeln und Erlösten, offenbar werden?"
Zunächst möchte ich bemerken, daß die Schrift nirgendwo etwas derartiges sagt. Die Stelle, welche unsrer
58
Betrachtung unterliegt, erklärt einfach: „Wir müssen alle
geoffenbart werden vor dem Richterstuhl Christi." Doch
nun ist die Frage: wie werden wir geoffenbart werden?
Sicherlich so, wie wir sind. Was heißt das? Das
heißt: Als das Werk Gottes, als vollkommen gerechtfertigt, vollkommen heilig und vollkommen annehmlich gemacht in der Person Dessen, der auf dem Richterstuhl
sitzen wird und der an Seinem eignen Leibe auf dem Fluchholze
das ganze Gericht trug, welches wir verdient hatten, der
dem ganzen Zustande, in welchem wir uns von Natur
befanden, für ewig ein Ende gemacht hat. Alledem, was
wir als Sünder zu tragen gehabt hätten, ist Christus an
unsrer Statt begegnet. Er trug unsre Sünden, und
in Ihm wurde unsre Sünde gerichtet. Er nahm die
ganze Verantwortlichkeit auf sich, welche auf uns als
Menschen im Fleische, als Gliedern des ersten Adam,
lastete. Der Richter selbst ist unsre Gerechtigkeit. Wir
sind in Ihm. Alles, was wir sind und haben, verdanken
wir Ihm und Seinem vollbrachten Werke. Wenn wir
als Sünder Christo, als dem Richter, zu begegnen hätten, so wäre ein Entrinnen völlig unmöglich. Wenn Er
selbst aber unsre Gerechtigkeit ist und wir sind, wie Er ist,
so ist eine Verdammnis ganz und gar unmöglich. Die
ganze Sache ist, mit einem Worte, ins Gegenteil verkehrt.
Der Versöhnungstod und die triumphirende Auferstehung
unsers göttlichen Stellvertreters hat alles so völlig verändert, daß der Richterstuhl Christi gerade der Platz ist,
wo es vor Aller Augen offenbar werden wird, daß an
dem Gläubigen, als dem Werke Gottes, kein Flecken
oder Makel haftet, noch haften kann.
Woher kommt nun diese Furcht, daß alle unsre Thor-
59
heiten vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden möchten? Weiß Er nicht alles, was uns angeht? Kennt Er
uns nicht durch und durch? Fürchten wir es mehr, vor
den Blicken von Menschen und Engeln offenbar zu werden, als vor den Augen unsers gepriesenen, anbetungswürdigen Herrn? Wenn wir vor Ihm offenbar werden,
was macht es dann aus, wem wir außerdem noch bekannt
sind? Inwiefern werden Petrus, David und viele andere
durch die Thatsache berührt werden, daß ihre Sünden
auf den Blättern des inspirirten Wortes verzeichnet stehen
und dort von Millionen und abermals Millionen gelesen
worden sind? Wird es sie hindern, die Saiten der goldenen Harfe zu spielen, oder ihre Kronen Dem zu Füßen
zu werfen, dessen kostbares Blut sie für ewig von allen
ihren Sünden abgewaschen und sie fleckenlos und untadelig in das volle Licht des Thrones Gottes gestellt hat?
Sicherlich nicht. Braucht daher irgend jemand durch den
Gedanken beunruhigt zu werden, daß er vor dem Richterstuhl Christi völlig offenbar werden wird? Wird nicht
der Richter der ganzen Erde recht thun? Dürfen wir
nicht ruhig alles den Händen Dessen überlassen, der uns
geliebt und uns gewaschen hat in Seinem Blute? Können
wir uns nicht mit aller Einfalt Dem anvertrauen, der
uns mit einer solchen Liebe geliebt hat? Wird Er uns
blosstellen? Könnte Er etwas thun, was nicht in Uebereinstimmung wäre mit der Liebe, die Ihn trieb, Sein
teures Leben für uns dahinzugeben? Wird das Haupt
Seinen Leib oder irgend ein Glied desselben blosstellen?
Wird der Bräutigam Seine Braut blosstellen können?
Nein, und abermals nein! Er wird vor den Augen aller
geschaffenen Wesen, ja, vor dem ganzen Weltall es kund
60
werden lassen, daß kein Makel, kein Flecken, noch Runzel,
noch etwas dergleichen an der Versammlung zu sehen ist,
die Er mit einer Liebe geliebt hat, welche viele Wasser
nicht auszulöschen vermögen.
Erkennst du nicht, mein christlicher Leser, wie dieses
Nahegebrachtsein zu dem Herzen Christi, sowie die Erkenntnis der Vollkommenheit Seines Werkes alle Nebel
zerstreuen, welche den Richterstuhl für so manche Seelen
zu umgeben scheinens Wenn du von allen deinen Sünden in dem Blute Christi rein gewaschen und von Gott
geliebt bist, wie Jesus selbst, welchen Grund könntest du
dann noch haben, jenen Richterstnhl zu fürchten, oder vor
dem Gedanken zurückzuschrecken, in dem Lichte desselben
geoffenbart zu werden? Nichts kann dort zum Vorschein
kommen, was deine Stellung verändern, dein Verhältnis
zu Gott, dem Vater, und Seinem Sohne Jesu Christo
antasten, oder dein Anrecht, für ewig in den Wohnungen
des Vaterhauses zu weilen, umstoßen könnte. Im Gegenteil dürfen wir sicher annehmen, daß das Licht des Richterstuhls viele Wolken entfernen wird, welche jetzt
noch die ganze Schönheit und Herrlichkeit des Gnade nstuhls vor Vieler Augen verbergen. Viele werden sich
vor jenem Richterstuhl wundern, wie es möglich war,
daß sie sich jemals vor demselben fürchten konnten. Sie
werden ihren Irrtum erkennen und die Gnade anbeten
und bewundern, die so viel besser war, als alle ihre
gesetzlichen Befürchtungen. Viele, die hier kaum fähig
waren, ihr Anrecht auf einen Platz im Vaterhause zu
verstehen, werden es dort erkennen und jubeln und frohlocken, danken und Preisen. Sie werden dann klar sehen,
welch armselige, schwache und unwürdige Begriffe sie einst
61
hatten, sowohl von der Liebe Christi, als auch von dem
wahren Charakter Seines Werkes. Sie werden erkennen,
wie allzu bereit sie stets waren, Ihn mit ihrem armen
Ich zu vergleichen und zu denken und zu fühlen, als wenn
Seine Gedanken und Wege ihren eigenen gleich wären.
Alles das wird in dem Lichte jenes Tages gesehen und
erkannt werden, und dann wird ein unaufhörliches Hallelujah aus manchem Herzen hervorströmen, das hienieden 
durch eigne, falsche Meinungen über Gott und Seinen
Christus sich selbst so lange des wahren Friedens und
der wahren Freude beraubt hat.
Allein obwohl es auf der einen Seite eine göttliche
Wahrheit ist, daß vor dem Richterstuhl Christi nichts zum
Vorschein kommen kaun, was in irgend einer Weise die
Stellung oder das Verhältnis selbst des schwächsten Gliedes des Leibes Christi, oder irgend eines Gliedes der
Familie Gottes, antasten könnte, so bleibt doch auf der
andern Seite der Gedanke an den Richterstuhl stets sehr
ernst und wichtig. Und niemand wird diesen Ernst und
diese Wichtigkeit tiefer fühlen, als diejenigen, welche ihm
mit völliger Ruhe entgegensehen können. Beachten wir es
wohl, daß zwei Dinge unumgänglich nötig sind, um diese
Ruhe des Geistes zu gemeßen. Zunächst muß unsre Errettung, unsre Annahme in dem Geliebten, eine vollendete
und uns bewußte Thatsache sein, und zweitens darf es
in unserm praktischen, moralischen Zustande nichts Ungesundes geben. Mögen wir auch über die Frage unsrer
Errettung und unsers Anrechts auf die Herrlichkeit droben noch so klar sein, so wird das doch nicht genügen,
es sei denn daß wir in moralischer Reinheit vor Gott
wandeln. Es ist völlig wertlos und unwahr, wenn
62
jemand sagt, er fürchte den Richterstuhl Christi nicht,
weil Christus für ihn gestorben sei, während er zugleich
in einer gleichgültigen, sorglosen und fleischlichen Gesinnung wandelt. Es ist dies eine der schrecklichsten Täuschungen Satans, eine Unwahrheit und Lüge. Wir können unmöglich Freimütigkeit zu Gott haben, so lange
unser Herz uns verurteilt. Es ist im höchsten Grade erschreckend, wenn jemand die gesegnete Wahrheit unsrer
vollkommenen Errettung in Christo dazu benutzt, die heilige Verantwortlichkeit, die auf ihm, als einem Diener
Christi, ruht, zu schwächen. Sollen wir unnütze Worte
aussprecheu, weil wir wissen, daß wir nie ins Gericht
kommen werden? Der bloße Gedanke ist erschreckend und
beleidigt ein jedes aufrichtige Herz. Und doch kann es
wohl sein, daß wir vor diesem Gedanken, sobald er in
deutliche Worte gekleidet ist, zurückschrecken, während wir
uns zu gleicher Zeit, durch eine falsche Anwendung der
Lehre von der Gnade Gottes, zu einer höchst verderblichen und strafbaren Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit in
unserm Wandel verleiten lassen.
Der Herr gebe uns ein geöffnetes Ange und ein 
zartes Gewissen! Die Gnade, welche uns von allem Gericht befreit hat, sollte in der That einen mächtigeren Einfluß auf unser ganzes Verhalten ausüben, als die Furcht
vor dem Richterstuhl Christi. Und nicht nur das; wir
dürfen auch nicht vergessen, daß wir, obwohl als Sünder vor dem Gericht und dem Zorne Gottes sicher gestellt, als Knechte von uns und von allen unsern
Wegen Rechenschaft zu geben haben werden. Es handelt
sich nicht darum, daß wir hier oder dort vor Menschen
oder Engeln blosgestellt werden. Nein, sondern „ein jeder
63
von uns wird für sich selbst Gott Rechenschaft geben."
(Röm. 14, 11. 12.) Das ist weit ernster und wichtiger,
ja weit mehr geeignet, einen heilsamen Einfluß auf all
unser Thun und Lassen auszuüben, als der Gedanke, vor
den Augen irgend eines Geschöpfes blosgestellt zu werden.
„Alles, was ihr thut, arbeitet von Herzen, als dem
Herrn und nicht den Menschen, da ihr wisset, daß ihr
vom Herrn empfangen werdet die Vergeltung des Erbes;
ihr dienet dem Herrn Christo. Denn wer Unrecht
thut, wird empfangen das Unrecht, das er gethan hat;
und da ist kein Ansehen der Person." (Kol. 3, 23—25.)
Welch eine ernste Wahrheit! Indes möchte gefragt
werden: „Wann werden wir denn Gott Rechenschaft zu
geben habens Wann werden wir die Vergeltung empfangen?" — Es wird uns nicht gesagt, weil es sich darum
gar nicht handelt. Der Zweck des Heiligen Geistes in den
angeführten Stellen ist einfach der, das Gewissen in der
Gegenwart Gottes und des Herrn Jesu Christi in eine
heilige Uebung zu bringen. Wie notwendig dies ist in
den Tagen eines oft leichtfertigen und oberflächlichen Bekenntnisses, wie die heutigen sind, braucht kaum gesagt zu
werden. Vielleicht hat es noch nie eine Zeit gegeben, wo so
viel und so allgemein von einer freien, unumschränkten
Gnade, von einer Rechtfertigung ohne Werke, von der
Unantastbarkeit der Stellung des Gläubigen in Christo
Jesu geredet worden ist, wie gerade in der gegenwärtigen.
Und gewiß haben wir alle Ursache, dem Herrn dafür zu
danken, daß Er diese gesegneten Wahrheiten den Seinigen
wieder mehr ins Gedächtnis gerufen hat, und fern sei
es von uns, das Bewußtsein dieser herrlichen Dinge irgendwie
schmälern und schwächen zu wollen. Im Gegenteil wird
64
es das eifrige Bestreben eines jeden treuen Dieners
Christi sein, die Gläubigen in die göttliche Kenntnis und in
den Genuß aller jener kostbaren Vorrechte mehr und mehr
einzuführen. Aber wir dürfen dennoch nicht vergessen,
daß jedes Ding zwei Seiten hat; und wir finden demzufolge auch in den Schriften des Neuen Testamentes unmittelbar neben den klarsten und umfassendsten Darstellungen der unergründlichen Gnade Gottes höchst ernste
und feierliche Erinnerungen an unsre heilige Verantwortlichkeit. Werden die erstem durch die letztem verdunkelt?
In keiner Weise. Aber ebensowenig sollten wir die
erstern benutzen, um die letztem dadurch zu schwächen.
Beiden sollte von uns stets der rechte Platz gegeben werden, und wir sollten beiden erlauben, ihren bildenden Einfluß
auf unsern Charakter und unser Verhalten auszuüben.
Manche, welche Christen zu sein bekennen, scheinen
die Worte: „Pflicht" und „Verantwortlichkeit" sehr ungern zu hören. Aber wir werden stets finden, daß gerade
diejenigen, welche das tiefste Bewußtsein von der in Christo
Jesu geoffenbarten Gnade Gottes besitzen, zugleich auch,
und zwar als eine notwendige Folge, am tiefsten ihre
Pflicht und Verantwortlichkeit fühlen. Ein Herz, das
unter dem richtigen Einfluß der göttlichen Gnade steht,
wird auch sicher jeden Hinweis auf die Ansprüche der
Heiligkeit Gottes willkommen heißen. Wer nichts von
der Pflicht und der Verantwortlichkeit des Christen hören
will, kennt auch in Wahrheit nichts von der Gnade Gottes und von der Stellung des Gläubigen in Christo.
Gott muß Wirklichkeit haben. In Seiner Liebe und
Treue gegen uns ist alles Wahrheit und Wirklichkeit, und
so muß auch in unserm Verhalten Ihm gegenüber und
65
in unsrer Antwort auf die Ansprüche und Forderungen
Seiner Heiligkeit volle Wahrheit und Wirklichkeit vorhanden sein. Es ist ganz wertlos, zu rufen: „Herr, Herr!"
wenn wir zugleich in der Vernachlässigung Seiner Gebote wandeln. Es ist nichs als Täuschung und Trug,
wenn wir sagen: „Ich gehe Herr," und bleiben ruhig
da, wo wir sind. Gott erwartet Gehorsamvon Seinen
Kindern. Er ist ein Belohner derer, die Ihn fleißig
suchen.
Möchten wir dies nie vergessen und zugleich stets im
Gedächtnis behalten, daß alles vor dem Richterstuhl Christi
ans Licht kommen wird. Wir müssen dort alle geoffenbart werden. Dieser Gedanke erfüllt ein wahrhaft aufrichtiges Herz mit unvermischter Freude. Wenn wir nicht
mit Freude an den Richterstuhl Christi denken können, so
muß irgend etwas bei uns nicht in Ordnung sein. Entweder sind wir nicht befestigt in der Gnade, oder wir
wandeln in einer verkehrten Weise. Wenn wir wissen, daß 
wir gerechtfertigt und annehmlich gemacht sind vor Gott in
Christo, und wenn wir in moralischer Reinheit in Seiner
Gegenwart wandeln, so kann der Gedanke an den Richterstuhl unsre Herzen nicht beunruhigen. Der Apostel
konnte sagen: „Gott sind wir offenbar geworden; ich hoffe
aber auch in euerm Gewissen offenbar geworden zu sein."
(V. 11.) War Paulus bange vor dem Richterstuhl?
Beunruhigte ihn der Gedanke, dort geoffenbart zu werden,
in irgend einer Weise? O nein! Und warum nicht? Weil
er wußte, daß er, was seine Person betraf, vor Gott
annehmlich gemacht war in einem auferstandenen Christus,
und weil er im Blick auf sein Verhalten, auf seinen Wandel, sagen konnte: „Deshalb beeifern wir
66
uns auch, ob einheimisch oder ausheimisch, Ihm wohlgefällig zu sein." (V. 9.) So stand es mit diesem treuen
Knechte Christi. Er durfte vor dem Landpfleger Felix
und angesichts seiner Ankläger auf sein Leben Hinweisen
und mit aller Freimütigkeit sagen: „Darum übe ich mich
auch, allezeit ein Gewissen zu haben ohne Anstoß vor
Gott und den Menschen." (Apstgsch. 24, 16.) Paulus
wußte, daß er angenommen war in Christo, und deshalb bemühte er sich, auch von Ihm angenommen zu
werden, d. h. in allem Ihm wohlgefällig zu sein.
Diese beiden Dinge sollten nie von einander getrennt
werden, und sie werden sich auch in einem von Gott belehrten Herzen und in einem von Gott geleiteten Gewissen
stets vereinigt finden. Sie gehören zusammen und erweisen, wo sie vorhanden sind, in heiliger Harmonie stets
ihr bildende Kraft. Es ist unser Vorrecht und sollte
unser stetes Bestreben sein, jetzt schon in dem Lichte des
Richterstuhls zu wandeln. Dies würde in mancher Hinsicht einen, heilsamen Einfluß auf unser Verhalten ausüben. Könnte es, wie manche zu meinen scheinen, einen
gesetzlichen Geist in uns wachrufen? Unmöglich. Wird
sich noch irgend welche Gesetzlichkeit in uns finden, wenn
wir dereinst vor dem Richterstuhl Christi stehen werden?
Sicherlich nicht. Wie könnte denn der Gedanke an diesen
Richterstuhl jetzt einen gesetzlichen Geist in uns erwecken?
Nein, ich wiederhole es noch einmal: Das Bewußtsein,
daß alles völlig geoffenbart werden wird in dem Lichte
jenes immer näher kommenden Tages, wird für ein wahrhaft aufrichtiges Herz überaus köstlich sein. Wir werden
dann alles sehen, wie Christus es sieht, alles beurteilen,
wie Er es beurteilt. Wir werden inmitten dieses voll-
67
kommenen Lichtes, das von dem Richterstuhl ausstrahlt,
einen Rückblick auf unsern ganzen Weg durch diese Welt
werfen und alles sehen, wie es in Wahrheit ist. Wir
werden sehen, welche Fehler wir gemacht, welche Irrtümer wir
begangen haben — wie verkehrt wir dieses und jenes 
gethan, und welch falsche Beweggründe uns oft, vielleicht
unbewußt, geleitet haben; wir werden erkennen, wie oft
wir nicht die Ehre unsers Herrn, sondern unsre eigne
Ehre und die Befriedigung der Wünsche unsrer alten
Natur gesucht haben, aber auch, mit welch einer Liebe,
Langmut und Geduld der Herr uns getragen und geleitet hat, wie Er in allen den Wegen, die Er uns geführt und die uns oft so unverständlich waren, unser Bestes,
und nur unser Bestes, im Auge hatte. Alles das und
mehr noch werden wir in dem untrüglichen Lichte des
Richterstuhls in göttlicher Klarheit schauen. Handelt es
sich dabei um unsre Blosstellung vor den Augen des ganzen Weltalls? Durchaus nicht. Und selbst wenn das der
Fall wäre, würde es uns irgendwie beunruhigen können?
Würde es unsre Annahme in dem Geliebten in irgend
einer Weise antasten? Nein, nein; wir werden dort leuchten in all der Vollkommenheit und Schönheit unsers auferstandenen und verherrlichten Hauptes. Der Richter selbst
ist unsre Gerechtigkeit. Wir sind in Ihm. Wer oder 
was könnte uns antasten? Wer Anklage gegen uns erheben? Wir werden dort geoffenbart werden als die 
Frucht Seines vollkommenen Werkes; ja, wir werden mit
Ihm eins sein in dem Gericht, welches Er ausübt.
Ist das nicht genug, um jede Frage zu entscheiden,
jede Schwierigkeit zu lösen? Sicher und gewiß. Doch es
giebt noch einen andern Punkt in Verbindung mit dem
68
Richterstuhl, bei welchem wir noch einen Augenblick verweilen müssen. Es ist dies die Belohnung von seiten des
Herrn für alles das, was wir in Einfalt und Treue,
wenn auch in großer Schwachheit, für Ihn gethan haben.
Obwohl Seine Gnade allein das Gute in uns wirken und
uns zu irgend einem Dienst befähigen kann, so will Er
doch nichts vergessen, was um Seinetwillen von uns hienieden geschehen ist. Nicht einmal ein Trunk Wassers,
aus Liebe zu Ihm gereicht, soll vergessen werden. Welch 
eine bewunderungswürdige Gnade! Wie sollte sie uns
anspornen, acht zu haben auf unsern persönlichen Wandel
und Dienst! Der Herr gebe uns, das wir uns als solche verhalten, die bereits in dem Lichte sind und deren einziger
Wunsch es ist, das zu thun, was unserm anbetungswürdigen Herrn wohlgefällt, und dies nicht etwa aus Furcht
vor dem Richterstuhl, sondern unter dem Einfluß Seiner
Liebe. „Die Liebe des Christus drängt uns, indem wir
also geurteilt haben, daß einer für alle gestorben ist und
somit alle gestorben sind. Und Er ist für alle gestorben,
auf daß die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben,
sondern Dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt 
worden." (V. 14—15.) Das ist die allein w.chre
Quelle und Triebfeder, aus welcher jeder christliche Dienst
hervorgehen sollte. Nicht die Furcht vor einem drohenden
Gericht ist es, die uns antreiben und drängen sollte, sondern die Liebe des Christus; und wir dürfen versichert
sein, daß wir nie ein tieferes Gefühl von dieser Liebe
haben werden, als gerade dann, wenn wir vor dem Richterstuhl Christi stehen.
(Schluß folgt.)
69
Einige Worte über die Feier des Abendmahls
nach der Schrift.
i.
Das Abendmahl des Herrn ist da? teure Vermächtnis des von Seinen Jüngern scheidenden Heilandes. Er
hat es den Seinigen für die Zeit Seiner sichtbaren Abwesenheit — „bis Er kommt" — hinterlassen, auf daß
sie dadurch an Seine Liebe erinnert werden und ihrerseits
durch die Feier desselben Seiner in Liebe gedenken möchten. Weil Er sie so unvergleichlich liebt, hat Sein Herz
das Bedürfnis, von ihnen wiedergeliebt zu werden. Da
nun aber ihre Liebe nur durch das Bewußtsein Seiner
Liebe erweckt und genährt werden kann, so wollte Er
durch das von Ihm gestiftete Gedächtnismahl ihnen einerseits eine beständige Erinnerung an den durch Seinen
Tod für sie gelieferten höchsten Beweis Seiner Liebe
hinterlassen, und andrerseits ihnen Gelegenheit geben, durch
die Verkündigung Seines Todes ihrer Liebe zu Ihm und
ihrem dankbaren Andenken an Ihn einen für Sein Herz
kostbaren Ausdruck zu geben. „Thut dies zu meinem Gedächtnis."
Er rechnet fest auf die Liebe der Seinigen und darf
gewiß auch erwarten, daß der Wunsch Seines Herzens,
Seine teuer Erkauften mit glücklichen, dankbaren Herzen
um Seinen Tisch versammelt zu sehen, durch sie erfüllt
werde. Gleichgültigkeit gegen Seinen Tisch würde demnach nur der Beweis von Gleichgültigkeit gegen Ihn selbst
sein. Dagegen wird es jedem, der den Herrn wirklich
liebt, am Herzen liegen, die Feier des Abendmahls in einer
richtigen und würdigen Weise zu begehen, wie wir
70
die Anleitung dazu in Seinem Worte finden. Untersuchen wir
deshalb das Wort etwas näher über diesen Gegenstand.
Bei der Einsetzung, die wir in Matth. 26, 26 — 28,
Mark. 14,22—24, Luk. 22,19. 20 und 1. Kor. 11, 23—25
beschrieben finden, hat der Herr keine weiteren Vorschriften gegeben, als: „Thut dies Zu meinem Gedächtnis."
Doch hat Er, nachdem Er das Werk der Erlösung vollbracht und Seinen Platz zur Rechten Gottes eingenommen
hat, den Heiligen Geist gesandt, um die Seinigen in
allem zu leiten und zu unterweisen, Seinen eignen Gedanken und dem Verhältnis gemäß, in welches Er sie zu 
sich selbst und dem Vater gebracht hat. Diese Leitung
und Unterweisung wird also gewiß auch nicht fehlen in
bezug auf das Abendmahl des Herrn.
Die erste Wirkung des vom Himmel gekommenen
Heiligen Geistes finden wir beschrieben in Apstgsch. 2.
Der Herr hatte (Matth. 16, 18.) gesagt, daß Er auf den
Felsen der durch Simon Petrus bekannten Wahrheit:
„Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes,"
„Seine Versammlung bauen" wolle, welche die Pforten
des Hades nicht überwältigen würden. Er selbst überlieferte sich für sie den Pforten des Hades; doch vermochten diese Ihn nicht zu überwältigen, indem Er daraus hervorging und über sie triumphirte in der Kraft eines unauflöslichen Lebens, als der Sohn des „lebendigen" Gottes.
Nach Seiner Auferstehung stellte Er die Seinen auf den
Boden Seines siegreich vollbrachten Werkes und führte sie
ein in Seine eigne Stellung zu Seinem Gott und Vater.
Er sandte Maria Magdalena zu Seinen Jüngern mit
den Worten: „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und
sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu
71
euerm Vater, und zu meinem Gott und zu euerm Gott."
(Joh. 20, 17.) Dann teilte Er ihnen den Geist des
Lebens mit, machte sie Seines Auferstehungslebens, des
ewigen Lebens, teilhaftig, so daß auch über sie der Tod
keine Macht mehr hat. Am Pfingstfeste zu Jerusalem
wurden sie „mit der Kraft aus der Höhe angethan;" sie
empfingen den Heiligen Geist, der in ihnen und durch sie
ein lebendiges Zeugnis von dem zur Rechten Gottes erhöhten Christus ablegte. Dieses Zeugnis durch den Mund
des Petrus hatte die Wirkung, daß an jenem Tage bei
dreitausend Seelen zum Herrn bekehrt wurden. Dadurch
war der Anfang gemacht zu der Erfüllung der Verheißung
des Herrn hinsichtlich des Bauens Seiner Versammlung.
Diese Versammlung war jetzt in ihren Erstlingen vorhanden. Durch die Kraft des Heiligen Geistes war sie ins
Leben gerufen, und Er war in noch ungehemmter Kraft
in ihr wirksam, um sie zu leiten.
In Apstgsch. 2, 42—47 sehen wir, worin diese Leitung des Geistes inmitten der in der ersten Frische stehenden Versammlung sich offenbarte. Wir lesen dort: „Sie
verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten.
Es kam aber jede Seele Furcht an, und es geschahen
viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle die
Gläubigen aber waren zusammen und hatten alles gemein;
und sie verkauften die Güter, und die Habe verteilten sie
an alle, je nachdem irgend einer Bedürfnis hatte. Und
indem sie täglich einmütig im Tempel verharrten und zu
Hause das Brot brachen, nahmen sie Speise mit Frohlocken und Einfalt des Herzens, lobten Gott und hatten
Gunst bei dem ganzen Volke." Unter den durch die mäch­
72
tige Wirkung des Heiligen Geistes hervorgebrachten Früchten,
die uns in obigem Abschnitt mitgeteilt werden, sind besonders zwei für den Zweck der gegenwärtigen Betrachtung
von Wichtigkeit, nämlich die Gemeinschaft und das
Brechen des Brotes. In dem erstem sehen wir
die Verwirklichung der Bitte des Herrn in Joh. 17, 11:
„Heiliger Vater, bewahre sie in Deinem Namen, den Du
mir gegeben hast, auf daß sie eins seien, gleichwie
wir," und: „Aber nicht für diese allein bitte ich, sondern
auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben,
auf daß sie alle eins seien, gleichwie Du, Vater,
in mir, und ich in Dir, auf daß auch sie in uns
eins seien, auf daß die Welt glaube, daß Du mich
gesandt hast." (V. 20. 21.) In dem zweiten erblicken
wir die Erfüllung des Wunsches des Herrn: „Thut
dies zu meinem Gedächtnis." Der Heilige Geist
kann in den Herzen der Gläubigen nichts anderes hervorbringen, als was mit den Gedanken ihres himmlischen
Herrn in Uebereinstimmung ist. Deshalb wird Er stets und 
überall, wo Er ungehindert in den Gläubigen wirken kaun, das
Gefühl der Einheit unter einander wachrufen, sowie das Bedürfnis der Liebe hervorbringen, ihres abwesenden Herrn
in der Verkündigung Seines Todes zu gedenken. Er wird
sie leiten, beides zu verwirklichen, darin „zu verharren."
Wo aber der Heilige Geist betrübt und dadurch Seine
Wirksamkeit gehindert wird, da schwindet einerseits das
Bewußtsein der Einheit, und andrerseits tritt Gleichgültigkeit gegen den Tisch des Herrn hervor. Und wie sehr
giebt das Bild, das uns jetzt in der Gesamtheit der
Gläubigen, welche die Versamlung Gottes auf Erden bilden, vor Augen tritt, davon Zeugnis, daß der Heilige
73
Geist in ihrer Mitte betrübt und Seine Wirksamkeit
gehemmt worden ist. Welch eine Zerrissenheit statt Einheit, welch eine Nachlässigkeit statt eines treuen Verharrens im Brechen des Brotes nach der Anweisung des
Herrn!
In jener ersten Versammlung in Jerusalem war das
Gefühl der Einheit so mächtig, daß die ganze Menge der
Gläubigen ein Herz und eine Seele war, und sogar
ihre irdische Habe als Gemeingut betrachtet wurde.
(Apstgsch. 4, 32—35.) Und so sehr „verharrten sie im
Brechen des Brotes," daß sie es, wie eS scheint, mit jeder
Abend-Mahlzeit verbanden. Es war eben die Offenbarung
der völligen Herrschaft des Heiligen Geistes über die
menschliche Natur, deren gewöhnliche Kundgebungen: Selbstsucht und Eigenliebe, hier der Ausübung der Liebe zum
Herrn und zu den Seinigen Platz gemacht hatten. *)
Doch wie bald gelang es dem Widersacher des Herrn,
dieses herrliche Bauwerk Gottes, Seine zweite Schöpfung,
in ihrer sichtbaren Darstellung zu verderben, wie er
auch die erste Schöpfung verdorben hatte. Freilich ist eS
unmöglich, daß das Fundament der Versammlung erschüttert und ihr Gebäude, als Behausung Gottes im Geist
betrachtet, (Eph. 2, 20—22.) gestürzt werden könnte, denn
das Fundament ist Christus, der Baumeister Gott, das
Material lebendige Steine, zusammengefügt durch den
*) Beiläufig müssen wir hier bemerken, daß diese Versammlung nur aus gläubig gewordenen Juden bestand, die auch vorerst in'Verbindung mit dem Tempel und dem Gottesdienst der
Väter blieben. Das später geoffenbarte Geheimnis von der Einheit des Leibes Christi, dessen Glieder aus Juden- und HeidenChristen bestehen, die durch den Heiligen Geist zu einem Leibe
getauft sind, war ihnen noch unbekannt.
74
Heiligen Geist. Von diesem Gesichtspunkt aus, d. h. mit
den Augen Gottes betrachtet, ist die Versammlung, die
den Leib Christi bildet, unantastbar und unverderblich.
Aber was unsre Augen in unsern Tagen sehen von der
Versammlung auf der Erde, das sieht eher einem Trümmerhaufen ähnlich, als dem in göttlicher Reinheit und
Schönheit dastehenden Bauwerke jener ersten Versammlung
in Jerusalem. Und wer trägt die Schuld an diesem Verfall? Die Gesamtheit der Gläubigen und jeder Einzelne
von ihnen hat sich darüber zu richten, daß der in ihrer
Mitte und in ihren Herzen heute wie damals wirkende
Heilige Geist betrübt, und daß Seine Wirksamkeit durch
ihre Untreue so sehr gehemmt ist, daß von der Einheit
der Gläubigen nichts mehr zu sehen, der Tisch des Herrn
fast überall durch ihre Vermischung mit der Welt entweiht
und durch ihre Zersplitterung zum Parteitisch geworden 
ist. Die Treuesten unter ihnen werden sich am meisten
darüber demütigen, in dem Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit mit allen übrigen Gläubigen; denn „wenn ein
Glied leidet, so leiden alle Glieder mit."
Wenn in jener völlig unter der Herrschaft des Heiligen Geistes stehenden Versammlung zu Jerusalem täglich
in den Privathäusern das Brot gebrochen wurde, so war
dies der gottgemäße, durch den Geist gewirkte Ausdruck
ihres Zustandes. ES geschah in dem lebendigen Gefühl
der Einheit untereinander, und unter dem mächtigen Drange
der Liebe zum Herrn, so oft wie möglich „dies zu thun
zu Seinem Gedächtnis." Heute würde eine Nachahmung
dieser Art des Brotbrechens bei dem Zustande der Versammlung Gottes auf der Erde, wo das Gefühl der Einheit fast ganz mangelt, die Gefahr in sich schließen, die­
75
ses Gefühl noch mehr zu zerstören, als es bereits geschehen
ist. Ebenso würde eine Nachahmung der damals unter
der Herrschaft und Verwaltung des Heiligen Geistes stehenden Gütergemeinschaft heute zu den gröbsten Mißbräuchen
führen, weil die Macht des Heiligen Geistes, die allein
die Selbstsucht der menschlichen Natur unterdrücken kann,
jetzt durch die Untreue der Christen geschwächt, ja vielfach
fast wirkungslos gemacht ist.
Die ersten Anfänge dieses Verfalls traten, wie gesagt, schon bald in der ersten Versammlung zu Jerusalem
hervor. Nachdem „Satan das Herz von Ananias und
Sapphira erfüllt hatte," um den Heiligen Geist zu belügen, (Apstgsch. 5, 3.) und der Widersacher auf diese Weise
Eingang gefunden in das Heiligtum der durch den Heiligen Geist geleiteten Versammlung, sehen wir schon in
Kapitel 6, daß das Mein und Dein wieder seine traurige
Rolle spielte. An die Stelle des herrlichen Zustandes, wo
die Gläubigen ein Herz und eine Seele waren und alles
gemein hatten, trat ein Murren über Zurücksetzung der
Einen gegen die Andern. Und wenn auch die Macht des
Heiligen Geistes noch vorhanden war, um das Böse sofort
zu unterdrücken, gottgemäße Anordnungen zu treffen und
das Zeugnis der Wahrheit so mächtig zu machen, daß die
Zahl der Jünger sich sehr vermehrte, so sehen wir doch
das Fleisch bei den Gläubigen nicht mehr so völlig unter
der Herrschaft des Geistes, wie im Anfang. Die unbedingte Gemeinschaft der Güter hörte auf.
Damit in Verbindung stand auch ohne Zweifel eine
Aenderung in bezug auf die Feier des Abendmahls. Denn
wir ersehen aus Apstgesch. 20, 7, daß das tägliche
Brotbrechen aufgehört hatte, indem die Gläubigen sich
76
am ersten Tage der Woche versammelten, um
Brot zu brechen. Doch wenn auch eine Schwächung der
Wirksamkeit des Heiligen Geistes hierin zu erblicken ist,
so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß auch das Zusammenkommen am ersten Wochentage zum Brotbrechen
eine Frucht Seiner Leitung war.
Der Heilige Geist verläßt die Versammlung der Gläubigen nicht, (Joh. 14, 16. 17.) selbst wenn der Zustand
derselben Seine unbeschränkte Wirksamkeit nicht zuläßt. Er leitet sie dann ihrem Zustande entsprechend. So
leitete Er, als Seine Wirksamkeit in der ersten Versammlung durch nichts gehindert war, die Gläubigen, in dem
Gefühl ihrer Einheit, alle ihre Habe als gemeinschaftliches
Besitztum zu betrachten, sodaß „keiner dürftig unter
ihnen war." Nachdem der geschwächte Zustand, den
wir in Apstgesch. 6, 1 finden, hervorgetreten war, traf
Er Anordnungen, die diesem Zustande entsprachen, und
später, als der geistliche Zustand noch weiter zurückgegangen war, gab Er durch die Apostel Anweisungen für die
Reichen und die Armen. Diese Anweisungen sind
noch jetzt, in dem schwachen Zustande, in welchem die Versammlung sich befindet, für uns maßgebend als göttliche Ordnungen, festgestellt durch die Autorität der
Apostel unter der Leitung des Heiligen Geistes. Nach
dem Heimgang der Apostel wirkt der Heilige Geist zwar
immer noch in der Versammlung, aber Seine Wirksamkeit
steht stets in engster Verbindung mit dem geschriebenen
Worte, weil dieses durch Ihn eingegeben worden ist; nach
der Apostelzeit ist das Wort als einzige Autorität
übriggeblieben. Wenn deshalb jetzt etwas als Leitung des
-Geistes ausgegeben werden sollte, was nicht mit dem ge­
77
schriebenen Worte in völliger Uebereinstimmung ist, so haben wir es zu verwerfen.
Wenn wir nun hinsichtlich des Abendmahls in
Apstgesch. 20, 7 sehen, daß an die Stelle des täglichen
Brotbrechens in den einzelnen Häusern die gemeinschaftliche Feier desselben durch die ganze
Versammlung am ersten Wochentage getreten
war, und der Apostel Paulus daran teilnahm, so müssen
wir daraus schließen, daß diese Art der Feier dem Sinne
und der Unterweisung des Heiligen Geistes entsprach, der auch
den Apostel anleitete, dieselbe durch seine Teilnahme mit
apostolischer Autorität zu bekleiden. Und da wir in der
Schrift keine Abänderung dieser Einrichtung durch die
Apostel finden, so dürfen wir annehmen, daß es der Sinn
des Geistes ist, daß die Gläubigen aller Zeiten dadurch
angeleitet werden sollen, sich am ersten Wochentage zu dem
Zwecke zu versammeln, den Tod des Herrn zu verkündigen. *)
Kein Tag ist auch wie dieser so geeignet, die Gläubigen um ihren unsichtbaren Herrn zu vereinigen, um mit
Dank und Anbetung an Seinem Tische Seiner zu gedenken. Der erste Wochentag ist „d er Tag des Herrn."
(Ofsbg. 1, 10.) Es ist der Tag Seiner Ehre, den der
Vater Ihm gegeben, indem Er Ihn durch Seine „Herrlichkeit" am ersten Wochentage aus den Toten auferweckt
hat. (Röm. 6, 4.) Wer den Herrn liebt, dem wird es
am Herzen liegen, Ihn zu ehren, und dem wird es desAbweichungen von dieser Regel sind bedenklich, weil kein
Anhaltspunkt dafür in der Schrift ist. Wir sollten aber ängstlich
sein, besonders auf diesem Gebiete, einen Schritt zu thun, der
nicht durch das volle Licht des göttlichen Wortes beleuchtet ist.
78
halb auch ein erhebendes Gefühl sein, Seinen TagJhmzu
Ehren aus eine würdige Weise zu feiern, denselben nicht
für sich selbst, d. h. zu irdischen Arbeiten oder Vergnügungen, zu benutzen, sondern ihn dem dankbaren Andenken
Dessen zu weihen, der für ihn gestorben und auferstanden ist.
Unter der alten Ordnung der Dinge war der siebente Tag der „Sabbath Jehovas," der nach gesetzlichen Vorschriften Ihm zu heiligen war. Bei dem
ersten Wochentage handelt es sich nicht um eine Verordnung des Gesetzes. Dieses hatte durch den Herrn seine
vollkommne Erfüllung und mit Seinem Tode für die Sünder, die unter demselben standen, sein Ende gefunden.
(Röm. 10, 4.) Das Gesetz forderte von dem Menschen vollkommnen Gehorsam und für den Uebertreter den Tod.
Beide Forderungen sind in Christo erfüllt worden; deshalb kann das Gesetz an den mit Christo gestorbenen und
auferstandenen Gläubigen keine Anforderungen mehr stellen.
Für diesen handelt es sich bei der Feier des ersten Wochentages nur um das Gesetz der Liebe zu seinem Herrn,
um Ihn zu ehren.
Mit dem Auferstehungstage des Herrn begann eine
ganz neue Ordnung der Dinge; eswarderAnfang einer neuen Schöpfung. Die alte, durch die Sünde
verderbte Schöpfung konnte nicht anders als mit dem
über den Menschen ausgesprochenen Tode endigen. Der
in Gnade an die Stelle des Menschen getretene Sohn
Gottes erduldete diesen Tod und führte damit das Ende
der alten Schöpfung herbei für alle, die durch den Glauben zur Gleichheit Seines Todes mitgepflanzt worden
sind. (Röm. 6, 5.) Die Geschichte des ersten Menschen
nahm ihren Anfang im Garten Eden und fand ihr Ende
79
in dem Garten auf Golgatha, in welchem das Grab des
Erlösers war. „Denn der Lohn der Sünde ist der
Tod." (Röm. 6, 23.) Mit dem Auferstehungsmorgen begann die Geschichte des „zweiten Menschen," des
„letzten Adam." (1. Kor. 15, 45—49.) „Wenn jemand
in Christo ist — eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden." (2. Kor. 5, 17.)
Als der Grund der ersten Schöpfung gelegt wurde, „da
jubelten die Morgensterne miteinander, und alle Söhne
Gottes (die Engel) jauchzten." (Hiob 38, 7.) In wie
viel höherem Sinne können jetzt die Gläubigen, die in
Christo, dem Auferstandenen sind, sie, die Söhne Gottes, aus
Gott geboren, „mit einander jubeln und jauchzen" und als
Menschen der neuen Schöpfung Dem ihre Huldigung darbringen, der durch Seinen Tod und Seine Auferstehung
sie in dieses herrliche neue Verhältnis eingeführt hat!
Wenn dies ihre glückliche Beschäftigung einzeln und im
täglichen Leben ist, so werden sie es als ihr besonderes
Vorrecht betrachten, an dem Ehrentage ihres Herrn, dem
ersten Wochentage, sich zu gemeinschaftlichem
Lobe mit allen denen zu vereinigen, die mit ihnen durch
den Glauben au den Früchten des vollbrachten Werkes
ihres Heilandes teilhaben.
Wir sehen denn auch gleich im Anfang der neuen
Ordnung, daß die Liebe zu ihrem Herrn die Jünger am
ersten Wochentage zusammenführte, obwohl sie noch kein
Verständnis von Seinem vollbrachten Werke hatten. Der
Herr erscheint auch persönlich in ihrer Mitte und offenbart
sich ihnen als der aus den Toten Auferstandene, indem
Er ihnen den Frieden verkündigt, den Er durch Seinen
Kreuzestod gemacht hatte. (Joh. 20, 19. 20.) Dann hö­
80
ren wir von den darauf folgenden sechs Wochentagen nichts.
Aber acht Tage später, also wieder am ersten Wochentage, sehen wir die Jünger aufs neue versammelt, und der
Herr tritt wieder in ihre Mitte mit Seinem Friedensgruß.
(Joh. 20, 26.) Der Herr bestätigt dadurch augenscheinlich ihr Zusammenkommen am ersten Wochentage, und die 
Gläubigen aller Zeiten, bis zu Seiner Wiederkunft, können
darin einen Fingerzeig erblicken, daß es ganz in Uebereinstimmung mit Seinen Gedanken ist, wenn sie sich an
diesem Tage um Ihn versammeln, in der glücklichen Gewißheit, Ihn persönlich in ihrer Mitte zu haben, gemäß
Seiner Verheißung in Matth. 18, 20: „Wo zwei oder
drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in
ihrer Mitte." Daß die durch den Heiligen Geist geleiteten Apostel die Gläubigen ihrer Tage in diesem Sinne
belehrt haben, geht aus Apstgesch. 20, 7 und 1. Kor. 16,2
hervor; aus letzterer Stelle außerdem noch, daß sie an
jedem ersten Wochentage sich versammelten, also nicht
in größeren Zwischenräumen. Wir können also bemerken,
daß der Vater, der Sohn und der Heilige Geist diesen
Tag vor den andern ausgezeichnet haben, indem an demselben der Vater „durch Seine Herrlichkeit" Seinen Sohn
auferweckte, (Röm. 6, 4.) der Sohn die durch Seine Auferstehung hervorgebrachte neue Ordnung der Dinge verkündigte (Joh. 20, 17.) und in der Mitte Seiner Jünger erschien, und der Heilige Geist endlich durch die Apostel
die Gläubigen anleitete, sich zu versammeln und das Brot
zu brechen. Wenn wir deshalb in Uebereinstimmung mit
dem dreieinigen Gott handeln wollen, so werden auch wir
den ersten Wochentag als einen dem Herrn geweihten Tag
betrachten und ihn als solchen verbringen.
81
Unter der alten Ordnung der Dinge folgte der
Ruhetag auf sechs Arbeitstage, entsprechend dem Wesen
des Gesetzes, welches das Leben verhieß als eine Folge
vollkommner Erfüllung desselben: „Thue dies, und du
wirst leben." (Luk. 10, 28.) Die Ruhe sollte auf die
Arbeit folgen. Die Gnade hat, nachdem es erwiesen,
daß auf dieser Grundlage alles verloren war, eine neue
Ordnung eingeführt, indem sie das ewige Leben in Christo
als freie Gabe dem schenkt, „der nicht wirkt, sondern
an Den glaubt, derben Gottlosenrechtfertigt;" (Röm. 4,
5; 6, 23.) auf daß die, welche in Christo das Leben
empfangen haben, „nicht mehr sich selbst leben, sondern
Dem, der für sie gestorben und auferweckt ist." (2. Kor.
5, 15.) Das Leben ist also nicht die Folge, sondern die
Grundlage unsrer Thätigkeit. Demgemäß folgt jetzt die Arbeit auf die in dem vollbrachten Werke Christi erlangte
Ruhe — die sechs Arbeitstage auf den Ruhetag, den
ersten der Woche. Es ist deshalb wohl anzunehmen, daß
der Charakter unsrer Thätigkeit in der Woche dem Werte
entsprechen wird, welchen wir der Feier des ersten Wochentages beilegen, oder, mit andern Worten, daß die Art,
wie wir den Tag des Herrn feiern, Einfluß auf die
ganze Woche ausüben wird. Die Werke des Glaubens,
die allein Wert haben, können nur herauswachsen aus
der Ruhe, die unsre Seelen genießen in dem vollbrachten Erlösungswerke und in der innigen Gemeinschaft mit
unserm verherrlichten Heilande. (Fortsetzung folgt.)
82
Was ist die Wahl deines Herzens?
Darf ich dich fragen, mein lieber Leser, auf welche
von all den Dingen und Gegenständen, die sich dir im Lause
der Jahre dargeboten haben, die Wahl deines Herzens
gefallen ist? Sind es die Vergnügungen und Freuden
dieser Welt? Ist es Geld, Ehre, ein einträgliches Geschäft
oder etwas dergleichen? Ist es eine geachtete oder gar
glänzende Stellung in der menschlichen Gesellschaft? Ist
es Religiosität und äußere Frömmigkeit, oder — ist es
Christus? Das Herz Gottes ist auf Ihn allein gerichtet. Er findet Seine Wonne an Jesu, Seinem geliebten
Sohne, wie Er einst Sein ganzes Wohlgefallen an Ihm
fand, als Er hienieden wandelte. Die Welt kannte Ihn
nicht. Sie sagte: „Das ist der Erbe; kommt, laßt uns
Ihn töten!" Sie sah keine Schönheit, nichts Begehrliches und Anziehendes in Ihm. Seine gnädigen Worte,
die Thaten Seiner Liebe, die Zärtlichkeit Seines Herzens
hatten keinen Reiz für die Menschen der damaligen Welt.
Ihre Wahl fiel nicht auf Ihn, sondern ausBarabbas.
„Weg mit Ihm! Kreuzige Ihn!" das waren ihre Worte
dem Herrn des Himmels gegenüber. Wie ernst ist das!
Und das Herz des natürlichen Menschen hat sich seit jener
Zeit nicht verändert. Deshalb möchte ich dich in aller
Liebe fragen: Worauf ist dein Herz gerichtet! Woran
findest du deine Freude? Was ist der Gegenstand deiner Wahl? Du kannst unmöglich zwei Herren dienen.-
Entweder muß es Christus sein, oder es ist etwas
außer Ihm.
Und bedenke wohl, daß du, indem du das Eine
erwählst, das Andere notwendigerweise verwirfst. Die
83
Menschen, welche damals Barabbas erwählten, verwarfen Christum. So ist es stets. Ein jeder Mensch
wählt und verwirft. Die ernste Frage ist daher: Was
wählst, und was verwirfst du? Der Herr mußte
in den Tagen Seines Fleisches den Menschen um Ihn
her sagen: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, auf daß
Ihr das Leben habet." Sie verwarfen Christum und
damit das ewige Leben.
Mein Leser, kennst du Jesum, den Sohn Gottes?
Ich frage nicht, ob du religiös bist und dich zu dieser oder
jener Religionsgemeinschaft bekennst. Nein, ich frage: Ist
Er der Gegenstand der Wahl deines Herzens? Ist Er
auch für dich der Ausgezeichnete vor Zehntausenden, an
welchem alles für deine Seele sehr köstlich ist? Kannst du
von Ihm sagen, wie die Braut im Hohenliede: „Das ist
mein Geliebter, ja, das ist mein Freund?" Es wird der
Fall sein, wenn Er wirklich der Gegenstand der Wahl
deines Herzens ist, wenn du Ihn als deinen Heiland ausgenommen und an Ihn geglaubt hast, als Den, welchen
Gott als eine Sühnung für unsre Sünden in die Welt
gesandt hat.
Ja, mein Freund, was wählst, und was verwirfst du? Mose, der Mann des Glaubens, verwarf die
Ehre der Welt und die zeitliche Ergötzung der Sünde.
Und warum? Weil er etwas Besseres besaß. Als ein
Mann des Glaubens wollte er sich lieber mit den verachteten und bedrückten Jsraliten eins machen, weil sie das
Volk Gottes waren, als an dem königlichen Hofe des
Pharao mit Ehren und Würden überhäuft zu werden.
Er wählte lieber, „mit dem Volke Gottes Ungemach zu
leiden, als die zeitliche Ergötzung der Sünde zu haben.
84
indem er die Schmach Christi für größern Reichtum hielt
als die Schätze Aegyptens; denn er schaute auf die
Belohnung." (Hebr. 11, 25. 26.) Er wußte, daß Gott
denen, die Ihn suchen, ein Belohner ist; und dies ist der
Grundsatz, durch welchen sich der Glaube stets bei seiner
Wahl leiten läßt.
Welche Wahl hast du getroffen, mein Leser? Haft
du die sündlichen Vergnügungen der Welt gewählt, oder 
Christum? O bedenke doch, daß der Gott aller Gnade
heute noch die frohe Botschaft Seines in Christo vollbrachten Heils allen, ja selbst dem vornehmsten der Sünder, verkündigen läßt. Ob auch Tausende und Millionen
Seine Gnade verwerfen, so ist Er doch noch nicht müde geworden, einzuladen und jedem bußfertigen Sünder Vergebung und Frieden anzubieten, und zwar durch den Glauben
an das kostbare Blut Christi. Doch die Zeit der Gnade eilt
ihrem Ende zu. Hüte dich, daß du nicht dereinst zu der
Zahl derer gehörest, welche die schrecklichen Worte aus
dem Munde des Herrn vernehmen müssen: „Weil ich
gerufen, und ihr euch geweigert, meine Hand ausgestreckt, und niemand darauf geachtet hat, und ihr verworfen habt all meinen Rat, und meine Zucht nicht
gewollt, so will auch ich bei euerm Untergange lachen; ich
will spotten, wenn euer Schrecken kommt." (Spr. 1,24—26.)
Möchte sich doch jeder unbekehrte Leser dieser Zeilen bitten lassen, seine Wahl heute noch zu treffen, und möchte
eS die glückliche, gesegnete Wahl sein! Das Werk der
Erlösung ist vollbracht, das Blut der Versöhnung geflossen
— alles ist bereit für einen jeden, der mit Ernst und
Aufrichtigkeit seine Zuflucht zu Jesu nimmt.

Der Dienst der Versöhnung.
(2. Kor. 5, 18—21.)
(Schluß.)
4.
Es giebt noch manche andere Punkte von höchstem
Interesse und Werte in diesem Kapitel, bei denen wir jedoch
nicht länger verweilen können, weil wir dem eigentlichen
Gegenstände unsrer Betrachtung, „dem Dienste der Versöhnung," noch einige Augenblicke unsre Aufmerksamkeit
widmen müssen. Da giebt es nun drei Gesichtspunkte,
von welchen aus wir diesen Gegenstand betrachten können.
Zunächst haben wir uns mit der Grundlage dieses
Dienstes zu beschäftigen, dann mit den Geg enständ en,
an welchen er ausgeübt wird, und endlich mit den Charakt erzeigen, die ihn kennzeichnen. Möge der Heilige
Geist uns in unsrer Betrachtung leiten!
1. Was zunächst die Grundlage betrifft, auf welcher
der Dienst der Versöhnung ruht, so wird uns dieselbe in
dem Schlußverse unsers Kapitels vor Augen gestellt, in
Worten, die voll von göttlicher Kraft und Fülle sind. Wir
lesen da: „Ihn (Christum), der Sünde nicht kannte, hat
Er (Gott) für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir
würden Gottes Gerechtigkeit in Ihm."
Wir finden hier drei Parteien: Gott, Christum und
die Sünde. Das letzte Wort — Sünde — ist der Ausdruck
dessen, was wir von Natur sind. In uns ist nichts als
Sünde; der ganze Mensch, vom Scheitel bis zur Fußsohle,
ist Sünde. Die Sünde hat das ganze System der gefalle-
— 36 —
uen Menschheit durchdrungen. Wurzel, Stamm, Zweige,
Blätter, Blüten und Früchte — alles ist Sünde. Es ist
nicht nur wahr, daß wir gesündigt haben, nein, wir sind
thatsächlich nichts anders als Sünde. Allerdings hat ein 
jeder von uns seine besonderen, ihn kennzeichnenden Sünden.
Wir irrten von Natur nicht nur alle wie Schafe, sondern
ein jeder von uns hatte sich auch aus seinen eignen Weg
gewandt. (Jes. 53, 6.) Ein jeder Mensch verfolgt seinen
eignen Weg der Sünde und Thorheit; und alles das ist
die Frucht jener schrecklichen Sache, „Sünde" genannt.
Das äußere Leben eines jeden Einzelnen ist nichts anders,
als ein Ausfluß derselben bösen Quelle, ein Zweig desselben faulen Baumes.
Doch was ist Sünde? Es ist die Thätigkeit des
eignen Willens in Auflehnung gegen Gott, das Thun der
eignen Lüfte und Begierden, des „Willens des Fleisches
und der Gedanken." Mag die Sünde eine Gestalt annehmen, welche sie will, mag sie sich in ein Gewand enthüllen, wie sie will; mag sie sich in der gröbsten oder
in der feinsten Form offenbaren — die Wurzel und die
Quelle derselben bleibt immer der eigne Wille. ES ist
nicht notwendig, hier in Einzelheiten einzugehen; was wir
allein wünschen, ist, in dem Leser ein tiefes und klares
Bewußtsein von dem Wesen der Sünde zu erwecken, und
nicht nur das, sondern ihn auch zu überzeugen, daß er von
Natur sündig, durch und durch verderbt ist. Wo diese
ernste Thatsache durch die Kraft des Heiligen Geistes
einer Seele zur vollen Gewißheit geworden ist, gleichsam
Besitz von ihr genommen hat, da kann nicht eher wahre,
göttliche Ruhe vorhanden sein, bis sie die in dem oben angeführten Verse (2. Kor. 5, 21.) enthaltene Wahrheit
87
erfaßt und verstanden hat. Die Frage der Sünde mußte
entschieden werden, ehe ein Gedanke an Versöhnung sein
konnie. Gott kann nicht mit der Sünde ansgesöhnt
werden. Er haßt sie mit vollkommnem Hasse. Aber der
gefallene Mensch war ein Sünder in all seinem Thun
und Lassen, und sündig seiner Natur nach. Die Quellen
seines Seins waren verderbt und verunreinigt, und Gott
war heilig, gerecht und wahrhaftig. Er ist zu rein von
Augen, um Böses zu sehen, und die Mühsal vermag Er
nicht anzuschauen. (Hab. 1, 111.) Nimmermehr konnte
daher zwischen Gott und einer sündigen Menschheit von
einer Versöhnung die Rede sein. Wohl ist es eine kostbare, gesegnete Wahrheit, daß Gott gütig, barmherzig und
gnädig ist. Ja, Er ist sehr langmütig, langsam zum
Zorn und von großer Güte; aber Er ist auch heilig, und
Heiligkeit und Sünde können sich nie miteinander verbinden.
Was war nun zu thun? Auf welchem Wege konnte
der heilige Gott mit dem unreinen, unheiligen Sünder in
Verbindung gebracht werden? Hier ist die Antwort:
Gott hat Christum zur Sünde gemacht. Doch
wann und wo ist dies geschehen? Das ist eine Frage
von unermeßlicher Wichtigkeit. Ward Er zur Sünde gemacht in dem Leibe der Jungfrau? Nein. Oder in der
Krippe zu Bethlehem? Nein. Oder als Er sich von Johannes taufen ließ und sich so in Seiner Gnade mit dem
gläubigen Ueberrest Israels auf einen Boden stellte? Nein.
Oder endlich als Er in dem Garten Gethsemane in ringendem Kampfe war? Auch nicht, obwohl dort die Stunde,
in welcher es geschehen sollte, mit allen ihren Schrecken
vor Seine Seele trat. Wo und wann wurde denn das
reine, fleckenlose Lamm Gottes zur Sünde gemacht? Auf
88
dem Kreuze, und auf dem Kreuze allein. Das
ist eine Wahrheit von unendlichem Werte, welche der
Feind Gottes und Seines Wortes auf alle mögliche Weise
zu verdunkeln und beiseite zu setzen sucht; eine Wahrheit,
die gleichsam den Mittelpunkt alles wahren Christentums,
ja den Ausgangspunkt und die Grundlage aller Gnadenwege Gottes einer sündigen, feindseligen Welt gegenüber
bildet. Kein Wunder daher, daß Satan so eifrig bemüht
ist, die Seelen gerade in betreff dieser FundamentalWahrheit in Unkenntnis zu erhalten oder in Verwirrung
zu bringen.
Christus wurde am Kreuze für uns zur Sünde gemacht. Er starb und ward begraben. Die Sünde wurde
gerichtet. Sie begegnete dem gerechten Urteil eines heiligen
Gottes» der nicht den geringsten Flecken von Sünde ungeahndet lassen könnte. Ja, Gott schüttete in der Person
Seines Sohnes Seinen unvermischten Zorn über die Sünde
aus, als dieser Sohn „zur Sünde gemacht" war. Es
ist ein verhängnisvoller Irrtum, wenn jemand glaubt,
Christus habe während Seines Lebens hienieden das
Gericht und den Zorn Gottes wider die Sünde getragen,
oder irgend etwas außer dem Tode Christi habe die Frage
der Sünde in Ordnung bringen können. Der Sohn Gottes konnte Mensch werden, Er konnte leben und arbeiten
auf dieser Erde, Er konnte Seine zahllosen Wunderthaten
verrichten, Er konnte heilen, reinigen und Tote lebendig
machen, Er konnte beten, seufzen und weinen — aber
alles das hätte nicht einen einzigen Flecken von Sünde
auszutilgen vermocht. Der Heilige Geist erklärt einfach
und bestimmt, daß „ohne Blutvergießen keine Vergebung"
ist. (Hebr. 9, 22.)
80
Wenn aber das Leben und Wirken des'Sohnes Gottes,
wenn Seine Gebete, Seine Thränen nnd Seufzer nicht
eine Sünde hinwegnehmen konnten, wie groß ist dann die 
Thorheit eines Menschen, der da glaubt, durch sein Leben
und Wirken, durch seine Gebete und Thränen, durch seine
guten Werke und durch die Beobachtung religiöser Salzungen nnd Ceremonien seine unzähligen Sünden abwaschen
zu können! Thatsächlich stellte das Leben unsers gepriesenen Herrn und Heilandes die Schuld und das hoffnungslose Verderben des Menschen nur um so deutlicher ans
Licht. Außerdem erklärt Er selbst zu wiederholten Malen
die unbedingte und unumgängliche Notwendigkeit Seines
Todes. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das
Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt
es allein; wenn es aber stirbt, so bringt es viele Frucht."
(Joh. 12, 24.) „Da öffnete Er ihnen das Verständnis,
daß sie die Schriften verstanden, und sprach: Also ist's
geschrieben, und also mußte der Christus leiden
nnd am dritten Tage ans den Toten auferstehen." (Luk.
24, 45. 46.) „Wie sollten denn die Schriften erfüllt
werden, daß es also geschehen muß?" (Matth. 26, 54.)
Mit einem Wort, der Tod war der einzige Weg zum
Leben, die einzige Grundlage der Versöhnung, die einzige
Möglichkeit, um zwischen Christo und den Verlornen eine
Verbindung herzustellen. Wir können im Blick auf diese
Wahrheit nicht zu entschieden und zu fest sein. Satan
hat im Widerspruch mit derselben ein gewaltiges Gebäude
des Irrtums errichtet. Er hat in Millionen von bekennenden Christen den Glauben erweckt, daß nicht der Tod,
sondern die Fleischwerdung Christi die Grundlage des
Dienstes der Versöhnung bilde, daß Christus in Seiner
90
Menschwerdung die gefallene, sündige, verderbte Menschheit
mit sich in Verbindung gebracht habe, daß Er- nicht das
reine und kostbare „Weizenkorn" gewesen sei, welches völlig allein stand nnd ohne Eintritt des Todes notwendigerweise allein bleiben mußte, weil zwischen dem, was in
seinem Wesen rein, heilig und fleckenlos war, und dem,
was seiner Natur nach unrein, unheilig und verderbt ist,
unmöglich eine Vereinigung ftattfinden konnte — daß wir
endlich das ewige Leben nicht von einem gestorbenen und
auferweckten, sondern von einem fleischgewordenen Christus
empfingen, und daß dieses Leben genährt und erhalten
würde durch die Beobachtung religiöser Satzungen und
Ceremonien, sowie durch die sogenannten Sakramente der
Kirche. In dieser Weise untergräbt Satan die Grundlagen des Christentums, verblendet die Augen und beruhigt die Gewissen zahlloser bekennender Christen und führt
sie einem gewissen Verderben entgegen.
Doch man möchte fragen: Warum ist es nötig, mit
solchem Ernst und Nachdruck von diesen Dingen zu reden?
Wer leugnet denn die Folgen der Thatsache, daß Christus
gestorben und auferstanden ist? Wir antworten: Alle
diejenigen, welche die Fleischwerdung Christi als die eigentliche Grundlage unsrer Vereinigung mit Christo hinstellen.
Alle diese leugnen den ganzen Kreis von Wahrheiten, welche
mit einem gestorbenen und auferstaudenen Christus in
Verbindung stehen; vielleicht thun viele es unbewußt und
erkennen nicht die Tragweite dessen, was sie thun. Aber
Satan kennt sie, und er weiß auch sehr wohl, wie verderblich jene Lehre wirken muß. Er kennt und verfolgt
seine Ziele mit großer List und Klugheit, und ein jeder
Diener Christi sollte wissen, was alles in der Irrlehre
91
eingeschlossen ist, gegen welche wir unsre Leser so ernstlich
warnen.
Satan sucht durch dieselbe die Seelen der Menschen
vor der Erkenntnis zu verschließen, daß in dem Tode
Christi das Urteil Gottes über die gefallene menschliche
Natur und über die ganze Welt ergangen ist. Dies war
bei der Fleischwerdung durchaus nicht der Fall. Ein
Mensch gewordener Christus stellte den Menschen auf die
Probe, ein gestorbener Christus beweist, daß der Mensch
unter dem Tode ist, und ein auferstandener Christus bringt
den Gläubigen in die innigste Verbindung mit Christo
selbst. Als Christus im Fleische erschien, befand sich der
Mensch noch in einem Zustande der Prüfung. Es war
die letzte Probe, auf welche Gott ihn stellte. Als Christus auf dem Kreuze starb, wurde das endgültige Urteil
über den gefallenen Menschen ausgesprochen, und als Er
aus den Toten auferstand, wurde Er das Haupt eines
neuen Geschlechts, dessen Glieder, lebendig gemacht durch
den Heiligen Geist, von Gott betrachtet werden als mit
Christo vereinigt in Leben, Gerechtigkeit und göttlicher
Gunst, als gestorben, gerichtet und setzt so völlig von
aller Verdammnis befreit, wie Christus selbst es ist. „Er
hat Ihn, der Sünde nicht kannte, für uns zur Süude gemacht, auf daß wir würden Gottes Gerechtigkeit in Ihm."
Einem jeden Leser, der sich der Autorität der Schriften
unterwirft, wird es klar sein, daß die Fleischwerdung
Christi dies nicht zuwege bringen konnte. Sie war nicht
imstande, die Sünde hinwegzunehmen. Daß sie für die
Erfüllung des Versöhnungswerkes unumgänglich nötig war,
ist offenbar. Um sterben zu können, mußte Christus
Mensch werden. Ohne Blutvergießen ist keine Vergebung.
92
Er mußte Sein Fleisch "geben für das Leben der Welt.
(Joh. 6, 51.) Aber gerade diese Worte beweisen die unbedingte Notwendigkeit Seines Todes. Nicht, daß Er
Fleisch und Blut annahm, sondern, daß Er Sein Fleisch
hingab, das war es, was dem Menschen Leben, Vergebung, Frieden, Gerechtigkeit, kurz alle die Segnungen,
die in Christo sind, brachte. Alles, was wir besitzen, haben
wir durch den Tod. Wir wiederholen noch einmal: Nicht
ein sleischgewordener Christus giebt ein Leben, das durch
die Sakramente der Kirche erhalten wird, sondern ein
gekreuzigter und auserstandener Christus ist die Quelle
nnd die Grundlage von allem. Das erstere ist die verführerische Lüge Satans, das letztere die kostbare Wahrheit Gottes. Jenes liegt dem ganzen System des falschen
Christentums unter mancherlei Namen zu gründe, dieses
ist das Fundament des wahren Christentums, die Grundlage aller Ratschlüsse und Vorsätze des ewigen Gottes.
Doch wir dürfen hierbei nicht länger verweilen.
Wir haben zur Genüge gesehen, daß die Worte des Apostels: „Er hat Ihn für uns zur Sünde gemacht," nur
aus den Tod des Herrn ani Kreuze Bezug haben können,
wie der Herr selbst sagt: „In den Staub des Todes
legst Du mich." (Ps. 22.) Welche Worte! Wer könnte 
ihre Tiefen ergründen! Wer könnte die volle Tragweite
der Frage des Herrn verstehen: „Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du mich verlassend" Warum verließ der
heilige, gerechte Gott Den, in dessen Munde kein Betrug
erfunden ward, Ihn, Seinen eingebornen, vielgeliebten
Sohn? Die Antwort enthält die unerschütterliche Grundlage jenes herrlichen Dienstes der Versöhnung, von welchem wir reden. Christus wurde zur Sünde gemacht.
93
Er trug nicht nur unsre Sünden an Seinem eigenen
Leibe auf das Holz, sondern Er wurde zur Sünde
gemacht. Er stand da vor Gott, um die ganze Frage
der Sünde in Ordnung zu bringen. Er war „das Lamm
Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt." Als
solches verherrlichte Er Gott da, wo Er auf die schrecklichste Weise verunehrt worden war. Er verherrlichte Ihn
gerade im Blick aus die Sache, durch welche Seine Majestät beleidigt worden war. Er nahm die ganze Sache
auf sich, stellte sich freiwillig unter das Gewicht der ganzen Last und schuf so den Boden, auf welchem Gott die
Grundlagen der neuen Schöpfung errichten konnte. Er
öffnete jene ewigen Schleusen, welche die Sünde verschlossen
hatte, so daß der volle Strom der göttlichen Liebe durch den
Kanal ausströmen konnte, welchen Sein Versöhnungstod
allein herzustellen vermochte. So lange die Frage der Sünde
nicht geordnet war, konnte von einer Versöhnung keine Rede
sein. Aber Christus wurde zur Sünde gemacht, Er starb
als das vollkommene Sündopfer Gottes und setzte auf
diese Weise Gott in den Stand, in ganz andrer Weise,
wie bisher, mit dem Menschen und der Welt zu handeln.
Der Tod Christi hat es möglich gemacht, den Menschen nnd die ganze Schöpfung in ihr richtiges Verhältnis
zu Gott und auf den ihr zugehörenden Standpunkt vor
Ihn zu bringen. Und beachten wir, daß dies die wahre
Bedeutung des Wortes „Versöhnung" ist. Tie Sünde
hatte den Menschen von Gott entfremdet und die ganze
Schöpfung, alle Dinge, ganz und gar in Unordnung gebracht, und daher bedurften beide, Mensch nnd Schöpfung,
der Versöhnung oder der Wiederherstellung. Hierzu hat
der Tod Christi den Weg gebahnt.
94
Wir thun wohl, den Unterschied zwischen „Sühnung"
und „Versöhnung" zu beachten. Diese beiden Begriffe
werden aus Unachtsamkeit gegenüber der Belehrung des
Wortes Gottes oft mit einander verwechselt; und doch ist
der Unterschied keineswegs unwichtig. Wir führen hier
einige Stellen an, wo die beiden Worte im Neuen Testament vorkommen. Das erstere findet sich z. B. in Hebr.
2, 17; 9, 5; 1. Joh. 2, 2; 4, 10. Das letztere, in
der einen oder andern Form, in Röm. 5, 10. 11; 11, 15;
1. Kor. 7, 11; 2. Kor. 5, 18. 19. 20; Eph. 2, 16;
Kol. 1, 20. 21. Wenn der Leser sich die Mühe nehmen
will, diese Stellen miteinander zu vergleichen, so wird er
finden, daß Sühnung und Versöhnung nicht ein und dieselbe Sache sind, daß vielmehr die erstere die Grundlage
der letzteren bildet. Die Sünde hatte den Menschen zu
einem Feinde Gottes gemacht und alle Dinge in Verwirrung gebracht. Daher lesen wir in Kol. 1, 19-22:
„Es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, in Ihm
zu wohnen und durch Ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen — indem Er Frieden gemacht durch das Blut
Seines Kreuzes (das ist die Grundlage von allem) —
durch Ihn, es seien die Dinge auf der Erde, oder die
Dinge in den Himmeln. Und euch, die ihr einst entfremdet und Feinde wäret nach der Gesinnung durch die
bösen Werke, hat Er aber nun versöhnt in dem
Leibe Seines Fleisches durch den Tod, um ench heilig
und untadelig und unsträflich vor sich hinzustellen." In
diesen Worten wird uns also der Tod Christi als die
Grundlage der Versöhnung, sowohl des Menschen als der
Schöpfung, vor Augen gestellt.
Dies führt uns zu einem andern Punkte von nicht
95
unerheblicher Bedeutung. Man hört oft sagen, selbst von
wahren Christen: „Der Tod Christi war notwendig, um
Gott mit dem Menschen zu versöhnen." Wie
völlig verkehrt dies ist, braucht kaum gesagt zu werden.
Gott hat sich nie verändert; Er hat nie Seine wahre, Ihm
eigentümliche Stellung verlassen. Er bleibt stets treu.
So weit es Ihn betraf, hat es nie eine Verwirrung
oder Entfremdung gegeben, und konnte es nicht geben;
deshalb konnte auch nie die Notwendigkeit eintreten, Gott
mit uns zu versöhnen. Gerade das Gegenteil ist der Fall.
Der Mensch war in die Irre gegangen; er war zu
einem Feinde geworden und bedurfte der Versöhnung.
Aber eine solche Versöhnung war völlig unmöglich, wenn
nicht die Frage der Sünde in gerechter Weise gelöst und
entschieden wurde, und dies konnte wiederum nur geschehen durch den Tod, und zwar durch den Tod Dessen,
der, weil Er Mensch war, sterben konnte und, weil Er
Gott war, den ganzen Wert, die Würde und die Herrlichkeit Seiner göttlichen Person dem von Ihm vollbrachten Versöhnungswerke mitzuteilen vermochte.
Die Schrift spricht daher nie von einer Versöhnung
Gottes mit dem Menschen. Vielmehr lesen wir in unserm
Kapitel: „Gott war in Christo, die Welt — d. h.
Menschen und Dinge — mit sich selbst versöhnend, ihnen
ihre Ilebertretungen nicht zurechnend." Und in dem vorhergehenden Verse: „Alles aber von dem Gott, der
uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesum Christum." Mit einem Wort, cs ist Gott, der uns in Seinem unendlichen Erbarmen, in Seiner Gnade und Liebe,
durch den Versöhnungstod Christi zu sich selbst zurückführt
und uns nicht nur auf den Platz und Boden stellt, auf
»6
welchem Adam einst in seiner Unschuld stand, sondern uns,
entsprechend dem Werte des Werkes Christi, weit mehr
giebt, als wir verloren hatten, indem Er uns in das
wunderbare Verhältnis von Söhnen, von Kindern Gottes
einführt und uns einen Platz giebt in Seiner Gegenwart,
in göttlicher und ewiger Gerechtigkeit und in dem Werte
und der Annehmlichkeit Seines Sohnes Jesu Christi,
unsers Herrn.
Welch eine staunenswerte Gnade! Welch herrliche
Ratschlüsse! Welch ein Dienst! Und doch, dürfen wir uns
darüber wundern, wenn wir daran denken, daß der Tod
Christi die Grundlage von diesem allen bildet? Wenn
wir uns daran erinnern, daß Christus für uns zur Sünde
gemacht wurde, so scheint es nur eine notwendige Folge
zu sein, daß wir jetzt Gottes Gerechtigkeit sind in Ihm.
Es wäre kein angemessenes Resultat eines solchen Werkes
gewesen, wenn Menschen und Dinge in den ursprünglichen
Zustand des ersten Adam oder der alten Schöpfung Zurückgeführt worden wären. Dies würde auch in keiner
Weise das Herz Gottes befriedigt haben, weder im Blick
auf die Verherrlichung Christi, noch im Blick auf unsre
Segnung. Es würde keine befriedigende Antwort auf
jene Forderung des Herrn gewesen sein: „Ich habe Dich
verherrlicht auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht,
welches Du mir gegeben hast, daß ich es thun sollte.
Und nun verherrliche Du mich, Vater, bei Dir
selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei Dir hatte, ehe die
Welt war." (Joh. 17, 4. 5.) Wer könnte die Tiefe und
Kraft dieser Worte ergründen?
2. Doch wir müssen zu dem Schluß unsrer Betrachtung eilen. Da wir im Vorhergehenden schon das Eine
97
und Andere über die Gegenstände gesagt haben, gegen
welche der gesegnete Dienst der Versöhnung gerichtet ist, so
können wir uns hier kurz fassen. Es sind „Menschen und
Dinge," verlorne, sündige Geschöpfe und eine verunreinigte, unter der Knechtschaft des Verderbnisses liegende
Schöpfung. Beide sind in das eine, umfassende Wort
„Welt" eingeschlossen. „Gott war in Christo, die Welt
mit sich selbst versöhnend." Es ist daher unmöglich, daß
irgend ein Geschöpf unter dem Himmel sich von dem
Bereich dieses kostbaren, gesegneten Dienstes ausschlieszen
könnte, es müßte denn vorher beweisen, daß es nicht zu
dieser Welt gehöre; und das ist unmöglich. Daher, mein
lieber Leser, gehörst auch du zu denen, welche Gott einladet, ja dringend bittet, sich mit Ihm versöhnen zu
lassen. Bist du noch unbekehrt, so folge Seiner Einladung, mache dich auf zu Ihm, ehe die Zeit der Annehmung zu Ende geht und der Tag eines erbarmungslosen
Gerichts anbricht, an welchem alle diejenigen, welche dem
Evangelium Gottes nicht haben gehorchen wollen, gerechte
Vergeltung empfangen werden.
3. Es bleibt uns noch übrig, einen Blick auf die 
Charakterzüge zu werfen, welche den Dienst der
Versöhnung kennzeichnen. Betrachten wir zunächst die 
Stellung, welche Gott in diesem Dienste einnimmt. Er
ermahnt, Er bittet durch Seine Boten. Und wen
bittet Er? Verlorene, verdammungswürdige Sünder!
Welch ein Gedanke! Der große, allmächtige Gott, der
Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erde, Er,
der Gewalt hat, Leib und Seele in der Hölle zu verderben, Er ermahnt und bittet feindselige, hassenswürdige
Sünder, zu Ihm zu kommen und sich mit Ihm versöhnen
98
zu lassen! Es ist hier nicht die Rede davon, daß der
Sünder bittet, und Gott hört. Nein, wir finden gerade das
Gegenteil: Gott bittet den Sünder. Und um was bittet
Er? Fordert Er von dem Sünder, daß er etwas thue, oder 
Ihm etwas bringe? Nein, Er bittet ihn, Sein Freund
zu werden, aus Grund dessen, daß Er sich, auf Kosten
des Lebens Seines eingebornen, geliebten Sohnes, als
der Freund des Sünders bewiesen hat. Denke hierüber
einen Augenblick nach, mein lieber unbekehrter Leser! Er
schonte nicht Seines Eingebornen, sondern richtete Ihn
au deiner Statt. Er machte Ihn zur Sünde für dich.
Er richtete deine Sünde in Seiner Person auf dem Kreuze,
damit Er imstande wäre, dich zu erretten. Und jetzt
streckt Er Seine Arme nach dir aus, Sein Herz ist geöffnet für dich, und Er bittet dich, Sein Freund zu werden,
dich mit Ihm versöhnen zu lassen. Welch eine Herablassung und welch eine überwältigende Gnade! Willst du
dein Herz noch länger verhärten und dein Ohr vor der
einladenden Stimme Gottes verschließen? O thue es nicht,
ich bitte dich. Eile zu Ihm, so lauge es noch „heute"
heißt.
Welch eine Ermutigung für ein armes,' bekümmertes
Herz, das die Last seiner Sünden fühlt und unter dem
unerträglichen Gewicht seiner Schuld seufzt, zu hören,
daß Gott nicht eine seiner zahllosen Sünden zurechnen
will! Das ist ein zweiter gesegneter Charakterzug des
Dienstes der Versöhnung. „Ihnen ihre Uebertretnngen
nicht zurechnend." Das muß dem Herzen vollkommene
Ruhe geben. Wenn Gott mir sagt, daß Er mir keine
meiner Sünden anrechnen will, weil Er sie bereits dem
Herrn Jesu auf dem Kreuze zugerechnet hat, so kann dies
99
Wohl meinen Geist beruhigen und mein Herz aufrichten.
Wenn ich glaube, daß Gott wirklich m e i n t, was Er sagt,
so muß ein unerschütterlicher Friede mein Teil sein. Wohl
ist es wahr, daß ich nur durch die Kraft des Heiligen
Geistes die ganze Tragweite dieser herrlichen Wahrheit
erfassen kann: aber das, was der Heilige Geist mich lehrt,
ist gerade dies; mit aller Zuversicht zu glauben, daß Gott
wir keine Sünde anrechnet, noch jemals anrechnen wird,
weil Er sie einmal alle Christo angerechnet hat.
Doch dies leitet uns zu dem dritten Charakterzug
des Dienstes der Versöhnung. Wenn Gott dem Glaubenden keine seiner Uebertretungen zurechnen will, was
rechnet Er ihm denn zu? — Gerechtigkeit, ja die Gerechtigkeit Gottes selbst. „Ihn, der Sünde nicht kannte, hat
Er für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden
Goltes Gerechtigkeit in Ihm!" Herrliche, glorreiche Thatsache! Der Sünde ist, was den Gläubigen betrifft, ein 
Ende gemacht worden. Christus lebt als unsre ewige
Gerechtigkeit vor Gott, und wir leben in Ihm. In dem
Buche der göttlichen Gerechtigkeit giebt es keine einzige
Eintragung zu unsern Lasten, Wohl aber einen auferstandenen und verherrlichten Christus zu unsern Gunsten.
Doch das ist noch nicht alles. Nicht nur sind unsre
Sünden hinweggethan und unsre Schuld bezahlt, nicht nur
sind wir zur Gerechtigkeit Gottes geworden in Christo
nnd stehen als eine völlig neue Schöpfung vor Gott,
sondern wir sind auch geliebt, wie Jesus selbst geliebt ist; wir
sind annehmlich gemacht in Ihm, dem Geliebten, eins mit
Ihm in allem, was Er ist und besitzt, als der auferstandene,
siegreiche, verherrlichte Mensch zur Rechten der Majestät in der
Höhe. Könnte es etwas Höheres geben, als das? Unmöglich!
100
Indem wir hiermit unsre Betrachtung schließen,
möchten wir noch einmal einen ernsten Mahnruf an jeden
unbekehrten und vielleicht bis heute noch gleichgültig gebliebenen Leser dieser Zeilen richten. Laß dich daran
erinnern, lieber Freund, daß dieser gesegnete Dienst der
Versöhnung bald zu Ende gehen wird.. Das Jahr der
Annehmung, der Tag des Heils wird binnen kurzem abgelaufen sein. Die Boten Gottes, die Gesandten Christi
werden bald alle heimgerufen werden, und ihr Dienst
wird dann für immer beendigt sein. Die Thür der Gnade wird
bald geschlossen werden und der Tag der Rache mit allen seinen
Schrecken über eine Welt hereinbrechen, die Christum verwirft und in Gottlosigkeit und Gleichgültigkeit dahingeht.
Laß dich bitten, dem kommenden Zorn zu entfliehen. Bedenke wohl, daß derselbe Herr, der dich jetzt einladet, der
dich ermahnen und bitten läßt, dich mit Gott versöhnen
zu lassen, einst allen denen, die Seiner freundlichen Einladung nicht haben Gehör schenken wollen, die schrecklichen
Worte zurufen wird: „Weichet von mir, ihr Uebelthäter!
Gehet hin in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel
und seinen Engeln!" O, möchten doch alle die Leser dieser Zeilen den unbeschreiblichen Schrecken jenes Tages
des Zornes und Grimmes Gottes entfliehen! Noch ist es
Zeit. Noch ist die Thür der Gnade weit geöffnet. Noch
ist Gott bereit zu retten, was sich retten läßt. Aber
bald wird es für ewig zu spät sein.
„So sind wir nun Gesandte für Christum, als ob
Gott durch uns ermahnte. Wir bitten an Christi Statt:
„Lasset euch versöhnen mit Gott!""
101
Einige Worte über die Feier des Abendmahls
nach der Schrift.
(Fortsetzung.)
Wenn nun der Auferstehungstag unsers Herrn uns
die Vollendung Seines Erlösungswerkes vergegenwärtigt
und der erste Wochentag uns deshalb mit unsern Miterlösten zusammenführt, um gemeinschaftlich Seiner Liebe
zu gedenken, so ist es besonders Sein Tod, in welchem
diese Liebe sich in unvergleichlicher Weise geoffenbart
hat. Deshalb wird der Mittelpunkt unsrer Anbetung und
der Feier dieses Tages die „Verkündigung des
Todes des Herrn" sein, und unsre Liebe zu Ihm
wird eine hohe Genugthuung darin finden, der Aufforderung Seiner Liebe zu uns zu entsprechen: „Thuet dies
zu meinem Gedächtnis." Wie der allwöchentlich wiederkehrende erste Wochentag, als der „Tag unsers Herrn,"
den Mittelpunkt unsrer Tage auf der Erde bildet, so ist
die Verkündigung Seines Todes der Mittelpunkt unsrer
Thätigkeit hienieden, so wie später in der Herrlichkeit die
Anbetung des geschlachteten Lammes unsre himmlische
Beschäftigung ausmachen wird, nach Offbg. 5, 8—10.
Wie herrlich wird es sein, wenn einst die unter dem
Bilde der 24 Aeltesten dargestellte Gesamtheit der Erlösten vor dem Lamme niederfällt und Sein Lob besingt!
Jetzt auf der Erde schon dasselbe thun zu können, was
wir in der Herrlichkeit thun werden, ist fürwahr die
höchste Thätigkeit, die wir auszuüben vermögen, weit erhaben über aller irdischen Beschäftigung. Und wie einst
in der Herrlichkeit alle unsre Bedürfnisse gestillt sein
werden und nur eins unsre Herzen erfüllen wird: Ihn
102
anzubeten, so sollte auch am Tische unsers Herrn, wo
das Glaubensauge die Beweise vor sich sieht, wie vollkommen Seine Liebe für uns gesorgt hat, kein anderes
Bedürfnis kund werden, als das eine: „Dem, der uns
liebt," aus dankbarem Herzen die Anbetung darzubringen.
Wenn wir Ihn lieben, der uns zuerst geliebt hat,
so werden wir uns freuen, eine Gelegenheit zu haben,
wo wir Seiner in besonderer Weise gedenken und uns
selbst mit unsern Bedürfnissen vergessen dürfen. Seine
Aufforderung, an Seinem Tische Seiner zu gedenken,
kommt dem Bedürfnis unsrer Liebe entgegen; die Liebe
denkt nicht an sich, sondern an den geliebten Gegenstand,
lind dieser Gegenstand steht hier allein vor unsern
Blicken. Was sollte dieselben auch noch anziehen können
neben der Herrlichkeit des Gekreuzigten, der in Seinem
Tode alles geoffenbart hat, was in Gott ist: Seine Heiligkeit, Seine Gerechtigkeit gegen die Sünde, Seine Liebe
zu dem Sünder, die ihm dort in überströmender Gnade
begegnete, Seine göttliche Majestät, Kraft und Weisheit,
vor allem aber unsers Heilandes Liebe zu unS, die 
stärker war als der Tod, in welchen Er für uns Hinabstieg, stärker als das Feuer des Gerichts, dem Er sich
an unsrer Statt überlieferte, um als Brand- und SündOpfcr von demselben verzehrt zu werden! Der Kreuzestod
Jesu ist der Mittelpunkt aller Ratschlüsse und Wege GotleS, der Glanzpunkt Seiner eigenen Herrlichkeit. Alle
Ewigkeiten und Zeiten vor diesem Tode blickten nach
Golgatha hin, (Tit. 1, 2.) alle Opfer des alten Bundes
waren Schatten und Vorbilder dieses einen Opfers;
seitdem cs dargebracht ist, blicken alle Zeiten und Ewigkeiten dahin zurück; die ganze Weltordnung Gottes knüpft
103
sich an die wunderbare Thatsache des „Todes des
Herrn." (Phil. 2, 7-11; Kol. 1, 13-22; Eph. 1,
7—10. 20—23 rc.) Das „geschlachtete Lamm"
ist der Gegenstand der Anbetung in der Ewigkeil,
sowohl der Erlösten, als auch aller himmlischen Heerscharen und aller „Kreatur, die in dem Himmel und auf
der Erde und unter der Erde ist, und die aus dem Meere
sind und alles, was in ihnen ist." (Offbg. 5, 8—14.)
Und wenn nun auch wir am Tische des Herrn zurückblicken auf die wunderbare Thatsache Seines Todes, und
noch dazu, als für uns geschehen, wie könnte da noch
Raum für etwas anderes bleiben, als für die Anbetung t
Wollten wir unsre persönlichen Bedürfnisse hier Vorbringen, so würden wir damit zu erkennen geben, daß der
große Gegenstand, der uns zusammengeführt hat, unsre
Herzen nicht erfüllt, daß wir uns nicht zu erheben vermögen über den niedrigen Kreis, in welchem wir selbst
und unsre Bedürfnisse den Mittelpunkt bilden.
Wir feiern das Abendmahl nicht, um etwas für uns
zu empfangen, sondern um dem Herrn das darzubringeu,
was Ihm gebührt; nicht um unsrer vor Ihm zu gegebenen, sondern um Seiner zu gedenken. Gewiß
wird es gesegnet und eine Freude für unsre Herzen sein,
wenn wir uns versenken in das Meer der Liebe, welches
wir in dem Tode Jesu vor uns auSgebreitet sehen; aber 
nicht der Segen und Genuß ist der Zweck, sondern
das Lob, welches aus glücklichen Herzen Ihm dargebracht
wird. Der Herr erinnert (Joh. 14, 28.) bei Seinem
Abschied die mit sich selbst und ihrer Trauer beschäftigten
Jünger daran, daß, wenn sie Ihn liebten, ihre Herzen
mit Ihm und dem Glück, welchem Er eutgegenging,
104
beschäftigt sein würden. So geziemt es sich auch für uns
am Tische des Herrn, im Aufblick zu unserm verherrlichten
Herrn, mit hoher Genugthuung daran zu gedenken, daß
Er, der für uns den schrecklichen Pfad der Leiden des
Todes, als Gericht über unsre Sünden, gegangen ist, jetzt
mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt zur Rechten des Vaters
sitzt — anstatt mit uns und den Mühen unsers Pilgerlaufs beschäftigt zu sein. Wir sehen aus der oben angeführten Stelle, daß der Herr dies von unS erwartet.
Ebenso geht aus den Worten des Herrn: „Thuet dies
zu meinem Gedächtnis," deutlich hervor, daß es der
Wunsch Seines Herzens ist, daß die Seinigen sich um
den Tisch versammeln, den Seine Liebe ihnen bereitet hat.
Wenn Er ferner in Luk. 22, 15 sagt: „Mit Sehnsucht
habe ich mich gesehnt, dieses Passah mit euch zu essen,
ehe ich leide," so erkennen wir daraus das Bedürfnis
Seines Herzens, sich von den Seinigen umgeben zu sehen,
wenn Er, als das wahre Passahlamm, in ihrer Mitte
sie daran erinnert, daß Sein Leib und Sein Blut für
sie geopfert worden sind. Wie verwerflich würde es demgegenüber sein, wenn wir das Verlangen Seines Herzens
schnöde mißachten und aus Gleichgültigkeit, Nachlässigkeit,
Bequemlichkeit, oder aus Gründen, die mit sündlichen und
weltlichen Wegen zusammenhängen, von Seinem Tische
fern bleiben wollten. Wir können darauf rechnen, daß
Er nie fehlt in der Mitte der Seinigen. ES ist sicher eine
Betrübnis für Sein Herz, wenn so viele ihren gesegneten
Platz an Seinem Tische, einen Platz, den Er ihnen durch
die Vergießung Seines eigenen Blutes erworben und bereitet hat, nicht einnehmen. Er braucht auch nicht zu
fragen: „Weshalb fehlen sie?" Er kennt ihre Gründe ge-
105
riau, und Sein Auge verfolgt sie auf ihren Wegen. O,
möchte doch jeder Gläubige treu den Platz einnehmen, auf
dem sein Herr ihn zu sehen wünscht! Denn mehr als
unsre stammelnden Worte es vermögen, verherrlicht den
Herrn die Thatsache, daß Er um Seinen Tisch ein glückliches
Volk versammelt sieht, eine Schar durch Sein Blut erlöster Sünder, als „die Frucht der Mühsal Seiner
Seele." So wird auch in der Herrlichkeit die wunderbare
Thatsache, daß wir, die einst Verlornen, dort Seinen
Thron als die nächsten umgeben, in weit höherem Maße
den Reichtum Seiner Gnade und Liebe preisen, als selbst
das vollkommene Lob, welches wir dort mit verherrlichten
Lippen Ihm von Ewigkeit zu Ewigkeit darbringen werden. Seine eignen Werke sind Seine höchste Verherrlichung ; auch wir, als in Ihm begnadigte Kinder Gottes,
sind Sein Werk. Und wenn Er uns als solche, als die 
geliebte Familie Gottes, um Seinen Tisch versammelt, so
ist eine solche Versammlung in der That ein lebendiges
Zeugnis von der Vollkommenheit Seines Erlösungswerkes.
Wenn wir dasür ein Verständnis haben, so wird uns
jede wirkliche Verhinderung, dort unsern Platz einzunehmen, schmerzlich sein. Dagegen ist der Gedanke, daß
Er selbst so vollkommen für Seine Verherrlichung gesorgt hat, indem Er erlöste Sünder um sich sammelt,
tröstlich für unsre Herzen, wenn wir fühlen, wie arm
und schwach die Ausdrücke unsrer Anbetung sind.
2.
Nachdem wir uns im Vorhergehenden hauptsächlich beschäftigt haben mit dem Zusammenkommen der Gläubigen
„am ersten Wochentage, um Brot zu brechen,"
106
bleiben uns von dem, was wir in der Schrift über das Abendmahl finden, noch die Belehrungen des Apostels Paulus
über diesen Gegenstand in 1. Kor. 10, 16. 17 und 11,
20 — 34 zu betrachten übrig. Der in mancher Beziehung
traurige geistliche Zustand der Versammlung Gottes in
Korinth gab dem Heiligen Geist durch den Apostel Veranlassung zu diesen, sür die Gläubigen aller Zeiten wichtigen und wertvollen Belehrungen. Wir ziehen somit
Nutzen selbst aus den an und für sich höchst bedauernswerten Fehlern der Korinther. Was der Apostel ihnen
schrieb, ist auch geschrieben worden zur Ermahnung sür
uns in diesen letzten bösen Tagen. Möchten wir uns
denn diese ernsten Ermahnungen zur Belehrung und Unterweisung dienen lassen!
Das, was der Apostel in erster Linie bei den Korinthern zu rügen hatte, waren die Spaltungen unter
ihnen in verschiedene Parteien, die schon so ausgeprägt
waren, daß sie sich nach besonderen Namen benannten.
Das war der Anfang des Uebels, welches jetzt die Kirche
Christi auf Erden in eine Unzahl von größeren und kleineren Parteien, die sich alle verschiedene Namen beilegen,
zerspalten hat; wir haben schon bei Gelegenheit der Betrachtung des gesegneten Zustandes der ersten Versammlung in
Jerusalem davon gesprochen. Dieser Wirksamkeit Satans
gegenüber, die darin bestand, die sichtbare Einheit des
Leibes Christi zu zerstören, war damals noch die apostolische Autorität und Macht vorhanden, die dem Uebel
kräftig steuerte. Nach der Apostel Zeit aber hat das
Verderben wie ein reißender Strom alle Dämme durchbrochen und die ganze Christenheit überschwemmt. Und
was das Traurigste ist, man begegnet selbst bei Glüubi-
107
gen nicht selten der Meinung, daß es g er ade so richtig
sei, indem durch die mancherlei Parteien eine Mannigfaltigkeit in der Einheit, verschiedene Truppengattungen eines
Heeres u. s. w. dargestellt würden. Wie verschieden davon
ist das Urteil des Apostels über den Anfang dieses Zustandes in Korinth! Er sagt in 1. Kor. 1, 13: „Ist der
Christus zerteilt? Ist Paulus für euch gekreuzigt, oder
seid ihr auf Paulus Namen getauft worden?" und er nennt
sie in Kap. 3, 1 — 4: „Fleischliche und nicht Geistliche,"
die in Eifer und Streit nach Menschenweise wandelten;
„denn wenn einer sagt: Ich bin des Paulus, der andere
aber: ich des Apollos, seid ihr nicht menschlich?"
„Menschlich" ist hier gleichbedeutend mit „fleischlich," denn
der natürliche Mensch ist Fleisch; „die aber, welche im
Fleische sind, können Gott nicht gefallen." (Röm. 8, 8.)
Die Gläubigen sind nach Röm. 8, 9 „nicht im Fleische,
sondern im Geiste." Wie können nun aber Gläubige
solche Urteile aussprechen und eine solche Stellung einuehmen, die der Heilige Geist durch Paulus „fleischlich" nennt?
Sind sie wirklich im Geiste, so sind sie auch verpflichtet
und dafür verantwortlich, in Uebereinstimmung mit dem
Heiligen Geist zu urteilen und demgemäß ihre Stellung
zu nehmen, das heißt also in bezug auf den uns hier
beschäftigenden Gegenstand: Die Parteiungen zu verurteilen, die Parteistelluug zu verlassen und „mit denen,
die den Herrn anrufen aus reinem Herzen," (2. Tim. 2,
20—22.) „sich zu befleißigen, die Einheit des Geistes zu
bewahren in dem Bande des Friedens." (Eph. 4, 3.)
Dieser böse Geist der Parteiungen, der die Glieder
des einen Leibes, des Leibes Christi, zertrennt, der den
"Geist der Liebe, in welchem die Gnade sie untereinander
108
und mit ihrem himmlischen Haupte verbunden hat, in
seiner Wirksamkeit hemmt, war der Sauerteig, welcher das
ganze christliche Leben der Korinther durchdrang, (lind
in welch erschreckendem Maße ist dies jetzt unter den
Gläubigen der Fall!) Auch auf ihr Zusammenkommen
und die Feier des Abendmahls des Herrn übte dieser Geist
seinen verderblichen Einfluß aus. Der Apostel mußte
ihnen schreiben: „Wenn ihr in der Versammlung zusammenkommt, höre ich, es seien Spaltungen unter euch,"
(Kap. 11, 18.) und: „Wenn ihr nun an einem Orte zusammenkommt, so ist das nicht des Herrn Abendmahl essen.
Denn ein jeder nimmt sein eignes Abendmahl vorher beim
Essen, und einer ist hungrig, der andere aber ist trunken."
(V. 20. 21.) Parteiungen oder Spaltungen sind stets
ein Ausfluß der Selbstsucht deS menschlichen Herzens, eine
Frucht der Wirksamkeit deS alten Ichs, welches nur etwas
für sich sucht, während doch der Christ dem alten Menschen
nach im Tode Christi sein Ende gefunden hat und, in
dem auferstandenen Christus lebendig gemacht, ein Glied
des aus allen Gläubigen gebildeten Leibes des himmlischen
Hauptes ist, wo jedes Glied der Gesamtheit des Leibes
zu dienen hat. Diese große Fundamental-Wahrheit wurde
durch die Korinther nicht verwirklicht, weder in bezug auf
die Einzelnen — denn sie handelten nicht dem neuen, sondern
dem alten Menschen gemäß, nämlich fleischlich — noch
in bezug auf die Gesamtheit, denn sie erkannten die Zusammengehörigkeit der Glieder des einen Leibes so wenig
an, daß sie sich nicht allein in verschiedene Parteien spalteten, sondern sogar beim Abendmahl „einjeder sein eignes
Abendmahl" nahmen; das war dann freilich nicht des
Herrn Abendmahl.
109
Der Apostel belehrt sie deshalb, (1. Kor. 10, 16. 17.)
daß gerade der Tisch des Herrn das bedeutungsvollste
Zeugnis für die Einheit des Leibes Christi sei, indem
jedes Glied desselben teilhaftig sei des einen Brotes, welches
„die Gemeinschaft des Leibes des Christus ist," und des Kelches, welcher „die Gemeinschaft des Blutes des Christus ist."
Wer durch den Glauben teil hat an Seinem Tode und
dieser wunderbaren Wahrheit Ausdruck giebt durch das
Genießen des uns von dem Herrn dargebotenen gesegneten
Brotes und Kelches, bezeugt dadurch, daß er mit allen
übrigen Gläubigen gemeinschaftlich teil Hal an demselben
Gegenstände, dem für uns hingegebenen Leibe des Herrn.
Die Gemeinschaft der Vielen mit ein und demselben
Gegenstände aber verbindet sie untereinander zu einem
Körper. „Denn ein Brot, ein Leib find wir, die Vielen, denn wir alle sind des einen Brotes teilhaftig." Wir
können deshalb nicht das Abendmahl des Herrn feiern, ohne
dadurch unsre Gemeinschaft mit dem Herrn und mit
allen, die mit uns durch den Glauben in Seine Gemeinschaft gebracht sind, auszudrücken. Das Brotbrechen ist
seiner Natur nach der Ausdruck der Einheit des Leibes.
In welchem Widerspruch stand damit die Art und
Weise, wie die Korinther dieses Mahl der Einheit feierten,
indem jeder von ihnen für sich sein eigenes Abendmahl
nahm, und indem ihre Herzen erfüllt waren mit Zwietracht
und Spaltungen! Der Heilige Geist war in ihrer Mitte
in hohem Maße betrübt; denn Er verbindet, wie wir bei
der Versammlung in Jerusalem gesehen haben, die Gläubigen zu einem Herzen und zu einer Seele, und nach
1. Kor. 12, 12 — 27 sind sie durch Seine mächtige Wirksamkeit alle zu einem Leibe, dem Leibe Christi, vereinigt-
110
Das Verhalten der Korinther aber war eine schroffe Mißachtung der Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Und ist
das Verhalten der meisten Christen in bezug auf das
Abendmahl in unsern Tagen wohl ein besseres? Im Gegenteil. Die Spaltungen sind heute nicht blos in den
Herzen, sondern sie sind öffentlich anerkannt und werden sogar
gutgeheißen. Zahllose Parteien versammeln sich um ihren
eignen Tisch, von welchem die Glieder einer andern
Partei ausgeschlossen sind. Wo bleibt da in dem Brotbrechen der Ausdruck der Einheit des Leibes? Ach! wie
völlig ist das Zeugnis des Heiligen Geistes beiseite gestellt und durch menschliche Einrichtungen und Satzungen
ersetzt worden! Doch wie damals der Heilige Geist in
Gnaden durch den Apostel die Korinther zurecht zu
führen suchte, so ist Er auch heute durch das von Ihm
eingegebene geschriebene Wort bemüht, die Gläubigen
zu belehren und die Aufrichtigen zur Unterwerfung unter
dasselbe und zur Befolgung seiner Unterweisungen zu
leiten. Bereits haben Tausende von Gläubigen in fast
allen Ländern der Erde, der Belehrung durch das Wort
folgend, ihren früheren Platz in einer Partei verlassen
und versammeln sich dem Worte gemäß mit gleichgesinnten
Gläubigen außerhalb der Parteien an jedem ersten
Wochentage um den Tisch des Herrn, im Geiste verbunden
mit allen Gläubigen auf der Erde, wo sie auch sein mögen,
und so ihrer Zusammengehörigkeit mit ihnen allen, als
den Gliedern eines Leibes, Ausdruck gebend. Keine
Umzäunung menschlicher Satzungen trennt sie von den
übrigen Gläubigen; sie betrachten den Tisch, um welchen
sie sich versammeln, nicht als den ihrigen, worüber sie zu
verfügen haben, sondern als den Tisch ihres Herrn, an
111
welchen alle die Seimgen gehören, sofern sie keinen anstößigen Lebenswandel führen (I.Kor. 5,11; Röm. 16,17.)
oder falschen Lehren anhangen. (Tit. 3, 10; 2. Joh. 10.)
Für alle in Lehre und Wandel lauteren Gläubigen ist
der Platz an diesem Tische offen, und wenn viele von
ihnen denselben auch noch nicht einnehmen, indem sie aus
Mangel an Licht oder Treue ihren altgewohnten Platz in
einer Partei beibehalten, so hindert das die sich dort Versammelnden nicht, sich mit ihnen zu einem Leibe verbunden
zu fühlen. Möchten in diesen letzten Tagen, wo die Ankunft des Herrn so nahe ist, die Gläubigen mit erhöhter
Sorgfalt prüfen, ob sie äußerlich und innerlich den Platz
einnehmen, auf welchem ihr Herr sie zu finden wünscht!
Eine aufrichtige Seele wird für diese Prüfung Helles, unzweideutiges Licht in dem geschriebenen Worte finden.
Doch möchten auch diejenigen, die der Belehrung des
Wortes gefolgt sind, indem sie der Einheit des LeibeS
am Tische des Herrn außerhalb der Parteien Ausdruck
geben, über die Gefühle ihrer Herzen Wachen, daß dieselben
stets in Uebereinstimmung bleiben mit dem Zeugnis, welches
sie ablegen. Der Feind, der zu allen Zeiten das Zeugnis
der Wahrheit zu verderben gesucht hat, indem er in den
Herzen derer, welche die Wahrheit bekannten, etwas
hervorrief, was mit ihrem Bekenntnis im Widerspruch
stand, wird es nicht unterlassen, auch jetzt in den Herzen
derer, welche den Parteien entsagt und zu dem Bekenntnis der Einheit zurückgekehrt sind, Gefühle zu erwecken,
welche sie, wenn sie denselben Raum geben, dahin führen,
unter den Gläubigen einen bösen Unterschied zu machen.
Dann sind sie in Gefahr, wenigstens in ihren Gefühlen
mit den gleichgesinnten Gläubigen eine neue Partei zu bilden.
112
oder aber neue Spaltungen unter ihnen hervorzurufen.
Gefahren giebt es bis ans Ende, denn das menschliche Herz
ist heute nicht anders, als zur Zeit des Anamas und der
Sapphira oder der Korinther, und der Versucher hat sich
auch seitdem nicht geändert. Die Aufrechthaltung der
Wahrheit, daß alle Gläubigen auf der Erde, ohne Unterschied, zusammengehören, als die Glieder des einen Leibes
Christi, ist eine der wichtigsten Grundlagen des ganzen
christlichen Lebens. Damit steht oder fällt die Anerkennung des Werkes des Heiligen Geistes und Seiner Wirksamkeit in der Versammlung (oder Gemeinde) auf der
Erde, so wie die Anerkennung der Autorität des geschriebenen Wortes. Der Tisch des Herrn aber ist der Mittelpunkt des Zeugnisses von der Einheit des Leibes.
(Schluß folgt.)
Bruchstücke.
Es ist eine viel leichtere Sache, im allgemeinen um
Vergebung unsrer Sünden zu bitten, als diese Sünden
zu bekennen. Ein aufrichtiges Bekenntnis schließt immer
Selbstgericht in sich, während ein bloßes Bitten um
Vergebung dies an und für sich nicht thut.
Gott hat unsre Sünden für immer aus Seiner Gegenwart entfernt. Obgleich die Sünde noch in uns wohnt,
so ist sie doch nicht der Gegenstand, auf welchem Sein
Auge ruht. Er sieht nur das Blut Christi: und deshalb
kann Er mit uns vorangehen und uns erlauben, die innigste
Gemeinschaft mit Ihm zu Pflegen.

Einige Worte über die Feier des Abendmahls
nach der Schrift.
(Schluß.)
Dasselbe Wort des Apostels, (1. Kor. 10, 16. 17.)
welches die völlige Einheit aller derer bezeichnet, die in der
Gemeinschaft des Leibes und Blutes des Herrn sind,
schließt augenscheinlich alle diejenigen vom Brotbrechen aus,
die nicht durch lebendigen Glauben in die Gemeinschaft
des Versöhnungstodes des Herrn eingetreten sind. Außerhalb dieser Gemeinschaft aber können sie nicht Glieder des
Leibes Christi sein, und können demnach auch nicht teilnehmen an dem Mahle, welches der Ausdruck der Zusammengehörigkeit mit dem Haupte und den Gliedern dieses
einen Leibes ist. Will man diese Zusammengehörigkeit,
wie es in der Christenheit ja fast allerorten geschieht, auf
alle ausdehnen, die sich nach dem Namen Christi „Christen"
nennen, oder doch wenigstens äußerlich den christlichen
Glauben bekennen, so wird schon die Anführung einiger
Stellen des Wortes genügen, um die Hinfälligkeit dieser
Annahme zu beweisen. In Joh. 2, 23. 24 lesen wir,
daß viele an Seinen Namen glaubten, als sie Seine
Zeichen sahen; Jesus aber vertraute sich ihnen nicht, weil
Er alle kannte und wußte, was im Menschen ist. Und
in dem folgenden Kapitel sehen wir, daß nichts in dem
Menschen ist, was ihn befähigt, in das Reich Gottes einzugehen, sondern daß er von neuem geboren werden
muß. In demselben Evangelium, Kap. 8, 30. 31, ist
wieder die Rede von solchen, die an Ihn glaubten; aber
114
in Vers 59 hören wir, daß sie Steine aufhoben, um auf
Ihn zu werfen. Das äußere Bekenntnis kann sogar so
weit gehen, daß viele an jenem Tage zu Ihm sagen
werden: „Herr, Herr! haben wir nicht in Deinem Namen
geweissagt" w.? und der Herr wird ihnen antworten:
„Ich habe euch niemals gekannt, weichet von mir, ihr
Uebelthäter!« (Matth. 7, 21-23.)
Das Gleichnis von den zehn Jungfrauen (Matth. 25,
1—13.) zeigt uns, daß selbst ein Bekenntnis, das äußerlich mit demjenigen der Gläubigen in völligster Uebereinstimmung steht, ohne das Oel des geistlichen Lebens,
keine Anerkennung von selten des Herrn findet. „Wenn
aber jemand den Geist Christi nicht hat, der ist nicht
Sein.« (Röm. 8, 9.) An Sardes läßt der Herr schreiben:
„Du hast den Namen, daß du lebst, aber du bist tot,«
(Offbg. 3, 1.) und an Laodicäa: „Weil du lau bist und
weder kalt noch warm, so werde ich dich aus spei en aus
meinem Munde.« (Offbg. 3, 16.)
Es ist einleuchtend, daß solche Personen, welche eine
Stellung einnehmen, wie sie in den angeführten Versen
beschrieben ist, nicht lebendige Glieder des durch den Heiligen Geist gebildeten Leibes Christi sind, obwohl sie in
gewissen Beziehungen zu Christo stehen. Es würde also
eine Unwahrheit sein, wenn sie durch ihre Teilnahme am
Brotbrechen sich als zu dem einen Leibe gehörig darstellen wollten. Ihre Selbsttäuschung würde „an jenem
Tage" einen schrecklichen Abschluß finden, wenn der Herr
ihnen aus ihre Worte: „Wir haben vor Dir gegessen und
getrunken," antworten müßte: „Weichet von mir! ich kenne
euch nicht, wo ihr her seid.« (Luk. 13, 25—27.)
Aber auch die Gläubigen laden eine Schuld auf stch„
115
wenn sie mit Unbekehrten das Brot brechen und dadurch
ausdrücken, daß sie mit ihnen einen Leib bilden. Abgesehen davon, daß sie dadurch eine strafbare Gleichgültigkeit gegen die Ehre des Tisches des Herrn an den Tag
legen und andrerseits sich versündigen gegen die in Selbsttäuschung Befangenen, indem sie dieselben darin bestärken,
sind sie auch verantwortlich für die Befolgung der in
2. Kor. 6, 14—18 durch den Heiligen Geist an sie gerichteten Ermahnung, in keiner Gemeinschaft mit Ungläubigen zu sein. Giebt es aber wohl eine engere Gemeinschaft, als die am Tische des Herrn? Der Herr unterscheidet sehr scharf in Seinen letzten Worten (Joh. 14
bis 17.) zwischen den Seinigen und der „Welt." Die
letztere war vereinigt in der Kreuzigung des Herrn. Und
beachten wir, daß nicht allein die heidnische, sondern auch,
und zwar vorzugsweise, die religiöse Welt, vertreten
durch die höchsten Würdenträger und Repräsentanten der
jüdischen Religion, sich der Kreuzigung des Sohnes Gottes schuldig machte. Deshalb ist es für Gläubige eine
ernste Sache, sich mit der Welt zu vereinigen, und das
sogar am Tische des Herrn, wo der Tod Dessen gefeiert
wird, den die Welt verworfen hat.
In 1. Kor. 11, 20—34 Wen wir, welchen Wert
der Herr selbst auf eine würdige Feier des Abendmahls legt, indem Er Seinem Apostel Paulus eine
besondere Offenbarung darüber gemacht hatte. „Ich habe
von dem Herrn empfangen," konnte dieser sagen; es war
nicht eine Mitteilung von feiten der andern Apostel.
Wenn der Herr aber diesem Gegenstände eine solche Wichtigkeit beilegt, wie sollten dann die Seinigen mit Ehrfurcht
den Belehrungen lauschen, die Er ihnen durch Seinen
116
Apostel darüber giebt! Wie sollte eine würdige Feier
des Gedächtnisses ihres Herrn nach Seiner Anordnung
ihnen über alles gehen! Der Platz, den das Abendmahl
in unsern Herzen einnimmt, ist ein Maßstab und Prüfstein für den Stand unsers geistlichen Lebens. Dieses
Leben offenbart sich, wenn es gesund ist, in der Liebe
zu unserm Herrn, dessen Liebe uns in besondrer Weise
an Seinem Tische entgegentritt und in unsern Herzen
ein Echo findet, so daß auch unsre Liebe an diesem
Tische in Thätigkeit tritt und uns zu einer Feier leitet,
welche Seinen Gedanken entspricht.
Das Abendmahl ist nur eine Sache des Herzens,
welches hier an alle die köstlichen Gegenstände der Liebe,
des Glaubens und der Hoffnung erinnert wird,
so daß sich da alles vereinigt, was geeignet ist, die Gefühle des Herzens in Thätigkeit zu setzen und sie über
den niedrigen Standpunkt zu erheben, zu dem das Fleisch
uns so leicht herunterdrückt. Der Tod des Herrn
wird hier dem Glauben vergegenwärtigt. Welch eine
unergründliche Tiefe liegt in diesen Worten: Tod deS
Herrn! Gott selbst in Seiner Unendlichkeit hat sich in
diesem Tode geoffenbart! Und dieses Wunder aller Wunder: Der Herr, der Unendliche, der Ewige, die Quelle
alles Lebens, der Heilige — im Tode des Gerichts für
die Sünde, für unsre Sünden, für uns, als Sünder,
— welch eine Betrachtung! Wie paßt dazu jede Gleichgültigkeit und Leichtfertigkeit?
Wir verkündigen auch den Tod des Herrn, „bis
Er kommt." Wir erinnern uns dabei Seiner Verheißung: „Wenn ich hingegangen bin und euch eine Stätte
bereitet habe, so komme ich wieder und will euch zu mir
117
nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr seid." (Joh. 14, 3.)
Seine Liebe zu uns ist erst dann völlig befriedigt, wenn
Er uns bei sich in derselben Herrlichkeit hat, in welcher
Er beim Vater ist. Und wenn wir Ihn wieder lieben,
so wird auch das Sehnen unsrer Herzen dahin gehen,
„Ihn zu sehen, wie Er ist," und „bei Ihm zu sein allezeit." Was der Glaube am Tische des Herrn sieht, 
erweckt die Liebe, und die Liebe macht die Hoffnung
lebendig. „Wir werden Ihm gleich sein, denn wir werden
Ihn sehen, wie Er ist." Wenn wir aber „diese Hoffnung
zu Ihm haben," so wird die Folge sein, daß „wir uns
selbst reinigen, gleichwie Er rein ist." Zu Ihm, dem
Reinen, passen nur solche, die rein sind, nicht nur
rein ihrer Stellung, sondern auch ihrem praktischen Zustande nach. Mit einem durch ungerichtete Sünden beschwerten Gewissen, mit einem durch die Gesinnung des
Fleisches verunreinigten Herzen seinen Platz am Tische
des Herrn nehmen, ist eine Verleugnung der wahren Bedeutung der „Verkündigung des Todes des Herrn, bis Er
kommt." Durch Seinen Tod hat Er unsre Sünden
gesühnt und uns versöhnt; die vollkommne Heiligkeit
Gottes offenbarte sich in diesem Tode; der Zweck desselben in bezug auf uns war: „um uns heilig und untadelig und unsträflich vor sich hinzustellen." (Kol. 1, 21.22.)
Wie könnten wir bei der Verkündigung dieses Todes der
Sünde einen Platz einräumend Wie könnten unsre Herzen
mit Freude an Seine Wiederkunft denken, wenn sie verunreinigt sind?
Ernste Worte richtete der Herr durch den Apostel an
die Korinther, weil sie für alles dieses kein Verständnis
zeigten und auf eine unwürdige Weise das Abendmahl
118
feierten. Er läßt ihnen sagen: „Wer irgend das Brot
isset, oder den Kelch des Herrn trinket unwürdiglich, der
wird des Leibes und Blutes des Herrn schuldig sein.
Der Mensch aber prüfe sich selbst, und also esse er von
dem Brote und trinke von dem Kelche. Denn wer unwürdiglich isset und trinket, der isset und trinket sich selber Gericht, indem er den Leib des Herrn nicht unterscheidet." (V. 27—29.) Daß aber diese Worte nicht blos
auf die Korinther Bezug hatten, geht aus dem Ausdruck:
„wer irgend" hervor. Auch auf andere Weise, als es
(nach V. 21 — 22) bei den Korinthern geschah, kann der
Tisch des Herrn entweiht werden, indem man sich an diesen
Tisch setzt mit verunreinigtem Herzen, ohne Gefühl darüber, daß es sich hier um den „Leib des Herrn" handelt,
und nicht um eine gewöhnliche Mahlzeit; indem man
leichtfertig und nachlässig über die Verunreinigungen des
täglichen Lebens und des Herzens hinweggeht, anstatt „sich
selbst zu prüfen" nach Gesinnung und Wandel im Lichte
der „Gemeinschaft mit dem Vater und Seinem Sohne
Jesu Christo," und alles zu richten, was nicht in diese
Gemeinschaft paßt. (1. Joh. 1.) Wenn schon ohne diese
Selbstprüfung und dieses Selbstgericht im täglichen Leben
der Genuß der Gemeinschaft des Herrn unmöglich ist,
und die Unterlassung notwendig Züchtigung von feiten
des Vaters herbeiführt, „auf daß wir nicht mit der Welt
verurteilt werden," (V. 32.) wie viel mehr findet dies dann
Anwendung auf den Tisch des Herrn! Wir sehen auch, wie
der Herr selbst über die Heiligkeit Seines Tisches wacht,
in dem Er, wegen der Entweihung desselben durch die
Korinther, solch ernste Züchtigungen über sie brachte, daß
viele unter ihnen schwach und krank und ein gut
119
Teil infolge der Züchtigung schon gestorben waren.
(V. 30.)
Es erinnert uns dies an den Ernst, mit welchem Gott
im alten Bunde die Heiligkeit und Autorität Seiner Anordnungen aufrecht hielt, welche auf die Vorbilder und
Schatten Bezug hatten. Denken wir z. B. an Nadab
und Abihu, (3. Mose 10.) vor allem aber an das Passah,
(2. Mose 12.) welches viele Berührungspunkte mit dem
Abendmahl bietet. Ohne auf diese Punkte hier näher
einzugehen, sei nur darauf hingewiesen, daß bei der Feier
des Passah jeglicher Sauerteig entfernt sein mußte: „Denn
wer Gesäuertes isset, . . . selbige Seele soll ausgerottet
werden aus Israel." (V. 15.) Nun ist das Abendmahl
ebenfalls eine mit göttlicher Autorität bekleidete Anordnung ; denn der in der Niedrigkeit eines Menschen unter
den Menschen wandelnde Sohn Gottes, der es eingesetzt
hat, war derselbe, durch den die Welten erschaffen wurden, der in der Wolken- und Feuersüule vor Seinem
Volke Israel durch die Wüste zog und als ihr Jehova-Gott
ihnen Anordnungen gab. Wenn Er über die Befolgung
dieser Anordnungen früher mit solchem Ernst wachte, so
wird Er, der „gestern und heute und in Ewigkeit derselbe ist," gewiß auch noch heute ebenso über die Heiligkeit Seines Tisches wachen, wie zur Zeit der Korinther.
Wie manche Züchtigung, unter welcher Gläubige sich befinden, mag ihren Grund in der unwürdigen Feier des
Abendmahls haben!
Diese Erwägungen sind geeignet, diejenigen zu ernster
Prüfung zu veranlassen, deren Liebe zum Herrn zu
schwach ist, um ihnen die richtigen Gefühle und das richtige Verhalten an Seinem Tische einzuslößen. Solche
120
sind sters in Gefahr, durch Leichtfertigkeit und Nachlässigkeit, wie die Korinther, auf unwürdige Weise und
dadurch „zum Gericht zu essen und zu trinken." Diejenigen aufrichtigen Seelen aber, die von Herzen begehren,
ihren Herrn an Seinem Tische in würdiger Weise zu verehren, aber zu ihrem Schmerz dabei stets ihre große
Schwachheit empfinden müssen, haben darüber zu wachen,
daß sie sich nicht mit dieser ihrer Schwachheit beschäftigen,
wodurch sie nur niedergedrückt werden, sondern mit dem
Herrn und der Vollkommenheit Seiner Liebe, wodurch
das Herz glücklich und zu Seinem Lobe fähig gemacht
wird; und das ist der Zweck des Herrn, indem Er
Seine Erkauften um Seinen Tisch versammelt. Möchte
dieser Zweck Seiner Liebe bei uns allen erreicht
werden!
Wenn nun der Herr selbst, wie wir gesehen haben,
einen solchen Wert auf die Aufrechthaltung der Heiligkeit
Seines Tisches legt, so haben auch die Seinigen darüber
zu wachen, daß alle diejenigen von diesem Tische fern
gehalten oder entfernt werden, die das Wort als solche
bezeichnet, mit denen sie keine Gemeinschaft haben sollen.
Der Tisch des Herrn ist der Mittelpunkt aller christlichen
Gemeinschaft. Was überhaupt nicht in die Gemeinschaft
des Herrn oder der Seinigen untereinander paßt, paßt
gewiß nicht an den Tisch des Herrn. In 1. Kor. 0
sehen wir, wie ernst der Apostel die Korinther zu tadeln
hatte, daß sie in dieser Beziehung nachlässig waren. Sie
blieben in Gemeinschaft mit einem offenbaren Sünder und
verunreinigten dadurch die ganze Versammlung. „Wisset
ihr nicht, daß ein wenig Sauerteig die ganze Masse durchsäuert? Feget den alten Sauerteig aus, auf daß ihr eine
121
uene Masse werdet, gleichwie ihr ungesäuert seid. Denn
auch unser Passah, Christus, ist geschlachtet. Darum lasset
uns Festfeier halten, nicht mit altem Sauerteig, auch nicht
mit Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit
ungesäuertem Brot der Lauterkeit und Wahrheit." (V. 6
— 8.) Der Apostel erinnert sie an das Passah, als
ein Vorbild von dem Tode unsers Herrn. Wir haben
schon gesehen, mit welchem Ernst der Sauerteig bei dem
Vorbilds behandelt wurde, unter dem Gesetz. Mit welchem Ernst sollten diejenigen, die „versetzt sind in das
Reich des Sohnes Seiner Liebe," (Kol. 1, 13.) die in
Christo eine „ungesäuerte" Masse geworden sind, jetzt den
Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit von sich fern
halten, besonders aber beim Tische des Herrn. Was alles
zu diesem Sauerteig gehört, wird in 1. Kor. 5, 9—13,
Rom. 16, 11; Tit. 3, 10; 2. Joh. 10 noch näher angegeben, so daß wir eine unzweideutige Anweisung des
Herrn für unser Verhalten in dieser Beziehung haben.
Möchten alle Gläubigen treu sein in der Befolgung dieser
Anweisungen! Alle sind dafür verantwortlich.
Daß eine solche Entschiedenheit gegen alles, was das
Wort als böse bezeichnet, nicht im Widerspruch steht mit
der Liebe zu denen, wovon wir, der Anweisung des Herrn
gemäß, uns zu trennen haben, geht aus dem Verhalten
des Apostels gegen den Sünder in Korinth hervor, den
er „dem Satan überliefern mußte, zum Verderben des
Fleisches, auf daß der Geist errettet werde am
Tage des Herrn Jesu," (1. Kor. 5, 5.) und den
er, sobald die Zucht ihre Wirkung gethan hatte, den Korinthern zur Wiederaufnahme empfiehlt, indem er ihnen in
2. Kor. 2, 6 — 8 schreibt: „Genügend ist einem solchen
122
diese Strafe, . . so daß ihr im Gegenteil vielmehr vergeben und ermuntern solltet, damit nicht etwa ein solcher
durch übermäßige Traurigkeit verschlungen werde. Darum
ermahne ich euch, Liebe gegen ihn zu bethätigen." Wir"
sehen also, daß diese Zucht aus der Liebe hervorging,
um den Sünder vom ewigen Verderben zu retten. So
sind wir denn durch das Wort belehrt, daß bei aller
Entschiedenheit gegen das Böse, um der Ehre
des Herrn willen, die Liebe gegen den fehlenden
Bruder uns zu leiten hat in der nach der Anweisung
des Herrn an ihm auszuübenden Zucht, um ihm behülflich zu sein zur Wiederherstellung. Wenn
nicht beides vereinigt ist, so wird entweder in gesetzlicher
Härte gehandelt werden, oder in weichlicher Schwäche.
Beides ist nicht im Sinne des Herrn und dient nicht zur
Erreichung Seiner Zwecke.
Zum Schluß mögeu noch einige Bemerkungen über
besondere Fälle hier Platz finden.
Wir haben im Laufe unsrer Betrachtung gefunden,
daß der Heilige Geist durch das Wort die Gläubigen
aller Zeiten anleitet, sich „am ersten Wochentage zu versammeln, um Brot zu brechen," sowie, daß alle Gläubigen berufen sind, an dem Tische des Herrn ihrer Einheit Ausdruck zu geben. Es giebt also für alle nur
einen Tisch. Selbstverständlich können nicht alle Gläubigen auf der Erde sich an einem Platze versammeln;
aber, wenn auch räumlich getrennt, so sind sie doch
in einem Geiste versammelt und geben der Einheit des
ganzen Leibes Ausdruck, wenn sie einfach im Namen
Jesu auf dem Boden der Wahrheit zusammenkommen und
den Tod des Herrn verkündigen.
123
An jedem Orte, wo zur Apostelzeit Gläubige waren,
bildeten sie die Versammlung Gottes an diesem Orte,
wie wir dies in den Briefen Pauli an die verschiedenen
Versammlungen ausgedrückt finden. Die heutige Zersplitterung der Gläubigen in viele Parteien kann die Gedanken Gottes über ihre Einheit nicht aufheben. Diejenigen unter ihnen nun, welche diesen Gedanken Gottes gemäß
handeln wollen, werden an jedem Orte sich außerhalb
der Parteien am Tische des Herrn versammeln,
dadurch, ohne selbst Parteischranken aufzurichten, ihre
Einheit mit allen Gläubigen ausdrücken und so den
Charakter der Versammlung Gottes an diesem Orte darstellen. Die geringste Zahl von Personen, die sich überhaupt versammeln können, zwei oder drei, haben die
Verheißung des Herrn: „Wo zwei oder drei versammelt
sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte."
(Matth. 18, 20.) Wenn also auch nur so wenige an
einem Orte (Stadt oder Dorf) vorhanden sein sollten, die
im Sinne des Herrn auf dem Grunde der Einheit des
Leibes sich versammeln, so haben sie, weil der Herr sich
in ihrer Mitte befindet, alles, was nötig ist, um die
Versammlung Gottes an diesem Orte darzustellen und
den Tisch des Herrn in ihrer Mitte aufzurichten.
Doch der Umstand, daß zur Aufrechthaltung der Heiligkeit dieses Tisches eine sorgfältige Ueberwachung und
Zucht erforderlich ist, welche der Herr nach Matth. 18,
15—20 mit Seiner eignen Autorität bekleidet, sollte die
sich versammelnden Gläubigen leiten, nur dann den Tisch
des Herrn aufzurichten, wenn sie die Ueberzeugung haben
dürfen, jene Ueberwachung und Zucht Gott gemäß ausüben zu können, weil ohne dieselbe die Gefahr entsteht,
124
daß durch „unwürdiges Essen und Trinken" der Herr
verunehrt und über die, welche sich desselben schuldig
machen, ein Gericht herbeigeführt wird. Wenn demnach
an einem Orte nur eine Familie sich befindet, deren
Glieder sich auf dem Boden der Einheit versammeln, so
sollte, wie ich glaube, jene Erwägung sie veranlassen, auf
das Brotbrechen in ihrer Mitte so lange zu verzichten,
bis ihre Zahl durch solche Brüder vermehrt wird, die 
fähig sind, ohne durch Familien-Rücksichten gehemmt zu
sein, über die Heiligkeit des Tisches des Herrn zu wachen.
Aehnlich würde der Fall sein, wenn an einem Orte die
sich Versammelnden mit Ausnahme eines Einzigen dem
weiblichen Geschlechte angehören, welches, nach 1. Kor. 14,
34. 35 und 1. Tim. 2, 11. 12, nicht zu einer Thätigkeit in der Versammlung berufen ist. Es würde dann
die ganze Verantwortlichkeit für alles, was am Tische
des Herrn geschehen würde, auf dem einen Bruder
ruhen, während über ihn selbst kein Anderer in dieser
Versammlung wachen könnte.
Auch die Frage, ob Gläubige, die mit Andern sich
aus einer Reise zusammenfinden, unter einander das Brot
brechen können, unterliegt der Erwägung, ob dies nicht
eine Abweichung sein würde von allem, was wir im
Worte über das Abendmahl finden. Da aber das Wort
die alleinige Autorität für uns und das einzige Licht ist,
welches uns den richtigen, aber immer schmalen Pfad bezeichnet, so sind Abweichungen davon stets bedenklich, selbst
wenn sie ganz unverfänglich scheinen. Es giebt vielleicht
noch manche Frage auf diesem Gebiete. Doch wie berechtigt sie auch scheinen möchte, so sollten wir uns doch
niemals auch nur den kleinsten Schritt entfernen von dem
125
Wege, für welchen wir im Worte einen unzweideutigen Anhalt
finden. Vielleicht ist der erste Schritt noch ungefährlich;
die Folgerungen aus demselben aber können uns auf
bedenkliche Irrwege führen.
Oft sprechen Kranke den Wunsch aus, auf ihrem
Krankenlager das Brot zu brechen. Auch dafür giebt uns
das Wort keinen Anhaltspunkt. Wir finden darin nichts
von einem solchen privaten Brotbrechen, sondern nur,
daß das Abendmahl in der allgemeinen Versammlung der Gläubigen am ersten Wochentage gefeiert wurde.
Auch beruht jener Wunsch der Kranken gewöhnlich auf
einer unrichtigen Auffassung der Bedeutung des Abendmahls, indem sie darin eine Erquickung für ihr Herz,
oder gar eine Befestigung der Gewißheit ihrer Errettung
suchen. So entschuldbar, ja berechtigt vom Standpunkte
eines Leidenden aus, der Wunsch, Brot zu brechen, auch
erscheinen mag, so wird eS doch wohl besser sein, denselben über den schriftgemäßen Charakter deS Abendmahls zu belehren, als durch Erfüllung seines Wunsches
ihn in seiner falschen Auffassung zu bestärken und sich
selbst eine Abweichung von der durch den Heiligen Geist
im Worte festgestellten Regel zu erlauben. Der Herr,
der das Verlangen des Kranken kennt, kann nnd wird
ihn, wenn es anders Sein wohlgefälliger Wille ist, wiederherstellei^ und ihn so in den Stand setzen, seinen Platz
an Seinem Tische wieder einznnehmen. —
So haben wir denn im Vorstehenden versucht, aus
dem, was wir im Worte über das Abendmahl finden, für
uns einige Belehrungen für ein richtiges und würdiges
Verhalten bezüglich dieses wichtigen Gegenstandes zu
schöpfen. Möchten alle, die den Herrn lieben, sich in
126
der Befolgung Seiner Aufforderung: „Thut dies zu meinem Gedächtnis!" durch nichts anders leiten lassen, als
durch das, was das geschriebene Wort uns darüber
an die Hand giebt, durch den Ausdruck der Gedanken und
des Willens des Herrn hinsichtlich des teuern Vermächtnisses, welches Er in Seiner Liebe den Seinigen hinterlassen hat!
„Danksaget in allem."
(1. Thess. 5, 18.)
In Freud und Leid ist es das Vorrecht der Kinder
Gottes, „zu danksagen allezeit für alles dem Gott
und Vater im Namen unsers Herrn Jesu Christi." Die
unaussprechliche Gnade Gottes hat sie aus Gefäßen des
Zornes zu Gefäßen der Begnadigung, und aus Gefäßen
zur Unehre zu Gefäßen zur Ehre gemacht. Sie sind losgekauft aus der Sklaverei Satans und der Sünde, und
zwar nicht mit Gold oder Silber, sondern mit dem kostbaren Blute Christi, als eines Lammes ohne Fehl und
ohne Flecken. Sie sind jetzt mit dem vor Gott auserwählten, kostbaren Ecksteine, mit Seinem Sohne, in eine
ewige, unauflösliche Verbindung gebracht; und indem sie
hierdurch Seiner Natur teilhaftig gemacht und selbst
lebendige Steine geworden sind, werden sie anfgebaut
auf Ihn, den Eckstein, zu einem geistlichen Hause, zu einem
heiligen Priestertum, um darzubringen geistliche
Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich durch Jesum
Christum. (1. Petri 2, 4. 5.) Diese geistlichen Schlachtopfer sind die Opfer des Lobes, die Frucht der Lippen,
welche Seinen Namen bekennen. (Hebr. 13, 15.) Die
Aufgabe ihres Lebens ist also hinfort für Zeit und Ewig-
127
teit, Gott zu loben. Ein Christ, der in diesem Lobe
Gottes träge ist, erkennt sein Vorrecht schlecht und erfüllt
wenig den Zweck seines Lebens. Da wir nun alle, infolge
der natürlichen Trägheit des menschlichen Herzens, der
Gefahr ausgesetzt sind, in unserm Lobe nachzulassen, so
ist es nötig, daß wir uns selbst und unsre Mitbegnadigten
immer auf's neue zur Ausübung der köstlichsten Beschäftigung, zu der die Gnade uns berufen hat, ermuntern,
nach dem Beispiele des Psalmisten in Psalm 146, 1. 2.
Derselbe erkennt dort zunächst an, daß Gott zu preisen
ist, dann ermuntert er seine Seele dazu, und endlich kommt
>er dahin, zu sagen: Ja, ich will es thun mein Lebenlang,
ich will Psalmen singen meinem Gott, so lange ich bin.
Ohne Zweifel wird es von jedem Begnadigten von
Herzen anerkannt werden, daß wir stets Ursache haben,
für die unaussprechliche Gnade Gottes in Christo Jesu
und den unergründlichen Reichtum der Segnungen, die
>nns in Ihm geschenkt sind, zu danken. Daß aber in
allen Führungen Gottes, in allem, was Er uns
begegnen läßt auf dem Lebenswege, also auch in den
Trübsalen, eine Ursache zum Danken für uns liegt, daran
wird im allgemeinen weniger gedacht. Und doch kann
Gott nicht auf zweierlei, verschiedene Weise mit den Seinigen
handeln: auf der einen Seite sie mit den Beweisen Seiner
höchsten Gunst in Christo überschütten, und auf der andern
Seite unbarmherzig mit ihnen verfahren, oder gar ihnen
Schaden zufügen. Das ist undenkbar. Vielmehr stehen
sie so vollkommen in Seiner Gunst, daß Er, der Seinen
Sohn für sie hingegeben hat, auch in ihrer Führung durch
diese Welt Himmel und Erde zu ihrer Segnung in Besorgung setzt, alle Kräfte, gute und böse, so zusammen
128
wirken läßt, daß sie zu ihrem Besten dienen müssen. Die
Trübsal, welche Er ihnen schickt, ist nicht minder ein Beweis Seiner Liebe, als die Hingabe Seines Sohnes. So
werden also auch die Trübsale ein Gegenstand des Rühmens, des Tankes für sie. Wenn Gott sie nun einmal
zu Seinem Lobe zubereitet hat, so wird Er auch dafür
sorgen, daß alles, was Er mit ihnen thut, für sie eine
Ursache des Lobes wird, auch die schweren Wege, die Erin Seiner Weisheit oft für nötig findet, sie zu führen.
Unser Herz gleicht einem Acker, der bearbeitet werden
muß, um Frucht tragen zu können. Ueberläßt man das
Land sich selbst, läßt man es in Ruhe, so trägt es Unkraut, Dornen und Disteln. Wird es aber durch Pflug
und Egge, Hacke und Spaten zerrissen, locker und mürbe
gemacht, so wird es fähig, den guten Samen aufznnehmeu,
welcher Frucht hervorbringt für den Ackersmann. Ebenso
muß unser Herz oft durch schmerzliches Einschneiden von
feiten des himmlischen Ackersmannes, der unser Vater ist,
zubereitet und empfänglich gemacht werden für den Samen
des Wortes des Lebens, welcher Früchte trägt zum Lobe,
zur Herrlichkeit und Ehre unsers Herrn und
zu unserm Frieden. Die Frucht, welche aus dieser Bearbeitung, die in Hebr. 12, 5 — 11 als väterliche
Zucht beschrieben wird, denen erwächst, welche durch
dieselbe geübt sind, wird „die friedsame Frucht der Gerechtigkeit" genannt. Friedsam ist diese Frucht, weil
durch die Zucht des Vaters der eigne Wille, der uns
immer unglücklich macht, gebrochen und dem Willen Gottes
unterwürfig gemacht wird, so daß kein Widerstreit mehr
bleibt zwischen uns und Gott; wir ruhen dann in Frieden
in dem Willen Gottes, in welchem wir Seine Liebe er­
129
kennen. Eine Frucht der Gerechtigkeit ist diese Frucht,
weil sie die Erfüllung der Absichten Gottes ist, uns
Seiner Heiligkeit teilhaftig zu machen, auf daß
wir dadurch fähig werden, das Glück Seiner Gemeinschaft
immer mehr zu genießen. Wenn also der Zweck der
Züchtigungen unsers Vaters der ist, unsern Herzen Frieden
und Glück zu bereiten, so haben wir gewiß Ursache, für dieselben zu danken.
Schwierigkeiten sind durchaus nötig, wenn wir etwas
lernen und Fortschritte machen sollen in der Nachfolge
Jesu, und zwar Schwierigkeiten mancherlei Art, so wie sie
zu der Mannigfaltigkeit unsrer Bedürfnisse passen. Die
vollkommne Weisheit, die unsern Weg bereitet, sorgt jeden
Tag für die richtigen Schwierigkeiten und wirft uns oft
etwas in den Weg, woran wir gar nicht gedacht haben
und was uns sehr unbequem ist. Gott kennt unsern
Charakter und unsre schwachen Seiten und weiß die empfindlichsten Stellen genau zu treffen. Wie gut ist es, daß
Er, der uns so unaussprechlich liebt, uns in Seine Hand
genommen hat, nm uns zu bilden, wie der Töpfer seinen
Thon formt. Möchten wir uns Ihm nur immer willenlos und mit kindlichem Vertrauen überlassen; Er wird
schon die richtige Form an uns zu bringen wissen, und
am Ende wird das Werk zum Lobe des Meisters sein.
In dem Sonnenschein des Lebens sind wir in Gefahr, uns behaglich niederzulassen, uns zu erfreuen an
den sichtbaren Dingen und den Kampf des Glaubens
ruhen zu lassen. Da findet dann der Feind unsrer
Seelen leicht eine unbewachte, schwache Seite bei uns
heraus, wo er unbemerkt eindringen und uns Schaden
zufügen kann. Unser Vater aber hat uns viel zu lieb,
130
als daß Er dies zugeben könnte. Deshalb bringt Er
uns in Umstände, wo es uns nahe gelegt wird, daß wir
zu denen gehören, die durch den Glauben, nicht durch
Schauen zu wandeln haben, denen Er einen Schatz im
Himmel gegeben hat, der zwar unsichtbar ist, den sie
aber durch den Glauben jetzt schon genießen sollen, damit
Seine Absicht, sie wahrhaft glücklich vor sich zu sehen,
erreicht werde. Ein Herz, welches zu einer Wohnung
des Herrn selbst zubereitet ist, kann nur glücklich sein,
wenn der Platz, der dem Herrn gehört, nicht durch etwas
anderes eingenommen wird. Deshalb sollten wir nicht
jammern und klagen, sondern dankbar sein, wenn Gott
etwas wegnimmt, was uns hinderlich ist, unser Glück im
Herrn zu genießen. Er nimmt uns nichts, als was uns
schaden kann, und wenn Er es nimmt, so will Er dadurch
zugleich eine Lücke hervorbringen, die Er durch sich selbst,
das unendliche Gut, ausfüllen will.
Wenn das Fleisch leiden muß, so ist es zum Gewinn
des innern Menschen, (2. Kor. 4, 16 — 18.) und das ist
ein wirklicher Gewinn, wofür wir zu danken haben.
Wir werden ohne Zweifel in der Ewigkeit für die erduldeten Trübsale mehr danken, als für die in dieser Welt
genossenen Freuden. Der Glaube versteht dies und teilet uns, schon jetzt das zu thun, was wir in der Ewigkeit thun werden. Im Blick auf die vor uns liegende
Herrlichkeit rühmen wir uns der Trübsale,
weil sie das Mittel in der Hand Gottes sind, uns auf
dem Wege zu erhalten, der zur Herrlichkeit führt, aber 
durch eine gefährliche Wüste geht. (Röm. 5, 3. 4.) Wenn
wir „danken allezeit und für alles," so empfängt Gott
das, was Ihm gebührt, und die Absicht des Feindes,
131
Ihm die Ehre zu rauben, indem er uns zum Murrei:
und Klagen reizt, wird vereitelt. Wenn wir für die
Trübsale danken, so wird das Herz glücklich und fähig
gemacht, im Frieden Gottes durch alles hindurch zu gehen
und Ihn auch vor den Menschen zu verherrlichen.
Die Wahrheit ist, daß die Züchtigungen des Herrn,
unsers Vaters, ein Beweis Seiner Liebe sind, (Hebr.
12, 6.) während der Feind, der „ein Lügner und der
Vater derselben ist," (Joh. 8, 44.) sie uns als das Gegenteil darzustellen und uns dadurch zum Mißtrauen gegen
Gott zu verleiten sucht. Könnte es aber wohl zweifelhafr
sein, wem wir zu glauben haben, der Wahrheit oder der
Lüge? Glauben wir der Wahrheit, so werden die Trübsale eine Ursache zum Dank, glauben wir der Lüge, so
verunehren wir Gott und machen uns selbst unglückliche 
DaS einzige Mittel, um in allen Lagen glücklich zu sein,,
ist, zu danken allezeit und für alles.
Wo in Wahrheit Gott gelobt wird, da kann es der
Widersacher Gottes nicht anshalten; er muß fliehen. Er
kann ein Herz, welches durch den Glauben in der Liebe
Gottes ruht, nicht unglücklich machen. Nicht selten aber
auch tritt da, wo das Lob Gottes ertönt, selbst in den
äußern Umstünden an die Stelle der Wirksamkeit des
Feindes die Offenbarung der Macht Gottes. Denken wir
z. B. an Paulus und Silas im Kerker zu Philippi.
Satan wollte das Werk des Evangeliums in dieser Stadl
verhindern und die Arbeiter des Herrn unschädlich machen.
Da es ihm als listige Schlange nicht gelungen war, durch
das Zeugnis der unter seiner Leitung stehenden Magd
die Augen der Apostel vom Herrn ab auf sich selbst zu lenken,
so trat er als brüllender Löwe auf und suchte durch eineu.
132
von ihm erregten Aufruhr sie zu verschlingen, indem er
bewirkte, daß sie gegeißelt und ins Gefängnis geworfen
wurden. Doch das Werk war des Herrn, der den Satan
überwunden hat und der alle Macht besitzt im Himmel
und auf Erden. Deshalb sehen wir auch hier, wie überall,
wo der Feind der Wirksamkeit des Herrn entgegentritt,
daß er Ihm gegen seinen Willen dienen muß, und daß
der Herr ihn als Werkzeug zur Förderung Seiner Absichten benutzt. Das wußten die Apostel, und ihr Glaube
triumphirte über die denkbar schwierigsten Umstände, in
denen sie sich befanden. Blutig geschlagen, lagen sie im
innersten Gefängnis, ihre Füße im Stock, und hatten
' vielleicht ihr Todesurteil zu erwarten. Dazu mußte ihr
Glaube eine harte Probe bestehen. Waren sie doch durch
eine besondere Offenbarung des Herrn nach Macedonien
berufen worden, um dort das Evangelium zu verkündigen,
und jetzt dieser Erfolg! Das war für den Verstand unfaßbar. Der Glaube aber urteilt: Je unfaßbarer für
den Verstand, desto herrlicher muß der Weg sein — ein
Weg Gottes. So erhob auch der Glaube der Apostel
sie über die Umstünde und ließ sie mit ihren Herzen da
ihren Platz nehmen, wo alle ihre Quellen waren und wo
„eine Fülle von Freuden" (Ps. 16.) ist, so daß sie, anstatt
niedergeschlagen zu sein, um Mitternacht vor den Ohren
ihrer Mitgefangenen Loblieder singen konnten. Sie vermochten an ihren Umständen nichts zu ändern, aber eins
konnten sie thun, und zwar gerade das, was das Köstlichste
ist: sie konnten Gott loben und Ihn vor den Menschen
verherrlichen. Welch ein nachahmungswürdiges Beispiel
für unS in allen Umständen! Wenn wir nichts anders
thun können, so können wir doch Gott loben.
138
Doch es hörten sie nicht allein die Gefangenen, sondern ihre Lobopfer stiegen anch auf zu Dem, für dessen
allmächtige, Wirksamkeit die stärksten Fesseln und Kerkermauern kein Hindernis sind, ja, in dessen Hand sie sogar
als Anlaß zur Entfaltung der Macht Seiner Gnade
dienen müssen. Diese Gnade hatte den Kerkermeister und
sein Haus als Gefäße ausersehen, worin sie sich verherrlichen wollte. Die Antwort Gottes auf die Lobgesänge
der Apostel, wovon die Mauern des innersten Gefängnisses
wiederhallten, war die Durchbrechung aller Hindernisse und
die Bahnung des Weges für die Gnade zu dem Herzen
des Kerkermeisters. Dieses harte Herz, welches für die
Predigt der Apostel vielleicht nicht zu erreichen gewesen
wäre, wurde durch die Machtthaten Gottes, indem Er
die Elemente in Bewegung setzte, gebrochen und zubereitet
für die Aufnahme der frohen Botschaft: „Glaube an den
Herrn Jesum, und du wirst errettet werden, du und dein
Haus." Satan mußte, indem er durch den Aufruhr die
Apostel ins Gefängnis brachte, als Werkzeug dienen zur
Verherrlichung Gottes durch ihre Lobgesüuge inmitten der
trübseligsten Lage, zur Entfaltung der Biacht Gottes zu
ihrer Befreiung und zur Errettung einer ganzen Familie
von ewigem Verderben. Wunderbar sind die Wege der
Weisheit Gottes, unausspürbar für den menschlichen Verstand, aber in jedeni Falle herrlich und anbetungswürdig.
Und wir sollten von den Aposteln lernen, inmitten der
Wirksamkeit des Feindes nicht zu verzagen, sondern durch
unerschütterlichen Glauben den Herrn zu verherrlichen, der
über allem steht in unumschränkter Macht und Gnade.
Möchten wir in allen Seinen Wegen mit uns, noch ehe wir
das Ende sehen, durch den Glauben in Seiner Liebe
134
ruhen und mit glücklichem Herzen, selbst in der Trübsal
Ihm das Opfer des Lobes darbringen! Wir werden
dann ohne Zweifel ähnliche Erfahrungen machen, wie die
Apostel, aber die Hauptsache ist, daß der Herr durch uns
verherrlicht wird.
Sehr ermunternd ist auch das Beispiel des Königs
Josaphat, welches wir in 2. Chron. 20 finden. Ein
großes feindliches Heer überzog sein Land mit Krieg.
Er wandte sich in einem Gebet voll Glaubens an Jehova,
den Gott seiner Väter, um Hülfe. Das Gebet des
Glaubens aber findet immer eine göttliche Antwort, und
diese verkündigte dem Josaphat: „Ihr sollt euch nicht
fürchten und sollt nicht zagen vor dieser großen Menge,
denn nicht euer ist der Streit, sondern Gottes. . . . Ihr
werdet hier nicht zu streiten haben; stellet euch hin, stehet
nnd sehet die Rettung Jehovas an euch."
„Da neigte sich Josaphat mit dem Angesicht zur Erde,
und ganz Juda und die Bewohner von Jerusalem fielen
nieder vor Jehova, um Jehova anzubeten. Und die
Leviten . . . standen auf, Jehova, den Gott Israels, zu
preisen mit überaus lauter Stimme." Dann ermunterte
Josaphat das Volk zum Glauben und bestellte „Sänger
JehovaS, die da lobpriesen in heiliger Pracht, indem sie
vor den Gerüsteten her auszogen und sprachen: Lobsinget
Jehova, denn Seine Güte währet ewiglich! Und zur
Zeit, da sie begannen mit Jubel und Lobsingen, stellte
Jehova einen Hinterhalt wider die Söhne Ammons, Moab
nnd die vom Gebirge Seir, die wider Juda gekommen
waren, und sie wurden geschlagen." Die Feinde töteten
sich untereinander, so daß das ganze feindliche Heer sich
selbst vernichtete, und Josaphat und sein Volk nichts an­
135
deres zu thun hatten, als die Beute in Besitz zu nehmen
und Gott für die Rettung zu preisen.
Welch gesegnete Resultate hatte die Not für Josaphat
und sein Volk! Während sein früheres äußeres Wohlergehen (2. Chron. 18.) ihn in die Gemeinschaft des gottlosen Königs Ahab und an den Rand des Verderbens
gebracht hatte, führte ihn die Not in die Gegenwart Jehovas zurück und ließ ihn die wunderbare Hülfe und die
mächtige Dazwischenkunft seines Gottes erfahren. Für
den Gläubigen ist die Not immer gesegneter, als ein äußeres Wohlergehen. Die erstere treibt ihn in die Vaterarme Gottes, das letztere bringt ihn leicht in die Fallstricke des Fürsten dieser Welt. Die Geschichte Josaphats
zeigt uns dies in augenfälliger Weise. Möchten wir deshalb in äußerlich guten Tagen wachen und beten, daß wir
nicht in Versuchung hineinkommen, und in der Not mit
kindlichem Vertrauen uns in die Arme unsers Vaters
legen! Er liebt uns mit vollkommner Liebe, bei Ihm ist 
keine Veränderung, noch Schatten von Wechsel, und Er
betrübt uns nur, „wenn es nötig ist, durch mancherlei
Versuchungen," (1. Petr. 1, 6.) um uns auf diesem
Wege reicher Segnungen teilhaftig zu machen. In Freud
und Leid aber gebührt Ihm unser Lob.
Beachten wir auch, daß die großen Machtthaten Gottes,
sowohl bei Paulus und Silas, als auch bei Josaphat,
sich unmittelbar an die Lobopfer anschlossen, die ihm von
diesen Männern dargebracht wurden. Zeigt uns das nicht,
rvelchen Wert Gott auf Seine Verherrlichung durch den
Glauben der Seinigen inmitten der Schwierigkeiten legt?
Das Lob Gottes inmitten der Trübsal schließt einen
Triumph über den Feind in sich, indem Gott selbst mit
136
Seiner Macht in die Umstände hineingebracht wird. Alleiir
vergessen wir nicht, daß jene gläubigen Männer nicht deshalb Gott lobten, um aus den Umständen und Schwierigkeiten errettet zu werden. Ihr Lob entsprang vielmehr
dem innersten Drange ihrer Herzen. Aus der Fülle des
Herzens redete der Mund. Das Herz der Apostel war
voll von dem Glück, welches sie in der innigen Gemeinschaft mit dem Herrn genossen; und dieses Glück erhob sie
weit über das gegenwärtige Leid. Ebenso ließ der Glaube
an die Treue Gottes, der die Errettung verheißen hatte,
Josaphat schon für das, was noch nicht zu sehen war,
loben und preisen, als wäre es bereits eine vollendete
Thatsache.
Indes denkt vielleicht mancher: Ja, Josaphat halte
auch die bestimmte Zusage Gottes, daß Er für ihn eintreten wolle. Aber, möchte ich fragen, hat nicht jeder
Gläubige ebenso bestimmte Zusagen, die sich auf alle seine
Bedürfnisse in jeder möglichen Lage erstrecken? Lesen wir
nicht in Hebr. 13, 5. 6: „Er hat gesagt: „Ich will
dich nicht versäumen, noch dich verlassen;" so daß wir
kühn sagen mögen: „Der Herr ist mein Helfer, und ich
will mich nicht fürchten; was will mir ein Mensch thun?""
und in Röm. 10, 12. 13: „Denn derselbe Herr von
allen ist reich für alle, die Ihn anrufen; denn ein jeder,
der den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet
werden," und in Ps. 50, 15: „Rufe mich an am Tage
der Bedrängnis, ich will dich erretten, und du wirst mich
verherrlichen;" und endlich in Ps. 145, 18. 19: „Nahe
ist Jehova allen, die Ihn anrufen, allen, die Ihn anrufen
in Wahrheit. Er thut das Verlangen derer, die Ihn
fürchten, ihr Schreien höret Er und rettet sie?" (Berg.
137
ferner Matth. 6, 7. 8, den ganzen 34. Psalm und viele
andere Stellen des göttlichen Wortes.) Ist das geschriebene Wort Gottes weniger zuverlässig, als dasjenige,
welches durch den Mund des Leviten Jehasiel an Josaphat
gerichtet wurde? Es fehlt uns nur an dem Glauben eines
Josaphat an die Treue Gottes, daß Er Seine Zusagen
unter allen Umständen wahr machen werde, wenn wir
nicht fähig sind, Ihn allezeit und für alles zu Preisen, auch
für die Trübsale, die Er uns sendet.
Keiner von uns ist wohl je in einer so schwierigen
Lage gewesen, wie Paulus und Silas im Kerker zu 
Philippi, oder wie Paulus im Gefängnis zu Rom, aus
welchem er den Philippern schrieb: „Wenn ich aber auch
wie ein Trankopfer gesprengt werde über das Opfer und
den Dienst euers Glaubens, so freue ich mich, und
freue mich mit euch allen. Gleicherweise aber freuet auch
ihr euch und freuet euch mit mir." (Kap. 2, 17. 18.)
Sollte es uns in weit leichteren Trübsalen nicht auch
möglich sein, Gott zu loben mit glücklichem Herzen ?
Allerdings „scheint alle Züchtigung für die Gegenwart
nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein." Gewiß soll
sie auch als Züchtigung nicht Freude sein, sonst würde
sie ihren Zweck nicht erreichen; die Züchtigung muß als
solche gefühlt werden. Aber dennoch wird ein Herz,
welches in inniger Gemeinschaft mit dem Herrn lebt, in
dem Glück, welches der Besitz des unendlichen Gutes hervorbringt, sich über die schwierigsten Umstände erheben
und Gott preisen können. Freilich muß der Geist Gottes
oft, anstatt in unsern Herzen von der Kostbarkeit Christi zu
zeugen, die Züchtigung benutzen, um uns etwas aufzudecken
in unserm Wandel oder Zustande, worüber wir unS zu
138
demütigen haben. Er führt uns dann gleichsam in eine
Wüste, um zu unsern Herzen zu reden; (Hosea 2, 14.)
aber Er thut dies nur zu dem Zwecke, um uns von allem
zu reinigen, was die Gemeinschaft hinderte, und uns so aufs
neue fähig zu machen, das Glück derselben zu genießen. Dann
geht das Lob aus der Demütigung hervor. Aber die
Züchtigung war das Mittel und wird ein Anlaß zur
Verherrlichung Gottes. Auf diese Weise wird das „Thränenthal" zu einer Quelle von Segnungen. (Ps. 84, 6.)
Fürwahr, die Kinder Gottes sind ein glückliches Volk.
Berufen in die Gemeinschaft des Vaters und Seines Sohnes
Jesu Christi, soll ihre Freude völlig sein. (1. Joh. 1,3.4.)
Sie haben nichts zu fürchten, weil Gott für sie ist, (Röm. 8,
28—39.) dessen vollkommene Liebe die Furcht austreibt.
(1. Joh. 4, 18.) Selbst der Tod, der Schrecken aller
Lebenden, ist für sie nur ein Friedensbote, der ihnen
verkündet, daß nunmehr aller Kampf beendet sei, und der
sie entkleidet von dem Leibe der Niedrigkeit, in welchem
sie beschwert waren und seufzten. (2. Kor. 5, 1—8.)
Die himmlische Herrlichkeit, ein Platz im Vaterhause
Gottes, liegt für sie bereit, und sie haben jeden Augenblick das Wiederkommen ihres Herrn zu erwarten, um verwandelt und Ihm entgegengeröckt zu werden in die Luft,
auf daß sie bei Ihm seien allezeit. (Joh. 14, 2— 4; 1. Thess.
4, 15—17.) Die Trübsale auf dem Wege sollen, weit
entfernt, sie unglücklich zu machen, nur dazu dienen, sie
von allem zu befreien, was sie hindert, ihr wahres Glück
zu genießen. — Nach allem diesem können wir verstehen,
daß zu ihnen gesagt werden kann: „Danksaget in allem,
denn dies ist der Wille Gottes in Christo Jesu
gegen euch!" ___________
139
Der Tod.
Für den Gläubigen, der nach dem wohlgefälligen
Willen Gottes durch den Tod zu gehen hat, bedeutet derselbe nichts anderes, als ein Verlassen alles dessen, was
sterblich, nichtig und vergänglich ist. Er enthält für ihn
nicht mehr die Schrecken des Gerichts Gottes, noch diejenigen der Macht Satans. Christus ist in den Staub
des Todes hinabgestiegen, hat den Zorn Gottes wider die 
Sünde erduldet und hat für den Gläubigen alles Gericht
für ewig hinweggethan. Es war die Sünde, welche den
Tod hervorrief, und die Sünde ist es, die seinen Stachel
so scharf und bitter macht. Das Gesetz war es, welches
der Sünde ihre Kraft für das Gewissen gab und den
Tod doppelt furchtbar machte, indem es dem Gewissen
die Gerechtigkeit Gottes vorstellte, welche die Erfüllung
jenes Gesetzes forderte und über alle, die es nicht hielten
den Fluch aussprach.
Aber Christus wurde zur Sünde gemacht und trug
den Fluch des Gesetzes, indem Er für die Seinigen, die unter
dem Gesetz waren, zu einem Fluch gemacht wurde; und
indem Er auf diese Weise Gott vollkommen verherrlichte,
sowohl im Blick auf die Sünde, als auch im Blick auf
das Gesetz in seinen bestimmten und unumstößlichen Forderungen, hat Er uns von dem einen, wie von dem andern völlig befreit und uns zu gleicher Zeit der Gewalt
des Todes, aus welchem Er siegreich hervorging, entrückt.
Alles, was der Tod uns anhaben kann, besteht darin,
daß er uns von einem Schauplatz, auf welchem xr seine
Gewalt ausübt, wegnimmt und uns dahin versetzt, wo
er keine Macht mehr hat. Anstatt daher den Tod zu
140
fürchten, danken wir Dem, der uns den Sieg giebt durch
unsern Herrn Jesum Christum.
Und wenn der Herr kommt, um alle die Toten in
Christo aufzuerwecken und die noch lebenden Gläubigen,
die übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn, zu verwandeln, dann wird das Wort erfüllt werden, das geschrieben
steht: „Verschlungen ist der Tod in Sieg." Ueber Tod
und Grab triumphirend, werden die Erlösten mit verherrlichten Leibern ihrem Herrn entgegengerückt werden in die
Luft, um für allezeit bei Ihm zu sein.
„Daher, meine geliebten Brüder, seid fest, unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werke des Herrn, da
ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich ist im Herrn."
(1. Kor. 15.)
Freuet euch allezeit!
Der Herr will, daß sich die Seinigen, sogar in dieser
Welt der Leiden und des Todes, stets freuen sollen. Gott
hat uns nicht nur in Christo Jesu geschaffen, sondern
hat uns auch in Ihm gesegnet mit aller geistlichen
Segnung; und der Heilige Geist ruft unS zu: „Freuet euch
in dem Herrn allezeit; wiederum sage ich: Freuet euch!"
— Die Quelle unsrer Freude ist also der Herr selbst,
und ihr Geheimnis ist: „an welchen glaubend, obgleich ihr Ihn jetzt nicht sehet." (1. Ptr. 1, 8.) Ihr
Maß ist so unbegrenzt und unumschränkt wie die Herrlichkeit selbst. Jesus wünschte, daß Seine eigene Freude
unser Herz erfüllen möchte, denn wir lesen in Joh. 15, 11:
„Dies habe ich zu euch gesagt, auf daß meine Freude in
euch sei und eure Freude erfüllt werde."

Der Weg der Glückseligkeit.
i.
Das Trachten nach Glückseligkeit findet sich in jedem
Menschen ohne Unterschied. Dieses Trachten an sich ist
ein Beweis, daß die Glückseligkeit nicht in dem Menschen
selbst zu finden ist, sondern außer ihm liegt. Nachdem
der ursprüngliche glückliche Zustand im Paradiese, wo der
Mensch in Verbindung mit Gott, der einzigen Quelle der
Glückseligkeit, war, durch die Sünde verloren gegangen,
und der Mensch aus der Gegenwart Gottes vertrieben,
sowie unter den Fluch und die Macht Satans und des
Todes gekommen ist, findet er in seinem Herzen eine
Leere, die er auf alle mögliche Weise auszufüllen sucht.
Satan, „der Fürst dieser Welt," unter dessen Herrschaft
er sich als Sünder befindet, lenkt sein Verlangen und
seine Begierden auf sinnliche Dinge, auf „alles, was in
der Welt ist, die Lust des Fleisches und die Lust der
Augen und den Hochmut des Lebens." (1. Joh. 2, 16.)
Aber jemehr der Mensch davon genießt, desto unbefriedigter fühlt er sich in seinem Innern; daher dieses fortwährende Trachten und Jagen nach Genüssen und sichtbaren Dingen, ohne je satt zu werden, ohne je zur Ruhe
zu kommen. Ein Tier ist befriedigt, wenn es in Behaglichkeit seine leiblichen Bedürfnisse stillen kann. Der
Mensch aber wurde erschaffen „im Bilde Gottes;" ihm
142
wurde, nachdem sein Leib aus Staub von der Erde gebildet war, von Gott selbst „der Odem des Lebens eingehaucht," und deshalb kann er seine Befriedigung nur in
seinem Ursprung, dem unendlichen Gott, finden.
Doch die Sünde hat den Menschen von Gott getrennt;
sie hat sein Herz mit Feindschaft gegen Gott erfüllt und
den Zorn des gerechten und heiligen Gottes „über die
Söhne des Ungehorsams" gebracht. (Röm. 8, 7; Eph.
5, 6.) So besteht zwischen dem natürlichen Menschen
und Gott eine Scheidewand, die ihn in diesem Leben von
der einzigen Quelle der Glückseligkeit fern hält, während
ihn für die Ewigkeit das verdammende Urteil Gottes unsäglich unglücklich machen muß. Sich selbst überlassen,
vo n Gott getrennt, muß er unstät und ruhelos umherirren
auf der Erde, und zwar von einer Täuschung seiner irdischen Hoffnungen zu der andern, vergeblich nach Glückseligkeit trachtend, um dann, am Ende, durch den Tod
nnd das Gericht in die Nacht ewiger Qualen versenkt zu
werden. Schreckliches Los aller Kinder des gefallenen
Adam, die „ohne Gott in der Welt" sind!
Doch Gott ist nicht allein Licht, gerecht und heilig,
sondern Er ist auch Liebe, gnädig, barmherzig und von
großer Güte. Und weil Er beides ist, so hat Er die
unergründliche Tiefe des Reichtums Seiner Weisheit darin
geoffenbart, daß Er einen Weg geöffnet hat, auf welchem
einerseits Seiner Gerechtigkeit gegen die Sünde vollkommen Genüge geschehen ist, und andrerseits der Sünder durch die Gnade in eine ewige und vollkommne
Glückseligkeit eingeführt werden kann. Als gerechter
Gott kann Er keine einzige Sünde ungestraft lassen; Er
muß den Sünder töten und verdammen. Nach Seiner
143
Liebe aber will Er nicht den Tod des Sünders, sondern
daß er lebe. Vollkommen in Seinem Wesen, kann Er
weder von Seiner Gerechtigkeit noch von Seiner Liebe
etwas ablassen, wie es vielleicht der Mensch thun würde,
um einen Mittelweg zu finden. Tod und Leben aber zu
vereinigen ist bei Menschen unmöglich; doch bei Gott
sind alle Dinge möglich. Er hat das Geheimnis Seines
Wesens, unergründlich für den Verstand, in der Vereinigung Seiner vollkommnen Gerechtigkeit und Seiner vollkommnen Liebe in Christo geoffenbart. Ihn, Seinen
eignen Sohn, „Seinen Einzigen, den Er liebte," hat Er
in diese Welt gesandt, um den Sünder zu erretten. Der
Sohn, völlig eins mit dem Vater, ist Mensch geworden,
um an die Stelle verdammungswürdiger Menschen zu
treten und, während Er persönlich vollkommen rein und
ohne Sünde war, an ihrer Statt das gerechte Gericht Gottes über die Sünde an sich vollziehen zu lassen.
Der Tod ist der Lohn der Sünde. Christus hat die
Bitterkeit des Todes geschmeckt, Er, der „das Leben"
war, und hat dadurch für alle, die an Ihn glauben, „den
Tod zu nichte gemacht," (2. Tim. 1, 10.) sowie auch
„den, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel,
und alle die befreit, welche durch Furcht des Todes während des ganzen Lebens der Knechtschaft unterworfen
waren." (Hebr. 2, 14. 15.) Am Kreuz, beladen mit
fremden Sünden, den unzähligen Sünden aller derer,
die an Ihn glauben, und für sie zur Sünde gemacht, —
zu dem, was sie in sich selbst sind — mußte Er das vollkommne Gewicht des gerechten Gerichts Gottes über die
Sünde in Seiner Seele fühlen, und zwar in einem Maße,
wie es für eine Kreatur unmöglich sein würde; und so
144
wurde die Gerechtigkeit Gottes auf eine göttlich vollkommne
Weise befriedigt. Gott betrachtet hinfort alle, die an
den Sohn glauben, als mit Ihm gestorben und in Ihm
gerichtet, als solche, die als Sünder vor Seinen Augen
auf ewig hinweggethan und von allen ihren Sünden befreit sind. „Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen
von der Sünde," (Röm. 6, 7.) und: „das Blut Jesu
Christi, Seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde."
(1. Joh. 1, 7.) „Alles aber von dem Gott, der uns
mit sich selbst versöhnt hat durch Jesum Christum; . . .
Denn Gott war in Christo, die Welt mit sich selbst versöhnend." (2. Kor. 5, 18. 19.) Diese Botschaft läßt
Gott jetzt allen Menschen verkündigen, damit sie glauben
und dadurch der Errettung teilhaftig werden möchten.
(2. Kor. 5, 20. 21.)
In welch vollkommner Weise zeigt uns das Kreuz,
was die Gerechtigkeit Gottes der Sünde gegenüber istl
Der „Sohn Seiner Liebe" mußte unter dem verzehrenden
Feuer Seines Gerichts ausrufen: „Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du mich verlassen?" Er mußte in „den
Staub des Todes" gelegt werden. (Ps. 22.) Wie sehen
wir aber auch andrerseits in demselben Kreuz die überströmende Liebe Gottes zu dem sündigen Menschen geoffenbart! Um unser schonen zu können, „hat Er Seines
eignen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für uns alle
dahingegeben." (Röm. 8, 32.)
Doch Seine Gerechtigkeit und Liebe gehen noch weiter.
Die Gerechtigkeit Gottes erforderte, daß Er Seinen Sohn,
den Gerechten, nicht dem Tode überließ, in welchen Er
freiwillig, als das wahre Lamm Gottes, hinabgestiegen
war. Deshalb hat Er Ihn aus den Toten auferweckt,
145
zu Seiner Rechten gesetzt und mit Herrlichkeit und Ehre
gekrönt in den himmlischen Oertern. Dort, im Hause
des Vaters, hat der ewige Sohn Gottes jetzt als Mensch
Seinen Platz genommen. Und weil Er für Menschen
in das Gericht des Todes ging, so hat Er auch für
Menschen jetzt dort in der Herrlichkeit einen Platz bereitet. Deshalb erfordert die Gerechtigkeit Gottes ferner,
daß Er alle, die an den Sohn glauben, dort einführe,
als „die Frucht der Mühsal Seiner Seele." (Jes. 53.)
So lesen wir in Eph. 2: „Gott aber, der reich ist an
Barmherzigkeit, wegen Seiner vielen Liebe, womit Er uns
geliebt, als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat
uns mit dem Christus lebendig gemacht (durch Gnade
seid ihr errettet) und hat uns mitauferweckt und mitsitzen
lassen in den himmlischen Oertern in Christo Jesu." Da
sehen wir also die Gerechtigkeit und Liebe Gottes in göttlicher Vollkommenheit vereinigt. Die Engel begehren in
dieses Geheimnis hineinzuschauen; (l. Petr. 1, 12.) die
durch den Glauben erretteten Sünder versenken sich mit
Anbetung in dieses Meer der Liebe; die Himmel werden
in alle Ewigkeit wiederhallen von dem Lobe des Gottes
der Liebe und des geschlachteten Lammes. (Offbg. 5.)
So hat die Gnade Gottes für den verlornen Sünder
einen Weg zu vollkommner und ewiger Glückseligkeit bereitet. Das Evangelium, die frohe Botschaft von Christo,
zeigt diesen Weg und ladet alle ein, ihn zu betreten. Der
Herr selbst ruft „alle Mühselige und Beladene" zu sich,
um ihnen die Ruhe zu geben, die sie vergeblich in der
Welt suchen, (Matth. 11, 28—30.) und ladet noch am 
Schluffe des Buches Seiner Offenbarung ein: „Wen da
dürstet, komme; wer da will, nehme das Wasser des Lebens
146
umsonst." (Off. 22, 17.) Viele Tausende sind diesem Rufe
bereits gefolgt, haben Frieden und Glückseligkeit bei Christo
gefunden und besitzen in Ihm das ewige Leben. Allen andern gilt die göttliche Mahnung: „Heute, wenn ihr Seine
Stimme höret, verhärteteure Herzen nicht." (Hebr.3,7.) „Wer
aber nicht glaubt, wird verdammt werden." (Mark. 16,16.)
2.
Wir haben also gesehen, daß Gott in Christo einen
Weg der Glückseligkeit geöffnet hat. Wer nun der frohen
Botschaft, die Gott an den Menschen richtet, glaubt und
als verlorner Sünder das in Christo angebotene Heil
durch den Glauben empfängt, verläßt dadurch den Weg
des Verderbens und betritt den Weg der Glückseligkeit,
der in der ewigen Herrlichkeit endet. Doch geht sowohl
der erste Schritt, die Umkehr zu Gott oder die Bekehrung,
als auch der ganze fernere Weg bis zum Endziel, durch
mancherlei und tiefe Uebungen des Herzens.
Wenn der Sünder durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes ins Licht Gottes gebracht wird, so treten ihm
seine Sünden vor die geöffneten Augen; oft ist es vielleicht zunächst nur eine bestimmte Sünde, die ihn unruhig
macht und ihn zu dem Bewußtsein bringt, daß er verdammungswürdig ist. Jemehr das Licht in seine Seele
dringt, desto unübersehbarer wird die Zahl seiner begangenen Sünden vor seinem erschreckten Blick, desto gewisser
wird es ihm, daß er verloren ist. Und was seinen Zustand noch hoffnungsloser macht, ist die Wahrnehmung,
daß er trotz seiner Anstrengungen weder die Sünde lassen,
noch etwas Gutes thun kann. Er findet, daß er „unter
die Sünde verkauft" ist, und kommt schließlich zu dem
147
Ausruf: „Ich elender Mensch! wer wird mich retten von
diesem Leibe des Todes?" (Röm. 7, 14. 24.) Doch
sobald er an allen Hilfsquellen in sich selbst verzweifelt
und nach einem Retter außer sich ausschaut, zeigt ihm
der Heilige Geist, daß seine Errettung längst vollbracht
ist durch das Versöhnungswerk, welches Gott selbst in
Christo aus Golgatha für ihn ausgeführt hat. Er lernt,
indem er dies glaubt, verstehen, daß Christus „unsrer
Uebertretungen wegen dahingegeben und unsrer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist;" daß wir nun „gerechtfertigt worden sind aus Glauben" und dadurch „Frieden haben mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum,
durch welchen wir mittelst des Glaubens auch Zugang haben
zu dieser Gnade, in welcher wir stehen, und rühmen uns
in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes." (Röm. 4, 25—5, 2.)
Der Weg der Glückseligkeit ist jetzt nicht blos geöffnet, sondern die Gnade hat auch den früher verlornen und unglücklichen Sünder durch den in ihm gewirkten Glauben in die Glückseligkeit ein geführt, die in
der Thatsache beruht, daß das Blut des Kreuzes Christi
zwischen ihm und Gott Frieden gemacht hat. Selige
Ruhe kehrt ein in die geängstigte Seele; die Furcht vor
den Schrecken des Gerichts macht den glücklichen Gefühlen
eines, in die Gemeinschaft eines liebenden Vaters und
Seines Sohnes Jesu Christi gebrachten Kindes Gottes
Platz. Ein neues Leben entfaltet sich in der Seele und
offenbart sich in Gefühlen und Gesinnungen, die mit der
Natur Gottes, welche Licht und Liebe ist, in Uebereinstimmung sind, und die dem Leben entsprechen, welches
in dem Menschen Christus auf der Erde sichtbar dargestellt worden ist. „Ist jemand in Christo — eine neue
148
Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu 
geworden." (2. Kor. 5, 17.)
Der Glaube verbindet die Seele mit Christo, dem
im Himmel verherrlichten Menschen, der, „nachdem Er
durch sich selbst die Reinigung der Sünden gemacht, sich
gesetzt hat zur Rechten der Majestät in der Höhe."
(Hebr. 1, 3.) Der Tod Christi hat nicht allein ein Ende
gemacht mit den Sünden des Glaubenden, sondern auch
mit seinem ganzen natürlichen Zustande. Er ist mit
Christo gestorben und auferweckt, hat dadurch „abgelegt
den alten Menschen, der nach den Lüsten des Betrugs
verdorben ist... und angezogen den neuen Menschen, der
nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und
Heiligkeit." (Eph. 4, 22—24.) Er ist nicht mehr im
Fleische, um der Sünde zu dienen,, sondern im Geiste, um
der Gerechtigkeit zu dienen. (Siehe Röm. 8, 1 — 16;
Tit. 2, 11—14; 3, 3—7.)
Der Heilige Geist hat Wohnung gemacht in seinem
Herzen, leitet und bildet ihn Christo Jesu gemäß, offenbart ihm alle die Schönheiten und Herrlichkeiten der Person Jesu und verbindet sein Herz in Liebe mit Ihm,
der ihn zuerst geliebt hat, so daß er jetzt in Christo einen
Gegenstand besitzt, an dem er dieselbe Freude und Wonne
haben kann, wie sie das Herz Gottes über Seinen Eingebornen
erfüllt. Der Besitz und Genuß dieses unendlichen Schatzes,
den Gott mit ihm geteilt hat, stillt sein Verlangen nach
Glückseligkeit auf ewig und in einer Weise, „die allen
Verstand übersteigt," so daß alles, was in der Welt ist,
selbst das, was früher als Gewinn betrachtet wurde, jetzt
nur als „Verlust und Dreck" erscheint. (Phil. 3, 7. 8.)
Die innige Verbindung der Seele mit Christo, das
149
Leben der Gemeinschaft mit Ihm, dem Unsichtbaren, der
durch Seinen Geist Seine Gegenwart so spürbar offenbart, als sähe man Ihn, ist das höchste Maß der Glückseligkeit, welches von einer Kreatur genossen werden kann.
Freilich, so lange wir „durch Glauben, nicht durch Schauen"
hienieden wandeln, ist dieser Genuß unvollkommen, weil
ein beständiger Kampf nötig ist, um im Glauben zu verharren. „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens."
<1. Tim. 6, 12; siehe auch Eph. 6, 10—18.) Bald
aber wird Er, der uns über alle Maßen liebt, den auch
wir lieben, „obgleich wir Ihn nicht gesehen haben,"
(1. Petr. 1, 8.) uns aus dem gegenwärtigen Zustande
der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit, aus dem Glauben zu seligem Schauen führen, nach Seiner Verheißung:
„Und wenn ich hingegangen bin und euch eine Stätte bereitet habe, so komme ich wieder und will euch zu mir nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr seid." (Joh. 14, 3.)
Der Erfüllung dieser Verheißung dürfen wir täglich
entgegensehen, denn der Herr hat keinen bestimmten Zeitpunkt dafür angegeben, noch auch auf Zeichen hingewiesen, die Seiner Ankunft zur Aufnahme der Seinigen vorhergehen sollten. Das letzte Wort, welches Er an sie richtet,
ist: „Ja, ich kommebald." Die Seinigen antworten: „Amen,
komm, Herr Jesu!" Er hat sich ihnen angekündigt als
der „glänzende Morgenstern," der vor dem Anbruch des
Tages (der zunächst ein Tag des Gerichts sein wird)
aufgeht, den nur diejenigen sehen, welche nicht schlafen,
wie die Welt, sondern Wachen und auf Ihn warten. Auf
diese Ankündigung antwortet der Geist und die Braut:
„Komm!" (Offenb. 22, 16. 17. 20.) So leitet der Geist
die Gläubigen zu der beständigen Erwartung des herrlichsten
150
aller Augenblicke, wo sie Ihm entgegengerückt werden,
um Ihn zu sehen, wie Er ist, und allezeit bei ihm zu
sein. (1. Thess. 4, 17.) Dann wird das Matz der Glückseligkeit voll sein.
Doch bis zu diesem gesegneten Augenblick haben sie
Ihn bei sich alle Tage, so lange sie hienieden pilgern,
sind nicht als Waisen gelassen, sondern Er ist zu ihnen
gekommen im Geiste. (Joh. 14, 16 — 18.) Sie können
Seine beseligende Nähe, ja Seine Jnwohnung in ihren
Herzen (Joh. 14, 23.) durch einen innigen Umgang mit
Ihm genießen, und dadurch die Seligkeit, die ihrer im
Himmel wartet, schon hier in Schwachheit erfahren und
schmecken.
Er trennt sich nicht von den Seinigen, begleitet sie
auf Schritt und Tritt, nimmt als „barmherziger und
treuer Hohepriester" teil an allen ihren „Versuchungen und
Schwachheiten," (Hebr. 2, 17. 18; 4, 15. 16.) tröstet
sie durch Seine Liebe, „nährt und pflegt sie" als die
„Glieder Seines Leibes," (Eph. 5, 29. 30.) wäscht ihre
Füße, wenn sie sich auf ihrem Pilgerweg durch eine sündige Welt verunreinigt haben, (Joh. 13, 5—11.) ist ihr
Sachwalter bei dem Vater, wo Er für sie bittet. (1. Joh.
2, 1; Röm. 8, 34.) Er ist, mit einem Worte, die unversiegbare Quelle für alle ihre Bedürfnisse, aus der sie
„Gnade um Gnade," so viel sie bedürfen, Kraft, Friede
und Freude schöpfen können, so daß sie in Verbindung
mit Ihm keinen Mangel haben können an irgend einem
Guten.
Der Weg, den sie durch diese Welt zu gehen haben,
ist in Verbindung mit Ihm ein Weg der Glückseligkeit,
wenn auch wechselvoll und reich an Prüfungen. Die Güte
151
Gottes ist zwar alle Morgen neu; doch sie offenbart sich
nicht blos im Sonnenschein, sondern auch in den Stürmen des irdischen Lebens. An allem will der Herr teilnehmen; Freud und Leid sollen die Seinigen mit Ihm
durchleben. Die Freude, mit Ihm genossen, wird geheiligt und erweckt Danksagung; ohne Ihn führt sie leicht 
zu Uebermut. Das schmerzerfüllte Herz, vertrauensvoll
vor Ihm ausgeschüttet, empfängt den Trost Seiner Liebe
und Seines Mitgefühls, so daß es selbst im Leid fähig
gemacht wird, Ihn zu preisen und zu verherrlichen. Wer
vermag, wie Er, „sich zu freuen mit den sich Freuenden
und zu weinen mit den Weinenden?" (Röm. 12, 15.)
Diese Teilnahme des Herrn an den Umständen der
Seinigen leuchtet uns entgegen aus vielen Beispielen, die
uns in der Schrift aus der Zeit Seines Wandelns auf
der Erde in der Mitte Seiner Jünger mitgeteilt werden.
Er ist noch heute derselbe, wie damals; deshalb werden
auch jetzt die Seinigen dieselben Erfahrungen machen können, wie jene Jünger. Einige Beispiele aus den vielen
mögen hier angeführt werden.
Die Jünger des Johannes kamen (Matth. 14, 12.)
zu Jesu, um Ihm ihren Schmerz über den Tod ihres
geliebten Lehrers zu klagen. Sie wußten, daß sie niemand finden konnten, der so mit ihnen fühlte, wie Er;
gleichwie Maria (Joh. 11, 32.) weinend zu Seinen Füßen
sank und eine Linderung ihres Schmerzes über den Tod
ihres Bruders in den Thränen Dessen fand, der „die
Auferstehung und das Leben" ist. So dürfen die Seinigen auch heute noch ihren Schmerz getrost zu Seinen
Füßen ausweinen und gewiß sein, bei Ihm das vollkommenste Mitgefühl zu finden. Er kennt aus eigner Er­
152
fahrung jeden Schmerz, den ein Menschenherz in einer
Welt, die durch die Sünde ein „Thränenthal" geworden
ist, empfinden kann, und Sein Mitgefühl äußert sich nicht
in ohnmächtigen, wenn auch noch so gut gemeinten Ausdrücken menschlicher Teilnahme, sondern Er senkt durch
die mächtige Wirksamkeit Seines Geistes den Trost Seiner Liebe in das leidende Herz, so daß es erhoben wird
von den Gegenständen des Kummers zu Ihm, der Quelle
der Freude. Er hat „eine Zunge der Gelehrten, daß
Er wisse, mit dem Müden ein Wort zu reden zu rechter
Zeit." (Jes. 50, 4.) Kein Mensch, selbst nicht der uns
am nächsten Stehende, der uns durch jahrelangen Umgang kennt und liebt, ist fähig, sich so zu versenken in
das, was unser Herz bewegt, wie Er, der die verborgensten Tiefen unsers Wesens ergründet und sogar einen
Kummer versteht, über den wir uns selbst nicht einmal
Rechenschaft geben, oder den wir in Worten klar ausdrücken könnten. Auch kommen.wir Ihm nie ungelegen;
bei Tage wie bei Nacht ist Sein Ohr für unser Schreien
oder unsre stillen Seufzer geöffnet. Ja, je öfter und
anhaltender wir unser Anliegen vor Ihn bringen, desto
mehr entsprechen wir dem Bedürfnis Seiner Liebe, welche
ihr Wohlgefallen darin findet, uns zu helfen und glücklich zu machen. Welch ein Glück, in den vielen Kümmernissen des irdischen Lebens einen so innig teilnehmenden,
allmächtigen Freund zu haben!
In Mark. 6, 30—51 finden wir in wunderbarer
Schönheit eine Reihe von Beispielen, in denen wir den
Herrn, in Verbindung mit Seinen Jüngern, inmitten
der verschiedenartigsten Lebenslagen und Verhältnissen sehen,
als Den, der in allen Bedürfnissen genug ist.
153
In V. 30 versammeln sich die von ihrer Aussendung
zur Verkündigung des Evangeliums des Reiches zurückkehrenden Jünger bei Jesu und berichten Ihm alles, was sie gethan
und gelehrt haben. Die Freude ihres Herzens über ihre
Erfolge konnten sie in aller Vertraulichkeit vor Ihm kund
werden lassen. Sie hatten, trotz ihrer Schwachheit, keine
knechtische Scheu vor Ihm, denn Seine Liebe, die sie
kannten, treibt alle Furcht aus. Und indem sie ihre Freude
über das, was sie in der von Ihm selbst empfangenen
Macht ausgerichtet hatten, zu Seinen Füßen niederlegen,
werden sie vor Selbsterhebung bewahrt.
In V. 31 ladet der Herr sie ein: „Kommet an
einen wüsten Ort und ruhet ein wenig aus." Er sagt
nicht: „Gehet ohne mich," sondern: „Kommet her." Er
will, daß sie mit Ihm ausruhcn sollen, wie sie auch
mit Ihm, d. h. in Seiner Kraft und nach Seiner Anweisung gearbeitet hatten. Eine Ruhe in der Einsamkeit,
mit Ihm genossen, stellt die müde Seele wahrhaft wieder
her und sammelt das im Geräusch des Lebens oft so zerstreute Herz um den köstlichen Mittelpunkt, aus dem Erquickung, Friede, Freude und neue Kraft hervorftrömen;
während ein Allsruhen, ein Sichzurückziehen in die Einsamkeit ohne Ihn die Gefahr in sich birgt, in Trägheit
und Selbstbeschaulichkeit zu verfallen, wo das eigne Ich
den Mittelpunkt bildet und die natürliche Selbstsucht des
Herzens genährt wird, die sich nur selbst zu dienen und
zu verherrlichen sucht. Das Ausruhen eines Jüngers
Jesu darf nur den Zweck haben, neue Kräfte für den
Dienst der Liebe zu sammeln, der nicht sich selbst, sondern Andern gewidmet ist. Wir sehen denn auch in dem
folgenden Abschnitt, wie der Herr Seine Jünger in
154
diesen Dienst stellt, sie zu Kanälen Seiner Segnungen,
zu Seinen Mitarbeitern macht. Glückliches Vorrecht
für sie!
In V. 34 — 44 erblicken wir den Herrn in Seiner
Fürsorge für das Volk. Nicht allein die Seinigen, die
an Ihn glaubten, erfreuten sich Seiner Fürsorge, sondern
Sein liebendes Herz umfaßte alle Menschen. Auch heute
noch und so lange die Gnadenzeit währt, ist Seine Sorgfalt auf die ganze Welt gerichtet. „Er will nicht, daß
irgend welche verloren gehen, sondern daß alle zur Buße
kommen." (2. Petr. 3, 9.) „Er will, daß alle Menschen
errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen."
(1. Tim. 2, 4.) Deshalb sendet Er in alle Welt Seine
Botschaft: „Lasset euch versöhnen mit Gott." (2. Kor. 5,20.)
Und da Er jetzt „zur Rechten der Majestät sitzt und alle
Dinge durch das Wort Seiner Macht trägt," (Hebr. 1, 3.)
so ist auch Seine Regierung in den Wegen der Menschen
darauf gerichtet, sie durch Güte und Ernst für Seine
Gnade empfänglich zu machen. Wenn sie in ihrer Not zu
Ihm schreien, so hört Er, hilft ihnen und sorgt für ihre
Bedürfnisse. Dies gilt für alle Menschen, und in Seiner
Fürsorge für sie nach Seele und Leib giebt Er den Seinigen das Vorrecht, Seine Mitarbeiter zu sein.
Zu dieser Mitarbeit sind alle die Seinigen berufen,
wenn sie auch nicht alle denselben Dienst ausüben
können. Aber in irgend einer Weise können alle, auch die 
am wenigsten Begabten, dienen, und oft ist der unscheinbarste Dienst der gesegnetste. Wir können auch sicher sein,
daß, wenn der Herr uns einen Auftrag giebt, (und alle
die Seinigen haben den Auftrag, Ihm in irgend einer
Weise zu dienen) Er auch die Kraft und die Mittel zur
155
Ausführung desselben darreichen wird. Wenn Er deshalb
die Jünger aufforderte, sie sollten der Volksmenge zu essen
geben, so war es nur Mangel an Glauben bei ihnen, daß
sie auf die völlig unzureichenden Mittel blickten, die sie
selbst besaßen. Hätten sie verstanden, daß ihr Auftraggeber derselbe war, der einst vierzig Jahre lang ein großes
Volk in einer öden und dürren Wüste gespeist und getränkt
hatte, so hätten sie ihre Augen auf Ihn gerichtet und
nicht auf sich selbst. Das ist es, was der Glaube
thut, und dadurch verfügt er über alle Schätze Gottes.
Der Herr aber ist erhaben über den Unglauben oder 
Kleinglauben der Seinigen, und so sehen wir, daß Er trotz
desselben Seine Jünger benutzt, um, Seinem Auftrage
gemäß, das Volk zu speisen.
„Alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unsrer Belehrung geschrieben;" (Röm. 15, 4.) auch das, was uns in
diesem Abschnitt mitgeteilt wird, soll uns leiten, die Kraft und
die Mittel zu allem, was uns der Herr in dieser Welt
aufgetragen hat, nicht in uns selbst zu suchen, wo nur
Ohnmacht zu finden ist, sondern uns für die Thätigkeit,
die wir jeden Tag auszuüben haben, von Ihm die Hand
füllen zu lassen, wie die Jünger bei der Austeilung der
Brote, damit wir alles thun in Seiner Kraft und Er
die Ehre davon empfange. Das ist fürwahr ein leichter
und glücklicher Dienst, wo alles, was zu seiner Ausübung
nötig ist, von dem Herrn des Dieners selbst dargereicht
wird! Sein Joch ist sanft, und Seine Last ist leicht.
Möchten alle Gläubige solch gesegnete Kanäle sein, durch
welche die Segnungen, welche der Herr durch sie verbreiten
will, rein, wie sie aus Seiner Hand kommen, ausströmen,
ohne eine verunreinigende Beimischung ihrer Eigenheit!
156
Je abhängiger sie von dem Herrn sind, desto glücklicher
ist ihr Dienst und ihr ganzer Weg.
In V. 45—51 sehen wir die Jünger in Gefahr auf
dem See und voll Furcht. Der Herr aber kommt ihnen
zu Hülfe und ruft ihnen zu: „Fürchtet euch nicht!" Dann
nimmt Er Seinen Platz bei ihnen in ihrem Schiffe und
bringt sie glücklich ans Land. Die Einzelheiten, die uns
in diesem Abschnitt mitgeteilt sind, bieten ein treffendes
Bild von den Verhältnissen, unter welchen die Gläubigen
durch diese Welt zu gehen haben. Sie müssen gleichsam
das wogende Meer des irdischen Lebens durchschiffen, wobei der Wind ihnen häufig entgegen ist. Satan, ihr Widersacher, ist noch der Fürst dieser Welt, der, obwohl sie
aus seiner Gewalt errettet sind, ihnen mancherlei Schwierigkeiten und Versuchungen bereitet. Ja, Gott selbst in
Seiner Regierung läßt sie in solche Schwierigkeiten kommen,
um sie zur Selbsterkenntnis und zum bessern Verständnis
dessen, was Er ist, zu führen; wie Er (5. Mos. 8.)
Seinem Volke Israel sagen läßt, daß Er sie deshalb
40 Jahre in der Wüste geleitet habe, um sie zu demütigen
und zu versuchen, auf daß sie erkennen möchten, was in
ihrem Herzen war, und um an ihnen Seine Macht und
Güte zu erweisen, „daß Er dir wohl thue an deinem
Ende." (V. 16.)
Während die Jünger in finstrer Nacht mit den Wellen
kämpften, war der Herr auf dem Berge, um zu beten.
Aber Sein Auge war beständig auf sie gerichtet, und als
Er sie beim Rudern notleiden sah, kam Er zu ihnen,
wandelnd auf dem See. — So ist der Herr jetzt, während
die Seinigen durch diese Welt gehen, droben zur Rechten
Gattes, um zu beten, und zwar sind sie der Gegenstand 
157
Seiner Fürbitte. (Röm. 8, 34; Joh. 17.) Er läßt sie
nie aus den Augen, sieht jeden Augenblick, was sie machen,
sieht ihre Gefahren und ihre Bedrängnisse und tritt im
entscheidenden Augenblick mit Seiner allmächtigen Hülfe ins
Mittel, weil Er, der sie so teuer erkauft hat, sie unmöglich preisgeben kann. Darauf können sie mit voller Bestimmtheit bis ans Ende rechnen. Wohl mögen sie in
ihrem Kleinglauben sich verlassen wähnen, und selbst, wenn
Er schon zu ihrer Hülfe erschienen und wirksam ist in den
Umständen, Seine Dazwischenkunft als Ursache des Schreckens
betrachten. Thöricht genug, aber für Ihn kein Hindernis,
im richtigen Augenblick mit dem Zuruf: „Seid gutes Mutes,
ich bin's; fürchtet euch nicht!" sich mit ihnen in ihren
Bedrängnissen zu vereinigen und dadurch in Seiner Kraft
sie zu Ueberwindern zu machen. (Röm. 8, 37.) Mit Ihm
vereinigt, gehen sie siegreich aus allen Gefahren hervor
und erreichen sicher das Land, wohin ihre Fahrt geht, das
himmlische Kanaan, wo sie, gesichert vor allen Stürmen,
ewig bei Ihm ruhen werden.
Fürwahr, glückselig ist der Pfad der Gläubigen in
Verbindung mit dem Herrn, wenn sie alles, was dieser
Pfad mit sich bringt, mit Ihm durchleben! Möchten wir
alle dieses Glück reichlich erfahren, alles, was unsre Herzen
bewegt, zu Ihm bringen, unsern Schmerz in Seinen Schoß
ausschütten, unsre Freude mit Ihm genießen, in der Einsamkeit und Ruhe Ihn zu unserm Gesellschafter haben, wo
die Unterhaltung mit Ihm die Erquickung unsrer Seele
bildet, zu aller Thätigkeit uns die Weisheit, Treue und
Kraft von Ihm schenken lassen, in den Bedürfnissen des
täglichen Lebens nicht vergessen, daß wir denselben Herrn
haben, der einst eine große Volksmenge mit wenigen Broten
158
sättigte, in den Stürmen des Lebens vertrauensvoll unser
Glaubensauge auf Ihn gerichtet halten, bis wir, nach vollbrachtem Pilgerlauf, uns mit allen Seinen teuer Erkauften
vereinigen werden zu ewigem Lobe, wo wir Ihn schauen
werden von Angesicht zu Angesicht,
Dessen Lieb' uns hier erquickt,
Dessen Treue uns geleitet,
Dessen Gnad' uns reich beglückt.
(Schluß folgt.)

Der Kreis der Zuneigungen der Braut.
„Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der
glänzende Morgenstern. Und der Geist und die Braut sagen:
Komm! Und wer es höret, spreche: Komm! Und wen da
dürstet, der komme; wer da will, nehme das Wasser des
Lebens umsonst." (Offbg. 22, 16. 17.)
In diesen Worten begegnen wir dem ganzen Kreise
der Zuneigungen der Braut. Welches sind die ersten Gefühle, die in ihrem Herzen wach werden, wenn der Herr
sich als der glänzende Morgenstern vor ihre Augen stellt?
Es sind die Gefühle der innigsten Zuneigung zu ihrem
Bräutigam und der Sehnsucht, Ihn zu sehen. Sie ruft:
„Komm!" Wenn der Geist in dem Herzen eines Gläubigen
wirkt, so ist der erste Gegenstand seiner Liebe und Zuneigung stets die gesegnete Person des Herrn selbst. Zu
Ihm wenden sich Geist und Braut und sagen: „Komm!"
Der zweite Gegenstand sind diejenigen, die dem Herzen
des Herrn so teuer sind: alle die Seinigen. Deshalb
wendet sich die Braut sogleich zu ihnen und fordert alle,
welche hören, auf, ebenfalls zu rufen: Komm! Für ein
159
Herz, das von Christo gehört und an Ihn geglaubt hat,
kann es nichts Köstlicheres geben, als zu vernehmen, daß Er
nahe ist. Selbst wenn ein solches Herz noch nicht in den
völligen Genuß seiner Stellung in dem Geliebten eingegangen ist, noch den ganzen Umfang und alle die gesegneten
Folgen des Werkes Christi erkannt hat, so fühlt es doch,
welch ein Glück es sein muß, Ihn zu schauen, wie Er ist.
So richten sich die Zuneigungen der Braut zunächst
gegen Christum selbst; aber sie wünscht auch, daß alle Gläubigen an diesen Zuneigungen und an dem Wunsche teilnehmen möchten, den Bräutigam zu besitzen. Aber bleibt
sie bei denen stehen, welche die Stimme des Herrn Jesu
bereits gehört haben? O nein; die erste Folge der Thätigkeit des Geistes in uns, um unsre Augen auf Christum
zu lenken, ist die Erweckung des Wunsches, daß Er kommen möchte; die zweite, daß wir begehren, daß alle, die
Seine Stimme hören, denselben Wunsch hegen und laut
werden lassen möchten; und die dritte, daß wir uns zu 
denen um uns her wenden, die vielleicht noch nach dem
Heile in Christo dürsten, und sie bitten, zu Jesu zu kommen. „Und wen da dürstet, der komme; wer da will,
nehme das Wasser des Lebens umsonst." Der Gläubige,
welcher geschmeckt hat, wie köstlich es ist, von dem lebendigen Wasser zu trinken, welches Christus giebt, begehrt,
daß auch andere davon trinken möchten, und in dem Bewußtsein der Gnade und Bereitwilligkeit des Herrn, einen
jeden aufzunehmen, der zu Ihm kommt, ladet er alle ein, 
zu kommen und von diesem Wasser des Lebens umsonst
zu trinken. „Wen da dürstet," und: „wer da
will," so lautet die gesegnete Einladung der Braut.
Geliebte Brüder! Ist die Erwartung der Ankunft des
160
Herrn, „Ihn zu sehen, wie Er ist," lebendig in
unsern Herzen? Rufen wir mit Sehnsucht: „Komm!"? Fordern wir unsre Mitpilger auf, in diesen Ruf einzustimmen und laden wir alle, die wir erreichen können, ein, zu
Jesu zu eilen, ehe es zu spät ist? Die Nacht ist bald
vorüber, das Erscheinen des glänzenden Morgensterns steht
nahe bevor. „Der dieses bezeugt, spricht: Ja, ich komme
bald." Möchten wir alle bereit sein, mit glücklichem Herzen zu antworten: „Amen! komm, Herr Jesu!"
Paulus und Felix.
(Apstgsch. 24.)
Wir begegnen in diesem Kapitel zwei Männern von
völlig verschiedenem Charakter, so verschieden, wie es bei
zwei Menschen überhaupt möglich ist; und der Unterschied
ist dieser: der Eine war ein wirklicher, wahrer Christ,
der Andere nicht; der Eine hatte sein Herz und seine
Blicke dem Himmel zugewandt, der Andere war ein weltlicher, die Ehre und die Gunst der Menschen liebender
Mann; der Eine lebte in dem Lichte des Wortes Gottes
und der Ewigkeit, der Andere wandelte nach seinem eigenen
Willen und nach den Lüsten seiner Natur; der Eine hatte
an Gott geglaubt und Ihn erkannt, der Andere besaß
nur eine äußere Kenntnis Gottes und des Weges der
Wahrheit. Und so verschieden die Charaktere dieser beiden
Männer waren, so völlig verschieden waren auch die Endpunkte ihrer Wege. „Welche Frucht hattet ihr denn damals
von den Dingen, deren ihr euch jetzt schämet? denn das
Ende derselben ist der Tod" — das ist das Ende des
Weges, auf welchem Felix sich befand. „Jetzt aber, von
161
der Sünde freigemacht und Gottes Sklaven geworden,
habt ihr eure Frucht zur Heiligung, das Ende aber ist
ewiges Leben" — das ist das Ende des Weges, welchen
der Apostel Paulus ging. Welch ein Unterschied! Vielleicht
gab es manches, worin Paulus und Felix sich glichen.
Beide waren von Natur Sünder; ja, Paulus war einst
ein noch heftigerer Gegner Christi gewesen, als Felix es war;
denn Felix kümmerte sich wenig um göttliche Dinge. Wahrscheinlich hoffte er, wie so manche es heute noch thun,
dereinst einen guten Platz im Himmel zu erlangen und
sich nach und nach darauf vorzubereiten; aber wir erblicken
ihn am Ende des Kapitels in demselben Zustande wie im
Anfang, als einen durchaus unbekehrten Menschen, vor
dessen Augen keine Furcht Gottes ist.
Es giebt besonders drei Dinge, die sich in dem vor
uns liegenden Kapitel vor unsern Augen entfalten, und
diese sind: der Glaube, die Hoffnung und die Handlungsweise"ekms Christen, und der Glaube, die Hoffnung und die 
Handlungsweise eines Weltmenschen. Betrachten wir zunächst
den Apostel. Wir sehen ihn als einen Gefangenen vor den
Schranken des Gerichtshofes stehen; ein gewandter Ankläger ist gewonnen worden, um ihn bei dem Landpfleger
zu verklagen und sein Verhalten in dem schlimmsten Lichte
darzustellen. Derselbe bringt zwei Lügen gegen ihn vor,
die er durch nichts beweisen kann. Aber was ist das, was
er außerdem von Paulus sagt? Er nennt ihn einen „Hauptanführer der Sekte der Nazaräer." Leugnet der Apostel
dies in seiner Verteidigungsrede? O nein. Doch was
bedeuten jene Worte? Sie bezeichneten einen Menschen,
für welchen Christus alles geworden war, vor dessen
Seele Christus stand als der Einzige, welchen zu kennen
162
und zu besitzen Wert hat. Dieser verachtete Nazarener,
der von den Menschen verworfen und verhöhnt worden
war, von dem die Welt gesagt hatte: „Hinweg mit diesem!"
war der eingeborne, geliebte Sohn Gottes. Es war derselbe, von welchem man gesagt hatte: „Nicht diesen, sondern Barabbas!" als Pilatus Ihn loszugeben suchte,
weil er nicht unschuldiges Blut über sich bringen wollte.
Er hatte zwei Gefangene: einen Mörder und den Herrn der
Herrlichkeit, und er stellte beide vor die Menge hin mit der
Frage, welchen von ihnen er losgeben solle. Er hoffte,
auf diese Weise Jesum retten zu können. Doch hören
wir, welch eine Antwort die Volksmenge giebt! Sie ruft
einstimmig: „Nicht diesen, sondern Barabbas!" Mit
völliger Uebereinstimmung gab die Welt ihr Urteil ab.
Sie zog einen Mörder ihrem Herrn und Heilande vor.
Vielleicht möchte der eine oder andere unbekehrte Leser
dieser Zeilen sagen: „Aber wir, die wir heute leben,
tragen doch keine Schuld an dieser Missethat! Wir haben
doch nichts damit zu thun!" Nun, mein Freund, so sage
mir: Hast du dich eins gemacht mit jenem Unschuldigen
und Reinen, der damals in so schrecklicher Weise behandelt
wurde? Oder stehst du noch in Verbindung mit der
Welt, welche Ihn ermordete? Du mußt deinen Platz entweder mit Ihm oder gegen Ihn nehmen. ES giebt da
keinen Mittelweg, keinen neutralen Boden; entweder bist
du eins mit Ihm, oder mit Seinen Mördern. O, wenn
du es bisher noch nicht gethan hast, so schäme dich nicht,
deinen Platz unter der verachteten Schar der Nazarener
einzunehmen. Lieber, tausendmal lieber möchte ich neben
Paulus vor den Schranken des Gerichtshofes, als ein
Gefangener für Jesum, stehen, als mit Felix auf dem
163
Richterstuhle sitzen. Paulus konnte sagen: „Dies bekenne
ich, daß ich nach dem Wege, den sie eine Sekte nennen,
also dem Gott meiner Väter diene, indem ich allem glaube,
was im Gesetz und in den Propheten geschrieben steht."
Das also war der Glaube Pauli. Er glaubte einfältig allem, was geschrieben steht. „Das thue ich auch,"
höre ich den Leser sagen. Nun, mein lieber Freund, laß
mich dann fragen: Glaubst du, daß Jehova unser aller Ungerechtigkeit auf Ihn gelegt hat? Glaubst du, daß der
Herr durch Seinen Kreuzestod einen Rettungsweg für
dich bereitet hat? Glaubst du, daß Er um unsrer
Uebertretungen willen verwundet worden ist? Kannst du
sagen: Um meiner Uebertretungen willen? Glaubst du,
daß wir durch Seine Striemen geheilt sind? Bist du
geheilt? Glaubst du dem Worte des Herrn: „GleichwieMoses
in der Wüste die Schlange erhöhte, also muß-der Sohn
des Menschen erhöht werden, auf daß jeder, der an Ihn
glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe?"
(Joh. 3, 14. 15.) Ich meine: Hat deine Seele diese
gesegnete, kostbare Wahrheit erfaßt? Ist sie das Eigentum
deines Herzens geworden? Hast du dem Herrn den
Glaubensgehorsam entgegengebracht, der Ihm gebührt und
den Er fordern muß? Hast du ewiges Leben empfangen?
Du antwortest vielleicht: „Ich hoffe es." Aber, mein
Freund, es giebt keine wahre Hoffnung ohne einen lebendigen Glauben an den Herrn Jesum Christum. Der
Glaube streckt seine Hand aus und ergreift das, was die
Liebe Gottes ihm darbietet; und die Liebe Gottes giebt
einen Heiland, ein vollkommnes Heil und ewiges Leben.
Der Glaube sagt: „Ich will das ergreifen, was die Liebe
für mich bereitet hat; ich will glauben, was Gott sagt,
164
weil Er es sagt." Manche nennen das „Anmaßung."
Aber ist es Anmaßung, dem Worte Gottes zu glauben?
Ein Christ ist ein Mensch, der einfältig allem glaubt,
was Gott geredet hat. Du erwiderst vielleicht: „Ich dachte
bisher, ein Christ sei ein Mensch, der au Christum glaubt."
So ist eS in der That; allein das Wort Gottes stellt
stets Christum vor unsre Augen, es redet nur von Ihm.
Der Herr selbst sagt: „Die Schriften sind es, die von
mir zeugen." Er war von jeher der Mittelpunkt aller
Ratschlüsse und Wege Gottes.
Wenden wir uns jetzt für einen Augenblick zu dem
Glauben des Landpflegers Felix. Wir lesen im 25. Verse:
„Als er aber über Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit und
das kommende Gericht reden hörte, ward Felix mit Furcht
erfüllt und antwortete: Für jetzt gehe hin; wenn ich aber
gelegenere Zeit habe, werde ich Dich rufen lassen." Felix
glaubte an eine gelegenere Zeit. „Für jetzt gehe hin,"
so sagte er, und ach! wie manches unbekehrte und ungläubige Herz sagt heute dasselbe! Der Mensch hört nicht
gern von Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit und dem kom,
wenden Gericht reden ; es langweilt ihn. Zu einer andern
gelegeneren Zeit will er sich gern einmal mit diesen Dingen
beschäftigen, nur heute nicht. O, möchte doch jeder unbekehrte Leser dieser Zeilen bedenken, daß er auf dem
Wege ist zur Ewigkeit, zu dem Feuer, das nicht erlischt,
und zu dem Wurme, der nicht stirbt, und daß jede Stunde
ihn diesen schrecklichen Wirklichkeiten um einen Schritt
näher bringt!
Gott kann die Sünde nicht leichthin behandeln, noch
kann Er eine solche Gleichgültigkeit unbestraft lassen. Ein
jeder wird auf der Wagschale göttlicher Heiligkeit und Ge­
165
rechtigkeit gewogen werden, und wie schrecklich, „zu leicht"
erfunden zu werden! Als Paulus über Gerechtigkeit redete,
begann Felix zu zittern. Er wußte, daß er keine Gerechtigkeit besaß. Doch der Apostel erwähnte noch mehr als
das. Er sprach von Enthaltsamkeit, von der Niederhaltung
der Lüste und Begierden des Fleisches, und von dem kommenden Gericht. Wenn du das Evangelium von dir
stößest, mein Leser, so wird das Gericht Gottes dich ereilen. Zitterst du, wie Felix? Wünschest du, den Gedanken an den Feuersee, der mit allen seinen Schrecken
vor dir liegt, aus deiner Seele zu verbannen? Fühlst
du, daß du nicht vorbereitet bist auf die Ewigkeit, nicht
vorbereitet, um vor dem Antlitz eines heiligen und gerechten Gottes zu erscheinen? O, so sage nicht, gleich
Felix: „Es paßt mir nicht, heute bekehrt zu werden;
es würde alle meine Aussichten für dieses Leben zerstören.
Die Welt mit allen ihren Reizen liegt noch vol^mir;
laß mir noch etwas Zeit; wenn einmal eine gelegenere
Stunde kommt, so will ich an diese Dinge denken." Ach!
mein Freund, wann wird diese gelegene Zeit sein? Felix
glaubte auch an eine gelegenere Zeit, aber so viel wir
wissen, kam sie niemals für ihn, niemals!
Wie mancher hat gedacht, eine solch gelegene Zeit
abzuwarten, eine Zeit, die niemals kommt! Die einzig
gelegene Zeit, von der ich weiß, ist jetzt, ist heute.
Darum bitte ich dich: Komme jetzt, komme heute noch zu
Jesu! „Siehe, jetzt ist die Zeit der Annehmung; siehe,
jetzt ist der Tag des Heils." Jetzt ist die gelegene
Zeit für dich, zu Jesu zu kommen, an Ihn zu glauben
und errettet zu werden. Vielleicht ist dein Herz schon
manches Mal mit Furcht erfüllt gewesen; aber das ge­
166
nügt nicht, mein Freund; du mußt als ein verlorner Sünder,
in aufrichtigem Bekenntnis deiner Schuld, zu Jesu eilen
und an Ihn glauben, dessen kostbares Blut für Sünder
geflossen ist. Darum schiebe nicht auf, warte nicht auf
eine gelegene Zeit, sondern mache dich heute auf zu
Jesu! Du weißt nicht, ob nicht der kürzeste Aufschub für
dich verhängnisvoll werden kann. Diese Nacht kann Gott
deine Seele von dir fordern, und du würdest dann eine
finstere, schreckliche, nie endende Ewigkeit hindurch deine
Thorheit zu bereuen haben.
Werfen wir jetzt einen Blick auf die Hoffnung
jener beiden Männer. Die Hoffnung des Apostels gründete
sich auf Gott. Sein Glaube stützte sich auf das ewig
bleibende Wort des lebendigen Gottes, seine Hoffnung
auf Gott selbst. Mag man mich auch töten, so sagt er
gleichsam, so verzage ich dennoch nicht; denn ich habe die
Hoffnung zu Gott, daß eine Auferstehung der Toten sein
wird — eine Auferstehung der Gerechten bei der Ankunft
des Herrn, eine Auferstehung der Ungerechten am letzten
Tage, wenn das tausendjährige Reich vorüber ist und der
große, weiße Thron aufgestellt werden wird; eine Auferstehung der Gerechten, um dem Herrn entgegengerückt
zu werden und für ewig bei Ihm zu sein, eine Auferstehung der Ungerechten, um hinzugehen in den See, der
mit Feuer und Schwefel brennt. Die Stimme des
Sohnes Gottes wird in alle Gräber hineindringen, und
die Einen werden hervorkommen zur Auferstehung des
Lebens, die Andern zur Auferstehung des Gerichts. Zu
welcher dieser beiden Klassen gehörst du, mein Leser?
Der Haß der Juden war gegen Paulus erregt worden, weil er gepredigt hatte, daß Jesus aus den Toten
auferweckt worden sei, und daß alle, die an Ihn glauben,
gleich Ihm aus den Toten auferweckt werden würden,
aus der Mitte derer, die ohne Christum gestorben sind
und in ihren Gräbern zurückbleiben. Allerdings werden
auch sie auferstehen, aber erst zu der von Gott bestimmten
167
Zeit, am Ende aller Dinge, und zwar nur, um verurteilt
und in den Feuersee geworfen zu werden. Laß dich nochmals fragen, mein Leser: Willst du es darauf ankommen
lassen? Willst du gleichgültig und sorglos vorangehen,
bis es vielleicht für ewig zu spät ist? Sage nicht: Ich
hoffe, auch einmal errettet zu werden. Felix glaubte
an eine gelegene Zeit, die niemals kam; er hoffte
auf eine Geldsumme, die er nie erhielt. Du hoffst auf
eine Errettung, die dir vielleicht niemals zuteil werden
wird. Du hoffst, dereinst einen Platz im Himmel zu
finden, und du hoffst von einem Tage zum andern, bis
du plötzlich da erwachst, wo es keine Hoffnung mehr
giebt, wo nur Weinen und Zähneknirschen gehört wird.
Ohne wahren Glauben giebt es keine lebendige Hoffnung,
keine Gewißheit, keinen Frieden, keine Ruhe. Der Gläubige ist „wiedergezeugt zu einer lebendigen Hoffnung durch
die Auferstehung Jesu Christi aus den Toten," und zwar
„zu einem unverweslichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbteil," welches in den Himmeln von Gott
selbst für ihn aufbewahrt wird.
Es bleibt unS noch übrig, einen Blick auf die Handlungsweise der beiden Männer zu werfen, mit denen wir
uns beschäftigen. Wie handelte Felix? Er behielt einen
unschuldigen Menschen in völlig ungerechter Weise, nur
in der Hoffnung auf Gewinn und um sich bei den Juden
in Gunst zu setzen, (V. 26. 27.) im Gefängnis zurück.
Siehe hier die Handlungsweise eines Weltmenschen. Reichtum und Ansehen bei den Menschen — das sind die
beiden großen Triebfedern, die den Menschen dieser Welt
in seinem Thun und Lassen leiten. Er glaubt nicht an
Gott, er hofft nicht auf Gott, und er handelt nicht nach
dem wohlgefälligen Willen Gottes. Erblickst du hierin
ein Bild von dir selbst, mein Leser? Oder gleichst du
dem Apostel Paulus? Höre, was er sagt: „Darum übe
ich mich auch, allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben
vor Gott und den Menschen." (V. 16.) Er übte sich jähr-
168
aus, jahrein, ein gutes Gewissen vor Gott und den Menschen zu bewahren. Er wandelte in dem Lichte Gottes.
Was ist es, das ein gutes Gewissen vor Gott giebt?
Das Blut Christi. Was ist es, das das Gewissen ohne
Anstoß vor Gott und den Menschen erhält? Ein göttlicher, treuer und demütiger Wandel.
Es giebt kaum einen größeren Gegensatz als zwischen
dem Glauben, der Hoffnung und der Handlungsweise
eines Christen und denjenigen eines Weltmenschen. Wessen
Glaube, wessen Hoffnung und Handlungsweise willst du
folgen, mein Leser? O bedenke, daß du über kurz oder
lang in die Ewigkeit hinübergehen und all das Gold und
die Ehre dieser Welt dahinten lassen mußt! Bedenke, daß
du dereinst mit allen deinen Sünden vor dem Richterstuhle
Christi stehen mußt, wenn du sie nicht in dieser Zeit der
Gnade in dem kostbaren Blute des Lammes ohne Fehl
und ohne Flecken abwaschen läßt. Darum entscheide dich
heute für Christum, laß einen jeden wissen und erfahren,
daß du den Herrn Jesum liebst und ein Gegenstand
Seiner Liebe bist, daß dein Herz von Ihm erfüllt ist,
und daß du dich in all deinem Thun durch Ihn leiten
läßt. Und wenn du den Herrn bereits kennst und Sein
ewiges Eigentum geworden bist, möchtest du dann immer
mehr erfahren, was es heißt, ein wahrer, hingebender
und entschiedener Nachfolger Jesu zu sein. Ja, der Herr
gebe uns, die wir Sein sind, in diesen letzten bösen Tagen,
mit wahrem Herzensentschluß bei Ihm zu bleiben, in
unserm Ausharren nicht müde zu werden, sondern auf
einander acht zu haben zur Anreizung zur Liebe und zu
guten Werken und einander zu ermuntern, und zwar um
so mehr, je mehr wir den Tag herannahen sehen! „Noch
über ein gar Kleines, und der Kommende wird
kommen und nicht verziehen." (Hebr. 10.)
Der Weg der Glückseligkeit.
(Schluß.)
3.
In den vorhergehenden Abschnitten haben wir an der
Hand der im Neuen Testament geoffenbarten göttlichen
Wahrheit uns zu vergegenwärtigen gesucht, wie die Gnade
Gottes für den verlornen Sünder einen Weg der Glückseligkeit bereitet hat, wie sie fortwährend wirksam ist, um
Menschen vom Wege des Verderbens zu dem Wege des
Lebens zu führen, und wie die durch den Glauben Erretteten in lebendiger Verbindung mit Christo den Pilgerweg durch diese Welt, bis zu ihrer Ankunft in der Herrlichkeit, in Glück und Frieden wandeln können.
Auch im Alten Testament, welches das zukünftige
Heil in Christo ankündigt, finden wir den Weg der Glückseligkeit beschrieben. Auf Grund des in den ewigen Ratschlüssen Gottes vorgesehenen, in Christo später ausgeführten und geoffenbarten Erlösungswerkes, (2. Tim. 1, 9.10;
Tit. 1, 2. 3.) konnte Gott, schon bevor es vollbracht
war, mit solchen, die Seinem Worte glaubten, in ein
näheres Verhältnis treten, (Röm. 3, 25; 4, 3. 16—22;
Jak. 2, 23; 1. Mos. 18, 17; 2. Mos. 33, 11.) in
welchem sie die Glückseligkeit genießen konnten, die in Ihm
ihre Quelle hat.
Aber erst in dem Menschen Jesus Christus hat Gott
völlig geoffenbart, was Er ist. Christus war der im
Fleische geoffenbarte Gott. (1. Tim. 3, 16.) „Der ein-
170
geborne Sohn, der in des Vaters Schoß ist, hat Ihn kund
gemacht," (Joh. 1, 18.) d. h. sichtbar vor den Augen der
Menschen und Engel dargestellt in Seiner ganzen Fülle.
(Kol. 1, 19; 2, 9.) Er sagt selbst: „Wenn ihr mich 
erkannt hättet, so würdet ihr auch meinen Vater erkannt
haben; und von jetzt an erkennet ihr Ihn und habt Ihn
gesehen. Wer mich gesehen, hat den Vater gesehen.
Glaubet mir, daß ich in dem Vater bin, und der Vater
in mir ist. Wer mich sieht, der sieht Den, der mich gesandt hat. Ich und der Vater sind eins." (Joh. 14, 7.
9. 11; 12, 45; 10, 30.) Von Ihm wird auch gesagt:
„Durch Ihn sind alle Dinge erschaffen, die in den Himmeln und die auf der Erde sind;" (Kol. 1, 16.) und:
„Du, Herr, hast im Anfang die Erde gegründet, und die
Himmel sind Werke Deiner Hände." — „Welcher, der Abglanz Seiner Herrlichkeit und der Abdruck Seines Wesens
seiend, und alle Dinge durch das Wort Seiner Macht
tragend, sich gesetzt hat zur Rechten der Majestät in der
Höhe." (Hebr. 1, 10. 3.) Aus Joh. 12, 41 sehen
wir, daß der Herr, den Jesaja sitzen sah auf hohem und
erhabenem Throne, über dem die Seraphim ausriefen:
„Heilig, heilig, heilig ist Jehova der Heerscharen!" (Jes.
6, 1 — 7.) niemand anders war, als der später in Niedrigkeit unter den Menschen wandelnde Christus, „Gott,
geoffenbart im Fleische." In 1. Tim. 6, 15 wird der
unsichtbare Gott genannt: „der König der Könige und
der Herr der Herren," und in Offb. 19, 16 trägt der in
göttlicher Herrlichkeit aus dem Himmel auf die Erde
zurückkommende Sohn Gottes diesen Titel.
Alle diese und noch viele andere Stellen zeigen uns,
daß der für Seine Jünger so zärtlich sorgende Herr, wie
171
wir Ihn in den Evangelien finden, kein Anderer war,
als der Gott der Gläubigen des Alten Testaments.
Freilich besteht ein Unterschied in dem Maße der Offenbarung, nach welchem Gott mit den Menschen verkehrte.
Dem Abraham offenbarte Er sich als der „Allmächtige,"
Seinem Bundesvolke Israel als „Jehova" (der Ewige),
doch blieb Er stets hinter dem Vorhang verborgen. In Christo
hat Er alles geoffenbart, was Er ist; und doch war
Seine Herrlichkeit in dem auf Erden wandelnden Sohne
Gottes verborgen unter der Hülle der Niedrigkeit Seiner
Menschheit, so daß nur die, welchen die Augen des
Glaubens geöffnet waren, in dem fleischgewordenen
Worte „die Herrlichkeit eines Eingebornen vom Vater"
<Joh. 1, 14.) erblickten. Diesen offenbarte Er dann den
Namen des „Vaters," führte sie nach vollbrachtem Erlösungswerke ein in das Kindesverhältnis (Joh. 20, 17.)
und sandte, nachdem Er Seinen Platz zur Rechten der
Majestät eingenommen hatte, den „Geist der Sohnschaft
in ihre Herzen, in welchem wir rufen: Abba, Vater!"
(Röm. 8, 15; Gal. 4, 6.) Dies ist jetzt die Stellung
aller Gläubigen.
Obwohl nun in diesem gesegneten Verhältnis alles in
überschwänglicher Fülle gegeben ist, was das Herz mit
Glückseligkeit erfüllen kann, so ist zu deren Genuß doch
dasselbe nötig, was die Gläubigen des Alten Testaments,
so wie auch die Jünger in der sichtbaren Gegenwart des
auf Erden wandelnden Herrn bedurften; und das ist der
Glaube, der „eine Verwirklichung dessen ist, was man
hofft, eine Ueberzeugung von Dingen, die man nicht sieht."
(Hebr. 11, 1.) Wir finden daher auch nicht, daß die
Jünger, trotzdem Gott in Christo ihnen so nahe gekommen
172
war, daß sie Ihn mit ihren Augen sehen, mit ihren
Ohren hören und mit ihren Händen betasten konnten,
(1. Joh. 1, 1—4.) einen höheren Standpunkt der Glückseligkeit in dem Genuß ihres Verhältnisses zu Gott eingenommen haben, als ein Henoch, Abraham, Moses,
David w. Und wenn wir auf die Gläubigen unsrer Tage
blicken, in deren Herzen der Geist der Sohnschaft
wohnt, so müssen wir fragen: Genießen sie alle das
Glück des Verhältnisses, in welches die Gnade sie gebracht
hat, in höherem oder selbst in eben so hohem Maße, als
jene Gläubigen des Alten Testaments?
Das Mittel, um den Weg der Glückseligkeit zu
wandeln, ist also im Alten wie im Neuen Testament dasselbe. Es ist der Glaube. Ebenso ist, dort wie hier,
Gott die einzige Quelle. Betrachten wir jetzt einige
Zeugnisse des Alten Testaments über die Glückseligkeit,
zunächst den mit Seligpreisungen beginnenden 32. Psalm.
Ohne Zweifel teilt David in diesem Psalm seine
persönlichen Erfahrungen mit. Da aber das Buch der
Psalmen einen prophetischen Charakter hat, (Apstg. 2,30.)
so spricht der erwähnte Psalm auch die Erfahrungen aus,
die der gläubige Ueberrest Israels in den letzten Tagen
machen wird. Immerhin aber sind es die Erfahrungen
von Gläubigen, die, dem Grundsatz nach, zu allen
Zeiten dieselben sind, also auch Anwendung finden auf
die Gläubigen unsrer Tage, obgleich diese als Kinder
Gottes in einer andern Stellung sind, als die alttestamentlichen Gläubigen, die das Kindesverhältnis nicht einnehmen konnten, weil das Weizenkorn noch nicht in
die Erde gefallen und gestorben war. (Joh. 12, 24.)
Aber was auch der Unterschied sein mag zwischen denen.
173
die in der Stellung von Söhnen Gottes sind und den
Geist der Sohnschaft besitzen, und den alttestamentlichen Gläubigen, die diesen Geist nicht in sich wohnen haben
konnten, weil Er noch nicht vom Himmel gesandt worden
war, (Joh. 7, 39.) so wirkte doch derselbe Geist auch in
den Herzen der letztem, erleuchtete sie und führte sie, in
dem Bewußtsein ihrer Sünde, durch Glauben zu dem
Gott, der sich geoffenbart hatte als „barmherzig und
gnädig, langsam zum Zorn und von großer Gnade und
Wahrheit." (2. Mos. 34, 6.) Der Glaube wurde ihnen
zur Gerechtigkeit gerechnet, (Röm. 4, 3—8.) in derselben
Weise wie jetzt denen, „die an Den glauben, der Jesum,
unsern Herrn, aus den Toten auferweckt hat, welcher
unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben und unsrer
Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist." (Röm. 4,
23—25.) Auch besaßen sie durch die Glaubensverbindung mit Gott göttliches Leben, welches sie befähigte, gottgemäß zu urteilen, zu fühlen und zu leben. (1. Mos.
5, 24.) Ihre in diesem Verhältnis gemachten Erfahrungen,
die uns die Schrift mitteilt, sind deshalb auch für uns
von hoher Belehrung. (Hebr. 12, 1.)
Vor allem tritt uns im 32. Psalm, als Bedingung des Genusses der Glückseligkeit, die Aufrichtigkeit entgegen: „ein Geist ohne Trug." Das ist
von der größten Wichtigkeit. Der Psalmist hatte, wie
er in den Versen 3 u. 4 mitteilt, schmerzliche Erfahrungen machen müssen, die ihm der Mangel an völliger
Aufrichtigkeit vor Gott bereitet hatte. Er hatte seine
Sünde gefühlt, aber nicht bekannt; deshalb hatte die
Hand Gottes Tag und Nacht so schwer auf ihm gelastet,
daß er keine Ruhe hatte finden können und von dem ge­
174
waltigen Druck in seinem Innern fast verzehrt worden
war. Erst, als er Jehova seine Uebertretungen bekannt,
Ihm seine Sünde kundgethan und aufgehört hatte, seine
Ungerechtigkeit zuzudecken, hatte er die Vergebung gefunden, die ihn zu der Glückseligkeit führte, welche in
den ersten beiden Versen ausgesprochen ist. Aber dieses
Bekennen seiner Sünde war gegründet gewesen auf die 
Erkenntnis der Gnade, welche vergiebt, wenn die Sünde
bekannt wird. (V. 5.) Ohne diese Erkenntnis wagt es
der Sünder nicht, in die Gegenwart Gottes zu kommen,
sondern er verbirgt sich vor Ihm, wie Adam, oder sucht
sich zu entschuldigen, oder gar zu rechtfertigen.
Die Erfahrungen, welche der Psalmist in den angeführten Versen mitteilt, setzen eine Erleuchtung der Seele
durch den Geist Gottes voraus. Ohne diese wird weder
die Sünde erkannt als das, was sie vor Gott ist, noch
Gott erkannt in Seiner vergebenden Gnade. Doch selbst
wenn die Sünde eingesehen und gefühlt wird, hält der
Stolz des Herzens oft lange ein reumütiges Bekenntnis
zurück, und andrerseits hindert die Furcht vor der Gerechtigkeit Gottes den Sünder, in Seine Gegenwart zu kommen. Die Gnade aber wirkt in der Seele, zeigt dem
Sünder durch das Evangelium den Weg zum Gnadenstnhl
und bringt dadurch, daß die Hand Gottes schwer auf
seinem Gewissen lastet, ihn endlich zu einem aufrichtigen
Bekenntnis. Dann kommt ihm Gott mit einer überströmenden Gnade entgegen, vergiebt seine Uebertretnng, bedeckt seine Sünde, rechnet ihm die Ungerechtigkeit nicht zu
und macht seinen Geist frei von Trug. Es ist also die
Wirksamkeit der Gnade von Anfang bis zu Ende, welche
dieses gesegnete Resultat herbeiführt.
175
Uebertretung, Sünde, Ungerechtigkeit ist alles, was
der Mensch vor Gott bringen kann. Von allem diesem
aber wird der durch den Heiligen Geist erleuchtete und
durch das Vertrauen zu der vergebenden Gnade zum Bekenntnis gebrachte Sünder so vollkommen besreit, daß 
nichts mehr zwischen ihm und Gott steht, als das Versöhnungsblut, welches von aller Sünde reinigt. (1. Joh. 1, 7.)
Das macht das Herz frei und offen vor Gott. Der
also Gereinigte naht mit Freimütigkeit zu dem Throne
der Gnade, (Hebr. 4, 16; 10, 19—22.) ja, er ist sogar
in die Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem
Sohne Jesu Christo gebracht. (1. Joh. 1, 3.) Das ist
fürwahr ein glückseliger Zustand, in welchem, wenn er in
Wahrheit genossen wird, geistliche Schlachtopfer, die Opfer
des Lobes, dargebracht werden, die Gott wohlannehmlich
sind durch Jesum Christum. (1. Petri 2, 5.) Das ist
der normale Zustand des Gläubigen.
Wenn nun das Herz mancher Gläubigen dennoch
nicht glücklich ist, so muß notwendig die Schuld bei ihnen
selbst liegen. Denn Gott hat alles gethan, um sie glücklich zu machen, und Er selbst spricht in Seinem Worte
das „Glückselig!" über sie aus. Diese Gläubigen entsprechen also weder Seinen Absichten, noch Seinem Urteil
über sie, und befinden sich nicht in Uebereinstimmung mit
Gott in bezug auf ihre Rechtfertigung. (Röm. 4,
5 — 8.) Daraus muß geschlossen werden, daß sie sich
auch nicht in Uebereinstimmung mit Ihm befinden, in
bezug auf Sein Urteil über die Sünde. Vielleicht war
schon bei ihrer Bekehrung ihr Gefühl über die Sünde
und den verlornen Zustand nur schwach und oberflächlich;
deshalb konnte auch das Gefühl des Glücks über ihre
176
Errettung nicht tief und nachhaltig sein. Sie müssen
dann nachträglich auf dem Wege der Erfahrung im Lichte
Gottes lernen, was die Sünde vor Seinen Augen ist,
und daß in ihnen, das ist in ihrem Fleische, nichts Gutes
wohnt, und das bringt nicht Glück, sondern Schmerz
hervor. Bei diesen Erfahrungen ist nun die Frage, ob
das Herz aufrichtig vor Gott ist und sich mit Ihm in
Uebereinstimmung befindet in Seinem Urteil über die
Sünde. Hieran fehlt es oft mehr, als man denkt, und
daher kommt dann auch der Mangel an Frieden und
Glück bei so manchen Gläubigen.
In einem solchen Falle wiederholen sich die Erfahrungen, die in Psalm 32, 3. 4 mitgeteilt werden. Wie
viele Gläubige gehen leicht und gleichgültig über das
Böse hinweg, das in ihren Gedanken, Gefühlen, Gesinnungen, Worten und Werken vorgeht, anstatt im Lichte
der Gemeinschaft Gottes über alles zu wachen, was sich
in ihren Herzen, in ihrer Gedankenwelt, regt und bewegt,
und in Uebereinstimmung mit Ihm alles zu richten, was
nicht in Seine Gemeinschaft paßt. Wenn aber das Böse
im Herzen nicht gerichtet wird, so tritt dasselbe bald in
Worten oder Werken offen an den Tag, zur Verunehrung
des Herrn. Daß das Herz bei einem solchen Mangel an
Uebereinstimmung mit Ihm nicht Frieden und Glück genießen
kann, ist nur zu natürlich. Im Gegenteil offenbart Gott
Seine Treue darin, daß Er durch Seinen Geist ein solches Herz straft und beunruhigt, bis es zu dem gesegneten
Resultat von Vers 5 kommt. Aber wie manche Gläubige
können oft lange Zeit hindurch die Stimme des Geistes
überhören oder unbeachtet lassen und in einem friede- und
freudelosen Zustande vorangehen! Manche wissen sich
177
selbst nicht Rechenschaft darüber zu geben, woher es kommt,
daß sie den Frieden Gottes und die Freude Seiner Gemeinschaft so wenig genießen. Sie können sicher sein,
daß zwischen ihren Herzen und Gott etwas liegt, was
nicht gerichtet ist. Möchten sie nur in Seinem Lichte ihr
inneres und äußeres Leben untersuchen; gewiß, sie würden viel mehr zu richten und vor Gott zu bekennen finden,
als sie je gedacht hätten.
Vor dem Richterstuhl Christi müssen alle Menschen,
also auch die Gläubigen, geoffenbart werden. Das Vorrecht der letztem aber ist, jetzt schon vor Gott offenbar
zu sein, (2. Kor. 5, 11.) sich gewissermaßen, im Einklang
mit Ihm, auf den Richterstuhl zu setzen, um sich selbst
zu richten und in aufrichtigem Bekenntnis alles vor Ihn
zu bringen, was zu verurteilen ist. Dann vergiebt Er
und reinigt von aller Ungerechtigkeit, weil Er treu und
gerecht ist, (1. Joh. 1, 9.) und das Glück der Gemeinschaft wird auf's neue genossen. Schon in dem Bekenntnis liegt etwas von dem Frieden, den die Vergebung
hervorbringt, weil es verbunden ist mit dem Vertrauen
zu der vergebenden Gnade. (V. 5.) Und dann bestrahlt
dasselbe Licht, welches die Verunreinigung vor dem geistlichen Auge offenbar machte, eine durch das Blut Christi
fleckenlos gemachte Seele, gereinigt gemäß der Reinheit
Gottes und passend gemacht für Sein heiliges Auge. Im
Lichte Seines Antlitzes wird Freude und Glück genossen.
— Auch werden bei einem Wandel in diesem Lichte die
Gefahren gesehen, die in der eignen Natur oder in den
Einflüssen von außen für das Herz liegen könnten, das
Glück der Gemeinschaft mit Ihm wieder zu verlieren.
Die Furcht davor, die Furcht Gottes, bewahrt das Herz
178
in enger Verbindung mit Ihm, der alleinigen Quelle der
Kraft und Sicherheit, und so entgeht man der Gefahr.
Nur wenn das volle Licht des Richterstuhls ein aufrichtiges Herz bescheint, fühlt es sich in seinem richtigen
Element. Ein aus Gott geborner Mensch, ein Kind Gottes,
besitzt die Natur Gottes, und nach dieser Natur wird jede
Sünde und Unreinigkeit gehaßt. .Alles, was nicht im
Lichte des Richterstuhls bestehen kann, ist eine Bürde für
ein Herz, worin die göttliche Natur die Herrschaft führt.
Es beurteilt alles in diesem Lichte, und möchte auch selber
nicht gelinder beurteilt sein; ein geringerer Maßstab würde
die göttliche Natur nicht befriedigen. Ein solches Herz
befindet sich in Uebereinstimmung mit Gott und ist deshalb
fähig, den Frieden Gottes, den Frieden, der in Gott selbst
ist, zu genießen. Es ist nicht in irgend einem Widerspruch
mit Gott, gleichwie in dem Wesen Gottes selbst kein
Widerspruch ist. So ist das Leben eines Kindes Gottes
im Lichte des Richterstuhls ein Leben des Friedens, völliger
Uebereinstimmung mit Gott, sowohl in Seinem Urteil über
die Sünde, wie auch in Seinem Zeugnis über den durch
Ihn Gerechtfertigten, den Er glückselig nennt.
Kein Trug ist in dem Geiste eines solchen Gläubigen.
Er ist offen und frei vor einem Gott, den er kennt in
Seiner vollkommnen Gnade. Das Bewußtsein der
Fülle dieser Gnade, die nicht zu erschöpfen ist, erfüllt
sein Herz mit dem glücklichen Vertrauen eines Kindes zu
seinem liebenden Vater, der an allem teilnimmt, was des
Kindes Herz bewegt, und welcher wünscht, daß es in Verraulichkeit alle seine Anliegen vor Ihm kund werden lasse.
(Phil. 1, 6.) Ein Gott, der „Seines eignen Sohnes nicht
geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat,"
179
um durch das Versöhnungswerk den fluchbeladenen und
verdammungswürdigen Sünder zu erretten und in Christo
in Seine Gemeinschaft zu bringen, wird gewiß „mit Ihm
auch alles schenken," was in Zeit und Ewigkeit nötig ist,
um das Herz glücklich zu machen. Wie könnte Er, der
den höchsten Beweis Seiner Liebe gegeben, der auch alle
Weisheit und Macht besitzt, die Seinigen in irgend einer
Not versäumen oder in irgend einem Bedürfnis unversorgt lassen?
Dieses glückliche Vertrauen drückt der Psalmist in
den Versen 6 und 7 aus. Ein Gläubiger, der die Erfahrung gemacht hat, daß er unter einer vollkommnen,
ewigen, unwandelbaren Gnade steht, und daß er „durch
unsern Herrn Jesum Christum auch Zugang hat zu dieser
Gnade, in welcher wir stehen," (Röm. 5,2.) weiß, daß „jetzt
die Zeit der Annehmung ist," (2. Kor. 6, 2.) die Zeit, wo
Gott zu finden ist. Er bringt alle seine Anliegen, innere
und äußere, die größten wie die kleinsten, in Gebet und
Flehen mit Danksagung zu dem Gott, den er „Abba,
Vater" nennt, und findet in Ihm seinen „Bergungsort"
in allen Bedrängnissen. Wer in dem Vaterherzen Gottes
seinen Ruheplatz hat, dessen Thron nicht erschüttert werden
kann von irgend einem Ereignis, selbst „wenn gewandelt
würde die Erde, und die Berge wankten im Herzen des
Meeres," (Ps. 46.) der bleibt in Frieden inmitten aller
Stürme des Lebens, in dem glücklichen Bewußtsein, daß
selbst diese Stürme für ihn zum Guten mitwirken werden.
(Röm. 8, 28.) Der Glaube sieht nicht auf das Sichtbare,
auf die Umstände, sondern auf das Unsichtbare, auf den
Gott, dessen Liebe er kennt, der Seine Hand in allem
hat, und von welchem er weiß, daß Er alles herrlich hin­
180
ausführen wird, so wie es Seiner würdig ist. „Rettungsjubel" wird das Ende aller Prüfungen der Gläubigen
sein. Der Glaube hält daran fest mitten in den Prüfungen, wo für das natürliche Auge noch alles dunkel ist,
und macht das Herz fähig, selbst in der Finsternis des
Weges den Sonnenschein der Vaterhuld und Liebe Gottes
zu genießen. Dann ist das Herz glücklich, selbst wenn
der Schmerz der Leiden dem Auge Thränen auspreßt.
Und das ist die Absicht Gottes bei allen Seinen Kindern.
Er hat sie zur Glückseligkeit bereitet, und zwar sollen sie
dieselbe nicht erst in der Ewigkeit, sondern jetzt schon genießen. In welch ein glückliches Verhältnis hat die Gnade
uns gebracht!
Die innige Vertraulichkeit dieses Verhältnisses, in
welchem ein Gläubiger, in dessen Geist kein Trug ist, zu
Gott steht, ist ausgedrückt in Vers 8. Und zwar ist es
Gott selbst, der hier zu dem Gläubigen redet, so daß der
Gedanke an Anmaßung seitens des letztem, wenn er in
Vertraulichkeit mit dem unendlichen Gott verkehrt, keinen
Raum zu finden braucht. Gott verheißt dem Gläubigen,
ihn zu unterweisen und ihn zu lehren den Weg, in welchem
er wandeln soll, mit Seinem Auge ihm zu raten. Welch
ein Trost für die, welche sich als Pilger auf dem Wege
zur himmlischen Heimat befinden und eine fremde Welt,
die für sie eine öde Wüste ist, durchwandern müssen!
Gleichwie es für Israel, während seiner vierzigjährigen
Wanderschaft nach Kanaan, in der Wüste keinen gebahnten
Weg gab, so daß das Volk ganz und gar abhängig war
von der Leitung seines Gottes, der in der Wolken- und
Feuersäule vor ihm Herzog und sich, trotz aller Verkehrtheiten des Volkes, nicht von ihm trennte, so stehen auch
181
jetzt die Gläubigen unter der ganz besondern und sichern
Leitung des Gottes, der ihr Vater ist, inmitten einer
Welt, wo kein gebahnter. Weg ist und völlige Finsternis
herrscht. Sie haben Ihm nur nach dem Auge zu sehen,
und sie sind sicher, daß, mitten in der Dunkelheit dieser
Welt, jeder Schritt, den sie zu thun haben, beleuchtet sein
wird von himmlischem Licht, und daß sie das Ziel erreichen werden, welches Seine Liebe ihnen bereitet hat in
Seinem Vaterhause.
Der Ausdruck: „mit meinem Auge will ich dir raten,"
bezeichnet ein Verhältnis der unmittelbaren Nähe zwischen
Gott und dem Gläubigen. Nur wer nahe bei Ihm ist,
kann durch Sein Auge geleitet werden. Jetzt sind die
Gläubigen, „die einst ferne waren, durch das Blut des
Christus nahe geworden." Gott hat sie in Liebe vor sich
hingestellt in Christo als Seine Kinder. (Eph. 2, 13;
1, 4. 5.) Sein Vaterauge ruht beständig auf ihnen, und
sie haben einen offenen Zugang zu Seinem Vaterherzen.
In diesem Verhältnis können sie durch alle Wirrnisse
des Lebens einen einfachen, friedevollen und glücklichen
Weg gehen, wenn sie mit ihrem Herzen die innige Nähe
verwirklichen, in welche sie zu Gott gebracht sind.
In einem irdischen Familienverhältnis wird ein Kind,
welches sich durch den Blick der Eltern leiten läßt, das
Glück ihrer besondern Liebe und Vertraulichkeit genießen
und vor Irrwegen bewahrt bleiben; während ein Kind,
welches, unachtsam aus den Willen der Eltern, seine eignen Wege geht, durch Züchtigungen auf den Weg
des Gehorsams zurückgeführt werden muß, wobei das
Glück eines innigen Verhältnisses zu seinen Eltern nicht
genossen wird. Ein Kind, welches seine Eltern wirklich
182
liebt, wird ihnen gern Freude machen und in ihren
Blicken lesen, was ihnen wohlgefällt. Ebenso wird ein,
Kind Gottes, in dessen Herzen die Erkenntnis der Liebe
des Vaters eine wahre Gegenliebe hervorgerusen hat, das
Bedürfnis fühlen, den wohlgefälligen Willen Gottes zu -
erforschen und darnach zu handeln.
Dieser Wille ist klar und unzweideutig in Seinem
Worte ausgedrückt, so daß niemand, der das geschriebene
Wort besitzt, sagen kann, er wisse nicht, was der Wille
Gottes sei; «das würde immer verraren, daß der eigne
Wille im Vordergründe steht und die Erkenntnis des Wil-,
lens Gottes verdunkelt. Es können wohl schwierige Augenblicke im Leben eintreten, wo eine Entscheidung zu
treffen ist, für welche die Umstände keinen deutlichen Anhaltspunkt bieten. Aber ein einfältiges Herz und Auge
wird zu Gott aufblicken und auch in den schwierigsten
Fällen die Erfahrung machen, daß Er Seine Verheißung
stets erfüllt: „mit meinem Auge will ich dir raten."
In Hebr. 4, 12. 13 wird das Auge Gottes so mit
Seinem Worte in Verbindung gebracht/ als wäre es'ein
und dieselbe Sache. Und in der That ist das Wort Gottes
auch der Ausdruck Seines Wesens und Seines Willens,
sodaß ein „Ihm nach den Augen sehen," unzertrennlich ist
von der Erforschung Seines Willens in dem geschriebenen
Worte. — Der Psalmist nennt in Ps. 119, 24 die Zeugnisse Gottes seine „Ratgeber," wie überhaupt der ganze
.Psalm ein sehnliches Verlangen nach den Zeugnissen Gottes und die Freude des Herzens an denselben ausdrückt.
In den beiden ersten Versen werden auch diejenigen glück- '
selig gepriesen, die „da wandeln in Jehovas Gesetz, die
Seine Zeugnisse bewahren, die von ganzein Herzen Ihn
183
suchen." Und der Herr spricht diese Glückseligkeit in
Luk. 11, 28 über diejenigen aus, welche „das Wort Gottes hören und bewahren." So sehen wir also, daß auch
die Unterweisungen Gottes auf dem Wege, die Leitung
Seines Auges, Seines Wortes, keinen andern Zweck haben,
als die Seinigen glücklich zu machen. Möchten sie
deshalb alle in dem Lichte Seines Angesichts wandeln und
mit einfältigem Herzen sich durch nichts anderes leiten lassen, als durch Sein Wort, um Seine Absicht zu erfüllen!
In Vers 9. 10 werden die Gläubigen gewarnt vor
einem Wege, auf welchem sie dieses Glück nicht genießen
können. Wenn sie gesetzlos, d. h. nach ihrem eigenen
Willen wandeln, ohne nach Seinem Willen zu fragen, so
werden sie sich „viele Schmerzen" bereiten. Gott kann
nicht mit ihnen sein auf diesem Wege; Er muß ihnen vielmehr entgegentreten. Da Er die Seinigen stets unwandelbar liebt, so kann Er nicht zugeben, daß sie sich von
Ihm, der Quelle des Glücks, entfernen. Wenn „sie Mcht
wollen zu Ihm kommen," so muß Er sie gleichsam mit
Gewalt- durch „Zaum und Zügel," „wie ein Roß, wi^
ein Maultier" zu sich zurückbringen. Wenn sie sich-nicht
durch Sein Auge leiten lassen, so muß Er, als treuer
Vater, sie durch die Zuchtrute erziehen, und das bringt
„viele Schmerzen." Bei wie vielen Gläubigen mögen die
Züchtigungen Gottes diesen Charakter tragen! Freilich
auch bei solchen, welche mit Gott wandeln, welche als
Kinder die Gemeinschaft des Vaters genießen, giebt es
Züchtigungen, sonst wären sie Bastarde. (Hebr. 12, 8.)
Doch haben diese einen andern Charakter. Solche Gläubige befinden sich unter der notwendigen väterlichen
Zucht im Einklang mit ihrem Vater, können Seinen
184
Frieden genießen und sogar für die Züchtigung danken,
d. h. sich derselben rühmen. (Röm. 5, 3—5; 2. Kor.
12, 7 — 10.) Sie vertrauen auch in der Züchtigung, in
welcher sie die Hand der Liebe erkennen, auf Gott, als
ihren Vater; deshalb wird die Güte sie umgeben.
Schließlich (V. 11.) werden die Gerechten aufgefordert, sich in Jehova zu freuen und zu frohlocken, und
alle im Herzen Aufrichtigen, zu jauchzen. Gott selbst ist
die Quelle und der höchste Gegenstand der Freude, und
Er ist das Teil der Seinigen. Welche Freude auch genossen werden mag in der Gewißheit, begnadigt zu sein,
und in dem Gemeinschaftsleben einer aufrichtigen Seele
mit Gott, so würde doch noch etwas fehlen an dem vollkommenen Glück, wenn nicht das unendliche Gut selbst das
Herz erfüllte. Selbst die Herrlichkeit des Himmels würde
ein Herz, welches der Herr zu Seiner Wohnung zubereitek hat, nicht befriedigen, wenn es mit Ihm selbst
dort nicht ewig und vollkommen vereinigt sein würde.
So kann auch jetzt das Herz nirgend völlige Ruhe und
Freude finden, als in Ihm allein. Deshalb singen wir
mit Recht:
„Nicht im Geschöpf, nicht in den Gaben, —
Mein Ruhort ist in Dir allein."
Und welch ein Glück, daß Er sich selbst uns in Seiner ganzen Fülle geschenkt hat, um Ihn zu besitzen
und zu genießen in Zeit und Ewigkeit! Wie völlig hat
Er dafür gesorgt, daß an der Glückseligkeit, zu welcher Er
uns bereitet hat, nichts fehlen kann! Alles, was Er gethan hat, was Er jetzt thut und waS Er thun wird, zeugt
von Seiner überströmenden Gnade und Liebe zu uns.
185
Die Herrlichkeit des Herrn.
(3. Kor. Z.)
Der erste Grundsatz des Christentums stellt den
Christen auf einen ganz neuen Boden, während er zugleich
in der ernstesten Weise die Verantwortlichkeit des Menschen
anerkennt und aufrecht hält. Dieser erste Grundsatz, die
Grundlage aller christlichen Wahrheit, ist der, daß es einen
Mittler giebt, eine dritte Person zwischen dem Menschen
und Gott. Ein Andrer hat sich ins Mittel gelegt und die
Sache des Menschen, weil dieser nicht zu Gott kommen
konnte, auf sich genommen und einen Boden geschaffen,
auf welchem er vor Gott annehmlich ist.
Zwei Dinge werden uns hier (2. Kor. 3.) als die 
Folge dieser Thatsache vor Augen gestellt: Zunächst:
„Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit," die Freiheit der Gnade, und dann: wir sind Briefe Christi, „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geiste des
lebendigen Gottes." Wir „sind" dies, nicht nur sollten
wir es sein. Obgleich in uns selbst höchst unvollkommen
und mangelhaft, ist doch jeder Christ nach den Worten
des Heiligen Geistes ein Brief Christi. Allerdings denkt
mancher ganz naturgemäß: „Nun, wenn das wahr ist, so
weiß ich nicht, was ich von mir selbst denken soll. Ich
sehe diese Darstellung Christi nicht in mir." — Ganz
recht, du sollst sie auch nicht sehen. Mose sah sein eignes
Antlitz nicht glänzen. Er sah den Glanz des Antlitzes
Gottes, und Andere sahen den Glanz seines Antlitzes.
Die Herrlichkeit des Herrn, wie sie auf dem Antlitz
Mose gesehen wurde, erschreckte das Volk; es vermochte
diese Herrlichkeit nicht zu ertragen. Aber wir sehen sie
jetzt mit offnem, „aufgedecktem Angesicht" in Christo,
186
(V. 18.) und zwar ohne im geringsten erschreckt zu sein;
wir finden vielmehr Freiheit, Trost und Freude in dem
Anschauen derselben. Wir schauen sie an, und anstatt uns
zu fürchten, frohlocken wir. Woher kommt dieser unermeßliche Unterschied? Es ist jetzt „der Dienst des Geistes"
und „der Dienst der Gerechtigkeit." (V. 8. 9.) Ich sehe
einen lebenden Christus in der Herrlichkeit droben, nicht
einen Christus hienieden, (so köstlich es ist, Ihn auch als
solchen zu betrachten) sondern einen Christus zur rechten
Hand Gottes, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Und
obwohl jene Herrlichkeit in den Himmeln ist, so kann ich
sie doch unverrückt anschauen. Alle diese Herrlichkeit —
und Christus befindet sich in der Mitte der Herrlichkeit
und der Majestät des Thrones Gottes — flößt mir weder
Furcht noch Schrecken ein, und zwar infolge der bewunderungswürdigen Thatsache, daß diese Herrlichkeit Gottes
mir jetzt von dem Angesicht eines Menschen entgegenstrahlt, der meine Sünden hinweggethan hat und zum Beweise
dafür dort ist. (Hebr. 1, 3.)
Einst hätte ich auch alle Ursache gehabt, vor der
Stimme Gottes zu erschrecken und mit Israel zu sagen: 
„Laß Gott nicht mit mir reden!" oder gleich Adam mit
einem schuldigen Gewissen mich vor dem Angesicht Gottes
zu verbergen. (2. Mos. 20, 19; 1. Mos. 3, 8.) Aber
ich rede jetzt nicht mehr so. Ich sage im Gegenteil: Laß
mich Seine Stimme hören! Und weshalb? Weil ich jetzt
die Herrlichkeit Christi nicht betrachten kann, ohne zu
wissen, daß ich errettet bin. Doch wie ist Christus in jene
Herrlichkeit gekommen? Er ist ein Mensch, der sich hienieden mit Zöllnern und Sündern beschäftigte, der ihr
Freund war und sie zu Seinen Gefährten erkor; Er ist
187
ein Mensch, der den Zorn Gottes wider die Sünde erduldete und meine Sünden an Seinem Leibe auf das
Holz trug. (Ich rede die Sprache des Glaubens.) Er ist
dort als Der, welcher inmitten der Umstände und Schwierigkeiten hienieden wandelte und dem die Sünde zugerechnet wurde; und doch sehe ich gerade in Seinem Angesicht die Herrlichkeit Gottes. Ich sehe Ihn dort, weil
Er meine Sünde hinweggethan und das Werk meiner
Erlösung vollbracht hat. Ich könnte Christum unmöglich
in der Herrlichkeit sehen, wenn noch ein Flecken von Sünde
zurückgeblieben wäre. Je mehr ich von der Herrlichkeit
sehe, desto mehr erkenne ich die Vollkommenheit des Werkes,
welches Christus vollbracht hat, und der Gerechtigkeit, in
welcher ich angenommen bin. Jeder Strahl jener Herrlichkeit wird in dem Antlitz Dessen erblickt, der meine 
Sünden auf sich genommen hat und auf dem Kreuze für
dieselben gestorben ist, des Einen, welcher Gott auf der
Erde verherrlicht und das Werk vollendet hat, das der
Vater Ihm zu thun gegeben. Die Herrlichkeit, die ich
sehe, ist die Herrlichkeit der Erlösung. Nachdem Jesus in
betreff der Sünde Gott vollkommen verherrlicht hatte —
Er konnte sagen: „Ich habe Dich verherrlicht auf der
Erde; das Werk habe ich vollbracht, welches Du mir
gegeben hast, daß ich es thun sollte" — hat Gott Ihn
verherrlicht bei sich selbst mit der Herrlichkeit, die Er bei
Ihm hatte, ehe die Welt war. (Joh. 17, 4. 5.)
Wenn ich Ihn in jener Herrlichkeit erblicke, so sehe
ich, daß alle meine Sünden verschwunden sind. Ich habe
meine Sünden auf den Mittler legen und sie gleichsam
auf den Kopf Asasels (vergl. 3. Mos. 16.) bekennen
sehen, und sie sind weggetragen worden in ein ödes Land,
188
um nie wieder zum Vorschein zu kommen. Gott ist so
völlig in betreff meiner Sünden durch das Werk Christi
verherrlicht worden, daß gerade diese Verherrlichung Christo
das Anrecht auf eiuen Platz zur Rechten Gottes giebt.
Ich fürchte mich nicht, Christum dort anzuschauen. Wo
sind meine Sünden jetzt? Wo sind sie zu finden, sei es
im Himmel oder auf der Erde? Einst waren sie aus dem
Haupte des reinen, fleckenlosen Lammes Gottes, meines
gepriesenen Herrn; aber jetzt sind sie verschwunden, um
nie wieder gefunden zu werden. Wäre es ein toter Christus,
(wenn ich so reden darf,) den ich dort erblickte, so könnte
ich befürchten, daß meine Sünden noch einmal zum Vorschein kommen könnten; aber da ein lebendiger Christus
sich in der Herrlichkeit befindet, so ist alles Suchen nach
denselben vergeblich. Er, der sie alle getragen hat, ist
zu dem Throne Gottes emporgehoben worden, und dort
kann es keine Sünde geben.
Als eine praktische Folge hiervon werde ich in Sein
Bild verwandelt. „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist." (V. 18.) Der
Heilige Geist, der von den Dingen Christi nimmt und sie
der Seele offenbart, ist die Kraft unsrer gegenwärtigen
praktischen Verwandlung in das Bild Christi. Ich ergötze
mich an Christo, ich nähre mich von Ihm, und ich liebe
Ihn. Der Heilige Geist bildet meine Seele Christo Jesu
gemäß gerade dadurch, daß Er mir Ihn offenbart. Ich
empfange nicht nur die Herrlichkeit als Gegenstand
meiner Liebe; nein, ich liebe Christum selbst, ich bewundere
Ihn, ich beschäftige mich mit Ihm und verlange nach Ihm;
189
ich esse Sein Fleisch und trinke Sein Blut. Kann es da
anders sein, als daß ich Ihm gleich werde? Der Christ
wird auf diese Weise ein Brief Christi, der von allen
Menschen gekannt und gelesen wird. Er redet von Christo,
legt Zeugnis für Ihn ab, erkennt Christum als seinen
Herrn an und arbeitet für Ihn. Er wünscht nicht reich
zu sein; er besitzt Reichtümer, unermeßliche Reichtümer in
Christo. Er verlangt nicht nach den Freuden und Vergnügungen dieser Welt; für ihn giebt es Fülle von Freuden und Lieblichkeiten zur Rechten Gottes immerdar.
Sagst du immer noch: „Aber ich erblicke in mir diese
Darstellung Christi nicht; ich kann nicht sehen, daß ich
ein Brief Christi bin?" Nun, mein Freund, so möchte ich
fragen: Siehst du nicht Christum? Und ist das nicht weit
besser, als dich selbst zu sehen? Nicht das Blicken auf
mich selbst, sondern das Anschauen Christi ist das von
Gott bestimmte Mittel, um mich zu dem Bilde Christi hinwachsen zu lassen. Nehmen wir an, ich hätte das Werk
eines großen Künstlers nachzubilden. Wird mir dies wohl
gelingen, wenn ich meine Augen stets auf meine Arbeit
richte und mich in unaufhörlichen Klagen darüber ergehe,
daß meine Versuche immer wieder fehlschlagen? Sicherlich
nicht. Nein, wenn ich zum Ziele kommen will, so muß ich
unverrückt meine Augen auf das Vorbild heften und Zug
um Zug, Linie um Linie studiren und so nach und nach
in den Geist des Künstlers und seines Werkes einzudringen suchen.
Welch ein Trost liegt darin für uns! Der Heilige
Geist hat meiner Seele einen verherrlichten Christus als
die sichere Bürgschaft meiner Annahme von feiten Gottes
geoffenbart, und ich kann jetzt ohne Furcht und deshalb
190
unverrückt, mit aufgedecktem Angesicht, jene Herrlichkeit
anschauen, die mir von dem Antlitz Christi entgegenstrahlt,
und mich ihres Glanzes erfreuen. Und auf diese Weise
werdeich verwandelt (nicht: verwandle ich mich) nach demselben Bilde, als durch den Herrn, den Geist. — Werfen
wir einen Blick auf Stephanus, als er vor seinen Anklägern stand. (Apstgsch. 7.) Voll des Heiligen Geistes,
vermochte er unverwandt gen Himmel zu schauen — in
seinem Falle geschah dies ohne Zweifel mit mehr als
gewöhnlicher Kraft — und „er sah die Herrlichkeit Gottes und Jesum, stehend zur Rechten Gottes;" und sein
Angesicht glänzte wie eines Engels Angesicht. Und als
man ihn zur Stadt hinausführte, um ihn zu steinigen,
da betete er gerade so, wie sein Herr und Meister es gethan hatte, für seine Mörder. Er starb, mit den Worten
auf seinen Lippen: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht
zu!" Christus betete, ehe Er Seinen Geist in die Hände
des Vaters übergab: „Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen
nicht, was sie thun!" So sehen wir in Stephanus den
Ausdruck der Liebe Christi für Seine Feinde. Durch den
Heiligen Geist wurde er in einer herrlichen und gesegneten
Weise in dasselbe Bild verwandelt.
Die Seele, welche in vollkommner Freiheit vor Gott
ist, schaut voll Glück und Frieden die Herrlichkeit Gottes,
wie sie in dem Angesicht Jesu Christi gesehen wird; und
weil sie diese Herrlichkeit sieht und ihren Ausdruck kennt,
so wandelt sie in heiligem Vertrauen vor Gott. Anstatt
mit Satan in dieser Welt glücklich zu sein, fürchtet der
Christ Satan, weil er sich selbst kennt. Er fühlt sich nur
in der Gegenwart Gottes wirklich Wohl, und indem er
dort den Geist dessen in sich aufnimmt, was sich für die
191
Gegenwart Gottes geziemt, wird er ein Brief Christi für
die Welt, indem er vor allen kund werden läßt, daß er
dort war. Der Herr gebe, daß wir uns mehr und mehr
Seiner rühmen, in dessen Antlitz alle diese Herrlichkeit
entfaltet ist — des Lammes, das für uns gestorben ist
und alle unsre Sünden durch Sein kostbares Blut abgewaschen hat!
Drei kostbare Gaben.
„Meine Schafe hören meine Stimme . . . , und ich
gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren ewiglich." (Joh. 10, 27. 28.) „Die Gnadengabe
Gottes aber ist ewiges Leben in Christo Jesu, unserm
Herrn." (Röm. 6, 23.)
„Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis
wandeln, sondern das Licht des Lebens haben."
(Joh. 8, 12.)
„Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen." (Joh. 8, 32.) „Für die
Freiheit hat Christus uns freigemacht; stehet nun fest
und lasset euch nicht wiederum unter einem Joche der
Knechtschaft halten." (Gal. 5, 1.)
Die oben angeführten Schriftstellen, denen noch viele
andere hinzugefügt werden könnten, belehren uns, daß es
drei Dinge giebt, die durch die Gnade einer jeden Seele
geschenkt sind, welche einfältig und von Herzen an Jesum
glaubt, und diese drei Dinge sind: Leben, Licht und
Freiheit. In der That, drei kostbare Gaben, mit denen
alle die Reichthümer und Vergnügungen dieser Welt nicht
in Vergleich zu bringen sind! Leider aber giebt es sehr
viele, die in dem vollen Genuß dieser unermeßlichen Vor­
192
rechte stehen sollten, aber thatsächlich kaum wissen, daß
dieselben überhaupt für sie da sind, ja, die es für eine
große Anmaßung halten, wenn jemand behauptet, sie zu
besitzen. Es giebt viele ernste und aufrichtige Seelen,
wahrhaft bekehrte Personen, welche durch falsche Belehrung,
durch ein Beschäftigtsein mit sich selbst oder durch eine
gesetzliche Gesinnung über die Grundwahrheiten des Christentums ganz und gar im Unklaren sind. Die finstere
Atmosphäre, welche die Christenheit im allgemeinen einhüllt, hat das Licht der göttlichen Wahrheit so sehr verdunkelt, daß jene Gläubigen wirklich nicht wissen, wo sie
stehen oder was ihr Teil in Christo ist. Statt Leben,
Licht und Freiheit zu haben, befinden sie sich praktisch in
dem Schatten des Todes, in Finsternis und Knechtschaft.
Sie sind des Genusses jener drei kostbaren Gaben beraubt,
welche Gott in der Fülle und dem Reichtum Seiner Gnade
für alle bereitet und bestimmt hat, die an den Namen
Seines eingebornen Sohnes glauben.
Um solchen, des Genusses ihrer gesegnetsten Vorrechte
verlustig gehenden Kindern Gottes zu helfen, haben wir
die obigen Stellen an die Spitze dieser Zeilen gestellt, und
wir möchten jene in aller Liebe bitten, dieselben mit ruhigem
Ernst und mit Aufmerksamkeit zu lesen. Unser Zweck ist
jetzt nicht, die in jenen Stellen enthaltenen Wahrheiten in
eingehender Weise zu besprechen; wir möchten nur in einigen
kurzen Worten auf dieselben aufmerksam machen und es
dem Leser überlassen, sie unter Gebet und unter der Leitung des Geistes weiter zu prüfen. Unser Wunsch ist, daß
alle die teuren Kinder Gottes in dem beglückenden Genuß
der Dinge stehen möchten, welche ihnen so freigebig von
Gott in Christo geschenkt sind.
193
Horchen wir also, was der Herr zunächst sagt: „Ich
gebe meinen Schafen ewiges Leben." — „Ganz
recht," antwortet da so manche bekümmerte Seele; „ich
sehe klar ein, daß alle Schafe Christi ewiges Leben besitzen, aber die große, unüberwindliche Schwierigkeit für
mich ist die Frage, ob ich ein Schäflein Christi bin. Wenn
ich das einmal sicher wüßte, so würde ich ganz glücklich
sein. Aber ich entdecke in mir nicht die Gefühle, die sich für
ein Schäflein Christi geziemen; mein Glaube ist so schwach,
mein Wandel so fehlerhaft, meine Erkenntnis so gering w. ?c."
Das ist die Sprache von Tausenden. Sie greifen
die Sache am verkehrten Ende an. Sie stellen ihr eignes
Ich, ihre Gefühle rc. vor Christum und Sein Wort; und
sicher, so lange jemand das thut, muß er in Zweifel und
Ungewißheit bleiben. Es kann unmöglich anders sein.
Wenn ich berufen bin, diese oder jene Gefühle zu haben,
irgend etwas zu meiner Errettung beizutragen, so kann ich
allerdings niemals das bestimmte Bewußtsein haben, daß
ich errettet bin. Ich muß etwas völlig außer mir Liegendes, etwas göttlich Festes, ewig Sicheres, von meinen
Gedanken und Gefühlen völlig Unabhängiges, mit einem
Wort, ich muß die Offenbarung Gottes selbst unter meinen
Füßen haben, wenn ich anders einen ungestörten Frieden
genießen will. Die ewige Wahrheit Gottes, und diese
allein, kann die Grundlage des Friedens der Seele bilden;
aber diese Grundlage ist auch so unerschütterlich, daß alle
die Mächte der Erde und der Hölle sie nicht anzutasten
vermögen. Durch den Glauben an Christum, und nicht
dadurch, daß ich irgend etwas in betreff meiner selbst
fühle oder glaube, empfange ich ewiges Leben. Wer an
den Sohn Gottes glaubt, hat ewiges Leben.
194
Glaubst du einfältig und von ganzem Herzen an
Jesum, mein Leser? Vertraust du Ihm? Bist du völlig
befriedigt mit Ihm und mit Seinem vollbrachten Werke?
Wenn das der Fall ist, so hast du ewiges Leben, und
du solltest dies wissen und dich allezeit darin erfreuen.
Der Herr sagt nicht: „Werda fühlt, daß er eins meiner Schafe ist, hat ewiges Leben;" nein, Er sagt einfach : „Wer an mich glaubt, hat ewiges Leben," (Joh. 6,47.)
und an einer andern Stelle: „Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: Wer mein Wort hört und glaubt Dem, der mich
gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das Leben hinübergegangen." (Joh. 5, 24.)
Könnte es etwas Einfacheres und Klareres geben,
als das? Ein jeder, der das Wort Jesu hört und Dem
glaubt, der Ihn gesandt hat, ist der glückliche Besitzer
des ewigen Lebens und wird nie ins Gericht kommen.
Hieraus folgt, daß wir, wenn wir nicht ewiges Leben
haben, auch noch nicht an den Sohn Gottes geglaubt,
noch Sein Wort in Wahrheit gehört, noch endlich an Gott
selbst geglaubt haben. Das ist die einfache Schlußfolgerung, die wir ziehen müssen, wenn wir uns anders durch
den Herrn belehren lassen und uns der Autorität Seines
Wortes unterwerfen wollen. Jeder wahre Gläubige hat
das ewige Leben, und ein jeder, der das Leben nicht hat, ist 
ein Ungläubiger. So spricht das Wort des lebendigen Gottes.
Aber der Gläubige sollte auch wissen, was er besitzt. Deshalb lesen wir in 1. Joh. 5, 13: „Dies habe
ich euch geschrieben, auf daß ihr wisset, daß ihr
ewiges Leben habt, die ihr glaubet an den Namen des
Sohnes Gottes." Das Leben ist in Christo, in dem
195
Sohne. Gott hat uns das ewige Leben gegeben, „und dieses Leben ist in Seinem Sohne." Daher heißt es auch
weiter: „Wer den Sohu hat, hat das Leben; wer den
Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht." Welch
kostbare, überaus wichtige Worte!
Ganz ebenso verhält es sich mit der zweiten unsrer
„drei kostbaren Gaben." So wie wir „Leben" in Christo
empfangen, so empfangen wir auch „Licht" in Ihm.
„Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben." Gott wollte
uns nicht Leben geben und uns zugleich im Finstern lassen. Das würde Ihm nicht entsprechend sein. Er hat uns
Seinen Sohn gegeben, und an Ihn glaubend, empfangen
wir Leben, und Ihm nachfolgend, empfangen wir Licht,
das Licht des Lebens. Herrliche, erfrischende Worte
für die Seele, die so lange in der Finsternis und den
Schatten des Todes umhertappte! „Die Finsternis vergeht, und das wahrhaftige Licht leuchtet;" ja, der wahre
Wirkungskreis und Bereich des Lebens, welches wir jetzt
besitzen, ist das Licht. Wir haben das Vorrecht und sind
berufen, darin zu wandeln; die Finsternis ist vergangen,
die Schatten sind vorbei, die Wolken vorübergezogen, und
das schwache Dämmerlicht hat dem vollen, klaren Licht
des Lebens Platz gemacht, das in unsre Herzen strömt
und seine Hellen Strahlen auch auf unsern Pfad ergießt,
so daß wir fähig sind, uns selbst und unsre Umgebung
zu beurteilen und alles nach dem wahrhaftigen Lichte zu
richten, das jetzt in uns, auf uns und um uns her scheint,
das da scheint von dem Vater her, in dem Sohne, in
der Kraft des Heiligen Geistes und auf den Blättern des
inspirirten Wortes.
196
Endlich folgt mit gesegneter Notwendigkeit, daß in
derselben Weise, wie wir „Leben" und „Licht" empfangen, auch „Freiheit" unser Teil wird. Alles ist in Christo.
Er macht lebendig, Er erleuchtet, und Er befreit; ja, Er
ist unser Leben, unser Licht und unsre Freiheit. Gepriesen sei Sein herrlicher Name dafür >n Ewigkeit! „Denn
ihr seid zur Freiheit berufen worden, Brüder," und:
„Wenn nun der Sohn euch freimachen wird, so werdet
ihr wirklich frei sein." (Gal. 5, 13; Joh. 8, 36.)
Sicher, es kann nicht anders sein. Er kann uns nicht
Leben geben und uns in der Finsternis, oder in Knechtschaft und Sklaverei zurücklassen. Nein, nein; Er setzt
uns in ewige Freiheit; Er macht uns frei von Schuld
und Verdammnis, frei von der Furcht vor dem Zorne
Gottes und dem kommenden Gericht, frei von der Furcht
des Todes, frei von der Herrschaft der Sünde, frei von
dem Fluche des Gesetzes, frei von der Macht Satans,
mit einem Worte, frei von allem, was uns gefangen hielt,
was wider uns war und unsern Seelen den Frieden und
die Ruhe rauben könnte. Er will, daß wir in glückseliger Freiheit, als geliebte Kinder Gottes, in dem Lichte
des Vaterantlitzes wandeln.
Möchte der christliche Leser dieser Zeilen diese Dinge
in einfältigem, kindlichem Glauben erfassen und mit uns
Den preisen, der uns jene „drei kostbaren Gaben" in
Christo geschenkt hat!
Ein Wort über Gebet und Gebetsversammlungen.
In unsern Tagen, den Tagen „schwerer Zeiten" für
den Gläubigen und „einer kleinen Kraft," haben wir besonders nötig, auf das Wort der Ermahnung zu achten:
„Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend aufeuern
allerheiligsten Glauben, betend in dem Heiligen Geiste, erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes,
erwartend die Barmherzigkeit Jesu Christi zum ewigen
Leben!" (Jud 20. 21.) Das Wort Gottes — das, was
Gott dem Glauben geoffenbart hat — und das Gebet im Heiligen Geiste, diese beiden Dinge empfiehlt der Apostel Judas
den Geliebten in den Tagen des Verfalls, von welchen sein
kurzer, prophetischer Brief ein so ernstes Bild entwirft. In
Seinem Worte redet Gott mit uns, „der Gott des Ausharrens," auf daß wir „durch das Ausharren und durch die
Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben." (Röm.
15, 4.) In dem Gebet hingegen reden wir mit Gott. DaS
wahre Gebet ist der Odem und die Sprache des neuen
Lebens; es ist der Ausdruck der eignen Schwachheit und
der Abhängigkeit von dem Gott, den die Seele kennt,
welchem sie vertraut, als Demjenigen, der Seine Liebe
gegen uns erwiesen hat, „als wir noch Sünder waren,"
„der allen willig giebt und nichts vorwirft." (Röm. 5, 8;
Jak. 1, 5.) Sobald Saul von Tarsus bekehrt war, sehen
wir ihn im Gebet. „Siehe, er betet!" sagt der Herr von
198
ihm zu Anamas; das Vertrauen auf seine eigene Kraft
und Tüchtigkeit war ihm genommen. Die ersten Christen
waren ebenfalls viel im Gebet vor Gott, sowohl einzeln
als gemeinschaftlich. Schon gleich nach der Himmelfahrt
des Herrn Jesu finden wir sie zusammen „alle einmütig
anhalten am Gebet." (Apstgsch. 1, 14.) Auch als der
Heilige Geist ausgegossen wurde, waren sie wieder „alle
an einem Orte beisammen;" und nachdem sie durch Ihn
zu einem Leibe getauft waren, „verharrten sie in der
Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft, im Brechen des
Brotes und in den Gebeten." (Apstgsch. 2, 1. 42.)
Wenn die Gläubigen aber in den Tagen der ersten
Frische und Kraft so sehr ihre Abhängigkeit von Gott
sühlten und dieser so reichlich Ausdruck gaben in vielem
Gebet und Flehen, wie sollten wir dann um so mehr
heute, in den Tagen großer Schwachheit, vieler Gefahren
und eines allgemeinen Verfalls, allein und gemeinsam zu 
Gott unsre Zuflucht nehmen und im Gebet für uns und
Andere vor Ihm sein! Samuel, der in den Tagen des
Niedergangs Israels lebte, war ebensosehr ein Mann
des Gebets, wie Josua in den Tagen der Kraft des Volkes.
Er sagte: „Fern sei eS von mir, wider Jehova zu sündigen, daß ich ablassen sollte, für euch zu
bitten!" (1. Sam. 12.) Und wie beharrlich und viel
waren Elia und Daniel für sich und das geliebte Volk
im Gebet! Und der eine lebte in den dunklen Tagen des
götzendienerischen Ahab, und der andere gar mit dem Volke
in heidnischer Gefangenschaft. Wie oft traten auch Esra
und Nehemja in schwerer Zeit des Volkes für dasselbe
ernstlich flehend vor Gott! Ist es ähnlich bei uns, geliebter
gläubiger Leser? Suchen wir in diesen ernsten Tagen
199
treulich das Angesicht des Herrn für das geliebte Volk
Gottes, für Sein Werk, für die Ehre Seines Namens
und alles das, woran wir teilnehmen sollen? oder sind
wir nicht einmal für uns selbst vor Gott im Gebet und
Flehen? Ach! die so vielfach versäumten und vielseitig
vernachlässigten Gebetsversammlungen lassen schon traurige
Rückschlüsse thun auf den Stand der Dinge im Gebetskämmerlein daheim. Und die zunehmende Weltförmigkeit
und geistliche Trägheit und Gleichgültigkeit unter uns beweisen, wie wenig wir die Nähe Gottes schätzen und suchen,
wie wenig wir hier verweilen und flehend und anbetend
vor Ihm verharren. Wenn wir in der Nähe des Herrn wandeln
in stetem Selbstgericht und Aufschauen zu Ihm, so gehen
wir siegreich durch diese versuchungsreiche Welt, sind gesegnet und für Andere von Segen. Der Herr belehrt
uns darum, wie nötig es ist, daß „wir allezeit beten
sollten." (Luk. 18, 1.) Er sagt: „Betet, daß ihr nicht
in Versuchung hineinkommet." (Luk. 22, 40.) Der Apostel
Petrus ermahnt im Hinblick auf das Gericht, welches über
diese Welt kommen muß: „Es ist aber nahe gekommen
das Ende aller Dinge. Seid nun besonnen und seid
nüchtern zum Gebet!" (1. Petr. 4,7.) Und Paulus schreibt den Gläubigen in verschiedenen Briefen: „Verharret im Gebet;" „haltet an am Gebet;" „betet
unablässig;" „betet zu aller Zeit!" (Kol. 4, 2;
Röm. 12, 12; 1. Thess. 5, 17; Eph. 6, 18.)
Sehen wir nun zu, um was und wie wir bitten
sollen.
Wir finden im Worte Gottes Gebete und Ermunterungen zum Gebet für uns, für Andere und für
das Werk und die Sache des Herrn. Was uns
200
nun zunächst selbst angeht, so ist es unser Vorrecht, mit
allen Dingen zu Gott zu kommen, betreffe es zeitliche
oder ewige Angelegenheiten. Köstlich ist es, zu sehen, wie
der Herr uns so oft und viel ermuntert, alle Dinge Gott,
unserm Vater, zu übergeben und ruhig und getrost voranzugehen. Er weist Seine Jünger auf die Sperlinge und
Lilien der Felder hin, die der himmlische Vater nährt
und kleidet, und Er ermuntert sie, unbesorgt zu sein.
(Matth. 6, 25—34; Luk. 12, 22-32.) Der Apostel
Petrus sagt: „Alle eure Sorgen werfet auf Ihn, denn Er
sorgt für euch!" (1. Petr. 5, 7.) Aehnlich Paulus, der,
im Anschluß an den Zuruf: „Freuet euch in dem Herrn
allezeit! und wiederum will ich sagen: Freuet euch!" die
Gläubigen bittet: „Seid um nichts besorgt, sondern in
allem lasset durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure
Anliegen vor Gott kund werden." (Phil. 4, 4—6.) Jakobus
schreibt: „Leidet jemand unter euch? er bete;" und: „Wenn
jemandem von euch Weisheit mangelt, so bitte er von Gott,
der allen willig giebt und nichts vorwirft, und sie wird ihm
gegeben werden." (Jak. 5, 13; 1, 5.) Hier haben wir
sowohl ein Gebet in zeitlichen Schwierigkeiten, als auch
eine Bitte um eine geistliche Gabe; im letzteren Falle ist 
die bestimmte Erhörung zugesagt. Aber auch im ersteren
Falle läßt der Herr das auf Ihn wartende Herz nie ohne
Antwort. Wir sehen dies bei dem Apostel Paulus.
Ihm wurde „ein Dorn für das Fleisch gegeben, ein Engel
Satans, der ihn mit Fäusten schlug." Er „flehte dreimal zum Herrn für dieses, daß er von ihm abstehen möge."
Der Herr erhörte dieses Flehen zwar nicht, antwortete
ihm aber: „Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft
wird in Schwachheit vollbracht." (2. Kor. 12.)
201
Das Herz, das sein Anliegen vertrauensvoll Gott im
Gebet und Flehen übergeben hat, harrt auf Ihn und weiß:
„Er wird's wohl machen." Ruhe und Stille kehren ein.
So wird bei dem obigen Worte des Apostels Paulus den
Philippern zwar keine Zusicherung der Erhörung ihrer
Bitten gegeben, aber es heißt: „Und der Friede Gottes,
der allen Verstand übersteigt, wird eure Herzen und eure
Sinne bewahren in Christo Jesu." (Phil. 4, 7.) Gott,
der über allen Verhältnissen, Umständen und Schwierigkeiten steht, wird Seinen Frieden in das bange, bittende
Herz Seines Kindes senken und es ruhig und ergeben
machen. Sollten wir aber je mit thörichten, eitlen
Wünschen unserm Gott und Vater nahen, so würden wir
dieselben gewiß in Seinem Lichte als solche erkennen und
sie darum willig aufgeben. Wohl dem, dessen Zuflucht Er
allezeit ist! Glückselig das Herz, das in steter Abhängigkeit von Ihm vorangeht!
Der Gläubige, welcher mit Gott wandelt, denkt aber
nicht nur an sich, er denkt auch an Andere; sowohl
helfend, als im Gebet, gedenkt er aller Menschen, am
meisten aber der Hausgenossen des Glaubens. In der
Nähe des Herrn ist das Herz weit und von Seinen Gefühlen der Liebe und Gnade erfüllt. Wir sind ja berufen,
„uns zu freuen mit den sich Freuenden und zu weinen
mit den Weinenden;" wir sollen stets unsre Zusammengehörigkeit mit dem Volke Gottes fühlen und derselben Ausdruck
geben. Was aber die Unbekehrten anbelangt, so ist es
unser Vorrecht, für sie sowohl, als auch für die Mächte
und Gewalten, welche sind, priesterlich vor Gott in Gebet 
und Fürbitte dazustehen. Paulus schreibt'an Timotheus-:
„Ich ermahne nun vor allen Dingen, daß Flehen, Gebete,
202
Fürbitten, Danksagungen gethan werden für alle Men»
scheu, für Könige und alle, die in Hoheit sind, auf daß 
wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller
Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Denn dieses ist gut und
angenehm vor unserm Heiland-Gott, welcher will, daß
alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der
Wahrheit kommen." (1. Tim. 2, 1—4.) Welch einehohe und gesegnete Stellung wird uns hier angewiesen!
Wir sollen Anteil nehmen am Wohlergehen Aller, an der
Aufrechterhaltung des Friedens und der Ordnung hienieden,
an dem gottseligen und gesegneten Wandel und Leben des
Volkes Gottes, an der Ausbreitung der Wahrheit, an
der Errettung kostbarer unsterblicher Seelen rc.
Ehe wir aber über die Fürbitte für das Volt und
das Werk des Herrn einiges sagen, möchten wir noch
eines Gebets für Andere in besondern Fällen gedenken.
Es betrifft die Bitte um Vergebung von Sünden, die ein
Bruder begangen hat, und um die oft damit in Verbindung
stehende Heilung oder Genesung von einer Krankheit.
Johannes schreibt im Blick auf diesen Punkt: „Wenn
jemand seinen Bruder sündigen sieht, eine Sünde nicht
zum Tode, so wird er bitten, und er wird ihm das Leben,
geben, denen, die nicht zum Tode sündigen. Es giebt
Sünde zum Tode; nicht für diese sage ich, daß er bitten
solle!" (1. Joh. 5, 16.) Wie wir in der Geschichte von
AuaniaS und Sapphira (Apgsch. 5.) und in der Versammlung zu Korinth sehen, (1. Kor. 11, 30 — 32.) kann der
Herr in der Zucht mit den Seinen so weit gehen, daß
Er ihre Sünden mit dem Tode ahndet; Er nimmt die
Schuldigen strafend von dem Schauplatz des Zeugnisses
hinweg. „Jede Ungerechtigkeit ist Sünde," schreibt Johan­
203
nes weiter, „und es giebt Sünde, die nicht zum Tode
ist." Wann aber eine Sünde und somit auch die darauf
folgende Krankheit zum Tode ist, wird das geistliche Herz
erkennen. Die Freimütigkeit fehlt dann zum Gebet; der
Geist leitet nicht zur Fürbitte. Jede Sünde kann, wie
uns scheinen will, unter gewissen und erschwerenden Umständen, eine Sünde zum Tode sein. Im andern Falle
wird die Fürbitte und Verwendung des betenden Bruders
zu Gott kommen, und Gott wird Seine züchtigende Hand
von dem Leidenden wegnehmen, sobald Er Seinen gesegneten Zweck bei demselben erreicht hat.
Bei JckkobuS lesen wir: „Ist jemand krank unter
euch, er rufe die Aeltesten der Versammlung zu sich, und
sie mögen über ihn beten und ihn mit Oel salben im
Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird
den Kranken heilen, und der Herr wird ihn aufrichten,
und wenn er Sünden gethan, so wird es ihm vergeben
werden." (Jak. 5, 14. 15.) Das Leben wird dem Kranken wiedergeschenkt, dessen Krankheit entweder nur zur
Zucht war, oder aber als eine Strafe, eine Züchtigung
für bestimmte von ihm begangene Sünden, ihn getroffen
hatte. In dem Briefe des Jakobus steht die Kirche oder
Versammlung äußerlich noch in Verbindung mit dem Volke
Israel, zu welchem der Herr gesagt hat: „Ich bin Jehova, der dich heilt;" (2. Mos. 15, 26.) gleichwie
auch David sagt: „Preise Jehova, meine Seele, und vergiß nicht all Seiner Wohlthaten! Der da vergiebt alle
deine Ungerechtigkeiten, der da heilet alle deine
Krankheiten!" (Psalm 103, 2. 3.) So wird es in
besondern! Sinne im Tausendjährigen Reiche sein; stets
aber hatte Israel für diese Erde und das Leben hienie-
204
den besondere Segnungen. Im Teiche Bethesda (Joh. 5.)
sehen wir noch einen Ueberrest solcher irdischer Segnungen aus dem jüdischen Haushalte in den Tagen des
Herrn hienieden.
Der Kranke nun sollte sich in jenen Tagen an die 
Aeltesten der Versammlung wenden, damit diese ihn vor
Gott brächten, wo die Versammlung ihrer Stellung gemäß
ihren Platz hat. In dem Hülferuf und dem Bekenntnisse
der Sünden offenbart sich das Selbstgericht und die Aufrichtigkeit des Leidenden. Der Glaube und die Liebe der
Brüder aber ruft die Gnade an, welche sich dann in der
Heilung des Heimgesuchten und in der Vergebung seiner
Sünden offenbart. Nun liegt zwar die Kirche oder Versammlung äußerlich in Trümmern, auch ist das „Salben
mit Del" ursprünglich eine rein jüdische Handlung; (vergl.
Mark, 6, 13.) aber immer noch sucht der Herr in und
unter den Seinen wirkliche Aufrichtigkeit im Innern des
Herzens und Entfaltung der Liebe. Noch gilt das Wort,
das Jakobus sagt: „Bekennet denn einander die
Vergehungen und betet für einander, damit ihr
geheilt werdet. Das inbrünstige Gebet des Gerechten
vermag viel." (Jak. 5, 16.) Nicht biblisch aber ist eine
Richtung in unsern Tagen, die jede Krankheit als eine
Strafe, nicht aber als ein Znchtmittel in der Hand Gottes ansieht und behauptet, daß ein Christ nicht krank 
sein dürfe, die Anstalten baut, in welchen die Kranken
durch Bekenntnis ihrerseits und Gebet und Händeauflegen
andrerseits geheilt werden sollen. Eine Krankheit kann,
wie bereits angedeutet, auch blos ein Mittel zur Zucht
und Unterweisung sein, wie wir dies im Worte Gottes
in vielen Fällen sehen. So sandte Gott Hiob Leiden,
205
um ihm sein Inneres aufzudecken und ihn zum Empfang
größerer Segnungen zuzubereiten; und Paulus litt, damit
er auch fernerhin in Demut und Abhängigkeit, vorangehen
und vor jeder Ueberhebung bewahrt bleiben möchte. (2. Kor.
12, 7.) Hätte bei ihnen Gebet und Handauflegen das
Leiden entfernen können? Sicherlich nicht, wie wir ja schon
bei Paulus gesehen haben. Trotz seines anhaltenden
Flehens wurde er nicht erhört. Auch Timotheus war leidend , und der Apostel Paulus ließ seinen Begleiter
Trophimus in Milet krank zurück. (Vergl. 1. Tim. 5, 23;
2. Tim. 4, 20.) War bei beiden Männern ein böser
Zustand vorhanden oder ein Bekenntnis abzulegen? Wir
hören durchaus nichts davon.
Gott hat bei allen Leiden und Proben Seine weisen,
heiligen Absichten; dies lehrt uns Sein Wort und auch
die Erfahrung. Er sucht den eignen Willen zu brechen
oder in der Abhängigkeit zu erhalten, unsern Glauben zu
bewähren, sich uns mehr und mehr zu offenbaren in Seiner Liebe und Heiligkeit und uns dieser letzteren immer
mehr teilhaftig zu machen. (Vergl. z. B. Joh. 15, 1. 2;
Hebr. 12.) Daß Krankheiten indessen Strafen sein können für bestimmte vorliegende Sünden, haben wir bereits
gesagt. Wir möchten nur Hinweisen auf das Ungesunde
und Ausschreitende jener Richtung, die in mehreren Fällen
leider schon zur Schwärmerei ausgeartet ist. Der Herr wird
hierdurch betrübt, Sein Name verunehrt, und der Zweck
der Leiden, die Er gesandt hat, in vielen Fällen verkannt;
ja, vielen Seelen wird hierdurch großer Schaden zugefügt.
Wenden wir uns nun zur Fürbitte für das Werk
des Herrn. Der Herr, der in den Tagen Seiner Niedrigkeit so viel im Gebet war, ja ganze Nächte im Gebet 
206
verharrte, hat gewiß nicht zum Geringsten für die Wohlfahrt der Seinen, für die Befestigung ihrer Herzen unk
ihre Bewahrung vor dem Bösen, wie auch für die Ausbreitung der Wahrheit und die Errettung von Sündern
gesteht. Im Blick auf das große Arbeitsfeld sagt Er zu
den Jüngern: „Die Ernte zwar ist groß, der Arbeiter
aber sind wenige; bittet nun den Herrn der Ernte,
daß Er Arbeiter aussende in Seine Ernte." (Matth. 9,
37. 38.) Paulus, der treue Knecht des Herrn, flehte
gleichfalls viel für des Herrn Werk und Zeugnis. (Siehe
Röm. 1, 9. 10; Ephes. 1, 16; 3, 14; Phil. 1, 4;
Kol. 1,3. 2»; 1. Thess. 1,2; 2. Tim. 1, 3; Philemon 4.)
Vornehmlich muß der Arbeiter im Werke des Herrn und
jeder, der in Seinem Dienste sich bemüht, soll anders sein
Thun gesegnet sein, viel mit Gott verkehren im Gebet und
Flehen. Von den Aposteln hören wir, daß sie sagten:
„Wir aber werden im Gebet und im Dienste des
Wortes verharren." Das Gebet hatte bei ihnen den
ersten Platz. (Apstgsch. 6, 4.) Indes ist es das Vorrecht und die Pflicht aller Gläubigen, für das Werk des
Herrn und für die Seinigen im Gebet zu sein. Der
Apostel Paulus schreibt an die Gläubigen in Ephesus:
„Betet zu aller Zeit mit allem Gebet und Flehen in dem
Geiste und eben hierzu wachet in allem Anhalten und
Flehen für alle Heiligen und für mich, auf daß mir die
Rede verliehen werde im Aufthnn meines Mundes, um
mit Freimütigkeit kund zu thun das Geheimnis des Evangeliums .. . damit ich darin freimütig sei, so wie ich reden
soll." (Eph. 6, 18 — 20.) Aehnlich schreibt er an die 
Versammlung in Kolossae: „Verharret im Gebet und
wachet in demselben mit Danksagung; und betet zugleich
207
>auch für uns, auf daß Gott uns eine Thür des Wortes
«ufthue, um das Geheimnis des Christus zu reden . . .
auf daß ich es offenbare, wie ich reden soll." (Kol. 4,
2—4.) So empfiehlt der Apostel auch den Versammlungen
in Rom, (Röm. 15, 30. 31.) in Thessalonich, (1. Thess.
5, 25 und 2. Thess. 3, 1.) wie auch den Hebräern (Hebr.
18, 18.) sich und das Werk des Herrn der Fürbitte, daß 
Sein Wort laufe und verherrlicht werde. Epaphras, „der
geliebte Mitknecht" und spätere „Mitgefangene" des Apostels,
(Kol. 1, 7; Philem. 23.) übte das hohe Vorrecht, für
die Versammlungen und für das Zeugnis des Herrn vor
Gott zu stehen, in gesegneter Weise treulich aus. ES heißt
von ihm: „Es grüßt euch Epaphras...allezeit ringend für euch in den Gebeten, auf daß ihr
stehet vollkommen und völlig überzeugt in
allem Willen Gottes. Denn ich gebe ihm Zeugnis,
daß er viel arbeitet für euch und die zu Laodicäa und
die zu Hierapolis." (Kol. 4, 12. 13.)
Wie schön ist dieses Zeugnis, das der Heilige Geist
selbst Ephaphras giebt, und wie gesegnet und nötig dieser
verborgene Dienst! Auch die geliebten Philipper nahmen
regen Anteil am Werke des Herrn, an der Bestätigung
des Evangeliums. (Phil. 1, 5. 7.) Es ist aber auch
gewiß kein Zufall, daß der Apostel weder die Versammlung in Korinth, noch auch die der Galater zum Gebet 
und zur Fürbitte für sich und den Dienst des Herrn aufsordert. So wie der, welcher sich der Fürbitte der Brüder
empfiehlt, sich eines guten Gewissens bewußt sein sollte,
(vergl. Hebr. 13, 18.) so sollten auch diejenigen, deren
Fürbitte wir wünschen, in guter Stellung sein und in
Reinheit des Lebens und der Lehre wandeln. (Schluß f.)
— 208 —
Der Charakter Nehemjas.
Wir sehen bei Nehemja ein Herz, welches über die
Leiden seines Volkes tief betrübt war, was immer ein
kostbares Zeichen der Gnade Gottes ist; und Der, welcher dieses Gefühl in ihm erweckt hatte, lenkte auch das
Herz des Königs Arthasastha, daß er Nehemja alles gewährte, was für des Volkes und Jerusalems Wohl nötig
war. Auch sehen wir, daß sein Herz den Umgang mit
Gott pflegte, daß er in Ihm seine Kraft suchte und so
die größten Hindernisse überwand. Die Tage, in denen
Nehemja für das Wohl seines Volkes arbeitete, gehörten
nicht zu jenen glänzenden Zeitabschnitten, welche die Energie
des Glaubens, oder selbst schon des Menschen zur That
ermuntern und einen glänzenden Erfolg verheißen. Es war
eine Zeit, welche jene Ausdauer erforderte, die einzig aus
einem tiefen Interesse an dem Volke Gottes entspringt;
eine Ausdauer, welche eben deshalb, weil es Sein Volk
ist, treu ihr Ziel verfolgt, ungeachtet aller Schmach, die
auf dem anscheinend so unbedeutenden Werke ruht, das
aber nichtsdestoweniger das Werk Gottes ist. Diese Ausdauer geht trotz des Hasses und des Widerstandes der
Feinde und trotz der Verzagtheit der Mitarbeiter ruhig
voran, (Kap. 4, 8. 10. 11.) giebt sich dem Werke ganz
hin, macht alle Tücken des Gegners zu Schanden und
umgeht jede Klippe, indem Gott über diejenigen wacht,,
welche auf Ihn trauen. Ein weiterer schöner Zug in
NehemjaS Charakter ist der, daß ihm, ungeachtet seiner
hohen Stellung, jede kleine Einzelheit des Dienstes am
Herzen lag, sowie alles, was den aufrichtigen Wandel des
Volkes betraf.
209
Seine Geschichte zeigt uns zunächst, wie da, wo Gott,
wirkt, der Glaube allen denen, die sich um Ihn scharen,
sein eigenes Gepräge aufdrückt. Die Juden, welche Jerusalem so lange wüste gelassen hatten, waren ganz bereit
mit Nehemja das Werk wieder aufzunehmen. Juda entfiel
das Herz angesichts der Schwierigkeiten; aber dann offenbarte sich die Ausdauer, welche immer den Glauben kennzeichnet, wenn das Werk von Gott ist, sei es noch so unscheinbar. Das ganze Herz ist dabei, eben weil die Sache
von Gott ist. Durch Nehemjas Energie belebt, zeigte sich
das Volk willig, zu bauen und zu streiten.
Der Glaube trennt niemals Gott und Sein Volk.
Hieraus geht jene Hingebung hervor für alles das, was
mit demselben in Verbindung steht. Noch sei bemerkt,
daß in „schweren Zeiten" der Glaube nicht in dem Glanze
des Erfolgs sich offenbart, sondern einmal in der Liebe
für das Werk des Herrn, wie klein dieses auch sein mag,
und zum andern in der Ausdauer, mit welcher das Werk
betrieben wird trotz allem und bei allen den Schwierigkeiten,
welche einem Zustande großer Schwachheit immer eigentümlich sind; denn der Glaube beschäftigt sich mit der
Stadt Gottes und dem Werke Gottes. Diese Dinge aber
haben stets denselben Wert, welcher Art die Umstände auch
sein mögen, worin sie sich finden.
Der Richterstuhl Gottes und Christi.
Wir finden den Ausdruck „Richterstuhl Gottes" oder 
„Richterstuhl Christi" nur in Römer 14 und 2. Korinther 5. In der ersten Stelle steht er in Beziehung zu
210
der Ermahnung, nicht vor der Zeit zu richten, am zweiten
Orte in Beziehung zu der Anreizung zu guten Werken.
Der Gegenstand selbst ist höchst ernst und zugleich höchst gesegnet, und wird dies immer mehr, je mehr wir ihn verstehen. Ich glaube, daß vor dem Richterstuhl jede ein 
zelne That unsers Lebens offenbar werden wird, wie auch
die Gnade Gottes und die Wege, die Er uns in Verbindung
mit unserm Thun geführt hat, bekannt sein werden. Wir
lesen in Röm. 14, daß ein jeder von uns für sich selbst
Gott Rechenschaft geben wird, und das Wort erwähnt
den Richterstuhl hier im Hinblick darauf, daß wir nicht
einander über Speisen und Tage, oder über eine Sache
ähnlicher Art, vor der Zeit richten sollen.
Ich denke, daß allein die Handlungen dort zur Offenbarung kommen werden. Da aber die tagtäglichen Handlungen unsers Lebens so ganz und gar von unsern innern
Gefühlen abhängig sind, so ist es schwierig, die Handlungen von den innern Gedanken zu trennen. Ich glaube,
daß das Ganze unsrer Handlungen dort vor dem Richterstuhl einzeln klargelegt werden wird; jedoch für die
Gläubigen nicht in einer Weise, als wenn sie noch „im
Fleische" wären. Deshalb wird auch nicht die Verdammnis das Resultat jenes Offenbarwerdens sein, sondern wir
werden vielmehr mit unsern eignen Augen die Gnade
schauen, welche sich mit uns beschäftigt hat, sowohl im
bekehrten, als auch im unbekehrten Zustande. In den Ratschlüssen Gottes bin ich auserwählt vor Grundlegung der
Welt; daher glaube ich, daß meine eigene Geschichte dort
vor dem Richterstuhle entrollt werden wird, und gleichlaufend
mit ihr die Geschichte der Gnade und des Erbarmens Gottes in
bezug auf mich. Es wird dort das Wie? und Warum? aller
211
unsrer Handlungen offenbar werden.Ueberhaupt wird die ganze
Scene für uns den Charakter des Offenbarwerdens, nicht aber
des Gerichts tragen. Wir sind schon jetzt nicht im Fleische
vor Gott; in Seinen Augen sind wir durch Seine Gnade
tot. Dann aber werden wir erkennen, welchen Segen
wir verloren haben, wo irgend wir im Fleische wandelten,
und welcher Verlust uns dafür geworden ist; andrerseits
aber werden dort auch die Wege, die uns Gott geführt
hat, alle Wege der Weisheit, der Gnade und des Erbarmens, von uns zum ersten Male völlig erkannt und
verstanden werden.
In vollkommener, durchsichtiger Klarheit wird dort
die Geschichte eines jeden kund werden. Es wird gesehen
werden, wie ich nachgab, und wie Er mich bewahrte; wie
mein Fuß ausglitt, und wie Er mich wieder aufrichtete;
wie ich der Gefahr und Schande nahe war, und wie Er
mit Seinem eigenen Arm dazwischen trat. Das ist, wie
ich glaube, die Bedeutung des Wortes: „Die Braut hat
sich bereitet;" und ich glaube, daß jener Augenblick ein
höchst wunderbarer sein wird. Dann ist kein Fleisch mehr
zu richten; die neue Natur aber wird zu der vollen
Kenntnis der Fürsorge und Liebe gelangt sein, welche in
wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit, und auch in
Gnade, unS Schritt für Schritt auf dem ganzen Lebenswege folgten. Einige Teile unsers Lebens, die uns bis
dahin dunkel waren, werden dort vollständig unserm Verständnis erschlossen sein und völlig klar werden. Gewisse
Neigungen unsrer Natur, die wir möglicherweise jetzt für
uicht so verderblich und unheilvoll halten, wie sie eS wirklich
find, und zu deren Tötung wir vielleicht gegenwärtig
-ernsten, uns unverständlichen Führungen unterworfen sind,
212
werden dort völlig erkannt werden. Ja, mehr noch; wir
werden dort sehen, daß das Straucheln selbst, das uns
jetzt in so bitteres Leid versetzt, von Gott benutzt worden
ist, uns vor noch schrecklicheren Dingen zu bewahren.
Dort erst werden wir, wie ich glaube, eine vollständige
Erkenntnis von der Schlechtigkeit unsers Fleisches haben.
Wie köstlich ist der Gedanke, daß wir dann nicht nur nach
den Ratschlüssen Gottes dem Fleische nach tot sind, (wofür
wir jetzt uns halten dürfen und sollen,) sondern daß wir
auch von dem Fleische auf immer befreit sein werden!
Warum verleugnen und töten wir nun angesichts
jener ernsten Stunde nicht mehr dieses Fleisch? Der
Herr wolle uns geben, daß wir es mehr nnd mehr thun
zum Preise Seiner Gnade! Der erhabene Gegenstand des
Richterstuhls führt, wenn er in seiner ganzen Tragweite
erfaßt wird, die Seele zum vollen Verständnis unsrer
persönlichen Stellung.
Die Sachwalterschaft Christi.
Ost erhebt sich in den Herzen von Gläubigen, besonders von solchen, die noch jung im Glauben sind, die
Frage: „Wie steht es mit den Sünden, die wir nach unserer Bekehrung begehen?" Schon manches Kind Gottes
hat in tiefer Niedergeschlagenheit und aufrichtiger Betrübnis gesagt: „Ich weiß, daß ich an Christum geglaubt
habe, und bin auch gewiß, daß meine Sünden ^in Seinem
Blute abgewaschen und für immer hinweggethan sind; aber 
was mich immer wieder beunruhigt, das sind die Sünden,
die ich jetzt begehe, nachdem ich gläubig geworden bin.
Was soll ich doch mit denselben anfangen?"
213
Solchen aufrichtigen Seelen behülflich zu sein, ist der
Zweck der nachfolgenden einfachen Betrachtung.
Die göttliche Antwort auf obige Frage findet sich in
1. Joh. 2, 1. 2, wo wir lesen: „Meine Kinder, ich
schreibe euch dieses, auf daß ihr nicht sündiget; und wenn
jemand gesündigt hat: wir haben einen Sachwalter bei dem
Vater, Jesum Christum, den Gerechten. Und Er ist die 
Sühnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die 
unsern, sondern auch für die ganze Welt;" und in
Kap. 1, 9, wo es heißt: „Wenn wir unsre Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, daß Er uns die Sünden
vergiebt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit." Es
sind Gläubige, an welche der Apostel schreibt; er nennt
sie seine Kinder und setzt gar nicht voraus, daß sie sündigen, wie es denn ja auch stets höchst traurig ist, wenn
ein Gläubiger, ein Gereinigter und Geheiligter, sündigt.
Zudem können nur solche, welche in Wahrheit wiedergeboren sind, Gott ihren Vater nennen: „Wir haben einen
Sachwalter bei dem Vater."
In einem Sinne hat jeder wahre Gläubige die Vergebung aller seiner Sünden. „Ich schreibe euch, Kinder,
weil euch die Sünden vergeben sind um Seines Namens
willen." (Kap. 2, 12.) Es ist sehr wichtig, zu unterscheiden zwischen der Thatsache, daß unsre Sünden ein- für
allemal durch das „eine Opfer" auf dem Kreuze hinweggethan sind, und der Vergebung, die einem Kinde von
feiten des Vaters zu teil wird, wenn es gesündigt hat.
Zwei Dinge sind nötig, um in der Gegenwart Gottes
glücklich sein zu können: die Vergebung der Sünden und
ein neues Leben, eine neue Natur. Wir finden diese beiden
Dinge in Kap. 4, 9. 10. In V. 9 heißt es: „Hierin
214
ist die Liebe Gottes zu uns geoffenbart worden, daß Gott
Seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, auf daß
wir durch Ihn leben möchten," und in V. 10 hören wir,
daß Er „Seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung
für unsre Sünden."
Jeder Mensch, der in diese Welt hineingeboren wird,
ist entfremdet von Gott, in völliger Unkenntnis über Ihn
und im Besitz einer gefallenen, verderbten Natur, welche
Feindschaft gegen Gott ist. Er ist „tot in Vergehungen
und Sünden," ohne eine Spur von göttlichem Leben oder 
dem Begehren, Gott zu nahen. (Eph. 2.) „Da ist
nicht, der Gott suche." (Röm. 3, 11.) Aber Gott sah
uns in diesem schrecklichen Zustande, mit nichts anderm,
als dem Tode und dem ewigen Gericht vor uns, und
Er liebte uns und sandte Seinen Eingebornen in diese
Welt, „auf daß wir durch Ihn leben möchten." Und
durch die mächtige Wirksamkeit des Heiligen Geistes werden
wir von neuem geboren und empfangen ewiges Leben, so
wie wir in Ev. Joh. 1, 12. 13 lesen: „So viele Ihn
aber aufnahmen, denen gab Er das Recht, Kinder Gottes
zu werden, denen, die an Seinen Namen glauben, die nicht
aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus
dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind."
Alle diejenigen, welche Christum ausgenommen und in
Wahrheit an Ihn geglaubt haben, können daher auf Grund
deS Wortes Gottes sagen: Wir sind Kinder GotteS
und aus Gott geboren.
Wir haben also ein Leben und eine Natur, welche
Gott liebt, in Ihm ihre Wonne findet und Gemeinschaft
haben kann mit dem Vater und mit Seinem Sohne Jesu
Christo; (1. Joh. 1, 3.) während wir in unserm alten Leben
215
und Zustande keine Gemeinschaft irgend welcher Art mit Golp
haben konnten. Welch ein wunderbares Wort: „Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohne!" Was
bedeutet das Wort „Gemeinschaft?" Es will sagen, dast
wir gemeinsame Gedanken, Freuden und Interessen mit
Gott haben. Die neue Natur kann sich Gottes selbst erfreuen und Ihn genießen, und das wird unsre Freude in
alle Ewigkeit ausmachen. Und in demselben Maße, wie wir
diese Gemeinschaft genießen, wird jetzt schon unsre Freude
völlig sein. (V. 4.) Die Grundlage unsers Friedens
bilden der Tod und die Auferstehung Christi, und sie kanu
daher, Gott sei dafür gepriesen! niemals erschüttert werden,
niemals wanken. Aber unsre Freude hängt davon ab,
wie wir hienieden wandeln und in wie weit wir in der
„Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohne
Jesu Christo" leben.
Gemeinschaft mit dem Vater! — Mancher meiner
Leser fühlt sich vielleicht versucht, auszurufen: „Wie ist
es möglich, daß solch arme, schwache Wesen, wie wir sind,
Gemeinschaft haben können mit dem Vater und mit Seinem
Sohne!" Allein denke dir, du beschäftigtest dich mit Christo
und erkänntest etwas von Seiner Herrlichkeit und Vollkommenheit und erfreutest dich darin; nun, der Vater
findet Seine Freude und Wonne ebenfalls in Ihm, und so
hast du durch die Gnade gemeinsame Gedanken und Gefühle mit dem Later, obwohl selbstverständlich in einen:
sehr verschiedenen Maße, in einem weit, weit niedrigeren
Grade. Ferner hören wir aus dem Munde des Herrn
die Worte: „Niemand erkennt den Vater, als nur der
Sohn, und wem irgend der Sohn Ihn offenbaren will."
(Matth. 11, 27.) Wenn nun Christus unsern Seelen
216
den Later in all Seiner Liebe offenbart und uns dann
sagt: „Mein Vater ist euer Vater, mein Gott euer Gott/'
so haben wir gemeinsame Gedanken mit dem Sohne über
den Vater, obwohl wiederum nur in dem Maße, als wir
fähig sind, in diese Gedanken einzugehen.
Ach! wenn doch alle Gläubige mehr von dieser Gemeinschaft, von diesem unserm höchsten Vorrecht, kannten!
Wie glücklich würden sie sein, und welch ungeahnte Segnungen würden sie genießen! Der Friede, welcher durch das
Blut Seines Kreuzes gemacht ist, kann sich, wie bereits
bemerkt, nie verändern, weil er nicht von uns abhängt,
sondern auf den Tod und die Auferstehung des Herrn Jesu
gegründet ist; aber unsre Gemeinschaft mit dem Vater,
unsre Freude, unser praktischer Genuß des Friedens
Gottes, der allen Verstand übersteigt, kann und muß unterbrochen und gestört werden durch einen einzigen unreinen
Gedanken, durch das geringste Abirren von dem Gott wohlgefälligen Pfade. Wenn wir sündigen, so ist es, als ob eine
Wolke zwischen uns und die Sonne träte; die Sonne bleibt
unverändert, aber wir sehen und sühlen ihre Strahlen nicht.
Tie Sachwalterschaft Christi hat den Zweck, unsre
Seelen wiederherzustellen, wenn die Gemeinschaft auf irgend
eine Weise unterbrochen ist; nicht aber, unsre Sünden
wegzunehmen, denn das ist auf dem Kreuze geschehen.
Wir lesen in Kap. 2, 1: „Wenn jemand gesündigt hat:
wir haben einen Sachwalter bei dem Vater." Man denkt
gewöhnlich, daß erst dann, wenn wir unsre Sünden bekannt haben, Christus zum Vater gehe und für uns
eintrete, um uns wieder in den verlornen Genuß der
Gemeinschaft einzuführen. Aber es heißt nicht: „Wenn
jemand seine Sünde bekennt," sondern: „wenn jemand
217
gesündigt hat." Da ist ein Kind Gottes: es ist wiedergeboren, seine Sünden sind ein für allemal hinweggethan,
und es ist „fähig gemacht zu dem Anteil am Erbe der
Heiligen in dem Lichte;" (Kol. 1, 12.) es fällt in eine
Sünde, und durch diese Sünde ist, obgleich es nicht aufgehört hat, ein Kind Gottes zu sein, seine Gemeinschaft
mit dem Vater unterbrochen und seine Freude verloren.
Was nun? — „Wir haben einen Sachwalter bei dem
Vater." Ein Sachwalter ist eine Person, welche die
Sache eines Andern übernimmt und seine Angelegenheiten
vertritt und ordnet. Wer ist nun diese Person, welche
unsre Sache bei dem Vater vertritt? Kein Geringerer,
alsJesus Christus,„der Gerechte," nicht „derLiebende,"
oder „der Barmherzige," wie wir wohl denken möchten,
sondern „der Gerechte." Welch eine kostbare, gesegnete
Wahrheit! Wenn Er dort ist vor Gott als der Gerechte,
so ist das der vollgültige Beweis, daß unsre Sünden für
immer hinweggethan sind; denn Er nahm sie am Kreuze
auf sich, und jetzt steht Er vor Gott ohne dieselben und
ist dort unsre unwandelbare Gerechtigkeit.
Auch ist Er „die Sühnung für unsre Sünden;"
(Kap. 2, 2.) d. h. Gott ist völlig befriedigt worden betreffs unsrer Sünden, als Christus sie an Seinem eignen
Leibe auf das Holz trug. (1. Petr. 2, 24.) Und jetzt
ist Er dort in der Gegenwart unsers Gottes und Vaters
und bittet für uns, und die Folge Seiner Fürbitte ist,
daß das Wort Gottes durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes auf unser Gewissen angewandt und wir dahin
gebracht werden, unsre Sünde zu fühlen und sie vor Gott,
unserm Vater, zu bekennen. Und „wenn wir unsre Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, daß Er uns die
218
Sünden vergiebr und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit." Beachten wir wiederum die Ausdrücke: „treu und
gerecht;" es heißt nicht: „liebevoll und barmherzig," und
warum nicht? Nun, wenn ein Kind Gottes gesündigt hat,
so ist Christus vor dem Vater und sagt gleichsam: „Ich
habe jene Sünde an meinem Leibe auf das Holz getragen, und ich bin hier als der Gerechte, um jenes Kind
Gottes zu vertreten." So ist Gott treu und gerecht dem
Werke und der Person Christi gegenüber, wenn Er uns
unsre Sünden vergiebt; denn das Werk Christi hat sie
alle hinweggethan, und Er selbst ist unsre Gerechtigkeit
vor Gott. Würde Christus nicht zum Vater gehen, wenn
wir sündigen, ja, ehe wir gesündigt haben, so würden wir
nie zur Einsicht und zum Bekenntnis unsrer Sünde kommen, sondern weiter und weiter von dem Herrn abirren.
Wie köstlich ist es, an die unwandelbare Liebe des Herrn
und an Seinen Dienst für uns zu denken! Er liebte uns und
gab sich selbst für uns dahin, und obgleich Er nicht mehr
hienieden ist und wir uns inmitten einer bösen Welt befinden, inmitten von Schwachheit und Sünde, so ist Seine
Liebe doch dieselbe geblieben; und wenn wir sündigen und
uns in unsrer Seele von Ihm entfernen, so stellt Er
uns wieder her und führt uns in die Gemeinschaft zurück,
die wir verloren hatten.
Die Antwort auf die Frage, was ein Kind Gottes
mit seinen Sünden zu thun hat, ist also einfach diese:
Wir haben sie Gott, unserm Vater, zu bekennen. Doch
wie gesegnet ist es, zu wissen, daß, wenn wir gesündigt
haben und bekennen, Christus schon unserthalben bei dem
Vater gewesen ist, und daß wir das Wort haben: „Wenn
wir unsre Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht.
219
daß Er uns die Sünden vergiebt und reinigt uns von
aller Ungerechtigkeit l" Auf Grund des Wortes Gottes
selbst dürfen wir, sobald wir unsre Sünde in Wahrheit
bekannt und gerichtet haben, glauben, daß sie uns vergeben
ist. Ein wahres Bekenntnis ist nicht nur ein allgemeines
Bekennen von Sünden am Schlüsse des Tages — das
ist überhaupt kein wirkliches, aufrichtiges Bekenntnis.
Nein, so oft eine Sünde auf unserm Gewissen lastet, muß
sie gerichtet und bekannt werden; und zwar sollten wir uns
nicht nur für die thatsächliche Sünde richten, sondern auch
für den Zustand, in welchem sich unser Herz befand, als
wir sündigten, und das ist eine weit tiefer gehende Sache. 
Denn wären wir in Gemeinschaft mit dem Herrn geblieben, so würden wir nicht in die Sünde gefallen sein. So
lange ein Kind Gottes in Gemeinschaft mit dem Herrn
ist, fällt es in keine wirkliche Sünde; sündigt es, so hat
es sich vorher schon von Ihm entfernt. Aber welch ein'
gesegnetes Vorrecht ist es, nachdem wir gesündigt haben,
zu unserm Vater gehen und Ihm alles sagen zu dürfen, und zwar nicht als ein Sünder, um errettet oder
von neuem bekehrt zu werden, sondern als ein Kind, das
die vollkommene Liebe des Vaters kennt, aber zugleich
auch weiß, daß Er „Licht" ist und keine Gemeinschaft
haben kann mit irgend etwas, das sich mit diesem Lichte
nicht verträgt.
Geliebter Leser, möchten wir mehr und mehr kennen
lernen, was es heißt, „Gemeinschaft zu haben mit dem
Vater und mit Seinem Sohne Jesu Christo," damit
„unsre Freude völlig sei," bis wir in jene gesegnete Heimat eingehen, wo sich nichts Gemeines mehr findet, „oder
was Greuel und Luge thut, sondern nur die geschrieben
220
sind in dem Buche des Lebens des Lammes;" (Offbg.
21, 27.) wo wir keinen „Sachwalter bei dem Vater"
mehr nötig haben, sondern in ewiger, unveränderlicher
Reinheit, heilig und tadellos vor unserm Gott und Vater
stehen werden. Die Welt, das Fleisch, der Teufel, mit
einem Wort, alles, was unsre Gemeinschaft hienieden zu 
stören suchte, wird dort für immer verschwunden sein,
und wir werden die endlosen Zeitalter der Ewigkeit hindurch erfahren, was es ist, eine ununterbrochene Gemeinschaft in ewiger Herrlichkeit zu genießen.
Ein gereinigtes Gewissen.
Der Mensch hat ein Gewissen. Er weiß, was gut
und böse ist. Selbst in dem verhärtetsten Sünder erhebt das Gewissen von Zeit zu Zeit seine mahnende und
warnende Stimme. Ja, in dem blindesten Heiden und
Götzendiener redet das Gewissen seine ernste Sprache.
Der Apostel Paulus schreibt in bezug auf die Heiden:
„Diese, die kein Gesetz haben, sind sich selbst ein Gesetz, als
welche zeigen das Werk des Gesetzes, geschrieben in ihren
Herzen, indem ihr Gewissen mitzeugt und ihre Gedanken sich unter einander anklagen oder auch entschuldigen." (Röm. 2, 14. 1ö.) Das Gewissen kann irregeleitet werden, kann schwach und krank sein, ja mehr
und mehr abgestumpft werden; aber es ist da und stellt
den Menschen unter Verantwortlichkeit.
Wenn die Gnade Gottes in dem Herzen wirkt und
das Licht des göttlichen Wortes in die Seele dringt, so
beginnt das Gewissen laut und immer lauter zu reden.
Es verurteilt das ganze bisherige Leben und ruft Unruhe
221
und Angst hervor. Manche suchen dann ihr Gewissen
auf allerlei Weise zu,beruhigen. Sie suchen Trost und
Beruhigung und wissen nicht, daß das, was sie bedürfen, Errettung und Vergebung ist. Sie thun
dies und das, versuchen dieses und jenes Mittel, um die
Stimme ihres Gewissens zum Schweigen zu bringen; aber
all ihr Mühen ist umsonst. Immer wieder beginnt es
von neuem, sie anzuklagen und zu verurteilen. Zahllose
Sünden steigen vor den erleuchteten Augen ihres Herzens
empor; die Furcht vor dem Tode und dem darnach kommenden Gericht macht sie erzittern, und sie denken mit
Schrecken daran, vor einem heiligen und gerechten Gott
erscheinen zu müssen» Sie beginnen ein anderes Leben
zu führen, religiös zu werden, sogenannte gute Werke zu
ihun; aber anstatt Frieden und Ruhe zu finden, müssen
sie die Erfahrung machen, daß all ihr Thun nicht imstande ist, sie mit Gott zu versöhnen und die Ansprüche
Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit zu befriedigen. Sie
lernen aus der Schrift, daß das göttliche Urteil lautet:
„Da ist nicht ein Gerechter, auch nicht einer; da ist
nicht, der verständig sei; da ist nicht, der Gott suche. Sie
sind alle abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden;
da ist nicht, der Gutes thue, da ist auch nicht einer. . .
Alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit
Gottes." (Röm. 3.) Je mehr sie das Wort Gottes lesen
und je mehr sie sich abmühen, das Böse zu meiden und
das Gute zu thun, desto mehr erwacht das Bewußtsein
ihrer Schuld in ihnen, desto unreiner und sündiger fühlen
sie sich. Ihre besten Werke erscheinen ihnen als schmutzige
Lumpen, und sie erkennen mehr und mehr, daß sie völlig
unpassend sind für die Gegenwart eines heiligen Gottes.
222
Die Last ihrer Sünden wird immer unerträglicher, und
die unaufhörlichen Anklagen eines bösen Gewissens
erwecken in ihnen das tiefe Bedürfnis nach Vergebung.
Sie wissen jetzt, daß es nicht ein beruhigtes Gewissen
ist, dessen sie bedürfen, sondern ein gereinigtes, ein 
gutes Gewissen: daß sie die göttliche Gewißheit haben
müssen, daß alle ihre Sünden gerichtet, für ewig ausgelöscht und vor den Augen Gottes hinweggethan sind.
Wie köstlich für solche Seelen, dann zu hören, daß
es einen Weg giebt, auf welchem sie die Gewißheit der
Vergebung aller ihrer Sünden erlangen können, daß ein
Mittel da ist, durch welches ihr Gewissen gereinigt werden
kann! Wir wissen, worin dieses Mittel besteht; es ist
das kostbare Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, das
da reinigt von aller Sünde. An dieses Blut glaubend,
finden sie Vergebung aller ihrer Sünden, Rechtfertigung
und Erlösung, und also gereinigt von bösen und toten
Werken, erhalten sie ein gutes Gewissen. Sie erfahren
an sich selbst die Kraft der Worte des Apostels: „Denn
wenn das Blut von Stieren und Böcken . . . zur Reinigkeit des Fleisches heiligt, wie viel mehr wird das Blut
des Christus, der durch den ewigen Geist sich selbst ohne
Flecken Gott geopfert hat, euer Gewissen reinigen
von toten Werken, um dem lebendigen Gott zu dienen!"
(Hebr. 9, 13. 14.) Das Blut Jesu Christi befriedigt
mein Gewissen vollständig, da es Gott im Blick auf meine
Sünden vollkommen befriedigt hat.
Sel'ger Ruhort! — Süßer Friede
Füllet meine Seele jetzt.
Da, wo Gott mit Wonne ruhet,
Bin auch ich in Ruh' gesetzt.
223
Nur dann, wenn unsre Herzen besprengt und
wir also gereinigt sind vom bösen Gewissen, (Hebräer 10, 22.) können wir in aller Gewißheit des Glaubens und mit völliger Freimütigkeit
Gott nahen durch Ihn, der mit Seinem eignen Blute in
den Himmel gegangen ist. Wir haben dann „kein Gewissen
mehr von Sünden" und wissen, daß Gott selbst es
ist, welcher rechtfertigt. (Hebr. 10, 2; Röm. 3, 26.)
Wir haben die Gewißheit, daß wir durch ein Opfer für
immerdar vollkommen gemacht sind, und daß Golt unsrer
Sünden und unsrer Gesetzlosigkeiten nie mehr gedenken
will. Zu Gott gebracht, mit Ihm versöhnt durch den
Tod Seines Sohnes, haben wir Eintritt in das Allerheiligste durch das Blut Jesu und sind fähig gemacht,
dort anzubeten und Gott zu preisen, in dem Bewußtsein,
daß unsre Sünden abgewaschen, unser Gewissen gereinigt
und wir selbst zu gereinigten Anbetern gemacht worden
sind. Zugleich trennt uns dies von aller toten und
schriftwidrigen Religiosität und leitet uns an, dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und Seinen Sohn
aus den Himmeln zu erwarten.

Bruchstücke.
Es giebt nichts, worin wir so unaufhörlich fehlen,
als in der Pflege eines vertrauensvollen, dankbaren Geistes.
Zehntausend Gnadenerweisungen sind vergessen, wenn Gott
cs für nötig hält, uns irgend etwas zu nehmen, was
unserm Herzen teuer ist.
224
Der Gläubige steht nicht nur unter dem ewigen
Schutze des Blutes des Lammes, sondern nährt sich auch,
durch den Glauben, von der Person des Lammes. Leider
sind wir so geneigt, uns damit zufrieden zu geben, daß
wir errettet sind durch das Werk Christi für uns, ohne
in unserm täglichen Leben eine heilige Gemeinschaft mit
Ihm zu pflegen. Aber könnte dies Sein liebendes Herz
wirklich befriedigen?
Unser Pfad durch die Wüste ist mit zahllosen Beweisen der Liebe und Güte Gottes bestreut, und doch
braucht oft nur eine Wolke von der Größe einer
Manneshand am Horizont zu erscheinen, und alle die
reichen Segnungen der Vergangenheit sind vergessen, angesichts dieser einzigen Wolke, welche schließlich doch nur
neuen Segen über unser Haupt ergießen mag.
Es giebt keine Schwierigkeit, die zu groß wäre für
unsern Gott und Vater. Nein, je größer die Schwierigkeit ist, desto mehr Gelegenheit und Raum verschafft sie
Ihm, sich als der Gott aller Macht und Gnade zu
offenbaren.
Wenn unser Auge, anstatt auf unsern Schwachheiten,
Sorgen und Befürchtungen zu ruhen, allein auf Christum
gerichtet bliebe, wie mancher bittere Kelch würde versüßt,
wie manche dunkle Stunde erhellt werden!
Ein Wort über Gebet und
Gebetsversammlungen.
(Schluß.)
Wenden wir unS nun zu der Frage, wie wir beten
sollen. Wir wollen hier bei der äußeren Form des Betens
nicht verweilen. Ist das Herz des Betenden wahrhaft
vor Gott, so wird auch die Form eine passende und
geziemende sein. Nur möchten wir vorübergehend bemerken,
daß das Knieen jedenfalls der würdigste und entsprechendste
Ausdruck unsrer Stellung im Gebet Gott gegenüber ist,
und wir sollten es daher, wo und wenn irgend es geht,
besonders aber im Gebetskämmerlein und in der Gebetsversammlung, nicht unterlassen. Knieend betete der Herr
Jesus, der Schöpfer aller Dinge, als der völlig gehorsame
und abhängige Mensch hienieden zum Vater; (Luk. 22, 41.)
knieend beteten auch die Apostel und ersten Christen.
(Eph. 3, 14; Apstgsch. 9, 40; 20, 36; 21, 5.)
Nötiger schon scheint es, dabei zu verweilen, daß wir
nicht nur allein, sondern auch gemeinschaftlich im
Gebet und Flehen Gott nahen sollen. Die Notwendigkeit,
dieses Vorrecht auszuüben, gemeinsam mit andern Heiligen,
ja, mit der ganzen Versammlung im Gebet vor den
Herrn hinzutreten, scheint leider vielen Gläubigen nicht
bekannt zu sein, oder wenigstens nicht von ihnen gefühlt
zu werden. Doch ich möchte fragen: Wird wohl da die
Einheit des Geistes gefühlt, wird man da die Einheit des
226
Leibes offenbaren, wo irgend man hierin säumig ist?
Wir finden, daß die ersten Christen auch im Gebet und
in der Fürbitte ihre Einheit bethätigten. Wie wir bereits
oben bemerkten, verharrten sie in der Gemeinschaft und
in den Gebeten, (Apstgsch. 2, 42.) und selbst schon vor
der Ausgießung des Heiligen Geistes „hielten alle einmütig an am Gebet." (Apstgsch. 1, 14.) Als nachmals
einige aus der Mitte der Versammlung vom jüdischen
Synedrium bedroht wurden, daß sie nicht mehr im Namen
Jesu zum Volke reden sollten, kamen alle im Gebet
zu Gott. Wir hören: „Sie erhoben einmütig die Stimme
zu Gott" und flehten, daß Er Seinen Knechten Weisheit
geben möchte, auf daß sie Sein Wort redeten mit aller
Freimütigkeit, und daß Er ihr Zeugnis mit Zeichen und
Wundern bestätigen wolle; was Er auch that. (Apstgsch. 4.)
Als später der Apostel Petrus vom Könige Herodes ins
Gefängnis gesetzt wurde, verwandte sich die ganze Versammlung flehend für ihn bei Gott. Es heißt: „Petrus
nun wurde in dem Gefängnis verwahrt; aber von der
Versammlung geschah ein anhaltendes Gebet für ihn
zu Gott." Selbst noch in der letzten Nacht seiner Haft,
als er am folgenden Tage dem Volke vorgeführt werden
sollte, „waren viele versammelt und beteten."
Auch hier antwortete der Herr. Er sandte Seinen Engel
und errettete Seinen Knecht aus der Hand des Herodes
und all der Erwartung der Juden. (Apstgsch. 12.) Er
that weit mehr, als sie erbitten und verstehen konnten.
Und obwohl der Herr dies oft thut, so hat Er doch
Seiner Versammlung und dem gemeinsamen Gebet eine
kostbare Verheißung gegeben. Wir hören aus Seinem
eignen Munde die herrlichen Worte: „Wiederum sage ich
— 227
euch: daß, wenn zwei von euch werden einstimmig
sein auf der Erde über irgend eine Sache, um welche sie auch
bitten werden, diese ihnen werden wird von meinem Vater,
der in den Himmeln ist." (Matth. 18,19.) Es war und
ist also der Wille des Herrn, daß die geliebten Seinen,
in dem Bewußtsein ihrer Einheit und Zusammengehörigkeit, auch gemeinsam vor Ihn kommen möchten für alles
das, was Ihn und sie selbst betrifft. Auch viele Ermahnungen des Heiligen Geistes in den Briefen zum Gebet 
und Flehen weisen auf ein gemeinschaftliches Gebet und
auf sogenannte Gebetsversammlungen hin. (Vergl. z. B.
1. Tim. 2, 1—4. 8; Eph. 6, 18-20; Kol. 4, 2-4;
Röm. 15, 30. 31; 1. Thess. 5, 25; 2. Thess. 3, 1.)
Wie mag es nun kommen, daß trotzdem so viele
Kinder Gottes selten oder nie in einer Gebetsversammlung
zu finden sind, selten oder nie mit ihren Brüdern und
Schwestern gemeinsam ihre Kniee beugen und „heilige
Hände aufheben" zu Gott, unserm Vater, durch Jesum
Christum, unsern Herrn? Wir haben die Ursache weiter
oben bereits angedeutet: Es fehlt bei solchen Seelen, ja,
wir dürfen Wohl hinzufügen, bei uns im Allgemeinen, viel
an dem verborgenen Umgang mit Gott, au der praktischen
Gemeinschaft mit dem Vater und Seinem Sohne Jesu
Christo. Gewiß, „alle, die das Ihrige suchen, nicht das,
was Jesu Christi ist," und die Vielen, von denen
Paulus mit Weinen sagte, „daß sie Feinde des Kreuzes
Christi sind, die auf das Irdische sinnen," (Phil. 2, 21;
3, 18. 19.) haben kein Herz, keine Gefühle, kein Interesse
für das Wohl des Volkes Gottes, für das Heil der
Sünder, für den Fortgang des Zeugnisses und die Ehre
des Namens Jesu. Was sollten solche zu bitten und zu
228
beten haben? Ach! wie groß ist in unsern Tagen die Zahl
derer, welche „laufen, ein jeder für sein eigenes Haus,"
und das Haus des Herrn liegt wüste! (Vgl. Hagg. 1, 4. 9.)
Der Prophet Amos ruft über die, welche an sich und
an ihr Fortkommen denken und auf zeitliches Wohlergehen
und Wohlleben sinnen, „aber um den Bruch Josephs sich
nicht kümmern," ein „Wehe" aus; (Amos 6, 1. 4—6.)
und der Apostel Paulus weinte über solche. Wie traurig
steht es da, wo ein solcher Zustand sich findet! Es ist
dies der Geist der Versammlung von Laodicäa: Gleichgültigkeit gegen die Person und Sache des Herrn. ES
mag vielleicht bei vielen, die im Beten säumig sind, noch
nicht so weit gekommen sein, aber gewiß ist da, wo Trägheit im Gebet ist und wo man die Gebetsversammlung
wenig oder gar nicht besucht, kein guter Zustand vorhanden.
Wer mit dem Herrn wandelt, läßt sich leiten vom Geiste
Gottes, und dieser führt zum Gebet. Wer aber allein
im Gebet verharrt, naht Gott auch gern in Gemeinschaft
mit Andern. Gewiß hätte Epaphras nie eigenwillig die
Zusammenkünfte zum Gebet versäumt.
Wenn wir aber zusammenkommen zum Gebet, so
dürfen wir nicht vergessen, daß wir gemeinsam vor Gottes
Angesicht treten, um die Anliegen der Versammlung, des
ganzen Volkes Gottes, vor Ihm kund werden zu lassen,
was natürlich einerseits, (wie auch im Gebet des Einzelnen
daheim) stets mit dem aufrichtigen Bekenntnisse unsrer
Schwachheit und Untreue, (vgl. Dan. 9; Esra 9; Neh. 9;)
und andrerseits mit Lob und Danksagung (vgl. Phil. 4, 6.)
verbunden sein wird. Es wäre hier z. B. unpassend, ein
vorgelesenes Kapitel auslegen und die Versammlung belehren
zu wollen; dazu giebt es andere Zusammenkünfte. Wie
229
unschicklich, ja, das Heilige verletzend ist es ferner, wenn
jemand iü seinem Gebet gleichsam einen Vortrag hält, den
die Versammlung auf den Knieen anhören muß! Wie
muß dadurch der Geist des Herrn gehindert und das Herz
der Gläubigen ermüdet werden! Der eigentliche Zweck des
Zusammenkommens geht dann nicht nur ganz verloren,
sondern es wird auch den Seelen geschadet. Noch möchten
wir hierbei bemerken, was aber eigentlich selbstverständlich
ist, daß persönliche Angelegenheiten in das Kämmerlein daheim
gehören und nicht in die Gebetsversammlung hineingetragen
werden sollten.
Vor allem ist es wichtig, daß der Heilige Geist, wie
in jeder Versammlung, so auch in der Gebetsversammlung
völlige Freiheit in Seiner Wirksamkeit habe, daß Er ungetrübt und ungehindert zum Gebet antreiben und in dem
Gebete selbst leiten könne. Sehr verkehrt wäre es daher
z. B., wenn man den, der beten soll, dazu aufrufen oder 
vorher dazu bestimmen würde. Es ist gesegnet, wenn die
Brüder sich in jeder Beziehung frei und ungehindert fühlen
und durch den Geist, nicht aber durch eigene Gefühle
geleitet, den Mund öffnen zum Gebet. Wird der Bittende
in der Wahrheit wandeln und nach der Wahrheit bitten,
so wird sein Gebet, zu dem Alle „Ja und Amen" sagen
können, aufsteigen zu Gott. „Und dies ist die Zuversicht,
die wir zu Ihm haben, daß, wenn wir etwas nach Seinem
Willen bitten, Er uns hört. Und wenn wir wissen,
daß Er uns hört, um was irgend wir bitten, so wissen
wir, daß wir die Bitten haben, die wir von Ihm gebeten
haben." (1. Joh. 5, 14. 15.)
Die Leitung des Heiligen Geistes wird alle unterwürfigen Herzen dahin führen, daß sie in Einheit des
230
Geistes, in Uebereinstimmung der Gefühle, Bedürfnisse
und Bitten, vor Gott sind. Dieser Einmütigkeit im Gebet
hat der Herr besonders Erhörung zugesagt. Wir lesen
am Ende von Matth. 18, wo die Rede ist von der Ausübung der Zucht seitens der Versammlung, die für Ihn
hienieden handeln soll, und in deren Mitte Er Seinen Platz
einnimmt, seien auch nur zwei oder drei in Seinem Namen versammelt: „Wiederum sage ich euch: daß, wenn
zwei von euch werden einstimmig sein auf der Erde
über irgend eine Sache, um welche sie auch bitten werden,
diese ihnen werden wird von meinem Vater, der in den
Himmeln ist." Wie schon oben bemerkt, beteten auch die
Gläubigen „einstimmig" und „einmütig" in den Tagen,
da man getrennt von der Welt lebte und der Heilige Geist
infolge dessen sich wirksam erweisen konnte. „Sie hielten
einmütig an am Gebet," „sie erhoben einmütig die
Stimme zu Gott." (Apstgsch. 1, 14; 4, 24.) Wie
wenig aber wird diese Einmütigkeit und Uebereinstimmung
der Heizen heute gefunden! Wie sehr wird sie daher auch
in so vielen unsrer Zusammenkünfte vermißt! Trägheit
und Zerfahrenheit werden stets da herrschen, wo die Herzen
nicht vor Gott leben, und wo der Geist des Herrn betrübt ist.
Wie könnte da Einstimmigkeit und Einmütigkeit gefunden
werden, wo gegenseitiges Mißtrauen herrscht, und die 
Herzen nicht in Einfalt und aufrichtiger Liebe mit einander verbunden sind, oder wo gar die Sünde viele verunreinigt hat? Nur dann, wenn die Herzen von alledem
frei und in Wahrheit bereit sind, einander zu vergeben,
(vergl. Mark. 11, 24. 25.) kann Vertrauen, Freimütigkeit und Uebereinstimmung vorhanden sein.
Möchten wir doch alle persönlich und einzeln völliger
231
getrennt von der Welt, völliger in der Wahrheit und Liebe
wandeln! Die Einheit des Geistes würde sich offenbaren.
Das Gefühl der Zusammengehörigkeit würde vorhanden
sein, und wir würden als ein Herz und eine Seele
mehr von gleichen Wünschen und Gefühlen beseelt sein.
Die Zusammenkünfte würden davon zeugen, und unsere
Gebete es kund thun.
Der Betende soll der Mund der Versammlung sein,
seine Bitte der Ausdruck und das Begehren Aller. Das
Gebet steigt dann, getragen von den Herzen der Uebrigen,
auf zu dem Throne der Gnade. Während der Einzelne
betet, wandern dann die Herzen der Andern nicht umher,
weilen nicht in der Ferne, sondern alle wissen sich im
Gebet vor Gottes Angesicht und harren betend mit auf
Seine Hülfe und Erhörung. Wir rufen alsdann „einmütig" und „einstimmig," sei es um die Herstellung derer,
die gefallen sind, sei es um die Errettung von Sündern,
oder um die Auferbauung der Versammlung, oder „um
irgend eine Sache, um die wir bitten werden," und der
Vater wird uns erhören. Der Herr hat uns dieses zugesagt.
Mag auch alles verfallen und vergehen, Sein Wort bleibt.
Möchten wir denn hinfort im einfältigen Vertrauen
auf das Wort des Herrn, im Glauben an Seine unwandelbare Liebe, Macht und Treue, reichlicher im Gebet 
vor Ihm sein, und unter der Leitung Seines Geistes „einmütig" und „einstimmig" unsre Anliegen gemeinsam
durch Ihn vor Gott kund werden lassen! Es ist ja
der Glaube eine andere sittliche Bedingung, die der
Herr an die Erhörung unsrer Gebete knüpft, mögen wir
nun einzeln oder gemeinschaftlich vor Ihn treten. Jakobus
sagt bezüglich der Fürbitte für den kranken Bruder, bei
232
dem des Vaters Hand den segensreichen Zweck der Züchtigung erreicht hat: „Das Gebet des Glaubens wird
den Kranken heilen." (Jak. 5, 15.) Und allgemein sagt
derselbe Apostel: „Er bitte aber im Glauben, ohne
zu zweifeln; denn der Zweifelnde ist gleich einer
Meereswoge, die vom Winde bewegt nnd hin nnd her
getrieben wird. Denn jener Mensch denke nicht, daß er
etwas von dem Herrn empfangen werde; er ist ein wankelmütiger Mann, unstät in allen seinen Wegen." (Jak.
1, 6 — 8.) Der Glaube rechnet auf das untrügliche Wort
des Herrn und verherrlicht Ihn durch ein einfältiges Vertrauen. Der Zweifelnde aber verunehrt Gott, welcher nur
den der Seinen ehren kann, der auch Ihn ehrt. Je
kindlicher, einfältiger und freimütiger der Glaube bittet,
und je größer das Vertrauen ist auf Gottes Huld und
Stärke, desto reichlicher findet Gott Gelegenheit, Seine
Gnade und Macht zu entfalten, zur Verherrlichung Seines
Namens. Wahrlich, „Seiner Liebe ist allein, nichts zu
groß und nichts zu klein!"
Der Herr selbst fordert uns ebenfalls auf, daß wir
glaubend und vertrauensvoll beten sollen, und giebt uns
die herrlichsten Verheißungen. Wir lesen: „Alles, was
irgend ihr im Gebet glaubend begehret, werdet ihr
empfangen." (Matth. 21, 22; Mark. 11, 22. 24.)
Gebete ohne Glauben haben keine Verheißung; sie gelangen
nicht zu Gott und führen Ihn nicht in gnadenvoller
Dazwischenkunft und Entfaltung Seiner Liebe und Macht
auf den Schauplatz unsrer Leiden und unsers Zeugnisses herab. Gebete ohne Glauben gleichen dem Plappern
der Heiden, die Gott nicht kennen. Wir haben aber das
Vorrecht, als des Herrn Vielgeliebte, unsre „Anliegen im
233
Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund
werden zu lassen." (Phil. 4, 6.) Und wo wahre Danksagung gefunden wird, da ist der Glaube thätig und eine
völlige Zuversicht des Herzens vorhanden.
Ferner verlangt der Herr von uns Ausharren
im Gebet. Im Ausharren erweist sich die Wahrhaftigkeit
und Wirklichkeit unsrer Bedürfnisse. Im Glauben faßt
der Bittende den begehrten Gegenstand ins Auge und
trägt die Angelegenheit mit schlichten, wenigen Worten
Gott vor; und im Ausharren hält er an oder wartet er,
bis er das Ziel erreicht, oder doch bis der Herr dem
Herzen eine bestimmte Antwort gegeben hat. Das Ausharren erweist sich also einmal in dem Anhalten im Gebet,
zum andern in dem Harren auf die Erhörung. Manches
Gebet wird mit solchem Aufwand von Worten vorgetragen
und ist so unbestimmt und allgemein gehalten, daß es einem
Pfeile gleicht, der ins Blaue abgeschossen wird, ohne auf
ein bestimmtes Ziel gerichtet zu sein. Ist dies ein Beten
im Glauben? Kann hier von Ausharren die Rede sein?
Wird Gott ein solches Gebet erhören? Von welch einer
erhabenen Einfachheit sind die Worte, mit denen der Herr
in Gethsemane betet! Wie kurz und schlicht sind Seine
Bitten, aber dennoch wie anhaltend ist Sein Flehen! Er
fleht: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser
Kelch vor mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern
wie Du willst." Zweimal ging Er weg und weckte Seine
schlafenden Jünger, „und Er ließ sie, ging wiederum hin,
betete zum dritten Mal und sprach dasselbe
Wor t." (Matth. 26, 44.) Waren es leere, bedeutungslose Wiederholungen? O, nein; „Er war in ringendem
Kampfe." (Luk. 22, 44.)
234
Durch mehrere Gleichnisse belehrt uns der Herr, wie
wir mit Bestimmtheit und mit Ausharren, welche beiden
Dinge immer zusammengehen werden, beten sollen. Jener
Freund, der um Mitternacht kam und klopfte, sagte kurz
und klar, was er begehrte: „drei Brote," und blieb am
Bitten und Klopfen, bis er das Gewünschte empfing. Im
Anschluß hieran hören wir: „Bittet, und es wird euch
gegeben werden; suchet, und ihr werdet finden; klopfet
an, und es wird euch aufgethan werden." (Luk. 11, 9.)
In dem andern Gleichnis von dem „ungerechten Richter"
zeigt uns der Herr, daß wir „allezeit beten und nicht
ermatten sollen." (Luk. 18.) Es ist nicht, als
ob der Herr uns nicht alsbald hörte. Er prüft unsern
Glauben, und hat ein Recht dazu. Erst als Paulus zum
drittenmal ernstlich gefleht hatte, ward ihm die Antwort:
„Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in
Schwachheit vollbracht." Auch kann es sein, daß die
Zeit noch nicht gekommen ist, obwohl die Hülfe bereit
liegt. Daniel, „der vielgeliebte Mann," der gefastet und
zum Herrn gebetet hatte, empfängt erst nach Wochen eine
Antwort; aber „vom Anfang seines Flehens" an war
der Herr für ihn thätig. (Dan. 10.)
Wie eindringlich fleht Abraham für Sodom und
Gomorra; und wie schön ist es zu sehen, wie Jehova
gnädiglich auf seine Bitten lauscht und soweit erhört, als
Abrahams Glaube geht. Wie anhaltend und ringend
verwandte sich Moses in der Wüste für das Volk, das
wider Gott gefrevelt hatte; und Gott erhörte ihn. Wie
ernstlich hat auch Elias für Israel vor Gott im Gebet
gerungen; und es geschah, was er begehrte: es kam
Dürre, und es kam Regen. Ja, „das inbrünstige Gebet
235
des Gerechten vermag viel." (Jak. 5, 16.) Darum werden
wir ermahnt, „im Gebet zu verharren," „im Gebet
anzu halten." (Kol. 4, 2; Röm. 12, 12.) Wir
hören daher auch von einem „Ringen" und „Kämpfen"
in den Gebeten. (Kol. 4, 12 ; Röm. 16, 30; Lukas
22, 44.) In wie wenigen unsrer Gebete wird solcher
Ernst, solche Inbrunst und dieses Ausharren im Flehen
zu Gott gefunden! Darum machen wir auch wohl so
wenig die Erfahrung der Entfaltung Seiner Macht und
Gnade in bezug auf uns; darum sehen wir auch wohl oft
so wenig Segen von unsrer Arbeit und Sieg in unserm
Kampfe. Es gehört das Gebet ja auch mit zu der vollen
Waffenrüstung, welche Gott uns im Blick auf den Kampf
wider die Fürstentümer und Gewalten in den himmlischen
Oertern anzulegen ermahnt. (Ephes. 6, 11—18.)
In inniger Verbindung mit der Ermahnung, anzuhalten im Gebet, ruft uns"das Wort zu: „Wachet!"
Wir sollen „Wachen und beten," und im Beten selbst Wachen.
In der eben berührten Stelle im Epheserbrief lesen wir:
„Betet zu aller Zeit mit allem Gebet und Flehen in dem
Geiste, und eben hierzu wachet in allem Anhalten und Flehen für alle Heiligen." An die Kolosser
schreibt Paulus ähnlich: „Verharret im Gebet und wachet
in demselben mit Danksagung." (Kol. 4, 2.) Der
Herr rief den Jüngern in Gethsemane zu: „Wachet und
betet. ..; der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch ist
schwach." (Matth. 26, 41.) Das, was um unS her
vorgeht, was uns umgiebt in diesem Zeitlauf, ist wider
den neuen Menschen und muß ihm schaden, wenn er nicht
wacht. Der Geist und die Dinge dieser Welt sind dazu
angethan und imstande, uns weltförmig und zerstreut, oder
236
doch matt und mutlos zu machen. Wir haben stets nötig,
auf unser Herz zu achten, damit wir nicht befleckt werden.
Salomo sagt: „Behüte dein Herz mehr denn alles, was
zu bewahren ist, denn von ihm sind die Ausgänge des
Lebens . . . Laß deine Augen geradeaus sehen und
deine Wimpern stracks vor dich hin blicken. Ebne das Geleise deines Fußes, und alle deine Wege seien wohl befestigt. Beuge nicht aus zur Rechten und zur Linken,
wende ab deinen Fuß vom Bösen." (Spr. 4, 23 — 27.)
Wie leicht kann uns unser Verhalten die Freimütigkeit
zum Gebet rauben! Petrus unterweist z. B. die Männer,
wie sie sich ihren Frauen gegenüber verhalten sollen, auf
daß „ihre Gebete nicht gehindert würden." (1. Pet. 3,
7.) Wir müssen wachen und uns freie, von der Welt
unbefleckte Herzen und reine Gewissen bewahren, um „besonnen und nüchtern zu sein zum Gebet." (1. Pet. 4, 7.)
Wie mancher betrübende Fall würde nicht vorgekommen sein, wenn das Herz gewacht und gebetet hätte!
Wenn das Herz lässig nnd träge wird, Gottes Wort zu
lesen und im Gebet zu sein, so wird es sich mehr und
mehr von dem Herrn entfernen, und der Tag wird kommen,
wo traurige Dinge geschehen, durch welche der Herr betrübt
und Sein Name in trauriger Weise gelästert wird. —
„Wachet und betet!" sagt der Herr deshalb. Manche
mögen es vielleicht für Gesetzlichkeit halten, gewohnheitsmäßig den Tag mit einem Gebet zu beginnen und zu
beschließen, Gott täglich alles zu befehlen, mit Ihm zu
reden, zu Ihm zu flehen für sich und Andere und das
ganze Werk des Herrn. Wer aber mit dem Herrn wandelt,
weiß, wie diese heilige Gewohnheit fern ist von aller toten
und drückenden Gesetzlichkeit. Wie gesegnet und erquickend
237
ist vielmehr die Ausübung dieses Vorrechts, regelmäßig
vor Sein Angesicht zu treten! Wie viel freier bleibt das
Auge, wie viel reiner und zarter das Gewissen und Herz!
Wir sollten alle darnach trachten, „zum Gebet Muße zu
haben." (1. Kor. 7, 5.) In einem Hause, wo der Herr
der Mittelpunkt ist, wird das Gebet im Kämmerlein nicht
fehlen, noch bei den Mahlzeiten (vergl. 1. Tim. 4, 4. 5.)
und im Schoße der Familie.
Auch scheint aus der angeführten Ermahnung des
Apostels (Kol. 4, 2.) hervorzugehen, daß wir nicht nur
darüber wachen sollen, daß wir anhalten und verharren
im Gebet, sondern auch darüber, daß wir unser Gebet 
mit Danksagung thun, welches vor dem Herrn sehr köstlich
ist. Wie vieles haben wir bereits von Gott, unserm
Vater, empfangen, wie vieles hat Er bis heute an uns
gethan! Ein Herz, das in einem guten Zustande ist, wird
dies nicht vergessen, sondern „mit Danksagung seine Anliegen vor Gott kund werden lassen."
„O wie viele Lieb'sbeweise
Ermuntern uns zu Deinem Preise,
Wie meinst Du's doch mit uns so gut!"
Zugleich wird ein solches Herz auch in bezug auf
die gerade vorliegenden Gegenstände des Flehens fähig
sein, Gott zu danken. Sieht es auch noch keine offenbare
Erhörung, so weiß es doch, daß der Vater alles wohl
machen, alles nach Seiner Weisheit und Liebe ordnen
wird, und in diesem Bewußtsein ist es völlig getrost und
danksagt Gott.
Zum Schluß möchten wir noch ein Wort darüber
sagen, was es bedeutet, „im Namen Jesu" zu beten.
Durch den Tod des Herrn und Seine Auferstehung sind
238
die an Ihn Glaubenden in die Stellung von Söhnen
gebracht worden, in welcher Stellung die Gläubigen des
Alten Testaments nicht waren. So wie nun der Name
des Herrn, der Gott über alles verherrlicht hat, derjenige Name
ist, vor dem sich einstmals alle Kniee beugen müssen, und
der allein unter dem Himmel den Menschen gegeben ist,
darin sie können errettet werden, so ist es auch jetzt das
Vorrecht der Gläubigen, in Seinem Namen allein oder gemeinschaftlich vor Gott, den Vater, hinzutreten mit Gebet 
und Flehen. Am Schluß Seines Lebens, als der Herr
schon im Geiste hinter dem Kreuze stand und das Erlösungswerk vollbracht hatte, sagte Er: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Alles, was irgend ihr den Vater
bitten werdet in meinem Namen, wird Er euch geben.
Bis jetzt habt ihr nichts gebeten in meinem
Namen. Bittet, und ihr werdet empfangen, auf daß eure
Freude völlig sei." (Joh. 16, 23. 24.) Bis dahin hatten
sie sich mit ihren Bitten an den Herrn selbst gewandt,
aber jetzt stand Er im Begriff, zum Vater zurückzukehren,
mit welchem sie durch Sein vollbrachtes Werk in die
innigste Verbindung gebracht waren, und Er belehrt sie,
von jetzt ab mit allen ihren Anliegen zu dem Vater zu
kommen, und zwar in Seinem Namen, der dem Vater
über alles teuer und kostbar ist und der die Grundlage
ihrer neuen Beziehungen zu Gott bildete.
Beten im Namen Jesu heißt jedoch nicht, am Schluß
oder im Laufe des Gebets einfach sagen: „Thue es, o
Gott, um des Namens Jesu willen!" oder auch: „So
flehe ich im Namen Jesu!" Im Namen Jesu beten, ist
weit mehr als das. Es handelt sich auch hierbei um
unsern praktischen Zustand, obwohl wir, wie schon oben
239
bemerkt, dabei in unsrer hohen und herrlichen Stellung
als Söhne Gottes dem Throne der Gnade nahen. Nur
wenn wir in praktischer „Gemeinschaft mit dem Vater
und dem Sohne" stehen, vermögen wir wahrhaft im Namen
Jesu zu beten. Nur dann sind Seine Bitten unsre Bitten,
und was Sein Herz begehrt, begehrt auch unser Herz.
Wie könnte unser praktischer Zustand beim Gebet im
Namen Jesu außer Frage kommen, da demselben solch
große Verheißungen gegeben sind? Der Herr sagt: „Was
irgend ihr bitten werdet in meinem Namen,
das Will ich thun, auf daß der Vater verherrlicht
werde." (Joh. 14, 13.) Wir wissen aber, daß derjenige
nichts empfängt, der da übel bittet. (Jak. 4, 3.)
Auch der Unaufrichtige kann keine Erhörung erwarten.
Der Psalmist sagt: „Hätte ich auf Unaufrichtigkeit
gesehen in meinem Herzen, so würde der Herr nicht gehört
haben." (Ps. 66, 18.) Wie leicht aber kann, wenn wir
jene Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne verloren haben, der Blick getrübt, das Auge ein Schalk, das
Herz betrogen und unbemerkt unaufrichtig werden! Wie
manchen Bruder hört man inmitten großer Schwierigkeiten,
in die ihn der eigene Wille, die eigenen Wege gebracht
haben, sagen: „Und doch habe ich es an Gebeten nicht
fehlen lassen; ich habe viel gebetet und gesagt: Der Herr
möchte mich leiten und etwas dazwischen kommen lassen,
wenn die Sache nicht nach Seinem Willen wäre!" Es ist
möglich, daß der Betreffende gebetet, vielleicht auch viel
gebetet hat; aber wo stand sein Herz, wie war sein Wille
beschaffen? Was nützt es, wenn ich bete, und mein Wille
ist nicht gebrochen? Nehmen wir an, ein Bruder bittet
den Herrn um Klarheit, ob er dieses oder jenes Geschäft
240
unternehmen, diesen oder jenen Schritt thun solle, ist aber 
dabei fest entschlossen, den gehegten Plan auszuführen.
Was soll da das Gebet? Ist es in solchem Falle nicht
mehr als unnütz? Erscheint es nicht fast wie Heuchelei, 
hier noch zu beten? Ja, und doch mag es sein, daß die
Seele so fern von dem Herrn lebt, so verblendet ist, daß 
sie nicht einmal weiß, daß sie unaufrichtig ist. Verkehrt
wäre es vor allen Dingen, wenn ein Gläubiger in einer
Sache beten wollte, die ihm durch das Wort Gottes unzweideutig klar sein müßte. Hätte z. B., um einen Fall
aus dem täglichen Leben herauszugreifen, ein Kind Gottes
das Recht, zu beten, ob es sich mit dieser oder jener ungläubigen Person ehelich verbinden dürfe? Sagt nicht das
Wort Gottes, daß es „im Herrn" geschehen müsse? Die
Fälle, wo Gläubige dem geoffenbarten göttlichen Willen
entgegen beten, mögen nicht so selten sein. Der Herr aber
sagt: „Wenn ihr in mir bleibet und meine
Worte in euch bleiben, so werdet ihr bitten, was
ihr wollt, und es wird euch geschehen." (Joh. 15, 7.)
Aehnlich schreibt der Apostel Johannes: „Geliebte, wenn
unser Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu Gott, und was irgend wir bitten, empfangen wir
von Ihm, weil wir Seine Gebote halten und das
vor Ihm Wohlgefällige thun." (1. Joh. 3, 21.22.)
Wir sehen also, daß beten im Namen Jesu nicht
nur heißt, auf Grund dieses Namens und im Bewußtsein
seiner Kostbarkeit zu dem Vater reden, sondern auch in
lebendiger Gemeinschaft mit Christo, Seinem Wort und
Willen unterworfen, von Ihm geleitet, Gott im Gebete
nahen. Dieses Gebet ist es auch, welches uns der Apostel
Judas für unsere Tage neben dem auferbauenden Worte
241
Gottes empfiehlt, zum Segen und zum Schutz: „betend
im Heiligen Geiste." (Jud. 20.)
Gott hat also, wie wir gesehen haben, dem Betenden
große, herrliche Verheißungen gegeben und uns in Seinem
Worte zu stetem Gebete viel und oft ermuntert. Möchten
wir hinfort mehr, sowohl allein, als auch gemeinsam, vor
Gottes Angesicht gefunden werden, anhaltend und ringend im
Gebet, betend im Namen Jesu! Der Segen für uns und
Andere, ja, für das ganze Werk des Herrn wird nicht
ausbleiben, sondern wird sich daheim und in unsern Zusammenkünften zum Preise des Herrn reichlich erweisen.

Kurze Gedanken über die Rechtfertigung.
„Wie sollte ein Mensch gerecht sein bei Gott, und
wie sollte rein sein der vom Weibe Geborene?" — Das
war eine ernste Frage, welche vor drei Jahrtausenden an
den Patriarchen Hiob gerichtet wurde, und die auch im
Laufe der vielen Jahrhunderte ihr Interesse nicht verloren hat. — Kann ein Mensch bei Gott gerechtfertigt werden? Bildad, der Suchäer, nimmt dies
nicht an; er weiß nur, was der Mensch ist, und in feierlichen Worten spricht er von ihm und seinen Beziehungen
zu Gott: „Siehe bis zum Monde hin, und er giebt keinen Schein, und die Sterne sind nicht rein in Seinen
Augen: wie viel weniger ein Mensch, die Made, und das
Menschenkind, der Wurm!" (Hiob 25, 5; vergl. auch
15, 14 — 16.) Aehnlich redet selbst David: „Gehe nicht
ins Gericht mit Deinem Knechte! denn kein Lebendiger
ist gerecht vor Dir;" (Ps. 143, 2.) obwohl er an einer
anderen Stelle die Glückseligkeit des Menschen preist, dessen
242
Uebertretung vergeben und dessen Sünde bedeckt ist. Er
kannte keine völlig befriedigende Lösung dieser Frage, und
noch weniger Bildad, der Suchäer. Es erging ihnen wie
einem Menschen, der in dem unbestimmten Licht des anbrechenden Morgens Wohl die ungefähren Umrisse der Gegenstände um sich her erkennt, der aber nichts genau unterscheiden kann.
Wir aber, denen der Lichtglanz des Evangeliums
im Angesichte Jesu Christi voller Gnade und Wahrheit
entgegenstrahlt, finden jetzt im Worte Gottes eine völlig
genügende Antwort auf jene Frage. Das dritte Kapitel
des Römerbriefes, dessen wunderbarer Inhalt „jeden
Mund verstopft" und zeigt, daß „alle Welt dem Gericht Gottes verfallen ist," sagt uns: „Aus Gesetzes
Werken wird kein Fleisch vor Gott gerechtfertigt werden."
Aber nachdem der Apostel in kurzen Worten den traurigen Zustand und die Schuld aller Menschen dargestellt
und göttlich bewiesen hat, daß „alle gesündigt haben und
nicht die Herrlichkeit Gottes erreichen," dürfen wir gleich
darauf den gnadenvollen Ausspruch hören: „Wir werden
umsonst gerechtfertigt durch Seine Gnade."
So lesen wir auch in Gal. 3, „daß Gott die Nationen
aus Glauben rechtfertigt;" und wiederum im Römerbrief:
„Welche Er aber berufen hat, diese hat Er auch gerechtfertigt." (Röm. 8.) Da dies die Worte Gottes selbst
sind, so wissen wir, daß es eine Rechtfertigung vor Gott
giebt.
Fragen wir nun zunächst: Wer ist der, welcher rechtfertigt? so giebt uns auch hierüber der Römerbrief in
gesegneten Worten Aufschluß: „Zur Erweisung Seiner
(d. i. Gottes) Gerechtigkeit, daß Er gerecht sei und
243
den rechtfertige, derbes Glaubens an Jesum ist;"
(Röm. 3, 26.) und wie wir schon vorhin gehört haben:
„Welche Er aber berufen hat, diese hat Er auch gerechtfertigt." (Röm. 8, 30.) Gott also ist es selbst, der da
rechtfertigt. Die Wichtigkeit dieser Thatsache kann nicht
klar genug ans Licht gestellt, nicht laut genug betont
werden; denn welche Er rechtfertigt, diese müssen in der
That gerechtfertigt sein! Es ist diese Rechtfertigung kein
fehlerhaftes Werk, gekennzeichnet durch menschliche Unvollkommenheit, sondern sie ist von unbestreitbarem und unwandelbarem Werte für alle Ewigkeit. Im Blick auf die
Größe und Erhabenheit dieser göttlichen Wahrheit ruft
der Apostel überströmenden Herzens aus: „Gott ist es,
welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme!" (Röm. 8,33.34.)
Da es also eine Rechtfertigung giebt, wie wir in
Gottes Wort gefunden haben, und Gott selbst es ist, welcher rechtfertigt, so ist es weiterhin von großer Wichtigkeit, zu wissen, welche Personen dieser Rechtfertigung teilhaftig werden. Zur Beantwortung dieser Frage wenden
wir uns wieder zum 3. Kapitel des Römerbriefes. Dort
lesen wir die entscheidenden Worte: „daß Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist." Nichts
könnte einfacher sein. Den Gläubigen, und den Gläubigen allein, rechtfertigt Gott. Wie könnte jemand wissen,
was es ist, gerechtfertigt zu sein, der nicht an Ihn, den
Hochgelobten, geglaubt hätte, an Ihn, der einst der Mann
der Schmerzen war, der aber jetzt als der verherrlichte
Mensch zur Rechten Gottes sitzt, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt? Wenn es im nächsten Kapitel heißt
(Röm. 4, 5.): „daß Er den Gottlosen rechtfertigt,"
so bezieht sich das natürlich nur auf den Zustand, in wel­
244
chem der Mensch gelebt hat, ehe er gläubig wurde. Wir
sind von Natur „gottlos," wie uns dies das 5. Kapitel
in so ernsten Worten zeigt. Wir finden da drei Ausdrücke, welche des Menschen natürlichen Zustand kurz bezeichnen. Wir sind von Natur 1. „kraftlos;" (Vers 6.)
2. „Sünder;" (Vers 8.) 3. „Feinde." (Vers 10.)
Die erste Bezeichnung ist verneinend; sie giebt an, was
wir nicht sind oder haben; wir sind ohne Kraft zum
Guten, von Natur völlig kraftlos, Gottes Willen zu
thun. Die nächste Bezeichnung drückt aus, was wir
sind. Wir sind Sünder, Schuldner und unter dem Gericht, um unsrer bösen Werke willen. Am schrecklichsten
aber ist es, daß wir auch unserm innern Zustande nach
Feinde Gottes sind. Solche sind wir alle von Natur;
aber die Gläubigen können, mit unendlichem Danke gegen
Gott, sagen: Solche „waren" wir einst. (V. 6. 8. 10;
vgl. auch Titus 3, 3.) Die Feindschaft des Menschen
gegen Gott erwies sich am völligsten, als Christus hier
auf Erden wandelte. Gott war geoffenbart im Fleische
und wohnte unter uns in vollkommner Liebe zum Menschen, aber Er wurde „gehaßt ohne Ursache." Er war
der Menschen Spott und Hohn. So ist der Mensch!
Aber gepriesen sei der Name des Herrn! Von allem,
wovon wir im Gesetz Moses' (d. h. durch eigene Kraft
und auf dem Grundsatz des Gesetzes und der Werke) nicht
gerechtfertigt werden konnten, „wird in diesem jeder
Glaubende gerechtfertigt." (Apostelg. 13, 39.)
So ist Gott!
Fragen wir nunmehr: Was ist Rechtfertigung? so
müssen wir uns betreffs der Antwort zu einigen Stellen
im 4. Kapitel des Römerbriefes wenden. Dort lesen wir
245
in Vers 3: „Abraham glaubte Gott, und es wurde
ihm zur Gerechtigkeit gerechnet." Dann in VerS
5: „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an Den glaubt,
der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur
Gerechtigkeit gerechnet." Und wiederum in Vers 9:
„Der Glaube ist dem Abraham zur Gerechtigkeit
gerechnet worden." Rechtfertigung ist also eine
richterlich zuerkannte oder zugerechnete Gerechtigkeit. Daß
Gott uns vor sich für gerecht erklärt, ist unsre Rechtfertigung. Auf welchem Grunde Er dies thut, werden
wir sogleich sehen. Zunächst möchten wir die so hochwichtige Wahrheit feststellen und nachdrücklich hervorheben,
daß Rechtfertigung nichts mehr und nichts weniger bedeutet, als von Gott und vor Gott richterlich gerecht gesprochen worden zu sein. Das ist die positive, unveränderliche Stellung des Gläubigen, jetzt und in alle Ewigkeit. Rechtfertigung ist nicht blos Vergebung und Freisprechung von Schuld, sondern sie ist eine thatsächliche
Stellung in vollbrachter, ewig dauernder Gerechtigkeit in
Christo vor Gott, eine Stellung, in welche wir bereits
gebracht worden sind durch Gottes eigene Wirksamkeit,
durch Ihn, der den Gottlosen rechtfertigt, welcher an
Jesum glaubt.
Hören wir jetzt weiter, was die Schrift lehrt über
den Grund, auf welchem wir gerechtfertigt werden. In
Römer 4, 25 lernen wir, daß der Herr „unsrer Rechtfertigung wegen auserweckt worden ist;" in Römer 5, 1,
daß „wir gerechtfertigt worden sind aus Glauben;" und
in Vers 9, daß „wir durch Sein Blut gerechtfertigt
sind." Ihrem wahren Charakter nach entspricht unsre
Rechtfertigung dem Werte, den das Blut Christi vor Gott
246
hat; durch dieses allein sind wir gerechtfertigt, und gemäß
dem unaussprechlich kostbaren Werte desselben ist unsre
Annehmung und Stellung in Seiner heiligen Gegenwart.
Von menschlicher Seite aus betrachtet, ist sie „aus Glauben;" d. h. wir erlangen sie auf diesem Grundsätze und
nicht auf demjenigen der Werke. Wir können praktisch
auch nicht gerechtfertigt werden, bis der Glaube bei uns
in Thätigkeit tritt. So lesen wir in der bereits angeführten Stelle: „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an
Den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein
Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet." (Röm. 4, 5.) Ebenso
wird Abraham, der durch seinen alle Hindernisse überwindenden Glauben hervorragend war, als Vorbild des Gerechtfertigten dargestellt. Ferner sahen wir, daß unsre
Rechtfertigung mit der Auferstehung Christi in Verbindung steht. Er wurde „unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben und unsrer Rechtfertigung wegen
auf erweckt." (Röm. 4, 25.) Wir müssen an Seiner
Auferstehung teil haben, um gerechtfertigt zu sein. Gott
ist es, welcher rechtfertigt, und der auferstandene Christus
stellt unS in Seiner Person in der Gegenwart Gottes als
Gerechtfertigte dar. Er ist dort der Ausdruck jener auf
ewig bestehenden, vollendeten Gerechtigkeit, in welche wir
kraft Seines Todes und Seiner Auferstehung eingeführt
worden sind. (2. Kor. 5, 21.)
Fragen wir zum Schlüsse noch, was das Ergebnis
der Rechtfertigung ist, so antwortet die Stelle, die wir
zuletzt aus dem Römerbriefe angeführt haben, zunächst
darauf: Unsre Sünden und Uebertretungen sind nicht
mehr, sie sind alle getragen, alle hinweggethan; Christus,
unser Herr, wurde für sie dahingegeben; Erstarb für sie,
247
um sie hinwegzunehmen. Und jetzt, da Er auferweckt ist,
können sie unmöglich noch vor Gott gefunden werden.
Gott hat nach Seiner Gerechtigkeit in bezug auf sie gehandelt, damit Er gerecht sei und doch die Freude habe,
der Rechtfertiger dessen zu sein, der an Jesum glaubt.
Indes haben wir infolge der Rechtfertigung nicht
nur „Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum,"
sondern wir haben auch „Zugang zu der Gnade, in
welcher wir stehen." Auf immer und ewig ist der
Friede zwischen uns und Gott festgestellt, und wir können
jeden Augenblick mit Freimütigkeit zu Gott nahen, in dem
Bewußtsein, daß wir Ihm in Christo Jesu wohlannehmlich sind. Ueberdies hören wir: „Da wir jetzt durch
Sein Blut gerechtfertigt sind, werden wir durch Ihn errettet werden vom Zorn." (Röm. 5, 9.)
Das Erste hat also Bezug auf die Vergangenheit: alle meine Sünden sind ausgetilgt durch Sein
Blut, und ich habe Frieden mit Gott; das Zweite auf
die Gegenwart: ich stehe in der Gunst Gottes und
habe freien Zugang zu Ihm; das Dritte endlich geht auf
die Zukunft: ich werde errettet werden von dem Zorne,
der über diese Welt und alles, was von ihr ist, kommen
wird, ja ich bin jetzt schon fähig gemacht, mich in der
Hoffnung der Herrlichkeit Gottes zu rühmen. Gott versichert uns in Seinem ewigen Worte, daß wir so völlig
vor Ihm von aller Schuld befreit und so angenehm gemacht sind in dem Geliebten, daß, „gleichwie Er ist,
(Er, der verherrlichte Mensch zur Rechten Gottes) also
auch wir sind in dieser Welt." (1. Joh. 4, 17.)
Angesichts dieser Thatsache haben wir Freimütigkeit für
den Tag des Gerichts.
248
Wie wunderbar und herrlich ist Gottes gnadenvoller
Ratschluß über uns; wie gesegnet ist das teure Werk
Christi; wie klar sind die Aussprüche des Heiligen Geistes
in bezug auf die Sicherheit und Gewißheit der Stellung
des Gläubigen vor Gott, sowohl jetzt als auch in alle
Ewigkeit! Möchten wir immer mehr eindringen in die
Erkenntnis Seines Willens, Werkes und Wortes, „zum
Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade, worin Er uns begnadigt hat in dem Geliebten!"
Zach aus.
(Lukas 19, 1—10.)
Bei der Betrachtung der Geschichte des Oberzöllners
von Jericho drängt sich uns unwillkürlich eine Wahrheit
von unschätzbarem Werte auf, nämlich, daß es nichts ausmacht, in welch einer Stellung oder in welchen Umständen
sich ein Mensch befinden mag — wenn er nur ernstlich
das Heil seiner Seele sucht, wenn er mit Aufrichtigkeit
nach Christo verlangt, so wird er sicher alles, was er sucht,
finden, ja unendlich weit mehr, als er je erwartet hätte.
Der ernste Sucher wird stets ein glücklicher Finder werden.
Zachäus war ein reicher Mann, ein reicher Oberzöllner. Er war in der Ausübung eines unter den Juden
höchst verachteten Gewerbes reich geworden, nämlich durch die
Einziehung der römischen Zölle und Steuern. In dem vorhergehenden Kapitel sagt nun der Herr: „Es ist leichter,
daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein
Reicher in das Reich Gottes eingehe." (Luk. 18, 25.)
„Wie denn," hätte der Feind zu Zachäus sagen können,
„kannst du jemals daran'denken, in das Reich Gottes
einzugehen? Wie könntest du errettet werden? Deine
249
Umstände, deine Stellung, dein Beruf, alles das bildet
eine unübersteigliche Schranke für die Errettung deiner
Seele." Alle diese Einwendungen hätte der Feind, wie
gesagt, machen können, wenn nicht der Herr jenem ernsten
Ausspruch die Warte hinzugefügt hätte: „Was bei Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott." Gott vermag
schwerere Dinge zu vollbringen, als ein Kamel durch ein 
Nadelöhr zu führen. Er kann Zöllner und Sünder erretten.
Doch vergessen wir nicht, daß es Zachäus so völlig
Ernst war mit seinem Wunsche, Jesum zu sehen, daß er
keine Schwierigkeiten achtete. Er lebte in Jericho, der
verfluchten Stadt, und war überdies ein reicher Zöllner;
aber er war zugleich ein aufrichtiger Mann, und „er
suchte Jesum zu sehen." Bei ihm war Wirklichkeit vorhanden, gerade das, was man heutzutage so wenig findet.
Eine aufrichtige, ernste Seele wird alle Arten von Schwierigkeiten besiegen, ja, die Schwierigkeiten dienen gerade
dazu, um Wirklichkeit, da wo sie vorhanden ist, ans Licht
zu bringen. So stellten sich auch dem Zachäus, als er
Jesum zu sehen suchte, zwei Schwierigkeiten entgegen, die
tausend Andere zurückgeschreckt haben würden. „Er vermochte es nicht vor der Volksmenge, denn er war klein
von Person." Was thut nun Zachäus? Kehrt er nach
Hause zurück, um eine günstigere Gelegenheit abzuwarten?
O nein, er mußte Jesum sehen. War der Herr von
einer Volksmenge umgeben ? Zachäus konnte vorauslaufen.
War er klein von Person? Er konnte auf einen Baum
steigen. Ja, wenn tausend Schwierigkeiten statt dieser beiden
vorhanden gewesen wären, so würde Zachäus sie mit derselben Energie überwunden haben, welche die Gnade in
250
seiner Seele hervorgebracht hatte. Gerade die Schwierigkeiten, welche einem gleichgültigen, sorglosen Menschen
ebenso viele Ursachen zur Entschuldigung geben, bieten
einer ernsten, aufrichtigen Seele ebenso viele Gelegenheiten,
ihren Ernst und die Wirklichkeit ihres Begehrens zu
offenbaren.
Thatsächlich giebt es keine Entschuldigung sür irgend
einen Menschen. Alle sind eingeladen, alle sind willkommen. „Wer da will, nehme das Wasser des Lebens
umsonst." Alle, welche Entschuldigungen suchen, begehren
nicht zu kommen; und es würde weit aufrichtiger sein,
wenn solche, anstatt sich zu entschuldigen, sagen würden:
Wir wollen nichts mit Gott, mit Christo und mit der
Frage unsrer Errettung zu thun haben. ES giebt keinen
Grund für irgend einen Menschen, nicht heute noch zu
Jesu zu kommen, keine Entschuldigung, die im Lichte des
Richterstuhls Christi Gültigkeit haben könnte. Von seilen
Gottes giebt es kein Hindernis, weshalb ein Sünder nicht
in diesem Augenblick zu Jesu kommen und in Ihm ein
völliges Heil finden könnte. Jesus ist heute so bereit,
jeden aufzunehmen, der in Wahrheit zu Ihm kommt, als
Er es war in den Tagen des Zachäus. „Wer zu mir
kommt, den werde ich nicht hinauswerfen;" so lauten
Seine eignen, gesegneten Worte; und daher giebt es keine
Entschuldigung für irgend einen Menschen, wie es für
Christo keine Ursache giebt, einen Sünder, der in einfältigem Glauben zu Ihm kommt, zurückzuweisen.
Dies erfuhr auch Zachäus. Ihm war es wirklicher,
völliger Ernst. Er legte nicht die Hände in den Schoß
und sagte, wie man es heute so oft hören kann: „Wenn
es Gottes Wille ist, mich zu erretten, so werde ich errettet werden. Es hat keinen Zweck, mich über diese
Sache zu beunruhigen. Bin ich auserwählt, so muß ich
errettet werden; bin ich eS nicht, so kann ich nichts daran
ändern." O nein, eine solch elende Beweisführung
konnte Zachäus nicht befriedigen. Er hatte eine Seele,
die der Errettung bedurfte, und die Ewigkeit stand vor
251
ihm. Mit einem Worte, er suchte ernstlich, wie es die
Pflicht eines jeden Menschen ist, mag er jung oder alt,
reich oder arm sein. Er suchte, er lief voraus,
und er kletterte auf einen Baum. Er verfolgte mit
Eifer und Ausdauer sein Ziel. Er verlangte nach Jesu,
und Jesus verlangte nach ihm. „Und als Jesus an den
Ort kam, sah Er auf." Warum sah der Herr empor?
Weil inmitten der Zweige des Maulbeerfeigenbaumes sich
ein ernstlicher Sucher befand; nicht einer, der wie Adam
sich vor den Augen des Herrn verbarg, sondern ein Mensch,
der Jesum suchte. Und „Jesus sah aus und erblickte
ihn und sprach zu ihm: Zachäus, steige eilend hernieder,
denn heute muß ich in deinem Hause bleiben."
Welch eine Antwort! Welch ein Augenblick! Zachäus
blickt in ernstem Begehren von dem Baume herab, um
Jesum zu sehen, und Jesus blickt in unergründlicher
Gnade zu ihm empor. Ihre Blicke begegnen sich, und in
demselben Augenblick ist ein Band gebildet, das durch die
endlosen Zeitalter der Ewigkeit hindurch bestehen wird.
Wie wenig hatte der verachtete Zöllner daran gedacht,
daß Jesus ihn beachten und seinen Namen auf Seine
Lippen nehmen würde! Wie wäre es ihm jemals in den
Sinn gekommen, daß er den Sohn Gottes selbst als Gast
in seinem Hause beherbergen sollte! War es denn möglich?
Konnte er, der reiche Zöllner, einer solchen Segnung,
eines solchen Vorrechts teilhaftig werden? War denn
das Unmögliche möglich gemacht? Ja, ein ernster, aufrichtiger Sünder und ein liebender Heiland waren einander begegnet. Alle Schwierigkeiten waren hinweggeräumt,
alle Schranken entfernt. „Zachäus, steige eilend hernieder,
denn heute muß ich in deinem Hause bleiben;" so lautete
die freundliche Aufforderung. Und Zachäus „stieg eilend
hernieder und nahm Ihn auf mit Freuden."
WaS mag in diesem Augenblick in dem Herzen des
Oberzöllners von Jericho vorgegangen sein! Kein Wort
des Tadels kam über die Lippen des Gesegneten, mit keinem Worte wurde sein verachteter Beruf erwähnt, keine
252
Bedingungen wurden gestellt! Nein, ein Sünder und ein
Heiland waren sich begegnet, und was anders als Heil
und Errettung konnte die Folge sein? Ja, eine Errettung,
voll und frei, eine Errettung, wie sie gerade den Bedürfnissen eines Zachäus angemessen war. Die Menschen
mochten hierüber murren. Ihr religiöser Stolz mochte
sich auflehnen gegen die Thätigkeit einer freien, unumschränkten Gnade. Aber das konnte die Strahlen des
Heils Gottes nicht abhalten, mit vollem Glanze auf einen
armen, verlornen und schuldigen Sünder zu scheinen.
„Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, dieweil
auch er ein Sohn Abrahams ist." Konnte der Herr dies
sagen im Blick auf die Hälfte der Güter, welche Zachäus
den Armen gab, oder auf seine Bereitwilligkeit, vierfältig
zu erstatten, wenn er etwas durch falsche Anklage genommen hatte? O nein, sondern: weil „der Sohn des Menschen gekommen ist, zu suchen und zu erretten, was verloren ist." Es ist eine gegenwärtige, persönliche und
vollkommene Errettung, die gleichsam aus dem Herzen
Gottes selbst hervorfließt und dem Sünder in der Person
und dem Werke des Herrn Jesu nahegebracht, ja, die
einem jeden angeboten wird, der da will.
Mein lieber Leser, bist du noch unbekehrt? Ist dein Herz
noch in Ungewißheit betreffs der Frage deiner Errettung?
Ist dein Gewissen noch nicht zur Ruhe gebracht? O, dann
bitte ich dich, laß es dir Ernst werden mit der Errettung
deiner Seele! Gott warnt dich in Seinem Worte, nicht
gleichgültig voranzugehen. Laß dich durch nichts zurückhalten! Wenn es sich um unser ewiges Wohl und Wehe
handelt, so giebt es keine Rücksichten, keine Schwierigkeiten
und Entschuldigungen. Darum laß dich durch nichts aufhalten, heute noch zu Dem zu eilen, der schon längst als
ein liebender Heiland auf dich wartet und der dir, ebenso
wie dem Zöllner von Jericho, mit einer vollen, freien und
ewigen Errettung zu begegnen bereit ist.
Christum predigen.
„Philippus aber ging hinab in eine Stadt Samarias
und predigte ihnen den Christus." (Apgsch. 8, 5.)
Diese kurzen und einfachen Worte enthalten ein wichtiges,
charakteristisches Merkmal des wahren Christentums, ein
Kennzeichen, welches dasselbe von jedem religiösen System
unterscheidet, das heute besteht oder je in dieser Welt bestanden hat. Das Christentum ist nicht eine gewisse Anzahl von Lehrsätzen, Ceremonien und Satzungen, nicht ein
wohl durchdachtes, mit vielem Fleiß aufgestelltes theologisches System, sondern vielmehr eine Religion, die aus
lebendigen Thatsachen, aus göttlichen Wirklichkeiten besteht,
und die ihren Mittelpunkt in einer göttlichen Person findet
— in dem Menschen Christus Jesus. Er ist die Grundlage aller christlichen Lehre. Von Seiner göttlichen und
gesegneten Person geht alle Wahrheit aus. Er ist die
lebendige Quelle, aus welcher die Ströme göttlicher Wahrheit in Fülle, Kraft und Segnung hervorfließen. „In
Ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der
Menschen." (Joh. 1, 4.) Außer Ihm ist alles Tod und
moralische Finsternis. Es giebt in dieser ganzen Welt
keinen Funken göttlichen Lebens, keinen Strahl wahren
Lichts, außer dem, was von Ihm ausgeht. Ein Mensch
mag die größte Gelehrsamkeit besitzen, er mag in dem
sogenannten Hellen Licht der Wissenschaft wandeln, sein
Name mag infolge seines tiefen Wissens mit allen den
254
Ehren und Titeln geschmückt sein, die seine Mitmenschen
über ihn ausschütten können; aber wenn er nicht in Wahrheit zu Jesu gekommen ist, wenn er nicht in Christo und
Christus in ihm ist, wenn er, mit einem Wort, nicht geglaubt hat an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes,
so ist er von Tod und Finsternis umgeben. Christus
allein ist „das wahrhaftige Licht, welches, kommend in die
Welt, jeden Menschen erleuchtet;" und daher kann Niemands in dem göttlichen Sinne des Wortes, ein Erleuchteter, ein Kind des Lichts, genannt werden, er sei denn
„ein Mensch in Christo."
ES ist notwendig, in einer Zeit, wo menschlicher
Stolz und menschliche Anmaßung sich so breit machen,
dies immer wieder mit aller Entschiedenheit zu belonen.
Der Mensch rühmt sich so gern seines Verstandes, der Fortschritte der allgemeinen Bildung und Aufklärung, der großartigen Entdeckungen und Erfindungen des neunzehnten
Jahrhunderts, der hohen Blüte, in welcher Künste und
Wissenschaften stehen; er redet so gern von alledem, was
sein Verstand ersonnen und seine Hande hervorgebracht
haben. Und wir leugnen nicht, daß in der That große
Fortschritte gemacht worden sind, daß der Mensch im
allgemeinen auf einer Stufe der Bildung steht, wie sie
vielleicht nie vorher erreicht worden ist; aber wir fühlen
uns gedrungen, mit Nachdruck auf die Worte unsers
Herrn und Meisters hinzuweisen: „Ich bin das Licht der
Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis
wandeln, sondern daS Licht des Lebens haben;" und:
„Ich bin in die Welt gekommen als Licht, auf daß jeder,
der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe." (Joh.
8, 12; 12, 46.) Da haben wir die einfache, bestimmte
255
Erklärung: „Wer mir nachfolgt/' und: „jeder, der an
mich glaubt." Leben und Licht sind nur in Jesu zu
finden. So lange daher ein Mensch nicht an Jesum geglaubt hat und Ihm nachfolgt, befindet er sich noch im
Tode und in dichter moralischer Finsternis.
Ohne Zweifel wird man uns einseitig nnd engherzig 
nennen und uns den Vorwurf machen, daß wir immer
mit ein und derselben Sache beschäftigt seien und uns
stets um ein und denselben Mittelpunkt drehen. Es sei
so; ja, wir wünschen, daß es immer mehr der Fall sein
möchte! Aber wer ist dieser eine Mittelpunkt? — Christu s.
Ja, Er allein ist es, und gepriesen sei Sein herrlicher
Name, daß wir von Ihm reden dürfen und Ihn als unser
höchstes Gut besitzen! Er ist die Summe und der Gegenstand aller Gedanken und Ratschlüsse, die von Ewigkeit her in dem Herzen Gottes waren. Er ist der Mittelpunkt im Himmel, der Gegenstand der Liebe und der
Zärtlichsten Zuneigungen Gottes, der Bewunderung der Engel,
der Anbetung der Erlösten, der Furcht der Teufel; Er ist 
das Alpha und Omega, der Anfang und das Ende der
Ratschlüsse Gottes.
Kann es uns da wundern, daß Satan unaufhörlich
bemüht ist, die Seelen davon abzuhalten, zu Jesu zu eilen,
und diejenigen, welche bereits zu Ihm gekommen sind, von
Ihm wieder abzuziehen? Er haßt Christum, und er benutzt jedes Mittel, um ein Herz von Christo zu entfernen.
Sorgen und Vergnügungen, Armut und Reichtum, Krankheit und Gesundheit, Laster und Sittlichkeit, Unglaube
und Religiosität — alles ist ihm recht, wenn er nur dadurch Christum aus dem Herzen eines Menschen fernhalten kann.
256
Auf der andern Seite ist es der stete Zweck des
Heiligen Geistes, Christum selbst vor die Seele zu stellen;
nicht nur etwas über Christum, Lehren oder Grundsätze,
die mit Ihm in Verbindung stehen, sondern Christum
selbst, Seine eigne Person in lebendiger Kraft und
Frische. Wir können nicht eine Seite des Neuen Testaments
lesen, ohne dies zu bemerken. Und zwar finden wir, wenn
wir die Schrift in Verbindung mit unserm Gegenstände
erforschen, den Herrn Jesum in drei verschiedenen Charakteren oder von drei besondern Gesichtspunkten auS vorgestellt; nämlich als einen Prüfstein, als ein Opfer
und als ein Vorbild oder Muster. Ein jeder dieser
drei Charakterzüge ist in sich selbst voll der ernstesten und
köstlichsten Belehrungen für den christlichen Leser, und in
ihrer Gesamtheit eröffnen sie vor unsern Augen ein
weites und höchst ergiebiges Feld gesegneter Betrachtungen.
Werfen wir denn zunächst, unter der Leitung des Heiligen
Geistes, einen Blick auf
Christum als Prüfstein.
Das Leben des Herrn Jesu als Mensch auf dieser
Erde war die vollkommene Entfaltung dessen, was ein
Mensch sein sollte. Wir entdecken in Ihm und in Seinem
Leben zwei Charakterzüge, welche die Vollkommenheit eines
Geschöpfes kennzeichnen: Gehorsam und Abhängigkeit.
Obgleich Er Gott war über alles, der allmächtige Schöpfer
und Erhalter des Weltalls, obgleich Er sagen konnte: „Ich
kleide die Himmel in Schwarz und mache einen Sack zu
ihrer Decke," so nahm Er doch so völlig den Platz eines
Menschen auf dieser Erde ein, daß Er sagt: „Der Herr,
Jehova, hat mir eine Zunge der Gelehrten gegeben, daß
ich wisse, mit dem Müden ein Wort zu reden zu rechter
257
Zeit. Er erweckt alle Morgen, Er erweckt mir das Ohr,
daß ich höre gleich Lehrlingen. Der Herr, Jehova, hat
mir das Ohr geöffnet, und ich bin nicht widerspenstig gewesen, ich wich nicht zurück." (Jes. 50, 3; 4, 5.) Er
that nie einen Schritt ohne göttliche Autorität. Wenn der
Teufel Ihn versuchte, ein Wunder zu thun, um Seinen
Hunger zu stillen, so antwortete Er: „Es steht geschrieben: Nicht vom Brot allein soll der Mensch leben, sondern
von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht."
Er war stets bereit, ein Wunder zu thun, wenn es sich
um die Speisung Anderer handelte; aber wenn es galt,
für sich selbst Speise zu schaffen, so erklärte Er Seine
völlige Abhängigkeit von Gott. Wenn der Teufel Ihn
ferner versuchte, sich von der Zinne des Tempels hinabzuwerfen, so lautete Seine Antwort: „Wiederum steht
geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht
versuchen." Er hatte kein Gebot von Gott, sich hinabzustürzen, und ohne ein solches konnte Er nichts thun;
es wäre ein Gott-Versuchen gewesen. Und wenn endlich
Satan Ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit
anbot, unter der Bedingung, daß Er vor ihm niederfalle
nnd ihn anbete, so entgegnete Er: „Gehe hinweg, Satan!
denn es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen 
Gott, anbeten und Ihm allein dienen."
Mit einem Worte, der Mensch Christus Jesus war
vollkommen gehorsam. Nichts konnte Ihn bewegen, den
schmalen Pfad des Gehorsams um eines Haares Breite zu
verlassen. Er war von Anfang bis zu Ende der gehorsame Mensch. Es war völlig gleich für Ihn, wo Er
diente oder was Er that. Er handelte nur auf die Autorität des Wortes Gottes hin. Sein Gehorsam war
258
unbedingt und ununterbrochen von der Krippe bis zum
Kreuze, und gerade deshalb war Er der Gegenstand des
besondern Wohlgefallens Gottes. Denn durch Seinen
Gehorsam bewies Er Seine Vollkommenheit als Mensch,
und nichts weniger als das konnte Gott befriedigen. Das
Leben Jesu hienieden war ein steter, unaufhörlicher Genuß
für das Herz Gottes. Sein vollkommener Gehorsam ließ
allezeit eine Wolke duftenden Weihrauchs zu dem Throne
Gottes emporsteigen.
Nun, ein solcher Gehorsam geziemte dem Menschen,
als Geschöpf Seinem Schöpfer gegenüber. Wir haben
deshalb in Christo und Seinem Leben einen vollkommenen
Prüfstein für den Zustand des Menschen; und wenn wir
uns in dem Lichte dieses einen Strahls der moralischen
Herrlichkeit Christi betrachten, so können wir nicht anders,
als erkennen, daß wir von dem wahren und dem einzig
geziemenden Platze eines Geschöpfes völlig abgewichen sind.
Das Licht, welches das Verhalten Jesu hienieden auf uns
ausstrahlt, offenbart mehr, als irgend etwas anders es
zu thun vermöchte, die ganze moralische Finsternis unsers
natürlichen Zustandes. Wir sind ungehorsam, eigenwillig,
folgen unsern eignen Lüsten und Begierden, haben die
Autorität des Wortes Gottes verworfen und lassen uns
nicht durch dasselbe leiten und regieren. „Die Gesinnung
des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott; denn sie ist dem
Gesetz Gottes nicht Unterthan, denn sie vermag cs auch
nicht." (Röm. 8, 7.)
Indes möchte gefragt werden: „Ist es nicht das
Gesetz, welches den Eigenwillen und die Feindschaft unsrer
Herzen offenbar macht?" Ohne Zweifel thut dies das
Gesetz; aber wer vermöchte nicht den großen Unterschied
259
zu entdecken zwischen einem Gesetz, das Gehorsam fordert
und dem Sohne Gottes, der als Mensch hienieden das
Beispiel eines vollkommenen Gehorsams gab? Nun, so
weit wie das Leben und Verhalten unsers gepriesenen
Herrn das ganze gesetzliche System an Herrlichkeit übertraf, und so weit wie die Person Christi herrlicher und
würdiger ist als die Person Moses', ebenso weit übertrifft Christus, als ein Prüfstein des Menschen und seines
Zustandes, in moralischer Kraft das Gesetz Moses'; und
dasselbe gilt von jedem andern Prüfstein, den Gott je
gebraucht haben mag. Der Mensch Jesus Christus ist
in Seinem Gehorsam gegen Gott ein so vollkommener
Prüfstein für den Menschen in seinem natürlichen Zustande,
daß nichts mit Ihm in Vergleich zu bringen ist.
Allein Christus war nicht nur gehorsam gegen Gott,
Er war auch ebenso vollkommen in Seiner Abhängigkeit von Ihm, und dies ist ein andrer Strahl Seiner
moralischen Herrlichkeit. Er konnte sagen: „Bewahre mich,
o Gott, denn ich traue auf Dich!" (Ps. 16, 1.) Und
ferner: „Auf Dich bin ich geworfen vom Mutterschoße
an." (Ps. 22, 10.) Er ging niemals für einen Augenblick aus Seiner völligen Abhängigkeit von dem lebendigen
Gott heraus. Es geziemt dem Geschöpf, in bezug auf
alles von Gott abhängig zu sein. Und das war Jesus
allezeit von Bethlehem bis auf Golgatha. Er war der
einzige Mensch, der jemals ein Leben ununterbrochener,
völliger Abhängigkeit von Gott lebte. Andere waren zum
Teil abhängig, Er war es vollkommen. Andere waren
eS gelegentlich, Er immer. Andere mögen hauptsächlich
auf Gott geblickt und zumeist in Ihm ihre Stütze gefunden haben; Er blickte nirgendwo anders hin. Er fand
260
nicht nur einige, oder die meisten, sondern alle seine
Quellen in Gott.
Auch dieses war wohlgefällig vor Gott. Einen
Menschen hienieden zu haben, dessen Herz keinen Augenblick den Platz der Abhängigkeit verließ, war überaus
kostbar für den Vater, und daher sehen wir, wie der
Himmel sich wieder und wieder öffnet und das Zeugnis
ertönt: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich
Wohlgefallen gefunden habe."
Wenn aber dieser Charakterzug in dem vollkommenen
Leben des Menschen Christus Jesus dem Herzen Gottes
so unendlich köstlich war, so liefert er uns einen weiteren
mächtigen Prüfstein für den natürlichen Zustand des
Menschen. Wir können hier, wie sonst nirgendwo, erkennen,
wie weit wir uns von dem einem Geschöpfe gebührenden
Platze entfernt haben. Allerdings erzählt uns der inspirirte Geschichtschreiber in 1. Mos. 3, wie der erste Adam
auS seiner Stellung des Gehorsams und der Abhängigkeit
fiel; auch zeigt das Gesetz, daß alle Nachkommen Adams
sich in einem Zustande der Empörung und der Unabhängigkeit Gott gegenüber befinden. Aber in welch einem
helleren Lichte und mit wie viel größerer Kraft wird
dieses durch das Leben und Verhalten Jesu Christi in
dieser Welt geoffenbart! In Ihm erblicken wir einen vollkommen gehorsamen und vollkommen abhängigen Menschen,
und zwar inmitten eines Schauplatzes, wo Ungehorsam
und Unabhängigkeit die Herrschaft führten, und angesichts
unaufhörlicher Versuchungen, den Platz, welchen Er freiwillig eingenommen hatte, zu verlassen.
So beweist die vollkommene Abhängigkeit, wie sie in
dem Leben Jesu ans Licht trat, den völligen Abfall des
261
Menschen von Gott. Der Mensch in seinem natürlichen
Zustande sucht stets von Gott unabhängig zu sein. Wir
haben nicht nötig, eingehende Beweise für diese Behauptung
aufzustellen. Dieser eine Lichtstrahl, der von der moralischen Herrlichkeit Christi ausgeht und in das Herz des
Menschen fällt, legt jeden Winkel und jede Falte dieses
Herzens blos und zeigt in einer Weise, wie nichts anderes
es zu thun vermag, wie weit wir von Gott abgewichen
und wie unabhängig wir von Natur sind. Je Heller daS
Licht ist, das auf einen Gegenstand scheint, desto deutlicher und klarer tritt dieser hervor. Es ist ein großer
Unterschied, ob ich ein Gemälde in dem ungewissen Zwielicht des Morgens, oder in dem vollen Licht der Mittagssonne betrachte. So ist es auch im Blick auf den Gegenstand,
der uns augenblicklich beschäftigt. Betrachten wir unsern
natürlichen Zustand in dem Lichte des Gesetzes, oder
unsers Gewissens, oder auch der edelsten Grundsätze menschlicher Sittlichkeit, so werden wir wohl erkennen, daß er
nicht das ist, was er sein sollte. Aber erst dann, wenn
wir den vollen Glanz der moralischen Herrlichkeit Christi
auf ihn scheinen lassen, erkennen wir ihn so, wie er wirklich ist. Es ist etwas anders, zu sagen: „Wir haben
dieses und jenes gethan, was wir nicht hätten thun sollen,
und dieses und jenes unterlassen, was besser durch uns
geschehen wäre," als zu erkennen, wie völlig verderbt und
zu allem wahren Guten untauglich unsre Natur ist.
Doch es giebt noch einen andern Charakterzug unsers
gesegneten Herrn, den wir hier nicht unerwähnt lassen dürfen,
und das ist Seine vollkommene Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit. Er suchte nie in irgend einer Sache Sein
eignes Interesse zu verfolgen. Sein Leben war eine be­
262
ständige, ununterbrochene Selbstaufopferung. „Der Sohn
des Menschen ist gekommen, zu dienen und Sein Leben
als Lösegeld zu geben für viele." Diese beiden Worte:
„dienen" und „geben" bildeten das Motto Seines Lebens
und standen gleichsam in blutigen Buchstaben an dem
Stamme Seines Kreuzes. In Seinem leidensvollen
Leben und in dem noch weit schrecklicheren Tode war Er
der Dienende und Gebende. Er war stets bereit, die
menschlichen Bedürfnisse zu stillen, in welcher Gestalt sie
Ihm auch entgegentreten mochten. An dem einsamen
Brunnen zu Sichar sehen wir Ihn einer armen, dürstenden
Seele die Quelle des lebendigen Wassers öffnen. Am
Teiche Bethesda schenkt Er einem elenden, seit 38 Jahren
darniederliegenden Krüppel Kraft und Gesundheit; und am
Thore von Nain trocknet Er die Thränen einer Witwe
und giebt ihr ihren einzigen Sohn zurück.
Alles das, und unendlich weit mehr, that Er; aber 
wir sehen Ihn nie Seine eigenen Interessen suchen. Wir
können diese Thatsache nicht zu oft und zu gründlich erforschen. Wenn wir in dem Lichte Seines vollkommenen
Gehorsams unsern schrecklichen Eigenwillen entdecken, wenn
wir ferner in dem Lichte Seiner unbedingten Abhängigkeit unsern Stolz und unsre Unabhängigkeit sehen, so
wird uns auch sicherlich in dem Lichte Seiner Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung unsre grobe Eigennützigkeit
und Selbstliebe in ihren tausenderlei Formen nicht verborgen bleiben; und wenn wir sie entdecken, so werden
wir uns selbst verabscheuen und vor unserm eignen Bilde
erschrecken. Jesus dachte nie an sich selbst; Seine Speise und
Sein Trank war es, den Willen Gottes zu thun und dem
Elend und den Bedürfnissen des Menschen zu begegnen.
263
Wie sehr stellt uns dies auf die Probe! Wie völlig
macht es offenbar, was von Natur in uns ist! Wie verurteilt es vor allen Dingen den Menschen dieser Welt!
Denn was ist schließlich der Haupt-Grundsatz der Natur
und dieser Welt? Die Verherrlichung des eignen
Ichs. Der Mensch „segnet seine Seele in seinem Leben,"
und er, „lobt dich, wenn du dir selbst Gutes thust."
(Ps. 49, 18.) Eigenliebe und Selbstsucht, das sind die
eigentlichen Grundsätze, welche das Thun und Lassen
eines jeden unerneuerten Menschen beeinflussen und leiten.
Ohne Zweifel kann sich die Natur äußerlich in ein sehr
liebenswürdiges und einnehmendes Gewand kleiden — sie
vermag ebensowohl auszustreuen wie aufzuhäufen; aber
wir dürfen versichert sein, daß ein nicht wiedergeborener
Mensch unfähig ist, sich von seinem eignen Ich, als dem
Mittelpunkt seines Handelns, frei zu machen. Es spielt
stets die Hauptrolle. Und gerade das aufopfernde, sich selbst
vergessende Leben unsers Herrn und Heilandes stellt diese
Unfähigkeit des Menschen am deutlichsten ans Licht. Je
Heller das Licht scheint, desto schärfer treten die Schatten
hervor. Und darum, wenn wir jenes durchdringende Licht,
welches aus dem Leben Jesu uns entgegenstrahlt, auf
uns scheinen lassen, so erkennen wir uns selbst in unsrer
ganzen natürlichen Verderbtheit und in der selbstsüchtigen
Gesinnung unsrer Herzen.
Der Herr Jesus kam in diese Welt und lebte ein 
vollkommenes Leben, vollkommen in Gedanken, in Worten
und Werken. Er verherrlichte Gott in der völligsten
Weise, und zugleich stellte Er den Menschen auf die
höchste Probe. Er offenbarte, was Gott ist, und zeigte
zugleich, was der Mensch hätte sein sollen, und dies zeigte
264
Er nicht nur in Seiner Lehre, sondern auch in Seinem
ganzen Wandel und Verhalten. Der Mensch war nie vorher
in so erschöpfender Weise geprüft worden, und deshalb konnte
der Herr Jesus sagen: „Wenn ich nicht gekommen wäre
und nicht zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine
Sünde; jetzt aber haben sie keinen Vorwand für ihre
Sünde. Wer mich haßt, der haßt auch meinen Vater.
Wenn ich nicht die Werke gethan hätte unter ihnen, die 
kein andrer gethan hat, so hätten sie keine Sünde; jetzt
aber haben sie gesehen und gehaßt sowohl mich, als auch
meinen Vater." (Joh. 15, 22—24.)
An einer andern Stelle sagt Er: „Ihr richtet nach
dem Fleische; ich richte niemanden. Wenn ich aber auch
richte, so ist mein Gericht wahr." (Joh. 8, 15. 16.)
Der Zweck Seiner Sendung war nicht Gericht, sondern
Errettung; aber dennoch war die Wirkung Seines Lebens
ein Gericht über jeden, der mit Ihm in Berührung kam.
Es war unmöglich für einen Menschen, in dem Lichte
der moralischen Herrlichkeit Jesu Christi zu stehen und
nicht in den tiefsten Quellen und verborgensten Wurzeln
seines Wesens gerichtet zu werden. Als Petrus sich in
diesem Lichte sah, rief er aus: „Gehe hinaus von mir;
denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr." (Luk. 5, 8.)
Weder die Donner und Blitze des Berges Sinai,
weder die Drohungen und Flüche eines gesetzlichen Systems, noch alle die Ermahnungen und Warnungen der
Propheten Gottes vermochten eine so mächtige Wirkung
auf den Menschen auszuüben, als ein einziger Strahl
der Herrlichkeit Christi, der in die Seele des Sünders
fällt. Ich mag im Blick auf das Gesetz fühlen, daß ich
seine Gebote nicht gehalten und seinen Fluch verdient
265
habe; mein Gewissen mag mich erschrecken und mir sagen,
daß das höllische Feuer wegen meiner Sünden mit Recht
mein Teil ist. Sobald ich mich aber in dem Lichte dessen
erblicke, was Christus ist, erkenne ich nicht nur, was ich
gethan habe, sondern auch, was ich bin; jede Quelle,
jeder Beweggrund, jede Triebfeder meines Handelns, mein
Denken, Fühlen und Wünschen, mit einem Worte, mein
ganzes Sein und Wesen wird blosgelegt; und was ist
die Folge? Ich verabscheue mich selbst. Es kann nicht
anders sein. Die Geschichte des ganzen Volkes Gottes
beweist es. Es würde uns zu weit führen, wollten wir
Beispiele aufzählen. Das Gesetz ist eine Wirklichkeit,
das Gewissen nicht minder, und der Heilige Geist kann
das ersterebenutzen, um auf das letztere zu wirken; aber
erst dann, wenn ich mich in dem Lichte dessen sehe, was
Christus ist, komme ich zu einem richtigen Urteil über
mich selbst und werde dahin geleitet, mit Hiob auszurufen: „Mit dem Gehör des Ohres habe ich von Dir
gehört; aber nun siehet Dich mein Auge. Darum
verabscheue ich mich und bereue in Sack und Asche."
(Hiob 42, 5. 6.)
Mein Leser, hast du dich je in dieser Weise gesehen?
Bist du wirklich einmal in der heiligen Gegenwart Gottes
gewesen? Haft du dich und dein Leben einmal an dem
vollkommenen Maßstabe des Lebens Christi gemessen? Vielleicht hast du dich bis heute mit deinen Mitmenschen
verglichen und dich nach diesem unvollkommenen Maßstabe
geprüft. Aber das kann und wird nimmermehr genügen.
Christus ist der einzige wahre Maßstab, der vollkommene
göttliche Prüfstein. Gott kann nichts in Seiner Gegenwart
dulden, was diesem Maßstabe nicht entspricht. Um daher
266
einen Platz in der Gegenwart Gottes finden zu können,
ist es nötig, Christo gleich, Seinem Bilde gleichgestaltet zu
sein. Fragst du: „Wie ist dies je möglich?" so antworte
ich: Dadurch, daß du Christum als das Opferlamm Gottes
kennen lernst und durch die Kraft des Heiligen Geistes
nach Ihm, als dem vollkommenen Muster, gebildet wirst.
Doch hierüber, so der Herr will, das nächste Mal mehr.
(Fortsetzung folgt.)
Was ist die Kraft unsers Wandels?
An den Schreiber dieser Zeilen wurde vor einiger
Zeit die Frage gerichtet: „Was ist eigentlich die Kraft
unsers Wandels? Ist es Christus oder der Heilige
Geist?" Da wir nun im allgemeinen so viel über Mangel
an Kraft in unserm Wandel und Zeugnis zu klagen haben,
so mag es gut sein, diese Frage etwas ausführlicher zu
behandeln.
Zunächst möchte ich bemerken, daß Christus uns in
Seinem Leben auf dieser Erde ein vollkommenes Beispiel
gegeben hat, wie wir wandeln sollen; und wir sind schuldig,
diesem Beispiel nachzuahmen. Dieser unsrer Pflicht wird
durch den Apostel Johannes in der bestimmtesten Weise
Ausdruck gegeben, wenn er schreibt: „Wer da sagt, daß
er in Ihm bleibe, der ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie Er gewandelt hat." (1. Joh. 2, 6.) Wenn wir
alle Schriftstellen, die von Christo als unserm Vorbild
und Beispiel reden, zusammenstellen, so sehen wir, daß 
sie einen doppelten Zweck haben. Entweder stellen sie
uns, wie die aus dem ersten Briefe Johannes' angeführte
Stelle, den göttlichen Maßstab für den Wandel des Gläubigen vor, (vergl. z. B. 1. Petr. 2, 18 — 25.) oder sie
267
ermutigen uns, den Fußstapfen Christi nachzufolgen, wie
z. B. in Hebr. 12, wo Christus als der Anfänger und
Vollender des Glaubens uns vor Augen geführt wird.
Sein Leben war von Anfang bis zu Ende ein Beispiel
ununterbrochener Abhängigkeit von Gott; Er war der
gehorsame, treue Zeuge bis in den Tod des Kreuzes,
(obwohl Sein Tod weit mehr als das in sich schloß) und
wir sind ermahnt, Seinen Wandel anzuschauen und stets
vor unsern Herzen zu haben, um dadurch zu einem gleichen
Ausharren auf dem Pfade des Glaubens ermuntert zu
werden. „Ihr," sagt der Apostel, „habt noch nicht, wider
die Sünde ankämpfend, bis auf's Blut widerstanden,"
Wie Er es gethan hat.
Ein jeder wahre Gläubige wird ohne Zweifel dem
Gesagten beistimmen; aber jetzt entsteht die Frage: „Durch
welche Kraft kann ein solcher Wandel erreicht werden?"
Wenden wir uns für die Beantwortung dieser Frage zur
Schrift. Sie bleibt stets der einzige untrügliche Lehrmeister in göttlichen Dingen. Sie giebt uns auch in
dieser Sache den nötigen Aufschluß. Da lesen wir nun
zunächst in Röm. 8, 13. 14: „Wenn ihr durch den Geist
die Handlungen des Leibes tötet, so werdet ihr leben.
Denn so viele durch den Geist Gottes geleitet werden,
diese sind Söhne Gottes." Und an die Galater schreibt
der Apostel: „Wenn wir durch den Geist leben, so
lasset uns auch durch den Geist wandeln." (Kap. 5, 25.)
Wir Werder hier also über zwei Dinge belehrt: erstens
daß das Hindernis für uns, (wenn wir uns so ausdrücken
dürfen) um so zu wandeln, wie Christus gewandelt hat,
in den Handlungen des Leibes, oder wie im Galaterbrief
gesagt wird, in dem Fleische liegt, welches stets wider den
268
Geist gelüstet und immer bemüht ist, seine Herrschaft über
das Kind Gottes zurück zu gewinnen; und zweitens, daß
die einzige Kraft, durch welche das Fleisch in Schranken
oder im Tode gehalten werden kann, (dem Gericht Gottes
gemäß, welches am Kreuze über das Fleisch ergangen ist)
der Heilige Geist ist. Zugleich werden wir unterwiesen,
daß wir durch den Geist Gottes geleitet werden sollen,
d. h. daß Er nicht nur die Kraft ist, welche uns befähigt,
„unsre Glieder, die auf der Erde sind," zu töten, (Kol. 3.)
sondern daß Er uns auch in unserm Wandel leitet, daß 
Er unsre Kraft ist, um auf dem göttlichen Pfade in der
rechten Weise voran zu schreiten. Es ist sehr wichtig und
nötig, diese Unterweisungen zu verstehen, da sie uns belehren, daß wir durchaus keine natürlichen Hülfsquellen
haben, daß wir für unsern Wandel und Kampf, sowie
für jede Thätigkeit des göttlichen Lebens, ausschließlich
auf die Kraft und Leitung des Heiligen Geistes angewiesen sind.
Auf den ersten Blick scheint die Frage hiermit erledigt zu sein. Allein es giebt noch einen andern Gesichtspunkt, von welchem aus wir sie betrachten können, und zwar
ist dieser so wichtig, daß wir ihn nicht unbeachtet lassen
dürfen. Obwohl es wahr ist und vielleicht auch allgemein
angenommen wird, daß der Heilige Geist die einzige Kraft
unsers Wandels ist, so bleibt doch für Viele die Frage
offen: Wie kommt es dann, daß der Heilige Geist uns
nicht befähigt, mit mehr Eifer und Energie Christo nachzufolgen ? Es giebt zahlreiche aufrichtige Gläubige, welche
darnach verlangen, einem Kaleb zu gleichen, die sich aber
bei jedem Schritt, den sie thun, bitter enttäuscht sehen.
Sie folgen wohl dem Herrn nach, aber nicht so völlig.
269
wie sie es wünschten; und sie fühlen, daß sie eher einem
Petrus als einem Kaleb gleichen. Alle solche Gläubige
verstehen nicht völlig, daß der Heilige Geist, obwohl sie
Ihn als Geist der Sohnschaft besitzen und durch Ihn
versiegelt sind, doch nicht wirken, noch Seine Energie
entfalten kann, so lange das Auge nicht auf Christum
gerichtet ist, oder mit andern Worten, so lange nicht
Christus als der einzige Gegenstand des Glaubens vor
der Seele steht. Der Apostel schreibt an die Galater:
„Was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und
sich selbst für mich dahingegeben hat." (Kap. 2, 20.)
Das heißt, sein Glaube hatte Christum als den Sohn
Gottes zu feinem Gegenstände, einen Christus, verherrlicht
zur Rechten Gottes, verherrlicht als Mensch, aber trotzdem
der Sohn Gottes, der in dieser wunderbaren Vereinigung
stets der wahre und eigentümliche Gegenstand des Glaubens
ist. Christus selbst sagte zu Seinen Jüngern, ehe Er aus dieser
Welt ging: „Ihr glaubet an Gott, glaubet auch an mich."
Und wenn wir so jede Stunde, ja, jeden Augenblick in
völliger Abhängigkeit leben, wenn Christus, als der zur
Rechten Gottes Verherrlichte, den Gegenstand unsrer Betrachtung bildet und unsre ganze Seele ausfüllt, so ist 
der Heilige Geist in uns nicht betrübt und leitet uns durch
Seine mächtige Kraft, so daß das göttliche Leben, welches
uns geschenkt ist, sich in derselben Weise offenbart, wie
in Christo, als Er hiemeden wandelte, wenn auch selbstverständlich das Maß dieser Offenbarung stets ein unendlich verschiedenes bleibt.
Dies räumt zugleich eine andere Schwierigkeit hinweg.
Man hört nicht selten fragen: Muß ich, um so zu wan­
270
deln, wie Christus gewandelt hat, Ihn betrachten, so wie
Er hienieden war, oder muß ich auf Ihn schauen als
Den, der zur Rechten Gottes sitzt? Wir haben schon oben
davon gesprochen, in welcher Weise das Beispiel Christi
hienieden in der Schrift gebraucht wird, und es ist offenbar, daß nicht ein Christus auf der Erde, sondern ein 
verherrlichter Christus der Gegenstand unsers Glaubens
ist. Wir brauchen nicht zu sagen, daß es stets derselbe
Christus ist; der Christus, der einst hienieden wandelte,
ist derselbe, der jetzt zur Rechten der Majestät mit Ehre
und Herrlichkeit gekrönt ist. Allein nachdem das Werk
vollbracht war, wird Christus stets als der Verherrlichte,
als Der, welcher sich zur Rechten Gottes gesetzt hat, vor
unsre Seelen gestellt. Wir betrachten und erforschen das
Leben Christi, wie es sich auf dem Schauplatz dieser Welt
entfaltet hat, um zu lernen, wie Er handelte, und wie
Er sich in den mancherlei Umständen, durch welche Er
ging, verhielt; und gewiß, unsre Seelen werden immer
wieder zu anbetender Bewunderung hingerissen, so oft wir
den Offenbarungen Seiner Vollkommenheit, Seiner Gnade
und Liebe, Seiner Demut und Niedriggesinntheit, Seines
Mitgefühls und Erbarmens, kurz aller Seiner gesegneten
Eigenschaften, begegnen. Aber dennoch kennen wir Ihn
jetzt nur als Verherrlichten, wie der Apostel an die
Korinther schreibt: „Daher kennen wir von nun an niemanden nach dem Fleische; wenn wir aber auch Christum
nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir Ihn doch
jetzt nicht mehr also." (2. Kor. 5, 16.) Und daher, wir
wiederholen es, schauen wir auch jetzt auf Ihn, als den
Auferstandenen und Verherrlichten.
" Hiermit steht noch eine andere Sache in Verbindung.
271
Indem wir die Herrlichkeit des Herrn anschauen, welche
jetzt hervorstrahlt, ohne durch einen Vorhang gehindert zu
sein, werden wir nach und nach durch die Kraft des Heiligen Geistes in dasselbe Bild verwandelt, Dem gleich, mit
welchem unsre Herzen beschäftigt und auf den unsre
Blicke gerichtet sind. Ich sage „nach und nach," denn
es geht „von Herrlichkeit zu Herrlichkeit." (2. Kor. 3, 18.)
Und derselbe Geist, welcher die Kraft unsrer Verwandlung
in dasselbe Bild ist, wirkt mächtig in uns zur Darstellung
Christi in unserm äußeren Wandel. Zu wandeln, wie
Christus gewandelt hat, ist daher nicht eine äußerliche
Nachahmung, sondern die Entfaltung des innern Lebens,
und zwar steht diese im Verhältnis zu unsrer Verwandlung in das Bild des Herrn durch die Kraft des Heiligen
Geistes.
Wir sehen also, daß wir, wenn es sich um die Kraft
für unsern Wandel handelt, Christum und den Heiligen
Geist nicht von einander trennen dürfen. Wir können
auf der einen Seite sagen: „Ich vermag alles durch Den,
der mich kräftigt; denn Er ist sowohl mein Leben, als
auch meine Kraft;" (Kol. 3; 2. Kor. 12.) und aus der
anderen Seite: „Durch den Geist allein vermag ich die
Handlungen des Leibes zu töten und das Fleisch in
Knechtschaft zu halten." In beiden Fällen sind wir völlig
in Uebereinstimmung nut der Schrift. Und wenn wir
die praktische Seite der Frage betrachten, so müssen wir
sagen, daß der große Mangel an Kraft in unsrer Mitte
lediglich seinen Grund darin hat, daß unsre Herzen so
wenig mit Christo und so viel mit andern, wertlosen
Dingen erfüllt sind, daß wir nicht Ihn als einzigen Gegenstand vor unsern Augen haben, daß unsre Blicke nicht
272
unverrückt aus Ihn, unsern verherrlichten Herrn, gerichtet
sind. Bleiben wir in Ihm, d. h. gehen wir voran in
Seiner Gemeinschaft und in der steten Abhängigkeit von
Ihm, so werden wir viel Frucht bringen und uns in
Wahrheit als Seine Jünger beweisen. Der Herr gebe
uns in diesen Tagen zunehmender Gleichgültigkeit und
Trägheit, sest an Ihm zu halten, Ihn zu betrachten und
von Tag zu Tage mehr in Sein Bild verwandelt zu
werden! Ach! wäre das Begehren des Apostels, „Ihn zu
erkennen und in Ihm erfunden zu werden," auch mehr
in unsern Herzen zu finden, wir würden wahrlich nicht
so viel über Weltförmigkeit, über Mangel an Kraft,
Friede und Freude im Heiligen Geiste, in unsrer Mitte
zu klagen haben. Wir würden lauter als bisher in Wort
und Wandel die Tugenden Dessen verkündigen, der uns
aus der Finsternis in Sein wunderbares Licht berufen
hat, und mit glücklicherem Herzen der Ankunft des glänzenden Morgensterns entgegenharren.
Gedanken über Hebräer 2.
Die ersten vier Verse dieses Kapitels stehen mit
dem vorigen in Verbindung. Im ersten Kapitel redet
der Apostel von der göttlichen Natur Christi, im zweiten
wird Er als Mensch betrachtet. Dort handelt es sich
um die Göttlichkeit Seiner Person, hier um Seine Menschheit. In diesen ersten vier Versen warnt uns der Apostel
nicht nur davor, ungehorsam zu sein, sondern auch eine
so große Errettung zu vernachlässigen. Das Wort Gottes,
das Himmlische, ist in diese Welt eingeführt und auf
unsre Gewissen angewandt worden, so daß alles in unserm
273
natürlichen Zustande gerichtet ist. Denn das Wort offenbart das Himmlische und Göttliche, und gerade dadurch
verurteilt und richtet es uns.
Dann fährt der Apostel fort zu sagen, daß alles,
was im Himmel und auf Erden ist, einem Menschen,
nicht den Engeln, unterworfen sein wird. Die Engel
dienten als Werkzeuge der Macht Gottes, aber „was
ist der Mensch?" Und doch hat Gott solch wunderbare Gedanken über ihn. Doch wer ist der Mensch, von
welchem hier die Rede ist? Christus! Er ist der Mensch
der Ratschlüsse Gottes. Er hat alles erschaffen, und
daher muß Er, sobald Er in Verbindung mit dem All
tritt, Haupt und Mittelpunkt desselben sein. Wir finden
drei Gründe in der Schrift, weshalb dies so sein muß.
1. Er hat alles erschaffen, und daher ist Er, wenn Er
erscheint und Seinen Platz als Mensch einnimmt, Haupt
über alles; (Kol. 1.) 2. Er ist Sohn, und darum ist
Er Erbe; (Hebr. 1.) 3. Er ist Mensch, und dje Ratschlüsse Gottes stehen mit dem Menschen in Verbindung. (Hebr. 2.) In Psalm 2 tritt Er als Sohn Gottes
und König von Israel vor unsre Augen; in Psalm 8
aber begegnen wir der Frage: „Was ist der Mensch?"
Am Ende von Ev. Joh. 1 finden wir eine bemerkenswerte
Darstellung dieses Unterschiedes zwischen Psalm 2 und 8.
Nathanael huldigt dem Herrn und erkennt Ihn als Den an,
welchen Israel erwartete: „Rabbi, Du bist der Sohn
Gottes, Du bist der König Israels." (Ps. 2.) Aber daun
antwortet ihm der Herr: „Du hast geglaubt, daß ich der
Messias bin? Du wirst größere Dinge als diese sehen.
Du wirst die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen
auf den Sohn des Menschen." (Ps. 8.) Es ist
274
ein M ensch, dem jetzt alle jene himmlischen Wesen dienen.
Er nahm sich nicht der Engel an, sondern des Samens
Abrahams nimmt Er sich an. Der 8. Psalm wird am Ende
von Epheser 1 und noch ausführlicher in 1. Kor. 15 angeführt ; aber in dem vorliegenden Kapitel (Hebr. 2.) ist mehr
der Platz entfaltet, den Christus einnimmt. InVers 9 sehen
wir die Erfüllung der ersten Hälfte des Psalmes: Er ist mit
Ehre und Herrlichkeit gekrönt, als Mensch in die Herrlichkeit zurückgekehrt. Ihm ist als Mensch der Platz des
„Herrn über alles" gegeben.
Was Seine Person betrifft, so sehen wir bereits
alles erfüllt, nicht aber betreffs der Dinge; sie sind Ihm
noch nicht unterworfen. Daher lesen wir auch erst in
Offenbg. 11, 17: „Wir danken Dir, Herr, Gott, Allmächtiger, der da ist und der da war, daß Du angenommen hast Deine große Kraft und angetreten Deine Herrschaft!" und hier in unserm Kapitel wird uns mitgeteilt,
wie Er. uns mit sich selbst verbindet. Die Segnung,
welche unser eigentliches Teil ist, besteht darin, bei Ihm
und Ihm gleich zu sein. Im ganzen Hebräerbrief
finden wir nirgendwo den Namen des Vaters, noch wird
die Kirche erwähnt, mit Ausnahme des 12. Kapitels.
Vielmehr handelt es sich um Gläubige, die hienieden wandeln, während Christus als eine göttliche Person droben
als Priester weilt. Der Gläubige wird betrachtet in seiner
persönlichen Schwachheit hienieden und abhängig von dem
Priestertum Christi. Es giebt jetzt kein Priestertum für
die Sünden, denn Christus war auf dem Kreuze Priester
und Opfer zu gleicher Zeit; vielmehr ist Christus jetzt
als Hohepriester für uns thätig, „damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen
275
Hülfe." (Hebr. 4, 14—16.) Handelt es sich um die
Sünde des Gläubigen, so ist Er als ein Sachwalter
bei dem Vater. Dort sitzt Er jetzt, wartend, bis
Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße gelegt werden.
Auch wir sollten warten, und zwar in dem köstlichen Bewußtsein, daß Er auf uns wartet. Er wurde Mensch,
um imstande zu sein, zu sterben. Wir schmecken den Tod
der Sünde wegen; Er aber schmeckte ihn „durch die
Gnade Gottes für alles" im Gehorsam.
Vier Gründe werden in diesem Kapitel angeführt,
weshalb Er hernieder kam, um den Tod zu schmecken.
1. Die Herrlichkeit Gottes. (V. 10.) Es geziemte Gott,
den Anführer unsrer Errettung durch Leiden vollkommen
zu machen. In Seiner vollkommenen, unbedingten Heiligkeit wußte Christus, was es war, zur Sünde gemacht zu 
werden, in Seiner Liebe wußte Er, was es war, verlassen
zu sein. Es giebt nichts, worin ich nicht kraft des
Mutes Christi vor Gott vollkommen wäre. Dieses Blut
verändert in den Augen Gottes nie seinen Wert; es ist 
vollkommen und beständig.
Der zweite Grund ist der, daß die Macht des Bösen
überhand nahm. (V. 14.) Christus kommt und nimmt
für den Gläubigen den Stachel des Todes hinweg. Was
ist der Tod für jemanden, der den Wert des Todes
Christi kennt? Er bedeutet nichts anders für ihn, als:
„Ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem
Herrn zu sein." Gerade die Dinge, welche eigentlich
meinen Untergang bedeuten — Tod und Gericht — sind
es, die mich gerettet haben; denn Christus hat beides für
mich getragen. Das Rote Meer war Tod und Gericht
für die Aegypter, aber es war für die Israeliten das
276
Mittel zu ihrer Rettung. Es handelt sich hier nicht nur
um die Furcht vor der Sünde oder vor dem Gericht,
sondern um „die Furcht des Todes," und Christus ist 
durch den Tod gegangen und hat ihm den Stachel genommen. „Alles ist euer, es sei Paulus, oder Apollos,
oder Kephas, oder Welt, oder Leben, oder Tod."
(1. Kor. 3, 21. 22.)
Der dritte Grund ist der, daß unsre Sünden
den Tod des Herrn forderten. (V. 17.) Er hat eine
vollkommene, ewige Versöhnung zuwege gebracht. Ich beginne, meine Sünden zu fühlen, sobald das Licht Gottes
in meine Seele scheint nnd mir zeigt, was ich bin und
gethan habe; aber ich hatte noch keine einzige jener Sünden
begangen, als Christus sie trug. Es macht aber vor
Gott keinen Unterschied, wann ich dieselben beging. Der
Wert des Werkes selbst steht stets vor Ihm. Ich komme
zu der Erkenntnis dieses Wertes erst in einem gegebenen
Augenblick, erst dann, wenn die Gnade meine Augen
öffnet und der Heilige Geist meine Blicke auf das Kreuz
lenkt und mir zeigt, wie Gott dort vollkommen verherrlicht
worden ist. Gott würde das Blut Seines Sohnes gering
schätzen — und das ist unmöglich — wenn Er mir eine
Sünde zurechnete, nachdem ich in Wahrheit an Christum
geglaubt habe. Er gab dieses Blut (als eine Sühnung
für unsre Sünden) in Liebe, und Er nahm es an in
Gerechtigkeit.
Das Herz des Menschen ist arglistig, wie das Wort
sagt; und nimmer wird es diese Eigenschaft verlieren, so
lange ein Mensch nicht in Wahrheit kennen gelernt hat,
was eine vollkommene Vergebung bedeutet. Bis dahin
wird er nie die Neigung seines Herzens, sich selbst zu
277
entschuldigen und Andere anzuklagen, überwinden können.
Welche Antwort hören wir z. B. aus dem Munde Adams,
als er in die Sünde eingewilligt hatte und von Gott gefragt wurde: „Hast du gegessen von dem Baume, von
dem ich dir geboten, nicht davon zu essen?" — Er sprach:
„Das Weib, das Du mir beigegeben hast, die gab mir
von dem Baume, und ich aß." (1. Mos. 3.) Und was
erwiderte Aaron, als er dem Drängen des Volkes nachgegeben und ihm ein goldenes Kalb gemacht hatte und
nun von Mose darüber zur Rede gestellt wurde? Wir
lesen: „Und Aaron sprach: Es entbrenne nicht der Zorn
meines Herrn! Du kennst das Volk, daß es im Argen
ist. Und sie sprachen zu mir: Mache uns Götter. . . .
Und ich sprach zu ihnen: Wer hat Gold? Sie rissen
es sich ab und gaben es mir, und ich warf es ins Feuer,
und dieses Kalb ging hervor." (2. Mos. 32.)
Wenn ich Schulden habe, die mich drücken und die
ich unmöglich bezahlen kann, und jemand kommt zu mir
und bietet mir an, er wolle aus Liebe zu mir alles für
mich bezahlen, was werde ich dann thun? Ich werde ihm
alle meine Schulden bis auf den letzten Heller mitteilen
und ihm nichts verheimlichen. So ist es mit dem Sünder.
Wenn er erkennt, was er ist und gethan hat, und hört
nun, was Gott für ihn zu thun bereit ist, so wird er
mit Freuden Ihm alles sagen, was sein Herz und Gewissen beschwert. Anstatt zu verheimlichen, thut es ihm
wohl, vor einem solchen Gott alles rückhaltlos aufdecken
zu-können. „Ich sagte: Ich will Jehova bekennen meine
(Übertretungen; und Du, Du hast vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünde." (Ps. 32, 5.) Auf Gottes Liebe
vertrauend, kommen wir, bekennen Ihm alle unsre Sün­
278
den und finden dann, daß sie für ewig hinweggethan sind. Eine
vollkommene Vergebung war nie bekannt und konnte nicht
bekannt sein, bis das Evangelium kam. Wohl hören
wir, daß Gott im Alten Bunde, im Blick auf das Opfer
Christi, das gebracht werden sollte, in Nachsicht die Sünden
trug und, unbeschadet Seiner Gerechtigkeit, hingehen lassen
konnte. (Röm. 3.) Aber eine vollkommene, unbedingte
Vergebung und eine ewige Erlösung, wie wir sie jetzt als
die Frucht des ewigen Werkes Christi genießen, war den
Gläubigen des Alten Testaments nicht bekannt.
Im 18. Verse kommen wir zu dem vierten Grunde,
weshalb Christus Mensch wurde und den Pfad der Leiden
durch diese Welt bis in den Tod ging. Er sollte fähig
gemacht werden, Mitleid mit uns zu haben. Ich bedarf
keines Mitgefühls für meine Sünden; dafür habe ich
etwas anderes nötig. Die Schärfe des Wortes Gottes
muß darauf angewandt werden. Aber „worin Er selbst
gelitten hat, indem Er versucht ward, vermag Er denen
zu helfen, die versucht werden." (V. 18.) Er kennt aus
Erfahrung alle die Schwierigkeiten, durch welche die Gläubigen zu gehen haben. Es ist nicht nur die Macht
Christi, die wir kennen, sondern auch, und das ist überaus köstlich, das Mitgefühl Seines Herzens.
Ich kann unmöglich in eine Trübsal kommen, in welcher
Christus nicht bei mir wäre und die Er nicht völlig verstände und weit tiefer gefühlt hätte, als ich sie je fühlen
kann. Denn uns bringt oft ein gutes Teil Stolz und
Selbstsucht hindurch; Er aber litt, indem Er versucht
ward, und nie gab Er in irgend einer Weise nach. Wir
wandeln hienieden durch diese Welt, aber auf diesem Wege
giebt es nichts, was Christus nicht sähe, kannte und
279
fühlte. Seine Jünger waren und sind mit Schwachheit
umgeben; aber Er ging durch die Schwachheit hindurch
und fühlte sie, und jetzt ist Er droben zur Rechten Gottes.
So wird uns also im Anfänge unsers Kapitels zuerst mitgeteilt, wo Christus jetzt ist, zur Rechten der Majestät in
der Höhe, obwohl Ihm noch nicht alles unterworfen ist,
und dann finden wir die vier Gründe, um welcher willen
Christus Fleisch und Blut annahm und so fähig gemacht
wurde, zu sterben.
Es giebt noch etwas anderes in diesem Kapitel, was
wir nicht unerwähnt lassen dürfen, und das ist die gesegnete Einheit, von welcher in V. 11 die Rede ist.
„Denn sowohl Der, welcher heiligt, als auch die, welche
geheiligt werden, sind alle von einem." Es handelt
sich hier nicht um die Einheit des Leibes, sondern Christus
und diejenigen, welche geheiligt werden, sind alle von
einem; sie bilden alle, so zu sagen, eine Sache, ein
Stück. Selbstverständlich bleibt Christus stets das Haupt;
aber Er und alle die Gläubigen sind gleichsam von einer
Gattung, sie machen eine Gesellschaft oder eine Gemeinschaft aus. Es heißt nicht, daß Christus als Einer von
uns aus dem Himmel herniederkam, denn bis zu Seinem
Tode war und blieb Er völlig allein. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein."
Vielmehr hat Christus uns zu sich selbst gebracht. So
wie wir eins mit dem ersten Adam waren, so sind wir,
und zwar in einer noch viel wirklicheren Weise, eins mit
dem letzten Adam, mit Christo, verbunden durch den
Heiligen Geist. Was uns fehlt, ist, daß wir nicht genug
an Seine Liebe, sowie an die volle Wirklichkeit und
gegenwärtige Ausübung derselben gegen uns, glauben.
280
„Ich will Deinen Namen knndthun meinen Brüdern,
inmitten der Versammlung will ich Dir lobsingen." (V. 12.)
Welch ein überwältigender Gedanke! Wie sollten wir jedesmal, wenn wir als Versammlung zusammenkommen, fühlen,
daß Christus in unsrer Mitte ist und das Lob und die
Anbetung leitet! Denken wir stets daran, wenn wir in
dem Namen Jesu versammelt sind, daß Er gegenwärtig
ist und gleichsam die Lob- und Dankeslieder anstimmt?
Es ist wunderbar, in welch einer gegenwärtigen Weise Er
uns als mit sich verbunden, ja, mit sich eins gemacht,
betrachtet!
Der Herr gebe uns in Seiner Gnade, diese unaufhörliche und stets thätige Liebe Gottes gegen uns mehr
zu kennen und zu genießen — diese Liebe, die sich in
dem Tode Christi geoffenbart, aber nicht erschöpft hat,
sondern die Tag für Tag, ohne Unterbrechung, gegen uns
ausgeübt wird!
Bruchstück.
Der Herr giebt uns nicht die Aussicht, daß wir von
Prüfungen und Trübsalen verschont bleiben sollen. Vielmehr sagt Er uns, daß wir durch beide gehen müssen;
aber zugleich verheißt Er uns, daß Er in denselben bei
uns sein will, und daS ist weit besser. Das Mitgefühl
Seines Herzens m i t uns ist viel köstlicher, als die Macht
Seiner Hand für uns. Die Gegenwart des Herrn bei
Seinen treuen Knechten, als sie durch „den Ofen des
brennenden Feuers" gehen mußten, war weit besser, als
wenn Er Seine Macht in ihrer Bewahrung vor demselben
entfaltet hätte. (Dan. 3.)
„Seid Niemandem irgend etwas schuldig!" *)
*) Auf mehrseitigen Wunsch aus einem früheren „Botschafter"
(Jahrg. 1867) wieder abgedruckt.
(Röm. 13, 8.)
Es giebt in der Heiligen Schrift keine Ermahnung,
die klarer und bestimmter wäre, als diejenige, welche die
Ueberschrift dieser Zeilen bildet. Das griechische Wort,
welches an dieser Stelle durch „schuldig sein" übersetzt
ist, läßt keine zweideutige Erklärung zu. Die Stelle ist
eben so einfach und die Vorschrift eben so bestimmt, als
diejenige des nächstfolgenden Verses: „Du sollst nicht
stehlen!" Jeder Leser, der das geschriebene Wort ehrt
und es nicht nach seinen Wünschen oder Ansichten zu deuten
trachtet, wird daher verstehen, daß es in dieser Stelle
förmlich verboten ist, Schulden zu machen.
Wenn nun jemand einwendet, daß der Schluß des
angeführten Verses den Sinn der ersten Hälfte desselben
ein wenig verändere, so gebe ich das zu, jedoch nur unter
der Hinzufügung, daß die wahre Bedeutung der Stelle
nur dadurch verschärft wird. „Seid niemanden irgend
etwas schuldig, als nur einander zu lieben; denn wer den
Andern liebt, hat das Gesetz erfüllt." Wie könnte man
dieses anders, als durch die Worte umschreiben: „Jede
Schuld ist euch verboten, mit Ausnahme einer einzigen, 
von der ihr euch- nimmer befreien könnt, nämlich der
Bruderliebe und der damit verbundenen Pflichten?" Es
282
ist klar, daß wir, so lange wir hienieden sind, nie werden
sagen können, daß wir unsern Brüdern nichts mehr schulden
und keine der Bruderliebe entspringende Pflichten mehr
zu erfüllen haben. Außer dieser einzigen Ausnahme ist
uns aber jede andere Schuld ausdrücklich verboten, so daß
wir keine machen können, ohne gegen eines der bestimmtesten Verbote des Wortes Gottes zu handeln.
Es bedarf indes einiger Erläuterungen betreffs dessen,
was unter die Rubrik des verbotenen Schuldenmachens zu bringen ist. Ein Christ, selbst ein treuer
Christ, kann durch das Eintreten widriger Umstände in Schulden geraten, durch Umstände, die, obwohl nicht ohne die
Zulassung Gottes gekommen, dennoch unabhängig von dem
Willen dessen sind, der darunter leidet. Dies war z. B.
der Fall bei der Witwe eines der Söhne der Propheten,
welcher, obwohl gottesfürchtig, bei seinem Tode sein armes
Weib in den Händen eines grausamen und geldgierigen
Schuldherrn zurückließ, der ihr alles, ja selbst ihre beiden
Kinder zu nehmen drohte. Doch sie nahm ihre Zuflucht
zu Gott, der der Witwen Mann zu sein verheißen hat, und
sie wurde auf wunderbare Weise befreit. (2. Kön. 4,1—7.)
Möchten wir ihr in ähnlichen Umständen gleichen! In
einer solchen Lage, wo wir des Herrn Hand sehen, können
wir uns völlig Ihm anvertrauen und in einfältigem Glauben
um Errettung bitten, die nur Er bewirken kaun und bewirken will; denn in diesem Falle ist die schwierige Lage
für uns eine Prüfung, und nicht ein Zustand oder eine
Folge der Sünde.
Wenn ferner ein Christ irgendwelche Wertsachen besitzt, die seine Schuld mehr als decken, oder wenn das
gemachte Anleihen durch entsprechende Pfandverschreibungen
283
mehr als gesichert ist, so kann man nicht sagen, daß er
sich in Schulden befinde, weil er im schlimmsten Falle
sein Eigentum selbst unter dem Preise verkaufen und die
Schuld bezahlen kann. Das Beste und Sicherste wäre
allerdings für ihn, sich so bald als möglich frei zu machen.
Doch außer diesen und einigen ähnlichen Fällen darf ein
Christ keine Schulden machen, ohne sich zu versündigen;
denn, ich widerhole es, das Gebot Gottes ist in dieser
Beziehung sehr bestimmt und unzweideutig. Wie verkehrt
und schlecht es ist, in leichtfertiger Weise Schulden zu
machen, werden wir jedoch noch mehr erkennen, wenn wir
die Ursache eines solchen Betragens und seine Folgen
ein wenig beleuchten.
Die Triebfedern oder Beweggründe, zufolge deren
ein Kind Gottes auf solchem Pfade wandelt, sind denen,
durch welche es sich leiten lassen sollte, stets entgegengesetzt. Meistens sind Hochmut, Ehrgeiz, Habsucht und
Weltförmigkeit die Ursachen solch betrübender Erscheinungen.
In der That, mancher Christ, der unter einer kleineren
oder größeren Schuldenlast seufzt, hat vielleicht nimmer
recht seine Augen auf die Stelle gerichtet: „Der Wandel
fei ohne Geldliebe; begnüget euch mit dem, was
vorhanden ist; denn Er hat gesagt: Ich werde dich
nicht versäumen, noch dich verlassen, so daß wir kühn sagen
mögen: Der Herr ist mein Helfer rc." (Hebr. 13, 5. 6.)
Wenn nun ein Christ durch ein Anleihen, das er machen
Zn müssen meint, in Schulden gerät, beweist er dann,
daß er sich mit dem begnügt, was vorhanden ist,
und daß er an die Verheißung glaubt: „Ich werde dich
nicht versäumen ....."? Zeigt er, daß er kühn sagen
darf: „Der Herr ist mein Helfer," und daß sein Herz in
284
dieser köstlichen Wahrheit lebt? Ist sein Betragen nicht im
Gegenteil ein Beweis, daß er Gott nicht vertraut, und
daß sich sein Herz in demselben Maße von Ihm abgewandt hat, als es sich aus den Arnt des Fleisches stützt
und dem Menschen vertraut?
Warum werden überhaupt so oft Anleihen oder
Schulden gemacht? Weil man mit der Lage, in welcher
man sich befindet, nicht zufrieden ist, und weil man herauszukommen bemüht ist; anstatt sich zu den Niedrigen zu
halten, sinnt man auf hohe Dinge und sucht in bessere
Verhältnisse zu gelangen. Ist das die Gesinnung, die den
Jünger Dessen ziert, der sich selbst zu nichts machte und
sich bis zum Tode am Kreuze erniedrigt hat, und der
sanftmütig und von Herzen demütig war? Heißt daS in
den Fußstapfen des Jesus wandeln, der arm und verachtet
auf dieser Erde war, der nur eine Krippe und ein Kreuz
auf derselben besaß, und der uns auffordert, zu leben und
zu wandeln, wie Er selbst gelebt und gewandelt hat?
Ach I auf wie viele Christen würde auch heute noch das
Wort passen, welches Jehova einst zu Baruch redete: „Und
du suchst dir große Dinge? Suche sie nicht! Denn siehe,
ich werde Unglück bringen über alles Fleisch, spricht Jehova;
aber dir will ich deine Seele zur Beute geben an allen
Orten, wohin du ziehen wirst." (Jer. 45, 5.) Und ebenso
passend würden die an den ehrgeizigen, geldgierigen Gehast
gerichteten Worte des Propheten Elisa sein, der da sagte:
„War es Zeit, Silber zu nehmen und Kleider zu nehmen
und Oelbäume und Weinberge und Schafe und Rinder
und Knechte und Mägde?" (2. Kön. 5, 26.) O, wie
selten findet man die Gesinnung, welche einmal jemand
durch die Worte ausdrückte: „Lieber wollte ich auf dem
285
Pfade des Gehorsams eine Bildsäule von Marmor sein,
als die größten Thaten auf Kosten des kleinsten Teiles
des Wortes Gottes thun."
Wenn man einwendet, daß man doch etwas zum
eigenen und zum Unterhalte der Seinigen unternehmen
müsse, so räume ich dieses gern ein. Denn Gott selbst
gebietet uns allen, zu arbeiten und mit unsern eigenen
Händen das Gute zu thun — und dies nicht allein, um
sür unsern Unterhalt zu sorgen, sondern auch damit wir
dem Dürftigen etwas mitzuteileu haben. (Eph. 4, 28.)
Doch mag es sich um Unternehmungen zur Verbreitung
des Evangeliums oder zu Wohlthätigkeitszwccken, oder
einfach um persönliche Pläne handeln, die nur unser
zeitliches Wohl zum Ziele haben, laßt uns stets daran
denken, daß, wenn wir solches thun sollen, auch Gott
die Mittel dazu darreichen wird. *) In dieser Hinsicht sagt
Er zu uns, wie einst Zu Gideon: „Gehe hin in dieser deiner
Kraft." (Richt. 6, 14.) Mit der Kraft und mit den Mitteln, die Er darreicht, und mit nichts Anderem dürfen
wir vorwärts gehen. Weiter gehen heißt sich in Schulden,
mithin in die Sünde einlasfen, indem man das Wohlergehen auf einem Wege sucht, auf dem Gott nicht mit
uns sein kann und wo wir Seinen Segen weder erlangen
noch erwarten können, jenen Segen, der ohne irgend welches
Zuthun von unsrer Seite reich zu machen vermag. (Spr.
10, 22.) Ehe ihr daher, geliebte Brüder, ein Haus oder
einen Garten kauft, ehe ihr irgend ein Unternehmen — ob
groß oder klein — beginnt, richten wir an euch die Bitte,
daß ihr euch hinsetzen und vor Gott die Ausgaben über­
*) Der Christ sollte stets verstehen, daß alles, was in Sachen
dieses Lebens nicht möglich ist, auch nicht nötig ist.
286
schlagen möchtet, um Zu sehen, ob ihr imstande seid, das
Unternehmen auSsühren zu können, und ob euch Gott Erlaubnis dazu gegeben hat. Wohl mag es den Kindern
dieser Welt auf einem entgegengesetzten Wege gelingen,
sich Reichtümer und Schätze zu erwerben; sie kennen Gott
nicht; sie haben ihre Güter in dieser Welt und leben in
Ungewißheit und Unglauben betreffs des Willens Gottes,
stehen daher in dieser Beziehung nicht auf demselben Boden
der Verantwortlichkeit wie die Kinder des Lichts. Aber
ach! wie viele Christen machen auf diesem Wege der Untreue jene traurigen Erfahrungen, die das Wort Gottes
in den Worten ansdrückt: „Die aber reich werden wollen,
fallen in Versuchung und Fallstrick und in viele unvernünftige und schädliche Lüste, welche die Menschen versenken in Verderben und Untergang!" (1. Tim. 6, 9.) Wie
viele, die da Reichtümer suchten, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich selbst mit vielen Schmerzen durchbohrt! (V. 10.)
Geliebte Brüder! möchte es euch in Gnaden geschenkt
werden, diesen Fallstricken auszuweichen! Sie enden nur
zu ost in schmählichem Ruin, durch welchen der Name
des Herrn der Verachtung preisgegeben und das Evangelium
von vielen verlästert wird, die sich, weil sie größere oder 
kleinere Verluste erlitten haben, an euch ärgern und sich
von der Wahrheit abwenden, während ein reiner und treuer
Wandel euerseits die Lehre unsers Heiland - Gottes geziert haben würde. Darum, möget ihr Arbeiter, Diener
oder Angestellte sein, bleibt in eurer, wenn auch noch so
bescheidenen Lage, in welche Gott euch gestellt hat, und
verlaßt sie nicht eher, als bis Gott euch die Thür dazu
öffnet. Wenn euch andrerseits eure Stellung nötigt,
287
Schulden zu machen, so ist das wohl ein sicheres Zeichen,
daß diese Stellung nicht Gott gemäß ist, und daß ihr sie
so bald als möglich aufgeben solltet. Denn es kann nicht
der Wille Gottes sein, daß ihr in einer Lage verharrt,
die euch einen Anlaß zur Sünde bietet. Nur wenn jemand
mit Gott in seiner Stellung ist, soll er darin ausharren.
(1. Kor. 7, 24.) Sobald das Gewissen die Gefahr erkennt, ist ein Ausgehen nötig. Und sollte trotz dieser
Umstände eure Stellung, euer Geschäft ein Gegenstand sein,
an welchem euer Herz in hohem Maße hängt, so ist das
ein Grund mehr, diesem für eure Seele so gefährlichen
Fallstricke zu entfliehen und ohne Rückhalt dem Gebote
des Herrn zu gehorchen: „Wenn dein Auge dich ärgert,
so reiß es aus und wirf es von dir; es ist dir besser,
einäugig in das Reich Gottes einzugehen, als zwei Augen
zu haben und in die Hölle des Feuers geworfen zu werden."
— Sagt ihr aber: „Ich muß warten, bis Gott mir zeigt, 
was ich zu thun habe," so antworte ich: „Ihr seid auf
einem Wege der Sünde, und ihr bedürft keines besonderen
Zeichens für den Willen Gottes; denn Sein Wille,
den ihr kennen solltet, ist, daß ihr nicht mehr sündigt."
— „Aber," möchte jemand einwenden, „wenn ich meine
Stellung aufgebe, so weiß ich nicht, was ich anfangen
soll." Darauf antworte ich: „Fange damit an, das Böse
zu lassen. Das ist's, was der Herr zu allererst von dir
fordert; und hast du diesen unvermeidlichen Schritt gethan,
so wird Er dir sicher beistehen, um den folgenden thun
zu können. Vertraue Ihm, wandle im Glauben, d. h.
ohne zu wissen, wohin du gehst. Auf diese Weise wirst
du, von dir selbst befreit, von oben geführt und geleitet werden."
288
Ueberdies begnüget euch mit eurer irdischen Lage,
wenn dieselbe, wie sie sonst auch sein mag, euch das tägliche Brot verschafft. Vielleicht könnte euer Geschäft durch
Verbesserungen und Vergrößerungen, durch den Ankauf
eines Gebäudes, geeigneter Werkzeuge, oder durch den Anbau einer Maschine mit größerem Vorteil und Gewinn
betrieben werden. Und sicher steht euch, so ihr anders
die Mittel zur Beschaffung und Einrichtung dieser Dinge
besitzt, nichts im Wege, nach euerm freien Ermessen zu handeln. Wenn ihr aber zu diesem Zwecke Geld aufnehmen,
d. h. eine Schuld machen müßt, so seid versichert, daß ein
solches Handeln nicht nach dem Willen Gottes ist. Lernt
es vielmehr, diese Dinge zu entbehren, stille zu sein und
zu warten. Laßt euch durch die trostreichen Wahrheiten
der folgenden Stellen leiten: „Traue auf Jehova und
thue Gutes; wohne im Lande und weide dich an Treue!
Und habe deine Wonne an Jehova, so wird Er dir geben
die Bitte deines Herzens. Wälze auf Jehova deinen Weg
und traue auf Ihn; Er wird's vollbringen ... Es ist
besser das Wenige der Gerechten, als der Ueberfluß vieler
Gesetzlosen ... Ich war jung und bin auch alt geworden, und nie sah ich verlassen den Gerechten und seinen
Samen nach Brot gehen . . . Achte auf den Aufrichtigen
und siehe auf den Redlichen; denn für den Mann des
Friedens giebt es eine Zukunft." (Ps. 37.) „Die Gottseligkeit aber mit Genügsamkeit ist ein großer Gewinn;
denn wir haben nichts in die Welt hereingebracht, so ist's
offenbar, daß wir auch nichts hinausbringen können.
Wenn wir aber Nahrung und Bedeckung haben, so wollen
wir uns daran genügen lassen." (1. Tim. 6, 6—8.) „Die
leibliche Uebung ist zu wenigem nütze; die Gottseligkeit
289
aber ist zu allen Dingen nütze, indem sie die Verheißung
des Lebens hat, des jetzigen und des zukünftigen."
(1. Tim. 4, 8.) „Vertraue auf Jehova mit deinem
ganzen Herzen, und stütze dich nicht auf deinen Verstand.
Erkenne Ihn in allen deinen Wegen, und Er wird gerade
machen deinen Pfad. Sei nicht weise in deinen Augen,
fürchte Jehova und weiche vom Bösen." (Spr. 3, 5—7.)
Ja, glückselig ein jeder, der sich also seinem Gott
und Vater anvertraut, und dem es am Herzen liegt, Ihm
wohlgefällig zu sein und Seinen Willen zu thun! Wie
viele Mühen, Sorgen, Prüfungen und Schmerzen erspart
er sich, wenn er mit Gott, Gott gemäß und in Seiner
Nähe wandelt, wenn er sich in den Schwierigkeiten nur
auf Ihn stützt und in der Not seine Zuflucht nur zu Ihm
nimmt. Er mag arm, von allem entblößt, krank und
traurig sein — das ist das Los, welches der Herr auf
dieser Erde den Treuen verheißen hat; aber in dieser
Lage und trotz derselben kann er im Herrn glücklich sein,
Seinen unaussprechlichen Frieden genießen und ohne Sorge
sein, weil er das Bewußtsein hat, daß sein himmlischer
Vater alle seine Bedürfnisse besser kennt, als er selbst,
und daß Er mächtig und barmherzig ist, um ihnen nach
dem Reichtum Seiner Gnade zu begegnen. Der, welcher
Seinen eigenen Sohn für ihn gegeben hat, wird ihm
sicher auch das darreichen, dessen er in dieser Wüste bedarf. Er unterwirft sich daher ohne Zögern dem Gebote
des Herrn: „Und ihr, trachtet nicht darnach, was ihr
essen, oder was ihr trinken sollt, und seid nicht in Unruhe. Euer Vater weiß, daß ihr dessen bedürfet. Trachtet
aber nach Seinem Reiche, und dieses alles wird euch dazu
gegeben werden." (Luk. 12, 29 — 31.) Es giebt in der
290
That in den schwierigsten Verhältnissen nichts, was die
Gemeinschaft eines wahrhaft treuen Christen mit dem
Vater und dem Sohne trüben oder unterbrechen, nichts,
was ihn hindern könnte, sich mit völliger Zuversicht an
Gott zu wenden und alle Sorgen auf Ihn zu werfen.
O welch ein Glück, wenn das Wort zur praktischen Wahrheit wird: „Daher sollen auch die, welche nach dem Willen
Gottes leiden, Ihm, dem treuen Schöpfer, ihre Seelen
befehlen im Gutesthun." (1. Pet. 4, 19.) Darum glückselig alle, welche den Weg des Glaubens und des Gehorsams wandeln, einen Weg, der, was auch geschehen
mag, stets mit Segen erfüllt ist! Welche Freude für ihr
Herz, wenn sie, nachdem sie ihr Anliegen vor den Vater
gebracht haben, Seine Durchhülfe zur Zeit der Not erfahren und in praktischer Weise mit Jesu sagen lernen-.
„Jehova ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!"
(Ps. 23, 1.)
Doch sicher kann dieses nicht von solchen gesagt werden, welche sich durch Unglauben, Ehrgeiz und Verweltlichung zur Sünde des Schuldenmachens, des Handeltreibens und Wohllebens mit dem Gelde Anderer verleiten
lassen. Solche sind vielmehr vom Wege des Glaubens
und des Gehorsams abgewichen und können mithin nicht
auf Gott rechnen und sich Ihm nicht anvertrauen, um
aus einer Not herauszukommen, in welche sie sich durch
das Thun ihres eignen Willens, ohne daß sie den Rat
des Herrn gesucht hätten, ja, im Widerspruch mit Seinem
Willen, hineingestürzt haben. Wenn das aufgeweckte Gewissen einem Christen zeigt, daß er sich auf einem Wege
befindet, auf welchem er nicht im Lichte mit Gott wandeln kann, so hat er — von welchen Demütigungen und
291
welchen Verlusten es auch begleitet sein mag — ohne
Zögern eine Stellung Zu verlassen, die für seine Seele
ein Fallstrick ist. Wenn er diesen Entschluß nicht faßt
und bald zur Ausführung bringt, so werden die traurigsten Folgen unausbleiblich sein. Folgt er nicht den Mahnungen seines Gewissens, so stumpft dasselbe allmählich
ab und wird schließlich so verhärtet, daß es alle Empfindlichkeit verliert. Ach! leider kommt es oft so wett, daß
Christen, die, in der eitlen Hoffnung, sich aus ihren Verlegenheiten herauszuziehen, und ohne in Wirklichkeit ihrem
bösen Wege entsagen zu wollen, zu eben nicht sehr ehrbaren
Mitteln greifen, zu welchen selbst Weltmenscheu sich scheuen
würden, ihre Zuflucht zu nehmen. So z. B. bildet sich
mancher ein, wenn man Brüder zu Gläubigern habe, so
sei es nicht nötig, deren Forderungen zurückzuzahlen. Man
verspricht und hält nicht Wort; man sucht sich und Andere
über seinen Zustand dadurch zu täuschen, daß man die
Ausgaben, anstatt zu beschränken, nur noch vermehrt; man
macht am Vorabende eines Bankerotts noch Einkäufe, oder
man nimmt Geld auf mit der Verpflichtung, es in kurzem
zurück zu zahlen. So ruft eine Schlechtigkeit die andere
hervor. Aber welch ein verabscheuungswürdiges Thun!
— ein Treiben, dem oft erst die menschliche Gerechtigkeit
ein Ziel setzen muß.
So weit, ach! kann der Gläubige auf diesem schlüpfrigen Pfade abwärts gleiten, sobald er sich ohne Gewissensbisse erlaubt, Schulden zu machen und sein Geschäft
größer zu betreiben, als Gott ihm dazu die Mittel darreicht. Manche werden sagen: „Diese Worte sind hart!"
Aber Gott ist unser Zeuge, daß wir sie in einem Geiste
aufrichtiger Liebe zu den Brüdern niedergeschrieben haben,
292
und zwar mit dem herzlichen Wunsche, daß das Gewissen
deS Einen und Andern überführt, und daß die ehrgeizige
Neigung des Sichhervorthuns in dieser Welt, das Verlangen nach Reichtum, der Geist der Unzufriedenheit und
der Ungenügsamkeit, sowie das leichtsinnige Ueberschreiten
der Grenzen der Wahrheit und Rechtschaffenheit, aus unsrer
Mitte entfernt werden möchten. Würden diese Zeilen
einen einzigen Bruder, der etwa aus Unwissenheit und in
guter Absicht auf diesen gefährlichen Weg geraten ist, in
seinem Laufe aufhalten und ihn, ehe das Uebel den höchsten
Grad erreicht hat, zur Umkehr bestimmen, so werden wir
den Herrn dafür preisen, sowie wir jetzt Seinen Segen
zu diesen Ermahnungen erbitten.
Es giebt oft wohlhabende, ja reiche Christen, die es
aus Gleichgültigkeit und aus Vergeßlichkeit versäumen, die 
kleinen Forderungen ihrer Lieferanten oder Arbeiter sogleich zu entrichten. Wir finden dies, außer wenn die 
letzteren ein solches Verfahren wünschen, höchst tadelnswert. Es ist der wahren Liebe völlig zuwider und zeugt
von einem Mangel an Teilnahme für diejenigen, welche
berufen sind, von ihrer Hände Arbeit zu leben. Diese
Handlungsweise — ich scheue mich nicht, sie grausam zu
nennen — findet man leider ost bei sonst sehr freigebigen
Leuten, die für wohlthätige Zwecke ihren Beutel weit zu
öffnen wissen. Wir möchten solchen zurufen: „Das Eine
sollte man thun und das Andere nicht lassen;" oder:
„Bevor ihr schenktet, solltet ihr bezahlen, was ihr schuldig
seid; denn da ihr euch nie in die Verhältnisse des armen
Arbeiters hineingelebt habt, so wißt ihr nicht, wie viele
Arbeit, wie viele Sorge, wie manches Murren vielleicht
durch eure Nachlässigkeit im Bezahlen in sein Haus ge­
293
bracht wird. Wenn er für das Brot der Seinigen darauf
gerechnet hätte, wenn er dadurch genötigt worden wäre,
selbst eine Schuld zu machen — hättet ihr dann nicht
grausam gehandelt? Muß es nicht eine Ursache sein, ihn
gegen den zu erbittern, der nur in seine Tasche zu greifen
oder eine Anweisung zu schreiben braucht, um ihm das
zu verschaffen, was ihm von Rechtswegen znkommt?"
Wäre unter unsern Lesern nur ein einziger Bruder, welcher
diese schlechte und verantwortliche Gewohnheit mancher
Reichen dieser Welt beibehalten hätte, so erinnern wir ihn
daran, daß Gott, welcher von den Umständen der Armen
Kenntnis nimmt, einst Seinem Volke die Vorschrift gab:
„Du sollst nicht bedrücken den dürftigen und armen
Mietling von deinen Brüdern oder von deinen Fremdlingen, die in deinem Lande, in deinen Thoren sind. An
seinem Tage sollst du ihm seinen Lohn geben, und nicht
soll darüber die Sonne untergehen; denn er ist dürftig,
und seine Seele sehnt sich darnach, daß er nicht über
dich zu Jehova schreie und eine Sünde an dir sei."
(5. Mos. 24, 14. IS.) Und wiederum: „Sage nicht zu
deinem Nächsten: Gehe hin und komme wieder, und morgen
will ich geben - da du's doch jetzt hast." (Spr. 3, 28.)
Sollten wohl die Jünger, die Befreiten des Herrn Jesu,
weniger barmherzig sein, als die Knechte unter dem Gesetze?
Man erlaube uns, hier noch die Worte eines teuren
englischen Bruders anzuführeu, die er in betreff der Schuldenfrage an zwei seiner Freunde schreibt:
„Meine Meinung ist," so sagt er, „daß in der
Regel die Christen gar keine Schulden machen sollten.
Die Worte: „Seid niemandem irdend etwas schuldig,"
enthalten eine so klare Vorschrift, daß selbst ein Thor
294
sich nicht darüber täuschen könnte. Wir wollen hier nicht
untersuchen, in wie weit die Geschäftsleute dieser heiligen
Regel nachkommen können. Es giebt Termine, an welchen
der Fabrikant dem Großhändler und dieser dem Kleinhändler verkauft und ihm einen Kredit von bestimmten
Monaten bewilligt. So lange diese Termine gewissenhaft
beobachtet werden, ist es schwer zu beurteilen, ob und in
welchem Grade jemand in Schulden ist. Jedoch wäre es
nach meiner Meinung für den Geschäftsmann weit besser
und sicherer, wenn er baar bezahlen würde. Jedenfalls
aber steht es außer allem Zweifel, daß derjenige in Schulden ist, dessen Geschäftskapital und Ausstände nicht genügen,
um die eingegangenen Verbindlichkeiten erfüllen zu können.
Es ist eine traurige, schlechte und verabscheuungswürdige
Sache, mit einem scheinbaren Kapital Handel zu treiben,
nach allen möglichen Auskunftsmitteln zu haschen und auf
Kosten seiner Gläubiger groß zu thun.
„Dagegen haben Personen, die sich nicht mit dem
Handel beschäftigen, keinerlei Grund, ihre Schulden zu
rechtfertigen. Habe ich vor Gott und Menschen das Recht,
einen Rock oder einen Hut zu tragen, den ich nicht bezahlen kann? Habe ich das Recht, ein Klafter Holz, einen
Scheffel Kohlen, ein Pfund Kaffee oder Thee, oder ein
Stück Fleisch zu bestellen, welches zu bezahlen ich nicht
imstande bin? Man fragt vielleicht: „Was dann machen?"
Für einen geraden Sinn und ein zartes Gewissen ist die
Antwort einfach. Es ist viel besser, diese Dinge zu entbehren, als Schulden zu machen. Es ist viel besser, ein
Stück trockenes Brot, welches mein Eigentum ist, zum
Mahle zu haben, als einen Braten, den ich schuldig bin.
Aber ach! wie wenig Gewissenhaftigkeit und welch einen
295
Mangel an gesunden Grundsätzen findet man in dieser
Beziehung! Wie viele gehen von Woche zu Woche dahin,
nehmen Platz am Tische des Herrn, legen mit ihren Lippen ein lautes Bekenntnis von ihrem Christentum ab,
prahlen mit schönen und heiligen Grundsätzen und stecken
dabei bis über die Ohren in Schulden, machen Einkäufe,
die ihr Einkommen weit übersteigen, kaufen Nahrung und
Kleidung auf Kredit bei Leuten, die Zutrauen zu ihnen
haben, und das alles, trotzdem sie sehr gut wissen, daß
sie keine gegründete Hoffnung haben, ihre Schulden früher
oder später abtragen zu können! Ist ein solches Leben
nicht schändlich und strafbar? In der That, ich nehme
keinen Anstand, ein derartiges Betragen geradezu für
gottlos zu erklären. Und die Folgen eines in dieser Beziehung nachlässigen Wandels müssen viel Schmach auf
das Evangelium bringen.
„Der Mangel an Gewissenhaftigkeit in bezug auf
diesen ernsten Gegenstand ist in der That verabscheuungsivürdig; ohne Zweifel muß dadurch der Geist Gottes betrübt und in der Seele Schwachheit, Fruchtlosigkeit und
Siechtum hervorgerufen werden. Ich glaube nicht, daß
das Wort des Christus in jemandem wohnt, der sich über
seine Schulden kein Gewissen macht, und bin überzeugt,
daß er zu der Klasse derjenigen Personen gehört, welche
wir nach 2. Thess. 3, 11 — 14 bezeichnen und mit denen
wir keinen Umgang haben sollten. Nach meiner Meinung
würde in solchen Fällen eine treue, persönliche Zucht eine
gute Wirkung haben. Alle diejenigen, welche Bankrott
gemacht oder mit ihren Gläubigern accordirt haben, halte
ich für moralisch verpflichtet, die ganze Summe ihrer
Schuld, sobald es in ihren Kräften steht, zurückzuzahlen;
296
nach meiner Meinung haben sie Schulden, bis alles gedeckt ist. Keinerlei gerichtliche Ausnahme kann je einen
wirklich rechtlichen Mann von seiner Verantwortlichkeit,
alles zu bezahlen, entbinden. Ich fühle mich gedrungen,
mich so bestimmt über diesen Punkt auszusprechen, weil
eine höchst bedauernswerte Nachlässigkeit in dieser Beziehung
unter vielen bekennenden Christen herrscht. Ich wünsche
sehr, daß der Herr allen den Seinen ein waches Gewissen
verleihen möge. Allerdings kann jemand ohne seine
Schuld in Schulden geraten; hat er aber einen geraden 
Sinn und ein gesundes, geübtes Gewissen, so wird er sich
sicher anstrengen, aus denselben herauszukommen; er wird
so viel als möglich seine Ausgaben einschränken und sich
gern allerlei Entbehrungen auferlegen, um seine Schuld
bis auf den letzten Heller zurückzahlen zu können. Er
wird mit größter Gewissenhaftigkeit alles, was er dazu
ersparen kann, und wäre es auch nur ein Zehngroschenstück die Woche, beiseite legen.
„Der Herr gebe nnS Gnade, diese wichtige Frage
mit all dem Ernst, den sie verdient, zu betrachten! Sicher
wird durch den auffallenden Mangel an Gewissenhaftigkeit
und Rechtlichkeitsgefühl, der sich bei so Manchem in dem
leichtfertigen Schuldenmachen und dem Verharren auf
diesem Wege kund giebt, die Sache Christi auf eine bedauernswürdige Weise verunehrt und das Zeugnis der
Christen geschwächt. Wie sehr ist es zu wünschen, daß.
wir uns alle ein gutes Gewissen bewahren."
-i- *
So lauten die Worte jenes Bruders. Bevor wir
jedoch unsern Gegenstand verlassen, möchten wir noch einige
Worte an eine andere Klasse von Christen richten. Man
297
wird sagen und man hat schon gesagt: „Wenn eS aber
einem Bruder untersagt ist, Geld aufzunehmen oder zu 
entlehnen, wird es aus diesem Grunde nicht auch andern
Brüdern untersagt sein, an jene Gelder auszuleihen?"
Dieser Einwurf, obwohl der menschlichen Logik völlig entsprechend, steht nichtsdestoweniger, wie dies gewöhnlich der
Fall ist, im Widerspruch mit den deutlichsten Belehrungen
des Wortes Gottes. Selbst die uns vorliegende Stelle:
„Seid niemandem irgend etwas schuldig," enthält die
Beifügung: „als nur einander zu lieben." Diese Schuld
der Liebe nun, von der wir uns nie werden frei machen
können, besteht offenbar auch darin, daß wir unsern Brüdern in der Not mit dem Unsrigen Handreichung thun,
sei es durch Geschenktes oder durch Geliehenes. Dieses
bestätigen eine Menge biblischer Unterweisungen, von denen
wir hier nur einige anführen können. Wir lesen ausdrücklich: „Es borgt der Gesetzlose und giebt nicht wieder;
der Gerechte aber ist gnädig und giebt .... Den ganzen
Tag ist er gnädig und leiht, und sein Same ist zum
Segen." (Ps. 37, 21. 26.) „Wohl dem Manne, der
gnädig ist und leiht! Er wird seine Sachen durchführen
im Gericht." (Ps. 112, 5.) Und waS sagt der Herr
Jesus selbst in bezug auf diese besondere Seite der brüderlichen Liebe? Wir lesen: „Gieb dem, der dich bittet,
und weise den nicht ab, der von dir borgen will."
(Matth. 5, 42.) Und wiederum: „Und wenn ihr denen
leihet, von welchen ihr wieder zu empfangen hoffet, was
für Dank ist es euch? Denn auch die Sünder leihen
Sündern, auf daß sie das Gleiche wieder empfangen.
Doch liebet eure Feinde und thuet Gutes und leihet, ohne
etwas wieder zu hoffen, und euer Lohn wird groß sein.
298
und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn Er ist gütig
über die Undankbaren und Bösen. Seid ihr nun barmherzig,
wie auch euer Vater barmherzig ist." (Luk. 6, 34—36.)
Dieses alles bedarf Wohl keiner näheren Erklärung; es
redet einfach und laut genug zu dem Gewissen eines jeden
aufrichtigen Jüngers Christi.
Und auf welch einen mächtigeren Beweggrund zur
christlichen Freigebigkeit könnten wir endlich Hinweisen, als
uns den, welchen Paulus den Gläubigen zu Korinth vor
Augen stellte, bei Anlaß einer Kollekte für die Heiligen
in Jerusalem, für welche nach Vermögen und über Vermögen beigesteuert worden war? Er sagt: „Denn ihr
kennet die Gnade unsers Herrn Jesn Christi, daß Er, da
Er reich war, um euertwillen arm wurde, auf daß ihr
durch Seine Armut reich würdet." (2. Kor. 8, 9.)
Der Herr gebe uns allen ein zartes Gewissen und
einen geraden Sinn!
Christum predigen.
(Fortsetzung.)
Christus ist also, wie wir gesehen haben, Gottes
Prüfstein und Maßstab für die Welt im allgemeinen,
wie für jeden einzelnen Menschen. Die überaus wichtige
Frage für alle ist: „Wie ist Christus behandelt worden?
Was haben wir mit Ihm gethan?" — Gott sandte
Seinen eingebornen Sohn in diese Welt als den Ausdruck
Seiner Liebe zu verlorenen Sündern. Er sprach: „Was
soll ich thun? Ich will meinen geliebten Sohn senden;
vielleicht, wenn sie diesen sehen, werden sie sich
scheuen." Traf eS ein, was Gott hier voraussetzt?
Scheuten sich die Menschen vor Seinem eingebornen Sohne?
299
Leider nicht! Sie sagten vielmehr: „Dieser ist der
Erbe; kommet, lasset uns Ihn töten!" So behandelte
die Welt Christum, als Er aus dem Schoße des Vaters
herniederkam.
Und beachten wir wohl, daß es nicht die Welt in
ihrer finstern, heidnischen Form war, die also mit dem
Gesegneten verfuhr; nein, es war die Welt des religiösen
Juden, des feingebildeten Griechen und des stolzen Römers.
Jesus kam nicht in einen verborgenen Winkel dieser Erde,
sondern in die Mitte Seines eigenen, bevorzugten Volkes,
zu denen, welchen die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die 
Bündnisse, die Gesetzgebung, der Dienst und die Verheißungen angehörten. (Röm. 9, 4.) Zu ihnen kam Er in
Demut und Liebe herab. Unter ihnen lebte und wirkte
Er. Und was thaten sie mit Ihm? Sie zogen dem heiligen, fleckenlosen und liebenden Jesus einen Aufrührer und
Mörder vor. Die Welt traf ihre Wahl. Jesus und Barabbas wurden vor sie gestellt, und sie wählte den Mörder.
Welch eine erschreckende Thatsache! — eine Thatsache,
die wenig beachtet und verstanden wird, die aber der Welt
in ihrer damaligen, wie in ihrer gegenwärtigen Form ihren
Stempel aufdrückt. Nichts ist mit ihr zu vergleichen.
Alle die schrecklichen Dinge, welche die Zeitungen heute
melden und die Gerichtshöfe beschäftigen, welche die Seele
oft mit Entsetzen erfüllen und das Blut gerinnen machen,
können mit dieser einen Thatsache, der Verwerfung und
Kreuzigung des Herrn der Herrlichkeit, nicht in Vergleich
gebracht werden. Dieses Verbrechen hebt sich finster und
drohend von dem Hintergründe der menschlichen Geschichte
ab und zeigt den wahren Zustand der Welt, des Menschen
und der Natur.
300
Hat die Welt je diese schreckliche That bereut uud
Buße gethan? Nein; denn wenn sie es gethan hätte, so
Würden die Reiche dieser Welt die Reiche unsers Herrn
und Seines Christus geworden sein. Doch wir richten
die ernste Frage an den unbekehrten Leser dieser Zeilen:
Hast du jene That bereut und Buße gethan? Vielleicht
wirst du uns antworten: „Wie kann eine solche Frage
an mich gerichtet werden? Was kann ich dafür, daß die
Juden und Römer in ihrer Gottlosigkeit den Herrn der
Herrlichkeit ans Kreuz schlugen und einen Mörder Ihm
vorzogen? Wie kann ich eines Verbrechens beschuldigt
werden, das viele Jahrhunderte vor meiner Geburt begangen wurde?"
Doch wir antworten: Es war eine Handlung der
Welt, und du bildest in diesem Augenblick entweder noch
einen Teil dieser Welt, die vor Gott unter der Schuld
der Ermordung Seines Sohnes steht, oder du hast, als
eine bußfertige und bekehrte Seele, Zuflucht und Schutz
in der vergebenden Liebe Gottes gefunden. Hier giebt
es keinen neutralen Boden; und je klarer du dies erkennst,
desto besser ist es für dich. Denn du kannst unmöglich
ein richtiges Urteil über den Zustand dieser Welt und
deines eigenen Herzens haben, als in dem Lichte, welches
das Leben und der Tod Christi über denselben verbreiten.
Was die Welt betrifft, so kann eine wirkliche Verbesserung
oder eine gründliche Veränderung ihres Zustandes nicht
eher eintreten, als bis durch das Schwert des göttlichen
Gerichts die Frage entschieden ist, wie sie den Sohn Gottes
behandelt hat. Und soweit der Sünder persönlich in
Frage kommt, lautet das Zeugnis Gottes: „Thue Buße
und bekehre dich, damit deine Sünden ausgetilgt werden!"
301
Doch dies führt uns zu der zweiten Seite unsers
Gegenstandes, und das ist
Christus als Opfer.
Ohne Zweifel ist es viel angenehmer und lieblicher,
hierbei zu verweilen; aber wir dürfen daS Erste nicht
vergessen, wenn wir in Wahrheit „Christum predigen"
wollen. Es wird allzuviel aus dem Auge verloren. Man
redet von den gerechten Forderungen des Gesetzes, und
ohne Zweifel benutzt der Heilige Geist dieselben, um das
Gewissen aufzuwecken; „denn durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde." Aber es ist nicht selten der Fall, daß 
der Mensch in der Blindheit und Thorheit seines Herzens
gerade das Gesetz benutzt, um seine eigene Gerechtigkeit
aufzurichten, während die Erkenntnis dessen, was der Tod
Christi ist — wie er den ganzen Haß des menschlichen Herzens gegen Gott geoffenbart hat — die Seele von dem völligen und hoffnungslosen Verderben ihres Zustandes überzeugen muß. Und diese Ueberzeugung ist, wenn sie anders
wahrhaftig ist, Buße. Sie ist das moralische Gericht,
nicht über meine Handlungen allein, sondern auch
über meine Natur, und zwar in dem Lichte des Kreuzes,
dieses einzig vollkommenen Prüfsteins.
Alles dieses tritt sehr deutlich in der Predigt des
Apostels Petrus, wie sie uns in den ersten Kapiteln der
Apostelgeschichte mitgeteilt wird, hervor. Werfen wir
z. B. einen Blick auf das zweite Kapitel. Dort stellt uns
der Heilige Geist Christum sowohl als den wahren Prüfstein des Menschen, als auch als das vollkommene Opfer
vor Augen. Wir lesen: „Männer von Israel, höret diese
Worte: Jesum, den Nazaräer, einen Mann, von Gott an
euch erwiesen durch mächtige Thaten und Wunder und
302
Zeichen, die Gott durch Ihn in eurer Mitte that, wie
ihr selbst wisset — diesen, übergeben nach dem bestimmten
Ratschluß und Vorkenntnis Gottes, habt ihr durch die
Hand der Gesetzlosen angeheftet und umgebracht. Den
hat Gott auferweckt, als Er die Wehen des Todes aufgelöst, wie es denn nicht möglich war, daß Er von demselben behalten würde . . . DaS ganze Haus Israel wisse
nun zuverlässig, daß Gott Ihn sowohl zum Herrn, als
auch zum Christus gemacht hat, diesen Jesus, den ihr
gekreuzigt habt." (V. 22—24. 36.)
Hier begegnen wir einer ernsten und eindringlichen
Bearbeitung des Gewissens der Zuhörer. Sie hatten nicht
nur das Gesetz gebrochen, nicht nur die früheren Boten
nnd weniger hervorragenden Zeugen des Herrn verworfen,
sondern sie hatten einen Menschen ans Krenz geschlagen,
der von Gott selbst an ihnen erwiesen worden war, durch
mächtige Thaten und Wunder; und dieser Mensch war
niemand anders, als der Sohn Gottes selbst. Das war
die ernste, niederschmetternde Thatsache, welche der von
dem Heiligen Geiste erfüllte Prediger seinen Zuhörern
mit großem Nachdruck auf's Gewissen legte. Und was
war das Resultat? — „Als sie aber das hörten, drang
es ihnen durch's Herz, und sie sprachen zu Petrus und
den anderen Aposteln: Was sollen wir thun, Brüder?"
— Kein Wunder, daß ihnen die Worte des Apostels ins
Herz drangen. Ihre Augen waren geöffnet, und was
sahen sie? Sie entdeckten, daß sie es mit Gott selbst zu
thun hatten, mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Und um was handelte es sich? Um das Gesetz?
Nein. Um die Propheten? Nein. Um die Satzungen
und Ceremonien der mosaischen Haushaltung? Nein.
303
Wohl hatten sie im Blick auf alle diese Dinge in der
traurigsten Weise gefehlt; aber es kam jetzt noch etwas
in Frage, was über das alles weit hinausging. Ihre
Schuld hatte in der Verwerfung und Kreuzigung des
Jesus von Nazareth ihren Höhepunkt erreicht. „Der Gott
Abrahams und Isaaks und Jakobs, der Gott unsrer
Väter, hat Seinen Knecht Jesum verherrlicht, den ihr
überliefert und angesichts des Pilatus verleugnet habt,
als dieser urteilte, Ihn loszugeben. Ihr aber habt den
Heiligen und Gerechten verleugnet und gebeten, daß euch
ein Manu, der ein Mörder war, geschenkt würde; den
Urheber des Lebens aber habt ihr getötet, welchen Gott
aus den Toten auferweckt hat, dessen wir Zeugen sind."
(Apstgsch. 4, 13—15.)
In dieser That hat die Schuld des Menschen ihren
höchsten Gipfel erreicht, und wenn dies in der Kraft des
Heiligen Geistes einem Herzen nahegebracht wird, so muß
eS wahre Buße Hervorrufen und die ernste Frage erwecken:
„Was sollen wir thun, Brüder?" — „Ihr
Herren, was muß ich thun, daß ich errettet
werde?" — So war es damals, als das Zeugnis Petri
wie ein scharfes Schwert in die Herzen der Juden
drang, oder als der Pfeil auS dem Köcher des Allmächtigen
die Seele des Kerkermeisters zu Philippi durchbohrte;
und ähnlich wird es heute sein, wenn das Wort der
Wahrheit in lebendiger Kraft in Herz und Gewissen dringt
und der Mensch sich vor die Frage gestellt sieht: „Was
ist geschehen mit dem Sohne Gottes, als Er in Gnade
und Erbarmen zu dem Menschen in seinem Elend Herabstieg?"
Doch welche Antwort konnte Petrus auf den bußfertigen Schrei seiner Zuhörer geben? Er durfte ihnen
304
antworten: „Thuet Buße, und ein jeder von euch werde
getauft auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der
Sünden, und ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistes
empfangen." Und im dritten Kapitel hören wir ihn sagen:
„Und jetzt, Brüder, ich weiß, daß ihr in Unwissenheit
gehandelt habt, gleichwie auch eure Obersten. Gott aber
hat also erfüllt, was Er zuvor verkündigt hat durch
den Mund aller Propheten, daß Sein Christus leiden
sollte. So thuet nun Buße und bekehret euch, daß eure 
Sünden ausgetilgt werden, damit Zeiten der Erquickung
kommen vom Angesicht des Herrn." (V. 17 —19.)
Hier werden uns die beiden Dinge — Christus als
Prüfstein, und Christus als Opfer — in besonders schöner
Weise vor Augen gestellt. Wir sehen das Kreuz einerseits
als die Darstellung der Schuld des Menschen, und andrerseits als den Beweis der wunderbaren Liebe Gottes.
„Ihr habt den Urheber des Lebens getötet;" das war
der scharfe Pfeil für das Gewissen der Hörer. „Gott
aber hat also erfüllt, was Er zuvor verkündigt hat;"
das war der heilende Balsam für die Wunde des Herzens.
Es war der bestimmte Ratschluß Gottes, daß Sein Christus
leiden sollte, obwohl es auf der andern Seite vollkommen
wahr ist, daß der Mensch seinen ganzen Haß gegen Gott
in der Verwerfung Seines Sohnes geoffenbart hat; aber 
sobald eine Seele zu einem wahren Bewußtsein dieser
letzten Thatsache kommt und sich in aufrichtigem Bekenntnis vor Gott niederbeugt, zeigt ihr der Heilige Geist, daß 
dasselbe Kreuz die Grundlage der Ratschlüsse der erlösenden
Liebe bildet, und daß Gott im Blick auf dieses Kreuz
jedem wahren Gläubigen die volle Vergebung seiner Sünden
ankündigen laßt.
Wir begegnen demselben Grundsatz in der rührenden
Szene zwischen Joseph und seinen Brüdern, wie sie uns im
44. und 45. Kapitel des 1. Buches Mose erzählt wird. Die
schuldigen Brüder werden durch tiefe und schmerzliche Herzensübungen geführt, bis sie endlich in der Gegenwart
ihres Bruders, dem sie so viel Böses zugefügt hatten.
305
stehen und ihre Schuld bekennen. Dann erst, und keinen
Augenblick eher, dringen die lieblichen Worte an ihr Ohr:
„Und nun betrübet euch nicht, und es entbrenne nicht in
euern Augen, daß ihr mich hierher verkauft habt; denn
zur Erhaltung des Lebens hat Gott mich vor euch
hergesandt . . . Und nun, nicht ihr habt mich
hierher gesandt, sondern Gott."
Welch eine Gnade giebt sich in diesen Worten kund l
Sobald seine Brüder den Boden des Selbstgerichts betraten,
stellte Joseph sich auf den Boden der Vergebung. Er
handelte in göttlicher Weise. So lange sie im Blick ans
ihre Sünde gedankenlos dahingingen, redete er hart und
strenge mit ihnen. Sobald sie aber sagten: „Fürwahr,
wir sind schuldig wegen unsers Bruders, dessen Seelenangst wir sahen, als er Zu uns redete; und wir hörten
nicht," begegnete er ihnen mit den lieblichen Worten der
Gnade: „Nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott."
Und so ist es, geliebter Leser, in jedem Falle.
In demselben Augenblick, da der Sünder seine Sünden
bekennt, begegnet ihm Gott mit einer vollen und freien
Vergebung; und sicher, wenn Gott vergiebt, so verzieht Er für immer und ewig. „Ich sagte: ich will
Jehova bekennen meine Uebertretungen, und Du, Du
hast mir vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünde."
(Ps. 32.) Und möchten wir wohl wünschen, daß es anders
wäre? Sicherlich nicht. Ein hartes Herz, ein ungebrochener
Geist, ein nicht erreichtes Gewissen könnten solche Worte
der Gnade: „Betrübet euch nicht; nicht ihr wäret es, 
sondern Gott," nimmermehr verstehen und würdigen.
Wie könnte ein unbußfertiges Herz Worte wertschätzen,
die nur dazu bestimmt sind, einen gebrochenen und zerschlagenen Geist zu beruhigen und aufzurichten? Joseph
hätte unmöglich seinen Brüdern in solcher Gnade begegnen
können, wenn nicht das Bekenntnis vorhergegangen wäre:
„Fürwahr, wir sind schuldig."
Das ist und bleibt stets die göttliche Ordnung: „Ich
will bekennen, und Du hast vergeben." Sobald das erste
306
in Wahrheit eintritt, hört der Sünder kein Wort mehr
über seine Sünden, es sei denn, um ihm zu sagen, daß
sie alle vergeben und vergessen sind. „Ihrer Sünden und
ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken." Gott
vergiebt nicht nur, Er vergißt auch. Der überführte
Sünder blickt auf das Kreuz, erkennt sich selbst in dem
Lichte der Herrlichkeiten Christi, dieses göttlichen Prüfsteins,
und ruft aus: „Was muß ich thun?" Dann antwortet
ihm Gott, indem Er sein Auge auf Christum richtet, als
das vollkommene Opfer, welches nach dem Ratschluß und
nach der Vorkenntnis Gottes geschlachtet wurde, um durch
das Schlachtopfer Seiner selbst die Sünde Hinwegzuthun.
Wer könnte die Gefühle einer Seele beschreiben, die 
überzeugt worden ist, daß sie einen Mörder begehrt und
den Sohn Gottes gekreuzigt hat, wenn sie erkennen lernt,
daß gerade dieser Gekreuzigte der Kanal der Vergebung
und des Lebens für sie geworden ist? Welche Sprache
könnte die Bewegung eines Menschen ausmalen, der seine
Schuld nicht nur in dem Lichte der zehn Gebote, sondern
so gesehen hat, wie sie das Kreuz eines von der Welt
verworfenen Jesus offenbart, wenn er durch den Glauben
erfährt, daß seine Schuld für immer hinweggethan ist?
Wer könnte die Gefühle in Worte kleiden, welche die
Herzen der Brüder Josephs bestürmten, als sie seine Thränen,
die Zeugen seiner innigen Zuneigung zu ihnen, fließen
sahen? Welch ein Schauspiel! Die Thränen einer aufrichtigen Reue und der zärtlichsten Liebe vermischten sich
mit einander.
Indes wolle niemand uns mißverstehen. Völlig fern
liegt uns der Gedanke, als ob Thränen wahrer Buße die
Ursache unsrer Vergebung oder die Grundlage unsers
Friedens bilden könnten. Alle die Thränen der Buße,
welche seit den Tagen Josephs bis auf die gegenwärtige
Zeit hin geflossen sind, vermochten nicht eine einzige Sünde
abzuwaschen, noch konnten sie den Weinenden wahren
Frieden mit Gott geben. Das Blut des göttlichen Opferlammes, der Versöhnungstod Christi allein konnte einen
307
heiligen Gott in den Stand setzen, die Sünde zu vergeben
und den Sünder zu rechtfertigen. Aber, Gott sei gepriesen!
dieses Opfer hat so völlig Seinen Namen verherrlicht
und alle die Forderungen Seiner Gerechtigkeit erfüllt, daß
in demselben Augenblick, da ein Sünder seine Schuld,
seine Feindschaft gegen Gott und gegen Seinen Christus,
mit einem Wort, seinen ganzen verderbten Zustand erkennt,
die göttliche Gnade ihm mit den gesegneten, friedengebenden Worten begegnen kann: „Betrübe dich nicht! — ich
will deiner Sünden und deiner Gesetzlosigkeiten nie mehr
gedenken! — gehe hin in Frieden!"
Doch vielleicht möchte man einwenden, daß wir zu viel
Wert auf das Maß der Ueberzeugung und Zerknirschung der
Seele legten. Das ist indes durchaus nicht unsre Absicht;
wir möchten nur darauf Hinweisen, daß das Kreuz Christi
der einzig passende Maßstab für die Schuld des Menschen
ist, und daß nur in dem Lichte dieses Kreuzes ein Mensch
die ganze Verderbtheit, Sündigkeit und Feindschaft seiner 
Natur erkennen kann. Viele denken nie daran, daß das
Kreuz Christi der höchste Beweis ihrer Schuld ist; sie betrachten es nur als die gesegnete Grundlage der Vergebung.
Niedergebeugt von der Bürde ihrer vielen Sünden und
Uebertretungen, blicken sie auf das Kreuz Christi hin, weil
dort allein Vergebung zu finden ist; und sicher thun sie völlig
Recht daran. Allein es giebt in dem Kreuze Christi, wie
gesagt, noch etwas anderes zu lernen. Es zeigt uns, wie
nichts anders es zu thun vermag, was die menschliche
Natur in ihrem gefallenen Zustande thatsächlich ist. Es
wird nie genügen, einen Blick zurückzuwerfen auf die
Menschen, die zur Zeit des Herrn lebten, und davon zu
reden, welch schreckliche, gottlose Sünder sie waren, indem
sie den Herrn der Herrlichkeit, die lebendige Verkörperung
alles dessen, was heilig, gerecht, rein und gut ist, ans
Kreuz nagelten. Nein, es ist nötig, das Kreuz gleichsam
ins neunzehnte Jahrhundert hineinzubringen und alles:
Natur, Welt und das eigne Ich, daran zu messen.
Und was werden wir finden, wenn wir das thun?
308
Wir werden die Entdeckung machen, daß keine Veränderung
eingetreten, daß das „Kreuzige, kreuzige Ihn!" ebensowohl
der Ruf der Welt des neunzehnten als des ersten Jahrhunderts ist. Das Kreuz war damals und ist heute noch
der wahre Maßstab der Schuld des Menschen. Und was
wird die Folge sein, wenn ein Mensch sich selbst in dem
Lichte dieses ernsten Prüfsteins betrachtet? Die tiefste
Verabscheuung des eigenen Ichs. Und das ist
nicht nur wahr in bezug auf den Hurer und Trunkenbold, sondern auch auf den sittlichen, ehrbaren und religiösen Menschen dieser Welt. Angesichts des Kreuzes verschwindet jede Frage über Unterschiede in dem Charakter,
in den Verhältnissen und Umständen eines Menschen, über
die größere oder geringere Strafbarkeit seines Thuns,
die der Mensch stets so gerne erhebt, um sich zu entschuldigen und Andere zu verurteilen; alle stehen dort ohne
Unterschied als solche, die den Sohn Gottes verworfen
und so ihrer Feindschaft gegen Gott den völligsten Ausdruck gegeben haben.
Wir verweilen bei diesem Punkte so lange, weil wir
fühlen, von welcher Wichtigkeit er ist gerade in diesen
letzten Tagen. Laß uns, geliebter Leser, uns selbst und
alles um uns her stets beurteilen nach diesem vollkommenen
Prüfstein, den Gott uns gegeben hat, nach einem gekreuzigten und verworfenen Christus. Bist du noch nicht ein 
Eigentum deS Herrn, so lausche nicht länger auf die Einflüsterungen Satans, sondern betrachte Ihn; und siehst
du in Ihm den ganzen verlorenen und verderbten Zustand,
in welchem du dich befindest, so wird Gott dich auch weiter
führen, um in Ihm das göttliche Opfer zu erblicken,
welches das Gericht Gottes wider die Sünde trug und
den Himmel für den Sünder öffnete.
(Schluß folgt.)
Kurze Gedanken über Kol. 3, 1—17.
Im ersten Kapitel seines Briefes an die Kolosser
(V. 5.) dankt der Apostel Paulus dem Gott und Vater
unsers Herrn Jesu Christi allezeit für ihren Glauben in
Christo Jesu und für die Liebe, die sie zu allen Heiligen
hatten; und im zweiten Kapitel giebt er seiner Freude
Ausdruck über die Ordnung, die in ihrer Mitte herrschte,
und über die Festigkeit ihres Glaubens an Christum. (V. 5.)
Aus diesen Aeußerungen könnte man leicht den Schluß
ziehen, daß der Zustand jener Versammlung ein durchaus
befriedigender gewesen sei, und daß der Apostel nur mit
Freude und ohne alle Besorgnis an sie habe denken
können. Lesen wir aber im Eingang des zweiten Kapitels
die Worte: „Denn ich will, daß ihr wisset, welch großen
Kampf ich um euch habe re.", und hören wir das Zeugnis, welches Paulus in bezug auf sie dem Epaphras
giebt, der persönlich unter ihnen gelehrt hatte: „Al lezeit
ringend für euch in den Gebeten," (Kap. 4, 12.) so
drängt sich uns die Ueberzeugung auf, daß doch etwas
bei ihnen vorhanden sein mußte, was trotz ihres Glaubens,
ja, der Festigkeit ihres Glaubens an Christum und ihrer
Liebe zu allen Heiligen, und trotz der unter ihnen vorhandenen Ordnung, jene beiden treuen Arbeiter im Werke
des Herrn mit großer Furcht und Besorgnis ihretwegen
erfüllte. Und zwar mußte es etwas höchst Wichtiges sein.
Doch worin bestand die Gefahr der Kolosser, die einen
310
solch ernsten Kamps bei dem Apostel hervorrief? Sie
glaubten doch an Christum als ihren Erretter und ruhten
in betreff ihrer Sünden in Seinem vollbrachten Werke.
Der Wille Gottes, durch welchen sie geheiligt waren durch
das ein für allemal geschehene Opfer des Leibes Jesu
Christi, war von ihnen erkannt und geglaubt. Im Blick
darauf konnte das Herz des Apostels ihretwegen nicht in
Unruhe sein. Was war es denn? Sie standen unter dem
Einfluß falscher Lehrer, die auf allerlei Weise bemüht
waren, ihre Blicke von Christo und Seiner Fülle abzulenken und das Bewußtsein ihrer innigen und unauflöslichen Verbindung mit Christo, ihrer Vollendung in Ihm,
der das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt ist,
(Kap. 2, 10.) in ihren Herzen zu schwächen. Sie fingen
an zu vergessen, daß sie mit Christo den Elementen der
Welt gestorben waren; sie unterwarfen sich den Satzungen,
als lebten sie noch in der Welt. (Kap. 2, 20.)
Der Christ aber gehört dieser Welt nicht mehr an.
Der Tod Christi und sein Gestorbensein mit Ihm hat ihn
für immer davon getrennt. Das Kreuz Christi bildet die
Scheidewand zwischen ihm und der Welt. Das Teil des
Christen ist droben, wo der Christus ist, und schon jetzt besitzt
er alles in Ihm. Der Apostel sagt nicht: „Danksagend
dem Vater, der uns fähig machen wird," sondern: „der
uns fähig gemacht hat zu dem Anteil am Erbe der
Heiligen im Lichte; der uns errettet hat aus der Gewalt
der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes
Seiner Liebe." (Kap. 1, 12. 13.) Wir sind auferweckt mit
Christo und sind jetzt schon in Ihm vollendet. Die Versammlung ist durch ein unauflösliches Band uuf's Innigste
und Festeste mit Christo verbunden, gerade so, wie das
311
Weib mit dem Manne, wie der Leib mit dem Kopfe;
sie ist Seine Fülle, die Fülle Dessen, der alles in allem
erfüllt. (Eph. 1, 23.)
Dieses himmlische Band nun, so unzerreißbar es
auch in sich selbst ist, fing an, sich in den Herzen und in
dem praktischen Bewußtsein der Kolosser zu lockern; und
so standen sie in großer Gefahr, eine Bente der Philosophie der Menschen und allerlei betrügerischer Lehren zu
werden. Standen sie auch, wie wir gesehen haben, in
ihrem Glauben an Christum noch fest und unerschüttert
da, so war dies doch nicht mehr der Fall im Blick auf
die Erkenntnis ihrer Vollendung in Christo. Hatten sie
auch den Willen Gottes, durch welchen sie durch das
Opfer Christi geheiligt waren, erkannt und hielten sie
daran fest, so fingen sie doch an, zu erschlaffen in der
Erkenntnis des Geheimnisses Seines Willens,
(Eph. 1, 9.) d. h. der Ratschlüsse nnd Gedanken Gottes
in bezug auf Christum und die Versammlung — jenes 
herrlichen Geheimnisses, das von den Zeitaltern her in
Gott verborgen geblieben, jetzt aber geoffenbart worden
war durch die Apostel und Propheten (d. h. die Propheten
des Neuen Testaments), und welches alle Schätze der
Weisheit und der Erkenntnis in sich barg.
Satan ist von jeher bemüht gewesen, die köstliche
Wahrheit dieses Geheimnisses in den Herzen der Gläubigen
zu verdunkeln; ja, sein Streben ging stets dahin, ihr
Auge ganz davon abzulenken und sie entweder mit den
thörichten Erfindungen des menschlichen Geistes, oder mit
den Elementen der Welt, d. h. mit allerlei Ceremonien
und Satzungen zu beschäftigen, denen der natürliche Mensch
unterworfen war, und worin er seine Ruhe suchte. Und
312
ach! wie sehr hat der Feind seinen Zweck erreicht! Wie
wenig wird dieses herrliche Geheimnis, das in Wahrheit
jedes gläubige Herz mit Lob und Anbetung und mit der
tiefsten Freude erfüllt, in unsern Tagen erkannt und beachtet, wie wenig werden die darin verborgenen Schätze
der Weisheit und Erkenntnis erforscht! Niemand ist fähig,
den Verlust bezüglich der Verherrlichung Gottes und unsers
praktischen Wandels zu ermessen, wenn wir die Erkenntnis
dieses Geheimnisses verlieren, und wenn das unauflösliche
Band, welches Christum und die Versammlung umschlingt
und das jetzt ebenso fest und vollkommen ist, wie eS
später in der Herrlichkeit sein wird, in unsern Herzen
geschwächt oder gar völlig verdunkelt wird.
Der Apostel nun sah, daß dieser Verlust den Kolossern
drohte, und deshalb hatte er ihretwegen einen so großen
Kampf. Er hörte nicht auf, für sie zu bitten, daß sie
erfüllt sein möchten mit der Erkenntnis Seines
Willens in aller Weisheit und geistlichem Verständnis.
(Kap. 1, 9.) Sein sehnliches Verlangen war, daß auch
daS Geheimnis Seines Willen.s wieder den ihm
gebührenden Platz in ihrem Herzen finden möchte. Deshalb war auch Epaphras allezeit in ringendem Gebet für
sie, „auf daß ihr," wie der Apostel sagt, „stehet vollkommen und völlig überzeugt inallemWillenGottes."
(Kap. 4, 12.) Möchte es doch dem Herrn Wohlgefallen,
auch in den gegenwärtigen, gefahrvollen Tagen, in diesen
letzten, schweren Zeiten, immer mehr solche Arbeiter unter
uns zu erwecken, denen Seine Verherrlichung über alles
geht, die für sich selbst den Ratschluß Gottes in Wahrheit kennen und deshalb fähig sind, ihn mit Weisheit und
Einsicht auch Anderen zu verkündigen, um so jeden Menschen
313
vollkommen in Christo darzustellen (Kap. 1, 28.) — ja,
solche Arbeiter, die allezeit die Seinigen auf betendem
Herzen tragen und stets für ihr Wohl besorgt sind!
Doch welchen Weg schlägt der Apostel ein, nm der
den Kolossern drohenden Gefahr zu begegnen? Er ist vor
allem bemüht, die Herzen der Kolosser von allem Andern
ab- und auf Christum hinzulenken, indem er ihnen die
Fülle, die in Ihm ist, vor Augen stellt und sie zugleich
vor den verderblichen Dingen warnt, wodurch der Feind
mittelst der überredenden Worte der falschen Lehrer sie zu 
betrügen und ihre Zuneigungen von Christo abzulenken
suchte. Es ist in der That ein unersetzlicher Verlust für
das Herz, ja, für unsern ganzen Wandel, wenn Christus
nicht mehr den einzigen Gegenstand, den einzigen Mittelpunkt unsers Lebens hienieden bildet.
Die reiche und unermeßliche Fülle, die in Ihm ist,
wird uns in Kap. 1, 14—20 vor Augen gestellt. In
Ihm haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden;
Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborne
aller Schöpfung; das ganze Weltall, alles, was existirt,
ist durch Ihn und für Ihn geschaffen; Er ist vor allen,
und alle Dinge bestehen zusammen durch Ihn; Er ist das
Haupt des Leibes, der Versammlung, der Anfang, der
Erstgeborne aus den Toten; ja, in allen Dingen hat Er
den Vorrang. Es war das Wohlgefallen der ganzen
Fülle, der Fülle der Gottheit, in Ihm zu wohnen und
durch Ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen. Er ist das
Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt, und wir, die 
Erlösten, sind vollendet in Ihm. Wir sind schon jetzt
durch ein festes und ewiges Band mit Ihm in jener herrlichen
und erhabenen Stellung verbunden, sind ein Teil von
314
Ihm. Er ist das Haupt, die Versammlung ist Sein
Leib/ Seine Fülle. Indem wir mit Christo gestorben
sind, sind wir von unsrer früheren Stellung und Verantwortlichkeit im Fleische völlig befreit. Die Sünde, der
Tod und die Verdammnis sind für den Gläubigen nicht
mehr vorhanden. Der Tod und das Gericht Christi auf
dem Kreuze waren unser Tod und unser Gericht. Beides
liegt für immer hinter uns. Welch eine Gnade und
welch ein Trost!
Auf dem Kreuze sind also nicht nur alle unsere
Sünden getilgt durch das Blut Christi, sondern auch über
uns selbst, über unsern ganzen Zustand von Natur, ist 
das Gericht von feiten Gottes völlig ausgeführt worden.
Seine Gerechtigkeit hat in Christo, der auf dem Kreuze
für uns zur Sünde gemacht war, ihre völlige Befriedigung
gefunden, ja, alles, was in Gott ist, ist dort in bezug
auf uns vollkommen verherrlicht worden. Konnte Satan
im Garten Eden, als er den ersten Adam durch Betrug
zum Ungehorsam verleitet und Tod und Verderben über
ihn und sein ganzes Geschlecht gebracht hatte, über Gott
triumphiren, so konnte jetzt Gott durch das Kreuz, auf
welchem der letzte Adam Sein Leben aushauchte, über
Satan triumphiren. (Kap. 2, 15.) Er ist dort völlig zu
nichte gemacht und aller seiner Herrlichkeit beraubt worden.
Und wie Satan, der die Macht des Todes hatte, durch
den Tod Christi zu nichte gemacht worden ist, so auch
der Tod selbst durch die Auferstehung Christi; Er
hat Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht.
(2. Tim. 1, 10.) Wie tief stand das Kreuz unter jenem herrlichen Garten Eden, aber wie hoch stand der
letzte Adam über dem ersten! Dieser bewirkte den
315
Triumph Satans, jener den Triumph Gottes. Welch ein
Unterschied I
In den beiden ersten Kapiteln der vorliegenden Epistel
hat also der Apostel namentlich die unermeßliche Fülle
des Christus und unsre Vollendung in Ihm dargestellt;
und im Blick darauf kann man nur sagen: Welch ein
Verlust war es für die Kolosser und ist es für uns alle,
diese Fülle in Christo, sowie das Bewußtsein unsrer
gesegneten Stellung, unsrer vollkommenen Verbindung mit
Ihm aus dem Auge zu verlieren und uns mit den elenden
Erfindungen und Einbildungen der Menschen zu beschäftigen, oder auf wertlose und armselige Satzungen unser
Vertrauen zu setzen! Der Tod Christi hat uns für immer
davon getrennt. Wir sind aber nicht nur mit Ihm gestorben, sondern auch mit Ihm lebendig gemacht, mit Ihm
auserweckt worden und sind dadurch in ganz neue Beziehungen gekommen. Wir sind im Leben unzertrennlich mit
Dem verbunden, der zur Rechten Gottes sitzt; und auf
dieses Band gründet der Apostel seine Ermahnungen im
dritten Kapitel dieser Epistel.
„Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt seid,
so suchet, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur
Rechten Gottes. Sinnet ans das, was droben ist, nicht
auf das, was auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben,
und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott."
(B. 1 — 3.) Das Band, welches uns mit Christo verbindet, zeigt auf's Deutlichste, daß es sich für uns nur
geziemt, nach dem zu trachten und auf das zu sinnen,
was droben ist, wo der Christus ist. Es ist auch ganz
und gar unmöglich, den Gegenstand seines Herzens zugleich
droben und hienieden zu haben, im Himmel und auf der
316
Erde, in Christo und in der Welt; denn das Eine steht
in jeder Beziehung im völligsten Gegensatz zu deni Andern.
Wenn es sich um die Elemente der Welt, oder überhaupt
um das handelt, was auf der Erde ist - mag dies auch
an und für sich nicht gerade verwerflich und schlecht sein —
so sagt der Apostel: „Ihr seid gestorben." Die frühere
Stellung, als Kinder des ersten Adam, hat für solche, die
mit Christo lebendig gemacht und auferweckt sind, für immer
aufgehört, und alles, was damit in Verbindung stand, hat
seinen Wert gänzlich für sie verloren. Sie haben daS
Leben Christi empfangen und sind durch dieses Leben
ganz und gar mit Ihm vereinigt. Christus selbst ist
die sichere Quelle ihres Lebens, das sie in und mit Ihm
besitzen. Deshalb werden sie auch ermahnt, zu suchen,
was droben ist, wo der Christus ist. Doch ist dieses
Leben mit Ihm in Gott verborgen. DaS Leben, das sich
jetzt auf der Erde offenbart, ist das Leben der Welt und
der Sünde. Es wird aber nicht immer so bleiben, denn
wir lesen in Vers 4: „Wenn der Christus, der unser
Leben ist, offenbar werden wird, dann werdet auch ihr
mit Ihm offenbar werden in Herrlichkeit." Wir teilen
völlig das Los Christi, in welchem wir unser Leben besitzen. So lange Er verborgen ist, ist auch unser Leben
verborgen, weil Er unser Leben ist; wird Er aber geoffenbart, so werden wir mit Ihm geoffenbart werden in
Herrlichkeit vor den Augen aller, die im Himmel und auf
Erden sind.
Obwohl wir aber gestorben sind und unser Leben
mit dem Christus in Gott verborgen ist, so haben wir
doch noch Glieder, die auf der Erde sind, und die wir zu
töten haben: „Hurerei, Unreinigkeit, Leidenschaft, böse
317
Lust und Habsucht, welche Götzendienst ist, um welcher
Dinge willen der Zorn Gottes kommt über die Söhne
des Ungehorsams." (V. 5. 6.) Es sind die Glieder des
alten Menschen, der dem System dieser Welt angehört
nnd sein Leben darin hat, der nur auf das sinnt, was
auf der Erde ist. Diese Glieder sollen wir töten, d. h.
praktisch verleugnen; und dies kann nur geschehen durch
den neuen Menschen, der sein Leben und seine Kraft in
Christo hat. Wenn der Christ seine gesegnete Stellung
vernachlässigt, wenn sein Dichten und Trachten von neuem
auf das gerichtet ist, was der Welt oder der Erde angehört, so nährt und pflegt er jene Glieder; ihr Einfluß
und ihre Wirksamkeit nehmen zu, und endlich gewinnen
sie wieder die völlige Herrschaft über ihn. Ist aber sein
Sinnen auf das gerichtet, was droben ist, bleibt er in
Christo und Christus in ihm, so finden jene Glieder keine
Nahrung. Sie sind zwar stets vorhanden, aber sie finden
keinen Raum, sich wirksam zu erweisen; ihr Einfluß ist
gehemmt. So lange der eigene Wille nicht gebrochen und
das Herz dem Herrn nicht unterworfen ist, wird die sündliche Natur sich in allerlei schändlichen Aeußerungen und
verwerflichen Ausbrüchen kund geben, in „Zorn, Wut,
Bosheit, Lästerung, schändlichen Reden w." (V. 8.) Der
Christ aber ist ermahnt, dieselben abzulegen. Wir haben
aber nicht nur die groben Sünden zu verleugnen, sondern
alle Wirkungen einer Natur, die Gott nicht kennt und
nicht nach Ihm fragt. Es ist schön zu sehen, wie hier
die Wahrheit, daß wir mit Christo gestorben und aufcrstanden sind, eingeführt wird als die Befreiung von
allem, was jener alten Natur angehört. Der erste Adam
ist in allem und völlig gerichtet, nichts ist verschont worden.
318
„Belüget einander nicht, da ihr den alten Menschen
mit seinen Handlungen ausgezogen und den neuen angezogen
habt, der erneuert wird nach dem Bilde Dessen, der ihn
geschaffen hat." (V. 9. 10.) Der neue Mensch haßt die
Lüge und liebt die Wahrheit, denn er hat teil an der
göttlichen Natur. Er kennt Gott und beurteilt das Gute
wie das Böse nicht nach dem Gesetz, nicht nach dem, was
der Mensch als ein verantwortliches Wesen sein sollte,
sondern nach der Natur Gottes. Er wandelt im Lichte
und besitzt dasselbe. Alles, was dem alten Menschen
angehört, wird von ihm Gott gemäß gerichtet. In seiner
neuen Stellung und Verwandtschaft findet er nur seine
Befriedigung in dem, was göttlich ist. Er giebt keiner
Lüge Raum, weil Gott dadurch verunehrt wird, und weil
er den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen
und den neuen angezogen hat.
Der neue Mensch aber bedarf des Wachstums; er
muß zunehmen und gekräftigt werden. „Er wird erneuert;" und dies geschieht durch die Wirksamkeit des
Heiligen Geistes; das vollkommene Muster aber, nach
welchem er gebildet wird, ist Christus. Er ist das Bild
Dessen, der den neuen Menschen geschaffen hat. Welch
ein vollkommenes Muster! Und wie sehr war der Apostel
bemüht, jeden Menschen nach diesem Muster zu bilden,
jeden Menschen vollkommen in Christo darzustellen! (Kap.
1, 28. 29.) Es ist auch das Ziel der Wirksamkeit des
Heiligen Geistes, daß alle, die Christo angehören, hingelangen „zu dem erwachsenen Manne, zu dem Maße des
vollen Wuchses der Fülle des Christus." (Eph. 4, 18.)
Und welches ist der Weg, um zu diesem herrlichen
Ziele zu gelangen? „Wir alle aber, mit aufgedecktem
319
Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden
verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist." (2. Kor. 3, 18.)
Das ist der Weg, auf welchem der neue Mensch immer
mehr zur Erkenntnis erneuert wird nach seinem wahren
und vollkommenen Muster — der Weg, auf welchem er
in feinem Wachstum Fortschritte macht. Im Blick auf
den neuen Menschen hat auch jeder Unterschied unter einander aufgehört: „Wo nicht ist Grieche und Jude, Beschneidung und Vorhaut, Barbar, Scythe, Sklave, Freier,
sondern Christus alles und in allen." (V. 11.) Er ist 
der alleinige wahre Gegenstand aller Gläubigen; nur Ihn
erkennen sie an, auf Ihn sind aller Blicke gerichtet, in
Ihm finden alle ihre Freude und Wonne, ja ihr volles
Genüge. Und Er ist in allen, Er ist ihr Leben; Er selbst
ist der wahre und vollkommene Ausdruck ihrer Stellung
und ihres Zustandes vor Gott.
Da nun Christus in allen Gläubigen ist, so werden
auch diese mit Seinen Titeln betraut und werden ermahnt,
auch Seiner Gesinnung gemäß zu wandeln. „Ziehet an,
als Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte, herzliches
Erbarmen, Güte, Niedriggesinntheit, Milde, Langmut."
<V. 12.) Wenn wir den Pfad Christi hienieden verfolgen,
so sehen wir, daß alle die hier erwähnten Eigenschaften
in Ihm ihren vollkommenen Ausdruck fanden. Inmitten
riner Welt, wo nur Elend und Sünde Ihn umgab, traten
sie stets in ihrem göttlichen Glanze hervor. Wir mögen
Ihm begegnen an der Quelle Jakobs, wo Er zu einer
Samariterin redete, oder im Hause Simons, des Aussätzigen, wo eine große Sünderin zu Seinen Füßen lag;
wir mögen Ihn begleiten nach Nain, wo eine Witwe den
320
Verlust ihres einzigen Sohnes beweinte, oder an jenen
wüsten Ort, wo eine große Volksmenge Ihn umgab, die
dahinging, wie Schafe ohne Hirten; wir mögen Ihn
endlich inmitten der Zöllner und Sünder erblicken oder
im Kreise der Seinigen, immer kann Er uns zurufen:
„Lernet von mir!" Immer sieht man bei Ihm die göttliche
Liebe in allen ihren schönen Charakterzügen, je nachdem es
die Umstände erheischen, hervorstrahlen. Nun ist Er
unser Leben; Er wohnt in uns und wir in Ihm. Die
Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den
Heiligen Geist, der uns gegeben ist, und deshalb geziemt
es sich auch für uns, in Seinen Fußstapfen zu wandeln,
allezeit dieselbe Gesinnung zu offenbaren, überall dieselben
Beweise und Eigenschaften dieser göttlichen Liebe ans
Licht treten zu lassen, und zwar inmitten einer verderbten
und gottlosen Welt, auf daß jedermann erkenne, daß
Christus in uns ist, und daß wir Seine Jünger sind.
Weiter ermahnt der Apostel: „einander ertragend
und euch gegenseitig vergebend, wenn einer Klage hat
wider den Andern; wie auch der Christus euch vergeben
hat, also auch ihr." (V. 13.) Wenn die Eigenliebe das
Herz regiert, so erwartet man, von allen ertragen zu
werden, aber man ist selbst wenig bereit, Andere zu ertragen. Auch sind wir stets geneigt, die Schwächen und
Fehler Anderer, und besonders wenn wir durch dieselben
unmittelbar berührt werden, in vergrößertem Maßstabe
zu sehen und ohne alle Rücksicht zu verurteilen, während
wir unsre eigenen Fehler als etwas ganz Geringes betrachten und auf alle Weise zu entschuldigen wissen. Wir
halten es für sehr leicht, daß Andere uns ertragen, aber
für eine schwere Aufgabe und eine große Zumutung, daß
321
Wir jene ertragen sollen. Wandeln wir aber im Lichte
Gottes, so bewundern wir mit tiefer Beugung Seine Geduld und Langmut, mit welcher Er uns Tag für Tag
trägt; und erfüllt die Liebe Christi unser Herz, so wird
es uns nicht schwer, Andere zu ertragen und sie in Demut
höher zu achten, als uns selbst. Der Herr ertrug Seine
Jünger mit allen ihren Fehlern und Schwachheiten in
unveränderlicher Liebe nnd ausharrender Geduld bis
ans Ende. Und so war auch von jeher Sein Herz mit
Gnade und Vergebung gegen uns erfüllt. Schon damals,
als Er auf dem Kreuze Sein teures Leben für uns dahingab, oder als Er uns, als verlornen Sündern in dieser
Welt, nachging und uns aufsuchte, war nichts als Liebe,
Gnade und Vergebung gegen uns in Seinem Herzen, und
nicht etwa erst von dem Augenblick an, da wir Buße thaten
und zu Ihm um Gnade flehten. Dieselbe Gesinnung geziemt sich jetzt auch für uns, wenn wir Klage haben
wider jemanden. Die Vergebung soll stets in unsern
Herzen sein, und nicht erst dann beginnen, wenn das uns
etwa zugefügte Unrecht anerkannt nnd bereut wird; „wie
der Christus euch vergeben hat, also auch ihr." Er ist in
allem das vollkommene Muster unsrer Gesinnung und
unsers ganzen Verhaltens.
Es können nun freilich in der menschlichen Natur
Eigenschaften gefunden werden, welche den in Vers 12
erwähnten ähnlich sind; allein es besteht ein großer Unterschied zwischen dem, was aus der Natur stammt, und
dem, was die Gnade bewirkt hat. Das Auge eines
Christen, der sich seiner Verbindung mit Christo bewußt
ist und Ihn zum Gegenstände seines Herzens hat, ist
fähig, diesen Unterschied zu erkennen. Alles, was die
322
menschliche Natur hervorbringt, mag es einen noch so
schönen Schein haben, ist wertlos vor Gott und ohne
Wirklichkeit und Kraft; und dies wird sich stets offenbaren,
sobald eine Zeit der Probe kommt. Deshalb sagt auch
der Apostel: „Zu diesem allen aber füget die Liebe,
welche das Band der Vollkommenheit ist." (V. 14.) Die
Liebe ist aus Gott und ist die einzig wahre Quelle, aus
welcher jene Eigenschaften entspringen. Sie verleiht denselben einen wahrhaft göttlichen Charakter und giebt unserm ganzen Verhalten hienieden Leben und Kraft. Und
diese Liebe ist wirksam, wenn wir im Bewußtsein unsrer
Gemeinschaft mit Gott in Seiner Gegenwart wandeln.
„Und der Friede deS Christus herrsche in euern
Herzen, zu welchem ihr auch berusen seid in einem Leibe,
und seid dankbar." (V. 15.) Als der Herr diese Erde
verließ, sagte Er zu Seinen Jüngern: „Meinen Frieden
gebe ich euch." Er war hienieden in allem versucht
worden, worin die menschliche Natur versucht werden kann;
aber nichts vermochte jenen süßen Frieden in Ihm zu
stören oder zu schwächen, denn Er wandelte stets in dem
Bewußtsein und in der Gemeinschaft der Liebe Gottes
und in der völligen Abhängigkeit von Seinem Willen.
Wir sind nun in Ihm Gott so nahe gebracht, daß wir
fähig sind, unter der Leitung und durch die Kraft des
Geistes in Seinen Fußstapfen und in Seiner Gesinnung
zu wandeln, und wenn wir es thun, so wird auch der
„Friede des Christus" der stete und köstliche Genuß unsrer
Herzen sein. Zugleich bemerkt der Apostel, daß wir in
der Einheit des Leibes zu diesem Frieden berufen sind,
daß also in der Versammlung, als dem Leibe Christi,
dieser Friede herrsche und das Band der Einheit bilde.
323
Und wenn dies der Fall ist und wir in diesem glücklichen
und gesegneten Zustande auf den Reichtum der Gnade
und Liebe Gottes blicken, der uns in Christo Jesu zu teil
geworden ist, so wird Lob und Dank unser Herz erfüllen.
Weiter lesen wir in Vers 16: „Lasset das Wort
des Christus reichlich in euch wohnen, in aller Weisheit
euch gegenseitig lehrend und ermahnend, mit Psalmen,
Lobgesäugen und geistlichen Liedern, Gott singend in
euern Herzen in Gnade." Die Epistel an die Kolosser
zeigt uns Christum als das Haupt der Schöpfung und
der Versammlung, als die Quelle und den Mittelpunkt
von allem und als das einzig wahre und vollkommene
Muster für den neuen Menschen. Dieser wird ernährt
und entwickelt durch das Wort des Christus; es ist der
Ausdruck dessen, was Er ist. Je reichlicher dasselbe daher
in uns Raum findet und gepflegt wird, und je mehr wir
praktisch in einem steten und verborgenen Umgang mit
Christo wandeln, desto mehr sind wir fähig, in aller
Weisheit uns gegenseitig zu lehren und zu ermahnen.
Das ist aber nicht die einzige Frucht. Wenn Christus
der wahre und wirkliche Gegenstand unsers Lebens ist
und wir nichts anderes begehren, als Seinen wohlgefälligen
Willen zu erforschen und zu thun, so wird Er sich uns
offenbaren, (Joh. 14, 21.) und unser Herz wird mit Lob
und Dank erfüllt sein. Unsre innerlichen Gefühle, in
welchen das geistliche Leben sich entfaltet — die Gefühle
der Freude uud des Glücks werden alsdann ihren Ausdruck finden in Psalmen, Lobgesängen und geistlichen
Liedern. Es sind die Aeußerungen eines mit Christo erfüllten Herzens, das sich seiner innigen Verbindung mit
Ihm bewußt ist; und diese Aeußerungen sind höchst nütz­
324
lich und gesegnet für Andere, sie zu belehren, zu ermahnen
und zu ermuntern. Gott selbst ist der Gegenstand unsers
Lobes und unsrer Danksagung; wir besingen Seine Herrlichkeit im Geiste der Gnade.
Endlich ermahnt der Apostel die gläubigen Kolosser,
nichts ohne Christum zu thun; denn niemand steht unsrer
Seele so nahe als Er, mit niemand sind wir im Leben
so völlig und innig verbunden. „Alles, was immer ihr
thut, im Wort oder im Werk, alles thut in dem Namen
des Herrn Jesu, danksagend Gott, dem Vater, durch Ihn."
(V. 17.) Das Leben eines Christen findet nicht nur in
gewissen Eigenschaften, die Christum zur Quelle haben,
seinen wahren und völligen Ausdruck, sondern darin, daß 
Christus selbst der Zweck und Gegenstand seines Herzens
ist in allem, was er thut. Wir besitzen unser Leben,
das wahre und wirkliche Leben, in Ihm; ja, Er selbst
ist unser Leben, und darum kann auch alles, waS aus
diesem Leben fließt, nur Ihn zum Ziel und Gegenstand
haben nnd in Verbindung mit Ihm geschehen. Wenn
Christus selbst das Herz einnimmt und Seine Verherrlichung unsre Freude ist, so wird auch Seine Gegenwart
all unserm Thun seinen Stempel aufdrücken, und alles
wird mit Ihm in Verbindung gebracht werden. Wir thun
dann alles in Seinem Namen, und Er selbst ist die Quelle,
die Kraft und das Ziel aller unsrer Handlungen. Wir
bleiben in Ihm und Er in uns; das Bewußtsein der
göttlichen Liebe erfreut unser Herz und drangt uuS, allezeit durch Ihn unsre Danksagung Gott, dem Vater, darzubringen.
Der Herr gebe, daß wir Sein Wort beherzigen, die
Gemeinschaft mit Ihm allezeit verwirklichen, damit unser
325
Leben in dieser gesegneten Weise vollbracht und Sein
Name durch uns verherrlicht werde! Möge Er selbst
Tag sür Tag die Freude und Wonne unsers Herzens
sein und den einzigen teuren Gegenstand unsers ganzen
Lebens hienieden bilden!
Christum predigen.
(Schluß.)
Wir haben in dem Vorhergehenden Christum als
den vollkommenen Prüfstein und als das reine, fleckenlose Opfer unsern Lesern vorzuftellen gesucht, und so
bleibt uns nur noch übrig, Ihn als
das Muster oder Vorbild
zu betrachten, nach welchem der Heilige Geist jeden wahren
Gläubigen zu bilden und zu gestalten sucht. Indes möchte
gefragt werden: Wie ist das jemals möglich S Wie könnten
solch elende Geschöpfe, wie wir sind, einem so herrlichen
und vollkommenen Bilde gleichgestaltet werden? Die
Beantwortung dieser Frage wird in noch vollständigerer
Weise, als es bisher geschehen ist, die reiche Segnung
und den unendlichen Wert der Wahrheiten, welche bereits
vor unsern Augen vorübergingeu, entfalten. Wenn der
Leser unsern Betrachtungen mit Aufmerksamkeit gefolgt
ist und in der Kraft des Geistes Gottes den Gegenstand
derselben wirklich erfaßt hat, so wird er fühlen und anerkennen, daß es in ihm von Natur keine Spur von
Gutem giebt, ja nicht das Geringste, auf welches er seine
Hoffnungen für die Ewigkeit gründen könnte. Er wird
erkannt haben, daß er, soweit es ihn selbst betrifft, nichts
ist als ein vollständiges Wrack, und daß es ferner nicht
der Vorsatz Gottes ist, dieses moralische Wrack auszubessern
326
und wiederherzustellen, sondern eine völlig neue Sache
ins Leben zu rufen. Bon dieser neuen Sache bildet
das Kreuz Christi die Grundlage.
Der Leser wolle dies wohl erwägen! Das wahre
Christentum besteht, wie wir schon im Eingang unsrer
Betrachtungen betonten, nicht in einem Verbessern der
alten Natur, sondern in dem Einpflanzen einer neuen.
„ES sei denn, daß jemand von neuem geboren worden,
so kann er das Reich Gottes nicht sehen." (Joh. 3, 3.)
Und: „Wenn jemand in Christo ist — eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden.
Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst durch
Jesum Christum versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung gegeben hat." (2. Kor. 5, 17. 18.)
Die Sendung Christi in diese Welt lieferte den
endgültigen Beweis von dem ganz und gar unverbesserlichen und unheilbaren Ruin des Menschen. Als der
Mensch den Sohn Gottes verwarf und kreuzigte, erwies
sich sein Fall als ein völlig hoffnungsloser. Wir haben
schon wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß eS gut
und nötig ist, hierüber klar zu sein. So lange ein Mensch
von dem Gedanken geleitet wird, seine Natur durch irgend
etwas verbessern zu müssen, ist ihm die FundamentalWahrheit des Christentums noch durchaus fremd. Leider
herrscht über diese einfache Wahrheit des Evangeliums
in der bekennenden Kirche eine erschreckende Finsternis
und Unwissenheit. Das völlige Verderben des Menschen
wird geleugnet, oder in der einen oder andern Weise
hinwegdisputirt, und man will die Einrichtungen und
Satzungen der mosaischen Haushaltung benutzen, um die
gefallene Natur zu verbessern und sie für die Gegenwart
327
Gottes passend zu machen. Auf diese Weise schwindet
mehr und mehr jedes Verständnis über die Natnr der
Sünde und über die Forderungen der Heiligkeit Gottes;
man setzt die volle, freie und unumschränkte Gnade Gottes
beiseite und wirft gleichsam den Opfertod Christi über
Bord. Der Herr gebe allen, die sich in irgend einer Weise 
in Seinem Werke bemühen, den aufrichtigen Wunsch, mit
mehr Ernst, Kraft und Treue die alten Grundwahrheiten
in Wort und Schrift so darzustellen, wie sie uns in den
Büchern des Neuen Testaments wieder und wieder mitgeteilt sind! Es thut wahrlich not in unsern Tagen, das
Banner der Wahrheit aufrecht zu halten, nicht in einem
Geiste der Streitsucht, sondern in Milde und Einfalt,
aber auch mit Entschiedenheit und Ernst. Wir bedürfen
Männer, die in Wahrheit „Christum predigen," die Ihn
als den wahren Prüfstein des Zustandes des Menschen
und der Welt, als das vollkommene Opfer Gottes und
als das einzige, erhabene Vorbild jedes wahren Gläubigen
verkündigen.
Wahres Christentum ist also nicht das Bestreben
einer gefallenen und verderbten Natur, Christo nachzuahmen,
oder durch das Halten des mosaischen Gesetzes Gerechtigkeit zu erwirken, sondern es ist das gänzliche Aufgeben
dieser Natnr, als einer Sache, die völlig unverbesserlich
und zu nichts Gutem tauglich ist, und die Annahme eines 
gekreuzigten und auferstandenen Christus, als der Grundlage aller unsrer Hoffnungen für Zeit und Ewigkeit. Wie
könnte ein nicht erneuerter Sünder durch das Halten des
Gesetzes, durch welches Erkenntnis der Sünde kommt, Gerechtigkeit erlangen? Wie könnte er sich je daran geben,
Christo nachzuahmen? Es ist ganz und gar unmöglich.
328
Er m u ß von neuem geboren werden. Er muß ein neues
Leben empfangen haben, ehe er Christum in seinem Wandel darstellen kann. In den Fußstapfen Christi zu wandeln
und Seinem Beispiel nachzuahmen, ist für einen unbekehrten Menschen eine völlig hoffnungslose Aufgabe. Nein,
ein Blick auf das gesegnete Beispiel unsers Herrn Jesu
ruft in einer aufrichtigen Seele diese Wirkung hervor,
daß sie sich in tiefer Verabscheuung ihres eigenen Ichs
und in wahrer Zerknirschung in den Staub beugt; und
wenn sie dann von diesem Platze aus den Blick zu dem
Kreuze erhebt, an welches Christus als unser Sündenträger und göttlicher Stellvertreter genagelt war, so strömen
Friede und Vergebung auf sie herab infolge Seines gesegneten Opfers, und dann, aber auch keinen Augenblick
eher, kann sie sich ruhig und glücklich zu Seinen Füßen
niederlassen, um Ihn als ihr Vorbild und Muster zu
erforschen.
Wenn ich daher das Leben Christi getrennt von
Seinem Versöhnungstode betrachte, wenn ich mich an diesem
vollkommenen Maßstabe messe und denke, daß ich mich
selbst einem solchen Bilde immer mehr gleichgestalten müsse,
so kann nichts anderes als hoffnungslose Verzweiflung
mein Los sein. Wenn ich aber meinen Blick auf den
Vollkommenen und Heiligen richte, der meine Sünden an
Seinem Leibe auf das Holz trug, wenn ich Ihn sehe,
wie Er in Seinem Tode und in Seiner Auferstehung den
ewigen Grund zu meinem Frieden und zu meiner Herrlichkeit legte, dann kann ich mit einem friedeerfüllten Herzen
und mit einem befreiten Gewissen jenes ganze wunderbare Leben betrachten und darin erkennen, wie ich wandeln soll; denn
«Er hat uns ein Beispiel gelassen, daß wir Seinen Fuß­
329
stapfen Nachfolgen sollen." Während also Christus als
Prüfstein mir meine Schuld zeigt, ordnet Christus
als Opfer diese Schuld und nimmt sie hinweg, nnd
Christus steht als Vorbild vor den Augen meines
Herzens und zeigt mir das Muster, welchem ich nachahmen
soll. Mit einem Worte, Christus ist mein Leben, und
Christus ist mein Vorbild; und der Heilige Geist, welcher
auf Grund des vollbrachten Erlösungswerkes Wohnung
in mir gemacht hat, wirkt in mir zu dem Zwecke, um
mich dem Bilde Christi immer mehr gleichförmig zu machen.
„Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch
den Herrn, den Geist." (2. Kor. 3, 18.)
Sicher werde ich stets fühlen und anerkennen müssen,
wie unendlich weit ich hinter diesem erhabenen Vorbilde
zurückbleibe; aber dennoch ist Christus mein Leben, obgleich
die Offenbarung dieses Lebens durch die Schwachheiten
und die Verderbnis meiner alten Natur in beklagenswerter
Weise gehindert sein mag. Das Leben Christi ist mein
Leben geworden, wie der Apostel Johannes schreibt:
„Welches wahr ist in Ihm und in euch, weil die Finsternis vergeht und das wahrhaftige Licht schon leuchtet."
<1. Joh. 2, 8.) Wir können und dürfen uns mit nichts
Geringerem als das zufrieden geben. Er ist unser Leben,
und Er ist unser Vorbild und Muster. „Zu leben für
mich ist Christus," konnte Paulus sagen. Christus wurde
in dem täglichen Leben des Apostels durch die Kraft des
Heiligen Geistes dargestellt.
Es möge sich daher niemand täuschen! Nicht der ist
ein wahrer Christ, der durch die Beobachtung zahlreicher
330
Satzungen und Ceremonien, durch Gebete, Almosen und
Opfer seine gefallene, verderbte Natur zu verbessern nnd
ihr ein erträgliches Kleid zu geben sucht; auch nicht der, 
welcher sich von „bösen" zu „toten" Werken wendet, der
sich des Trinkens, Schwörens, leichtfertigen Redens w. uv
enthält und ein ehrbares Leben führt, die Bibel fleißig
liest und die Orte besucht, wo das Wort Gottes verkündigt
wird. Die Natur kann und mag sich in ein frommes,
religiöses Gewand hüllen, sie mag selbst das Leben nnd
den Wandel Christi nachzuahmen suchen, aber alle ihre
Bemühungen sind eitel, all ihr Thun ist vergebens. Denn
„was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch" und
kann nie etwas anderes werden; es kann das Reich
Gottes nicht sehen, noch in dasselbe eiugehen. „Ihr
müsset von neuem geboren werden."
Das ist die göttliche und ewige Grundlage alles wahren
Christentums. Das Leben Christi muß in der Seele sein,
jenes Band, welches mich mit „dem zweiten Menschen,
dem letzten Adam," unauflöslich verbindet. Der erste
Mensch ist verurteilt, gerichtet und beiseite gesetzt worden.
Der zweite Mensch kam und stand neben dem ersten nnd
versuchte und prüfte ihn und bewies in der vollkommensten
Weise, daß sich in der Natur, in dem Charakter und Zustand desselben nicht das Geringste befand, was für die
neue Schöpfung, für das himmlische Reich, welches eingeführt werden sollte, hätte passend gemacht werden können;
ja, es zeigte sich, daß kein einziger Stein des alten Gebäudes für das neue umgearbeitct werden konnte, daß
„in dem Fleische nichts Gutes wohnt," und endlich daß
der Boden von all dem Schutt einer gefallenen und verderbten Menschheit gereinigt und ein völlig neues Funda­
331
ment in dem Tode des zweiten Menschen gelegt werden
mutzte, der in der Auferstehung, als der letzte Adam, das
Haupt der neuen Schöpfung geworden ist. Außer Ihm und
getrennt von Ihm giebt es und kann es kein Leben geben.
„Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn
Gottes nicht hat, hat das Leben nicht." (1. Joh. 5, 12.)
So lautet die bestimmte Sprache der Heiligen Schrift,
und sie wird Stand halten trotz all der Vernunftgründe
und Schlüsse derer, welche sich ihrer freien und erleuchteten Anschauungen, der Kraft ihres Verstandes und der
Weite ihrer theologischen Ansichten rühmen. Es macht in
der That wenig aus, was die Menschen denken und
sagen; wir haben nur auf das Wort unsers Gottes zu
lauschen, welches bis in alle Ewigkeit bestehen wird, und
dieses Wort erklärt: „Ihr müsset von neuem geboren
werden." Der Mensch kann hieran nichts ändern. Da
ist ein Reich, welches durch nichts erschüttert werden kann,
und um in dieses himmlische Reich eingehen zu können,
ist eine neue Geburt notwendig. Der Mensch ist nach
jeder Seite hin und in jeder Weise geprüft worden und
hat die Probe nicht bestanden, und jetzt heißt es: „Christus
ist einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart
worden zur Abschaffung' der Sünde durch das Schlachtopfer Seiner selbst." (Hebr. 9, 26.)
Das ist die einzige Grundlage des Lebens und Friedens,
und wenn eine Seele wirklich auf diesem Boden steht,
wenn sie auf dieses Fundament gegründet ist, so kann sie
ihre Freude darin finden, Christum als ihr Vorbild und
Muster zu erforschen. Dann ist es aus mit allen ihren
eignen armseligen Anstrengungen, Leben, Vergebung und
die Gunst Gottes zu erwerben; sie hat sie als „tote
332
Werke" erkannt, sie hat Leben in Jesu gefunden, und
jetzt ist es ihr wichtigstes Geschäft, Ihn zu studiren,
Seine Fußstapfen aufzusuchen und in denselben zu wandeln; zu handeln, wie Er handelte, zu reden, wie Er
redete, mit einem Worte, zu suchen, allezeit Ihm ähnlich
zu sein und Ihm und Seinem Bilde immer mehr gleichgestaltet zu werden. Die wichtige Frage für den Christen
ist nicht: „Was kann mir dieses oder jenes schaden?"
oder: „Was ist denn Böses dabei, wenn ich dieses oder
jenes thue?" sondern: „Ist es Christo ähnlich? Würde
Er so handeln? Wird Er dadurch verherrlicht?" Er ist
unser göttliches Muster. Wenn die Männer ermahnt
werden, ihre Weiber zu lieben, so heißt es: „Wie Christus
die Versammlung liebte." Und wie es in diesem Falle
ist, so ist es in jedem. Welch ein Vorbild! Welch ein 
Muster! Wer könnte ihm jemals gleichkommen, wer es je
erreichen? Gewiß, niemand! Aber es handelt sich nicht
darum, ob wir es jemals erreichen werden, oder nicht,
sondern einfach um die Thatsache, daß Christus unser
Vorbild ist, und daß ein jeder, der da sagt, daß er in
Ihm bleibe, auch schuldig ist, so zu wandeln, wie Er gewandelt hat. (1. Joh. 2.) Und möchten wir wohl ein
niedrigeres, weniger vollkommenes Vorbild haben? Sicherlich nicht.
Wir brauchen den christlichen Leser kaum darauf aufmerksam zu machen, welch ein weites Feld praktischer 
Wahrheit diese letzte Seite unsers Gegenstandes vor uns
offen legt. Welch ein kostbares Vorrecht ist es, fähig und
berufen zu sein, Tag für Tag zu den Füßen unsers Herrn
und Meisters zu sitzen und das Leben und Verhalten
unsers großen Vorbildes zu erforschen: zu sehen, was Er
war, Seinen Worten zu lauschen, den Geist, der Ihn beseelte, zu betrachten, Seinen wunderbaren Pfad durch diese
Welt in allen seinen Einzelheiten zu verfolgen, zu sehen,
wie Er „umherging, Gutes thuend," wie es Seine Speise
und Sein Trank war, den Willen Gottes zu thun und
den Bedürfnissen des Menschen zu begegnen; und dann
338
daran zu denken, daß Er uns liebt, daß Er für uns
starb, daß Er unser Leben ist, daß Er uns von Seinem
Geiste gegeben Kat, um durch die Kraft desselben alles
zu Boden zu halten, was von unserm alten Ich ist, und
in unserm täglichen Leben Christum selbst mehr und mehr
darzustellen!
Welche Zunge vermöchte die Kostbarkeit aller dieser
Dinge auszusprechen? Es ist nicht ein Leben nach gewissen
Regeln und Vorschriften, nicht das Beobachten einer Reihe
von Pflichten, oder das Bekennen einer Anzahl christlicher
Lehren — nein, es ist eine wunderbare Vereinigung mit
Christo und die Offenbarung Christi in einer finstern und
argen Welt. Das ist, wir wiederholen es und möchten
es dem christlichen Leser mit allem Nachdruck einprägen,
ein wahres, echtes, lebendiges Christentum. Etwas anderes,
etwas geringeres kann nimmermehr genügen. Wer dieses
Christentum nicht kennt und sein eigen nennen kann, ist
noch tot in Sünden und Uebertretungen; er ist noch fern
von Gott und fern von dem Reiche Gottes. Wer aber 
andrerseits wirklich dahin gebracht worden ist, an den
Namen des eingebornen Sohnes Gottes zu glauben, wer
als ein verlorener und schuldiger Sünder seine Zuflucht
zu dem Blute des Kreuzes genommen hat, ein solcher
besitzt Christum als sein Leben; er ist in Christo und
Christus in ihm, und es sollte Tag für Tag sein Bestreben sein, seine Augen fest und unverrückt auf Sein vollkommenes Vorbild gerichtet zu halten und Ihm so nahe
als möglich zu kommen. Das ist das Geheimnis aller
praktischen Frömmigkeit und Heiligung. Das allein ist,
wie gesagt, ein lebendiges Christentum und steht in direktem
Gegensatz zu dem, was man gewöhnlich „ein religiöses
Leben" nennt und was meistens nichts anders ist, als
ein äußeres Festhalten an starren, leblosen Formen, ein
Beobachten trockner Satzungen, was aber nichts gemein
hat mit der Frische und Wirklichkeit des wahren göttlichen
Lebens in der Seele eines Gläubigen. Das wahre Christentum bringt einen lebendigen Christus ins Herz und ins
334
Leben und übt so einen göttlichen Einfluß auf alles aus,
was in seinen Bereich kommt. ES durchdringt alle Verhältnisse und Verbindungen des menschlichen Lebens. Es
belehrt uns, wie wir uns als Gatten, als Väter, als
Herren, als Dienstboten, als Kinder rc. zu verhalten haben;
und es belehrt uns nicht mittelst trockner und ermüdender
Regeln und Vorschriften, sondern indem es in der Person
Christi ein vollkommenes Muster dessen, was wir sein
sollten, vor unsre Augen stellt. Es richtet unsern Blick
auf den Einen, der als Gottes vollkommener Prüfstein
uns ohne jede Entschuldigung ließ, der als Gottes fleckenloses Opfer jede Sünde und jede Unreinigkeit von uns
entfernte, und der jetzt, als unser gesegnetes Vorbild, den
Gegenstand unsrer bewundernden Betrachtung und die
Richtschnur bildet, welcher wir stets und allein nacheifern
sollen. Mögen wir sein, wo wir wollen, und mag unsre
Arbeit bestehen, worin sie will, wenn nur Christus in
unsern Herzen wohnt und in unserm täglichen Leben zur
Darstellung kommt. Wenn wir Ihn im Herzen und vor
Augen haben, so wird sich alles van selbst regeln. Aber
besitzen wir Ihn nicht, so haben wir nichts.
Wir schließen hiermit unsre Betrachtungen, nicht weil
unser Gegenstand erschöpft ist — er ist in der That unerschöpflich — sondern weil wir glauben, daß der Geist
Gottes allein ihn in lebendiger Kraft und Frische auf
die Seele des Lesers anwenden und ihn so dahin leiten
kann, einen höheren Charakter des Christentums darzustellen, als man ihn in diesen Tagen eines schlaffen, kraftlosen Bekenntnisses gewöhnlich findet. Möge der Herr
alle unsre Herzen aufwecken, daß wir treuer als bisher
Seine Nähe suchen, in Seiner Gemeinschaft wandeln und
in all unserm Thun Sein Bild hervorstrahlen lassen!
Möchten wir befähigt werden, mit mehr Aufrichtigkeit und
Wahrheit zu sagen: „Unser Wandel ist in den
Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesum als
Heiland erwarten, der unsern Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit des Leibes Seiner Herr­
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lichkeit, nach der wirksamen Kraft, mit der Er vermag,
auch alle Dinge sich zu unterwerfen!" (Phil. 3, 20. 21.)
Neugierige Fragen weise beantwortet.
A. Was sind Sie?
B. Von Natur ein verlorener Sünder. — „Das
Wort ist gewiß und aller Annahme wert, daß Christus
Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu erretten, von
welchen ich der erste bin." (1. Tim. 1, 15.)
A. Aber wie nennen Sie sich?
B. Ich bin ein Christ. — „Die Jünger wurden
zuerst in Antiochien Christen genannt." (Apstgsch. 11, 26.)
A. Ganz recht; aber ich meine: was ist Ihre religiöse Ueberzeugung?
B. „Ich bin überzeugt, daß weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch
Zukünftiges, noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes,
noch irgend eine andere Kreatur uns zu scheiden vermögen
wird von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm
Herrn." (Röm. 8, 38. 39.)
A. Ja, ja; aber was ist Ihre Hoffnung?
B. „Die glückselige Hoffnung und Erscheinung unsers
großen Gottes und Heilandes Jesu Christi," der in mir
ist, „die Hoffnung der Herrlichkeit." (Tit. 2,13; Kol. 1, 27.)
A. In Ihnen? Wie kann Christus in Ihnen sein?
B. Durch den Glauben. — „Daß der Christus
durch den Glauben wohne in euern Herzen." (Eph. 3, 17.)
Außerdem bin ich mit dem Herrn unauflöslich verbunden,
ja, eins mit ihm. „Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein
Geist mit Ihm." (1. Kor. 6, 17.)
A. Zu welcher christlichen Körperschaft gehörenSie denn?
B. Zu dem einen Leibe; denn es giebt nur einen
Leib nach Eph. 4, 4, wo Sie lesen: „Da ist ein Leib." Es
giebt also nicht viele Leiber, noch sind die vielen Körperschaften
nach dem Willen Gottes; der Mensch hat sie gebildet.
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A. Gut; aber Sie sind doch ein Glied irgend einer
Gemeinschaft?
B. Ich bin ein Glied an jenem einen Leibe. — „Ihr
aber seid der Leib Christi und Glieder insonderheit." (1.
Kor. 12, 27.) Auch bin ich ein Glied Christi. —
„Wisset Ihr nicht, daß eure Leiber Glieder Christi sind?"
(1. Kor. 6, 15.)
A. Aber Sie müssen sich doch irgend einen Namen,
irgend eine Benennung beilegen?
B. Ja, ich trage einen höchst gesegneten Namen, und zwar
ist es Gott selbst, der ihn mir beigelegt hat. Ich bin
ein Kind Gottes, ein Erbe Gottes und ein Miterbe
Christi. (Röm. 8, 16. 17.)
A. Wer trifft denn die nötigen Anordnungen bei
Ihrem Gottesdienst?
B. Der Herr Jesus. — Denn „wo zwei oder drei
versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer
Mitte." (Matth. 18, 20.)
A. Aber dann sagen Sie mir: wie lautet Ihr Glaubensbekenntnis ?
B. Mein Glaubensbekenntnis ist das ganze Wort
Gottes. „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze
zur Lehre, zur Ueberführung, zur Zurechtweisung, zur
Unterweisung in der Gerechtigkeit, daß der Mensch Gottes
vollkommen sei, zu allem guten Werke völlig geschickt."
<2. Tim. 3, 16. 17.)
Die obigen Antworten, welche von einem einfältigen
Christen gegeben wurden, mögen manchem Leser vielleicht
etwas kurz und zu wenig eingehend erscheinen, aber es
sind einfache, gesunde Antworten; und wenn sie in dem
rechten Geiste gegeben werden, so sind sie wohl imstande,
einen blos neugierigen Frager zum Schweigen zu bringen
und einen aufrichtigen zufrieden zu stellen.