Botschafter des Heils in Christo 1887

01/29/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Botschafter des Heils in Christo 1887   Seite
Inhaltsverzeichnis
Wache auf, der du schläfst!  5
Jesus, die Tür und der Hirte 8
Das Reich der Himmel – Teil 1/3 13
Gemeinschaft 19
Das Reich der Himmel – Teil 2/3  20
Der Beweggrund und der Zweck der Fußwaschung 26
“Lieber will ich weniger verdienen“  29
Was denkt Gott von mir?  31
Das Reich der Himmel – Teil 3/3 33
Deshalb ermatten wir nicht  39
“Vater, ich will“  45
Abraham – Teil 1/3 47
Freut euch in dem Herrn allezeit! 55
Abraham – Teil 2/3 60
Ein Wort zur Beherzigung  68
Die Quittung des Steuereinnehmers 70
Das Herz des Menschen, und was Gott daraus macht 72
Abraham – Teil 3/3 73
Das Buch Jona – Teil 1/4  80
Kein anderer Name! 85
Das Buch Jona – Teil 2/4  87
Das Versöhnungswerk  91
“Denn drei sind, die da zeugen.“  96
Bruchstücke  100
“Denn drei sind, die da zeugen.“  101
Das Buch Jona – Teil 3/4  108
“Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“  112
Das Buch Jona – Teil 4/4  114
Kein Unterschied 118
“Wenn ich das Blut sehe“  122
Das Zusammenkommen zum Gebet 125
Der lebendige Gott und ein lebendiger Glaube (1) 127
Das Buch Josua 135
Bruchstücke 139
Der lebendige Gott und ein lebendiger Glaube (2)  140
Das Opfer Christi 145
Ein Wort über die Ausübung der Zucht  147
Fragen aus dem praktischen Leben 149
Bruchstücke  154
Geistliche Trägheit und das Mittel zur Wiederherstellung 155
Was ist Anbetung?  160
Die Botschaft 164
Friede euch! 167
Bibelstellenverzeichnis 170


Inhalls-Verzeichnis Seite
„Wache auf, der du schläfst!"
Jesus, die Thür und der Hirte
Das Reich der Himmel
Gemeinschaft 28
Ter Beweggrund und der Zweck der Fußwaschuug
„Lieber will ich weniger verdienen."
Was denkt Gott von mir?
„Deshalb ermatten wir nicht." 
„Bater, ich will."
O, dort zu sein! (Gedicht.)
Abraham
„freuet euch iu dem Herr» allezeit!"
Ein Wort zur Beherzigung 
Die Quittung des Steuereinnehmers
Das Herz des Menschen, und wasGott daraus macht
Der Saud der Zeit verrinnet.(Gedicht.)
Das Buch Jona
Kein andrer Name!
Das Versöhnnngswerk
„Denn drei sind, die da zeugen."
Bruchstücke.
„Frieden lasse ich euch,- meinen Frieden gebe ich euch."
„Bleibet hier und wachet mit nur!" (Gedicht.)
„Kein Unterschied." 
„Wenn ich das Blut sehe."
Das Zusammenkommen zum Gebet
Der lebendige Gott und ein lebendiger Glaube
Das Buch Josua
Tas Opfer Christi
Em Wort über die Ausübungder Zucht
Fragen aus dem praktischenLeben
Geistliche Trägheit und das Mittel zur Wiederherstellung
WaS ist Anbetung?
„Die Botschaft."
„Friede euch!"


„Wache auf, der du schläfst!"
„Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten!" (Eph. 5,14.) Diese ernste Ermahnung erhält ein um so größeres Gewicht durch die Thatsache, daß sie sich an Gläubige richtet, denen ihre Stellung in Christo gemäß den Ratschlüssen
Gottes geoffenbart war. Sie kannten diese Stellung und die erhabenen Vorrechte, welche sich an dieselbe knüpften.
Sie kannten Gott als ihren Gott und Vater in Christo Jesu und wußten, daß sie gemäß ihrer Stellung in Christo heilig und tadellos vor Gott standen, und daß sie Seine Kinder waren. Mit Recht kann von solchen ein Wandel erwartet werden, wie ihn unser Kapitel bezeichnet; ein
Wandel, der als eine natürliche Folge aus demBewußtsein dieser erhabenen Stellung hervorgeht. Aber die oben angeführte Ermahnung zeigt uns, daß der Gläubige das Bewußtsein seiner Stellung und der damit verbundenen Vorrechte verlieren und moralischerweise in einen Zustand
des Schlafes' verfallen kann. Der Schlaf ist ein Bild des Todes. Ein schlafender Mensch vernimmt ebenso wenig von dem, was um ihn her vorgeht, wie ein Toter. 

Wie dieser sieht er nichts von den Schönheiten und Reizen der Schöpfung Gottes, wenngleich die Sonne hoch am Himmel stehen und mit ihrem Lichtglanz Flur und Wald bestrahlen mag. So
kann auch ein Gläubiger in einen Zustand kommen, der ihn verhindert, von den Schönheiten und Reizen der neuen Schöpfung mehr zu genießen, als ein natürlicher Mensch, der doch nach dem Urteil Gottes „tot" ist und von geistlichen Dingen nichts zu erkennen vermag; so daß der Gläubige in dieser Beziehung mit jenem auf gleicher Stufe steht. Vielleicht führt er nicht gerade einen unmoralischen Wandel, aber es ist auch kein himmlischer Wandel; denn sein Herz ist in den Dingen dieser Welt.


Diese bilden seinen „Schatz", und wo unser Schatz ist,
da ist auch unser Herz. Sein Wandel ist irdisch und seine
Gesinnung weltlich. Er steht nicht im Einklang mit seiner
himmlischen Berufung und ist nicht ein „Nachahmer Gottes," der „in Liebe" und als ein „Kind des Lichtes"
wandelt; denn Gott ist Licht und Liebe.
In dem Herzen eines solchen Gläubigen hat Christus
keinen Platz mehr. Nicht daß er den Herrn geradezu verachtete oder nie mehr an Ihn dächte; aber er kennt ihn
gleichsam nur als einen Nothelfer, und besitzt Ihn nicht
als den Gegenstand seiner Freude und Wonne. Als solchen kann er Ihn tagelang entbehren, ohne Ihn auch nur
einmal zu vermissen. Andere Dinge nehmen von früh bis
spät sein Herz ein und haben mehr Wichtigkeit für ihn
als Christus. Jene und nicht Dieser sind die Beweggründe
und der Zweck seines Lebens; ihnen widmet er sein Dasein und opfert er seine Kräfte. Die Sprache: „denn das
Leben ist für mich Christus", liegt ihm ganz und gar
fern und scheint ihm unerreichbar zu sein.
Ebenso unerreichbar erscheint ihm die Verwirklichung
seiner Stellung in den himmlischen Oertern, obwohl er sie
der Lehre nach vielleicht kennen mag. Er weiß, daß er
ein Kind Gottes, und daß Gott sein Vater ist; aber
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dieses Bewußtsein vermag ihn nicht glücklich zu machen,
noch ihn von seinen beständigen Sorgen, Befürchtungen
und leider auch von seinem Mißtrauen gegen diesen ihn
so innig liebenden Vater zu befreien. Gleich dem verlornen Sohne bringt er, fern von dem Herzen und dem Hause
des Vaters, sein Leben in Kummer und Sorgen zu, indem
er nichts sieht als den Mangel und die Entbehrungen der
Wüste. Oder er verlebt, was ebenso traurig ist, seine Tage
in Gleichgültigkeit, Leichtfertigkeit und Weltsinn und sucht
mit dem, was die Welt ihm darbietet, die Leere seines
Herzens auszufüllen. Wie traurig ist ein solcher Zustand!
Ein solcher Christ führt in der That nicht nur kein
glückliches, sondern vielmehr ein verlorenes Leben,
ein Leben, das seinen eigentlichen Zweck verfehlt. Ebenso
ist -der hohe Preis, den Christus zu diesem Zweck
für ihn erlegt hat, gleichfalls verloren. Wie ernst ist das!
Wie ernst der Gedanke, daß der Tod Christi in dieser
Beziehung für einen solchen vergeblich war! Der Leser
wolle mich fwohl verstehen; ich sage nicht, vergeblich betreffs seiner Errettung, denn das ist unmöglich; wohl aber
vergeblich betreffs des oben genannten Zweckes, betreffs
des Lebens und Zeugnisses für Ihn, der uns so teuer
erkauft hat. Denn es steht geschrieben, daß Christus „sich
selbst.für uns gegeben hat, auf daß Er uns loskaufte von
aller Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein EigentumsVolk, eifrig in guten Werken." (Tit. 2,14.) Und wiederum:
„Denn ihr seid um einen Preis erkauft; verherrlichet nun
Gott an euerm Leibe." (1. Kor. 6, 20.) Und ferner:
„Welcher selbst unsre Sünden an Seinem Leibe auf das
Holz getragen hat, auf daß wir, den Sünden abgestorben,
der Gerechtigkeit leben, durch dessen Striemen ihr heil ge­
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worden seid." (1. Petr. 2, 24.) Man könnte die Zahl
solcher Stellen leicht vermehren; aber diese genügen, um
zu zeigen, daß Christus nicht allein für uns starb, um
uns zu erretten, sondern auch um uns zu Seinen Dienern
und zu Zeugen Seiner Herrlichkeit zu haben. Man bedenke wohl, was es sagen will, daß Er, um diesen Zweck
bei uns zu erreichen, sterben mußte. Wie tief schmerzlich muß es nun für Sein liebendes Herz sein, wenn alle
Seine Mühe und Arbeit, Sein Tod, Sein unergründliches
Leiden, die Angst Seiner heiligen Seele, wenn alles das
für einen der Seinigen in dieser Beziehung vergeblich war!
Und ach! trotzdem ist es so betreffs aller Gläubigen, die
sich in dem oben beschriebenen Zustande befinden.
Geliebter Leser! sollte es dein Zustand sein, so gilt
dir der Mahnruf: „Wache auf, der du schläfst, und stehe
auf auS den Toten, und der Christus wird dir leuchten!"
Das erste Zeichen deines Aufwachens wird sein, daß du
diesen Mahnruf hörst und deinen traurigen Zustand erkennst. Als Folge davon wird zweitens ein ernstes,
tiefes Selbstgericht in dir wachgerufen werden, und du
wirst „aufstehen aus den Toten," d. h. du wirst entschieden brechen mit diesem irdisch gesinnten, verweltlichten Zustande. Und alsdann wird drittens „Christus
dir leuchten" — du wirst Ihn erkennen in Seiner Kostbarkeit und Schönheit, und Er wird das Helle Licht deines
Weges sein. Die eitlen, nichtigen Dinge dieser Welt werden von diesem Augenblick an ihren Wert für dich verlieren und Ihm, dem teuren Herrn, Platz machen in deinem Herzen. Du wirst in Wahrheit glücklich sein und mit
dem Apostel sagen können: „Unser Wandel ist in den
Himmeln;" denn dort ist daun der Gegenstand deines
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Herzens, deiner Freude, deiner Lust und Wonne; und „wo
euer Schatz ist, da ist auch euer Herz."
Bedenke indessen, geliebter Leser, daß dir nur dann
Christus leuchten wird, wenn die beiden ersten Dinge bei
dir eingetroffen sind. Solltest du wirklich aufwachen, und
dennoch kein „Aufstehen aus den Toten," kein entschiedener Bruch mit deiner irdischen Gesinnungstattfinden,
so sei versichert, daß du bald wieder in deinen alten Zustand des „Schlafes" zurückfallen wirst. Erst dann, wenn
Christus dir leuchtet, wirst du gründlich geheilt
sein; erst dann wird dein Zustand im Einklang stehen
mit den Gedanken Gottes und mit deiner himmlischen Berufung, indem du in Ihm einen Ersatz gefunden hast, der
dich alles für Ihn „einbüßen und für Dreck achten läßt."
(Phil. 3.) Alsdann wirst du deinen Platz als ein Auferstandener mit Christo nicht mehr in dem Bereich der
Toten, sondern in dem der Lebendigen einnehmen. Möge
dir daher der Herr Gnade zu einem ernsten und tiefen
Selbstgericht geben!
Jesus, die Thür und der Hirte.
Die ersten Verse von Joh. 10 enthalten ein Gleichnis, in welchem der Herr von einem Schafhof redet.
Der Schafhof Gottes war Israel. Israel war das "auserwählte Volk Gottes; es hatte die Erkenntnis des einen
wahren Gottes und besaß Sein Wort und Seinen Gottesdienst. Die Heiden standen draußen. Der Herr Jesus
kam auf diese Erde als der Hirte Israels. Vor Ihm
waren viele gekommen, aber sie waren nicht durch die 
Thür eingegangen. Er ging durch die Thür ein, und
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„wer durch die Thür eingeht, ist Hirte der Schafe. Diesem
thut der Thürhüter auf." Das letztere geschah bei der
Taufe des Herrn. Jesus gesellte sich den Israeliten bei,
die unter dem Bekenntnis ihrer Sünden zu Johannes
kamen, um von ihm getauft zu werden. Johannes weigert sich, Jesum zu taufen; aber der Herr sagt: „Es gebührt uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen." Er hatte nichts
zu bekennen, aber Er machte sich eins mit den verlorenen
Schafen aus dem Hause Israel. Als nun Johannes Ihn
getauft hatte, und Jesus aus dem Wasser Heraufstieg,
kam eine Stimme aus dem Himmel: „Dieser ist mein
geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden
habe." Gott, der Thürhüter des Schafhofes, öffnete so
die Thür vor dem Hirten der Schafe, und Jesus trat
als solcher in Israel auf.
Doch das Volk Israel wollte diesen Hirten nicht.
Es verwarf Ihn, und darum verließ der Herr den Schafhof. Nur einige wenige nahmen Ihn an. Das waren
die wahren Schafe; sie hörten Seine Stimme. Er rief
sie mit Namen und führte sie aus dem Schafhof, und
sie sollten nie wieder dahin zurückkehren. Bis dahin
bildete, wie bereits gesagt, das Volk Israel den Schafhof;
es war durch die Gebote und Verordnungen des Gesetzes
von den andern Völkern abgesondert. Sobald aber das
Volk den Herrn Jesum verwarf und so die letzte Probe,
auf welche es gestellt wurde, nicht bestand, hörte es auf,
der Schafhof zu sein. Die Scheidewand, welche zwischen
Juden und Heiden bestand, wurde weggenommen; alle,
die an Jesum glaubten, sollten in eins versammelt werden, wie der Herr im 16. Verse sagt: „Ich habe andere
Schafe, die nicht aus diesem Hofe sind; auch diese muß
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ich bringen, und sie werden meine Stimme hören, und
es wird eine Herde, ein Hirte sein." Jetzt handelt eS
sich nicht mehr um einen Schafhof, sondern um eine
Herde und um einen Hirten. Wir sind nicht mehr
durch gesetzliche Verordnungen umzäunt, sondern Juden
und Heiden sind eins geworden, die Zwischenwand der
Umzäunung ist abgebrochen.
Zu dieser Herde nun bildet Jesus die Thür. Der
Herr sagt: „Ich bin die Thür; wenn jemand durch mich
eingeht, der wird errettet werden." Es giebt keine
Scheidewand mehr; nicht nur der Jude, sondern auch der
Heide kann durch die Thür eingehen und errettet werden.
„Wenn jemand," wer eS auch sei, „durch die Thür
eingeht, der wird errettet werden." Alle Vorrechte nach
dem Fleische hören auf. Früher gehörte nur das Volk
Israel zu dem Schafhof; jetzt gehören alle, die in Wahrheit an Jesum glauben, zu der Herde und stehen unter
der Hut des Hirten. Welch ein Trost! Welch eine
Sicherheit! — Wann ist ein Mensch errettet? Wenn er durch
die Thür eingegangen ist. Was habe ich also zu thun?
Nur durch die Thür einzugehen. Wann bin ich meiner
Seligkeit gewiß? Wenn ich durch die Thür eingegangen
bin; denn dort hinter der Thür bin ich sicher; nichts
kann mich da antasten, niemand kann mich aus der Hand
des Herrn reißen. Wie einfach redet der Her^ zu dem
Herzen des Sünders! Er hat nur durch die Thür einzugehen. Nichts mehr, aber auch nichts weniger! Um errettet zu werden, ist es notwendig, durch die Thür
einzugehen. Es hilft nichts, daß ich die Thür nahe vor
mir sehe, oder daß ich selbst gerade davor stehe; nein, will
ich errettet werden, so muß ich durch die Thür gehen.
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Aber bin ich einmal hindurchgegangen, so genieße ich
auch alles, was dahinter gefunden wird; ich teile die
Freude, die dort herrscht, habe ein Anrecht auf alles,
was da ist; ich bin in Sicherheit, nichts kann mir mehr
schaden. Wie einfach ist daS! Dadurch, daß ich durch
die Thür eingehe, daß ich an den Herrn Jesum glaube,
bin ich errettet. Dann bin ich nicht nur von meinen
Sünden erlöst, sondern vollkommen in Sicherheit. Nichts
kann mich mehr treffen; ich bin in dem Hause und genieße all das Herrliche, was sich in demselben befindet;
ja, ich habe Ueberfluß.
Ist das nicht genug für den Sünder? Könnte er
noch mehr verlangen, als die Versicherung aus dem Munde
des Herrn Jesu, daß er, wenn er an Ihn glaubt, errettet ist? Sollte einer meiner Leser noch Einwendungen
machen und dem Werke des Herrn noch etwas hinzufügen
wollen, so sagt er damit, daß er nicht genug hat an
dem, was der Herr Jesus sagt, und macht Ihn zum
Lügner. Ist denn Sein Wort nicht genug? Kann Er
lügen? Oder ist Sein Werk nicht hinreichend? Wenn Gott
das Werk Seines Sohnes als vollkommen hinreichend betrachtet, sollten wir dann nicht auch völlig befriedigt sein?
Stehen wir höher, als Gott, oder wissen wir es besser, als
Er? Wenn jemand an der Vollgültigkeit des Werkes
Christi zweifelt und demselben noch etwas hinzufügen will,
so drückt er dadurch nichts mehr und nichts weniger aus,
als daß er es besser weiß, als Gott.
Ach, wie oft und viel erfüllen menschliche Ueberlegungen das Herz! Man setzt solche Ueberlegungen an
die Stelle des Wortes des Herrn Jesu, und deshalb
bleibt man unruhig und findet keinen Frieden. Wenn
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unsre Errettung irgendwie abhinge von uns, von unserm
Glück, von unsern Gedanken über das Werk des Herrn,
von unsrer Wertschätzung desselben oder von der Kraft
unsers Glaubens, mit einem Wort, von irgend etwas
aus oder in uns, dann allerdings würden wir gegründete Ursache haben, unruhig zu sein; dann würden
wir uns fragen müssen: Sollte ich dies oder das auch
wohl gut gemacht haben? und wenn ich es nicht gut genug gemacht habe, dann kann ich auch betreffs meiner
Errettung nicht ruhig sein.
Doch, Gott sei Dank! es hängt nicht von mir ab.
Ich brauche nichts hinzuzufügen; ich habe nur das Wort
des Herrn anzunehmen. Die Sicherheit meiner Errettung
gründet sich nicht darauf, daß ich glücklich bin, daß mein
Zustand ein guter ist, daß keine sündigen Gedanken mehr
in mir aufsteigen. O nein! sie hängt einzig und allein
von der Frage ab, ob das Werk des Herrn Jesu genügend, und ob Sein Wort wahr ist; ob es wahr ist,
was Er gesagt hat: „Wenn jemand durch mich eingeht,
der wird errettet werden." Ja, mein Leser, es handelt
sich durchaus nicht darum, wer oder was du bist; wenn
du durch die Thür eingegangen bist, so ist alles in Ordnung ; und wenn du einfältig dem Worte des Herrn vertraust, so ist auch deine Seele in vollkommner Ruhe.
Doch wir sind nicht nur errettet, wenn wir an den
Herrn Jesum geglaubt haben. Der Herr verheißt mehr,
als das; Er sagt: „Ich bin die Thür; wenn jemand
durch mich eingeht, der wird errettet werden und wird
ein- und ausgehen." Das Volk Israel bildete die 
Herde Gottes, und war so zu sagen in den Hof eingeschlossen; es war umgeben von Geboten und Verordnungen
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des Gesetzes. Wenn heute ein Mensch errettet wird, so geht 
er nicht in den Schafhof ein, d. h. er kommt nicht unter
das Gesetz. Wir stehen nicht mehr unter den schwachen
und armseligen Elementen der Welt, wie Paulus das
Gesetz nennt, sondern wir können ein- und ausgehen,
d. h. wir sind frei: frei von der Macht der Sünde und
des Todes, frei von der Macht Satans, frei von dem
Gesetz und seinem Fluche. Früher befanden wir uns infolge der Sünde in der Macht des Teufels; jetzt sind
wir Knechte Gottes. Früher waren wir völlig unfähig,
Gott zu dienen; jetzt sind wir dazu fähig gemacht. In
Joh. 8, 32 lesen wir: „Und die Wahrheit wird euch frei
machen;" und im 36. Verse: „Wenn nun der Sohn euch
frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei sein." Ja,
der Sohn macht frei. Jeder, der an Ihn glaubt, ist
durch Ihn freigemacht, freigemacht von allem, was ihn
einst gefangen hielt. Zu diesem Zweck hat der Herr
Jesus alles an unsrer Statt getragen. Er wurde zur
Sünde gemacht. Er erduldete die Strafe, welche wir
verdient hatten. Er war unter dem Zorne Gottes. Er
ging in den Tod. Er überwand den Teufel. Er trug
den Fluch des Gesetzes und hat es zu nichte gemacht.
Infolge dessen ist der Gläubige frei, ja so frei, daß er
ein Kind Gottes genannt werden kann, ein Erbe Gottes
und ein Miterbe Christi.
Ach! weshalb macht man noch so viele Einwendungen? Warum glaubt man nicht an das, was der Herr
sagt, und genießt die Köstlichkeit davon? „Die Wahrheit
wird euch frei machen;" das will sagen: wenn wir die 
Wahrheit annehmen, wenn wir glauben und verstehen,
was der Herr sagt, dann macht die Wahrheit uns frei;
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dann erfreuen wir uns in dem herrlichen Werke unsers
Erlösers; dann ist alle Furcht ans dem Herzen verbannt;
dann genießen wir die Liebe unsers Gottes; dann beten
wir an, und zwar nicht mehr, wie in dem Alten Bunde
in dem Tempel, oder auf dem Berge Garizim, sondern
im Geist und in Wahrheit. Wie herrlich und gesegnet!
„Der Vater sucht solche als Seine Anbeter."
Aber der Herr Jesus geht noch weiter. Nicht allein
sind wir, wenn wir durch die Thür eingegangen sind, betreffs unsrer Errettung in völliger Sicherheit; nicht
allein sind wir dann sreigemacht und können ein- und
ausgehen, sondern der Herr sagt auch: „und sie werden
Weide finden." Das erinnert uns an den 23. Psalm:
„Jehova ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er
lagert mich auf grünen Auen, Er führt mich zu stillen
Wassern. Er stellt meine Seele wieder her; Er leitet
mich in Pfaden der Gerechtigkeit um Seines Namens
willen." David giebt in diesem Psalm den innersten
Gefühlen seines Herzens Ausdruck. Er frohlockte in dem
Bewußtsein, daß Jehova sein Hirte war, der für ihn
sorgte, ihn leitete und erquickte. Doch wir erblicken hier
zugleich den Herrn Jesum. Er selbst spricht in diesem
Psalme; in Ihm sind die Worte des Psalmisten im vollsten
Maße erfüllt worden. Er kam auf diese Erde und fand
keine Ruhe hienieden; Sein Teil war Armut und Mangel,
ja, Er hatte nicht, wo Er Sein Haupt hinlegen sollte,
und konnte in dem vollen, wahren Sinne des Wortes
sagen: „Jehova ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln."
Gott war der Hirte, Er war das Schaf Seiner Weide;
Er war vollkommen abhängig von dem Vater, und Gott
sorgte für Ihn. „Auch wenn ich wandele im Thale des
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Todesschattens, fürchte ich nichts Uebels, denn Du bist
bei mir." Wie schön ist es, den Herrn Jesum hienieden
zu sehen, wie Er sich erquickt an der Güte und Sorge
Jehovas!
Obschon nun dieser Psalm nicht in seiner ganzen
Tragweite auf den Gläubigen angewandt werden kann,
so kann dieser doch nach seinem Maße die Worte desselben aussprechen. Der Herr Jesus ist sein Hirte, der
ihn lagert auf grünen Auen und ihn führt zu stillen
Wassern. Welch ein Gedanke! Nie Mangel zu haben!
„Er lagert mich auf grünen Auen;" eS ist ein solcher
Ueberfluß an Nahrung vorhanden, daß ich nicht nur meinen
Hunger stillen kann, sondern auch stets Ueberfluß habe.
„Er führt mich zu stillen Wassern;" ich brauche nie Durst
zu leiden, sondern kann mich zu jeder Zeit laben und erfrischen. Wir brauchen nicht nach Speise und Trank zu
suchen; nein, der gute Hirte sucht für uns; Er sorgt für
uns. Bei Ihm ist nicht allein genug, sondern Ueberfluß!
„Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift sagt, aus
dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen,"
sagt der Herr. Welch eine Sorge und Liebe giebt sich
in den Worten kund: „Ich bin der gute Hirte; der gute
Hirte läßt Sein Leben für die Schafe!" Er lagert den
Gläubigen nicht nur auf grünen Auen und führt ihn zu
stillen Wassern, sondern Er, der gute Hirte, „läßt auch
Sein Leben für die Schafe." Der Tod des Herrn Jesu
wird uns in diesen Worten als der Tod vorgestellt, in
welchen Er freiwillig aus Liebe zu uns ging.
Der Herr Jesus kam auf diese Erde für Seine Schafe;
Er starb für sie am Kreuz, um sie zu erretten. Er brauchte
nicht um Seinetwillen zu sterben. Er hätte wieder zum
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Himmel zurückkehren können, ohne zu sterben. Aber wenn
das Weizenkorn nicht in die Erde fiel und starb, so blieb
es allein. Christus hätte dann allein in die Herrlichkeit
des Himmels zurückkehren müssen; aber Er wollte viele
Söhne zur Herrlichkeit führen. Somit war es um der
Schafe willen notwendig, daß Er starb, daß Er Sein
Leben ließ. Und weil Er freiwillig kam, um den Vater
zu verherrlichen und der Liebe Seines Herzens freien Ausfluß zu dem armen, verlorenen Sünder zu öffnen, darum liebte Ihn der Vater. Wie köstlich ist das! Der
Vater hat nach dem Heil des Sünders gedürstet; und
indem nun der Herr Jesus Sein Leben freiwillig dahingab,
indem Er gehorsam ward bis zum Tode, ja, bis zum Tode
am Kreuze, gab Er dem Vater einen ewigen Beweggrund,
Ihn zu lieben; wie der Herr sagt: „Darum liebt mich
der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf daß ich es
wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich
lasse es von mir selbst."
Doch der Herr Jesus läßt nicht nur Sein Leben
für Seine Schafe, sondern wenn diese in Gefahr sind,
wenn ein Feind kommt, um sie anzutasteu, so tritt Er
für sie in den Riß, und sorgt für ihre Bewahrung bis
ans Ende. „Der Dieb kommt nicht, als nur daß er stehle
und schlachte und verderbe. Ich bin gekommen, auf daß
sie Leben haben und es in Ueberfluß haben." Wenn wir
wirklich an den Herrn Jesum glauben, so haben wir
das ewige Leben, wie wir in Joh. 3, 36 lesen:
„Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben." Wir
können dann nicht mehr verloren gehen, sondern werden
ewiglich bei dem Herrn sein. Das ist unser Teil geworden
durch das Werk des Herrn Jesu. Er ist gestorben, aber
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nicht um für immer in dem Grabe zu bleiben; nein, Er
ist auferstanden und hat uns das ewige Leben mitgeteilt;
und Er wird uns auferwecken am letzten Tage.
Weiter lesen wir: „Meine Schafe hören meine 
Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir." Und in
VerS 4 lesen wir: „Und die Schafe folgen Ihm, weil
sie Seine Stimme kennen." Welch ein inniges Verhältnis!
Der Herr Jesus kennt die Schafe, so wie der Vater Ihn
kannte, als Er hienieden war; und die Schafe kennen
Ihn, so wie Er den Vater kennt; Er ruft sie, und sie
folgen Ihm. „Ich kenne die Meinen und bin gekannt von
den Meinen, gleichwie der Vater mich kennt und ich den
Vater kenne." (V. 14. 15.) Wunderbare Gnade!
„Und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen
nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus meiner
Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist
größer als alles, und niemand kann sie aus der Hand
meines Vaters rauben." Welch eine Kraft haben diese
Worte für das Herz des Gläubigen, während er auf dieser
Erde wandelt, umringt von so vielen Versuchungen, von
so vielen Feinden auf der Erde und Feinden in der Luft,
von dem Teufel und seinen Engeln! Welch ein gesegnetes,
köstliches Bewußtsein, daß wir, eingegangen durch die Thür,
errettet sind; daß wir das ewige Leben besitzen; daß der
Herr Jesus uns kennt und uns bewahrt, und daß wir
Ihn kennen als unsern guten Hirten; daß Er uns labt
und erquickt, und daß wir bei Ihm Ueberfluß haben;
und endlich, daß niemand uns aus Seiner Hand, noch
aus der Hand des Vaters rauben kann! Kann es uns
noch an irgend etwas mangeln? Ich spreche nicht von
leiblichen Bedürfnissen, sondern von den Bedürfnissen der
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Seele. Haben wir Ursache, besorgt zu sein, ob wir auch
wohl das Ende erreichen werden? Wahrlich nicht! „Niemand kaun sie aus der Hand meines Vaters rauben."
Was sollte ich angesichts solcher Worte noch fürchten?
Wer steht über dem Herrn? Wer sollte mich aus Seiner
Hand rauben können? „Niemand," sagt der Herr
Jesus. „Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer
als alles." Ich bin durch die Thür eingegangen, und wer
sollte mich antasten können? Kann ich noch zweifeln an
dem, was der Herr Jesus mir hier mitteilt? Sollte ich
meinem guten Hirten nicht vertrauen können? Sollte ich
den Worten Gottes, den Worten des Herrn Jesu nicht
glauben dürfen?
Wie herrlich ist es, zu wissen und zu erfahren, daß
wir Schafe des Herrn sind! Welch eine Ruhe für das
Herz inmitten alles dessen, was uns umgiebt! Er kennt
die Gefahren und Versuchungen; Er beugt ihnen vor, Er
warnt uns und bringt uns wieder zurecht, wenn wir abgeirrt
sind. Er richtet uns auf, wenn wir im Begriff stehen,
zu ermatten. Haben wir Durst, Er labt uns; haben wir
Hunger, Er erquickt uns. Laßt uns nicht denken, daß Er
sich in uns getäuscht haben könnte. Er weiß, wer wir
sind, wie gebrechlich und schwach. Er sieht das Böse, ehe
wir es bemerken; und Er trägt uns auf Seinem Herzen.
Er kommt uns in unsern Schwachheiten zu Hülfe. Er
kennt uns; wir kennen Ihn. Er ist der gute Hirte; wir
sind Seine Schafe. Er geht vor uns her; wir folgen
Ihm. Wie herrlich ist diese Stellung! O, daß doch alle
meine Leser die Liebe des guten Hirten kennen möchten! Es
ist unaussprechlich köstlich, in Ihm zu ruhen, in Seiner Gemeinschaft zu sein. Solltest du Ihn noch nicht angenommen
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haben, o, warte dann nicht länger, warte nicht bis morgen!
Er will dich heute annehmen. Gehe durch Ihn ein, und
du wirst errettet werden, errettet für ewig! Und wenn du
Ihn kennst, o so betrübe Ihn nicht durch einen Mangel
an Vertrauen! Verwunde Sein liebendes Herz nicht durch
Mißtrauen und Unglauben! Vertraue Ihm völlig, ruhe
in Seiner Liebe und folge Ihm nach, der dich so teuer
erkauft hat!
Das Reich der Himmel.
Das Reich der Himmel steht in unmittelbarem Gegensatz zu allen Reichen dieser Erde; es trägt einen himmlischen Charakter und wird vom Himmel aus regiert. Seine
Grundsätze sind himmlisch. Jetzt besteht es als ein Geheimnis, das nur den Gläubigen, nicht aber der Welt
geoffenbart ist: „Euch ist es gegeben, die Geheimnisse des
Reiches der Himmel zu wissen, jenen aber ist es nicht gegeben." (Matth. 13, 11.) Später wird es in Biacht und
Herrlichkeit geoffenbart werden, und alsdann werden die
Grundsätze des Himmels auf der ganzen Erde zur Geltung
gelangen — „die Himmel werden herrschen." (Dan. 4, 23.)
Alsdann wird das Wort erfüllt werden: „Güte und Wahrheit sind sich begegnet; Gerechtigkeit und Frieden haben
sich geküßt. Wahrheit wird sprossen aus der Erde, und
Gerechtigkeit herniederschauen vom Himmel." (Psalm 85,
10. 11.)
Gerechtigkeit, Güte, Wahrheit und Frieden sind die 
herrschenden Grundsätze des Reiches der Himmel. Der
Herr offenbart in Seiner Rede auf dem Berge diese Grundsätze, sowie die Charakterzüge derer, welche in daS Reich
eingehen und dasselbe besitzen sollen. (Matth. 5. 6. 7.)
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Auch der Apostel beschreibt den moralischen Charakter des
Reiches, wenn er sagt: „Denn das Reich Gottes ist nicht
Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und
Freude im Heiligen Geiste." (Röm. 14, 17.) Andrerseits
steht geschrieben: „Wisset ihr nicht, daß die Ungerechten
das Reich Gottes nicht ererben werden? Irret euch nicht.
Weder Hurer noch Götzendiener, noch Ehebrecher, noch
Weichlinge, noch Knabenschünder, noch Diebe, noch Habsüchtige, noch Trunkenbolde, noch Lästerer, noch Räuber
werden das Reich Gottes ererben." (1. Kor. 6, 9. 10.)
Und ferner: „Denn in diesem seid ihr unterwiesen und
wisset, daß kein Hurer, oder Unreiner, oder Habsüchtiger,
der ein Götzendiener ist, ein Erbteil hat in dem Reiche
Christi und Gottes." (Eph. 5, 5.)
In welcher Weise das Reich auch geoffenbart sein
mag, sei es im Geheimnis oder in Macht, mögen wir eS
betrachten als das Reich Gottes oder das der Himmel,
als das Reich des Vaters oder das des Sohnes, als das
tausendjährige oder das ewige Reich, immer bleiben seine
Grundsätze dieselben. Es besteht jetzt, wie bereits bemerkt,
im Geheimnis, und es nahm seinen Anfang zur Zeit der
Gegenwart des Herrn auf der Erde. Er war der König
des Reiches, wie tief auch Seine Erniedrigung sein mochte;
zugleich offenbarte Er in Seinem Leben und Wandel die
Grundsätze des Reiches, so daß dieses in seiner ganzen
moralischen Schönheit in Seiner Person geoffenbart war
für einen jeden, der Augen hatte, zu sehen. Darum konnte
Er auch sagen: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch."
(Luk. 17, 20.21.) Jetzt sind die Seinigen berufen, die Grundsätze dieses Reiches zu offenbaren, so wie Er sie geoffenbart
hat, damit an ihnen, als den Vertretern des Reiches, die
18
moralische Schönheit desselben gesehen werde inmitten einer
Welt, die nach ganz entgegengesetzten Grundsätzen wandelt.
In Matth. 13 nun zeigt uns der Herr in verschiedenen Gleichnissen im Voraus, welche Entwicklung das
Reich nehmen würde und in der That auch bis jetzt genommen hat. Verworfen von seinem irdischen Volke, verläßt Er dasselbe und beginnt als der „Säemann" gleichsam etwas ganz Neues. Er säet den guten Samen. Die
wahren Gläubigen, die Frucht des durch Ihn gesäeten
Wortes, bildeten die Söhne des Reiches; mit ihnen war
das Reich errichtet. Und in der That offenbarte sich da
die moralische Schönheit desselben in herrlichem Glanze.
Es zeigte sich nach den Absichten des Herrn in seinem
wahren Charakter, als das Reich der Himmel, inmitten
einer Welt, deren Charakter nichts weniger als himmlisch
ist. Je näher wir den von dem Herrn in der sogenannten
Bergpredigt dargestellten Charakter der Söhne des Reiches
betrachten, desto mehr sehen wir, daß es der Charakter
des Herrn selbst ist, wie Er ihn als ein himmlischer, inmitten einer gottlosen Welt wandelnder Mensch geoffenbart
hat. Alles, was Er redete und that, trug das Gepräge
Seiner himmlischen Sendung und war der Ausdruck eines
Herzens, in welchem die Reinheit, der Friede und die
Freude des Himmels wohnten. Alle, die mit Ihm in
Berührung kamen, mußten notwendig in irgend einer Weise 
die Atmosphäre des Himmels atmen, wie verschieden auch
die dadurch erzeugte Wirkung auf ihre Herzen sein mochte.
Entweder fühlten sie sich durch die Heiligkeit und Gerechtigkeit Seines Wesens bestraft und von ihrem sündigen
Zustand überführt, so daß sie Seine Gegenwart mieden,
oder sie fühlten sich durch Seine Gnade, Milde, Freund­
19
lichkeit und Herablassung überwältigt und zu Ihm hingezogen. So unerträglich Seine Gegenwart sür Unbußsertige war, so wohlthuend und anziehend war sie sür
Niedergebeugte und Trostbedürftige.
Dieser Charakter des Herrn nun kennzeichnete die
Gläubigen der ersten Tage als „Söhne des Reiches."
Wie gesegnet muß die Gemeinschaft solcher Gläubigen sein,
wenn jeder Einzelne nach diesem Charakter wandelt! Naturgemäß herrschen dort die Grundsätze des Himmels: Gerechtigkeit und Güte, Wahrheit und Frieden. Wir lesen
daher auch von den ersten Gläubigen: „Die Menge aber
derer, die gläubig geworden, war ein Herz und eine
Seele." Das war das Reich der Himmel, der Wiederschein
der himmlischen Herrlichkeit inmitten einer bösen, gottentfremdeten Welt. Die in demselben herrschende Gerechtigkeit und Wahrheit gestatteten dem Bösen keinen Eingang
und bildeten die Grundlage der Güte und des Friedens
in seiner Mitte. Nichts Geringeres als das konnte den
Gedanken des Herrn entsprechen.
Aber ach! wir wissen, daß diese Herrlichkeit des
Reiches nur von kurzer Dauer war. Einmal dem Menschen
anvertraut, ist es, wie alles andere, unter seinen Händen
nur zu bald in Verfall geraten, so daß das, was heute
das Reich vorstellt, einen schroffen Gegensatz zu dem bildet,
was es im Anfang war. Doch wie traurig und demütigend
dieser Verfall auch sein mag, so kann uns dennoch eine Vergleichung des ursprünglichen Zustandes des Reiches mit dem,
was es jetzt ist, nur zur heilsamen und nützlichen Belehrung
dienen; denn der Charakter der Söhne des Reiches und
dessen Grundsätze bleiben stets dieselben. Sie werden durch
die Untreue des Menschen nicht im Geringsten verändert.
20
Betrachten wir denn zunächst die Ursachen dieses
Verfalls, wie sie uns in den bereits erwähnten Gleichnissen in Matthäus 13 vor Augen gestellt werden. Wir
lesen dort: „Während aber die Menschen schliefen,
kam sein Feind und säete Unkraut mitten unter den
Weizen." Das war der erste kritische Augenblick in
der Geschichte des Reiches; er barg bedeutungsschwere
Folgen für dasselbe in seinem Schoße. ES erinnert uns
dies an einen Grundsatz, dem wir nie zu viel Aufmerksamkeit
schenken können, indem er sowohl für die Versammlung
im allgemeinen, als auch für jeden einzelnen Gläubigen
von der höchsten Wichtigkeit ist. Dieser Grundsatz lautet:
„Wachet und betet!" Das ist die erste, unerläßliche
Bedingung, unter welcher es für den Gläubigen allein möglich
ist, seine Stellung inmitten einer feindseligen Welt zu behaupten, vorausgesetzt natürlich, daß er diese Stellung kennt
und eingenommen hat. Unmöglich konnte das Böse Eingang finden in einem Reiche, wo Gerechtigkeit und Güte,
Wahrheit und Friede herrschten, und so lange jeder Einzelne
acht hatte auf die Ermahnung des Herrn: „Wachet und
betet!" Aber ebenso wertlos wie eine starke, wohlverschanzte
Festung dem Feinde gegenüber ist, wenn deren Wächter schlafen, ebenso wenig nützen dem Gläubigen seine herrlichsten
Vorrechte, wenn er versäumt, zu Wachen und zu beten.
Ohne Zweifel sind die Vorrechte des Christen überaus groß, mögen wir ihn nun betrachten als einen Sohn
des Reiches, oder als ein Glied des Leibes Christi. Immer
bleibt es wahr, daß der Kleinste im Reiche der Himmel
größer ist, als selbst Johannes der Täufer, obgleich nach
den Worten des Herrn unter den von Weibern Gebornen
kein Größerer aufgestanden ist, als er. (Matth. 11, 11.)
21
Wie schwach der Zustand oder wie gering das Verständnis
eines Gläubigen auch sein mag, so befindet er sich dennoch,
seiner Stellung nach, gereinigt durch das Blut Christi
und begnadigt in dem Geliebten, ohne irgend einen Flecken
von Sünde in der Gegenwart Gottes, und kann das Licht
Seines Antlitzes genießen ohne Vorhang. Keine Wolke,
kein Schatten kann je den Frieden mit Gott trüben, der
kraft des Werkes Christi sein Teil ist; sein Verhältnis ist
das eines Kindes zu Gott dem Vater, und sein Leib ist
ein Tempel des Heiligen Geistes, der in ihm wohnt.
Einsgemacht mit Christo, dem auferstandenen und verherrlichten Menschen zur Rechten Gottes, steht er außerhalb der alten Schöpfung, des Bereiches der Macht Satans,
der Sünde und des Todes. (Eph. 1, 3—7; Röm. 5, 1. 2;
2. Kor. 5, 17.) Und darum ist er auch befähigt, obgleich er sich noch in einem Leibe der Niedrigkeit befindet
und von einer feindseligen Welt umgeben ist, mit dem
Apostel inmitten der Leiden und Prüfungen des Glaubenspfades zu sagen: „Wer wird uns scheiden von der Liebe
des Christus? Trübsal, oder Angst, oder Verfolgung, oder 
Hungersnot, oder Blöße, oder Gefahr, oder Schwert?
Wie geschrieben steht: „Um Deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wie Schlachtschafe sind wir gerechnet worden." Aber in diesem allen sind wir mehr
als Ueberwinder durch Den, der uns geliebt hat.
Denn ich bin überzeugt, daß weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch
Zukünftiges, noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes,
noch irgend eine andere Kreatur uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu
ist, unserm Herrn." (Röm. 8, 35 — 39.)
22
Aber ach! leider müssen wir bekennen, daß diese
triumphirende Sprache des Glaubens heute nur selten
unter uns gehört wird. Und dies nicht deshalb, weil wir
nicht dieselben Vorrechte hätten wie der Apostel; o nein,
wir besitzen heute noch genau dieselben, ohne Apostel zu
sein. Der Grund ist einfach der, daß wir nicht wachsam
sind und nicht im Gebet beharren. Dürfen wir uns wundern über unsern Mangel an Kraft, Frische und Freudigkeit des Glaubens; über unsern Mangel an Frieden und
einer lebendigen Erwartung der nahen Ankunft des Herrn;
über unsern Mangel an einer unermüdlichen, selbstverleugnenden Hingebung für das Werk und den Dienst des
Herrn und für die Seinigen, wenn sich unsre Abhängigkeit von Gott so wenig kundgiebt in einem anhaltenden Gebet und Flehen zu Ihm? Wenn wir einmal einen
Vergleich ziehen zwischen dem Beispiel des Herrn und
Seiner Apostel, welche Tag und Nacht im Gebet zu Gott
verharrten, (Luk. 6,12; Eph. 1,16; Phil. 1, 4; Kol. 1, 3.9;
4, 12; 1. Thess. 1, 2. 3; 2. Tim. 1, 3.) und unserm
Gebetsleben, so werden wir nicht mehr zu fragen brauchen,
warum unsre Arbeit im Werke des Herrn oft so fruchtleer ist. Wie eindringlich ermahnt der Apostel die Gläubigen zu Ephesus, zu aller Zeit zu beten „mit allem Gebet und Flehen in dem Geiste, und eben hierzu wachend
in allem Anhalten und Flehen für alle Heiligen und für
mich re." Und wiederum: „Verharret im Gebet und wachet
in demselben mit Danksagung; und betet zugleich auch für
uns w." „Betet unablässig." (Eph. 6, 18; Kol. 4, 2;
1. Thess. 5, 17.) Wie wenig steht heute das Leben so
vieler Gläubigen mit diesen Ermahnungen im Einklang!
Wie manche mögen vielleicht ohne Gebet den Tag anfan-
23
gen, ohne Gebet ihr Tagewerk verrichten und ohne Gebet
es vollenden! Darf man sich da wundern, wenn sich Lauheit, Schlaffheit, Dürre, Weltförmigkeit und traurige Zustände unter uns offenbaren? Solche Zustände sind umso
trauriger, weil man im Besitz der herrlichsten Vorrechte,
der größten Schätze und Segnungen ist, aber dieselben
nicht zu verwerten weiß aus bloßer Nachlässigkeit und
Unwachsamkeit.
Für einen jeden, der Augen hat, zu sehen, läßt sich
ein großer Unterschied in dem praktischen Leben der Gläubigen wahrnehmen. Die Einen gehen voran im Glauben
trotz der Schwierigkeiten, die Andern unterliegen und bleiben zurück; und dies hat seinen Grund einfach darin, daß
die Einen wachen und beten, wäbrend die Andern es versäumen. Infolge dessen wird den Einen „der Eingang in
das ewige Reich unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi
reichlich dargereicht," während die Andern nur „mit Not"
errettet werden. (2. Petr. 1, 11; 1. Petr. 4, 18.) Die
Einen können mit Paulus im Blick auf ihr Leben sagen:
„Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf
vollendet, ich habe den Glauben bewahrt; fortan ist mir
beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, die der Herr, der
gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem
Tage;" während die Andern gleich Lot „wie durchs Feuer"
gerettet werden. (2. Tim. 4, 7. 8; 1. Kor. 3, 15;
2. Petr. 2, 7. 8.) Lot war ebensowohl ein „Gerechter",
als Paulus, uud er wird an jenem Tage ebensowenig in
der Schar der Erlösten fehlen, wie der Apostel; aber im
Blick auf die „Vergeltung" wird ein großer Unterschied
zwischen beiden bestehen. Möchten wir daher nicht versäumen, zu wachen und zu beten! Es ist das eine uner-
24
läßliche Sache, wenn wir anders unsre Vorrechte verwirklichen wollen; unerläßlich für die Ueberwindung des Feindes und für den Sieg in den Prüfungen; für die Bewahrung der Kraft, des Friedens, der Freude und der
Einfalt des Glaubens. Es ist, mit einem Wort, eine
Sache von der höchsten Wichtigkeit für Zeit und Ewigkeit.
Doch kehren wir zu unserm Gleichnis zurück. Nachdem der Feind einmal Eingang gefunden hatte in dem
Reiche, begann er sein verderbliches Werk damit, daß er
„die Söhne des Bösen" in die Mitte desselben einsührte.
Diese Verbindung der Söhne des Bösen mit den Söhnen
des Reiches mußte naturgemäß einen höchst verderblichen
Einfluß auf das Wesen und die Natur des Reiches ausübeu, und dasselbe sowohl seinem Charakter, als auch seiner
äußeren Form nach völlig verändern, wie wir dies heute
durch die sogenannte Christenheit vor unsre Augen gestellt
sehen. Die bekennende Christenheit ist eine Mischung von
Gläubigen und Ungläubigen, von Personen, die in jeder
Beziehung ganz entgegengesetzter Natur sind. Das Reich
hat seinen göttlichen und himmlischen Charakter eingebüßt
und stellt in seinem Ganzen eine Sache dar, die aus
einem Zeugnis Gottes zum Heil und Segen des Menschen
zu einer Werkstätte des Feindes, zu einem System des
Trugs und der Lüge geworden ist. Da, wo einst die
Gegenwart und Macht des Heiligen Geistes das Ganze
beherrschte und alles eine himmlische Atmosphäre atmete;
da, wo die Strahlen der Herrlichkeit des auferstandeneu
Christus jeden Einzelnen erleuchteten und das Ganze in den
offenbarsten Gegensatz zu der Welt stellten, da herrscht jetzt
unter dem Einfluß des Feindes der Geist dieser Welt, und
das Ganze ist eingehüllt in die finstern Nebel der Philosophie,
der Ueberlieferungen der Menschen und der Elemente der
Welt. (Kol. 2,8.) Nicht umsonst hatte der Apostel schon in
den ersten Tagen der Kirche einen so großen Kampf für die 
Gläubigen zu Kolossä und Laodicäa. (Kol. 2, 1.) Die
liebliche Scene der Einigkeit, der Liebe und des Friedens,
wo alle ein Herz und eine Seele waren, begann sich
schon damals in das Gegenteil zu verwandeln. Und was
erblickt das Auge heute? Ein Schauspiel der traurigsten
Uneinigkeit und der Zersplitterung in unzählige Parteien,
die einander bekämpfen und aufreiben. Die Wahrheit
ist entstellt, und Sünden aller Art haben da ihren Einzug
gehalten, wo einst Reinheit und Trennung von dem Bösen
herrschten. Mordthaten, Ehebruch, Hurerei, Habsucht, Diebstähle, Götzendienst, ja fast alle Laster und Ausschweifungen
des Heidentums sind an der Tagesordnung. Und immer
weiter wuchert das Unkraut, und immer düsterer gestaltet
sich das Gemälde, bis schließlich der Feind seinem Werke
die Krone dadurch aufsetzen wird, daß er den Sohn des
Verderbens, den „Menschen der Sünde," einführt. Welch
schreckliche Folgen hat die Verbindung der Söhne des
Bösen mit den Söhnen des Reiches erzeugt!
Wie sehr auch die Gläubigen sich anstrengen mögen,
persönlich ihren himmlischen Charakter zu bewahren, so
vermögen sie doch nichts an dem Zustande des Reiches
zu ändern, indem das Böse, einmal eingeführt in seine
Mitte, nach der Natur der Sache die Oberhand haben
muß. Das führt uns jedoch zu einem andern höchst
wichtigen Grundsatz, zu dem der persönlichen Treue und
Trennung von dem Bösen. Nichts kann nutzloser sein,
als die Anstrengung, das Reich mittelst des Evangeliums
zu seinem ursprünglichen Zustande der Reinheit zurück­
26
führen zu wollen, nachdem einmal das Böse in demselben
Fuß gefaßt hat. Wohl wird es einmal gereinigt werden,
aber nicht durch die Predigt des Evangeliums, sondern
durch das Gericht, welches der Herr am Ende durch
Seine Engel ausführen wird. „Der Sohn des Menschen
wird Seine Engel senden, und sie werden aus Seinem
Reiche zusammenlesen alle Aergernisse und die das Gesetzlose thun; und sie werden sie in den Feuerofen werfen:
da wird sein das Weinen und das Zähneknirschen."
<V. 41. 42.) Bis dahin wird und soll der jetzige Zustand
des Reiches fortbestehen: „Laßt es beides zusammen
wachsen bis zur Ernte."
Die Reinigung des Reiches wird also bewirkt
durch das Gericht und nicht durch das Evangelium; sie
ist Sache des Herrn und nicht der Gläubigen. Alles,
was diese in dem jetzigen Zustand der Dinge thun können,
ist, daß sie sich selbst reinigen und fern halten von
„aller Art des Bösen." (1. Thess. 5, 22.) Den Zustand
des Reiches können sie nicht ändern; aber sie sind verantwortlich, ihren himmlischen Charakter zu bewahren und
die Grundsätze des Reiches zu verwirklichen, trotz des Verfalls desselben. Und dazu bedarf es einer persönlichen
Treue und einer entschiedenen Trennung von dem Bösen;
denn ohne dieses ist jenes unmöglich. Darum steht geschrieben: „Wenn sich nun jemand von diesen (den Gefäßen zur Unehre) reinigt, — d. h. sich von ihnen
absondert — der wird ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt,
nützlich dem Hausherrn, zu allem guten Werke bereitet.
Die jugendlichen Lüste aber fliehe; strebe aber nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden mit denen, die den
Herrn anrufen aus reinem Herzen." (2. Tim. 2,20— 22.)
27
Das ist der einfache, klare und bestimmte Weg, den jeder
Gläubige inmitten des Verfalls zu gehen hat. Das, was
er zu meiden, und das, was er zu thun hat, das, wovon
er sich trennen, und das, womit er sich verbinden soll,
wird ihm in diesen wenigen Worten klar vorgestellt. Er
hat sich zu trennen von den Gefäßen zur Unehre, das
heißt von solchen, die in offenbarer Ungerechtigkeit wandeln;
und er muß sich verbinden mit denen, die den Herrn
anrufen aus reinem Herzen, das heißt mit solchen, die
in Lauterkeit und Aufrichtigkeit nach dem Worte Gottes
wandeln; er soll die jugendlichen Lüste fliehen und der
Gerechtigkeit rc. n ach streb en. Für die Befolgung dieser
Vorschriften ist jeder Gläubige persönlich verantwortlich;
nichts kann ihn von dieser Verantwortlichkeit entbinden.
Außer diesem besteht für alle die gemeinsame Verantwortlichkeit, sich von dem Bösen zu trennen, die sich
in den Worten ausgedrückt findet: „Thut den Bösen von
euch selbst hinaus." (1. Kor. 5, 13.) Auch diese Verantwortlichkeit wird durch den allgemeinen Verfall nicht
aufgehoben. Und alle, die persönlich treu sind, werden
es auch gemeinsam sein. Auf diese Weise genießen
sie das Vorrecht, den Charakter und die Grundsätze des
Reiches inmitten des Verfalls zu verwirklichen. Ohne
Zweifel werden sie vieles durch das sie umringende Böse
zu leiden und zu tragen haben, besonders von solchen,
die gegen besseres Wissen der Wahrheit widerstehen; nichtsdestoweniger aber sind sie „glückselig" nach den Worten
des Herrn in Matth. 5, 2 — 12.
(Fortsetzung folgt.)

Gemeinschaft.
Was ist es, das am meisten die Gemeinschaft der
Gläubigen unter einander fördert? Es ist die persönliche,
innige und verborgene Gemeinschaft mit der Fülle
Christi.
Die sprudelnden Ouellwasser großer Ströme entspringen nicht eigentlich da, wo sie zuerst dem Auge sichtbar werden. Sie haben eine geheime Verbindung — unsichtbar, aber ununterbrochen — mit einem verborgenen,
nie versiegenden und nie zu erschöpfenden Behälter in
ungekannter Entfernung und Tiefe. Durch das Wasser,
das fortwährend aus diesem Behälter ihr zuströmt, fließt
endlich die Quelle über, und der Fluß strömt dahin, weiter
und weiter, und verbindet sich unterwegs mit Strömen,
die ebenfalls ähnlichen Behältern ihren Ursprung verdanken,
bis sie sich endlich alle in dem weiten, unermeßlichen Ocean
vereinigen.
So laßt uns auch alle aus der verborgenen, unergründlichen Fülle Christi schöpfen, aus jenem nie versiegenden, nie zu erschöpfenden Behälter, der dem fleischlichen Auge zwar verborgen, aber dem Auge des Glaubens
wohlbekannt' ist; laßt uns in persönlicher und ununterbrochener Gemeinschaft mit der Fülle Christi bleiben, und
wir werden zu seiner Zeit, nachdem wir auf dem Wege
dahin manch durstiges Land erquickt haben, auch endlich
in dem vollen Ocean der Freude anlangen, der für die
ganze Kirche Christi bereitet ist.
Das Reich der Himmel.
(Fortsetzung.)
Das zweite Gleichnis (Matth. 13, 31. 32.) zeigt
uns das Reich unter einer andern Form des Verfalls,
nämlich in seiner weltlichen Größe und Macht. „Das
Reich der Himmel ist gleich einem Senfkorn, welches ein 
Mensch nahm und auf seinen Acker säete, das zwar kleiner
ist als alle Samen, wenn es aber gewachsen ist, so ist es
größer als die Kräuter, und wird ein Baum, so daß die 
Vögel des Himmels kommen und sich niederlassen in seinen Zweigen." Diese Größe und Macht des Reiches bekundet eine Verleugnung seines himmlischen Charakters
und ist die Frucht der Verbindung der Gläubigen mit
der Welt. Seiner ursprünglich himmlischen Natur nach
war das Reich, entsprechend den Absichten des Herrn,
völlig von der Welt getrennt, (obwohl in der Welt errichtet) und stand im Gegensatz zu deren Charakter und
deren Grundsätzen. Infolge dessen war es auch, so lange
es seinen himmlischen Charakter bewahrte, ein Gegenstand
der Feindschaft und Verachtung von feiten der Welt. Denn
die Welt kann nichts weniger ertragen als die Atmosphäre
des Himmels. Aus diesem Grunde konnte sie auch die
Gegenwart des Herrn selbst nicht ertragen und stieß Ihn hinaus. Dasselbe Los der Verachtung und Verwerfung seitens
der Welt trifft notwendig alle, die in den Fußstapfen des
30
Herrn wandeln. „Alle aber, die gottselig leben wollen in
Christo Jesu, werden verfolgt werden." (2. Tim. 3, 12.)
„Wenn euch die Welt haßt, so wisset, daß sie mich vor
euch gehaßt hat. Wenn ihr von der Welt wäret, so würde
die Welt das Ihrige lieben; weil ihr aber nicht von der
Welt seid, sondern ich euch aus der Welt auserwählt habe,
darum haßt euch die Welt. Gedenket des Wortes, das ich
euch gesagt habe: Der Knecht ist nicht größer, als sein
Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, so werden sie auch
euch verfolgen." (Joh. 15, 18 — 20.)
Das Gleichnis von dem Senfkorn stellt uns daher
einen weiteren Fortschritt in dem Verfall des Reiches vor
Augen. Wir haben hier nicht die bloße Vermischung der
Gläubigen mit den Ungläubigen, wie in dem vorhergehenden Gleichnis, sondern das Ergebnis dieser Vermischung,
das gänzliche Aufgeben der himmlischen Stellung des
Reiches; denn um keinen geringeren Preis hätte dasselbe
je seine jetzige Größe und Macht erlangen können. Um
die Welt zu besitzen, mußte es den Himmel aufgeben.
Welch ein wichtiger und ernster Grundsatz ist das l
Wie lebhaft erinnert er uns an das Wort des Herrn:
„Kein Hausknecht kann zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den andern lieben,
oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnet nicht Gott dienen und dem Mammon."
(Luk. 16, 13.) Es ist sicher der Mühe wert, diesen Grundsatz etwas näher ins Auge zu fassen, um den Hang des
natürlichen Herzens zu erkennen, der dem Feinde einen
Anknüpfungspunkt bietet zur Erreichung seiner teuflischen
Absichten. Nichts bildet einen schrofferen Gegensatz, als
der Vater und die Welt, Christus und Satan, der Geist
31
und das Fleisch. Johannes sagt: „Wenn jemand die Welt
liebt, so ist die Liebe des Vaters nicht in ihm." (1. Joh.
2, 15.) Ebenso erklärt der Herr in dem früheren Gleichnis den Teufel als Seinen Feind. (V. 25. 39.) Und
Paulus sagt: „Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist,
der Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind einander
entgegengesetzt." (Gal. 5, 17.) Und in den oben angeführten Worten aus Lukas 16 erklärt der Herr in der entschiedensten Weise, daß die Liebe zu dem einen Herrn
den Haß zu dem andern voraussetzt, und ebenso umgekehrt. Liebe zu beiden zugleich gehört in den Bereich der
Unmöglichkeit. Welch ein ernster Gedanke! Wie sehr stellt
das unsre armen Herzen auf die Probe! Was ist der
Gegenstand derselben? Ist es Christus, oder die Welt?
Sind es die Dinge droben, oder die Dinge auf der Erde?
Wandeln wir nach dem Geiste, oder nach dem Fleische?
Können wir sagen, daß wir den Herrn lieben und
die Gegenwart des Heiligen Geistes in uns hochschätzen,
wenn wir thatsächlich den eitlen und nichtigen Dingen
dieser Welt nachjagen und nach dem Fleische wandeln?
Unmöglich; wir dürfen in diesem Falle vom Gegenteil versichert sein. Ach! und dennoch steht es so bei vielen
Gläubigen in unsern Tagen. Ein Zustand der Halbherzigkeit und Weltförmigkeit hat in bedauernswertester Weise
Platz gegriffen unter denen, welche als Söhne des Reiches
einen himmlischen Charakter offenbaren sollten. Viele Tausende bekennen am ersten Tage der Woche am Tische des
Herrn ihre Einheit mit Ihm, dem von der Welt verworfenen, auferstandenen und verherrlichten Christus zur Rechten Gottes; viele Tausende strömen an diesem Tage
zusammen, um das Wort Gottes zu hören und dem Herrn
32
Lob und Dank darzubringen, während die übrigen sechs
Tage von so vielen unter ihnen ausschließlich mit dem
Jagen nach der Befriedigung ihrer eignen Interessen ausgefüllt werden. Und bei Manchen, die da bekennen, daß
ihre Leiber Tempel des Heiligen Geistes sind, treten die 
Werke des Fleisches in einer Weise zu tage, daß man die
Augen niederschlagen muß; Dinge geschehen, von welchen
der Apostel will, daß sie nicht einmal unter den Gläubigen genannt, viel weniger von ihnen gethan werden sollten. (Vergl. Eph. 5, 3.) Aber alle diese Zustände haben
ihren Grund in dem Mangel an wirklicher Liebe für
Christunl und an Ehrfurcht vor der Person des in uns
wohnenden Heiligen Geistes. Wenn man Christum wirklich liebt, so wird man ebenso wirklich die Welt und
das Fleisch hassen, sich selbst und die Sünde verabscheuen.
Hier liegt der erste Keim des Verfalls. Gewiß würde
der Feind keinen Eingang in das Reich gefunden haben,
wenn die Gläubigen im Wachen und Beten verharrt hätten. Aber was war die Ursache ihres „Einschlafens" ?
Die Person Christi verlor mehr und mehr ihren Wert
für sie. Er war nicht mehr der einzige teure Gegenstand 
ihrer Herzen. Das geht klar und deutlich aus dem ersten
Sendschreiben an die Versammlung zu Ephesus hervor;
dort haben wir den Anfang des Verfalls. Aeußerlich war
noch alles in schönster Ordnung; aber das liebende Herz
des.Herrn war betrübt und klagte: „Aber ich habe wider
dich, daß du deine erste Liebe verlassen hast." (Offenbarung 2, 4.)
Warum konnte der Feind den Herrn Jesum nicht
zum Falle bringen, als er Ihn versuchte und Ihm alle
33
Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeigte? Weil der
Vater ein unvergleichlich teurer und kostbarer Gegenstand für
Sein Herz war, ein Gegenstand, wie ihn alle Reiche der
Welt und ihre Herrlichkeit Ihm nicht zu bieten vermochten;
und den Willen des Vaters zu thun, war „Seine Lust".
(Ps. 40, 8.) Manche mögen vielleicht einwenden: Aber
der Herr Jesus war der Sohn Gottes, und wir können
unS mit Ihm nicht vergleichen. Das ist wahr; aber es
ist ebenso wahr, daß Er versucht wurde als ein wirklicher,
wahrhaftiger Mensch, wiewohl ohne Sünde, und daß Er
nicht in der Kraft Seiner Gottheit, sondern als ein abhängiger Mensch in der Kraft des Heiligen Geistes dem
Feinde widerstand. Dieselbe Kraft ist aber auch uns geschenkt, weil der Heilige Geist in unS wohnt.
Nehmen wir indessen ein anderes Beispiel, dasjenige
des Apostels Paulus, eines Menschen von gleicher Beschaffenheit und von gleichen Gemütsbewegungen wie wir.
Warum sehen wir ihn unentwegt seinen Lauf fortsetzen,
trotz der bittersten Verfolgungen, Leiden und Prüfungen?
Weil er sagen konnte: „Denn das Leben ist für mich
Christus." Er diente nicht zwei Herren, sondern konnte
sagen: „Eins aber thue ich." Er suchte nicht halb die
Dinge, die droben, und halb die Dinge, die auf der Erde
sind; sondern „vergessend, was dahinten, und sich ausstreckend nach dem, was davorne ist, jagte er, das vorgesteckte Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christo Jesu." (Phil. 1,
21; 3, 14.)
Laßt uns nie vergessen, daß, wie der Vater, der
Sohn und der Heilige Geist eins sind, so auch Satan,
die Welt und das Fleisch mit einander im Bunde stehen!
34
Und möchten wir die letzteren stets als unsre Feinde
erkennen und uns entschieden auf die Seite Gottes stellen,
eingedenk des Wortes des Herrn: „Kein Hausknecht kann
zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen
hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen
anhangen und den andern verachten. Ihr könnet nicht
Gott dienen und dem Mamon!" In göttlichen Dingen
giebt es keine Neutralität. Jede Halbherzigkeit ist in den
Augen Gottes nichts mehr und nichts weniger als ein 
geheimes Bündnis mit dem Feinde. „Bist du für uns
oder für unsre Feinde?" so lautete die bestimmte Frage
des göttlichen Kriegsmannes auf dem Kampfplatz vor
Jericho. (Jos. 5, 13.) Und dieselbe Frage richtet der Herr
auch an einen jeden Einzelnen von uns, die wir berufen
sind, „gute Kriegsmänner Jesu Christi" zu sein, um „Dem
zu gefallen, der uns angeworben hat." (2. Tim. 2, 3 — 5.)
„Wie lange hinket ihr auf beiden Seiten? Wenn Jehova Gott ist, so wandelt Ihm nach, und wenn Baal,
so wandelt ihm nach!" (1. Kön. 18, 21.)
Das Ansehen, welches das Reich heute genießt, und
die Größe, unter welcher es sich unsern Blicken darstellt,
werden uns umsomehr als eine Schmach und als eine
Folge der Untreue erscheinen, jemehr wir beides im Lichte
der Niedrigkeit unsers geliebten Herrn auf der Erde betrachten. Das Reich ist umgeben mit den Herrlichkeiten
der Reiche dieser Erde und prangt in Purpur und Scharlach, während Er, der wahre König des Reiches, von
ruchlosen Kriegsknechten zum Spott mit einem Purpurmantel und mit einer Dornenkrone bekleidet und vor einer
gaffenden Menge zur Schau gestellt wurde. Jenes hat zu
verfügen über Aemter und Ehrenstellen, ja über die Be­
35
sitztümer der Erde; dieser hatte nicht, wo Er Sein Haupt
hinlegen konnte. Er, der „König", der in die Welt kam,
um der Wahrheit Zeugnis zu geben, begann mit „der
Krippe" und endigte mit „dem Kreuze". Sollten wir nicht,
angesichts dieser Niedrigkeit des Herrn, jeden Hang nach
Größe und Ansehen in dieser Welt aus das Tiefste verabscheuen ? Sollten wir nicht vielmehr mit aller Entschiedenheit zu Ihm hinausgehen, um Seine Schmach zu tragen?
Wir sehen bei den Jüngern, wie sehr der Hang nach
Größe in der Welt dem natürlichen Herzen eigen ist.
Während der Herr in ihrer Mitte als der Dienende auftrat und von Seiner Erniedrigung und von Seinen Leiden sprach, stritten sie sich, wer unter ihnen der Größte
sei. Ja wahrlich, nur der Tod des Herrn konnte uns
von einer solch verderbten Natur befreien!
Wir kommen jetzt zu dem dritten Gleichnis. „Ein
anderes Gleichnis redete Er zu ihnen: Das Reich der
Himmel ist gleich einem Sauerteig, welchen ein Weib nahm
und unter drei Maß Mehl verbarg, bis alles gesäuert
ward." (V. 33.)
Wir haben gesehen, wie der Verfall durch die Verbindung der Söhne des Bösen mit den Söhnen des Reiches
herbeigeführt wurde. In diesem Gleichnis nun wird uns
das geistliche Mittel vorgestellt, dessen sich der Feind zu 
diesem Zwecke bediente: der Sauerteig. *) Unmöglich konnte
*) Bekanntlich wird der Sauerteig in der Schrift stets als
das Symbol der Verderbnis angewandt. So durfte z. B. kein
Sauerteig mit den Speisopsern dargebracht werden: „Alles Speisopfer, das ihr Jehova darbringet, soll nicht aus Gesäuertem
gemacht werden; denn aller Sauerteig und aller Honig — davon
sollt ihr kein Feueropfer räuchern dem Jehova." (3. Mose 2, 11.)
36
Satan die Ungläubigen in das Reich einführen, es sei
denn daß er vorher die Gläubigen betrog durch Verfälschung des reinen Wortes Gottes. Nur durch Betrug
und Lüge konnte er seinen Zweck erreichen, wie im Anfang, als er den ersten Menschen verführte. Allerdings
würde die Schlange trotz all ihrer List und Klugheit
ihren Zweck nicht erreicht haben, wenn Eva in Einfalt
an dem Worte festgehalten hätte, so wie Gott es ausgesprochen hatte. Dies erinnert uns an einen höchst
wichtigen Grundsatz, den der Apostel für die Zeit des Verfalls dem Timotheus und allen Gläubigen mit ihm ans
Herz legt: „Halte fest das Bild gesunder Worte, die du
von mir gehört hast, im Glauben und in der Liebe, die
in Christo Jesu ist." (2. Tim. 1, 13.)
Wir haben bereits gesehen, daß die Bewahrung eines
guten geistlichen Zustandes und unsers himmlischen Charakters davon abhängt, daß wir im Wachen und Beten verharren und ein ganzes Herz für Christum bewahren.
Jedoch ist das nur die eine Seite unsers Gegenstandes.
So notwendig der ununterbrochene Verkehr des Herzens
Auch durste Israel während der ganzen Feier des Passahfestes
nichts Gesäuertes essen. „Du sollst kein Gesäuertes auf ihm essen,
sieben Tage sollst du Ungesäuertes auf ihm essen. ... Es soll
bei dir kein Sauerteig gesehen werden in deiner ganzen Grenze
sieben Tage." (5. Mose 16, 3. 4.) Ferner schreibt der Apostel an
die Korinther: „Wisset ihr nicht, daß ein wenig Sauerteig die
ganze Masse durchsäuert? Feget den alten Sauerteig aus, auf
daß ihr eine neue Masse werdet, gleichwie ihr ungesäuert seid.
Denn auch unser Passah, Christus, ist für uns geschlachtet. Darum
lasset uns Festfeier halten, nicht mit altem Sauerteig, auch nicht
mit Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit ungesäuertem Brote der Lauterkeit und Wahrheit." (1. Kor. 5, 6—8.)
37
mit der Quelle aller Kraft ist, so notwendig bedürfen wir
andrerseits des Festhaltens an dem unverfälschten, inspirirten Worte Gottes, so wie eS uns in der „Heiligen
Schrift" von Anfang bis zu Ende derselben mitgeteilt ist.
Wir können diesem Punkte nie zu viel Wichtigkeit beilegen.
Denn bei aller Zuneigung des Herzens für Christum und bei
aller Wachsamkeit würden wir dennoch den Fallstricken
des Feindes nicht entgehen, wenn wir daS Wort Gottes
vernachlässigten oder auch nur die geringste Verfälschung
desselben zuließen. Denn das Wort Gottes allein giebt
uns Aufschluß darüber, wie wir uns als Gläubige zu
allen Zeiten und unter allen Umständen, auch in den
Tagen des größten Verfalls, verhalten sollen. Es kommt
gar nicht so selten vor, daß sich Gläubige in einer falschen
Stellung befinden (zum großen Schaden für sie selbst und
Andere), trotzdem man ihnen weder wahre und innige Zuneigungen für Christum, noch einen fleißigen Umgang mit
Ihm absprechen kann. Nicht daß sie geradezu gleichgültig wären gegen das Wort Gottes; aber sie achten
nicht sorgfältig genug auf die Reinheit der Lehre,
um in Wirklichkeit nur das Wort Gottes und nicht
dasjenige der Menschen zu haben. Mit welch peinlicher
Gewissenhaftigkeit und heiliger Eifersucht wachte der Apostel
Paulus über die Reinheit der Lehre! Wie ernstlich ermahnte und warnte er die Gläubigen in dieser Beziehung!
So ruft er z. B. den Galatern zu: „Aber wenn auch wir
oder ein Engel aus dem Himmel euch etwas als Evangelium verkündigte, außer dem, was wir euch als
Evangelium verkündigt haben, der sei verflucht! Wie
wir zuvor gesagt haben, so sage ich euch jetzt wiederum:
Wenn jemand euch etwas als Evangelium verkündigt
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außer dem, was ihr empfangen habt, der sei verflucht!" (Kap. 1, 8. 9.) Das Evangelium, welches Paulus
den Galatern verkündigt hatte, war von Gott und nicht
von Menschen; und wenn Paulus selbst oder gar ein
Engel aus dem Himmel ihnen etwas als Evangelium
verkündigt hätte, was auch nur um eines Haares Breite
von dem abgewichen wäre, was sie durch den Apostel als
die inspirirten Worte Gottes empfangen hatten, so sollten sie es rücksichtslos als falsch verwerfen.
Alle Schriften des Alten und Neuen Testaments,
aber auch nur diese, haben Anspruch auf die Bezeichnung:
„Heilige Schriften." In betreff ihrer wird gesagt, daß
sie „von Gott eingegeben" sind. (2. Tim. 3, IS. 16.)
Sie sind, kurz gesagt, das Wort oder der Ausdruck der
Gedanken Gottes. Das, was Gott von sich selbst offenbaren, sowie das, was Er uns mitteilen wollte betreffs des
Himmels, betreffs des Menschen und seines Zustandes,
betreffs seiner Errettung und seiner Zukunft, betreffs der
Schöpfung, betreffs der Welt und ihrer Zukunft; mit
einem Worte, alles, was Er uns mitteilen wollte, hat Er
uns in diesem Bilde oder in dieser Form mitgeteilt, in
welcher uns „die Heiligen Schriften" in ihrer Zusammenstellung als ein Ganzes gegeben sind. Würde man dieses
Bild auch nur in der geringsten Weise verändern, vielleicht
in der Art der Darstellung, um es dem Geschmack des
Menschen besser anzupassen, wenn auch unter Anwendung
derselben Worte, so würde man nicht mehr sicher sein,
ob man noch die Gedanken Gottes und folglich die
Wahrheit hätte. Will man die Wahrheit nicht einbüßen,
so handelt es sich nicht blos darum, dieselben Worte zu
besitzen, welche Paulus oder Petrus gebraucht haben, son­
39
dern auch dieselbe Form festzuhalten, in welcher sie gegeben worden sind. Wer außer Gott kann uns die Wahrheit betreffs aller Dinge, sowohl der sichtbaren als auch
der unsichtbaren, mitteilen? Der Mensch vermag nicht einmal die sichtbaren. Dinge der Wahrheit gemäß zu beurteilen und darzustellen, geschweige denn die unsichtbaren.
Laßt ihn z. B. eine Beschreibung seines eigenen Zustandes
geben, der ihm doch eigentlich sehr bekannt sein müßte,
und man wird sehen, wie sehr diese Beschreibung von
derjenigen abweicht, welche Gott in Seinem Worte darüber
giebt. Wenn der Mensch aber nicht einmal fähig ist, über
sich selbst, über das Sichtbare, richtig zu urteilen, wie viel
weniger wird er uns über die unsichtbaren Dinge oder
gar über Gott selbst einen wahren Bericht zu geben
vermögen. Wir wiederholen daher, daß wir die Wahrheit nur in dem Worte Gottes, so wie es uns mitgeteilt und anvertraut worden ist, d. h. in den „Heiligen
Schriften" Alten und Neuen Testaments finden können.
Diese sind das getreue Bild, welches uns alle Dinge
der Wahrheit gemäß darstellt. Und wir müssen jede,
auch die geringste Veränderung desselben, jede Hinzufügung oder jede Weglassung als einen Eingriff in die
Rechte Gottes und als eine Verfälschung Seiner Gedanken
entschieden verwerfen; und alles, was uns als Lehre gebracht wird, wäre es selbst von einem Apostel oder von einem
Engel aus dem Himmel, haben wir nach diesem einzig
untrüglichen Maßstabe zu prüfen.
Gott sei gepriesen, daß Er uns Sein kostbares Wort
bis heute hin, trotz aller Anläufe und Ränke Satans,
trotz aller Feindschaft des Menschen, bewahrt hat! Es
genügt für alle, auch für die dunkelsten Zeiten, um zu
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erleuchten und „Einsicht zu geben den Einfältigen."
(Ps. 119, 130.) Was wir zu beklagen haben, ist der
große Mangel an Einfalt bei so vielen Gläubigen in
unsern Tagen. Weil sie nicht einfältig genug sind, um
sich allein durch das Licht des göttlichen Wortes erleuchten
zu lassen, werden sie so leicht „hin und her geworfen
und umhergetrieben von jedem Winde der Lehre."
(Eph. 4, 14. 15.) Sie kommen nicht zur vollen Erkenntnis der Wahrheit, weil sie sich nicht einzig und allein
an dem Worte halten. Ungewißheit und Zweifel erfüllen
ihre Herzen, sowohl betreffs ihres Platzes Gott gegenüber,
als auch ihrer Stellung den Menschen gegenüber. Leider
aber muß auch von Manchen gesagt werden, daß es ihnen
nicht wirklich darum geht, die Wahrheit zu besitzen, weil
dieselbe sie verurteilt in Dingen, die sie nicht aufgeben
mögen. Sie ziehen die Lehren der Menschen der einfachen Wahrheit vor, weil jene den Weg breit genug
lassen, um auch noch ein wenig dem Fleische nach leben
zu können. Aber solche Gläubige sind nur die Sklaven
ihres eignen Willens und der Wünsche ihrer alten Natur.
Wahren Frieden, wahres Glück und wahre Freude kennen
sie nicht; denn alles das kann nur die Wahrheit in einer
Seele erzeugen, wie geschrieben steht: „Ihr werdet die 
Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch
frei machen." (Joh. 8, 32.) Solche Seelen stehen mehr
oder weniger außer dem Bereich der gesegneten Wirksamkeit des Wortes. Dasselbe hat keine unbedingte Macht,
keine ausschließliche Autorität über sie. Und daruni können
wir nichts weiter für sie thun, als ihrer mit anhaltendem
Gebet und Flehen vor Gott zu gedenken; Er allein kann
sie zur Einsicht und Umkehr bringen und ihre Herzen zube­
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reiten, um sich bedingungslos unter die Autorität Seines
Wortes zu beugen. Uns allen aber wolle der Herr in
Seiner Gnade geben, daß wir das Bild gesunder Worte
festhalten! Denn nur dadurch werden wir feststehen inmitten der Schwankungen und Verirrungen, welche uns
von allen Seiten umgeben. Indem wir mittelst des kostbaren Wortes alle Dinge in ihrem wahren Lichte sehen,
ist unser Blick klar, unser Gang fest.
In betreff des Reiches hat der Feind seinen Zweck
erreicht — alles ist durchsäuert worden. Das
Ganze hat die Natur des Sauerteigs angenommen. Die
Ermahnung, den alten Sauerteig auszufegen, fiirdet daher,
soweit es das Reich als solches betrifft, keinen Platz mehr,
indem alles bereits durchsäuert ist. Das Reich ist ein 
großes Lehrsystem geworden, ein System des Trugs und
der Lüge, durch welches der „schmale Weg" und die „enge
Pforte" so breit und so weit gemacht worden sind, daß 
jeder in den Himmel eingehen kann, der sich den äußeren
Formen und Satzungen dieses Systems unterwirft. Durch
ein solches Lehrsystem werden die Gewissen abgestumpft,
verhärtet und für die Aufnahme der Wahrheit immer unempfänglicher gemacht; ja mehr noch, die Anhänger dieses
Systems werden immer mehr zu entschiedenen Feinden der
Wahrheit. Nirgendwo stößt die Wahrheit ans mehr Widerstand, als in einem durch falsche Religion verblendeten
und verhärteten Herzen, zumal wenn jene sich in die äußeren Formen der Wahrheit kleidet. Während eine solche
Religion einerseits dem Fleische seine volle Befriedigung gewährt, indem sie dessen Wünschen und Begierden
Rechnung trägt, erfüllt sie andrerseits das natürliche Herz
mit geistlichem Stolz und religiöser Anmaßung, mit jenen
42
Dingen, welche einen Menschen zu den größten Gewaltthätigkeiten hinreißen können. Es ist mit einem Worte die
Religion des Fleisches, ganz und gar angemessen dem
Herzenszustand ihrer Bekenner, welche weder Gott noch
die Wahrheit ertragen können.
Ach, zu welch traurigen, schrecklichen Resultaten führt
ein Abweichen von der reinen, gesunden Lehre des unverfälschten Wortes Gottes! Was ist aus dem Reiche Gottes
in seiner äußeren Gestalt geworden! Es hat sich im Vergleich mit dem, was es anfangs war, in das gerade Gegenteil verwandelt und steht nach jeder Seite hin im
Gegensatz zu dem Worte Gottes. An die Stelle der Autorität Christi ist die Autorität des Menschen getreten.
Die Wahrheit wird als ein verderblicher Irrtum bezeichnet,
und diejenigen, welche sie verkündigen, werden als Jrrlehrer und Ketzer verschrieen; man warnt vor ihnen, als
vor gefährlichen Verführern, während andrerseits der Lüge
Thür und Thor weit geöffnet ist.
Der Feind hat seine böse Absicht bei der großen
Masse der Bekenner völlig erreicht. Durch die Einführung
des Sauerteigs falscher Lehre, menschlicher Meinungen
und Satzungen, hat er die Herzen der Menschen ganz
und gar gegen Gott und Seine Wahrheit einzunehmen
gewußt und sie dadurch zugänglich gemacht für alle möglichen Irrtümer und Lügen; auch für die große Lüge der
letzten Tage. Sie werden den aufnehmen, „dessen Ankunft
nach der Wirksamkeit des Satans ist, in aller Macht und
in Zeichen und Wundern der Lüge und in allem Betrug
der Ungerechtigkeit denen, die verloren gehen, darum daß
sie die Liebe zur Wahrheit nicht annahmen,
daß sie errettet würden. Und deshalb sendet ihnen Gott
43
eine wirksame Kraft des Irrtums, daß sie der Lüge
glauben, auf daß alle gerichtet werden, die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern Wohlgefallen gefunden haben
an der Ungerechtigkeit/' (2. Thess. 2, 9 — 12.)
(Schluß folgt.)

Der Beweggrund und der Zweck der
Fußwaschung.
(Joh. 13.)
Der Herr ermahnt uns, einander die Füße zu waschen
nach dem Beispiel, welches Er uns hinterlassen hat. Es
ist dies ein glückseliger Dienst, wenn er in der rechten
Weise ausgeübt wird; wie der Herr selbst sagt: „Glückselig seid ihr, wenn ihr's thut." Aber um diesen Dienst
nach den Gedanken unsers Herrn und Meisters und zum
Wohle der Seelen ausüben zu können, ist es nötig, durch
dieselben Beweggründe und Zwecke geleitet zu werden,
welche den Herrn selbst in demselben leiteten. Alles, was
Er für die Seinigen gethan hat und noch thut, hat seinen
Beweggrund in Seiner Liebe zu ihnen. „Da Er die
Seinigen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte Er
sie bis ans Ende." Nur Liebe trieb Ihn, für uns in
den Tod zu gehen, als wir noch Sünder und Feinde
waren; und nichts anderes als Liebe bewegt Ihn jetzt,
uns die Füße zu waschen. Wie weit war der Abstand
zwischen Ihm und uns in unserm natürlichen Zustande!
Wir waren Sünder und Unreine; Er war der Heilige
und Reine. Wir haßten Ihn; Er begegnete unserm Hasse
mit einer Liebe, die stärker war als der Tod, und die ein
Werk vollbrachte, welches uns von allen unsern Sünden
44
und Missethaten reinigt. Er selbst sagt: „Größere Liebe
hat niemand, als diese, daß er sein Leben läßt für seine
Freunde." Kein Mensch kann in seiner Liebe weitergehen, als daß er sein Leben für seine Freunde opfert. Der
Herr hat das gethan; aber Er ist in Seiner Liebe noch
viel weiter gegangen. Er ist für die Seinigen gestorben,
als sie noch Seine Feinde und gottlose Sünder waren.
Auch der Apostel sagt: „Denn für den Gütigen möchte
vielleicht jemand zu sterben wagen. Gott aber erweist
Seine Liebe gegen uns, indem Christus, da wir noch
Sünder waren, für uns gestorben ist." (Joh. 15, 13;
Röm. 5, 7. 8.) Ein Mensch mag viel Liebe in seinem
Herzen haben und offenbaren, aber Liebe für den Feind
giebt es in dem natürlichen Herzen nicht; eine solche Liebe
ist nur in dem Herzen Gottes zu finden, und darum ist
diese Liebe vollkommen göttlich. Sie hat ihres
Gleichen nicht im Himmel noch aus der Erde; ihre Beweggründe liegen in ihr selbst — Gott ist ihre Quelle.
Nur eine solche Liebe genügte, um das Werk der
Erlösung zu vollbringen; und nur eine solche Liebe —
die Liebe Gottes — genügt zu einer wirksamen und
gesegneten Ausübung des Dienstes der Fußwaschung. Sie
allein kann ihren Zweck in jeder Beziehung erreichen, wie
groß auch die Hindernisse sein mögen, die sich ihr entgegenstellen. Diese Liebe kennt so zu sagen keine Hindernisse und erreicht ihren Zweck trotz derselben; weder die
Welt noch die Sünde, weder der Tod noch die ganze
Macht des Feindes kann sie aufhalten oder irgendwie
schwächen. Sie triumphirt über alles. Wie anbetungswürdig ist diese Liebe!
So göttlich, wie die Natur und das Wesen dieser
45
Liebe, so göttlich ist auch der Zweck, den sie verfolgt. Der
Herr will, daß wir Gemeinschaft mit dem Vater und mit
Ihm haben sollen. Sein Zweck steht in vollkommenem
Einklang mit Seiner Liebe. So unaufhaltsam diese in
der Erreichung ihres Zweckes ist, so unumstößlich ist das
Resultat, das sie im Blick auf die Stellung des Gläubigen bereits erreicht hat. Diese Stellung ist unerschütterlich.
Der Gläubige ist in Christo Jesu auf immerdar in die
Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohne eingeführt. Niemand kann ihm je den höchsten Gegenstand
des Vaters, den Sohn Seiner Wonne, rauben. Und niemand kann ihm andrerseits den Vater rauben, der die
Freude und Wonne des Sohnes ist. Die Freude des
Vaters und des Sohnes selbst sind das Teil des Gläubigen ; er besitzt beide, den Vater und den Sohn, und
somit das Höchste, was Himmel und Erde nicht zu umfassen vermögen. „Was wir gesehen und gehört haben,
verkündigen wir euch, auf daß auch ihr mit uns Gemeinschaft habet; und zwar ist unsre Gemeinschaft mit
dem Vater und mit Seinem Sohne , Jesu Christo. Und
dies schreiben wir euch, auf daß eure Freude völlig
sei." (1. Joh. 1, 3. 4.) Wie wunderbar ist diese Liebe
und ihr Resultat!
Kannst Du Höh'res je uns geben,
Kann noch Liebe größer sein?
Und wir sollten unser Leben
Dir, o Gott, nicht völlig weih'n?
Der Herr will unser ewiges Glück; und diese Seine
Absicht ist betreffs unsrer Stellung durch das Werk Seiner
unendlichen Liebe vollständig erreicht worden. Kein Preis
war Ihm zu hoch, kein Lösegeld zu teuer, um das, was
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Seine Liebe für uns ausersehen hatte, zu erwerben. Alles
gab Er zu diesem Zwecke dahin, selbst Sein eigenes, kostbares Leben. Und jetzt will Er, daß wir dieses Glück
auch genießen; und zwar nicht erst dann, wenn wir bei
Ihm in der Herrlichkeit sein werden, sondern jetzt schon,
während wir noch auf dieser Erde pilgern. Und in der That
kann uns nichts an dem Genuß dieses Glückes hindern,
weder Welt noch Teufel. „Weder Trübsal noch Angst,
noch Verfolgung, noch Hungersnot, noch Blöße, noch Gefahr, noch Schwert; weder Engel noch Fürstentümer, weder
Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten, weder
Hohes noch Tiefes, noch irgend eine andere Kreatur vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in
Christo Jesu ist, unserm Herrn." (Röm. 8, 36 — 39.) Ja
wahrlich, nichts kann uns au dem Genuß dieses Glückes
hindern, es sei denn unsre eigne Nachlässigkeit und
Untreue im Wandel. Wie schmerzlich und demütigend
ist das für uns! Wie vorsichtig sollten wir sein! Mit
Recht sagt Johannes gerade im Blick hierauf: „Meine
Kinder, ich schreibe euch dieses, auf daß ihr nicht sündiget."
(1. Joh. 2,1.) Je höher und köstlicher unsre Vorrechte sind,
desto größer und unersetzlicher ist der Verlust, den wir
uns durch unsre Nachlässigkeit und Untreue zuziehen. Wir
sollten daher nichts mehr fürchten und auf nichts ein
wachsameres Auge haben, als auf die in uns wohnende
Sünde, damit diese nicht wirksam sei und uns für den
gesegneten Genuß unsrer Gemeinschaft mit dem Vater und
Seinem Sohne unfähig mache.
Für die Liebe des Herrn wird selbst unsre traurige
Nachlässigkeit und Untreue nur ein neuer Anlaß zur Thätigkeit, um trotz allem Seinen Zweck bei unS auch in
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praktischer Beziehung zu erreichen. Er kann nur dann befriedigt sein, wenn wir glücklich sind; anders läßt Ihn Seine
Liebe nicht rasten noch ruhen. Welche Mühe und Arbeit wir
Ihm auch schon gemacht haben mit unsern Sünden und
Missethaten, wie groß auch das Opfer ist, welches Er für
uns gebracht hat, nichts kann Ihn hindern, immer wieder auf's Neue für uns thätig zu sein bei dem Vater,
damit die unterbrochene Gemeinschaft mit Ihm wiederhergestellt werde. So ist der Herr und so Seine Liebe. Aber
vergessen wir nicht, daß unsre Sünden und nicht unsre
Reue den Anlaß zu dieser erneuten Thätigkeit der Liebe
geben! So wie nur Seine göttliche Liebe imstande war,
uns zu erretten, als wir alle wie Schafe umherirrten und
uns ein jeder auf seinen Weg wandten, (Jes. 53, 6.)
so ist auch nur Seine Liebe fähig, uns zurückznführen
und Reue und Selbstgericht in unsern Herzen wachzurufen, wenn wir nachlässig und gleichgültig geworden sind.
Wäre Er nicht allezeit in treuer Liebe mit uns und für
uns beschäftigt, so würden unsre verblendeten und von
Natur stolzen Herzen sich nie demütigen. Welch eine
Geduld und Langmut kennzeichnen diese Liebe! Wie
selbstlos ist sie! Sie bezweckt nichts anderes als unser
vollkommenes Glück; und sie kann nur dann völlig befriedigt sein, wenn dieser Zweck erreicht ist.
Ja wahrlich, nur göttliche Liebe kann mit der ihr
eigenen, unermüdlichen Ausdauer und Geduld einen solchen
Zweck verfolgen und erreichen. Sie erhebt sich in der Gewißheit ihres schließlichen Sieges triumphirend über die
Sünde und selbst über den Zustand der Kälte und Gleichgültigkeit ihrer Gegenstände. Erfüllt von dieser Liebe,
konnte der Herr Jesus zu Seinen Jüngern sagen: „Mit
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Sehnsucht habe ich mich gesehnt, dieses Passah mit euch
Zu essen, ehe ich leide," obgleich gerade diese Jünger sich in
jener feierlichen Stunde, und zwar in Gegenwart Dessen,
der sich so tief erniedrigt hatte und der im Begriff stand,
für sie zu sterben, über ihre eigene Größe stritten.
<Luk. 22, 15.) Der Herr in Seiner Liebe sah sich im
Geiste schon mit ihnen an dem Ziele, welches Er für sie
verfolgte. Und wie im Erlösungswerke, so sehen wir auch
in der Fußwaschung die Liebe ihren Zweck verfolgen,
wenngleich sie für den Augenblick nicht verstanden wird.
Der Herr mußte dem Petrus sagen: „Was ich thue, weißt
du jetzt nicht; du wirst es aber hernach verstehen."
Geliebter Leser! Erst von dem Augenblick an, da wir
in der Kraft des Geistes den Platz einnehmen, auf welchem
der Herr uns haben will, werden wir in etwa verstehen,
wie der Herr uns geliebt hat und liebt; erst dann werden
wir die Größe Seiner Liebe, sowie all die Mühe und
Geduld, welche Er mit uns gehabt hat und noch hat, zu
schätzen wissen; erst dann werden wir, in dem tiefen Gefühl unsrer eignen Unwürdigkeit, wirklich erkennen und bekennen, daß nur Er würdig ist, der Gegenstand unsrer
Herzen zu sein. Und erst dann auch werden wir fähig
sein, Seinem Beispiel zu folgen. Das Herz hat alsdann
feinen Ruhort gefunden in der Liebe Gottes, die in
Christo Jesu ist, und fühlt sich, frei von allen selbstsüchtigen Interessen, glücklich in der Hingebung und Selbstaufopferung für Andere.
Geliebter Leser, der Herr hat uns ein Beispiel
hinterlassen; Er, der Herr und der Lehrer, hat uns gezeigt, was Liebe ist und was Liebe vermag; und Er ruft
uns zu: „Auf daß, gleichwie ich euch gethan, auch ihr
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thut." Laß uns nie vergessen, was Er an uns gethan
und wie Er uns geliebt hat! Ja, möchte die Liebe des
Herrn und Sein Beispiel lebendig vor unsern Augen stehen,
damit wir fähig seien, mit dem Apostel zu sagen: „Geliebte, wenn Gott uns also geliebt hat, so sind
auch wir schuldig, einander zu lieben." (1. Joh. 4, 11.)
Nichts kann uns mehr verpflichten, nichts uns mehr befreien von aller Eigenliebe und Selbstsucht, von alledem,
was uns zum Dienst für Andere unfähig macht, als diese
Liebe. Die Betrachtung des Beispiels unsers Herrn macht
uns klein in unsern eigenen Augen, erweckt Bewunderung,
Anbetung und Gegenliebe, und macht uns so fähig, uns zum
Diener Andrer zu machen, wie unser H err und Lehrer
es gethan hat. Der Herr bewahre uns in Gnaden vor
aller Gleichgültigkeit betreffs Seiner gesegneten Person
und aller derer, die Seinem Herzen so teuer sind! Möchte
sich nie etwas von der Gesinnung Kains in unsern Herzen finden, der dem Herrn auf Seine Frage nach Abel
antwortete: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?" Ach!
die Gefahr liegt so nahe in diesen letzten schweren Tagen,
als deren erstes Kennzeichen der Apostel die Eigenliebe
nennt. (Ver^l. 2. Tim. 3, 2.)
„Lieber will ich weniger verdienen."
Vor einiger Zeit besuchte der Schreiber dieser Zeilen
einen Schuhmacher in seiner kleinen Werkstatt. Derselbe
war seit etwa sechs Jahren bekehrt und hatte stets ein 
einfältiges und treues Zeugnis für seinen Herrn abgelegt.
Wir unterhielten uns längere Zeit über die Liebe und
Güte des Herrn und über Seine wunderbaren Wege mit
50
den Seinigen. Als ich mich endlich verabschieden wollte,
bat er mich, noch einen Augenblick zu bleiben, und erzählte
mir dann ungefähr Folgendes:
„Ich habe in den verflossenen Jahren einige ernste
Seelen-Uebungen durchzukämpfen gehabt. Als ich bekehrt
wurde und den Herrn Jesum Christum als meinen Heiland
kennen lernte, da dachte ich, jetzt würde es mir sicher auch
in meinem kleinen Geschäft besser gehen, Wohl hatte ich
bis dahin mein Auskommen gehabt, aber ich war doch
nicht vorangekommen, wie man zu sagen pflegt. Allein
ich sah mich bald in meinen Hoffnungen getäuscht; anstatt
zuzunehmen, nahm mein Verdienst ab. Im ersten Jahre
verdiente ich durchschnittlich drei Mark die Woche weniger,
im zweiten ebenfalls, und im dritten gar vier Mark; und
vor einem Jahre etwa wurde mein Verdienst so gering,
daß ich dachte, ich müsse mein Geschäft aufgeben und mir
andere Arbeit suchen. Der Gedanke war nicht leicht für
mich; denn hier in dieser Werkstätte habe ich Frieden
gefunden, und hier habe ich die Nähe des Herrn so manches
Mal reichlich genossen. Indes schien mir kein anderer
Weg übrigzubleiben. Ich ging deshalb zu Herrn M., einem
lieben Christen, der eine hervorragende Stellung in einem
hiesigen Fabrikgeschäft einnimmt, teilte ihm meine Lage
mit und fragte ihn, ob er mir nicht eine passende Beschäftigung verschaffen könne. Er versprach mir, sobald
ein Platz frei würde, an mich zu denken.
„Doch nicht lange nachher kam ich in große Unruhe.
In meinem Herzen erhoben sich die Fragen: Ist das,
was du zu thun gedenkst, nach dem wohlgefälligen Willen
des Herrn, oder folgst du deinem eignen Willen? Leitet
Er dich an, deine bisherige Beschäftigung aufzugeben
51
und eine andere zu suchen? Hast du nicht hier in deiner
einsamen Werkstätte so viel und oft die Gegenwart des
Herrn genossen? — Zu gleicher Zeit schien eS mir, als
wenn der Herr selbst zu mir gesagt hätte: Was willst
du wählen? Willst du in die Fabrik gehen und dort Tag
für Tag mit einer Menge gottloser Menschen zusammen
sein mit einem hohen Lohn? oder willst du hier in diesem Winkel bleiben und meine Gegenwart genießen mit
einem geringen Verdienst? — Das waren ernste Fragen.
Mehrere Tage hindurch beschäftigten sie mich unaufhörlich.
Ich überlegte, wie schwach ich sei und wie leicht ich mich
verleiten ließe, und der Gedanke gewann immer festere
Gestalt in mir, daß ich in der Fabrik vielleicht bald den
schmalen Pfad verfehlen und die köstliche Gemeinschaft
meines Herrn verlieren würde. Endlich sagte ich: „Nun
Herr, laß mich Deine Gegenwart genießen, selbst wenn
es mit einem schwachen Verdienst sein muß; lieber will
ich weniger verdienen, als den Genuß Deiner Gemeinschaft verlieren!" Von diesem Augenblick an war ich vollkommen ruhig und bat Herrn M., sich nicht weiter um
mich bemühen zu wollen. Und ist es nicht bemerkenswert?
Seit jener Stunde habe ich viel mehr Arbeit und Verdienst
gehabt als seit langer Zeit!"
Mit diesen Worten schloß der Schuhmacher seine Erzählung, und ich muß sagen, daß ich kein anderes Resultat erwartet hatte. Ach! möchte eine solche Einfalt und
Treue mehr unter uns gefunden werden! Gerade das
Begehren und Bestreben, in der Welt voranzukommen,
ist eines der größten Hindernisse für die Seelen der
Gläubigen. Die Folge davon ist, daß der Herr den
Ihm gebührenden Play im Herzen verliert; und so viele
52
Entschuldigungen auch gemacht werden mögen, so lautet
die Frage au einen jeden Einzelnen von uns doch thatsächlich so: „Suchst du irdischen Gewinn, oder den Genuß der Gegenwart des Herrn? Ist die Gemeinschaft
mit Ihm dec höchste Wunsch deines Herzens, oder kommt
er erst in zweiter oder gar dritter Linie?" Möchten wir
alle in der Gegenwart des Herrn eine aufrichtige Antwort
auf diese Frage geben! Wir sind so geneigt, uns selbst zu
täuschen und zu betrügen. Wenn weltliche Vorteile und
irdischer Gewinn als das Erste und Wichtigste von uns
betrachtet werden, dann brauchen wir uns nicht zu verwundern, wenn wir uns weiter und weiter aus der Gegenwart des Herrn verlieren. Aber wenn wir bereit sind, um
Seinetwillen etwas zu verlieren und alles aufzugeben, was
unsern Genuß Seiner Gemeinschaft hindert, so dürfen wir
versichert sein, daß Er es unS nicht an Nahrung und
Kleidung fehlen lassen wird. Der Herr verheißt uns
nicht Reichtümer in dieser Welt, aber ewig wahr bleibt
Sein Wort: „Trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes und
Seiner Gerechtigkeit, und dies alles (nämlich Nahrung
und Kleidung) wird euch dazu gegeben werden." (Matth.
6, 31 — 33.)
Was denkt Gott von mir?
Was denkt Gott von mir? — Wahrlich, eine
ernste Frage, wie es keine wichtigere giebt! Denn die Gedanken Gottes über uns sind maßgebend für alle Ewigkeit; von ihnen hängt Leben oder Tod, Seligkeit oder
Verdammnis ab. Hast du, mein Leser, diese bedeutungsvolle Frage schon einmal ernstlich an dich gerichtet, und
53
hat sie dich zu einer göttlichen Reue geführt, die niemand
gereut? — Doch du fragst vielleicht: „Warum? ich bin
ganz zufrieden mit mir und meinem Gott!" Ja, aber ist 
Gott auch zufrieden mit dir? Ist es nicht viel wichtiger,
zu fragen und zu wissen: „Was denkt Gott von mir?"
Was find deine Gedanken wert, wenn sie dich täuschen?
Was nützte es Laodicäa, daß es von sich dachte und sagte:
„Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts,"
während der Herr ihm sagen mußte: „Du weißt nicht,
daß du der Elende und der Jämmerliche und arm und
blind und bloß bist?" (Offbg. 3, 17.)
Tausende und aber Tausende von bekennenden Christen
haben sich allerdings noch nie gefragt, und wagen auch
nicht, sich zu fragen: Was denkt Gott von mir? Sie sind
ganz zufrieden mit sich und führen gar die Sprache von
Laodicäa. Das Böse in ihnen und in ihrem Leben, ihr
verderbter Zustand, hat sie nie zum Nachdenken und in
Not gebracht, hat sie nie bestürzt und gebeugt und zu
Gott getrieben. Wenn die Umgebung nur mit ihrem Thun
und Lassen zufrieden ist, wenn ihr nur das Böse, das in
jedem Menschen wohnt und wirkt, möglichst verdeckt bleibt,
io denken sie: Was sollte Gott da zürnen? Sollte Er es
genauer nehmen? Ach! der Mensch will sich nicht vor
Gottes Gerechtigkeit beugen; er gefällt sich im äußeren
Schein. Von der Mitwelt geehrt und von der Nachwelt
gepriesen zu werden, das ist das höchste Ziel, welches er
kennt. Wie ist doch das Herz des Menschen so finster und
blind, wie ist es doch so fern von Gott!
Du aber, mein Leser, möchtest du nicht Gottes Urteil über dich kennen? Sage nicht, wie so mancher: „Das
kann niemand wissen!" Nein, du kannst Gottes Urteil
54
wissen; denn Er, der den Mund geschaffen, hat selbst geredet, und zwar „ehemals zu den Vätern in den Propheten," und „am Ende der Tage zu uns in dem Sohne,"
d. h. in der Person des Sohnes. (Hebr. 1, 1.) Und in
Christo Jesu ist uns Gottes Urteil über den Menschen
völlig kund geworden. Und wenn du das Wort Gottes
zur Hand nimmst, so findest du darin nicht nur, daß 
„alles Fleisch wie Gras ist und alle seine Herrlichkeit wie
des Grases Blume," (Jes. 40, 6. 7.) sondern es sagt auch:
„Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend
-auf", und „alles Gebilde der Gedanken seines Herzens
nur böse den ganzen Tag." (1. Mose 6, 5; 8, 21.)
Vielleicht erwiderst du: „Das bezieht sich doch nur
auf eine gewisse Klasse von Menschen, auf die Verrufenen,
Verworfenen und Versunkenen!" — Nein, höre, was Gott
sagt: „Es ist kein Unterschied; denn alle haben
gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes." „Da
ist nicht ein Gerechter, auch nicht einer. Sie sind alle
abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da
ist nicht, der Gutes thue, da ist auch nicht einer!"
(Röm. 3, 10 ff.)
Siehe, mein Leser, das ist Gottes Urteil über dich.
Erkennst du es an? Bist du von der Wahrheit desselben
überzeugt und durchdrungen? Beugst du dich unter dasselbe? Dann wirst du auch gewiß von Herzen begehren,
versöhnt und frei zu werden; die Notwendigkeit deiner
Errettung wird dir klar vor der Seele stehen. Denn „es
sei denn, daß jemand von neuem geboren worden, so kann
er das Reich Gottes nicht sehen." (Joh. 3, 3.) Bist du
aber von deinem verlorenen, verderbten Zustand überzeugt,
wie gesegnet ist es dann für dich, zu hören: „Gott will
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nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre
und lebe." Er gab Jesum, Seinen Sohn, den Gerechten,
sür uns ins Gericht ans Kreuz. „Jehova gefiel es, Ihn
zu zerschlagen, auf daß wir Frieden hätten," so hatte der
Prophet schon lange vor dem Kommen des Herrn Jesu
geweissagt; (Jes. 53.) und als der Herr hienieden war,
sagte Er von sich selbst: „Der Sohn des Menschen ist
gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist."
(Luk. 19, 10.) Zu allen Mühseligen und Beladenen
streckt Er die Hände aus und ladet sie zu sich, um ihnen
Ruhe zu geben. (Matth. 11, 28.) Ja, Er sagt: „Wer
zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen." (Joh.
6, 37.) Und Gott rechtfertigt den, der an Jesum glaubt;
(Röm. 3,'26.) und der Gläubige kann mit dem Apostel
Paulus sagen: „Er ist unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben und unsrer Rechtfertigung wegen auferweckt worden." (Röm. 4, 25.) In dem Opfertode Jesu ist die
Schuld des Gläubigen gesühnt, ja, er hat in diesem Tode
das richterliche Urteil Gottes über alle seine Werke und
über sich selbst empfangen. Er ist, wie das Wort sagt,
mit Christo gekreuzigt, (Gal. 2, 20; 5, 24; Röm. 6, 6.)
und er ist zugleich in dem Auferstandenen mit auferweckt,
(Eph. 2, 6; Kol. 2, 12.) so daß er mit dem Apostel
ausrufen kann: „Nun lebe ich, aber nicht mehr ich, sondern
Christus lebt in mir." (Gal. 2, 20.) Ja, der Auferstandene
lebt in ihm, und er lebt in dem Auferstandenen, steht in
Ihm vor Gott. „Ist aber jemand in Christo — eine
neue Schöpfung;" (2. Kor. 5, 17.) und: „da ist keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind." (Röm. 8, 1.)
So bestimmt und ernst also das Urteil Gottes über
den Sünder, über einen jeden Menschen von Natur ist,.
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so bestimmt und herrlich ist sein Urteil über einen jeden,
der im Glauben seine Zuflucht zu Jesu genommen hat.
Gott sieht einen solchen nicht mehr in seinen Sünden, in
seinem verlorenen Zustande, sondern Er sieht ihn in Seinem geliebten Sohne, den Er auferweckt, erhöht und zu
Seiner Rechten gesetzt und verherrlicht hat. „Darum,"
sagt der Apostel Johannes, „haben wir Freimütigkeit auf
den Tag des Gerichts, weil, gleichwie Er (Christus Jesus)
ist, auch wir sind in dieser Welt." (1. Joh. 4, 17.) O,
wie unendlich gesegnet ist es, von Sünde und Tod, von
Schuld und Strafe auf ewig befreit zu sein, um nun in
Neuheit des Lebens zu wandeln, Gott zu dienen und
Jesum, Seinen Sohn, ans den Himmeln zu erwarten,
der bald wiederkommen und alle die Seinigen in Seine
Herrlichkeit einführen wird!
Und nun, mein Leser, was willst du thun? Willst
du dein Herz gegen die freundliche Einladung Gottes verschließen, oder willst du Sein Heil annehmen? Es ist für
dich da. Gott sagt: „Komm, es ist alles bereit!" Willst
du dieser Bitte nicht folgen? O, bedenke wohl, wenn
du das Heil Gottes verschmähst, wenn du unbekehrt stirbst,
so ist dein ewiges Teil fern von Gott, in der äußersten
Finsternis. O siehe, Christus ladet dich ein, Er ruft dir
zu! So gehe zu Ihm: komme, wie du bist; sage Ihm alles.
Komme heute noch; ja, „eile, errette deine Seele!"
„Heute, wenn ihr Seine Stimme höret, verhärtet
eure Herzen nicht!" (Hebr. 4, 7.)
Das Reich der Himmel.
(Schluß.)
In den beiden folgenden Gleichnissen haben wir das,
was Christus in dem Reiche sieht und unterscheidet, und was
der Gläubige nach seiner geistlichen Fähigkeit ebenfalls in
demselben unterscheiden soll. Der Herr teilt deshalb auch
diese Gleichnisse nur Seinen Jüngern mit, nachdem Er die
Volksmenge entlassen hat und in ein Haus getreten ist.
(Matth. 13, 36.)
„Wiederum ist das Reich der Himmel gleich einem im
Acker verborgenen Schatze, den ein Mensch fand und verbarg;
und vor Freude darüber geht er hin und verkauft alles,
was irgend er hat, und kauft jenen Acker. — Wiederum ist
das Reich der Himmel gleich einem Kaufmanne, der schöne
Perlen sucht; als er aber eine sehr kostbare Perle gefunden, ging er hin und verkaufte alles, was irgend er
hatte, und kaufte sie." (V. 44—46.) Beide Gleichnisse
beziehen sich auf eine und dieselbe Sache, obgleich unter
verschiedenen Gesichtspunkten dargestellt. In beiden haben
wir die Gläubigen, betrachtet nach den Ratschlüssen Gottes.
Die beiden Ausdrücke „Schatz" und „Perle" bezeichnen
den großen Wert, den sie für Christum haben, zugleich
aber auch, wie ich glaube, einen Unterschied in ihrer
Stellung als Söhne des Reiches.
Wir können weder sagen, daß die Kirche das Reich,
— Ö8 —
noch daß das Reich die Kirche ist. Kirche und Reich sink
zwei verschiedene Begriffe. Die Kirche befindet sich in dem
Reiche und bildet einen Teil, und zwar den himmlischen
Teil desselben. Das Reich wird in seiner Vollendung,
gesehen nach den Ratschlüssen Gottes, aus einem irdischen
und einem himmlischen Teile bestehen; es wird eine irdische
und eine himmlische Herrlichkeit haben und doch ein zusammenhängendes Ganzes bilden. In dem sogenannten
tausendjährigen Reiche werden Himmel und Erde mit
einander in Verbindung und Einklang stehen; der erstere
wird über der letzteren geöffnet sein, und die Herrlichkeit
der Kirche und der himmlischen Heiligen wird über der
Erde sichtbar werden. Christus wird als der Sohn des
Menschen den Mittelpunkt sowohl der irdischen, als
auch der himmlischen Herrlichkeit des Reiches bilden, indem alsdann, nach Psalm 8, alles Seinen Füßen unterworfen, und alles, „was in den Himmeln und was auf
der Erde ist," in Ihm, als dem einen Haupte, zusammengebracht sein wird. (Eph. 1, 10.) Es wird dann auch
das Wort des Herrn sich erfüllen: „Wahrlich, wahrlich,
ich sage euch: ihr werdet von nun an den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf- und niedersteigen
auf den Sohn des Menschen;" sowie die Prophezeiung
bezüglich der Kirche, des neuen Jerusalems: „Und die
Nationen werden durch ihr Licht wandeln, und die Könige
der Erde ihre Herrlichkeit zu ihr bringen. Und ihre Thore
sollen nicht geschlossen werden des Tages, denn Nachr
wird daselbst nicht sein. Und sie werden die Herrlichkeit
und die Ehre der Nationen zu ihr bringen." Mit einem
Wort, die Kirche wird dann der Welt gegenüber in ihrer
ganzen Herrlichkeit geoffenbart sein als „das neue Jerusalem,"
59
als der Mittelpunkt der himmlischen Herrlichkeit des Reiches,
als die Trägerin der „Herrlichkeit Gottes" selbst.
(Joh. 1, 52; Offbg. 21, 9—27.)
Zugleich wird das irdische Jerusalem auf der erneuerten Erde den Mittelpunkt des irdischen Volkes Gottes,
der irdischen Herrlichkeit des Reiches, bilden. Geoffenbart in
noch nie gesehener Schönheit, als der Gegenstand der
Wonne Jehovas, wird es ein Segen sein für die ganze
Erde, wie geschrieben steht: „Groß ist Jehova und sehr
zu loben in der Stadt unsers Gottes, auf Seinem heiligen Berge. Schön ragt empor, eine Freude der ganzen Erde, der Berg Zion, an der Nordseite, die Stadt
des großen Königs." (Ps. 48, 1. 2.) „Aus Zion, der
Schönheit Vollendung, ist Gott hervorgestrahlt."
(Ps. 50, 2.) Dann wird auch das Wort seine vollkommene
Erfüllung finden: „Ganz herrlich ist des Königs Tochter
drinnen, von Goldwirkerei ihr Gewand; in buntgewirkten
Kleidern wird sie geführt werden zum Könige ?c." (Ps. 45,
13. 14.) Viele Stellen der Schrift zeigen uns, welchen
Wert das irdische Jerusalem, oder das Volk Gottes auf
der Erde, alsdann für den Herrn haben wird. So lesen
wir z. B.: „Und die Nationen werden deine Gerechtigkeit
sehen, und alle Könige deine Herrlichkeit; und mit einem
neuen Namen wirst du genannt werden, den der Mund
Jehovas bezeichnen wird. Und du wirst sein eine prachtvolle Krone in der Hand Jehovas, und ein Diadem des
Königtums in der Hand deines Gottes. Nicht mehr wird
zur dir gesagt werden: „Verlassene" ; und zu deinem Lande
wird nicht mehr gesagt werden: „Verwüstete"; sondern du
wirft genannt werden: „Meine Lust an dir", und
dein Land: „Vermählte."" (Jes. 62.) Wer ist fähig,
60
die Tiefe der Zuneigungen des Herzens Christi für Seine
irdische Braut zu beschreiben, wie sie sich in folgenden
Ausdrücken kundgiebt: „Siehe, du bist schön, meine Freundin,
siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben!" Und
wiederum: „Ganz schön bist du, meine Freundin, und
kein Fehl ist an dir .... Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester, meine Braut; du hast mir das
Herz geraubt mit einem deiner Augen .... Eine ist
meine Taube, meine Vollkommene :c." (Man vergleiche
das ganze Hohelied.)
Aber so unbeschreiblich innig das Verhältnis der
irdischen Braut zu Christo auch sein mag, so ist doch das
Verhältnis der Kirche, der himmlischen Braut, zu Ihm
noch weit inniger und erhabener; es steht einzig da in
dem ganzen Weltall, nur schwach vorgebildet durch das
Verhältnis zwischen Mann und Weib, wie wir lesen:
„Ihr Männer, liebet eure eignen Weiber, gleichwie auch
der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für
sie hingegeben hat, aus daß Er sie heiligte, sie reinigend
durch die Waschung mit Wasser durch das Wort, auf daß
Er sich selbst die Versammlung verherrlicht darstellte, die
nicht Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe,
sondern daß sie heilig und tadellos sei. Also sind auch die 
Männer schuldig, ihre Weiber zu lieben, wie ihre eignen
Leiber. Wer sein Weib liebt, der liebt sich selbst. Denn
niemand hat jemals sein eignes Fleisch gehaßt, sondern
er nährt und pflegt es, gleichwie auch der Christus die
Versammlung. Denn wir sind Glieder Seines
Leibes, von Seinem Fleische und von Seinen Gebeinen. „Darum wird ein Mensch seinen Vater
und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen.
61
und die zwei werden ein Fleisch sein." Dieses Geheimnis
ist groß; ich sage es aber auf Christum und auf die Versammlung." (Eph. 5, 25—82.) Wie wunderbar ist die
Liebe, mit welcher Christus Seine Versammlung geliebt
hat, als diese sich noch in dem niedrigsten Zustand einer
gefallenen Kreatur befand! Er gab nicht nur alles, was
Er hatte, sondern auch sich selbst für sie dahin. Von
diesem Gesichtspunkt auS betrachtet, können wir verstehen,
daß die Kirche in unserm Gleichnis eine „sehr kostbare
Perle" genannt wird, welche der Herr gesucht und gefunden hat. Sie hat für Ihn, betrachtet in ihrer vollendeten
Herrlichkeit, alle die göttlichen Reize und die himmlische
Schönheit, welche Sein Herz begehrte — das, was Er
nirgendwo anders in dem ganzen Weltall finden konnte.
Gleichwie für den ersten Adam in der ganzen Schöpfung
keine Hülfe „seines Gleichen" gefunden wurde, ausgenommen in Eva, so fand auch der zweite Adam nur in
der Kirche die Eine, von welcher Er sagen konnte: „Diesmal ist es Gebein von meinen Gebeinen und Fleisch von
meinem Fleische." (1. Mose 2, 2N-23.)
Nach dem Gesagten dürfen wir also wohl annehmen,
daß uns in dem „Schatze" alle Söhne des Reiches, sowohl das irdische Volk Gottes als auch die himmlischen
Heiligen, in der „Perle" dagegen in besondrer Weise nur
die Kirche, der Mittelpunkt der himmlischen Herrlichkeit des Reiches, vorgestellt werden. Beide, der Schah und
die Perle, zeigen uns das Reich als ein Ganzes, so wie
Gott es sieht, und wie Christus es gesucht hat, und daher auch
als das, was der Gläubige gegenwärtig in dem Reiche unterscheiden soll. Aber in dem ersten Gleichnis hören wir, daß
Christus den ganzen Acker und damit auch den darin ver­
62
borgenen Schatz kauft, während es sich in dem zweiten
nur um die Perle handelt. Christus hat die Welt gekauft, um in ihr die Herrlichkeit des Reiches zu offenbaren.
Diese Herrlichkeit bleibt indessen so lange verborgen, bis
Er die Welt thatsächlich in Besitz genommen hat. Deshalb
lesen wir auch bezüglich des Schatzes die Worte: „den
ein Mensch fand und verbarg." Die Welt in ihrem
jetzigen Zustande ist nicht geeignet für die Offenbarung
dieser Herrlichkeit. Aber der Augenblick ist nicht mehr fern,
da Christus Besitz von ihr nehmen wird; denn Er hat
bereits den Kaufpreis für sie bezahlt. Sie ist Seiu Eigentum aus doppeltem Grunde: Er hat sie als Gott erschaffen, und Er hat sie als Mensch durch Sein eignes
Blut erkauft. Sobald Er sie in Besitz nimmt, wird das
Reich in ihr geoffenbart werden, als eine Sache, welche den
Absichten Gottes völlig entspricht, ja, als etwas ganz Neues.
Außer dieser Sache gab es nichts in der Welt, was einen
solchen Wert für Christum gehabt hätte, um sich selbst als
Opfer für den Besitz desselben hinzngeben. Wie unendlich
kostbar muß diese Sache sein! „Vor Freude darüber
geht er hin und verkauft alles, was irgend er hat."
Wer könnte die Größe dieses Opfers ermessen? Wer die
Tiefe Seiner Leiden ergründen? Und diese unergründlichen
Leiden ertrug Er mit Freuden! Darum noch einmal,
wie kostbar muß diese Sache sein! Wahrlich, nur eine erkaufte und erneuerte Welt wird für die Offenbarung einer
Herrlichkeit geeignet sein, die noch nie gesehen, noch nie
erkannt worden ist. Nur der von Gott erleuchtete Glaube
ist fähig, jetzt schon die Herrlichkeit dieser neuen Sache zu
erkennen und von dieser Welt zu unterscheiden.
Beachten wir jedoch, daß wir in dem Gleichnis von
63
der Perle das Urteil des Herrn über die moralische
Schönheit der Kirche finden. Er, der sich nicht täuschen
kann und der alles beurteilt nach seinem wahren Werte,
giebt uns in dem Ausdruck: „eine sehr kostbare Perle" zu
verstehen, was die Kirche für Sein Herz ist und welche
Schönheit sie in Seinen Augen hat. Der Herr hat in
der Kirche das gefunden, was, gemäß den ewigen Ratschlüssen Gottes, in vollkommenem Einklang mit der Natur
Gottes steht und daher durchaus himmlisch, göttlich und
ewig ist. Kein Sterblicher ist fähig, die Schönheit und
die ganze Tragweite dessen zu beschreiben, was in den
Worten ausgedrückt ist: „die Herrlichkeit Gottes"; denn
nichts Geringeres als diese Herrlichkeit bildet den Schmuck
der Kirche. Sie kann nur in Bildern den Begriffen des
Menschen einigermaßen verständlich gemacht werden; daher wählt der Heilige Geist die kostbarsten Dinge der Erde:
Gold, Edelsteine und Perlen, um diese Herrlichkeit darzustellen. So lesen wir in Offbg. 21, 11: „Ihr Lichtglanz war gleich einem sehr kostbaren Edelstein, wie ein
krystallheller Jaspisstein." Denselben Vergleich finden wir
in der Beschreibung Dessen, der auf dem Throne des
Gerichts sitzt: „Und der da saß, war von Ansehen gleich
einem Jaspisstein und einem Sardis." (Offbg. 4, 3.)
Die vollkommene Reinheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit
Gottes selbst wird die verherrlichte Kirche zieren. Sie wird
gesehen werden als in vollkommener Uebereinstimmung
stehend mit der Natur Dessen, vor welchem die Seraphim
ihre Angesichter verhüllen und rufen: „Heilig, heilig, heilig
ist Jehova der Heerscharen! die ganze Erde ist voll Seiner
Herrlichkeit!" (Jes. 6.)
Welche Zunge wäre imstande, die Größe dieser Hei­
64
ligkeit und Reinheit zu beschreiben? wer wäre fähig, im
Lichte derselben zu stehen? Jesaja mußte ausrufen: „Wehe
mir, denn ich vergehe!" Und doch wird dereinst jedes
Glied der Kirche mit Freimütigkeit in dem Lichte dieser
Herrlichkeit stehen, wie wir in 1. Joh. 4, 17 lesen:
„Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, auf daß
wir Freimütigkeit haben an dem Tage des Gerichts, daß,
gleichwie Er ist, also auch wir sind in dieser Welt."
Unser Offenbarwerden vor dem Richterstuhl Christi ist gewiß
eine sehr ernste Sache, aber andrerseits auch etwas überaus
Köstliches. Viele Erlöste fürchten den Augenblick dieses
Offenbarwerdens, weil sie die Liebe Gottes und die Tragweite des Werkes Christi nicht kennen, noch den Ratschluß
Gottes verstehen, nach welchem wir schon vor Grundlegung der Welt zu Seiner Herrlichkeit bestimmt waren:
„Denn welche Er zuvorgekannt hat, die hat Er auch
zuvorbestimmt, dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu
sein, damit Er der Erstgeborne sei unter vielen Brüdern.
Welche Er aber zuvorbestimmt hat, diese hat Er auch
berufen; und welche Er berufen hat, diese hat Er auch
gerechtfertigt; welche Er aber gerechtfertigt hat, diese hat
Er auch verherrlicht." (Röm. 8, 29. 30.) Gerade das
vollkommene Verständnis, welches wir dann von der Heiligkeit Gottes haben werden, wird uns mit unaussprechlicher Freude und göttlicher Ruhe erfüllen, und zwar
infolge der völligen Erkenntnis der Liebe Gottes, welche
Er darin erwiesen hat, daß Er uns Seiner göttlichen
Natur teilhaftig machte, einer Natur, die in vollkommenem
Einklang mit dieser Heiligkeit steht. Nichts weniger als
das ist nach den Ratschlüssen Gottes unser Teil von
Ewigkeit her und wird es sein bis in alle Ewigkeit. Die
— 65 —
Schönheit dieser göttlichen Natur nun war es, welche
Christum in der Kirche eine „sehr kostbare Perle" erkennen
ließ, für deren Besitz Er freudig alles verkaufte, was
irgend Er hatte.
Ach! wie sehr fehlt es unter den Gläubigen an Verständnis über diese Schönheit der Kirche nach den Ratschlüssen Gottes, trotzdem sie thatsächlich zu dieser Kirche
gehören! Wie wenig gehen die Meisten in die Gedanken
Gottes über Seine Kirche ein! Anders würden sie gewiß
den Platz derselben nicht auf der Erde suchen. Sie gehört
dem Himmel an und ist nicht von dieser Welt, wie
Christus, ihr verherrlichtes Haupt, nicht von der Welt ist.
(Joh. 17, 16.) Welch einen Einfluß würde es auf
unsern persönlichen Wandel hienieden ausüben, wenn diese
Schönheit, Reinheit und Heiligkeit mehr vor unsern Augen
stände, in welcher wir in Christo bereits vor Gott hingestellt sind und angesichts des Weltalls bald erscheinen
werden! „Geliebte, jetzt sind wir Gottes Kinder, und
es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden;
wir wissen, daß, wenn es offenbar geworden, wir Ihm
gleich sein werden, denn wir werden Ihn sehen, wie
Er ist. Und jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat,
reinigt sich selbst, gleichwie Er rein ist." (1. Joh.
ü, 2. 3.) Wahrlich, nichts kann uns mehr anspornen
zu einem heiligen, von Sünde und Welt abgesonderten
Wandel, als das Bewußtsein, Ihm gleich zu sein, der
rein ist. In diesem Mangel an Verständnis einerseits und dem Vergessen der wahren christlichen Stellung andrerseits liegt das Geheimnis des so ost und in so
beklagenswerter Weise hervortretenden Mangels an einem
wirklich himmlischen Wandel unter den Gläubigen.
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Wir kommen jetzt zu dem letzten Gleichnis. (V. 47 — 50.)
Dasselbe führt uns das vor Augen, was die gegenwärtige
Form des Reiches hienieden beschließen wird. Es handelt
sich hier nicht mehr darum, das Netz in das Meer der
Völker zu werfen; dieses ist geschehen, das Evangelium
ist in der ganzen Welt verkündigt worden und hat im"
Laufe der Zeit „von jeglicher Gattung zusammengebracht."
Alle, welche den Namen Christi tragen, ob bekehrt oder
unbekehrt, befinden sich in dem Netze de? Christentums;
und der Zweck der Arbeiter ist, die „Guten" auszulesen
und zu sammeln.
Dieses Werk des Auslesens und Sammelns vollzieht sich, allerdings unter verschiedenen Formen, in ganz
besonderer Weise inmitten der Christenheit unsrer Tage.
Der Heilige Geist ist beschäftigt, die „Guten" immer mehr
von der bekennenden Masse zu trennen. Die Gläubigen
scheiden sich, infolge dieser Wirksamkeit, überall von dem
großen Haufen der toten Bekenner aus, wie verschieden auch
die Benennungen sein mögen, unter welchen sie sich sammeln. Trennung der Guten von den Bösen, oder mit
andern Worten, der Gläubigen von den Ungläubigen, ist
die besondere Thätigkeit des Geistes Gottes in der gegenwärtigen Zeit, und das charakteristische Zeichen des heraunahenden Gerichts zur Einführung einer neuen Ordnung
der Dinge.
Ein Reich, in welchem Gute und Böse mit einander
vermischt sind, entspricht nicht den Ratschlüssen Gottes
und kann deshalb nicht von Dauer sein. Der Herr wird
Seine Tenne reinigen, wie geschrieben steht: „Dessen
Worfschaufel in Seiner Hand ist, und Er wird Seine
Tenne durch und durch reinigen und Seinen Weizen in
67
die Scheune sammeln; die Spreu aber wird Er verbrennen
mit unauslöschlichem Feuer." (Matth. 3, 12.) Das
Gericht hat es nur mit der Spreu zu thun. Der Weizen,
d. h. die wahre Kirche, wird von der Spreu geschieden
und vor dem Gericht in Sicherheit gebracht werden.
Aber so wie die Gläubigen durch den Dienst der
Arbeiter ausgesondert und gesammelt werden, so werden
sich auch die Ungläubigen durch die Wirkung der Vorsehung unter verschiedenen Formen mit einander verbinden. In dem Gleichnis von dem Unkraut im Acker
lesen wir: „Und zur Zeit der Ernte (d. h. in jenem Zeitraum, in welchem sich die auf die Ernte bezüglichen Ereignisse erfüllen werden) werde ich den Schnittern sagen:
Leset zuerst das Unkraut zusammen und bindet
es in Bündeln." *) Die Beweggründe dieser Verbindung der Bösen sind einerseits die Feindschaft des
natürlichen Herzens gegen Gott, und andrerseits das
Streben nach Selbsterhebung. Gott wird sie, nachdem sie
Seinem Worte lange genug widerstanden haben, schließlich
ihrer Feindschaft überlassen, und sie werden sich, je länger
'') In den beiden Schlußversen des letzten Gleichnisses wird
nichts von diesem Zusummenbinden des Unkrautes, oder der Ungläubigen, vor dem Hereinbrechen des Gerichts, gesagt; vielmehr
haben wir hier die Vollstreckung des Gerichts selbst durch die
Engel Gottes. Nachdem die Guten ausgelesen und in Gefäße gesammelt sind, nachdem der Weizen auf den Speicher des Herrn
gebracht, d. h. nachdem die Kirche ins Vaterhaus eingegangen ist,
„werden die Engel ausgehen und die Bösen aus der Mitte der
Gerechten (die dann hienieden sein werden) aussondern und sie in
den Feuersee werfen." In dem Gleichnis selbst sind die Fischer
beschäftigt, die Guten zu sammeln; in der Anwendung, welche
der Herr macht, sondern die Engel die Bösen aus und
übergeben sie dem Gericht.
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die Langmut Gottes sie trägt, umsomehr verhärten. Das
böse Gewissen, das Gefühl der Unsicherheit der bestehenden
Verhältnisse, die Furcht vor dem Eintreffen ernster Ereignisse auf der einen Seite, und Stolz, Ruhmsucht und
Ehrgeiz auf der andern, erwecken in ihren Herzen das
Bedürfnis nach Vereinigung. Sie sind zu weit von Gott
entfernt, um sich auf Ihn zu stützen. Die Verzagtheit
und der Stolz ihrer Herzen lassen es ihnen nicht zu, sich
Ihm zu nahen, oder sich vor Ihm zu beugen. Darum
verbinden sie sich, im Vertrauen ans ihre vereinte Kraft,
um sich gegen alle möglichen Fälle zu sichern und trotz
Gottes ihre ehrgeizigen Zwecke zu erreichen.
Stolz und Anmaßung, verbunden mit Angst und Verzagtheit, kennzeichnen diese Verbindungen; aber Gesetzlosigkeit
ist der Grundsatz, der sie beherrscht. Man sucht Gott auszuschließen und den Menschen zu erheben. Gott erlaubt in
Seiner Vorsehung, daß dieser Grundsatz wirksam ist; Er
erlaubt, daß es den gemeinsamen Anstrengungen der Menschen je länger je mehr gelingt, ihre kühnsten Pläne in
wahrhaft erstaunlicher Weise in Ausführung zu bringe»;
Er erlaubt, daß sich Wissenschaft, Kunst und Industrie in
ungeahnter Weise entwickeln und gerade durch die bestehenden Verbindungen gefördert werden zur Selbsterhebung des
Menschen, damit die Gesetzlosigkeit zur Reife komme. Wie
weit auch die selbstsüchtigen Interessen der Ungläubigen
auseinander gehen, und wie verschieden die Zwecke ihrer
vielseitigen Verbindungen auch sein mögen, so führt dennoch,
infolge ihrer Feindschaft gegen Gott, dieser Grundsatz sie
alle zu einem vereinten Ziele hin. Pilatus und Herodes vergaßen ihren persönlichen Hader über der gemeinsamen Feindschaft gegen Christum und reichten sich versöhnt die Hände.

Die Beweggründe der Vereinigung der Gläubigen
stehen in direktem Gegensatz zu denjenigen der Ungläubigen; und dieser Gegensatz verschärft sich, je mehr das
Ende herannaht. Ein Zustand der Halbheit wird für die
Tauer nicht bestehen können. Gott läßt in Seiner Vorsehung die Verhältnisse sich so gestalten, daß ein jeder
genötigt wird, in der einen oder andern Weise Stellung
zu nehmen; ein jeder wird entweder für oder gegen Christum
erfunden werden. Niemand aber wird sich in einer Stunde
der Prüfung für Christum entscheiden, es sei denn, daß er
im wahren Sinne des Wortes „glaubt, daß Jesus der
Sohn Gottes ist." (1. Joh. 5, 5.)
Der Herr wolle uns, die wir dieses durch die Gnade
glauben und Söhne des Reiches sind, geben, daß wir
allezeit das in dem Reiche sehen und unterscheiden, was
Christus in demselben sieht — das Reich nach den Gedanken und Ratschlüssen Gottes, dessen Herrlichkeit bald
geoffenbart werden wird. Nur wenn dieses klar vor
unsern Augen steht, werden wir fähig sein, den himmlischen Charakter und die Grundsätze des Reiches zu verwirklichen, wie groß auch der uns umringende Verfall
sein mag.
„Deshalb ermatten wir nicht."
(2. Kor. 4, rtz.i
Es ist etwas Großes, sagen zu können: „wir ermatten
nicht," wenn wir durch Umstände zu gehen haben, welche
durchaus dazu geeignet sind, uns müde und matt zu machen;
wenn wir, umgeben von Leiden und Prüfungen aller Art,
stets mit Widerwärtigkeiten zu kämpfen haben, ohne daß
70
sich irgendwo ein Ruhort zeigt. Können wir auch in dem
gegenwärtigen Augenblick mit Dank gegen den Herrn sagen,
daß wir nach außen hin eine Zeit der Ruhe haben, so
bleibt doch, gemäß den Wegen der weisen Regierung
Gottes, kein Christ von Prüfungen verschont. Keinem
Gläubigen können Leiden und Trübsale erspart bleiben,
ja, er erfährt diese oft umsomehr, je treuer er ist. Andrerseits ist es auch wahr, daß sich mancher durch seine Untreue den Weg schwer macht und sich selbst in Schwierigkeiten bringt, die er nicht haben würde, wenn er sich mehr
durch den Geist und das Wort Gottes leiten ließe. Und
in diesem Falle tragen die Schwierigkeiten und Leiden
mehr den Charakter der Züchtigung oder des Gerichts, und
nicht so sehr der Prüfung, wie in dem vorhergehenden
Falle. Die Prüfungen dienen zur Bewährung unsers Glaubens, und darum sollen wir sie für lauter
Freude achten; ja, wir können unS der Trübsale rühmen,
welche Gott zu dem Zweck über uns kommen läßt, um
unsern Glauben zu erproben. (Lergl. Jak. 1; 1. Petr. 1;
Röm. 5.) Aber der Heilige Geist sagt nie, daß wir uns
der Züchtigungen rühmen oder sie für Freude achten
sollen; wohl aber ermuntert Er uns, nicht in denselben
zu ermatten, indem auch selbst die Züchtigungen schließlich
nur ein Beweis der Liebe des Vaters und unsrer
Sohnschaft sind. (Hebr. 12.)
Dann aber ist es auch wahr, daß wir, wenngleich
äußerlich in Zeiten der Ruhe, dennoch in den sogenannten
„schweren Zeiten" der letzten Tage leben; und diese haben
Leiden und Trübsale im Gefolge, welche von den Christen
umso tiefer gefühlt werden, je geistlicher und nüchterner
ihr Zustand ist. Wie manches Christenherz ist in unsern
71
Tagen mit Schmerz und Trauer erfüllt bei dem Anblick
der betrübenden Zustände, die uns von allen Seiten umgeben! Abgesehen von dem in erschreckender Weise überhandnehmenden Verfall der Christenheit, welche Verwirrung,
welche Zerrissenheit, welche Untreue und zunehmende Verweltlichung zeigt sich unter denen, die in einem Geiste
zu einem Leibe getauft und zur Erwartung des Herrn
berufen sind! Wie viele giebt es, welche Kinder Gottes
zu sein bekennen und trotzdem mit allen ihnen zu Gebote
stehenden Mitteln die Wahrheit zu bekämpfen suchen, welche
Gott nach Seiner großen Güte in unsern Tagen wieder
ans Licht gestellt hat! Und ach! wie oft mag das sogar
gegen besseres Wissen geschehen! Wie manche auch giebt
es, welche wohl die Wahrheit erkannt und angenommen
haben, aber dennoch nicht der Wahrheit gemäß in der
Furcht Gottes, sondern vielmehr zu Seiner Unehre wandeln! Und wie betrübend ist das Verhalten derer, welche,
anstatt sich unter die Zucht der Versammlung zu beugen,
ihre Herzen noch mehr verhärten und, unter dem Deckmantel der Wahrheit, durch Verleumdungen oft der böswilligsten Art die Verwirrung noch größer zu machen
suchen!
Sicherlich sind diese traurigen Erscheinungen unsrer
Tage eine beständige Quelle von Leiden und Schmerzen
für einen jeden Christen, der den Herrn und Seine Versammlung aufrichtig liebt. Und der Feind sucht diese Dinge
zu benutzen, um wenn möglich die Treuen matt und träge
zu machen und das Zeugnis der Wahrheit zum Schweigen
zu bringen. Dieses Zeugnis zu beseitigen, war ja von
jeher das Ziel aller seiner Anstrengungen, und wird es
bleiben bis zum Ende.
72
Aber welcherlei Leiden ein Christ auch haben mag,
seien eS Züchtigungen oder Prüfungen, seien es Schmerzen
und Betrübnisse infolge des traurigen Zustandes der
Kirche Gottes, so hat er doch in keinem Falle Ursache,
zu ermatten. Denn wie groß auch unsre Leiden und
Schwierigkeiten sein mögen, so stehen dieselben doch in
keinem Vergleich zu den Leiden, die der Apostel seiner
Zeit um des Herrn und Seines Evangeliums willen zu
erdulden hatte, und welchen er in unserm Kapitel in den
wenigen Worten Ausdruck giebt: „Allezeit das Sterben
Jesu am Leibe umhertragend .... Denn wir, die wir
leben, werden allezeit dem Tode überliefert um Jesu willen."
Aber so schmerzlich seine Leiden auch sein mochten, so
hören wir ihn dennoch zweimal in unserm Kapitel sagen:
„wir ermatten nicht." Daß dies nicht leere Worte waren,
nicht hervorgegangen aus einer augenblicklichen Erregung,
sondern vielmehr der Ausdruck der geistlichen Energie
seines Glaubens, bestätigt uns die ganze Geschichte seines
Lebens, soweit uns dieselbe aus der Schrift bekannt ist.
Von Anfang bis zu Ende sehen wir ihn seinen Lauf mit
einem Mut, einer Energie und einer Ausdauer verfolgen,
die uns mit Bewunderung und zugleich Beschämung erfüllen. Die große Ausdehnung des durch ihn vollbrachten
Werkes, seine unaufhörlichen Gebete für die Versammlungen und die einzelnen Gläubigen, seine ringenden Kämpfe
im Blick auf die beunruhigenden Zustände an manchen
Orten, die täglich auf ihn audringende Sorge für alle
Versammlungen — alles daS zeugt von seiner rastlosen
Thätigkeit, feinem unermüdlichen Eifer und seiner hingebenden Liebe. Selbst seine Feinde mußten bezeugen,
daß er beinahe in ganz Asien eine große Volksmenge
73
überredet und vom Götzendienst abgewandt habe. (Apstgsch.
19, 26.) Er selbst sagt, daß er „von Jerusalem an und
ringsumher bis nach Jllyrikum (also über Asten hinaus
auch in Europa,) das Evangelium des Christus völlig
verkündigt habe." (Röm. 16, 19.) Weder der zähe Widerstand des ihn von Ort zu Ort verfolgenden butdürstigen
Hasses der Juden, noch die mannigfachen Gefahren und
Anstrengungen auf seinen zu jener Zeit so mühevollen Reisen;
weder Schläge noch Gefängnisse, weder Hunger noch Durst,
weder Kälte noch Blöße, noch endlich das, was weit
schlimmer als alles andere war, der untergrabende Einfluß „falscher Apostel, betrügerischer Arbeiter," vermochte
seinen Eifer zu hemmen, seinen Glauben zu schwächen,
seine Liebe zu ermüden. Ueberall wo sich ihm Gelegenheit
bot, in der Synagoge, auf dem Markte, auf dem Areopag,
auf den Straßen, an einem Flusse, überall suchte er die
Menschen zu überreden und zu Christo zu führen. Und
wenn er infolge seines treuen Dienstes mit Ruten geschlagen und ins Gefängnis geworfen wurde, hören wir
keine Klage über seine Lippen kommen, sondern im Gegenteil nur Gebete und Lobgesänge. Angesichts der Bande
und Trübsale, welche ihm auf seiner letzten Reise nach
Jerusalem augekündigt wurden, hatte er nur die Erwiderung : „Aber ich nehme keine Rücksicht auf mein Leben,
als teuer für mich selbst, auf daß ich meinen Lauf vollende
und den Dienst, den ich von dem Herrn Jesu empfangen
habe .... Denn ich bin bereit, nicht allein gebunden zu
werden, sondern auch in Jerusalem für den Namen des
Herrn Jesu zu sterben." (Apstgsch. 20, 24; 21, 13.)
Und so treu, unermüdlich und hingebend seine Thätigkeit außerhalb der Versammlung war, ebenso treu war
74
sein Dienst innerhalb derselben. Gestützt auf das Zeugnis der Aeltesten konnte er sagen: „Ihr wisset . . .
wie ich die ganze Zeit bei euch gewesen bin, dem Herrn
dienend mit aller Demut und mit Thränen und Versuchungen, die mir widerfuhren durch die Nachstellungen
der Juden; wie ich nichts vorenthalten habe von dem,
was nützlich ist, das ich euch nicht verkündigt und euch
gelehrt hätte, öffentlich und in den Häusern .... Darum
wachet und gedenket, daß ich drei Jahre Nacht und Tag
nicht aufgehört habe, einen jeden mit Thränen zu
ermahnen." (Apstgsch, 20.) Und wiederum: „Wir
sind zart gewesen in eurer Mitte, wie eine Amme ihre
eignen Kinder pflegt .... Ihr seid Zeugen und
Gott, wie göttlich und gerecht und untadelig wir gegen
euch, die Glaubenden, waren; gleichwie ihr wisset,
wie wir einen jeden unter euch, wie ein Vater seine eignen
Kinder, euch ermahnt und getröstet und bezeugt haben ec."
(1. Thess. 2.) Da war kein Ermatten, kein Ermüden!
Alle Anstrengungen des Feindes blieben in dieser Beziehung erfolglos, selbst dann noch, als es ihm gelang,
nicht nur der segensreichen Thätigkeit des treuen Apostels
durch dessen letzte Gefangennahme ein Ziel zu setzen,
sondern auch die herrlichen Resultate dieser Thätigkeit zum
großen Teil wieder zu zerstören. Sicherlich mußte es für
das liebende Herz des Apostels ein tiefer Schmerz sein,
die teure Herde Gottes so zu sagen dem Feinde preisgegeben zu sehen, ohne für sie in der Energie des Geistes
in die Schranken treten zu können, wie er dies früher
so oft gethan hatte; unthätig zusehen zu müssen, wie den
falschen Arbeitern Thür und Thor geöffnet, wie die Versammlungen verderbt wurden und alle, die in Asien waren,
sich von ihm abwandten. Wahrlich, wenn etwas geeignet
war, ihn matt zu machen, so waren es diese bitteren und
schmerzlichen Erfahrungen am Ende seiner Laufbahn, nach
al! seiner unermüdlichen Treue und Hingebung. Und
trotz alledem finden wir bei ihm kein Ermüden, kein
Ermatten.
Das bezeugen uns die herrlichen Briefe, welche er
während seiner Gefangenschaft an verschiedene Versammlungen und an einzelne Gläubige schrieb, sowie die unaufhörlichen Gebete, in welchen er Nacht und Tag der
Heiligen vor Gott gedachte. Wie hätte er jene Briefe
unter der Inspiration des Heiligen Geistes schreiben können, wenn er nicht in vollkommener Ruhe, in Gemeinschaft
mit seinem geliebten Herrn gewesen wäre? Oder wie hätte
er es vermocht, unablässig für Andere vor dem Throne
der Gnade beschäftigt zu sein, wenn er sich trübseligen
Gedanken über sich selbst und seine Umstände hingegeben
hätte? Unmöglich konnte er die herrlichen Ratschlüsse
Gottes und die die Erkenntnis übersteigende Liebe des
Christus entfalten, wie er dies zum Beispiel im Epheserbrief gethan hat, ohne selbst unter dem erhebenden Einfluß dieser Wahrheiten zu stehen. Wäre er mutlos
gewesen, und hätte er nicht auf der Höhe der Wahrheiten
des Epheserbriefes gestanden, so hätte er gewiß den Gläubigen zu Ephesus nickt zurufen können: „Deshalb bitte
ich, nicht mutlos zu werden durch meine Drangsale für
euch, welche eure Ehre sind." Ebenso sehen wir
in dem Briefe an die Philippen einen Mann, dessen Herz
vollkommen glücklich ist, und der trotz Ketten und Banden
sagen kann: „Denn unser Wandel ist in den Himmeln."
Und in seinem zweiten Briefe an Timotheus giebt er wohl
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seinem tiefen Schmerz über den Verfall der Kirche Ausdruck, aber trotzdem ist er auch hier, angesichts seines
nahen Märtyrertodes, gestärkt durch den Herrn und erfüllt
mit lebendiger Hoffnung, fähig, Worte des Trostes und der
Ermunterung an sein geliebtes Kind im Glauben zu richten.
Mit einem Wort, Jerusalem, Antiochien, Itanium,
Lystra, Philippi und Rom waren Zeugen der treuen und
unermüdlichen Wirksamkeit und der fortwährenden Leiden
deS Apostels, aber auch ebenso viele Zeugen seiner Energie,
seines AuSharrens und seines unerschütterlichen Vertrauens.
Fragen wir jetzt nach den Gründen, welche den
Apostel nicht ermatten ließen, so giebt er selbst deren
zwei an. Zunächst sagt er: „Darum, weil wir diesen
Dienst haben, wie wir begnadigt worden, so ermatten
wir nicht."
Obgleich die Ausübung seines Dienstes für den
Apostel mit so vielen Leiden verbunden war, so war doch
das, was er durch denselben verkündigte, für ihn eine
beständige Quelle des Trostes, der Freude und der Kraft.
Das, was er verkündigte, wird uns kurz und bestimmt
mitgeteilt in den Worten: „Der Gott unsrer Väter hat
dich zuvor verordnet, Seinen Willen zu erkennen und den
Gerechten zu sehen und eine Stimme aus Seinem Munde
zu hören. Denn du wirst Ihm an alle Menschen ein
Zeuge sein von dem, was du gesehen und gehört
hast." (Apstgsch. 22, 14. 15.) Wir können wohl verstehen, wie köstlich es für ihn sein mußte, dies allen
Menschen zu verkündigen. Er hatte Christum in der
Herrlichkeit gesehen und aus Seinem eignen Munde vernommen, daß die Gläubigen hienieden einen Leib mit
Ihm bilden. Er hatte im Lichte dieser Herrlichkeit erkannt,
77
welches die Stellung der Gläubigen ist, gemäß den Ratschlüssen Gottes in Gnade. Und darum bildete diese Herrlichkeit und die damit in Verbindung stehende Stellung
der Gläubigen den Ausgangspunkt und die Kraft seines
Dienstes, wie sie auch der entscheidende Wendepunkt in
seinem Leben geworden war.
Tas Evangelium des Apostels war das Evangelium
der Herrlichkeit des Christus. (2. Kor. 4, 4.)
Er war beauftragt, unter den Nationen den unausforschlichen Reichtum des Christus zu verkündigen. Er
selbst, ehemals ein Feind und Verfolger, war durch das
Anschauen der Herrlichkeit Cbristi bekehrt worden; und
die Wirkungen dieses An schauens, die sich so überaus
mächtig erwiesen hatten betreffs seiner Bekehrung, erwiesen
sich nicht minder mächtig betreffs seines ganzen späteren
Lebens. Aus einem SauluS war ein Paulus, aus einem
Lästerer und Schmäher ein ergebener Diener Christi geworden ; seine jüdischen Vorurteile und seine Vorzüge nach
dem Fleische, die sich gleich mächtigen Bollwerken seiner
Bekehrung hemmend in den Weg gestellt hatten, waren
mit einem Schlage vernichtet, so daß er das, was ihm
bis dahin Gewinn gewesen war, nunmehr um Christi
willen für Verlust achtete. „Ja wahrlich," sagt er, „ich
achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der
Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen
ich alles eingebüßt habe und es für Dreck achte, auf daß
ich Christum gewinne." (Phil. 8, 7. 8.)
Paulus hatte im Lichte der Herrlichkeit Christi
gesehen, daß der Mensch im Fleische mit seinen besten
Vorzügen nur Eitelkeit ist; aber er hatte dort auch gesehen
und gehört, was der Mensch nach den Ratschlüssen Gottes
78
in Christo ist; und das letztere verfehlte nie seinen
ermutigenden Einfluß auf sein eignes Herz in der Ausübung seines Dienstes. Die Beschäftigung mit der Herrlichkeit Christi und mit dem, was wir in Ihm sind, wird
stets eine gesegnete Wirkung auf unser ganzes Verhalten
haben. Paulus war bemüht, den unauSforschlichen Reichtum und die alle Erkenntnis übersteigende Liebe des
Christus vor den Augen der Gläubigen zu entfalten und
einen jeden von ihnen in Christo darzustellen, indem er
wußte, daß das der einzige Weg war, ihr Verständnis
betreffs der ihnen zu teil gewordenen wunderbaren Gnade
zn erleuchten, ihre Herzen zu befestigen und mit Trost,
Kraft und Freude zu erfüllen.
Der Apostel verkündigte Christum und wußte, daß
alles, was wir in Ihm sind und haben, sowohl unsre
Stellung vor Gott, als auch die damit verbundenen geistlichen Segnungen: der Friede mit Gott, die Gunst und
Liebe Gottes gegen uns, die Kindschaft, das ewige Erbteil w. w., daß alles dieses außerhalb des Bereiches des
Feindes und jeglicher Verderbnis lag. Und das erfüllte
sein Herz, selbst angesichts der Abnahme der Kraft und
geistlichen Energie der Kirche und des überhandnehmenden
Verfalls in ihrem Innern, mit vollkommenem Vertrauen.
Der in Christo Jesu gefaßte Ratschluß Gottes konnte
durch alle diese Dinge nicht angetastet werden. Das, was
er gesehen und gehört hatte, verlor nie seinen Wert,
seine Schönheit und seine Kraft; es beleuchtete seinen
ganzen Pfad und bildete allezeit eine unversiegbare Quelle
der reinsten Freude für ihn. Wie hätte er in der Ausübung eines Dienstes ermatten können, mittelst dessen er
solch herrliche Dinge verkündigte?
- 79 —
Aber konnte nicht der Tod ihm diese Dinge rauben,
und war nicht die Furcht vor dem Tode geeignet, ihn
in der Ausübung seines Dienstes matt zu machen? Keines
von beiden. Wohl konnte der Tod seiner segensreichen
Wirksamkeit ein Ziel setzen, aber er vermochte nicht, ihm
etwas von seinem Teile in Christo zu rauben; auch Halle
die Furcht des Todes keine Macht über ihn. Hören wir,
was er in dieser Beziehung als den zweiten Grund ansührt, weshalb er nicht ermattete: „Da wir aber denselben
Geist des Glaubens haben, (nach dem, was geschrieben
steht: „Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet;") so
glauben auch wir, darum reden wir auch, da wir wissen,
daß Der, welcher den Herrn Jesum auferweckt hat, auch
uns mit Jesu auferwecken und mit euch darstellen wird."
(2. Kor. 4, 13. 14.) Die Stelle, welche der Apostel
hier aus Psalm 116 anführt, zeigt uns den Geist des
Glaubens, der in dem jüdischen Ueberrest der letzten Tage
wirksam sein wird. Glaubensmutig legt derselbe Zeugnis
ab von der Wahrheit, trotz den äußersten Anstrengungen
des Feindes, seinen Mund zum Schweigen zu bringen.
Und das, was den Glauben dieses Ueberrestes inmitten der
Drangsale der lebten Tage aufrecht hält, ist die zuversichtliche Hoffnung, bald in dem Reiche zu sein, in welchem Jehova als König herrschen wird über die ganze
Erde. Dieser Hoffnung giebt er in den Worten Ausdruck:
„Ich werde wandeln vor Jehova in dem Lande der Lebendigen." (Ps. 116, 9.)
Derselbe Geist des Glaubens erfüllte den Apostel;
er glaubte, darum redete er. Sein Glaube stützte sich auf
die Kraft Gottes, welche Jesum aus den Toten auferwcckt,
und der gegenüber sich die ganze Kraft des Feindes
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als Ohnmacht erwiesen hat. Das Bewußtsein, daß Gott
schließlich diese Seine Macht zu Gunsten der Seinigen
geltend machen und alle durch Jesum Entschlafenen mit
Ihm auferwecken und samt allen Heiligen vor Gott darstellen wird, belebte den Mut des Apostels. Nichts ist
gewisser, als daß Gott schließlich den Sieg davontragen
und über die ganze Macht des Feindes triumphiren wird.
Das verbürgt uns die Auferweckung Jesu. Paulus schreibt
deshalb auch dem Timotheus, seinem Mitkämpfer und
dem Mitgenossen seiner Trübsale: „Halte im Gedächtnis
Jesum Christum, auferweckt aus den Toten . . .
in welchem ich Trübsal leide bis zu Banden, wie ein
Uebelthäter." (2. Tim. 2, 8. 9.) Und in derselben Gewißheit des schließlichen Sieges ruft er den Heiligen die
ermutigenden Worte zu: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir
werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in
einem Augenblick, bei der letzten Posaune; denn posaunen 
wird eS, und die Toten werden auferweckt werden unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Denn dieses
Verwesliche muß Unverweslichkeit anziehen, und dieses
Sterbliche Unsterblichkeit anziehen. Wenn aber dieses Verwesliche Unverweslichkeit anziehen und dieses Sterbliche
Unsterblichkeit anziehen wird, dann wird das Wort erfüllt
werden, das geschrieben steht: „Verschlungen ist der Tod
in Sieg." Wo ist, o Tod, dein Stachel? wo ist, o Tod,
dein Sieg? Der Stachel des Todes aber ist die Sünde,
die Kraft der Sünde aber das Gesetz. Gott aber sei
Dank, der uns den Sieg giebt durch unsern Herrn Jesum
Christum! Daher, meine geliebten Brüder, seid fest, unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werke des Herrn,
— 81 —
da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich ist im
Herrn." (1. Kor. 15, 51—58.)
Wie tröstlich und ermunternd sind diese Worte!
Welch eine herrliche Aussicht eröffnen sie vor unsern
Blicken! Wie ruhig und getrost können wir allem entgegensetzen, was auch kommen mag! Wie ernst und schwer die
gegenwärtigen Zeiten auch sein mögen, wie groß die Prüfungen, die der Eine und Andere zu bestehen hat, und wie
scheinbar vergeblich unsre Arbeit für den Herrn — nie
haben wir Grund zu ermatten. Vielmehr bewirken die 
beiden angeführten Gründe, das Anschauen der Herrlichkeit
des Herrn und die Gewißheit des schließlichen Sieges bei
der Ankunft des Herrn, gerade das Gegenteil. Möchten
daher alle Heiligen ihr köstliches Teil in Christo verstehen, möchten sie Ihn erkennen, wie der Apostel Ihn
gesehen, gehört und verkündigt hat, um zu wandeln
in der Freiheit, für welche Christus uns frei gemacht hat!
(Gal. 5, 1.) Ja, möchten wir alle die Bedeutung des
Wortes verstehen und bewahren: „Der Herr aber ist der
Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit."
(2. Kor. 3, 17.) Nur dann, wenn wir unsre Stellung
in Christo, dem Herrn der Herrlichkeit, erkennen und
bewahren, wandeln wir in der wahren Freiheit; nur dann
sind wir frei von uns selbst, von der Macht der Sünde,
der Knechtschaft des Gesetzes und der Furcht des Todes.
Das Teil des Christen ist nicht in den Dingen dieser
Welt, sondern droben, wo der Christus ist, sitzend zur
Rechten Gottes. Jetzt ist dort unser Platz im Glauben;
bald, ja bald wird er es im Schauen sein. „Der
Herr ist nahe!"

„Batex, ich will."
„Vater, ich will, daß die, welche du mir gegeben hast,
auch bei mir seien, wo ich bin, auf daß sie meine Herrlichkeit schauen, die Du mir gegeben hast, denn Du hast
mich geliebt vor Grundlegung der Welt." (Joh. 17, 24.)
„V ater, i ch will," welch gesegnete, kostbare Worte!
Sie zeigen uns, daß die Wünsche des Herzens unser?
Herrn nicht eher völlig gestillt sind, daß Seine Liebe nicht
eher ganz befriedigt ist, als bis Er uns dahin geführt hat,
wo Er ist. Er will, daß Seine Erlösten für ewig bei
Ihm seien. Der Herr hat in Seinem Gebet nicht ein
Wort zum Vater zu sagen in betreff des Eigenwillens,
des Kleinglaubens und der Verzagtheit der Seinigen, nicht
ein Wort über die so oft zu tage getretene Gleichgültigkeit und Kälte Seiner Jünger. Seine wunderbare Liebe
übergeht alle ihre Mängel und Gebrechen, und beschäftigt
sich nur mit dem, was Seinem Herzen und dem Herzen des
Vaters so kostbar war. „Sie haben Dein Wort bewahrt
— sie haben geglaubt, daß Du mich gesandt hast — ich
bin in ihnen verherrlicht u. s. w." Welch eine anbetungswürdige Liebe!
„Vater, ich will!" Dringen nicht diese Worte
hinab bis in die Tiefen unsrer Herzen? — Ich will, daß
sie bei mir seien; und bis dahin bewahre Du sie in
Deinem Vaternamen! — Ja wahrlich, das ist die Stimme
des guten Hirten, der Sein Leben dahingegeben hat für
Seine Schafe, und dessen innigste Zuneigungen jetzt mit
ihnen verbunden sind.
Der Platz, den das Gebet des Herrn einnimmt, ist
sehr bemerkenswert und köstlich. In den vier vorher­
83
gebenden Kapiteln redet der Herr mit Seinen Jüngern
über ihr Verhältnis zu Ihm nach Seinem Weggang aus
dieser Welt. Sie hatten keine Ursache, bestürzt zu sein;
Er wollte sie nicht als Waisen lassen. Es war im
Gegenteil nützlich für sie, daß Er hinging; denn wenn
Er nicht hinging, so konnte der Sachwalter nicht kommen.
Darum ruft Er ihnen immer wieder zu: „Fürchtet euch
nicht!" und im 15. Kapitel sagt Er ihnen: „Dies habe
ich euch gesagt, auf daß meine Freude in euch sei, und
eure Freude völlig werde." — Und hier im 17. Kapitel
wendet Er sich zu Seinem Vater und legt sie, die Seinem
eignen Herzen so teuer waren, an das Vaterherz Gottes;
und zwar thut Er dies in Gegenwart der Elfe (Judas
hatte sich bereits entfernt): „Dies rede ich i n der Welt,
auf daß sie meine Freude völlig in sich haben." (V. 13.)
Der Herr will, daß wir auf dem Wege durch diese
Welt Seine Freude genießen, daß wir in der Gemeinschaft
des Vaters und in dem Bewußtsein Seiner unerschütterlichen Liebe mit friede- und freudeerfülltem Herzen voraugeheu; und Er will, daß wir bei Ihm seien, da wo
Er ist. Er hat uns die Herrlichkeit gegeben, welche
Er als Mensch erworben und von dem Vater empfangen
hat; und wir sollen bei Ihm sein und die Herrlichkeit
schauen, (denn diese Herrlichkeit können wir nicht besitzen) welche Er als Sohn der Liebe des Vaters besaß
vor Grundlegung der Welt. Dann erst, wenn alle Seine
Erlösten um Ihn versammelt stehen und Seine Herrlichkeit
schauen, dann erst, wenn Er Seine Braut an Seiner
Seite hat und den Thron der Herrlichkeit mit ihr teilt,
ist das Verlangen Seines Herzens gestillt. Dann wird
Er die Frucht der Mühsal Seiner Seele sehen und ge­
84
sättigt werden." (Jes. 53.) Diejenigen, für welche
Er litt und starb, bei sich zu haben, Seinem eignen Bilde
gleichgestaltet, und zur Verherrlichung und zum Preise Seines
Namens und der Gnade Gottes, das war die Freude,
welche vor Ihm lag, um derentwillen Er „der Schande
nicht achtete, sondern das Kreuz erduldete." (Hebr. 12, 2.)
O, möchten unsre Herzen sich erwärmen an dieser Liebe,
und möchten sie sich in Wahrheit sehnen nach dem Augenblick, da wir Ihn schauen werden, wie Er ist!
O, dort zu sein!
O, dort zu sein, 
Wo nimmer Thränen fließen,
Wo man nicht Angst, nicht Kummer kennt, noch Pein,
Wo Dorn noch Disteln sprießen!
O, dort zu sein!
O, dort, dorthin,
Ins Heimatland der Frommen
Dringt froh mein Blick, steht meines Herzens Sinn;
Wann werd' ich dorthin kommen?
O, dort, dorthin!
Ja, dort ist's gut!
Dort schweigt des Herzens Sehnen,
Der Kämpfer Schar in süßem Frieden ruht,
Und Siegeslieder tönen.
Ja, dort ist's gut!
Dort find' ich Ihn,
Der mich im Kampf hienieden,
So treu bewahrt; an dessen Herz zu fliehn,
Ist Seligkeit und Frieden.
Dort find' ich Ihn!
O, was wird's fein,
Mit Jesu dann zu weilen
Im Vaterhaus, zu gehen aus und ein,
Den Thron mit Ihm zu teilen!
O, was wird's sein!
Abraham.
„Durch Glauben ward Abraham, als er gerufen
wurde, gehorsam, auszuziehen an den Ort, den er
zum Erbteil empfangen sollte; und er zog aus, nicht
wissend, wohin er komme. Durch Glauben hielt er sich
auf in dem Lande der Verheißung, wie in einem fremden, und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den
Miterben derselben Verheißung; denn er erwartete die
Stadt, welche Grundlagen hat, deren Baumeister und
Schöpfer Gott ist." (Hebr. 11, 8—10.)
Die Kapitel 1 — 11 des 1. Buches Mose enthalten
zwei deutlich unterschiedene Geschichten — diejenige der
vorsündflutlichen Heiligen, oder der Zeiten von Adam bis
auf Henoch, und die Geschichte Noahs und seiner Nachkommen bis zur Zerstreuung der Völker. *) Die erste dieser
Geschichten finden wir in Kap. 1 — 5, die zweite in
Kap. 6—11.
*) Vergleiche die Betrachtungen: „Die Welt vor der Flut"
und „Noah" in Heft 3—9 des vorigen Jahrgangs des Botschafters.
Vom 12. bis zum 25. Kapitel wird uns dann die 
Geschichte Abrahams erzählt; dieselbe bildet den dritten
Teil des 1. Buches Mose und stellt uns einen neuen
Abschnitt in den Wegen Gottes dar. Dieser Wechsel ist
nicht zufällig oder bedeutungslos, sondern wir entdecken
darin bei näherer Untersuchung eine schöne moralische 
Ordnung und eine überraschende Entfaltung der Weisheit
86
Gottes in bezug auf die Verwaltung der Zeiten. Himmel
und Erde werden abwechselnd berufen, die wunderbare
Erzählung jener Weisheit zu übernehmen und göttliche
Geheimnisse darzustellen — Geheimnisse, wie jenes, welches
„Gott sich vorgesetzt hat in sich selbst, für die Verwaltung
der Fülle der Zeiten: alles unter ein Haupt zusammen
zu bringen in dem Christus, das, was in den Himmeln
und das, was auf der Erde ist." (Eph. 1, 10.)
Adam war in dem Zustande der Unschuld ein Mensch 
der Erde. Er sollte sich an ihr erfreuen, in dem Bewußtsein, daß alles sein war. Aber sobald er aus Eden
vertrieben war, wurde er ein Fremdling hienieden. Er
erhielt keinen Befehl, die Erde zu verbessern oder zu 
schmücken; er hatte einfach den Boden für seinen Unterhalt zu bebauen. Auch zeigt uns die Verwandlung Henochs,
daß die Bestimmung und das Erbe jener frühesten Haushaltung Gottes himmlisch war. *)
*) Die Familie Kains stand in jenen vorsündflutlichen Tagen
in unmittelbarem Gegensatz hierzu. Allerdings bebaute auch sie
den Boden, aber nicht, um einfach ihren Lebensunterhalt zu
haben, sondern um das Leben zu verschönern und den Aufenthalt
auf dieser Erde so angenehm wie möglich zu machen. Zweck und
Ziel ihrer Arbeit waren die Kultur, der Gewinn und das Vergnügen. Dadurch unterschieden sich diese beiden Familien. Die
eine bildete sich unter dem Einstuß des Glaubens und des Gehorsams gegenüber den Offenbarungen Gottes, die andere wurde
gekennzeichnet durch die Verachtung dieser Offenbarungen, gerade
so wie es in der Welt bis zu diesem Tage ist.
In Noah hingegen ist der Vorsatz Gottes ein anderer.
Noah ist wieder ein Mensch der Erde. Er verließ die 
Arche in einem ganz andern Charakter, wie Adam den
Garten verlassen hatte. Noah trat aus der Arche mit
87
dem Auftrag, als Richter und Regierer die Welt in Ordnung zu halten. Nicht Fremdlingschaft, sondern Bürgerschaft auf der Erde und Herrschaft über sie entsprach
jetzt wieder der Absicht Gottes. Doch ein zweiter Abfall
offenbarte sich unter den Nachkommen Noahs; im Laufe
der Zeit strebten sie nach Unabhängigkeit, indem^sie die
Furcht Gottes beiseite setzten und ohne Ihn fertig zu
werden suchten, wie einst Adam im Garten es gemacht
hatte, als er werden wollte wie Gott. Die Antwort
Gottes auf den Hochmut des Menschen war die Verwirrung der Sprachen.
Nachher findet Abraham wieder Gnade in den Augen
Gottes. Er wird von jenem Schauplatz des Abfalls abgerufen und aus seinem Hause und Lande ausgeführt;
und wie wir es nach der abwechselnden Darstellung himmlischer und irdischer Geheimnisse nicht anders erwarten
können, wird nach Noah, dem Menschen der Erde, Abraham wieder berufen, ein himmlischer Mensch zu sein. Der
Herr sagt zu ihm: „Gehe aus deinem Lande und aus
deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause."
Das war der Charakter der Berufung Abrahams. Es
war weniger eine Berufung aus moralischem Verderben,
aus Götzendienst und dergleichen, sondern vielmehr eine
Berufung aus den Verbindungen der Natur und der
Erde. Sicher gab es auch Götzen zu verlassen; (vergl.
Josua 24, 2. 3.) aber das bildete nicht die Natur der
Berufung. Vielmehr finden wir Aehnlichkeit zwischen
Abraham und Adam, nachdem dieser den Garten verlassen hatte; Abraham verließ Ur in Chaldäa, wie Adam
Eden verließ. Er empfing nicht den Auftrag, das Land
Kanaan für den Herrn zu bebauen oder zn erobern und
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die Völker dort zu regieren. Die Einrichtungen der Welt
wurden geradeso gelassen, wie sie waren. Abraham hatte
mit den Völkern, durch welche ihn sein Weg nach Kanaan
führte, nichts zu schaffen; und auch als er jenes Land
erreicht hatte und die Kananiter dort vorfand, trat er
in keinerlei Verbindung mit ihnen. Er kümmerte sich gar
nicht um sie.
In Noah war die Regierung Gottes auf der Erde
eingeführt worden, wie im Anfang die natürlichen Beziehungen in Adam. Abraham aber wurde aus diesem
allen herausgerufen. Er empfing Gott selbst durch den
Glauben; sowohl die Beziehungen der Natur, die Adam
ihm überliefert hatte, als auch die Regierung, welche in
Noah aufgerichtet worden war, wurden von ihm aufgegeben. *)
In unserm Patriarchen sehen wir also die Auserwählung und Berufung Gottes. Er gehörte der verderbten, abgefallenen Familie des Menschen an und hatte
keinerlei Ansprüche an Gott zu machen. Aber eine unumschränkte Gnade, in deren Kraft alle Erlösten nach
dem ewigen Ratschluß Gottes stehen, hatte ihn zu ihrem
Gegenstand gemacht; und unter dieser Gnade ist er zu
feiner Zeit als ein Auserwählter geoffenbart und von
Gott berufen worden, als ein himmlischer Fremdling durch
*) Später ist der Same Abrahams, das Volk Israel, wieder ein irdisches Volk und stellt deshalb gerade das Gegenteil
von der Berufung und Stellung Abrahams dar. Sie erschlagen
die Völker Kanaans, und anstatt aus ihrem Lande und ihrer
Verwandtschaft herausgcrufen zu werden, werden sie gerade
dahin geführt: Männer, Weiber, Kinder und selbst das Vieh
reisen von Egypten nach Kanaan — aus dem Lande der Fremdlingschast in das Land ihres Besitztums.
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diese Welt zu pilgern. Die Schrift spricht von ihm als
dem „Vater aller, die da glauben;" (Röm. 4, 11. 12.)
und in der That, wir finden in ihm das Leben des
Glaubens in einer überaus köstlichen Weise dargestellt,
und gerade das ist es, wobei ich in dieser Betrachtung
hauptsächlich verweilen möchte.
In dem „Leben des Glaubens" finden wir nicht
nur den Grundsatz der Abhängigkeit von Gott oder des
Vertrauens auf Ihn, obgleich das vielleicht der zunächstliegende Gedanke ist; es bezeichnet weit mehr als das.
Es ist ein Leben, welches große und mannigfaltige Kräfte
offenbart; denn der Glaube vertraut nicht nur auf Gott
oder glaubt au Ihn, sondern er versteht auch Seine
Wege und handelt in Uebereinstimmung mit Seinen Grundsätzen und Absichten; er empfängt Seine Verheißungen,
erfreut sich in Seiner Gunst, führt Seine Befehle aus,
erwartet Sein Reich, erringt in Seiner Kraft Siege und
wandelt durch Sein Licht im Lichte. Der Glaube stellt
somit, obgleich in verschiedenartiger Weise, stets ein Leben
dar, welches Gott entspricht und durch die Gemeinschaft
mit Ihm hervorgebracht wird.
Demgemäß werden wir in dem Leben Abrahams
Gelegenheiten finden, bei welchen das Vertrauen auf Gott
hervortritt; zu andern Zeiten offenbart sich Kraft, und
Kämpfe werden bestanden; dann wieder zeigen sich die 
Tugenden des Glaubens in dem bereitwilligen Aufgeben
von Rechten und in der stillen Unterwerfung unter zugefügtes Unrecht. Diese Verschiedenartigkeit in dem Leben
des Glaubens ist schön, denn sie ist nichts anders als
das mannigfaltige Hervorleuchteu desselben Sinnes, des
Sinnes Christi in den Heiligen.
90
Indes dürfen wir nicht meinen, daß wir in dem
Gläubigen immer nur diesem Lichte und dieser Kraft des
Glaubens begegnen. Vollkommenheit in dem Leben des
Glaubens wird nirgendwo gefunden, außer in dem Einen,
der als „der Anfänger und Vollender des Glaubens" vor
unsre Augen gestellt wird, und dessen Weg von Anfang
bis zu Ende, und in jedem Augenblick, das Muster dieses
Lebens in vollem, ungetrübtem Glanze war. Dennoch
dürfen wir das Leben eines Abraham, eines Joseph, eines
David oder eines Paulus als ein Leben des Glaubens bezeichnen, weil in diesen Männern jener Grundsatz des Glaubens
vorhanden war, obgleich sie immer wieder und auf die
verschiedenste Weise die Verderbtheit der Natur, die Wirkung des Unglaubens und die Ratschläge .eines Herzens
verrieten, welches geneigt ist, mit Fleisch und Blut zu
Rate zu gehen und die Wege einer abgefallenen Welt
einzuschlagen.
Abraham begann dieses Leben des Glaubens mit
einfältigem Herzen und heiligem Ernst. Er zog aus,
„nicht wissend, wohin er komme." Er nahm Gott zu seinem Schild und seinem Teil, und gerade darin zeigte sich
sein Glaube; denn durch die Trennung von der Welt,
auf Grund eines unbedingten Vertrauens auf Gott, verlor er alles und erhielt dafür nichts, als das Wort
Gottes.
Wir befinden uns nicht gern in solchen Umständen;
das menschliche Herz fühlt sich unbehaglich darin, aber
der erneuerte Sinn heißt sie gut und rechtfertigt Gott in
ihnen. Die Leiden Christi kommen zuerst, darnach die 
Herrlichkeiten. (1. Petr. 1, 11.) Israel betrat das
Land Kanaan nicht nach einer angenehmen Reise durch
91
ein Land mit friedlichen Städten und Dörfern, mit wogenden Kornfeldern und fruchtbaren Weinbergen, mit Strömen und Weideplätzen, sondern sie durchzogen mühsam
öde, unbewohnte Steppen und dürre, sandige Wüsteneien,
in welchen es nichts Ermunterndes für das natürliche
Auge und Herz gab. Ebenso wurde Abraham aus allem
herausgerufen, was für die Natur angenehm war, und
er zog seines Weges, ohne zu wissen, wo seine Reise enden
würde. Nur das Eine wußte er, daß Gott ihn gerufen
hatte, und das war genug für den Glauben. „Er zog
aus, um in das Land Kanaan zu gehen; und er kam in
das Land Kanaan."
Indes kam er nicht, um einen festen Wohnplatz dort
zu finden, sondern nur, um sich in dem Lande der Verheißung aufzuhalten. Er zog von Ort zu Ort und schlug
überall nur ein Zelt auf. Der Gott der Herrlichkeit hatte
ihm gesagt: „Gehe aus deinem Lande ... in das Land,
das ich dir zeigen werde." Er sollte es für immer in
seinem Samenbesitzen, aber was seine eigne Person
betraf, so sollte er es nur sehen. Und dementsprechend
finden wir auch, daß er es nur besieht, aber nichts
davon in Besitz nimmt. Er geht zunächst nach Sichern,
bis an die Eiche More; von da zieht er südwärts in die
Gegend von Bethel und Ai. Aber wohin er sich auch
wenden mochte, überall wohnte er nur in einem Zelte.
„Es waren zu der Zeit die Kananiter im Lande." Sie
waren die Besitzer des Landes, und Abraham machte keinen Versuch, ihnen auch nur einen Fußbreit Boden zu
entreißen. Er betrachtete und besaß das Land nur in
der Weise, wie der Glaube und die Hoffnung es ihm
gaben; aber er suchte kein persönliches, gegenwärtiges Be­
92
sitztum darin. Die Verheißung lebte in seinem Innern,
und sie bildete sowohl die Richtschnur seines Handelns,
als auch die Freude seines Herzens.
Sehr bald aber steht in Abraham ein ganz anderer
Mensch vor uns; denn obwohl er ein Mann Gottes war,
so besaß er doch, wie wir alle, eine böse Natur; und es
giebt, wie gesagt, keinen in dem Leben des Glaubens
Vollkormnnen, außer den Herrn selbst. Eine Hungersnot
kam über das Land, in welches die Berufung Gottes
Abraham gebracht hatte. Das war ohne Zweifel eine
befremdende Ueberraschung für ihn; allein wäre der
Glaube thätig gewesen, so würde er dadurch nicht erschreckt
worden sein. Der Glaube in Paulus zeigte sich einer
ähnlichen Ueberraschung gewachsen. Durch die Stimme
Gottes nach Macedonien gerufen, findet er dort Gefängnis
und Bande. Aber Paulus hält diesen Stoß aus, während
Abraham strauchelt. Paulus und sein Gefährte singen 
Loblieder in dem Gefängnis zu Philippi; Abraham aber
nimmt seine Zuflucht zu einer Lüge, nachdem er vor der
Hungersnot in Kanaan in einem andern Lande Hülfe gesucht, von welcher die göttliche Berufung nicht das Mindeste erwähnt hatte.
Solche Dinge sind zu allen Zeiten unter den Heiligen
gefunden worden; sie zeigen sich auch heute noch. Es giebt
Kleinglauben und auch Unerschrockenheit unter den Auserwählten, so wie sich in jedem von ihnen Fleisch und
Geist, die Natur und der erneuerte Sinn befinden. Aber
bedenken wir wohl: wenn die Natur uns leitet, wird
die Natur uns blosstellen. Selbst ein irdischer Mann,
der Pharao von Egypten, machte Abraham beschämt; und
anstatt in dem Zeugnis seines Zeltes und in der Freude
93
seines Altars voranzugehen, war es eine Reise mit ermatteten Füßen, weil das Herz ihm Vorwürfe machte.
Er mußte „die ersten Werke thun," die Stellung, die er
verloren hatte, wiedergewinnen, und das ist stets eine
schmerzliche Sache, ein kummervolles Werk. Er mußte aus
Egypten zurückkehren, und zwar bis zu dem Platze zwischen
Aethel und Ai, wo er zuerst seinen Altar erbaut hatte.
Die Herden, die er in Egypten erhalten hatte, begleiteten ihn nach Hause. Der Glanz des Goldes und Silbers,
der Gaben eines Landes, das jenseits dessen lag, wohin
der Gott der Herrlichkeit ihn berufen hatte, schmückte und
zierte seine Rückkehr. So war es bei Abraham, und so
kann es heute bei einem Gläubigen sein. Aber was sagen
wir zu dem allen, Geliebte? Ist das Blöken und Brüllen
solcher Herden in unsern Ohren gleich der sanften Musik
eines guten und ruhigen Gewissens? Oder ist dieser
blendende Reichtum gleich dem Glanze der göttlichen Gegenwart, welche Abraham verloren hatte? Ich glaube, ich
darf für Abraham antworten — obgleich ich es von mir
selbst nicht zu sagen wage — daß sein Geist diesen
Unterschied Wohl erkannte. Das ermattete Herz fühlte
sich wenig erleichtert durch das, was er aus dem Lande
Egypten oder aus dem Hause des Pharao mitbrachte.
Es konnte bei einem solchen Manne nicht anders sein.
„Wer an mir sündigt, thut seiner Seele Gewalt,"
(Spr. 8, 36.) das muß auch er erfahren haben; und
seine Handlungsweise in der Geschichte, die uns in unmittelbarer Verbindung mit seiner Rückkehr erzählt wird,
zeigt uns etwas davon.
Lot, sein jüngerer Bruder, oder vielmehr seines Bruders Sohn, der mit ihm aus Ur nach Kanaan gekommen
94
war, wird jetzt ein Anlaß zur Versuchung für ihn, wie
vorher die Hungersnot. Aber der Glaube in Abraham
triumphirt dieses Mal in bewunderungswürdiger Weise.
Die Hirten der beiden Brüder können ihre Herden nicht
mehr zusammen weiden; sie müssen sich trennen. Das
war der Anlaß zu der neuen Versuchung. Aber die 
Sprache Abrahams ist: „Lot möge wählen." Lot mag
die wohl bewässerten Ebenen für sich nehmen; Abraham
kann auf den Herrn des Landes vertrauen, obgleich er
jene verliert. Er mag Brunnen graben müssen, anstatt
sie zu finden. Aber ist es nicht besser, sie in der Kraft
Gottes zu graben, als sie auf dem Wege der Habsucht zu
finden? Ist eS nicht besser, so zu sagen in Kanaan auf sie
zu warten, als ihretwegen wieder nach Egypten zu gehen?
Das war eine herrliche Wiederherstellung. Und siehe
da, jetzt besucht der Herr Seinen Knecht wieder, was Er
in Egypten nicht gethan hatte und nicht hatte thun können.
Der Gott der Herrlichkeit, welcher Abraham nach Kanaan
gerufen hatte, konnte nicht mit ihm nach Egypten gehen;
aber Er hatte Sein Wohlgefallen daran, sich dem Manne
zu zeigen, der in der Freude des wiederhergestellten Vertrauens, im Begriff stand, daS Beste des Landes seinem
jüngeren Bruder zu überlassen.
Und nun laßt mich fragen, Geliebte: Wo befinden
wir uns? Wo ist unser Herz? Auf welchem Wege
wandeln wir in diesem Augenblick? Kennen wir Egypten
in der Bitterkeit der Selbstanklage? oder genießen wir
ein wiedererlangtes Kanaan in der Freude der Gunst
Gottes? Wandeln wir täglich mit Gott? Das Leben des
Glaubens kennt sehr wohl den Unterschied zwischen der
Verengung eines weltlichen und der Weite eines gläubigen
95
Herzens. Abraham kannte diese Dinge; er wußte, was
Egypten war — die Stätte des Goldes und Silbers,
der Vorwürfe und des Todes; er wußte, was es war,
Ai wieder zu gewinnen, ohne unterwegs einen Altar zu
haben; und er wußte auch, was es war, wieder mit Altar
und Zelt unter den Eichen Mamres zu ruhen.
So beginnt das mannigfaltige Leben des Glaubens;
doch es enthält noch weit mehr als das. Gerade bei
dieser Verschiedenartigkeit der Handlungen zeigt sich die
Einsicht desselben, die Wirksamkeit des Geistes Christi
oder des geistlichen Sinnes, der die Dinge unterscheidet,
wie sie sind, und der die Fähigkeit besitzt, Zeiten und
Gelegenheiten Gott gemäß zu erkennen. Dieses feine
Unterscheidungsvermögen des Heiligen finden wir in Abraham in dem jetzt folgenden Teile seiner Geschichte. Die
Schlacht der „vier Könige gegen die fünf" wird uns im
14. Kapitel erzählt. So lange es nur ein Streit zwischen
jenen Königen war, hatte Abraham nichts damit zu thun;
aber sobald er hörte, daß sein Verwandter Lot in den
Streit verwickelt war, regte er sich.
Alles ist schön zu seiner Zeit. „Es ist eine Zeit,
abzubrechen, und eine Zeit, 'aufzubauen." Es gab für
Abraham eine Zeit, stille zu sein, und eine Zeit, in Thätigkeit zu treten; und er verstand die Zeit. Die Grundsätze Gottes waren Abrahams Richtschnur. Lot war
gefangen genommen worden, und jetzt war es Abrahams
Sache, seine Bruderpflichten zu erfüllen. Das Schlachtfeld im Thale Siddim war nunmehr sein Platz, wie
bis dahin das Zelt unter den Eichen Mamres. Es gab
jetzt eine andere Aufgabe für ihn zu lernen, und die Zeit
war da, das Schweigen zu brechen; sie rief ihn, an
96
der Spitze seiner waffengeübten Knechte, hinaus aufs
Schlachtfeld.
Diese Einsicht des Sinnes Christi in dem Heiligen
ist in der That schön. Jedes Ding ist nur schön zu 
seiner Zeit; außer der Zeit ist dieselbe Handlung verkehrt und entstellt. Elia mochte von dem Gipfel des
Berges Feuer vom Himmel auf die Obersten und ihre
Fünfzig herabrufen, (2. Kön. 1.) und ebenso mögen die
beiden Zeugen in den Tagen von Offenb. 11 ihre Feinde
verzehren durch daS Feuer, daS aus ihrem Munde geht.
Aber für die Begleiter des demütigen und verworfenen
Jesus war es unpassend, in derselben Weise mit den
samaritischen Dörfern zu handeln. (Luk. 9.) Nur zu 
seiner Zeit ist jedes Ding wirklich richtig. Wie wurde
der Garten Gethsemane, der durch die Leiden des göttlichen Märtyrers geheiligt war, durch daS Blut, welches
das Schwert Petri dort vergoß, entweiht! Aber ein anderes
Schwert verrichtete den rechten Dienst, als es Agag in
Stücke hieb, (1. Sam. 15.) oder als es in der Hand der
Leviten in die Mitte Israels trat und weder Eltern noch
Kinder verschonte. (2. Mose 32.) Denn wenn Rache
befohlen ist, wenn die Trompete des Heiligtums zum
Kampfe bläst, so sind Rache und Kampf ebenso vollkommen, wie zu andrer Zeit Gnade und Langmut. Es
ist Gottes Sache, zu bestimmen und zu offenbaren, welche
Handlungsweise und welche Wahrheit der Zeit entsprechend
sind. Und wenn Gott Seine Gedanken kundgegeben hat,
so zeigt sich das Leben des Glaubens immer in einer
Weise und in einem Charakter, die dieser Offenbarung
entsprechen. Die Pflichten und der Dienst des Glaubens
fließen aus anvertrauten Wahrheiten hervor. Wenn die
97
Wahrheit vernachlässigt wird, so ist es unmöglich, die
Pflichten und den Dienst zu erfüllen. Und der wohlgefällige Wille Gottes, oder Seine geoffenbarte Weisheit in
der Verwaltung der Zeiten, ist in dem Wechsel der Zeitalter verschieden. Das ist sehr beachtenswert; denn die
richtige Unterscheidung der Dinge und die richtige Teilung
des Wortes Gottes, oder der Wahrheit, wird unter
andern Tugenden in dem Leben des Glaubens erwartet.
Abraham war mit diesem schönen Unterfcheidungsvermögen
ausgerüstet. Er kannte den Ton der silbernen Trompete,
mochte sie nun zum Zelte der Zusammenkunft oder zur
Schlacht rufen.
Doch wir finden bei dieser Gelegenheit noch etwas
anderes bei unserm Patriarchen. Er wird durch zwei
Siege ausgezeichnet, und zwar erringt er den einen über
die Heere der Könige und den andern über die Anerbietungen des Königs von Sodom. Der erste wurde
Abraham zu teil, weil er den Schlag genau zu Gottes
Zeit führte; er zog nicht früher und nicht später in die
Schlacht, als Gott es wollte. Daher war der Sieg sicher;
denn der Kampf war des Herrn, nicht des Abraham. Sein
Arm wurde durch den Herrn selbst gestärkt. Dieser Sieg
Abrahams gleicht dem Siege Davids über Goliath, oder 
demjenigen Jonathans und seines Waffenträgers über das
Heer der Philister; (1. Sam. 14. 17.) denn Abraham
hatte nur eine Schar geübter Knechte gegenüber den
Heeren von vier Verbündeten Königen. — Der zweite
Sieg, noch glänzender als der erste, wurde, wie alle
geistlichen Triumphe, in der Kraft der Gemeinschaft mit
den Quellen göttlicher Stärke errungen. Der Geist des
Patriarchen siegte hier, wie vorher sein Arm. Er hatte
98
so viel genossen in der Gemeinschaft des Königs von
Salem, dieses königlichen und priesterlichen Fremden, daß
der König von Sodom ihm vergeblich alle Habe anbot.
Die Seele Abrahams war im Himmel gewesen, und so
konnte er nicht wieder zu der Erde zurückkehren. — Das
war die gesegnete Erfahrung des Vaters der Gläubigen
im Thale Save. Welch ein Glück wird seine Seele
erfüllt haben! Gewiß, er hat mehr dort genossen, als
in Worten ausgedrückt werden kann.
Doch wir finden hier noch mehr als die Siege des
Glaubens; die nächste Scene in Kapitel 15 zeigt uns die
Kühnheit desselben. Und ich möchte fragen, giebt es für
Gott selbst wohl etwas Köstlicheres, als diese Kühnheit?
Die Einsicht des Glaubens ist herrlich, und seine Siege
sind glorreich, aber seine Kühnheit in dem Rechnen auf
den Gott aller Gnade übersteigt beides.
Nach dem Siege Abrahams über die Welt oder die
Anerbietungen des Königs von Sodom kommt der Herr
zu ihm mit großen Verheißungen. „Nach diesen Dingen
geschah das Wort Jehovas zu Abram in einem Gesicht
und sprach: Fürchte dich nicht, Abram; ich bin dir ein
Schild, dein sehr großer Lohn." (Kap. 15, 1.) Nach der
Hitze des vorhergehenden Tages wollte Gott in Seiner
Gnade Seinen Knecht aufs neue anerkennen und ermutigen.
Aber der Glaube ist kühn und strebt scheinbar noch höher
als die Vorsätze und Unternehmungen der Gnade fgehen.
Abraham scheint die Worte des Herrn zurückzuweisen.
„Ich bin dir ein Schild, dein sehr großer Lohn," sagt
der Herr. „Was willst Du mir geben," erwidert Abraham,
„da ich hingehe ohne Kinder? und der Besitzer meines
Hauses ist dieser Elieser von Damaskus."
99
Das war kühn, aber nicht zu kühn für das Ohr
des Herrn, der Seine höchste Freude an einer solchen
Sprache des Glaubens findet. Abraham mußte etwas
Besseres haben, als einen Schild und einen sehr großen
Lohn. Es ist gut, ein Teil zu haben, aber Abraham
suchte einen Gegenstand für sein Herz. Adam erging
es einst ebenso; Eden war für ihn nicht das, was Eva
war. Der Garten mit allem, was er darbot, genügte
ihm nicht; erst die Gehülfin befriedigte ihn völlig. So
ist auch für Christum selbst die Kirche mehr, als alle
Herrlichkeit des Reiches, wie in dem Gleichnis die Perle
und der Schatz größeren Wert hatten für den Mann, der
sie fand, als alle seine Besitzungen; denn er verkaufte
alles, was er hatte, um sie zu besitzen. Das verirrte
Schaf, die verlorene Drachme und der verlorene Sohn
bieten dem Himmel — dem Vater, dem Hirten, dem Geist 
und den Engeln — eine größere Veranlassung zur Freude,
als alles Uebrige; und zwar deshalb, weil das Herz
seinen Gegenstand erhalt und die Liebe ihre Erwiderung
findet. Liebe und Zuneigung bringen das Herz in Thätigkeit; es kann in nichts anderm Ruhe finden, als in
dem Gegenstand seiner Liebe.
Es war in der That ein kühner Glaube, der Abraham befähigte, die Worte Gottes gleichsam zurückzuweisen.
Aber er war köstlich für Gott; denn ein Glaube, der so
handelt und auf solche Weise fordert, spricht die Gedanken
und Gefühle des göttlichen Herzens selbst aus. Gott selbst
verlangt nach Kindern, so wie Abraham es that. Nicht der
Geist der Knechtschaft soll das Haus Gottes erfüllen,
sondern der Geist der Sohnschaft; nicht Knechte, sondern
Kinder will Er um sich haben. Er hat „uns zuvorbe­
100
stimmt zur Sohnschaft durch Jesum Christum für sich
selbst." Er hat in Seinen Kindern einen Gegenstand
für sich selbst gefunden; und Abraham sprach deshalb
nur jenes Geheimnis aus, welches dem Herzen Gottes und
seinem eigenen gemeinsam war. Und sofort wird sein
Wunsch beantwortet; der Anblick des Sternenhimmels
wird benutzt, um dem Patriarchen etwas Besseres zuzusichern, als alle Erbteile und Segnungen, alle Schilde
und Belohnungen. „Und Er führte ihn hinaus und
sprach: Siehe jetzt gen Himmel und zähle die Sterne,
wenn du sie zählen kannst ... Also soll dein
Samen sein."
Wir können in der That sagen, daß der Glaube nie
richtiger handelt, als wenn er hoch strebt und mit kühner
Hand zugreift; je höher die Grenze ist, die er sich steckt,
desto mehr entspricht sie der Absicht Gottes. „Fordere
dir ein Zeichen von Jehova, deinem Gott," sagt der
Prophet Jesaia zu Ahas, „fordere es in der Tiefe oder 
oben in der Höhe;" d. h. nimm alle göttlichen Hülfsquellen und benutze sie. Aber Ahas wollte nicht. Er
antwortete dem Propheten: „Ich will nicht fordern, und
will Jehova nicht versuchen." (Jes. 7, 10-12.) Was
der König Ahas nicht thun wollte, indem er durch seinen
Unglauben und die Trägheit seines Herzens Gott ermüdete, das that Abraham wiederholt. Seine Seele ging
in derselben Kraft des Glaubens bis zum Ende jener
Unterhaltung mit Jehova voran. „Ich will dir dieses
Land geben, es zu besitzen," sagt der Herr kurz nachher
zu ihm. „Woran soll ich es erkennen, daß ich es besitzen werde?" ist seine Antwort. Diese Worte zeigen
denselben Charakter; und weil es so ist, weil sie die 
101
Kühnheit des Glaubens verraten, so sind auch sie überaus
angenehm vor dem Herrn. Abraham suchte etwas mehr
als eine Verheißung. Nicht daß er an ihr gezweifelt
hätte; im Gegenteil, er war völlig gewiß, daß sie nie
fehlen könnte, daß eher Himmel und Erde vergehen würden, als daß ein Wort von der göttlichen Verheißung ausfiele. Aber er begehrte einen „Eid und Blut" zu ihrer Besieglung. Sein Glaube begehrte nach einem Bunde, als der
Grundlage für seine Ansprüche; und er verlangte nichts mehr,
als was die Gnade, der Vorsatz und das unumschränkte
Wohlgefallen Gottes schon für ihn bestimmt hatten.
Welch ein reicher und kräftiger Trost liegt in diesem
allen! Der Glaube ist nie zu kühn. Nein, je kühner er ist, desto mehr gefällt er Gott. Der Herr tadelte
in den Tagen Seines Fleisches oft die Zurückhaltung und
den Argwohn des Kleinglaubens, nie aber die Kraft und
Bestimmtheit eines Glaubens, der so zu sagen nach allem
strebte und ohne Segnung sich nicht abweisen ließ. Auch
die Worte, mit welchen Gott in unserm Kapitel den
Glauben Seines Dieners beantwortet, zeigen uns die
Wonne, die Er an der Kühnheit desselben empfand.
Gerade die Art der Antwort drückt dieses aus, wie auch
in späteren Tagen bei dem Gichtbrüchigen in Matth. 9.
Dort lassen uns die Worte: „Sei gutes Mutes, Kind,
deine Sünden sind dir vergeben," erkennen, wie sehr das
Herz des Herrn, des Gottes Abrahams, durch den Glauben erquickt worden war, welcher ohne Weiteres das Dach
des Hauses abdeckte, um zu Ihm zu gelangen. Dasselbe
finden wir hier. Der kühne, nicht zweifelnde Glaube
Abrahams begehrt ein Kind; und noch in derselben Nacht
führt der Herr Seinen Knecht hinaus und sagt, indem
102
Er ihm den gestirnten Himmel zeigt: „Also soll dein
Samen sein." Derselbe Glaube wünscht das Land durch
etwas mehr als ein Wort der Verheißung zugestchert zu
haben, und siehe da, derselbe Herr bekräftigt den Bund
dadurch, daß Er eine Feuerflamme zwischen den Stücken
des Opfers hindurchfahren läßt.
Diese Handlungsweise ist sehr bezeichnend. Sie drückt
in beredter Weise die Gedanken Gottes aus. Der Herr
begnügt sich nicht mit der bloßen Verheißung eines Kindes,
oder mit bloßen Versicherungen, daß das Land das Erbe
des Samens Abraham sein solle, sondern Er vollzieht in
beiden Fällen mit erhabener und ergreifender Feierlichkeit
gewisse Handlungen, aus welchen wir unwillkürlich die
Freude herausfühlen, mit der Er auf diese Forderungen
des Glaubens gelauscht hatte.
Möchten wir unsern Gott doch mehr kennen, wie Er
gekannt werden muß, zu Seinem Preise und zu unserm
Troste! Die Liebe freut sich, wenn sie in Anspruch genommen wird; sie ermüdet, wenn man zu viel Umstünde
macht. Letzteres ist gewissermaßen eine Beeinträchtigung
ihrer wahren Natur und der ihr eigentümlichen Handlungsweise. Die Zuneigung zwischen Familiengliedern
z. B. beseitigt alles umständliche Wesen; im Familienkreise
herrscht Vertraulichkeit, nicht Form. Die Liebe bewirkt in
dem Einen wie in dem Andern, daß er mit Bereitwilligkeit
seine häuslichen Arbeiten verrichtet, und das gegenseitige
Vertrauen Aller erlaubt, daß es in dem Geiste der Liebe
geschieht. So ist es auch zwischen dem Herrn und uns.
Die Vertraulichkeit des Glaubens ist Seiner Gnade angemessen und Seinem Herzen angenehm; viele Umstände
und Formen sind nur eine Ermüdung für Ihn.
103
Die Gnade ist ein Meer ohne Ufer, und wir werden
ermuntert, mit vollen Segeln hineinzufahren. Der Oeltrug würde unerschöpflich gewesen sein, wenn der Glaube
des WeibeS noch weiter daraus ausgegossen hätte; unb
die Siege des Königs von Israel würden nicht aufgehört
haben, bis zur völligen Vertilgung der Syrer, wenn sem
Glaube das Schlachtfeld in dem Bewußtsein betreten hätte,
daß es nur das Feld des Sieges sei. (2. Kön. 4 u. 13.)
Doch die Kühnheit des Glaubens ist zu unbegreiflich, zu
hoch für das enge, karge Herz des Menschen, welches
nicht auf den Herrn vertrauen kann. Aber wie herrlich
ist es, daß gerade diese Kühnheit der unendlichen Gnade
Gottes entspricht und dieselbe benutzt!
Ein glaubendes Herz ist auch ein glückliches Herz;
es ist gehorsam und verherrlicht Gott. Es ist dankbar
und deshalb geeignet, den Heiligen zum Dienst bereit zu
machen und von dem Bösen getrennt zu halten. Es ist
sicher gut, wachsam zu sein, in stetem Selbstgericht voranzugehen und sorgfältig darüber zu Wachen, daß wir in
allem, was wir thun, gerecht sind; aber dabei das Herz
durch die Uebung eines einfachen, kindlichen und gläubigen
Sinnes in dem Lichte der Gunst Gottes zu erhalten, das
ist es, was Ihn verherrlicht, was Seiner Gnade entspricht, und wodurch wir Ihm, mit dem wir zu thun
haben, am meisten unsern Dank beweisen. „Wir haben
mittelst des Glaubens Zugang zu dieser Gnade, in welcher wir stehen." Nicht Vollkommenheit, nicht Wachsamkeit, nicht Dienste oder erfüllte Pflichten berechtigen uns,
diesen herrlichen Platz in der Gunst Gottes einzunehmen;
nein, „mittelst des Glaubens haben wir Zugang
zu dieser Gnade." (Fortsetzung folgt.)

„Freuet euch in dem Herrn allezeit!"
(Phil. 4, 4.)
„Freuet euch allezeit!" — welch eine bemerkenswerte,
ja, welch eine erstaunliche Aufforderung in einer Welt voll
Elend, Sünde, Not und Kummer, umso erstaunlicher, als sie
aus dem Munde eines Mannes kam, der die Trübsale und
Leiden dieser Zeit in der ausgiebigsten Weise gekostet
hatte, und der sich in jenem Augenblick in der trübsten
Lage befand, in welcher ein Mensch sein kann. Er saß
im Kerker, war getrennt von allen seinen Lieben, herausgerissen aus dem Werke, dem er mit der innigsten Liebe
und Hingebung zugethan war, und der Willkühr eines
grausamen, tyrannischen Kaisers preisgegeben. Und doch
fordert er Andere auf, sich mit ihm zu freuen, ja, sich
allezeit zu freuen.
Was war denn eigentlich der Gegenstand seiner
Freude? Waren es die Dinge dieser Welt? war es
Besitz an Hab und Gut, oder die Hoffnung auf irdischen
Gewinn? Nein, von irdischen Gütern besaß er gar nichts;
vielmehr war er in bezug auf seinen Unterhalt allein auf
den Herrn und Seine Haushalter angewiesen. Waren es
Ehre und Ansehen in dieser Welt? Auch nicht; Ehre
und Ansehen, ja, alles, was für den natürlichen Menschen
Gewinn ist, hatte er freiwillig aufgegeben und war zum
„Auskehricht der Welt" geworden. War es der Gedanke
an seine treuen, teilnehmenden Freunde? Nein; denn
obwohl es Einzelne gab, die in herzlicher Liebe seiner
gedachten, so hatten doch die Meisten ihm den Rücken
gewandt; viele suchten gar seinen „Banden noch Trübsal
zuzufügen," indem sie „aus Neid und Streit" in dem
Werke arbeiteten, das ihm so sehr am Herzen lag. WaS
105
war es denu, das sein Herz mit solch überströmender, nie
endender Freude erfüllte? Mein Leser, es war etwas,
das völlig außerhalb dieser Welt lag. Es war ein Gegenstand in den Himmeln droben, allerdings nicht sichtbar
dem natürlichen Auge, aber darum nicht weniger wirklich
und nicht weniger kostbar. Es war ein verherrlichter
Christus zur Rechten der Majestät in der Höhe und alles,
was in Ihm und in Seinem vollbrachten Werke das Teil
des armen, von der Welt verachteten und verworfenen
Gefangenen war. Es war zugleich ein Gott und Vater,
der mit inniger Liebe und Fürsorge auf Sein schwergeprüftes Kind herniederblickte und in allem seiner gedachte.
„Freuet euch in dem Herrn allezeit!" Siehe da
das Geheimnis, mein Leser. In diesem geliebten Herrn
fand der Apostel allezeit eine nie versiegende Quelle der
Freude; und in diesem geliebten Herrn ist auch heute noch
dieselbe Fülle von Freude zu finden für einen jeden, der
an Ihn glaubt und Ihm vertraut. Kein Mensch in dieser
Welt, auch nicht der beste, der reichste und geehrteste,
hat Ursache, sich allezeit zu freuen; keiner kann sich allezeit freuen. In allem, was diese Welt bieten kann, so
schön und glänzend es scheinen mag, ist eben keine wahre
Freude zu finden. Alles vergeht, alles ist durch die Sünde
verderbt, alles ist eitel und nichtig. Der Christ allein
hat Ursache, sich allezeit zu freuen; er darf, ja, er sollte
sich allezeit freuen in dem Herrn, in Seiner Person und
in Seinem Werke.
Wohin wir blicken mögen, wir finden nur Ursache
zu inniger, dankbarer Freude. Denken wir zunächst an
die große Errettung, die uns in Christo Jesu zu teil
geworden ist. Von Natur arme, verlorene Sünder, feind­
106
selig und verderbt, ohne alle Kraft, ja sogar tot in
Sünden und Vergehungen, hatten wir von feiten des
heiligen und gerechten Gottes nichts anders zu erwarten
als ein ewiges Gericht, eine ewige Verdammnis. Gott
aber, der die Liebe ist, hat sich über uns erbarmt und
Seinen eingebornen, geliebten Sohn für uns dahingegeben, 
und uns durch den Glauben an Ihn eine vollkommene Vergebung, eine ewige Erlösung und ein neues, unvergängliches Leben geschenkt. Durch das Blut Christi sind alle
unsre Sünden für immer getilgt; Gott will ihrer nie
mehr gedenken. Durch Sein vollbrachtes Werk sind wir
aus unsrer alten Stellung, als Kinder Adams, herausgenommen und in eine ganz neue gebracht; wir stehen
jetzt in Christo vor Gott. Wir haben aufgehört, Sklaven
der Sünde zu sein, und befinden uns nicht mehr unter
der Herrschaft Satans. Durch Glauben an Ihn haben
wir ewiges Leben empfangen — das Leben, welches bei
dem Vater war und durch Christum hienieden in seiner
ganzen Schönheit und Kraft geoffenbart worden ist —
das Leben, welches der Tod nicht anzntasten vermochte,
das ungeschwächt und siegreich in der Auferstehung hervorstrahlte. Könnte bei dem Gedanken an diese große Errettung etwas anderes als Freude, Lob und Dank unsre
Herzen erfüllen?
„Nein," antwortest du vielleicht; „aberhaben wir nicht,
so lange wir als Erlöste hienieden pilgern, eine Wüste zu
durchschreiten, in welcher es allerlei Schwierigkeiten und
Versuchungen für unS giebt?" Ganz gewiß; ja, wir haben
zu gleicher Zeit, wenn wir anders unsre Stellung in
Christo verstehen und verwirklichen, einen ernsten Kamps
mit den geistlichen Mächten der Bosheit in den himmli­
107
schen Oertern zu bestehen. Aber kann uns das unglücklich
machen? Ist das eine Ursache, verzagt zu sein? Nein, wenn
unser Blick nach Oben gerichtet ist, wird unser Herz trotz
alledem stets mit Ruhe, Trost und Freude erfüllt sein.
Wir sind die Gegenstände der Liebe und Zuneigung
des Vaters, Seiner Freude und Wonne. Wir sind Seine
geliebten Kinder, von welchen Er Sein Auge nie abwender.
Er ermuntert uns, um nichts besorgt zu sein, sondern alle
unsre Sorgen auf Ihn zu werfen, alle unsre Anliegen
durch Gebet und Flehen mit Danksagung vor Ihm kund
werden zu lassen; dann soll Sein Friede, der allen Verstand übersteigt, unsre Herzen und Sinne bewahren in
Christo Jesu. (Phil. 4, 6. 7.) Er will uns nicht versäumen, noch verlassen, sondern stets unser Helfer sein.
(Hebr. 13, 5. 6.) Welche Prüfungen und Schwierigkeiten
wir auch hienieden antreffen mögen, sie sollen stets für
uns zum Guten mitwirken. Wenn wir daran gedenken,
so verstehen wir, daß wir sogar Ursache haben, uns der
Trübsale zu rühmen, der mancherlei Versuchungen uns
zu freuen; denn sie kommen von Ihm, der uns vollkommen liebt und aus dessen Hand uns nichts zu rauben
vermag, und sie haben keinen andern Zweck, als uns zu
segnen.
Und so wie der Vater, so ist auch der Sohn, unser
teurer Herr und Heiland, allezeit mit und für uns beschäftigt. Er liebt uns, wie der Vater Ihn liebte, als
Er selbst diese versuchungsreiche Welt durchschritt. Er
denkt allezeit an uns und ist fort und fort für uns besorgt. Als ein barmherziger Hoherpriester hat Er Mitleid mit unsern Schwachheiten, (Hebr. 4, 15. 16.) und
als ein treuer Sachwalter ist Er allezeit bei dem Vater
108
für uns beschäftigt, wie der Apostel Johannes schreibt:
„Wenn jemand gesündigt hat: wir haben einen Sachwalter
bei dem Vater, Jesum Christum, den Gerechten." Haben
wir uns auf dem Wege durch diese Welt verunreinigt, so
wäscht Er unsre Füße und stellt so die Gemeinschaft mit
dem Vater und Ihm wieder her. Diese überaus gesegnete
Gemeinschaft, in welche wir durch das Leben, das bei
dem Vater war und uns geschenkt worden ist, eingeführt
worden sind, ist jetzt schon unser herrliches Vorrecht. Ist das
alles nicht geeignet, mein Leser, dein Herz mit tiefer, überströmender Freude zu erfüllen? „Dies schreiben wir euch,"
sagt Johannes, „daß eure Freude völlig sei." (1. Joh. 1, 4.)
Was könnte köstlicher sein, als Gemeinschaft zu haben
mit dem Vater und mit Seinem Sohne Jesu Christo?
Nicht nur mit ruhigem, glücklichem Herzen, ohne Angst
und Furcht, in der Nähe eines heiligen und gerechten
Gottes stehen zu können, nicht nur als Knechte in Seinem
Hause zu weilen, sondern als Söhne in die tiefsten Geheimnisse des Vaterherzens eingeweiht zu sein und mit
Ihm und dem Sohne dieselben Gegenstände der Liebe
und des Interesses zu haben? — Und das ist das gesegnete
Teil eines jeden Kindes Gottes.
Aber das ist noch nicht alles. Nicht nur sind wir
errettet und in die Gemeinschaft des Vaters und des
Sohnes eingeführt; sondern in Christo ist auch Fürsorge
für alle unsre Bedürfnisse hienieden getroffen. Er nährt
und pflegt uns, (Eph. 5, 29.) Er lagert uns auf grünen
Weiden und führt uns zu stillen Wassern. Er ist der
gute Hirte, der Sein Leben für Seine Schafe gelassen, der
uns mit Seinem kostbaren Blute erkauft hat, und nun ans
Schritt und Tritt uns begleitet und für alle unsre Be­
109
dürfnisse in der zärtlichsten Weise Sorge trägt. Wir sind
in Seiner Hand; und so wie uns nichts aus der Hand
des Vaters rauben kann, so kann uns auch keine Macht
der Welt oder der Hölle Seiner Hand entreißen. Wir
sind durch ein unauflösliches Band mit Ihm verbunden,
ja, wir sind ein Teil von Ihm, Glieder Seines Leibes.
Welch eine gesegnete Stellung! Welch eine Liebe zu solch
wertlosen und feindseligen Geschöpfen, wie wir von Natur
waren! Ich frage nochmals: Ist das nicht geeignet, Freude,
Lob und Anbetung in jedem Herzen zu erwecken, welches
diese Stellung und diese Liebe kennt?
Auch ist uns der Heilige Geist geschenkt, um uns iu
alle Wahrheit zu leiten, uns in den Versuchungen der
Wüste aufrecht zu halten und im Kampfe des Glaubens
zu stärken. Er nimmt sich unsrer Schwachheit an; Er
bittet für uns in unaussprechlichen Seufzern; (Röm. 8, 26.)
Er ermahnt und straft, ermuntert und belebt uns; unter
Seiner Führung werden wir in allem überwinden. Durch
Ihn wohnt Gott selbst in uns, durch Ihn ist die Liebe
Gottes ausgegossen in unsre Herzen. Durch Ihn sind wir
versiegelt, und in Ihm besitzen wir das Unterpfand unsers
Erbes; nie wird Er von uns weggenommen werden, und wenn
Er nicht durch unser Verhalten betrübt ist, so wirkt Er in
uns, um unsre Herzen mit Freude und Frohlocken zu erfüllen. Er ist es auch, der unsre Herzen hinlenkt auf das,
was droben ist, und der die Hoffnung auf unser ewiges 
Teil droben lebendig erhält. Er hat uns Mitteilungen
gemacht über den Zustand nach dem Tode, und Er richtet
auch unsern Blick auf den glänzenden Morgenstern, der
bald erscheinen wird. Entschlafen wir, so werden wir bei 
Christo sein, „ausheimisch von dem Leibe und einheimisch
110
bei dem Herrn;" befinden wir uns bei Seiner Ankunft
zur Aufnahme der Seinigen noch in unserm Leibe, so werden
wir verwandelt und mit allen Heiligen Ihm entgegengerückt werden, um dann für immer bei Jesu zu sein. Droben
werden wir alles mit Ihm teilen, was Er als Mensch
von Gott empfangen hat, und wir werden Seine Herrlichkeit schauen, die Er vor Grundlegung der Welt schon
besaß; ja, ewige Glückseligkeit wird unser Teil sein. Er
selbst hat dafür gesorgt, daß wir dem Tage des Gerichts,
der für alle, die nicht durch den Glauben an Ihn errettet
sind, schrecklich sein wird, mit Freiniütigkeit entgegensehen
können; „denn wie Er ist, so sind auch wir in dieser
Welt." Welch eine Sicherheit giebt uns das!
Wohin wir also unsre Blicke auch richten mögen, ob
in die Vergangenheit, da wir noch Sünder und Gottlose
waren, oder in die Gegenwart, seitdem wir erlöst sind,
oder in die Zukunft, wenn wir verherrlicht sein werden,
überall begegnen wir einer Fülle von Gnade und Liebe,
die alle unsre Gedanken weit übersteigt, und die jedem
Bedürfnis vollkommen begegnet ist. Je mehr wir befähigt
sind, in den überströmenden Reichtum dieser Gnade und
Liebe hineinzuschauen und davon zu genießen, desto mehr
wird unser Herz vor Freude überströmen und Lob und
Anbetung Dem darbringen, welchem wir dies alles zu
verdanken haben.
Doch so gesegnet und herrlich alle diese Dinge auch
sein mögen, so ist und bleibt der Herr selbst doch stets
der höchste Gegenstand unsrer Freude. Er ist der Gegenstand und Mittelpunkt aller Gedanken und Ratschlüsse
Gottes. Er ist Mensch geworden; und als Er hienieden
in Demut und Gehorsam wandelte, um den Namen des
Vaters zu verherrlichen und das Ihm aufgetragene Werk
zu vollbringen, da öffnete sich der Himmel über Ihm, und
eine Stimme sprach: „Du bist mein geliebter Sohn; in
Dir habe ich Wohlgefallen gefunden." Er war von jeher
die Freude und Wonne des Vaters; aber als Er auf
diese Erde gekommen war, um als Mensch den Willen
111
des Vaters, was es auch kosten möge, zu erfüllen, da
konnte der Vater nicht anders, als Seinem besondern 
Wohlgefallen an Ihm Ausdruck geben. In Ihm, welcher
der Gegenstand der Anbetung aller himmlischen Heerscharen,
aller Erlösten ist und in Ewigkeit sein wird, wohnt eine
Fülle von Herrlichkeit, die nur der Vater völlig zu erkennen vermag. „Niemand kennt den Sohn, als nur der
Vater." Kein Engel, kein Mensch, auch selbst nicht der
geistlichste, vermag Seine Fülle zu ergründen. Sobald
in Offbg. 5 inmitten des Thrones das geschlachtete
Lamm erscheint, gerät alles, was im Himmel und auf
Erden ist, in Bewegung; ja, die ganze Schöpfung ist
mit Lob und Anbetung erfüllt. Und in der That,
nichts ist imstande, das Herz so glücklich zu machen, wie
die Beschäftigung mit der Person des Herrn selbst.
Ihn zu betrachten auf Seinem Wege aus dem Schoße
des Vaters bis zum Kreuze, und von da wieder bis zu 
Seinem Platze zur Rechten der Majestät in der Höhe,
Seine holdseligen Worte zu vernehmen, Sein Thun anzuschauen, Seine Gnade und Liebe, Demut und Niedriggesinntheit, Sein Mitgefühl und Erbarmen, Seine Reinheit und Heiligkeit, Seine Herrlichkeit und Macht zu
betrachten, an Seinem liebenden Herzen zu ruhen — das
ist etwas, was das Herz über Umstände und Schwierigkeiten, über Leiden und Trübsale erhebt, was Sorgen und
Kümmernisse verscheucht und eine unaussprechliche, j selige
Freude erweckt.
Niemand unter den Erlösten hat dies wohl tiefer
erkannt, diese Freude wohl mehr genossen, als der Apostel
Paulus. Der Anblick des Herrn der Herrlichkeit führte
den entscheidenden Wendepunkt jin seinem jLeben herbei.
Nachdem er auf dem Wege nach Damaskus 'Jesum gesehen
hatte, achtete er alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit
der Erkenntnis Christi Jesu, seines Herrn;^nur Ketten und
Bande waren sein Teil in dieser Welt, saber er achtete
weder Leiden noch Tod, ums zu Ihm hinzugelangen.
(Phil. 3, 8 — 11.) Das Leben für Ihn war Christus,
112
und das Sterben Gewinn; denn der Tod führte ihn zu
Dem hin, den seine Seele liebte, nach dem er sich sehnte
mit der ganzen Glut der ersten Liebe. Die Verherrlichung
Christi bildete sein sehnlichstes Verlangen. Wenn es, wie
wir oben bemerkten, Etliche gab, die während seiner Gefangenschaft aus Neid und Streit Christum verkündigten,
so freute er sich dennoch, weil doch Christus verkündigt
wurde. (Phil. 1.) Sollte er wie ein Trankopfer gesprengt
werden über das Opfer und den Dienst des Glaubens
der Philipper, so freute er sich. Alles, was irgendwie zur
Verherrlichung Christi ausschlug, erfüllte sein Herz mit
Freude, weil er in Ihm selbst seine ganze Freude und
Wonne fand. Und in der That, „die Freude im Herrn
ist," wie die Schrift sagt, „unsre Stärke." Das Auge
des Glaubens bleibt auf Ihn gerichtet, und das Herz
findet in Ihm einen Schatz, der es völlig befriedigt und
glücklich macht. Alles hienieden verliert dann seinen Reiz
und Wert für uns; man ist weder mit sich noch mit den
Umständen beschäftigt. Giebt es Leiden, sie werden willig
und geduldig ertragen; giebt es Versuchungen und Schwierigkeiten, wir sind mehr als Ueberwinder und gehen siegreich aus jedem Kampfe hervor. Obwohl äußerlich in
keinen beneidenswerten Umständen, war das Herz des
Apostels dennoch getrost und glücklich, ja es strömte über
von Freude. Wie wunderbar sind seine Worte: „Freuet
euch in dem Herrn allezeit! wiederum will ich sagen:
Freuet euch!" Welch einen Widerhall werden sie gefunden
haben in den Herzen der Philipper, seiner geliebten Kinder
im Glauben! O möchten sie doch auch in unsern Herzen
einen Widerhall finden, und möchte in Wahrheit die
Person unsers Herrn von Tag zu Tage köstlicher für
uns werden, umsomehr als der Augenblick Seiner Ankunft
so nahe ist! j
Abraham.
(Fortsetzung.)
Wir haben in dem ersten Teil unsrer Betrachtung
Abraham begleitet auf seiner Reise von Ur in Chaldäa
nach Kanaan, auf seinem Zuge nach Egypten, auf seiner
Rückkehr von dort nach Bethel und Ai, wo er zuerst sein
Zelt aufgeschlagen und seinen Altar errichtet hatte; wir
haben ihn gesehen in dem Thale Save und seiner Unterhaltung mit Gott gelauscht, und haben reiche Belehrungen
aus der Geschichte unsers Patriarchen geschöpft. Allein
wir werden in dem weiteren Verlauf derselben noch eine
Menge andrer Unterweisungen und Darstellungen des Lebens
des Glaubens finden, und der Herr wolle die Betrachtung
derselben zu unsrer Ermahnung und Ermunterung gesegnet
sein lassen.
In dem 16. und 17. Kapitel tritt Sarah zum ersten
Male selbständig handelnd auf. Die Hungersnot hatte
Abraham verleitet, das Land EgyMn aufzusuchen, und
er hatte die Hülfsguellen jenes Landes mit Scham und
Schmerz benutzt, und eine ermüdende Rückreise nach Kanaan
war das Resultat gewesen; jetzt überredet ihn Sarah, sich
der Magd aus Egypten zuzuwenden. Wir wissen aus der
göttlichen Unterweisung des Briefes an die Galater, daß
diese egyptische Magd das Bündnis vom Berge Sinai
darstellt, das Gesetz, die Religion der Satzungen, während
114
Sarah in ihrer Aufforderung an Abraham, diese Egypterin
zu nehmen, ein Bild der Natur ist, welche nicht nur ihre
Auswege und Hülfsquellen, sondern auch ihre Religion
und alles andere in „Fleisch und Blut" findet.
Der Geist hatte sich, wie es scheint, noch nicht mit
Sarahs Seele beschäftigt; wenigstens haben wir keinen
Beweis dafür. Sie war sicherlich eine Auserwählte; aber
unsre Auserwählung hat stattgefunden, lange bevor wir
ein Gegenstand der göttlichen Wirksamkeit geworden sind.
Und bis dahin hatte sich bei Sarah weder das geistliche
Leben, das Leben des Glaubens, noch die Wirkung der
Wahrheit durch den Heiligen Geist auf ihre Seele gezeigt.
Von feiten des Herrn war bisher noch nicht von ihr die
Rede gewesen; sie war weder in der Uebung des Geistes
vor Gott die Gefährtin ihres Mannes gewesen, noch seine
Mitschülerin in der Schule Gottes. Sie war nicht mit
Abraham hinausgeführt worden, um die Sterne zu zählen,
noch das Opfer zu bewachen. Sie befand sich noch, so zu
sagen, in der Stellung der Natur, und demgemäß forderte
sie ihren Mann auf, ihr durch ihre egyptische Magd
Samen zu geben.
Das war die Stellung Sarahs in dieser Sache; und
Abraham wurde durch die Natur betrogen und auf den
Weg der Natur geleitet, so wie er früher durch eine Versuchung von dieser Seite überrascht worden war und dem
Druck der Hungersnot nachgegeben hatte. Doch alles das
war Unglauben und ein Abweichen von Gott. Es war die
Handlungsweise des Menschen oder der Natur, nicht aber 
diejenige deS Glaubens oder des Geistes. Die Hagars
und Pharaos sind armselige Zufluchtsstätten für die Auserwählten Gottes. Aber Gott hielt, wie wir zu unserm
115
Troste sehen werden, Sein Auge aus Abraham gerichtet.
Gott hatte Seinen Platz in Abraham, so gut wie die
Natur, und Er behauptete denselben zur Wiederherstellung
Seines Knechtes. Er erscheint ihm in einer neuen Offenbarung, und fordert ihn aufs neue zum Glaubensgehorsam
auf: „Ich bin Gott, der Allmächtige; wandle vor meinem
Angesicht und sei vollkommen." Die Seele Abrahams hatte
diese Wahrheit verloren; er hatte die Allmacht und Allgenugsamkeit Gottes vergessen. Er war zu Hagar eingegangen; er hatte sein Vertrauen auf das Fleisch gesetzt;
er hatte den Boden verlassen, auf welchem er im 15. Kapitel
gestanden hatte. Doch der Herr will und kann dies nicht
erlauben, und deshalb erscheint Er dem Geiste Seines
Heiligen in einer neuen Offenbarung Seiner selbst; und
es ist ein Erscheinen „mit Heilung unter seinen Flügeln."
Abraham fällt auf sein Angesicht, überführt und beschämt,
und seine Seele wird wieder in die Pfade der Gerechtigkeit eingeführt.
Sicherlich giebt es auch heute noch solche Augenblicke in
der Geschichte „derer, die da glauben," gerade so wie bei
ihrem „Vater Abraham." Als der Herr in Kap. 15 ihm
erschien und mit ihm sprach, fiel Abraham nicht auf sein
Angesicht; da stand er vor dem Herrn, in dem Bewußtsein,
daß er im Lichte war. Aber jetzt war Finsternis über
seine Seele gekommen, und er war nicht bereit für die
Gegenwart des Herrn. Er steht nicht aufrecht, um mit
aller Kühnheit die Anliegen des Glaubens vor den Herrn
zu bringen, sondern er liegt auf seinem Angesicht, schweigend
und bestürzt. Der Wechsel in seiner Erfahrung ist groß,
aber bei dem Herrn ist keine Veränderung; denn die Liebe
ist immer die gleiche, mag sie nun tadeln oder trösten.
116
Wenn wir in dem Lichte wandeln, so haben wir Gemeinschaft mit Ihm; wenn wir unsre Sünden bekennen, so
finden wir Vergebung bei Ihm; wenn wir fähig sind,
vor Ihm zu stehen, so wird Er uns nähren und stärken;
wenn wir in Seiner Gegenwart überführt niederfalleil
müssen, so wird Er uns wieder aufrichten.
Entfernung von Gott erweist sich stets als Bitterkeit,
aber Gott offenbart sich der Seele als Wiederherstellung
und Friede. Unter Seiner gnädigen Hand wird der Glaube
wieder kühn gemacht, und Abraham läßt seine Anliegen
in der früheren Kraft vor Gott kundwerden und begehrt
von Gott, daß Ismael vor Ihm leben möge. Da ist
Wirklichkeit — Wirklichkeit in der Betrübnis, wie in der
Freude, in dem Lichte des göttlichen Antlitzes, wie in dem
Verbergen des eignen Angesichts im Staube.
In den Kapiteln 18 und 19 finden wir im Blick
auf das Leben Abrahams noch etwas anderes als diese
Uebungen des Glaubens; gewisse göttliche Geheimnisse
werden vor unsre Seele gestellt, allerdings unter der Form
von einfachen Erzählungen. Die Begebenheiten ereigneten
sich gerade so, wie sie ausgezeichnet sind. Aber es liegt
ihnen eine zwiefache Absicht zu Grunde; zunächst haben sie
den Zweck, Beispiele des Glaubenslebens in einem Heiligen
zu geben, und dann sollen sie Wege und Vorsätze Gottes
darstellen. In dieser Art hat die Weisheit Gottes die
göttlichen Ratschlüsse und Geheimnisse in der ganzen Schrift
veranschaulicht. Was war z. B. das Zelt der Zusammenkunft oder der Tempel anders, als ein Ort für die beständige Erzählung des Geheimnisses von der Versöhnung
und Stellvertretung? Was waren die verschiedenen Anordnungen Gottes in bezug auf die Anbetung, die Be­
117
dienung Seines Hauses oder den Dienst der Gnade: die 
Opfer, die Dienstverrichtungen, die Feste und die heiligen
Tage und Jubeljahre? WaS war der Auszug aus Egypten,
der Durchzug durch das Rote Meer, die Reise durch die
Wüste, der Einzug in Kanaan, die Kriege in dem Lande
und der Thron des Friedefürsten? Waren nicht alle diese
Dinge, seien es Einrichtungen des Heiligtums oder Thatsachen der Geschichte, Veranschaulichungen der verborgenen,
ewigen Ratschlüsse des Herzens Gottes?
Die Kapitel 18 und 19 gehören zusammen; siegeben
uns eine lebendige Darstellung von gewissen Wahrheiten,
welche für uns jetzt mindestens dieselbe Wichtigkeit haben,
wie die Ereignisse selbst damals für Abraham und seine
Zeitgenossen. Sodom war zu jener Zeit die Welt. Es
war gewarnt worden, hatte aber die Ermahnung zurückgewiesen. ES war völlig von Gott abgewichen, und jede
Möglichkeit der Besserung war abgeschnitten. Sodom war
heimgesucht und gezüchtigt worden durch den Sieg der
verbündeten Könige; (Kap. 14.) aber es war Sodom geblieben. ES war womöglich noch gottloser geworden und
befand sich in einem Zustande völligen Abfalls von Gott;
sein letzter Zustand war ärger und schlechter, als der erste.
Sodom stellt uns „die gegenwärtige böse Welt" dar, die
sich selbst für das Gericht Gottes reif macht, gerade so
wie ein anderes Geschlecht in den Tagen Noahs. (Vergl.
Matth. 24; Luk. 17.)
Doch mit diesem Tage des Gerichts über Sodom
sind, wie mit jedem andern ähnlichen Tage, zwei Umstände
verbunden, die unsre eingehende Beachtung verdienen; diese
sind: Befreiung auS dem Gericht und Absonderung, bevor das Gericht kommt. Lot wurde
118
befreit, als die Stunde des Gerichts da war; Abraham
war abgesondert, bevor sie kam. Gericht, Befreiung
und Absonderung — das sind die Grundzüge der
vorliegenden Handlung; sie sind voll von Bedeutung und
finden ihre Anwendung auf unsre eigne Geschichte, was
die Kirche Gottes und die Welt um uns her betrifft.
Bevor diese Handlung ihren Anfang nahm, befand sich
Abraham in einer himmlischen Stellung. Er war ein
Fremdling hienieden; er besaß nichts als ein Zelt und
einen Altar, und er wanderte von Ort zu Ort, ohne einen
Fußbreit Landes sein eigen zu nennen. Und als das Gericht kam, war er völlig davon getrennt, wie Henoch an
einem früheren Tage des Gerichts. Beide befanden sich
außerhalb oder über dem Schauplatz des Verderbens;
nicht nur befreit aus dem Gericht, als es da war, sondern abgesondert, bevor es kam.
Abraham war vor dem Eintreffen des Gerichts mit
dem Herrn aus der Ebene Mamres gekommen und hatte
mit Ihm auf einer Anhöhe gestanden, von welcher aus
man Sodom übersehen konnte. Und als das Gericht sich
über die abtrünnige, verderbte Stadt ergoß, da stand er
wieder auf jenem hohen Platze, und überschaute von dort
aus die einst so fruchtbare Ebene, jetzt ein Bild der schrecklichsten Verwüstung. Er war in der Begleitung Dessen gewesen, der das Gericht ausübte, wahrend Lot nur aus
dem Verderben gerettet wurde. Wie Abraham der Henoch,
so ist Lot der Noah dieses Gerichtstages; er wird aus
der verfluchten Stadt herausgeführt.
Welch ernste Wahrheiten betreffs der Ratschlüsse
Gottes werden uns hier auf's neue zu unsrer Belehrung
vor Augen geführt! Wir brauchen nicht erst zu fragen.
119
auf welchem Boden wir hier stehen. In Sodom empfängt
die Welt vorbildlich ihr Gericht; der gerechte Ueberrest
wird (in Lot) in der Stunde der Rache gerettet, und die 
Kirche ist (in Abraham) schon abgesondert und nach oben
gebracht, und blickt von dort auf den Schauplatz der gewaltigen Zerstörung herab. Ohne Zweifel stehen diese
Geheimnisse in der Geschichte des Untergangs Sodoms
vor uns; zugleich finden wir Henoch, Noah und die überschwemmte Schöpfung in Abraham, Lot und den verfluchten Städten der Ebene wieder.
Das sind wunderbare Geheimnisse, und mit ihnen ist
das Buch Gottes angefüllt. Immer auf's neue wird uns
bezeugt, was wir sind, und wo wir uns befinden. Obgleich
wir scheinbar in dem gewöhnlichen Geleise des täglichen
Lebens vorangehen, mit einem Geschlecht, das heute wie
stets in seinem Herzen sagt: „Wo ist die Verheißung
Seiner Ankunft? denn seitdem die Väter entschlafen sind,
bleibt alles so von Anfang der Schöpfung an;" (2. Petr. 3.)
obgleich keine sichtbaren Zeichen das herannahende Gericht
ankündigen, so wissen wir doch, daß wir uns in einer
Welt befinden, die dem Gericht entgegenreift, und daß
der schreckliche Tag des Gerichts nahe ist, daß er plötzlich
über diese sorglose Welt hereinbrechen wird.
Es giebt in dieser wunderbaren Erzählung noch manche
Dinge, die unsrer besondern Beachtung wert sind, wie
z. B. der Besuch des Sohnes Gottes bei Abraham, Abrahams
Bitte für Sodom, die Zurückhaltung der Engel Lot gegenüber, und die verschiedenartigen Charaktere der beiden
Heiligen — des Heiligen des Zeltes und des Heiligen in
Sodom. Doch es würde uns hier zu weit führen, wenn
wir in alle diese Einzelheiten näher eingehen wollten. Nur
120
möchte ich, ehe wir diesen Gegenstand verlassen, die Frage
an uns richten: Verstehen wir wirklich die Zeit, in welcher
wir leben? Was denken wir darüber, daß „der Tag des
Menschen" in seinem höchsten Glanze vor uns steht?
Nehmen wir daran teil, wenn die Menschen einander zu
diesem Zustande der Welt beglückwünschen? Oder mißtrauen
wir all dieser Pracht und verwerfen sie als den sichern
Vorboten des Gerichtes Gottes? Wissen wir, daß der
Gott dieser Welt gerade ein „gekehrtes und geschmücktes"
Haus für seine böse und verderbliche Thätigkeit passend
findet, wie einst das reiche und mächtige Sodom? Glauben
wir mit unsern Zeitgenossen, daß das unmöglich sei?
oder halten wir im Gedächtnis, daß er gerade in einem
solchen Hause am Schluß der Geschichte der Christenheit
wirken will? Warten wir auf den Sohn Gottes, um uns
zu jener geheimnisvollen Anhöhe zu bringen, auf welche
Er vor Zeiten unsern Patriarchen führte? Der Herr gebe
uns Gnade, diesen Boden zu betreten! Und wir werden
das um so leichter thun können, ja, es wird naturgemäß
für uns sein, wenn wir, wie Abraham, nicht Heilige der
Stadt, sondern Heilige des Zeltes sind, die sich „bei der
Hitze des Tages" der Gemeinschaft des Herrn der Herrlichkeit erfreuen.
Wir folgen jetzt unserm Patriarchen in das Land
der Philister, in welchem er sich während der Zeiten des
20. u. 21. Kapitels aufhielt. Hier tritt die alte Uebereinkunft zwischen ihm und Sarah nach langer Zeit wieder
einmal in Wirksamkeit, wie früher in Egypten. Sie war
zwischen ihnen getroffen worden, ehe sie ihr Heimatsland
verließen. ' Sie stammte gleichsam aus ihrem Geburtsort
und war, wie ich sagen möchte, älter in ihnen, als irgend
121
etwas von feiten Gottes. Ach! trotz so mancher Veränderungen und Uebungen waren Abraham und Sarah in
dieser Beziehung nicht verändert.
Diese Uebereinkunft war eine böse Sache, sowohl
listig als unrein; sie war falsch, so harmlos sie scheinen
mochte, und schmeckte stark nach der Schlange, nach dem,
der ein Lügner und der Vater derselben ist.^ Abraham sah
sich gezwungen, sie dem Könige von Gerar, so schlecht sie
war, mitzuteilen: „Es geschah, als Gott mich umherwandern ließ aus meines Vaters Hause, da sprach ich zu
ihr: Dies sei deine Güte, die du an mir thun mögest:
an allen Orten, wohin wir kommen werden, sage von mir:
Er ist mein Bruder." Das war schlecht und böse. Es
giebt keinen Grundsatz in dem Leben des Glaubens, der
nicht durch diese niedrige Uebereinkunft verleugnet worden
wäre. So ist das Fleisch, die angeborene Verderbtheit.
Der Weg des Fleisches bringt, so oft er eingeschlagen
wird, tiefe Beschämung und Schmach. Er erniedrigt einen
Heiligen selbst vor den Menschen. Abraham wurde durch
das Fleisch vor Abimelech beschämt und blosgestellt. Und
es kann nie verändert, nie verbessert oder beseitigt werden.
Es ist dasselbe in Egypten und in Gerar. Es lebt noch
in uns und folgt uns überallhin. Wir empfangen es bei
unsrer Geburt als Nachkommen Adams, und während der
ganzen Dauer unsers Weges als Berufene Gottes haben
wir es zu töten und zu verwerfen. Es ist in der That
betrübend, so etwas sehen zu müssen. Doch der Geist
Gottes verbirgt nichts. Da liegt sie, diese häßliche und
böse Sache, durch den Geist ausgezeichnet, vor uns. Doch
Gott sei Dank! wir finden auch andere, glücklichere
Gegenstände.
122
Verweilen wir zunächst einen Augenblick bei den
Fortschritten, welche die Seele Sarahs unter dem Lichte
und der Leitung des Herrn ans ihrem besondern und lehrreichen Wege machte. Unter dem Einfluß des Fleisches
hatte sie anfangs mit Abraham jene unreine Uebereinkunft
getroffen, von der wir soeben gesprochen haben. Im Unglauben gab sie später, die Hagar ihrem Manne zum Weibe,
und dann nahm sie in der Hast und Empörung ihres
Herzens die Folgen ihres Unglaubens übel auf und trieb
die Magd, welche sie selbst erwählt und in die Familie
ausgenommen hatte, fort. Aber auf den Befehl des Herrn
kehrte Hagar zu ihr zurück, und jetzt, zur Zeit des 21.
Kapitels, hatte Sarah bereits vierzehn Jahre mit ihr zusammen gelebt. Allerdings hatte sich der erneuerte Sinn
oder das Leben des Glaubens in Sarah bis dahin wenig
oder gar nicht geoffenbart. Gerade während dieser Zeit
hatte sie am Eingang des Zeltes ungläubig über die Verheißung Jehovas gelacht. Aber doch war sie in gewissem
Sinne in der Schule gewesen, und sie scheint etwas
gelernt zu haben; denn sie unterwirft sich geduldig und
ohne Widerspruch der Gegenwart der Magd und ihres
Sohnes in der Wohnung ihres Mannes. Wir hören von
keinen neuen Streitigkeiten zwischen ihr und Hagar. Das
ist wenigstens ein Zeugnis dafür, daß sie sich in der
Hand und Schule Gottes befand, und daß sie darin lernte,
bis sie zuletzt durch Glauben Kraft empfing, einen Samen
zu gründen. (Hebr. 11.) Dann aber nimmt ihr Geist
einen höheren Flug; sie geht selbst ihrem Manne voraus.
Gehorsam dem Befehl Jehovas, (Kap. 17, 19.) nennt
Abraham das Kind Isaak, aber Sarah deutet jenen
Namen; dazu gehörte eine tiefere Uebung der Seele im
123
Blick auf die Gabe Gottes. Dem Worte Gottes zu gehorchen, ist gut, aber dies zu thun in der Freude eines
geübten Herzens und in dem Verständnis eines Sinnes,
welcher die göttliche Bedeutung jenes Wortes versteht, ist
besser. „Abraham nannte den Namen seines Sohnes, der
ihm geboren wurde, Isaak ..... und Sarah sprach:
Gott hat mir ein Lachen gemacht; ein jeder, der es hört,
wird mit mir lachen." Das Wort des Herrn in Kapitel 17, 19 war für sie mehr als ein Gebot, das
beobachtet "werden mußte; es war voll Licht und Bedeutung für das geöffnete Verständnis Sarahs. Und das
führte sie weiter, um mit Kraft und Entschiedenheit zn
handeln. „Treibe diese Magd und ihren Sohn aus," sagt
sie zu Abraham; denn sie war glücklich in der Freiheit der
Gnade und Verheißung, während Abraham noch unter den
Ansprüchen der Natur und unter den Forderungen schmachtete,
welche seine eignen Lenden erzeugt hatten. „Treibe diese
Magd und ihren Sohn aus; denn der Sohn dieser Magd
soll nicht erben mit meinem Sohne, mit Isaak." Das
war die Sprache der Schrift, wie wir in Galater 4
lesen — es war die Stimme Gottes. Dieser Entschiedenheit des Glaubens in der Freiheit der Gnade drückt der
Herr mit eigner Hand das Siegel auf. Was sprach mehr
zu dem Herzen des Herrn in den Tagen Seines Fleisches,
als ein gleich kühner und freimütiger Glaube, ein Glaube,
der durch eine Volksmenge hindurch Ihn erreichte, oder 
trotz der Vorwürfe eines falsch urteilenden Pharisäers zu
Ihm drang?
Diese Kühnheit des Glaubens in Sarah, diese Verwerfung der Magd, dieses Verlangen, sich in ihrem Zsaak
ganz allein zu erfreuen, ist die Sprache der Schrift; Sarah
124
redete in der That Gott gemäß. In Abraham wirkte
jetzt die Natur; er wollte Ismael gern behalten. In
Sarah aber wirkte der Glaube. Doch die Natur in Abraham muß sich unterwerfen. Das Haus muß von Ismael
befreit werden, denn es soll nur in Isaak aufgebaut
werden. „Der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem
Sohne der Freien."
Alles das trägt schnell seine Früchte. Nachdem
Hagar entfernt und das Haus gemäß dieser Forderung des
Glaubens in Isaak errichtet ist, tritt die Herrlichkeit ein.
Das ist die göttliche Ordnung. Da wir „Zugang haben
zu der Gnade, in welcher wir stehen, . . . rühmen wir
uns in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes." Das ist die
Ordnung des Geistes in der Seele eines Heiligen, und
das ist jetzt auch die Ordnung in dem Hause Abrahams.
Abraham wird von den Heiden besucht.
Das ist sehr bedeutungsvoll. In den Tagen der Not
und des Hungers suchte Abraham die Heiden auf, sei es
in Egypten oder in Philistäa; jetzt aber kommen die Heiden zu Abraham. Abrahams Haus ist jetzt in Gnade
errichtet. Ismael ist entlassen und Isaak erhöht. In
vorbildlichem Sinne hat sich Israel zum Herrn gewandt,
die Decke ist weggenommen, und Jerusalem hat zu Christo
gesagt: „Gesegnet, der da kommt in dem Namen des Herrn!"
Sein Kampf ist deshalb zu Ende, und es empfängt doppelt.
Der Heide sucht Israel auf. Abimelech und Pichol, der
König und sein Kriegsoberster, kommen zu Abraham.
Das bezeichnet eine große Veränderung in den Wegen
Gottes. Israel ist jetzt das Haupt und nicht mehr der
Schwanz. Der Zipfel des Juden wird jetzt von dem
Heiden ergriffen; denn der Jude hat durch Glauben den
125
Herrn ergriffen, und die Nationen sagen: „Gott ist mit
dir." (Kap. 21, 22; Sach. 8, 23.) Abraham ist daher
(durch den Geist geleitet) in seinen Gedanken mit der
Herrlichkeit und dem Reiche beschäftigt. Und das mit
Recht; denn wenn der Jude von dem Heiden ausgesucht
wird, anstatt von ihm zertreten zu werden, so ist das
Reich nahe. Demgemäß errichtet unser Patriarch jetzt
einen neuen Altar; nicht den Altar eines himmlischen
Fremdlings, wie im 12. Kapitel, sondern einen Altar
„dem ewigen Gott." *)
Diese Einsicht des Glaubens in Abraham ist bewunderungswürdig. Wir haben dieselbe schon einige Male
in Ihm gesehen. Er kannte die Zeit des Friedens und
die Zeit des Krieges, und er handelte dementsprechend am
Tage der Schlacht der Könige. Er kannte seine Pflichten
gegen Lot, seinen Bruder, und er kannte seinen himmlischen Platz, als das Feuer des Herrn die Städte der
Ebene zerstörte. Er wußte auch, wie uns das vorliegende
Kapitel in besonderer Weise zeigt, wann es galt, Unrecht
zu leiden, und wann, es zurückzuweisen, wann, duldsam zu
sein, und wann, seine Rechte geltend zu machen. Denn
jetzt, wo der Heide ihn aufsucht, straft er Abimelech wegen
eines Wasserbrunnens, den dessen Knechte mit Gewalt
genommen hatten. Bis dahin hatte er sich über dieses
*) Der Herr Jesus erkennt zu einer späteren Zeit dasselbe
Pfand oder Symptom des Reiches. Als die Griechen auf das
Fest kommen und Ihn zu sehen wünschen, wie der Heide hier
Abraham aufsucht, sind Seine Gedanken sogleich auf die Herrlichkeit gerichtet. Er weiß allerdings, daß die Herrlichkeit nur durch
Seinen Tod erlangt werden kann, und Er bezeugt das; aber
doch gehen Seine Gedanken sogleich zu der Herrlichkeit hin.
;Siehe Joh. 12, 23.)
126
Unrecht nicht beklagt; denn Abimelech sagt zu ihm: „Ich
weiß nicht, wer dies gethan hat, und auch hast du es mir
nicht berichtet, und ich habe es auch nicht gehört, außer
heute." Das ist außerordentlich schön. Abraham hatte
bis dahin Unrecht gelitten und es geduldig ertragen, weil
er ein himmlischer Fremdling hienieden war; und bei einem
solchen ist geduldiges Leiden angenehm vor Gott. Aber
jetzt sind die Zeiten verändert. Der himmlische Fremdling ist das Haupt der Nationen geworden und wird
ausgesucht von dem Heiden; jetzt muß Recht und Unrecht festgestellt und der Schrei des Unterdrückten gehört
werden.
Alles das enthält so viel moralische Schönheit, daß
man das Werk des Geistes in Abraham nicht genug bewundern kann. Er war ein Israelit, der die Zeiten des
Jahres kannte, der da wußte, wann er bei dem Passah und
wann er bei dem Laubhüttenfest zu sein hatte. Gott teilte
durch den Geist dem Abraham dieses schöne geistliche Verständnis mit. Zu andern Zeiten begehrte er nicht so viel
von der Erde zu besitzen, daß er seinen Fuß darauf hätte
setzen können — er überließ Lot die Wahl des Landes;
er ließ die Kananiter, wo er sie fand; er weigerte sich,
durch den König von Sodom sich bereichern zu lassen,
sei es auch nur um einen Faden oder Schuhriemen; er
wanderte hin und her mit seinem Zelte, als ein himmlischer Fremdling — aber jetzt, zu einer Zeit, welche durch
die Hand Gottes bezeichnet war, kann er auch ein andrer
Mann sein; er kennt seinen Platz als Vater des Israels
Gottes und als ihr Stellvertreter als Haupt der Nationen.
Er weiß das Fest der Laubhütten zu seiner Zeit zu feiern.
Er straft Abimelech, er bewirtet und bereichert ihn, und
127
er macht einen Bund mit ihm, und daS alles mit einer
ruhigen, bewußten Würde, die nnser Erstaunen wachruft.
Dann baut er einen neuen Altar oder ruft Gott in einem
neuen Charakter an. So sehen wir hier in Abraham
einen ganz andern Mann vor uns, als früher. Alle jene
Dinge zeigen, daß eine den Gedanken Gottes entsprechende
Verwandlung, wenn ich es so nennen darf, in ihm stattgefunden hatte.
Doch wir dürfen hierbei nicht länger verweilen; es
giebt noch mehr zu betrachten in jenem herrlichen Glaubensleben, welches unser Vater Abraham durch die Gnade bis
zum Ende hin führte. Es war ein Leben, das in der
Kraft der Auferstehung zugebracht wurde; ja es war das
Leben eines gestorbenen und auferstandenen Menschen. Es
ist eine allerdings schwer zu lernende Aufgabe, (obwohl
die praktische Aufgabe unsers Lebens) daß wir ein gestorbenes und auferstandenes Volk sind. Abraham zeigte
sich von Anfang an in diesem Charakter; er ließ alles
zurück, was die Natur oder die Welt ihm gegeben hatte.
Er gab das Land, in welches seine Geburt ihn gebracht
hatte, auf für dasjenige, wohin der Glaube ihn führte.
Und wie der Anfang, so war die Fortsetzung und das
Ende seines Weges. Allerdings machte er wiederholt
verkehrte Tritte, aber bis zum Ende hin blieb er ein
Mann des Glaubens, ein gestorbener und auferstandener
Mensch.
Als ein solcher hatte er Isaak empfangen, „nicht ansehend seinen eignen schon erstorbenen Leib und den erstorbenen Mutterleib der Sarah;" und als ein solcher
opferte er ihn etwa zwanzig Jahre später auf dem Altar
auf das Geheiß des Herrn. Die Verheißung war die
128
Verheißung Gottes — das war genug für ihn. Der
Glaube wird nie überwunden; er hat unbegrenzte göttliche Hülfsquellen. Der Gläubige fehlt immer wieder;
aber der Glaube wird nie besiegt, wird nie in seiner
Erwartung zu Schanden. (Kap. 22.) Und denselben überwindenden Glauben, den wir bei der Opferung Isaaks in
Abraham finden, entdecken wir auch nachher bei der Beerdigung Sarahs. Derselbe Glaube, der Isaak empfangen
und geopfert hatte, beerdigt jetzt Sarah. Abraham glaubte
an die Auferstehung, und an Gott als den Gott der
Auferstehung; er kannte den Gott, „der die Toten lebendig
macht und das nicht Seiende ruft als seiend." Die Höhle
Machpela zeigt uns dieses. Erde zur Erde, Staub zum
Staube, Asche zur Asche, in gewisser und sicherer
Hoffnung — das war hier die Sprache des Herzens
Abrahams. Das sorgfältige Kaufen jenes Platzes, um
ihn zu seinem Eigentum zu machen und ihn als sein
Besitztum zu haben, während er sonst nicht einen Fußbreit von dem ganzen Lande begehrte, redet in lebendiger
Sprache von dem Glauben Abrahams an die Auferstehung.
Sein Handeln mit den Kindern Heth um ein Erbbegräbnis
gleicht dem Worte, das er am Fuße des Berges Morija
zu seinen Knechten sprach: „Bleibet ihr hier mit dem
Esel, und ich und der Knabe wollen gehen bis dorthin
und anbeten, und zu euch zurückkehren." Beides deutete
im voraus seine Gedanken betreffs Isaaks und Sarahs
an; er übergab beide in die Hände Dessen, der die Toten
lebendig macht. Er wußte, daß das sterbende Weizenkorn wieder leben, daß die Handvoll Staub wieder
eingesammelt werden würde. Angesichts des Todes
errang sein Glaube denselben Sieg, wie auf dem Berge
129
Morija, als er das Holz auf den Altar legte und das
geliebte Schlachtopfer band, um es Jehova zu opfern.
(Kap. 23.) *)
Der Glaube in unserm Patriarchen trug der Reihe
nach über alle Umstände den Sieg davon. Herrliche Siege
eines kostbaren Glaubens! Und dieselben Siege werden heute
noch errungen; der Glaube triumphirt auch heute noch
über die Umstände. Er begegnet unserm eignen persönlichen Zustande, als „tot in Vergehungen und Sünden
er begegnet den mancherlei Schwierigkeiten und Versuchungen
des Weges; er begegnet dem letzten großen Feinde. Ich
brauche das, was mir auf der Reise oder am Ende derselben begegnet, nicht mehr zu fürchten, nachdem ich das
bereits überwunden habe, was mir bei Beginn des Weges
entgegenstand. Dem Glauben fällt es nicht schwer, zu 
dem Berge Morija oder zu der Höhle Machpela zu gehen,
wenn er bereits zu Hebron mit dem Herrn in die sternenhelle Nacht hinausgegangen ist. Wenn er in meiner eignen
Person dem Tode begegnet ist, so kann er ihm auch in
meinem Isaak oder in meiner Sarah begegnen. Wir
sprechen, der Herr weiß es, von Seiner Gnade und nicht
von unsern eignen armseligen Erfahrungen. Aber dennoch,
Geliebte, darf ein jeder von uns sagen: Habe ich nicht
-) Außer den Darstellungen des Glaubens giebt es in diesen
Dingen auch herrliche Geheimnisse. Das Opfer Isaaks auf dem
Berge Morija ist, wie niemand bezweifeln wird, ein wunderbares,
geheimnisvolles Vorbild. Ebenso die Geschichte von Hagar und
Ismael in Kap. 21. Letztere ist ein Bild des gegenwärtig beiseite gesetzten, aber von Gott bewahrten Juden — eines heimatlosen Flüchtlings, der aber für zukünftige Vorsätze der Gnade
bestimmt ist. (Vergl. Gal. 4, 2b.) Doch ich muß mich hier auf
eine bloße Andeutung dieser Dinge beschränken.
130
Frieden mit Gott? Weiß ich nicht, daß Er für mich ist?
Weiß ich nicht, daß Seine Gnade meinem Zustande der
Sünde, der Schuld und Verdammnis begegnet ist? Weiß
ich nicht, daß ich abgewaschen, ausgenommen und in die
Stellung eines Kindes gebracht bin? Habe ich nicht mit
Abraham ein Heilmittel gesunden für meinen eignen Zustand von Natur, und sollte ich nun auf meinem Wege
ängstlich zagen, obgleich die Versuchung des Berges Morija
oder der Tod und die Beerdigung zu Machpela meiner
warten mögen? Wenn der Glaube schon der Sünde begegnet
ist, so muß er sich auch als Sieger über den Tod kennen.
Unsre Seelen sollten sich an den Gedanken gewöhnen, daß
der herrlichste Sieg des Glaubens am Anfang des Weges
errungen worden ist, und daß wir, wenn wir trotz der
Sünde Frieden mit Gott haben, auch auf Stärke und
Trost von Seiner Seite rechnen können, ungeachtet der
Versuchungen des Weges, und auf Kraft und Triumph
in Ihm, ungeachtet des Endes desselben. Der Glaube,
der sein erstes Werk gethan hat, hat damit auch sein
größtes Werk vollbracht. „Wenn wir, da wir Feinde
waren, Gott versöhnt wurden durch den Tod Seines
Sohnes, vielmehr werden wir, da wir versöhnt sind, durch
Sein Leben errettet werden!" „Er, der doch Seines eigenen
Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird Er uns mit Ihm nicht auch alles
schenken?"
Der Glaube benutzt die Macht des Lebens über den
Tod; und von dieser Kraft des siegreichen Lebens besaß
Abraham etwas durch den Glauben. Das Erstorbensein
seines eigenen Leibes, der Altar seines Isaak und das
Grab seiner Sarah wurden von ihm als einem auf­
131
erstandenen Menschen betrachtet, und zwar in dem
Lichte des Glaubens an Den, der die Toten lebendig
macht und das nicht Seiende ruft als seiend.
(Schluß folgt.)
Gin Wort zur Beherzigung.
Zu den wesentlichsten Bedingungen eines gesunden
Glaubenslebens gehört, wie wir alle wissen, ein beständiges
und ernstes Wachen und Beten. Ohne das ist ein geistliches Wachstum in persönlicher und gemeinschaftlicher
Beziehung, sowie eine gesegnete und gedeihliche Wirksamkeit
in dem Dienste des Herrn unmöglich. Darum nahm auch
in dem Dienste der Apostel und in den Versammlungen
der Gläubigen der ersten Tage das Gebet den ersten Platz
ein. „Wir aber," sagten die Apostel, „werden im Gebet
und im Dienste des Wortes verharren." (Apstgsch. 6, 4.)
Wie wichtig der Dienst des Wortes auch sein mochte, so
stand er doch erst in zweiter Linie. Die Apostel fühlten
tief ihre Abhängigkeit von dem Herrn und wußten, daß
sie nur dann im Dienste gesegnet sein konnten, wenn sie
in stetem, ununterbrochenem Verkehr mit Ihm blieben.
Auch wissen wir aus dem Worte Gottes, daß das Gebet 
den weitaus größten Teil der Wirksamkeit des Apostels
Paulus ausmachte. Ebenso lesen wir von den Gläubigen
der ersten Tage: „Sie verharrten aber in der Lehre
der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des
Brotesund in den Gebeten." (Apstgsch. 2, 42.)
Wie ganz anders ist es in dieser Beziehung in unsern Tagen! Wenn es auch einzelne rühmliche Ausnahmen
geben mag, so müssen wir doch zu unsrer Beschämung
132
und tiefen Demütigung bekennen, daß das Zusammenkommen zum Gebet im Allgemeinen nicht den hervorragenden Platz unter uns hat, den es haben sollte, sondern im
Gegenteil viel vernachlässigt und sogar in manchen Versammlungen gänzlich versäumt wird. Was aber wird in
praktischer Beziehung die Folge eines solchen Zustandes
sein? Was wird aus Christen oder Versammlungen, selbst
den begabtesten und bevorzugtesten, werden, wenn sie die 
Gebetsversammlungen in den Hintergrund drängen, unter
dem Vorwande, daß solche bei regelmäßiger Wiederholung
leicht zur Gewohnheit werden könnten, oder weil die 
Meisten kein Interesse dafür haben und einen Vortrag
vorziehen? Es sind das ohne Zweifel die charakteristischen
Merkmale einer falschen Sicherheit und einer schlimmen
Selbsttäuschung, die eine ernste Sichtung zur Folge haben
können.
Geliebte Brüder! Wenn es je eine Zeit gab, wo die
Christen nötig hatten, sich zu einmütigem Gebet und Flehen
zu versammeln, so ist es die gegenwärtige. Nicht weil es
eine Zeit schrecklicher Verfolgungen ist, sondern weil der
Feind die größten Anstrengungen macht, um die Christen
in eine falsche Sicherheit einzuwiegen. Diese Thatsache allein
bietet schon Grund genug, um uns mit allem Ernst im Gebet 
vor dem Herrn zu vereinigen. Wie unschätzbar auch die
Erkenntnis der Wahrheit ist, welche uns der Herr nach
Seiner reichen Gnade in diesen letzten Tagen geschenkt
hat, so kann diese uns dennoch nicht schützen vor innerem
und äußerem Verfall, wenn wir nicht klein bleiben in
unsern Augen, und im Gefühl unsrer Schwachheit beständig unsre Hülfe bei dem Herrn suchen. Die Geschichte
der Kirche bestätigt das in der feierlichsten Weise. Sie
133
ist nicht gefallen aus Mangel an Erkenntnis, sondern
weil es dem Feinde gelungen ist, sie in eine falsche Sicherheit einzuwiegen. Dasselbe bestätigen uns auch die traurigen Erfahrungen, welche die Versammlungen anderer
Länder in unsern Tagen gemacht haben, die ebenfalls
reich an Erkenntnis der Wahrheit sind. Darum thut es
not, daß wir uns nicht allein regelmäßig in bestimmten
Stunden zum Gebet versammeln, sondern daß wir diesem
Zusammenkommen nächst dem Brotbrechen auch den ersten
Platz einräumen. Eine Nachlässigkeit oder gar Gleichgültigkeit gegenüber dem persönlichen oder gemeinschaftlichen Gebet wird und muß über kurz oder lang die
bittersten Früchte tragen.
Und wahrlich, außer der uns drohenden Gefahr einer
falschen Sicherheit giebt es noch Grund genug, um die
Gläubigen zu einmütigem und ernstlichem Gebet und Flehen
anzusporuen. Niemand, selbst nicht ein Ungläubiger, leugnet
den Ernst der Zeiten, der uns gegenwärtig auf allen Gebieten des Lebens entgegentritt. Für den Gläubigen aber
gilt mehr als je der Zuruf des Herrn: „Ich komme bald:
halte fest, was du hast, auf daß niemand deine Krone
nehme!" (Offbg. 3, 11.) Die Gläubigen der Jetztzeit haben
deshalb auch mehr als je nötig, in ihrem Gebet und
Flehen nicht nachzulassen, damit sie wachend und bereit
erfunden werden. Und wenn wir angesichts der in Eile
herannahenden Gerichte an diejenigen denken, welche noch
draußen sind, und besonders an die uns Nahestehenden,
können wir da dem Gedanken Raum geben, daß wir unsre
Kniee zu viel und oft vor dem Herrn beugen könnten,
oder daß es besser sei, einen Vortrag zu hören? Oder
sollten wir deshalb, weil die Gefahr vorliegt, daß das
134
Zusammenkommen zum Gebet zu einer Gewohnheitssache
werden könnte, das Gute unterlassen? Sicher, wir haben
alle Ursache, uns vor dem Herrn über die Lauheit und
Trägheit zu demütigen, welche wir bisher betreffs deS
Gebets an den Tag gelegt haben, und an die ernste Ermahnung des Apostels zu gedenken: „Ich ermahne nun
vor allen Dingen, daß Flehen, Gebete, Fürbitten,
Danksagungen gethan werden für alle Menschen, sür Könige
und alle, die in Hoheit sind, auf daß wir ein ruhiges
und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und
Ehrbarkeit. Denn dieses ist gut und angenehm vor unserm
Heiland-Gott, welcher will, daß alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen .... Ich will nun, daß 
die Männer an jedem Orte beten und heilige Hände aufheben, ohne Zorn und zweifelnde Uebcrlegung." (1. Tim.
2, 1—4. 8.)
Die Quittung des Steuereinnehmers.
Vor einiger Zeit hatte ich einem mir bekannten Steuereinnehmer eine gewisse Summe zu bezahlen. Als mir der
Einnehmer die Quittung überreichte, sagte ich: „Es ist
eine schöne Sache, niemandem etwas schuldig zu sein."
„Da haben Sie Recht," lautete die Antwort; „aber
nur wenige Leute können das sagen."
„Ich kann sagen," erwiderte ich, „daß ich keinem
Menschen auf der ganzen Erde einen Pfennig schuldig
bin; allein was noch besser ist, ich schulde auch Gott
nichts mehr. Als ein Sünder, dem alles vergeben ist,
bin ich Gott allerdings ewiges Lob schuldig; aber was
135
meine Sünden betrifft, so ist meine Schuld völlig bezahlt.
Ich besitze eine regelrechte Quittung über die schwere
Schuld, welche ich der göttlichen Gerechtigkeit gegenüber
hatte. Doch darf ich Sie fragen, ob es bei Ihnen auch
so ist?"
„Ich denke doch," erwiderte er.
„Und welche Quittung haben Sie?" fragte ich
weiter.
„Ich habe das Gefühl und die innige Ueberzeugung,
daß meine Sünden mir vergeben sind."
„O," erwiderte ich, „das bedeutet nicht viel. Es
ist gewiß sehr schön, Gefühle und eine innige Ueberzeugung
zu haben; aber als Quittung ist das keinen Strohhalm
wert. Ich habe das Gefühl und die innige Ueberzeugung,
daß ich Ihnen soeben meine Steuern bezahlt habe; aber
setzen wir den Fall, ich ginge ohne Quittung fort, und
es würde Ihnen ein Unfall zuftoßen, ehe Sie das von
mir bezahlte Geld in Ihre Bücher eingetragen hätten,
würde dann nicht Ihr Nachfolger den Betrag noch einmal von mir fordern und, wenn ich mich zu zahlen
weigerte, mich verklagen? Ich könnte dann Wohl sagen:
„Ich habe das Gefühl und die innige Ueberzeugung, daß
ich dem früheren Empfänger meine Steuern bezahlt habe;"
aber würde man damit zufrieden sein? Würde man
nicht die Quittung von mir verlangen? Ohne diese würden mir alle meine Gefühle und Ueberzeugungen nichts
helfen."
Der Einnehmer, der die Kraft meiner Beweisführung wohl fühlen mochte, sagte nach einigem Besinnen: „Nun, ich denke, der Sühnungstod Christi ist
die Quittung."
136
„Nein," entgegnete ich. „Sehen Sie nicht den Unterschied zwischen dem Gelde, das ich Ihnen bezahlt habe,
und der Quittung, welche Sie mir dagegen einhändigten?
Das erstere hat Ihren Forderungen an mich genügt; die
Quittung dagegen befriedigt mich, weil ich sie in Händen
halte; und ich kann von hier weggehen mit der völligen
Gewißheit, daß man eine nochmalige Bezahlung dieses
Geldes nie von mir verlangen wird."
Auch das war dem Steuereinnehmer einleuchtend;
allein er konnte keine Antwort auf meine Frage finden,
die ihn sehr zu interessiren schien, und er wünschte zu
wissen, was für eine Quittung ich denn eigentlich besäße.
Ich sagte ihm: „Das Blut Jesu Christi hat unsre Schuld
bezahlt. Er hat, gepriesen sei Sein Name! allen Anforderungen der göttlichen Gerechtigkeit an uns vollkommen
genügt. Er hat unsern Platz eingenommen, Er hat unsre
ganze Schuld, alle unsre Sünden, getragen, als Er
an dem Kreuze hing. Er hat Gott im Blick auf unsre
Sünden vollkommen verherrlicht. Er ist für uns zur
Sünde gemacht worden. Er hat alles auf sich genommen,
was wir verdient hatten, damit wir das besitzen könnten,
was Er verdient hat. Er ist au unsrer Statt gerichtet
und bestraft worden, damit wir in Ihm gerechtfertigt
und Gott annehmlich gemacht werden könnten. Mit einem
Wort, Sein kostbarer Tod hat Gott in bezug auf uns
vollkommen befriedigt.
„Und nun, was ist die Quittung? Die Quittung ist
der auferstandene und verherrlichte Christus, ein Christus,
sitzend zur Rechten der Majestät in den Himmeln. Das
ist die feste und unerschütterliche Grundlage unsrer innigen
Ueberzeugung, ja, unsrer unumstößlichen Gewißheit, daß
137
unsre Sünden vergeben sind, unsre Schuld bezahlt und jede
Verdammnis von uns weggeuommen ist. „Er ist unsrer
Uebertretungen wegen dahingegeben" — das ist die Bezahlung, „und Er ist unsrer Rechtfertigung wegen auferweckt worden" — da haben Sie die Quittung. Der
Mensch, welcher unsre Sünden auf das Holz getragen
hat, befindet sich jetzt in der Herrlichkeit droben. Wie ist 
Er dorthin gekommen? Die ewige Gerechtigkeit hat Ihn
dorthin versetzt. Auf welchem Grunde? Der Grund ist
folgender: Er hat alle unsre Sünden, alle unsre Vergehungen völlig ausgetilgt und jede Verdammnis hinweggeräumt. Er hat Gott verherrlicht in allem, worin wir
Ihn verunehrt hatten. Er hat das Werk der Erlösung
vollbracht und die Gerechtigkeit Gottes vollkommen befriedigt. Darum hat Gott Ihn auferweckt aus den Toten
und Ihn zu Seiner Rechten gesetzt und mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Und diese Krone der Herrlichkeit, welche
jetzt Seine gesegnete Stirn ziert — und nicht unsre armseligen Gefühle und Ueberzeugungen — ist die Quittung,
welche Gott uns giebt betreffs alles dessen, was wir
Ihm schuldeten.
„Und wenn nun der Teufel oder irgend ein andrer
Ankläger uns angreifen will, was werden wir ihm sagen?
Werden wir Zuflucht nehmen zu unsern innigen Ueberzeugungen und Gefühlen? Sicherlich nicht. Wir zeigen
ihm vielmehr unsre Quittung; wir weisen ihn hin auf
den Menschen in der Herrlichkeit, auf den verherrlichten
Sieger, dessen Stirn das Diadem der Herrlichkeit trägt.
Das ist unsre einzige Antwort; aber sie ist auch völlig
genügend. Wir dürfen und können niemals dem Widersacher begegnen mit dem Hinweis auf irgend etwas in
138
uns oder von uns, sei es unsre Buße und Bekehrung,
unsre Gefühle und Erfahrungen, oder seien es unsre
veränderten Gewohnheiten, unsre neuen Neigungen und
guten Werke. Obwohl alle diese Dinge die notwendigen
Früchte des neuen Lebens sind, so werden wir doch durch
unsern Hinweis darauf nie den Feind zurückschlagen, noch
auch völlig in Ruhe sein können. Nein, es giebt nur eine
Sache, auf welche wir uns zu berufen haben, und zwar
auf die Quittung, welche Gott uns gegeben hat, d. h.
auf den Menschen, der auf dem Throne der Majestät in
der Höhe verherrlicht ist. Das allein bringt jeden Ankläger zum Schweigen, genügt dem Gewissen, beruhigt
das Herz und verherrlicht Gott, den Gott über alles,
gepriesen in Ewigkeit!" —
Mein Leser! ruhst auch du in dem Glauben an einen
gestorbenen und auferstandenen Christus? Gott will nicht,
daß du in einer ungewissen Hoffnung voraugehest; darum
hat Er nicht nur in dem Tode Seines Sohnes die
Schuld des Sünders bezahlt, sondern ihm auch in Seiner
Auferstehung eine ewig gültige Quittung gegeben.

Das Herz des Menschen, und was Gott
daraus macht.
AuS dem Herzen des Menschen, der zu der niedrig- '
sten Stufe der vernünftigen Geschöpfe herabgesunken ist; ;
der dem Tiere in seinen Lüsten und dem Teufel in seinem
Hochmut gleicht; der ein schwacher Sklave seiner Leidenschaften, aber stark, oder wenigstens stolz ist in seinem
Geiste und in seinen Einbildungen; der die Erkenntnis
des Guten und Bösen besitzt, jedoch in einem Gewissen,
139
welches ihn verurteilt; der, durch Leiden getrieben, nach
etwas Besserem verlangt, aber unfähig ist, es zu erreichen;
der das Bedürfnis nach einer besseren Welt als diese
materielle fühlt, aber sich fürchtet, dahin zu gelangen;
der da fühlt, daß er mit Gott, dem einzig würdigen
Gegenstand einer unsterblichen Seele, in Verbindung sein
sollte, aber in seinen Lüsten unendlich weit von Jhni entfernt ist; der von einem so heftigen Verlangen nach Unabhängigkeit getrieben wird, daß er Gott den Ihm allein
gebührenden Platz, wenn Er anders Gott ist, nicht einräumen will, und deshalb sich zu überzeugen sucht, daß
es keinen Gott gebe — aus dem Herzen des Menschen,
das zu den höchsten Bestrebungen, von welchen der
Stolz sich nährt, und zu den abscheulichsten Lüsten,
welche das Gewissen verabscheut, fähig ist — aus dem
Herzen eines solchen Menschen bildet Gott die göttliche
Harfe, auf welcher die ganze Harmonie Seiner Lobgefänge wiederklingen kann und wiederklingen wird in
alle Ewigkeit.
Der Sand der Zeit verrinnet.
(Nach denk Englischen)
Der Sand der Zeit verrinnet,
Des Himmels Morgen tagt,
Der lichte, Helle Morgen,
An den ich oft gedacht.
Die Mitternacht war finster,
Nun bricht das Licht herein
Vom Glanz der Herrlichkeiten —
Welch wundervoller Schein!
140
Der Quell, der mich hier tränkte,
War Jesus, meine Freud';
Mehr will von Ihm ich trinken
Bald in der Ewigkeit.
Ein Ocean der Gnade
Umrauscht dort Seinen Thron;
Der Seele Durst — ihn stillet
Dein Anblick, Gottes Sohn!
Gericht und Gnade woben
Mein Los bald weich, bald rauh;
Auch auf dem dunklen Pfade
Glänzt Seiner Liebe Tau.
Wenn ich auf Seinem Throne
Mitherrsch' in Ewigkeit,
Werd' ich Ihn würdig preisen
Für Seine Freundlichkeit.
Deß bin ich, der mich liebet,
Und der mich liebt, ist mein!
Er führet den Berlornen
Ins Vaterhaus hinein.
Auf Sein Verdienst ich baue,
Das ist mein Fels und Hort;
Nichts giebt so festen Frieden
Als meines Gottes Wort.
An den Geliebten denket
Die Braut, nicht an ihr Kleid.
Ich sehne mich nach Jesu,
Nicht nach der Herrlichkeit.
Nicht lockt mich, was Er schenket:
Die Krone — nein, Sein Herz;
Und Ihn erwartend schaue
Ich täglich himmelwärts.
Abraham.
(Schluß.)
Wenn wir die wechselvolle und ereignisreiche Geschichte
Abrahams weiter verfolgen, so finden wir, daß er bis
zum Ende hin auf demselben Boden steht und die früheren
Siege davonträgt. Durch die Gnade aufrecht erhalten,
behauptet er die nämliche Stellung, welche er von Anfang
an einnahm, als er durch Glauben der Berufung Gottes
folgte.
Diese Berufung hatte mit oder vielmehr für Abraham zweierlei gethan: sie hatte ihn von Mesopotamien
getrennt, und ihn doch in Kanaan als Fremdling gelassen. Aus seinem Lande, aus seiner Verwandtschaft und
aus seines Vaters Hause wurde er fortgeführt; aber
doch sollte er inmitten des Landes und Volkes, zu welchem
er kam, nur als Pilger weilen und, welchen Teil des
Landes er auch durchziehen oder besuchen mochte, in einem
Zelte wohnen.
Seine Stellung war eine heilige; seine Trennung
eine zwiefache: zunächst von den natürlichen Verbindungen,
in welchen er sich durch seine Geburt iu Mesopotamien
befunden hatte, und dann von dem Verderben, welchem
er in Kanaan begegnete. Er stand unter der Berufung
des Gottes der Herrlichkeit; und eine solche Berufung
macht dem Fleische oder der Welt keinerlei Zugeständnisse.
142
Er war der Erbe des Landes, in welchem er sich als
Fremdling aufhielt. Die Verheißung Gottes gehörte
ihm ebenso sicher, wie die Berufung Gottes. Er
wußte, daß er durch göttlichen, unantastbaren Vorsatz zu
Würden hoher Art bestimmt war; allein bis zum Ende
hin war er bereit, ganz und gar ungekannt zu bleiben.
Zu den Kindern des Landes redete er von sich selbst,
als von einem Fremdling und Pilgrim. Er wollte nicht
einen Fußbreit Boden von den Kindern Heth unbezahlt
annehmen. Er trachtete nicht darnach, in ihrer Mitte
etwas zu sein. Er sprach nie von den Würden, welche,
wie er doch während dieser ganzen Zeit wußte, sein verheißenes Teil waren. In späteren Tagen finden wir
bei David etwas Aehnliches. Er hatte das Oel Samuels,
die Salbung Gottes für den Thron Israels, bereits auf
seinem Haupte, und dennoch wollte er in demselben Geiste,
wie Abraham, verborgen bleiben und dankte einem reichen
Nachbarn in seiner Not für ein Stück Brot. Diese
Männer Gottes wollten sich selbst nicht kennen. Derselben
Tugend begegnen wir in vollkommener Weise bei Dem,
der in dieser gefallenen, bösen Welt sich zu nichts machte
und der Diener Aller wurde, obwohl Er der Gott des
Himmels und der Erde war.
Welch herrliche Tugenden entfalten sich unter der
Macht der Berufung Gottes durch den Heiligen Geist l
Mesopotamien ist verlassen, Kanaan ein fremdes Land
geworden, und die eigene Person ist vergessen und verborgen! Die Berufung Gottes bezweckt heute mit uns
dasselbe, wie damals mit Abraham; sie möchte uns gern
mit sich in Uebereinstimmung bringen. Ihre Autorität
ist unumschränkt. Nicht daß Vaterland oder Verwandt­
143
schäft an und für sich notwendigerweise befleckend wären;
die Natur erklärt sie für berechtigt, und selbst das Gesetz
Gottes erkennt sie zu seiner Zeit an. Aber die Berufung
Gottes ist unumschränkt und fordert eine Trennung von
hoher und besonderer Art. Und diese Berufung richtete
sich an Abraham in Mesopotamien, dem Orte seiner
Geburt, seiner Verwandtschaft und seiner natürlichen Beziehungen; und sie hallte beständig in seinem Herzen
wieder während der Zeit seines Aufenthaltes in Kanaan.
Er war durchaus nicht berufen, jene Dinge als böse anzuerkennen ; aber es waren Dinge, von denen die Berufung
Gottes ihn getrennt hatte. Nicht länger bildete das moralisch Böse oder die Verderbtheit einer Sache die Richtschnur seines Handelns, sondern vielmehr die Unvereinbarkeit derselben mit der Berufung Gottes.
Er mochte das Recht und die Ansprüche von tausenderlei
Dingen zugestehen; aber nur die Stimme des Gottes
der Herrlichkeit, auf welche er im Glauben schon gehorcht
hatte, durfte ihn leiten und regieren. „Niemand, der
seine Hand an den Pflug gelegt hat und zurückblickt, ist
geschickt zum Reiche Gottes." *)
Der Herr Jesus handelte in den Tagen Seines Fleisches
genau so, wie der Gott, der vor Alters Abraham berief. Er
trat mit den unumschränkten Ansprüchen Gottes auf: „Wer Vater
oder Mutter mehr liebt, als mich," sagt Er, „ist meiner nicht
wert." Und wiederum: „Folge mir, und laß die Toten ihre
Toten begraben." Wer, außer Gott, könnte zwischen uns und
solche Beziehungen und Verpflichtungen treten? Derartige Pflichten und Zuneigungen werden, wie oben bereits bemerkt, durch
die Natur als richtig anerkannt, und durch das Gesetz Gottes
selbst bekräftigt; aber die Berufung Gottes ist unumschränkt, und
der Herr Jesus machte in den Tagen Seiner Erniedrigung
Anspruch auf diese Unumschränktheit.
144
Abraham entsprach dieser Berufung sehr treu. Gemäß
derselben war er anfangs ausgezogen, nicht wissend, wohin
er ging, und indem er alles verließ, was, abgesehen von
dem wohlgefälligen Willen Gottes, selbst von der Natur
für richtig gehalten und anerkannt werden mutzte. Er ging
voran in der Kraft dieser Berufung, indem er in Zelten
sich aufhielt, ungekannt und ohne Besitztum, als ein 
Fremdling in der Welt, ohne einen Schritt rückwärts zu
thun. Und am Ende finden wir dieselbe Kraft seiner Berufung so frisch wie je in seiner Seele wirksam. Er
handelt so ernst und so einfältig im 24. Kapitel, wie er
es im 12. gethan, und er befiehlt Elieser an, genau in
derselben Weise zu handeln, wie er selbst von Anfang an
gehandelt hatte. Abraham wollte Isaak auf dem Platze
der Absonderung erhalten, mochte es kosten, was es wollte.
Was auch die Folgen sein mochten, Isaak sollte weder 
nach Mesopotamien zurückgebracht, noch mit Kanaan verbunden werden. Waren die Umstände auch noch so
schwierig, Isaak mußte an seinem wahren Platze unter
der Berufung Gottes erhalten bleiben. Diese Handlungsweise zeigt uns den Charakter Abrahams in außerordentlich klarem Lichte.
Das herrliche 24. Kapitel enthält, wie wir wissen,
auch ein höchst treffendes Vorbild von Christo und der
Berufung Seiner Braut; allein ich will an dieser Stelle
hierauf nicht näher eingehen. Lieber möchte ich dem ernsten,
einfältigen Pfade nachspüren, welchen der in unserm Vater
Abraham wirkende Glaube von Anfang bis zu Ende hin
verfolgte. Die Stimme des Gottes der Herrlichkeit wurde
immer noch von ihm vernommen; er war nach wie vor
der abgesonderte Mensch. Er zeigte deutlich, daß er ein
145
himmlisches Vaterland suchte. Er hätte wohl Gelegenheit
gehabt, in seine irdische Heimat zurückzukehren; gerade die
Reise des Elieser zeigt, daß er den Weg dahin nicht
vergessen hatte. Aber er kehrte nicht dahin zurück, und
er wollte es auch nicht.
Diese Fremdlingschaft unsers Patriarchen auf der
Erde ist in der That bewunderungswürdig. Er verließ
Mesopotamien, hielt sich in Kanaan auf und verbarg und
vergaß sich selbst! Er machte sich zu nichts und bekannte
in Gegenwart der Kinder Heth, daß er nichts weiter sei,
als „ein Fremdling und Beisaß," d. h. also ohne jedes
Bürgerrecht in ihrer Mitte; und doch war er zu derselben
Zeit derjenige, welchem kraft der Verheißungen Gottes
das ganze Land gehörte. Alles das bewies eine wirkliche,
aufrichtige Fremdlingschaft in dieser Welt. Das Bewußtsein seines himmlischen Bürgerrechtes machte Abraham
so bereitwillig, hienieden ein Fremdling zu sein. Weil er
Besitztümer in Aussicht hatte, brauchte er nichts in der
Hand zu haben. Das Land der Verheißung war für
ihn nur ein fremdes Land, weil es eben nur ein Land
der Verheißung und nicht des Besitztums war. Er sah
den Tag Christi und freute sich; aber er sah ihn „von
ferne." (Hebr. 11, 9—14.)
So finden wir also denselben Charakter, welchen
Abraham im Anfang seiner Berufung geoffenbart hatte,
bis zum Ende hin bei ihm hervortreten. Mochte er auch
während des Weges nicht selten in der praktischen Bethätigung des Glaubens fehlen, so ist er doch am Ende
seiner Reise noch derselbe himmlische Fremdling, wie im
Anfang. Und wahrlich, die nämliche Fremdlingschaft sollte
bei uns gefunden werden, da ja ein wohlbekanntes Bürger­
146
recht in den Himmeln auch unser Teil ist; dieselbe Trennung von der Welt geziemt uns, weil wir mit einem schon
auferstandenen Christus verbunden und eins gemacht sind.
Dies kann, so lange wir hienieden sind, durch nichts verändert werden; und wir sollten das Angesicht eines
verworfenen Christus unverrückt anschauen, denn
nur so kann diese Fremdlingschaft kräftig von unS aufrecht erhalten werden. Nur insoweit Christus von
größerem Werte für uns ist, als alles, was uns umgiebt, werden wir den Geist und Charakter himmlischer
Fremdlinge zur Schau tragen. Aber gerade weil eS so
viel an diesem steten Anschauen Christi fehlt, begnügen
wir uns so gern mit der Welt und ihren Dingen. Wir
haben noch nicht gelernt, was Mose gelernt hatte, nämlich
„die Schmach Christi für größeren Reichtum zu halten,
als die Schätze Egyptens."
Das zu lernen ist schwer, aber gesegnet. Abraham
verstand etwas davon; er war ein Fremdling bis zum
Ende seines Lebens hin. Er hätte nach Mesopotamien
zurückkehren können. Er hatte, wie gesagt, den Weg dahin
nicht vergessen, und kein Feind war da, um seine Reise
zu verhindern. Aber die Berufung Gottes hatte sein
Herz befestigt, und er richtete seinen Blick nur dahin, wohin diese ihn führte. Möchten unsre Seelen diese Dinge
mit größerer Kraft festhalten! Wahrlich, unser Herz versteht wenig von denselben; und doch sind sie die köstliche Frucht der göttlichen Energie in den Auserwählten
Gottes.
Wir kommen jetzt zu einem Ereignis in der Geschichte Abrahams, welches sich von allen vorhergehenden
völlig unterscheidet. Ich meine seine Heirat mit Ketura.
147
Diese Verbindung und die Kinder, welche aus derselben
hervorgingen, bilden, wie ich nicht zweifle, ein bestimmtes
Vorbild. Abraham stellt hier einen neuen Zug der göttlichen Weisheit dar, ein weiteres Geheimnis in den Wegen
der göttlichen Verwaltung der Zeiten. In diesen Kindern
der zweiten Frau erblicken wir vorbildlich die Nationen,
welche die Erde in den Tagen des tausendjährigen Reiches
bevölkern werden, Zweige der großen Familie Gottes zu
jener Zeit, und Kinder Abrahams. Sie mögen weit ab,
gleichsam an den Enden der Erde, wohnen, aber sie haben
ihren Anteil an den Segnungen des Reiches und werden
anerkannt werden, als zu der einen ausgedehnten tausendjährigen Familie gehörig. „Frohlocket, ihr Nationen, mit
Seinem Volke!" so wird zu ihnen gesagt werden. Die
Enden der Erde werden dann ebenso gewiß das Erbteil
Christi bilden, wie die Kirche in Ihm und mit Ihm in
den Himmeln verherrlicht sein wird; sie werden ebenso
gewiß Ihm gehören, wie der Thron Davids und das Erbe
Israels, die in dem Lande ihrer Väter wieder aufgerichtet
und ins Leben gerufen sein werden. Kinder Abrahams
werden über die ganze Erde hin zerstreut wohnen. Denn
in jenen Tagen der Herrlichkeit wird der König Israels
der Gott der ganzen Erde sein. Christus ist der „Vater
der Ewigkeit." Und wenn Israel einst durch Ihn verherrlicht ist, so werden alle Nationen in Ihm gesegnet
werden. Er ist sowohl „ein Licht zur Offenbarung der
Nationen," als auch „zur Herrlichkeit Seines Volkes
Israel." Die Kinder Keturas, in andere Länder zerstreut,
stellen dieses Geheimnis vorbildlich dar. Sie werden
allerdings nicht Israel gleichstehen, aber nichtsdestoweniger
werden sie auserwählt und geliebt sein, wie wir hier
148
lesen: „Und Abraham gab alles, was er halte, dem
Isaak; und den Söhnen der Kebsweiber, die Abraham
hatte, gab Abraham Geschenke, und entließ sie von seinem
Sohne Isaak, während er noch lebte, ostwärts in das
Land des Ostens." (Kap. 25, 5. 6.) *)
*) Ich zweifle nicht, daß wir das nämliche Vorbild in der
Heirat Moses mit der Aethiopierin und in derjenigen Salomos
niit der Tochter des Pharao dargestellt finden. Moses zweite
Frau steht, was ihre Würde betrifft, unter Zippora, die in
2. Mose 18 besondere Ehre empfängt; und die Tochter des
Pharao, obgleich durch den König zu Jerusalem völlig anerkannt,
erhält keinen Platz in der Stadt Davids.
Das ist, wie ich glaube, die vorbildliche Bedeutung
dieser neuen Familie Abrahams; und mit diesem außergewöhnlichen und wunderbaren Gegenstände schließt seine
Geschichte. Durch dieselbe hat Gott den großen und verschiedenartigen Offenbarungen Seiner Ratschlüsse und Geheimnisse ein neues, und zwar sehr beachtenswertes Zeugnis hinzugefügt. Zu Zeiten wird in Abraham der Vater
gesehen, so z. B. in seinem Verlangen nach Kindern, in
der Opferung seines Sohnes, in der Sendung Eliesers, um
für seinen Sohn ein Weib zu suchen; zu andern Zeiten
erblicken wir Christum in ihm, als den Einen, in welchem alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollen,
als das Haupt der Nationen, als den Vater des tausendjährigen Zeitalters; dann wieder Wird die Kirche oder
das himmlische Volk in der Geschichte Abrahams dargestellt, und wieder zu andern Zeiten befinden wir uns auf
der Erde oder bei Israel.
Auf diese Weise hat unser anbetungswürdiger Gott
und Vater, welchem alle Seine Werke von Anbeginn der
Welt an bekannt sind, in den Einzelheiten und mannig­
149
faltigen Ereignissen des Lebens Abrahams verschiedene
Teile Seiner Wege vorbildlich vor unser Auge gestellt.
In Sarah und ihrem Samen, in Hagar und ihrem
Samen, sowie in Ketura und ihrem Samen sahen wir
das Geheimnis Jerusalems, als „unser aller Mutter,"
dann Israel, welches mit seinen Kindern jetzt in Knechtschaft ist, und endlich die Sammlung der Nationen der
ganzen Welt, als Zweigen der einen ausgebreiteten taufendjährigen Familie. Ein Geheimnis nach dem andern
wird so in dem Leben Abrahams behandelt, und wir
empfangen über die verschiedensten Teile der „mannigfaltigen Weisheit Gottes" darin Belehrung.
Es mag sein, daß die lebenden oder persönlichen
Vorbilder ebensowenig gewußt haben, was sie unter der
Leitung Gottes darstellten, wie die sachlichen Bilder.
Hagar war sich ihres vorbildlichen Charakters ohne Zweifel
so wenig bewußt, wie das Gold, welches den Tisch der
Schaubrote bedeckte, oder das Wasser, mit welchem das
eherne Waschbecken angefüllt war. Aber die Lehre, welche
für uns in den Personen wie in den Dingen liegt, wird
dadurch nicht im Geringsten berührt. Wir erblicken die
Herrlichkeit Christi in der Stellung Salomos und die
tiefe und köstliche Vorsorge Seiner Gnade in der goldenen
Platte auf Aarons Stirne; aber wir denken nicht daran,
zu untersuchen, was Salomo persönlich in dieser Beziehung war, ebensowenig wie es uns in den Sinn
kommt, dies bei dem Golde zu thun. Der schlafende
Adam belehrt uns über den Tod des Christus Gottes,
und das Entzücken des erwachenden Adam über Eva zeigt
uns die Genugthuung und Freude Christi über die Frucht
der Mühsal Seiner Seele; aber wir fragen nicht darnach,
150
ob Adam auch gewußt habe, was er für uns war und
that. Wir können aus der Geschichte Hagars mancherlei
Belehrungen über den ersten Bund schöpfen, sowie uns der
Altar über das Reinigende des Blutes Christi belehrt;
aber beide waren sich dessen nicht bewußt. Ebenso
forschen wir auch bei Abraham, wenn er inmitten all
dieser verschiedenen und wunderbaren Geheimnisse seinen
Platz einnimmt, nicht nach dem Maße seines Verständnisses über diese Dinge. Die Weisheit Gottes — Christus,
welcher der Gegenstand der ewigen Ratschlüsse war — kann
sagen: „Siehe, ich und die Kinder, die Jehova mir gegeben hat, sind zu Zeichen und zu Wundern;" aber inwieweit Abraham dies sagen konnte, und in welchem
Maße er selbst in die Bedeutung des Vorbildes, welches
er darstellte, oder in die Geheimnisse, die er wie in einer
unbekannten Sprache ausdrückte, eingedrungen ist, haben
wir nicht zu untersuchen. „Gott ist Sein eigner Ausleger."
Unser Patriarch ist jetzt an dem Ende seiner Wege
und Uebungen angekommen, und seine Augen schließen sich
sür dieses Leben. „Und dies sind die Tage der Lebensjahre Abrahams, die er gelebt hat, hundert fünf und siebenzig
Jahre. Und Abraham verschied und starb in gutem Alter,
alt und lebenssatt, und ward versammelt zu seinen Völkern." (Kap. 25, 7. 8.)
Er hatte das Land gesehen, aber er sollte es nicht
besitzen. Er war der Mose eines früheren Geschlechts;
er war, wie jener, ein himmlischer Mensch, ein Mann der
Wüste, nicht des Erbteils, ein Mann des Zeltes, ein
Kind der Auferstehung. Er wurde zu seinen Völkern
versammelt, bevor das Land, der Verheißung gemäß,
durch das Israel Gottes betreten wurde. Er sah das-
151
Land wie in dem Spiegel der Vorsätze Gottes und in
dem Lichte des Glaubens, aber er trat nicht in den Besitz
desselben ein. Er starb als ein Fremdling, und ist bestimmt, mit Henoch vor ihm und Mose nach ihm, in der
himmlischen Herrlichkeit des Sohnes des Menschen zu glänzen.
Hiermit haben wir den dritten Abschnitt des ersten
Buches Mose beendet und damit die Scenen und Umstände
des Lebens Abrahams. In diesen Bruchstücken, welche
der Heilige Geist für uns gesammelt und aufbewahrt hat,
haben wir den Glauben gesehen, wie er seine Siege erringt und seine Rechte kennt, wie er seine Großmut ausübt und seine Genossen erfreut, und endlich wie er feine
Tröstungen und Verheißungen empfängt. Aber wir sind
auch der Einsicht dieses Glaubens begegnet und haben
erfahren, wie der Glaube in dem Lichte oder entsprechend
dem Urteil des Sinnes Christi wandelt.
Es ist außerordentlich schön, diese Verbindung in
dem Manne des Glaubens zu sehen. Wir finden unter
uns nicht oft die Einsicht des Glaubens mit der m o -
ralischen Kraft desselben vereinigt. In manchen
Gläubigen ist eine ernste, ausharrende Kraft des Glaubens
vorhanden, die gerade, treu und aufrichtig vorangeht, aber
oft in dem Erkennen der Weisheit Gottes betreffs der
Verwaltung der Zeiten fehlt. In Andern findet sich ein
wohlunterrichteter Sinn, verbunden mit tiefem, geistlichem
Verständnis und der Fähigkeit, in die Weisheit Gottes
einzugehen, aber ohne die nötige Kraft zur Ausübung des
Dienstes, welchen ein einfältigerer und ernsterer Glaube
beharrlich ausüben würde. In Abraham dagegen finden
wir diese beiden Dinge, wenn auch neben manchen Mängeln, mit einander vereinigt.
152
Nicht nur sollten unsre Herzen stets für die Gegenwart und Freude Gottes geöffnet, und unsre Gewissen für
Seine Forderungen und für Seinen Willen empfänglich
sein, sondern es sollte sich in unserm Wandel mit Gott
ebensosehr das Licht der Kenntnis Seiner Gedanken offenbaren. Das Leben des Glaubens ist sehr unvollständig,
wenn wir nicht, wie Abraham, die von Gott gekennzeichneten Zeiten verstehen, wenn wir nicht wissen, wann eS
nötig ist, zu kämpfen, und wann, stille zu sein; wann,
das Unrecht eines Abimelech schweigend zu erdulden, und
wann, es entschieden zurückzuweisen; wann, den Altar
eines pilgernden Fremdlings zu errichten, und wann, den
Namen des ewigen Gottes anzurufen. Mit andern Worten,
wir sollten wissen, was der Herr Seinem eigenen ewigen
Ratschluß entsprechend vorhat, und was Er in Seiner
mannigfaltigen Weisheit der Vollendung entgegenführt.
Das ist wahrer, einsichtsvoller Gehorsam, wenn das Verhalten des Heiligen der Weisheit Gottes in bezug auf
die Verwaltung der betreffenden Zeiten entspricht. So
war es in dem Leben Abrahams.
Doch die höchste Stufe moralischer Würde in ihm
bestand darin, daß er ein Fremdling auf der
Erde war. Das überstrahlt bei weitem alles andere.
Gerade darum schämte sich Gott nicht, sein Gott genannt
zu werden. Gott kann sich zu einer Seele bekennen,
welche das Bürgerrecht in dieser abgefallenen, verderbten
Welt zurückweist. „Gott liebt den Fremdling." (5. Mose
10, 18.) Er liebt den armen, freundlosen Fremdling mit der Liebe des Erbarmens und der Gnade, und
Er sorgt für ihn. Aber mit dem abgesonderten
Fremdling, der diesem ganzen verderbten Schauplatz den
153
Rücken gewandt hat, verbindet Gott Seinen Namen und
Seine Ehre, und bekennt sich zu ihm, ohne sich seiner zu
schämen. (Hebr. 11, 13 — 16.)
Wie herrlich begann Abraham seine Reise! Der Herr
und Seine Verheißungen waren alles, was er besaß. Er
verließ seine natürliche Heimat, ohne daß er erwartet
hätte, an dem Ziele seiner Reise eine andere Heimat
zu finden. Er wußte, daß er hienieden ein Fremdling
und Pilgrim mit Gott sein sollte. Er verließ Mesopotamien, ohne Kanaan an dessen Stelle zu übernehmen.
Demgemäß war er während seines ganzen Lebens, oder 
während seines ungefähr hundertjährigen Aufenthaltes in
Kanaan, von allen daselbst wohnenden Völkern getrennt.
Kanaan war für ihn, den himmlischen Menschen,
die Welt, und er hatte während seines ganzen Lebens
so wenig wie möglich mit ihr zu thun. Wenn die Umstände es erforderten, oder soweit seine Angelegenheiten
ihn dazu nötigten, beschäftigte er sich mit dem Lande. Er
wird gewiß mit den Bewohnern Kanaans Handel getrieben
haben, soweit dies erforderlich war; aber seine Zuneigungen
besaßen sie nicht. Er bedurfte eines Begräbnisplatzes, und
er kaufte ihn von den Kindern Heth. Er trug kein Bedenken, mit ihnen wegen eines notwendigen Kaufs oder 
Verkaufs zu unterhandeln; aber er wollte lieber k auf en,
als irgend etwas als Geschenk annehmen. Er
wollte nicht ihr Schuldner sein, oder durch sie bereichert
werden. Ebensowenig waren sie seine Gesellschafter.
Das nehmen wir überall wahr. Als Aner, Eskol und
Mamre (vielleicht angezogen durch das, was sie in Abraham sahen) ein Bündnis mit ihm eingehen wollten, wies
er ihre Bundesgenossenschaft allerdings nicht zurück; aber 
154
es war eine Gelegenheit von allgemeinem Interesse, welches
von dem Gott, der ihn berufen hatte, anerkannt und gutgeheißen wurde. Aber niemals bildeten die Kananiter
seine Gesellschafter. Diese bestanden in seinem Weibe,
seiner Haushaltung und seinem Mitheiligen Lot, dem
Sohne seines Bruders, der mit ihm aus Mesopotamien
gekommen war — wenigstens so lauge dieser als ein abgesonderter Mensch in Kanaan wandelte. Sobald Lot
sich nicht mehr von dem Volke des Landes unterschied, war
auch er ebenso vollständig ein Fremder für Abraham,
wie jene.
In diesem allen liegt eine ernste Lehre für uns.
Zu Zeiten finden wir Engel in Abrahams Gesellschaft,
und nicht selten den Herrn der Engel selbst; und zu allen
Zeiten waren sein Altar und sein Zelt bei ihm, sowie die
Geheimnisse oder Wahrheiten Gottes, wie sie ihm bekannt
gemacht worden waren. Aber die Bewohner des Landes,
die Menschen dieser Welt, waren nicht nach seinem Geschmack und erlangten deshalb weder seine Zuneigung,
noch sein Vertrauen. Er war unter ihnen, aber nicht
von ihnen; und lieber wollte er sein Haus ungebaut und
Isaak unverheiratet sehen, als daß er ihm eine Tochter
Kanaans zum Weibe genommen hätte.
Manchen unter uns, Geliebte, scheint ein solch entschiedener Bruch mit allem Irdischen und Natürlichen etwas Schreckliches zu sein; allein wenn Jesus mehr geliebt
würde, so würden alle diese Dinge nicht so hoch angeschlagen
werden. Würde Sein Wert für uns innerhalb des
Vorhangs mehr in unsern Herzen erwogen und geschätzt
werden, so würden wir mit festerem und sichererem Schritt
zu Ihm hinausgehen außerhalb des Lagers. „Ich
155
habe erfahren," hat einst ein Märtyrer gesagt, „daß es
keine Freiheit giebt, welche derjenigen eines Herzens gleichkommt, das alles für Christum aufgegeben hat; keine
Weisheit gleich derjenigen, welche zu Seinen Füßen gelernt
wird; keine Poesie, gleich der ruhigen Voraussicht auf
die kommende Herrlichkeit."
Von Abraham und seinen Gefährten in diesem Leben
des Glaubens, welche bekannten, daß sie Fremdlinge und
ohne Bürgerschaft auf der Erde seien, sagt die Schrift:
„Die solches sagen, zeigen deutlich, daß sie ein Vaterland
suchen. Und wenn sie an jenes gedacht hätten, von welchem
sie ausgegangen waren, so hätten sie Zeit gehabt, zurückzukehren. Jetzt aber trachten sie nach einem besseren,
das ist himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht,
ihr Gott genannt zu werden; denn Er hat ihnen eine
Stadt bereitet." (Hebr. 11, 11—16.)
Geliebte, wir sind berufen, Fremdlinge zu sein, solche
Fremdlinge, zu denen Gott sich bekennen kann. Wenn die
Welt nicht der Gegenstand der Wünsche und Zuneigungen
Abrahams gewesen ist, so sollten wir fühlen, daß sie noch
weit weniger der Gegenstand unsrer Wünsche sein sollte.
Die Berufung des Gottes der Herrlichkeit machte Abraham
zu einem Fremdling hienieden; das Kreuz Christi, welches
dieser Berufung noch hinzugefügt ist, sollte uns noch weit
mehr zu Fremdlingen machen. „Ihr seid gestorben,"
sagt der Apostel, „und euer Leben ist mit dem Christus
verborgen in Gott." Das ist eine Fremdlingschaft der
höchsten Art, die Fremdlingschaft des Sohnes Gottes
selbst. „Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie
Ihn nicht erkannt hat."
Möchten wir in der Kraft dieser Fremdlingschaft
156
„abstehen von den fleischlichen Lüsten, welche wider die
Seele streiten," und in der Kraft unsers wohlbekannten
Bürgerrechts in den Himmeln „den Herrn Jesum Christum
als Heiland erwarten, der unsern Leib der Niedrigkeit
umgestalten wird zur Gleichförmigkeit des Leibes Seiner
Herrlichkeit, nach der wirksamen Kraft, mit der Er vermag,
auch alle Dinge sich zu unterwerfen!"
Das Buch Jona.
Kapitel I.
Das Buch des Propheten Jona steht völlig allein
unter den prophetischen Büchern. Seine Eigenartigkeit
besteht darin, daß es nicht eine einzige Prophezeiung
enthält, mit Ausnahme der Botschaft an Ninive, wenn
wir diese eine Prophezeiung nennen können. Es wird
uns auch in keinem andern Buche der Heiligen Schriften
eine Prophezeiung aus dem Munde Jonas mitgxteilt.
Daß Gott ihn in Seinem Dienste benutzt und durch ihn
geredet hat, geht indes aus einer Stelle in dem 2. Buche
der Könige klar hervor. Dort lesen wir, daß Jerobeam,
der Sohu JoaS', der König von Israel, „die Grenze
Israels wiederherstellte vom Eingänge von Hemath bis
an das Meer der Ebene, nach dem Worte Jehovas, des
Gottes Israels, das Er geredet hatte durch Seinen Knecht
Jona, den Sohn Amithais, den Propheten, der von GathHepher war." (2. Kön. 14, 25.) Nichts anderes ist unS
aufbewahrt worden; und wenn wir das Buch Jona näher
untersuchen, so entdecken wir, daß die Unterweisung, welche
es giebt, in der persönlichen Geschichte Jonas liegt, oder
vielmehr in seinem Verhalten, nachdem Jehova ihn be­
157
auftragt hatte, „nach Ninive zu gehen und wider sie auszurufen, weil ihre Bosheit hinaufgestiegen war vor Ihn."
Das Buch hat deshalb mehr den Charakter eines Gleichnisses: Jona wird in seiner Untreue sowohl, als auch
in dem Gericht, welches ihn wegen dieser Untreue trifft,
als ein belehrendes Vorbild für uns gebraucht. Und
gerade dieser Charakterzug hat das Buch in feinen verschiedenen Anwendungen für alle Zeiten so interessant
gemacht.
Die in demselben erzählten Thatsachen sind sehr einfach und allgemein bekannt. Von dem Herrn ausgesandt,
um Ninive das Gericht anzukündigen, flieht Jona, geht
nach Joppe hinab und findet dort ein Schiff, das im
Begriff steht, nach Tharsis zu segeln. Er bezahlt sein
Fährgeld und steigt in dasselbe „hinunter, um mit ihnen
nach Tharsis zu gehen, von dem Angesicht Jehovas hinweg." Das war der thörichte Gedanke Jonas, und ach!
wie mancher Gläubige gleicht heute unserm Propheten! —
Der Herr aber sandte einen heftigen Sturm auf das Meer,
welcher das Schiff zu zerschmettern drohte. Angesichts
des augenscheinlichen Unterganges schrieen die erschreckten
Seeleute, „ein jeder zu seinem Gott," und suchten das
Schiff zu erleichtern, indem sie alle entbehrlichen Geräte
über Bord warfen. Während dieser ganzen Zeit lag
Jona, um dessentwillen allein sich der gewaltige Sturm
erhoben hatte, in merkwürdiger Gefühllosigkeit, fest schlafend
in dem unteren Schiffsraum. Der Obersteuermann weckte
ihn endlich auf mit den ernsten Worten: „Was ist mit
dir, du Schläfer? Stehe auf, rufe deinen Gott an!
vielleicht wird der Gott unser gedenken, daß wir nicht
umkommeu." Jetzt erst erkannte Jona die Gefahr, in
158
welcher er schwebte. Die Mannschaft, in dem unbestimmten
Gefühl, daß der Sturm durch göttliche Macht, wegen eines
Sünders in ihrer Mitte, erweckt worden sei, wirft Lose,
und Gott, der hinter allem stand, lenkt das Los auf
Jona. „Da sprachen sie zu ihm: Thue uns doch kund,
um weswillen uns dieses Unglück trifft? Was ist dein
Gewerbe, und wo kommst du her? Welches ist dein
Land, und von welchem Volke bist du?" Jona erzählt
jetzt, wer er sei, und auch, daß er von dem Angesicht
Jehovas, des Gottes des Himmels, fliehe. Auf das
Höchste erschreckt durch den Gedanken, daß Gott selbst den
Sturm gesandt habe und ihnen entgegen sei, fragen die
Männer, was sie beginnen sollen, um dem Wüten des
Windes und der Wellen Einhalt zu thun. „Nehmet mich
und werfet mich ins Meer," entgegnet Jona, „so wird
das Meer euch stille werden; denn ich weiß, daß um
meinetwillen dieser große Sturm über euch gekommen ist."
Die Männer gehen nur höchst ungern auf den Vorschlag Jonas ein; sie rudern mit aller Kraft, um das
Schiff ans Ufer zu treiben. Allein es war unmöglich;
das Meer wurde mit jeder Minute wilder und ungestümer,
denn Gott war ihnen entgegen. Endlich fallen sie vor
Jehova nieder und rufen zu Ihm, daß Er doch keine
Blutschuld wegen des Propheten auf sie legen möge, und
dann ergreifen sie Jona und werfen ihn in die tobende See.
Das Resultat war ein unmittelbares: „Und das Meer stand
still von seinem Wüten; und die Männer fürchteten Jehova
mit großer Furcht, und sie schlachteten Schlachtopfer und
gelobten Gelübde." Für Jona aber hatte Jehova einen großen Fisch bestellt; derselbe verschlang ihn, und der Prophet
war drei Tage und drei Nächte in dem Bauche des Fisches.
159
Das ist in kurzen Worten der Inhalt des ersten
Kapitels, und wir haben jetzt zunächst nach seiner vorbildlichen Bedeutung zu forschen.
An erster Stelle ist Jona ein Vorbild von der
jüdischen Nation in einem besonderen Charakter. Ninive
ist ohne Zweifel ein Bild der Welt in ihrem Stolz und
in ihrer äußeren Herrlichkeit, einer Welt, die nichts anderes
anerkennt, als ihre eigne Wichtigkeit, und welche infolge
ihres Hochmuts die offne Feindin des Volkes Gottes
und dabei voller Sünde und Ungerechtigkeit ist. Als
solche war die Welt dem gerechten Gericht Gottes verfallen.
Israel war andrerseits der Leuchter Gottes auf der Erde
und deshalb verantwortlich, für den Gott Zeugnis abzulegen,
welcher durch Seine Gnade sie berufen, von allen anderen 
Völkern der Erde abgesondert und sie zu Seinem Volke gemacht hatte, und der in ihrer Mitte zwischen den Cherubim
wohnte. Wir lesen daher auch in dem Propheten Jesaja:
„Bringe hervor das blinde Volk, das Augen hat, und
die Tauben, die Ohren haben. Alle Nationen mögen mit
einander versammelt werden, und die Völkerschaften zusammenkommen; wer unter ihnen wird solches verkündigen?
Oder mögen sie uns Voriges hören lassen; mögen sie
ihre Zeugen vorbringen, damit sie gerechtfertigt werden,
und man es höre und sage: Es ist die Wahrheit! Ihr
seid meine Zeugen, spricht Jehova, und mein
Knecht, den ich erwählt, damit ihr wisset, und mir
glaubet und verstehet, daß ich bin, der da ist; vor mir
ist kein Gott gebildet, und nach mir wird keiner sein.
Ich, ich bin Jehova, und außer mir ist kein Heiland."
(Kap. 43, 8 — 11.) Das war der Platz, welcher dem
Volke Israel inmitten der Welt von Gott gegeben war;
160
und weil der Gott, welchen sie kannten und mit dem
sie als ihrem Jehova in Verbindung standen, ein gerechter
Gott war, „zu rein von Augen, um Böses zu sehen, und
der die Mühsal nicht anzuschauen vermag," bestand ihre
Mission darin, gegen Ninive (die Welt) Zeugnis abzulegen; denn ihre Bosheit war hinaufgestiegen vor
Jehova.
Wie nun, müssen wir jetzt fragen, wurde diese Mission
von Israel erfüllt? Das Verhalten Jonas liefert uns
die Antwort. Er machte sich auf, um uach Tharsis zu
fliehen, von dem Angesicht Jehovas hinweg. Das ist,
in einem Worte, die Geschichte des Volkes Israel, als
des Boten Gottes. Es war den Juden ganz recht, durch
die Vorrechte, welche sie besaßen, über alle Nationen um
sie her erhoben zu sein; das schmeichelte ihrem Stolze.
Aber sie waren nicht so bereit, auch der Verantwortlichkeit,
welche mit ihrer bevorzugten Stellung verbunden war, zu
entsprechen. Nichts ist trauriger, als die Geschichte Israels
in dieser Hinsicht zu verfolgen, von dem Augenblick ihrer
Befreiung aus der Knechtschaft Egyptens bis zur Zerstörung des Tempels durch Nebukadnezar. Das Licht,
welches sie besaßen, benutzten sie ausschließlich zu ihrer
Selbsterhebung und zur Aufrichtung einer eignen Gerechtigkeit, bis sie am Ende, wenn wir so reden dürfen, Gott
zwangen, sich von ihnen zu trennen. Und nicht nur flohen
sie aus der Gegenwart des Herrn, anstatt die ihnen übertragene Sendung zu erfüllen, sondern sie sanken auch in
sittlicher Beziehung tiefer, als die Nationen, gegen welche
sie zu Zeugen berufen waren. (Vergl. z. B. Jer. 32,
28 — 35; Hes. 8; 9; 16, 44—49 ec.) „Gehet umher,"
ruft der Herr durch den Mund des Propheten Jeremia,
161
„durch die Gassen Jerusalems, und sehet doch, und erkundet und suchet auf ihren Plätzen, ob ihr jemanden
findet, ob einer ist, der recht thut, der Treue sucht, so
will ich ihr vergeben. Und wenn sie sprechen: So
wahr Jehova lebt! so schwören sie darum doch falsch."
(Kap. 5, 1. 2.)
Der aus der Gegenwart des Herrn nach Tharsis
fliehende Jona ist daher ein nur zu treues und treffendes
Bild von Israel in seiner Untreue gegenüber dem Auftrag, der ihm von Gott geworden war. Israel wandte,
wie der Prophet, dem Herrn den Rücken und ließ die
Ermahnungen Seiner Gnade und Langmut unbeachtet
und fiel deshalb unter die Züchtigungen und Gerichte 
Seiner Hand. Dies wird in unserm Kapitel durch den
heftigen Sturm vorgestellt, welchen der Herr auf das
Meer warf, und der das Schiff dem Untergang nahe
brachte. Aber Jona (od. die schuldige Nation) ist so
gefühllos und verhärtet, daß er, während die Seeleute,
erschreckt durch das furchtbare Unwetter, zu ihrem Gott
schreien, in tiefen Schlaf versunken daliegt, ohne im Geringsten durch das Toben des Sturmes, der ihm den
Untergang zu bereiten droht, beunruhigt zu werden.
Wir brauchen jedoch nicht weiter in die Einzelheiten
dieser vorbildlichen Erzählung einzugehen, da sie so einfach
und klar die Handlungen und Wege Gottes mit Seinem
irdischen Volke, auf Grund ihrer Verantwortlichkeit als
Seine Zeugen in der Welt, vorstellt, daß eine Erklärung
unnötig ist. Indes möchte ich noch auf zwei besondere
Punkte aufmerksam machen. Zunächst sehen wir, daß die
Untreue Israels die Nationen mit in die Gerichte Gottes
hiueinzieht; anstatt ein Werkzeug des Segens und ein 
162
Kanal des göttlichen Lichtes zu sein, führt Israel das
Gericht auch für die Nationen herbei. Und zweitens,
nachdem der Zorn eines heiligen Gottes Sein Volk heimgesucht hat, und die Ursache des Gerichts erkannt und der
Sturm gestillt ist, wenden sich die Heiden zu Gott und
erkennen Seine Macht und Herrlichkeit an. „Und die
Männer fürchteten Jehova mit großer Furcht, und sie
schlachteten Jehova Schlachtopser und gelobten Gelübde."
Ebenso wird es sein nach der Erscheinung des Herrn aus
dieser Erde. „Darum wartet auf mich, spricht Jehova,
an dem Tage, da ich aufstehe zum Raube; denn es ist
mein Beschluß, die Nationen zu versammeln, die Königreiche zusammen zu bringen, um über sie auszuschütten
meinen Grimm, die ganze Glut meines Zornes; denn
das ganze Land wird verzehrt werden durch das Feuer
meines Eifers. Denn alsdann werde ich den Völkern
reine Lippen zuwenden, damit sie alle den Namen Jehovas
anrufen und Ihm einmütiglich dienen." (Zeph. 3, 8. 9.)
Doch außer ihrer vorbildlichen Bedeutung findet die
Geschichte JonaS auch eine unmittelbare Anwendung auf
einen jeden Knecht Gottes. Jona war als Prophet ein 
Diener des Herrn und, wie bereits wiederholt bemerkt,
mit einer besondern Sendung an die Welt betraut. Seine
Botschaft war nicht eine Botschaft der Gnade oder des
Erbarmens, sondern eines ernsten Gerichts. Aber er floh,
und zwar nicht vor der Feindschaft derer, zu welchen er
gesandt wurde, sondern von dem Angesicht Dessen, der ihn
aussandte. Mancher Knecht des Herrn ist nicht imstande
gewesen, der Macht des Feindes in der eignen Feste desselben furchtlos gegenüber zu treten, weil er die Quelle
seiner Kraft und das Geheimnis seiner Sicherheit aus
163
dem Auge verlor. Aber so war es nicht mit Jona. Er
schrak nicht vor dem Feinde zurück, sondern er suchte sich
in der Welt vor dem Angesicht Dessen zu verbergen, der
ihn zu Seinem Diener berufen hatte. Elia floh vor
Jsebel, aber Jona, ich wiederhole eS, floh vor dem Herrn.
Hierin steht er sicherlich in vollkommenstem Gegensatz zu
unserm gepriesenen Herrn, dem treuen Diener und Zeugen
Gottes. Christus war fähig, zu sagen: „Dein Wohlgefallen zu thun, mein Gott, ist meine Lust, und Dein
Gesetz ist im Innern meines Herzens. Ich habe verkündigt die Gerechtigkeit in der großen Versammlung;
siehe, meine Lippen hemmte ich nicht — Jehova, Du
weißt es! Deine Gerechtigkeit habe ich nicht verborgen im
Innern meines Herzens; Deine Treue und Deine Rettung habe ich ausgesprochen, nicht verhehlt Deine Güte
und Deine Wahrheit in der großen Versammlung."
(Ps. 40, 8 — 10.) So handelte unser Herr und Heiland.
Jona aber floh lieber, als daß er die Botschaft seines
Gottes verkündigt hätte; und in der That, die mit dem
Zeugnis verbundene Verantwortlichkeit ist stets ein ernster
Prüfstein. Bei unserm gepriesenen Herrn rief Sein Zeugnis den bittern Haß der Welt hervor. (Joh. 7, 7.)
Aber Jona bestand die Probe nicht, und zwar nicht so
sehr aus Furcht vor der Verantwortlichkeit oder den
Schwierigkeiten der göttlichen Sendung, als vielmehr aus
einem andern noch traurigeren Grunde. Der bloße Besitz
der Wahrheit, ein bloßes Wissen, bläht auf; es ruft
Selbsterhebuug und pharisäischen Stolz hervor, und wo
diese Dinge im Herzen vorhanden sind und genährt werden, wird sich auch stets Gleichgültigkeit gegenüber dem
Wohle Anderer, wenn nicht gar Geringschätzung und Ver­
164
achtung der Umgebung offenbaren. Jona war ein Israelit,
und Gott selbst hatte ihn von der Welt abgesondert; aber
das war kein Grund, weshalb sein Herz ohne Mitgefühl
und Erbarmen für die Welt hätte sein sollen. Aber leider
war es so, und nun offenbart sich sein wahrer Zustand
in offnem Ungehorsam gegen den Herrn.
Es ist auch wichtig, zu beachten, wie weit eine Seele,
die sich in einem schlechten, unglücklichen Zustande befindet,
in Selbstbetrug hineingeraten kann. Jona bekannte vor
den Seeleuten, daß er Jehova, den Gott des Himmels
und der Erde, „der das Meer und das Trockne gemacht
habe," fürchte; und doch gedachte er sich vor den Augen
dieses Gottes zu verbergen. Aber wenn der Diener auch
Gott zu vergessen sucht und inmitten der wegen seiner
Untreue entfesselten Elemente gleichgültig schläft, so kann
Gott doch Seinen Diener nicht vergessen, noch kann Er
ihm erlauben. Seine Autorität außer acht zu lassen. Deshalb verfolgt Er ihn mit Seinem Sturme; Er selbst bestellt und erweckt den Orkan, sicherlich nicht um Seinen
Knecht zu verderben, sondern um ihn zu dem Bewußtsein
seiner gefährlichen Lage und seines verkehrten Weges zu
bringen. Ja, der Herr liebt Seine Knechte viel zu sehr,
als daß Er ihnen erlauben könnte, auf dem Pfade der
Auflehnung gegen Ihn ungestört voranzugehen. Aber ach!
während der Herr thätig ist, Jona zur Besinnung zu
bringen, liegt der Prophet in tiefem Schlafe; er sieht und
hört nichts von den erschreckenden Zeichen der Gegenwart
und Macht Gottes. Wer gedächte nicht bei dieser Scene
an einen Sturm auf einem andern Meere, während dessen
Der, welcher das Meer und das Trockne gemacht hat,
schlafend in dem Hinterteil des Schiffes lag! Welch ein
165
Gegensatz! In dem ersten Falle kann das Toben des
Sturmes nur dadurch gestillt werden, daß der Schläfer
ins Meer geworfen wird; in dem letzten offenbart der
durch Seine erschreckten Jünger aufgeweckte Herr Seine
Herrlichkeit und Macht, indem Er den Wind bedroht und
den Wogen befiehlt, sich zu glätten.
Die Handlungsweise Gottes mit Jona in diesem
Kapitel erläutert einen sehr wichtigen Grundsatz. Wenn
Israel es unterlassen hat, den Namen Gottes zu heiligen,
so erklärt Gott, daß Er selbst Seinen großen Namen
heiligen werde. (S. Hes. 36, 16 — 23.) Gerade so verhält es sich mit den Dienern des Herrn. Wenn sie Ihn
nicht verherrlichen in dem Zeugnis, das Er ihnen anvertraut hat, so wird Er sich an ihnen verherrlichen, und
zwar durch die Züchtigungen Seiner Hand. So zeigte
Jona in unserm Kapitel, daß er ein untreuer Knecht
war, der den Namen seines Herrn vor einer stolzen
und bösen Welt nicht hochhalten konnte. Und daher erschien Gott auf dem Schauplatz und entblößte Seinen
Arm, um mit Jona in ernster Weise zu handeln; und
gerade durch das Gericht, welches Er ausübte, bereitete
Er sich ein Lob zu aus den Herzen und von den Lippen
der Heiden. Das ist ein sehr wichtiger Grundsatz. Er
belehrt uns, daß wir, wenn der Herr uns auch die Ehre
schenkt, Seine Diener zn sein, dennoch in keiner Weise
notwendig sind zur Ausführung Seiner Vorsätze und
Ratschlüsse. Ein Verständnis hierüber wird uns demütig
erhalten, während es zu gleicher Zeit das Lob und den
Dank unsrer Herzen erweckt für das kostbare Vorrecht, in
irgend einer Weise mit den Ratschlüssen Gottes und deren
Ausführung in Verbindung zu stehen.
166
Ehe wir unsre Betrachtung über dieses Kapitel schließen,
möchte ich noch eine zwiefache Frage an den Leser richten.
Zunächst: Inwieweit ist die Geschichte Israels, wie sie in
der obigen Erzählung vorgebildet wird, ein Bild von der
Geschichte der Kirche in ihrer Stellung als ein Leuchter
auf Erden? Ach! gleicht die eine nicht der andern in
mehr als einer Beziehung in beklagenswertester Weise?
Die vollständige Beantwortung dieser Frage finden wir
jedoch in den Sendschreiben an die sieben Versammlungen
in Kleinasien. (Offbg. 2. 3.) Zweitens möchte ich fragen:
Werden wir, als die Knechte des Herrn, treuer erfunden
als Jona? Scheinen nicht manche von uns, gleich dem
Propheten vor Alters, in tiefem Schlafe zu liegen, während doch die Zeichen des nahenden Gerichts auf allen
Seiten zu erblicken sind? Möchte der Herr selbst nns die
Augen öffnen und uns unsern Zustand zeigen, wie er in
Seinem Lichte ist, damit wir nicht länger so gleichgültig
und gefühllos bleiben gegenüber der entsetzlichen Gefahr,
in welcher eine gottlose Welt schwebt!
(Fortsetzung folgt.)

eisen ihn hin
auf Den, der für den verdammungswürdigen Sünder aus
dem Schoße des Vaters kam, der für ihn im Gericht
stand, alle seine Schuld bezahlte und die göttliche Gerechttigkeit völlig befriedigte. Und an diesen Einen glaubend,
in welchem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis
Gottes verborgen sind, sinkt er voll Anbetung nieder.
Selige Freude erfüllt sein Herz; Lob und Dank fließen
von seinen Lippen und steigen zu Dem empor, der aus
Liebe zu ihm und um ihn von dem ewigen Verderben
zu erretten, sich zur Sünde machen ließ und den gerechten
Zorn Gottes auf sich lud. Mit glücklichem Herzen und
voller Zuversicht kann er jetzt vorangehen, denn seiner
wartet nur noch die ewige Herrlichkeit.
Hast du, mein lieber Leser, auch schon die Kostbarkeit dieses Namens kennen gelernt? Wenn nicht, so bedenke
doch, daß es keinen andern Namen, keinen andern Weg
giebt, um des ewigen Heils teilhaftig zu werden. Hier
giebt es keine Mittelstraße; entweder du bist noch auf
dem breiten Wege, der zur Verdammnis führt, oder du
bist auf dem schmalen, der in der Herrlichkeit des Himmels
endet. Gott gebe dir Gnade, diese Sache nicht gleichgültig
M betrachten! Bald ist die Zeit der Gnade vorüber; der
Tag des Gerichts naht mit schnellen Schritten heran. Darum
schiebe nicht länger auf; verhärte dein Herz nicht!
Das Buch Jona.
Kapitel 2.
In dem ersten Verse unsers Kapitels wird uns erzählt, daß der Herr einen großen Fisch bestellte, um Jona
zu verschlingen, und daß Jona drei Tage und drei Nächte
in dem Bauche dieses Fisches war. Diese Thatsache giebt
uns den Schlüssel zur Erklärung des ganzen Kapitels in
die Hand, denn der Herr selbst verbindet ausdrücklich
diesen Umstand mit Seinem Tode. Er sagt: „Gleichwie
Jona drei Tage und drei Nächte in dem Bauche des
großen Fisches war, also wird der Sohn des Menschen
drei Tage und drei Nächte in dem Herzen der Erde sein."
<Matth. 12, 40.) Und es ist äußerst interessant, die
Art und Weise zu betrachten, in welcher Jona, unter
dem Gericht Gottes, ein Vorbild von Christo wird in
Seiner Verwerfung und in Seinem Tode.
Wir haben in unsrer Betrachtung des 1. Kapitels gesehen, daß Iona ein Bild der jüdischen Nation ist, oder besser
des Ueberrestes, der vor Gott stets den Platz der ganzen
Nation einnimmt. Infolge ihrer Untreue im Blick auf
ihre Sendung an die Welt, hat Gott sie als Sein Gefäß
des Zeugnisses verworfen und die Wogen und Wellen
Seines Zornes über sie hingehen lassen; und in dieser
Stellung sehen wir sie, vorgebildet durch Jona, im Anfang
des 2. Kapitels. Nun, gerade dieser Platz war es, auf
170
welchen Christus in Gnade und in Seiner unauslöschlichen Liebe für Sein Volk Herabstieg. Er wurde verworfen, d. h. nicht von Gott, — fern sei uns ein solcher
Gedanke! — sondern von „den Seinigen," zu welchen
Er kam. Ihre Gottlosigkeit indes, so schrecklich sie sein
mochte, erfüllte schließlich doch nur die Ratschlüsse Gottes
und wurde zu gleicher Zeit der Anlaß zur Offenbarung
alles dessen, was in dem Herzen Christi für sie war.
Die unergründlichen Tiefen dieses Herzens wurden umsomehr aufgedeckt, je höher der Haß und die Feindschaft
des Volkes stiegen. In derselben Nacht, in welcher
Er überliefert ward, nahm Er Brot, dankte und brach
es, und gab es Seinen Jüngern; und von dem Kelche
sagte Er: „Dieses ist mein Blut, das des Neuen Bundes,
welches für Viele vergossen wird zur Vergebung der
Sünden." (Matth. 26, 28.) So ließ Er sich wie ein
Lamm zur Schlachtbank führen und stellte sich freiwillig
unter das ganze Gericht Gottes, um Sühnung zu thun
für die Sünden des Volkes. Alle die Wogen und Wellen
des göttlichen Zornes schlugen über Seinem Haupte zusammen. Sie sind über den Ueberrest hingegangen, oder 
werden es noch thun wegen seiner Sünden; sie gingen
über Christum hin, weil Er in Gnade den Platz des
Volkes vor Gott einnahm und für die Nation starb, so
daß Gott dereinst, auf Grund des vollbrachten Versöhnungswerkes, in gerechter Weise alle Seine Gnadenratschlüsse bezüglich Seines alten Volkes ausführen kann.
In dieser Weise wird Jona in dem Bauche des
Fisches ein Vorbild von Christo im Grabe. Er gebraucht
auch, geleitet durch deu Geist Gottes, Ausdrücke in Seinem
Gebet, die eine viel weitere Anwendung finden, als nur
171
auf seine eigenen Umstände. Werfen wir z. B. einen
Blick auf Psalm 42. Dieser Psalm steht an der Spitze
des zweiten Buches der Psalmen, in welchem der Ueberrest betrachtet wird als vertrieben aus Jerusalem, während
die Stadt der Willkür und Bosheit der Gottlosen preisgegeben ist. Der Ueberrest befindet sich infolge seiner
Sünden unter den Gerichten Gottes, und er gebraucht,
in Uebereinstimmung damit, dieselben Worte, welche wir
in dem Gebete Jonas finden: „Alle Deine Wogen und
Deine Wellen sind über mich hingegangen." (Ps. 42, 7.)
Doch die volle Bedeutung dieser Worte werden wir erst
dann verstehen, wenn wir sie in Verbindung mit dem
Platze betrachten, welchen unser Herr einnahm, als Er
sich nicht nur mit Seinem Volke, sondern auch mit ihren
Sünden eins machte, und als Er diese an Seinem eignen
Leibe auf das Holz trug.
Nachdem wir dies festgestellt haben, können wir den
Wegen Gottes mit Jona, wie mit dem Ueberrest, so wie
sie uns in der hier gebrauchten Sprache vorgestellt werden,
weiter nachspüren. Wir lesen in dem 2. Verse unsers
Kapitels: „Und Jona betete zu Jehova, seinem Gott, aus
dem Bauche des Fisches." Sein Antlitz ist jetzt dahin
gewandt, wohin es sich von Anfang an Hütte wenden
sollen. Ach! Er hatte Jehova den Rücken gekehrt; aber
jetzt, unter den Streichen der göttlichen Zuchtrute, wird
er nicht nur in seinem Wege aufgehalten, sondern seine
Augen richten sich auch auf Den, dessen Gegenwart er
zu entfliehen versucht hatte. Gesegnete Wirkung der
Züchtigung, wenn die Seele ihre Abhängigkeit anerkennt
und sich unter die gewaltige Hand Gottes beugt! „Leidet
jemand unter euch," sagt Jakobus, „er bete!" Ja, gerade
172
so wie ein Lobgesang der Kanal ist, durch welchen sich
die Freude der Seele ergießt, so ist das Gebet der Ausdruck und gleichsam das Gefäß ihres Schmerzes. So
sagt Jona: „Ich rief aus meiner Bedrängnis zu Jehova,
und Er antwortete mir; ich schrie aus dem Bauche deS
Scheol, Du hörtest meine Stimme." Und dann erzählt
der Prophet, was die Wege Gottes in seinem Innern
hervorgebracht hatten, und wie seine Seele wiederhergestellt worden war. (V. 3—8.) Es ist nützlich und
belehrend für uns, die verschiedenen Stusen dieses Vorgangs in der Seele des Propheten zu betrachten.
Zunächst erkennt er die Hand des Herrn an. „Du
hattest mich," sagt er, „in die Tiefe, in das Herz
des Meeres geworfen." Jona beschäftigte sich nicht mit
der Aufsuchung aller möglichen zweiten und dritten Ursachen, wie wir es so gern thun und wodurch wir allen
Segen der Handlungen des Herrn mit uns verlieren.
Er dachte weder an den Sturm, noch an die Seeleute.
Es war der Herr, der ihn in die Tiefe geworfen
hatte. Ebenso war eS mit unserm Herrn, in einer weit
gesegneteren und vollkommneren Weise, als Er auf dem
Kreuze litt. „Du legst mich in den Staub des Todes,"
sagte Er. (Ps. 22.) Und welch eine Ruhe giebt es dem
Herzen, wenn wir alles, was uns begegnet, aus der
Hand des Herrn annehmen, wie es unser Vorrecht ist, zu
thun! Das bringt jedes Murren zum Schweigen, öffnet
das Ohr für die göttliche Stimme und versetzt die Seele
in den passenden Zustand, um aus der Züchtigung, durch
welche wir vielleicht gehen, wahren Nutzen zu ziehen.
Ferner bekennt Jona, daß die Hand des Herrn in
richterlicher Weise auf ihm ruht. Alle die Bilder, welche
173
er gebraucht: das Meer, die Wasser, die Wogen und
Wellen, obwohl sie in seinem Falle buchstäblich zu verstehen sind, erklären dies. Denn sie alle dienen in der
Schrift stets zur Bezeichnung des richterlichen Zornes
Gottes. Die Wirkung davon war das Gefühl in seiner
Seele, daß er aus den Augen Gottes verstoßen sei;
seine Seele verschmachtete in ihm. (V. 5. 8.) Er hatte,
wie Paulus, obgleich in einem andern Sinne, das Urteil
des Todes in sich. Er wurde zu einem Bewußtsein seines
äußersten Nichts vor Gott gebracht, und dies umsomehr
als die Züchtigung eine Folge seiner Sünde war. Aus
einem Widerspenstigen, welcher der göttlichen Gegenwart
zu entfliehen trachtete, ist er ein Reumütiger und Bußfertiger geworden, der das, was er gethan hat, in keiner
Weise rechtfertigt, sondern den Platz eines Menschen einnimmt, welcher nichts hat und nichts anders als Gericht
verdient. Und das ist der allein richtige Platz sowohl
für den Sünder, als auch für den Gläubigen, wenn er
gefehlt hat, und der einzige Platz, auf welchem Gott der
Seele, auf Grund des vollbrachten Versöhnungswerkes,
in vergebender und wiederherstellender Gnade begegnen kann.
Laßt uns jetzt sehen, in welcher Weise der Herr auf
den Schrei des Propheten antwortet. Jona sagt: „Ich
schrie . . ., und Du hörtest meine Stimmeund: „Als
meine Seele in mir verschmachtete, gedachte ich an Jehova,
und mein Gebet kam zu Dir, zu dem Tempel Deiner
Heiligkeit." (V. 3. 8.) WaS könnte die Gnade unsers
Gottes treffender darftellen, oder die zärtliche Liebe Seines
Herzens herrlicher entfalten? Nachdem der Zweck Seiner
Wege erreicht ist, antwortet Er sofort auf den Ruf Seines
Knechtes. Wie oft sind wir in der Thorheit unsers
174
Unglaubens versucht, zu denken, daß Er uns nach unsern
sündhaften und widerspenstigen Irrwegen nicht mehr vergeben könne. Aber Seine Gnade hört nimmer auf; nein,
Er wartet auf die Seinigen, und Sein Ohr ist stets für
ihr Schreien geöffnet; denn Sein Verhalten gegen uns
ist nicht davon abhängig, was wir sind, sondern einzig
und allein von dem, was Er in sich selbst ist. Satan möchte
uns heute noch ebenso gern betrügen, wie er einst Eva
im Garten Eden betrogen hat, und darum ist es so überaus
wichtig, den Charakter und die Wege Gottes aus Seinem
Worte und aus der Offenbarung kennen zu lernen, welche
Er in Christo Jesu von sich gegeben hat. Mit leichter
Mühe könnten wir eine Reihe von Beispielen aus der
Schrift anführen dafür, daß Er stets bereit ist, auf das
Rufen der Seinigen zu hören, trotz ihres verkehrten Betragens und ihrer eignen Wege. Psalm 107 besteht aus
einer Sammlung solcher Beispiele; vergleiche auch Hosea
14 und vor allem die Botschaft unsers Herrn an Petrus
am Morgen Seiner Auferstehung. (Mark. 16, 7.)
Die Worte des Propheten: „Ich rief aus meiner
Bedrängnis zu Jehova, und Er antwortete mir; ich schrie
aus dem Bauche des Scheol, Du hörtest meine Stimme!"
sollten sich deshalb tief in unsre Herzen einprägen. Sie
enthalten eine kostbare, gesegnete Ermunterung für furchtsame Seelen, und vor allem für solche, die zurückgegangen
sind und nun zur Erkenntnis ihres traurigen Weges kommen. Sie belehren uns, daß Gott, wenn wir uns verirrt
haben, auf nichts anderes wartet, als daß wir zu Ihm
zurückkehren. Wenn wir die einfache Wahrheit gelernt haben,
daß Gott Sein Verhalten gegen uns nie verändert, wenn
wir wirklich verstanden haben, daß Seine Liebe stets die­
175
selbe bleibt, ob wir nun in eine Sünde gefallen sind, oder
in dem Genuß des Lichtes Seines Vaterantlitzes wandeln
— so haben wir einen Anker gefunden, welchen kein
Sturm zu lockern vermag. Und gerade diese unveränderliche Liebe Gottes ist der Grund, weshalb Er, wenn es
nötig ist, ernste, züchtigende Wege mit uns geht. „Denn
wen der Herr liebt, den züchtigt Er; Er geißelt aber jeden
Sohn, den Er aufnimmt." Nach diesem Grundsatz handelte
Gott auch mit unserm Propheten, und das Resultat war,
daß Jona erklären konnte: „Ich fuhr hinab zu den Gründen der Berge, der Erde Riegel schloffen sich hinter mir
auf ewig; aber Du hast mein Leben aus dem Verderben
heraufgeführt, Jehova, mein Gott." (V. 7.)
So wiederhergestellt, kann der Prophet jetzt ein Zeugnis ablegen von der Thorheit der Sünde: „Die sich an
falsche Nichtigkeiten halten, verlassen ihre Gnade." (V. 9.)
Und sicher, dieses Zeugnis ist wahr. Wir werden alle
von ganzem Herzen unser Siegel unter diesen Ausspruch
des Propheten setzen. Haben wir nicht die Wahrheit desselben erfahren, so oft wir uns durch die eitlen, lügnerischen Nichtigkeiten des Fleisches, der Welt oder des Teufels haben verleiten lassen? Ach! „da ist ein Weg, der
dem Menschen gerade scheint," (wenn er unter der Macht
dieser verführerischen Nichtigkeiten steht,) „aber das Ende
desselben sind Wege des Todes." (Spr. 14, 12.) Gnade
ist niemals auf dem Wege der Sünde zu finden. Unter
dem mächtigen Eindruck dieser Wahrheit, einem Eindruck,
der iu Jonas Herzen durch praktische Erfahrung hervorgebracht ist, ruft er aus: „Aber ich werde Dir opfern mit
der Stimme der Danksagung; was ich gelobt habe, werde
ich bezahlen." Er erkennt in dieser Weise die Quelle
176
seiner Bewahrung und Segnung an und lobt und preist
Gott.
Dann geht er noch einen Schritt weiter, indem er
sagt: „Bei Jehova ist Rettung." Und in unmittelbarer
Verbindung mit diesen Worten wird uns erzählt: „Und
Jehova sprach zu dem Fische, und er spie Jona ans Land."
Dies ist ohne Zweifel eine bemerkenswerte vorbildliche
Darstellung der Wahrheit von der Befreiung. Alle die
Uebungen, durch welche die Seele JonaS gegangen ist,
leiten ihn zu dem schönen Schlüsse: „Bei Jehova ist Rettung;" und sobald diese Worte aus seinem Munde gegangen sind, wird er in Freiheit gesetzt. Genau so ist es
mit dem Menschen, der uns in Röm. 7 beschrieben wird.
Ermüdet von allen seinen vergeblichen Anstrengungen, ruft
er, der Verzweiflung nahe, aus: „Ich elender Mensch!
wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?" Die
Antwort ist: „Ich danke Gott durch Jesum Christum,
unsern Herrn." Und damit ist die Befreiung erreicht und
genossen. Ja, welch ein gesegneter Schluß, möchten wir
wiederholen, sowohl für den Sünder, als auch für den
geängstigten Gläubigen: „Bei Jehova ist Rettung!" Er
bringt Frieden in die Seele, stillt alle Zweifel und beantwortet alle Fragen; er macht der Beschäftigung mit
dem eignen Ich ein Ende und richtet das Auge, empor
zu der einzigen Quelle der Segnung und Befreiung. Die
Kenntnis dieser Wahrheit ist von der wesentlichsten Wichtigkeit für das ganze christliche Leben, giebt der Seele
eine unaussprechliche, süße Ruhe und befreit sie von allen
Bürden und Kämpfen. „Bei Jehova ist Rettung!" Wenn
diese Wahrheit verstanden und im Herzen genossen wird,
so haben wir mit jenem israelitischen Könige nichts anderes
177
zu sagen, als: „Wir wissen nicht, was wir thun sollen;
aber auf Dich sind unsre Augen gerichtet;" (2. Chron.
20, 12.) und wir werden, wie er, die Erfahrung machen,
daß Jehova mit Seiner befreienden Gnade ins Mittel
treten wird, in einer Weise, die alle unsre Gedanken und
Erwartungen weit übertrifft.
Die prophetische Anwendung der Befreiung Jonas
auf den jüdischen Ueberrest in zukünftigen Tagen liegt
auf der Hand. Wir haben schon auf die Uebereinstimmung
zwischen den Ausdrücken des Propheten und denjenigen
des Ueberrestes in Ps. 42 aufmerksam gemacht. Der Weg
des Herrn mit letzterem wird genau Seinem Verhalten in
der Geschichte Jonas entsprechen. Indem Er alle Seine
Wogen und Wellen über sie hingehen läßt, und auf diese
Weise ihre Seelen übt, wird Er ihre Gewissen erreichen,
das Gefühl ihrer Schuld und völligen Hülflosigkeit in
ihnen erwecken und, indem Er ihre Augen auf Seine
Person richtet, in ihren Herzen Bitten und Flehen um
Hülfe und Befreiung wachrufen. Und so wie bei Jona,
wird der Herr, der mit verlangender Liebe und mit erbarmendem Mitgefühl schon lange auf Sein Volk gewartet
hat, auch dann augenblicklich ihr Schreien beantworten
und zu ihrer Befreiung und Errettung erscheinen. Und
dann werden sie jubelnd rufen: „Siehe, das ist unser
Gott; wir haben Ihn erwartet, und Er wird uns
erretten. Das ist Jehova, wir haben Ihn erwartet;
wir werden frohlocken und uns freuen in Seiner Errettung!" (Jes. 25, d; vergl. auch Jes. 11; 12; 26;
Sach. 12-14.)
178
Das Versöhnungswerk.
Der „Versöhnungstag" nahm unter den „Festen Jehovas," welche die Kinder Israel zu feiern angewiesen
waren, einen hervorragenden Platz ein. Jedes Jahr sollte
am zehnten Tage des siebenten Monats „eine heilige Versammlung" stattfinden. Dieser Tag war so wichtig und ernst,
daß die Kinder Israel verpflichtet waren, an demselben
alle Arbeit ruhen zu lassen und ihre Seelen zu kasteien;
wer dieser Verordnung nicht nachkam, mußte ausgerottet
werden aus der Mitte seiner Völker. An diesem Tage
mußten sie stehen und sehen, wie Aaron durch das Sündund Brandopfer Sühnung that für alle ihre Sünden.
Nur „einmal im Jahre" mußte dieses Fest gefeiert und
dieses Opfer dargebracht werden, um dadurch jenes eine
Opfer vorbildlich darzustellen, welches Christus ein für
allemal vollbracht hat.
In dem 16. Kapitel des 3. Buches Mose, welches
uns eine eingehende Schilderung von dem giebt, was an
dem großen Versöhnungstage gethan werden mußte, begegnen wir dem Ausdruck „Sühnung" oder „Versöhnung
thun" in jedem zweiten oder dritten Verse, und das Werk
wird uns unter drei verschiedenen Gesichtspunkten oder
Seiten vorgestellt; zunächst hören wir von der eigentlichen
Sühnung, dann von Stellvertretung und endlich von der
Art und Weise, wie das Volk annehmlich gemacht wurde
in den Augen eines heiligen Gottes. Ebenso ist es in dem
Gegenbilde, in dem Opfer Jesu Christi. Die Versöhnung,
welche Christus vollbracht hat, hat uns in die Gegenwart
Gottes geführt als solche, die mit Ihm versöhnt, deren
Sünden hinweggethan, und die annehmlich gemacht sind
in dem Geliebten. Wir sind auf diese Weise nicht nur
179
befähigt, in Ruhe und Frieden in der nächsten Nähe
Gottes zu weilen, sondern auch die ewige Herrlichkeit ist
uns geschenkt, und unsre Herzen sind mit Lob und Dank
erfüllt.
Betrachten wir jetzt das Versöhnuugswerk unter den
genannten drei Gesichtspunkten etwas näher. Zunächst
handelt es sich in diesem Werke um Gott. Sühnung
ist für Gott, obwohl sie unsre Sünden betrifft und mit
denselben zu thun hat. In den Schriften des Neuen
Testaments wird wiederholt von dieser ersten und wichtigsten Seite des Versöhnungswerkes gesprochen, und zwar
immer in Verbindung mit unsern Sünden. „Er ist die
Sühnung für unsre Sünden." (1. Joh. 2, 2.)
„Hierin ist die Liebe: nicht daß wir Gott geliebt haben,
sondern daß Er uns geliebt und Seinen Sohn gesandt
hat als eine Sühnung für unsre Sünden."
(1. Joh. 4, 10.) „Daher mußte Er in allem den Brüdern gleich werden, auf daß Er in den Sachen mit Gott
ein barmherziger und treuer Hohepriester werden möchte,
um die Sünden des Volkes zu sühnen." (Hebr. 2,17.)
Nicht als ob Gott, wie man oft irrtümlich denkt und
lehrt, hätte versöhnt werden müssen, um nicht mehr gegen
uns zu sein. Nein, Er liebt den Sünder, und Er hat
also die Welt geliebt, daß Er Seinen eingebornen Sohn
für sie dahingab. Aber Er verlangte, daß Heiligkeit und
Gerechtigkeit in dem Weltall aufrecht gehalten würden;
und Er mußte dies thun, weil Er ein heiliger und gerechter Gott ist. Der Mensch hatte gesündigt, sich wider
Gott aufgelehnt, Seine Gebote übertreten und Seinen
Namen verunehrt; alles das forderte gerechter Weise das
Ausgießen des göttlichen Zorns und Gerichts über den
180
Menschen und die Welt; denn obgleich Gott die Liebe
ist und den Sünder liebt, so ist Er doch unbeugsam in
Seiner Gerechtigkeit und heilig in allen Seinen Wegen.
Was war nun zu thun? Die Forderungen des Thrones
Gottes im Blick auf den Menschen mußten schonungslos
erfüllt, Seine Gerechtigkeit und Wahrheit mußten befriedigt
und verherrlicht werden. Gott gab Seinen Sohn. Die
Liebe und Weisheit Gottes fand einen Weg, auf welchem
Seine Heiligkeit völlig befriedigt und die Sünde gesühnt
werden konnte: „nicht daß wir Gott geliebt haben, sondern
daß Er uns geliebt und Seinen Sohn gesandt hat als eine
Sühnung für unsre Sünden." Die Sühnung begegnete
also den Anforderungen des Thrones Gottes im Blick
auf unsre Sünden. Deshalb wurde in diesem ersten
Teile des Versöhnungswerkes das Blut des Sündopfers
durch den Hohenpriester in das Allerheiligste gebracht, in
die Gegenwart Gottes selbst; zugleich stieg von dem klein
gestoßenen, wohlriechenden Weihrauch eine Wolke auf und
bedeckte den Deckel, der auf dem Zeugnis war, während
Aaron von dem Blute nahm und es mit seinen! Finger
auf den Deckel und siebenmal vor den Deckel der Bundeslade sprengte. (Kap. 16, 12 — 14.) Die Wolke des
Rauchwerks stellte die Kostbarkeit, den ganzen Wohlgeruch
der Person Christi vor Gott dar, und das Blut den
Wert Seines Versöhnungswerkes für uns in der Gegenwart Gottes. Damit war das vor Gott gebracht, was
von Sühnung für die Sünden, von göttlichem Gericht und
von Blutvergießen zur Vergebung der Sünden redete. —
So war das Vorbild an dem großen Versöhnungstage.
Wenn wir nun unsern Blick auf den Herrn Jesum
richten, auf welchen alle diese Vorbilder Hinwiesen, so
181
werden wir belehrt, daß Er „einmal für Sünden gelitten hat," daß Er „für unsre Sünden starb," daß Er
aus den Toten wieder auferstand und mit Seinem
eignen Blute in den Himmel selbst eingegangen ist, um jetzt vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen für uns. Christus ist deshalb für uns in den
Himmeln als der ewige Zeuge, daß eine Sühnnng für
die Sünden gemacht ist; und Sein Blut ist in seiner
unendlichen und ewigen Wirksamkeit, in seinem unermeßlichen Werte stets vor Gott. Den Ansprüchen nnd Forderungen Gottes ist deshalb in gerechter und vollkommner
Weise begegnet worden für alle, welche durch Ihn zu Gott
kommen; denn Christus starb für alle. Infolge dessen
kann Gott jetzt die gute Botschaft eines ewigen Heils und
der Vergebung der Sünden in die ganze Welt senden und,
als „ein gerechter Gott und Heiland," einen jeden, der
an Jesum glaubt, willkommen heißen und von allen seinen Sünden rechtfertigen. Wie wir gesehen haben, ist
der ganze Wert Seines vollendeten Werkes allezeit vor
Gott; denn Jesus Christus, der Gerechte, ist dort, und
Er ist die Sühnung für unsre Sünden, und „nicht allein
für die unsern, sondern auch für die ganze Welt," so daß
Gott jetzt im Blick auf jeden Sünder, der im Glauben
an unsern Herrn Jesum zu Ihm kommt, sagen kann:
„Erlöse ihn, daß er nicht in die Grube hinabfahre; ich
habe Versöhnung gefunden." (Hiob 33, 24.) So hat der
Gläubige also einen Platz vollkommner Ruhe in der Gegenwart Gottes, und das Evangelium geht ungehindert
aus zu jeder Kreatur, die unter dem Himmel ist.
Wir kommen jetzt zu der zweiten Seite des Versöhnungswerkes, der Stellvertretung. Wenn der
182
Tod Christi als Sühnung den Forderungen des Thrones
Gottes völlig begegnete, so begegnet die Stellvertretung in vollkommner Weise unsern Bedürfnissen und reinigt unser Gewissen.
Daß ein Andrer an Stelle des Schuldigen leiden und
dadurch die Versöhnung vollbracht werden sollte, war schon
oft in alttestamentlichen Vorbildern gelehrt worden. Wenn
Abraham an Stelle seines Sohnes einen Widder
opfert, so finden wir darin den Gedanken der Stellvertretung. Noch mehr aber tritt die gesegnete Wahrheit der
Stellvertretung in den Sündopfern ans Licht, welche von
Israeliten dargebracht wurden, die von irgend einer Sünde
überführt waren. Indem sie diese Sünde bekannten,
legten sie ihre Hände auf den Kopf des Opfertieres und
übertrugen auf diese Weise gleichsam die Sünde auf das
Opfer; dann wurde dieses getötet, sein Blut gesprengt
und sein Fett verbrannt, und das Wort Gottes erklärte,
daß auf diesem Wege die Sühnung geschehen und auf
Grund dessen dem Opfernden vergeben sei. In dem unsrer
Betrachtung zu Grunde liegenden Kapitel nun werden
zwei Böcke zum Sündopfer ausgewählt. Der erste war
für Jehova und wurde, wie wir oben gesehen haben, geschlachtet, und sein Blut wurde ins Heiligtum gebracht;
der zweite war für das Volk. Dieser wurde nicht geschlachtet, sondern Aaron legte seine beiden Hände auf den
Kopf desselben und bekannte auf ihn alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle ihre Uebertretungen
nach allen ihren Sünden; auf diese Weise legte er alle
diese Sünden auf den Bock, und dann wurde derselbe
durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste geführt.
Wir sehen somit vorbildlich alle Sünden des Volkes
183
auf einen Andern gelegt und hinweggethan. Und wenn
einst Israel in sein Land zurückgekehrt ist und der gläubige Ueberrest erkennen wird, wie ihr Messias um ihrer
Sünden willen gelitten hat und gestorben ist, so werden
sie das Lied der Befreiung und der dankbaren Freude
anstimmen und sagen: „Fürwahr, Er hat unsre Leiden
getragen, und unsre Schmerzen hat Er auf sich geladen;
und wir, wir hielten Ihn für heimgesucht, von Gott geschlagen und unterdrückt. Aber Er ist um unsrer Uebertretungen willen verwundet, um unsrer Ungerechtigkeiten
willen ist Er zerschlagen; die Strafe unsers Friedens war
auf Ihm, und durch Seine Striemen sind wir geheilt.
Wir irrten alle wie Schafe, wir wandten uns ein jeder
auf seinen Weg, und Jehova hat Ihn treffen lassen unser
aller Ungerechtigkeit." (Jes. 53, 4—6.)
Das ist Stellvertretung. Jehova legte die
Ungerechtigkeiten und Sünden Seines Volkes auf Christum
und richtete sie alle auf Ihm. Nur Gott konnte das thun.
Er allein konnte die Sünden gleichsam von uns trennen
und sie auf einen Andern legen; und Er hat es gethan
zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade. Dafür danken
wir Ihm jetzt; und dereinst, in den Tagen des tausendjährigen Reiches, wird auch Israel die Güte Jehovas
jubelnd preisen. Sie werden Ihn nicht nur loben, weil
Er alle ihre Ungerechtigkeiten vergiebt und alle ihr Krankheiten heilt, sondern sie werden auch hinzufügen: „So
weit der Osten ist vom Westen, hat Er von uns entfernt
unsre Uebertretungen." (Ps. 103, 3. 12.) Sie werden
dann erkennen, daß ihre Sünden von ihnen genommen
und auf Christum gelegt wurden, und daß Er für sie
verwundet und zerschlagen worden ist. Ich sage noch ein­
184
mal: Das ist Stellvertretung; und wir dürfen
hinzufügen, daß nach der Lehre des Neuen Testaments
Gott nach demselben Grundsatz mit unsern Sünden handelt. Der Herr Jesus sagte an dem letzten Abend Seines
Zusammenseins mit den Jüngern, daß Sein Blut vergossen werden würde für Vi ele zur Vergebung der Sünden ; und im Hebräerbrief werden wir belehrt, daß der
Herr einmal geopfert worden ist, um die Sünden
Vieler zu tragen. Wenn ferner ein Prophet des Alten
Testaments erklärt: „Er wird ihre Ungerechtigkeiten
auf sich laden," so sagt der Apostel der Beschneidung:
„ . . . welcher selbst unsre Sünden an Seinem Leibe
auf das Holz getragen hat, auf daß wir, den Sünden
abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch dessen Striemen ihr heil geworden seid." (Matth. 26, 28; Hebr.
9, 28; Jes. 53, 11; 1. Petri 2, 24.) In allen diesen
Stellen wird die Wahrheit der Stellvertretung in klarster
Weise vor uns gestellt. Unsre Sünden wurden auf Jesum
gelegt, Er selbst trug sie, und wir sind durch Seine Striemen heil geworden. An einer andern Stelle lesen wir,
daß „Er einmal für Sünden gelitten hat, der Gerechte
für die Ungerechten, auf daß Er uns zu Gott führe;"
und wiederum heißt es, „daß Christus gestorben ist für
unsre Sünden, nach den Schriften." Wir sehen also, wie
vollkommen und wahrhaftig der Herr Jesus unser Stellvertreter gewesen ist, sowohl in dem Tragen unsrer Sünden,
als auch in der Erduldung des gerechten Gerichts, welches
dieselben über uns herabriefen.
Indes ist Christus nicht nur um unsrer Uebertretungen willen dahingegeben worden, sondern Er, der keine
Sünde kannte, wurde auch „für uns zur Sünde ge­
185
macht" und trug so an unsrer Statt das Gericht, welches der Sünde im Fleische, unsrer alten Natur, gebührte.
Deshalb werden wir in Röm. 6, 6 belehrt, „daß unser
alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, auf daß der Leib
der Sünde abgethan sei." Nachdem „das Fett des Sündopfers" auf dem Altar verbrannt worden war, zum Zeichen, daß Gott den Wert des Opfers völlig anerkannte
und schätzte, wurden das Fleisch, die Haut und der Mist
des Opfertieres außerhalb des Lagers gebracht und dort
verbrannt; alles wurde als unrein behandelt und stellte
so Christum als Den dar, der „für uns zur Sünde gemacht" wurde und für uns dem göttlichen Gericht begegnen mußte, als Gott „die Sünde im Fleische verurteilte."
Auf diese Weise ist die Natur, aus welcher die Sünden
hervorgehen, gerichtet und in dem Tode Christi in gerechtem, göttlichem Gericht beseitigt worden. „Denn das
dem Gesetz Unmögliche . . . that Gott, indem Er, Seinen eignen Sohn in Gleichheit des Fleisches der Sünde
und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleische
verurteilte." (Röm. 8, 3.) Deshalbbefinden wir uns
jetzt nicht mehr „im Fleische," in unsrer alten Natur und
Stellung, vor Gott: „Ihr seid nicht im Fleische, sondern
im Geiste, wenn anders der Geist Gottes in euch wohnt."
Nachdem Christus aus deu Toten auferstanden und verherrlicht worden ist, hat Er Seinen Geist in unsre Herzen
gesandt. Unsre ganze Stellung vor Gott ist verändert;
obwohl das Fleisch noch in uns ist, so sind wir doch nicht
mehr im Fleische, sondern im Geiste.
Wie vollkommen ist daher das Vorbild in Christo
und Seinem Versöhnungswerke erfüllt worden! Alle unsre
Ungerechtigkeiten, alle unsre Uebertretungen nach allen
186
unsern Sünden sind nicht mehr, sie sind für ewig Hinwegmethan. Ein gerechter Gott und Heiland kann von allen, die
da glauben, sagen: „Ich werde ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten nie mehr gedenken." (Hebr. 10, 17.) Zugleich
kann von dem Gläubigen, von einem jeden, der in Christo
ist, gesagt werden: „Er ist eine neue Schöpfung; das Alte
ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden." (2. Kor.
ö, 17.) So vollkommen und wirklich ist das Werk Christi
sür uns.
Doch das ist noch nicht alles. Wir sind auch annehmlich gemacht in dem Geliebten. Nachdem
der Hohepriester das Blut in das Allerheiligste gebracht
und es auf und vor den Gnadenstuhl gesprengt hatte,
nachdem er dann wieder hinausgegangen war und alle
die Sünden der Kinder Israel auf den Kopf des zweiten
Bockes bekannt und diesen in ein ödes Land fortgeschickt
hatte, nahm er sein Brandopfer und das Brandopfer des
Volkes, um Sühnung zu thun für sich und für das
Volk. Das Brandopfer war ein Opfer lieblichen Geruchs;
es handelte sich dabei nicht um Sünden, wie bei dem Sündopfer. Indes finden wir, daß es, wie jenes, getötet, daß
sein Blut gesprengt wurde w. Auch mußte der Opfernde
seine Hände auf den Kopf des Opfers legen; allein —
und das ist der große, bemerkenswerte Unterschied zwischen
dem Brand- und dem Sündopfer — dies geschah nicht,
um die Sünden des Opfernden auf das Opfertier zu übertragen, sondern vielmehr um jenen der Annehmlichkeit und
Wohlgefälligkeit des Opfers vor Gott teilhaftig zu machen.
Wir lesen deshalb in dem Bericht über das Brandopfer
(3. Mose 1.): „und es wird zum Wohlgefallen für
ihn (den Opfernden) fein, um Sühnung für ihn zu
187
t h n n." Das Versöhnungswerk schließt daher auch die kostbare Wahrheit ein, daß wir um Christi willen annehmlich und wohlgefällig vor Gott geworden sind. Der
Opfernde war wohlgefällig durch sein Braudopfer. Ohne
Zweifel ist dies der Grund, weshalb dieses Opfer in unserm Kapitel zuletzt erwähnt wird, nachdem die Frage
der Sühnung und Stellvertretung bereits geordnet war.
Das Brandopfer war höchst angenehm für Gott. Das
ganze Opfer wurde auf dem Altar verbrannt als ein 
Feueropfer lieblichen Geruchs dem Jehova. So offenbarte
das Gegenbild, der Tod Christi, in seinem Charakter als
Brandopfer, unter den vernichtenden Schlägen des göttlichen Gerichts, die ganze Vollkommenheit Seines Gehorsams, Seiner Liebe, Seines Glaubens und Seiner gänzlichen Unterwerfung unter den Willen Gottes inmitten der
schwierigsten Umstände, und er war deshalb von unendlichem Werte, überaus kostbar und wohlgefällig vor Gott.
In ihm fand Gott einen lieblichen Geruch, einen Geruch
der Ruhe; und da das, was unser Heiland that, ebensosehr für uns war, wie es zur Verherrlichung Gottes gereichte, so ist Sein Tod auch zum Wohlgefallen für uns.
Der Gläubige ist daher nicht nur von aller Schuld und
Verdammnis befreit, sondern er ist auch zu Gott gebracht
und ist annehmlich und wohlgefällig vor Ihm, kraft des
einen Opfers, welches ein für allemal vollbracht worden
ist. Seine Sünden sind auf Jesum gelegt und für ewig
hinweggethan worden, und andrerseits ist die ganze Annehmlichkeit des Opfers, die ganze Wohlgefälligkeit Christi,
auf ihn übertragen. Ja, er ist annehmlich gemacht in
dem Geliebten. Welch eine wunderbare Sache! Welch
eine anbetungswürdige Liebe!
188
Unser Glaube und unsre Hoffnung gründen sich
also auf den lebendigen Gott selbst. Es war Gott, der
Seinen Sohn sandte; es war Gott, der Ihn für uns
alle in Tod und Gericht gehen ließ, der Ihn aus den
Toten auferweckte und Ihn als Mensch zu Seiner
Rechten erhöhte und mit Ehre und Majestät krönte. Es
ist Gott, der immer noch die frohe Botschaft des ewigen
Heils in Christo verkündigen läßt; es ist Gott, der den
Gottlosen, welcher im Glauben zu Jesu eilt, rechtfertigt;
eS ist Gott, zu dem wir jetzt durch den Glauben an Christum Jesum gebracht sind; es ist die Liebe Gottes, welche
in unsre Herzen ausgegossen ist durch den Heiligen Geist,
der uns gegeben ist; es ist Gott, der uns durch Seine
Macht durch Glauben bewahrt zur Errettung; und es ist 
der Sohn Gottes, den wir vom Himmel erwarten, um
uns in das Vaterhaus aufzunehmen, damit wir stets dort
seien zum Preise Seiner Herrlichkeit.
Gepriesen und angebetet sei Sein hoher und heiliger
Name in alle Ewigkeit durch Jesum Christum, unsern Herrn l
„Denn drei sind, die da zeugen."
(1. Joh. 5, 7.)
Nach göttlicher Anordnung mußte in Israel jede
Sache durch die Aussage zweier oder dreier Zeugen bestätigt werden, wodurch die Gewißheit derselben untrüglich festgestellt wurde. (5. Mose 19, 15.) So auch wird
uns in der oben angeführten Stelle das Zeugnis, daß 
Gott uns das ewige Leben gegeben hat, durch drei Zeugen einstimmig bestätigt, damit wir in dieser höchst wichtigen Sache durchaus keinen Zweifel, sondern vielmehr
189
völlige Gewißheit haben sollten. Wir bedurften einer
solchen Gewißheit umsomehr, als unsre ganze Stellung
vor Gott, oder mit andern Worten, das Wesen des
Christentums auf der Thatsache beruht, daß wir das
ewige Leben haben. Ohne das würden wir keine Gemeinschaft mit Gott in christlichem Sinne haben können,
und würden deshalb auch des Trostes, des Friedens, der
Freude und der Kraft ermangeln, welche dieser Gemeinschaft entspringen; ja, unser ganzes Christentum würde
eine bloße Form, eine wertlose Sache, und unsre Hoffnung
eine schreckliche Selbsttäuschung sein. Eben deshalb besteht
auch der Apostel Johannes so sehr auf dieser Gewißheit
des ewigen Lebens, als dem eigentlichen Wesen des
Christentums, daß er seine erste Epistel mit den Worten
einleitet: „Was von Anfang war, was wir gehört, was
wir mit unsern Augen gesehen, was wir angeschaut und
unsre Hände betastet haben, betreffend das Wort des
Lebens; (und das Leben ist geoffenbart worden, und wir
haben gesehen und zeugen und verkündigen euch das ewige
Leben, welches bei dem Vater war und unS geoffenbart
worden ist;) was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir euch, auf daß auch ihr mit uns Gemeinschaft
habet; und zwar ist unsre Gemeinschaft mit dem Vater
und mit Seinem Sohne Jesu Christo. Und dies schreiben
wir euch, auf daß eure Freude völlig sei." (Kap. 1,1—4.)
Auch wenn er in seinem Evangelium vom ewigen
Leben spricht, thut er es nicht in alttestamentlichem, sondern in christlichem Sinne. Er geht dort über das Judentum hinaus und stellt Christum als den Sohn Gottes
dar, der, verworfen von Israel und der Welt, den Vater
und, in Verbindung damit, das ewige Leben offenbart.
190
„Dies aber ist das ewige Leben, daß sie Dich, den allein
wahren Gott, und den Du gesandt hast, Jesum Christum,
erkennen." (Kap. 17, 3.) Er giebt dadurch der Stellung
des Gläubigen einen göttlichen und himmlischen Charakter.
Dementsprechend zeigt er, daß der Besitz des ewigen Lebens den Gläubigen außerhalb des Bereiches des Gerichts und des Todes stellt. „Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: Wer mein Wort hört und glaubt Dem, der mich
gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tode in das Leben hinübergegangen." (Kap. 5, 24.)
Das Leben ist also in Christo geoffenbart und uns
von den Aposteln verkündigt worden, und wir besitzen es
in dem Sohne, das heißt in Dem, der gestorben und
auferstanden ist, der Leben und Unverweslichkeit ans Licht
gebracht hat. Wir konnten dieses Lebens nur dadurch
teilhaftig werden, daß Christus für uns starb und, triumphierend über Tod und Grab, wieder auferstand. Er
selbst sagt zu Nikodemus: „Und gleichwie Moses in der
Wüste die Schlange erhöhte, also muß der Sohn des
Menschen erhöht werden, auf daß jeder, der an Ihn
glaubt .... ewiges Leben habe;" und später, als einige
Griechen Ihn zu sehen wünschten: „Wahrlich, wahrlich,
ich sage euch: wenn das Weizenkorn nicht in die Erde
fällt und stirbt, so bleibt es allein; wenn es aber stirbt,
so bringt es viele Frucht." (Joh. 3, 14. 15; 12, 24.)
Darum sagt der Apostel auch in der Stelle, welche uns
augenblicklich beschäftigt: „Dieser ist es, der gekommen ist
durch Wasser und Blut," das heißt durch den Tod. Denn
Wasser und Blut kamen aus Seiner durchbohrten Seite
hervor, zum Zeichen Seines wirklich eingetretenen Todes.
1S1
Das erste diente zur Reinigung des Sünders, das zweite
zur Versöhnung; und dies war es, was wir bedurften,
um das ewige Leben empfangen zu können.
Wir haben hier die vollkommene Reinigung, welche
gleichzeitig mit der Versöhnung ein für allemal am Kreuze
vollbracht wurde. Wir waren nicht allein verunreinigt
durch unser Leben und unsern Wandel; auch unser Zustand als Kinder des gefallenen Adam war völlig unrein
und verderbt. Christus kam, um uns zu reinigen von
jeder Unreinigkeit. Er war der Reine und Fleckenlose,
welcher für uns am Kreuze starb, nachdem Er durch Sein
Leben hienieden Gott vollkommen verherrlicht hatte. Dort
hat Er die Reinigung vollbracht, indem Er durch Seinen
Tod nicht allein unsre Sünden tilgte, sondern auch durch
denselben unsern Zustand als Menschen im Fleische zum
endgültigen Abschluß brachte. Dies war die Reinigung
nach den Gedanken Gottes und der einzig mögliche Weg,
auf welchem sie vollbracht werden konnte. Unser natürlicher Zustand findet seinen wahren Ausdruck in dem
Worte „Sünde," und diese konnte selbstredend ihrer Natur
nach weder verbessert noch verändert, sondern mußte einfach auf dem Wege des Gerichts beseitigt werden. Der
Tod ist der Sünde Sold, und Christus hat aus freier
Liebe diesen Tod zur Abschaffung der Sünde für uns
erduldet. „Jetzt aber ist Er einmal in der Vollendung
der Zeitalter geoffenbart worden zur Abschaffung
der Sünde durch das Schlachtopfer Seiner selbst."
<Hebr. 9, 26.) „Unser alter Mensch ist mitgekreuzigt
worden, auf daß der Leib der Sünde abgethan
sei." (Röm. 6, 6.)
Aber das ist nicht alles; Christus war der Sohn
192
Gottes und ging als solcher in der Macht des Lebens
siegreich aus dem Tode hervor, nachdem Er unser Stellvertreter gewesen und gleichsam unsre Sünden samt unserm alten Menschen im Grabe zurückgelassen hatte. Wir
kennen Ihn jetzt nicht mehr nach dem Fleische, sondern
nach Seiner neuen Stellung als Auferstandener, in welcher
wir eins mit Ihm sind. (2. Kor. 5, 16. 17.) Wir kennen
Ihn als den Sohn Gottes, der durch den Tod hindurchgegangen ist — Er ist gekommen durch Wasser und Blut.
Und auferweckt mit Ihm, blicken wir auf die für uns vollbrachte Reinigung als auf eine für immer beendete Thatsache zurück. Wir haben, was unsre Stellung vor Gott
betrifft, geendet mit dem Leben, welches wir in dem ersten
Adam hatten, und besitzen es jetzt in dem zweiten. Zwar
befinden wir uns noch hienieden in einem sterblichen Leibe,
und haben deshalb diese Stellung durch den Glauben zu 
verwirklichen. Darum steht auch geschrieben: „Denn das
Er (Christus) gestorben ist, ist Er ein für allemal der
Sünde gestorben; das Er aber lebt, lebt Er Gott. Also
anch ihr, haltet euch der Sünde für tot, Gott
aber lebend in Christo Jesu." (Röm. 6, 10. 11.)
Die praktische Reinigung durch das Wort ist
eine andere Sache. Sie beginnt mit der Wiedergeburt
oder Bekehrung des Sünders und geht voran bis zu seiner tadellosen Darstellung in Herrlichkeit. Erst dann,
wenn wir bei der Ankunft des Herrn mit verherrlichten
Leibern Ihm entgegengerückt werden in Wolken in die 
Luft, ist diese Reinigung zur praktisch vollendeten Thatsache geworden. Alsdann werden wir Ihm gleich sein
und Ihn sehen, wie Er ist. (1. Joh. 3, 2.) Diese Reinigung ist also die Wirkung der wiedergebärenden und
193
lebendigmachenden Kraft des Wortes. Dasselbe Wort,
welches jetzt den geistlich toten Sünder lebendig macht,
wird die durch den Herrn Entschlafenen aus den Gräbern
rufen und die noch lebenden Heiligen verwandeln. Dasselbe Wort erweist sich jetzt an den Gläubigen auf ihrem
Wege zur Herrlichkeit „lebendig und wirksam und schärfer
als jedes zweischneidige Schwert," um sie zu reinigen und
zu läutern. (Hebr. 4, 12.)
Aber auch selbst diese Reinigung durch das Wort ist
auf den Tod Christi gegründet. Wenn der Herr während
Seines Lebens hienieden die geistlich Toten ins Leben rief
durch Sein Wort, so that Er dies in Seinem Charakter
als Sohn Gottes. Aber die Offenbarung dieses Charakters
setzt immer Seinen Tod voraus. „Wenn das Weizenkorn
nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt eS allein."
Unmöglich konnten dauernde und ewige Beziehungen zwischen
Gott und einem gefallenen Geschöpf anders hergestellt werden, als auf Grund des Todes Christi.
UeberdieS hat die Reinigung durch das Wort bis zu 
ihrem Ende hin nur den Zweck, uns praktisch mit der
Stellung in Einklang zu bringen, welche wir jetzt schon
durch den Tod und die Auferstehung Christi vor Gott
haben. Jemehr wir daher diese Stellung in der Macht
des Geistes einnehmen, desto mehr stehen wir im Einklang
mit dem Worte und den Absichten Gottes. Wir befinden
uns alsdann in dem praktischen Genuß der Gemeinschaft
mit dem Vater und mit Seinem Sohne Jesu Christo.
Uns dort zu haben, ist die Absicht Gottes, gemäß Seinen ewigen Ratschlüssen, und der Endzweck Seiner Wege
mit uns.
Das aus der durchbohrten Seite unsers teuren Hei-
194
landes hervorgekommene Wasser und Blut bezeugen uns
also nicht nur die Wirklichkeit Seines Todes, sondern auch
die Wahrheit unsrer dadurch bewirkten vollkommenen Reinigung. Indes hat Christus durch Seinen Tod nicht nur
unsre Reinigung, sondern auch unsre Versöhnung bewirkt. Er ist nicht gekommen „durch das Wasser allein,
sondern durch das Wasser und das Blut." Das ist 
von der höchsten Wichtigkeit. Wir waren nicht nur verunreinigt, sondern hatten auch, was noch weit schlimmer 
war, Gott durch unsre Sünden auf die schrecklichste Weise
verunehrt und beleidigt. Die Heiligkeit und Gerechtigkeit
Gottes, ja Seine ganze Herrlichkeit und Majestät als Gott
waren in Frage gestellt. Wie göttlich vollkommen auch
Seine Liebe, Gnade und Barmherzigkeit sein mochten,
und wie groß Seine Langmut und Geduld, so mußte Er
dennoch nach der Gerechtigkeit und heiligen Majestät Seines Wesens die Bestrafung des Sünders fordern. Und
welche Bestrafung hätte den Anforderungen der göttlichen
Gerechtigkeit genügen können? Eine blos zeitliche? Oder
der leibliche Tod? Oder etwa die Vernichtung des Sünders, wie man sie heute lehrt? Nein, alles das genügte
nicht. Nur der Feuersee mit seinen ewigen Qualen ist die
entsprechende Antwort der Heiligkeit Gottes auf die Sünde.
Ach! wir verstehen wenig davon, was die Sünde in den
Augen Gottes ist. Unsre Begriffe sind zu schwach, um die
Größe der Heiligkeit Gottes und die Schrecklichkeit der
Sünde zu ermessen. Eine einzige Handlung des Ungehorsams im Garten Eden - genügte, um die Verdammnis
über Adam und alle seine Nachkommen zu bringen.
(Röm. 5, 18.)
Wer könnte daher ergründen, was Christus gelitten
195
hat, als Er das Versöhnungswerk für uns vollbrachtes
„Ihn, der Sünde nicht kannte, hat Er (Gott)
für uns zur Sünde gemacht." Er war geradezu das
Gegenteil von dem, wozu Er am Kreuze gemacht wurde.
Er, der Sünde nicht kannte, Er, die Heiligkeit selbst,
wurde zur Sünde gemacht. Er, der hienieden Gott verherrlicht hatte durch einen vollkommenen Gehorsam, von
welchem selbst ein ungerechter Richter sagen mußte: „Ich
finde keine Schuld an Ihm;" Er, der Gegenstand der^
Wonne Gottes, wurde an unsrer Statt zu dem gemacht,
was in den Augen Gottes ein Greuel ist.
Geliebter Leser! Siehe die Angst Seiner heiligen Seele
in Gethsemane; höre, wie Er dort Bitten und Flehen mit:
starkem Geschrei und Thränen Gott opfert; (Hebr. 5, 7.)
vernimm den Schrei tiefster Not und Seelenaugst am 
Kreuze: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich
verlassen?" — und erkenne, was die Sünde in den
Augen eines heiligen Gottes ist! Wenn aber der Heilige,
der Geliebte und Auserwählte Gottes an unsrer Statt
also behandelt wurde, „wo will der Gottlose und Sünder erscheinen?" (1. Petr. 4, 18.) Wahrlich, nur der
Feuerfee ist das Test eines jeden, der nicht als ein verlorner Sünder durch den Glauben an das kostbare Blut:
Christi errettet wird.
(Schluß folgt.)
Bruchstücke.
Um wahrhaft demütig zu sein, ist es nötig, mit Gott
zu wandeln in dem Verständnis und der Kraft der Beziehungen, in welche Er uns gestellt hat. Er hat uns-
196
Zu Seinen Kindern gemacht, und wenn wir einfach als
solche wandeln, werden wir demütig sein.
Wir versammeln uns um den Tisch des Herrn als
solche, welche sich eines vollständigen Sieges erfreuen können.
Wir blicken zurück auf das Kreuz, wo der Kampf gekämpft und der Sieg errungen wurde, und wir blicken
zugleich vorwärts auf die Herrlichkeit hin, wo wir bald
in die völligen und ewigen Resultate des Sieges eintreten werden.
Wir werden als Gläubige nicht aufgefordert, auf
unsre Sünden zu blicken, sondern auf Den, der sie am 
Kreuze trug und für immer hinweggethan hat.
Wir haben stets zu wachen, daß wir nie über die
Energie des Geistes, wie sie sich in dem betreffenden
Augenblick offenbart, hinausgehen. Denn unter Seiner
Leitung werden wir stets mit Christo beschäftigt sein.
Wenn der Heilige Geist „fünf Worte" der Anbetung oder 
Danksagung in uns erzeugt, so laßt uns dieselben aussprechen und dann schweigen. Gehen wir darüber hinaus,
so heißt dies mit anderen Worten, das Fleisch des Opfers
am dritten Tage essen, welches nicht „zum Wohlgefallen,"
sondern „ein Greuel" war. (Vergl. 3. Mose 7, 18.)
Nichts hat nach dem Urteil Gottes irgend welchen
Wert, was nicht in unmittelbarer Verbindung mit Christo
steht. Sehen wir daher zu, daß Christus die Grundlage
und den Stoff, und der Heilige Geist die Kraft unsrer
Anbetung bilde; und tragen wir Sorge, daß die äußere
Handlung unsrer Anbetung nicht über die innere Kraft
hinausgehe.
-----------------
„Denn drei sind, die da zeugen."
(1. Joh. 5, 7.)
(Schluß.)
Gott allein kann die Leiden Christi in ihrer ganzen
Größe verstehen und nach ihrem vollen Werte schätzen.
Sicher ist der Tod Seines vielgeliebten Sohnes teuer in
Seinen Augen. Aber gerade deshalb hat auch die durch
denselben vollbrachte Versöhnung einen so unendlichen
Wert vor Ihm. Nicht allein ist durch den Versöhnungstod
Christi die Gerechtigkeit Gottes betreffs unsrer Sünden
vollkommen befriedigt, sondern auch Seine Heiligkeit und
Majestät sind in der erhabensten Weise ans Licht gestellt
und verherrlicht worden. Zugleich ist durch denselben Seine
Liebe für den verlornen Sünder geoffenbart und diesem
zugänglich gemacht worden. „Hierin ist die Liebe Gottes
Zu uns geoffenbart worden, daß Gott Seinen eingebornen
Sohn gesandt hat in die Welt, auf daß wir durch Ihn
leben möchten. Hierin ist die Liebe: nicht, daß wir Gott
geliebt haben, sondern daß Er uns geliebt und Seinen
Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsre Sünden."
<1. Joh. 4, 9. 10.) Wir kennen jetzt Gott als Den,
der in einer Weise für uns ist, daß Er selbst „Seines
eignen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für
uns alle hingegeben hat." (Röm. 8, 31. 32.) Wir nahen
Ihm auf Grund eines Werkes, durch welches Er auf's
Höchste verherrlicht worden ist, und wir sind vor Ihn ge­
198
stellt entsprechend dem vollen Werte dieses Werkes. Deshalb können wir den Wert des Todes Christi und die
durch denselben vollbrachte Versöhnung nie zu hoch schätzen.
Er wird die ganze Ewigkeit hindurch den Gegenstand unsrer
Unterhaltungen, sowie den Beweggrund unsers Lobes und
unsrer Anbetung bilden. Wo wäre die Liebe Gottes, wenn
Er nur nach Seiner Gerechtigkeit mit uns gehandelt hätte,
wie wir es verdient haben? Und wo wäre wiederum Seine
Gerechtigkeit, wenn Er nur nach Seiner Liebe mit uns
handeln wollte? Wer vermochte hier einen Ausweg zu 
finden, der sowohl der Gerechtigkeit als auch der Liebe
Gottes zugleich vollkommen entsprochen hätte? Ach! so wie
„niemand in dem Himmel, noch auf der Erde, noch unter
der Erde" das versiegelte Buch in der Rechten Dessen,
der auf dem Throne saß, zu öffnen noch es anzublicken
vermochte, so war auch niemand in dem ganzen Weltall
fähig, auch nur mit einem Finger an dieses große Werk
der Versöhnung zu rühren. „Keineswegs vermag ein
Mensch seinen Bruder zu erlösen, noch kann er Gott sein
Lösegeld geben, (denn kostbar ist die Erlösung ihrer Seele,
und er muß davon abstehen auf ewig.") (Ps. 49, 7. 8.)
Wer hätte inmitten der Wogen des göttlichen Gerichts
stehen können, ohne von denselben für immer verschlungen
zu werden? Wer hätte auch uur ihren Anblick zu ertragen
vermocht? Wer hätte den Kampf mit der Macht der
Finsternis aufnehmen können, was doch nur eine Sache
von untergeordneter Bedeutung war gegenüber den Schrecken
des göttlichen Gerichts? Und dennoch, welch ein Kampf
war dieses! „Lege deine Hand an ihn, gedenke des Kampfes;
du thust es nicht wieder. Siehe, seine Hoffnung ist betrogen; wird er nicht schon vor seinem Anblick niederge­
199
worfen? Niemand ist so kühn, daß er ihn aufwecke; und
wer ist, der vor meinem Antlitz stehen würde?"
(Hiob 40, 27. 28; 41, 1.)
Der Sohn Gottes allein, gepriesen sei Sein teurer
Name! hat einen Ausweg gefunden, indem Er herniederkam, um als Mensch Sein Leben für uns zu lassen; und
Sein kostbares Blut ist der untrügliche, ewige Zeuge,
daß das große Werk der Versöhnung vollbracht ist.
„Weine nicht!" konnte darum der Aelteste dem trauernden
Propheten zurufen, „siehe, es hat überwunden der Löwe,
der aus dem Stamme Juda ist." Und so können auch
wir jetzt einem jeden zurufen, der bekümmert und niedergebeugt ist um das Heil seiner Seele: Weine nicht!
Glaube an Jesum! Das, was niemand vollbringen konnte,
hat Er vollbracht. Er hat die Reinigung unsrer
Sünden und die Versöhnung zuwege gebracht; das Wasser
und das Blut, welche aus Seiner durchbohrten Seite geflossen sind, bezeugen es uns. Darum glaube nur! Unsre
Erlösung war der Wille Gottes; und Christus kam freiwillig, um diesen Willen zu erfüllen, wie geschrieben steht:
„Darum, als Er in die Welt kommt, spricht Er: „Schlachtopfer und Speisopfer hast Du nicht gewollt, einen Leib
aber hast Du mir bereitet; an Brandopfern und Opfern
für die Sünde hast Du kein Wohlgefallen gefunden. Da
sprach ich: Siehe, ich komme, (in der Rolle des Buches
steht von mir geschrieben) um Deinen Willen, o Gott, zu
thun."" (Hebr. 10, 5—7.) Wie feierlich klingt diese
Sprache des Sohnes dem Vater gegenüber! Nichts könnte
für das Herz Gottes kostbarer sein, als die Erfüllung
dieses Werkes, durch welches es Ihm so zu sagen ermöglicht wurde, sich in der ganzen Herrlichkeit und Vollkom­
20S
menheit dessen zu zeigen, was Er ist. Nicht nur ist jetzt
das geoffenbart, was Er ist für den verlornen Sünder,
sondern auch das, was Er in sich selbst ist. Deshalb sagt
auch der Herr Jesus: „Darum liebt mich der Vater,
weil ich mein Leben lasse." (Joh, 10, 17.)
Was ist nun die Antwort Gottes auf das große
Werk der Versöhnung im Blick auf den teuren Herrn
selbst? Gott hat Ihn auferweckt aus den Toten. Nachdem das Werk vollbracht und alle die Wogen und Wellen
des göttlichen Gerichts über das Haupt des Stellvertreters
hingegangcn waren, offenbarte sich Gott in Seiner ganzen
Herrlichkeit als Vater, indem Er Seinen inniggeliebten
Sohn aus dem Grabe hervorrief. (Röm. 6, 4.) Und
„Er hat Ihn hoch erhoben und Ihm einen Namen gegeben,
der über jeden Namen ist, auf daß in dem Namen Jesu
jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und
Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, daß Jesus Christus
Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters." (Phil.
2, 9—11.) Er muß in allen Dingen den Vorrang haben
und wird dereinst das Haupt von allem sein, was in
den Himmeln und was auf der Erde ist. (Eph. 1, 10;
Kol. 1, 18.)
In Offenbarung 5 erblicken wir Jesum als den
großen Mittelpunkt aller Herrlichkeit. Er steht inmitten
des Thrones und der vier lebendigen Wesen und inmitten der Aeltesten. (V. 6.) Im 11. Verse tritt dann
noch das unzählige Heer der Engel in den Kreis ein;
und in Vers 13 erweitert sich der Kreis noch einmal,
indem die ganze Schöpfung mit einstimmt in das allgemeine Lob: „Alle Kreatur, die in dem Himmel und auf
der Erde und unter der Erde und auf dem Meere
201
ist . . . Das ganze Weltall ist zu einem gewaltigen
Chor vereinigt, um Dem, der auf dem Throne sitzt, und
dem Lamme Segnung, Ehre, Herrlichkeit und Macht darzubringen. Allein nur die Aeltesten geben, in Verbindung
mit den vier lebendigen Wesen, den Beweggrund des allgemeinen Lobes an, nicht die Engel, noch die übrige
Schöpfung. Sie sagen: „Du bist würdig, das Buch zu
nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn Du bist
geschlachtet worden und hastfürGott erkauft,
durch Dein Blut, aus jedem Geschlecht und Volk und
Sprache und Nation rc. rc." Sie erkennen den Wert
und die Tragweite der Todes Christi und die dadurch
geoffenbarte moralische Herrlichkeit Seiner Person. Sie
verstehen, daß der Tod die einzig feste Grundlage war,
auf welcher die Beziehungen zwischen Gott und einer
gefallenen Schöpfung wiederhergestellt werden konnten.
Darum erscheint ihnen die moralische Herrlichkeit des
Sohnes Gottes, der allein fähig war, diese Grundlage
durch das Leiden des Todes zu schaffen, in weit höherem
Glanze als alle andern Herrlichkeiten, wie überaus groß
diese auch sein mögen. Er, „das Lamm wie geschlachtet," ist der Mittelpunkt des Thrones und aller
Herrlichkeiten des ganzen Weltalls. Die Gefühle der
Freude und Wonne, welche das Anschauen dieser persönlichen Herrlichkeit des Lammes in den Herzen der Aeltesten
wachruft, finden ihren Widerhall in dem Herzen Gottes
selbst. Ihre Gedanken und alle ihre Zuneigungen sind
mit den Seinigen in diesem einen, über alles kostbaren
Gegenstand vollkommen vereinigt. Darum entdecken wir
auch nur bei ihnen das, was sich nirgendwo anders in
dieser herrlichen Scene findet: „sie fallen nieder und
202
beten an." Wie mächtig und ergreifend auch das Lob
sein wird, mit welchem die Menge der himmlischen Heerscharen die Würde des Lammes erheben, und wie gewaltig
das Echo, welches diese Erhebung in der ganzen Schöpfung
finden wird, so übertrifft doch nichts die Süßigkeit und
Innigkeit des Vorrechtes einer solchen Anbetung. Nichts
kann dem Herzen Gottes mehr entsprechen als diese Anbetung; keine Freude kann größer sein für den Anbeter
selbst, als die Ausübung derselben. Denn sie entspringt
der Kostbarkeit ihres Gegenstandes, während sie zugleich
den Anbeter völlig in diesen versenkt. Welch ein Vorrecht! Und siehe, sie ist jetzt schon das Teil eines jeden
Gläubigen, der Seinen Ruhort in Christo gefunden hat;
er kann einstimmen in die Worte des Dichters:
Auf dem Lamm ruht meine Seele,
Betet voll Bewundrung an.
Alle, alle meine Sünden
Hat Sein Blut hinweggethan.
Sel'ger Rnhort! — süßer Friede
Füllet meine Seele jetzt;
Da, wo Gott mit Wonne ruhet,
Bin auch ich in Ruh' gesetzt.
Das also ist die Antwort Gottes auf das Werk der
Versöhnung im Blick auf den Herrn. Und welches ist
Seine Antwort in bezug auf uns? Er hat uns das
ewige Leben gegeben. „Und dies ist das Zeugnis:
daß Gott uns das ewige Leben gegeben hat, und dieses
Leben ist in Seinem Sohne." Wir haben das Leben im
Sohne; es ist das Leben, „welches bei dem Vater war
und uns geoffenbart worden ist." Wir besitzen es also
203
in der ganzen Vollkommenheit und Reinheit seiner Quelle.
Der Sohn Gottes, der von Ewigkeit her bei dem
Vater war, ist die Quelle dieses Lebens, und darum ist
es das ewige Leben. Es ist uns gegeben; aber wir
besitzen es in dem Sohne, in der Ihm eignen Vollkommenheit der göttlichen Natur. Nichts könnte köstlicher sein
als das. Das Leben ist geoffenbart worden in der Welt;
aber es war schon, ehe die Welt war. Und selbst als
es im Gewände der Menschheit eine sündige Welt durchschritt, büßte es dadurch nichts ein von seiner göttlichen
Vollkommenheit; es bewahrte dieselbe, während es durch
alle Verhältnisse dieses Lebens, wie die Sünde sie gestaltet
hat, und selbst durch den Tod hindurchging. Es ist,
seiner Natur gemäß, unantastbar von dem Bösen. Darum
steht geschrieben: „Jeder, der aus Gott geboren ist, thut
nicht Sünde, denn Sein Same bleibt in ihm; und er
kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist."
(1. Joh. 3, 9.) Der Herr konnte den Aussätzigen anrühren, ohne durch diese Berührung verunreinigt zu werden.
(Matth. 8, 3.)
Dieses Leben charakterisirt also unsre gegenwärtige
Stellung als Gläubige vor Gott. Wie viel oder wenig
dasselbe von uns verstanden und verwirklicht wird, kommt
hier durchaus nicht in Betracht. Ein jeder wahre Gläubige besitzt es, und darum gilt für einen jeden das Wort:
„Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, auf daß
wir Freimütigkeit haben an dem Tage des Gerichts, daß,
gleichwie Er ist, auch wir sind in dieser Welt."
(1. Joh. 4, 17.) Welch eine Thatsache! Er, der auf dem
Richterstuhl sitzen und nach Seiner Gerechtigkeit richten
wird, findet in uns nur das, was der göttlichen Voll-
204
kommeuheit Seiner eignen Natur entspricht. Wir sehen
daher, daß die Aeltesten, welche den Thron des Gerichts
umgeben, in keiner Weise durch die von demselben ausgehenden Gerichte beunruhigt werden. (Offbg. 4.) Wie
wäre es auch möglich, da sie ja die Natur Dessen haben,
der auf dem Throne sitzt? Der Apostel sagt: „Wir wissen,
daß wir aus Gott sind." Alles, was aus Gott ist,
ist heilig, und wir sehen, daß die Braut in Offenbarung 21
als „die heilige Stadt" bezeichnet wird; sie kommt
hernieder „aus dem Himmel, von Gott." Dort ist der
Ursprung sowohl des einzelnen Gläubigen, als auch der
ganzen Versammlung Gottes; denn alle haben das ewige
Leben. Aus demselben Grunde entspricht die heilige Stadt
auch vollkommen dem „goldnen Rohre," dem Maßstabe der
göttlichen Gerechtigkeit; denn sie ist „reines Gold, gleich
reinem Glase." Wir sind Gottes Gerechtigkeit geworden
in Christo. (2. Kor. 5, 21.)
Es ist von großer Schönheit, dieses Leben zu betrachten, wie es in vollkommener Weise durch Jesum geoffenbart worden ist, und zwar unter den niederdrückendsten Umständen, gegenüber solchen, die in ihrer Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit Ihn weder beachteten noch
verstanden; unter dem beständigen Widerspruch von feiten
der Sünder und unter mannigfachen Prüfungen selbst
seitens Seiner Jünger. Er offenbarte es inmitten all
der Versuchungen, durch welche wir hienieden zu gehen
haben; denn Er ist in allem versucht worden in gleicher
Weise wie wir, ausgenommen die Sünde. (Hebr. 4, 15.)
Er war „ein Mann der Schmerzen und mit Leiden bekannt." (Jes. 53, 3.) Aber was bezeugen Seine Thränen, die Er hienieden weinte, anders als die Gnade und
205
Schönheit, den himmlischen Charakter dieses Lebens? Denn
Er war der Sohn Gottes, in dessen Macht eS stand, sich
jeden Augenblick aus allen diesen Umständen und Versuchungen zurückzuziehen. Aber Er that es nicht, sondern
harrte aus und überließ sich gänzlich Gott, als ein von
Ihm abhängiger Mensch. Er trat freiwillig in alle
diese Umstände ein und wählte diesen Platz der Erniedrigung als den, der am meisten geeignet war, um das
Leben, die ganze Schönheit und Vollkommenheit der Natur
Dessen zu entfalten, der Licht und Liebe ist. Darum
entäußerte Er sich Seiner Herrlichkeit als Sohn Gottes,
unterwarf sich allem und harrte in völliger Abhängigkeit
aus bis zum Tode, ja, zum Tode des Kreuzes. „Denn
diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu
war, welcher, da Er in Gestalt Gottes war, es nicht für
einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich
selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem Er in Gleichheit der Menschen geworden ist, und in
Seiner Stellung wie ein Mensch erfunden, sich selbst
erniedrigte und gehorsam ward bis zum Tode, ja, zum
Tode des Kreuzes." (Phil. 2, 5—8.) Wer wäre fähig,
die moralische Herrlichkeit dieses Lebens zu beschreiben?
Keine menschliche Zunge ist dazu imstande. Nie hatten
die Engel eine so tiefe, freiwillige Selbsterniedrigung, aber 
auch nie hatte die Erde ein solches Leben gesehen! Welch
ein duftender Wohlgeruch mußte dieses Leben für Gott
fein! Und welch eine überaus bewunderungswürdige Gnade,
daß wir jetzt sagen dürfen: Das ist unser Leben! „Und
dies ist das Zeugnis: daß Gott uns das ewige Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in Seinem Sohne. Wer
den Sohn hat, hat das Leben."
206
Aber aus diesem Grunde ist auch das Leben des
Herrn Jesu der Maßstab und die Richtschnur unsers
Wandels. Wir sind „schuldig, selbst auch so zu wandeln,
wie Er gewandelt hat." (1. Joh. 2, 6.) Daher auch
die Ermahnung: „Alle Bitterkeit und Wut und Zorn
und Geschrei und Lästerung sei von euch weggethan, samt
aller Bosheit. Seid aber gegen einander gütig, mitleidig, einander vergebend, wie auch Gott in Christo euch
vergeben hat. Seid denn Nachahmer Gottes, als
geliebte Kinder, und wandelt in Liebe, gleichwie auch der
Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben
hat als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem
duftenden Wohlgeruch." (Eph. 4, 31. 32; 5, 1. 2.)
Es ist unser hohes Vorrecht, Nachahmer Gottes zu sein,
weil wir Seines Lebens, Seiner göttlichen Natur teilhaftig sind. Möchte daher unser ganzes Verhalten, möchten alle unsre Worte und Handlungen nur der Ausdruck
dieses Lebens sein! Möchten wir stets daran denken, daß
wir deshalb hier sind, um dasselbe in der Macht und
Energie des Geistes zu offenbaren! Ja, möchten alle die
Versuchungen, Schwierigkeiten und Prüfungen, welchen wir
hienieden begegnen, bei uns nichts anders als die Schönheit dieses Lebens ans Licht stellen! Es thut not, mit
anhaltendem Gebet vom Herrn die Gnade zu erflehen,
daß sich durch uns das Wort des Apostels bestätigen möge:
„Allezeit das Sterben Jesu am Leibe umhertragend, auf
daß auch das Leben Jesu an unserm Leibe offenbar werde."
(2. Kor. 4, 10.)
So sind wir denn vollkommen gereinigt, mit Gott
versöhnt, und besitzen das ewige Leben. Dennoch könnten
wir dies durch das Zeugnis des Wassers und Blutes
207
allein nicht wissen, wenn wir nicht auch das Zeugnis des
Geistes hätten. Ja, wir würden die Bedeutung des
Wassers und Blutes nie in ihrer ganzen Tragweite verstanden haben, wenn der Heilige Geist nicht gekommen
wäre und eS uns geoffenbart hätte. Darum sagt der
Apostel: „Und der Geist ist eS, der da zeugt, weil der
Geist die Wahrheit ist." Obwohl daher in geschichtlicher
Reihenfolge der Geist der dritte unter den drei Zeugen
ist, so ist Er doch in der Anwendung des Zeugnisses der
erste. „Denn drei sind, die da zeugen: der Geist und
das Wasser und daS Blut, und die drei sind einstimmig."
Nur durch Ihn ist uns die ganze Tragweite des Todes
Christi geoffenbart worden. Die Jünger des Herrn z. B.
befanden sich in gänzlicher Unwissenheit betreffs der himmlischen Stellung des Gläubigen in Christo und aller damit verbundenen herrlichen Wahrheiten, trotzdem sie wußten, daß der Herr gestorben, aus den Toten auferstanden
und gen Himmel gefahren war. Der Herr hatte ihnen
diese Wahrheiten nicht mitgeteilt, auch nach Seiner Auferstehung nicht, obwohl Er ihnen wiederholt erschien und
vieles mit ihnen redete. Ihr damaliger Zustand gestattete Ihm nicht, ihnen dies mitzuteilen; Er mußte zu
ihnen sagen: „Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber
ihr könnet es jetzt nicht tragen." (Joh. 16, 12.) Und
außer Ihm gab es niemanden auf der Erde, der es ihnen
hätte mitteilen können. Denn wer hätte diese herrlichen
Dinge wissen können, da wo alles durch die Wirksamkeit
des Lügners von Anfang in Finsternis gehüllt war? Wie
konnte man da nach Wahrheit suchen, wo selbst Israel,
der einzige Zeuge Gottes, in Verbindung mit der Welt das
Licht von sich gestoßen hatte in der Verwerfung des Herrn?
208
Aber, wird man vielleicht einwenden, das Wort Gottes
war doch da; die Jünger besaßen die Schriften des Alten
Testaments. DaS ist wahr; aber obwohl diese Schriften
von Christo, von den Leiden, die auf Ihn kommen sollten, und von den Herrlichkeiten darnach gezeugt haben,
(1. Petr. 1, 11.) so sagen sie doch nichts von unsrer
himmlischen Stellung in Christo. Wohl hat der Herr
selbst nach Seiner Auferstehung Seine ratlosen Jünger
auf die Schriften verwiesen, indem Er zu ihnen sagte:
„O ihr Unverständigen und trägen Herzens, zu glauben
an alles, was die Propheten geredet haben! Mußte nicht
der Christus dies leiden und in Seine Herrlichkeit eingehen? 
Und von Moses und von allen Propheten anfangend, erklärte Er ihnen in allen Schriften das, was Ihn betraf." Und wiederum: „Dies sind die Worte, die ich
zu euch redete, als ich noch bei euch war, daß alles erfüllt werden mutz, was von mir geschrieben steht
in dem Gesetz Moses und den Propheten und Psalmen.
Da öffnete Er ihnen das Verständnis, daß sie die Schriften
verstanden, und sprach zu ihnen: Also ist'S geschrieben,
und also mußte der Christus leiden und am dritten Tage
aus den Toten auferstehen, und in Seinem Namen Buße
und Vergebung der Sünden verkündigt werden an alle
Nationen, anfangend von Jerusalem. Ihr aber seid
Zeugen hiervon; und siehe, ich sende die Verheißung
meines Vaters auf euch. Ihr aber bleibet in der Stadt, bis
ihr angethan werdet mit Kraft aus der Höhe." (Luk. 24.)
Der Herr hat also Seinen Jüngern die Schriften erklärt
und ihnen das Verständnis geöffnet, um dieselben verstehen zu können. Aber was war es, das Er ihnen aus
den Schriften erklärte? Das, was Ihn betraf, was
209
von Ihm geschrieben stand. Er bewies ihnen die Notwendigkeit Seines Leidens und Sterbens, und Seines
darauf gegründeten Eingehens in die Herrlichkeit, und Er
ließ sie verstehen, daß jetzt, auf Grund dieser Thatsachen,
allen Nationen Buße und Vergebung der Sünden verkündigt werden kann. Sie selbst sollten die Zeugen dieser
Wahrheit sein und dieselbe verkündigen, nachdem sie den
Heiligen Geist empfangen haben würden. Ohne Zweifel
empfingen hier die Jünger ein eingehendes Verständnis
über die Folgen des Todes, der Auferstehung und der
Verherrlichung Christi; und sicherlich war die Botschaft,
welche ihnen zu gleicher Zeit von dem Herrn anvertraut
wurde, eine überaus kostbare und herrliche, umsomehr,
als sie „von Jerusalem anfangen" sollte. Dieser verbrecherischen Stadt, die sich in besonderer Weise des Todes
des Sohnes Gottes schuldig gemacht hatte, sollte zuerst
und vor allen die Botschaft der Gnade gebracht werden.
Aber war diese Gnadenbotschaft das ganze Resultat des
Werkes Christi? Nein; so unendlich kostbar sie auch ist,
indem sie jedem, auch dem größten Sünder, Vergebung
zusichert, wenn er Buße thut, so finden wir doch in ihr
noch kein Wort von unsrer himmlischen Stellung. Die
Offenbarung dieser Stellung und die Einführung in dieselbe
sollten dem von dem Himmel herniederkommenden Heiligen
Geiste Vorbehalten bleiben. Sie war eine ganz neue, bis
dahin gänzlich unbekannte Sache. Darum sagte der Herr
auch zu Seinen Jüngern: „Wenn aber jener, der Geist
der Wahrheit, gekommen ist, wird Er euch in die ganze
Wahrheit leiten." (Joh. 16, 13.) Erst nachdem der
Heilige Geist in den Jüngern Wohnung gemacht hatte,
waren diese fähig, die ganze Tragweite des Todes und
210
der Auferstehung Christi zu verstehen. Und nicht nur lernten
sie diese als eine bloße Lehre kennen, sondern sie traten
auch in der Kraft des Geistes in dieselbe als in eine neue
Stellung ein. Der Geist ist in uns die Macht des Lebens;
ohne Ihn würden wir es weder genießen noch verwirklichen können.
So bezeugt uns also der Geist, daß wir das ewige
Leben besitzen, während das Wasser und das Blut ein beständiges Zeugnis von dem Tode Christi ablegen, von
dieser ewigen, unwandelbaren Grundlage, auf welcher uns
das Leben geschenkt ist. Dieses einstimmige Zeugnis nun
muß unsern Herzen jeden Zweifel und jede Ungewißheit
betreffs unsrer Stellung vor Gott benehmen; geben wir
noch allerlei Zweifeln und Befürchtungen Raum, so beweisen wir dadurch, daß wir dem Zeugnis Gottes nicht
glauben, und wir machen Ihn zum Lügner; denn „wer
Gott nicht glaubt, hat Ihn zum Lügner gemacht." Welch
eine große Sünde begehen daher alle, welche, anstatt in
einfältigem Glauben die Segnungen ihrer herrlichen Stellung zu genießen und zu verwirklichen, in Zweifel und
Ungewißheit verharren, indem sie der Wahrheit dieses
Zeugnisses stets ein „Aber" entgegenzusetzen haben. Geziemt
es uns, auch nur die geringsten Einwendungen zu machen,
wenn Gott selbst uns auf Grund des Todes Christi für
vollkommen rein erklärt und sagt, daß Er betreffs unsrer
Sünden völlig befriedigt und verherrlicht sei? Sollen wir
unsern trügerischen Herzen und unsern täuschenden Gefühlen
mehr glauben als Gott? Sollen wir nicht vielmehr mit
demütigem und dankbarem Herzen dem Worte Gottes
glauben, wenn Er bezeugt, daß wir nach unserm Zustande im Fleische samt allen unsern Sünden vor Seinem
211
Angesicht für immer hinweggethan sind, und nicht mehr
im Fleische, sondern in Christo vor Ihm stehen,
heilig und tadellos vor Gott in Liebe? (Eph. 1, 4.)
Möge Gott uns bewahren vor einer solchen Verunehrung
Seines herrlichen Namens, daß wir irgend welchen Zweifel
in Sein köstliches Zeugnis setzen und Ihn dadurch zum
Lügner machen! Vielmehr laßt uns, gleich Abraham,
Ihm die Ehre geben, indem wir durch einen unbedingten und einfältigen Glauben den Tod Christi in seinem
vollen Werte und in seiner ganzen Tragweite anerkennen!
Denn wer Gott glaubt, verherrlicht Ihn.
Und beachten wir wohl: „Wer an den Sohn Gottes
glaubt, hat das Zeugnis in sich selbst." Wir haben alsdann
nicht nur das äußere Zeugnis von seiten Gottes, sondern auch
in unserm Innern eine felsenfeste Ueberzeugung von der
Wahrheit. Indes dürfen wir nicht denken, daß der Apostel
unsern Glauben abhängig machen wollte von dem, was
in unS ist. (Das wäre ein verhängnisvoller Irrtum,
den die Apostel nie gelehrt haben, der aber trotzdem in
unsern Tagen weit verbreitet ist und seine verderblichen
Früchte erzeugt. Er ist eben die Ursache des ungewissen
und schwankenden Zustandes so vieler Seelen, welche bekennen, an Jesum als ihren Erretter zu glauben, und
dennoch Jahr und Tag ohne wahren Frieden und ohne
wahre Kraft dahingehen. Sie machen ihren Glauben abhängig von ihren Erfahrungen und Gefühlen.) Der Apostel
sagt nicht: wer an das Zeugnis in sich selbst glaubt;
sondern: wer an den Sohn Gottes glaubt. Der Glaube
hat nicht seine eignen Erfahrungen zum Gegenstände,
sondern vielmehr den Sohn Gottes; er steht daher in
völligem Einklang mit dem Vater und dem Heiligen Geist.
212
Denn das Auge des Vaters ruht mit Wohlgefallen auf
dem Sohne, dem Gegenstand Seiner höchsten Wonne, und
der Heilige Geist ist herniedergekommen, um von Ihm zu 
zeugen und uns mit Seiner Herrlichkeit bekannt zu machen.
„Denn Er wird nicht aus sich selbst reden, sondern alles,
was irgend Er hören wird, wird Er reden, und das
Kommende wird Er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen, denn von dem Meinen wird Er empfangen und
euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, ist mein;
darum sagte ich, daß Er es von dem Meinen empfangt
und euch verkündigen wird." (Joh. 16, 13—15.) Ist
daher das Auge des Glaubens auf den Sohn gerichtet,
so kann der Heilige Geist dessen Herrlichkeit vor uns entfalten, und diese erfüllt selbstredend das Herz mit überschwänglicher Freude und Kraft. Wie könnten da Zweifel
und Ungewißheit sein? Dennoch macht der Glaube diese
seine Freude und Kraft niemals zu seinem Gegenstand
oder Stützpunkt; vielmehr ruht er stets auf dem Zeugnis,
„das Gott gezeugt hat über Seinen Sohn," dem Zeugnis,
welches der Geist in Verbindung mit dem Wasser und dem
Blut ablegt. Der Tod Christi ist die Thatsache, auf
Grund deren wir das ewige Leben haben; er ist die ewige
Bürgschaft unsrer unantastbaren, unerschütterlichen Stellung
vor Gott und aller unsrer damit verbundenen Segnungen.
„Dies habe ich euch geschrieben, auf daß ihr wisset,
daß ihr das ewige Leben habt, die ihr glaubet an den
Namen des Sohnes Gottes."
213

Das Buch Zona.
Kapitel 3.
Sobald Jona aus dem Bauche des Fisches erlöst
war, „geschah das Wort Jehovas zum andern Male zu
Jona und sprach: Mache dich auf, gehe nach Ninive, der
großen Stadt, und rufe ihr den Ruf aus, den ich dir
sagen werde." Denn wenn der Herr Seinen Knecht mit
Seinem Sturm und Unwetter verfolgt und ihn in die
Tiefe, in das Herz des Meeres geworfen hatte, so war es
nur geschehen, um seine Seele wiederherzustellen und ihn
in einen Zustand zu bringen, der ihn befähigte, das Gefäß
des göttlichen Willens zu bilden. Dieser Zweck war jetzt
erreicht, und Jona versuchte nicht noch einmal zu fliehen,
sondern „er machte sich auf und ging nach Ninive, nach
dem Worte Jehovas." ES ist stets so in den Wegen
Gottes mit Seinem Volke. Wenn wir uns von dem
Pfade abwenden, welchen Er uns vorgezeichnet hat, so
werden wir sicher und gewiß den Züchtigungen Seiner
Hand begegnen; und der Zweck Seiner Wege mit uns
ist nicht eher erreicht, als bis wir wieder auf den Pfad
zurückgebracht sind, den wir verlassen haben, und bis wir
durch die Gnade bereit gemacht sind, denselben zu wandeln.
Wir finden diesen Grundsatz auch in den Worten des
Psalmisten ausgedrückt: „Bevor ich gedemütigt ward, irrte
ich; jetzt aber bewahre ich Dein Wort." (Ps. 119, 67.)
Diese Lehre liegt gleichsam auf der Oberfläche der
Geschichte des Propheten; aber als Vorbild betrachtet,
hat der Inhalt unsers Kapitels eine tiefere Bedeutung.
Jona ist in bildlichem Sinne ein auferstandeuer Mensch;
denn er sagt: „Ich schrie aus dem Bauche des Scheol."
Jehova hatte ihn gleichsam durch den Tod gehen lassen;
214
-und in Verbindung damit dürfen wir nicht vergessen, daß
Jona in dieser Stellung ein Bild des jüdischen Ueberrestes
war. Wir haben deshalb hier eine doppelte vorbildliche
Bedeutung. Israel wird, in der Person Jonas, wegen
seiner Untreue als Gefäß des Zeugnisses beiseite gesetzt.
Nach menschlichem Urteil ist das Licht ausgelöscht, und
alle Hoffnung für die Welt ist auf immer dahin. Als
alle die Wogen und Wellen des göttlichen Zornes über
das Haupt derer hinrollten, welche Er zu Seinen Zeugen
auf der Erde erwählt hatte, da schien die Möglichkeit
irgend eines ferneren Zeugnisses in der Welt völlig abgeschnitten zu sein. Wir könnten mit dem Psalmisten fragen:
„Wirst Du an den Toten Wunder thun? Oder werden
die Schatten aufstehen, Dich preisen? Wird Deine Güte
erzählt werden im Grabe, im Verderben Deine Treue?
Werden in der Finsternis bekannt werden Deine Wunder,
und Deine Gerechtigkeit in dem Lande der Vergessenheit?"
(Ps. 88, 10-12.)
Die Antwort auf diese Fragen wird nur in dem Tode
und der Auferstehung Christi gefunden. Alle Hoffnung,
soweit sie sich auf die Verantwortlichkeit des Menschen
gründete, war in der That verschwunden. Aber Gott sandte
in Seiner Gnade und Huld Seinen geliebten Sohn; dieser
kam und machte sich eins mit Seinem Volke, stieg in
Seinem Erbarmen auf den Platz herab, wo sie, tot in
Sünden und Uebertretungen, lagen, und Er starb, indem
Er ihre ganze Verantwortlichkeit auf sich lud, um auf
diese Weise Gott gerade da zu verherrlichen, wo sie Ihn
verunehrt hatten. Er selbst sagte einst zu den Schriftgelehrten und Pharisäern: „Gleichwie Jona drei Tage
und drei Nächte in dem Bauche des großen Fisches war,
215
also wird der Sohn des Menschen (der Verworfene) drei
Tage und drei Nächte in dem Herzen der Erde sein."
(Matth. 12, 40.) Aber es war unmöglich, daß Er von
dem Tode behalten wurde, unmöglich im Blick auf die
Herrlichkeit Gottes sowohl, als auch auf die Rechte Seiner
eignen Person; und deshalb stand Er am dritten Tage
als der Erstgeborne aus den Toten wieder auf, und von
Ihm, als dem Auferstandenen, wird Jona jetzt ein Vorbild. Als der Auferstandene ist Christus (obwohl Er
dies ja stets war) der treue und wahrhaftige Zeuge; und
da Israel jetzt beiseite gesetzt ist, so kann Er, in der Erfüllung der Absichten Gottes, vor den Nationen Zeugnis
ablegen, und das Resultat dieses Zeugnisses zeigt (hier
im Bilde), daß „die Verstoßung der Juden die Versöhnung der Welt ist." (Röm. 11.)
Jona ist jetzt gehorsam und geht nach Ninive; aber 
bevor wir etwas von seiner Predigt hören, macht der
Heilige Geist eine Pause, um die Aufmerksamkeit auf die
Größe der Stadt zu lenken. „Ninive war eine außerordentlich große Stadt, von drei Tagereisen." Das ist 
die Frucht der Thätigkeit des Menschen in seiner Entfremdung von Gott, des Menschen, der sich der Größe, des
Glanzes und der Pracht seiner Werke rühmt und versucht
ist, mit Nebukadnezar zu fragen: „Ist das nicht das
große Babel, das ich erbaut habe zu einem Hause des
Königreichs durch die Stärke meiner Macht und zur
Ehre meiner Herrlichkeit?" (Dan. 4.) Und berauscht von
seinem eignen Stolz, geht er sorglos dahin, selbst wenn
er daran erinnert wird, daß das Gericht Gottes über alle
seine Werke ausgesprochen ist. Jona war der Ankündiger
dieses Gerichts, indem er angesichts der Herrlichkeit und
216
des Glanzes der Welt ausrief: „Noch vierzig Tage, so
ist Ninive umgekehrt!"
Der Charakter der Botschaft Jonas ist beachtenswert. Sie enthält ausschließlich eine Ankündigung des
Gerichts, nicht ein Wort von Gnade, selbst nicht für den
Fall, daß die Niniviten Buße thun würden. Dies mag
auf den ersten Blick befremdend erscheinen; aber wir
müssen uns daran erinnern, daß Jonas Predigt nur auf
die Regierung Gottes betreffs der Erde Bezug hatte.
Ueberhaupt redeten die Propheten des Alten Testaments
nicht von der Ewigkeit, in neutestamentlichem Sinne; d. h.
die angedrohten Gerichte oder die unter der Bedingung des
Gehorsams verheißenen Segnungen waren nicht ewig, sondern auf diese Welt beschränkt. Das endliche, ewige Gericht,
in welchem die Geheimnisse aller Herzen geoffenbart werden, lag nicht in dem Bereiche ihres Dienstes. In Verbindung stehend mit dem Reiche, redeten sie nur von
den Wegen, den Ansprüchen und der Regierung Gottes,
wie dieselben auf dem Schauplatz dieser Erde sich entfaltet haben oder noch entfalten werden.
In vorbildlichem Sinne betrachtet, hat die Botschaft
Jonas noch eine andere Bedeutung. Die Zahl vierzig
hat in dem Worte Gottes einen bestimmten Sinn, wie
wir dies aus der vierzigjährigen Wanderung der Kinder
Israel in der Wüste, aus der vierzigtägigen Versuchung
des Herrn durch Satan rc. ersehen können. Sie bezeichnet
einen Zeitabschnitt völliger Prüfung. Wenn wir diesen
Sinn der Zahl auch auf die vorliegende Stelle anwenden
und uns dabei erinnern, daß Ninive die Welt darstellt
<vor allem in ihrer stolzen Erhebung gegen Gott), so
haben wir einfach die Ankündigung der Thatsache, daß
217
die Welt, nachdem sie nach jeder Seite hin völlig erprobt
ist, zerstört werden wird. Das Kreuz Christi bildet den
Höhepunkt der Prüfung, welcher Gott die Welt unterworfen hat, und deshalb vernehmen wir aus dem Munde
des Herrn, wenige Stunden vor Seiner Verwerfung, die
Worte: „Jetzt ist das Gericht dieser Welt." In dem Tode
Christi ist ein unwiderrufliches Gericht über diese Welt ausgesprochen worden; denn Gott stellte durch diesen Tod den
hoffnungslosen Charakter des Bösen, der Welt, vor allen
ans Licht, insofern die Welt sich in der Kreuzigung des geliebten Sohnes Gottes völlig der Führung Satans überließ.
Allerdings hat Gott die Ausführung des Gerichts bis
heute zurückgehalten, da in dem Tode Christi zugleich die
Grundlage gelegt wurde, auf welcher Gott gerechter Weise
derselben Welt, in ihrem schuldigen und verlornen Zustande, Heil anbieten und Seine Gnadenratschlüsse in der
Erlösung erfüllen kann. Aber das Gericht ist nicht widerrufen worden, und kann nicht widerrufen werden, da die
Herrlichkeit Gottes selbst in Frage steht. Es ist nur aufgeschoben, weil der Herr „langmütig ist gegen uns, da Er
nicht will, daß irgend welche verloren gehen, sondern daß
alle zur Buße kommen." „Aber," fährt Petrus weiter
fort, „der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb,
an welchem die Himmel vergehen werden mit gewaltigem
Geräusch, die Elemente aber im Brande aufgelöst und
die Erde und die Werke auf ihr verbrannt werden."
(2. Petri 3, 9. 10.) Ja, es bleibt wahr: „Noch vierzig
Tage, so ist Ninive umgekehrt!"
Die Wirkung der Predigt des Propheten war eine
wunderbare. Wir lesen: „Und die Leute von Ninive
glaubten Gott, und riefen ein Fasten aus, und kleideten
218
sich mit Säcken, von ihrem Größten bis zu ihrem Kleinsten." (V. 5.) Es war eine wahre, aufrichtige Umkehr
und Buße, welche bei dem König ihren Anfang nahm.
Als er das Wort Jonas hörte, „stand er von seinem
Throne auf und legte seinen Mantel ab, und er bedeckte
sich mit einem Sack und saß auf der Asche." Mehr
noch; in Verbindung mit seinen Großen erließ er einen
Befehl, daß weder Menschen noch Vieh, weder Rinder
noch Schafe irgend etwas kosten sollten; sie sollten nicht
weiden und nicht Wasser trinken. Mit einem Worte, ein
allgemeines Fasten wurde ausgerufen. Alle sollten sich
mit Sacktuch bedecken, heftig zu Gott rufen und von
ihren bösen Wegen umkehren; vielleicht möchte sich Gott
von der Glut Seines Zornes wenden und sie nicht
verderben.
Dem Leser wird es nicht entgangen sein, daß in
diesem Kapitel der Name Jehovas (mit Ausnahme des
1. Verses) gar nicht erwähnt wird. Die Bewohner von
Ninive glaubten an Gott, und auch der König redet
nur von Gott. Im ersten Kapitel riesen die Seeleute
zu Jehova, weil es sich dort um die richterliche Offenbarung der Herrlichkeit Jehovas in Seiner Beziehung zu
den Juden handelte. Hier aber handelt es sich um die
Welt in ihrer Beziehung zu Gott, dem Schöpfer Himmels
und der Erde; das wird den Unterschied erklären und zugleich den Grund zeigen, weshalb in diesem Kapitel auch
das Vieh erwähnt wird. Es handelt sich gleichsam um
die ganze Schöpfung; denn dereinst wird auch die ganze
Schöpfung freigemacht werden von der Knechtschaft des
Verderbnisse? zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder
Gottes. (Röm. 8.)
219
Der Herr Jesus weist einmal in sehr treffender
Weise auf diese Buße der Niniviten hin. „Männer von
Ninive," sagt Er, „werden aufstehen im Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen, denn sie thaten
Buße auf die Predigt Jonas; und siehe, mehr als Jona
ist hier." (Matth. 12, 41.) Es war in der That ein 
schlagender Beweis von der Herzcnshärtigkeit derer, zu
welchen Er kam mit der Predigt der Buße, weil das Reich
der Himmel nahe gekommen war, (Matth. 4, 17.) daß 
sie Seinen Worten gegenüber völlig gefühllos blieben, obwohl dieselben durch die Wunder, die Er in ihrer Mitte
that, bekräftigt und bestätigt wurden. Die Niniviten waren
Heiden; die Juden bildeten das auserwählte Volk Gottes,
und der in ihrer Mitte stand, war ihr eigner Messias,
fa, ihr Jehova-Heiland; aber ihre Ohren blieben taub
gegenüber den eindringlichen Ermahnungen und zärtlichen
Bitten ihres Herrn und Meisters. (Vergl. Matth. 23, 37.)
Klarer hätte die völlige Verderbtheit ihrer Herzen nicht
erwiesen werden können, als durch diesen Vergleich mit
Ninive. Aber, möchten wir fragen, sind die Menschen in
der gegenwärtigen Zeit anders und besser? In Verbindung mit dem Dienste der Versöhnung, der unter der
Barmherzigkeit Gottes immer noch ausgeübt wird, ergeht
der Ruf an die Welt: „Noch vierzig Tage, so ist Ninive
umgekehrt!" Aber wer achtet darauf? Hie und da giebt
es einige, deren Ohren und Herzen durch die Gnade geöffnet werden; aber die große Masse, die Welt, ist heute
noch ebenso gefühllos, wie sie es war in den Tagen unsers Herrn. Nehmen wir an, es würde heute ein von
Gott gesandter Bote in der Mitte einer unsrer großen
Weltstädte mit der Botschaft Jonas auftreten, welche Auf­
220
nähme würde er finden? Wir behaupten nicht zu viel„
wenn wir sagen, daß man ihn als einen Thoren oder
einen Wahnsinnigen behandeln würde. Ach! wenn es doch
besser verstanden würde, daß vermehrtes Licht und größere
Vorrechte nur ein umso höheres Maß von Verantwortlichkeit und ein umso schwereres Gericht bedingen, wenn das
Licht zurückgewiesen und die Vorrechte verachtet werden!
Welch ein schönes Schauspiel ist daher diese aufrichtige
Buße der Niniviten, und welch ein liebliches Bild von
jener Zeit, wann die Nationen mit einem Sinne dem
Herrn dienen werden!
Das Kapitel schließt mit der Erzählung dessen, was
Gott auf die Buße der Niniviten hin that: „Und Gott
sah ihre Werke, daß sie umkehrten von ihrem bösen Wege;
und es reute Gott des Uebels, das Er geredet hatte,
ihnen zu thun, und Er that es nicht." Hier sehen wir
wieder, was in dem Herzen Gottes den Menschen gegenüber ist. Er hat kein Gefallen an dem Tode des Gottlosen. Wenn Er daher Gericht ankündigt, so thut Er es
nur, um den Menschen von seinem bösen Wege abzuwenden. Die Bewohner von Ninive wußten nicht, was Gott
thun würde. Sie sagten nur: „Wer weiß? Gott möchte
sich wenden und sich's gereuen lassen." Aber Gott antwortete diesem schwachen Glauben, wie Er es immer thut,
und bewahrte sie vor dem drohenden Gericht. Wir brauchen kaum zu sagen, daß es nur eine menschliche Redeweise ist, wenn es von Gott heißt: „Er ließ sich's gereuen," oder: „es reute Ihn." Sein Wunsch war, auf
seiten der Niniviten Buße Hervorzurusen; und nachdem
das geschehen war, konnte Er, in Uebereinstimmung mit
Seinen Regierungswegen, Mitleid und Vergebung offen­
221
baren. Welch eine Ermunterung liegt in dieser Geschichte
für den zitternden, bußfertigen Sünder!
Wir lesen in Joh. 3, 36: „Wer dem Sohne nicht
glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn
Gottes bleibt auf ihm." Aber gepriesen sei der Name
unsers Gottes und Vaters! es steht auch geschrieben:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört,
und glaubt Dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben
und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem
Tode in das Leben hinübergegangen." (Joh. 5, 24.)
„Frieden lasse ich euch; meinen Frieden
gebe ich euch."
(Joh. 14, 27.)
Es sind zwei Arten von Frieden, von welchen in
obiger Stelle die Rede ist. Der Leser wird sich erinnern,
daß der Herr Jesus, nachdem Er daS Werk der Erlösung
vollbracht hatte, als der Auferstandene in der Mitte Seiner
Jünger erschien, welche bei verschlossenen Thüren versammelt waren; und Sein erster Gruß an sie lautete: „Friede
euch!" „Und als Er dies gesagt hatte, zeigte Er ihnen
Seine Hände und Seine Seite. Es freuten sich nun die
Jünger, als sie den Herrn sahen." (Joh. 20.) Er kam
und verkündigte Frieden — jenen Frieden, den Er gemacht hatte durch das Blut Seines Kreuzes. (Kol. 1, 20.)
Die Nägelmale in Seinen Händen und das Mal in
Seiner Seite waren die untrüglichen Zeichen, daß Er im
Tode gewesen, und daß jetzt Friede gemacht war zwischen
Gott und dem bußfertigen Sünder, der an Ihn glaubt.
Sein eignes Blut ist die Grundlage dieses Friedens. Ge­
222
rechtfertigt tmrch den Glauben an dieses Mut, „habM
wir Frieden' mit Gott durch unsern Herrn Jesum
Christum." (Röm. 5, 1.)
Um diesen Frieden, den Christus für die Seinen
vor Gott gemacht Hat, indem Er in Seiner unendlichen
Gnade und Liebe a»>das Kreuz ging und Sein Blut vergoß, handelt es sich in unsrer Stelle zunächst. Diesen
Frieden, sagte der Herr zu Seinen Jüngern, „lasse ich
euch." (Obwohl Jesus noch nicht gestorben war, stand Er
in Seinen Gedanken doch schon jeüseit des Kreuzes.) Dieser
Friede ist für ewig gemacht; er "ist unantastbar und unerschütterlich; er ist das Teil eines jeden wahren Gläubigen.
Dann aber hören wir von einem andern Frieden;
der Herr nennt ihn Seinen Frieden. Er sagt: „Meinen
Frieden gebe ich euch." Es ist der Friede, den Er selbst
genossen hat, indem Er in vollkommenem Gehorsam und
steter Abhängigkeit, sowie in der innigsten Gemeinschaft
mit Seinem Gott und Vater durch diese Welt ging; der
Friede, den Er bei dem Vater hatte und deshalb in ungestörter Weise genoß, während Er als Mensch hienieden
pilgerte. Diesen Frieden, der allen Verstand übersteigt,
der über alle Beschreibung kostbar ist, will der Herr uns,
den Seinen, schenken, während auch wir durch diese Wüste
gehen.
Doch wie können wir diesen Frieden genießen? Auf
dieselbe Weise und auf demselben Wege, wie unser gesegneter Herr ihn genossen hat. Der Friede mit Gott, gemacht durch das Blut Seines Kreuzes, wird unser Teil
durch den Glauben; Seinen Frieden,-den Frieden Gottes, genießen wir durch die ununterbrochene Gemeinschaft
mit Ihm und mit unserm Gott und Vater. Wie kostbar
223
und gesegnet es ist, mit Ihm beschäftigt zu sein, der unserFriede ist, (Eph. 2, 14.) werden Mir alle mehr oder 
weniger erfahren haben, und unsre Mrzen sollten sich dar^
nach sehnen, immer mehr davon zu genießen. Der Herr
wußte sehr wohl, in welch einer Welt Er Seine schwachen
Jünger, die Seinem Herzen so unendlich teuer waren,
zurückließ. Er kannte aus eigner Erfahrung die Schwierigkeiten und Prüfungen ihres Weges; und darum sagte
Er zu ihnen: „Meinen Frieden gebe ich euch. . . . Euer
Herz sei nicht bestürzt, auch nicht furchtsam." Und in der -
That, so lange wir mit Ihm beschäftigt sind, giebt es keine
Furcht, keine Bestürzung und Unruhe in unfern Herzen.
Erst dann, wenn wir uns mit uns selbst und mit dem
beschäftigen, waS uns umgiebt, werden wir unruhig und
verzagt. Unsre Herzen ruhen dann nicht in Seiner
Liebe; wir machen nicht die gesegnete Erfahrung der
Treue und Sorgfalt, des zärtlichen Mitgefühls und
Erbarmens Dessen, der die Seinigen liebte bis ans
Ende, und der jetzt stets in der Gegenwart Gottes für
uns erscheint. (Hebr. 9, 24.)
Sind wir aber mit Christo beschäftigt, so werden
wir erfahren, wie die Liebe Seines Herzens unaufhörlich
für uns thätig ist, und das wird alle Schwierigkeiten
auflösen und alle Prüfungen leicht machen. Der Herr
gebe uns daAr in Seiner Gnade, daß unser Blick allezeit
auf Ihn gerichtet bleibe, damit' wir mehr von Seiner
Liebe genießen, in Seinem Frieden wandeln und somit
fähig sind, mit glücklichem, friedeerfülltem Herzen Ihm zu
dienen und auch Andern gegenüber die Liebe SeinesHerzens zu offenbaren!
224
„Bleibet hier und wachet mit mir!"
(Matth. 26, 38.)
O wunderbare Liebe, die so spricht,
Anbetungswürd'ge Gnade, die so tief
Sich neigt, und Menschen bittet: „Wacht mit mir
„Nur eine Stund'!" — Er, dessen Ausgang ist 
Von Ewigkeit, deß Wort die Welten schuf
Und sie erhält, Er ließ sich so herab; und doch
Bat Er umsonst. — Allein hat Er gewacht,
Allein gebetet; und nicht fand Sein Herz
Die Tröster, die es suchte; nein, Er blieb
Allein. — Welch eine Liebe, stark und tief!
Drum fließet Einsamen der reichste Born
Aus Christi teilnahmsvollem Herzen zu.
Ja, sag' Ihm, was dir fehlt, du Einsamer!
Er fühlte einst wie du; — nicht hatte Er
Ein Herz, an das vertrauend Er Sein Haupt
Hier lehnen durfte; und kein Freund
Sprach Trost Ihm zu in Seiner tiefsten Angst.
Nicht Einer stand Ihm bei in Seinem schweren Kampf.
And sieh', für dich, erlöste Seele, ging
Er durch solch Leid, und öffnet warm und weit
Die Arme dir, damit du kommen magst
And jeden großen Schmerz Ihm klagen kannst.
Und nicht den großen nur; o nein, auch für
Das kleinste Weh hat Er ein Mitgefühl,
Wie es kein Erdenfreund dir schenken kann.
Vertraue Seinem Ohr, was dich hier quält;
Er hält, Er stärket dich, und Frieden giebt
Er dir im größten Sturm; — ja, mehr als das;
Zu deinem Besten fügt Er Alles hier
And Ihm zum Lob in alle Ewigkeit.
Das Buch Jona.
Kapitel 4
Am Schluffe des 3. Kapitels sahen wir die Entfaltung der Gnade Gottes, ja, wir können sagen, die
Offenbarung des Herzens Gottes selbst: Er verschonte
die Bewohner von Ninive, weil sie Buße thaten auf die
Predigt des Propheten. In dem 1. Verse des 4. Kapitels
nun tritt uns in unmittelbarem und schroffem Gegensatz
damit das Herz des Menschen entgegen: Jona offenbart,
was in seinem Herzen ist. Gott hat, wie wir an einer
andern Stelle lesen, kein Gefallen an dem Tode des
Sünders; Seine Freude ist es, zu vergeben und Gnade
zu beweisen. Aber was hören wir von Jona? „Und
es mißfiel Jona mit großem Mißfallen, und er ward
zornig." Nicht nur befand er sich nicht in Gemeinschaft
mit den Gedanken Gottes, sondern er offenbarte auch eine
Gesinnung, die schnurstracks diesen Gedanken entgegen lief.
Er wurde zornig, weil Gott gnädig war. Gerade wie
der ältere Bruder in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn,
ergrimmte auch er darüber, daß diejenigen, welche keinerlei Ansprüche an Gott zu machen hatten, Erbarmen und
Gnade fanden. Er zeigte dadurch, daß er nicht fähig
war, in die Gedanken der Gnade einzugehen. Ach! und wie
oft können wir bei uns genau dasselbe wahrnehmen!
Trotz der Thatsache, daß wir selbst die Gegenstände einer
schrankenlosen Gnade sind, und daß wir ohne das unend­
226
liche Erbarmen Gottes keinen Platz vor Ihm haben könnten,
wünschen wir nicht selten, in der Thorheit unsrer natürlichen Gedanken und Gefühle, daß Andere aus dem Boden
der Gerechtigkeit behandelt werden möchten.
Wie auffallend diese Gesinnung schon in den ersten
Tagen des Christentums zu Tage trat, sehen wir in den
Kämpfen des Apostels Paulus. Selbst Petrus fürchtete
sich, die Grundsätze der Gnade aufrecht zu halten; (Gal. 2.)
und daher widerstand Paulus, geleitet durch den Heiligen
Geist, nicht nur dem Petrus ins Angesicht, sondern er
bewies auch, sowohl in dem Briefe an die Galater, als
auch in demjenigen an die Römer, mit klaren und ausführlichen Worten, daß der Jude ebenso wenig Ansprüche
an Gott zu machen habe, wie der Heide, und daß der
erstere, wenn Gott auf dem Boden der Gerechtigkeit mit
Israel hätte handeln wollen, Seinem Gericht ebenso sicher
verfallen wäre, wie auch der letztere. Aber jetzt hat Gott
alle zusammen, sowohl Juden als Heiden, „in den Unglauben eingeschlossen, auf daß Er alle begnadige."
(Röm. 11, 32.) Ja, der natürliche Mensch kann nimmer
die Gnade Gottes verstehen.
Doch laßt uns noch ein wenig tiefer gehen und nach
den besondern Gründen des Zornes des Propheten forschen.
Wir lesen: „Und er betete zu Jehova und sprach: Ach,
Jehova! war dies nicht mein Wort, als ich noch in meinem
Lande war? Darum kam ich zuvor, indem ich nach Tharsis
entfloh; denn ich wußte, daß Du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte,
und der sich des Uebels gereuen läßt. Und nun, Jehova,
nimm doch meine Seele von mir; denn es ist mir besser,
zu sterben, als zu leben." (V. 2. 3.)
227
Das heißt also, Jona war bange, Gott möchte der
Stadt Ninive Barmherzigkeit widerfahren lassen; und da
er selbst Gericht und Zerstörung wünschte, so wollte er
nicht der Ueberbringer der göttlichen Botschaft sein. Welch
eine Engherzigkeit, ja, welch eine Härte des Herzens!
Und doch ist das noch nicht alles. Was dieses thörichte
Gebet am schärfsten kennzeichnet, ist das unverblümte
Hervortreten des eignen Ichs in seiner häßlichsten Gestalt,
und, damit naturgemäß verbunden, das Suchen der eignen 
Ehre. Jona wäre völlig bereit gewesen, der gottlosen
Stadt die Botschaft des Gerichts zu bringen, wenn er
nur die Gewißheit gehabt hätte, daß das Gericht auch
wirklich kommen würde; denn das würde Jona in seinen
eigenen Augen und in den Augen aller derer, welche an
seine Sendung glaubten, erhoben haben. Ach, was ist
der Mensch! Selbst Jakobus und Johannes fragten einst
den Herrn Jesus: „Herr, willst Du, daß wir Feuer heißen
vom Himmel herabfallen und sie verzehren, wie auch Elias
that?" (Luk. 9, 54.) Aber der Herr wandte sich um und
strafte sie; denn Gott hatte Seinen Sohn nicht in die Welt
gesandt, um die Welt zu richten, sondern damit die Welt
durch Ihn errettet würde. Jona war von demselben Geiste
beseelt, wie jene Jünger; nur ging er noch weiter und
w ider se tz te sich gar der Offenbarung der Gnade Gottes.
Und warum? Ach! er dachte, anstatt für Ninive besorgt
zu sein, nur an seinen eigenen Ruf als Prophet. Denn
so wie die Ankündigung eines schonungslosen Gerichts den
Prediger erhob, so setzte die Entfaltung der Gnade den
Boten völlig beiseite und verherrlichte Gott.
Wie ist doch das Herz des Menschen so verderbt,
so unfähig, sich zu der Güte Gottes zu erheben! Jonas
228
Gedanken waren nur mit seiner Person und mit seiner
Ehre beschäftigt, und die schreckliche Eigennützigkeit seines
Herzens verbarg ihm völlig den Gott aller Gnade, der
in Uebereinstimmung mit Seiner Liebe zu Seinen hülflosen
Geschöpfen handeln wollte. Und wir dürfen hinzufügen,
daß Jona durchaus keine Entschuldigung hatte. Er selbst
sagt: „Ich wußte, daß Du ein gnädiger und barmherziger
Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte ?c.";
und doch war er zornig und unzufrieden mit dem Charakter
Gottes, den er kannte.
Seine Enttäuschung und sein Zorn waren so groß,
daß er zu sterben wünschte. Trauriger Zustand der Seele l
Lieber wollte er sterben, als daß Gott Ninive verschonte,
und daß er und seine Predigt von dem Vordergründe
verschwänden! So klein und eng ist das menschliche Herz,
wenn es mit seinen eigenen Dingen, mit seiner Wichtigkeit,
mit seiner Ehre und seinem Ruf beschäftigt ist. Die
Handlungsweise des Propheten Elia, obwohl sie auf den
ersten Blick viel Aehnlichkeit mit derjenigen Jonas zu
haben scheint, ist doch eine sehr verschiedene. In seinem
Kleinmut wähnte Elia, sein Werk sei völlig vergeblich
gewesen, und er beantwortet deshalb die Frage des Herrn:
„Was machst du hier, Elia?" mit den Worten: „Ich
habe sehr geeifert für Jehova, den Gott der Heerscharen,
denn die Kinder Israel haben Deinen Bund verlassen,
Deine Altäre haben sie niedergerissen und Deine Propheten
mit dem Schwerte erschlagen; und ich bin allein übriggeblieben, und sie trachten nach meiner Seele, sie wegzunehmen." (1. Kön. 19, 10.) Da er die Macht des
Feindes auf allen Seiten überhand nehmen sah, so hatte
er für einen Augenblick sein Vertrauen auf Gott ver­
229
loren. Ohne Zweifel fühlte auch er sich enttäuscht, daß
der Herr nicht in richterlicher Weise auf den Schauplatz
trat, um die Ehre Seines Namens zu rächen. Aber das
war etwas ganz anderes, als der Wunsch Jonas. Jona
dachte weder an die Ehre des Herrn, noch an das arme,
schuldige Ninive, sondern nur an sich und an seinen Ruf als
Prophet Jehovas. Wahrlich, nichts könnte demütigender
sein, als ein solcher Zustand des Herzens.
Und wenn wir jetzt die andere Seite betrachten, was
könnte schöner sein, als die zärtliche, geduldige Güte, mit
welcher der Herr Seinen abgeirrten Knecht behandelt? Für
den Augenblick begnügt Er sich mit einem einzigen Worte,
mit der kurzen Frage: „Ist es billig, daß du zürnest?"
Das ist alles. Er handelt gerade so, wie eine Mutter
mit ihrem störrigen Kinde handeln würde. Sie, weiß
wohl, daß es nutzlos ist, mit ihm zu reden, so lange es
gereizt ist, und schenkt deshalb seinen thörichten Bitten
und Wünschen kein Gehör; wenn aber seine verdrießliche
Stimmung vorüber ist, dann stellt sie ihm das Thörichte
und Verkehrte seines Verhaltens vor. Genau so macht es
der Herr mit dem armen Propheten. Ach! und wie oft
mögen auch wir, in demselben Geiste wie Jona, es gewagt
haben, die Wege unsers Gottes zu berichtigen und unsre
thörichten Wünsche Seinen weisen Absichten voranzustellen,
welche vielleicht, wenn Gott sie uns gewährt hätte, Kummer
und Schmerz für unser ganzes Leben über uns gebracht
haben würden! Doch der Herr liebte uns mehr, als selbst
wir uns in solchen Augenblicken liebten.
Jona erwiderte nichts auf den zärtlichen Vorwurf des
Herrn; er war zu zornig dazu. „Und Jona ging zur Stadt
hinaus und setzte sich gegen Osten der Stadt und machte
230
sich daselbst eine Hütte, und saß darunter im Schatten, bis
daß er sähe, was mit der Stadt geschehen würde." Armer
Mann! Er hoffte offenbar immer noch, daß der Herr
Ninive zerstören würde, trotzdem es aufrichtig Buße gethan hatte; so wenig verstand er das Herz Dessen, der
ihn mit einer Botschaft an die Stadt betraut hatte. Aber
Gottes Gedanken waren für den Augenblick nicht mehr
mit Ninive beschäftigt. „Er hatte sich des Uebels gereuen
lassen, das Er geredet, ihnen zu thun; und Er that es
nicht." Das war unwiderruflich, und Er konnte deshalb,
in Uebereinstimmung mit Seinem heiligen Namen, die bösen
Wünsche Seines Knechtes nicht beachten. Vielmehr war
jetzt Seine Aufmerksamkeit in Liebe und Gnade auf Jona
gerichtet, um ihn zu belehren und von seinem Unmut zu
heilen, sowie Seine eignen Wege ihm zu erklären und
vor ihm zu rechtfertigen. Wir lesen deshalb: „Und Gott
Jehova bestellte einen Wunderbaum und ließ ihn über
Jona aufschießen, daß Schatten wäre über seinem Haupte,
um ihn von seinem Mißmut zu retten; und Jona freute
sich über den Wunderbaum mit großer Freude." (V. 6.)
Es ist überaus rührend zu sehen, in welcher Weise
Gott über Seinen eigenwilligen Diener wacht und für ihn
sorgt, und wie viel Mühe Er sich giebt, ihn von der
Unbilligkeit seines Zürnens zu überzeugen. Warum freute
sich der Prophet jetzt mit so großer Freude? Wegen der
Erfrischung, welche ihm der Schatten des Wunderbaumes
gewährte. Wie sein Zorn, so war seine Freude ganz und
gar selbstsüchtig. Deshalb „bestellte Gott einen Wurm,
des andern Tages beim Aufsteigen der Btorgenröte, der
stach den Wunderbaum, daß er verdorrte. Und es geschah,
als die Sonne aufgiug, da bestellte Gott einen schwülen
231
Ostwind, und die Sonne stach Jona aufs Haupt, daß er
ermattete; und er wünschte seiner Seele zu sterben, und
sprach: Es ist mir besser, zu sterben, als zu leben." Nur
mit sich und mit seinen Interessen beschäftigt, fühlt sich
Jona ganz elend und matt, ist unmutig und böse. Glaubte
er sich vorher in seiner Ehre gekränkt, so ist er jetzt mißmutig über die Vernichtung des Wunderbaumes, der ein
Trost und eine Erquickung sür ihn gewesen war. Dabei
stach ihn die Sonne aufs Haupt und verursachte ihm
körperliche Leiden.
Das war der Punkt, zu welchem Gott Seinen Knecht
leiten wollte; und jetzt tritt Er noch einmal hervor und
fragt Jona: „Ist es billig, daß du zürnest um den Wunderbaum ? Und er sprach: Billig zürne ich bis zum Tode!"
Iona war zornig gewesen, weil Ninive nicht zerstört worden war, und jetzt ist er zornig, weil Gott den Wunderbaum zerstört hatte; in beiden Fällen entsprang sein Zorn
der Wirkung, welche das Thun Gottes auf ihn hatte.
Sein eigenes Ich bildete den Mittelpunkt all seines Denkens
und Fühlens. Ach, wie böse ist das arme, enge Herz des
Menschen! Um ihn hieraus aufmerksam zu machen, sagt
der Herr zu ihm: „Du erbarmest dich des Wunderbaumes,
an welchem du nicht gearbeitet und den du nicht groß gezogen hast, der als Sohn einer Nacht entstand, und als
Sohn einer Nacht verging; und ich sollte mich nicht
erbarmen über Ninive, die große Stadt, in welcher mehr
als hundert und zwanzig tausend Menschen sind, die keinen
Unterschied wissen zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken,
und viel Vieh?" (V. 10. 11.)
Auf diese Weise wurde Jona aus seinem eignen Munde
gestraft und überführt; und Gott wurde gerechtfertigt, ja
232
überströmend gerechtfertigt durch das Erbarmen, welches
Jona für den Wunderbaum fühlte, mit welchem er doch
in keinerlei Verbindung stand, und den er nur geschätzt
batte wegen des Nutzens, welchen derselbe ihm gewährte.
So überwand Gott, (wie Er es stets thun wird,) als Er
gerichtet wurde. (Vergl. Röm. 3, 4.) Es gab zwei Dinge,
welche der Prophet — und wir dürfen wohl hinzufügen,
auch viele Christen — noch nicht gelernt hatte. Das erste
ist, daß „Jehova gut ist gegen Alle, und daß Seine Erbarmungen über alle Seine Werke sind." (Ps. 145, 9.)
Wie schön tritt dies in den Worten: „und viel Vieh"
aus Licht! Dieses Erbarmen Gottes wird sich dereinst,
wenn Christus Seine rechtmäßige Herrschaft antreten und
über die Erde regieren wird, in seiner ganzen Fülle und
Herrlichkeit entfalten. Allein das Herz Gottes war von
jeher dasselbe, und Er hat dies darin bewiesen, „daß Er
Seinen eingebornen Sohn gegeben, auf daß jeder, der an
Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben
habe;" sowie ferner in der Thatsache, daß Christus den
Tod für alles geschmeckt hat, (Hebr. 2.) daß die Zeit der
Gnade unter der Langmut Gottes immer noch währt,
weil Er nicht will, daß irgend welche verloren gehen, sondern daß Alle zur Buße kommen; und endlich in Seinem
Vorsatz, durch den Tod Christi „alle Dinge mit sich zn
versöhnen, es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge
in den Himmeln." (Kol. 1, 20.) Aber um das wirklich
verstehen und genießen zu können, müssen wir uns selbst
aus dem Auge verlieren, alle selbstsüchtigen Gedanken und
Wünsche verurteilen und mir göttlichen Gedanken und Zuneigungen erfüllt sein.
Die zweite Sache, welche Jona noch nicht gelernt hatte,
233
war die, daß „Jehova gut ist und zum Vergeben bereit,
und groß an Güte gegen alle, die Ihn anrufen." (Ps. 86, 5.)
Dieselbe Wahrheit hatte Petrus am Pfingsttage in Jerusalem die Juden zu lehren, (Apstgsch. 2, 21.) mußte
Paulus den jüdischen Gläubigen seiner Zeit ernstlich ans
Herz legen, (Röm. 10, 11 — 13.) und dieselbe Wahrheit
sollte in der gegenwärtigen Zeit von vielen Gläubigen mit
größerer Lebendigkeit und Kraft festgehalten werden, als
es gewöhnlich geschieht. Während die Lippen diese Wahrheit aussprechcn, ist das Herz oft mit ganz andern Gefühlen erfüllt, und infolge dessen stimmt unsre Handlungsweise nicht mit unsern Worten überein. Die Gnade Gottes
ist unumschränkt und unbegrenzt; sie kennt keine Schranken
und strömt deshalb aus, wohin Gott will. O, wie ost
gleichen wir dem Propheten Jona; wie oft begrenzen und
verengen wir gleichsam, in derselben thörichten Weise wie
er, das Herz Gottes! Aber am Ende wird Gott zeigen,
daß Er über allen unsern Gedanken steht, und daß Seine
Gnade weit über unsre schwachen Begriffe hinausgeht.
Möchten wir uns jedoch inzwischen, zur Belehrung und
zum Trost für unsre Herzen, stets daran erinnern, daß
jeder, der in Wahrheit den Namen des Herrn anruft,
errettet werden wird!
Es war, um dies noch zum Schluß zu bemerken, keine
geringe Ehre für Jona, trotz seines Ungehorsams, seines
Eigenwillens und Zornes, von Gott als ein Gesäß benutzt zu werden, durch welches das Herz und die Gedanken
Gottes ans Licht gestellt wurden. Aber auch das war ein
Ergebnis der Gnade, und deshalb gebührt alle Ehre, aller
Preis unserm anbetungswürdigen Gott. „Ihm sei die
Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen."
234

„Kem Unterschied."
„Denn es ist kein Unterschied, denn Alle
haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes."
(Röm. 3, 22. 23.) Das ist eine klare, deutliche Sprache,
nicht wahr, mein Leser? Sie könnte nicht bestimmter und
unzweideutiger sein. Und doch, wie klein ist die Zahl
derer, welche diese Sprache verstehen und beherzigen!
Warum das? Einmal ist der Mensch von Natur blind
über sich selbst und taub gegenüber den ernsten Belehrungen
des Wortes Gottes, und zum andern ist ihm eine solche
Sprache zu hart. Er will sie nicht hören. Und in der
That, es ist nicht angenehm für den Menschen, aus dem
Munde Gottes ein so ernstes, niederschmetterndes Urteil
zu vernehmen. Die nackte, ungeschminkte Wahrheit ist
bitter und demütigend für den Stolz des Menschen.
Kein Unterschied? Ob reich oder arm, gelehrt
oder ungelehrt, moralisch oder unmoralisch, gebildet oder
ungebildet, jung oder alt, gesund oder krank? Gar kein
Unterschied? Wie ist das möglich? Ja, so unmöglich
es scheinen und so hart es klingen mag, es ist die Wahrheit! Gott selbst erklärt es, und Er kennt uns besser,
als wir uns kennen. Er legt einen andern Maßstab an
als der Mensch. Er urteilt nach Seiner Gerechtigkeit
und Helligkeit. Und wie lautet Sein Urteil? Alle haben
gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit
Gottes. Wenn das von Allen wahr ist, so bist auch
du nicht ausgeschlossen, mein lieber unbekehrter Leser;
dann hast auch du gesündigt, dann erreichst auch du die
Herrlichkeit Gottes nicht.
Es ist gewiß wahr, daß es äußere Unterschiede unter
235
den Menschen giebt. Es besteht ohne Zweifel ein großer
moralischer Unterschied zwischen einem Trunkenbolde und
einem nüchternen, ehrbaren Manne; zwischen dem Weibe
am Jakobsbrunnen in Samaria und dem achtbaren, religiösen Lehrer in Israel, der zur Nachtzeit zu Jesu kam;
zwischen einem sterbenden Räuber am Kreuze und einem
Saulus von Tarsus, dem strengen, sittenreinen Pharisäer;
zwischen der großen Sünderin, welche in der ganzen Stadt
wegen ihres traurigen Lebenswandels bekannt war, und
dem reichen Obersten, der von Jugend auf die Gebote
gehalten hatte. Und dennoch ist in e i n e r Beziehung kein
Unterschied. Der Eine hat gesündigt, und der Andere hat
gesündigt; der Eine bedarf so sehr, „von neuem geboren"
zu werden, wie der Andere; der Eine muß so notwendig
die Stimme Jesu hören, wie der Andere; der Eine erreicht die Herrlichkeit Gottes nicht, und der Andere erreicht sie nicht. Da ist kein Unterschied.
Leute, die nach ihrer Meinung wenig gesündigt haben,
denken nicht selten, sie ständen der Errettung näher und
hätten gegründetere Aussichten auf einen Platz in der
Herrlichkeit Gottes, als solche, die viel gesündigt haben.
Aber das ist ein verhängnisvoller Irrtum. Es ist, wenn
wir so reden dürfen, viel eher das Gegenteil der Fall.
Nicht als ob die Gnade Gottes nicht für beide ausreichte,
oder als ob der Eine näher stände, als der Andere; nein,
aber der Eine, welcher glaubt, etwas zu besitzen, was ihn
für die Herrlichkeit Gottes passend mache, vertraut darauf,
und geht verloren, während der Andere, im Bewußtsein, daß sein Leben schlecht ist und er nichts Gutes
aufweisen kann, nach einem Erretter ausschaut, zu Jesu
geführt und so errettet wird. Der junge Oberste, von
236
dem wir oben redeten, ging mit allen seinen guten Werken,
mit all seiner äußern Frömmigkeit „traurig hinweg",
während die bußfertige Sünderin aus der Stadt mit friedeerfülltem Herzen und mit dem Bewußtsein, daß alle ihre
Sünden vergeben seien, das Haus des Pharisäers verließ.
Der reumütig heimkehrende verlorene Sohn wurde von
dem Vater in der zärtlichsten Weise willkommen geheißen,
mit dem vornehmsten Kleide bekleidet und unter Freude
und Jubel ins Vaterhaus geführt, während der selbstgerechte ältere Sohn „nicht hineingehen wollte."
Hast du schon einmal daran gedacht, mein Leser, daß
eine einzige Sünde Adam und Eva aus dem Paradiese und aus der Gegenwart Gottes vertrieb und Tod
und Verderben über sie brachte? Keine einzige Sünde kann
da geduldet werden, wo Gott ist. Es giebt keine Gemeinschaft zwischen Licht und Finsternis. Und ebenso gut könnte
ein Ertrinkender sein Vertrauen auf die Wellen seyen,
welche ihn zu verschlingen drohen, wie ein Sünder aus
seine Nüchternheit, Ehrbarkeit, Nächstenliebe, oder wie er
seine guten Werke sonst nennen mag. Das Eine ist so
thöricht wie das Andere.
Aber, wirst du vielleicht einwenden, wenn das wirklich so ist, dann ist die Lage des Menschen ja eine schreckliche, eine ganz verzweifelte. Allerdings ist sie das. So
weit er in Betracht kommt, ist sie ganz und gar hoffnungslos ; und wenn nur die oben besprochene Stelle im Worte
Gottes stände, so würde kein Mensch jemals errettet werden können. Aber Gott sei Dank! dieselben Worte: „es
ist kein Unterschied I" finden sich noch in einer andern Verbindung in demselben Briefe an die Römer. Wir lesen
im 10. Kapitel: „Denn es ist kein Unterschi ed ... ,
237
denn derselbe Herr von Allen ist reich für Alle, die Ihn
anrufen: „denn jeder, der irgend den Namen des Herrn
anrufen wird, wird errettet werden."" (V. 12. 13.) In
der ersten Stelle wird gleichsam die Thür für Alle geschlossen, in der zweiten wird sie für Alle geöffnet. Die »
erste sagt dem Menschen, daß er keine Gerechtigkeit habe
und nichts besitze, was ihn für die Gegenwart Gottes
passend machen könnte; in der zweiten bereiter Gott selbst
eine Gerechtigkeit für den Sünder. Nachdem Sein geliebter
Sohn gestorben und wieder auferstanden ist, heißt Er alle
willkommen, die sich in Aufrichtigkeit des Herzens Ihm
nahen. Er ist reich für Alle, die Ihn anrufen. Wer
da auch kommen mag, ob jung oder alt, ob vornehm oder 
gering; wie das Leben auch gewesen sein mag, ob gottlos
oder ehrbar, ob im Unglauben oder in äußerer Rechtgläubigkeit und Religiosität: „Jeder, der irgend den
Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden."
Gerade so wie in dem ersten „kein Unterschied" Alle eingeschloffen sind, über Alle dasselbe ernste Urteil gefällt
wird, so werden auch in dem zweiten „kein Unterschied"
Alle aufgefordert, zu Jesu zu nahen, um in dem Glauben an Ihn Vergebung und Heil, Errettung und ewiges 
Leben zu finden.
Doch woher kommt es nun, daß so Manche den
Namen des Herrn anrufen und doch nicht errettet werden?
Woher kommt es, daß so Viele Tag für Tag den Namen
Gottes mit Ehrerbietung nennen, regelmäßig zu Ihm
beten, und doch nicht die Gewißheit der Vergebung ihrer
Sünden erlangen? In einzelnen Fällen mag es daran
liegen, daß die Betenden, ohne daß sie es wollen und
wissen, dem Worte Gottes nicht glauben, nicht das Ver­
238
trauen zu Gott haben, daß Er wirklich meint, was Er
sagt, daß Er wirklich reich ist für Alle, die Ihn anrufen, ja daß da, wo die Sünde überströmend geworden,
die Gnade noch überschwänglicher geworden ist. Solche
Beter sind aufrichtig, aber es mangelt ihnen der kindliche
Glaube an das vollbrachte Werk Christi, das einfältige
Vertrauen auf das Wort des lebendigen Gottes. Sie
bleiben bei ihrer Unwürdigkeit und bei der Größe ihrer
Sünden stehen, messen Gott und Seine Gnade nach ihren
eignen armseligen Begriffen, und bedenken nicht, daß Gott
sich gerade umsomehr verherrlicht, je größer das Elend
und Verderben des Sünders ist.
Aber in den meisten Fällen liegt die Ursache anderswo. Das Gebet wird nicht beantwortet, weil es nicht aufrichtig ist, weil es nicht aus dem tiefen Bedürfnis des
Herzens hervorgeht, noch der Ausdruck und das Ergebnis
der Zerknirschung der Seele ist. Das Gebet gleicht mehr
oder weniger dem Gottesdienst Israels zur Zeit des Herrn
Jesu, von welchem schon der Prophet Jesaja geweissagt
hatte: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr
Herz ist weit entfernt von mir." Die Sünde wird nicht
gefühlt, der verlorene Zustand nicht erkannt, und darum
auch nicht in Wahrheit der Name deS Herrn angerufen.
Es ist ein Anrufen mit den Lippen, aber nicht ein Flehen
um Gnade und Erbarmen aus der Tiefe des Herzens.
Kann Gott ein solches blos äußerliches Gebet erhören? Unmöglich! Kann ein solches Lippenwerk Ihm angenehm sein? Gewiß nicht! So sehr Sein Herz darnach
verlangt, dem Sünder gnädig zu sein, so kann Er eS doch
nicht, wenn nicht Wirklichkeit und Aufrichtigkeit in der
Seele vorhanden sind. Ach! das Herz blutet bei dem Ge­
239
danken an so viele Tausende und Hunderttausende in der
sogenannten Christenheit, welche äußerlich den Namen des
Herrn bekennen und um keinen Preis für Ungläubige oder
Verächter der Wahrheit Gottes gehalten werden möchten,
die aber bei alledem in Gleichgültigkeit des Herzens vorangehen, nie wirklich in das Licht Gottes gekommen sind,
sich nie als verlorene Sünder erkannt und deshalb auch
noch nie in Wahrheit und Aufrichtigkeit den Namen des
Herrn, als eines Heilandes und Erretters der Verlorenen,
angerufen haben. Was muß das Ende eines solchen Weges
sein? Das Ende ist die ewige Verdammnis! Denn da ist
kein Unterschied; Alle haben gesündigt und erreichen
nicht die Herrlichkeit Gottes. Nur „die Erlösung, die in
Christo Jesu ist," vermag den Sünder zu erretten, den
Ungerechten zu rechtfertigen. Wer dieser Erlösung nicht
teilhaftig wird, wer nicht an den Sohn Gottes glaubt,
auf ihm bleibt der Zorn Gottes! Ernste, erschütternde
Thatsache!
Schon im Alten Bunde ist diese Wahrheit in vielen
Vorbildern und Schatten dargestellt worden. So mußte
z. B. bei der Musterung des Volkes Israel jeder, der zu
den Gemusterten überging, von zwanzig Jahren und darüber,
„als Sühnung für seine Seele" einen halben Sekel Silber
geben. Der Reiche hatte nicht mehr zu geben, und der
Arme nicht weniger. Der Sühnuugspreis war für Alle
gleich. Der Reiche und der Arme standen in dieser Beziehung auf ein und demselben Boden. Der Reiche hatte
vielleicht gern mehr gegeben, und der Arme weniger; aber
nein, beide mußten dasselbe bezahlen, da war kein Unterschied. Wer den halben Sekel nicht gab, über den
kam „die Plage JehovaS." (Vergl. 2. Mose 30, 11 — 16.)
240
Welch ein treffendes Bild von der Wahrheit, daß auch
heute Alle auf demselben Boden und unter denselben Bedingungen des Heils teilhaftig werden! Nicht als ob der
Sünder heute einen halben Sekel Silber zu bezahlen hätte.
(Wie Mancher würde gern eine große Summe Geldes, ja
vielleicht sein ganzes Vermögen hergeben, wenn er aus
diese Weise Vergebung seiner Sünden und ewiges Leben
erlangen könnte; wie Mancher opfert thatsächlich große
Summen für mildthätige Zwecke, für die Mission ec., in
dem eitlen Wahn, sich dadurch einen Platz im Himmel
erkaufen zu können!) Nein, der Sünder, ob reich oder
arm, ob jung oder alt, hat nicht das Geringste zu bezahlen. Wie könnten auch die armseligen Dinge dieser
Welt, Silber und Gold, einen heiligen und gerechten Gott
befriedigen? Allerdings, die Schuld muß bezahlt, die
Heiligkeit Gottes muß befriedigt werden. Aber das zu
vollführen, liegt nicht in der Macht des Menschen. Darum
welch ein Glück, sagen zu können, daß Gott selbst den
Sühnungspreis für den Sünder vorgesehen, und daß Er
einen Weg bereitet hat, auf welchem jeder Glaubende, unbeschadet der Gerechtigkeit Gottes, ja, auf Grund derselben,
errettet werden kann. Muß ich dem Leser sagen, worin
dieser Sühnungspreis besteht? Es ist das kostbare Blut
Jesu Christi, eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken.
Christus bezahlte die ganze Schuld; und nichts, weder
Großes noch Kleines, ist für den Gläubigen zu thun übriggebliebeu. Gott ist vollkommen befriedigt und verherrlicht
worden durch das, was Sein Geliebter gethan hat;
und Er selbst fordert den Sünder auf, an diesen Jesus
zu glauben und sich durch Ihn versöhnen zu lassen.
So wie einst bei Israel, so m u ß auch jetzt ein jeder
241
versöhnt werden. Wer den Sühnungspreis nicht bringt,
oder mit andern Worten, wer nicht an Jesum glaubt
und in diesem Glauben an Sein vergossenes Blut Frieden
und Vergebung findet, über den kommt die Plage Jehovas,
das Gericht Gottes. Aber ein jeder kann auch versöhnt
werden. Keiner ist ausgeschlossen; wer da will, ist
eingeladen, zu kommen und von dem Wasser des Lebens
umsonst zu trinken. „Wer mein Wort hört," sagt
der Herr Jesus, „und glaubt Dem, der mich gesandt hat,
hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht." (Joh.
5, 24.) So ist das Heil Gottes einem jeden Sünder nahe
gebracht, und es wird ihm angeboten „ohne Geld und ohne
Kaufpreis." Deshalb hat niemand eine Entschuldigung.
Die ewige Errettung liegt gleichsam in dem Bereich eines
jeden. Denn was sagt die „Gerechtigkeit aus Glauben?"
Sie spricht also: „„Das Wort ist dir nahe, in deinem
Munde und tu deinem Herzen;" das ist das Wort des
Glaubens, welches wir predigen, daß, wenn du mit deinem
Munde Jesum als Herrn bekennen, und in deinem Herzen
glauben wirst, daß Gott Ihn aus den Toten anferweckt 
hat, du errettet werden wirst." (Röm. 10, 6- 9.)
Und nun, mein Leser, erlaube mir die Frage: Glaubst
du an den Herrn Jesum? Ich meine nicht, ob du glaubst,
daß Jesus aus dem Himmel herniedergekommen und auf
Golgatha für Sünder gestorben ist. Das ist noch kein
Glaube an Jesum; das ist kein wahrer, errettender
Glaube. Diesen Glauben haben Millionen und erhöhen
dadurch nur ihre ernste Verantwortlichkeit. Nein, meine 
Frage hat einen ganz andern Sinn. Glaubst du an den
Herrn Jesum? d. h. bist du als ein verlorener, verdammungswürdiger Sünder zu Jesu, deinem Erretter, ge­
242
kommen, und hast du Ihn am Stamme des Kreuzes gesehen, als im Gericht stehend sür deine Schuld? Hast
du jemals dein Herz in aufrichtigem Bekenntnis vor Gott
ausgeschüttet und dann durch den Glauben an den Gestorbenen und Auferslandenen die Gewißheit der Vergebung
deiner Sünden empfangen? Sage nicht: „Das ist unmöglich; niemand kann wissen, ob seine Sünden vergeben
sind!" Diesen Einwurs hat der Feind stets gemacht, um
die Seelen zu bethören und von Jesu sern zu halten.
Horche nicht auf ihn; denn er ist „ein Lügner von Anfang!" Das Wort Gottes redet anders. Der Apostel
Johannes sagt: „Ich schreibe euch, Kinder, weil euch die
Sünden vergeben sind um Seines Namens willen;"
und: „Wer an den Sohn Gottes glaubt, hatdas Zeugnis in sich selbst. . . Und dies ist das Zeugnis:
daß Gott uns das ewige Leben gegeben hat, und
dieses Leben ist in Seinem Sohne. . . Dies habe ich
euch geschrieben, auf daß ihr wisset, daß ihr das ewige
Leben habt." (1. Joh. 2, 12; 5, 10-13.)
Du siehst also, meiu Leser, daß die Gewißheit der
Vergebung der Sünden zu erlangen ist; ja, Gott will,
daß alle diejenigen, welche an Jesum glauben, in voller
Gewißheit des Glaubens, mit glücklichen und dankbaren
Herzen ihren Weg durch diese Welt gehen, daß sie ohne
Furcht und Zagen zu Ihm, als ihrem Gott und Vater
in Christo Jesu, aufschauen und Ihm als Erlöste und
teuer Erkaufte in kindlicher Liebe und Ehrfurcht dienen.
Darum ruhe nicht eher, bis auch du diese kostbare Gewißheit erlangt hast. Laß dich durch nichts zurückhalten.
Denke auch nicht, du seiest zu gut oder nicht gut genug
sür Jesum. Keiner ist zu gut, keiner zu schlecht für Ihn,
243
den Heiland der Sünder. Gerade weil Alle abgewichen
und untauglich geworden sind, weil da keiner ist, der
Gutes thue, auch nicht einer, sandte Gott Seinen eingebornen Sohn, um für Alle zu sterben, damit diejenigen,
welche an Ihn glauben, errettet werden möchten.
„Wenn ich das Blut sehe."
(2. Mose 12, 13.)
Es giebt viele Seelen, die, teils durch falsche Belehrung, teils durch die Eingebungen ihrer eignen Herzen
und durch die Einflüsterungen Satans, Jahrelang in
einem Zustande ängstlicher Besorgnis und peinigender Ungewißheit dahingehen. Obwohl völlig überzeugt von ihrem
Verderben und Verlorenseiu und sich bewußt, daß nur
das Werk Christi und Sein vergossenes Blut sie zu erretten
vermag, suchen sie doch immerfort nach Beweisen in sich
selbst, daß sie errettet seien und Vergebung der Sünden
haben. Sie eilen hierhin und dorthin, um diesen oder
jenen Prediger des Wortes zu hören; aber nichts kann
ihnen Ruhe geben. Im Gegenteil, ihre Unruhe wird
immer größer, ihre Ungewißheit immer quälender. Sie
bemühen sich, Gott zu dienen und Seine Gebote zu halten,
um auf diesem Wege Ruhe zu finden; aber auch das ist 
vergebens. Die Entdeckung, daß ihr Fleisch nach wie vor
verderbt ist, und daß sie in sich keine Kraft haben, das Gute
zu thun, macht sie ganz elend und bringt sie der Verzweiflung nahe. Sie reden sich ein, daß ihr Glaube
nicht rechter Art, nicht stark genug sei, und strengen sich
an, den rechten Glauben in sich hervorzurufen. Aber so
aufrichtig sie es auch meinen mögen — alles ist ver­
244
geblich, alle Mühe umsonst. Denn obwohl sie auch völlig
überzeugt sind, daß nur Christus sie zu erretten vermag,
suchen sie doch, in wunderbarem Widerspruch damit, Ruhe
in ihrem Thun, in ihren Gebeten, ihren Gefühlen
und ihrem Glauben. Und darum können sie nie zur
Ruhe kommen. Denn so kostbar der Glaube auch in den
Augen GotteS ist, so kann Er ihn doch nicht annehmen
als den Preis unsrer Erlösung. Dieser Preis ist das
kostbare Blut Jesu Christi, eines Lammes ohne Fehl und
ohne Flecken, das zuvorerkannt worden ist vor Grundlegung
der Welt, aber geoffenbart am Ende der Zeiten um unsertwillen. Ja, Gott sieht eine solche Kostbarkeit in diesem
Blute, daß Er um dieses Blutes willen an mir vorüber^
gehen will, daß der Zerstörer mich nicht antasten darf.
Und deshalb, wenn das Auge sich einmal von dem eignen
verderbten Ich und alledem, was aus demselben hervorkommt, abwendet und hinblickt auf Jesum, wenn daS Ohr
sich dem Zeugnis Gottes über das Blut des Opferlammes
öffnet und das Herz diesem Zeugnis glaubt, so kehren
Ruhe und Frieden in das geängstigte Gemüt ein, und
alle Zweifel und Besorgnisse schwinden. Das Herz findet
dann da Rnhe, wo auch Gott mit Wonne ruht.
Bevor wir jedoch die wohlbekannten Worte, welche
die Ueberschrift dieser Zeilen bilden, näher ins Auge fassen,
möchte ich den Leser an den Zustand des Volkes Israel
erinnern, wie er uns in den ersten 11 Kapiteln des
2. Buches Mose geschildert wird. Das Volk befand sich
in der Sklaverei des Pharao, in bitterer Knechtschaft.
„Und die Kinder Israel seufzten wegen des Dienstes und
schrieen; und ihr Geschrei stieg hinauf zu Gott wegen des
Dienstes." (Kap. 2, 23.) Und Gott hörte dieses Schreien
24Ü
und erbarmte sich ihrer; „denn ich kenne," sagte Er zu
Mose, „seine Schmerzen."
Welch ein getreues Bild von dem Zustand des Menschen
von Natur. Er hat sich dem Satan verkauft, er ist sein
Sklave. Wer wollte das leugnen? Ach, welch ein Schrei
bittrer Not und tiefsten Elends steigt von dieser Welr
zum Himmel empor! Wie bitter ist die Sklaverei der
Sünde, ganz abgesehen davon, daß es nach diesem Leben
einen Feuersee giebt, der mit Feuer und Schwefel brennt!
Welch ein Elend, wie viel Jammer, Not und Leid hat
die Sünde in die Welt gebracht! Ein jedes Herz kennt
und erfährt die Bitterkeit der Sünde.
Gott hörte einst das Seufzen der Kinder Israel.
Gott ist Liebe. Er hörte ihr Schreien, Er kannte ihre
Schmerzen, und Er kam, um sie zu erretten. Die Israeliten
hörten, daß Gott ihren Druck und ihr Elend angesehen
habe, und sie begehrten, aus Egypten zu ziehen und Ihn
anzubeten. Es ging ihnen gerade so, wie den Personen,
von welchen oben die Rede war. Sie verlangten sehnlichst
nach Befreiung aus ihrem Sklavenjoch, um Jehova dienen
und Ihn anbeten zu können; aber so wie bei jenen, so
machte dieser Wunsch auch ihnen das Joch nur noch fühlbarer, ließ die Last nur noch drückender erscheinen. Ihre
Leiden und ihre Schmerzen wurden jetzt größer als je.
Wie ost ist dies der Fall, wenn eine Seele aus ihrem
Sündenschlase erwacht und nun nach Heil, ja, nach Gotl
selbst dürstet! Satan bietet dann alle seine Bracht und
List auf, um die beschwerte Seele ganz zu Boden zu
drücken. Selbst die Verheißungen Gottes haben sür sie
keinen Wert, sie geben keine Erleichterung, gewähren keinen
Trost. Wir sehen dies bei den Kindern Israel. Mose
246
teilte ihnen die herrlichen Verheißungen Gottes mit, „aber
sie hörten nicht auf Mose vor Ungeduld (oder Unmut) und
vor hartem Dienste." Auch sehen wir in den folgenden
Kapiteln in dem Verhalten des Pharao, wie zähe Satan
seine Opfer festhält. Er weicht endlich nur dem gewaltigen Arm Gottes.
Vielleicht muß Mancher beim Lesen dieser Zeilen ausrusen: „Wie genau gleicht das mir und meinen Erfahrungen!
Je mehr ich gewünscht habe, Gott zu dienen, desto schwerer
ist mir die Last geworden. Ich habe Trost gesucht in den
Worten und Verheißungen Gottes; aber all mein Mühen
war umsonst. Immer noch ruht dieselbe Sündenlast auf mir;
immer noch quält mich dieselbe Unruhe; immer noch bin ich
ungewiß darüber, ob ich wirklich teil habe an Christo, ob
ich den rechten Glauben besitze." Arme Seele! wenn das
dein Zustand ist, so wirf mit mir einen Blick in das
12. Kapitel des 2. Buches Mose, und Gott gebe, daß
dies auch für dich „der Anfang der Monate" werde. Du
verstehst, daß das Lamm geschlachtet, und daß sein Blut
an die beiden Thürpfosten und an die Oberschwelle gestrichen wurde. Aber erkennst und verstehst du nicht, daß
ein jeder, ob jung oder alt, der in dem blutbesprengten
Hause Zuflucht suchte, auch teil an dem Blute hatte?
Gott hatte gesagt: „Und das Blut soll euch zum Zeichen
sein an den Häusern, in welchen ihr seid, und wenn ich
das Blut sehe, so werde ich an euch vorübergehen." Er
hatte nicht gesagt: Wenn ich sehe, wie gut ihr seid; oder:
Wenn ich sehe, daß ihr mein Wohlgefallen und meine
Hülfe verdient; oder: Wenn ihr eure Sünden genug bereut und in der rechten Weise geglaubt habt. Nichts von
alledem. Nein, das Blut war das Erste und das
247
Höchste in den Gedanken Gottes. Es war das
Zeichen Seiner Liebe zu ihnen, gerade so wie sie waren,
und gerade da, wo sie sich befanden. Gott sagte nicht
einmal: Wenn ihr das Blut sehet, sondern: Wenn ich
das Blut sehe. Und ich wiederhole nochmals: Hätte irgend
jemand, der sich in einem der blutbesprengten Häuser
befand, nötig gehabt zu fragen: Wie kann ich wissen,
daß ich teil an dem Blute habe? — Das stand außer
aller Frage; und jede Seele, welche in jener Nacht einfach
dem vertraute, was Gott gesagt hatte, wurde errettet.
Ich brauche kaum darauf hinzuweisen, daß die Erlösung
auS Egypten ein Bild der Erlösung durch das kostbare
Blut Christi ist. Es ist das eine Thatsache, die auch
dem einfachsten Leser bekannt sein wird. Allein ich möchte
fragen: Wenn das Blut des Lammes in Egypten ein 
Zeichen der Liebe Gottes zu Seinem armen schwachen
Volke war, ist dann nicht das Blut Jesu Christi in noch
viel höherer und herrlicherer Weise ein Zeichen Seiner
Liebe zu verlornen, verderbten Sündern? Jesus starb nicht,
damit Gott uns lieben möchte; Sein Tod war vielmehr der
unumstößliche und unwiderlegliche Beweis, daß Er uns
geliebt hat. „Hierin ist die Liebe Gottes zu uns geoffenbart worden, daß Gott Seinen eingebornen Sohn in die
Welt gesandt hat." „Also hat Gott die Welt geliebt,
daß Er Seinen eingebornen Sohn gegeben, auf daß jeder,
der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges 
Leben habe." „Hierin ist die Liebe: nicht daß wir Gott
geliebt haben, sondern daß Er uns geliebt und Seinen
Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsre Sünden."
(Joh. 3, 16; 1. Joh. 4, 9. 10.)
Es handelt sich also nicht darum, mein lieber Leser,
248
was du in dem Blute Christi siehst, sondern was Gott
darin sieht. Er kennt alle deine Sünden, aber Er sieht
Zugleich auch das Blut Christi, welches von aller Sünde
reinigt. Er steht, daß die Leiden und der Versöhnungstod Seines geliebten Sohnes Ihn rechtfertigen, wenn Er
an allen deinen Sünden vorübergeht, so groß und zahlreich diese auch sein mögen. Er selbst sagt es in Seinem
Worte. Wir lesen in Röm. 3, 26, daß Er gerecht ist,
„wenn Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum
ist." Fragst du nun immer noch: Wie aber kann ich
wissen, daß ich teil an jenem Versöhnnngsblut habe? Ei,
siehst du denn nicht, daß jeder Israelit, welcher dem
Worte Gottes glaubte, auch an dem Blute teil hatte,
das an die Thürpfosten gestrichen wurde? Und wenn du
das Neue Testament durchforschest, so wirst du finden,
daß jeder Sünder, der im Blick auf das am Kreuze vergossene Blut Gott vertraute, die volle Gewißheit besaß,
daß er erlöst war durch dieses Blut. Und beachte
wohl, es ist nicht eine Verheißung, der du Vertrauen
zu schenken hast. Die Erlösung ist keine Verheißung mehr,
sie ist eine vollendet e Thatsa ch e, ein vollbrachtes Werk. Wenn du am Verdursten wärest und jemand
käme zu dir mit dem Versprechen, dir Wasser zu holen,
so möchtest du diesem Versprechen vielleicht Glauben
schenken; aber wenn jener zurückkehrt und dir das versprochene Wasser bringt, so handelt es sich nicht länger
darum, dem Versprechen zu glauben; nein, das Versprechen
ist erfüllt, und du nimmst das Wasser dankbar entgegen
und löschest deinen Durst. Und siehe, gerade so ist es mit
der Erlösung. Gott hat Sein Versprechen erfüllt. Er
hat Seinen Sohn gesandt. Das Blut ist geflossen. Alles
249
ist vollbracht. Der Friede ist gemacht und wird dir derkündigt. Möge deshalb Gott dein Herz öffnen, um diesen
Frieden dankbar entgegen zu nehmen, auf Grund des
untrüglichen Zeugnisses des Gottes, der Jesum aus den
Toten auferweckt hat!
Ach, wie thöricht ist es, sich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen, was es auch sein möge! Wie
thöricht, zu den Verheißungen zurückkehren zu wollen,
als wenn Gott noch etwas zu thun hätte, um den Sünder erretten zu können! Das Werk ist vollbracht. Das
Opferlamm Gottes ist geschlachtet, Sein Blut ist vergossen worden; und Gott sieht das Blut. Ich frage dich:
Hast du wirklich deine Zuflucht zu diesem Blute genommen? Kannst du sagen, daß das kostbare Blut Christi
die einzige Grundlage deines Vertrauens bildet? Wenn
das der Fall ist, so ist es auch ganz gewiß, daß du ein
ewiges Teil an diesem Blute hast. Du bist dann erlöst
durch dieses Blut, entsprechend dem unendlichen Werte,
welchen der Tod Christi in den Augen Gottes hat. Darum
beschäftige dich nicht mehr mit dir selbst, mit deinen Gefühlen oder deinem Glauben. Ruhe einfältig in dem
vollendeten Werke Christi und in dem Zeugnis Gottes
über den Wert, den dieses Werk für Ihn hat. Stehe
auf und verlaß Egypten! Ziehe aus, die Lenden umgürtet
und den Stab in der Hand, als ein Erlöster des Herrn!
Nimm von den Banden, dem Dienste und der Welt Satans
sür ewig Abschied! Du gehörst nicht länger dir selbst an,
sondern du bist nm einen Preis erkauft, und um welch
einen Preis! Christus starb, der Gerechte für die Ungerechten, um uns zu Gott zu führen.
250

Das Zusammenkommen zum Gebet.
Das Zusammenkommen zum Gebet ist ein hervorragender Prüfstein für den geistlichen Zustand einer Versammlung.
Ein gefülltes Lokal am Tage deS Herrn, und leere Bänke
in den Stunden, welche für das Zusammenkommen zum
Gebet bestimmt sind, zeigen an, daß in dem geistlichen
Leben der Gläubigen ein ernster Mangel besteht. Wo mein
Herz ist, da werden auch meine Füße sein, vorausgesetzt
natürlich, daß mein körperlicher Zustand es nicht verhindert.
Es versteht sich von selbst, daß sehr viel davon abhängt, wie ich zu einer solchen Zusammenkunft gehe.
Wenn ich es thue, um Segen für mich dort zu empfangen,
um, wie man oft sagen hört, wieder einmal erwärmt und
belebt zu werden, so ist es kein Wunder, wenn ich nachher
klagen muß: „Welch eine trockne, kalte Gebetsstunde!"
Wenn ich aber hingehe mit einem warmen, glücklichen
Herzen, mit dem Gedanken an daS Vorrecht, welches mir
Gott gegeben hat, daß ich gemeinschaftlich mit den Seinigen
vor Ihn hintreten und meine Anliegen im Gebet und Flehen
mit Danksagung vor Ihm kundwerden lassen darf, dann
werde ich nicht leer zurückkommen. Wenn viele glühende
Kohlen zusammengebracht werden, so giebt eS mit einem
Male ein großes Feuer; wenn aber unter einem großen
Haufen nur einige glühen, dann hält es schwer, den ganzen Haufen in Brand zu setzen, ja, die Gefahr liegt nahe,
daß die wenigen noch glühenden Kohlen ganz erlöschen.
Deshalb laßt uns gehen, geliebte Brüder, erfüllt
mit dem Herrn, mit Herzen, die für Ihn schlagen
und die sich freuen, wieder einmal eine Stunde stillen,
friedlichen Zurückgezogenseins vor Ihm zubringen zu dürfen;
nicht aber, um erst erfüllt zu werden! Und wenn
wir beisammen sind, laßt uns dann nicht mit Geringschätzung auf einander blicken; auch laßt uns nicht zwei
oder drei Brüdern alles überlassen. Das Eine ist so verkehrt und verwerflich wie das Andere. Wo der Geist des
Herrn ist, da ist Freiheit. Aber laßt uns auch acht haben,
251
daß wir wirklich in dem Heiligen Geiste beten. Man hört
nicht selten Brüder so lange und für so verschiedene Dinge
beten, daß man fühlt, es ist nicht der Geist, der sie antreibt. Welch einen Wert hat ein solches Gebet vor Gott?
Gar keinen. Zugleich nimmt es Andern, welchen vielleicht die
eine oder andere Sache am Herzen liegt, die Zeit, und ist
so in doppelter Beziehung zum Unsegen. Beten wir in dem
Heiligen Geist, so werden wir niemals zu lang sein, niemals über das hinausgehen, was Er in unsre Herzen gelegt
hat, und wenn unser Gebet auch nur eine Minute währte.
Sehr ermüdend ist es auch und gewiß nicht durch den
Geist Gottes gewirkt, wenn ein Gebet aus einer wortreichen Aufzählung einer Reihe von an und sür sich kostbaren und gesegneten Wahrheiten besteht, und man den
Eindruck bekommt, als wolle der Betende der Versammlung oder gar Gott einen Vortrag halten. Die Fälle,
daß solche Gebete gesprochen werden, sind nicht so selten,
als man denken sollte. Aber es bedarf keines großen geistlichen Verständnisses, um zu erkennen, daß ein solches Gebet
seinen wahren Charakter ganz und gar verloren hat. Es ist
eigentlich kein Gebet mehr; und darum, so wohlgefällig es
vor Gott ist und Sein Vaterherz erfreut, wenn wir Ihm aus
dankbarem Herzen unser Lob darbringen und Seine Wohlthaten aufzählen, so verwerflich muß es vor Ihm sein, wenn
wir mehr unser Wissen und unsre Erkenntnis, als Ihn und
Seine Güte, zum Gegenstände unsers Gebets machen.
Was nun die Pausen zwischen den einzelnen Gebeten
anbetrifft, so erscheinen uns dieselben vielleicht oft etwas
lang. Und in der That, wenn wir nicht auf den Herrn
warten, so können wir sie nur schwer ertragen. Die Natur
liebt solche Augenblicke stillen Wartens auf den Herrn
nicht; sie sind langweilig und drückend für das Fleisch.
Aber wenn unsre Herzen in der rechten Stellung vor
Gott find, wenn wir auf Ihn warten und mit Ihm uns
beschäftigen, so sind gerade jene Augenblicke von reichem
Segen für uns. „Diese stillen Augenblicke sind," wie jemand gesagt hat, „genau das, was wir aus ihnen machen."
252
Sind wir in unsern Herzen mit der Frage beschäftigt,
wer nun wohl an der Reihe wäre, so werden wir
nichts empfangen; warten wir aber auf Gott, so werden
wir nie beschämt werden, ja, die Kraft wird, anstatt abzunehmen, sich vermehren; zugleich wird die Stunde des
Gebets, obwohl wir nicht gekommen sind, um Segen zu
empfangen, doch nicht ohne großen Segen für uns bleiben.
Und nun noch eins. Wenn wir fühlen, daß die Zusammenkunft beendigt und keine Kraft zum Gebet mehr
vorhanden ist, so laßt uns Schluß machen und nicht versuchen, die Stunde „auszufüllen." Ein Gebet, das nur
dazu dient, die Zeit herumzubringen, wie man zu sagen
pflegt, ist nicht nur wertlos, sondern dient dem Betenden,
wie der ganzen Versammlung, zum Unsegen und ist eine
Verunehrung des lebendigen Gottes. Wir sollten uns oft
der ernsten Worte des Predigers erinnern: „Nahe lieber,
zu hören, als Schlachtopfer der Thoren zu
geben; denn sie wissen nicht, daß sie Böses thun.
Sei nicht schnell mit deinem Munde, und dein Herz eile
nicht, ein Wort vor Gott hervorznbringen, denn Gott ist
im Himmel, und du bist auf der Erde; darum
laß deiner Worte wenige sein." (Pred. 4, 17 ; 5, 1.)
Gewiß, wenn in unserm Herzen ein lebendiges Bewußtsein von der Größe, Majestät und Heiligkeit unsers Gottes
und Vaters vorhanden ist, so werden wir vor einem solch
thörichten Beginnen, durch unser Beten die Zeit auSzufüllen, zurückschrecken. So wahr es ist, daß wir mit aller
Freimütigkeit und mit kindlicher Zuversicht dem Vater
nahen dürfen, so sollte doch sieis der Gedanke in unserm
Herzen leben, daß Der, den wir als Vater anrufen, der
dreimal heilige, lebendige Gott ist, den die Himmel nicht
zu fassen vermögen.
Wenn andrerseits der Geist Gottes in unsrer Mitte wirksam ist und die Kraft des Herrn ein längeres Zusammensein als gewöhnlich hervorruft, so laßt uns nicht unruhig
werden, sondern es annehmen, als von dem Herrn gegeben.
Der lebendige Gott und ein lebendiger
Glaube.
Beinahe auf jeder Seite des Buches Gottes und in
jedem Abschnitt der Geschichte des Volkes Gottes tritt
dem aufmerksamen Forscher eine Thatsache entgegen, die für
alle Zeiten von außerordentlicher Tragweite und moralischer Kraft war, dies aber besonders ist in Zeiten der
Finsternis, der Schwierigkeiten und der Entmutigungen,
verursacht durch den schwachen Zustand derjenigen, welche
auf der Seite des Herrn zu stehen bekennen. Diese Thatsache ist: Der Glaube kann stets auf Gott rechnen,
und Gott wird dem Glauben immer antworten.
Mit dieser gesegneten Thatsache wollen wir uns ein wenig
beschäftigen, und wenden uns zu diesem Zwecke zu dem
20. Kapitel des 2. Buches der Chronika, in welchem wir
eine sehr schöne und treffende Darstellung derselben finden.
Dieses Kapitel zeigt uns den guten König Josaphat
unter einem schweren Druck, in einer Drangsal ungewöhnlicher Art; ein dunkler Zeitpunkt in seiner Geschichte
war gekommen. „Und es geschah nach diesem, da kamen
die Kinder Moab und die Kinder Ammon und mit ihnen
von den Ammonitern wider Josaphat zum Streit. Und
man kam und berichtete Josaphat und sprach: Es kommt
wider dich eine große Menge von jenseit des Meeres,
von Syrien." (V. 1. 2.) Das war keine geringe Schwierigkeit. Der heranziehende Feind bestand aus den Nachkommen Lots und Esaus; (öergl. V. 10.) dieser Umstand
254
konnte wohl in dem Herzen Josaphats zu tausend widerstreitenden Gedanken und unruhigen Fragen Anlaß geben.
Es waren nicht Egypter und Assyrer, die heranrückten;
in betreff dieser Völker konnte sich keine Frage, kein
Zweifel irgend welcher Art erheben. Aber sowohl Lot
als Esau standen in gewissen Beziehungen zu Israel, und
da konnte sich ihm wohl die Frage aufdrängen, inwieweit
diese Beziehungen anerkannt werden mußten.
Und das nicht allein. Der praktische Zustand des
Volkes Israel, die ganze Lage des Volkes Gottes war
derart, daß ernste Besorgnisse und Zweifel in dem Herzen
Josaphats aufsteigen konnten. Israel stand dem einfallenden Feinde nicht mehr in unerschütterter, geschloffener
Front gegenüber. Ihre sichtbare Einheit war verschwunden.
Eine klaffende Bresche war in ihre Mauern gelegt. Die
zwölf Stämme waren auseinander gerissen; sie hatten sich
in die zehn und die zwei Siämme geteilt. Der Anstand
der ersteren war schrecklich, und derjenige der letzteren betrübend genug.
Die Umstände des Königs Josaphat waren daher
dunkel und äußerst entmutigend; und was ihn selbst und
seine bisherige Laufbahn betraf, so war er eben erst von
den Folgen eines sehr demütigenden Falles (vergl. Kap.
18 u. 19.) wiederhergestellt. Der Blick auf seine Vergangenheit war deshalb nicht minder trostlos, wie derjenige auf seine Umgebungen.
Aber gerade hier bietet sich die oben erwähnte wichtige Thatsache dem Blicke des Glaubens dar, und verbreitet Licht über die ganze Scene. Die Dinge sahen
ohne Zweifel trübe aus; aber der Glaube konnte auf
Gott rechnen. Gott ist eine nie versiegende Hülfsquelle,
255
eine große Wirklichkeit zu allen Zeiten und unter allen
Umständen. „Gott ist uns Zuflucht und Stärke, eine
Hülfe, reichlich gefunden in Drangsalen. Darum werden
wir uns nicht fürchten, wenn gleich gewandelt würde die
Erde, und wenn die Berge wankten im Herzen des Meeres;
wenn seine Wasser tobten und schäumten, die Berge erbebten durch sein Ungestüm. Ein Strom — seine Bäche
erfreuen die Stadt Gottes, das Heiligtum der Wohnungen
des Höchsten. Gott ist in ihrer Mitte, sie wird nicht
wanken; Gott wird ihr helfen beim Anbruch des Morgens. Es tobten die Nationen, die Königreiche wankten;
er ließ seine Stimme erschallen — die Erde zerschmolz.
Jehova der Heerscharen ist mit uns, eine hohe Feste ist
uns der Gott Jakobs." (Ps. 46, 1—7.)
Hier lag denn auch Josaphats Hülfsguelle an dem
Tage seiner Bedrängnis; zu ihr nahm er unverweilt seine
Zuflucht in jenem ernsten Glauben, der nie verfehlt,
Kraft und Segnung von dem lebendigen und wahren Gott
auf sich herniederzuziehen, um jedem Bedürfnis des
Weges zu begegnen. „Da fürchtete sich Josaphat und
richtete sein Angesicht, Jehova zu suchen, und rief ein
Fasten aus in ganz Juda. Und Juda versammelte sich,
um von Jehova Hülfe zu suchen; auch aus allen Städten
von Juda kamen sie, Jehova zu suchen. Und Josaphat
stand in der Versammlung Judas und Jerusalems, im
Hause Jehovas, vor dem neuen Hofe, und er sprach:
Jehova, Gott unsrer Väter, bist Du nicht der Gott im
Himmel, und Du der Herrscher über alle Königreiche der
Nationen? Und in Deiner Hand ist Macht und Kraft,
und niemand ist, der gegen Dich besteht. Hast Du nicht,
unser Gott, die Bewohner dieses Landes vertrieben vor
256
Deinem Volke Israel, und es dem Samen Abrahams, der Dich liebte, gegeben ewiglich?"
(V. 3—7.)
Das sind die herrlichen Aeußerungen eines lebendigen
Glaubens, eines Glaubens, der die Seele stets befähigt, sich auf den höchsten Boden zu stellen. Es kam
nicht im Mindesten darauf an, welche unerledigten Fragen
zwischen Esau und Jakob bestehen mochten; zwischen Abraham und dem allmächtigen Gott gab es deren keine. Gott
hatte das Land Abraham, Seinem Freunde, gegeben. Auf
wie lange? Auf immer! Das war genug. „Die Gnadengaben und Berufungen Gottes sind unbereubar." Gott
wird Seine Berufung nimmer ungültig machen, noch jemals
eine Gabe zurücknehmen. Das ist ein unabänderlicher
Grundsatz, auf welchem der Glaube allezeit mit fester
Entschiedenheit seinen Stand nimmt. Der Feind mochte
tausend Einwürfe machen, und das arme Herz tausenderlei
Fragen aufwerfen; es mochte als Vermessenheit und eitle
Einbildung erscheinen, wenn Josaphat seinen Fuß auf
einen so erhabenen Boden setzte. Ja, hätte man sagen
können, alles das war recht und passend in den Tagen
eines David, eines Salomo, oder eines Josua, als die
Einheit der Nation noch nicht gebrochen war, und das
Panier Jehovas triumphierend über den zwölf Stämmen
Israels wehte. Aber steht es jetzt, wo die Dinge sich in
so trauriger Weise verändert haben, einem Manne in
Josaphats Umständen nicht schlecht an, eine so erhabene
Sprache zu führen und sich einen so hohen Standpunkt
anzumaßen?
Doch wie lautet die Antwort des Glaubens auf alle
diese Einwürfe und Fragen? Sie ist einfach, aber voller
257
Kraft, und lautet: Gott verändert sich nie. Erist
derselbe gestern und heute und in Ewigkeit. Hatte Er nicht
Abraham das Land Kanaan zum Geschenk gemacht? Hatte
Er es nicht Seinem Samen für immer verliehen? Hatte Er
diese Gabe nicht durch Sein Wort und Seinen Eid bekräftigt, durch jene beiden unveränderlichen Dinge, wobei eS unmöglich ist, daß Gott lügen könnte? Unzweifelhaft. Aber
was sagte das Gesetz dazu? Hatte die Einführung des Gesetzes die Sache nicht verändert? Keineswegs, soweit es
sich um Gottes Gaben und Verheißungen handelte. Vier
Jahrhunderte bevor das Gesetz gegeben wurde, war der
große Bund zwischen dem allmächtigen Gott und Abraham,
Seinem Freunde, abgeschlossen und bestätigt worden, und
das für immer! Was hätte diesen Bund daher antasten
können? Keinerlei gesetzliche Bedingungen waren dem
Abraham bei jener Gelegenheit auferlegt worden; alles
war reine und unumschränkte Gnade. Gott gab Seinem
Knechte das Land Kanaan durch Verheißung, und nicht
durch ein Gesetz in irgend welcher Art oder Form.
Nun, auf diesen ursprünglichen Standpunkt stellte
sich Josaphat; und er that recht daran. Es war das
Einzige, was er zu thun hatte und thun konnte. Er
hatte nicht einen Zoll breit festen Boden unter seinen
Füßen, außer in jenen goldenen Worten: „Du hast es
dem Samen Abrahams, der Dich liebte, gegeben ewiglich."
Entweder hatte er dies oder gar nichts. Ein lebendiger
Glaube ergreift stets den lebendigen Gott.
Erblickt nicht auf Menschen oder Umstände; erzieht nicht
die Veränderungen und Wechselfälle des menschlichen Lebens
in Rechnung. Er lebt und bewegt sich in der unmittelbaren Gegenwart des lebendigen Gottes; er erfreut sich
258
an dem wolkenlosen Lichte Seines gesegneten Antlitzes.
Er geht mit seinen ungekünstelten Urteilen in das Heiligtum und zieht aus den dort entdeckten Thatsachen seine
glücklichen Schlußfolgerungen. Er erniedrigt nicht seinen
Maßstab nach dem Zustande der Dinge um ihn her, sondern stellt sich kühn und entschieden gerade auf den höchsten
Standpunkt.
Eine solche Handlungsweise des Glaubens ist für
das Herz Gottes immer kostbar. Der lebendige Gott hat
Seine Wonne an einem lebendigen Glauben. Wir dürfen
völlig versichert sein, daß es Gott um so willkommener
und wohlgefälliger ist, je kühner der Glaube zugreift.
Wir brauchen nicht zu denken, daß Gott jemals durch die
Handlungen eines gesetzlichen Geistes erfreut oder verherrlicht werde. Nein, es erfreut Sein Herz, wenn man
rückhaltlos und ohne irgend einen Zweifel auf Ihn vertraut; und je tiefer die Not und je finstrer die Wolke der
Umstände ist, desto mehr wird Er durch den Glauben, der
auf Ihn rechnet, verherrlicht.
Wir dürfen deshalb mit vollkommener Gewißheit
behaupten, daß das Verhalten und die Worte Josaphats
in der vorliegenden Scene in völliger Uebereinstimmung
mit den Gedanken Gottes standen. Es ist außerordentlich schön, zu sehen, wie er gleichsam den ursprünglichen
Vertrag zur Hand nimmt und seinen Finger auf jene
Bestimmung legt, kraft welcher Israel für immer der
Besitzer des Landes Kanaan sein sollte. Nichts konnte diese
Bestimmung aufheben, oder diesen Vertrag brechen; alles
war für immer geordnet und bestimmt. „Du hast es dem
Samen Abrahams, der Dich liebte, gegeben ewiglich."
Das war ein fester Boden, der Boden Gottes, der
259
Boden des Glaubens, den keine Macht des Feindes je
zu erschüttern vermochte. Wohl mochte der Feind den
König an Sünde und Thorheit, an Fehltritte und Untreuen erinnern. Ja, er konnte ihm vorhalten, daß gerade
die Thatsache des drohenden feindlichen Einfalls den traurigen Zustand Israels beweise; denn wäre Israel treu
gewesen, hätte es in den Geboten Jehovas gewandelt, so
würde es keinen Feind für sie gegeben haben. Aber auch
hierfür hatte die Gnade eine Antwort vorgesehen, und
zwar eine Antwort, die der Glaube sich wohl anzueignen
verstand. Josaphat erinnert Jehova an das Haus, welches
Salomo Seinem Namen gebaut hatte. „Sie haben Dir
ein Heiligtum gebaut für Deinen Namen und gesagt:
Wenn Unglück über uns kommt, Schwert, Strafgericht
oder Pest oder Hunger, so wollen wir stehen vor diesem
Hause und vor Deinem Angesicht, denn Dein Name ist
in diesem Hause, und wollen zu Dir schreien aus unsrer
Bedrängnis, und Du wirst hören und erretten. Und nun
siehe, die Kinder Ammon und Moab und die vom Gebirge
Seir, unter welche zu ziehen Du Israel nicht zugelassen
hast, als sie aus dem Lande Egypten zogen, sondern sie
sind von ihnen gewichen, und haben sie nicht vertilgt;
und siehe, sie vergelten es uns und kommen, uns zu vertreiben auS Deinem Besitztum, das Du uns
erblich gegeben hast. Unser Gott, willst Du nicht
richten über sie? denn in uns ist keine Kraft vor dieser
großen Menge, die wider uns kommt, und wir wissen
nicht, was wir thun sollen, sondern auf Dich sind
unsre Augen gerichtet." (V. 8—12.)
Hier verhandelt wahrlich ein lebendiger Glaube mit
dem lebendigen Gott. Das ist kein leeres Bekenntnis,
260
kein lebloser Glaube, keine kalte, einflußlose Theorie.
Wir haben hier nicht einen Mann, der da „sagt, er
habe Glauben." Solche Dinge werden am Tage des
Kampfes nimmermehr standhalten. Sie mögen genügen,
wenn alles ruhig und friedlich ist, wenn kein Wölkchen
den Horizont verdunkelt. Aber wenn es Schwierigkeiten
zu bekämpfen giebt, wenn es gilt, dem Feinde Auge in
Auge entgegenzutreten, so wird jeder bloße Wortglaube,
jedes bloße Lippenbekenntnis sich als kraft- und haltlos
erweisen; es wird herbstlichen Blättern gleichen, die der
Wind dahintreibt. Nichts wird die Probe eines wirklichen Kampfes bestehen, als nur ein lebendiger persönlicher Glaube an einen lebendigen persönlichen HeilandGott. Das ist es, was wir bedürfen; ein solcher Glaube
allein kann das Herz aufrechthalten, komme auch, was
da wolle. Er bringt Gott in die Umstände hinein,
und siehe da, alles ist Kraft, Sieg und vollkommener
Friede.
So war es mit dem König von Juda in den Tagen
von 2. Chron. 20. „In uns ist keine Kraft, und wir
wissen nicht, was wir thun sollen, sondern auf Dich sind
unsre Augen gerichtet." Das ist die Art und Weise, wie
man den Boden Gottes betritt, indem die Augen auf
Ihn selbst gerichtet sind. Das ist das wahre Geheimnis
aller Standhaftigkeit und alles Friedens. Satan wird
nichts unversucht lassen, um uns von diesem Boden zu
vertreiben, auf welchem wir als Christen in diesen letzten
Tagen stehen sollten; und in uns selbst ist nicht die geringste Kraft ihm gegenüber. Unsre einzige Hülfsguelle
ist in dem lebendigen Gott. Aber wenn unsre Augen
auf Ihn gerichtet sind, so kann uns nichts verletzen.
261
„Dem festen Sinne bewahrst Du vollkommnen Frieden;
denn er vertraut auf Dich."
Mein Leser, stehst du auf dem Boden Gottes? Kannst
du für die Stellung, die du in diesem Augenblick einnimmst, ein: „So spricht der Herr!" anführen? Bist du
dir bewußt, daß du auf dem unerschütterlichen Boden der
Heiligen Schrift stehst? Oder giebt es in deinen Umgebungen und Verbindungen etwas Zweifelhaftes? Erwäge diese Fragen ernstlich in der Gegenwart Gottes.
Sei versichert, daß sie gerade jetzt von Wichtigkeit sind.
Wir durchleben kritische Zeiten. Ueberall bilden sich Parteien; böse Grundsätze sind wirksam und kommen zum
Ausbruch. Nie war es nötiger, in durchaus klarer und
unzweideutiger Weise auf der Seite des Herrn zu stehen,
als gerade jetzt. Josaphat hätte nie den Ammonitern,
Moabitern und Edomitern entgegentreten können, wenn
er nicht überzeugt gewesen wäre, daß sein Fuß gerade
auf dem Boden stand, welchen Gott dem Abraham gegeben hatte. Hätte der Feind sein Vertrauen im Blick
auf diesen Punkt erschüttern können, so würde er einen
leichten Sieg gehabt haben. Aber Josaphat wußte, wo
er sich befand; er kannte den Boden, auf dem er stand, 
und konnte deshalb mit Vertrauen seine Augen auf den
lebendigen Gott richten. Er hatte keinerlei Zweifel betreffs seiner Stellung. Er sagte nicht, wie so Mancher
es heutzutage thut: „Ich bin nicht ganz sicher; ich hoffe
wohl, auf göttlichem Boden zu stehen, aber zuweilen
ziehen Wolken über meine Seele und machen mich zweifelhaft, ob ich wirklich da bin, wo Gott mich haben will."
O nein, mein Leser, der König von Juda würde eine
solche Sprache nicht verstanden haben. Alles war klar
262
für ihn. Sein Auge ruhte auf der ursprünglichen Verheißung und Gabe Gottes. Er war gewiß, daß er auf
dem wahren Boden des Israels Gottes stand; und mochte
auch nicht ganz Israel dort mit ihm vereinigt sein, so
war doch Gott bei ihm, und das war genug. Er besaß
einen lebendigen Glauben an den lebendigen Gott.
Wahrlich, mein Leser, das ist sehr bemerkenswert
und verdient unsre eingehende Betrachtung. Josaphats
Fuß stand fest auf dem Boden Gottes, seine Augen
waren fest auf Gott selbst gerichtet, und zugleich befaß er
ein tiefes Gefühl von seinem eigenen völligen Nichts.
Es gab bei ihm nicht den Schatten eines Zweifels betreffs der Thatsache, daß er sich im Besitz des Erbteils
befand, welches Gott ihm gegeben hatte. Er wußte, daß
er an seinem richtigen Platz war. Er hoffte nicht,
noch weniger zweifelte er; nein er war sich seiner
Sache völlig gewiß. Er konnte sagen: „Ich glaube und
bin überzeugt." Das ist von der größten Wichtigkeit.
Es ist unmöglich, dem Feinde gegenüber stand zu halten,
wenn es in unsrer Stellung etwas Zweideutiges giebt.
Wenn irgend ein geheimer Zweifel da ist, ob wir uns
auch an dem richtigen Platze befinden; wenn wir nicht
ein: „So spricht der Herr!" anführen können für die Stellung, die wir einnehmen, den Weg, den wir wandeln, die
Verbindungen, in welchen wir uns befinden, und für die
Arbeit, mit der wir beschäftigt sind, so wird ganz gewiß
in der Stunde des Kampfes sich Schwäche offenbaren.
Satan wird sicher aus dem geringsten Zweifel in unsrer
Seele Nutzen ziehen. Wenn nicht ein unbedingtes Vertrauen betreffs unsrer Stellung vor Gott vorhanden ist,
so wird der Feind einen leichten Sieg davontragen.
263
Dock gerade in dieser Beziehung zeigt sich eine große
Schwachheit unter den Kindern Gottes. Verhältnismäßig
sind nur sehr wenige klar, fest und bestimmt in betreff
ihres Glaubensgrundes; sehr wenige selbst sind fähig, mit
voller Zuversicht und Gewißheit zu sagen, daß sie in dem
Blute Christi gewaschen und mit dem Heiligen Geiste versiegelt sind. Zu Zeiten hoffen sie, daß es so sei. Wenn
alles mit ihnen gut steht, wenn sie sich der Nähe Gottes
im Gebet oder bei dem Erforschen des Wortes erfreut, oder
einer klaren, eindringlichen Predigt des Wortes beigewohnt
haben, wenn ihr Gewissen frei ist und ihr Herz sie nicht
verurteilt — in solchen Augenblicken wagen sie es vielleicht, hoffnungsfreudig über sich zu reden. Aber sehr
bald ballen sich von neuem dunkle Wolken über ihrem
Haupte zusammen. Sie fühlen die Wirksamkeit der iuwohnenden Sünde; ihre Gedanken schweifen hierhin und
dorthin, anstatt mit Jesu beschäftigt zu sein; vielleicht
haben sie sich auch zu irgend einer Leichtfertigkeit oder
Heftigkeit verleiten lassen. Was nun? Die hoffnungsfreudige Stimmung ist verschwunden, die glücklichen Gefühle sind vorüber, und sie beginnen, sich selbst zu untersuchen und zu fragen, ob sie wirklich Kinder Gottes seien.
Und aus diesem Untersuchen und Fragen versinken sie sehr
leicht in wirklichen Unglauben und fallen dann in das
tiefe Dunkel eines Kleinmuts, der an Verzweiflung grenzt.
Das alles ist höchst traurig. Es verunehrt Gott
und zerstört zu gleicher Zeit den Frieden der Seele; von
Fortschritten ist in einem solchen Zustande keine Rede
mehr. Denn wie kann eine Seele im göttlichen Leben
wachsen, wenn sie noch steten Zweifeln ausgesetzt ist, ob
sie dieses Leben überhaupt besitze?
264
Doch vielleicht möchte der eine oder andere unsrer
Leser geneigt sein, zu fragen: „Wie kann ich denn gewiß
sein, daß ich auf dem Boden Gottes stehe? — daß ich
in dem Blute Jesu gewaschen und mit dem Heiligen
Geiste versiegelt bin?" Wir erwidern darauf: Woher weißt
du, daß du ein verlorener Sünder bist? Nur weil du es
fühlst? Ist ein bloßes Gefühl der Grund deines Glaubens ? Wenn es so ist, dann ist es kein göttlicher Glaube,
keine göttliche Ueberzeugung. Ein wahrer Glaube ruht
allein auf dem Zeugnis der Heiligen Schrift. Ohne
Zweifel kann dieser lebendige Glaube nur durch die gnädige Wirksamkeit des Heiligen Geistes hervorgebracht werden und zur Ausübung kommen; doch wir reden jetzt von
dem wahren Grunde des Glaubens, von der Autorität,
der Grundlage, auf welcher er ruht. Diese Grundlage
ist einfach die Heilige Schrift, welche, wie der inspirirte
Apostel sagt, fähig ist, uns weise zu machen zur Seligkeit, und die selbst ein Kind verstehen kann ohne die
Beihülfe der Kirche, der Kirchenväter, der Concilien, der
Universitäten, oder irgend einer andern Art menschlicher
Vermittlung.
„Abraham glaubte Gott." Da war ein göttlicher
Glaube vorhanden; es war nicht eine Sache des Gefühls.
Wahrlich, wenn Abraham durch seine Gefühle beeinflußt
worden wäre, so würde er ein Zweifler gewesen sein, und
nicht ein Mann des Glaubens. In welcher Beziehung
konnte er auf sich selbst rechnen? „Sein eigner Leib war
schon erstorben." Gewiß, ein armseliger Boden, um
darauf seinen Glauben an die Verheißung eines unzählbaren Samens zu gründen! Aber es wird uns gesagt:
„Er sah nicht an seinen eignen schon erstorbenen Leib."
265
(Röm. 4.) Was sah er denn an? Sein Blick richtete
sich auf das Wort des lebendigen Gottes; auf diesem
Worte ruhte er. Nun, das ist Glaube. Deshalb sagt
auch der Apostel: „Er zweifelte nicht an der Verheißung
Gottes durch Unglauben, sondern ward gestärkt im
Glauben, Gott die Ehre gebend, und war der vollen
Gewißheit, daß Er, was Er verheißen, auch zu thun
vermöge. Darum ist es ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet worden."
Aber, wird der ängstliche Leser einwenden, was hat
das alles mit meinem Falle zu thun? Ich bin kein
Abraham; ich kann nicht eine besondere Offenbarung von
feiten Gottes erwarten. Wie kann ich wissen, daß Gott
zu mir gesprochen hat? Wie kann ich diesen kostbaren
Glauben besitzen? — Nun, mein lieber Freund, höre, was
der Apostel weiter sagt: „Es ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben, daß es ihm zugerechnet worden, sondern
auch unsertwegen, denen es zugerechnet werden soll, die wir"
— was? fühlen? verwirklichen? oder irgend etwas in
uns erfahren? nein, sondern — „die wir an Den glauben, der Jesum, unsern Herrn, aus den Töten auferweckt 
hat, welcher unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben und
unsrer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist."
Liegt in diesen Worten nicht wahre Erquickung und
der reichste Trost? Sie versichern den ängstlichen Frager,
daß er als Grundlage seiner Ruhe genau dieselbe Autorität besitzt, wie Abraham, und zwar mit einem unendlich höheren Maße von Licht, insofern Abraham berufen
wurde, an eine Verheißung zu glauben, während wir
das Vorrecht haben, eine vollendete Thatsache vor
uns zu sehen. Er mußte vorwärts blicken auf etwas, das
266
noch geschehen mußte; wir blicken zurück auf etwas, das
geschehen ist, ja auf eine vollbrachte Erlösung, bezeugt
durch die Thatsache, daß unser Herr und Heiland auferstanden und zur Rechten der Majestät in den Himmeln
verherrlicht ist.
Die einzige Autorität, die einzige Grundlage des
Glaubens ist also, wir wiederholen es, das Wort Gottes,
die Heilige Schrift. Eine andere Grundlage giebt es nicht.
Ein Glaube, der auf menschlicher Ueberlieferung, auf der
Autorität der Kirche, der Priester oder der Gelehrten ruht,
ist nichts als Aberglaube; es ist ein Glaube, der „in der
Weisheit der Menschen" und nicht „in der Kraft Gottes"
ist. (1. Kor. 2, 5.)
Es ist unmöglich, die Wichtigkeit dieses Grundsatzes
eines lebendigen Glaubens gerade für die gegenwärtige
Zeit zu überschätzen. Er ist das göttliche Gegenmittel
gegen die Irrlehren, Uebel und feindlichen Einflüsse unsrer
Tage. Eine schreckliche Erschütterung geht um uns her
vor sich. Die Gemüter sind erregt. Zerstörende Kräfte
sind in Thätigkeit. Grundlagen, die bis dahin für unerschütterlich galten, lockern sich. Alte Einrichtungen, an
welche der menschliche Geist sich anklammert, beginnen zu
Wanken; viele sind bereits gefallen, und Tausende von
Seelen, die einst Schutz in ihnen fanden, irren erschreckt
umher und wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen.
Manche sagen: „Die Ziegelsteine sind gefallen, aber wir
wollen mit behauenen Steinen wieder aufbauen."
Doch das ist nicht alles. Viele, sehr viele bekennende
Christen giebt es, wie wir schon bemerkten, die sich weniger
um den Zustand und das Schicksal religiöser Einrichtungen und kirchlicher Systeme bekümmern, als um den
267
Zustand und das Schicksal ihrer eignen kostbaren Seele,
um die eine große Frage: „Was muß ich thun, daß ich
errettet werde?" Was sollen wir zu solchen sagen? Worin
besteht das wahre Bedürfnis ihrer Seele? Einfach in
einem lebendigen Glauben an den lebendigen
Gott. Das ist es, was alle jene Seelen bedürfen, gleichviel ob sie durch das, was sie um sich her sehen, oder
durch daS, was sie in sich fühlen, beunruhigt werden.
Unsre unfehlbare Hülfsquelle ist in dem lebendigen Gott
und in Seinem Sohne Jesu Christo, wie Er sich durch
den Heiligen Geist in den Schriften geoffenbart hat. Hier
ist der wahre Ruheplatz des Glaubens, und wir laden
jeden ängstlichen Leser dringend ein, zu diesem Ruheplatz
seine Zuflucht zu nehmen. Wir bitten ihn, sich voll und
ganz auf das Wort Gottes zu stützen. Hier haben wir
eine Autorität für alles, was wir zu wissen, zu glauben
und zu thun haben.
Mein Leser! bist du in betreff deiner ewigen Errettung noch in Unruhe? Lausche dann auf folgende kostbare Worte: „Es ist in der Schrift enthalten: „Siehe,
ich lege in Zion einen Eckstein, einen auserwählten, kostbaren; und wer an ihn glaubt, wird nicht zu
Schanden werden."" (1. Petr. 2, 6.)
Welch einen kräftigen Trost, welch eine tiefe Ruhe
bieten diese Worte jeder ängstlichen Seele! Gott hat den
Grund gelegt, und dieser Grund besteht in nichts Geringerem, als in Seinem eigenen Sohne, in Ihm, der
von Ewigkeit her in Seinem Schoße war. Diese Grundlage ist in jeder Hinsicht geeignet, das sichere Fundament
aller Ratschlüsse und Vorsätze der ewigen Dreieinigkeit zu
bilden, sowie allen Anforderungen der Natur, des Charak­
268
ters und des Thrones Gottes zu begegnen. Und weil
dies so ist, so muß sie selbstredend auch vollkommen geeignet sein, allen Bedürfnissen einer ängstlichen Seele zu 
begegnen, welcher Art diese auch sein mögen. Wenn
Christus genug für Gott ist, so muß Er notwendigerweise auch genug sein für den Menschen; und daß Er
genug ist, wird gerade durch die eben angeführte Stelle
bewiesen. Als der auserwählte kostbare Eckstein Gottes
bildet Er die Grundlage und den Mittelpunkt jenes glorreichen Gebäudes triumphierender Gnade, welches in dem
Worte „Zion" dargestellt wird. (Vergl. Hebr. 12, 22—24.)
Christus stieg in die dunklen Wasser des Todes hinab,
trug das schwere Gericht und den Fluch Gottes über die
Sünde, beraubte den Tod seines Stachels und Sieges,
und machte den zu nichte, der die Macht des Todes hatte.
Er entwand der Hand des Feindes jene schreckliche Waffe,
mit der die Sünde ihn bewaffnet hatte, und machte gerade
sie znm Werkzeug der ewigen Niederlage Satans. Und
nachdem Er dies alles gethan hatte, kehrte Er in die
Herrlichkeit zurück und setzte sich zur Rechten der Majestät
in den Himmeln.
DaS ist die Grundlage Gottes, aus welche Er in
Gnade die Aufmerksamkeit eines Jeden richten will, der
wirklich die Notwendigkeit eines göttlich soliden Bodens
fühlt, auf welchen er bauen kann, gegenüber den ernsten
Wirklichkeiten der Ewigkeit. Mein teurer Leser l Gott redet
jetzt zu dir und fordert dich auf, auf diese Grundlage zu
bauen. Sei versichert, daß dies für dich ebenso zuverlässig
ist, als wenn du eine Stimme aus dem Himmel persönlich
zu dir reden hörtest. Das Wort des lebendigen Gottes
richtet sich an „die ganze Schöpfung, die unter dem Himmel
269
ist." „Wer da will" wird eingeladen, zu kommen. Das
Buch Gottes ist in deine Hand gegeben und vor deinen 
Augen offen gelegt worden. Trotz der Sünde in allen
ihren Formen und Folgen, trotz der Macht und Bosheit
Satans hat Gott geredet. Er hat Seine Stimme erhoben,
um in dieser finstern, sündenbeladenen Welt gehört zu
werden. Und was hat Er gesagt? „Siehe, ich gründe
einen Stein in Zion." Wie wunderbar ist das! Es ist,
als ob unser gesegneter, gnadenreicher Gott zu uns sagte:
Nachdem die Sünde alles verdorben hat, habe ich von
neuem begonnen. Ich habe in der Erlösung eine Grundlage gelegt, die nichts je anzutasten vermag, weder Sünde,
noch Satan, noch irgend eine Macht im Himmel und aus
Erden. Ich habe die Grundlage gelegt, und ich verpfände
mein Wort, daß, wer da glaubt — wer sich in kindlicher,
nicht zweifelnder Zuversicht meiner Grundlage anvertraut,
wer da ruht in meinem Christus, wer mit meinem kostbaren, bewährten Eckstein zufrieden ist — daß ein solcher
nie, nein niemals beschämt, nie getäuscht werden, nie verloren gehen kann.
Mein lieber Leser, trägst du immer noch Bedenken?
Wahrlich, du hast nicht den Schatten eines Grundes dazu.
Wenn da irgend eine Bedingung gemacht wäre, wenn
Gott irgend eine Frage erhöbe, so würdest du Grund
haben, Bedenken zu tragen. Wenn nur das Geringste
durch dich in Ordnung gebracht werden müßte, wenn du
irgend etwas zu erfahren, zu fühlen oder zu thun hättest,
dann würdest du mit Recht zögern und überlegen. Aber
es giebt durchaus nichts derart. Da ist der Christus
Gottes, das Wort Gottes und — was dann? „Wer da
glaubt, wird nicht beschämt werden." Kurz, es ist einfach
270
„ein lebendiger Glaube an den lebendigen Gott." ES
handelt sich darum, Gott bei Seinem Worte zu nehmen;
zu glauben, was Er sagt, weil Er es sagt; das zu thun,
was Abraham that, als er Gott glaubte, und es ihm zur
Gerechtigkeit gerechnet wurde; oder das, was Josaphat
that, als er seinen Fuß fest auf jenen unerschütterlichen
Boden setzte: „Du gabst es dem Samen Abrahams, der
Dich liebte, ewiglich." Es handelt sich darum, ruhig und
still auf dem unerschütterlichen Felsen der Heiligen Schrift
zu ruhen, und so die göttliche Kraft dessen zu erfahren,
was nie jemanden, der darauf vertraute, im Stich gelassen hat, noch jemals lassen wird.
Wie unaussprechlich gesegnet ist es, eine solche Grundlage zu haben in einer Welt, wo der Stempel des Todes
und des Verfalls auf alles gedrückt ist; wo die zartesten
Bande der Freundschaft in einem Augenblick durch des Todes
rauhe Hand zerrissen werden; wo alles, was dem natürlichen Auge dauerhaft erscheint, der Gefahr ausgesetzt ist,
plötzlich durch die hereinbrechende Flut der Revolution der
Völker hinweggefegt zu werden; wo es nichts giebt, worauf
das Herz sich stützen und dann sagen kann: Ich habe jetzt
dauernde Ruhe gefunden! Welch eine Gnade, auf einem
solchen Schauplatz einen lebendigen Glauben an den lebendigen Gott zu besitzen!
„Die auf mich harren, werden nicht beschämt werden."
Das ist das wahrhaftige Zeugnis des lebendigen Gottes,
bestätigt durch die Erfahrung aller derer, welche je in
einem lebendigen Glauben gewandelt haben. Doch vergessen wir nicht, was diese drei Worte „auf mich harren"
bedeuten. Das Harren muß eine Wirklichkeit sein. Es
genügt nicht, zu sagen, daß wir auf Gott harren,
271
während unser Auge auf irgend eine menschliche Stütze
blickt. Wir müssen mit uns selbst völlig zu Ende gekommen und ohne Ausweg sein, um erfahren zu können, was
ein Leben des Glaubens ist, und wie unerschöpflich die 
Hülfsquellen Gottes sind. Gott und die Natur können
nie nebeneinander Platz finden. Gott allein muß es sein.
„Nur auf Gott vertraue still meine Seele! denn von
Ihm kommt meine Erwartung. Nur Er ist mein Fels
und meine Rettung." (Ps. 62, 5. 6.)
(Schluß folgt.)

Das Buch Josua. *)
*) Aus den „Betrachtungen über das Buch Josua" von
H. R., die, so Gott will, binnen kurzem im Druck erscheinen werden.
Das Buch Josua stellt uns in einem Vorbilde den
Gegenstand der Epistel an die Epheser vor Augen. Die
Gemeinde der Kinder Israel war an dem Ziele ihrer
Wanderungen durch die Wüste angelangt, und es handelte
sich nun für sie darum, den Jordan unter der Leitung
eines neuen Führers zu überschreiten, um sich das Land
der Verheißung zu eigen zu machen, indem sie die Feinde
aus dem Besitz desselben vertrieben. Ganz ebenso verhält es
sich mit uns. Unser Kanaan sind die himmlischen Oerter,
(Eph. 1, 3.) in welche wir jetzt eintreten in der Kraft
des Geistes Gottes, der unS mit einem gestorbenen und
auferweckten Christus verbindet und uns in Ihm mitsitzen
läßt in tM Herrlichkeit droben, so daß wir im voraus
etwas von dieser Herrlichkeit genießen, welche Er sich erworben hat, in die Er uns einführen will, und die
wir bald mit Ihm teilen werden. Aber während wir auf
272
diesen Augenblick warten, haben wir gegen die geistlichen
Mächte der Bosheit, die in den himmlischen Oertern sind,
den Kampf des Glaubens zu führen, (Eph. 6, 10—18.)
um uns jeden Zoll breit des Landes, das Gott uns zum
Erbteil gegeben hat, zu eigen zu machen. Der Unterschied zwischen dem Vorbilde und der Wirklichkeit besteht
darin, daß Israel die Wüste hinter sich hatte, als es
Kanaan betrat, während für uns die Wüste und Kanaan
zugleich bestehen. Indes ist der Segen nur umso größer.
Wenn die Wüste uns lehrt, daß wir noch nötig haben, 
gedemütigt und versucht zu werden, um zu erkennen, was
in unsern Herzen ist, (5. Mose 8, 2.) so machen wir
bei unsern Schwachheiten auch in derselben die köstliche
Erfahrung, daß es göttliche Hülfsquellen giebt inmitten
dieses dürren Landes ohne Wasser: Gott öffnet Seine
Hand, um uns mit Manna zu speisen, um uns mit dem
Wasser aus dem Felsen zu tränken und uns die unerschöpflichen Quellen Seiner Gnade schmecken zu lassen; denn nichts
hat Seinem Volke auf seiner Wanderung durch die Wüste
gefehlt. Er konnte sagen: „Dein Kleid ist nicht veraltet
an dir, und dein Fuß ist nicht geschwollen diese vierzig
Jahre." (5. Mose 8, 4.) Andrerseits aber befinden wir
uns gleichzeitig, wenn auch nicht in demselben Augenblick,
auf den graSreichen Triften und an den stillen Wassern
eines reichen Landes, dessen Erstliugsfrüchte wir genießen;
wir können uns im Frieden an der gedeckten Pasel jenseits des Jordans niederlassen, um die Früchte dieses
Landes zu essen, indem wir uns von einem himmlischen
Christus nähren, der in der Herrlichkeit zur Rechten
Gottes thront.
In dem Augenblick, wo dieser neue Abschnitt in der
273
Geschichte Israels beginnt, wird Josua berufen, die Führung des Volkes zu übernehmen. Dieser bemerkenswerte
Mann tritt zum ersten Mal in 2. Mose 17 auf, während
des Kampfes mit Amalek; und dieses Auftreten giebt uns
den Schlüssel zum Verständnis seines vorbildlichen Charakters. Während Mose, (der an jener Stelle ein Vorbild der göttlichen Macht ist, welche mit dem himmlischen
Priestertum Christi und Seiner Gerechtigkeit aufs Innigste
verbunden ist,) die Zeit des Kampfes droben auf dem
Berge zubrachte, sehen wir unten in der Ebene, in Verbindung mit dem kämpfenden Volke, das er anführte, Josua,
„einen Mann, in welchem der Geist war," (4. Mose 27,18.)
und der die Schlachten Jehovas schlug. Dieser Josua ist
Christus, aber Christus hienieden in uns oder unter uns
wohnend, in der Macht des Heiligen Geistes. Von nun
ab wird Josua ein ebenso treuer Führer des Volkes nach
und in Kanaan sein, wie Mose als Führer in der Wüste
unzertrennlich mit dem Volke verbunden war. Es heißt
von ihm: „ein Mann, der vor ihnen her ausziehe und der
vor ihnen her einziehe, und der sie ausführe und der sie
einführe, daß die Gemeinde Jehovas nicht sei wie Schafe,
die keinen Hirten haben .... und du sollst von deiner
Macht auf ihn legen, daß ihm gehorche die ganze Gemeinde
der Kinder Israel." (4. Mose 27, 17. 20.)
Wir kommen jetzt zu dem Lande und seinen Grenzen.
Im 2. Verse des ersten Kapitels unsers Buches wird des
Jordans Erwähnung gethan, jener Schranke, die das Volk
noch von dem Lande der Verheißung trennte. Um Kanaan
betreten zu können, mußte es den Strom unter der Führung Josuas überschreiten. Ihr Erbteil war einzig und
allein eine Gabe der Gnade Gottes, wie es heißt: „Gehe
274
über diesen Jordan, du und dieses ganze Volk, in das
Land, das ich ihnen, den Kindern Israel, gebe." Sie
empfingen es von Jehova; aber für das Volk handelte
es sich nicht nur darum, daß das Land ihnen gehörte,
sondern vornehmlich auch um die thatsächliche Besitzergreifung desselben, wie wir lesen: „Jeden Ort, worauf
eure Fußsohle treten wird, habe ich euch gegeben." (V. 3.)
Auch wir nun besitzen geistlicher Weise alle diese Dinge.
Die Gnade Gottes, und sie allein, hat uns den Himmel
gegeben; aber wir vermögen nicht in denselben einzutreten,
wenn wir nicht mit Christo und in der Macht Seines
Geistes durch den Tod und die Auferstehung hindurchgegangen sind. Und nur durch die Beschäftigung mit diesen
Dingen und indem wir mit Fleiß und für uns persönlich
in dieselben eingehen, ergreifen wir Besitz von unsern
Segnungen, und nur so erfahren wir deren himmlische
Wirklichkeit. In einem Wort, der Christ muß sich durch
den Glauben sein himmlisches Besitztum zu eigen machen;
sonst gleicht er einem armen kranken Könige, der im Auslande lebt und sein Reich nie bereist, nie genossen hat.
Im 5. Verse begegnen wir einem andern charakteristischen Zuge des Landes. Der Feind wohnt dort; es giebt
dort Hindernisse; überall, wo wir unsern Fuß hinsetzen,
erhebt sich ein Gegner. Hier sehen wir deutlich, daß
Kanaan nicht der Himmel ist, so wie wir ihn nach dem leiblichen Tode finden, sondern der Himmel, in welchem sich
der Feind noch befindet, der Himmel als der gegenwärtige
Kampfplatz des Christen. Wie kostbar aber ist die Verheißung, welche Jehova Seinem Knechte giebt: „Niemand
soll vor dir bestehen alle Tage deines Lebens," d. h. so
275
lange bis er das Volk in den endgültigen Besitz des Landes
eingeführt hatte! Welch eine Sicherheit lag zugleich für
das Volk in dieser Verheißung! Kaum wirst du, sagt
Gott, aus deinem Wege dem Feinde begegnen, so wird er
sich vor dir zerstreuen. — Sieg! hätte das Volk ausrufen
können; Satan kann vor uns nicht bestehen! — „Vor
uns?" Ach, armes Israel, du wirst es bald vor Ai sehen,
waS du in dir selbst bist: nichts als ein Spielball für
die Macht Satans; du hast keine Kraft, ihm zu widerstehen. Aber deine Stärke ist in Christo; denn die Verheißung: „Niemand wird vor dir bestehen," war Josua
gegeben worden, während das Volk die Verheißung erhalten hatte: „Ich habe euch jeden Ort gegeben, worauf
eure Fußsohle treten wird."
Noch ein andrer Punkt ist bemerkenswert. Gott giebt
dem Volke im 4. Verse eine genaue Beschreibung der
Grenzen Kanaans. Welches sind nun diese Grenzen? Weit
ausgedehntere, als das Volk sie je erreicht hat und erreichen wird, es sei denn, daß die Herrlichkeit des tausendjährigen Reiches sie ihm geben wird. — Genau so verhält es sich mit uns. Die himmlischen Oerter sind thatsächlich von uns erobert, soweit und wohin irgend unser
Fuß tritt; aber werden wir je die ganze Ausdehnung
unsers Erbteils durchmessen? „Wir erkennen stückweise;"
aber der Tag nähert sich, wo das Vollkommene gekommen
und das, was Stückwerk ist, hinweggethan sein wird.
„Alsdann werde ich erkennen, wie auch ich erkannt worden bin."
Die Grenzen des Landes wurden gebildet durch eine
große Wüste, ein großes Gebirge, einen großen
Strom und ein großes Meer. Das war es, was sich
276
außerhalb jenes fruchtbaren Landes vorfand, und
worauf das Volk seinen Fuß nicht setzen konnte oder durfte.
Finden wir hierin nicht die Welt vorgebildet und das,
was sie moralisch kennzeichnet: ihre geistliche Dürre, ihre
Macht, ihre äußere Wohlfahrt und ihre stete Unruhe?
Was ihre Dürre betrifft, so hatte Israel sie durchschritten
und die Erfahrung gemacht, daß es in ihr selbst keine
Segensguellen gab, und daß nur das Brot vom Himmel
es auf dem Wege durch diese Wüsteneien ernähren
konnte.
Das ist, Geliebte, der Charakter der Dinge, die nicht
unser sind. Unser wahres Teil aber ist Kanaan, der
Himmel; allerdings Kanaan mit seinen Kämpfen, aber
auch mit seinen Siegen; Kanaan mit Josua und mit
„dem Engel Jehovas"; Kanaan mit den friedlichen Segnungen und Genüssen unbegrenzter Besitzungen, die sich
mit und in der Person eines auferweckten und verherrlichten Christus verbunden und vereinigt finden.
Nun noch ein Wort über die moralischen Eigenschaften, welche nötig sind, um in Kanaan eingehen zu
können. Da finden wir zunächst die geistliche Energie,
welche der Apostel Petrus „die Tugend" nennt.
(2. Petr. 1, 5.) Der Glaube befähigte die Kinder
Israel ihre Fußsohle überallhin niedersetzen; diesem Glauben sollte die Tugend hinzugefügt werden. Doch bemerken wir, daß dieselbe sich nicht in uns vorfindet; sie
war für das Volk in Josua, und sie ist für uns in
Christo. „Sei fest und mutig," heißt es zu Josua,
„denn du sollst diesem Volke das Land aust^len, das ich
ihren Vätern geschworen habe, ihnen zu geben." Ja,
„glückselig ist der Mann, dessen Stärke in Dir ist! . . .
277
sie gehen von Kraft zu Kraft." Dieser Grundsatz ist von
der höchsten Wichtigkeit. Wie viele Christen sind eifrig
bemüht, in sich selbst die Kraft zu entdecken, um sich
für den Kampf stark zu fühlen. Ihre Bemühung führt,
wenn sie nicht völlige Verzagtheit hervorruft, nur zur
Selbstzufriedenheit, was nicht besser ist. Die Stärke liegt
nicht hier; sie liegt in Christo, aber in Christo für uns.
Und wozu wird sie uns verliehen? Um uns in unsern
eignen Augen groß zu machen oder uns zu verherrlichen?
Weit entfernt davon; sie soll uns vielmehr auf den Weg
des Gehorsams führen. (Kap. 1, 7.) Kleine Kinder
lernen gehorchen. Die Stärke macht uns klein; sie macht
aus dem Menschen ein Stäublein, damit die Kraft Christi
sich offenbare und verherrlicht werde. Wir finden ein schönes
Beispiel von dieser Wahrheit im 6. Kapitel des Buches
der Richter. „Und der Engel Jehovas erschien Gideon
und sprach zu ihm: Jehova ist mit dir, du tapferer
Held!" Diese beiden Dinge sind innig mit einander verbunden: In Jehova selbst lag Gideons Stärke. „Und
Jehova wandte sich zu ihm und sprach: Gehe hin in dieser
deiner Kraft." Doch nun wird sich Gideon plötzlich seines
eigenen Nichts bewußt, und er antwortet: „Siehe, mein
Tausend ist das ärmste in Manasse, und ich bin der
Kleinste im Hause meines Vaters." Doch Jehova sprach
zu ihm: „Gewiß, ich werde mit dir sein!"
Der Gehorsam hält sich stets genau an Gottes Wort.
Gott giebt Josua Kraft, „daß du," wie Er zu ihm sagt,
„darauf achtest, zu thun nach dem ganzen Gesetz, das dir
Mose, mein Knecht, geboten hat." Doch zu der geistlichen 
Energie, welche notwendig ist, um Gott zu gehorchen, muß
noch etwas anderes hinzukommen. Es heißt darum im
278
8. Verse weiter: „Dieses Buch des Gesetzes laß nicht von
deinem Munde weichen, und du sollst darüber sinnen Tag
und Nacht, damit du darauf achtest, zu thun
nach allem, was darin geschrieben ist." Es
bedarf also außer der geistlichen Energie noch eines sorgfältigen Fleißes, sich die Gedanken Gottes zu eigen
zu machen. Gott ermahnt Josua: „Sinne darüber,
um es zu thun." Leitet auch uns bei der Betrachtung
des Wortes dieser Zweck? Oftmals lesen wir es, um
weiter zu kommen in der Erkenntnis, und die Erkenntnis
ist gut; zu andern Zeiten forschen wir darin, um Andere
unterweisen zu können; gewiß auch eine vortreffliche Sache
an ihrem Platze. Aber die für uns so überaus wichtige
Frage ist: Ist es unsre Gewohnheit, Gottes Wort in
der Absicht zu lesen, um es fleißig zu beobachten und
ihm zu gehorchen? O, daß es also wäre! Wie würde eS
den ganzen Lebenslauf des Christen umgestalten!
Es heißt ferner: „Sinne darüber Tag und Nacht!"
Es giebt Christen, die morgens ein Kapitel (ach! vielleicht
nur ein Verslein) lesen, das sie den Tag über wie eine
Art Zauberformel bewahren soll. Heißt das, über Gottes
Wort sinnen Tag und Nacht? Doch man wird einwenden:
Was soll aus unsrer Arbeit werden? Ich aber frage:
Ist es Gottes Wort, das dich während deines Tagewerks
innerlich von Gott nährt und speist, um der Genuß deiner
Seele zu sein und um dich auf dem Wege des Herrn zu
leiten? Siehe, nur „alsdann wirst du guten Erfolg
haben auf deinen Wegen, und alsdann wird es dir
gelingen!"
Im 9. Verse finden wir einen weiteren Grundsatz,
der unsrer ernsten Beachtung wert ist: „Habe ich dir nicht
279
geboten: Sei fest und mutig?" Welch eine Stärke verleiht uns die Gewißheit der Gedanken Gottes! Alle Unentschiedenheit tm Wandel, alle Angst und alle Furcht
schwinden dann; Satan vermag nichts über uns. Hat uns
Gott nicht geboten?
Das sind also die Grundsätze, welche das Herz beherrschen müssen, wenn es die himmlischen Dinge
genießen und die Streite Jehovas streiten
will. Es ist schön, sie ganz am Anfang dieses Buches
niedergelegt zu finden, ehe noch Israel einen einzigen
Schritt gethan hat, um ihm so die blanken Waffen in
die Hände zu geben, womit es den Sieg davontragen kann.
Bruchstücke.
Wir wünschen oft, unsern Weg ohne Prüfungen und
Schwierigkeiten gehen zu können. Aber welch ein Verlust
wäre es für uns, wenn dieser Wunsch erfüllt würde! Die
Gegenwart des Herrn ist nie so köstlich und erquickend,
als in Zeiten der Drangsal und Not.
Gerade dann, wenn das Volk Gottes in die größten
Widerwärtigkeiten und Schwierigkeiten geführt wird, macht
es die herrlichsten Erfahrungen von dem, was Gott ist
und wie Er handelt. Und deshalb läßt Gott die Seinen
oft in eine schwierige Lage kommen, damit Er sich selbst
um so mehr offenbaren könne.
Wenn eine Wolke zwischen die Sonne und uns tritt,
so beraubt sie uns für den Augenblick des Genusses ihrer
280
Strahlen. Die Wolke verhindert die Sonne nicht zu
scheinen; sie verhindert uns nur, sie zu sehen. Genau so
ist es, wenn wir den Kümmernissen, Proben und Schwierigkeiten dieses Lebens erlauben, zwischen uns und Gott zu
treten und so die herrlichen Strahlen Seines Vaterantlitzes
vor unsern Seelen zu verbergen, welche allezeit mit unveränderlichem Glanze in dem Angesicht Jesu Christi uns
entgegenkeuchten.
Der Unglaube schafft Schwierigkeiten, oder er vergrößert sie, wenn sie wirklich vorhanden sind; und dann
treibt er uns an, dieselben durch unsre eigne, ebenso geräuschvolle als fruchtlose Thätigkeit Hinwegzuräumen, was
in Wirklichkeit keine andre Folge hat, als daß sich eine
dichte Staubwolke um uns her erhebt, welche uns verhindert, Gottes Hülfe und Rettung zu schauen.
Niemand wird daran denken, am Hellen Mittag eine
Kerze anzuzünden, um das Licht der Sonne zu verstärken.
Und dennoch wäre ein Mensch, der das thäte, noch weise
zu nennen im Vergleich mit einem Gläubigen, der durch
seine Unruhe und Geschäftigkeit Gott in Seinem Thun zu
unterstützen sucht.
Wir werden stets finden, daß neun Zehntel unsrer
Prüfungen und Kümmernisse aus gefürchteten oder eingebildeten Uebeln hervorgehen, welche thatsächlich nur in
unserm verkehrten, ungläubigen Herzen bestehen.
Der lebendige Gott und ein lebendiger
Glaube.
(Schluß.)
So war es mit Josaphat in den Umständen, von
welchen uns in 2. Chronika 20 erzählt wird. Er war
gänzlich auf Gott hingewiesen. „In uns ist keine Kraft
aber: „auf Dich sind unsre Augen gerichtet." Das war
genug. Es war gut für Josaphat, daß er keine Spur von
Kraft besaß, daß er durchaus keinen Rat mehr wußte.
Er befand sich gerade in der besten Lage, um zu erfahren,
was Gott war. Es wäre ein unberechenbarer Verlust für
ihn gewesen, wenn er nur das geringste Maß von natürlicher Kraft und Weisheit besessen hätte, da es ihn verhindert haben würde, sich ausschließlich auf den Arm
und den Rat des allmächtigen Gottes zu stützen. Wenn
das Auge des Glaubens auf dem lebendigen Gott ruht,
wenn Er den ganzen Gesichtskreis der Seele ausfüllt,
wozu bedürfen wir dann eigene Kraft oder eigene Kenntnis? Wer würde daran denken, in dem Menschlichen zu
ruhen, wenn er das Göttliche haben kann? Wer möchte
sich auf den Arm des Fleisches stützen, wenn der Arm
des lebendigen Gottes zu seiner Verfügung steht?
Mein Leser, befindest du dich in diesem Augenblick
unter irgend einem Druck, in irgend einer Versuchung,
Not oder Schwierigkeit? Wenn es der Fall ist, so laß
282
mich dich bitten, einfältig und allein auf den lebendigen
Gott zu blicken. Wende deine Augen vollständig von allem
Irdischen ab. „Laß ab von dem Menschen, dessen Odem
in seiner Nase ist." (Jes. 2, 22.) Lege deine ganze Angelegenheit in die allmächtige Hand Gottes. Wirf deine
Bürde, welcher Art sie auch sein möge, rückhaltlos auf
Ihn. Er ist so willig wie fähig und so fähig wie willig,
alles zu tragen. Nur vertraue Ihm völlig. Er liebt es,
wenn man Ihm vertraut, wenn man Ihn gebraucht. Es
ist Seine Freude, gepriesen sei Sein Name dafür! der
Forderung des Glaubens bereitwillig und völlig zu entsprechen. Es ist der Mühe wert, eine Bürde zu haben, 
um erfahren zu können, wie gesegnet es ist, sie auf Ihn
abzuwälzen. Diese Erfahrung machte der König von Juda
an dem Tage seiner Versuchung, nnd dieselbe Erfahrung
kann der Leser heute noch machen. Gott läßt nie ein Herz,
das auf Ihn vertraut, im Stich. „Die auf mich harren,
werden nicht beschämt werden." Kostbare Worte!
Kaum hatte Josaphat sich völlig auf den Herrn geworfen, als auch schon die göttliche Antwort deutlich und
kräftig sein Ohr traf: „Merket auf, ganz Juda und Bewohner von Jerusalem, und du, König Josaphat! So
spricht Jehova zu euch: Ihr sollt euch nicht fürchten und
sollt nicht zagen vor dieser großen Menge, denn nicht euer
ist der Streit, sondern Gottes ....... Ihr werdet
hier nicht zu streiten haben; stellet euch hin, stehet und
sehet die Rettung Jehovas au euch. Juda und Jerusalem!
fürchtet euch nicht und zaget nicht; morgen ziehet ihnen
entgegen, und Jehova wird mit euch sein."
Welch eine Antwort! „Nicht euer ist der Streit, sondern Gottes." Man denke nur, Gott hat einen Streit
283
mit Menschen! Wahrlich, der Ausgang eines solchen
Streites konnte nicht zweifelhaft sein. Josaphat hatte die
ganze Sache in Gottes Hand gelegt, und Gott nahm sie
auf und machte sie gänzlich zu Seiner Sache. So ist 
es immer. Der Glaube legt die Schwierigkeit, die Versuchung und die Bürde in Gottes Hand und überläßt es
Ihm, Zu handeln. Das ist genug. Gott weigert sich nie,
der Forderung des Glaubens zu entsprechen; nein, es ist
Seine Wonne, auf dieselbe zu antworten. Josaphat hatte es
zu einer Frage zwischen Gott und dem Feinde gemacht.
Er hatte gesagt: „Sie kommen, uns zu vertreiben aus
Deinem Besitztum, das Du uns erblich gegeben hast."
Nichts konnte einfacher sein. Gott hatte Israel das Land
gegeben, und Er konnte sie darin erhalten trotz zehntausend
Feinden. So urteilt der Glaube. Dieselbe Hand, die sie
in das Land geführt hatte, war auch mächtig genug, sie
in demselben zu erhalten. Es war einfach eine Frage der
göttlichen Macht. „Unser Gott, willst Du nicht richten
über sie? Denn in uns ist keine Kraft vor dieser großen
Menge, die wider uns kommt; und wir wissen nicht, was
wir thun sollen, sondern auf Dich sind unsre Augen
gerichtet."
Es ist ein wunderbarer Augenblick in der Geschichte
einer Seele, wenn sie dahin gebracht wird, zu sagen: „In
mir ist keine Kraft." Es ist der sichere Vorbote göttlicher
Befreiung. In dem Augenblick, da der Mensch zur Entdeckung seiner gänzlichen Kraftlosigkeit gekommen ist, lautet
das göttliche Wort: „Stehe und siehe die Rettung Gottes."
Man hat keine Kraft nötig, um „stille zu stehen," und
es bedarf keiner Anstrengung, um „die Rettung Gottes
zu sehen." Und das gilt nicht nur für das erste Kommen
284
eines Sünders zu Christo, sondern auch sür die ganze
Laufbahn des Christen von Anfang bis zu Ende. Die
große Schwierigkeit für uns besteht darin, wirklich an das
Ende unsrer eignen Kraft zu kommen. Sind wir einmal
da angelangt, so ist alles in Ordnung. Es mag unendlich
viel Kampf und Seelenübungen kosten, bis wir dahin gebracht sind, zu sagen: „In uns ist keine Kraft;" aber
sobald wir wirklich diesen gesegneten Boden betreten, heißt
es: „Stehe und siehe die Rettung Gottes." Menschliche
Anstrengung, in welche Form sie sich auch kleiden mag,
kann nur eine Schranke zwischen unsern Seelen und Gottes
Rettung errichten. Wenn Gott es übernommen hat, unsre
Sache zu Ende zu führen, wenn Er für uns thätig ist,
so können wir wohl stille sein. Und hat Er es nicht gethan ? Ja, gepriesen sei Sein heiliger Name! Er hat alle
unsre Angelegenheiten, alles, was uns irgendwie augehen
mag, für Zeit und Ewigkeit auf sich genommen; und deshalb haben wir nichts anderes zu thun, als Ihn in allen
Dingen für uns handeln zu lassen. Es ist unser glückseliges Vorrecht, Ihn vor uns hergehen zu lassen, während
wir Ihm nachfolgen in Bewunderung, Lob und Anbetung.
So war es in jener interessanten und lehrreichen
Scene, bei der wir verweilen. „Da neigte sich Josaphat
mit dem Angesicht zur Erde, und ganz Juda und die
Bewohner von Jerusalem fielen nieder vor Jehova, um
Jehova anzubeten. Uud die Leviten von den Söhnen der
Kehathiter und von den Söhnen der Korhiter standen auf,
Jehova, den Gott Israels zu preisen mit überaus lauter
Stimme."
Hier haben wir das richtige Verhalten und die passende
Beschäftigung für den Glaubenden. Josaphat wandte seine
285
Augen ab von „jener großen Menge, die wider ihn kam,"
und richtete sie auf den lebendigen Gott. Jehova war
aufgestanden und hatte sich zwischen Sein Volk und den
Feind gestellt, gerade so wie Er es bei dem Auszug aus
Egypten am Roten Meere gethan hatte; und jetzt konnten
sie, anstatt auf die Schwierigkeiten, auf Ihn blicken.
Das, geliebter Leser, ist das Geheimnis des Sieges
zu allen Zeiten und unter allen Umständen. Das ist es,
was das Herz mit Lob und Dank erfüllt und uns dahin
bringt, das Haupt in bewundernder Anbetung zu beugen.
Das ganze Verhalten Josaphats und des ihn umringenden Volkes ist bei dieser Gelegenheit außerordentlich schön.
Sie waren augenscheinlich mit dem tiefen Bewußtsein erfüllt, daß sie nichts zu thun hatten, als Gott zu preisen.
Und sie hatten Recht. Hatte Er nicht zu ihnen gesagt:
„Ihr werdet hier nicht zu streiten haben" ? Was blieb
da für sie zu thun übrig? Nichts, als zu loben und zu
preisen. Jehova stand im Begriff, vor ihnen her in den
Streit zu ziehen, und sie hatten nur in Anbetung Ihm
zu folgen. „Und sie machten sich des Morgens früh auf
und zogen aus nach der Wüste Thekoa; und bei ihrem
Auszuge stand Josaphat und sprach: Höret mich, Juda
nnd Bewohner Jerusalems! Glaubet au Jehova, euern
Gott, und ihr werdet befestigt werden; glaubet an Seine
Propheten, und es wird euch gelingen."
Es ist von der größten Wichtigkeit, daß das Wort
Gottes stets den ihm gebührenden hervorragenden Platz
in dem Herzen des Christen habe. Gott hat gesprochen.
Er hat uns Sein Wort gegeben; und es geziemt sich für
uns, unerschütterlich auf dasselbe zu vertrauen. Wir bedürfen nichts anderes. Das göttliche Wort ist durchaus
286
genügend, der Seele Vertrauen, Frieden und Festigkeit
zu geben. Wir bedürfen keiner Zeugnisse und Beweise
von feiten des Menschen, um die Wahrheit des Wortes
Gottes festzustellen. Dieses Wort trägt seine eignen kraftvollen Beweise in sich selbst. Verlangt man ein menschliches Zeugnis zum Beweise für die Wahrheit des Wortes
Gottes, so sagt man damit nichts anderes, als daß Menschenwort stärker, vertrauenswürdiger und gewichtiger sei,
als das Wort Gottes. Wenn wir eine menschliche Stimme
bedürfen, um die Offenbarung Gottes zu bestätigen oder 
gültig zu machen, dann sind wir thatsächlich jeder göttlichen Offenbarung beraubt.
Auf diesen Punkt möchten wir die besondere Aufmerksamkeit des Lesers richten. Es handelt sich um die
wichtige Frage: Ist Gottes Wort genügend, oder nicht?
Bedürfen wir wirklich der Autorität des Menschen, um
uns darüber zu vergewissern, daß Gott gesprochen hat?
Ferne sei uns ein solcher Gedanke! Dadurch würden wir
Menschenwort über Gottes Wort stellen, und uns so der
einzigen soliden Grundlage berauben, auf welche unsre
Seelen sich stützen können. Das ist es gerade, wonach der
Teufel von Anfang an gestrebt hat, und was er heute
noch zu erreichen sucht. Er wünscht, den festen Felsen der
göttlichen Offenbarung unter unsern Füßen Hinwegzurücken
und uns statt dessen den sandigen Boden menschlicher
Autorität zu geben. Und daher möchten wir dem Leser
die Notwendigkeit ernstlich ans Herz legen, sich in einfältigem, nicht zweifelndem Glauben fest an Gottes Wort
anzuklammern. Das ist das wahre Geheimnis der Festigkeit und des Friedens. Wenn Gottes Wort ohne die
Dazwischenkunft des Menschen für uns nicht ausreichte,
287
so wären wir ohne jede zuverlässige Grundlage für das
Vertrauen unsrer Seelen; ja, wir wären dann ein Spielball der wilden Wellen der Zweifelsucht, wir wären in
dunkle Ungewißheit gehüllt, wir wären, mit einem Worte,
so elend und unglücklich wie möglich.
Doch Gott sei Dank und Preis, es ist nicht so!
„Glaubet an Jehova, euern Gott, und ihr
werdet befestigt werden; glaubet an Seine
Propheten, und es wird euch gelingen." Hier
ist der Ruheplatz des Glaubens für alle Zeitalter: Gottes
ewiges Wort, welches sür immer sestgestellt ist in den
Himmeln, das Er „groß gemacht hat über all Seinen
Namen," und das sich in seiner göttlichen Würde, Fülle
und Genügsamkeit vor das Auge des Glaubens hinstellt.
Wir weisen auf das Entschiedenste den Gedanken zurück,
als ob irgendwie menschliche Autorität, menschliche Zeugnisse und menschliche Gefühle nötig wären, um das Zeugnis Gottes in der Wagschale der Seele vollwichtig zu
machen. Hat Gott wirklich gesprochen, so ist zur Grundlage für einen echten Glauben nichts weiter nötig. Mit
einem Wort, wenn wir wünschen, befestigt zu werden
und Gelingen zu haben, so gilt es, einfach zu „glauben
an den Herrn, unsern Gott." Dies befähigte Josaphat,
sein Haupt in heiliger Anbetung zu beugen und Gott für
den Sieg zu preisen, ehe noch ein einziger Streich geführt
war. Dies führte ihn in „das Thal Beracha" und umgab ihn mit einer solchen Menge von Beute, daß er nicht
imstande war, sie wegzuführen.
„Und er beriet sich mit dem Volke und bestellte
Sänger Jehovas, die da lobpriesen in heiliger Pracht,
indem sie vor den Gerüsteten her auszogen und sprachen:
288
Lobstnget Jehova, denn Seine Güte währet ewiglich!"
Welch ein merkwürdiger Vortrab für ein Heer! Eine
Schar von Sängern! Aber das ist die Art und Weise,
wie der Glaube sich in Schlachtordnung stellt. „Und zur
Zeit, da sie begannen mit Jubel und Lobsingen, stellte 
Jehova einen Hinterhalt wider die Kinder Ammon, Moab
und die vom Gebirge Seir, die wider Juda gekommen
waren; und sie wurden geschlagen." Wie wunderbar!
Gott legt einen Hinterhalt; Er beschäftigt sich mit Heerführung und Kriegskunst! Ja, Gott ist bereit, alles zu
thun, was Sein Volk bedarf, wenn dieses nur auf Ihn
vertraut und sich und seine Angelegenheiten vollständig
Seiner Hand übergiebt.
„Und Juda kam auf die Bergwarte in der Wüste;
und sie sahen sich um nach der Menge, nnd siehe, es
waren Leichname, die auf der Erde lagen, und niemand
war entronnen." Das war das Ende „jener großen
Menge," jenes schreckenerregenden Feindes. Alle schwanden
vor der Gegenwart des Gottes Israels dahin wie Rauch.
Ja, und wären sie noch millionenmal zahlreicher und stärker
gewesen, so würde der Ausgang genau derselbe gewesen
fein; denn Umstände sind nichts für den lebendigen Gott
und nichts für einen lebendigen Glauben. Wenn Gott
vor der Seele steht, so verschwinden die Schwierigkeiten,
und Lobgesänge ertönen von fröhlichen Lippen.
„Da kam Josaphat und sein Volk, um ihre Beute
zu rauben, (das war alles, was sie zu thun hatten) und
sie sanden bei ihnen in Menge Güter und Leichname und
kostbare Geräte, und plünderten sich so viel, daß es nicht
zu tragen war; und sie raubten drei Tage die Beute,
denn es war ihrer viel. Und am vierten Tage versam­
289
melten sie sich im Thale Beracha (d. i. Preis- oder Segensthal), denn daselbst priesen sie Jehova."
Das, geliebter Leser, ist stets das Resultat eines
lebendigen Glaubens an den lebendigen Gott. Mehr als
2500 Jahre sind seit jener Begebenheit dahingerollt, aber 
der Bericht ist so frisch wie je; er redet mit derselben
Lebendigkeit zu uns, als wenn die Sache erst gestern geschehen wäre. Keine Veränderung ist über den lebendigen
Gott gekommen, noch über jenen lebendigen Glauben,
welcher sich die göttliche Kraft zu eigen macht und auf
die Treue Gottes rechnet. Das Wort ist heute noch ebenso
wahr, wie in den Tagen Josaphats: Glaube an den Herrn,
deinen Gott, und du wirst befestigt werden; glaube Seinem Wort, und eS wird dir gelingen. Alle, welche dieser
Aufforderung in Einfalt und Aufrichtigkeit folgen, werden
mit Kraft ausgerüstet, mit Sieg gekrönt, mit Beute umgeben und mit Lobgefängen erfüllt werden. Möchten wir
deshalb durch die gnädige Wirksamkeit des Heiligen Geistes
stets fähig sein, einen lebendigen Glauben an
den lebendigen Gott zu offenbaren!
Es giebt heute unter dem Volke Gottes nicht wenige,
die auS Biangel an einfältigem Vertrauen uns glauben
machen möchten, daß der Boden unter unsern Füßen verschwunden sei. Allen solchen rufen wir zu: Gott sei Dank,
eS ist nicht so! Euer Fuß mag den Boden verloren haben,
aber der Boden selbst bleibt so fest, wie der Thron Gottes,
und Zwar nicht nur der Boden der persönlichen Errettung,
sondern auch der Boden, auf welchem wir uns versammeln.
Der erstere wird in den Worten gefunden: „Wer an den
Sohn glaubt, hat ewiges Leben;" und der andere in der
gesegneten Verheißung: „Wo zwei oder drei in meinem
290
Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte." Das
eine ist so wahr, so echt und so sicher, wie das andere.
Der Herr sei gepriesen, daß es so ist!

Das Opfer Christi.
Es ist schon oft darauf aufmerksam gemacht worden,
daß es in dem Tode Christi zwei Haupt-Gesichtspunkte
giebt, welche im Blick auf das Versöhnungswerk, daS Er
vollbracht hat, wohl zu unterscheiden sind. Einerseits hat
Christus in Seinem Tode Gott vollkommen verherrlicht,
und deshalb kann Gott heute gegen alle Menschen nach
dem Werte des kostbaren Blutes Seines Geliebten in Gnade
und Langmut handeln; und andrerseits hat Er die Sünden
Seines Volkes getragen, war sür sie in Tod und Gericht,
so daß ihre Errettung jetzt eine vollkommene, für ewig
vollendete Thatsache ist. Wir beschäftigen uns, entsprechend
der Neigung unsrer Herzen, immer zuerst an uns zu
denken, meist mit der letzteren Seite des Werkes der Versöhnung, mit dem, was dieses Werk uns gebracht hat,
während wir weniger an das gedenken, was es für Gott
ist. Und doch ist die letztere Seite die wichtigste. Nachdem die Sünde in die Welt gekommen war, hätte Gott,
Seiner unbeugsamen Gerechtigkeit entsprechend, den Sünder
richten müssen; allein wenn Er es gethan hätte, wo wäre
dann Seine Liebe geblieben? Wie wären Seine Gnadenratschlüsse erfüllt worden? Wie hätte Er Seine Bereitwilligkeit kundgeben können, dem Sünder zu vergeben? Wie
hätte Er sich als der Gott der Liebe verherrlichen können?
Wir reden jetzt nicht von Personen, die zu erretten
waren, sondern von der Verherrlichung Gottes. Der Tod
291
Christi, das Hineintragen Seines Blutes in das Heiligtum Gottes, hat alles, was in Gott ist, ans Licht gebracht. Er ist durch denselben in einer Weise verherrlicht
worden, wie alle die gewaltigen Werke der Schöpfung es
nie zu thun vermocht hätten. Seiner Wahrheit ist in
dem vollkommensten Maße in Christo entsprochen worden,
denn Er hat das Urteil des Todes über sich ergehen
lassen. Seine Majestät, Seine Gerechtigkeit gegenüber der
Sünde, Seine unendliche Liebe — alles, alles hat sich
in einer Weise geoffenbart, wie es nur in jenem gesegneten Tode möglich war. Gott fand in demselben ein
Mittel, Seine Gnadenratschlüsse zu erfüllen, indem Er zu
gleicher Zeit die ganze Majestät Seiner Gerechtigkeit und
göttlichen Würde aufrecht hielt.
Diese vollkommene, freiwillige Hingabe des Sohnes
Gottes, um Gott zu verherrlichen, Seine Erniedrigung
bis zum Tode, ja, zum Tode des Kreuzes, damit den
gerechten Forderungen Gottes volle Genüge geschehe; mit
einem Worte, Sein Herniedersteigen aus der Herrlichkeit
des Himmels bis in den Staub des Todes hat der Liebe
Gottes einen freien Ausgang verschafft, hat ihr einen Weg
geöffnet, um frei und ungehindert thätig zu sein. Im
Blick darauf sagte der Herr nicht lange vor Seinem Tode:
„Ich habe aber eine Taufe, womit ich getauft werden
muß; und wie bin ich beengt, bis sie vollbracht ist!"
(Luk. 12, 50.) Sein liebeersüllteS Herz verlangte darnach,
sich rückhaltlos zu offenbaren; allein es wurde zurückgestoßen und gehindert durch die Sünde des Menschen,
der diese Liebe nicht wollte. Sobald aber das Versöhnungswerk vollbracht war, konnte sie, in der Erfüllung
der Gnadenratschlüsse Gottes, ungehindert zu dem ver­
292
lorenen, feindseligen Sünder ausströmen. Zu gleicher
Zeit gab Jesus durch diese freiwillige Hingabe, durch
Seinen Gehorsam bis in den Tod des Kreuzes, dem Vater
einen Beweggrund, Ihn zu lieben. Nicht als ob Er nicht
von Ewigkeit her der Gegenstand der Liebe und Wonne
des Vaterherzens gewesen wäre. Wir wissen, daß Er
dies war. Allein Sein freiwilliger Tod, um Gott zu 
verherrlichen und zugleich der Liebe Seines Herzens zu
einer verlorenen Welt freien Ausgang zu verschaffen, hatte
einen so unendlichen Wert vor Gott, war so unaussprechlich
kostbar für das Herz des Vaters- daß Jesus sagen konnte:
„Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben
lasse, auf daß ich es wiedernehme." (Joh. 10, 17.) Er
sagt nicht: „Weil ich mein Leben lasse für meine
Schafe," obwohl das ja, Gott sei Dank! eine ewige,
unumstößliche Wahrheit ist; nein, die Sache selbst, der
Tod Christi an und für sich, die Bereitwilligkeit Dessen,
der Gewalt hatte, Sein Leben zu lassen und es wiederzunehmen, um der Verherrlichung Gottes willen zu sterben,
war für den Vater so wohlgefällig und kostbar.
Wir reden mit aller Ehrerbietung von diesen Dingen;
aber es ist gut, davon zu reden. Denn die Herrlichkeit
Gottes und Dessen, den Er in diese Welt gesandt hat,
strahlt uns aus denselben in wunderbarem Glanze entgegen; und die Beschäftigung mit diesen Dingen bringt
uns dahin, weniger unser eignes Ich und unsre Segnungen zum Gegenstände unsrer Betrachtung zu machen,
als Gott und Seine Verherrlichung. Daß wir durch
dasselbe Opfer errettet und erlöst sind, daß unsre Sünden
in dem Tode Christi für ewig hinweggethan, und wir
selbst, nach den Ratschlüssen der göttlichen Gnade, in einen
— 293
Platz, der höchsten Segnung versetzt wurden, ist eine ewige
und für uns so kostbare wie wichtige Wahrheit; allein
diese Dinge bilden nicht den hervorragendsten Teil des
Werkes Christi, wenn überhaupt bei einer Sache, die in
allen ihren einzelnen Teilen göttlich vollkommen ist, von
einem Unterschiede geredet werden darf. Wenigstens ist der
Gegenstand dieser Seite des Werkes, die Errettung des
Sünders, niedriger, obwohl das Werk selbst nach jeder
Seite hin vollkommen ist. Da ist nicht ein Zug des
Charakters Gottes, nicht ein Teil Seines Wesens, der
nicht in all Seiner Vollkommenheit geoffenbart und völlig
verherrlicht worden wäre in dem, was zwischen Gott und
Christo auf dem Kreuze vorgegangen ist.
Ein Wort über die Ausübung der Zucht.
Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, daß inmitten
der Versammlung Gottes Zucht geübt werde. „Thut den
Bösen von euch selbst hinaus," ermahnt der Apostel die
Gläubigen in Korinth. Indes ist es nicht der Zweck dieser
Zeilen, die verschiedenen Arten der Zucht zu betrachten,
sondern vielmehr einige Worte über die Art und Weise
zu sagen, wie die Zucht, und vor allem die ernsteste Art
derselben, der Ausschluß, ausgeübt werden sollte.
Wenn sich bei einer Seele ein bedenklicher, gefahrdrohender Zustand offenbart, so sollten „die Geistlichen"
in einer Versammlung dieser Seele in treuer, liebevoller
Hirtenpflege nachgehen und sie in Gnade und Sanftmut
auf den rechten Weg zurückzusühren suchen. Erst dann,
wenn diese Bemühung der Liebe sich vergeblich erweist,
der Betreffende vielmehr in seinem traurigen Zustande ver­
294
harrt und alle Ermahnungen unbeachtet läßt, erst chann
darf eine Versammlung zu dem letzten und schmerzlichsten
Zuchtmittel ihre Zuflucht nehmen. Freilich kaun es Vorkommen, daß bei einem Bruder oder einer Schwester sich
unvermutet ein so schlechter Zustand zeigt, eine so offenbare Sünde zum Vorschein kommt, daß die Versammlung
um der Ehre des Herrn willen gezwungen ist, unverzüglich
zu handeln. Aber diese Fälle werden selten sein, und gewiß, die Versammlung ist auch dann nicht ohne Schuld.
Ein wachsameres Auge würde schon früher bei dem, an
welchem Zucht geübt werden muß, Nachlässigkeit oder dergl.
entdeckt, und vielleicht würde eine liebevolle Ermahnung
den schlimmen Ausbruch des Uebels verhindert haben.
Wenn ein Ausschluß notwendig wird, so hat die ganze
Versammlung Ursache, sich tief vor dem Herrn zu demütigen:
und der Ausschluß selbst sollte stets mit traurigen, betrübten Herzen und im Blick auf die Wiederherstellung des Ausznschließenden vorgenommen werden.
Denn Heilung, nicht Zerstörung, ist der Zweck aller wahren Zucht.
Jede Versammlung, ob groß oder klein, ist verantwortlich, die Ordnung in ihrer Mitte aufrecht zu erhalten,
sowie über die Reinheit des Tisches des Herrn zu wachen;
und sie hat dies zu thun in einfältigem Gehorsam gegen
das Wort des Herrn. Wenn ein Ausschluß zu vollziehen
ist, so sollte der Fall so klar und offenbar sein, daß für
ein aufrichtiges Herz keine Frage mehr bleibt und
die Versammlung in heiliger und ernster Uebereinstimmung
handeln kann. Wir sollten uns vor jeder Uebereilung
hüten, aber auf der andern Seite auch vor jeder Gleichgültigkeit. Beides liegt uns leider so nahe.
295
Das 13. Kapitel des 3. Buches Mose ist ein lehrreicher Abschnitt für alle diejenigen, welche sich für das
Wohl der Versammlung, besonders im Blick auf den vorliegenden Gegenstand, interessieren. Wir wollen hier nicht
näher auf dieses Kapitel eingehen, allein wir empfehlen
es dringend der ernsten Aufmerksamkeit unsrer Brüder.
Der Priester durfte in keinem der dort berührten Fälle
ein voreiliges Urteil abgeben. Die geduldigste Sorgfalt
und die eingehendste Prüfung waren notwendig, damit
nicht ein Glied der Gemeinde Israels als ein Aussätziger
hinausgethan würde, der es nicht wirklich war, oder andrerseits ein wirklicher Fall von Aussatz der Aufmerksamkeit
entginge. Keine Uebereilung, keine Gleichgültigkeit durfte
stattfinden.
Es ist von der höchsten Wichtigkeit, den wahren Zweck,
die Natur und den Charakter der Zucht in der Versammlung Gottes zu verstehen. Es ist sehr zu befürchten, daß
über diesen Punkt viel Unkenntnis herrscht. Manche betrachten die Zucht als ein Mittel, solche Personen los zu
werden, deren Verhalten ein mißfälliges und den Namen
des Herrn verunehrendeS ist. Das ist aber ein großer
Irrtum. Der wichtige Zweck der Zucht ist einerseits die
Verherrlichung Gottes, soweit sie mit der Heiligkeit Seiner
Versammlung in Verbindung steht, und andrerseits das
Wohl der Seele, an welcher die Zucht ausgeübt wird.
Und was die Natur und den Charakter der Zucht
betrifft, so sollten wir uns stets daran erinnern, daß wir,
wenn wir anders nach den Gedanken Christi daran teilnehmen wollen, die Sünde des Betreffenden zu unsrer
eignen machen und sie als solche vor Gott bekennen müssen. Es kann jemand in herzloser Förmlichkeit aufstehen
296
und den Ausschluß eines Bruders oder einer Schwester
bekannt machen; aber eine ganz andere Sache ist es,
wenn die ganze Versammlung in aufrichtiger Betrübnis
und Zerknirschung des Herzens vor Gott Hintritt, um unter
schmerzlichem Bekenntnis etwas Böses Hinwegzuthun, was
aus keine andere Weise entfernt werden konnte. Wenn
mehr von diesem Letzteren in unsrer Mitte gefunden würde,
so würden wir sicher auch mehr Fälle von göttlicher Wiederherstellung erfahren.
Haben wir alle, geliebte Brüder, von Herzen Leid
getragen, wenn in unsrer Mitte etwas Böses sich zeigte,
das eine so ernste Handlung seitens der Versammlung
nötig machte? Hat sich ein jeder von uns mit der Sache
einsgemacht und vor dem Herrn gedemütigt und um Gnade
und Erbarmen für den oder die Verirrte gefleht? Ach!
müssen wir nicht bekennen, daß es in dieser Beziehung
nicht unter uns steht, wie es stehen sollte? daß da vieles
mangelt? Der Herr gebe uns, daß wir zu einem tiefen
Bewußtsein unsrer persönlichen Verantwortlichkeit betreffs
dieser Dinge erwachen und immer mehr verstehen lernen,
wie innig wir unter einander verbunden sind, und wie durch
die Sünde des Einen die ganze Versammlung berührt und
verunreinigt wird! Ja, Er wolle uns anleiten, mit brüderlicher Liebe und Sorge über einander zu wachen, uns
gegenseitig zu ermuntern und zu ermahnen, damit eine
solch schmerzliche Ausübung der Zucht in unsrer Mitte
immer weniger notwendig werde! Wie schrecklich ist eine
Gesinnung, wie sie sich in den Worten KainS kundgiebt:
„Soll ich meines Bruders Hüter sein?" Der Herr wolle
uns in Gnaden vor einer solchen Sprache bewahren, und
uns offne Augen geben, wenn sich in unsern Herzen und
297
in unserm Verhalten irgend etwas von dieser Gesinnung
offenbaren sollte. Denken wir nur nicht, daß sie uns so
ferne läge! Es ist die Gesinnung unsrer natürlichen Herzen.
Aber in welch einem schrecklichen Gegensatz steht sie zu der
Gesinnung unsers Herrn und Meisters, der sich selbst für
uns dahingab und Tag und Nacht in unermüdlicher Sorgfalt und zärtlicher Liebe mit uns beschäftigt ist! Möchten
wir von Ihm lernen!
Fragen aus dem praktischen Leben.
1. Sollte ein Christ die Hülfe der weltlichen Gerichte in Anspruch nehmen? — Diese
Frage ist schon oft erhoben und besprochen worden. Wenn
es sich um eine Angelegenheit zwischen Brüdern handelt,
so giebt das 6. Kapitel des ersten Korintherbriefes eine
entscheidende Antwort. Ist es aber eine Sache zwischen
einem Christen und einem Manne dieser Welt, so mag
die Frage schwieriger erscheinen. Indes wird ein einfältiges,
aufrichtiges Herz, das sich durch Gottes Wort leiten läßt,
den richtigen Weg wohl herausfinden. Und ein Christ,
der doch „durch das lebendige und bleibende Wort Gottes
wiedergezeugt" ist, sollte niemals anders handeln, als in
Uebereinstimmung mit diesem Worte; sonst tritt er in
Widerspruch mit sich selbst, seiner neuen Natur nach. Nun
bezeugt aber das ganze Neue Testament, daß der Gläubige
völlig auf dem Boden der Gnade steht und nur
von Gnade lebt. Das Wort sagt ihm auch, daß er „aus
Gott geboren," ein Kind Gottes sei, und ermahnt: „Seid
nun Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder." (Eph. 5,1.)
298
Er weiß und bekennt es, daß Gott in Seiner Gnade ihm
seine ganze Schuld, „zehntausend Talente," die er nie
hätte bezahlen können, (nach Matth. 18, 23-35.) geschenkt hat. Würde er nun ein „Nachahmer Gottes" sein,
nach Gnade handeln, wenn er seinen Mitmenschen um
irgend einer Sache willen vor Gericht ziehen wollte? Und
wären seine Rechtsansprüche auch noch so begründet, und die
Verschuldung des Andern noch so bedeutend, so bezeichnet
das Wort diese dennoch als eine Schuld von nur „hundert Denaren," eine Summe, die in gar keinem Verhältnis steht zu den „zehntausend Talenten", welche ihm erlassen worden sind.
Gott hat sich in Seinem Sohne, der als Mensch
unter Menschen wandelte, sichtbar geoffenbart, so daß wir
wissen, was Er ist und was Seiner Natur entspricht. In
diesem vollkommenen Menschen und in Seinem Verhalten
besitzt ein Christ, der ja durch die Wiedergeburt der Natur
Gottes teilhaftig geworden ist und auch als „Mensch
Gottes vollkommen, zu jedem guten Werke völlig
geschickt" sein soll, (2. Tim. 3, 16. 17.) für alle nur
denkbaren Lagen ein sichtbares Vorbild für sein eignes
Verhalten. Er braucht nur das Leben Jesu zu betrachten
und sich die Frage vorzulegen, wie Er, unser Herr, sich
in dem gerade vorliegenden Falle verhalten würde, um
über das, was er darin zu thun hat, klar zu werden.
Hinsichllich der Frage, ob ein Christ sein Recht suchen
soll, erinnert Petrus (1. Petr. 2, 19—24.) die Gläubigen an das) Beispiel des Herrn, „der, gescholten, nicht
wieder schalt, leidend, nicht drohte, sondern sich Dem übergab, der recht richtet;" und er sagt ihnen zugleich durch
den Heiligen Geist, daß sie „Seinen Fußstapfen nach­
299
folgen sollten." Und weil der Herr „durchaus das war,
was Er auch redete," (Joh. 8, 25.) das heißt, in Seinem Leben das darstellte, was Er sprach, so haben wir
in Seinen Worten in Matth. 5, 38—48 ein deutliches
Vorbild für einen Wandel in Seinen Fußstapfen,
besonders hinsichtlich unsers Verhaltens in Rechtssachen.
Wenn es uns nun Ernst ist mit unserm Bekenntnis,
Jünger Jesu zu sein, so werden wir, in Beherzigung solcher Worte, nicht mehr daran denken, unser Recht vor
den Gerichten zu suchen.
Gewiß erhebt sich bei manchen Gläubigen, besonders
wenn sie Geschäftsleute sind und selbst Verpflichtungen
gegen Andere haben, die Frage, was dann aus ihnen
werden solle, wenn sie, ohne den Schutz der weltlichen Gerichte anzurufen, den Ungerechtigkeiten der Menschen preisgegeben seien. Sie vergessen dann aber, daß sie unter dem
unmittelbaren, viel mächtigeren Schutze ihres himmlischen
Vaters stehen, ohne welchen es überhaupt nicht möglich
sein würde, auch nur einen Tag in einer Welt zu leben,
die Satan, ihren Widersacher, zum Fürsten hat. Unter dem
Schutze Gottes aber haben sie gewiß keinen Grund, sich
zu fürchten vor irgend welchen Folgen eines treuen Wandels in den Fußstapfen Jesu. Und wenn sie auch, aus
Gehorsam gegen Sein Wort, empfindlichen Verlust erleiden
müßten, falls die Weisheit Gottes für gut finden sollte,
dies zu erlauben, so würden sie doch die Erfahrung machen,
daß Sein Reichtum groß genug ist, alle ihre Bedürfnisse
zu erfüllen, ja, sie für ihre Verluste reichlich zu entschädigen, wenn dies letztere gut für sie sein sollte.
Es giebt Beispiele genug, daß gläubige Geschäftsleute, die nach den oben besprochenen göttlichen Grund­
300
sätzen, als Seine Haushalter, ihre Geschäfte betreiben,
viel besser durch alle Schwierigkeiten hindurchkommen, als
solche, die glauben, sich selbst helfen zu müssen. Andrerseits lehrt die Erfahrung, daß Gläubige, die ihr Recht
vor weltlichen Gerichten suchen, nur zu oft sehen müssen,
daß Gott es ihnen auf diesem Wege nicht gelingen läßt.
Wie friedevoll ist der Weg eines Christen, der mit allem,
was er ist und hat, sich vertrauensvoll in die Arme seines
himmlischen Vaters legt und von Ihm allein seine Hülfe
erwartet; gegenüber der steten Unruhe eines Herzens, das
seine Stützen in weltlichen Einrichtungen sucht! Wichtiger
aber noch als das ist die Verherrlichung des Herrn durch
einen treuen Wandel in Seinen Fußstapfen.
2. Ist eine eheliche Verbindung zwischen
Bekehrten und Unbekehrten irgendwie zu
rechtfertigen? — Die Beantwortung dieser Frage ist
für ein Herz, das den wohlgefälligen Willen des Herrn
thun will und sich vor der Autorität des Wortes beugt,
nicht schwierig. Einem solchen genügt es, zu wissen, daß
die Ehe eines Christen „nur im Herrn" geschlossen
werden sollte. (1. Kor. 7.) Ein solcher wird auch die
Behauptung, daß die Ehe eine rein menschliche Sache,
eine Angelegenheit der Natur sei, und deshalb nicht mit
dem Christentum in Verbindung gebracht, oder von dem
Bekehrtsein beider Teile abhängig gemacht werden könne,
mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Denn wenn wir
alles, was wir thun, selbst essen und trinken, zur
Ehre Gottes thun sollen, so ist es offenbar, daß eine der
wichtigsten Angelegenheiten dieses Lebens, einer der entscheidendsten Schritte, die ein Mensch je thun kann, nicht
301
ohne Rücksicht auf den Willen und das Wohlgefallen
Gottes geordnet und gethan werden sollte.
Allein das Herz ist ein arges, betrügerisches Ding.
Wenn der Gläubige nicht in der Gemeinschaft seines Herrn
ist und in Aufrichtigkeit mit Ihm wandelt, so gewinnen
allmählich die Begierden der Natur und die Lüste des
Fleisches Herrschaft über ihn; und obwohl er den Willen
des Herrn in jener Sache kennt, so sucht er doch nach
allerlei Scheingründen, um die Stimme seines Gewissens
zum Schweigen zu bringen und die Sache selbst in ein
möglichst günstiges Licht zu stellen. Naturgemäß sind besonders jüngere Christen dieser Gefahr ausgesetzt, und
ihnen ein Wort der Warnung zuzurufen, ist der Zweck
dieser Zeilen.
Wie gesagt, wird in einem Herzen, das nahe bei
dem Herrn ist, der Gedanke an das Eingehen einer Ehe
mit einer unbekehrten Person keine Wurzel fassen, noch
weniger eine ernste Erwägung vor dem Herrn nötig machen.
Denn wie wäre es möglich, mit jemandem in eine so
innige Verbindung zu treten, dessen Neigungen, Wünsche
und Interessen in unmittelbarem Gegensatz zu den unsrigen
stehen? Wenn es uns ohne Verleugnung unsers Christentums unmöglich ist, wiederum zu reden, zu denken und zu
handeln wie vor unsrer Bekehrung, so ist es doch wohl
ebenso unmöglich, uns ohne jene Verleugnung mir jemandem völlig eins zu machen, der eben deshalb, weil er den
Herrn nicht kennt, nur wie ein Unbekehrter denken, reden
und handeln kann.
Aber könnte ich nicht, so fragt man, dem andern
Teile zum Segen werden, und sollte nicht gerade unser
tägliches, inniges Zusammenleben ein geeignetes Mittel
302
sein, ihn auch zu den Füßen des Herrn zu führen, und
ihm so zu ewigem Heile ausschlagen? Ach! eS ist erstaunlich, wie es dem Feinde gelingt, gerade in dieser
Sache die Augen manches jungen Gläubigen zu verblenden.
Jener Einwurf gründet sich auf eine schreckliche, beklagenswerte Täuschung. Wie ist es nur möglich, von einer Handlung des offenbaren Ungehorsams göttlichen Segen zu erwarten? Ist es nicht dasselbe, als wenn ich sagen würde:
„Laßt uns das Böse thun, auf daß Gutes daraus hervorkomme?" Wie kann ich die geringste Hoffnung haben,
einen Andern auf den rechten Weg zu führen, wenn ich
selbst einen verkehrten einschlage? Muß nicht gerade das
Gegenteil eintreten? Die Erfahrung lehrt, daß in den
meisten Fällen dieses Gegenteil wirklich eintritt, daß nicht
der bekehrte Teil den unbekehrten zu Jesu führt, sondern
daß der unbekehrte den bekehrten nach und nach auf seinen
Boden herabzieht und der Welt und ihrem Treiben wieder
zuführt. Und selbst wenn der bekehrte Teil durch die Gnade
Gottes erhalten bleibt, welch ein trauriges Verhältnis!
Kann in einer solchen Ehe wahre Herzensgemeinschaft bestehen ? Werden nicht die Neigungen und Wünsche der
beiden Ehegatten sich stets durchkreuzen? Kaun da von
einer wahrhaft christlichen Ehe die Rede sein? Können
die Gatten in gemeinschaftlichem Gebet ihre Herzen vor
ihrem Gott und Vater ausschütten und Seinen Segen
auf ihr ganzes Haus herabflehen? Unmöglich! Alle ihre
Neigungen, ihre Ziele, ihre Wege laufen einander schnurstracks entgegen.
Aber giebt es denn gar keine Fälle, in welchen der
unbekehrte Teil durch den bekehrten gleichsam überwunden
und zu Jesu geführt wird? Gewiß, es giebt solche Fälle;
303
aber sie sind äußerst selten und beweisen nur das überströmende Erbarmen unsers Gottes, der in Gnaden auf
Sein irrendes Kind herabsieht und aus dem Bösen Gutes hervorkommen läßt.
Aber wie ist es denn, wird man fragen, wenn jemand bekehrt wird, der bereits ein Verlöbnis mit einer
unbekehrten Person eingegangen ist? Ist ein solcher nicht
an sein Versprechen gebunden? Hat er nicht Verpflichtungen
dem andern Teile gegenüber? Ohne alle Frage! Aber was
folgt daraus? Soll er dem Gebote des Herrn entgegen
handeln und eine Ehe eingehen, die nicht „im Herrn" geschlossen werden kann? Der Leser wird mit mir einverstanden sein, daß ein solcher Schritt dem Herrn kaum
wohlgefällig sein würde. Aber was soll er denn thun?
Nach unsrer Meinung sollte er die Sache dem Herrn in
einfältigem Vertrauen übergeben. E r vermag sie zu ordnen,
und Er wird sie ordnen zu seinem Besten. Zu gleicher Zeit
sollte er den unbekehrten Teil von dem Heile, das ihm
widerfahren ist, in Kenntnis setzen und ihm mitteilen,
daß er sich an sein Versprechen für gebunden halte, aber 
nicht eher imstande sei, es einzulöseu, bis es „im Herrn"
geschehen könne. Sicher wird es dabei nicht an tiefen
Seelenübungen fehlen; der Feind wird alles aufbieten,
um die natürlichen Gefühle zu erregen und dem, der da
treu und aufrichtig den Willen des Herrn zu thun wünscht,
diesen Entschluß zu erschweren. Aber auch der Herr wird
da sein mit Seinem mächtigen Beistand und Trost, und
Er wird selbst dann, wenn die Treue des Bekehrten zu
einem Bruche des Verhältnisses führen sollte, die nötige
Kraft darreichen, auch das zu ertragen; ja, Er wird das
Herz mit Seinem Frieden und Seiner Ruhe erfüllen. Auch
304
wissen wir von mehr als einem Falle, wo der unbekehrte
Teil durch das treue Zeugnis des andern zum Nachdenken
gebracht und zum Herrn geführt wurde. Eins ist gewiß,
daß der Herr stets die Treue der Seinen belohnen wird.
Die Art der Belohnung ist nicht immer die gleiche, aber 
niemals wird sie ausbleiben. Und ist nicht schon ein glückliches Herz und eiw ruhiges, vorwurfsfreies Gewissen eine
Belohnung, deren Wert unschätzbar ist?
Doch wir müssen hier noch auf einen andern Punkt
aufmerksam machen. Es geschieht nicht selten, daß Brüder oder Schwestern, welche eine Neigung zu einer unbekehrten Person fühlen, sich einzureden suchen, daß jene
Person doch bekehrt sei. Sie suchen nach allerlei Anhaltspunkten für das, was sie so gern glauben möchten, und
geben sich endlich mit Beweisen von Bekehrung zufrieden,
welche sie unter andern Umständen nimmermehr als befriedigend anerkennen würden. Ihr Wille ist in Thätigkeit.
Sie sind entschlossen, ihren eignen Weg zu gehen, und
erst wenn es zu spat ist, erkennen sie ihren schrecklichen
Fehler. Sie müssen dann erfahren, wie unerträglich schwer
ein „ungleiches Joch" ist. (2. Kor. 6, 14.)
Ueber die Frage, wie man mit Personen handeln sollte, welche in dieser Sache fehlen, finden wir
keine unmittelbare Belehrung in den Schriften des
Neuen Testaments. Ernste Ermahnungen und liebevolle
Vorstellungen betreffs des verkehrten Weges, den sie einschlagen wollen, sind jedenfalls am Platze. Aber wir
glauben nicht, daß die Versammlung als solche dabei
in Thätigkeit treten sollte. Vielmehr ist es eine Sache
des Hirtendienstes und der persönlichen, brüderlichen
Zucht.
305
3. Was sollen wir unsern Kindern zu
lesen geben? Eine ernste und schwierige Frage, vor
allem in unsern Tagen, wo der Jugend so viel seichter,
ja verderblicher Lesestoff zu Gebote steht! Es ist durchaus nicht leicht, in dieser Sache richtig und nach Gottes
wohlgefälligem Willen zu handeln. Wenn nicht unsre
Kinder durch die Gnade Gottes einen Geschmack für höhere
und bessere Dinge haben, so ist es fast unmöglich, sie
ganz von schlechten oder doch wertlosen Büchern fern zu
halten. Allein auch in dieser Sache, wie in allem andern,
dürfen wir auf die kostbaren Worte unsers Herrrn vertrauen: „Meine Gnade genügt dir." Wenn unsre Kinder solch teure Gegenstände für unsre Herzen sind, so sind
sie eS nicht minder für das Herz unsers Gottes und Vaters; und gewiß, Er ist bereit, uns die nötige Weisheit
auch in dieser Beziehung darzureichen. Wie wichtig die Frage,
was unsre Kinder lesen, für die Entwicklung ihres Herzens
und Gemütes ist, darüber kann kaum eine Meinungsverschiedenheit herrschen. Wir müssen daher mit festem Entschluß
des Herzens und in ernstem Ausblick zu unserm Gott und
Vater unsrer heiligen Verantwortlichkeit zu entsprechen suchen.
Wir sind sicherlich verpflichtet, eine weit größere
Sorgfalt auf die Auswahl der Bücher zu legen, welche
wir unsern Kindern in die Hand geben, als auf das,
was sie anziehen, oder was sie essen und trinken. Wir
haben nach jeder Seite hin zu wachen. Es ist einerseits
Gefahr vorhanden, die Zügel zu straff anzuziehen, und
andrerseits, sie zu lose zu lassen. Wir können nicht erwarten, daß unsre Kinder nur die Bibel oder ernste
Erbauungsschriften lesen; ihr kindlicher Geist bedarf auch
anderer Nahrung zu seiner Entwicklung. Allein es ist
306
unsre ernste Pflicht, soweit es in unsrer Macht steht,
sie vor allen solchen Büchern zu bewahren, welche einen
schädlichen, entsittlichenden Einfluß auf sie ausüben könnten.
Christliche Eltern sollten ihren Kindern nie erlauben,
Bücher zu lesen, deren Inhalt sie nicht vorher geprüft
und für gut befunden haben. All jener Lesestoff, der nur
darauf berechnet ist, die Begierden und Leidenschaften der
Natur, die Lüste des Fleisches zu reizen, sollte gänzlich
aus einem christlichen Hause verbannt sein. Bücher aber,
welche die jungen Herzen unsrer Kinder in einer gesunden,
dem Geiste des Christentums nicht eutgegenstehenden Weise
zu bilden imstande sind, sollten wir ihnen nicht entziehen.
Darum noch einmal, laßt uns nicht in einem Geiste gesetzlicher Strenge unsre Kinder von allem fern zu halten
suchen, was nicht Bibel oder biblische Betrachtung heißt;
aber laßt uns auch sorgfältig darüber wachen, daß nicht
unsre Gleichgültigkeit in dieser Sache zum zeitlichen und
vielleicht ewigen Schaden unsrer Kinder und zu unsrer
tiefen Demütigung und Beschämung auSschlage!
Vor allen Dingen dürfen christliche Eltern nicht
müde werden in ihrem Gebet und Flehen, daß das Reich
Gottes in den jungen Herzen ihrer Kinder aufgerichtet
werde, welches „Gerechtigkeit, Friede und Freude in dem
Heiligen Geiste" ist. Das ist, wir brauchen es nicht zu
sagen, das Höchste und Begehrenswerteste für sie, und
wird außerordentlich viel zur Regelung der oben angeregten Frage beitragen. Möge Gott in Seiner Gnade und
errettenden Macht alle Familien der Seinigen besuchen!
Möge Er die Unbekehrten erretten, und allen denen, welche
bereits errettet zu sein bekennen, Gnade geben, in kindlicher Einfalt und Treue zu wandeln!
307
Bruchstücke.
Je inniger meine Gemeinschaft ist mit dem Vater
und Seinem Sohne Jesu Christo, in desto schärferem Lichte
werde ich alles erkennen, was weltlich ist.
Gerade die Hitze, welche die lieblichen Spuren des
Frühlings verwischt, bringt die reifen, saftigen Früchte des
Herbstes hervor. Ebenso ist es in dem christlichen Leben.
Jeder Zweifel in dem Herzen eines Christen ist eine
Unehre, die dem Worte Gottes und dem Werke Christi
angethan wird.
Wir sind der Welt gestorben und mit Christo lebendig gemacht. Wir haben zu gleicher Zeit teil an Seiner
Verwerfung hienieden und an Seiner Annahme droben;
und die Freude über letzteres läßt uns die Prüfungen,
welche mit ersterem verbunden sind, als nichts erscheinen.
Von der Welt ausgestoßen zu sein, ohne zu wissen, daß
mir dafür droben ein Platz und Teil geworden ist, wäre
unerträglich; aber wenn die Herrlichkeiten des Himmels
vor meiner Seele stehen, so erscheinen mir die Dinge
dieser Welt in ihrer ganzen Nichtigkeit und Schalheit.
Es thut uns not, mehr in dem Bereich des Glaubens
und der „neuen Schöpfung" zu wandeln. Wir werden
dann alle Dinge so ansehen, wie Gott sie ansieht, so über
sie denken, wie Gott über sie denkt; und unser ganzer
Wandel und Charakter wird würdiger und entschiedener
getrennt sein von der Erde und ihren Dingen.
308
Wir können nie mit wahrer geistlicher Einsicht nnd
Kraft Loblieder singen, wenn wir auf uns selbst blicken.
Der Sache Christi geschieht viel mehr Schaden, wenn
jemand die Welt aufgegeben zu haben scheint und dann
wieder zu ihr zurückkehrt, als wenn er sie nie verlassen
hätte; denn ein solcher bekennt durch sein Verhalten
nichts anderes, als daß er die himmlischen Dinge geschmeckt,
aber gefunden hat, daß die irdischen besser und befriedigender sind.
Nichts ist mehr dazu angethan, ein zweifelndes,
zagendes Herz fest und gewiß zu machen, als die Erkenntnis, daß Gott uns ausgenommen hat, gerade so 
wie wir sind, und in der vollen Kenntnis dessen, was
wir sind; und weiter, daß Er nimmermehr eine neue, unerwartete Entdeckung machen kann, welche imstande wäre,
den Charakter und das Maß Seiner Liebe zu verändern.
Der Mensch mag seinen traurigen, verderbten Zustand
in mancherlei Weise zu verdecken suchen; er mag den letzten demütigenden Abschnitt seiner irdischen Laufbahn mit
den ehrenvollsten Titeln belegen; er mag das Sterbebett
mit einem falschen Schimmer vergolden, das Leichenbegängnis und das Grab mit der höchsten Pracht ausstatten; er
mag über dem zu Staub verwesenden Leibe ein glänzendes 
Denkmal errichten, auf welchem die Thaten des Verstorbenen in Goldschrift prangen. Aber der Tod bleibt trotz
alledem der Tod; und der Mensch vermag ihn nicht um
eine Minute hinauSzuschieben, noch etwas anderes aus ihm
zu machen, als was er ist: der Sold der Sünde.
Geistliche Trägheit nnd das Mittel zur
Wiederherstellung.
Hohelied ü, 2 — 6, A.
Den Schlüssel zu diesem schönen Schriftabschnitt
finden wir in den Worten: „Ich schlief, aber mein Geist
wachte." Das Herz der Braut *) war ihrem Geliebten
treu geblieben ; aber zu gleicher Zeit fand sich ein Mangel
an Energie bei ihr vor, eine Neigung zum Wohlbehagen
und zur Bequemlichkeit, infolge dessen sie in ihrer Wachsamkeit nachlässig geworden und in einen Zustand der
Trägheit verfallen war. Wir ersehen dies aus dem
Z Die Braut im Hoheuliedc ist die irdische Braut Christi,
der Ueberrest aus Israel, mit welchem der Herr sich am Ende der
Tage wieder in Gnade verbinden, und in deren Herzen Er dann
die innigsten Zuneigungen zu Ihm, „dem Geliebten," „dem König,"
erwecken wird. Obwohl wir daher aus dem Hohenliede kostbare
moralische Belehrungen sür uns, als einzelne Gläubige, ziehen
können, wie es in dem obigen Abschnitt geschieht, so dürfen wir
doch nicht die Brant im Hohenliede mit der himmlischen Braut,
dem Weibe des Lammes, verwechseln. Die letztere steht, obwohl
die Hochzeit des Lammes noch nicht gekommen ist, auf Grund der
ihr gemachten Offenbarungen nnd ihres für ewig vollendeten HeitS,
schon jetzt in dem Genuß eines bereits gebildeten, gekannten nnd
geschätzten Verhältnisses, Sie ist unauflöslich mit ihrem Geliebten
verbunden, nnd wartet mit dem völligen Vertrauen einer über
alles geliebten Brant ans ihren Herrn nnd Bräutigam, nm mit
Ihm einzngehen in die Herrlichkeit des Vaterhauses nnd für ewig
bei Ihm zu sein.
310
Gegensatz, der zwischen ihren Umständen und denjenigen
des Geliebten besteht. Während Sein Haupt benetzt ist 
vom Tau, und Seine Locken von den Tropfen der Nacht,
liegt sie behaglich auf ihrem Bette. Die Heilige Schrift
enthält eine Fülle solcher Gegensätze, so z. B. in der
Geschichte des Petrus: er sitzt mit den Feinden Christi
ruhig am Feuer und wärmt sich, während sein Herr und
Meister den Schmähungen und Beschimpfungen Seiner
Verfolger ausgesetzt ist. l.Luk. 22, 55 — 64.)
Ein solcher Seelenzustand zeigt immer, daß man den
Einflüssen dieser Welt unterlegen ist, und der Herr kann
denselben nie gleichgültig ansehen. Nein, Er liebt die
Seinigen viel zu innig, als daß Er ihnen erlauben könnte,
in einem solchen Zustande zu beharren, und deshalb ist
Er sogleich bemüht, sie ans ihrem Schlummer aufzuwecken. So ist es in dem vorliegenden Schriftabschnitt;
denn die Geliebte wird es bald inne, daß ihr Geliebter Einlaß begehrt. Sie sagt: „Die Stimme meines Geliebten
— Er klopft. „Thue mir auf, meine Schwester, meine 
Freundin, meine Taube, meine Vollkommene; denn mein
Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der
Nacht."" Die Ausdrücke, welche Er gebraucht, die zärtlichen Namen, mit denen Er Seine Geliebte ruft, waren
sicherlich darauf berechnet, die Zuneigungen ihres Herzens
zu wecken; denn sie bezeugen, wie teuer sie Ihm war,
während sie zugleich anerkennen, daß sie Ihn nicht vergessen hatte. Immerhin aber liegt der Grund Seines
Rufens in dem schon erwähnten Gegensatz: Er war
draußen, wach und wachend, sie war drinnen, in Wohlbehagen und Bequemlichkeit.
Wie war es möglich, daß sie die zärtliche Bitte
311
ihres Geliebten abschlagen konnte- Ihre Antwort enthüllt
das Geheimnis: „Ich habe mein Unterkleid ausgezogen,
wie sollte ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße
gewaschen, wie sollte ich sie wieder besudeln?" Sie war
mehr mit ihrer eigenen Bequemlichkeit als mit Seinen
Ansprüchen beschäftigt, und darum hätte es ihrerseits der
Selbstverleugnung und Energie bedurft, um Seinem Rufe
zu folgen. Wie viele unter uns verlieren auf diese Weise
den Genuß eines innigen Verkehrs mit Christo! Er steht
in unsrer Nähe und sucht sich uns völliger zu offenbaren,
und Seine Gegenwart ist uns nicht unbewußt; aber wir
sind leider durch andre Dinge eingenommen, unsre Herzen
sind zur Zeit auf einen andern Gegenstand gerichtet, und
so verlieren wir den Genuß und die Gemeinschaft, die
Er uns gewähren wollte. Gleich der Geliebten haben
wir unser Kleid ausgezogen und vermögen es nicht wieder
anzuziehen; wir haben vergessen, daß unsre Lenden stets
umgürtet sein sollten; wir haben, um in der Sprache des
Bildes weiter zu reden, unsre Füße gewaschen, und sind
zu bequem, sie aufs Neue zu besudeln, obgleich es der
Herr ist, der uns auffordert, die Thür zu öffnen.
Doch Er drängt sich Herzen, die nicht bereit sind,
auf Seine Stimme zu lauschen, niemals auf. Als Er
entdeckte, daß Ihm die Thüre verschlossen blieb, zog Er
sich zurück. Die Geliebte war sich Seiner Bemühungen,
Einlaß zu erlangen, wohl bewußt. Sie hatte Seine
Stimme gehört; Seine Hand hatte auf dem Griffe des
Schlosses geruht und sich ihr von der Oeffnung her entgegengestreckt. Endlich antwortete ihr Herz; ihr „Inneres
ward um Seinetwillen erregt." Ihre Trägheit weicht;
sie steht auf und öffnet ihrem Geliebten; aber — „Er
312
batte sich umgewandt." Ach! sie hatte die Gelegenheit
verscherzt. Als ihr Geliebter Einlaß begehrte, hatte sie
sich nicht so weit überwinden können, um Ihm zu öffnen,
und jetzt, da sie Ihn empfangen will, muß sie entdecken,
daß Er fort ist. Die Seele muß lernen, daß sie von
des Herrn Wohlgefallen abhängig ist, und daß die Gemeinschaft und der Genuß eines innigen Umgangs mit
Ihm nur einem Herzen möglich sind, welches Seinem Rufe
antwortet; mit einem Worte, sie muß lernen, daß sie nur
dann an der Brust des Herrn ruhen kann, wenn Er sie
an diesen gesegneten Platz zieht. Der Geliebte hatte sich
Seiner Braut genähert und sich ihr in der ganzen Anziehungskraft Seiner Liebe vorgestellt; sie aber machte sich
des Genusses unaussprechlicher Segnungen verlustig, weil
sie an einem Orte Ruhe suchte, wo Er bis dahin keine
Ruhe gefunden hatte.
Bis zu diesem Augenblick war das Suchen Sein
Teil gewesen; nun kam an s i e die Reihe, zu suchen und
enttäuscht zu werden. Sie stand auf, um ihrem Geliebten
zu öffnen, und entdeckte alsbald, wie viel sie verloren
hatte; denn die wohlriechenden Spuren Seiner Gegenwart
waren zurückgeblieben. Als sie ihre Hände dahin legte,
wo die Seinigen gewesen waren, auf den Handgriff des
Schlosses, da troffen sie von Myrrhen. Dann sagt sie:
„Ich suchte Ihn, und fand Ihn nicht; ich rief Ihn, und
Er antwortete mir nicht." (V. 6.) Hatte denn der Geliebte Seiner Liebe entsagt? Keineswegs! Er gab ihr
nur eine notwendige Unterweisung und suchte ihre Seele
wiederherzustellen, indem Er die Energie und die Wünsche
ihres Herzens wachrief. Auf diese Weise enthüllte Er
ihren wahren Zustand vor ihren eigenen Augen, und
313
belehrte sie zugleich, daß Wiederherstellung uur auf dem
Wege der Zucht möglich ist. Der Genuß der Gegenwart Christi kann in einem Augenblick verloren werden;
aber es kann Tage dauern, und dauert oft Tage, bis
wir diesen Genuß wieder erlangen. Die Vergebung folgt
unmittelbar auf das Bekenntnis; aber die Wiederherstellung in die Gemeinschaft kann nur allmählich geschehen
und bedarf der Zeit.
Dies wird uns durch die Erfahrungen der Braut
bildlich dargestellt; betrachten wir dieselben etwas näher.
Zuerst heißt es: „Es fanden mich die Wächter, die in
der Stadt umhergehen; sie schlugen mich, verwundeten
mich." Was hatte sie bei der Nacht, ohne ihren Geliebten,
auf den Straßen der Stadt zu thun? Daß sie Ihn nicht
finden konnte, offenbarte den treuen Wächtern ihren Zustand, und diese verschonten sie nicht; waren sie doch mit
der Ausübung der Zucht und der Ausrechthaltung der
Ordnung in der Stadt betraut. Wie gut ist es für die
Versammlung, wenn treue Männer da sind, welche über
die Seelen Wachen, „als die da Rechenschaft zu geben
haben;" (Hebr. 13, 17.) und welche nicht zögern, die
Seelen zu erforschen und, wenn es nötig ist, sie in der
Kraft des Wortes zu schlagen und zu verwunden. Die
Kirche ruft laut nach solchen Männern, welche den Zustand
der Seelen zu unterscheiden und ihren Bedürfnissen entgegen zu kommen vermögen, nach Hirten, welche fähig
sind, die Herde Gottes zu weiden, die Irrenden und in
ihren Herzen Abgewichenen wieder zurückzuführen.
Hernach stößt die Brant auf „die Wächter auf den
Mauern." Diese nehmen ihr den Schleier; sie stellen
ihren Zustand, ihre Nacktheit blos; denn sie war infolge
314
ihrer Nachlässigkeit und Selbstsucht für den Augenblick
ihres Geliebten beraubt. Wenn die Wächter in der Stadt
ein Bild der Hirten sind, so dürfen wir wohl in den
Wächtern auf den Manern ein Bild derjenigen Personen
erblicken, welche die Heiligkeit im Hause Gottes aufrecht
zu halten suchen. Die Mauern schützen vor dem von
außen kommenden Feinde; sic schließen das Böse aus,
und sichern denen, welche drinnen sind, Frieden und Schutz.
Die Wächter auf den Mauern halten somit die Trennung
von dem Bösen und die Absonderung für Gott aufrecht,
indem sie mit Eifersucht alle fern halten, welche kein
Eintrittsrecht haben, und nur solchen Einlaß gewahren,
welche dieses Recht geltend machen können. Als diese
nun des Nachts die Braut mit dem Suchen ihres Geliebten beschäftigt finden, nehmen sie ihr den Schleier;
denn es war ihre Pflicht, sich zu vergewissern, ob sie
wirklich das sei, waS sie zu sein vorgab.
Welch ein Gegensatz zwischen der Braut in Vers 1
und in Vers 7 ! Sie hatte gesagt: „Mein Geliebter komme
in Seinen Garten, und esse seine edlen Früchte;" (Kap.
4, 46.) und Er hatte alsbald geantwortet: „Ich bin
gekommen in meinen Garten, meine Schwester, meine
Brant! Ich habe meine Myrrhe gepflückt, samt meinem
Gewürz, ich habe meine Honigscheibe gegessen mit meinem
Honig, ich habe meinen Wein getrunken samt meiner
Milch w." Aber auf diese Zeit des höchsten Genusses
folgte, wie dieses so oft in den Erfahrungen der Seelen
der Fall ist, ein Rückschlag, und deshalb lesen wir unmittelbar nachher: „Ich schlief, aber mein Geist wachte."
Und jetzt ist sie, die im Verkehr mit ihrem Geliebten so
glücklich gewesen war, die in Seinem Garten dessen Früchte
— 315 —
genossen hatte, von den Wächtern der Stadt geschlagen und
verwundet, und von den Wächtern auf den Mauern ihres
Schleiers beraubt. Indes bezweckte das Thun der Wächter
nur ihre Wiederherstellung. Diese Wächter sind die Diener
des Geliebten; sie haben Seinen Sinn, und Er ist's, der
sie in ihrem Werke geleitet hat. Darum giebt sich auch
die gnadenreiche Wirkung ihres Dienstes alsbald in dem
inbrünstigen Verlangen der Braut nach ihrem Geliebten kund.
Dies geht deutlich aus ihrer Aufforderung an ihre
Gefährtinnen, die Töchter Jerusalems, hervor. Sie ruft
denselben zu: „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems,
wenn ihr meinen Geliebten findet, was wollt ihr Ihm
sagen? Daß ich krank bin vor Liebe." Ihr sehnendes
Verlangen nach Wiederherstellung, wie es sich in diesen
Worten kundgiebt, ist überaus rührend. Und dennoch ist
es schmerzlich, Jemanden, der im Genuß der innigsten
Liebe des Herrn gestanden hat, genötigt zu sehen, bei
solchen, die diesen besondern Platz nie inne hatten, Nachfrage zu halten, wo ihr Geliebter Wohl zu finden sei.
Jene waren nie, gleich ihr, die Gegenstände Seiner Zärtlichkeit gewesen; und da ihnen der Schmerz, der jetzt ihre
Seele erfüllte, völlig fremd war, so konnten sie auch die
Inbrunst ihrer Gefühle nicht verstehen. Sie hatte alles
verloren, wie Maria, als man dieser, wie sie glaubte,
ihren Herrn weggenommen, und sie nicht wußte, wo man
Ihn hingelegt hatte. War Er verloren, so war die Welt
nur eine weite Wüste, nein, ein Grab. Glücklich die
Seele, welche etwas von dieser gesegneten Erfahrung kennt!
Die Töchter Jerusalems, deren Augen für die Schönheiten des Geliebten noch nicht geöffnet waren, und welche
sich über die alles andere ausschließende Zuneigung der
316
Braut verwundern, antworten: „Was ist dein Geliebter
vor andern Geliebten, o du Schöne unter den Weibern?
Was ist dein Geliebter vor andern Geliebten, daß du
uns also beschwörest?" (V. 9.) Diese Frage stellt die
Wahrhaftigkeit ihres Herzens ans Licht, wie groß auch
ihre vorübergehende Gleichgültigkeit gewesen sein mochte.
Durch eine solche Frage in ihrer heftigen Liebe entbrannt,
und verwundert, daß irgend jemand für die Vorzüglichkeit ihres Geliebten blind sein könne, sprudelt sie in einer
glühenden Beschreibung Seiner Schönheiten über, verweilt
mit Wonne bei jedem einzelnen Seiner Züge und verrät
hierdurch, wie genau sie Den kennt, von welchem sie redet;
endlich faßt sie alles in den bekannten Worten zusammen:
„Alles, was an Ihm ist, ist sehr köstlich." Dann wendet
sie sich zu ihren Gefährtinnen und ruft aus: „Das ist
mein Geliebter, ja, das ist mein Freund, ihr Töchter
Jerusalems."
Die Worte der Braut sind ein wunderschönes Zeugnis von dem Geliebten; und das Geheimnis dieses Zeugnisses, sowie seiner Kraft war ein überströmendes Herz.
Das Herz der Geliebten wallte über von gutem Worte,
und deshalb konnte sie ihre Gedichte dem Könige sagen.
(Ps. 45, 1.) Das ist stets das Geheimnis der Fähigkeit, von Christo zu zeugen. Zunächst muß ich mit Ihm
bekannt, und dann muß mein Herz mit Ihm selbst erfüllt sein, mit dem Gefühl Seiner Liebe, Seiner Gnade und
Seiner Vollkommenheit. DaS ist der gute Wein, „der
meinem Geliebten gerade hinuntergleitet und über die
Lippen der Schlummernden schleicht." (Kap. 7, 9.)
Es giebt noch drei Punkte in dem vorliegenden Abschnitt, auf welche wir die Aufmerksamkeit des Lesers
- 317 —
richten möchten. Der erste ist die Wirkung des Zeugnisses
der Braut. In den Töchtern Jerusalems wird der Wunsch
rege, mit der Braut den Geliebten zu suchen. Gerade so
wie die Jünger Johannes' des Täufers, nachdem dieser
mit einem Herzen voll Bewunderung auf Jesmn geblickt
und von Ihm gesagt hatte: „Siehe, das Lamm Gottes!"
ihren Meister verließen und Jesu nachgingen, von welchem
er gezeugt hatte, so wurden auch die Gefährtinnen der
Braut durch deren Zeugnis unwiderstehlich zu dem Geliebten
hingezogen. Nichts übt einen so mächtigen Einfluß auf die
Seelen aus, wie das Zeugnis eines überströmenden Herzens, abgelegt in der Kraft des Heiligen Geistes.
Zweitens ist die Wiederherstellung der Seele der
Braut eiue vollständige. Die Fragen der Töchter Jerusalems setzen ihre Seele in Bewegung, und indem sie sich
mit Wonne über die Vorzüge ihres Geliebten ausspricht,
geht ein Werk in ihr vor; ihre Liebe lebt auf, und sie
entdeckt alsbald, wo der Gegenstand ihres Verlangens zu
finden ist; sie kaun zu ihren Gefährtinnen sagen: „Mein
Geliebter ist hinabgegangen in Seinen Garten zu den Gewürzbeeten, zu weiden in den Gärten und die Lilien zu
sammeln." Alle Zweifel sind verschwunden, und mit unaussprechlicher Freude fügt sie hinzu: „Ich bin meines
Geliebten, und mein Geliebter ist mein; Er weidet unter
den Lilien." Möge der Leser diese göttliche Weise der
Wiederherstellung sorgfältig beachten! So oft Seelen in
einen kalten, leblosen Zustand verfallen sind, so oft sie
einen Mangel an geistlicher Kraft bei sich entdecken, sollten
sie sich mit den mannigfaltigen Vollkommenheiten und
Gnaden Christi, wie diese in dem Worte geoffenbart sind,
beschäftigen; und während sie über das nachsinnen, was
318
Er für sie ist, sollten sie zugleich Andern Seine Vorzüge
und anziehenden Eigenschaften preisen. Sie werden dann
die Erfahrung machen, daß ihre Herzen bald wieder glühen
in dem Wiederkehrenden Feuer der Liebe und sich in dem
Genuß Seiner Gegenwart und Liebe von neuem erfreuen.
Der dritte Punkt ist, daß der Geliebte, unmittelbar
nach der Wiederherstellung der Seele Seiner Braut, ihr
bezeugt, wie kostbar sie in Seinen Augen ist, und wie hoch
Er ihre Liebe schätzt. Mit einem Wort: auf ihre Wiederherstellung folgt die Gemeinschaft der Liebe. — Möchten
sowohl Schreiber als Leser dieser Zeilen mit nichts weniger
sich begnügen, als mit einer bleibenden Gemeinschaft in
der Liebe Christi!
Was ist Anbetung?
„Ein Strom -- seine Bäche erfreuen die Stadt
Gottes, das Heiligtum der Wohnungen des Höchsten."
(Ps. 46, 4.) Dieser Strom mit seinen Bächen ist ein
Bild von den Strömen der Gnade Gottes, welche durch
den Sohn, vermittelst des Heiligen Geistes, in unsre
Herzen Herabfließen; und gerade so wie ein Strom seine
Wirbel hat, in welchen das Wasser immer wieder dahin
zurückströmt, woher es gekommen ist, so fließt auch bei
der Anbetung der Strom der Gnade immer wieder zu 
seiner Quelle zurück. Wahre Anbetung ist das Ausströmen eines Herzens, welches Gott kennen gelernt hat
als einen Geber; das den Sohn kennt, durch welchen
die Gabe vom Himmel herab ihm zufließt; und das endlich von dem lebendigen Wasser des Heiligen Geistes
319
getrunken und, nachdem es getrunken, in diesem Geiste
eine Quelle lebendigen Wassers gefunden hat, welches in
das ewige Leben quillt und so zu seiner Quelle zurückfließt in Anbetung, Lob und Dank. (Vergl. Joh. 4, 10.
14. 21.) Wahre Anbetung ist mit andern Worten die
Antwort des Herzens eines Menschen, welcher erkannt
und erfahren hat, daß er durch Gottes Willen errettet
und geheiligt ist; daß dieser Wille durch den Sohn
Gottes ausgeführt wurde, vermittelst eines Opfers,
welches alle seine Sünden hinweggethan und ihm ein vollkommenes Gewissen gegeben hat, während der Heilige
Geist ihm Zeugnis giebt mit den Worten: „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken."
(Hebr. 10, 7-10; 12—17.)
Es werden im Neuen Testament zwei Wörter zur
Bezeichnung der Anbetung gebraucht. Das eine bedeutet:
durch Niederwerfen seine Ehrfurcht bezeugen, jemandem
göttliche Ehre erweisen, und wird gewöhnlich durch „anbeten, huldigen" übersetzt. (Bergl. Matth. 2, 2.11; 4,10;
Joh. 4, 20. 21; Offbg. 4, 10.) Das andere steht mehr
in Verbindung mit dem öffentlichen Dienst in der Stiftshütte, kommt wiederholt in Hebr. 9 und 10 vor, und ist 
durch „dienen", „Dienst" wiedergegeben. (Vergl. Hebr. 9,
1. 6. 9. 14; auch Hebr. 10, 2; Phil. 3, 3.) Der
allgemeine Sinn der beiden Ausdrücke ist daher: Gott
Preis und Ehre geben, Ihm dienen, sei es für das, was
Er in sich selbst ist, oder für das, was Er für alle diejenigen ist, welche Ihm nahen. Wir sehen hieraus, daß
die Anbetung das Gegenteil ist von Gebet und Flehen;
während wir bei letzterem etwas von Gott erbitten, bringen
wir in der ersteren Gott etwas dar. Ohne Zweifel ist 
320
wahre Anbetung immer mit Gebet verbunden; allein ich
kann andrerseits Zu Gott beten, ohne daß mein Gebet 
irgendwie den Charakter der Anbetung trägt, außer in
dem Sinne, daß ich Gott als das, was Er ist, anerkenne.
Es ist nicht Anbetung oder, wie man es gewöhnlich
nennt, Gottesdienst, wenn ich gehe, um die Predigt eines
Evangelisten zu hören. Der Evangelist wendet sich an
die Welt, an verlorene, gottentfremdete Sünder, während
die Anbetung aus Kinderherzen zu Gott emporsteigt.
Beides mit einander zu vermischen ist verderblich, und ganz
und gar dazu angethan, das Bewußtsein der Trennung,
welche Gott zwischen der Welt und der Kirche
gemacht hat, zu schwächen. Ebenso wenig ist es Anbetung,
wenn ich mich mit Andern versammle, um das Wort
Gottes zu betrachten, obwohl eine solche Betrachtung Anbetung Hervorrufen mag. Der Dienst, der bei diesen
beiden Arten von Zusammenkünften ausgeübt wird, fließt
von Gott herab, den Hörenden M, während wahre Anbetung von den Versammelten zu Gott emporsteigt.
Leider ist der Begriff einer wahren Anbetung, eines
wahren Gottesdienstes in der Christenheit nahezu verloren
gegangen. Die Welt wird eingeladen, Gott anzubeten;
Christen treten im Verein mit Unbekehrten, mit der Welt,
vor Gott hin, um Ihm zu dienen, und nicht selten wird
zum Schluß dieser Handlung, bei derselben Zusammenkunft, den Unbekehrten das Evangelium gepredigt. Während
das Wort GotteS diese beiden Dinge streng scheidet, hat
der Mensch alles miteinander vermengt; eS ist Satan
gelungen, selbst die Herzen vieler Kinder Gottes im Blick
auf diesen Punkt so sehr zu verblenden, daß sie jene
Vermengung sogar als gut und Gott wohlgefällig ver-
321
leidigen. Ach! wenn sie dem Worte Gottes unterworfen
wären und sich in einfältigem Gehorsam unter dasselbe
beugten, so würden sie bald erkennen, wie sehr jene Vermischung zur Verunehrung des Herrn gereicht. Es steht
geschrieben: „Das Opfer der Gesetzlosen ist ein Greuel."
(Spr. 21, 27; vergl. auch Jes. 1, 10 — 15; Ps. 50,
14—21.) Wie ganz anders sind die Beispiele von wahrer
Anbetung, welche uns das Wort Gottes giebt! Laßt uns
einige derselben in Kürze betrachten, und der Heilige Geist
wolle sie mit Macht auf unsre Herzen und Gewissen
anwenden!
Werfen wir zunächst einen Blick auf 5. Mose 26.
Wir hören dort, daß die Israeliten angewiesen werden,
nachdem sie in das verheißene Land gekommen seien, die
Erstlingsfrüchte jenes Landes an den Ort^zu bringen,
welchen Jehova erwählen würde, Seinen Namen daselbst
wohnen zu lassen, und sie an diesem Orte Jehova zu
opfern. Der Opfernde mußte zu dem Priester gehen, den
Korb mit den Früchten vor dem Altar Jehovas niedersetzen lassen, und dann bekennen, daß er in das Land
gekommen sei, welches der Herr seinen Vätern verheißen
habe. Wie schön und bezeichnend ist das! Der Opfernde
kam als ein Israelit, der sich bereits in dem Lande der
Verheißung befand, der dies wußte und bekannte; als
solcher brachte er Jehova seinen Korb mit den Erstlingsfrüchten dar. Dann, nachdem der Korb vor Jehova niedergesetzt war, mußte er sagen: „Ein elender Aramäer war
mein Vater, und er zog hinab nach Egypten und weilte
daselbst als Fremdling mit wenigem Volk; und er ward
daselbst zu einer großen, starken und zahlreichen Nation.
Und die Egypter mißhandelten unS und bedrückten uns
322
und legten einen harten Dienst auf uns. Und wir schrieen
zu Jehova, dem Gott unsrer Väter, und Jehova hörte
unsre Stimme und sah unser Elend und unsre Mühsal
und unsre Unterdrückung. Und Jehova führte uns aus
Egypten heraus mit starker Hand und mit ausgestrecktem
Arm und mit großem Schrecken und mit Zeichen und 
Wundern; und Er hat uns gebracht an diesen Ort und
uns dieses Land gegeben, ein Land, von Milch und Honig
fließend. Und nun stehe, ich habe gebracht die Erstlinge
der Frucht des Landes, das Du, Jehova, mir gegeben
hast. — Und du sollst sie vor Jehova, deinem Gott, niedersetzen und anbeten vor Jehova, deinem Gott, und dich
freuen all des Guten, das Jehova, dein Gott, dir gegeben
hat." (V. 5-11.)
Siehe, mein Leser, das ist Anbetung. Der Israelit
kam in der vollen, unumstößlichen Gewißheit seiner Errettung aus der Hand aller seiner Feinde, in der völligen
Gewißheit, daß er sich bereits in Kanaan befand, in einem
Lande, von Milch und Honig fließend; er kam mit den
Erstlingsfrüchten dieses gesegneten Landes in seinem Korbe,
und mit dem Bekenntnis auf seinen Lippen: Ich war
einst elend und arm, aber Du, o Gott, hast nach Deiner
großen Gnade und Barmherzigkeit mich unendlich reich
und glücklich gemacht; ja, er kam als ein Erretteter, als
ein Befreiter, als ein reich gesegneter Bürger Kanaans,
und betete an vor Jehova, seinem Gott. Er pries die
Gnade und Güte Gottes und freute sich vor dem Angesicht des Herrn all des Guten, das Jehova ihm gegeben hatte.
Ich wiederhole noch einmal: Das ist Anbetung. Und
dann möchte ich fragen: Hat sich dieselbe im Laufe der
323
Jahrhunderte verändert? Dem Charakter nach wohl, ihrem
Grundsatz nach nicht. Alles, was der Israelit besaß, war
irdisch, alles, was der Christ besitzt, ist himmlisch. Auch
der Ort der Anbetung ist nicht ein irdisches Heiligtum,
sondern das Heiligtum droben. Der christliche Anbeter ist
in Christo in das himmlische Kanaan versetzt und gesegnet
mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Oertern.
Er ist aus der Macht Satans befreit, von der Sklaverei
der Sünde erlöst, er ist errettet, gereinigt, gerechtfertigt
und geheiligt. Und als solcher bringt er dem Herrn die
kostbaren Früchte des Lobes und der Anbetung dar, welche
aus einem Herzen hervorquellen, das mit Christo erfüllt
ist. Auf Grund der Gnade, die ihm widerfahren ist, und
in dem bewußten und gekannten Besitz aller seiner herrlichen Segnungen, tritt er in die Gegenwart Gottes und
giebt dem Herrn gleichsam das zurück, was er von Ihm
empfangen hat, während sein Herz zu gleicher Zeil mit
tiefer, überströmender Freude all das Gute genießt, welches
Gott über ihn ausgeschüttet hat.
Einem schönen Beispiel von Anbetung begegnen wir
auch in Matth. 2, 1—11. Nachdem die aus weiter Ferne
gekommenen Weisen den Christus gefunden haben, welchen
sie suchten, und zwar in einer Krippe liegend in dem
Stalle von Bethlehem, weit entfernt von dem religiösen
Mittelpunkt jüdischer Anbetung in Jerusalem, fallen sie
nieder und beten Ihn an, indem sie ihre besten Schätze,
Gold, Weihrauch und Myrrhen, Ihm als Gaben darbringen.
Endlich sehen wir in Offenbarung 4 und 5, welcher
Art die Anbetung im Himmel sein wird; und wahrlich,
wir sollten jene Szenen mit tiefer Aufmerksamkeit betrachten
324
und jetzt schon, in unserm geringen Maße, eine ähnliche
Anbetung darzubringen bemüht sein. In Offbg. 4, 11
handelt eS sich um die Anbetung des Schöpfers: „Du
bist würdig, o unser Herr und unser Gott, zu nehmen
die Herrlichkeit und die Ehre und die Macht; denn Du
hast alle Dinge erschaffen, und Deines Willens wegen
waren sie und sind sie erschaffen worden." In diesen
Worten findet sich keine Spur von Gebet und Flehen.
ES ist nichts als Preis und Dank für das, was Gott
ist und was Er gethan hat. Im 5. Kapitel folgt dann
die Anbetung um der Erlösung willen. Die vier und
zwanzig Aelteften, das Bild der Erlösten, fallen nieder
vor dem Lamme, sie singen ein neues Lied und sagen:
„Du bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel
zu öffnen; denn Du bist geschlachtet worden und hast für
Gott erkauft, durch Dein Blut, aus jedem Geschlecht und
Sprache und Volk und Nation, und hast sie unserm Gott
zu Königen und Priestern gemacht, nnd sie werden über
die Erde herrschen." (V. 9. 10.)
Das sollte jetzt schon das Vorbild für unsre Anbetung bilden; aber ach! wie wenig gottesdienstliche
Zusammenkünfte in dem weiten Bereiche der Christenheit
tragen diesen Charakter! Wie völlig hat man vergessen,
was wahre Anbetung ist! Wie klein ist die Zahl derer,
welche ein Auge und ein Ohr für diese Dinge haben!
Wie schrecklich wird der Name Gottes verunehrt durch jene
sogenannten Gottesdienste, bei welchen der Mensch einen
weit höheren Platz einnimmt, als Gott! — Mein Leser!
verstehst du, was wahre Anbetung bedeutet? Und bringst
du sie Gott dar in Gemeinschaft mit andern Gläubigen?
Kennst du deinen Platz als ein Glied am Leibe Christi,
325
und nimmst du ihn ein in Treue und Einfalt deines
Herzens? Bringst du Gott, deinem Vater, und Jesu
Christo, deinem Herrn, die Opfer des Lobes dar, welche
sich für dich geziemen, sowohl in deinem Kämmerlein daheim, als auch in Gemeinschaft mit den Gläubigen am
Tische des Herrn?
Christus ist allen Gläubigen geworden zur Weisheit
von Gott, zur Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung.
Er ist das Maß unsrer Absonderung für Gott. So wie
Er abgesondert ist für Gott, so sind auch wir geheiligt
durch das ein für allemal geschehene Opfer Seines Leibes;
wir haben Freimütigkeit, in daS Allerheiligste einzutreten
durch Sein Blut. Wir sind in Ihm versetzt in die himmlischen Oerter. Laßt uns deshalb gemeinschaftlich unserm
Herrn die Früchte dieses Landes als unsre Opfergabe
darbringen. Laßt uns den Herrn Jesum als den einzigen Mittelpunkt unsrer Anbetung anerkennen, so wie
es einst die Erlösten im Himmel thun werden, (Offbg. 5.)
und wie es die Weisen thaten, als unser Herr und Heiland in der Krippe zu Bethlehem lag. Laßt uns hinzunahen mit wahrhaftigem Herzen, in voller Gewißheit
des Glaubens, und laßt uns einstimmen in das neue
Lied der Erlösten: „Du bist würdig!"
Noch einmal, mein Leser, verstehst du, was eine solche
Anbetung ist und bedeutet? Wenn du es verstehst, so
mußt du auch anerkennen, daß der allgemeine christliche
Gottesdienst, den wir um uns her erblicken, weit, weit
von dem entfernt ist, was er sein sollte, ja, daß er eigentlich gar nicht Gottesdienst oder Anbetung genannt werden
kann. Wie stimmt ein Gottesdienst, wie man ihn heutzutage überall in der Christenheit findet, mit dem Himmel
326
überein? Ist ein solcher Gottesdienst passend sür das
Heiligtum Gottes, für das Allerheiligste droben? Sind
die Anbeter, welche die Kirchen der Christenheit füllen,
Geheiligte, Abgesonderte, Gerechtfertigte, Erlöste? Und
doch mußt du alles das sein, um wirklich anbeten zu
können im Heiligtum Gottes. — Der Herr gebe allen
Lesern dieser Zeilen geöffnete Augen, um zu erkennen, was
sie Gott schuldig sind, und daß wahre Anbetung eine
Gabe ist, welche man Gott bringt, und die deshalb vollkommen sein muß, wenn sie anders annehmlich vor Ihm
sein soll! Hüten wir uns, daß nicht ein ähnlicher Vorwurf
von seiten des Herrn uns treffe, wie er einst durch den
Mund des Propheten Maleachi dem Volke Israel gemacht
wurde: „Ihr bringet auf meinen Altar unreines Brot,
und ihr sprechet: Womit verunreinigen wir dich? Damit, daß ihr sprechet, der Tisch JehovaS ist verächtlich.
Und wenn ihr ein Blindes darbringt zum Opfer, es ist
nicht böse, und wenn ihr ein Lahmes oder Krankes darbringt, es ist nicht böse. — Bringe es doch deinem Landpfleger dar! Wird er dich annehmen, oder mit Wohlwollen
auf dich blicken? spricht Jehova der Heerscharen. . . .
Solches ist von eurer Hand geschehen; wird Er mit Wohlwollen auf euch blicken? spricht Jehova der Heerscharen. . . .
Ja, verflucht sei der Betrüger, der ein Männlein in seiner
Herde hat, und opfert dem Herrn ein Verderbtes! denn
ich bin ein großer König, spricht Jehova der Heerscharen,
und mein Name ist furchtbar unter den Nationen." (Mat.
1, 7-9. 14.)
Ja, hüten wir uns vor einem solch schrecklichen,
Gott verunehrenden Verhalten! Es muß das ernste Gericht
Gottes auf uns herabbringen. Laßt uns darauf acht
327
haben, daß die Opfer unsrer Lippen aus einem reinen,
aufrichtigen Herzen zu Ihm emporsteigen; und laßt uns
ferner unsre Opser nicht mit den Opfern der Gesetzlosen
vereinigen, welche ein Greuel sind vor Gott! Der Herr
gebe uns allen, mit tiefem Ernst über diese Dinge nachzudenken und mit wahrer, aufrichtiger Gottesfurcht vor
Dem zu wandeln, der da gesagt hat: „Seid heilig, denn
ich bin heilig!"
„Die Botschaft."
(1. Joh. 1, 5.)
Der Apostel Johannes hatte hienieden mit Jesu
gewandelt; er hatte Ihn mit seinen Augen geschaut, mit
seinen Händen betastet, und er hatte in Ihm die Offenbarung des ewigen Lebens gesehen, „welches bei dem
Vater war;" und was er „gesehen und gehört" hatte,
das verkündigte er denen, an welche er schrieb, damit sie
mit ihm Gemeinschaft haben möchten, und seine „Gemeinschaft war mit dem Vater und mit Seinem Sohne Jesu
(shristo." Nichts könnte gesegneter und köstlicher sein,
als diese wunderbare Verbindung und Gemeinschaft, in
welche die Gläubigen gebracht sind. Deshalb schrieb auch
der Apostel ihnen diese Dinge, „auf daß ihre Freude völlig" sein möchte." Wie unendlich groß ist die Gnade Gottes
armen Sündern gegenüber! Nicht nur gefällt es Ihm
wohl, sie aus den Tiefen ihres Verderbens herauszuuehmen und von der Macht Satans und der Herrschaft
der Sünde zu befreien; nein, Er giebt ihnen auch ewiges,
göttliches Leben, bringt sie in Seine Gegenwart und versetzt sie in ein unaussprechlich gesegnetes, ewig unantast­
328
bares Verhältnis zu sich selbst. In der That, das ist 
reine, unvermischte Gnade, die Frucht ewiger, göttlicher
Liebe.
Aber ach! das menschliche Herz in seiner unheilbaren Verkehrtheit und Bosheit ist stets bereit, die Gnade
zu mißbrauchen, ja, die Gnade Gottes selbst in Ausschweifung, Zügellosigkeit und Mutwillen zu verkehren.
Wir finden deshalb die göttliche Wahrheit von allen
Seiten verwahrt und beschützt. Wenn Gott in Seiner
unergründlichen Gnade unreine Sünder nimmt und sie
in Seine Gegenwart versetzt, ja, in Gemeinschaft mit sich
selbst bringt, so ist das gewiß eine Ursache zur tiefsten
Freude und Dankbarkeit; aber indem Gott dies thut,
setzt Er niemals — wie wäre dies auch möglich? —
Seinen Charakter beiseite. Seine unbefleckte Heiligkeit
und unbedingte Reinheit müssen in all Seinem Thun in
derselben Vollkommenheit ans Licht treten, wie Seine
Gnade und Liebe. Wenn Gott „Liebe" ist, so ist Er
auch „Licht." Licht und Liebe sind die beiden Seiten
Seines Wesens, Seiner Natur. Wenn wir deshalb Teilhaber der göttlichen Natur geworden sind, wenn wir jenes
ewige Leben empfangen haben, welches bei dem Vater
war und uns in Jesu, dem Sohne Gottes, hienieden
geoffenbart worden ist, so dürfen wir nie vergessen, daß
wir die Natur eines Gottes besitzen, welcher Licht ist, und
daß infolge der bedingungslosen Reinheit dieser Natur
notwendigerweise alles Böse von Seiner Gegenwart ausgeschlossen ist. Der Apostel sagt daher: „Dies ist die
Botschaft, die wir von Ihm gehört haben und euch verkündigen: daß Gott Licht ist, und gar keine Finsternis in Ihm ist."
329
Durch nichts könnte die wesentliche und unbedingte
Reinheit Gottes mächtiger dargestellt werden als durch
diese Worte. Es ist eine Reinheit, welche das Böse in
keinerlei Form und Gestalt duldet. Nicht nur ist Gott
„Licht," sondern es kann auch keine „Finsternis" mit
diesem Licht sich vermengen. Jede Finsternis ist notwendig
durch das, was Er als Licht ist, ausgeschlossen. Und
wenn wir zu Gott gebracht sind, so sind wir nicht „in der
Finsternis", sondern „in dem Lichte". Das ist der Platz
und die Stellung, in welche wir versetzt sind. Wir waren
einst Finsternis, sind aber jetzt „Licht in dem Herrn."
<Eph. 5, 8.)
In unserm natürlichen Zustande waren wir „Finsternis" ; jetzt, als Erlöste, und als solche, die zu Gott gebracht und zu Teilhabern der göttlichen Natur gemacht
worden sind, sind wir „Licht in dem Herrn." Welch ein
Wechsel! Welch eine Veränderung! Einst fern von Gott;
jetzt in Gottes Gegenwart versetzt in Christo Jesu, nahe
gebracht durch Sein Blut! Einst Feinde; jetzt versöhnt
und, in dem wolkenlosen Lichte der göttlichen Gegenwart
stehend, fähig gemacht, in das Antlitz Gottes zu schauen
und zu rufen: „Abba, Vater!" Einst unfähig, auch nur
einen einzigen gemeinsamen Gedanken oder Wunsch, ein
einziges gemeinsames Gefühl mit Gott zu haben; jetzt
Teilhaber der göttlichen Natur, eingeführt in die innigste
Gemeinschaft mit Ihm und mit Seinem Sohne Jesu
Christo I
Sagen wir nun, daß wir zu Gott gebracht sind und
Gemeinschaft mit Ihm haben, und wandeln wir zu gleicher
Zeit in der Finsternis? Dann ist alles „eine Lüge," und
wir „thun nicht die Wahrheit."
330
Gott hat sich in Jesu geoffenbart, und durch diese
Offenbarung sind wir Ihm nahe gebracht und haben das
Leben empfangen, welches in Jesu geoffenbart worden ist.
So sind wir in die Gemeinschaft des Vaters und des
Sohnes eiugeführt worden. Nur als solche, welche dieses
Leben besitzen, können wir Gemeinschaft mit Gott haben.
Und weiter, wenn dieses Leben unser Teil ist und wir
unS in dieser Gemeinschaft befinden, so sind wir notwendigerweise in dem Lichte. Das Licht ist das, was
Gott in der Reinheit und Heiligkeit Seiner Natur ist;
wir haben teil an dieser Natur und sind somit im Lichte.
Aber wenn wir sagen, daß wir Teilhaber dieser Natur
seien und Gemeinschaft mit Gott haben, und wandeln
in der Finsternis, so verbinden wir die Finsternis mit
dem Gott, welcher Licht ist. Wir sagen dadurch, daß
die Finsternis zu jener reinen und heiligen Natur gehöre,
zu jenem göttlichen Leben, welches in Jesu geoffenbart
worden ist. Und das ist eine Lüge, und wir thun nicht
die Wahrheit. Wir befinden uns noch in der moralischen
Finsternis unsrer Natur und kennen Gott nicht. '
„Gott ist Licht, und gar keine Finsternis ist in Ihm."
Welch ein ernstes Wort! Es beweist, wie schon gesagt,
daß alles Böse von Seiner Gegenwart ausgeschlossen ist.
Das Kreuz ist der Maßstab hierfür. Dort sehen wir den
schrecklichen Haß und Abscheu Gottes gegen die Sünde,
wenn Er Seinen geliebten Sohn verläßt und dem Schwerte
gebietet, wider Den zu erwachen, der dort zur Sünde gemacht war. Auf jenem Kreuze von Gott verlassen, wurde
dem leidenden Opfer der Kelch des Zornes Gottes wider
die Sünde gereicht. Er mußte seinen bittern Inhalt trinken;
und der Angstschrei Seiner heiligen Seele: „Mein Gott,
331
mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" zeigt, wie
völlig unmöglich es ist, daß die Finsternis sich mit dem
Lichte verbinde, oder daß die Sünde einen Platz habe in
der Gegenwart Gottes. Alles das ist unaussprechlich ernst,
wenn wir auf das Fleisch blicken, oder auf die alte Natur
und auf alles das, waS aus ihr hervorkommt; aber zu
gleicher Zeit ist es unendlich kostbar, wenn wir verwirklichen, daß wir in dem Sohne sind, und daß unser Leben
in Ihm ist. Wir sind in Christo zu Gott gebracht.
„Wie Er ist, so sind wir in dieser Welt." Wir
sind in dem Lichte, und zwar als Teilhaber der göttlichen
Natur, so daß wir moralisch in unsrer neuen Natur Gott
selbst gleich sind; und das ist überaus gesegnet. Aber zu
gleicher Zeit erforscht diese Wahrheit unsre Herzen und
ist ein ernster Prüfstein für unsern praktischen Zustand.
Wandeln wir Tag für Tag in der Furcht Gottes, und
verurteilen wir das Fleisch mit seinen Leidenschaften und
Lüsten, so daß nichts anderes in unserm Verhalten und
Wandel an den Tag tritt, als die Gesinnung Christi?
Lebt in unsern Herzen allezeit das Bewußtsein, daß wir
in die Gegenwart Gottes versetzt sind? Entsprechen unsre
Gedanken und Worte, unser Thun und Lassen der Reim
heit und Heiligkeit dieser göttlichen Gegenwart? Ist unser
Leben in Uebereinstimmung mit einem solchen Platze?
Das sind ernste, das Herz erforschende Fragen; und
wir sollten dieselben nicht von uns abweisen, um so weniger
als die Tage, in welchen wir leben, so ernst und böse
sind. Gleichgültigkeit, Trägheit und Weltförmigkeit, das
sind die Charakterzüge dieser letzten Zeit. Der Herr wolle
geben, daß Seine Wahrheit einen mächtigen, gesegneten
-Einfluß auf unsre Herzen ausübe! Vergessen wir es nie:
332
Wir sind in dem Lichte, wir sind in der Gegenwart
Gottes. Wir sind nicht heute da und morgen anderswo.
Nein, die Gegenwart Gottes ist der Platz, an
welchem wir uns als Christen befinden, wohin die Gnade Gottes uns gebracht hat. Möchte diese
Wahrheit allezeit unsre Seelen erfüllen und beherrschen^
und in uns jene Reinheit des Herzens und jenen Abscheu
vor der Sünde Hervorrufen, welche sich für einen solchen
Platz geziemen, und die der Natur und dem Charakter
entsprechen, welche Gott uns als Seinen Kindern gegeben
hat! Eine wahre Erkenntnis und Verwirklichung dieser
Wahrheit wird die beiden gesegneten Resultate hervorbringen, welche der Apostel Johannes bei seinen Kindern
zu erreichen suchte:
„Dies schreiben wir euch, auf daß eure Freude
völlig sei."
„Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf daß.
ihr nicht sündiget."
„Friede euch!"
(Joh. 20, 19-210
In der oben angeführten Schriftstelle begegnen wir
dem Worte „Friede" gewissermaßen in einem doppelten
Sinne; zunächst wird eS angewandt auf das innere, und
dann auf das äußere Leben des Jüngers Christi. Wir
lesen: „Als es nun Abend war an jenem Tage, dem
ersten der Woche, und die Thüren, wo die Jünger waren,
aus Furcht vor den Juden verschlossen, kam Jesus und
stand in der Mitte und spricht zu ihnen: Friede euch!
Und als Er dies gesagt hatte, zeigte Er ihnen Seine Hände
und Seine Seite."
333
Das Werk war vollbracht, der Kampf beendet, der
Sieg errungen. Der Sieger stand in der Mitte SeinerJünger, Er, der wahre David, mit dem Haupte des
Philisters in Seiner Hand. Alle Ursache zur Furcht war
für immer hinweggethan. Der Friede war gemacht und
auf einer Grundlage errichtet, die nie erschüttert werden
kann. Keine Macht der Erde oder der Hölle könnte je die
Grundlage des Friedens antasten, welchen der auferstandene
Heiland Seinen Jüngern verkündigte. Er hatte Frieden
gemacht durch das Blut Seines Kreuzes. Er war den
Fürstentümern und Gewalten der Hölle begegnet, und
hatte sie ausgezogen und öffentlich zur Schau gestellt.
(Kol. 2, 15.) Die ganze Flut des gerechten Zornes Gottes
wider die Sünde war über Sein Haupt dahingerollt. Er
hatte dem Tode seinen Stachel genommen und dem Grabe
seinen Sieg geraubt. Mit einem Wort, der Triumph war
vollständig, und während sich der glorreiche Sieger den
Augen und Herzen Seiner geliebten Jünger darstellt,
tönen die Worte in ihre Ohren: „Friede euch!"
Beachten wir dann, von welch einer bezeichnenden
Handlung diese Worte begleitet wurden: „Er zeigte ihnen
Seine Hände und Seine Seite." Der Herr bringt die
Seinigen auf diese Weise in unmittelbare Berührung mit
sich selbst. Er offenbart ihren Seelen Seine gesegnete
Person und weist sie zugleich hin auf die untrüglichen
Zeichen Seines Leidens und Sterbens, auf die wunderbaren Merkmale einer vollbrachten Erlösung. Es ist ein
auferstandener Heiland, der hier vor Seinen Jüngern steht,
und Er trägt an Seinem Leibe die Zeichen jenes Todes,
durch welchen Er für Sein Volk gegangen war.
Das ist das wahre Geheimnis des Friedens. ES ist
334
weit mehr, als die Gewißheit zu haben, daß unsre Sünden
vergeben und wir von allem gerechtfertigt sind, so gesegnet
dies sicherlich ist. Nein, vor unserm Glaubensauge steht die
Person eines auferstandenen Christus, und wir vernehmen
von Seinen Lippen die süße Botschaft des „Friedens" ;
und indem wir so die Person unsers Befreiers vor uns
sehen, haben wir in uns das heilige Bewußtsein, daß wir
befreit sind, befreit von der Gewalt des Todes und dessen,
der die Macht des Todes hat, sowie befreit von der
Herrschaft der Sünde. Ja, nicht nur haben wir das Bewußtsein, daß wir gerechtfertigt und befreit sind, sondern
unsre Herzen sind auch iu lebendige Verbindung gebracht
mit Dem, der das ganze große Werk vollbracht hat, und
wir schauen durch den Glauben die geheimnisvollen Merkmale dieses vollendeten Werkes. Das ist Friede, wahrer,
unerschütterlicher Friede.
Aber das ist nicht alles. Wir lesen weiter: „Und
die Jünger freuten sich, als sie den Herrn sahen. Jesus
sprach nun wiederum zu ihnen: Friede euch! Gleichwie
mich der Vater gesandt hat, sende ich auch euch." Hier
haben wir das äußere Leben deS Christen, seine Sendung
in eine arge, feindliche Welt. Er ist in diese Welt gesandt, so wie Jesus von dem Vater gesandt war. Er ist
ein Gesandter Jesu, so wie Jesus ein Gesandter Gottes
war; und ehe er die Erfüllung dieser hohen und heiligen
Mission beginnt, wird er durch den Herrn in jenen vollkommnen Frieden gestellt, welchen Er durch Seinen Tod
gemacht hatte. Dieser Friede bildet somit den Ausgangspunkt feiner Sendung. Mit diesem Frieden bekleidet, beschuht an seinen Füßen „mit der Bereitschaft des Evangeliums des Friedens", geht er in die Welt hinaus,
385
gleichwie Jesus einst in diese Welt gekommen ist. Erfüllt
mit dem Genuß des Friedens, verkündigt er einem jeden
Frieden, welcher das Zeugnis der Gnade annehmen will.
Welch eine Sendung! Welch eine hohe Anschauung
von dem Leben eines Christen! Und wir dürfen nicht
denken, daß die Worte des Herrn sich nur auf die Apostel
beschränkten. Das wäre ein großer Irrtum. Die Stelle, mit
welcher wir beschäftigt sind, redet nicht von Aposteln. Sie
redet von „Jüngern", ein Ausdruck, der sicherlich alle Kinder
Gottes einschließt. Der schwächste Jünger hat das Vorrecht, sich als einen Boten des Herrn betrachten zu dürfen,
der in diese Welt gesandt ist, gleichwie Jesus von dem
Vater gesandt war. Welch ein Vorbild für das eingehende
Studium unsrer Herzen ist Er! Welch ein Gegenstand 
sür unser Leben! Wie gesegnet, Ihn, den Auferstandenen,
zu betrachten, in welchem wir Leben und Frieden gefunden
haben, und, gleichsam von Seinen Füßen ausgehend, Ihm
in dieser Welt zu dienen, so wie Er dem Vater gedient
hat, und von dem Frieden zu zeugen, der durch Seinen
Tod unser Teil geworden ist!
Und noch einmal: Das alles hat Bezug auf den
jüngsten Gläubigen in der Kirche Gottes, auf das jüngste
Kind in der Familie Gottes. Wir heben dies so nachdrücklich hervor, weil man häufig behaupten hört, es handle
sich in dieser Stelle um einen amtlichen Auftrag, um etwas, das nur für die Apostel bestimmt gewesen sei. Jene
Behauptung stützt sich hauptsächlich auf den 23. Vers.
Aber es ist Thatsache, daß die Apostel niemals Sünden
vergeben haben in einer amtlichen Weise. Von einer
Sündenvergebung, welche für die Ewigkeit Gültigkeit habe,
kaun ja überhaupt nicht die Rede sein; denn in bezug
336
darauf sagen die Pharisäer und Schriftgelehrten mit allem
Recht: „Wer kann Sünden vergeben, als allein Gott?"
In dieser Stelle handelt es sich vielmehr um das Recht
und die Macht einer Versammlung von Gläubigen, von
Jüngern Christi, Zucht anszuüben, Sünden zu vergeben
oder zu behalten. Mit dem Herrn in ihrer Mitte, handeln
sie, geleitet durch den Heiligen Geist, in dem Namen und
der Autorität des Herrn Jesu Christi. Wenn z. B. die
Versammlung in Korinth den Bösen aus ihrer Mitte
Hinausthat, so war das ein Behalten der Sünden; sie
vergab dem Bösen nicht. Sobald sie ihn aber, auf Grund
seiner aufrichtigen Buße, wieder aufnahm, vergab sie seine
Sünden. In beiden Fällen handelte nicht der Apostel,
sondern die Versammlung; obwohl der Apostel das
Böse aufdeckte und auf die Notwendigkeit der Zucht aufmerksam machte, so handelte er doch nur in Gemeinschaft mit
der Versammlung. (Vergl. 1. Kor 5, 4; 2. Kor. 2, 10.)
Von dieser Art der Sündenvergebung ist also in
Joh. 20, 23 die Rede. Es handelt sich, wie gesagt, nicht
um die ewigen Beziehungen der Seele zu Gott, sondern
um ihre gegenwärtige Beziehung zu der Versammlung.
Wir sollten uns daher die kostbare Belehrung, welche
der ganze Abschnitt uns giebt, nicht durch die falsche Erklärung eines einzelnen Verses rauben lassen. Laßt uns
vielmehr, in dem steten Genuß des kostbaren Friedens,
den unser Herr und Heiland gemacht hat, und in dem
Anschauen Seiner gesegneten Person, als Seine Gesandten
durch diese Welt pilgern und mit aller Treue und allem
Fleiß unsre Sendung erfüllen, und dies um so mehr,
je näher der Augenblick Seiner Ankunft kommt.