Botschafter des Heils in Christo 1889

01/29/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

<L. Brockhaus, Elberfeld.
1889.
Fnhalts-MrzeLchnLs»
Seite
Em Wort über das Verhaltendes Gläubigen im Hause Gottes I
Unsre Hoffnung............................. ..................................................21
Isaak....................................... 29.57.85.113
Joseph weinte............................................................................. 47
Der Ruf des Herrn..................................................................70
Gott verkündigt Frieden.................................................... 80
„So lasset uns nun Fleiß anwendenrc."............................95
Die wahre Beschneidung............................................. ...... 98
Jonathan.................................................................................. 107
Der barmherzige Samariter.............................................. . 109
Bruchstücke.................................................................... 112. 223. 307
Ein Wort an alle; welche dem Herrn angehören......................... 121
„Für mich und dich."........................................................................133
Der Tag Gottes........................................................................ 141. 169
Einige Gedanken über das Gebet des Herrn Jesu . . 155. 182
„Bis er es findet."........................................................ 166
Die Stellung und der Zustand des Gläubigen..........................194
Mose auf deni Berge Pisga............................................................ 197
„Aber sobald sie Ruhe hatten, thaten sie rc."...............................206
Das Geringste........................................................................................ 210
Zwei gesegnete Unterweisungen............................................................213
Ueber das Gebet............................................. " 225. 253. 281. 309
Die Herde Gottes.................................................................................. 235
„Wir wollen aber nicht, daß ihr unkundig seid." .... 251
Der Richterstuhl Christi und das Gericht.....................................265
Der Schlüssel des David................................................................. 294
In den himmlischen Oertern............................................................301
Zwei wichtige Punkte .......................................................................317
Vier bemerkenswerte Worte................................................................. 321
David ans der Tenne Ornans............................................................329
Ein Wort über das Verhalten des
Gläubigen im Hanse Gottes'.
„Dieses schreibe ich dir in der Hoffnung, bald zu
dir zu kommen; wenn ich aber zögere, auf daß du
wissest, wie man sich verhalten soll im Hause
Gottes, welches die Versammlung des lebendigen Gottes ist, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit."
(1. Tim. 3, 14. 15.)
Diese Worte zeigen uns zunächst, von welcher Wichtigkeit das Verhalten des Gläubigen im Hause Gottes
ist. Dann aber sind sie auch ein treffender Beweis von
der Treue und Fürsorge des Herrn gegen uns, indem Er
uns in dieser wichtigen Sache ebensowenig in Ungewißheit
hat lassen wollen, wie bezüglich der Frage unsrer Errettung. In Bezug auf letztere lesen wir: „Dies habe ich
euch geschrieben, auf daß ihr wisset, daß ihr das
ewige Leben habt, die ihr glaubet an den Namen des Sohnes Gottes." (1. Joh. 5, 13.) Das sind bestimmte, klare
Worte, welche dem Herzen einen vollkommenen Frieden
geben. Aber ebenso bestimmt und klar lauten die göttlichen
Unterweisungen über das Verhalten des also Erretteten in
dem Hause Gottes. Auch in dieser Beziehung heißt es —
dem Herrn sei Dank dafür! —: „Dieses schreibe ich dir
. . . , auf daß du wissest rc."
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Das Haus Gottes ist die Versammlung des lebendigen Gottes. Alle Gläubigen auf der Erde, so viele
aus Gott geboren sind, bilden zusammen das Haus, in
welchem Gott auf der Erde wohnt. Von ihnen wird gesagt, daß sie „als lebendige Steine" zu einem geistlichen
Hause aufgebaut seien. (1. Petr. 2, 5.) Das ist das
Haus nach den Gedanken Gottes. Er selbst ist der Baumeister desselben; und von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, ist alles vollkommen. Was aus diesem Hause
in seiner äußeren Erscheinung, als verantwortlicher Körper auf dieser Erde, im Laufe der Zeit geworden ist, das
ist eine andere Frage. Die Versammlung oder die Kirche
war und ist heute noch in den Augen Gottes Sein Haus.
Aber welch ein Unterschied zwischen den ersten Tagen
ihrer Geschichte und heute im Blick auf ihren praktischen
Zustand! Damals verwirklichte sie in der Kraft des
Heiligen Geistes das, was sie war; heute bietet sie ein Bild
der traurigsten Verwirrung.
In der vor uns liegenden Stelle wird die Versammlung selbstverständlich in ihrer verantwortlichen Stellung
als das Haus Gottes hienieden betrachtet. Anders würde
keine Ermahnung betreffs unsers Verhaltens in diesem
Hause nötig sein. Der gute Zustand des Hauses hängt
von dem Verhalten der Gläubigen ab. Ihnen liegt es
ob, die Heiligkeit desselben aufrecht zu halten; wie geschrieben steht: „Deinem Hause geziemt^ Heiligkeit, Jehova,
auf Länge der Tage." (Psalm 93, 5.)
Sicherlich liegt für denZ Gläubigen in der Thatsache,
daß Gott in der Versammlung auf der Erde als in
Seinem Hause wohnt, ein großes Vorrecht; aber sie
stellt ihn zugleich unter eine sehr ernste Verantwortlichkeit.
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Stets sollte ihn der Gedanke an die Gegenwart Gottes,
und daS Bewußtsein der mit dieser Gegenwart verbundenen
Gnade und Heiligkeit in seinem Verhalten leiten. Gott
hat nichs eher bei dem Menschen gewohnt, nicht eher bei
ihm wohnen können, als bis Er ihn erlöst hatte. Er
hat weder bei Adam, dem unschuldigen Menschen, noch
bei Abraham, dem Manne des Glaubens, gewohnt.
Wohl besuchte Er von Zeit zu Zeit den Menschen;
aber erst nachdem Er Israel erlöst hatte, hören wir von
Seinem Wohnen in der Mitte dieses Volkes, zugleich
aber auch von den Forderungen der Heiligkeit, welche
mit diesem Wohnen in Verbindung standen. „Du hast
durch Deine Güte geleitet das Volk, das Du erlöset, hast
es geführt durch Deine Stärke zu der WohnungDeiner
Heiligkeit." (2. Mose 15, 13.)
Das Wohnen Gottes in Israel wie in der Versammlung beruht also auf der Thatsache der Erlösung. Jedoch besteht zwischen damals und jetzt insofern ein großer
Unterschied, als die Versammlung die Wohnung Gottes
selbst bildet; ferner ist die Erlösung heute eine in Christo
vollendete Thatsache, und drittens hat Gott sich
in ihr vollkommen geoffenbart, was früher nicht der
Fall war. DaS Werk der Erlösung ist vollbracht, und der
Heilige Geist ist infolge dessen herniedergekommen und hat
Wohnung gemacht in jedem einzelnen Gläubigen, wie in
der Versammlung. Er kann da wohnen als in Seinem
heiligen Tempel, weil jede Sünde und Unreinigkeit durch
das Blut Christi, sowohl von jedem einzelnen Gläubigen als auch von der Versammlung als solcher, vor
Gott hinweggethan ist. Jeder Gläubige steht, was seine
Stellung betrifft, heilig und tadellos vor Gott. Welch
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eine wunderbare Erlösung! Welch eine unaussprechliche
Gnade, deren Reichtum sich an solch unreinen Gefäßen,
wie wir von Natur sind, in solch überströmender Fülle
erwiesen hat! „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit,
wegen Seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt hat,
als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns
mit dem Christus lebendig gemacht — durch Gnade seid
ihr errettet." — „Wie Er uns auserwählt hat in Ihm (in
Christo) vor Grundlegung der Welt, daß wir heilig und
tadellos seien vor Ihm in Liebe." (Eph. 2,1—7; 1,4.)
Gott hat sich also durch die Erlösung Seine Kirche
oder Versammlung zu einer Wohnstätte bereitet, welche
Seiner Natur, Seiner Heiligkeit und Liebe vollkommen
entspricht. Sollte die Versammlung nun nicht mit aller
Sorgfalt darüber wachen, daß auch ihr praktischer Zustand
dieser heiligen Stellung entspreche, daß er ein Zeugnis
von der Gegenwart Gottes und der ihr verliehenen Gnade
sei? Ja wahrlich, sie sollte die ganze Schönheit dieser
Gnade sowie die in der Erlösung geoffenbarte Herrlichkeit
Gottes in ihrem Verhalten ausstrahlen lassen, zu einem
Zeugnis für diejenigen, welche draußen sind, damit auch
diese dadurch gewonnen werden. Die in der Versammlung geoffenbarte Herrlichkeit Gottes ist diejenige eines
„Heiland-Gottes, welcher will, daß alle Menschen errettet
werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen."
(1. Tim. 2, 3. 4.) Diese Wahrheit hat die Versammlung darzustellen; denn sie ist nicht nur das Haus Gottes,
sondern auch „der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit". Darum soll sie die Wahrheit, das heißt die schriftgemäße Lehre des Christentums, vor den Menschen unverfälscht aufrecht erhalten. Die Ungläubigen sollten durch
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alles das, was sie an der Versammlung sehen und wahrnehmen, zu dem Bekenntnis gebracht werden, daß Gott
in ihr wohnt in vollkommener Gnade und Heiligkeit, und
daß bei ihr die Wahrheit ist und nirgendwo anders. An
jedem Ungläubigen, der mit ihr in Berührung kommt,
sollte sich das Wort des Apostels bestätigen: „Das Verborgene seines Herzens wird offenbar, und also auf sein
Angesicht fallend, wird er Gott anbeten und verkündigen,
daß Gott wirklich unter euch ist." (1. Kor. 14,25.)
Er sollte in ihrer Mitte dieselben ehrfurchtsvollen Eindrücke empfangen, wie sie einst Jakob zu Bethel empfing:
„Und Jakob erwachte von seinem Schlafe und sprach:
Fürwahr, Jehova ist an diesem Orte, und ich wußte es
nicht. Und er fürchtete sich und sprach: Wie furchtbar
ist dieser Ort! Dies ist nichts anders als Gottes Haus,
und dies die Pforte des Himmels." (1. Mose 28,16.17.)
Leider hat die Versammlung sehr bald aufgehört,
auf der Höhe dieser heiligen Berufung zu wandeln. Sie
hat ihre himmlische Stellung aus dem Auge verloren und
ist in einer Weise verweltlicht, daß die Unbekehrten sich
in ihrer Mitte aufhalten können, ohne auch nur im Geringsten von der Wahrheit überführt zu werden. Ja, die
letzteren haben sich in solcher Menge „eingeschlichen",
(Juda 4.) daß sie den weitaus größten Teil des Hauses
Gottes ausfüllen und dessen äußeres Ansehen dadurch
gänzlich verändert haben. Es ist einem „großen Hause"
gleich geworden, in welchem nicht allein goldene und silberne,
sondern auch hölzerne und irdene Gefäße sind, „die einen
zur Ehre, die andern aber zur Unehre." (2. Tim. 2, 20.)
Die wahren Gläubigen bilden nur einen kleinen Bruchteil
der großen, den Namen Christi tragenden Masse, und
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selbst sie kennen und verwirklichen nur zum geringsten Teil
die erhabene Stellung der Versammlung, sondern sind in
viele Parteien zersplittert und mit den religiösen Oystemen
der Menschen vermischt.
Aber wie traurig dies auch ist und wie sehr es das
äußere Ansehen des Hauses verändert haben mag, so ist
dieses doch immer noch das Haus Gottes und bleibt es
auch, so lange die Versammlung hienieden ist. Und ferner
bleibt, obgleich die Wahrheit irk unsern Tagen nur durch
eine geringe Anzahl von Gläubigen dargestellt werden mag,
die Versammlung stets der Pfeiler und die Grundfeste der
Wahrheit hienieden, die einzige Zeugin für dieselbe auf
der Erde. Erst dann, wenn die Versammlung zum Himmel ausgenommen wird, verschwindet das Haus Gottes
von dieser Erde. Denn was alsdann noch von der bekennenden Kirche hienieden übrigbleibt, wird einem kräftigen Irrtum preisgegeben und aus dem Munde Christi
ausgespieen werden. (2. Thess. 2, 11.)
Bis zur Aufnahme der Kirche sind also die Gläubigen verantwortlich, den unveränderlichen Grundsätzen des
Hauses Gottes gemäß zu wandeln. Der erste dieser Grundsätze ist, daß sie von den Ungläubigen getrennt bleiben,
beziehungsweise sich von ihnen' trennen und die Einheit
der Versammlung verwirklichen. Denn wie können sie die
Ungläubigen von der Wahrheit Überzeugen, wenn sie selbst
nicht auf dem Boden der Wahrheit stehen? Darum müssen
sie sich vor allen Dingen von den Gefäßen der Unehre
reinigen, und sich mit allen denen verbinden, welche den
Herrn anrufen aus reinem Herzen. (2. Tim. 2, 20—22.)
Gläubige, welche mit den Gefäßen der Unehre in Verbindung bleiben, können nicht Gefäße „zur Ehre" sein,
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„geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu allem
guten Werk bereitet." Sie schwächen das Zeugnis
der Wahrheit, nach welchem Gott nur auf Grund der
Erlösung mit dem Menschen in Verbindung sein kann.
Gnade und Heiligkeit sind und bleiben die Grundlagen
des Hauses Gottes und der Stellung des Gläubigen. So
wenig wie Gott mit den Ungläubigen in Verbindung sein
kann, ebenso wenig kann der Gläubige gleichzeitig mit Gott
und den Ungläubigen Gemeinschaft haben. „Denn welche
Genossenschaft hat Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? oder
welche Gemeinschaft Licht mit Finsternis? und welche
Uebereinstimmung Christus mit Belial? oder welches Teil
der Gläubige mit dem Ungläubigen? und welchen Zusammenhang der Tempel Gottes mit Götzenbildern? Denn
ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott
gesagt hat: „Ich will unter ihnen wohnen und wandeln,
und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk
sein." Darum gehet aus aus ihrer Mitte und sondert
euch ab, spricht der Herr, und rühret Unreines nicht an rc."
(2. Kor. 6, 14 — 18.) Dies gilt, wie gesagt, als erster
Grundsatz für jeden Bewohner des Hauses Gottes. Dieser
Grundsatz ist ebenso einfach als bestimmt und bedarf keiner 
weiteren Erklärung. Ebenso einfach und bestimmt ist aber 
auch die Wahrheit betreffs der Einheit der Versammlung.
„Denn in einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe
getauft worden, es seien Juden oder Griechen, es seien
Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geiste getränkt worden." (1. Kor. 12, 13.) Wenn nun die Gläubigen, anstatt diesen Grundsatz der Einheit zu verwirklichen,
unter sich selbst uneins sind, wie können sie den Ungläubigen ein Zeugnis von der Liebe Gottes sein? „Daran
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werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid,
wenn ihr Liebe unter einander habt." — „Auf daß sie
alle eins seien, gleichwie Du, Vater, in mir und ich in
Dir, auf daß auch sie in uns eins seien, auf daß die
Welt glaube, daß Du mich gesandt hast." (Joh. 13,
35; 17, 21.) Beachten wir wohl, daß die Darstellung
der Einheit der Gläubigen ein Zeugnis für die Welt sein
soll, auf daß sie glaube, und auf daß alle zur Erkenntnis
kommen. Wie sehr schwächen also diejenigen das Zeugnis,
welche Parteien bilden! Ihr Verhalten ist nicht dem Charakter Dessen gemäß, der als ein Heiland-Gott will, daß
alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der
Wahrheit kommen. Der Vorwand mancher Gläubigen, durch
ihre schriftwidrige Verbindung mit Ungläubigen dem Werke
des Herrn mehr nützen zu können, verrät nur einen schlechten Grundsatz, der in den Worten gipfelt: „Laßt uns
das Böse thun, auf daß das Gute komme." (Röm. 3, 8.)
Angesichts dieser betrübenden Thatsachen ist es umsomehr die Pflicht aller treuen Gläubigen, in unverbrüchlicher Treue an den Grundsätzen des Hauses Gottes
festzuhalten, sich von den Gefäßen der Unehre zu trennen
und auf dem Boden der Einheit des Leibes Christi sich
mit ihren Brüdern zu versammeln. Dann erst sind wir
wahrhaft fähig, den weiteren Ermahnungen des Apostels
betreffs unsers Verhaltens im Hause Gottes zu folgen.
Hierher gehören alle jene Ermahnungen, welche wir in
den Briefen an Timotheus und Titus finden, soweit sie
nicht deren besonderen Dienst betreffen. Sie sind gerichtet
an die Gläubigen aller Stände. Männer und Weiber,
Alte und Junge, Herren und Knechte, Reiche und Arme,
Aufseher und Diener — alle sollen das Zeugnis des
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Heiland-Gottes durch ihr Verhalten fördern. Alle sollen
also wandeln, „daß nicht der Name Gottes und
die Lehre verlästert werde"; alle sollen reden und
handeln, „wie es der gesunden Lehre geziemt
. . ., auf daß sie die Lehre, die unsers Heiland-Gottes
ist, zieren in allem." (1. Tim. 6, 1; Tit. 2, 1. 10.)
Der große Gedanke, welcher den Apostel in allen
diesen Ermahnungen leitet, ist die Ueberführung und Errettung derer, welche draußen find, den Absichten Gottes
gemäß. Das Bewußtsein der uns zu teil gewordenen
Gnade, sowie das eilige Herannahen der schrecklichen Gerichte über die, welche auf der Erde wohnen, sollte unsern
ganzen Wandel beherrschen. Darum sagt auch der Apostel
zunächst: „Ich ermahne nun vor allen Dingen, daß
Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen gethan werden
für alle Menschen, für Könige und alle, die in Hoheit
sind, auf daß wir ein ruhiges und stilles Leben führen
mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Denn dieses
ist gut und angenehm vor unserm Heiland-Gott, welcher
will, daß alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. ... Ich will nun, daß die
Männer an jedem Orte beten und heilige Hände aufheben ohne Zorn und zweifelnde Ueberlegung." (1. Tim.
2, 1—8.) Ach, wie wenig entsprechen die Gefühle der
Gläubigen im allgemeinen dem Ernste dieser Ermahnung!
Gewiß giebt uns das Wort, „vor allen Dingen" auf die
Errettung Andrer bedacht zu sein, vieles zu denken. Wie
manches ziehen wir, geleitet durch Selbstsucht und irdische
Gesinnung, dieser ernsten und wichtigen Sache vor! Wie
manche sind durch ihre irdische Gesinnung so tief in den
Strudel der Geschäfte hineingezogen, daß sie kaum Zeit
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finden, in ernstem Gebet nnd Flehen vor dem Herrn an
ihre nächsten Angehörigen, ihre eignen Kinder rc. zu denken,
geschweige denn an andre Menschen. Sie bedenken nicht,
wie leicht es über Nacht anders werden kann, und wie
nahe die Ankunft des Herrn und der darauf folgenden
Gerichte ist. Wenn je, so sollten sich die Gläubigen in
unsern Tagen überall zu ernstem Gebet vor dem Herrn
vereinigen für die, welche draußen sind. Wenn je, so ist
es jetzt, wo beständig die Schrecken eines furchtbaren Krieges drohen und die ganze Welt einem in Waffen starrenden Heerlager gleicht, an der Zeit, der Könige und Hochgestellten fürbittend zu gedenken. Wie betrübend ist es,
so manchen Gläubigen der gegenwärtigen Zeit statt dessen
in einer völlig sorglosen Gesinnung vorangehen zu sehen,
gleich den Leuten in den Tagen Noahs und Lots, von
welchen es heißt: „sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie
verkauften, sie pflanzten, sie bauten rc." Beachten wir
wohl, daß wir von dem Bösen getrennt und auf unserm
wahren Platze in der Gegenwart Gottes sein müssen, um
Fürbitte für Andere thun zu können. Denn wie könnten
wir heilige Hände aufheben, wenn wir irgendwie mit
Unheiligem in Verbindung sind? Als Abraham Fürbitte
that für die Bewohner Sodoms und Gomorras, war er
persönlich von diesen bösen Städten getrennt und in Gemeinschaft mit dem Herrn ans dem Berge. Das ist die
wahre Stellung des Christen in einem noch weit höheren
Sinne. Er ist durch die Gnade aus der Welt und den
über sie verhängten Gerichten errettet und in die Gegenwart Gottes gebracht, und darum kann er jetzt in priesterlicher Weise Fürbitte thun für alle, die draußen sind.
Die Nähe des Herrn sowie das Bewußsein Seiner über­
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strömenden Gnade und Liebe macht unsre Herzen weit und
willig zur Fürbitte für Andere.
Dann ermahnt der Apostel die Weiber: „Desgleichen
auch, daß die Weiber in bescheidenem Aeußern mit Schamhaftigkeit und Sittsamkeit sich schmücken, nicht mit Haarflechten und Gold oder Perlen oder kostbarer Kleidung,
sondern was den Weibern geziemt, die sich zur Gottesfurcht bekennen, durch gute Werke. Das Weib lerne in
der Stille in aller Unterwürfigkeit. Ich erlaube aber einem
Weibe nicht, zu lehren, noch über den Mann zu herrschen,
sondern stille zu sein." (Vers 9—12.) Auch die Weiber
sollen den Ungläubigen zu einem Zeugnis dienen, und
zwar nicht durch Lehren, sondern durch ein stilles, unterwürfiges Betragen, durch ein bescheidenes Aeußere, und
durch gute Werke. Diese Dinge bezeichnet der Heilige
Geist als den geziemenden Schmuck für Weiber, die sich
zur Gottesfurcht bekennen — ein Schmuck, zu welchem
die auffällige Kleiderpracht vieler gläubigen Frauen und
Jungfrauen unsrer Tage einen leider nur zu grellen Gegensatz bildet. Die darin sich kundgebende Eitelkeit und
Prunksucht verträgt sich nicht mit dem wahren Wesen des
Christentums, noch mit dem Charakter des Heiland-Gottes,
welcher sich in Christo aus Liebe für uns zu der Schmach
und dem Tode des Kreuzes erniedrigte. Aber es ist nicht
allein der Beweis thörichter Eitelkeit, sondern auch eines
ungebrochenen Willens und des Mangels an Unterwürfigkeit unter das Wort Gottes. Denn sie thun, was dieses
in so einfacher und bestimmter Weise verbietet. Wie aber
kann ein solches Verhalten der Sache des Herrn förderlich seins
Es läßt sich gewiß keine Regel darüber aufstellen,
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Wie weit sich christliche Frauen nach der bestehenden Mode
zu richten haben; aber eines ist sicher, daß nämlich ein Weib
mit stillem, unterwürfigem Wesen keinen Gefallen an
eitler Kleiderpracht haben, sondern vielmehr ein bescheidenes
Aeußere vorziehen wird. Dies bezeugt uns das Beispiel
vieler Frauen, deren Namen wir in der Heiligen Schrift
zu bleibendem Andenken aufbewahrt finden. Sie zeichneten
sich nicht aus durch eine auffällige Kleidung, wohl aber
durch „gute Werke". Der Herr selbst sagt von der Maria in
feierlicher Weise: „Wahrlich, ich sage euch: wo irgend dieses
Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt,
wird auch gesagt werden, was sie gethan hat, zu
ihrem Gedächtnis." (Matth. 26, 6 — 13.) Ebenso zählt
der Apostel eine Reihe von Schwestern auf, die sich durch
gute Werke ausgezeichnet haben. „Ich empfehle euch aber
Phöbe, unsre Schwester, welche eine Dienerin ist der Versammlung, die in Kenchreä ist, auf daß ihr sie in dem
Herrn, der Heiligen würdig, aufnehmet und ihr beistehet,
in welcher Sache irgend sie euer bedarf; denn auch sie
ist vielen ein Beistand gewesen, auch mir selbst."
Ferner bezeichnet er Priska nebst ihrem Manne Aquila
als „seine Mitarbeiter in Christo Jesu"; er rühmt von
ihnen: „welche für mein Leben ihren eignen Hals preisgegeben haben, denen nicht allein ich danke, sondern auch
alle Versammlungen der Nationen." Und wiederum:
„Grüßet Tryphäna und Tryphosa, die im Herrn arbeiten. Grüßet Persis, die Geliebte, die viel gearbeitet hat im Herrn." (Röm. 16, 1 — 5. 12.) Bemerken wir, daß diese Frauen nicht durch eine besondere Begabung, sondern einzig und allein durch ihre Hingebung
für Christum vor vielen andern Schwestern ausgezeichnet
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waren. Sie haben sich „eine schöne Stufe" (1. Tim. 3,13.)
erworben, die einst vor dem Richterstuhl Christi weit herrlicher erscheinen wird, als alle vergängliche Kleiderpracht
dieser Welt. Solche Schwestern sind ein Segen für die
Versammlung und ein schönes Zeugnis für die, welche
draußen sind. Sie liefern den Beweis, daß auch Frauen
dem Werke des Herrn förderlich sein können, wenngleich
es ihnen nicht erlaubt ist, zu lehren oder in der Versammlung zu reden. Möchten sich daher die Schwestern
unsrer Tage an diesen Frauen ein Muster nehmen und
sich nicht blos damit begnügen, mit der Versammlung
in Gemeinschaft zu sein, oder einen Platz am Tische des
Herrn zu haben! Möchten sie darauf bedacht sein, sich
dieser Gemeinschaft und dieses Platzes würdig zu erzeigen
durch ein christlicher Frauen würdiges Verhalten!
Gleicherweise werden auch die Knechte ermahnt, durch
ein christliches Verhalten der Sache des Christentums förderlich zu sein. „Alle, die Knechte unter dem Joche sind,
sollen ihre eignen Herren aller Ehre würdig achten, auf
daß nicht der Name Gottes und die Lehre verlästert
werde." (1. Tim. 6, 1.) Auch sie sollen zunächst an das
Zeugnis, welches abzulegen sie berufen sind, und nicht an
ihr eignes Interesse denken. Ob ihre Herren gut und
milde, oder hart und verkehrt (1. Petr. 2, 18.) sind,
ändert durchaus nichts an der ihnen vom Herrn gestellten
Aufgabe, jene als ihre Herren anzuerkennen und sie
aller Ehre würdig zu achten. Sind ihre Herren
gläubig, so sollen sie dies als eine Wohlthat zu schätzen
wissen, und ihnen umsomehr Ehre erweisen durch einen
willigen Dienst. „Lasset aber die, welche gläubige Herren
haben, dieselben nicht verachten, weil sie Brüder
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sind, sondern ihnen vielmehr dienen, weil sie Treue und
Geliebte sind, welche die Wohlthat empfangen." (V. 2.)
Leider denken in unsern Tagen nur wenige Gläubige, welche eine dienende Stellung einnehmen, vorerst nur
an die Verherrlichung des Herrn und an die Darstellung
der Wahrheit, welche sie bekennen. Bei vielen, ja wohl
gar bei den meisten steht die Frage nach einer guten
Stelle, einer guten Behandlung und einem guten Lohne
im Vordergründe. Und es ist eine auffallende Erscheinung,
daß solche Gläubige noch weit eher geneigt sind, weltlichen Herrschaften unterwürfig zu sein, als gläubigen, entgegen der Ermahnung, diesen vielmehr zu dienen,
weil sie Brüder sind. Sicher ist ein derartiges Verhalten
der traurige Beweis eines ungesunden Christentums. Stolz
und Ungebrochenheit sind die Ursachen eines solchen Zustandes. Während jene Gläubigen ganz gut wissen, daß
sie ihre weltlichen Herren als ihre Herren anerkennen
müssen, wollen sie in ihren gläubigen Herrschaften nur
ihre Brüder und Schwestern sehen.
Wie wenig ist diese Gesinnung in Uebereinstimmung
mit der Wahrheit des Christentums, welches sie bekennen!
Wie verlästert sie die Lehre unsers Heiland-Gottes, anstatt sie zu zieren! Wie ganz anders war die Gesinnung
des Herrn Jesu, der uns „ein Vorbild gelassen hat, auf
daß wir Seinen Fußstapfen nachfolgen sollen!" (1. Petr. 2,
18—24.) Er dachte nicht an sich, sondern machte sich
selbst zu nichts und nahm Knechtsgestalt an." (Phil. 2,
5—7.) „Ich bin in eurer Mitte wie der Dienende," sagte
Er zu Seinen armen, schwachen Jüngern, obgleich Er ihr
Herr und Lehrer war. (Luk. 22, 27; Joh. 13, 14. 15.)
Sein ganzer Wandel hienieden zeugte von der größten
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Einfachheit, Anspruchslosigkeit und Niedriggesinntheit. Für
den weitaus größten Teil Seines heiligen Lebens war Er
als ein „Zimmermann" bekannt. (Mark. 6, 3.) Und diese
Stellung der Niedrigkeit wählte Er freiwillig zur Verherrlichung Seines Vaters.
Diese Niedriggesinntheit ist ein hervorragender Charakterzug des christlichen Wesens und steht im völligen
Gegensatz zu der Gesinnung des natürlichen Menschen, der
sich stets selbst zu erheben sucht. Wir werden darum auch
in dieser Beziehung sehr häufig im Worte ermahnt. Der
Herr selbst suchte bei öfteren Gelegenheiten Seinen Jüngern eine niedrige, demütige Gesinnung einzuprägen: „Ihr
aber nicht also; sondern der Größte unter euch sei wie der
Jüngste, und der Leiter wie der Dienende." (Luk. 22, 26.)
Ebenso ermahnen die Apostel: „Sinnet nicht auf hohe
Dinge, sondern haltet euch zu den niedrigen." „Ich
ermahne euch nun .... daß ihr würdig wandelt der Berufung, womit ihr berufen worden, mit aller Demut
und Sanftmut, mit Langmut rc." „Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu war rc."
„Ziehet nun an, als Auserwählte Gottes, Heilige und
Geliebte: herzliches Erbarmen, Güte, Niedriggesinntheit, Milde, Langmut rc." „Alle aber seid gegen einander mit Demut fest umhüllt." (Röm. 12, 16; Ephes.
4, 1. 2; Phil. 2, 5; Kol. 3, 12; 1. Petr. 5, 5.)
Es verrät daher keine christliche Gesinnung, wenn
Gläubige mit ihrem Stande und ihren Verhältnissen unzufrieden sind und neidisch auf solche blicken, die sich in
einem höheren Stande oder in besseren Verhältnissen befinden. Das ist der Geist der Unzufriedenheit, der sich
in unsern Tagen in erschreckend zunehmender Weise be­
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merkbar macht und am liebsten alle bestehende Ordnung
umstürzen möchte. Darum sollten sich die Christen umsomehr vor dieser Gesinnung hüten. Das Christentum hat
den in dieser Welt bestehenden Unterschied des Standes
und der Verhältnisse nicht aufgehoben; aber es bietet den
Gläubigen das, was sie weit über alle Umstände und
Verhältnisse erhebt, und sie auch in dem niedrigsten Stande
wahrhaft glücklich und zufrieden macht. Laßt uns daher
durch Zufriedenheit und Genügsamkeit in jeder Lage der
Welt den Beweis von der Echtheit unsers Christentums
geben! Laßt uns das Wort des Apostels bestätigen: „Denn
die Gottseligkeit mit Genügsamkeit ist ein großer Gewinn." (1. Tim. 6, 6.)
Es giebt in der That nichts Einfacheres als die
Regeln, welche uns das Christentum betreffs der Bedürfnisse unsers Lebens hienieden giebt. „Wir haben nichts
in die Welt hereingebracht, so ist's offenbar, daß wir auch
nichts hinausbringen können. Wenn wir aber Nahrung
und Bedeckung haben, so wollen wir uns daran genügen
lassen." (VerS 7. 8.) Wie einfach würde das Leben
der Christen und wie ganz anders ihr Zeugnis sein, wenn
sie nach diesen einfachen Regeln wandelten! Der Arme
würde, anstatt neidisch auf den Reichen zu blicken, sich gerne
„begnügen mit dem, was vorhanden ist"; (Hebr. 13, 5.)
und der Reiche würde seinen Ueberfluß, anstatt ihn aufzuhäufen, zu guten Werken verwenden, und sich dadurch „eine gute Grundlage auf die Zukunft sammeln".
(Vers 17—19.) Alle zusammen würden darin wetteifern,
die ganze Schönheit der Gnade und die in der Erlösung geoffenbarte Herrlichkeit Gottes, der in der Versammlung
als in Seinem Hause wohnt, durch ihr Verhalten darzustellen.
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Vergessen wir nicht, daß es sich in allen diesen Ermahnungen der Briefe an Timotheus und Titus um die 
praktische Darstellung des Christentums handelt. Unser
Verhalten muß mit unserm Bekenntnis in Uebereinstimmung sein. Der Mangel an dieser praktischen Uebereinstimmung hat das Christentum bei seinen Gegnern in
Verruf gebracht und ihnen nur zu oft Anlaß zur Lästerung
und zur Verspottung desselben gegeben. Leider läßt es
sich ja nicht leugnen, daß viele unter den Gläubigen bei 
all ihrer Form der Gottseligkeit die Kraft derselben durch
ihr trauriges Verhalten verleugnen. Sie bekennen sich
als wahre Christen im Gegensatz zu den Unbekehrten,
aber ihr Wandel ist nach den Grundsätzen dieser Welt.
Wir reden selbstverständlich von den Gläubigen im allgemeinen, nicht etwa von einer besonderen Benennung. Die
Anerkennung einer solchen würde ja schon eine Verleugnung des wahren Charakters der Versammlung Gottes
in sich schließen. Alle Gläubigen gehören zu derselben,
und diese Thatsache giebt uns ein Recht, zu allen zu
reden. Alle sind vor Gott verantwortlich, ihr Verhalten
den Grundsätzen des HauseS Gottes gemäß einzurichten.
Und kein wahrer Christ kann leugnen, daß der praktische
Zustand der Kirche oder Versammlung Gottes nicht der
Thatsache entspricht, daß sie der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit ist. Da nun dieser Zustand von
dem Verhalten der einzelnen Gläubigen abhängt, so ist es
nötig, zu allen zu reden. Wir sind nicht berufen, uns
mit dem Zustand der Christenheit als solcher zu beschäftigen; das ist Gottes Sache. In dieser Beziehung können
wir nur mit dem Apostel sagen: „denn was habe ich die 
zu richten, die draußen sind? .... Die aber draußen
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sind, richtet Gott." (1. Kor. 5, 12. 13.) Aber unsre
Sache als Gläubige ist es, persönlich treu zu sein. Dafür
ist ein jeder von uns dem Herrn des Hauses verantwortlich. Ja, nicht nur das; wir sind auch als Glieder des
einen Leibes verantwortlich, einander zu ermuntern
und zu ermahnen. Denn die Worte: „Sehet zu, Brüder,
damit nicht etwa in jemandem von euch ein böses Herz
des Unglaubens sei, in dem Abfallen von dem lebendigen
Gott, sondern ermuntert euch selbst jeden Tag, so
lange es heute heißt," sind nicht blos an eine bestimmte Anzahl von Gläubigen gerichtet, sondern heute
wie damals an alle. Dasselbe gilt von den Worten:
„Und lasset uns auf einander acht haben zur Anreizung
zur Liebe und zu guten Werken, und unser Zusammenkommen nicht versäumen, wie es bei etlichen Sitte ist, sondern einander ermuntern, und umso mehr, je mehr ihr den
Tag herannahen sehet." (Hebr. 3, 12. 13 ; 10, 24. 25.)
Diese Ermahnungen haben Gültigkeit für alle Gläubigen,
so lange es heute heißt, so lauge die Versammlung auf
der Erde ist. Wollte ein Christ dieses bestreiten oder die
Ermahnungen seitens eines Bruders unter dem Vorwande
von sich abweisen, daß er einer andern Benennung angehöre, so bestreitet er das Recht Christi „als Sohn über
Sein Haus, dessen Haus wir (also alle Gläubigen) sind".
(Hebr. 3, 6.) Er leugnet damit nicht nur die Zusammengehörigkeit aller Gläubigen als Versammlung Gottes,
sondern stellt sich auch auf die Seite derer, welche „draußen" sind. Aber in diesem Falle hat er kein Recht mehr
auf den Namen eines wahren und treuen Christen.
Wenn du daher, geliebter Leser, ein wahrer Christ
zu sein bekennst,, so bist du auch verantwortlich, den Er­
19
Mahnungen betreffs deines Verhaltens im Hause Gottes
Gehör zu schenken. Und bedenke wohl, daß „wir alle
geoffenbart werden müssen vor dem Richterstuhl des Christus" ; und dann wird es sich nicht um die Frage handeln, welchen Platz du im Hause GotteS hienieden einnahmst, sondern wie du ihn einnahmst. Es wird nicht
wichtig sein, ob jemand Herr oder Knecht, Mann oder 
Weib, Greis oder Jüngling, reich oder arm, Hirte oder
Lehrer war, sondern ob er als solcher in jeder Beziehung
treu erfunden worden ist. Nicht was wir hienieden waren,
welchen Rang oder Stand wir einnahmen, welche Erkenntnis oder Begabung wir hatten, wird dort in Betracht
kommen, sondern was wir hienieden gethan, wie weit
wir uns praktisch als Christen bewiesen haben. „Aus
daß ein jeder empfange, waS er in dem Leibe gethan,
nach dem er gehandelt hat." (2. Kor.5, 10.) Nicht
als ob dort noch von irgend welchem Gericht über die
Gläubigen die Rede wäre; aber alles, was sie durch die
Gnade Gutes gethan haben, wird dort erwähnt werden.
Was ihre Stellung in Christo betrifft, so sind vor dem
Richterstuhl alle gleich; betreffs des Empfangens aber
wird ein großer Unterschied herrschen. „Ein jeder wird
seinen eignen Lohn empfangen nach seiner eignen
Arbeit." (1. Kor. 3, 8.) Ja, in dieser Beziehung
wird sich ein ebenso großer Unterschied unter den Gläubigen kundgeben, wie er sich schon hienieden betreffs ihrer
Persönlichen Liebe und Hingebung für Christum und ihrer
Unterwürfigkeit unter Sein Wort kundgegebeu hat. Und
gewiß ist dieser Unterschied unter den Gläubigen unsrer
Tage groß. Eine Menge von Gläubigen, wenn auch
nur wenige im Verhältnis zu der Gesamtzahl der­
20
selben, hat sich, dem Herrn sei Dank dafür! entschieden
von den Gefäßen der Unehre abgewandt und auf den
Boden der Wahrheit gestellt. Ebenso finden sich an vielen
Orten Brüder, welche sich zu ernstem Gebet und Flehen
für das Werk des Herrn und die Errettung verlorener
Sünder vereinigen. Auch giebt es Schwestern, die ein 
schönes Zeugnis ablegen durch ihr stilles, unterwürfiges
Verhalten und durch eine wahre Hingebung im Dienste
der Heiligen. Andere Gläubige wiederum zeichnen sich aus
durch eine opferwillige Verwendung ihrer irdischen Güter
zur Bestreitung der Bedürfnisse ihrer notleidenden Geschwister und zur Unterstützung des Werkes des Herrn;
während wieder andere der Wahrheit Zeugnis geben durch
ein treues und würdiges Verhalten gegenüber ihren Herrschaften. Alles das ist wahr und wird vor dem Richterstuhl Christi ebensowenig vergessen bleiben, wie der „Becher
kalten Wassers", mit welchem mau einen Gläubigen um
des Herrn willen tränken wird. „Wahrlich," sagt der Herr,
„er wird seinen Lohn nicht verlieren." (Matth. 10, 42.)
Aber leider ist es auch wahr, daß viele, sehr viele Gläubige unsrer Tage in großer Leichtfertigkeit und Herzensträgheit dahingehen, zu ihrem eignen Schaden und zur
Unehre für den Herrn, der sie so teuer erkauft hat. O
möchten wir uns doch alle durch das gute Beispiel der
erstgenannten Gläubigen und durch die Worte des Herrn
zu einem des Hauses Gottes würdigen Verhalten ermuntern lassen! Ja, möchten wir „allezeit überströmend
sein in dem Werke des Herrn, da wir wissen, daß unsre
Mühe nicht vergeblich ist im Herrn." (1. Kor. 15, 58.)
21

Unsre Hoffnung.
„Der Geist selbst zeugt mit unserm Geiste, daß wir
Kinder Gottes sind. Wenn aber Kinder, so auch
Erben, Erben Gottes und Miterben Christi."
(Röm. 8, 16. 17.)
Wir haben, so viele wir des Herrn sind, nicht einen
Geist der Knechtschaft empfangen, wiederum zur Furcht,
sondern den Geist der Sohnschaft, in welchem wir rufen:
Abba, Vater! Wir stehen nicht unter Gesetz, sondern
unter Gnade. Ja, wir sind Söhne Gottes; und weil
wir es sind, so hat Gott den Geist Seines Sohnes in
unsre Herzen gesandt. (Vergl. Gal. 4, 6.) Unsre Stellung
zu Gott ist eine überaus herrliche geworden und versichert uns der reichsten Segnungen. Christus hat uns
gleichsam zu Seinen Sohnesrechten erhoben; wir erfreuen
uns mit Ihm der gleichen Liebe des Vaters und haben
vollen Anteil an Seinem herrlichen, unermeßlichen Erbe.
Wir sind in Christo Jesu berufen zu der Herrlichkeit
Gottes selbst; ja, wir dürfen uns heute schon in der
Hoffnung dieser Herrlichkeit rühmen. Christus ist uns
gleichgeworden, indem Er aus dem Schoße des Vaters
herniederkam, Fleisch und Blut annahm und an unsrer
Statt das Gericht für alle unsre Sünden trug; und jetzt
hat Er uns sich gleichgemacht, indem Er uns in das
Kindesverhältnis zu Seinem Gott und Vater eingeführt
hat. Er sandte nach Seiner Auferstehung Seinen „Brüdern" die Botschaft: „Ich fahre auf zu meinem Vater
und euerm Vater, zu meinem Gott und euerm Gott."
Und im Blick auf Seine Herrlichkeit hat Er zum Vater
gesagt: „Die Herrlichkeit, die Du mir gegeben hast, habe
ich ihnen gegeben." (Joh. 17.)
22
So lange wir in dieser Hütte wallen, sind wir beschwert und sehnen uns, mit unsrer Behausung, die aus
dem Himmel ist, überkleidet zu werden. (2. Kor. 5, 2.)
„Wir seufzen in uns selbst, erwartend die Sohnschaft: die
Erlösung unsers Leibes. Denn in der Hoffnung sind wir
errettet worden." (Röm. 8, 23. 24.) Doch bald wird sich
unsre Hoffnung in ein seliges Schauen verwandeln, und
all unser Sehnen wird dann gestillt werden. Wir erwarten die Wiederkunft unsers Herrn; und daun werden
wir, so wie wir das Bild dessen von Staub getragen
haben, auch das Bild des Himmlischen tragen. (1. Kor.
15, 49.) Schon jetzt ist unser Leben mit Christo in Gott
verborgen; aber wir werden auch dem Leibe nach verwandelt werden, beziehungsweise auferstehen, wenn Er
kommen wird. „Christus ist aus den Toten auferweckt
worden, der Erstling der Entschlafenen." (1. Kor. 15,20.)
Und Er, der Christum aus den Toten auferweckt hat,
wird auch unsre sterblichen Leiber lebendig machen wegen
Seines in uns wohnenden Geistes. (Röm. 8, 11.) Er
wird unsern Leib der Niedrigkeit umgestalten zur Gleichförmigkeit des Leibes Seiner Herrlichkeit, nach der wirksamen Kraft, mit der Er auch alle Dinge sich zu unterwerfen vermag. (Phil. 3, 21.) An diesen Augenblick
knüpfen sich alle unsre Hoffnungen und Wünsche. Der
Apostel Paulus war bereit, alles zu erdulden, selbst dem
Tode Christi gleichgestaltet zu werden, um auf irgend eine
Weise hinzugelangen zu der Auferstehung aus den
Toten.
Schon jetzt besitzen wir das hohe Vorrecht, alle unsre
Segnungen, die uns in Christo geschenkt sind, durch den
Glauben zu genießen. Denn „der Glaube ist eine Ver­
23
wirklichung dessen, was man hofft, eine Ueberzeugung von
Dingen, die man nicht sieht." (Hebr. 11, 1.) In den
ganzen Vollgenuß der Segensfülle werden wir jedoch erst
dann eintreten, wenn der Herr kommt, um unsre sterblichen Leiber aufzuerwecken oder zu verwandeln. Ein
ewiges, unverwelkliches und unbeflecktes Erbe wird uns
im Himmel aufbewahrt, und wir werden es mit Christo
genießen. Wird ein Gläubiger abgerufen, so geht er zu 
Jesu, in das Paradies Gottes, und das ist überaus herrlich; allein der Gipfelpunkt der Segnung ist erst dann
erreicht, wenn wir „nach Geist, Seele und Leib"
tadellos dargestellt werden bei der Ankunft unsers Herrn
Jesu Christi. Dann werden die von Christo erworbenen
Besitztümer eingelöst werden; bis dahin ist uns der Heilige
Geist als Unterpfand geschenkt. (Vergl. Eph. 1, 14.) Durch
diesen Geist sind wir auch versiegelt bis auf den Tag der
Erlösung. (Eph. 4, 30; 2. Kor. 1, 22.)
Wenn wir unsre Beziehungen zu Gott dem Vater
und dem Herrn Jesu Christo recht verstehen, so werden
wir uns jetzt schon der reichen Segnungen im Glauben
erfreuen. Wir find Gottes Kinder, und wir wissen
auch, daß wir Jesu gleich sein werden; denn wir werden
Ihn sehen, wie Er ist. (1. Joh. 3, 2.) Die Liebe des
Vaters ruht auf uns, wie auf Ihm; denn „wie Er ist,
so sind auch wir in dieser Welt". (1. Joh. 4, 17.)
„Sowohl Der, welcher heiligt, als auch die, welche geheiligt werden, sind alle von einem." Darum schämt
Christus sich nicht, uns Seine Brüder zu nennen, indem
Er spricht: „Ich will Deinen Namen kundthun meinen
Brüdern." (Hebr. 2, 11. 12.) Unser Herr und Heiland
hat uns einen Platz neben sich angewiesen und uns mit
24
sich in die gleichen Rechte und Beziehungen zu Seinem
Gott und Vater gestellt, so daß wir jetzt mit aller Zuversicht zu unserm Vater reden dürfen. Welch eine Fülle
von seliger Freude und Hoffnung liegt in dem Gedanken,
daß der Erstgeborne vieler Brüder schon aufgefahren
ist und Seinen Platz in der Herrlichkeit zur Rechten des
Vaters eingenommen hat! Hat Er dort Seinen Platz genommen, so werden auch Seine Brüder ihn dort finden.
Wollen wir wissen, wie sehr wir geliebt und gesegnet
sind, so haben wir nur zu erforschen, wie sehr Er geliebt
und gesegnet ist; denn als Seine Brüder sind wir Ihm
in allem (Seine Gottheit natürlich ausgenommen) gleich
geworden.
Aber das ist noch nicht alles. Wir sind auch die
Braut des Lammes. (Offbg. 22, 17.) Wir sind in
Ewigkeit mit Ihm verlobt. Paulus schreibt an die Gläubigen zu Korinth: „Ich habe euch einem Manne verlobt,
um euch als eine keusche Jungfrau dem Christus darzustellen." (2. Kor. 11, 2.) Noch pilgert die Braut in
der Fremde und wartet mit Sehnsucht auf ihren Bräutigam. O möchte sie es in aller Treue und Keuschheit
thun! Im Glauben darf sie jetzt schon vertrauten und
innigen Umgang mit Ihm pflegen und die Süßigkeit
Seiner Liebe schmecken. Bald wird sie Ihn auch von Angesicht
zu Angesicht schauen und in der Fülle Seiner Herrlichkeit
zu Seiner Rechten thronen. Sie wird Ihm zur Hochzeit
entgegengeführt werden und dann Seine Liebe völlig
genießen. Alsdann wird es im Himmel heißen: „Lasset
uns fröhlich sein und frohlocken und Ihm Herrlichkeit
geben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und
Sein Weib hat sich bereitet. Und es ward ihr gegeben.
25
daß sie gekleidet sei in feine Leinwand, glänzend und rein;
denn die feine Leinwand sind die Gerechtigkeiten der Heiligen." (Offbg. 19, 7. 8.)
Doch noch mehr: Christus ist auch das Haupt
Seiner Versammlung, und die Versammlung ist
Sein Leib, (Kol. 1, 18.) und jeder Gläubige ein Glied
dieses Leibes. Diese Beziehung verbindet uns auf das
Festeste mit Ihm. Haupt und Leib sind nicht von einander zu trennen. Als Saulus die Jünger Jesu verfolgte, trat ihm Jesus auf dem Wege nach Damaskus
entgegen und gab dieser Einheit in der rührendsten Weise
Ausdruck, indem Er sagte: „Saul, Saul! was verfolgst
Du mich?" (Apstgsch. 9, 4.) — wenn du meinem Leibe
etwas Uebles anthust, so thust du es mir an. Aber auch
die Segnungen des Hauptes sind diejenigen des Leibes.
Beide haben alles gemein. Der Apostel Paulus redet
oft von diesen unauflöslichen und herrlichen Beziehungen,
namentlich auch in der letzten Hälfte des 5. Kapitels an
die Epheser. Er vergleicht hier das innige Verhältnis zwischen
Christo und Seiner Versammlung mit dem ehelichen Verhältnis. „Der Mann ist das Haupt des Weibes, wie
auch der Christus das Haupt der Versammlung ist." Und
„Er hat die Versammlung geliebt und sich selbst für sie
hingegeben, auf daß Er sie heiligte, sie reinigend durch die
Waschung mit Wasser durch das Wort, auf daß Er sich
selbst die Versammlung verherrlicht darstellte, die nicht
Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern
daß sie heilig und tadellos sei." (V. 23. 25 — 27.) Wir
sind, wenn ich so sagen darf, das Weib Seiner Wahl,
das Er aus tiefem Elende und großer Armut und Unreinigkeit um den Preis Seines eigenen Lebens erlöst.
— 26 —
mit Seinem teuren Blute erkauft und durch das Wort
geheiligt hat. Angethan mit den Kleidern des Heils, ist
sie bestimmt, alle Seine Rechte mit Ihm zu teilen. O
herrliches Los! Sie ist die zweite Eva des zweiten Adam,
erwählt, um mit Ihm, dem Haupte der neuen Schöpfung,
zu regieren und Sein herrliches Erbe mit Ihm zu besitzen.
„Wer sein Weib liebt", fährt der Apostel weiter fort,
„liebt sich selbst. Denn niemand hat jemals sein eignes
Fleisch gehaßt, sondern er nährt und pflegt es, gleichwie auch der Christus die Versammlung.
Denn wir sind Glieder Seines Leibes, von Seinem Fleische
und von Seinen Gebeinen. „Darum wird ein Mensch
seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe
anhangen, und die zwei werden ein Fleisch sein." Dieses
Geheimnis ist groß; ich sage es aber auf Christum und
auf die Versammlung." (V. 28—32.) Ja, es ist ein 
überaus herrliches Geheimnis. Christus liebt in uns sich
selbst, und wie könnte Er sich selbst hassen? Auch nährt
und pflegt Er die Versammlung mit der innigsten Zuneigung, denn sie ist ja Sein eigner Leib. Wie Eva aus
Adams Fleisch und Gebeinen bereitet war, so ist die Versammlung aus dem letzten Adam entsprossen. Sie ist
gleichsam sein zweites Ich. Wie Adam und Eva ein
Fleisch waren, so auch Christus und die Versammlung.
Er hat das Teuerste aufgegeben, um ihr anzuhangen.
Wie unaussprechlich groß ist die Liebe, mit welcher
wir geliebt sind; und welch eine unerschöpfliche Quelle von
Freuden und Segnungen hat Gott uns in Christo bereitet!
O Möchten wir doch stets Seinen Namen preisen und
verherrlichen! Ja, Gott gebe uns den Geist der Weisheit
und Offenbarung in der Erkenntnis Seiner selbst, damit
27
wir, erleuchtet an den Augen unsers Herzens, wissen,
welches die Hoffnung Seiner Berufung ist, und welches
der Reichtum Seines Erbes in den Heiligen, und welches
die überschwängliche Größe Seiner Kraft an uns, den 
Glaubenden, nach der Wirksamkeit der Macht Seiner
Stärke, in welcher Er gewirkt hat in dem Christus, da
Er Ihn aus den Toten auferweckte und Ihn zu Seiner
Rechten setzte in den himmlischen Oertern! (Vergl. Eph. I,
17 — 23.) Er wolle uns auch fähig machen, völliger mit
allen Heiligen zu erfassen, „welches die Breite und Länge
und Tiefe und Höhe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus", auf daß wir
erfüllt sein mögen zu der ganzen Fülle Gottes! (Eph. 3,
18. 19.)
Noch stehen wir in der Wartezeit; all unser Verlangen ist auf Christum gerichtet, den wir vom Himmel
erwarten. Er ist als unser großer Hoherpriester mit
Seinem eignen Blute in das Allerheiligste droben eingegangen, und wir harren Seiner Rückkehr mit Sehnsucht
entgegen; nicht um die Gewißheit zu erlangen, daß die
Versöhnung geschehen ist, wie einst Israel, — diese Gewißheit hat uns der Heilige Geist bereits gegeben, —
sondern um mit Ihm einzugehen in die vielen Wohnungen
des Vaterhauses. Bald, Geliebte, wird Er erscheinen zu 
unsrer ewigen Freude und Seligkeit. Das Wort Gottes
ermahnt uns wiederholt dazu, stets in Seiner Erwartung
zu stehen, jeden Augenblick bereit zu sein, Ihm entgegen
zu gehen. Möchte es bei uns allen so sein! denn diese
Bereitschaft übt einen großen Einfluß auf unser ganzes
Verhalten aus. Sie erhält uns wacker und nüchtern, und
tröstet uns inmitten der Drangsale dieser Wüste. Die
28
Versammlung in Thessalonich stand in dieser steten Erwartung, und der Apostel konnte infolge dessen viel
rühmen von ihrem „Werke des Glaubens und der Bemühung der Liebe und des Ausharrens der Hoffnung."
(1. Thess. 1, 3.)
Die Kinder dieser Welt haben den Herrn nur zum
Gericht zu erwarten. Uns aber hat Gott „nicht zum Zorn
gesetzt, sondern zur Erlangung der Seligkeit". Wir sind
nicht in Finsternis, daß uns der Tag wie ein Dieb ergreife; denn wir alle sind Söhne des Lichtes und Söhne
des Tages. (1. Thess. 5, 4. 5. 9.) Die hier um des
Namens Christi willen Trübsal leiden, werden ruhen „bei
der Offenbarung Jesu vom Himmel." (2. Thess. 1, 7.)
Er wird diese Welt richten; aber wir werden vor diesem
Gericht weggenommen werden, da wir ja mit Ihm die
Welt richten sollen. „Wir, die Lebenden, die übrigbleiben
bis zur Ankunft des Herrn, werden zugleich mit den auferweckten Entschlafenen „entrückt werden, dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem
Herrn sein." (1. Thess. 4, 15—17.)
So lasset uns denn allezeit wachsam und nüchtern
sein, und unsern geliebten Herrn vom Himmel erwarten!
In Ihm sind alle Verheißungen Ja und Amen. Wann
Er kommen wird, wissen wir nicht; aber das Eine wissen
wir, daß Er nahe, sehr nahe ist. Wir können Ihn
heute erwarten. Unsre Hoffnungen und Erwartungen
knüpfen sich nicht an diese Erde, haben auch mit „Zeit
und Zeiten" nichts zu thun. Wir sind ein himmlisches
Volk, das jeden Augenblick bereit ist, diese Erde zu verlassen, und dessen Erbteil droben ist. So lasset uns denn
„nüchtern sein, angethan mit dem Brustharnisch des Glaubens
und der Liebe, und mit dem Helm, der Hoffnung der
Seligkeit!" (1. Thess. 5, 8.)
Isaak.
„Durch Glauben segnete Isaak, in Bezug auf zukünftige Dinge, den Jakob und den Esau." (Hebr. 11, 20.)
In verschiedenen früheren Betrachtungen *) haben wir
nach und nach den Lauf des ersten Buches Mose bis zum
Ende des 24. Kapitels verfolgt, und möchten heute darin
fortfahren, indem wir die Kapitel 25—27, in welchen
Isaak die Hauptperson bildet, unsrer Betrachtung zu 
Grunde legen.
*) S. die Jahrgänge des Botschafters von 1886 und 1887
nnter den Überschriften: „Die Welt vor der Flut", „Noah" und
„Abraham".
Wir finden über die Geschichte Isaaks, wie auch über
seinen Charakter verhältnismäßig nur wenige Andeutungen.
In mancher Hinsicht ist das von geringer Wichtigkeit;
denn, ob viel oder wenig, sein Name ist in unser aller Gedächtnis, die wir die Wege des Gottes der Gnade kennen
gelernt haben — „des Gottes Abrahams, Isaaks und
Jakobs", denn das ist „Sein Name in Ewigkeit und
Sein Gedächtnis von Geschlecht zu Geschlecht".
Isaak war ein Fremdling auf der Erde, ein himmlischer Fremdling, wie es sein Vater gewesen war. Gleich
Abraham sehen wir ihn in Verbindung mit einem Zelte
und einem Altar und hören auch, daß Jehova ihm Verheißungen giebt, wie Er sie Abraham gegeben hatte.
30
„Durch Glauben hielt Abraham sich auf in dem Lande der
Verheißung, wie in einem fremden, und wohnte in Zelten
mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung."
Dieses Zeltleben der Patriarchen ist sehr bezeichnend.
(Vergl. Hebr. 11, 9. 10.) Es belehrt uns, daß jene Männer damit zufrieden waren, gleichsam nur auf der Oberfläche
dieser Welt zu wohnen. Ein Zelt hat bekanntlich keine
Grundlagen; es kann in einem Augenblick aufgeschlagen,
und in dem nächsten wieder abgebrochen werden. Mit
einer so losen und vorübergehenden Verbindung mit dieser
Erde und dem Leben auf ihr waren die Patriarchen zufrieden, nur eine solche, suchten sie. Sie trachteten nicht
eher nach einer Stadt oder nach Grundlagen, bis Gott
zu bauen begann. So lange S e i n Bauwerk nicht geoffenbart war, zogen sie als Pilgrime auf der Oberfläche der
Erde einher, ohne Wurzel in ihr zu fassen.
Das ist die Sprache, welche die Zelte der wandernden Patriarchen zu uns reden. Und wie ihre Zelte diese
himmlische Fremdlingschaft ausdrückten, so verriet ihr Altar
ihre Anbetung, ihre wahre Anbetung; denn sie errichteten den Altar Dem, der ihnen erschienen war. Sie
maßten sich nicht an, Gott durch ihre eigne Weisheit zu 
finden, und Ihn dann nach dem Lichte ihrer Vernunft
und nach den Eingebungen ihrer Gedanken anzubeten.
Sie glichen nicht denen, „welche, indem sie sich für Weise
ausgaben, zu Narren geworden find". Nein, sie kannten
und verehrten Gott gemäß Seiner eignen Offenbarung.
Der Altar, auf welchem sie opferten, trug nicht die Inschrift: „Dem unbekannten Gott," sondern sie dienten und
beteten an „in Wahrheit". So war der patriarchalische
Altar in seiner Art ebenso schön, wie das patriarchalische
31
Zelt. Während dieses ihr Verhältnis zu der Welt um
sie her zum Ausdruck brachte, versetzte jener sie in die 
passende Beziehung zu Jehova, dem Gott des Himmels
und der Erde über ihnen.
Abraham, Isaak und Jakob sind sich hierin gleich.
In Isaak wurde kein neues Geheimnis in Bezug auf die 
Verwaltung der Zeiten, kein andrer Vorsatz der göttlichen
Ratschlüsse enthüllt, wie dies in Abraham geschehen war.
Aber dennoch gab es eine weitere Entfaltung jener Herrlichkeiten, durch welche die Berufung, die schon dem Abraham bekannt war, bestätigt wurde; eine Entfaltung,
die wir, wenn wir anders göttliche Gesinnungen besitzen,
sehr hoch schätzen werden. Ich meine dies: die himmlische
Berufung oder Fremdlingschaft auf der Erde war beiden
Männern gemeinsam; aber während in Abraham in ausgeprägter Weise die Auserwählung dargestellt wird,
tritt in Isaak vor allem die Sohnschaft vor unsre
Blicke.
Gott berief Abraham aus der Welt; Er holte ihn
aus seinem Lande, aus seiner Verwandtschaft und aus
seines Vaters Hause, und sonderte ihn für sich und für
Seine Verheißungen ab. Isaak dagegen war schon auserwählt, berufen und geheiligt, während er sich im Hause
seines Vaters befand. Er war von seiner Geburt an zu 
Hause, und er war dort mit Gott, da er zufolge der
Verheißung und durch eine Kraft, die den schon Gestorbenen belebte, geboren war; und in diesem allem stellt er
in lieblichster Weise die Wahrheit der Sohnschaft dar.
In Isaak sehen wir jene Familie, die „nicht aus Geblüt,
noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen
des Mannes, sondern aus Gott geboren" ist, und die in
32
der Freiheit steht; wie der Apostel sagt: „Wir aber,
Brüder, sind, gleichwie Isaak, Kinder der Verheißung."
Wir sind, wenn wir anders Christo angehören, Abrahams
Samen, Kinder der Freien.
Zugleich giebt es in der Darstellung jener beiden
Geheimnisse der Sohnschaft und der Auserwählung eine
göttliche Ordnung. Denn die Auserwählung Gottes
geschieht zur Sohnschaft, wie wir lesen: „Er hat
uns zuvorbestimmt zur Sohnschaft durch Jesum Christum
für sich selbst." Und weil dies so ist, weil dieses hohe
persönliche Vorrecht in Isaak vorgebildet wird, finden wir
im Laufe seiner Geschichte das Geheimnis des Sohnes
der Freien außerordentlich schön und ausführlich enthüllt.
Sowohl seine Geburt als auch seine Entwöhnung
wird uns erzählt, und jedes dieser Ereignisse war eine
Veranlassung zur Freude im Hause des Vaters. Bei seiner
Geburt nannte man das Kind „Lacher", und bei seiner 
Entwöhnung wurde ein Fest gefeiert.
Das sind zwei wunderbare und liebliche Vorbilder.
Der Vater erfreut sich darin, Kinder zu haben, und
es ist ebensosehr Seine Freude, daß diese wissen,
daß sie Kinder sind. Diese beiden Wahrheiten finden in der Geburt und der Entwöhnung Isaaks eine
lebendige Darstellung, und sie werden nach langer, langer
Zeit in dem Briefe an die Galater wieder hervorgehoben. Denn was in Isaak vorgebildet war, ist in uns
durch den Geist verwirklicht. In dem genannten Briefe
hören wir, daß wir durch den Glauben an Jesum Christum Kinder sind, und zugleich, daß wir, weil wir Kinder
sind, den Geist der Sohnschaft empfangen haben. Wir
sind nicht nur geboren, sondern auch entwöhnt. Paulus
33
ruft den Galatern zu: „Meine Kindlein, um die ich abermals Geburtswehen habe, bis Christus in euch gestaltet
worden ist." Christus ist in dieser Stelle Christus, der
Sohn, und der Wunsch und die Bemühung des Apostels
gingen dahin, die Galater in die Stellung Isaaks, d. h. zu 
der Freiheit einer bewußten Sohnschaft zu bringen. Sie
waren in Gefahr, sich aufs neue von der Milch der Gebote
zu nähren, welche nur Knechtschaft hervorbrachten, und die
von den Vormündern und Verwaltern einer früheren Haushaltung bestimmt worden waren. Der Apostel aber wollte
sie wieder zu der Freiheit zurückrufen, da er selbst die
Kraft derselben in seiner eignen Seele erfahren hatte.
Es hatte Gott Wohlgefallen, „Seinen Sohn in ihm zu
offenbaren". Was er jetzt lebte im Fleische, lebte er
durch den Glauben an den Sohn, der ihn liebte. Er
konnte deshalb nach Arabien ziehen, ohne mit Fleisch und
Blut zu Rate zu gehen; er bedurfte kein Jerusalem, keine
Stadt des feierlichen Gottesdienstes, keine Apostel und
Einsetzungen, kein Priestertum nach einer fleischlichen Ordnung, kein weltliches Heiligtum, um durch diese Dinge
Ansehen zu erhalten, versiegelt oder vollkommen gemacht
zu werden. Er bedurfte nichts von dem, was irgend ein
Mensch oder was alle Menschen zusammen ihm hätten
geben können; denn der Sohn war in ihm geoffenbart. Er war ein entwöhnter Isaak; und er
wünschte sehnlichst, die Galater in dem Genuß desselben
Verhältnisses zu sehen, und das Wort zu hören, welches
einst in dem Hause Abrahams über Isaak gehört worden
war: „Stoße hinaus die Magd und ihren Sohn; denn
der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem Sohne
der Freien."
34
Alles dieses wird uns in Isaak, dem Sohne der
Freien, vorbildlich dargestellt; und es hat Gott Wohlgefallen, es uns in dem Briefe an die Galater ausführlich
und nachdrücklich in seiner vollen Bedeutung zu zeigen.
Wenn wir uns mit den Ratschlüssen Gottes beschäftigen, so dürfen wir nicht allein an die Herrlichkeit
denken; Seine Vorsätze in Bezug auf uns gehen noch
weiter. Wir sind ebenso gewiß für einen Zustand zuvorbestimmt, in welchem alle Gefühle befriedigt sind, wie für
einen Platz, wo die Herrlichkeit zur vollen Entfaltung
kommt; sowohl zur „Sohnschaft" und um „vor Ihm in
Liebe" zu sein, als auch zu Erben aller Dinge. (Eph. 1.)
Und der Geist, den wir schon empfangen haben, ist in
uns ebenso sicher die Kraft, „Abba, Vater!" zu rufen, wie
Er die Versieglung des Anspruchs auf die kommende Erlösung ist.
Wir sind geneigt, dies zu vergessen; wir denken an
unsre Berufung und Vorherbestimmung gewöhnlich weit
mehr in Verbindung mit der Herrlichkeit, als in Verbindung mit der Liebe, dem Einssein, der Heimat und dem
Vaterhause. Und dennoch wird gerade das Verhältnis, in
welchem wir zu Gott stehen, dem Erbe oder der Herrlichkeit den Charakter des höchsten Glückes verleihen. Das
jüngste Kind des Königs erfreut sich in ganz andrer Weise
des königlichen Palastes, als der höchste Würdenträger
im Reiche. Das Kind befindet sich dort infolge seiner
Beziehung zum Könige, nicht infolge seines Ranges. Es
ist dort, weil es Kind ist. Die Großen des Landes
mögen auch am Hofe sein, aber sie sind es auf Grund
ihrer Würde oder ihres Dienstes. Und die Freude des
Kindes an dem Palast ist nicht nur, wie ich sagte, eine
35
andere, sondern auch eine weit höhere; sie ist persönlich, nicht amtlich; der Palast ist für dasselbe nicht nur
der Hof des Königs, sondern eine Heimat.
Das ist es, was wir vorbildlich in Isaak sehen; er
ist der Sohn, das Kind im Hause, das alle Vorrechte
der Verwandtschaft genießt. Er wurde zu Hause behalten,
gepflegt, ernährt und mit allem ausgestattet; der Wohlstand und die Annehmlichkeiten des Hauses seines Vaters
gehörten ihm, wie wir lesen: „Und Abraham gab alles,
was er hatte, dem Isaak; und den Söhnen der Kebsweiber, die Abraham hatte, gab Abraham Geschenke, und
entließ sie von seinem Sohne Isaak, während er noch
lebte, nach Osten in das Land des Ostens."
Vorbildlich betrachtet steht Isaak also vor uns als
ein Sohn der Freien, geboren durch Verheißung, geboren
aus Gott. „Ich werde wieder zu dir kommen, und Sarah
wird einen Sohn haben." Er stellt uns jene Familie
dar, „die zur Sohnschaft bestimmt" und „begnadigt ist
in dem Geliebten", welche die Freude des Sohnes genießt
und Seinen Geist atmet.
Isaak ist jedoch nicht nur in seiner Person ein Vorbild, sondern auch in seinem Leben und Charakter. Indes sind die Grundlagen, welche uns das Wort hierfür
an die Hand giebt, gering. Es werden uns nur wenige
geschichtliche Einzelheiten aus seinem Leben mitgeteilt, und
deshalb empfangen wir auch nur spärlichen Aufschluß über
seinen Charakter. Das ist ein Trost für uns. Wir finden zu Zeiten unter den Auscrwählten Gottes solche mit
sehr schönen natürlichen Anlagen, mit einem edlen Charakter, oder mit anziehenden menschlichen Tugenden ; zu
andern Zeiten auch solche mit geringen Anlagen und selbst
36
mit sehr schlechten menschlichen Eigenschaften. Und das gewährt unsern armen Herzen Erleichterung, weil wir (infolge
besserer Bekanntschaft mit uns selbst, als mit Andern) uns
gern mit solchen vergleichen, in welchen wir dasselbe erblicken,
wie in uns; es liegt ein gewisser Trost darin, unter dem
Volke Gottes Naturen zu finden, die uns ähnlich sind.
In Isaaks Charakter zeigen sich Mängel. Er besaß
weder vortreffliche, noch schlechte natürliche Eigenschaften.
Es gab vieles in ihm, was wir liebenswürdig nennen 
würden, und was nach menschlicher Schätzung anziehend
war. Doch fehlte etwas in seinem Charakter. Man mag
dies zum Teil der Art seiner Erziehung zuschreiben. Als
das einzige Kind seiner Mutter war er, wenn wir so
sagen dürfen, in zärtlicher Weise erzogen worden; er war
das Kind ihres Alters und stets an ihrer Seite gewesen.
Dies hatte ihn verweichlicht und in ihm ein natürlich
liebenswürdiges und sanftes Temperament hervorgerufen.
Ruhe und Zurückgezogenheit, eine Natur, die lieber nachgiebt, als sich wehrt, und dies verbunden mit der Verzärtlung eines häuslichen Lebens, das ist es, was wir
in ihm finden. Wir dürfen ruhig annehmen, daß er in
der Erfüllung seiner Pflichten als Kind und Ehemann
tadellos, liebevoll und pünktlich war, und daß er sich das
Wohlwollen und die Zuneigung seiner Nachbarn erwarb;
aber es fehlte ihm etwas von jener Energie, welche ihn
befähigt hätte, ein anderes Zeugnis unter ihnen abzulegen, als nur dasjenige der Absonderung, welche seine
Beschneidung, sein Altar und sein Zelt mit sich brachten.
Und ein solches Leben ist kein reich gesegnetes. Seinem
Zelt und Altar blieb Isaak im allgemeinen treu, aber er
errichtete sie mit einer zu schwachen Hand.
37
Isaak war vierzig Jahre alt, als er Rebekka zum
Weibe bekam. Zwanzig Jahre lang blieben sie kinderlos;
aber in dieser Prüfung verhielten sie sich besser, als Abraham und Sarah es gethan hatten. Als Sarah erkannte,
daß sie unfruchtbar war, suchte sie sich selbst zu helfen,
indem sie Abraham ihre Magd zum Weibe gab; und
Abraham hörte auf die Stimme Sarahs. Isaak und
Rebekka aber flehten in denselben Umständen zu Jehova
und warteten auf Seine Gnade. Das war ein großer
Unterschied, und für einen Augenblick waren die Letzten
die Ersten, und die Ersten die Letzten. Solche geistliche
Verschiedenheiten finden wir bis zu dem heutigen Tage
unter dem Volke Gottes.
Aber auch die Kinder von beiden Elternpaaren stellen
uns verschiedene göttliche Vorbilder dar, so wie ihre Eltern uns verschiedene sittliche Belehrung darbieten. Die
Söhne Abrahams, Isaak und Ismael, stammten von zwei
Frauen her; die Söhne Isaaks, Jakob und Esau, von
derselben Frau. Die Feindschaft zwischen den Söhnen
Abrahams begann, als Ismael, ein Knabe von 14 Jahren, den entwöhnten Isaak verspottete. Aber der Kampf
zwischen den Söhnen Isaaks fand schon im Mutterleibe
statt. Zwei Nationen befanden sich in Rebekka, wie Jehova zu ihr gesagt hatte: „Zwei Völkerschaften werden
sich scheiden aus deinem Eingeweide." Und nach dem
Worte Jehovas geschah es. Der Mensch Gottes wurde
in Jakob gefunden, der Mensch der Welt in Esau; in
dem einen herrschte der Grundsatz des Glaubens, in
dem andern derjenige der Natur. „Die Freundschaft
der Welt ist Feindschaft gegen Gott." So war es mit
Esau, und demgemäß machte er die Erde zum Schauplatz
38
seiner Thätigkeit, seiner Genüsse und seiner Erwartungen.
Er war „kundig der Jagd, ein Mann des Feldes". Seine
Familie kam voran. Er liebte das Feld und wußte eS
zu benutzen. Er richtete sein Herz auf das gegenwärtige
Leben und verstand, das, was es darbot, zu seinem Genuß zu verwenden. Seine Söhne wurden bald Fürsten,
und hatten ihre eignen Städte, wie die Söhne Ismaels
ihre Gehöfte und Zeltlager besaßen. Ihre Würde und
Größe entsprangen aus ihnen selbst, und die Welt war
Zeugin ihrer Herrlichkeit.
Jakob dagegen war „ein schlichter Mann, der in
Zelten wohnte". Er war seinen Vätern ähnlich. Gleich
Abraham und Isaak war er ein Fremdling hienieden,
und wanderte eine Zeitlang auf der Erde, indem sein
Auge auf die Verheißung gerichtet war. Und während
Esaus Kinder Fürsten waren und in ihren Besitzungen
in Würde und Wohlfahrt wohnten, mußten Jakobs Nachkommen von einem Volke zum andern wandern, die Bedrückung und die Ungerechtigkeiten Egyptens erdulden, oder
als Pilgrime die pfadlose, öde Wüste durchschreiten.
Esau war „ein Ungöttlicher". Seine Hoffnungen
und sein Herz waren einzig und allein an das Leben in
dieser Welt gekettet; denn er sagte: „Ich gehe hin zu
sterben, und wozu mir da die Erstgeburt?" Gleich den
Gadarenern und gleich JudaS wollte er sein Anrecht an
Christo verkaufen. Jakob dagegen besaß Glauben und
war bereit zu kaufen, was Esau verkaufen wollte.
AuS dem allem sehen wir, daß wirklich zwei Völkerschaften sich aus Rebekkas Innern geschieden hatten.
Schon bei der Geburt der Kinder zeigte sich dies; und
ihre frühesten Gewohnheiten, ihre ersten Handlungen sind
39
charakteristisch. Wir sehen hier nicht blos die Magd und
die Freie, oder die Kinder der zwei Bündnisse, wie Ismael und Isaak es gewesen waren. Wohl finden wir
dieselben Naturen, aber sie sind vollständiger ausgeprägt:
die eine, verworfene, welche von Adam herrührt und, ungöttlich oder weltlich, ihr Teil auf dieser Erde und nicht
in Gott sucht; die andere, göttliche, welche von Christo
stammt und glaubt, hofft, auf die Fürsorge Gottes blickt
und das Reich erwartet.
Diese beiden verschiedenen Charaktere finden sich bis
zum heutigen Tage; und die genannten Dinge stehen in
mannigfaltigen Beispielen um uns her und in unsrer
Mitte in Blüte. Die Kains, Nimrods, Ismaels und
Esaus sind noch auf der Erde verbreitet; und jene Erzählungen und Darstellungen aus einer Zeit, welche schon
Jahrtausende hinter uns liegt, enthalten die wichtigsten
Belehrungen für unsre Seelen. Sie sind wunderbar in
ihrer Einfachheit, aber zu tief für die Weisheit dieser
Welt und zu rein für die Liebe zu ihr.
Doch kehren wir jetzt wieder zu Isaak zurück.
Wie schon bemerkt, wuchs Isaak in dem Zelte seiner
Mutter auf; er war so zu sagen mehr das Kind seiner
Mutter, als seines Vaters, wie das ja bei uns allen in
unsrer frühesten Kindheit mehr oder weniger der Fall gewesen sein wird. Doch bei Isaak blieb dieses Verhältnis
bis zum Tode seiner Mutter bestehen; und damals muß
er weit über dreißig Jahre alt gewesen sein. Er kannte
das Zelt Sarahs besser, als die Verkehrsorte und Beschäftigungen der Menschen. Ihr Zelt war gleichsam seine
Amme und Lehrmeisterin gewesen; und diese Erziehung
ließ in seinem Charakter Eindrücke zurück, die nie wieder
40
verwischt wurden. Wir finden ein beiläufiges, aber doch
ein sehr deutliches Zeugnis von der Stärke des mütterlichen Einflusses aus ihn in Kap. 24, 67: „Und Isaak
führte sie (Rebekka) in das Zelt Sarahs, seiner Mutter.
Und Isaak ward getröstet nach dem Tode seiner Mutter."
Dies läßt sehr deutlich die Richtung seines Jugendlebens erkennen; und dementsprechend hatte sich sein Charakter gebildet. Er war der ruhige, sanfte, widerstandslose Isaak, oder, wie ich schon sagte, fromm, tadellos
und liebenswürdig.
Doch obwohl ich überzeugt bin, daß sein Charakter
so war, möchte ich dennoch fragen: War es nur Natur
oder nur Charakter, was ihn dahin brachte, widerstandslos
den Weg zum Berge Morija zu gehen? War es nur
kindliche Frömmigkeit, was ihn dann befähigte, sich wie
ein Lamm zur Schlachtung binden zu lassen, ohne seinen
Mund aufzuthun? Können wir annehmen, daß dies nur
Charakterstärke war? Ich glaube nicht. Das war zuviel für
menschliche Sanftmut und Unterwürfigkeit, zuviel, um selbst
bei einem Isaak oder bei einer Tochter Jephthas (Richt. 11.)
gefunden zu werden. Ich möchte lieber sagen: die Hand
des Herrn war bei jener Gelegenheit über ihm, wie in
späteren Tagen über dem Eigentümer der Eselin, welche
erforderlich war, um Christum als König nach Jerusalem zu 
tragen; sowie über der Menge, die Ihn auf diesem Wege begleitete und begrüßte; oder endlich über dem Manne mit dem
Wasserkrug, welcher das Gastzimmer für das letzte Passahmahl des Herrn mit Seinen Jüngern zubereitete. Die mächtige Hand des Herrn brachte in diesen Fällen die Menschen
dahin, ergeben und willfährig zu sein und die Wichtigkeit des Augenblicks zu erfassen. So war es auch in den
41
Tagen Samuels, als die Kühe die Lade Gottes geradewegs nach Beth-Semes fuhren, obgleich dies ganz und
gar gegen ihre Natur war, da man ihre Kälber hinter
ihnen weg nach Hause gebracht hatte. (1. Sam. 6.) Die
Macht Gottes war über jenen Tieren. Und ebenso befand sich Isaak bei Gelegenheit seiner Opferung unter
einer göttlichen Macht, unter der Hand Gottes; ohne
Zweifel willig, aber willig gemacht wie an einem Tage
der Kraft; denn er sollte das Vorbild von einem Größeren
als er sein. Das Siegel war in einer starken Hand, und
der Abdruck mußte klar, tief und deutlich sein. „Siehe,
ich komme, um Deinen Willen, o Gott, zu thun", so
lautete die Inschrift dieses Siegels. „Wie ein Schaf
stumm ist vor seinen Scherern, so hat Er Seinen Mund
nicht aufgethan."
Das war ein wichtiger Augenblick in dem Leben
Isaaks, ein Ereignis von großer Bedeutung. Etwas
Aehnliches finden wir bei dem Empfange Rebekkas. (Siehe
Kap. 24.) Darin daß Isaak ein Weib nahm, nicht nach
seiner eignen Wahl, sondern nach der Bestimmung seines
Vaters Abraham, können wir dieselbe starke Hand über
ihm wahrnehmen. In diesem Falle mochten wohl mehr
menschliche Unterwürfigkeit und kindliche Liebe mitwirken,
als bei dem Opfer auf dem Berge Morija; aber dennoch
war eS ein Ereignis, welches ihn kennzeichnete. Diese
Heirat war ebensosehr ein Vorbild, wie jenes Opfer. Das
Weib, welches zu dem Sohne und Erben des VaterS
heimgeführt wurde durch den Diener, der das volle Vertrauen des Vaters genoß, war ein Vorbild; und wiederum
mußte das Material es sich gefallen lassen, den Stempel
von der Hand Dessen zu erhalten, der es benutzte. Der
42
Töpfer machte Gefäße für den Gebrauch der Haushaltung,
und der Thon mutzte sich darein ergeben. Die Kinder des
Propheten, Jahrhunderte nachher, erhielten Namen, wie
es dem Herrn gefiel; und der Prophet mußte von ihnen
sagen: „Siehe, ich und die Kinder, die Jehova mir gegeben hat, sind zu Zeichen und zu Wundern." (Jes. 8,18.)
Und so waren auch Isaak und Rebekka in den Umständen
ihrer Heirat Bilder „zu einem Zeichen und Wunder".
Das war ihre höchste Würde: sie erzählen die Geheimnisse
Gottes. Ihre Geschichte ist zugleich ein Gleichnis. Sie
waren Zeichen in der Zeit, oder in dem Laufe der Geschichte der Erde, gerade so wie Sonne, Mond und Sterne
zu Zeichen am Himmel gesetzt sind. Alle jene Männer
und Weiber tragen eine Unterschrift von der Hand Gottes.
„Ich will eingraben seine Eingrabung, spricht Jehova der
Heerscharen." Er hat mit eigner Hand auf sie und ihre
Geschichte das Bild von einigen Seiner ewigen Ratschlüsse
gedrückt.
Doch wenn auch die sanfte und unterwürfige Natur
in Isaak nicht zu solchen Opfern und solcher Ergebung
fähig war, so kennzeichnet sie doch seinen Charakter. Zu
Zeiten handelte sie liebenswürdig und anziehend, aber zu
Zeiten verführte sie ihn auch auf beklagenswerte Weise.
Doch stets und unter allen Umständen, bei den wenigen
Begebenheiten, welche von ihm erzählt werden, finden wir
den willigen, sanften, unterwürfigen Isaak. Daß dies ein
Fehler ist, brauche ich kaum zu sagen. Das Vorhandensein
nur ein und derselben Tugend bei jeder Gelegenheit verrät hinsichtlich des Charakters einen Mangel. Die Vereinigung verschiedener Tugenden verrät Charakter und
göttliche Bearbeitung. „Das Reich Gottes ist Gerechtigkeit
43
und Friede und Freude in dem Heiligen Geiste." ES
ist sowohl stark, als auch gnädig und erfreuend. Moralische
Herrlichkeit ist vielseitig, gerade so wie das eine fleckenlose
Licht, dessen wir uns erfreuen und das wir bewundern,
in vielen farbigen Strahlen von dem Tautropfen zurückblitzt. Aber dieses Licht strahlt weder von Isaak noch
von irgend einem andern Menschen in seiner ganzen Schönheit zurück, mit Ausnahme des Einzigen, in welchem alle
Herrlichkeiten in ihren verschiedenen Wirkungen sich vereinigten und erglänzten.
Alles ist schön zu seiner Zeit, aber auch nur dann.
Sanftmut verliert ihre Schönheit, wenn Eifer und Unwille am Platze sind. Die Worte im ersten Psalm: „Er
ist wie ein Baum, gepflanzt au Wasserbächen, der seine
Frucht bringt zu seiner Zeit, und dessen Blatt nicht verwelkt; und alles, was er thut, gelingt," passen nicht auf
einen Mann von nur einer Tugend. Sie setzen Charakter, Bestimmtheit und Unterscheidungsvermögen voraus;
und daS finden wir nicht bei Isaak. In gewissem Maße,
und sicher im Gegensatz zu Isaak, ist diese Vereinigung
von Tugenden in Abraham zu sehen; und der Unterschied
zwischen diesen beiden Männern zeigt sich in ihrer verschiedenen Handlungsweise unter ähnlichen Umständen.
Vergl. Kap. 21 mit Kap. 26.
Isaak war von den Philistern sehr schlecht behandelt
worden. Die Brunnen, die er gegraben, hatten sie ihm
einen nach dem andern mit Gewalt weggenommen, und
die Brunnen seines Vaters mit Erde ausgefüllt. Er hatte
dieses Unrecht mit Sanftmut und in Gnade ertragen, in
einem Geiste, der sich für einen Fremdling und Pilgrim
Gottes, der ein Bürgerrecht in einer andern Welt er­
44
wartet, geziemte. Und als die Philister immer wieder mit
ihm haderten und ihn verdrängten, zog er von Ort zu 
Ort. Dies entsprach der Gesinnung, welche ihn, wie gesagt, bei jedem Vorfall seines Lebens kennzeichnete. Leidend
drohte er nicht; Gutes thuend und dafür leidend, ertrug
er die ihm zugefügte Unbill geduldig, und das ist, wie
wir wissen, vor Gott angenehm. (1. Petr. 2, 20.) Gott
bestätigt das auch hier, indem Er sich in dieser Sache zu
Seinem Knechte bekennt und bei der Nacht zu ihm kommt,
wie Er einst auch zu Abraham gekommen war und ihn
getröstet hatte. Allein nachdem die Philister besseren Sinnes
geworden waren, und der König Abimelech mit Achusat,
seinem Freunde, und Pikol, seinem Heerobersten, Isaak
aufsuchte und einen Bund mit ihm zu machen wünschte,
wurde Isaak da nicht durch seinen Charakter verleitet?
Sicher war eS richtig von Isaak, jene Männer zu 
empfangen, sie seiner Freundschaft zu versichern und ihnen
gute Nachbarschaft zu geloben. Denn wir sollen vergeben,
und sei es auch siebenzigmal siebenmal des Tages. Doch
bei alledem ist zu seiner Zeit auch Aufrichtigkeit erforderlich — Aufrichtigkeit so gut wie Vergebung. „Wenn dein
Bruder sündigt, so verweise es ihm, und wenn er
es bereut, so vergieb ihm." Aber Isaak war dieser
kraftvolleren Tugend nicht fähig. Er beklagt sich wohl bei
Abimelech, aber in so zarten und sanften Ausdrücken, daß
es keinen Eindruck auf das Gewissen desselben gemacht
zu haben scheint. Ebenso handelt er bei dem Abschluß des
Bündnisses. Er macht für den König von Gerar ein
Mahl; er schwört ihm und entläßt ihn dann als seinen
Bundesgenossen, ohne daß dieser zu irgendwelcher Anerkennung des Unrechts gebracht worden wäre, welches sein
45
Volk dem Manne zugefügt hatte, dessen Freundschaft er
jetzt suchte und erlangte. Auch hören wir von feiten Isaaks
nicht ein Wort der Widerlegung, als Abimelech behauptete,
er habe Isaak nur Gutes gethan während der ganzen
Zeit, die er in seinem Lande gewesen sei. So weit wir
aus dieser Unterhaltung ersehen können, ist der König von
Gerar von Isaak nicht überführt worden; er kehrte mit
seinen Freunden zurück, zufrieden mit sich selbst wie mit
Isaak. Isaak hatte seine Klagen Wohl dem Ohr, aber
nicht dem Gewissen AbimelechS verständlich gemacht; es
mangelte ihm dazu an Charakter und Kraft, und daran
war teilweise seine Natur schuld.
Doch auch bei manchem unter uns nehmen wir zu
Zeiten eine solche Schwäche wahr. Eine gewisse Art menschlicher natürlicher Liebenswürdigkeit ist gewiß angenehm;
aber beachten wir wohl, daß wir damit Gott nicht dienen.
Wie ganz anders war es bei Abraham! Ein andrer
König von Gerar hatte in seinen Tagen Abraham aus
demselben Grunde und mit demselben Wunsche besucht,
wie jener den Isaak. Abraham begegnet ihm in einem
ebenso edlen Geiste der Vergebung, wie Isaak, mit derselben Bereitwilligkeit, ihn zu empfangen und ihm zu
schwören. Aber bei alledem tadelt er ihn, und läßt ihn
diesen Tadel fühlen. „Abraham strafte Abimelech", wie
wir lesen; das wird uns von Isaak nicht gesagt. Abraham ließ den König nicht ziehen, zufrieden mit sich selbst,
wie Isaak es that, und mit einer unbeantworteten Prahlerei über seine und seines Volkes Tugenden auf seinen
Lippen. Er war zwar ebenso bereit wie Isaak zur Vergebung und Versöhnung; aber obwohl er ihm verzieh,
verbarg er vor Abimelech doch nicht, daß dessen Gewissen
46
ihm Vorwürfe zu machen hatte. Er ließ ihn fühlen, daß
er Klagen zu erheben hatte, die nicht durch das Mahl
und die Freundschaft Abrahams beseitigt werden konnten.
Das war Wirklichkeit vor Gott; und dadurch gelangte Abraham dahin, Abimelech segnen, und nicht
nur ihm gefällig sein zu können. Mit Isaak war es
anders, und dies läßt in unsern Herzen die Frage entstehen : War es nur die Natur, oder war es die erneuerte
Gesinnung in Isaak, welche ihn so handeln ließ? eine
Frage, die im Laufe unsrer Betrachtung noch mehrmals
wiederkehren wird.
Gewiß war Isaak ein Auserwählter, so gut wie
Abraham; ein Pilger Gottes aus der Erde, einer, der
seinen Altar nicht nur errichtet hatte, sondern auch benutzte. Er war sinnend auf dem Felde, als Rebekka zu
ihm kam, und als ihm Esau und Jakob geschenkt wurden, hatte er um diese Gnade gefleht. Wir sprechen nur
von seinem Charakter, wenn wir ihn in dieser Weise mit
Andern vergleichen; wir betrachten seinen praktischen Wandel, und entdecken, daß an seinem Zeugnis für Gott nach
außen hin etwas mangelte, obwohl er zu Hause liebenswürdig und fromm war. Und wie wir schon wiederholt
bemerkten, ähnliche Dinge finden sich noch heute, wie vielen
von uns zu unsrer Beschämung wohl bekannt ist. So
sagte einmal jemand zu mir: „Es giebt manches, was
von Andern für geistlich gehalten wird, weil es für
das Auge und nach dem Geschmack unsrer Mitchristen,
nicht aber wie in der Gegenwart Gottes mit einem einfältigen Herzen für Ihn gethan ist."
Das ist in der That so, und es ist wohl geeignet,
unsre Herzen zu ihrem Nutzen zu erforschen. Aber wenn
47
auch solche Bemerkungen über unser tägliches Leben uns
überführen mögen, so brauchen sie uns doch in keiner
Weise zu entmutigen. Im Gegenteil; wir sollten sie, als
zu unsrer Segnung dienend, willkommen heißen.
(Fortsetzung folgt.)

„Joseph weinte."
„Und als die Brüder Josephs sahen, daß ihr Vater
gestorben war, da sprachen sie: Wenn nun Joseph uns
anfeindete nnd uns gar vergelten würde all das Böse,
das wir ihm angethan haben! Und sie entboten dem
Joseph und sprachen: Dein Vater hat vor seinem Tode
befohlen und gesagt: So sollt ihr zu Joseph sprechen:
Ach, vergieb doch die Uebertretung deiner Brüder und
ihre Sünde! denn sie haben dir Böses angethan. Und
nun vergieb doch die Uebertretung der Knechte des
Gottes deines Vaters! Und Joseph weinte, als sie zu
ihm redeten. Und auch seine Brüder gingen und fielen
vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine
Knechte. Da sprach Joseph zu ihnen: Fürchtet euch nicht;
denn bin ich an Gottes Statt? Ihr zwar, ihr gedachtet
Böses wider mich; Gott aber gedachte es zum Guten,
auf daß Er thäte, wie cs an diesem Tage ist, um ein
großes Volk am Leben zu erhalten. Und nun fürchtet
euch nicht; ich werde euch versorgen und eure Kinder.
Und er tröstete sie und redete zu ihrem Herzen."
(1. Mose SO, IS—21.)
Die obigen Verse versetzen uns in die Zeit kurz nach
dem Hinscheiden des Patriarchen Jakob. Nachdem dessen
Leib in der Höhle Machpela neben den Gebeinen Abrahams und Isaaks bestattet worden, und in Egypten alles
wieder in sein gewohntes Geleise zurückgekehrt war, überfiel die Brüder Josephs große Besorgnis. Die Erinnerung
an ihr früheres Verhalten drückte sie tief darnieder und
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erweckte Furcht und Angst in ihren Herzen. Ach! sie kannten die Gnade nicht, die im Herzen ihres Bruders wohnte.
Sie dachten an ihre Sünde; aber die ihnen zuteil gewordene Vergebung und Gnade verloren sie gänzlich aus
dem Auge. Sie fürchteten, daß Joseph sie jetzt anfeinden
und ihnen all das Böse, das sie ihm angethan hatten,
vergelten würde. Sicher hätten sie das verdient gehabt;
denn es gab keine Entschuldigung für ihre Sünde. Ihre
Handlungsweise gegen Joseph war in der That schrecklich
gewesen. Dadurch daß sie ihn in die Grube warfen, hatten sie ihn so gut wie getötet. Und als sie ihn aus der
Grube wieder heraufzogen, geschah es nicht aus Mitgefühl, sondern nur um ihn in die Sklaverei zu verkaufen, und so ihr Gewissen in etwa zu beruhigen. „Unsre
Hand sei nicht an ihm," sagten sie, „denn unser Bruder,
unser Fleisch ist er." (Vergl. Kap. 37, 18 — 27.) Seine
Seelenangst und sein Flehen machten nicht den geringsten
Eindruck auf sie. (Kap. 42, 21.)
Aber war ihnen ihre Sünde nicht zum Bewußtsein
gekommen? Hatte sie ihr Gewissen nicht erreicht? Sicher
und gewiß; und zwar in der Gegenwart Josephs selbst,
obwohl sie ihn damals noch nicht kannten. Sie meinten,
er verstände sie nicht, da er nur durch einen Dolmetsch
mit ihnen verkehrte. Aber er las in ihren Mienen, was
in ihrem Innern vorging, und er verstand auch ihre
Worte. Ihm entging es nicht, als sie unter einander
sagten: „Fürwahr, wir sind schuldig wegen unsers
Bruders." Und er verstand sehr wohl den tieferen Sinn
der Worte, als Juda vor ihm bekannte: „Was sollen wir
meinem Herrn sagen? was sollen wir reden und wie uns
rechtfertigen? Gott hat die Missethat deiner Knechte ge-
49
funden." (1. Mose 44, 16.) Es ist ein peinlicher Augenblick für einen schuldbeladenen Sünder, sich in die Gegenwart Gottes gestellt und da alles blos und aufgedeckt
zu sehen.
Doch als Juda im Namen seiner Brüder so unumwunden Bekenntnis ablegte, da „konnte Joseph sich nicht
bezwingen vor allen, die um ihn standen, und er rief:
Lasset jedermann von mir hinausgehen! Und es stand
niemand bei ihm, als Joseph sich seinen Brüdern zu erkennen gab." (Kap. 45, 1.) Welch eine Gnade! „Er
erhob seine Stimme mit Weinen; und es hörten's die
Egypter . . . Und Joseph sprach zu seinen Brüdern: Ich
bin Joseph. Lebt mein Vater noch? Und seine Brüder
konnten ihm nicht antworten, denn sie waren bestürzt vor
ihm." (V. 2. 3.) Sie baten ihn in diesem Augenblick
nicht um Vergebung; aber „Joseph sprach zu seinen Brüdern: Tretet doch her zu mir. Und sie traten hinzu. Und
er sprach: Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach
Egypten verkauft habt." (V. 4.) Und dann teilte er ihren
erstaunten Ohren den Vorsatz Gottes mit, daß Er ihre
Missethat benutzt habe, um ihn nach Egypten zu führen
und sie auf diese Weise vor dem Hungertode zu bewahren.
Und endlich „küßte er alle seine Brüder und weinte an
ihnen; und darnach redeten seine Brüder mit ihm." (V. 15.)
Welch ein schönes und treffendes Bild von den wunderbaren Gnadenwegen Gottes! Der Geist Gottes gebraucht verschiedene Mittel, um dem Gewissen die Sünde
so nahe zu bringen, daß kein Entrinnen mehr bleibt. Aber
wenn die Sünde gefühlt und aufrichtig vor Gott bekannt
wird, welch eine Gnade wird dann in Christo, dem wahren Joseph, gefunden! Wir erkennen dann, wie schlecht
50
und häßlich unsre Sünden sind, und wir verabscheuen uns
selbst in der heiligen Gegenwart Gottes. Wir fühlen, daß
Er es ist, der sich mit unsern Seelen beschäftigt, daß wir
Ihm alles zu verdanken haben, daß Er unsre Augen
geöffnet und unsre harten Herzen erweicht hat; und Er
ruft uns zu — welch anbetungswürdige Gnade! —: Für
alle jene häßlichen Sünden habe ich meinen eingebornen
und geliebten Sohn gesandt, um sie in vollkommner Weise
zu sühnen. „Hierin ist die Liebe: nicht daß wir Gott
geliebt haben, sondern daß Er uns geliebt und Seinen
Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsre Sünden."
(1. Joh. 4, 10.) So geht das Gegenbild unendlich weit
über das Vorbild in der Person Josephs hinaus.
Aber obwohl dies so ist, so hatten die Brüder Josephs doch nicht die geringste Ursache, an der Vergebung
ihrer Sünde von seiner Seite zu zweifeln. Und dennoch,
nach einer Reihe von Jahren, in welchen sie nichts als
Güte von Joseph erfahren hatten, begannen sie über die 
Wirklichkeit dieser Vergebung beunruhigt zu werden. Woher kam das? Ohne Zweifel erschien ihnen ihre Sünde
gegen Joseph um so häßlicher, je mehr sie die Innigkeit
ihres Verhältnisses zu ihm und sein ganzes gerechtes Verhalten erkannten; aber das war nicht der wirkliche Grund.
Die eigentliche Quelle ihrer Unruhe und Furcht lag, wie
schon bemerkt, darin, daß sie die Gnade in dem Herzen
Josephs nicht verstanden. Und kommt so etwas nicht auch
bei denen vor, welche zur Erkenntnis ihres innigen Verhältnisses zu dem auferstandenen Jesus gebracht sind?
Je mehr wir Ihn wirklich kennen, desto mehr ruhen
wir, während wir das Fleisch mit all seinen schlechten
Früchten verabscheuen, in Seiner Gnade.
51
Wenn die Brüder Josephs auf ihr eignes früheres
Verhalten blickten, so hatten sie wohl Ursache, ganz mutlos
und verzagt zu werden. Wenn sie aber ihren Blick auf
sein früheres Verhalten, auf seine Liebe zu ihnen richteten, wie konnte dann noch irgend ein Zweifel in ihrem
Herzen aufkommen? Die in der Vergangenheit liegenden
Fehltritte bieten dem Satan oft eine Handhabe, um das
Kind Gottes zur Verzweiflung zu treiben; und er wird
dieselbe sicher benutzen. Aber gerade der Umstand, daß
der Gläubige dem Verzweifeln nahe kommt, ist das sichere
Kennzeichen, daß Satan seine Hand im Spiele hat. Es
mag nötig sein, daß der Heilige Geist uns demütigt und
ein tieferes Gefühl von dem, was die Sünde ist, in uns
erweckt, sowie das Bedürfnis nach größerer Wachsamkeit
und unbedingterer Abhängigkeit in uns wachruft; aber niemals treibt Er eine Seele zur Verzweiflung; vielmehr
bringt Er mit der Demütigung ein tieferes Gefühl von
jener Gnade hervor, die ewiglich währt. „Laß über mich
kommen Deine Gütigkeiten, Jehova, Deine Rettung nach
Deiner Zusage! so werde ich Antwort geben dem mich
Höhnenden; denn ich vertraue auf Dein Wort." (Ps. 119,
41. 42.) In einer solchen Zeit ist es überaus wichtig,
sagen zu können: „Jehova ist für mich; ich werde mich
nicht fürchten." (Ps. 118, 6.)
Mit diesen Gedanken laßt uns den vor uns liegenden interessanten Abschnitt betrachten. Wir haben schon
gesagt, daß die Brüder Josephs ohne Zweifel Strafe verdient hatten. (Und wenn Gott mit uns ins Gericht gehen
wollte, was hätten wir anders zu erwarten?) Darüber
hatten sie nachgedacht und daraus ihre Schlüsse gezogen,
bis Furcht und Unglaube sich ihrer bemächtigt hatten;
52
dennoch waren sie nicht völliger Verzweiflung anheimgefallen. Es war wenigstens noch ein schwaches Gefühl
von der Gnade Josephs bei ihnen vorhanden: sie gingen
zu ihm, während Verzweiflung sie dahin gebracht haben
würde, seine Gegenwart zu fliehen. So ist es mit uns
im Blick auf Gott; das Bewußtsein Seiner Gnade, mag
es auch noch so schwach sein, zieht uns zu Ihm hin,
während Verzweiflung die Seele in die äußerste Finsternis treibt.
Die Brüder sagten zu Joseph: „Ach, vergieb doch
die Uebertretung deiner Brüder und ihre Sünde." Gesündigt zu haben, wie sie es gethan hatten, war schrecklich. Und daß auch wir an Dem gesündigt haben, der uns
Seine Brüder nennt, das macht unsre Sünde um so
größer und häßlicher. Ferner ist es viel leichter, und
das ist wohl zu beachten, um Vergebung der Sünden zu
bitten, als an die Vergebung derselben zu glauben.
Es giebt Viele, die täglich, jahraus jahrein, um Vergebung
bitten, aber nie glauben, daß ihre Sünden wirklich und
für immer vergeben sind.
Das war also die Stellung der Brüder Josephs.
Lange vorher waren sie zu dem tiefen Bewußtsein ihrer
Sünde gekommen und hatten sich auch in der Gegenwart Josephs rückhaltlos verurteilt. Und dieser hatte
ihnen seine Gnade völlig geoffenbart, und zum Beweise
dafür, daß er ihnen von Herzen vergeben, einen jeden
geküßt. Aber ihr geringes Verständnis dieser Gnade in
dem Herzen ihres Bruders treibt sie jetzt an, aufs Neue
um Vergebung zu bitten. Und nun laßt uns einen Blick
auf Joseph werfen. War das Verhalten seiner Brüder
erfreulich für ihn? „Und Joseph weinte, als sie zu 
53
ihm redeten." Welch ein Bild von Jesu! Welch eine
rührende Scene! Wie tief fühlte sein Herz ihren Unglauben! Wie konnten sie nur an seiner Liebe zweifeln?
Wohl läßt Gott in Seiner Gnade aus dieser Demütigung
Gutes hervorkommen, ja, Er benutzt sie zum Segen für
Seine Kinder. Wir lesen weiter: „Und auch seine Brüder gingen und fielen vor ihm nieder." Aber was für
Gefühle mußten in dem Herzen Josephs sein! Seine
Brüder thaten dasselbe, was auch der verlorne Sohn zu
thun gedachte: „Und sie sprachen: Siehe, wir sind deine
Knechte." So ist das arme, ungläubige Herz stets bereit,
den Platz des Dieners einzunehmen, um sich verdient
zu machen.
Sicher ist es weit besser, in der Gegenwart unsers
Joseph gedemutigt und gebrochen, als gleichgültig gegen
die Sünde zu sein. Aber wie süß und tröstlich sind
einem niedergebeugten und gebrochenen Geiste jene Worte:
„Fürchtet euch nicht!" und wiederum: „Und nun fürchtet
euch nicht; ich werde euch versorgen und eure Kinder.
Und er tröstete sie und redete zu ihrem Herzen." Ist dies
nicht gerade das, was auch unser Jesus thut? Er weiß
sehr wohl, daß Seine eignen Worte zu einer solchen Zeit
uns ohne Trost lassen würden, wenn sie nicht durch den
Heiligen Geist auf unsre Herzen angewandt würden. Laßt
uns indes nicht vergessen, wie schmerzlich es für Joseph war,
daß seine Brüder an seiner vergebenden Liebe zweifelten.
Mit unsern leiblichen Augen sehen wir unsern Jesus
nicht weinen; wir sehen deshalb auch nicht, wie jene, den
Schmerz, — wenn wir so sagen dürfen, — welchen unsre
Zweifel an Seiner Liebe bei Ihm Hervorrufen. Aber
hören wir Ihn nicht sagen: „Was seid ihr bestürzt, und
54
warum steigen Gedanken auf in euern Herzen? Sehet
meine Hände und meine Füße, daß ich selbst es bin;
betastet mich und sehet, denn ein Geist hat nicht Fleisch
und Bein, wie ihr sehet, daß ich habe." (Luk. 24,38. 39.)
Die Jünger hatten gerade zum ersten Male nach Seiner
Auferstehung die gesegneten Worte aus Seinem Munde
vernommen: „Friede euch!" — Worte, die am ersten Tage
der neuen Schöpfung gesprochen wurden. Warum waren
sie nun noch furchtsam? Was für Gedanken mußten erweckt werden, wenn sie nur auf eine kurze Woche zurückblickten? O welch eine Woche! Nie hatten sich solche Begebenheiten und dazu in so wenigen Tagen ereignet.
Sie waren jetzt die Brüder des anferstandenen Jesus.
Er hatte ihnen eine Botschaft gesandt, um sie dessen zu 
versichern. Nie vorher hatten sie in diesem Verhältnis zu 
Ihm gestanden; dasselbe konnte nicht eher geoffenbart
werden, bis Er gestorben und wieder auferstanden war.
(Joh. 12, 24.) Aber sie hatten diese wunderbare Gnade
noch nicht ergriffen oder verstanden. Und wie Joseph
weinte, so konnte auch der auferstandene Jesus es nicht
ertragen, daß sie an Seiner Liebe zu ihnen zweifelten.
Wenn sie au das dachten, was sie gethan hatten,
und besonders in den wenigen, jüngstvergangenen Tagen,
so hatten sie alle Ursache, in Seiner Gegenwart niedergeschlagen und traurig zu sein. Wenn sie sich aber dessen
erinnerten, was Er gethan hatte, welch eine Ursache zu 
immerwährender Freude hatten sie dann! Ja, wieviel
hängt davon ab, ob wir mit uns oder mit Ihm beschäftigt sind! Was war ihr Verhalten gewesen nach all der
Güte und Fürsorge, die sie erfahren hatten? Sie hatten
Ihn alle verlassen; einer sogar hatte Ihn in Gegenwart
55
Seiner Feinde verleugnet. Wohl hatten Ihn alle geliebt
und liebten Ihn noch; aber ach, wie schwach ist das Fleisch
in der Stunde der Versuchung! Und mehr noch: sie hatten
Seine Liebe erkannt, aber wie bald hatten sie Ihn verlassen, als Seine Stunde gekommen war! Keiner hatte
bei Ihm ausgeharrt. Hatte Er das alles nicht tief gefühlt? Gewiß; aber trotzdem konnten sie völlig ruhig
und getrost sein. Er hatte ja zu ihrem Herzen geredet.
Er wußte im Voraus und sprach cs auch aus, daß Petrus Ihn verleugnen, und daß alle Ihn verlassen würden;
und dennoch hatte Er zu ihnen gesagt: „Euer Herz werde
nicht bestürzt. Ihr glaubet an Gott, glaubet auch an
mich." Er ging hinweg, um nie mehr im Fleische in
ihrer Gemeinschaft gesehen zu werden; aber Er redete zu 
ihrem Herzen und forderte sie auf, auch wenn sie Ihn
nicht mehr sähen, auf Ihn zu vertrauen wie auf Gott
selbst. Auch hatte Er gesagt: „Frieden lasse ich euch,
meinen Frieden gebe ich euch; nicht wie die Welt giebt,
gebe ich euch. Euer Herz sei nicht bestürzt, auch nicht
furchtsam." Stand Er in jenem Augenblick nicht im Begriff, auf das Kreuz zu gehen, um ihre ewige Versöhnung
zu vollbringen? War Er darauf nicht aus den Toten auferstanden, als das Haupt einer neuen Schöpfung, als
der Erstgeborne aus den Toten? Hatte Er ihnen nicht
die freudige Botschaft gesandt, daß sie jetzt Seine Brüder
seien, daß sie mit Ihm in der gleichen Verwandtschaft mit
Gott dem Vater ständen, als Lebende aus den Toten?
Hatte Er doch zu Maria Magdalena gesagt: „Gehe hin
zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf
zu meinem Vater und euerm Vater, zu meinem Gott und
euerm Gott." Das Alte war vergangen, alles war neu
56
geworden; und alles von Gott. Doch sie verstanden es
noch nicht, und deshalb erschraken sie und waren furchtsam, als Er mit dem Gruße: „Friede euch!" in ihre
Mitte trat. Joseph weinte, und Jesus sagte: „Was seid
ihr bestürzt?" Redete Er nicht zu ihrem Herzen? Ja, Er
sagte: „Und warum steigen Gedanken auf in euern Herzen?" Hatte Er nicht ihre Sünden getragen, damit sie
nie mehr ins Gedächtnis vor Gott kommen möchten?
Ja, mein Leser, ist Sein eignes Wort, das Er zu 
unsern Herzen redet, nicht genug? „Friede euch!" rüst Er
uns zu. Satan und unser Gedächtnis weisen uns immer
hin auf unser vergangenes Leben nach dem Fleische. Wir
brauchen nicht zu sagen, daß dasselbe in allem völlig verwerflich ist; allein Jesus hat gesagt: „Friede euch!" und
Er hat diesen Frieden durch Sein auf dem Kreuze vergossenes Blut bewirkt. Frieden und Vergebung sind jetzt
durch Ihn verkündigt worden. „Ihm geben alle die Propheten Zeugnis, daß ein jeder, der an Ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfangen wird durch Seinen Namen." Es heißt nicht: Wer beständig um Vergebung
bittet, dem sollen seine Sünden zuletzt vergeben werden;
sondern: alle, welche glauben, sind gerechtfertigt.
Joseph weinte, als seine Brüder zu ihm kamen und ihn um
Vergebung baten, nachdem er ihnen längst vergeben hatte;
und werden wir nicht das Herz unsers geliebten Herrn
tief betrüben, wenn wir irgend welche Zweifel in Sein
Wort und Seine Liebe setzen? Möchten wir doch verstehen, wie sehr Er in diesen Stellen der Schrift zu unsern Herzen redet! Gewiß war eine wunderbare Gnade
in Joseph vorhanden, aber ihre ganze Fülle erblicken wir
in Jesu. Alle Vorbilder des Alten Testaments waren
nur Schatten oder Bilder; aber in Jesu haben wir die
unendliche Fülle. Gott selbst ist uns in Ihm geoffenbart.
Möchten daher Seine köstlichen Worte: „Friede euch!"
in unsern Herzen stets lebendig bleiben!
Isaak.
(Fortsetzung.)
Am Ende des 26. Kapitels lesen wir: «Und Esau
war vierzig Jahre alt, da nahm er zum Weibe Judith,
bie Tochter Beeris, des Hethiters, und Basmath, die
Tochter Elons, des Hethiters. Und sie waren ein Herzeleid für Isaak und Rebekka."
Darin liegt eine ernste Ermahnung für uns. Um
diese jedoch in der rechten Weise darzustellen, muß ich
auf ähnliche oder gleiche Dinge in der Geschichte Abrahams zurückkommen und zugleich die Geschichte Jakobs
und seines Sohnes Juda mit einigen Worten berühren.
Von Anfang an gab Gott dem Volke Israel Befehl, in ganz besonderer Weise Seinen Willen bezüglich
der Heiraten zu beachten. Sie durften ihre Töchter durchaus nicht den Söhnen der Kananiter geben, noch die
Töchter der Kananiter für ihre Söhne nehmen. (5. Mose
7, 3.) Wenn sie es thaten, so liefen sie Gefahr, von
Gott nicht mehr als Sein Volk anerkannt, sondern aus
dem „guten Lande" ausgerottet zu werden. (Vergl.
Josu 23.) Dementsprechend werden die Tage des Abfalls
Salomos gerade durch Ungehorsam in dieser Sache gekennzeichnet; (1. Kön. 11.) und als in späteren Tagen
der . Ueberrest aus Babylon zurückgekehrt war, konnte keine
wirkliche Wiederherstellung vor Gott stattfinden, bevor
58
nicht die fremden Weiber aus der Mitte des Volkes hinweggethan waren. (Vergl. Esra 10; Nehem. 13.)
Der Gehorsam in dieser Sache bildete daher stets einen
besonderen Prüfstein für den Zustand des Volkes; und
deshalb möchte ich auch gern untersuchen, wie es sich in
dem ersten Teile des ersten Buches Mose damit verhielt.
Denn obwohl damals das Gesetz Gottes noch nicht gegeben war, so wurden doch göttliche Grundsätze wohl verstanden. Und das Verhalten in dieser Sache kann in jener
Zeit ebensowohl als ein Zeugnis von dem Zustande der
Familien-Religion betrachtet werden, wie später von dem
Zustande der Volks-Religion.
Abraham betritt in dieser Sache in entschiedener
Weise „den Weg des Herrn"; und ebenso Elieser, einer
„aus seinem Hause", und Isaak, eines seiner „Kinder".
Abraham sendet eine besondere Gesandtschaft in ein fernes
Land, um für seinen Sohn „ein Weib in dem Herrn"
zu holen; Elieser richtet diese Gesandtschaft mit willigem
Herzen aus, und Isaak wartet geduldig auf den Erfolg
derselben und sucht keinerlei Verbindung mit dem Volke
um ihn her; und obgleich betrübt und einsam, hält er
sich bereit für die von dem Herrn ihm bestimmte Gehülfin.
Wie Abraham, so wartete auch er auf eine Gehülfin aus
der Hand des Herrn, wiewohl es ihn Geduld und einsame Stunden kostete. Dies scheint sein Sinnen auf dem
Felde zur Abendzeit anzudeuten. Er harrte aus. Er hätte
eine Tochter Kanaans nehmen können; aber er harrte aus.
Er wollte lieber unter dem Aufschieben der Erfüllung seiner Hoffnung leiden, als nicht „in dem Herrn" heiraten,
oder sich ein Weib nach seiner eignen Wahl nehmen. Alles
das war außerordentlich schön in dem ersten Geschlecht
59
dieser auserwählten Familie. Der Vater, der Knecht und
der Sohn, jeder an seinem Platze, bezeugen, wie Abraham sein Haus Gott gemäß geordnet hatte, wie er seine
Kinder und seine Hausgenossen den Weg des Herrn lehrte.
(Vergl. Kap. 18, 19.)
Doch wir werden nach und nach ein trauriges Abweichen von diesem Grundsatz bis zur Offenbarung des
gänzlichen Abfalls wahrnehmen.
Nach dem Tode Abrahams wurde Isaak das Haupt
der Familie. Aber im Vergleich mit seinem Vater war er
überaus sorglos im Blick auf die Verheiratung seiner
Söhne, wie uns das Ende des 26. Kapitels dies zeigt.
Er überwachte die Wege derselben nicht, um Unheil zu
verhüten, wie Abraham es gethan hatte. Esau, sein Sohn,
heiratet eine Tochter der Hethiter. Allerdings war das
für Isaak und Rebekka ein Herzeleid; denn sie hatten
gerechte Seele», welche fühlten, wie sie hierdurch „gequält" wurden. Aber ihre eigne Sorglosigkeit hatte
diese Qual über sie gebracht.
Das können wir nicht schön nennen, aber es war
doch noch etwas Gutes dabei: eine gequälte gerechte Seele,
ein Herz, das die Befleckung fühlte. Und das war gut.
Jakob dagegen weicht noch weiter ab. Er kommt nicht
nur nicht dem Unheil zuvor, wie Abraham, noch bekümmert es ihn, wenn es da ist, wie Isaak; sondern mit
einem gleichgültigen Herzen, soweit wir dies seiner Geschichte entnehmen können, erlaubt er seinen Kindern, jede
ihnen zusagende Verbindung einzugehen, und Weiber zu
nehmen aus allen, welche sie erwählten.
Das ist traurig. Hier giebt es keine Freude für
Las Herz, wie bei dem Gehorsam Abrahams; hier ist
60
auch nichts, was den Schmerz des Herzens linder»,
könnte, wie bei dem Kummer Isaaks. Hier ist nur
Anlaß zu schmerzlicher Betrübnis.
Doch Juda geht später in schrecklicher Weise noch
über dies alles hinaus. Er repräsentiert das vierte Geschlecht dieser auserwählten Familie. Er verhütet nicht
nur nicht das Unheil dadurch, daß er in seiner Familie
alles in Ordnung hält, wie Abraham; er betrübt sich
auch nicht über dasselbe, wenn cs vorhanden ist, wie
Isaak; es ist ihm auch nicht einfach gleichgültig, wie
Jakob; nein, er führt das Böse thatsächlich in seine Familie ein! Er selbst nimmt seinem Sohne ein Weib von
den Töchtern der Kananiter. Das überstieg alles Vorhergegangene. Das hieß sündigen mit erhobener Hand. So
finden wir denn in dieser Geschichte der vier Geschlechter
der Patriarchen einen allmählichen, aber ernsten Verfall,
und schließlich den vollständigen Abfall von dem Wege
des Herrn.
Wie ernst ist das, und welch eine Warnung enthält
es für uns! Es ist geschrieben „zu unsrer Belehrung"^
um uns zu warnen, daß wir nicht von den Grundsätzen
Gottes abweichen. Was damals in derselben auserwählten
Familie Geschlecht nach Geschlecht stattfand, kann heute
auch mit derselben auserwählten Person Jahr nach Jahr
geschehen. Die Grundsätze Gottes mögen nur allmähliche
in ganz kleinen Abstufungen, verlassen werden; sie werden
vielleicht zuerst nur gelockert, dann aber vergessen
und schließlich verachtet. Sie geraten aus einer festen
Hand in eine schwache, von da in eine gleichgültige^
und schließlich werden sie von einer rebellischen völlig,
beiseite geworfen. Manche haben im Anfang trotz vieler
61
Schwierigkeiten auf den Grundsätzen Gottes bestanden,
wie Abraham; dann waren sie nur betrübt über das Aufgeben derselben, wie Isaak; später wurden sie gleichgültig
über ihren Verlust, wie Jakob, und endlich haben sie sich
ganz von ihnen abgewandt, wie Juda.
Möchten wir deshalb die ernste Warnung beachten,
welche auch für uns in dieser Erzählung liegt, und uns
vor dem ersten, wenn auch noch so geringen Abweichen
von den Grundsätzen Gottes hüten!
Wenn wir die Geschichte Isaaks nach dieser Begebenheit weiter verfolgen, so werden wir finden, daß sein
sanfter und nachgiebiger Charakter ihn nicht nur zu Schwachheiten, sondern sogar zu Handlungen verleitete, welche ihn
verunreinigten und entehrten, und die nur zur Befriedigung der niedrigen Triebe seiner Natur dienten. Die
Schlußhandlung seines Lebens, die Segnung Esaus und
Jakobs, ist eine Scene voll ernster Warnung und Ermahnung.
Obwohl Isaak, wie wir gesehen haben, über die
Heirat Esaus mit einer Tochter der Hethiter betrübt war,
so hören wir doch gleich nachher, daß derselbe Esau die
stärksten Zuneigungen des väterlichen Herzens wachrief
und besaß, Zuneigungen, denen Isaak, wenn er gekonnt
hätte, alles geopfert haben würde. Wie betrübend war
das! Es erinnert uns an den König Josaphat. Josaphat
besaß auch göttliche Gefühle, aber es mangelte ihm
an göttlicher Energie. Infolge seiner Eitelkeit sündigte
er auf traurige Weise, indem er zuerst sich mit Ahab verschwägerte und dann mit ihm in den Krieg zog. Aber
dennoch hatte er Gefühle, die der Geist Gottes in ihm
hervorgebracht hatte; denn in der Mitte der Propheten
62
Baals fühlte er sich nicht wohl. Eine Stimme in seinem
Innern sagte ihm, daß das Zeugnis jener Propheten nicht
genüge; und deshalb fragte er: „Ist hier kein Prophet
Jehovas mehr, daß wir durch ihn fragen?" Aber trotz
alledem zog er wider Ramoth-Gilead in den Streit, und
zwar in Verbindung mit demselben Ahab, der die besten
Gefühle seiner Seele in so schmerzlicher Weise verletzt
hatte, und der vor seinen eignen Augen, als sie zusammen
auf dem Throne saßen, in dem Geiste vollständigen Abfalls von dem Gott Israels die Propheten Baals um
Rat gefragt hatte.
Das war befremdend und schrecklich zugleich. Aber
etwas ganz Aehnliches sehen wir in unserm Isaak bei der
eben erwähnten Gelegenheit. Auch er besaß Gefühle,
aber nicht die entsprechende Energie. Mit einer göttlichen Gesinnung trauerte er über Esaus Heirat mit einer
Tochter Heths; und doch war derselbe Esau, der auf diese
Weise das Zeugnis in seinem Innern in so gröblicher
Weise verletzt hatte, gerade derjenige, welcher die tiefsten
Gefühle und wärmsten Zuneigungen seines Herzens besaß,
und zwar in einem Maße, daß Isaak nicht vermochte, sich
von denselben zu befreien und für Gott zu handeln.
Nicht durch Eitelkeit fehlte Isaak in solch trauriger
und befremdender Weise, wie späterhin Josaphat, sondern
durch die allgemeine Verderbtheit seines Charakters, der
sich uns als durchweg erschlafft gezeigt hat. Doch mag
der Beweggrund seines Handelns auch ein andrer gewesen
sein, so war Isaak doch, ich möchte sagen, verstrickt durch
einen früheren Ahab, obwohl seine Seele ein Gefühl von
dem Abfall dieses Ahab hatte. Er that, was er konnte,
um Esau zu dem Segen Abrahams zu verhelfen, gerade
63
so wie Josaphat nach Kräften dem König von Israel zu
dem Siege bei Ramoth-Gilead zu verhelfen suchte. Welch
traurige Dinge eröffnen sich hier unsern Blicken, welch ernste
Belehrungen und Warnungen enthalten sie!
Doch wir müssen jene Familienscene in Kap. 27 ein
wenig genauer betrachten. Es giebt da noch andere Personen außer Isaak.
Abrahams Knecht Elieser (vergl. Kap. 24.) hatte
aus dem Hause seines Herrn zwei verschiedene Dinge mitgebracht, als er das Haus Bethuels besuchte. Er brachte
einen Bericht von allem, was Jehova an Abraham gethan hatte, und Geschenke. Diese beiden Dinge wurden
zu Prüfsteinen für jene Haushaltung in Mesopotamien.
Der Bericht teilte zukünftige und ferne Dinge mit und
stand notwendigerweise in Verbindung mit Gott; die Geschenke konnten unabhängig von Ihm sein und waren ein
gegenwärtiger Gewinn. Rebekka wurde durch den Bericht
bewegt. Sie nahm zwar die Kostbarkeiten an; aber die 
Nachrichten, welche der Knecht brachte, waren für sie die
Hauptsache. Der Bericht von dem, was ihrer in einer
in fernem Lande wohnenden Familie, die Jehova gesegnet
hatte, wartete, war mächtig genug, sie abzusondern. Es
handelte sich nicht allein um Isaak oder um den Reichtum
Abrahams; ihr Vater besaß auch Reichtümer, und sie hätte
nicht weit zu gehen brauchen, nm sich ein eignes Heim
und die Annehmlichkeiten eines solchen zu verschaffen. Aber
Jehova hatte Abraham gesegnet und hatte jetzt Glück
zu der Reise seines Knechtes gegeben. Es handelte sich für
Rebekka nicht um die Frage, ob sie Isaak zum Manne
nehmen und an Abrahams Reichtum teilnehmen, oder aber
arm und einsam bleiben wollte. Nein, für sie galt die
64
Frage: Willst du das Teil annehmen, welches der Herr
dir jetzt anbietet, oder dasjenige, welches deine Verwandtschaft und deine Stellung in der Welt dir zusichern?
Und gerade so ist es mit uns, Geliebte. Die Frage
ist nicht: Willst du den Himmel oder nichts? sondern:
willst du den Himmel oder die Welt? willst du das Glück
wählen, welches der Herr in Seinen Verheißungen dir
giebt, oder dasjenige, welches der gegenwärtige Zeitlauf,
die Welt mit ihren Dingen, dir darbietet? Verlangen wir
wirklich nach göttlicher Freude und himmlischen Gütern?
Können wir zu dem Herrn Jesu sagen: Wähle D u unser
Erbteil sür uns? Ist das ferne Land, über welches wir
einen Bericht erhalten haben, unser Gegenstand? Bei Rebekka war es so; sie konnte diese Fragen mit einem freudigen Ja! beantworten. Wir würden ihr Unrecht thun,
wenn wir der Meinung Raum gäben, dem Reichtum Abrahams und der Hand Isaaks hätte auf der andern Seite
gar nichts gegenüber gestanden. Wie schon gesagt und wie
die ganze Erzählung es uns verbürgt, besaß sie in jeder
Hinsicht große Erwartungen, wenn sie daheim blieb. Sie
hatte nicht nötig, eine lange, unbekannte Reise mit einem 
fremden Manne und zu einem fremden Volke zu unternehmen. Aber alle jene Erwartungen verloren ihre Bedeutung und ihren Wert, sobald sie den Bericht Eliesers
im Glauben ausgenommen hatte. Sie folgt ohne Zögern
dem Rufe Gottes.
Rebekka war eine echte Tochter Abrahams. Abraham
hatte auf den Ruf des Gottes der Herrlichkeit die Wüste
durchschritten, und Rebekka durchschreitet jetzt dieselbe Wüste
infolge des Berichtes von dem, was der Gott der Herrlichkeit an Abraham gethan hatte. Sie hatte „denselben
65
Geist des Glaubens". In Abraham mögen wir wohl
«inen stärkeren Ausdruck davon finden, aber es war „derselbe Geist des Glaubens". Abraham war im Glauben
an eine Berufung, die durch nichts Sichtbares bezeugt
war, vorangegangen, während Rebekka gleichsam einem
beglaubigten Bericht folgte. Es war keine Traube von
Eskol aus Kanaan nach Ur in Chaldäa gebracht worden,
um Abraham zu ermutigen, seine Reise anzutreten; wohl
aber wurde ein: „Dies ist seine Frucht" zu Rebekka gesagt in den Knechten und Kamelen, dem Gold und den
Geschmeiden, welche Elieser mitbrachte. Der Bericht wurde
für Rebekka durch diese Dinge beglaubigt. Bei Abraham
war dies nicht der Fall. Er wanderte auf einem Pfade,
den noch niemand zu gehen versucht hatte, während Rebekka
nur den Fußstapfen der Herde folgte. Beide aber befanden sich auf demselben Wege und erreichten dasselbe Ziel.
Was wir hier in Rebekka sehen, ist einfach und
schön; es ist der Weg des Glaubens bis zur heutigen
Stunde, die Art und Weise, wie er handelt. Aber wir
finden hier noch mehr, und zwar etwas ganz anderes.
Rebekkas Charakter hatte sich bereits gebildet, ehe
Elieser kam; wie es wohl bei uns allen der Fall ist,
bevor wir von Gott lebendig gemacht werden. Der Augenblick, in welchem wir durch Seine Gnade und Macht göttliches Leben empfangen und aus der Welt herausgerufen
werden, findet uns schon in einem bestimmten Charakter
und Temperament, in einer ausgeprägten Gemütsart. Er
findet uns vielleicht als Kreter, (Tit. 1.) oder als Brüder
und Schwestern Labans, oder als solche, die den Stempel
einer besondern Verderbtheit der Natur tragen. Und diesen
Charakter und diese Gemütsart, welche wir von Natur,
66
durch Erziehung, durch die Einflüsse unsrer Umgebung und
dergleichen besitzen, nehmen wir, nachdem wir aus dem
Geiste geboren sind, mit, und tragen sie in uns durch die
Wüste von Paddan-Aram bis zum Zelte Abrahams.
Das ist sehr beachtenswert. ES ist eine ernste Sache,
daß uns bei der Wiedergeburt durch den Geist Gottes
die Natur oder die Macht früherer Gewohnheiten, der
Erziehung oder des Familiencharakters ankleben bleiben.
„Die Kreter sind immer Lügner."
Laban, mit welchem Rebekka zusammen ausgewachsen
war, war ein listiger, kluger und weltlicher Mann. Offenbar wurde er bei dem Besuche Eliesers nur durch die
mitgebrachten Geschenke geleitet. Sie ebneten dem Knechte
Abrahams den Weg, wie wir in Sprüche 18, 16 lesen:
„Das Geschenk des Menschen macht ihm Raum." Laban
war augenscheinlich die treibende, thätige und wichtigste
Person in seines Baters Bethuel Hause; er hatte Gefallen an Geschäften, deren Erledigung Gewandtheit erforderte. Alles das ist ein böses Zeichen. Es ist nicht gut,
wenn man frühzeitig klug und schlau ist und sich gern
mit Angelegenheiten zu schaffen macht, deren Ordnung
Gewandtheit oder gar Verschlagenheit erheischt. Aber ein
solcher Mann war Laban; und Laban war Rebekkas Bruder.
Rebekka hatte bis zu ihrer Heirat stets mit ihm zusammengelebt, und der Familiencharakter offenbart sich in jener
einen wichtigen Handlung, an welcher sie teilzunehmen
berufen wurde, in häßlicher Weise.
Wie Abraham und Sarah einst jenen bösen, unreinen
Vertrag mit einander abschlossen, (1. Mose 12.) als sie
ihres Vaters Haus verließen, um mit Gott zu wandeln,
so brachte Rebekka diesen Familiencharakter, diesen Labans-
67
Sauerteig mit. Wir tragen nach unsrer Bekehrung die 
Natur in ihrer Verderbtheit in uns, und neben dieser
allgemeinen Verderbtheit auch noch unsre besonderen fleischlichen Charakter-Eigentümlichkeiten; und es
ist unsre ernste Pflicht, dieselben scharf zu verurteilen,
damit wir gesund seien, sittlich gesund im Glauben. (Tit 1,13.)
Dies wird uns durch die Geschichte Rebekkas, welche in dem
24. Kapitel in so schönem Lichte vor unsre Augen tritt,
aufs neue eingeprägt.
Doch wir finden hier noch mehr dieser Art. Gerade
so wie bei Rebekka bildeten sich auch bei Jakob Gemüt
und Charakter durch den nämlichen frühesten Einfluß. Er
war sein Leben lang, ich meine so lange er Kraft besaß,
thätig aufzutreten, ein trägherziger, berechnender Mann;
und als solchen finden wir ihn auch in den Ereignissen
des 27. Kapitels. Er war ein nur zu williger und gelehriger Schüler seiner Mutter, der Schwester Labans,
deren Lieblingskind er von seiner Geburt an gewesen war.
Ach! wie Laban seine Schwester Rebekka verdorben hatte,
so verdarb diese ihren Sohn Jakob.
Aber das ist noch nicht alles; wir finden noch mehr
in diesem Kapitel. Isaak, dessen Gemüt und Charakter,
wie wir gesehen haben, in so auffallender Weise durch sein
früheres Leben in Sarahs Zelt beeinflußt worden waren,
sinkt herab zu der Sucht, die niedrigen Begierden seiner
Natur zu befriedigen. Er liebte seinen Sohn Esau, weil
er von dessen Wildpret aß. Das war eine armselige
Sache, ja noch mehr als armselig. Und wir werden nicht
fehlgehen, wenn wir aunehmen, daß diese Liebhaberei
Isaaks für Wildpret Esau nur noch mehr zur Jagd ermuntert haben wird; gerade so wie Rebekkas List und
68
Gewandtheit, welche sie aus dem Hause ihres Bruders iir
Paddan-Aram mitgebracht hatte, auf das Gemüt und den
Charakter ihres Lieblings Jakob einwirkten. So trug denn
der Vater zum Verderben des einen Kindes, und die
Mutter zu demjenigen des andern bei.
Wie viel Verkehrtes und Trauriges, welch eine Verunreinigung der Herzen von Eltern und Kindern zeigt sich
in dieser Familienscene! Und ach! wir sind noch nicht zu
Ende damit. Das Herz ist nicht nur für solche Verunreinigungen empfänglich, sondern zu Zeiten wagt es selbst,
seine Verderbtheit in das Heiligtum zu bringen.
„Wenig fehlte, so wäre ich in allem Bösen gewesen, inmitten der Versammlung und der Gemeinde." (Spr. 5,14.)
Jahrhunderte nachher wurde zu Aaron gesagt: „Wein
und starkes Getränk sollst du nicht trinken, du und deine
Söhne mit dir, wenn ihr in.das Zelt der Zusammenkunft hineingeht." (3. Mose 10, 9.) Die Natur darf nicht
aufgeweckt werden, wenn es sich darum handelt, des Dienstes
Gottes zu warten; sie darf nicht dadurch, daß man ihr
Nahrung giebt, in Thätigkeit gesetzt werden, um die Pflichten des Heiligtums zu verrichten. Starkes Getränk mag
erheitern und sinnliche Geister in Wallung bringen, aber
es befähigt nicht zum Priesterdienst im Hause Gottes.
Aber selbst zu einer solchen Entweihung scheint Isaak
verleitet worden zu sein. „Und nun nimm doch," so sagt
er zu Esau, „dein Jagdgerät, deinen Köcher und deinen 
Bogen, und gehe hinaus auf's Feld und jage mir ein
Wildpret, und bereite mir ein schmackhaftes Gericht, wie
ich's gern habe, und bringe es mir her, daß ich esse, auf
daß meine Seele dich segne, ehe ich sterbe." Er stand im
Begriff, die letzte religiöse Handlung eines patriarchalischen
69
Priesters zu verrichten, und er forderte so zu sagen Wein
und starkes Getränk, die Nahrung des blos natürlichen
Lebens, um dadurch aufgeweckt und zu diesem Dienste befähigt zu werden.
ES war in der That höchst traurig, in einem solchen
Augenblick an Wildpret zu denken. Wir werden uns alle
bewußt sein, wie viel von der Natur oft unsre heiligen
Handlungen befleckt, wie oft bloße Erregung des Fleisches
irrtümlich für die Wirksamkeit des Geistes gehalten wird.
Wir sollten an dem Orte der Gemeinschaft ernstlich dagegen wachen. Es sollte Betrübnis und Demütigung in
uns wachrufen, wenn wir entdecken, daß die Natur uns
da irgendwie leitet oder beeinflußt; wir sollten es als
etwas Böses, oder doch wenigstens als Schwachheit bekennen und immer dagegen auf der Hut sein. Wie schrecklich aber ist es, sich gar in ähnlicher Weise, wie Isaak,
darauf vorzubereiten, den Wein und das starke Getränk
sorgfältig zu mischen, um einen vollen Schluck davon nehmen zu können. Das ist wahrlich eine ganz außerordentliche Befleckung.
Und nichts anderes als Unehre und Verlust kann die
Folge einer solchen Handlungsweise sein. Das ganze Verderben, das sich hier in dieser Familie offenbart, wird
nach der Heiligkeit Gottes gerichtet; denn es war eine
Familie Gottes auf der Erde. Gott konnte das Böse nicht
ungestraft lassen. „Aus allen Geschlechtern der Erde habe
ich nur euch erkannt; darum werde ich an euch alle eure
Ungerechtigkeiten heimsuchen." (Amos 3, 2.) Isaak wird
beiseite gesetzt; Rebekka sieht Jakob nie wieder; und Jakob
selbst, dieser klug berechnende „Ueberlister", weilt zwanzig
Jahre lang fern von dem Hause seines Vaters, von Müh-
70
salen, Ungerechtigkeit und Bedrückung umgeben, und wird
selbst immer wieder überlistet und betrogen. Nichts kam
bei allem heraus, mögen wir nun die sich hin und her
windende Klugheit der einen Partei oder die fleischlichen
Neigungen und Bevorzugungen der andern betrachten, nichts
als Enttäuschung und Beschämung, verbunden mit den
Vorwürfen des Gewissens gegenüber der Heiligkeit des
Herrn. (Fortsetzung folgt.)
Der Ruf des Herrn.
„Er aber sprach: Komm! Und Petrus stieg aus dem
Schiffe und wandelte auf deck Gewässer, um zu Jesu zu
kommen." (Matth. 14, 29.)
Auch wir, geliebte Brüder, sind berufen mit heiligem
Rufe, wie geschrieben steht: „Der uns errettet hat und
berufen mit heiligem Rufe, nicht nach unsern Werken,
sondern nach Seinem eignen Vorsatz und nach der Gnade,
die uns in Christo Jesu gegeben worden ist, vor den
Zeiten der Zeitalter." (2. Tim. 1, 9.) Dieser Ruf erzeugt auch heute noch da, wo der Glaube ihn vernimmt,
dieselbe Wirkung wie bei Petrus. Petrus stieg aus dem
Schiffe und gab damit alles auf, was der Natur oder
dem Fleische zur Stütze dienen konnte. Er wandelte auf
dem Gewässer, d. h. auf einem Wege, den nur der Glaube
zu gehen vermochte.
Der Ruf des Herrn ist an uns ergangen, damit wir
Ihm entgegengehen sollen, um für ewig bei Ihm zu sein.
Im Anfang hat die Kirche diesen Ruf wohl verstanden,
denn die Wirkung desselben zeigte sich in ihrem Wandel.
Die Gläubigen waren in der That ausgegangen»
71
dem Bräutigam entgegen. (Matth. 25, 1.) Sie hatten
die Welt und alles, was sie mit derselben verband, ausgegeben. Die Erwartung des Herrn und das Verlangen,
bei Ihm zu sein, beherrschte ihren ganzen Wandel und
hielt sie getrennt vom Bösen. Sie wandelten in der Kraft
und Energie des Geistes den Pfad des Glaubens, auf
welchem ihnen die Welt nicht zu folgen vermochte. Diese
kann wohl alle christlichen Formen annehmen, wie sie es
ja gethan hat; aber jenen Pfad 'des Glaubens in der
Kraft des Geistes zu wandeln, das ist ihr völlig unmöglich.
Die Welt hätte sich nie mit den Christen verbunden, ja,
sie hätte sich ihnen nicht einmal nähern können, wenn
nicht diese sich ihr zuerst genähert hätten. Aber das Verhalten der ersten Christen zeigte in der That, daß sie
gleich ihrem Herrn nicht von dieser Welt, sondern
Fremdlinge hienieden waren. Und der Haß, welchen sie
von feiten der Welt erfahren mußten, gab Kunde von
der Entschiedenheit, mit welcher sie sich von dem Geiste
und den Grundsätzen derselben getrennt hatten, und zeigte,
wie sehr sie in dem Geiste und der Gesinnung des Herrn
wandelten. Es bestätigte sich an ihnen das Wort des
Herrn: „Wenn euch die Welt haßt, so wisset, daß sie
mich vor euch gehaßt hat. Wenn ihr von der Welt wäret,
so würde die Welt das Ihrige lieben; weil ihr aber nicht
von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt auserwählt habe, darum haßt euch die Welt ... Ich habe
ihnen Dein Wort gegeben, und die Welt hat sie gehaßt,
weil sie nicht von der Welt sind, gleichwie ich nicht von
der Welt bin." (Joh. 15, 18. 19; 17, 14. 16.)
Ein Blick in den ersten Brief an die Thessalonicher
bestätigt uns das Gesagte. Die Gläubigen in Thessalonich
72
hatten den Ruf des Herrn vernommen und verstanden,
und die Wirkungen davon zeigten sich bei ihnen in voller
Frische. Der Apostel konnte von ihnen rühmen: „Und ihr
seid unsre Nachahmer geworden und des Herrn, indem ihr
daS Wort ausgenommen habt in vieler Drangsal mit
Freude des Heiligen Geistes, so daß ihr allen Gläubigen in Macedonien und Achaja zu Vorbildern geworden
seid." (Kap. 1, 6. 7.) Und wiederum: „Denn, Brüder,
ihr seid Nachahmer geworden der Versammlungen Gottes,
die in Judäa sind in Christo Jesu, weil auch ihr dasselbe
von den eignen Landsleuten erlitten habt, wie auch jene
von den Juden, die sowohl den Herrn Jesum als auch
die Propheten getötet, und uns durch Verfolgung weggetrieben haben." (Kap. 2, 14. 15.) Die Thessalonicher
hatten reichlichen Anteil an den Leiden des Apostels, ja
an denen des Herrn selbst, sowie an den Trübsalen der
treuen Gläubigen in Judäa; und dies einfach aus dem
Grunde, weil sie im vollen Sinne des Wortes von allem
ausgegangen waren, was nicht mit ihrer himmlischen
Berufung im Einklänge stand. Sie hatten viele Drangsale,
aber auch Freude des Heiligen Geistes; denn nichts war
da, was diesen betrübte. Er konnte Seine Macht ungehindert in ihnen entfalten und ihnen das Kommende
verkündigen. (Joh. 16, 13.) Sie hatten der Welt entschieden den Rücken gewandt, und ihr Angesicht auf das
Kommen des Herrn gerichtet. „Denn sie selbst," sagt der
Apostel, „verkündigen von uns, welchen Eingang wir bei
euch hatten, und wie ihr euch von den Götzenbildern zu 
Gott bekehrt habt, zu dienen dem lebendigen und wahren
Gott und Seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten."
(Kap. 1, 9.) Das Kommen des Herrn wird in jedem 
73
Kapitel dieses Briefes erwähnt, und dieses beweist, wie
sehr die Herzen jener jungen Gläubigen davon erfüllt waren. Gleich Petrus hatten sie das Schiff verlassen, um
zu Jesu zu kommen, obgleich der Weg über das Gewässer
führte. Christus war der Gegenstand ihrer Herzen und
ihrer Sehnsucht, und deshalb war ihre Gemeinschaft mit
Gott, dem Vater, und mit dem Herrn Jesu Christo eine
so überaus innige. Der Apostel redet sie an als „eine Versammlung in Gott, dem Vater, und dem Herrn
Jesu Christo." (Kap. 1, 1.) In ihrem Wandel drückten
sich die drei großen Charakterzüge des Christentums, Glaube,
Hoffnung und Liebe, in hervorragender Weise aus. (Kap.
1, 3; 1. Kor. 13, 13.) Ihr ganzes Leben war mit einem 
Worte Gott geweiht; sie dienten dem lebendigen und wahren
Gott. Gleich Paulus konnten auch sie sagen: „Eins aber
thue ich: Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend
nach dem, was davorne ist, jage ich, das vorgesteckte Ziel
anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes
nach oben in Christo Jesu." (Phil. 3, 14.)
Unmöglich konnte gegenüber einem solch treuen Zeugnis der Haß der Welt ausbleiben. Das Licht leuchtete zu
hell, und der Wandel war zu himmlisch, als daß die Welt
dieses hätte stillschweigend ertragen können. Wie die Samariter wegen ihrer angebornen Feindschaft gegen die Juden den Herrn einst nicht aufnehmen wollten, weil Sein
Angesicht auf Jerusalem gerichtet war, (Luk. 9, 53.) so
kann die Welt wegen ihrer angebornen Feindschaft gegen
Christum es nicht ertragen, wenn das Angesicht der Gläubigen unverwandt auf Seine Herrlichkeit und Ankunft gerichtet ist. Die Feinde des Stephanus knirschten mit den
Zähnen, als er sein freimütiges Zeugnis gegen sie ab­
74
legte und, unverwandt gen Himmel schauend, ausrief:
„Siehe, ich sehe die Himmel geöffnet und den Sohn des
Menschen zur Rechten Gottes stehend!" Ihre blinde Wut
kannte keine Grenzen mehr. (Apstgsch. 7, 54 — 58.) Die
Welt will nicht, daß Christus anerkannt werde; und jemehr die Gläubigen Ihn lieben, destomehr werden sie
von ihr gehaßt.
Aber wenn sich auch der Haß der Welt gleich den
hochgehenden Wogen eines stürmischen Meeres den Gläubigen entgegenstellte, so vermochte dies doch nicht ihren
Lauf zu hemmen, noch ihren Mut zu schwächen. Der Blick
auf den Herrn, dessen Ruf sie vernommen hatten, und
das Verlangen, zu Ihm zu kommen, hielt sie hoch oben
über den Umständen. Ja, der Widerstand der Feinde diente
nur dazu, die Gesinnung ihres geliebten Herrn umsomehr
bei ihnen zu offenbaren. Angesichts eines qualvollen Todes
betete Stephanus für seine Feinde: „Herr, rechne ihnen
diese Sünde nicht zu!" (Apstgsch. 7, 60.) Da war kein
Wanken, kein Ermatten! Ebenso wenig beiden Gläubigen
zu Thessalonich trotz all ihrer Drangsale und Verfolgungen.
Der Apostel hatte hingesandt, um ihren Glauben zu erfahren, ob nicht etwa der Versucher sie versucht, ihren
Glauben zum Wanken gebracht und somit seine Arbeit
vergeblich gemacht habe. Aber Timotheus konnte dem
Apostel die erfreuliche Botschaft von dem ungeschwächten
Glauben und der unveränderten Liebe dieser treuen Gläubigen zurückbringen. (Kap. 3, 4—6.)
Ebenso sehen wir bei dem Apostel selbst, wie die 
zuversichtliche Hoffnung auf das Kommen des Herrn
ihm in allen seinen Leiden Kraft zum Ausharren verlieh und seinen Glauben stählte. Auch er erwartete Tag
75
für Tag den Herrn, wie er sagt: „Darnach werden wir,
die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit
ihnen, (den Auferstandenen) entrückt werden, in Wolken,
dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir
allezeit bei dem Herrn sein." (Kap. 4, 17.)
Welch eine Treue und Energie des Glaubens, welch
ein Ausharren in den Leiden, und welch ein entschiedenes
Zeugnis haben die Gläubigen der ersten Zeit an den Tag
gelegt! Sie hatten den heiligen Ruf des Herrn gehört
und verstanden ; und das brachte solch mächtige Wirkungen
in ihnen hervor. Nichts wirkt heiligender auf unsern ganzen Wandel, als das Bewußtsein, daß Gott uns zu Seinem
eignen Reiche und Seiner eignen Herrlichkeit beruft.
(1. Thess. 2, 12.) „Und jeder, der diese Hoffnung zu
Ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie Er rein ist." (1. Joh.
3, 3.) Der Verfall der Kirche hat begonnen, sobald sie
ihre himmlische Berufung und die Erwartung des Herrn
aus dem Auge verlor. Der Bräutigam verzog, und alle
wurden schläfrig und schliefen ein. Von da an, daß der
böse Knecht in seinem Herzen sagte: „Mein Herr verzieht
zu kommen", fing er an zu essen und zu trinken mit den
Trunkenen und die Mitknechte zu schlagen. (Matth. 25,5;
24, 48. 49.) Die Liebe zu Christo erkaltete, und die Erwartung Seiner Ankunft schwand immer mehr; und in
demselben Maße nahm die Liebe zur Welt zu. Anstatt
ein Fremdling auf der Erde zu sein, wurde die Kirche
wohnhaft hienieden. Und seitdem findet der Ausdruck:
„Die auf der Erde wohnen", (Offenb. 3, 10.) seine besondere Anwendung auf die bekennende Christenheit.
Auch die Kraft des Zeugnisses gegenüber der Welt
und die Liebe der Christen zu einander ist mit dem Außer-
76
achtlassen ihrer himmlischen Berufung verloren gegangen.
In demselben Maße wie die Christen sich der Welt näherten
und sich mit ihr verbanden, verleugneten sie ihre Einheit und zersplitterten sich in viele Parteien. Die Kirche
hat das, was einst ihr Ruhm, ihre Zierde und Ehre war,
eingebüßt; sie hat die Schmach Christi vertauscht gegen
die Ehre dieser Welt, und die sich zu ihr bekennen, indem
sie nur äußerlich den Namen Christi tragen, sind „Feinde
des Kreuzes" geworden. Und ach! wo sind der Mut, die
Kraft und Energie des Geistes, mit welchen einst die Gläubigen ihre Leiden und Prüfungen ertrugen? Wo ist das
Ausharren auf dem Pfade des Glaubens, welches das Bewußtsein des heiligen Rufes und die beständige Erwartung
des geliebten Herrn den Christen im Anfang verlieh?
Bereits seit den Tagen der Apostel hat die Erwartung des Herrn seitens der Kirche aufgehört, und seitdem
ist sie immer tiefer gefallen. Dies bestätigt uns ihre Geschichte, wie sie uns in den sieben Sendschreiben der Offenbarung dargestellt wird. -Der einst so hell strahlende
Leuchter ist düster geworden. Die Kirche verließ ihre „erste
Liebe", und der Herr erwartete, daß sie Buße thue. Aber
nach langem, vergeblichem Harren kündigt Er ihr schließlich
das Gericht an: „Und ich gab ihr Zeit, auf daß sie
Buße thue; und sie will nicht Buße thun von
ihrer Hurerei. Siehe, ich werfe sie in ein Bett, und
die, welche mit ihr Ehebruch treiben, in große Drangsal."
(Offenb. 2, 21. 22.)
Von da an richtet sich die Stimme des Geistes nicht
mehr an die ganze bekennende Kirche, sondern nur an einen Teil
derselben, und in Philadelphia ausschließlich an die wahren
Christen, welche so zu sagen nur noch einen Ueberrest in
77
ihr bilden. An diese ist in der gegenwärtigen Zeit des
tiefsten Verfalls von neuem der Ruf des Herrn ergangen:
„Ich komme bald; halte fest, was du hast, auf daß niemand deine Krone nehme!" (Offenb. 3, 11.) Und dieser
Ruf ist vernommen worden von allen, die „ein Ohr haben".
Der Mitternachtsruf: „Siehe der Bräutigam! gehet
aus, Ihm entgegen!" (Matth. 25, 6.) hat sie aus
ihrem Schlafe aufgeweckt. Die Wirkung dieses Rufes hat
sich geoffenbart, indem Viele sich von der Welt und ihren
Systemen getrennt haben, um Jesu entgegen zu gehen.
Er ist von neuem der Gegenstand ihrer Herzen, und
Sein Name der alleinige Mittelpunkt ihrer Gemeinschaft
geworden. Sie fühlen sich in Ihm aufs Innigste unter
einander verbunden, und wandeln unter der Leitung des
Heiligen Geistes und des Wortes Gottes auf dem wenn
auch schwierigen, aber doch einfachen Pfade des Glaubens.
Der Ruf des Herrn: „Ich komme bald!" giebt ihnen
immer neuen Mut und neue Kraft zum Ausharren, und
bewahrt sie auf dem schmalen Pfade der Trennung von
dem Bösen. Er verleiht ihrem ganzen Wandel das Gepräge der Einfachheit, welche die auf den Herrn wartenden
Gläubigen stets kennzeichnete. „Eins aber thue ich",
war das Wort des großen Apostels, und ist heute das
Wort aller derer, welche in Wahrheit auf den Ruf
des Herrn achten. Ihr Weg ist einfach, weil sie im
wahren Sinne des Wortes ausgegangen sind und ihr
ganzes Verlangen auf die Ankunft des Herrn gerichtet
haben.
Aber trotzdem der Ruf des Herrn an alle Gläubigen ergangen ist, so zeigt sich doch nicht bei allen die 
Wirkung desselben. Nicht alle wandeln einen so einfachen
78
Weg; nicht alle gehen mit einem glücklichen Herzen voran.
Das Ausharren in den Prüfungen fällt ihnen schwer,
und es mangelt ihnen die Kraft und Energie des Heiligen
Geistes. Sie vermögen weder die Welt noch sich selbst
völlig aufzugeben; der eigne Wille ist nicht gebrochen;
das Fleisch ist wirksam, und der Heilige Geist betrübt.
Sie bekennen errettet zu sein, aber sie beachten nicht, daß
sie auch berufen sind mit heiligem Rufe; berufen aus
einer verderbten Welt zur Herrlichkeit Christi, aus der
Finsternis zu Seinem wunderbaren Lichte, (1. Petr. 2, 9.)
aus der Unreinigkeit zur Heiligkeit. (1. Thess. 4, 7.)
Geliebte Brüder! sollten wir noch länger in Verbindung
bleiben mit dem, woraus uns das kostbare Blut Christi
errettet und die unendliche Gnade Gottes berufen hat?
Wenn es wahr ist, daß „das Alte vergangen und alles
neu geworden ist", (2. Kor. 5, 17.) sollten wir dann
nicht praktischerweise alles aufgeben, was jenem alten Zustande angehört? Die wir dem Fleische nach in Christa
gestorben sind, sollten wir noch nach dem Fleische wandeln? „Wenn wir durch den Geist leben, so lasset uns
auch durch den Geist wandeln;" (Gal. 5, 25.) und dies
umsomehr, als in unsern Tagen der Heilige Geist in
besondrer Weise bemüht ist, die Herzen der Gläubigen auf die nahe Ankunft unsers geliebten Herrn zu 
richten und allerseits den Ruf zu erwecken: „Komm, Herr
Jesu!"
Wie kommt es nun aber, daß viele Gläubigen, die
den Ruf des Herrn verstanden haben und infolge dessen
von der Welt und ihren Systemen ausgegangen sind,
trotzdem mit unglücklichem Herzen einhergehen? Ach! ihre
Hoffnung ist nicht mehr so lebendig wie im Anfang.
79
Man bemerkt darum auch in ihrem Wandel nicht mehr
dieselbe Frische und Energie des Glaubens wie früher.
Und obgleich sie ihre Einheit am Tische des Herrn bekennen, so zeigt doch die praktische Verwirklichung derselben
einen großen Mangel. Die traurigen und leider oft andauernden Zwistigkeiten hie und da zeigen nur zu deutlich, daß die Liebe erkaltet ist. Und leider ist es nur zu
wahr, daß sich eine Abnahme des geistlichen Lebens und
eine zunehmende Verweltlichung bei vielen unter ihnen
wahrnehmen läßt. Der Name Jesu hat nicht mehr die
Anziehungskraft für sie wie ehedem, und die Wahrheit
betreffs der nahen Ankunft des Herrn hat ihre Kraft und
ihren Reiz für sie verloren. Sie kennen ihre himmlische
Berufung, was vop vielen andern Gläubigen nicht gesagt
werden kann; aber anstatt diesen Vorzug zu schätzen und
zu würdigen, und sich nun umso dankbarer und treuer
im Wandel zu zeigen, fangen sie an lau und träge zu
werden. Alles dieses zeigt uns, wie uns trotz des Besitzes der Wahrheit die Gefahr des Verfalls droht, wenn
wir nicht wachsam sind.
Wie wichtig ist daher die Ermahnung, welche der
Herr uns in Voraussetzung dieser Gefahr gegeben hat:
„Halte fest, was du hast, auf daß niemand deine
Krone nehme." Wenn der Herr uns das, was der Kirche
seit dem Tode der Apostel verborgen geblieben ist, und
was selbst heute noch viele wahre Gläubige nicht kennen,
wieder geoffenbart und anvertraut hat, so ist unsre Verantwortlichkeit umso größer. Und wie sollte uns der Umstand, daß es dem Feinde gelungen ist, die Kirche zum
Falle zu bringen und ihr die Krone zu rauben, als sie
noch im Besitze der Wahrheit war, zur ernsten Warnung
80
dienen. Möchten wir daher stets des Rufes des Herrn
eingedenk bleiben: „Ich komme bald; halte fest, was
du hast, auf daß niemand deine Krone nehme!"
Gott verkündigt Frieden.
„Das Wort, das Er den Söhnen Israels gesandt
hat, Frieden verkündigend durch Jesum Christum; dieser ist aller Herr." (Apstgsch. 10, 86.) — Eine
der wichtigsten Fragen, die einem Menschen vorgelegt werden können, ist diese: „Hast du Frieden mit Gott?" und
niemand sollte sich beruhigen, bis er dieselbe auf das Bestimmteste bejahen kann. Christus hat Frieden gemacht
durch Sein am Kreuze vergossenes Blut, und Gott verkündigt Frieden durch Jesum Christum. Das Werk
Christi ist die einzig sichere Grundlage des Friedens; und
je einfacher und völliger der Gläubige auf dieses Werk
vertraut, desto fester wird sein Frieden sein; alles Vertrauen auf etwas in ihm selbst schwächt denselben. Und
doch wie viele giebt es, die mit sich selbst, mit ihrem
Thun, ihrem Glauben, ihren Gefühlen :c. beschäftigt
sind, anstatt einzig und allein auf Christo und Seinem
Werke zu ruhen! Sie blicken auf ihre Erfahrungen, anstatt auf den gekreuzigten und auferstandenen Heiland.
So oft sich ihre Gefühle daher verändern, so oft verändert
sich auch ihr Friede. Einmal sind sie hoch droben, ein
anderes Mal tief drunten. Sie sind voll Unruhe, Furcht
und Zweifel. Eine göttliche Gewißheit kennen sie nicht.
Wie wäre das auch möglich? Gott verkündigt Frieden
durch Jesum Christum, nicht aber durch unsre inneren
81
Erfahrungen und Gefühle, oder durch allerlei äußere religiöse Uebungen.
Die Erkenntnis dieser großen Wahrheit kann allein
wahren Frieden geben. Und wie gut, daß es der wohlgefällige Wille Gottes war, der Seele des Gläubigen
einen sichern und bleibenden Frieden zu schenken! Wenn
es nicht so wäre, würde Er ihn dann wohl verkündigen?
Wenn Er uns eine Botschaft des Friedens sendet, so ist
es sicher auch Sein Wille, daß wir Frieden haben sollen.
Er hat Seinen eingebornen und geliebten Sohn dahingegeben als eine Sühnung für unsre Sünden, und wir
haben nichts anderes zu thun, als durch den Glauben an
Christum den Frieden, den Er auf dem Kreuze für uns
gemacht hat, in Empfang zu nehmen und dann — Ihn
zu preisen.
Wir lesen in Röm. 4, 25: „Er ist unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben und unsrer Rechtfertigung
wegen auferweckt worden." Hier haben wir die feste und
unvergängliche Grundlage des Friedens eines Sünders —
den einzig wahren Boden, auf welchem Gott den Frieden
verkündigen kann. Jesus Christus ist unsrer Uebertretungen
wegen dahingegeben worden. Laßt uns dies mit aller
Sorgfalt beherzigen. Laßt uns namentlich beachten: wer
hingegeben worden ist, wer Ihn hingab, und für was
Er hingegeben wurde. Ein klares Verständnis über diese
drei Punkte ist für den Besitz oder Genuß des Friedens von
der größten Wichtigkeit.
Wer ist es nun, der für uns hingegeben wurde?
Der Heilige, das fleckenlose Lamm, Christus, der Sohn
Gottes, Er, der von Ewigkeit her im Schoße des Vaters
war, die Freude und Wonne des Vaters, der ewige Sohn.
82
Er wurde Mensch, ging arm und verachtet durch diese
Welt, wurde verschmäht und aufs schrecklichste verhöhnt,
und endlich ans Kreuz genagelt; Er starb, wurde begraben, wurde am dritten Tage aus den Toten auferweckt 
und sitzt jetzt zur Rechten Gottes, mit Herrlichkeit und
Ehre gekrönt.
Das ist der, welcher hingegeben worden ist. Er war
beladen mit unsrer Ungerechtigkeit. Er war unser Stellvertreter auf dem Kreuze; Er nahm unsern Platz dort
ein und empfing von der Hand des gerechten Gottes alles,
was wir verdient hatten. Alle unsre Sünden und Ungerechtigkeiten wurden auf Ihn gelegt; Er, der Sünde nicht
kannte, wurde für uns zur Sünde gemacht. Er starb an
unsrer Statt; Er, der während Seines ganzen Lebens
hienieden ein duftender Wohlgeruch vor Gott gewesen war,
wurde dem Tode überliefert, wurde mit allen unsern
Uebertretnngen beladen.
Wer aber gab Ihn hin? Wir lesen in Jesaias 53:
„Jehova gefiel's, Ihn zu zerschlagen." „Jehova hat
Ihn treffen lassen unser aller Ungerechtigkeit." Und in
2. Korinth 5 lesen wir: „Gott hat Ihn für uns zur
Sünde gemacht." Gott also hat es gethan. Niemand
von uns kann sagen: „Ich habe meine Sünden auf Jesum
gelegt." Wenn unser Frieden davon abhängig wäre, daß
wir selbst unsre Sünden auf Ihn legten, so würden wir
nie wahren Frieden mit Gott erlangen; denn wir kennen
nicht die ganze Menge unsrer Sünden, die ganze Größe unsrer Schuld und die Tiefe unsers Verderbens. Gott allein
kennt dies alleS; und um Frieden mit Gott zu haben,
muß ich wissen, daß Er befriedigt ist. Gott war der beleidigte Teil; gegen Ihn haben wir gesündigt und auf
alle Weise Ihn verunehrt, und darum mußte E r befriedigt
werden. Und, gepriesen sei Sein Name! Er ist befriedigt
worden, denn Er selbst hat ein Lösegeld gefunden. Er
legte unsre Sünden, so wie E r sie kannte, auf das Haupt
des göttlichen Sündenträgers. Alles was nötig war, nicht
nur im Blick auf unsern Zustand, sondern auch zur Be­
83
friedigung Seiner Ansprüche, zur Aufrechthaltung Seiner
Majestät und zur Verherrlichung Seines Namens, ist in
dem Versöhnungstode Seines Sohnes völlig bewirkt worden. Und deshalb, weil Er vollkommen befriedigt ist,
kann Er uns Frieden verkündigen durch Jesum Christum.
Der fleckenlose Jesus ist an unsrer Statt gerichtet worden. Gott verbarg Sein Angesicht vor Ihm, verschloß
Sein Ohr vor Seinem Schreien, Er verließ Ihn in jener
schrecklichen Stunde. Und warum? Weil Er unsrer
Uebertretungen wegen dahingegeben war. Gott verließ
Ihn, um uns annehmen zu können. Er behandelte Ihn,
wie wir es verdient hatten, damit Er uns behandeln
könnte, wie Er es verdient hat. Jesus nahm unsern
Platz im Tode und Gericht ein, damit wir Seinen Platz
im Leben, in Gerechtigkeit und ewiger Herrlichkeit einnehmen möchten.
Und jetzt bleibt uns noch übrig zu fragen, obwohl
diese Frage eigentlich schon in dem Vorhergehenden beantwortet worden ist: Für was ist Christus hingegeben worden? — „Für unsre Uebertretungen." Für wie viele?
Sicher doch für alle. Als Jesus am Kreuze hing, wurden
alle Sünden derer, die an Ihn glauben, auf Ihn gelegt und Ihm zugerechnet; ja, alle ohne Ausnahme.
Gott hat sie, so wie E r sie kannte, auf Ihn gelegt, und
Er hat sicher keine vergessen. Christus hat sie auf sich
genommen und für immer beseitigt, so daß sie nicht mehr
in der Gegenwart Gottes find und nie mehr, wie Sein
Wort uns versichert, in das Gedächtnis Gottes kommen
sollen. Und Er, der unsre Sünden getragen und getilgt
hat, ist unsrer Rechtfertigung wegen auferweckt worden.
Wer hat Ihn auferweckt? Derselbe, der Ihn hingegeben
hat. Und warum hat Er Ihn auferweckt? Weil alles,
wofür Er hiugegeben wurde, in Ordnung gebracht war.
Christus verherrlichte Gott, indem Er unsre Sünden Hinwegthat, und Gott verherrlichte Christum, indem Er Ihn
aus den Toten auferweckte und zu Seiner Rechten mit
Ehre und Herrlichkeit krönte. Welch wunderbare, köstliche
84
Wahrheit! Christus war auf dem Kreuze verlassen, weil
unsre Sünden auf Ihn gelegt waren; Christus ist zur
Rechten der Majestät gekrönt, weil unsre Sünden hinweggethan sind. „Er ist unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben und unsrer Rechtfertigung wegen auferweckt worden." Das ist der sichere und ewig unerschütterliche Grund
des Friedens eines Sünders in der Gegenwart Gottes.
Und nun noch ein Wort über die Frage, wie der
Sünder diesen Frieden für sich selbst erlangen kann. Die
Antwort ist so einfach, wie Gott sie machen kann. Hat
der Sünder etwas zu thun? Hat er etwas anderes zu
sein, als das, was er ist — ein armes, verlornes, wertloses, schuldiges Geschöpf? Nein! Er hat einfach als solches zu kommen, dem Worte Gottes zu glauben, in seinem Herzen (nicht nur in seinem Kopfe) die gesegnete
Botschaft, welche Gott im sendet, zu glauben; in Christo zu
ruhen, befriedigt zu sein mit dem, womit Gott im Blick
auf ihn befriedigt ist. Ist Gott denn wirklich befriedigt?
Ja, Er ist vollkommen befriedigt durch das, was Christus
gethan hat; allen Anforderungen Seiner Gerechtigkeit und
Heiligkeit ist volle Genüge geschehen; Er ist befriedigt und
verherrlicht.
Findest du, geliebter Leser, in dem auf Golgatha
vollbrachten Werke auch deine völlige Befriedigung? oder 
erwartest du noch etwas anderes, etwas von dir selbst,
von deinen Vorsätzen, deinen Anstrengungen, deinen religiösen Uebungen und deinen Erfahrungen? Wenn das ist,
so kannst du keinen wahren Frieden erlangen. Nur wer
in Christo ruht, wer mit Ihm und Seinem
Werke allein befriedigt ist, hat und genießt
einen unveränderlichen Frieden.
Isaak.
(Fortsetzung.)
Die außerordentlich trübe und traurige Familienscene,
welche wir soeben betrachtet haben, wird indessen durch
einen sehr wichtigen Umstand gemildert. Wir lesen nämlich in Hebr. 11, 20: „Durch Glauben segnete Isaak
in Bezug auf zukünftige Dinge den Jakob und den Esau."
Das sind die eignen Worte des Heiligen Geistes, wenn
Er von den Vorgängen redet, die uns in dem vorigen
Abschnitt beschäftigt haben.
Bevor ich jedoch über die Milderung oder den Trost
spreche, welcher in diesem Umstand bei dem Gedanken an
Isaak liegt, möchte ich fragen: Was war eigentlich die
Natur oder der Charakter jenes Segens, welchen die Patriarchen über ihre Kinder aussprachen und den wir an
so manchen Stellen des ersten Buches Mose finden?
Ein Segen war in der Hand Melchisedecks, (Kap. 14.)
gerade so wie lange nachher in der Hand Aarons. (4. Mose
6, 23 — 27.) Diese Beispiele sind leicht zu verstehen; denn
diese Segnungen wurden gleichsam von Amts wegen ausgeteilt, oder ausgesprochen. Sie gelangten durch daS von
Gott verordnete Priestertum zu denen, für welche sie bestimmt waren. Es gab in ihnen nichts Prophetisches oder
Orakelhaftes. Die Worte, welche diese Priester aussprachen,
waren mehr vorbereitet als eingegeben; sie waren
86
durch die Fürsorge Gottes bereits vorgeschrieben, und
wurden nicht in dem betreffenden Augenblick durch göttliche Erleuchtung mitgeteilt; wenigstens war dies bei Aaron
nicht der Fall.
Mit dem patriarchalischen Segen verhielt es sich indessen ganz anders. In Isaaks Worten über Esau und
Jakob (Kap. 27.) war eine Prophezeiung oder ein Orakel
enthalten, und ebenso später in den Worten Jakobs über
seine Söhne (Kap. 49.) und über die Söhne Josephs.
(Kap. 48.) Aehnliches finden wir auch schon früher in
den Worten Noahs über Sem, Ham und Japhet.
Aber warum, möchte ich fragen, wurde diese wichtige
Sache den Patriarchen in solcher Weise anvertraut? Die
Antwort auf diese Frage enthält, wenn ich nicht irre,
einige der Geheimnisse der patriarchalischen Religion, ihrer
Anbetung und ihres Dienstes.
Die Religion besaß, was ihren Geist und Grundsatz
betrifft, in diesen frühesten Tagen die nämlichen großen
Wahrheiten, welche sie heute noch besitzt. Der Fall und
die Wiederherstellung des Menschen, oder das Verderben
und die Erlösung, waren damals bekannte Dinge, und sie
wurden durch den Glauben angenommen. Die Altäre der
Väter und die Verordnung über das Reine und Unreine
reden zu uns von dem Glauben und dem Verständnis des
Glaubens in jenen Tagen. Das Zelt der lebenden Patriarchen und das Machpela der gestorbenen (Kap. 23.) sagen uns^
daß sie die Berufung eines Fremdlings und die Wahrheit
von einer zukünftigen Auferstehung verstanden; und Abrahams Tamariske zu Beerseba endlich (Kap. 21.) sowie
sein Bund mit den Heiden bei dem Eidesbrunnen erzählen
uns in klarer, obwohl symbolischer Sprache, daß die Vä­
87
ter etwas von den herrlichen und köstlichen Geheimnissen
des tausendjährigen Reiches oder „des zukünftigen Zeitalters" begriffen haben.
Anbetung und Dienst trugen in jenen Tagen der
Kindheit die einfachsten Formen. Die Natur gab es so
zu sagen an die Hand, daß der Vater oder das Familienhaupt zugleich Prophet, Priester und König war. In
späteren Zeiten, als alle Verhältnisse sich ausdehnten, und
mit der Ausdehnung und dem Alter das Verderben eindrang, erforderte die Heiligkeit Gottes ein abgesondertes und beschnittenes Volk; und in Verbindung damit ein abgesondertes oder gesalbtes Priestertum. In unsrer Zeit, in den Tagen des Reiches Gottes, welches, wie
wir wissen, „nicht im Wort, sondern in Kraft" besteht,
muß der Dienst noch etwas mehr sein, als was die Natur
an die Hand geben, oder die Heiligkeit erfordern würde;
es muß Kraft vorhanden sein, wie sie der Geist selbst
hervorbringt und mitteilt. Aber in jenen Kindheits-Tagen
des ersten Buches Mose lauschte man auf die Stimme
der Natur, und das war richtig und der Zeit entsprechend. Demgemäß war auch das Haupt der Familie
der Diener Gottes der Familie gegenüber, und in ihm
vereinigten sich sowohl die Würde als auch der Dienst des
Propheten, Priesters und Königs innerhalb des Hauses
oder des Familientempels, wenn wir es so nennen dürfen.
Die Segnung der Kinder scheint hieraus hervorgeflossen
zu sein. Sie war eine Handlung, die in der Vereinigung
der Tugenden eines Propheten und eines Priesters ausgeübt wurde, welche, wie wir gesehen haben, die Familienväter in ihrer Person besaßen. Sie empfingen eine Mitteilung der göttlichen Gedanken und verkündigten diese
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dann als „Aussprüche Gottes"; und da sie für ihre Kinder abgesonderte oder priesterliche Stellvertreter GotteK
waren, so sprachen sie Seinen Segen, den Segen Gottes,
über sie aus. Diese Würde scheinen sie in dem ganzen
ersten Buch Mose behalten zu haben.
Bei unserm Isaak ist es in der That betrübend zu
sehen, in welcher Weise diese Würde von ihm ausgeübt
wurde. Ach! er mißbrauchte sie, wie es mit solch hohen
Gaben stets geschehen ist. So sehen wir zum Beispiel
diesen Mißbrauch im Blick auf die priesterliche Würde in
der Person Elis, und bezüglich der königlichen Autorität
in einem besonders schrecklichen Falle selbst bei dem geliebten und geehrten Sohne Jsais.
Ebenso wollte Isaak sein Amt nicht nur seinen eignen 
parteilichen Gefühlen unterordnen, sondern es selbst zur Befriedigung seiner Begierden benutzen; und das sogar angesichts einer feierlichen göttlichen Warnung. Denn über
seine Kinder war vorher das Wort ergangen: „Der ältere
wird dem jüngeren dienen." Aber die fleischlichen Neigungen und Begierden Isaaks hatten ihn völlig sorglos
und vergeßlich gemacht, und er würde gern den älteren,
Esau, zum Erben der Verheißung gemacht haben.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich daran erinnern,
daß auch Kajaphas zu seiner Zeit, wie früher Isaak, den
Propheten und Priester in seiner Person vereinigte. Und
Kajaphas würde gern sein Amt und seine Gabe zur Erfüllung seiner eignen bösen Absichten und Wünsche mißbraucht haben. Er sprach eine wahre Prophezeiung aus,
verbunden mit einem Anschlag auf das Leben des Herrn
Jesu. (Joh. 11.) In früheren Tagen erblicken wir in
dem Propheten Bileam einen Mann von derselben Art.
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Er war ein Gefäß des göttlichen Lichtes, ein Zeuge und
Offenbarer der Gedanken Gottes. Aber er that alles
Mögliche, um seine Gabe im Dienste seiner Begierden zu
gebrauchen. Gott aber ließ ihm nicht seinen Willen und
zwang seine Lippen, den Spruch der Gerechtigkeit und das
Urteil der Wahrheit auszusprechen. Und obgleich es betrübend ist, Isaak mit solchen Männern, wenn auch nur
im Blick auf eine einzige Handlung, zusammen zu stellen,
so können wir doch nicht umhin, es zu thun; der Isaak
von 1. Mose 27 gleicht jenen beiden Männern nur zu
sehr. Obwohl er ein geheiligtes und gefülltes Gefäß war,
würde er doch bei der Benutzung des ihm anvertrauten
Schatzes den Wünschen seines eignen thörichten Herzens
gefolgt sein, wenn nicht Gott ihm entgegengetreten wäre
und ihn als Verkündiger Seines bestimmten, unumschränkten Ratschlusses benutzt hätte. Ich sage noch einmal, es
ist betrübend, solche Männer wie Isaak und Bileam in
einer gemeinsamen sittlichen Handlung neben einander zu
stellen; aber wir wissen: „was aus dem Fleische geboren
ist, ist Fleisch". Das Wasser, welches in der Quelle
schmutzig ist, kann in dem Eimer nicht rein sein. Das
Fleisch in einem Isaak ist dasselbe Fleisch wie in einem
Bileam; und die Welt in den Herzen beider Männer
ist dieselbe Welt.
Aber die beiden sind nicht bis zum Ende hin
gleich; das ist der große Trost, von welchem ich vorhin
sprach. Bileam ist Bileam geblieben, ein Mann, der den
Lohn der Ungerechtigkeit liebte und um dieses Lohnes
willen seinem eignen Irrtum gierig nachjagte; er ging als
Bileam voran, indem er Balak den Rat gab, dem Volke
Gottes einen Fallstrik zu legen; und schließlich wurde er
90
als Bileam mit den Unbeschnittenen durch das Schwert
erschlagen, „gleich denen, die in die Grube hinabfahren".
Isaak dagegen bereute sein Thun mit göttlicher Betrübnis
zu einer nicht zu bereuenden Buße. Als sein Auge geöffnet und ihm gezeigt wurde, was er zu thun im Begriff gewesen war, und wie Jakob den Segen erhalten
hatte, den er dem Esau zugedacht; als es ihm, mit einem
Wort, zum Bewußtsein kam, daß er Gott widerstrebt hatte,
und deshalb unmöglich obsiegen konnte, da scheint seine
Seele wie vom Schlafe erwacht und sich aller dieser Dinge
bewußt geworden zu sein. Denn wir lesen von ihm: „Da
erschrak Isaak mit großem Schrecken über die Maßen."
Der Anblick des Platzes, den er eingenommen hatte, und
das innere Gefühl darüber, setzten seine Seele in Furcht.
Er erschrak und zitterte. Das Fleisch, welches er in sich
genährt hatte, konnte ihm in einem solchen Augenblick
nicht helfen; und er verlangte auch nicht darnach — es
war ihm in seiner ganzen Schlechtigkeit gezeigt worden.
In dem Licht und der Kraft eines besseren Lebens handelt er dem Glauben gemäß und sagt, indem er jetzt von
Jakob und nicht mehr von Esau redet: „Ich habe ihn
gesegnet; er wird auch gesegnet sein."
Davon finden wir bei Bileam keine Spur. Bileam
kehrte nicht um. Als der Engel ihm in dem schmalen
Wege eutgegentrat, und sein Esel sich unter ihm niederlegte, da war nichts von dieser göttlichen Betrübnis,
welche eine wahre Buße bewirkt, zu bemerken. Er zog
ruhig auf dem Wege weiter, auf welchen die Sucht nach
dem Lohn seinen Fuß bereits gestellt hatte. Doch unser
Isaak wird wiederhergestellt. Er schlägt einen andern
Weg ein und folgt von diesem Augenblick an den Ge­
91
danken Gottes. Es ist daher nicht „die Thorheit des
Propheten", welche der Heilige Geist in dem Falle Isaaks
zu berichten hat, wie Er es bei Bileam thun muß, sondern
der Glaube des Propheten. Denn in dieser Stunde einer
glücklich wiederhergestellten Gemeinschaft mit den Gedanken Gottes, nachdem Isaak „mit großem Schrecken über
die Maßen" erschrocken war, wird der Weg unsers Patriarchen durch den Heiligen Geist besiegelt und ausgezeichnet: „durch Glauben segnete Isaak, in Bezug auf
zukünftige Dinge, den Jakob und den Esau." Und das
ist das Einzige aus dem Leben Isaaks, was in jenem
herrlichen Kapitel (Hebr. 11.) von dem Heiligen Geiste erwähnt wird. Aber es ist beachtenswert, und der Geist
hat es besonders hervorgehoben.
Die Siege des Glaubens, welche Mose davontrug,
sind sehr schön. Er begegnete sowohl den Reizen, als
auch den Schrecken Egyptens, indem er sich weigerte,
ein Sohn der Tochter des Pharao zu heißen, und das
Land verließ, ohne die Wut des Königs zu fürchten.
Das waren glänzende Siege. Allein es giebt auch Siege,
die zwar viel weniger ins Auge fallen, aber nichtsdestoweniger Siege sind, und deshalb in jenem Kapitel, welches die Thaten des Glaubens verherrlicht, erzählt werden.
Solchen Siegen begegnen wir in. Isaak und in Jakob.
Jeder dieser Glaubenszeugen segnete zu seiner Zeit die
Kinder oder Söhne in Uebereinstimmung mit Gott,
obgleich es der Natur entgegen war. Isaak würde
den Esau, und Jakob den Manasse vorgezogen haben;
aber Isaak bestand auf der Segnung Jakobs, und Jakob
auf der Segnung Ephraims, und in diesem Punkte wurde
die Natur überwunden. Es war allerdings nicht die Welt
92
mit ihren Fallstricken und Gefahren, welche die Stärke
des Glaubens in diesen Heiligen auf die Probe stellte;
aber dennoch war ein Widersacher vorhanden. Und dieser
Widersacher war die Natur mit ihren Einflüsterungen,
ihren Neigungen und parteilichen Gefühlen; und während
wir die glänzenden Siege eines Moses oder Abraham
bewundern mögen, laßt uns daran denken und darauf
achten, daß wir den Kampf des Glaubens mit der
Natur kämpfen und auch in dieser Beziehung mit Isaak
und Jakob das Feld behalten.
Was Jakobs Anteil in der ganzen bisher betrachteten Familienscene betrifft, so können wir sicher sagen:
Hätte er nur seine Sache ruhig in der Hand desHerrn
gelassen, in welcher sie von Anfang an, schon vor seiner
Geburt, gelegen hatte, und nicht zugegeben, daß seine
Mutter sie in die ihrige nahm, so würde er viel besser
gefahren sein.Wie oft hat manch ein Jakob seit jenen
Tagen dasselbe erfahren! Der Herr hatte ihm den Segen
ohne irgend eine Bedingung verheißen: „der ältere wird
dem jüngeren dienen". Aber Jakob war nicht imstande,
mit der Geduld des Glaubens die Zeit und die Weise
des Herrn, Seine Verheißung wahr zu machen, abzuwarten. Und deshalb wurde die Verheißung mit Vorbehalten, Schwierigkeiten und Bürden belastet. Sie wird
sicherlich in Erfüllung gehen; die Verheißung des Herrn
ist gewiß und ist noch nie gebrochen worden. Er ist imstande, sie aufrecht zu erhalten. Der ältere wird dem
jüngeren dienen; aber zugleich wird, wegen des Unglaubens und der List Jakobs, der ältere dem jüngeren allerlei
Ungelegenheiten bereiten. Da der jüngere meint, in eigner
Schlauheit und Geschicklichkeit bezüglich der Verheißung
93
richtig handeln zu können, darf er sie erst nach langer
Frist, nach Kummer und Beschämung erlangen.
Demgemäß bekommt auch Esau bei dieser Gelegenheit durch seinen Vater Isaak von dem Herrn eine Verheißung, welche der Vorsatz und die Gnade Gottes Jakob
gegenüber von Anfang an nicht beabsichtigt hatten. „Und
Isaak, sein Vater, antwortete und sprach zu ihm: Siehe,
vom Fett der Erde wird dein Wohnsitz sein und vom
Tau des Himmels von oben her; und von deinem Schwerte
wirst du leben, und deinem Bruder wirst du dienen; und
es wird geschehen, wenn du umherschweifst, wirst du sein
Joch zerbrechen von deinem Halse."
Alles dieses ist in Erfüllung gegangen. David, der
von Jakob abstammte, legte Besatzungen in Edom, und
die Edomiter wurden seine Knechte und brachten Geschenke. Joram aber, der auch ein Nachkomme Jakobs
war, verlor später die Edomiter als seine Knechte und
Tributpflichtigen; sie empörten sich, und blieben unabhängig bis auf den heutigen Tag. (2. Sam. 8, 14;
2. Chron. 21, 8.)
Dereinst allerdings „werden Retter auf den Berg
Zion Heraufziehen, um das Gebirge Esaus zu richten."
(Obadja 21.) Die Hütte Davids, die jetzt verfallen ist,
wird wieder aufgebaut werden, und Israel wird den
Ueberrest Edoms und alle Nationen als Erbteil besitzen.
(Vergl. Amos 9, 11. 12.) Dies wird zu seiner Zeit in
Erfüllung gehen, denn der ältere wird dem jüngeren
dienen. Die Verheißung Gottes ist Ja und Amen.
Aber seit den Tagen Jorams, des Sohnes Josaphats,
aus dem Hause Davids und dem Geschlecht Jakobs, ist
Esau oder Edom in Empörung gegen Jakob gewesen;
94
und so ist die Verheißung aufgeschoben, verwickelt und
durch Umstände erschwert worden, welche die Gnade Gottes und die Gabe in Gnade nie vorgesehen hatten, und
durch welche Jakob nimmer hätte zu gehen brauchen, wenn
sein Glaube einfältiger gewesen wäre.
Aehnliches findet man auch oft in der Erfahrung
des Christen. Betrachten wir zum Beispiel die Jünger
am galiläischen See, in Markus 4. Der Herr hatte zu
ihnen gesagt: „Laßt uns übersetzen an das jenseitige
Ufer." Das war eine Bürgschaft für sie, daß sie das
andere Ufer sicher erreichen würden. Sie brauchten sich
nicht zu fürchten. Sie hätten sich, wenn sie wollten, mit
ihrem Meister schlafen legen können. Aber nein, sie fürchteten sich und gingen mit Fleisch und Blut zu Rate.
Und deshalb erreichten sie das andere Ufer unter Schrecken
und Zittern und mit tiefer Beschämung. Ihre Befürchtungen beschwerten ihren Geist mit diesen Bürden, welche
ihnen erspart geblieben wären, wenn sie die Erfüllung
des Wortes Dem überlassen hätten, welcher es gegeben
hatte. Gerade so belastete der Unglaube Jakobs in
1. Mose 27, der ihn die Verheißung Gottes in die Hand
seiner Mutter legen ließ, die Geschichte seines Hauses mit
den schon erwähnten Verwicklungen, Widersprüchen und
Wechselfällen, welche allesamt der Verheißung fremd waren,
wie sie die Gnade von Anfang an beabsichtigt und gegeben hatte.
Noch manche andere ähnliche Erfahrungen machten
die Jünger infolge ihres Unglaubens, während der Zeit,
in welcher der Herr unter ihnen ein- und ausging; und
manche ähnliche Erfahrungen sind auch uns, Seinen Heiligen in der Jetztzeit, bekannt. Unsre Herzen ernten
95
Schrecken und Beschämung, während wir die ruhigen und
herrlichen Genüsse des Glaubens erfahren könnten, wenn
wir nur einfältig auf Jesum blickten, sollte Er auch zu
schlafen scheinen, und Ihn mehr kännten als Den, der
trotz Sturm und Wogendrang alle Seine Verheißungen
wahr machen kann und wird.
Das erfuhr auch Jakob, entsprechend seiner traurigen
Handlungsweise.. Esau war hier nicht der Schuldige;
er war eher der beleidigte Teil. Und deshalb ist er
in der Hand Dessen, von welchem die Handlungen gewogen werden, der Einzige, der bei dieser Gelegenheit gewinnt. Alle andern haben zu lernen, wohin der Weg,
den ihre eignen Herzen wählen, führt. Isaak, Rebekka
und Jakob müssen dies in gleicher Weise erfahren. Soweit Esau der Beleidigte ist, gewinnt er, wie wir gesehen
haben, etwas dabei: von seinem Schwerte soll er leben
und eine Zeitlang das Joch seines jüngeren Bruders von
seinem Nacken zerbrechen. (Schluß folgt.)
„So lasset uns nun Fleiß anwenden,
in jene Ruhe einzngehen."
(Hebr. 4, 11.)
Nichts liegt dem Gläubigen näher als die Gefahr,
das Ziel aus dem Auge zu verlieren und bei sich selbst
und den Umständen stehen zu bleiben. Aber von dem
Augenblick an, da er dies thut, leitet ihn nicht mehr der
Glaube, sondern das Fleisch. Er geht alsdann nicht
mehr vorwärts, sondern rückwärts; denn einen eigentlichen
Stillstand giebt es in geistlicher Beziehung nicht. Unsre
Wachsamkeit muß daher beständig darauf gerichtet blei­
96
ben, daß wir im Glauben wandeln. Denn dies ist der
Sinn der oben angeführten Ermahnung: „So lasset unS
nun Fleiß anwenden, in jene Ruhe einzugehen." Die
Ruhe liegt vor uns, und der Glaube allein vermag die
Schwierigkeiten des Weges, der dorthin führt, zu überwinden. „Denn wir, die wir geglaubt haben, gehen
in die Ruhe ein." (VerS 3.) Der Glaube überwindet,
weil er sich in allen Dingen einfach auf Gott stützt und
das Ziel im Auge behält.
Aber dies erfordert unserseits eine beständige Uebung,
oder mit andern Worten die Anwendung des Fleißes
in der Benutzung der uns von Gott gegebenen Hülfsmittel. Dieser Hülfsmittel giebt es zwei: Das Wort
Gottes, und das Hinzunahen zum Throne der Gnade auf
Grund des Hohenpriestertums Christi.
Das Wort Gottes befreit uns zunächst von alledem,
was uns hindern will, auf dem Pfade des Glaubens zu
wandeln. Denn diese Hindernisse liegen nicht außer uns,
sondern in uns. Und das Wort zeigt uns dieselben und
führt uns dadurch zu deren Verurteilung. Es ist „lebendig
und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert".
Es verwundet jedoch nur das Fleisch in uns, wenn dieses
wirksam ist. Sind wir geistlich, so lieben wir das Wort
Gottes, sind ihm unterworfen und fürchten seine Anwendung auf unsern praktischen Wandel nicht. Vielmehr dient
es uns alsdann zur Erquickung und Ermunterung auf
dem Wege. Ist aber das Fleisch oder der eigne Wille
in uns wirksam, so läßt uns das Wort seine Schärfe
fühlen; und dies ist heilsam und darum nötig für uns.
Das Fleisch mischt sich nur allzuleicht in unsern Wandel
ein, aber das Wort duldet eine solche Einmischung nicht.
97
sondern giebt dem Fleische den ihm gebührenden Platz,
den Platz des Todes. „Es ist durchdringend bis zur
Zerteilung der Seele und des Geistes, sowohl der Gelenke
als des Markes, und ein Urteiler der Gedanken und
Gesinnungen des Herzens." Indem das Wort unsre
Beweggründe und geheimsten Pläne bloslegt, werden wir
genötigt, dieselben zu richten, insofern sie nicht dem Glaub e n entsprechen; und auf diese Weise bleiben wir bewahrt.
Während so einerseits das Wort unsre Herzen und
Gewissen in lebendiger und wirksamer Weise vom Bösen
reinigt, finden wir andrerseits am Throne der Gnade die
nötige Hülfe betreffs unsrer Schwachheit. Wir haben in
uns selbst weder Kraft, noch Weisheit, noch Licht; aber
wir können mittelst des Hohenpriestertums Christi stets
mit Freimütigkeit zum Throne der Gnade nahen. Dort
sind wir ebenso willkommen wie Christus, unser Hohepriester, selbst; denn wir sind durch Ihn vertreten und
nahen gemäß der Vollkommenheit Seines Opfers und
Seiner Person. In Seinem kostbaren Namen stehen uns
alle die unerschöpflichen Hülfsquellen zu Gebote, welche
der Thron der Gnade zu liefern vermag. Alles was wir
auf dem Wege zur Stärkung des Glaubens bedürfen:
Kraft, Trost, Weisheit, Ausharren, Mut und Energie,
alles ist dort in reichstem Maße für uns vorhanden. Wir
brauchen in keiner Lage hülflos dazustehen und nie in
Verlegenheit zu geraten, oder zu fürchten, daß die Hülfe
zu spät komme. Aber wir müssen „hinzutreten"; denn
anders werden diese Hülfsquellen von keinem Nutzen für
uns sein, seien sie auch noch so reich und unerschöpflich.
Die Anwendung des Fleißes, zu welcher wir ermahnt
sind, bezieht sich also auf die fleißige Benutzung der an­
98
geführten beiden Hülfsmittel. Wenn wir dieses thun,
werden wir den Sieg über die Hindernisse und Schwierigkeiten davontragen und das herrliche Ziel erreichen.
Wir werden bestätigt finden, was geschrieben steht: „Durch
das Thränenthal gehend, machen sie es zu einer Quelle;
ja, mit Segnungen bedeckt es der Frühregen. Sie gehen
von Kraft zu Kraft." (Psalm 84, 6. 7.)
Die wahre Beschneidung.
„In welchem ihr auch beschnitten worden seid mit
einer nicht mit Händen geschehenen Beschneidung, in dem
Ausziehen des Leibes des Fleisches, in der Beschneidung
des Christus." (Kol. 2, 11.) Alle Gläubigen sind in
Christo beschnitten; sie haben den Leib des Fleisches, den
alten Menschen, ausgezogen; (Kol. 3, 9.) sie sind nicht
mehr im Fleische, sondern im Geiste, denn der Geist Gottes wohnt in ihnen. (Röm. 8, 9.)
Dies ist wahr im Blick auf alle Glieder des Leibes
Christi, auch das schwächste derselben; denn sie sind in
Christo beschnitten. Wie wir Christum, der für uns
zur Sünde gemacht war, nicht mehr nach dem Fleische
kennen, sondern als verherrlicht im Himmel, als Den, der
alles, was mit der Sünde in Verbindung stand, siegreich
im Grabe zurückgelassen hat, so kennt auch Gott uns nicht
anders als in der Herrlichkeit mit Christo vereinigt und
von dem Leben im Fleische und in der Sünde getrennt.
Der Tod steht zwischen uns und dem alten Leben, d. h.
der Tod Christi, der zugleich unser Tod ist, denn wir
sind mit Ihm gestorben.
Allein obwohl dies wahr ist in Bezug auf alle Kin­
99
der Gottes, so haben doch nicht alle Erkenntnis darüber.
Und wenn diese fehlt, so muß es notwendigerweise auch
an der praktischen Verwirklichung der Wahrheit fehlen.
Das Verhalten der Gläubigen wird dann sein, als lebten
sie noch in der Welt. (Kol. 2, 20.) Indes ist auch noch
ein andrer Fall möglich, daß nämlich die Erkenntnis der
Wahrheit vorhanden ist, und doch das praktische Verhalten
dieser Erkenntnis nicht entspricht; und dies ist dann sicher
ein sehr trauriger Fall.
An drei Kennzeichen sollte sich das Nichtvorhandensein des Lebens im Fleische, d. h. die wahre Beschneidung,
offenbaren: an dem Aufhören des eignen Willens, des
eignen Ruhmes und des Selbstvertrauens oder des Vertrauens auf Fleisch. — „Denn wir sind die Beschneidung, die wir durch den Geist Gottes dienen (oder anbeten) und uns Christi Jesu rühmen und nicht auf Fleisch
vertrauen." (Phil. 3, 3.)
Die ungehinderte Wirksamkeit des eignen Willens ist
das charakteristische Kennzeichen des Antichristen. „Und
der König wird thun nach seinem Wohlgefallen." (Dan.
11, 36.) Hingegen wird die neue Natur durch ein aufrichtiges Fragen nach dem wohlgefälligen Willen Gottes
gekennzeichnet. Kaum hat sich Jesus dem Saulus als Der
geoffenbart, welchen er bis dahin verfolgt hatte, so fragt
dieser: „Was soll ich thun, Herr?" (Apstgsch. 22, 10.)
„Werdet verwandelt durch die Erneuerung euers Sinnes,,
daß ihr prüfen möget, was da sei der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes." (Röm. 12, 2.)
„Prüfend, was dem Herrn wohlgefällig sei." (Eph. 5, 10.)
„Seid verständig, was der Wille des Herrn ist." (V. 17.)
Wie Jesus von sich sagt: „Meine Speise ist, daß ich den
100
Willen Dessen thue, der mich gesandt hat, und Sein Werk
vollbringe/' (Joh. 4, 34.) so sagt Er auch von den Seinigen: „Wer irgend den Willen meines Vaters thut, der
in den Himmeln ist, derselbe ist mein Bruder und meine
Schwester und meine Mutter." (Matth. 12, 50.)
In Kolosser 2 wird der eigne Wille mit dem Gottesdienst in Verbindung gebracht: „Nach den Geboten und
Lehren der Menschen, welche zwar einen Schein der Weisheit haben in eigenwilligem Gottesdienst (oder Anbetung)
.... zur Befriedigung des Fleisches." (V. 22. 23.)
„Lasset niemanden euch um den Kampspreis bringen, der
seinen eignen Willen thut, in Niedriggesinntheit und Anbetung der Engel, auf Dinge eingehend, die er nicht gesehen hat, eitler Weise aufgeblasen von dem Sinne seines
Fleisches." (V. 18.) Während bei dem Antichristen die
Wirksamkeit des eignen Willens sich bis zu einer solchen
Ausdehnung entfaltet, daß er „sich selbst erhöht über
alles, was Gott heißt oder ein Gegenstand der Verehrung
ist", (2. Thess. 2, 4.) wird hier noch von einem Gottesdienst gesprochen; derselbe geschieht jedoch gemäß dem eignen Willen. Sehen wir darin deshalb auch noch nicht
den Höhepunkt des Abfalls, so ist es doch ein Merkmal
desselben. Sobald der eigne Wille des Menschen, sei es
auch nur in dem geringsten Grade, in den Gottesdienst
hineingebracht wird, verliert dieser seinen wahren Charakter. In diesem Sinne sagt Paulus: „Wir sind die
Beschneidung, die wir durch den Geist Gottes dienen (oder
anbeten)." Jesus sagt: „Gott ist ein Geist, und die Ihn
anbeten, müssen im Geist und in Wahrheit anbeten."
(Joh. 4, 24.) „Der Vater sucht solche als Seine Anbeter;" (V. 23.) es sind dies „die wahrhaftigen An­
101
beter." Es ist klar, daß die Anbetung „im Geist" zu 
dem „eigenwilligen Gottesdienst" in unmittelbarstem Gegensatz steht, gerade so wie Fleisch und Geist einander
entgegengesetzt sind. (Gal. 5, 17.) Wenn nun die wahre
Beschneidung sich durch das Nichtvorhandensein des eignen 
Willens kennzeichnet, so kann sie nicht anders, als sich
in einem Gottesdienst im Geist äußern.
Als weiteres Merkmal der wahren Beschneidung tritt
uns das Nichtvorhandensein des eignen Ruhmes entgegen.
Auch dieser sollte sich bei einem wahren Christen nicht
finden, denn er ist mit unsrer Rechtfertigung aus Gnaden
durch den Glauben an Jesum zunichte gemacht worden.
„Wo ist denn der Ruhms Er ist ausgeschlossen." (Röm.
3, 27.) Wir haben zu dem Werke unsrer Erlösung nichts
beigetragen, nichts hinzugebracht als unsre Sünden, unsre
Ohnmacht, unsre Feindschaft und unsern völlig verderbten
Zustand. Das Werk ist ganz und gar Gottes Werk, und
wir haben nur als Gegenstände Seiner unumschränkten
Gnade Anteil daran. Wessen könnten wir uns nun rühmen, als nur des Herrn und Seiner Gnade? Wir sind
„zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade". (Eph. 1, 6.)
Gott hat das Thörichte, Schwache, Unedle und Verachtete,
das, was nicht ist, erwählt, um das Weise und
Starke, das, was ist, zu Schanden zu machen, damit
sich vor Ihm kein Fleisch rühme. Wir sind aus Gott
geworden in Christo Jesu, der uns alles ist; darum: „wer
sich rühmt, der rühme sich des Herrn." (1. Kor. 1,27— 31.)
Wo indessen der eigne Wille thätig ist, findet sich
auch Aufgeblasenheit. (Kol. 2, 18.) Die Menschen der
letzten Tage werden als „eigenliebig" und „prahlerisch"
gekennzeichnet. Wie traurig nun, bei solchen, die selbst
102
Gegenstände der unumschränkten Gnade Gottes sind, Aufgeblasenheit wahrzunehmen, umsomehr, wenn vielleicht reichlicher Anlaß zur Demütigung betreffs ihres praktischen
Zustandes vorhanden ist. „Ueberhaupt hört man, daß
Hurerei unter euch sei , und ihr seid aufgeblasen
und habt nicht vielmehr Leid getragen." (1. Kor. 5, 2.)
„Euer Rühmen ist nicht gut", muß der Apostel schreiben. (V. 6.) „Wenn ihr bittern Neid und Streitsucht in
euerm Herzen habt, so rühmet euch nicht und lüget nicht
gegen die Wahrheit." (Jak. 3, 14.)
Eine besondere Form deS falschen Ruhmes besteht
darin, sich eines andern Menschen zu rühmen. Ein solcher Mensch mag ein wahrer Diener des Herrn sein, wie
Paulus, Apollos oder Kephas; dennoch schreibt der Apostel:
„So rühme sich denn niemand der Menschen; alles ist
euer . . . , ihr aber seid Christi." (1. Kor. 3, 21.) Ein
solches „sich der Menschen rühmen" bewies, daß man
menschliche Weisheit hochschätzte, (V. 18—20.) und es
war der Weg zu Streitigkeiten und Parteiungen, zur
Offenbarung eines fleischlichen Zustandes. (V. 1 — 7.)
Ferner finden wir falschen Ruhm bei solchen, die sich für
Diener des Evangeliums ausgaben und sich selbst empfahlen, indem sie sich mit sich selbst verglichen und sich
ins Maßlose rühmten in fremden Arbeiten; (2. Kor. 10,
12 rc.) die an dem Fleische Andrer Ruhm haben wollten, indem sie wollten, daß diese beschnitten würden.
(Gal. 6, 4. 13.) Auch solchem falschen Ruhme stellt der
Apostel das Wort entgegen: „Wer sich aber rühmt, rühme
sich des Herrn;" (2. Kor. 10, 17.) und: „Von mir aber
sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unsers
Herrn Jesu Christi;" (Gal. 6, 14.) und: „Wir sind die
103
Beschneidung, die wir .... . uns Christi Jesu rühmen." (Phil. 3, 3.) Blicken wir auf die Arbeiter, so ist
der Ruhm des Herrn, denn Er hat die Gaben ausgeteilt; (Eph. 4, 11 re.) blicken wir auf daS Werk, so gebührt Ihm wiederum aller Ruhm, denn es ist Sein
Werk. (1. Kor. 3, d; Phil. 2, 13.)
Wir kommen jetzt zu dem dritten Kennzeichen der
wahren Beschneidung, zu dem Fehlen des Selbstvertrauens.
Wie das neue Leben sich als ein Leben des Gehorsams,
verbunden mit Dankbarkeit, offenbart, so ist es auch ein
Leben der Abhängigkeit. So wie der Herr Jesus von sich
selbst sagte: „Der Sohn kaun nichts von sich selbst thun,
es sei denn, daß Er den Vater etwas thun sieht; denn
was irgend Er thut, daß thut auch der Sohn gleicherweise," so sagt Er auch zu Seinen Jüngern: „Außer mir
könnt ihr nichts thun;" (Joh. 15, 5.) und Paulus sagt
von sich selbst: „Nicht daß wir tüchtig sind, von uns
selbst etwas zu denken, als aus uns selbst, sondern unsre
Tüchtigkeit ist von Gott." (2. Kor. 3, 5.) Die Gesinnung
des Fleisches hat sich als der Tod, als Feindschaft gegen
Gott erwiesen. (Röm. 8, 7.) „In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes," (Röm. 7, 18.) muß
selbst das Kind Gottes zugestehen. Ja, gerade weil der
Gläubige sich als einen Sünder und als völlig unfähig
aus eigner Kraft das Gute zu wirken, erkannt hat, hat
er die Gnade in Christo Jesu ergriffen. Und mit der
Bekehrung wird das Fleisch nicht umgewandelt. Es ist
in dem Gläubigen, und es bleibt stets, was es ist: unveränderlich schlecht. „Wenn ihr nach dem Fleische lebet,
so werdet ihr sterben," (Röm. 8, 13.) ruft daher der
Apostel den Gläubigen zu.
104
Er zählt eine Reihe von Dingen her, auf welche er
als auf „Fleisch" vertrauen konnte: „Beschnitten am
achten Tage, vom Geschlecht Israel, vom Stamme Benjamin, Hebräer von Hebräern; was das Gesetz betrifft,
ein Pharisäer; was den Eifer betrifft, ein Verfolger der
Versammlung; was die Gerechtigkeit betrifft, die im Gesetz ist, tadellos erfunden." (Phil. 3, 5. 6.) Eine äußere
Zugehörigkeit zu einem sichtbaren, öffentlich anerkannten
Volke, welches sich das Israel Gottes nannte und hoher
Vorrechte rühmte; eine unzweifelhafte Abstammung von
einem in der heiligen Geschichte ausgezeichneten Geschlecht;
die genaueste Beobachtung der von Gott selbst gegebenen
Satzungen und Vorschriften; die Mitgliedschaft der strengsten
religiösen Sekte jener Tage; ein Feuereifer für die Reinhaltung der jüdischen Lehre; eine peinliche Gewissenhaftigkeit in der Beobachtung aller religiösen Gebräuche im
Verborgenen und öffentlich: alle diese Dinge zusammen
bezeichnet der Apostel mit dem einen Worte „Fleisch";
ja, er nennt sie „Verlust" und „Dreck", wenn er die
Vortrefflichkeit der Erkenntnis Jesu Christi, seines Herrn,
dagegenhält. (V. 7. 8.) Jeder Versuch, dem Leben in
Christo irgend eine Satzung oder ein Gebot hinzuzufügeu,
ist daher nichts anderes, als ein Versuch, das Fleisch
wieder zu Ehren zu bringen. Denn dann betrachtet man
das Fleisch als etwas, das doch noch imstande ist, aus
sich etwas thun zu können, was vor Gott Anerkennung
findet. Es ist ein „auf Fleisch vertrauen". Der Apostel
aber sagt: „Wir sind die Beschneidung, die wir ... .
nicht auf Fleisch vertrauen." (Phil. 3, 3.)
So sehen wir also das Bild des Gläubigen, welcher
sich seiner Stellung in Christo bewußt ist und dieselbe
105
verwirklicht, durch drei Züge gekennzeichnet: Der eigne
Wille ist gebrochen, er dient durch den Geist Gottes; der
eigne Ruhm ist aus, er rühmt sich Christi Jesu; das
Vertrauen auf das Fleisch ist dahin, er sucht nur in
Christo erfunden zu werden. (Phil. 3, 9.)
Wo ist aber, so fragen wir unwillkürlich, diese wahre
Beschneidung heute unter denen, die sich nach dem Namen
Christi nennen, zu finden? Acht leider sehen wir fast
überall das gerade Gegenteil davon. Anstatt einer wahrhaftigen Anbetung im Geiste finden wir allerlei Dinge,
die mit dem Namen „Gottesdienst" belegt werden, im
Grunde aber nur das Resultat der Wirksamkeit des menschlichen Willens sind; Dinge, denen der Beschluß oder die 
Wahl eines Konzils, einer Synode, einer Gemeinde oder
doch wenigstens der Einfluß angesehener Männer zugrunde
liegt. Menschen haben gewollt, und Menschen wollen noch
heute.
Hand in Hand damit geht der Ruhm des Menschen.
Anstatt nach dem Worte: „Alles ist euer" zu handeln,
rühmt man sich einzelner Diener des Herrn oder gar solcher, die Diener zu sein vorgeben, ohne daß der Herr sie
je in Seinen Dienst berufen hat. In Verbindung damit
sehen wir nicht nur Streit und Hader, sondern eS haben
sich überall fest abgegrenzte Parteien gebildet mit menschlichen Führern und menschlichen Namen, deren man sich
rühmt, anstatt sie und die Zustände im Allgemeinen tief
zu beklagen. Ferner setzen viele gerade aus die Dinge,
welche der Apostel als „Fleisch" bezeichnet, ihre Hoffnung
und ihr Vertrauen. Das Bewußtsein, getauft zu sein und
öffentlich als Christ zu gelten; das Verbundensein mit
einer Einrichtung, einer kirchlichen Form, die äußerlich
106
vielleicht schon von den Zeiten der Apostel her bestanden
hat; das Gehen zum Abendmahl; die vorgebliche Heiligkeit der Personen, mit welchen man in Verbindung steht;
der Eifer für die vermeintliche Reinhaltung der Lehre;
die pünktliche Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit in religiösen Uebungen: sind es nicht gerade diese Dinge, auf
welche die große Mehrzahl der heutigen Christen, ja gerade diejenigen, welche vor Menschen für fromm gelten,
ihr Vertrauen setzen?
Wahrlich die bekennende Christenheit hat sich weit,
weit von dem entfernt, was nach dem Worte Gottes „die
wahre Beschneidung" genannt wird. Aber nicht nur sie,
sondern leider auch viele wahre Gläubige. Gottes Gnade
allein ist es, wenn in unsern Tagen die Wahrheit wieder
erkannt und verwirklicht wird. Wohl ist die Zahl derer,
welche in der Kraft der „wahren Beschneidung" zu wandeln suchen, gering und ihr Zeugnis schwach; allein Gott
hat in ihren Herzen gewirkt und daS Verlangen geweckt,
nicht länger mit einer fleischlichen Religion in Verbindung
zu bleiben, sondern als wahrhaftige Anbeter durch den
Geist Gottes zu dienen. Gott gebe in Seiner Gnade, daß
sich ihre Zahl vermehre, und daß sie nicht nur dem Bekenntnis nach, sondern in That und Wahrheit „sich
Christi Jesu rühmen, und nicht auf Fleisch
vertrauen"! Möchte Er nach Seiner Barmherzigkeit
und Macht in dem Schreiber und Leser dieser Zeilen
wirken, um mehr und mehr die Bedeutung der „wahren
Beschneidung" verstehen zu lernen und in ihrer Kraft zu
wandeln!
107
Jonathan.
„Und es geschah, als er zu Saul ausgeredet hatte,
da verband sich die Seele Jonathans mit der Seele Davids; und Jonathan liebte ihn wie seine Seele . .. Und
Jonathan und David schlossen einen Bund, weil er ihn
liebte wie seine Seele. Und Jonathan zog das Oberkleid
aus, das er anhatte, und gab es David, und seinen Rock
und bis auf sein Schwert und seinen Bogen und seinen
Gürtel." (1. Sam. 18, 1 — 4.)
Welch ein schönes Gemälde entrollt sich hier vor
unsern Blicken! Die Liebe entkleidet sich ihrer Gewänder
und ihres Schmuckes, um dieselben ihrem Gegenstände
anzuziehen. Zwischen Saul und Jonathan besteht bei dieser Gelegenheit ein großer Unterschied. Saul nahm David
mit nach seinem Hause, um sich zu verherrlichen; denn
indem er einen solchen Helden in sein Gefolge aufnahm,
ehrte er sich selbst. Jonathan aber zog sich aus, um David zu bekleiden. Das war Liebe in einer ihrer lieblichsten
Thätigkeiten. Jonathan hatte in Gemeinschaft mit den
Tausenden von Israel mit atemloser Spannung den
Ausgang des Kampfes im Terebinthenthale erwartet.
(1. Sam. 17.) Er hatte David ausziehen sehen, um dem
schrecklichen Feinde zu begegnen, dessen Größe, Kraft und
prahlerischen Worte die Herzen des Volkes mit Schrecken
erfüllt hatten. Er hatte ferner gesehen, wie jener hochmütige Riese durch die Hand des Glaubens zu Boden
gestreckt worden war, und hatte mit dem Volke an dem
glänzenden Siege teilgenommen.
Allein das war nicht alles. Es war nicht blos der
Sieg, welcher das Herz Jonathans erfüllte, sondern die
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Person des Siegers; nicht blos daS vollbrachte Werk,
sondern der, welcher es vollbracht hatte. Jonathan begnügte sich nicht damit zu sagen: „Gott sei Dank! der
Riese ist tot, und wir sind gerettet und können frohen
Mutes heimwärts ziehen und uns des Sieges freuen."
Nein; er fühlte sich angezogen durch die Person des Siegers, und seine Seele verband sich mit der Seele Davids.
Nicht als ob er den Sieg weniger geschätzt hätte, aber
er schätzte den Sieger höher als den Sieg; und deshalb
fand er Freude daran, sich seiner Kleider und seiner 
Waffen zu entledigen und sie David zu geben, dem Gegenstände seiner Zuneigungen.
Geliebter Leser! in dieser einfachen Geschichte liegt
eine Belehrung für uns, und nicht nur eine Belehrung,
sondern auch ein ernster Tadel. Wie geneigt sind wir,
uns mehr mit unsrer Errettung zu beschäftigen als mit
dem Erretter, mehr mit dem Heil als mit dem Heiland,
der jenes um den Preis Seines kostbaren Lebens erwarb!
Ohne Zweifel will Gott, daß wir uns unsrer Errettung
freuen; aber sollten wir dabei stehen bleiben? Sollten
wir nicht, wie Jonathan, bereit sein uns auszuziehen, um
die Person Dessen zu verherrlichen, der für uns in den
Staub des Todes Hinabstieg? Wahrlich, Er ist es wert,
daß wir uns Ihm mit allem, was wir sind und haben, 
weihen, daß uns nichts zu köstlich, nichts zu teuer ist
für Ihn; und dies umsomehr, als Er gar nichts von
uns fordert! David bat Jonathan nicht um seinen Waffenrock oder um sein Schwert. Hätte er es gethan, so würde
er die ganze Handlung ihrer Lieblichkeit beraubt haben.
Aber nein; es war eine durchaus freiwillige That der
Liebe. Jonathan vergaß sich selbst und dachte nur an
109
David. So sollte es mit uns sein, Geliebte, im Blick auf
den wahren David. Die Liebe findet ihre Freude darin,
sich selbst um ihres Gegenstandes willen auszuziehen.
„Die Liebe des Christus drängt uns," und: „Was mir
Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust
geachtet; ja wahrlich, ich achte auch alles für Verlust
wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu,
meines Herrn, um dessentwillen ich alles eingebüßt habe
und es für Dreck achte, auf daß ich Christum gewinne."
(Phil. 3, 7. 8.)
O Gott, gieb uns mehr von diesem Geiste! — Möchten unsre Herzen in dieser Zeit eines hohlen Bekenntnisses
und leeren Formenwesens mehr und mehr zu Christo hingezogen werden und mit Ihm sich verbinden! Möchten
wir so mit dem Heiligen Geiste erfüllt sein, daß wir mit
wahrem Herzensentschluß an unserm Herrn und Heiland
hängen!
Der barmherzige Samariter.
(Luk. 10, 30-37.)
Das Gleichnis von dem barmherzigen Samariter ist
sehr einfach und leicht zu verstehen, wenn man es im Zusammenhang mit dem Vorhergehenden betrachtet. Ein gewisser Gesetzgelehrter fragt, den Herrn versuchend, was er
gethan haben müsse, um das ewige Leben zu ererben. Der
Herr weist ihn in Seiner Antwort auf das Gesetz hin
und fragt ihn, was dasselbe lehre. Der Gesetzgelehrte erwidert: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von
deinem ganzen Herzen und von deiner ganzen Seele und
von deiner ganzen Kraft und von deinem ganzen Ver­
110
stände, und deinen Nächsten wie dich selbst." Diese Antwort war ganz richtig, und deshalb wird ihm gesagt:
„Thue dies, und du wirst leben." Indem er aber sich
selbst rechtfertigen wollte, fragte er: „Und wer ist mein
Nächster?" Hierauf erzählt der Herr Sein Gleichnis.
Bei der Auslegung desselben betrachtet man gewöhnlich Christum als den barmherzigen Samariter, und ohne
Zweifel mit Recht; denn wer hat, gleich Christo, alle die
Schmerzen und Leiden Seines Volkes auf sich genommen
und ein Heilmittel vorgesehen, das allen Bedürfnissen begegnet ? Und das fällt umsomehr ins Auge, wenn Er den
Priestern und Leviten gegenüber gestellt wird, die mit den
Elenden Mitleid hätten haben sollen. Der Priester sah
den armen Mann, und ging an der entgegengesetzten Seite
vorüber. Der Levit erblickte den Hülflosen, aber auch er
that das Gleiche. Gerade diejenigen, welche allen Eifer
hätten anwenden sollen, um zu thun, was das Gesetz
verlangte, erfüllten seine Forderungen in keiner Weise.
Das Gesetz forderte von dem Israeliten, daß er selbst
dem Esel seines Feindes hülfreich beispringe, wenn
derselbe unter seiner Last zu Boden gesunken sei. Und hier
lag ein Mitmensch in größter Not, und Priester und Levit
gingen vorüber. Nur der verachtete Samariter hatte Mitleid mit ihm und that alles, was zu seiner Rettung und
Heilung nötig war. Er verband seine Wunden und goß
Oel und Wein darauf — das Heilende und das Stärkende
— und brachte ihn dann an einen Ort der Sicherheit.
Das Gleichnis ist also ein schönes, treffendes
Bild von der Art und Weise, wie der Mensch ein hülfloser Sklave Satans wurde, und wie Christus zu dem
.„Halbtoten" kam, um was zu thun? Ihn aufzufordern,
111
sich selbst so viel als möglich zu helfen, und dann Seinerseits das Fehlende zu ergänzen? Nein, und abermals
nein! Der Mensch ist so völlig hülflos, daß Christus
alles thun muß, wenn er gerettet und geheilt werden,
soll. Und in Seiner erbarmenden Liebe thut Er alles,
und sorgt dann auch für die ferneren Bedürfnisse des
Armen. Ja, mehr noch; der barmherzige Samariter spricht
von seinem Wiederkommen und giebt dem Wirt zwei Denare,
damit er dafür den Geretteten verpflege. „Verpflege ihn;,
und was irgend du noch dazu verwenden wirst, werde ich
dir bezahlen, wenn ich zurückkomme." Auch unser
großer barmherziger Samariter hat gesagt: „Ich komme
bald!" Er wird wiederkommen und alle die Seinigen,
so verachtet sie in der Welt sein mögen, zu sich nehmen,
damit sie da seien, wo Er ist.
Allein während dies alles im Blick auf Christum
völlig wahr ist, so gilt doch uns die Belehrung des
Gleichnisses. Wir sollen barmherzige Samariter sein
und handeln, wie jener gehandelt hat. Wie hätte uns
unser Herr und Heiland besser über die Frage belehren
können, wer unser Nächster ist, als dadurch daß Er uns
ein Gemälde von sich selbst giebt? Auf die Frage des
Herrn: „Wer von diesen dreien dünkt dich, der Nächste
gewesen zu sein von dem, der unter die Räuber gefallen
war?" konnte selbst der Gesetzgelehrte antworten: „Der
die Barmherzigkeit an ihm that." — „Jesus aber sprach
zu ihm: Gehe hin und thue desgleichen."
Die Juden verkehrten nicht mit den Samaritern,
wie wir wissen, und dennoch konnte der barmherzige
Samariter den armen Verwundeten nicht in seinem
Elend liegen lassen. Er war sein Nächster; und so sind
112
auch wir ermahnt, allen Menschen Gutes zu thun, besonders den Hausgenossen des Glaubens. Alle Menschen
sind unsre Nächsten, alle wahren Christen unsre Brüder.
Rund um uns her erblicken wir die armen Opfer Satans
in ihrem Elend. Durch Gottes Gnade besitzen wir den
„Balsam von Gilead"; (Jer. 8, 22.) und wenn wir auch
nicht der Welt Güter haben, um der leiblichen Not unsers
Nächsten abzuhelfen, so können wir doch alle von dem
reden, was seine sündenbeladene Seele heilen und ihm
ein neues Leben geben kann, ein Leben, welches ihn hienieden erhalten wird, bis der wahre barmherzige Samariter
zurückkehrt, um uns alle zu sich zu rufen.
„Gehe hin und thue desgleichen!"
Bruchstücke.
Wenn Gott einen Menschen erzieht, so thut Er's in
einer Weise, die Seiner und Seines heiligen Dienstes
würdig ist. Er will keinen Neuling in Seinem Werke haben. Der Diener Christi hat im Geheimen manche Lektion
zu lernen, manche Uebung durchzumachen, manchen Kampf
zu bestehen, ehe er wirklich fähig ist, öffentlich handelnd
aufzutreten.
Mose „wandte sich dahin und dorthin". (2. Mose
2, 12.) Das ist unnötig, wenn ein Mensch mit und für
Gott handelt. Ein solcher ist völlig ruhig und klar über
seinen Weg. Er kümmert sich nicht um das Gutachten oder
Mißfallen der Menschen.

Isaak.
(Schluß.)
Am Ende seiner Wege, obwohl nicht seiner Tage,
sendet Isaak auf den Wunsch der argwöhnischen und erschreckten Rebekka den Jakob fort. Und diese Handlung
geschieht mit einem Ausdruck des Kummers, der Beschämung
und Enttäuschung — der bittern Frucht, welche ihre eignen
Wege für sie heroorgebracht hatten. Alles würde ganz
anders gewesen sein, wenn der Geist und Gehorsam des
Glaubens sie in dem Wege des Herrn erhalten hätten.
Und damit sind wir, wie gesagt, am Ende des Lebens
unsers Patriarchen angelangt, wenigstens in praktischer
Beziehung. Er lebte allerdings nachher noch vierzig Jahre,
vielleicht noch länger; aber er ist für uns verloren. Es
ist, als wäre er nicht mehr da. Am Schlüsse des 35.
Kapitels lesen wir: „Und Jakob kam zu Isaak, seinem
Vater, nach Mamre, nach Kirjath-Arba, das ist Hebron,
woselbst Abraham als Fremdling geweilt hatte und Isaak.
Und die Tage Isaaks waren hundert und achtzig Jahre.
Und Isaak verschied und starb, und ward versammelt zu
seinen Völkern, alt und der Tage satt. Und Esau und
Jakob, seine Söhne, begruben ihn."
Abraham hatte sich bei dem Tode Sarahs mit Sorgfalt in den Besitz von Machpela gebracht; dort hatte er
Sarah begraben, dort war er von Isaak und Ismael be­
114
graben worden, dort begruben jetzt Jakob und Esau den
Isaak, und dort wurde auch später Jakob von seinen
zwölf Söhnen begraben.
Der Kauf dieses Grundstückes und die Sorgfalt,
welche die Patriarchen im Blick auf ihre Beerdigung an
jener Stätte an den Tag legten, reden zu uns von ihrem
Glauben an eine glückliche Auferstehung, sowie an die 
damit in Berbindung stehende Besitznahme des Landes.
Es zeigt uns, daß ebensowohl Hoffnung als Glaube
in ihren Herzen vorhanden war; daß sie nicht nur ohne
irgend welchen Zweifel in der Gewißheit ihrer Berufung
und Annahme ruhten, sondern auch mit derselben Sicherheit daS Leben und Erbteil erwarteten, welche in der zukünftigen Welt für sie bereitet sind. Sie lebten im Glauben,
und sie starben im Glauben. Sie waren Männer, in
deren Seelen das Leben des Glaubens und der Hoffnung
gekannt und genossen wurde. Wohl zeigt sich immer wieder
die Natur in ihnen: sie irren, sie gleiten aus, und handeln
oft sogar treulos gegen Gott durch ihren Unglauben; sie
ziehen sich Strafen und Verweise zu und werden zuweilen
vor den Menschen erniedrigt; aber sie scheinen nie an der
gesegneten Thatsache gezweifelt zu haben, daß sie von dem
Gott der Herrlichkeit erwählt und mit großen Verheißungen
ausgestattet waren. Glaube und Hoffnung lebten in ihren
Seelen. Ich sage nicht, daß sie hatten, was wir besitzen.
Wir haben jetzt eine Salbung, ein Unterpfand und ein
Zeugnis, als Frucht der Gabe und Jnwohnung des Heiligen
Geistes, welcher unsrer Zeit nicht nur die Kraft, sondern
auch den Charakter verleiht. Aber die Patriarchen, in
jenem Zeitalter der Kindheit, scheinen nie gezweifelt
zu haben. Und das ist köstlich; sogar bei den frühesten
115
Offenbarungen Seiner selbst, in jenen Kindestagen des
ersten Buches Mose, wurde Gott von Seinen Auserwählten
gekannt als Einer, auf den man sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft vertrauen kann.
Ich wiederhole, dies ist köstlich. Der Geist ruft in
der Seele des Auserwählten ebenso gewiß Hoffnung hervor,
wie Glauben. Machpela zeigt uns das im Blick auf die
Patriarchen. Aber es war schon vor ihnen so, und ist 
auch nach ihnen immer so gewesen. Adam besaß sowohl
Hoffnung als Glauben; sobald er glaubte, hoffte er auch.
Er wandelte als ein Fremdling auf der Erde, gerade so
wie in dem bewußten Besitz des Lebens; und mit ihm
und gleich ihm die vorsündflutlichen Heiligen.
Die Kinder Israel feierten später die letzte Nacht
ihres Verweilens in Egypten mit dem Stabe in der Hand
und den Schuhen an den Füßen; und sie thaten das mit
derselben Einfalt und Sicherheit, wie sie das Blut an die 
Thürpfosten gestrichen hatten. Sie hofften gerade so gewiß
auf etwas jenseit Egyptens, wie sie auf ihre Sicherheit
in Egypten rechneten.
Später bezeugte Moses diese Stellung Israels, (eine
Stellung, die dem Heerlager Gottes in der Kraft des
Glaubens und der Hoffnung allein geziemte,) indem er zu
Hobab sagte: „Wir brechen auf nach dem Orte, wovon
Jehova gesagt hat: ich will ihn euch geben". So sagte auch
Paulus in seiner Verteidigungsrede vor dem König Agrippa:
„Und nun stehe ich vor Gericht wegen der Hoffnung auf
die von Gott an unsre Väter geschehene Verheißung, zu
welcher unser zwölfstämmiges Volk, unablässig Nacht und
Tag Gott dienend, hinzugelangen hofft."
Das Oel in den Lampen der klugen Jungfrauen
116
ist ebenfalls der Ausdruck der Kraft der Hoffnung. Diese
Jungfrauen trugen Sorge für das Verziehen des Bräutigams, auf dessen Rückkehr sie warteten, mochte derselbe
nun noch weit entfernt oder nahe sein.
Doch um der Hoffnung ihre höchste und herrlichste
moralische Schönheit zu verleihen, hat uns Gott wissen
lassen, daß der gegenwärtige Himmel selbst ein Himmel
der Hoffnung ist. Obgleich der Herr Jesus sich zur
Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt hat, wartet Er
doch, wie wir wissen, „bis alle Seine Feinde zum Schemel
Seiner Füße gelegt worden sind". Und diese Gesinnung
ihres verherrlichten Herrn wird dereinst auch die Gesinnung
der verherrlichten Kirche werden; denn der Himmel in
Offenb. 5 ist auch ein Himmel der Hoffnung. „Du bist
würdig", sagen die vier lebendigen Wesen und die auf
Thronen sitzenden Aeltesten jenes Himmels, „das Buch
zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft, durch Dein
Blut, aus jedem Geschlecht und Sprache und Volk und
Nation, und hast sie unserm Gott zu Königen und Priestern
gemacht, und sie werden über die Erde herrschen!"
In diesem Leben des Glaubens und der Hoffnung
zeigen sich die Patriarchen völlig eins ; und es ist köstlich,
das zu wissen. Sie stellen verschiedenartige Geheimnisse
dar, und geben uns verschiedene sittliche Belehrungen;
aber in diesem Leben des Glaubens und der Hoffnung
sind sie eins; und jeder von ihnen, Abraham, Isaak und
Jakob, wird in gleicher Weise zu seinen Völkern versammelt;
jeder ist eine Handvoll geheiligten Staubes, uiedergelegt
in der Höhle Machpela in der sichern und gewissen Hoffnung
aus eine Auferstehung zum Leben und zur Erbschaft.
117
Ein englisches Sprichwort sagt: Besser abgenutzt
werden als verrosten. Aber dieses bessere Teil hat Isaak
nicht erwählt. Er verrostete; das war das naturgemäße
Ende eines solchen Lebens.
War Isaak ein Gefäß, welches dem Töpfer mißraten
war? War er ein Gefäß, das beiseite gelegt wurde, weil
es für den Gebrauch des Meisters nicht taugte, oder 
wenigstens nicht länger tauglich war? Seine Geschichte
scheint dies zu lehren. Abraham war ein andrer Mann
gewesen. Alle Kennzeichen eines Fremdlings hienieden,
alle geziemenden Früchte jener Energie, welche ihn von
Anfang an beseelte, wurden bis zum Ende hin bei ihm
gefunden. Wir haben dies bereits bei unsrer früheren
Betrachtung über Abraham gesehen. Abrahams Blatt
verwelkte nicht; er brachte noch Frucht im Alter. So
war es auch mit Mose, mit David und Paulus. Sie
starben in ihrer Rüstung, am Pfluge oder im Kampfe.
Fehler, und Schlimmeres noch als Fehler, machten sie auf
dem Wege, in ihrem Laufe, oder in ihrem Werke; aber sie
wurden nie beiseite gesetzt. Mose giebt noch an den Ufern
des Jordan dem Heere seine Ratschläge; David ordnet
vor seinem Tode alles und legt das Königtum (in seiner
Schönheit und Macht) in die Hand Salomos; Paulus
steht da mit umgürteten Lenden und angethan mit der
Waffenrüstung Gottes. Als die Zeit ihres Abscheidens
vorhanden war, fand der Herr diese Männer, wie es in
Luk. 12 heißt, „also thuend", wie Knechte gefunden werden
sollten. Doch bei Isaak war es anders. Er wird beiseite
gesetzt. Während vierzig langer Jahre hören wir nichts
von ihm; er welkte und schwand gleichsam dahin. Das
Gefäß rostete, bis es völlig verrostet war.
118
In diesem allen liegt sicher eine tiefe Bedeutung,
eine ernste Ermahnung für uns. Und doch — so fruchtbar
und voll Belehrung sind die Zeugnisse Gottes — giebt
es in der Schrift andere Männer aus andern Zeiten,
die uns zu noch ernsterer Belehrung und Warnung dienen.
Es ist demütigend, beiseite gesetzt zu werden, als
nicht länger für den Gebrauch des Meisters geeignet;
aber traurig ist es, nur zu dem Zwecke hier gelassen zu
werden, um wieder zu sich selbst zu kommen, und
schrecklich ist es, zu bleiben, um sich selbst zu verderb en.
Und in den Zeugnissen Gottes finden wir Beispiele von
all dieser moralischen Verschiedenheit. Jakob ist in seinen
letzten Tagen in Egypten nicht als ein beiseite gesetztes
Gefäß, sondern er kommt dort wieder zu sich selbst. Ich
weiß wohl, daß manches sehr Köstliche in ihm gefunden
wird während der siebenzehn Jahre, die er in jenem Lande
zubrachte, und wir könnten die Unterweisung nicht entbehren, welche uns der Geist in dem Leben Jakobs in
Egypten giebt. Aber doch erblicken wir in ihm einen
Heiligen, der unter einer heiligen Zucht gewesen ist, und
der nun zu sich selbst kommt und Frucht bringt, die der
Wiederherstellung entspricht. ES bedarf nur eines kurzen
Nachdenkens, um zu erkennen, daß das nur eine armselige
Sache ist. Doch in Salomo begegnen wir einer noch
schlimmeren Sache. Er bleibt am Leben, um sich selbst
zu verderben, so traurig und schrecklich es auch sein mag,
dies auszusprechen. Das that weder Isaak noch Jakob.
Salomo war weder ein Heiliger, der einfach beiseite gesetzt
wurde, noch wurde er hier gelassen, um wieder zu sich
selbst zu kommen. Isaak war, in allgemein sittlichem Sinne,
tadellos bis zum Ende hin, und Jakobs letzte Tage waren
119
seine besten; aber von Salomo lesen wir: „Und es geschah zur Zeit, da Salomo alt war, da neigten seine
Weiber sein Herz andern Göttern nach."
So sind die Belehrungen, Geliebte, welche uns Isaak
und Jakob und Salomo in ihren Wegen geben; so die
genauen und mannigfachen Unterweisungen, welche in den
fruchtbringenden und lebendigen Blättern der Heiligen
Schrift für uns niedergelegt sind. Sie zeigen uns in
dem Hause Gottes Gefäße, die nützlich waren zum Gebrauch und die bis zum Ende hin benutzt wurden; ferner Gefäße, die beiseite gesetzt wurden, um zu verrosten,
anstatt ausgenutzt zu werden; Gefäße endlich, deren bester
Dienst darin bestand, sich selbst wieder zu reinigen, und
Gefäße, die zu ihrer eignen Schande am Ende ihres
Dienstes sich aufs neue beschmutzten.
Bewundernswürdig und mannigfaltig sind die Unterweisungen und Wege der Gnade, der überströmenden
Gnade Gottes! Ach, wie leicht nimmt die Seele Vorstellungen von Gott in sich auf, die den Eingebungen der
Natur entsprechen, anstatt daß sie Ihn nach dem Glauben kennt. Die Natur stellt Ihn der Seele vor als
einen Richter, oder als einen Gesetzgeber, oder als einen
Vollstrecker der Gerechtigkeit, als Einen, der die Wagschale in Seiner Hand hält, um jeden Gedanken, jedes
Werk abzuwägen, als Einen, der äußerst empfindlich ist
gegen die geringste Berührung mit dem Bösen. Aber der
Glaube zeigt Ihn einem staunenden, anbetenden Auge und
Herzen als den Einen, der uns immer liebt, mag Er thun
oder reden, was Er will. Denn „der Glaube wirkt durch
die Liebe"; (Gal. 5, 6.) er wirkt zu dem Gott der Liebe
hin, und daher in einem Geiste des Vertrauens und der
120
Freiheit. Wenn unsre Seelen sich unter dem Druck eines
Geistes der Furcht, der Knechtschaft oder der Ungewißheit
befinden, so können wir überzeugt sein, daß sie die sanfte
Hand des Glaubens haben fahren lassen, und daß sie sich
von solchen Vormündern und Verwaltern leiten lassen, wie
die Natur sie giebt. Das sollte nicht so sein. Wir sollten wissen, daß wir es stets mit der Liebe zu thun
haben. Wenn wir lesen, wenn wir beten, wenn wir uns
unterhalten, wenn wir bekennen, wenn wir dienen, wenn
wir singen, wenn wir Gottes Hand in der Vorsehung
betrachten, oder im Verborgenen Seines Namens gedenken — möge dann die Glaubens-Gemeinschaft mit Gott
stets unser Teil sein! Er liebt uns. Die Beziehung, in
der wir zu Ihm stehen und von welcher unser Isaak die
Darstellung war, macht diese Wahrheit zu einer Notwendigkeit.
Gott hat „uns zuvorbestimmt zur Sohnschaft durch
Jesum Christum für sich selbst nach dem Wohlgefallen
Seines Willens". (Eph. 1, 5.) Diese Worte „für sich
selbst" drücken Gottes Freude an der Zuvorbestimmung
und Annahme der Auserwählten zu Seinen Söhnen
aus, gerade so wie es Abrahams Freude war, als Isaak
entwöhnt wurde. Christus stellt die Versammlung sich
selbst dar, (Eph. 5, 27.) und der Vater sammelt die
Auserwählten als Söhne für sich selbst. Vater und
Sohn haben ein persönliches Interesse und eine persönliche
Freude an den Vorsätzen der Gnade. Wie gesegnet ist dies
alles für unsre Herzen' Das Haus ist jetzt in dem Sohne
aufgerichtet, nicht in einem Knecht; in Isaak, nicht in
Elieser. „Der Vater sucht solche, die Ihn anbeten."
Wunderbare Worte, voll überströmender Gnade!
121
Ein Wort an alle, welche dem Herrn
angehören.
„Ihr seid Brüder, warum thut ihr
einander Unrecht?" (Apgsch. 7, 26.)
Zu allen Zeiten hat die Welt die Kinder Gottes
gehaßt, und wir dürfen uns nach dem Worte des Apostels (1. Joh. 3, 13.) nicht darüber wundern; hat sie doch
den Sohn Gottes selbst gehaßt und gekreuzigt, und diese
Thatsache lastet auf ihr als eine schwere Schuld, für welche
sie Gott dereinst Rechenschaft geben muß. Billig aber sollte
es uns wundern, wenn wir sehen, daß die Kinder Gottes
unter sich uneins sind und mit einander streiten, zumal
wenn wir an das innige Band denken, durch welches sie als
Brüder und Glieder eines Leibes mit einander verbunden sind, und wenn wir uns an den hohen Preis erinnern, der zur Herstellung dieses Bandes bezahlt werden
mußte; denn um die zerstreuten Kinder Gottes in eins
versammeln zu können, mußte Christus sterben. (Joh.
11, 52.) Bei dem Gedanken an den bittern Kreuzestod
des Herrn und an Sein flehentliches Gebet zum Vater
für die Einheit der Seinigen (Joh. 17.) muß uns die
Uneinigkeit der letzteren als eine schwere Schuld erscheinen.
Und unabweislich tritt die Frage an uns heran: Sollten
die Gläubigen nicht insgesamt dem Herrn für diese schwere
Verschuldung verantwortlich sein und Ihm Rechenschaft
darüber geben müssen? Denn wenn sie auch ihre Einheit
vergessen haben mögen, so betrachtet der Herr sie doch
allezeit als Glieder eines Leibes, die darum verantwortlich sind für alles, was in ihrer Mitte vorgeht. Ganz
Israel wurde vor Alters verantwortlich gemacht für die
Sünde Achans. Gott sagte nicht: „Ein Einzelner hat ge­
122
sündigt," sondern: „Israel hat gesündigt". (Jos. 7,11.)
Ebenso trug die ganze Versammlung zu Korinth die 
Verantwortlichkeit für die in ihrer Mitte begangene Sünde
der Hurerei; denn der Apostel rief ihnen zu: „Ihr habt
nicht Leid getragen". (1. Kor. 5, 2.) In beiden Fällen
hatte das Volk Gottes ernste Demütigungen durchzumachen
und schwere Züchtigungen zu erdulden; und doch standen
die damals begangenen Sünden in keinem Vergleich zu der
schweren Schuld der Uneinigkeit und Zersplitterung, welche
heute auf der Gemeinde oder Versammlung Gotttes lastet.
Und uns trifft heute der Vorwurf: „ihr habt nicht
Leid getragen", in weit höherem Grade als die Gläubigen zu Korinth. Das Gefühl des Schmerzes und der
Betrübnis ist Wohl bei keinem von uns in dem Maße
wahrzunehmen, wie dies angesichts einer so großen Schuld
der Fall sein sollte. Im Gegenteil verraten manche Brüder eine höchst bedauernswerte Gleichgültigkeit in dieser
Beziehung, indem sie sagen: „Die Spaltungen sind uns
Nebensache; wir halten sie für zu geringfügig, um uns
mit ihnen zu beschäftigen. ES wäre ja besser, wenn sie
nicht vorhanden wären; weil sie aber nun einmal da sind,
und wir doch nichts daran ändern können, so ist es am
besten, sich gar nicht mit ihnen zu beschäftigen." War es
denn, möchten wir solche Brüder fragen, auch für Christum
eine so geringfügige Sache, am Kreuze zu leiden und zu
sterben, um die zerstreuten Kinder Gottes in eins zu
versammeln? (Joh. 11, 52.) Oder hat Er sich etwa zu
viel mit dieser Sache beschäftigt, als Er wiederholt für
die Einheit der Seinigen zum Vater flehte? (Joh. 17,
20—23.) Oder war vielleicht der Apostel engherzig und
kleinlich, weil er die Korinther wegen ihrer Spaltungen
123
so ernst tadelte, und überhaupt in seinen Briefen so viel von
der Einheit der Gläubigen spricht? (Vergl. I.Kor. 1,10-13;
3, 1 — 5; 12, 12-27; Eph. 4, 1 — 6; Phil. 2, 2 rc.)
Wohl ist es wahr, daß wir die praktische Einheit
der Gläubigen nicht wiederherstellen können; das ist allein
Gottes Sache. Aber unsre Sache ist es, unsre Schuld
anzuerkennen und uns zu demütigen. DaS ist alles, was
wir thun können, aber auch thun müssen; Gott erwartet es von uns. Wir haben gesündigt, und wir müssen uns demütigen. Wer du auch bist, geliebter christlicher
Leser, du kannst dich als Bruder nicht von dieser Schuld lossagen, oder du müßtest dich von der Versammlung Gottes *)
lossagen und bekennen, daß du kein Glied am Leibe Christi
seiest. Als ein solches hast du deinen Anteil an der Schuld,
die auf der Versammlung Gottes lastet, wie treu auch dein
persönlicher Wandel sein mag. Der Prophet Daniel
war gewiß treu und hatte persönlich keinen Anteil au den
Sünden seiner Väter; aber er wußte sich eins mit dem
Volke Gottes, und darum demütigte er sich wegen der
Sünden desselben; ja, er trug mehr Leid als irgend
-einer seiner Zeitgenossen. Er fühlte tief den traurigen
Zustand seines Volkes, und bekannte vor Gott unter heißem Gebet und Flehen: „Wir haben gesündigt und Unrecht gethan und gesetzlos gehandelt und uns empört, und
sind abgewichen von Deinen Geboten und Deinen Rechten.
Und wir haben nicht gehört aus Deine Knechte, die Propheten, die in Deinem Namen redeten zu unsern Königen,
unsern Fürsten und unsern Vätern und zu allem Volk
*) Unter dem Ausdruck „Versammlung (od. Gemeinde) Gottes"
verstehen wir selbstverständlich alle Gläubigen, nicht etwa nur einen
Teil von ihnen, oder gar nur eine besondere Benennung oder Partei
124
des Landes. Dein, o Herr, ist die Gerechtigkeit, unser
aber die Beschämung des Angesichts u. s. w." (Dan. 9.)
Daniel selbst war nicht von den Geboten und Rechten Gottes abgewichen; vielmehr hatte er dieselben unter
den schwierigsten Umständen genau befolgt. Er hatte sich
als Jude von jeder Verunreinigung an dem heidnischen
Hofe Nebukadnezars fern gehalten, und war trotz des
Verbotes des Königs Darius und angesichts der Löwengrube seinem Gott nicht untreu geworden. (Dan. 1, 8;
6, 11.) Die Worte: „Wir haben gesetzlos gehandelt
und uns empört und sind abgewichen," konnten deshalb sicherlich nicht auf seinen persönlichen Wandel angewandt werden. Aber sie bezeugen uns, wie sehr Daniel
seine Zusammengehörigkeit mit dem Volke Gottes fühlte,
und wie tief er sich demütigte, indem er sich selbst völlig
vergaß und nur an den Zustand seines Volkes dachte.
Und welch ein Beispiel von Einsmachung mit Seinem Volke giebt uns in dieser Beziehung der Herr selbst!
Als Johannes der Täufer, das Volk Israel wegen seiner
Sünden zur Buße aufforderte, da kam Er, der Heilige
und Vollkommene, und ließ sich taufen mit dem bußfertigen Ueberrest, als einer von ihnen. Wer aber sind wir
im Vergleich mit dem Herrn? Oder wie viele von uns
könnten sich betreffs ihrer persönlichen Treue auch nur
annähernd mit einem Daniel vergleichen, und sagen: Wir
sind nicht abgewichen von dem Worte Gottes? Wie viel
mehr Ursache haben wir daher, uns zu demütigen!
Zudem war die Einsmachung des Herrn mit dem
Ueberrest aus Israel eine vollkommen freiwillige Handlung,
ein Zeugnis Seiner unumschränkten Gnade und Liebe
für dieses Volk. Wir aber sind mit der Versammlung
125
Gottes einsgemacht durch die Thatsache, daß wir Christen
oder, mit andern Worten, durch einen Geist zu einem
Leibe getauft sind. (1. Kor. 12, 13.) Unsre Zusammengehörigkeit leugnen, heißt daher diese Thatsache leugnen
und den Boden des Christentums verlassen. Thun wir
das aber, so haben wir kein Recht mehr, uns noch für
wahre Christen auszugeben. Erkennen wir aber jene Zusammengehörigkeit an, so müssen wir auch die auf der
Versammlung Gottes lastende Schuld als die unsrige
anerkennen und uns gleich Daniel demütigen. Ja, weit
mehr noch als er; denn unser christliches Verhältnis als
Glieder eines Leibes ist weit inniger als dasjenige der
Israeliten unter einander. Es steht geschrieben: „Wenn
ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; wenn ein
Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle Glieder mit".
(1. Kor. 12, 26.)
Möge sich daher jeder Gläubige selbst die Frage beantworten, ob es sich mit seinem christlichen Bekenntnis
vereinigen läßt, wenn er sagt: „Der Zwiespalt der Gläubigen kümmert mich nicht; ich kann doch nichts darin thun
und halte es daher für richtiger, wenn sich jeder um sich
selbst bekümmert und vor seiner eignen Thüre kehrt" ; oder:
„Ich weiß, daß ich auf dem Wege, auf welchem ich bin, selig
werde; und das ist mir genug, alles andre ist mir Nebensache". Heißt das mitleiden oder sich mitfreuen, wenn
ein Glied leidet oder verherrlicht wird? Gewiß, solche
Redensarten zeugen nicht von dem Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und von wahrer Bruderliebe; sie haben
keine Ähnlichkeit mit der Sprache Daniels, wohl aber 
mit derjenigen Kains: „Soll ich meines Bruders Hüter
sein?" (Vergl. 1. Mose 4, 9.)
126
Als die Kinder Israel das goldene Kalb gemacht
Hatton und der Zorn Jehovas wider sie entbrannte und
Er sie vernichten wollte, da trat Moses für sie in den
Riß und flehte zu Jehova um Vergebung mit den Worten: „Ach! dieses Volk hat eine große Sünde begangen,
und sie haben sich einen Gott von Gold gemacht. Und
nun, wenn Du ihre Sünde vergeben wolltest! . . . Wenn
aber nicht, so lösche mich doch aus Deinem Buche,
das Du geschrieben hast." (2. Mose 32, 9- 13. 31. 32.)
Ebenso rührend sind die Gefühle der Liebe, welche sich
in dem Schmerz des Apostels über Israel offenbaren,
wenn er schreibt: „Ich sage die Wahrheit in Christo, ich
lüge nicht, und mein Gewissen giebt mit mir Zeugnis in
dem Heiligen Geiste, daß ich große Traurigkeit und
unaufhörlichen Schmerz habe in meinem Herzen;
denn ich selbst, ich habe gewünscht, durch einen Fluch von
Christo entfernt zu sein für meine Brüder, meine Verwandten
nach dem Fleische." (Röm. 9, 1 — 3.) Welch eine selbstlose
Hingebung und Aufopferung für andere zeigen diese Männer!
welch eine Liebe! welche Gesühle der Zusammengehörigkeit
mit einem Volke, das einen so traurigen Zustand offenbarte!
Wie ganz anders ist dagegen das Verhalten vieler Gläubigen heutzutage! Wie oft hört man solche über die Glieder andrer Benennungen in einem verächtlichen Tone reden; wie suchen sie dieselben in geringschätzender Weise
in den Augen andrer herabzusetzen, oder heben sogar mit
einem gewissen Wohlgefallen deren Mängel und Fehler
hervor! Wie wenig denken solche Gläubige daran, daß es
ihre Brüder sind, über welche sie also reden! Wo sind
da die Gefühle des Schmerzes? Wo das heiße Flehen
zum Herrn für die Brüder? Wahrlich, wenn diese Gläu-
127
Ligen einmal ihr Berhalten im Lichte der Gegenwart
Gottes sehen würden, so würden sie gern über die Fehler
ihrer Brüder schweigen und mit tiefer Beschämung an sich
selbst denken. Denn durch ihr Thun wird nichts gebessert,
noch weniger werden die Fehler der Brüder dadurch beseitigt; wohl aber wird viel dadurch geschadet, indem der
Riß zwischen Brüdern und Brüdern immer größer wird.
Welch eine Verantwortlichkeit laden sie daher auf sich!
Inmitten der Gläubigen zu Korinth herrschten gewiß
traurige Zustände; dennoch lag dem Apostel nichts ferner,
als in gleichgültigem oder geringschätzendem Tone über sie
zu reden. Vielmehr trauerte er über sie und schrieb ihnen
unter vielen Thränen einen Brief voll der herzlichsten
Ermahnungen und ernstesten Unterweisungen. „Denn aus
vieler Drangsal und Herzensangst schrieb ich euch mit
vielen Thränen, nicht auf daß ihr traurig gemacht werden
solltet, sondern auf daß ihr die Liebe erkennen möchtet,
die ich überschwänglicher zu euch habe." (2. Kor. 2, 4.)
Das sind die Gefühle, welche sich für Brüder und Glieder eines Leibes geziemen. Und wie ganz anders würde
es heute mit der Versammlung oder Gemeinde Gottes
stehen, wenn wir alle die Fehler unsrer Brüder auf fürbittendem Herzen trügen, wie Moses, Daniel und Paulus
dies thaten.
Der Mangel an diesem Gefühl der Zusammengehörigkeit erklärt es auch, warum Brüder von Brüdern
ohne wesentliche Gründe getrennt bleiben können,
unter der Ausrede: „Wir haben ja ganz dasselbe, was
ihr auch habt; und so sehen wir nicht ein, weshalb wir
mit euch gehen und unsre Stellung aufgeben sollten; dann
könntet ihr ja auch mit uns gehen." Wir wollen hier nicht
128
darüber entscheiden, wer Recht oder Unrecht hat, sondern
erwidern einfach, daß nur diejenigen Brüder ihren geziemenden Platz vor Gott einnehmen, welche wirklich Leid
tragen über den Zustand der Versammlung Gottes.
Denn wir sind überzeugt, daß Gott allen denen, welche
dies in Wirklichkeit thun, den richtigen Weg zeigen wird;
und wir wissen auch, daß solche alles aufbieten werden, um
die Wahrheit trotz der herrschenden Verwirrung und
Meinungsverschiedenheit wirklich zu erkennen. Jeder Gläubige mag hier nach seinem Gewissen entscheiden, ob dies
eine parteiische oder unparteiische Sprache ist.
Je inniger das Band gefühlt wird, welches alle
Gläubigen umschlingt, desto größer ist der Schmerz, wenn
dieses Band nicht anerkannt oder gar mutwillig zerrissen
wird. Aber wo ist dieser Schmerz, wenn man sagt: „Wir
sehen nichts Böses in dem getrennten Zustande der
Gläubigen; wir sind doch eins, wenn wir unsrer Einheit
auch nicht am Tische des Herrn Ausdruck geben;" oder 
gar: „Es ist gut, daß es viele Parteien giebt; denn
dadurch entsteht umsomehr Wetteifer in der Verkündigung
des Evangeliums und in der Pflege der Seelen;" oder:
„Wir betrachten die Gläubigen mit ihren vielen Parteien
wie ein Heer von Soldaten, welche verschiedene Uniformen
tragen und verschiedenen Waffengattungen angehören, aber 
doch alle nur einem Könige dienen." Bezeugen nicht
alle, die so reden, daß sie das innige Band nicht kennen,
welches der Herr durch Seinen Tod und Seine Auferstehung um alle die Seinigen geschlungen hat? Ist das
die Sprache des einen Geistes, durch welchen wir alle
zu einem Leibe getauft sind?
Wohl ist eS wahr, daß wir trotz aller Zersplitterung
129
eins sind; denn die durch den Heiligen Geist bewirkte
Einheit des Leibes Christi kann durch nichts aufgelöst
werden. Aber dies hebt unsre Verantwortlichkeit betreffs
der Verwirklichung dieser Einheit nicht auf. Denn man
könnte dann auch mit demselben Recht sagen, daß der
Gläubige sündigen dürfe, weil er, einmal gerettet durch
das Werk Christi, nicht mehr verloren gehen könne. Verrät es nicht einen sehr schlechten Grundsatz, wenn man
sagt: „Wir sind doch eins, wenn wir unsrer Einheit auch
nicht am Tische des Herrn Ausdruck geben"? Wird nicht
die Schuld umso größer, wenn man die Einheit, welche
Gott gemacht hat, kennt und doch nicht willens ist, sie zu
verwirklichen? Setzen wir uns nicht in offenbaren Widerspruch mit Gott, wenn wir das rechtfertigen und gut heißen, was Er in Seinem heiligen Worte als böse tadelt
und verwirft? Und der Vergleich mit dem Heere von
Soldaten *) trifft vollends nicht zu; denn diese kämpfen
trotz ihrer verschiedenen Uniformen und Waffengattungen
in einem Geiste und folgen alle dem einen Kommando ihres obersten Kriegsherrn. Sie halten
gute Kameradschaft unter einander und sind jederzeit bereit,
einer dem andern beizuspringen und hülfreiche Hand zu
leisten. Keiner folgt seinem eignen Willen und seiner
eignen Meinung. Alle kämpfen unter einer Leitung und
verfolgen ein Ziel. Sieg oder Niederlage eines Truppenteiles erwecken in dem ganzen Heere gemeinsame Gefühle:
Freude oder Schmerz. Alle sind wie ein Mann. — Ach!
*) Das Bild an und für sich ist schön und passend; alle Gläubigen sind Kriegsleute Jesu Christi und werden von ihrem Herrn
zu den verschiedensten Dienstleistungen benutzt. Zu tadeln ist nur
die verkehrte Anwendung, welche man von diesem Bilde macht.
130
daß es so auch mit den Gläubigen wäre! Aber leider,
leider ist es anders. Denn würden sie sich in einem
Geiste versammeln, in einer Gesinnung kämpfen, und
alle dem Worte ihres alleinigen Gebieters
und Herrn Jesu Christi (Judas V. 4.) folgen, so
würden sie keine abgeschlossenen Parteien bilden, und noch
weniger sich gegenseitig beneiden und anfeinden. Wohl
wäre es möglich, daß sich die Gläubigen eines Ortes wegen Mangel an Raum in verschiedenen Lokalen versammeln müßten; aber das würde sie nicht hindern, in einem
Geiste versammelt zu sein. Ach, wie tief muß der geistliche Zustand der Gläubigen im Allgemeinen gesunken sein,
wenn man solch elende Ausflüchte macht, wie die oben
angedeuteten! Wie sehr haben wir uns zu demütigen!
DaS Gefühl der Zusammengehörigkeit ist schwach, und
ebenso schwach auch der Schmerz und die Trauer über
die Zerrissenheit der Gläubigen.
Wohl macht sich in unsern Tagen eine Bewegung
unter den Gläubigen bemerkbar, die auf ein solches Gefühl der Zusammengehörigkeit schließen läßt. Man strengt
sich an, die verschiedenen Parteien in der sogenannten
evangelischen Allianz zu einem Ganzen zu vereinigen. Man
hält jährlich einmal, bald hier bald dort, Versammlungen
ab, zu denen fast alle Parteien Vertreter entsenden und
bei welchen für die kurze Zeit ihrer Dauer alle Parteiunterschiede beiseite gelassen werden sollen. Man schüttelt
sich denn auch als solche, die eines und desselben Heiles
gewürdigt sind, herzlich die Hände, man pflegt brüderliche
Gemeinschaft, feiert gar das Abendmahl mit einander und
dankt Gott, daß Er allen Seinen Kindern denselben gesegneten Platz gegeben habe. Aber sobald die letzte Zu­
131
sammenkunft beendigt, das letzte Amen gesprochen ist, eilt
jeder wieder heim, um in seiner eignen engen Parteistellung weiter zu leben und weiter zu wirken. Man hat
sich für einen Tag des Jahres den Anschein gegeben, als
ob man völlig eins wäre, um dann die übrigen 364 Tage
nur seiner Partei anzugehören. Ach! man täuscht sich
und andere.
Und doch, welch ein hoher Wert wird diesen AllianzVersammlungen beigelegt! Wie betrachtet man sie als
einen bedeutsamen Fortschritt auf dem Wege christlicher
Einheitsbestrebungen! Aber wer Augen hat zu sehen, erkennt in ihnen vielmehr einen beklagenswerten Rückschritt,
eine Sache, die nichts weniger als ein Werk des Geistes
Gottes ist, sondern vielmehr von dem Feinde der Seelen
dazu benutzt wird, um viele geliebte Kinder Gottes in
Selbsttäuschung und völliger Unkenntnis betreffs der Wahrheit zu erhalten. Anstatt sich wegen des allgemeinen Verfalls zu demütigen und die Einheit, welche der Geist
Gottes gemacht hat, anzuerkennen und zu verwirklichen, will man aus eigner Kraft eine Einheit machen,
und kommt auf diesem Wege zu einer blos scheinbaren
äußerlichen Einheit, die nicht nur vor Gott völlig wertlos ist, sondern selbst vor einer aufrichtigen, unparteiischen
Beurteilung seitens des Menschen nicht zu bestehen vermag.
Wir geben gern zu, daß viele Brüder in Unwissenheit handeln; aber selbst diese Unwissenheit hebt ihre Schuld
an dem Verfall nicht auf. Auch Saulus hatte in Unwissenheit gehandelt, als er die Christen verfolgte; (1. Tim.
1, 13.) dennoch aber demütigte er sich tief, als der Herr
ihm darüber Licht gab. Gott giebt den Demütigen Gnade,
(1. Petri 5, 5.) und Er wird keinen in Unwissenheit
132
lassen, der sich Seiner mächtigen Hand und der Leitung
Seines Geistes und Wortes unterwirft. Aber wenn wir
dies in Wahrheit thun, so hören wir auf, in eigenwilliger Thätigkeit voranzugehen. Wir brauchen keine
Einheit zu machen, sondern haben nur diejenige anzuerkennen, welche Gott gemacht hat. Wir sind vereinigt, sind Brüder, Glieder einer und derselben Familie. Darum sollten wir uns unsrer Uneinigkeit schämen,
uns demütigen, und uns auf dem Boden der von Gott
und nicht von Menschen gemachten Einheit die Hände
reichen.
Diejenigen denn, welche dies thun, stellen sich dadurch
auf die Seite Gottes, indem sie einerseits bei sich selbst
alles verurteilen, was irgendwie zur Trennung beigetragen
hat, und andrerseits zu allem geneigt sind, was zur Verwirklichung der Einheit dienen kann. Diejenigen aber,
welche die Ermahnung zur Demütigung verächtlich zurückweisen, beweisen damit, daß sie den Frieden nicht wollen;
und somit fällt die Schuld der Trennung auf sie allein
Zurück. Denn wer stieß Moses zurück, als dieser die
streitenden Israeliten zum Frieden mahnte? Es war derjenige, welcher dem Nächsten Unrecht that. Moses erinnerte sie an ihr inniges Verhältnis, indem er ihnen
zurief: „Ihr seid Brüder". Zugleich zeigte er ihnen,
daß ihre Schuld eine gemeinsame war — denn anders
würden sie sich nicht gestritten haben. Er sagte nicht zu
dem eiuen: „Du hast Recht", und zu dem andern: „Du
hast Unrecht"; sondern: „Warum thut ihr einander
Unrecht?" Aber derjenige, welcher Moses zurückstieß,
erwies sich gerade dadurch als der wirklich Schuldige.
„Der aber dem Nächsten Unrecht that, stieß ihn weg und
133
sprach: Wer hat dich zum Obersten und Richter über uns
gestellt?" Das war der offenbare Widerstand gegen die
Wirksamkeit des Heiligen Geistes, dessen sich Israel immer
aufs neue schuldig gemacht hat. Stephanus hielt ihnen
diese Sünde vor, indem er ihnen die ergreifenden Worte
zurief: „Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herz
und Ohren! ihr widerstreitet allezeit dem Heiligen Geiste; wie eure Väter, so auch ihr." (Apgsch. 7,
26. 27. 51.)
Möge der Herr einem jeden der Seinigen Gnade
geben, daß er sich demütige und nicht länger auf einem
selbstgewählten, Gott und Sein Wort verunehreuden Wege
fortschreite! Laßt uns nicht vergessen, wie sehr dem Herrn
die Einheit der Seinigen am Herzen liegt, und daß Er,
um sie zu bewirken, Sein teures Leben lassen mußte. Er,
der den Becher kalten Wassers zu schätzen weiß, welchen
wir dem Geringsten unter den Seinigen reichen, sieht es
auch, wenn Bruder an Bruder lieblos vorübergeht.
„Für mich und dich."
(Matth. 17, 27.)
Es giebt in der Geschichte unsers gepriesenen Herrn
während der Tage Seines Fleisches hienieden einzelne Ereignisse von besonderer Lieblichkeit. Ohne Zweifel ist alles,
was wir von Ihm hören, vollkommen; Seine Worte und
Werke waren ausnahmslos ein duftender Wohlgeruch für
Seinen Gott und Vater. Sogar die Braut im Hohenliede sagt von Ihm: „Alles, was an Ihm ist, ist sehr
köstlich." Aber dennoch giebt es Scenen, die in besonderer Weise zu unserm Herzen reden, Scenen, in welchen
134
die Strahlen des kostbaren Diamantes in hervorragend
lieblicher Weise auf uns fallen. Eine von diesen
finden wir am Schlüsse von Matth. 17.
Der Herr kommt mit Seinen Jüngern nach Damaskus, und die Einnehmer der Doppeldrachme (einer jüdischen
Kopfsteuer für den Tempel) treten zu Petrus mit der
Frage: „Zahlt euer Lehrer nicht die Doppeldrachme?" —
„Gewiß", antwortet dieser in seiner vorschnellen Art.
Petrus liebte seinen Herrn und glaubte an Ihn als den
verheißenen Messias. Aber ach! er war nicht fähig, sich zu
den Gedanken Gottes über Seinen geliebten Sohn zu erheben. Obwohl er kurz vorher auf dem Berge der Verklärung die Herrlichkeit des Herrn gesehen und aus der
lichten Wolke die Worte vernommen hatte: „Dieser ist
mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gesunden habe", erblickt er in diesem Augenblick in Jesu
doch nur den guten, frommen Juden, der sich sicher nicht
weigern wird, den bestimmten Beitrag für die Unterhaltung
des Tempels beizusteuern. Und ohne es für nötig zu 
halten, den Herrn zu befragen, giebt er den Einnehmern
der Steuer eine bejahende Antwort.
Doch als er ins Haus eintreten will, kommt ihm
der Herr mit der Frage zuvor: „Was dünkt dich, Simon?
von welchen erheben die Könige der Erde Zoll oder
Steuer, von ihren Söhnen oder von den Fremden?"
Welch eine Gnade! Wie oft hatte der arme Simon sich
schon vorgedrängt, und wie hatte er immer wieder seine
Thorheit erkennen müssen! Aber kein Wort des Tadels
kommt hier über die Lippen des Herrn, kein Vorwurf
trifft den vorschnellen Jünger. Was dünkt dich? Solltest
du dich nicht vielleicht irren, Simon? Der Herr wußte
135
alles; ob er die Unterhaltung zwischen Petrus und den
Einnehmern gehört hatte, wird uns nicht gesagt; aber 
mochte Er sie gehört oder nicht gehört haben, Ihm war
alles bekannt. „Was dünkt dich? Von wem erheben die
Könige der Erde Zoll oder Steuer, von ihren Söhnen
oder von den Fremden?" Was will der Herr mit dieser
Frage Seinem Jünger zu verstehen geben? Er will ihn
daran erinnern, wer es ist, der vor ihm steht und mit
dem er wandelt. Es war der Sohn des Königs selbst,
der Herr des Tempels. Geziemt es sich, dem Sohne
eines Königs Steuer aufzuerlegen? Geziemte es sich, den
Herrn des Tempels zu einem Beitrag für diesen Tempel
aufzufordern? Wahrlich nicht.
Aber das ist nicht alles. Als Petrus ganz richtig
antwortet: „Von den Fremden", sagt der Herr: „Deshalb sind die Söhne frei." Er sagt nicht: deshalb
ist der Sohn srei; nein, Er stellt in bewundernswerter
Gnade Seinen armen, irrenden Jünger mit sich auf eiuen
und denselben Boden. „Deshalb sind die Söhne frei"
— ich und du, Petrus; wir sind beide Söhne des Königs
des Tempels. Anbetungswürdiger Heiland! Anstatt Petrus
zu tadeln, erinnert Er ihn einerseits in der zartesten Weise
an die Herrlichkeit Seiner Person, und andrerseits an die
innige Verbindung, in welche Er mit den Seinigen getreten ist. „Der, welcher heiligt, und die, welche geheiligt
werden, sind alle von einem; um welcher Ursache willen
Er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen." Und
wiederum: „Ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat." (Hebr. 2.)
„Auf daß wir ihnen aber kein Aergernis geben."
Wieder macht sich der Herr mit Seinem Jünger völlig eins;
136
und indem Er, der Herr der Herrlichkeit, der Sohn des
Königs, sich freiwillig den Forderungen unterwirft, welche
eigentlich „die Fremden" zu erfüllen hatten, versetzt Er
die Seinigen mit sich in alle Seine Vorrechte als Sohn.
Welch ein rührender Ausdruck der göttlichen Gnade! Welch
eine wunderbare, göttliche Herablassung! Wahrlich, nur Er,
der Vollkommene, war fähig, sich also zu offenbaren.
„Auf daß wir ihnen aber kein AergerniS geben, so
gehe an den See, wirf die Angel aus und nimm den
ersten Fisch, der heraufkommt, thue seinen Mund auf,
und du wirst einen Stater finden." — Stehe hier einen
Augenblick still, mein Leser, und betrachte mit Bewunderung und Anbetung die gesegnete Person Dessen, der aus
dem Himmel herniedergekommen war, und, obwohl Gott
von Ewigkeit her, Fleisch und Blut angenommen hatte.
Da steht der Sohn des Menschen vor uns in all Seiner
freiwilligen Erniedrigung und Armut. Er hatte nicht, wo
Er Sein Haupt hinlegen sollte; Er besaß nicht einmal
das Nötige, um die Tempelsteuer bezahlen zu können.
Als der Allerunwerteste, Niedrigste und Aermste pilgerte
Er durch diese Wüste. Und doch war Er der Schöpfer
des Weltalls, der Herr des Himmels und der Erde, der
Gebieter über alle erschaffenen Wesen. Und als solcher
sendet Er Petrus an den See und gebietet ihm, die
Angel auszuwerfen; und der erste Fisch, der an die Angel
beißt, trägt ein Geldstück in seinem Biaule, das für die
augenblicklichen Bedürfnisse genügt. Ein Tier, bei welchem
man am allerwenigsten Gold oder Silber vermutet hätte,
muß auf das Geheiß des Sohnes des Menschen den
Stater bringen, dessen derselbe bedarf, um nicht ein Aergernis geben zu müssen.
137
Welch eine Vereinigung der tiefsten Erniedrigung und
der höchsten Majestät! Wie strahlt hier durch das niedrige
Gewand des menschlichen Fleisches die Größe und Herrlichkeit des SohneS Gottes hindurch! „Wir haben Seine
Herrlichkeit angeschaut", sagt Johannes, „eine Herrlichkeit
als eines Eingebornen vom Vater." Die Welt sah sie
nicht; sie hatte kein Auge dafür. Sie erblickte nur den
Sohn des Zimmermanns. Aber „der Glaube schaut's und
betet an". Das Auge des Glaubens ruht mit tiefer
Freude und staunender Bewunderung auf dem unscheinbaren, armen Jesus, in welchem die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnte. Glückselig ein jeder, dessen Angen
erleuchtet sind, um zu sehen!
Er, der reich war, ist um unsertwillen arm geworden.
Er, der einst sprach: ES werde! und es ward, der da
befahl, und es stand da, wandelte hienieden wie einer
der Menschen, und unterschied sich äußerlich in nichts von
Seinen Jüngern. „Da war kein Ansehen, daß wir Sein
begehrt hätten", sagt der Prophet. Er, der da sagen
konnte: „Silber und Gold ist mein", Er, der alles
besaß, kam auf diese Erde hernieder und hatte nichts.
Wenn wir hierüber nachdenken, geliebter Leser, wenn wir
mit einem durch den Geist Gottes erleuchteten Auge unsern
teuren Herrn betrachten, so können wir ein wenig davon
ahnen, welch eine Wonne das Vaterherz in dem Geliebten
finden mußte, der freiwillig aus der Herrlichkeit herabgestiegen war, um den Willen des Vaters zu thun, um
Ihn zu verherrlichen und Sein Herz zu offenbaren.
Doch was wollen wir sagen, Geliebte, wenn wir
sehen, wie der Herr Jesus Seine Person und Seinen gesegneten, erhabenen Namen auf das Innigste mit Seinem
138
schwachen Jünger verbindet, wenn Er ihn völlig mit sich
eins macht? Er sagt zu Petrus: „Du wirst einen Stater
finden; den nimm und gieb ihnen für mich und dich."
Bevorzugter Mann! Neben so manchen andern hohen
Offenbarungen durfte er auch diese „holdseligen" Worte
(Ps. 45, 2.) von den Lippen des Herrn vernehmen. Ob
er ihren Sinn in jenem Augenblick völlig verstanden hat?
Vielleicht nicht. Er sollte es aber, wie so manches andere,
hernach verstehen. Wie oft wird sein Herz noch in späteren
Tagen höher geschlagen haben, wenn er sich jener Scene
erinnerte; wenn er an seine eigne Thorheit gedachte, aber 
zugleich auch an die wunderbare Güte, Herablassung und
Freundlichkeit seines geliebten Herrn!
„Für mich und dich." — „Ich u nd die Kinder."
Die Liebe nimmt ihren Gegenstand da, wo sie ihn findet,
sei es im tiefsten Schlamm der Sünde, oder in der Offenbarung der größten Unwissenheit und Ohnmacht, und giebt
ihm einen Platz in ihrer nächsten Nähe, an ihrer Seite.
Sie verbindet sich mit ihm, unbekümmert darum, was
andere davon sagen und denken mögen. Mag der Mensch
sich ärgern und stoßen, oder spotten und lästern — die
Liebe sucht Zöllner und Sünder, arme und ungelehrte Menschen, Blindgeborne und Bettler, Aussätzige und Besessene,
errettet und befreit sie und erhebt sie dann auf den Boden
der innigsten Gemeinschaft mit sich selbst.
„Für mich und dich." — Ist es das tiefe Bewußtsein und die stete Freude deines Herzens, mein Leser, daß
der Herr der Herrlichkeit sich unauflöslich mit dir verbunden
hat? daß Er gleichsam sagt: Ich und dieses schwache, arme,
irrende Wesen gehören zusammen, sind eins, jetzt schon
eins und eins in alle Ewigkeit? Ist es deine tägliche
Speise, die tiefe Freude deiner erretteten Seele, daran zu
gedenken, daß Er sich mit dir verbunden hat trotz all deiner
Schwachheit und Ohnmacht und in all den Bedürfnissen und
Schwierigkeiten deines Weges durch die Wüste? Und erinnerst du dich wieder und wieder daran, wer es ist, der
sich so mit dir verbunden hat? Er, der Herr vom Himmel,
139
der Sohn Gottes, dessen Thron ewig und unerschütterlich
ist, der Wind und Wogen Schweigen zu gebieten vermag,
der „die Wasser gemessen hat mit Seiner hohlen Hand,
und die Himmel ausgemessen mit der Spanne, und den
Staub der Erde gefaßt hat in einen Dreiling und die
Berge gewogen in einer Wage und die Hügel in einer
Wagschale. . ., der da sitzt über dem Kreis der Erde, und
ihre Bewohner sind wie Heuschrecken; der die Himmel
ausspannt wie einen Teppich, und sie ausbreitet wie ein 
Zelt zum Wohnen; der die Fürsten zunichte macht, der
die Richter der Erde macht wie Eitelkeit" ? (Jes. 40.)
Er, der durch Sein Schelten das Meer austrocknet und
die Ströme zu einer Wüste macht, der die Himmel in
Schwarz kleidet und einen Sack zu ihrer Decke macht?
(Jes. 50.)
Ja, mehr noch. Derselbe hohe und gewaltige Herr,
der Schöpfer und Erhalter des Weltalls, war hienieden
auf dieser Erde in Niedrigkeit und Schwachheit. Er weiß,
wie es dem Armen zu Mute ist, denn Er selbst war arm
und von allen Mitteln entblößt; Er weiß, was es ist zu
leiden, denn Er war ein Mann der Schmerzen und mit
Leiden bekannt; Er weiß, wie wehe es thut, mißverstanden,
verkannt, verhöhnt und selbst von den Seinen verlassen
zu werden, und wie tief es schmerzt, wenn man für Liebe
Haß erntet, oder wenn alle Mühe und Arbeit vergeblich
zu sein scheint; denn Er hat dieses alles erfahren, mehr,
unendlich mehr als je ein Mensch es erfahren kann.
(Bergl. Pf. 41, 9; Jes. 49, 4. 5.) Er weiß, was diese
Welt ist mit allen ihren Schwierigkeiten und Prüfungen;
Er weiß, wie mächtig Satan ist, und wie er Tag und
Nacht, sei es als ein brüllender Löwe oder als eine
zischende Schlange, umherschleicht und sucht, wen er verschlinge und verderbe.
Und nicht allein das! Er ist auch der gute Hirte,
der Sein Leben gelassen hat für Seine Schafe, der sie
liebt mit einer unendlichen, göttlichen Liebe, der sie nährt
und pflegt mit unermüdlicher Sorgfalt, der sie aus- und
140
thut Er; und mit
Welt so unauflösuns Seine Brüder
mit sich in all der
einführt und ihnen gute Weide giebt. Er ist voll von
Erbarmen, Langmut und Geduld. Er hat Mitleid mit
unsern Schwachheiten und ist allezeit vor Gott für uns
beschäftigt. Er bittet für uns; Er stellt uns wiederher,
wenn wir gefehlt haben, und Er führt uns dem Vaterhause, unsrer ewigen, herrlichen Heimat, zu.
Alles das ist Er, und alles das
diesem Herrn sind wir schon in dieser
lich verbunden. Er schämt sich nicht,
zu nennen; Er macht uns völlig eins
Herrlichkeit Seiner Person und mit all den unerschöpflichen
Hilfsquellen, die es in Ihm für den Glauben giebt. Ich
sage: für den Glauben; denn nur der Glaube kann
jene herrlichen Dinge genießen und sich dieser Hilfsquellen
bedienen.
Möge der Herr uns ein reiches Maß dieses Glaubens
schenken, damit wir mehr fähig seien, in die herrliche Bedeutung der Worte: „für mich und dich" einzudringen
und Ihn zu genießen, der sich in solch erbarmender Liebe
uns zugeneigt und unserm Namen einen Platz neben dem
Seinigen gegeben hat! Wie wunderbar! heute teilt Er
mit uns die Schwierigkeiten der Wüste und hilft sie tragen,
und vielleicht morgen schon teilen wir mit Ihm die Herrlichkeiten des Vaterhauses. „Die Herrlichkeit, die Du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben," und: „Vater, ich will,
daß die, welche Du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo
ich bin, auf daß sie meine Herrlichkeit schauen." (Joh. 17.)
Die Liebe kann nicht allein sein; sie muß einen Gegenstand
haben, mit welchem sie teilen kann. Was wird es sein,
Geliebte, wenn wir Ihn sehen werden, wie Er ist, wenn
„Sein Anblick, unverhüllt, unser Sehnen ewig stillt" I

Der Tag Gottes.
„Gott ist Licht."
„Gott ist Liebe."
(1. Joh. 1, 5; 4, 16p
Der Apostel Petrus ermahnt die Gläubigen, die Ankunft des „Tages Gottes" zu erwarten und zu beschleunigen; d. h. sie sollen ein solches Verlangen nach diesem
Tage offenbaren, als wollten sie ihn, wenn möglich, sofort einführen. Sicherlich kann und wird der Herr ihn
allein einführen durch Seine göttliche Macht auf Grund
einer vollbrachten Erlösung. Aber der Apostel will, daß
der Wandel der Gläubigen, ihr Streben und ihr Ziel im
Einklang seien mit dem Endziel der Ratschlüsse Gottes.
Gott kann nicht ruhen, bis dieses Ziel erreicht ist. Wie
könnte Er, der Heilige, da ruhen, wo Sünde und Feindschaft wohnen? Darum sagt der Herr Jesus: „Mein
Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke." (Joh. 5, 17.)
Gott ruhte einst „am siebenten Tage von allen Seinen
Werken"; (Hebr. 4, 4.) aber sobald die Sünde kam, war
diese Ruhe, an welcher nach den Absichten Gottes der
Mensch teilnehmen sollte, dahin. Nirgend zeigt sich seitdem in dieser ganzen Schöpfung ein Ruheplatz für den
Menschen. Wohin auch sein Blick sich wenden mag, überall
zeigen sich die Spuren der Sünde: Vergänglichkeit, Tod
und Verwesung, und in Verbindung damit namenloses
142
Weh, Jammer und Not. Alles ruft ihm zu: Hienieden
giebt es keine Ruhe!
Wie wohlthuend erklingt demgegenüber für das Ohr
des Gläubigen die herrliche Botschaft: „Also bleibt
noch eine Sabbathruhe dem Volke Gottes übrig"!
(Hebr. 4, 9.) Gott ist Licht und Liebe; und ebensowenig wie Er gemäß Seiner Natur da ruhen kann, wo
die Sünde herrscht, ebensowenig kann Er aus demselben
Grunde den armen, verlornen Menschen seinem Elend
überlassen. Er wirkt zunächst, um ihm einen Ruhort zu
bereiten und ihn in denselben einzuführen. Aber Er
wirkt gemäß Seinen vor Grundlegung der Welt gefaßten
Ratschlüssen. (Ephes. 1, 4.) Dadurch erklärt sich die 
Regierung Gottes betreffs dieser Welt und Seine Wege
mit dem Menschen bis zum Ende hin. Wie unbegreiflich
diese auch mitunter sein mögen, so wird doch das Ende
unzweifelhaft darthun, daß Gott Licht und Liebe ist. So
schreibt auch Jakobus betreffs der Wege des Herrn mit
Hiob: „Das Ende des Herrn habt ihr gesehen, daß
der Herr voll innigen Mitgefühls und barmherzig ist."
(Jak. 5, 11.) Gott wollte das vollkommne Glück Hiobs;
und obgleich Seine Wege zur Erreichung dieses Zweckes
hart und grausam erscheinen mochten, so war doch das
Ende herrlich.
Dem Herzen Gottes kann nur eine Welt entsprechen,
die sich in völligem Einklang mit Ihm befindet und darum
eine Stätte vollkommner Ruhe und Glückseligkeit für den
Menschen ist. Zu diesem und zu keinem andern Zwecke
schuf Er Himmel und Erde, schuf Er den Menschen und
setzte ihn in das Paradies; und zu diesem und zu keinem
andern Zwecke sehen wir Ihn aufs neue wirksam, sobald
148
der Mensch durch seinen Ungehorsam die Ruhe des Paradieses verloren hatte. Er „machte Adam und seinem
Weibe Röcke von Fell und bekleidete sie" — ein Vorbild
von dem Werke der Erlösung, welches Er in Christo für
den Menschen vollbringen wollte. (1. Mose 3, 21.)
Diese Erlösung bildet die große Grundlage, auf welcher Gott Seine Ratschlüsse trotz der Macht des Feindes und der Sünde ausführen und den Menschen in eine
ewige und weit herrlichere Ruhe einführen wird, als sie
das Paradies je bieten konnte. Er hat diese Ratschlüsse
gefaßt in Christo vor Grundlegung der Welt. Darum
steht geschrieben: „Jehova besaß mich im Anfang Seines Weges, vor Seinen Werken, von jeher. Ich war
eingesetzt von Ewigkeit her, von Anbeginn, vor den Uranfängen der Erde. Ich war geboren, als die Tiefen
noch nicht waren, als noch keine Quellen waren, reich an
Wasser. Ehe die Berge eingeseukt wurden, vor den Hügeln war ich geboren; als Er die Erde und die Fluren
noch nicht gemacht hatte und den Beginn der Schollen
des Erdkreises. Als Er die Himmel feststellte, war ich
da, als Er einen Kreis abmaß über der Fläche der Tiefe;
als Er die Wolken droben befestigte, als Er Festigkeit
gab den Quellen der Tiefe; als Er dem Meere seine
Schranke setzte, daß die Wasser Seinen Befehl nicht überschritten, als Er die Grundfesten der Erde feststellte: da
war ich Schoßkind (od. Künstler, Werkmeister) bei Ihm,
und war Tag für Tag Seine Wonne, vor Ihm mich ergötzend allezeit, mich ergötzend auf dem bewohnten Teile
Seiner Erde; und meine Wonne war bei den Menschenkindern." (Sprüche 8, 22—31.) Christus war der Werkmeister der alten Schöpfung; „alles ward durch Ihn, und
144
ohne Ihn ward auch nicht eines, das geworden ist."
(Joh. 1, 3; vergl. Kol. 1, 16. 17.) Er ist auch der
Werkmeister der neuen Schöpfung, der da sagen kann:
„Siehe, ich mache alles neu." (Offbg. 21, 5; vergl.
Hebr. 1, 10—12.)
Aber welch eine Arbeit, welche Leiden, welch eine
Langmut und Geduld, und welches Ausharren waren Seinerseits zur Vollendung der neuen Schöpfung erforderlich!
Diese Erde ist der Schauplatz der Wirksamkeit Gottes.
Auf dieser Erde hat der Sohn Gottes gelitten und das
große Werk der Erlösung vollbracht. Und die Namen
„Gethsemane" und „Golgatha" werden nimmer vergessen
werden, wenn auch diese Erde mit allem, was auf ihr
ist, längst vergangen sein wird. Durch die endlosen Zeitalter der Ewigkeit hindurch wird die Erlösung für die
glückseligen Bewohner der neuen Schöpfung eine unerschöpfliche Quelle des Lobes und der Anbetung bilden. Alle
werden das „Lamm" erheben, das geschlachtet worden ist
und durch Sein Blut Tausende und Millionen für Gott
erkauft hat aus jedem Geschlecht und Sprache und Volk
und Nation; (Offbg. 5, 9.) das „Lamm", von welchem
Johannes einst sagte: „Siche, das Lamm Gottes, welches
die Sünde der Welt wegnimmt". (Joh. 1, 29.) Unser gepriesener Herr und Heiland hat eine Erlösung vollbracht,
welche Gott in den Stand gesetzt hat, Seine Liebe, unter
Aufrechthaltung Seiner heiligen Majestät und Gerechtigkeit, gegen verlorne Sünder überströmen zu lassen, sowie
eine sündige und widerspenstige Welt mit göttlicher Langmut und Geduld zu tragen, bis alle Seine Ratschlüsse
erfüllt sind.
Diese Ratschlüsse aber finden ihre vollständige Er­
145
füllung erst mit der Ankunft des „Tages Gottes". Erst
dann ist Gott am Ziele Seiner Wirksamkeit und Seiner
Wege angelangt. Wie es im Anfänge nach Vollendung
der alten Schöpfung vorbildlich geschah, so kann Er alsdann zurückblicken auf alles, was Er gemacht hat, und in
einem weit höheren Sinne sagen: „Und siehe, es ist alles
sehr gut". Es wird ein neuer Himmel und eine neue
Erde da sein; ein Zustand der Dinge, in welchem alles
aus Ihm ist und darum mit Ihm, mit Seiner Natur
und Seinem Wesen, im Einklang steht. Alles ist alsdann
vollendet, und Er kann ruhen von allen Seinen Werken.
Es kann dann aufs neue, und zwar in einem endgültigen
Sinne, gesagt werden: „Und so wurden vollendet der Himmel und die Erde und all ihr Heer. Und Gott hatte
vollendet am siebenten Tage Sein Werk, das Er gemacht
hatte; und Er ruhte am siebenten Tage von all Seinem
Werk, das Er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn; denn an demselben ruhte
Er von all Seinem Werk, das Gott geschaffen hatte, indem Er es machte." (1. Mose 2, 1 — 3.)
Nun aber könnte gefragt werden: Warum führt denn
Gott nicht sofort diesen Tag herbei, wenn dies das Verlangen Seines Herzens und daS Ziel aller Seiner Wege
ist? Warum duldet Er noch länger einen Zustand der
Dinge, der je länger je schlimmer und unerträglicher wird?
Wie kann Er noch länger all den Jammer und all das
Elend ansehen, unter welchem die ganze Schöpfung seufzt,
da es doch in Seiner Macht steht, mit einem Worte alles zu 
verändern? Allein solche Fragen verraten nur Unkenntnis
betreffs der Ratschlüsse Gottes. Aehnlich, obwohl in einem
andern Geiste, fragen die Spötter der letzten Tage: „Wo
146
ist die Verheißung Seiner Ankunft? denn seitdem die 
Väter entschlafen sind, bleibt alles so von Anfang' der
Schöpfung an." (2. Petr. 3, 4.) Solche leichtfertigen
und oberflächlichen Spöttereien kann nur der Unglaube
aussprechen, der von Gott und Seinen wunderbaren Wegen nichts versteht. Anstatt in Gott Den zu erkennen,
welcher die Liebe und darum die Quelle alles Guten ist,
beschuldigen sie Ihn vielmehr als den Urheber ihres Unglücks und sind unzufrieden mit Seinen Wegen. Es ist
dieses die alte Weise des Feindes, der alten Schlange;
er hat von Anfang an gesucht das arme Menschenherz
mit Mißtrauen gegen Gott und mit Zweifeln an Seiner
Liebe zu erfüllen. Immer hat er den Menschen mit der
falschen Vorstellung bethört, daß Gott ihn (den Menschen)
nicht liebe; denn sonst würde Er ihm dieses und jenes 
nicht vorenthalten. In unsern Tagen sucht er das Kommen des Herrn und die Treue Gottes betreffs Seiner
Verheißungen in Frage zu stellen, indem er sagt: „Seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt alles so von
Anfang der Schöpfung an." Und mit tausendstimmigem
Echo wiederholt der Unglaube: „ES bleibt alles so!" und
wiegt sich damit selbst in eine falsche Sicherheit ein.
Jeder, der die unendliche Liebe Gottes in Christo
kennen gelernt hat, weiß, daß es nicht so bleibt. Er weiß,
daß Gott Licht und Liebe ist und darum Seine Verheißung zur bestimmten Zeit vollkommen erfüllen wird.
„Es wird aber der Tag des Herrn kommen wie ein Dieb,
an welchem die Himmel vergehen werden mit gewaltigem
Geräusch, die Elemente aber im Brande aufgelöst und die 
Erde und die Werke auf ihr verbrannt werden." (2. Petr.
3, 10.) Sollen wir nun, weil Gott dieses nicht sofort
147
thut, an Seiner Liebe und Treue zweifelns Gewiß nicht.
Ohne Zweifel kann Er mit einem Worte alles ändern.
Gerade so wie Er einst mit einem Worte Welten ins
Dasein rief, könnte Er auch jetzt den Zustand der Dinge
mit einem Schlage ändern. Er könnte die gegenwärtigen
Himmel und die Erde sofort auflösen, und den neuen
Himmel und die neue Erde in Erscheinung rufen, wie Er
dies später thun wird. Daß Er dies bis jetzt noch nicht
gethan hat, beweist nicht einen Mangel an Liebe und
Treue, sondern zeigt im Gegenteil, daß Er Liebe ist.
Kein Mensch auf dem ganzen Erdenrund, wie zartfühlend
er auch sein mag, fühlt so tief die Leiden einer seufzenden Schöpfung, wie Gott es thut. Oder könnte es vielleicht noch einen mächtigeren Beweis für diese Thatsache
geben als den, welchen das Kr euz geliefert hat? Es sei
daher nochmals wiederholt, daß das, was Jhü bis jetzt
von der Erfüllung Seiner Verheißung znrückgehalten hat,
nicht ein teilnamloses Verziehen derselben, sondern nur
Liebe ist. Petrus sagt: „Der Herr verzieht nicht
die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten,
sondern Er ist langmütig gegen euch, da Er nicht will,
daß irgend welche verloren gehen, sondern daß
alle zur Buße kommen .... Und achtet die Langmut
des Herrn für Errettung." (2. Pet. 3, 9. 15.) Wie
viele Tausende von Erlösten würden zum Beispiel auf der
neuen Erde vermißt werden, wenn der Herr schon vor
tausend oder noch mehr Jahren Seine Verheißung erfüllt hätte.
Erinnern wir uns immer wieder daran, daß Gott
Seinen Weg verfolgt gemäß Seinen ewigen Ratschlüssen,
welche Er gefaßt hat in Christo. Und nach denselben
148
bedarf es gerade des ganzen Zeitraums vom Sündenfall
bis zum Ende des tausendjährigen Reiches, um alle die
zu sammeln, welche „zum ewigen Leben verordnet sind".
(Apstgsch. 13, 48.) Nicht ein Einziger von ihnen darf
fehlen; und darum wartet Gott mit großer Langmut und
Geduld. Daß Er aber kein Wohlgefallen an einer seufzenden Schöpfung hat, beweist schon die Einführung
des tausendjährigen Reiches noch vor Ablauf des Zeitraums der alten Schöpfung. Er kann in Seiner Liebe so
zu sagen nicht warten bis zu den ewigen Zeitaltern der
neuen Schöpfung, um „Zeiten der Erquickung" kommen
zu lassen. (Apstgsch. 3, 19.) Ja, wenn es irgend möglich
gewesen wäre, würde Er diese Zeiten schon längst in vergangenen Tagen eingeführt haben. Dies beweist die Geschichte des Volkes Israel, mit welchem Er alle möglichen
Versuche gemacht hat, um es mit Seinen Segnungen zu
überschütten. Er hatte eS zu diesem Zwecke in ein Land
geführt, das von Milch und Honig floß, damit sich dort
das Wort an Ihm bestätigen sollte: „Ich bin Jehova,
dein Gott, der dich heraufgeführt hat aus dem Lande
Egypten; thue deinen Mund weit auf, und ich
will ihn füllen." (Ps. 81, 10.) Aber um dieses
thun zu können, mußte Er notwendig den Gehorsam
Israels fordern; denn anders hätte Er sich mit dem Bösen
einsmachen und aufhören müssen, Gott zu sein. Wenn Er
aber nicht Gott wäre, wie könnte Er segnen? Darum läßt
Er ihnen auch durch den Mund des Propheten sagen:
„Ach, daß du gemerkt hättest auf meine Gebote! Dein Friede würde gewesen sein wie ein Strom,
und deine Gerechtigkeit wie des Meeres Wellen. Und dein
Same würde gewesen sein wie Sand, und die aus dei­
149
nen Eingeweiden hervorkommen wie sein Kies; sein Name
würde nicht ausgerottet noch vertilgt werden vor mir."
(Jes. 48, 18. 19.)
Der Mensch hat sich, wie im Garten Eden, so auch
zu allen Zeiten selbst durch seinen Ungehorsam des Segens
verlustig gemacht. Sein verderbter Zustand, und nicht
Mangel an Liebe auf feiten Gottes, ist das große Hindernis, weshalb Gott ihn nicht segnen kann. Welche
Wege Gott in Seiner unermüdlichen Liebe, Langmut und
Geduld auch mit ihm eingeschlagen, und welche Vorzüge
und Vorteile Er ihm auch gewährt hat, immer wieder hat
er durch sein Verhalten alle die Liebesabsichten Gottes
vereitelt. Gott ist so zu sagen bis zum Aeußersten gegangen; Er hat sich völlig herabgelassen und ist in Christo
zu ihm herniedergekommen auf diese arme Erde. Er hat
sich dem äußersten Mangel und allerlei Entbehrungen ausgesetzt, um dem Menschen in allen seinen Bedürfnissen und
in all seinem Elend zu begegnen, und Er hat ihn überhäuft mit Güte und Gnade. Und der Mensch? — Ach!
nach allem diesem rief er: „Hinweg mit diesem! kreuzige
ihn!" Kann es einen stärkeren Beweis von dem verderbten
Zustand des Menschen geben? Hat er nicht deutlich genug gezeigt, daß nicht Gott, sondern er selbst sein ganzes
Elend verschuldet hat; und daß um seinetwillen die Kreatur der Eitelkeit unterworfen ist, ja, daß die ganze
Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt? (Röm. 8, 20. 22.)
Gott konnte also unmöglich die Zeiten der Erquickung
einführen, so lange dies von der Verantwortlichkeit des
Menschen abhing. Nachdem dieser aber durch die Verwerfung Christi seinen Zustand als völlig verderbt und
ISO
hoffnungslos geoffenbart hat, ist für Gott die Zeit gekommen, Seine eignen Ratschlüsse unabhängig von der
Verantwortlichkeit des Menschen zu erfüllen. Und da
Christus der Erfüller derselben, der Werkmeister der neuen
Schöpfung ist, so kam Er „in der Vollendung der Zeitalter", (d. h. der Zeitalter der Verantwortlichkeit des
Menschen,) um zu wirken in Uebereinstimmung mit dem
Vater; wie Er sagt: „Mein Vater wirkt bis jetzt, und
ich wirke." Aber auch mit dem Kommen des Herrn
konnten die Zeiten der Erquickung noch nicht sofort eingeführt werden, und noch weniger der Tag Gottes, die
neue Schöpfung. Zunächst kam die Gerechtigkeit Gottes
in Frage, denn die Sünde war da, und Gott ist Licht.
Was im Anfang in natürlicher Beziehung von der Erde
gesagt wird: „Und die Erde war wüste und leer, und
Finsternis war über der Tiefe", konnte jetzt in moralischer
Beziehung von ihr gesagt werden. Finsternis bedeckte die
Erde und Dunkel die Völkerschaften. Das war der
moralische Zustand der Welt in den Augen Gottes, als
Christus kam; und daher bestand Sein erstes Werk darin,
sich mit der Sünde zu beschäftigen. Es galt vor allem,
die Ursache des herrschenden Verderbens angesichts eines
heiligen und beleidigten Gottes zu beseitigen, ehe von der
Beseitigung der Wirkungen die Rede sein konnte.
Dies aber konnte nur dadurch geschehen, daß Christus,
das Lamm Gottes, sich selbst zum Opfer hingab. Um
keinen geringeren Preis als den Tod des Geliebten und
Auserwählten Gottes, des Gegenstandes Seiner ewigen
Wonne, konnte die Sünde der Heiligkeit Gottes gemäß
beseitigt und für die Einführung einer neuen Schöpfung
Bahn gemacht werden. Darum lesen wir: „Jetzt aber ist
151
Er einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart
worden zur Abschaffung der Sünde durch das
Schlachtopfer Seiner selbst." (Hebr. 9, 26.)
Die Beseitigung der Folgen der Sünde und die
Einführung der Zeiten der Erquickung und des Tages
Gottes sind ein Akt der Macht; aber die Beseitigung
der Sünde selbst konnte nur durch die Leiden Christi
geschehen. Deshalb nahmen diese den ersten Platz ein 
in dem großen Werke der Erfüllung der Ratschlüsse Gottes.
Nachdem Christus gelitten und durch Seinen Tod die
Gerechtigkeit Gottes vollkommen befriedigt, die Sünde
vor Gott gesühnt und dadurch abgeschafft und den Teufel
zu nichte gemacht hatte, hat Er das Werk der vollkommnen Befreiung von allen Folgen der Sünde ausführen können. Aber Er machte auch dann noch keinen
Gebrauch von Seiner Macht, weil noch ein andrer Punkt
in Betracht kam: die Sammlung der Kirche durch die
Thätigkeit des Heiligen Geistes. Sie ist die Braut Christi
und berufen, mit Ihm in Herrlichkeit zu erscheinen am
Tage Seiner Macht. Demgemäß muß sie zuvor mit Ihm
vereinigt sein; und ihre Sammlung ist nun schon seit
mehr als achtzehnhundert Jahren der Grund des Aufschubs Seines glorreichen Tages. Er hat sich inzwischen
zur Rechten Gottes gesetzt, „fortan wartend, bis alle Seine
Feinde zum Schemel Seiner Füße gelegt sind". (Hebr.
10, 13.) Und während der Heilige Geist die Sammlung
der Kirche vollzieht, reift unter der Vorsehung Gottes das
Böse zum Gericht heran.
Als Gläubige haben wir denn zunächst unsre Aufnahme zu erwarten; und alles, was in unsern Tagen
vorgeht, die mächtige Wirksamkeit des Heiligen Geistes
152
einerseits, und die überaus rasche Zunahme des Bösen
andrerseits, berechtigen unS zu der Hoffnung, daß der
Herr sehr nahe ist. In allen Ländern, soweit das
Christentum vorgedrungen ist, hat eine mächtige Bewegung
Platz gegriffen, und viele Tausende sind errettet worden.
Dazu ist das Zeugnis der Wahrheit mit entscheidender
Schärft, gleichsam wie ein letzter Waruungsruf, an das
Gewissen der bekennenden Christenheit herangetreten. Aber
ach! anstatt diesem Warnungsrus Gehör zu geben, wirft
sie sich einerseits dem Unglauben und andrerseits dem
Aberglauben immer mehr in die Arme. Dieser Charakterzug kennzeichnet ihre letzten Tage vor dem Gericht;
es bedarf nur noch der Wegnahme der Gläubigen aus ihrer Mitte,, um ihren Abfall vollständig zu machen. Dieser
ernste Zustand mahnt uns mehr als je an das Wort des
Apostels: „Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag
ist nahe." (Röm. 13, 12.) Wir aber haben nicht diesen
Tag (des Gerichts) zu erwarten, sondern den Herrn vor
dem Anbruch des Tages. Darum laßt uns achten auf
den längst vernommenen Mitternachtsruf: „Siehe, der
Bräutigam! gehet aus, Ihm entgegen!" (Matth. 25, 6.)
Mit der Aufnahme der Kirche naht zugleich der
Zeitpunkt heran, wo Gott die Feinde zum Schemel der
Füße Seines Christus legen wird; der Zeitpunkt, von
welchem es heißt: „Das Reich der Welt unsers Herrn
und Seines Christus ist geworden, und Er wird herrschen
in die Zeitalter der Zeitalter." Mit diesem Zeitpunkt
beginnt die Offenbarung der Macht Christi, wie wir weiter lesen: „Nun ist das Heil und die Kraft und das
Reich unsers Gottes und die Gewalt Seines Christus
geworden." (Offbg. 11, 15; 12, 10.) Auf diesen Augen­
153
blick der Annahme der Macht seitens des Herrn setzt der
leidende Ueberrest Israels in den letzten Tagen seine
ganze Hoffnung, wie dieses aus verschiedenen Stellen der
Schrift hervorgeht. „Erhebe dich, Jehova, in Deiner Kraft!
Wir wollen singen und Psalmen singen Deiner Macht."
(Ps. 21, 13.) „Vor Ephraim und Benjamin und Manasse erwecke Deine Macht und komme zu unsrer Rettung!"
(Ps. 80, 2.) „Wache auf, wache auf! ziehe Stärke an,
du Arm Jehovas!" (Jes. 51, 9.) Aber neben den Heiligen auf der Erde frohlocken auch die Heiligen im Himmel, wenn der Herr Seine Macht annimmt; denn sie
stehen in völliger Uebereinstimmung mit den Gedanken
und Ratschlüssen Gottes. Darum beten sie auch an und
sprechen: „Wir danken Dir, Herr, Gott, Allmächtiger,
der da ist und der da war, daß Du angenommen hast
Deine große Krast und angetreten Deine Herrschaft."
(Offbg. 11, 17.)
Nachdem denn alles durch die Vorsehung Gottes vorbereitet ist und Christus Seine Macht angenommen hat, wird
Er die Zeiten der Erquickung sofort einführen. Nichts vermag Ihn alsdann mehr zu hindern. Seine Macht beseitigt
leicht jedes Hindernis und bricht jeden Widerstand. Es
bedarf nur des Hauches Seines Mundes, um den Gesetzlosen mit Seinem ganzen Anhang zu vernichten. So
groß Seine Langmut und Geduld gegen Seine Widersacher
gewesen ist, so schrecklich und unbarmherzig wird Sein
Gericht über sie sein. Lange genug haben sie Sein Wort
der Gnade verachtet, lange genug sich in falsche Sicherheit gewiegt mit den Worten: „Es bleibt alles so;" lange
genug haben sie Jammer und Elend über diese Erde verbreitet und sich der Ausführung der Ratschlüsse Gottes
154
widersetzt. Darum wird der Herr ein plötzliches Ende
mit ihnen machen. Sein Tag wird sie überfallen wie ein
Dieb in der Nacht. „Wenn sie sagen werden: Friede
und Sicherheit! dann kommt ein plötzliches Verderben über
sie, gleichwie die Geburtswehen über die Schwangere; und
sie werden nicht entfliehen." (1. Thess. 5, 3.) Nichts ist
thörichter als der Stolz des Menschen und sein ohnmächtiger Widerstand gegen Gott.
Aber der Herr wird nicht allein mit den gottlosen
Menschen ein Ende machen; auch der Teufel, die alte
Schlange, der Verführer und Widersacher von Anfang,
wird in den Abgrund geworfen und tausend Jahre gebunden werden. (Offbg. 20, 2. 3.) Damit wird die Quelle
alles Bösen und aller Feindschaft von der Erde beseitigt
sein, so daß selbst die Feindschaft der unvernünftigen Geschöpfe aufhören und Ruhe und Frieden auf der ganzen
Erde herrschen wird. Christus wird regieren in Gerechtigkeit und durch Seine Macht jegliche Störung fernhalten. „Sie werden kein Böses thun, noch verderben auf
meinem ganzen heiligen Berge, spricht Jehova." (Jes. 65,
25.) Gott kann dann die Erde mit Seinen Segnungen
in reichstem Maße überhäufen, und es wird sich das Wort
erfüllen: „Du hast gekrönt das Jahr Deiner Güte, und
Deine Spuren triefen von Fett. Es triefen die Auen der
Steppe, und mit Jubel umgürten sich die Hügel. Die
Triften bekleiden sich mit Herden, und die Thäler bedecken sich mit Korn; sie jauchzen, ja, sie singen!" (Ps. 65,
11-13.)
(Schluß folgt.)
155
Einige Gedanken über das Gebet
des Herrn Jesu.
(Joh. 17.)
An verschiedenen Stellen in den Evangelien lesen
wir, daß der Herr Jesus sich von der Volksmenge und
selbst von Seinen Jüngern absonderte, um zu behen. Von
einer feindseligen Welt, die Ihn nicht erkannte, die Ihn
vielmehr haßte und verfolgte, zog Er sich oft zurück, um
vor Seinem Vater Sein Herz auszuschütten und in innigem Verkehr mit demselben inmitten der mancherlei Leiden
Seines verleugnungsvollen Pfades sich zu erguicken und
zu stärken. Wenn es indes die Verherrlichung Gottes
oder das Glück der Seinigen erforderte, so machte Er
auch Seine Jünger und sogar die Volksmenge zu Zuhörern Seiner Gebete, wie wir dies in Joh. 11, am
Grabe des Lazarus, und namentlich in dem uns vorliegenden Kapitel sehen.
Es ist immer ein hohes und herrliches Vorrecht,
auf die Worte unsers Herrn lauschen zu dürfen, wenn
Er die Gefühle und Wünsche Seines Herzens vor dem
Vater kundwerden läßt; namentlich aber ist dies der
Fall, wenn diese Gefühle in ihrer ganzen Schönheit und
Fülle zum Ausdruck kommen, wie bei Seinem letzten Gebet
vor Seinen Leiden. Wir selbst, die Seinigen, sind hier
der Gegenstand Seines Flehens. Dieses Gebet enthält
eine überströmende Quelle von Freude und Segen für
uns, entsprechend den eignen Worten des Herrn: „Dies
rede ich in der Welt, auf daß sie meine Freude
völlig in sich haben."
Der Herr war mit Seinen geliebten Jüngern zum
letzten Male bei dem Passahmahl versammelt gewesen;
156
Er hatte vieles zu ihnen geredet, um sie darauf vorzubereiten, daß Er von ihnen weggenommen werden würde.
Er hatte ihnen Sein ganzes Herz, Seine ganze Liebe geoffenbart und sie im Blick auf die Zukunft durch die
Verheißung getröstet, daß Er ihnen einen andern Sachwalter senden, und auch selbst wiederkommen wolle, um
sie in die Wohnungen, die Er bei dem Vater bereiten
würde, einzuführen. Sein liebendes Herz beschäftigte sich
nicht mit dem, was Ihm selbst bevorstand, obwohl Er
wußte, daß jene schreckliche Stunde nahe gekommen war,
in welcher Er, als der Träger unsrer Sünden und für
uns Zur Sünde gemacht, einem heiligen und gerechten Gott
im Gericht begegnen sollte. Seine Liebe wurde auch nicht
beeinträchtigt durch den schrecklichen Verrat des JudaS,
oder geschwächt durch die Teilnahmlosigkeit der übrigen
Jünger. O nein; es ist gerade, als ob die Offenbarung
der Schwachheit der Jünger eine um so herrlichere Entfaltung Seiner Liebe zu ihnen hervorgerufen hätte. Können wir auch in dem Leben des Herrn auf Schritt und
Tritt Seine unendliche Liebe zu den Seinigen wahrnehmen, so strahlt dieselbe doch an diesem letzten Abend
angesichts des schrecklichsten aller Leiden in ganz besonderem
Glanze hervor. Seine Seele war bestürzt und beängstigt
im Blick auf die vor Ihm liegenden Schrecken; Sein
Herz verlangte aufs Innigste nach Mitgefühl und Teilnahme. Wir finden in den Evangelien allerdings nur
wenige Andeutungen hierüber, aber in den Psalmen ertönen desto lauter die Ausdrücke des tiefen Schmerzes und
der Angst Seiner Seele. Doch Seine Liebe zu den Seinigen war größer als alles andere; sie war stärker als
der Tod mit allen seinen Schrecken. Er vergaß sich selbst
157
völlig und wurde nicht müde, sich mit Seinen Jüngern
zu beschäftigen, sie zu belehren und ihre Herzen zu trösten
und zu ermuntern.
Und dann, nachdem Er ihnen, Seinen Freunden,
alles mitgeteilt hatte, was sie bei ihrem schwachen Zustande ertragen konnten, „hob Er Seine Augen auf gen
Himmel", um nun zu Seinem Vater zu reden und vor
Ihm in Gegenwart Seiner Jünger die Wünsche Seines
Herzens für sie kundwerden zu lassen. Welch ein feierlicher Augenblick! Der Sohn Gottes, der in Seiner unendlichen Liebe gekommen war, um den Menschen zu erretten, steht im Begriff, sich selbst zum Opfer hinzugeben, und der Mensch, für den dieses große Opfer gebracht werden sollte, bereitet sich vor, Ihn gefangen zu
nehmen und zu kreuzigen; Satan hat schon von Judas völligen Besitz genommen und ihn ganz zu seinem
willigen Werkzeuge gemacht; der Fürst dieser Welt macht
sich auf, um wenn möglich den Fürsten des Lebens zu
vernichten; die Stunde der Gewalt der Finsterrnis war
gekommen. Und in demselben Augenblick hören wir den
Herrn Jesum mit Seinem Vater über die Segnungen reden,
welche den Seinigen, die Ihm der Vater aus der Welt gegeben hatte, zu teil werden sollten. Wie anbetungswürdig ist
unser Herr und Heiland! und wie erquickend und trostreich ist es für unsre Herzen, dieser Unterhaltung zuzuhören ! Welch eine Liebe und Fürsorge tritt uns in diesem
ganzen Gebet entgegen! Wir selbst, von Natur so verderbte und feindselige Geschövfe, sind die Gegenstände der
gemeinsamen Liebe des Vaters und des Sohnes. Ja,
wir können sagen, daß es im Himmel und auf der Erde
keinen Gegenstand giebt, der für den Vater und den Sohn
158
kostbarer wäre oder ihre Liebe und Sorge mehr in Anspruch nähme, als wir. Ohne Zweifel haben auch die
himmlischen Heerscharen mit Staunen und Bewunderung
diese Scene betrachtet; und sicher hat das Ohr des Vaters mit Wonne auf die Worte Seines geliebten Sohnes gelauscht, an dem Er stets Sein ganzes Wohlgefallen hatte.
Für den Herrn Jesum war die Verherrlichung Seines Vaters stets der erste Gegenstand. Dazu war Er
herniedergekommen. Das Werk unsrer Errettung nahm
erst den zweiten Platz ein. Der Mensch hat Gott von
dem Falle Adams an, zu allen Zeiten und unter allen Verhältnissen, ans das Völligste verunehrt; er hat seinen eignen Willen gethan, alle Güte und Fürsorge Gottes mit
Undank belohnt, Seine Gerechtigkeit und Heiligkeit verachtet und Seine Majestät mit Füßen getreten. Und als
Gott in Seiner erbarmenden Liebe Seinen eingebornen
Sohn sandte, um den Menschen zu retten, trieb dieser
seine Verachtung und seinen Haß gegen Gott so weit,
daß er den Sohn Gottes ans Kreuz nagelte. Bei Jesu,
„dem zweiten Menschen", finden wir in allem das völlige Gegenteil. „Er achtete es nicht für einen Raub,
Gott gleich zu sein, sondern machte sich selbst zu nichts
und nahm Knechtsgestalt an." Er sagte: „Ich bin vom
Himmel herniedergekommen, nicht auf daß ich meinen
Willen thue, sondern den Willen Dessen, der mich gesandt
hat;" und als Er in der Wüste von dem Teufel versucht wurde, bewies Er auf das Schlagendste, daß Er in
völliger Abhängigkeit von Gott war. Was Ihm hienieden
auch begegnen mochte — nichts war imstande, Ihn von
dem Pfade der Verherrlichung Gottes abzubringen. Wie
159
Er im Anfang gesagt hatte: „Siehe, ich komme, um
Deinen Willen, o Gott, zu thun", so konnte Er am 
Ende Seines Lebens sagen: „Ich habe Dich verherrlicht
auf der Erde." Welch eine Wonne muß es für Gott
gewesen sein, nach all den Gottlosigkeiten und Greueln
der Menschen, diesen einen vollkommnen Menschen zu
sehen, der von Seinem ersten bis zu Seinem letzten Atemzuge sich völlig Gott weihte, und dessen Gedanken, Worte
und Werke ausnahmslos wie ein duftender Wohlgeruch
zu Gott aufstiegen! So wie Er in der Ewigkeit Tag
für Tag die Wonne Gottes gewesen war, (vergl. Spr.
8, 30.) so war Er es auch als Mensch auf dieser Erde.
Immer wieder bezeugte der Vater: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe."
Und nun war die Stunde der Verherrlichung des
Sohnes gekommen. Er hatte den Willen Gottes erfüllt;
Er war gehorsam gewesen bis zum Tode; das Werk war
vollbracht, und Seine Laufbahn hienieden beendet. Als
Sohn Gottes hatte Er schon srüher die Herrlichkeit besessen; denn von dort war Er gekommen. Aber jetzt
konnte Er als der Mensch Christus Jesus, der Gott hienieden vollkommen verherrlicht hatte, Anspruch auf diese
Herrlichkeit erheben. Er konnte, am Ende Seines Weges
angelangt, zum Vater sagen: „Und nun verherrliche Dn
mich, Vater, bei Dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich
bei Dir hatte, ehe die Welt war." Aehnlich hatte Er im
Eingang Seines Gebets gesagt: „Vater, . . . verherrliche
Deinen Sohn, auf daß Dein Sohn Dich verherrliche." Er
stand jetzt im Begriff gen Himmel zu fahren, um dort mit
Ehre und Herrlichkeit gekrönt zu werden und dann wiederum von dort aus den Vater in den Seinigen zu der-
160
herrlichen. Der Vater hatte Ihm Gewalt gegeben über
alles Fleisch, auf daß Er denen, die Er Ihm gegeben,
das ewige Leben schenke. Und dies war das ewige Leben,
daß sie den Vater, „den allein wahren Gott", und den
Er gesandt hatte, „Jesum Christum", erkannten.
Der natürliche Mensch besitzt kein Leben; er ist tot
und vermag weder den allein wahren Gott noch Jesum
Christum, weder den Vater noch den Sohn zu erkennen.
Wohl verhieß das Gesetz Leben als Folge des Gehorsams;
aber weil der Mensch das Gesetz nicht erfüllte, so blieb
er im Tode. In Christo aber erschien das Leben;
wie Johannes sagt: „DaS Leben ist geoffenbart worden, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen
euch das ewige Leben, welches bei dem Vater war
und uns geoffenbart worden ist." Wir sehen und besitzen
es in Christo Jesu. Wer an Ihn glaubt, hat ewiges
Leben. Zugleich war der Sohn die völlige Offenbarung
des Vaters: „Wir wissen, daß der Sohn Gottes gekommen ist und uns ein Verständnis gegeben hat, auf daß
wir den Wahrhaftigen kennen." Wer den Sohn
gesehen hat, hat den Vater gesehen; wer Ihn erkannt hat,
hat auch den Vater erkannt. Und diese Erkenntnis ist
daS ewige Leben.
Doch die Mitteilung dieses Lebens setzt voraus, daß
das Werk der Errettung vollbracht, daß eine Sühnung
für den Sünder geschehen ist; denn nur auf Grund dieses
Werkes kann das Leben empfangen werden. Diese beiden
Dinge können wir nicht von einander trennen. So lesen
wir z. B. auch in 1. Joh. 4, „daß Gott Seinen eingebornen Sohn in die Welt gesandt hat, auf daß wir
durch Ihn leben möchten"; und nachher, „daß Er
161
uns geliebt und Seinen Sohn gesandt hat als eine
Sühnung für unsre Sünden." Und darum fügt
der Herr auch hier sogleich hinzu: „Das Werk habe ich
vollbracht, welches Du mir gegeben hast, daß ich es thun
sollte." Zwar stand die Stunde des Leidens in Wirklichkeit noch vor dem Herrn; aber Er nimmt in Seinen Gedanken hier wie in den vier früheren Kapiteln Seinen Platz
schon jenseits des Kreuzes ein, um uns die vollen Früchte
Seines glorreichen Werkes zeigen zu können. Vor Grundlegung der Welt war dieses Werk in den Gedanken und
Vorsätzen Gottes beschlossen gewesen; und in all den Jahrhunderten vor der Menschwerdung Christi war es unzählige Male in Opfern, Ceremonien und gottesdienstlichen Anordnungen vorgebildet, sowie durch die Propheten
angekündigt worden. Im Blick auf dieses Werk hatte
Gott „die vorher geschehenen Sünden" in Seiner Langmut tragen, die alttestamentlichen Gläubigen segnen und
die von ihnen dargebrachten Opfer annehmen können. Das
Blut der Stiere und Böcke, welches an sich kraftlos war
und keine einzige Sünde abwaschen konnte, erhielt auf
diese Weise einen hohen Wert als Vorbild des kostbaren
Blutes, welches auf Golgatha vergossen werden sollte.
Und nun war die Zeit gekommen, auf welche jene Gläubigen so lange gehofft und von der die Propheten soviel
geredet hatten, „forschend, auf welche oder welcherlei Zeit
der Geist Christi, der in ihnen war, hindeutete". Der
Sohn Gottes war jetzt da, um das große Werk auszuführen. Er hatte sich angekündigt mit den Worten: „An
Schlacht- und Speisopfern hattest Du keine Lust .....
Brand- und Sündopfer hast Du nicht gefordert. Da sprach
ich: Siehe, ich komme; in der Rolle des Buches steht
162
von mir geschrieben. Dein Wohlgefallen zu thun,
mein Gott, ist meine Lust." (Ps. 40, 6—8.)
Allein es gab noch einen andern Beweggrund für
Ihn; Seine eigne Liebe zu armen, verlornen Sündern
trieb Ihn hernieder, um für sie in den Riß zu treten und
Sein teures Leben für sie hinzugeben. Freiwillig wurde
Er das Opfer, welches den Fluch der Sünde auf sich
nahm und eine ewige Erlösung für uns zuwege brachte.
Gott ist also die Quelle und der Herr Jesus der Vollbringer unsers ewigen Heils. Wie fest und sicher ist die 
Grundlage, auf welcher der Gläubige vor Gott steht!
Nichts ist ans ihm, alles von Gott; und gerade darum
ist auch alles mit göttlicher Vollkommenheit geordnet. Der
Herr Jesus sagte: „Ich habe das Werk vollbracht"; und
Gott hat dieses für uns vollbrachte Werk völlig anerkannt, indem Er Christum aus den Toten auserweckte und
Ihn zu Seiner Rechten setzte. Mit aller Freimütigkeit
kann der Herr daher über die Seinigen zu dem Vater
reden; Er hat nicht mehr nötig von ihren Sünden zu
sprechen, denn diese sind für ewig getilgt. Sogar das
heilige Auge Gottes sieht nicht einen Flecken mehr an den
Seinigen; sie sind so rein, wie das Blut Jesu Christi sie
rein zu waschen vermochte. Dieses Blut genügt allen Ansprüchen der Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes, jeder
Forderung des Gesetzes und jedem Bedürfnis des Menschen vollkommen. Gott selbst findet in dem Werke Christi
Seine Ruhe; ja, Er ist durch dasselbe auf daS Völligste
verherrlicht worden.
Nachdem der Herr so mit kurzen Worten Seine eigne
Stellung und Sein Werk berührt hat, beginnt Er mit
dem Vater über Seine Jünger zu reden, denen Er den
163
Namen des Vaters geoffenbart hatte. Bevor Er jedoch
von den Segnungen spricht, welche sie durch Sein Werk
erlangt hatten, geht Er auf den Ursprung ihrer Verbindung mit Ihm zurück. Sie waren Menschen, die einer
gefallenen Schöpfung angehörten, die keinen Anspruch auf
irgendwelche Verbindung mit dem Sohne Gottes hatten.
Aber der Vater hatte sie in Seiner großen Barmherzigkeit vor Grundlegung der Welt auserwählt, um sie für
sich zu besitzen; und dann hatte Er sie aus der Welt
heraus- und zu Seinem Sohne hingeführt und sie Ihm
gegeben. „Sie waren Dein, und Du hast sie mir gegeben." 
Welch ein köstliches Wort! Wenn wir uns vergegenwärtigen, was und wo wir von Natur waren — Feinde Gottes und auf dem Wege zum ewigen Verderben, gänzlich
unfähig, uns selbst aus diesem traurigen Zustande zu befreien — und wenn wir dann hier aus dem Munde des
Herrn hören, daß wir das Eigentum des Vaters waren,
und daß wir von Ihm dem Sohne geschenkt sind, so
können wir nicht anders als eine solche Errettung anstaunen und die unbegreifliche Liebe bewundern, die sich
Zu solchen, wie wir sind, herabgeneigt hat. Was war
denn an uns, daß der Vater uns als Sein Eigentum
besitzen wollte? Ach! an uns war nichts Begehrenswertes,
nichts Liebenswürdiges; wir waren völlig durch die Sünde
verderbt, ja, sogar Feinde Gottes. Aber der Vater wollte
glückliche Kinder um sich haben, „heilig und tadellos vor
Ihm in Liebe"; darum hat Er „uns zuvorbestimmt zur
Sohnschaft durch Jesum Christum für sich selbst nach dem
Wohlgefallen Seines Willens, zum Preise
der Herrlichkeit Seiner Gnade." — Und was
sand der Herr Jesus an uns, daß Er von uns sagen
164
konnte: „An ihnen ist alle meine Lust"? O, wir waren
für Ihn ein Geschenk aus der Hand Seines Vaters, bestimmt zu Seiner Braut, zu Gliedern Seines Leibes;
darum hat Er „die Versammlung geliebt und sich selbst
für sie hingegeben, auf daß Er sie heiligte". Ja, Er
gab Sein Leben hin, um sie besitzen zu können. Anbetungswürdige Liebe! Wie köstlich ist es, daß jeder, der
Ihm angehört, sagen kann: Auch mich hat Gott zu Seinem Eigentum erwählt; auch mich hat Er Seinem geliebten Sohne gegeben; auch für mich hat der Herr Sein
Leben gelassen! Vom Vater dem Sohne geschenkt, sind
wir jetzt das Eigentum des Sohnes, teuer erkauft durch
Sein kostbares Blut; und als solche haben wir wiederum
einen um so höheren Wert in den Augen des Vaters,
welchem uns der Sohn in Seinem Gebete wieder übergiebt.
„Sie haben Dein Wort bewahrt. Jetzt haben sie
erkannt, daß alles, was Du mir gegeben hast, von Dir ist; 
denn die Worte, die Du mir gegeben hast, habe ich ihnen
gegeben; und sie haben sie angenommen und wahrhaftig
erkannt, daß ich von Dir ausgegangen bin, und haben
geglaubt, daß Du mich gesandt hast." (V. 6-8.) Der
Herr erkennt in Seiner Gnade das Gute in den Seinigen
an, und wenn es noch so gering ist, und obgleich selbst
dieses Geringe nicht durch ihre eigne Kraft, sondern nur
durch die Wirksamkeit des Geistes Gottes hervorgerufen
ist. Wir suchen in dem Gebet des Herrn vergebens nach
einem einzigen Wort über den Eigenwillen, den Kleinglauben und die Gleichgültigkeit Seiner Jünger. Seine
wunderbare Liebe übergeht alle ihre Mängel und Gebrechen
und beschäftigt sich nur mit dem, was Seinem Herzen
und dem Herzen des Vaters so kostbar war: „Sie haben
165
Dein Wort bewahrt — sie haben geglaubt, daß Du mich
gesandt hast — ich bin in ihnen verherrlicht" u. s. w.
So hatte Er auch vorher schon zu Seinen Jüngern gesagt: „Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben
in meinen Versuchungen." Und ähnlich spricht Er zu der
Versammlung in Philadelphia: „Du hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet." Wie
sehr zeigen uns solche Worte die zärtliche Liebe des Herrn
Jesu zu uns; aber wie beschämen sie uns auch, wenn wir
an die mannigfachen Untreuen in unserm Wandel, an die
Kälte und Gleichgültigkeit unsrer Herzen denken I Möchten
wir es tief fühlen! Wie gut ist es, daß Seine Liebe
sich nicht nach der unsrigen richtet, daß Er nie gleichgültig, nie schwach gegen uns wird! Er kann uns nie
vergessen; ja, Er ist unaufhörlich für uns vor dem Vater
beschäftigt.
Die Fürbitte des Herrn Jesu, die Bitte Dessen, der
den Vater stets verherrlicht hatte, mußte für das Vaterherz überaus köstlich sein. Es handelte sich für den
Herrn jetzt nicht um die Welt, um die Erfüllung Seiner
Rechte über dieselbe, sondern nur um die Seinigen. Er
sagt: „Ich bitte für sie; nicht bitte ich für die (od. betreffs der) Welt, sondern für sie, die du mir gegeben
hast; denn sie sind Dein, . . . und ich bin in
ihnen verherrlicht." Ein doppelter Beweggrund für
den Vater, das Gebet Seines Sohnes fürste zu erhören:
einmal gehörten sie dem Vater, so daß Seine eigne Herrlichkeit es erforderte, sie zu bewahren, und dann war
Christus, der Gegenstand Seiner Liebe, in ihnen verherrlicht. Christus war nicht mehr in der Welt; Er stand
im Begriff zu dem Vater zurückzukehren, und Er ließ
166
die Seinigen, die Seinem Herzen so unendlich teuer waren, in einer versuchungsreichen, feindseligen Welt zurück.
Er wußte, daß sie Tag für Tag allerlei Gefahren und
Versuchungen ausgesetzt sein würden. So lange Er bei
ihnen gewesen war, hatte Er sie in dem Namen des Vaters bewahrt, und Er hatte „keinen von ihnen verloren,
als nur den Sohn des Verderbens, auf daß die Schrift
erfüllt würde." Aber jetzt ging Er von ihnen; und so
übergab Er sie den treuen Händen des Vaters, damit
dieser sie ferner bewahren möge. Und wir können überzeugt sein, daß der Vater das Gebet Seines geliebten
Sohnes erhören wird. Was würde auch die Welt sagen,
wenn Gott die Seinen nicht bewahrte, wenn sie nicht das
Ziel erreichten, sondern in der Wüste umkämen? Um der
Ehre Seines Namens und der Verherrlichung Seines
Sohnes willen kann Gott das nimmermehr zulassen. Nein,
wir können mit dem Psalmisten ausrufen: „Er leitet mich
in Pfaden der Gerechtigkeit um Seines Namens
willen." (Schluß folgn)

„Vis er es findet."
„Er sprach aber zu ihnen dieses Gleichnis und sagte:
Welcher Mensch unter euch, der hundert Schafe hat und
eines von ihnen verloren hat, läßt nicht die neunundneunzig in der Wüste und geht dem verlornen nach, bis
er es findet?" (Luk. 15, 4.) Wie wunderbar groß ist 
die Beharrlichkeit und Ausdauer der Gnade! „Bis er eS
findet." Keinen Augenblick eher giebt der Herr Seine Bemühung der Liebe auf, keinen Augenblick eher gönnt Er
sich Ruhe. Und wie weit muß Er dem „verlornen" nach­
167
gehen? Bis dahin, wo es sich befindet — ausgezogen,
verwundet und halbtot. (Vergl. Luk. 10, 30.) Aber ist das
alles? Mußte unser teurer Herr nicht noch mehr thun
als das? Mußte Er nicht in den Tod selbst gehen, um
Seine Schäflein aus der Gewalt desselben zu befreien?
„Der gute Hirte läßt Sein Leben für die Schafe."
Er hat es auch für dich und mich gelassen, mein lieber
Leser. „Er gab sich selbst zum Lösegeld für alle, wovon
das Zeugnis zu seiner Zeit verkündigt werden sollte."
(1. Tim. 2, 6.)
Und wie groß und ausdauernd ist der Fleiß und
die Sorgfalt der Gnade! „Welches Weib, die zehn Drachmen hat, zündet nicht, wenn sie eine Drachme verliert,
eine Lampe an und kehrt das Haus und sucht sorgfältig,
bis daß sie sie findet?" (V. 8.) Mein Leser, ist
dir die staunenswerte Thatsache schon einmal zum tiefen
Bewußtsein gekommen, daß eine göttliche Person, Gott,
der Heilige Geist, hienieden weilt, und zwar zu dem
Zwecke, um die durchdringenden Strahlen des göttlichen
Lichtes auf die Herzen und Gewissen toter Sünder fallen
zu lassen?
Der Sohn muß das Verlorne suchen. Alles gründet
sich auf Sein Werk; und darum wird davon auch zuerst gesprochen. Dieses Werk hat Gottes Gerechtigkeit vollkommen
befriedigt, und erlaubt Ihm jetzt, jeden Sünder zu rechtfertigen, der des Glaubens an Jesum ist. Der Sohn
muß das Verlorne suchen, der Geist muß das Tote lebendig machen, bevor der Vater den bußfertigen, reumütigen Sünder aufnehmen kann.
Und wenn nun der gute Hirte Sein Schäflein gefunden hat, wohin bringt Er es? Zurück zu den neun­
168
undneunzig? O nein! „Und wenn er es gefunden hat, so
legt er es mit Freuden auf seine Schultern;" und nicht
«her nimmt er es wieder von dort herab, bis er nach
Hause kommt.
Welch ein reicher Trost liegt darin für den Gläubigen! Giebt es denn keine Wüste mehr für ihn? Gewiß;
aber er durchschreitet sie auf den Schultern des Hirten,
d. h. in vollkommner Sicherheit und aufrecht gehalten
durch die Kraft des Herrn. Wie manche Gläubige denken
mit Furcht und Angst an den vor ihnen liegenden Weg!
Wie oft hört man sagen: Wenn ich nur erst glücklich am
Ziele wäre! Wenn ich nur „festhalten" kann bis ans
Ende! — und dergl. mehr. Aber solche Gläubige vergessen, daß der Herr sie bewahren will und wird, und
daß der gute Hirte nimmermehr eines Seiner teuer erkauften Schäflein lassen kann. Er sagt: „Niemand wird
sie aus meiner Hand rauben." Könnte Er wohl „Sünder" erretten und „Gläubige" verlieren? Unmöglich! „Er
vermag völlig — d. h. bis ans Ende hin, bis zum
Ziele in der Herrlichkeit — zu erretten, die durch Ihn
Gott nahen, indem Er immerdar lebt, um sich für sie zu
verwenden." (Hebr. 7, 25.) Und der Apostel Paulus
ruft den gläubigen Römern zu: „Denn wenn wir, da
wir Feinde waren, Gott versöhnt wurden durch den
Tod Seines Sohnes, vielmehr werden wir, da wir versöhnt sind, durch Sein Leben errettet werden!"
<Röm. 5, 10.) Wenn ein sterbender Christus einen
Feind errettet hat, wird dann Wohl ein lebender Christus
«inen Freund lassen können?
Der Tag Gottes.
(Schluß.)
Wie gesegnet indessen die Zeit des tausendjährigen
Reiches auch sein wird, so ist sie doch noch nicht das
eigentliche Ziel der Ratschlüsse und der Liebe Gottes.
Sie bildet vielmehr eine Uebergangsperiode von der alten
zu der neuen Schöpfung, während sie zugleich den Beweis liefert, daß es die Freude Gottes ist, zu segnen,
wenn nicht der Mensch Ihn gewaltsam daran hindert.
Er ist Licht und Liebe, und eine seufzende Schöpfung
entspricht durchaus nicht Seinem Herzen; aber die Sünde
muß erkannt und gerichtet werden. Sobald dies geschieht,
sehen wir Ihn immer bereit zu vergeben, zu heilen und
zu segnen. Das erfährt heute schon jeder einzelne Mensch.
Wie gottlos und böse auch sein Leben gewesen sein mag,
sobald er sich vor Gott demütigt, giebt Gott ihm Gnade.
Dies erfuhr selbst der gottlose König Ahab nach seinem
schrecklichen Verbrechen an Naboth; sobald er sich demütigte, wandte Gott das ihm angedrohte Unglück von ihm
ab. „Hast du gesehen, daß Ahab sich vor mir gedemütigt
hat? Weil er sich vor mir gedemütigt hat, will ich das
Unglück nicht bringen in seinen Tagen." (1. Kön. 21, 29.)
Die Schrift liefert uns viele andere Beispiele ähnlicher
Art. Denken wir nur an David, Hiskia u. s. w. Wie
reich erwies sich ferner die Gnade an dem verlornen Sohne,
170
an dem sterbenden Räuber am Kreuze, an Saulus, dem
ersten unter den Sündern.
Alle diese Beispiele zeigen uns, daß es die Freude
Gottes ist, zu segnen; aber sie belehren uns auch, daß
Er dies nimmer auf Kosten Seiner Heiligkeit thun kann.
Dieser wichtige Grundsatz wird selbst von vielen Christen
leider zu wenig beachtet. Gott kann nie mit dem Böse»
zusammengehen. Wie groß auch Seine Liebe, Gnade, Geduld und Langmut sein mögen, so muß doch das Böse
(ob klein oder groß, ob viel oder wenig) stets gerichtet
werden. Nur auf diesem Boden können wir praktische
Gemeinschaft mit Gott haben; nur dann kann Er mit
uns gehen und uns segnen; und nur dann genießen wir
wirklich unsre Vorrechte als Kinder Gottes. Im allgemeinen geht man viel zu leicht über die Sünde hinweg
und beraubt sich dadurch, ohne es zu ahnen, der größten
Segnungen; und nicht nur das, man bringt sich auch in
viele Schwierigkeiten und Leiden, die man sonst nicht
haben würde. Wir sollten stets über die Sünde denken,
wie Gott über sie denkt, und sie ebenso ernst behandeln,
wie Er sie gemäß Seiner Natur behandeln muß.
Um zu wissen, wie Gott über die Sünde denkt, bedarf es nur des Hinweises auf die Folgen der einen
Sünde Adams. „Denn das Urteil war von einem zur
Verdammnis .... Also nun, wie es durch eine Uebertretung gegen alle Menschen zur Verdammnis gereichte,
w. w." (Röm. 5, 16. 18.) Das Seufzen der ganzen
Schöpfung seit dem Sündenfall, die Not und das Wehgeschrei unzähliger Millionen, die Zerstörung dieser Schöpfung, die gewaltsame Auflösung von Himmel und Erde,
das Heulen und Zähneknirschen der Verdammten in den
171
ewigen Qualen der Hölle — alles das hat seinen Ursprung in der einen Sünde Adams. Ach! der Mensch
wagt es, Gott der Grausamkeit und Ungerechtigkeit zu
beschuldigen und in Ihm den Urheber seines Unglücks zu
sehen; er meint, Gott habe Gefallen an der Ausübung
furchtbarer Gerichte und gewaltsamer Zerstörungen. Aber
alle, die also denken und reden, werden zu ihrer ewigen
Schande von dem Gegenteil überzeugt werden. Nein, jene
ernsten Dinge beweisen nur die unendliche Größe der
Heiligkeit des Wesens Gottes — Er ist Licht und kann
die Sünde nicht sehen. „Siehe, auf Seine Heiligen vertraut Er nicht, und die Himmel sind nicht rein in Seinen
Augen." (Hiob 15, 15.) „Du bist zu rein von Augen,
um Böses zu sehen, und die Mühsal vermagst Du nicht
anzuschauen." (Hab. 1, 13.) Er kann weder die Sünde
noch ihre traurigen Folgen sehen; und Golgatha zeigt
uns, was Er gethan hat zurAbschaffung derselben. Das
Kreuz beweist die Schrecklichkeit der Sünde mehr, als alle
die oben angeführten Folgen; eS beweist die Heiligkeit
Gottes, aber auch, daß Er den Tod des Sünders nicht
will. Es ist die feierliche Bestätigung dessen, was Er
selbst beteuert hat: „So wahr ich lebe, spricht der Herr,
Jehova, ich habe keine Lust am Tode des Gesetzlosen,
sondern daß der Gesetzlose umkehre von seinem Wesen
und lebe!" (Hes. 33, 11.)
Wegen der unendlichen Heiligkeit Gottes ist daher
selbst der Zustand der Dinge während des tausendjährigen
Reiches nur ein vorübergehender, weil auch dort die Sünde,
(obwohl durch den Tod Christi vollkommen gesühnt,) noch
nicht thatsächlich beseitigt ist. Denn es wird dort noch
Unbekehrte geben, und auch die Bekehrten haben noch ihre
172
natürlichen Leiber, in welchen die Sünde wohnt; ja, selbst
die Himmel und die Erde sind noch von der Sünde befleckt. Aber da die Macht der Sünde unter der gerechten
Regierung Christi niedergehalten wird, so kann Gott Seine
Segnungen über die Schöpfung kommen lassen, bis alle
gesammelt sind, die nach Seinem Ratschluß in die neue
Schöpfung eintreten sollen. Alsdann, wenn dies geschehen
ist, wird Christus alles beseitigen, was an die Sünde
und ihre Folgen erinnert. „Denn Er muß herrschen, bis
Er alle Feinde gelegt hat unter Seine Füße. Der letzte
Feind, der weggethan wird, ist der Tod." (1. Kor. 15,
25. 26.) Der Tod wird zuletzt beseitigt, weil er selbst
im tausendjährigen Reiche, so lange die Sünde noch da
ist, als Strafe dient. „Denn der Jüngling wird sterben, hundert Jahre alt, und der Sünder, hundert Jahre
alt, verflucht werden." (Jes. 65, 20.) Er wird besonders
noch am Schluß des Reiches in Anwendung kommen, wenn
Satan, wieder losgelassen aus dem Abgrunde, die Nationen aufs Neue zur Empörung gegen Gott und Seine
Heiligen anreizen wird. Beachten wir hier, daß nichts
die verderbte, feindselige Natur des Menschen zu ändern
vermag. Weder das Anschauen der Herrlichkeit Christi
während des tausendjährigen Reiches, noch der Genuß der
Segnungen, mit welchen die Güte Gottes ihn während all
dieser Zeit überhäuft hat, vermag ihn zu verändern. Dazu ist allein die Gnade imstande. Da er aber diese von
sich stößt, so bleibt nichts für ihn übrig als ein „gewisses, furchtvolles Erwarten des Gerichts und ein Feuereifer, der die Widersacher verschlingen wird." (Hebr. 10,
27.) Feuer aus dem Himmel wird jene letzten Feinde
verzehren. Dann folgt die Auflösung der Himmel und der
173
Erde, wovon Petrus schreibt, (2. Petr. 3.) sowie das Gericht der Toten vor dem großen weißen Thron. Und
endlich, nachdem jede Spur der Sünde vernichtet ist, wird
auch der Tod, der Sold der Sünde, beseitigt und nebst
dem Hades in den Feuersee geworfen werden. (Offbg. 20,
11-15.) Strafe und Gefängnis sind alsdann nicht
mehr nötig.
Mit der Erscheinung der neuen Schöpfung oder des
Tages Gottes ist die Wirksamkeit der Liebe Gottes betreffs der Schaffung eines ewig vollkommnen Ruheortes,
sowie der Tag des Herrn, durch welchen jener eingeführt wird, beendigt, weil alsdann die Vollkommenheit
gekommen sein wird. Gott wird wohnen auf der neuen
Erde, und dies verleiht ihr das Gepräge der vollkommnen
Heiligkeit. „Und ich sah einen neuen Himmel und eine
neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde
waren vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich
sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, herniederkommen aus dem Himmel von Gott, bereitet wie eine für
ihren Mann geschmückte Braut. Und ich hörte eine starke
Stimme aus dem Himmel sagen: Siehe, die Hütte Gottes beiden Menschen! Und Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden Sein Volk sein, und Gott selbst
wird bei ihnen sein, ihr Gott. Und Er wird
jede Thräne abwischen von ihren Augen, und der Tod
wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch
Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Und der auf dem Throne saß, sprach: Siehe, ich mache
alles neu!" (Offbg. 21, 1 — 5.) Welch eine Erde muß
es sein, auf welcher Gott in all Seiner Heiligkeit ruhen
kann; wo jeder Wunsch erfüllt und jedes Sehnen für
174
immer gestillt ist; wo kein Geschrei und kein Seufzer mehr
gehört werden wird! „Das Erste ist vergangen", weil
eS nirgend einen wahren Ruheort bot wegen der darin
wohnenden Sünde. In der Gegenwart Dessen, der auf
dem großen weißen Throne sitzt, kann es nicht bestehen.
Himmel und Erde entfliehen vor Seinem Angesicht, und
keine Stätte wird für sie gefunden. (Offbg. 20, 11.)
Welch eine Heiligkeit! Er ist Zu rein von Augen, um Böses zu sehen; die Himmel und die Sterne sind nicht rein
in Seinen Augen, wie viel weniger die Erde, oder gar der
sündige Mensch! Wenn jene nicht bestehen können, sobald
Gott sich zeigt, wie Er wirklich ist, wie will der Mensch es
dort aushalten können? Er wird sicherlich nicht daran denken, sich verantworten zu wollen. „Wenn er Lust hat, mit
ihm zu rechten, so wird er ihm nicht eins auf tausend antworten." (Hiob 9, 3.) Er, „der ein unzugängliches Licht
bewohnt, den keiner der Menschen gesehen hat, noch sehen
kann," (1. Tim. 6, 16.) konnte wohl in unumschränkter
Gnade Seine Gottheit in das Gewand der Niedrigkeit
hüllen, und in Christo wie ein Mensch unter den Menschen auf dieser sündigen Erde wandeln. Ja, der Heilige
Gottes konnte selbst an dem schimpflichen Kreuze schweigend den Hohn der Gottlosen ertragen: „Pfui, der Du
den Tempel abbrichst und in drei Tagen aufbauest, rette
Dich selbst und steige herab vom Kreuze!" (Mark. 15, 29.)
Alles das konnte Er thun, um auf diesem Wege die Ratschlüsse Seiner unergründlichen Gnade zu erfüllen und
in Seiner Erniedrigung die Vollkommenheit der Liebe
Gottes zu offenbaren. Aber wenn Er dereinst auf dem
großen weißen Throne die Vollkommenheit der Heiligkeit Gottes enthüllen wird, alsdann muß alles vor
175
Seinem heiligen Angesicht entfliehen, was irgendwie von
der Sünde befleckt ist; die Nacht muß verschwinden, um
einem ewigen „Morgen ohne Wolken" Platz zu machen.
Er ist „der Herrscher unter den Menschen, gerecht, ein 
Herrscher in Gottesfurcht; und Er wird sein wie das
Licht des Morgens, wenn die Sonne aufgeht, ein Morgen ohne Wolken: von ihrem Glanze nach dem Regen
sproßt das Grün aus der Erde." (2. Sam. 23, 3. 4.)
Wenn daher die Schrift sagt, daß Gott selbst auf
der neuen Erde bei den Menschen wohnen wird, so zeigt
sie uns damit die große Veränderung, welche ftattgefunden
hat. Er wohnt dann nicht dort wie einst, als Er in
Christo Seine Gottheit in dem Gewände der Niedrigkeit
verhüllte, und als ein Fremdling hienieden einherging,
sondern in dem vollen Glanze der Heiligkeit, wegen welcher die erste Schöpfung vor Seinem Angesicht entfliehen
muß. Welch ein Licht wirft dieses auf die neue Schöpfung und ihre Bewohner! Dort kann nichts anders sein
als Licht und Liebe, dort, wo Er „alles in allem" ist.
(1. Kor. 15, 28.) Wahrlich, dort wird die Liebe Gottes
sich in ihrer ganzen Vollkommenheit offenbaren können.
Wenn schon daS tausendjährige Reich solch unermeßliche
Segensspenden der Liebe Gottes aufzuweisen hat, obwohl
dort die Gerechtigkeit noch herrschen muß, um die Sünde
im Zaume zu halten, was wird es auf der neuen Erde
sein, auf welcher die Gerechtigkeit wohnt, und darum
der Strom der göttlichen Liebe seinen freien, ungestörten
Lauf hat! Erquickungen, wie sie nur die Liebe eines Heiland-Gottes ersinnen und erdenken kann, werden dort den
Erlösten zu teil werden; wie geschrieben steht: „Auf daß
Er erwiese in den kommenden Zeitaltern den über­
176
schwänglichen Reichtum Seiner Gnade in Güte gegen uns in Christo Jesu." (Eph. 2, 7.)
Das innige Verhältnis, welches dort zwischen Gott
ynd Menschen besteht, wird mit den rührendsten Ausdrücken
beschrieben: „Und Er wird jede Thräne abwischen von
ihren Augen." Gott handelt hier wie eine zärtliche Mutter, die ihr lange vermißtes, innig geliebtes Kind endlich
nach langem, bangem Harren wieder an ihr Herz schließen
kann, nachdem dieses in einer fernen, fremden Welt allen
erdenklichen Leiden ausgesetzt gewesen ist. Wie wunderbar! der Heilige, vor dessen Angesicht Himmel und Erde
entfliehen müssen, ist „ihr Gott". Er ist als ein gerechter
Richter für ihre Sache eingetreten, sobald die Stunde dafür
gekommen war, und hat in gerechter Vergeltung alle ihre
Feinde und den ganzen Schauplatz ihrer Leiden und Schmerzen gerichtet; und nach allem wischt Er ihnen als den
teuren Gegenständen der Liebe Seines Herzens die Thränen ab. Die Erkenntnis und der Genuß dieser Liebe
Gottes ist mehr als alle Herrlichkeit, so unendlich groß
diese auch sein mag. Gott zu kennen, wie Er ist, das
ist die Quelle des höchsten Glückes; denn Seine vollkommne Heiligkeit ist dort für die Erlösten ein ebenso
unendlicher Genuß, wie Seine vollkommne Liebe.
Jedes Auge wird Dich kennen,
Wird Dich sehen, wie Du bist;
Jedes Herz in Liebe brennen
Dort, wo alles Liebe ist.
Die Kirche wird die Behausung Gottes auf der
neuen Erde bilden. Während des tausendjährigen Reiches
wird sie als eine Stadt gesehen, weil es sich dort um
Ausübung der Regierung handelt; sie bildet so zu sagen
177
den Mittelpunkt der Regierung. Auf der neuen Erde
aber wird sie „die Wohnung" oder „die Hütte" Gottes bei
den Menschen genannt; und die „Menschen" der neuen
Erde bilden das Volk Gottes. Das Vorbild davon erblicken wir im alten Bunde: der Tempel war die Wohnung Gottes, und Israel Sein Volk. Eine Wohnung ist 
ein Ausdruck der Ruhe. „Ich hatte in meinem Herzen",
sagt David, „ein Haus der Ruhe zu bauen für die
Lade des Bundes Jehovas, und für den Fußschemel der
Füße unsers Gottes; und ich schickte mich an zu bauen.
Aber Gott sprach zu mir: Du sollst meinem Namen kein
Haus bauen; denn du bist ein Kriegsmann und hast Blut
vergossen." (1. Chron. 28, 2.) Und als Salomo, sein
Sohn, später den Tempel gebaut hatte, hören wir ihn
sagen: „Und nun stehe auf, Jehova, Gott, zu Deiner Ruhe!" (2. Chron. 6, 41.) Dies bestätigt wiederum, daß Gott nicht in einem Zustand der Dinge ruhen kann, wie Er unter der Regierung Davids war, wo
es noch Feinde zu unterwerfen gab. Erst dann, wenn
alles in Ordnung ist, kann von einem Ruheort die Rede
sein. Zugleich ist zu beachten, daß der Tempel Salomos
nicht mehr ein wanderndes Zelt, sondern eine feste Wohnung war, und somit von der Thatsache zeugte, daß die
Wanderung durch die Wüste ihr Ende erreicht hatte. So
ist denn die Hütte Gottes auf der neuen Erde das ewige
Zeugnis dafür, daß die lange Wüstenwanderung des
Volkes Gottes beendigt ist, daß alle Feinde unterworfen
sind, und daß sich alles in einem Zustande göttlicher Ordnung befindet. Alles ist vollendet, und Gott kann ruhen
in der Vollkommenheit Seiner eignen Natur, die ihren
völligen Ausdruck in der Kirche findet. Sie ist „bereitet
178
wie eine für ihren Mann geschmückte Braut." Sie bildet
in Verbindung mit Christo den Mittelpunkt der neuen
Schöpfung, und die ganze „Herrlichkeit Gottes" strahlt
von ihr aus. Gott findet in ihr Seine vollkommne Befriedigung, und ruht in ihr, als in dem, waS aus Ihm
selbst ist.
Dann wird keine Rede mehr sein von Priestern oder 
von irgend welcher Vermittlung zwischen Gott und Menschen, wie im alten Bunde; auch nicht von einer beständigen Wiederholung der Opfer, wie dies selbst noch im
tausendjährigen Reiche der Fall ist. Gott wird bei den
Menschen wohnen, und Er kann „bei ihnen sein", weil
nicht nur die Sünde und alles, was an dieselbe erinnert,
hinweggethan ist, sondern auch weil Gott alles in allem
ist. Wohin auch das Auge sich wenden mag, alles wird
von der Größe und Herrlichkeit Gottes, von Seiner Heiligkeit und Liebe zeugen. Alles wird Sein Lob und
Seinen Ruhm verkünden, alles wird von dem zeugen, was
Er gethan hat, und Seine wunderbaren Wege rühmen,
die zu diesem herrlichen Ergebnis geführt haben. Sollte
Er nicht vollkommen befriedigt sein mit Seiner eignen
Schöpfung? Sollte Er nicht da wohnen und ruhen können, wo Sein Ruhm und Seine Herrlichkeit aus allem
wiederstrahlen?
Diesen Zustand der vollkommnen Verherrlichung Gottes herbeizuführen, war das sehnsüchtige Verlangen des
Herzens Christi. Darum hat Er sich erniedrigt, darum
hat Er gelitten und den Tod erduldet; und darum übernimmt Er die Macht und Herrschaft während des tausendjährigen Reiches. Darum sagte Er auch:- „Vater, die
Stunde ist gekommen; verherrliche Deinen Sohn, auf
179
daß Dein Sohn Dich verherrliche." (Joh. 17, 1.)
Und nachdem Er alles beseitigt und unterworfen hat,
was dieser Verherrlichung Gottes im Wege steht, tritt
Er selbst zurück, damit Gott alles in allem sei. „Wenn
Ihm aber alles unterworfen sein wird, dann wird auch
der Sohn selbst Dem unterworfen sein, der Ihm alles
unterworfen hat, auf daß Gott alles in allem sei."
(1. Kor. 15, 28.) Welch eine Vollkommenheit des Sohnes, dessen einzige Freude darin besteht, den Vater zu
verherrlichen! Nachdem Er alles vollbracht hat, wird Er
Seinen Platz wieder einnehmen, den Er bei dem Vater
hatte „vor dem Ursprung der Erde": „Da war ich
Schoßkind bei Ihm, und war Tag für Tag Seine
Wonne, vor Ihm mich ergötzend zu aller Zeit, mich ergötzend auf dem bewohnten Teile Seiner Erde; und
meine Wonne war bei den Menschenkindern." Diese Worte
werden auf der neuen Erde ihre vollkommne Erfüllung
finden; ein Zustand ewiger Wonne wird allen ihren Bewohnern zu teil werden. Welch eine Erde wird das sein!
wo alle die Gesinnung des Sohnes teilen; wo alle durch
die reinsten und lautersten Beweggründe geleitet werden;
wo keiner an sich denkt, sondern nur seine Freude in dem
Glücke anderer findet; wo mit einem Worte nichts als
Licht und Liebe herrscht!
Wie sehr sollten wir uns nach der Ankunft dieses
Tages Gottes sehnen; dieses Tages der Vollkommenheit,
wo Gott alles in allem sein wird, vollkommen verherrlicht
in den Bewohnern der neuen Schöpfung! Könnte es ein 
größeres Glück geben, als da zu sein, wo Gott Seine
vollkommne Befriedigung und Ruhe findet? wo nichts mehr
in und außer uns ist, was die Heiligkeit und Liebe Got­
180
tes irgendwie verletzen könnte? Ja, das ist es, was wir
durch die Gnade zu erwarten haben, und darum sollten
wir uns darnach sehnen. Und nicht nur das; wir sollten
uns auch jetzt schon als „die Erstlingsfrucht Seiner Geschöpfe" (Jak. 1, 18.) offenbaren, und in Heiligkeit und
Liebe wandeln. Der Apostel dringt mit allem Ernst auf
einen solchen Wandel, und zwar aus doppeltem Grunde.
Zunächst sagt er: „Da nun dies alles aufgelöst wird,
welche solltet ihr dann sein in heiligem Wandel und
Gottseligkeit!" und dann: „Wir erwarten aber, nach
Seiner Verheißung, neue Himmel und eine neue Erde, in
denen Gerechtigkeit wohnt. Deshalb, Geliebte, da ihr dies
erwartet, so befleißiget euch, ohne Flecken und tadellos
vor Ihm erfunden zu werden in Frieden." (2. Petr.
3, 11—14.)
Beides, die Auflösung der alten Schöpfung und die 
Einführung der neuen, ist das Endziel der Wege und
Ratschlüsse Gottes; beides sollte ein Beweggrund für unS
sein, in heiliger Absonderung von der Welt und ihren
Dingen zu wandeln. Ein solcher Wandel kann nicht ausbleiben, wenn wir mit Gott dasselbe Ziel verfolgen.
Aber leider beweisen viele Gläubige in unsern Tagen,
daß sie dieses Ziel nicht im Auge haben. Ihre weitgehenden irdischen Pläne, ihr Streben nach einer möglichst
großartigen Ausdehnung ihrer Geschäfte, ihre Gleichförmigkeit mit dieser Welt, alles das zeugt nicht von einer
großen Sehnsucht nach der Ankunft des Tages Gottes.
Weit entfernt, diesen Tag zu beschleunigen, verrät vielmehr die fieberhafte Hast, mit welcher sie den Dingen
dieser Welt nachjagen, ihres Herzens Wunsch, daß der
gegenwärtige Zustand der Dinge noch recht lange anhalten
181
möge. Ach! sie bedenken nicht, daß sie auf dem abschüssigen Pfade Lots wandeln, dessen Ende ein recht bitteres
ist; sie haben sich gleich diesem eine Stätte zum Wohnplatz
gewählt, die zwar dem Fleische angenehm ist, aber unausbleiblich dem Gericht verfallen muß. Lot würde ohne
Zweifel Sodom nicht gewählt haben, wenn ihm das schreckliche Ende dieser gottlosen Stadt bekannt gewesen wäre;
auch würde er vor einer solchen Wahl bewahrt geblieben sein,
wenn er gleich Abraham im Glauben mit Gott gewandelt hätte. Und wie ist es möglich, wenn man einen Platz
einnimmt, der den Gedanken Gottes schnurstracks entgegen
ist, „vor Ihm in Frieden erfunden zu werden"? Vielleicht mögen manche, die in irdischer Gesinnung wandeln,
mit sich selbst in Frieden sein; aber es ist eine andere
Frage, ob man vor Gott in Frieden ist; ob unser
Dichten und Trachten das Licht Seiner heiligen Gegenwart ertragen kann; ob Der es billigt und anerkennt, „vor
dessen Augen alles blos und aufgedeckt ist, und mit dem
wir es zu thun haben"? (Hebr. 4, 13.)
„Welche sollten wir sein", Geliebte, wenn wir
„neue Himmel und eine neue Erde erwarten, in denen
Gerechtigkeit wohnt"? Wie ängstlich sollten wir
uns fern halten von einer irdischen, Gott geradezu entgegengesetzten Gesinnung! Sicherlich können wir mit einer
solchen Gesinnung nicht mit Gott auf der neuen Erde
zusammenwohnen, und sie muß daher durch das Feuer
des Gerichts geführt werden, bevor wir für immer in die
Herrlichkeit Seiner Gegenwart eintreten können; denn ohne
den Besitz einer Ihm entsprechenden Heiligkeit, wird niemand „den Herrn schauen". (Hebr. 12, 14.) Befleißigen
wir uns daher, geliebte Brüder, „ohne Flecken und tadel­
182
los vor Ihm erfunden zu werden in Frieden", umsomehr
als die Ankunft des Herrn so nahe ist und jeden Tag
der Augenblick kommen kann, da wir Ihn schauen werden'.
Einige Gedanken über das Gebet
des Herrn Jesu.
(Joh. 17.'!
(Schluß.)
Ohne Zweifel will der Herr uns hier auch zeigen,
wie Er jetzt beständig für die Seinigen thätig ist. Er
betrachtet, wie bereits gesagt, daS Werk als schon vollbracht und zeigt uns, mit welch einer Liebe Er darnach
der Seinigen gedenkt. Er spricht es auf der Erde aus,
damit sie es hören und sich darin erfreuen sollen. Er
sagt: „Ich bin nicht mehr in der Welt", und: „Dies
rede ich in der Welt, auf daß sie meine Freude völlig
in sich haben". Wir lesen in Hebr. 7, daß Er „immerdar lebt, um sich für uns zu verwenden", sowie in
Röm. 8: „der auch zur Rechten Gottes ist, der auch für
uns bittet". Ja, Er bittet stets für uns, Er beschäftigt
sich unaufhörlich mit einem jeden der Seinen. Wir wandeln
als schwache und abhängige Geschöpfe in einer mühevollen
und versnchungsreichen Wüste, in einer Welt, in welcher
wir „der Barmherzigkeit und der Gnade zur rechtzeitigen
Hülfe" täglich bedürfen. Und der Herr kennt diese Welt
aus eigner Erfahrung. Welch ein Glück, daß Er, während Er zur Rechten Gottes sitzt, in liebreicher Sorge
stets für uns thätig ist, um uns inmitten der Schwierigkeiten und Trübsale der Wüste, sowie in den Leiden und
Prüfungen, welche wir um Seines Namens willen erfahren,
183
aufrecht zu erhalten. Er kennt jedes Leid, und Er weiß
auch, welch ein Feind Satan ist, wie schlau, listig und
böse. Ist Er doch selbst in allem versucht worden in
gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde; und
darum kann Er als unser barmherziger Hoherpriester in
vollkommner Weise Mitgefühl mit uns haben und sich
für uns bei Gott verwenden.
Aber nicht nur das. Auf unserm Wege straucheln
wir auch oft und beschmutzen unsre Füße; und dann ist
der Herr für uns thätig als unser Sachwalter bei dem
Vater. Wir haben „Gemeinschaft mit dem Vater und
mit Seinem Sohne Jesu Christo", und diese Gemeinschaft
ist das Vorrecht aller Gläubigen zu jeder Zeit; allein der
Genuß derselben wird leider nur zu oft im täglichen
Leben durch uns unterbrochen. Jede Sünde in Gedanken,
Worten oder Werken entfernt uns praktischer Weise aus
dieser Gemeinschaft und raubt uns dadurch den Frieden
und die Freude unsrer Herzen. Und dann bedürfen wir
der Thätigkeit des Herrn Jesu zu unsrer Wiederherstellung. Er, der Gerechte, ist unser treuer Sachwalter bei
dem Vater und verwendet sich für uns, damit die unterbrochene Gemeinschaft wiederhergestellt werde. Und zwar
tritt Seine Thätigkeit nicht erst dann ein, wenn wir gefehlt haben; nein, Sein liebendes Herz hat sich schon
vorher mit uns beschäftigt. Er hat schon vor dem Falle
für uns gebetet, damit unser Glaube nicht aufhöre, sondern wir vielmehr zu einem Gefühl und Bekenntnis unsrer Schuld gebracht und aus diese Weise wieder in die
Gemeinschaft mit dem Vater zurückgeführt werden. So
sagte Er zu Petrus vor dessen tiefem Fall: „Ich habe
für dich gebetet, auf daß dein Glaube nicht aufhöre."
184
Würde Christus nicht zum Vater gehen, wenn wir sündigen, ja, ehe wir gesündigt haben, so würden wir nie
zur Einsicht und zum Bekenntnis unsrer Sünde kommen,
sondern weiter und weiter von dem Herrn abirren. Welch
ein Glück ist es daher, daß Er ununterbrochen thätig ist,
um den Frieden und das Glück unsrer Herzen zu bewahren oder uns die Füße zu waschen, wenn wir uns
beschmutzt haben.
Der Herr bittet nicht, daß der Vater uns von der
Welt wegnehmen, sondern daß Er uns vor dem Bösen
bewahren möge. Er, den wir als Vater anrufen, ist ein
heiliger Gott. Es ist sehr beachtenswert, daß der
Herr Seinen Vater, wenn Er über sich selbst spricht, nur
mit „Vater" anredet, daß Er aber, wenn Er für die
Seinigen bittet, „Heiliger Vater" sagt, und wenn es sich
um die Welt handelt, Ihn „Gerechter Vater" nennt. Der
Herr selbst ist in völliger Uebereinstimmung mit dem Vater; es giebt keine Eigenschaft in dem Vater, die nicht
in derselben Weise und in demselben Maße in dem Sohne
vorhanden wäre, und darum sagt der Herr, wenn es sich
um Ihn selbst handelt, nur „Vater". Wir dagegen befinden uns noch in einem Leibe, in welchem die Sünde
wohnt; wir bedürfen der Bewahrung vor dem Bösen,
denn wir sind mit Schwachheit umgeben und straucheln
oft. Wie sollte es daher tief in unsre Herzen eingeschrieben sein, daß unser Vater ein heiliger Gott ist, der
nicht das geringste Unreine oder Unheilige an Seinen
Kindern dulden kann. Er ruft uns zu: „Seid heilig,
denn ich bin heilig". Und ich glaube, daß der Herr uns
hieran erinnern will, wenn Er, in Verbindung mit uns
und unsrer Bewahrung, „Heiliger Vater" sagt; während
185
für die ungerechte Welt, die den Vater nicht erkannt und den
Sohn verworfen hat, nur Gerechtigkeit und Gericht übrigbleibt: „Gerechter Vater! und die Welt hat Dich
nicht erkannt."
Wie schon gesagt, bittet der Herr nicht, daß der
Vater die Seinen von der Welt wegnehme. Sicher verlangt Sein liebendes Herz darnach, sie bei sich zu haben,
ja, mit Sehnsucht wartet Er auf den Augenblick, wo Er
alle die Seinen in die Wohnungen des Vaters einführen
kann, damit sie bei Ihm seien und Seine Herrlichkeit
schauen. Aber Er hat hier noch etwas für sie zu thun;
sie sollen in einer feindseligen Welt Seine Zeugen sein
und Ihn verherrlichen. Wie der Vater Ihn gesandt hatte,
so sendet Er sie jetzt in die Welt. Für Ihn selbst war
die Welt eine Wüste, weil Er nicht von der Welt war.
Er konnte sich hier nie zu Hause fühlen; auf Ihn fanden
die Worte des Psalmisten (Ps. 63.) ihre volle Anwendung: „Es dürstet nach Dir meine Seele, nach Dir
schmachtet mein Fleisch in einem dürren und lechzenden
Lande ohne Wasser." Außer denen, welche der Vater Ihm
gegeben hatte, fand Er für Sein Herz hienieden nichts,
von feiten der Menschen war nur Haß und Verfolgung
Sein Teil. In dieselbe Stellung sind jetzt auch die
Seinigen eingetreten; denn Er bezeugt von ihnen: „Die
Welt hat sie gehaßt, weil sie nicht von der Welt sind,
gleichwie ich nicht von der Welt bin." Eine köstliche
Wahrheit, die sicher das Herz der Seinigen mit Freude
erfüllen muß. Wir sind aus der Welt erkauft und gehören ihr ebensowenig au, wie unser geliebter Herr selbst.
„Unsre Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit Seinem
Sohne Jesu Christo."
186
Doch so einfach und köstlich diese Wahrheit auch ist,
so wird sie doch in unsern Tagen von vielen Gläubigen
wenig verstanden und beherzigt. Wie selten finden wir
eine völlige Trennung und Absonderung von der Welt,
sei es in Betreff der Stellung, welche die Gläubigen den
religiösen Systemen der Menschen oder einem bloßen
Lippen-Bekenntnis gegenüber einnehmen, sei es in ihrem
täglichen Leben und Wandel. Wie vielfach wird es vergessen, daß keinerlei Gemeinschaft zwischen Christo und
der Welt besteht, und daß deshalb ebensowenig zwischen
der Welt und uns von irgendwelcher Gemeinschaft die
Rede sein sollte. Wir sind mit Christo gestorben; unser
Wandel ist in den Himmeln in Gemeinschaft mit unserm
verherrlichten Haupte.
Wahre Trennung und ein wirkliches Ausgehen aus
der Welt wird allerdings immer mit Schmach und Verfolgung verbunden sein; die Welt wird uns hassen, wie
sie Ihn gehaßt hat; sie wird für uns „ein dürres und
lechzendes Land ohne Wasser" sein, wie sie es für Ihn
gewesen ist. Aber je mehr wir auf unserm Pilgerpfade die
Gemeinschaft mit dem Vater und mit unserm Herrn Jesu
Christo durch den Glauben und in der Kraft des Geistes
verwirklichen, desto mehr werden wir auch von dieser Gemeinschaft gemeßen, und um so leichter jene Schmach
tragen können. Unsre Blicke werden von dieser Erde
abgelenkt und nach oben gerichtet werden, dorthin wo
unsre Heimat ist; und die baldige Wiederkunft unsers
geliebten Herrn wird vor unsrer Seele stehen. Er hat
verheißen wiederzukommen und uns zu sich Zu nehmen,
auf daß wir da seien, wo Er ist; denn wir haben hienieden keine bleibende Stätte, wie auch Er keine hatte.
187
Unser Teil ist die himmlische Herrlichkeit. Wir genießen
sie jetzt durch den Glauben, wir erfreuen und rühmen uns
ihrer in Hoffnung; aber wenn der Herr kommt, dann
werden dieser Glaube und diese Hoffnung sich in seliges
Schauen und in ungestörten Genuß verwandeln. Wie groß
ist das Vorrecht, Ihn erwarten zu dürfen, wie köstlich die 
Hoffnung, Ihn zu sehen und für immer bei Ihm zu
sein! Möchten wir deshalb hienieden gern den Platz der
Schmach und der Verachtung mit Ihm einnehmen und,
völlig getrennt von der Welt, zu Seiner Verherrlichung
wandeln, und so den Zweck erfüllen, zu welchem Er uns
hienieden gelassen hat!
Nachdem wir so in den Worten: „sie sind nicht von
der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin", den Beweggrund zu unsrer Absonderung von der Welt und
ihren Grundsätzen gesehen haben, zeigt uns der Herr auch
das Mittel, wodurch diese Absonderung bewirkt wird, indem Er sagt: „Heilige sie durch die Wahrheit: Dein Wort
ist Wahrheit ..... und ich heilige mich selbst für sie,
auf daß auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit." Das
Wort Gottes übt stets einen reinigenden Einfluß auf den
Menschen aus; es dient dazu, uns hienieden vor dem
uns umringenden Bösen zu bewahren und uns zu befähigen, zur Verherrlichung Seines Namens ein Zeugnis
für Ihn zu sein. So lesen wir in Hebr. 4, 12: „Das
Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als
jedes zweischneidige Schwert, und durchdringend bis zur
Zerteilung der Seele und des Geistes, sowohl der Gelenke als des Markes, und ein Urteiler der Gedanken und
Gesinnungen des Herzens." Diese Worte zeigen uns die
große Kraft und Wirkung des Wortes Gottes. Es lehrt
188
uns unterscheiden, was aus dem Fleische und was aus
dem Geiste hervorkommt, und stellt alles genau auf den
ihm gebührenden Platz; es trennt in unserm Herzen das
Wahre von dem Falschen und deckt die geheimsten Beweggründe desselben auf, so daß wir in der Gegenwart Gottes
blosgestellt und genötigt werden, alles in uns zu verurteilen, was dieser heiligen Gegenwart nicht entspricht. Das
Wort läßt uns alles erkennen und richten, was uns verleiten will, in irgend eine Verbindung mit der Welt zu
treten und unsre wahre Stellung, die Gemeinschaft mit
dem Vater und mit dem Sohne, zu verlassen; und so
erhält es uns in beständiger Verbindung mit Gott.
Zugleich ist das Wort Gottes die Mitteilung der
himmlischen Dinge. Es macht uns mit der Liebe unsers
Herrn bekannt und zeigt uns unsre neue Stellung in
Ihm — eine Stellung in himmlischer Reinheit, in Ihm,
der sich selbst für uns geheiligt hat, der sich als ein
himmlischer Mensch absonderte; in Ihm, dem Verherrlichten, welcher durch die Herrlichkeit des Vaters aus den
Toten auferweckt worden ist. Indem wir Ihn so zum
Gegenstand unsrer Herzen haben, wird alles in unserm
Leben gerichtet, was mit der Reinheit und Heiligkeit jener
Stellung im Widerspruch steht. Das Wort zeigt uns
ferner unser Verhältnis zu dem Vater, unsre himmlische
Stellung als Kinder Gottes; es enthüllt vor uns die
ganze Kostbarkeit dieses himmlischen Verhältnisses. So
wird durch die Wahrheit die vollständigste Trennung von
der Welt in uns bewirkt. Sie heiligt uns und macht
uns zu Fremdlingen, wie Christus selbst es war, während
sie uns zugleich den Vater, sowie Seine Liebe und unsre
innige Gemeinschaft mit Ihm erkennen läßt und dadurch
189
Zuneigungen, Wünsche und Hoffnungen in uns erweckt,
die ganz und gar himmlisch sind. Das ist die reinigende
und heiligende Wirkung des Wortes Gottes; wahrlich,
eine wunderbare Wirkung!
Weiter hören wir, daß das Gebet des Herrn nicht nur
Seine elf Jünger betraf, sondern daß es auch alle umfaßte, die durch ihr Wort an Ihn glauben würden. Sie
alle sind die bevorzugten Gegenstände Seiner zärtlichen
Liebe und Fürsorge. Welch ein Glück für uns, dies aus
dem Munde des Herrn selbst zu hören! Da ist keiner ausgeschlossen; den Kleinsten wie den Größten, den Schwächsten wie den am weitesten Geförderten trägt Er allezeit
auf betendem Herzen. Jeder Glaubende kann sich
alle die herrlichen Dinge zueignen, welche der Herr in
diesem Gebete betreffs der Seinigen ausspricht. Für
einen jeden gelten auch die Worte: „auf daß sie alle eins
seien, gleichwie Du, Vater, in mir und ich in Dir, auf daß
auch sie in uns eins seien."
Schon in Vers 11 hatte der Herr gesagt: „Heiliger
Vater, bewahre sie in Deinem Namen,...... auf daß
sie eins seien, gleichwie wir." Alle die Seinigen find
eins, weil ein Geist in ihnen wohnt. Dieser Geist bewirkt in ihnen eine Gesinnung; sie haben alle eine
Freude, eine Segnung, eine Hoffnung der Berufung,
ein Ziel, gleichwie der Vater und der Sohn eins sind
in ihrem Vorsatz, in ihrer Thätigkeit, in ihrer Liebe, kurz
in allem. Und der Zweck der Bitte des Herrn in V. 11
ist, daß der Vater die Seinigen in dieser Einheit bewahren möge. Hier aber geht Er noch etwas weiter.
Er spricht hier nicht nur von einem Einssein in der Gesinnung, sondern von einer äußerlich sichtbaren Einheit in
190
der Macht der Segnung, in welche die Gläubigen gebracht
sind, von einem Platze in Gemeinschaft mit dem Vater
und dem Sohne: „Gleichwie Du, Vater, in mir und ich
in Dir, auf daß auch sie in uns eins seien."
Welch ein köstliches Wort! Wir, die wir einst Feinde
Gottes waren, „verhaßt und einander hassend," wir sind
jetzt durch einen Geist zu einem Leibe getauft, wir
sind eins in dem Vater und dem Sohne. Das
ist eine Gnade, die alle unsre Begriffe übersteigt, die der
menschliche Verstand nicht fassen kann. Der Glaube aber 
nimmt einfach das als wahr an, was der Herr gesagt
hat. Für den Glauben ist es eine Thatsache, und diese
Thatsache erfüllt das Herz des Gläubigen mit Friede,
Freude und Wonne.
„Auf daß die Welt glaube, daß Du mich gesandt
hast." Die Offenbarung jener gesegneten Einheit ist das
Mittel, durch welches die Welt überzeugt werden soll, daß
der Vater den Sohn gesandt hat. Und wie mächtig war die 
Wirkung der Offenbarung dieser Einheit im Anfang, als
noch von den Gläubigen gesagt werden konnte: „Die
Menge derer, die gläubig geworden, war ein Herz und
eine Seele"; und: „indem sie täglich einmütig im
Tempel verharrten und zu Hause das Brot brachen, nahmen sie Speise mit Frohlocken und Einfalt des Herzens,
lobten Gott und hatten Gunst bei dem ganzen Volke."
Diese wunderbare Erscheinung, die völlige Einheit von so
vielen Tausenden, die in ihren Interessen und Gewohnheiten ganz und gar verschieden sein mußten, machte einen
gewaltigen Eindruck auf die Bewohner Jerusalems, so
daß wir hören: „Von den übrigen aber wagte keiner sich
ihnen anzuschließen, sondern das Volk erhob sie." Aber
191
ach, wie bald ist es anders geworden! Wie traurig sieht
es heute nicht nur in der bekennenden Christenheit, sondern selbst unter den wahren Gläubigen aus! Ja, zu
unsrer tiefen Beschämung müssen wir bekennen, daß heute
gerade das Gegenteil von jenem ersten gesegneten Zustande vorhanden ist. Schon der Apostel Paulus mußte
gegen die Keime der Zersplitterung und des Parteiwesens
in der Versammlung zu Korinth ernstlich auftreten; aber
das Verderben schritt voran, so daß er in seinem letzten
Briefe an Timotheus die Versammlung mit einem großen
Hause vergleicht, in welchem sich Gefäße zur Ehre und
zur Unehre befinden. Und auf dieser abschüssigen Bahn ist
es unaufhaltsam weiter gegangen. Heute sind die Gläubigen
auf der Erde in Hunderte von Parteien zersplittert, welche
einander mehr oder weniger anfeinden und gegenseitig ausschließen, so daß von jener kostbaren Einheit nicht das
Mindeste mehr zu sehen ist. Wo bleibt da das Zeugnis
für die Welt? Möchten wir es tief fühlen, wie sehr der
Herr durch einen solchen Zustand Seiner Kirche verunehrt
wird! Möchte ein jeder, dem der Herr die Augen hierüber
geöffnet hat, sich vor Ihm demütigen und darnach trachten, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande
des Friedens mit allen denen, welche den Herrn anrufen
aus reinem Herzen!
Der Herr geht jedoch noch weiter. Sein Herz ist
noch nicht damit zufrieden, daß Er uns dieses herrliche
Verhältnis, in welchem wir zu Ihm und zu dem Vater
stehen, kundgethan hat; Er will auch Seine Herrlichkeit
mit uns teilen. Das wird das sichtbare Zeichen dieser
wunderbaren Einheit sein, sowohl im Himmel wie auch
namentlich vor der Welt, wenn der Herr mit den Seinen
192
in Herrlichkeit auf diese Erde zurückkehren wird. „Wenn
der Christus, der unser Leben ist, offenbar werden wird,
dann werdet auch ihr mit Ihm offenbar werden in Herrlichkeit." (Kol. 3, 4.) Jetzt ist unser Leben „verborgen
mit dem Christus in Gott"; die Welt steht und versteht
nichts von unsrer Stellung in Christo; aber dann, wenn
sie uns in der Umgebung des Herrn, mit Seiner Herrlichkeit bekleidet und eins mit Ihm sehen wird, dann wird
sie nicht nur glauben, sondern erkennen, daß der
Vater den Sohn gesandt und uns geliebt hat, gleichwie
Er Ihn geliebt hat.
Welch eine herrliche Zukunft liegt vor uns, geliebter
Leser! Der Herr will als Mensch nichts für sich allein
haben; die Herrlichkeit, die Er als solcher sich erworben,
hat Er uns gegeben, ja, selbst die Liebe des Vaters
will Er mit uns teilen. Und Sein Herz ist nicht eher
völlig befriedigt, bis Er uns dorthin geführt hat, wo Er
ist; Er will uns in Seiner unmittelbaren Nähe haben.
Darum sagt Er: „Vater, ich will, daß die, welche Du mir
gegeben haft, auch bei mir seien, wo ich bin, auf daß sie
meine Herrlichkeit schauen, die Du mir gegeben hast, denn
Du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt." Diese
Herrlichkeit, die Er als Sohn Gottes hat, können wir
nicht besitzen; es wird ewiglich Seine eigne besondere Herrlichkeit sein, aber wir werden sie schauen. Und dann
erst, wenn alle Seine Erlösten um Ihn versammelt stehen,
wenn die, die Er so teuer erkauft hat, Seine Herrlichkeit
schauen und mit Ihm teilen, ist das Verlangen Seines
Herzens völlig gestillt.
Am Ende Seines Gebetes wendet sich der Herr, wie
schon oben angedeutet, an die Gerechtigkeit Seines Vaters.
193
Er hatte während Seines Lebens den Vater geoffenbart,
aber die Welt hatte denselben nicht erkannt. Der Herr
mußte von ihr sagen: „sie haben gesehen und gehaßt sowohl mich, als auch meinen Vater." Die Welt ging in
Blindheit und Feindschaft gegen Gott voran, und ihr
Ende konnte, der Gerechtigkeit Gottes entsprechend, nur
ein schreckliches Gericht sein. Der Herr Jesus aber hatte
den Vater erkannt, und Seine Jünger hatten erkannt,
daß der Vater Ihn gesandt hatte. Er stellt sich und
Seine Jünger auf denselben Boden vor dem Vater, und
zwar im Gegensatz zu der Welt. Er hatte ihnen den
Namen des Vaters kundgethan und wollte ihnen diesen
gesegneten Namen auch fernerhin kundthun, damit die
Liebe, womit der Vater Ihn geliebt hatte,
in ihnen sei. Sein eignes Herz war während Seines
ganzen Lebens in dem ununterbrochenen Genuß dieser
Liebe des Vaters gewesen; sie hatte Tag für Tag Seinen
Pfad bestrahlt und Sein Herz in jedem Augenblick mit
Friede und Freude erfüllt. Und deshalb war es Sein
inniger Wunsch, daß auch die Seinigen diese Liebe und
dieses gesegnete Verhältnis zum Vater kennen und genießen
möchten. Zu diesem Zweck wollte Er selbst in ihnen sein
als die Quelle des Genusses dieser Liebe, um auf dem
Pfade durch die Wüste ihre Herzen mit dem Frieden und
der Freude zu erfüllen, welche Er selbst hienieden genossen
hatte. Anbetungswürdiger Herr! Stets war und ist es
Dein Wunsch und Deine Freude, uns glücklich zu wissen,
ja uns dasselbe Teil zu geben, welches Du hast'
„Dies rede ich in der Welt, damit sie meine
Freude völlig in sich haben!" Ja wahrlich, die
Worte unsers Herrn und Heilandes sind die reichste Quelle
194
der Erquickung und Freude für unsre Seelen. Welch eine
innige Liebe, welch eine zärtliche Fürsorge für die Seinen
strahlt uns in diesem Gebet von Anfang bis zu Ende
entgegen! Nichts kann an unsrer Freude fehlen, wenn die
letzten Worte unsers Herrn in unsern Herzen leben. Jede
Frage in Betreff unsrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft finden wir in denselben in der herrlichsten Weise beantwortet. Jeder einzelne Vers ist unsrer aufmerksamsten
Betrachtung wert; der Schatz ist unermeßlich, die Quelle
unergründlich. Alle unsre Gedanken sind nur schwach und
oberflächlich im Vergleich mit der Tiefe und Fülle, welche
sich in den Worten unsers Herrn finden. Aber je mehr
wir darüber nachsinnen, desto mehr Schönheit und Lieblichkeit werden wir entdecken, und desto mehr auch erkennen, daß die Gnade Gottes und die Liebe Christi wirklich
alle Erkenntnis übersteigen. Was wird es sein, wenn
wir einst erkennen werden, wie wir erkannt sind; wenn
wir uns nicht mehr in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes
rühmen, sondern sie sehen und besitzen werden ewiglich!
Doch die höchste Freude unsrer Herzen wird sein, bei
Ihm zu sein und Ihn ganz zu besitzen.
O, möchten Er und Seine Liebe uns von Tag zu
Tage köstlicher werden! Möchten unsre kalten Herzen sich
an dieser Liebe erwärmen und sich in Wahrheit nach dem
Augenblick sehnen, da wir Ihn sehen werden, wie Er ist!

Die Stellung und der Zustand des Gläubigen.
Es ist sehr tröstlich für den Christen, zu denken,
daß seine Stellung in Christo, was sich auch ereignen möge, durch die unermeßlichen Reichtümer der Gnade
195
Gottes immer dieselbe bleibt. Nichts vermag sie zu erschüttern, denn sie ist auf die ewige Wirksamkeit des auf
dem Kreuze vollbrachten Werkes gegründet und ist durch
den Geist des Lebens in Christo Jesu bewerkstelligt worden. Die Erfahrungen eines Gläubigen mögen lieblich
oder betrübend, die äußern Verhältnisse günstig oder ungünstig, angenehm oder unangenehm sein; er mag zu einer
Zeit die süße und köstliche Gemeinschaft mit dem Herrn
in reichem Maße genießen, und zu einer andern betrübt
und niedergebeugt sein unter den Faustschlägen eines Engels
des Satan; allein seine Stellung in Christo ist unbeweglich und unantastbar — er ist für immer begnadigt und
angenommen in dem Geliebten. Er ist mit allen Gläubigen und zu aller Zeit berechtigt zu sagen: „In welchem
wir die Erlösung haben durch Sein Blut, die Vergebung
der Vergehungen, nach dem Reichtum Seiner Gnade";
(Eph. 1, 7.) und: „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet
worden, auf daß wir Freimütigkeit haben am Tage des
Gerichts, daß, gleichwie Er ist, auch wir sind in dieser
Welt". (1. Joh. 4, 17.)
Das ist der unveränderliche Charakter der Stellung
des Gläubigen. Er ist eine neue Schöpfung in Christo
Jesu. Allein der Zu st and der Seele ist eine andere
Sache, und wir dürfen sie nicht mit einander verwechseln.
Mancher treue Christ wird betrübt sein und mit Recht,
wenn er sieht, daß sein Zustand nicht mit seiner Stellung
in Christo übereinstimmt. Wir sind fähig gemacht und
auch berufen, die Gesinnung Jesu Christi zu offenbaren,
und sind schuldig zu wandeln, wie Er gewandelt hat.
(Phil. 2, 5; 1. Joh. 2, 6.) Es kann sicher dem Herrn
nicht wohlgefällig sein, wenn der Zustand unsrer Seele
196
im Gegensatz zu Seiner Gesinnung ist — im Gegensatz zu
Dem, der unser Leben und unsre Gerechtigkeit ist, dem
Heiligen und dem Wahrhaftigen, in welchem Gott uns
immer sieht, wie Er selbst ist. Herrliche Wahrheiten zu
kennen und zu besitzen, und mit einem niedrigen und weltförmigen Wandel zufrieden zu sein, kann nur den Heiligen Geist betrüben, durch welchen wir aus den Tag der
Erlösung versiegelt sind. Und doch kann nicht geleugnet
werden, daß in unsern Tagen der Standpunkt der Versammlung Gottes im allgemeinen ein höchst niedriger ist,
und daß der Zustand der Seele oft weit hinter der gesegneten Stellung in Christo zurückbleibt. Möge es
doch von allen Gläubigen erkannt und gefühlt werden!
Möge in aller Herzen wahre Demütigung darüber vorhanden sein und viel Gebet und Flehen zum Thron der
Gnade aufsteigen! Sicher kann uns nichts aus der Hand
des guten Hirten, noch des Vaters rauben, nichts, wie
gesagt, unsre gesegnete Stellung in Christo antasten und
erschüttern; aber wir verlieren durch einen ungeistlichen
Wandel den süßen und köstlichen Genuß der Gemeinschaft
mit dem Vater und Seinem Sohne Jesu Christo hienieden
— dieses herrliche Vorrecht, das unsre Freude völlig macht.
(1. Joh. 1, 3. 4.) Und welch ein unersetzlicher Verlust!
Es ist aber noch weit betrübender im Blick auf den Herrn,
indem wir durch einen unlautern Wandel in dieser Welt
Den verunehren, der Sein Leben für uns hingegeben und
uns nicht nur in eine ewig sichere Stellung versetzt, sondern uns auch durch die innigsten und unzertrennlichsten
Bande mit sich selbst verbunden hat. Ja, möge dies von
uns allen tief gefühlt und beherzigt werden!
Mose auf dem Berge Pisga.
(5. Mose 34.)
„Weil ihr mir nicht geglaubt habt, mich zu heiligen
vor den Augen der Kinder Israel, deswegen sollt ihr diese
Versammlung nicht bringen in das Land, das ich ihnen
gegeben habe." (4. Mose 20, 12.) So lautete der ernste
Ausspruch Jehovas, nachdem Mose, entgegen dem göttlichen Gebot, den Felsen zu Meriba mit seinem Stabe
geschlagen hatte. Der treue Knecht Gottes verwirkte auf
diese Weise sein Anrecht auf den Einzug in das gelobte
Land. Und in jenem Augenblick sagte der Herr auch
nichts zu ihm, daß er das Land sehen sollte. Erst nachher fügte Gott diese Verheißung hinzu. (4. Mose 27,
12-14.) Und bei einer späteren Gelegenheit, als Mose
zu Jehova flehte, ihn doch hinübergehen und das gute
Land sehen zu lassen, das jenseit des Jordans liege, wiederholte der Herr Seine Verheißung, daß er das Land
sehen solle, fügte aber zugleich hinzu: „Laß es genug
sein; rede mir fortan nicht mehr von dieser Sache! . . .
Du wirst nicht über diesen Jordan gehen." (5. Mose 3.)
Endlich scheint Mose denn auch dahin gekommen zu sein,
sich dem Urteil Gottes willig zu unterwerfen, indem wir
in 5. Mose 31 lesen: „Und Mose sprach zu ihnen: Hundert
und zwanzig Jahre bin ich heute alt, ich vermag nicht mehr
aus- und einzugehen; und Jehova hat zu mir gesagt: Du
198
sollst nicht über diesen Jordan gehen." Nichts konnte den
Beschluß Jehovas, welcher ihn von dem Lande der Verheißung ausschloß, ändern. Jehova blieb unerbittlich.
Wir lernen hieraus zwei Dinge: 1) daß Gott in
den Wegen Seiner Regierung ernst und gerecht ist, und
2) daß Er etwas anderes an den Platz der verwirkten
Segnung zu stellen weiß. Und nun entsteht die Frage:
Von welcher Beschaffenheit ist das Gute, welches der Herr
anstatt des verlornen Segens giebt?
Die Kenntnis, welche wir von unserm Gott haben,
wird ohne Zweifel antworten, daß es etwas weit Besseres
sein muß als das, was verwirkt und verloren wurde;
denn Er ist unendlich in Seiner Liebe und Macht. Die
Geschichte der Erlösung bestätigt dies, indem die Herrlichkeit, welche dereinst geoffenbart werden wird, die Schönheit des verlornen Paradieses unendlich überstrahlt. Und
in der That, die Erfahrung, welche Mose auf Pisga
machte, bestätigt (wenn ich sie anders recht verstehe) diese
große Wahrheit.
Mose steigt aus den Ebenen Moabs hinauf zu dem
höchsten Gipfel des Pisga, so wie Jehova ihm gesagt
hatte. Und jetzt tritt uns eine schöne und herrliche Erscheinung entgegen, eine Sache, von welcher in den früheren Worten Jehovas an Seinen Knecht nie die Rede gewesen war. Kein Geringerer als der Herr selbst (nicht
einmal Gabriel, der göttliche Bote bei so vielen lieblichen
Anlässen,) kommt, um Mose Gesellschaft zu leisten und sein
Führer zu sein durch den geheimnisvollen Schauplatz, der
jetzt ausgebreitet zu seinen Füßen liegt. Es ist eine
Stunde von mehr als menschlicher Wonne. Es ist eine
göttliche Freude, die Mose jetzt schmeckt, eine Freude, an
199
welcher der Herr selbst teilnimmt. Gleichsam mit Seinem
eignen Finger zeigt der Herr Seinem Knechte das verheißene Land auf beiden Seiten des Stromes. Er führt
ihn von Gilead im Osten des Jordans bis nach Dan im
äußersten Westen, und von Naphthali im Norden, quer
durch Ephraim und Manasse hindurch, bis zum Lande Juda
im Süden, bis zum Hinteren Meere, durch die Niederung
von Jericho, der Palmenstadt, bis hinüber nach Zoar. Und
Moses Führer ist zugleich auch sein Erklärer. Der Herr
erzählt Seinem Diener die göttliche Geschichte des Landes;
es ist das Land des Bundes und der Verheißung, das
Land der Auserwählten Gottes. Das ging weit über
die Verheißung hinaus. Nicht die Hälfte war Mose vorhergesagt worden; denn er sieht nicht nur das Land,
sondern der Herr selbst zeigt und beschreibt
es ihm. Der Pisga wurde ein „heiliger Berg" für ihn,
ein Berg der Verklärung, wie später der Berg Tabor für
die Jünger. Ja, der Pisga bedeutete für Mose noch
mehr als der Tabor für Petrus, Jakobus und Johannes.
Die Jünger befanden sich auf Tabor in einer niedrigeren
Stellung als der Herr, indem sie über sich die oberen
Regionen der Herrlichkeit erblickten, in welche Christus eintrat; Mose hingegen stand auf Pisga so zu sagen in gleicher Höhe mit dem Herrn, indem er unter sich die niederen Regionen des Segens überschaute, auf welche
er mit dem Herrn, als seinem Gefährten, herabblickte.
Wie kostbar und herrlich war alles dieses, und wie
weit überschritt es die gegebene Verheißung! Uebertraf es
aber auch das, was verloren und verwirkt worden war?
Ja, bei weitem. Das Land, welches Mose durch seinen
200
Unglauben und seinen Stolz verloren hatte, lag jetzt wie
ein Schemel zu seinen Füßen, während er selbst sich in
der Gemeinschaft Dessen befand, der in alle Ewigkeit auf
dem Throne dieses Landes sitzt.
Wunderbarer Augenblick! Mose war in nichts Geringeres als in „die Freude seines Herrn" eingegangen. War
sie genug für ihn? War er in ihrem Glanze völlig befriedigt, und konnte er alle andern Freuden darüber vergessen? — War Petrus auf dem Berge Tabor befriedigt? Hatte das, was er sah und hörte, Macht genug,
um sein Herz zu fesseln und alle seine Wünsche zu befriedigen? Sicher und gewiß. Seine Worte: „Herr, es
ist gut, daß wir hier sind," beweisen es deutlich. Und
doch war, wie wir gesehen haben, die Stunde auf dem
Pisga für einen Staubgebornen, wie Mose, noch herrlicher und wunderbarer. Der Unterschied zwischen diesen
beiden Ereignissen ist augenscheinlich und weitaus zu 
Gunsten Moses. Wir dürfen deshalb mit Gewißheit
schließen, daß auch er befriedigt war, und daß er noch
aus weit vollerem Herzen hätte sagen können: „Herr, es
ist gut, daß ich hier bin." Würde er wohl den Schemel
für den Thron haben eintauschen wollen? Wird er den
Wunsch gehabt haben, wieder zur Erde hinabzusteigen?
Nein; er war „bei dem Herrn". Er war Ihm gleichsam
schon, als ein himmlischer Mensch, „in der Luft begegnet".
Er war, nicht buchstäblich, aber nach dem Geiste seines
gegenwärtigen Platzes, bereits „ausgenommen". Er hätte
nicht wieder nach dem Lande Gosen oder Kanaan, oder
dem herrlichsten Flecken Erde herabsteigen können. Er thut
eS auch nicht. Der Herr giebt ihm Ruhe, und Seine
Ruhe ist herrlich. Der Herr selbst läßt ihn entschlafen
201
und begräbt ihn dann in der sichern und gewissen Hoffnung einer bessern Auferstehung.
Dementsprechend sehen wir Mose auch bei der nächsten
Gelegenheit, wo wir ihm wieder begegnen, als ein Glied
der himmlischen Familie, verherrlicht mit dem Herrn selbst
und mit Elia. (Matth. 17.) Auf jenem neutestamentlichen
Pisga strahlt er als ein Kind der Auferstehung. Der
arme Leib ist abgelegt, und er trägt „das Bild des Himmlischen", wie es dereinst auf dem wahren Hügel der Herrlichkeit von allen denen getragen werden wird, deren Wandel
jetzt im Himmel ist.
Das war Mose auf dem Pisga oder auf dem Tabor.
Hätte» wir nur Herzen, um diese Dinge mehr zu genießen, wie willkommen und gesegnet würden sie für uns
sein! Dieser Berg erzählt uns davon, wie Gott weit über
Seine Verheißung hinausgeht und etwas unendlich Besseres
an Stelle desjenigen giebt, was wir verwirkt haben. Es
ist Sein Vorrecht, so mit uns zu handeln. Er wird erkannt
werden als Derjenige, welcher uns viel glücklicher machen
kann, als wir selbst uns je hätten machen können. Das
ist Sein Vorrecht, Sein Recht als Gott. Und der Glaube,
in Anerkennung dieser Thatsache, beugt sich vor Ihm
nieder und sagt: „Du sollst unser Erbteil für uns auswählen."
Aber es ist nicht leicht, dieses Urteil des Glaubens
zu dem unsrigen zu machen. Wir lernen so schwer, daß
der Herr uns glücklicher machen kann als wir selbst.
Mose fiel es auch schwer, dies zu erfassen. Er sehnte
sich nach dem Lande. Er wünschte, in seiner Weise und
nach seinen Gedanken glücklich zu sein. Aber das konnte
und sollte nicht sein. Er mußte durch eine ernste Zucht
202
gehen, und empfing wieder und wieder eine bestimmte
Abweisung von feiten des Herrn. Aber am Ende findet
er sich in eine Scene eingeführt, die so herrlich und wunderbar ist, daß er sie nicht wieder verlassen kann, ja, ich
darf hinzufügen, nicht will. Er findet sich in Gemeinschaft mit dem Herrn, „bei Ihm", und das Erbe, nach
welchem er sich so sehr gesehnt hatte, ist nur wert, den
Schemel seiner Füße zu bilden. Wahrlich, es war ungleich herrlicher und gesegneter, das Land vom Gipfel
des Pisga aus in all seiner Schönheit und Herrlichkeit
zu sehen, so wie der Herr es ihm zeigte, als mit einem
allezeit irrenden und widerspenstigen Volke seine Fluren
zu betreten.
Ich glaube, in diesem allem liegt eine bedeutungsvolle Belehrung für uns. Der Herr mag vielleicht unsre
Erwartungen täuschen, unsre Pläne durchkreuzen und bis
zum Ende hin unsern Wünschen entgegen sein; aber Er
wird beweisen, daß Er besser für uns sorgen und handeln
kann, als wir es je zu thun vermocht hätten, und unser
eigner Glücksplan wird weit dahinten bleiben und einer
Vergleichung mit dem Seinigen nicht mehr wert sein, als
ein Fußschemel verglichen mit einem Throne. Und wahrlich, unsre Herzen werden dahin gebracht werden, dies
anzuerkennen und von dem Orte, an welchen Seine Hand
uns leitet, mit Petrus zu sagen: „Herr, es ist gut, daß
wir hier sind;" oder mit Mose unfähig zu sein, wieder
zur Erde zurückzukehren.
Indes giebt uns diese schöne Schriftstelle noch eine
andere Belehrung, und diese tritt am klarsten hervor,
wenn wir sie einen Augenblick in Verbindung mit
der Versuchung unsers Herrn und Meisters betrachten.
203
(Matth. 4.) Der Versucher führte Jesum auf einen hohen Berg und zeigte Ihm in einem Augenblick alle Reiche
der Welt und ihre Herrlichkeit, und dann versprach er,
Ihm das alles zu geben, wenn Er nur niederfallen
und ihn anbeten wolle. Der Herr begegnet Mose ebenfalls auf einem sehr hohen Berge und zeigt ihm das
Erbteil Seines auserwählten Volkes, indem Er ihm einen
Anteil an Seiner eignen Freude über solch einen Anblick giebt.
Aeußerlich ähneln sich diese beiden Ereignisse in mancher Beziehung, aber wie verschieden sind sie in moralischer
Hinsicht! Es war die „gegenwärtige böse Welt", oder 
die Welt in ihrem Zustande des Abfalls von Gott, durch
welche der Teufel den Herrn Jesum verlocken und verleiten wollte; es war die „zukünftige Welt", oder die
Welt in ihrer Wiederherstellung für Gott, mit deren Anblick der Herr Seinen Knecht Mose erfreute.
Der Geist leitete Jesum in die Wüste, an eine
Stätte, welche weder Schönheit noch Fruchtbarkeit zeigte;
denn so ist die Welt nach dem Urteil Gottes. Der Versucher kommt und sucht das Aussehen und den Charakter
dieser Stätte völlig zu verändern. Er möchte gern beweisen, daß die Welt keine Wüste sei. Er erfüllt sie
mit aller Art von Freuden und Vergnügungen, mit alledem, was die Natur befriedigt, und möchte dann gern
den Sohn Gottes überreden, daß sie ein schöner und
fruchtbarer Ort sei. Er will den Gedanken an eine
Wüste gar nicht aufkommen lassen. Deshalb deutet er an,
daß ihre Steine leicht zu Brot gemacht werden können,
daß ihre Berge Aussichtspunkte sind, von welchen aus
alles, was das Auge entdeckt, regiert werden kann, und
204
daß ihre Zinnen, anstatt schlüpfrige und gefährliche Höhen
zu sein, Wege und Leitern zu Ehre und Auszeichnung
bilden. Und wozu dies alles? Um dem Menschen zu
beweisen, daß er sich nicht in einer Wüste befindet, sondern vielmehr an einer Tafel sitzt, die mit den reichsten
und mannigfaltigsten Gerichten besetzt ist.
Das war sein Versuch damals; und wie er einst
Jesu gegenüber handelte, so hat er seitdem stets mit uns
gehandelt. Er möchte uns so gern davon überzeugen,
daß es ganz und gar verkehrt ist, diese gegenwärtige böse
Welt als eine Wüste zu betrachten, weil es in ihr reiche
Nahrung für die Sinne, Befriedigung der Wünsche des
Herzens, Reichtümer und Ehren in Fülle giebt.
Ist dies nicht wahr? Ist nicht „der Gott dieser
Welt" voll von diesen Versprechungen, und zeigt nicht der
Lauf dieser Welt unaufhörliche Anstrengungen, diese Versprechungen zu erfüllen? Sehen wir nicht täglich um uns
her die mannigfaltigsten Versuche, aus Steinen Brot zu
machen und die Wüste in ein Paradies zu verwandeln?
Der Feind muß, soviel in seinen Kräften steht, die Dürre
und den traurigen Anblick dieser Welt, deren Gott er ist,
zu verbergen suchen und sie auf alle Weise unsrer Bewunderung empfehlen und sie im verführerischesten Lichte
darstellen.
Ich brauche nicht zu sagen, daß Jesus den glänzendsten Sieg über ihn gewann, und daß der Feind eine
vollständige Niederlage erlitt. Aber ich möchte daran erinnern, daß wir suchen sollten, im Glauben zu wachsen,
um ebenso erfolgreich den Versuchungen und Einflüsterungen Satans widerstehen zu können. Der Glaube
überwindet ihn. „Dies ist der Sieg, der die Welt über­
205
wunden hat: unser Glaube." Und der Glaube wartet
auf Gott.
Gott hat ebensowohl Aussichten für uns wie der
Teufel; nur sind die Aussichten Gottes denjenigen des
Feindes in moralischer Beziehung schnurstracks entgegengesetzt. Die Genüsse, die Reichtümer und die Ehren,
welche der Teufel verheißt, können sofort in Besitz genommen werden; das Erbe des Herrn kann man in seiner Fülle erst in der Auferstehung antreten, gerade
so wie Mose auf dem Berge sterben mußte.
Es ist unsre Pflicht, Geliebte, unser Auge und Herz
für die Ziele und Gegenstände des Herrn zu öffnen und
sie vor denjenigen des Teufels zu verschließen. Wir
müssen Sorge tragen, daß wir gegen die einen nicht gleichgültig sind und durch die andern nicht berückt und geleitet werden. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß der
Geist mit den ersteren in Einklang steht, und daß nur
das Fleisch nach den letzteren neigt. Möchten wir acht
haben, daß das Fleisch nicht in dieser Weise in uns wirke!
Lot hob aus eignem Antriebe seine Augen auf und
wählte eine gegenwärtige, wohlbewässerte Ebene, obgleich die Städte der Unbeschnittenen in derselben lagen.
Abraham hob seine Augen auf unter der Anleitung
Gottes, und Gott gah ihm die ferne, aber sichere
Aussicht auf ein Land, in welchem zu seiner Zeit die
Herrlichkeit ihren Wohnplatz finden sollte.
Diese beiden Dinge sind ohne Zweifel sehr verschieden. Möchten sich doch unsre Herzen nur von den Aussichten und Gegenständen nähren, welche der Herr vor
unsre Augen stellt! Obwohl uns dies manch eine gegen?
wärtige natürliche Freude rauben mag, so wird es uns
206
doch einen Ersatz dafür gewähren, der, wie bei Mose,
unsre Erwartungen weit übertreffen und unsre Herzen
mit überströmender Freude erfüllen wird. Wir werden,
wenn das Gute Gottes kommt, gesättigt werden und mit
der Königin von Scheba ausrufen: „Das Wort ist Wahrheit gewesen, das ich gehört habe . . . Und siehe, nicht
die Hälfte ist mir berichtet worden."
„Aber sobald sie Ruhe hatten, thaten sie
wiederum Böses vor Dir."
(Nehem. 9, 28.)
Diese Worte finden wir in dem Gebete, das die
Leviten Jeschua, Kadmiel und ihre Begleiter, vor dem versammelten Volke auf einer Erhöhung stehend, an Jehova
richteten, als Nehemia die Mauern um Jerusalem vollendet hatte. Dankbar priesen sie alle die großen Wohlthaten und Wunder, welche Jehova an Seinem Volke gethan, und demütig bekannten sie die Sünden ihrer Vorfahren, so wie ihre eignen und hofften in festem Vertrauen auf den Herrn des Himmels und der Erde; denn
sie wußten: „ein gnädiger und barmherziger Gott bist
Du!" (Nehem. 9, 31.) Und wie aufrichtigen Herzens
und vom Geiste Gottes belehrt sie die Geschichte ihres
Volkes ansahen, geht aus der oben erwähnten Stelle des
Gebetes deutlich hervor. Sie erkannten wohl, daß nicht
die Zeiten der Ruhe und des äußeren Friedens die wahrhaft glücklichen für das Volk Israel gewesen waren; denn
gerade in solchen Tagen wurden sie übermütig, fielen ab
von Jehova und dienten fremden Götzen, Sünde auf
Sünde häufend, während sie in den unruhigen Zeiten der
207
Trübsal und Not zu ihrem Gott umkehrten, um Rettung
zu Ihm schrieen und Ihm mit Eifer und Treue dienten.
Geliebter Leser! müssen nicht auch wir, wenn wir
auf unZ und andere Kinder Gottes blicken, zustimmend
bestätigen, was damals die Leviten für ihr Volk bekannten?
Müssen nicht auch wir mit Seufzen zngestehen: „Sobald
wir Ruhe haben, thun wir wieder Böses vor Dir"?
Ach! die mancherlei Klagen, die wir so oft von Kindern
Gottes hören, über all die Leiden, Uebel und Widerwärtigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben, und die
doch unmöglich ohne Gottes Zulassung sie treffen könnten,
beweisen, daß es so ist. Unser Gott und Vater in Christo
weiß eben sehr wohl, daß Seinen Kindern lange Ruhe
und allzu gute Zeiten nicht zuträglich sind, und daß gerade dahinter das Böse in mancherlei Gestalt droht.
Darum heißt es in Hebr. 12, 6: „Denn, wen der Herr
liebt, den züchtigt Er" und in V. 7: „was ihr erduldet,
ist zur Züchtigung". (Vergl. Spr. 3, 11. 12.) Hier und
in der aus den Sprüchen angezogenen Stelle ist Züchtigung mit Zucht gleichbedeutend. Es handelt sich nicht
um Strafe für begangene Sünden, sondern es wird hier
von der Unterweisung Jehovas gesprochen und Derselbe
mit einem Vater verglichen, welcher Wohlgefallen an
seinem Sohne hat. Solche Züchtigungen sind Uebungen
der Seele, dazu bestimmt, den eignen Willen zu brechen.
Sie sind es auch, welche „die friedsame Frucht der Gerechtigkeit hervorbringen denen, die durch ^ie geübt sind". (Hebr. 12, 11.)
So müssen wir denn in allen Prüfungen und Leiden
die Hand' unsers gütigen Gottes sehen, die Hand des
Weingärtners, der beständig jede Rebe, die Frucht bringt,
208
reinigt, „auf daß sie mehr Frucht bringe". (Joh. 15, 2.)
Wie sollten wir auch anders jener praktischen Heiligkeit
teilhaftig werden, welche der Herr von uns fordert, und
der wir nachjagen sollen? Ja fürwahr, der Herr nimmt
an den Seinen alles gar genau! Heiligkeit geziemt Seinem
Hause, Heiligkeit Seinen Hausgenossen!
Das ist also die Zucht der Gnade. „Die Gnade
Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen und
unterweist uns, daß wir, die Gottlosigkeit und die
weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht und
gottselig leben sollen in dem jetzigen Zeitlauf." Diese
Unterweisung ist Zucht, Zucht in mancherlei Form und
Gestalt. Deshalb haben wir hienieden keine Ruhe zu
erwarten. Was anderes aber ist daraus ersichtlich als die
Liebe des Vaters, der Seine Kinder genau kennt? Deshalb rühmen wir uns auch der Trübsale, (Röm. 5, 3.)
da sie ja einen Teil der Liebe Gottes zu uns ausmachen.
Dem Fleische freilich behagt solche Führung wenig; nur
weil die Kinder Gottes leider ihm und seinen Gefühlen
allzuoft Raum gönnen, ist ihr häufiges Seufzen und
Klagen erklärlich. Giebt es doch Christen genug, die ganz
im Unklaren sind über ihre Stellung und ihr Teil, welches
ihnen ihr Heiland erworben hat. Wie viele wenden die
Stellen im Alten Testamente, welche von den zeitlichen
Segnungen Israels reden, ohne weiteres auf sich an und
bedenken dabei nicht, daß unser Teil nicht hier auf dieser
armen Erde, die unsern Herrn verworfen und Sein kostbares Blut getrunken hat, sondern in den himmlischen
Oertern uns bereitet ist. Wohl haben wir einen gütigen
und barmherzigen Gott im Himmel, ja sogar einen liebenden Vater, an den wir uns wenden können und dürfen
209
als zu unsrer einzigen Zuflucht und Hoffnung; wohl haben
wir eiuen Hohenpriester, der Mitleid zu haben vermag
mit unsern Schwachheiten und der in allem versucht worden
ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde.
(Hebr. 4, 15.) Aber es wäre gewiß nicht nach dem
Wohlgefallen dieses Gottes und Vaters, gewiß nicht nach
dem Sinne dieses Hohenpriesters, wenn wir nach den
Dingen dieser Erde, nach einem Glücke, einer Ruhe hienieden trachten oder darum bitten würden. Denn „nach
allem diesem trachten die Nationen". (Matth. 6, 32.) Zu
uns aber heißt es: „Begnüget euch mit dem, was vorhanden ist." (Hebr. 13, 5.) „Die Gottseligkeit aber mit
Genügsamkeit ist ein großer Gewinn .... Wenn wir
aber Nahrung und Bedeckung haben, so wollen wir uns
daran genügen lassen. Die aber reich werden wollen, fallen
in Versuchung und Fallstrick und in viele unvernünftige
und schädliche Lüste, welche die Menschen versenken in
Verderben und Untergang." (1. Tim. 6, 6. 8. 9.)
Das sind die Grundsätze, welche die Gläubigen bei
Beurteilung ihrer irdischen Verhältnisse anwenden sollten.
O wie manche Klage würde verstummen, wenn das mehr
geschähe! Hatte der Herr vom Himmel hienieden nicht, wo
Er Sein Haupt hinlegen konnte; erwarb ein Paulus seine
Notdurft mit eigenen Händen; kannte wohl keiner der
treuen Zeugen Christi das, was wir „ein ruhiges Leben"
nennen, so haben doch Wohl auch wir keinerlei Anrecht, etwas
anderes zu erwarten oder zu erbitten. Ja, wir müssen
mit den Juden zur Zeit Nehemias sagen: Wenn wir hier
Ruhe hätten, so thäten wir nur wiederum Böses vor Dir!
Wir müssen zugeben, daß auch daraus, und zwar nicht
zum wenigsten, Gottes Weisheit und barmherzige Liebe
210
hervorleuchtet, wenn Er Leiden, Trübsale, äußere Unruhen und Widerwärtigkeiten über die Gläubigen kommen
läßt. Mögen dieselben nun als Strafen für ihre Sünden
erscheinen, „damit sie nicht mit der Welt gerichtet werden",
(1. Kor. 11, 32.) oder den Zweck haben, die Gläubigen
einen tieferen Blick in ihr Herz thun zu lassen und sie zu
bewahren und klein zu erhalten — immer bleibt uns nur
Danksagung übrig und demütige Beugung unter die Weisheit des Herrn, der alles zu unserm Besten mitwirken
läßt, selbst Trübsal und Leiden und alles das, was jene
Ruhe stört, in welcher wir nur wieder Böses thun würden.
Das Geringste.
„Wer im Geringsten treu ist, ist auch
in vielem treu." (Luk. 16, 10.)
Wie köstlich und wertvoll sind die Belehrungen des
Wortes Gottes! Es teilt uns die Gedanken Gottes über
alle Verhältnisse mit, welche für uns von Wichtigkeit sein
können. Seine Gedanken über das Höchste wie über das
Niedrigste werden uns geoffenbart; wir finden in dem
Worte ebensosehr eine unerschütterliche Grundlage unsers
Glaubens wie eine untrügliche Richtschnur für unsern
Wandel.
Wie herablassend beweist sich der Heiland in diesem
16. Kapitel des Evangeliums Lukas, indem Er Seinen
Jüngern ein Gleichnis erzählt, um ihnen eine Belehrung
darüber zu erteilen, wie sie sich in „dem Geringsten" verhalten sollen. Und was nennt der Herr „daS Geringste" ?
Die irdischen Güter, den „ungerechten Mammon". Ach,
es sind gerade diejenigen Dinge, welche die meisten Men­
211
schen, und leider auch viele Christen, für das Wichtigste
zu halten scheinen.
Welche Stellung sollen wir denn zu diesen Dingen
einnehmen? Wir haben uns als „Verwalter" anzusehen,
die über „fremdes" Gut gesetzt sind. Und dies nicht in
dem Sinne, daß wir darnach trachten sollen, das uns
anvertraute Gut möglichst zu vermehren; nein, der Herr
stellt uns das Bild eines „ungerechten" Verwalters zur
Nacheiferung vor Augen. An Vermehrung des Gutes ist
dieseni nichts gelegen; er weiß, daß die Zeit herannaht,
da er die Verwaltung niederlegen muß, und so ist er bemüht, so lange er noch über die Güter frei verfügen kann,
mit denselben die Zahl seiner Freunde zu vermehren und
auf diese Weise für die Zukunft Sorge zu tragen. Er
eignet sich das Geld seines Herrn nicht an, sondern macht
sich Freunde mit demselben, indem er den Schuldnern seines
Herrn Gutes thut.
Wie einfach und doch wie eindringlich und wichtig
find diese Belehrungen l Erstlich haben wir also die uns
anvertrauten Güter dieses Lebens als „das Geringste",
als etwas „Fremdes" zu betrachten. Damit ist uns gesagt, welchen unmittelbaren Wert diese Dinge für uns
haben. Jesus ward arm um unsertwillen. Er hatte
nicht, wo Er Sein Haupt hinlegen konnte. Und wir
lesen in 1. Tim. 6: „Die Gottseligkeit mit Genügsamkeit
ist ein großer Gewinn; denn wir haben nichts in die
Welt hereingebracht, so ist's offenbar, daß wir auch nichts
hinausbringen können. Wenn wir aber Nahrung und
Bedeckung haben, so wollen wir uns daran genügen lassen."
(V. 6—8.) Die irdischen Güter haben unmittelbar also
nur den Wert für uns, daß sie uns die Mittel zur Be­
212
friedigung unsrer leiblichen Bedürfnisse bei unserm Gang
durch diese Wüste gewähren. Wir empfangen sie mit
Dankbarkeit aus der Hand unsers himmlischen Vaters,
der sie uns darreicht; denn Er weiß, was wir bedürfen,
Er sorgt für uns und hat in Seinem Worte verheißen,
daß uns „dies alles" dazu gegeben werden soll; Ihm
dürfen und sollen wir darum auch in betreff unsrer äußerlichen Versorgung völlig vertrauen. Sobald wir aber anfangen, das anvertraute „Fremde" als unser Eigentum
zu betrachten, sobald wir der „Geldliebe" erlauben, unsre
Herzen zu regieren, handeln wir nicht nur höchst thöricht,
sondern begeben uns auch in eine der größten Gefahren.
Denn die Geldliebe ist eine Wurzel alles Bösen, und
Mammonsdienst schließt Gottesdienst vollständig aus.
Auf der anderen Seite haben wir die Möglichkeit,
diese geringen Dinge, (um deren Erlangung wir nicht besorgt sein sollen,) wenn sie uns geschenkt sind, in einer
Weise anzuwenden, daß wir in der Ewigkeit die Früchte
davon genießen werden. „Lasset uns aber im Gutesthun
nicht müde werden, denn zu seiner Zeit werden wir ernten,
wenn wir nicht ermatten." (Gal. 6, 9.) „Den Reichen in
dem gegenwärtigen Zeitlauf gebiete, nicht hochmütig zu 
sein, noch auf die Ungewißheit des Reichtums Hoffnung
zu setzen, sondern .... Wohlzuthun, reich zu sein in
guten Werken, freigebig, mitteilend, sich selbst eine gute
Grundlage sammelnd auf die Zukunft, auf daß sie das
wirkliche Leben ergreifen." (1. Tim. 6, 17—19.) Welch
eine wunderbare Gnade! Sie bringt die geringsten Dinge
dieses Lebens mit den herrlichen Schützen der Ewigkeit in Verbindung. Welch eine Ermunterung, in dem
Geringsten „treu" zu sein!
213
Aber auch welch eine ernste Warnung schließt sich
an diese Ermunterung an: „Wer im Geringsten treu
ist, ist auch in vielem treu, und wer im Geringsten ungerecht ist, ist auch in vielem ungerecht. Wenn ihr nun
in dem ungerechten Mammon nicht treu gewesen seid, wer
wird euch das Wahrhaftige anvertrauen? Und wenn ihr
in dem Fremden nicht treu gewesen seid, wer wird euch
das Eurige geben?" Der Augenblick rückt immer näher
heran, da unser teurer Jesus kommen wird, um uns
in das Vaterhaus einzuführen. Und in Verbindung mit
diesem Augenblick wird auch die Zeit kommen, wo uns
das „Wahrhaftige", das Unsrige, das was wirklich
unser ist, gegeben werden wird. Möchte der Herr uns
Gnade schenken, daß wir die kurze Zeit, während welcher wir noch das „Geringste", das „Fremde", den „ungerechten Mammon" zu verwalten haben, hierin „treu"
erfunden werden, damit Er uns dann in den Vollgenuß dessen, was unser ist, einführen könne! Laßt uns,
im Blick auf die ewigen Hütten, nicht müde werden,
Andern Gutes zu thun!
Zwei gesegnete Unterweisungen.
(Luk. S, 1—11; Joh. 21, 1—14.)
Es gab eine Zeit in dem Leben unsers Herrn auf
dieser Erde, in welcher die Volksmenge ernstlich zu wünschen schien, Ihn und Seine Lehre kennen zu lernen. Sie
kam nicht, um bloß ihre eitle Neugierde zu befriedigen,
wie jene Athener, welche „ihre Zeit mit nichts anderm
zubrachten, als etwas Neues zu sagen und zu hören",
sondern sie „drängten auf Ihn an, um das Wort Gottes
214
zu hören". LukaS erzählt uns nichts von dem Inhalt
der Reden des Herrn an jenem Tage; der Heilige Geist
hat es nicht für gut befunden, uns ein einziges Wort
von dem, was der Herr bei jener Gelegenheit sprach, aufzubewahren. Auch wissen wir nicht, welchen Eindruck das
Gehörte auf die Menge hervorbrachte; das werden wir
erst in dem Lichte der Ewigkeit erfahren. Es wird uns
nur gesagt, daß die Menge verlangte Jesum zu hören,
und daß Er bereit, ja, mehr als bereit war, sie zu lehren,
und zu diesem Zwecke in das Schiff des Petrus stieg, 
um von dort aus ungehindert und allen hörbar reden zu
können. Ob die Herzen der Zuhörer, gleich den Wogen
der See, auf welchen Er saß, für einen Augenblick bewegt
worden sind, um dann wieder in ihren gewöhnlichen Zustand gleichgültiger Ruhe zurückzusinken, können wir ebenfalls nicht sagen; wir hören nur von einem Einzigen, der
an jenem Tage etwas empfing, und auch er empfing es
nicht unmittelbar aus den Worten des Herrn.
Dieser eine war Petrus. Er hörte die Worte des
Herrn Jesu; aber dieselben gingen zu Ende, ohne daß er
gelernt hätte, wer und was Der war, welcher von seinem
Schiffe aus die Menge lehrte. Um das zu lernen, mußte
er vorher in andere Umstände gebracht werden. Er hatte
Jesum schon früher gesehen. Sein Bruder Andreas hatte
ihn in Judäa dem Herrn zugeführt mit den Worten: „Wir
haben den Messias gefunden!" Er hatte dann von dem
Herrn einen neuen Namen: „Kephas" erhalten. Indes
hatte er bei jener Gelegenheit nicht die Entdeckung gemacht,
daß Jesus der Sohn Gottes sei. Das sollte er jetzt
lernen. Alles zu verlassen und Christo nachzufolgen und
für Ihn zu arbeiten, das sollte fortan seine Thätigkeit
215
bilden. Und um ihm Vertrauen einzuflößen, thut der
Herr ein Wunder, welches deutlich zeigt, wie Er für die
Seinigen sorgen kann, da Ihm alle Hülfsquellen zu Gebote stehen, und zugleich auch wie Er Seine Diener für
sich nützlich zu machen weiß.
Petrus hatte in Gemeinschaft mit Jakobus und Johannes, den beiden Söhnen des Zebedäus, die ganze
Nacht sich abgemüht und nichts gefangen. Als der Herr
nun Seine Reden beendet hatte, fordert Er Petrus auf,
noch einmal auf die Tiefe hinauszufahren und die Netze
zum Fang hinabzulassen. Ohne zu zögern, folgt Petrus
dem Worte des Herrn, fährt hinaus und wirft seine
Netze aus. Und was geschieht? „Als sie dies gethan
hatten, umschlossen sie 'eine große Menge Fische, und ihr
Netz riß. Und sie winkten ihren Genossen in dem andern
Schiffe, daß sie kämen, ihnen zu helfen; und sie kamen
und füllten beide Schiffe, so daß sie sanken." (V. 6. 7.)
Die Menge der Fische war so groß, daß Netz und Schiffe
nicht ausreichten.
Woher dieser gewaltige Fang? Wo waren die Fische
während der vorangegangenen Nacht gewesen? Wer brachte
sie in solch ungeheurer Menge herbei, gerade als die 
Fischer ihre Netze auswarfen? Er, der das Hinablassen
der Netze befohlen hatte, mußte mehr als ein bloßer
Lehrer sein! Er, der sie zum Zerreißen füllte, mußte
selbst mehr sein als der Messias! Dieses Bewußtsein überwältigt Petrus; ein Gefühl von der Göttlichkeit des vor
ihm sitzenden schlichten Mannes dämmert in ihm auf, und
zugleich damit erfüllt die Ueberzeugung sein Herz, daß er
für die Gegenwart dieses Jesus unpassend sei. Voll Entsetzen fällt er vor den Füßen Jesu nieder und ruft: „Gehe
216 —
hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch,
Herr!"
„Ein sündiger Mensch!" Die kurz vorher gehörten
Worte des Herrn hatten ihn nicht zu diesem Ausruf veranlassen können. Sie hatten kein solches Licht in sein
Herz fallen lassen, obwohl Er, der reden konnte, wie nie
ein Mensch geredet hat, Seine Belehrungen sicherlich den
Fähigkeiten aller Seiner Zuhörer angepaßt haben wird.
Denn Er, der die Fische in der Tiefe des Meeres entdecken und sie nach Seinem Wohlgefallen leiten kann, vermag jedes Herz zu ergründen und die verborgensten Gedanken ans Licht zu bringen. Aber um das Herz des
Petrus zu erreichen und ihm zu zeigen, was er war,
mußte er zu einem Bewußtsein der Gegenwart Gottes und
zu der Erkenntnis der Person Dessen gebracht werden,
welcher den Fang der Fische angeordnet hatte.
Es wird dem Leser dieser Zeilen nicht schwer fallen,
dies zu verstehen. Denn zwischen dem Hören und selbst
dem freudigen Hören des Evangeliums von der Gnade
Gottes, welches von einem Heiland redete, der gerade für
die Bedürfnisse des Sünders paßt, und der Erkenntnis
des eigenen Ichs in der Gegenwart Gottes besteht ein 
großer Unterschied. Wie oft haben Seelen die Predigt des
Evangeliums vernommen und sind weggegangen, glücklich
und froh, weil sie die gute Botschaft der Vergebung der
Sünden durch den Glauben an das kostbare Blut Christi
gehört und angenommen hatten! Einer völligen Vergebung
gewiß, sind sie singend und jauchzend heimgekehrt, und doch
hatten sie noch nicht gelernt, daß sie durch und durch
sündige Geschöpfe waren. Es ist eine herrliche Sache,
Gottes Gnade kennen zu lernen, und es ist eine notwen­
217
dige Sache, sich selbst kennen zu lernen und, wie Petrus,
die demütigende Erfahrung zu machen, daß man nicht
nur gesündigt hat, sondern auch ein sündiger Mensch
ist, verderbt vom Scheitel bis zur Zehe.
Jesaia war in einer ähnlichen Schule, als er bei 
dem Anblick der Herrlichkeit Gottes ausrief: „Wehe mir!
denn ich vergehe; denn ich bin ein Mann unreiner Lippen,
und inmitten eines Volkes unreiner Lippen wohne ich;
denn meine Augen haben den König, Jehova der Heerscharen, gesehen." (Jes. 6.) Auch Hiob lernte etwas hiervon; denn nachdem wir von ihm gelesen haben: „seinesgleichen ist nicht auf der Erde (und dies nach Gottes
Schätzung), ein Mann, vollkommen und rechtschaffen, gottesfürchtig und das Böse meidend", hören wir ihn sagen:
„Mit dem Gehör des Ohres hatte ich von Dir gehört,
aber nun hat mein Auge Dich gesehen." Er hatte von
Gott gehört und Ihm gedient, aber trotzdem hatte er gesagt: „An meiner Gerechtigkeit halte ich fest und werde 
sie nicht fahren lassen." (Kap. 27, 6.) Aber sobald er
Gott sah, lernte er sich selbst kennen und entdeckte, daß
ihm keine Spur von Gerechtigkeit blieb. Und dann sagte
er von sich: „Ich verabscheue mich und bereue in Staub
und Asche." Er fühlte jetzt, daß das allein sich für ihn
geziemte.
So auch Petrus. Sobald er sich bewußt wurde, wer
eS war, vor dem er stand, fühlte er auch, daß er nicht
vor Ihm bestehen konnte. „Gehe von mir hinaus," ertönt es von seinen Lippen, „denn ich bin ein sündiger
Mensch, Herr." Hatte Petrus vielleicht ein unsittliches
Leben geführt? Davon sagt er nichts. Hatte er sich in
einer rebellischen Gesinnung gegen die Vorschriften des
218
Gesetzes aufgelehnt? Davon hören wir auch nichts. Hatte
er nie ein Sündopfer gebracht? Wahrscheinlich hatte er
dies oft gethan und war von dem Altar hinweggegangen
mit dem Bewußtsein, daß Gott ihm seine Sünden vergeben habe. Aber alles das konnte ihn in diesem Augenblick nicht beruhigen. Es waren nicht seine thatsächlichen
Sünden, die ihn mit Entsetzen erfüllten, sondern sein
sündiger Zustand. Seine Natur, und nicht nur die Regungen derselben, ist der Grund seines Erschreckens. „Ich
bin ein sündiger Mensch, Herr!" Hätte nur die Erinnerung
an vergangene Sünden ihn beunruhigt, so hätte er hoffen
können, durch eine sorgfältigere Beobachtung des Gesetzes
und durch eine aufmerksamere Ueberwachung seiner selbst
sich fortan von denselben fernhalten zu können; aber nichts
vermochte seinen Zu stand zu verändern, dazu reichten alle
seine Kräfte nicht aus. Derselbe war, soweit es von ihm
abhing, ein hoffnungsloser. Er konnte sich nicht von sich
selbst befreien. Eine Hoffnung auf Verbesserung desselben
war ebenfalls ausgeschlossen; denn alles, was vom Fleische
geboren ist, ist Fleisch und kann nie etwas anderes
werden. Was blieb ihm daher übrig? Nichts als: „Gehe
von mir hinaus; denn ich bin ein sündiger Mensch,
Herr."
Aber welch ein Glück! wenn Petrus sich selbst verurteilte, so that er es vor Einem, ja vor dem Einzigen,
der in Gnade handeln konnte. Hätte er die Entdeckung
seines sündigen Zustandes früher gemacht und wäre mit
seinem Bekenntnis zu dem Hohenpriester gekommen, was
anderes als Verzweiflung hätte sein Los sein können?
Aber Gott sei Dank! Da stand Einer vor ihm, welcher
sein Herz selbst in der Gegenwart Gottes zur Ruhe brin-
219
gen konnte. Wenn Petrus bekannte, was er in sich selbst
war, so konnte der Herr ihm sagen, was Er für ihn sein
würde. Ein sündiger Mensch war er in seinen eignen 
Augen, in den Augen des Herrn ein zukünftiger Menschenfischer. Welch eine bewunderungswürdige Gnade strahlt
uns aus allem diesem entgegen! „Und Jesus sprach zu
Simon: Fürchte dich nicht, von nun an wirst du Menschen fangen." Der Herr konnte den sündigen Menschen
zu diesem Werke gebrauchen; und dies tritt ans Licht, nachdem Petrus sich selbst verurteilt hatte. Wie passend war
der Zeitpunkt für diese Ankündigung auf feiten des Herrn!
Wenn die Seele ganz und gar in sich zusammenbricht, indem sie sieht, daß sie durch und durch böse und verderbt
ist, und daß eine Verbesserung ihrer bösen Natur völlig
außer ihrem Bereiche liegt — dann, in einem solchen Augenblick zu einem Dienste für Gott berufen zu werden, das
ist in der That Gnade! Und hier finden wir denselben
Herrn in Simons Schiffe, der einst auf dem Throne saß,
(Jes. 6.) und der zu einer noch früheren Zeit Hiob antwortete aus dem Sturmwinde. Hiob wird, nachdem er
zu dem tiefen Bewußtsein seines Verderbens gebracht ist,
zum Fürsprecher für seine Freunde; er muß für sie opfern,
und ihn will Gott annehmen. (Hiob 42, 8.) Jesaia,
überwältigt von dem Gefühl seiner Unreinheit, empfängt
unmittelbar von dem Herrn Jehova eine Botschaft an sein
Volk. Wenn das Herz wirklich erkannt hat, was es ist;
wenn das Urteil Gottes durch den Heiligen Geist ihm
nahe gebracht und von ihm angenommen ist, dann ist es ein
passendes Gefäß für den Herrn, ein Werkzeug, das Er
gebrauchen kann; geleert von sich selbst, kann es von dem
Herrn mit Seinem Geiste erfüllt werden. „Fürchte dich
220
nicht," sagt der Herr, „von nun an wirst du Menschen
fangen."
Indes kann diese Unterweisung, obwohl man sie vielleicht gründlich gelernt hat, zu Zeiten wieder vergessen
werden. Dies sehen wir deutlich in der ferneren Geschichte
des Petrus. Aber dann giebt es eine zweite Lektion
zu lernen.
Drei Jahre nach dem oben erwähnten Ereignis finden wir die Jünger auf demselben See in ihren Schiffen.
Sie haben sich wiederum die ganze Nacht abgemüht und
nichts gefangen. Aber obwohl der See derselbe und ihre
Beschäftigung die gleiche ist wie damals, so sind doch die
Umstände andere. Der Herr ist dieses Mal nicht mit im
Schiffe, sondern erscheint am frühen Morgen an dem
Ufer. In LukaS 5 war er mit Simon auf dem See,
denn Er war noch nicht gestorben; in Joh. 21 aber steht
Er an der Küste, während die Jünger sich allein auf dem
See befinden. Johannes, der in Lukas 5 in Gemeinschaft
mit Petrus arbeitete, ist auch jetzt in seiner Gesellschaft.
Auf daS Wort des Herrn werfen die Jünger ihre Netze
auf der rechten Seite des Schiffes aus und vermögen sie
wieder vor der Menge der Fische nicht emporzuziehen.
Johannes erkennt jetzt, wer am Ufer steht, und sagt zu
Petrus: „Es ist der Herr." Petrus hatte in den Jahren,
welche zwischen den beiden in Rede stehenden Ereignissen
verflossen waren, die in Lukas 5 gelernte Unterweisung
vergessen. Er war in seiner eignen Kraft vorangegangen
und, obwohl vorher durch den Herrn gewarnt, in trauriger
Weise zu Fall gekommen. Er hatte seinen Herrn und
Meister verleugnet. Als alle übrigen Jünger den Herrn
verließen und flohen, gingen Petrus und Johannes in
221
den Hof des hohenpriesterlichen Hauses. Johannes verleugnete den Herrn nicht, wohl aber Petrus; und Johannes erschien bald nachher an einem Orte, an welchem
sich keiner der übrigen Jünger zu zeigen wagte, am Fuße
des Kreuzes, und empfing dort den augenscheinlichsten Beweis des Vertrauens seines Herrn, indem Jesus Seine
geliebte Mutter seiner Obhut anvertraute.
Welcher von diesen beiden Männern wird nun zuerst
dem Herrn entgegen eilen? Sollten wir nicht denken,
Johannes? Wird sich nicht Petrus eifrig mit den Fischen
und seinem Boote beschäftigen, ja, alles thun, um nur nicht
zu dem Herrn aufblicken zu müssen? Nein; gerade das
Gegenteil ist der Fall. Er ist eS, der nicht warten kann,
bis das Schiff die Küste erreicht hat. Als er hört, daß
der Herr am Ufer stehe, umgürtet er sich mit dem Oberkleide und wirft sich in den See. (V. 7.) Warum diese
Eile, nachdem er doch unlängst erst seinen Herrn verleugnet hat? In Lukas bittet er den Herrn, von ihm wegzugehen, und hier kann er nicht schnell genug zu Ihm
hingelangen. Das Geheimnis ist dieses: Er hatte die
Gnade des Herrn kennen gelernt! Wenn er an sich selbst
dachte, so war er ganz und gar unpassend für die Nähe
des Herrn; dachte er aber an Jesum, so fuhr sein Schiff
viel zu langsam für das Verlangen seines Herzens, zu 
Ihm hinzukommen. Die Gnade zieht an, mächtig, unwiderstehlich. Petrus fühlte dies, und zwar nachdem er
Christum verleugnet hatte.
Wann aber hat er diese Gnade kennen gelernt? Wir
lesen davon in Luk. 24. Die beiden Jünger, welche auf
dem Wege nach Emmaus mit dem Herrn zusammentrafen,
hörten bei ihrer Rückkehr nach Jerusalm, daß Er dem
222
Simon erschienen sei, bevor Er sich irgend einem andern
(die Weiber ausgenommen) gezeigt habe. Das war wahrlich göttliche, vollkommene Gnade. Der Herr verlangte
darnach, Seinem armen Jünger zu zeigen, daß ihm seine
schreckliche Sünde vergeben sei, und Er that dies bei der
ersten Gelegenheit, welche sich dazu darbot. Was bei
diesem Zusammentreffen zwischen dem Herrn und Petrus
vorgegangen ist, wissen wir nicht; die Wirkung aber,
welche es aus Petrus ausgeübt hatte, sehen wir deutlich.
Obwohl er sich jetzt nicht nur der Verderbtheit seiner
Natur, sondern auch dessen, was aus ihr hervorgekommen
war, bewußt ist, eilt er doch ungestüm vorwärts, um zu
Christo zu kommen. Er fühlt sich offenbar zu Hause in
der Nähe des Herrn und ist im Blick auf seine Sünde so
völlig von aller Furcht befreit, daß er allein hingehen
und das Netz mit den Fischen aufs Land ziehen kann.
Er war jetzt imstande, seine ganze Kraft dem Dienste des
Herrn zu weihen.
Indes mußte Petrus noch öffentlich in die verlorene Stellung unter seinen Genossen zurückgeführt werden. Und dies thut der Herr, indem Er ihn dreimal
fragt: „Simon, hast du mich lieb?" und ihm dann den
Auftrag giebt, Seine Lämmlein zu weiden und Seine
Schafe zu hüten. Der Herr zeigt ihm vor allen, daß
Er ihn noch in Seinem Dienste gebrauchen kann und will.
Doch vor diesem allem hatte die Gnade ihn erreicht, und
im Bewußtsein dessen konnte er seinem Herrn entgegeneilen. So zeigt uns Luk. 5, was Petrus sein konnte für
den Herrn, und Joh. 21, was der Herr war für ihn.
Und was Petrus damals gelernt hat, das hat er
in späteren Tagen Andere gelehrt. Nachdem der Heilige
223
Geist herniedergekommen war, um die Jünger an alles
Zu erinnern, was sie von dem Herrn gehört hatten, und
sie in die ganze Wahrheit zu leiten, konnte er auch die 
Ursache seiner gesegneten Erfahrungen den Gläubigen mitteilen. Wie war eS möglich, daß der Herr ihm seine
Sünde vergeben konnte, so daß er imstande war, Ihm
mit Freimütigkeit zu begegnen? Hier ist die Antwort:
„Christus hat unsre Sünden an Seinem Leibe auf das
Holz getragen." (1. Petri 2, 24.) Und wie konnte er, ein 
sündiger Mensch, in der Gegenwart Gottes stehen? —
„Es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der
Gerechte für die Ungerechten, auf daß Er uns zu Gott
führe." (1. Petri 3, 18.)
Geliebter Leser! Sind das nicht zwei gesegnete Unterweisungen: das Gericht des eignen Ichs und die überströmende Gnade Gottes? Möchten alle die teuren Kinder Gottes sie gründlich lernen, zu ihrem eigenen Wohl
und zur Verherrlichung ihres Gottes und Vaters und
ihres Herrn und Heilandes Jesu Christi!

Bruchstücke.
Christus hat mich nicht nur von den Folgen meiner
Sünden befreit, sondern auch von der Herrschaft der
Sünde und ihrer gegenwärtigen Macht, sowie von den 
bestrickenden Einflüssen dessen, was die Schrift „Welt"
nennt. Der Gläubige kann sich daher Gott darstellen als
ein Lebender aus den Toten, (Röm. 6.) und er kann und
sollte sich von der Welt unbefleckt erhalten. (Jak. 1.)
224
Es ist uns allen so natürlich, uns mit unsern Gedanken und Gefühlen über das Blut Christi zu beschäftigen, anstatt mit dem Blute selbst und mit den Gedanken
Gottes über dasselbe.
Alle, welche viel mit dieser Welt und ihren Dingen
in Berührung kommen, werden schmerzlich fühlen, wie
schwierig es ist, mit unbeschmutzten Händen davonzukommen. Sie bedürfen in ganz besondrer Weise einer heiligen Wachsamkeit bezüglich ihrer Gewohnheiten und Verbindungen, damit sie sich nicht verunreinigen und des Genusses ihrer Gemeinschaft mit Gott verlustig gehen. Gott
will und muß uns in einem Zustande haben, der Seiner
selbst würdig ist.
Ist es der aufrichtige Vorsatz unsrer Herzen, im göttlichen Leben Fortschritte zu machen und in persönlicher
Trennung von dem Bösen zu wachsen? Laßt uns dann acht
haben auf uns selbst; denn eine einzige Stunde, die wir
in Verbindung mit einer Sache zubringen, welche unsre
Hände verunreinigt und unser Gewissen beschwert, betrübt
den Heiligen Geist und unterbricht unsre Gemeinschaft.
Laßt uns ein ganzes Herz für den Herrn haben. Laßt
uns mit Entschiedenheit und ohne Zögern alles aufgeben,
was irgendwie unrein ist, mag es kosten, was es will!
Warte auf Gott, anhaltend und ernstlich! Er ist 
treu und gnädig, ein Gott, der die Gebete hört und zu
Seiner Zeit beantwortet, ein Gott, der willig giebt und
nichts vorwirft. (Jak. 1, 5.)
------------- ----
Ueber das Gebet.
1. „Betet unablässig."
(1. Thess. 5, 17.)
Es giebt wohl nichts im Worte Gottes, was den
Gläubigen so wiederholt und so dringend ans Herz gelegt wird als daS Beharren im Gebet; zugleich finden wir sowohl unter den Heiligen des Alten als auch
des Neuen Testaments viele nachahmungswürdige Beispiele
von Männern und Frauen, deren Leben in der That ein
Leben des Gebets war, und deren Erfahrungen uns zu
reicher Ermunterung und Belehrung dienen. Was könnte
uns auch, im Blick auf unsre gänzliche Ohnmacht und
Kraftlosigkeit von Natur, sowie auf unsre völlige Abhängigkeit von Gott, mehr not thun, als ein Beharren im
Gebet und Flehen? Wir sind schwache Kinder, die stets
der zärtlichen Fürsorge und sorgsamen Leitung ihres Gottes
und Vaters bedürfen. Wir sind ohne Ihn unfähig, auch
nur einen Schritt in der rechten Weise zu thun, unfähig,
auch nur in einer Sache richtig zu handeln. O wie
gut ist es daher, daß Er es übernommen hat, für uns
zu sorgen und uns an Seiner starken und Weisen Hand
zu leiten; wie gut, daß wir Ihm allezeit willkommen
sind, daß Er uns liebt mit einer unvergleichlichen Liebe
und in allen unsern Prüfungen das innigste Mitgefühl
mit uns hat! Nie wendet Er Sein Auge von uns ab;
226
Er kennt alle unsre Umstände und Schwierigkeiten weit
besser als wir selbst. Auch kennt Er unsre Herzen, und
in Seiner Weisheit und Liebe sorgt Er stets dafür, daß 
alles für uns zum Guten mitwirken muß. (Röm. 8, 28.)
Es ist in der That ein großes Vorrecht, einem soll
chen Gott und Vater zu jeder Zeit und in jeder Lage
unsers Lebens hienieden nahen zu dürfen, und zugleich
ein tröstliches Bewußtsein, daß wir in allem von Ihm
allein abhängig sind. Ein Herz, das Ihn wirklich liebt,
verlangt nichts sehnlicher, als Seinen wohlgefälligen Willen
zu erkennen und Ihn in dieser feindseligen Welt durch
die Erfüllung desselben zu verherrlichen. Einem solchen
Herzen ist es ein wahres Bedürfnis und zugleich ein süßer
Genuß, an jedem Tage durch Gebet, Flehen und Danksagung in einem innigen, verborgenen Umgang mit Gott
zu leben. Die ernsten Ermahnungen des Apostels: „Im
Gebet anhaltend," (Röm. 12, 12.) oder: „Betet unablässig," (1. Thess. 5, 17.) oder: „Zu aller Zeit
betend mit allem Gebet und Flehen im Geiste," (Eph.
6, 18.) oder: „Beharret im Gebet und wachet in
demselben mit Danksagung," (Kol. 4, 2.) finden in
ihm eine bereitwillige Aufnahme und eine treue Verwirklichung.
Wir dürfen aber auch überzeugt sein, daß unser Gott
und Vater bereit ist, das Flehen der Seinigen, die Seinem
Herzen so unendlich teuer sind, allezeit zu erhören. Er
kann und wird ihr Vertrauen nie beschämen. Wie viele
unter uns haben dies schon in reichem Maße erfahren
und erfahren es noch täglich! Auf wie viele gnädige
Gebetserhörungen können wir mit Dankbarkeit, und zugleich mit Beschämung bei dem Gedanken an unsern Klein­
227
glauben, zurückblicken! Wie oft hat unser treuer Gott
über Bitten und Verstehen geholfen! Auch das Wort
Gottes liefert uns viele herrliche Beispiele von solchen
Erhörungen; ich gedenke später darauf zurückzukommen.
Hier möchte ich nur einige Stellen der Schrift anführen,
die uns ermuntern, zu jeder Zeit und mit aller Freimütigkeit Ihm zu nahen und unsre Anliegen vor Ihn Zu
bringen. Noch an dem letzten Abend vor Seinem Leiden
sprach der Herr zu Seinen Jüngern: „Wenn ihr etwas
bitten werdet in meinem Namen, so will ich es thun,"
und: „Wenn ihr in mir bleibet und meine Worte in euch
bleiben, so werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird
euch geschehen." (Joh. 14, 14; 15, 7.) Ferner lesen
wir in Matth. 7, 11: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid,
euern Kindern gute Gaben zu geben wisset, wieviel mehr
wird euer Vater, der in den Himmeln ist, Gutes geben
denen, die Ihn bitten!" und in 1. Joh. 5, 14: „Und
dies ist die Zuversicht, die wir zu Ihm haben, daß, wenn
wir etwas nach Seinem Willen bitten, Er uns hört."
(Siehe auch 1. Joh. 3, 21. 22.) Ein Mensch würde
es bald überdrüssig werden, wenn er Tag für Tag von
früh bis spät von seinen Freunden in Anspruch genommen
würde; ja, selbst einem Elternpaare würde es am Ende
lästig werden, wenn ihre Kinder jeden Augenblick mit
neuen Bitten und Anliegen vor sie träten. Ihm aber
kommen wir, wie schon gesagt, nie zu oft; Ihm sind wir
allezeit willkommen, ja um so willkommener, je häufiger
wir Ihm nahen und je dringender und anhaltender wir
zu Ihm rufen. Und „Er vermag über alles hinaus zu
thun, über die Maßen mehr, als was wir erbitten oder erdenken." (Eph. 3, 20.)
228
In Lukas 18 ermahnt der Herr Seine Jünger durch
ein Gleichnis, daß sie allezeit beten und nicht nachlassen
sollten. Beachten wir es wohl: Allezeit und nicht
nachlassen. Mit diesen Worten will der Herr uns
sagen, wie Er es auch in dem Gleichnis selbst darstellt,
daß unser unermüdliches Gebet und Flehen nicht vergeblich sein wird; es wird Erhörung finden, und Er selbst
wird unser Anliegen aufs beste besorgen. Der Psalmist
ruft Gott zu: „Hörer des Gebets! zu Dir wird kommen
alles Fleisch;" (Ps. 65, 2.) und der Apostel Petrus ermuntert uns: „Alle eure Sorge werfet auf Ihn, denn
Er forgt für euch." (1. Petr. 5, 7.) Als geliebte
Kinder Gottes haben wir nicht die geringste Ursache, unruhig und besorgt zu sein. Wir haben vielmehr das köstliche Vorrecht, alle unsre Bedürfnisse vor unserm Gott
und Vater kundwerden zu lassen, alle unsre Prüfungen
und Schwierigkeiten in Seine treuen Hände zu legen, und
zwar in dem festen Vertrauen, daß Er an allem den innigsten Anteil nimmt, und daß Ihm nichts zu groß und
nichts zu klein ist. Wenn nicht einmal einer der unzähligen Sperlinge, die doch einen so geringen Wert haben,
vor Ihm vergessen ist, wenn keiner von ihnen auf die
Erde fällt ohne Seinen Willen, sollte Er dann wohl
eines Seiner geliebten Kinder vergessen können? Sollte
Er ihr Schreien überhören, ihre Angelegenheiten gar mit
Gleichgültigkeit behandeln, oder in Bezug auf sie langsam
sein? Unmöglich! Er weiß, was wir bedürfen, ehe wir
Ihn bitten; (Matth. 6, 8.) Er vernimmt und versteht
jeden Seufzer des Herzens, jedes Flehen, auch wenn
wir es nicht in Worte zu kleiden wissen. Er nimmt
innigen Anteil selbst an unsern geringsten Dingen; sogar
229
die Haare unsers Hauptes sind alle gezählt. (Matth.
10, 29. 30.)
Sollten wir uns, Geliebte, im Blick auf eine solche
Gnade und Liebe, nicht tief demütigen, wenn wir nicht
in allen unsern Umständen mit kindlicher Zuversicht Gott
nahen? Müssen wir uns nicht schämen, wenn wir Seinem
treuen Vaterherzen so wenig Vertrauen entgegenbringen?
Sicher und gewiß. Der Apostel ermahnt uns: „Seid
um nichts besorgt, sondern in allem lasset durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen
vor Gott kundwerden, und der Friede Gottes, der allen
Verstand, übersteigt, wird eure Herzen und eure Sinne
bewahren in Christo Jesu." (Pil. 4, 6. 7.) Wenn wir
mit einfältigem, kindlichem Vertrauen unsre Anliegen im
Gebet vor Ihn bringen, so werden wir auch fähig und
gern bereit sein. Ihm zu danken, selbst ehe noch unser
Begehren eine sichtbare Erhörung gefunden hat; denn wir
sind überzeugt, daß Er nach Seiner Weisheit und Liebe
alles aufs beste ordnen wird. Unser Herz ist ruhig und
getrost, ergeben in Seinen Willen, und der Friede Gottes,
dessen Kostbarkeit kein Verstand zu ergründen vermag,
wird unser Teil sein und unsre Herzen und Sinne in
Christo Jesu bewahren. Wir übergeben Ihm unsre Sorgen
und empfangen dafür Seinen Frieden. Welch ein herrlicher Tausch! Aber gerade so will unser Gott es haben,
und nur so ist alles an seinem rechten Platze; wir erfreuen uns in Ihm, und Er wird verherrlicht durch uns.
Als der Herr hienieden war, offenbarte Er Seinen
Jüngern, die Er „Seine Freunde" nannte, den Namen
des Vaters; auch kündigte Er ihnen im voraus Seine
Verwerfung von feiten der Menschen an und als Folge
230
davon das Gericht, das sowohl über Israel als auch über
die ganze Welt kommen sollte. Und im Blick auf die
schrecklichen Tage dieses Gerichts ermahnt Er sie ernstlich:
„Wachet nun, zu aller Zeit betend, auf daß ihr
würdig gehalten werdet, diesem allen zu entfliehen, was
geschehen soll, und zu stehen vor dem Sohne des Menschen." (Luk. 21, 36.) Die Gläubigen bedürfen zu aller
Zeit ein einfältiges Auge und ein wachsames Herz, um die
mancherlei Gefahren, denen sie in dieser versuchungsreichen
Welt ausgesetzt sind, zu erkennen und inmitten derselben
bewahrt zu bleiben. (Vergl. 1. Timoth. 6, 10. 11;
Hebr. 12, 1.) Sie bedürfen aber nicht allein der Wachsamkeit, sondern auch der Kraft, um allem zu entfliehen,
was sie hienieden gefangen nehmen könnte. Wo aber ist 
diese Kraft zu finden? Nicht in uns, sondern nur in
Ihm; wie geschrieben steht: „Seid stark in dem
Herrn, und in der Macht Seiner Stärke." (Eph.
6, 10.) Wie aber können wir dieser Kraft teilhaftig
werden? Nur durch das Gebet. Das anhaltende Gebet 
erhält uns in lebendiger Verbindung mit der Quelle aller
Kraft und setzt uns in den Stand, aus derselben für
alle unsre Bedürfnisse zu schöpfen. Deshalb ermahnt auch
der Apostel Petrus, im Blick auf die Nichtigkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen und auf das Ende aller Dinge:
„Seid nun besonnen und seid nüchtern zum Gebet."
(1. Petr. 4, 7.)
Der Herr, der die Schwachheit Seiner Jünger kannte,
und auch wußte, wie vielen Versuchungen sie in dieser
feindseligen Welt ausgesetzt sein würden, ermahnte sie
noch in der letzten Stunde Seines Beisammenseins mit
ihnen sehr eindringlich: „Wachet und betet, auf
231
daß ihr nicht in Versuchung hineinkommet; der Geist ist
zwar willig, das Fleisch aber ist schwach." (Matth. 26, 41.)
Der arme Petrus beachtete diese Ermahnung nicht. Er hatte
ohne Zweifel seinen Herrn sehr lieb, und war überzeugt,
daß seine Gefühle für Ihn jede Probe bestehen würden;
denn er hielt sein Fleisch für ebenso stark, als sein Geist
willig war. Doch ach, wie sehr hatte er sich getäuscht!
Welch eine schmerzliche Erfahrung mußte er machen! Wie
tief war sein Fall! Hernach hat er es sicher verstanden,
wie notwendig es ist, zu wachen und zu beten, und auch
wie sehr er der Fußwaschung Seines geliebten Herrn bedurfte.
Aber ist es nicht vielen, vielen Gläubigen nach jenen
Tagen ähnlich ergangen wie dem Petrus? Machen wir
nicht heute noch, wenn auch unter andern Umständen und
Verhältnissen, dieselbe Erfahrung wie er? Und ach! wie
groß mag die Zahl derer sein, welche nicht nur die ernste
Ermahnung des Herrn zur Wachsamkeit und zum Gebet 
kennen, sondern auch vielleicht schon wiederholt die bittere
und demütigende Erfahrung des Petrus gemacht haben,
und sich dennoch nicht unterweisen lassen und es nicht zu
Herzen nehmen! Wie wenig wird im allgemeinen daran
gedacht, wie wenig wird es in Wahrheit gekannt und gefühlt, was wir in uns selbst sind, daß wir durchaus
schwach und ohnmächtig sind von Natur, und daß wir
eine gefahrvolle und versuchungsreiche Welt zu durchschreiten
haben — eine- Welt, deren Fürst Satan ist! Wir vergessen so leicht, daß in unserm Fleische nichts Gutes
wohnt, ja, daß die Gesinnung des Fleisches Feindschaft
ist gegen Gott. Das Fleisch fürchtet die Gegenwart Gottes und sucht uns unaufhörlich durch allerlei Vorspiege­
232
lungen vom Gebet und vom Umgang mit Gott abzuhalten; und Satan ist stets bemüht, die Lüste und Begierden
des Fleisches durch das, was in der Welt ist, aufzuwecken
und unsre Herzen gegen Christum kalt und gleichgültig
zu machen, ja, wenn möglich, ganz von Ihm abzuziehen.
Laßt uns darum, Geliebte, im Blick ans die List Satans
und unsre verderbte Natur, die so viel Anziehendes in
dieser Welt findet, allezeit wachsam und nüchtern sein;
seien wir auf der Hut, damit Satan und das Fleisch
nicht einen Vorteil über uns gewinnen und wir uns durch
irgend etwas in oder außer uns am unablässigen Gebet
verhindern lassen!
Wir können wohl sagen, daß unser geistlicher Zustand mit unserm Beharren im Gebet aufs innigste verbunden, ja, daß das eine vom andern abhängig ist. Das
beharrliche Gebet ist das Geheimnis unsrer Kraft hienieden. Der Herr selbst ist alsdann der köstliche Gegenstand unsrer Freude, und wir sind fähig, gekräftigt und
belehrt durch Ihn, zur Verherrlichung Seines Namens
zu wandeln. Zugleich sind wir ein Segen für die Seinigen und ein gutes Zeugnis inmitten einer gottlosen Welt.
Wenn wir aber anfangen, das Gebet zu vernachlässigen,
oder es nur noch pflichtmüßig ausüben, um unser Gewissen zu beruhigen, so werden sich bald die traurigen
Folgen davon kundgeben. Die Furcht Gottes schwindet
mehr und mehr; das Bedürfnis, Gottes Wort zu lesen
und zu hören, nimmt ab, und die Welt mit ihren Lüsten
und Begierden findet wieder Raum in unsern Herzen. Ach,
wie demütigend ist es, sagen zu müssen, daß es nicht
wenige in unsern Tagen giebt, die einmal mit glücklichem
und dankbarem Herzen bekannten, durch die Gnade Gottes
283
in Christo Jesu errettet zu sein, die auch eine Zeitlang
zur Ehre ihres Heilandes und zur Freude aller aufrichtigen Gläubigen treu wandelten, und jetzt wieder völlig
in der Welt leben und der Sünde dienen! Wie unglücklich find solche Seelen, in welch einem traurigen Zustande
gehen sie einher! Und welch einem Ende eilen sie entgegen, wenn sie in ihren bösen Wegen beharren! Entweder schreiten sie von Sünde zu Sünde fort, bis endlich
ihr Gewissen völlig verhärtet ist, oder sie fallen dem
Unglauben anheim, und das Licht, das sie einst besaßen,
verwandelt sich in die dichteste Finsternis. — Malen wir
mit zu düstern Farben? Wollte Gott, es wäre so! Aber ein
Blick um uns her belehrt uns, daß das Gemälde leider
nur zu wahr ist.
Welch einen Verlust erleiden solche Seelen für Zeit
und Ewigkeit! Und das ist noch nicht einmal das Wichtigste. Wie sehr wird der Name und das Wort des
Herrn durch sie verunehrt, wie vielen schwachen Gläubigen
gereichen sie zu großem Schaden, und wieviel tragen sie
dazu bei, das Christentum zum Gespött der Welt zu
machen! Der Tag ist nicht mehr fern, wo wir vor dem
Angesicht Dessen erscheinen werden, der Sein teures Leben für uns hingegeben und in Seiner erbarmenden Liebe
uns gesucht und errettet hat. Und mit welchen Gefühlen
werden dann solche Seelen auf ihr verlornes Leben zurückblicken — auf ein Leben, das die Welt und die Sünde
weit mehr liebte als Ihn, der in Seiner unergründlichen Liebe in Tod und Gericht für uns ging, dem alle
himmlischen Heerscharen anbetend dienen, und in welchem es eine solche Fülle von Herrlichkeit giebt, daß niemand Ihn völlig zu erkennen vermag als nur der Vater!
234
Mit welch einem Schamgefühl und Schmerz werden sie
dann an ihre traurigen Tage hienieden zurückdenken, in
welchen sie Den so vielfach verunehrt und betrübt haben,
dessen Gnade sie dennoch nicht völlig aufgegeben hat!
Wie steht es mit dir, geliebter Leser? Gehörst du
dem Herrn an, so gab es jedenfalls einmal eine Zeit für
dich, in welcher dein Herz glücklich war. Du freutest dich
deiner Errettung und priesest den Herrn, der sie durch
das Opfer Seiner selbst vollbracht hat. Die Welt mit
ihrer Lust hatte ihren Reiz und ihren Wert für dich verloren. Du hattest in Jesu einen reichlichen Ersatz für
sie und eine Quelle wahrer, unaussprechlicher Freude gefunden. Ist es so geblieben? Wenn du seit jenen ersten
Tagen deiner Errettung im Gebet beharrt und im innigen
Umgang mit dem Herrn gestanden hast, so ist es nicht
nur so geblieben, sondern die Freude in deinem Innern
hat sich mehr und mehr vertieft, ist ruhiger und bleibender geworden, weil du jetzt den vollkommenen Wert Seines Opfers, sowie die Herrlichkeit Seiner anbetungswürdigen Person mehr erkannt und schätzen gelernt hast. Bist
du aber jetzt sogar weniger glücklich, wie in jenen ersten
Tagen, so hast du aufgehört, wachsam zu sein und im
Gebet zu beharren. Du hast auf die Stimme des Feindes gelauscht und dem Fleische, der Welt und der Sünde
wieder Raum gegeben; und in demselben Maße — o
bedenke es! — bist du gegen den Herrn kälter und gleichgültiger geworden, und hast dich von der einzig wahren
Quelle aller Freude und Kraft entfernt. Vielleicht bist
du noch nicht bei jenem schrecklichen Zustande angelangt,
welchen wir oben beschrieben haben; aber täusche dich nicht!,
dein Weg führt dahin. Darum laß dich bitten in aller
235
brüderlichen Liebe: Kehre um! bekenne dem Herrn deine
Gleichgültigkeit und Trägheit, dein Abirren von Seinem
Pfade, deine Untreuen und Fehler, und demütige dich
vor Ihm! Er ist reich an Gnade und Erbarmen, und ist
stets bereit, dem Bußfertigen zu vergeben und ihn zu
reinigen. Er wird deine Seele wiederherstellen, dein Gewissen entlasten und dein Herz glücklich machen, und du
wirst in Ihm wieder deine ganze Freude und Wonne finden. Und dann wirst du fähig sein, in deinen noch übrigen Tagen hienieden Ihm zu leben und Seinen Namen
zu verherrlichen. «Fortsetzung folgt.!
Die Herde Gottes.
„Hütet die Herde Gottes." tt- Petr. 5, 2.)
„So habet nun acht auf euch selbst und auf
„die ganze Herde." (Apstgsch. 20, 28.)
Die Herde Gottes ist für den Herrn stets ein Gegenstand des höchsten Interesses, der zärtlichsten Liebe und
Fürsorge. So war es schon bei Israel, der Herde Gortes vor alters. Ihr galt Sein Dienst hienieden, ihr
widmete Er Seine Kräfte mit aufopfernder Hingebung
und ausdauernder Geduld. Und obgleich Er am Ende
sagen mußte: „Vergeblich habe ich mich bemüht, unnütz
und umsonst meine Kraft verzehrt," (Jes. 49, 4.) so
war und blieb Israel doch stets Sein vielgeliebtes Volk.
Selbst nachdem es Ihn verworfen hatte, betete Er für
sie: „Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie
thun." (Luk. 23, 34.) Und obwohl es heute die Folgen
seiner schrecklichen That tragen muß,'wird es trotz allem
wiederhergestellt werden und dereinst die Erfüllung aller
236
ihm gemachten Verheißungen erfahren. Und warum diesalles? Weil sie hinsichtlich der Auswahl Geliebte sind
um der Väter willen, und weil die Gnadengaben und die
Berufung Gottes unbereubar sind. (Röm. 11, 28. 29.)
Israel war das Volk Seiner Wahl auf Grund Seiner
unumschränkten Gnade; darum Seine unermüdliche Thätigkeit, Langmut und Geduld ihm gegenüber.
Wenn aber Israel schon ein so großes Interesse für
den Herrn hatte und noch heute hat, (denn Gott hat Sein
Volk nicht verstoßen, wenn Er eS auch für eine Zeit beiseite gesetzt hat,) wieviel mehr dann die Versammlung
Gottes! Sie ist in einem noch weit höheren Sinne der
Gegenstand der liebevollsten Pflege und Fürsorge. Denn
sie ist eins mit dem verherrlichten Christus; ihre Glieder
„sind Glieder Seines Leibes, von Seinem Fleische und
von Seinen Gebeinen". Und „niemand hat jemals sein
eignes Fleisch gehaßt, sondern er nährt und pflegt es,
gleichwie auch der Christus die Versammlung." (Eph. 5,
22 — 33.) Der Apostel bezeichnet in dieser Stelle das
Verhältnis zwischen Mann und Weib als ein Abbild oder 
Gegenbild (nicht Vorbild) des Verhältnisses zwischen Christo
und der Versammlung. Das letztere bestand in den Ratschlüssen Gottes vor dem ersteren, und übertrifft dieses
weit an Innigkeit und Zartheit der einem solchen Verhältnis entspringenden Gefühle. Darum sollen sich Mann
und Weib ein Vorbild daran nehmen. Die Weiber sollen
ihren Männern unterwürfig sein, gleichwie die Versammlung ihrer Stellung nach dem Christus unterworfen
ist; und die Männer sollen ihre Weiber lieben, gleichwie auch der Christus die Versammlung geliebt hat. Dieses setzt voraus, daß die Liebe des
237
Christus zu Seiner Versammlung noch weit größer ist,
als die Liebe irgend eines Mannes zu seinem Weibe, wie
groß diese auch sein mag; und daß, wie sorgsam auch
jemand sein eignes Fleisch nährt und pflegt, Christus dies
betreffs Seiner Versammlung noch weit sorgsamer thut.
Seitdem und so lange die Versammlung auf der
Erde ist, nährt und pflegt Christus sie mit derselben vollkommenen und unveränderlichen Liebe, in welcher Er sich
für sie hingegeben hat, als sie sich noch in dem Zustande
der Sünde und des Todes befand. Sie hat betreffs
der Verwirklichung ihres innigen Verhältnisses mit Christo
und ihrer Glieder unter einander in trauriger Weise gefehlt, aber Seine Liebe ist stets dieselbe geblieben.
Nichts hat diese zu schwächen vermocht, weder die Untreue
der Versammlung, noch die Macht und List des Feindes.
Seine Liebe „ist stark wie der Tod, ihr Eifer ist hart
wie der Scheol, ihre Gluten sind Feuergluten, Flammen
von Iah. Viele Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen, und Ströme überfluten sie nicht; wenn auch ein 
Mann allen Reichtum seines Hauses gäbe um die Liebe
— man würde ihn doch völlig verachten." (Hohelied 8, 6. 7.)
In der That, viele Wasser sind über Seine Liebe hingegegangen, nicht nur von feiten der Welt und des großen
Widersachers der Gläubigen, sondern auch seitens der
Versammlung selbst. Sie hat Seine heiße Liebe zu ihr
mit Kälte und Gleichgültigkeit erwidert; sie hat aufgehört,
Ihm allein anzuhangen und auf Seine Ankunft zu warten, und hat die Welt liebgewonnen. Und so hören wir
Ihn im Gefühl tiefgekränkter Liebe klagen: „Aber ich
habe wider dich, daß du deine erste Liebe verlassen hast."
(Offbg. 2, 4.)
238
Der Herr hat Sein teures Leben und alles, was
Er hatte, für die Versammlung hingegeben; Er hat den
Heiligen Geist zu ihr herniedergesaudt, um sie in die ganze
Wahrheit zu leiten, um in ihr zu wohnen und zu wirken.
Er hat ihr Gaben gegeben und treue Apostel und Boten
zu ihr gesandt, die im Geiste der Liebe und der Hingebung sie genährt und gepflegt haben. „Deswegen erdulde
ich alles um der Auserwählten willen," konnte Paulus
sagen; und an einer andern Stelle: „Jetzt freue ich mich
in den Leiden für euch und ergänze in meinem Fleische,
was noch rückständig ist an den Trübsalen des Christus
für Seinen Leib, das ist die Versammlung." (2. Tim.
2, 10; Kol. 1, 24.) Wie groß seine Liebe und aufopfernde Hingebung in diesen Trübsalen für die Versammlung war, geht am klarsten aus seinem eignen Bericht hervor, den er, gezwungen durch die Thorheit der
Korinther, diesen erstatten mußte: „In Mühen überschwenglicher, in Schlägen übermäßig, in Gefängnissen
überschwenglicher, in Todesgefahren oft. Von den Juden
habe ich fünfmal empfangen vierzig Streiche weniger einen.
Dreimal bin ich mit Ruten geschlagen, einmal gesteinigt
worden; dreimal habe ich Schiffbruch gelitten, einen Tag
und eine Nacht habe ich in der Tiefe zugebracht; oft auf
Reisen, in Gefahren auf Flüssen, in Gefahren von Räubern, in Gefahren von meinem Geschlecht, in Gefahren
von den Nationen, in Gefahren in der Stadt, in Gefahren in der Wüste, in Gefahren unter falschen Brüdern;
in Arbeit und Mühe, in Wachen oft, in Hunger und
Durst, in Fasten oft, in Kälte und Blöße; außer dem,
was außergewöhnlich ist, noch das, was täglich auf mich
andringt, die Sorge um alle Versammlungen. Wer ist
239
schwach, und ich bin nicht schwach? Wer wird geärgert,
rind ich brenne nicht?" (2. Kor. 11, 23—30.)
In demselben Geiste zärtlicher Fürsorge wirkten alle
Apostel im Interesse der Herde Gottes. „Deshalb will
ich Sorge tragen," schreibt Petrus, euch immer an diese
Dinge zu erinnern, wiewohl ihr sie wisset und in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt seid. Ich halte es aber 
für recht, so lange ich in dieser Hütte bin, euch durch
Erinnerung zu erwecken, da ich weiß, daß das Ablegen
meiner Hütte bald geschieht, wie auch unser Herr Jesus
Christus mir kundgethan hat. Ich will mich aber befleißigen, daß ihr auch zu jeder Zeit nach meinem Abschiede imstande seid, euch dies ins Gedächtnis zu rufen."
<2. Petr. 1, 12 — 15.) Mit ganzem Herzen war er dem
Auftrage gefolgt, den ihm sein geliebter Herr anvertraut
hatte: „Weide meine Lämmlein! — Hüte meine Schafe!"
(Joh. 21, 15—17.)
Und als die Apostel ihren Lauf vollendeten, da legten sie mit derselben Treue und Fürsorge die Herde Gottes den Aeltesten ans Herz. „So habet nun acht auf
euch selbst und auf die ganze Herde, in welcher euch der
Heilige Geist als Aufseher gesetzt hat, die Versammlung
Gottes zu hüten, welche Er sich erworben hat durch das
Blut Seines Eigenen. Denn ich weiß dieses, daß nach
meinem Abschiede verderbliche Wölfe zu euch hereinkommen
werden, die der Herde nicht schonen. Und aus euch selbst
werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um
die Jünger abzuziehen hinter sich her. Darum wachet
und gedenket, daß ich drei Jahre Nacht und Tag nicht
ausgehört habe, einen jeden mit Thränen zu ermahnen."
(Apstgsch. 20, 28 — 31.) So redete Paulus zu den Ael-
240
testen von Ephesus, und Petrus rief den Gläubigen, an
welche er schrieb, zu: „Die Nettesten, die unter euch sind,
ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden des
Christus und auch Teilhaber der Herrlichkeit, die geoffenbart werden soll: Hütet die Herde Gottes, die bei euch
ist, und führet die Aufsicht nicht aus Zwang, sondern freiwillig, auch nicht um schändlichen Gewinn, sondern bereitwillig, nicht als herrschend über eure Besitztümer, sondern
daß ihr Vorbilder der Herde seid. Und wenn der Erzhirte offenbar geworden ist, so werdet ihr die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen." (1. Pet. 5, 1—4.)
Aber trotz all dieser Liebe und Fürsorge des Herrn
für Seine Herde hat sich diese bald nach dem Hinscheiden
der Apostel zur Welt gewandt. Und der Herr sah sich
genötigt, andre Wege einzuschlagen, um den heißgeliebten
Gegenstand Seines Herzens wieder näher an sich zu ziehen.
Er erlaubte der Welt, ihrer Feindschaft gegen die Gläubigen durch schreckliche Verfolgungen Luft zu machen. Und
doch war auch dieses alles nur Liebe seitens des Herrn —
Liebe in Form eines Eifers, hart wie der Scheol, der
jedoch Seinem eignen Herzen tiefe Wunden schlug.
Aber auch diese Bemühungen der Liebe in Form
von Züchtigungen verfehlten ihren Zweck. Die Versammlung ist nicht zu ihrer ersten Liebe zurückgekehrt, vielmehr
im Laufe der Zeiten immer kälter und kälter gegen Christum geworden und hat die Erwartung Seiner Ankunft
gänzlich aus dem Auge verloren. Und nicht allein das;
sie hat auch die Gegenwart und Leitung des Heiligen
Geistes außer acht gelassen, das Wort Gottes vernachlässigt und die Ueberlieferungen der Menschen angenommen.
Das Zeugnis ihrer Einheit mit Christo und ihrer himm­
241
lischen Berufung verschwand, und ihre Glieder zersplitterten
sich in unzählige Parteien. Wer kann verstehen, welch ein
Schmerz dieser zunehmende Verfall für den Herrn sein
mutz! Gewitz fühlen- wir nur in dem Matze etwas davon,
wie wir Seine Liebe kennen. Und doch haben alle die
Wasser der Gleichgültigkeit, die Ströme der Untreuen und
Ungerechtigkeiten der Versammlung Seine Liebesflammen
weder auszulöschen noch zu überfluten vermocht. Seine
unveränderliche Liebe ist immer wieder hervorgestrahlt. Ja,
inmitten der Finsternis und Verwirrung dieser letzten Tage
hat Er von neuem daS Licht der Wahrheit in einer Weise
leuchten lassen, wie es seit den Tagen der Apostel nicht
mehr geleuchtet hat.
Welche Wirkung hat nun diese neue Offenbarung
der Liebe des Herrn auf die Gesamtheit der Herde Gottes gemacht? Sollte man nicht erwarten, datz alle Gläubigen nach so langem Umherirren in den menschlichen Lehrsystemen, welche die Seelen in Knechtschaft halten und
weder wahren Frieden, noch Licht und Kraft geben, die
Wahrheit freudig und dankbar begrüßen würden? Sollte
man nicht erwarten, daß die Vorstellung der einfachen
Wahrheit ihres Einsseins mit einem auferstandenen und
verherrlichten Christus, und ihrer durch den Heiligen Geist
bewirkten Einheit als Glieder eines Leibes, sie alle veranlassen würde, jene Systeme zu verlassen und, wie im
Anfang der Geschichte der Kirche, sich einzig und allein
im Namen Jesu und unter der Leitung des Heiligen
Geistes zu versammeln? Wahrlich, man sollte es denken!
Aber ach! die große Mehrzahl der Gläubigen verharrt
nach wie vor in ihrer falschen Stellung, und der Herr
muß betreffs ihrer wie einst bezüglich Israels sagen: „Ver­
242
geblich habe ich mich bemüht, unnütz und umsonst meine
Kraft verzehrt."
Mit Recht könnte Er auch jetzt, wie einst im Blick
auf Sein irdisches Volk, fragen: „Was war noch zu thun
an meinem Weinberge, das ich nicht gethan habe?" Was
Paulus bei seinem Abschiede zu den Aeltesten von Ephesus
sagte: „Ich habe nichts vorenthalten, daß ich euch nicht
den ganzen Ratschluß Gottes verkündigt Hütte," gilt auch
in unsern Tagen. Der Herr hat nichts vorenthalten;
überall hat Er ein Zeugnis der Wahrheit aufgerichtet, und
den Gläubigen ist Gelegenheit geboten, dieselbe kennen zu
lernen, wenn sie nur wollen. Zudem hat Er eine „geöffnete Thür" (Offbg. 3, 8.) vor ihnen gegeben, so daß
sie sich in ungestörter Ruhe versammeln und auf ihren
allerheiligsten Glauben erbauen, sowie auch das Evangelium frei verkündigen können. Vor allem aber hat Er
die Wahrheit von Seiner nahen Ankunft und der Aufnahme der Seinigen vor den Gerichten wieder ans Licht
gestellt. Von neuem ruft Er in unsern Tagen den Getreuen zu: „Ich komme bald; halte fest, was du hast,
auf daß niemand deine Krone nehme!" (Offbg. 3, 11.)
Durch diesen Zuruf bezeugt Er selbst, daß die Seinigen
jetzt etwas haben, was sie seit den Tagen der Apostel
nicht mehr hatten. Mit einem Wort, der Herr hat Großes gethan in unsern Tagen, und Wohl könnte Er erwarten, daß die Herzen der Seinigen Ihm entgegenschlügen, und daß sie, getrennt von der Welt, Ihn erwarteten.
Aber mehr als je bietet heute die Kirche oder Versammlung in ihrer Gesamtheit ein Bild der Verwirrung, der
Gleichgültigkeit gegen Christum und der Liebe zur Welt.
Wird Christus uun aufhören, sie zu nähren und zu
243
pflegen? Wird schließlich Seine Liebe zu ihr erlöschen
und Er aufhören, des Leibes Heiland zu sein? Nie und
nimmer! Seine Liebe ist stark wie der Tod, ihre Gluten
sind Feuergluten, Flammen von Iah. Er, der innerlich
bewegt war beim Anblick Seines schmachtenden Volles
Israel, und es mit Brot speiste, wo keine Hülfsquellen
waren, ist auch heute für Seine so vielfach verblendete
und ermattete Herde die einzige Quelle der Hoffnung,
wenn alle andern Mittel erschöpft sind. Er wird in unumschränkter Gnade, auf Grund Seines Todes, die ewigen
Ratschlüsse Gottes betreffs der Versammlung ausführen.
Und dann wird sie Seine Liebe erkennen, und Er allein
wird Ihr Ruhm und der Gegenstand ihrer Freude sein.
Mit Bewunderung und Anbetung wird sie ausrufen: „Wer
ist wie Du!" und: „alle meine Quellen sind in Dir!"
Ja alles, was der Herr für Seine Versammlung
gethan hat und thun wird, alles, was Er für sie ist auf
dem ganzen Wege bis zur Herrlichkeit hin, alles zeugt
von Seiner Liebe, welche stark ist wie der Tod. Die
Erkenntnis dieser Liebe war es, was die Herzen der
Apostel belebte und sie fähig machte, sich für Ihn und
Seine Versammlung hinzugeben. Und diese Liebe allein
ist auch heute imstande, unsre Herzen zu gleichem Zweck
zu beleben. Nichts ist wohlthuender für den Herrn, als
wenn Seine Liebe verstanden und erwidert wird. Und wir
tonnen sie nicht besser erwidern, als dadurch daß wir ein
ganzes Herz für Seine Herde zeigen. „Simon, Sohn
Jonas', liebst du mich? . . . Hüte meine Schafe! —
Weide meine Lämmlein!"
Selbstredend kann dem Herrn unser Verhalten gegen
die Seinigen, die Er so unaussprechlich liebt, nicht gleich­
244
gültig sein. Er hat acht auf das Geringste, was ihnen
geschieht, sei es gut oder böse. Er selbst sagt: „Wer irgend
eiuen dieser Kleinen nur mit einem Becher kalten Wassers
tränken wird in eines Jüngers Namen, wahrlich, ich sage
euch, er wird seinen Lohn nicht verlieren." (Matth. 10, 42.)
Und: „Wer aber irgend einen einzigen dieser Kleinen, die
an mich glauben, ärgern wird, dem wäre nütze, daß ein
Mühlstein um seinen Hals gehängt, und er versenkt
würde in die Tiefe des Meeres." (Matth. 18, 6.) Selbst
bei der endgültigen Entscheidung über das Los der Nationen am Tage des Gerichts wird das Verhalten maßgebend sein, welches sie hienieden gegen das Volk Gottes
an den Tag gelegt haben: „Wahrlich, ich sage euch: insofern ihr es gethan habt einem der geringsten dieser
meiner Brüder, habt ihr es mir gethan .... Wahrlich, ich
sage euch: insofern ihr es nicht gethan habt einem dieser
Geringsten, habt ihr es auch mir nicht gethan. Und diese
werden hingehen in die ewige Pein, die Gerechten aber
in das ewige Leben." (Matth. 25, 31 — 46.) Wir sehen,
von welch entscheidenden Folgen die Behandlung des Volkes Gottes begleitet ist. Es ist dabei nicht wichtig, ob
es sich um Israel oder um die Versammlung handelt;
der Grundsatz bleibt derselbe.
Wie wichtig ist daher für uns die Frage, ob wir
der Herde Gottes zum Nutzen oder zum Schaden sind;
ob wir betreffs ihrer entschieden auf der Seite des Herrn
oder auf derjenigen des Feindes, ihres Widersachers,
stehen. Mit derselben Energie, mit welcher der Herr für
das Wohl der Herde sorgt, sucht der Feind sie zu verderben. Zur Erreichung dieses Zweckes ist ihm jedes
Mittel recht. Er tritt auf unter allen denkbaren Gestal­
245
ten und Formen, und bedient sich der verschiedenartigsten
Werkzeuge. Er hat sogar Werkzeuge, welche die Gestalt
von Dienern der Gerechtigkeit annehmen, und doch nichts
anders als seine Diener sind. „Denn solche sind falsche
Apostel, betrügerische Arbeiter, welche die Gestalt von
Aposteln Christi annehmen. Und kein Wunder, denn der
Satan selbst nimmt die Gestalt eines Engels des Lichts
an; es ist daher nichts Großes, wenn auch seine Diener
die Gestalt als Diener der Gerechtigkeit annehmen, deren
Ende sein wird nach ihren Werken." (2. Kor. 11,13—15.)
Satan ist ein Mörder und ein Lügner; bald tritt er auf
mit Gewalt, bald mit List, bald wie ein brüllender Löwe,
(1. Petr. 5, 8.) bald wie eine zischende Schlange. „Jener war ein Menschenmörder von Anfang und ist in der
Wahrheit nicht bestanden. Wenn er die Lüge redet, so
redet er aus seinem Eignen, denn er ist ein Lügner und
der Vater derselben." (Joh. 8, 44.) Er hat zunächst
schreckliche Verfolgungen gegen die Herde Gottes erweckt,
um sie zu verderben. Und als er sah, daß er ihr dadurch mehr nützte als schadete, indem die Gläubigen sich
in Zeiten der Verfolgung stets nur um so entschiedener
zusammenscharten und von der Welt getrennt hielten, ist
er zu seiner alten Taktik zurückgekehrt. So wie er einst
durch seine Lügen die Eva verführte, so hat er auch die
Kirche verführt und zu Fall gebracht. Was Paulus für
die Versammlung zu Korinth befürchtete, ist dem Feinde
betreffs der ganzen Kirche gelungen. „Ich fürchte aber,
daß etwa, wie die Schlange Eva verführte durch ihre
List, also auch euer Sinn verderbt und abgewandt werde 
von der Einfalt gegen den Christus." (2. Kor. 11, 3.)
Und noch heute ist seine wirksamste Waffe zum Verderben
246
der Herde Gottes die Lüge in ihren mannigfaltigen Formen, von der geringsten Entstellung der Wahrheit bis zu
der gröbsten Irrlehre.
Im allgemeinen wird viel zu wenig daran gedacht,,
welche schädlichen Folgen eine unrichtige Darstellung der
Wahrheit für die Herde Gottes haben kann, und wie leicht
man sich, wenn auch unbewußt, als ein Werkzeug des
Feindes gebrauchen läßt. Nicht umsonst bestand Paulus
so ernst auf einer unverfälschten Darstellung des
Wortes Gottes. Er schreibt an die Korinther: „Wir
haben den heimlichen Dingen der Schande entsagt, indem
wir nicht wandeln in Arglist, noch das Wort Gottes
verfälschen, sondern durch die Offenbarung der Wahrheit uns selbst jedem Gewissen der Menschen empfehlen
vor Gott." (2. Kor. 4, 2.) Und den Galatern ruft er
zu: „Aber wenn auch wir oder ein Engel aus dem Himmel euch etwas als Evangelium verkündigte außer dem,
was wir euch verkündigt haben, der sei verflucht! Wie
wir zuvor gesagt haben, so sage ich auch jetzt wiederum:
Wenn jemand euch etwas als Evangelium verkündigt
außer dem, was ihr empfangen habt, der sei verflucht!"
(Gal. 1, 8. 9.) Ebenso ermahnt Jakobus: „Werdet nichtviele Lehrer, meine Brüder, wissend, daß wir ein schwereres
Urteil empfangen werden, denn wir alle straucheln oft.
Wenn jemand nicht im Worte (das heißt als Lehrer desselben) strauchelt, der ist ein vollkommener Mann." (Jak.
3, 1. 2.) Welch eine große Verantwortlichkeit laden daher
alle auf sich, welche andre belehren wollen, ohne es genau
mit der Wahrheit zu nehmen! Die Lehrer des Wortes
sind in erster Linie der Gefahr ausgesetzt, dem Feinde in
die Hände zu arbeiten zum Verderben der Herde; und-
247
nur die größte Wachsamkeit kann sie vor diesem gefährlichen Fallstrick bewahren.
Durch seine List hat Satan also die Kirche dahin
gebracht, ihre himmlische Berufung aufzugeben und sich
mit der Welt zu verbinden. Und diesen Zweck verfolgt
er heute noch bei allen Gläubigen. Er weiß nur zu
gut, daß diese für seine Einflüsse nur dann zugänglich
sind, wenn sie ihre himmlische Berufung aus dem Auge
verlieren. Er weiß, daß sie dann leicht eine Beute seiner
falschen Vorspiegelungen werden, und infolge dessen alle
geistige Frische, Kraft und Energie verlieren und, gleich
verirrten Schafen, schmachtend und hülflos umherirren.
Gleich den Kindern Israel in Egypten befinden sich solche
Seelen in einem geknechteten Zustande, erfüllt mit Vorurteilen und Mißtrauen selbst gegen die, welche nur ihr
Gutes wollen. Jene sahen in Mose und Aaron nur die
Urheber ihres Unglücks: „Und sie begegneten Mose und
Aaron, die ihnen entgegentraten, als sie von dem Pharao
herauskamen. Und sie sprachen zu ihnen: Jehova sehe
auf euch und richte, daß ihr unsern Geruch stinkend gemacht habt vor dem Pharao und vor seinen Knechten, so
daß ihr ihnen das Schwert in die Hand gegeben habt,
uns zu töten." (2. Mose 5, 20. 21.) Es ist einer der
größten Kunstgriffe des Feindes, die Gläubigen nicht nur
zu knechten, sondern , auch ihre Herzen mit Vorurteilen zu
erfüllen gegen den Weg der Wahrheit, der zur Befreiung
führt. Israel konnte freilich in Egypten die Befreiung noch
nicht kennen, weil die Macht Jehovas zu ihren Gunsten noch
nicht geoffenbart war. Aber heute ist die Erlösung und Befreiung aller Gläubigen eine vollendete Thatsache. Wenn
trotzdem die große Mehrzahl derselben sich in einem Zustand
248
der Knechtschaft befindet, so ist das ein Beweis von dem
großen Einfluß des Feindes, des Lügners von Anfang, der
sie durch Entstellung der einfachen Wahrheit zu täuschen
weiß. Das ist schlimm für die Herde Gottes; aber weit
schlimmer noch für die, welche der Feind als seine Werkzeuge gebraucht, indem sie Lehrer sein wollen und die
Wahrheit nicht kennen, oder es nicht genau mit ihr nehmen. Wenn es dem, der einen einzigen der Kleinen,
die an den Herrn glauben, ärgert, *) nützlich wäre, daß
ein Mühlstein um seinen Hals gehängt und er in die
Tiefe des Meeres versenkt würde, welche Verantwortlichkeit trifft dann diejenigen, welche in leichtfertiger Weise
viele Gläubige irreführen!
*) d. h. cin Aergernis, einen Anstoß ihm in den Weg legt
wie Bileam that, „der den Batak lehrte, ein Aergernis zu legen
vor die Söhne Israels." (Offbg. 2, 14.)
Daher sollte ein jeder, der irgendwie in der Kirche
Gottes thätig ist, zunächst die Wahrheit kennen, und
dann sich durch den Heiligen Geist und nicht durch seine
eignen Gedanken leiten lassen. Er sollte bedenken, daß
er Rechenschaft geben muß (Hebr. 13, 17.) und verantwortlich ist, die Irrenden auf den Weg der Wahrheit,
anstatt immer weiter von demselben ab zu führen. Gerade in unsern Tagen, wo der geistliche Zustand der
Gläubigen im allgemeinen auf einer so niedrigen Stufe
steht, thun Arbeiter not, die im Geiste des Herrn und
Seiner Apostel arbeiten; die, erfüllt von der Liebe Christi,
alle Rücksichten auf sich selbst beiseite setzen und keine
Mühe scheuen, die Irrenden auf den rechten Weg zu
führen; die auch selbst dann nicht müde werden, wenn
sie trotz aller Bemühungen keine Frucht sehen und über­
249
all dem Widerstande des Feindes und den Vorurteilen
ihrer verirrten Brüder begegnen. Ja, es thun Arbeiter
not, die ein ganzes Interesse für Christum und darum
auch für Seine Herde haben, in deren Herzen der Liebesruf des Herrn einen lauten Widerhall findet. „Hüte
meine Schafe!" rief der Herr dem Petrus kurz vor
Seinem Weggange zu, und gleich einem Echo ertönt aus
dessen Munde der Ruf an die Mitältesten: „Hütet die
Herde Gottes!" Und mit derselben Eindringlichkeit
und Wärme erschallt von den Lippen des scheidenden Paulus das Mahnwort: „Habt acht auf die ganze Herde!"
Unsre Bemühung der Liebe muß sich auf alle Gläubigen
erstrecken, unbekümmert um die Schranken, welche diese
zwischen sich aufgerichtet haben mögen. Unser Ziel muß
sein, daß alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen,
„zu der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des
Sohnes Gottes". (Eph. 4, 13.)
Bedenken wir, welchen Wert es in den Augen Gottes
hat, wenn nur ein Gläubiger von dem Irrtum seines
Weges zurückgeführt wird. „Meine Brüder, wenn jemand unter euch von der Wahrheit abgeirrt ist, und
es führt ihn jemand zurück, der wisse, daß der, welcher
einen Sünder von dem Irrtum seines Weges zurückführt,
eine Seele vom Tode erretten und eine
Menge von Sünden bedecken wird." (Jak.
5, 19. 20.) Wenn uns der Herr in diesen Tagen der
Verwirrung die Wahrheit hat erkennen lassen, so macht
uns diese Thatsache verantwortlich, an diejenigen zu denken,
von welchen wir wissen, daß sie noch im Irrtum befangen
sind. Der Herr hat uns Augen für ihren Zustand gegeben,
und darum können und dürfen wir uns ihnen nicht ent­
250
ziehen. Der Israelit im alten Bunde war verpflichtet,
sogar das Rind seines Bruders zu diesem zurückzufuhren,
wenn er es irregehen sah; (5. Mose 22, 1.) wie können
und dürfen wir ruhig zusehen, wenn unsre Brüder in
der Irre gehen? Tausende von ihnen irren umher, wie
Schafe, die keinen Hirten haben; und was der Herr einst
von Seinen Jüngern betreffs der schmachtenden Volksmenge erwartete, erwartet Er heute von uns: „Gebt ihr
ihnen zu essen." Aber leider geht eS uns heute oft so
wie damals den Jüngern, welche dem Herrn antworteten:
„Wir haben nicht mehr als "fünf Brote und zwei Fische."
(Luk. 9, 13.) Anstatt andern etwas geistliche Speise
mitteilen zu können, haben viele von uns aus Mangel
an Glauben nur gerade so viel, daß sie selbst nicht
verschmachten. Das ist sicher sehr beschämend für uns, da
doch der Herr gesagt hat: „Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Ströme
lebendigen Wassers fließen." (Joh. 7, 38.) Sollten wir
nicht gleich dem Herrn unsre Blicke „gen Himmel" (Luk.
9, 16.) richten, dorthin, zu den ewigen und unerschöpflichen Quellen des Segens, anstatt auf unsre Armut und
auf den Mangel der Wüste zu blicken?
Wir sind leider nur zu sehr geneigt, den Widerstand
zu betrachten, welchen der Feind der Wahrheit entgegensetzt, anstatt an die Macht und Liebe des Herrn zu denken.
Er, der uns die Augen geöffnet hat, kann sie auch allen
den Seinigen öffnen. Und wenn Er die Quelle aller
Hoffnung für uns ist, so laßt uns nicht mutlos werden
durch daS, was wir um uns her sehen. Ist uns vielleicht auch der Zugang zu unsern Brüdern verschlossen,
so doch nicht zu Ihm. Und wenn wir nichts anderes
251
thun können für die Verirrten, so können wir doch für
sie beten, „und das inbrünstige Gebet eines Gerechten
vermag viel". (Jak. 5, 16.) O möchte der Herr in
Gnaden viel Gebet und Flehen in unsrer Mitte erwecken,
vor allem auch viel gemeinschaftliche Fürbitte für
unsre Brüder und für das ganze Werk des Herrn! Wo
sich Gläubige zu diesem Zwecke zusammenfinden, und seien
es auch nur zwei oder drei, dürfen sie versichert sein, daß
sie im Einklang stehen mit den Gedanken des Herrn und
der Wirksamkeit des Heiligen Geistes betreffs der Herde
Gottes. Sie haben nicht nötig zu warten, bis viele
sich mit ihnen in diesen Gebeten vereinigen. Sie sollten
beginnen, und erweckt der Geist Gottes noch andere, so
werden sich diese ihnen anschließen.

„Wir wollen aber nicht, daß ihr
unkundig seid."
(I. Thess. 4, 13.)
Gott will nicht, daß Seine geliebten Kinder unkundig
seien; Er will vielmehr, daß sie alles das kennen, was
ihre Herzen hienieden trösten und beruhigen und die Freude
derselben vollmachen kann. Er hat sie eingeweiht in die
tiefsten Geheimnisse Seines Willens, in Dinge, die von
den Geschlechtern und Zeitaltern her verborgen waren, in
Seine ewigen Ratschlüsse betreffs Seines geliebten Sohnes,
sowie der Braut, welche Er für Ihn sucht. Er hat sie zu
Mitwissern Seiner Pläne gemacht bezüglich Seines irdischen
Volkes und dieser Erde mit allem, was auf ihr ist. Auch
w i s s e n sie, daß, während sie hienieden Pilgern, alle Dinge
für sie zum Guten mitwirken müssen, daß selbst die Leiden,
Kämpfe und Versuchungen des Pilgerpfades in der Hand
252
Gottes nur ein Mittel sind, um sie zu segnen. Sie wissen,
daß, wenn ihr irdisches Haus zerstört wird, sie einen Bau
aus Gott haben werden, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges in den Himmeln. Sie wissen mit
einem Worte, daß sie schon vor Grundlegung der Welt
Gegenstände der göttlichen Ratschlüsse waren, daß sie jetzt
von der zärtlichsten Liebe umgeben sind und von einer treuen
Vaterhand geleitet werden, und daß bald die ewige Herrlichkeit ihr Teil sein wird.
Ja wahrlich, Gott hat „Seine Gnade gegen uns
überströmen lassen in aller Weisheit und Einsicht". (Eph.
1, 8.) Er will nicht, daß wir unkundig seien, auch nicht
über den Zustand derer, welche Er aus dieser Welt abruft,
die im Glauben sterben. Damit wir uns nicht „betrüben,
wie die übrigen, die keine Hoffnung haben", teilt
Er uns mit, daß jene nur schlafen, um bald wieder
aufzuwachen, daß ihr glücklicher Geist bei Jesu im Lichte 
ist, daß sie im Paradiese Gottes weilen und dort mit
ihrem geliebten Herrn auf den glückseligen Augenblick Seiner Wiederkunft warten. Sie sind nicht gestorben, sie
sind entschlafen. Ihr Leib zwar verfällt in Staub,
aber er wird auferweckt werden in Kraft und Herrlichkeit.
Ihr Lauf ist vollendet, ihre Arbeit vollbracht, und sie
ruhen aus von allem Kampf und Leid.
Erfüllen denn nicht Schmerz und Trauer unsre Herzen, wenn es Gott gefällt, eines unsrer Lieben von unsrer
Seite zu nehmen? O gewiß! Aber es ist nicht eine Betrübnis wie die der übrigen, welche keine Hoffnung
haben. Wohl weint das Auge, wohl blutet das Herz,
denn die innigsten Bande dieser Erde werden zerrissen;
aber zugleich träufelt lindernder Balsam aus der Quelle
der ewigen Liebe in die geschlagene Wunde, und der thränenumflorte Blick richtet sich mit Vertrauen nach oben,
und das blutende Herz preist den Gott, der alles, alles
wohl macht und der auch uns bald da einführen wird,
wo es kein Leid und Geschrei mehr giebt.
Ueber das Gebet.
2. „Das inbrünstige Gebet eines Gerechten
vermag viel."
iJak. 5, 16.>
Zu unsrer Ermunterung, im Gebet und Flehen nicht
müde zu werden, möchte ich jetzt auf einige Beispiele in
der Schrift aufmerksam machen, die uns zeigen, daß die
Heiligen in ihren mannigfaltigen Prüfungen und Schwierigkeiten zu allen Zeiten ihre Zuflucht zu Gott nahmen
und Erhörung fanden, ja, oft in ganz bewundernswürdiger Weise erhört wurden. Die Psalmen, welche hauptsächlich ein Ausdruck der Gesühle sind, welche der Geist
Christi in den letzten Tagen und inmitten großer Drangsale in dem treuen Ueberrest der Juden wachrufen wird,
enthalten auch für uns in der gegenwärtigen bösen Zeit
ernste Ermahnungen zu anhaltendem Gebet und Flehen;
doch will ich hier nicht länger dabei verweilen. Wenden
wir uns zunächst zu der Stelle, welche die Ueberschrift
dieses Abschnittes bildet. Wir lesen dort: „Das inbrünstige
Gebet eines Gerechten vermag viel. Elias war ein Mensch
von gleichen Gemütsbewegungen wie wir, und er betete mit
Gebet, daß es nicht regnen sollte, und es regnete nicht
auf der Erde drei Jahre und sechs Monate. Und wiederum betete er, und der Himmel gab Regen, und die
Erde brachte ihre Frucht hervor." (Jak. 5, 16—18.) Der
Leser mag nun vielleicht einwenden: Es heißt: das in-
254
brünstige Gebet eines Gerechten vermag viel; aber wie
kann ich wissen, daß ich ein solcher bin? - Wenn du ein
Gläubiger bist, so bist du auch ein Gerechter; unser
Glaube und nicht unser Wandel macht uns zu Gerechten. Lots Wandel war sicher ein höchst trauriger,
und doch nennt das Wort Gottes ihn einen Gerechten
und seine Seele eine gerechte Seele, weil er ein Gläubiger war. (S. 2. Petr. 2, 7. 8.) Unser Anrecht, Gott
zu nahen, wird also nicht durch unsern Wandel beeinflußt;
wohl aber sind unsre Freimütigkeit, ins Heiligtum
einzutreten, und unser Vertrauen zu Gott von unsrer
Treue im Wandel abhängig. Wie wichtig und ernst ist
es daher, treu zu sein und sich vom Bösen fernzuhaltenl
Wie unglücklich ist ein Kind Gottes, dem die Freimütigkeit und das Vertrauen zum Vater mangeln! Und wie
sehr wird Gott durch ein solches Kind verunehrt!
In der Reihe der anzusührenden Beispiele möchte ich
zuerst Abraham, den Vater der Gläubigen, erwähnen. Er
wurde, wie Jakobus sagt, „Freund Gottes" genannt. Als
die Gottlosigkeit Sodoms und Gomorras gleichsam bis
zum Himmel gestiegen war, da kam Jehova hernieder, um
diese Städte zu zerstören. (1. Mos. 18.) Bei dieser Gelegenheit behandelte Er Abraham als Seinen Freund, indem Er ihm Sein Vorhaben in Bezug auf jene gottlosen
Städte mitteilte. „Sollte ich vor Abraham verbergen,
was ich thun will?" (V. 17.) Abraham nun, voll von
Mitgefühl und Liebe, trug Sorge für die Gerechten in
Sodom und bat Jehova, daß Er, wenn etwa fünfzig Gerechte vorhanden sein sollten, um ihretwillen die Städte
verschonen möchte. Der Herr war völlig bereit, der Bitte
Seines Freundes zu willfahren, und Abraham, durch die
255
gnädige Zusage Jehovas ermutigt, fährt fort zu bitten.
Gab es keine fünfzig Gerechte in Sodom, so doch vielleicht
fünf und vierzig. „Ich will sie nicht verderben," antwortete Gott, „wenn ich fünf und vierzig daselbst finde."
— Vielleicht sind es nur vierzig. — „Ich will nicht verderben um der vierzig willen." — Immer kühner werdend, steigt Abraham nunmehr auf dreißig, dann auf
zwanzig und endlich sogar auf zehn herab, indem er nicht,
wie im Anfang, nur fünf, sondern jedesmal gleich zehn
Gerechte abzieht. Und siehe, er empfängt von Jehova
stets dieselbe bereitwillige Zusage. Schließlich schweigt
Abraham; sein Glaube wagt nicht noch weiter zu gehen,
obwohl sich Jehova am Ende ebenso bereitwillig zur Gewährung der Bitte Seines Freundes zeigt wie im Anfang.
Die Gnade des Herrn übersteigt immer unsern Glauben.
Er vermag über alles hinaus zu thun, über die Maßen
mehr als was wir erbitten oder erdenken. (Eph. 3, 20.)
In 1. Samuel 1 wird uns erzählt, daß Hanna, das
Weib Elkanas, keine Kinder hatte, was in Israel eine
große Schmach war. In ihrer tiefen Betrübnis, die noch
durch die Kränkungen von feiten ihrer Widersacherin Peninna vermehrt wurde, (V. 6.) nahm sie ihre Zuflucht
im Gebet und Flehen zu Jehova. (V. 10.) Sie kam nicht
vergeblich; Gott antwortete ihr durch den Mund Elis.
Und sobald sie die Erhörung ihrer Bitte vernommen hatte,
betete sie mit ihrem Manne vor Jehova an. (V. 19.)
Sie gebar einen Sohn, und gab ihm den Namen Samuel,
d. i. von Gott erhört. Dieser war nicht nur ein 
Trost und eine Freude ihres Herzens, sondern wurde auch
nachher ein großer Prophet und ein treuer und gesegneter
Diener Jehovas.
256
Von Asa, dem Könige von Juda, wird uns in 2.
Chronika 14 mitgeteilt, daß er, wenigstens im Anfang
seiner Regierung, that, was gut und recht war in den
Augen Jehovas, seines Gottes; (V. 2—8.) und als Serach,
der Kuschiter, mit einem großen Heere wider ihn zog, da
rief er zu Jehova und sprach: „Jehova! es ist bei Dir
kein Unterschied, dem Mächtigen zu helfen oder dem Kraftlosen; hilf uns, Jehova, unser Gott, denn wir stützen uns
aus Dich, und in Deinem Namen sind wir wider diese Menge
gekommen. Du, Jehova, bist unser Gott, laß den Menschen nichts wider Dich vermögen!" (V. 11.) Asas Vertrauen auf die Macht und Hülfe Gottes wurde nicht beschämt. „Jehova schlug die Kuschiter vor Asa und vor
Juda ..., daß keiner von ihnen am Leben blieb." (V. 12.13.)
Aehnliches finden wir bei dem König Josaphat in
2. Chronika 20, als die Feinde Israels in vereinigter
Macht wider ihn heraufzogen. „Josaphat fürchtete sich
und richtete sein Angesicht, Jehova zu suchen." (V. 3.)
Von seinem Gebet und von der Antwort des Herrn auf
dasselbe will ich hier nur einige Verse anführen; doch
möchte ich den Leser dringend bitten, das ganze Kapitel
mit aller Aufmerksamkeit zu betrachten. Es ist sehr beachtenswert, daß Josaphat in seinem Gebet zunächst von
dem spricht, was Gott ist, von Seiner Größe und Macht,
sowie von dem, was Gott gethan oder zu thun verheißen
hat, und daß er erst am Ende seiner bedrängten Lage
und seiner Ohnmacht Erwähnung thut. „Jehova, Gott
unsrer Väter, bist Du nicht der Gott im Himmel und Du
der Herrscher über alle Königreiche der Nationen? Und
in Deiner Hand ist Macht und Kraft, und niemand ist,
der gegen Dich besteht. ..... Unser Gott, willst Du
257
nicht richten über sie? Denn in uns ist keine Kraft vor
dieser großen Menge, die wider uns kommt, und wir wissen nicht, was wir thun sollen, sondern auf Dich sind
unsre Augen gerichtet." (V. 6. 12.)
So betet der Glaube. Er giebt Gott den ersten
Platz und nimmt selbst den letzten ein; er denkt zuerst an
die Verherrlichung Gottes, und dann erst an das vorliegende Bedürfnis. Wir nahen ja dem allmächtigen
Gott, der uns vollkommen liebt und unser Vater ist; Er
weiß auch, was wir bedürfen, ehe wir Ihn bitten. Wir
haben wahrlich nicht nötig, mit Angst und Sorge erfüllt
zu sein, wenn wir unS zu Ihm wenden. Es ist nicht
Glaube, wenn wir zu allererst von unsern Schwierigkeiten
zu Ihm reden, während wir das, was Er ist und was
Er in Seiner Liebe und Macht für uns gethan hat
und thut, mehr oder weniger vergessen. So naht der
Glaube Gott nicht. Für ihn hat es keine Eile, von dem
Bedürfnis zu reden, das gerade vorliegt. Er weiß, wer
es ist, zu dem er sich betend wendet; er vertraut völlig
auf die Gnade, Liebe und Macht Gottes. Und denken
wir wohl daran, nur ein solches Gebet hat wahren Wert
vor Gott und kann auf Erhörung rechnen.
Das erfuhr auch der König Josaphat in reichem
Maße. Wie tröstlich war die Antwort Jehovas auf sein
Gebet des Glaubens! „Ihr sollt euch nicht fürchten und
sollt nicht zagen vor dieser großen Menge; denn nicht
euer ist der Streit, sondern Gottes. . . . Ihr werdet hier
nicht zu streiten haben; stellet euch hin, stehet und sehet
die Rettung Jehovas an euch. Juda und Jerusalem!
fürchtet euch nicht und zaget nicht; morgen ziehet ihnen
entgegen, und Jehova wird mit euch sein." (V. 15. 17.)
258
Das war in der That eine herrliche Antwort; und wie
völlig Josaphat und das Volk dem Worte Jehovas vertrauten, geht daraus hervor, daß sie, bevor es erfüllt war,
Ihn priesen und anbeteten. (V. 18. 19.) Die Wirklichkeit
ihres Glaubens bewies sich auch darin, daß sie beim Ausrücken die Sänger den Gerüsteten voranziehen ließen, um
Jehova zu lobsingen in heiligem Schmuck. (V. 21.) Sie
hatten sä auch mit dem Kampfe selbst nichts zu thun, weil
Gott ihn übernommen hatte. Angesichts des übermächtigen Feindes konnten sie ruhen und dem Namen ihres Gottes Loblieder singen. Wie herrlich ist der Pfad des Glaubens, und wie reich seine Belohnung! Als Juda auf die
Bergwarte kam, fanden sie nur Leichname und große Beute.
(V. 24. 2b.) Jehova hatte für sie gestritten und ihnen
die Früchte des Sieges überlassen. Ja, Gott ist unermeßlich
groß in Seiner Macht und Güte, und stets bereit, allen
zu helfen, welche ihr Vertrauen auf Ihn setzen! Möchten
wir dies doch nie vergessen!
Dieselbe gesegnete Erfahrung machte der König Hiskia,
als die Assyrer Jerusalem belagerten. (2. Kön. 19.) In
seiner Bedrängnis wandte auch er sich zu Jehova und
betete: „Jehova,.Gott Israels, der zwischen den Cherubim thront, Du, der da ist, Du allein bist der Gott von
allen Königreichen der Erde; Du hast den Himmel und
die Erde gemacht. Jehova, neige Dein Ohr und höre,
Jehova, thue Deine Augen auf und siehe, und höre die
Worte Sanheribs, der gesandt hat, den lebendigen Gott
zu höhnen. . . . Und nun, Jehova, unser Gott, rette uns
doch von seiner Hand, auf daß alle Königreiche der Erde
wissen, daß Du, Jehova, allein Gott bist." (V. 15.16.19.)
Wir begegnen hier derselben Erscheinung wie bei Josaphat.
259
Hiskia spricht in seinem Gebet zuerst von der herrlichen
Größe und Macht Gottes, und darnach erst von der Errettung aus der Hand des Feindes. In Vers 20—84
haben wir die erhabene Antwort Gottes auf das Gebet 
des bedrängten Königs, und noch in derselben Nacht trat
die Erfüllung der göttlichen Zusage ein. (V. 35—37.)
Das folgende Kapitel enthält eine ähnliche Gebetserhörung, zeigt uns aber Hiskia nicht auf derselben Höhe
des Glaubens. „In jenen Tagen ward Hiskia krank
zum Sterben; und Jesaja, der Sohn Amoz', der Prophet,
kam zu ihm und sprach zu ihm: Bestelle dein Haus,
denn du wirst sterben und nicht mehr leben." (V. 1.) Hiskia
war nicht ergeben genug, um sich dem Willen Gottes
still zu unterwerfen; er flehte um Verlängerung seiner Tage. Sein Gebet wurde erhört, obwohl wir in Vers
8—11 sehen, wie schwach sein Vertrauen auf die Zusage
Jehovas war. Es wurden seinen Tagen noch fünfzehn
Jahre hinzugefügt, doch nicht zum Segen für ihn. Sein
Herz erhob sich, und infolge dessen ließ Gott ihm und
seinem Hause das Gericht ankündigen. Diese traurige
Erfahrung des Hiskia ist eine ernste Ermahnung für uns.
In allen unsern Umständen und Wegen, welche mit dieser
Schöpfung in Verbindung stehen, haben wir uns ganz und
gar den treuen Händen unsers Gottes zu überlassen; denn
Er allein ist weise, und Er liebt uns mit einer unvergleichlichen Liebe. Wir wissen in diesen Dingen nicht,
was wir bitten sollen, wie sich's gebührt; wir „wissen
aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten
mitwirken, denen, die nach Vorsatz berufen sind." (Röm. 8,
26. 28.)
Ich möchte jetzt einen Augenblick bei dem Propheten
260
Daniel verweilen, dessen Leben uns ein so schönes Zeugnis von einem unablässigen Verkehr mit Gott giebt. Es
ist uns bekannt, daß Daniel als Jüngling mit den treulosen und abtrünnigen Bewohnern Jerusalems in die babylonische Gefangenschaft gebracht wurde. Allein obgleich er
nach menschlichem Urteil Ursache gehabt hätte, zu denken,
daß er als Sklave am Hofe eines heidnischen Königs nicht
wie ein Jude leben könne, so nahm er sich doch in seinem Herzen vor, sich nicht mit der Speise des Königs zu
verunreinigen. (Kap. 1, 8.) Er und seine drei Freunde
waren fest entschlossen, um jeden Preis abgesondert zu
bleiben und nach den Geboten des Herrn zu wandeln;
und wir sehen, daß Gott sich auf eine wunderbare Weise
zu ihrer Treue bekannte. (V. 9 - 20.) Bald nachher wollte
Nebukadnezar alle Weisen Babylons, auch Daniel und seine
Genossen, umbringen lassen, weil jene einen von ihm vergessenen Traum nicht mitzuteilen und zu deuten vermochten. 
(Kap. 2, 1 — 13.) Als Daniel dies erfuhr, da nahmen
er und seine drei Freunde ihre Zuflucht zu dem Gott des
Himmels und flehten um Seine Barmherzigkeit wegen dieses Geheimnisses. (V. 18.) Gott erhörte sie und machte
dasselbe dem Daniel in einem Nachtgesicht kund. Doch
bevor er zu Nebukadnezar hineilte, lobte und pries er den
Namen Gottes. (V. 19—23.) Gott nahm in allem den
ersten Platz in seinen Gedanken ein.
Nachher stieg Daniel am Hofe Nebukadnezars von
Stufe zu Stufe, aber sein Herz blieb demütig und niedriggesinnt; er wandelte stets in derselben Abhängigkeit und
Treue vor Gott. Mochte er ein Sklave sein, oder den
Ehrenplatz im Thore des Königs einnehmen, (V. 49.)
oder gar, wie wir im 6. Kapitel hören, ein Fürst gewor­
261
den sein, — allezeit wandelte er in der Furcht GotteS;
nichts vermochte ihn in seiner Treue zu erschüttern. Unter
der Herrschaft des Darius gaben sich seine Feinde, die
mit Neid und Eifersucht erfüllt waren, große Mühe, ihn
aus dem Wege zu räumen. Allein ihr neidisches Auge,
so scharf es auch blicken mochte, konnte nichts finden,
dessen sie ihn bei Darius hätten anklagen können. Er
war in allem treu. (Kap. 6, 3.) Wahrlich, ein schönes
Zeugnis, wenn die Feinde Daniels sich zu dem Bekenntnis gezwungen sahen: „Wir werden wider diesen Daniel
keinen Vorwand finden, es sei denn, daß wir in dem
Gesetz seines Gottes etwas wider ihn finden." (V. 6.)
Geliebter Leser! möchte auch uns ein ähnliches Zeugnis
im Blick auf unsern Dienst gegeben werden können! Weil
jene bösen Männer Daniel keinerlei Untreue nachweisen
konnten, so blieb ihnen nichts anderes übrig, als seine
Treue zu benutzen, um ihn zu Fall zu bringen. Scheinbar
erreichten sie ihren Zweck. So sehr es den von seinen
Fürsten überlisteten König auch schmerzte, so konnte er
doch nicht anders, als Daniel zum Tode in der Löwengrube verurteilen.
Aber welch eine Ruhe und Gelassenheit finden wir
bei Daniel! Er eilt nicht zu Darius, um die Bosheit
seiner Feinde aufzudecken, oder um für sich um Gnade zu
flehen. O nein; obwohl er wußte, welch ein schrecklicher
Tod seiner wartete, „ging er in sein Haus, (und er hatte
in seinem Obersaal geöffnete Fenster nach Jerusalem hin,)
und dreimal des Tages kniete er auf seine Kniee und
betete und lobprieS vor seinem Gott, ebenso wie er
vor diesem gethan hatte." (V. 11.) Die Feinde
Daniels hatten sich nicht in ihm getäuscht; er blieb seinem
262
Gott völlig treu, wenn auch sein Leben in Frage stand.
Angesichts seiner Feinde ging er täglich dreimal in sein
Haus und betete zu Gott bei geöffneten Fenstern. Blochten sie auch sein Haus umstehen und auf ihn lauern —
sein Glaube sah nur Gott, vor dem er auf seinen Knieen
lag und betete. War auch sein Tod eine beschlossene
Sache, so lobpries er doch vor seinem Gott, ebenso wie er
vor diesem gethan hatte. Welch eine Gottesfurcht, welch
eine völlige Hingebung! Nur ein wahrhafter und unablässiger Verkehr mit Gott kann eine solche Gesinnung hervorbringen. Wie wunderbar aber wurde auch sein Glaube belohnt und Gott durch seine Treue verherrlicht! (V. 22 — 28.)
Aber wo, möchte ich fragen, ist dieser Glaube und diese
Treue in unsern Tagen zu sehen? Bei wem findet sich
dieses unablässige Beharren im Gebets O möchte es mehr
Nachahmung unter uns finden!
Es giebt noch viele andere schöne und ermunternde
Beispiele ähnlicher Art, wie die bereits angeführten, im
Alten Testament; aber es würde uns zu weit führen,
wollten wir noch länger dabei verweilen. So mögen denn
nur noch einige Beispiele aus dem Neuen Testament hier
einen Platz finden. Da ist zunächst unser, geliebter
Herr selbst, bei welchem wir einige Augenblicke verweilen
müssen. Wir lesen von Ihm in Phil. 2, 6 — 8, daß Er,
„da Er in Gestalt GotteS war, es nicht für einen Raub
achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts
machte und Knechtsgestalt annahni, indem Er in Gleichheit der Menschen geworden ist, und in Seiner Stellung
wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte und gehorsam ward bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuze."
Durch Seine gänzliche Unterwürfigkeit unter dem Willen
263
Gottes und durch Sein unablässiges Gebet erwies Er sich
als der völlig abhängige Mensch. Er war sanftmütig
und von Herzen demütig; Er nahm hienieden den niedrigsten Platz ein; die Füchse und Vögel besaßen mehr
als Er, denn Er hatte nicht, wo Er Sein Haupt hinlegen konnte. (Luk. 9, 58.) Er, der reich war, wurde
um unsertwillen arm, auf daß wir durch Seine Armut
reich würden. (2. Kor. 8, 9.) Anbetungswürdige Gnade
und Liebe!
Wir lesen an mehreren Stellen in den Evangelien,
daß der Herr allein ging, um zu beten, daß Er bald auf
einen Berg stieg, bald an einen wüsten Ort ging. (Matth.
14, 23; Luk. 5, 16; Mark. 1, 35.) Er betete, als Er
von Johannes getauft wurde und Seinen Dienst begann.
(Luk. 3, 21.) Er betete, ja, „Er beharrte die ganze Nacht
im Gebet zu Gott, als Er aus Seinen Jüngern zwölf
erwählte, die Er auch Apostel nannte". (Luk. 6, 12.)
Er ging mit Petrus und Johannes und Jakobus auf den
Berg, um zu beten, und indem Er betete, wurde Er verklärt. (Luk. 9, 28.) Er betete, ja, Er „opferte Bitten und
Flehen mit starkem Geschrei und Thränen", (Hebr. 5, 7.)
als in Gethsemane Tod und Gericht vor Ihm standen
und Seine heilige Seele mit Angst und Schrecken erfüllten.
(Luk. 22, 41-44.)
Durch Sein unablässiges Gebet bewies Er, wie schon
erwähnt, Seine völlige Abhängigkeit von Gott, und eben
dadurch beweisen auch wir die unsrige. Zudem sind wir
in uns selbst ohne wahre Weisheit und ohne alle Kraft;
und je mehr wir dieses durch die Gnade Gottes erkennen,
desto mehr werden wir im Gebet und Flehen beharren,
wenn wir anders Seinen Namen zu verherrlichen und uns
264
in Ihm zu erfreuen begehren. Es ist nicht unsre Erkenntnis, die uns Kraft giebt, dem Herrn zu dienen
und Ihm unser Leben zu weihen, sondern das anhaltende
Gebet. Dasselbe zieht uns von allem ab, was hienieden
ist, und hält uns in Verbindung mit dem, was droben
ist; es unterhält unsre Gemeinschaft mit Gott, der Quelle
aller Kraft. Deshalb wird auch jede wahrhaft gottesfürchtige Seele stets im Gebet zu beharren begehren.
Wir lesen von der vierundachtzigjährigen Witwe Anna,
daß sie nicht von dem Tempel wich, indem sie Nacht und
Tag diente mit Fasten und Flehen. (Luk. 2, 36 -38.)
— Der Apostel sagt von einer wirklichen Witwe, die vereinsamt ist: „Sie hofft auf Gott und beharrt in dem
Flehen und den Gebeten Nacht und Tag."
(1. Timoth. 5, 5.) — Als der Herr den Anamas aufforderte, sich in Damaskus nach einem Manne, namens
Saulus, zu erkundigen, fügte Er hinzu: „denn siehe,
er betet." (Apstgsch. 9, 11.) Das war das erste Zeichen eines neuen Lebens in ihm. — In Apostelgesch. 10
wird uns von Kornelius, einem heidnischen Hauptmann,
gesagt, daß er dem Volke (d. h. dem Volke Israel) viele
Almosen gab und allezeit zu Gott betete. Beides
gab Zeugnis von seinem Glauben, der von Gott anerkannt und reichlich gesegnet wurde. In demselben Kapitel
heißt es auch von Petrus: „Er stieg um die sechste Stunde
auf das Dach, um zu beten." (V. 9.) Und in dieser
Stunde wurde er von Gott unterwiesen, daß Er auch den
Nationen die Buße zum Leben gegeben habe. (Kap. 11,18.)
— Als Paulus und Silas in Philippi, nach vielen
Schlägen, in das innerste Gefängnis geworfen wurden
und ihre Füße im Stock befestigt waren, „beteten sie
265
um Mitternacht und lobsangen Gott; und es hörten sie
die Gefangenen." (Apstgsch. 16, 25.) Waren auch ihre
Füße im Stock, so war doch ihr Herz bei Gott, der Quelle
alles Trostes und alles Ansharrens.
Der Herr gebe auch uns Gnade, daß wir uns nie 
bei den Umständen, mögen sie noch so schwierig scheinen,
aufhalten, sondern uns immer mit wahrem Vertrauen zu
Ihm wenden, der uns nicht nur vollkommen liebt, sondern
auch Macht hat, uns in einem Augenblick aus denselben
zu befreien, oder uns Mut und Kraft darzureichen, um
mit völliger Ergebung darin auszuharren. So lange unser
Glaube Ihn zwischen uns und unsern Umständen sieht,
sind wir, wie Paulus und Silas, fähig, Ihm selbst in der
schwierigsten Lage zu lobsingen. So lange der Gläubige
die Gegenwart des Herrn verwirklicht, indem er sich durch
nichts abhalten läßt, allezeit den Herrn zu preisen und
im Gebet und Flehen zu beharren, geht er ruhig und getrost
durch diese versuchungsreiche Welt. Sein Herz ruht in
Gott, und er legt alles, was ihn beschweren und ihm
Sorge machen will, an dem Throne Dessen nieder, der
verheißen hat, für uns sorgen zu wollen, und der größer
ist als alles. «Fortsetzung folgt.)
Der Richterstuhl Christi und das Gericht.
Man kann sich kaum einen ernsteren Gegenstand vorstellen als das zukünftige Gericht; und doch giebt
eS wohl keinen, über welchen so viele verwirrte Begriffe
herrschen. Manche wahre Gläubige entbehren den Genuß
des Friedens mit Gott allein deshalb, weil ihre Gedanken
über diesen Gegenstand irrig sind.
266
Man denkt im allgemeinen, es werde am Ende der
Geschichte dieser Welt eine Stunde kommen, in welcher
Christus zum Gericht erscheinen werde; alsdann würden
die Gräber geöffnet und Erlöste und Verlorne zugleich
gerichtet werden. Mit andern Worten, es werde zu derselben Zeit eine allgemeine Auferstehung und dann ein 
allgemeines Gericht stattfinden.
Wenn wir indes das Wort Gottes untersuchen, so
werden wir deutlich sehen, dah dasselbe nicht die geringste
Anleitung zu dieser Meinung giebt; im Gegenteil finden
wir, daß, anstatt einer, zwei Auferstehungen sein werden, und zwar mit einem Zwischenraum von wenigstens
tausend Jahren, (vergl. Joh. 5, 29 u. Offenb. 20, 1—7.)
und ferner, daß, anstatt eines allgemeinen Gerichts,
jedenfalls drei Gerichte stattstnden werden, die in Charakter und Zeit völlig von einander verschieden sind, und
in der Schrift folgende Bezeichnungen tragen:
1. Der Richterstuhl Christi, vor welchem alle Erlösten geoffenbart werden sollen, nachdem Christus die
Seinigen von der Erde ausgenommen hat. (Röm. 14, 10;
2. Kor. 5, 10.) Dies ist also kein eigentliches Gericht.
2. Der Thron der Herrlichkeit, vor welchem
alle Völker der Erde versammelt werden sollen, wenn die
irdische Regierung Christi beginnt. (Matth. 25, 31 rc.)
3. Der große weiße Thron, vor welchem alle
Toten, groß und klein, erscheinen und gerichtet werden
sollen, nachdem die Regierung Christi auf der Erde zu
Ende gegangen ist. (Offb. 20, 11 rc.)
Es ist sehr wichtig daran zu denken, daß für die
Kinder Gottes das Gericht vorüber ist. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wer mein Wort hört und glaubt Dem,
267
der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht
ins Gericht, sondern ist aus dem Tode in das Leben
hinübergegangen." (Joh. 5, 24.)
Der Leser wird vielleicht einwenden: „Steht denn
nicht geschrieben, daß es allen Menschen gesetzt ist, einmal
zu sterben und darnach das Gericht?" Nein, das steht
nicht geschrieben. Es heißt in Hebr. 9, 27: „Und ebenso
wie es den (nicht allen) Menschen gesetzt ist, einmal
Zu sterben rc." Es ist das LoS der Menschen im allgemeinen. Allein in V. 28 finden wir das Teil der Gläubigen. Dort heißt eS: „Also wird auch der Christus,
einmal geopfert, um vieler Sünden zu tragen, zum
zweiten Male denen, die Ihn erwarten, ohne Sünde erscheinen zur Seligkeit." In dem Tode Jesu war Gott
mit den Sünden derer beschäftigt, welche Ihn erwarten, so
daß das erste Kommen Christi in Beziehung zu der Sünde
stand. Bei Seinem zweiten Kommen aber hat Christus
nichts mehr mit der Sünde zu thun. Die Frage der
Sünde ist für den Gläubigen ein für allemal entschieden,
und er erwartet seinen Herrn nicht zum Gericht, sondern
nur um durch Ihn völlig aus der Stellung befreit zu
werden, in welche die Sünde ihn gebracht hat. Er erwartet Ihn als Den, der seinen niedrigen Leib umgestalten wird zur Gleichförmigkeit Seines verherrlichten
Leibes. Für die Ungläubigen muß die Erscheinung Christi
freilich zum Gericht sein, aber für die Gläubigen bedeutet
sie eine völlige Befreiung, eine vollkommene Erlösung;
oder mit andern Worten: alle Früchte deS durch Christum
bei Seinem ersten Kommen vollbrachten Werkes werden
von den Gläubigen bei Seinem zweiten Kommen genossen
werden.
268
Welch eine Ruhe giebt es unsern Seelen, wenn wir
erkennen, daß Gott uns nie mehr wegen unsrer Sünden
richten kann! Hat nicht Christus einmal für Sünden gelitten, Er, „der Gerechte für die Ungerechten, auf daß 
Er uns zu Gott führe" ? (1. Petr. 3, 18.) Hat Er nicht
unsre Sünden an Seinem Leibe auf das Holz getragen?
(1. Petr. 2, 24.) Und hat Er sich nicht, „nachdem
Er ein Schlachtopfer für die Sünden dargebracht, auf
immerdar gesetzt zur Rechten Gottes" ? (Hebr. 10, 12.)
Wahrlich, der Gläubige wird nimmermehr für Sünden zu
leiden haben, für welche Christus einmal gelitten hat!
Warum müssen wir denn aber alle vor dem Richterstuhl Christi erscheinen? Das Wort Gottes giebt uns
darüber völligen Aufschluß, und um klar in dieser Sache
zu sehen, wollen wir die drei oben angedeuteten verschiedenen Gerichte etwas näher betrachten.
1. Der Richter st uhl Christi.
Obwohl der Gläubige nie um seiner Sünden willen
gerichtet werden wird, so muß er doch vor dem Richterstuhl Christi geoffenbart werden. (S. 2. Kor. 5, 10.)
Es wird sehr häufig von Gläubigen übersehen, daß es nicht
heißt: „Wir müssen alle gerichtet werden." Das würde
dem Worte des Herrn in Joh. 5, 24 widersprechen, wo
es ausdrücklich heißt, daß wir nicht in das Gericht kommen
sollen; und wir können sicher sein, daß sich Gottes Wort
nie widerspricht. Es heißt in 2. Kor. 5, 10, daß wir
vor dem Richterstuhl Christi geoffenbart werden müssen,
d. h. alles, was wir hier auf der Erde gethan haben,
wird dort ans Licht kommen. Es handelt sich dann nicht
um die Frage, ob wir in den Himmel kommen werden,
noch wird dort erst entschieden, wo wir die Ewigkeit zu­
269
bringen sollen; denn der Gläubige weiß jetzt schon, daß
er für immer mit Christo in der Herrlichkeit sein wird.
„Wir wissen, daß .... wir ein Haus haben werden, ein ewiges, in den Himmeln." (2. Kor. 5,1.) Wir,
die Gläubigen, besitzen jetzt schon volle Gewißheit über
unser ewiges Heil; „darum sind wir allezeit gutes Mutes"
(V. 6.) und „danksagen dem Vater, der uns fähig gemacht hat zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem
Lichte." (Kol. 1, 12 )
Indes möchte jemand fragen: „Wird ein solch festes
Vertrauen uns nicht in unserm Wandel hienieden nachlässig machen?" Gewiß nicht; denn so lange Christus der
teure Gegenstand unsers Herzens ist, so lange Seine Liebe
und Seine Leiden für uns in Wahrheit hochgeschätzt werden, wird es unser innigstes Verlangen sein, Ihm wohlgefällig zu leben. Ja, nur unsre Liebe zu Ihm, hervorgerufen durch den Genuß Seiner unendlichen Liebe, ist 
der einzig wahre Beweggrund, die einzig richtige Triebfeder
unsers Wandels. „Die Liebe des Christus drängt uns",
sagt der Apostel. Indes dürfen wir nicht vergessen, daß
wir alle vor dem Richterstuhl Christi geoffenbart werden
müssen. Dies geschieht aber durchaus nicht, um über uns
zu beschließen, ob wir in den Himmel kommen oder nicht.
Denn wenn der Gläubige stirbt, so geht seine Seele zu
Christo, während sein Leib in das Grab gelegt wird; er
„ist ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem
Herrn". (2. Kor. 5, 8.) Und Paulus sagt, daß er Lust
habe, abzuscheiden und bei Christo zu sein; (Phil. 1,
23.) und der Herr endlich ruft dem Räuber am Kreuze zu:
„Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein." Wenn nun Paulus, der Räuber und alle
270
seitdem entschlafenen Gläubigen bei Christo sind, ist es
dann denkbar, daß sie die Stätte ihres vollkommenen
Glückes einmal wieder verlassen müssen, um gerichtet zu
werden und zu sehen, ob sie ein Recht hatten, dort zu
sein oder nicht? Unmöglich!
Man könnte nun einwenden: „Allerdings sind die
Seelen jener Entschlafenen bei Christo, während ihre Leiber im Grabe liegen; wird aber die Auferstehung keine
Veränderung in diesem Zustande heroorbringen?" Sicherlich; doch hören wir, was Gottes Wort darüber sagt.
Das 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes beschäftigt sich
mit der Frage der Auferstehung; zuerst mit der Auferstehung
Christi und dann mit derjenigen der Gläubigen. Dies ist
von großer Wichtigkeit; denn wenn Christus nicht auferweckt ist, so ist unser Glaube eitel, wir sind noch in
unsern Sünden. (1. Kor. 15, 17.) Wenn aber Christus
auferweckt ist, so werden auch die Toten auferweckt werden. In welcher Ordnung? „Der Erstling Christus; sodann die, welche des Christus sind bei Seiner Ankunft."
(V. 23.) Und wie sollen sie auferstehen? Lesen wir mit
aller Aufmerksamkeit den 43. Vers: „Es wird gesäet in
Unehre, es wird auferweckt in Herrlichkeit; es wird gesäet in Schwachheit, es wird auferweckt in Kraft." Es
ist klar, daß hier allein von Gläubigen die Rede ist.
Wenn der Gläubige nun auferweckt ist, muß er dann
noch gerichtet werden, um festzustellen, ob er in die Herrlichkeit kommt oder nicht? Wahrlich nicht! Er wird ja
auferweckt in Herrlichkeit! Möchten diese Worte tief in
das Herz des Lesers dringen: „auserweckt in Herrlichkeit"!
Was nun die Gläubigen betrifft, die noch leben wer­
271
den, wenn Christus kommt, (und der Schreiber und Leser
dieser Zeilen können zu dieser Zahl gehören,) so erwarten
sie als Heiland den Herrn Jesum Christum, der den Leib
ihrer Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit des
Leibes Seiner Herrlichkeit. (Phil. 3, 20. 21.) Wenn
Christus kommt, so werden die dann noch lebenden Gläubigen in einem Augenblick verwandelt und Christo gleichförmig gemacht werden. (Vergl. 1. Thess. 4 und 1. Joh. 3.)
Hieraus folgt, daß, wenn wir vor dem Richterstuhl Christi
geoffenbart werden, wir schon verherrlicht und Ihm gleichgemacht sind.
Wozu dient dann aber der Richterstuhl Christi? Er
kann, wie bereits gesagt, nicht den Zweck haben, uns zu
richten. Welchen Zweck erfüllt er denn? Wir werden
dort, bei Christo und in verherrlichtem Leibe, unser ganzes Leben hienieden, unsern Wandel und unsre Umstände
überblicken, und werden in dem vollen Lichte Seiner Gegenwart jede That unsers Leben betrachten. Wir werden sie
sehen, wie Er sie sah, und beurteilen, wie Er sie beurteilte,
und wir werden Seine unveränderliche Gnade und Liebe,
die so lange solch schwache und irrende Geschöpfe mit großer Geduld getragen hat, preisen und anbeten. Er wird
auch Seine Freude darin finden, des Geringsten, das wir
für Ihn gethan haben, zu gedenken; selbst ein Becher
kalten Wassers, den wir in Seinem Namen gegeben haben,
soll nicht vergessen werden. Dann „wird ein jeder seinen
eignen Lohn empfangen nach seiner eignen Arbeit". (1. Kor.
3, 8.) O geliebter Leser, laß uns die kostbaren Gelegenheiten, die uns hienieden gegeben werden, um Christo zu dienen, nicht unbenutzt Vorbeigehen lassen! Reißen wir uns los
aus dem Zustande der Trägheit und Gleichgültigkeit, in
272
welchen wir, ach! so leicht verfallen; laß nns nicht für
uns leben, sondern für Ihn, der für uns gestorben ist!
Welch ein ernster Gedanke ist es, daß dort alles ans
Licht kommen wird! Wie behutsam und ernst sollte dieses
Bewußtsein uns in unserm ganzen Wandel hienieden machen! Bei allen unsern Worten und Werken sollte unser
Blick stets auf den Tag gerichtet bleiben, wo wir vor dem
Richterstuhl Christi geoffenbart werden sollen!
„Aber," möchte man fragen, „spricht der Apostel nicht
von dem Schrecken des Herrn? Ist es nicht, als ob er
doch etwas Furcht vor dem Ausgang jenes Tages gehabt
hätte?" Er redet allerdings von dem Schrecken des Herrn,
aber nicht als ob er im Blick auf sich oder irgend einen
andern Gläubigen dann gerichtet zu werden befürchtete;
seine Besorgnis galt vielmehr andern. Wenn der Richterstuhl Christi schon eine so ernste Sache für diejenigen ist,
welche durch das Blut Christi gereinigt sind, was wird er
dann für den sein, der kein Teil an diesem Blute hat!
Paulus sagt daher: „Da wir nun den Schrecken des Herrn
kennen, so überreden wir die Menschen." (V. 11.)
Wie sehr werden wir den Namen des Herrn preisen,
wenn wir vor Seinem Richterstuhl auf unser Leben hienieden zurückblicken und all der Wege gedenken werden,
auf welchen der Herr, unser Gott, uns so treu und gnädig geleitet hat! Ohne diesen Tag würden wir nimmer
die unbegrenzte Gnade Gottes und Seine unveränderliche
Treue und Liebe kennen lernen. Und wenn dann alle
unsre Sünden, alle unsre Mängel und Gebrechen offen
vor uns liegen, dann werden wir, anstatt in Angst und
Furcht versetzt zu werden, mit um so größerer Dankbarkeit das Lied der Erlösung anstimmen: „Dem, der uns
273
liebt und uns von unsern Sünden gewaschen hat in Seinem Blute und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu
Priestern Seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in die Zeitalter der Zeitalter!
Amen." (Offb. 1, 5. 6.)
2. Der Thron der Herrlichkeit oder das
Gericht der Lebendigen.
Wir kommen jetzt zu dem zweiten jener drei Gerichte, welche wir oben erwähnt haben, und zwar finden
Wir Näheres darüber in Matth. 25, 31 rc., in dem Gericht über die Schafe und Böcke.
Man meint vielfach, hier die Beschreibung eines
Schauspiels vor sich zu haben, welches am Ende der Geschichte dieser Welt stattfinden werde, und wo alle Menschen vor dem Throne Gottes stehen würden, um wegen
ihrer Sünden gerichtet zu werden; die Schafe sind, wie
man sagt, die wahren Gläubigen, und die Böcke stellen die
Unbekehrten vor. Dies ist unrichtig, und zum Beweise
dafür möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers einen
Augenblick auf den so wichtigen Gegenstand der Wiederkunft Christi lenken. Im Neuen Testament wird von
diesem großen Ereignis in zwiefacher Weise gesprochen.
Zuerst wird Jesus in die Luft kommen für die Gläubigen,
um sie zu sich in das Haus des Vaters zu nehmen.
(S. Joh. 14, 2. 3; 1. Thess. 4, 17 rc.) Darnach wird
Er mit den Gläubigen auf die Erde herniederkommen,
um die Welt zu richten. (Jud. V. 14. 15; Offbg. 19,
11-16.)
Das erste Kommen des Herrn kann jeden Augenblick
eintreten. (1. Kor. 15, 51—55; Offb. 22, 20.) Wenn
Er für die Seinigen kommt, so kommt Er nicht als Rich­
274
ter, sondern als Heiland. (Phil. 3, 20. 21.) Er kommt
nicht, um Gericht auszuüben, sondern um die Seinigen da
einzuführen, wo Er eine Stätte für sie bereitet hat, in
die vielen Wohnungen des Vaterhauses. Alle, die in Jesu
entschlafen sind, sollen auferweckt werden in Herrlichkeit,
(1. Thess. 4, 13—18; 1. Kor. 15, 43.) und die noch
lebenden Gläubigen in einem Augenblick verwandelt werden, Ihm gleich, denn sie sollen ihn sehen, wie Er ist.
(1. Joh. 3, 2.) Ueberdies erscheint Er, wenn Er für die
Gläubigen kommt, nicht auf der Erde, sondern in der
Luft; (1. Thess. 4, 17.) und nur die Seinigen werden
Ihn sehen. Kommt Er aber mit den Seinigen, so geschieht es, um die Gottlosen zu richten. (2. Thess. 1, 8.)
Dann kommt Er auf die Erde. „Seine Füße werden an selbigem Tage auf dem Oelberg stehen . . . .
Und Jehova, mein Gott, wird kommen, und alle Heiligen
mit Dir." (Sach. 14, 4. 5.) Während also der Ankunft
des Herrn für die Gläubigen nichts im Wege steht, müssen
vor Seiner Erscheinung mit den Seinigen zum Gericht
noch viele Weissagungen erfüllt werden und viele Ereignisse ftattfinden.
Wenn wir jetzt zu Matth. 25, 31 zurückkehren, so
werden wir deutlich erkennen, daß der Herr Jesus hier
an Seine zweite Ankunft denkt. Der ganze Inhalt von
Kap. 24, 32 bis Kap. 25, 31 ist eine Art von Einschaltung, und der Herr nimmt erst an letztgenannter
Stelle den in Kap. 24, 31 abgebrochenen Faden in dem
Laufe der Ereignisse wieder auf. Der erste Teil von
Matth. 24 enthält eine bemerkenswerte Vorhersagung von
Ereignissen, die noch in Verbindung mit den Juden stattfinden müssen. Nach der Aufnahme der Gläubigen ins
275
Vaterhaus wird Gott sich aufs neue mit dem jüdischen
Volke beschäftigen. Viele Weissagungen des Alten Testaments, in welche wir hier nicht näher eingehen können, so
wichtig sie auch sind, werden dann erfüllt werden. Daun
kommt die Zeit der „großen Drangsal", (Dan. 12;
Matth. 24, 21.) in welcher die Verfolgung so schrecklich
wüten wird, daß der Ueberrest der Juden nur mit genauer
Not entrinnen wird. Viele werden getötet werden; wer
aber „bis zum Ende (d. i. bis zum Ende dieser großen
Drangsal) ausharren wird, der wird errettet werden."
Während dieser Zeit wird der gottesfürchtige Ueberrest
der Juden das Evangelium des Reiches in der ganzen
Welt predigen, als ein Zeugnis für alle Völker.
Das Evangelium des Reiches ist sehr verschieden von
dem Evangelium der Gnade, welches heute verkündigt
wird. Jetzt sagt Gott uns, daß Christus gekommen
ist, und Er bietet, auf Grund des am Kreuze vollbrachten Werkes, verlornen Sündern die Erlösung und die
ewige Herrlichkeit an; dann aber wird der jüdische Ueberrest verkündigen, daß Christus kommt, um Sein Reich
auf der Erde aufzurichten. Und wenn dieses Evangelium
des Reiches allen Völkern verkündigt sein und die Zeit
der Drangsal ihren Höhepunkt erreicht haben wird, dann
wird das Zeichen des Sohnes des Menschen in dem Himmel erscheinen; und alle werden den Sohn des Menschen
sehen, „kommend auf den Wolken des Himmels mit Macht
und großer Herrlichkeit". (Matth. 24, 30.) Welch ein
Augenblick! Er, der von feiten der Welt mit Dornen
gekrönt, verworfen und gekreuzigt wurde, wird dann wiederkommen, mit Macht bekleidet, mit Herrlichkeit umgeben und
begleitet von allen Seinen Heiligen.
276
Werfen wir jetzt einen Blick auf Kapitel 25, 31.
Wir lesen dort: „Wenn aber der Sohn des Menschen
kommen wird in Seiner Herrlichkeit .... dann wird Er
auf Seinem Throne der Herrlichkeit sitzen, und vor Ihm
werden versammelt werden alle Nationen." (V. 31. 32.)
Es ist offenbar, daß, wenn Christus in Herrlichkeit kommt,
wir mit Ihm kommen werden, denn „wenn der Christus,
der unser Leben ist, geoffenbart werden wird, dann werdet auch ihr mit Ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit." (Kol. 3, 4.)
Wer aber sind diese Nationen? ES sind die Völker,
welche auf der Erde leben, wenn Christus zum Gericht
kommt — die Völker, welchen der jüdische Ueberrest das
Evangelium des Reiches verkündigt hat; und sie werden
gerichtet werden gemäß ihres Verhaltens gegen diese gottesfürchtigen Juden, von welchen der Herr sagt: „diese 
meine Brüder". (V. 40. 45.) Diese Nationen teilen sich
in zwei Klassen. Die „Schafe" sind diejenigen, welche
die Boten gut ausgenommen haben; und zu ihnen wird
gesagt: „Kommet her, Gesegnete meines Vaters, ererbet
das Reich, das euch bereitet ist von Gründung der Welt
an." (V. 34.) Die „Böcke" hingegen sind diejenigen,
welche jene Boten verworfen und die ihnen angebotene
Gnade verschmäht haben; und an sie werden die schrecklichen Worte gerichtet: „Gehet von mir, Verfluchte, in das
ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln." (V. 41.) Nachdem dieses Gericht über die lebenden Völker vollzogen ist, beginnt dann das tausendjährige
Reich, und wir, die verherrlichten Gläubigen, werden während der tausend Jahre mit Christo herrschen. (Offbg. 20,4.)
Beachten wir wohl, daß hier allein die lebenden Völker
277
gerichtet werden; von einer Auferweckung der Gestorbenen
hören wir nichts, deshalb kann hier unmöglich von einem
allgemeinen Gericht die Rede sein.
Eigentlich begegnen wir hier drei verschiedenen Klassen von Personen. Wenn die „Schafe" die Erlösten und
die „Böcke" die Verlornen vorstellen, wer sind dann „diese 
meine Brüder"? Wir haben schon oben im Vorbeigehen
diese Frage beantwortet. Man darf nicht denken, daß es
einige von den Schafen seien, weil dann der Herr sagen
würde: „Insofern ihr dies einander gethan habt rc."
Es sind vielmehr die treuen Boten des Evangeliums des
Reiches, die um ihres Zeugnisses willen Verfolgung und
Tod erduldet haben. Der Christen, d. h. der Versammlung oder der Kirche, geschieht hier gar keine Erwähnung. Von ihnen wird in den Gleichnissen von den
„Knechten", von den „zehn Jungfrauen" und von den
„Talenten" gesprochen. (Matth. 24, 45; 25, 1 — 30.)
3. Der große weiße Thron oder das Gericht
der Toten.
Der Gegenstand, welcher jetzt vor uns liegt, ist sehr
ernst, und ich bitte den Leser dringend, das 20. Kapitel
der Offenbarung mit aller Aufmerksamkeit zu betrachten.
Wie schon gesagt, kann der Herr Jesus jeden Augenblick
zur Aufnahme der Seinigen kommen. Sein eignes Zeugnis am Ende des Wortes Gottes lautet: „Ja, ich komme
bald!" Möchte die Antwort unsrer Herzen dieselbe sein,
wie sie dort angedeutet wird: „Amen, komm, Herr Jesu!"
In einem Augenblick, in einem Nu können wir ausgenommen
werden, um unserm zurückkehrenden Herrn in der Luft zu
begegnen und durch Ihn in das Vaterhaus eingeführt zu
werden, wo wir mit Ihm in Herrlichkeit wohnen sollen.
278
Und während die Erlösten im Himmel sind, werden auf der
Erde alle die Gerichte stattfinden, welche wir in Offenb.
6— 19 beschrieben finden. Darnach wird der Himmel wieder geöffnet, und der Herr kommt, begleitet von Seinen
Heiligen, auf die Erde zurück und wird Gericht halten über
alle, die noch auf der Erde leben und Ihn verwerfen. Zu
derselben Zeit werden, wie wir gesehen haben, die Völker
vor Seinem Throne versammelt werden, und Er wird sie
von einander scheiden, wie der Hirte die Schafe von den
Böcken scheidet. Alles Böse wird dann hinweggethan, jeder
Feind vernichtet, und alles wird Ihm unterworfen sein.
Die Zeit der Regierung Christi wird tausend Jahre dauern,
und die verherrlichten Heiligen werden mit Ihm herrschen.
Bis zu diesem Augenblick sind diejenigen, welche in
ihren Sünden gestorben sind, nicht gerichtet. Diese Behauptung mag vielleicht manchen Leser im ersten Augenblick
befremden; allein wenn er das erwähnte Kapitel (Offb. 20.)
mit Ernst erwägt, indem er seinen eignen vorgefaßten
Meinungen zu schweigen gebietet, so wird er bald erkennen, 
daß es sich genau so verhält, wie wir sagen. Im 4. Verse
des genannten Kapitels werden diejenigen beschrieben, welche
an der er st en Au fer steh u n g teilhaben. *) Wie herrlich und gesegnet ist ihr Los l Sie leben und herrschen
mit dem Christus tausend Jahre. Während all dieser
Zeit bleiben die „übrigen Toten" in ihren Gräbern. „Sie
wurden nicht lebendig, bis die tausend Jahre vollendet
waren." (V. 5.) Wie schrecklich und finster ist deren
Los! Wir lesen in V. 11-15: „Und ich sah einen großen weißen Thron, und Den, der darauf saß, vor dessen
Angesicht die Erde entfloh und der Himmel, und keine
Stätte ward für sie gefunden. Und ich sah die Toten,
*) Selbstverständlich gehören anch die himmlischen Heiligen der
ersten Auferstehung an; sie werden hier aber nicht erwähnt, weil
sie bereits vom 4. Kapitel an als bereits in den Himmel versetzt
betrachtet werden. Die erste Auferstehung hat mehrere Perioden;
der letzten dieser Perioden gehören die in der Zeit der großen Drangsal nmgekommenen Heiligen an.
279
die Großen und die Kleinen, vor dem Throne stehen, und
Bücher wurden aufgethan; und ein anderes Buch ward
aufgethan, welches das des Lebens ist. Und die Toten
wurden gerichtet aus dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken. Und das Meer gab die 
Toten, die in ihm waren, und der Tod und der Hades
gaben die Toten, die in ihnen waren, und sie wurden
gerichtet, ein jeder nach seinen Werken. . . . Und wenn
jemand nicht geschrieben gefunden wurde in dem Buche
des Lebens, so wurde er in den Feuersee geworfen."
Schließlich möchten wir noch einen Augenblick bei
einigen sehr wichtigen Punkten in diesem letzten Gericht
verweilen. Christus kommt hier nicht auf die Erde; wir
lesen vielmehr, daß „Erde und Himmel vor Seinem Angesicht entfliehen". (V. 11.) Wie verschieden ist das von
Seiner Ankunft in Matth. 25, 31 l
Dann werden hier allein die Toten gerichtet,
während in Matth. 25 alle Lebenden dem Gericht
anheimfallen. Doch wie überaus schrecklich wird dieses
letzte Gericht seinl Alle Toten, groß und klein, vornehm
und gering, kommen aus ihren Gräbern hervor, und siehe,
dort sitzt der Richter, und sie stehen vor Ihm! Ein schuldiges Gewissen klagt sie an; die Erde, welche sie so lieb
hatten, der Schauplatz all ihrer Vergnügungen und Sünden, die Stätte, wo sie den Erlöser, der ihnen so ost angepriesen wurde, verwarfen — alles ist für immer vorüber, und eine ewige Verdammnis wartet ihrer. „Und
Bücher wurden aufgethan!" Jeder Gedanke, jedes Wort,
jede That eines schlecht angewandten Lebens wird dann
offenbar werden und in dem Lichte der blendenden Herrlichkeit an den Tag kommen. „Und die Toten wurden
gerichtet nach ihren Werken." Wie verschieden ist dies von
dem Richterstuhl Christi, vor welchem die Erlösten geoffenbart werden sollen! Hier werden die Toten nach ihren
Werken gerichtet, und wenn der Schreiber wie der Leser
dieser Zeilen nach ihren Werken gerichtet werden sollten,
dann würden beide sicher in den Feuersee geworfen werden.
280
Wenn die Seligkeit des eifrigsten Christen, der je
gelebt hat, von seinen Werken abhinge, so wäre er unrettbar verloren; denn wessen Werke werden vor der Erforschung des alles durchdringenden Auges Gottes bestehen
können? „Gehe nicht ins Gericht mit Deinem Knechte!
denn vor Dir ist kein Lebendiger gerecht." (Pf. 143, 2.)
Es ist sehr wichtig zu beachten, daß nirgend geschrieben
steht, daß der Gläubige nach seinen Werken gerichtet werden soll. Wohl wird all fein Thun und Lassen offenbar
werden, und er wird Lohn empfangen, jenachdem er gehandelt hat. Aber vor dem großen weißen Thron werden
die Bösen nach ihren Werken gerichtet. Und was
wird das Resultat sein? „Wenn jemand nicht geschrieben
gefunden wurde in dem Buche des Lebens, so wurde er
in den Feuersee geworfen." (V. 15.)
Geliebter Leser! Falls du noch nicht errettet sein
solltest, so bitte ich dich dringend, dem kommenden Zorn
zu entfliehen. Du hast wahrlich keine Zeit zu verlieren; denn
jetzt ist der Tag des Heils. Jesus, der Sohn Gottes,
der durch die Welt verworfen und gekreuzigt worden ist,
sitzt jetzt zur Rechten Gottes. Er sitzt dort, weil Sein
Werk vollendet und Gott völlig befriedigt ist. „Er aber,
nachdem Er ein Schlachtopfer für die Sünden dargebracht,
hat sich auf immerdar gesetzt zur Rechten Gottes." (Hebr.
10, 12.) Alles Gericht ist in Seine Hand gegeben. „Der
Vater richtet niemanden, sondern das ganze Gericht hat
Er dem Sohne gegeben." (Joh. 5, 22.) Jedes Knie muß sich
vor Ihm beugen, und jede Zunge bekennen, daß Jesus
Christus Herr ist. (Phil. 2, 9—11.) Thust du dieses
heute schon, mein lieber Leser? Wenn du es in Wahrheit
und Aufrichtigkeit thust, so bist du errettet; schiebst du es
aber auf bis zum Tage des Gerichts, um es dann gezwungen zu thun, so bist du für ewig verloren. O bedenke dieses mit allem Ernst, so lange Gott in Seiner
Gnade dir noch Zeit dazu giebt!

Ueber das Gebet.
3. „Betet für einander."
<Jak. 5, 16.)
Wir haben uns bisher nur mit dem Gebet und
Flehen bezüglich unsrer persönlichen Bedürfnisse, Prüfungen und Schwierigkeiten beschäftigt und gesehen, wie wichtig und nötig es ist, für uns selbst im Gebet zu beharren. Allein wir stehen nicht vereinzelt und abgesondert
in dieser Welt. Gott hat eine große Familie auf dieser
Erde, mit welcher wir auf das innigste verbunden sind
und es in Ewigkeit sein werden; und wir können auch
wohl hier das Wort des Apostels in Phil. 2, 4 anwenden: „Ein jeder nicht auf das Seinige sehend, sondern
ein jeder auchlauf das der andern." Fast alle Gläubigen
haben eine kürzere oder längere Zeit durch diese böse
Welt zu pilgern und bedürfen in den mannigfachen Versuchungen, ebenso wie wir, allezeit der Gnade und der
Bewahrung von feiten Gottes. Auch sind wir nicht nur
eine Familie, sondern sogar Glieder eines Leibes, des
Leibes Christi. Wir alle sind durch einen Geist zu
einem Leibe getauft und mit einem Geiste getränkt.
(1. Kor. 12, 13.) Diese innige Verbindung aber macht,
wie eS nicht anders sein kann, auf unsre gegenseitige
Liebe und Fürsorge Anspruch. Die unvergleichliche Liebe
Gottes, welche wir erfahren haben, macht uns zu Schuld-
282
nern andern gegenüber; wie Johannes schreibt: „Geliebte,
wenn Gott uns also geliebt hat, so sind auch wir schuldig,
einander zu lieben." (1. Joh. 4, 11; vergl. Kap.
3,16; Ev. Joh. 13,14.) Diese Liebe zu einander hat ihre
Quelle in Gott und ist dem Verhältnis angemessen, in
welches wir durch die neue Geburt eingetreten sind. Ein
jeder, der aus Gott geboren ist, liebt nicht nur Den,
welcher geboren hat, sondern auch den, der aus Ihm geboren ist. (1. Joh. 5, 1.)
Es mögen hier zunächst einige Schriftstellen Platz
finden, in welchen wir zu einer inbrünstigen, das eigene
Ich völlig aus dem Auge verlierenden Liebe ermuntert
und ermahnt werden. Der Herr Jesus selbst sagt in
Joh. 15, 12: „Dies ist mein Gebot, daß ihr einander
liebet, gleichwie ich euch geliebt habe." (Vergl.
auch Kap. 13, 34.) Paulus ermahnt die Gläubigen:
„In der Bruderliebe seid herzlich gegen einander."
(Röm. 12, 10.) „Durch die Liebe dienet einander."
(Gal. 5, 13.) „Einer trage des andern Lasten, und also
erfüllet das Gesetz des Christus." (Gal. 6, 2.) Der
wahre Charakter und der alles übertreffende Wert der
Liebe, sowie ihre ewige Dauer werden in 1. Korinth. 13
mit wunderbarer Kraft und ergreifender Wahrheit geschildert. Petrus ermahnt in seiner 1. Epistel, Kap. 1, 22:
„Liebet einander mit Inbrunst aus reinem Herzen",
und in Kap. 4, 8: „Vor allen Dingen aber habt unter
einander eine inbrünstige Liebe." Ebenso lesen wir
in 1. Joh. 3, 11: „Dies ist die Botschaft, die ihr von
Anfang gehört habt, daß wir einander lieben sollen."
Diese brüderliche Liebe nun kann und wird auf
mannigfache Weise in Thätigkeit treten, je nach den ver­
283
schiedenen Bedürfnissen, die fick unter den Heiligen kundgeben. Sie wird nicht nur für deren äußeres Wohl besorgt sein, sondern vor allem auch für ihr inneres, besonders dann, wenn die Ehre des Herrn dabei in Frage
kommt. Sie wird stets Geduld und Nachsicht üben, wird
sich der Schwachen annehmen, die Irrenden zurechtweisen,
die Traurigen und Niedergebeugten trösten, den Bedürftigen beistehen und den Bedrängten Hülfe leisten. (Gal.
6, 1. 2; 1. Thess. 5, 14.) Vor allem aber wird sie
sich in ernster, liebevoller Fürbitte, in anhaltendem Gebet 
und Flehen für die Heiligen kundgeben. Ich brauche
kaum zu sagen, daß die Heilige Schrift durch Wort und
Beispiel uns zu solcher Fürbitte ermuntert. Wir lesen
in Jakobus 5, 16: „Bekennet einander die Vergehungen
und betet für einander, damit ihr geheilt werdet."
Und wenn der Apostel Paulus in Ephes. 6, 18 die Gläubigen zu unablässigem Gebet ermahnt, so fügt er hinzu:
„und eben hierzu wachend in allem Anhalten und Flehen
für alle Heiligen".
Niemand hat wohl mehr dieser Ermahnung gemäß
gehandelt wie der Apostel selbst. In fast allen seinen
Briefen, mögen sie an eine Versammlung oder an einen
einzelnen Gläubigen gerichtet sein, finden wir, mit welch
einem Fleiße und mit welcher Inbrunst er derer, an welche
er schreibt, in seinen Gebeten gedenkt. Es war dies offenbar ein tiefes Bedürfnis seines liebenden Herzens. Oft
begegnen wir in den betreffenden Stellen dem Wörtchen
„allezeit". Er schreibt an die Philipper: „Ich danke
meinem Gott bei aller meiner Erinnerung an euch allezeit in jedem meiner Gebete, indem ich für euch
alle das Gebet mit Freuden thue." (Kap. 1, 3. 4.)
284
Selbst im Blick auf die Versammlung in")Korinth, in
deren Mitte doch so viel Tadelnswertes vorhanden war,
findet der Apostel noch Ursache genug, Gott allezeit zu
danken. (1. Kor. 1, 4.)
Man darf wohl in Wahrheit von Paulus sagen,
daß er „unablässig" betete, daß er allezeit die Heiligen
auf betendem Herzen trug. Er dankte Gott für die ihnen
zu teil gewordene Gnade und Liebe, und er bat und flehte
für ihr Wohl, für ihr Wachstum im Glauben und in
der Liebe, sowie in der Erkenntnis der Gedanken und
Ratschlüsse Gottes, des Geheimnisses Seines Willens in
Bezug auf Christum und die Versammlung — jenes
herrlichen Geheimnisses, das von jeher in Gott verborgen
war. (Eph. 1, 9. 10; 3, 1—9.) Wir lesen in Kolosser
1, 9.10: „Deshalb hören auch wir nicht auf, . . .
für euch zu beten und zu bitten, daß ihr erfüllt sein möget
mit der Erkenntnis Seines Willens in aller Weisheit und
geistlichem Verständnis, um zu wandeln würdig des Herrn
zu allem Wohlgefallen, in allem guten Werke fruchtbringend." Doch neben dem Apostel gab es noch andere
Männer, die in derselben Weise und mit gleicher Liebe und
Ausdauer für die Heiligen beschäftigt waren. Welch ein 
herrliches Zeugnis stellt der Heilige Geist z. B. dem Mitarbeiter des Apostels, Epaphras, aus: „Es grüßt euch
Epaphras, der von euch ist, ein Knecht Christi Jesu,
allezeit ringend für euch in den Gebeten, auf daß
ihr stehet vollkommen und völlig überzeugt in allem Willen
Gottes." (Kol. 4, 12.)
Wahrlich, wir sollten begehren, treuere Nachahmer
dieser hingebenden Diener des Herrn zu sein! Nie gab 
es wohl eine Zeit, in welcher ein größeres Bedürfnis zu
285
anhaltendem, ringendem Gebet und Flehen vorhanden
gewesen wäre, als gerade in unsern Tagen. Es giebt
heute, wie immer, eine große Zahl von Heiligen, die durch
mancherlei Prüfungen und Schwierigkeiten zu gehen haben,
viele auch, die körperlich leidend und krank sind; und
ein Herz, in welchem die Liebe Christi wirksam ist, wird
unmöglich teilnahmlos und gleichgültig an ihnen vorübergehen können. Doch weit größer noch ist das geistliche
Elend, der traurige innere Zustand bei so vielen Tausenden
unter den geliebten Kindern Gottes. Welch eine Zerrissenheit und Zersplitterung herrscht in der Versammlung
Gottes, die doch durch einen Geist zu einem Leibe
getauft ist, für welche der Herr in Seiner unvergleichlichen
Liebe Sein teures Leben hingegeben und für deren Einheit
Er am letzten Abend, den Er in dieser Welt zubrachte, so
ernstlich zu Seinem Vater gefleht hat! Fast unzählige
Parteien sind in ihr entstanden, die sich oft gegenseitig
befeinden und anklagen, die mit Neid und Eifersucht
gegen einander erfüllt sind. Und wir haben früher schon
darauf hingewiesen, wie viele Erlöste, die einmal sehr
glücklich waren und den Herrn für ihre Errettung priesen,
sich wieder von Ihm abgewandt haben und aufs neue der
Welt und der Sünde dienen. Ach! wie sehr wird der
Name des Herrn durch dies alles verunehrt, der Heilige
Geist betrübt und das Zeugnis in der Welt geschwächt!
Wie unberechenbar groß ist der Schaden, der durch diese
traurigen Erscheinungen vielen schwachen Gläubigen, sowie
der Ausbreitung und dem gesegneten Fortgang des Werkes
des Herrn geschieht! Sicher kann ein Herz, das den Herrn
wirklich liebt, nur mit Schmerz und mit tiefer Demütigung
und anhaltendem Gebet und Flehen daran gedenken.
286
Wie betrübend ist es, bei den Gläubigen im allgemeinen so wenig Gefühl über diese traurigen Zustände
zu finden! Wahrlich, es ist ein Beweis dafür, daß die
Liebe zum Herrn schwach ist, und daß die Wahrheit nicht
erkannt wird. Wie mancher Gläubige geht jahraus, jahrein
dahin, ohne ein einziges Mal sich wegen der Zersplitterung
der Versammlung Gottes ernstlich zu demütigen, durch welche
der Herr doch so besonders verunehrt wird; ja, es giebt nicht
wenige, die das Bestehen der Parteien sogar für etwas
Gutes und Nützliches halten, weil dadurch, wie sie sagen,
ein größerer Eifer erweckt und wachgehalten werde. Ja,
es wird Eifer dadurch hervorgerufen; aber was für ein
Eifer! In der That, eine solche Gesinnung verrät einen
großen Mangel an Erkenntnis der Wahrheit, an Liebe
für den Herrn und an Eifer für die Ehre Goltes.
Wie so ganz anders war die Gesinnung des Apostels
Paulus, der bereit war, alles, ja, sich selbst für eine
Versammlung aufzuopfern, die seine Liebe zu ihr nur
sehr schwach erwiderte! (2. Kor. 12, 15.) Auch sein zweiter Brief an Timotheus giebt Zeugnis, mit welch einer
Sorge er angesichts seines nahen Todes der ganzen Versammlung Gottes gedachte, und welch einen Kummer der
bereits eingetretene Verfall in seinem Herzen hervorrief.
Dieselben Gefühle offenbarten sich auch bei ihm, als er
in Milet von den Aeltesten der Versammlung zu Ephesus
Abschied nahm. (Apostgsch. 20, 17-38.) Aehnliches
finden wir bei Petrus. Anstatt sich mit seinem Tode zu
beschäftigen, dessen nahes Bevorstehen ihm der Herr angekündigt hatte, war er nur für die ihm anvertraute Herde
Gottes besorgt. (2. Petr. 1, 12.) Und wie viele treue
Zeugen Gottes in späteren Tagen haben in denselben
287
Fußstapfen gewandelt und ihr Leben nicht teuer geachtet,
sondern es aufgeopfert in dem Dienste der Gläubigen!
Geliebte Brüder! wollen wir dies alles umsonst hören
und lesen? Erweckt es nicht den aufrichtigen Wunsch
in uns, in unserm geringen Maße dasselbe zu thun?
Ein schönes und nachahmnngswürdiges Beispiel giebt
uns auch das Verhalten Daniels angesichts des traurigen
Zustandes des Volkes Israel. Er war, wie wir wissen,
noch jung, als er nach Babel kam, und er hatte an den
vielen und großen Sünden seines Volkes, die dasselbe in die
Gefangenschaft gebracht hatten, kein Teil gehabt. Dennoch
sehen wir, daß er sich in Gnade vor Gott mit diesen Sünden völlig eins machte. Und warum? Es war sein Volk,
das gesündigt hatte; er bildete einen Teil desselben, und
er liebte es so innig, weil es Gottes Volk war. In
dieser Gesinnung richtete er sein Angesicht zu Gott, betete
und bekannte: Wir haben gesündigt und Unrecht gethan
und gesetzlos gehandelt und uns empört, und wir sind
abgewichen von Deinen Geboten und Deinen Rechten;
. . . denn nicht um unsrer Gerechtigkeiten willen legen
wir unser Flehen vor Dein Angesicht hin, sondern um
Deiner vielen Barmherzigkeiten willen." (Kap. 9, 3—19.)
Jede gläubige und gottesfürchtige Seele, die dieses Gebet 
Daniels mit Aufmerksamkeit liest, wird sich aufs tiefste
ergriffen fühlen und sich prüfen, inwieweit sie selbst
diesem treuen Gottesmanne gleicht.
Einer ähnlichen Einsmachung mit den Sünden seines
Volkes, ja, einer Liebe, die bereit war, für das dem Zorne
Gottes verfallene Volk in den Riß zu treten, begegnen
wir bei MoseS in 2. Mose 32, 31. 32 und 4. Mose 14,
13—19, und bei Paulus in Röm. 9, 1—5. Der eine
288
wünschte, an Stelle des sündigen Volkes aus dem Buche
des Lebens ausgelöscht zu werden, und der andere, durch
einen Fluch von Christo entfernt zu sein. Die Erfüllung
dieses Wunsches war natürlich unmöglich, aber er giebt
Kunde von der brennenden Liebe, welche in den Herzen
dieser Männer wohnte. Bei Mose tritt noch ein anderer
rührender Beweggrund hinzu. Er sagt zu Gott: „Herr,
Jehova, verdirb nicht Dein Volk und Dein Erbteil, das Du
erlöset hast durch Deine Größe. .. Gedenke Deiner Knechte,
Abrahams, Isaaks und Jakobs; kehre Dich nicht an die
Härtigkeit dieses Volkes und an seine . . . Sünde, damit das Land, aus welchem Du uns heraufgeführt
hast, nicht sage: Weil Jehova nicht vermochte,
sie in das Land zu bringen, wovon Er zu ihnen geredet
hatte, und weil Er sie haßte, hat Er sie herausgeführt, sie sterben zu lassen in der Wüste. Sie sind
ja Dein Volk und Dein Erbteil." (5. Mose 9,
26 — 29; vergleiche auch 2. Mose 32, 11 — 13.) Der
Gedanke an die Unehre, welche auf den Namen Jehovas
kommen würde, wenn Israel in der Wüste umkäme, war
Mose unerträglich. Vierzig Tage und vierzig Nächte lang
warf sich dieser treue Knecht vor Jehova nieder, aß nicht
und trank nicht, und flehte zu Ihm um Erbarmen. Und
bedenken wir Wohl, daß er selbst durch die Sünde des
Volkes unmittelbar berührt wurde, indem Israel ihn als
seinen Führer verworfen hatte; und ferner, daß Jehova
selbst ihm gesagt hatte: „Ich will dich zu einer großen
Nation machen". Aber was lag Mose an seiner
Person und an seiner Ehre? Nichts; wenn nur
nicht auf den Namen Jehovas Schmach und Unehre
gehäuft wurde.
289
Welch eine Gesinnung! Wie himmelweit verschieden von
bem, was unsre armen Herzen oft offenbaren. Wie wenig
tragen wir Leid im Blick auf den großen Verfall der Kirche
Gottes, trotzdem wir ihren wahren Charakter und ihre
himmlische Berufung kennen und ihre innige und unzertrennliche Verbindung mit Christo verstehen! Wir wissen,
daß sie Seine Braut und Sein Leib ist, und daß
Schmach und Schande auf Seinen herrlichen Namen
gehäuft wird, wenn nur ein Glied Seines Leibes in der
Sünde wandelt. Ach! und wenn wir nun um uns her
blicken, was sehen wir? Viele, viele Gläubige, deren
Wandel kein guter ist, ja, deren Verhalten der Welt
Anlaß zu Spott und Lästerung giebt. Sollte uns das nicht
tief niederbeugen? Sollten wir nicht viel auf unsern Knieen
liegen und in wahrer Demütigung unsre Sünden bekennen
und um Gnade und Erbarmung flehen? Wie tief müssen
wir uns schämen, wenn wir mit Gleichgültigkeit an dem so
offen vor uns liegenden, Gott verunehrenden Zustande der
Versammlung oder auch einzelner Gläubigen vorübergehen
können! Wir verraten dadurch die Gesinnung Kains, welcher einst auf die Frage Gottes: „Wo ist Abel, dein
Bruder?" erwiderte: „Ich weiß nicht; bin ich meines
Bruders Hüter?" (1. Mose 4, 9.) Ja, wir gleichen dann
jenem Priester und jenem Leviten, welche kalt und teilnamlos
an dem unter die Räuber gefallenen, halbtoten Israeliten
vorübergingen. Möchte doch der Herr durch Seinen Geist
den Eifer und die Gesinnung der oben genannten treuen und 
gottesfürchtigen Männer in uns erwecken! Möchte Er wahres Selbstgericht und tiefe Demütigung unter uns wachrufen
und in unsern Herzen viel Gebet und Flehen für alle Heiligen
hervorbringen, damit Sein Name mehr verherrlicht werde!
290
Indes wolle der Leser nicht denken, daß der Kreis
unsrer Fürbitte nur auf diejenigen beschränkt sei, welche
dem Herrn angehören. Vielmehr lesen wir in 1. Tim. 2,
1—3: „Ich ermahne nun vor allen Dingen, daß
Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen gethan werden
für alle Menschen, für Könige und alle, die in
Hoheit sind, auf daß wir ein ruhiges und stilles Leben
führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Denn
dieses ist gut und angenehm vor unserm Heiland-Gott,
welcher will, daß alle Menschen errettet werden und zur
Erkenntnis der Wahrheit kommen." Diese ernste Ermahnung
ist in unsern Tagen gewiß besonders beherzigenswert,
da der antichristische Geist, der Abfall von Gott, eine
schreckliche Ausdehnung erreicht hat. Das Geheimnis der
Gesetzlosigkeit tritt immer offener zu Tage. Schon giebt
es Millionen in der Christenheit, welchen nichts niehr
heilig ist, die nur ihre Lüste und Begierden zu befriedigen
trachten und alles, was sie daran hindert, aus dem Wege
zu räumen suchen. Sie leugnen das Dasein Gottes,
damit nicht der Gedanke an Ihn ihr Gewissen beunruhige;
sie machen große Anstrengungen und scheuen kein Mittel,
die von Gott verordnete Obrigkeit zu beseitigen, weil der
Arm derselben sie bis jetzt noch in Schranken hält.
Angesichts solcher Erscheinungen tritt wahrlich die
ernste Mahnung an uns heran, der Obrigkeit, der Könige
und derer, die in Hoheit jsind, viel vor dem Herrn zu
gedenken, damit Er sie erleuchte und bewahre und zugleich
dem Bösen steure. Möchten wir nicht lässig darin
sein! Gott hat in Seiner Gnade dafür gesorgt, daß wir
in diesen bösen, versuchungsreichen Tagen, wo der Feind
so wirksam ist, uns ungehindert, ja, selbst unter dem
291
Schutze der Obrigkeit, im Namen Jesu versammeln und
ein ruhiges und stilles Leben führen können. Sein Name
sei dafür gepriesen! Aber möchten wir nun auch vor
Gott und Menschen ein solches Leben führen in aller
Gottseligkeit und Ehrbarkeit, völlig abgesondert von dem
Geiste dieser Zeit!
In der angeführten Stelle wird die große Barmherzigkeit unsers Heiland-Gottes zugleich als ein Beweggrund vor uns hingestellt, für alle Menschen, d. h. ohne
einen Unterschied zu machen, zu Ihm zu flehen, weil Er nicht
will, daß irgend jemand verloren gehe, sondern daß alle
errettet werden. Welch ein weites Feld der Teilnahme
und Mithülfe breitet dieser Wille unsers Heiland-Gottes
vor dem aus, welcher Seine Barmherzigkeit aus eigner
Erfahrung kennen gelernt hat und in dessen Herzen Seine
Liebe wirksam ist! Ein solcher wird nicht um Gegenstände seiner Fürbitte verlegen sein — das ist nur ein kaltes, gleichgültiges Herz, welches nur noch aus bloßer Form
anderer gedenkt; nein, je mehr er Fürbitte übt, desto ausgedehnter wird sein Gesichtskreis, desto weiter sein Herz,
und desto inniger und wirkungsvoller sein Flehen. Anstatt zu ermüden, werden ihm die Stunden des Gebets
immer köstlicher und wichtiger. Und die weitere Folge
ist, daß er unablässig dem Verlornen nachgeht und jede
Gelegenheit benutzt, ihm von der Gnade und Liebe GotteS
Zeugnis zu geben, sowie von der Freude und dem Frieden eines Herzens, das Ihn als Heiland kennt.
Ein Gläubiger, der wenig im stillen Kämmerlein
mit dem Herrn ringt und wenig Interesse für die gemeinschaftlichen Zusammenkünfte zum Gebet verspüren läßt,
steht sicher nicht auf dem Boden, auf welchem er stehen
292
sollte. Es ist ein wahres Wort, daß der Besuch der
Gebetsstunden ein sichrer Maßstab für den geistlichen Zustand einer Versammlung ist. Und ach! wie leer sind oft
die Bänke, wenn es gilt, gemeinschaftlich dem Herrn zu
danken, die Bedürfnisse der Heiligen vor Ihm kundwerden zu lassen und der Ausbreitung Seines Werkes zu 
gedenken! Wie leicht läßt sich der eine oder andere durch
Hindernisse zurückhalten, die mit geringer Mühe aus dem
Wege geräumt werden könnten; und wie mancher fehlt
sogar regelmäßig aus bloßer Gleichgültigkeit und Trägheit!
O möchte der Herr uns und allen den Seinigen auch in
dieser Beziehung viel Eifer geben, die lauen Herzen erwärmen und die trägen und gleichgültigen aufrütteln!
Seine Ankunft ist nahe, und Er sammelt in Eile. Nie
sind so viele Sünder errettet worden, wie gerade in unsern
Tagen. Ueberall auf der ganzen Erde ist das Wehen
und Wirken des Geistes Gottes bemerkbar. Während einerseits der Unglaube immer weitere Fortschritte macht und
der Geist des Antichristen stets frecher und kecker auftritt,
ist andrerseits die Gnade Gottes mächtiger wirksam als je,
indem sie bald hier bald dort Hunderte aus ihrem Sündenschlafe aufweckt und sie zu Jesu, dem Heilande der
Verlornen, führt.
Darum, geliebte Brüder, laßt uns teilnehmen an
diesem Werke der Gnade, indem wir durch anhaltendes
Gebet und Flehen mitarbeiten, indem wir derer gedenken,
die sich in dem Werke des Evangeliums bemühen, und sie
in ihrer Arbeit unterstützen! Laßt uns nicht müde werden,
für einander zu dem Herrrn zu flehen, sei es allein oder
in Verbindung mit andern! Wir dürfen versichert sein,
daß der Segen nicht ausbleiben wird. Der Herr ant-
293
wortet so gern auf das Flehen der Seinen. Sicher kann
Er Sein Werk auch ohne uns vollenden. Er ist nicht
abhängig von uns armen, schwachen Geschöpfen, auch nicht
gebunden au unsre Treue oder Untreue. Allein es ist
die Freude Seines Herzens, gleichsam im Verein mit uns
zu arbeiten und auf unser Flehen mit den reichen Strömen Seines Segens zu antworten. Und welch eine Freude
erfüllt unsre Herzen, wenn die Antwort kommt, und wir
dem gnädigen Wirken unsers Gottes zuschauen dürfen!
Vor einiger Zeit war der Schreiber dieser Zeilen
an einem Orte, wo die frohe Botschaft des Heils allgemein mit einer Feindschaft und Hartnäckigkeit zurückgewiesen wird, wie man sie nur selten findet. Nur hie 
und da giebt es einzelne Gläubige. In der kleinen Versammlung an jenem Orte nun kam man überein, eine
Woche lang jeden Abend zum Gebet sich zu versammeln.
Trotzdem ein fußtiefer Schnee fiel, kamen die Gläubigen
(manche von ihnen hatten einen weiten Weg) Abend für
Abend zusammen. Und was geschah? Nicht nur wurden
die Zusammenkünfte mit jedem Tage belebter und die
Gebete inniger, sondern als die Woche vorüber war, beschloß man einstimmig, noch eine Woche in derselben Weise
fortzufahren. Aller Herzen waren wunderbar erquickt
worden, und als an einem Sonntag Abend zur Verkündigung des Evangeliums eingeladen wurde, kamen viele,
um das Wort zu hören, mehr als je zuvor. Auch der
Segen nach außen blieb nicht aus; in kurzer Zeit fanden
mehrere Personen. Frieden und bekannten sich, trotz vieler
Feindschaft von feiten ihrer Freunde und Verwandten,
freudig zum Herrrn.
Darum noch einmal: Möchten alle die geliebten Kin­
294
der Gottes zu einem tiefen Gefühl der Wichtigkeit des
Gebets, sowohl im Kämmerlein und in der Familie, als
auch in der Gemeinschaft der Gläubigen erwachen! Welch 
einen heilsamen Einfluß würde es auf das gesamte Zeugnis, wie auf das Verhalten jedes Einzelnen ausüben!
Der Herr gebe Gnade, daß diese schwachen Zeilen ihren
Zweck nicht verfehlen!
(Schluß folgt!)
Der Schlüssel des David.
(Offbg. 3, 7.)
Alles, was der Herr in dem Sendschreiben an die
Versammlung zu Philadelphia sagt, soll den Treuen in
den letzten Tagen des Verfalls zum Troste und zur Ermutigung dienen. Er weiß „mit den Müden ein Wort
zu reden zu rechter Zeit." (Jes. 50, 4.) Nicht ohne Grund
bezeichnet der Apostel die gegenwärtigen letzten Tage der
Christenheit als „schwere Zeiten". Die Wahrheit seiner
Worte wird um so tiefer gefühlt werden, je entschiedener
man mit dem Herrn zu wandeln sucht. Aber um so tröstlicher ist es auch für die Gläubigen, daß gerade jetzt
der Herr sich ihnen vorstellt als Der, „welcher den Schlüssel
des David hat, der da öffnet, und niemand wird schließen,
und schließt, und niemand wird öffnen".
Es ist für den mit der prophetischen Bedeutung der
Sendschreiben vertrauten Leser eine bekannte Thatsache,
daß das Sendschreiben an Philadelphia seine besondere
Anwendung auf die gegenwärtige Zeit findet. Und gerade
jetzt, in der Zeit großer Schwachheit und vieler Untreue,
ist es eine Ermutigung für die Treuen, den Herrn als
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Den zu kennen, welchem der Schlüssel des David übergeben ist. Es ist ein Trost für sie, inmitten der Prüfungen auf Ihn blicken zu können, der gesagt hat: „Mir
ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden . . .
Und fiehe, i ch bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung
des Zeitalters." (Matth. 28, 18. 20.) Was auch bis
zur Vollendung dieses Zeitalters kommen möge — und
sicherlich giebt es große Erschütterungen bis dahin —
immer können die Seinigen auf Seine Macht rechnen.
Er verhehlt ihnen nichts von dem, was kommen wird,
zeigt ihnen aber zugleich, wo die Quelle ihrer Kraft ist.
Er sagt uns frei und offen: „In der Welt habt ihr
Drangsal"; fügt aber zugleich auch hinzu: „aber seid
gutes Mutes, ich habe die Welt überwunden."
(Joh. 16, 33.)
Bevor der Herr dem Propheten Johannes den traurigen
Verlauf des kirchlichen Verfalls und der darauf folgenden
schrecklichen Ereignisse sehen ließ, stärkte und tröstete Er
ihn mit den Worten: „Fürchte dich nicht! Ich bin der
Erste und der Letzte und der Lebendige; und ich war
tot, und siehe, ich bin lebendig in die Zeitalter der Zeitalter und habe die Schlüssel des Todes und des Hades."
(Offbg. 1, 17. 18.) Er weiß, daß wir eine „kleine
Kraft" haben, und darum läßt Er uns immer von neuem
verstehen, daß Er nicht nur stark, sondern auch mit uns
ist. Allerdings ist Er jetzt noch verborgen; die Macht
Satans macht Fortschritte und feiert einen Triumpf über
den andern; die Einheit der Gläubigen ist dahin, und
die Verwirrung wird immer größer; der Widerstand gegen
das Zeugnis der Wahrheit nimmt zu, und die Schwierigkeiten und Prüfungen der Treuen mehren sich. Aber trotz
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allem haben diese keinen Grund, den Mut zu verlieren.
Denn der Schlüssel des David in der Hand des Herrn
bürgt für den siegreichen Ausgang Seines Werkes.
Dieser Schlüssel erinnert an die Macht Gottes, durch
welche David den Sieg über alle Feinde davontrug und
den Weg bahnte zur Einführung der Herrlichkeit Israels
unter der Regierung Salomos. Wir wissen, welchen Hindernissen und Drangsalen David auf diesem Wege zu begegnen hatte. Nicht nur die äußern Feinde Israels, die 
Philister, Ammoniter, Edomiter und Moabiter, sondern
auch Saul im Bunde mit dem ganzen Volke Israel standen ihm entgegen. Er mußte sich vor dem letzteren zurückziehen und, gejagt wie ein Rebhuhn auf den Bergen,
Zuflucht suchen in der Höhle Adullam und auf den Bergfesten der Wüste.
Niemand konnte damals in ihm den Gesalbten Jehovas, den König Israels, erkennen; nur eine kleine Zahl
von Getreuen schloß sich ihm au und nahm, geleitet durch
den Glauben, teil an seinen Leiden. Diese wenigen befanden sich im Einverständnis mit den Gedanken Gottes
über David, und ihr Glaube hielt sich an dem, was
Gott über ihn geredet hatte: „Einen Bund habe ich
gemacht mit meinem Auserwählten, habe David, meinem
Knechte, geschworen: „Bis in Ewigkeit will ich feststellen
deinen Samen, und auf alle Geschlechter hin bauen deinen 
Thron."" Und wiederum: „Ich habe David gefunden,
den Sohn Jesses, einen Mann nach meinem Herzen, der
meinen ganzen Willen thun wird." (Ps. 89, 3.
4. 20; Apgsch. 13, 22; 1. Sam. 13, 14.) Gott hatte
ihn zum Fürsten über Israel bestellt und ihn berufen,
alle seine Absichten betreffs dieses Volkes auszuführen;
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und keine feindliche Macht konnte dieses verhindern. „Auf,
salbe ihn! denn dieser ist es", hatte Gott über
ihn gesagt, als er noch ein Hirtenknabe war und niemand daran dachte, zu welch einer hohen Stellung Gott
ihn ausersehen hatte. (1. Sam. 16, 1—13.) Die Gläubigen jener Zeit verstanden, daß David unter den Tausenden Israels der Einzige war, aus welchen das Wort:
„Dieser ist es" seine Anwendung fand. Sie hingen
ihm an mit ungeteiltem Herzen, weil sie von dem siegreichen Ausgange seiner Sache völlig überzeugt waren.
Sie wußten, daß Gott alles, was Er über ihn geredet
hatte, erfüllen und alle Feinde zu seinen Füßen legen
würde. In ihren Augen war Saul nur ein „Mensch",
David hingegen der Streiter Jehovas. So sagte Abigail,
jenes Weib voll Glaubens, zu David: „Denn Jehova
wird gewißlich meinem Herrn ein beständiges Haus
machen, weil mein Herr die Streite Jehovas streitet, und
kein Böses an Dir gefunden ward, seitdem Tu lebst. 
Und ein Mens ch ist aufgestanden, dich zu verfolgen und
nach deiner Seele zu trachten; aber die Seele meines
Herrn wird eingebunden sein in das Bündel der Lebendigen bei Jehova, deinem Gott; und die Seele deiner
Feinde, die wird er wegschleudern in der Pfanne der
Schleuder. Und es wird geschehen, wenn Jehova meinem
Herrn thun wird nach all dem Guten, das Er über
dich geredet hat, und dich bestellen wird zum Fürsten
über Israel... so gedenke deiner Magd." (1. Sam. 25,
28-31.)
Das, was den 'Mut dieser Gläubigen stählte und sie
zu einer so völligen Hingebung für David in der Zeit
seiner Verwerfung anspornte, war die Erkenntnis seiner
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Person und der Macht Gottes, die mit ihm war.
Und der Ausgang hat ihr Vertrauen auf diese Macht
Gottes gerechtfertigt und diese selbst in glorreicher Weise 
ans Licht gestellt. Gott hat Sein Wort über Seinen
Knecht wahr gemacht trotz des Widerstandes Sauls und
der Verachtung von feiten des Volkes. „So spricht Jehova der Heerscharen: Ich habe dich von der Trift genommen, hinter dem Kleinvieh weg, daß du Fürst sein
solltest über mein Volk, über Israel; und ich bin mit
dir gewesen überall, wohin du gegangen bist, und habe
deine Feinde vor dir ausgerottet, und habe dir einen großen
Namen gemacht, gleich dem Namen der Großen, die auf
Erden sind." (2. Sam. 7, 8. 9.) Alle die Wege, welche
David von der Trift der Herden bis zu dem Throne der
Herrlichkeit geführt wurde, waren nur ein glänzendes Zeugnis von der zu seinen Gunsten wirkenden Macht Gottes.
Am Ende liegen alle seine Widersacher als überwundene
Feinde zu seinen Füßen, und ganz Israel ist unter seinem
Scepter vereinigt und auf den höchsten Gipfel der Macht
erhoben.
Wenn nun David schon unter der Gnade Gottes
sein Werk so glorreich zu Ende führte, wie weit herrlicher
wird dann der Ausgang des Werkes des Herrn sein!
Er hat die Macht, alle Ratschlüsse Gottes betreffs Seiner
Versammlung zu erfüllen, mögen sich auch die Hindernisse
bergehoch dagegen auftürmen. Für Ihn giebt es keine
Hindernisse. Weder die Schwachheit der Gläubigen, noch die
Macht und List des Feindes können Ihm hindernd in den
Weg treten. Ihm ist es ein Leichtes, jedes Aergernis aus
Seiner Versammlung zu entfernen, allen Irrlehren einen
Damm entgegenzusetzeii und jeden Gläubigen mit Seinem
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Geiste zu erfüllen. Und dies wird Er zu Seiner Zeit
thun. Der Augenblick wird kommen, wo alle Gläubigen
Ihn verstehen, von Ihm erfüllt und um Ihn allein geschart sein werden, wo keine Trennung, kein Zwiespalt
mehr unter ihnen herrschen wird. Ja, die Zeit ist nahe,
wo alle, erfüllt von dem Geiste der Heiligkeit und Liebe,
Ihm Dank und Anbetung darbringen werden. Jede Regung des Fleisches, jedes menschliche Wirken wird aus
ihrer Mitte verbannt, und nur das Wehen und Walten
des Heiligen Geistes wahrnehmbar sein; alles wird in
vollkommenem Einklänge mit Ihm selbst und Seinen Ratschlüssen stehen.
In der Gewißheit dieses herrlichen Ausganges der
Sache des Herrn kann uns daher das gegenwärtige Ueberhandnehmen des Bösen in der bekennenden Kirche nicht entmutigen. Nicht daß wir gleichgültig gegen dasselbe wären; Gott
wolle uns davor bewahren! aber wir blicken mit Vertrauen auf Den, der den Schlüssel des David hat, und
sagen mit dem Apostel: „Gott aber sei Dank, der unS
den Sieg giebt durch unsern Herrn Jesum Christum!"
Selbst wenn das Zeugnis der Wahrheit durch die Untreue der Gläubigen bedroht erscheint, und Weltlichkeit
und andere traurige Dinge mehr und mehr unter ihnen
Eingang finden, so kann auch dieses — so betrübend und
beklagenswert es ist — das Vertrauen der Treuen auf
den schließlichen Sieg des Herrn nicht erschüttern. Trotz
allem können diese einander zurufen: „Daher, meine geliebten Brüder, seid fest, unbeweglich, allezeit überströmend
in dem Werke des Herrn, da ihr wisset, daß eure Mühe
uicht ver geblich ist im Herrn." (1. Kor. 15, 57. 58.)
Kein Dienst, in Treue und Einfalt gethan, so gering
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rind unscheinbar er auch sein mag; kein Wort der Ermahnung, in Liebe geredet; kein Seufzer, kein Gebet, kein
Flehen für das Wohl der Brüder und das Werk des
Herrn — nichts von alledem ist umsonst und verloren.
Der Schlüssel des David in der Hand des Herrn bürgt
uns dafür, daß unsre Mühe nicht vergeblich ist in Ihm.
Nur noch ein wenig ausgeharrt, und wir werden die herrlichen Resultate Seiner Macht sehen! Die Frucht kann
dem arbeitenden Ackerbauer nicht ausbleiben. (2.
Tim. 2, 6.) Denken wir an die Treuen, welche mit
David wahrend der Zeit seiner Verwerfung gelitten und
ausgeharrt haben. Sie hingen ihm an; sie stritten mit
ihm die Kämpfe Jehovas; sie setzten ihr Leben für ihn
auf's Spiel, wenn es galt, ihm einen Dienst zu erweisen;
und alles das thaten sie in verborgener Weise, nichts davon drang zu der Zeit in die Oeffentlichkeit. Aber David wußte alles; und der Heilige Geist bezeichnet sie als
„die Helden Davids", und hat es der Mühe wert geachtet, ihre Namen und Thaten in der Heiligen Schrift
zum ewigen Gedächtnis aufzuzeichnen. (2. Sam. 23,
8—39; 1. Chron. 11.) Die Verwerfung Davids und
die Untreue Israels haben nur dazu gedient, die Treuen
unter ihnen offenbar zu machen. Und gerade so dient
heute die allgemeine Untreue und Gleichgültigkeit der
Christen dazu, „die Bewährten offenbar" zu machen.
(1. Kor. 11, 19.)
Es ist jetzt noch die Zeit des „Ausharrens in Jesu",
die Zeit Seines Ausharrens; (Offenb. 1, 9; 3, 10.)
aber wir wissen zuversichtlich, daß wir die Verheißung
davontragen werden, nachdem wir den Willen Gottes gethan haben. Laßt unS darum unsre Zuversicht nicht
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wegwerfen, denn sie hat eine große Belohnung. „Denn
noch über ein gar Kleines, und der Kommende wird kommen
und nicht verziehen." (Hebr. 10, 35—37.) Laßt uns aber
auch nicht vergessen, daß die Kraft unsrer Zuversicht in
dem beständigen Aufblicken zu dem Auferstandenen liegt,
der den Schlüssel des David, die Schlüssel des Todes und
des Hades hat. „Halte im Gedächtnis Jesum Christum,
auferweckt aus den Toten, von dem Samen Davids!"
(2. Tim. 2, 8.)
Irr den himmlische» Oertern.
Für jeden Christen sollten die himmlischen Oerter
«in vertrauter und bekannter Ort sein. Denn nicht erst
in den zukünftigen Zeitaltern, nicht erst in der Ewigkeit
werden die Gläubigen dort weilen, sondern jetzt schon ist
ihr Wohnplatz dort in Christo, ihr Heim im wahren
Sinne des Wortes. Trotzdem sind so viele Christen dort
nicht zu Hause, und zwar einfach aus dem Grunde, weil
sie nicht in Christo befestigt sind. Sie machen vielleicht
Anstrengungen, um sich von der Herrschaft der Sünde zu
befreien, stehen aber dabei, ohne es zu ahnen, unter dem
Gesetz. „Oder wisset ihr nicht, Brüder, daß das Gesetz
über den Menschen herrscht, so lange er lebt?"
(Röm. 7, 1.) Solche Christen leben das Leben des Menschen im Fleische und stehen unter der Herrschaft des
Fleisches in der einen oder andern Form. So lange sie
leben, hat das Fleisch oder, wenn man will, die Sünde,
Macht über sie, und alle ihre Anstrengungen sind vergeblich. Ein Christ, der seine Stellung in Christo versteht und wirklich einnimmt, bedarf solcher Anstrengungen
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nicht, weil er weiß, daß er dem Bereich der Macht der
Sünde durch den Tod Christi entrückt ist. Ein solcher
lebt das Leben des auferstandenen Christus in den himmlischen Oertern, und beschäftigt sich, anstatt mit der Sünde,
mit dem, was dort ist. Infolge dessen sind seine Genüsse und Kämpfe geistlich, und sein Wandel trägt ein 
himmlisches Gepräge.
Diese Stellung der Gläubigen in Christo Jesu in
den himmlischen Oertern ist der Gegenstand des Epheserbriefes. Ich möchte mich jedoch hier nicht über diese
Stellung selbst verbreiten, sondern nur einige Worte über
den Ausdruck: „in den himmlischen Oertern" sagen, welcher dort in vier verschiedenen Beziehungen vorkommt; zunächst in Bezug auf unsre Segnungen dort; dann im
Blick auf den Weg, auf welchem wir dahin gelangt sind;
drittens auf unsre Stellung dort gegenüber den Fürstentümern und Gewalten; und viertens auf unsern Kampf
daselbst. Alle diese Beziehungen zeugen von dem Reichtum und der Herrlichkeit der Gnade Gottes gegen uns.
Der Gott und Vater unsers Herrn Jesu Christi hat
uns gesegnet mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Oertern in Christo. (Kap. 1, 3.) Israel
war gesegnet mit all den Gütern, welche Kanaan, ein
Land, das von Milch und Honig floß, bieten konnte;
uns sind alle diejenigen geschenkt, welche die himmlischen
Oerter bieten können. Nur dort und nirgendwo anders
sind unsre Segnungen. Nimm dem Israeliten Kanaan,
und es bleibt ihm nichts als Knechtschaft oder die Wüste;
nimm dem Christen die himmlischen Oerter, und er ist 
der „elendeste von allen Menschen". (1. Kor. 15, 19.)
Ein Israelit konnte bei dem Anblick der Trauben
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und Granatäpfel, der Weinberge nnd Olivengärten, der
großen und guten Städte und Häuser, voll von allem
Gut, (4. Mose 13, 23; 5. Mose 6, 10. 11.) nicht mehr
an der Güte und Fruchtbarkeit des Landes zweifeln.
Und der Genuß all dieser guten Dinge war für ihn der
sicherste Beweis, daß er in diesem reichgesegneten Lande
war. Er konnte seinen Korb voll Erstlingsfrüchte vor
den Priester bringen und sagen: „Ich thue heute Jehova,
deinem Gott, kund, daß ich in das Land gekommen
bin, welches Jehova unsern Vätern geschworen hat, uns
zu geben." (5. Mose 26, 3.) Er kannte jetzt das Land
aus eigner Erfahrung und nicht blos durch den Bericht
der Kundschafter. Viele Christen kennen ihre gesegnete
Stellung in Christo nur durch den Bericht der Kundschafter, das heißt, sie besitzen diese Wahrheit nur als Lehre.
Aber die Wahrheit kennen und darin leben, sind zwei
ebenso verschiedene Dinge, als ein schönes Land blos der
Beschreibung nach kennen und wirklich dort sein. Ein
Christ, der die geistlichen Segnungen in den himmlischen Oertern wirklich genießt, liefert den Beweis,
daß er seinen Platz dort versteht und verwirklicht. Denn
sein Herz ist glücklich und mit Dank und Anbetung gegen
den Gott und Vater unsers Herrn Jesu Christi erfüllt.
Und diese Anbetung wird noch erhöht durch das Bewußtsein der Gnade, die ihn dorthin gebracht hat. Der
ganze Weg, auf welchem wir dahin gekommen sind, zeugt
nur von zwei Dingen: von unsern Sünden und von Gottes Gnade; von unsrer Armut und von Seinem Reichtum;
von unsrer Ohnmacht und von Seiner Allmacht. Wir
waren tot in Vergehungen und Sünden, lagen in der
Gewalt des Fürsten der Luft und waren Kinder des Zor­
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neS. „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen Seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt hat . . . hat uns mit dem Christus lebendig gemacht — durch Gnade seid ihr errettet — und hat
uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Oertern in Christo Jesu." (Eph. 2,1— 6.)
Welch eine Thatsache! Unsre Sünden undunser Elend
sind unserseits der Anlaß zu dieser wunderbaren Entfaltung
der reichen und freigebigen Gnade und Güte Gottes gewesen.
Der Israelit, früher ein umherirrender Aramäer, ein in
der Knechtschaft Egyptens seufzender Sklave, gelangte in
den Besitz von großen Städten, Häusern, Weinbergen und
Olivengärten, die er nicht gebaut und nicht gepflanzt, die Jehova ihm aus freier Güte geschenkt
hatte. Er konnte, einmal im Lande angekommen, davon
reden, was Jehova an ihm gethan hatte: „Und Jehova
hörte unsre Stimme und sah unser Elend und unsre
Mühsal und unsern Druck. Und Jehova führte uns
aus Egypten heraus mit starker Hand... und Er
brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, ein
Land, das von Milch und Honig fließt." (5. Mose 26, 5—9!
6, 10. 11.) So konnte ein Israelit reden; und, geliebter
Leser, wieviel mehr noch können wir rühmen von den
Thaten, die Gott an uns gethan hat, wenn wir die
Tiefe des Verderbens, in welchem wir lagen, mit der
Höhe unsrer jetzigen Stellung in Christo Jesu in den
himmlischen Oertern vergleichen!
Aber auch nur von dieser Höhe aus kann dieser Unterschied wahrgenommen und können die Thaten Gottes
richtig erkannt und gewürdigt werden. Die Fürsten dieses
Zeitlaufs vermögen die „Weisheit Gottes" nicht zu
305
erkennen, (1. Kor. 2, 6—8.) und leider bleibt sie selbst für
viele Christen ein Geheimnis, weil dieselben nicht mit ihren
Herzen auf dieser Höhe stehen. Die Fürstentümer und
Gewalten in den himmlischen Oertern dagegen
bewundern die Versammlung Gottes und schauen an ihr
mit anbetendem Staunen „die gar mannigfaltige Weisheit Gottes". *) Sie verstehen, daß die Versammlung
nach den ewigen Ratschlüssen Gottes nicht von dieser
Welt, sondern vom Himmel ist, und daß sie eine Herrlichkeit besitzt, welche weder sie selbst (die Fürstentümer)
noch irgend ein anderes geschaffenes Wesen mit ihr teilen
können — denn sie besitzt die Herrlichkeit Gottes. Jene
Fürstentümer bewundern den „Vorsatz der Zeitalter",
nach welchem die Versammlung in dem Herzen Gottes
bestand, noch ehe die Welt war, ja, bevor irgend etwas geschaffen worden. Denn es ist ein ewiger Vorsatz, welchen Gott, der Schöpfer aller Dinge,' in Christo
Jesu gefaßt hat. (Eph. 3, 9—11.) Wenn nun schon
diese erhabenen Mächte in den himmlischen Oertern also
über die Stellung der Versammlung Gottes denken, wieviel mehr sollten sich deren Glieder dieser Stellung bewußt sein!
Und beachten wir wohl: Erst dann, wenn wir diese
*) Wir schon hier, wie ganz anders inan im Himmel über die
Versammlung Gottes denkt als im allgemeinen auf dieser Erde. Die
Gedanken der Engel betreffs derselben stehen im Einklang mit den
Gedanken Gottes, während auf dieser Erde die größte Verwirrung
und Finsternis über das herrscht, was die Versammlung Gottes ist.
Derselben Erscheinung begegnen wir bei der Geburt des Herrn; die
Menge der himmlischen Heerscharen war in Bewegung bei Eintritt
dieses großen Ereignisses, während dasselbe auf der Erde gar nicht
beachtet wurde, ausgenommen von einigen armen Hirten.
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Stellung in Christo kennen und einnehmen, vermögen wir
den Kampf wider die geistlichen Mächte der Bosheit in
den himmlischen Oertern Zu führen. (Eph. 6, 12.)
Dieser Kampf selbst ist ein Beweis der unS widerfahrenen
Gnade, und unterscheidet sich von dem Kampfe eines Gläubigen unter dem Gesetz in höchst bemerkenswerter Weise.
Dieser kämpft, um befreit zu werden oder um irgend etwas zu erlangen, während der Kampf in den himmlischen
Oertern voraussetzt, daß man bereits alles in Christo
besitzt. WaS fehlt uns noch, das wir nicht in Ihm hätten?
Wenn die Schrift sagt, daß wir in Christo vollendet,
durch Sein ein für allemal geschehenes Opfer auf immerdar vollkommen gemacht und in Ihm in die himmlischen Oerter versetzt sind, (Kol. 2, 10; Hebr. 10, 14.)
haben wir dann in dieser Beziehung noch etwas zu erkämpfen? Könnte dem, was Gott als vollendet und vollkommen erklärt! noch etwas durch unsre elenden Anstrengungen hinzugefügt werden? Wahrlich nicht!
Aber, könnte jemand einwenden, dann hätte ja ein
Gläubiger in Christo überhaupt keinen Kampf und deshalb auch keine Ermahnung mehr nötig. Allein das wäre
ein durchaus falscher Schluß. Ein Christ bedarf stets der
Ermahnung und Ermunterung, er hat allezeit zu kämpfen,
zu wachen und zu beten, und dies mit aller Energie und
allem Anhalten. Aber der Zweck der an ihn gerichteten
Ermahnungen und das Ziel seiner Kämpfe gipfelt darin,
feine Stellung in Christo praktischer Weise zu behaupten,
und zugleich andern Heiligen behülflich zu sein. Der Apostel
sagt: „Deshalb nehmet die ganze Waffenrüstung Gottes,
auf daß ihr an dem bösen Tage zu widerstehen und,
nachdem ihr alles ausgerichtet habt, zu stehen vermöget.
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Stehet nun rc. . . . zu jeder Zeit betend mit allem
Gebet und Flehen für alle Heiligen re." (Ephes. 6,
13. 14. 18.) Ein Gläubiger, der in Christo wandelt, befindet sich sicherlich im Einklang mit allen Ermahnungen des Wortes Gottes, und denkt nicht an sich,
sondern nur an andere. Möchte es daher vor allen Dingen unser Verlangen sein, unsern Platz in Christo in den
himmlischen Oertern zu behaupten! Laßt uns zu diesem
Zwecke kämpfen und beten für uns selbst und für alle
Heiligen, so lange der „böse Tag" dauert. Wenn einmal
die geistlichen Mächte der Bosheit aus dem Himmel auf
die Erde geworfen sind (Offbg. 12, 8. 9.) und die Versammlung in den Himmel entrückt ist, dann ist für sie
der böse Tag und jeder Kampf auf ewig beendigt. Und
diese Entrückung kann jeden Tag in Erfüllung gehen, denn
der Herr sagt: „Ich komme bald!" (Offbg. 3, 11.)
Bruchstücke.
Unsre Herzen haben die stete Neigung, die Gegenwart
mit der Vergangenheit zu vergleichen; aber anstatt dadurch
ermuntert und gestärkt zu werden, macht eS uns mutlos
und schwach. Der Weise sagt daher: „Sprich nicht:
Wie ist's, daß die früheren Tage besser gewesen als diese?
denn nicht aus Weisheit fragest Du darnach."
(Pred. 7, 10.) Gottes Weise ist, Sein Volk anzuleiten,
seine Kraft und Ermunterung aus der Betrachtung der
Zukunft zu schöpfen. Als z. B. der in sein Land
zurückgeführte Ueberrest bei der Grundsteinlegung des
Tempels niedergebeugt war, weil derselbe im Vergleich
mit dem salomonischen Tempel so klein und unansehnlich
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erschien, erging von feiten des Herrn die Botschaft an
ihn: „Ich werde dieses Haus mit Herrlichkeit erfüllen,
spricht Jehova der Heerscharen. . . Es wird die letzte
Herrlichkeit dieses Hauses größer sein als die erste, spricht
Jehova der Heerscharen." (Hagg. 2, 7. 9.) Ja, all vie
Herrlichkeit und Segnung der Gegenwart und Herrschaft
des Messias wurde vor den Augen der Trauernden entfaltet,
um sie aufzurichten und zu ermuntern. So sind auch alle
Verheißungen, welche in den Sendschreiben an die sieben
Versammlungen den Ueberwindern gegeben werden, mit der
Zukunft verbunden. In Hebr. 10, 32 werden die Gläubigen
allerdings an die vergangenen Tage erinnert, aber es
geschieht nur, um sie zu ermuntern, sich wieder zu derselben
Freudigkeit des Glaubens und Ausharrens aufzuraffen,
welche sie einmal gezeigt hatten. Die Bemühung des
Heiligen Geistes geht im allgemeinen stets dahin, unsre
Gedanken auf die gesegnete Zukunft zu lenken, in welcher
wir persönlich Christo gleichgestaltet sein werden, auf die
Zeit, wo die Versammlung Ihm dargestellt sein wird
ohne Flecken und Runzel. Und der Blick auf dieses herrliche Ziel ist auch allein wirklich imstande, uns zu
ermuntern und unsre Herzen mit Friede und Freude zu
erfüllen.
ES giebt drei Dinge, welche der Glaube thut: er
reinigt das Herz, er wirkt durch die Liebe, und er überwindet die Welt.

Ueber das Gebet.
4. „Betet für uns."
(Hebr. 18. 18.)
In dem letzten Abschnitt unsrer Betrachtung haben
wir uns eingehend mit dem Beharren des Apostels Paulus im Gebet und Flehen beschäftigt. Dieses Beharren
bewies nicht nur, wie sehr Paulus den Herrn und die 
Seinigen liebte, sondern auch, wie völlig er überzeugt war,
daß aller Segen nur von Ihm kommt, und daß alle
Weisheit und Kraft im Dienste, sowie aller Erfolg und
alles Gedeihen ganz und gar von der Wirksamkeit Seiner
Gnade abhängig ist. Aus demselben Grunde ermahnte
er auch die Heiligen so oft in seinen Briefen, daß sie in
ihren Gebeten seiner und seiner Mitarbeiter im Werke des
Herrn gedenken möchten. Wir lesen in Röm. 15, 30:
„Ich bitte euch aber, Brüder, durch unsern Herrn Jesum
Christum und durch die Liebe des Geistes, mit mir zu
kämpfen in den Gebeten für mich zu Gott,
auf daß ich von den Ungläubigen in Judäa errettet
werde ec." Und wenn er die Gläubigen in Ephesus zu
anhaltendem Gebet für alle Heiligen ermahnt, so fügt er
hinzu: „und für mich, auf daß mir die Rede verliehen werde im Aufthun meines Mundes, um mit Freimütigkeit kundzuthun das Geheimnis des Evangeliums ...,
damit ich darin freimütig sei, so wie ich reden soll."
(Eph. 6, 19. 20.) Aehnlich sagt er in Kol. 4, 3: „und
betet zugleich für uns, auf daß Gott uns eine
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Thür des Wortes aufthue, um das Geheimnis des Christus zu reden . . ., auf daß ich es offenbare, wie ich
reden soll." Ferner lesen wir in 2. Thessal. 3, 1:
„Uebrigens, Brüder, betet für uns, daß das Wort
des Herrn laufe und verherrlicht werde, wie auch bei
euch, und daß wir errettet werden von den schlechten und
bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht aller Teil."
(Vergl. auch 1. Thess. 5, 25.)
Im Bewußtsein seiner völligen Abhängigkeit von Gott
in dem ihm anvertrauten Dienste, sowie im Blick auf die
mannigfachen Gefahren und Versuchungen, welchen er ausgesetzt war, wünschte der Apostel sehnlichst, daß die Heiligen ihn stets auf betendem Herzen tragen möchten. Satan ist zu aller Zeit bemüht gewesen, die treuen Arbeiter
des Herrn zu beseitigen, ihre Bemühungen wirkungslos zu
machen und das ganze Werk zu verderben. Und ach I wie
sehr ist es ihm gelungen! Wie unermeßlich groß ist der
Verfall, und wie klein die Zahl der treuen Arbeiter! Es
giebt freilich unzählig viele in unsern Tagen, die sich mit
dem Werke des Herrn beschäftigen; doch der bei weitem
größte Teil derer, die sich Diener Christi nennen, kennt 
Christum gar nicht, hat nie an sich erfahren, waS es
heißt, verloren zu sein und errettet zu werden. Andrerseits giebt es viele, die Ihn zwar kennen, aber aus Unwissenheit oder Untreue das Evangelium nicht lauter verkündigen, sondern es mit allerlei menschlichen Gedanken
vermengen, und es dadurch schwächen und seiner gesegneten
Wirkung mehr oder weniger berauben. Die meisten üben
auch ihren Dienst unter der Autorität und Leitung von
Menschen aus, anstatt unter der alleinigen Autorität des
Herrn und unter der Leitung des Heiligen Geistes. Wie
311
sehr thut es da not, den Herrn der Ernte zu bitten, daß 
Er Arbeiter in Seine Ernte sende, welche die Wahrheit
festhalten und in Einfalt und Lauterkeit des Herzens
dem Herrn dienen; daß Er treue, hingebende Männer
erwecke und sie tüchtig mache, auch andere zu belehren!
(2. Timoth. 2, 2.) Und hat der Herr solche Arbeiter
gegeben, die nur durch Seinen Geist geleitet zu werden
begehren, wie eifrig und anhaltend sollten wir dann für
sie flehen, daß der Herr sie in den mannigfachen Versuchungen und Gefahren ihres Weges bewahre und aufrecht erhalte, daß Er ihnen Weisheit und Kraft von
oben gebe, um den ihnen anvertrauten Dienst nach Seinem Willen zu erfüllen und nicht zu ermatten! Denn in
diesen Tagen des Verfalls und der Verwirrung erfahren
solche Arbeiter in ihrem Dienste nicht nur Feindschaft und
Verachtung von feiten der Ungläubigen, sondern sind auch
selbst dem Widerstand mancher Gläubigen und oft sogar
allerlei Verleumdungen seitens ihrer Brüder ausgesetzt.
Im Blick auf die große Wichtigkeit des vorliegenden
Gegenstandes möchte ich, geliebter Leser, vorausgesetzt daß
du errettet bist, die ernste Frage an dich richten: Nimmst
du wirklich Anteil an dem Werke des Herrn? Flehst du zu
Ihm, daß Er Arbeiter aussende, und gedenkst du fürbittend
derer, die Er bereits ausgesandt hat? Der Herr selbst
hat ein volles Interesse an Seinem Werke sowohl, als
auch an denen, welche sich in demselben bemühen; und wenn
wir Ihn lieben und die gesegnete Gemeinschaft mit dem
Vater und dem Sohne, in welche die überströmende Gnade
Gottes uns gebracht hat, verwirklichen, so werden auch
wir ein ganzes Herz für Werk und Arbeiter haben und
viel im Gebet daran gedenken. Aber auch nur dann!
312
Vielleicht liegt uns die Errettung unsrer Kinder, unsrer
Angehörigen und Freunde sehr am Herzen; vielleicht flehen
wir auch, falls sie errettet sind, viel zum Herrn, daß Er
sie bewahren und Sein Werk in ihnen befestigen möge;
aber das ist noch kein Beweis, daß wir den Herrn und
Sein Werk wirklich lieb haben, und daß die Errettung
der Verlornen und die Bewahrung der Seinigen unser
sehnliches Begehren ist. Da spielt oft die Eigenliebe, wenn
auch unbewußt, eine große Rolle. Ein Herz, das mit
wahrer Liebe und mit den Gefühlen Christi erfüllt ist,
geht über jenen engen Kreis weit hinaus. Und ein solches
Herz gebe der Herr uns allen in Gnaden!
Wir haben früher schon darauf hingewiesen, daß es
dem Herrn nicht nur wohlgefällig ist, wenn ein jeder der
Seinigen für sich mit Gebet und Flehen seine Zuflucht
zu Ihm nimmt, sondern daß es auch nach Seinem Willen
ist, wenn wir gemeinschaftlich vor Ihn hintreten,
mag es sich nun handeln um persönliche Bedürfnisse oder
um die Schwierigkeiten und Prüfungen Anderer, um die
Errettung der Seelen oder um das Wohl der Erretteten,
um Aussendung von Arbeitern zu Seinem Werke oder
um die Bewahrung und Segnung derer, die Er bereits
ausgesandt hat. Sind die Seinigen so gemeinschaftlich im Namen Jesu zum Gebet versammelt, und wären
ihrer auch nur zwei oder drei, so dürfen sie überzeugt
sein, daß der Herr selbst in ihrer Mitte ist, (Matth. 18, 20.)
und durch Ihn steigt ihr Gebet und Flehen, ihr Lob
und Dank zu Gott empor und ist annehmlich vor Ihm.
In den ersten Tagen der Kirche fanden sich die Gläubigen bei vielen Gelegenheiten zu gemeinschaftlichem Gebet
zusammen. Schon bald nach der Himmelfahrt des Herrn
313
Jesu waren die Jünger mit etlichen gottesfürchtigen Weibern und den Brüdern des Herrn auf einem Obersaal in
Jerusalem versammelt, und es wird von ihnen gesagt:
„Diese alle hielten einmütig an am Gebet."
(Apstgsch. 1, 12—14.) Wenige Tage später, als sie in
ähnlicher Weise versammelt waren, kam der Heilige Geist
auf sie hernieder. (Kap. 2, 1—4.) Ferner wird uns von
den durch die Predigt des Petrus gläubig gewordenen
Seelen bezeugt: „Sie beharrten aber in der Lehre der
Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes
und in den Gebeten." (Kap. 2, 42.) Und als nicht
lange nachher Petrus und Johannes vor dem Hohenpriester,
den Aeltesten und Schriftgelehrten ein freimütiges Bekenntnis abgelegt hatten und zu den Ihrigen zurückgekehrt
waren, da erhoben sie einmütig ihre Stimme zu Gott;
und ihr Gebet wurde erhört, denn „als sie gebetet hatten,
bewegte sich die Stätte, wo sie versammelt waren, und sie
wurden alle mit dem Heiligen Geiste erfüllt und redeten
das Wort Gottes mit Freimütigkeit." (Kap. 4, 31.)
Bei Gelegenheit der Gefangennahme des Apostels
Petrus durch den gottlosen König Herodes „geschah von
der Versammlung ein anhaltendes Gebet für ihn
zu Gott;" (V. 5.) und Gott antwortete auf das Rufen
der Seinen: Petrus wurde auf eine höchst wunderbare
Weise durch einen Engel des Herrn errettet. Als in späterer Zeit Paulus die Aeltesten von Ephesus in Milet
auf die kommenden Gefahren aufmerksam gemacht und sie
ernstlich ermahnt hatte, „kniete er nieder und betete
mit ihnen allen." (Kap. 20, 36.)
Das sind schöne Beispiele aus der ersten gesegneten
Zeit der Kirche, welche wohl dazu geeignet sind, uns in
314
den gegenwärtigen bösen Tagen zur Nachahmung zu ermuntern, daß auch wir, sei es im verborgenen Kämmerlein, oder in Gemeinschaft mit Andern, unsre Kniee vor
unserm Gott und Vater beugen und in Gebet, Fürbitte
und Danksagung unsre Herzen vor Ihm ausschütten. Es
ist sicher höchst beklagenswert, wenn so viele geliebte Kinder
Gottes hierin gleichgültig und träge sind, indem sie sich
durch das Fleisch leiten lassen, welches stets die Gegenwart
Gottes flieht. Ja, wie bedauerlich ist es, daß an manchen Orten, wo Gläubige sich in dem Namen Jesu versammlen, um Seinen Tod zu verkündigen oder Sein
Wort zu betrachten, Zusammenkünfte zu gemeinschaftlichem
Gebet selten oder gar nie stattfinden! An andern Orten
hat man zwar damit angefangen, aber aus Mangel an
Teilnahme es wieder aufgegeben; und in den meisten
Fällen wird selbst da, wo man regelmäßig zum Gebet sich
versammelt, keine Versammlung weniger besucht als die
Gebetsstunde, obwohl diese, nächst dem Zusammenkommen
zur Verkündigung des Todes des Herrn, ohne Zweifel
den ersten und wichtigsten Platz einnimmt.
Wie beschämend und demütigend sind solche Erscheinungen, und wie sehr verraten sie den niedrigen, geistlichen Zustand der Gläubigen, selbst derer, welche bekennen,
die Wahrheit zn besitzen und den Herrn zu ihrer Aufnahme zu erwarten! Aber was soll man erst sagen, wenn
Einzelne sogar meinen, die Gläubigen sollten nur dann
zu gemeinschaftlichem Gebet zusammenkommen, wenn eine
besondere Veranlassung dazu vorläge? Wahrlich, bei dem
Gedanken an die vielen traurigen Zustände um uns her,
fühlt man sich doch zu der Frage versucht, ob sich auf
solche nicht das Wort anwenden läßt: „Sie haben Augen
315
und sehen nicht." Es ist allezeit das Bestreben des Feindes, uns im Gebet nachlässig und träge zu machen; und
je mehr wir dem Fleische folgen und den Einflüsterungen
des Feindes Gehör geben, desto mehr kommen wir wieder
unter seinen Einfluß, und desto gleichgültiger wird unser
Herz gegen Christum und Sein Wort. Und ach! bei wie
vielen teuer erkauften Seelen ist ihm dies gelungen! Er
hat nach und nach ihre Augen verblendet, ihre Gewissen
verhärtet und sie in den Dienst der Welt und der Sünde
zurückgeführt. Und ist es auch bei manchen noch nicht
gerade so weit gekommen, so gehen sie doch in einem Zustande der Gleichgültigkeit dahin und sind zufrieden, wenn
sie den seltenen Besuch der Zusammenkünfte der Gläubigen,
vor allem der Gebetsstunden, ihrerseits durch irgend etwas
entschuldigen können. Erhebt ihr Gewissen hie und da
seine anklagende Stimme, so haben sie hunderterlei Gründe
bereit, um den unangenehmen Mahner zu beruhigen.
Wo ist da die Furcht Gottes? Wo die Liebe zu
Gott und zu Christo, der durch die Aufopferung Seines
eignen teuren Lebens uns aus so großem Verderben errettet und Seiner Herrlichkeit teilhaftig gemacht hat?
Wo die- Liebe und das Mitgefühl für die Seinigen, die
Teilnahme an Seinem Werke? Mit welch einer Beschämung werden einst alle, die sich durch den Feind haben
bethören lassen und dem Fleische und ihrem Hange nach
Bequemlichkeit gefolgt sind, auf ihre große Undankbarkeit
gegen den Herrn und auf ihre verlornen Tage zurückblicken! Deshalb, geliebter Leser, laß uns stille stehen und
in der Gegenwart Gottes unser Leben hienieden betrachten.
Ist Christus unser Leben? Ist unser Wandel in Gemeinschaft mit Gott, in Seiner Furcht und zu Seiner Ver­
316
herrlichung? Vergessen wir nicht, Ihm täglich für alle
Seine Wohlthaten zu danken und unsre Anliegen vor Ihm
kundwerden Zu lassens Ist es ein Bedürfnis für unsre
Herzen, sei es im Kämmerlein oder in Gemeinschaft mit
den Seinigen, viel vor dem Herrn im Gebet zu seins
Betrachten wir das Zusammenkommen zum Gebet als einen
Genuß und als ein großes Vorrecht, an welchem wir mit
herzlichem Verlangen teilnehmens Machen wir uns eins
mit den Bedürfnissen des Volkes Gottes, sowie mit seinen
Fehlern und Verirrungen? Tragen wir Leid, wenn es
nicht gut in unsrer Mitte steht, und preisen wir den Herrn,
wenn Er in Seiner Gnade wirkt? Gedenken wir des Werkes und der Arbeiter des Herrn? Blicken wir empor und
rufen mit aufrichtigem Verlangen: „Herr Jesu, komm!"?
Mein Leser, das sind Fragen, die du dir im Lichte
Gottes und in der verborgenen Stille Seiner Gegenwart
vorlegen und mit Aufrichtigkeit beantworten solltest. Kannst
du sie nicht bejahen, verurteilt dich dein Herz und straft
dich dein Gewissen, o dann versäume nicht, dich ernstlich
vor Gott zu richten und zu demütigen und zu Ihm um
Gnade zu flehen! Sicher, wenn du es mit Aufrichtigkeit
thust, so wird Er dich erhören und dir Kraft verleihen,
um fortan ein treueres Zeugnis für Ihn zu sein und mehr
zu Seiner Verherrlichung zu leben. Auch wirst du dann
ein Segen für andere sein, indem dein Beispiel sie ermuntert, ebenfalls treuer zu wandeln. Du wirst ein gesegneter Mitarbeiter im Werke des Herrn werden, und
wahrlich, deine Mühe wird nicht vergeblich sein. Die Frucht
derselben wird einmal sichtbar werden, mag sie auch jetzt
verborgen bleiben; sie wird dienen zur Verherrlichung des
Herrn, dessen Gnade allein alles Gute in uns wirken
317
kann, und sie wird dir reichen Lohn bringen an jenem 
Tage.
Ich kann diese Betrachtung nicht schließen, ohne noch
einmal dem Wunsche Ausdruck gegeben zu haben, daß doch
alle die Geliebten des Herrn zu einem tiefen Bewußtsein
der Notwendigkeit eines treuen, unablässigen Gebets, eines
ununterbrochenen verborgenen Umgangs mit Gott erwachen
möchten. Der Herr ist nahe! Er sagt: „Ich komme bald
und mein Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten
wie sein Werk sein wird." Darum, möchten wir alle,
Schreiber und Leser, wachend erfunden werden!
Zwei wichtige Punkte.
Der Herr will, daß wir inmitten einer sündigen und
feindseligen Welt ohne Furcht seien. Immer wieder rief
Er Seinen Jüngern an jenem denkwürdigen Abend vor
Seinem Leiden zu: „Euer Herz werde nicht bestürzt!" —
„Euer Herz fei nicht bestürzt, auch nicht furchtsam!" —
„Seid gutes Mutes!" Und in ähnlichem Sinne läßt Er
uns durch den Apostel sagen: „Seid um nichts besorgt."
Statt besorgt und beunruhigt zu sein, sollen unsre Herzen
vielmehr denselben Frieden genießen, der auch Sein Herz
hienieden erfüllte. „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch." Der Herr will nicht nur, daß wir
errettet seien für den Himmel, sondern auch, daß wir jetzt
schon Seinen Frieden genießen trotz der Schwierigkeiten
unsres Weges. Zu diesem Zwecke macht Er uns auf
zwei wichtige Punkte aufmerksam, auf den Glauben an
Ihn und die Erwartung Seiner Ankunft.
Bezüglich des ersten Punktes sagte Er zu Seinen
318
Jüngern: „Ihr glaubet an Gott, glaubet auch an
mich." (Joh. 14, 1.) Mit diesen Worten zeigte Er
ihnen ihren zukünftigen Weg während Seiner Abwesenheit.
Sie sollten fortan im Glauben auf Ihn blicken, wenn
Er ihren leiblichen Augen entschwunden sein würde; gleichwie Moses auf den Unsichtbaren blickte, „als sähe er
Ihn". (Hebr. 11, 27.) Wenn wir nun der Ermahnung
des Herrn nachkommen und mit dem Auge des Glaubens
auf Ihn sehen, so schauen wir Ihn, wie Ihn die Jünger
während den Tagen Seines Fleisches nie gesehen haben,
noch sehen konnten. Wir sehen Ihn als den Erlöser,
der das Werk vollbracht, die Sünde getilgt, den Tod und
die Macht Satans zunichte gemacht, die Welt überwunden
hat, und nun siegreich und verherrlicht zur Rechten Gottes
sitzt. Der Glaube an Ihn verbannt jede Furcht aus dem
Herzen, sowohl betreffs unsrer Stellung vor Gott, als
auch im Blick auf die Macht Satans und die Welt, und
erfüllt es mit vollkommenem Frieden. Auch sehen wir
Ihn durch den Glauben als unsern Hohenpriester in der
Gegenwart Gottes, der unsrer Schwachheit zu Hülfe kommt,
damit wir nicht straucheln. Er hat also für alle unsre
Bedürfnisse Vorsorge getroffen, so daß wir trotz unsrer
Schwachheit in ununterbrochener Gemeinschaft mit Gott
wandeln können. Und selbst wenn wir uns durch Nachlässigkeit aus dieser Gemeinschaft entfernt haben, brauchen
wir nicht zu verzagen. Denn alsdann können wir kraft
Seiner Fürsprache bei dem Vater immer wiederkommen
und wiederhergestellt werden. Nach einem aufrichtigen
Bekenntnis unsrer Schuld giebt uns der Glaube an
Jesum auch in diesem Falle immer wieder Ruhe und
Frieden.
319
Ohne Zweifel sind wir in dieser Welt von mancherlei Schwierigkeiten umgeben und vielem ausgesetzt,
was uns Furcht einflößen könnte. Allein in jeder Beziehung gilt das Wort des Herrn: Glaubet an mich!
Sollte Er, der betreffs all unsrer Bedürfnisse vor Gott
vollkommen genügt, nicht auch vollkommen genügen betreffs
unsrer Bedürfnisse für dieses Leben? Der Glaube blickt
auf Ihn, als sähe er den Unsichtbaren. Er, der in den
Tagen Seiner Niedrigkeit Sturm und Wellen gebot,
Kranke heilte, Tote auferweckte, Tausende mit wenigen
Broten sättigte, ist heute noch derselbe. Immer wieder
ruft Er uns zu: Glaubet an mich! Was sind die
Schwierigkeiten vor Ihm, der alle Gewalt hat im Himmel
und auf der Erde? Er ist vollkommen genug für uns in
allen Lagen, wenn wir nur an Ihn glauben, „gleichwie
die Schrift gesagt hat". Wir sind alsdann nicht nur ohne
Furcht, sondern auch voll von Frieden und Freude, und
„aus unsern Leibern werden Ströme lebendigen Wassers
fließen," d. h. wir werden ein Kanal der Segnungen für
Andere sein. (Vergl. Joh. 7, 38.)
Und nicht mehr lange, so wird Er wiederkommen
und uns zu sich nehmen, auf daß, wo Er ist, auch wir
seien. (Joh. 14, 2. 3.) Das ist der zweite wichtige
Punkt. Und wahrlich, auch das ist geeignet, unsre Befürchtungen zu zerstreuen und unsre Herzen mit Trost und
Freude zu erfüllen. Der Herr kommt wieder, und dann
wird unser Glaube in Schauen verwandelt werden. Noch
ein wenig, und wir werden diese arme Erde verlassen,
um für immer bei dem Herrn im Vaterhause zu sein.
Er hat nicht gesagt, wann Er kommt; auch hat Er uns
keine Zeichen gegeben, woran wir erkennen sollen, daß Er
320
nahe ist. Er hat einfach gesagt, daß Er wiederkommen
und uns zu sich nehmen wolle. Wir haben daher weder 
auf Zeichen noch auf Zeiten zu achten, sondern einfach
auf Ihn zu warten. Was kann glückseliger sein, als
dieses Warten auf Ihn? Ob Er in der ersten, in der
zweiten oder in der dritten Wache kommt, ist nicht die
zunächst liegende Sache, sondern die Gewißheit, daß Er
kommt. „Glückselig jene Knechte, die der Herr, wenn
Er kommt, wachend finden wird!" (Luk. 12, 37. 38.)
Ein solches Wachen oder Warten wirkt nie ermüdend;
es erfrischt im Gegenteil unsre Herzen, weil es die Person des Herrn zu unserm unmittelbaren Gegenstände
macht. Wir erwarten Ihn als solche, die bereits durch
den Glauben aufs innigste mit Ihm verbunden sind und
in Ihm ihren Ruhort, die Quelle all ihres Trostes, ihrer
Kraft und Freude gefunden haben.
Daher wird einem jeden, der im wahren Sinne des
Wortes an Jesum glaubt und auf Ihn wartet, der Weg
nicht schwer, weil der Christus ihm leuchtet. *)
(Ephes. 5, 14.) Und in diesem Lichte gesehen, erscheinen
nicht nur die Schwierigkeiten des Weges, sondern auch die
ganze Welt und wir selbst klein in unsern Augen. Paulus kannte die Kostbarkeit Christi und konnte daher sagen:
„Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi
willen für Verlust geachtet; ja, wahrlich, ich achte auch
alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis
Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen ich alles
eingebüßt habe und eS für Dreck achte, auf daß ich
*) Leider sehen manche Gläubige die Herrlichkeit des Herrn
nicht, weil sie gleich den Jüngern ans dem Berge „vom Schlaf
beschwert" und noch nicht „völlig aufgewacht" sind. (Luk. 9, 32.)
321
Christum gewinne." (Phil. 3, 7. 8.) Er war ein Mensch,
ebenso schwach und arm in sich selbst, wie auch wir; aber
er hatte kein Vertrauen auf Fleisch, sondern glaubte
einfach an Christum und wartete auf Ihn. (Phil.
3, 3.) Laßt auch uns diese beiden Punkte Tag für Tag
im Auge behalten! Wir werden alsdann unsern Weg
gemäß den Absichten des Herrn ebenso glücklich gehen,
wie Paulus ihn ging.
Vier bemerkenswerte Worte.
„Denn der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen
und zu erretten, was verloren ist." (Luk. 19, 10.)
„Der uns errettet hat und beruseu mit heiligem Rufe."
(2. Tim. 1, 9.)
„Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem
Namen, da bin ich in ihrer Mitte." (Matth. 18, 20.)
„Wenn aber Kinder, so auch Erben — Erben Gottes
nud Miterben Christi, wenn wir anders mitleiden, auf
daß wir auch mitverherrlicht werden." (Röm. 8,17.)
Es giebt in obigen vier Stellen je ein Wort, auf
welches wir die besondere Aufmerksamkeit des Lesers richten
möchten. Das erste ist das Wörtchen „verloren".
Dasselbe beschreibt, wie wir wissen, den Zustand eines
jeden Menschen von Natur, ob Mann, Weib oder Kind;
niemand kann sich der Tragweite desselben entziehen. Wenn
Gott sagt, daß der Mensch verloren sei, so ist, so weit
es den Menschen betrifft, jede Möglichkeit ausgeschlossen,
diesem Urteilsspruch zu entrinnen. Biele Menschen mögen sich
mit Andern vergleichen betreffs des Maßes oder der Zahl
der Sünden, die sie begangen haben; und nicht selten
mag sich der Eigengerechte Glück wünschen, daß er sich
322
dieser oder jener groben Sünde noch nicht schuldig gemacht habe. Ja, er blickt vielleicht mit Mitleid auf einen
Trunkenbold, einen Dieb oder auf einen Flucher herab
und sagt wie der Pharisäer: „Gott, ich danke Dir, daß 
ich nicht bin wie die übrigen der Menschen: Räuber,
Ungerechte, Ehebrecher rc.I" Aber nichtsdestoweniger ist er
vor Gott ein ebenso völlig verlorener Sünder wie auch
der Trunkenbold und der Dieb, ja, so völlig verloren wie
der gottloseste, unsittlichste Mensch, den es auf Erden
geben mag. „Verloren!" „verloren!" das ist das Los
des ganzen menschlichen Geschlechts ohne Ausnahme; so
völlig verloren, daß selbst daS kleine Kind, welches sich
noch keine Rechenschaft über sein Thun und Lassen zu
geben vermag, der Errettung bedarf. Gerade in Bezug
auf die Kinder sagt der Herr, daß Er gekommen sei,
„das Verlorene zu erretten". (Matth. 18.) Er
redet nicht von „Suchen", weil ein kleines, unmündiges
Kind nicht gesucht werden kann. Es ist noch nicht fähig,
die Stimme des guten Hirten zu vernehmen. Aber es
muß errettet werden. Und wir, du und ich, mein
lieber, bekehrter Leser, konnten nicht eher errettet werden,
als bis wir entdeckt hatten, daß wir verloren waren. Der
erschreckte Kerkermeister zu Philippi fühlte unter der mächtigen Wirksamkeit des Geistes Gottes seinen verlornen
Zustand. Daher seine ängstliche und dringende Frage:
„Ihr Herren, was muß ich thun, auf daß ich errettet
werde?"
Dies führt uns zu dem zweiten Worte, welches sich
in der zweiten der oben angeführten Stellen findet; es
heißt: „errettet". Gott hat heute auf Erden ein errettetes
Volk. Beachte die Sprache des Apostels Paulus in diesem
323
Verse, mein Leser: „Der uns errettet hat und berufen mit heiligem Rufe." Wir befanden uns einst alle
in den Reihen der Verlornen; aber heute kann Gott auf
Tausende und aber Tausende herabblicken, die durch den
Glauben an das vergossene Blut Jesu errettet sind. Einst
waren sie Feinde; jetzt aber sind sie versöhnt durch den
Tod Christi. (Röm. 5, 10.) Einst waren sie „fern", jetzt
aber sind sie nahe gebracht durch das Blut Christi. (Eph.
2, 13.) Einst waren sie mit Schuld beladen; jetzt aber
sind ihre Sünden vergeben; sie sind „gerechtfertigt", „geheiligt", „Kinder Gottes", (1. Joh. 3, 1. 2.) „Erben
Gottes und Miterben Christi". (Röm. 8, 17.) Versiegelt
durch den Geist der Sohnschaft, der in ihnen Wohnung gemacht hat, rufen sie: „Abba, Vater!" — Glückliches Volk!
Annehmlich gemacht vor Gott in dem Geliebten, (Eph. 1, 6.)
fähig gemacht zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in
dem Lichte, (Kol. 1, 12.) Besitzer des ewigen Lebens,
bewahrt durch die Macht Gottes, so pilgern sie einher,
während ihr großer Hoherpriester, der alle diejenigen, welche
durch Ihn Gott nahen, völlig zu erretten vermag, sich
allezeit vor Gott für sie verwendet. (Hebr. 7, 25.)
Wir kommen jetzt zu unserm dritten Worte, das in der
aus Matth. 18 angeführten Stelle enthalten ist. Es lautet:
„versammelt". Welch eine unendliche Gnade giebt sich
in demselben kund! Wie laut und verständlich redet es
zu uns von der zärtlichen Liebe Gottes! Er errettet
nicht nur die Verlornen und macht sie zu Seinem Volke,
sondern Er versammelt sie auch um die anbetungswürdige Person Seines eingeborenen, geliebten Sohnes.
Und obgleich dieser Sohn jetzt nicht sichtbar in der Mitte
der Seinigen ist, wie Er es einst war, als Er am Tage
324
Seiner Auferstehung unter Seine versammelten Jünger
trat, so ist Er doch auch heute wirklich und wahrhaftig
„in der Mitte" Seines versammelten Volkes; nur mit
diesem Unterschiede: während Er damals dem natürlichen
Auge sichtbar war und mit Händen betastet werden konnte,
vermag Ihn heute nur der Glaube zu schauen und zu
genießen. Er selbst hat in der Voraussetzung dieses Unterschiedes gesagt: „Glückselig, die nicht gesehen und geglaubt
haben!" Welch eine Freude war es für die Jünger, Jesum in ihrer Mitte zu haben! Und so weiß auch heute
mancher Christ davon zu reden, wie herrlich es ist, die
Freude und Kostbarkeit Seiner Gegenwart zu schmecken,
wenn die Gläubigen in Seinem Namen versammelt sind.
Aber ach! wie viele giebt es auch, welche wohl die Gnade
Gottes in ihrer Errettung anerkennen, die aber Fremdlinge gegenüber der Gnade sind, welche die Heiligen zu
dem Namen und der Person des Herrn Jesu Christi hin
versammelt. Wir brauchen nicht zu sagen, daß keine nicht
errettete Seele, kein Unbekehrter wirklich um Christum „versammelt" sein kann. Dieses unaussprechliche Vorrecht gehört allein den Kindern Gottes. Sie waren einst verloren, sie sind jetzt errettet, und es ist ihr Vorrecht, in
dem Namen Jesu versammelt zu sein.
Eines Sonntag Morgens trafen sich zwei Gläubige
auf der Straße. „Wohin gehen Sie?" fragte der eine
den andern. „Ich gehe, um dem Herrn zu begegnen,"
lautete die Antwort. Der Frager blickte den andern groß
an. „Um dem Herrn zu begegnen?" Das war eine Sache,
von der er nichts kannte. Er wußte wohl, was es heißt,
sich aus den Weg zu machen, um eine gute Predigt oder 
einen gewandten Redner zu hören; aber zu einer Ver­
325
sammlung zu gehen mit dem einfachen Zwecke, dem Herrn
dort zu begegnen, das war etwas ganz neues für ihn.
Von diesem Vorrecht, welches Gottes Liebe den Seinigen
gegeben, hatte er nie gehört, viel weniger es je genossen.
Er dachte vielleicht, wie leider so viele Gläubige es thun:
„Wenn ich nur weiß, daß ich errettet bin und am Ende
in den Himmel komme, so macht es wenig aus, in welcher
Weise und auf welchem Boden ich mich hienieden mit
meinen Mitgläubigen versammle." Ach! alle, die so denken
und reden, vergessen völlig, daß Gott nicht nur den Weg
des Heils bekannt gegeben hat, auf welchem Sünder errettet werden können, sondern daß Er auch mitgeteilt
hat, auf welche Weise die Erretteten „sich versammeln"
sollen.
Wie oft hört man aus dem Munde eines Christen
die Worte: „Mau muß nicht zu engherzig sein! Ich gehe
überall hin, wo das Wort Gottes verkündigt wird; ich
mache Gemeinschaft mit allen Gläubigen, wie sie sich auch
nennen mögen!" oder: „Meine Meinung ist, daß ein jeder
thun sollte, was ihm gut und richtig dünkt; wir werden
doch schließlich alle dasselbe Ziel erreichen!" Verrät nicht
eine solche Sprache eine große Gleichgültigkeit gegenüber
dem Worte und dem geoffenbarten Willen Gottes ? Hat Gott
denn Seinen Kindern Freiheit gegeben, in dieser Beziehung
zu handeln, wie es ihnen beliebt? Liegt Ihm nichts daran,
wie sie sich auf dieser Erde versammeln, wie sie Gemeinschaft miteinander pflegen? Hat Er nichts über diese
Fragen geoffenbart? Sicher und gewiß! Unser treuer
Gott liebt uns viel zu innig, als daß Er uns in irgend
einer Beziehung uns selbst überlassen könnte; Er hat dafür gesorgt, daß auch in diesem Stücke Unterweisungen
326
für uns niedergeschrieben wurden. Kann es nun wohl
unwichtig sein, ob wir uns nach diesen Unterweisungen
richten oder nicht? Wie eifersüchtig wachte Gott in den
Tagen Moses über die Ehre Seines Namens! Wie bestimmt ließ Er Seinem Volke sagen, daß sie bei ihren
Zusammenkünften als Anbeter nicht ihrem eignen Willen
folgen dürften, sondern allezeit nur nach Seinem Gebot zu
fragen hätten. (Vergl. 5. Mose 12.) „Ihr sollt nicht
thun nach allem, was wir heute hier thun, ein jeder,
was irgend recht ist in seinen Augen." Und: „Es
soll geschehen: der Ort, den Jehova, euer Gott, erwählen
wird, Seinen Namen daselbst wohnen zu lassen, dahin
sollt ihr alles bringen, waS ich euch gebiete rc."
Das ist eine einfache, deutliche Sprache, nicht wahr,
mein Leser? Und wie steht es nun in unsern Tagen?
Scheinen nicht viele Gläubige es zu ihrem Grundsatz gemacht zu haben, gerade das zu thun, was recht ist in
ihren eignen Augen, und so den geoffenbarten Willen
Dessen zu mißachten, der einst jene bemerkenswerten und
stets zuverlässigen Worte Seinen Jüngern zurief: „Wo
zwei oder drei versammeltsindin meinem Namen,
da bin ich in ihrer Mitte"? Gott sagt allerdings heute
Seinem Volke nicht: „Du sollst dieses thun, und du
sollst jenes lassen"; eine solche Sprache war charakteristisch
für die Haushaltung unter dem Gesetz. Aber sollen wir,
weil wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind,
weniger sorgfältig dem geoffenbarten Willen Gottes und
Seinen Gedanken zu folgen begehren? Wahrlich nicht!
Vielmehr sollten wir gerade deshalb, weil Gott in Gnade
und Liebe zu uns redet, Ihm einen umso bereitwilligeren
und unbedingteren Gehorsam entgegenbringen.
327
Beachten wir auch, daß die Satzungen und Gebote
in ö. Mose 12 einem erlösten Volke zur Beobachtung
gegeben wurden, und zwar gerade als es im Begriff stand,
das gelobte Land zu betreten; und diese Satzungen beginnen mit dem, was für dieses, durch Gott selbst zu
der hohen Stellung von Anbetern berufene Volk von hervorragendster Wichtigkeit war, nämlich mit der Aufforderung, sich völlig abgesondert zu halten von allen Feinden
Jehovas. Wie wichtig und wesentlich ist dies auch für
die Erlösten des Herrn in der gegenwärtigen Zeit! Das
heilige Vorrecht, Anbeter zu sein, gehört einzig und allein
denen, welche von Gott um den Preis des Blutes Seines
Eingebornen erkauft sind; einen gemeinsamen Boden, auf
welchem Gläubige und Ungläubige neben einander Platz
fänden, giebt es hier nicht. (Vergl. 2. Kor. 6, 14—18.)
Sind wir durch die Gnade errettet worden, so ist es
geschehen, damit wir inmitten dieser sündigen Welt für
Gott abgesondert dastehen und ein Zeugnis für Ihn sein
möchten. In Liebe starb Christus für uns — in Liebe
hat Er uns errettet — und in der schrankenlosen Liebe
Seines Herzens hat Er Vorsorge getroffen, daß wir als
Sein anbetendes Volk, getrennt von der Welt, um Ihn
versammelt sein können. Ohne Zweifel sind bereits viele
zum Himmel eingegangen, welche nie etwas von dem besondern Segen gekannt und geschmeckt haben, auf dieser
Erde als ein abgesondertes Volk in dem Namen Jesu
versammelt zu sein. Sie sind im Glauben au Jesum,
als ihren Erretter, gestorben, und deshalb ist der Himmel
ihr sicheres, ewiges Teil, kraft des durch Ihn am Kreuze
vollbrachten Versöhnungswerkes; aber haben sie nichts verloren? Ohne Zweifel! Sie haben auf ihrem Wege durch
328
diese Wüste eine der höchsten Segnungen verloren, welche
der Herr zum Genusse der Seinigen bereitet hat. Sie
haben ferner das kostbare Vorrecht versäumt, im Blick
auf das gemeinschaftliche Zeugnis der Gläubigen hienieden 
den Willen des Herrn zu thun und Seinen Namen zu
verherrlichen.
O welch eine Anziehungskraft sollten Sein Name
und Seine Gegenwart für jedes Kind Gottes haben!
Wie wichtig und wertvoll sollte es für uns sein, da unsern
Platz zu nehmen, da uns zu versammeln, wo Er „in der
Mitte" ist! Einer der alttestamentlichen Heiligen konnte 
sagen: „Es sehnt sich, ja, eS schmachtet meine Seele nach
den Vorhöfen Jehovas." Wenn solche Gefühle sich schon
in Verbindung mit einer „irdischen Hütte" fanden, wie
weit inniger und tiefer sollten sie dann bei uns sein in
Verbindung mit den geistlichen und himmlischen Dingen!
Die Gegenwart des Herrn Jesu wird die Freude des
Himmels ausmachen, und unser geliebter Herr wollte,
daß wir schon hienieden einen Vorgeschmack von dieser
Freude haben sollten.
Es bleibt uns nur noch übrig, einen kurzen Blick
auf unser viertes Wort zu werfen. Es lautet: „verherrlicht". Das Volk Gottes, erlöst durch das kostbare
Blut Jesu, wartet jetzt nur auf das Erschallen der Stimme
des Erzengels und auf das Ertönen der Posaune Gottes.
Sobald diese Posaune ertönt, werden alle, welche je an
Jesum geglaubt haben, in einem Nu, in einem Augenblick verherrlicht und mit Leibern bekleidet werden, die 
dem verherrlichten Leibe Christi Jesu gleichförmig sind.
(1. Thess. 4. 5; 1. Kor. 15; Phil. 3, 21.) Bald, ja
bald wird das Gebet unsers gepriesenen Herrn seine Er­
329
füllung finden: „Vater, ich will, daß die, welche Du mir
gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, auf daß sie
meine Herrlichkeit schauen." (Joh. 17, 24.) „Noch über
ein gar Kleines, und der Kommende wird kommen und
nicht verziehen." (Hebr. 10, 37.) Dann wird die ganze
bluterkaufte Herde das Antlitz ihres guten, treuen Hirten
schauen, und ein jeder wird „Ihm gleich sein". Welch
ein herrliches Ziel wartet des geliebten Volkes Gottes!
Und wenn nun Er, unser treuer Herr, darnach verlangt,
die Seinigen bei sich in Seiner Herrlichkeit zu haben,
sollte dann nicht aus unser aller Herzen der sehnsuchtsvolle
Ruf ertönen: „Amen! Komm, Herr Jesu!"?
Amen, Amen! Jesu eile,
Still das Sehnen Deiner Braut;
Mächtiglich die Wolken teile,
Daß Dich unser Auge schaut!
Steige auf am Horizonte,
Morgenstern, durchbrich die Nacht!
O daß Deine Braut schon thronte
Dort mit Dir in Himmelspracht!
David auf der Tenne Ornans.
(1. Chrom 21—22, 1.)
Es ist von der höchsten Wichtigkeit für ein gefallenes
Geschöpf, sich mit Gott bekannt zu machen, so lange die
Thür der Gnade noch offen steht und der Tag des Heils
noch währt. Die Werke Gottes rühmen Seine Macht
und beweisen Seine Gottheit, aber das Wort Gottes
allein kann uns Seine Natur offenbaren. Der Mensch
mag durch die Betrachtung und Erforschung der Natur
erkennen, daß Gott ein allmächtiges Wesen sein muß;
330
er mag aus der wunderbaren Genauigkeit der Naturgesetze, sowie aus der Vollkommenheit auch der kleinsten
Dinge, wie sie das Vergrößerungsglas ihm zeigt, schließen,
daß für Gott nichts zu groß und nichts zu klein ist, und
daß Seine Macht und Weisheit als Schöpfer anbetungswürdig sind; aber in Wirklichkeit wird die einfältigste Seele,
welche mit gläubigem Herzen auf Gottes Wort lauscht,
mehr von Gott kennen und verstehen, als der größte
Gelehrte und der gründlichste Naturforscher. Der letztere
kann davon reden, was Gott gemacht hat; aber die
erstere weiß, was Er ist. Nach dieser einleitenden Bemerkung möchten wir den Leser bitten, seine Aufmerksamkeit der Geschichte des Opfers Davids auf der Tenne
Ornans, des Jebusiters, zuzuwenden.
Diese Geschichte wird uns zweimal erzählt, und
jedesmal mit einem besondern Zweck. In dem 2. Buche
Samuel findet sie sich ganz am Schluffe, in 1. Chronika
in der Mitte des Buches. Aus dem Buche Samuel lernen
wir, daß Gott die Sünde nicht übersehen kann, während
wir in 1. Chronika mehr erkennen, was Gott ist und
was auS der Annahme des Opfers folgt. Davids Geschichte, wie sie in dem ersten Buche erzählt wird, macht
uns mit dem Menschen bekannt; seine Geschichte in
1. Chronika schildert die Herrlichkeit seines Königtums.
In Uebereinstimmung damit lesen wir in Samuel von
seinem Aufstehen, von seinen Prüfungen und siegreichen
Kämpfen, bis sein Reich sich ausdehnte vom Euphrat
bis an den Strom Egyptens. Dann hören wir von
seinem traurigen Fall und von den Regierungswegen Gottes, zunächst mit ihm und seiner Familie, dann mit dem
Hause Sauls und endlich mit dem Volke Israel. In
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1. Chronika dagegen wird alles, was mit der Sünde
Davids und mit dem Gericht über das Haus Sauls in
Verbindung steht, übergangen, und inmitten der Erzählung
von Davids Macht und Reichtum hören wir von der
Zählung des Volkes und von all den Folgen, die daraus
hervorgingen. Die Geschichte der Sünde Davids konnte
in dem Buche, welches die Herrlichkeit des Königtums zu 
seinem Gegenstände hat, keinen Platz finden, wohl aber
die Zählung Israels und die daraus hervorfließenden
Regierungswege Gottes, weil diese zu der Feststellung des
Ortes führten, auf welchem der zukünftige Tempel sich
erheben sollte.
Israel hatte gesündigt, und so konnte das Gericht
nicht ausbleiben; und der Stolz des Herzens Davids
führte bald eine Gelegenheit dazu herbei. „Und Satan
stand ans wider Israel; und er reizte David, Israel zu
zählen." Durch seinen König wird das Volk von der
Strafe erreicht; denn David, ein Mensch wie die übrigen
Israeliten, leiht sein Ohr den Einflüsterungen des Feindes und befiehlt, das Volk zu zählen. Joab macht ihn
darauf aufmerksam, daß eine solche Handlung zwecklos, ja,
böse sei; aber umsonst, David besteht auf seinem Willen.
Die Zählung begann, aber sie wurde nie vollendet. Bevor
Levi und Benjamin gezählt waren, „kam ein Zorn über
Israel". (Vergl. 1. Chron. 27, 24.) Nachdem Gottes
Absicht so weit ausgeführt war, hören wir nichts mehr
von Satan. Er hatte nur als Werkzeug in der Hand
Gottes gedient, um den göttlichen Vorsatz zur Ausführung
zu bringen; sobald dieser Zweck erreicht war, finden wir
nur noch den Herrn selbst auf dem Schauplatz. Gott
mußte die Sünde heimsuchen, aber Er wollte Sein Volk
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nicht verstoßen. Daher redet Er zu dem Herzen Davids,
welches sich in den Fallstricken des Feindes hatte fangen
lassen. Gott wollte ihn von der Sünde überführen, um
dann gerechter Weife in Gnade handeln zu können. Der
Zorn fiel auf Israel, bevor die Zählung vollendet war,
damit David zur Einsicht käme und der Plage gewehrt
würde. Gott wollte Davids Herz durch die Bedrängnis
des Volkes erreichen, gerade so wie Er daS Volk durch
die böse Handlung seines Königs im Gericht erreicht hatte.
So handelte Er in Gnaden mit ihnen, wie Er ja stets 
mit den Seinigen handelt, damit die Rute wieder entfernt
würde, welche für immer auf ihnen hätte ruhen müssen,
wenn Gott nach Verdienst mit ihnen gehandelt hätte.
Davids Gewissen erwacht, und nachdem er seine
Sünde bekannt hat, (dies muß stets geschehen, ehe die
Züchtigung aufhören kann,) erscheint der Prophet Gad,
um ihm auf Befehl Gottes drei Dinge zur Auswahl
vorzulegen. Beachten wir hier, daß der Herr es war,
welcher den Seher sandte, nicht aber daß Gad um
Erbarmen für das Volk zu Gott flehte. Die Plage
follte jetzt in ihrer Dauer beschränkt werden, und die 
Art ihrer Beendigung wurde der Entscheidung des Königs
überlassen. Als ein Mann, der Gott kannte, wählte er
weislich lieber drei Tage Pestilenz als das Eindringen
eines siegreichen feindlichen Heeres in sein Land. „Und
David sprach zu Gad: Mir ist sehr angst! Möge ich
doch in die Hand Jehovas fallen, denn Seine
Erbarmungen sind sehr groß." Die Folge bewies,
daß David Recht hatte, indem er die Hand Jehovas
derjenigen der Menschen vorzog. Derselbe Gott, welcher
auf das Gewissen Davids gewirkt und ihn zu einer rück­
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haltlosen Anerkennung seiner Sünde gebracht hatte, gebot
dem verderbenden Engel Einhalt, als er mit gezücktem
Schwerte über Jerusalem erschien. Wer war es, der den
Herrn zu dieser gnädigen Handlung veranlaßte? Wessen
Dazwischenkunft und Bitte bewegte Ihn, dem Verderben
ein Ziel zu setzen? Die Schrift selbst giebt uns Antwort
auf diese Fragen, indem sie sagt: „Und Jehova sandte
den Engel nach Jerusalem, es zu verderben. Und als er
verderbte, sah es Jehova, und es reute Ihn des
Uebels." Siehe, mein Leser, hier war die Quelle des
Erbarmens, von hier aus ergoß sich der Strom der
Gnade: „Jehova sah es, und es reute Ihn." Gott
handelte ohne die Vermittlung irgend eines Geschöpfes.
Und kann uns das wundern? Erscheint es einem meiner
Leser auffallend? Wer da weiß, was Gott ist, wer Ihn
kennt, wird es nicht erstaunlich finden. Denn etwa
tausend Jahre später gab Gott einen noch viel staunenswerteren Beweis, daß Er in dieser Weise handeln kann,
indem Sein geliebter Sohn auf diese Erde herniederkam
und Nikodemus verkündigte: „Also hat Gott die Welt
geliebt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gegeben, auf
daß jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern
ewiges Leben habe." Alle jene Personen, welche einstmals
Augenzeugen des auf Ornans Tenne Geschehenden waren,
haben die Erde längst verlassen. Noch eine Weile, und
auch diese Erde selbst wird verschwinden; aber die Geschichte
von dem Kreuze Christi wird in alle Ewigkeit Zeugnis
davon ablegen, daß Gott in unumschränkter Gnade und
nach Seinem eignen Vorsatz handelt, ohne die Vermittlung
oder Dazwischenkunft irgend eines Geschöpfes.
Aber dem verderbenden Engel Einhalt thun und ihn
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veranlassen, sein Schwert in die Scheide zu stecken, sind
zwei verschiedene Dinge. Das eine geschah durch ein
Wort; sür das andere war mehr nötig. Bei dem Anblick
des Engels mit dem gezückten Schwerte fielen David und
die Aeltesten von Israel, in Sacktuch gekleidet, auf ihre
Angesichter nieder, und David flehte für das Volk. Doch
seine Fürsprache war nicht imstande, den zum Schlage
erhobenen Arm des Engels zurückzuhalten und das Volk
vor dem Gericht sicher zu stellen. Mochte sein Gebet
auch noch so ernst, seine Demütigung noch so tief sein —
etwas anderes als das war nötig. David und die
Aeltesten von Israel waren in dieser Sache völlig machtlos,
ja, mehr noch, sie waren völlig ratlos. Was konnten,
was sollten sie für das Volk thun? Alle menschlichen
Vorschläge waren hier nicht am Platze, alle menschlichen
Hilfsquellen wertlos. Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, macht Gad, den Seher, vermittelst des Engels
mit den Forderungen Seiner Heiligkeit bekannt. Der
Herr hatte David von seiner Sünde überführt, Er hatte
dem Verderber Einhalt geboten, und jetzt teilt Er David
mit, was er thun solle. Alles ist von Gott. Der Prophet
braucht nur das Wort Jehovas zu überbringen, und
David hat nur zu gehorchen. Ein Altar muß errichtet
werden auf der Tenne Ornans, des JebusiterS, und auf
diesem Altar müssen Opfer gebracht werden. Doch was
für Opfer sollte David bringen? Ein Mensch würde
sicherlich Sündopfer vorgeschlagen haben; der Herr aber 
gebot Brandopfer und Friedeusopfer. Die Sündopfer
redeten von der Sünde des Menschen und von dem Boden,
auf welchem ihm Vergebung zu teil werden konnte; die 
Brand- und Friedensopfer stellten dar, was das Opfer
für Gott war, sowie den Anteil, welchen der Opfernde
mit Gott an dem auf den Altar gebrachten Opfer hatte.
In dem Brandopfer erblicken wir Christum als Den, der
sich freiwillig ohne Flecken Gott völlig geopfert hat;
deshalb wurde es ganz und gar auf dem Altar geräuchert.
In dem Friedensopfer wurde die gemeinsame Freude
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Gottes und des Opfernden an dem einen Opfer vorgebildet: ein Teil des Opfers wurde auf dem Altar
verbrannt, ein Teil war für den Priester, und ein Teil
wurde von dem Opfernden gegessen. Das also waren
die Opfer, welche von David gebracht werden mußten;
denn es sollte ans Licht gestellt werden, was das Opfer
für Gott war, und wie Er auf Grund desselben in Güte
handeln wollte, nicht aber was der Mensch bedurfte.
Der Altar wurde errichtet, die Opfer geschlachtet,
und dann bezeugte Gott die Annahme der Opfer und
derer, welche sie brachten, dadurch, daß Feuer vom Himmel
herabfiel und den Teil des Opfers, welcher für Gott
war, verzehrte. Dann erst, und keinen Augenblick früher,
gebot Gott dem Engel, sein Schwert wieder in die Scheide
zu stecken. War es denn nötig, daß Gott erst versöhnt und
willig gemacht wurde, zu vergeben? Nein, Sein Verhalten
in dieser ganzen Geschichte bezeugt das Gegenteil; aber
damit Er vor aller Augen in Seinen Handlungen gerechtfertigt, und damit Seine Heiligkeit und Gerechtigkeit befriedigt würden, darum mußten die Opfer gebracht werden, und dann konnten alle den Boden erkennen, auf
welchem Er in Gnade handeln konnte. Das bewirkten
die Opfer, und nachdem dieselben gebracht waren, konnten
David und das ganze Volk wissen, daß sie in Sicherheit
waren. Das in seine Scheide zurückgebrachte Schwert
konnte nie wieder zur Bestrafung der vorliegenden Sünde
entblößt werden. Das war die Ordnung der Dinge in
jenen Tagen, und dieselbe Ordnung finden wir in Verbindung mit dem Kreuze. Das Opfer ist vollbracht und
von Gott angenommen, und deshalb kann jetzt der Friede
verkündigt werden.
Doch David blieb hierbei nicht stehen. Alle, welche
Gnade empfangen und das Erbarmen Gottes erfahren
haben, sollten lernen, was es heißt, anzubeten. David
erfuhr dieses; denn gerade da, wo Gott Seinen gerechten
Zorn abgewandt und die Opfer angenommen hatte, opferte
er wiederum. Ferner lernte er, daß gerade an diesem
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Orte der Gottesdienst Israels fortan ausgeübt werden
sollte. Die Stiftshütte und der Brandopferaltar befanden
sich damals zu Gibeon; aber der zukünftige Platz für den
Altar Jehovas war die Tenne Ornans, denn nur auf
Grund eines angenommenen Opfers kann wahre Anbetung
dargebracht werden.
Verstehst du das, mein Leser? Bringen die Kinder
Gottes im allgemeinen eine wahre Anbetung dar, d. i.
nahen sie sich Gott mit Herzen, die mit Lob und Dank
erfüllt sind, um sie vor Ihm auszuschütten und Ihn zu
preisen für das, was Er in dem Opfer Seines Sohnes
gethan hat? David opferte nicht von neuem, um den Zorn
Gottes abzuwenden, sondern weil er sah, daß der Herr
ihm auf der Tenne Ornans geantwortet hatte. Nachdem durch die einmal dargebrachten Brand- und Friedensopfer die verdiente Strafe abgewandt war, dachte er nicht
mehr daran, nochmals dieselben Opfer zu bringen; aber 
er dachte auch nicht, daß es jetzt nichts mehr für ihn zu
thun gäbe. In Sicherheit gebracht durch das einmalige
Opfer, sollten vielmehr seine Lobopfer in Zukunft bezeugen,
welch eine Dankbarkeit sein Herz erfüllte gegenüber der
Gnade und Güte Gottes. Und das ist es auch, was bei
allen Kindern Gottes gefunden werden sollte. Die in
Hebr. 13 genannten Opfer sollten stets zu Gott emporsteigen, weil der Wert des Opfers Christi erkannt und
geglaubt worden ist. Anbetung sollte stets der Erkenntnis
der Annahme folgen.
Fortan sollte es weit und breit in Israel bekannt
sein, daß der Ort, an welchem Gott in solch unverdientem
Erbarmen gehandelt hatte, den Mittelpunkt der Anbetung
bildete; (Kap. 22, 1.) und Salomos Tempel war der
stumme, aber ausdrucksvolle Zeuge für die Thatsache,
daß die Anbetung des Volkes Gottes einzig und allein
gegründet ist auf die Annahme des Opfers von seiten Gottes.