Botschafter des Heils in Christo 1890

01/29/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Inhaltsverzeichnis 1890 Seite
Jakob ...............................................................I. 29. 57. 85. 113
„Oeffentlich und in den Häusern."...................................................17
Ein Brief an einen Freund über die ewige Verdammnis . . 24
Eine Beleuchtung der Grundsätze Babylons zur Warnung
der Gläubigen.................................................................................... 37
Ein plötzlicher Wechsel......................................................................... 53
Bruchstücke.................................................................... 56. 140. 308
„Und als Jesus ihren Glauben sah." ....... 63
„Ausheimisch von dem Leibe."........................................................ 73
Ein Wort über die Ausübung der Zucht in der Versammlung Gottes .......................92
Das Verlangen des Herrn Jesu nach den Seinigen . . . 100
Die Versiegelung mit dem Heiligen Geiste .... 131. 141
Ueber den Dienst der Frauen ............................. 150. 169. 197
„Was sehet ihr einander an?"......................................................156
Gehorchen ist besser als Opfer......................................................165
Das Lamm Gottes (Gedicht)........................................................... 167
Die Epistel des Judas............................................. 179. 205. 225
Stehet fest!....................................................................................190
Allein mit Jesu................................................................................ 215
Gedanken............................................................................... 224. 333
„Sehet, welch eine Liebe!" ............................................................235
Ströme lebendigen Wassers........................................................... 241
„Ich werde Sie droben Wiedersehen.".......................................... 248
Absonderung, nicht Vermengung......................................................253
Johannes der Täufer.......................................................................259
Vor und nach dem Tode des Herrn...........................................271
Maria und Judas Jskariot........................................................... 281
Kurze Gedanken über den 16. Psalm............................. . . 291
............................................................................................. 302
Selbstaufopferung..................................................................................309
Werke des Glaubens und gute Werke.......................................... 327
Die Heimat des Christen (Gedicht)................................................33h
Druck von A. Fastenrath in Elberfeld,
Zakob. *)
*) Nach dem Englischen von I. G. Bellett.
„Durch Glauben segnete Jakob sterbend einen
jeden der Söhne Josephs und betete an über der
Spitze seines Stabes." (Hebr. 11, 21.)
In einer Reihe von Aufsätzen, die unter verschiedenen
Ueberschriften („die Welt vor der Flut," „Noah", „Abraham" re.) nach und nach im „Botschafter" erschienen sind,
haben wir den Lauf des 1. Buches Mose bis zum Ende
des 27. Kapitels verfolgt. Von da bis zum 36. Kapitel
tritt Jakob in den Vordergrund, und diesen Abschnitt
möchte ich setzt zum Gegenstände unsrer Betrachtung machen. Wir finden auch am Ende des 1. Buches Mose
noch einen sehr wichtigen Teil des Lebens Jakobs, nämlich seinen Aufenthalt in Egypten während eines Zeitraums von 17 Jahren und seinen Tod; da jedoch in den
Kapiteln, welche uns diese Dinge berichten, Joseph die 
Hauptperson bildet, so werde ich sie nur insoweit berühren,
wie sie Jakob betreffen.
Das Leben Jakobs ist voll ausgedehnter und mannigfaltiger Thätigkeit; es hat einen ganz andern Charakter, als dasjenige seines Vaters Isaak. Die Weisheit
Gottes giebt hierfür leicht die Erklärung, da ja der Zusammenstellung dieser Geschichten eine göttliche Absicht zu
Grunde liegt, ebenso wie der Erzählung derselben gött­
2
liche Wahrhaftigkeit innewohnt. Wir werden mit thatsächlichen Ereignissen und Umständen bekannt gemacht und
zugleich in göttlichen Geheimnissen unterwiesen; und es
ist heute wie in den früheren Betrachtungen ebenso sehr
mein Wunsch, auf diese Geheimnisse hinzuweisen, als auch
aus der Darstellung der frühesten Geschichte der menschlichen Familie und dieser Väter der Auserwählten Gottes
Nutzen zu ziehen.
Die Auserwählung und Berufung Gottes in der
unumschränkten Ausübung Seiner Gnade fand in Abraham ihre Darstellung. Die Sohnschaft, zu welcher
uns die Auserwählung führt, (denn wir sind zuvorbestimmt zur Sohnschaft) trat dann in Isaak hervor. Und
nun wird uns zur rechten Zeit und am rechten Platze
die Zucht oder Erziehung eines Sohnes (denn wer ist
ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?) in Jakob
vorgestellt.
So geben uns diese auf einander folgenden Geschichten nicht nur eine geordnete Erzählung von Ereignissen,
sondern sie lassen uns auch einen Blick thun in die Wege,
welche die Gnade und Weisheit Gottes mit Seinem
Volke einschlägt.
Jakob war so gut ein Sohn wie Isaak; aber er
befand sich in der Schule und unter der Zucht, nicht wie
Isaak unter der häuslichen Obhut und Erziehung seines
Vaters. Er steht nicht so sehr vor uns als einer, dem die
Kenntnis und der Genuß der Vorrechte und Würden
eines Sohnes und Erben gegeben werden, sondern vielmehr als ein Mann, der die Liebe, die thätige Liebe,
welche züchtigt und bessert, kennen lernen sollte. Doch
wir dürfen nicht vergessen, daß wir niemals wirklicher
3
Kinder sind, als wenn wir uns unter einer solchen Zucht
befinden. Die Zucht setzt die Kindschaft voraus. Die
Ermahnung oder Züchtigung spricht zu uns als zu
Söhnen. Die Züchtigung mag im Vordergründe stehen,
aber hinter ihr verbirgt sich die väterliche Liebe.
Ich schicke indes diese Bemerkung über Jakob, als
Sohn unter der Zucht, nur als ein allgemeines Kennzeichen seiner Geschichte voraus. Was die mannigfaltigen
und ergreifenden Einzelheiten derselben betrifft, so können
wir sie in vier Zeitabschnitte einteilen:
1. Seine Geburt und sein Leben in seines Vaters
Hause im Lande Kanaan.
2. Seine Reise nach Paddan-Aram und sein zwanzigjähriger Aufenthalt dort in dem Hause Labans, des
Syrers.
3. Seine Rückreise von Paddan-Aaram und sein
zweiter Aufenthalt in Kanaan.
4. Seine Reise von Kanaan nach Egypten und sein
Aufenthalt und Tod daselbst.
Der Leser wolle dies gleichsam als ein einfaches und
sich von selbst ergebendes Inhaltsverzeichnis ansehen, welchem ich in diesen Betrachtungen folgen werde.
Den ersten Teil der Geschichte Jakobs, seine Geburt
und sein Leben in dem Hause seines Vaters im Lande
Kanaan, bis er ungefähr 70 Jahre alt war, *) habe ich
in der früheren Betrachtung über „Isaak" bereits behandelt. Es war dies notwendig, weil dieser Teil in jenen
Kapiteln des 1. Buches Mose enthalten ist, in welchen
Isaak die Hauptperson bildet.
*) In den jüdischen Schriften wird gesagt, daß er 77 Jahre
alt war.
4
Mit dem 28. Kapitel beginnt dann der zweite Teil
der Geschichte Jakobs, und von da an sehen wir ihn
unter der Zucht.
Auf seiner Reise nach Paddan, aber noch bevor er
die Grenzen Kanaans verließ, begegnet ihm der Herr in
Lus. Das war nicht seines Vaters Schlafgemach, in
welchem er gesündigt hatte, sondern ein einsamer, schrecklicher und entlegener Ort, wohin die Sünde ihn Vertrieb,
und wo die Zucht seines himmlischen Vaters sich mit ihm
beschäftigte. An einem solchen Orte kann Gott uns begegnen. Er kann uns nicht auf dem Schauplatz unsrer
Vergehungen erscheinen, wohl aber an dem Orte Seiner
Züchtigung. Und das war Lus sür Jakob. Es war
ein trostloser Ort; die Steine desselben bildeten sein Kopfkissen, und der Himmel über ihm seine Decke. Er hatte
keinen Freund, um ihn zu begleiten und zu trösten. Er
besaß nichts als seinen Stab. Doch der Gott seiner
Väter kommt dort zu ihm. Er verändert nicht die Umstände Jakobs, noch hebt Er die Züchtigung auf. Vielmehr läßt Er ihn seinen freundlosen Weg fortsehen, um
am Ende desselben zwanzig Jahre harten Dienstes unter
der Hand eines Fremden, verbunden mit mancher Ungerechtigkeit und Kränkung, zu finden. Aber Er giebt ihm
himmlische Versicherungen, daß Heere aus der Höhe ihn
behüten und über ihm wachen sollten.
Jehova hatte dem Abraham, wie wir wissen, große
Verheißungen geschenkt; dieselben wurden dem Isaak wiederholt, und jetzt werden sie in Bethel dem Jakob gegeben.
Aber hier wird diesen gemeinsamen Verheißungen noch
etwas Besonderes hinzugefügt: „Und siehe, ich bin mit
dir, und ich will dich behüten überall, wo du hingehst,
5
und dich zurückbringen in dieses Land; denn ich werde
dich nicht verlassen, bis ich gethan, was ich zu dir geredet
habe." Das war eine neue Verheißung, eine hinzugefügte
Gnade, und zwar gerade weil Jakob sie bedurfte, was
bei Abraham und Isaak nicht der Fall gewesen war. Jakob
war der einzige von den dreien, welcher bedurfte, daß der
Herr mit ihm war, wo er hinging, und ihn wieder nach
Hause brachte. Jakob hatte durch seine eigene Schuld diese
vermehrte Barmherzigkeit für sich notwendig gemacht, und
der Herr schenkt sie ihm in Seiner überströmenden Gnade.
Das Gesicht von der Leiter ist die Bürgschaft für die
Erfüllung der göttlichen Verheißung. Die Verheißungen
an Abraham und Isaak hatten diese himmlische Behütung
durch die Engel nicht enthalten. Die beiden waren in dem
Lande geblieben; Jakob dagegen hatte sich selbst eine Verbannung bereitet, welche die Obhut und die Bewahrung
durch eine besondere Beaufsichtigung vom Himmel notwendig machte, und er bekommt sie. Und ich glaube, daß
Jakob hierauf anspielt, wenn er zu Joseph sagt: „Die
Segnungen deines Vaters überragen die Segnungen meiner
Voreltern." (Kap. 49, 26.) Diese Obhut seitens der Engel, welche auf unmittelbaren Befehl vom Himmel über
ihn wachten in den Tagen seiner Verbannung und Knechtschaft, — einer Knechtschaft, die seine eigne Verirrung
herbeigeführt hatte, — zeichnete ihn aus als einen Gegenstand der Gnade und gab ihm Segnungen', welche diejenigen
seiner Voreltern überragten. Und in diesem Sinne erreichte
er „die Grenze der ewigen Hügel". Er war ein Erbe des
Reiches durch jene überströmende Gnade, welche ihm half
und ihn inmitten der bittern Früchte seiner eignen Verkehrtheit aufrecht erhielt; ähnlich wie David zu seiner Zeit
6
in „dem ewigen Bunde" triumphierte, obwohl für die
Gegenwart sein Haus durch seine eigne Sünde in Verfall
war. (S. 2. Sam. 23.)
So sind die Wege Gottes mit den Seinen; sie sind
wunderbar und vollkommen in ihrer Vereinigung von Gnade
und Heiligkeit. Laßt uns zugleich beachten, daß es in allen
Umständen zwei Dinge giebt, von denen die Natur das eine,
der Glaube das andere betrachtet. So finden wir bei der
göttlichen Zucht, wie Jakob sie jetzt erfahren mußte, zunächst die Rute, und dann die Hand, welche die Rute gebraucht ; die Natur sieht die erstere, der Glaube erkennt die
letztere. Hiob brach unter der Rute zusammen, weil er
sich nur mit ihr beschäftigte. Hätte er seinen Blick aus
die Absicht Gottes, auf das Herz oder die Hand, welche
die Rute anwandte, gerichtet, (wozu wir in Micha 6, 9
ermahnt werden,) so würde er standgehalten haben. Aber
die Natur hatte die Oberhand in ihm; er richtete seinen
Blick auf die Rute, und diese war zu schwer für ihn.
Und wie bei den Schwierigkeiten, so verhält es sich
auch bei den Fehltritten. Es giebt da zweierlei Dinge;
das Gewissen beschäftigt sich mit der einen, der Glaube
mit der andern Sache. Aber dem Gewissen sollte nicht
gestattet werden, den Glauben seiner Schätze zu berauben,
der Schätze der wiederherstellenden, vergebenden Gnade
nämlich, welche die Liebe Gottes stets für denselben bereit
hält.
Darin liegt ein großer Trost. Die Natur soll nicht
zu viel mit den Umständen und das Gewissen nicht zu
viel mit den Fehltritten beschäftigt sein. Wohl muß die
Natur fühlen, daß keine Züchtigung für die Gegenwart
Freude ist, und das Gewissen oder das Herz muß ge­
7
brochen sein; aber in beiden Fällen sollte der Glaube auf
seinem Posten sein und seine Pflicht thun; und der Heilige
Geist ist in den Episteln vielfach in Gnade bemüht, den
Glauben hierzu zu ermuntern. Die Apostel erfuhren dieselben Gefahren und Versuchungen, denen wir von Natur
unterworfen sind; und während wiederholt darauf gedrungen wird, daß das Gewissen lebendig und wachsam
sei, wird doch verlangt, daß der Glaube gerade ihm gegenüber sich behaupten solle.
Gott in Gnade zu kennen, dient zu Seinem Lobe
und zu unsrer Freude. Nach den Gedanken einer verderbten Natur stellen wir uns Ihn vor als einen Gott,
der Gehorsam verlangt und Dienst erwartet.
Aber der Glaube kennt Ihn als einen Gott, der mitteilt, der von Vorrechten und von Freiheit zu uns redet
und von unsern gesegneten Beziehungen zu Ihm spricht.
Aber Jakobs Seele befand sich nicht auf der Höhe
dieser Gnade. Er fand den Ort, an welchem er die Leiter
und die Engel gesehen und wo der Gott seiner Väter mit
ihm geredet hatte, „furchtbar". In gewisser Beziehung
war das, was er sah und erfuhr, zu viel für ihn, so wie
es lange nachher bei Petrus auf dem heiligen Berge der
Fall war. Doch wenn Jakob auch sagt: „wie furchtbar
ist dieser Ort!" und wenn Petrus und seine Gefährten
sich auch fürchten, so reicht dennoch die Leiter bis an den
Himmel, und die Engel steigen an ihr auf und ab angesichts des Patriarchen, und die Herrlichkeit auf dem Berge
strahlt dennoch in unverniindertem Glanze. Denn die Gnade
Gottes ist weit größer, als die Vorstellungen, welche sich
die Seele von ihr macht. Gott strahlt in Seinem eignen
Glanze weit über unsre Vorstellungen und Erfahrungen
8
hinaus. Und s o müssen wir Ihn kennen, und nicht nach
den Eindrücken unsrer Erfahrung.
Doch in gewissem Sinne fand Jakob, wie Petrus
auf dem Berge, es gut, in Lus zu sein, und er nannte
den Ort Bethel. Es war für ihn das Haus Gottes;
denn Gott war dort bei ihm gewesen und hatte mit ihm
geredet. Es war in seinen Augen die Pforte des Himmels;
denn er hatte dort die Engel von ihrem Platze in der Höhe
herabsteigen sehen. „Dies ist nichts anderes, als Gottes
Haus," sagt er, „und dies die Pforte des Himmels."
Gott offenbart Seinen Namen, und Er verherrlicht
ihn auch. Zuerst offenbart Er ihn, und der Glaube nimmt
ihn an. Dann bestätigt Er zu seiner Zeit diese Offenbarung
oder dieses Zeugnis, indem Er das Verheißene erfüllt,
und verherrlicht so Seinen Namen. Und wo irgend es
Ihm gefällt, Seinen Namen zu offenbaren, da ist Sein
Haus. Ornans Tenne erhielt später dieselbe Würde, wie
hier Lus, und zwar aus demselben Grunde. „Dieses hier
soll das Haus Jehovas Gottes sein, und dies der Altar
zum Brandopfer für Israel," sagt David von jenem Orte
der Jebusiter. (1. Chrom 22, 1.) Denn wie das Bethel
unsers Patriarchen, so war die Tenne Ornans der Platz,
wo die Barmherzigkeit über das Gericht triumphierte, und
wo Gott sich in Seiner überströmenden Gnade offenbarte;
und dort entdeckt der Glaube das Haus Gottes. Jakob
und David waren, ein jeder zu seiner Zeit, Heilige unter
der Zucht; aber der Herr begegnete ihnen in Seiner vorsorgenden Liebe, indem Er sich selbst ihnen offenbarte
und Seinen Namen kundthat; und das war für sie Sein
Haus.
Doch es ist leichter, daS Haus einzuweihen, als die
9
Aufgabe zu lernen, welche dort gelehrt wird. Unter der
Macht der Eindrücke, welche das Gesicht notwendigerweise
Hervorrufen mußte, schüttet Jakob sogleich sein Herz aus;
aber es ist in seinem Geiste noch etwas von dem alten
Jakob zurückgeblieben. Die schlechte Gesinnung seines
Herzens ist noch in Thätigkeit, und er scheint zu berechnen,
einen Handel abzuschließen und Bedingungen zu stellen,
obwohl der Herr in der Sprache der Verheißung, in freier,
unumschränkter, überströmender Güte mit ihm geredet hatte.
Die Natur regt sich immer wieder trotz so mancher Stöße
und so mancher Niederlagen; ja, sie überlebt selbst das,
was ihr für einen Augenblick den Todesstoß gegeben zu
haben schien. Jakob läßt sie ebenso wenig in Bethel zurück,
wie er sie vorher in dem Zelte seiner Mutter zurückgelassen hatte.
Jakob setzt seine Reise fort; und die Gnade begleitet
den gezüchtigten Heiligen, bis er „nach dem Lande der
Kinder des Ostens" kommt, bis er Paddan-Aram erreicht,
wohin der Rat seiner Mutter ihn gewiesen, und wohin
ohne Zweifel die Hand Gottes ihn jetzt geleitet hatte.
Er fand Rahel bei dem Brunnen und bei der Herde,
gerade so wie Elieser Rebekka gefunden hatte; und Elieser
war Isaaks Stellvertreter. Aber Jakob war ein armer
Mann, Isaak ein wohlhabender. Isaak konnte Rebekka
mit goldenen Ringen und Armspangen, den Beweisen seiner
guten Verhältnisse, beschenken. Jakob hat nur seine Arbeit
und den Schweiß seines Angesichts. Der eine erschien als
der Sohn und Erbe, der andere als ein Mann, der sich
selbst an den Bettelstab gebracht hatte, und der sich mit
Gottes Hülfe so gut wie möglich durchzuschlagen suchen
wußte. „Jakob entfloh nach dem Gefilde von Syrien,
10
und Israel diente um ein Weib und hütete um ein Weib."
(Hosea 12, 13.) Er fand einen harten Dienst; aber er
trat ihn ohne weiteres an und hielt zwanzig Jahre lang
darin aus. (Kap. 29 — 31.)
Wir betreten jetzt mit ihm das Haus Labans, des
Bruders seiner Mutter, und begegnen.dort bald den verschiedensten Zuständen und Handlungen. Wir finden da
nicht nur Jakob und Laban, sondern auch die beiden
Weiber, Lea und Rahel, mit ihren beiden Mägden, Silpa
und Bilha.
Jakob befand sich erst kurze Zeit unter den Versuchungen und Leiden seines Aufenthaltes bei Laban, als
er genau nach dem Muster seines eignen Vergehens heimgesucht wurde. Er hatte seinen Vater betreffs seines Bruders und des Segens betrogen, und jetzt betrügt Laban
ihn betreffs Rahels und der Heirat. Indes sehen wir in
seinem Verhalten während der zwanzig Jahre, welche er
bei Laban zubrachte, auch manches Schöne. Die Kraft
und der Einfluß des Bewußtseins, unter der züchtigenden
Hand Gottes zu stehen, wird notwendigerweise von einem
Herzen gefühlt, welches in irgend welcher Verbindung mit
Gott ist. Allerdings wird die Natur unter einem solchen
Drucke weder verändert, noch gebrochen, aber sie muß
doch mehr oder weniger im Zaume gehalten werden. Als
David getadelt, gestraft und gedemütigt wurde, verhielt
er sich wirklich schön. Seine Worte an Jttai, Zadok und
Husai, sein Zorn über die That der Söhne Zerujas,
seine Demütigung, seine Klage über Absalom, sowie die
Benutzung des Sieges, als wenn es eine Niederlage gewesen wäre — alles das und vieles andere der Art zeigt
uns ein gesegnetes Werk des Geistes in seiner Seele.
11
Bei Jakob in Paddan-Aram finden wir allerdings nichts,
was dem eben Genannten gleichkäme; aber doch irren
wir wohl nicht, wenn wir in ihm einen Heiligen unter der
Zucht erblicken, der sich dieser Zucht bewußt ist und seine
augenblickliche Lage unter der Hand Gottes versteht; der
ferner fühlt, daß der Tadel des Herrn ein gerechter ist,
und der demütig und vorsichtig wandelt. Er unterwirft
sich schweigend dem Unrecht, welches Laban ihm zufügt.
Er dient geduldig, und leidet, ohne zu klagen. Sein Lohn
wird zehnmal verändert, und er spricht nicht dagegen. In
diesem allen zeigt er sich gedemütigt unter die mächtige
Hand Gottes, als einer, der sich gern seiner eignen Vergangenheit erinnert. Und am Ende von zwanzig Jahren,
voll harter Arbeit und schlechter Behandlung, ist er imstande, seine Treue feierlich zu bezeugen; und Gott selbst
scheint dieses Zeugnis zu besiegeln. Durch die Fürsorge
Seiner Hand, durch Offenbarungen Seines Geistes, sowie durch eine unmittelbare Dazwischenkunft bei Laban
schützt, segnet und rechtfertigt Gott Seinen Knecht.
Darin liegt viel Schönes. Ich sage nicht, daß die
Natur getötet, daß die Wurzel der Bitterkeit gerichtet war.
Ich weiß wohl, daß wir Jakob nachher als den alten Jakob wiederfinden werden, der sich auf traurige Weise durch
denselben Sauerteig verleiten läßt, welcher von Anfang
au in ihm wirksam war. Aber während seines Aufenthaltes im Hause des Syrers verhielt er sich wirklich wie
einer, der da weiß, daß er unter der mächtigen und züchtigenden Hand Gottes steht; er rechtfertigte sich nicht gegenüber von Vorwürfen, noch bestand er auf seinem Recht
gegenüber von Beleidigungen und Ungerechtigkeiten.
Was Laban betrifft, so war er ein durchaus Welt­
12
licher Mann, als Jakob sein Haus betrat; und als dieser
wieder heimwärts zog, war er noch genau derselbe. In
allen seinen Handlungen von Anfang bis zu Ende hatte
er nur feinen eignen Vorteil im Auge. Er sah sich gezwungen, anzuerkennen, daß die Hand Gottes mit Jakob
war; aber er hätte gern durch Jakob jene Hand sich selbst
dienstbar gemacht und Jakobs Anrecht an Gott zu seinem
eignen Vorteil verwandt. Zwanzig Jahre lang hatte er
das Zeugnis der Hand Gottes und die Wirkungen Seiner
Gnade und Macht in seinem Hause vor Augen, und das
jeden Tag; aber bei alledem blieb er ein Weltmensch.
Gott trat ihm in den Handlungen Seiner Allmacht nahe,
wie Er es später bei Chorazin und Bethsaida that; aber
da war keine Buße. Und zuletzt glich Jakobs Abreise
aus dem Hause LabanS einer Flucht aus der Hand des
Feindes, einem Entrinnen aus dem Garn des Vogelstellers.
Jakob zog mit seiner Familie in ähnlicher Weise aus,
wie später das ganze Volk aus Egypten. Laban war
für unsern Patriarchen wie der Pharao, und PaddanAram wie Egypten. Laban wollte Jakob gern noch länger als seinen niedrigen Knecht behalten, oder ihn allenfalls als Bettler ziehen lassen; doch der Herr trat bei 
ihm für Jakob ein, wie Er es später bei dem Pharao
für Israel that. Laban und der Pharao haben, ein
jeder zu seiner Zeit, die Wirksamkeit Gottes bezeugt,
aber keiner von beiden wurde ein Gegenstand derselben.
Laban war durch und durch ein Freund der Welt
und wurde nie etwas anderes; er war ein listiger Mann
und dabei ein Heuchler, was man ja häufig vereinigt
findet. Zuletzt, als alle seine Anschläge zunichte gemacht
sind, und keine Zauberei wider Jakob gelingen will, (wir
13
finden dasselbe später in Bezug auf Israel,) thut er, der
erbärmlichen Art und Weise eines listigen Herzens entsprechend, alles Mögliche, um den fehlgeschlagenen Plan
zu verdecken und sich noch einen schönen Schein zu geben.
Er stellt sich, als ob Jakob nur aus Sehnsucht nach seiner
Heimat ihn verlassen habe, während sein Gewissen ihm
doch mancherlei andere Gründe genannt haben muß. Er
stellt sich betrübt und entrüstet, daß er keine Gelegenheit
gehabt habe, seine Töchter und Enkel zu küssen und sie
mit Ehren zu entlassen, während sein Gewissen ihn daran
erinnert haben muß, wie schnöde er sie verkauft hatte.
Er scheint betrübt darüber zu sein, daß sie jetzt in der
Hand Jakobs sind, als ob seine Hand jemals diejenige
eines Vaters für sie gewesen wäre. Er giebt vor, daß
er Jakob aus religiöser Furcht vor dem Worte Gottes
verschone, während er doch gefühlt haben muß, daß er
(gerade so wie Bileam in späteren Tagen) durch Gott
vollständig im Zaume gehalten wurde, mochte er wollen
oder nicht, mochte er gottesfürchtig oder gottlos sein.
Und er macht eine ernste Miene zu dem letzten Handel
zwischen ihm und Jakob, indem er den Namen des Gottes
Abrahams einführt, obgleich er gerade damit beschäftigt
gewesen war, nach seinen Götzen zu suchen, und sich anschickte, in jenes Land zurückzukehren, aus welchem Gott
den Abraham gerufen hatte, und dort weiter zu leben als
ein herzloser Weltmensch und als ein Verehrer seiner eignen hölzernen und steinernen Götter.
Welch ein erbärmlicher Mann! Und welch eine heilige
und ernste Lehre giebt er uns!
Wir müssen indes noch einen Blick auf die Weiber
und Kinder in Paddan-Aram werfen. Die Weiber und
14
Kinder im ersten Buche Mose stellen stets Geheimnisse
oder Vorbilder dar. Wir sehen das in Eva und ihren drei
Kindern, sowie in den drei Weibern Abrahams, Sarah,
Hagar und Ketura, und in den Kindern einer jeden derselben. Demselben vorbildlichen Charakter begegneten wir
in unsrer früheren Betrachtung über Isaak auch bei Rebekka und ihren Kindern, Esau und Jakob. Alle stellen
Teile und. Bruchstücke der Vorsätze Gottes in Bildern dar.
Und dasselbe finden wir jetzt in den Weibern, welche mit
Jakob in Paddan-Aram in Verbindung traten, sowie in
den Kindern dieser Weiber.
In den Kindern Israels, d. h. in dem Volke, dem
Samen Abrahams, begegnen wir drei verschiedenen Klassen: 1. dem früheren Israel nach dem Fleische, welches auf Grund seiner fleischlichen Verbindung mit Abraham
in das Land gebracht wurde; 2. dem jetzigen Israel, dem
Volke in Knechtschaft, welches das Joch der Nationen kennen lernen muß, und 3. dem zukünftigen Israel,
welches unter die Gnade gebracht, erlöst und in die
zu den Vatern geschehenen Verheißungen wieder eingesetzt
wird. Das sind gleichsam drei verschiedene Generationen
des Volkes Israel: die eine, wie das Volk war, die
andere, wie es jetzt ist, und die dritte, wie es dereinst
sein wird. Und die Schatten davon erblicken wir, wie
ich glaube, in den Familien Jakobs in Paddan-Aram,
d. h. in den Kindern Leas, die dem Fleische nach Ansprüche hatte, dann in den Kindern der Mägde, und endlich in den Kindern Rahels, der Geliebten, die von Natur
keine Kraft besaß, deren Same aber nach Verheißung oder 
von Gott war.
So offenbaren sich hier die Wege der Weisheit Got-
15
les in den Weibern und Kindern, (Kap. 29 — 31.) wie es
auch bei den früheren Familienscenen in diesem wunderbaren Buche der Fall war.
Sobald Joseph, das Kind der Verheißung, der Sohn
Rahels, der Geliebten, ihm gegeben ist, spricht Jakob davon, Paddan-Aram, den Ort der Verbannung und Knechtschaft, zu verlassen. (Siehe Kap. 30, 25. 26.) So einfach
und unbedeutend dieser Umstand auch scheinen mag, so ist
^er doch gewiß nicht ohne Bedeutung. Die Stellung eines
Fremden und eines Dieners paßte nicht mehr für Jakob, sobald er den Samen empfangen hatte, welcher ihm die Macht
Gottes zu seinen Gunsten bezeugte. Er mag instinktmäßig
etwas davon gefühlt haben, daß es jetzt für ihn an der
Zeit sei, seine Freiheit zu verlangen und an seine Heimat
und an sein Erbe zu denken. Ich will nicht sagen, daß
Jakob dies wirklich verstanden hat, noch entscheiden, ob
eS eine Art von Inspiration war, was er aussprach und
was in seiner vollen Bedeutung sein Verständnis überstieg;
aber thatsächlich sagte er unmittelbar nach der Geburt
Josephs zu Laban: „Entlaß mich, daß ich an meinen
Ort und in mein Land ziehe."
Bei Abraham fanden wir ja auch manches, was
große Aehnlichkeit hiermit hat. Sobald Isaak entwöhnt
war, veränderte sich sogleich der Schauplatz um Abraham
her. Der Sohn der Magd mußte das Haus verlassen,
und Abraham bekam den Vorrang vor dem Heiden. (Siehe
Kap. 21.) Die Entwöhnung Isaaks war der Wendepunkt
in Abrahams Stellung. Im Geiste trat er für einen
Augenblick in das Königtum ein, indem er einen neuen
Altar baute, einen Altar dem „ewigen Gott", und eine
Tamariske pflanzte. Die Schönheit und Bedeutung dieser
16
Handlung habe ich in der früheren Betrachtung über Abraham hervorgehoben. Aehnliches finden wir jetzt bei Jakob.
Sobald Joseph, das Kind der Verheißung, welches die
Gnade und Macht Gottes bezeugte, ihm gegeben war,
dachte er sogleich an Freiheit und Heimat.
Wahrlich, ein schöner und treffender Beweis von dem
Verständnis, welches der neue Sinn in Jakob besaß! Und
bei dieser Gelegenheit zeigt sich auch der Glaube in Rahel;
denn sie nennt ihren Sohn „Joseph", d. h.: „Er füge
hinzu", in der Ueberzeugung, daß der Herr, der Seine
Barmherzigkeit gegen sie zu erweisen begonnen hatte, dieselbe auch fortsetzen und vollenden werde. So redet auch
heute der Glaube in unsern Herzen in demselben Geiste:
„Er, der doch Seines eignen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird Er
uns mit Ihm nicht auch alles schenken?" Infolge der
Gabe Gottes hielt sich Rahel nicht nur für berechtigt,
um mehr zu bitten, sondern in noch kühnerem, glücklicherem Glauben vertraut sie auch auf Gott, daß Er
noch mehr thun werde.
Doch obschon dies alles so war, wurde doch die
Verbindung zwischen Laban und Jakob auch nach der
Geburt Josephs noch eine Zeitlang unterhalten, bis die
Trennung unter dem Druck ganz anderer Umstände stattfand, indem Laban wie eine Art Salzsäule oder wie ein 
feierliches Zeichen von dem, wozu unsre armen Herzen
fähig sind, zurückblieb.
(Fortsetzung folgt.)
17

„Oeffentlich und in den Häusern."
Die Worte, welche die Überschrift dieser kurzen Betrachtung bilden, sind der Abschiedsrede des Apostels Paulus an die Aeltesten in Ephesus entnommen, welche uns
im 20. Kapitel der Apostelgeschichte mitgeteilt wird. Sie
enthalten eine Fülle von Gedanken und deuten in sehr
ausdrucksvoller Weise die innige Verbindung zwischen dem
Werke des Lehrers und demjenigen des Hirten an. „Ich
habe nichts von dem vorenthalten," sagt der Apostel, „was
nützlich ist, daß ich es euch nicht verkündigt und euch gelehrt hätte, öffentlich und in den Häusern." (V. 20.)
Paulus war nicht nur ein Apostel; er vereinigte in
sich in wahrhaft bewundernswürdiger Weise den Evangelisten, den Hirten und den Lehrer. Wie eng die beiden
letztgenannten Gaben miteinander verbunden sind, zeigt
uns Eph. 4, 11; und es ist überaus wichtig, diese Verbindung zu verstehen und aufrecht zu erhalten. Der Lehrer
entwickelt die Wahrheit, der Hirte wendet sie auf Herz
und Gewissen an. Der Lehrer erleuchtet das Verständnis,
der Hirte sieht nach dem Zustande des Herzens. Der
Lehrer reicht geistliche Nahrung dar, der Hirte forscht nach,
wie diese Nahrung ausgenommen und benutzt wird. Der
Lehrer beschäftigt sich mehr mit dem Wort, der Hirte mehr
mit der Seele. Das Werk des Lehrers ist zum größten
Teil öffentlich, das Werk des Hirten hauptsächlich im
Verborgenen, „in den Häusern". Wenn in einer Person
vereinigt, verleiht die Befähigung, zu lehren, dem Hirten
eine außergewöhnliche sittliche Kraft, und wiederum teilt
die Hirtengabe dem Lehrer Zartgefühl und Milde mit.
Der Leser darf nicht einen Hirten mit einem Aeltes-
18
ten oder einem Aufseher (Bischof) verwechseln. Das sind
Mei durchaus verschiedene Dinge. Die Ausdrücke „Aeltester"
und „Aufseher" werden häufig wechselseitig gebraucht; allein
ein Hirte wird niemals mit dem einen oder andern verwechselt. Aeltester zu sein ist ein örtliches Amt; Hirte zu
sein ist eine Gabe. Wir finden in 1. Kor. 12 und 14,
oder in Ephes. 4 kein Wort über Aelteste oder Aufseher,
obgleich in diesen Schriftabschnitten der Gegenstand der
Gaben in ausführlichster Weise behandelt wird. Wir
müssen deshalb sorgfältig zwischen einer Gabe und einem
örtlichen Amte unterscheiden. Aelteste und Aufseher sind
da zur Regierung und Aufsicht. Lehrer und Hirten dagegen
haben den Zweck, die Herde Gottes zu nähren und aufzuerbauen. Ein Aeltester kann ein Lehrer oder ein Hirte
sein, aber er muß trotzdem die beiden Dinge getrennt
halten. Sie ruhen eben aus einer durchaus verschiedenen
Grundlage und dürfen nimmer mit einander verwechselt
werden.
Indes ist es nicht unsre Absicht, eine Abhandlung
über den Dienst zu schreiben, oder ausführlich bei dem
Unterschied zwischen geistlicher Gabe und örtlichem Amte
zu verweilen; wir möchten vielmehr nur unsre Leser auf
die außerordentliche Wichtigkeit der Hirtengabe in der
Kirche Gottes aufmerksam machen und sie auffordern, mit
ernstem Gebet und Flehen zu dem großen Haupte der
Kirche zu nahen, damit Er diese schätzenswerte, kostbare
Gabe reichlicher in unsrer Mitte ausgießen möge. Wir
sind in Ihm nicht verengt; Seine Fülle ist unbeschränkt.
Die Schatzkammern des geistlichen Lebens sind nicht erschöpft; und unser Herr Jesus Christus liebt Seine Kirche,
und es ist Seine Freude, Seinen Leib zu nähren und zu
19
pflegen und jedem Bedürfnis desselben aus Seiner unendlichen Fülle zu begegnen.
Daß ein brennendes Bedürfnis nach Hirtensorge und
Hirtenpflege innerhalb des weiten Bereichs der Kirche
Gottes vorhanden ist, kann von niemandem geleugnet
werden, der da weiß, worin wahrer Hirtendienst besteht,
und der mit dem wirklichen Zustande der Kirche bekannt
ist. Wie selten sind wahrhaft geistliche, treue Hirten! Es
ist nicht schwer, sich einen Namen beizulegen oder sich ein 
Amt zuzueignen; aber der Hirtendienst ist weder ein Name
noch ein Amt. Er ist vielmehr eine lebendige Wirklichkeit,
eine Sache, zu deren Ausübung eine von Gott verliehene
Gabe notwendig ist, und welche durch das Haupt der
Kirche zum Wachstum und zur Segnung Seiner Glieder
mitgeteilt wird. Ein wahrer Hirte ist ein Mann, der nicht
nur eine wirkliche geistliche Gabe besitzt, sondern auch durch
die Gefühle und Zuneigungen des Herzens Christi für
jedes Lamm und Schäflein Seiner mit Blut erkauften
Herde beseelt ist.
Wir wiederholen es: „für jedes Lamm und Schäflein der Herde Christi". Denn ein wahrer Hirte ist nicht
nur da Hirte, wo er gerade wohnt, sondern in der ganzen
Welt, überall wo es Gläubige giebt. Er ist ein Mann,
welcher ein Herz, eine Botschaft und einen Dienst für
jedes Glied am Leibe Christi hat. Nicht so der Aeltestr oder 
Aufseher. Dieser verwaltet ein örtliches Amt, das auf die
Oertlichkeit beschränkt ist, in welcher er seinen Auftrag empfangen hat. Des Hirten Bereich und Wirkungskreis dagegen
ist die ganze Kirche Gottes, so wie des Evangelisten Bereich
die weite, weite Welt ist. Ein Hirte ist überall ein Hirte, ob
in Berlin, Paris, London, oder wo es irgend sei; überall
20
hat er sein gesegnetes Werk. Die Vorstellung, daß ein 
Hirte auf eine bestimmte kirchliche Körperschaft oder Gemeinde beschränkt sei, in welcher er zugleich die Obliegenheiten eines Evangelisten, Lehrers, Aeltesten oder Bischofs
Zu erfüllen habe, ist der Lehre des Neuen Testamentes
durchaus fremd.
Doch ach! wie wenig wirkliche Hirten finden sich in
unsrer Mitte! Wie selten ist die Gabe, wie selten das
Herz eines Hirten! Wie klein ist die Zahl derer, in welchen wir die beiden wichtigen Elemente vereinigt finden,
die in unsrer Ueberschrift enthalten sind: „öffentlich
und in den Häusern"! Vielleicht mangelt es an vielen
Orten nicht an dem öffentlichen Dienste, an der Belehrung
und Ermahnung bei den gemeinschaftlichen Zusammenkünften; aber eS herrscht ein großer Mangel an dem gesegneten Dienst „in den Häusern", an der ernsten, eifrigen
Sorge für die einzelnen Seelen. Wie oft geht die öffentliche Belehrung über die Köpfe der Zuhörer hinweg, ohne
Herz und Gewissen zu berühren, während der treue, hingebende Dienst von Haus zu Haus, die persönliche Belehrung des Einzelnen viel eher ins Herz hineindringt und
ihren Zweck weit sicherer erreicht! Wie oft geschieht es
auch, daß ein öffentlich geredetes Wort ganz und gar
mißverstanden und falsch angewandt wird, bis ein liebevoller Hirtenbesuch die wahre Bedeutung und die richtige
Anwendung des Geredeten klarstellt.
Doch das ist nicht alles. Wie vieles giebt es, was
der Lehrer in seinen Vorträgen nicht berühren kann, weil
es nicht in die Oeffentlichkeit gehört, während der Hirte
mit den einzelnen Seelen sehr Wohl darüber zu reden
vermag. Ohne Zweifel ist die öffentliche Belehrung von
21
sehr großer Wichtigkeit; wollte Gott, daß wir tausendmal
mehr davon hätten, als wir besitzen. Das Werk des Lehrers
ist unschätzbar und kann, wenn verbunden mit der tiefen
und zärtlichen Zuneigung des Herzens eines Hirten, wohl
den mannigfaltigen Bedürfnisfen der Seele begegnen. Aber
der liebevolle Hirte, welcher mit Ernst und Treue, mit
Gebet und Flehen von Haus zu Haus geht, kann die
verborgenen Uebungen der Seele, die Sorgen und Kümmernisse des Herzens, die zweifelnden Fragen des Verstandes und die ernsten Schwierigkeiten des Gewissens
erreichen. Er kann, in dem tiefen Mitgefühl eines liebenden Herzens, in die unzähligen kleinen Umstände und
Schwierigkeiten des täglichen Lebens eingehen. Er kann
mit dem Geprüften, dem Versuchten, dem Niedergebeugten
und Traurigen niederknieen und vor dem Throne der
Gnade die Anliegen des Herzens kundwerden lassen und
so von dem Gott aller Gnade und dem Vater der Erbarmungen süßen Trost herableiten.
Der öffentliche Lehrer kann das nicht. Ohne Zweifel vermag er, wie bereits bemerkt, wenn anders nur etwas Hirtengabe in ihm ist, in seinen Vorträgen viele von
den verborgenen Uebungen, Kümmernissen und Schwierigkeiten der Seele zu berühren und ihnen zu begegnen. Aber
er kann das nicht ersetzen, was der Dienst von Haus zu
Haus bedeutet. Er kann nicht völlig die persönlichen Bedürfnisse der Seele stillen. Das ist das heilige Werk des
Hirten. Ein Hirte ist für die Seele ungefähr das, was
ein Arzt für den Körper ist. Er muß fähig sein, den
geistlichen Puls zu fühlen. Er muß Krankheit und Arzenei
kennen. Er muß imstande sein zu sagen, was der betreffenden Seele fehlt, und welche Heilmittel anzuwenden
22
sind. Man hört oft klagen, daß eS nur wenig wirklich
tüchtige Aerzte gebe; vielleicht find sie ebenso selten wie
wahrhaft geistliche, treue Hirten. Es ist eine Sache,
einen Titel auzunehmen, aber eine ganz andere Sache, das
zugehörige Werk zu thun.
Geliebter christlicher Leser! wir bitten dich ernstlich,
dich mit uns in inbrünstigem Gebet zu Gott zu vereinigen, daß Er mehr wahre Hirten unter uns erwecken möge.
Wir behülfen sie aufs dringendste. Es herrscht ein großer
Mangel in unsrer Mitte sowohl an Lehrern als an Hirten. Die Herde Christi wird nicht geweidet, wie es not
thäte; für die Lämmer und Schäslein wird nicht gesorgt,
wie sie es bedürften. Die meisten von uns sind so sehr
mit ihren eignen Angelegenheiten beschäftigt, daß sie keine
Zeit haben, sich um die geliebte Herde Christi zu bekümmern. Und selbst dann, wenn des Herrn Volk sich öffentlich versammelt — wie wenig giebt es da oft für das
Herz und Gewissen der Hörer! Wie kraftlos sind manchmal die Worte, wie kalt und leer die Gebete! Wie wenig
wird die Herde auf die grünen Auen der Heiligen Schrift
geführt, wie selten zu den stillen Wassern der göttlichen
Liebe geleitet! Und während der Woche — wie selten sind
die Hirtenbesuche und wie wenig wird den einzelnen Seelen
in Liebe nachgegangen! Man scheint keine Zeit für solche
Dinge zu haben. Die Sorge für das eigne Ich, für die
Familie, für das Fortkommen hienieden, für das Geschäft
w. nehmen jede Minute von Morgen bis Abend in Anspruch. Wenn der Apostel Paulus heute in unsrer Mitte
lebte, würde er nicht wieder mit allem Recht sagen können: „Alle suchen das Ihrige, nicht das, was Jesu Christi
ist"? Wie ganz anders war es mit ihm, dem gesegneten
23
Apostel! Er fand Zeit, Zelte zu machen, und auch Zeit,
„öffentlich und in den Häusern zu lehren". Er war nicht
nur der große Apostel, der die Länder durchzog und Versammlungen gründete; nein, er war auch der liebevolle
Hirte, die zärliche, besorgte Wärterin, (1. Thess. 2, 7.)
der kundige geistliche Arzt.
Niemand denke, daß wir der Trägheit oder gar Faulheit das Wort reden. Der Herr bewahre uns vor einer
solchen Thorheit und Sünde! Wir glauben vielmehr, daß
eine Fülle von gesunder, nützlicher Beschäftigung höchst
heilsam und wertvoll ist. Der Apostel selbst hat uns ja
ein lebendiges Beispiel hierfür hinterlassen, indem er Tag
und Nacht mit seinen Händen arbeitete, um niemandem
beschwerlich zu fallen. Aber trotz alledem fand er Zeit,
zu lehren, zu predigen und Hirtenpflege zu üben. Er
hatte ein ganzes Herz für Christum und für Seinen Leib,
die Kirche, sowie für jedes Glied an diesem Leibe. Hier
liegt auch das eigentliche Geheimnis der Sache. Es ist 
wunderbar, was alles ein liebeerfülltes Herz vollbringen
kann. Wenn ich wirklich die Kirche oder Versammlung
Gottes liebe, so werde ich aufrichtig wünschen, daß sie
gesegnet werde und wachse, und ich werde suchen, nach
meiner Fähigkeit diese Zwecke zu fördern.
Möchte der Herr in der Mitte Seines Volkes viele
Hirten und Lehrer nach Seinem Herzen erwecken, Männer,
die mit Seinem Geiste erfüllt und von einer echten Liebe
zu Seiner Kirche beseelt sind, Männer, die fähig und
bereit sind, „öffentlich und in den Häusern zu
lehren"!
24
Ein Brief an einen Freund über die ewige
Verdammnis.
Geliebter Freund!
Ich habe in diesen Tagen viel über den letzten Vers
im 3. Kapitel des Evangeliums Johannes nachgedacht.
Er scheint mir in höchst treffender und unwiderleglicher
Weise zwei gegenwärtig sehr verbreiteten Irrlehren zu begegnen, nämlich der Wiederbringungslehre auf
der einen und der Vernichtungslehre auf der andern
Seite. Jener Vers enthält die bekannten Worte: „Wer
an den-Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem
Sohne nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen,
sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm."
Die Leugner der Thatsache einer ewigen Verdammnis
teilen sich, wie ich schon oben angedeutet habe und wie
Dir bekannt sein wird, in zwei Lager, die unter sich wieder einander völlig widersprechen. Die einen bekennen zu
glauben, daß am Ende alle, Menschen und Teufel, errettet und in den Genuß ewigen Glücks eingeführt werden;
wohl nicht alle zu gleicher Zeit, aber doch früher oder
später, je nach der Schwere ihrer Verschuldung; der Teufel
also zuletzt. Das sind die sogenannten „Wiederbringer". Die andern sind der Meinung, daß alle, welche
außerhalb Christo, d. h. im Unglauben sterben, nach Leib
und Seele vernichtet werden, d. h. daß es dann völlig mit
ihnen aus ist, daß sie sterben wie das Tier, um nie wieder ins Dasein zu treten.
Nun, ich bin überzeugt, daß Du mir Recht geben
wirst, wenn ich behaupte, daß der oben angeführte Vers
diese beiden verhängnisvollen Irrlehren als völlig halt-
25
und grundlos erweist und ihnen durchaus jeden Boden
entzieht. Er begegnet zunächst dem Wiederbringer mit der
niederschmetternden, jedes Mißverständnis ausschließenden
Erklärung, daß der Ungläubige „das Leben nicht sehen
wird". Er zeigt so einfach und bestimmt wie möglich
die Thorheit und Verkehrtheit der Behauptung, daß alle
Geschöpfe einmal wiederhergestellt und für ewig errettet
werden fallen, und stellt unwidersprechlich die Thatsache
fest, daß alle, welche sich weigern, dem Sohne Gottes zu
glauben, in ihren Sünden sterben und nimmermehr das
Leben sehen werden.
Aber wenn das alles wäre, so könnte der Anhänger
der Vernichtungslehre wenigstens mit einem Schein von
Recht behaupten: „Ganz recht; das ist es gerade, was ich
glaube. Niemand wird ewiglich leben, als nur wer an
den Sohn Gottes glaubt. Ewiges Leben ist ausschließlich in dem Sohne, und deshalb werden alle, welche getrennt von Christo sterben, umkommen und nach Leib und
Seele vernichtet werden."
Doch was sagt der Heilige Geist? Nachdem Er erklärt hat, daß der im Unglauben Sterbende das Leben
nicht sehen werde, fügt Er hinzu: „sondern der Zorn
Gottes bleibt auf ihm". Ernste, erschütternde Thatsache! Diese Worte widersprechen schnurstracks der Vernichtungslehre. Wenn der Zorn Gottes auf dem Ungläubigen bleiben soll, so ist es unmöglich, daß für ewig
ein Ende mit ihm gemacht werden kann. „Vernichtung" und
„bleibender Zorn" sind völlig unverträglich mit einander.
Wir müssen daher entweder das Wörtchen „bleibt" aus dem
inspirierten Worte ausstreichen, oder die Behauptungen der
Vernichtungslehre mit aller Entschiedenheit zurückweisen.
26
Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß es noch manche
andere Stellen giebt, welche dieselbe Wahrheit unzweifelhaft feststellen, ja, daß die Lehre des ganzen Wortes Gottes damit im Einklang steht. Ich möchte aber heute nur
bei dieser einen Stelle verweilen; denn sie ist in der That
in sich allein genügend, um jedem Gemüt, das sich einfältig
vor der Stimme Gottes beugt, bezüglich der ernsten Frage
der ewigen Verdammnis völlige Klarheit zu geben. Aber,
geliebter Freund, gerade an dieser einfältigen Unterwerfung
unter das Wort Gottes mangelt es so häufig. Man will
sich nicht der Belehrung und Autorität der Heiligen Schrift
unterwerfen. Man maßt sich an, zu Gericht zu sitzen
über das, was Gottes würdig und was Seiner nicht würdig ist. Man bildet sich ein, der Mensch könne in Sünde
und Thorheit, in Auflehnung gegen Gott und in der
Vernachlässigung Seines Christus dahinleben und trotz
allem doch straflos ausgehen. Man wagt zu behaupten,
daß ein Gott der Liebe unmöglich eine ewige Verdammnis zugeben könne. Und so schreibt man der Regierung
Gottes etwas zu, was man selbst an jeder menschlichen
Regierung mit Recht als Schwäche tadeln würde, nämlich
die Unfähigkeit, die Uebelthäter zu bestrafen.
Allein das Wort Gottes ist gegen alle solche Lehren
und Behauptungen. Es redet von einem „unauslöschlichen Feuer", von einem „Wurm, der nicht stirbt",
von einer „befestigten Kluft" und von einem „bleibenden Zorn". Was ist, möchte ich fragen, die Bedeutung solcher Worte nach dem Urteil eines jeden aufrichtigen, vorurteilsfreien Gemüts? Man wendet ein, daß
alles das nur Bilder seien. Gut, nehmen wir an, das
Feuer, der Wurm und die Kluft seien Bilder; aber dann
27
frage ich: „Bilder wovon?" Von etwas Vorübergehendem,
von einer Sache, die früher oder später ein Ende nehmen
muß? Nein, sondern offenbar von etwas Ewigem. Wenn
irgend etwas ewig ist, dann sind es die genannten Dinge.
Wenn wir die Ewigkeit der Verdammnis leugnen, dann
müssen wir auch leugnen, daß irgend etwas anderes ewig
sei, da stets dasselbe Wort im Griechischen gebraucht wird,
um den Gedanken einer ewigen Fortdauer auszudrücken.
Dann ist auch das Leben nicht ewig, die Herrlichkeit nicht
ewig u. s. w. Es giebt ungefähr siebenzig Stellen im
Neuen Testament, wo das Wort „ewig" vorkomml. Es
wird sowohl auf das Leben angewandt, welches die Gläubigen in Christo besitzen, als auch auf die Bestrafung
der Gottlosen, welche Christum verwerfen. (Vergl. Matth.
25, 46.) Wie kann nun jemand es wagen, die sechs oder
sieben Stellen, in welchen es in Bezug auf die Verdammnis
der Gottlosen gebraucht wird, auszusondern und zu sagen,
daß es in diesen Stellen nicht die Bedeutung von „ewig"
oder „für immer" habe, während es an allen andern Stellen
so zu verstehen sei? Ich muß bekennen, daß ich auch nicht
den geringsten Anhaltspunkt, nicht den schwächsten Grund
für eine solche Handlungsweise entdecken kann. Sie ist
rein willkürlich. Hätte der Herr Jesus oder der Heilige
Geist es für gut gefunden, ein anderes Wort zu gebrauchen,
wenn sie von der Verdammnis der Gottlosen reden, dann
wäre wenigstens einigermaßen eine Grpndlgge für die
Einwürfe jener Jrrlehrer vorhanden.
Aber nein; wir finden dasselbe Wort unausgesetzt
und unveränderlich angewandt, wenn es sich um Dinge
handelt, von denen jeder weiß, daß sie endlos sind. Wenn
daher die Verdammnis der Gottlosen nicht endlos ist, so
28
ist nichts endlos. Betritt man einmal diesen verhängnisvollen Boden, so krnn man nicht bei der Verdammnis
stehen bleiben; man muß dann auch folgerichtig leugnen,
daß Gott selbst ewig ist.
Und in der That, ich glaube, daß hier die wahre
Wurzel der Sache liegt. Der Feind wünscht, das Wort
Gottes, den Geist Gottes, den Christus Gottes, ja, Gott
selbst zu beseitigen; und darum beginnt er listig mit der
Leugnung der ewigen Fortdauer der Verdammnis. Ist
diese einmal zugegeben, so hat die Seele den ersten Schritt
auf der schiefen Ebene gethan, welche sie in den finstern
Abgrund des Atheismus (der Leugnung des Daseins Gottes) führt. Diese Behauptung mag stark und scharf lauten;
aber ich bin völlig überzeugt, daß sie richtig ist, und ich
fühle tief die Notwendigkeit, alle unsre jungen Freunde
ernstlich vor der Gefahr zu warnen, irgend eine Frage
oder einen Zweifel betreffs der göttlich sestgestellten Wahrheit von der endlosen Verdammnis der Gottlosen in ihrem
Herzen aufkommen zu lassen. Für einen jeden, der im
Unglauben stirbt, giebt es keine Gnade, keine Errettung
mehr; denn die Schrift erklärt: „er wird das Leben nicht
sehen". Und ferner, er kann nicht vernichtet werden; denw
die Schrift erklärt, daß „der Zorn Gottes auf ihm bleibt".
O mein lieber Freund, wie viel besser, weiser und
sicherer würde es für unsre Mitmenschen sein, bei Zeiten
dem kommenden Zorn zu entfliehen, als zu leugnen, daß
dieser Zorn wirklich herannahe, oder daß er, wenn er
komme, ewig sein werde!
In herzlicher Liebe
Dein C. H. M.
Zakob.
(Fortsetzung.)
Mit dem 31. Kapitel endigt die Zeit der Knechtschaft Jakobs. Wir finden ihn dann auf der Rückkehr
von Paddan-Aram nach Kanaan, wobei namentlich zwei
Scenen unsre besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen: die eine auf dem Gebirge Gilead, gleich nach seinem Auszug, die andere in Machanaim, nahe bei der
Furt des Jabbok, kurz vor seinem Eintritt in das Land.
Auf dem Gebirge Gilead fand die Trennung zwischen Jakob und Laban statt, denn bis dahin hatte
Laban ihn verfolgt. Indes machten die beiden Männer,
bevor sie schieden, einen Bund mit einander, indem sie
Schlachtopfer opferten und dann gleichsam über dem Opfer
zusammen aßen.
Eine solche Scene zeigt uns in einem Bilde unsre
Segnung. Denn wir erfreuen uns eines Friedensbundes,
der durch ein Opfer sichergestellt und durch ein Fest bezeugt
wird. So finden wir auch in der Nacht der Errettung
Israels aus Egypten den Altar und den Tisch, oder das
Opfer und das Fest. DaS Blut war an den Thürpfosten,
und die durch dasselbe erlöste und geborgene Haushaltung
befand sich innerhalb^ und nährte sich von dem Lamme,
dessen Blut sie schützte und befreite.
Beachten wir bei dieser Gelegenheit auch, daß Jakob
30
es ist, der das Opfer darbringt. Dies ist sehr bemerkenswert und charakteristisch. Es zeigt uns, daß Jakob seinen Platz und seine Würde vor Gott kannte. Laban
besaß alle Ansprüche, welche die Natur, das Fleisch oder
die Verwandtschaft verleihen konnten; aber Jakob ist trotzdem die handelnde Person. Laban war der ältere; er
war der Herr und der Schwiegervater. Aber dennoch
nimmt Jakob den Platz des „Besseren" ein und bringt
das Opfer dar, in demselben Geiste des Glaubens wie
Abraham, als er mit dem König v.on Gerar einen Bund
machte; (Kap. 21.) oder wie Jethro am Berge Horeb inmitten des Israels Gottes und in der Gegenwart Aarons.
(2. Mose 18.)
Das sind Beispiele der Triumphe des Glaubens;
und es sind keine geringen Triumphe. Unsre hohen Vorrechte in Christo zu kennen und uns durch nichts daraus
verdrängen zu lassen, selbst wenn die Umstände dazu angethan sind, uns zu demütigen, das ist keine leichte Sache.
Jakob war in Paddan-Aram unter der Zucht; er hatte
dort keinen Altar. Vor Gott war er eher ein Büßender
als ein Anbeter. Aber Laban gegenüber kennt er sich
selbst als einen Heiligen; hier auf dem Gebirge Gilead
hat er seinen Denkstein, sein Opfer und sein Fest, und er
bethätigt jenen Glauben, welcher ihn ermutigt, allen Ansprüchen von Fleisch und Blut gegenüber gemäß seiner 
Würde als Heiliger und Priester Gottes zu handeln.
Es ist sehr ermutigend, bei so manchen Gelegenheiten
solche Bruchstücke der Gesinnung und des Geistes Christi
in den Gläubigen hervortreten zu sehen. Jakob zweifelte
nie an seinen Vorrechten von Anfang bis zu Ende seines
Weges, obwohl er sein ganzes Leben hindurch unter der
81
Zucht stand. Und es ist stets gesegnet, den Platz einzunehmen, welchen die Gnade in ihrem überströmenden Reichtum uns giebt. Ich glaube nicht, daß Petrus in Joh. 21,
wenn er als ein Büßender dem Herrn hätte nahen
wollen, sich so sehr beeilt hätte, zu Ihm zu kommen.
Ein Büßender würde sich mit mehr zögerndem Schritt
genähert haben. Aber Petrus dachte nicht an die soeben
erst geschehene Verleugung seines Herrn, sondern an diesen Herrn selbst. Sein Schritt war deshalb eilig und
fest. Er hatte allerdings schwer gegen seinen Herrn gesündigt, und wohl hätte er bei dem Gedanken daran zaudern und beschämt sein können. Aber — und das ist
wunderbar — so wie Petrus als Büßender seinen Weg
nicht so bereitwillig und eifrig angetreten hätte, ebenso
würde er auch als solcher seinem Meister nicht so willkommen gewesen sein, wie er es jetzt war, als er Ihm,
trotz seines Fehltritts, im Vertrauen nahte. Darin zeigen
sich die Gnade und das Herz des Herrn, mit dem wir es
zu thun haben.
Indes sind dies nur einzelne Bruchstücke, gleichsam
gebrochene Säulen in den Tempeln Gottes. Die Natur
bleibt immer die Natur; und Jakob verrät sich bald nachher wieder als der alte Jakob.
Wenn der Herr bei Hiob Seine Hand leichter gemacht hätte, nachdem die erste Versuchung vorüber war,
so würde Hiob der Segnung verlustig gegangen sein. Es
trat ein Augenblick der Ruhe ein; und man hätte denken
können, daß alles zu Ende gewesen wäre. Aber das Ende
des Herrn in Gnade war noch nicht erreicht; und wir
können überzeugt sein, daß auch Satans Bosheit noch
nicht befriedigt war. Der unermüdliche Gegner beginnt
32
von neuem; der Herr giebt ihm wieder Raum, und Hiob
wird zum zweiten Male heimgesucht.
Aber die Natur ist gerade so unermüdlich wie Satan.
Magst du sie auch in diesem Augenblick vertreiben, in dem
nächsten wird sie wiederkommen. Wir haben soeben jene
kurze Unterbrechung in den Handlungen und Wegen der
Natur bei Jakob ans dem Gebirge Gilead betrachtet und
für einen Augenblick die bessere Gesinnung in ihm wirksam
gesehen; aber bald, leider nur zu bald, werden wir den
alten Jakob wiederfinden.
Er wandert weiter vom Gebirge Gilead; und als er
die Grenzen des Landes erreicht, begegnen ihm die Engel
Gottes. Jakob erkennt sie sofort. „Dies ist das Heerlager Gottes," sagt er; „und ernannte den Namen selbigen Ortes Machanaim" (Zwei-Lager).
Hier befinden wir uns auf heiligem Boden. Die in
Kapitel 28 begonnene Reise ist ausgeführt, die Zusicherungen und Verheißungen von Bethel sind eingelöst. Dementsprechend erblicken wir hier keine Leiter mehr. Die
fürsorgende Obhut der Engel hatte ihren Dienst erfüllt;
Jakob war in dem fernen Lande bewahrt und wieder zu 
seinem eignen Lande zurückgeführt worden. Die Leiter kann
deshalb verschwinden; und statt daß die Engel gleichsam
zwischen dem Himmel und dem Patriarchen auf- und niedersteigen, begegnen sie ihm jetzt. Sie stehen vor ihm, wie
um ihn zu begrüßen oder ihn bei seiner Rückkehr willkommen zu heißen. Jehova, der Gott seiner Väter und
der Gott der Verheißungen, bewillkommnet unsern Patriarchen in der Heimat, und die Diener der himmlischen
Höfe werden ausgesandt, um der Gesinnung ihres Königs
gegen ihn Ausdruck zu geben.
33
Das hieß für Jakob „gepfiffen", und Jakob hätte
„tanzen" sollen. Sein Geist hätte frohlocken, er hätte
jubeln und triumphieren sollen, bevor der Kampf gestritten,
ja, bevor noch die Heere aufgestellt waren. Er hätte das
Schlachtfeld betreten sollen mit Lobgesängen, wie Josaphat.
(2. Chrom 20.) Wenn die himmlischen Heerscharen so zu
seinen Diensten standen, so seiner warteten, was hatte
er dann von den Heeren Esaus zu fürchten? „Wenn Gott
für uns ist, wer wider uns?" Aber ach! so war es nicht
bei Jakob. Er „wehklagt" auf dieses Pfeifen, anstatt zu
tanzen. Er zittert und fleht und berechnet. Er ordnet
seine Streitmacht, als ob der Kampf sein wäre. Das
alles war zwar gewissenhaft, aber es war auch zu gleicher
Zeit alles Unglaube; und wir können überzeugt sein,
daß dem Herrn dies sehr mißfällig war. Es war ein
häßlicher Mißklang für sein Ohr. Obwohl Er unsern
Patriarchen mit allen Zeichen eines ernstgemeinten, ehrenvollen Willkommens bei seiner Heimkehr begrüßt hatte,
zeigte sich Jakob doch völlig verzagt und mutlos.
Der Herr wünscht immer mit uns eins zu sein,
und daß auch wir mit Ihm eins seien; es ist Ihm niemals wohlgefällig, wenn zwischen Ihm und uns kein Einklang herrscht. So widersteht Er Jakob. „Es rang ein 
Mann mit ihm, bis die Morgenröte aufging." Das war
Gottes Antwort auf das Gebet Jakobs. Und wahrlich,
dies alles ist sehr bezeichnend und lehrreich für uns.
Wir finden es viel leichter, auf den Herrn zu vertrauen in Fragen, die zwischen Ihm und uns entstehen,
als Ihn hineinzubringen, Ihn zu benutzen und Ihm zu
vertrauen in Sachen, die zwischen uns und andern liegen;
wir finden es leichter, Ihm zu vertrauen für die Ewig­
34
keit, als für morgen, weil die Ewigkeit vollständig in
Seiner Hand liegt, während das „Morgen" nach unsrer
Meinung mehr oder weniger zwischen Ihm und andern
geteilt ist und ebensowohl in der Macht der Umstände
wie in der Seinigen ruht. Abraham verriet zu seiner
Zeit dieselbe Neigung. Er folgte dem Rufe des Gottes
der Herrlichkeit ohne Zögern und verließ sein Land, seine
Verwandtschaft und seines Vaters Haus; aber sobald eine
Hungersnot eintrat, hörte sein Glaube auf, und anstatt angesichts der Umstände auf den Herrn zu vertrauen, zog er
nach Egypten hinab.
Jakob offenbart zu Machanaim dieselbe natürliche
Gesinnung. Er ist unfähig, Esau gegenüber auf Gott
zu vertrauen. Esaus 400 Mann erschrecken ihn, und er
will zunächst seine Boten mit Worten des Friedens und
der Freundschaft, und dann seine Geschenke ins Mittel
treten lassen, um durch das eine oder das andere den
Zorn seines Bruders zu besänftigen. Sein Glaube an
Gott ist nicht stark genug, um Ihn zwischen sich und
Esau zu bringen. Er zittert und fleht, er berechnet und
teilt seine Haushaltung ein. Die Umstände erweisen sich
als zu schwer für ihn. Aber gleich nachher, wenn der
Herr selbst ihm widersteht, wenn es sich um eine Sache
zwischen ihm und Gott handelt, da ist er kühn und trägt
den Sieg davon. Er ermattet nicht, wenn auch der Herr
ihm die Hüfte verrenkt. Er beträgt sich wie ein Glaubensstreiter und erlangt Anerkennung; er tritt auf wie
ein Fürst und gewinnt neue Ehren. Das ist eine Erfahrung, die allgemein gemacht und hier in der Geschichte
Jakobs an der Furt des Jabbok dargestellt wird.
Indes liegt in einem solchen Siege nicht notwendiger­
35
weise ein Heilmittel für jenen Kleinmut, welcher den vorhergehenden Kampf veranlaßt hatte. Und Jakob steht im
Begriff, dies zu unsrer weitern Ermahnung zu beweisen.
Gleich in dem folgenden Kapitel, welches eigentlich nur
die Fortsetzung derselben Handlung oder einen weiteren
Abschnitt in derselben schildert, tritt uns der nämliche
furchtsame, ungläubige, berechnende Mann entgegen, den
wir in Jakob gefunden haben, bevor er über den Kämpfer
an der Furt des Jabbok den Sieg davontrug.
Das enthält eine ernste Ermahnung für uns. Es
kann sehr wohl Uebung deS Geistes vor Gott vorhanden
sein, und doch wenig Fortschritt in der Kraft der Seele
bezüglich der Fortsetzung des Kampfes mit der Welt. In
keinem Abschnitt seiner Geschichte erscheint Jakob moralisch
auf einem niedrigeren Boden, als in den Ereignissen,
welche unmittelbar auf Pniel folgten. Er ist keineswegs
von sich selbst gereinigt. Er berechnet, er macht Ausflüchte, er heuchelt Liebenswürdigkeit und Vertrauen, er
lügt und schmeichelt. Dem Mann an der Furt des Jabbok
widerstand er; er war stark im Glauben und verherrlichte die Gnade Gottes, selbst dann wenn Gott ihm entgegentrat und mit ihm stritt. Aber Esau gegenüber stellt
er den alten Menschen in tief beschämender Vollendung
dar. Er macht sich von seinem Bruder los unter einem
durchaus unwahren Vorwande. Er ist nicht besser als
ein Ohrenbläser, ein knechtischer Schmeichler, indem er
schamlos von dem Angesicht Esaus wie von Gottes Angesicht spricht. Das ganze Schauspiel ist erbärmlich —
ein demütigendes Bild von dem moralischen Zustande, in
welchen ein Heiliger für eine Zeit kommen kann, wenn die
Natur die Oberhand gewinnt.
36
Es giebt Augenblicke der Ermunterung und Freude
für den Geist, und wir sollten sicher dankbar dafür sein.
Wenn Jakob in dem vorhergehenden Kapitel sagt: „Dies
ist das Heerlager GotteS;" und nachher: „Ich habe Gott
gesehen von Angesicht zu Angesicht, und meine Seele
ist gerettet worden," so waren das solche Augenblicke der
Freude des Geistes. Aber es kann Wohl sein, daß es
nur Erquickungen sind, und daß sie nicht zur wahren
Erbauung dienen. Und es ist in der That betrübend zu
sehen, wie ein Heiliger so bald nachher wieder zu sich selbst
zurückkehren kann.
Und wer möchte seinem eignen Herzen trauen, wenn
wir hier sehen, wie untreu das Herz Jakobs war? Jakob
hatte die Kenntnis des Namens Gottes verloren. Er
mußte darnach fragen, anstatt ihn zu benutzen und sich
in ihm zu erfreuen. Dieser Name war „der Allmächtige,"
ein Name, der ihm die Allgenugsamkeit für alle seine Bedürfnisse kundthat. Doch Jakob hatte ihn in Kap. 32
verloren, und in dem folgenden Kapitel beträgt er sich
nicht wie einer, der ihn wiedergefunden hat. Er selbst ist 
auf dem Plane und erfindet Listen und Ausflüchte. Auch
wir können in derselben Weise den Namen, der uns geoffenbart ist, verlieren. Dieser Name heißt „Vater," ein
Name, welcher der Seele dauernde Ruhe und Kraft und
Freiheit zu geben vermag. Er bereitet dem Herzen eine
Heimat. „Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott."
Diese Heimat genügt, um „unsre Freude völlig zu machen", wie Johannes sagt. Und obwohl wir, wie Jakob,
unter der züchtigenden Hand Gottes stehen mögen, so sollten
wir doch die Kraft jenes Namens, die vollkommene, verborgene und unveränderliche Liebe eines Vaters kennen.
37
Wenn es nicht so bei uns ist, so haben unsre Seelen,
wie Jakob in diesen beiden Kapiteln, die Kenntnis des
Namens Gottes verloren. „Ihr habt der Ermahnung
vergessen, die zu euch spricht als zu Söhnen," ruft der
Apostel uns zu. Wir brauchen uns deshalb nicht länger
über Jakob zu wundern; ich glaube vielmehr, daß wir zu
Zeiten weit größere Ursache haben, uns über uns selbst
zu wundern. (Fortsetzung folgt)

Eine Beleuchtung der Grundsätze Babylons
zur Warnung der Gläubigen.
Wenngleich Babylon in ihrer vollendeten Form erst
nach der Aufnahme der Heiligen geoffenbart werden wird,
so treten ihre Grundsätze doch heute schon hervor, ja, sie
sind mehr als je wirksam. Darum ist die göttliche Aufforderung: „Gehet aus ihr hinaus, mein Volk, auf daß ihr
nicht mitteilhaftig werdet ihrer Sünden, und auf daß ihr
nicht empfanget von ihren Plagen," (Offenb. 18, 4.)
besonders beherzigenswert für die Gläubigen unsrer Tage.
Denn wenn wir nach den Grundsätzen Babylons wandeln, so machen wir uns ihrer Sünden mitteilhaftig und
stellen uns in moralischer Beziehung mit ihr auf denselben
Boden. Der Geist Babylons, oder, um mit den Worten
der Schrift zu reden, „der Wein ihrer Hurerei", übt einen
weit mächtigeren und verderblicheren Einfluß aus, als
viele Gläubige gewöhnlich denken. Es steht geschrieben:
„Denn von dem Weine der Wut ihrer Hurerei haben getrunken alle Nationen . . ., und die auf der Erde wohnen
find trunken geworden von dem Weine ihrer Hurerei."
38
(Offenb. 18, 3; 17, 2.) Der Geist Babylons wird dereinst sich aller Nationen bemächtigen; aber er ist heute
schon wirksam, und um vor seinem Einfluß bewahrt zu
bleiben und der Sünden Babylons nicht mitteilhaftig zu
werden, ist es nötig, diesen Geist genau zu unterscheiden.
Babylon wird als die Quelle des sittlichen Verderbens
der Erde, als „die Mutter der Huren und der Greuel
der Erde" bezeichnet; sie wird beschuldigt, daß sie die 
„Erde verderbt habe mit ihrer Hurerei". (Offenb. 17, 5;
19, 2.) Alle auf der Erde begangenen Gottlosigkeiten und
Verbrechen, samt all dem Blute der Heiligen, welches hienieden vergossen worden ist, werden ihr schließlich zur
Last gelegt. Sv wie Israel verantwortlich gemacht wurde
für alles gerechte Blut, von dem Blute Abels an bis zu 
dem Blute Zacharias, so wird auch von Babylon gesagt
„Und in ihr ward gefunden das Blut von Propheten und
Heiligen und aller derer, die auf der Erde geschlachtet
sind." (Matth. 23, 35 ; Offenb. 18, 24.) Es ist daher
wahrlich kein Geringes, ihrer Sündenmitteilhaftig
zu werden und dazu beizutragen, daß sie „aufgehäuft sind
bis zum Himmel". Wir haben die Grundsätze Babylons
zu fliehen und uns von ihrem Geiste fern zu halten, und
zwar nicht aus dem Grunde, um von ihren Plagen verschont zu bleiben, sondern um nicht an ihren Sünden
teil zu haben. Dazu ist aber vor allem nötig, daß
unser Gewissen in Thätigkeit ist und durch den Heiligen
Geist und das Wort Gottes geleitet wird.
Zunächst bezeichnet der Heilige Geist Babylon als
„die große Hure". Israel wird eine Ehebrecherin genannt,
weil sie als das Weib Jehovas betrachtet wurde und sich
trotzdem der Abgötterei ergeben hat. Die bekennende Kirche
39
hingegen wird geistlicherweise eine Hure heißen, weil sie ihrem Verhältnis als „Braut Christi" untreu geworden ist.
Sie hätte, getrennt von der Welt, die Rückkehr ihres Bräutigams erwarten sollen; aber statt dessen hat sie sich mit
der Welt verbunden und damit den Grund zu dem gelegt, 
was sie am Ende sein wird: „Babylon, die große, die
Mutter der Huren und der Greuel der Erde". Letzteres
ist sie erst dann, wenn sie „auf dem scharlachroten Tiere
sitzen", das heißt mit dem wiedererstehenden römischen
Reiche verbunden sein wird. (Offenb. 17, 3.)
Dieses Reich wird in seiner früheren Macht als Weltreich (obwohl in anderer Form) wieder erscheinen, und die
verderbte Kirche wird alsdann nicht nur in Verbindung
mit ihm stehen, sondern sogar die eigentliche Leiterin desselben sein: sie wird auf dem Tiere sitzen und mittelst
desselben herrschen. Sie wird so zu sagen die Seele
dieses Reiches bilden, und das Ganze zusammen wird als
„Babylon, die große," bezeichnet, weil es von demselben
Geiste beseelt sein wird, welcher einst das alte Babel kennzeichnete. Die Grundsätze des letzteren werden wieder zur
vollen Geltung gelangen. *)
*) Später wird das Tier die Hure abschütteln und sich mit
dem Antichristen eins machen; damit vertauscht es dann seinen babylonischen Charakter mit dem antichristlichen. (Offenb. 17, 16. 17.)
Die „vielen Wasser", auf welchen die Hure sitzt, bedeuten nach der Erklärung des Engels „Völker und Völkerscharen und Nationen und Sprachen". (Offenb. 17, 1. 15.)
Damit wird die große Ausdehnung bezeichnet, welche die
bekennende Kirche auf der Erde erlangt hat. Aber ihr
Sitzen auf dem Tiere zeigt zur Genüge, bis zu welcher Stufe des Verfalls sie herabsinken wird. Bedenken
40
wir nur den gewaltthätigen und gotteslästerlichen Charakter,
welchen das Tier annehmen wird. (Vergl. Dan. 7,19—25;
Offenb. 13, 1 —10; 17, 8.) Für das natürliche Auge
wird sie allerdings mit allen Zeichen weltlicher Macht und
Herrlichkeit angethan sein. „Und das Weib war bekleidet
mit Purpur und Scharlach und übergoldet mit Gold und
Edelgestein und Perlen, und hatte einen goldenen Becher
in ihrer Hand, voll Greuel und Unreinigkeit ihrer Hurerei."
(Offenb. 17, 4.) Es hat bereits eine Zeit gegeben, wo
sie über Könige und Fürsten geherrscht hat; doch sie hat
diese Herrschaft wieder eingebüßt. Aber der Augenblick
kommt, wo sie sich zu nie geahnter Macht emporschwingen
und den höchsten Gipfel irdischer Herrlichkeit und Herrschaft ersteigen und in „ihrem Herzen sprechen wird:
Ich sitze als Königin und bin nicht Witwe, und Traurigkeit werde ich nicht sehen." (Offenb. 18, 7.) Sie wird
erlangen, was sie gesucht hat. Aber ach! ihre Herrlichkeit
zeugt nur von ihrer tiefen sittlichen Versunkenheit. Denn
durch nichts anderes hat sie diese Herrlichkeit erlangt, als
durch ihre Hurerei, durch ihre Verbindung mit der
Welt. *) Die Stimme des Geistes Gottes ist verstummt.
*) Die wahre Braut wartet, bis sie ihre Herrlichkeit von Gott
empfängt, und hat Geduld bis zu dem Augenblick, wann es heißen
wird: „Lasset uns fröhlich sein und frohlocken und Ihm Herrlichkeit
geben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und Sein Weib
hat sich bereitet!" Alsdann wird ihr die Herrlichkeit gegeben
werden: „Und es ward ihr gegeben, daß sie gekleidet sei in seine
Leinwand, glänzend und rein." (Offenb. 19, 7. 8.) Sie empfängt
ihre Herrlichkeit ans dem Wege des Rechts, und nicht wie die Hure
durch Untreue. Bei der letzteren ist alles Täuschung und Betrug
und unecht. Sie ist „übergoldet mit Gold re." An der ersteren
hingegen ist alles rein und echt: „Und der Bau ihrer Mauer war
41
Für Seine Mahnungen und Warnungen giebt es kein Ohr
mehr, und Seiner Wirksamkeit hat man sich gänzlich verschlossen. Nur der Wille des Menschen ist in Thätigkeit
und offenbart sich auf zweierlei Weise, durch Verderbnis
und Gewaltthätigkeit, beide verkörpert durch Babylon und
das Tier. Mit einem Worte, die bekennende Kirche ist
alsdann in den Augen Gottes auf dem tiefsten Standpunkt ihres Verfalls angelangt, welchem ein schreckliches
Gericht folgen muß.
Anders erscheint sie in den Augen derer, die „auf
der Erde wohnen". Diese werden durch die Macht und
Herrlichkeit Babylons hingerissen werden und sich an dem
Weine ihrer Hurerei berauschen; ja, „die Kaufleute der Erde
werden sich durch die Macht ihrer Ueppigkeit bereichern."
(Offenb. 18, 3.) Alles wird dort gefunden werden, was
das natürliche Herz anziehen und fesseln, und die Genußund Gewinnsucht selbst auf Kosten des Gewissens befriedigen kann. Denn die Welt zu verschönern, sie so angenehm
als möglich zu machen, das Leben zu genießen, sich zu
bereichern, sich gütlich zu thun und zu belustigen: alles
das sind die Grundsätze Babylons. Die Weltlichkeit ist
der große Götze, dem alles zum Opfer gebracht wird —
Gott, Christus, das ewige Heil der Seele, das Gewissen,
der Himmel. Sie ist das goldene Kalb, welchem alles
huldigt und vor dem sich alle ohne Unterschied der Sprachen, Klassen und Stände beugen. Babylon ist der Mittelpunkt des Handels, der Reichtümer und der Eitelkeiten
dieser Welt; aber auch die Mutter der Huren und der
Jaspis, und die Stadt reines Gold, gleich reinem Glase . . .
und die Straße der Stadt reines Gold , wie durchsichtiges Glas."
(Offenb. 21, !t-21.)
42
Greuel der Erde, der Mittelpunkt der Abgötterei. Sie
bietet alle jene Dinge, welche das natürliche Herz befriedigen. Aber wie ernst ist der Gedanke, daß es der Wein
ihrer Hurerei ist, die Folge ihrer Entfernung
von Gott und ihrer Verbindung mit der
Welt! Gott ist ausgeschlossen, und Satan kann als
Fürst und Gott dieser Welt um so leichter herrschen, weil
alles sich zügellos den Dingen hingiebt, durch welche er
die Herzen leitet.
Ein Blick auf das Alte Testament zeigt uns, wie
diese Grundsätze von Anfang an wirksam waren und den
Geist dieser Welt kennzeichneten. Kain baute eine Stadt,
richtete sich wohnlich auf dieser Erde ein und suchte seinen
Aufenthalt hier so bequem und angenehm wie möglich zu
machen. Und wann that er dies? Nachdem er seinen
Bruder erschlagen hatte und von dem Angesicht Jehovas
weggegangen war. (1. Mose 4, 8. 16. 17.) Seine Nachkommen gingen in demselben Geiste und nach denselben
Grundsätzen voran: sie trieben Viehzucht und lagen der
Musik und der Kunst zur Verschönerung der Welt ob.
(Vers 20—22.) Unbelästigt durch die Gegenwart Gottes
sich der Genußsucht hinzugeben, das ist der Geist dieser
Welt. Und in der That, sie ist nicht bei jenen Dingen
stehen geblieben; nein, sie hat den Sohn Gottes getötet, und jagt nun den Genüssen der Erde nach, ohne
sich im geringsten ein Gewissen über ihre schreckliche That
zu machen.
Ferner sehen wir, wie schon damals ein Babylon in
der Hand des Fürsten dieser Welt das Mittel war, um
diesen Geist zu leiten und zu fördern. Die Menschen
vereinigten sich, eine Stadt und einen Turm zu bauen,
43
Hessen Spitze bis an den Himmel reichen sollte, und zwar
zu dem Zwecke, um sich einen Namen zu machen.
Doch der Herr verwirrte ihre Sprache und zerstreute sie
über die ganze Erde. „Und sie hörten auf, die Stadt zu
bauen. Daher nannte man ihren Namen Babel" (Verwirrung). (1. Mose 11, 1—9.) Ihr Plan wurde durch die Dazwischenkunft des Herrn vereitelt. Aber dann tritt Nimrod
auf den Schauplatz und bemächtigt sich alles dessen, was sie
gemacht hatten. Er „fing an, ein Gewaltiger zu sein aus
der Erde. Er war ein gewaltiger Jäger vor Jehova;
darum sagt man: Wie Nimrod, ein gewaltiger Jäger vor
Jehova. Und der Anfang seines Reiches war
Babel." (1. Mose 10, 8 — 10.) Da wo Gott verwirrt
und zerstreut hatte, begann er mit energischer Hand zu
sammeln. Die Menschen wollen trotz des Willens Gottes
ihre Pläne durchsetzen, um sich einen Namen zu machen,
koste es was es wolle. Nimrod war ein Gewaltiger, und
er wurde der Lenker Babels und flößte diesem seinen
Geist ein. Er war gewaltig im Jagen, und so ist Babylon
desgleichen gewaltig im Jagen nach der Macht und Herrschaft, nach den Reichtümern und Annehmlichkeiten dieser
Welt; gewaltig im Jagen, um alle Völker in ihre Netze
zu ziehen und alles für ihre Interessen auszubeuten.
Um uns ein Bild von ihrem wahren Charakter zu geben,
hat uns der Heilige Geist genau und ausführlich alle die
Waren ausgezeichnet, mit welchen sie Handel treiben
wird. Sie wird den ganzen Handel zu Wasser und zu
Lande beherrschen, und dabei ist ihr kein Mittel zu schlecht,
um ihre Zwecke zu erreichen; alles ist für sie käuflich und
verkäuflich, selbst die Leiber und Seelen der Menschen.
Alles geschieht fürs Geld; wird doch selbst die „Gott­
44
seligkeit als ein Mittel zum Gewinn" benutzt. (Offenb. 18,
12. 13; 1. Tim. 6, 5.)
Das also war der Geist dieser Welt, das waren ihre
Grundsätze von Ansang an, und so werden sie am Ende
in ihrer vollen Entfaltung hervortretcn. Und ach! ein
Blick auf unsre Umgebung zeigt uns, daß auch in der
Gegenwart alle Schichten der Bevölkerung und leider selbst
viele Gläubige von diesem fieberhaften Jagen nach den
nichtigen Dingen der Erde ergriffen sind. Babylon ist es
allerdings Vorbehalten, diese Grundsätze zur völligen Reife
und Ausführung zu bringen; in ihr werden sie verkörpert
sein; aber heute schon sind sie in schrecklicher Deutlichkeit
wahrzunehmen. Die Welt hat mancherlei Heimsuchungen
von feiten Gottes erfahren; Er hat alles Mögliche gethan,
um ihr Gewissen aufzurütteln und sie zur Besinnung zu
bringen. Schließlich sandte Er Seinen Sohn: „Gott Warin Christo, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre
Uebertretungen nicht zurechnend". (2. Kor. 5, 19.) Aber
sie hat die Gnade von sich gestoßen und den Sohn Gottes
getötet. Sie hat sich so zu sagen Gottes entledigt, um
desto ungestörter ihren Begierden folgen und ihren Genüssen
fröhnen zu können. Trotzdem ist sie nicht frei von Befürchtungen für die Zukunft; und das hat seinen guten
Grund: sie hat ein schlechtes Gewissen. Bei allem
vorgeblichen Sicherheitsgefühl haben die Menschen dieser
Welt stets die bange, unbestimmte Ahnung, plötzlich auf
irgend eine Weise in ihrem gottlosen Treiben gestört zu
werden. Darum sucht man Vorkehrungen zu treffen, um
aus alle Fälle gesichert zu sein. Besonders ist man bestrebt,
sich mit anderen zu vereinigen, um sich desto unabhängiger
von Gott zu fühlen. „Wohlan, bauen wir uns eine Stadt
45
und einen Turm ... und machen wir uns einen Namen,
daß wir nicht zerstreut werden überdieganze
Erde." Man sagt: „Einigkeit macht stark," und strebt auf
allen Gebieten fieberhaft nach Vereinigung. In Babylon
denkt die Welt ihren Zweck erreicht zu haben. Völlig vereinigt, mit einem andern Nimrod oder Nebukadnezar an
der Spitze, wird sie sich vollkommen sicher wähnen. „Ich
sitze als Königin und bin nicht Witwe, und Traurigkeit werde ich nicht sehen."
Unstreitig herrscht in Babylon ein einheitliches Band,
welches viele Nationen, trotz der großen Verschiedenheit
ihrer nationalen Eigentümlichkeiten und Sprachen, umschlingt. Die Hure sitzt auf vielen Wassern. Aber
diese Einheit gründet sich auf die Verfälschung der wahren Lehre des Christentums. Es ist nicht die Einheit,
welche der Geist Gottes gemacht hat und deren Mittelpunkt Christus ist. Sie hat einen Menschen zu ihrem
Mittelpunkt und Oberhaupt, der einerseits durch die Annehmlichkeiten Babylons, andrerseits mittelst der Macht
des Tieres die Herzen fesseln und trotz ihrer verschiedenen Neigungen und Eigentümlichkeiten sich unterwerfen
wird. Natürlich setzt dieses voraus, daß das persönliche
Gewissen des Einzelnen zum Schweigen gebracht und
jegliche Wirksamkeit des Heiligen Geistes ausgeschlossen
ist. Es ist eine Einheit, welche in der unbedingten Unterwerfung aller unter die Autorität des Menschen, in einer
blinden Befolgung der von diesem ausgehenden Losung
besteht: eine Einheit, die nur den Ruhm des Menschen
zum Endziele hat. Das Gewissen muß schweigen, und Gott
ist ausgeschlossen. Es ist das alte Babel, nur in einer
noch gottloseren Form. In jenem war es das goldene
46
Götzenbild in der Ebene Dura, vor welchem die Völker,
Völkerschaften und Zungen bei dem Schall des Hornes,
der Pfeife, der Laute rc. niederfielen; (Dan. 3.) hier ist
es eine unter denselben Feierlichkeiten ausgeübte Abgötterei,
aber verbunden mit dem Namen Christi. Welch eine Entehrung dieses heiligens Namens! Er muß dazu dienen,
das gottlose System zu schmücken, welches trunken ist von
dem Blute der Heiligen und Zeugen Jesu. (Offenb. 17, 6.)
So wie Babylon Gott ausschließt, kann sie auch die Zeugen
der Wahrheit nicht dulden. Sie kann nichts ertragen, was
ihren Grundsätzen nicht widerspruchslos huldigt. „Da ward
Nebukadnezar voll Grimmes, und die Gestalt seines Antlitzes verwandelte sich wider Sadrach, Mesach und Abednego. Er antwortete und befahl, den Ofen siebenmal
heißer zu machen, als man ihn heiß zu machen pflegte."
(Dan. 3, 19.) So war es damals, und man denke nicht,
daß das neue Babel von einem milderen Geiste beseelt
sei. Es ist vielmehr das geeignete Werkzeug in der Hand
Satans, durch welches er seine Triumphe feiern, die Gottlosigkeit zur Reife bringen und die Welt für die Aufnahme
des Antichristen empfänglich machen wird, um dann mittelst des letzteren Gott den Krieg zu erklären. Das ist die
Frucht und das Ergebnis der Grundsätze Babylons.
Würden die Christen mehr die Absichten Satans,
des großen Widersachers aller Ratschlüsse Gottes, beachten,
so würden sie sicher auch den gefährlichen Charakter der
Grundsätze Babylons erkennen und den ihnen darin gelegten Schlingen entgehen. Wir sollten gerade in dieser
Beziehung ein besonders wachsames Auge haben, wie der
Apostel es hatte. Er sagt: „Auf daß nicht der Satan
einen Vorteil über uns gewinne, denn seine Gedanken
47
find uns nicht unbekannt." (2. Kor. 2, 11.) Satan
hätte die Grundsätze Babylons nicht in die Kirche einführen können, wenn die Christen seine Absichten mehr
im Auge behalten und beachtet hätten. Welchen Vorteil
Satan über die bekennende Kirche gewonnen hat, zeigt
uns ihr heutiger trauriger Zustand. Er hat Millionen auf
die abschüssige Bahn gebracht, auf welcher er sie mit Riesenschritten dem von ihm beabsichtigten Ziele entgegenführt.
Rastlos und unermüdlich verfolgt er seine Absichten, die 
Sache Gottes zu verderben und wo möglich Gott selbst
aus dem Wege zu räumen. Als „Fürst dieser Welt"
hat er sich bereits bewiesen, indem er den Sohn Gottes
aus ihr hinausstieß; und nicht mehr lange, so wird er
auch in der bekennenden Kirche die Alleinherrschaft haben
und seine „große Babel" (Dan. 4, 27.) aus ihr machen.
Das Zeugnis des Heiligen Geistes in ihr wird völlig
verstummen.
Wir vermögen an dem jetzigen Zustand der Kirche
Nichts zu ändern; aber wir sollten doch eine Lehre aus
ihrer Geschichte ziehen und nicht länger die Absichten des
Feindes durch unser Verhalten fördern. Alle wahren Gläubigen sollten sich einmütig trennen von einem System, in
welchem man den Grundsätzen Babylons huldigt. Die
Frage ist nicht, welchen Namen die verschiedenen kirchlichen
Bekenntnisse tragen, sondern ob man auf dem einzigen
von Gott anerkannten Boden steht. Denn alle Vereinigungen außerhalb dieses Bodens find nicht durch den Geist
Gottes bewirkt, indem sie mehr oder weniger dem Geiste
Babylons noch Raum geben. Sobald wir den Geist Babylons
unterscheiden, gilt uns die Aufforderung: „Gehet aus ihr
hinaus, mein Volk, auf daß ihr nicht mitteilhaftig werdet ihrer
48
Sünden, und auf daß ihr nicht empfanget von ihren
Plagen." Die Gläubigen sollten sich daher ernst und aufrichtig fragen, ob sie wirklich auf dem Boden der Wahrheit stehen und getrennt von dem Geiste Babels wandeln.
Es liegt auf der Hand, daß wir uns grundsätzlich
auf die Seite des Feindes stellen, wenn wir dem Geiste
und den Grundsätzen Babylons folgen.
Und durch nichts könnten wir besser seinen Absichten
dienen, als durch einen solchen Wandel. Die Liebe zur
Welt ist in der That die eigentliche Quelle, aus welcher
die ungeistlichen Zustände und Zersplitterungen der Gläubigen hervorkommen. Sie sind nicht frei von „dem Verbannten". (Jos. 6, 18.) Wodurch gelang es Satan,
Israel für die Kämpfe Kanaans unfähig zu machen? Ach!
ein babylonischer Mantel, ein wenig Silber und Gold
genügte, um die Sinne Achans zu berauschen; er fiel in
die ihm gelegte Schlinge und stürzte sich, sein HauS und
ganz Israel ins Unglück. (Jos. 7.) Satan würde nicht
so viel Erfolg haben, wenn die Christen gewissenhafter
wären und es mit den Neigungen ihres Fleisches — der
Ehr- und Gewinnsucht, der Liebe zum Gelde und dem
Verlangen nach den Genüssen dieses Lebens — genauer
nähmen. Aber sie erblicken nichts Schlimmes darin und
fallen deshalb in die verhängnisvolle Schlinge. Sie sehen
nicht, daß Satan hinter allem steht und auf sie lauert.
Petrus dachte auch nicht, daß er im Dienste Satans stände,
als er zum Herrn sagte: „Gott behüte dich, Herr! Dies
wird dir nicht widerfahren." (Matth. 16, 22.) War es
nicht gut von ihm gemeint? Wollte er nicht seinen Herrn
schonen? Gewiß; aber das Auge des Herrn sah die Beweggründe, welche in Petrus wirkten, und erkannte den,
49
der hinter diesen Beweggründen stand — den großen
Widersacher, welcher Ihn an der Erfüllung Seines Werkes
hindern wollte. Daher Seine ernsten Worte an Petrus:
„Gehe hinter mich, Satan; du bist mir ein Aergernis,
denn du sinnest nicht auf das, was Gottes,
sondern auf das, was der Menschen ist."
Würden die Gläubigen mehr auf das sinnen, was Gottes
ist, so würden sie leichter unterscheiden können, was vom
Vater und was von der Welt ist. Sie würden den schroffen
Gegensatz zwischen dem Vater und der Welt, zwischen
Christo und Satan, zwischen dem Geiste und dem Fleische
erkennen und sich getrennt halten von allem, was in der
Welt ist. „Denn alles, was in der Welt ist, die Lust des
Fleisches und die Lust der Augen und der Hochmut des
Lebens, ist nicht von dem Vater, sondern ist von der
Welt." (1. Joh. 2, 16.)
Die Frage ist nicht, wie wir die Dinge ansehen,
sondern wie Gott sie ansieht. Und in Seinen Augen ist
kein Unterschied zwischen dem Habsüchtigen und dem Anbeter eines hölzernen oder steinernen Götzenbildes; denn
„ein Habsüchtiger ist ein Götzendiener". (Ephes. 5, 5.)
Der Apostel sagt nicht: das Geld, sondern „die Geldliebe ist eine Wurzel alles Bösen". (1. Tim. 6, 10.)
Ein Wandel nach göttlichen Grundsätzen steht einem Wandel in babylonischer Gesinnung schnurstracks entgegen; die
Richtung des ersteren geht nach oben, die des letzteren nach
unten. Der Apostel konnte sagen: „Eines aber thue
ich: Vergessend was dahinten, und mich ausstreckend nach
dem, was davorn ist, jage ich, das vorgesteckte Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes
nach oben in Christo Jesu." Das ist ein anderes „Jagen"
50
als dasjenige Babylons. Babylon jagt nach den nichtigen Dingen dieser Erde, und wie traurig und tief demütigend ist es, wenn solche, die sich Christen nennen, dasselbe thun! Der Apostel sagt betreffs ihrer: „Denn viele
wandeln, von denen ich euch öfters gesagt, nun aber auch
mit Weinen sage, daß sie die Feinde des Kreuzes Christi
sind: deren Ende Verderben, deren Gott der Bauch und
deren Ehre in ihrer Schande ist, die auf das Irdische
sinnen;" während er gleich nachher zur Kennzeichnung einer
göttlichen Gesinnung hinzufügt: „Denn unser Wandel
ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesum
Christum als Heiland erwarten." (Phil. 3.)
Für solche, die nach dem Ziele droben jagen, hat
Babylon keinen Reiz; und über solche hat Satan keine
Macht. Würden die Gläubigen treuer und gewissenhafter
in dieser himmlischen Gesinnung vorangehen, so würde die
Welt sie ebensowenig ertragen können, wie einst den Herrn
und Seine Apostel. Wenn ein Christ der Welt gefallen
will, so kann er dies nur durch eine weltliche Gesinnung.
Aber dann fällt er der Macht des Geistes Babylons anheim. Um den Gesandten des Königs von Babel zu gefallen, öffnete Hiskia sein Schatzhaus und zeigte ihnen
sein Silber und Gold, seine Gewürze, sein köstliches Oel,
sein Zeughaus und alle seine Schätze — lauter Dinge,
welche für einen Sohn Babylons wert- und reizvoll waren.
Und was war die Folge? Der Prophet Jesaja wurde zu
ihm gesandt mit der niederschmetternden Botschaft: „Siehe,
es kommen Tage, da alles, was in deinem Hause ist,
und was deine Väter aufgehäuft haben bis auf diesen
Tag, nach Babel weggebracht werden wird. Und von
deinen Söhnen . . . wird man nehmen, und sie werden
51
Kämmerer sein im Palaste des Königs von Babel."
(2. Kön. 20, 12—18.) Das sind die bittern Erfahrungen, welche das Volk Gottes machen muß, wenn es sich
mit der Welt in Verbindung setzt — es geht in die
Gefangenschaft Babylons. Und ach! wie viele wahre
Christen haben durch ihre weltliche Gesinnung ihre Freiheit eingebitßt, und sind geknechtet unter den Geist
dieser Welt, zum Vorteil Satans und zur Unehre Gottes! Indem sie sich nicht freigehalten haben von dem
„Verbannten", sind sie selbst zu einem Bann geworden; sie sind unfähig, die Kämpfe Kanaans zu streiten.
<2. Tim. 2, 4.)
Zudem trägt eine weltliche Gesinnung auch wesentlich
zur Stärkung des Parteiwesens bei, ja, sie ist zum größten Teil die Ursache desselben. Denn wenn Christen nach
dem Vorbilde des Apostels einen himmlischen Wandel
führen, so machen sie keine Parteien. Sie lassen dann
der Selbstsucht, dem Hochmut und der Eigenliebe — diesen geheimen Grundlagen alles Parteiwesens — keinen
Raum. Es steht geschrieben: „Wenn wir aber in dem
Lichte wandeln, wie Er in dem Lichte ist, so haben wir
Gemeinschaft mit einander." (1. Joh. 1, 7.) In
diesem Lichte kennt man nur einen Mittelpunkt, nur
einen Gegenstand, Zweck und Beweggrund, und das ist
Christus. Gläubige, für welche Christus alles ist, fühlen sich in Ihm ohne alle Sonderinteressen aufs Innigste
mit einander verbunden, und verwirklichen die Einheit, die
der Heilige Geist und nicht der Mensch gemacht hat.
„Denn in einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe
getauft." (1. Kor. 12, 13.) Gewiß hat der Herr Geduld
mit unwissenden und irregeleiteten Gläubigen; aber Er ist 
52
wider die halbherzigen, die es teils mit Ihm und teils mit
der Welt halten wollen.
Christlicher Leser! laß uns bedenken, daß wir nicht
mit verweslichen Dingen, mit Silber oder Gold, sondern
mit dem kostbaren Blute Christi erlöst worden
sind. (1. Petr. 1, 18. 19.) Laß uns bedenken, daß tausend Welten diesen teuren Kaufpreis nicht aufwägen können. Prüfen wir uns aufrichtig und gewissenhaft vor
Gott, ob wir, diesem hohen Preis entsprechend, nicht
nur von der gottlosen, sondern auch von der religiösen Welt getrennt sind. Fragen wir uns mit allem
Ernste, auf welcher Seite wir stehen, ob wir Bewohner
des Himmels sind oder hienieden eine Heimstätte suchen.
Zwischen diesen beiden Dingen besteht der schroffste Gegensatz; was die Bewohner des Himmels erfreut, betrübt
die, welche auf der Erde wohnen, und umgekehrt. Während man auf der Erde über den Fall und das Gericht
Babylons jammert und wehklagt, ertönt im Himmel die 
Stimme des Jubels und der Freude. „Nach diesem hörte
ich wie eine starke Stimme einer großen Volksmenge in
dem Himmel, welche sprach: Halleluja! das Heil und die
Herrlichkeit und die Macht unsers Gottes! Denn wahrhaftig und gerecht sind Seine Gerichte; denn Er hat die
große Hure gerichtet, welche die Erde mit ihrer Hurerei
verderbte, und hat das Blut Seiner Knechte gerächt an
ihrer Hand. Und zum andern Male sprachen sie: Halleluja ! Und ihr Rauch steigt auf in die Zeitalter der Zeitalter." (Offenb. 19.)
Geliebter Leser! Bist du ein Bewohner des Himmels
— und jeder wahre Gläubige ist ein solcher durch den 
Glauben — so suche dieses mit der That dadurch zu be­
53
weisen, daß du dich jetzt schon ebenso entschieden von den
Grundsätzen und dem Geiste Babylons getrennt hältst,
wie du getrennt sein wirst, wenn der Rauch ihrer Qual
aufsteigt von Ewigkeit zu Ewigkeit!

Ein plötzlicher Wechsel.
Muk. 16.)
„Der Reiche starb und ward begraben." Welch ein 
plötzlicher und vollständiger Wechsel! In einem Augenblick
ist alles verändert. Heute noch in Purpur und feine Leinwand gekleidet, herrlich und in Freuden lebend, und morgen -- tot und begraben! Mit einem Schlage ist alles
ins Gegenteil verkehrt. Da wo eben noch laute Fröhlichkeit, Musik und Reigen gehört wurden, herrscht jetzt das
unheimliche Schweigen des Todes. Aus einer Umgebung
voll königlicher Pracht und fürstlichen Wohlstandes hinabgestürzt in die Tiefen ewiger Pein und Qual, in die 
Flammen eines unauslöschlichen Feuers, wo nicht um alle
Reichtümer der Welt ein Tropfen kalten Wassers zu erlangen
ist! Welch eine Veränderung! „Der Reiche starb und ward
begraben." Sein Begräbnis wird mit all dem Prunk umgeben gewesen sein, an welchen der Tote während seines
Lebens gewöhnt war; aber ach! „in dem Hades schlug
er seine Augen auf, als er in Qualen war."
Lange bevor die glänzende Leichenfeier zu Ende ging,
öffneten sich die Augen des unglücklichen Mannes, um
seinen schrecklichen Zustand zu erkennen. Und es war die
letzte Veränderung für den einst so reichen Mann. Sein
Los ist jetzt für die Ewigkeit, unabänderlich entschieden;
und er weiß das. Seine Augen sind geöffnet. Geblendet
54
durch den glänzenden Flitter der Welt und jagend nach
den verführerischen Freuden dieser Zeit, hatte er sie hienieden nur zu bereitwillig geschlossen; aber jetzt sind sie
aufgethan, und er vermag sie nie wieder zu schließen.
Der Unglaube mag heute davon träumen, daß die
Strafe der Gottlosen nicht ewig sei; aber in dem Feuersee werden die falschen Träume dieser Zeit keine Stätte
mehr finden. „Wer von uns kann weilen bei verzehrendem
Feuer? wer von uns kann weilen bei ewigen Gluten?"
so lautet der bittere Schrei der Sünder und falschen Bekenner in Zion. (Jes. 33, 14.) O dieses schreckliche Wort:
„weilen bei ewigen Gluten!" - „Und der Rauch
ihrer Qual steigt auf in die Zeitalter der Zeitalter." (Offbg. 14, 11; 19, 3.) Ja, mein Leser, Gottes
Liebe ist vollkommen und hat sich so erwiesen in der Dahingabe des eingebornen Sohnes für gottlose, feindselige
Sünder. Aber Gottes Gerechtigkeit ist nicht minder vollkommen ; sie hat sich als solche erwiesen in dem schonungslosen Gericht, welches den unschuldigen, reinen und heiligen
Menschen Christus Jesus traf, sobald Er sich an des
Sünders Platz stellte, und sie wird sich erweisen in der
ewigen Verdammung aller derer, welche die Zeit der Gnade
versäumen und die Liebe eines Heiland-Gottes gering
achten. Besser, weit besser daher, als ein armer Lazarus,
aber im Glauben an Christum durch diese Welt zu gehen,
denn als ein reicher Mann, dem alles zu Gebote steht,
was das Herz begehrt, ohne diesen Glauben.
Welch ein Wechsel auch für Lazarus, und wie plötzlich! Bedeckt mit Geschwüren, welche die Hunde mitleidig
lecken, so liegt er an des reichen Mannes Thür und begehrt sich von den Brosamen zu sättigen, die von jenes
55
Tische fallen. Welch ein Gegensatz! Der eine lebt herrlich
und in Freuden, angethan mit Purpur und feiner Leinwand,
aber ach! nur für sich selbst — ohne Gott; der andere,
ein armer Bettler, krank, ohne Freunde, ein Bild des
Jammers, glaubt an Gott und lebt für Ihn. „Es geschah aber, daß der Arme starb." Von einem Begräbnis
wird nichts gesagt; vielleicht hat er kaum eines gehabt,
aber: „er ward von den Engeln getragen in
Abrahams Schoß." Der einst reiche, aber jetzt so
arme Mann sieht ihn. Welch ein Anblick! Der elende
Bettler, an dem er hienieden so oft achtlos vorüberging,
ruht jetzt in Abrahams Schoß, ist für immer allem Leid
entrückt und genießt das Glück ewiger, seliger Ruhe.
Mein Leser, wird das auch dein ewiges Teil sein? 
Wenn es so ist, o dann bist du glückselig zu preisen,
wenn auch dein Los hienieden kein angenehmes oder gar
glänzendes sein sollte. Blickst du zurück — alle deine
Sünden sind vergeben; nichts ist mehr da, was dich beunruhigen könnte, denn Christus, dein Heiland, hat alles
gut gemacht. Denkst du an die Gegenwart — du kennst
einen Gott und Vater, der dich liebt und alle deine Wege
lenkt, in dessen Gunst du stehst und dem du allezeit mit
völligem Vertrauen nahen kannst. Richtest du deinen
Blick vorwärts — vor dir liegt die Herrlichkeit Gottes, die ewige, selige Ruhe des Vaterhauses. Ja, glückselig, dreimal glückselig alle, die auf Ihn vertrauen!
Ich möchte zum Schluß noch bemerken, daß zwischen
dem Ende von Lukas 15 und 16 ein auffallender Gegensatz besteht. In dem ersten Kapitel zieht der Herr gleichsam den Vorhang zurück, nm uns einen Blick in das
Innere des Vaterhauses thun zu lassen. Und was sehen
56
wir dort? Einen aus fremdem Lande, von den Wegen der
Sünde zurückgekehrten Sohn, der an des Vaters Tische
sitzt und sich von dem nährt, was des Vaters Liebe für
ihn bereitet hat. In dem zweiten Kapitel lüftet der Herr
den Schleier und läßt uns einen Blick thun in das
Innere des Ortes der Qual. Und was erblicken wir hier?
Eine Seele, die sich ihres vergangenen verlorenen Lebens
völlig bewußt ist, zugleich aber jede Hoffnung abgeschnitten
sieht, je aus ihrem schrecklichen Zustande, aus den qualvollen Flammen herauszukommen. Ihr Schicksal ist für
ewig entschieden; sie hat die Zeit der Gnade versäumt
und leidet nun Pein in der Flamme. Furchtbarer Gegensatz! Und wie dicht stehen die beiden Beschreibungen
neben einander! Wir finden AehnlicheS in Offenbarung
20 und 21. Das 20. Kapitel schließt mit dem See, der
mit Feuer und Schwefel brennt; das 21. beginnt mit
dem neuen Himmel und der neuen Erde, und der heiligen Stadt, die, bekleidet mit der Herrlichkeit Gottes,
aus dem Himmel herniederkommt.
Bruchstücke.
Das Herz ist sehr listig und verräterisch; es betrügt
uns oft in einer geradezu staunenerregenden Weise, wenn
sich unsre Wünsche auf irgend eine besondere Sache gerichtet haben.
Wenn ein Herz wirklich in Gott ruht und auf Ihn
vertraut, so wird es sich nicht durch die Frage beunruhigen,
wie Er dieses oder jenes ordnen und welche Hülfsmittel
Er dazu gebrauchen werde.
Jakob.
(Fortsetzung.)
Nachdem Jakob und Esau sich getrennt hatten, kam
Jakob nach Sukkoth und von dort nach Sichem. Damit war
seine Rückkehr nach Kanaan vollendet. Aber acht es wird
immer schlechter und schlechter mit ihm; es scheint, als
ob er eine Zeitlang sich selbst und die Berufung Gottes
vollständig vergessen hätte. Und was anders als Unheil
kann die Folge einer solchen Erscheinung seins Gott erwartet von uns Festigkeit in Bezug auf unsre Berufung.
Wohl können wir alle in tausenderlei Weise derselben untreu werden und fehlen, und wir thun dies leider nur zu
oft; aber das ist doch noch etwas anderes, als wenn jene
Berufung aus freien Stücken durch ein leichtfertiges und
erschlafftes Gewissen vernachlässigt und anscheinend völlig
aufgegeben wird. Denn dann wird bald jeder moralische
Halt verloren gehen. Wahrheit, Lauterkeit und Aufrichtigkeit
werden verschwinden, und am Ende werden Verunreinigungen hervortreten, wie sie selbst, wie der Apostel sagt,
unter den Heiden nicht gefunden werden.
In Sukkoth, wohin unser Patriarch zuerst kam, baut
er ein Haus, und in Sichem kauft er ein Feld — was
Abraham und Isaak, weil sie der Berufung Gottes treuer
blieben, nie thaten und nie gethan haben würden. Wie
tonnte er unter solchen Umständen auf moralische Sicher­
58
heit rechnen? DaS Zelt wurde mit einem Hause vertauscht,
und der pilgernde Fremdling wurde zu einem Bürger und
Grundeigentümer inmitten der Unbeschnittenen. Zeigte das
nicht, daß Jakob vergessen hatte, daß er sich unter der
Berufung Gottes befand? Viele Jahrhunderte später läßt
der Herr durch Seinen Diener Nathan dem David kundthun, daß ein Unterschied zwischen einem Hause und
einem Zelte bestehe, und daß Er diesen Unterschied aufrecht erhalten zu sehen wünsche. (1. Chron. 17.) Aber
hier in Sukkoth übertritt Jakob den Willen Gottes. Das
göttliche Denkzeichen der Patriarchen bestand darin, daß
sie in Zelten wohnten; (Hebr. 11, 9.) aber hier in Sukkoth macht sich Jakob aus freien Stücken dieses Denkzeichens verlustig. Ferner gab der Herr dem Abraham nicht
so viel Land, daß er seine Fußsohle hätte darauf setzen
können; (Apstgsch. 7, 5.) trotzdem aber will Jakob in
Sichern ein Grundstück haben und es als erblichen Besitz
kaufen.
Der Altar, welcher auf das Haus und das Feld
folgt, mag auf den ersten Blick als eine Milderung, als
etwas Heiligendes erscheinen, als das einzige Gute inmitten des Verderbens. Allein bei näherer Betrachtung
erkennen wir gerade in dem Altar womöglich das Schlechteste von allem. Er wurde nicht für Denjenigen errichtet,
welcher Jakob erschienen war. Weder in Sukkoth noch
in Sichem hatte wahre Gemeinschaft zwischen dem Herrn
und Jakob stattgefunden. Sichem war nicht Bethel; und
das Grundstück, auf welchem jener Altar, den Jakob „ Gott,
der Gott Israels," nannte, aufgerichtet wurde, war nicht
der steinige und öde Ort, wo die überströmende Gnade
aus einem geöffneten Himmel auf das Haupt des Patri­
59
archen herabgeschienen hatte. Nein, es bildete vielmehr
einen Teil des Feldes, welches Jakob von den Söhnen
Hemors, des Vaters Sicherns, gekauft hatte. Der
Altar wurde auch nicht von einem himmlischen Fremdling
für den Gott errichtet, der ihn besuchte, sondern er erhob
sich in der Mitte der Unbeschnittenen. Es sieht fast aus
wie ein Versuch, die Billigung des Herrn dafür zu erlangen, daß Jakob den Charakter eines Abgesonderten;
eines Pilgrims und eines Nasiräers aufgegeben hatte,
oder den Namen Gottes und Seine Anbetung mit demjenigen zu verbinden, über welches Gott Sein ernstes
Urteil ausgesprochen und wogegen Seine Langmut sich erzeigt hatte, bis das Maß der Ungerechtigkeit voll war.
Wahrlich, wir sehen hier eher einen unbeschnittenen
Jakob, als beschnittene Sichemiter. Alles ist verdorben.
Ist das ein Sohn Abrahams? Ist das ein Heiliger
Gottes? Ist das einer von Gottes Fremdlingen in einer
Welt, die von Ihm abgefallen ist? Werden wir nicht unwillkürlich an die religiöse Thätigkeit des Christentums
erinnert, welches den Namen Christi mit einer Welt in
Verbindung gebracht hat, die sich unter Seinem Gericht
befindet und nur in Seiner Langmut noch getragen wird?
Es ist dasselbe, als wenn daS Volk Israel in späteren
Tagen dem Pharao nachgegeben und Jehova in Egypten
einen Altar gebaut hätte? Aber solche Altäre sind keine
Altäre — wie ein anderes Evangelium kein anderes ist.
Ein solcher Gottesdienst ist eitel, mag er nun in jenen
frühesten Zeiten in Sichem ausgeübt werden, oder in
unserm christlichen Zeitalter unter den Völkern einer gerichteten, verurteilten Welt, von welcher uns zu trennen
wir von Gott berufen sind. Aber das ist nicht alles;
60
während ein angenehmer Verkehr mit der Welt fortgesetzt
und der eingeschlagene Weg begierig verfolgt wird, werden
zu derselben Zeit Familiengottesdienste und religiöse Gebräuche (der moderne Altar in Sichern) verrichtet.
Es war eine der Früchte von diesem allen, daß
Jakob später sagen mußte: „Meine Seele komme nicht
in ihren geheimen Rat, meine Ehre vereinige sich nicht
mit ihrer Versammlung!" (Kap. 49, 6.) Denn mit diesen
Worten spielt der sterbende Patriarch auf das in Kapitel
34 Erzählte an. Am Ende seines Lebens sieht er den
wahren Charakter jener Dinge, die Frucht seines Aufenthaltes in Sichern, ein. Im Zorn war dort ein Mann
erschlagen und ein Kämpfer niedergeworfen worden. Und
doch hatte Jakob selbst kurz vorher den Kämpfer Gottes
Übermacht. Den Trennungswall, welchen die Berufung
Gottes zwischen dem Reinen und Unreinen, zwischen der
Beschneidung und den heidnischen Völkern, errichtet hatte,
räumte Jakob selbst hinweg, indem er sich als Bürger
und Eigentümer auf seinem gekauften Grund und Boden
in Sichern niederließ. Und Simeon und Levi vervollständigten die Sache, sobald es ihnen gefiel.
„Und Dina, die Tochter Leas, die sie Jakob geboren
hatte, ging aus, die Töchter des Landes zu sehen." War
das die Handlungsweise des Hauses Abrahams? War
das die Familie des abgesonderten Patriarchen, der in
den Wegen des Herrn wandelte? Hatte sich Abraham
jemals in solcher Weise nachlässig gezeigt? Welchen Verkehr hatte er mit den Söhnen oder den Töchtern des
Landes betreffs seiner Kinder? Nicht den geringsten.
Alles das ist höchst traurig und verkündet seine eigne
Schande. Sichern liegt nicht weit von Sodom, obwohl ich
61
zugebe, daß es nicht gleich Sodom ist. Jakob ist auch
nicht Lot. Wir können und müssen einen Unterschied
machen, obwohl das Unterscheiden in dieser Beziehung eine
traurige Arbeit ist. Die Natur hatte in all den Heiligen
Gottes, welche wir betrachtet haben, zu Zeiten die Oberhand, in dem einen mehr, in dem andern weniger. Aber
trotz des Vorherrschens der Natur finden wir doch in
moralischer Hinsicht eine Verschiedenheit; und verschiedenartige Dinge unter den Heiligen müssen von uns auch
als verschiedenartig betrachtet werden. Es giebt ein beflecktes Kleid und ein gemischtes Kleid, wenn wir
es so nennen dürfen; und wir sollten unter der Leitung
des Geistes unser Kleid sowohl unbefleckt als auch ungemischt bewahren; oder wie Jakobus sagt: „uns selbst
von der Welt unbefleckt erhalten". Aber doch ist ein 
beflecktes Kleid noch kein gemischtes, oder, um mit
den Worten der Schrift zu reden, kein Kleid „von verschiedenartigem Stoffe, Wolle und Leinen Zusammen".
Auch dürfen wir ein Kleid, in welchem sich hie und da
ein Faden von einem andern Stoffe zeigt, nicht mit einem
gemischten Kleide verwechseln, d. h. mit einem Kleide,
dessen Gewebe grundsätzlich aus Wolle und Leinen
hergestellt ist. So finden wir in der Schrift, welche ja
in jeder Hinsicht vollkommen ist, Charaktere, die durch
das, was man „gemischte Grundsätze" nennt, gebildet sind,
und andrerseits solche Charaktere, welche zwar gelegentlich
etwas Gemischtes verraten, aber nicht durch und durch
so sind. Das Leben Lots wurde vollständig durch gemischte Grundsätze beeinflußt und gekennzeichnet. Sobald
die Versuchung an ihn herantrat, vereinigte er sich mit
dem Bösen. Obwohl mit der Berufung Gottes verbun­
62
den, war er doch ein Mann der Erde und mußte wie durch
Feuer gerettet werden. Das Kleid, welches Lot trug,
war von verschiedenartigem Stoff, von Wolle und Leinen.
Abraham dagegen trug zu Zeiten wohl ein beflecktes
Kleid, aber nie ein gemischtes. Lot war der Berufung
Gottes vom Beginn bis zum Ende seiner Laufbahn untreu. Er wurde da ein Bürger, wo er ein Fremdling
hätte sein sollen, indem er in der Stadt Sodom ein Haus
baute; während Abraham, das Land durchziehend, sein
Zelt bald hier bald dort aufschlug. Und dieses Leben
nach falschen Grundsätzen brachte Lot in Trübsale,
welche seine Schande waren; und das allein kann
man eigentlich nur den Schmerz der Trübsal nennen.
Er hatte keinen Trost in seinem Leid. Er quälte seine gerechte Seele, wie es heißt, mit den gottlosen Werken, die 
er täglich anschauen mußte; aber in seinem Geiste gab es
keine Freude, keine Klarheit, keinen Triumph. Die Engel
waren äußerst zurückhaltend ihm gegenüber, und er mußte
unter Zurücklassung all seiner Habe fliehen und rettete
nur das nackte Leben.
Jakob, unser Patriarch, war von andrer Art. Wir
dürfen nicht von ihm sagen, daß er ein Mann von gemischten Grundsätzen war, oder daß er ein Kleid von verschiedenartigem Stoffe, von Wolle und Leinen, trug. Wohl
aber zeigte sich sein Kleid ziemlich oft beschmutzt, und hier
in Sukkoth und Sichem trug er ein Gewand, in welches
Fäden von einem andern Stoffe eingewebt waren. Seine
Pläne und Berechnungen bewirkten das erstere: sie verunstalteten ihn und beschmutzten sein Kleid. Das Bauen
eines Hauses in Sukkoth und das Erwerben eines Feldes
in Sichem, entgegen der Berufung Gottes und dem Zelt-
63
leben seiner Väter, sehen dagegen einem Kleide mit Fäden
von anderm Stoffe sehr ähnlich.
Dennoch ist Jakob nicht mit Lot auf eine Stufe zu
stellen. Sein Leben wurde nicht durch gemischte Grundsätze gebildet. Er war in der That ein Fremdling, der
mit Gott hienieden wandelte. Aber wie Lot, so hielt
auch er sich freiwillig an dem Orte der Unbeschnittenen
auf, und so mußte er die Bitterkeit dieses eignen Weges
fühlen; manches, was Sodom einst für Lot war, wurde
Sichem jetzt für Jakob. Er wird gerettet, aber ist es
nicht auch wie durch Feuer? Die Sünde, welche Simeon und
Levi mit ihren Werkzeugen der Gewaltthat begehen, schmettert den armen Jakob ganz zu Boden. Er ist mit seiner
Weisheit zu Ende unter jenem Volke, von welchem er
seinen Grundbesitz erworben und in dessen Nachbarschaft
er sich gleich Lot hatte niederlasien wollen.
Doch damit sind die Dinge auch aus ihrer untersten
Stufe angekommen. Durch die Gnade Gottes werden
wir Jakob bald aus dem allen entfliehen sehen und von
Sichem und seinen Befleckungen errettet finden.
(Fortsetzung folgt.)
„Und als Jesus ihren Glauben sah."
„Und Er stieg in ein Schiff, setzte über und kam in
Seine eigene Stadt. Und siehe, sie brachten einen Gichtbrüchigen zu Ihm, der auf einem Bette lag; und als
Jesus ihren Glauben sah, sprach Er zu dem Gichtbrüchigen: „Sei gutes Mutes, Kind; deine Sünden
sind dir vergeben!" (Matth. 9, 1. 2.)
Unter den vielen Heilungen, welche der Heiland in
den Tagen Seines Fleisches bewirkte, ist diejenige des
64
Gichtbrüchigen wohl eine der lieblichsten. Sie zeigt uns
Ihn als den Jehova Gott, der in Gnade inmitten Seines
Volkes weilte, um „ihre Ungerechtigkeit zu vergeben und
ihre Krankheiten zu heilen". (Ps. 103, 3.) Er war in
Kapernaum, „Seiner eignen Stadt", wie sie hier genannt
wird; denn nirgendwo hatte Er so viel gelehrt, nirgendwo
so viele Wunderwerke gethan. Er war in ein Haus eingekehrt, und sobald dies ruchtbar wurde, versammelten sich
viele, so daß selbst an der Thüre kein Raum mehr war.
(Mark. 2, 1. 2.) Und Jesus „redete zu ihnen das
Wort", Er verkündigte ihnen das Evangelium des Reiches.
Die Kunde von der Ankunft Jesu drang auch in das
stille Gemach eines armen Kranken, eines an allen
Gliedern gelähmten Mannes. Ach, wenn doch auch er
diesen Jesus einmal sehen und Seine freundliche Stimme
vernehmen könnte! Sicher würde Er auch ihm, wie so
vielen anderen, helfen und ihn nach Leib und Seele gesund
machen. Aber wie zu Ihm kommen? Er kann sich ja
nicht von der Stelle rühren. Doch da sind vier Freunde,
Nachbarn vielleicht von dem unglücklichen Manne. Auch
sie haben von Jesu gehört und glauben, daß Er helfen
kann; ja, sie wissen, daß Er nicht nur helfen kann,
sondern auch gern helfen will. Ohne sich lange zu
besinnen, heben sie das Bett mit dem Kranken auf ihre
Schultern, und fort geht's durch die belebten Straßen der
Stadt — hin zu Jesu! Je näher sie dem Hause kommen,
desto dichter wird die Volksmenge. Endlich befinden sie
sich unweit der Thür, aber nun hört jedes weitere Vordringen auf. Was thun? Wieder umkehren und eine
günstigere Gelegenheit abwarten? Nein, um keinen Preis;
Jesus ist da, und darum muß der Kranke zu Ihm,
65
koste es, was es wolle. Wer weiß, wann der Heiland
wiederkehrt, ob Er jemals wieder Kapernaum besucht?
Doch wie sollen sie es anfangen, den Gichtbrüchigen
zu Jesu zu bringen? Der Glaube ist erfinderisch, wie
die Liebe; er sucht und findet Auswege, an welche kein
Mensch denkt. Können die vier Freunde den Kranken
nicht auf dem gewöhnlichen Wege durch die Thür ins
Haus tragen, so können sie doch auf das flache Dach des
Hauses steigen, das Bett mit Stricken hinaufziehen und
dann wieder durch das Dach in das Innere des Hauses
hinablassen. Doch was werden die Menschen sagen?
Was wird der Eigentümer des Hauses denken? Ah! der
Glaube kümmert sich nicht um die Gedanken der Menschen;
er kennt keine Schwierigkeiten. Er ruht nicht eher, bis
er seinen Zweck erreicht hat. „Und da sie nicht nahe zu
Ihm kommen konnten wegen der Volksmenge, deckten sie
das Dach ab, wo Er war; und als sie es aufgebrochen
hatten, ließen sie das Ruhebett hinab, auf welchem der
Gichtbrüchige lag."
Welch ein Anblick für die im Hause Versammelten!
Plötzlich ist es lebendig geworden über ihren Häuptern;
starke Hände reißen rücksichtslos das Dach auf; allmählich
vergrößert sich die Oeffnung, und endlich sinkt langsam
das Bett mit dem kranken, gichtbrüchigen Manne hernieder,
tiefer und immer tiefer, bis es zu den Füßen Jesu steht.
Glaubst du, mein Leser, daß der Kranke jetzt weit genug
gekommen ist? Da liegt er, hilflos, ohnmächtig, ein Bild
des Jammers, aber — zu den Füßen Jesu! Er
blickt auf zu dem Antlitz des Heilandes, fragend und
zagend, und was liest er in den Zügen des Herrn? Verwunderung, Mißbilligung des Geschehenen oder gar kalte
66
Abweisung? Hast du schon jemals gehört, mein lieber
Leser, daß ein Hilfesuchender vergeblich zu Jesu gekommen
wäre, oder daß ein verlorner, ohnmächtiger Sünder umsonst
zu Ihm, dem Heilande der Sünder, aufgeschaut hätte? Nein,
und tausendmal nein! Was lesen wir? „Und als Jesus
ihren Glauben sah, sprach Er zu dem Gichtbrüchigen: Sei
gutes Mutes, Kind; deine Sünden sind dir vergeben!"
Wunderbare Worte! Nie hatte ein Mensch so geredet
wie dieser Mensch. Niemals war aber auch ein solcher
Mensch auf der Erde gewesen: Sohn des Menschen und
Sohn Gottes in ein und derselben Person! „Sei gutes
Mutes, Kind !" Liebliche Musik in den Ohren des armen,
kranken und von schwerer Sündenlast niedergedrückten
Mannes! Er sagt nichts; er hört nur. Was sollte
er auch sagen? Der Herr sah ihren Glauben, und
der Herr las in seinem Herzen. War das nicht genug?
Entsteht in dem Herzen eines Sünders ein wahres Gefühl
über seinen Zustand, wacht sein Gewissen auf und kommt
er wirklich in Not über seine vielen Sünden, dann wird
die Antwort des Herrn nicht lange auf sich warten lassen.
Es bedarf dann nicht vieler Worte. Das Herz ist zerknirscht, der einst so stolze Sinn ist gebeugt, und das
Auge blickt, um Hilfe und Erbarmen flehend, nach oben.
Das Gebet des Zöllners im Tempel war nur sehr kurz:
„O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!" und doch ging
er gerechtfertigt in sein Haus hinab. Der Gichtbrüchige
sagte gar nichts; aber bei beiden Männern waren Herz
und Gewissen vor Gott in Thätigkeit; und Gott sieht das
Herz an, während ein noch so geläufig vorgebrachtes
Sündenbekenntnis ohne wahre Beugung des Herzens vor
Ihm völlig wertlos ist.
67
„Sei gutes Mutes, Kind; deine Sünden sind dir
vergeben!" Warum redet der Herr zunächst von den
Sünden des Kranken und dann erst von seiner Krankheit?
Ach! Er stillt zuerst die größte Not, Er befriedigt das
dringendste Bedürfnis. Er senkt Frieden und selige Ruhe
ins Herz, und dann giebt Er die leibliche Hülfe noch
dazu. Welch ein Heiland ist Er! Er antwortet dem
Glauben, und zwar in überströmender Fülle. Er giebt
über Bitten und Verstehen, Er thut weit über das Maß
hinaus.
Doch beachten wir wohl, daß es nicht heißt: als
Jesus seinen Glauben sah, sondern: als Jesus ihren
Glauben sah. Ohne Zweifel war persönlicher Glaube
in dem Herzen des Kranken vorhanden, und derselbe giebt
sich darin kund, daß er auf das Wort des Herrn hin
alsbald aufstand, sein Bett aufhob und Gott lobend
und preisend nach Hause ging. Aber es war auch Glaube
in den vier Freunden des Gichtbrüchigen, und zwar ein 
starker, alle Hindernisse überwindender Glaube; und es
ist bemerkenswert und zugleich sehr ermunternd, zu sehen,
daß der Herr ihrem Glauben antwortete. Man hört
oft sagen: Wir können doch niemanden bekehren; das ist
doch allein Gottes Sache und Gottes Werk. Gewiß, wir
können niemanden bekehren, und Gott sei Dank, daß wir
es nicht können! Wir würden eine solche Macht nur zu
unserm Schaden gebrauchen. Aber die vier Männer konnten
auch den Gichtbrüchigen nicht heilen, noch ihm seine Sünden
vergeben. Was aber konnten sie thun? Sie konnten den
Kranken zu Jesu bringen. Und das thaten sie, ohne
sich durch irgend welche Hindernisse abschrecken zu lassen,
indem völligen Vertrauen, daß der Herr helfen und heilen
68
Würde. Sie ruhten nicht eher, bis ihr Freund zu den
Füßen Jesu lag. Da war ihr Werk beendet, und
das Werk des Heilandes begann.
Geliebter christlicher Leser! Redet daS nicht zu unsern
Herzen in lauter, vernehmlicher Sprache? Wir kennen
Jesum besser, als jene vier Männer Ihn kennen konnten.
Wir kennen Seine überströmende Liebe und haben Seine
errettende Kraft an uns selbst erfahren. Wir kennen
Ihn als den guten Hirten, der die verlornen Schäflein
sucht, um sie auf Seiner starken Schulter Heimzutragen
ins Vaterhaus. Wir haben erfahren, daß Er mächtig ist
zu erlösen und aus den Banden der Sünde und aus der
Knechtschaft des Fürsten der Finsternis zu befreien. Und
nun, giebt es nicht Freunde, Verwandte und Bekannte genug
um uns her, die noch gefangen liegen in jenen schrecklichen
Banden, die noch nicht die erlösende, befreiende Kraft des
NamenS Jesu an sich erfahren haben? Bemühen wir
uns mit demselben Eifer, wie jene vier Männer, sie zu
Jesu zu führen? Wir können allerdings niemanden
bekehren, wir können nicht einmal Bedürfnisse nach Errettung
in einem toten Sünderherzen erwecken. Aber eines ist
gewiß: wenn wir Eifer, Glauben und Liebe haben, so
werden wir manches Mal Seelen finden, in welchen durch
die Gnade Gottes bereits ein Bedürfnis nach Errettung,
ein Fragen nach dem ewigen Heil erwacht ist, und die gleichsam nur darauf warten, zu Jesu hingeführt zu werden: Lahme, Gichtbrüchige, Ohnmächtige, Blinde, die den
Weg nicht wissen, aber sich gern führen lassen, wenn nur ein
glaubensstarker Arm ihnen zu Hülfe kommt. Und wir
dürfen auch überzeugt sein, daß selbst da, wo noch kein
Gefühl vorhanden zu sein scheint, wo alles noch tot und
69
dürre ist, unsre ausdauernden Bemühungen der Liebe oft
von Erfolg gekrönt werden würden.
O wenn wir nur mehr Glauben hätten, und unsre
Herzen mehr dringen ließen durch die Liebe Christil Gewiß, wir würden selige, herrliche Erfahrungen machen.
Woran liegt es, wenn es oft so lange Zeit an einem
Orte ganz stille ist, wenn das Wehen und Wirken des
Geistes kaum noch verspürt wird und man nie oder doch
nur höchst selten von Bekehrungen hört? Liegt nicht in
den meisten Fällen die Schuld an den Gläubigen selbst,
an ihrem Mangel an Glauben und Liebe, an Eifer
und Interesse für die Seelen? Der Herr kann dem Glauben in dieser Beziehung nicht antworten, weil er nicht
lebendig ist. Man lebt mehr oder weniger gleichgültig
dahin, erfreut sich dessen, was man selbst empfangen hat,
und ist zufrieden, wenn es im persönlichen Wandel gerade
nichts Besonderes zu richten und zu verurteilen giebt.
Aber ist das ein Zustand, welcher dem Herrn Jesu, dessen
Herz von Liebe zu dem Verlorenen brennt, wohlgefällig
sein kann? Ist es genug, wenn ich mich des Abends mit
dem Bewußtsein zur Ruhe legen kann: Heute ist in meinem Wandel nichts vorgekommen, wodurch der Herr verunehrt
worden ist? Giebt es nichts Höheres für einen Christen,
als vor der Sünde bewahrt und mit genauer Not auf
dem schmalen Pfade erhalten zu bleiben?
Geliebte Brüder, laßt uns aufwachen! Der Geist
dieser Zeit hat viele von uns eingeschläfert und uns alle
mehr oder weniger angesteckt. Sorglosigkeit, Bequemlichkeit,
Liebe zur Welt und ihren Dingen — das sind die schlimmen Fehler, an welchen Tausende von Gläubigen heute
kranken. Verstecken wir uns nicht hinter der armseligen
70
Entschuldigung, daß wir doch warten müssen, bis der
Herr wirke. Der Herr ist wirksam wie nie zuvor; Er
hat überall die Thüren geöffnet, und Er wird antworten auf das Gebet des Glaubens und auf die Bemühung
der Liebe.
Niemand denke, daß wir jenen betrübenden Bestrebungen das Wort reden wollten, welche durch menschliche
Klugheit und künstliche Mittel große Erweckungen hervorzurufen suchen und in unsern Tagen immer wieder auftauchen. Wohl mögen auf diesem Wege zeitweilig große
Erregungen der Gemüter entstehen, aber wahre, durch den
Geist Gottes bewirkte Erweckungen sind eine ganz andere
Sache. Wenn nicht Herz und Gewissen in die Gegenwart
und in das Licht Gottes gebracht werden, so fehlt dem
Dienste des Evangeliums die wahre Grundlage. Wohl mögen dann Hunderte und selbst Tausende bekennen, Frieden
gefunden zu haben; aber die Zeit wird's lehren, daß die
meisten sich getäuscht haben oder durch andere unwissentlich getäuscht worden sind, so daß sich am Ende weit mehr
Spreu als Weizen ergiebt.
Unser Herr und Meister ist in diesem wie in allem
andern unser gesegnetes Vorbild und vollkommenes Muster.
Er zog hin und her durch Stadt und Land und verkündigte einfach und schmucklos das Evangelium vom Reiche
Gottes. Das Evangelium bedarf auch keines menschlichen
Beiwerks, keiner phantasievollen Ausschmückung, keiner
theatralischen Darstellung; es kann durch solche Beigaben
nur geschwächt und verdorben werden. Je einfacher und
schmuckloser ein Evangelist die frohe Botschaft verkündigt,
je ernster und ruhiger (obwohl zu gleicher Zeit mit aller
Entschiedenheit und göttlichem Eifer) er seinen Dienst er­
71
füllt, desto tiefer und nachhaltiger werden Eindruck und
Wirkung desselben sein. Ist dagegen der Dienst eines
Evangelisten geräuschvoll und darauf berechnet, die natürlichen Gefühle der Zuhörer zu erregen, so können wir
sicher sein, daß der Mensch im Vordergründe steht und
nicht Gott. Und wenn der Mensch auf den Schauplatz
tritt, was anders kann dann das Ende sein als Verwirrung
und Beschämung?
Aber, wird man einwenden, werden denn nicht viele
Seelen auf diese Weise erreicht, und finden nicht wirkliche,
wahre Bekehrungen statt, die sich auch in der Folge bewähren? Allerdings; aber das beweist nichts für die
Sache selbst, sondern zeigt nur die überströmende Gnade
Gottes, der alles benutzen kann und benutzt, um die Endziele Seiner erbarmenden Liebe zu erreichen. Und sicher
ist, daß viel mehr Seelen betrogen werden, und daß dem
Werke des Herrn im allgemeinen durch jene Erscheinungen
weit mehr Abbruch als Förderung geschieht.
Wenn wir daher auf eine vermehrte Thätigkeit im
Dienste des Evangeliums dringen, so meinen wir nicht
eine Thätigkeit wie die eben beschriebene. Davor wolle
uns Golt bewahren! Nein, laßt uns still und geräuschlos,
nach dem Vorbilde unsers Heilandes und Seiner Apostel,
unser Werk thun. Wir sind nicht alle berufen noch begabt, öffentlich als Evangelisten aufzutreten; aber wir
können alle das Werk des Evangeliums fleißig auf betendem Herzen tragen; wo wir Gelegenheit haben, mit Einzelnen reden; Traktate verteilen; wenn ein Evangelist
vorhanden ist, andere einladen, zu kommen und zu hören;
wir können, mit einem Wort, Seelen zu Jesu führen,
und Gott gebe uns Gnade, dies mit allem Eifer, in leben­
72
digem Glauben und mit einem liebeerfüllten Herzen zu
thun! Wahrlich, unsre Mühe wird nicht vergeblich sein im
Herrn. Wir werden einen reichen Segen für unsre eignen Herzen finden und ein Segen sein für andere.
Zum Schluß noch ein kurzes Wort an christliche
Eltern. Hat Gott euch Kinder beschert, o so werdet nicht
müde, sie in zuversichtlichem Glauben zu Jesu zu führen,
sie mit Ihm und Seiner Liebe bekannt zu machen und sie
mit einfältigem Vertrauen ans Vaterherz Gottes zu legen!
Wachsen sie heran, ohne bekehrt zu werden, so verdoppelt
euer Flehen zu Gott, daß Er sich doch über sie erbarmen
und der Macht des Feindes, die gerade in den Kindern
gläubiger Eltern sich oft in wahrhaft erschreckender Weise
wirksam erweist, entreißen möge. Laßt euer Flehen heiß
und dringend werden, und geht vor allem euern Kindern
mit dem Beispiel treuer Entschiedenheit für Christum und
Seine Sache voran. Gott wird zu Seiner Zeit sicher
und gewiß das Gebet des Glaubens erhören. Er will
ja nicht den Tod des Sünders; sollte Er den Tod der
Kinder der Seinigen wollen?
Nichts ist betrübender und zugleich unbegreiflicher,
als wenn Eltern betreffs des ewigen Heils ihrer Kinder
gleichgültig sind, und sie in die Welt gehen sehen können,
ohne mit tiefem Schmerz erfüllt zu sein und ohne sich
immer wieder in aufrichtiger Demütigung und mit ernstem
Flehen zu Gott zu wenden. Gott gebe uns allen, die
wir Kinder haben, ein wahres, heiliges Interesse für das
Wohl ihrer unsterblichen Seele! Wie unendlich viel höher
steht ihr ewiges Heil als ihr Fortkommen in dieser Welt!
Und doch scheint das letztere vielen Eltern wichtiger zu
sein als das erstere. Sicher sind wir verantwortlich, unsern
73
Kindern eine Erziehung zu geben, die sie in den Stand
setzt, ihr Brot hienieden zu verdienen; wir haben die
Pflicht, so viel an uns ist, für ihr leibliches Gedeihen
zu sorgen und sie für einen irdischen Beruf heranzubilden.
Aber laßt uns das Wichtigere nicht über dem Unwichtigeren
vergessen, sondern die Sorge um ihr ewiges Wohl allem
andern voranstellen!
„Ausheimisch von dem Leibe."
Wir mögen oft geneigt sein, uns darüber zu verwundern, daß im Neuen Testament so wenig über den
Zustand des Geistes gesagt ist, von dem Augenblick au,
da er den Leib verlaßt, bis zum Morgen der Auferstehung.
Allein wenn wir diesen Gegenstand genauer untersuchen, 
so werden wir finden, daß weit mehr darüber gesagt ist,
als wir anfänglich gemeint haben. Allerdings giebt es nur
vier Stellen, von denen behauptet werden kann, daß sie sich
unmittelbar auf jenen Zwischenzustand beziehen; aber wie
reich und inhaltsvoll sind diese Stellen, wie viel Belehrung ist in einer jeden derselben enthalten! Sie reden
von unserm Gegenstand in Verbindung mit vier verschiedenen Lebensstellungen des Gläubigen. Wir werden
den erlösten Geist aus vier verschiedenen Zuständen in die 
Gegenwart Christi eingehen sehen. Während wir in der
ersten Stelle einem Sünder begegnen, der am Ende eines
sündigen Lebens begnadigt wird und als ein Erlöster aus
dieser Welt scheidet, erblicken wir in der zweiten den
triumphierenden Ausgang eines Märtyrers. In der dritten
dringen uns die Seufzer eines beschwerten Geistes entgegen, welcher wünscht, „ausheimisch von dem Leibe und
74
einheimisch bei dem Herrn zu sein," und in der vierten
endlich vernehmen wir das ernste Seufzen eines Arbeiters,
der in der Gegenwart des Meisters für immer zu ruhen
begehrt.
1. Die erste unsrer Stellen findet sich in Lukas
23, wo wir in Vers 39 — 43 lesen: „Einer aber der gehenkten Uebelthäter lästerte Ihn und sagte: Bist du nicht
der Christus? Rette dich selbst und uns. Der andere aber
antwortete und strafte ihn und sprach: Auch du fürchtest 
Gott nicht, da du in demselben Gericht bist? und wir
zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Thaten
wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes gethan.
Und er sprach zu Jesu: Gedenke meiner, Herr, wenn du
in deinem Reiche kommst! Und Jesus sprach zu ihm:
Wahrlich, ich sage dir: heute wirst du mit mir im
Paradiese sein."
Es ist nicht mein Vorsatz, bei dieser lieblichen Stelle
deS Längeren zu verweilen, oder ihre reiche evangelische Belehrung im Einzelnen zu entfalten. Ich führe sie nur an,
damit der Leser das Zeugnis der Heiligen Schrift vollständig und klar vor sich habe. Wir sehen hier einen Menschen, welcher, in dem einfachen Charakter eines durch Gnade
erretteten Sünders, in das Paradies Gottes eingeht. Am
Morgen ein verurteilter Missethäter, während des Tages
ein gottloser Lästerer, (oergl. Matth. 27, 44.) und bevor
der Tag endigt, ein erlöster Geist im Himmel! Wunderbarer Wechsel! „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein."
Der Räuber wurde dahin geleitet, als ein rechtmäßig verurteilter Sünder seine Zuflucht zu Christo zu nehmen; und
als ein durch Blut erkaufter Heiliger ging er mit Christo
in den Himmel ein. Er war nicht berufen, die Krone eines
75
Märtyrers zu tragen. Es wurde ihm nicht erlaubt, eine
goldene Garbe in des Meisters Speicher zu bringen. Er
hatte keinen langen und wechselvollen Pfad zu gehen.
Allein er war ein durch die Gnade erlöster Sünder; ja,
mehr als das, er wurde durch die Gnade befähigt, von
der sündlosen Menschheit unsers gepriesenen Herrn Zeugnis
abzulegen, und zwar in einem Augenblick, als die religiösen Leiter des Volkes Ihn als einen Missethäter der
weltlichen Macht überliefert hatten. Ebenso wurde er durch
die Gnade dahin geleitet, Ihn als Herrn anzuerkennen und
von Seinem kommenden Reiche zu reden, und dies in einer
Stunde, als das menschliche Auge nicht die geringste Spur
von Herrlichkeit oder Königswürde in Ihm zu erblicken
vermochte. Das waren gute Werke. Christum bekennen und
einer Welt, die Ihn verwirft, furchtlos widersprechen, das
sind Werke der höchsten Ordnung — Werke, die den lieblichsten Duft verbreiten und in hellstem Glanze strahlen.
Der sterbende Räuber erkannte Christum an, als eine
feindselige Welt Ihn verworfen und als furchtsame Jünger
Ihn verlassen hatten. „Gedenke meiner, Herr," sagt er,
„wenn du in deinem Reiche kommst." Lieblich waren
diese Worte für das Ohr des sterbenden Heilandes, überaus wohlthuend für Sein Herz; aber noch ungleich lieblicher und wohlthuender war die Antwort, welche in das
Herz des sterbenden Räubers drang: „Heute wirst
du mit mir im Paradiese seinl" Das ging weit
über die Erwartung des Räubers hinaus. Der gnadenreiche Heiland stand im Begriff, „über alles hinaus zu 
thun, über die Maßen mehr", als der Räuber „zu erbitten
oder zu erdenken vermochte". Er bat, daß der Herr -bei
der Aufrichtung Seines Reiches in Macht und Herrlichkeit
76
seiner gedenken möchte. Der Herr sagt: „Du wirst heute
bei mir sein." Wenn daher die Kriegsknechte in Ausübung
ihres grausamen Berufs kamen, um die Beine des sterbenden Gläubigen zu brechen, so konnte er freudig sagen:
„Diese Menschen, kommen nur, um mich geradewegs in
den Himmel zu senden."
Ja, mein Leser, der Räuber ging in den Himmel,
um für immer bei Dem zu sein, welcher neben ihm an
dem Fluchholze gehangen und zu seinem armen beschwerten
Herzen so liebreiche und tröstliche Worte gesprochen hatte.
Nie war der Räuber einem solchen Freunde begegnet.
Keiner hatte ihn je so geliebt wie Jesus, keiner sein Herz
je so getröstet wie Er. Wer hätte es auch vermocht?
Die Gnade Jesu hatte eine Flut himmlischen Lichtes um
jenes schreckliche Kreuz ergossen, an welches der Räuber
seiner Verbrechen wegen geschlagen war, und jetzt ging
er zum Himmel, um für immer bei diesem gnadenreichen
Herrn zu sein. Welch eine gesegnete Wirklichkeit! Der
Himmel war kein fremder Ort mehr für ihn; Jesus war
dort, und der Gedanke an die Heiligkeit Gottes konnte
ihn nicht mehr schrecken.
Dort in den Höfen voller Segen,
Wo aus der Fremd' ich kehre ein,
Kommt mir kein fremder Gott entgegen,
Denn Er ist Gott und Bater mein.
Die Liebe, die mich dort begrüßet,
Die mich umgiebt mit Herrlichkeit,
Hat mir die Wüste schon versüßet,
Hat mich erquickt in dieser Zeit.
Wie glücklich für alle die Seinigen, daran zu denken!
Der Himmel ist unS viel näher, ja selbst viel vertrauter,
als wir oft vermuten. Dort ist die wahre Heimat jener
77
Liebe, welche ihren Glanz und ihre lieblichen Strahlen
auf die öde Wüste fallen läßt, die wir zu durchschreiten
haben. „Bei Jesu sein", das sichert alles andere. Die Gesellschaft Dessen, „der mich geliebt und sich selbst für mich
hingegeben hat," macht den Himmel zu einem Orte für
mich, an welchem ich mich durchaus heimisch fühle. Wir
brauchen nicht zu fragen: Wo ist der Himmels oder:
Was für ein Ort ist es? Was wird dort unsre Beschäftigung sein? Nein, das einfache, kurze „bei Jesu," beantwortet alle diese Fragen und noch viele ähnliche. Wo
die zärtlichen Zuneigungen eines Vaterherzens in göttlicher
Reinheit und unveränderlicher Kraft hervorströmen, wo
die Liebe eines Bräutigams in nie geahnter und nie abnehmender Innigkeit brennt, wo die Teilnahme und das
Mitgefühl eines Freundes in all ihrer göttlichen Frische
und Kraft geschmeckt werden, da ist der Himmel; und dorthin ging der Räuber von seinem Kreuze. „Heute wirst
du mit mir im Paradiese sein." Wohl mögen wir sagen:
„Was muß es sein, dort zu weilen!" Es ist allerdings
wahr, daß der Räuber seinen armen Leib hinter sich zurückließ, und zwar bis zu jenem herrlichen Morgen der Auferstehung, wann er auferweckt werden wird in Unverderblichkeit, Unsterblichkeit, Herrlichkeit und Macht. In Gesellschaft mit allen, die in Jesu entschlafen sind, wartet er
noch auf jenen herrlichen Augenblick. Aber es ist ebenso
wahr, daß Christus zu ihm gesagt hat: „Heute wirst
du mit mir im Paradiese sein". Welch ein Gedanke!
Vom Kreuz, von dem schimpflichen Kreuz eines Missethäters in das Paradies Gottes zu gehen — von einem
Schauplatz voll Lästerung, Hohn und grausamer Leiden
in die Gegenwart Jesu! Das war das glückliche Los des
78
sterbenden Räubers, und zwar nicht um seines Verdienstes willen, sondern durch das kostbare Opfer Jesu
Christi, welcher „durch Sein eigenes Blut ein für allemal ins Heiligtum einging" und den Räuber mit sich
nahm.
2. Die zweite Stelle, welche sich mit unserm Gegenstände beschäftigt, finden wir in der Apostelgeschichte, Kap.
7, 59. 60: „Und sie steinigten den Stephanus, welcher
betete und sprach: Herr Jesu, nimm meinen Geist auf!
Und niederknieend rief er mit lauter Stimme: Herr, rechne
ihnen diese Sünde nicht zu! Und als er dies gesagt hatte,
entschlief er."
Hier haben wir einen Märtyrer — den ersten in
jener edlen Schar, welche ihr Leben für den Namen Jesu
hingegeben haben. Stephanus war nicht nur ein durch
die Gnade erretteter Sünder, sondern auch ein Mann, der
um Jesu willen litt, sogar litt bis zum Tode. Er ging
unter den Steinwürfen seiner Mörder ein in die Gegenwart
seines geliebten Herrn, der kurz vorher zum Vater zurückgekehrt war und jetzt bereit stand, den Geist Seines
ermordeten Knechtes aufzunehmen. Welch ein Wechsel!
welch ein Gegensatz! Und beachten wir, daß Stephanus
das Vorrecht hatte, einen Blick in jene Scene zu thun,
in welche einzutreten er im Begriff stand. „Als er aber,
voll Heiligen Geistes, unverwandt gen Himmel schaute, sah
er die Herrlichkeit Gottes und Jesum zur Rechten Gottes
stehend; und er sprach: Siehe, ich sehe die Himmel
geöffnet und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes
stehend." (V. 55. 56.) Wunderbarer Anblick! Der Himmel sollte kein fremder Ort für Stephanus sein. Der
Sohn des Menschen war dort, so daß er sich dort ganz
79
heimisch fühlen würde. Er sah nicht, wie der Räuber,
Jesum neben sich hangen, sondern er sah Ihn vor sich
droben im Himmel. Er sah ihn nicht, wie jener, leiden
und sterben, sondern er sah Ihn auferweckt und verherrlicht
— gekrönt mit Ehre und Herrlichkeit zur Rechten der
Majestät in den Himmeln.
Wenn daher der Räuber an den Himmel denken konnte
als die Heimat des gepriesenen Herrn, welcher ans Kreuz
genagelt wurde, so konnte Stephanus den Himmel als
die Heimat Dessen betrachten, der vor ihm in die Herrlichkeit
eingegangen war. Es war derselbe Himmel und derselbe
Jesus für den einen wie für den andern. Es war für
beide kein ungewisser und weit entlegener Ort; es war
die glückselige Heimat des gekreuzigten und verherrlichten
Jesus. Mochten auch die Gesichtspunkte, von welchen aus
der Räuber uud der Märtyrer den Himmel betrachteten,
verschieden sein, so war es doch für beide dieselbe anziehende
und glückliche Heimat. Freilich mußte der Märtyrer
gerade so wie der Räuber seinen armen Leib hinter sich
zurücklassen, damit er im Staube schlafe bis zum seligen
Auferstehungsmorgen. Der eine muß ebenso gut auf
jenen längst ersehnten und gesegneten Augenblick warten,
wie der andere. Aber der von seiner sterblichen Hülle
befreite Geist des Märtyrers ging von dieser armen Erde
geradewegs hinauf zu Jesu und hat seitdem stets dort
geweilt. Ja, der Missethäter und der Märtyrer sind seit mehr
als achtzehnhundert Jahren bei ihrem Herrn droben. Welch
glückliche achtzehnhundert Jahre sind es für sie gewesen!
Keine Wolke, keine Störung, keine Unterbrechung ihrer Gemeinschaft mit Jesu! Sie befinden sich freilich in einem
Zustande des Wartens, aber es ist zugleich auch ein
80
Zustand vollkommener Ruhe. Da ist kein Kampf, keine
Sünde, kein Kummer und keine Veränderung mehr für
sie. Alles das ist dort für immer vorüber, so daß die
Heimgegangenen Gläubigen, wenn auch nicht sicherer, so
doch weit glücklicher sind als wir. Es liegt etwas besonders Anziehendes in dem Gedanken an eine ununterbrochene
Ruhe des Geistes in der Gegenwart des gekreuzigten und
verherrlichten Jesus. Für immer und ewig fertig zu sein
mit einer Welt der Sünde, der Selbstsucht und der Trübsal,
fertig zu sein mit all der Unruhe und dem Seufzen einer
verderbten Natur, fertig zu sein mit all den Schlingen
und Anschlägen eines listigen Feindes und für immer zu
ruhen bei unserm geliebten Herrn — welch eine unaussprechliche Segnung I Wohl mag der Geist mit Sehnsucht
darnach verlangen, diese Segnung zu genießen.
3. Dies führt uns zu unsrer dritten Stelle, welche
wir in der zweiten Epistel an die Korinther (Kap. 5,
4—8.) finden: „Denn wir freilich, die in der Hütte sind,
seufzen beschwert, wiewohl wir nicht entkleidet, sondern
überkleidet werden möchten, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Der uns aber eben
hierzu bereitet hat, ist Gott, der uns auch das Unterpfand
des Geistes gegeben hat. So sind wir nun allezeit gutes
Mutes und wissen, daß, während einheimisch in dem
Leibe, wir von dem Herrn ausheimisch sind; (denn wir
wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen;) wir sind
aber gutes Mutes und möchten lieber ausheimisch von dem
Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein."
Hier begegnen wir einem seufzenden, beschwerten Heiligen, der sich darnach sehnt, von seiner elenden, zerbrechlichen
Hütte befreit zu werden. Doch beachten wir wohl, daß nicht
81
der Zustand des Entkleidetseins der eigentliche Gegenstand der Hoffnung ist. Der Gläubige schaut vielmehr
verlangend nach dem Augenblick aus, in welchem er
mit einem verherrlichten Leibe, gleichförmig dem verklärten Leibe Jesu, üb er kleidet werden wird. Mit andern Worten, er wartet auf die herrliche Erscheinung des
Sohnes Gottes vom Himmel. Trotzdem aber ist es in
jedem Augenblick eine glückliche Sache, einen Leib des
Todes abzulegen und einheimisch bei dem Herrn zu sein.
Es ist weit seliger, jenen herrlichen Tag droben bei unserm geliebten Herrn zu erwarten, als in dieser finstern
und traurigen Welt. Deshalb sagt der Apostel: „Wir
möchten lieber ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein." Jener Augenblick des Abscheidens, welcher für den Unbekehrten den Tod mit allen
seinen Schrecken bedeutet, ist für den Erlösten einfach ein
Ablegen von alledem, was seine Gemeinschaft mit Christo
zu hindern vermag. Es ist nichts anderes als ein Befreitwerden von allem, was sterblich ist. Welch ein verschiedenes Werk verrichteten die römischen Kriegsknechte an
den beiden Räubern, als sie ihnen die Beine zerschlugen l
Sie sandten sozusagen den einen aus dieser Welt hinweg,
um bei Jesu zu sein, während sie den andern an jenen
Ort beförderten, wo es keine Hoffnung mehr giebt. Wie
höchst wichtig ist es für einen jeden Menschen, die Zuversicht zu haben, daß, wenn „ausheimisch von dem Leibe",
er „einheimisch bei dem Herrn" sein wird l Wie furchtbar
und über alle Beschreibung schrecklich aber muß der Zustand aller derer sein, welche, wenn ausheimisch von dem
Leibe, ihren Platz in der Qual finden werden, (Luk.
16, 23.) und deren Endurteil lauten wird: „Gehet von
82
mir, Verfluchte, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem
Teufel und seinen Engeln!"
4. Die vierte und letzte unsrer Stellen findet sich
in der lieblichen Epistel an die Philipper. (Kap. 1, 23.)
Sie lautet: „Ich werde aber von beidem bedrängt, indem
ich Lust habe abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn
es ist weit besser." Hier ist es ein Arbeiter im Werke
des Herrn, der von seinem gesegneten Arbeitsfelde nach
oben emporblickt und seinem heißen Verlangen Ausdruck
giebt, den Schauplatz seines Wirkens zu verlassen und in
die Gegenwart seines Herrn zu gehen. Er ist in Verlegenheit, indem er von zwei Dingen bedrängt wird.
Sein Geist wünscht abzuscheiden; aber indem er seinen
teilnehmenden Blick auf jene wirft, welche seinen Verlust
schmerzlich fühlen würden, hemmt der Gedanke an ihr
Wohl seinen Wunsch. „Das Bleiben aber im Fleische ist 
nötiger um euertwillen," schreibt er der geliebten Herde
in Philippi; „und in dieser Zuversicht weiß ich, daß ich
bleiben und mit und bei euch allen bleiben werde zu eurer
Förderung und Freude im Glauben." (V. 24. 25.) Welch
eine Unterwürfigkeit! Er sehnt sich nach dem Himmel;
aber da er noch nötig ist auf der Erde, so ist er völlig
bereit zu bleiben. Soweit es seine Person betraf, war
eS „weit besser", abzuscheiden; gedachte er aber an andere, 
so war es „nötiger", zu bleiben. Darum giebt er, erfüllt
mit dem Geiste Christi, seiner völligen Bereitwilligkeit
Ausdruck, sich dem Wohl der Gläubigen zu opfern.
Wenn wir nun diese vier Aussprüche der Schrift
zusammenstellen, so haben wir nicht nur alles das vor
uns, was uns im Neuen Testament über den Zustand
der Seelen, welche im Glauben an Christum abscheiden,
83
mitgeteilt wird, sondern wir sehen auch, daß der Heilige
Geist diesen Gegenstand in einer Weise dargestellt hat,
daß jedem möglichen Verhältnis, in welchem ein Christ
sich befinden kann, begegnet ist. Von welchem Gesichtspunkt
aus man ihn auch betrachten mag, das Wort giebt nach
jeder Seite hin Auskunft. In Lukas 23 finden wir
einen Gläubigen, der eben errettet ist und sofort in den
Himmel geht. In Apostelgeschichte 7 sehen wir einen
Christen, der das Vorrecht hatte, als Märtyrer für den
Namen Jesu zu leiden. In 2. Korinther 5 finden wir einen
seufzenden, beschwerten Heiligen, der sich darnach sehnt, seine
arme gebrechliche Hütte abzulegen und bei dem Herrn zu
sein. In Philipper 1 endlich begegnen wir einem Arbeiter
mit vielen köstlichen Garben um sich her, welcher seinen Blick
nach oben richtet und darnach verlangt, seinen Platz droben
bei seinem geliebten Herrn einzunehmen.
Dies verleiht dem wichtigen und interessanten Gegenstand unsrer Betrachtung eine große Fülle, Vollkommenheit und Schönheit. Es ist höchst thöricht zu denken,
wie manche es thun, daß der Geist, nach seiner Trennung
von dem Körper, in einem Zustande des Schlafes liege,
während sich der Leib im Grabe befinde. Dieser Gedanke
ist in sich selbst schon ganz haltlos, abgesehen von der
klaren und unzweideutigen Belehrung der Schrift. Wie
ungereimt und geradezu unmöglich ist die Vorstellung von
einem schlafenden Geiste! Nein, solche Thorheiten
sucht man in dem Worte des lebendigen Gottes vergeblich.
Der Herr sagt nicht zu dem Räuber an Seiner Seite:
„Heute wirst du entschlafen", sondern: „Heute wirst
du mit mir im Paradiese sein". Stephanus übergab seinen
Geist nicht dem Schlafe, sondern er befahl ihn in die
84
Hände seines Herrn. Der Apostel sagt nicht: „Wir
möchten lieber entschlafen," oder: „indem ich Lust
habe, zu entschlafen." Nein, er wünscht abzufcheiden und bei dem Herrn zu sein. Wohl werden
die abgeschiedenen Gläubigen „Entschlafene" genannt, aber
dieser Ausdruck bezieht sich auf den ganzen Menschen als
solchen, nicht auf den Geist. Der Geist kann nicht entschlafen. Man muß sich nur wundern, wie eine solche
Vorstellung in einem verständigen Herzen Raum finden
kann. Gott sei gepriesen! Sein Wort belehrt uns in den
bestimmtesten und klarsten Ausdrücken, daß wir, wenn es
Sein heiliger Wille sein sollte, uns vor der herrlichen
Ankunft unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi aus
dieser Welt abzurufen, unsern Platz bei Ihm haben
werden, droben in jener lichtvollen und gesegneten Welt,
wo Sünde und Kummer unbekannt sind; und zwar um
dort eine ununterbrochene Gemeinschaft mit Dem zu
genießen, „der uns liebt und uns von unsern Sünden
gewaschen hat in Seinem Blute", und mit Ihm den glückseligen Augenblick zu erwarten, wo die Posaune erschallen
und die Toten auferstehen werden unverweslich, wo Leib
und Geist wieder mit einander vereinigt und wir dargestellt werden sollen vor dem Angesicht unsers Gottes und
Heilandes in Vollkommenheit und mit Frohlocken.

Jakob.
(Fortsetzung.)
„Ein Wort zu seiner Zeit, wie gut ist es!" Das
erfahren wir oft selbst. Zu Zeiten bewirkt ein Wort
mehr in, und für uns, als lange und sorgfältige Unterredungen. Denn „die Kraft ist Gottes." Ein „Folge
mir nach!" von den Lippen Jesu hatte die Kraft, Levi
von seiner Beschäftigung als Zolleinnehmer loszumachen,
während Petrus in demselben Kapitel eine ganze Rede
ohne Erfolg anhörte, indem er nach wie vor derselbe gutherzige, liebenswürdige und dienstfertige Petrus blieb.
(Siehe Luk. 5.) „Dein Volk wird willig sein am Tage
Deiner Kraft," dasselbe Volk, von welchem früher gesagt
werden mutzte: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände
ausgestreckt zu einem ungehorsamen und widersprechenden Volke."
Ein^Beispiel von dieser Kraft finden wir jetzt in der
Geschichte Jakobs in Kap. 35, 1. „Mache dich auf,
ziehe hinauf nach! Bethel," sagt der Herr zu ihm, „und
wohne daselbst, und mache daselbst einen Altar dem Gott,
der dir erschienen ist, als du flohest vor deinem Bruder
Esau."
Diese wenigen Worte waren von Kraft begleitet.
Sie bildeten, wie mir scheint, den Wendepunkt in dem
Leben Jakobs, oder vielmehr in der Geschichte seiner
86
Seele. Sie waren kurz und einfach; nichts Fremdartiges
oder Staunenerregendes begleitete sie; kein Gesicht, kein
Wunder stand mit ihnen in Verbindung; aber es war
ein Tag der Kraft. Das Gesicht der Leiter in Bethel,
die herrliche Erscheinung der himmlischen Heerscharen, das
Ringen mit dem göttlichen Fremden in Pniel — alles
das hatte Jakob kaum geholfen, noch ihn gefördert in
der Energie seiner Seele. Aber jetzt kommt Kraft über
ihn; und die Kraft Gottes kann ein Werkzeug benutzen,
so schwach es auch sein mag; aus die geringere oder
größere Kraft des Werkzeugs kommt es nicht an. Die
Hand Gottes kann das Werk Gottes ausführen, wenn sie
auch nichts anderes als eine Schlinge und einen Stein,
einen Eselskinnbacken, oder gar nur Fackeln und Krüge hat.
Und der Geist Gottes kann das Werk Gottes in einer
Seele ausführen, obwohl Er nur ein Wort, einen Blick,
oder einen Seufzer dazu benutzen mag.
Durch jene kurzen Worte, mit welchen das 35. Kapitel beginnt, wird Jakob überwältigt. „Mache dich auf,
ziehe hinauf nach Bethel!" Bethel wird gleichsam durch
den Finger Gottes aufs neue auf sein Herz und Gewissen
geschrieben. Er bricht davor zusammen, wie einst Abraham vor dem Namen „Gott, der Allmächtige," oder wie
Petrus (in Luk. 22) vor dem Blick des Herrn Jesu.
Die Kraft ist stets ihr eigner Zeuge; sie offenbart
sich als das was sie ist, geradeso wie das Licht. Die
obigen Worte werden, indem sie die Kraft Gottes in sich
tragen, jetzt alles für die Seele unsers Patriarchen. Sie
äußern ihre Wirkung sofort, ähnlich wie das einmalige
Anrühren des Kleides des Herrn seitens des blutflüssigen
Weibes inmitten der Volksmenge. Sobald Jakob sie hört,.
87
reinigt er, ohne einen besondern Befehl dazu abzuwarten,
seine Haushaltung und will aus seinen Zelten alle jene
Götzen entfernt wissen, welche seine Kinder aus PaddanAram mitgebracht hatten. Im Geiste befand er sich schon
in Bethel, an dem Orte, wo Gott ihm am Tage seiner
Erniedrigung und Trübsal in dem Reichtum Seiner Gnade
begegnet war. Bethel wurde aufs neue seinem Herzen
bekannt gemacht, ja, lebendiger als je seiner Seele geoffenbart. Klarer als je zuvor las er jetzt die Geschichte
der Gnade; und das Bewußtsein der Gnade
erweckte in ihm das Verlangen nach Heiligkeit. So ist es stets. Gnade ohne Heiligkeit ist undenkbar. Das Fest der ungesäuerten Brote folgt auf das
Passahfest. Die heilbringende Gnade Gottes unterweist
uns, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste zu verleugnen.
Denn die Gnade, ich wiederhole es, verlangt nach Heiligkeit.
So will Jakob, nachdem er in der Kraft des Geistes von
Bethel gehört hat, sein Haus und seine Haushaltung rein
haben, ohne daß es einer Anleitung, einer Aufforderung
oder eines Gebotes dazu bedurft hätte.
Das ist schön und bedeutungsvoll. Befleckung kann
unmöglich von jemandem geduldet werden, der sich einer
überströmenden Gnade bewußt ist und erfreut. Götter
und Ohrringe, Götzenbilder und Eitelkeiten — alles zusammen wird unter einer Terebinthe bei Sichem vergraben, und dann wird Sichem verlassen. Der Patriarch
macht sich auf mit allem, was sein ist, und befindet sich
bald auf dem Wege nach Bethel. Er hatte gleichsam
das Fest der ungesäuerten Brote in Verbindung mit
dem Passah gefeiert, wie später das Volk in Egypten
es that; aber auch wie Israel verläßt er sogleich sein
88
Egypten mit dem Stabe in der Hand und den Schuhen
an den Füßen. Und der Herr begleitet ihn, wie Er es
später in den Tagen des Auszugs bei Israel that. Auch
begleitet Er ihn mit Macht; denn wie der Stab Moses
angesichts der Feinde für Israel den Weg öffnete, und
Er, der sich in der Wolke befand, das Heer der Egypter
verwirrte, so lesen wir jetzt betreffs Jakobs und seiner
Haushaltung: „Sie brachen auf, und der Schrecken Gottes
kam über die Städte, die rings um sie her waren, so daß
sie den Söhnen Jakobs nicht nachjagten."
Alles das ist in der That schön und bedeutungsvoll.
Wir finden hier Gnade und Segnung, aber zugleich auch
Demütigung. Israel hatte die Kraft des Namens Gottes
verloren, und Jakob muß jetzt lernen, daß er auch die 
Ehre seines eigenen Namens eingebüßt hat. Aber alles
soll ihm jetzt zurückgegeben werden. „Gott, der Allmächtige," und „Israel" und „Bethel" werden in diesem
Augenblick der Wiederbelebung aufs neue geoffenbart.
Gott muß als der Gott des Heils angebetet werden.
Das ist notwendig in einer Welt wie die gegenwärtige.
Eine solche Anbetung ist die einzige Anbetung „in Wahrheit". (Joh. 4, 23.) In 3. Mose 17 und 5. Mose 12
wird der Eifer Gottes im Blick hierauf deutlich ausgedrückt. Als „Heiland" läßt Er Seines Namens gedenken
auf einem Schauplatz der Sünde und des Todes. Er
sagt durch den Mund Seines Propheten: „Es ist sonst
kein Gott außer mir, ein gerechter Gott und
Heiland; keiner ist außer mir." (Jes. 45, 21.) Das
ist eine Offenbarung von Ihm; und auf diese Offenbarung gründet sich jede Anbetung. In Bethel hat Gott
Seinen Namen so genannt; dort war gleichsam Sein Haus,
89
und dort bringt jetzt Jakob seine Opfer dar. Er errichtet einen Altar und nennt den Ort El-Bethel (Gott
des Gotteshauses). Für Jakob war dies sozusagen die
Stiftshütte der Wüste, oder der Tempel ans dem Berge
Morija, der Tempel auf der Tenne Ornans. (1. Chron.
22, 1.) Sein Thun war unendlich angenehm für Gott;
und laut und unmittelbar giebt Gott Zeugnis von dieser
Annehmlichkeit: Er erscheint ihm sogleich bei dem Altar,
segnet ihn und spricht: „Dein Name soll hinfort nicht
Jakob genannt werden, sondern Israel soll dein Name
sein. Und Er nannte seinen Namen Israel. Und Gott
sprach zu ihm: Ich bin Gott, der Allmächtige; sei fruchtbar und mehre dich; eine Nation und ein Haufe von
Nationen soll aus dir werden, und Könige sollen hervorkommen aus deinen Lenden. Und das Land, das ich
Abraham und Isaak gegeben habe, dir will ich eS geben.
Und Jehova fuhr auf von ihm an dem Orte, wo Er
mit ihm geredet hatte." (V. 10-13.)
Das war der Ausdruck der Annehmlichkeit dessen,
was Jakob that, sowie der Wonne Gottes an dem Altar
Jakobs zu Bethel. Es war ähnlich so, wie wenn später
die Herrlichkeit die Stiftshütte (2. Mose 40.) und nachher den Tempel (2. Chron. 5.) erfüllte. Der Gott der
Gnade und des Heils nahm mit Freuden Besitz von Seiner
Wohnung und nahm die Anbetung an, welche Ihm ein
armer Sünder, der eine überströmende Gnade geschmeckt
hatte, darbrachte. Nichts kann die Köstlichkeit eines solchen Augenblicks übertreffen. Salomo fühlte das Ueberwältigende desselben. Als er sah, wie die Herrlichkeit das
Haus, welches er gebaut hatte, erfüllte, schüttete er sein
Herz in jenen bewundernswürdigen Worten auS: „Je­
90
hova hat gesagt, daß Er im Dunkel wohnen wolle. Und
ich habe Dir ein Haus gebaut zur Wohnung, und eine
Stätte zu Deinem Sitze für Ewigkeiten." Der Tempel,
in welchem es ans Licht trat, daß die Barmherzigkeit sich
wider das Gericht rühmte, hatte die Macht, Jehova aus
dem Dunkel, dem zurückgezogenen Sitz der Gerechtigkeit,
in die Mitte Seines anbetenden Volkes herabzuziehen.
Wie unübertrefflich schön war das! Und wir sehen
dasselbe zur Zeit der Patriarchen, bei jenem Altar oder 
Tempel zu Bethel. Die Herrlichkeit war da. Jehova
erschien und sprach mit Jakob, wie später mit Salomo.
Lus und die Tenne Omans wurden beide zu dem Hause
Gottes. Und Jakob nannte den Ort zum zweiten Male
Bethel, jedoch ohne einen jener Zweifel, welche seinen
Geist befleckt hatten, als er zum ersten Male dort war.
Jetzt ist er dort in dem Geiste, in welchem Salomo vor
der Herrlichkeit in dem Tempel stand, in dem Bewußtsein,
daß Gott sich wieder zu ihm gewandt hat, und im Genuß Seiner Nähe und Gegenwart.
Hierauf setzt unser Patriarch, in der Freiheit und
Kraft von diesem allen, seine Reise fort. Er geht von
Bethel nach Bethlehem, und von da nach Mamre im
Süden des Landes, wo sein Vater Isaak wohnte. Aber
an keinem dieser Orte hören wir wieder von der Erbauung
eines Hauses oder von dem Erwerb eines Grundeigentums.
Es wird uns erzählt von dem Zelt und Altar Jakobs,
von seinem Umherziehen, von dem Begräbnis seines alten
Vaters, und schließlich hören wir, daß er in dem Lande
wohnte, in welchem seine Väter vor ihm gewohnt hatten.
(Siehe Kap. 37, 1.)
Diese Reise war in ihrem moralischen Charakter
91
in der That völlig verschieden von jener, welche er früher
von Paddan nach dem Gebirge Gilead, und weiter über
Machanaim und Sukkoth nach Sichem gemacht hatte.
Jakob erhält jetzt keinen Verweis. Wir hören von keinem
Ringen, wie zu Pniel; keine Stimme ertönt, die ihn in
bestimmter Weise zur Abreise aus Sichem auffordert.
Keine Befürchtungen werden in unserm Herzen erweckt,
daß Jakob sein Zelt wieder verlassen oder die Berufung
Gottes nochmals vergessen könnte. Das Wort „Bethel"
auf den Lippen des Herrn und in dem Ohre Jakobs
hatte Wunder gethan. „Ein Wort zu seiner Zeit, wie
gut ist es!" mögen wir wohl wiederholen. „Siehe,
Gott handelt erhaben in Seiner Macht; wer ist ein Lehrer
wie Er?" (Hiob 36, 22.) Und Er hätte sicher Sein
irrendes, aber nun überführtes Kind nach dieser zweiten
Scene zu Bethel ermuntern und mit den Worten JesaiaS
zu ihm sagen können: „So spricht Jehova, dein Erlöser,
der Heilige Israels: Ich bin Jehova, dein Gott, der
dich lehrt, was nützlich ist, der dich leitet auf dem Wege,
den du gehen sollst."
Indessen ist auch jetzt noch nicht alles vollendet.
Rubens Missethat zeigt uns das auf sehr betrübende
Weise. Doch hat etwas überaus Wichtiges in Jakob
stattgesunden: er hat sich über den Boden der Natur
erhoben, und sein Herz hat sich dem Geiste der Welt
entwunden. Auch befindet er sich bis jetzt keineswegs
außerhalb des Platzes der Zucht. Im Gegenteil: er
findet Rebekka nicht mehr bei Isaak zu Mamre; er sieht
seine Mutter nie wieder, die Mutter, welche ihn so zärtlich
gepflegt und so innig geliebt hatte. Er begräbt die Amme
seiner Mutter; und mehr als das, er verliert seine geliebte
92
Rahel. Er besitzt allerdings das Unterpfand der Kraft in
dem „Sohne seiner Rechten", aber in diesem Sohne zugleich
die stete Erinnerung an den Verlust Rahels. Und so
steht er immer noch unter der Zucht. Aber er befindet
sich jetzt ebensowohl auf dem Wege Gottes, wie unter
der Hand Gottes. Darin liegt die Veränderung. Die
Zucht macht sich ihm fühlbar, und sie belehrt ihn und
erreicht ihren Zweck. Der Pfad ist hell, und seine letzte
Stunde wird sich bald als seine herrlichste erweisen.
(Schluß folgt.)
Ein Wort über die Ausübung der Zucht
in der Versammlung Gottes.
Wiewohl die Ausübung der Zucht in der Versammlung Gottes schon öfter zu einem Gegenstand ernster Betrachtungen gemacht worden ist, fühlt sich der Schreiber
dieser Zeilen dennoch gedrungen, nochmals ein kurzes
Wort liebevoller Ermahnung an seine Brüder zu richten,
da leider viele Gläubige ein durchaus schriftwidriges
Verhalten in dieser Sache offenbaren. Sie verkehren mit
solchen, die vom Tische des Herrn ausgeschlossen sind, als
seien sie noch in Gemeinschaft: sie geben ihnen die Hand,
unterhalten sich mit ihnen in brüderlicher Weise, ermahnen sie wegen ihres Zustandes und meinen, durch ein
entgegenkommendes Verhalten sie zur Umkehr bewegen zu
müssen. Sie zeigen dadurch, wie wenig sie in Uebereinstimmung stehen mit den Gedanken Gottes betreffs der
Ausübung der Zucht. Sie fehlen in dreifacher Weise:
sie betrüben den Heiligen Geist, sie schwächen die Zucht,
und sie schaden dem, der unter derselben steht.
93
Sie betrüben den Heiligen Geist, weil sie
sich nicht durch Ihn, sondern durch ihre eignen Gedanken
und ihre menschlichen Gefühle leiten lassen. Der Heilige
Geist leitet uns durch das Wort Gottes; und Er fordert
uns in demselben auf, „keinen Verkehr zu haben, wenn
jemand, der Bruder genannt wird, ein Hurer ist, oder
Habsüchtiger, oder Götzendiener, oder Lästerer, oder Trunkenbold, oder Räuber, mit einem solchen selbst nicht zu
essen." (1. Kor. 5, 11.) Bleiben wir nun mit einem um
derartiger oder ähnlicher Sünden willen Ausgeschlossenen
in Verbindung, indem wir ihm die Hand der Gemeinschaft
reichen und in brüderlicher Weise mit ihm verkehren, so
betrüben wir den Heiligen Geist und sündigen gegen das
Wort Gottes.
Trotzdcm suchen viele ein derartiges Verhalten dadurch zu entschuldigen, daß sie sagen: „Wir geben einem
solchen auch nicht die Hand als Bruder, sondern wie
einem jeden andern Bekannten oder Geschäftsfreunde zc.
Ferner steht ja auch nicht geschrieben, daß man ihm die
Hand nicht geben solle; es heißt nur, man solle nicht mit
ihm essen." Allein solchen Ausreden kann nur Unaufrichtigkeit des Herzens zu Grunde liegen. Denn der Ausgeschlossene ist, so lauge er nicht umgekehrt ist und sich
gedemütigt hat, ein Böser, mit welchem wir keinen
Verkehr haben sollen. Der Heilige Geist sagt durch den
Apostel: „Thut den Bösen von euch selbst hinaus!" Jeder gewissenhafte Christ wird verstehen, daß der
Ausdruck: „ihr sollt keinen Verkehr haben," alle Gemeinschast, auch das Handgeben, ausschließt, wenn dieses
letztere auch nicht gerade besonders erwähnt wird. Man
könnte sonst mit demselben Recht einem Ausgeschlossenen
94
den Bruderkuß geben, da ja auch nicht ausdrücklich gesagt ist, daß man das nicht thun solle. — Wie wichtig und
bezeichnend das Handgeben unter Gläubigen ist, zeigt uns
sehr deutlich Gal. 2, 7-9, wo wir lesen: „Als sie die
Gnade erkannten, welche mir (Paulus) gegeben ist, gaben
Jakobus und KephaS und Johannes, die als Säulen angesehen waren, mir und Barnabas die Rechte (d. h.
die rechte Hand) der Gemeinschaft rc." Die drei
genannten Männer reichten also den beiden Aposteln der Heiden nicht eher die Bruderhand, als bis sie erkannt hatten,
daß Gott wirklich mit ihnen war und in ihnen wirkte.
Indes wird durch ein unentschiedenes Verhalten einem
Ausgeschlossenen gegenüber nicht nur der Heilige Geist betrübt, sondern auch die Zucht geschwächt. Der Ausgeschlossene fühlt deren Schärfe bei weitem nicht mehr in
dem Grade, wie er sie fühlen sollte. Vielmehr findet er
eine gewisfe Anerkennung und Erleichterung darin, daß
man ihm nach wie vor die Hand giebt. Er weiß sehr
wohl, daß das Handgeben keine leere Form, sondern ein
Zeichen der Gemeinschaft ist.
Sicherlich ist ein Ausschluß, der dem Worte Gottes
gemäß vollzogen wird, eine sehr ernste Sache. Und darum
sollte sich eine Versammlung nur dann dazu entschließen,
wenn die äußerste Notwendigkeit vorliegt und kein andrer
Weg mehr offen ist, um die Ehre des Herrn zu wahren
und dem betreffenden Bruder (oder der Schwester) zu
nützen. Der von dem Ausschluß Betroffene ist von jeder
wahren Gemeinschaft mit den Gläubigen, ja, mit dem
Herrn selbst ausgeschlossen. Der Herr handelt in dieser
Sache in vollkommener Uebereinstimmung mit Seiner Kirche
oder Versammlung. Die Zucht, welche dieselbe, geleitet
95
durch den Heiligen Geist, auf der Erde ausübt,
wird im Himmel anerkannt. Der Ausschluß geschieht
„im Namen unsers Herrn Jesu Christi."
(1. Kor. 5, 4.) Und der Herr sagt in feierlichster Weise:
„Wahrlich, ich sage euch: Was irgend ihr auf der Erde
binden werdet, wird im Himmel gebunden sein; und was
irgend ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel
gelöst sein." (Matth. 18, 18.) Der Ausgeschlossene kann
daher nicht sagen, daß er mit dem Herrn in Gemeinschaft
sei, so lange seine Gemeinschaft mit der Versammlung
nicht wiederhergestellt ist. Und diese kann erst dann ihm
vergeben und ihn wieder aufnehmen, wenn er sich wirklich
gedemütigt hat; diese Vergebung ist dann für den Betreffenden die Bestätigung, daß auch Gott ihm in der
vorliegenden Sache vergeben habe. *) Bis dahin ist er
für die Versammlung dasselbe, was ein Heide und ein
Zöllner für einen Inden war. (Vergl. Matth. 18, 17.)
Dem Juden war es nicht erlaubt, sich einem Heiden anzuschließen oder zu ihm zu kommen. (Apstgesch. 10, 28.)
Manchen Gläubigen, die sich mehr durch ihre menschlichen Gefühle als durch das Wort und den Geist Gottes
leiten lassen, scheint die Ausübung einer solchen Zucht zu
hart zu sein. Sie suchen dieselbe daher in der einen oder
andern Weise zu mildern, ohne zu bedenken, daß sie durch
ihr ungeistliches Verhalten nicht nur die Zucht schwächen,
sondern auch dem Ausgeschlossenen selbst
Diese Erwägung beweist andrerseits, wie wichtig und nötig
es ist, daß eine Versammlung sich in dem Punkte der Wiederaufnahme eines Ausgeschlossenen ebenso sehr vom Heiligen Geist
leiten lasse, wie bei dem Ausschluß desselben. Sie kann in dem
einen wie in dem andern Falle zu voreilig und zu lässig sein.
96
schaden. Anstatt die Zucht dem Worte gemäß aufrecht
zu halten und jeden Verkehr mit dem Ausgeschlossenen
zu meiden, meinen sie, denselben von Zeit zu Zeit ermahnen
zu müssen. Aber sie geben damit nur zu verstehen, daß
sie sich weiser dünken und mehr Liebe zu haben glauben
als Gott. Denn nach der Weisheit und Liebe Gottes ist
der Ausschluß das letzte und noch einzig vorhandene und
wirksame Mittel zur Wiederherstellung des Gefallenen.
Denn der Ausschluß setzt voraus, daß alles geschehen ist,
was für den Ausgeschlossenen geschehen konnte; daß alle
Warnungen, Bitten und Ermahnungen vergeblich geblieben
sind. Er erfolgt einzig zu dem Zweck und in der Hoffnung, daß die Schärfe der Zucht Einsicht und Demütigung
Hervorrufen werde. Hieraus folgt, daß die strenge und
gewissenhafte Ausführung der Zucht die größte Liebe ist,
welche wir einem Ausgeschlossenen erweisen können. Das
was Härte zu sein scheint, ist in Wahrheit göttliche Liebe,
während die vermeintliche Liebe derer, welche die Zucht
schwächen, in der That nur eine menschliche und ungöttliche
ist. Solche halten die Wiederherstellung des Gefallenen
auf, anstatt sie zu fördern.
Jeder aufrichtige Gläubige wird zugeben, daß wir
in der Behandlung eines Ausgeschlossenen stets in Uebereinstimmung mit Gott und der Wirksamkeit des Heiligen
Geistes sein sollten. Gesetzt nun den Fall, ein Vater hielte
es für angemessen, eines seiner Kinder wegen seines
schlechten Betragens von den übrigen abzuschließen, die
Mutter aber führte es gegen den Willen des Vaters
wieder zu den übrigen zurück, — würde diese dann nicht die
Zucht völlig wirkungslos machen? Ja, nicht nur das!
Wurde sie nicht sogar das Kind in seinem schlechten
97
Zustande bestärken und vielleicht zu seiner völligen Verhärtung Anlaß geben?
Es ist ganz und gar schriftwidrig und der Zucht
nicht entsprechend, wenn man einem Ausgeschlossenen
nachgeht, um ihn zu ermahnen. Aber, wird man einwenden,
sollen wir uns denn gar nicht mehr um ihn bekümmern?
Sollen wir gefühllos an ihm vorübergehen, als wenn er
gar nicht mehr für uns da wäre? Das wäre in der
That höchst traurig! Werden die Glieder einer in Liebe
verbundenen Familie gefühllos bleiben, wenn an einem
aus ihrer Mitte die oben beschriebene ernste Zucht ausgeübt werden muß? Werden sie nicht vielmehr alle
trauern und Leid tragen und des Verirrten, wenn möglich,
in noch innigerer Liebe gedenken als früher?
Aehnlich wird es in einer Versammlung sein, wenn
sie sich anders in einem guten Zustande befindet und in
der rechten Gesinnung handelt. Sie wird Leid tragen,
sich demütigen und viel für den der Zucht Anheimfallenden
beten, daß Gott sich seiner erbarmen und ihn von seinem
bösen Wege zurückführen möge. Im Uebrigen aber kann
sie nichts für ihn thun; sie hat ihn einfach Gott zu überlassen. Erst dann, wenn der Heilige Geist in ihm wirkt
und sich Anzeichen der Demütigung und des Selbstgerichts
bei ihm wahrnehmen lassen, ist für die Versammlung der
Augenblick gekommen, sich wieder mit ihm zu beschäftigen.
Und wir dürfen versichert sein, daß der Herr uns diese
Anzeichen auf irgend eine Weise wahrnehmen lassen wird,
ohne daß wir nötig haben, einem solchen nachzugehen.
So lange der Herr nicht wirkt, befindet sich ein Ausgeschlossener nicht nur außerhalb der Versammlung,
wie bei Israel der Aussätzige außerhalb des Lagers
98
wohnen mußte, sondern er steht auch außerhalb aller
brüderlichen Gemeinschaft und Pflege. Und sicher, je tiefer
die Bedeutung dieser ernsten Sache von uns gefühlt wird,
desto inbrünstiger werden unsre Gebete für den Abgeirrten zu Gott emporsteigen. Auch brauche ich kaum hinzuzufügen, daß dies von größerem Nutzen für ihn sein
wird, als alle bloß menschliche Thätigkeit.
Wir haben schon oben gesehen, daß die Versammlung
in der Ausübung der Zucht stets zwei Dinge im Auge
zu behalten hat: zunächst die Wahrung und Aufrechthaltung der Heiligkeit Gottes in ihrer Mitte, und zweitens
die Wiederherstellung des Schuldigen. Wie aber wird
der erste Zweck erreicht? Dadurch daß sie den „Bösen"
aus ihrer Mitte entfernt. Wenn nun Gläubige trotzdem
in leichtfertiger Weise mit einem Ausgeschlossenen verkehren,
so setzen sie sich dadurch in Widerspruch mit der Versammlung und der Heiligkeit Gottes. Ja, noch mehr; in
vielen Fällen liegt die Ursache ihres Verhaltens in einem
bedauernswerten Mangel an Entschiedenheit gegenüber der
Sünde. Sie haben in Wirklichkeit für sich selbst nicht
mit der Sünde gebrochen. Denn wie könnten sie sonst
den Verkehr mit einer Person fortsetzen, welche die Versammlung als unrein und böse aus ihrer Mitte entfernen
mußte? Es fehlt ihnen an einem wahren Bewußtsein
der Heiligkeit Gottes und dessen, was sich für Seine
Gegenwart in der Versammlung geziemt. Das beständige Opfer und das beständige Feuer auf dem
Altar Gottes war für Israel das beständige Zeugnis
von der Heiligkeit Dessen, der in ihrer Mitte wohnte.
(3. Mose 6, 12. 13.) Und der Tod Christi, Seine
durchbohrten Hände und Seine durchstochene Seite, sind
99
"für uns das ewige Zeugnis, daß uns die Gnade der
Erlösung wahrlich nicht auf Kosten, sondern auf Grund
der Heiligkeit Gottes zu teil geworden ist.
Sollten wir nun Liebe üben auf Kosten der Heiligkeit
Gottes? Der Apostel sagt: „Denn Gott hat uns nicht
zur Unreinigkeit berufen, sondern zur Heiligkeit. Deshalb
nun, wer dies verachtet, der verachtet nicht einen Menschen,
sondern Gott, der euch auch Seinen Heiligen Geist gegeben
hat." (1. Thess. 4, 7. 8.) Denken wir nicht, daß die
Gegenwart des Heiligen Geistes in unsrer Mitte weniger Anspruch auf die praktische Heiligkeit und Reinheit
der Versammlung mache, als einst die Gegenwart Jehovas in der Mitte Israels! In welch feierlicher Weise
wurde das Volk beständig an diese Gegenwart und Heiligkeit Jehovas erinnert! „Verunreinigt nicht das Land,
in welchem ihr wohnet, in dessen Mitte ich wohne; denn
ich, Jehova, wohne inmitten der Kinder Israel." (4. Mose
35, 34.) Und wiederum: „Denn ich bin Jehova, euer
Gott; so heiliget euch und seid heilig, denn ich bin
heilig. Und ihr sollt euch selbst nicht verunreinigen durch
irgend ein Gewürm, das auf der Erde sich regt. Denn
ich bin Jehova, der euch heraufgeführt hat aus dem Lande
Egypten, um euch zum Gott zu sein: so seid heilig, denn
ich bin heilig." (3. Mose 11, 44. 45.) Das Ergebnis
der Erlösung Israels und der Gegenwart Gottes inmitten
des Volkes sollte also Heiligkeit und Reinheit sein: „seid
heilig, denn ich bin heilig." Und wenn wir nun
fragen, was das Ergebnis unsrer vollkommenen Erlösung
und der Gegenwart des Heiligen Geistes in unsrer Mitte
sein sollte, so kann die Antwort nicht anders lauten als:
ein Wandel in Heiligkeit und entschiedener Absonderung
100
von allem Bösen. „Sollten wir in der Sünde verharren, auf daß die Gnade überströme? Das sei ferne!"
(Röm. 6, 1. 2.)
Möchten wir alle mehr bedenken, was Gott von
Seiner Versammlung, in deren Mitte Er wohnt, erwartet I
„Denn ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie
Gott gesagt hat: „Ich will unter ihnen wohnen und
wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden
mein Volk sein." Darum gehet aus aus ihrer Mitte
und sondert euch ab, spricht der Herr, und rühret
Unreines nicht an, und ich werde euch aufnehmen."
(2. Kor. 6, 16-18.)

Das Verlangen des Herrn Jes« nach den
Seinigen.
„Mit Sehnsucht habe ich mich gesehnt, dieses Passah
mit euch zu essen, ehe ich leide;" so sprach der Herr Jesus
an dem letzten Abend vor Seinem Tode zu Seinen Jüngern.
Seine Worte zeigen uns, wie sehr Sein Herz darnach verlangte, noch einmal die Seinigen um sich zu versammeln, ehe
Er litt. Er hatte ihnen vor Seinem Weggang noch so
vieles zu sagen; Er wünschte ihre Herzen zu trösten, und
Seinen schwachen verzagten Jüngern zu zeigen, wie nahe
sie Seinem Herzen standen. Er teilt ihnen mit, daß in
dem Hause Seines Vaters viele Wohnungen seien, und
fügt dann hinzu: „Ich gehe hin, euch eine Stätte zu
bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu
mir nehmen, auf daß, wo ich bin, auch
ihr seiet." Er mußte sie jetzt in einer feindseligen
101
Welt zurücklassen; aber Er geht nicht von ihnen, ohne
ihnen die Versicherung zu geben, daß Er selbst wiederkommen werde, um sie aus dieser Welt abzuholen und
sie dahin zu führen, wohin Er ihnen voranging — in
die Wohnungen des Vaters. Dort sollten sie bei Ihm
sein, um nie mehr von Ihm getrennt zu werden.
Welch ein Trost lag für die Jünger in diesen Worten; aber wie zeigen sie uns auch das Verlangen des
Herrn nach den Seinigen! Er ist in Bezug auf sie nicht
eher völlig befriedigt, bis Er sie für immer bei sich
hat. Und so lange dies noch nicht der Fall ist, so lange
sie noch auf dieser Erde zu pilgern haben, ist es die
Freude Seines Herzens, persönlich zu ihnen zu kommen
und in ihrer Mitte zu sein. Er gedenkt der Einzelnen
wie der Gesamtheit mit gleich zärtlicher Liebe. Wir sehen
das namentlich in dem, was die Schrift uns über die
vierzig Tage mitteilt, welche zwischen der Auferstehung
und der Himmelfahrt des Herrn verflossen; und wahrlich,
es ist der Mühe wert, dies etwas näher zu betrachten.
Das erste, was wir hören, ist, daß in der Frühe
des Auferstehungsmorgens einige Weiber zu der Gruft
kamen, um die Spezereien und Salbens welche sie zur
Einbalsamierung des Leibes des Herrn bereitet hatten,
dorthin zu bringen. Sie erwarteten natürlich nichts anderes,
als den Leib Jesu noch in der Gruft zu finden, und
waren nicht wenig bestürzt, als sie statt dessen zwei Engel
sahen, die ihnen Seine Auferstehung mit den Worten verkündigten: „Was suchet ihr den Lebendigen unter den
Toten? Er ist nicht hier, sondern ist auferstandeu." Voller
Verwunderung kehrten sie sogleich zurück, um den Jüngern
dieses große Ereignis mitzuteilen.
102
Petrus und Johannes laufen zur Gruft und finden
es so, wie die Weiber gesagt haben: Das Grab ist leer,
der Leib des Herrn verschwunden. Erstaunt und verwundert gehen auch sie wieder heim. Nur eine bleibt bei
dem Grabe zurück; es ist Maria Magdalena, jenes einst
so unglückliche Weib, von welcher der Herr sieben Teufel
ausgetrieben hatte. Mit ganzer Seele hing sie an Ihm, der
so Großes an ihr gethan hatte. Sie konnte sich nicht
damit zufrieden geben, daß die Gruft leer war, da sie
gar nicht verstand, waS das zu bedeuten hatte. Trostlos
steht sie am Grabe; vergeblich sucht sie den teuren Herrn,
welchem allein ihre Thränen gelten, und selbst die Erscheinung der beiden Engel in weißen Gewändern vermag
sie nicht zu trösten. Ja, sie ist so von Schmerz und
Kummer überwältigt, daß das Gesicht, welches sie unter
andern Umständen ohne Zweifel mit Furcht erfüllt haben
würde, kaum einen Eindruck auf sie zu machen scheint.
Was hätte sie auch jetzt noch zu fesseln vermocht? Ihr
ganzes Sehnen, alle ihre Gedanken sind nur auf einen
Gegenstand, auf ihren heißgeliebten Herrn gerichtet. Ihre
Worte: „Herr, wenn du ihn weggetragen, so sage mir,
wo du Ihn hingelegt hast, und ich werde Ihn wegholen,"
zeigen deutlich, daß nur Er selbst imstande war, ihr Herz
zu befriedigen. Und wo das der Fall ist, wo ein solches
Verlangen nach Ihm sich kundgiebt, da kann Sein mitfühlendes Herz unmöglich fern bleiben. Sicher war die
Stätte des Grabes nicht der passende Platz für einen
auferstandeuen Heiland; aber Sein Herz zog ihn dahin,
wo eines Seiner Schafe voll tiefer Betrübnis Ihn suchte.
Die letzten Stunden vor Seinem schrecklichen Tode waren
der Tröstung und Belehrung der Seinigen gewidmet ge­
103
wesen; und kaum ist Er wieder aus dem Grabe hervorgekommen, so gilt Seine erste Beschäftigung wieder den
Seinigen. Anbetungswürdiger Heiland! Seine Liebe ist
unergründlich, sie ist stärker als der Tod. Die Gefühle
der Seinigen gegen Ihn wechseln oft, aber Seine Liebe
zu ihnen bleibt ewig dieselbe.
Maria erkennt den Herrn zuerst nicht, sie hält Ihn
für den Gärtner; aber sobald der Herr sie bei ihrem
Namen nennt, weiß sie, wer Er ist. Das führerlos umherirrende Schäflein erkennt die Stimme des guten Hirten.
Welch eine Ueberraschung! Er selbst steht vor ihr, und
zwar nicht der tote, sondern der lebende Christus. Welch
eine herrliche Veränderung! Jetzt hat sie genug; sie hat
alles, da sie ihren Herrn wieder hat. Und nun darf sie
mit der köstlichen Botschaft zu den Jüngern gehen: „Ich
fahre auf zu meinem Vater und euerm Vater, zu meinem
Gott und euerm Gott." Das Kreuz, auf welchem der
Herr den Platz der Seinigen im Gericht eingenommen
hatte, lag hinter Ihm; die Gerechtigkeit Gottes war durch
Sein Opfer vollkommen befriedigt worden, und jetzt stand
dem Wunsche Seines Herzens, sie mit sich auf denselben
Boden vor Gott zu stellen, nichts mehr im Wege. Wie
kostbar und erquickend dies für Sein eignes Herz war,
sehen wir aus Seinen Worten im 22. Psalm: „Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern, inmitten
der Versammlung will ich dich loben."
Gleich darauf erschien der Herr auch den übrigen
Weibern, welche „mit Furcht und großer Freude" von
dem Grabe zurückkehrten. Auch sie waren ja gekommen,
um den Herrn aufzusuchen; auch ihre Herzen verlangten
nach Ihm und freuten sich über Seine Auferstehung; und
104
so kommt Er auch zu ihnen und giebt ihnen den Auftrag, Seinen Brüdern zu verkünden, daß sie nach
Galiläa hingehen sollten; dort würde Er sich ihnen sichtbar machen.
Indes gab es an diesem glorreichen Auferstehungstage für den Herrn noch mehr zu thun. Außer Maria
Magdalena war noch einer da, dessen Herz in ganz besondrer Weise betrübt und niedergedrückt war, der, wenn
auch aus einem andern Beweggründe, ebensosehr des
Trostes und eines Beweises der Liebe von seiten des Herrn
bedurfte. Und dieser eine war Petrus.
Petrus war seinem Herrn bis in das Haus des
Hohenpriesters gefolgt und hatte Ihn dort dreimal verleugnet. Ja, er hatte unter Fluchen und Schwören erklärt: ich kenne diesen Menschen nicht. Wohl hatte der
Herr ihn vorher gewarnt; aber ach! Petrus hatte sich
nicht warnen lassen, und so that er seinen schrecklichen
Fall. Als er zum dritten Mal den Herrn verleugnete,
wandte dieser sich um und blickte Seinen armen Jünger
an; und dieser Blick brachte Petrus wieder zur Besinnung; er traf sein Herz so, daß er hinausging und
bitterlich weinte.
Der Herr wurde dann verurteilt, gekreuzigt und ins
Grab gelegt. Wir hören nicht, daß Petrus bei alledem
zugegen gewesen wäre; aber welche Gefühle mögen das
Herz des armen Mannes erfüllt haben! Wie viel Liebe
und Güte hatte er von seiten seines Herrn während der
drei Jahre, die er mit Ihm im Lande nmhergezogen war,
erfahren, und wie schrecklich hatte er diese Liebe vergolten!
Anstatt mit Ihm in den Tod zu gehen, wozu er geglaubt
hatte fähig zu sein, hatte er Ihn auf die traurigste Weise
105
verleugnet. Wie heiß wird er gewünscht haben, nur noch
ein einziges Mal seinen Herrn zu sehen, um in tiefer
Reue und Zerknirschung zu Seinen Füßen seine große
Schuld bekennen und um Vergebung flehen zu können!
Doch dazu war es zu spät, für immer zu spät; Er war
ja tot, Er lag ja im Grabe.
Wir können uns leicht vorstellen, welch traurige Stunden Petrus verlebt haben muß, bis in der Frühe des
ersten Wochentages die Weiber ihm die wunderbare Nachricht brachten, daß sie das Grab leer gefunden, und daß
der Herr, nach den Worten der Engel, auferstanden sei.
Schnell steht er auf und läuft zur Gruft; aber als er
den Herrn dort wirklich nicht mehr findet, geht er, wie
schon oben bemerkt, bestürzt wieder nach Hause.
Doch der Herr gedachte an ihn. Er wußte, was in
dem Herzen Seines geliebten Jüngers vorging; Er sah
seinen Schmerz und seine tiefe Reue. Wie hätte Er da
fern bleiben können? Seine Liebe hatte sich nicht verändert, trotz des traurigen Verhaltens des Petrus. Schon
die Engel hatten zu den Weibern gesagt: „Gehet hin,
saget Seinen Jüngern und Petrus;" sie hatten dadurch
angedeutet, daß der Herr noch immer in besondrer Liebe
Seines Jüngers gedachte; und nun kommt Er selbst zu
ihm. Er offenbart sich ihm zunächst allein, nicht in Gegenwart der andern Jünger. (Vergl. Luk. 24, 34.) Was
bei dieser ersten Begegnung zwischen dem Herrn und Petrus
vorgegangen ist, wird uns nicht mitgeteilt. Sicherlich aber
wird Petrus zu den Füßen des Herrn seine Schuld bekannt und sein Herz vor Ihm ausgeschüttet haben; und
ebenso gewiß können wir annehmen, daß der Herr ihn
Seiner völligen Vergebung und Seiner unverminderten
106
Liebe versichert hat. Er hatte vorher für ihn gebetet,
damit sein Glaube nicht aufhöre; und jetzt stellt Er seine
Seele wieder her und führt ihn in die glückselige Gemeinschaft mit sich zurück. Unvergleichlich, unerschöpflich ist
die Liebe unsers Heilandes! Wie wird sie das Herz des
Petrus erleichtert, aber auch zu gleicher Zeit ihn tief beschämt haben!
Geliebter Leser! hast auch du schon ähnliche Erfahrungen gemacht wie Petrus ? Wenn es der Fall ist, (und
es wird gewiß so sein, wenn du anders ein Kind Gottes
bist,) so wirst du auch erfahren haben, wie demütigend
die Erkenntnis des Verderbens unsers Herzens, zugleich
aber auch wie kostbar die Erfahrung der nie fehlenden
Liebe und Treue des Herrn ist! Denke niemals, daß diese
Liebe sich im mindesten durch dein Verhalten verändern
könne. Hast du in besondrer Weise gefehlt und den
Herrn betrübt, so Hast du sicherlich besondere Ursache, dich
zu demütigen und Leid zu tragen; allein du brauchst nicht
zu verzagen. Nein, wenn du in Wahrheit mit aufrichtigem Bekenntnis umkehrst, so darfst du auf ein liebevolles,
freundliches Entgegenkommen von seiten des Herrn rechnen. Denke an Petrus; wie tief war er gefallen, und
doch in welch unveränderter Liebe gedachte der Herr an
ihn! Er hatte für ihn gebetet vor seinem Falle, und Er
kam zu ihm nach seinem Falle. Darum fasse Mut und eile zu
Jesu, um Ihm alles zu bekennen! Er wird auch deine Seele
wiederherstellen und dich wieder völlig glücklich machen.
Wohl erinnerte der Herr später, als Er sich den
Seinigen am See Tiberias offenbarte, den Petrus noch
einmal, und zwar in Gegenwart der übrigen Jünger, an
seinen Fall, indem Er dreimal die Frage an ihn richtete:
107
„Hast du mich lieb?" Doch dies geschah nicht etwa, weil
Petrus noch nicht völlig wiederhergestellt gewesen wäre, sondern um ihn noch einmal vor Selbstüberhebung zu warnen,
und ihm dann in Gegenwart der andern Jünger einen
Beweis Seines höchsten Vertrauens zu geben. Der Herr
überträgt ihm die Hut und Weide Seiner geliebten Herde.
Die Liebe und Güte, welche Petrus von feiten des Herrn
erfahren, hatten einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn
gemacht, so daß sein Leben fortan nur noch dem Dienste
des Herrn und dem Wohle der Schafe und Lämmer Seiner Herde geweiht war, bis er es als Märtyrer für
seinen Herrn hingeben durfte.
Wenn wir jetzt den Lauf der Ereignisse wieder aufnehmen, so hören wir zunächst, daß an dem Auferstehungstage des Herrn zwei von denen, welche Ihm nachgefolgt
waren, nach einem Dorfe, namens Emmaus, gingen. Auf
dem Wege dahin unterhalten sich die beiden über die
schrecklichen und für sie völlig unverständlichen Ereignisse,
welche in Jerusalem geschehen, und von denen sie Zeugen
gewesen waren. Sie hatten in dem Herrn den von Gott
gesandten Messias Israels, den Erfüller der Verheißungen,
erkannt, und hatten gehofft, „daß Er der sei, welcher
Israel erlösen solle". Ihr Blick war auf die irdische
Segnung Israels gerichtet, welcher die Befreiung von
allen Feinden vorhergehen mußte. Nun war aber 
der Herr gestorben, und mit Ihm' waren alle ihre Hoffnungen zu Grabe getragen worden. Völlig enttäuscht und
zugleich außer sich gebracht durch die Erzählung der Weiber,
welche am Morgen bei der Gruft gewesen waren, wissen
sie nicht, was sie von dem allen denken sollen, und verfolgen niedergeschlagen ihren Weg.
108
Doch der Herr gedenkt auch an sie. Ob es sich
darum handelt, einer trauernden Seele, die weinend nur
nach Ihm verlangt, sich zu zeigen und ihr Herz mit Glück
und Freude zu erfüllen, oder einen gefallenen und darüber
tief betrübten Jünger zu besuchen und seine Seele wiederherzustellen, oder endlich zwei unwissende und niedergeschlagene Jünger zu belehren und dadurch ihre Herzen zu
erfreuen — der Herr ist stets da, wo einer der Seinigen
Ihn bedarf und nach Ihm verlangt. Er kann nicht fern
bleiben; der Zug Seines Herzens geht zu den Seinen.
Sein Auge ruht stets in inniger Liebe auf ihnen; und
wo Er einen von ihnen traurig, unglücklich oder niedergeschlagen sieht, gleich ist Er da, um zu trösten, zu heilen
und zu beglücken. Welch ein Trost für uns in den
mannigfachen Versuchungen, Schwierigkeiten und Leiden
unsers Weges durch diese Welt! Geliebter Leser, was
dir auch fehlen, welcher Kummer dein Herz auch niederbeugen mag, gehe getrost damit zu Jesu, und du wirst
die köstliche Erfahrung machen, daß Er dir schon in Liebe
und Mitgefühl entgegenkommt. Wahrlich, das Bewußtsein,
einen solchen Herrn zu haben und Ihn so zu kennen,
erfüllt das Herz mit Freude und seligem Glück! Möchten
wir nur stets so nach Ihm verlangen, wie einst Maria
Magdalena, und so von Ihm erfüllt sein, wie jene beiden
Jünger auf dem Wege nach Emmaus!
Der Herr gesellte sich zu ihnen, weil Er der Gegenstand ihrer Unterhaltung war. Kann Er sich auch oft
so zu uns gesellen, Geliebte? Drehen sich unsre Unterhaltungen, wenn wir in unsern Häusern oder auf dem
Wege zusammen sind, auch um Ihn? Wohl waren jene
Jünger noch sehr unwissend und unverständig im Blick
109
auf das Werk und die Person Christi, so daß der Herr
zu ihnen sagen mußte: „O ihr Unverständigen und trägen
Herzens, zu glauben an alles, was die Propheten geredet
haben!" Aber trotzdem hatte die Person des Herrn einen
solchen Wert für sie, daß sich ihre Gedanken ausschließlich
mit Ihm beschäftigten. Und als der Herr ihnen das
Verständnis öffnete und die Schriften auslegte, da begannen
ihre Herzen zu brennen. — Haben wir nicht oft Ursache,
uns diesen Jüngern gegenüber tief zu schämen? Sind
unsere Herzen, trotz größerer Erkenntnis und reicheren
Wissens, nicht häufig sehr kalt, gefühllos und dürre?
Der Herr begleitete die beiden Männer mach dem Dorfe,
wohin sie gingen. Er belehrte sie über Sein Werk und
„erklärte ihnen in allen Schriften das, was Ihn betraf,"
und zwar in einer Weise, daß sie Wohl fühlten, der
Redende könne kein gewöhnlicher Mensch sein. Doch ihre
Augen wurden gehalten, so daß sie Ihn nicht erkannten.
Dennoch aber gewann dieser Fremdling ihr ganzes Herz.
Er redete ja über denselben Gegenstand mit ihnen, von
welchem auch ihre Herzen erfüllt waren. Er öffnete ihnen
die Augen über die Person und das Werk Christi, so daß
sie jetzt alles in einem ganz andern Lichte sahen, und
ihre frühere Enttäuschung und Bestürzung allmählich in
große Freude überging. Ihre Herzen brannten in ihnen;
sie fühlten sich aufs Innigste zu Ihm hingezogen und
baten Ihn deshalb, bei ihnen zu bleiben. Sie wünschten
noch mehr von Ihm zu hören. Und wie gern willfährt
der Herr einem solchen Wunsche! Giebt es doch für Ihn
kaum eine größere Freude, als bei den Seinigen zu sein,
sie zu unterweisen und zu erquicken. Er geht mit den
beiden Männern in ein Haus, um den Abend bei ihnen
110
zuzubringen, und wie manches mag Er da noch mit ihnen
geredet haben! Zuletzt nimmt Er an ihrer Mahlzeit teil;
und als Er nun, wie früher, das Brot nimmt, es bricht
und ihnen reicht — da auf einmal werden ihre Augen
aufgethan, und sie erkennen Ihn! Wer könnte beschreiben,
was ihre Herzen in diesem Augenblick gefühlt haben werden!
Und als Er dann vor ihnen unsichtbar wurde, hatten sie
keine Ruhe mehr in Emmaus; ihre Freude war zu groß:
„Sie standen zur selbigen Stunde auf und kehrten nach
Jerusalem zurück," um den übrigen Jüngern zu erzählen,
was ihnen begegnet war.
Dort fanden sie die Jünger und einige von denen,
die mit ihnen waren, versammelt. Ein kleines, furchtsames
Häuflein, das aus Furcht vor den Juden die Thüren
verschlossen hatte. Ach! sie fühlten sich ohne jeden Halt,
einsam und verlassen; denn der Herr, der sie bis dahin
geleitet und beschützt hatte, war von ihnen genommen, und
der Heilige Geist war noch nicht herniedergekommen. Sie
waren wie Schafe ohne Hirten, und sicherlich war der
Herr „innnerlich bewegt" über sie, wie Er eS während
Seines Lebens so oft betreffs der Volksmenge gewesen
war. Mochten sie auch noch so klein an Zahl und noch
so gering an Kraft sein, sie waren die Geliebten Seines
Herzens; zu Ihnen zog es Ihn hin. Die Welt hatte
Ihn nicht erkannt, und Sein Volk Israel hatte Ihn verworfen; aber diese wenigen und furchtsamen Jünger waren
Ihm nachgefolgt, und auf ihnen ruhte Sein Auge mit
Wohlgefallen.
Während sie noch einander ihre Erlebnisse erzählen,
tritt Jesus selbst in ihre Mitte mit den Worten: „Friede
euch!" Welche Freude für Sein Herz, ihnen diesen Gruß
zurufen zu können! Er hatte auf dem Kreuze Frieden
für sie gemacht, und jetzt, nachdem das schwere Werk
vollbracht war, konnte Er ihnen Frieden verkündigen und
sich in ihrer Mitte in einer Weise erfreuen, wie es nie
vorher möglich gewesen war. Er weist sie hin auf die
Wundenmale in Seinen Händen und Füßen, auf die ewig
111
gültigen Zeichen Seines Opfertodes für sie. Und dann
sucht Er in zärtlicher Liebe jede Furcht aus ihren Herzen
wegzunehmen und jeden Zweifel zu zerstreuen. Voll von
Gnade und Güte, läßt Er sich zu ihrem Unglauben herab,
indem Er sie auffordert, Ihn zu betasten, um sich zu
überzeugen, daß Er nicht ein Geist sei, sondern wirklich
und leibhaftig vor ihnen stehe; und als sie selbst dann
vor Freude noch nicht glauben können, fordert Er
Speise von ihnen und ißt vor ihren Augen. Welch
eine liebliche Scene: der gute Hirte, der auferstandene
Herr in der Mitte Seiner kleinen, von der Welt abgesonderten und verachteten, aber Seinem Herzen so unendlich
teuren Herde! Wo in aller Welt gab es in jenem 
Augenblick ein glücklicheres Häuflein, als in dem verschlossenen Gemach zu Jerusalem? Und wahrlich, das
Auge des Vaters wird mit innigem Wohlgefallen, mit
Freude und Wonne herniedergeblickt haben auf Seinen
geliebten Sohn und auf die Kinder, die Er Ihm gegeben!
Und als diese dann nach acht Tagen wieder versammelt sind, und auch Thomas bei ihnen ist, kommt der
Herr nochmals zu ihnen. Wieder ist Sein erstes Wort:
„Friede euch!" und wieder beschäftigt Er sich in Liebe
und Geduld mit dem Unglauben des Thomas. Welch ein 
gnadenreicher Herr ist Er, wie unvergleichlich in Seiner
Liebe und Zuneigung zu den Seinigen!
In den folgenden Tagen und Wochen bis zu Seiner
Himmelfahrt erschien der Herr den Seinen immer aufs
neue, sowohl Einzelnen, wie dem Jakobus und den Jüngern am See Tiberas, als auch „einer Menge von fünfhundert Brüdern auf einmal". (Vergl. 1. Kor. 15, 6. 7.)
Stets war es Seine Freude, in ihrer Mitte zu sein, Gemeinschaft mit ihnen zu machen, sie zu erfreuen, zu unterweisen und mit ihnen zu reden „über die Dinge, welche
das Reich Gottes betreffen". Und als der Augenblick
herannahte, daß Er dorthin zurückkehren sollte, von wo
Er gekommen war, versammelte Er sie zum letzten Male
um sich, „führte sie hinaus bis nach Bethanien und hob
112
Seine Hande auf und segnete sie." So schied
Er von ihnen, die Hände segnend erhoben. Und nun
hören wir nichts mehr von Niedergeschlagenheit, Bestürzung
oder Trauer; wir lesen im Gegenteil: „sie kehrten nach
Jerusalem zurück mit großer Freude; und sie waren
allezeit im Tempel, Gott lobend und preisend."
Geliebter Leser! sollte es nicht auch bei uns stets so
sein? Haben wir Ursache, uns zu fürchten, oder betrübt und
traurig einherzugehen? Sind nicht auch über uns Seine
Hände segnend ausgebreitet, und sollten wir daher nicht
auch allezeit mit Freude erfüllt sein, Gott loben und preisen?
„Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit." Das Verlangen Seines Herzens nach den Seinigen
hat sich nicht verändert. Wir können versichert sein, daß
Er auch jetzt nicht fern bleibt, wenn eine Seele nach Ihm
verlangt, oder wenn die Seinigen sich versammeln, um
sich von Ihm zu unterhalten, oder ihre Bedürfnisse im
Gebet vor Ihm kundwerden zu lassen. Ganz besonders
aber haben wir die Verheißung, daß Er in unsrer Mitte
sein will, wenn wir in Seinem Namen an Seinem Tische
versammelt sind, um Seiner Leiden und Seines Todes zu
gedenken. Mögen unsre Augen Ihn auch nicht sehen, so ist Er
doch für den Glauben ebenso gewiß gegenwärtig, wie Er
es damals in der Mitte Seiner Jünger war. Und ist der
Glaube in uns lebendig, so werden wir auch Seine Gegenwart verspüren- und wie einst die Jünger sagen können:
„wir haben den Herrn gesehen." Und bald wird
unser Glaube in Schauen verwandelt werden; bald werden
wir Ihn für immer sichtbarlich in unsrer Mitte haben.
Dann ist das Verlangen Seines Herzens gestillt. Der
Herr gebe, daß in unser aller Herzen ein ähnliches Verlangen nach Ihm sei, wie in Seinem Herzen nach uns,
damit wir jeden Tag mit Sehnsucht auf Seine Wiederkunft warten und die kurze Spanne Zeit, die uns vielleicht
noch von diesem glückseligen Augenblick trennt, von ganzem Herzen Ihm leben und dienen!

Zakob.
(Schluß.)
Wenn wir jetzt zur Betrachtung des 37. Kapitels
übergehen, so finden wir, daß Joseph den ersten Platz sowohl in der Geschichte, als auch in den Gedanken des Geistes
Gottes einnimmt. Das geht deutlich aus dem zweiten Verse
hervor, wo wir lesen: „Dies ist die Geschichte Jakobs:
Joseph, siebenzehn Jahre alt, weidete die Herde mit seinen
Brüdern u. s. w." Doch finden wir bis zum Ende des
Buches vereinzelte Mitteilungen über Jakob, in denen uns
der letzte Teil seiner Geschichte erzählt wird.
Er war jetzt so zu sagen ein Witwer. Er erscheint
vor uns als ein einsamer, zurückgezogener Mann, der mehr
in Erinnerungen als in gegenwärtiger Thätigkeit lebt. Allerdings war er der Patriarch, der Vater und das gemeinsame
Haupt aller Haushaltungen seiner Kinder; und als solcher
wurde er auch von ihnen anerkannt. Aber die Angelegenheiten der Familie lagen jetzt mehr in den
Händen jener; und er brachte seine Witwerschaft zu, ohne zu
versuchen, ansS neue der rührige, energische und iaienivvür
Weltmann zu sein, der er einst gewesen war.
Seine Zurückgezogenheit war jedoch nicht derjenigen
seines Vaters Isaak gleich. Isaak wird während der letzten
40 Jahre seines Lebens nicht mehr gesehen. Er erscheint
als beiseite gesetzt, als ein für den Gebrauch ungeeignetes
114
Gefäß, welches nicht im Dienst abgenutzt wurde, sondern
allmählich verrostete. (Vergl. S. 117, Jahrg. 1889.) So
waren Jakobs letzte Lebensjahre nicht. Er war allerdings
nicht länger ein geschäftiger Mann, aber seine Zurückgezogenheit war keine Unthätigkeit. Die reichsten, glücklichsten und reinsten Uebungen seiner Seele scheinen gerade
jetzt stattzufinden, und sie erweitern und vertiefen sich, je mehr
sie fortschreiten. Bestraft und gezüchtigt, wie wir gesehen
haben, beginnt seine Seele jetzt die Frucht der göttlichen
Bearbeitung zu bringen. Wir können nicht sagen, daß Jakob
je völlig die hohe Würde erreicht hat, ein Diener Gottes zu 
sein; aber doch dürfen wir, am Ende seiner Geschichte stehend,
sagen, daß er fruchtbringend für Gott gewesen ist.
Es besteht ein Unterschied zwischen Dienst und
Fruchtbarkeit. Der Dienst ist mehr offenbar und
thätig, die Fruchtbarkeit kann verborgen sein. Hand und
Fuß mögen dienen, und sie sollten es thun. Benetzt mit
dem Blut und dem Oele, (vergl. 2. Mose 29, 20;
3. Mose 14, 14.) sollten sie Werkzeuge in der Hand des
Hausherrn sein; allein es ist in dem Verborgenen des
Herzens, wo die Bearbeitung des Heiligen durch die Wahrheit
in der Kraft des Geistes Frucht für Gott hervorbringen
muß. Fruchtbarkeit giebt sich in der Ausbildung jener
Tugenden kund, welche dem Volke Gottes seinen wirklichen
und wahren Charakter verleihen, — jener Gewohnheiten,
Neigungen und Eigenschaften des innern Menschen, die
vor Gott so kostbar sind. Innerlich, oder aus dem Herzen
heraus wachsen jene Kräuter, welche für Ihn, der die
Seele zubereitet, so wohlriechend und schön sind, und die
von der befruchtenden Kraft jenes Regens zeugen, der vom
Himmel auf sie gefallen ist.
115
Diese Fruchtbarkeit findet sich, wie ich glaube, bei
unserm Jakob in dem letzten Abschnitt seiner Pilgerschaft.
Schwache Anzeichen davon haben wir bereits gesehen, als er
uoch in Kanaan weilte; doch die weit reichere Ernte wird
während der siebenzehn Jahre, die er in Egypten zubrachte,
eingesammelt. Denn diese Teilnahme an der Heiligkeit
Gottes, diese Frucht der Zucht des Vaters der Geister,
ist gewöhnlich eine stufenweise fortschreitende, indem das
Licht mehr und mehr zunimmt bis zum vollen Mittagsglanze. So werden wir es auch bei Jakob finden: seine
letzte Stunde ist die herrlichste.
Im Verlauf des 37. Kapitels wird uns erzählt, daß
die Brüder Josephs auszogen, um zu Sichem ihre Herden
zu weiden. Weshalb diese Rückkehr nach Sichem? Geschah
sie, weil sich dort das erworbene Grundstück, der Familienbesitz, befand? *) Es war gefährlich, mit diesem Orte in
Verbindung zu sein. Er hatte sich als ein Fallstrick für
die ganze Familie erwiesen, und der Herr hatte sie von
dort hinweggerufen. Wäre Jakob so wachsam gewesen,
wie er es hätte sein sollen, so würden wir jetzt wohl nicht
wieder von Sichem - hören. Aber doch ist es schön zu
sehen, daß sich in seinem Herzen Zeichen der Unruhe
darüber kundgeben: er sendet Joseph aus, um zu erfahren,
wie es seinen Brüdern und ihren Herden dort gehe. Es
scheint also in seinem Herzen Besorgnis wegen ihres Aufenthaltes an einem so verdächtigen Orte gewesen zu sein. Und
das dürfen wir wohl als ein, wenn auch schwaches Anzeichen
des Wiederauflebens der Seele unsers Patriarchen betrachten.
*) Dieses Grundstück wird allerdings zuletzt nur ein Begräbnisplatz, wie Machpela; allein es wurde nicht wie Machpela
von vornherein zu diesem Zwecke gekauft.
116
So befiehlt er auch später, bei der zweiten Sendung
nach Egypten, (Kap. 43.) seine Söhne der Hand des
„allmächtigen" Gottes. „Gott der Allmächtige", sagt er,
„gebe euch Barmherzigkeit vor dem Manne, daß er euch
euern andern Bruder und Benjamin loslasse!" Dieses
zeigt uns, daß Jakob wenigstens einigermaßen die Kraft
jenes Namens wiedererkannt hatte, welchen er einst verloren und den selbst die ernste Uebung zu Pniel ihm nicht
zurückgegeben hatte.
Auf Grund dieser Zeugnisse dürfen wir wohl sagen,
daß Jakob in jenen Tagen auf göttliche Weise geübt
wurde. Im Uebrigen finden wir aber nicht viel Bemerkenswertes, bis wir ihn seine Vorbereitungen treffen sehen,
um nach Egypten hinabzuziehen. Dieser Augenblick aber
ist ein so wichtiger im Blick auf den Fortschritt seiner
Seele, daß wir ihn etwas näher betrachten müssen.
Als Jakob hörte, daß Joseph noch am Leben und
Herrscher über das ganze Land Egypten sei, „erstarrte
sein Herz, denn er glaubte ihnen nicht". Es war das
Thun des Herrn, und eS war wunderbar in Jakobs Augen.
Er glaubte nicht vor Freude und Verwunderung; denn
er erhielt Joseph gleichsam aus den Toten zurück. Das
war anfänglich zu viel für ihn; doch als er die Wagen
sah, welche der Pharao gesandt hatte, um ihn und alles,
was sein war, nach Egypten hinabzubringen, da lebte sein
Geist wieder auf, und ohne weiter zu zögern sagt er:
„Genug! Joseph, mein Sohn, lebt noch. Ich will hinziehen und ihn sehen, ehe ich sterbe."
So sprach die Natur in Jakob, sobald er der
Botschaft Glauben schenkte; und ohne weitere Aufforderung
irat er die Reise nach Egypten an. Doch ein ruhigerer
— 117 —
Augenblick folgte, ein Augenblick, in welchem die Handlungsweise der Natur gleichsam zur Rechenschaft gezogen wurde.
„Und Israel brach auf und alles, was er hatte, und
kam nach Beerseba; und er opferte Schlachtopfer dem
Gott seines Vaters Isaak." Das ist bemerkenswert.
Weshalb diese Schlachtopfer zu Beerseba? Bei der Abreise
von Mamre hatte es keine gegeben. Weshalb also macht
Jakob in Beerseba Halt und dient dort dem Gott Isaaks?
Es mag dies auf den ersten Blick unsre Verwunderung erregen;
doch wir werden finden, daß es nur zu gewöhnlich (fast hätte
ich gesagt, notwendig) in den Wegen des Volkes Gottes ist.
Die Natur war in Jakob in Thätigkeit getreten,
sobald er die Erzählung über Joseph glaubte, und sie
hatte ihn sofort auf den Weg nach Egypten gebracht. Aber
jetzt erwachen die geistlichen Gefühle, und ziehen die 
Entschließungen und die Handlungsweise der Natur zur
Rechenschaft. Das kommt sehr oft vor. Der gläubige
Jakob hat jetzt ein Gefühl der Zurückhaltung, welches der
Vater Jakob nicht gehabt hatte. Jakob hatte nicht mit dem
Herrn beraten, als er diese Reise begonnen hatte; aber
der Sinn Christi in ihm bekommt jetzt die Oberhand, und
das Urteil der Natur wird geprüft, und zwar geprüft im
Lichte des Herrn.
Viele Jahre vorher hatte der Herr zu Isaak gesagt:
„Ziehe nicht hinab nach Egypten," (Kap. 26, 2.) und
zwar in einer Zeit der Hungersnot, wie die gegenwärtige
war. Und daran erinnerte sich Jakob, als er Beerseba,
den letzten Ort im Süden des Landes, erreichte, der auf
dem Wege nach Egypten lag, und von wo aus sich
ihm ein Blick in jenes Land darbot, vor welchem Isaak
so bestimmt gewarnt worden war.
118
Diese Erwägungen verleihen den Opfern Jakobs,
welche er dem Gott seines Vaters Isaak darbrachte, eine
tiefe moralische Bedeutung. ES ging ohne Zweifel eine
mächtige Bewegung in Jakobs Seele vor, und dieselbe war
dem Herrn überaus wohlgefällig. Wir finden etwas ähnliches in den Tagen der Belagerung Samarias. Die
armen Aussätzigen außerhalb der Stadt denken Zunächst
nur daran, sich selbst zu sättigen und in den Zelten der
Syrer für sich zu plündern. Das war naturgemäß; sie
konnten kaum anders handeln. Aber bald nachher beginnt
eine andere Gesinnung sich in ihnen zu regen, wie
hier in unserm Patriarchen; und sie sagen: „Wir thun
nicht recht. Dieser Tag ist ein Tag guter Botschaft; und
schweigen wir und warten, bis der Morgen hell wird, so
wird uns Schuld treffen. Und nun kommt und lasset 'uns
hineingehen und es im Hause des Königs berichten."
(2. Kön. 7.) Eine bessere Gesinnung begann in ihnen zu
tagen, ähnlich der Regung in der Seele unsers Patriarchen.
Und dieses Erwachen Jakobs ist vor dem Herrn so wohlgefällig, daß Er sogleich mit den tröstlichen Worten zu
ihm kommt: „Ich bin Gott, der Gott deines Vaters;
fürchte dich nicht, nach Egypten hinabzuziehen; denn zu
einer großen Nation will ich dich daselbst machen. Ich,
ich will mit dir hinabziehen nach Egypten, und ich, ich
will dich auch gewißlich heraufführen; und Joseph soll
feine Hand auf deine Augen legen."
Welch eine Mitteilung! Wie zeigte sie unserm Patriarchen, daß der Herr in seinem Herzen alles gelesen
hatte, sowohl seine jetzigen Befürchtungen, als auch seine
früheren Gefühle: die Gesinnung des Vaters und die Gesinnung des Heiligen, die Wünsche der Natur und die
11ö
Regungen des Geistes. Die Worte: „Fürchte dich nicht,
nach Egypten hinabzuziehen," beschwichtigten die Unruhe
seiner erneuerten Gesinnung; und die Verheißung: „Joseph
soll seine Hand aus deine Augen legen," befriedigte die
Wünsche seines Vaterherzens betreffs seines lange verlorenen Kindes. Wie herrlich und vollkommen war das
alles! Wie bewies es die Wirklichkeit des Mitgefühls
des Herrn mit allem, was sich in Seinem Auserwählten
regte! Jakob fand in Ihm Barmherzigkeit und Gnade zur
rechtzeitigen Hülfe. „Als mein Geist in mir ermattete,
da kanntest Du meinen Pfad," sagt David in späteren
Tagen; und sicherlich wurde hier von Jakob dasselbe gefühlt und verstanden. Sein Seufzen hatte in seiner ganzen Bedeutung das Ohr Dessen erreicht, welcher das Herz
erforscht. Und darnach kann Jakob sich nicht länger in
Beerseba aufhalten, noch seine Weiterreise nach Egypten
in Frage ziehen.
Er vollendet sie; und der erste Anblick Josephs wird,
wie wir erwarten dürfen, zu einer Gelegenheit der völligsten Freude für sein so lange beraubtes Herz. Und ich
möchte hier bemerken, daß Jakob in seinen letzten Jahren
den Eindruck eines sehr liebevollen alten Mannes
macht; und das ist ein weiterer Beweis von dem verbesserten Zustande seines Herzens. Denn ein berechnender
Mann, wie Jakob in seinem früheren Leben gewesen war,
denkt gewöhnlich wenig an die Bedürfnisse und Wünsche
andrer; er hat naturgemäß sich selbst zu viel zum Gegenstand. Doch mit Jakob ist es jetzt nicht mehr so. Sein
Kummer bei dem Verlust Josephs war tief. Ebenso bitterlich beweint er Simeon, und er will lieber die Schrecken
der Hungersnot ertragen, als sich der Möglichkeit des Ver­
120
lustes noch eines seiner Kinder aussetzen. Die Adoptierung
der Söhne Josephs, sein Mitgefühl mit Joseph bei dessen
Betrübnis wegen der Bevorzugung des jüngeren, seine
Bezugnahme auf Rahel und ihr Begräbnis zu Bethlehem,
seine Erwähnung Leas, sowie seiner Väter und ihrer Weiber
in Verbindung mit Machpela, — alles das kommt ebenfalls
aus einem liebevollen Herzen. Und der allgemeine Schmerz,
welchen sein Tod hervorruft, zeigt uns, daß er inmitten
seiner Umgebung ein geliebter und liebevoller alter Mann
gewesen war.
Doch bei alledem finden wir, daß er in seiner Person
und Handlungsweise derselbe zurückgezogene Mann in
Egypten blieb, welcher er vordem jahrelang in Kanaan gewesen war, obwohl starke Versuchungen zu einem andern
Verhalten an ihn herantraten. Er hielt an seiner Fremdlingschaft fest, trotzdem er jetzt Gelegenheit hatte, die Erde
wiederum zum Schauplatz seiner Anstrengungen und Erwartungen zu machen. Wir haben es gern, wenn die
Würde eines der Unsrigen auch auf uns ihre Strahlen
fallen läßt. Wenn wir der Natur freien Lauf lassen, so
werden wir sicher aus unsrer Verwandtschaft und unsern
Verbindungen möglichst viel Nutzen zu ziehen suchen. Ach!
wie gern redet man vor andern von seiner Verbindung
mit irgend jemandem, der in dieser Welt hoch angesehen
ist! Jakob hatte in Egypten die allerbeste Gelegenheit,
sein Herz in dieser Hinsicht zu befriedigen. Sein Sohn war
damals der Stolz des Landes. Joseph war der zweite Mann
in dem Königreich, und Joseph war Jakobs Sohn. Hierin
lag eine Versuchung für Jakob, an die Oeffentlichkeit zu
treten und sich der Welt zu zeigen. Würden sich nicht
aller Augen auf ihn, den Vater Josephs, gerichtet haben?
121
Würde man ihm nicht Platz gemacht haben, wann und
wo er nur erschienen wäre? Der Geist der Welt muß
ihm das zugeflüstert haben, wie lange nachher zu einem
Größeren als Jakob, welcher nicht erborgte, sondern lauter
persönliche Herrlichkeiten zur Schau zu stellen hatte,
gesagt wurde: „Wenn du diese Dinge thust, so zeige
dich der Welt." (Joh. 7, 4.) Aber in dem Geiste eines
Menschen, der in seiner Weise die Welt überwunden hat,
bleibt Jakob während der ganzen siebenzehn Jahre seines
Ausenthaltes in Egypten ein zurückgezogener Mann. Er
bleibt da ein Fremdling, wo sich alles vereinigte, um
ihn zu veranlassen, ein Bürger zu werden.
So weit ich es zu verstehen vermag, ist dies eine auserlesene Frucht eines gezüchtigten Herzens, eine Frucht
göttlicher Zucht, der Beweis eines weitgehenden Teilnehmens an der Heiligkeit Gottes, einer Heiligkeit, welche
der Berufung Gottes geziemte; denn diese Berufung hatte
Jakob zu einem Fremdling und Pilgrim auf der Erde
gemacht. In Sichem erinnerte Jakob uns leider an Lot
in Sodom; aber hier erinnert er uns an Abraham in
seinem Siege über alle Anerbietungen des Königs von
Sodom.
Doch in Verbindung mit dieser Trennung von der
Welt finden wir nichts von falscher Demut und Erniedrigung. Trotzdem Jakob seiner Fremdlingschast einen solch
offenbaren, praktischen Ausdruck giebt, kennt er doch seine
Würde vor Gott und legt dieselbe auch an den Tag.
Wenn er vor den Pharao tritt, und wenn er ihn wieder
verläßt, so segnet er ihn. (Kap. 47.) Das ist beachtenswert. Wohl bekennt er sich in der Gegenwart des Königs
als einen Fremdling auf der Erde, und sogar als einen
122
armen und müden Pilgrim; aber doch segnet er ihn bei 
seinem Eingang und Ausgang, wie einer, der da weiß,
was er durch die Auserwählung und Gnade Gottes ist;
denn „ohne allen Widerspruch wird das Geringere von
dem Besseren gesegnet". Er fordert nichts von dem König,
obgleich er die Erfüllung aller seiner Wünsche sicher erwarten konnte. Er verhält sich schweigend und ablehnend
gegenüber alledem, was der Pharao oder Egypten für
ihn thun konnte; aber er redet als der Bessere, der den
Geringeren wieder und wieder segnet. Sein Verhalten
gleicht demjenigen des gebundenen Paulus vor den römischen
Großen und Würdenträgern. Den König Agrippa und
alle, die bei ihm waren, läßt der Apostel wissen, daß er,
ihr Gefangener, das gute Teil besitzt, und daß er ihnen
allen nichts besseres wünschen kann, als daß sie werden
möchten, wie er. Das ist Glaube, und fürwahr ein kostbarer Glaube, mag er sich nun in einem gefangenen Apostel
oder in einem als Fremdling weilenden Patriarchen finden.
Er verherrlicht die Gnade, und das ist die eigentliche Beschäftigung des Glaubens. Rom und Egypten besitzen den
Reichtum und die Macht der Welt, nach welchen die Menschen eifersüchtig begehren und die sie rühmen; Paulus und
Jakob aber tragen ein Geheimnis in sich, welches sie eine
völlig andere Sprache reden läßt.
Das ist sehr bedeutungsvoll bei unserm Jakob. Die
Herrlichkeit ist in einem irdenen Gefäß verborgen; aber 
sie ist da, und das Gefäß weiß, daß sie da ist. Jakob
thut nichts in Egypten, um seinen Namen in der Geschichte
der Welt bekannt zu machen. Er bekümmert sich weder um
Egypten, noch um das, was darin vorgeht; er kennt aber
ein Geheimnis, welches seinen Geist über das Land und
123
dessen Bewohner erhebt. Andere mögen in Egypten grünen
und gedeihen; er bringt nur den Rest seiner Jahre dort
zu. (Siehe Kap. 47, 27. 28.)
Müssen wir. nicht diesen Weg des Geistes Gottes
mit Jakob bewundern? Zu einem Leben, wie das seinige
gewesen war, paßte ein solches Ende durchaus. Es ist
allerdings betrübend, eines solchen Ruhepunktes am Ende
der Reise zu bedürfen; aber wenn er erforderlich ist, so
ist es wenigstens schön zu sehen, daß er in dieser Weise
fruchtbringend ist. Während der langen Bearbeitung seiner
Seele durch den „Vater der Geister" im Laufe jener
17 Jahre in Egypten saß Jakob, wie ich anzunehmen
wage, zu den Füßen des Herrn und überdachte mit einiger
Beschämung des Angesichts die hinter ihm liegende Zeit;
und damit begann die Läuterung in seiner Seele.
Doch als jene stillen und zurückgezogenen Jahre sich
ihrem Ende nahten, finden wir ihn auf einmal rührig
und eifrig. Er redet mit Joseph bezüglich seines Begräbnisses. Er verlangt von ihm nicht nur das Versprechen, sondern auch den Schwur, daß er ihn in dem
Lande seiner Väter begraben wolle. (Kap. 47, 30.) Auch
das ist sehr schön. Wir hören nicht, daß er im Blick auf
die Umstände seines Lebens in Egypten je besorgt gewesen
wäre; er ist bereit, das zu nehmen, was man ihm giebt, und
das zu sein, was man aus ihm macht. Aber wenn es
sich um sein Begräbnis handelt, so tritt er mit aller
Entschiedenheit auf. Er will es mit einem Eide bekräftigt
haben, daß sein Sohn seinen Leichnam in das Land bringen
werde, welches die von Gott zu ihm geschehene Verheißung
bezeugte. Er ist jetzt gerade so eifrig und bestimmt, wie
er vorher unbekümmert und gleichmütig gewesen war.
124
Denn der Glaube will seinen Rechtstitel gern deutlich, vollständig und unverletzlich sehen. Abraham wollte das Erbteil durch einen Bund zugesichert haben, nicht nur durch
ein Wort; (Kap. 15.) und Jakob verlangt jetzt von
Joseph, daß er ihm ein Begräbnis, wie es mit den Hoffnungen eines Kindes Abrahams im Einklang stand, nicht
nur verspreche, sondern auch eidlich zusichere.
Alles das zeigt uns einen andern Jakob, als wir
ihn früher kennen gelernt haben. Er ist jetzt ein Teilnehmer der Heiligkeit Gottes; seine Gesinnung und sein
Charakter sind in Uebereinstimmung mit der Berufung
Gottes. Er ist ein Fremdling mit Gott auf der Erde,
aber er steht in der sichern und gewissen Hoffnung des
verheißenen Erbes. Das ist nicht Dienst, aber es ist eine
schöne Frucht in dem innern Menschen.
In dem folgenden 48. Kapitel begegnen wir jener
einen Handlung in seinem Leben, welche durch den Geist
als eine Handlung des Glaubens gekennzeichnet wird.
(Bergt. Hebr. 11, 21.) Doch das ganze Kapitel ist schön;
auf feiten Gottes ist alles Gnade, und in dem Herzen
Jakobs alles Glaube. Der Glaube in Jakob nimmt
die Entscheidungen an, welche die Gnade Gottes trifft.
Die Gnade nimmt die Söhne Josephs, welche nach dem
Fleische kein Anrecht hatten, zu Kindern an und giebt
ihnen den Platz und das Teil des Erstgebornen, das
doppelte Teil, als ob sie Ruben und Simeon wären.
Die Gnade stellt den jüngeren über den älteren. Und
die Gnade endlich giebt Joseph, oder dem zum Erstgebornen Angenommenen, ein Unterpfand seines zukünftigen
Erbteils. (V. 22.) Diesem allem unterwirft sich Jakob
und ist gehorsam. Im Glauben erkennt er die Entschei-
125
düngen der Gnade an. Die Natur mag sich dagegen
sträuben; aber Jakob ist dem ihni anvertrauten Worte
der Gnade treu. Joseph war bewegt, als Jakob Ephraim
über Manasse stellte. Jakob fühlt mit ihm; aber er erfüllt das ihm übertragene Wort Gottes, mag auch die
Natur in Joseph dadurch überrascht oder verwundet werden.
Lange Jahre-vorher hatte er bei einer ähnlichen Gelegenheit auf die Stimme der Natur in seiner Mutter Rebekka
gelauscht; aber jetzt hört er nicht mehr auf sie.
ES ist wirklich schön zu sehen, wie der Glaube so
die Entscheidungen der Gnade annimmt. Doch in allem
diesem war Jakob auch Gottes Mund. Er war nicht
allein dem Vorsatz und Ratschluß der Gnade gehorsam,
sondern wurde auch von Gott als ein Gefäß Seines Hauses
benutzt, um Seine Gedanken auszulegen und Seine Vorsätze in diesen Geheimnissender Gnade: die Sohnschaft,
das Erblleil und das Unterpfand, darzustellen. Und
da dieses Gefäß sich so vollständig tauglich für den Gebrauch des Hausherrn erweist, wird es noch weiter benutzt.
Im 49. Kapitel dient Jakob immer noch als das Orakel
Gottes. Er ruft seine zwölf Söhne herbei und segnet
sie. Unter der Leitung des Geistes spricht er die Worte
und Urteile Gottes über sie aus. Doch dieser Augenblick stellte ihn auf eine harte Probe; er kostete ihn weit
mehr, als alles bisher Dagewesene. Bei der Bevorzugung
Ephraims hatte er nicht auf die Stimme der Natur in
seinem Sohne geachtet; jetzt aber darf er dieser Stimme
in sich selbst kein Gehör schenken. Er geht durch diese
schmerzliche und demütigende Scene, indem er ihre Bitterkeit
ohne Zweifel wiederholt fühlt; aber er geht bis zum Ende
hindurch. Er muß jetzt unter der Leitung des Geistes
126
und als der Mund Gottes die Wege seiner Söhne in den
vergangenen Tagen wieder durchgehen und die Frucht
dieser Wege in der Zukunft schildern. Vieles konnte er
gewiß nur mit einem verwundeten Herzen und mit Erinnerungen aussprechen, die sehr demütigend für ihn selbst
waren. Denn diese Worte über seine Söhne waren eine
Art Gericht über ihn selbst wegen seiner früheren Sorglosigkeit betreffs seiner Kinder. Aber trotz allem geht er
voran und beendigt seinen Dienst als das Orakel Gottes,
und zwar mit Gefühlen und Gesinnungen, die uns neue
Beweise von seinem gereinigten Seelenzustande geben.
Levis und Simeons Missethat kommt vor ihn; aber 
er empfindet dieselbe jetzt in einer Weise, von welcher wir
an dem Tage, da sie begangen wurde, keine Spur in ihm
wahrnehmen. Damals beunruhigte sie ihn wegen des
Unheils, welches sie ihm möglicherweise von seiten seiner
Nachbarn bereiten konnte. „Ihr habt mich in Trübsal
gebracht," sagte er, „indem ihr mich stinkend machet
unter den Bewohnern des Landes, unter den Kanalisiern
und unter den Perifltern. Ich aber bin ein zählbares
Häuflein, und sie werden sich versammeln wider mich und
mich schlagen, und ich werde vertilgt werden, ich und mein
Haus." (Kap. 34, 30.) Das war seine Gesinnung,
während er sich als Bürger zu Sichem befand. Aber jetzt
steht er auf einem weit höheren und reineren Boden; seine
Seele verwirft die Missethat selbst. Die Söhne hatten
eine traurige Sünde begangen; das genügt, und er will
nicht, daß seine Ehre sich damit vereinige. — Wenn er dann
seine Augen auf die Unreinigkeit Rubens richtet, so ist er
tief betroffen. Und wenn endlich die Abtrünnigkeit Dans
vor ihn kommt, so gerät seine ganze Seele in Bewegung,
127
und er nimmt seine Zuflucht zu der Hoffnung auf die
Rettung Jehovas. „Dan wird eine Schlange sein am 
Wege, eine Hornotter am Pfade, die da beißt in die
Fersen des Rosses, und rücklings fällt sein Reiter. Auf
Deine Rettung harre ich, Jehova!"
Welche Gefühle finden wir hier, welch eine Kraft
war vorhanden! Wie schön erfüllt dieses Gefäß seinen
Dienst in dem Hause Gottes. David fühlte auch mehr
als Kummer bei dem Verlust Absaloms. Die Ermordung
seines Sohnes brachte ihm seine Sünde ins Gedächtnis
zurück. Und hier wird Jakob in die Ratschlüsse Gottes
eingeweiht, indem er völlig und persönlich mitleidet und
sein eigenes Teil erhält in Erinnerungen, welche sein
Gewissen tief berührt haben müssen. Der sterbende
Patriarch kündigte nicht nur diese Urteilssprüche Gottes
an, sondern er fühlte sie auch. Er war nicht bloß ein 
Gefäß, sondern ein lebendiges Gefäß. Und er war
Dem treu, welcher ihn zu Seinem Dienst bestimmt hatte,
mochte dieser auch voll Demütigung und Bitterkeit für
ihn sein.
Wir haben Jakob „eine Zeitlang stumm" gesehen;
das war der Charakter mancher Jahre unsers Patriarchen
gegen das Ende seines Lebens hin. Aber jetzt ist sein
Mund durch den Glauben geöffnet; und einmal geöffnet,
gebraucht Gott ihn in reichem Maße, nm Seine Aussprüche zu verkünden. Aehnliches finden wir bei Zacharias
in Luk. 1. Dieser war auch, wie wir wissen, eine Zeitlang stumm; aber im Glauben schrieb er seines Kindes
Namen auf eine Tafel, und dann benutzte ihn der Herr
als Seinen Propheten.
128
Hiermit endet die Geschichte Jakobs; aber ich denke,
daß wir die Nutzanwendung für uns aus derselben gezogen haben. Die Wege des Herrn mit Jakob zeigen uns,
wie unermüdlich Er mit Seinen thörichten und verkehrten
Kindern beschäftigt ist. In dieser beständigen innern
Bearbeitung sehen wir sowohl Mannigfaltigkeit als
Geduld. Jakob hatte verschiedene Aufgaben zu lernen;
und Der, mit welchem er es zu thun hatte, setzte sich
gleichsam in geduldiger Gnade hin, um sie ihn alle zu
lehren. Bethel, Pniel, dann wieder Bethel und endlich Beerseba bezeugen dies, wie wir gesehen haben. Und während
eines wechselvollen Lebens zu Hause und in der Ferne,
in der Jugend und im Mannesalter, unter Fremden und
an der Seite seiner Eltern, zeigt Jakob vieles, was eine
Züchtigung nötig machte; und immer aufs neue wird ihn
dieselbe Aufgabe gelehrt.
Es erinnert uns dies an die Jünger in den Tagen
des Herrn. In wie mannigfacher Weise mußte der Herr
diese zurechtweisen und belehren! Und am Ende war es
noch gerade so wie im Anfang; aber die Geduld ihres
göttlichen Lehrers blieb ebenfalls dieselbe bis ans Ende.
Die Unwissenheit und Selbstsucht, welche die Jünger verrieten, die fortwährenden Fehler, die sie machten, die
mancherlei Wege, durch welche sie der Gesinnung ihres
Meisters zuwider handelten, alles das verherrlicht die
Güte, welche sie leitete. Es erinnert uns auch an Den,
welcher das Verhalten Israels in der Wüste vierzig Jahre
lang ertrug. Und es mag auch uns selbst die viele
Geduld und Gnade ins Gedächtnis rufen, welche wir
täglich von derselben Hand erfahren.
Wie wir bei Beginn dieser Betrachtung sagten und
129
im Verlauf derselben gesehen haben, wird uns in Jakob
die Zucht eines Kindes dargestellt. Und Zucht ist heilsam
und thut gut wie eine Arzenei! Wenn wir sie bedürfen,
so ist sie das einzig Richtige für uns. Als in den Tagen
Samuels Israel einen König forderte, würde es da gut
für sie gewesen sein, wenn der Herr ihnen einen David
gegeben hätte? Der Herr hatte David für sie im Rückhalt;
aber würde es Wohl an der Zeit, würde es heilsam für
sie gewesen sein, wenn David ihnen gleich gegeben worden
wäre, als sie mit einem aufrührerischen Willen nach einem
König verlangten? Keineswegs ; sie mußten vielmehr erst
zur Erkenntnis der Bitterkeit ihres eignen Weges gebracht
werden. Ein Saul muß gegeben werden, wenn Israel
einen König fordert. Das war Zucht; und es war das
Einzige, was heilsam für sie sein konnte. Aber wenn sie
die Bitterkeit ihres eignen Weges geschmeckt haben, dann
holt der Herr in gnädigem'Erbarmen das hervor, was
Er für sie im Rückhalt hat: einen Mann nach Seinem
Herzen, der Sein ganzes Wohlgefallen thun wird.
Wie vollkommen ist das alles! Die Liebe ist immer
dieselbe, mag sie nun Zucht ausüben, oder Trost spenden,
Arzenei darreichen oder Nahrung geben. Und dies ist die
besondere Unterweisung, welche uns in der Geschichte
unsers Patriarchen gegeben wird.
Mit Machpela und seinem Begräbnis endigt Jakob
seine letzten Unterredungen mit seinen Söhnen, wie er sie
damit begonnen hatte. (Kap. 47, 29; 49, 29.) Er
besaß bereits Josephs Wort und Eid betreffs der Ueberführung seines Leibes nach Kanaan, aber jetzt legt er
noch einmal allen dieselbe Verpflichtung auf. Der Tod
war wichtiger für Jakob als das Leben. Das Leben hielt
130
ihn in Egypten fest, der Tod sollte ihn wieder nach Kanaan
bringen. Der Tod vereinigte ihn mit dem Gott und den
Verheißungen seiner Väter. Die Hoffnungen des Glaubens
lagen jenseits des Lebens und außerhalb Egyptens. Im
Geiste sagte er gleichsam: „ich möchte lieber ausheimisch
von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein." Soweit
der Glaube eines Patriarchen dies ausdrücken konnte, sprach
Jakob es aus. Und am Schluß lesen wir: „Als Jakob
geendet hatte, seinen Söhnen Befehle zu geben, zog er
seine Füße herauf aufs Bett und verschied, und ward versammelt zu seinen Völkern."
Es war sicher keine dürre und unfruchtbare Zeit, die
er in Egypten zugebracht hatte. Obwohl die Geschäftigkeit
des Lebens für ihn und seine Hände vorüber war, so verrostete er doch nicht, wie wir das von Isaak sagen
mußten. Wir sehen mit Freude, daß seine letzten Tage
seine besten waren; und wir freuen uns noch mehr über
die Gnade, welche seiner Reise ein solches Ende bereitete.
Es ist in der That köstlich für alle die Auserwählten
Gottes, hier eine solche Probe (wenn ich es so nennen 
'darf) von göttlicher Geduld, Weisheit und Güte vor sich
zu haben. Sie nimmt wirklich einen besonderen Platz ein 
unter den mannigfaltigen Formen und Charakterzügen,
welche die Gnade in Bezug auf die Bedürfnisse der Heiligen
annimmt. Jakobs letzten Tage waren seine goldenen Tage.
Für andere mag Egypten ein Land Gosen gewesen sein
wegen ihrer Herden; für Jakob aber war es das nicht.
Für seine Seele jedoch war es das reichste, schönste und
am besten bewässerte Land, dessen sich sein Geist je erfreut
hatte. Es war für ihn noch wirklicher die Pforte des
Himmels, als Bethel es gewesen war; und er befand sich
131
hier mehr vor dem Angesicht Gottes, als einst zu Pniel.
Er hatte hier den Herrn im Verborgenen und in der
Stille bei sich, aber in wirklicher, lebendiger Kraft.
Inmitten alles dessen, was ihm die Erde hätte heimisch
machen können, war er ein Fremdling. In Egypten war
Jakob ein befreiter und von allem. losgemachter Mann,
so wie er von Anfang an und auf dem ganzen Wege ein
Auserwählter und Berufener gewesen war. —
Lernen wir, Geliebte, das was Gott ihn dort lehrte?
Suchen wir mit einfältigem Herzen das Teil der Fremdlinge und Pilgrime Gottes? Denken wir lieber an Machpela als an Egypten, lieber an die Entrückung, die uns
mit der Verheißung verbindet, als an das täglich wachsende
Gedeihen der gegenwärtigen bösen Welt?

Die Versiegelung mit dem Heiligen Geiste.
Der gegenwärtige Zustand der christlichen Welt
zeigt deutlich, daß ihr der wahre Begriff des - Christentums gänzlich abhanden gekommen ist. Ohne Zweifel ist 
es eine erfreuliche Thatsache, daß Christus in unsern
Tagen mehr verkündigt wird als je zuvor. Werden auch
die Folgen Seines Werkes nicht immer klar dargelegt, so wird
doch dieses selbst den Seelen als eine Wahrheit vorgestellt;
und Gott kann dies segnen. Im allgemeinen werden die
Zuhörer bei der Verkündigung des Evangeliums auf sich
selbst hingewiesen, und die Errettung wird mehr oder
weniger von ihrem eigenen Thun und Verhalten abhängig
gemacht. Die Folge davon ist, daß diejenigen, welche die
Botschaft im Glauben annehmen, meistens in einem Geist
der Knechtschaft einhergehen. Obwohl sie sich zu Zeiten
132
der Vergebung ihrer Sünden erfreuen und glücklich sind,
machen sie ihre endliche Annahme bei Gott doch von ihrem
Wandel abhängig; und so kann weder von einem unerschütterlichen Frieden, noch von einem Wachsen in der Gnade
und Erkenntnis unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi
die Rede sein.
Andrerseits zeigt sich in unsern Tagen ein großer
Eifer, die Seelen nach einer bestimmten Methode zu
bekehren. Man stellt ihnen die Wahrheiten des Evangeliums vor, und nötigt sie eindringlich zur Annahme derselben, ohne der Wirksamkeit des Heiligen Geistes Raum
zu lassen. Dadurch werden die Seelen nur zu oft über
sich selbst getäuscht, indem sie nicht wirklich in das Licht
Gottes betreffs ihres wahren Zustandes kommen. Die
Gefühle werden erregt, während die Gewissen mehr oder 
weniger unberührt bleiben. Die Folgen davon können
nur traurige sein; denn wie könnte bloßes Menschenwerk
das Feuer der Probe aushalten? Gottes Werk wird
bestehen, mag es auch anfänglich noch so unscheinbar aussehen; aber das Werk des Menschen wird über kurz oder
lang vergehen. Wie oft sind solche gleichsam zum Glauben
gezwungene Seelen schon nach einer verhältnismäßig kurzen
Zeit wieder die Sklaven ihrer Lüste und Begierden und
die Beute des Feindes geworden!
Diese Zustände kennzeichnen die christliche Welt, (ich
rede natürlich nicht von der ungläubigen Masse derer,
welche nur noch zum Schein den Namen Christi tragen,)
aber nicht den wahren Charakter des Christentums. Die
Gegenwart des Heiligen Geistes hienieden und
Seine persönliche Jnwohnung in den einzelnen Gläubigen bilden, wenn auch nicht die Grund-
133
läge, so doch das besondere und unterscheidende
Kennzeichen des Christentums und der christlichen
Stellung. Das Christentum konnte nicht eher ins Dasein
treten, bis Christus die Erlösung vollbracht, Seinen Platz
als verherrlichter Mensch zur Rechten Gottes eingenommen
und infolge dessen den Heiligen Geist herniedergesandt
hatte. Das ist ein überaus wichtiger Punkt. Das
Christentum ist so unzertrennlich mit der Gegenwart des
Heiligen Geistes verbunden, daß es mit dieser Wahrheit
steht und fällt. Es hat seinen Ausgangspunkt in der
Thatsache, daß der Mensch eine neue Stellung in Gerechtigkeit droben eingenommen hat, und zwar infolge der Erlösung, welche da vollbracht wurde, wo die Sünde und
der Tod, die Macht Satans und das Gericht Gottes ihre
Entfaltung gefunden hatten, — und daß dieser Mensch
zugleich Gottes Sohn ist. Und diese Thatsache ist durch die
Gegenwart des Heiligen Geistes und Seine Jnwohnung
in dem Gläubigen versiegelt. Er ist herniedergesandt,
um zu bezeugen, daß Christus als Mensch zur Rechten
Gottes ist. So lange daher Jesus noch nicht verherrlicht
war, war weder der Heilige Geist noch das
Christentum; wie geschrieben steht: „Denn der Geist war
noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war."
(Joh. 7, 39.) *)
*) In demselben Sinne sagten auch die Jünger Johannes in
Ephesus: „Wir haben nicht einmal gehört, daß der Heilige Geist
ist." (Apstgsch. 19, 2.) Selbstredend will das nicht sagen, daß der
Heilige Geist nicht existiert habe; kein Christ wird einer solchen
Meinung Raum geben. Das ganze Alte Testament zeugt ja von
dem Dasein und Wirken des Geistes in alledem, was Gott auf
Erden that von der Schöpfung an. Aber obwohl der Heilige Geist
wirksam war, seitdem Er die Himmel schmückte und über den Wassern
134
Wir sehen also, daß die Gegenwart des Heiligen
Geistes die Erlösung als eine vollendete Thatsache voraussetzt. Johannes der Täufer hatte seinen Jüngern Christum
angekündigt unter zwei Charakteren: zunächst als das Lamm
Gottes, welches die Sünde der Well wegnimmt, und dann
als Den, welcher mit dem Heiligen Geiste tauft. (Joh. 1,
29. 33.) Dieser letzte Charakter des Herrn ist dadurch
erwiesen worden, daß der Heilige Geist auf Ihn herniederkam und auf Ihm blieb. „Auf welchen du sehen
wirst den Geist herniederfahren und auf ihm bleiben, dieser
ist es, der mit dem Heiligen Geiste tauft." Zugleich
gab dies Johannes dem Täufer Anlaß, zu bezeugen,
daß Christus der Sohn Gottes sei. (Joh. 1, 29 -34.)
In Ihm wohnte die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig. (Kol. 2, 9.) Wenn Christus aber mit dem Heiligen Geiste gesalbt und versiegelt wurde, so war dies das
Zeugnis Seiner Vollkommenheit als Mensch. Er war bis
zur vollbrachten Erlösung der einzige Mensch, der also
schwebte, so ist Er doch nicht eher persönlich herniedergckommen, um
hier zu wohnen, bis ein verherrlichter Mensch sich zur Rechten
Gottes gesetzt hatte. Und wie der Sohn von sich selbst sagen konnte:
„Ich bin von dem Vater ausgegangen und bin in die Welt gekommen:
wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater", (Joh. 16, 28.)
so konnte Er von dem Heiligen Geiste sagen: „Wenn ich aber hingehe, so will ich Ihn zu euch senden. Und wenn Er gekommen
ist rc." (Joh. 16, 7. 8.) Er war im Alten Testament verheißen
worden. Diese Verheißung ging am Tage der Pfingsten in Erfüllung,
und seitdem besteht das Christentum. Ich zweifle nicht, daß der
HeilRze Geist beim Beginn des tausendjährigen Reiches in besonderer
Weise ausgegossen werden wird; doch darum handelt es sich hier
nicht. So wie der Heilige Geist uns jetzt mitgeteilt ist, verbindet
Er uns mit einem abwesenden, himmlischen und verherrlichten
Christus.
135
versiegelt wurde. Als Mensch stand Er völlig unter der
Leitung des Heiligen Geistes und handelte durch dessen
Macht. Er wurde durch den Geist in die Wüste geführt,
um vom Teufel versucht zu werden. (Luk. 4, 1.) Durch
den Geist trieb Er die Teufel aus. (Matth. 12, 28.)
Durch den ewigen Geist hat Er sich selbst ohne Flecken
Gott geopfert. (Hebr. 9, 14.) Er redete die Worte Gottes,
weil der Geist Ihm nicht nach Maß gegeben war.
(Joh. 3, 34.) Und wenn Er endlich durch Totenauferstehung
als Sohn Gottes in Kraft erwiesen wurde, so geschah es
dem Geiste der Heiligkeit nach. (Röm. 1, 4.) Alle diese
Stellen, und noch viele andere, bezeugen die große Wichtigkeit dieser Thatsache der Versiegelung des Menschen
mit dem Heiligen Geiste. Nur dürfen wir nicht vergessen,
daß diese Versiegelung im Blick auf Christum das Zeugnis
Seiner Vollkommenheit als Mensch war, während sie in
Bezug aus uns die Frucht und das Siegel der Erlösung ist.
Wenn aber die Person Christi durch den Heiligen
Geist versiegelt wurde; wenn Christus als Mensch alles
durch die Kraft des Geistes that; und wenn wir infolge
der Erlösung denselben Geist empfangen haben, so kann
diese Thatsache wahrlich nicht hoch genug geschätzt werden.
Wiewohl sie nicht, wie schon bemerkt, die Grundlage
unsrer Stellung ausmacht, so ist sie doch das besondere
Kennzeichen derselben. Und die Beziehung, welche zwischen
unsrer Stellung und derjenigen des Herrn Jesu besteht,
wird dadurch in ein wunderbares Licht gestellt. War doch
Christus der einzige Mensch, der während Seines Lebens
hienieden den Heiligen Geist besaß; und nur Er allein
hatte die Macht, Ihn andern mitzuteilen; und siehe, Er
hat dieses gethan, sobald Er hinaufgestiegen war und wir
136
durch die Erlösung für die Jnwohnung des Geistes
befähigt waren. Wenn das Herniederkommen des Heiligen
Geistes die Folge der Erhöhung Christi ist, so sind wir
durch die Versiegelung mit diesem verherrlichten Christus in
Verbindung gebracht. Welch eine Erhabenheit verleiht
diese Thatsache der Stellung des Christen! Und welch ein 
himmlisches Gepräge giebt sie dem ganzen Christentum!
Welch eine Bestätigung der herrlichen Worte des Herrn:
„Es ist euch nützlich, daß ich hingehe; denn wenn ich
nicht hingehe, wird der Sachwalter nicht zu euch kommen;
wenn ich aber hingehe, will ich Ihn zu euch senden."
(Joh. 16, 7.)
Weiter zeigt uns die Schrift klar und bestimmt, daß 
nur die Gläubigen den Heiligen Geist empfangen sollten.
„Dies aber sagte Er von dem Geiste, welchen die an
Ihn Glaubenden empfangen sollten." „Und ich
werde den Vater bitten, und Er wird euch einen andern
Sachwalter geben, daß Er bei euch sei in Ewigkeit, den
Geist der Wahrheit, den dieWelt nicht empfangen
kann, weil sie Ihn nicht sieht, noch Ihn kennt. Ihr
aber kennet Ihn, denn Er bleibt bei euch und wird in
euch sein." (Joh. 7, 39; 14, 16. 17.) Der Heilige Geist
ist nicht da für die Welt, wenngleich Er ihr durch die von
Gott erwählten Werkzeuge das Evangelium verkündigen
kann. Die Gläubigen kennen Ihn, weil Er bei ihnen
bleibt und in ihnen wohnt.
Die Welt erfuhr von dem Herniederkommen des Geistes
nichts, aber sie konnte die Wirkungen davon wahrnehmen.
Der Heilige Geist kam nur auf die, welche bereits an
Christum geglaubt hatten; und diese empfingen dadurch
das Bewußtsein, daß sie nunmehr in dieselbe Stellung
137
gebracht waren, welche Christas vor Gott einnahm. In
gewissem Sinne nahm der Heilige Geist als der „andere
Sachwalter" hienieden den Platz Christi bei ihnen ein;
aber nur zu dem Zwecke, um ihnen Christum völliger zu
offenbaren als den Verherrlichten, der ihre Erlösung vollbracht hatte und infolge derselben der Gegenstand ihrer
Hoffnung auf die Herrlichkeit geworden war. Zugleich
war der Geist das Unterpfand und der Offenbarer dieser
Herrlichkeit, jedoch nur für diejenigen, welche den Platz
des verworfenen Heilandes einnahmen. Für sie war Er
herniedergekommen, um sie erkennen zu lassen, daß alles,
was Christus als verherrlichter Mensch besitzt, auch ihnen
gehöre. „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, gekommen ist, wird Er euch in die ganze Wahrheit leiten;
denn Er wird nicht aus sich selbst reden, sondern alles,
was irgend Er hören wird, wird Er reden, und das
Kommende wird Er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen, denn von dem Meinen wird Er empfangen und
euch verkündigen. Alles, was der Vater hat,, ist mein."
(Joh. 16, 13-15.)
Indessen ist es eine andere Sache, aus dem Geiste
geboren, als mit demselben versiegelt zu sein. Ohne
Zweifel waren die Gläubigen des Alten Testaments ebensowohl aus dem Geiste geboren, wie diejenigen des Neuen;
aber die Jnwohnung des Heiligen Geistes als Person in dem
Gläubigen ist eine ganz andere Sache. So z. B. waren
die Jünger vor dem Pfingstfest schon gereinigt durch das
Wort Christi; auch war ihr Verständnis geöffnet, so daß
sie die Schriften verstehen konnten; und ferner hatte ihnen
Jesus bereits den Odem Seines neuen Auferstehungslebens
eingehaucht, wie Gott einst dem Adam das Leben einhauchte;
138
aber bei alledem mußten sie in Jerusalem noch warten
auf die Herniederkunft des Heiligen Geistes. (Joh. 15, 3;
Luk. 24, 45; Joh. 20, 22; Luk. 24, 49.) Aber könnte
jemand einwenden, dies war ein andrer Fall; denn damals
war der Heilige Geist noch nicht gekommen. Ganz richtig;
aber dennoch waren sie aus Gott geboren, denn es steht
geschrieben: „Jeder, der da glaubt, daß Jesus der Christus
ist, ist aus Gott geboren." (1. Joh. 5, 1.) Ferner hören
wir später, daß in Samaria solche waren, welche glaubten
und getauft waren und doch den Heiligen Geist noch nicht
empfangen hatten. Sie empfingen denselben erst hernach
durch die Auflegung der Hände der Apostel. Desgleichen
wurde Saulus auf dem Wege nach Damaskus bekehrt;
aber erst drei Tage später wurde Ananias zu ihm gesandt,
und er wurde wieder sehend und mit dem Heiligen Geiste
erfüllt.
Daraus geht hervor, daß die Jnwohnung des Heiligen
Geistes als göttliche Person eine andere Sache ist, als das
neue Leben in uns, obwohl dieses selbstverständlich nie 
von seiner göttlichen Quelle getrennt werden kann. Wäre
der Heilige Geist als Person unser Leben, so würde dies
eine Fleischwerdung des Heiligen Geistes in uns bedeuten;
ein solcher Gedanke wäre aber ganz und gar schriftwidrig.
Wir sind aus dem Geiste geboren; aber was aus dem
Geiste geboren ist, ist nicht der Geist, sondern Geist, d. h.
eS besitzt in moralischer Hinsicht dieselbe Natur. (Joh. 3, 6.)
Und in diesem Sinne sind wir Teilnehmer der göttlichen
Natur. Aber ich wiederhole: Die Versiegelung mit dem
Heiligen Geiste ist etwas ganz anderes als die neue Geburt.
Ohne die erstere kann ein Gläubiger weder die ganze Wahrheit und Tragweite der Erlösung verstehen, noch das Be­
139
wußtsein seiner neuen Stellung in Christo haben. Er
befindet sich in einem geknechteten Zustand und kennt die
Befreiung nicht. Denn es giebt eine Freiheit, für welche
Christus uns frei gemacht hat; und: „wo der Geist des
Herrn ist, da ist Freiheit." (Gal. 5, 1; 2. Kor. 3, 17.)
Aber diese Befreiung besteht nicht darin, daß man von
neuem geboren ist, oder daß man Vergebung der Sünden
hat, sondern in der Thatsache, daß wir nach unserm alten
Menschen mit Christo gestorben sind, und daß Christus
unser Leben ist in der Macht des Geistes Gottes.
Wie oder wann empfangen wir denn den Geist der
Sohnschaft? Indem wir an die vollkommene Erlösung
glauben, welche in dem Werke Christi für uns geschehen
ist. Die Stellung des befreiten Christen finden wir in
den Worten ausgedrückt: „Ihr aber seid nicht im Fleische,
sondern im Geiste, wenn anders der Geist Gottes in euch
wohnt." (Röm. 8, 9.) Die Schrift redet über diesen Punkt
so klar wie möglich. Und ebenso klar ist die Thatsache,
daß derjenige, dessen Zustand im siebenten Kapitel des
Römerbriefes beschrieben wird, die Befreiung nicht besitzt^
Dies erhellt schon daraus, daß er seinen geknechteten Zustand fühlt und nach Befreiung seufzt. Die Befreiung ist
nicht eine Sache, welche sich wiederholt, sondern ein Zustand, in welchen man eintritt. Dieses geht deutlich aus
dem achten Kapitel des Römerbriefes hervor. Nach diesem sind wir in Christo und haben den Geist der Sohnschaft, der nicht von uns weggenommen werden wird.
Und der Gläubige kann aus innerster Ueberzeugung in die
Worte einstimmen: „Also ist jetzt keine Verdammnis mehr
für die, welche in Christo Jesu sind. Denn das Gesetz
des Geistes des Lebens in Christo Jesu hat mich frei
140
gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes."
(Vers 1. 2.)
Ohne Zweifel wird Gott, wenn Er einmal Sein
gutes Werk in einer Seele anfängt, dasselbe auch vollenden.
Dies sehen wir an dem verlorenen Sohne: er that Buße,
bekannte seine Sünden, sah ein, daß er verloren war, und
begab sich auf den Weg zum Vater. Alles dieses geschah,
ehe er mit dem Vater zusammentraf; aber nicht eher
kannte er dessen Gedanken, nicht eher konnte er rufen:
„Abba, Vater!", bis der Vater an seinem Halse hing und
seinen Mund mit Küssen bedeckte. Auch besaß er noch
nicht das vornehmste Kleid, den Ring und die Schuhe,
welche ihn zum Eintritt in das Haus passend machten
und ihn als Sohn kennzeichneten. Sobald aber der Vater
ihn umarmt, lernt er die Liebe des Vaterherzens kennen,
und alsbald geht eine große Veränderung in ihm vor.
Während er vorher sich mit der Stellung und dem Dienst
eines Tagelöhners begnügen wollte, folgt er jetzt freudig
dem Vater ins Haus und läßt sich an dessen Tische nieder,
um als der verlorene, aber wiedergefundene Sohn ein 
Fest der Freude mit ihm zu feiern. (Schluß folgt.)
Bruchstück.
Als Abraham in Haran zögerte, wartete Gott auf
ihn; als er nach Egypten hinabzog, stellte Er ihn wieder
her; als er der Leitung bedurfte, leitete Er ihn, und als
Zank und Trennung entstanden, trug Er in der zärtlichsten
Weise Sorge für ihn. — Wo ist ein solcher Gott
wie Er?
Die Versiegelung mit dem Heiligen Geiste.
(Schluß.)
Die Jnwohnung des Heiligen Geistes in uns kennzeichnet sich also durch das Bewußtsein, welches wir durch
dieselbe von unsrer neuen Stellung in Christo und von
unsrer Sohnschaft haben. Wir sind durch den Tod
Christi von unserm alten Zustande als Kinder des ersten
Adam befreit und befinden uns jetzt unsrer Stellung nach
in Christo vor Gott. Infolge dessen stehen wir nicht
mehr unter dem Gesetz, noch unter der Herrschaft der
Sünde, sondern wandeln in der glückseligen Freiheit dieser
neuen Stellung. „Wo aber der Geist des Herrn ist, da
ist Freiheit." (2. Kor. 3, 17.) Wir kennen die Liebe
Gottes; denn sie ist ausgegossen in unsre Herzen durch
den Heiligen Geist. (Röm. 5, 5.) Wir kennen unser
inniges Verhältnis zu Gott und haben Freimütigkeit und
ein kindliches Vertrauen zu Ihm. „Denn ihr habt nicht
einen Geist der Knechtschaft empfangen, wiederum zur
Furcht, sondern einen Geist der Sohnschaft habt ihr
empfangen, in welchem wir rufen: Abba, Vater!" „Weil
ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist Seines
Sohnes in unsre Herzen gesandt, der da ruft: Abba,
Vater!" (Röm. 8, 15; Gal. 4, 6.) Die Fähigkeit, also
rufen zu können, beweist nicht nur, daß wir ein neues
Leben haben, sondern auch, daß wir das Bewußtsein
'142
der Stellung besitzen, in welche die Erlösung uns, die wir
das Leben haben, gebracht hat. Unmöglich kann der Gedanke an eine Zurechnung unsrer Schuld seitens Gottes
noch Raum in uns finden, wenn wir durch den Heiligen
Geist unsre neue Stellung kennen. Denn wir wissen alsdann,
daß diese auf das vollkommene Werk Christi gegründet
ist, durch welches unsre Sünden für immer hinweggethan
wurden. „Durch ein Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden," so daß wir,
einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden haben.
(Hebr. 10, 2. 14.) Auch steht geschrieben: „Glückselig
der Mann, dem der Herr Sünde gar nicht zurechnet!"
(Röm. 4, 8.) Gott gedenkt unsrer Sünden nicht mehr,
(Hebr. 10, 17. 18.) und Christus hat, „nachdem Er durch
sich selbst die Reinigung der Sünden gemacht, sich gesetzt
zur Rechten der Majestät in der Höhe." (Hebr. 1, 3.)
So sind wir denn nicht nur durch das Blut Christi
gereinigt, sondern auch in Ihm zu Seiner neuen Stellung
erhoben. Und der Heilige Geist ist uns gegeben als das
Unterpfand unsrer zukünftigen Gleichförmigkeit mit Christo
in der Herrlichkeit. (2. Kor. 5, 5.) „Wir wissen, daß,
wenn es offenbar werden wird, wir Ihm gleich sein werden,
denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist." (1. Joh. 3, 2.)
Es giebt drei große Vorrechte, welche aus der Gegenwart des Heiligen Geistes in uns entspringen. Erstens
rufen wir: „Abba, Vater!" — wir wissen, daß wir Kinder
sind. Zweitens wissen wir, daß wir in Christo sind und
Er in uns; und drittens ist die Liebe Gottes in unsre Herzen
ausgegossen. Die Vergebung, die Liebe des Vaters, unser
Teil und unsre Stellung mit und in Christo, verbunden
mit der freudigen Hoffnung der Herrlichkeit Gottes: alles
143
das ist das Teil derer, welche Christum als ihr Leben
besitzen. Und wir kennen und genießen diese Dinge durch
die Macht des Heiligen Geistes in uns.
Die Wahrheit unsrer Versiegelung mit dem Heiligen
Geiste ist in ganz besonderer Weise in der zweiten Epistel
an die Korinther und in dem Briese an die Epheser dargestellt; jedoch stets als das Teil der Gläubigen, das heißt
derer, welche bereits das Leben haben und im Blute des
Lammes gewaschen sind. Wo diese Wahrheit nicht
eingeräumt und verstanden wird, da kennt man
den wahren Grund des Christentums nicht. Die
wahre christliche Stellung hat ihren Ausgangspunkt in der
Thatsache, daß wir auf den Tod Christi getauft sind
und daß unser alter Mensch mit Ihm gekreuzigt ist. Für
den Glauben ist es mit unserm alten Menschen zu Ende.
Wir befinden uns vor Gott nicht mehr in dem Zustande,
in welchem wir als Kinder des ersten Adam waren. Es
giebt keine Verbesserung oder Veredlung des alten Menschen,
noch Kraft in dem neuen, um außerhalb und unabhängig
von dem alten Zustande zu wandeln, selbst nicht wenn der
Wille dazu vorhanden ist. (Vergl. Röm. 7.) Es genügt
daher nicht zu wissen, daß wir von neuem geboren sind;
wir müssen verstehen, daß unser alter Mensch mit Christo
gekreuzigt und daß Christus unser Leben ist. Und diese Wahrheit können wir ihrer wirklichen Kraft und Tragweite nach
nur durch den Heiligen Geist verstehen und verwirklichen.
„Ihr seid nicht im Fleische, sondern im Geiste, wenn anders
der Geist Gottes in euch wohnt." (Röm. 8, 9.)
Bemerken wir auch, daß der Heilige Geist nicht nur
als eine göttliche Person in uns wohnt und das Leben
in uns wirkt, sondern daß Er auch in uns handelt auf
114
eine von uns unterschiedliche Weise. Durch den Geist
töten wir die Handlungen des Leibes; durch den Geist
werden wir geleitet; Er ist der Geist der Sohnschaft,
durch welchen wir rufen: „Abba, Vater!" Der Geist selbst
giebt Zeugnis mit unserm Geiste, daß wir Kinder Gottes
sind; Er kommt uns zu Hülfe in unsrer Schwachheit,
während wir uns auf dem Wege nach unserm Erbteil
befinden, damit wir dasselbe mit Ausharren erwarten, und
wenn wir nicht wissen, was wir beten sollen, wie sich's
gebührt, so bittet Er für uns Gott gemäß in unaussprechlichen Seufzern. (Röm. 8.)
Nun aber kann ein Gläubiger den Heiligen Geist
haben, und doch nicht befreit sein. Die Schwierigkeit,
welche in den Herzen vieler Gläubigen in dieser Beziehung
besteht, kommt vielfach daher, daß sie infolge schlechter
Belehrung alles von ihren Erfahrungen und ihrem Wandel
abhängig machen. Sie setzen die neue Geburt an die
Stelle der vollbrachten Erlösung, und die Wirksamkeit
des Heiligen Geistes in der Seele an die Stelle Seiner
Person, und kommen dadurch in Verwirrung. Sie
halten nicht getrennt, was Gott getrennt hat, und gelangen
so zu dem Schlüsse, daß man sich prüfen müsse, ob man
im Glauben sei. Ohne Zweifel ist die neue Geburt eine
höchst wichtige Wahrheit; aber sie ist von der vollbrachten
Erlösung durchaus verschieden, wiewohl sie auf dieselbe
gegründet ist. Sie ist ein Werk, das durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in uns oorgeht; während die
Erlösung durch Christum unabhängig von uns und für
uns ein für allemal vollbracht wurde. Die Erlösung
Israels, durch welche dieses das Eigentums-Volk Gottes
wurde, war eine unumstößliche Thatsache, aber ganz und
145
gar unabhängig von den späteren Erfahrungen des Volkes
in der Wüste und in Kanaan. Ebenso unabhängig ist unsre
Erlösung von unserm Wandel, und ebenso unabhängig die
Jnwohnung des Heiligen Geistes als Person von Seiner
Wirksamkeit in uns. Diese Jnwohnung ist eine Folge
unsers Glaubens an die vollbrachte Erlösung. Allerdings
muß der Geist notwendig auf unsre Herzen wirken, wenn
Er in uns wohnt; und es ist gewiß gut, unsern Wandel
zu prüfen, ob er mit unsern Vorrechten übereinstimmt.
Allein wir dürfen Sein Wohnen in uns nie abhängig
machen von unserm Verhalten. Die in uns wirkende Macht
des Heiligen Geistes ist vielmehr ein Beweis Seiner
Gegenwart, durch welche wir versiegelt sind.
Ohne Zweifel ist es ein großes Vorrecht, daß unsre
Leiber Tempel des Heiligen Geistes sind, welchen wir von
Gott haben, und daß wir um einen Preis erkauft sind.
Aber eben darum kann Gott auch erwarten, daß wir Ihn
verherrlichen an unserm Leibe, und daß wir Seinen Geist
nicht betrüben. Wir haben daran zu denken, daß die
Gegenwart des Heiligen Geistes das unterscheidende Kennzeichen des Christentums und des Christen ist. Wohl mag
Er uns zu überführen, zu züchtigen und zu demütigen
haben, wenn unser Wandel nicht im Einklang mit unsrer
Stellung ist — und Gott sei Dank, daß Er es thut!
aber selbst dieses Züchtigen und Ueberführen kann niemals
unsre Stellung, in welche die vollkommene Erlösung uns
gebracht hat, und kraft welcher Er in uns wohnt, in
Frage stellen. Er wird nie von uns weichen, sondern
nach den Worten des Herrn in und bei uns bleiben in
Ewigkeit.
Viele Christen werden durch schlechte Belehrung in
146
einem Geiste der Knechtschaft gehalten, trotzdem sie mit
dem Heiligen Geiste versiegelt sind. Und ohne es absichtlich
zu wollen, geben sie dadurch grundsätzlich den Boden des
Christentums auf. So zum Beispiel erklärt der Apostel
den Gläubigen in Galatien, welche durch das Gesetz
gerechtfertigt zu werden suchten: „Ihr seid abgetrennt von
dem Christus, so viele ihr im Gesetz gerechtfertigt werdet,
ihr seid aus der Gnade gefallen." (Gal. 5, 4.) Das ist 
ein höchst wichtiger Punkt. Der Heilige Geist war den
Galatern nicht in Verbindung mit dem Gesetz gegeben
worden, (Gal. 2 u. 3.) noch selbst weil sie von neuem
geboren waren, (obgleich dies nötig war,) sondern kraft
des Glaubens an einen Heiland, der gestorben, auferweckt 
und verherrlicht ist. Indem sie sich nun unter das Gesetz
begaben, kehrten sie zu der Stellung des Menschen im
Fleische zurück, anstatt ihre Stellung in dem verherrlichten
Christus, von welcher der Heilige Geist daS Siegel ist,
zu bewahren. Sie standen grundsätzlich nicht mehr auf
dem Boden des Christentums; und der Apostel hatte, wie
er sich ausdrückt, abermals Geburtswehen um sie, bis
Christus in ihnen gestaltet worden sei. (Kap. 4, 19.)
Leider nehmen heute viele Christen eine ähnliche
Stellung ein wie die Galater. Obwohl sie errettet und
mit dem Heiligen Geiste versiegelt sind, kennen sie ihre
Stellung in Christo doch gar nicht. Sie wenden die
Vergebung nur auf diejenigen Sünden an, welche sie vor
ihrer Bekehrung begangen haben; *) aber das ist eine VerDer Ausdruck „vorhergeschehene Sünden" in Röm. 8, 25
bezieht sich auf die Sünden der Heiligen des Alten Testaments.
Selbstredend kann ich die Vergebung, wenn sie mir zu teil wird,
nur ans schon begangene Sünden anweiiden, denn andere sind nicht
147
gebung, wie sie den Juden unter dem Gesetz zu teil
wurde, und welche der Schrift gemäß in völligem Gegensatz
zu derjenigen der Christen steht. (Vergl. Hebr. 9 u. 10.)
Solche Christen kennen nicht die „ewige Erlösung", von
welcher die Schrift redet. (Hebr. 9, 12.) Sie geben zu,
daß ihre Sünden bis zu dem Augenblick ihrer Bekehrung
vergeben sind; aber die Behauptung, daß alle Sünden
des Gläubigen von Anfang bis zu Ende seines Lebens
auf Grund des Opfers Christi ein für allemal vergeben
seien, halten sie für eine sehr gefährliche Lehre.*) '
vorhanden. Aber das berührt keineswegs die Frage der Ausdehnung
und Tragweite des Todes Christi. Dieser fand statt, ehe ich irgend
welche Sünden begangen hatte, und findet notwendigerweise seine
Anwendung auf mein ganzes Leben hienieden, auf alle meine
Sünden von meinem ersten bis zu meinem letzten Atemzuge. Man
verwechselt eben so gern das Werk des Heiligen Geistes mit demjenigen Christi.
*) Sicherlich habe ich die Fußwaschung nötig, wenn ich
als Christ gesündigt habe; es muß stets ein ernstes Bekenntnis und.
Sclbstgericht vor Gott stattfinden, ehe meine Gemeinschaft mit Jhnr
praktisch wicderhergestellt werden kann. Aber die Sünde wird mir
von dem Augenblick an, da ich au das Werk Christi geglaubt habe,
nicht mehr zugerechnet; ich habe kraft desselben ein vollkommenes Gewissen.
In dieser Beziehung war das Judentum besser als
das halbe Christentum unsrer Tage. Sündigte ein Jude,
so wurde ein Opfer dargebracht, und er empfing Vergebung
seiner Sünde. Aber nach der Lehre des heutigen halben
Christentums kann jemand für die vor seiner Bekehrung
begangenen Sünden Vergebung haben, während er betreffs
der nachherigen Sünden in beständiger Ungewißheit schwebt.
Viele, vielleicht die meisten Christen verstehen nicht, was
der Ausdruck: „kein Gewissen mehr von Sünden haben",
148
(Hebr. 10, 2.) bedeutet. Sie kennen nicht einmal etwas
von der Glückseligkeit des Menschen, „welchem der Herr
Sünde gar nicht zurechnet". (Röm. 4, 8.) Für die nach
ihrer Bekehrung begangenen Sünden halten sie eine neue,
sich immer wiederholende Besprengung mit dem Blute
Christi für notwendig — eine Sache, welche der klaren
Belehrung des Wortes Gottes schnurstracks zuwiderläuft.
Zugleich reden sie, im Blick auf ihre täglichen Verirrungen,
Verunreinigungen w., von dem gegenwärtigen Priestertum
Christi im Himmel, obwohl die Schrift nirgendwo in
dieser Bedeutung von demselben redet. Die gegenwärtige
Thätigkeit Christi als unser großer Hoherpriester ist eine
unaussprechlich kostbare und gesegnete Sache, aber sie hat
nichts mit unsern Sünden als Gläubige auf dem Wege
durch diese Welt zu thun. — Auch kennen jene Gläubigen
nicht die Bedeutung der Worte: „Durch ein Opfer hat
Er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden."
(Hebr. 10, 14.)
Indes möchte jemand fragen: Giebt es denn keine
Kennzeichen dafür, daß ein Mensch mit dem Heiligen
Geiste versiegelt ist? O ja, es giebt einige sehr einfache,
die sich aus dem oben Gesagten eigentlich von selbst ergeben.
Zunächst kann ein mit dem Geiste Versiegelter in Wahrheit
vor Golt sagen: „Abba, Vater!" Zweitens ist er überzeugt, daß er in Christo, und daß Christus in ihm ist.
Drittens ist die Liebe Gottes in sein Herz ansgegossen.
(Röm. 8, 15; Gal. 4, 6; Joh. 14, 20; Röm. 5, 5.)
Es giebt außer den genannten noch andere Beweise; denn
das. ganze Leben eines wahren und aufrichtigen Christen
zeigt, abgesehen von vorkommenden Fehltritten, daß der
Geist Gottes in ihm wohnt. Aber ich führe absichtlich
149
nur die einfachsten Beweise an, so wie die Schrift sie uns
unmittelbar giebt. Daß viele Christen die einfache und
reine Wahrheit nicht annehmen, hat seinen Grund darin,
daß sie die Lehre von der Erlösung nicht völlig glauben.
Trotzdem aber sind sie, wenn sie anders in Wahrheit sagen
können: „Abba, Vater!" versiegelt; und alsdann kann
ihnen keine Sünde mehr zugerechnet werden; sonst wäre
ja Christus vergeblich gestorben. Und ist jemand mit dem
Heiligen Geiste versiegelt, so ist er ein Kind Gottes und
seiner Stellung nach vor Gott ein „Mensch in Christo".
Sicherlich knüpft sich, wie schon oben bemerkt, an
dieses große Vorrecht eine große Verantwortlichkeit. Und
darum thut es not, solche, die wirklich erkauft und errettet
sind, zu ermuntern, daß sie einen wachsamen und treuen
Wandel in der Furcht Gottes führen, und ihre „eigene
Seligkeit bewirken mit Furcht und Zittern". (Phil. 2, 12.)
Denn obwohl wir die Gewißheit haben, daß wir durch
GotteS Macht bis ans Ende werden bewahrt und befestigt
werden, so müssen wir doch, eben weil wir Erkaufte sind,
durch die Wüste gehen, wo alles in uns gesichtet und
geprüft wird. (Joh. 10; 1. Kor. 10.) Der wahre Gläubige
weiß, daß Gott, der ihn in diese Prüfung gebracht hat,
Seine Augen nicht abwendet von dem Gerechten. Und
darum stützt er sich auf die Treue des lebendigen Gottes
und auf das vollkommene Werk, durch welches er erkauft
und errettet, und kraft dessen er nicht mehr im Fleische ist.
Möchten wir stets den Maßstab und das Muster der
christlichen Stellung vor Augen haben, wie es uns in
Matthäus 3, 16. 17 vorgestellt wird! Dort sehen wir
Christum als Den, welchem die Himmel aufgethan waren,
der mit dem Heiligen Geiste gesalbt und versiegelt wurde,
150
und den der Vater öffentlich als Seinen geliebten Sohn
anerkannte. Er allein nahm als Mensch diese Stellung
zufolge Seiner eignen Würdigkeit ein. Für uns
war die Erlösung nötig; anders konnten wir unmöglich
in diese Stellung eingeführt werden. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein."
Darum muß auch unser Glaube nicht allein auf der Person
Christi, sondern auch auf Seinem Werke ruhen.
Eine Seele kann zögern, die durch daS Werk Christi
vollbrachte Erlösung im Glauben zu ergreifen; aber Gott
zögert nicht, eine Seele mit Seinem Geiste zu versiegeln,
sobald sie glaubt.

Ueber den Dienst der Frauen.
Eines der besondern Merkmale, welche die religiösen
Bewegungen der jetzigen Zeit des Verfalls kennzeichnen,
ist die Bemühung des Menschen, an Stelle der Leitung
durch das Wort Gottes die eigene Einbildungskraft wirken
zu lassen.
So zeigt sich z. B. das Bestreben, die Herzen und
Gewissen der Unbekehrten dadurch zu erreichen, daß man
neue Mittel der Thätigkeit ersinnt, welche den Sitten
unsrer Zeit angepaßt sind. Als wenn das Wort Gottes
nicht alle Zeiten vorgesehen hätte! als wenn es nicht in
sich seine eigene Kraft trüge und nicht stets wirksam wäre
in seiner Fähigkeit, sich den Bedürfnissen des Menschen
anzupassen, unbekümmert um Ort und Zeit! Man hat
vergessen, daß die Segnung Gottes von dem unbedingten
Gehorsam Seinem Worte gegenüber nicht getrennt werden
kann.
151
So meint man heute auch vielfach, das Werk Gottes dadurch zu fördern, daß man den Frauen die Freiheit
einräumt zu predigen. Als Vorwand führt man unter
anderm an, daß wir doch mit allen nur möglichen Mitteln
den wachsenden Unglauben bekämpfen sollten. Die Frauen
beten und predigen öffentlich, und rechtfertigen dieses angematzte Recht durch Heranziehung des Wortes, durch den
Hinweis auf das Dasein von Prophetinnen im Alten
Testament u. s. w. Der Zweck dieser Zeilen ist nun, diesen
Gegenstand etwas näher nach dem Worte zu untersuchen.
Zunächst möchte ich bemerken, daß es einfach eine
Verdrehung der Schriften ist, (wie es in 2. Petr. 3, 16
heißt,) wenn man aus den Schriftstellen, welche von
Prophetinnen reden, den Beweis herleiten will, daß
Frauen öffentlich evangelisieren dürfen. Nicht nur sind
„prophezeien" und „das Evangelium verkündigen" zwei
ganz verschiedene Dinge, sondern das Wort sagt auch
ausdrücklich, (1. Kor. 14, 34. 35.) daß es schändlich für
ein Weib sei, „in der Versammlung" (d. h. öffentlich) zu
reden. Auch ersehen wir aus 1. Tim. 2, daß es der
Frau nicht erlaubt ist, die Stelle des Mannes einzunehmen
und zu lehren.
Nachdem wir diesen ersten Punkt festgestellt haben,
wollen wir einige der Schrift stellen, welche zur Rechtfertigung des öffentlichen Dienstes der Frau angeführt
werden, einer Prüfung unterziehen.
Im Alten Testament (2. Mose 15.) weist man auf
die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, hin und
stellt dieselbe, indem man sich auf Micha 6, 4 stützt, mit
Aaron und Moses, ihren Brüdern, auf gleiche Stufe.
Das genannte Kapitel schildert uns den Rechtsstreit, wel­
152
chen Jehova mit Seinem Volke Israel hat. In Vers 4
erinnert Jehova daran, daß Er Mose, Aaron und Mirjam vor dem Volke hergesandt habe. Indes beweist
diese Zusammenstellung nichts für die obige Behauptung,
sobald wir uns vergegenwärtigen, daß Mose der Mittler,
Aaron der Hohepriester und Mirjam eine Prophetin war.
Von den Prophezeiungen Mirjams und selbst von alledem,
was auf ihren besonderen Dienst Bezug hat, wird uns
in der Heiligen Schrift nichts anderes berichtet als die einzige Thatsache, daß Mirjam, nach dem Durchzuge durch
das Rote Meer, (2. Mose 15, 20.) sich an die Spitze
aller Weiber (nicht etwa auch der Männer) stellte, um die
große Befreiung, welche Jehova geschafft hatte, im Liede
zu verherrlichen. Wir dürfen wohl annehmen, daß Mirjam für ihre Brüder, in deren Dienst, eine Gehülfin war;
sie war eine Prophetin, aber sie war Mose und Aaron
nicht ebenbürtig. Ihre Geschichte kann in keiner Weise
als ein beweiskräftiger Fall aus früherer Zeit für die
Behauptung dienen, daß die Frau dem Manne in dem
Dienste des Wortes gleichberechtigt sei.
Es ist auch bemerkenswert, daß der Heilige Geist es
für gut befunden hat, uns im 12. Kapitel des 4. Buches
Mose einen genauen Bericht von der Eifersucht Mirjams
gegen ihren Bruder und von der daraus für sie erwachsenen
Züchtigung zu geben. „Mirjam und Aaron" (nicht Aaron
und Mirjam) „sprachen gegen Mose u. s. w." Jehova
stellt sich hier auf die Seite Moses, indem Er die Würde
seines Dienstes in wunderbarem Lichte hervortreten läßt;
dann züchtigt Er Mirjam, (Mirjam, nicht Aaron,) wodurch
sie als die Schuldige bezeichnet wurde. Ohne Zweifel
hatte sie Aaron beeinflußt. In 5. Mose 24, 9 wird an diesen
153
traurigen Zwischenfall erinnert: „Gedenke, was Jehova, dein
Gott, gethan hat an Mirjam auf dem Wege, als ihr aus
Egypten zöget."
Zu demselben Zweck, das heißt zur Rechtfertigung
des öffentlichen Dienstes der Frau und ihrer Gleichberechtigung mit dem Manne, führt man die Erzählung
von Richter 4 und 2. Könige 22 an. Diejenigen aber,
welche diese Stellen zitieren, berücksichtigen weder die Zeit,
in welcher sich die geschilderten Ereignisse zutrugen, noch
auch den Zustand, in welchem das Volk Gottes sich
damals befand. Zur Zeit der Richter, nach dem Tode
Josuas und der Aeltesten, welche seine Zeitgenossen gewesen waren, war das Volk Gottes tief gesunken. ' Das
Wort schließt die Beschreibung dieses Zustandes mit den
Worten: „Ein jeder that was recht war in seinen Augen."
Und zu der in 2. Könige 22 beschriebenen Zeit war der Abfall so groß, daß man nicht nur das Buch des Gesetzes selbst,
sondern auch jede Erinnerung daran verloren hatte, und
daß das Volk allgemein und ohne Scham den Götzen diente.
In solchen Zeiten des Verfalls, in welchen der
Götzendienst Gott und Sein Gesetz völlig in Vergessenheit
gebracht hatte, erweckte Gott Propheten inmitten Seines
Volkes, wie zum Beispiel Elias und Elisa. Der Dienst
dieser Propheten war eine barmherzige Heimsuchung von
feiten Jehovas. In den Evangelien ist der Herr verschiedene Riale für einen dieser Propheten, durch welche
Gott Sein Volk besuchte, gehalten worden. Gott erwählte
fromme Männer, welche Seine Gedanken offenbaren sollten, nachdem Sein Gesetz übertreten und vergessen worden war.
In den Zeitabschnitten jedoch, von welchen Richter 4
und 2. Könige 22 reden, war der Zustand des Volkes
154
ein so niedriger geworden, daß, wie es scheint, kein Mann
aufzufinden war, der gottesfürchtig genug gewesen wäre,
um als Prophet dienen zu können; und so teilte Gott,
anstatt Sein Volk gänzlich aufzugeben, lieber einem frommen Weibe Seine Gedanken mit und richtete durch ihre
Vermittlung. Der 9. Vers des 4. Kapitels der Richter
zeigt übrigens, daß Debora die Demütigung wohl fühlte,
welche für das Volk Gottes in der Thatsache lag, daß
es durch die Hand eines Weibes befreit werden sollte.
Auch finden wir unter den Vorwürfen, welche Jehova
durch den Mund des Propheten Jesaja Israel macht, die
bezeichnenden Worte: „Mein Volk! seine Dränger sind
Kinder, und Weiber herrschen über dasselbe." (Kap. 3, 12.)
Bei der Geburt des Herrn finden wir noch eine
Prophetin, Hanna, eine gottesfürchtige Frau, welche ebenfalls in einer bösen Zeit Zeugnis für den Herrn ablegte.
Sie wich nicht von dem Tempel, indem sie Nacht und
Tag mit Fasten und Flehen diente, und sie redete von dem
Herrn zu allen, die auf Erlösung warteten in Jerusalem.
(Luk. 2, 36-38.)
Diese Frauen prophezeiten also; der Geist kam über sie,
um ihnen die Gedanken Gottes in einem gegebenen Falle
mitzuteilen. So auch Hulda in 2. Könige 22, während
die schon erwähnte Debora Israel richtete. Solche Fülle
aber waren nichts anderes als außergewöhnliche Bezeugungen der Güte Gottes in den Zeiten des Verderbens.
Sie begründen durchaus nicht den Grundsatz, daß die Frau
dem Alaune in dem öffentlichen Dienst, in der Verwaltung
des Hauses Gottes hienieden, gleichberechtigt sei. Wir
werden vielmehr sehen, daß gerade das Gegenteil im
Neuen Testament klar und deutlich bewiesen wird.
155
Es ist nützlich, zu beachten, wie der Feind in dem
Reiche Gottes alles, selbst diese Zeugnisse von der
unumschränkten göttlichen Güte, in betrügerischer Weise
nachzuahmen sucht. So gab es neben den Propheten und
Prophetinnen Jehovas, deren Sendung ein Beweis von
der Herablassung Gottes war, auch „falsche Propheten"
und „falsche Prophetinnen". (Vergl. z. B. Neh. 6,10 — 14.)
Auch ist es sehr bezeichnend, daß der Herr das Bild eines
Weibes, „das sich eine Prophetin nennt", gebraucht, um
das Verderben der Versammlung in Thyatira auszudrücken.
Indes begnügt man sich nicht mit dem Hinweis auf
bas Vorkommen wahrer Prophetinnen im Alten Testament,
um die öffentliche Verkündigung des Evangeliums seitens
der Frauen zu rechtfertigen, sondern man macht auch eine
willkürliche Anwendung von Psalm 68,11, an welcher Stelle
Don „einer großen Schar Siegesbotinnen" die Rede ist.
Es heißt dort: „Der Herr erläßt das Wort; der Siegesbotinnen (od. der Verkündigerinnen froher Botschaft) ist
eine Schar." Dieser Psalm verherrlicht die Größe und
Macht Gottes, welche Er so manches Mal zur Befreiung
Seines Volkes entfaltet hatte. Die Verse 7 — 14 bilden einen
Abschnitt für sich. Der 7. und 8. Vers, sowie die Verse
12 bis 14 zeigen deutlich, daß es sich um die eben erwähnte
Ausübung der Güte und Macht Gottes gegen Israel handelt,
sowohl bei ihrem Auszug aus Egypten als auch bei der
späteren Besiegung ihrer Feinde. Und war es nicht recht
und billig von feiten Jehovas, bei diesen Gelegenheiten ein 
Loblied in den Mund der Weiber Seines Volkes zu legen?
In 2. Mose 15, 20. 21 und in 1. Sam. 18, 6. 7
finden wir auch die einfache Erklärung zu dem 11. Verse
unsers Psalmes. In dem ersten Falle stellte sich Mir-
156
sam, die Schwester Aarons, an die Spitze aller Frauen^
um Jehova zu besingen: „Denn hoch erhaben ist Er; das
Roß und seinen Reiter hat Er ins Meer gestürzt!" Undin dem zweiten, als David vom Erschlagen des Philisters
zurückkehrte, da kamen die Weiber aus allen Städten
Israels herbei, um mit Gesang und Reigentanz dem König
Saul entgegen zu gehen und um die große Befreiung zu
feiern, welche Gott durch die Hand Davids geschafft
hatte. In beiden Fällen machten diese Weiber in der
That eine große Schar aus, ein Heer, wenn man will;
und sie verkündigten die frohe Botschaft von dem Siege,
welchen der Herr ihrem Volke über seine Feinde gegeben
hatte. Das war in der That eine frohe Botschaft; lindes geziemte sich, sie öffentlich zu verkündigen und Jehova
zu rühmen. Allein man muß doch sehr arm an Beweisen
sein, wenn man eine solche Stelle heranzieht, um darzuthun, daß die Frauen öffentlich die gute Botschaft des
Evangeliums verkündigen und selbst ein „Heer" von Botschafterinnen sein sollten!
(Fortsetzung folgn)
„Was sehet ihr einander an?"
„Und Jakob sah, daß Getreide in Egypten war; undJakob sprach zn seinen Söhnen: Was sehet ihr einanderan? Und er sprach: Siehe, ich habe gehört, daß Getreide
in Egypten ist; ziehet hinab und kaufet uns von dort Getreide, daß wir leben und nicht sterben." (1. Mose 42,1. 2.)
Wenn Gott das Gewissen eines Sünders in Thätigkeit"
bringt, indem er ihm die Tiefe seines Elendes und die
Größe seiner Not aufdeckt, so wird Er ihn auch zu seiner 
157
Zeit unfehlbar dahin leiten, wo feinen Bedürfnissen
entsprochen werden kann. Der verlorene Sohn begann
„Mangel zu leiden", als er in dem fernen Lande weilte;
aber er fand Ueberfluß an Brot und die herzliche Begrüßung
des Vaters, sobald er zu sich selbst gesagt hatte: „Ich
will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen."
Wenn die Not den höchsten Gipfelpunkt erreicht hat, so
schauen die Menschen einander ratlos an, wie die Söhne
Jakobs oder auch wie der verlorene Sohn, welcher, nachdem er alles durchgebracht hatte, hülflos umherblickte und
sich endlich an einen Bürger des Landes hängte. Aber
fand er dort, was er begehrte und bedurfte? Unmöglich l
Der Bürger kannte nicht das Vaterhaus, noch die Gefühle
eines Vaterherzens; er sandte ihn „auf seinen Acker, um
die Schweine zu hüten". Der Mensch kann seiner Not
nicht selbst abhelfen, die Bedürfnisse seines Herzens nicht
stillen; und sein Nächster vermag es ebenso wenig.
„Siehe, ich habe gehört, daß Getreide in Egypteir
ist; ziehet hinab und kaufet uns von dort Getreide, daß
wir leben und nicht sterben". So sprach Jakob zu seinen
Söhnen. Wie wahr ist das Wort: „Gottes Gedanken
sind nicht unsre Gedanken, und Seine Wege sind nicht
unsre Wege!" Jakobs Söhne mögen nach Egypten hinabziehen, um dort Getreide zu kaufen; aber Gottes Absicht
war, daß sie dort einen Joseph und ein Land Gosen
finden sollten. Wohl waren sie auf den: rechten Wege
und wandten sich an die richtige Person; aber wie ganz
anders sollte das Resultat sein, als sie es erwartet hatten!
So ist es immer. Der verlorene Sohn hoffte den Platz
eines Tagelöhners in dem Hause seines Vaters zu finden,
um nicht Hungers sterben zu müssen; aber das Herz des
158
Vaters, der Platz des Sohnes, das vornehmste Kleid und
das gemästete Kalb wurden ihm zu teil!
„Und die Brüder Josephs kamen und bückten sich
vor ihm, das Antlitz zur Erde. Und Joseph sah seine
Brüder und erkannte sie." (V. 6. 7.) Die Gnade, mag
sich dieselbe nun in Gott oder auch in einem Joseph
offenbaren, kommt dem Bedürftigen immer zuvor; wäre
es nicht so, so würde sie eines ihrer lieblichsten Charakterzüge entbehren. Die Worte: „und Joseph sah seine
Brüder und erkannte sie," sind nur ein Seitenstück zu
dem: „Als er aber noch ferne war, sah ihn sein Vater
und ward innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um>
seinen Hals und küßte ihn sehr." (Luk. 15, 20.) Wie
schön stellen diese beiden Scenen die in dem Evangelium
geoffenbarte Gnade dar! „Also hat Gott die Welt geliebt,
daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß jeder,
der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges
Leben habe." Wenn Joseph „sich fremd stellte und hart
mit ihnen redete und zu ihnen sprach: Woher kommt
ihr?" — so war das nur die Aufrichtigkeit der Liebe,
welche sich nach ihnen sehnte und die sich nicht in die
engen Grenzen ihrer eigenen Gedanken einzwängen lassen
wollte, sondern bereit war, sie in dem passenden Augenblick
in die ganze Weite und Fülle seiner Zuneigungen einzuführen. Ein Größerer als Joseph stellte sich auch
einmal fremd, als Er dem kananäischen Weibe antwortete:
„Es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und
es den Hündlein hinzuwerfen;" aber Er that es nur, um
sie am Ende durch die Worte zu rechtfertigen: „O Weib,
dein Glaube ist groß; dir geschehe, wie du willst."
(Matth. 15, 26—28.) Und weiter, wenn Joseph der
159
Träume gedachte, die er von ihnen geträumt hatte, und
zu ihnen sprach: „Ihr seid Kundschafter", — so geschah
es in derselben Gnade, welche ihre Ziele in den Tiefen
eines aufgeweckten Gewissens erreichen wollte, sowie in
der Entfaltung einer Liebe, welche des Bruders würdig war.
Welch ein schönes Vorbild von unserm gepriesenen
Herrn und von uns selbst, in Verbindung mit einem noch
tiefergehenden Werke zwischen Gott und unsern Seelen l
„Und sie sprachen: Zwölf Brüder sind wir, deine Knechte,
Söhne eines Mannes im Lande Kanaan; und siehe, der
jüngste ist heute bei unserm Vater, und der eine ist nicht
mehr." (V. 13.) Allein diese oberflächliche Redeweise
genügte Joseph nicht, weder bezüglich ihres Vaters noch
betreffs seiner selbst. Er konnte sich seinen Brüdern unmöglich auf einem solchen Boden offenbaren. „Der eine
ist nicht mehr." Das war alles, was sie über die Art
und Weise zu sagen hatten, wie Joseph von ihnen behandelt
worden war, gerade so wie die Menschen unsrer Tage in
der gleichgültigsten Weise über den Verrat, die Verwerfung
und Kreuzigung Jesu reden können. Um ihrer eignen 
Segnung willen mußte sich Joseph noch fremder stellen,
noch härter mit ihnen reden, damit ihre Schuld ihnen
zum Bewußtsein käme. „Und Joseph sprach zu ihnen:
. . . Daran sollt ihr geprüft werden. Beim Leben des
Pharao! wenn ihr von hier weggehet, es sei denn daß 
euer jüngster Bruder hierher komme! . . . Und er setzte
sie zusammen in Gewahrsam drei Tage. Und am dritten
Tage sprach Joseph zu ihnen: . . . Wenn ihr redlich seid,
so bleibe einer eurer Brüder gefangen im Hause euers
Gewahrsams; ihr aber ziehet hin, bringet Getreide für
den Bedarf eurer Häuser." (V. 14—19.)
160
Gott selbst schlägt Wunden, um heilen zu können.
Er tötet, um lebendig zu machen. Die Gerechtigkeit,
obwohl mit Gnade vermischt, muß ihr Werk in einem
schuldbeladenen Gewissen thun und den Schrecken des
Gerichts auf das Herz legen. „Da sprachen sie einer zum
andern: Fürwahr, wir sind schuldig wegen unsers Bruders,
dessen Seelenangst wir sahen, als er zu uns flehte, und
wir hörten nicht; darum ist diese Drangsal über uns
gekommen." Hatte Joseph ein Wort des Vorwurfs geäußert, um diese Selbst-Verurteilung hervorzurufen? Nein!
aber das eigne Schuldbewußtsein redete in der Gegenwart'
ihres Bruders in einer Sprache zu ihren Herzen, welche
keine menschliche Zunge ausdrücken kann; gerade so wie die
Erkenntnis unsrer Sünde in dem Lichte des Kreuzes und
der heiligen Gegenwart Gottes etwas in uns wachruft,
was nichts anderes wachzurufen vermag.
Wie gesegnet ist es, in der gegenwärtigen Zeit die
Sünde ans Licht zu bringen und nichts für die Zukunft
zurückzulassen, wenn die Gnadenzeit vorüber sein und das
Auge nichts anderes erblicken wird als unbeugsame Gerechtigkeit und ewiges Gericht! Wie gesegnet, den kostbaren
Wert des Blutes Christi für Gott, sowie dessen reinigende
Kraft für den unreinen Sünder kennen zu lernen! „Wenn
eure Sünden sind wie Scharlach, wie Schnee sollen sie
weiß werden, wenn sie sind wie Karmesin, wie Wolle
sollen sie werden."
„Und Ruben antwortete ihnen und sprach: Habe ich
nicht zu euch gesprochen und gesagt: Versündiget euch nicht
an dem Knaben? Aber ihr hörtet nicht; und siehe, sein
Blut wird auch gefordert." Ihres Bruders Blut und
ihre Sünde sind jetzt gleichsam an ihrem rechten Platze
161
und schreiben das „Urteil des Todes" auf sie; aber wenn
ihre Bosheit so ans Licht gebracht wird, und zwar in
ihrer ganzen Schwärze — „er flehte zu uns, und
wir hörten nicht" — dann beginnt Joseph die Gnade
und Güte zu zeigen, welche in seinem Herzen waren.
„Sie aber wußten nicht, daß Joseph es verstand; denn
der Dolmetsch war zwischen ihnen. Und er wandte sich
von ihnen ab und weinte." Joseph muß stets Joseph sein;
er weint in den überströmenden Gefühlen seiner Liebe.
Wenn seine Brüder sich in ihrer ganzen Bosheit offenbaren,
so muß er sich in der ganzen Größe seiner Güte kundgeben.
Wahrlich, ein schönes Bild von der Gnade Gottes, die 
dem Sünder zuruft: „Kehre um! warum willst du sterben?"
und die den Abtrünnigen zurückznbringen sucht, indem sie
ihm Vergebung und vollkommenes Erbarmen verheißt! Und
Joseph „kehrte zu ihnen zurück und redete zu ihnen, und
er nahm von ihnen Simeon und band ihn vor ihren
Augen". Wenn Ruben dazu benutzt wurde, seinen Brüdern
ihre Sünde ins Gedächtnis zu rufen, so war es an Simeon,
vor ihren Augen gebunden zu werden und als ihr Stellvertreter seinen Platz „in dem Hause ihres Gewahrsams"
zu nehmen.
Welch tiefe Uebungen des Herzens und Gewissens
erblicken wir hier, und wie weist zugleich der gefangene
Simeon auf die Herrlichkeit eines zukünftigen Tages in
Gosen hin, welche die Gnade für die sündigen Brüder
aufsparte! Aber wie wird dieses schöne Vorbild noch unendlich weit durch die Liebe Gottes übertroffen, welche sich
in der Kreuzigung Christi durch gottlose und rebellische
Sünder geoffenbart hat! Alle unsre Sünden und Uebertretungen sind unserm Herrn und Heiland allein angerechnet
162
worden, als Er am Kreuze zu unserm Stellvertreter gemacht wurde. Entdecken wir in dem, was Joseph that,
die Liebe seines Herzens? Nun, so laßt uns unsern Blick
auf eine größere und vollkommnere Liebe richten, welche
sich mit uns beschäftigt und den Platz des Schuldigen vor
Gott eingenommen hat, damit Gott durch den Tod Christi
in den Stand gesetzt würde, den zu rechtfertigen, welcher 
des Glaubens an Jesum ist!
Wenn der Mensch am Kreuze seine Bosheit in ihrer
ganzen Schrecklichkeit offenbart, so zeigt sich auch Gott
größer als je, und zwar vermittelst des Blutes Christi,
welches von aller Sünde reinigt. Ist das Kreuz auf seiten
des Menschen der Beweis der tiefsten Feindschaft, des
unversöhnlichsten Hasses gegen Gott, so ist es auf seiten
Gottes der herrlichste Ausdruck Seiner unvergleichlichen,
alles überwindenden Liebe zu dem Menschen. Triumphierende Gnade!
„Und Joseph gebot, daß man ihre Gefäße mit Getreide füllte und ihr Geld zurückgäbe, einem jeden in seinen
Sack, und ihnen Zehrung gäbe auf den Weg. Und man
that ihnen also." (V. 25.) Die Gnade handelt stets ihrem
Wesen und ihrer Natur gemäß. „Und man that ihnen
also," das ist die Weise, in welcher die Liebe Josephs
mit seinen Brüdern, die ihn doch so sehr gehaßt hatten,
verfährt. Die Gnade fordert nichts, sie erwartet nichts,
— sie giebt! Die mit Korn gefüllten Säcke, die Zehrung für den Weg und das Geld oben in den Säcken —
alles das offenbart das Herz Josephs und zeigt deutlich,
daß er nicht eher ruhen wird, bis alle seine gesegneten
Vorsätze ausgeführt sind und in der Vergebung der Sünde
der Brüder, sowie in ihrem Genuß eines vollkommenen
163
Friedens und Vertrauens in seiner Gegenwart ihren Abschluß gefunden haben.
„Und eineröffnete seinen Sack, um seinem Esel Futter
zu geben, in der Herberge, und sah sein Geld. . . Und
er sprach zu seinen Brüdern: Mein Geld ist mir wieder
geworden, und siehe, es ist sogar in meinem Sacke. Da
entfiel ihnen das Herz, und sie sahen einander erschrocken
an und sprachen: Was hat Gott uns da gethan?" Die
Brüder Josephs lernen jetzt etwas, was sie nie vorher
gekannt hatten, nämlich daß da, wo die Sünde überströmend geworden, die Gnade noch überschwenglicher geworden ist. Vor Joseph war ihnen ihre Sünde zum Bewußtsein gekommen, und Herz und Gewissen waren aufgewacht; jetzt aber lernen sie den Reichtum der Gnade
kennen. „Was hat Gott uns da gethan?" so fragen sie.
Sie erfahren, daß Gott ein Geber ist, und lernen die
dem Menschen so schwer eingehende Lektion, daß ihm der
Platz eines Empfängers gebührt, und zwar indem er
sich seiner völligen Wertlosigkeit bewußt ist und alles,
von Anfang bis zu Ende, der unumschränkten Gnade Gottes
verdankt. „Hierin ist die Liebe: nicht daß wir Gott
geliebt haben, sondern daß Er uns geliebt und Seinen
Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsre Sünden."
Die Brüder erschrecken jetzt nicht, weil ihre Sünde
in Erinnerung gebracht wird, noch sagen sie zu einander:
„Wir sahen seine Seelenangst, als er zu uns flehte, und
wir hörten nicht," sondern eine unumschränkte Güte ist
auf dem Schauplatz erschienen'; und die eigne Unwürdigkeit
wird tausendmal mehr gefühlt in Gegenwart der Gnade,
welche nichts vorwirft, sondern mit vollen Händen giebt
was sie besitzt, als gegenüber dem Gesetz, das den Sünder
164
rechtmäßig verurteilt. Ja, das ist es, was das Herz
schmelzt und eine andere Furcht hervorruft: nicht eine
Furcht, welche „Pein hat", sondern eine solche, die den
Ausruf hervorbringt: „Was hat Gott uns da gethan?"
— „Und sie kamen in das Land Kanaan zu Jakob, ihrem
Vater, und berichteten ihm alles, was ihnen widerfahren
war. Und es geschah, als sie ihre Säcke leerten, siehe
da, ein jeder hatte sein Geldbündel in seinem Sacke; und
sie sahen ihre Geldbündel, sie und ihr Vater, und sie
fürchteten sich."
Josephs Liebe konnte diese kostbaren Früchte in einer
längst vergangenen Zeit hervorbringen; aber was vermögen
die Ausflüsse der Liebe eines Vaters in den Herzen Seiner
erlösten Kinder wachzurufen, die nicht nur in der Erkenntnis der „heilbringenden Gnade Gottes" stehen, sondern auch die herrliche Erscheinung Jesu Christi erwarten,
um (nicht in Gosen, sondern) da zu sein, wo Er ist,
mit Leibern, die Seinem verherrlichten Leibe gleichgestaltet 
sind? Was sind die Handlungen Josephs, so schön sie
sind, im Vergleich mit diesen Dingen? WaS konnte er
geben, trotzdem er Herr und Gebieter von Egyptenland
war, im Vergleich mit Christo Jesu, unserm Herrn?
Gnade und Herrlichkeit finden sich in gesegnetem Verein
in dem Kreuze Christi; wir blicken von der einen zur
andern, und ein Augenblick, ein Nu wird genügen, um
uns in die Herrlichkeit einzuführen. Gefüllte Säcke und
Geldbündel redeten ihre Sprache in den Tagen Josephs;
aber heute entlocken die unergründlichen und unermeßlichen
„Reichtümer Christi" dem Munde erlöster Sünder dis
Worte: „Gepriesen sei der Gott und Vater unsers Herrn
Jesu Christi, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen
165
Segnung in den himmlischen Oertern in Christo!" Welch
ein Teil ist uns geworden in unserm auferstandenen und
verherrlichten Herrn zur Rechten Gottes! „Alles ist euer;
es fei Welt, oder Leben, oder Tod, es sei Gegenwärtiges,
oder Zukünftiges: alles ist euer, ihr aber seid Christi,
Christus aber ist Gottes." (1. Kor. 3, 21-23.)
Gehorche» ist besser als Opfer.
Es giebt wenige Dinge, welche ernster und verhängnisvoller für einen Christen sind, als wenn er dem Lichte,
das er empfangen hat, zu widerstehen sucht. Wir lesen
in Jerem. 13, 16: „Gebet Jehova, euerm Gott, Ehre,
bevor Er finster macht, und bevor eure Füße sich
stoßen an dem Berge der Dämmerung; und ihr auf Licht
wartet und Er es zum Schatten des Todes macht und
zur Dunkelheit setzt." Wie ernst, ja erschreckend ist der
Gedanke, daß Gott finster macht und das Licht in Todesschatten verwandelt, weil wir nicht nach dem Lichte handeln,
welches Er uns in Seiner Gnade gegeben hat! Das
Gegenteil davon finden wir in den lieblichen Worten des
Herrn: „Die Lampe des Leibes ist dein Auge; wenn
dein Auge einfältig ist, so ist auch dein ganzer Leib licht;
wenn eS aber böse ist, so ist auch dein Leib finster. Siehe
nun zu, daß das Licht, welches in dir ist, nicht Finsternis
ist. Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und keinen
finstern Teil hat, so wird er ganz licht sein, wie wenn
die Lampe mit ihrem Strahle dich erleuchtete." (Luk. 11,
34 — 36.) Wenn wir nach dem Lichte handeln, welches
Gott giebt, so werden wir immer mehr Licht empfangen;
unser ganzer Leib wird voll von Licht sein, und wir
166
werden andern zum Nutzen dienen. Wie ganz anders
aber ist das Resultat, wenn wir das empfangene Licht
nicht treu benutzen! Dasselbe verschwindet dann mehr
und niehr, und wenn wir auf dem Wege der Untreue
beharren, so treten Finsternis, Zweifel aller Art oder gar
völlige Verblendung an seine Stelle. Und anstatt andern
behülflich zu sein, sind wir ihnen zum Schaden.
Darum, mein Leser, wenn Gott dir Licht und Klarheit
über einen Schritt gegeben hat, den du thun solltest, so
thue ihn! Hat er dir gezeigt, daß der Platz, auf welchem
du dich befindest, kein guter, daß der Weg, den du gehst,
kein Ihm wohlgefälliger ist, so verlasse ihn! „Wie lange
hinket ihr auf beiden Seitens" — „Ich habe geeilt und
nicht gesäumt, Deine Gebote zu halten." — „Deshalb
laßt uns zu Ihm hinausgehen außerhalb des Lagers,
Seine Schmach tragend." — Jedes Zögern, nachdem wir
einmal den Gott wohlgefälligen Weg erkannt haben, ist 
Unglaube und Ungehorsam. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, wenn man meint, in einer schriftwidrigen Stellung
verharren zu sollen, weil man da anscheinend von größerem
Nutzen für andere sein könne. Man täuscht sich selbst
und verunehrt den Herrn. Gottes Wort sagt: „Gehorchen
ist besser als -Opfer, Aufmerken besser als das Fett
der Widder. Denn wie Sünde der Wahrsagerei
ist Widerspenstigkeit, und der Eigenwille wie
Abgötterei und Götzendienst." (1. Sam. 15, 22. 23.)
Wollen wir dem Herrn und den Seinigen wirklich dienen
und von Nutzen sein, so laßt uns thun, was Er uns
gebietet. Unsre Nützlichkeit besteht in unserm Gehorsam.
Je treuer und einfältiger wir in diesem sind, desto größer
wird jene sein. Möchte uns Gott daher Gnade geben,
167
mit aller Entschiedenheit auf Seiner Seite zu stehen und
allem zu entsagen, was Seinem geoffenbarten Willen
entgegen ist! Wandeln wir in Seinem Lichte und auf
dem schmalen Pfade der Wahrheit, so werden wir Seine
gesegnete Gemeinschaft genießen und Seine Hülfe auf
Schritt und Tritt erfahren. Wir werden alle unsre Quellen
in Ihm finden, und unser Dienst wird gesegnet, unser
Zeugnis wirkungsvoll sein.
Das Lamm Gottes.
i
„Siehe, das Lamm Gattes!" — Iah. 1, S6.
Gottes Lamm! — Anbetend schauen,
Wie in Deinem Angesicht
Gottes Herrlichkeit und Gnade,
Seiner Liebe strahlend Licht.
Deine Wunderkraft und Weisheit
Preist die ganze Schöpfung laut;
Erd' und Himmel ehren rühmend
Den „Ich bin", der sie erbaut.
Gottes Sohn! — Im Schoß des Vaters
War von Ewigkeit Dein Platz;
Eins mit Ihm in Macht und Gnade,
Seines Herzens höchster Schatz.
O der wunderbaren Liebe,
Die ans Gottes Herrlichkeit
Dich zur Erde trieb hernieder —
Gottes Lamm, dem Tod geweiht!
Schau'n wir Dich, auf Stroh gebettet,
Dort in Bethlehem zur Nacht;
Seh'n wir Dich als Fremdling Pilgern
Durch die Welt, die Du gemacht;
Hören wir Dein heißes Flehen,
In des Herzens bittrer Not:
„Laß den Kelch vorübergehen,
„Wenn es möglich ist, o Gott!" —
168
Seh'n wir Dich zur Schlachtbank gehen
Süll, ergeben, voll Geduld;
Seh'n wir Dich von Golt verlassen,
Im Gericht für unsre Schuld, —
Herr, dann stammeln unsre Lippen:
Dank Dir, teures Gotteslamm!
Ewig, ewig sei gepriesen,
Gottes Sohn am Kreuzes stamm!
II
„Und ich sah ein Lamm stehen, wie geschlachtet," — Ofsb. 5, 8,
Gottes Lamm! — Du weilest droben
Jetzt auf Deines Vaters Thron;
Siegreich hast Du überwunden
Feindesmacht und Menschenhohn.
Himmelschöre singen jubelnd,
Seit das große Werk vollbracht:
„Würdig ist das Lamm, zu nehmen
„Ehre, Herrlichkeit und Macht!"
Ja, mit Herrlichkeit gekrönet
Schaut Dich dort des Glaubens Blick;
Doch Dein Herz weilt bei den Deinen,
Suchet stets ihr Heil und Glück.
Bei dem Vater ohn' Ermüden
Bittest Du voll Huld und Gnad',
Daß ihr schwacher Fuß nicht wanke,
Nicht verfehle Deinen Pfad.
Gottes Lamm! — Du hast verheißen:
„Steh', ich komme bald zurück!" —
„Amen, komm, Herr Jesu! Eile,
„Zeige uns der Heimat Glück!" —
Was wird's fein, zum ersten Male
Scharrn Dein freundlich Angesicht,
Und mit Dir vereint zu stehen
In des Vaterhauses Licht!
Was wird's sein, bei Dir zu weilen,
Fern von allem Kampf und Leid,
Ja, mit Dir zurückzukehren,
Tragend Deine Herrlichkeit! —
Tann, Herr, wird Dich alles ehren,
Rühmen Deine Lieb' und Macht:
Preis, Anbetung sei dem Lamme!
Es hat alles wohl gemacht!

Ueber den Dienst der Frauen.
(Fortsetzung.)
Wir kommen jetzt zu den Stellen des Neuen Testaments, welche sich mit unserm Gegenstände beschäftigen,
und bitten den Leser, zunächst das 2. Kapitel im 1. Brief
an Timotheus aufzuschlagen. Nachdem der Apostel dort
im 1. Verse gesagt hat, er ermahne vor allen Dingen,
daß Flehen, Gebete, Fürbitten und Danksagungen gethan
werden möchten für alle Menschen, für Könige u. s. w.
bezeichnet er im 8. Verse diejenigen, welche dies öffentlich,
„an jedem Orte" thun sollten. Es sind dies die
Männer; sie sind berufen, an jedem Orte heilige
Hände aufzuheben und zu beten; das ist ihr Anteil an der
Ermahnung von Vers 1. Und die Frauen? . . . „Desgleichen auch, daß die Weiber in bescheidenem Aeußern
mit Schamhaftigkeit und Sittsamkeit sich schmücken, nicht
mit Haarflechten und Gold oder Perlen oder kostbarer 
Kleidung u. s. w."
Ihr Anteil ist also, öffentlich eine anständige Haltung
zu zeigen, mit Schamhaftigkeit, Sittsamkeit und Bescheidenheit anfzutreten, und, anstatt in einem Kleide zu erscheinen,
welches die Blicke auf sich zieht, mit guten Werken geschmückt
zu sein, „was den Weibern geziemt, die sich zur Gottesfurcht
bekennen". Das also ist es, was die Frauen in ihrem
öffentlichen Auftreten auszeichnen sollte. Ferner sollen sie
in der Stille lernen in aller Unterwürfigkeit. Der
170
mit apostolischer Autorität bekleidete Schreiber des Briefes
sagt im 8. Verse: „Ich will, daß die Männer an jedem
Orte beten", und im 12. Verse: „Ich erlaube aber
einem Weibe nicht, zu lehren, noch über den Mann zu 
herrschen, sondern stille zu sein." Den Grund dazu führt
er an: wenn Adam den Vorrang hatte in der Schöpfung,
so hat Eva ihn in dem Sündenfalle. Man hat dagegen
den Einwand erhoben, daß der 12. Vers sich nur auf die
verheiratete Frau, nicht aber auf die Jungfrau beziehe,
d. h. also daß das Weib keine Autorität über ihren eignen
Mann ausüben dürfe; das ist jedoch ein Irrtum. Der ganze
Zusammenhang der Stelle, sowie die im Urtext gebrauchten
Ausdrücke zeigen klar, daß es sich um Männer und Frauen
im allgemeinen Sinne handelt.
Wenn eine Frau öffentlich lehrt, so übt sie eine
Autorität über den Mann aus, dadurch daß sie sich den
Vorrang des Mannes im Blick auf das Weib, welcher
nach der göttlichen Ordnung in der Schöpfung festgesetzt
ist, aneignet. Adam wurde zuerst gebildet und war,
bevor Eva geschaffen wurde, Herr und Verwalter Gottes
über die irdische Schöpfung. Dann erst kam Eva, als
seine Gehülfin und nicht als seine Nebenbuhlerin. Es
ist wichtig zu bemerken, daß die Autorität und der Vorrang
des Mannes vor der Frau nicht von dem Sündenfall,
(in welcher die Frau den ersten Platz einnahm,) sondern
von der Schöpfung her datieren. Der Fall hat den Zustand der Unterordnung des Weibes vergrößert, ist aber
nicht dessen Ursprung. Auf diesen unerschütterlichen Grundsatz wird auch unter anderem in einer Schriftstelle Bezug
genommen, welche man zur Rechtfertigung des öffentlichen
Dienstes der Frau heranzuziehen versucht hat, nämlich in
171
1. Kor. 11, 2-14. In Vers 3 stellt der Apostel die 
göttliche Rangordnung, wenn wir es so nennen dürfen,
dar, und zwar in absteigender Linie: Gott, Christus, der
Mann, das Weib. (Auch hier, in allen diesen Versen, ist
das weibliche Geschlecht im Gegensatz zum männlichen gemeint, unbekümmert um Verheiratet- oder Nichtverheiratetsein.) Das Haupt des Christus ist Gott; das Haupt des
Mannes ist Christus; das Haupt des Weibes ist der Mann.
Die Frau nimmt also den untersten Grad ein; über ihr
ist der Mann, als ihr Herr oder Haupt, dann folgt Christus
als Haupt des Mannes, und endlich Gott als Haupt Christi.
Wird diese Ordnung angetastet, so gerät alles in Verwirrung.
Der Apostel lehrt, daß infolge dieser Ordnung die
Frau das Haupt bedecken solle, als Zeichen ihrer Unterordnung unter den Mann. Der Mann ist Gottes Bild
und Herrlichkeit; das Weib ist des Mannes Herrlichkeit.
Das Weib ist um des Mannes willen geschaffen, als
dieser bereits als Haupt und Verwalter der Schöpfung
bestand; sie ist ihm also nicht ebenbürtig. Der Mann soll,
da er Gottes Bild und Herrlichkeit ist, sein Haupt nicht
bedecken; das Weib aber, welches des Mannes Herrlichkeit
ist, soll, schon, um der Engel willen, auf dem Haupte ein
Zeichen der Autorität tragen, welcher sie unterworfen ist.
Infolge dessen entehrt ein Weib, welches mit unbedecktem
Haupte betet oder weissagt, ihr Haupt; und jeder Mann,
der da betet oder weissagt und etwas auf seinem Haupte
hat, entehrt sein Haupt.
Wie kann man nun aus dieser der Frau gegebenen
Verordnung, mit bedecktem Haupte zu beten oder zu
weissagen, den Schluß ziehen, daß sie die Freiheit habe,
öffentlich zu beten oder zu predigen?
172
Wenn in den christlichen Versammlungen, in der
Vereinigung zum Gebet, zum Tische des Herrn oder im
Hause, die Männer nach der Ermahnung von 1. Tim. 2
beten oder danksagen, so drückt das Amen der Frauen
aus, daß sie, wenn auch stillschweigend, mitbeten. Eine
christliche Mutter betet oft laut mit ihren Kindern. Die
Schwestern in Christo, welche sich der Kranken, der Notleidenden, der Kinder oder beunruhigter Seelen annehmen
und sie besuchen, beten mit diesen im stillen Kämmerlein
oder wo es sonst sei. Und Gott wolle geben, daß die
Zahl der christlichen Frauen, welche auf diese Weise dem
Herrn wirklich dienen, immer größer werde! Jedoch in
einer öffentlichen Versammlung zu beten, ist nach 1. Tim. 2
ausschließlich Sache des Mannes. Selbst eine Frau,
welche weissagte, mußte darauf bedacht sein, auf ihrem
Haupte ein Zeichen ihrer Unterordnung unter den Mann
zu haben. Die Engel, welche Zeugen gewesen sind von
der in der Schöpfung festgesetzten göttlichen Ordnung,
würden gleichsam Aergernis daran genommen haben, wenn
sie eine Frau mit unbedecktem Haupte hätten weissagen
sehen. Und wie, mein Leser, denkst du, werden die Engel
heute urteilen, wenn sie eine Frau öffentlich predigen sehen?
Ferner wendet man, unter Berufung auf Gal. 3, 28,
ein, daß unter der Gnade zwischen beiden Geschlechtern
Gleichheit herrsche. Allein es findet sich in diesem Kapitel
keine einzige Anspielung auf irgend welchen öffentlichen
Dienst. Es handelt sich hier nur um den Gegensatz
zwischen Gesetz und Gnade, und zwischen Gesetz und Verheißung. Unter dem Gesetz gab es eine scharf gezogene
Scheidungslinie zwischen dem, was dem Manne, und dem,
was der Frau zugeteilt war. So gab es z. B. besondere
173
Opfer für die Frau, und ebenso gab es solche, welche nur
von den Männern gegessen werden konnten. Ferner durften
nur die Männer an den drei großen Festen vor Jehova
erscheinen u. s. w. (Vergl. 3. Mose 6, 11 — 22; 12;
5. Mose 16 und selbst Luk. 2, 21-24.) Unter der
Gnade aber ist kein Unterschied mehr.
„Denn so viele euer auf Christum getauft worden
sind, ihr habt Christum angezogen. Da ist nicht Jude
noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht
Mann und Weib; denn ihr alle seid einer in Christo
Jesu." (Gal. 3, 27. 28.) Gleichheit herrscht, Gott sei
Dank! in dem Besitz des Heils und in der Eigenschaft
als Glieder des Leibes Christi, ohne Unterschied der Geschlechter. Sobald es sich aber um den Dienst und die 
Verwaltung auf der Erde in der Kirche handelt, oder
auch um öffentliche Gebete für alle Menschen, so kommt
die in der Schöpfung aufgestellte göttliche Ordnung in
Frage, wonach der Mann thätig, die Frau aber nicht
thätig sein soll.
Hinsichtlich der öffentlichen Gebete, das heißt um die
öffentliche Thätigkeit einer Frau im Gebet zu rechtfertigen,
beruft man sich auch auf Apstgsch. 1,14: „Diese alle hielten einmütig an im Gebet mit den Weibern." Wer
waren „diese alle"? Die elf Apostel, welche im 13. Verse
Name für Name aufgeführt sind; und es wird von ihnen
gesagt, daß sie mit den Weibern im Gebet verharrten.
In der That, die Frauen, welche den Herrn liebten, waren
dort, auch die Mutter des Herrn und Seine Brüder,
welche inzwischen bekehrt worden waren. (Vergl. Joh. 7, 5.)
Diese Frauen waren zugegen, und wenn einer der Apostel
betete, so beteten sie mit, und sagte 'er Amen, so sagten sie
174
ebenfalls aus vollem Herzen Amen. Ich frage: Giebt es
irgend etwas in dieser Schriftstelle, woraus man schließen
könnte, daß jene Frauen in thätiger Weise in Gegenwart
der Apostel des Herrn gebetet hätten?
Auch glaubt man in den Versen 8, 4 und 11 des
2. Kapitels der Apostelgeschichte einen selbstthätigen und
öffentlichen Dienst derselben Frauen zu finden. Sie sollen
im Verein mit den Aposteln, in Gegenwart der aus allen
Ländern in Jerusalem zusammengeströmten Juden, in
fremden Sprachen die großen Thaten Gottes verkündigt
haben. Daß alle diejenigen, welche an jenem wichtigen
Pfingstmorgen gegenwärtig waren, den Heiligen Geist
empfangen haben, ist zweifellos. Auch ist es klar, daß
in jedem der Anwesenden eine plötzliche Veränderung vor
sich ging. Selbst wenn aber der 4. Vers die Annahme
offen hält, daß die etwa mitanwesenden Frauen auch in
andern Sprachen geredet hätten, (was die Stelle übrigens
nicht sagt, da von Frauen überhaupt keine Rede ist,)
darf man dann daraus schließen, daß diese Frauen in
jenem Reden, sowie in dem Werke im allgemeinen den
Männern gleich gewesen seien? Wahrlich, das wäre ein 
gewagter Schluß. Wie hinfällig und thöricht erscheint derselbe aber erst, wenn man den 14. Vers liest, welcher
von vornherein jede Thätigkeit der etwa anwesenden Frauen
unbedingt ausschließt! Dort heißt eS: „Petrus aber, mit
den Elfen — mit keinem andern — aufstehend, erhob
sich", um den Juden das, was sich zutrug, zu erklären.
Er führt die Prophezeiung von Joel 2, 28—32 an,
welche ebenfalls als Vorwand benutzt wird, um die Rechtmäßigkeit der öffentlichen Evangelisation seitens der Frauen
zu beweisen.
175
In jenem Augenblick bildete die wunderbare Thatsache der Ausgießung des Heiligen Geistes, von welcher
alle Zeugen waren, eine teilweise Erfüllung jener Prophezeiung. Nach der von dem Herrn gegebenen Verheißung
(Joh. 14 — 16.) sollte der Heilige Geist, der Tröster, vom
Himmel herniederkommen, um von der Verherrlichung
des Heilandes Zeugnis zu geben und die Jünger mit
Kraft zu erfüllen. (Luk. 24, 49 und Apstgsch. 1, 4—8.)
Damals, wie auch heute, wurde der Heilige Geist nur den
Gläubigen gegeben. (Vergl. Joh. 7, 39; Apstgsch. 2, 38;
5, 32; 8, 14-17; 10, 44- 47; 19, 1-6 rc.) Er
wurde nicht „auf alles Fleisch" ausgegvssen. Nach der
Prophezeiung Joels aber wird der Geist auf alles Fleisch
ausgegossen werden, bevor der große und herrliche Tag
des Herrn erscheint. (Apstgsch. 2, 20.) Diese Prophezeiung wird ihre volle Erfüllung finden in der endlichen
Segnung Israels. Alle, Alte und Junge, Söhne und
Töchter, Knechte und Mägde des Herrn, werden dann
unter dem mächtigen Einfluß dieser Endausgießung des
Heiligen Geistes stehen, welche gleichsam den göttlichen
Spätregen bilden wird. Aus dieser Stelle den Schluß
zu ziehen, daß Frauen und Töchter heute öffentlich predigen
dürfen, ist daher eine Thorheit und ein Verdrehen des
Wortes. Aber gehen wir weiter.
Die 4 Töchter des Philippus weissagten doch, sagt
man. (Apstgsch. 21, 9.) Allerdings, sie weissagten; sie
offenbarten etwas von feiten Gottes. Es ist bemerkenswert, daß das Wort nicht sagt, wie in den entsprechenden
Stellen des Alten Testaments: sie waren Prophetinnen,
sondern: „sie weissagten". Die Erzählung zeigt uns, daß 
diese vier Töchter bei ihrem Vater waren; nichts läßt
176
vermuten, daß sie aus den schriftgemäßen Grenzen des
Bereichs ihrer Thätigkeit, wie dieselben in dem Worte ja
genau gezogen sind, herausgetreten seien. Beachten wir
auch, daß im unmittelbaren Anschluß an den Vers, welcher
von den 4 weissagenden Töchtern des Philippus redet, eines
Propheten Agabus (Vers 10.) Erwähnung geschieht,
welcher (und nicht die Töchter des Philippus) die Prophezeiung von der Gefangennahme des Apostels Paulus
aussprach. Wer hat nun das Recht, aus dem Umstande, 
daß die Tochter des Philippus weissagten, den Schluß zu
ziehen, daß Frauen öffentlich evangelisieren sollten?
In der apostolischen Zeit begriff „weissagen" den
Umstand mit ein, daß man etwas von seiten Gottes offenbarte. Heute ist die Offenbarung vollständig. Die Zeit
der mündlichen Offenbarungen, wie überhaupt jeder Offenbarung, ist vorbei, so daß die Anmaßung neuer Offenbarungen nichts anders ist als eine Wirkung des Feindes.
Es kann deshalb bei den heutigen Predigerinnen von
Prophezeien keine Rede sein, weshalb wir auch nicht
zugeben können, daß sie sich auf die Töchter des Philippus
berufen und zur Rechtfertigung dessen, was sie thun, jene
als Beispiel anführen. Andrerseits würde es eine Fälschung des Wortes sein, wenn wir da evangelisieren
lesen wollten, wo es von weissagen spricht.
ES ist hier am Platze, ein Wort betreffs der
Gabe der Weissagung zu sagen, um welche man zur Erbauung der Versammlung eifern sollte. 1. Kor. 14, 3
beschreibt mehr die Wirkung, welche diese Gabe der Weissagung hervorries, als daß es uns eine Erklärung derselben gäbe. In der apostolischen Zeit war in dieser
Gabe dqs Element der Offenbarung mit der Erkenntnis
177
verbunden, welch letztere auf dem beruhte, was bereits
geoffenbart war. Heute besitzt die kostbare Gabe der
Weissagung (welche noch existiert) nicht mehr dieses besondere Element der Offenbarung, sondern sie dient nur
dazu, das, was sich bereits in der geschriebenen Offenbarung vorstndet, klarer hervortreten zu lassen und bei
den Seelen zur Geltung zu bringen. In diesem Sinne
redet der Weissagende, wie es in 1. Kor. 14, 3 heißt,
zur Erbauung, zur Ermahnung und zur Tröstung. Für
die Seelen, welche daraus Nutzen ziehen, ist diese Gabe
eine Art von Offenbarung, indem sie ihnen aus dem
Worte etwas hervortreten läßt und verständlich macht, was
sie vorher nicht darin sahen. Der Apostel ermahnte die 
Thessalonicher — und uns mit ihnen —, diese Handlung
des Weissagens, so schwach sie auch sein mochte, nicht zu
verachten. Hierauf bezieht sich die Stelle: „Verachtet nicht
die Weissagungen." (1. Thess. 5,20.)
Man darf nicht das, was das Wort hier mit dem
Namen „Weissagungen" bezeichnet, mit dem „prophetischen
Wort" von 2. Petri 1, 19 — 21 verwechseln. Im letzteren Falle handelt es sich um die Schriften der Propheten.
Die Verse 34 und 35 dieses 14. Kapitels des ersten
Korintherbriefes verbieten den Frauen ausdrücklich, öffentlich „in der Versammlung" zu reden, und der Apostel fügt
hinzu, daß es schändlich für ein Weib sei, das zu thun.
Man führt indes noch andere Schriftstellen an, wie
z. B. Phil. 4, 2. 3. Wir hören dort von zwei Frauen,
welche mit Paulus an dem Evangelium gekämpft hatten.
Welch schönes Zeugnis für diese beiden Schwestern! Aber
was will man mit dieser Schriftstelle sagen? Beweist sie
etwa das Recht der Frauen, öffentlich aufzutreten und zu
178
predigen? „Mit Paulus am Evangelium kämpfen," bedeutet
das etwa, daß diese Frauen in Versammlungen und auf
öffentlichen Plätzen gesprochen haben in Verbindung mit
dem inspirierten Schreiber von 1. Kor. 14, 34. 35 und
1. Tim. 2, 8-15?
Es lag nahe, auch Römer 16 herauszugreifen, und
man hat es gethan. In diesem Kapitel zählt der
Apostel Paulus neun oder zehn Frauen auf, welche sich
im Dienst und im Zeugnis ausgezeichnet hatten. Von
Vieren wird gesagt, daß sie „viel im Herrn gearbeitet
haben". Wir wiederholen: Welch ein Zeugnis aus der
Feder eines Apostels diesen Schwestern in Christo gegenüber! Welch eine schöne Zeit war es für die Versammlung in Rom, da sie Schwestern besaß, die eine so beifällige Beurteilung seitens eines Apostels fanden! Es
klingt fast beleidigend, im Blick auf sie die Frage zu
wiederholen: „Haben sie gepredigt?" Und doch sagt man,
„ja". Ja, noch mehr; man behauptet, daß Andronikus
und Junias (V. 7.) Frauennamen seien, so daß es also
Apostelinnen gegeben haben würde, die sogar als
solche „unter den Aposteln ausgezeichnet" gewesen wären.
Eine solche Behauptung verdient indes nicht die Ehre der
Widerlegung. Wir begnügen uns zu bemerken, daß wir,
selbst wenn es möglich wäre, diese beiden Namen als
weibliche Namen aufzufassen, doch dem Worte genug unterworfen sind, um zu behaupten, daß die mit jenen Namen
bezeichneten Personen nimmermehr Frauen gewesen sein
können, weil es eben niemals weibliche Apostel gegeben hat.
Man muß in der That sehr arm an begründeten
Beweisen sein, wenn man zu solchen Belegen und Ausflüchten zu greifen genötigt ist.
179
Die einzige Stelle, in welcher der Apostel Paulus
von einer Unterweisung spricht, welche die Frauen geben
können, wird, soviel wir wissen, von den Verteidigern der
weiblichen Prediger nicht angeführt. Dieselbe findet sich
in Titus 2, 3—5. Warum vermeidet man dieselbe?
Ohne Zweifel weil es eine wichtige Stelle ist, welche
alle und alles an den richtigen Platz stellt. Die alten
Frauen sollen das Gute lehren. Wen? Die Männer?
Nein, sondern die jungen Frauen. Sie sollen dieselben
unterweisen, was zu thun? — zu predigen? Nein, sondern ihre Männer und ihre Kinder zu lieben, haushälterisch und den eignen Männern unterwürfig zu sein, auf
daß das Wort Gottes nicht verlästert werde.-
Diese Unterweisung wird, vorausgesetzt daß man dem
Worte unterworfen ist, den Frauen nicht erlauben, öffentlich aufzutreten. Man will sich wahrscheinlich der Wahrheit entziehen, wenn man dieser einzigen Stelle, wo das
Wort „unterweisen" oder „lehren" in Verbindung mit
Frauen gebraucht wird, ausweicht. Man könnte allerdings einwenden: „Es handelt sich hier um verheiratete
Frauen, um alte und junge." Allerdings; aber die Stelle,
welche die Jungfrauen mit einschließt, lautet: „Ich erlaube aber einem Weibe nicht, zu lehren." (1. Tim. 2,
11 —13.) (Schluß folgt.)
Die Epistel des Zudas.
(Vers 1—7.)
Ueber den Schreiber dieser Epistel ist außer dem,
was er selbst uns in dem ersten Verse mitteilt,. nichts
Näheres bekannt. Er begnügt sich mit zwei Titeln: „Knecht
180
(Sklave) Jesu Christi und Bruder des Jakobus."
Wenn der -hier genannte Jakobus „der Bruder des
Herrn" ist, von welchem Paulus in Gal. 1, 19 spricht,
so war Judas dem Fleische nach ebenfalls ein Bruder
des Herrn. Der Umstand, daß Judas sich nicht „Apostel",
sondern einfach „Bruder des Jakobus" nennt, spricht
für die Richtigkeit dieser Annahme. Wenn dem aber
so ist, welch eine Gnade und Demut zeigen sich dann
darin, daß Judas auf diese nahe Verwandtschaft mit dem
Herrn gar nicht aufmerksam macht! Und welch eine Lehre
für alle diejenigen, welche auf Grund menschlicher Auszeichnung oder Geburt einen Platz unter den Gläubigen
einzunehmen suchen.
Die Aehnlichkeit dieser Epistel mit dem zweiten Briefe
Petri muß selbst dem oberflächlichsten Leser auffallen;
aber thatsächlich besteht doch ein bemerkenswerter Unterschied zwischen beiden. Petrus spricht von Sünde, Judas
von Abfall, von dem Abweichen der Versammlung von
ihrem ersten Zustande vor Gott. Abfall von dem allerheiligsten Glauben ist der von Judas behandelte Gegenstand; er spricht nicht von äußerlicher Trennung, d. h. von
einer Trennung von der Versammlung oder von der bekennenden Christenheit. Wenn wir dies festhalten, so werden wir in dem 2. Briefe Petri, in der Epistel des Judas
und in dem ersten Johannisbriefe drei verschiedene Stufen
des Verderbens gekennzeichnet finden. Im Briefe Petri
ist es, wie bereits angedeutet, die Sünde, und zwar wirkend unter groben Formen in dem Schoße der Kirche; in
Judas ist es sittlicher Abfall, obgleich diejenigen, welche
sich desselben schuldig machen, ihren Platz noch innerhalb der Versammlung behaupten; in Johannes endlich
181
sind die Abgefallenen bereits ausgegangen. „Sie sind
von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns."
(1. Joh. 2, 19.)
Ein zweiter Punkt ist sehr bezeichnend für den Charakter dieser merkwürdigen Epistel. Obwohl Judas Uebel
behandelt, welche in seinen Tagen bereits vorhanden waren,
so benutzt er diese Uebel doch zugleich auch als Vorbilder
des Zustandes der Dinge, wie er am Ende der Tage gefunden werden wird; er spricht daher von dem Herrn, als
kommend „inmitten Seiner heiligen Tausenden, um Gericht
auszuführen wider alle" :c. Die Epistel ist deshalb prophetisch und hat als solche eine besondere Wichtigkeit für
diejenigen, deren Los es ist, in den letzten Tagen zu leben,
in welchen „gefährliche Zeiten" zu erwarten sind.
Die Anrede der Epistel ist ebenso schön, wie dem
Schreiber derselben eigentümlich: „Den in Gott, dem Vater,
geliebten und in Jesu Christo bewahrten Berufenen."
(Vers 1.) Judas erinnert diejenigen, au welche er schreibt,
daran, daß wenn sie Heilige waren, sie es durch Gnade
waren, durch eine göttliche und unumschränkte Berufung,
— eine Berufung, welche durch die Macht des Heiligen
Geistes und das Wort Gottes an sie ergangen war, ihre
Herzen und Gewissen erreicht und sie von der Welt getrennt
hatte, um das Volk Gottes zu sein. Wir können es uns
nicht oft genug vergegenwärtigen, daß es Gottes Berufung
war, welche uns zu Heiligen machte, so daß wir infolge
dessen nicht berufen sind, Heilige zu sein, sondern daß
wir Heilige sind durch göttliche Berufung.
Dann folgt eine zwiefache Beschreibung der Berufenen.
Erstens find sie „geliebt in Gott, dem Vater". Judas
versetzt so die Heiligen in die unmittelbare Gegenwart
182
Gottes, belehrt sie, daß sie die Gegenstände Seines Herzens sind, und läßt sie erkennen, daß sie, als solche, in
den Genuß eines vertrauten Verhältnisses zu Ihm gebracht
worden sind; denn Er ist ebensowohl ihr Vater, als ihr
Gott. Zweitens werden sie in Jesu Christo bewahrt.
Hier haben wir den Grund und das Mittel unsrer Sicherheit; und wir sollten nie vergessen, daß, wenn wir in all
den Gefahren, die uns umgeben, in den Schlingen und
Versuchungen des Bösen bewahrt bleiben, dies einzig und
allein in und durch Jesum Christum geschieht. Es ist 
die Kraft Gottes, welche uns bewahrt; allein diese Kraft
wird in Dem und durch Den ausgeübt und entfaltet,
welcher jetzt zur Rechten Gottes sitzt. Welch eine Fülle
von Gedanken, ja, wieviel Ursache zu Preis und Anbetung
liegt daher in diesen Worten: „in Gott, dem Vater, geliebt"
und „in Jesu Christo bewahrt"!
Der Gruß unterscheidet sich sowohl von dem gewöhnlichen Gruße des Paulus als auch von demjenigen des
Petrus; er gleicht dem paulintschen Gruße in den Briefen
an einzelne Personen insofern, als er das Wort „Barmherzigkeit" einführt, und demjenigen des Petrus in dem
Gebrauch des Wortes „Frieden". Judas sagt: „Barmherzigkeit und Frieden und Liebe sei euch vermehrt!"
(Vers 2.) Das war sein und Gottes Wunsch für diese
geliebten Heiligen. Barmherzigkeit ist die erste Sache;
(S. V. 21.) denn angesichts der sie umgebenden Umstände
that ihnen Barmherzigkeit not, Barmherzigkeit für ihre
Schwachheit, (vergl. Hebr. 4, 16.) der beständige Strom
des zärtlichen Mitgefühls Gottes, um sie zu beschützen,
aufrecht zu halten und zu bewahren inmitten der Gefahren
ihres Pfades. Dann Friede, nicht Friede mit Gott, son­
183
dern Friede in absolutem Sinne; ein Friede, der die ganze
Seele in Besitz nimmt, und kraft dessen wir mit ungestörter Ruhe angesichts der größten Gefahren oder der
boshaftesten Feinde wandeln können. Es wird uns nicht
gesagt, ob es der Friede Gottes ist, (Phil. 4.) oder der
Friede, welchen Christus Seinem Volke giebt, (Joh. 14.)
weil es eben ein Friede ist, welcher, gegründet auf das
Werk der Versöhnung, von der Seele in Gemeinschaft
mit dem Vater und dem Sohne genossen wird. Schließlich
wird noch die Liebe hinzugefügt — der Ausdruck der
göttlichen Natur, jener heilige Bereich und jene reine Atmosphäre, in welche die Erlösten versetzt sind und in welcher
sie leben, weben und sind. (Vergl. 1. Joh. 4, 16.) Und
alle diese Dinge (der Leser wolle die Ordnung beachten:
Barmherzigkeit, dann Friede als die Frucht der Barmherzigkeit, und endlich Liebe als der Bereich, in welchem
die Seele lebt,) sollten den Gläubigen, so wünscht Judas,
vermehrt werden. Denn wenn wir auch im Besitz dieser
Segnungen stehen, so können wir dieselben doch nur in
einem gewissen Maße genießen, da sie, gleich der Quelle,
aus welcher sie hervorströmen, in ihrem Charakter unendlich sind. Der Gläubige kann deshalb nie sagen, daß er
es schon erreicht habe; nein, er macht, wenn anders der
Glaube in ihm wirksam ist, täglich Fortschritte in dem Erreichen dieser herrlichen Dinge; sein Genuß derselben wird
vermehrt, und zwar durch jeden neuen Blick, den er in die
endlosen Reichtümer und Schätze thut, welche in Christo
für ihn aufgespeichert sind. Und darin besteht seine Ruhe,
seine Freude inmitten der Schwierigkeiten des Weges.
Wir kommen jetzt zu der eigentlichen Veranlassung
des Schreibens der Epistel. „Geliebte, da ich allen Fleiß
184
anwandte, euch von unserm gemeinsamen Heil zu schreiben,
habe ich es für notwendig gehalten, euch zu schreiben und
euch zu ermahnen, für den einmal den Heiligen überlieferten
Glauben zu kämpfen." Judas war, wie er uns sagt,
von dem ernstlichen Verlangen erfüllt gewesen, zur Auferbauung der Heiligen zu dienen; aber der Zustand der
Dinge machte dies unmöglich; er zwang ihn, sie lieber zu 
ermuntern, ihre Waffenrüstung anzulegen, ihre Lenden zu
umgürten und sich zum Kampfe vorzubereiten. Dies stellt
einen Grundsatz von außerordentlicher und bleibender Wichtigkeit vor uns. Wenn Satan durch seine Werkzeuge
innerhalb der Versammlung einmal Fuß gefaßt hat und
beschäftigt ist, die Grundlagen der Wahrheit zu verderben
und zu untergraben, dann ist es unnütz, von Erbauung
zu reden; denn Gott ruft in einem solchen Augenblick zum
Kampfe, und nur durch Kampf kann dann Sein Werk
ausgerichtet werden. Furchtsame Seelen zittern, wenn sich
das geringste Zeichen eines entstehenden Kampfes kundgiebt; sie wünschen um jeden Preis Frieden zu halten
und Milde zu üben, und reden stets von den Gefahren,
welche für die Seelen aus einem Kampfe entstehen könnten.
Aber wenn die Wahrheit des Christentums auf dem
Spiele steht, ist es dann wahre Liebe zu den Seelen, das
Feld den Gegnern zu überlassen? Als Goliath die Heere
Israels herausforderte, war es David, der am meisten
für die Wohlfahrt des Volkes Gottes that. Und als
Petrus zu Antiochien durch seine Weigerung, mit den
Gläubigen aus den Nationen zu essen, die Wahrheit der
Gnade verleugnete, da widerstand Paulus ihm ins Angesicht und wirkte so in höchst erfolgreicher Weise für die 
Segnung der Heiligen.
185
Wenn Gott zum Kampfe ruft, so ist es im höchsten
Grade selbstsüchtig, sich von dem Streite abzuwenden unter
der Ausrede, die Heiligen schützen zu wollen. Als Nehemia
zum Beispiel mit dem Bau der Mauern Jerusalems beschäftigt war, erwies sich der Feind so thätig, daß die
Lastträger aufladen mußten, „mit der einen Hand am
Werke arbeitend, während die andere die Waffe hielt.
Und die Bauenden hatten ein jeder sein Schwert umgürtet
und bauten." Ferner fügt Nehemia hinzu: „Und der in
die Posaune stieß, war neben mir." Und er gebot allen
Klassen der Bevölkerung, daß sie sich an dem Orte, wo
der Schall der Posaunen ertönen würde, versammeln sollten.
(Neh. 4, 17—20.) Sobald die Posaune zum Kampf
aufforderte, wurde das Bauen der Mauer unterbrochen,
und alle mußten dem Feind entgegentreten in Abhängigkeit
von Gott. Und das ist es, was Judas uns einschärfen
will. Er sagt mit andern Worten: Jetzt ist die Zeit des
Kampfes. Er setzt die Posaune Gottes an seine Lippen
und fordert die Gläubigen zum Kampfe auf; er weckt sie
auf, damit sie wachen, im Glauben feststehen und mit
männlicher Kraft für den einmal den Heiligen überlieferten
Glauben kämpfen möchten. Es ist kaum nötig zu sagen,
daß der Ausdruck „Glaube" hier für den geglaubten
Gegenstand, die Wahrheit, steht; und der Kampf mußte
unternommen werden, um ihn so zu erhalten, wie er den
Heiligen überliefert worden war. Alle Abänderungen, alle
sogenannten Entwicklungen der Wahrheit, jedes Hinneigen
zu modernen Gedanken und Gefühlen — was im Grunde
alles nichts anderes ist als ein Verderben der Wahrheit
— alles das mußte und muß heute noch bekämpft werden.
Wir sind berufen, für die Aufrechthaltung des kostbaren
186
Glaubens (der Wahrheit) zu streiten, so wie er uns von
den inspirierten Aposteln überliefert worden ist.
Der nächste Vers zeigt uns die Quelle und Ursache
der Gefahr: „Denn gewisse Menschen haben sich nebeneingeschlichen, die schon vorlängst zu diesem Gericht zuvor
ausgezeichnet waren, Gottlose, welche die Gnade unsers
Gottes in Ausschweifung verkehren und unsern alleinigen
Gebieter und Herrn Jesum Christum verleugnen." (Vers 4.)
In diesen Worten wird uns die Geschichte und der verderbliche Charakter dieser Abgefallenen mitgeteilt. Erstens
hatten sie sich unvermerkt in die Versammlung eingeschlichen;
d. h. ihr wahrer Charakter wurde nicht erkannt, als sie
in die Versammlung ausgenommen wurden. An einem
bösen Tage giebt es kaum eine größere Verantwortlichkeit,
als diejenige der Thürhüter, (vergl. 2. Chron. 23, 19.)
d. h. solcher Männer, welche gleichsam die Zugänge zu dem
Hause Gottes bewachen und deren Pflicht es ist, nur
solche eingehen zu lassen, welche ein unbestreibares Anrecht
auf den Vorzug deS Eintretens haben. Aus Nachlässigkeit
an einem solchen Tage hatten sich diese Menschen unvermerkt einschleichen können; und ach! wie oft giebt es auch
in der gegenwärtigen Zeit einen beklagenswerten Mangel
an Wachsamkeit in dieser Beziehung! Die Folge davon
muß stets Verwirrung und Verderben sein. Obwohl jedoch
die „Thürhüter" gefehlt hatten, so waren diese Menschen
doch schon vorlängst zu diesem Gericht zuvor ausgezeichnet.
Das alles erforschende Auge des Geistes Gottes hatte sie
zuvor gesehen, und der Grund ihrer Verurteilung war
schon vorher angekündigt worden. In ihrem wesentlichen
Charakter waren sie Gottlose — Menschen, welche keine
Furcht Gottes vor ihren Augen hatten und ohne Rücksicht
187
auf Gott ihre Wege gingen, indem sie Ihn von allen
ihren Gedanken, Handlungen und Wegen ausschlossen.
(Vergl. V. 15.)
Dann folgen ihre besonderen Charakterzüge: sie verkehrten die Gnade Gottes in Ausschweifung und verleugneten unsern alleinigen Gebieter und Herrn Jesum Christum.
Sie benutzten die Gnade als einen Entschuldigungsgrund
für die Sünde, verharrten in der Sünde, damit die Gnade
überströme, (Röm. 6, 1.) und verwarfen die Autorität
Christi, welcher in der That ihr alleiniger Gebieter war.
(Vergl. 2. Petri 2, 1.) Sie verwarfen mit einem Wort
den Willen Christi, um ihren eigenen Willen ungehindert
thun zu können. Es war daher menschliche Anmaßung
in jenem Bereich (der Versammlung), wo Christus und
Seine Autorität alles sind. Das ist das Wesen aller
Gesetzlosigkeit, und war deshalb ein wirklicher Abfall, obgleich jene Menschen äußerlich noch auf dem Boden des
Christentums standen. So schreibt auch der Apostel Paulus:
„Denn schon ist das Geheimnis der Gesetzlosigkeit
wirksam; nur ist jetzt der, welcher zurückhält, bis er aus
dem Wege ist, und dann wird der Gesetzlose geoffenbart
werden u. s. w." (2. Thess. 2, 7. 8.)
Jene Menschen, welche sich unbeachtet unter die Heiligen
eingeschlichen hatten, waren somit die Vorboten des offenbaren Abfalls und des „Geoffenbartwerdens" des Menschen
der Sünde; denn derselbe Geist beherrschte sie, welcher sich
in dem Menschen der Sünde vor aller Augen offenbaren
wird. Diese gottlosen Menschen bestanden schon zur Zeit
des Apostels Judas; aber laßt uns nicht vergessen, daß
sie ihre Vertreter in jedem Zeitabschnitt der Geschichte der
Kirche hatten, also auch in unsrer Zeit. Wir werden
188
deshalb zuvor gewarnt; und es thut uns not, auf der
Hut zu sein und, eifersüchtig auf die Ehre und die Rechte
unsers Herrn, gegen die kleinste Abweichung von Seinem
Worte oder die geringste Neigung zum Mißbrauch der
Gnade zu wachen. Das Samenkorn des Abfalls mag in
etwas liegen, was nur eine ganz unbedeutende, geringfügige Anmaßung des menschlichen Willens im Gegensatz
zu demjenigen unsers alleinigen Gebieters und Heilandes
Jesu Christi zu sein scheint.
Hierauf führt Judas einige Beispiele an, um die
Gewißheit des Gerichts zu zeigen, welches über alle diejenigen kommen wird, die den Platz der Unterwürfigkeit
unter den Herrn verlassen oder in Sünde und Verderben
geraten. „Ich will euch aber, die ihr einmal alles wußtet,
erinnern, daß der Herr, nachdem Er das Volk aus dem
Lande Egypten gerettet hatte, zum andernmal die zerstörte,
welche nicht geglaubt haben; und Engel, die ihren ersten
Zustand nicht bewahrt, sondern ihre eigene Behausung
verlassen haben, hat Er zum Gericht des großen Tages
mit ewigen Ketten unter der Finsternis verwahrt. Wie
Sodom und Gomorra und die umliegenden Städte, die 
sich, gleicherweise wie jene, der Hurerei ergaben und anderm
Fleische nachgingen, als ein Exempel vorliegen, indem sie
des ewigen Feuers Strafe leiden." (Vers 5—7.)
Ohne Zweifel liegt hier ein doppelter Grund für
die Anführung dieser so sehr verschiedenen Beispiele des
Gerichts vor. Zunächst soll aus dem Falle Israels gezeigt werden, daß das Gericht jene Gottlosen deshalb
erreichen wird, weil sie den Platz des Volkes Gottes eingenommen haben. Ueberdies scheint es, — und dies tritt
in dem weiteren Verlauf der Epistel noch deutlicher ans
189
Licht, — daß der Zustand dieser Menschen ein charakteristischer ist bezüglich der bekennenden Christenheit am
Ende ihrer Geschichte. Zweitens haben wir in diesen drei
Beispielen die charakteristischen Züge, (die Formen der
Sünde und der Ungerechtigkeit) welche in diesen „Träumern", von denen Judas spricht, klar an den Tag gelegt werden. So fielen diejenigen, welche von den Kindern
Israel in der Wüste hingestreckt wurden, (nur zwei von
denen, die aus Egypten ausgezogen waren, Josua und
Kaleb, wurden verschont,) dem Gericht anheim, weil sie
nicht glaubten; sie waren Kinder, in welchen keine
Treue war. (5. Mose 32, 20.) „Welchen aber schwur
Er, daß sie nicht in Seine Ruhe eingehen sollten, als nur
denen, die ungehorsam gewesen waren? Und wir sehen,
daß sie nicht eingehen konnten wegen des Unglaubens."
(Hebr. 3, 18. 19.) Die Sünde der Engel, welche ihren
ersten Zustand nicht bewahrten, war mehr Ungehorsam;
denn es ist gerade ein charakteristisches Merkmal der
bewahrt gebliebenen Engel, daß sie Thäter des Wortes
Gottes, „gehorsam der Stimme Seines Wortes" sind.
(Ps. 103, 20.) Bei Sodom und Gemorra endlich war
es der Wille des Fleisches, der ungebrochene Eigenwille in
fleischlicher Lust, „indem sie sich der Hurerei ergaben, und
anderm Fleische nachgingen". Beachten wir hier die moralische Ordnung: zuerst Unglaube, dann Ungehorsam und
schließlich die Lust des Fleisches, — eine Ordnung, welche
wir immer wieder in dem Worte Gottes an Beispielen
dargestellt finden.
Ich möchte hier noch aus zwei andere wichtige Punkte
aufmerksam machen. Die gefallenen Engel werden, wie
wir aus dieser Stelle und aus 2. Petri 2, 4 ersehen,
190
zum Gericht des großen Tages mit ewigen Ketten unter
der Finsternis verwahrt. Sie bilden deshalb eine besondere Klasse, welche mit dem Teufel und den Dämonen des
Neuen Testaments, die dort so oft in ihrem bösen Werke
auf Erden thätig gefunden werden, nicht verwechselt werden
darf. Es mag sein, daß Paulus in 1. Kor. 6, 3 auf
diese gefallenen Engel anspielt. Ferner wird die Zerstörung Sodoms und Gomorras und der umliegenden
Städte als ein ernstes Beispiel vorgestellt, indem sie des
ewigen Feuers Strafe leiden. Diese Städte liegen noch heute
unter dem Gewicht ihres schrecklichen Verhängnisses, indem
sie in dem Gericht, das sie ereilte, verschlungen wurden;
und der Geist Gottes führt diese beiden Dinge als Warnung und Beispiel an: als eine Warnung bezüglich der
Gewißheit des nahenden Gerichts, und als ein Beispiel
hinsichtlich seines ewigen Charakters. Möchten daher alle,
welche, gleich jenen Gottlosen, die Gnade Gottes in Ausschweifung verkehren wollen und sich gegen die Autorität
Christi auflehnen, auf ihrer Hut sein! Möchten sie umkehren von ihrem bösen Wege, so lange es noch Zeit ist!
(Fortsetzung folgt.)
Stehet fest!
Festigkeit that den Gläubigen zu allen Zeiten not;
ganz besonders aber bedürfen wir sie in unsern Tagen
des Verfalls. Der Feind sucht stets die Gläubigen irre
zu führen, sie im Glauben wankend und für einen Gott
wohlgefälligen Wandel unfähig zu machen. Und darum
ist auch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes stets darauf
gerichtet gewesen, die Gläubigen nach jeder Seite hin zu
befestigen. Wir lesen von den Aposteln, daß sie „die
191
Seelen der Jünger befestigten, und sie ermahnten, im
Glauben zu verharren." (Apstgsch. 14, 22.) Ferner: „Die
Versammlungen nun wurden im Glauben befestigt."
(Apstgsch. 16, 5.) Der Apostel sehnte sich nach den Gläubigen in Rom, um auch ihnen etwas geistliche Gnadengabe mitteilen zu können, damit sie befestigt würden.
(Röm. 1, 11.) Er ermahnte die Gläubigen zu Korinth:
„Daher, meine geliebten Brüder, seid fest und unbeweglich u. s. w." „Wachet, stehet fest im Glauben; seid
männlich und seid stark." (1. Kor. 15, 58; 16, 13.)
Den Gläubigen zu Thessalonich rief er zu: „Also nun,
Brüder, st eh e t fest und haltet die Ueberlieferungen u. s. w."
(2. Thess. 2, 15.) Auch Petrus warnt die Gläubigen,
sich nicht durch den Irrtum der Ruchlosen mit fortreißen
zu lassen und so aus ihrer eignen F estigke it zu fallen.
(2. Petr. 3, 17.) Und der Herr ruft uns zu: „Ich komme
bald; halte fest, was du hast, aus daß niemand deine
Krone nehme." (Offenb. 3, 11.)
Die herrlichsten Vorrechte und Verheißungen können
dem Gläubigen in praktischer Beziehung wenig oder gar
nichts nützen, wenn er nicht fest steht. So empfing z. B. Josua
vom Herrn die herrliche Verheißung: „Es soll niemand vor
dir bestehen alle Tage deines Lebens: so wie ich mit
Mose gewesen bin, werde ich mit dir sein; ich werde dich
nicht versäumen und dich nicht verlassen." Aber was
würde ihm diese Verheißung genützt haben, wenn er sich
durch die vor ihm liegenden Schwierigkeiten hätte einschüchtern
lassen, oder wenn er allerlei Zweifeln Raum gegeben hätte?
Nichts, gar nichts! Er wäre furchtsam auf halbem Wege
stehen geblieben und hätte infolge dessen alle die herrlichen
Erfahrungen von der Macht und Hülfe des Herrn nicht
192
gemacht. Darum rief ihm der Herr immer wieder zu:
„Sei stark und mutig... Nur sei sehr stark
und mutig!" (Jos. 1, 5—7.) Josua hatte nur nötig,
fest auf das Wort des Herrn zu vertrauen; alles andere,
die Spaltung des Jordans und die Unterwerfung der
Feinde, war Sache des Herrn. Ebenso ist es mit uns.
Wir sind Kinder Gottes, haben Frieden mit Ihm und erfreuen uns Seiner Liebe; unsre Leiber sind Tempel des
Heiligen Geistes ; wir sind in Christo in die himmlischen
Oerter versetzt und können jetzt schon durch den Glauben
dort verkehren. Wir haben ferner die köstliche Verheißung,
daß unser Gott und Vater für uns sorgen will betreffs
all unsrer Bedürfnisse hienieden; daß der Herr selbst mit
uns ist im Kampfe, in den Prüfungen und Schwierigkeiten; und daß Er bald wiederkommen und uns aufnehmen wird in Seine Herrlichkeit, wo alle Kämpfe und
Prüfungen für immer beendigt sein werden. Aber alle
diese Vorrechte nützen uns nichts, wenn wir uns nicht
fest darauf stützen und Gebrauch davon machen.
Josuas Kraft und Erfolg bestand einfach darin, daß
er unentwegt an dem Worte Gottes festhielt. „Nur sei
sehr stark und mutig, daß du darauf achtest, zu thun nach
dem ganzen Gesetz, das Mose, mein Knecht, dir geboten
hat. Weiche nicht davon ab zur Rechten noch zur Linken,
auf daß es dir gelinge überall, wohin du gehst. Dieses
Buch des Gesetzes soll nicht von deinem Munde weichen,
und du sollst darüber sinnen Tag und Nacht, auf daß
du darauf achtest, zu thun nach allem, was darin geschrieben ist; denn alsdann wirst du Erfolg haben auf
deinem Wege, und alsdann wird es dir gelingen."
(Jos. 1, 7. 8.) Wir glauben nicht fehl zu gehen, wenn
193
wir sagen, daß der unbefestigte Zustand so vieler Gläubigen seinen Grund in ihrer Vernachlässigung des Wortes
Gottes hat. Wie viele giebt es, namentlich unter den
jüngeren Gläubigen, welche betreffs ihrer Errettung ungewiß sind und einem schwankenden Rohre gleichen, das
von jedem Windstoß hin und her bewegt wird. Ihr Glaube
stützt sich, anstatt einzig und allein auf das Wort Gottes
gegründet zu sein, auf irgend etwas in ihnen, auf ihre Gebete, auf ihre Gefühle, oder auf irgend etwas, das sie gesehen oder gehört zu haben meinen u. s. w. Und darum
gelingt es dem Feinde so leicht, ihre Freude zu stören
und ihre Herzen mit Zweifeln und Ungewißheit zu erfüllen. Obwohl die Gefühle der Freude durch den Heiligen
Geist in ihren Herzen erzeugt sein mögen, so können sie
doch niemals dem Glauben eine feste Grundlage bieten,
da sie, wie alles in uns, veränderlich sind. „Aber das
Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit." (1. Petr. 1, 25.)
Würden sich jene Gläubigen betreffs ihrer Errettung allein
auf dieses stützen, so würden sie jedem Zweifel begegnen
können mit den Worten: „Es steht geschrieben . . . Und
wiederum steht geschrieben." (Matth. 4, 6. 7.) Ihr Friede
würde ebenso fest und unerschütterlich sein wie das Wort
Gottes selbst.
Ohne Zweifel ist jede Bekehrung von der Wirksamkeit des Heiligen Geistes abhänging. Er teilt der Seele
die Erkenntnis ihrer Sünden und ihres verlornen Zustandes mit, und läßt sie die Erlösung durch das Werk
Christi verstehen. Aber Er thut dieses durch das geschriebene Wort Gottes, sei es nun daß Er die Gedanken der
Seele unmittelbar darauf richtet, oder daß Er es ihr durch
irgend jemanden verkündigen läßt. Selbstredend finden in­
194
folge dieser Wirksamkeit des Geistes Veränderungen in
der Seele statt: die Erkenntnis ihrer Sünden erzeugt
Betrübnis und führt sie zu einem aufrichtigen Bekenntnis
vor Gott; und ebenso bringt ihr die Erkenntnis der Erlösung Frieden. Aber immer ist es das geschriebene Wort,
durch welches ihr der Heilige Geist sowohl ihren verlornen Zustand, als auch ihre Errettung kundthut. Jede
andere Grundlage einer Bekehrung ist nicht echt und hält
daher nicht stand. Gott redet zu uns durch das geschriebene Wort. Der Gläubige stützt sich auf dieses Wort
und weiß durch dasselbe ebenso sicher, daß er durch das
Werk Christi errettet ist, wie der Uebelthäter am Kreuze
durch das Wort des Herrn wußte, daß er noch an demselben Tage mit Ihm im Paradiese sein würde.
Indes ist ein solcher Gläubiger nicht allein betreffs
seiner Errettung befestigt, sondern er wird auch Gelingen
haben auf seinem ganzen Wege. „Alsdann wirst du Erfolg
haben auf deinem Wege, und alsdann wird es dir gelingen."
Sein Herz bleibt frisch, und er wird keine Ursache haben,
über Dürre zu klagen. „Er ist wie ein Baum, gepflanzt
an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit,
und dessen Blatt nicht verwelkt; und alles, was er thut,
gelingt." (Psalm 1, 2. 3.) Der Herr vergleicht einen
solchen mit einem klugen Manne, der sein Haus auf den
Felsen gebaut hat; die Ströme und Winde vermögen
nichts wider dasselbe auszurichten. (Matth. 7, 24. 25.)
Wir sehen dieses in dem Leben aller treuen Gläubigen
verwirklicht. Betrachten wir z. B. die Geschichte Davids.
Welchen Wert er auf das Wort Gottes legte, geht aus
Ausdrücken hervor wie die folgenden: „Besser ist mir
das Gesetz Deines Mundes als Tausende von Gold und
Silber. . . . Wie süß sind meinem Gaumen Deine Worte,
mehr als Honig in meinem Munde! . . . Dein Wort
ist meines Fußes Leuchte und meines Pfades Licht."
(Psalm 119.) Aber auch welche Erfolge hat er gehabt, und
wie war Gott mit ihm!
ES giebt noch viele Beispiele dieser Art; allein wir
195
möchten für jetzt nur noch an drei feierliche Gelegenheiten
erinnern, die uns ein entschiedenes Festhalten am Worte
Gottes als das einzige Mittel der Bewahrung und Ueberwindung darstellen.
Zunächst ist eS der Herr selbst, welcher als der zweite
Adam den Feind allein durch das Wort Gottes überwand,
und zwar unter den widrigsten Umständen. Inmitten der
Wüste, unter den wilden Tieren, dem äußersten Mangel
ausgesetzt und von Satan versucht, genügte dem Herrn das
Wort Gottes vollkommen. (Vergl. Mark. 1, 13; Luk. 4,
1—13.) Es war für Ihn völlig ausreichend; Er bedurfte
nichts anderes. Und so genügt es auch für uns, um in
allen Lagen feststehen und dem Feinde Widerstand leisten
zu können.
Bei Gelegenheit seines Abschiedes von den Aeltesten
zu Ephesus stellte der Apostel diesen den traurigen Verfall
der Versammlung in Aussicht: „Ich weiß, daß nach meinem
Abschiede verderbliche Wölfe zu euch hereinkommen werden,
die der Herde nicht schonen. Und aus euch selbst werden
Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die
Jünger abzuziehen hinter sich her." Sicherlich waren diese
trostlosen Aussichten geeignet, den Glauben der zurückbleibenden Aeltesten zu erschüttern, und zwar umsomehr,
je inniger ihnen das Wohl der Herde Gottes am Herzen lag.
Aber auch hier wird uns gezeigt, daß Gott und Sein
Wort vollkommen genügen in jeder Lage. „Und nun," sagt
der Apostel, „befehle ich euch Gott und dem Worte Seiner
Gnade, welches vermag aufzuerbauen und euch ein Erbe
zu geben unter allen Geheiligten." (Apstgsch. 20, 29—32.)
Schließlich sehen wir im zweiten Briefe an Timotheus
die Herde Gottes bereits zersprengt, den Apostel in Gefangenschaft, und Timotheus scheinbar ohne alle Stütze
sich selbst überlassen. Der Apostel sucht ihn durch seinen
Brief zu trösten und zu befestigen; aber nicht etwa dadurch,
daß er ihm Aussicht auf eine Wendung zum Besseren
macht. Ach nein! vielmehr muß er ihm erklären, daß
das Böse fortschreiten werde. Dennoch hat er einen
196
mächtigen Trost für ihn: er erinnert ihn an das unwandelbare Wort Gottes, welches selbst für die finstersten
Zeiten des Verfalls genügt. „Halte fest das Bild gesunder Worte, die du von mir gehört hast, in Glauben
und Liebe, die in Christo Jesu sind ... Du aber bleibe 
in dem, was du gelernt hast, wovon du völlig überzeugt
bist, da du weißt, von wem du gelernt hast, und weil
du von Kind auf die heiligen Schriften kennst, die vermögend sind, dich weise zu machen zur Seligkeit durch
den Glauben, der in Christo Jesu ist. Alle Schrift ist 
von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Ueberführung,
zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit,
auf daß der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem
guten Werke völlig geschickt." (2. Tim. 1, 13; 3, 14—17.)
So sehen wir also, wie das Wort Gottes für alles
genügt. Es giebt dem Glaubenden eine unerschütterliche
Gewißheit betreffs seiner Errettung; es befähigt ihn, Satans
Anläufe siegreich abzuwehren; und es vermag ihn selbst
in den finstersten Zeiten zu erhalten, zu befestigen und zu
jedem guten Werke völlig geschickt zu machen. Die Untreue,
Gleichgültigkeit und Weltlichkeit der Christen im allgemeinen
sind nie ein Grund für den Einzelnen, seine feste Stellung
aufzugeben, oder zu ermüden und schwach zu werden.
Wenn wir ermatten, so liegt es sicherlich nicht an den
Zeiten und Umständen, sondern allein an unsrer Vernachlässigung des Wortes Gottes. Möchten wir diesem daher
stets den Platz in unsern Herzen einräumen, welcher ihm
gebührt; und möchten wir es unermüdlich lesen mit ernstem
Nachdenken und unter Gebet und Flehen! Ja, möchte es
nie von unserm Munde weichen, und laßt uns in Wahrheit darüber sinnen Tag und Nacht!

Ueber den Dienst der Frauen.
(Schluß.)
Im Gegensatz zu solchen Anmaßungen ist es nützlich
und interessant zu untersuchen, welches denn das Gebiet
der ThätigkeitMr gläubige Frauen ist und welche Beispiele
uns das Wort in dieser Hinsicht giebt.
Wie bereits angedeutet, ist der Bereich dieser Thätigkeit grundsätzlich schon bei der Schöpfung klar festgestellt
worden. Adam wurde gebildet, um das Haupt der irdischen Schöpfung und der Verwalter Gottes auf der Erde
zu sein. Gott brachte alle Tiere, das Vieh, daS Getier
des Feldes und das Gevögel des Himmels zu Adam,
damit er ihnen Namen gebe. Auf diese Weise gab Gott
der Autorität des Mannes über die ganze Schöpfung
Seine Weihe. Allein in dieser Oberhoheit stand Adam
allein. Alle lebenden Wesen waren von anderer Art wie
er. Alsdann gab ihm Gott in Seiner Güte nicht einen
anderen Mann, der sein Nebenbuhler gewesen wäre, sondern
eine Gehülfin, eine Gefährtin, welche, obgleich sie seines
Gleichen war und allen seinen Zuneigungen entsprach, (eins
mit ihm und genommen von ihm,) dennoch ihm untergeordnet war und ihn auf dem ihm angewiesenen Platze,
als Herr und Mittelpunkt von allem auf der Erde, ließ;
oder, genauer gesprochen, in dieser Stellung, ohne Nebenbuhler, wurde ihm die Frau als Gehülfin gegeben.
Das ist der göttliche Grundsatz, welcher den Bereich der
198
Thätigkeit des weiblichen Geschlechts genau bestimmt. Das
Weib ist eine Gehülfin. Gott hat sie dazu geschaffen und
ihr Eigenschaften gegeben, welche dieser Stellung entsprechen;
geradeso wie Er dem Manne Eigenschaften verliehen hat,
welche ihn zu seinem Beruf als Herr und Verwalter befähigen. Mögen wir daher die Frau inmitten ihrer
häuslichen Pflichten und Beschäftigungen oder auf dem
Gebiete geistlicher Thätigkeit in dem Hause Gottes hienieden betrachten, stets ist ihre Thätigkeit durch die Worte
aus dem Munde Gottes bestimmt und begrenzt: „eine
Gehülfin", nicht aber „eine Nebenbuhlerin".
Ist es nicht eine große Ehre für die christlichen
Frauen, eine Stellung als Gehülfinnen in dem Werke
Gottes hienieden einnehmen zu dürfen? In der levitischen
Haushaltung, wie in dem ganzen jüdischen Ritus waren
die Frauen vollständig von jedem Dienst ausgeschlossen;
es durften selbst diejenigen, welche zu den Häusern der
Priester gehörten, nicht immer an dem Essen der Opfer
teilnehmen. Die Gnade hingegen giebt den christlichen
Frauen Gelegenheit, sich im Werke des Dienstes nützlich
zu machen, nur mit dem Vorbehalt, daß sie nicht aus
dem Bereich, welcher ihnen zugeteilt ist, heraustreten.
Wie groß auch die Verstandeskräfte und die Gelehrsamkeit einer Frau sein mögen, sie bleibt stets, nach den
Worten der Heiligen Schrift, ein schwaches Gefäß.
„Infolge dessen empfängt sie ihre Eindrücke, Antriebe und
Beweggründe leicht aus zweiter Hand", wie ein Diener
Gottes bemerkt hat, indem er hinzusügt: „Daher kann
eine Frau niemals ein hervorragender Führer, eine treibende
Kraft in dem Werke sein. Das liegt nicht in den Absichten Gottes. Sie kann viel helfen, aber nicht Führer
199
sein; sie vermag Dinge auszuführen, zu welchen der Mann
unfähig ist, aber sie kann nicht das thun, was dieser thut.
Die Frau kann nicht von Christo Antriebe für eine
Stellung empfangen, welche Er ihr nicht giebt."
Ein Gefühl lebhafter Anhänglichkeit, eine Art HerzensVerständnis beherrschte im allgemeinen die Frauen, welche
dem Herrn Jesu einst folgten. Der verworfene Heiland
fand unter allen Seinen Jüngern nicht die reine Liebe
und die für die Umstände des Augenblicks verständnisvolle Hingebung, welche eine Maria von Bethanien offenbarte. (Siehe Matth. 26, 6—13; Mark. 14, 3-9;
Joh. 12, 1-8.)
Während Petrus und Johannes nach Hause zurückkehren, kann Maria Magdalena das Grab nicht verlassen,
ohne ihren Herrn tot oder lebend gefunden zu haben.
Und wie entspricht der Herr dem Wunsche dieses Herzens!
Er offenbart sich ihr und beehrt sie mit jener schönen
Botschaft an die Jünger: „Gehe hin zu meinen Brüdern
und sage ihnen rc." (Joh. 20.)
Fromme und ergebene Frauen waren mit dem Herrn
und dienten Ihm mit ihrer Habe. (Luk. 8, 1—3.) Martha
nahm Ihn in ihr Haus auf. (Luk. 10.) Frauen, welche
Ihm von Galiläa gefolgt waren, wachten über Ihn an
Seinem Grabe und bereiteten Spezereien und Salben
zu Seiner Einbalsamierung. (Luk. 23, 55. 56.) Vier
von ihnen standen bei dem Kreuze. (Joh. 19, 25.)
Auch die Apostelgeschichte liefert unS mehrere Beispiele
von der Art und Weise, wie fromme Weiber inmitten der
Heiligen dienten und ihrer Liebe zum Herrn Ausdruck
gaben, nachdem Er in die Herrlichkeit ausgenommen war
und der Heilige Geist vermittelst der Apostel mit Macht
200
in der Kirche zu wirken begonnen hatte. In Kapitel
9, 36 'finden wir eine dieser Frauen, von welcher gesagt
wird, daß sie „voll guter Werke und Almosen" war.
Sie hatte, wie es scheint, Geld und Zeit; aber sie bediente
sich dessen nicht, um öffentlich zu lehren oder um fortwährend Besuche von Haus zu Haus zu machen; nein,
sie arbeitete daheim mit ihren Händen, indem sie Kleider
für die Witwen nähte. Und wie hoch die Jünger von
Joppe diese Frau schätzten und welches Bedauern ihr
Heimgang bei ihnen hervorrief, geht aus der Erzählung
hervor. Sie ließen den Apostel Petrus holen, welcher
im Namen und von feiten Gottes handelte und sie ihnen
wiedergab.
Im 12. Kapitel wird unS mitgeteilt, wie sich derselbe Apostel unmittelbar nach seiner wunderbaren Befreiung durch den Engel des Herrn, mitten in der Nacht,
nach dem Hause einer Frau begab, welches den Heiligen
zum Gebet offen stand. Die Thatsache, daß Petrus sich
sofort dorthin wandte, spricht sehr zu Gunsten dieser Maria,
der Mutter des Johannes, mit dem Zunamen Markus,
(man glaubt, daß sie die Schwester des Propheten Barnabas war); ihr Haus war ein den Aposteln wohlbekannter Sammelplatz. Welch ein schönes Zeugnis! Diese
Frau nahm, außer andern Diensten, die Heiligen zum
Gebet in ihrem Hause auf.
Im 16. Kapitel wendet sich die Purpurkrämerin
Lydia alsbald nach ihrer Bekehrung an Paulus und seine
Begleiter und sagt ihnen: „Wenn ihr mich für treu dem
Herrn haltet, so kehret in mein Haus ein und bleibet."
Und aus dem 40. Verse desselben Kapitels ersehen wir,
daß ihr Haus ein Versammlungsort für die Brüder von
201
Philippi geworden war, welche aber nicht etwa hinkamen,
um die Zuhörer von Lydia zu sein. Auch diese Frau
nahm also die Brüder auf; sie stand im Dienste des
Herrn, in ihrem Bereich, unter der gesegneten Beaufsichtigung der Apostel, welche sie in ihrem Hause beherbergte.
Sehr schön und beachtenswert ist auch das, was uns
über Aquila und Priscilla (oder Priska) mitgeteilt wird.
Dieses Ehepaar wird in den Episteln verschiedentlich erwähnt, und zum ersten Male in dem 18. Kapitel der
Apostelgeschichte. Paulus giebt ihnen das Zeugnis, daß
sie ihren eigenen Hals für sein Leben preisgegeben hätten.
(Röm. 16, 4.) In Rom und in Ephesus kam die Versammlung in ihrem Hause zusammen. (Röm. 16, 5;
1. Kor. 16, 19.) Priscilla scheint eine hervorragende,
ausgezeichnete Schwester gewesen zu sein; Paulus nennt
sie in seinen Grüßen (Röm. 16, 3 und 2. Tim. 4, 19)
vor ihrem Gatten, woraus man wohl schließen darf, daß
sie in ihren geistlichen Fortschritten ihren Mann übertraf.
Der Apostel sagt von ihnen beiden: „Meine Mitarbeiter
in Christo Jesu, welche für mein Leben ihren eigenen
Hals preisgegeben haben, denen nicht allein ich danke,
sondern auch alle Versammlungen * der Nationen." Was
ich jedoch besonders betreffs dieser Schwester hervorheben
möchte, ist das, was unS in Apostelgesch. 18 von ihr
berichtet wird. Wir lesen dort folgendes: Als Apollos,
jener beredte Mann, der mächtig in den Schriften und
brünstig im Geiste war, aber nur die Taufe Johannes
kannte, nach Ephesus kam, nahmen Aquila und Priscilla
ihn in ihr Haus auf, und legten ihm den Weg Gottes
noch genauer aus. Diese ausgezeichnete Frau half also
ihrem Gatten daheim, in ihrer Zeltmacherwerkstatt, dem
202
Apollos den Weg Gottes genauer auslegen, als derselbe
ihn bis dahin erkannt hatte.
In Römer 16 empfiehlt der Apostel Paulus auch
die Schwester Phoebe den Heiligen in Rom. Dieselbe
war eine Dienerin der Versammlung in Keuchreä und hatte
vielen, auch Paulus selbst, Beistand geleistet. Es ist ein 
dem Herrn angenehmer Dienst, wenn eine Schwester das
Versammlungslokal besorgt. Vielleicht trug Phoebe auch
Sorge für die Verpflegung und für die Wäsche des
Apostels bei seinen Besuchen in jener Versammlung. Vielleicht auch führte sie ihn zu Personen, welche sie kannte,
oder half den Brüdern in Kenchreä, indem sie die Armen
und Kranken in der Versammlung besuchte und auf deren
Bedürfnisse aufmerksam machte. Mit einem Wort, sie
diente der Versammlung.
In Vers 6 spricht der Apostel von einer gewissen
Maria, welche viel für die Heiligen in Rom gearbeitet
hatte. Worin diese Arbeit auch bestanden haben mag,
jedenfalls war sie dem Herrn angenehm. Tryphäna und
Tryphosa arbeiteten im Herrn. Persis, die Geliebte, hatte
viel gearbeitet im Herrn. (V. 12.) Ferner nennt der
Apostel die Mutter deß» Rufus auch seine Mutter. Vielleicht hatte diese Schwester für Paulus Sorge getragen
mit der Liebe und Sorgfalt einer Mutter für ihr eigenes
Kind; und das Herz des Apostels erinnert sich daran,
indem er ihr den Mutternamen giebt.
Später richtete Johannes, welcher die übrigen Apostel
alle überlebte, um über die Kirche zu wachen, seinen zweiten
Brief an eine Schwester. Man darf annehmen, daß diese
„auserwählte Frau" eine hervorragende Schwester war,
nicht nur ihrer gesellschaftlichen Stellung nach, sondern
203
auch und zwar vornehmlich infolge ihrer Frömmigkeit.
Johannes hat keine Epistel au alle Schwestern gerichtet!
Jene auserwählte Frau und ihre Kinder wurden von dem
Apostel und von allen, welche die Wahrheit erkannt hatten,
geliebt. Der 10. Vers läßt vermuten, daß sie gegen die
Heiligen Gastfreundschaft übte, und daß sie aus schwesterlicher Liebe vielleicht Gefahr lief, auch solche aufzunehmen,
welche die reine Lehre Christi nicht brachten. Johannes,
der mit der Autorität des Herrn bekleidete Apostel, gebietet ihr, solche bösen Arbeiter nicht in ihr Haus aufzunehmen und sie nicht zu grüßen. Diese Weisungen,
welche jene Schwester einerseits ehren, bezeichnen sie andrerseits nicht als eine Predigerin, sondern als eine, welche
Andern zuhörte. Sie wird aufgefordert, zwischen den
Predigern, die zu ihr kamen, und den Brüdern überhaupt,
zu unterscheiden im Blick auf das, was sie brachten. Sie
wird darüber belehrt, an welchen Merkmalen sie die wahren
Arbeiter des Herrn erkennen könne, und was die falschen
kennzeichne; welche sie in ihr Haus aufnehmen und welche
sie nicht empfangen, ja nicht einmal grüßen solle.
Zum Schluß möchten wir bemerken, daß derjenige,
welcher sich der Autorität des Wortes unterwirftDr ohne
Mühe unterscheiden wird, was im Dienste des Herrn den
Schwestern geziemt; ein solcher wird nicht lange darüber
im Unklaren bleiben, was die Worte bedeuten: „Viel in
dem Herrn gearbeitet haben", oder: „mit einem Apostel
am Evangelium gekämpft haben".„Wenn aber jemand
unwissend ist, so sei er unwissend!" (1. Kor. 14, 38.)
Es steht zu befürchten, daß das, was man heute mit
„Aufklärung des menschlichen Geistes" oder mit „gegenwärtigen Ansichten" bezeichnet, in etwa auch die teuren Kinder
204
Gottes beeinflußt, und sie um irgendwelche Segnungen
bringt und die göttlichen Grundsätze verändert. Es sind
einerseits die Lehren des Nihilismus wirksam, und andrerseits drängt man auf die völlige Gleichstellung der Frau
mit dem Manne hin.
Gott möge uns treu und einfältig erhalten, in einem
unweigerlichen, kindlichen Gehorsam gegenüber Seinem
heiligen Worte, welches lebendig und bleibend ist! Ich
gestehe, daß ich manchmal aus Lässigkeit versucht gewesen
bin, die Schwestern wegen ihres.Anteils am Werke, wie
das Wort ihnen denselben zuweist, zu beneiden. Obgleich
sie die Dinge an ihrem Platze wahrnehmen und auch durch
Mitempfinden daran teilnehmen — wie viele Sorgen, wie
viele Herzenskämpfe, wie viel Geistesarbeit und Müdigkeit
des Körpers, wie viele unmittelbaren Kämpfe mit dem
Feinde und mit den Feinden, hat ihnen der Herr erspart
in dem bescheidenen Kreise ihrer Thätigkeit, wo ihre
Frömmigkeit so oft Gelegenheit finden kann, dem Herrn
zu dienen und Ihn zu verherrlichen, ohne es nötig zu
haben, sich die Vorrechte des Mannes anzueignen!
Mögen sich daher die Schwestern, neben ihren häuslichen
Beschäftigungen — Pflichten, welche das Wort an die
erste Stelle setzt — der Seelen ihrer Umgebung annehmen;
mögen sie viel beten und bei Einzelnen Besuche machen,
unter der Leitung Gottes auf dem gesegneten Pfade, welchen
das Wort zu ihrer Richtschnur vorgezeichnet hat! Sie werden
dann mitarbeiten an dem Werke, indem sie, besonders
im Gebet, mitkämpfen mit den Arbeitern des Herrn.
Und bei der Ankunft des Herrn wird ein jeder und eine
jede empfangen, was sie irgend Gutes gethan haben werden.
(Vergl. Eph. 6, 8.)
205
Die Epistel des Judas,
n.
(Vers 7—16.)
Judas hatte seine Beschreibung von „gewissen Menschen, welche sich nebeneingeschlichen hatten," dadurch unterbrochen, daß er drei Beispiele göttlichen Gerichts anführte — über die Sünder unter dem Volke in der Wüste,
über diejenigen unter den Engeln und endlich über die
Bewohner von Sodom und Gomorra und den umliegenden
Städten. Jetzt kehrt er zurück und zeigt uns, daß diese
Menschen, trotz jener offenbaren und bekannten Exempel
des Gerichts Gottes über das Böse, dennoch ganz ähnliche 
Wege verfolgten. Er sagt: „Gleicherweise beflecken auch
diese Träumer das Fleisch und verachten die Herrschaft
und lästern Herrlichkeiten." (Vers 8.)
Das waren drei verschiedene Charakterzüge des Bösen,
welche sich in jenen falschen Bekennern kundgaben. Zunächst
werden sie jedoch als „Träumer" bezeichnet; denn ohne
Zweifel vertrauten sie, verblendet durch Satan, auf sich
selbst, daß sie gerecht seien, während sie andere verachteten.
(Vergl. Vers 19.) Sie waren in der That Träumer,
welche nach den Einbildungen ihrer eigenen Herzen wandelten und sich in eine falsche Sicherheit einwiegten, während
der Sturm des Gerichts bereits über ihren Häuptern
auszubrechen drohte. Ueberdies „befleckten sie das Fleisch",
ein Ausdruck, welcher moralisches und fleischliches Verderben
bezeichnet. Es ist sehr bemerkenswert, daß überall in der
Schrift ein stolzes religiöses Bekenntnis, ohne Leben, stets mit
abscheulichen Sünden in Verbindung gebracht wird. (Vergl.
Matth. 23, 25-28; 2. Tim. 3,1—5; Titus 1,15.16 rc.)
Ferner verachteten sie die Herrschaft. Dies drückt die
206
völlige Entfaltung des Eigenwillens in dem Menschen aus,
indem er sich selbst und seine Rechte hervorhebt, und zu
gleicher Zeit sich weigert, irgend eine höhere Autorität
anzuerkennen. Auf die Frage, was für Herrschaften gemeint seien, wird hier nicht näher eingegangen; es ist
vielmehr der Geist, der äußerst rebellische Geist dieser
Träumer, der uns gezeigt werden soll. Es ist der Geist
des Ungehorsams und der Auflehnung gegen alles Höhere,
der Geist, welcher heutzutage in der Welt herrscht und
immer mehr zunimmt; und wie schon öfters bemerkt worden ist, hat der jeweilig vorherrschende Strom des Bösen
in der Welt zu allen Zeiten einen besonders nachteiligen
Einfluß auf die Kirche ausgeübt. Die Ausbildung des
Geistes der Unabhängigkeit, die Empörung des Menschen
gegen Gottes Ordnung, das Wegwerfen aller Ehrfurcht
vor der Autorität, sei es in der Kirche oder in der Welt,
das ist es, was uns hier in seiner nackten Häßlichkeit
gezeigt wird, um die Heilgen Gottes zu warnen. Schließlich zeigt sich die Frucht des Verachtens der Herrschaften
in dem Lästern von Herrlichkeiten. Es ist die zügellose
Freiheit der Zunge derer, welche keine Achtung vor Gott
oder Menschen mehr haben, die jede Verpflichtung zur
Treue und zum Gehorsam verwerfen und welche, um mit
den Worten des Psalmisten zu reden, sagen: „Wir werden überlegen sein mit unsrer Zunge, unsre Lippen sind
mit uns; wer ist unser Herr?" (Psalm 12, 4.)
Nachdem Judas so diese bösen Menschen in kurzen,
scharfen Zügen vor unsre Augen gemalt hat, zeigt er uns
einen völligen Gegensatz zu ihrem Thun in dem Betragen
Michaels, des Erzengels. „Michael aber, der Erzengel,
als er, mit dem Teufel streitend, Wortwechsel um den 
207
Leib Moses hatte, wagte nicht ein lästerndes Urteil über
ihn zu fällen, sondern sprach: Der Herr schelte Dicht"
Der einzige Zweck der Anführung dieses Streites zwischen
dem Erzengel und Satan ist der, den wahren Charakter
des Verhaltens derjenigen zu zeigen, welche Böses wider
die Herrlichkeiten reden. Diese Menschen erlauben sich,
Herrlichkeiten (od. Würden, Gewalten) zu lästern, während
der Erzengel, selbst als er mit Satan, der Verkörperung
alles Bösen, stritt, und obwohl er dessen Feindschaft gegen
das Volk Gottes kannte, sich nicht erlaubte, ein lästerndes
Urteil über ihn zu fällen, sondern sich einfach auf das
Gericht Gottes selbst berief. Und indem er dies that,
gebrauchte er dieselben Worte — „der Herr schelte Dich!"
— welche der Herr anwandte, als Satan zu Seiner
Rechten stand, um sich der gnädigen Dazwischenkunft Jehovas zu Gunsten des jüdischen Ueberrestes (in Josua,
dem Hohenpriester, vorbildlich dargestellt) zu widersetzen.
(Sach. 3, 1. 2.) Sicherlich kann jedes Kind Gottes hier
Weisung und Leitung für sein Verhalten in den Kämpfen
mit dem Bösen finden; denn wer würde vergeblich zu
dem Herrn rufen, wenn die Interessen des Herrn auf
dem Spiele stehen? Wie viel häufiger und erfolgreicher
würden die Anstrengungen des Feindes vereitelt werden,
wenn das Volk Gottes mehr verstände, in dieser Weise
auf den Herrn zu blicken, um Seine Sache selbst zu führen
und an dem Feinde Vergeltung zu üben!
Judas fährt fort, den Gegensatz noch weiter hervorzuheben mit den Worten: „Diese aber lästern was sie
nicht kennen; was irgend sie aber von Natur wie die unvernünftigen Tiere verstehen, darin verderben sie sich."
Der Leser wird bemerken, daß das Wort „lästern" hier
208
Wieder vorkommt. Es ist dasselbe Wort, welches in den 
Evangelien in dem Ausdruck: „Lästerung wider den Heiligen Geist" gebraucht ist. Es ist in der That ein Wort,
welches verrät, daß der Wille und das Verderben des
natürlichen Herzens in tödlicher Wirksamkeit sind. Dies
erhellt aus der doppelten Anklage, welche Judas gegen
diese Menschen erhebt. „Sie lästern was sie nicht
kennen." Hier sind wahrscheinlich geistliche Dinge, göttliche Wahrheiten, gemeint, über welche von den Christen,
unter denen sie sich bewegten, geredet wurde, — Dinge,
welche sie nicht verstehen konnten; denn „der natürliche
Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn
es ist ihm eine Thorheit, und er kann es nicht erkennen,
denn es wird geistlich beurteilt." (1. Kor. 2, 14.) Und
was die Dinge betrifft, welche sie von Natur wie die unvernünftigen Tiere verstanden, darin verdarben sie sich,
indem sie dieselben nur zur Befriedigung ihrer eigenen
Lüste und Leidenschaften gebrauchten. So waren die 
Menschen, welche sich mit dem Mantel des christlichen Bekenntnisses zu bedecken suchten.
Nachdem auf diese Weise ihr wahrer Charakter enthüllt und ihnen gleichsam die Maske abgerissen ist, spricht
Judas die feierlichsten Drohungen über sie aus, indem er
gleichzeitig noch weitere unterscheidende Merkmale hinzusügt. „Wehe ihnen! Denn sie sind den Weg Kains
gegangen und haben sich für Lohn dem Irrtum BalaamS
überliefert, und in dem Widerspruch Korahs sind sie umgekommen. Diese sind Flecken bei euern Liebesmahlen,
indem sie ohne Furcht Festessen mit euch halten und sich
selbst weiden; Wolken ohne Wasser, von Winden hingetrieben; spätherbstliche Bäume, fruchtleer, zweimal erstorben,
209
entwurzelt; wilde Meereswogen, die ihre eigenen Schändlichkeiten ausschäumen; Jrrsterne, denen das Dunkel der
Finsternis in Ewigkeit aufbewahrt ist." (Vers 11-13.)
Es liegt etwas ungemein Feierliches in dem Aussprechen
dieses prophetischen „Wehe" über jene Verderber der
Wahrheit, ein Wehe, welches uns einerseits den heiligen
Zorn des Geistes Gottes zeigt, und andrerseits da, wo
keine Buße ist, das unwiderrufliche Urteil des Gerichts
mit sich bringt. „Sodann zählt Judas drei Arten oder
Charakterzüge des Bösen (wie es sich in diesen Menschen
findet) und der Entfremdung von Gott auf. Zunächst
redet er von der Natur, von dem Widerstände des Fleisches
gegen das Zeugnis Gottes und gegen Sein wahres Volk
— von dem Antriebe, welchen diese Feindschaft dem Willen
des Fleisches giebt. Dann spricht er von kirchlichem Bösen,
von dem Lehren von Irrtümern um schändlichen Gewinnes
willen, während man ganz gut weiß, daß diese Lehren
der Wahrheit entgegengesetzt und dem Volke Gottes zuwider sind; und drittens von offenem Widerstande, von
der Auflehnung gegen Gottes Autorität in Seinem wahren
König und Priester." Diese drei Arten des Bösen hatten
sich (wie wir hier erinnert werden) in Kain, Balaam und
Korah enthüllt; und jetzt werden wir belehrt, daß sie
durch die kraftvolle Thätigkeit des Feindes in jeder Periode
der Kirche wieder hervorgebracht worden sind, ja, daß sie
thatsächlich nichts anderes als treffende Vorbilder des verderbten menschlichen Herzens in Auflehnung gegen die Wirksamkeit des Geistes Gottes sind. Wir sind deshalb auf unsre
Hut gestellt; und es ist nicht zu viel gesagt, daß es an der
Hand einer solchen Unterweisung nicht schwer ist, alle jene
schrecklichen Uebel in der Kirche Gottes heutzutage zu entdecken.
210
Der Geist Gottes geht jetzt dazu über, eine Reihe
der verschiedenartigsten Bilder zu gebrauchen, um den
wertlosen und trügerischen Charakter jener Wölfe in Schafskleidern zu bezeichnen. Sie sind, sagt Er, „Flecken bei 
euern Liebesmahlen". Bei den frühesten Christen, in der
Frische ihrer ersten Liebe, war eS gebräuchlich, sich in
glücklicher Gemeinschaft zu sogenannten Liebesmahlen zu
versammeln; aber geradeso wie bei dem Mahle, welches
der König anläßlich der Hochzeit seines Sohnes machte,
ein Mann erschien, der kein hochzeitliches Kleid anhatte,
so sanden sich auch bei diesen Liebesmahlen, von welchen
Judas spricht, jene „Träumer" ein, obwohl sie keinerlei
Recht hatten, gegenwärtig zu sein. Sie waren deshalb
„Flecken" oder, wie andere übersetzen, „Klippen", d. h.
unter der Oberfläche des Wassers verborgene Felsen, welche
die größte Gefahr für den unvorsichtigen Schiffer bilden.
Aehnlich waren diese eine verborgene Gefahr für die
Heiligen, mit denen sie sich versammelten; und dennoch,
obgleich sie sich in einem solch traurigen Zustande befanden,
hielten sie ohne Furcht Festessen mit ihnen, indem sie sich
selbst weideten. Welch ein Beweis von Hartherzigkeit und
Verstockung des Gewissens!
Denn obwohl sie Heuchler waren, mischten sie sich
unter die Heiligen Gottes, indem sie bekannten, dasselbe
zu genießen, dessen sich jene erfreuten, und das ohne alle
Furcht. Ja, sie waren solchen gleich, von welchen Paulus
an die Philipper schreibt: „deren Gott der Bauch, und
deren Ehre in ihrer Schande ist, die auf das Irdische
sinnen." (Kap. 3, 19.)
Dann werden sie beschrieben als „Wolken ohne Wasser,"
welche, wenn sie am Horizonte erscheinen, befruchtenden
211
Regen für die dürre Erde versprechen, aber wenn sie
emporsteigen, sich als „wasserlos" erweisen und von Winden
hingetrieben werden. Dann werden sie als spätherbstliche,
fruchtleere Bäume bezeichnet. Die Zeit der Früchte ist 
gekommen; aber diese Bäume sind, in dem Lichte des
Geistes Gottes betrachtet, fruchtleer. Sie wareu thatsächlich
zweimal erstorben, erstorben, wie jemand gesagt hat, von
Natur, und erstorben infolge ihres Abfalls und als solche
bereits entwurzelt; d. h. es war für sie, was diese Welt
betraf, für immer vorbei. Noch zwei andere Bilder
werden hinzugefügt: „Wilde Wogen des Meeres, die ihre
eigenen Schändlichkeiten ausschäumen", nicht nur Schande,
sondern Schändlichkeiten; denn nichts anderes kann aus
dem menschlichen Herzen unter der Macht des Bösen
hervorkommen. Auch waren sie „Jrrsterne", Sterne, welche
ihren vorgeschriebenen Pfad verlassen hatten, und nun, ungeleitet und unleitbar, zu ihrem eigenen Verderben umherirrten, weshalb Judas hinzufügt: „welchen das Dunkel
der Finsternis aufbewahrt ist in Ewigkeit".
Der Leser wolle hier einen Augenblick stille stehen
und dieses ernste Gemälde nachdenkend betrachten; und
möge er sich dabei erinnern, daß die vom Geiste Gottes
in dieser Weise beschriebenen Männern nicht die offenen
und geschworenen Feinde der Wahrheit Gottes waren,
sondern bekennende Christen, innerhalb und nicht außerhalb, welche sich frei unter den Gläubigen bewegten und
an deren Versammlungen teilnahmen. Freilich waren sie
im Herzen Heuchler und Abgefallene; allein nur diejenigen,
welche vom Geiste Gottes geleitet wurden und zu unterscheiden vermochten, wie Er unterscheidet, konnten dies erkennen und die List des Feindes durchschauen. Wie nahe
212
haben wir daher mit Gott zu wandeln, um an einem
solch bösen Tage bewahrt zu bleiben! „Der Herr kennt
die Seinen", und wenn wir uns stets in Seiner Gegenwart aufhalten, so werden wir sie ebenfalls kennen, während wir uns zugleich der Verantwortlichkeit erinnern,
welche auf jedem ruht, der den Namen Christi nennt,
nämlich „abzustehen von der Ungerechtigkeit".
Es ist ein großer Trost, zu wissen, daß der Herr
die Listen und Tücken des Feindes stets zuvorgesehen und
zugleich die Heiligen mit dem versorgt hat, was zu ihrer
Bewahrung und Verteidigung nötig ist. So hat Henoch
von der Erscheinung dieser Werkzeuge Satans schon zuvorgeweissagt: „Es hat aber auch Henoch, der siebente von
Adam, von diesen geweissagt und gesagt: „Siehe, der
Herr ist gekommen inmitten Seiner heiligen Tausenden,
Gericht auszuführen wider alle und völlig zu überführen
alle ihre Gottlosen von allen ihren Werken der Gottlosigkeit, die sie gottlos verübt haben, und von all den harten
Worten, welche gottlose Sünder wider Ihn geredet haben.""
(Vers 14. 15.) Henoch wurde entrückt, damit er den
Tod nicht sehen sollte; und in dieser Entrückung von der
Erde, vor dem Gericht der Flut, ist er ein Vorbild der
Kirche, d. h. der Gläubigen, welche vor der Offenbarung
des Menschen der Sünde und vor dem Eintritt der großen Trübsal in Wolken ausgenommen werden, um dem
Herrn in der Luft zu begegnen. Und hier lernen wir,
daß dieser Henoch ein Prophet war, durch welchen Gott
das Kommen des Herrn zum Gericht mit den Myriaden
Seiner Heiligen vorher ankündigte.
Die Bedeutsamkeit dieser merkwürdigen Prophezeiung
tritt in folgenden Auslassungen eines andern Schreibers
213
klar ans Licht: „Schon vor alters hatte der Geist Gottes
durch den Mund Henochs das Gericht angekündigt, welches
hereinbrechen sollte. Dies weist uns auf eine sehr wichtige Seite der Belehrung hin, die uns hier gegeben wird,
nämlich daß das Böse, welches sich unter den Christen
(in den Tagen Judas) eingeschlichen hatte, sortdauern und
bei der Wiederkunft des Herrn zum Gericht noch vorhanden sein wird . .. Ein ununterbrochen fortschreitendes
System des Bösen sollte bestehen von den Tagen der
Apostel bis zur Ankunft des Herrn. Dies ist ein ernstes
Zeugnis betreffs dessen, was unter den Christen vorgehen
würde." — Der Charakter des Bösen, welches bei der Erscheinung des Herrn gerichtet werden wird, sollte ebenfalls
von uns beachtet werden. Das Gericht muß gegen alle
ausgeführt werden; indes werden diejenigen, welche es in
besonderer Weise treffen wird, genau unterschieden. Es
sind die „Gottlosen", und sie werden wegen all ihrer
„gottlosen" Werke, welche sie „gottlos" verübt haben,
und wegen all der harten Worte, welche „gottlose" Sünder wider den Herrn geredet haben, gerichtet werden. Die
häufige Wiederholung des Wortes „gottlos" muß einem
jeden Leser auffallen; und beachten wir auch, daß der
Herr jene Gottlosen von ihrer Schuld überführen und sie
zur vollen Erkenntnis ihrer Sünde bringen wird, so daß sie
ohne Entschuldigung sein werden. Wie in Römer 1 und 2,
giebt es auch hier zwei Ursachen des Gerichts, nämlich
die bösen Werke und die Verwerfung Christi; die gottlosen
Thaten jener Menschen und ihre Sünde gegen die in der
Person Christi geoffenbarte Gnade. Viele Jahrhunderte sind
dahingerollt seit der Prophezeiung Henochs, und noch ist
das angekündigte Gericht nicht hereingebrvchen; aber daß
214
es kommen wird, bleibt darum nicht weniger sicher. Denn
„wenn sie sagen werden: Friede und Sicherheit! dann
kommt ein plötzliches Verderben über sie, gleichwie die 
Geburtswehen über die Schwangere; und sie werden nicht
entfliehen." (1. Thess. 5, 3.)
Schließlich werden noch einige Charakterzüge hinzugefügt: „Diese sind Murrende, ihr Schicksal Beklagende,
die nach ihren Lüsten wandeln; und ihr Mund redet
stolze Worte, und Vorteils halber bewundern sie die Personen." (Vers 16.) Murren und Klagen kennzeichneten
Israel und ganz besonders das Mischvolk in der Wüste;
und ohne Zweifel werden hier dieselben Worte gebraucht,
um uns an den Vergleich mit jenen zu erinnern. Die
Worte: „die nach ihren Lüsten wandeln" legen die Wurzel
des Bösen vor unsern Augen bloß. Jene Menschen wurden thatsächlich von ihren eigenen Begierden und Lüsten,
und nicht von dem Willen Gottes geleitet. (Vergl.
Eph. 2, 3.) Auch waren sie laute und hochmütige Schwätzer,
welche „stolze" Worte gebrauchten; nebenher auch Schmeichler, indem sie denen, von welchen sie Gewinn zu ziehen
hofften, Huldigung und Ehre erwiesen. Bei Gott ist,
wie uns wiederholt in der Schrift bezeugt wird, kein Ansehen der Person. Bei diesen „Träumern" aber war gerade dies vorhanden; sie bewunderten Personen, und zwar
im Gedanken an ihren Nutzen und Vorteil. Wie demütigend ist es, diese verschiedenen Charakterzüge des verderbten menschlichen Herzens hier ausgezeichnet zu finden;
umso demütigender, wenn wir uns daran erinnern, daß 
sie als gegenwärtig unter den Heiligen Gottes wirkend
dargestellt werden! Und über alles demütigend ist der
Gedanke, (obwohl er uns zugleich dahin leitet, die Gnade
215
Gottes, welche so mächtig für uns in Christo Jesu gewirkt
hat, zu preisen,) daß die Fähigkeit zu all diesem Bösen,
auch in unser aller Herzen gefunden wird!
(Schluß folgt.)
Allein mit Jesu.
(Joh. 8, 1—11.)
Je mehr wir die vier Evangelien unter Gebet erforschen, desto klarer werden wir die bestimmte Absicht des
Heiligen Geistes erkennen, in welcher Er jedes einzelne
hat niederschreiben lassen. Der große Gegenstand von
allen ist Christus; aber nicht in zweien von ihnen wird
Er in derselben Weise vorgestellt. In Matthäus haben
wir Ihn als den Messias, den Sohn Abrahams, den
Sohn Davids, den Erben der zu den Vätern geschehenen
Verheißungen, den Erfüller der Prophezeiungen, mit einem
Wort als Den, welcher Israel, nach ihren eignen Schriften, vor Augen gestellt, aber trotz allem von ihnen verworfen wurde.
In Markus ist Er der Knecht, der vollkommene
Arbeiter, der göttliche Diener, der unermüdliche Prediger
und Lehrer, dessen Tage dem Werke und dessen Nächte
dem Gebet gewidmet waren, der kaum Zeit finden konnte,
zu essen oder zu schlafen.
Lukas giebt uns „den Menschen Christus Jesus".
Darum geht das Geschlechtsregister dort bis auf Adam
und Gott zurück. Es ist nicht der Messias, noch der
wahre Israelit, noch endlich der Arbeiter und Diener,
sondern der Mensch. Daher finden wir das, was in
besondrer Weife menschlich ist, in Lukas, was rein
216
jüdisch ist, in Matthäus, und alles was unmittelbar
mit dem Dienst in Verbindung steht, in Markus.
Das Evangelium des Johannes unterscheidet sich
wiederum von allen dreien; während jene, obwohl verschieden, doch viele Aehnlichkeit mit einander haben, trägt
das Johannes-Evangelium einen ganz besondern, nur ihm
eigentümlichen Charakter. In ihm enthüllt der Heilige
Geist vor unsern Blicken die Person des Sohnes Gottes,
das Wort, das ewige Leben, den wahren Gott. Es ist
nicht der Messias, nicht der Diener, nicht der Mensch,
sondern der Sohn als das, was Er war von Ewigkeit
her; was Er war, trotzdem Israel und die Welt im allgemeinen Ihn verworfen hatten; ja, was Er war für
jedes mühselige, sündenbeladene Geschöpf, welches Seinen
Pfad kreuzte.
Das ist das erhabene Thema des Johannes. Und
wie ergreifend ist es, zu sehen, daß Johannes (obwohl er
uns gerade die höchste und herrlichste Offenbarung von
der Person des Sohnes Gottes giebt), uns Ihn immer
wieder allein mit dem Sünder zeigt! Das ist 
sicherlich eine Thatsache voll Lieblichkeit, Trost und göttlicher Kraft für uns.
Werfen wir jetzt einen Blick auf den ersten Abschnitt
des 8. Kapitels. Wir finden unsern gepriesenen Herrn
dort gleichsam auf Seinem Posten: nachdem Er die Nacht
einsam auf dem Oelberge zugebracht hat, ist Er frühmorgens wieder in den Tempel gekommen und lehrt nun
das Volk. Da bringen die Schriftgelehrten und Pharisäer eine arme, überführte Sünderin vor Ihn, ein Weib,
welches öffentlich und in gröbster Weise das Gesetz Moses
gebrochen hatte. Sie führen das Gesetz gegen sie an:
217
„Moses hat uns geboten, solche zu steinigen; Du nun,
was sagst Du?"
Diese Männer meinten ohne Zweifel, den Herrn in
eine unauflösliche Schwierigkeit zu bringen. Sie wünschten
Ihn mit Mose in Widerspruch zu setzen, um so einen Anklagegrund gegen Ihn zu finden. Die Falle war in der
That sehr geschickt gelegt; aber ach! was ist alle menschliche
Geschicklichkeit in der Gegenwart Gottes! Indes lag ihre
Absicht offen zu Tage. Wenn Jesus sagte: „Steinigt sie",
so konnten sie erklären, daß Er nicht besser sei als Moses;
und sagte Er: „Ihr dürft sie nicht steinigen", so machte
Er das Gesetz ungültig. Was that nun der Herr? Er
sagte weder das eine noch das andere. „Das Gesetz war
durch Mose gegeben", und der Herr läßt es bestehen in
all seiner Majestät und Strenge. Er war nicht gekommen,
um das Gesetz aufzulösen, sondern es zu verherrlichen.
Es wäre in der That ein großer Irrtum, wenn
wir annehmen wollten, das Gesetz wäre völlig beiseite
gesetzt worden. Der inspirierte Apostel schreibt vielmehr an
Timotheus: „Wir wissen aber, daß das Gesetz gut ist, wenn
jemand es gesetzmäßig gebraucht." Wäre das Gesetz beiseite gesetzt, so könnte man unmöglich sagen, daß es noch
für irgend etwas gut wäre. Wofür ist das Gesetz denn
gut? Es dient nicht zur Rechtfertigung, wohl aber zur
Ueberführung. Es bringt Gericht und Tod über einen
jeden, der es nicht hält.
So gebraucht es der Herr auch in dem vorliegenden
Falle. Er wendet die Schärfe desselben geradewegs gegen
diejenigen, welche es gegen eine arme Mitsünderin angeführt hatten. Mit diesen Männern konnte der Herr
keinerlei Mitgefühl haben. Sie hatten jenes Weib vor
218
Ihn geführt, damit Er das Urteil über sie spreche. Aber
Er war nicht gekommen zu richten, sondern zu erretten.
Und doch war, wenn Er richtete, Sein Gericht wahr
(Vergl. Vers 16) — o wie wahr im Blick auf die 
Schriftgelehrten und Pharisäer! Sie hatten die Sünderin
angeklagt, und nur zu gern hätten sie auch wider den
Heiland eine Anklage gefunden. Doch der Herr macht sie
zu Anklägern ihrer selbst. „Jesus aber bückte sich nieder
und schrieb mit dem Finger auf die Erde." Da saß der
große Gesetzgeber selbst, derselbe, dessen Finger einst die
Gesetzestafeln beschrieben hatten. Wie wenig dachten sie
daran! Sie klagten eine Mitsünderin an, um eine Gelegenheit wider den Gesetzgeber zu finden. Welch eine
Stellung für den armen, schuldigen Menschen in der
Gegenwart des Heiligen und Gerechten!
Es giebt kaum eine andere Erzählung in den Heiligen Schriften, welche sich mit der vorliegenden vergleichen
ließe. Sie ist einzig in ihrer Art. Wie wenig dachten
jene selbstgerechten Männer daran, was sie für die arme,
überführte Sünderin und für unzählige Millionen thaten,
als sie dieselbe in die Gegenwart des Herrn Jesu führten!
Wahrlich, ihre allerbesten Freunde hätten ihr keinen größeren
Dienst erweisen können.
„Als sie aber fortfuhren Ihn zu fragen, richtete Er
sich auf und sprach zu ihnen: Wer von euch ohne
Sünde ist, werfe zuerst den Stein auf sie." Sie waren
entschlossen, eine Antwort von dem Herrn zu erlangen; und
Er gab ihnen eine, die sie nicht erwartet hatten. Wollten
sie Ihn vor der Zeit aus den Richterstuhl setzen, so mußte
Er alle richten. Er konnte nicht ein teilweises Urteil
aussprechen. Er konnte nicht den einen richten und den
219
andern frei ausgehen lassen. Thatsächlich richtete Er
niemanden. Der Zweck Seiner gesegneten Sendung in
eine Welt voll Sünder war nicht Gericht, sondern Errettung. Er war nicht gekommen, um auf eine arme,
fchuldige Sünderin einen Stein zu werfen. Wie hätte
ein göttlicher Heiland den Stein des Gerichts auf eine
verlorene, überführte Sünderin werfen können? Unmöglich. Wenn einer unter ihnen war, der keine Sünde
gethan hatte, so mochte er das Werk des Gerichts beginnen. Ohne Zweifel war die Sünderin schuldig, und
überdies lautete der Ausspruch Moses so bestimmt wie
möglich; aber wo war der, welcher das Gericht ausführen
konnte? Wer durfte es wagen, den ersten Stein aufZuheben?
Welch ein ernster, feierlicher Augenblick! Wie war
alles so völlig anders gekommen, als die Ankläger es erwartet halten! Wo war nun ihre geschickte List? Ach! sie
fielen in die Grube, welche sie anderen gegraben hatten.
„Und wiederum bückte Er sich nieder und schrieb auf die
Erde." Giebt es etwas Bezeichnendes und Belehrendes
in diesem zweimaligen Schreiben? Wir lassen diese Frage
unentschieden; eines ist gewiß, nämlich daß die Gewissen
in Thätigkeit gesetzt wurden. „Als sie aber dies hörten,
gingen sie einer nach dem andern hinaus, anfangend von
den Aeltesten bis zu den Letzten; und Jesus ward allein
gelassen, und das Weib in der Mitte stehend." (V. 9.)
Welch eine überwältigende Erscheinung! Diese Schriftgelehrten und Pharisäer wurden durch die unerträgliche
Macht des Lichtes, welches auf sie schien, hinaus getrieben.
Sie tonnten seinen Strahlen nicht standhalten. Weder
menschliche Geschicklichkeit und Klugheit noch menschliche
220
Gerechtigkeit vermögen die Probe der göttlichen Gegenwart zu bestehen. Jene Männer waren in den Mantel
ihrer eingebildeten Heiligkeit gehüllt, und deshalb konnten
sie das Licht nicht ertragen. Um in der Gegenwart Gottes
weilen zu können, müssen wir unsern wahren Platz als
gänzlich verlorene, schuldige Sünder eingenommen haben,
die weder Gerechtigkeit, noch Heiligkeit, noch Weisheit,
noch irgend ein Titelchen von Gutem in sich selbst besitzen.
Allein die Schriftgelehrten und Pharisäer standen nicht
auf diesem Boden. Sie waren Männer von Charakter,
Männer von Ansehen und Ruf in der Welt; und als
das wahrhaftige Licht in seinem vollen Glanze auf sie
schien, da wagten sie nicht zu sagen, daß sie ohne Sünde
seien; alles was ihnen übrigblieb, war, so schnell als
möglich dem Bereich des Lichtes zu entrinnen, welches sie
offenbar machte und ihr Innerstes bloßlegte.
Doch warum heißt es: „anfangend von den Nettesten"? Warum gingen diese zuerst hinaus? Weil sie den
größten Ruf aufrecht zu erhalten, die höchste Stellung
zu bewahren hatten. Sie fühlten am meisten die Gefahr,
in Gegenwart des Sohnes Gottes, des wahrhaftigen Lichtes,
diesen Ruf und diese Stellung in der Welt einzubüßen.
Niemand, der einen solchen Ruf unter seinen Mitmenschen
aufrecht erhalten will, vermag auch nur für einen Augenblick in dem Lichte der Gegenwart Gottes zu stehen. Ein
solcher mag in der Welt vorankommen und in Gegenwart
seiner Mitmenschen wohl bestehen können; denn Männer
von Charakter werden hochgeachtet in dieser Welt. Aber
laßt unS stets an jene ernsten und heilsamen Worte denken: „Was unter den Menschen hoch ist, ist ein Greuel
vor Gott." (Luk. 16, 15.) Gott schätzt ein zerbrochenes
221
Herz, einen zerschlagenen Geist und eine demütige Gesinnung. „Auf diesen will ich blicken: auf den Elenden
und den, der zerschlagenen Geistes ist, und der da zittert
vor meinem Worte." (Jes. 66, 2.) Die Schriftgelehrten
und Pharisäer waren aber das genaue Gegenteil von diesem
allen; deshalb konnten sie es in der Gegenwart des Herrn
Jesu nicht aushalten.
„Sie gingen hinaus", nicht alle mit einander, sondern einer nach dem andern. Das Gewissen ist eine persönliche Sache. Wären sie zurückgeblieben, so hätten sie
ihr Kleid der eignen Gerechtigkeit ausziehen und ausrufen
müssen: „So wie ich bin, ohn' alle Zier!" Allein darauf
waren sie nicht vorbereitet. Sie waren ganz und gar in
Verwirrung. Das Licht der Welt schien auf sie km seinem
vollen himmlischen Glanze, und das konnten sie nicht ertragen; darum gingen sie hinaus und ließen das arme
Weib mit Jesu allein.
Welch ein Augenblick für sie! Kein Gericht, kein
Vollstrecker des Urteilspruches war da, kein Stein wurde
gegen sie erhoben. Woher kam das? War sie nicht eine
Sünderin? Ja, sogar eine offenbare, große Sünderin.
War nicht das Gesetz gegen sie? Ohne Zweifel. Und doch
kein Gericht? Was war die Ursache? Jesus war da, die
göttliche Verkörperung (wenn wir so sagen dürfen) von
„Gnade und Wahrheit", und Er dachte nicht daran, eine
arme, überführte Sünderin zu steinigen. Deshalb war
Er nicht aus jener lichten und herrlichen Welt droben herniedergekommen. Hätte es sich nur darum gehandelt, den
Sünder zu steinigen, so hätten Mose und das Gesetz dafür genügt. Es wäre dann nicht nötig gewesen, daß der
Herr und Meister des Mose in diese Welt gekommen wäre.
222
Aber, Gott sei gepriesen! es gab Gnade in dem Herzen
Jesu, ja, Gnade und Wahrheit. Beide treten in dieser
unvergleichlichen Scene in besonderem Glanze hervor. Die
„Wahrheit", in ihrer mächtigen, sittlichen Kraft, hatte die
Ankläger hinausgetrieben; und jetzt kommt die „Gnade"
und ruft der Sünderin die kostbaren Worte zu: „So verurteile auch ich dich nicht." Welch eine Botschaft für das
unglückliche Weib, welches noch einen Augenblick vorher
nichts anderes erwarten konnte, als die Steine des Gerichts auf ihr schuldiges Haupt fallen zu sehen! Die
Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht; und die
Gnade herrscht durch Gerechtigkeit, zu ewigem Leben,
durch Jesum Christum, unsern Herrn.
Unser gepriesener, anbetungswürdiger Heiland wußte
Wohl, was es Ihn kosten mußte, um solche Worte einer
Sünderin zurufen zu können. Es kostete Ihn Sein Leben.
Jenes Weib hatte den Tod verdient; darüber konnte gar
kein Zweifel bestehen. „Die Seele, welche sündigt, soll
des Todes sterben", lautete der unbeugsame Ausspruch
des Gesetzes Gottes, das ernste Urteil Seiner gerechten
Regierung. Stand Jesus im Begriff, dieses Urteil ins
Gegenteil zu verkehren? O nein; Er war vielmehr auf
dem Wege, um es an des Sünders Statt zu tragen. Er,
der Reine und Sündlose, welcher allein das Recht hatte,
den Stein auf die Sünderin zu werfen, wollte sich selbst
den vernichtenden Schlägen der göttlichen Gerechtigkeit aussetzen und den Stein auf sich fallen lassen.
Das ist die unerschütterliche Grundlage, auf welcher
der herrliche Dienst der Versöhnung ruht — der Verföhnungstod Christi, Seine Dahingabe, der Tod des Gerechten für den Ungerechten. Vielleicht wird man ein-
223
wenden, §aß in dem vorliegenden Abschnitt von Versöhnung keine Rede sei. Allerdings nicht; der erhabene Gegenstand des ganzen Evangeliums Johannes ist die Person,
nicht das Versöhnungswerk des Sohnes Gottes. Es handelt sich auch nicht darum, inwieweit das Weib den
Boden der Gnade verstand und betrat. Aber es ist notwendig, ja unerläßlich für uns, den Grund zu kennen, auf
welchem unser Herr und Heiland solch tröstende Worte
zu einer armen Sünderin sprechen konnte. Dieser Grund
ist zweifellos Sein versöhnender Opfertod. Auf keinem
andern Wege, auf keinem andern Boden kann die Sünde
vergeben und ausgelöscht werden. „Ohne Blutvergießung
ist keine Vergebung." Ernste und doch auch so herrliche
Worte! Ernst, indem sie uns erkennen lassen, was die
Sünde ist; herrlich, indem sie uns zeigen, was Vergebung
bedeutet.
Die Schriftgelehrten und Pharisäer kannten nichts
von diesen Dingen. Wenn sie dem Weibe bei ihrem Fortgehen aus der Gegenwart des Herrn begegnet wären und
sie um den Ausgang ihrer Unterredung mit Ihm befragt
hätten, wie würden sie vor dem Gedanken an „keine Verdammnis" zurückgeschreckt sein! Sie hätten das arme
Weib im besten Falle in eine Besserungsanstalt (wenn
es solche damals gegeben hätte) schicken und ihr nach
längeren Jahren guter Aufführung und sittlicher Besserung
vielleicht das Zeugnis erteilen können, daß noch eine schwache
Hoffnung für ein solch elendes Geschöpf, wie sie, vorhanden wäre. Aber ach! welch eine schwankende, unsichere
Grundlage ist eine sittliche Besserung, welch eine armselige
Autorität ist ein menschliches Zeugnis! Nein, mein Leser,
so etwas wird niemals genügen, niemals ausreichen, weder
224
für Gott noch für deine kostbare Seele. Alles muß göttlich
sein. Und so ist es in der That, Gott sei ewig dafür
gepriesen! Christus hat das Werk vollbracht, Gott sagt,
daß Er vollkommen befriedigt und verherrlicht sei, und
der Glaube nimmt es an und erfüllt das Herz mit Friede
und Freude. Doch nicht allein das; dieselbe Gnade, welche
dem Herzen süßen Frieden giebt, verleiht auch Kraft über
die Sünde in allen ihren Wirkungen. Dieselben Glieder,
welche bisher der Sünde gedient haben, kann und soll der
Gläubige nunmehr zu Werkzeugen der Gerechtigkeit benutzen und sich selbst als ein Lebender aus den Toten
Gott darstellen. (Röm. 6, 13.)
Gedanken.
Es besteht ein großer Unterschied zwischen natürlicher
Fähigkeit und göttlicher Begabung. Die erstere dient dem
Geiste und Verstände des Menschen, die letztere dem Herzen und Gewissen. Die erstere zieht die Aufmerksamkeit
auf sich selbst und ist stets darauf aus, ein „Lehrsystem"
zu bilden; die letztere empfiehlt Christum und erbaut die
Versammlung. Bei der ersteren steht der Mensch im Vordergründe, in der letzteren wird nur Christus gesehen.
Andrerseits giebt es auch zwei verschiedene Arten von
Hören. Man kann bloß hören mit dem natürlichen Ohr
und dem Verstände, und man kann hören mit dem Herzen
und Gewissen. In dem ersten Falle steht der Mensch,
in dem zweiten Christus vor unsern Augen. Wie nötig
ist daher Wachsamkeit und stetes Selbstgericht sowohl für
diejenigen, welche das Wort verkündigen, als auch für
die, welche hören!
Die Epistel des Judas,
in.
(Vers 17—25.)
Judas wendet jetzt seine Aufmerksamkeit den Heiligen
selbst zu, d. h. denjenigen, welche getrennt von dem Bösen,
von welchem er gesprochen hat, ihren Pfad verfolgten.
Er stärkt ihre Seelen durch Worte weisheitsvoller Belehrung, während er zugleich die Mittel angiebt, durch
welche sie vor den Listen und Verführungen des Feindes
bewahrt bleiben konnten. Und mit welcher Erleichterung
wird er sich von seiner feierlichen Anklage jener Abgefallenen zur Ermunterung der geliebten Heiligen gewendet
haben! „Ihr aber, Geliebte, gedenket an die von den
Aposteln unsers Herrn Jesu Christi zuvorgesprochenen
Worte, daß sie euch sagten, daß am Ende der Zeit Spötter
sein werden, die nach ihren eigenen Lüsten der Gottlosigkeit
wandeln. Diese sind es, die sich absondern, natürliche
Menschen, die den Geist nicht haben." (Vers 17 -19.)
Der Leser wird sich erinnern, daß Judas im Eingang
seines Briefes die Gläubigen als „in Gott, dem Vater,
Geliebte" bezeichnet hat. Aus diesem Grunde redet er sie
ohne Zweifel auch hier und in Vers 20 als „Geliebte"
an, indem er so nicht nur seiner eigenen Liebe zu ihnen
Ausdruck giebt, sondern auch zeigt, wie er mit dem Herzen
Gottes, des Vaters, betreffs Seines Volkes in Gemein-
226
schäft war. Und was empfiehlt er ihnen hinsichtlich des
sie umringenden Bösen? Zunächst und vor allem andern
erinnert er sie an die Warnungen, welche ihnen durch die
Apostel gegeben worden waren. Nicht nur Henoch hatte
von diesen gottlosen Menschen geweissagt, auch die Apostel
des Herrn hatten deren Erscheinen zuvor angekündigt. Der
Herr läßt Sein Volk niemals bezüglich der Gefahren und
Feinde, welchen sie zu begegnen haben werden, ungewarnt.
(Vergl. Matth. 24; Joh. 15. 16; I.Tim. 4; 2. Tim. 3;
Offbg. 2. 3; rc.) Und wenn Seine Warnungen eine Stätte
in ihren Herzen finden, so werden sie weder überrascht
noch entmutigt werden, wenn es „von innen Befürchtungen
und von außen Kämpfe" giebt; vielmehr sind sie zum
Kampfe mit jeder Art der Feindschaft Satans gerüstet.
So sagt der Herr zu Seinen Jüngern: „Es werden falsche
Christi und falsche Propheten aufstehen und werden große
Zeichen und Wunder thun, um so, wenn möglich, auch die 
Auserwählten zu verführen. Siehe, ich habe es euch vorher gesagt." (Matth. 24, 24. 25.) Wie nötig ist esdaher für den Gläubigen, mit diesen Warnungen betreffs
kommender Gefahren bekannt zu sein!
Um jede Möglichkeit eines Mißverständnisses betreffs
der Personen, von welchen die Apostel geweissagt hatten,
auszuschließen, giebt Judas nähere charakteristische Merkmale an. Sie sind „Spötter", Menschen, die aller Gottesfurcht bar und fähig sind, mit den heiligsten Dingen
Scherz zu treiben, während sie zugleich nur von^ ihren
eignen fleischlichen Lüsten geleitet werden. Nichtsdestoweniger wollen sie „sich absondern", nicht aber — es
bedarf dies kaum der Erwähnung — von dem Bösen, sei
es nun sittlich Böses oder schlechte Lehre, sondern in einem
227
stolzen, pharisäischen Geiste, welcher sich größerer Erkenntnis
und geistiger Fortschritte rühmt, während er die demütigen
Christen, die noch einfältig an das Wort Gottes glauben
und in demselben ruhen, verachtet. Sie wollen so eine
getrennte Stellung einnehmen, indem sie vielleicht ein besonderes Lehrsystem, eine theologische Schule bilden. Doch
nicht diejenigen, welche sich selbst empfehlen, sind bewährt.
Und so streift Judas hier mit einem Worte diesen Abgefallenen ihr gleißendes Gewand ab und stellt sie so dar,
wie sie vor Gottes Augen erscheinen. Sie sind, wie er
sagt, nur „natürliche" Menschen, solche, welche nie wiedergeboren oder in dem kostbaren Blute Christi gereinigt
worden sind und daher auch den Geist Gottes nicht haben.
Aber, möchte jemand einwenden, ist es möglich, daß solche
Menschen unter den Christen gefunden und als Christen
anerkannt werden könnten? Ein solcher Frager wolle nur
einen Blick um sich her werfen und sehen, was heute vorgeht! Er wird bald genug entdecken, daß es solche giebt,
welche einen hohen Platz unter den Christen einnehmen,
ja, die allsonntäglich auf den Kanzeln der Christenheit zu
sehen sind, die aber den Glauben der Väter verwerfen, eine
sogenannte Moral statt Christum predigen, und auf alle
mögliche Weise die göttliche Eingebung der Heiligen Schrift
zu leugnen und die kostbaren Wahrheiten des Christentums
zu untergraben suchen. Sind das nicht Spötter, welche
nach ihren eignen Lüsten wandeln, indem sie Gott vollständig ausschließen? An ihrer Erscheinung und ihrer
fortwährend wachsenden Zahl können wir auch erkennen,
daß wir in „der letzten Zeit" leben.
Wir kommen jetzt zu dem zweiten Bewahrungsmittel:
„Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend auf euern
228
allerheiligsten Glauben, betend in dem Heiligen Geiste, erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes, erwartend die
Barmherzigkeit unsers Herrn Jesu Christi zum ewigen
Leben." (V. 20. 21.) Das also ist in versuchungsvollen
Zelten die Zuflucht der Heiligen, sowie das Mittel zu ihrer
Bewahrung. Weiter oben ist bereits auf Nehemia hingewiesen worden, und man kann in der That diese beiden
Bücher (Nehemia und Judas) kaum lesen, ohne von der
Aehnlichkeit zwischen beiden getroffen zu werden. Beide
Männer mußten auf Verteidigung und Kampf dringen,
und beide ermunterten auch die Heiligen, zu bauen. Wir
lernen von beiden, daß, wenn wir mit dem Feinde zur
Verteidigung der Wahrheit zu kämpfen haben, eS vor
allen Dingen nötig ist, uns selbst auf unsern allerheiligsten Glauben aufzuerbauen. Diejenigen, welche das Schwert
des Geistes schwingen, müssen in einem hierzu passenden
Zustande sein, wenn anders sie siegreich aus dem Kampfe
hervorgehen wollen.
Laßt uns jedoch diese Ermahnungen noch etwas näher
betrachten. Der Glaube, „euer allerheiligster Glaube", ist 
(wie in Vers 3) die geglaubte Sache, mit einem Worte,
die Wahrheit; und Judas wünscht, daß die Heiligen darin
gegründet sein und darauf auferbaut werden möchten, als
auf einen sichern, unerschütterlichen Boden, um auf diese
Weise gegen die Angriffe des Feindes gerüstet zu sein;
er wünscht, daß sie in der Wahrheit, in den großen Wahrheiten des Christentums, als der Quelle derMraft für
ihre Seelen, ruhen und dadurch auferbaut werden möchten,
erfüllt mit den Gedanken Gottes, wie solche in Seinem
Worte geoffenbart sind, — in jenem Worte, durch welches
wir geheiligt sind, so daß sie, mit völliger Sicherheit auf
229
diesen göttlichen Grundlagen ruhend, stark wären in dem
Kampfe, zu welchem Gott sie berufen hatte. Dies schließt
das fleißige Lesen der Heiligen Schrift in sich; und demgemäß finden wir auch, daß der Herr, als Er Josua zum
Anführer Seines Volkes berief, ihm folgenden Auftrag
erteilte: „Dieses Buch des Gesetzes soll nicht von deinem
Munde weichen, und du sollst darüber sinnen Tag und
Nacht, auf daß du darauf achtest, zu thun nach allem,
was darin geschrieben ist; denn alsdann wirst du Erfolg
haben auf deinem Wege, und alsdann wird es dir gelingen." (Jos. 1, 8.)
Das Wort Gottes und das Gebet finden sich in
der Schrift stets mit einander verbunden; darum folgt
auch hier zunächst: „betend in dem Heiligen Geiste". Man
kann wohl sagen, daß das Lesen des Wortes und das
Beharren im Gebet niemals von einander getrennt werden
können; denn wo irgend das Wort Gottes im Herzen
ausgenommen wird, muß eS Gebet Hervorrufen. Judas
spricht von einem „Beten in dem Heiligen Geiste"; denn
in Wahrheit kann nur das ein wirkliches Beten genannt
werden. Man mag Bitten vorbringen und Gebete aussprechen; aber das einzige gottgemäße Gebet ist dasjenige,
welches die Frucht jener Wünsche ist, die durch den Geist
Gottes in uns erzeugt werden. An unsrer Stelle bezeichnet indes das Beten wohl besonders die Aufrechterhaltung des Bewußtseins unsrer völligen Abhängigkeit von Gott seitens
des Heiligen Geistes; denn darin besteht das Geheimnis
unsrer Sicherheit sowohl, als auch unsrer Kraft.
Dann folgt die Ermahnung: „Erhaltet euch selbst
in der Liebe Gottes." Ich möchte hier bemerken, daß
das Wort „erhalten" (wie dies oft in ähnlichen Er­
230
Mahnungen der Fall ist) im Griechischen in einer Zeitform
der Vergangenheit — „habet euch selbst erhalten" — steht,
wodurch angedeutet wird, daß wir suchen sollten, stets
„in diesem Zustande" zu sein; vielleicht erinnert es uns
auch an unsre eigene Kraftlosigkeit und an unser Bedürfnis für die beständige Gnade Gottes, um so erhalten
zu bleiben. Die Liebe, von welcher Judas spricht, ist die
unveränderliche und nie wechselnde Liebe unsers Gottes
zu uns; und Judas wünscht, daß wir stets in dem Bewußtsein und dem Genusse derselben bleiben möchten. Daß
nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes, welche
in Christo Jesu ist, unserm Herrn, ist eine wohl allen
Christen bekannte Thatsache; allein es ist eine andere
Frage, ob das Bewußtsein davon stets in unsern Seelen
lebt. Das ist das Geheimnis der Ruhe und des gesegneten Genusses in der Gegenwart Gottes; jedoch ist
es nur das Teil derer, welche in der Kraft eines „nicht
betrübten" Geistes wandeln, während es zugleich in dem
Herzen des Gläubigen heilige Zuneigungen gegen Gott
und unsre Miterlösten hervorruft. (Vergl. Joh. 15, 9—12.)
Mit diesem Bewußtsein der Liebe Gottes im Herzen
sollen wir ferner die Barmherzigkeit unsers Herrn Jesu
Christi zum ewigen Leben erwarten. Ein Blick auf
Hebr. 4, 16 zeigt uns, wie sehr der Gläubige der Barmherzigkeit bedarf, während er durch die Wüste pilgert.
Dort ist es Gnade für unsre Schwachheit, welche an dem
Throne der Gnade, als Antwort auf die Fürbitte Christi
als Hohepriester, für uns zu finden ist. Hier ist es die
Barmherzigkeit unsers Herrn Jesu Christi selbst, welcher
weiß, wie sehr wir derselben fortwährend bedürfen, da
Er in eigner Person diese Wüste durchschritten hat. In
231
den Evangelien haben wir eine herrliche Darstellung von
der Art und Weise, wie der Herr diese Barmherzigkeit
den Seinigen zu teil werden läßt. Als Er in Gethsemane
während jener schweren Stunden Seines Kampfes Seine
Jünger Petrus, Jakobus und Johannes schlafend fand,
sprach Er zu Petrus: „Also nicht eine Stunde vermochtet ihr mit mir zu wachen? Wachet und betet, auf
daß ihr nicht in Versuchung hineinkommet; der Geist zwar
ist willig, das Fleisch aber ist schwach." (Matth. 26,
40. 41.) In der Zärtlichkeit Seines Herzens hatte Er
Mitgefühl für sie in ihrer Schwachheit und diente ihnen
niit der Barmherzigkeit, welche sie bedurften. Wo ist ein
Herz wie Sein Herz? Und der Geist Gottes weist uns
an, auf Ihn zu rechnen, auf Sein zärtliches Mitgefühl
und auf Seine Barmherzigkeit während unsers ganzen
Weges hienieden. Seine Barmherzigkeit währt bis ans
Ende und leitet uns zum ewigen Leben. Sie ist es auch,
die uns an jenem Tage „tadellos vor Seiner Herrlichkeit
darstellen" wird.
„Und die einen, welche streiten (od. zweifeln) weiset
zurecht, die andern aber rettet mit Furcht, sie aus dem
Feuer reißend, indem ihr sogar das von dem Fleische befleckte Kleid hasset." Die Verbindung dieser Verse mit
den vorhergehenden zeigt uns einen Grundsatz von großer
Wichtigkeit. Vor allen Dingen wollte JudaS, wie wir
gesehen haben, die Heiligen in einem gesunden Seelenzustand wissen; dann dringt er auf Auferbauung, ferner
auf die Verwirklichung ihrer Abhängigkeit in der Kraft
des Geistes und auf die Notwendigkeit des Genusses der
Liebe Gottes und des Rechnens auf die Barmherzigkeit unsers Herrn Jesu Christi; und nun belehrt er die
232
Gläubigen, wie sie mit denjenigen handeln sollten, welche,
obgleich noch innerhalb der Versammlung, in Wirklichkeit
doch Feinde der Wahrheit waren. Wir lernen hieraus,
daß wir nur dann fähig sind, mit den Verirrten zu handeln, wenn wir selbst vor Gott in der Kraft der Wahrheiten, welche festzuhalten wir bekennen, wandeln; und
wahrlich, es thut gerade in dem gegenwärtigen Augenblick
not, an diese Belehrung erinnert zu werden. Indes ist 
noch etwas anderes hier zu beachten. Um mit solchen
Abgeirrten in der rechten Weise zu handeln, ist ein göttliches Unterscheidungsvermögen nötig. Judas sagt: „Die
einen, welche streiten (od. zweifeln), weiset zurecht." Es
giebt Anführer im Bösen, Verderber der Wahrheit; von
solchen haben wir uns entschieden abzuwenden und sie
gänzlich zu verwerfen. Daun aber giebt es andere, welche
irregeleitet sind und durch den Irrtum der Ruchlosen mit
fortgerissen wurden; solche sind aufzusuchen und zurecht
zu weisen. Dann giebt es noch wieder andere, welche
mit Furcht gerettet werden müssen, indem mau sie aus
dem Feuer reißt. Diese sind in ihrem eignen Willen
und Verderben weit gegangen, und nur in Gemeinschaft
mit Gott betreffs ihrer und ihrer Werke können sie erreicht werden; denn bei aller Entschiedenheit, welche man
zu ihrer Befreiung aufwendet, muß doch das von dem
Fleische befleckte Kleid gehaßt werden. Sowohl priesterliche Absonderung als auch priesterliche Unterscheidung sind
zu einem solchen Kampfe mit der Macht des Feindes nötig.
Judas schließt seinen Brief mit einer Lobpreisung,
in welcher er die Heiligen zugleich auf die alleinige Quelle
ihrer Bewahrung hinweist. „Dem aber, der euch ohne
Straucheln zu bewahren und vor Seiner Herrlichkeit
233
tadellos darzustellen vermag mit Frohlocken, dem alleinigen
Gott, unserm Heilande, durch Jesum Christum, unsern
Herrn, sei Herrlichkeit, Majestät, Macht und Gewalt vor
aller Zeit und jetzt und in alle Zeitalter! Amen."
(V. 24. 25.)
Die Gläubigen werden somit gänzlich auf Gott geworfen; und es muß inmitten des von allen Seiten auf
sie eindringenden Bösen ein reicher Trost für sie gewesen
sein, daran erinnert zu werden, daß Gott sie vor dem
Straucheln zu bewahren vermochte, sowohl in jenem 
Augenblick, als anch während ihres ganzen Pilgerlaufes,
bis sie tadellos dargestellt werden sollten vor Seiner
Herrlichkeit mit Frohlocken. Und gewiß, nie war es
nötiger für die Gläubigen, sich an diese Wahrheiten zu erinnern, als heute. Obwohl es eine böse Zeit ist, in welcher
wir leben, und obwohl der Feind sehr schlau und thätig
ist, so bleibt es doch allezeit wahr, daß Gott uns vor
Straucheln bewahren kann, mag auch die Prüfung noch
so heiß und die Versuchung noch so schwer sein. Wir
können deshalb keine Entschuldigung Vorbringen, wenn
wir straucheln; der Fehler liegt einzig und allein auf
unsrer Seite und erfordert ein schonungsloses Selbstgericht. Aber welch eine Grundlage für unsern Glauben
liegt in den wenigen Worten: „Gott vermag uns ohne
Straucheln zn bewahren!" Und wie ganz anders würde
der Bericht über unser vergangenes Leben lauten, wenn
wir täglich und stündlich in der Erinnerung an diese Thatsache gelebt hätten! Unsre Augen würden dann stets auf
Ihn gerichtet gewesen sein, von welchem allein unsre
Hülfe kommt, und der, wenn anders wir in Abhängigkeit
von Ihm wandeln, unsern Fuß uie ausgleiten lassen wird.
234
Judas giebt uns jedoch nicht nur einen gegenwärtigen
Trost, gegründet auf den mächtigen'" Beistand Gottes,
sondern ermuntert uns auch durch den Hinweis auf die
kommende Herrlichkeit, wenn, nach beendetem Streite,
Gott Seine Heiligen tadellos darstellen wird vor Seiner
Herrlichkeit mit Frohlocken. Das wird der vollkommene
Zustand der Heiligen sein; und es muß so sein, da sie
sonst unmöglich in Gegenwart der Herrlichkeit Gottes
stehen könnten. Kein Wunder daher, daß hinzugefügt ist:
„mit Frohlocken"; denn alsdann werden sie die völligen
Resultate ihres „gemeinsamen Heiles" verstehen, und in
dem Lichte erkennen, daß die ganze Segnung, in welche
sie dann eingeführt sind, — ihre völlige Gleichförmigkeit
mit Christo in der Herrlichkeit, sowie ihre Bewahrung
vor allen Gefahren während ihrer Wüstenreise, — aus dem
Herzen Dessen geflossen sind, vor welchem sie nun in
ewiger Segnung stehen. Und ihre Freude wird dann
ohne Zweifel in jener Lobpreisung Ausdruck finden, welche
schon hienieden in der Zeit des Kampfes in ihren Mund
gelegt wurde: „Dem alleinigen Gott, unserm Heilande,
durch Jesum Christum, unsern Herrn, sei Herrlichkeit,
Majestät, Macht und Gewalt vor aller Zeit und jetzt und
in alle Zeitalter! Amen." Die Gesänge des Himmels
können schon auf dieser Erde gelernt werden; denn Gott
steht über aller Zeit, Er ist unveränderlich derselbe, und
deshalb ist Sein Lob ein ewiges. Aber es ist Gnade,
und nur Gnade, welche unsre Lippen zum Preise Seines
herrlichen Namens öffnen kann.
235

„Sehet, welch eine Liebe!"
„Sehet, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat,
daß wir Gottes Kinder heißen sollen!" (1. Joh. 3, 1.)
Es ist in der That lieblich und erquickend, solche Worte
aus dem Munde eines Mannes zu vernehmen, der diese
Liebe so lange und so gut gekannt hatte. Am Schluß
des zweiten Kapitels hatte Johannes gesagt: „Wenn ihr
wisset, daß Er gerecht ist, so erkennet, daß jeder, der die
Gerechtigkeit thut, aus Ihm geboren ist." Aus Ihm
geboren, aus Gott geboren — welch ein Gedanke! Gerade dieser Gedanke veranlaßt den Apostel zu jenem Ausruf im Anfang des dritten Kapitels. Die Tatsache, daß
wir ans Gott geboren sind, giebt uns einen Charakter
und führt uns in ein Verhältnis ein, von welchem die
Welt nichts kennt. So wenig wie die Welt den Sohn
Gottes erkannt hat, als Er hienieden als Mensch dieses
Verhältnis offenbarte, ebenso wenig erkennt sie uns. „Er
war in der Welt, und die Welt ward durch Ihn, und
die Welt kannte Ihn nicht. Er kam in das Seinige,
und die Seinigen nahmen Ihn nicht an." (Joh. 1, 10. 11.)
Deshalb erkennt die Welt auch uns nicht.
Wir sind jetzt in dasselbe Verhältnis eingeführt, in
welchem Christus hienieden zum Vater stand, und deshalb
ist auch Sein Platz unser Platz geworden: wir sind der
Welt unbekannt. Wir leiden mit Ihm hier; dort werden
wir mit Ihm verherrlicht sein. „Der Geist selbst zeugt
mit unserm Geiste, daß wir Kinder Gottes sind. Wenn
aber Kinder, so auch Erben, Erben Gottes und Miterben
Christi, wenn wir anders mitleiden, auf daß wir auch
mitverherrlicht werden." (Röm. 8, 16. 17.) So lange
236
wir hier sind, ist Leiden mit Christo unser Teil;
und wie könnte es anders sein auf einem Schauplatz der
Sünde und des Todes, wo alles von Gott entfernt und
Ihm entfremdet ist — der Mensch in Feindschaft gegen
Gott und unter der Herrschaft der Sünde, während die
Schöpfung seufzt und sehnsüchtig auf Befreiung harrt?
Doch da wir Kinder sind, so warten wir auf den Platz der
Kinder, auf den uns zuvorbestimmten Platz in der Herrlichkeit; bald werden wir auch das Teil der Kinderhaben,
wenn das Erbe dem Erstgebornen übergeben und die
Schöpfung, von ihrem Seufzen befreit, freigemacht werden
wird von der Knechtschaft des VerderbnisfeS zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Als Miterben
Christi werden wir dann das Erbe mit Ihm besitzen und
als mit Ihm Verherrlichte auch mit Ihm herrschen. Es
ist deshalb kein so schweres Los, in einer Welt unbekannt zu sein, die auch Ihn nicht gekannt hat. Es wird
nicht immer so bleiben. — Indes bedürfen wir des Vertrauens auf Gott und der Geduld, um ruhig und still
zu warten, bis der Herr kommt. „Werfet nun eure Zuversicht nicht weg, die eine große Belohnung hat. Denn
ihr bedürfet des Ausharrens, auf daß ihr, nachdem ihr den Willen Gottes gethan habt, die Verheißung
davontraget. Denn noch über ein gar Kleines, und der
Kommende wird kommen und nicht verziehen." (Hebr. 10,
35 — 37.) Es ist eine gesegnete Sache, nach Seiner Ankunft auszuschauen. Aber wir müssen mit Ausharren
warten; und während wir warten, müssen wir zufrieden
sein, als Unbekannte in dieser Welt zu fteheu.
Indem wir nun so auf Ihn warten und darnach
verlangen, in demselben Zustande zu sein, in welchem Er
237
in Herrlichkeit ist, befinden wir uns in einem gegenwärtigen und gekannten Verhältnis zum Vater. „Geliebte,
jetzt sind wir Gottes Kinder." Darauf warten wir
nicht; wir sind es. Wir sind aus Gott geboren und
sind jetzt Kinder und Erben Gottes. Es ist ein gegenwärtiges Verhältnis, welches wir durch das Wort Gottes
kennen und von dem wir ein Bewußtsein haben durch
Seinen Geist in uns. Und welch ein Verhältnis ist eS,
mein Leser! Wie unendlich viel gesegneter und kostbarer
als irgend etwas, was diese arme Welt mit all ihrem
gerühmten Reichtum und stolzen Wissen kennt! Es gilt
für etwas Großes in dieser Welt, einer königlichen Familie anzugehören, oder gar der Erbe eines Thrones zu
sein; aber was ist das im Vergleich damit, Kinder Gottes,
Erben Gottes und Miterben Christi zu sein und bald als
Könige mit dem König der Könige und dem Herrn der
Herren zu herrschen! Und doch ist dieses, geliebter Leser,
das Teil des ärmsten und unscheinbarsten Gläubigen. Wie
sollte das unsre Herzen über all den vergänglichen Glanz
und eitlen Flitter dieser Welt erheben, in welcher Christus
einst ein müder, heimatloser Pilgrim war, der nicht hatte,
wohin Er Sein Haupt legen sollte.
Doch ist das noch nicht alles. In dem Verhältnis,
in welchem wir zum Vater stehen, sind wir durch Christum
die Gegenstände Seiner ewigen, unwandelbaren und schrankenlosen Liebe. Er schonte nicht Seines eignen Sohnes,
sondern gab Ihn freiwillig für' uns dahin. O wer könnte
ermessen, was in dieser Hingabe für das Herz Gottes
eingeschlossen war! Das Kreuz auf Golgatha gebe uns
Antwort! Die Schrecken der Finsternis und die unergründlichen Leiden jener Stunden, in welchen der Sohn
238
Gottes verlassen war, mögen ihre Stimme erheben und
uns schildern, was es gekostet hat, uns zu erlösen und
uns zu Kindern Gottes zu machen! Ein wunderbarer,
über alle Beschreibung und alles menschliche Verständnis
erhabener Preis ist bezahlt worden. Und da er bezahlt
ist, so sind wir jetzt erlöst und haben denselben Platz in
des Vaters Liebe-wie Christus selbst. Der Tag der
Herrlichkeit wird dies selbst vor der Welt offenbar machen,
nach den eignen Worten unsers anbetungswürdigen Herrn:
„Und die Herrlichkeit, die Du mir gegeben hast, habe ich
ihnen geben, auf daß sie eins seien, gleichwie wir eins
sind; ich in ihnen und Du in mir, auf daß sie in eins
vollendet seien, und auf daß die Welt erkenne, daß Du
mich gesandt und sie geliebt hast, gleichwie Du
mich geliebt hast." (Joh. 17, 22. 23.) Es ist in
der That em Meer der Liebe, in welches wir eingesührt
worden sind, eine ewige, unerschöpfliche Fülle, aus welcher
wir immerdar schöpfen und trinken können, ja, die umso
unermeßlicher erscheint, je mehr wir trinken.
Und was wird es sein, mein Leser, wenn wir diese
Fülle einmal in Herrlichkeit kennen und genießen werden!
„Es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden; wir wissen, daß, wenn es offenbar werden wird,
wir Ihm gleich sein werden, denn wir werden Ihn sehen,
wie Er ist." (V. 2.) Welch eine Aussicht! Jetzt Kinder
Gottes; dann nicht nur Kinder, sondern dem Bilde des
verherrlichten Erstgebornen gleichgestaltetI Das „wissen
wir", obwohl es noch nicht eine Sache der öffentlichen
Offenbarung ist. Aber wir werden Ihn sehen, wie Er
ist. Ist das nicht ein wunderbarer Gedanke? Es ist
nicht die Herrlichkeit, in welcher Er als der kommende
239
Messias dargestellt werden wird. Wir werden Ihn allerdings in dieser Seiner messianischen Herrlichkeit sehen und
bei Ihm sein, wie geschrieben steht: „Wenn der Christus,
unser Leben, geoffenbart wird, dann werdet auch ihr mit
Ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit." (Kol. 3, 4.)
Seine Herrlichkeit als Messias und als Sohn des Men-'
schen wird öffentlich vor der Welt, vor aller Angen, entfaltet werden, und alle werden sie sehen. Aber das ist 
nicht gemeint, wenn der Apostel sagt: „Wir werden Ihn
sehen, wie Er ist." Nein, wir werden Ihn sehen, wie
Er jetzt ist in der Herrlichkeit der Gegenwart Seines
Vaters. Das war und ist der ausdrückliche Wunsch unsers gepriesenen Herrn selbst: „Vater, ich will, daß die,
welche Du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo
ich bin, auf daß sie meine Herrlichkeit schauen, die
Du mir gegeben hast, denn Du hast mich geliebt vor
Grundlegung der Welt." (Joh. 17, 24.) Hier ist Einer,
der vor Grundlegung der Welt geliebt war, der Gegenstand der unveränderlichen und unbeschreiblichen Wonne
des Vaters; Einer, der (nachdem Er Gott hienieden verherrlicht hatte) als Mensch von Gott droben verherrlicht
worden ist mit der Herrlichkeit, welche Er bei dem Vater
hatte, ehe die Welt war, und der jetzt, mit Ehre und
Herrlichkeit gekrönt, den Mittelpunkt der Liebe des Vaterherzens, sowie das Licht, die Freude und den Glanz der
himmlischen Räume bildet —: und diesen Einen werden
wir sehen, wie Er ist. Welch ein Anblick wird das sein!
Wie wird er unsre Seelen durchdringen! Welch ein Lob
wird unsern übervollen Herzen entströmen, wenn wir den
einst gekreuzigten, nun aber verherrlichten Heiland erblicken werden!
240
Wie aber könnten unsre sterblichen Augen Ihn anschauen, wie Er ist? Das wäre unmöglich. Die Herrlichkeit ist von einem zu überwältigenden Glanze. Ah,
wir werden Ihm gleich sein! Wir werden verwandelt
werden in einem Nu, in einem Augenblick, bei dem Schalle
der letzten Posaune, (1. Kor. 15.) wenn das Sterbliche
verschlungen werden wird von dem Leben. (2. Kor. 5.)
Zuvorbestimmt, dem Bilde des Sohnes Gottes gleichförmig zu sein, „erwarten wir den Herrn Jesum Christum
als Heiland, der unsern Leib der Niedrigkeit umgestalten
wird zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der Herrlichkeit." (Phil. 3, 20. 21.) Dieser Leib, welcher durch
die Sünde verdorben und erniedrigt ist, wird in einen
Leib der Herrlichkeit verwandelt werden, nach dem Bilde
des verherrlichten Leibes Christi. „Wir werden Ihm gleich
sein." — Herrliche, glorreiche Erwartung!
Und nun, mein Leser, was ist die gegenwärtige
Wirkung dieser Dinge auf diejenigen, welche diese Hoffnung haben? Welch eine Wirkung üben sie auf dich und
mich aus? „Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat,
reinigt sich selbst, gleichwie Er rein ist." (V. 3.) Hast
du an Ihn geglaubt zum ewigen Leben? Hast du als
ein armer, hoffnungslos verlorener Sünder dich zu Ihm
gewandt und in Ihm deinen Heiland gefunden? Und
wartest du jetzt auf Seine Wiederkunft vom Himmel?
(1. Theff. 1, 10.) Erwartest du, Ihm gleich zu sein,
wenn du Ihn sehen wirst, wie Er ist? Und ist dies der
Mühe wert für dich? Wartest du darauf mit sehnendem
Verlangen? Schaust du im Glauben empor und siehst
du den Gesegneten droben in all dem Glanze der Herrlichkeit des Vaters? Und kannst du mit glücklichem
241
Herzen sagen: Ich bin auf dem Wege zu Ihm; ich
werde bei Ihm und Ihm gleich sein in jener Herrlichkeit, und dann werde ich ewiglich in Seiner Gegenwart
befriedigt und gesättigt sein? Nun, wenn es der Mühe
wert ist, Ihm gleich zu sein, wenn Er kommt und
uns zu sich nimmt, dann ist es wahrlich auch der
Mühe wert, Ihm jetzt gleich zu sein auf unsern Wegen
durch die Welt — Ihm gleich in Reinheit des Herzens,
in unserm Thun und Lassen, in unsern Worten und
Handlungen, indem wir den süßen Wohlgeruch Seines
Lebens auf unserm ganzen Pfade ausströmen lassen.
Der Herr schenke dem Schreiber und Leser dieser
Zeilen die Gnade, Ihn als den allgenugsamen, ausschließlichen Gegenstand des Herzens zu kennen und zu besitzen,
als Den, der die ganze Seele ausfüllt, so daß wir mehr
und mehr in Sein Bild verwandelt werden und nicht aufhören, uns selbst zu reinigen, gleichwie Er rein ist!
Möchten wir dieses Blaß und diesen Charakter der Reinheit stets vor Augen haben, bis Er kommt und es in
Herrlichkeit erfüllt!
Ströme lebendigen Wassers.
„An dem letzten, dem großen Tage deN Festes aber
stand Jesus und rief und sprach: Wenn jemanden dürstet,
so komme er zu mir und trinke. Wer an mich glaubt,
gleichwie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden
Ströme lebendigen Wassers fließen." (Joh. 7, 37. 38.)
DaS Fest, von welchem in dieser lieblichen Stelle
die Rede ist, war das „Laubhüttenfest". Indes wird es
zu Anfang unsers Kapitels „das Fest der Juden"
242
genannt. Das zeigt uns seinen Charakter. Es konnte
nicht länger, wie in 3. Mose 23, „ein Fest Jehovas"
genannt werden; der Herr konnte es nicht mehr als solches
anerkennen. Es war zn einer leeren Form, zu einer
kraftlosen Satzung geworden, zu einer Sache, deren der
Mensch sich noch rühmen konnte, während Gott völlig
ausgeschlossen war.
Das ist nichts Ungewöhnliches. Das Herz des
Menschen hat zu allen Zeiten die Neigung gezeigt, an
äußeren Formen streng festzuhalten, wenn auch die Kraft
längst verschwunden ist. Und auch wir sind in Gefahr,
Geliebte, in einer bloß äußeren und deshalb wertlosen
Form voranzugehen, während die Kraft, welche sich einmal
in jene Form kleidete und darin wirksam war, mehr und
mehr abnimmt. So war es in alten Zeiten mit Israel,
und so ist es heute mit der bekennenden Kirche: viel
äußere Form ohne innere Kraft. Möchten wir alle auf
der Hut sein vor dieser gefährlichen Schlinge des Feindes!
Er ist stets darauf aus, unsre Seelen zu verführen und
Gott auszuschließen; und er benutzt dazu gern und mit
Erfolg gerade solche von Gott gegebenen Anordnungen.
Aber mögen diese letzteren noch so gm und schön sein,
welchen Wert haben sie, wenn die Kraft verschwunden
ist! Doch wo der Glaube in lebendiger Wirksamkeit
steht, hat die Seele es mit Gott zu thun; und während
sie an den äußeren Formen festhält, werden zugleich Kraft
und Frische bewahrt.
Der Evangelist Johannes bezeichnet von Anfang an
jene von Gott angeordneten Feste als Feste der Juden;
und nicht nur das, wir finden auch, daß der Herr eines
nach dem andern gleichsam beiseite setzt und sich selbst an
243
ihrer Stelle als den Gegenstand des Herzens darbietet.
So ist es auch, wie schon bemerkt, im Anfang des
7. Kapitels. Wir lesen da: „Und nach diesem wandelte
Jesus in Galiläa, denn Er wollte nicht in Judäa wandeln,
weil die Juden Ihn zu töten suchten. Es war aber nahe
das Fest der Juden, die Laubhütten." Welch ein schrecklicher Widerspruch! Welch eine Verblendung in den
Herzen der Juden! Sie suchten den Sohn Gottes zu
ermorden und wollten doch das Fest der Laubhütten
feiern! Das ist der religiöse Mensch ohne Gott.
„Es sprachen nun Seine Brüder zu Ihm: Ziehe
von hinnen und gehe nach Judäa, auf daß auch Deine
Jünger Deine Werke sehen, die Du thust; denn
niemand thut etwas im Verborgenen, und sucht selbst
öffentlich bekannt zu sein. Wenn Du diese Dinge thust,'
so zeige Dich der Welt; denn auch Seine Brüder
glaubten nicht an Ihn." Obgleich Seine Brüder Ihm
dem Fleische nach so nahe standen, glaubten sie doch noch
nicht an Ihn. Sie hätten es gern gesehen, wenn Er sich
der Welt in Seiner Macht bekannt gemacht hätte, um
von ihr bewundert und angestaunt zu werden. Ach, sie
wußten nicht, weshalb Christus vom Vater herabgekommen
war; sie kannten nicht den Zweck Seiner Erscheinung in
dieser Welt. War Er aus dem Himmel herabgestiegen, um
ein Gegenstand der Bewunderung seitens der Welt zu sein?
Nein, Er war gekommen, um zu dienen und Sein
Leben als Lösegeld zu geben für viele. Ueber „das Tier"
wird sich einmal die ganze Erde verwundern; (vergl.
Offbg. 13, 3.) aber der Sohn Gottes war in dieser Welt
erschienen, um Gott zu verherrlichen, sich selbst zu verbergen und dem Menschen zu dienen.
244
Er weigerte sich daher, öffentlich zu dem Feste nach
Jerusalem hinaufzuziehen. Seine Zeit war noch nicht
da; „aber," fügt Er hinzu, „eure Zeit ist stets bereit".
Der Augenblick, sich der Welt zu zeigen, war noch nicht
gekommen. Er wird einmal kommen wenn das, wovon
das Laubhüttenfest ein Vorbild war, seine Erfüllung
finden wird. Aber zu der Zeit, von welcher das Kapitel handelt, war Seine Stunde noch nicht gekommen.
Die Welt, ja, die religiöse Welt jener Tage, haßte
Ihn. „Die Welt kann euch nicht hassen", sagt Er;
„mich aber haßt sie, weil ich von ihr zeuge, daß ihre
Werke böse sind. Gehet ihr hinauf zu diesem Feste;
ich gehe nicht hinauf zu diesem Feste; denn meine Zeit
ist noch nicht erfüllt. Nachdem Er dies zu ihnen gesagt
hatte, blieb Er in Galiläa. Als aber Seine Brüder
hinaufgegangen waren, da ging auch Er hinauf zu dem
Feste, nicht offeubarlich, sondern wie im Verborgenen."
Und weshalb ging Er hinauf? Nicht um sich der
Welt zu zeigen, nicht um an ihrem Feste teilzunehmen,
sondern um Seinen Vater zu verherrlichen und der willige
Diener der Bedürfnisse des Menschen zu sein. Das war
Sein einziger Zweck. „Als es aber schon um die Mitte
des Festes war, ging Jesus hinauf in den Tempel und
lehrte. Es verwunderten sich nun die Juden und sagten:
Wie besitzt dieser Gelehrsamkeit, da Er doch nicht gelernt'
hat? Da antwortete ihnen Jesus und sprach: Meine
Lehre ist nicht mein, sondern Dessen, der mich
gesandt hat." Wie strahlt uns aus diesen Worten
die Herrlichkeit unsers Herrn und Heilandes als des sich -
selbst verbergenden Dieners entgegen! „Meine Lehre ist
nicht mein." Das war Seine Antwort denen gegenüber,
245
welche sich über Seine Gelehrsamkeit verwunderten. Sie
kannten Ihn ebensowenig wie Seine Brüder. Die Beweggründe, welche Ihn leiteten,, die Ziele, welche Er verfolgte, lagen weit außerhalb des Bereiches fleichlicher und
weltlich gesinnter Menschen. Sie beurteilten Ihn nach
ihren eignen Gedanken, und deshalb waren alle ihre
Schlüsse falsch. „Wenn jemand Seinen Willen thun
will, so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott
ist, oder ob ich aus mir selbst rede. Wer aus sich selbst
redet, sucht seine eigne Ehre; wer aber die Ehre dessen
sucht, der ihn gesandt hat, dieser ist wahrhaftig, und
Ungerechtigkeit ist nicht in ihm." Unser gepriesener Herr
sprach nicht aus sich selbst, als wenn Er unabhängig von
dem Vater gewesen wäre, sondern als Einer, der in unbedingter Abhängigkeit und in ununterbrochener Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott lebte, der alle Seine
Quellen in Ihm hatte, der nichts that, nichts sagte, ja,
nichts dachte getrennt von dem Vater.
Wir begegnen derselben Wahrheit bezüglich des Heiligen Geistes in dem 16. Kapitel unsers Evangeliums:
„Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, gekommen ist,
wird Er euch in die ganze Wahrheit leiten; denn Er wird
nicht aus sich selbst reden, sondern was irgend Er hören
wird, wird Er reden, und das Kommende wird Er euch ver-
' kündigen. Er wird mich verherrlichen, denn von dem Meinen
wird Er empfangen und euch verkündigen." (V. 13. 14.)
Der Heilige Geist redete und redet nicht aus sich selbst,
als unabhängig von dem Vater und dem Sohne, sondern
als Einer, der in völliger Gemeinschaft mit beiden steht.
„An dem letzten, dem großen Tage des Festes aber
stand Jesus und rief und sprach: Wenn jemanden dürstet,
246
so komme er zu mir und trinke!" Wie kostbar und von
welch außerordentlicher praktischer Wichtigkeit sind diese
Worte: „Wenn jemanden dürstet, so komme er zu mir!"
Die Person Christi ist die göttliche Quelle aller Segnung,
aller Frische und geistlichen Kraft. In Ihm allein kann
die Seele finden was sie bedarf. Obwohl der Herr hier
zunächst von dem Heiligen Geiste redet, welchen die an
Ihn Glaubenden empfangen sollten, so hat die Stelle doch
auch eine gesegnete Bedeutung für unsern ganzen Pfad
als Gläubige, für unsern täglichen Wandel und für unsern
Dienst Anderen gegenüber. Christus ist es, zu welchem
wir uns allezeit wenden müssen; alle unsre persönliche
Erfrischung und Segnung fließt von Ihm aus uns zu. 
Wenn wir daher zu irgend einer Zeit die Entdeckung machen,
daß wir dürr, leer und trocken sind in unsern Herzen,
was sollen wir dann thun? Sollen wir Anstrengungen
machen, unsern Zustand zu verbessern, den Ton unsers
geistlichen Lebens höher zu stimmen? Nein, auf diesem
Wege werden wir niemals unsern Zweck erreichen. Was
sollen wir denn thun? Zu Jesu eilen und trinken!
Und was wird das Resultat sein, wenn wir so kommen
und trinken? — Wir werden selbst erfrischt werden, und
Ströme lebendigen Wassers werden aus unsern Leibern,
d. h. von unserm inwendigen Menschen, Anderen zufließen.
Lebendiges Wasser wird in Fülle von uns ausströmen,
um auch andere Dürstende zu laben. Der Heilige Geist,
welcher in uns wohnt, ist dann nicht nur ein Quell des Wassers,
der in das ewige Leben quillt, (Joh. 4.) sondern wird auch
zu einem erquickenden und belebenden Strome für Andere.
Nichts ist thörichter und vergeblicher als die ruhelosen Anstrengungen einer Seele, die sich außer Gemein-
247
schäft mit Christo befindet. Wir mögen dann sehr beschäftigt sein, unsre Hände voll Arbeit, der Kopf voll
Erkenntnis, und unsre Füße mögen eilig hierhin und
dorthin laufen; aber alles ist, so weit es uns betrifft,
vergeblich. Ist das Herz nicht in lebendiger Verbindung
mit der Person Christi, nicht in Wahrheit mit Ihm beschäftigt, so muß Dürre und Leere folgen, und unmöglich
können „Ströme lebendigen Wassers" aus uns fließen.
Sollen wir für Andere zum Segen sein, so müssen wir
uns selbst von Christo nähren. Wir „trinken" nicht für
Andere, sondern für uns selbst; wir trinken, um unsern
eignen Durst zu stillen. Aber wenn wir so trinken, fließen
jene Ströme von selbst. Zeige mir einen Mann, dessen
Herz in Wahrheit mit Christo erfüllt ist, und ich will
dir einen Mann zeigen, dessen Hände für das Werk geschickt und dessen Füße bereit sind, in den Wegen des
Herrn zu laufen. Das eine steht und fällt mit dem
andern. Beginnen wir nicht mit wahrer Herzensgemeinschaft, so wird unser Laufen und Wirken umsonst
sein; weder wird Gott verherrlicht werden, noch werden
wir Anderen zum Nutzen sein können.
Ja, mein Leser, wir müssen beginnen in unserm
eignen Innern, in der verborgenen Stille unsrer eignen
Herzen und dort durch den Glauben mit einem lebendigen
Christus beschäftigt sein; anders wird sich unser Dienst
als völlig wertlos erweisen. Wünschen wir, einen guten
Einfluß auf Andere auszuüben, möchten wir als ein Segen
dienen unter unsern Mitmenschen; wünschen wir, für Gott
Frucht zu bringen und als Lichter zu scheinen in der
Finsternis um uns her; möchten wir ein Segenskanal
sein, gefüllt mit erquickendem Wasser inmitten der dürren
248
Wüste dieser Welt — ja, mein Leser, dann laß uns
lauschen auf die Worte unsers Herrn in Joh. 7, 37 l
Laß uns trinken an der wahren und einzigen Quelle!
Und was dann? Aufhören, zu trinken? Nein, wieder
trinken, allezeit trinken — und die Ströme lebendigen
Wassers müssen fließen. Wenn ich sage: „Ich muß mich
bemühen, ein Segenskanal für Andere zu sein," so werde
ich nur meine eigne Ohnmacht und Thorheit erfahren. Wenn
ich aber zu der Quelle komme und trinke, wenn ich mich
gleichsam als ein leeres Gefäß mit dem lebendigen Wasser
füllen lasse, so werden ohne Anstrengung meinerseits, ganz
von selbst, die Ströme fließen zum Segen für Andere.
„Ich werde Sie droben Wiedersehen."
Vor mehreren Jahren reiste ich eines Samstag Abends
nach W. Als der Zug in K. anhielt, verließen alle Fahrgäste die Wagenabteilung, in welcher ich saß, und nur ein
einzelner älterer Herr stieg ein und setzte sich mir gerade
gegenüber. Nach einem Augenblick sagte er mit einem tiefen Seufzer: „Ich wollte, ich wäre schon am Ziele meiner
Reise."
„Haben Sie denn weit zu reisen?" fragte ich.
„Ja, nach P.; aber das ist es nicht, was mich bekümmert. Ich fürchte, bei meiner Ankunft in P. das
Liebste, was ich in dieser Welt besitze, nicht mehr am
Leben zu finden." Und wieder drang ein tiefer Seufzer
aus seiner gepreßten Brust.
Armer Mann! Seine geliebte Gattin war eS, wie
ich aus dem weiteren Verlauf der Unterhaltung erfuhr,
an welche er mit solch ängstlicher Sorge gedachte. Sie
249
war plötzlich schwer erkrankt; am Nachmittage hatte er
ein Telegramm erhalten, das ihn sofort nach Hause rief,
und so reiste er heim unter Hoffen und Bangen. Vor
Sonntag Morgen 2 Uhr konnte er P. nicht erreichen.
Eine Weile saßen wir uns schweigend gegenüber;
endlich fragte ich: „Steht Ihre liebe Frau unter dem
Schutze des kostbaren Blutes Christi?"
„Nein, mein Herr," lautete die rasche Antwort.
„Und Sie selbst auch nicht?"
„Ich will aufrichtig sein," entgegnete mein Reisegefährte; „ich glaube, wenn ich in diesem Augenblick sterben
müßte, so würde ich ewig verloren gehen."
Ich sprach hierauf viel mit ihm über Gottes Liebe
Zu verlorenen Sündern, indem ich die bekannte, kostbare
Stelle anführte: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß
Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß jeder, der
an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben
habe". (Joh. 3, 16.)
„O," erwiderte er, „ich lese die Bibel täglich; ich
kenne alle die schönen Stellen, welche von der Liebe Gottes
und von dem Werke Christi reden, aber ich fühle es
nicht hier!" und damit deutete er auf seine Brust.
„Mein lieber Freund," antwortete ich ruhig, „da
würden Sie es auch nicht fühlen, selbst wenn Sie tausend
Jahre zu leben hätten und unaufhörlich nach diesem Gefühl
verlangten."
„Was?" fragte er überrascht; „dann würde ich ja
niemals zur Ruhe kommen können!"
„Nein, auf diesem Wege nicht," entgegnete ich; und
dann suchte ich ihm zu zeigen, wie er stets in sich Hineinblicke und auf irgend eine wunderbare Veränderung in
250
seinem Innern, auf eine gewisse Art von glücklichen,
seligen Gefühlen warte, anstatt von sich wegzuschauen und
in einfältigem Glauben auf dem vollbrachten Werke Jesu
Christi zu ruhen. Ich schloß mit den Worten: „Wer an
den Sohn Gottes glaubt, hat ewiges Leben."
Er sah mich einen Augenblick fragend an und erzählte
mir dann, daß er ein fleißiger Besucher der Predigt des
Wortes sei, daß er selbst eine Sonntagsschule halte, viel
im Worte Gottes forsche u. s. w.; aber daß ihn trotzdem
seit dreißig Jahren fast unaufhörlich der schreckliche Gedanke
verfolge, er möchte einmal, wie der reiche Mann im Evangelium, in der ewigen Qual seine Augen aufschlagen.
Nie werde ich den ernsten, sorgenvollen Blick vergessen, mit welchem er, während große Thränen seine
Wangen hinabrollten, ausrief: „O ich würde gern alles
was ich besitze, darum geben, wenn ich mich des Friedens
erfreuen könnte, den Sie zu besitzen scheinen!"
„Aber," erwiderteich, „Sie können ihn ja umsonst
erhalten; „ohne Geld und ohne Kaufpreis" sagt Gott.
Christus hat Frieden gemacht durch das Blut Seines
Kreuzes; und: „das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes,
reinigt uns von aller Sünde."
In dieser Weise unterhielten wir uns noch lange
Zeit, und ich wurde immer mehr überzeugt, daß mein
Gegenüber wirklich an den Herrn Jesum glaubte, aber
daß der Feind der Seelen ihn unaufhörlich mit sich und
seinen Gefühlen beschäftigte, nm ihn zu guälen und nicht zur
Ruhe kommen zu lassen. Endlich blickte ich ihm voll ins Antlitz und fragte: „Hassen Sie den Herrn Jesum Christum?"
„Hassen, mein Herr?" fragte er erschrocken; „sagten
Sie wirklich: hassen?"
251
„Ja/' erwiderte ich ruhig.
„Aber wie können Sie mich so etwas fragen!? Wie
wäre es möglich, Ihn zu hassen, der alles für mich ist?
Nein, nein, ich liebe Ihn von ganzem Herzen! Er ist ja
für mich gestorben und hat alles für mich gethan!"
„Nun denn, mein Freund," fuhr ich mit erhobener
Stimme fort, „denken Sie dann einmal in den stillen
Stunden dieser Nacht, während Sie nach P. reisen, an
Ihn, der an Seinem Leibe unsre Sünden auf das Holz
getragen hat, und der jetzt zur Rechten Gottes sitzt in
himmlischer Herrlichkeit; und dann denken Sie weiter daran,
wie tief Sie Sein Herz durch Ihren häßlichen Unglauben
betrübt haben, nun schon dreißig Jahre lang!"
Als der Zug sich meinem Bestimmungsorte näherte,
ergriff ich seine Hand und sagte: „Leben Sie wohl! vielleicht werde ich Sie nie Wiedersehen." Mit zitternder
Stimme und feuchten Augen erwiderte er: „Ich werde
Sie droben Wiedersehen, mein Herr!"
„Aber," fiel ich ein, „Sie haben mir doch vorhin
gesagt, daß Sie fürchteten, einmal in der Hölle aufzuwachen! Ich weiß aber durch die Gnade Gottes, daß ich
nie an jenem schrecklichen Orte sein werde."
„Auch ich weiß es, mein Herr!" rief er und preßte
stürmisch meine Hand; „ich glaube jetzt, ja, ich glaube,
und ich bin sicher, daß ich Sie droben Wiedersehen werde!"
Der Zug hielt, und ich mußte aussteigen; aber ich
schied von meinem Reisegefährten in der vollen Gewißheit,
ihm über kurz oder lang im Vaterhause droben wieder zu 
begegnen.
Mein Leser! stehst auch du unter dem Schutze des
252
kostbaren Blutes Christi? Wenn nicht, so bedenke, daß
eine ewige Hölle dein Teil sein muß! Sollte aber ein 
zweifelndes, zitterndes Herz diese Zeilen lesen, möchte es sich
dann durch dieselben daran erinnern lassen, daß der Sohn
des Menschen in diese Welt gekommen ist, um das Verlorene zu suchen und zu erretten. Nicht unsere Gefühle,
nicht unsere Gebete, nicht irgend etwas von uns oder in
uns kann uns Frieden geben und uns glücklich machen,
sondern allein der kindliche Glaube an Den, der aus dem
Schoße des Vaters herabkam, in den Kreuzestod ging und
nun, nach vollbrachtem Werke, sich gesetzt hat zur Rechten
der Majestät in der Höhe. Lies daS 15. Kapitel des
Ev. Lukas, betrübte Seele, und siehe, wie es Gottes VerVerlangen und Gottes Wonne ist, den verlorenen Sünder
zu segnen! Das Wort dieses Heiland-GotteS ist der ewig
sichere Ruheplatz der Seele; und Er läßt Dir in demselben
sagen: „Wer an Ihn (Christum) glaubt, wird nicht
gerichtet." (Joh. 3, 18.) Der Sohn Gottes selbst
ruft dir zu: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer
mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat,
hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das Leben hi nüber gegangen."'(Joh. 5, 24.) Ist das nicht
genug? Bedarfst du mehr? O schenke Dem dein Vertrauen, der dich so unaussprechlich liebt und dessen Wort
besteht in Ewigkeit! „Wer an Ihn glaubt, wird nicht
beschämt werden." (1. Petr. 2, 6.) Darum blicke
von dir ab auf Ihn hin, und betrübe Ihn nicht länger
durch dein Mißtrauen und deinen Unglauben!
Absonderung, nicht Vermengung.
„Du sollst vor mir stehen; und wenn du das Köstliche absonderst vom Schlechten, so sollst du wie mein
Mund sein. Sie sollen zu dir umkehren, aber du sollst
nicht zu ihnen umkehren." (Jer. 15, 19.)
Der in dieser Stelle niedergelegte göttliche Grundsatz
ist von der höchsten Wichtigkeit für alle, welche mit Gott
zu wandeln wünschen. Er ist allerdings weit davon entfernt, volkstümlich und bei den Menschen beliebt zu sein.
Aber das nimmt ihm nichts von seinem Werte in den
Augen derer, welche von Gott belehrt sind. Im Gegenteil;
das waS in einer bösen Welt, wie diese, beliebt und volkstümlich ist, kann man wohl von vornherein als verkehrt
und der göttlichen Wahrheit entgegenstreitend betrachten;
und andrerseits ist das, was am meisten von Christo, am 
meisten reine und unvermischte Wahrheit enthält, sicherlich
am wenigsten volkstümlich.
Eine der beliebtesten und verbreitetsten Ideen unsrer
Tage nun ist die Verschmelzung oder Vermengung von
Personen und Dingen, welche nach Gottes Gedanken getrennt
bleiben sollten; und alle, welche für Männer von weitherziger Gesinnung und freier Richtung gelten wollen,
treten mit Entschiedenheit für diesen Gedanken ein. Doch
wir zögern nicht zu behaupten, daß derselbe in unmittelbarem Gegensatz steht zu dem geoffenbarten Willen Gottes.
254
Wir sind uns wohl bewußt, daß wir uns dadurch mit
dem allgemeinen Urteil der Christenheit in Widerspruch
setzen. Aber wir sind darauf vorbereitet. Nicht als ob
wir Widerspruch liebten oder suchten; nein, aber wir haben
gelernt, dem Urteil der sogenannten religiösen Welt zu
mißtrauen, weil wir gefunden haben, daß dieses Urteil stets den klaren Belehrungen der Heiligen Schrift
widerspricht; und wir wünschen aufrichtig, auf seiten des
Wortes Gottes zu stehen, da nichts bleiben wird, was
nicht auf die unerschütterliche Grundlage dieses Wortes
gebaut ist.
WaS lehrt nun die Schrift: Absonderung oder Vermengung? Wie lautete die Belehrung, welche der Prophet Jeremia zu seiner Zeit empfing? Sollte er den Versuch machen, sich mit denen zu vermengen, welche ihn
umgaben? Sollte er das Köstliche mit dem Schlechten
vermengen? Gerade das Gegenteil. Er wurde von Gott
belehrt, sich von denen getrennt zu halten, welche ihrem
Bekenntnis nach das Volk Gottes bildeten, deren Wege
aber Seinen Gedanken und Seinem Willen widersprachen.
„Du sollst vor mir stehen," sagt Gott, und: „Du sollst
nicht zu ihnen umkehren."
Das war der Pfad und die Stellung des Propheten.
Er sollte, in entschiedener Absonderung von dem Bösen,
auf seiten Gottes stehen, mochten die Menschen, mochten
seine Brüder darüber denken, was sie wollten. Mochten
sie ihn auch für engherzig, unduldsam und dergl. erklären
— er hatte nichts damit zu thun. Das Einzige, was
ihm zu thun oblag, war: zu gehorchen. Absonderung
von dem Bösen, und nicht Vermengung mit demselben,
war die göttliche Regel. Nach menschlichem Dafürhalten
255
würde ihm eine Vermengung vielleicht ein weiteres Feld
nützlicher Thätigkeit eröffnet haben; aber der erste Gegenstand, welcher vor dem Herzen eines wahren Knechtes
des Herrn stehen muß, ist nicht Nützlichkeit, sondern Gehorsam. Das Geschäft eines Knechtes besteht darin, das
zu thun, was ihm aufgetragen wird, nicht aber das, was
er für richtig oder gut hält. Wenn das mehr von den
Gläubigen verstanden würde, so würde es vieles einfacher
machen, viele Hindernisse und Schwierigkeiten aus dem
Wege räumen. Wenn Gott uns zur Trennung von dem
Bösen auffordert, und wir bilden uns ein, mehr Gutes
thun zu können, wenn wir uns damit vermengen — wie
wollen wir dann vor Ihm bestehen? Wie sollen wir Ihm
begegnen? Wird Er das gut nennen, was aus einem
direkten Ungehorsam gegen Sein Wort hervorgegangen ist?
Ist es nicht klar, daß unsre erste und letzte Pflicht darin
besteht, zu gehorchen? Sicher und gewiß. Gehorsam ist
die Grundlage, ja, die Summe von allem, was wahrhaft
gut genannt werden kann.
Gab es denn nichts für Jeremia zu thun auf seinem
schmalen Pfade? Sollte er völlig unthätig bleiben und
still die Hände in den Schoß legen? Keineswegs. Seine
Thätigkeit wurde ihm mit möglichster Klarheit vorgeschrieben. Und worin sollte sie bestehen? „Wenn du das
Köstliche absonderst von dem Schlechten, so sollst dn
wie mein Mund sein." Er sollte nicht nur für sich selbst
abgesondert dastehen und auf dem Pfade der Trennung von
dem Bösen wandeln, sondern er sollte auch andere abzusondern suchen. Dies mochte ihm in den Augen seiner
Brüder das Ansehen eines Proselytenmachers geben, oder
eines eigensinnigen Mannes, der andere durchaus zu seiner
256
Denkweise bekehren will. Aber auch hierbei hatte er sich
um die Gedanken der Menschen nicht zu bekümmern. Es
war weit besser und gesegneter für Jeremia, Gottes Mund
zu sein, als mit seinen Mitmenschen wohl zu stehen. Was
sind die Gedanken und Meinungen deS Menschen Werts
Gar nichts. In derselben Stunde, da sein Odem ihn
verläßt, gehen seine Gedanken zu Grunde. Aber Gottes
Gedanken bestehen ewiglich. Wenn der Prophet sich
daran gegeben hätte, das Köstliche mit dem Schlechten zu 
vermengen, so würde er nicht wie Gottes Mund, sondern
wie des Teufels Mund gewesen sein. Absonderung ist
der Grundsatz Gottes; Vermengung der Grundsatz Satans.
Mein Leser, man nennt dich weitherzig, liebenswürdig, liberal und dergl., wenn du bereit bist, dich mit aller
Art von Leuten zu vereinigen. Verbindungen, Vereine,
Allianzen rc. bilden die Losung des Tages. Was hat
der gehorsame Christ nun zu thun? Soll er sich auch
mit diesen Dingen beschäftigen, oder soll er sich von ihnen
fernhalten? Ohne Zweifel das letztere, und zwar nicht
deshalb, weil er besser ist als andere Leute, sondern weil
Gott gesagt hat: „Seid nicht in einem ungleichen Joche
mit Ungläubigen!" Nicht weil Jeremia besser war als
seine Brüder, mußte er sich absondern, sondern einfach
weil es ihm von Dem befohlen worden, dessen Wort
stets unser Verhalten leiten, unsern Weg bestimmen und
unsern Charakter bilden sollte. Und wir dürfen ferner
versichert sein, daß Jeremia sich nicht von seiner Umgebung trennte in einer bittern Gemütsstimmung oder in
einer selbstgerechten, andere verurteilenden Gesinnung;
nein, es geschah vielmehr in wahrer Demut des Herzeus
und mit tiefem Schmerz seiner Seele. Er weinte Tag
257
und Nacht über den traurigen Zustand seines Volkes;
aber die Notwendigkeit der Absonderung war so klar, wie
das Wort Gottes sie machen konnte. Mochte Jeremia
auch den Pfad der Trennung mit gebrochenem Herzen
und thränenden Augen einschlagen, aber er mußte ihn betreten, wollte er anders wie Gottes Mund sein. Hätte
er sich dessen geweigert, so würde er damit erklärt haben,
daß er weiser sei als Gott. Seine Brüder und Freunde
mochten sein Verhalten nicht verstehen, ja, es ganz falsch
beurteilen; aber damit hatte er nicht das Geringste zu
thun. Seine Sache war es, zu gehorchen, nicht aber Erklärungen zu geben oder sich zu verteidigen. Das konnte
er ruhig Gott überlassen. Sie sollten zu ihm umkehren,
aber er nicht zu ihnen.
So ist eS stets. „Seid nicht in einem ungleichen
Joche mit Ungläubigen. Denn welche Genossenschaft hat
Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? oder welche Gemeinschaft
Licht mit Finsternis? und welche Uebereinstimmung Christus
mit Belial? oder welches Teil ein Gläubiger mit einem
Ungläubigen? und welch einen Zusammenhang der Tempel Gottes mit Götzendienst? . . . Darum gehet hinaus aus ihrer Mitte und sondert euch ab,
spricht der Herr, und rühret Unreines nicht an,
und ich werde euch aufnehmen; und ich werde euch zum
Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern
sein, spricht der Herr, der Allmächtige." (2. Kor. 6,
14 — 18.) Wir wissen wohl, was man dagegen einwendet — wann würde das menschliche Herz keine Einwendungen Gott und Seiner Wahrheit gegenüber machen?
„Wir haben kein Recht, über andere zu urteilen," sagt
man; „wie können wir wissen, ob jemand gläubig ist oder
258
nicht? Es ist nicht unsre Sache, das zu entscheiden
und noch weniger, uns heiliger hinzustellen als andere.
Die Liebe hofft immer das Beste. Wenn jemand nur
aufrichtig ist, was macht es dann aus, welches Glaubensbekenntnis er für das richtige hält? Ein jeder hat das
Recht, seine eigene Meinung zu haben. ES ist schließlich
nur ein Unterschied in den persönlichen Ansichten rc. rc."
Auf alles das erwidern wir nur: Gottes Wort
gebietet dem Christen, zu urteilen, zu entscheiden und
zu unterscheiden, auszugehen und sich abzusondern. Wenn
das so ist — und wer könnte es angesichts des klaren,
bestimmten Gebotes Gottes leugnen? — was sind dann
alle Einwendungen und Vernunftschlüsse des Menschen
wert? Für das Urteil eines aufrichtigen, einfältigen,
treuen Dieners Christi haben sie weniger Gewicht als
das Stäubchen, welches im Sonnenschein tanzt.
Lauschen wir auf die ernsten, inhaltsreichen Worte
des Apostels Paulus an sein geliebtes Kind Timotheus
— Worte, welche dem Volke Gottes zu allen Zeiten mit
nicht mißzuverstehender Deutlichkeit seinen Weg vorzeichnen:
„Doch der feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel:
Der Herr kennt, die Sein sind; und: Jeder, der den
Namen des Herrn nennt, stehe ab von der
Ungerechtigkeit! In einem großen Hause aber sind
nicht allein goldene und silberne Gefäße, sondern auch
hölzerne und irdene; und die einen zur Ehre, die andern
aber zur Unehre. Wenn sich nun jemand von diesen
(den Gefäßen zur Unehre) reinigt, so wird er ein
Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich dem
Hausherrn, zu jedem guten Werke bereitet."
(2. Tim. 2, 19—21.)
259
Hier sehen wir, daß, wenn irgend jemand wünscht,
ein geheiligtes Gefäß zu sein, passend für den Gebrauch
des Meisters und zu jedem guten Werke bereitet,
er sich trennen muß von der Ungerechtigkeit und von den
Gefäßen zur Unehre rund um sich her. Es ist unmöglich,
darüber hinaus zu kommen, ohne das Wort Gottes über
Bord zu werfen; und sicherlich, Gottes Wort verwerfen
heißt Ihn selbst verwerfen. Sein Wort befiehlt mir,
mich zu reinigen, von der Ungerechtigkeit abzustehen und
mich von denen wegzuwenden, welche nur eine Form der
Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen. — Der
Herr gebe allen den Seinigen ein offnes Ohr und ein
unterwürfiges, zum Gehorchen bereites Herz!
Johannes der Täufer.
ES ist heute nicht unser Zweck, bei dem Dienste
Johannes' des Täufers zu verweilen, noch bei dem Platze,
welchen er in der Geschichte der Wege Gottes mit Israel
ausfüllte, so interessant und nützlich dies sein mag. Wir
möchten nur auf einige seiner Aeußerungen aufmerksam
machen, in welchen sich zwei Dinge unsrer besondern Beachtung empfehlen: nämlich die Art und Weise, wie er
seine eigne Person achtete und wie er seinen Herrn und
Meister schätzte.
Johannes war nach dem eignen Zeugnis seines gepriesenen Herrn der größte unter allen Propheten, welche
jemals von Weibern geboren worden sind. Er war also
nicht nur ein Prophet, sondern der größte der Propheten,
der Vorläufer des Messias, der Vorbote des Königs, der
große Prediger der Gerechtigkeit. Und daher ist es von
260
dem höchsten Interesse, zu erfahren, was ein solcher Mann
von sich und was er von Christo dachte. Seine lebendigen
Aussprüche betreffs dieser beiden Punkte bilden in der
That eine Fundgrube von kostbaren, praktischen Unterweisungen. Wenden wir uns zunächst zu dem 1. Kapitel
des Evangeliums Johannes. Dort lesen wir in dem 19.
und den folgenden Versen:
„Und dies ist das Zeugnis des Johannes, als die 
Juden aus Jerusalem Priester und Leviten sandten, damit
sie ihn fragen sollten: Wer bist du? Und er bekannte
und leugnete nicht: Ich bin nicht der Christus. Und sie
fragten ihn: Was denn? Bist du Elias? Und er sagt:
Ich bin's nicht. Bist du der Prophet? Und er antwortete:
Nein. Sie sprachen nun zu ihm: Wer bist du? auf daß
wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben; was
sagst du von dir selbst? Er sprach: Ich bin die
Stimme eines Rufenden in der Wüste."
Die Abgesandten wollten durchaus eine Antwort haben,
und so giebt ihnen Johannes eine. Sie zwingen ihn,
von sich selbst zu sprechen. Doch beachte seine Antwort,
mein Leser! Wer oder was war er? Niemand, wenn
wir so sagen dürfen. Er war nur „eine Stimme". Wie
schön und lieblich ist die Selbstlosigkeit dieses geehrten
Dieners! Es thut dem Herzen wohl, mit einer solchen
Gesinnung in Berührung zu kommen. Hier ist ein Mann
von wahrer Kraft und Würde, einer der hervorragendsten
Diener Christi, dessen Predigt die Herzen und Gewissen
von Tausenden aufgeweckt hatte, dessen Geburt durch Engel
angekündigt, dessen Dienst durch Propheten vorhergesagt
worden war, der Herold des Reiches, der Freund des
Königs — und doch kann dieser wunderbare Mann, wenn
261
er gezwungen wird, von sich zu reden, nur zu den Worten
veranlaßt werden: „Ich bin eine Stimme". Nicht einmal ein Mensch, nein, nur eine Stimmet
Welch eine Unterweisung für uns! Welch ein gesundes Heilmittel für unsre beklagenswerte Neigung, uns
immer wieder mit unserm eigenen armen Ich zu beschäftigen,
uns selbst zu suchen und zu erheben! Es ist in der That
wunderbar, an den gewaltigen, kraftvollen Dienst des
Täufers zu denken, an seinen weitgehenden Einfluß auf
die große Masse des Volkes sowohl, als auch auf die
Leiter desselben, ja, selbst auf den König Herodes, an
den Platz, den er einnahm, und das Werk, das er that —
und dann trotz allem ihn jene Worte äußern zu hören:
„Ich bin eine Stimme."
Dieser Ausspruch, so kurz er ist, enthält eine Fülle
von praktischen Belehrungen für das Herz. Gerade das,
was wir hier in Johannes erblicken, ist so besonders nötig
in diesen Tagen der Selbstgefälligkeit und des Suchens
der eignen Ehre — nötig für einen jeden von uns. Oder
haben wir uns nicht alle wegen der unseligen Neigung
zu verurteilen, stets höher von uns zu denken als wir
denken sollten? Sind wir nicht so gern bereit, jedem kleinen
Werke, jedem geringen Dienste, mit welchem wir vielleicht
in Verbindung stehen, hohe Wichtigkeit beizulegen? Ach!
leider ist es so, und daher bedürfen wir so sehr der
heilsamen Belehrung, welche uns Johannes giebt, indem
er sich selbst in den Schatten zurückzieht, damit die Person
Dessen, welchem er voranging, um so Heller und schärfer
ans Licht trete.
Wie beachtenswert ist ferner die Antwort des Täufers,
wenn wir uns daran erinnern, an welche Personen sie
262
gerichtet wurde. Es ist sicherlich nicht ohne Bedeutung,
daß der Heilige Geist noch besonders darauf aufmerksam
macht, daß die Abgesandten aus den Pharisäern waren.
Wie fremd und ungewohnt mußten jene Worte in den
Ohren dieser Männer klingen! Pharisäer kennen gewöhnlich wenig von Selbstlosigkeit und von einem Verbergen
der eignen Person. Solch seltene und kostbare Früchte
reifen nicht in der ausdörrenden Atmosphäre des Pharisäertums. Sie wachsen nur in der erquickenden Luft der
neuen Schöpfung; und da giebt es kein Pharisäertum.
In welcher besondern Form, in welchem Grade sich dasselbe auch offenbaren mag, stets ist es das gerade Gegenteil von Selbstverleugnung; und deshalb muß die Antwort
des Täufers jenen Männern ganz und gar unverständlich
gewesen sein.
„Und sie fragten ihn und sprachen zu ihm: Was
taufst du denn, wenn du nicht der Christus bist, noch
Elias, noch der Prophet? Johannes antwortete ihnen
und sprach: Ich taufe mit Wasser; mitten ünter euch
steht, den ihr nicht kennet, der nach mir Kommende, dessen
ich nicht würdig bin, den Riemen Seiner Sandale aufzulösen."
Je mehr Johannes gezwungen wird, von seiner
Person oder seinem Werke zu sprechen, desto mehr zieht
er sich in den Schatten zurück. Handelt es sich um ihn,
so ist er nur „eine Stimme". Wird er um sein Werk
befragt, so sagt er: „Ich bin nicht würdig, den Schuhriemen meines Meisters aufzulösen." Da ist keine Selbsterhebung, kein Paradieren mit seinem Werke; er macht
kein Aufhebens von seinem Dienste oder von den Erfolgen
seiner Predigt. Nein, der größte der Propheten war in
263
seinen eignen Augen nichts als eine Stimme, und einer
der geehrtesten Knechte Christi hielt sich für unwürdig,
den niedrigsten Dienst an seinem Herrn auszuüben.
Alles das ist wahrhaft erfrischend und erbaulich, vor
allem in einer Zeit, wie die gegenwärtige, wo man auf
allen Seiten so vieler Eigenliebe und leerer Anmaßung
begegnet. Johannes war ein Mann von wahrem Werte,
von außerordentlicher Begabung, Gnade und Kraft; aber 
zugleich war er ein demütiger Mann, der aller Anmaßung
fremd war. So ist es gewöhnlich. Wirklich große
Männer lieben es, in den Hintergrund zu treten, und
wenn sie von sich selbst reden müssen, so machen sie es
kurz. David sprach nicht eher von seinem Kampfe mit
dem Löwen und dem Bären, bis er durch den Unglauben
Sauls dazu gezwungen wurde. Paulus erwähnte nicht
eher etwas von seiner Entrückung in das Paradies Gottes,
bis die Thorheit der Korinther es nötig machte; und
wenn er gezwungen wird, von sich und seinem Werke
zu reden, so entschuldigt er sich und sagt ein über das
andere Mal: „Ich bin ein Thor geworden."
Wahre Würde und wirklicher Wert sind stets bescheiden und zurückhaltend. David, Johannes und Paulus
(und andere mit ihnen) fanden ihre Freude darin, sich
hinter ihren Meister zurückzuziehen und sich selbst in dem
Glanze Seiner Herrlichkeit völlig aus dem Auge zu verlieren; und wir dürfen hinzufügen, sie fanden darin nicht
nur ihre Freude, sondern auch ihre tiefste und reichste
Segnung. Der höchste Genuß, welchen ein Geschöpf
schmecken kann, ist der, in der Gegenwart Gottes das
eigene arme Ich aus dem Auge zu verlieren. O möchten
wir mehr davon kennen! Es würde uns nicht nur von
264
uns selbst befreien, sondern auch von der Neigung, uns
mit den Gedanken und Meinungen der Menschen zu beschäftigen und durch sie beeinflussen zu lassen; es würde
unserm ganzen Charakter eine himmlische Erhabenheit und
unserm Wandel Festigkeit und Beständigkeit verleihen.
Doch wenden wir uns zu der Geschichte Johannes'
des Täufers zurück; es giebt noch mehr Belehrungen
darin zu sammeln. In Joh. 3, 25 lesen wir: „ES entstand nun eine Streitfrage unter den Jüngern Johannes
mit einem Juden über die Reinigung." Es gab damals
Streitfragen, wie es leider heute auch noch so viele giebt;
denn unsre Herzen sind immer voll von Fragen und
Zweifeln. „Und sie kamen zu Johannes und sprachen
zu ihm: Rabbi, der jenseit des Jordans bei dir war,
dem du Zeugnis gegeben hast, siehe, der tauft, und alle
kommen zu ihm."
Hier gab es etwas, was das Herz des Täufers auf
die Probe stellen konnte. Würde er es ertragen, nach
und nach alle seine Jünger zu verlieren? Stand er
wirklich auf der Höhe seiner Worte? War er in Wahrheit nur eine Stimme, ein Nichts, ein Niemand? Wir
alle wissen ja aus eigenster Erfahrung, daß es eine ganz
andere Sache ist, demütig zu sein, als demütig zu
reden. Es ist unendlich viel leichter, von Selbstlosigkeit
zu sprechen, als in Selbstlosigkeit zu wandeln.
War Johannes nun bereit, beiseite gesetzt zu werden
als ein Werkzeug, das seinen Dienst erfüllt hatte? War
es unwichtig für ihn, wer das Werk that, wenn es nur
gethan wurde? Lauschen wir auf seine Antwort: „Johannes antwortete und sprach: Ein Mensch kann nichts
empfangen, es fei ihm denn aus dem Himmel gegeben."
265
Das ist eine wichtige Wahrheit von großem, praktischem
Werte. Laßt sie uns festhalten! Wenn ein Mensch sich
selbst nichts geben kann, wenn er nichts zu thun vermag,
wenn er nichts ist, so steht eS ihm übel an, ruhmredig und
anmaßend zu sein oder von sich selbst etwas zu halten.
Ein bleibendes Bewußtsein von unserm eigenen Nichts
würde uns stets demütig, ein bleibendes Bewußtsein von
der Güte Gottes uns stets glücklich erhalten. „Jede gute
Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben
herab, von dem Vater der Lichter." (Jak. 1, 17.)
Die stete Erinnerung an diese Wahrheit würde uns allezeit
nach oben blicken lassen. Was irgend gut in uns oder 
um uns her ist, kommt vom Himmel herab, kommt
von Gott, der lebendigen und stets sprudelnden Quelle
alles Guten und alles Segens. Ihm nahe zu sein, Ihn
vor dem Herzen zu haben, in Seiner heiligen Gegenwart
zu dienen, das ist das wahre Geheimnis des Friedens,
das unfehlbare Schutzmittel gegen Neid und Eifersucht.
Johannes kannte etwas davon, und daher hatte er
eine herrliche Antwort für seine Jünger bereit. „Ein
Mensch kann nichts empfangen, es sei ihm denn aus dem
Himmel gegeben. Ihr selbst gebet mir Zeugnis, daß ich
sagte: Ich bin nicht der Christus, sondern daß ich vor
Ihm hergesandt bin. Der die Braut hat, ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der da steht
und Ihn hört, ist hoch erfreut über die Stimme des
Bräutigams; diese meine Freude nun ist erfüllt. Er
muß wachsen, ich aber abnehmen."
Hierin lag das tiefe und kostbare Geheimnis des
Friedens und des Glückes dieses treuen Knechtes. Seine
Freude fand nicht ihre Quelle in seinem eigenen Werke,
266
nicht darin, daß er eine Anzahl von Jüngern um sich
sammelte; auch nicht in dem Erfolg seiner Wirksamkeit
oder in der bereitwilligen Annahme seiner Botschaft, noch
endlich in seinem Einfluß oder seiner Beliebtheit bei dem
Volke. Nein, seine reine und heilige Freude bestand darin,
dazustehen und die Stimme des Bräutigams zu hören,
und andere, ja, seine eigenen Jünger, sich um die gesegnete Person des Sohnes Gottes scharen und alle ihre
Quellen in Ihm finden zu sehen.
So also schätzte der Täufer sich selbst, und so schätzte
er die Person seines Herrn. Handelte es sich um ihn,
— er war nur eine Stimme und mußte abnehmen. Handelte es sich um seinen Herrn, — Er war der Bräutigam,
Er war vom Himmel, Er war über allen und der Mittelpunkt von allem. Seine Herrlichkeit muß zunehmen und mit
ihren Strahlen das ganze Weltall ausfüllen, wenn alle andere Herrlichkeit für immer dahingeschwunden sein wird.
Doch wir besitzen noch ein anderes Zeugnis aus
dem Munde dieses gesegneten Dieners, und zwar ein 
Zeugnis, das nicht durch irgend eine Streitfrage oder 
durch eine Berufung auf die persönlichen Gefühle des
Täufers veranlaßt wurde, sondern einfach aus seiner tiefen
Bewunderung Christi als eines Gegenstandes für sein eigenes
Herz hervorging. „Des folgenden Tages sieht er Jesum
zu sich kommen und spricht: Siehe, das Lamm Gottes,
welches die Sünde der Welt wegnimmt. Dieser ist's,
von dem ich sagte: Nach mir kommt ein Mann, der mir
vor ist, denn Er war vor mir. Und ich kannte Ihn
nicht; aber auf daß Er Israel offenbar werden möchte,
deshalb bin ich gekommen, mit Wasser taufend. Und
Johannes zeugte und sprach: Ich schaute den Geist wie
267
«ine Taube aus dem Himmel herniederfahren, und Er
blieb auf Ihm. Und ich kannte Ihn nicht; aber der
mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, der sprach zu
mir: Auf welchen du sehen wirst den Geist herniederfahren
und auf ihm bleiben, dieser ist's, der mit Heiligem Geiste
tauft. Und ich habe gesehen und habe gezeugt, daß dieser
der Sohn Gottes ist. — Des folgenden Tages stand
wiederum Johannes und zwei von seinen Jüngern, und
hinblickend auf Jesum, der da wandelte, spricht er: Siehe,
das Lamm Gottes!" (Joh. 1, 29—36.)
Hier sehen wir, was das Herz Johannes' beschäftigte
und völlig ausfüllte. Es war das Lamm Gottes. Wahrlich, ein Gegenstand von unschätzbarer Kostbarkeit und ein
die höchsten Wünsche der Seele ewig befriedigendes Teil:
Christus selbst, Sein Werk und Seine Person! In Vers
29 finden wir einen Hauptteil des Werkes Christi in den
Worten: „das die Sünde der Welt wegnimmt". Sein
Versöhnungstod ist die Grundlage von allem. Er ist die
Sühnung für die Sünden Seines Volkes; kraft Seines
kostbaren Opfers ist jeder Flecken von dem Gewissen des
Gläubigen entfernt. Aber nicht nur das; kraft dieses
selben Werkes, kraft des Wertes des Blutes des Lammes
wird auch jeder Flecken von der ganzen Schöpfung Gottes
entfernt werden. Es war das Wohlgefallen der ganzen
Fülle, in Christo zu wohnen und „durch Ihn alle Dinge
mit sich zu versöhnen — indem Er Frieden gemacht hat
durch das Blut Seines Kreuzes — durch Ihn, es seien
die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den Himmeln."
(Kol. 1, 19. 20.) Das Kreuz ist die göttliche Grundlage, auf welcher die Herrlichkeit Gottes und die Segnung
des Menschen ewiglich ruhen werden.
268
Im 23. Verse begegnen wir einem andern Zweige
der Thätigkeit Christi: Er tauft mit dem Heiligen Geiste.
Dies wurde am Pfingsttage wahr gemacht, als der Heilige
Geist von dem auferstandenen und verherrlichten Haupte
herniederkam, um die Gläubigen zu einem Leibe zu
taufen. Wir gehen hier nicht näher auf diese Dinge ein,
da es unser Zweck ist, dem Herzen des LeserS die große
praktische Wirkung des Beschäftigtseins mit Christo
selbst, als dem einzig wahren Gegenstand aller Gläubigen, vorzustellen. Diese Wirkung tritt in sehr lebendiger
Weise in den folgenden Versen ans Licht: „Des folgenden
Tages stand wiederum Johannes und zwei von seinen
Jüngern, und hinblickend auf Jesum, der da wandelte,
spricht er: Siehe, das Lamm Gottes!"
Hier ist Johannes ganz und gar mit der Person
des Herrn beschäftigt, und darum geschieht Seines Werkes
keine Erwähnung. Das ist ein Punkt von tiefer Bedeutsamkeit. Johannes stand da, von Bewunderung hingerissen und versunken in das Anschauen des herrlichsten
Gegenstandes, der sich je den Blicken der Menschen oder
Engel gezeigt hatte, des Gegenstandes der Wonne des
Vaters und der Anbetung der himmlischen Heerscharen.
Er sieht „das Lamm Gottes" wandeln. Und beachten
wir wohl die Wirkung seiner Worte: „Und es hörten
ihn die zwei Jünger reden, und sie folgten Jesu
nach." Sie fühlten ohne Zweifel, daß etwas besonders
Anziehendes in der Person Dessen sein mußte, welcher so
ganz ihres Lehrers Herz beherrschte; und deshalb verließen sie ihn und schlossen sich Dem an, von welchem
er redete.
Wie belehrend ist das für uns! In der wahren.
269
innigen Beschäftigung des Herzens mit Christo liegt eine
unermeßliche sittliche Kraft, und ebenso in dem Zeugnis,
welches aus dieser Beschäftigung hervorfließt. Der Genuß
an Christo, die Wonne an Ihm und das Sichnähren von
Ihm; das AuSgehen des Herzens nach dem Bräutigam;
sein Ein und Alles in Christo zu haben und in Jhnr
den Mittelpunkt aller Zuneigungen zu finden — alles
das sind Dinge, welche vernehmlich zu den Herzen anderer
reden, weil sie auf unsre eignen Herzen und Wege einen
mächtigen Einfluß ausübeu. Ein Mensch, der seine Wonne
in Christo findet, ist gleichsam aus sich selbst herausgenommen, erhaben über den Umständen und Einflüssen,
welche ihn umgeben. Ein solcher steht über den Gedanken
und Meinungen der Menschen; er genießt eine heilige
Ruhe und Unabhängigkeit; er denkt nicht an sich selbst,
noch sucht er einen Namen oder einen Platz für sich. Er
hat ein durchaus befriedigendes Teil gefunden und kann
deshalb der Welt sagen und zeigen, daß er ganz und gar
unabhängig von ihr ist. Wurde Johannes durch den Verlust seiner Jünger beunruhigt? Nein, es war die Freude
seines Herzens, sie ihren Gegenstand, ihr Alles da finden
zu sehen, wo er selbst es gefunden hatte. Niemals hatte
es in seiner Absicht gelegen, eine Partei zu bilden oder
Jünger um seine Person zu sammeln. Er hatte von
einem Andern Zeugnis abgelegt, und dieser Andere war
„das Lamm Gottes", in welchem er selbst alle seine Wonne
fand, und zwar nicht nur wegen Seines Werkes, sondern
wegen des unschätzbaren Wertes Seiner Person. Er hörte
die Stimme des Bräutigams, er sah Sein Antlitz und —
seine Freude war voll.
Und nun mögen wir wohl fragen: Was kann die
270
Welt einem Menschen anbieten, dessen Freudenbecher bis
zum Rande gefüllt ist? Was kann das Geschöpf für einen
solchen thun? Was können die Umstände ihm anhaben?
Wenn die Menschen ihn vernachlässigen und allein lassen,
wenn sie ihn sogar beleidigen und verfolgen — was macht
es für ihn aus? Er kann sagen: Meine Freude ist voll.
Ich habe alles was ich bedarf in dem Gesegneten gefunden, der nicht allein meine Sünden hinweggethan und
mich mit dem Heiligen Geiste erfüllt hat, sondern der mich
auch zu sich gezogen und mir Seine göttliche Kostbarkeit
und unvergängliche Schönheit geoffenbart hat.
Mein Leser, laß uns suchen, mehr von diesen gesegneten Dingen zu kennen und zu genießen! Sicher, wir
würden in den tausenderlei Anfechtungen des täglichen
Lebens mehr den Herrn verherrlichen und den Feind besiegen. Woher kommt es, daß manche Christen so oft ein
verdrießliches, unliebenswürdiges Wesen zeigen? Warum
sind sie so empfindlich, mürrisch und leicht erregbar in
dem häuslichen Kreise? Warum so leicht aus der Fassung
gebracht durch die kleinen Unannehmlichkeiten ihrer täglichen Geschichte? Warum so rasch aufgeregt, wenn nur
daS Geringste ihnen in den Weg tritt? Warum gleich
ärgerlich, wenn vielleicht einmal das Mittagessen nicht zur
rechten Zeit auf dem Tische steht oder irgend eine andere
häusliche Verrichtung nicht mit gewohnter Pünktlichkeit
ausgeführt ist? Warum so leicht beleidigt, wenn das eigne
Ich einmal angetastet oder die persönlichen Interessen von
anderen nicht genügend berücksichtigt werden? Warum das
alles und noch vieles, vieles andere? Die Antwort ist
nicht schwierig. Das arme Herz findet nicht seinen Mittelpunkt, sein Alles, sein allgenugsames Teil in dem Lamme
271
Gottes. Da liegt das Geheimnis, der Schlüssel zu so
vielen Fehlern und Verkehrtheiten. Sobald unser Auge
sich von Christo abwendet, sobald wir aufhören, durch
lebendigen Glauben in Ihm zu bleiben, geraten wir unter
die Macht der Umstände, werden schwach und verlieren
das Gleichgewicht der Seele. Das eigne Ich und alles
was damit zusammenhängt erhält Wichtigkeit und füllt
den Gesichtskreis des Herzens aus. Anstatt deshalb die 
lieblichen Züge des Bildes Christi in uns zum Ausdruck
zu bringen, stellen wir das gerade Gegenteil dar, die verabscheuungswürdigen und demütigenden Neigungen und
Leidenschaften der nicht unterworfenen Natur.
Möge Gott uns befähigen, diese Dinge ernstlich und
mit aufrichtigem Herzen zu erwägen! Denn wir dürfen
versichert sein, daß durch ein solch ungeziemendes Verhalten derer, welche dem Herrn anzugehören bekennen, der
Sache Christi empfindlicher Schaden geschieht und ernste
Unehre auf Seinen heiligen Namen gebracht wird.
Vor und nach dem Tode des Herrn.
(Matth. 26. 27.)
Des Weibes Same „wird dir den Kopf zermalmen,
und du wirst ihm die Ferse zermalmen", so lautete die 
Botschaft Gottes an die Schlange im Garten Eden, an
dem Tage des Ungehorsams und Falles des Menschen.
Jahrhundert nach Jahrhundert rollte dahin, und mehr und
mehr entwickelten sich die schrecklichen Folgen der Sünde; und
der Verfall, welchen jene eine Uebertretung des göttlichen
Gebotes in die Welt gebracht hatte, offenbarte sich überall,
wo Menschen sich niederließen, in der traurigsten Weise.
272
Endlich, in der Fülle der Zeiten, erschien der angekündigte
Same des Weibes auf der Erde, aber nur um verworfen
und endlich ans Kreuz geschlagen zu werden. Manches
Mal hatten die Juden versucht, ihren Messias zu töten,
während Er in Galiläa und Judäa mit ihnen redete; aber 
umsonst. Er konnte, soweit wir wissen, durch Samaria
reisen, ohne daß ein einziges Mal Sein Leben in Gefahr
gewesen wäre; Er konnte die Gegenden von Tyrus und
Sidon durchziehen, ohne daß sich irgend jemand erhoben
hätte, um Ihn zu verderben. Aber von den eigentlichen
Juden, deren König Er war, und deren Segnung auf
Erden von Seiner Gegenwart in ihrer Mitte abhing,
drohte Ihm unaufhörlich Gefahr. So lange jedoch „Seine
Stunde nicht gekommen war", kamen alle ihre bösen Anschläge zu nichts. Doch endlich nahte jene Stunde, von
welcher Gott in Eden gesprochen hatte. Der Zügel, welcher dem Thun des Menschen angelegt war, wurde entfernt, und Gott erlaubte diesem, sich völlig als das zu
offenbaren, was er war — als ein Kind des Teufels.
Es war eine Stunde besonderer Thätigkeit von seiten
Satans und der Werkzeuge seiner Wahl. „Dies ist eure
Stunde und die Gewalt der Finsternis", (Luk. 22, 53.)
sagte der Herr, als man Ihn aus dem Garten Gethsemane wegführte. Satan wurde jetzt gleichsam freie Hand
gelassen. Er durfte thun was er wollte; er durfte dem
Samen des Weibes die Ferse zermalmen. Die Stunde
war gekommen, in welcher der Mensch völlig zeigen sollte,
was in dem Innersten seines Herzens verborgen lag;
aber auch die Stunde, in welcher Gott offenbaren wollte,
was Er war.
Die Vorgänge im Gärten Eden gaben Zeugnis von
273
der Bosheit und List der Schlange, welche das Verderbe»
des Menschen durch ihn selbst herbeiführte. Zugleich enthüllten sie die Bereitwilligkeit des Menschen, Satan als
Werkzeug zu dienen. Inmitten desselben Gartens trat
Gottes Treue Seinem Worte gegenüber ans Licht, indem
Er Sein ernstes Urteil über Adam und Eva aussprach;
aber zugleich wurden auch Worte vernommen, welche von
Gnade und Erbarmen für den armen, gefallenen Menschen
redeten. Im Garten Gethsemane machte der Teufel nochmals den Versuch, den Menschen, und zwar wiederum
durch ihn selbst, zu verderben. Wäre es ihm gelungen,
so würde das Verderben des Menschen für immer besiegelt gewesen sein. Gott sei ewig Dank, daß seine bösen
Anschläge zu Schanden geworden sind! Zwar schien eine
Zeit lang alles günstig für ihn zu stehen. Der Herr
wurde durch die ruchlosen Hände der Menschen anS Kreuz
geschlagen; aus Seiner durchbohrten Seite kam Blut und
Wasser hervor. Er starb, ohne das Reich aufgerichtet
und ohne Israel aus den Händen Seiner Feinde befreit
zu haben. Alles schien verloren zu sein. Aber nein,
Gott sei gepriesen! gerade jener dem Tode übergebene
Leib, gerade jenes vergossene Blut wurde die Grundlage,
auf welchem göttliches Erbarmen und überströmende Gnade
dem Sünder gegenüber entfaltet und Gottes Treue Seinem
Worte gegenüber (aber diesmal zum Segen des Menschen)
geoffenbart werden konnte.
Von den vier Erzählungen über den Tod des Herrn
möchten wir heute diejenige des Evangelisten Matthäus
herausnehmen, da er in besonders eingehender Weise die
Ereignisse mitteilt, welche zwischen der Gefangennahme
des Herrn und Seiner Kreuzigung liegen. Wir finden
—. 274
in dem Bericht des Matthäus wohl die vollständigste
Darstellung dessen, was der Mensch ist, beginnend mit
den Jüngern und endigend mit den Räubern; und ebenso
eine ins Einzelne gehende Beschreibung dessen, was Gott
that, nachdem Sein Geliebter gestorben war.
Die Hohenpriester, Aeltesten und Schriftgelehrten des
Volkes halten eine Beratung in dem Palast des Hohenpriesters Kajaphas. Was ist oer Gegenstand ihrer Verhandlungen? Wünschen sie die Volksmenge zu veranlassen,
die gerechte Hinrichtung des Barabbas zu fordern? Treffen
sie Vorkehrungen, damit das herannahende Fest in geziemender Weise gefeiert und daß, nach dem Gebote des Herrn,
aller Sauerteig aus Israels Mitte entfernt werde? Ach 
nein; weder Gerechtigkeit noch Heiligkeit hat ihre Zusammenkunft veranlaßt. Sie beraten mit einander, wie
sie den Herrn Jesum gefangen nehmen und zu Tode
bringen können. Als wahre Kinder ihres Vaters, des
Teufels, zögern sie nicht, einen Mord zu begehen, und
indem sie dem Beispiel der Schlange folgen, wollen sie ihre
Absicht mit List ausführen. Während nun ihre Pläne
noch nicht fest bestimmt sind, und Unsicherheit in dem
hohenpriesterlichen Palaste herrscht, ist Satan beschäftigt,
sich aus der Mitte der Jünger ein Werkzeug zuzubereiten.
Judas, von dem Herrn getadelt gelegentlich der Salbung
durch Maria, sechs Tage vor dem Passah, wird bereitwilligst
Sein Verräter. Satan nimmt Besitz von seinem Herzen,
und Judas eilt zu den Hohenpriestern und spricht zu ihnen:
„Was wollt ihr mir geben, und ich werde Ihn euch überliefern?" Der unglückliche, von Habsucht geleitete und
durch den Fürsten der Finsternis verblendete Mann findet
seinen natürlichen Platz unter den haßerfüllten, feindseligen
275
Leitern des jüdischen Volkes. Ach! derselbe Mann, der
so manches Jahr mit Jesu gewandelt, Seine Huld und
Güte geschmeckt, Seine lieblichen und ernsten Worte gehört und Seine wunderbaren Thaten gesehen hatte, bietet
jetzt freiwillig seine Dienste an, um Ihn Seinen grimmigsten Feinden zu verraten; ja, mehr als das, er feilscht
noch mit diesen Feinden um den Lohn für seinen Verrat.
Was ist der Mensch!
Doch gehen wir weiter. Es blieb nicht bei dem
Verrat des einen der Jünger. Als infolge dieses Verrates ihr Herr und Meister gefangen genommen und vor
den hohen Rat geführt wird, da verlassen Ihn alle,
und Simon Petrus leugnet sogar unter Fluchen und
-Schwören, daß er Ihn jemals gekannt habe. Das ist das
trübe Gemälde, welches Matthäus, einer aus ihrer Mitte,
Don dieser so hoch bevorzugten Schar entwirft, die der Herr
selbst auserwählt und berufen hatte, um Seine Begleiter
hienieden zu sein. Sie wurden auf die Probe gestellt,
aber keiner von ihnen bestand dieselbe. In der Stunde der
Not und Gefahr verließen sie alle ihren guten Herrn und
flohen. Denn obwohl wir später Johannes am Fuße
des Kreuzes wiederfinden, so hatte doch auch er anfänglich
mit den übrigen Ihm den Rücken gewandt.
Und wie war es mit den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, welche laut ihres eignen Bekenntnisses in dem
Gesetz Gottes kundig waren ? Der Herr stand vor dem
Synedrium; der Hohepriester selbst führte den Vorsitz bei
den Verhandlungen. Wenn vor irgend einem Gerichtshöfe
der Welt, so hätte sicherlich vor diesem Gerechtigkeit walten
sollen. Aber der Geist der Gerechtigkeit war aus der Gerichtshalle geflohen. Die Richter selbst wurden zu listigen,
276
ränkevollen Anklägern. „Die Hohenpriester aber und die
Aeltesten und das ganze Synedrium suchten falsches Zeugnis wider Jesum, damit sie ihn zum Tode brächten."
Mit Bewußtsein einem falschen Zeugnis das Ohr leihen
ist ein Verbrechen, aber ein solches wider einen Unschuldigen zu suchen, ist eine Schändlichkeit sonder Gleichen.
Da die Richter nicht zwei Zeugen fanden, welche in ihrer
Aussage übereinstimmten, so verurteilten sie Ihn, weist
Er die Wahrheit sagte; und indem sie einen brennenden
Eifer für die Ehre Gottes heuchelten, vergaßen sie selbst
völlig, was sich für ehrbare Richter geziemte: sie spieen
Ihm ins Angesicht, schlugen Ihn mit Fäusten und erlaubten, daß die Knechte Ihn mißhandelten.
Von Kajaphas wurde Jesus zu Pilatus gebracht,
welcher als römischer Statthalter über Leben und Tod
zu gebieten hatte. Und dieser ließ Ihn geißeln und verurteilte Ihn, um dem Volke zu gefallen, zum Tode, obwohl er wußte und wiederholt erklärte, daß Er unschuldig
sei; dagegen ließ er einen allgemein bekannten Räuber
und Mörder frei.
Aus der Gerichtshalle wurde Jesus in das Prätorium (den Aufenthaltsort der römischen KriegSknechte) 
geführt — ein weiterer Schritt, welchen der Herr in
Seiner Erniedrigung bereitwillig that. Hier wurde Er
von neuem in der unwürdigsten Weise behandelt. Nachdem man Ihm Seine eigenen Kleider ausgezogen und Ihm
zum Spott einen Purpurmantel umgelegt hatte, beugten
die Kriegsknechte höhnisch ihre Kniee vor Ihm und begrüßten Ihn als den König der Juden. Ein Rohr mußte
Ihm als Scepter, ein Dornenkranz als Krone und ein.
roter Soldatenmantel als königlicher Purpur dienen.
277
Welch ein erschütterndes Schauspiel! So hat die Welt
den Herrn vom Himmel einmal gesehen; aber sie wird
Ihn Wiedersehen, und dann in einem Gewände, in Blut
getaucht, mit einem eisernen Scepter und mit vielen
Diademen auf dem Haupte, begleitet von den himmlischen
Heerscharen, um Rache zu nehmen an Seinen Feinden
und sie zu zerschmettern, wie man Töpfergefäße zerschmeißt.
Aus dem Prütorium erfolgte der schwere Gang zur
Richtstätte, wobei Symon von Kyrene gezwungen wurde,
Sein Kreuz zu tragen. Dann schlug man Ihn ans
Fluchholz, und selbst jetzt war der Haß des Menschen
noch nicht befriedigt. - Die Vorübergehenden verspotteten
und lästerten Ihn. Die Feindschaft der Hohenpriester
und Schriftgelehrten verfolgte Ihn bis ans Kreuz. „Er
vertraute auf Gott, der rette Ihn jetzt, wenn Er Ihn
begehrt; denn Er sagte: Ich bin Gottes Sohn!" so
höhnten sie in erbarmungslosem Spott. Ja, selbst die
elenden Räuber, welche an Seiner Seite hingen, stimmten
in die Schmähungen mit ein.
O mein Leser, was ist der Mensch! Welch ein Bild
von dir und mir in unserm natürlichen Zustande! Denn
dieselbe Feindschaft, welche sich dort auf Golgatha offenbarte, wohnte einst auch in unsern Herzen. Welch eine
Liebe, die sich solcher Geschöpfe annehmen und sie für
ewig erretten konnte!
Kein Lichtstrahl erhellt das finstere Gemälde, welches
Matthäus von dem Menschen entwirft. Lukas berichtet
von dem Bekenntnis des sterbenden Räubers, Matthäus
nicht. Er hat vor dem Tode des Herrn nichts Gutes
von dem Menschen zu erzählen, weder von den Jüngern,
noch von den Juden, noch endlich von den Römern und
278
den Räubern. Gott erlaubte dem Menschen zu thun was
er wollte, bis der Herr gestorben war. Während der drei
Stunden der Finsternis scheint der Mensch von Schrecken
ergriffen gewesen zu sein; wir hören wenigstens nichts mehr
von ihm bis zum Schluß, wo dem sterbenden Heiland auf
Seinen Ruf: „Mich dürstet!" der Schwamm mit Essig
gereicht wurde. Ehe jene Finsternis verschwand, hatte sich
die Feindschaft des Menschen völlig geoffenbart; und nachdem auch die letzte unwürdige Handlung an Christo vollzogen war, damit die Schrift erfüllt würde, übergab Er
Seinen Geist in die Hände des Vaters. Er starb; und über
Seinen Tod hinaus konnte die Welt den Herrn nicht verfolgen. Gott trat für Seinen Geliebten ein, und keinerlei
Unehre durfte dem entseelten Leibe desselben angethan werden.
Obwohl Sein Grab bei Gesetzlosen bestimmt war, hat Er
doch eine Ruhestätte gefunden in der Gruft eines Reichen.
Aber das ist nicht alles. Gott begann auch unmittelbar nach dem Tode des Herrn zu wirken, und zwar —
laßt es uns mit Anbetung betrachten — in Gnade zu 
wirken. „Und siehe, der Vorhang des Tempels zerriß in
zwei Stücke, von oben bis unten; und die Erde erbebte,
und die Felsen zerrissen, und die Grüfte thaten sich auf."
(Kap. 27, 51. 52.) Wir lesen nicht, daß in diesem
Erdbeben ein Haus zerstört oder daß einer aus jener
gottlosen Schar getötet worden wäre. Nein, Jerusalem
mit seinen schuldbeladenen Einwohnern blieb unversehrt,
obwohl alle das Erdbeben gefühlt haben werden. Nur in
dem Tempel geschah ein Wunder — der Vorhang zerriß,
und zwar von oben bis unten. Wer war Zeuge dieses
geheimnisvollen Ereignisses? Es trat ein zur neunten
Stunde, der Stunde des Gebets, wo der Weihrauch auf
dem goldnen Altar vor dem Vorhang geopfert werden
mußte. Welch ein Anblick, als der schwere, kostbare Vorhang, der das Allerheiligste von dem Heiligen schied, von
der Decke bis zum Boden, d. h. vom Himmel her niederwärts, zerriß und das Heiligtum den Blicken der ins
Heilige nahenden Priester enthüllte!
279
Von den Tagen der Gesetzgebung bis zur Stunde
der Kreuzigung des Herrn hatte jener Vorhang die Unfähigkeit des Menschen bezeugt, in die heilige Gegenwart
Gottes zu treten. Adam schon suhlte diese Unfähigkeit
gleich nach seinem Falle, und Gott hatte sie auf Sinai
bestätigt. Aber nun starb der Herr, und — der Vorhang
zerriß in zwei Stücke. Gott riß gleichsam mit eignen
Händen das entzwei, was Er Mose geboten hatte aufzuhängen; und Er that dies, noch während der Herr, als
ein Zeugnis der Schuld des Menschen vor aller Welt,
am Kreuze hing. Das war die erste That Gottes nach
dem Tode Seines Sohnes. — Eine Sünde ist, wenn nicht
gesühnt, genug, um den Menschen für immer von der
Gegenwart Gottes auszuschließen. Jenes eine Opfer
war genug, um den Weg in diese Gegenwart zu öffnen
für den Unreinsten unter den Unreinen, ja selbst für diejenigen, welche den Herrn vom Himmel ermordet hatten.
Wäre Gott in jener Stunde hervorgetreten, um den Tod
Seines Sohnes an dessen Mördern zu rächen, wer hätte
Ihn der Ungerechtigkeit oder der Uebereilung zeihen können?
Aber nein; vielmehr öffnete Er für den Sünder den Weg
ins Allerheiligste, in Seine Gegenwart. Kein Augenzeuge
(wenn solche da waren) konnte in jenem Augenblick die
wunderbare Bedeutung eines zerrissenen Vorhangs verstehen. Niemand sollte heute in Unwissenheit oder in Zweifel
über diese Bedeutung bleiben; denn der Heilige Geist hat
sie erklärt, und Hebräer 9 und 10 belehren uns aufs
Klarste über den gesegneten Sinn jener Handlung Gottes.
Ferner wurden die Felsen zerrissen. Matthäus, Markus und Lukas reden alle von dem Zerreißen des Vorhangs; Matthäus allein berichtet über das Erdbeben,
das Zerreißen der Felsen und das Oeffnen der Gräber.
Und dies steht in Uebereinstimmung mit dem ganzen Bericht
des Matthäus; denn so wie wir in diesem Evangelium
das finsterste Gemälde der Sündhaftigkeit des Menschen
(in Verbindung mit dem Kreuze) haben, ebenso finden wir
darin die genauesten Einzelheiten der Handlungen Gottes
280
in Gnade unmittelbar nach dem Tode Christi. Die Felsen
wurden zerrissen — das ist nichts Ungewöhnliches bei einem
Erdbeben; aber dann heißt es weiter: „und die Grüfte
thaten sich auf, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen
wurden auferweckt"; aber erst „nach Seiner Auferstehung", wie der Evangelist sorgfältig bemerkt, gingen
sie aus den Grüften in die heilige Stadt und erschienen
vielen. Christus ist der Erstgeborne aus den Toten; aber
die Gräber thaten sich auf, bevor noch der Stein auf die
Oeffnung Seines Grabes gelegt und mit dem obrigkeitlichen
Siegel versehen wurde. Der zerrissene Vorhang redet von
dem Zugang in die unmittelbare Gegenwart Gottes; die
geöffneten Gräber bezeugen die Befreiung von der Macht
des Todes und die bevorstehende Auferstehung des Leibes.
Doch weshalb diese scheinbare Eile? Warum lag
kein Zwischenraum zwischen der Uebergabe Seines Geistes
in die Hände des Vaters und der Offenbarung dessen,
was Sein Tod bewirkt hatte? Weil das Werk vollbracht
war, und weil Gott wollte, daß Sünder dies glauben
sollten. Ehe die Sonne an jenem Tage unter den Horizont hinabsank, wurden schon einige Früchte Seines Todes
geoffenbart. Gottes Hand zerriß den Vorhang, und Gottes
Macht öffnete die Gräber. Nachdem das Opfer Seines
Sohnes vollbracht war, wartete Er auf nichts mehr.
Kein Gebet des Menschen war nötig, um Ihn zum
Handeln zu veranlassen. Kein Flehen stieg von der Erde
zum Himmel empor, daß die Resultate eines vollbrachten
Werkes knndgemacht werden möchten. Bevor noch der
Leib des Herrn vom Kreuze genommen war, gab Gott
durch Seine Handlungen Kunde von den gesegneten Folgen
des Todes Christi; denn was innerhalb des Tempels und
außerhalb Jerusalems in den felsigen Grabkammern geschah, redete klar und deutlich von dem vollendeten Charakter dieses Werkes.
Gepriesen und angebetet sei der Gott und Vater
unsers Herrn Jesu Christi in alle Ewigkeit!

Maria und Judas Jskariot.
Es wird dem Leser auffallen, in der Ueberschrift
dieser Zeilen Zwei so völlig verschiedene Personen, wie
Maria von Bethanien und JudaS Jskariot, neben einander
gestellt zu finden. Allein der Unterschied zwischen beiden
war längere Zeit, wenigstens nach außen hin, nicht sehr
auffallend; erst am Ende zeigte er sich in seiner ganzen
Größe, als Maria ihrer Zuneigung zum Herrn darin
Ausdruck gab, daß sie Ihn salbte. Diese Handlung wurde
der Anlaß zur Offenbarung des wahren Zustandes des
unglücklichen Jüngers.
Offenbar hat der Heilige Geist diese beiden Personen
als einen Prüfstein deS Zustandes unsrer Herzen vor
unS hingestellt, die eine zum Vorbilde, die andere zur
Warnung. Mancher denkt mit Abscheu an die schreckliche
That des Judas, und wandelt doch dabei in einer
schlechten Gesinnung, wie er es that. Wenn Christus nicht
mehr den ersten Platz in unserm Herzen einnimmt, so
hat unser Rückgang bereits begonnen; und wir täuschen
uns nur selbst, wenn wir trotzdem mit dem Herrn zu 
wandeln und Ihm zu dienen meinen. Der Herr sagt:
„Wenn mir jemand dient, so folge er mir nach."
(Joh. 12, 26.) Nichts ist schlimmer als Selbsttäuschung,
oder mit andern Worten ein Zustand, in welchem man
die Gefahr nicht mehr sieht.
282
Aber, möchte der Leser fragen, befinden wir uns
denn in einem solchen Zustande? Es liegt uns ferne,
unnötigerweise zu beunruhigen oder schwärzer zu sehen, als
es der Wirklichkeit entspricht; aber wir dürfen ebenso
wenig unser Auge verschließen vor der Gefahr des Verfalls derer, welche in diesen letzten Tagen berufen sind,
das Zeugnis der Wahrheit aufrecht zu halten. Die Erkenntnis der Wahrheit, so kostbar und schätzenswert sie ist,
nützt und schützt nicht, wenn sie nicht mit einem Herzen
für Christum und einem ungeteilten Anhängen an Seiner
Person verbunden ist. Der Herr kann und wird Sein
Zeugnis aufrecht erhalten bis ans Ende; denn Er weiß
in Seiner Gnade immer wieder solche zu erwecken, die in
Einfalt des Herzens nur Ihn und Seine Ehre suchen.
Aber andrerseits läßt der Zustand der gegenwärtigen Träger des Zeugnisses auf ernste Gefahren schließen.
Der Herr gebe Gnade, daß wir uns beständig Seiner
Worte erinnern möchten: „Eins aber ist not. Maria
aber hat das gute Teil erwählt." — „Eins aber thue
ich," sagte Paulus. (Phil. 3, 14.) Maria und Paulus
hatten ein ganzes Herz für Christum. Das ist es, was
not thut, was aber auch in unsern Tagen den Gläubigen
so vielfach mangelt. Und wir dürfen versichert sein: wo
dieses mangelt, da fehlt auch die Grundlage zu einem
hingebenden Wandel und wirksamen Zeugnis für Christum;
es fehlt dem Dienst und dem Zeugnis das Eine, was Er
anerkennen kann und was für Sein Herz so kostbar ist.
Denn nur die innige Liebe zu Ihm ist die wahre Triebfeder eines treuen Dienstes; nur sie macht unsern Dienst
wirksam und wertvoll in Seinen Augen, mag er in den
Augen der Menschen sein, was er will.
283
Maria hatte das gute Teil erwählt, und darum war
sie fähig, gerade das zu thun, was in jenem feierlichen
Augenblick den Gefühlen des Herrn entsprach. Mit Wohlgefallen und zur Beschämung der Jünger bezeugt ihr der
Herr: „Sie hat ein gutes Werk an mir gethan." Und
mit demselben Wohlgefallen hebt der Heilige Geist hervor:
„Maria aber war es, die den Herrn mit Salbe salbte."
(Matth. 26, lO; Joh. 11, 2.) Der Herr fühlte sich erquickt durch die Liebe dieses gläubigen Weibes; und sie
war glücklich, sich von Ihm verstanden und anerkannt zu
wissen. Ihr Herz war im Einklang mit dem Herzen des
Herrn. Das ist die verborgene Quelle jedes wahren
Dienstes. „Die Liebe des Christus drängt uns." (2. Kor.
5, 14.) Einem solchen Herzen gilt Christus mehr als
alle Anerkennung seitens der' Menschen, mehr als die 
glänzendsten Vorteile und die größten Vorzüge. „Was
mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für
Verlust geachtet," so lautete die Sprache des Apostels.
(Phil. 3, 7.)
In unsern Tagen mangelt es nicht gerade an Gaben,
wohl aber an ungeteilten Herzen für Christum. Und
dieser Mangel birgt, wie schon bemerkt, ernste Gefahren
für die Zeugen der Wahrheit in sich. Haben wir unS
einmal von der „ersten Liebe" entfernt, so stehen wir
schon auf schlüpfriger Bahn, und es liegt dann nicht mehr
in unsrer Macht, zu bestimmen, wo wir endigen werdens
(Was Gott in Seiner unumschränkten Gnade trotz unsrer
Untreue thun kann und thut, ist eine andre Frage.) Die
Kirche war eine gefallene von dem Augenblick an, da
Christus nicht mehr den ersten Platz in ihrer Mitte hatte.
(Offbg. 2, 5.) Und die Schrift bezeugt uns, waS ihr
284
Ende sein wird, — ein Ende, ähnlich demjenigen des
Judas Jskariot. Ihr Ende bildet zu ihrem Anfang den
schroffsten Gegensatz. Und wie der Heilige Geist uns in
Maria ein Bild giebt von dem, was die Kirche für Christum
sein sollte, so zeigt Er uns in Judas Jskariot das, was
thatsächlich aus ihr werden wird.
Ihre Geschichte dient daher, wie diejenige des Judas,
zu einer ernsten Warnung und Belehrung für uns, die
wir gegenwärtig zu Trägern des Zeugnisses der Wahrheit
berufen sind. Der Herr hat uns dasselbe anvertraut in
diesen letzten Tagen des Verfalls. Wir haben eine kleine
Kraft; aber Er hat uns Sein kostbares Wort und den
Wert Seines Namens geoffenbart. Wir sind zurückgeführt zu dem, „was von Anfang war", und haben, obwohl klein an Zahl, ein großes Vorrecht vor Millionen
von Bekennern. Aber obwohl wir dies wissen und auf
dem Boden der Wahrheit stehen, so schützt uns das doch
nicht vor der Gefahr des Verfalls. Im Gegenteil, je
größer und kostbarer das Vorrecht, desto größer und dringender die Gefahr. Bedenken wir wohl, daß es nicht ein 
schwaches Weib oder einer der geringsten unter den Gläubigen war, dessen sich Satan bediente, um den Herrn zu
überliefern. Nein, es war einer der Bevorzugtesten, „einer
von den Zwölfen", den er zur Erreichung seiner Absichten benutzte. „Wahrlich, ich sage euch: einer von
euch wird mich überliefern." Es war ein Apostel, der
gleich den übrigen Aposteln vom Herrn die Gewalt empfangen hatte, unreine Geister auszutreiben und jede Krankheit und jedes Gebrechen zu heilen, Tote aufzuerwecken,
Aussätzige zu reinigen und das Reich Gottes zu predigen.
(Matth. 10.) Ebenso war es eine der bevorzugtesten Ver­
285
sammlungen, in welcher nach der prophetischen Darstellung
der Offenbarung der Verfall der Kirche begann. Keine
der örtlichen Versammlungen zur Zeit der Apostel stand
in geistlicher Beziehung auf einer so hohen Stufe wie
diejenige in Ephesus. Sie kannte ihre Stellung in Christo
in den himmlischen Oertern; die Wahrheit von der Einheit des Leibes, sowie das Geheimnis des Willens GotteS
war ihr kundgethan worden. Und der Apostel konnte ihr
gegenüber bei seinem Abschiede bezeugen: „Ich habe nichts
vorenthalten, daß ich euch nicht den ganzen Ratschluß
Gottes verkündigt hätte." (Apstgsch. 20, 27.) Und gerade
sie steht an der Spitze der Versammlungen, durch welche
der Verfall der Kirche prophetisch dargestellt wird.
Möchte dieser Hinweis uns zu ernstem Nachdenken
bringen! Es ist Thatsache, daß unter denen, welche durch
die Gnade GotteS die Wahrheit kennen, die Liebe zu
Christo im allgemeinen einer großen Kälte und Gleichgültigkeit gegen Ihn Platz gemacht hat. Ebenso läßt es sich nicht
leugnen, daß sich die Kennzeichen eines zunehmenden Verfalls in ihrer Mitte wahrnehmen lassen. Wir wiederholen, daß wir nicht im Entferntesten daran denken, zu 
entmutigen und die Sachlage schlimmer darzustellen als
sie ist; allein wir müssen die Thatsachen anerkennen,
wenn uns geholfen werden soll. Ohne Zweifel ist die
Gnade mächtig, uns zu helfen. Eine Maria, ein Paulus
und viele andere sind Beispiele davon, was die Gnade
nicht nur für, sondern auch in uns zu wirken vermag.
ES war die Macht der Gnade, welche aus einem Saulus einen Paulus, aus dem ersten Sünder einen der ergebensten Diener, aus dem bittersten Feind und Verfolger
der Gläubigen den entschiedensten Nachfolger Christi
286
machte. Und was die Gnade damals vermochte, vermag
sie auch heute noch; sie ist weder geschwächt noch vermindert. Es war die Gnade, welche stets dann ihre
glänzendsten Triumphe feierte, wenn alles hoffnungslos
verloren schien. „Wo die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden."
<Röm. 5, 20.) Nur durch Gnade war Paulus das,
was er in Christo und was er für Christum war.
Und dieselbe Gnade ist unser Teil in ersterer Beziehung,
und will es auch sein in der letzteren. Aber so lange
wir nicht in Demut und ernstem Selbstgericht anerkennen,
daß unsre Kälte und Gleichgültigkeit gegen Christum von
einem schlimmen Zustand der Dinge zeugen, so lange
werden wir in diesem Zustande verharren, ja, zu noch
Schlimmerem fortschreiten.
Beruhigen wir uns nicht damit, daß sich bei vielen
doch noch ein Eifer für das Werk des Herrn, für die 
Ehre Seines Namens, für den Dienst in der Versammlung und die Absonderung vom Bösen zeige. Alles das
kann vorhanden sein, ohne daß das Herz in Wahrheit
für Christum schlägt. Wir sehen dies in der Versammlung zu Ephesus: „Ich kenne deine Werke und deine
Arbeit und dein Ausharren, und daß du die Bösen nicht
ertragen kannst; und du hast geprüft, die da sagen, daß
sie Apostel seien, und sind es nicht, und hast sie als
Lügner erfunden; und du hast Ausharren und hast getragen um meines Namens willen und bist nicht müde
geworden." Das war in der That ein schönes Zeugnis;
aber trotz alledem mußte jene Versammlung das erschütternde Wort aus dem Munde des Herrn vernehmen:
„Aber ich habe wider dich, daß du deine erste Liebe
287
verlassen hast. Gedenke nun, wovon du gefallen bist,
und thue Buße und thue die ersten Werke." Wie
ernst ist das! Wie ganz anders war das Verhältnis
zwischen dem Herrn und der Maria! Was nützt aller
Eifer und welchen Wert haben alle unsre Werke, wenn die
Liebe zum Herrn fehlt? Für Ihn haben nur solche Werke
Wert, welche aus der Liebe zu Ihm hervorfließen. Ist
diese Liebe nicht mehr vorhanden oder doch nicht mehr in
dem Maße wirksam wie im Anfang, so erwartet Er Buße
und Umkehr zu den ersten Werken. Das war die Wahl,
vor welche damals die Kirche gestellt wurde: Buße und
Umkehr, oder Verblendung und ein weiteres Abweichen
vom Herrn und infolge dessen ein Hinwegthnn des Leuchters von seiner Stelle. Und, geliebte Brüder, sind wir
heute nicht vor eine ähnliche Wahl gestellt? Wir wissen,
was aus der Kirche geworden ist. Sollten wir etwas
Besseres zu erwarten haben, wenn wir nicht umkehren zu
der ersten Liebe, sondern in Kälte und Gleichgültigkeit
gegen Christum verharren? Die bekennende Kirche ist
einer schrecklichen Verblendung anheimgefallen. Befinden
wir uns nicht in derselben Gefahr?
Verblendung ist ein Zustand, der immer dem offenbaren Fall vorausgeht und um so gefährlicher ist, weil
er nicht so leicht erkannt wird. Wie deutlich tritt uns
dies in der Geschichte des Judas Jskariot entgegen!
Selbst die persönliche Gegenwart des Herrn und alle
Bevorzugungen und Segnungen, welche er mit den übrigen
Jüngern genoß, konnten ihn nicht hindern, der Begierde
zum Gelde in einer Weise zu fröhnen, daß sein Gewissen
mehr und mehr verhärtet und die besseren Gefühle in ihm
völlig erstickt wurden. Und zwar geschah dies in solch
288
verborgener Weise, daß selbst an dem letzten Abend ihres
Zusammenseins mit dem Herrn die Jünger noch nicht
ahnten, wer der Verräter sein würde. Judas hatte bis
dahin gleich ihnen seinen öffentlichen Dienst erfüllt, und
war gleich ihnen der Begleiter des Herrn geblieben.
Gefühllosigkeit und Verhärtung des Gewissens, verbunden
mit dem Schein der Frömmigkeit, das sind die besonderen
Kennzeichen der Verblendung. Man hält das Bekenntnis
der Wahrheit aufrecht, während das Ich und die Dinge
dieser Welt den ersten Platz im Herzen einnehmen.
Wir dürfen überzeugt sein, daß die Gesinnung
des Judas Jskariot schon lange vor der Ausführung
seiner schrecklichen That verderbt war. Aber was
sollen wir von der Gesinnung eines Christen sagen, der
die Dinge dieser Welt dem Herrn vorzieht, ohne je einmal aufrichtigen Schmerz und wahre Reue darüber zu
empfinden; der sich allsvnntäglich am Tische des Herrn
mit den Gläubigen versammelt, als sei alles in bester
Ordnung, während doch sein Herz in der Welt und in
Dingen lebt, welche den Herrn betrüben müssen? Wahrlich, eine solche Gesinnung verrät nicht nur Kälte und
Gleichgültigkeit gegen Christum, sondern auch eine große
Untreue und eine bereits weit vorgeschrittene Verhärtung
des Gewissens. Ein solcher Christ hat dem Herrn schon
dem Herzen nach den Rücken gewandt, und es erfordert
nur noch einen Schritt, irgend eine passende Gelegenheit,
um sich völlig von Christo ab- und der Welt zuzuwenden.
Eine Frau, welche ihren Mann nicht liebt, aber ihr
Hauswesen treu und pünktlich besorgt, beweist neben ihrer
Gleichgültigkeit dem Gatten gegenüber doch noch eine gewisse Treue. Wenn sie aber ihre Liebe einem Andern
289
zuwendet, so ist sie untreu; sie hat alsdann, wenn auch
noch nicht durch eine offenbare That, das Band mit ihrem
Manne gebrochen. Sie hat sich von ihrem Manne abund einem Andern zugewandt. Und ihre Untreue fällt
umso mehr ins Gewicht, je größer die Liebe ihres Mannes zu ihr ist; und umso mehr auch beweist sie sich
eines solchen Mannes unwürdig. Wie viel schwerer aber 
fällt die Untreue eines Christen ins Gewicht gegenüber
der Liebe des Herrn Jesu, der Sein teures Leben für uns
gelassen hat! „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als
mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder
Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig."
(Matth. 10, 37.)
Wir haben also gesehen, wohin es führt, wenn der
Herr nicht mehr den ersten Platz in unsern Herzen hat.
Man wird kälter und kälter, bis man schließlich die Dinge
hienieden, ja, die Welt mit ihren sündhaften Freuden und
Vergnügungen wieder liebgewinnt. Welch ein Schmerz muß
es für das liebende Herz unsers Herrn und Heilandes
sein, wenn Seine Liebe kein Echo mehr findet in den Herzen derer, die Ihm so unaussprechlich teuer sind! Wie tief
fühlt eine Mutter die Gleichgültigkeit ihres Kindes; wie
schmerzlich der Freund die zunehmende Kälte des Freundes!
Und sollte Er, dessen Liebe göttlich vollkommen ist, in
dieser Beziehung unempfindlich sein? Erwartet Er nicht
Gegenliebe von uns ? Verlangt Sein Herz nicht darnach,
von uns verstanden, genossen, geschätzt und geliebt zu
werden? Sollte Er, der so zartfühlend gegenüber dem
Kummer, den Schmerzen und Leiden Anderer war, es nicht
fühlen, wenn wir Ihm Freude, oder Schmerz und Betrübnis bereiten? So erquickend und wohlthuend die
290
Handlungsweise der Maria in jener ernsten Stunde für
Sein Herz war, so tief erschütterte der Gedanke an die
schreckliche That des JudaS Seinen Geist. (Vergl.
Matth. 26, 10; Joh. 13, 21.) Mit welchem Schmerz
muß es Ihn, der auf unsre Liebe rechnet, erfüllen, wenn
Er statt Liebe Kälte und Gleichgültigkeit bei uns findet?
Und wie sehr Er auf unsre Liebe rechnet, geht aus
Seinen eigenen Worten hervor: „Wer meine Gebote hat
und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer aber
mich liebt, der wird von meinem Vater geliebt werden; und ich werde ihn lieben und mich selbst
ihm offenbar machen." (Joh. 14, 21.) Wir sehen hier, welch ein Interesse unsre schwache Liebe für
das Herz des Vaters und des Sohnes hat. An das
Vorhandensein dieser Liebe knüpft der Herr in Seiner
Herablassung eine ganz besondere Verheißung. Wer Ihn
liebt, der wird von dem Vater geliebt werden; und Er
selbst will ihn lieben und sich ihm offenbar machen.
Andrerseits drückt das Wort: „Aber ich habe wider dich,
daß du deine erste Liebe verlassen hast", den tiefen
Schmerz aus, welchen unser teurer Heiland über ein solches
Abweichen von dem ersten Zustande der Frische und der
warmen Zuneigungen des Herzens zu Ihm empfindet.
Es sei noch bemerkt, daß ein Herz, welches halb
für Christum und halb für die Welt schlägt, einer verderbten Gesinnung gleichkommt. Es ist ein „Hinken auf
beiden Seiten"; der Zustand Laodicäas, „weder kalt noch
warm", welchem der Stempel des Gerichts vom Herrn
selbst aufgedrückt ist. (1. Kön. 18, 21; Offenb. 3, 16.)
Der Herr sagt: „Kein Hausknecht kann zwei Herren
dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den
291
andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den
andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem
Mammon." (Luk. 16, 13.) Möchte sich darum ein jeder
von uns im Lichte Gottes prüfen, ob er in Wahrheit ein
ganzes Herz für Christum hat, Ihn liebt und Ihm anhängt! Und wenn diese Prüfung ein verneinendes Resultat
ergiebt, möchte dann der Herr in Seiner Gnade uns aufrichtige, wahre Buße geben!
In Philipper 3 finden wir ebenfalls jene zwei einander entgegengesetzten Gesinnungen, wie bei Maria und
Judas Jskariot. Die Richtung der einen geht entschieden
nach oben, die der anderen ebenso entschieden nach unten.
Die eine, vertreten durch Paulus, findet ihren Ausdruck
in den Worten: „Das Leben ist für mich Christus . . . .
Eins aber thue ich: Vergessend was dahinten, und mich
ausstreckend nach dem, was davor« ist, jage ich, das vorgesteckte Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christo Jesu." Die andere
wird durch die ernsten Worte gekennzeichnet: „Denn viele
wandeln, von denen ich euch öfters gesagt, nun aber auch
mit Weinen sage, daß sie die Feinde des Kreuzes Christi
sind: deren Ende Verderben, deren Gott der Bauch und
deren Ehre in ihrer Schande ist, die auf das Irdische
sinnen." - Geliebter Leser! nach welcher von diesen beiden
Seiten ist dein Herz gerichtet?
Kurze Gedanken über den 16. Psalm.
(Nach einem Vortrag.)
Vor einiger Zeit war ich, geliebte Freunde, mit
Leuten aus der Welt zu einem Abendessen eingeladen.
Es wurde lebhaft von allerlei Dingen gesprochen, und
292
eine Zeitlang fand ich keine Gelegenheit, an der Unterhaltung teilzunehmen. Als jedoch endlich eine kleine Pause
eintrat, bemerkte ich ruhig: „Wie glücklich ist man, wenn
man den Herrn Jesum kennt!" Das Gespräch hörte sofort
auf, und alles wurde still; eine Eiseskälte schien auf die
Anwesenden gefallen zu sein, und nur mit der größten
Mühe konnte die Unterhaltung nach und nach wieder in
Fluß gebracht werden. - So steht es mit der Welt,
dem Herrn Jesu gegenüber. Nicht nur kennt man Ihn
nicht, sondern mau will auch nichts von Ihm wissen; und
wenn der Name Jesu einmal genannt wird, so offenbart sich
sofort die Abneigung. Die Menschen dieser Welt fühlen
sich unglücklich, wenn von diesem Jesus gesprochen wird.
Ein anderes Mal befand sich ein geliebter, alter
Bruder, der jetzt beim Herrn ist, in einer Gesellschaft
von Gläubigen. Man redete über allerlei, über die Taufe,
über Prophezeiungen, über kirchliche Fragen und andere
Gegenstände, welche gerade das Interesse der Anwesenden 
in Anspruch nahmen. Der alte Bruder schwieg eine
geraume Zeit; endlich sagte er: „Laßt uns doch einmal
von dem Herrn Jesu reden und von unserm Anteil an
Ihm, sowie davon, was wir heute von Ihm gelernt haben."
Alle schwiegen; keiner wußte über diesen Gegenstand etwas
zu sagen, keiner hatte an selbigem Tage etwas von Ihm
gelernt. — Geliebte, laßt uns heute Abend von dem Herrn
Jesu reden; folgen wir der Aufforderung jenes alten
Bruders und beschäftigen wir uns ein wenig mit dem Anteil, welchen wir an Ihm haben. Sicherlich, es wird
dabei etwas Köstliches für uns herauskommen.
Wir alle, die wir des Herrn sind, haben Teil mit
Christo, und zwar mehr als in einer Beziehung. Wir
293
haben Teil an allen Segnungen Christi, denselben Teil,
welchen Christus selbst hat. Wenn ich frage: Wie können wir an Christo Teil haben, so finden wir im Worte
Gottes nur einen Weg dazu: ich muß wiedergeboren,
„von neuem geboren" werden. Ich muß ein ganz neues
Leben empfangen, welches das Wort das ewige Leben
nennt.
Wer nur sein altes Leben besitzt, das Leben eines
elenden Sünders, der kann keinen Anteil an Christo haben.
Darum sagt der Herr zu Nikodemus: „Du mußt von
neuem geboren werden". Und in der Epistel des Jakobus
lesen wir: „Nach Seinen: eigenen Willen hat Er uns gezeugt
durch das Wort der Wahrheit, auf daß wir eine gewisse
Erstlingsfrucht Seiner Schöpfung seien." (Kap. 1, 18.)
Der Wille des Menschen kann diese neue Geburt
nicht hervorbringen. Das sah auch Nikodemus ein, als
er in jener Nacht mit dem Herrn über diese Dinge redete.
Welches Werkzeug aber gebraucht der Herr, um die neue
Geburt zu bewirken? Er gebraucht Sein Wort, durch
welches Er Seine Gnade den Seelen vorstellt, damit sie
dieses neue, göttliche, ewige Leben erhalten möchten. Er
bringt die Seele in Berührung mit diesem Worte und sagt
dann gleichsam: Jetzt will ich durch mein lebendiges Wort
und durch meinen Heiligen Geist, der mein Wort anwendet,
meinen geliebten Sohn dir vorstellen, damit du durch
Ihn und in Ihm das ewige Leben habest. Der Herr
sagt: „Es sei denn daß jemand aus Wasser und Geist
geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes
eingehen." Aber wie geschieht das? Durch den Glauben.
Durch Glauben eignet man sich das Wort, welches der
Seele Christum bringt, an.
294
Dieses Wort zeugt und redet zu uns von dem
Sohne Gottes, in welchem wir das Leben haben;
wie der Herr Jesus selbst sagt: „Wahrlich, wahrlich, ich
sage euch: Wer an mich glaubt, hat ewiges Leben."
(Joh. 6, 47.) Und der Apostel Johannes schreibt: „Wer
den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes
nicht hat, hat das Leben nicht." Doch wie wird uns
> Christus vorgestellt? Als ein am Kreuze gestorbener
Christus. Deshalb sagt der Herr wiederum: „Wahrlich,
wahrlich, ich sage euch: Es sei denn daß ihr das Fleisch
des Sohnes des Menschen esset und Sein Blut trinket,
so habt ihr kein Leben in euch selbst. Wer mein Fleisch
ißt und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben, und ich
werde ihn auferwecken am letzten Tage." Auf diese
Weise stellt uns das Wort den geliebten Sohn als Gegenstand unsers Glaubens vor; wenn wir daher diesen für
alle gestorbenen Christus im Glauben annehmen, so haben
wir das ewige Leben. Dieses Leben giebt mir Anteil
an Christo, und zwar, wie ich gesagt habe, in jeder, nicht
nur in einer Beziehung. In allem kann ich mit Ihm
Teil haben; nur in einer einzigen Sache nicht, und das
sind Seine Leiden während jener drei schrecklichen Stunden,
als Er in tiefster Nacht ganz allein am Kreuze hing als
ein Opfer für meine Sünden. In jenen drei Stunden
war Er völlig allein, selbst von Gott verlassen; und in
dieser Beziehung kann ich nicht Teil mit Ihm haben.
Nie in der ganzen Geschichte der Welt ist etwas derartiges gesehen worden. Ein Gerechter war auf Erden, ein 
vollkommen gerechter Mensch. Alle Gerechten waren jederzeit von Gott erhört worden; keiner hatte jemals vergebens
zu Gott geschrieen. Aber Einer, ein vollkommen Gerechter,
295
wurde von Gott verlassen; Gott hatte sich von Ihm
getrennt, Gott hatte Sein Angesicht von Ihm abgewendet.
Er war in der schrecklichsten Finsternis, von Gott verlassen. Christus hatte jederzeit auf Seinen Gott vertraut,
Er war in allen Dingen gehorsam gewesen; es war Seine
Speise, den Willen Seines Vaters zu thun. Aber hier
am Kreuze mußte Er rufen: „Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du mich verlassen?" Ja, warum? Weil
Er uns geliebt hat! Es gab kein anderes Mittel,
durch welches wir hätten errettet werden können. Wir
hatten das Gericht Gottes verdient; auf Ihn ist es gefallen, der Zorn eines heiligen Gottes kam über Sein
Haupt. Er war in der Finsternis von außen und innen,
völlig von Gott verlassen. So weit hat Ihn Seine Liebe
zu uns gebracht!
Aber als die Stunden vorüber waren, in welchen
diese vollkommene Seele die Leiden trug, welche wir verdient hatten, — jene drei Stunden, deren Qualen für
den Sohn Gottes wir nicht zu ermessen, nicht zu ahnen
vermögen, — da that sich eine Thür für uns auf, eine
Thür zu vollkommener Seligkeit.
Wir sind durch den Glauben auf das Engste mit
Ihm verbunden; wir haben Teil an Seiner Herrlichkeit.
Er hat uns getrennt von der Sünde und von der Macht
Satans. Er hat uns eingeführt in den Genuß himmlischer
Dinge. Wir können uns jetzt in Oertern bewegen, wo der
auferstandene Mensch Christus sich aufhält. Unser Leben
ist mit Ihm in Gott verborgen; wir besitzen Christum als
unser Leben; wir sind in die innigste Gemeinschaft mit
Gott eingeführt. Und wenn Christus, unser Leben, geoffenbart werden wird, so werden wir mit Ihm geoffenbart
296
werden in Herrlichkeit. Von dem Augenblick an, da der
Sünder an den Sohn Gottes glaubt, als an seinen für
ihn gekreuzigten Heiland, ist er für ewig und unauflöslich
mit Ihm verbunden. Das und nichts weniger ist unser Teil.
Indes haben wir auch Teil mit Ihm auf dieser Erde,
und unser Psalm zeigt uns einen Teil jener Segnungen,
von welchen die Psalmen so viel reden. Wir haben Teil
mit Ihm während unsrer Laufbahn hienieden, und das
umso mehr, je mehr unser Weg demjenigen des vollkommenen Menschen ähnlich ist.
Und was war Seine Laufbahn? Wir finden etwas
davon im 69. Psalm. Er war ein Mann der Schmerzen;
Er hat gelitten wie kein andrer Mensch. Alles was in dieser armen Welt der Schmerzen vorkommt, hat auf Ihm
gelegen. Er sagt im 109. Psalm: „Denn ich, ich bin
elend und arm, und mein Herz ist verwundet in meinem
Innern. . . . Meine Kniee Wanken vom Fasten, und
mein Fleisch ist abgemagert." Und in dem eben erwähnten
69. Psalm ruft der Messias: „Der Hohn hat mein Herz
gebrochen, und ich bin ganz elend; und ich habe auf Mitleiden gewartet, und da war keines, und auf Tröster, und
ich habe keine gefunden." Er trauerte über den elenden
Zustand der armen Sklaven Satans; Er sagt: „Als ich
mich in Sacktuch kleidete, da ward ich ihnen zum Sprichwort." In diesem 69. Psalm werden Seine Leiden von
seiten der Menschen beschrieben. Von den Leiden während
der drei Stunden der Finsternis finden wir hier nichts.
Man goß in Seine Speise Galle, und in Seinem Durst
tränkte man Ihn mit Essig. Die Bosheit und der Hohn
des Menschen brachen Sein Herz. Und Er fand keinen, der
Mitleid mit Ihm gehabt, keinen, der mit Ihm gefühlt
297
hätte. Er war ganz allein. Doch welch ein Glück! Er
litt dies alles für uns; und ich kann als Christ etwas
von dem erfahren, was die Schmerzen Seines Herzens
hienieden waren. Ich kann sie in meinem geringen Maße
mit Ihm teilen. Ich darf denselben Weg gehen, einen
Weg, den die Welt nicht geht, einen Weg der Schmerzen;
aber zugleich einen Weg der Glückseligkeit, weil unser
Schmerz uns in Gemeinschaft mit Ihm bringt. Unsre
Schmerzen sind Seine Schmerzen. —
Im 23. Psalm finden wir etwas anderes. Ein
Schaf hat unter allerlei Schwierigkeiten durch die Wüste
zu wandern; es findet keine Nahrung, kein Wasser. ES
kommt in einen Teil der Wüste, wo tiefe Schatten es
umgeben; das arme Schaf muß durch das „Thal des
Todesschattens" gehen mit allen seinen Schrecken. Doch
was sagt die Seele dazu? Sie sagt: Ich habe auf diesem
Wege Teil mit Christo. Nicht als ob auch Er ein Schaf
gewesen wäre; nein, Er war der gute Hirt. Aber Er
ist diesen Weg gegangen, und darum kann ich ihn mit
Ihm gehen. Er hat zu Jehova gesagt: „Du bist mein
Hirt;" und ich kann zu meinem Heilande sagen: „Herr
Jesus, Du bist mein Hirt." Und was finde ich bei Ihm?
Hier sind es nicht mehr Schmerzen, wie im 69. Psalm,
sondern ich kann ausrufen: „Herr, ich darf Dir völlig
vertrauen; mir wird nichts mangeln! Du lagerst mich
auf grünen Auen; Du führest mich zu stillen Wassern."
Ich finde bei Ihm vollkommene Ruhe, vollkommene Nahrung, vollkommene. Erquickung. Ich gehe durch das Thal
des Todesschattens, aber der gute Hirt ist bei mir; Er
salbt mein Haupt mit Freudenöl, mein Becher stießt über.
Güte und Huld folgen mir alle Tage meines Lebens, und
298
ich werde wohnen im Hause Jehovas in Länge der Tage.
Eine vollkommene Zuversicht ist unser Teil, weil die Güte
des Herrn mit uns ist; eine feste, gewisse Hoffnung erfüllt uns, weil wir wissen, daß Er uns bald mit Freuden
in Sein Haus einführen wird.
Doch wenden wir uns zum 16. Psalm zurück. Was
finden wir in demselben? Den Herrn Jesum, als Diener
Gottes durch diese Welt wandelnd. Gab es auf diesem
Wege keine Schwierigkeiten für Ihn? Unser Psalm ist
voll von den Schmerzen und Schwierigkeiten, welchen Er
in dieser Welt begegnete; aber er redet zugleich von einem
Herzen, das in den größten Schmerzen, in den schwierigsten
Umständen die Gemeinschaft Gottes genoß. Gott ebnete
die Wege Seines vollkommenen Dieners. Die Nacht dieser
Welt, der Tod mit seinen Schrecken, nichts brachte den
Diener Gottes zum Wanken. Er geht durch alle Schwierigkeiten hindurch, indem Er sich auf das Wort Gottes
verläßt und nur daran denkt, Gott inmitten derselben zu
verherrlichen. Die Welt war bis ans Ende Seines
Dienstes und Lebens gegen den Herrn; aber Er sieht am 
Ende des Weges eine Fülle von Freuden, und Lieblichkeiten vor dem Angesicht Gottes immerdar. Gegenüber
alledem, was sich gegen Ihn erhebt, sagt Er: „Bewahre
mich, Gott, denn ich traue auf Dich." Er vertraute nur
auf Gott. Wie wunderbar! Obgleich Er Gottes Sohn,
ja, Gott selbst war, dachte Er doch nicht daran, sich selbst
bewahren zu wollen. Er blickte nach oben und flehte:
„Bewahre Du mich!" Wir können uns nicht bewahren;
aber Er hätte sich bewahren können. Dennoch blieb Er
in steter, vollkommener Abhängigkeit von Gott; und indem
Er auf sich selbst hinblickt, sagt Er: „Du, meine Seele,
299
hast zu Jehova gesagt: Du bist der Herr; meine Güte
reicht nicht hinauf zu Dir." Seine Güte war die göttliche Güte; aber als Diener Gottes und als Mensch hält
Er nichts von Seiner eigenen Güte. — Dann richtet Er
Seine Augen auf die Erde und sucht etwas für Sein
Herz. Gab es in dieser Welt etwas für Ihn? Ja,
sagt Er, es giebt Menschen, die ich liebe, die ich Gott
angenehm machen kann. „Du hast zu den Heiligen gesagt, die auf Erden sind, und zu den Herrlichen: an
ihnen ist alle meine Lust."
Wer waren diese Heiligen, diese Herrlichen, welche
Er zu Seinen Genossen machen wollte? Es waren Seine
armen Jünger, in denen der Geist Gottes wirkte, um
ihnen ein tiefes Gefühl von ihrer Sündhaftigkeit zu geben
und sie zu Gott zu führen. Es waren nicht viele Mächtige, nicht viele Edle, nicht viele Weise; es waren Zöllner
und Sünder, Bettler und solche, die nichts hatten in dieser 
Welt: eine Sünderin am Brunnen zu Sichar, Blinde am
Wege, ein Mörder am Kreuze, in dessen Seele Gott im
letzten Augenblick seines traurigen Lebens in wunderbarer
Gnade und Macht wirkte. Solche nennt Er Heilige und
Herrliche, und an ihnen hat Er alle Seine Lust. Gott
sei Dank! auch wir können sagen: Wir haben mit Ihm
Teil an diesen Heiligen und Herrlichen; wir wissen, wen
Sein Herz liebt, an wem Er Seine Wonne hat, und unsre
Herzen können sich mit Seinem Herzen vereinigen in
Liebe zu solchen.
Im 4. Verse wendet sich der Herr dann zu der
Welt: „Viel werden der Schmerzen derer sein, die einem
Andern nacheilen; ihre Trankopfer von Blut werde ich
nicht spenden, und ihre Namen nicht auf meine Lippen
300
nehmen." Er hat keine Gemeinschaft mit der Welt,
auch nicht mit der religiösen Welt. Der Diener Gottes
ist ihr vollkommen fremd; ihr Name kommt nicht auf
Seine Lippen; Er steht der Welt gegenüber allein. Als
Diener Gottes hat Er keine Gemeinschaft mit ihr.
Handelt es sich um das Judentum? Die Juden haben
Ihn verworfen; sie sagten: „Du hast einen Teufel."
Handelt es sich um die Welt? sie ist Gottes Feindin.
Gott hat uns berufen, Teil mit Christo zu haben an
dem, was Er liebt, aber auch an dem, was Er haßt.
Lieben wir die Kinder Gottes nach Seinem Herzen?
Sind wir getrennt von der Welt nach Seinem Herzen?
Was sollen wir sagen? Müssen wir nicht bekennen, daß
unser Verhalten oft derart gewesen ist, als hätten wir
in dieser Welt unser Teil? Ach! der Weg des vollkommenen Dieners hatte nichts mit dieser Welt gemein.
Sehen wir weiter, was dieser Diener Gottes auf
der Erde gesucht hat. Es ist etwas ganz anderes, als
was die Welt auf ihr sucht. Welches Teil hatte Er
hienieden? „Jehova ist das Teil meines Erbes." Dasselbe wird im Buche Josua von den Leviten gesagt; sie
hatten kein Teil am Erbe des Landes, Jehova war ihr
Teil. Der Herr Jesus war der vollkommene Levit; Er
hatte kein Teil hienieden. „Die Füchse haben Höhlen,
und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des
Menschen hat nicht, wo Er das Haupt hinlege." (Matth.
8, 20.) Geliebte! können wir sagen: Ich habe kein
Teil hienieden; aber ich besitze ein vollkommenes Teil,
und dieses ist Jesus Christus?
Von der Erde wendet der Herr dann Seinen Blick
empor gen Himmel und sagt: „Die Meßschnüre sind mir
301
gefallen in lieblichen Oertern." — Hienieden besitze ich
nichts, aber droben besitze ich etwas, was mein Herz mit
Freude erfüllt.
Sein Weg führt Ihn zum Tode und zum Grab;
die Seele wird getrennt vom Körper; der Tod ist etwas
Schreckliches für den Menschen. Aber gerade hier wird
Ihm der Weg des Lebens kundgethan. Auch für den
Gläubigen ist der Tod der Weg zum Leben. Diesen
Weg hat Christus für uns geöffnet, und wir haben Teil
mit Ihm am Wege des Lebens.
Durch den Tod geführt, wird „dein Frommer die
Verwesung nicht sehen"; und herrlich ist das Ende dieses
Weges: „Fülle von Freuden ist vor Deinem Angesicht,
Lieblichkeiten in Deiner Rechten immerdar." Gemeßen
wir schon im voraus diese Fülle von Freuden? Wir
können schon hienieden die Gegenwart Gottes genießen, im
Glauben uns da befinden, wo Lieblichkeiten die Fülle ist.
Kennen wir etwas von diesen herrlichen Dingen? Verhalten wir uns der Welt gegenüber, wie unser Herr
Jesus sich ihr gegenüber verhalten hat? Er hat uns ein
vollkommenes Beispiel hinterlassen, und wir können diesen
Weg mit Ihm gehen. Wir sind berufen, in Seinen
Fußstapfen zu wandeln; und Er will unsre Herzen in
die Gegenwart Gottes einführen, noch ehe wir in Vollkommenheit ewiglich bei Ihm sein werden.
Gott gebe, daß wir mehr und mehr kennen und genießen lernen, was unser Teil an und mit Christo, unserm Herrn, ist jetzt schon und in Ewigkeit!
302
„Bereit."
Das kleine Wort, welches wir diesen Zeilen vorangestellt haben, ist ein ernstes Wort und auch ein köstliches
Wort, je nach der Verbindung, in welcher es sich im
Worte Gottes findet. Unter den Stellen, in welchen es
vorkommt, sind es vor allem vier, die wir heute einer
kurzen Betrachtung unterziehen möchten, mit dem Wunsche, 
daß derselbe Geist, welcher jene Stellen niederschrieb, sie
in göttlicher Kraft und Frische auf unsre Herzen anwenden wolle.
1. Richten wir zunächst unsre Aufmerksamkeit auf
1. Petri 1, 5, wo unser Wort in Verbindung mit dem
Ausdruck „Errettung" vorkommt. Es wird dort von
den Gläubigen gesagt, daß sie „durch Gottes Macht durch
Glauben bewahrt werden zur Errettung, welche bereit
ist, in der letzten Zeit geoffenbart zu werden."
Die Errettung ist also bereit, in diesem Augenblick
geoffenbart zu werden; denn wir leben, wie Johannes
uns sagt, in der „letzten Stunde". Und beachten wir, daß
der Ausdruck „Errettung", wie er hier gebraucht wird,
nicht auf die Befreiung der Seele aus den Banden
Satans und der Sünde beschränkt werden darf; er bezieht sich vielmehr auf die völlige Errettung des Gläubigen
nach Seele und Leib. Er begreift mit einem Worte
alles in sich, was bei der Erscheinung des Herrn das
gesegnete Teil des Gläubigen sein wird. Der letztere wird
deshalb auch in diesem Kapitel ermahnt, völlig auf die 
Gnade zu hoffen, welche ihm bei der Offenbarung
Jesu Christi gebracht werden wird.
Diese vollkommene Errettung, bei welcher auch der
303
Leib von der Macht des Todes und der Verweslichkeit
erlöst werden wird, liegt also für den Gläubigen bereit;
und ihre Offenbarung wird stattfinden bei der Wiederkunft unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi. Deshalb
werden wir immer wieder belehrt, nach dieser Wiederkunft
unverrückt auszuschauen. Soweit es Gott betrifft, soweit
das Werk Christi und das Zeugnis des Heiligen Geistes
in Betracht kommen, liegt nichts, durchaus nichts vor, was
uns hindern könnte, noch in dieser Nacht, ja, in dieser
Stunde „die Stimme des Erzengels und die Posaune
Gottes" zu vernehmen. Alles was geschehen mußte, ist
geschehen. Die Sünde ist gesühnt, die Erlösung ist vollbracht; Gott ist durch das Werk Christi verherrlicht worden, wie es das Sitzen Christi zur Rechten der Majestät
droben beweist. Von dem Augenblick an, da unser Herr
Seinen Platz auf dem Throne Gottes eingenommen
hat, konnte gesagt werden: „Die Errettung ist bereit,
geoffenbart zu werden." Aber auch nicht eher. Zuerst
mußte die göttliche Grundlage zu dieser Errettung in dem
Tode und der Auferstehung des Heilandes gelegt werden.
Aber sobald dieses glorreiche Werk vollbracht war, lag
die Errettung bereit zur Offenbarung. „Der Herr sprach
zu meinem Herrn: Setze Dich zu meiner Rechten, bis
ich Deine Feinde lege zum Schemel Deiner Füße."
(Ps. HO, 1.)
2. Doch der Apostel Petrus giebt uns noch eine
andere ^Anwendung unsers Wortes im vierten Kapitel
seines ersten Briefes, indem er von solchen redet, „welche 
Dem Rechenschaft geben werden, der bereit ist, Lebendige und Tote zu richten." (V. 5.)
Hier trägt also das Wort einen sehr ernsten Charakter.
304
Wenn es einerseits wahr ist, daß die Errettung bereit
liegt geoffenbart zu werden, zur ewigen Freude der Erlösten Gottes, so ist es andrerseits ebenso wahr, daß das
Gericht bereit steht, seinen Lauf zu nehmen, zum ewigen
Weh derer, welche das ihnen in Christo Jesu angebotene
Heil vernachlässigen. Der Offenbarung des Gerichts liegt
ebenso wenig etwas im Wege wie derjenigen der Errettung.
Das eine ist so bereit wie die andere. Gott ist bis zum
Aeußersten gegangen in der Entfaltung Seiner Gnade,
und der Mensch bis zum Aeußersten in der Entfaltungseiner Bosheit. Die göttliche Gnade und die menschliche
Bosheit haben in dem Kreuze Christi gleichsam ihren Höhepunkt erreicht. Nichts ist da, was das Losbrechen des
Zornes Gottes über diese schuldige Welt verhindern könnte.
„Jetzt ist das Gericht dieser Welt," sagte der verworfene
Herr kurz vor Seinem Leiden. Das Urteil ist gesprochen
und harrt nur noch seines Vollzuges.
Die Probezeit des Menschen ist vorüber. Gott hat
ihn geprüft ohne Gesetz und unter Gesetz; Er hat Seine
Propheten zu ihm gesandt und endlich Seinen eingebornen,
geliebten Sohn. Aber das Ergebnis auf seiten des
Menschen war: völliges Verderben, Haß und Feindschaft
gegen Gott und Sein Wort. Die Probezeit ist für
immer vorüber, die Welt ist reif zum Gericht; und bald
wird auch die Zeit der Langmut Gottes ein Ende nehmen
Das Gericht droht jeden Augenblick hereinzubrechen; es
ist bereit, und Gott steht bereit zu richten. Die Geschichte des Menschen und der Welt ist gleichsam geschlossen.
Das Kreuz Christi hat die ganze Schuld und das heillose
Verderben des menschlichen Geschlechts endgültig geoffenbart. Die Stellung der Welt und eines jeden einzelnen
305
unversöhnten Sünders in ihr ist diejenige eines überführten und verurteilten Verbrechers, dessen Urteilsspruch nur
noch seiner Ausführung harrt.
Laß uns daran gedenken, geliebter Leser! Die Zeit
drängt, und nicht lange mehr, so wird die Thür der
Gnade verschlossen werden und damit jede Gelegenheit für
uns vorüber sein, Seelen Christo zuzuführen. Benutzen
wir die Zeit, welche uns noch gegeben ist, und seien wir
fleißig, ja, allezeit überströmend in dem Werke des Herrn!
Unsre Mühe wird ja nicht vergeblich sein im Herrn.
3. Diese Erwägung führt uns zugleich zu der dritten
Stelle, in welcher unser Wörtchen vorkommt. Sie steht
in Luk. 12 und lautet: „Auch ihr nun, seid bereit;
denn in der Stunde, in welcher ihr es nicht meinet, kommt
der Sohn des Menschen."
Wenn die Errettung bereit liegt geoffenbart zu 
werden, wenn Gott bereit steht zu richten, was anders
geziemt uns dann, als auch bereit zu sein? Und worin
besteht diese unsre Bereitschaft? Zwei Dinge sind in der
Antwort auf diese Frage eingeschlossen. Zunächst müssen
wir bereit sein, was unser Anrecht auf den Himmel betrifft; und dann müssen wir bereit sein im Blick auf
unsern moralischen Zustand: bereit im Gewissen und bereit im Herzen. Das eine ist gegründet auf das Werk
Christi für uns, das andere steht in Verbindung mit
dem Werke des Geistes in uns. Wenn wir einfältig
durch den Glauben auf dem vollbrachten Werke Christi
ruhen, wenn wir uns ausschließlich auf das stützen, was
Er ist und gethan hat, so sind wir in erster Beziehung
bereit und können der Ankunft unsers geliebten Herrn
mit völliger Ruhe entgegensehen. Stützen wir uns aber
306
auf irgend etwas anderes, sei es auf unsre eigene Gerechtigkeit, auf unsre Gebete, unsre guten Werke, unsre
Ehrbarkeit und Frömmigkeit, oder auf unsre Thränen,
unser Ringen und unsre Seelenkämpfe — mit einem
Wort, auf irgend etwas außer oder neben Christo, so
sind wir nicht bereit. Gott kann nichts, durchaus nichts
annehmen und anerkennen als nur Christum. Etwas
anderes bringen als Christum heißt Ihn für nicht notwendig erklären; etwas Ihm und Seinem Werke beifügen, heißt Ihn für ungenügend halten. Christus allein,
nichts außer oder neben Ihm, giebt uns ein Anrecht auf
die Herrlichkeit und ein vollkommenes Gewissen.
Aber dann ist es möglich, daß jemand bekennt, bereit
zu sein, was sein Anrecht oder sein Gewissen betrifft,
während er nicht bereit ist im Blick auf seinen praktischen
Zustand, auf sein Herz. Dies erfordert unsre ernsteste
Beachtung. Es giebt in unsern Tagen viel oberflächliches
Bekenntnis, viel leichtfertiges, seichtes Christentum. Die
gegenwärtige Zeit ist einerseits eine gesegnete Zeit: der
Herr hat in Seiner Gnade und Macht überall die Thüren
geöffnet; das Evangelium kann frei verkündigt werden,
und die Gläubigen dürfen sich in Frieden und Ruhe versammeln. Andrerseits aber ist es. auch eine böse, schwere
Zeit: Oberflächlichkeit, geistliche Trägheit, Selbstgefälligkeit
und Weltförmigkeit zeigen sich in erschreckendem Maße.
Besonders unter den jungen Gläubigen (manche alte nicht
ausgeschlossen) bemerken wir mit tiefem Schmerz und
ernster Besorgnis einerseits eine verhältnißmäßig große
Bekanntschaft mit der Wahrheit, ein klares Verständnis
über das, was dem Sünder ein Anrecht auf die Herrlichkeit giebt; aber andrerseits auch ein Verhalten, ein Reden
307
und Handeln, welches offenbar zeigt, daß sie in ihrem
praktischen Zustande, in ihren Herzen, nicht bereit sind.
Wenn man sie fragen würde: „Kannst du heute deinen 
Herrn und Heiland mit glücklichem Herzen erwarten?
Würde die Gewißheit, daß Er in der nächsten Stunde
käme, dich mit unvermischter Freude erfüllen?" — o wie
mancher würde dann die Augen niederschlagen und mit
einem zögernden „Nein" antworten müssen! Ach! sollte
es so sein bei irgend einem der teuer Erkauften des
Herrn? Wahrlich nicht! Nun denn, so laßt uns in der
Furcht des Herrn vorangehen und uns mit Entschiedenheit trennen von allem, was unsre Bereitschaft stört,
mag es groß oder klein sein! Ist es ein Wunder, wenn
junge Gläubige, die stets Zeit finden, weltliche Erzählungen, Liebesgeschichten und dergl. zu lesen, während sie
für das teure Wort Gottes oft wochenlang keine halbe
Stunde erübrigen können, — ist es ein Wunder, frage
ich, daß solche nicht mit Freuden an die Ankunft des
Herrn denken können, daß sie in ihren Herzen nicht
bereit sind?
O möchten wir uns doch alle immer wieder mit
Ernst fragen und prüfen: „Bin ich bereit? bereit im
Blick auf mein Gewissen, bereit in meinem Herzen?" Die
Tage sind böse, und es geziemt uns sicherlich, mit offnen
Augen und einem erleuchteten Geiste unsern wahren Zustand zu untersuchen. Wir fürchten, daß es viele —
Gott allein weiß, wie viele! — giebt, die nicht bereit sind;
viele, die durch den Tod oder durch die Ankunft des Herrn
schrecklich überrascht werden würden.
4. Es bleibt uns noch übrig, einen kurzen Blick auf
die vierte Stelle zu werfen, in welcher ebenfalls von unsrer
308
Bereitschaft die Rede ist. Der Leser wird sie in
Matth. 25, 10 finden: „Als sie (die thörichten Jungfrauen) aber hingingen zu taufen, kam der Bräutigam,
und die bereit waren gingen mit Ihm ein zur Hochzeit; und die Thür ward verschlossen."
Welch ernste Worte! Die bereit waren gingen
ein, und die nicht bereit waren wurden ausgeschlossen.
Alle welche Leben in Christo haben und den Heiligen
Geist besitzen, werden bereit sein und mit dem Bräutigam
eingehen. Die bloßen Bekenner aber, alle diejenigen, welche
die Wahrheit nur in ihrem Kopfe und auf den Lippen
haben, welche die Lampe des Bekenntnisses, aber nicht den
Geist des Lebens in Christo besitzen, — sie alle werden
eine verschlossene Thür finden; ja, ihr Platz wird sein in
der äußersten Finsternis, in ewiger Pein, in den endlosen
Qualen der Hölle.
Darum noch einmal, mein Leser: Bist du bereit?
Bruchstücke.
Der Glaube kennt nichts Sicheres, nichts Gewisses,
außer dem Worte des lebendigen Gottes.
Ein kühner und einfältiger Glaube kann allezeit auf
Belohnung rechnen. Er verherrlicht Gott, und Gott
ehrt ihn.
Gott könnte ebenso wenig den Glauben Seines Kindes beschämen wie sich selbst verleugnen.
Gott hat Seine Wonne an denen, welche schätzen und
genießen, was Seine Liebe ihnen bereitet, an denen,
welche ihre Freude allein in Ihm finden.
Selbstaufopferung.
(Phil. 2.)
Es ist lieblich und erquickend, die Triumphe und
Siege zu betrachten, welche ein wahres Christentum über
das eigene Ich und über die Welt erringt, sowie die merkwürdigen Wege, auf welchen solche Siege erkämpft werden.
Das Gesetz sagte: „Du sollst dieses thun und jenes lassen."
Das Christentum redet eine ganz andere Sprache. In
ihm erblicken wir das Leben, dargereicht als eine freie
Gabe, — ein Leben, welches von einem auferstandenen
und verherrlichten Christus auf jeden Gläubigen herabfließt.
Alles was das Gesetz verhieß, war ein langes Leben in
dem gelobten Lande; und auch diese Verheißung galt nur
für den, welcher das Gesetz zu halten vermochte. Ewiges'
Leben in einem auferstandenen Christus war eine dem Gesetz völlig unbekannte Sache.
Indes giebt das Christentum nicht nur ewiges Leben;
es reicht auch einen Gegenstand dar, mit welchem dieses
Leben sich beschäftigen kann, einen Mittelpunkt, um welchen
die Neigungen desselben sich drehen, ein vollkommenes
Vorbild, nach welchem es sich bildet. Es giebt dem Gläubigen göttliches Leben und einen göttlichen Mittelpunkt;
und indem das Leben sich um jenen Mittelpunkt bewegt,
werden wir aus uns selbst herausgenommen und befähigt,
unsre eigenliebige, selbstsüchtige Natur niederzuhalten und
die köstlichen Früchte des neuen Lebens zu bringen.
310
Das ist auch das Geheimnis aller Hingebung und
Selbstaufopferung. Der unbekehrte, nicht wiedergeborene
Mensch findet den Mittelpunkt seines Denkens und Handelns in sich selbst; ihm daher zu sagen, er solle nicht
eigenliebig und selbstsüchtig sein, hieße ihm sagen, er solle
überhaupt nicht mehr sein. Das ist sogar wahr im Blick auf
die menschliche Religiosität. Der Mensch erfüllt seine sogenannten religiösen Pflichten, weil er dadurch seine ewigen
Interessen zu fördern meint; aber das ist etwas ganz
anderes, als außerhalb seiner selbst einen alles beherrschenden Gegenstand und Mittelpunkt gefunden zu haben.
Das Evangelium der Gnade Gottes allein ist imstande, den
Bedürfnissen des Menschen zu begegnen und ihn von der
ihm anhaftenden Eigenliebe und Selbstsucht zu befreien.
Der nicht erneuerte Mensch lebt für sich selbst; er
kennt keinen höheren Gegenstand. Das Leben, welches er
besitzt, ist dem Leben Gottes entfremdet. Er befindet sich
fern von Gott. Seine Beweggründe und Ziele stehen
immer mit dem eignen Ich und dessen Interessen in Verbindung; und so lange er nicht erneuert und durch das
Wort und den Geist Gottes wiedergeboren wird, kann es
nicht anders sein. Ein Mensch mag sittlich, religiös, liebenswürdig und mildthätig genannt werden können; aber so
lange er nicht bekehrt ist, hat er nicht mit dem eignen Ich
abgeschlossen.
Der Christ allein, welcher sein eignes völliges Verderben in dem Lichte Gottes erkannt und sein Alles in
Christo, dem Haupte der neuen Schöpfung, gefunden hat,
kann sich in Wahrheit völlig vergessen, sich für nichts
halten und im Dienste anderer aufopfern. Nicht als ob
sich das immer bei allen Christen bewahrheitete; wollte
311
Gott, es wäre so! Leider findet man aber vielfach gerade
daS Gegenteil: statt Hingebung Eigenliebe, statt Selbstverleugnung Selbstsucht, statt Aufopferung für andere ein 
Jagen nach eigner Bequemlichkeit und eigner Ehre. Aber
dennoch heben solche Erscheinungen, so beklagenswert sie
sind, die Wahrheit nicht auf.
In dem unsrer Betrachtung voranstehenden Kapitel
(Phil. 2) finden wir eine Reihe erhebender Beispiele von
Selbstverleugnung und Aufopferung, beginnend mit einem
Exempel von vollendeter göttlicher Schönheit, nämlich mit
unserm gepriesenen Herrn selbst. Ehe wir jedoch zur
näheren Betrachtung dieses herrlichen Gemäldes schreiten,
wird es gut sein, zu untersuchen, was es denn nötig
machte, ein solches Bild den Gläubigen in Philippi vor
Augen zu stellen. Dem aufmerksamen Leser werden ohne
Zweifel in dem Verlauf dieser Epistel hie und da zarte
Hinweise auffallen, welche zu dem Schluffe berechtigen,
daß das scharfe und wachsame Auge des Apostels in dem
Schoße jener geliebten und gesegneten Versammlung eine
Wurzel des Bösen aufsprossen sah. Diese vor den Blicken
der Philipper anfzudecken, war sein Bemühen. Allein er
nahm dazu weder den Hammer noch die Peitsche zur
Hand; mit einer unvergleichlichen Zartheit suchte er vielmehr
das Gewissen der Philipper aufzuwecken und ihnen die
drohende Gefahr zu zeigen. Und daß dieses Mittel weit
mächtiger und wirksamer war als jene, braucht kaum bemerkt zu werden. Die mächtigsten moralischen Erfolge
werden gewöhnlich durch solch zarte Hinweise seitens des
Heiligen Geistes hervorgerufen.
Doch worin bestand jene böse Wurzel? Es war
kein Sichspalten in verschiedene Sekten und Parteien vor-
312
Handen wie in Korinth; die Philipper kehrten auch nicht
zum Gesetz und zu gesetzlichem Formenwesen zurück wie
die galatischen Versammlungen; auch standen sie nicht in
Gefahr, den Vernunftschlüssen der menschlichen Philosophie
ihr Ohr zu leihen oder sich wieder unter die Elemente der
Welt knechten zu lassen wie die Kolosser. Nichts von
alledem. Was war es denn? Uneinigkeit und Neid.
Das Aufsprossen dieser Wurzel geht sehr bestimmt aus
dem Streit hervor, welcher zwischen den beiden Schwestern
Evodia und Syntyche (Kap. 4, 2) bestand, wird aber schon
in früheren Teilen des Briefes berührt, indem zugleich
ein göttliches Heilmittel dafür gegeben wird. -
Es ist für einen Arzt von der größten Wichtigkeit,
nicht nur die Natur der Krankheit seines Patienten unterscheiden zu können, sondern auch zu wissen, welche Arzeneimittel er anzuwenden hat. Manche Aerzte sind sehr erfahren und geschickt in der Feststellung des Charakters der
Krankheit, während sie in der Wahl des passenden Mittels
weniger kundig sind. Andere wieder wissen für die betreffende Krankheit sofort die richtige Arzenei zu uennen,
während sie in der Beurteilung des krankhaften Zustandes
weniger Vertrauen verdienen. Der göttliche Arzt ist in jeder
Beziehung vollkommen. Er kennt die Krankheit und auch
das passende Heilmittel. Er weiß genau, wie es um uns
steht, und ebenso genau, was uns nützlich sein wird.
Vor Seinen Augen liegt die Wurzel der Sache bloß, und
Er verordnet eine gründliche Kur. Er behandelt keinen
Fall oberflächlich, und Er irrt sich nie. Sein scharfer
Blick dringt sofort bis auf den Grund, und Seine geschickte Hand ordnet das Nötige an.
So ist es auch in dem vorliegenden Briefe. Die
313
Gläubigen in Philippi hatten einen besonderen Platz in
dem Herzen des bejahrten Apostels. Er hing mit der
innigsten Liebe an ihnen, und sie wiederum an ihm.
Wieder und wieder spricht er in dankbarer, anerkennender
Weise von ihrer Gemeinschaft mit ihm im Evangelium
von Anfang an. Aber alles das konnte sein Auge nicht
vor dem verschließen, was in ihrer Mitte verkehrt war.
Man sagt oft: „Die Liebe ist blind." In einem Sinne
ist dies eine Schmähung der Liebe. Wenn man sagen
würde: „Die Liebe ist über den Fehlern des andern erhaben", so würde man der Wahrheit näher kommen.
Welchen Wert hat eine „blinde" Liebe? Was könnte es
uns nützen, von jemandem geliebt zu werden, der mit unsern Fehlern und Verkehrtheiten unbekannt wäre? Niemand wird einer Liebe großen Wert beimessen, welche nicht
trotz der vorhandenen Mängel und Gebrechen liebt; welche
diese Mängel nicht kennt, und deshalb auch noch nicht
bewiesen hat, daß sie über dieselben erhaben ist.
Paulus liebte die Heiligen in Philippi und freute
sich in ihrer Liebe zu ihm, indem er die duftende Frucht
derselben wieder und wieder schmeckte. Aber er sah auch,
daß es eine Sache war, einen abwesenden Apostel zu lieben und ihm Freundlichkeit zu beweisen, und eine ganz
andere Sache, unter einander eines Sinnes zu sein. Jedenfalls hatten Evodia und Syntyche ihr Scherflein zu
der Gabe, welche dem Apostel nach Rom gesandt wurde,
beigesteuert; aber trotzdem standen sie in den kleinlichen
Vorkommnissen des täglichen Lebens nicht in völliger Harmonie. Leider ist das kein ungewöhnlicher Fall. Viele
Schwestern und Brüder sind auch heute bereit, von ihrer
Habe zur Unterstützung eines Dieners im Werke des Herrn
314
beizutragen, während sie doch nicht in Liebe und Eintracht
mit einander wandeln. Woher kommt das? Weil es ihnen
an wahrer Selbstverleugnung mangelt, sowie an der Bereitwilligkeit, sich für andere aufzuopfern. Das ist, wir
dürfen es sicher glauben, vielfach die Ursache der Streitigkeiten und der Sucht nach eitler Ehre in der Mitte des
Volkes Gottes. Es sind zwei völlig verschiedene Dinge,
allein zu wandeln oder in Gemeinschaft mit unsern Brüdern, und zwar in der praktischen Anerkennung der großen
Wahrheit von der Einheit des Leibes und in der steten
Erinnerung daran, daß wir Glieder von einander sind.
Christen dürfen sich nicht als unabhängige, für sich dastehende Personen betrachten. DaS ist unmöglich angesichts
der Thatsache, daß die Schrift von dem „einen Leibe"
redet, von welchem ein jeder Gläubige ein Glied ist. Wir
stehen nicht vereinzelt da, sondern sind lebende Glieder
eines lebenden Körpers; wir sind unauflöslich mit andern
Gliedern verbunden durch ein Band, das keine Macht der
Erde oder der Hölle zerreißen kann. Wir sind durch den
einen Geist zu einem Leibe getauft; und dieser Geist
wohnt nicht nur in jedem einzelnen Gliede, sondern ist 
auch die Kraft der Einheit des einen Leibes. Gerade die
Gegenwart des Heiligen Geistes macht die Kirche zu dem
was sie ist, zu dem einen lebendigen Leibe des lebendigen
Hauptes.
Und gerade indem wir berufen sind, in der praktischen Anerkennung dieser Wahrheit zu wandeln, tritt die 
Forderung der Selbstverleugnung und Selbstaufopferung
an uns heran. Wären wir einzeln stehende Wesen, von
welchen jedes seinen eignen Weg zu verfolgen, seine eignen
Gedanken auszuführen und seinen eignen Willen zu thun
315
hätte, dann allerdings würde das Ich nicht so völlig in
den Tod zu gehen brauchen. Hätten Evodia und Shntyche eine jede für sich wandeln können, so würde wahrscheinlich keine Uneinigkeit, kein Streit entstanden sein.
Aber sie waren berufen, in Gemeinschaft mit einander
zu wandeln, und deshalb war Selbstverleugnung nötig.
Wir können uns gar nicht oft genug daran erinnern,
daß wir nicht Glieder eines Vereins, eines Klubs oder
einer christlichen Verbindung sind, sondern Glieder des
einen Leibes, alle mit einander und mit dem verherrlichten
Haupte droben verbunden durch die Jnwohnung des Heiligen Geistes. Es giebt in der That keinen Platz, wo das
„Ich" so zu Boden geworfen wird wie in der Versammlung Gottes. Und ist es nicht gut so? Ist es nicht ein
mächtiger Beweis von der Göttlichkeit des Bodens, auf
welchem sie gesammelt ist? Der Mensch ist nichts, Gott
ist alles. Und sollten wir uns nicht freuen, daß unser
elendes, hassenswürdiges Ich so zu Boden geschmettert
wird? Sollten wir aus der Nähe derer fliehen, welche
mit dazu beitragen, es gleichsam in Stücke zu brechen?
Wünschen wir nicht, von dem eignen Ich frei zu werden?
Bitten wir den Herrn nicht oft darum? Und sollen wir
mit denen zürnen, welche Gott als Werkzeuge benutzt, um
unsre Gebete zu beantworten? Sie mögen allerdings ihr
Werk oft rauh und ungeschickt thun; aber was macht das
aus? Wer irgend mit dazu behülflich ist, meinem Ich
den Platz anzuweisen, der ihm gebührt, erweist mir einen
großen Dienst, so verkehrt er es auch thun mag. Eines ist 
gewiß: niemand kann uns dessen berauben, was am Ende doch
allein besitzenswert ist, nämlich Christi. Das ist ein köstlicher
Trost. Laßt uns das Ich nur fahren lassen; wir werden
316
desto mehr von Christo haben. Evodia mochte die Syntyche wegen ihres Verhaltens tadeln, und Syntyche die
Evodia; der Apostel beschäftigt sich gar nicht mit der Frage,
welche von den beiden Frauen Recht und welche Unrecht
hatte, sondern bittet sie, „einerlei gesinnt zu sein in dem
Herrn".
Hier liegt das Geheimnis. Es heißt: Verleugne dich
selbst! Aber das muß auch eine wirkliche Sache sein. Es
ist völlig wertlos, von einer Verleugnung des eignen Ichs
zu reden, während man es zu gleicher Zeit nährt und
ihm freundlich auf den Rücken klopft. Wir bitten oft mit
großer Inbrunst um die Befähigung, das Ich in den
Staub treten zu können; und schon im nächsten Augenblick,
wenn jemand unsern Pfad zu kreuzen scheint, strecken wir,
wie ein Igel, dem sich ein Feind naht, nach allen Richtungen unsre Stacheln aus. Diese beiden Dinge können
niemals mit einander gehen. Gott will Wirklichkeit haben;
und wir wünschen doch auch, trotz all unsrer Thorheit und
Schwachheit, aufrichtig zu sein in jeder Beziehung. Darum
laßt uns acht haben auf uns selbst und dem Gebet auch
die That folgen lassen! Der Herr ist bereit, darzureichen 
was wir bedürfen. Wenn wir in Wahrheit und Aufrichtigkeit nm Kraft bitten, uns selbst verleugnen und für
andere aufopfern zu können, sollte Er sie uns vorenthalten?
Doch wenden wir uns jetzt zu unserm Kapitel zurück.
Nirgendwo in dem ganzen inspirierten Buche der göttlichen
Wahrheit finden wir ein ausgezeichneteres, herrlicheres Vorbild von wahrer Selbstaufopferung, als in dem ersten Teile
von Philipper 2. Wir dürfen wohl sagen, daß es un­
317
möglich ist, eine solche Schriftstelle mit Ernst und Aufmerksamkeit zu lesen, ohne die Uebel des Neides und der
Eifersucht, des eitlen Rühmens und Streitens nach ihrer
ganzen Verwerflichkeit zu erkennen und zu richten. Laßt
uns das bewunderungswürdige Gemälde mit Aufmerksamkeit
und unter Gebet betrachten und seine tiefe Belehrung zu
erfassen suchen.
„Wenn es nun irgend eine Ermunterung giebt in
Christo, wenn irgend einen Trost der Liebe, wenn irgend
eine Gemeinschaft des Geistes, wenn irgend innerliche Gefühle und Erbarmungen, so erfüllet meine Freude, daß
ihr einerlei gesinnt seid, dieselbe Liebe habend, einmütig,
eines Sinnes, nichts aus Parteisucht oder eitlem Ruhm
thuend, sondern in der Demut einer den andern höher
achtend als sich selbst; ein jeder nicht auf das Seinige
sehend, sondern ein jeder auch auf das der Anderen. Denn
diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu war,
welcher, da Er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen
Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu 
nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem Er in
Gleichheit der Menschen geworden ist, und, in Seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem
Er gehorsam ward bis zum Tode, ja, zum Tode am 
Kreuze." (V. 1—8.)
Hier, mein Leser, ist das göttliche Heilmittel für Neid
und Eifersucht, für eitles Streiten und Rühmen, mit einem
Wort für jede Art Selbstbeschäftigung in allen ihren versteckten
Formen. Der inspirierte Schreiber stellt vor unsre Herzen
den demütigen, selbstlosen, gehorsamen Menschen Christus
Jesus. Da war Einer, welcher alle Gewalt im Himmel
und auf Erden besaß. Ihm gehörten göttliche Majestät
318
und Ehre. Er war Gott über alles, gepriesen in Ewigkeit. Durch Ihn waren alle Dinge erschaffen, und durch
Ihn bestehen sie. Und doch erschien Er in dieser Welt als
ein armer Mensch, als ein Knecht, als Einer, der nicht hatte,
wohin Er Sein Haupt legen sollte. Die Füchse und
Vögel, die Geschöpfe Seiner Hand, waren besser versorgt
als Er, ihr Schöpfer und Erhalter. Sie hatten eine
Stätte, wo sie ruhen konnten; Er hatte keine. Er, der
alles war, „machte sich selbst zu nichts". Er dachte niemals an sich selbst. Er dachte an andere, sorgte für
andere, war thätig für sie, weinte mit ihnen und diente
ihnen; aber niemals that Er etwas für sich selbst. Sein
Leben war ein Leben vollkommener Selbstverleugnung und
Selbstaufopferung. Er stand im völligsten Gegensatz zu
dem ersten Adam, der nur ein Mensch war, aber daran
dachte, Gott gleich zu werden, und so ein Sklave Satans
wurde. Der Herr Jesus, welcher der Höchste war, wählte
den niedrigsten Platz unter den Menschenkindern. Niemals kann jemand einen so niedrigen Platz einnehmen wie
Er. Es heißt: „Er machte sich selbst zu nichts." Er
stieg so tief hinab, daß niemand Ihn hätte noch tiefer
stellen können. „Er ward gehorsam bis zum Tode, ja,
zum Tode am Kreuze."
Und beachten wir, daß das Kreuz hier als die Vollendung eines Lebens des Gehorsams, gleichsam als die 
Krone eines Werkes der Selbstaufopferung betrachtet wird.
Es ist, um einen alttestamentlichen Ausdruck zu gebrauchen,
eher der Tod Christi in seiner Bedeutung als Brandopfer,
als in derjenigen des Sündopfers. ES ist ohne Zweifel
eine gesegnete Wahrheit, daß dieselbe Handlung, welche
ein Leben des vollkommensten Gehorsams zum Abschluß
31S
brachte, auch zur Hinwegnahme der Sünde diente; aber 
in der vorliegenden Stelle handelt es sich nicht um unsern
gepriesenen Herrn als Sündenträger, sondern um Ihn als
Den, der sich völlig zu nichts machte und sich ganz und
gar aufopferte. Er gab alles auf was Er besaß. Als
Er in diese arme Welt herniederstieg, legte Er Seine ganze
Herrlichkeit ab; und hienieden pilgernd, nahm Er den Platz
des Aermsten ein, indem Er alle irdische Größe, allen
menschlichen Glanz verschmähte. Seine Eltern waren arm.
Sie waren nur imstande, das geringste Opfer zu bringen,
welches das Gesetz für den Armen zuließ: „ein Paar
Turteltauben oder zwei junge Tauben". (Luk. 2, 24.) Er
selbst arbeitete als Zimmermann und war als solcher in
Seiner irdischen Heimat bekannt. Die Stadt, in welcher
Er aufwuchs, war klein und verachtet; Er hieß deshalb
„der Nazarener". „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?" ruft selbst ein Nathanael aus; und andere fragen
in wegwerfendem Tone: „Ist dieser nicht der Zimmermann?" Er war ein Wurzelschoß aus dürrem Erdreich;
Er hatte nichts Anziehendes, keine Schönheit in den Augen
der Menschen. Er war der verachtete, selbstlose, demütige
Mensch von Anfang bis zu Ende. Er gab alles hin,
selbst Sein kostbares Leben. Mit einem Worte, Seine
Selbstaufopferung war eine vollkommene.
Und was war das Resultat derselben? „Darum hat
Gott Ihn auch hoch erhoben und Ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist, auf daß in dem Namen
Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen
und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, daß Jesus
Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters."
Der Herr Jesus wählte den niedrigsten Platz; Gott
320
gab Ihm den höchsten. Er machte sich zu nichts; Gott
machte Ihn gleichsam zu allem. Er sagte: „Ich bin ein
Wurm und kein Mann;" Gott setzte Ihn zum Haupte über
alles. Er stieg in den Staub des Todes hinab; Gott
gab Ihm einen Platz auf dem Throne der Majestät in
den Himmeln.
Was lehrt uns das alles? Daß der Weg zur Erhöhung durch Selbsterniedrigung führt. Das ist
eine ernste, heilsame Lektion, eine Unterweisung, die unS
allen immer wieder not thut. Würden wir sie wirklich
verstehen und beherzigen, so würde sicherlich viel Neid und
Streit vermieden werden; wir würden unserm eignen armen Ich weniger Wert beilegen und mehr für andere als
für uns selbst besorgt sein. Gott wird sicherlich alle diejenigen erhöhen, welche in dem Geiste und in der Gesinnung
Christi den niedrigsten Platz einzunehmen begehren; und
Er wird andrerseits ebenso gewiß diejenigen erniedrigen,
welche etwas zu sein suchen.
Nichts zu sein — das ist wahre Freiheit, wahres
Glück, wahre Erhabenheit. Welch eine wunderbare Anziehungskraft liegt in der Person eines Menschen, der
nichts aus sich selbst macht! Wie abstoßend wirkt dagegen
ein ruhmsüchtiger, sich stets in den Vordergrund drängender Geist! Wie ist er zugleich eines Menschen unwürdig,
welcher den Namen Dessen trägt, der sich selbst zu nichts
machte! Ein ehrgeiziger Christ ist ein Widerspruch in
sich selbst.
Indes giebt es in unserm Kapitel noch andere Beispiele von Selbstverleugnung und Aufopferung; ohne Zweifel
niedriger und schwächer als das göttliche Muster, welches
321
wir soeben betrachtet haben, — denn in diesem, wie in
allem andern, muß Jesus den Vorrang haben, — aber
dennoch von lieblicher Schönheit und wertvoller Belehrung
für uns. Da ist zunächst der Apostel Paulus. Wie tief
war er in den selbstverleugnenden Geist seines Herrn und
Meisters eingedrungen! Welche Worte aus dem Munde eines
Mannes, der in seinem natürlichen Zustande gewiß niemandem erlaubt haben würde, ihn in seinem ehrgeizigen Laufe
aufzuhalten: „Wenn ich aber auch wie ein Trankopfer über das Opfer und den Dienst euers Glaubens
gesprengt werde, so freue ich mich und freue mich
mit euch allen."
Wahrlich, das sind Worte von ungewöhnlicher Schönheit. Paulus war bereit, nichts zu sein, sondern für
andere verwandt, wie ein Trankopfer ausgegossen zu werden über das Opfer der Philipper. Es lag ihm nichts
daran, wer das Opfer darbrachte oder den Dienst
erfüllte, wenn die Sache nur geschah. Treibt das nicht
manchem von uns die Röte der Scham ins Angesicht?
Wie wenig kennen wir im allgemeinen von dieser ausgezeichneten Gesinnung! Wie sind wir bereit, einem Werke
Wichtigkeit beizulegen, bei welchem wir irgendwie beteiligt
sind! Wie wenig sind wir andrerseits fähig, uns mit
anderen in deren Opfer und Dienst zu freuen! Unser
Werk, unser Predigen, unser Reden und Schreiben hat
ein ganzes Interesse in unsern Augen, während dasjenige
eines andern gern von uns unbeachtet bleibt. Mit einem
Wort, das Ich, unser elendes, verächtliches Ich, schleicht
sich selbst in das ein, was der Dienst Christi zu sein
scheint. Wir fühlen uns zu denen hingezogen, welche von
uns und unserm Werke eine gute Meinung haben, und
322
ziehen uns von solchen zurück, welche anders denken. Sollte
alles das nicht schonungslos von uns gerichtet werden?
Es ist Christo ungleich und derer unwürdig, welche Seinen
heiligen Namen tragen. Paulus hatte Christum so gelernt,
daß er sich ebensowohl in dem Werke anderer erfreuen
konnte wie in seinem eignen; und selbst wenn Christus aus
Neid und Streit verkündigt wurde, konnte er sich freuen.
Weiter begegnen wir Timotheus, dem geistlichen Sohne
des Apostels. Welch ein schönes Zeugnis wird diesem
jungen Manne von feiten des Heiligen Geistes ausgestellt:
„Ich hoffe aber", schreibt der Apostel, „Timotheus bald
zu euch zu senden, auf daß auch ich gutes Mutes sei,
wenn ich eure Umstände weiß. Denn ich habe niemanden
gleichgesinnt, der von Herzen für das Eure besorgt sein
wird; denn alle suchen das Ihrige, nicht das was
Jesu Christi ist. Ihr kennet aber seine Bewährung, daß er, wie ein Kind dem Vater, mit mir gedient 
hat an dem Evangelium." (V. 19—22.)
Auch hier ist Selbstverleugnung und Aufopferung.
Timotheus war von Herzen für die Gläubigen besorgt,
und zwar zu einer Zeit, als alle das Ihrige suchten.
Und dennoch, so teuer Timotheus dem Herzen Pauli war,
so schätzenswert der Dienst eines solchen selbstverleugnenden
Mannes sein mußte, — der Apostel war bereit, um des
Wohles der Kirche willen sich von ihm zu trennen. Gleicherweise war Timotheus willig, von seinem geliebten Freunde
und Vater im Glauben Abschied zu nehmen und die weite,
beschwerliche Reise nach Philippi zu machen, damit der
Geist des Apostels, welcher im Blick auf den Zustand der
Philipper beunruhigt war, getröstet werde. Das war in
der That ein Beweis seiner Bewährung, ein Beweis
323
von wahrer Selbstverleugnung. Und Timotheus redete
nicht von diesen Dingen; er übte sie aus. Er selbst
machte kein Aufhebens von seinem Thun; aber Paulus,
geleitet durch den Heiligen Geist, grub es auf Tafeln ein,
welche nie vergehen werden. Das war unendlich viel besser.
Rühme dich nicht selbst; überlasse es anderen, das zu
thun. Timotheus machte nichts aus sich, Paulus machte
viel aus ihm. Das ist die göttliche Weise. Der sichere
Weg, erhöht zu werden, ist sich zu erniedrigen. Das ist 
die Richtschnur des himmlischen Pfades. Ein Mann, der
viel aus sich selbst macht, erspart anderen die Mühe, es zu 
thun. Es hat keinen Zweck, daß zwei Personen dasselbe
thun. Die Sucht, der eignen Person Wichtigkeit beizulegen,
ist ein schädliches Unkraut, das in dem ganzen Bereiche
der neuen Schöpfung nicht zu finden ist. Es zeigt sich
leider oft in dem Verhalten derer, welche bekennen, zu
jener heiligen Schöpfung zu gehören; aber es ist nicht auf
himmlischem Boden gewachsen. Es gehört der gefallenen
Natur an; es ist ein Unkraut, das auf dem Boden dieser
Welt üppig wuchert. Die Menschen dieses Zeitlaufs halten
es für lobenswert, sich selbst seinen Weg zu bahnen und
sich einen Platz in den ersten Reihen zu sichern. Ein ehrgeiziges, selbstgefälliges und selbst ruhmrediges Wesen
findet Anklang in dieser Welt. Doch unser himmlischer
Herr und Meister war das unmittelbare Gegenteil von
allem diesem. Er, der die Welten erschuf, beugte sich
nieder, um die Füße eines Jüngers zu waschen (Joh. 13);
und wenn wir Ihm gleichen, so werden wir dasselbe thun.
Nichts liegt den Gedanken Gottes, dem Geiste Jesu und
einer himmlischen Gesinnung ferner als Selbstgefälligkeit
und ein Beschäftlgtsein mit dem eignen Ich.
324
Die Reihe der Beispiele ist mit Timotheus jedoch
noch nicht zu Ende. Das nächste Exempel ist Epaphroditus. Wer war er? Ein mächtiger Prediger? ein wohlberedter Redner oder ein hervorragend begabter Bruder? Wir
hören nichts von alledem. Aber dies wird uns gesagt,
— und zwar in einer Weise, welche das Herz unwillkürlich bewegt, — daß er ein Mann war, der einen lieblichen
Geist der Selbstverleugnung und Aufopferung offenbarte.
Und nicht wahr, mein Leser, das ist besser als alle Gaben
und alles Wissen, als Beredsamkeit und was irgend äußerlich Glänzendes sonst in einem Menschen sich finden kann.
Epaphroditus gehörte auch zu jener ausgezeichneten Klasse
von Personen, welche nichts aus sich zu machen suchen;
und infolge dessen spart der Apostel keine Mühe, um ihn
zu erheben. Höre nur, wie er sich über diesen Mann ausläßt: „Ich habe es aber für nötig erachtet, Epaphroditus,
meinen Bruder und Mitarbeiter und Mitstreiter, aber euern
Abgesandten und Diener meiner Notdurft, zu euch zu 
senden." (V. 25.)
Welch eine Reihe von Würden l welch eine Aufzählung von glänzenden Titeln! Wie wenig wird dieser treue
und anspruchslose Diener Christi daran gedacht haben,
daß ein solches Denkmal zu seinem Gedächtnis errichtet werden würde! Aber der Herr wird niemals zugeben, daß die
Früchte der Selbstaufopferung verdorren, noch daß der
Name Seines selbstverleugnenden Knechtes in Vergessenheit
gerate. Daher strahlt der Name eines Mannes, von
welchem wir sonst wohl nie gehört haben würden, mit
besonderem Glanze ans den Blättern des inspirierten Wortes, als des Bruders, des Mitarbeiters und Mitstreiters
des großen Apostels der Nationen.
325
Doch was that dieser bemerkenswerte Mann? Opferte
er ein fürstliches Vermögen für die Sache Christi? Es
wird uns nichts davon gesagt; aber was uns gesagt
wird, ist weit besser: er gab sich selber hin. Das
ist die wichtige Sache hier; er opferte nicht ein Vermögen,
sondern sich selbst. Lauschen wir einen Augenblick auf
den Bericht über einen der Helden des wahren David:
„Er verlangte sehnlich nach euch allen und war sehr bekümmert." Weshalb? weil er krank war? weil er Schmerzen und Entbehrungen aller Art zu ertragen hatte? Nichts
derart. Epaphroditus gehörte nicht zu der Klasse derer,
welche immer von ihren eignen Leiden und Schmerzen
reden. Er dachte an andere. „Er war sehr bekümmert, weil ihr gehört hattet, daß er krank war."
Wie lieblich! Das Einzige, was ihn in seiner Krankheit
bekümmerte, war der Gedanke an seine geliebten Philipper,
wie sie wohl die Nachricht von seiner Erkrankung aufnehmen würden. Nachdem er sich im Dienste für sie an den
Rand des Todes gebracht hatte, dachte er, anstatt mit
sich und seinen Leiden beschäftigt zu sein, nur an ihren
Kummer und Schmerz. „Denn er war auch krank, dem
Tode nahe; aber Gott hat sich über ihn erbarmt, nicht
aber über ihn allein, sondern auch über mich, auf daß ich
nicht Traurigkeit auf Traurigkeit hätte."
Könnte es etwas Schöneres geben als alles dieses,
mein Leser? Du hast hier eines der seltensten Gemälde
vor dir, welche jemals vor menschlichen Blicken enthüllt
worden sind. Da liegt ein Mann, dem Tode nahe, weil
er im Dienste für andere sein Leben gewagt hat; aber er
denkt nicht an sich, sondern nur an jene, ist nur bekümmert um seine gÄiebten Philipper. Diese wiederum sind
326
besorgt um ihn; und Paulus endlich ist voller Sorge
wegen beider. Und dann erscheint Gott auf dem Schauplatz und läßt in Seinem Erbarmen gegen alle den geliebten Freund und Bruder von dem Sterbebett aufstehen.
Beachten wir ferner die rührende Sorge des Apostels.
Es ist, wie wenn eine zärtliche Mutter ihr Lieblingskind
aus dem Hause entließe und es mit freundlichem Ernst
der Sorge eines Freundes anvertraute. „Ich habe ihn
nun desto eilender gesandt, auf daß ihr, wenn ihr ihn
sehet, wieder froh werdet, und ich weniger betrübt sei.
Nehmet ihn nun auf im Herrn mit aller Freude, und
haltet solche in Ehren." Warums Wegen seiner äußeren Stellung oder seiner Gaben? Nein; sondern wegen
seiner Aufopferung. „Denn um des Werkes willen ist er
dem Tode nahe gekommen, indem er sein Leben
wagte, auf daß er den Mangel in euerm Dienste gegen
mich ausfüllte."
Geliebter christlicher Leser, laß uns über diese Dinge
nachdenken! Laß uns das Gemälde, welches uns in dem
2. Kapitel des Philipperbrieses von Gott selbst gegeben
ist, oft und viel betrachten! Die einzelnen Figuren des
Bildes wie die ganze Gruppierung sind von überwältigender Schönheit und voll göttlicher Belehrung. Es ist, um
mit dem Psalmisten zu reden, wie das köstliche Oel auf
dem Haupte des wahren Aaron, das herabfließt auf den
Saum Seiner Kleider. (Ps. 133.) Wir haben zunächst
den Herrn selbst, vollkommen in Seiner Selbstaufopferung
wie in allem andern; und dann erblicken wir Paulus,
Timotheus und Epaphroditus, wie ein jeder von ihnen in seinem Maße dieselbe Gesinnung offenbart, welche in seinem
Herrn und Meister war.
327
Werke des Glaubens und gute Werke.
Es besteht ein Unterschied zwischen „guten Werken"
und dem, was wir eigentlich nur „Werke des Glaubens"
nennen können, d. h. solche Handlungen, die in sich selbst
beweisen, daß der, welcher sie ausführt, Glauben besitzt.
Von Werken letzterer Art spricht Jakobus in seinem Briefe.
„Zeige mir," sagt er, „deinen Glauben aus deinen Werken."
Wenn ich Hungrige speise und Nackte bekleide, so beweist
das noch nicht notwendigerweise, daß ich Glauben habe.
Aber hier steht ein Mensch im Begriff, seinen Sohn zu
töten. „Schrecklich!" ruft das natürliche Gewissen; allein
Gott hat ihm geboten, es zu thun. Daß Abraham diese
That vollführte trotz der Einwürfe seiner Natur und gegen
seine menschlichen Gefühle, bewies, daß er Gott glaubte.
Es war der Gehorsam des Glaubens — des Glaubens
an den Gott der Auferstehung. Aber es giebt nichts in
dieser Handlung,' was der natürliche Mensch billigen könnte.
Sie trägt nichts von dem Charakter eines gewöhnlich und
rechtmäßig so genannten „guten" Werkes an sich.
Ferner finden wir ein Weib (Rahab), welches mit
den Feinden ihrer Vaterstadt gemeinsame Sache macht.
Sie rettet auf diese Weise sich und ihr Haus, was nicht
gerade sehr edel genannt werden kann; und doch hat sie
einen Platz unter den alttestamentlichen Glaubenshelden
gefunden. Ihr Verhalten war für ihre Landsleute, für
die Menschen dieser Erde, schändlich; aber sie findet ihre
Rechtfertigung darin, daß die Erde sich gegen den Gott
des Himmels und der Erde empört hatte. Das erkannte
ihr Glaube, so schwach und unbestimmt es auch sein mochte,
an; denn sie sagt M den Kundschaftern: „Jehova, euer
328
Gott, ist Gott im Himmel oben und auf der Erde unten."
Sie kehrte zu ihrem (und unserm) wahren Abhängigkeitsverhältnis zurück, und während sie in Jericho eine Verräterin wurde, suchte und fand sie Gnade bei Gott. Doch
in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes giebt es nichts
Gutes in ihrer Handlung.
Aehnlich ist es mit der bekannten Liste der Glaubenshelden in Hebräer 11. Unter den dort Genannten, welche
für ihren Glauben stritten und litten, wird nicht einer
durch gute Werke gekennzeichnet. Wir hören von keiner
Dorkas,- welche Kleider und Röcke für Witwen und Waisen
näht, noch von einem Manne, der sein Vermögen hingiebt,
um Arme zu speisen. Das will sagen: Handlungen, welche
zeigen, daß ein Mensch Glauben hat, sind nicht notwendig gute Werke in dem gewöhnlichen Sinne, sondern Thaten,
welche ohne Glauben vielleicht böse, oft auch thöricht und
unverständig genannt werden müßten. Was ist es z. B.
für einen Vater, seinen Sohn zu schlachten? für ein Volk,
mitten ins Meer hineinzuziehen? für ein Kriegsheer, eine
Stadt dadurch einnehmen zu wollen, daß es sieben Tage lang
dieselbe umzieht? Werke des Glaubens können nur durch
den Glauben geschätzt werden, so lange es Gott nicht gefällt,
sie zu rechtfertigen. So wird das Wohnen Abrahams in
einem Zelte als ein Fremdling und Pilgrim, anstatt in
dem verheißenen Lande eine Stadt zu bauen, erst am
Tage der Auferstehung gerechtfertigt werden; ebenso das
Verlangen des sterbenden Joseph, seine Gebeine nicht in
Aegypten, sondern in Kanaan zu begraben, welches ein 
schönerer Beweis des Glaubens war als selbst seine Bereitwilligkeit, seinen schuldigen Brüdern zu vergeben.
Der natürliche Mensch kann den Glauben nicht verstehen
329
noch schätzen. Anders ist es mit guten Werken. Diese vermag er voll und ganz zu würdigen, da er in seinen zeitlichen Interessen durch dieselben gefördert wird. Die gegenwärtige Zeit ist eine Zeit für gute Werke, für Wohlthätigkeit und Menschenfreundlichkeit, wofür wir dankbar
sind; aber es ist keine Zeit für den Glauben. Es ist vielmehr ein Tag des Unglaubens, der klugen Berechnung, des
Schauens. Vereine, Versicherungsgesellschaften für alle
möglichen Dinge, Kassen, Auflagen und dergleichen werden
gebildet, um sich dadurch gegen die Wechselfälle des Lebens
möglichst zu schützen. Alles das ist nicht Glaube, sondern
Schauen. Für die Menschen dieser Welt ist es ganz recht;
wie könnten sie anders handeln? Es ist sogar ganz verständig und klug. Aber für den Christen ist es wichtig,
sich stets daran zu erinnern, daß der Glaube es ist,
welcher Gott wohlgefällt. „Ohne Glauben ist eS unmöglich,
Ihm wohlzugefallen." Der Glaube glaubt, „daß Er ist",
und verläßt sich' deshalb auf Ihn. Die Natur kann uns
hier nicht behülflich sein. Ein gütiges Herz mag Mitgefühl
haben mit dem Geprüften und ihm, wenn die Mittel
dazu vorhanden sind, hülfreich beispringen. Alles das ist 
schön; aber es kann uns nicht'dazu behülflich sein, ein
Werk des Glaubens zu vollbringen. Glücklicherweise wird
der Glaube nicht fortwährend auf die Probe gestellt, obwohl er immer vorhanden sein sollte. Vielleicht wird er
nur einige Male in unserm Leben ernstlich geprüft; und
das sind dann goldene Gelegenheiten, vor denen wir so
oft zurückschrecken und in welchen wir leider auch so oft
zusammenbrechen, in denen einige jedoch unsterbliche Ehren
gewinnen. Die Rechtfertigung des Glaubens, d. h. das
was es richtig und verständig erscheinen läßt, durch Glauben
330
zu wandeln, ist die Thatsache, daß Gott unsern Herrn
Jesum Christum aus den Toten auferweckt hat. Er hat
„Ihn aus den Toten auferweckt und Ihm Herrlichkeit
gegeben, auf daß euer Glaube und eure Hoffnung auf
Gott sei." (1. Petr. 1, 21.) Wenn Gott jenen gesegneten
Mann des Glaubens aus dem Grabe hervorgebracht hat,
so giebt es keine Umstände, aus welchen Er uns nicht erretten könnte, und keinen Pfad des Gehorsams, welchen
wir nicht betreten dürften.
Jedoch ist hier zu bemerken, daß wir nicht verantwortlich sind, Werke des Glaubens zu thun; ich meine,
daß wir nicht in irgend einer Weise darnach trachten sollten,
unsern Glauben zu zeigen. David suchte nicht den Bären
zu erschlagen. Das Gold sucht nicht den Schmelztiegel.
Wenn es sich aber um gute Werke handelt, so ist es ganz
anders; wir sollen uns befleißigen, solche zu üben, wir
sollen darnach trachten. Manche sind denn auch, ihre Verantwortlichkeit fühlend, sehr thätig in guten Werken, während sich bei anderen eine große Neigung kundgiebt, sie zu
vernachlässigen. Dies mag einerseits seinen Grund in der
Eigenliebe haben, welche uns allen so natürlich ist; teilweise
vielleicht auch in den bösen Verbindungen, in welchen sich
gute Werke so oft finden, oder in den mannigfaltigen verkehrten Beweggründen, aus welchen sie hervorfließen. Allein
wir haben keine Entschuldigung, wenn wir träge sind im
Gutesthun.
Wir haben bereits gesehen, daß gute Werke nicht das
Vorhandensein des Glaubens beweisen; sie können im
Gegenteil sogar die Frucht des Unglaubens sein, wenn
z. B. ein Katholik oder ein selbstgerechter Protestant, anstatt allein in dem kostbaren Blute Christi zu ruhen, auf
331
seine Werke sich stützt als die Grundlage seines Heils oder
wenigstens als ein Hülfsmittel, um der Errettung näher
zu kommen. Weiter können gute Werke auch die Frucht
natürlicher Herzensgüte sein, obgleich dies wohl ein seltener
Fall ist. Aber laßt uns bedenken, daß unmöglich die 
Gnade im Herzen wohnen kann, ohne daß gute Werke hervorkommen. So wäscht der Kerkermeister in Philippi
in derselben Stunde der Nacht, in welcher er bekehrt wird,
die Striemen der Apostel Paulus und Silas und setzt
ihnen einen Tisch vor. — Gott erwartet von den Seinigen,
daß sie reich seien in guten Werken, gutherzig, mildthätig,
voll Mitgefühl und Erbarmen. Vor alters pflanzte Er
einen Weinberg, um Frucht zu empfangen. Der Weinberg
war Israel. Wir sind heute Reben an dem wahren Weinstock, um Frucht zu bringen. So sind auch in Joh. 5
diejenigen, welche zum Leben auferstehen, solche, „welche 
das Gute gethan haben". Das. beweist offenbar, daß
niemand wahrhaft Gutes thun kann, es sei denn in Verbindung mit dem Glauben und der neuen Geburt; zugleich
zeigt es Gottes Wohlgefallen an denen, welche Gutes thun.
So werden auch in dem Gericht von Matth. 25 nur diejenigen errettet, deren Glaube in ihren guten Werken
praktischen Ausdruck gefunden hat. „Mich hungerte, und
ihr gäbet mir zu essen; mich dürstete, und ihr tränktet
mich rc." Wie ernstlich dringt der Apostel ferner auf gute
Werke im 3. Kap. des Titusbriefes! „Erinnere sie,.. .
zu jedem guten Werk bereit zu sein... Ich will, daß
du auf diesen Dingen fest bestehst, auf daß die, welche
Gott geglaubt haben, Sorge tragen, gute Werke zu betreiben. Dies ist gut und nützlich für die Menschen."
Und weiter: „Laß aber auch die Unsrigen lernen, für die 
332
notwendigen Bedürfnisse gute Werke zu betreiben, auf daß.
sie nicht unfruchtbar seien."
Würde es nicht sehr heilsam und fördernd für den
Zustand unsrer Seelen sein, wenn wir, so oft uns ein
wenig Zeit, Kraft oder Geld übrigbliebe, Umschau hielten,
ob nicht hier oder da etwas Gutes von uns gethan werden könnte? So machte es ohne Zweifel Dorkas. Ihr
Tod war ein solcher Verlust, daß sie den Gläubigen wiedergeschenkt wurde. Beachten wir auch, was von der Witwe
in 1. Tim. 5 gesagt wird: „Eine Witwe werde verzeichnet,
wenn sie... ein Zeugnis hat in guten Werken ..., wenn
sie jedem guten Werke nachgegangen ist;" auch wird von
der Erziehung ihrer Kinder gesprochen.
Nun, es giebt auch heute noch solche, welche also gesinnt sind; Gott sei Dank! Hier wacht ein Bruder bei 
einem andern und pflegt ihn mit hingebender Liebe; dort
eilt eine Schwester in der Mittagsstunde zu einer leidenden
Mitschwester, um ihr das Bett zu machen oder eine Erfrischung zu bringen. Hier sorgt ein Bruder mit freigebiger
Hand für die Bedürfnisse einer notleidenden Familie; dort
übernimmt eine Schwester die Sorge für die Kinder, damit die Mutter inzwischen die Versammlung besuchen könne.
Zahllos sind diese kleinen Liebesbeweise, an welchen ein 
jeder von uns thätigen Anteil nehmen und wodurch mancher Seufzer gestillt, manch gedrücktes und bekümmertes
Herz aufgerichtet werden kann. — Fragen wir uns ehrlich,
mein Leser: Können wir unter diejenigen gezählt werden,
welche jedem guten Werke nachgegangen sind?
In dem Leben unsers anbetungswürdigen Herrn sint>
beide Dinge, gute Werke und Werke des Glaubens, in
göttlicher Fülle vorhanden. „Er ging umher, Gutes thuend".
333
und Er war der „Anfänger und Vollender des Glaubens".
Er lief den ganzen Wettlauf. Die unsichtbare Freude der
Herrlichkeit war die Krone, welche vor dem Auge Seines
Glaubens stand, und dafür „erduldete Er das Kreuz und
achtete der Schande nicht". Das war Glaube. Möge
der Herr uns die Gnade geben, in Seinen Fußstapfen zu
wandeln und Sein Lob uns zu gewinnen!
Gedanken.
Nicht zwei Angesichter, nicht zwei Blätter, nicht zwei
Grashalme sind gleich. Weshalb sollte denn irgend jemand
wünschen, die Gabe eines anderen zu besitzen oder das Werk
eines anderen zu thun? Möchte sich doch ein jeder damit
begnügen, gerade das zu sein und das zu thun, wozu Sein
Meister ihn gemacht und bestimmt hat! Wenn der Herr
den einen zu einem Evangelisten, den anderen zu einem 
Lehrer, einen dritten zu einem Hirten und einen vierten
zu einem Ermahner gemacht hat, wie muß dann das Werk
betrieben werden? Sicherlich nicht in der Weise, daß der
Evangelist zu lehren und der Lehrer zu ermahnen versucht,
oder daß einer, der zu keinem von beiden befähigt ist, gar
beides zu thun unternimmt!
Wir müssen stets auf unsrer Hut sein gegen den
Geist des Eigenwillens und der Selbstgefälligkeit; derselbe
ist aber nie gefährlicher, als wenn er sich in das Gewand
eines religiösen Dienstes oder einer Thätigkeit für den
Herrn kleidet.
Nichts ist verunehrender für Gott und gefährlicher
für uns als eine erheuchelte Demut.
334
Es geschieht nicht selten, daß gerade diejenige Person,
deren Gegenwart wir für unsre Fortschritte und Erfolge
für wesentlich notwendig erachteten, sich hernach als eine
Quelle tiefen Schmerzes für unsre Herzen erweist.
Gottes Volk muß ein abgesondertes Volk sein, nicht
etwa auf Grund seiner höheren persönlichen Heiligkeit,
sondern weil es Sein Volk ist.
Ein auferstandener Christus ist der ewige Beweis
einer vollbrachten Versöhnung; und wenn die Versöhnung
eine vollendete Thatsache ist, so ist die Errettung des
Gläubigen eine unerschütterliche Wirklichkeit.
Der Erstgeborene unter vielen Brüdern, dessen Lippen
unsre Namen droben so oft ausgesprochen haben, dessen
Hand so manches Mal ausgestreckt war, um uns in der.
Stunde der Not zu helfen und aufrecht zu erhalten —
Er ist es, den wir erwarten und der bald von dem
Throne Gottes sich erheben wird, um uns heimzuführen
ins Vaterhaus. Er, der uns geliebt und uns von allen
unsern Sünden gewaschen hat in Seinem Blute, wird
wiederkommen, um uns zu sich zu nehmen, damit wir
da seien, wo Er ist. „Ermuntert nun einander mit diesen
Worten!"
Leben und wahres Glück ist nur in Christo zu
finden. Außer Ihm ist alles Tod und Elend. Nichts
kann daher das Herz in Wahrheit und zu allen Zeiten
befriedigen als Jesus allein.

Das Leben eines Menschen, so wichtig und folgenschwer es für diese Welt auch sein mag, ist in Wirklichkeit ohne Wichtigkeit, so lange der Mensch nicht mit Gott zu wandeln beginnt, in der Erkenntnis einer vollbrachten
Erlösung und in dem Genuß eines auf das kostbare Blut des Lammes Gottes gegründeten Friedens.
In jeder That des Gehorsams liegt ein Segen für den Gläubigen verborgen; aber sobald die Seele zögert,
den als richtig und Gott wohlgefällig erkannten Weg zu gehen, hat der Feind einen Vorteil errungen.
Der verlorene Sohn war nicht weniger ein Sünder, als er sich dem Hause näherte und der Vater ihm entgegeneilte, als zur Zeit da er in dem fernen Lande die Schweine hütete.
Der Mensch möchte gern Gott zu einem Empfänger (statt eines Gebers) machen; aber das ist unmöglich, denn
„geben ist seliger als nehmen"; und sicherlich'gebührt Gott der gesegnetere Platz. Wohl aber kann Gott selbst die
kleinste Gabe annehmen von einem Herzen, welches die tiefe Wahrheit der Worte verstanden hat: „Von Dir ist
alles, und ausDeinerHand haben wir Dir gegeben."

Die Heimat des Christen.
Die Heimat des Christen, wo ist sie? sag' an! —
Nicht birgt sie der Erde geräumiger Plan;
Und ziehst Du gen Westen, gen Ost, Süd und Nord,
Du suchest vergeblich den seligen Ort.

Nicht da, wo der König der Schrecken regiert,
Nicht da, wo die Sünde das Scepter noch führt;
Wo Christus verworfen, wo alles bloß Schein,
Die Heimat des Christen, dort kann sie nicht sein.

Richt da, wo der Starke den Schwachen bedrückt,
Wo Habgier und Ehrsucht die Herzen berückt;
Wo Trennung und Kummer, wo Schmerzen und Pein,
Die Heimat des Christen, dort kann sie nicht sein.

Nicht da, wo das Seufzen der Schöpfung erklingt,
Gewaltthat und Unrecht den Vorrang erringt;
Wo Weltlust und Sünde noch wirkt im Verein,
Die Heimat des Christen, dort kann sie nicht sein.

Wo ist denn die Heimat des Christen? sag' an! —
Verlasse die Erde! Zum Himmel hinan
Erhebe im Glauben den suchenden Blick!
Dort liegt seine Heimat, sein seligstes Glück.

Zum Vaterhaus droben, zur himmlischen Stadt
Eilt sehnend er vorwärts auf dornichtem Pfad.
Hienieden ein Fremdling mit Altar und Zelt,
Ein göttlicher Streiter, von Feinden umstellt. 

Im Vaterhaus droben, da liegt ihm bereit
Die Krone des Lebens nach ringendem Streit;
Dort ruht er von Kämpfen und Mühen so heiß,
Dort winkt ihm des Wettlaufs begehrlicher Preis.

Dort rinnt keine Thräne, dort trennet kein Tod,
Dort hört man kein Seufzen, dort giebt's keine Not.
Nach schmerzlicher Trennung für ewig vereint
Sind Eltern und Kinder und Bruder und Freund.

Und freudig ertönt der Erlösten Gesang,
Von goldenen Harfen ein lieblicher Klang:
Dem Lamme zu Ehren auf göttlichem Thron,
Dem Löwen aus Juda, dem einigen Sohn!

O selig, wem jetzt schon der Glaube erschließt,
Was bald er im Schauen dort ewig genießt! —
Harr' aus noch ein wenig! bald rufet der Schall
Der letzten Posaune die Gläubigen all!b