Botschafter des Heils in Christo 1891

01/29/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

BdH 1891.
Inhalts-Verzeichnis.
Seite.
Jesus, von Gott verlassen......................................................................1
„Wandelt in Furcht!".........................................................................14
Die Witwe zu Sarepta und die Sunammitin................................. 17
Bruchstücke.................................................. 28. 112
„Ich habe das Werk vollbracht."........................................................29
Besitzen wir eine Offenbarung von selten Gottes? .... 34
Das eherne Meer....................................................................................46
„Mein Sohn! achte nicht gering des Herrn Züchtigung." . . 54
Einleitung in die Schriften des Alten und des Neuen
Testaments 57. 102. 113. 141. 169. 197. 248. 253. 281
Die Stimme Jesu.............................................................................. 68
Das letztmalige Anklopfen................................................................... 76
Ein Blick zurück und vorwärts (Gedicht) ....... 83
Zweierlei Ruhe, zweierlei Frieden, zweierlei Freude ... 85
„Ausheimisch von dem Leibe — einheimisch bei dem Herrn." 125
Nimm Ihn beim Wort! .................................................................134
Drei Dinge, nützlich zu lernen........................................................... 152
Sich des Kreuzes rühmen.................................................................157
„Unser Zusammenkommen nicht versäumend."............................... 166
Heimweh (Gedicht)............................................................................ 168
„Was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir euch." 175. 203
Ein Wort sür bekümmerte Seelen................................................184
„Vergeben nm Seines Namens willen.".....................................19t)
Gedanken..................................................................................... 194. 279
Zu Jesu Füßen..................................................................................213
Ein Wort der Ermahnung für die gegenwärtige Zeit . . . 225
Was ist ein Christ?............................................................................ 250
„Um einen Preis erkauft.".................................................................260
„Kein Gewissen mehr von Sünden.".................................- . . '261
Eine offene Frage. ......................................................................... 263
Die Schlußscenen von Maleachi und Judas...............................265
Die Einheit des Geistes...................................................................... 286
Wachstum in der Gnade................................................................ 298
Ein Brief Christi................................................................................ 307
Gehorsam — die Freiheit des Gläubigen.....................................309
Der unbekannte Gott................................. 318
„Kehret auch unter den Matten!"................................................325
Ein Wort über „Anbetung"..........................................................326
Fähig gemacht für den Himmel......................................................327
Jesus, von Gott verlassen.
(Psalm 22.)
Bei dem Lesen des zweiundzwanzigsten Psalmes klingen
uns unwillkürlich die Worte ins Ohr, welche der Herr
einst Seinem Knechte Mose aus dem brennenden Dornbusch
zurief: „Ziehe deine Schuhe aus von deinen Füßen,
denn der Ort, auf welchem du stehest, ist heiliges Land!"
(2. Mose 3, 5.) Unter allen Psalmen nimmt der 22.
einen ganz besondern Platz ein. Wohl wird auch in andern
Psalmen von jenen schrecklichen Stunden auf dem
Kreuze gesprochen, und es werden die Leiden Dessen erwähnt,
der hier zu Gott schreit; aber doch nirgendwo so
wie in diesem Psalm. Mit Recht wird er deshalb „der
Psalm des von Gott verlassenen Menschen Jesus Christus"
genannt. Er beginnt mit dem Mark und Bein durchdringenden
Notschrei: „Mein Gott, mein Gott, warum
hast Du mich verlassen?" und er endigt mit dem Triumphgesang
der Befreiung: „Ja, Du hast mich erhört von den
Hörnern der Büffel. Verkündigen will ich Deinen Namen
meinen Brüdern; inmitten der Versammlung will ich Dich
loben." (Vers 21. 22.)
Welch eine wunderbare Gnade für uns, gewürdigt
zu sein, etwas von den tiefen Seelenübungen jenes vollkommenen
Menschen zu vernehmen, Seine Schmerzen und
Aengste anzuschauen, die Klagen Dessen zu hören, der um
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unsertwillen so schrecklich litt! welch ein Vorrecht, auf die
Worte lauschen, zu dürfen, welche Er in jenen entsetzlichen
Stunden der Finsternis und des Zornes zu Seinem Gott
geschrieen hat! Der geschichtliche Bericht schweigt ganz und
gar darüber. Kein einziges Wort ist in den Evangelien
darüber zu finden. Sie teilen uns ausführlich mit, was
in den drei ersten Stunden stattfand, während Jesus noch
völlig das liebliche Licht des Angesichts Gottes anschaute;
aber von der sechsten bis zur neunten Stunde, als Finsternis
das ganze Land bedeckte, vernehmen wir kein Wort,
bis Jesus zur neunten Stunde mit lauter Stimme schrie:
„Eli, Eli, lama sabachthani? das ist: Mein Gott, mein
Gott, warum hast Du mich verlassen?" (Matth. 27, 46.)
In jenen drei Stunden der Finsternis herrschte völliges
Schweigen auf Golgatha. Die Jünger waren geflohen;
die Weiber standen zitternd von ferne; die Hohenpriester
und Schriftgelehrten waren von Entsetzen ergriffen; der
Hauptmann und die Kriegsknechte waren voll Furcht; —
und Jesus, unser Herr? Er litt, wie Er noch nie gelitten
hatte; Er litt nicht von seiten der Menschen, sondern
von seiten Gottes. Er litt allein — und Er schwieg,
bis das Werk vollbracht und der Zorn getragen war.
Die Welt kann Seine Leiden nicht verstehen, Seine Klagen
nicht begreifen. Gott allein, der heilige und gerechte
Richter, vermag ihre ganze Schrecklichkeit zu erfassen und
ihren ganzen Wert zu ermessen. Deshalb kam in jenen
drei Stunden keine Klage über Seine Lippen; in Seinen
namenlosen Leiden schrie Er in Seiner Seele zu Gott,
zu Dem, der Ihn allein verstehen und Ihm allein den
Sieg geben konnte.
Doch was die Geschichte nicht mitzuteilen vermochte,
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das wird uns durch Gottes unaussprechliche Gnade im
zweiundzwanzigsten Psalm vorgestellt. Wir, die Kinder
Gottes durch den Glauben an Christum Jesum, sind gewürdigt,
das zu vernehmen, was in den drei Stunden der
Finsternis in der Seele Jesu vorgegangen ist. Wir sind
gewürdigt, zu hören, welch bittere Klagen Er da vor Seinem
Gott ausgeschüttet hat, und werden dadurch mit der
Größe Seiner Leiden und mit der Tiefe Seines Elends
bekannt gemacht. Begreifen können wir diese Dinge nicht
und ergründen noch viel weniger. Was unser Herr und
Heiland fühlte und empfand, kann durch niemanden von
uns auch nur annähernd verstanden werden. Doch ist uns
die Gnade geschenkt, Sein Flehen zu vernehmen und auf
Seine Klagen zu lauschen, damit wir voll Bewunderung und
Anbetung uns vor Ihm niederwerfen möchten, der gerade
dann am größten war, als Er am tiefsten erniedrigt wurde;
und damit wir mit Gott, dem Vater, Gemeinschaft haben
möchten in Seiner Wonne an Seinem geliebten Sohne, der
gehorsam war bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze.
Jesus hat unaussprechlich viel gelitten. Sein ganzes
Leben war von Anfang an eine ununterbrochene Kette von
Leiden. Schon Sein Kommen auf diese Erde und Sein
Annehmen der menschlichen Natur war Leiden. Der Herr
der Herrlichkeit, vor welchem die Engel sich niederbeugen, der
Schöpfer des Himmels und der Erde, der über alles zu
gebieten hatte, entäußerte sich selbst, legte Seinen Herrscherstab
nieder, entkleidete sich Seines Glanzes und Seiner
Majestät, stieg von Seinem Throne herab und kam auf
die Erde, um in unsrer Mitte zu wohnen — nicht als
ein König, sondern als ein Knecht. Er, der reich war,
wurde um unsertwillen arm, ärmer als der Aermste, so
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daß Er nicht hatte, wohin Er Sein Haupt legen konnte,
und kein Geld besaß, um die Tempelsteuer zu bezahlen.
(Matth. 17, 24—27.)
Er war allen menschlichen Leiden unterworfen. Ihn
hungerte und dürstete; Er litt Kälte und Ungemach; Er
wurde müde von Seinem Werke; Er weinte am Grabe
des Lazarus und fühlte tief den Schmerz Seiner Mutter.
Obwohl selbst nicht krank, weil keine Sünde in Ihm war,
nahm Er, wenn Er Kranke gesund machte, durch Sein
göttliches Mitgefühl alle ihre Krankheiten auf sich, und
fühlte die Leiden und Schmerzen, als wären sie Seine
eigenen gewesen. (Matth. 8, 17.) Mit einem Wort, Er
wurde in allem versucht in gleicher Weise wie wir, (ausgenommen
die Sünde,) so daß Er mit unsern Schwachheiten
Mitleid zu haben vermag. (Hebr. 4, 15.)
Er lebte auf einer durch die Sünde verunreinigten
Erde, in einer durch die Sünde verwüsteten Schöpfung
und sah die schrecklichen Folgen der Sünde täglich um
sich her. Das war für Ihn eine unerschöpfliche Quelle
von Leiden. Er wohnte inmitten der Sünder; Er sah
ihre bösen Handlungen; Er hörte ihre bösen Worte; ja,
Er kannte alle ihre Gedanken. Welch ein Leiden für den
Sündlosen! Alles, was Er hörte und sah, stand im völligsten
Gegensatz zu Seiner Reinheit und Heiligkeit. Was
es für uns sein würde, in einem Gefängnis unter den
größten Gotteslästerern und schändlichsten Missethätern weilen
zu müssen, das, ja noch weit mehr als das war für Ihn
das Wohnen unter den Menschen — für Ihn, der einen
göttlichen Abscheu gegen das Böse hatte und ein vollkommenes
Gefühl besaß für alles, was rein und lieblich und
wohllautend ist.
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Er wurde versucht, vor allem durch deu Teufel, aber
auch durch die Menschen und zuweilen sogar durch Seine
Jünger. Und als Er versucht wurde, litt Er, wie uns
das Wort sagt. Seine heilige Seele, in welcher keine
Spur von Sünde zu finden war, litt, wie es nicht anders
sein konnte, durch jede Versuchung, welcher Er auf Seinem
Pfade begegnete. (Hebr. 2, 18.)
Doch all dieses Leiden, obwohl jede Minute das Teil
des Herrn hienieden, war nur die notwendige Folge Seines
Wohnens auf dieser Erde. Er mußte außerdem den
Haß und die Verfolgung von feiten der Menschen erfahren.
Er kam in die Welt, um die Welt zu erretten; aber sie
erkannte Ihn nicht. Er kam in das Seinige, zu Israel,
Seinem irdischen Volke, um es zu erlösen; aber die Deinigen
nahmen Ihn nicht an, sondern verwarfen Ihn.
Jeden Tag mußte Er den Widerspruch der Sünder erdulden.
(Hebr. 12, 3.) In dem Hause derer, welche Ihn
lieben, wurde Er verwundet. (Sach. 13, 6.) Der Mann,
der mit Ihm aß, erhob die Ferse wider Ihn. (Ps. 41, 9.)
Er wurde geschmäht, verhöhnt, verspottet, mit Steinen geworfen,
inS Angesicht geschlagen, bespeit, gegeißelt und
endlich ans Kreuz genagelt. Man hieß Ihn einen Fresser
und Weinsäufer, einen vom Teufel Besessenen, einen Gotteslästerer.
Hohepriester, Pharisäer und Schriftgelehrte freuten
sich über den Verrat des Judas; sie ergötzten sich an
der Schwachheit des Pilatus, an dem bittern Spott des
Herodes, an der Grausamkeit der Kriegsknechte; ja, als
sie ihr Schlachtopfer am Fluchholze hängen sahen, gingen
sie mit bittern Spottreden am Kreuze vorüber und reizten
den Allmächtigen, der doch nur ein Wort hätte zu
sprechen brauchen, und mehr als zwölf Legionen Engel
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Wären zu Seiner Hülfe erschienen. Aber Er sprach dieses
Wort nicht, weil Er gekommen war, um für Seine Feinde
Sein Leben hinzugeben. Welch ein Leiden für die Seele
Dessen, der die Liebe selbst war; der nicht in diese Welt
gekommen war, um sie zu richten, sondern um die Welt
zu erretten; der über den Unglauben Jerusalems weinte
und am Kreuze für Seine Feinde betete!
Allein wie schwer all dieses Leiden auch sein mochte,
so ist es doch nicht zu vergleichen mit den drei Stunden
der Finsternis auf dem Kreuze. In diesen drei Stunden
litt Jesus mehr als während Seines ganzen Lebens; denn
während Seines Lebens auf der Erde, die Kreuzigung
mit eingeschlossen, litt Er von seiten der Menschen um der
Gerechtigkeit willen; aber in den drei Stunden der Finsternis
auf dem Kreuze litt Er von seiten Gottes um unsrer
Sünden willen. „Er ist unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben"
— nicht von den Menschen, sondern von Gott.
Es war Jehova, der Ihn zerschlug. (Jes. 53.) Er,
der während Seines ganzen Lebens in dem ungetrübten
Genuß der seligen Gemeinschaft mit Gott gestanden hatte
und allezeit vom Vater erhört worden war, über den etliche
Male eine Stimme aus dem Himmel gehört wurde:
„Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen
gefunden habe", ja, Er erhielt in den drei Stunden
der Finsternis keine Antwort auf Sein Schreien, sondern
wurde von Gott verlassen.
Wie schrecklich diese Stunden für unsern geliebten
Herrn gewesen sein müssen, können wir den letzten Tagen
Seines Lebens entnehmen. Je mehr der Tag Seines
Todes herannahte, desto größer wurde Seine Angst; in
Gethsemane erreichte sie ihren Höhepunkt. In Joh. 12
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hören wir Ihn rufen: „Jetzt ist meine Seele bestürzt,
und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser
Stunde; doch darum bin ich in diese Stunde gekommen.
Vater, verherrliche Deinen Namen!" Und in Gethsemane
war Seine Seele betrübt bis in den Tod; dort war Er
in so schwerem Kampf, daß „Sein Schweiß wurde wie
große Blutstropfen, welche auf die Erde herabfielen;"
(Luk. 22, 44.) und in der Angst Seiner Seele rief Er
dreimal: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe
dieser Kelch vor mir vorüber! Doch nicht wie ich will,
sondern wie Du willst." Trotzdem aber war dieses Leiden
noch nicht das Leiden um der Sünde willen. Er war
noch nicht von Gott verlassen; in Gethsemane war das
freundliche Licht des Angesichts Gottes noch nicht verschwunden.
O nein! dort wurde Er erhört, und es
wurde Ihm geholfen. Ein Engel kam, um Ihn zu stärken.
„Er, der in den Tagen Seines Fleisches, da Er
sowohl Bitten als Flehen zu Dem, der Ihn aus dem
Tode zu erretten vermochte, mit starkem Geschrei und
Thränen geopfert hat, ist um Seiner Frömmigkeit willen
erhört worden." (Hebr. 5, 7.) Aber, rufen wir unwillkürlich
aus, wenn schon der Vorgeschmack des Leidens auf
dem Kreuze eine solche Angst hervorrief, was muß dann
das Leiden selbst gewesen sein!
Von feiten der Menschen war Er schon vorher verlassen.
In Psalm 102 klagt Er: „Ich gleiche dem Pelikan
der Wüste, bin wie die Eule der Einöden. Ich wache,
und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache." Alle
verließen Ihn; Seine Feinde kreuzigten und verspotteten
Ihn; Seine Freunde flohen. Niemand konnte mit Ihm
leiden, selbst nicht eine Stunde; ja, nicht einmal in
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Gethsemane, oder während der drei ersten Stunden auf
dem Kreuze. Doch in all dieser Zeit genoß Er die Gemeinschaft
Gottes; aber dann wurde Er auch von Gott
verlassen. Schreckliche Stunde! Nie hatte ein Mensch
eine solche Stunde durchgemacht; und nie kann eine solche
Stunde wiederkehren. Gottes Hand lag schwer auf Ihm.
Er, der keine Sünde gekannt und keine Sünde gethan
hatte, wurde von Gott zur Sünde gemacht; und darum
mußte der heilige und gerechte Richter Sein Angesicht vor
Ihm verbergen, Sein Licht Ihm entziehen und Seinen
Zorn über Ihn ausschütten.
Von dieser schrecklichen Stunde spricht der 22. Psalm.
Jesus ist von Gott verlassen. Nicht nur Seine Feinde
sagen es, sondern Er selbst. „Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du mich verlassen, fern von meiner Rettung,
den Worten meines Gestöhns?" Da ist keine Hülfe, kein
Trost, keine Erleichterung. Er jammert, aber niemand
merkt darauf; Er schreit, aber niemand kommt, um Ihn
zu retten. Der Himmel ist vor Ihm verschlossen; keine
Antwort kommt von dort herab. „Mein Gott! ich rufe
des Tages, und du antwortest nicht; und des Nachts,
und mir wird kein Schweigen." (V. 2.) Wie ganz anders
war es am Grabe des Lazarus! Dort konnte Er
sagen: „Der Vater hört mich allezeit;" und wie ganz
anders im Anfang Seiner Kreuzigung, als Er ausrief:
„Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie
thun!" Jetzt ist der Himmel verschlossen, Gottes Ohr verstopft,
Gottes Angesicht abgewandt.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich
verlassen?" Mußte Er auch gänzlich von Gott verlassen
werden, so blieb Gott doch stets Sein Gott. Dieses
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Bewußtsein konnte Ihm nie entschwinden, ebensowenig wie
das Bewußtsein Seiner göttlichen Vollkommenheit, so daß
Er inmitten Seiner Schmerzen fragen konnte: „Warum
hast Du mich verlassen?" In Ihm gab es keine Ursache
dazu. Und doch beugte Er Sein Haupt und nahm das
Gericht Gottes als gerecht auf sich. „Du aber bist heilig,
der du wohnest unter den Lobgesängen Israels." (V. 3.)
Er sagt gleichsam: Du, mein Gott, hast mich verlassen,
obwohl es keinen Grund dafür in mir gab; aber nach
Deiner Gerechtigkeit konntest Du nicht anders handeln. —
Christus nahm unsern Platz als Sünder ein; Er wurde
für uns zur Sünde gemacht; Er trug unsre Sünden an
Seinem Leibe auf das Holz. Deshalb wurde Er von
Gott verlassen, und deshalb schlugen die Wogen des Zornes
Gottes über Seinem Haupte zusammen. Als unser
Stellvertreter unterwarf Er sich dem göttlichen Gericht und
pries die Gerechtigkeit Gottes. — Siehe, mein Leser, daS
ist Versöhnung!
Schon im Beginn Seines öffentlichen Dienstes war
Christus dem Teufel entgegengetreten, als dieser ihn vierzig
Tage und Nächte lang in der Wüste versuchte; und am
Ende begegnete Er ihm wieder in Gethsemane. Die Macht
des Starken war gebrochen, und sein Hausrat wurde ihm
geraubt. Dieser Kampf mit Satan war schwer; allein
auf dem Kreuze galt es einen andern, noch weit schrecklicheren
Kampf zu kämpfen. Unser anbetungswürdiger
Heiland mußte vor Gott die Sünden tragen und als
Sündenträger gerichtet werden. Er hatte den Vater während
Seines ganzen Lebens hienieden verherrlicht; aber
jetzt mußte Er Gott verherrlichen in Seinem Tode. Mit
dem Vater als solchem hatte Er in jenen Stunden der
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Finsternis nichts zu thun, sondern mit Gott, dem heiligen
und gerechten Richter, welcher die Sünde strafen und richten
muß. Fürwahr, das Geheimnis der Gottseligkeit ist groß:
Gott ist geoffenbart worden im Fleische! Wäre Christus
nicht ein wahrhaftiger Mensch gewesen, so hätte alles unS
nichts nützen können; und wäre Er nicht Gott selbst, so
würde Seinem Opfer das fehlen, was ihm gerade seinen
unendlichen Wert, den Wert Seiner Person, verliehen hat.
Das Versöhnungswerk hat einen zwiefachen Charakter;
wir finden darin die Befriedigung der Heiligkeit und Gerechtigkeit
Gottes und das Tragen unsrer Sünden. (Vergl.
3. Mose 16, 7—10: das Los für Jehova und das Los
für das Volk.) Ueber den ersteren und zwar den wichtigsten
Teil der Versöhnung, über die Befriedigung der Gerechtigkeit
Gottes, handelt hauptsächlich unser Psalm.
Vergessen wir jedoch nicht, daß Jesus, obwohl Er als
Sündenträger unsern Platz einnahm und deshalb von Gott
verlassen werden mußte, gerade in demselben Augenblick,
und zwar nicht nur als des Vaters ewiger Sohn, sondern
auch als der gehorsame und vollkommene Mensch, wegen
Seiner freiwilligen Hingabe in den Tod und Seines völligen
Gehorsams gegenüber dem Willen des Vaters ein
lieblicher Geruch, ein angenehmes Opfer für das Herz
Gottes war. Welch eine wunderbare Vereinigung! Welch
ein göttliches Geheimnis! Voll Bewunderung und Anbetung
beugen wir uns davor nieder!
Doch hören wir weiter: „Auf Dich vertrauten unsre
Väter; sie vertrauten, und Du errettetest sie. Zu Dir
schrieen sie und wurden errettet; sie vertrauten auf Dich
und wurden nicht beschämt. Ich aber bin ein Wurm und
kein Mann, der Menschen Hohn und der vom Volke Ver
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achtete." (V. 4. 5.) Rührende Klage! Kein Gläubiger
ist jemals so von Gott verlassen worden. Alle erhielten
Antwort auf ihr Flehen. Aber Er, der eingeborne Sohn
Gottes, der in des Vaters Schoß ist, Er bekam keine
Antwort; Er wurde nicht errettet; Er wurde beschämt; Er
war ein Wurm und kein Mann. Und doch — so klagt
Er weiter — habe ich Dich nicht verlassen; ich habe stets
auf Dich vertraut; von dem ersten Augenblick meines
Lebens an warst Du mein Gott. „Denn Du bist es, der
mich aus dem Mutterleibe gezogen hat, der mich vertrauen
ließ an meiner^ Mutter Brüsten. Auf Dich bin ich geworfen
von Mutterschoße an, von meiner Mutter Leibe
an bist Du mein Gott." Wahrlich, es war nicht um
Seinetwillen, daß Er also litt, sondern um unsertwillen.
Damit wir Frieden hätten, damit nie eine solche Stunde
für uns anbrechen möchte, wurde Er verlassen.
Doch da ist kein Elend, das nicht Ihm zu teil geworden,
da ist keine Schande, die nicht über Ihn gekommen
wäre. Wie Stiere von Basan, wie reißende und brüllende
Löwen umringten die Juden das Kreuz. (V. 12. 13.)
Die Macht des Todes ergriff Jesum. „Meine Kraft ist
vertrocknet wie ein Scherben, und meine Zunge klebt an
meinem Gaumen; und in den Staub des Todes legst Du
mich." (V. 15.) Die heidnischen Kriegsknechte verspotteten
und mißhandelten Ihn. (V. 16.) Der Teufel stürmte mit
seiner ganzen Macht auf Ihn an. „Rette mich aus dem
Rachen des Löwen!" (V. 21.)
Alles das klagte Er Seinem Gott; denn es erhöhte
Seine Leiden. O möchten wir es nie vergessen, wie böse
die Menschen waren, um derentwillen Er litt, und wie
schrecklich die Leiden Seiner reinen und heiligen Seele!
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So tief ist der Mensch gesunken, so schwarz von Sünden
und Ungerechtigkeiten, so feindselig gegen Gott, daß sein
Heiland um seinetwillen so tief erniedrigt werden und so
schrecklich leiden mußte. Wie unvergleichlich ist andrerseits
Seine Liebe zu dem Sünder, zu dir und mir, mein Leser!
Um uns zu erlösen, trank Er den Kelch des Zornes Gottes
wider die Sünde ohne Murren bis auf den letzten Tropfen.
In Gethsemane rief Er dreimal: „Mein Vater, wenn
es möglich ist, so gehe dieser Kelch vor mir vorüber!"
Aber es war unmöglich. Wollte Er Sünder vom Verderben
erretten, so mußte Er den Kelch des Zornes Gottes
trinken und dadurch die Gerechtigkeit Gottes befriedigen.
Und, mein Leser, Er hat diesen Kelch genommen und ihn
bis auf den Grund geleert! Nachdem dies aber geschehen
ist, verändert sich sofort die bittere Klage in einen SiegeS-
gesang: „Ja, Du hast mich erhört von den Hörnern der
Büffel. Verkündigen will ich Deinen Namen meinen Brüdern;
inmitten der Versammlung will ich Dich loben."
(V. 21. 22.) Und dann folgt bis zum Ende des Psalmes
die herrliche Beschreibung all der segensreichen Folgen des
Leidens und Sterbens Jesu für Israel und die Nationen
während der Tage der Herrlichkeit des Reiches Christi auf
der Erde.
Welch eine Gnade tritt uns hier entgegen! Nachdem
die Sünde, welche auf unsern Herrn gelegt wurde, durch
Sein Sterben zunichte gemacht und hinweggethan war,
stand Er auf aus den Toten; und als der lebendige
Zeuge der Thatsache, daß alles vollbracht und alles gut
gemacht war, verkündigt Er den Namen Seines Vaters
Seinen Brüdern und preist Gott inmitten der Versammlung.
Die erste Botschaft, welche Er nach Seiner Auf
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erstehung durch Maria Magdalena an Seine Jünger
sandte, lautete: „Gehe hin zu meinen Brüdern und
sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und euerm
Vater, und zu meinem Gott und euerm Gott." So hatte
Er vorher nie gesprochen. Wie hätte Er es auch gekonnt?
Wohl hatte Er Seinen Jüngern den Namen des Vaters
kundgemacht; aber sie in Gemeinschaft mit sich Kinder
dieses Vaters zu, nennen, konnte erst geschehen, als das
Werk vollbracht und die Sünde zunichte gemacht war.
Jetzt, nachdem Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht
sind, ist Sein Vater unser Vater und Sein Gott
unser Gott; und Er schämt sich nicht, uns Brüder zu
nennen. Alles, was Gott als Vater für Ihn ist, ruht
jetzt gleichsam auf denen, für welche Er gestorben ist und
deren Sünden Er durch das Blut Seines Kreuzes ausgetilgt
hat. Seine vollkommene und geoffenbarte Annahme
von seiten Gottes ist jetzt unser Teil. Nicht nur, daß
die Liebe des Vaters auf uns ruht; nein, nach Gottes
Gerechtigkeit, die auf dem Kreuze verherrlicht worden ist,
sind wir jetzt in dieselbe Beziehung zu Ihm gebracht, in
welcher Christus selbst zu Ihm steht, so daß die ganze
Wonne und Freude, welche Gott an Christo hat, auf uns
herniederfließt durch unsre Annahme in Christo Jesu, unserm
Herrn.
Doch das ist nicht alles. Wir hören weiter: „Inmitten
der Versammlung will ich Dich preisen." Der
Herr sagt nicht: „Ich will Dich preisen"; auch nicht:
„In der Versammlung wirst Du gepriesen werden"; sondern:
„Inmitten der Versammlung will ich Dich preisen."
Diese Worte, welche auch in Hebr. 2 angeführt werden,
fanden am Abend des Auferftehungstages ihre Erfüllung,
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als Jesus inmitten Seiner versammelten Jünger erschien,
um sie all der Segnungen und Vorrechte teilhaftig zu
machen, welche Er durch Sein Leiden und Sterben für
sie erworben hatte. Welch eine Freude wird das Herz
unsers geliebten Herrn in jener Stunde erfüllt haben, als
Er, herausgenommen aus der Finsternis, aus dem Verlassensein
von Gott und aus dem Staube des Todes, die
Früchte Seines herrlichen Sieges genießen konnte; und
als die Seinigen, die Er mehr liebte als Sein eigenes
Leben, Seine Freude mit Ihm teilen durften! Nachdem
Er, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht
worden ist und das Gericht, welches wir verdient hatten,
getragen hat, ist Er (auferstanden aus den Toten) nicht mehr
der Sündenträger, sondern preist Gott inmitten der
durch Ihn erlösten Versammlung. Anbetung, Ehre
und Herrlichkeit sei Seinem gesegneten Namen von nun an
bis in Ewigkeit! Amen.
„Wandelt in Furcht!"
(I. Petri 1, 13—26.)
Die Gläubigen werden ermahnt, als „gehorsame
Kinder" zu wandeln, und nicht nach den Lüsten, durch
welche sie in ihrer Unwissenheit geleitet wurden. Berufen
durch Den, welcher heilig ist, sollen sie heilig sein in ihrem
ganzen Wandel: „Seid heilig, denn ich bin heilig."
Und wenn sie Den als Vater anrufen, der ohne Ansehen
der Person richtet nach eines jeden Werk, so geziemt es
sich für sie, während der Zeit ihrer Fremdlingschaft in
Furcht zu wandeln. (V. 17.)
Es braucht kaum bemerkt zu werden, daß der Apostel
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hier, nicht vom Endgericht redet. In diesem Sinne richtet
der Vater niemanden, sondern hat alles Gericht dem
Sohne übergeben. (Vergl. Joh. 5, 22.) Es handelt sich
vielmehr um das Gericht eines jeden Tages, oder mit
anderen Worten um die Regierung Gottes in dieser Welt
im Blick auf Seine Kinder. „Wandelt die Zeit eurer
Fremdlingschaft in Furcht." Das hier in Rede
stehende Gericht bezieht sich also auf das praktische Leben.
Die Furcht, von welcher der Apostel spricht, ist auch nicht
eine Furcht, welche aus der Ungewißheit des Heils entspringt,
sondern gründet sich im Gegenteil gerade auf die
Gewißheit, daß man errettet ist.
Der unermeßliche Wert des Mittels, durch welches
wir erlöst sind, die unendliche Kostbarkeit des Blutes
Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken,
ruft jene Furcht während unsrer Pilgerschaft hienieden
hervor. Wir sind um den Preis des kostbaren Blutes
Christi von unserm eitlen Wandel erlöst worden; sollten
wir nun noch nach den Grundsätzen wandeln, von welchen
wir um einen solchen Preis befreit worden sind? Wahrlich,
ein solches Lösegeld fordert einen ernsten Wandel —
einen Wandel in Furcht vor dem Vater, mit welchem wir
es zu thun haben.
Wenn wir unser Kapitel dann weiter verfolgen, so
sehen wir, daß der Apostel diese Wahrheit, unter Bezugnahme
auf die Erlösung, auf die Gläubigen anwendet.
Das fleckenlose Lamm ist wohl in den Ratschlüssen Gottes
vor, Grundlegung der Welt zuvorerkannt, aber erst „am
Ende der Zeiten" geoffenbart worden um der Gläubigen
willen. Petrus stellt so die Gläubigen in ihrem wahren
Charakter dar. Sie glauben an Gott durch Jesum,
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durch dieses Lamm. Sie glauben nicht an Ihn durch
die Schöpfung; denn obwohl diese ein Zeugnis von Seiner
Herrlichkeit ist, so giebt ein solches Zeugnis doch dem
Gewissen keine Ruhe, noch redet es zu dem Glauben von
einem Platz im Himmel. Sie glauben auch nicht an
Gott durch die Vorsehung, welche, obwohl sie alles leitet,
doch stets eine große Ungewißheit betreffs Seiner Regierung
läßt. Sie glauben endlich auch nicht durch die
Offenbarung Gottes auf dem Berge Sinai, noch durch
den Schrecken, welchen ein strenges, unbeugsames Gesetz
hervorbringt, sondern sie glauben durch Jesum, durch das
Lamm Gottes.
Beachten wir wohl, daß nicht gesagt wird: „der an
Ihn glaubt," sondern: „der durch Ihn an Gott glaubt."
Wir kennen Gott als Den, der uns geliebt hat, als
wir noch Sünder und tot in Vergehungen und Sünden
waren, — als Den, der den teuren Heiland für uns
dahingab, damit Er in den Tod, in welchem wir lagen,
Hinabstiege und sich unter das gerechte Gericht stellte,
welches wir verdient hatten. Wir glauben an den Gott,
der durch Seine Macht — als Jesus unter den Folgen
dieses Gerichts war, im Tode für uns, — Ihn auferweckt
und Ihm Herrlichkeit gegeben hat. Wir glauben
also durch Ihn an einen Heiland-Gott, an einen Gott,
der Seine Macht zu unserm Wohle ausübt, so daß unser
Glaube und unsre Hoffnung auf Gott ist; nicht auf etwas,
das sich bei Gott, in Seiner nächsten Nähe befindet, sondern
auf Gott selbst.
Wie könnte da noch irgend ein Grund zur Furcht
oder zum Mißtrauen gegen Gott vorhanden sein, wenn
unser Glaube und unsre Hoffnung auf Ihm selbst ruhen,
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auf Ihm, der uns also geliebt und so vollkommen für
uns gesorgt hat? Gott also zu kennen verändert alles.
Gott stellt sich uns jetzt ganz anders vor als in früheren
Zeiten; und die Veränderung, welche stattgefunden hat,
ist einerseits auf die Gerechtigkeit Gottes gegründet,
indem Er uns als gereinigte Sünder angenommen hat,
und andrerseits auf die Liebe Gottes, indem Er uns
in Jesu, der durch Seine Macht auferweckt und verherrlicht
worden ist, vollkommen gesegnet hat.
Unser Glaube und unsre Hoffnung sind auf Gott
selbst. Dies stellt uns in die innigste Beziehung zu den
übrigen Erlösten. Sie sind die Gegenstände derselben
Liebe; sie sind in demselben teuern Blute gewaschen, durch
dasselbe Lamm erlöst, und bilden daher für alle diejenigen,
deren Herzen „durch den Gehorsam gegen die Wahrheit
gereinigt" sind, die Gegenstände einer zärtlichen, ungeheuchelten
Bruderliebe. Laßt uns daher in wahrer
Gottesfurcht wandeln und einander lieben mit Inbrunst
aus reinem Herzen!

„Ich habe das Werk vollbracht."
In dem Gebet des Herrn (Joh. 17) lesen wir die
köstlichen Worte: „Ich habe Dich verherrlicht auf der Erde;
das Werk habe ich vollbracht, welches Du mir gegeben
hast, daß ich eS thun sollte." (V. 4.) Diese Worte stellen
uns den festen und unwandelbaren Grund vor, auf welchen
der Gläubige vor Gott gestellt ist. Hier ist das Gewissen
für immer zur Ruhe gebracht. In Bezug auf unsre
Sünden ruht Gott selbst aus diesem Werke. Er ist darin
vollkommen verherrlicht worden; und jeder Sünder, mögen
seine Sünden auch blutrot sein, findet, wenn er im Glauben
Ihm naht, nichts als vollkommene Liebe und Gnade. Das
Gericht ist vorüber; die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes
sind völlig befriedigt worden und sehen kein Unrecht mehr
an dem Gläubigen. Sie sind nicht mehr gegen, sondern
für ihn. Das durch Christum vollbrachte Werk hat seinen
Ausgangspunkt in Gott selbst; denn Jesus sagt im Blick
auf dasselbe: „welches Du mir gegeben hast, daß ich es
thun sollte". Er selbst gab sich freiwillig zum^Opfer, —
Dank sei Seiner unaussprechlichen Liebe! — aber zugleich
ist es Gott, der Ihn für uns hingegeben hat. „Denn
also hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingebor-
nen Sohn gab, auf daß jeder, der an Ihn glaubt, nicht
verloren gehe, sondern ewiges Leben habe." (Joh. 3,16.)
Und wiederum: „Der doch Seines eignen Sohnes nicht
30
geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat."
(Röm. 8, 32.)
Das Werk Christi ist also nach dem Willen Got-
tes — es ist die G abe G otte s — es ist durch Christum
vollbracht und wird durch den Heiligen
Geist uns bezeugt. Alles das versichert uns der
Vollkommenheit, der göttlichen Vollkommenheit dieses Werkes.
Auf Grund desselben kann Gott den Gottlosen rechtfertigen,
kann Christus unser Sachwalter sein und für uns
bitten, und der Heilige Geist uns heiligen. Setzen wir
unser Vertrauen auf dieses Werk, so kann weder Vergangenes,
noch Gegenwärtiges, noch Zukünftiges uns beunruhigen.
Alles was in Gott ist, selbst Seine vollkommene,
unbestechliche Gerechtigkeit, ist für uns. Gott
ist verherrlicht, die Sünde zunichte gemacht — alles ist
Frieden. Wir können mit völligem Vertrauen zu jeder
Zeit mit dem Apostel ausrufen: „Wenn Gott für uns
ist, wer wider uns? ... Wer wird wider Gottes Auserwählte
Anklage erheben? Gott ist es, welcher rechtfertigt;
wer ist, der verdamme? Christus ist es, der gestorben, ja
noch mehr, der auch auferweckt, der auch zur Rechten
Gottes ist, der auch für uns bittet. Wer wird uns scheiden
von der Liebe des Christus?" (Röm. 8, 31—35.)
Es ist beachtenswert, daß Jesus in dem oben erwähnten
Gebet von Seinem Werke als schon vollbracht
redet: „das Werk habe ich vollbracht". In Vers 11
sagt Er: „und ich bin nicht mehr in der Welt," und in
Vers 12: „als ich bei ihnen war". Schon vom 13. Kapitel
an betrachtet Jesus Sein Werk als vollbracht und
sich selbst als nicht mehr in der Welt, damit die Seini-
gen im voraus sehen und hören möchten, was Er auch
31
in dieser neuen Stellung für sie hienieden sein würde.
Er wäscht ihre Füße, Er tröstet, Er ermuntert und unterweist
sie in der zärtlichsten Weise und bittet für sie zum
Vater. Er thut dies alles, damit die Seinigen erkennen
sollten, daß Er droben, zur Rechten des Vaters, in derselben
Liebe und Sorgfalt ihrer gedenken und gerade so
treu für sie beschäftigt sein würde, wie Er es hienieden
gewesen war, und damit sie, in der Welt zurückgelassen,
sich Seiner nie fehlenden Fürsorge erfreuen möchten. Er
bezeugt selbst in Vers 13: „Dieses rede ich in der Welt,
auf daß sie meine Freude völlig in sich haben." Welch
eine Liebe! Was Er thut, redet oder mitteilt, alles hat
nur den einen Zweck: das Wohl und Glück der Seinen;
wie Er auch in Joh. 15, 11 sagt: „Dies habe ich
zu euch geredet, auf daß meine Freude in euch sei und eure
Freude völlig werde."
Wenn wir in Kap. 17 das Gebet des Herrn zu
Seinem Vater für die Seinigen hören, so wissen wir, was
Er jetzt für uns bittet, nachdem Sein Werk vollendet
ist und Er zur Rechten Gottes sitzt. Er kann jetzt mit
aller Freimütigkeit über uns zu dem Vater reden; Er
kann Sein ganzes Herz offenbaren und die ganze Zärtlichkeit
und Fülle Seiner Liebe vor dem Vater ausschütten.
Unser schrecklicher Zustand von Natur, unsre Sünde und
Unreinigkeit sind kein Hindernis mehr; Sein Werk hat
für ewig alle Trennung beseitigt. Die Seinigen können
sich gleichsam in der heiligen Nähe Gottes ruhig niederlassen
und horchen, was ihr geliebter Herr in Bezug auf
sie zu dem Vater zu reden hat. Sie vernehmen nichts,
was sie unruhig machen könnte; nicht ein Wort kommt
über Seine Lippen, das geeignet wäre, ihnen die geringste
32
Furcht einzuflößen. Keine Anklage, keine mißbilligende
oder anschuldigende Bemerkung irgend welcher Art wird gehört;
ihre Fehler und Mängel werden sogar nicht einmal
erwähnt. Die Worte des Herrn beweisen nur Seine unendliche
Liebe zu ihnen und ein Herz voll von zärtlicher Fürsorge;
sie zielen einzig darauf ab, daß sie inmitten der
Welt bewahrt und reichlich gesegnet werden möchten. Durch
Sein Werk sind sie erlöst; und Er übergiebt sie den
Händen Seines Vaters, damit Er sie in Seinem Namen
bewahre. Er bittet, daß sie unter einander eins sein
möchten, und eins in Ihm und dem Vater. Er wünscht,
daß sie bei Ihm seien, wo Er ist, um die Herrlichkeit anzuschauen,
welche der Vater Ihm gegeben hat; denn vor Grundlegung
der Welt hat der Vater Ihn geliebt. (V. 22 — 24.)
Glückselig ein jeder, welcher auf diese unaussprechlich
herrlichen Worte lauschen und sagen kann: „Auch für mich
sind sie geredet; auch ich soll sie hören, damit meine
Freude völlig sei." Wie schwach muß der Glaube, wie
schwach die Erkenntnis des Herrn und Seines Werkes
sein, wenn so manche Gläubige diese Worte lesen und
dennoch mit unruhigem Gewissen und furchterfülltem Herzen
einhergehen können!
Doch vergessen wir nicht, daß nur auf Grund Seines
eigenen Werkes der Herr in betreff unser mit solch einer
Freimütigkeit zu dem Vater reden kann. Unsre Treue
und unser Wandel können niemals irgend welchen Grund
dazu darbieten. Sein Werk allein hat uns so nahe gebracht
und uns in solch herrliche Beziehungen zu Gott
versetzt; nur auf Grund Seines Werkes kann Er sich so
freimütig über Seine Liebe und Treue gegen uns sowie
über unsre himmlischen Segnungen mit dem Vater unter
33
halten. Er hat nicht mehr nötig, über unsre Sünden zu
Gott zu reden; denn Er selbst hat sie ausgetilgt, und
zwar so völlig, daß sogar das heilige Auge Gottes keinen
unreinen Flecken mehr entdecken kann. Die Erlösten sind
so rein, wie Sein Blut sie zu reinigen, und so vollkommen,
wie Sein Werk sie vollkommen zu machen vermochte. Sie
sind bekleidet mit der Gerechtigkeit Gottes; sie nehmen
mit Christo denselben Platz vor Gott ein. Er hat unsern
Platz eingenommen und empfangen, was wir verdient hatten;
und nun hat Er uns an Seinen Platz versetzt, damit wir
empfangen, was Er verdient hat. Anbetungswürdige Gnade
und Liebel Wo ist ein Heiland wie Er? wo ein Jesus
wie unser Jesus? Haben die Seinigen auch in sich selbst
keinen Wert, so hat doch die Liebe ihnen Wert beigelegt.
Ja, sie besitzen einen unendlichen Wert für das Herz Jesu;
denn der Vater hat sie Ihm gegeben, und Er hat sie mit
Seinem eigenen Blute vom Verderben erlöst und sie dorthin
gebracht, wo Er Seinen eigenen Platz vor Gott hat, so
daß schon jetzt für den Gläubigen nichts anderes übrigbleibt,
als zu bewundern, zu preisen und anzubeten.
Doch nicht allein vor dem Vater kann Jesus von
den Seinigen so freimütig reden, sondern auch vor jedem
Feinde und Ankläger. „Wer ist, der verdamme? —
Christus ist es, der gestorben, ja noch mehr, der auch auferweckt,
der auch zur Rechten Gottes ist, der auch für uns
bittet." In Joh. 9 sehen wir Seine Arme weit geöffnet,
nm den aus der Synagoge gestoßenen Blindgebornen aufzunehmen
und ihn mit dem Sohne Gottes bekannt zu
machen; und Er kann mit Freimütigkeit von den Seinigen
zu den Pharisäern sagen: „Meine Schafe hören meine
Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich
34
gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren
ewiglich, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben."
(Joh. 10, 27. 28.) Ueberall kann Er mit solcher Gewißheit
von den Segnungen der Seinigen reden. Nichts und
niemand kann Ihn daran hindern. Sein Werk hat sie
auf einen sichern und herrlichen Platz gebracht, wo nichts
sie antasten kann. „Wer wird wider Gottes Auserwählte
Anklage erheben?" Alle, welche gehört und geglaubt haben,
können triumphierend ausrufen: „Er hat das Werk
vollbracht!"
Besitzen wir eine Offenbarung von feiten
Gottes? *)
*) Auszug aus einer größeren Schrift von I. N. D.
Besitzen wir eine Offenbarung von feiten Gottes,
eine Mitteilung Seiner Gedanken, auf welche wir uns
verlassen können? Das ist eine Frage von der höchsten
Wichtigkeit. Giebt es inmitten der widerstreitenden Meinungen
der Menschen, inmitten der zahlreichen verschiedenen
Religionen etwas Sicheres und Bestimmtes, welches das
Siegel der Autorität an sich trägt und mich in den Stand
setzt zu sagen: Ich besitze die Wahrheit Gottes? Habe
ich von feiten Gottes eine Offenbarung Seiner Gedanken,
welche zuverlässig und mit Autorität bekleidet ist, so, daß
ich von Ihm selbst weiß was Gott ist?
Auf den Menschen kann ich kein Vertrauen setzen.
Ein Mensch, der keine solche Offenbarung von Gott empfangen
hat, versinkt in die tiefste Erniedrigung. Ich kann
auch nicht auf die Kirche oder ihre Lehrer vertrauen. Auch
35
sie haben ihre Geschichte — und was für eine Geschichte!
Sie sind ein Rohr, welches in der Hand dessen, der sich
darauf stützen will, zerbricht. Wohin soll ich mich wenden,
um sagen zu können: Hier habe ich die Wahrheit, die ich
lieben und auf welche ich mich verlassen kann? hier ist
etwas, was Gott selbst mir gegeben hat? Um das sagen
zu können, muß ich zweierlei besitzen: eine Offenbarung
von seiten Gottes, und eine zuverlässige Mitteilung derselben.
Ohne eine Offenbarung kann der Mensch weder Gott noch
Seinen Charakter kennen. Das Heidentum, ob zivilisiert
oder unzivilisiert, ist ein beredtes Zeugnis für diese Thatsache.
Mir zu sagen, daß die Anbetung von Katzen oder
Eseln oder Fetischen eine wahre Erkenntnis Gottes darstelle,
ist wertlos. Sie mag beweisen, daß der Mensch
einen Gott bedarf, daß er ohne einen solchen nicht fertig
werden kann; aber sie beweist dann auch zugleich, daß er
den wahren Gott nicht zu finden vermag, oder daß er Ihn
nicht haben will.
Wo also soll ich Gott und Seine Wahrheit finden?
Der Heide kann Ihn mir nicht zeigen; er ist in das tiefste
Verderben versunken, er vergöttert seine Leidenschaften und
fügt ihnen Erniedrigung hinzu.
Der Koran oder „das Schwert" der Muhamedaner
ist keine Offenbarung Gottes. Seine Mitteilungen oder
Offenbarungen sind erfunden worden, jenachdem die Gelegenheit
sie wünschenswert erscheinen ließ.
Können mir die Juden von Gott erzählen, sie, die
nach ihren eigenen Schriften von Gott verworfen sind?
Können sie mir sagen, was Er ist?
Soll ich von den Jesuiten lernen, deren Ränke alle
Völker beunruhigen? Oder von dem Papste, dessen Un
— 36 -
fehlbarkeit durch die Geschichte Lügen gestraft und eigentlich
nur von der unwissenden Menge geglaubt wird? Soll
ich die vergoldeten Bilder der Mutter Gottes anbeten,
welche man in den Kirchen und an den Landstraßen aufgerichtet
hat? Muß ich da meinen Ruhort finden?
Soll ich mich endlich zu den Protestanten wenden, deren
Führer zum großen Teil Rationalisten und Ungläubige
sind, oder die ein sogenanntes orthodoxes Glaubensbekenntnis
hochhalten? Giebt es selbst in diesen evangelischen Glaubensbekenntnissen
eine wirkliche Uebereinstimmung, und glauben
diejenigen, welche sie unterzeichnen und festhalten, von ganzem
Herzen an die darin aufgestellten Sätze? Man wird nicht
manche unter ihnen finden. — WaS soll ich nun thun? Soll
ich, wie Pilatus, fragen: Was ist Wahrheit? und in
tiefster Ratlosigkeit meine Hände waschen und Christum
Seinen Feinden preisgeben? —
Was mir not thut ist eine Offenbarung von feiten
Gottes selbst, und diese besitze ich — Sein Name sei ewig
dafür gepriesen! — in Seinem Worte.
Ja, hier ist etwas — Gott, in einer Seiner selbst
würdigen Weise geoffenbart. Aber nun kommt man her
(und das ist das Grausamste von allem) und sagt mir:
Das was sich als Gottes Wort ausgiebt, ist gar nicht
Gottes Wort. Es ist nichts mehr und nichts weniger
als eine Zusammentragung der mannigfaltigsten Ueberlieferungen
und Schriftstücke, welche erst sieben- oder achthundert
Jahre nach dem angeblichen Entstehen dieser Schriften
veranstaltet worden ist; woher man sie genommen und
wer sie geschrieben hat, weiß Gott allein (nur sind sie
nicht von Ihm). So redet man von den Heiligen Schriften.
Sie sind, wenn wir den meisten Gelehrten unsrer Tage
37
glauben wollen, nicht das Wort Gottes, sondern eine ganz
unzuverlässige Sammlung von Schriften, welche im Laufe
der Geschichte Israels entstanden sind. Teilweise haben
Priester sie geschrieben, unter welchen das Gesetz allmählich
sich entwickelt hat, teilweise Propheten, welche gegen die
Grundsätze des Volkes (beachten wir: nicht gegen ihre
Sünden oder ihre Uebertretungen des Gesetzes)
ankämpften; teilweise endlich sind sie aus der Mitte des
Volkes selbst hervorgegangen. So ist nach den Meinungen
jener klugen Gelehrten das Alte Testament entstanden.
Und das Neue? Nun, vier Briefe mögen von Paulus
herrühren, sagt man, die übrigen aber sind sehr zweifelhaft;
das meiste ist wohl nichts anderes als ein späterer
Versuch, die Paulinischen und Petrinischen Parteien in der
Kirche mit einander auszusöhnen zc. rc.
Allem dem gegenüber fragen wir: Wo ist das Wort
Gottes? Da wo es stets war, wie das Licht in der
Sonne ist. Man mag in der Sonne Flecken und hellere
oder dunklere Teile entdeckt haben, und darüber mehr oder
weniger zutreffende Erklärungen oder gelehrte Vermutungen
aufstellen; aber wer Augen hat zu sehen, wandelt nach
wie vor in ihrem vollen und göttlich gegebenen Lichte.
Sie leuchtet mit derselben Pracht und Fülle, wie sie es
stets gethan hat. Gerade so ist es mit dem Worte Gottes;
es scheint heute wie vor tausend und mehr Jahren mit
unverändertem Glanze, und der Eingang in dieses Wort
giebt Licht und Verständnis den Einfältigen. Diese besitzen
eine Natur, welche das Wort in dem wahren Charakter,
so wie Gott es gegeben hat, zu schätzen vermag. Den
Weisen und Verständigen aber hat Gott diese Dinge verborgen
und sie den Unmündigen geoffenbart. „Sie werden
38
alle von Gott gelehrt sein" ist die Erklärung des Herrn und
Seines Propheten für alle, welche hören können.
Daß die alttestamentlichen Schriften in ihrer gegenwärtigen
Form gesammelt wurden, lange bevor der Herr
auf der Erde war, wird von niemandem bestritten; ja,
Christus selbst erkennt die verschiedenen Teile des Alten
Testamentes, wie sie heute bestehen, an. Der bekannte jüdische
Geschichtschreiber Josephus ist ebenfalls sehr bestimmt
in seinen Erklärungen. Er redet nicht von einer ungewissen
Menge von Büchern, sondern von einer bestimmten
Zahl: zweiundzwanzig; und er sagt ferner, daß wohl
Schriften nach der Regierung des Perserkönigs Artaxerxes
entstanden seien, daß diese aber nicht dieselbe Autorität
besäßen wie jene. Daß die Bücher gesammelt wurden,
dafür können wir Gott danken. Ob man nun die Geschichte
Ruths mit den Richtern verbindet, und die Klagelieder
mit dem Propheten Jeremia, oder nicht, ist von keiner
so großen Bedeutung. Der ihnen zugehörende Platz in
der Geschichte liegt auf der Hand. Die Frage, wer das
Buch Ruth geschrieben hat, ist für den Gläubigen auch
nicht von Wichtigkeit. Er nimmt die Schriften auf als
das Wort Gottes; Gott selbst ist ihr Urheber. Daß bei
ihrer Zusammenstellung hie und da einige kurze Bemerkungen
hinzugefügt worden sind, (wie z. B. „und sie sind daselbst
bis auf diesen Tag," Jos. 4, 9 :c.) ist möglich, aber
das berührt in keiner Weise die göttliche Offenbarung.
Das Buch zeigt deutlich, daß es als ein Ganzes von Gott
eingegeben ist, und daß Er sowohl in der Zusammenstellung
der einzelnen Schriften, wie auch vielleicht in der Einschaltung
jener Bemerkungen Seine Hand gehabt hat.
Das Buch bekennt, ein Bericht aller Wege Gottes
39
von der Schöpfung an (und selbst, was Seine Ratschlüsse
betrifft, noch früher beginnend) bis zur Ankunft des Herrn
zu sein, ja, bis zum Ende der Zeit, bis Gott sagen kann:
„Es ist geschehen! Ich bin das Alpha und das Omega,
der Anfang und das Ende." Es bekennt ferner, uns
eine Offenbarung des Vaters in dem Sohne zu geben.
Ist das eine Offenbarung Gottes, oder ist es, wie unsre
Gelehrten zu sagen belieben, nur eine Entwicklung des
nationalen Lebens in einem kleinen, geringen Volke? „Niemand
hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in
des Vaters Schoße ist, der hat Ihn kundgemacht." Ist
das eine Offenbarung von Gott oder nicht?
Das Buch wird als ein Ganzes von Christo und
Seinen Aposteln in einer Weise behandelt, welche zeigt, daß
es einen wohlbekannten und besonderen Charakter besaß.
„Die Schrift kann nicht aufgelöst werden." (Joh. 10, 35.)
„Dann öffnete Er ihnen das Verständnis, um die Schriften
zu verstehen." (Luk. 24, 45.) „Erforschet die Schriften...,
sie sind es, die von mir zeugen." (Joh. 5, 39.)
„Dies sind die Worte, die ich zu euch redete, als ich noch
bei euch war, daß alles erfüllt werden muß, was über
mich geschrieben steht in dem Gesetz Moses und den
Propheten und Psalmen." Unser Herr erkannte
also, während Er hienieden war, die Schriften (das was
wir das Alte Testament nennen) genau so an, wie wir
sie heute besitzen und wie die Juden sie einst besaßen; Er
berief sich auf ihre Autorität als das Wort Gottes. Und
nach Seiner Auferstehung hören wir: „Und von Moses
und allen Propheten anfangend, erklärte Er ihnen in allen
Schriften das was Ihn betraf." (Luk. 24, 27.) Zu einer
andern Zeit sehen wir Ihn das Buch Jesaja nehmen
40
und die Stelle vorlesen: „Der Geist des Herrn ist auf
mir, weil Er mich gesandt hat ?c." und Er fügt dann
hinzu: „Heute ist diese Schrift vor euern Ohren erfüllt!"
(Luk. 4, 16-21.)
Doch nicht nur die Schriften, sondern auch ihre Schreiber
haben von seiten des Herrn unbedingte Anerkennung gefunden.
„Hat nicht Moses euch das Gesetz gegeben? und
keiner von euch thut das Gesetz." (Joh. 7, 19.) „Deswegen
gab Moses euch die Beschneidung, nicht daß sie von Moses
sei, sondern von den Vätern." (V. 22.) „Es ist einer,
der euch verklagt, Moses, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt
habt. Denn wenn ihr Moses glaubtet, so würdet
ihr mir glauben; denn er hat von mir geschrieben. Wenn
ihr aber seinen Schriften nicht glaubet, wie werdet ihr
meinen Worten glauben?" (Joh. 5, 45—47.) „Wenn
Er jene Götter genannt hat, zu welchen das Wort Gottes
geschah, und die Schrift kann nicht aufgelöst werden."
(Joh. 10, 35.) (Der Ausdruck „Götter" bezieht sich auf
die Richter, welche im Hebräischen häufig Elohim (Götter)
genannt werden.) „Abraham aber spricht zu ihm: Sie
haben Moses und die Propheten; laß sie die hören. Er
aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn jemand
von den Toten zu ihnen geht, so werden sie Buße thun.
Er aber sprach zu ihm: Wenn sie Moses und die Propheten
nicht hören, so werden sie auch nicht überzeugt
werden, wenn jemand aus den Toten aufersteht." (Luk. 16,
29 — 31.) Wie wahr waren jene Worte von den armen
Juden jener Tage, und wie wahr sind sie von den heutigen
Ungläubigen! Das Christentum und die Auferstehung des
Herrn sind wirkungslos, wenn man Moses und den Propheten
nicht glaubt.
41
Doch fahren wir fort. In Matth. 24, 15 erkennt
der Herr einen andern der Propheten an, und zwar gerade
denjenigen, dessen Buch am meisten in Frage gezogen wird:
Daniel. Im 15.Kapitel sagt Er: „Wohl hat Jesaja
über euch geweissagt." Lukas 4 haben wir bereits bezüglich
des Propheten Jesaja angeführt; indes giebt der
Herr in demselben Kapitel auch den Büchern der Könige und
der Geschichte von Elia und Elisa Autorität. Doch warum
noch mehr Stellen anführen? Das ganze Leben und die
Reden des Herrn Jesu sind so innig mit den in dem
Gesetz und den Propheten geoffenbarten Wahrheiten durchflochten,
(obwohl sie andrerseits weit über diese hinausgingen,
da das Gesetz beiseite gesetzt werden sollte,) daß
man die ganze Offenbarung von Christo aus der Bibel
herausreißen muß, um die Autorität des Gesetzes und der
Propheten zu entfernen. Er ist nicht gekommen, aufzulösen,
sondern zu erfüllen. WaS zu erfüllen? Eine armselige,
zur Zeit EsraS vollführte Zusammenstellung menschlicher
Schriften? fragwürdige, von Menschen gefertigte
Dokumente, welche erst nach und nach zu einem anfänglich
unbekannten Gesetz wurden? Oder das Wort Gottes,
welches auf dem Wege göttlicher Inspiration Mose und
denen, welche Jehova sandte, mitgeteilt wurde? Christus
wurde in Bethlehem geboren, weil der Prophet durch Gottes
Willen es so gesagt hatte. Er stirbt, weil anders die
Schriften nicht erfüllt werden konnten. Ja wahrlich, Himmel
und Erde werden vergehen, aber nicht ein Jota, nicht ein
Strichlein wird von dem Gesetz fallen, bis alles erfüllt ist.
Wenden wir uns jetzt zu den Dienern unsers Herrn
Jesu Christi, zu den Aposteln und Schreibern des Neuen
Testamentes. Sie alle berufen sich wieder und wieder auf
42
die Schriften des Alten Testamentes, so wie wir eS besitzen,
und bestätigen es überall als einen göttlich einge-
gebenen Bericht, ausgezeichnet von denen, welchen die einzelnen
Bücher zugeschrieben werden. Aber natürlich, der
Mensch in seinem stolzen Wahn meint fähiger zu sein,
uns zu sagen, was Christentum und Wahrheit sind, als
Christus und Seine Apostel. — Indes was sagen die Apostel ?
Paulus beginnt den Römerbrief mit einer Anerkennung
der Heiligen Schriften und der Propheten: Gott hat Sein
Evangelium „zuvor verheißen in heiligen Schriften durch
Seine Propheten". Dann folgt der Beweis, daß alle,
Heiden und Juden, unter der Sünde sind. Hatte denn
der Jude keinen Vorzug? Allerdings; ihm waren die
„Aussprüche Gottes" anvertraut. Dennoch war er
ein Sünder, und der Apostel liefert den Beweis aus den
Schriften. (Kap. 3.) Jede Frage wird durch eine unmittelbare
Berufung auf die Schrift gelöst. So auch in
Kap. 4, 3: „Was sagt die Schrift?" und dann folgt eine
Anführung aus dem ersten Buche Mose und den Psalmen. Die
weiteren Kapitel sind ebenfalls voll von Berufungen auf die
alttestamentlichen Schriften. Auch in den übrigen Briefen
des Apostels finden sich zahlreiche Anführungen aus dem
Alten Testament; ebenso in den Schriften des Johannes,
des Petrus ?c. Mit einem Wort: in den Evangelien und
in den Episteln, in dem Munde des Herrn und in dem
Munde Seiner Knechte, überall begegnen wir der göttlichen
Autorität des Alten Testamentes, so wie wir es besitzen.
Und ich brauche nicht zu sagen, daß die Autorität Christi
und Seiner Apostel schwerer wiegt als menschliche Spekulationen,
welche sich in jedem einzelnen Falle auf besondere
persönliche Einbildungen gründen und mit dem Einfluß
43
der geistigen Kraft vergehen, welche sie hervorgerufen hat.
Gott sei Dank! wir haben die Autorität Christi und Seiner
Apostel dafür, daß die Schriften nicht nur von denen
herrühren, deren Namen sie tragen, sondern auch daß die
in ihnen enthaltenen Wahrheiten von Gott selbst uns gegeben
sind.
Diese Schreiber reden nicht aus sich selbst. Mose
und die Propheten des Alten Bundes beginnen ihre Mitteilungen
immer wieder mit den Worten: „So spricht
Jehova;" und Paulus versichert wiederholt, daß das, was
er sagt, von Gott selbst herkomme. Er hat nicht einmal
nach den geeigneten menschlichen Ausdrücken gesucht,
um die Offenbarungen Gottes verständlich zu machen;
nein, wenn er von den Dingen redet,. „die uns von Gott
geschenkt sind", so sagt er: „welche wir reden, nicht in
Worten, gelehrt durch menschliche Weisheit, sondern in
Worten, gelehrt durch den Geist". (1. Kor. 2, 13.) Was
er brachte, war nicht das Wort eines Menschen, sondern
das Wort Gottes. Was er schrieb, waren die Gebote des
Herrn, und als solche mußten sie von den Gläubigen
ausgenommen werden.
Somit ist nicht nur die Bibel eine Offenbarung
von seiten Gottes, sondern auch die Mitteilung dieser
Offenbarung ist Sein Werk. „So spricht Jehova", heißt
es im Alten, und „Worte, gelehrt durch den Geist", im
Neuen Testament, so daß das, was wir besitzen, das
Wort Gottes ist. Gott hat uns nicht in Ungewißheit
gelassen.
Vielleicht wird man einwenden, daß wir nur unvollkommene
Uebersetzungen dieses Wortes in Händen halten.
Doch dieser Einwurf ist nicht stichhaltig. Obwohl alle
44
Übersetzungen Menschenwerk sind und deshalb mehr oder
weniger unvollkommen sein müssen, so enthalten sie doch
die Offenbarung Gottes; giebt es auch Fehler, Ungenauigkeiten,
Irrtümer rc. in denselben, so ändert das doch nichts
an den Grundzügen der göttlichen Wahrheit.
Ein anderer überaus wichtiger Punkt, den ich nicht
unerwähnt lassen darf, ist die Einheit des Geistes in dem
ganzen Alten und Neuen Testament. Sind auch die einzelnen
Bücher zu ganz verschiedenen Zeiten und von den
verschiedensten Personen geschrieben, weichen auch Stil und
Sprache der Schreiber wesentlich von einander ab, so durchweht
doch das Ganze nur ein Geist; ein großer, einheitlicher
Plan tritt dem Forscher von Anfang bis zu
Ende entgegen. Man findet in dem Buche Gottes Geschichte
und Prophezeiung, Poesie und sittliche Unterweisungen;
man begegnet dem Menschen vor dem Gesetz und
unter dem Gesetz, der Gnade und den wunderbaren Gedanken
Gottes bezüglich der Kirche — alles das ist verschieden,
und doch wieder durch ein so inniges Band mit
einander verknüpft, daß nur ein und derselbe Geist die
verschiedenen Schreiber geleitet und inspiriert haben kann.
Nur e i n Geist, nur eine inspirierenoe Kraft, welche das
Ende von Anfang an kannte und jenen einheitlichen Plan
vor sich hatte, kann der wirkliche Urheber des Buches sein,
welches wir Bibel nennen. Wie ein ununterbrochener
roter Faden zieht sich der Vorsatz Gottes durch alle die
verschiedenen Teile dieses Buches hindurch und macht einen
jeden Teil an seinem Platze dem Ganzen dienstbar und
verbindet alle zusammen zu einem einheitlichen Ganzen.
Indes ist die Bibel nicht nur eine Zusammenstellung
von Thatsachen und Ereignissen, sondern sie bietet auch
45
die sittliche Grundlage der Beziehungen des Menschen zu
Gott dar. Sie zeigt uns den Menschen in dem Zustande
der Unschuld, den Verlust dieser Unschuld, die sittliche
Verantwortlichkeit des Menschen, das mit göttlicher Autorität
als vollkommenes Maß der Verantwortlichkeit gegebene
Gesetz, den durch die Uebertretung des Gesetzes
doppelt schuldigen Menschen, den Versuch, ein Heilmittel
zu bringen in dem Zeugnis der Propheten und in dem
Kommen des Sohnes Gottes selbst, und endlich, nachdem
sich alles als vergeblich erwiesen hat, als Resultat das
Gericht der Welt; nachdem dann jeder Mund zum Schweigen
gebracht und die ganze Welt als schuldig und dem
Gericht Gottes verfallen erwiesen ist, wird durch die Gnade
Gottes ein vollkommenes Heil verkündigt, ein Heil, welches
der Natur und der Herrlichkeit Gottes entspricht, das
alle Jahrhunderte hindurch in dem Worte der Prophezeiung
festgehalten und endlich völlig geoffenbart worden
ist; und schließlich finden wir die himmlische Herrlichkeit
und eine unter der Regierung des Messias wiederhergestellte
Erde, den neuen Bund, und nach allem die Ewigkeit.
Diesem kann man noch die Kirche in ihrem besondern
Platze mit Christo, als Sein Weib, hinzufügen.
Wenn es in der Welt eine Segnung giebt außer
derjenigen, den Herrn persönlich zu besitzen und Ihn als
Heiland zu kennen, so ist es diejenige, das Wort Gottes
zu haben, so wie Gott selbst es uns, gleich unserm Herrn,
gegeben hat, ein göttliches und himmlisches Wort, welches
aber dem Menschen und seinen Bedürfnissen vollkommen
angepaßt ist — ja, dieses Wort im Munde und im Herzen
zu haben. (Röm. 10, 8.) Das was wir besitzen, ist
das Wort des lebendigen Gottes selbst, welches in den
46
Gläubigen wirkt. Darum: „Ihr, was ihr von Anfang
gehört habt, bleibe in euch. Wenn in euch bleibt, was ihr
von Anfang gehört habt, fo werdet auch ihr in dem Sohne
und in dem Vater bleiben." (1. Joh. 2, 24.)
Das eherne Meer.
„Und er (Salomo) machte das Meer, gegossen, zehn
Ellen von seinem einen Rande bis zu seinem andern
Rande, gerundet ringsum, und fünf Ellen seine Höhe;
und eine Schnur von dreißig Ellen umfaßte es ringsum.
Und unter demselben waren Gleichnisse von Rindern, die
ringsherum dasselbe umgaben, zehn auf die Elle, das
Meer ringsum einschließend; der Rinder waren zwei
Reihen, gegossen aus einem Gusse mit demselben. Es
stand auf zwölf Rindern; drei wandten sich gegen Norden,
und drei wandten sich gegen Westen, und drei wandten
sich gegen Suden, und drei wandten sich gegen Osten;
und das Meer war auf denselben, oben darüber, und
alle ihre Hinterteile waren nach innen. Und seine Dicke
war eine Handbreit, und sein Rand wie die Arbeit
eines Becherrandes, wie eine Lilienblüte; an Inhalt
faßte es dreitausend Bath ... Und das Meer war
für die Priester, um sich darin zu waschen."
(2. Chrom 4, 2-6.)
Drei Dinge sind es, welche sich bei der Betrachtung
dieses schönen und treffenden Vorbildes unsrer Aufmerksamkeit
von selbst aufdrängen, nämlich der Stoff, aus welchem
das Meer gemacht war, dann sein Inhalt und endlich
sein Zweck. Möge der Heilige Geist unsre Gedanken leiten
und zu unsern Herzen reden, während wir uns mit diesen
Dingen beschäftigens
1. Das Meer war aus Erz verfertigt, dem passenden
Symbol der göttlichen Gerechtigkeit, welche nicht nur das
47
Gericht über die Sünde, sondern auch das Gericht über
jede Unreinheit fordern muß. Dem ersten begegnen wir
in dem ehernen Altar, dem zweiten in dem ehernen
Meere. Wenn der Herr Jesus vor den Augen des
Propheten Johannes erscheint als Der, welcher inmitten
der sieben goldenen Leuchter wandelt, so sind „Seine Füße
gleich glänzendem Kupfer (oder Erz), als glühten sie im
Ofen". Er kann das Böse nicht dulden, sondern muß
es, in der Ausübung des Gerichts, unter Seinen Füßen
zertreten. Dies zeigt uns, weshalb der Altar, wo die
Sünde gesühnt, und das Meer, wo die Verunreinigung
abgewaschen wurde, von Erz gemacht waren. Alles in
der Schrift hat seine Bedeutung, und wir sollten in einem
Geiste des Gebets diese Bedeutung zu erfassen suchen.
Welch ein Trost für das Herz, versichert sein zu
dürfen, daß sowohl die Sünde, welche Gott in freier,
unumschränkter Gnade vergiebt, als auch die Unreinigkeit,
die Er mit derselben Bereitwilligkeit entfernt, vollkommen
und für immer in dem Kreuze verurteilt und gerichtet
worden sind. Nicht ein Titelchen unsrer Schuld, nicht die
geringste Unreinheit ist übersehen und übergangen worden;
alles hat sein göttliches Gericht gefunden. „Die Barmherzigkeit
rühmt sich wider das Gericht;" und „die Gnade
herrscht durch Gerechtigkeit". (Jak. 2, 13; Röm. 5, 21.)
Der Gläubige hat Vergebung seiner Sünden und ist gereinigt;
aber seine Schuld und seine Unreinigkeit wurden
auf dem Kreuze, gerichtet. Die Kenntnis dieser Wahrheit
wirkt in doppelter Beziehung: sie setzt das Herz und das
Gewissen in vollkommene Freiheit und führt uns zugleich
dahin, Sünde und Unreinigkeit mit stets wachsender Kraft
zu verabscheuen. Der eherne Altar redete in stummer,
48
aber eindringlicher und ausdrucksvoller Sprache von seiner
doppelten Bedeutung: die Schuld war in göttlicher Weise
gerichtet worden, und deshalb konnte sie in göttlicher Weise
vergeben werden. Das eherne Meer legte ein schweigendes,
aber darum nicht weniger klares Zeugnis von der Thatsache
ab, daß die Unreinigkeit in göttlicher Weise gerichtet
war, und deshalb in göttlicher Weise abgewaschen werden
konnte.
Welch ein Trost liegt in diesem allem für das Herz!
Und doch ist es, wenn ich es so nennen darf, ein heiliger
Trost. Unmöglich könnte ich das Gegenbild des Altars
anschauen und in leichtfertiger Weise sündigen; unmöglich
das Gegenbild des ehernen Meeres betrachten und in
Gleichgültigkeit des Herzens mich verunreinigen. Mein
Trost ist tief und unerschütterlich, weil ich weiß, daß
Vergebung und Reinigung mein Teil sind; aber er ist
auch ernst und heilig, weil ich weiß, daß Jesus Sein
Leben aufopfern mußte, um mich dieser Vergebung und
Heiligung teilhaftig werden zu lassen. Gott ist vollkommen
verherrlicht, Sünde und Unreinigkeit sind vollkommen
verurteilt worden, und ich bin in Freiheit gesetzt; aber
die Grundlage von allem ist der Tod Christi. Das
ist die tröstliche und zugleich heilige Unterweisung, welche
uns in dem Stoffe, woraus der Altar und das Meer verfertigt
waren, gegeben wird. Nichts wird von Gott übergangen
; und doch wird mir nichts zugerechnet, weil Christus
für alles gerichtet worden ist.
2. Wir kommen jetzt zu dem Inhalt des von
Salomo verfertigten Meeres. Es faßte dreitausend Bath
Wasser. Wenn ich bei dem Altar Erz in Verbindung
mit Blut sehe, finde ich bei dem Meere Erzin Verbindung
49
mit Wasser. Beides deutet aus Christum hin. „Dieser
ist es, der gekommen ist durch Wasser und Blut, Jesus,
der Christus; nicht durch das Wasser allein, sondern durch
das Wasser und das Blut." (1. Joh. 5, 6.) „Einer
der Kriegsknechte aber durchbohrte mit einem Speer Seine
Seite, und alsbald kam Blut und Wasser heraus."
(Joh. 19, 34.) Das Blut, welches sühnt, und das Wasser,
welches reinigt, fließen beide aus der Seite eines gekreuzigten
Heilandes. Kostbare und ernste Wahrheit! Kostbar,
weil wir jetzt Sühnung und Reinigung besitzen; ernst
wegen des Weges, auf welchem wir sie erlangt haben.
Das eherne Meer enthielt also Wasser, nicht Blut.
Alle, welche sich ihm nahten, hatten bereits die Kraft des
Blutes an sich erfahren, und bedurften deshalb nur der
Waschung mit Wasser. So war es in dem Vorbilde,
und so ist es in dem Gegenbilde, in Christo. Die einmal
ganz gewaschenen und mit dem Sühnungsblute des
Opfertieres in Berührung gebrachten Priester unter dem
Gesetz hatten, wenn ihre Hände und Füße unrein geworden
waren, nicht nötig, zu dem ehernen Altar zurückzukehren,
sondern gingen geradewegs zu dem ehernen Meere. Das
Blut brauchte nicht wieder aus sie angewandt zu werden,
um sie zu Priestern zu machen, sondern sie hatten sich
nur mit Wasser zu waschen, um zur Ausübung ihres
priesterlichen Dienstes fähig zu sein. Gerade so ist es jetzt;
der einmal ganz gewaschene und mit Blut gereinigte Gläubige
hat, wenn er sich vergißt und sündigt, nicht nötig,
noch einmal mit dem Blute in Verbindung gebracht zu werden,
wie im Anfang, sondern bedarf nur der reinigenden
Wirkung des Wortes, durch welches der Heilige Geist die
Erinnerung an das, was Christus gethan hat, auf die Seele
50
anwendet, so daß die Verunreinigung erkannt und entfernt,
die Gemeinschaft wiederhergestellt und der geistliche «Priester
fähig gemacht wird, von neuem seine priesterlichen Obliegenheiten
zu erfüllen. „Wer gebadet ist, hat nicht nötig
sich zu waschen, ausgenommen die Füße, sondern ist
ganz rein." (Joh. 13, 10.) „Die Gottesdienst Hebenden,
einmal gereinigt, würden kein Gewissen mehr von
Sünde gehabt haben." (Hebr. 10, 2.) Läßt dies die
Verunreinigung als etwas Geringfügiges erscheinen? Gerade
das Gegenteil. Machte die Aufstellung des ehernen Meeres
mit seinen dreitausend Bath Wasser die priesterliche Verunreinigung
zu einer leichten, unbedeutenden Sache? Dewies
sie nicht vielmehr, wie viel aus ihr gemacht, wie ernst sie
von Gott beurteilt wurde, und wie unmöglichI es^war,
mit einem einzigen Flecken auf den Händen oder Füßen
voranzugehen?
Mein Leser möge diesen Gegenstand in dem Lichte
des Wortes Gottes wohl erwägen. Viele Gläubige sind
nicht klar über die Lehre, welche in dem ehernen Altar
und dem ehernen Meere vorbildlich dargestellt ist. Darum
geraten auch so manche Christen in große Unruhe bezüglich
der Frage von ihren Sünden und Verunreinigungen
im praktischen Wandel. Indem sie die göttliche Vollkommenheit
ihrer Reinigung durch das Blut Christi nicht
verstehen, meinen sie bei jedem neuen Anlaß wieder zu
dem ehernen Altar zurückkehren zu müssen. Aber wenn
ein Mensch einmal durch das Blut Jesu gereinigt ist, so
ist er für immer rein. Er ist in eine Stellung versetzt,
welcher vollkommene Reinheit anhaftet, und er kann diese
Stellung nie wieder verlieren. Wohl kann er das Bewußtsein,
die Kraft, den Genuß derselben verlieren, aber
51
nie die Stellung selbst. Petrus spricht von solchen,
welche die Reinigung ihrer vorigen Sünden vergessen
haben. Wenn das Ich nicht mit allem Ernst gerichtet
wird und man mit der Sünde spielt, so ist es schwer zu
sagen, wohin ein Christ kommen kann. Der Herr gebe
uns, vor Ihm zu wandeln mit aller Sorgfalt und Behutsamkeit
Tag für Tag, damit wir nicht unter den verblendenden
und verhärtenden Einfluß der Sünde geraten!
Indes möchte ich daran erinnern, daß das wirksamste
Schutzmittel gegen die Thätigkeit und den Einfluß der
Sünde darin besteht, daß das Herz in der Gnade befestigt
wird und völlig klar ist über unsre Stellung in
Christo. Bin ich ungewiß und zweifelhaft über diese
Dinge, so werde ich über kurz oder lang in die Schlingen
SatanS fallen. Suche ich deshalb ein heiliges Leben zu
führen, um meine Stellung vor Gott zu befestigen, so
werde ich entweder in pharisäischem Stolze oder in tiefer
Finsternis und vielleicht in schrecklichen Sünden enden.
Weiß ich aber, daß alle meine Sünden und Verunreinigungen
auf dem Kreuze verurteilt und gerichtet worden
find, so stehe ich auf dem wahren Boden der Heiligkeit.
Und wenn ich fehle, wie ich es leider so mannigfaltig
thue, so bringe ich in ernstem Selbstgericht und Bekenntnis
meine Fehler vor Gott, indem ich weiß, daß Er treu
und gerecht ist, mir meine Sünden zu vergeben und mich
zu reinigen von aller Ungerechtigkeit. Ich richte mich selbst
auf Grund der Thatsache, daß Christus bereits vor Gott
gerade wegen der Sache gerichtet worden ist, welche ich
in Seiner Gegenwart bekenne. Wäre es nicht so, so
würde mein Bekenntnis nutz- und wertlos sein. Der
einzige Grund, weshalb Gott „treu und gerecht" ist, mir
52
zu vergeben und mich zu reinigen, ist die Tatsache, daß
Christus schon meinetwegen gerichtet worden ist; und
sicherlich wird Gott nicht dieselbe Sache zweimal richten.
Freilich muß ich mich selbst richten und meine Sünde bekennen,
wenn ich gefehlt habe. Ein einziger sündhafter
Gedanke genügt, um meine Gemeinschaft mit Gott zu
unterbrechen; und ein jeder derartiger Gedanke muß gerichtet
werden, ehe diese Gemeinschaft wiederhergestellt werden
kann. Aber es ist als ein Gereinigter und Erlöster,
daß ich mein Bekenntnis ablege. Ich werde nicht länger
als ein Sünder betrachtet, der es mit Gott als Richter
zu thun hat; sondern ich befinde mich jetzt in der Stellung
eines Kindes, welches Gott als seinen Vater kennt und
Ihm mit kindlichem Vertrauen naht. Er hat Vorkehrungen
für meine täglichen Bedürfnisse getroffen, und zwar Vorkehrungen,
welche zugleich von der Heiligkeit und Gnade
Dessen zu mir reden, der so treu für mich gesorgt hat.
Ich soll nicht den Altar vergessen, weil ich das Meer
nötig habe, sondern ich soll die Gnade Dessen anbeten,
der beides für mich vorgesehen hat.
3. Nachdem wir so eingehend den Stoff, aus welchem
das Meer gemacht war, und seinen Inhalt betrachtet haben,
werden wenige Worte über den Zweck desselben genügen.
„Das Meer war für die Priester, um sich darin zu waschen."
Die Priester traten Tag für Tag an das eherne Meer
heran, um ihre Hände und ihre Füße zu waschen, damit
sie so stets in einem passenden Zustande wären, ihr
priesterliches Werk zu verrichten. Welch ein treffendes Vorbild
von den geistlichen Priestern Gottes, d. h. von allen
wahren Gläubigen, deren Werke und Wege durch die
Wirksamkeit des Wortes gereinigt werden müssen! So
53
wohl das eherne Becken in der Stiftshütte als auch das
eherne Meer in dem Tempel stellten vorbildlich jene „Waschung
mit Wasser durch das Wort" dar, welche Christus jetzt
ausübt durch die Kraft des Heiligen Geistes. Christus
ist persönlich für uns droben im Himmel beschäftigt; und
durch Seinen Geist und Sein Wort wirkt Er in und auf
uns hienieden. So, und nur so, sind wir fähig voranzuschreiten.
Er stellt uns wieder her, wenn wir abirren;
Er reinigt uns von jeder Befleckung; er korrigiert jeden
Fehler, den wir machen. Er lebt stets für uns. Er
erhält uns aufrecht in der Kraft und Unantastbarkeit der
Stellung, in welche Sein kostbares Blut uns versetzt hat.
Alles ist in Ihm gesichert. Er „hat die Versammlung
geliebt und sich selbst für sie hingegeben, auf daß Er sie
heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser, durch
das Wort, auf daß Er die Versammlung sich selbst verherrlicht
darstellte, die nicht Flecken oder Runzel oder etwas
dergleichen habe, sondern daß sie heilig und tadellos sei."
(Eph. 5, 25-27.)
Zum Schluß noch ein Wort über die „Rinder", auf
welchen das eherne Meer ruhte. Das Rind wird in der
Schrift vielfach als ein Symbol zäher Ausdauer, geduldiger,
unermüdlicher Arbeit gebraucht; daher ihr bezeichnender
Platz unterhalb des ehernen Meeres. Von welcher
Seite der Priester sich auch dem Meere nähern mochte,
überall begegnete er dem Bilde der geduldigen, ausharrenden
Thätigkeit. Es machte nichts aus, wie oft oder von welcher
Seite er kam; niemals konnte er die Geduld erschöpfen,
welche dem Werke seiner Reinigung von aller Befleckung
gewidmet war. Welch ein schönes Bild! Und das Wesen,
die Verwirklichung dieses Bildes finden wir in Christo.
54
Wir können Ihn niemals durch unser häufiges Kommen
ermüden. Seine Geduld ist unerschöpflich. Er wird nicht
müde werden, bis Er uns ohne Flecken oder Runzel oder
etwas dergleichen. sich selbst verherrlicht darstellen wird.
Möchten denn auch unsre Herzen nicht müde werden,
Ihn anzubeten, der unser Opfer, unser Priester, unser
Sachwalter, unser Alles ist — Ihn, dessen Sühnungswerk
und dessen Bemühung der Liebe mit uns in unserm
täglichen Leben in dem ehernen Altar und dem ehernen
Meere einen so treffenden Ausdruck finden!
„Mein Sohn! achte nicht gering des Herrn
Züchtigung."
(Hebr. 12, 5.)
Alle Gläubigen befinden sich unter der Zucht des Vaters,
in der Schule Gottes. Gerade diese Thatsache beweist,
daß sie Kinder Gottes sind; denn wären sie ohne Züchtigung,
so würden sie Bastarde und nicht Söhne sein.
(V. 8.) „Wer ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?"
— Und wie gut ist es, daß wir unter der züchtigenden
Hand unsers Gottes und Vaters stehen! Wohin würden
wir kommen, wenn Er uns dem Eigenwillen unsrer thörichten
Herzen überließe, wenn Er erlaubte, daß wir ungehindert
unsre eigenen Wege gingen! wenn Er in Seiner
Weisheit nicht unsrer Thorheit entgegenträte! wenn Er,
der das Ende von Anfang an kennt, vor dem unsre eigen-
liebigen, selbstsüchtigen Herzen, unsre gefährlichen Neigungen,
unser Hang zur Welt, unsre natürliche Trägheit und Bequemlichkeit
und tausend andere Dinge bekannt sind, uns
nicht zu Hülse käme und durch Seine züchtigenden Wege
55
uns zur Wachsamkeit, zur Erkenntnis unsrer Ohnmacht
und zum Aufblick nach oben anleitete! Wie bald würden
wir uns aus Seiner gesegneten Gegenwart entfernen und
dem Verderben zueilen!
Darum noch einmal, wie gut ist es, daß kein Gläubiger
ohne Züchtigung ist! Freilich scheint die Züchtigung
für die Gegenwart nicht Freude zu sein; nein, sie soll als
Züchtigung gefühlt werden und ein Gefühl der Traurigkeit
Hervorrufen. Was aber bewirkt sie denen, welche sich durch
sie üben und belehren lassen, die in ihr lernen, was der
Vater sie lehren will? „Die friedsame Frucht der
Gerechtigkeit!" Wahrlich, eine kostbare Frucht — kostbar
für den Herrn, kostbar auch für den Gläubigen.
Zwei Gefahren nun sind es, welchen der unter der
Zucht des Vaters stehende Gläubige stets ausgesetzt ist.
Ist die Züchtigung leicht, so ist er geneigt, sie gering zu
achten, sie zu übersehen und infolge dessen ihren Zweck zu
vereiteln. Ist sie schwer, oder währt sie eine längere Zeit
unverändert fort, so steht er in Gefahr, unter ihrem
Gewicht zu Boden zu sinken und zu ermatten. Letzteres
war bei den Hebräern der Fall. Die lang andauernden
Verfolgungen seitens der Feinde Christi hatten ihren Geist
niedergedrückt, und sie waren nahe daran zu verzagen und
in ihrem Wettlauf inne zu halten. Der Heilige Geist ermuntert
sie, indem Er ihnen zeigt, daß nicht etwa Gottes
Zorn diese Zeit der Trübsal über sie verhängt habe,
sondern die Liebe des Vaters, welche mit ihnen
handelte, als mit Söhnen. „Ihr habt der Ermahnung
vergessen, welche zu euch spricht als zu Söhnen: „Mein
Sohn! achte nicht gering des Herrn Züchtigung, noch
ermatte, wenn du von Ihm gestraft wirst!"" Wie zärtlich
56
und innig sind diese Worte! Kein irdischer Vater wurde
so reden; sie züchtigen „nach ihrem Gutdünken", und wie oft
leitet sie dieses Gutdünken irre! Nicht so der „Vater der
Geister"; Er züchtigt nach Seiner göttlichen Weisheit und
väterlichen Liebe, und dann redet Er in rührender Güte,
mit innigem Erbarmen zu Seinem leidenden Kinde: „Mein
Sohn! — mein lieber Sohn! — achte nicht gering meine
Züchtigung, noch ermatte unter ihrer Schwere!"
Ist es nicht ein unendliches Vorrecht, unter der
erziehenden Hand eines solchen Vaters zu stehen, mein
Leser? Eines Vaters, der uns über alles liebt, und der
alle Dinge zu unserm Guten mitwirken läßt? Sollten
wir die Hand nicht küssen, welche die Zuchtrute bei uns
in Anwendung bringt, zu unserm zeitlichen und ewigen
Wohl? O möchten wir jene väterliche Ermahnung, jenen
freundlichen Zuspruch nie vergessen, welcher auch zu uns
spricht als zu Söhnen: „Mein Sohn! achte nicht
gering des Herrn Züchtigung, noch ermatte, wenn
du von Ihm gestraft wirst." — Würden wir mehr acht
haben auf die züchtigende Hand unsers Gottes und Vaters
in den kleinen Dingen des täglichen Lebens, so würden
wir uns vielleicht manche ernstere Züchtigung ersparen. Denn
der Vater züchtigt uns, nicht weil Er Freude am Züchtigen
hat, sondern uns „zum Nutzen, damit wir Seiner
Heiligkeit teilhaftig werden." Andrerseits haben wir aber
auch keinen Grund zu ermatten. Denn wenn wir auch
nicht immer den Zweck Seiner ernsten Wege mit uns
verstehen mögen, so wissen wir doch das Eine, daß wir
in der Hand eines liebenden Vaters stehen, und daß Sein
Zweck nur ein guter und gesegneter sein kann.
Einleitung in die Schriften des Alten und
des Neuen Testaments. *)
*) Die nachfolgende, höchst lehrreiche Einleitung in die Bücher
der Heiligen Schrift wurde von unserm lieben Heimgegangenen Bruder
I. N. Darby nicht lange vor seinem Tode und gelegentlich
seiner Uebersetzung der Bibel in die französische Sprache geschrieben.
Wir sind überzeugt, daß sie auch den deutschen Lesern willkommen
sein wird, umsomehr als gerade jetzt die zweite Ausgabe der Heiligen
Schrift in deutscher Uebersetzung erschienen ist.
Eine Einleitung zur Bibel zu schreiben, ist meines
Erachtens eine höchst ernste und schwierige Sache. Ein
Buch zur Hand zu nehmen, welches die Gesamtheit aller
Gedanken Gottes und aller Seiner Wege mit dem Menschen,
sowie Seines im Blick auf Christum und den
Menschen in Ihm gefaßten Ratschlusses darstellt, — ein
Buch, welches zu gleicher Zeit die Offenbarung des Wesens
Gottes und der Verantwortlichkeit des Menschen ist, sowie
die Offenbarung dessen, was Er selbst für den Menschen
gethan hat, und der neuen.Beziehungen, in welche dieser
durch Christum zu Gott tritt, — ein Buch, das die
Natur Gottes in sittlicher Hinsicht entfaltet, sowie die
verschiedenartigen Haushaltungen, in welchen Er sich vor
den Himmeln und ihren Bewohnern verherrlicht, — ein
Buch, welches die Geheimnisse und den Zustand des
menschlichen Herzens enthüllt, und zugleich die unstcht-
58
baren Dinge vor ihm aufdeckt, — ein Buch, das da beginnt,
wo die Vergangenheit an die Ewigkeit grenzt, und
das uns durch eine Erörterung und Auflösung aller sittlichen
Fragen zu dem Ziele führt, wo die Zukunft wieder
die Ewigkeit berührt, so wie diese Gottes Vorsätzen entspricht,
— ein Buch, welches die sittlichen Fragen in dem friedlichen
Lichte des geoffenbarten Gottes ergründet, und uns
die Grundlagen neuer Beziehungen zu Ihm erkennen läßt,
gemäß dem, was Er ist in unendlicher Liebe....... es
zu unternehmen, sage ich, dem menschlichen Geiste den Pfad
zu eröffnen, (soweit dies dem Menschen gegeben ist, denn
Gott allein kann es mit Erfolg thun,) um die Wege
Gottes, wie Er sie geoffenbart hat, zu verstehen, — das
ist eine Sache, die wohl geeignet ist, den Geist vor der
Schwierigkeit und dem Ernst der Aufgabe zurückbeben
zu lassen, wenn man bedenkt, daß man sich in der Gegenwart
der durch Gott selbst geoffenbarten Gedanken Gottes
befindet. In der That, welch eine wichtige Sache ist
diese göttliche Unterbrechung der Ewigkeit, während welcher
die fieberhafte Thätigkeit des gefallenen Geschöpfes
unter dem Antriebe dessen, der die Macht der Lüge und
des Mordes ausübt, sich in Gedanken entfaltet, die alle
vergehen; während welcher aber auch die Natur und die
Gedanken Gottes, Sein Wesen und Sein bestimmter Ratschluß,
die bis dahin von Ewigkeit her in Ihm selbst
verborgen waren, sich enthüllen und mittelst des Sohnes
ihre Erfüllung finden, (während zugleich der Mensch geprüft
und offenbar gemacht wird,) um in ihrem Resultat
in einer Ewigkeit zukünftiger Herrlichkeit in Erscheinung
zu treten, wo Gott, umgeben von gesegneten Geschöpfen,
die Ihn kennen und verstehen, sich als Licht und als
59
Liebe offenbaren wird in der Frucht Seiner ewigen und
unvergänglichen Gedanken; wo aber auch alles, was durch
Seine Gnade und Weisheit hienieden gewirkt worden ist,
sich in seinen herrlichen und ewigen Früchten zeigen wird;
wo Gott — Vater, Sohn und Heiliger Geist — (nur
von sich selbst gekannt, ehe die Zeit war,) gekannt sein
wird von unzähligen glücklichen Wesen, gekannt in ihrer
eignen Glückseligkeit, wenn die Zeit nicht mehr sein wird!
Und diese Welt ist der wunderbare Schauplatz, auf welchem
alles zu diesem Zweck stattfindet; und das Herz
des Menschen ist der Ort, wo in sittlicher Hinsicht alles
sich vollzieht und verwirklicht, wenn Gott, in dem und
durch den und für den alle diese Dinge sind, durch Seinen
Geist in ihm wohnt, um ihm. Einsicht zu geben,
und wenn Christus, der Mittelpunkt alles dessen, was
geschieht, sein einziger Gegenstand ist. Die Bibel nun ist
die Offenbarung, welche Gott uns von diesem ganzen
wunderbaren System und von allen darauf bezüglichen
Thatsachen gegeben hat. Begreift man da nicht, daß man
vor der Aufgabe, solche Dinge auseinanderzusetzen, zurückschreckt?
Doch wir haben es mit einem gütigen Gott zu
thun, dessen Freude es ist, uns in allem zu helfen, was
uns von Nutzen sein kann, um Seine Gedanken, die
Er nach Seinem Wohlgefallen uns geoffenbart hat, zu
verstehen.
Einige Hauptgrundsätze kennzeichnen diese Offenbarung;
und über diese möchte ich ein Wort sagen, bevor
ich auf Einzelheiten eingehe.
Der erste große Gedanke, welcher der Offenbarung
Gottes sein Gepräge aufdrückt, ist derjenige von den
beiden Adam. Es giebt zwei Menschen, den ersten
60
und den zweiten, den verantwortlichen Menschen und den
Menschen der Ratschlüsse Gottes, in welch letzterem, unter
Bestätigung des Grundsatzes der Verantwortlichkeit, Gott
sowohl sich selbst offenbart als auch Seine unumschränkten
Ratschlüsse und die Gnade, die in Gerechtigkeit herrscht.
Diese beiden Grundsätze beherrschen den ganzen Inhalt
der Bibel. Doch obwohl die Güte Gottes sich fortwährend
in Seinen Wegen bis zur Ankunft Seines Sohnes zeigte,
offenbarte sich die Gnade in dem vollen Sinne des Wortes
doch nur in prophetischer Weise und dazu noch so
verschleiert, daß es dem damaligen Zustand der Beziehungen
des Menschen zu Gott keinen Eintrag that; auch
geschahen diese Offenbarungen oft in Ausdrücken und
Formen, welche erst, verstanden werden können, wenn das
Neue Testament uns den Schlüssel dazu liefert.
Dies führt mich zu zwei anderen Gedanken, die in
der Schrift geoffenbart und entfaltet werden. Da ist
zunächst die Regierung Gottes auf dem Schauplatz
dieser Welt, eine zwar gewisse, aber lange verborgene
Regierung. Nur in geringem Maße zeigte sie sich in
Israel, und auch da noch den Augen der Menschen verhüllt,
weil die Ungerechtigkeit die Oberhand hatte, (Ps. 73)
und weil Gott tiefere Wege und größere Segnungen für
die Seinigen inmitten dieser Regierung hatte, — Wege,
in welchen Er für das geistliche Wohl der Seinigen Leiden
benutzte, die in Uebereinstimmung mit dieser Regierung
standen. Die in der Bibel enthaltene Geschichte zeigt dem
geistlichen Menschen den Gang dieser Wege. Die Psalmen
geben uns die Betrachtungen über dieselben, wie sie durch
den Geist Christi in den Seinen hervorgebracht wurden, indem
die Ausdrücke sich zuweilen bis zu der Erfahrung Christi
61
selbst erheben und so unmittelbar prophetisch werden. —
Doch ich greife ein wenig vor.
Der andere göttliche Grundsatz ist die unumschränkte
Gnade, welche arme Sünder nimmt, ihre
Sünden tilgt und sie in die Herrlichkeit des Sohnes selbst,
(der dazu Mensch wurde,) versetzt, „dem Bilde Seines Sohnes
gleichförmig," und zwar gemäß der Gerechtigkeit Gottes
vermittelst des Opfers Christi, durch welches Er Gott hinsichtlich
der Sünde vollkommen verherrlicht hat. Spuren
dieser unumschränkten Gnade finden sich in der Regierung
Gottes wieder und treten ans Licht, wenn das Resultat
dieser Regierung hervorgebracht ist; aber erst in der himmlischen
Herrlichkeit wird jene Gnade völlig geoffenbart sein.
Der Regierung Gottes schließt sich das Gesetz enge
an. Es setzt die Richtschnur des Guten und Bösen Gott
gemäß fest, und gründet dieselbe auf Seine Autorität.
Der Herr giebt uns die Erklärung davon, indem Er aus
verschiedenen Teilen der fünf Bücher Mose die Grundsätze
herleitet, welche, wenn sie im Herzen vorhanden und
wirksam wären, zum Gehorsam und zur Erfüllung des
Willens Gottes führen und eine menschliche Gerechtigkeit hervorbringen
würden. Die zehn Gebote schaffen nicht erst
die Verpflichtung zum Gehorsam; diese Verpflichtung gründet
sich vielmehr auf die Beziehungen, in welche Gott den
Menschen gestellt hat.
Zwischen den Grundsätzen des Gesetzes, wie sie durch
Jesum aufgestellt wurden, und den zehn Geboten besteht
dieser Unterschied: Die Grundsätze, welche der Herr den
Büchern Mose entnommen hat, umfassen völlig das absolut
Gute, ohne daß die Sünde dabei in Frage kommt; während
die zehn Gebote die Sünde voraussetzen und, mit Aus
62
nähme eines einzigen, jede Untreue betreffs der Beziehungen,
von welchen sie reden, untersagen. Es ist sehr beachtenswert,
daß das letzte dieser Gebote die Neigung des Herzens zu
den vorher verurteilten Sünden verbietet; „der Stachel ist
in dem Schwänze". Ueberdies bildeten die verschiedenen
Beziehungen die Grundlagen der Verpflichtung, indem die
Gebote dem Menschen nicht erlaubten, dagegen zu fehlen.
Aber der Grundsatz des Gesetzes, ja, eines jeden Gesetzes,
besteht darin, daß die Billigung dessen, dem gegenüber ich
verantwortlich bin, und die Annahme seitens dessen, der das
Recht hat, über meine Treue bezüglich meiner Verantwortlichkeit
oder über meine Verfehlungen zu richten, — mit
einem Wort, mein Glück - abhängt von dem, was ich in
dieser Hinsicht bin, was ich Ihm gegenüber bin. Die Beziehungen
sind durch den Willen und die Autorität des
Schöpfers festgestellt, und wenn ich darin fehle, so sündige
ich gegen Den, der sie sestgestellt hat; ich verachte Seine
Autorität und bin ungehorsam gegen Ihn. Der Grundsatz
des Gesetzes ist, daß die Annahme der Person von
ihrem Verhalten abhängig ist; die Gnade thut, was sie
will, in Güte — in Uebereinstimmung mit der Natur und
dem Charakter Dessen, der Gnade übt.
Ein anderes wichtiges Element in den Wegen Gottes,
das dem Gesetz gegenüber steht, sind die Verheißungen.
Sie begannen schon bei dem Fall des Menschen, aber als
Grundsatz in den Wegen Gottes erst bei Abraham, als
die Welt nicht nur in die Sünde, sondern auch in den
Götzendienst gefallen war, indem Satan und die Teufel
sich des Platzes Gottes in dem Geiste des Menschen bemächtigt
hatten. Die Erwählung Abrams nun, seine Berufung
und die ihm gegebenen Verheißungen
63
— alles das stand in Verbindung mit der Gnade. Auch
ist Abram Gott nach dem Lande gefolgt, *) welches Gott
ihm angewiesen hatte; aber er besaß dort nicht, wohin er
seinen Fuß setzen konnte. Dies führt ein anderes LebenS-
prinzip ein, nämlich aus Glauben zu leben, das Wort
GotteS als solches anzunehmen und auf die Güte und
Treue Gottes zu rechnen. Die Verheißung hatte ihren
Grund offenbar in der Gnade; sie war nicht die Gabe
selbst, aber das Wort Gottes sicherte diese zu. Der Glaube
rechnete auf diese Verheißung und führte, mehr oder weniger
deutlich, den Gedanken an eine Segnung außerhalb der
Welt ein; anders würde der Glaubende nichts von seinem
Glauben gehabt haben. Das Bewußtsein der Gunst Gottes
war ohne Zweifel schon etwas, aber es hing ab von dem
Glauben an Seine Treue bezüglich dessen, was Er verheißen
hatte.
*) Er that dies allerdings anfangs nur halb; doch ich rede
hier von den Wegen Gottes.
Im Blick auf die Verheißungen muß jedoch auf einen
wichtigen Punkt aufmerksam gemacht werden: es giebt
Verheißungen ohne Bedingung und Verheißungen mit
Bedingung. Die dem Abraham, Isaak und Jakob gegebenen
Verheißungen waren ohne Bedingung, die auf Sinai gegebenen
dagegen mit Bedingung; das Wort Gottes verwechselt
diese beiden Arten niemals. Mose erinnert an die Verheißungen,
welche dem Abraham, Isaak und Israel gegeben
wurden (2. Mose 32,13), Salomo an das, was unter Mose
geschah. (1. Kön. 8, 51—53.) Nehemia 1 bezieht sich auf
Mose, Nehemia 9 zuerst auf Abraham als die Ouelle von
allem, dann auf Mose, wenn es sich um die Wege Gottes
handelt. Von diesem Unterschiede spricht auch der Apostel
64
in Galater 3, 16—20. Unter dem Gesetz, als ein Mittler
da war, hing der Genuß der Wirkung der Verheißung
ebensowohl von der Treue Israels wie von der Treue
Gottes ab; daher war von Anfang an alles verloren. Die
Erfüllung der unbedingten Verheißung Gottes dagegen hing
nur von Seiner Treue ab: in diesem Falle war alles
sicher. Ferner erfahren wir aus der angeführten Stelle
des Briefes an die Galater, daß Christo, dem zweiten
Menschen, die dem Abraham gegebenen Verheißungen bestätigt
worden sind; und sie werden sicher erfüllt werden
— sie werden alle „Ja und Amen" sein, wenn Sein Tag,
aus welchen die Propheten stets ihren Blick gerichtet hielten,
erscheinen wird. Aber hier kommt der bereits angedeutete
Unterschied zwischen der Regierung dieser Welt und der unumschränkten
Gnade wieder in Anwendung. Die Propheten
reden nicht von der Gnade, welche uns einen Platz im
Himmel giebt; die Prophezeiung bezieht sich vielmehr auf
das was irdisch ist, und enthält, soweit sie den Herrn
Jesum betrifft, die Offenbarung dessen, was der Herr bei
Seinem ersten Kommen hienieden sein würde; dann, in der
weiteren Verfolgung dieses Gegenstandes, sagt sie unS,
was Er, wenn Er wiederkommt, hienieden sein wird, ohne
das zu erwähnen, was zwischen diesen beiden Ereignissen
stattfinden sollte. Doch werden die Thatsachen, die sich
auf die Person des Herrn beziehen, in den Psalmen angekündigt.
Diese offenbaren uns mehr Seine persönliche
Geschichte: Seine Auferstehung (Pf. 16), Seine Himmelfahrt
(Pf. 68), Sein Sitzen zur Rechten Gottes (Pf. 110);
und was den Heiligen Geist betrifft, so lehren sie uns,
daß Christus denselben als Mensch empfangen würde, —
daß die Gaben nicht nur Gaben Gottes sind, sondern daß
65
Christus sie „im Menschen" empfangen würde, d. h als
Mensch in Verbindung mit der Menschheit. Dagegen ist,
mit Ausnahme der Wünsche Davids in Ps. 72 und 145,
wo es sich um die Person des Herrn handelt, in den
Psalmen nicht die Rede von dem Zustand der Dinge, wie
er Seiner Rückkehr folgen wird; während in den Propheten
dieser zukünftige Zustand ausführlich dargestellt wird in
der Erfüllung der den Juden gegebenen Verheißungen
und in den Folgen, welche daraus für die Nationen hervorgehen
werden. — Auch ist noch folgendes zu beachten:
Während die Propheten für die gegenwärtige Zeit und
für schwierige Umstände dem Glauben von feiten Gottes
Ermunterung geben, gebraucht der Geist Gottes dieselben,
um sich in die Zukunft zu versetzen, in welcher Gott zu
Gunsten Seines Volkes einschreiten wird. *)
*) Dies steht in Verbindung mit dem, was in 2. Petr. 1,20. 21
gesagt ist. Die augenblicklichen Umstände erklären nicht die Tragweite
der Prophezeiungen der Schriften; das Gesagte macht vielmehr
einen Teil des großen Systems der Wege Gottes aus.
Schließlich, als die Sünde schon vorhanden und das
Gesetz bereits übertreten war, als selbst die von Gott
gesandten Propheten vergeblich Israel zu seiner Pflicht
zurückgerufen und für Gott die Früchte des Weinstocks gefordert
hatten, kam der verheißene Messias mit augenscheinlichen
Beweisen Seiner Sendung, mit Beweisen, welche
der menschliche Verstand erkennen konnte, und die er in
der That auch erkannt hat. (Joh. 2, 2. 3; 3, 2.) Gott
spricht in der Person des Sohnes (Hebr. 1), des großen
verheißenen Propheten. Zugleich aber wurde der Vater
in dem Sohne geoffenbart, und der Mensch wollte Gott
nicht. Der Sohn Gottes befreite den Menschen von all
66
den äußeren Leiden, welche die Sünde in die Welt gebracht
hatte, und von der Macht Satans in dieser Beziehung;
aber diese Offenbarung Gottes in Güte hat nur den Haß
gegen Gott, der sich in dem Herzen des Menschen befindet,
ans Licht treten lassen; die Juden haben jedes Anrecht
auch auf die Verheißungen verloren, und der Mensch hat
den Gott, der sich in Güte hienieden offenbarte, verworfen.
Die Geschichte des verantwortlichen Menschen war damit
abgeschlossen; denn wir reden jetzt nicht von der Gnade,
es sei denn insoweit als die Gegenwart Gottes in Gnade
jene Verantwortlichkeit auf die Probe stellte. Nicht allein
waren die Sünde und die Uebertretung des Gesetzes schon
vorhanden, sondern der Mensch vermochte auch die Gegenwart
Gottes nicht zu ertragen, als Gott in Güte gegenwärtig
war und ihnen ihre Uebertretungen nicht zurechnete.
Jede Verbindung des Menschen mit Gott auf
Grund dessen, was der Mensch ist, war unmöglich trotz
der Wunder, die Jesus alle in Güte, *) nicht allein in
Macht, vollbrachte, wie Er selbst gesagt hat: „Sie haben
keinen Vorwand für ihre Sünde ..... sie haben gesehen
und gehaßt sowohl mich, als auch meinen Vater." (Joh. 15,
22 — 24.) (Johannes gebraucht stets den Ausdruck „Vater,"
wenn er von Gott als in Gnade handelnd spricht.)
Ja, — und dies ist ein ernstes Wortl — die Geschichte
des Menschen in sittlicher Hinsicht ist abgeschlossen. Doch
sie kommt zum Abschluß, um — Gott sei dafür gepriesen!
— das Thor unbegrenzter Gnade für Denjenigen zu
öffnen, der sich in dem Sohne als der Gott der Gnade
*) Die Verfluchung des Feigenbaumes war, als einzige Ausnahme,
der Ausdruck dieses Zustandes der Dinge am Ende der
Laufbahn des Herrn.
67
offenbart. (Joh. 12, 31—33.) Das Kreuz Christi sagte
gleichsam: der Mensch will nichts von Gott wissen, selbst
wenn Er in Gnade kommt. (2. Kor. 5, 17—19.) Aber eS
sagte auch: Gott ist unendlich in Gnade, indem Er Seines
eignen Sohnes nicht schont, um den Menschen mit sich
selber zu versöhnen. *)
*) Die Verwerfung Christi, welcher als der verheißene Messias
kam und zugleich Gott war, geoffenbart im Fleische, das Ende
der Wege Gottes mit Seinem Volke und die Offenbarung des
Hasses des Menschen gegen Gott trafen zusammen; und der Verlust
des Anrechts auf die Verheißungen von selten Israels sowie die
Verurteilung des Menschen in seinem Zustande von Natur, nach
dem Grundsatz der Verantwortlichkeit, fanden zu gleicher Zeit statt.
Ich will nun nochmals, dem Laufe der Geschichte
folgend, die Wege Gottes im Blick auf die Verantwortlichkeit
des Menschen kurz bezeichnen. Man ist betroffen,
wenn man in der Geschichte des Menschen sieht, daß, was für
Gutes Gott auch aufgerichtet haben mag, die erste That
des Menschen stets darin bestanden hat, das
von Gott Aufgerichtete zu verderben. Die erste
Handlung des Menschen war eine Handlung des Ungehorsams:
er fiel in die Sünde und zerstörte jede Verbindung
zwischen sich und Gott; er fürchtete sich vor Dem,
der ihn mit Güte überhäuft hatte. Noah, kaum der
Sündflut entflohen, welche eine ganze Welt mit Ausnahme
seiner Familie verschlungen hatte, berauscht sich,
und die Autorität wird in ihm entehrt und geht verloren.
Sobald das Gesetz gegeben ist, macht sich Israel das
goldene Kalb, bevor noch Mose vom Berge herabgestiegen
war. Nadab und Abihu bringen an dem ersten Tage
ihres Dienstes fremdes Feuer dar, und Aaron empfängt
das Verbot, in das Allerheiligste einzutreten mit seinen
68
„Kleidern zur Herrlichkeit und zum Schmuck", ja selbst
in jeder andern Kleidung, ausgenommen an dem großen
Versöhnungstage. (3. Mose 16.) Ebenso verfällt Salomo,
der Sohn Davids, in Götzendienst, und das Königreich
wird geteilt. Das erste Haupt der Nationen, welchem
Gott Macht und Herrschaft übergab, machte ein großes
Götzenbild und verfolgte diejenigen, welche Jehova treu
waren. Die äußerliche oder die bekennende Kirche ist dem
allgemeinen Gesetz des Ungehorsams und des Verderbens
ebensowenig entgangen. (Fortsetzung folgt.)
Die Stimme Jesu.
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, daß die Stunde
kommt und ist jetzt, da die Toten die Stimme des Sohnes
Gottes hören werden, und die sie gehört haben, werden
leben." (Joh. 5, 25.)
Oft ist in den Evangelien von der gebietenden, machtvollen
Stimme des Herrn Jesu die Rede. Mit Gewalt
und Kraft gebot Er den unreinen Geistern, und sie fuhren
aus. Wohl gingen „Worte der Gnade" aus Seinem
Munde hervor, aber zugleich lehrte Er „wie einer, der
Gewalt hat". Er war es, dessen Stimme einst „die
Erde erschütterte". Er war der „Ich bin", welcher sich
Mose in dem Dornbüsche offenbarte, und vor dem Seine
Häscher zurückwichen und zu Boden fielen. Er war Der,
von welchem der Psalmist sagt: „Er sprach, und es war;
Er gebot, und es stand da." So offenbarte Er sich in
Seinem Leben hier auf Erden. Die unreinen Geister wie
der Wind und die Wogen des Meeres mußten Seiner
Stimme gehorchen. Er sprach ein Wort, und Kranke wur
69
den gesund, Tote standen auf. Seine Stimme ertönte,
und das Leben wurde mitgeteilt: „Gehe hin, dein Sohn
lebt!" — „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!" — Weiterhin
sagt der Herr von sich selbst: „Die Worte, die ich zu
euch geredet habe, sind Geist und sind Leben." Leben
waren Seine Worte, himmlisches, göttliches, ewiges Leben.
Lieber Leser, wenn du noch nicht errettet bist, noch
nicht das ewige Leben hast, so höre doch auf diese Stimme!
Niemand kommt zum Vater als nur durch Jesum. Wer
Ihn hat, hat das Leben. Die Toten, welche die Stimme
des Sohnes Gottes gehört haben, werden leben. Zu diesen
geistlich Toten gehört ein jeder Mensch von Natur.
„Außer Jesu" heißt soviel als: fern von Gott, tot in
Sünden und Uebertretungen. Wer Jesum hat, wer in
Ihm ist, hat Leben und Frieden. Höre auf Seine Stimme,
und du wirst leben!
Einmal muß jeder Mensch Seine Stimme hören; entweder
jetzt, in der Zeit der Gnade, zum ewigen Leben,
oder dereinst zum ewigen Gericht. „Es kommt die Stunde,
in welcher alle, die in den Gräbern sind, Seine Stimme
hören werden." Eine feierliche, gewaltige Stunde! So
wie die Tochter des Jairus Seine Stimme vernahm, und
ihr Geist in sie zurückkehrte, so daß sie von ihrem Totenbett
aufstand; so wie Lazarus, der bereits vier Tage im
Grabe gelegen hatte, auf Seinen Ruf: „Lazarus, komm
heraus!" aus der Gruft hervorkam, — ebenso werden alle,
die hier auf Erden Seine Stimme nicht haben hören wollen,
dann hervorkommen, werden vor Ihn gestellt werden,
und ihr ewiges Teil wird in dem See sein, der mit Feuer
und Schwefel brennt. Darum heißt es: „Heute, wenn
ihr Seine Stimme höret, verhärtet eure Herzen nicht!"
70
Mein lieber, unbekehrter Leser! „Jetzt ist die annehmliche
Zeit, jetzt ist der Tag des Heils!" Höre jetzt
auf die lockende Stimme des guten Hirten; höre auf Ihn
und folge Ihm! Mit machtvoller Stimme ries Er einst
auf dem Kreuze vor Seinem Verscheiden: „Es ist vollbracht!"
und: „Vater, in Deine Hände übergebe ich meinen
Geist;" und als der Hauptmann, der Ihm nahe gegenüberstand,
sah, daß Er also schrie und verschied, sprach er:
„Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!" Hatte er
die Stimme des Sohnes Gottes vernommen? Eins ist gewiß:
„Die sie gehört haben, werden leben." Kein anderes Mittel
giebt es, um zum Leben zu gelangen, als Seine Stimme
zu hören. Es ist eine Stimme voll Gnade und Liebe;
aber auch voll göttlicher Macht. Er ruft zu sich und giebt
das Leben. Keine Macht kann Ihm widerstehen, nichts
Sein Werk verhindern. Sein Tod bewies nur Seine
Macht über den Tod; durch Semen Tod wurde Er für
uns die Thür zum Leben. Wohl konnte Er Seine Macht
eine Zeitlang verbergen, sie wie mit einem Schleier bedecken.
In Demut, Sanftmut und Niedrigkeit ging Er
einher, als Seine Füße diese Erde berührten. Die Propheten
hatten von Ihm zuvorgesagt: „Er wird nicht
streiten noch schreien, noch wird jemand Seine Stimme
auf den Straßen hören." Er litt geduldig Spott, Feindschaft
und Verachtung bis zum Tode. Aber wie die
Sonne die Wolken durchbricht, so strahlte auch Seine
Majestät immer wieder hervor, so daß die Menschen, wie
von diesen Strahlen geblendet, ausriefen: „Was für
einer ist dieser?" — „Dieser ist doch nicht der Sohn
Davids?" — „Niemals hat ein Mensch so geredet wie
dieser Mensch." 2c.
71
Der Herr ist nicht mehr auf dieser Erde; Er ist
in die Himmel eingegangen. Aber dennoch wird Seine
Stimme gehört. Er redet jetzt „von den Himmeln" herab.
So vernahm Saulus Seine Stimme und kam zum Leben.
Wir haben Seine Stimme in Seinem Worte und vernehmen
sie durch Seinen Geist, der an Seiner Statt zu
uns redet. Durch Wort und Geist wird die Wiedergeburt
bewirkt, kommt der Mensch mit Christo in Verbindung.
Die Schrift ist kein leerer Buchstabe; sie ist gleichsam die
lebendige Stimme einer lebenden, lebendig machenden,
göttlichen Person. Die Worte, die Er geredet hat, sind
Geist und sind Leben, und Seine Worte vergehen nicht,
wenn auch Himmel und Erde vergehen. Auch war der
Geist Christi in den Propheten des Alten Testaments,
und in den Schriften des Neuen redet Er durch Seine
Apostel und Diener. Das Leben, welches mitgeteilt wird,
ist ewiges Leben. Petrus sagt den Gläubigen, daß sie
wiedergeboren seien „aus unverweslichem Samen, durch
das lebendige und bleibende Wort Gottes".
Freilich ist das bloß äußerliche Hören nicht genügend,
um zum Leben zu kommen. Von den Israeliten, deren
Leiber in der Wüste fielen, wird gesagt: „Das Wort der
Verkündigung nützte jenen nicht, weil es bei denen, die es
hörten,nicht mit dem Glauben vermischt war;"
und von den Juden, die zu der Zeit des Herrn Jesu lebten,
hatte Jesaja geweissagt: „Mit dem Gehör werdet ihr
hören und doch nicht verstehen." — „Wer mein Wort
hört und glaubt Dem, der mich gesandt hat, hat
ewiges Leben," sagt der Herr Jesus, und ebenso: „Wer
an mich glaubt, hat ewiges Leben." „Mit dem
Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit." Das
72
Herz ist der Platz, wo das Wort ausgenommen, verstanden,
bewegt werden, wo es wirken muß. Maria „bewahrte
alle diese Worte in ihrem Herzen," und der Herr that
der Lydia das Herz auf, „daß sie acht gab auf das was
von Paulus geredet wurde". Wo das Herz nicht durch die
göttliche Gnade in Thätigkeit gesetzt wird, da bringt das
Wort keine bleibende Wirkung hervor. Der Herr stellt
sich uns im Gleichnis als den Säemann vor Augen, der
den guten Samen des Wortes säet. Aber auf wieviel
schlechten Boden fällt dieser Same! Da ist der hartgetretene
Weg, da ist das Steinigte, da sind die Dornen. Der
Teufel raubt das gehörte Wort, die Hitze der Verfolgung
läßt die schnell aufgesproßten Halme verdorren, die Dinge
dieses Lebens ersticken es. Wie beachtenswert ist darum
die Mahnung des Herrn: „Sehet nun zu, wie ihr höret!"
und: „Wer Ohren hat, zu hören, der höre!"
Es ist nicht genug, daß man das Wort Gottes kennt,
daß man es für wahr hält. Es ist nötig, daß man dem
Worte in Bezug auf sich selbst zustimmr, daß man sich
als verloren, als schuldbeladen in Gottes Augen erkennt,
und daß man Jesum als den einzigen Mittler zwischen
Gott und Menschen, als seinen Heiland und Erretter annimmt.
Wie freundlich ladet Er die Mühseligen, die Beladenen
ein, zu Ihm zu kommen! Gehörst du noch zu
diesen Mühseligen und Beladenen, mein Leser? Drückt
dich deine Sündenlast? Siehst du ein, daß du so,
wie du jetzt bist, nicht vor Gott bestehen kannst? Nun,
dann eile und zögere nicht, zu Jesu zu kommen, dich Ihm
anzuvertrauen! Er ladet alle Beladenen zu sich ein, und
keinen weist Er ab. „Wer zu mir kommt, den werde ich
73
nicht hinauswerfen." Höre auf diese freundliche, lockende
Stimme, und du wirst das ewige Leben haben!
Zum Schluß laßt uns noch einen Blick vorwärts
richten! Bald wird der Herr für die Seinigen erscheinen,
und dann kommt Er mit gebietendem Zuruf, mit der
Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes. Und
was wird die Wirkung dieses gebietenden Zurufs sein?
Alle die Seinigen werden in einem Nu Ihm in Wolken
entgegengerückt werden in die Lust. Die Toten in Christo
werden zuerst auferstehen, und in unmittelbarer Verbindung
damit werden die lebenden Heiligen verwandelt werden.
Der Herr ruft dann die Seinen zu sich, und alle werden
augenblicklich bei Ihm versammelt sein. „Und also werden
wir allezeit bei dem Herrn sein." O welch ein gesegneter
Ruf! Bald wird er erschallen; und alle diejenigen, welche
Sein sind, dürfen jetzt dieses Rufes harren, so wie der
Herr selbst dem herrlichen Augenblick Seiner Wiederkunft
entgegenharrt.
Gehörst du zu denen, lieber Leser, die auf der Seite
des Herrn stehen? Nun, dann freue dich; bald erschallt
auch für dich dieser Ruf. Bald werden alle die Seinigen
nicht nur Seine Stimme hören, sondern auch Ihn von
Angesicht zu Angesicht sehen und Ihm gleich sein. Wahrlich,
eine herrliche Aussicht!
Wer an Ihn glaubt,
Erhebt sein Haupt
Und sieht Ihm froh entgegen,
Er kommt im reichsten Segen.
Darnach erscheint Christus, wie wir in der Offenbarung
lesen, mit den Kriegsheeren, die in dem Himmel sind,
„und aus Seinem Munde geht hervor ein scharfes, zwei
74
schneidiges Schwert." Es ist bezeichnend, daß dieses Schwert
aus Seinem Munde hervorgeht. Es wird vorher gesagt:
„Sein Name heißt das Wort Gottes," und der Apostel sagt,
daß der Herr Jesus den Gesetzlosen verzehren wird „durch
den Hauch Seines Mundes". Dann wird Er Gericht
halten und das Urteil sprechen. Inmitten der um Seinen
Thron versammelten Nationen wird Sein mächtiges:
„Kommet her!" und „Gehet hin!" ertönen. Ja, dann
wird Seine Stimme das Gericht verkündigen.
Welch ein Augenblick wird das sein! Heute aber ist
Er noch bemüht, Verlorene zu suchen und zu erretten,
Mühseligen und Beladenen Ruhe zu geben. Möchten
darum doch alle, die Seine Stimme vernehmen, ihr Gehör
schenken, damit ihnen nicht dereinst Seine Stimme zum
Gericht ertöne!
Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß diese Mahnung
besonders denen gilt, welche das Bekenntnis des Christentums
haben, die mit dem Worte Gottes bekannt sind. In
ergreifender Weise hören wir in der Offenbarung die warnende
Stimme Jesu an sie ergehen. ES ist die Stimme,
von welcher Johannes schreibt: „Und ich hörte eine starke
Stimme wie die einer Posaune." Er, der Augen wie
Feuerflammen hat und aus dessen Munde ein scharfes,
zweischneidiges Schwert hervorgeht, wandelt inmitten der
sieben goldenen Leuchter. „Thue Buße!" so ertönt Sein
Ruf immer wieder aufs neue; „wenn aber nicht, so
komme ich dir, und ich werde deinen Leuchter wegthun
aus seiner Stelle, wofern du nicht Buße thust." — „Thue
nun Buße; wenn aber nicht, so komme ich dir bald und
werde Krieg mit ihnen führen mit dem Schwerte meines
Mundes." Seine Ankündigung an die bekennende Christen
75
heit lautet: „Also, weil du lau bist und weder kalt noch
warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem Munde."
Möchte doch dieser ernste Ruf, diese treue, liebende Stimme
allerwärts vernommen werden! Möchten solche, die sich
mit dem Schein eines religiösen Wesens, mit dem Mantel
eines äußerlichen kraftlosen Christentums bedecken, ihre
Nacktheit, ihre Armut, ihre Blindheit erkennen! Was
nützt die Lampe, wenn kein Oel darin ist? Noch ist es
Zeit, Gold, weiße Kleider und Augensalbe bei Dem zu
kaufen, dessen Ruf so warnend ertönt. Ob noch morgen?
Wer weiß es? Der Ruf: „Siehe, der Bräutigam! gehet
aus, Ihm entgegen!" ist erschollen. Tausende haben
ihn gehört und erwarten den Herrn. Bald wird Er kommen,
und die bereit sind werden mit Ihm eingehen zur
Hochzeit, und dann wird die Thür verschlossen werden.
Für alle, die dann noch hineinkommen wollen, ist es zu
spät. Er wird sagen: „Wahrlich, ich sage euch, ich kenne
euch nicht."
Glückselig ein jeder, der jetzt auf Den hört, welcher
so freundlich spricht: „Wenn jemand meine Stimme hört
und die Thür aufthut, zu dem werde ich eingehen und
das Abendbrot mit ihm essen und er mit mir"! Liebliche,
kostbare Gemeinschaft mit Christo wird sein Teil sein.
Und das nicht nur so lange er hienieden wandelt; nein,
bald in Vollkommenheit, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Er
wird Ihn sehen wie Er ist, und bei Ihm sein allezeit.
Der Gott aller Gnade aber gebe uns, daß Sein
Geliebter uns teuer sei alle Tage, und daß Seine Worte
stets eine gute Stätte finden möchten in unsern Herzen!
76
Das letztmalige Anklotzfen.
(Offenbg. 3, 8. 16. 20. 21.)
Die letzten Worte, welche der Herr an Seine Versammlung
hienieden richtet, sind besonders ernst und belehrend.
In dem Schlußabschnitt ihrer Geschichte, wenn
die Dinge sich in einem hoffnungslos traurigen Zustande
befinden, steht Er noch an der Thür und klopft an. Das
Zeugnis der Braut und des Leibes Christi auf Erden
steht im Begriff zu verschwinden, und Er erinnert den
Treuen daran, indem Er sagt: „Siehe, ich komme bald;
halte fest was du hast, auf daß niemand deine Krone
nehme!" Bis ans Ende hin werden Treue da sein,
(wie gering ihre Zahl auch sein mag,) und bis zum
letzten Augenblick hin wird der Ueberwinder ermuntert.
(Vers 26.)
Es ist klar, daß in den letzten Tagen der Geschichte
der Versammlung Gottes auf Erden sich zwei Klassen von
Personen vorfinden werden: einige, die dem Herrn treu
sind, und viele, welche sich Seinen Ansprüchen und Seiner
Ehre gegenüber gleichgültig verhalten. Doch der Herr,
obwohl geringgeschätzt, steht an der Thür und klopft;
und wer Seine Stimme hört und Ihm aufthut, dem
bietet Er sich an in reichster Gnade. — Wir begegnen
in unserm Kapitel zunächst einem Lobe des Herrn, dann
einer Drohung und endlich einer Bitte.
1. Die Treuen in den letzten Tagen werden als
solche gekennzeichnet, die Sein „Wort" bewahren und
Seinen „Namen" nicht verleugnen. Diese beiden Dinge
waren stets die Zeichen eines lebendigen Christentums.
Das Wort macht Christum bekannt; unser Glaube ist
auf dasselbe gegründet, und es genügt völlig, um uns für
77
jeden Schritt auf unserm Wege Licht und Leitung zu geben.
Ohne den einfältigen Glauben an dieses Wort giebt es
keinen praktischen Glauben, und deshalb auch keine Freude,
keinen Frieden, keine Hoffnung. Der Heilige Geist weist
uns immer wieder auf das geschriebene Wort hin, als
die endgültige, alle Fragen entscheidende Autorität; so daß
sicherlich niemand im Glauben, in der Furcht Gottes, im
Troste des Heiligen Geistes oder zur Verherrlichung Gottes
wandeln kann, der nicht in irgend einem Maße seine
Gedanken, Absichten und Wege der göttlichen Autorität
des ewig bestehenden Wortes des Herrn unterwirft.
Bewahren wir Sein Wort, Geliebte? Ich frage
nicht, ob wir es lesen, oder bewundern; sondern
ob wir es gebrauchen als unsers Fußes Leuchte und
als unsers Pfades Licht. Sind wir ihm in unsern Herzen
und Gewissen unterworfen, und finden wir in ihm Leitung
für unsern Weg? Das heißt, unsers Erachtens, Sein
Wort bewahren. Man liebt es, hält es in seinem
Herzen verborgen, der Herr Jesus Christus selbst wird
durch das Wort vermittelst des Heiligen Geistes der Seele
nahe gebracht; und so bleibt man in Seiner Gemeinschaft,
lebt zu Seiner Verherrlichung und wartet auf Seine
Rückkehr vom Himmel. Auf diesem Wege giebt es nicht
nur Verkehr mit dem Herrn, sondern man genießt ein
heiliges Vertrautsein mit Dem, der da gesagt hat: „Wenn
ihr in mir bleibet und meine Worte in euch bleiben, so
werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch geschehen."
(Joh. 15, 7.) Glücklich alle, welche Sein Wort
bewahren und es reichlich in sich wohnen lassen, so
daß sie „in der Wahrheit wandeln"!
Ein anderes Kennzeichen der Treuen ist, daß sie den
78
„Namen" unsers geliebten Heilandes nicht verleugnet haben.
Wir glauben, daß diese Worte weit mehr enthalten als
viele denken. Die Art und Weise, wie jemand den Namen
eines abwesenden Freundes erwähnt, zeigt sehr oft die Achtung
oder die Gleichgültigkeit, mit welcher er des Abwesenden
gedenkt. Ist dies weniger wahr im Blick auf den unendlich
wertvollen Namen unsers Herrn Jesu Christi?
Wir meinen nicht; wir möchten sogar sagen, daß nichts den
Zustand unsrer Herzen mehr offenbart, als die Art und
Weise, wie wir Seinen heiligen Namen erwähnen. Für eine
durch den Heiligen Geist belehrte Seele ist Sein Name wie
ein ausgegossenes Salböl. Nichts verwundet sie mehr, als
wenn der Name Christi verunehrt wird. Für sie kommt kein
Name auf Erden diesem an Kostbarkeit gleich. Auch im
Himmel ist Christus eines Namens würdig erfunden worden,
der über jeden Namen ist. Der Name unsers Herrn
Jesu Christi ist der einzige Mittelpunkt, um welchen wir
uns hienieden sammeln, und wird den einzigen Sammelpunkt
für uns bilden, wenn Er kommt; Sein Name ist
der Prüfstein der Heiligkeit inmitten der Versammlung,
indem Er uns auffordert, von allem abzustehen, was Ihn
verunehrt. Und vor Seinem Namen muß sich einmal
jedes Knie beugen, sowohl im Himmel als auch auf der
Erde und unter der Erde, und jede Zunge muß bekennen,
daß Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes
des Vaters.
Daß daher alles, was unsern Herrn verunehrt, jedes
Wort, das Seiner unwürdig ist, jede Auflehnung gegen
Seine Autorität schonungslos von uns verurteilt, und daß
nichts Unheiliges mit Seinem herrlichen Namen in Verbindung
gebracht werden sollte, kann keinem Zweifel unter
79
liegen. Denn die genannten Dinge werden von jedem
Christen als schlecht und verwerflich anerkannt werden.
Allein es giebt eine feinere, weniger auffällige Art, Seinen
Namen zu verleugnen; und diese besteht darin, daß man
dem Herrn nicht den Ihm gebührenden Platz in der Versammlung
giebt als Dem, der da verheißen hat, in der
Mitte derer zu sein, welche zu Seinem Namen hin versammelt
sind; und ferner, daß wir Ihm nicht den richtigen
Platz in unsern Herzen und Häusern, sowie bezüglich all
unsers Thuns und Lassens geben. Und doch werden die
meisten Christen zugeben, daß wahres Christentum in einer
fortgesetzten Uebergabe unser selbst und alles dessen, was
wir haben, an Ihn besteht; denn wir gehören ja nicht uns
selbst an, sondern sind um einen Preis erkauft durch Den,
der jetzt „aller Herr" ist und bald erscheinen wird, um zu
herrschen, bis Er alle Seine Feinde zum Schemel Seiner
Füße gelegt hat.
2. Wir kommen jetzt zu dem zweiten Teil unsrer
Betrachtung, zu der Drohung, welche unser Herr ausspricht.
Sie ist von feierlichem Ernst: „Weil du lau bist
und weder kalt noch warm, so will ich dich ausspeien aus
meinem Munde." (V. 16.) Der Zustand und das Verhalten
derer, an welche sich der Herr wendet, ist Ihm
unerträglich und erregt Seinen Ekel. Indem sie bekennen
Ihn zu lieben, sind ihre Herzen gleichgültig gegenüber
Seiner Ehre und Seinen heiligen Ansprüchen, so daß sie
nur verworfen werden können von Dem, der in der ausdrücklichsten
Weise sich „den Heiligen und Wahrhaftigen"
nennt. Bei solchen mag viel Bibelkenntnis vorhanden
sein und ein großer Eifer für allerlei religiöse Bestrebungen
au den Tag treten; sie mögen auch in den Augen der
80
religiösen Welt Gedeihen haben und mit großem Selbstbewußtsein
und eingebildeter Wichtigkeit auftreten, — und
doch steht Christus völlig außerhalb. Wie überwältigend
ist die Möglichkeit eines solchen Zustandes! und doch leider
nur zu wahr. Geliebter Leser! ist es Christus, der
vor deiner und meiner Seele steht — Sein Wort, Seine
Wege, Seine Interessen, Sein Volk, Sein Dienst, Seine
Ehre, Seine Verherrlichung? Ist die Liebe Christi die
bewegende Kraft, welche uns drängt und leitet? Stehen
wir in persönlichem Verkehr mit dem verherrlichten Sohne
Gottes, der unser Leben, unsre Gerechtigkeit und unser
Friede ist? Suchen und genießen wir Seine Gemeinschaft?
Wird Er von uns gekannt, willkommen geheißen und geehrt
als „in der Mitte" der Versammlung befindlich,
wenn sie in Seinem Namen versammelt ist? Ach, wie
könnte etwas Geringeres als das Ihm wohlgefällig und
annehmlich fein? Alle diejenigen, welche Seine Verherrlichung
nicht begehren, Sein Wort nicht lieben, Seiner
Stimme nicht zu gehorchen suchen, auch wenn es sie vielleicht
einige Verleugnung oder einen Verlust in dieser
Welt kosten sollte, — alle solche dürfen wir gewiß zu
denen rechnen, welche „weder kalt noch warm" find und
deshalb von dem Herrn verworfen werden.
3. Indessen ist es gesegnet, sich von der Gleichgültigkeit
des Menschen und seinem völligen Bankerott
hinsichtlich der Aufrechthaltung der Wahrheit und Ehre
unsers Herrn hienieden abwenden und sich mit der gnädigen
Weise beschäftigen zu können, in welcher der Herr sich
hier darstellt, sowie auf Seine liebevolle Einladung zu
lauschen, trotzdem Er vor der Thür steht und anklopft.
Was sagt Er? Verkündigt Er den Gleichgültigen und
81
Lauen mit Donnerstimme das unmittelbare Hereinbrechen
eines verzehrenden Gerichts? Ruft Er Feuer und Schwefel
auf sie herab, weil sie Seiner vergessen haben? O nein!
Die Worte, welche der Herr nach Seinem letztmaligen
Anklopfen an Seine verderbte Kirche richtet, strömen über
von der reichsten Gnade: „Siehe, ich stehe an der Thür
und klopfe an; wenn jemand meine Stimme hört und die
Thür aufthut, zu dem werde ich eingehen und das Abendbrot
mit ihm essen, und er mit mir." Wunderbare Gnade!
Die höchste Segnung, welche auf dieser Erde genossen
werden kann, liegt für die schwächste Seele bereit, wenn
sie Ihm nur die Thür öffnet.
Beachten wir hier zunächst den Platz des Herrn:
verworfen durch diejenigen, welche ihrem Bekenntnis nach
Sein Volk auf Erden sind, steht Er draußen. Sein Name
ist vielleicht noch oft auf ihren Lippen; aber der Ihm gebührende
Platz, als Haupt über alles für die Versammlung,
wird Ihm nicht gegeben. So gleichgültig sind sie
gegen Ihn, daß sie sagen können: „Ich bin reich und
bedarf nichts," trotzdem Christus draußen steht, anstatt in
ihrer Mitte bekannt zu sein. Wie ernst ist das alles! Ist
es möglich, so möchte man fragen, daß die Christenheit
so tief sinken kann, um von Reichsein rc. zu reden, ohne
Christum zu haben und Ihn zu genießen?
Wie rührend ist dem gegenüber das Verhalten des
Herrn! Er kann die bekennende Kirche nicht aufgeben,
so lange noch irgend jemand Ihm die Thür öffnen will.
Sein Klopfen ertönt und ist laut genug, um die Aufrichti­
gen unter der Masse toter Bekenner aufzuwecken; und sie
hören Seine Stimme. Diese Stimme ist nicht mißzuverstehen
; es ist die Stimme des Geliebten, des guten Hirten,
82
jene Stimme, welche tief in das Herz und Gewissen hinein»
dringt und jede wahre und geziemende Zuneigung in der
Seele dessen weckt, welcher weiß, daß „Christus alles" ist.
Die Stimme wird gehört, die schlummernden Gefühle
werden geweckt, das Herz verlangt darnach die Thür zu
öffnen, jedes Hindernis zu beseitigen, um in Seiner Nähe
zu sein und in und bei Ihm zu bleiben. Alles muß vor
der Stimme Christi weichen.
Ist die Thür Ihm einmal geöffnet, so geht Er zu
dem Schwachen ein, welcher jedes Hindernis entfernt hat,
um Ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen.
Kostbarer Augenblick! Und dann — welch eine bewunderungswürdige
Gnade! — ißt Er das Abendbrot mit
ihm. Das Herz des Herrn will persönliche Gemeinschaft
haben mit der Seele, die Ihn eingelassen hat; eher ist
Er nicht befriedigt. Und wie ist es mit dem Gläubigen?
Er ißt das Abendbrot mit dem Herrn! Könnte irgend
etwas diesen Reichtum der göttlichen Gnade übertreffen?
Und werden wir nicht aufgefordert, „die Barmherzigkeit
unsers Herrn Jesu Christi zum ewigen Leben zu erwarten?"
— Wahrlich, das Thun des Herrn in dem uns beschäftigenden
Falle ist Barmherzigkeit; denn während die Masse
der christlichen Bekenner aus Seinem Munde ausgespieen
werden soll, giebt es hie und da eine einsame Seele, die
jetzt schon mit unserm Herrn Jesu das Abendbrot ißt oder,
mit anderen Worten, persönliche Gemeinschaft mit Ihm
genießt. Und vergessen wir nicht, daß des Herrn „Rat"
dahin ging, persönlichen Verkehr mit Ihm zu
haben, von Ihm das reine, im Feuer geläuterte Gold der
göttlichen Gerechtigkeit zu kaufen. Er bietet schon auf
dieser Erde das Bewußtsein einer persönlichen Gemeinschaft
mit Ihm an; d. h. Er wünscht, daß wir
in unserm geringen Maße dieselben Gedanken, dieselben
Interessen, dieselben Freuden und dieselben Zuneigungen
haben möchten wie Er selbst. Wie werkwürdig ist es,
daß unsre Herzen und Gewissen nicht mehr in Thätigkeit
sind, um eine bewußtere und innigere Gemeinschaft mit
83
Ihm zu haben; sind wir doch durch die unendliche Gnade
Gottes „in die Gemeinschaft Seines Sohnes Jesu Christi,
unsers Herrn, berufen".
Möchte das letztmalige Anklopfen des Herrn und Seine
letzten Worte an Seine Versammlung hienieden unsre Herzen
ergreifen und das in ihnen bewirken, waS sie in dieser
Zeit der Trägheit und Lauheit bewirken sollten!
Ein Blick zurück und vorwärts.
Du hast mich stets geleitet,
O Herr, an Deiner Hand,
Viel Gutes mir erwiesen,
Viel Lieb' an mich gewandt.
Wenn ich den Weg beschaue,
Den ich zurückgelegk,
So bleibt mir Deine Liebe
Vor allem eingeprägt.
Wie war von frühster Jugend
Es Deines Geist's Bemühn,
Mich aus dem Sündenelend
Zu Dir, o Herr, zu ziehn!
Und als Ihm dies gelungen,
Wie ward «nein Herz beglückt!
Ich sah durch Dich geordnet,
Was nullt so lang gedrückt.
Ich sah die Schuld getilget,
Zerstört des Teufels Macht,
Mich selbst mit Gott versöhnet,
Dem Vater nah' gebracht;
Gericht und Tod und Sünde
Beseitigt durch Dein Blut! —
Dein Tod am Kreuze machte
Auf ewig alles gut.
O Dank Dir, teurer Heiland!
Was dort für mich geschehn,
Werd' ich an Deinem Throne
Gewiß erst recht verstehn.
84
Und in der sel'gen Stunde,
Als Dein Herz mein's gewann,
Da fing für mich in Wahrheit
Ein neues Leben an.
Viel Güte, Tren' und Gnade
Hast Du mir stets erzeigt,
Dem Schwachen Kraft, — dem Müden
Erquickung dargereicht.
Ja, Deines Herzens Liebe
Und Deines Armes Macht,
Sie haben mich geleitet,
Beschirmt bei Tag und Nacht. —
Und wenn ich vorwärts schaue,
Was fesselt daun den Blick?
Dich selbst, Herr, werd' ich sehen,
Du kehrest bald zurück!
Bald werd' ich droben weilen,
Im teuren Vaterhaus,
Mit allen Deinen Heil'gen
Für ewig ruhen aus.
Daun wird Dein Lob erklingen
Aus der Erlösten Reih'n,
Und in den Herzen Aller
Rur ein Gedanke fein:
Dem Lamm, das uns erkaufte,
Das uns trotz Satans Macht,
So treu zum Ziel geführet,
Sei Lob und Dank gebracht!
Ja, nichts als Liebe seh' ich,
Wohin mein Auge blickt;
Mit Gütern Deiner Gnade
Hast Du mich reich beglückt.
In solchem Liebesmeere
Verlieret sich mein Sinn,
Ich sink' voll heil'ger Wonne
Zu Deinen Füßen hin.
Zweierlei Ruhe, zweierlei Frieden,
zweierlei Freude.
„Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen,
und ich werde euch Ruhe geben. Nehmet aus euch mein
Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von
Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure
Seelen; denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht."
(Maith. 11, 28—30.)
„Frieden lasse ich euch; meinen Frieden gebe ich
euch; nicht wie die Welt giebt, gebe ich euch." (Joh. 14,27.)
„Dieses habe ich zu euch geredet, auf daß meine
Freude in euch sei und eure Freude völlig werde."
(Joh. 15, 11.)
In obigen drei Stellen spricht der Herr Jesus von
zweierlei Ruhe, zweierlei Frieden und zweierlei Freude;
verweilen wir einen Augenblick dabei, und suchen wir die
Gedanken des Herrn zu erfassen.
„Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Be­
ladenen, und ich werde euch Ruhe geben." Das ist eine
Ruhe für das Gewissen. Derjenige, welcher, ermüdet von
all seinem Wirken, von allen seinen fruchtlosen Anstrengungen,
um sich vor Gott angenehm zu machen, zu Jesu
seine Zuflucht nimmt, empfängt Ruhe von Ihm. Denn
durch das Blut Jesu Christi, welcher sich selbst durch den
ewigen Geist ohne Flecken Gott geopfert hat, wird unser
Gewissen gereinigt von toten Werken, um dem lebendigen
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Gott zu dienen. (Hebr. 9, 14.) Sind wir einmal zur
Einsicht gekommen, daß alle unsre Werke, mögen sie an
und für sich noch so schön und gut gemeint sein, nicht
mehr Wert vor Gott haben als ein unflätiges Kleid, das
weggeworfen wird, so drücken diese toten Werke, anstatt
unS Ruhe zu geben, auf unser Gewissen; wir nehmen
unsre Zuflucht zu Jesu, der durch Sein Blut von toten
Werken reinigt und dadurch unserm Gewissen Ruhe giebt.
Es giebt jedoch nicht nur tote Werke, sondern auch
böse Werke. Allein das Blut Jesu Christi, des Sohnes
Gottes, reinigt von beiden. Wer gebeugt unter der Last
seiner Sünden zu Jesu geht, empfängt Ruhe; denn Jesus
nimmt die Last der Sünden weg. Er hat unsre Sünden
an Seinem Leibe auf das Holz getragen. Durch Sein
Blut werden wir gereinigt vom bösen Gewissen. (Hebr. 10,
22.) Durch ein Opfer für immer vollkommen gemacht,
haben wir in der Gegenwart Gottes kein Bewußtsein mehr
von Sünden und können deshalb mit Freimütigkeit in das
himmlische Heiligtum eintreten und vor dem Throne des
Herrn erscheinen. Die Sünden, welche uns niederbeugten
und quälten, sind hinweggethan, nicht mehr vorhanden.
Diese Ruhe ist ohne jegliche Bedingung: „Kommet
her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen." Da
wird keine Bedingung gestellt. Alle Mühseligen und
Beladenen, welche kommen, empfangen Ruhe. Nichts wird
gefordert: kein Werk, kein Gebet, kein Seufzen. „Ich
werde euch Ruhe geben." Es ist eine Gabe, ein Geschenk.
Aus Gnaden, umsonst, wird es unser Teil. Deshalb
ist diese Ruhe ungestört; sie kann sich nie verändern, nie
weggenommen werden; sie währt ewiglich. Sie ist nicht
von meinem Zustande, von meinen Gefühlen oder meiner
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Wertschätzung des Werkes Christi abhängig, sondern einzig
und allein von dem Opfer und dem Werke Christi, von
der Gnade und Liebe meines Heilandes. Ist mein Gewissen
von toten Werken gereinigt, sind meine Sünden
durch das Blut Christi getilgt, so ist dies für allezeit.
Es kann in dieser Beziehung niemals die geringste Veränderung
eintreten.
Genau so ist es mit dem Frieden, von welchem der
Herr sagt: „Frieden lasse ich euch." Es ist dies der
Friede mit Gott. „Da wir nun gerechtfertigt worden sind
aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern
Herrn Jesum Christum." (Röm. 5, 1.) „Welcher
Frieden gemacht hat durch das Blut Seines Kreuzes."
(Kol. 1, 20.) Dieser Friede wird durch Jesum Christum
verkündigt. (Apstgsch. 10, 36.) „Und Er kam und verkündigte
Frieden, euch, den Fernen, und Frieden den Nahen."
(Eph. 2, 17.) Dieser Friede wurde vor 1800 Jahren
auf dem Kreuze gemacht, und seitdem wird er überall
verkündigt. Wer an Christum glaubt, hat teil an diesem
Frieden. Von Natur sind wir Feinde; aber wir sind mit
Gott versöhnt durch den Tod Seines Sohnes. (Röm. 5,10.)
„Und euch, die ihr einst entfremdet und Feinde wäret nach
der Gesinnung in den bösen Werken, hat Er aber nunversöhnt
in dem Leibe Seines Fleisches durch den Tod."
(Kol. 1, 21. 22.)
Dieser Friede ist also ohne Bedingung und
unge'stört, da er nicht von etwas in uns, sondern
einzig und allein von dem vollbrachten
Werke Christi abhängig ist. Er besteht nicht in
einem glücklichen Gefühl unsers Herzens, oder in unsrer
Freimütigkeit zu Gott, oder in unsrer Freude über unser
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Teil in Christo. Alles das wird sicher vorhanden sein,
wenn wir mit Gott wandeln; allein der Friede, von
welchem wir jetzt sprechen, ist das Aufhören der Feindschaft,
die zwischen uns und Gott bestand, weil die Ursache
der Feindschaft, die Sünde, durch den Tod Christi,
welcher die Forderungen der Gerechtigkeit Gottes völlig
befriedigt hat, hinweggenommen ist. Alles ist auf eine
gerechte Weise und Gott gemäß zwischen uns und Gott
in Ordnung gebracht. Wir sind mit Gott versöhnt, können
in Seiner Gegenwart erscheinen und haben als Seine
Kinder Gemeinschaft mit Ihm.
Von diesem Frieden sagt der Herr zu Seinen Jüngern:
„Frieden lasse ich euch." Ich gehe hin, ihr bleibet
hier; ich gehe zum Vater, ihr bleibet in der Welt; aber
Frieden lasse ich euch. Beachtenswerte und köstliche Worte!
In Seinen letzten Reden spricht der Herr zu Seinen Jüngern,
als ob bereits alles vollbracht wäre. Er nimmt
im Geiste Seinen Platz schon jenseits des Kreuzes ein,
Er steht hinter Seiner Auferstehung aus den Toten. In
Wirklichkeit mußte noch alles vollbracht werden; Gethsemane
und Golgatha lagen noch vor Ihm. Doch für den
Glauben war bereits alles vollbracht. Aus den Toten
auferweckt, stand Er bereit, zum Vater zurückzukehren.
Sehr deutlich geht dies aus 'Seinem Gebet zu dem Vater
hervor: „Ich habe Dich verherrlicht auf der Erde; das
Werk habe ich vollbracht, welches Du mir gegeben hast,
daß ich es thun sollte. Und nun verherrliche Du, Vater,
mich bei Dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei Dir hatte,
ehe die Welt war." — „Und ich bin nicht mehr in der
Welt, und diese sind in der Welt, und ich komme zu Dir." —
„Als ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in Deinem Namen,
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den Du mir gegeben hast.... Jetzt aber komme ich zu Dir;
und dieses rede ich in der Welt, auf daß sie meine Freude
völlig in sich haben." (Joh. 17, 4. 5. 11—13.) Fast alles,
was der Herr in diesen Kapiteln zu Seinen Jüngern spricht,
müssen wir daher betrachten als nach Seinem Tode und Seiner
Auferstehung gesprochen: Er steht im Begriff, zum Vater
zurückzukehren, nachdem Er den Vater verherrlicht und das
Werk, welches Ihm zu thun gegeben war, vollendet hat. Die
Kapitel 13 -17 des Evangeliums Johannes werden deshalb
nicht mit Unrecht der lieblichste Teil der Heiligen Schrift genannt,
da sie uns die herrlichen Folgen des Werkes Jesu
und die Beziehungen, in welche wir durch dieses Werk zu
dem Vater gebracht sind, in der treffendsten Weise vorstellen.
Wie herrlich sind, von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet,
die Worte des Herrn: „Frieden lasse ich euch"!
Er, der sich selbst dahingab, um für uns zur Sünde gemacht
zu werden und unsre Sünden zu tragen, der die
Strafe und das Gericht, welches wir verdient hatten, auf
sich nahm und alle Ansprüche der Gerechtigkeit Gottes
völlig befriedigte, der eine vollkommene und ewige Versöhnung
vollbracht hat; Er, der zwischen uns und Gott
Frieden gemacht hat, und der da wußte, daß alles in Ordnung
war, spricht zu den Seinigen: „Frieden lasse ich
euch." Unsre Sicherheit ruht also nicht auf unsrer Wertschätzung
des Werkes der Versöhnung, sondern auf der Wertschätzung
seitens Dessen, welcher es vollbracht hat. Er kann
sich nimmermehr irren. Er rief auf dem Kreuze: „Es ist
vollbracht!" und unmittelbar darauf erfolgte Gottes Antwort
in dem Zerreißen des Vorhangs, wodurch bewiesen
wurde, daß Gott vollkommen befriedigt und verherrlicht war,
und daß der Zugang zu Ihm jetzt offen stand. „Frieden
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lasse ich euch," ruft Jesus Seinen Jüngern zu; und Gott
weckt Ihn auf aus den Toten und verherrlicht Ihn zu
Seiner Rechten, und erklärt damit, daß alle, die an Christum
glauben, gerechtfertigt vor Ihm dastehen. Denn „Er ist
unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben und unsrer
Rechtfertigung wegen auferweckt worden." (Röm. 4, 2b.)
Und am Abend Seines Auferstehungstages tritt Er in
die Mitte Seiner Jünger und spricht: „Friede euch!"
und dann zeigt Er ihnen die Male in Seinen Händen
und in Seiner Seite, als wollte Er sagen: Seht hier die
Beweise, daß der Friede durch das Blut meines Kreuzes
gemacht ist. Und an jedem ersten Tage der Woche, wenn
wir an Seinem Tische versammelt sind, ist Er auch in
unsrer Mitte und ruft uns durch die Zeichen Seiner
Liebe und Seines Todes zu: Eure Sünden sind vergeben;
die Feindschaft ist weggenommen; ihr seid mit Gott versöhnt;
der Friede ist gemacht durch das Blut meines
Kreuzes, und darum: Friede euch von nun an
bis in Ewigkeit!
Ruhst auch du, mein lieber Leser, in dieser Zusicherung
deines Heilandes? Genießest du die Freude und
die Ruhe Seiner Zusage? Vertraust du Seinem Worte?
Es giebt keinen festeren Grund des Vertrauens als dies.
Unser Glaube ist schwankend, unser Genuß veränderlich,
unsre Wertschätzung mangelhaft. Aber Sein Werk ist vollendet,
Seine Zusagen trügen nicht, Sein Wort ist gewiß.
Wenn Gott befriedigt ist, so können wir es auch sein,
nicht wahr? Er ist der Richter, vor Ihm müssen wir
erscheinen; und Er hat das Opfer Christi für uns angenommen.
Nachdem Christus Sein Werk vollbracht hatte,
setzte Gott Ihn zu Seiner Rechten und krönte Ihn mit
91
Ehre und Herrlichkeit. Deshalb können wir mit aller
Freimütigkeit singen:
Sel'ger Ruh'ort! — süßer Friede
Füllet meine Seele jetzt;
Da, wo Gott mit Wonne rubet,
Bin auch ich in Ruh' gesetzt.
Wir kommen jetzt zu dem dritten Punkte unsrer Betrachtung,
zu unsrer Freude. Sobald wir in Christo und
Seinem Werke ruhen, erfüllt Freude unsre Seele. Das
ist unsre Freude, von welcher oer Herr sagt: „Dies
habe ich zu euch geredet, auf daß meine Freude in euch
sei, und eure Freude völlig werde." Es ist die Freude
darüber, daß wir teil an Christo haben. In Samaria
(Apstgsch. 8) war große Freude, als eine so große Zahl
von Männern und Weibern an Christum glaubte. Der
Kämmerer aus dem Morgenlande zog seinen Weg mit
Freuden, sobald er Jesum als seinen Heiland kennen gelernt
hatte. „Wir sind Mitarbeiter an eurer Freude",
schreibt Paulus an die Korinther, „denn ihr stehet durch
den Glauben." (2. Kor. 1, 24.)
Das also ist die erste Ruhe, der erste Friede und
die erste Freude: Ruhe für das Gewissen, Frieden mit
Gott und Freude durch den Glauben an das Werk Christi.
Alle drei sind das Teil eines jeden, welcher glaubt. Wie
verschieden auch der Zustand, das Maß der Erkenntnis
und die Kraft des geistlichen Lebens sein mag, alle haben
teil an dieser Ruhe, an diesem Frieden und dieser Freude.
Freilich können alle diese Dinge mehr oder weniger genossen
werden, weil der Genuß derselben von der gläubigen
Annahme des Wortes des Herrn abhängt. Allein sie
sind das Teil aller derer, welche glauben, weil sie ohne
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Bedingung geschenkt werden und einzig und allein von dem
Opfer und dem Werke Christi abhängig sind.
Allein es giebt noch eine andere Ruhe, einen andern
Frieden und eine andere Freude, und diese sind nicht bedingungslos.
Sie können nur genossen werden, wenn
wir in den Fußstapfen des Herrn wandeln, wenn wir
unser Vertrauen auf Gott setzen und unsre Beziehungen zu
dem Vater kennen und genießen.
Nachdem der Herr gesagt hat: „Kommet her zu
mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde
euch Ruhe geben," sagt Er weiter: „Nehmet auf euch
mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig
und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden
für eure Seelen." Diese Worte richtet Er nicht an die
Mühseligen und Beladenen, wie viele denken. O nein!
Er spricht sie zu denen, welche als Mühselige und Beladene
zu Ihm gekommen sind und denen Er Ruhe gegeben
hat. Würdest du es nicht gefühllos finden, wenn
ich zu jemand, der unter einer drückenden Last gebeugt einherginge,
sagen würde: Nimm diese Bürde noch hinzu?
Und sollte der gütige Herr so etwas thun können? Sollte
Er zu einem Sünder, der unter der schweren Last seiner
Sünden seufzt und von seinem nutzlosen eignen Wirken
ermüdet ist, sagen können: Nimm noch ein Joch, und
zwar mein eignes Joch, hinzu? Nein, das hat der Herr
nicht gethan; sondern nachdem Er dem Mühseligen Ruhe
gegeben und seine Last von ihm genommen hat, und dieser
also ganz frei dasteht, spricht Er zu ihm: Nimm jetzt
mein Joch auf dich; gleichsam als wollte Er sagen: Ich
habe deine drückende Last von dir genommen, und jetzt
nimm du statt .dessen meine Last auf, welche leicht ist.
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Das ist Gnade. DaS Gesetz nimmt nichts hinweg, es
fordert nur; aber die Gnade nimmt die Last der Sünde
hinweg und befähigt uns, Sein Joch und Seine Last auf
uns zu nehmen. Unter der Gnade ist nicht eher die Rede
von guten Werken oder von Heiligung oder vom Wandeln
in den Fußstapfen Jesu, als bis das Alte vergangen
und alles neu geworden ist.
Dieser wichtige Grundsatz, von dessen Befolgung
unser praktisches Glück abhängig ist, wird deutlich in den
Worten des Apostels ausgedrückt: „Wenn ihr nun mit
dem Christus auferweckt worden seid, so suchet, was droben
ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes.
Sinnet auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf
der Erde ist; denn ihr seid gestorben und euer Leben ist
verborgen mit dem Christus in Gott." (Kol. 3, 1-3.)
Zu den Gläubigen, welche für ihre Gewissen
Ruhe empfangen haben, sagt der Herr: „Nehmet auf euch
mein Joch." Er sagt nicht: euer Joch, sonder mein
Joch. ES ist also nicht dasselbe, als wenn der Herr an
einer andern Stelle sagt: „Wer nicht sein Kreuz aufnimmt
und mir nachfolgt, ist meiner uicht wert." —
Nehmet mein Joch auf euch. Es ist das Joch, welches
der Herr Jesus trug, die Last, welche Er auf sich genommen
hatte. Gleichwie der hebräische Sklave im Jahre seiner
Freilassung, aus Liebe zu seinem Herrn, zu seinem Weibe
und zu seinen Kindern, bei demselben zu bleiben erwählte,
um ihm ewig zu dienen, und als Kennzeichen dieser Stellung
sich die Ohren durchbohren ließ, (2. Mose 21.)
ebenso hat der Sohn Gottes, der frei und unabhängig
war, der unumschränkte Gebieter im Himmel und auf
Erden, sich freiwillig Seinem Vater zum Diener gestellt,
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ja, Er hat es erwählt, ewig Diener zu bleiben. „Darum,
als Er in die Welt kommt, spricht Er: Schlachtopfer und
Speisopfer hast Du nicht gewollt, einen Leib aber hast Du
mir bereitet . . . Siehe, ich komme, um Deinen Willen,
o Gott, zu thun." (Hebr. 10, 5—7.) Er hat sich selbst
zu nichts gemacht und Knechtsgestalt angenommen, indem
Er in Gleichheit der Menschen wurde. Ehre und Herrlichkeit
gab Er auf, Seiner Macht und Majestät entkleidete
Er sich, Krone und Scepter legte Er nieder; und obwohl
Er Gott war über alles, gepriesen in Ewigkeit, kam Er
auf diese Erde herab, in allem den Menschen gleich, in
allem versucht, ausgenommen die Sünde, arm und abhängig,
in der Gestalt eines Knechtes oder Sklaven, indem
Er nicht Seinen Willen that, sondern den Willen
Dessen, der Ihn gesandt hatte.
Diesen Platz der Abhängigkeit von Gott, den Platz
eines Dieners, eines Sklaven, einzunehmen, das war die
Last, welche auf Seine Schultern gelegt war. Den
Willen des Vaters, der in den Himmeln ist, zu thun,
das war das Joch, welches Er trug. Aber das Joch
war nicht hart, die Last war nicht schwer; o nein! Er
sagt: „Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht."
Er hatte nicht nötig zu dienen; aber Er wollte
dienen. Das Dienen war Sein Genuß, Seine Freude.
„Meine Speise ist, daß ich den Willen Dessen thue, der
mich gesandt hat, und Sein Werk vollbringe." (Ev.
Joh. 4, 34.)
Und nun sagt der Herr zu den Seinigen: „Nehmet
auf euch mein Joch." Er will damit sagen: Nehmet, so
wie ich, diesen Platz der Abhängigkeit von Gott ein; thut
den Willen des Vaters, unterwerft euch Seinem Worte.
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Jesus will, daß wir in Seinen Fußstapfen wandeln, daß
wir Ihm nachfolgen, gesinnt seien, wie Er gesinnt war.
Von Natur sind wir geneigt, unsern eigenen Willen zu
thun, unsre eigenen Wege zu gehen und unserm eigenen
Ich den ersten Platz einzuräumen. Doch Er hat uns,
indem Er uns mit sich selbst verbunden und uns der
göttlichen Natur teilhaftig gemacht hat, fähig gemacht, in
Seinen Fußstapfen zu wandeln. Das beweist, wie vollkommen
wir erlöst sind. Wir können Sein Joch auf uns
nehmen; wir können den Willen des Vaters thun, der in
den Himmeln ist, und uns Ihm widmen. Jesus würde
es nicht sagen, wenn wir es nicht könnten. Allein wir
müssen es lernen. Früher haben wir nie dieses Joch getragen.
Und überdies, wir wissen nicht, was der Wille
Gottes ist; wir kennen auch den Weg nicht, der durch
die Wüste nach Kanaan führt. Wer wird uns nun darüber
belehren? Jesus selbst! Horche nur: „Nehmet auf
euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin
sanftmütig und von Herzen demütig." Er kennt den
Willen Gottes und hat diesen Willen in allem erfüllt.
Er hat durch diese finstere, sündige Welt einen Weg nach
dem Himmel gebahnt. Er ist der Anfänger und Vollender
des Glaubens. Er kann uns daher den Willen
Gottes lehren und den wahren Weg zeigen. Kein Lehrer
ist Ihm gleich; Er ist sanftmütig und von Herzen demütig.
Wie ungelehrig waren Seine Jünger, aber mit welch
einer Geduld hat Er sie unterwiesen! Wie weise waren
sie in ihren eignen Augen, und wie kleingläubig; aber
mit welch einer Liebe hat Er sie ertragen! Er ist allezeit
derselbe. Keine Umstände, kein Widerstand, keine Täuschungen
können Ihn verändern. Er ertrug den Widerspruch
96
der Sünder und die Eigenliebe und Ungelehrigkeit der
Seinigen.
Jeder konnte sich ohne Furcht zu Seinen Füßen
niederlassen; und wer es that, der erfuhr den gesegneten
Einfluß Seiner Unterweisung. Maria von Bethanien, die
zu Seinen Füßen saß und sich durch Ihn unterweisen
ließ, lernte Sein Herz kennen, so daß sie zur rechten Zeit
von Ihm getröstet werden konnte und auch Verständnis
darüber erhielt, welches gute Werk Ihm angenehm sein
würde.
Dies führt uns von selbst zu den gesegneten Folgen,
welche sich zeigen werden, wenn wir Sein Joch aufnehmen.
„Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn
ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr
werdet Ruhe finden für eure Seelen." Wir
sollen Ruhe finden, und zwar nicht Ruhe für unser Gewissen,
wie im ersten Falle, sondern Ruhe für unsre
Seelen in einer Welt voll Unruhe, Mühe und Beschwerden
— eine Ruhe, die daraus entspringt, daß wir den Willen
Gottes kennen und thun. Ist eS unsre Freude, den
Willen des Vaters zu thun, und kennen wir diesen Willen,
so sind wir nie in Ungewißheit betreffs des Weges, den
wir einzuschlagen haben. Wir werden dann nicht hin und
her geworfen; auch kümmert es uns wenig, ob die Menschen
uns verurteilen oder nicht. Jesus ging allezeit
ruhig und gelassen Seinen Weg. Das Bewußtsein, daß
Er in den Wegen Gottes wandelte und den Willen Seines
Vaters that, machte Ihn unempfindlich gegen die
Urteile und Beschuldigungen der Menschen. „Wußtet ihr
nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?"
fragte Er als zwölfjähriger Knabe Seine Mutter; und
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später hören wir Ihn sagen: „Weib, was habe ich mit
dir zu schaffen? meine Stunde ist noch nicht gekommen."
— Als Seine Brüder in Ihn drangen, sich der Welt zu
zeigen, erwiderte Er: „Gehet ihr hinauf zu diesem Feste;
ich gehe nicht hinauf zu diesem Feste." — Und als Er
vernommen hatte, daß Lazarus, Sein Freund, krank war,
blieb Er zwei Tage lang ruhig in Galiläa; denn Sein
Zögern sollte zur Verherrlichung Gottes dienen. - „Ich
habe euch gesagt, daß ich es bin; wenn ihr nun mich
suchet, so laßt diese gehen," rief Er in Gethsemane der
Schar zu, welche Ihn gefangen nehmen wollte; und nachdem
Er Seine Macht gezeigt hatte, ließ Er sich binden
und wegführen. — Welch eine wunderbare Ruhe zeigt
sich in diesem allen; und dieselbe Ruhe sollen wir finden,
wenn wir Sein Joch auf uns nehmen und den Willen
des Vaters thun, der in den Himmeln ist. Kennen wir
den guten und wohlgefälligen und vollkommenen Willen
Gottes, (Röm. 12, 2.) haben wir geprüft, was das Vorzüglichere
ist, (Phil. 1, 10.) — und das lernen wir in
der Gemeinschaft mit Jesu — dann gehen wir ruhig und
bestimmt unsern Weg und lassen uns nicht von jedem
Windstoß hin und her treiben.
Diese Ruhe ist also nicht bedingungslos. Im Gegenteil,
wir können sie nur dann finden, wenn wir das
Joch Jesu auf uns nehmen und den Willen des Vaters
thun. Ebenso ist es mit der zweiten Art von Frieden.
Der erste Friede ist der Friede mit Gott, welcher durch
Jesum für uns gemacht ist. Der zweite Friede ist der
Friede Gottes, welchen wir nur dann genießen können, wenn
wir ein vollkommenes Vertrauen auf die Liebe und Sorge
Gottes für uns setzen.
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Der Herr Jesus genoß diesen Frieden ununterbrochen.
Er setzte Sein Vertrauen auf Jehova. (Ps. 16.) Er saß
im Verborgenen des Höchsten und blieb im Schatten des
Allmächtigen; Er sagte zu Jehova, Seinem Gott: „Meine
Zuflucht und meine Burg; mein Gott, auf Ihn will ich
vertrauen." (Ps. 91.) Deshalb war Er unbeweglich, unerschütterlich.
Was auch geschehen mochte, Er verlor nie
diesen Frieden, der allen Verstand übersteigt. Gott steht
über den Umständen; und ebenso war es mit Jesu, indem
Er vollkommen auf Gott vertraute. Gott kennt das Ende
von allem. Jesus kannte es ebenfalls infolge Seiner
ununterbrochenen Gemeinschaft mit dem Vater. Als die
Juden Ihn von der Spitze des Berges hinabstürzen wollten,
ging Er ruhig und furchtlos durch ihre Mitte hinweg.
Inmitten des Sturmes, der die Jünger mit Angst
erfüllte, lag Er ruhig im Hinterteil des Schiffes und
schlief. Als Johannes der Täufer sich an Ihm ärgerte,
die Obersten der Juden Ihn verspotteten und Ihn als
einen Fresser und Weinsäufer bezeichneten, und die Städte,
in welchen Seine meisten Wunderwerke geschehen waren,
Ihn verwarfen, hob Er Seine Augen auf gen Himmel und
sprach: „Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und
der Erde, daß Du dies vor Weisen und Verständigen verborgen
hast, und hast es Unmündigen geoffenbart." Diesen
Frieden nun, welchen Jesus selbst genoß, will Er
uns geben. „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden
gebe ich euch." Wunderbare Gnade!
Paulus schreibt an die Gläubigen zu Philippi: „Seid
um nichts besorgt, sondern in allem lasset durch Gebet
und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden
; und der Friede Gottes, der allen Verstand über
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steigt, wird eure Herzen und euern Sinn bewahren in
Christo Jesu." Diese Worte enthalten die Bedingung,
unter welcher wir den Frieden Gottes genießen können.
„Seid um nichts besorgt," denn Gott sorgt für euch; ihr
könnt auf Ihn rechnen und Ihm völlig vertrauen. Er
wird euch nicht verlassen noch versäumen. Was auch ein-
kreffen mag, ihr könnt Ihm alles ruhig übergeben. Lasset
aber in allem eure Anliegen durch Gebet und Flehen, also
mit dringendem Bitten, und mit Danksagung vor Gott
kundwerden. Welch ein gesegnetes Vorrecht! Alle unsre
Anliegen auf unserm mühevollen und versuchungsreichen
Wege durch diese Wüste dürfen wir unserm Gott
und Vater durch Gebet und Flehen ans Herz legen, und
zwar in dem kindlichen Vertrauen auf Seine Liebe und
Weisheit, die alles wohl macht, die alles zu unserm Heil
leitet und zu Seiner Verherrlichung ausschlagen läßt.
„Mit Danksagung" sagt der Apostel, und zwar nicht erst
nachdem wir unser Begehr erfüllt sehen, sondern in demselben
Augenblick, da wir es vor Ihm kundwerden lassen;
denn wir wissen, daß Er nichts anderes thun kann als
was gut und gesegnet für uns ist. Wenn ich in
dieser Gesinnung bitte, so bin ich ruhig und glücklich.
Indem ich auf Gottes Vaterliebe völlig vertraue, weiß ich,
daß mein Begehren in allem nach Seinem Willen und
zur rechten Zeit erfüllt werden wird; nur so bewahrt der
Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, mein Herz
und meinen Sinn in Christo Jesu.
Der Friede Gottes — der Friede, welcher am Throne
Gottes herrscht und den Gott selbst genießt, der durch
den Verstand nicht erfaßt und nicht beschrieben werden
kann, wird unsre Herzen vor jeder Zweifelsucht, vor Un
100
ruhe und Unglauben bewahren, und unsern Sinn in Ge-
meinschaft mit Christo Jesu erhalten, der auch diesen Frieden
Gottes hienieden stets genoß. Inmitten der Stürme
dieses Lebens, bei allen Anläufen Satans und den Versuchungen
dieser Welt erheben wir uns auf den Flügeln des Glaubens
über die Umstände und genießen den Frieden, in
welchem Gott sich allezeit befindet, so daß Er der Gott des
Friedens genannt werden kann.
Wir genießen also die Ruhe und den Frieden, welche
durch Jesum hienieden genossen wurden, wenn wir den
Willen des Vaters thun und unser Vertrauen auf Seine
Liebe setzen; allein wir können auch die Freude schmecken,
welche das Teil des Herrn war, und zwar wenn wir
unser Verhältnis zu unserm Gott und Vater kennen und
verwirklichen. „Dies habe ich zu euch geredet, auf daß
meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde."
Der Herr will uns nicht nur Seine Ruhe und Seinen
Frieden, sondern auch Seine Freude schenken. Durch
den Genuß dieser Freude soll unsre Freude, d. h. die
Freude, welche wir über unsern Anteil an Christo genießen,
völlig werden.
Und worin bestand die Freude Jesu? In dem Genuß
der innigen Beziehungen, in welchen Er zu Seinem
Vater stand, und in der Gemeinschaft, die Er ununterbrochen
mit dem Vater pflegte. Nun, an dieser Freude
sollen wir mit Ihm teilhaben. Zu diesem Zweck hat Er
uns mit dem Verhältnis bekannt gemacht, in welches wir
zu dem Vater gebracht sind. DaS ganze Evangelium Johannes
und vor allem die letzten Worte, welche der scheidende
Heiland an Seine Jünger richtete, zeigen uns deutlich, in
welch einer innigen Beziehung wir zu dem Vater stehen.
101
Christus kam hernieder, um uns mit dem Vaternamen
bekannt zu machen und uns das Vaterherz zu offenbaren.
Er hat uns nicht allein von unsern Sünden erlöst und
von Tod und Teufel befreit, sondern Er hat uns auch
zu Kindern Seines Vaters gemacht. So viele Ihn aufnahmen,
denen gab Er das Recht, Kinder Gottes zu
werden; und nach Seiner Auferstehung konnte Er sagen:
„Ich fahre auf zu meinem Vater und euerm Vater, zu
meinem Gott und euerm Gott." Gott hat nicht nur aufgehört,
unser Richter zu sein; nein, Er ist auch unser
Vater geworden, so daß der Herr die Seinen mit den
Worten ermuntern kann: „Der Vater selbst hat euch lieb,"
und darum könnt ihr geradeswegs, ohne eine Mittelsperson
zum Vater gehen. Der Bewahrung dieses Vaters hat
Er uns anvertraut; im Vaterhause droben hat Er uns
eine Stätte bereitet, und die Schlußworte Seines Gebets
zum Vater lauten: „Ich habe ihnen Deinen Namen kundgethan
und werde ihn kundthun, auf daß die Liebe, womit
Du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen."
In eine engere Beziehung zu Gott können wir nicht
kommen. Eine innigere Gemeinschaft mit Ihm giebt es
nicht. Die Engel sind Diener, aber keine Söhne. „Kein
Tod hat sie gekettet, kein hoher Preis gerettet, kein Arm
geführt aus Nacht zum Licht." So giebt es denn auch
keine größere Freude als diejenige über das Verhältnis,
in welches wir zu dem Vater gebracht sind. In seinem
ersten Brief schreibt derselbe Johannes, welcher uns in
seinem Evangelium die gesegneten Worte Jesu mitteilt:
„Dies schreiben wir euch, auf daß eure Freude völlig sei."
Wunderbare Gnade! Der Gott und Vater unsers Herrn
Jesu Christi ist auch unser Gott und Vater. Mit der
102
selben Liebe, womit der Vater Ihn liebt, sind wir geliebt.
Wir haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem
Sohne Jesu Christo. Wir werden die Herrlichkeit mit Ihm
teilen und, im Vaterhause droben wohnend, die persönliche
Herrlichkeit des Sohnes Gottes ewig anschauen und
bewundern.
Geliebter Leser! der Herr wolle uns und allen den
Seinigen Gnade geben, um mehr und mehr zu verstehen
und zu schmecken die Bedeutung und Seligkeit der Ruhe
Jesu, des Friedens Jesu und der Freude Jesu!
Einleitung in die Schriften des Alten und
des Neuen Testamentes.
(Fortsetzung.)
Wenn wir jetzt die Wege Gottes hinsichtlich des
Menschen in dem Zeitabschnitt zwischen Adam und Christus
betrachten, so finden wir zunächst den unschuldigen Menschen
in den Genuß irdischer Güter gesetzt, ohne irgendwelches
Leid; — das Böse existierte noch nicht. Die Verantwortlichkeit
wurde durch das Verbot, von einem bestimmten
Baume zu essen, ans Licht gestellt. Dieses Verbot
setzte das Böse nicht voraus; wenn es ihm nicht verboten
worden wäre, so hätte Adam ebenso gut von diesem Baume
essen können, wie von jedem andern. Es war einzig und
allein eine Sache des Gehorsams. Der Mensch ist der
Versuchung unterlegen. Er hat Gott verloren, indem er
sich vor seiner Vertreibung aus dem Paradiese vor Ihm
verbarg; dann wurde er richterlicher Weise aus dem Garten
vertrieben, wo er sich der Gegenwart Gottes erfreuen konnte,
— des Gottes, der bei der Kühle des Tages kam, um
103
ihn aufzusuchen; — und er bekam ein Gewissen. Ee
lernte, und zwar wider seinen Willen, (nicht durch em
ihm auferlegtes Gesetz, sondern innerlich) zwischen Gutem
und Bösem unterscheiden. Ohne Zweifel kann das Gewissen
schrecklich verhärtet und irregeführt werden, allein
es ist da, in dem Menschen: wenn ein Mensch Böses thut,
so verurteilt ihn sein Gewissen. Das Gesetz Gottes ist
die Richtschnur des Gewissens, aber es ist nicht das Gewissen
selbst. Indes ist der Mensch von nun an ein gefallenes
Geschöpf, indem er ungehorsam gewesen ist und
auf seinen Gehorsam gegen Gott verzichtet hat; er fürchtet
Ihn und sucht sich, wenn möglich, vor Ihm zu verbergen^
dann wird er aus dem Garten vertrieben und all der
Segnungen beraubt, in welchen er die Güte Gottes genoß
und Ihn erkennen und sich sogar Seiner Gegenwart erfreuen
konnte — denn Gott wandelte in dem Garten.
Der Eigenwille und die Begehrlichkeit waren in seine Natur
eingedrungen, sowie in seinen Zustand das Schuldbewußtsein
und die Furcht vor Gott; aber dann wurde er richterlicher
Weise aus einem Orte vertrieben, welcher nicht mehr
zu seinem Zustande paßte, ja, in sittlicher Hinsicht, aus
der Nähe Gottes selbst. Wie schrecklich würde es gewesen
sein, wenn er von dem Baume des Lebens hätte essen
können und er so die Welt mit unsterblichen Sündern erfüllt
hätte, die ohne Furcht vor dem Tode und vor Gotk
gewesen wären! — Gott hat es nicht erlaubt.
Es giebt indessen einige sehr beachtenswerte Umstände,
die mit dem Gericht, welchem der Mensch verfallen ist, m
Verbindung stehen. Wir haben gesehen, daß Adam die
Gegenwart Gottes floh. Das Urteil, welches über ihn,
über Adam und Eva, ausgesprochen wurde, (1. Mose 3^
104
14—19) ist ein irdisches Urteil, nicht ein Urteil der Seele.
Adam und Eva werden unglücklich, und werden unter das
Joch der Leiden und des Todes gebracht. Vor seiner
Vertreibung erkennt Adam, wie es scheint, durch den Glauben
das Leben da an, wo der Tod eingetreten ist. (1. Mose
3, 20.) Aber nicht allein das; es wird auch dem Weibe
die Verheißung gegeben betreffs des Samens, welcher den
Kopf der Schlange zermalmen sollte. Christus, der Same
des Weibes, durch welches daS Böse in die Welt gekommen
ist, sollte die ganze Macht des Feindes vernichten. Ferner —
da die Sünde die Unschuld zerstört und durch die Schande
des Nacktseins das Bewußtsein gegeben hatte, daß die Unschuld
verloren war — hat Gotr selbst, indem Er den Tod eintreten
ließ, Adam und sein Weib bekleidet und ihre Blöße
bedeckt. (1. Mose 3, 21.) Vorher war kein Bewußtsein
des Bösen vorhanden; jetzt wird das Böse gekannt, zugleich
aber durch die Thätigkeit GotteS selbst zugedeckt.
Der Mensch hatte seine Sünde vor sich selbst zu verbergen
gesucht; aber als er die Stimme Gottes hörte, erwiesen
sich die Feigenblätter als durchaus nichtig: sie sind wertlos
für ein Gewissen, welches in der Gegenwart Gottes
erwacht ist. „Ich fürchtete mich," sagt Adam, „denn ich
bin nackt, und ich versteckte mich." Und nun giebt ihm
Gott, bevor Er ihn wegschickt, nicht die Unschuld wieder,
was unmöglich war, sondern Er thut etwas Besseres:
Er bekleidet Adam und sein Weib mit Röcken, um so das
eigne Werk Seiner Gnade zu sehen, welches in ihrem
Zustande für Ihn erforderlich war; dann wird die Zermalmung
dessen, der sie zur Sünde verleitet hatte, ausgesprochen.
Indes, der Mensch wird aus dem Garten
vertrieben, in welchem er sich, ohne Glauben, all der Seg
105
nungen Gottes erfreut hatte, um jetzt den Erdboden zu
bebauen, um zu sterben und bis zu seinem Tode von dem
Gott getrennt zu sein, der früher in der Kühle des Tages
in dem Garten wandelte, wo der Mensch wohnte. Von
uun an kannte der Mensch Gott nur durch den Glauben,
vorausgesetzt daß Glaube in seinem Herzen vorhanden war:
und dies ist ein neuer Grundsatz von der größten Wichtigkeit.
Er hatte Gott verloren, ein Gewissen bekommen,
und, schwer arbeitend, um sein Leben hienieden zu fristen,
sollte er wenn möglich leben, — wenn möglich Gott finden;
aber er befand sich fortan außerhalb des Kreises, den
Gott besuchte und wo der Ueberfluß Seiner Segnungen
ohne Mühe und ohne Arbeit sich entfaltete. Der Mensch
war aus der Gegenwart Gottes geflohen, und Gott hatte
ihn vertrieben. Adam stand nicht mehr in dem Verhältnis,
in welchem Gott ihn geschaffen hatte, um bei Ihm
zu sein, weder nach dem Zustand seiner Seele noch nach
Recht: er war in der Sünde. Ich wiederhole, der Mensch
war aus der Gegenwart Gottes geflohen, und Gott hatte
ihn aus der Stellung vertrieben, in welche Er ihn versetzt
hatte, als Er ihn schuf; er war Gott entfremdet, hatte
ein böses Gewissen und kannte Gott nur insoweit, daß
er sich vor Ihm fürchtete; doch hatte er vernommen, daß
der Same des Weibes der Schlange den Kopf zermalmen
würde, und war durch die Gnade und das Werk Gottes
mit einem Kleide angethan, welches von dem Tode Zeugnis
gab, das aber von seiten Gottes und in vollkommner
Weise die Blöße bedeckte, von welcher das Gewissen der
Ausdruck war, nämlich von dem Falle des Menschen und
seinem sündigen Zustande. Der Mensch steht jetzt draußen;
— wird er vor Gott erscheinen können, wo es auch sei,
106
um Ihn anzubeten, um in einer inneren Verbindung mit
Dem zu sein, den er verlassen hat?
Diese neue Frage entsteht jetzt in der Geschichte
Adams. Abel bringt ein Opfer dar, welches ihn sozusagen
nichts kostete; aber er bringt eS dar durch den
Glauben, indem er anerkennt, daß er ein Sünder ist,
außerhalb des Gartens und fern von Gott — daß der
Tod eingetreten ist; indem er aber zugleich auch die
Gnade in Gott anerkennt, welche die Blöße seiner Eltern
bedeckt hatte, und sich Gott naht durch ein Sühnopfer,
das allein imstande war, die Sünde wegzunehmen, und
durch welches allein ein Sünder Gott nahen konnte kraft
des Todes eines Andern. Das Wesen Gottes in Liebe
und in Gerechtigkeit, sowie andrerseits der Zustand Abels
wurden in seinem Opfer anerkannt: er hat es durch
Glauben dargebracht, und Gott hat sowohl das Opfer,
wie auch Abel selbst, angenommen, indem Er Zeugnis
gab zu seinen Gaben. (Hebr. 11, 4.) Abel war Gott
wohlgefällig nach dem Werte seiner Gaben, das heißt nach
dem Werte Christi. Gott selbst hat die Blöße Adams
bedeckt; Abel kommt in der Erkenntnis seines Zustandes und
des Sühnopfers, durch welches allein er in die Gegenwart
Gottes treten konnte. Kain dagegen erscheint mit
der Frucht seiner eitlen Arbeit. Der Mensch mußte zu
Gott kommen, weil er aus Seiner Gegenwart entfernt
war, und Ihn anbeten. Alle, die nicht offenbar von
Christo und von Gott abgefallen sind, erkennen dies an.
Kain erkannte es auch, aber wie? Er dachte, daß er
Gott nahen könne, so wie er war. Warum auch nicht?
An die Sünde dachte er nicht. Die Thatsache, daß Gott
den Menschen aus dem Paradiese vertrieben hatte, änderte
107
für ihn nichts: er erscheint vor Gott, als ob gar nichts
vorgefallen wäre. Und dann, innerlich blind und ohne
Gefühl, opfert er allerdings die Frucht seiner Arbeit,
aber zugleich auch die Zeichen des Fluches, der jetzt auf
der Erde ruhte. Er erkannte weder an was er, noch
was Gott war — weder die Sünde, noch den Fluch, der
als Frucht der Sünde auf seiner Arbeit lastete. — Einmal
außerhalb des Paradieses stehend, handelte es sich
für den Menschen darum, Gott zu nahen; und wie dies
geschehen kann, teilt uns Gott selbst für alle Zeitalter in
dem ersten Buche Mose mit, in dieser Schatzkammer großer
Wahrheiten und wichtiger Grundsätze. Alle diese Geschichten
enthalten die Grundlagen unsrer Beziehungen zu Gott, indem
sie zugleich den Zustand des Menschen offenbaren.
Die Sünde nimmt zu: wir haben die Sünde gegen
Gott gesehen, und jetzt kommt die Sünde gegen den
Bruder. Kain, darüber erzürnt, daß Gott ihn verworfen
hatte, wird zum Mörder: er tötet seinen Bruder. Gott
stellt ihn zur Rede, aber nicht wie Adam mit den Worten:
„Wo bist du?" (denn Adam hätte sich in glücklicher
Ruhe in der Nähe GotteS befinden sollen, und das „Wo
bist du?" beschreibt seine ganze Lage), sondern Er sagt:
„Was hast Du gethan?" Indes begegnen wir zunächst
der Unterhaltung Gottes mit Kain betreffs seiner Beziehungen
zu Ihm. Wirst du nicht, wenn du wohl thust,
wohlgefällig sein? fragt Gott, und „sein Verlangen
wird nach dir sein *), und du wirst über ihn herrschen."
Wenn du nicht wohl thust, so ist die Sünde oder ein
Opfer für die Sünde (das hebräische Wort hat beide Be­
*) Vergleiche das über das Weib ausgesprochene Urteil.
<1. Mose 3, 16.)
108
deutungen) vorhanden (wörtlich: liegt vor der Thür), das
heißt, es giebt ein Heilmittel. Hier finden wir die Hauptgrundsätze
unsrer Beziehungen zu Gott. Wenn man Gutes
thut, so ist man wohlgefällig vor Gott; und wenn man
Böses thut, so hat die Gnade Gottes ein Opfer für die
Sünde vor die Thür gelegt. Der Leser wolle hier beachten,
daß das Opfer Abels kein Opfer für die Sünde
war; weder Kain noch Abel kommen mit einem Gewissen,
das durch eine bewußte Uebertretung beschwert ist. Es
handelt sich vielmehr um den Zu stand eines jeden von
ihnen, um den Zustand des Menschen vor Gott: der eine,
der Mensch, der sich als aus der Nähe GotteS vertrieben
erkennt, naht Gott auf Grund der Gnade; der andere,
der natürliche Mensch, ist gefühllos gegen die Sünde.
In der Antwort Gottes an Kain handelt es sich um
wirkliche Uebertretung, und das bestärkt die Annahme, daß
es sich in dieser Stelle um ein Opfer für die Sünde,
und nicht um die Sünde selbst handelt. Dann macht sich
Kain der Sünde gegen seinen Bruder schuldig; er vollendet
die Sünde in ihrem zweiten Charakter, was für
Adam nicht möglich war. Gott spricht das Urteil über
Kain aus, der, verflucht in seiner Arbeit, flüchtig und
umherschweifend, sich der Verzweiflung hingiebt und, indem
er Gott ganz und gar verläßt, hingeht, um sich in dem
Lande, in welchem Gott ihn umherschweifen ließ (in „Nod"),
niederzulassen. Damit nimmt die Welt ihren Anfang.
Kain baut eine Stadt und nennt sie nach dem Namen
seines Sohnes; seine Kinder bereichern sich, man erfindet
die Bearbeitung der Metalle und führt Erheiterung und
Vergnügen vermittelst der Künste ein: mit einem Wort,
man sucht sich möglichst glücklich zu machen ohne Gott.
109
Ich zweifle nicht, daß wir, abgesehen von der allgemeinen
Wahrheit, in Kain ein Vorbild der Juden finden,
indem sie den Herrn getötet haben: sie tragen ihr Zeichen
an der Stirn. Lamech handelt nach seinem Belieben und
nimmt zwei Weiber; er ist, wie ich glaube, ein Vorbild
von Israel am Ende der Tage. Seth ist der Mensch nach
dem bestimmten Vorsatz Gottes — Christus. Die beiden
Familien haben sich so auf der Erde gebildet; aber der
Haß der einen gegen die andere erscheint schon in Kain
und Abel. (Vergl. 1. Joh. 3, 11. 12.) Henoch giebt
uns das Zeugnis Gottes: er kündigt das Kommen Christi
im Gericht an; und dann kommt Noah, der durch das
irdische Gericht hindurchgeht und so zu sagen wiedergeboren
wird für eine neue Welt.
Ich habe mich über diesen Teil der Geschichte etwas
weitläufig ausgelassen, weil er uns den Zustand des gefallenen
Menschen und die Grundsätze dcirstellt, nach welchen
er in Beziehung zu Gott steht, ohne religiöse Einrichtungen,
obwohl nicht ohne Zeugnis von feiten Gottes.
In Henoch wird auch noch das ewige Leben sinnbildlich
dargestellt, wie in Abel das Opfer, durch welches der gefallene
Mensch Gott nahen kann, und in Adam und Eva
(in dem Zustand der Verurteilung, in welchem der Mensch
sich befindet) die unumschränkte Gnade, die sie mit Röcken
bekleidete, bevor sie vertrieben wurden. In Noah endlich
wird das Ende des Zeitalters angekündigt und das Gericht
durchschritten. An dies alles wird, soweit es die
Grundsätzein Gnade betrifft, in Hebr. 11, 1 — 7 erinnert.
Doch der gefallene Mensch verschlechterte sich fortwährend;
schließlich blieb nur Noah übrig, den Gott rettete, als
Er die Welt zerstörte.
110
Es ist wohl zu beachten, daß — obgleich die Thatsachen,
die uns bisher beschäftigt haben, weit tiefere Grundsätze
in sich bergen, Grundsätze, welche ihrer Natur und
ihrer Wirkung nach ewig sind — die Geschichte dieser
Zeit des Gerichts über Adam und über die Welt doch
eine Geschichte dieser Welt ist, und daß die Gerichte
den Regierungswegen Gottes angehören und sich auf irdische
Dinge beziehen.
Mit Noah fängt eine neue Welt an: sie beginnt
mit dem Opfer; und hier werden ausdrücklich „Brandopfer"
genannt: sie waren Gott wohlgefällig. Gott wollte
deshalb nicht mehr die Erde verfluchen und nicht mehr
alles Lebendige schlagen, sondern fortan sollten die Jahreszeiten
nach der von Gott eingerichteten Ordnung einander
folgen, so lange die Erde bestände. Doch der Mensch
ist nicht mehr wie einst im Paradies die Autorität, welche
unumschränkt und in Frieden den Tieren ihre Namen
giebt: die Furcht vor dem Menschen sollte alle Tiere beherrschen.
Der Mensch konnte sie essen; nur das Blut,
das Zeichen des Lebens, durfte er nicht antasten. Dann
wurde die obrigkeitliche Autorität eingesetzt, um die entfesselte
Gewalt im Zaume zu halten. Wer das Leben
antastete, zog sich den Verlust seines Lebens zu: Gott
wollte das Blut für das vergossene Blut fordern, und
der Mensch wurde mit der nötigen Autorität bekleidet,
um diesem Gesetz Geltung zu verschaffen. Dann giebt
Gott den Regenbogen als Zeichen des Bundes Gottes
mit der ganzen Schöpfung, zum Zeugnis, daß keine Flut
mehr stattfinden sollte.
Unter dieser Ordnung der Dinge leben wir jetzt auf
der Erde. Doch Noah, sich in der verliehenen Segnung
111
erfreuend, verfehlt seine Berufung, betrinkt und entehrt sich.
Die Welt teilt sich in drei Teile: der eine ist in Verbindung
mit Gott; der andere wird verflucht und im Blick auf die
Geschichte Israels erwähnt; schließlich haben wir die Masse
der Heiden. Der Mensch will sich auf der Erde erheben
und die Macht des Menschengeschlechts, welches da
mals noch eines war, in einem Punkte vereinigen; aber
Gott verwirrt ihre Pläne zugleich mit ihrer Sprache. Dann
entsteht die königliche Macht auf der Erde in Nimrod. *)
Babel und das Land Sinear beginnen hervorzutreten. Das
ist unsre Welt. (Fortsetzung folgt).
*) Man beachte im Vorbeigehen, daß die Dauer des menschlichen
Lebens sich seit der Süudflut um die Halste vermindert hat;
dasselbe geschah noch einmal zur Zeit des Pelech, als die Erde
planmäßig verteilt wurde.
Bruchstücke.
Was uns so not thut, ist der Charakter eines Kindleins.
Was weiß ich aus mir selbst? Nichts. Aber
ich glaube z. B. und bin gewiß, weil Gott es mir
gesagt hat, daß ich ewiges Leben habe. Hat Gott das
denn wirklich gesagt? Ja! „Und dies ist die Verheißung,
welche Er uns verheißen hat: das ewige Leben." — „Und
dies ist das Zeugnis: daß Gott uns ewiges Leben gegeben
hat, und dieses Leben ist in Seinem Sohne." (1. Joh. 2,
25; 5, 11.) Alle, welche glauben, besitzen das ewige Leben.
Gott sagt es, Er, dessen Urteil allein Wert hat, der allein
ein Recht hat zu sprechen; und ich danke Ihm, daß Er
imstande ist, solch wunderbare Dinge über mich zu sagen.
Was so vielen Christen fehlt, ist die Einfalt eines Kindes,
welches genau das glaubt, was der Vater ihm sagt. Aus
112
diesem Grunde wandeln sie auch nicht als Kinder Gottes.
Wie «könnten sie es, wenn sie nicht glauben, daß sie
Kinder sind? —
„Christus lebt in mir." (Gal. 2, 20.) Ein aufrichtiges
Herz verlangt nach Wirklichkeit; ihm genügt
nicht ein bloßer Name, ein leeres Bekenntnis; es wünscht,
daß in Wort und Werk das Leben, welches in ihm ist,
offenbar werde. Wie schön ist aber auch das Resultat,
wenn ein Gläubiger wirklich die Wahrheit „thut!" Blicken
wir auf den Apostel Paulus. Was waren alle jene Leiden,
die er um des Namens Christi willen erduldete, was war
all seine Selbstverleugnung anders als ein mächtiger Beweis
von der Wahrheit dessen, was von seinen Lippen
floß? Welch einen gewaltigen Eindruck machten seine Worte
auf die Zuhörer, gerade weil sie sahen, daß er sie praktisch
in Ausübung brachte! Erkannte allezeit sagen: „Mag ich
es nun gut oder schlecht gemacht haben, ich habe versucht,
das Leben praktisch darzustellen, welches Christus in mich
gelegt hat. Es war mein einziges Verlangen und Sehnen,
Christum zu leben." — Möchten auch wir dies sagen
können, geliebter Leser! Es giebt so viel Bekenntnis und
Wissen heute, aber so wenig Wirklichkeit, so wenig wahres
aufrichtiges Verlangen nach einem Wandel znrj Ehre Gottes.
„Eine Behausung Gottes im Geiste." (Eph. 2, 22.)
Klaubst Du, mein Leser, daß Gott in den Seinigen wohnt?
Und wenn Du es thust, wie wandelst Du? Alle, welche
Christi sind, gehören Gott an, sind Seine Kinder, Seine
Behausung, Sein Wohnplatz; und gerade diese Thatsache
macht sie verantwortlich, als Kinder zu wandeln. Ach,
wie viele lassen sich ungern daran erinnern, daß diese ernste
Verantwortlichkeit auf ihnen ruht! Sie wandeln in ihrem
täglichen Leben nicht mit Gott, sondern nach ihren eignen
Gedanken, auf eigenen, selbstgewählten Wegen. Welch ein
Verlust für sie und welch eine Unehre für Gott!
Einleitung in die Schriften des Alten und
des Neuen Testamentes.
(Fortsetzung.)
Nunmehr zeigt sich ein anderes wichtiges Element in
der Geschichte: der Götzendienst tritt ein. Satan
macht nicht nur als Verführer den Menschen schlecht, sondern
er macht sich zum Gott für den Menschen, um ihm
behülflich zu sein, seine Leidenschaften zu befriedigen.
Nachdem der Mensch Gott verloren hatte, mit dem er doch
zu thun gehabt, und mit welchem er in Noah wieder angefangen
hatte, hat er aus allem, worin sich die Kraft der
Natur zeigt, einen Gott gemacht, zu einem Spielzeug für
seine Einbildung und zur Befriedigung seiner Begierden.
Er hatte nichts anderes. (Jos. 24, 2.) Selbst von dem
Teil des Menschengeschlechts, der mit Jehova in Verbindung
stand, (vergl. 1. Mose 9, 26) wird ausdrücklich gesagt,
daß er in dieser Hinsicht gefallen sei. Schrecklicher Fall!
Obgleich der Mensch sich nicht von dem Bewußtsein frei
machen konnte, daß es einen Gott gebe, ein Wesen, welches
über ihm stehe, und obwohl er sich vor Ihm fürchtete,
machte er sich dennoch eine Menge niederer Götter,
bei denen er diese Furcht zu verbannen und eine Erfüllung
seiner Wünsche zu erhalten suchte, indem er das verdeckte,
was im Grunde genommen immer „ein unbekannter Gott"
war. Die Sterne, die Vorfahren (die Söhne Noahs
114
und noch ältere und weniger bekannte Glieder der menschlichen
Familie,) die Naturkräfte, — mit einem Wort, alles
was nicht von dem Menschen war, sondern ohne ihn handelte
und wirkte, ferner die Wiederbelebung der Natur
nach ihrem Ersterben, die Entstehung der lebenden Wesen,
alles wurde in seinen Augen zu Göttern. Der Mensch
kannte den wahren Gott nicht; er mußte aber einen Gott
haben, und in seinem abhängigen und unglücklichen Zustande
machte er sich Götter nach seinen Lüsten und
nach seiner Einbildung, und Satan zog Nutzen daraus.
Arme Menschheit ohne Gotti
Doch der allgemeine Einfluß der Abgötterei führte
eine Dazwischenkunft Gottes als des unumschränkten Herrn
herbei, welche Seinen wichtigsten Wegen ihren Stempel
aufdrückte: Er berief Abraham und hieß ihn aus seiner
verderbten Umgebung hinausgehen, um ihn als Stammvater
eines Volkes zu haben, welches Ihm angehören
sollte. In ihm, dem Vater der Gläubigen, kommen drei
oder gar vier Hauptgrundsätze zum Vorschein: der unumschränkte
Wille Gottes, mit andern Worten die Auserwählung,
dann die Berufung Gottes, die Verheißungen
und der beständige Gottesdienst des
Menschen, als Fremdling auf der Erde. Dieser
letzte Umstand, das Besitzen der Verheißungen und
das Nichtbesitzen der verheißenen Dinge, verband die Neigungen
und die Hoffnung mit dem, was außerhalb dieser
Welt lag, zunächst allerdings in unbestimmter Weise; doch
es wurden Offenbarungen hinzugefügt. Diese Grundsätze
haben seit jenem Tage das Volk Gottes charakterisiert.
Diese neuen Wege Gottes sind also in kurzem folgende:
Da die Welt sich dem Götzendienst hingegeben hatte, berief
115
Gott einen Menschen, damit er für Ihn sei außerhalb
der Welt, indem Er ihn zum Bewahrer der Verheißungen
machte. ES hatte auch früher Gläubige gegeben, aber
nicht einen Stammvater wie Adam, der das Haupt des
gefallenen Geschlechts war; Abraham aber ist das Haupt
eines Geschlechts, denn wir selbst, da wir in Christo sind,
sind Abrahams Same.
Nichts ist lehrreicher als das Leben Abrahams; doch
können wir hier nur das berühren, was die Wege Gottes
kennzeichnet. Abraham erklärt, daß er ein Pilgrim und
Fremdling sei; doch er errichtet Gott einen Altar, als er
in das Land kommt, das Gott ihm gegeben hatte, in
welchem er aber nicht so viel besaß, daß er seinen Fuß
hätte darauf setzen können: er hatte nichts als sein Zelt
und seinen Altar. Er schlägt sein Zelt auf und errichtet
seinen Altar, da wo er gerade wohnt. Er fehlt und
zieht, ohne Gott um Rat zu fragen, nach Egypten hinab.
Gott behütet ihn, aber er ist bis zu seiner Rückkehr in
das Land Kanaan ohne Altar. Dann wird ihm die Verheißung
einer zahlreichen Nachkommenschaft (Israel) gegeben,
welche das Land in Besitz nehmen sollte; ferner
sollten alle Geschlechter der Erde in ihm gesegnet werden.
Nachdem der Sohn, auf welchem die Verheißungen ruhten,
Gott geopfert ist, und Abraham ihn aufs neue wie durch
Auferstehung empfangen hat, wird die Verheißung der
Segnung der Nationen dem Samen, d. i. Christo, (vergl.
Gal. 3, 16) bestätigt. Die Verheißungen sind ohne Bedingung:
es handelt sich dabei um den bestimmten Ratschluß
Gottes. Israel wird in den letzten Tagen daraus
Nutzen ziehen; die Christen (um nicht zu reden von Offenbarungen
und vollendeten Thatsachen, welche von unend
116
licher Wichtigkeit sind) erfreuen sich schon jetzt darin.
Sarah wollte den „Samen" nach dem Fleische haben,
vor der Zeit. Aber alles mußte nach'Verheißung sein:
Gnade, Glaube, Hoffnung; denn damals war noch nichts
erfüllt, was im Blick auf die Herrlichkeit immer wahr
bleibt, ausgenommen was die Person Christi betrifft.
Allein Gott war der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs,
der Miterben derselben Verheißung. In Isaak haben wir
das Vorbild der Beziehungen zwischen Christo und der
Kirche; in Jakob steigen wir in die Sphäre des irdischen
Volkes hinab.
Nachdem dann Jakob nach Egypten gekommen ist,
verfällt das Volk dem Joche der Sklaverei, dem harten
Dienst der Egypter, gerade so wie wir der Sünde im
Fleische unterworfen sind. Dies führt einen weiteren
Grundsatz von außerordentlicher Tragweite ein, nämlich
die Erlösung, begleitet von noch einer andern Wahrheit
— ein Volk Gottes ist auf der Erde, ein Volk, in
dessen Mitte Gott wohnt. (2. Mose 3, 7. 8; 6, 1—8;
29, 45. 46.) Unumschränkte Gnade ist es, welche an
das Elend des Volkes gedenkt und das Schreien der
Kinder Israel hört. Allein Israel war in der Sünde
wie die Egypter; wie konnte Gott es erlösen? Er hat
ein Lösegeld gefunden: das Blut des Passahlammes,
ein Vorbild von Christo, wird durch den Glauben auf die
Oberschwelle und die beiden Thürpfosten gestrichen, und
Gott, der im Gericht schlägt, „geht vorüber" an dem
Volke, welches durch das Blut beschützt wird. Israel ißt
das Lamm, welches geopfert worden war und das Volk
vor dem Gericht sicher gestellt hatte; es genießt es mit
bittern Kräutern und ungesäuertem Brote, mit der Bitter
117
keit der Demütigung und der Wahrheit im Herzen, die
Lenden umgürtet, den Stab in der Hand, die Sandalen
unter den Füßen; es verläßt Egypten in Eile. Dann
am Meere angekommen wird das Volk erlöst: „Stehet
und sehet die Rettung Jehovas!" Die Macht Egyptens
bricht unter dem ausgeführten Gericht zusammen; Israel
befindet sich außerhalb Egyptens, befreit und zu Gott gebracht:
die Erlösung ist vollständig, das Volk wird die
Egypter nie Wiedersehen. (2. Mose 14. 15.)
Es gab auch ein Leben, welches Gott bereitet hat:
Israel mußte die bittern Wasser des Todes (d. i. Mara)
trinken, welchen Christus in Wirklichkeit für uns erlitten
hat; es wurde mit dem Manna (Christus) genährt, mit dem
Wasser aus dem Felsen (dem Geiste Gottes) getränkt und
im Kampfe von oben unterstützt. Aber alles ist Gnade:
Gott handelt in Gnade und wird da verherrlicht, wo der
Mensch fehlt. Dann ist der Mensch bei Gott, denn die
Erlösung führt uns zu Gott (2. Mose 14, 4) — nur
die Reise unter der Gnade, um dahin zu gelangen, wird
in ihren Hauptgrundsätzen hinzugefügt. Der Sabbath
wird angeordnet: das erlöste Volk hatte teil an der
Ruhe Gottes; dies geht zusammen mit dem Manna,
Christus, wie der Kampf mit dem Wasser aus dem
Felsen.
Einige Verse aus dem 15. Kapitel des 2. Buches
Mose beanspruchen hier unsre Aufmerksamkeit. Wir finden
dort einerseits: „Du hast durch Deine Güte geleitet das
Volk, das Du erlöset, hast es geführt durch Deine Stärke
zu der Wohnung Deiner Heiligkeit" (Vers 13); und andrerseits
lesen wir im 17. Verse: „Du wirst sie bringen und
pflanzen auf den Berg Deines Erbteils, die Stätte, die
118
Du, Jehova, zu Deiner Wohnung gemacht hast." Das will'
sagen: die Kinder Israel waren zu Gott selbst gebracht,
ihre Erlösung war vollendet und vollkommen; aber sie
mußten auch in das verheißene Erbteil eingeführt werden.
Der Leser wird bemerken, daß von der Wüste keine Rede
ist, weder in 2. Mose 3, noch in Kap. 6, noch hier in
Kap. 15, 1—21. Da das Werk der Erlösung vollendet
ist, so ist die Wüste nicht notwendig. Der Räuber war
zubereitet, mit Christo im Paradiese zu sein, und wir sind
es gleichfalls. (Kol. 1, 12.) Die Wüste bildet keinen Teil
der Ratschlüsse Gottes, die, was uns betrifft, sich auf
die Erlösung und das Erbteil beziehen; sie bildet vielmehr
einen Teil der Wege Gottes. (Siehe 5. Mose 8, 2. 3 rc.)
Gott prüft uns, damit wir uns selbst und Ihn kennen
lernen. Die Bekenner werden auf die Probe gestellt auf
Grund einer vollbrachten Erlösung: wenn sie das Leben
nicht haben, so fallen sie auf dem Wege, während die
wahren Gläubigen bis ans Ende ausharren. — Dann
wird der Zustand des Volkes der Probe unterworfen, und
sie werden gezüchtigt. (5. Mose 8, 5. 15. 16.) In dieser
Stellung ist man dem Grundsatz nach unter dem Gesetz;
es handelt sich darum, was wir vor Gott sind im Blick
auf Seine Regierung; doch wir werden unter dem Stabe
des Priestertums geleitet. (Der Tod Aarons beendet diesen
Teil des Vorbildes; dann ist die „rote Kuh" (4. Mose 19)
eine besondere Vorsorge für die Befleckungen, mit denen
man sich in der Wüste beschmutzt.) Anders ist es, wenn
es sich um die Rechtfertigung handelt: dann heißt eS am
Ende der Wüste (unsers Lebens der Prüfung hienieden):
„Zu der Zeit (am Ende der Wüste) wird von Jakob und
von Israel gesagt werden, was Gott gethan hat."
119
Während der ganzen Reise durch die Wüste lautete die
Frage: Was hat Israel gethan?
Wie das Rote Meer ein Bild des Todes Christi
für uns ist, so ist der Jordan unser Tod mit Ihm; darnach
kommt unser Kampf, als das Heerlager Gottes, mit
den geistlichen Mächten der Bosheit in den himmlischen
Oertern. Aber vorher giebt es ein Gilgal: die Anwendung
unsers Gestorbenseins mit Christo auf den Zustand
unsrer Seele in den Einzelheiten des praktischen Lebens.
Das Lager war stets in Gilgal: die Erinnerung an unsre
Einsmachung mit Christo in dem Tode (durch den Glauben)
im Jordan ist zu Gilgal. Ferner wird das Manna,
die Speise für die Wüste (d. i. ein auf diese Erde herabgekommener
Christus) durch das Getreide des Landes
(einen himmlischen Christus) ersetzt, und der Fürst des
Heeres Jehovas zeigt sich.
Der Erfolg im Kampf und die Segnung in der
Wüste hingen von dem Zustand derer ab, welche mit Gott
selbst verbunden waren: Er segnete, aber Er regierte auch
in der Mitte Seines Volkes. Die beiden Dinge, Wüste
und Kampf — der Krieg, den Israel als das Heerlager
Jehovas führte — finden sich nicht in dem gleichen Augenblick,
Wohl aber während derselben Dauer des menschlichen
Lebens. Das Heil, die Erlösung sehen wir am Roten
Meere; die auf Erfahrung gegründete Befreiung findet sich
am Jordan. Der Stab schlug das Meer, und kein Meer
war mehr da, eS sei denn als Schutz für das Volk.
Die Bundeslade blieb im Jordan, bis alle hinübergezogen
waren. Es ist beachtenswert, daß die Bedingungen und
die „Wenn" in der Schrift sich niemals auf die Errettung
beziehen, sondern stets auf die Reise durch die Wüste.
120
Ferner ist für diejenigen, welche den Glauben und das
Leben besitzen, mit dem „Wenn" die Verheißung verbunden,
bis ans Ende bewahrt zu werden, so daß es für
den Glauben keine Ungewißheit giebt; aber es handelt sich
um auf Erfahrung gegründete Beziehungen zu einem
lebendigen Gott und nicht um ein vollbrachtes Werk.
Was die Geschichte Israels betrifft, so haben sie am
Berge Sinai die Verheißungen unter der Bedingung ihres
Gehorsams angenommen. Das ist der erste Bund, angeordnet
durch einen Mittler, was zwei Parteien voraussetzt.
Der Genuß der Wirkung der Verheißung ruhte auf
keiner größeren Sicherheit als derjenigen, welche die schwächste
der beiden Parteien darbot, da er ebensosehr von der
Treue des Menschen wie von derjenigen Gottes abhing;
und dann wurde, noch ehe Moses von dem Berge herabgestiegen
war, das goldene Kalb gemacht. Der neue
Bund wird, wie der alte, mit Israel und Juda errichtet
werden, wenn der Herr wiederkommen wird, indem Er die
Sünden vergiebt, um ihrer nie mehr zu gedenken, und
Sein Werk dadurch vollführt, daß Er Sein Gesetz auf
ihre Herzen und nicht auf steinerne Tafeln schreibt. Doch
die Thatsache, daß das Volk am Sinai sich bereit erklärt
hat, die Segnung unter der Bedingung des voraufgehenden
Gehorsams zu empfangen, ist von der größten Wichtigkeit;
sie veränderte und verschärfte den Charakter der
Sünde, insofern das, was geschah, nicht nur an und sür
sich schlecht war, sondern auch zur Uebertretung des Gesetzes
wurde, welches die Autorität Gottes ausdrücklich mit der
Verpflichtung zur Bewahrung der Beziehungen verband,
deren Verletzung es verbot. Die Beziehungen und die Verpflichtungen
bestanden bereits, aber das Gesetz machte aus
121
der Verletzung dieser Verpflichtungen eine bestimmte Uebertretung
des ausdrücklichen Willens Gottes: unter dem Gesetz
handelte es sich nicht nur um die menschliche Gerechtigkeit,
sondern um die Autorität Gottes. Das letzte Gebot: „Du
sollst nicht begehren..bezog sich, wie bereits gesagt, nicht
auf die Sünde im Fleische selbst, sondern auf ihre ersten
Regungen und ließ eine aus Gott geborene Seele die
Wurzel der Sünde im Fleische entdecken. Selbst wenn
das ganze Gesetz erfüllt wurde, war es doch immer nur
eine menschliche Gerechtigkeit.
Eine andere wichtige Wahrheit, auf die bereits hingewiesen
wurde, fand jetzt ihre Erfüllung, nämlich das
Wohnen Gottes hienieden inmitten Seines Volkes. Gott
hatte Seinen Thron in der Mitte Israels aufgerichtet.
Hieran schließen sich zwei andere Dinge: die unmittelbare
Regierung Gottes, der durch den Glauben als der Gott der
ganzen Erde gekannt wurde; und der Umstand, daß man da,
wo dieser Thron aufgerichtet war, Gott nahte, denn Gott
offenbarte sich nicht; Er war hinter dem Vorhang verborgen.
Aber man brachte dort die Opfer dar; alles was
mit dem Gottesdienst in Verbindung stand, (wenigstens
von seiten des Volkes) verwirklichte und vereinigte sich
dort. Dort reinigte man jedes Jahr die Wohnung Gottes;
dort wurden die Sünden Israels durch Opfer getilgt,
welche Vorbilder des Opfers Christi waren. Zugleich war
die Stiftshütte das Gegenbild der himmlischen Dinge;
nur war der Vorhang, der den Eingang ins Allerheiligste
verschloß, noch nicht zerrissen, der Mensch trat nicht ins
Allerheiligste ein, ausgenommen einmal des Jahres der
Hohepriester. Das war der Zustand des Volkes. Es
hatte das Gesetz als eine von nun an geltende Bedingung
122
für die Erfüllung der Verheißungen angenommen; Gott
war gegenwärtig in der Mitte des Volkes, aber unzugänglich
hinter dem Vorhang, und die Regierung Gottes
wurde in der Mitte und zu Gunsten des Volkes ausgeübt.
Doch die Stiftshütte und alle ihre Anordnungen
waren nur Schatten, nicht das wahre Ebenbild der Dinge;
deshalb finden sich in dem Briefe an die Hebräer mehr
Gegensätze als Vergleichungen.
Laßt uns im Vorbeigehen die Gnade und Herablassung
Gottes in Seinen Wegen mit Israel bewundern.
Befand sich das Volk in der Sklaverei, so erschien Gott
als Erretter. Mußte es als Pilgrime in der Wüste umherirren,
so wohnte Gott in einem Zelte in ihrer Mitte.
Mußte in Kanaan Krieg geführt werden, so zeigte sich
Gott mit einem entblößten Schwerte als Anführer des
Heeres Jehovas. Hatte sich das Volk in Frieden in Kanaan
niedergelassen, so ließ Gott für sich eine Wohnung gleich
den Palästen der Könige bauen.
Nachdem wir so an das Ende der Reise durch die
Wüste gelangt sind, bleibt mir noch übrig, einige Worte über
das 5. Buch Mose zu sagen, welches ein Buch für sich ist;
dies wird mir auch Gelegenheit geben, auf den Charakter
des ganzen Pentateuch (der fünf Bücher Mose) aufmerksam
zu machen; doch werde ich mich kurz fassen.
Das 1. Buch Mose legt die Grundlagen und umfaßt
alle die großen Grundsätze der Beziehungen des
Menschen zu Gott: die Schöpfung, Satan, den Fall, das
Opfer, die Absonderung der Heiligen von der Welt, das
Gericht der Welt; die Regierung, um das Böse im Zaum
zu halten; die Berufung Gottes, als der Götzendienst entstanden
war; die Verheißungen; den Samen Gottes;
123
die Gläubigen als Pilger und Fremdlinge, aber mit einem
geregelten Gottesdienst, jedoch ohne gottesdienstliche Einrichtungen;
dann die Auferstehung in Isaak, und die Juden
als irdisches Volk in Jakob.
Im 2. Buche Mose haben wir die Erlösung, das
Gesetz, die Stiftshütte, ein Volk Gottes, die Gegenwart
Gottes auf Seinem Throne auf der Erde, den alten Bund,
das Priestertum; im 3. Buche die Einzelheiten der Opfer,
die Reinheit nach dem Gesetz, namentlich in Bezug auf
den Aussatz, den großen Versöhnungstag, die Feste, das
Sabbathjahr und das Jubeljahr, in welchem jeder sein
Erbteil zurückerhielt, sowie die prophetischen Drohungen
im Falle des Ungehorsams. Im 4. Buche finden wir
die Zählung des Volkes, die Absonderung der Leviten,
das Gesetz über die Eifersucht, das Nasiräertum, die Geschichte
des Zuges durch die Wüste unter der Führung
der Wolke und unter dem Priestertum, und zugleich mit
der Geschichte der Leitung der Kinder Israel während
dieser Reise die „rote Kuh"; das Volk, mit Ausnahme
zweier Männer und der Kinder, kommt in der Wüste um,
das Urteil Gottes wird Seiner unumschränkten Gnade
gemäß durch Bileam ausgesprochen. Zugleich findet man
in diesem Buche die Einzelheiten der Opfer für die Festtage,
besonders für das Laubhüttenfest, die Gelübde, die
Besitzergreifung des Landes auf der östlichen Seite des Jordan,
die eherne Schlange, das Erbteil der Leviten und die
Zufluchtsstädte. Doch obwohl alle diese Bücher Geschichte
enthalten, so ist doch die Geschichte selbst (nicht nur die feierlichen
Gebräuche und Ceremonieen) ein Vorbild geistlicher
Dinge. „Alle diese Dinge aber widerfuhren jenen als Vorbilder,"
sagt Paulus, „und sind geschrieben worden zu unsrer
124
Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen
ist." (1. Kor. 10, 1—13.) Wir haben, mit Ausnahme
von 3. Mose 8 und 9, keinen Beweis, daß ein einziges
Opfer in der Wüste dargebracht worden ist, es sei denn
dem Moloch und Remphan.
Das 5. Buch Mose hat einen besondern Platz.
Es setzt voraus, daß das Volk in dem Lande ist; es erinnert
dasselbe an seinen Ungehorsam und dringt auf Gehorsam.
Sein Zweck ist, das Volk in Verbindung mit
Jehova zu erhalten. Es sollte in dem Lande ein Ort
bestimmt werden, wo die Bundeslade und der Gottesdienst
errichtet, wo alle Feste gefeiert, wo alle Opfer und die
Zehnten dargebracht werden sollten, mit Ausnahme dessen,
was man im dritten Jahre dem Leviten an dem Orte
gab, wo er wohnte. *) Die Priester werden kaum erwähnt,
das Volk steht in unmittelbarer Verbindung mit Jehova:
der Segen sollte auf dem Gehorsam, das Gericht auf dem
Ungehorsam ruhen. Das Buch schließt mit einem prophetischen
Liede, welches den Abfall des Volkes und das
Gericht Gottes ankündigt, ein Gericht, welches sich über
die Völker ergießen sollte, die Israel bedrücken würden.
— Im 2. und 3. Buche Mose handelt es sich darum,
Gott zu nahen; hier im 5. Buche, sich der Segnungen
Jehovas zu erfreuen, und zwar in dem Geiste der Gnade
denjenigen gegenüber, welche in Not sein würden, und als
solche, die sich unmittelbar unter der Hand Jehovas befanden,
sowie in treuer Beobachtung des Gesetzes, welches
Er gegeben hatte. Mehrere Vorschriften betreffs der Feste
und der Zufluchtsstädte werden wiederholt; aber was das
*) Man findet dies geschichtlich in den apokryphischen Büchern.
(Tob. 1, 6-8.)
125
Buch kennzeichnet, ist ein Bolk ohne König, ohne Propheten,
(die Priester werden zwar genannt, kommen aber
kaum zum Vorschein) in den Besitz des Landes gesetzt,
um Jehova, der es ihnen gegeben hatte, zu dienen. Indessen
erweckte Gott, als es nötig wurde, zu der Zeit,
auf welche dieses Buch sich bezieht, außerordentliche Männer,
um die Angelegenheiten des Volkes wieder zu regeln,
wenn es durch seine Sünde in Verfall geraten war;
hauptsächlich aber ist es Jehova und das Volk.
(Fortsetzung folgt.)
„Ausheimisch von dem Leibe — einheimisch
bei dem Herrn."
(2. Kor. 5, 8.)
Zwei Dinge gehen für uns als Gläubige Hand in
Hand: die Gewißheit des Kommens des Herrn und die
Ungewißheit, ob wir vor Seiner Ankunft entschlafen werden
oder nicht. Es ist Gott allein bekannt, ob ich bei
der Rückkehr Christi „in Wolken" die Hütte dieses Leibes
bereits abgelegt haben werde, oder noch in ihr bin. Aber
angesichts der Gewißheit Seines Kommens kann mich die
Ungewißheit, ob ich in jenem Augenblick in oder außer
dem Leibe gefunden werde, (wie tief mein Interesse daran
auch sein mag,) dennoch nicht im mindesten beunruhigen.
In jedem Falle ist uns eine Segnung zugesichert, welche
unsere gegenwärtige Glückseligkeit weit übertrifft; und
wahrlich, wir können mit glücklichem Herzen die Verfügung
über unser irdisches Haus dieser Hütte dem Herrn überlassen.
Es ist gut, für Ihn hienieden sein zu dürfen; es
126
ist „weit besser," zu entschlafen und zu Ihm zu gehen;
doch das Beste von allem ist: wenn ich entschlafen bin,
in Seinem Bilde zu erwachen, oder wenn ich bei Seiner
Ankunft noch leben sollte, Ihn zu sehen wie Er ist.
Dies, die beste Sache, und nicht nur die bessere (obgleich
diese auch sehr gesegnet sein mag,) ist es, was der Herr
stets als den Gegenstand unsrer Hoffnung vor uns stellt;
nichts Geringeres als das bildet „den Kampfpreis", dem
wir nachjagen, oder die ersehnte Vollendung, wenn Er und
wir mit Ihm verherrlicht sein werden. Die Thatsache,
daß in der Schrift der Geist Gottes die Zuneigungen
unsrer Herzen stets mit dem Kommen Christi verbindet,
sollte für jeden Heiligen Gottes ein genügender Beweis
sein, daß das Beste, das was den Gegenstand dieser
„glückseligen Hoffnung" bildet, Seine Ankunft ist, und
daß wir, wenn wir diese Ankunft nicht lieb haben,
wenn etwas anderes an die Stelle jener Hoffnung getreten
ist, weder in einem guten Zustande sind, noch mit
den Gedanken Gottes in Uebereinstimmung stehen. Aber
während dieses unbestreitbar ist und nicht oft genug hervorgehoben
werden kann, dringt doch die Thatsache, daß
so viele Heilige seit der ersten Mitteilung dieser „glückseligen
Hoffnung" entschlafen sind, und daß einer nach
dem andern aus unsrer Mitte zu der ewigen Ruhe abgerufen
wird, unsern Seelen ein tiefes und stets wachsendes
Interesse an dem Charakter unsrer Segnung auf.
Der Schächer, in welchem die Gnade noch auf dem'
Muchholze wirkte und die neuen Wünsche seines Herzens
in so gesegneter Weise zum Ausdruck brachte, erhielt Licht
über drei Punkte, deren jeder von hervorragender Wichtigkeit
ist. Er bat, daß der Herr (1) seiner gedenken möge
127
(2) bei Seinem Kommen (3) in Seinem Reiche. Der
Herr verbesserte und übertraf jeden Teil seiner Bitte, indem
Er ihm verhieß, daß er (1) noch an jenem Tage
(2) mit Ihm (3) im Paradiese sein sollte! Die wenigen
Worte des Herrn enthalten die volle Belehrung der Schrift
über die Segnung derer, welche diese Hütte ablegen; und
wenn wir dieselben mit dem Zeugnis Pauli in Verbindung
bringen, daß nämlich, sobald der Heilige „ausheimisch
von dem Leibe" ist, er „einheimisch bei dem Herrn"
ist, daß „abzuscheiden und bei Christo zu sein, weit besser,"
und daß „Sterben Gewinn" ist, so sehen wir deutlich,
daß der von seiner irdischen Hülle gelöste Geist (1) die
Glückseligkeit genießt, bei Christo zu sein, was weitaus
jede hienieden genossene Segnung übertrifft, (2) daß diese
Glückseligkeit eine unmittelbare ist, und (3) daß sie in
Seiner kostbaren Gegenwart genossen werden wird.
Aber wenn dies auch die unmittelbaren, uns von
dem Heiligen Geiste in dem Worte Gottes mitgeteilten
Belehrungen zusammenfaßt, so dürfen wir dennoch ruhig
Voraussagen, daß die Glückseligkeit, in welche der Geist
unmittelbar nach Ablegung seiner irdischen Hütte eingeführt
wird, eine sehr mannigfaltige ist und von den verschiedensten
Gesichtspunkten aus betrachtet werden kann. Befreit
von dem Leibe, ist er auch sofort von dem Widerstande,
dem beschwerenden Gewicht erlöst, welches ein sündiger
Leib (so passend derselbe für die Uebungen des Glaubens
auch sein mag und als ein Werkzeug für den Dienst des
Herrn in dieser sündhaften Welt gebraucht werden kaun)
notwendigerweise seiner Freiheit auferlegen muß. Mit
welch einer neuen Freude werden wir dann erkennen, daß
wir niemals mehr Sein liebevolles Herz betrüben, noch
128
je Schmach und Unehre auf Seinen kostbaren Namen
bringen können; daß Sünde und Schmerz, Mühsal und
Unruhe, Sorge und Streit, überhaupt alles, was geeignet
ist, unsre Liebe und Zuneigung zu dem Herrn zu schwächen
oder deren Ausfluß zu verhindern, samt alledem, was uns
hienieden immer wieder an den Fall und den Fluch erinnert,
für ewig hinter uns liegt! Seien es meine menschlichen
Bedürfnisse und Schwachheiten als Geschöpf, oder
mein kranker und leidender Zustand als ein gefallenes
Wesen, oder endlich diese irdische Hütte als das Werkzeug,
in welchem mein Wille wirken will, die Behausung, in
welcher das Fleisch wohnt — von allem bin ich für immer
befreit, sobald ich diesen Leib verlasse. Nie mehr werde
ich ein Bedürfnis oder irgendwelche Ermattung kennen;
nie mehr wird Schmerz oder Kummer mein Teil sein;
nie mehr wird ein verkehrter Wille wirken, nie mehr
eine fleischliche Gesinnung, ein Herz, welches Feindschaft
gegen Gott ist, sich zeigen! Sobald ich den Leib ablege,
ist jede Verbindung mit dem Fleische und seiner ruhelosen
Thätigkeit, mit der Welt und ihren Grundsätzen abgebrochen.
Meine Gemeinschaft mit dem ersten Menschen
und der alten Schöpfung, mit der Welt des Menschen
und dem Gott dieser Welt ist für immer gelöst, um nie
wieder angeknüpft zu werden. Welch eine Befreiung von
der Feindschaft und List Satans; welch ein Entrinnen
aus jeglichem Strick des Vogelstellers, ja, selbst aus der
Welt, dem unrechtmäßig erworbenen Reiche Satans! Dann
bin ich nicht länger seinem immerwährenden, vielseitigen
Widerstand gegen Christum und diejenigen, welche Sein
sind, ausgesetzt; dann liegt die Wüste hinter mir mit
allen ihren schmerzlichen Erfahrungen von Kampf und
129
Streit; dann ist der Hafen erreicht, wo alles Böse ausgeschlossen
ist, wo alle Mühe und Arbeit in der ewigen
Ruhe und dem Genuß Seiner Gegenwart enden wird!
Es ist ein beglückender und ermunternder Gedanke,
daß mein Leib, als ein Glied Christi, wegen Seines in
mir wohnenden Geistes auferstehen wird; während mein
Geist — da ich „ein Geist" mit dem Herrn bin, eins
mit Ihm in lebendiger, ewiger Vereinigung, sei es nun
in oder außer dem Leibe — zu Gott zurückkehrt und
jenen ewigen Hafen in der Gegenwart Christi findet, welcher
die Wiedervereinigung' mit dem Leibe zur Zeit Seines
Kommens sichert.
Mit Ausnahme des Herrn selbst war wohl nie jemand
mehr über den Umständen erhaben als Paulus; er
konnte sagen: „In jedem und in allem bin ich unterwiesen,
sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Ueber-
fluß zu haben als Mangel zu leiden. Alles vermag ich
in Dem, der mich kräftigt." (Phil. 4, 12. 13.) Und
doch sagt derselbe Apostel: „Ich habe Lust abzuscheiden."
Niemand hatte einen wichtigeren Dienst, der ihn mehr an
die Erde hätte fesseln können, wie er; niemand war als
Diener befähigter und hingebender als Paulus. Sein
bemerkenswertes Sicheinsmachen mit den Interessen Christi
auf der Erde findet sich in den Worten ausgedrückt: „Das
Leben ist für mich Christus"; und doch fügt er sogleich
hinzu: „und das Sterben Gewinn".
Es giebt drei Gesichtspunkte, unter welchen der abgeschiedene
Heilige betrachtet werden kann:
1. hinsichtlich dessen, dem er entgeht oder was er aufgiebt;
2. hinsichtlich dessen, was er behält, und
3. dessen, was er erwirbt oder gewinnt.
130
Der erste Punkt, d. h. dasjenige, welchem der Gläubige
entgeht, ist im Vorhergehenden schon genügend behandelt
worden. Was er aufgiebt, ist ebenfalls leicht
zu erkennen, obwohl es vielleicht ost nicht genügend beachtet
wird; anders würden wir den gegenwärtigen Abschnitt
der Geschichte unsrer Seele Wohl mehr schätzen
und würdigen. Jeder von uns hat ohne Zweifel schon
öfter in die Tage seiner Kindheit zurückgeblickt und dabei
Gelegenheit gehabt, über böse, nie mehr gutzumachende
Tage, sowie über unbenutzte, nie wiederkehrende Gelegenheiten
zum Gutesthun zu trauern. So wie nun diese
Frühlingszeit des Lebens allen nachfolgenden Jahren ihren
Stempel aufdrückt, so wird gewiß auch die Frühlingszeit
der Seele (wenn ich sie so nennen darf) ihre Merkmale
für die Ewigkeit tragen; denn ich lerne jetzt und erfahre
hier etwas, was ich, wenn ich die gegenwärtige Gelegenheit
versäume, überhaupt nie mehr lernen oder erfahren
werde. In der That, die PilgrimSzeit hienieden ist die
Zeit der Schülerjahre für die Seele, in welchen sie, je nach
ihren Fortschritten, einen höheren oder niedrigeren Grad
erreicht. Alles dieses geben wir auf, wenn wir den Leib
verlassen. Wahrlich, wenn die geliebten Kinder Gottes
mehr in dem Bewußtsein dieser Thatsache lebten, so würden
nicht so viele diese kostbare Frühlingszeit vergeuden,
uneingedenk des Wortes: „Wache auf, der du schläfst und
stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir
leuchten!" (Eph. 5, 14.) Ferner gebe ich, wenn ich den
Leib verlasse, die äußere und sichtbare Gemeinschaft der
Heiligen auf, sowie den Tisch des Herrn mit den reichen
und beglückenden Dingen, welche mit ihm in Verbindung
stehen; ich nehme nicht mehr teil an der Bemühung, die
131
Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des
Friedens, noch an den Uebungen der Bruderliebe, an den
Gebeten, an der Bethätigung des Mitgefühls, der Freigebigkeit
und Gastfreundschaft, an der praktischen Trennung vom
Bösen, was Jakobus einen „reinen und unbefleckten Gottesdienst"
nennt — alle diese Uebungen liegen für immer
hinter mir. Glaube, Geduld, Abhängigkeit und Gehorsam
treten, wenigstens unter den Bedingungen, unter welchen
der Gläubige sie hienieden zu üben berufen ist, außer
Thätigkeit.
Bezüglich des zweiten Punktes — das, was wir
behalten — darf ich versichert sein, daß ich alles das
behalten werde, was die Gnade Gottes mir für die Ewigkeit
anvertraut hat. Ich besitze das ewige Leben und
werde fortfahren es zu genießen; dasselbe gilt von den
Segnungen der neuen Schöpfung, von meiner Vereinigung
mit Christo, von dem Frieden, der allen Verstand übersteigt,
von jener unaussprechlichen und verherrlichten Freude,
von welcher Petrus redet, von den Verbindungen und
Beziehungen, in welche die Gnade mich eingeführt hat
und die nie geschwächt oder vernichtet werden können.
Was endlich den „Gewinn" anbelangt, so ist es
klar, daß ich endgültig in die Ruhe eingegangen bin —
in eine vollkommene und tiefe Ruhe, die nie mehr gestört,
nie mehr unterbrochen werden wird. Welch eine wunderbare
Befreiung und Ausdehnung wird mein Geist erfahren,
wenn er aus dem Nebel und Dunst dieser niedrigen Atmosphäre
in diejenige der Gegenwart Christi hinübergehen
wird! Wie süß wird die Ueberzeugung sein, daß ich in
diese gesegnete Gegenwart für immer eingegangen bin, daß
ich endlich in jenem neuen Bereiche des ungestörten Frie
132
dens weilen darf, welcher durch die Gegenwart meines
teuern Herrn und Heilandes gekennzeichnet ist!
Aber obgleich mit dem Herrn selbst in dem tiefen
Frieden einer ewigen Ruhe vereinigt und eine ungetrübte
Glückseligkeit mit Ihm genießend, warte ich doch noch auf
Sein Kommen an jenem Morgen ohne Wolken, wann
Er — zur Freude Seines eignen Herzens — die Leiber
Seiner teuer Erlösten, welche Er in allen Jahrhunderten
und unter jedem Himmelsstrich hat entschlafen lassen, aus
ihren Gräbern Hervorrufen wird. Einst wartete ich hier
auf Ihn auf dem Schauplatz Seiner Verwerfung; aber
der Schlaf überfiel meinen schwachen Leib, (obwohl mein
Herz noch wachend war,) mein Geist ging hinüber in
Seine Gegenwart, und nun warte ich weiter — mein
Warten wird mehr dem Seinigen gleich, ich warte mit
Ihm! Es ist nicht genug, bei Ihm, in Seiner Gegenwart
zu sein, so unaussprechlich herrlich das auch sein mag
— ich wünsche Ihm gleichgestaltet zu werden, denn das
ist für Sein Herz eine Ursache ganz besonderer Freude;
doch hierfür bedarf ich einen verherrlichten Leib, und so
warte ich weiter! Es ist nicht genug, daß Er mit Ehre
und Herrlichkeit auf Seines Vaters Thron gekrönt ist —
ich sehne mich nach dem Augenblick, da Seine Herrlichkeit
im Himmel und auf Erden geoffenbart werden wird; ich
verlange darnach, Sein Haupt mit vielen Diademen bedeckt
zu sehen und das neue, Seinen ewigen, unendlichen Wert
verkündende Lied anzustimmen: „Würdig ist das Lamm!"
Ich sehne mich darnach, Ihn im Vaterhause droben zu
sehen, wie Er der ganzen Inbrunst Seiner treuen Liebe
zu Seiner Braut Ausdruck giebt, sowie der unaussprechlichen
Freude, welche Sein Herz erfüllt, wenn einmal alle
133
Dinge nach Seinen Gedanken geordnet sind, und alles im
Himmel und auf Erden Ihm Preis und Ehre bringen
wird von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Allen diesen gesegneten, sehnsuchtsvollen Wünschen
deS Geistes, welche Ihn selbst zum Gegenstände haben,
kann ich schon jetzt ungehindert nachhängen und so das Vorzüglichste,
die Herrlichkeit selbst, in gesegneter und kraftvoller
Weise im voraus genießen. Wenn ich aber ausheimisch von
dem Leibe bin, wird mein Geist um so sehnlicher und inbrünstiger
nach allen diesen Dingen verlangen und mit dem
Ausharren Christi darauf warten. Denn alles, was mein
Herz jetzt (in dem Leibe) begehrt oder dann (ausheimisch
von dem Leibe) begehren wird, kann nur durch Sein
Kommen in den Wolken vollständig befriedigt werden.
Dann werden wir die Anbetung von neuem beginnen,
und zwar unter den Bedingungen, welche allein mit einer
wahren, vollkommenen Anbetung vereinbar sind; dann
werden wir in verherrlichten Leibern als erlöste Heilige das
neue Lied singen! Dann erst wird Er die volle Frucht der
Mühsal Seiner Seele sehen und gesättigt werden; dann
erst wird Er uns tadellos darstellen vor Seiner Herrlichkeit
mit Frohlocken; dann erst wird Er uns zu Tische
liegen lassen und herzutretend uns bedienen; dann erst
wird Er jeden Wunsch, der durch die Erkenntnis Seiner
selbst in uns hervorgebracht worden ist, vollkommen und
für ewig befriedigen. Auf diesen Augenblick wartet Sein
Herz mit Sehnsucht; und der Geist und die Braut rufen:
„Komm!" Und Er, welcher diesen Ruf mit Freuden vernimmt,
antwortet so gern: „Ja, ich komme bald", indem
Er Sein feierliches „Amen" hinzufügt. Und wenn wir,
gleich dem geliebten Jünger, unser Haupt — obwohl in
134
einer andern Weise — an Seine Brust legen, so werden
wir, (ob in dem Leibe oder außer dem Leibe,) mit Freuden
antworten: „Amen, ja, komm, Herr Jesu!"
Nimm Ihn beim Wort!
„Ich will Ihn beim Wort nehmen!" — so lautete
der Ausruf eines Mannes, welcher vor einiger Zeit dahin
geleitet wurde, bezüglich seiner Errettung auf dem vollbrachten
Werke Christi zu ruhen. Viele Jahre lang war
er ein Bekenner christlicher Wahrheiten gewesen, aber er
hatte nicht gewußt, daß er trotz all seiner äußern Frömmigkeit
das ewige Leben nicht besaß. Er war oft ermahnt
worden; aber alle Bemühungen, sein Gewissen zu erreichen
und ihm seinen Zustand vor Gott zu zeigen, waren vergeblich
gewesen. Endlich entstand eine Erweckung in seiner
Nachbarschaft. Viele erwachten aus ihrem Sündenschlafe
und kamen zum lebendigen Glauben an Jesum.
Daß solche, die in offenbaren Sünden gelebt hatten, von
dem Worte Gottes ergriffen und bekehrt wurden, war
ihm nicht auffallend. Wie hätten solche auch in den
Himmel kommen können, ohne vorher ein anderes Leben
zu beginnens Zwischen ihnen und ihm bestand
ein großer Unterschied. Sie hatten nie Anspruch darauf
gemacht, Christen zu sein; er aber hatte sich schon seit
vielen Jahren zu den Christen gehalten. Als aber nun
auch etliche bekehrt wurden, welche er für ebenso ehrbar,
religiös und gut hielt wie sich selbst, und als diese bekannten,
jetzt etwas gefunden zu haben, was sie nie vorher
besessen hätten — da begann er doch nachdenklich zu
werden und den Boden zu untersuchen, auf welchem er
vor Gott stand.
135
Und siehe da, schon nach kurzer Zeit kam er zu dem
Schluß, daß er alle die vergangenen Jahre doch wohl nur
ein bloßer Bekenner des Christentums gewesen sein müsse.
Je mehr er sich mit der Sache beschäftigte, desto klarer
wurde es ihm, daß er bei all seiner Religiosität doch ohne
Leben aus Gott sei; und immer dringender wurde die
Frage in ihm laut: „Was muß ich thun, daß ich errettet
werde?" Seine Frau und sein Sohn, denen er über
Las, was in seinem Innern vorging, Mitteilung machte,
wurden ebenfalls beunruhigt und um ihr Seelenheil bekümmert.
Endlich konnte er es nicht länger aushalten.
Begleitet von seiner Frau und seinem Sohne, machte er
sich eines Tages auf den Weg zu einem Nachbarn, welchen
er als einen lebendigen Christen kannte. Welch ein liebliches
Schauspiel: Vater, Mutter und Sohn miteinander
auf dem Wege, Frieden zu suchen!
Im Nachbarhause entspann sich bald ein lebhaftes
Gespräch über den Weg des Heils. Den Hauptgegenstand
der Unterhaltung bildete naturgemäß das vollendete Werk
Jesu Christi, des Sohnes Gottes. Der Alte lauschte mit
gespannter Aufmerksamkeit auf die Worte des Nachbarn,
welcher in möglichst einfacher Weise darzulegen suchte, daß
der heilige Gott durch jenes Werk vollkommen befriedigt
worden sei, und daß Er jetzt jeden verlorenen Sünder
einlade, ebenfalls mit völligem Vertrauen auf diesem Werke
M ruhen. Allmählich begann es in der Seele des alten
Mannes Licht zu werden; der Geist Gottes, welcher ihm
sein natürliches Verderben gezeigt hatte, öffnete jetzt seine
Augen, um das Heil Gottes in Jesu zu sehen. Eine
mächtige Bewegung ergriff sein ganzes Innere; endlich
sprang er von seinem Sitze auf und rief mit lauter Stimme
136
und in tiefem Ernst: „Ich will Ihn beim Wort nehmen!
ich will Ihn beim Wort nehmen!" Unmittelbar darauf
wandte er sich zu seinem Sohne, und während Thränen
über seine gefurchten Wangen rollten, rief er auch diesem zu:
„Nimm Ihn beim Wort, mein Junge! nimm Ihn beim
Wort!" So wurde er in demselben Augenblick, da er
glaubte, ein Prediger jener Gnade, welche er so viele Jahre
vernachlässigt hatte.
Wie einfach sind jene Worte und doch zugleich wie
bedeutungsvoll! Ja, mein Leser, gerade das ist es, was Gott
von dem Sünder erwartet; nicht daß Er glaube, Gottes Wort
sei die Wahrheit — wie viele thun das und kommen niemals
weiter! — sondern daß er glaube, was Gott sagt,
und daß er darnach handle. Das ist wirklicher Glaube.
Abraham, der Vater aller derer, welche durch Glauben gerechtfertigt
werden, lernte diese Unterweisung und handelte
darnach: als er in jener Nacht durch Gott, den Allmächtigen,
vor sein Zelt geführt wurde, blickte er hinauf zu den
Sternen, welche an dem Himmelsgewölbe glänzten, und
lernte aus ihrer unzähligen Menge, wie groß die Nachkommenschaft
sein würde, welche ihn als ihren gemeinsamen
Stammvater anerkennen sollte; und wir lesen:
„Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur
Gerechtigkeit gerechnet." Es war bereits dahin gekommen,
daß er seinen Leib als erstorben betrachten mußte; allein
das Wort Gottes genügte ihm — er ruhte auf demselben.
Auch der Kerkermeister in Philippi nahm Gott bei Seinem
Worte. Als er auf seine ernste Frage: „Was muß
ich thun, daß ich errettet werde?" die Antwort erhielt:
„Glaube an den Herrn Jesum Christum, und du wirst
errettet werden," glaubte er diesem Worte und fand Frieden
und Vergebung, noch ehe der Morgen anbrach. Und
nicht allein er. Was die Not und die Bedürfnisse seiner
Seele gestillt hatte, war auch für alle seine Hausgenossen
passend; auch sie glaubten durch Gottes Gnade
und wurden mit ihm getauft. Das ist Gottes Heilsweg,
das ist Seine Weise, zu rechtfertigen. Wie wenig.
137
wird dies oft verstanden, und wie selten wird darnach
gehandelt!
Allein wir möchten fragen: Enthält dieser Grundsatz,
Gott bei Seinem Worte zu nehmen, nicht auch eine Belehrung
für uns, die wir bereits an den Herrn Jesum
geglaubt haben? Sind eS nur Unbekehrte, denen er eingeprägt
werden muß, oder bedürfen auch Kinder Gottes
der Erinnerung an denselben? Sind wir nicht berufen,
nach demselben Grundsatz zu wandeln, nach welchem der
bußfertige Sünder gerechtfertigt wird? Sicherlich! Aber
dann möchten wir weiter fragen: Kennen alle unsre Leser
jene Ruhe des Herzens, welche ihren Besitzer unter allen
Umständen still und ergeben sein läßt? Sind alle bereit,
jederzeit einfältig und vertrauensvoll auf dem Worte Gottes
zu ruhen? Haben sie nie eine Zeit des Zweifels,
des Kleinmuts und der Verzagtheit gekannt? Hat nicht
gelegentlich der Unglaube für eine Zeit lang die Oberhand
gewonnen, und hat sich nicht bisweilen daS ruhige Vertrauen
auf Gottes Leitung und Vorsehung in tiefe Besorgnis
und Kümmernis verwandelt? Woher kommt das
alles? Das Herz weiß es, und Gott weiß es. Wir
haben Gott nicht bei Seinem Worte genommen. Wenn
ein Gläubiger dies thut, so kann er ein Riese werden auf
dem Pfade des Glaubens; wenn nicht, so vermag niemand
zu sagen, in welch eine Schwachheit und Wankelmütigkeit
er geraten mag — er wird ein Spielball derselben
Umstände, über welche er sich als Herr erweisen sollte.
Die Heilige Schrift giebt unS gerade so eingehend
Belehrung über denWandel durch Glauben wie über die
Errettung durch Glauben. Und wenn wir berufen sind,
als Fremdlinge und Pilgrime hienieden zu wandeln, sollte
dann Gott nicht völlig für jeden Abschnitt unsers Weges
gesorgt haben? Der Apostel Petrus teilt uns mit,
wo wir uns der Sorgen entledigen können, die auf
dem Wege unsre Herzen beschleichen wollen: „Alle eure
Sorge werfet auf Ihn; denn Er ist besorgt für euch."
(1. Petri 5, 7.) Leiden und Trübsale aller Art warten
138
unser auf unsrer Reise durch diese Wüste; aber welch eine
trostreiche Wahrheit für den müden, beschwerten Pilgrim,
daß Gott Sorge trägt für ihn! Es ist dies, wenn wir
so reden dürfen, Gottes Gewohnheit. Nicht nur hat Er
für uns Sorge getragen in der Dahingabe Seines Sohnes,
nein, Er ist täglich für uns besorgt, Er trägt unaufhörlich
Sorge für uns. Alle Erlösten sollten verstehen, daß,
wenn sie Gottes Kinder sind, Er ihr treuer, liebender Vater
ist. Und wenn das irdische Volk Gottes vor alters die Güte
und Fürsorge Gottes betreffs aller ihrer Bedürfnisse, Seine
Leitung auf dem Wege, Seine Bewahrung und Hülfe bei Tag
und bei Nacht in so reichem Maße erfahren durfte — sollte
dann Der, welcher alles das that, nicht erst recht Seinen
Kindern alles geben, was sie bedürfen?
Petrus kannte etwas von diesem Grundsatz, als er mit
seinem Bruder Andreas auf das Wort des Herrn hin
seine Netze verließ und Jesu nachfolgte. Jakobus und
Johannes zeigten auch, was es heißt, durch Glauben zu
wandeln, als sie, dem Rufe des Herrn folgend, „ihren
Vater Zebedäus mit den Tagelöhnern in dem Schiffe ließen
und weggingen, Ihm nach." (Mark. 1, 16—20.) Ohne
zu zaudern gaben sie den Beruf, in welchem sie ihren Lebensunterhalt
fanden, auf und folgten Christo nach. Bei einer
anderen Gelegenheit nahm Petrus den Herrn wiederum
beim Wort; er hatte die ganze Nacht gefischt und nichts
gefangen, aber auf das Wort des Herrn ließ er das Netz
nochmals hinab und umschloß eine große Menge Fische.
Er machte somit eine köstliche Erfahrung. Der, um
dessentwillen er alles verlassen hatte, war der Herr der
Schöpfung, welchem es ein Leichtes ist, die Seinigen mit
allem Nötigen, ja, in Ueberfluß zu versorgen. Wenn Er
jemanden beruft, in Seinem Dienste thätig zu sein, so
wird Er ihm sicherlich auch darreichen, was er für seine
äußere Notdurft bedarf.
Paulus wußte ebenfalls, was es war, Gott bei
Seinem Wort zu nehmen. Inmitten der größten Schwierigkeiten
und Gefahren blieb er ruhig und getrost. Betrachten
139
wir ihn einen Augenblick auf seiner Reise nach Rom. Alle
Insassen des Schiffes meinten, daß dieses samt den 270
Seelen auf ihm verloren seien: der Sturm heulte ununterbrochen,
weder Sonne noch Sterne schienen, alle Maßregeln,
das Schiff zu retten, hatten sich als vergeblich
erwiesen. Da, als jede Hoffnung verloren schien, trat
Paulus in die Mitte der Männer und ermahnte alle, gutes
Mutes zu sein. Aber wie war das möglich? Wie konnten
sie inmitten solcher Umstände gutes Mutes sein? Der
Apostel teilt das Geheimnis mit: ein Engel des Herrn
hatte in jener Nacht bei ihm gestanden und ihn der Rettung
aller derer,, welche an Bord des Schiffes waren, versichert.
„Deshalb seid gutes Mutes, ihr Männer!" sagt er, „denn
ich vertraue Gott, daß es so sein wird, wie zu mir geredet
worden ist." Der Sturm hatte sich noch nicht gelegt,
die Himmelskörper, welche zu jener Zeit die einzigen
Wegweiser des Schiffers bildeten, blieben nach wie vor hinter
den Wolken verborgen; aber Gottes Wort war ergangen,
und Paulus war voll von Vertrauen.
Ein weiteres schönes Beispiel finden wir in der Geschichte
des königlichen Beamten zu Kana in Galiläa,
dessen Sohn dem Tode nahe war. Die Sorge des Vaters
war groß, und so bittet er den Herrn: „Herr, komm
herab, ehe mein Kind stirbt I" Der Herr folgt dieser Aufforderung
nicht. Er geht nicht mit in das Haus hinab,
noch sendet Er einen Seiner Jünger an Seiner Statt;
sondern Er spricht zu dem Vater: „Gehe hin, dein Sohn
lebt." — Ist es auch wahr, was du sagst? Täuschest
du mich nicht? — Solche und ähnliche Fragen würden
vielleicht über die Lippen manch eines VaterS in ähnlicher
Lage gekommen sein. Aber der königliche Beamte sagt
nichts. Er glaubt dem Worte Jesu und handelt demgemäß:
er geht hin, und — von jener Stunde an verließ den
Knaben das Fieber; und als Folge davon wurde der
Vater mit seinem ganzen Hause gläubig.
Welch treffende Unterweisungen sind das für uns!
Aber ach! wenn wir unsere Blicke von diesen lieblichen
140
Proben der Macht des Glaubens auf das Verhalten so
vieler Kinder Gottes in unsern Tagen hinwenden — welch
ein trauriger Unterschied tritt uns da entgegen! Haben
nicht viele von uns, haben wir nicht alle, trotz der reichen
Erkenntnis, die wir durch die Gnade Gottes besitzen, von
jenen Männern des Glaubens viel zu lernen? Wo findet
sich dieser bereitwillige Gehorsam gegenüber dem Worte
Gottes, dieses wirkliche, nicht zweifelnde noch zögernde
Vertrauen auf Seine Verheißungen? Unsre Umstände
mögen nicht den oben berührten gleich sein, aber sie sind
ihnen vielleicht ähnlich. Sind wir bereit zu handeln, wie
jene Männer es thaten? Die Kraft, in welcher sie handelten,
ist für uns ebensowohl da wie für sie; das Wort,
welches uns unsern Weg anzeigt, ist vielleicht geradeso
deutlich und klar wie es für jene war. Wir haben allerdings
nicht den Herrn sichtbarlich vor uns; aber wir
haben Sein Wort und Seinen Geist. Und in Uebereinstimmung
mit dem Worte des Herrn glaubten und handelten
jene. Dasselbe liegt uns ob. Laßt uns darum
stets Seines Wortes eingedenk sein! Nicht unsre
Gedanken über dieses Wort, nicht unsre Gefühle, nicht die
Erklärungen anderer, so ausgezeichnet sie sein mögen, sind
es, was wir bedürfen, sondern Sein klares, einfaches
Wort. Wie viele Schwierigkeiten würden verschwinden,
wenn wir dies mehr beachteten! Wie viele unübersteiglich
scheinende Berge würden zu Ebenen vor uns werden!
Möchten wir daher allezeit Seinem Worte unser Ohr
leihen und ihm glauben und gehorchen! Möchten wir
unsern Gott und Vater ehren durch ein kindliches Vertrauen,
— durch ein Vertrauen, das nicht fragt, nicht
zweifelt und klügelt, sondern Gott bei Seinem Worte
nimmt und einfältig nach demselben handelt!
Einleitung in die Schriften des Alten und
des Neuen Testaments.
(Fortsetzung.)
In dem Buche Josua wird die Besitzergreifung des
Landes Kanaan erzählt. Die Verantwortlichkeit des Volkes
steht im Vordergründe; doch im Ganzen ist Gott mit
ihm, und kein Feind kann im Kriege gegen Israel standhalten.
Gott war mit Josua, so lange er lebte, und
auch noch während des Lebens derjenigen, welche Augenzeugen
der wunderbaren Thaten Jehovas gewesen waren.
Doch bald nachher, in dem Buche der Richter, verfällt
das Volk in Götzendienst. Da es die Völker, über
welche Gott durch seine Vermittlung das Gericht ausführte,
nicht vertrieb, so lernte es deren gottlose und götzendienerische
Wege, verfiel dem Gericht Gottes und wurde den
Händen verschiedener Tyrannen und Unterdrücker überliefert.
Gott erweckte einen Richter, und es gab dann
Erleichterung und Segnung, so lange dieser lebte; doch
nach seinem Tode fiel das Volk wieder in denselben Ungehorsam
und wurde aufs neue seinen Feinden überliefert.
Schließlich, zur Zeit Samuels, wird die Bundeslade
geraubt, und damit finden die Beziehungen Israels
zu Gott auf dem Boden seiner eigenen Verantwortlichkeit
ihr Ende. Dennoch verfolgt Gott Seine Wege, und die
Wegnahme der Bundeslade bietet Ihm Gelegenheit, die
142
selben ans Licht zu stellen: Christus ist der Mittelpunkt
dieser Wege. Er ist Prophet, Priester und König. —
Der Hohepriester war der Berührungspunkt zwischen dem
verantwortlichen Volke und Gott, die Bundeslade der Ort,
wo diese Berührung unterhalten wurde; aber die Bundeslade
ist geraubt. Hinfort giebt es keinen Versöhnungstag
mehr, keinen Thron Gottes in der Mitte des Volkes,
keine Blutvergießung nach der Ordnung des Hauses Gottes
! Wo war Er, der sich zwischen den Cherubim niedergelassen
hatte? Zwar schlug Er durch Seine große Macht
den Götzen; aber wo geschah dies? Nicht in Israel, sondern
bei den Philistern. (Vergl. 1. Sam. 5, 1—5.) Auf
dem Boden der Verantwortlichkeit war für Israel alles
zu Ende; aber die Allmacht Gottes und Seine unumschränkte
Güte konnten weder beseitigt noch begrenzt werden.
Er tritt ins Mittel durch einen Propheten; Er
erweckt Samuel, so wie Er ehemals das Volk aus Egypten
hatte Heraufziehen lassen, bevor die Bundeslade da
war. Der von Gott in Seiner unumschränkten Macht gesandte
Prophet bildet nun das Band zwischen dem Volke
und Gott. Gott selbst war König in Israel; aber das
Volk wollte den Nationen gleich sein und durch Schauen,
nicht durch Glauben, wandeln, und so erwählte es sich
einen menschlichen König, Saul. Im allgemeinen hat dieser
König Erfolg; aber wegen seines Ungehorsams (welcher
der Ungehorsam Israels war) von Gott verlassen,
fällt er durch die Hand der Feinde, zu deren Vertilgung
er erweckt worden war. Indes wollte Gott im Blick
auf Christum einen König haben, und David wurde dieser
König. Der Priester, der Prophet und der König enthüllen
die Gedanken Gottes bezüglich Seines Gesalbten.
143
Doch der Sohn Davids, so gesegnet er auch sein mochte,
fehlte, wie es stets geschehen ist; und das Reich wurde
geteilt.
Hier sind einige Bemerkungen hinsichtlich des Königtums
selbst am Platze. Das Königtum ist eigentlich die
Macht in Ausübung, und in dem Königreich Gottes ist es
die Macht Gottes: der König, welcher im Auftrage GotteS in
Israel regiert, die Dazwischenkunft Gottes in Macht. Wir
haben den Wandel des Menschen in Verantwortlichkeit gesehen
unter dem Priestertum, und daneben den Propheten,
der im Auftrage Gottes durch das Wort wirkte. Das war
schon Gnade; aber jetzt vereinigt sich die Macht, mit der
Gnade, um die Absichten Gottes auszuführen. Gott hätte
sich sicherlich ohne den Menschen von den falschen Göttern
befreien und an ihnen rächen können; aber Er wollte in
dem Menschen regieren: das ist der dritte Charakterzug
Christi. Als Friedensfürst ist wohl Salomo das Vorbild
des Herrn, aber die Ausübung Seiner Macht zeigt sich
in charakteristischer Weise in dem leidenden und befreienden
David; durch dasselbe Mittel wird auch die Wiederherstellung
Israels in den letzten Tagen geschehen. In
Psalm 72 begegnen wir dem König und dem Sohne des
Königs. David bringt die Bundeslade von Kirjath-Jearim
zurück, aber er setzt sie nicht mehr in die Stiftshütte, wo
die äußere Form des Gottesdienstes war, sondern auf
den Berg Zion, welchen Gott zum Sitz des Königtums
erwählt hatte. (Siehe Ps. 132; 2. Sam. 7; 1. Chron.
16, 34.) Und dann zum ersten Male (weil jetzt die
Gnade da war, die Gnade, ausgeübt in Macht,) sang
David das Lied: „Seine Güte währet ewiglich." Dieses
Lied wurde dann noch einmal unter Nehemia gesungen
144
(eine treffende Gelegenheit dazu), und als Lied für die
letzten Tage wird es schon jetzt in den Psalmen 106,
107, 118 und 136 vernommen. Obwohl das Königtum
geschichtlich unter Verantwortlichkeit gestellt wurde, so war
damit doch der große und unfehlbare Grundsatz der Gnade
in Macht aufgerichtet — die gewisse, unveränderliche Güte
Gottes gegen Israel in der Person Christi: „Seine Güte
währet ewiglich." David empfing die Verheißung eines
Samens und eines Hauses, welches immerdar bestehen
sollte. (2. Sam. 7, 12-16; 1. Chron. 17, 11—14.)
Christus, der wahre Sohn Davids, hat eine von seiten
Gottes deutlich bezeichnete und begründete Stellung, obwohl
für den Augenblick das Haus Davids unter Verantwortlichkeit
gestellt wurde, und darin sogleich fehlte.
(2. Sam. 23, 5; vergl. Hebr. 12, 18 -22.) Der auf
dem Berge Morija erbaute Tempel hatte, obwohl er die
Wohnung Gottes war, nicht diese Verheißung ewiger
Dauer.
Josua, mit dem Tode in Gilgal beginnend, stellt uns
also die geistliche Macht Christi als Haupt und Anführer
Seines Volkes vor; das Buch der Richter zeigt uns den
Fall des Volkes, aber zugleich auch die Dazwischenkunft
Gottes in Gnade; dann kommt Samuel, der letzte der
Richter, dann das Königtum.
Israel, d. h. die zehn Stämme, verließ Jehova sehr
bald, obwohl es sich Seines Namens rühmte; Juda ist
weniger schnell abgewichen. Das ist die Geschichte, welche
uns in den Büchern der Könige und der Chronik«
mitgeteilt wird, von denen die letzteren nach der Rückkehr
aus Babylon geschrieben oder wenigstens beendigt
worden sind. Das Buch der Könige enthält eigentlich (nach
145
der Teilung des Königreichs) die Geschichte Israels, die
Erzählung der Dazwischenkunft Jehovas durch Elia und
Elisa; nur wird die Geschichte Judas bis zur Gefangenschaft
fortgesetzt. Das Buch der Chronika ist die Geschichte
der Familie Davids. Israel hat sich von dem
Tempel und in Wirklichkeit von Jehova getrennt, indem
es die Anbetung der goldenen Kälber einrichtete. Die
Verantwortlichkeit heftet sich an das königliche Amt; jedoch
hat Israel niemals seine falsche Stellung verlassen.
Aber sowohl für Israel als auch für Juda wird dieser
Zeitabschnitt durch göttlich gesandte Propheten gekennzeichnet.
Gott gedachte an die Treuen in Israel, als der
Prophet keine mehr fand: welch ein rührendes Zeugnis
von Seiner Gnade! Wie groß der Prophet auch war —
er sah sogar den Tod nicht — so kannte Gott doch noch
siebentausend, als Elia niemanden mehr fand als sich
allein. Indes trugen die Propheten in Israel und diejenigen,
welche in Juda zeugten, sehr verschiedene Charakterzüge.
Ein großer Teil des Buches der Könige erzählt uns
die Geschichte Elias und Elisas: ihr Zeugnis bezog sich
auf die Rechte Jehovas inmitten eines abtrünnigen Volkes
und diente dazu, in den Herzen der Treuen, die in der
Mitte dieses Volkes verborgen waren, den Glauben an
Denjenigen aufrecht zu erhalten, welchen das Volk verlassen
hatte. Es gab hier kein Zeugnis, welches sich auf den
kommenden Messias, *) noch auf die Wege Gottes im allge­
*) Ich zweifle nicht daran, daß das geistliche Auge ein verborgenes
Zengnis in den Personen jener beiden Männer entdecken wird.
Elia legt so zu sagen auf dem Horeb das gebrochene Gesetz in die
Hände Jehovas zurück/ dann verfolgt er Schritt für Schritt den
Pfad Israels: Gilgal, wo es für Gott beiseite gesetzt worden war:
146
meinen bezogen hätte; aber es gab Wunder, die man
(mit Ausnahme eines Zeichens, welches dem König Hiskia
gegeben wurde) bei den Propheten Judas nicht findet,
weil in Juda das Bekenntnis des Jehova-Dienstes immer
bestand. Elia und Elisa hielten in ihrer Person das
Zeugnis Jehovas in der Mitte eines abtrünnigen Volkes
aufrecht und verrichteten, wie Mose bei der Berufung des
Volkes, Wunder, um dieses Zeugnis persönlich aufrecht zu erhalten.
Die Propheten in Juda drangen auf Treue in der
Mitte eines Volkes, welches bekannte, dem wahren Gott
zu dienen und Seinen Tempel zu besitzen, und ermutigten
den persönlichen Glauben nicht durch Wunder, welche die
Macht Gottes bezeugten, sondern durch die Verheißung,
die dem Volke gemäß der Liebe Gottes und Seiner Treue,
welche sich niemals verleugnen kann, angehörte.
Israel ist durch die Assyrer gefangen weggeführt worden
und unter den Nationen verloren gegangen, aber nicht
für immer (wenn der Missias kommt, wird Er sie wiederfinden),
während die offenbaren Wege Gottes in der Geschichte
Judas fortgesetzt wurden. Der Dienst der Propheten
dauerte fort, bis es, wie Jeremia sagt, kein Heilmittel
mehr gab, d. h. bis zur babylonischen Gefangenschaft
und selbst nachher noch. Aber die babylonische Gefangenschaft
hatte, was die Erde betrifft, eine ungeheure
Tragweite: der Thron Gottes verschwand von der Erde,
dann Bethel, der Ort der Verheißung an Jakob für die Erde; weiterhin
Jericho, der Ort des Fluches; schließlich kommt der Jordan, oder
der Tod, und Elia fährt gen Himmel. (2. Kön. 2.) Elisa geht dann
durch den Tod zurück und betritt die Laufbahn seines Dienstes.
Aber die Wunder Elias sind Wunder des Gerichts, diejenigen Elisas
mit Ausnahme des zweiten, Wunder der Güte und Gnade.
147
es gab keinen Thron Gottes mehr auf ihr. Die Zeit der
Nationen, der Macht der Tiere. Daniels, hatte begonnen,
und sie wird fortdauern, bis das letzte Tier durch die Macht
des Herrn Jesu bei Seiner Ankunft zerstört werden wird.
Nur mußte Christus dem Volke als König vorgestellt werden:
das ist die Geschichte des Evangeliums im Blick auf
die Juden, welche seitdem auf der Erde umherschweifen,
aber das Zeichen Gottes an sich tragen, um so (ohne wie
Israel unter den Nationen verloren zu gehen) für die
Tage der Segnung aufbewahrt zu werden, die ihrer —
wenigstens eines Ueberrestes von ihnen — warten, nachdem
sie Buße gethan haben und dann Den sehen werden,
welchen sie durchstochen haben. Die Ausdrücke: „der Gott
des Himmels" und: „der Gott der ganzen Erde" werden
in der Prophezeiung nie mit einander vermengt. Die
Geschichte Israels unter dem alten Bunde, unter welchem
die Segnung von dem Gehorsam des Menschen abhing,
war beendet; aber die Verheißung blieb, die Verheißung
des Messias und des neuen Bundes.
Gott hat nun in Seiner Güte dem Cyrus, der sich
nicht dem groben Götzendienst Babylons hingegeben hatte,
sondern die Götzen verabscheute, ins Herz gegeben, wenigstens
einen Ueberrest von Israel in das Land der Verheißung
zurückkehren zu lassen, und sogar bei der Wiederherstellung
des Tempels des wahren Gottes und Seines Dienstes
behülslich zu sein. Dort ist der verheißene Messias zu
Seiner Zeit erschienen, aber zu noch viel herrlicheren
Zwecken, während Er zugleich den Menschen zum letzten
Male auf die Probe stellte. Gekommen in Niedrigkeit,
um dem Menschen ganz nahe zu sein, indem Er zugleich
durch Seine Wovte und Werke zeigte, wer Er war, daß
148
Er über allem stand; aber gekommen in Güte und Gnade
gegen den Menschen, zugänglich für alle, alle Folgen der
Sünde aufhebend, ist Er der Sünde selbst begegnet, die
sich in ihrem wahren Charakter im Menschen in der Verwerfung
des also gegenwärtigen Gottes offenbarte.
So ist also der Mensch, als er im Stande der Unschuld
durch den Feind versucht wurde, gefallen; dann
wurde er ohne Gesetz auf die Probe gestellt, und die
Sünde hat geherrscht; nachher kam er unter das Gesetz,
und er hat das Gesetz übertreten; endlich, als er bereits
ein Sünder und ein Uebertreter war, ist Gott in Güte
gekommen, ihm seine Sünden nicht zurechnend, und der
Mensch hat Gott nicht gewollt. Die Geschichte des verantwortlichen
Menschen war von diesem Augenblick an
beendigt; zu gleicher Zeit hatte Israel jedes Recht auf
die Erfüllung der Verheißungen — sie seien denn ohne
Bedingung — verloren, indem es Den verworfen hatte,
in welchem diese Erfüllung stattfand.
Es bleibt mir nur noch übrig, einige Andeutungen
über die Prophezeiungen zu machen, um das Verständnis dieser
Offenbarung Gottes zu erleichtern, und dann die übrigen
Bücher, die sogenannten Hagiographen, kurz durchzugehen.
Von allen Propheten umfaßt Jesaja den weitesten
Gesichtskreis. So lange Israel von Gott anerkannt wird,
ist der Assyrer sein Feind. So wird es auch in den letzten
Tagen sein; und obwohl das, was die Propheten darüber
sagten, den Glauben ihrer Zeitgenossen ermutigte, so wird
doch das von ihnen Angekündigte seine vollständige Erfüllung
erst in jenen Tagen finden. Eine kurze Untersuchung
des Jesaja wird uns den ganzen Rahmen der Prophezeiung
zeigen, indem die andern Propheten uns Einzel
149
heiten mitteilen, die nur wenige Worte erfordern. Die
ersten vier Kapitel bilden eine Vorrede, welche den sittlichen
Verfall Jerusalems und Judas darstellt, und die
Gerichte ankündigt, welche über sie kommen werden, sowie
ihre Wiederherstellung, die den Frieden herbeiführen, den
Menschen und seinen Ruhm zunichte machen und Christum,
die Herrlichkeit des Ueberrestes, offenbaren wird. Das
Gericht im 5. Kapitel gründet sich auf das Verlassen
dessen, wozu Gott das Volk im Anfang gemacht hatte;
im 6. Kapitel auf ihre Unfähigkeit, in der Gegenwart
des Gottes zu stehen, der da kommen sollte: — das sind
die Grundlagen des Gerichts über den Menschen, über
Israel und über die Kirche; doch es sollte ein Ueberrest
vorhanden sein inmitten der Verblendung des Volkes.
Dann finden wir Immanuel, den Sohn der Jungfrau,
das sichere Fundament für das Vertrauen des Glaubens,
und den Assyrer, die Rute Gottes; aber auch (bis zum
Ende des 7. Verses von Kap. 9) die Wirkung der Gegenwart
Immanuels, der ein Stein des Anstoßes für das
Volk ist, sobald Gott Sein Angesicht verbirgt, der aber
zugleich ein Heiligtum (Kap. 8, 14) und schließlich der
Wiederhersteller des Volkes in Herrlichkeit ist. Die Kapitel
7. 8. 9, 1—7 bilden eine Einschaltung, um Christum
einzuführen. Kap. 9, 8 nimmt den Faden der Geschichte
des Volkes in ihren verschiedenen Abschnitten (V. 8—12;
13—17; 18—21; Kap. 10, 1 — 4) wieder auf; dann
kommt der Assyrer, durch welchen die Züchtigungen ihr
Ende finden. Die Kapitel 11 und 12 schildern uns die
volle Segnung am Ende: der Heilige Israels ist aufs
neue in der Mitte des Volkes; damit ist die Uebersicht
der großen Elemente der Prophezeiung beendet.
150
Die Kapitel 13—27 kündigen das Gericht über die
Heiden an, über Babel, wo Israel in Gefangenschaft
war — die Stadt, welche durch die Zeiten der Nationen
und die Gefangenschaft Israels charakterisiert wird. Das
Gericht über den Assyrer findet sich nach demjenigen über
Babylon, was beweist, daß es sich um die letzten Tage
handelt; denn geschichtlich gründete sich die Größe und
Herrschaft Babels gerade auf den Fall des Assyrers. Nach
Babylon kommen die übrigen Länder; nur im 18. Kapitel
finden wir Israel in sein Land zurückgeführt, aber durch
die Nationen beraubt im Augenblick seiner scheinbaren
Blüte. Jerusalem und sein Fürst verfallen dem Gericht;
dann wird alles in der Welt umgestürzt, und der Herr,
den die Gläubigen erwarteten, erscheint. Die Mächte der
Bosheit in der Höhe werden gerichtet, sowie die Könige
der Erde auf der Erde. (Kap. 24, 21.) Der Schleier,
welcher die Nationen verhinderte zu sehen, wird weggenommen
und die Schmach des Volkes aufgehoben werden,
und die erste Auferstehung wird stattfinden. Die Macht
der Schlange unter den Völkern wird vernichtet werden;
Jehova wird Israel versorgen wie einen Weinberg, der
Sein Wohlgefallen ausmacht. (Kap. 25—27.)
In den Kapiteln 28—35 schildert eine Reihe von
besonderen Prophezeiungen den letzten Angriff der Nationen
auf Israel, wobei der Edomiter und der Assyrer sich im
Vordergründe befinden; aber jede dieser Prophezeiungen
endigt mit der vollen Segnung Israels und der Gegenwart
des Königs (Christus). Dann kommen vier Kapitel,
welche die Geschichte Sanheribs enthalten, die zwar den
Anlaß zu der Prophezeiung bot, worin aber der geheilte
Hiskia, ein Bild des auferstandenen Christus, und die
151
Befreiung von dem Angriff des Assyrers die Ereignisse
der letzten Tage im voraus ankündigen. Dann finden
wir vom 40. Kapitel bis zum Ende des Buches das
Rechten Jehovas mit Israel, weil es Ihn verlassen und
sich zu den Götzen hingewandt hatte, sowie das Gericht
über Babel, das große Gefäß dieser Abgötterei auf Erden,
welches Cyrus, den Jehova bei seinem Namen gerufen,
einst einnahm: mit einem Wort, das Gericht über den
Götzendienst; — und dann die Verwerfung Christi. Der
erste Teil geht bis zum Ende des 48. Kapitels; dann ist
vom 49. bis zum Ende des 57. Kapitels Christus der
Gegenstand. Gott will die Gerechtigkeit; und schließlich,
nach einigen Vorwürfen, die Israel gemacht werden, finden
wir seine Herrlichkeit in den letzten Tagen.
Ich habe mich bei Jesaja etwas länger aufgehalten,
weil sich der ganze Rahmen der Prophezeiung in diesem
Buche findet, (während Israel anerkannt war), wie auch
die Gedanken Gottes. Daniel dagegen teilt uns die Geschichte
der „Tiere" mit, indem die Juden sich in Gefangenschaft
und infolge dessen außerhalb der unmittelbaren Regierung
Gottes in Israel befinden. Die andern Propheten
beschäftigen sich mit Einzelheiten: Jeremia mit dem inneren
Verfall Judas; Hesekiel mit dem schon verworfenen Israel.
Jeremia redet beständig von der Ungerechtigkeit,
welche den Verfall herbeigeführt hatte; aber im 31. Kapitel
kündigt er die Gnade und einen neuen Bund mit
Juda und Israel an, sowie in diesem und den beiden
folgenden Kapiteln die volle Segnung über Juda und
Israel. Dann folgt das Gericht über die Nationen.
Hesekiel führt Jehova selbst ein, der das Gericht
über Jerusalem ausführt, indem Er auch Seinen Thron
152
verläßt, der nun nicht länger mehr dort ist. So befanden
sich Juda und Israel in derselben Stellung vor Gott,
und Hesekkel beschäftigt sich mit beiden. In den Kapiteln
34—37 wird Israel von feiten Gottes wiederhergestellt
und gereinigt; Juda und Israel werden mit einander
vereinigt, um nicht wieder getrennt zu werden;
Christus (David) ist da, und die Hütte Gottes ist bei
ihnen. In den Kapiteln 38 und 39 zieht die Macht des
Nordens, (Gog, der Fürst von Rosch, Mesech und Tubal,)
herauf, um das Land zu verwüsten, und macht so durch
das Gericht, welches Jehova über sie ausführt, den Namen
Jehovas bekannt, wie auch die Thatsache, daß Israel
um seiner Ungerechtigkeit willen in Gefangenschaft gewesen
ist. Dann teilt Hesekiel den Plan des neuen Tempels mit.
(Fortsetzung folgt.)
Drei Dinge, nützlich zu lernen.
Der Schreiber dieser Zeilen begegnete vor einiger Zeit
einem alten Manne, der fünf und vierzig Jahre lang
weder die Kirche noch irgend eine christliche Versammlung
besucht hatte, sondern in der größten Gleichgültigkeit vorangegangen
war. Endlich hatte er, der Einladung eines
Bekannten folgend, eines Abends der Verkündigung des
Evangeliums beigewohnt, und von diesem Augenblick an
war sein Interesse geweckt und seine Seele beunruhigt
worden. Er besuchte fortan regelmäßig die Zusammenkünfte
zur Betrachtung des Wortes, und nach und nach
wurde es hell in seinem Innern. Nach einiger Zeit teilte
er einem christlichen Freunde die geistlichen Erfahrungen
mit, welche er seit jenem ersten Abend gemacht hatte.
153
„Zuerst lernte ich," sagte er in seiner einfachen Weise,
„daß ich in meinem ganzen Leben nichts Gutes, sondern
nur Böses gethan hatte. Dann lernte ich, daß ich auch
nichts Gutes thun konnte, daß meine Natur völlig
schlecht war. Und drittens lernte ich, daß Christus alles
gethan und alles geordnet hat."
Das waren in der That „drei Dinge, nützlich zu
lernen"; und wenn der Leser sie noch nicht, oder doch
nur teilweise, gelernt hat, so möchten wir ihn ernstlich
bitten, ihnen jetzt seine volle Aufmerksamkeit zu schenken.
Es sind drei Dinge, welche die Grundlage alles wahren
Christentums bilden.
Zunächst also hatte unser alter Freund die Entdeckung
gemacht, daß er in allen seinen Tagen nie etwas Gutes,
sondern nur Böses gethan hatte. Das ist eine niederschmetternde
Entdeckung. Es ist in der That ein feierlicher
Abschnitt in der Geschichte einer Seele, wenn ihre
Augen zum ersten Male geöffnet werden, und nun der
göttlich erleuchtete Blick das ganze Leben vom ersten Atemzuge
an durchwandert und nichts anderes entdecken kann,
als eine ununterbrochene Kette von sündigen Gedanken,
Worten und Werken — nichts als Böses von Anfang
bis zu Ende. Das ist, wir wiederholen es, sehr ernst
und feierlich. Es bezeichnet die erste Stufe geistlicher Ueber-
führung und erfüllt alle, welche sich in dem Werke des
Evangeliums bemühen und in der Liebe Christi den Seelen
nachgehen, mit tiefer Freude. Es ist, wenn die Seele
anders aufrichtig ist, das erste Zeichen des erwachenden
neuen Lebens, der Anfang der geheimnisvollen neuen
Schöpfung Gottes.
Aber es giebt mehr als das. Unser alter Freund
154
hatte nicht nur gelernt, daß alle seine Handlungen schlecht
und böse gewesen waren, er hatte auch erfahren müssen,
daß seine Natur böse war, ja, nicht nur böse, sondern
auch ganz und gar unverbesserlich. Das ist ein zweiter
Punkt von der höchsten Wichtigkeit, ein wesentliches Element
einer aufrichtigen Buße. Man wird stets finden,
daß, wenn der Geist Gottes mit überführender Kraft in
der Seele eines Sünders wirkt, Er nicht nur die Sünden
in dem Leben aufdeckt, sondern auch ein Gefühl
über die Sünde in der Natur weckt. Und es ist
gut, wenn eine Seele dies im Anfang ihrer geistlichen
Geschichte lernt. Viele neubekehrten Seelen sind mehr mit
der Vergebung ihrer Sünden als mit dem Gericht über
ihre sündige Natur beschäftigt. Sie erkennen, daß das
Blut Christi die Sünden ihres Lebens ausgetilgt hat;
aber sie verstehen nicht, daß in dem Tode Christi auch
die Sünde in ihrer Natur verurteilt und gerichtet worden
ist. Wenn daher die ersten Gefühle der Freude schwinden
und sie die Wirkungen der nach wie vor in ihnen
wohnenden Sünde fühlen, so liegen sie bald völlig mutlos
am Boden und werden mitunter fast zur Verzweiflung
getrieben. Sie geben dem Gedanken Raum, daß sie nie
bekehrt gewesen seien, und stehen in großer Gefahr, Schiffbruch
zu leiden.
Es ist deshalb höchst wichtig für den Leser, diesem
zweiten Punkt, welchen jener alte Mann lernte, die
ernsteste Beachtung zu schenken. Es genügt nicht, zu wissen,
daß all mein Thun böse und verwerflich ist; ich
muß auch lernen, daß meine Natur unheilbar schlecht ist.
Ohne Zweifel giebt es einen großen Unterschied unter den
Menschen bezüglich ihrer Thaten und ihres Verhaltens.
155
Der eine lebt äußerlich ehrbar, religiös und ohne Anstoß
für seine Mitmenschen; der andere wälzt sich im Schlamme
der Sünde. Der eine ist ernst und hält sich fern von
offenbar sündigen Vergnügungen, der andere ist leichtfertig
und schlürft in vollen Zügen aus dem Taumelkelch, welchen
Satan ihm darreicht. In dieser Hinsicht giebt es
also große Unterschiede; aber im Blick auf die Natur
des Menschen giebt es keinen. Ein Holzapfelbaum ist
ein Holzapfelbaum, mag er nun einen einzigen Holzapfel
in zehn Jahren, oder zehntausend Holzäpfel in einem
Jahre tragen. Ferner kann nur ein Holzapfelbaum einen
Holzapfel hervorbringen, so daß die Natur des Baumes
ebenso deutlich durch einen Holzapfel bewiesen wird wie
durch zehntausend. Und weiter: alle Kunst des Menschen,
alle seine Kultivierungs-Versuche, all sein Graben und
Düngen vermögen nicht die Natur eines Holzapfelbaumes
zu verändern. Eine neue Natur, ein neues Leben muß
vorhanden sein, ehe eine brauchbare Frucht hervorgebracht
werden kann. Da helfen keine Veredlungsversuche, keine
Erziehung, keine Belehrung — der Mensch muß von
neuem geboren werden.
Doch dies führt uns zu dem dritten Punkte unsrer
Betrachtung, daß nämlich Christus alles gethan und alles
geordnet bat. Gesegnete Erkenntnis für ein sündenbeladenes,
überführtes Gewissen! Der Herr Jesus Christus —
Preis sei Seinem herrlichen Namen! — hat die Sünden
meines Lebens getragen und hinweggethan, und Er hat
auch die Frage betreffs der Sünde meiner Natur geordnet.
Meine sündigen Thaten, Worte und Gedanken sind alle
vergeben, und meine sündige Natur ist gerichtet. Die
ersteren sind durch Sein Blut gleichsam von meinem Ge
156
wissen hinweggewaschen, die letztere ist für immer aus der
Gegenwart Gottes entfernt. Die Vergebung der Sünden
zu kennen ist eine Sache; die Verurteilung der Sünde
zu verstehen ist eine ganz andere. Wir lesen im Eingang
von Röm. 8, daß „Gott, indem Er Seinen eignen Sohn
in Gleichheit des Fleisches der Sünde und für die Sünde
sandte, die Sünde im Fleische verurteilte." Es
ist hier keine Rede von einer Vergebung der Sünde —
das wäre unmöglich. Die Sünden sind vergeben, der
Sünder ist von seiner Sündenlast befreit; aber die Sünde
ist verurteilt, gerichtet — ein Unterschied von äußerster
Wichtigkeit für jede aufrichtige Seele. Die Herrschaft der
Sünde ist, was den Gläubigen betrifft, für immer beendigt,
und die Herrschaft der Gnade hat begonnen. Die Kenntnis
dieser Thatsache giebt dem Christen Friede und Freude
und verleiht ihm Kraft und Sieg.
Diese herrliche Lehre wird im 6. Kapitel des Römerbriefes
entfaltet, einem Kapitel, dessen ernste Erforschung
wir besonders jedem jungen Gläubigen ans Herz legen
möchten. Er wird finden, daß der Apostel in demselben
durchweg von der Sünde, nicht aber von den Sünden
redet. „Indem wir dieses wissen, daß unser alter Mensch
mitgekreuzigt worden ist, auf daß der Leib der
Sünde abgethan sei, daß wir der Sünde nicht mehr
dienen. Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von
der Sünde. . . Denn was Er (Christus) gestorben ist,
ist Er ein für allemal der Sünde gestorben; was Er
aber lebt, lebt Er Gott. Also auch ihr, haltet euch der
Sünde für tot, Gott aber lebend in Christo Jesu. So
herrsche denn nicht dieSünde in euerm sterblichen Leibe,
um seinen Lüsten zu gehorchen; stellet auch nicht eure
157
Glieder der Sünde dar zu Werkzeugen der Ungerechtigkeit,
sondern stellet euch selbst Gott dar als Lebende aus
den Toten, und eure Glieder Gott zu Werkzeugen der
Gerechtigkeit. Denn die Sünde wird nicht über euch
herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter
Gnade."
Die Lehre, welche der Apostel in diesen Worten entwickelt,
ist überaus kostbar und erquickend für die Seele.
Sie bildet die eigentliche Grundlage alles Siegens über
die inwohnende Sünde. Ja, die wahre Herzens-Erkenntnis,
daß die Herrschaft der Sünde durch das Kreuz gebrochen
ist, und daß die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit
zu ewigem Leben durch Jesum Christum, unsern Herrn,
ist das göttliche Geheimnis aller Fortschritte in der persönlichen
Heiligkeit.
Möchte deshalb der Heilige Geist die Augen und
Herzen all der geliebten Kinder Gottes erleuchten, um
diese kostbaren Wahrheiten zu erkennen und in der Kraft
derselben wandeln zu können!
Sich des Kreuzes rühmen.
(Galater 6, 14.)
Nichts ist so schwierig, als einen Menschen aus sich
selbst herauszuheben, ihn von dem Beschäftigtsein mit dem
eignen Ich zu befreien; ja, es ist schier unmöglich, es sei
denn daß ihm eine neue Natur gegeben wird. Der Mensch
rühmt sich alles dessen, was ihm irgendwie Ehre einbringen
kann, was ihn von seinem Nächsten zu unterscheiden vermag.
Es macht nichts aus, worin der Unterschied besteht,
(schon der Umstand genügt ihm, für den größten
158
oder stärksten Mann in der Umgegend zu gelten,) wenn
es nur etwas ist, worin sein Stolz Nahrung finden und
was ihm einen Vorteil über andere geben kann.
Manche rühmen sich ihrer Talente. Die Menschen
sind verschieden: die einen sind eitel und trachten, bei anderen
eine gute Meinung über sich zu erwecken; andere
sind mehr stolz, indem sie selbst eine gute Meinung von
sich haben. Alles, was einen Menschen von seinen Mitmenschen
unterscheidet, — sei es Geburt, Reichtum, Gelehrsamkeit,
oder was sonst, — wird für ihn ein Anlaß,
sich zu rühmen; er bildet daraus eine kleine Welt
um sich her. Doch außer Talent, Geburt, Reichtum ?c.
giebt es noch etwas anderes, dessen der Mensch sich rühmt:
seine Religion. Nimm einen Juden, und du wirst
finden, daß er sich rühmt, kein Türke zu sein; nimm einen
Namenchristen: er rühmt sich, daß er kein Heide oder
Zöllner ist. So benutzt der Mensch gerade das, was
Gott ihm gegeben hat, um ihn aus sich herauszunehmen,
zu seiner eigenen Verherrlichung. Gerade das Maß der
Wahrheit, welches noch mit der Religion des Menschen
verbunden ist, gebraucht er zu einem Anlaß, sich zu rühmen.
So rühmt sich der Türke, welcher den einen wahren
Gott anerkennt, seiner Religion denen gegenüber, die
dies nicht thun; der Jude rühmt sich ebenfalls seiner
Religion — er besitzt die Wahrheit, und das Heil kam zu
den Juden; auch der Namenchrist besitzt Wahrheit, aber
indem er sich mit derselben brüstet, zeigt sich das Böse.
Etwas ganz anderes ist es für ein wahres, aufrichtiges
Kind Gottes, in der Kraft des Kreuzes zu wandeln
und sich darin zu rühmen, daß es Gott kennt. In dem
Propheten Jona war gerade jener Stolz wirksam, von
159
dem wir soeben gesprochen haben: er war stolz darauf
ein Jude zu sein, und wollte nicht nach Ninive gehen,
als Gott es ihm sagte, da er fürchtete, seinen Ruf als
Prophet zu verlieren. Lieber hätte er ganz Ninive der
Zerstörung anheimfallen, als seinem Ansehen als Prophet
Eintrag geschehen sehen. Jona war ein wahrer Prophet,
aber indem er sich seiner selbst rühmte, machte er
aus seiner Religion eine Ursache zur Selbstverherrlichung.
Womit irgend ein Mensch sich schmücken mag — und
wenn es selbst eine mehr oder weniger tiefe Schrifterkenntnis
wäre — es ist immer ein fleischliches Rühmen, ein
Sichrühmen seiner selbst. Ach, was ist der Mensch!
Die geringfügigste Sache genügt ihm, um sich selbst darin
zu gefallen. Etwas, was wir bei einem Andern vielleicht
gar nicht bemerken würden, genügt uns völlig, um uns
ein Gefühl von unsrer eignen Wichtigkeit zu geben.
Doch was giebt es in der Religion, dessen der Mensch
sich rühmen könnte? Was von ihm selbst kommt, muß
wertlos sein. Er kann sich nicht rühmen, ein Sünder
zu sein; das Gewissen kann sich niemals rühmen, und
ohne Gewissen giebt es keine wahre Religion. Wessen
rühmt er sich denn? Die Religion des Menschen muß
stets einen gesetzlichen Charakter tragen, weil es dabei etwas
für ihn zu thun geben muß — harte Bußübungen, lange
Gebete, mit einem Wort etwas, (mag es kosten, was es
will,) worin er sich selbst verherrlichen kann. „So viele
im Fleische wohl angesehen sein wollen, die nötigen euch
beschnitten zu werden, nur auf daß sie nicht um des
Kreuzes willen verfolgt werden ... sie wollen, daß ihr
beschnitten werdet, auf daß sie sich eures Fleisches rühmen."
(Gal. 6, 12. 13.) Der Mensch kann sich schwere Lasten
160
aufbürden. Warum? Weil es dann etwas für das
eigene Ich zu thun giebt. Wenn der Mensch sich seiner
selbst rühmt, so mag vielleicht die Wahrheit in einem gewissen
Maße vorhanden sein, aber sie trägt stets einen
gesetzlichen Charakter, weil etwas da sein muß, was der
Mensch für Gott thun kann. Sich des Fleisches rühmen
heißt nicht sich der Sünde rühmen, sondern es ist, wie
in Philipper 3, ein religiöses Rühmen, ein Sichrühmen
in etwas neben oder außer Christo.
Aber im Blick auf das Kreuz hat der Mensch nichts
zu sagen, da giebt es keinerlei Ruhm für ihn. Es ist
nicht mein Kreuz, sondern „das Kreuz unsers Herrn
Jesu Christi", und der einzige Anteil, den ich am Kreuze
Christi hatte, war meine Sünde. Meine Sünde hat
Ihn, den Heiligen und Gerechten, dorthin gebracht. Die
Erkenntnis dieser Thatsache beugt den Menschen ganz und
gar in den Staub. An dem Werke, welches den Menschen
rettet und das Herz Gottes mit Wonne erfüllt, hat
der Mensch nicht den geringsten Anteil; er konnte nicht
einen Finger dabei rühren. „Die Thorheit Gottes ist
weiser als die Menschen."
Doch das ist nicht alles. Nicht nur habe ich zu
dem Werke des Kreuzes nichts anderes beigetragen als
meine Sünde, sondern ich bin auch ohne dasselbe ganz
und gar verloren. Die göttliche Liebe behandelt mich als
einen völlig verlorenen Sünder; und je mehr ich jene
vollkommene göttliche Liebe kennen lerne, desto mehr erkenne
ich auch, wie unrein, verächtlich, verderbt und verloren ich
bin. Ich habe Vergnügen daran gefunden, mich selbst zu
verunreinigen; ich bin von Natur ein elender Sklave,
von Satan umhergeschleppt im Dienste der Sünde. So
161
bald ich verstehen lerne, was das Kreuz bedeutet, ist es
zu Ende mit meinem eigenen Rühmen; zugleich bringt
es Wahrheit und Aufrichtigkeit in mein Inneres, da es
mir nicht nur zeigt, wie schlecht ich bin, sondern mich
auch freudig meine Sünden bekennen läßt, statt daß ich,
wie früher, Entschuldigungen mache. Ich werde dahin geleitet
zu sagen: „Ich bin schuldig, alle diese Dinge geliebt
zu haben." — Die Liebe öffnet mein Herz und befähigt
mich, zu kommen und Ihm zu sagen, wie böse ich bin.
Mit dankbarer Freude erzähle ich alles, was Er gethan
hat und was ich Ihm verdanke. Mein Herz bekennt
seine Bosheit und sein Verderben; da ist kein Trug in
meinem Innern. Selbstverständlich habe ich keine Freude
an der Sünde, aber ich erfreue mich des göttlichen Heilmittels.
„Wo die Sünde überströmend geworden, ist die
Gnade noch überschwenglicher geworden."
Andrerseits sehen wir die Freude, welche Gott an
dem Kreuze hat. „Nachdem Er Frieden gemacht hat durch
das Blut Seines Kreuzes", schenkt Gott es uns, mit
Ihm uns des Wertes desselben zu erfreuen. Zunächst
erblicken wir in dem Kreuze die unaussprechliche Liebe
Gottes, eine Liebe, die nicht (wie die unsrige) durch einen
liebenswürdigen Gegenstand hervorgerufen worden ist; nein,
„Gott erweiset Seine Liebe gegen uns darin, daß Christus,
da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist."
Es war eine Liebe, die in ihrer eignen Kraft handelte,
die ihre Quelle nur in sich selbst hatte und so völlig
göttlich ist, daß eine Seele, welche sie als eine selbstverständliche
Sache betrachtet und erwartet, kein passender
Gegenstand für sie sein könnte. Gottes Werk und Gottes
Weise sind in einer Art geoffenbart worden, daß der
162
Mensch sie nie hätte erdenken können. Ich bin ein armer,
elender Sünder, und am Kreuze erblicke ich Gottes Liebe
in der Dahingabe Seines Sohnes. Wenn Er vergiebt,
so erweist sich die Kraft der Liebe darin, daß sie das
Beste, was sie hat, das was ähr am nächsten ist, für die
Sünde dahingiebt — für eine Sache also, die am weitesten
von ihr entfernt liegt — und sie giebt dieses Beste
dahin, damit es „zur Sünde gemacht" werde. Wenn ich
das Kreuz betrachte, so erblicke ich eine vollkommene und
unendliche Liebe, einen Gott, der Seinen Sohn dahingiebt,
um „zur Sünde gemacht" zu werden. Zugleich sehe
ich eine vollkommene und unendliche Weisheit.
Da ich ein Gewissen habe, so kann ich unmöglich
Gottes Liebe genießen, ohne daß ich die Frage meiner
Sünden durch Ihn geordnet sehe. Gott kann allerdings
selbst einem Sperling gegenüber gütig sein; aber kann Er
mich annehmen in meinen Sünden? Kann Er ein unvollkommenes
Opfer annehmen? Wie Micha sagt: „Soll ich meinen
Erstgebornen geben für meine Uebertretung, die Frucht meines
Leibes für die Sünde meiner Seele?" (Kap. 6, 7.) Kain
brachte die Frucht seiner eignen Arbeit, ohne irgend ein
Bewußtsein oder Gefühl über die Sünde zu haben; er
bewies dadurch die Härte seines Herzens und seine völlige
Vergeßlichkeit bezüglich der Sünde. Im Kreuze aber sehe
ich, was meine Sünde ist. Ich kann das Kreuz nicht
betrachten, so wie Gott es sieht, ohne Gott kennen zu
lernen. Der Mensch hat Gott so völlig vergessen, daß
er sich gegen Den auflehnte, der das göttliche Heilmittel
für sein Elend war. Da blieb denn nichts anderes als
Gericht übrig; Gottes Autorität mußte behauptet werden.
„Es geziemte Ihm, um deswillen alle Dinge und
163
durch den alle Dinge sind, indem Er viele Söhne zur
Herrlichkeit brachte, den Anführer ihrer Errettung durch
Leiden vollkommen zu machen." Dürfen Engel sehen,
daß der Mensch sich in der frechsten Weise gegen Gott
empört, ohne daß Er irgendwie Notiz davon nimmt?
Nein! Deshalb „geziemte es Ihm, um deswillen alle
Dinge und durch den alle Dinge sind rc." Gott ist ein
gerechter Richter, und das Gericht muß ausgeübt werden.
Im Kreuze erblicken wir daher ebensowohl Gericht wie
Liebe. Nicht nur nahm dort eine heilige Natur die Sünde
an, sondern Christus unterwarf sich auch willig dem Gericht,
welches der Sünde gebührte. Es offenbarte sich
dort der schonungslose Zorn Gottes gegenüber der Sünde
neben Seiner vollkommenen Liebe gegen den Sünder.
Seine Majestät, die wir beleidigt hatten, wurde am Kreuze
vollkommen behauptet: selbst der Sohn beugte sich davor.
Wenn Er den ganzen Glanz der Herrlichkeit des Vaters
aufrecht erhalten sollte, so mußte Er Seinen Charakter
in dieser Weise behaupten. Die Wahrheit Gottes wurde
an dem Kreuze erwiesen. 7,Der Lohn der Sünde ist der
Tod." Der Mensch hatte das vergessen; aber Christus
stand als der Zeuge Gottes in einer Welt der Sünde
auf, um die Wahrheit dessen, was Gott gesagt hatte, zu
beweisen. „Der Lohn der Sünde ist der Tod." Die
Liebe, mit welcher Gott den Menschen für sich gewinnt,
beweist zu gleicher Zeit die Wahrheit dieser Worte.
Doch es giebt noch mehr als das in dem Kreuze.
Gott erfüllt durch dasselbe alle Seine Ratschlüsse. Er
bringt „viele Söhne zur Herrlichkeit". Wie aber war es
möglich, solch unreine Sünder in dieselbe Herrlichkeit zu
bringen, in welche Sein Sohn eingegangen ist? Nun,
164
Gott hat so völlig das Werk vollbracht, daß wir, wenn
wir einmal bei Ihm in der Herrlichkeit sind, nur einen
Teil der Entfaltung dieser Herrlichkeit bilden werden.
Deshalb sagt der Apostel: „auf daß Er erwiese in den
kommenden Zeitaltern den überschwenglichen Reichtum Seiner
Gnade in Güte gegen uns in Christo Jesu." Eine
Maria Magdalena, ein Räuber am Kreuz rc. werden die
ganze Ewigkeit hindurch als die herrlichen Siegeszeichen dieser
Gnade glänzen. Doch wie war es möglich, daß Gott
solche Geschöpfe mit Seinem eignen Sohne in denselben
Platz einführen konnte? Seine Herrlichkeit und Liebe
haben alle unsre Sünden überströmt und hinweggethan;
ja, Er selbst hat es gethan! Anbetungswürdige Liebe!
Für uns hat das Kreuz also zweierlei zuwege gebracht:
es hat unserm Gewissen Frieden gegeben, und
nicht etwas, was der Mensch äußerlich sehen und dann
verderben kann. Nein, Er hat für immerdar vollkommen
gemacht, die geheiligt werden. Alle Sünde ist ausgelöscht
und hinweggethan. Deshalb kann ich mich des Kreuzes
rühmen, denn meine Sünden sind verschwunden.
Weiter lesen wir: „Jetzt aber, da ihr Gott erkannt
habt, vielmehr aber von Gott erkannt worden seid",
(Gal. 4, 9) — welch ein Gedanke, daß solch arme, elende
Geschöpfe, wie wir sind, nun zu Gefäßen einer solchen
Liebe und Gnade gemacht worden sind! Das Gewissen
besitzt Sicherheit und Frieden, ja, mehr als das, ein Vertrauen,
welches Adam in seiner Unschuld niemals besitzen
konnte. In meiner Seele ist Gemeinschaft und Friede,
und außerdem habe ich ein Verständnis in den Wegen
Gottes. Was soll ich thun? Eine Reihe von Ceremonien,
Kniebeugungen u. s. w. durchmachen, um meiner
165
Vollkommenheit, welche ich durch das Kreuz besitze, noch
etwas hinzuzufügen? Ach! wenn jemand durch irgend
etwas, sei es was es sei, sich zu bessern sucht, so kennt
er das Kreuz nicht; er weiß nicht, was Christus, was
Gott durch dasselbe gethan hat. „Kann ein Mohr seine
Haut wandeln, ein Pardel seine Streifen?" (Jer. 13, 23.)
Wenn jemand das Kreuz nicht kennt, so macht er allerdings
jene vergeblichen Anstrengungen, um sein Gewissen
zu befriedigen und zu beruhigen. Wenn er es aber kennt,
so fließen die geistlichen Gefühle und Zuneigungen seines
Herzens frei aus. Wenn ich das Kreuz betrachte, so kann
ich Gott lieben. Habe ich Ihn beleidigt, so kann ich unmittelbar
zu Ihm gehen und es Ihm sagen; denn ich bin
ein Kind, und mein Verhältnis zum Vater wird durch
meine Sünde nicht verändert. Meine Gemeinschaft ist
mit dem Vater und mit dem Sohne — das ist mein
glückseliges Vorrecht für immerdar.
Sobald ich mich des Kreuzes rühmen kann, ist eS
mit dem eignen Ruhm zu Ende; denn ich bin nichts als
ein Sünder. Durch das Kreuz hat Christus uns zu Gott
geführt, denn Er hat gelitten, der Gerechte für die Ungerechten.
Und nun, mein Leser, wessen rühmen wir uns?
Des Kreuzes unsers Herrn Jesu Christi oder unser selbst?
Wenn du dich nicht des Kreuzes rühmst, so ist das dein
Verlust, um nicht zu sagen deine Sünde; denn nirgendwo
kannst du Gottes Liebe, Gottes Heiligkeit, GotteS Weisheit,
Gottes Wahrheit erkennen als nur am Kreuze.
Und da wo du bist, kannst du diese kostbaren Dinge lernen.
Du brauchst nicht eine unersteigliche Höhe zu erklimmen;
nein, es ist zu dir gekommen, dahin wo du bist.
Der Sünder braucht nicht erst besser zu werden, um kom
166
men zu dürfen. Ach! dann könnte er niemals kommen.
Nein, er darf kommen, wie er i st. Der Apostel Paulus
kam als „der vornehmste der Sünder". (1. Tim. 1, 15.)
Aber dann war ihm, wie er sagt, die Welt gekreuzigt, und
er der Welt. Gerade die Natur, welche mit der Welt in
Verbindung steht, hat den Tod Christi verursacht; deshalb,
wenn ich mich des Kreuzes rühme, so bin ich der
Welt gekreuzigt.
„Unser Zusammenkommen nicht
versäumend."
(Hebr. 10, 25.)
Die geistlichen Triebe der neuen Natur leiten die
Kinder Gottes ohne Zweifel stets zu dem Wunsche, beisammen
zu sein. Was mich betrifft, so kann ich ein Kind
Gottes nicht verstehen, welches sich grundsätzlich fern
hält, wenn die Glieder der Haushaltung des Glaubens sich
im Namen des Herrn versammeln. Was könnte auch hienieden
wichtiger und bedeutungsvoller sein als ein solches
Zusammenkommen? Leider scheinen es manche als Zeitverschwendung
zu betrachten und viele andere Gegenstände
für wichtiger zu halten. Aber ich bin überzeugt, daß
es sich hier einfach um die Frage handelt, obskur Christum
wirklich wertschätzen, ob wir in dem Geiste wandeln, und
ob die Gegenstände der unermüdlich thätigen Liebe Gottes
auch die Gegenstände unsrer Liebe sind.?
Ich glaube, daß es den Gedankäi des Herrn ent­
sprechen würde, wenn die Gläubigen jeden Tag zusammen
kämen, falls dies ausführbar wäre. Die Macht des Geistes
167
Gottes würde uns dahin leiten. Nur die Umstände, in
welchen wir uns in dieser Welt befinden, verhindern dies.
Der wahre Grundsatz nach dem Worte Gottes ist ohne
Frage der, so oft zusammenzukommen, wie es ausführbar
ist; und wir thun wohl, unsre Herzen und Gewissen
bezüglich der Beurteilung dieser Ausführbarkeit in steter
Uebung zu erhalten, oder mit andern Worten, uns zu
prüfen, ob die Unausführbarkeit wirklich oder nur eingebildet
ist. Sehr oft spielt der eigene Wille in dieser
Beziehung seine Rolle; oft ist auch geistliche Trägheit
vorhanden, oder ein Mangel an Liebe zu den Kindern
Gottes oder auch ein schwaches Bewußtsein von den eignen
Bedürfnissen. Infolge dessen finden sich allerlei Hindernisse,
sei es im Geschäft, in der Familie oder gar im Werke
des Herrn.
Nun, Gott will sicherlich, daß Seine Kinder Ihn da
zu verherrlichen suchen, wo Er sie hingestellt hat, und
daß sie in aller Treue die Pflichten erfüllen, welche auf
ihnen ruhen. Es giebt natürliche Pflichten für uns in
dieser Welt, und die wunderbare Kraft des Christentums
zeigt sich gerade darin, daß wir das Göttliche in alles das
einführen, was ohne Christum nur den Charakter der
Natur tragen würde. Auch können die Ansprüche der
Familie, der Kinder, der Eltern w., nicht geleugnet werden;
sie sind vorhanden und haben ihre Berechtigung.
Aber ich glaube nicht, daß unsre Eltern oder Kinder
irgendwie einen Verlust erleiden werden, wenn wir ihre
berechtigten Ansprüche gleichsam für Christum auf uns
nehmen, wenn Erlhierin wie in allem andern unser Vorbild
und Muster ist. Auch werden wir finden, daß die
Zeit, welche wir in der Gemeinschaft der Heiligen verbringen,
168
niemals verloren ist. Darum laßt uns nicht das eine
über dem andern vergessen.
Ferner ist es bemerkenswert, daß wir selbst keine
Kraft haben, anderen zu helfen, wenn nicht das Bewußtsein
in uns lebt, daß wir ebenfalls der Hülfe seitens der
anderen bedürfen. Beides geht Hand in Hand. Indem
uns geholfen wird, sind wir fähig, anderen zu helfen
und zu dienen. Darum, „laßt uns auf einander acht
haben zur Anreizung zur Liebe und zu guten Werken,
indem wir unser Zusammenkommen nicht versäumen, wie
es bei etlichen Sitte ist, sondern einander ermuntern,
und das umsomehr, jemehr ihr den Tag herannahen
sehet!"
Heimweh.
Hin zu Jesu möcht' ich eilen,
Heim zu meinem teuren Herrn;
Ewig, ewig bei Ihm weilen,
Dort wo Sund' und Kummer fern.
Möchte dieser Welt entfliehen,
Dieser Zeilen Eitelkeit;
Heimwärts, heimwärts möcht' ich ziehen,
In des Lammes Herrlichkeit.
O mein Jesu, welch Entzücken
Wird's für meine Seele sein,
Dich verherrlicht zu erblicken,
Ewig Dir mein Lob zu weih'n!
Komm, Herr Jesu, hör' das Flehen,
Führ' die Braut zur Hochzeit ein!
Heut' noch möcht' ich zu Dir gehen,
Ewig, ewig bei Dir sein!
Einleitung in die Schriften des Alten und
des Neuen Testaments.
(Fortsetzung.)
Dem Propheten Daniel, der in Babylon gefangen
war, aber sich von allen Befleckungen rein erhielt, werden
alle Ereignisse der Geschichte der vier Reiche der Nationen
anvertraut. Die ersten sechs Kapitel dieses Propheten
erzählen die Geschichte dieser Reiche als der Welt angehörend:
Daniel ist nur ein Ausleger. Die letzten sechs
Kapitel zeigen uns dieselben Reiche in ihren Beziehungen
zu dem gefangenen Israel. Wie überall, so findet sich
auch hier am Ende die Befreiung Israels und das Gericht
über seine Unterdrücker. Daniel wird sein Teil an dieser
Freude haben.
Hosea prophezeit die Wegführung der zehn Stämme,
und kündigt dann an, daß es infolge der Gefangenschaft
Judas kein anerkanntes Volk Gottes mehr auf der Erde
geben würde, daß sie aber am Ende sich ein einziges Haupt
(Christus) setzen, und daß der Tag der Segnung groß
sein würde. Israel würde lange ohne wahren und ohne
falschen Gott, ohne Opfer und ohne Götzenbild bleiben,
aber in den letzten Tagen Jehova und David (Christus)
wieder anerkennen. Seine Buße wird im letzten Kapitel
geschildert.
170
Joel kündigt gelegentlich einer Hungersnot die
Vernichtung des Heeres des Nordens an, sowie die Ausgießung
des Geistes über alles Fleisch, bevor der schreckliche
Tag erscheint.
Amos droht zunächst das Gericht an, welches gegen
verschiedene Nationen Kanaans ausgeführt werden sollte,
und erklärt dann, daß die Geduld Gottes die Ungerechtigkeit
Israels nicht länger ertragen würde; doch wie alle
Propheten verkündet auch er die Rückkehr und Segnung
Israels, indem er hinzufügt, daß es dann nie mehr aus
seinem Lande vertrieben werden solle.
Obadja richtet seine Prophezeiung gegen Edom,
dessen Neid und unversöhnlicher Haß gegen Jerusalem
immer wieder hervortraten; dann kündigt er den Tag Jehovas
zum Gericht der Nationen an und, wie immer, die
Befreiung Zions.
Jona hat einen besonderen Charakter. Wenn Jehova
Israel erwählt hatte, um ein abgesondertes Volk zu
sein, um die Kenntnis Seines Namens auf der Erde zu
bewahren, so ist Er doch nicht weniger der Gott der
Nationen und ein Gott der Güte und des Erbarmens.
Wenn die Vorrechte die Kenntnis dessen, was Gott in sich
selbst ist, verdunkeln, so verwandelt sich der Besitz dieser
Vorrechte in einen starren Parteigeist: dies hat sich bei den
Juden deutlich gezeigt. Es ist bemerkenswert, daß in
Jona das Zeugnis der göttlichen Barmherzigkeit an den
großen Feind des Volkes Gottes gerichtet wird. Man
sieht in diesem Propheten auch die Wege Gottes, wenn
die Buße sich zeigt. Ferner ist Jona in gewissen Beziehungen
ein bekanntes Vorbild von dem Heilande. Der
Gegenstand des 4. Kapitels steht im Gegensatz zu der
171
besonderen Segnung der Juden am Ende: Gott ist auch
der Gott der Nationen.
Micha gleicht in mancher Hinsicht dem Propheten
Jesaja; indes ist die Entwicklung der Pläne Gottes in
seinem Buche bei weitem nicht so vollständig, wogegen er
sich mehr an das "Gewissen des Volkes wendet; doch die
dem Abraham und Jakob gegebenen Verheißungen werden
erfüllt werden.
In Nah um erhebt sich der Unwille Gottes gegen
die Anmaßung der menschlichen Macht und Herrschaft,
und Ninive (der Assyrer) wird zerstört: das Geschlecht
wird sich nie wieder erheben, und Juda wird endgültig
befreit.
Habakuk ist der Ausdruck des Glaubens an Jehova
trotz allem, sowie der Wege Gottes in der Geschichte
des Volkes. Der Prophet klagt über die Ungerechtigkeit,
die ihn in Israel umringt: Gott zeigt ihm die Chaldäer,
welche Er herbeiführt, um das Land wegen dieser Ungerechtigkeit
Heimzusuchen. Dann erwacht die Liebe des
Propheten zu dem Volke, und er klagt über die Chaldäer;
und Gott zeigt ihm, daß er durch den Glauben leben
muß: Gott wird diese gewaltthätigen Feinde strafen, deren
Wildheit Er als eine Rute benutzt hat, um Israel zu
züchtigen; aber der Gläubige muß ausharren. Der Tag
Jehovas wird kommen, und die Erde wird bedeckt werden
mit der Erkenntnis der Herrlichkeit Jehovas, gleichwie die
Wasser den Meeresgrund bedecken. Der Prophet erinnert
an die frühere Befreiung Israels und erfreut sich in
Jehova, obwohl keine Segnung von Seiner Seite zu
sehen ist.
Zephanja kündigt ein Gericht über das Land an.
172
welches keine Sünde ungestraft lassen wird — den Tag
Jehovas, einen Tag des Zornes, der Verwirrung und der
Angst, an welchem daS Land durch den Zorn Jehovas
verzehrt werden wird. Die Sanftmütigen sollen Jehova
suchen, damit sie geborgen werden (Kap. 2, 3); zuerst
wird Israel gerichtet, dann die Heiden, deren Haupt der
Assyrer ist (denn Israel wird hier wieder anerkannt); darnach
kommt das, was Jerusalem betrifft, als ob Gott
gesagt hätte: diese wird Buße thun; — aber sie hat sich
verderbt, indem sie im Bösen fortgeschritten ist. Der
Prophet benutzt diese Gelegenheit, um den Ueberrest aufzufordern,
auf Jehova zu harren, der im Begriff stehe,
alle Nationen zu versammeln, um sie -in Seinem Grimm
zu richten. Dann würde alles verändert sein: alle Nationen
würden Jehova aus reinem Herzen anrufen, und
Israel würde von Herzen zu Jehova zurückgebracht und
keine Ungerechtigkeit mehr bei ihm gefunden werden; und
es würde als ein ruhmreiches und herrliches Volk betrachtet
werden unter allen Nationen der Erde — ein passender
Abschluß all der Wege Gottes, von welchen die Propheten
reden.
Die folgenden Propheten. haben nach der Rückkehr
aus Babylon prophezeit und tragen einen andern Charakter.
Haggai ist sehr beachtenswert, obwohl einfach und
kurz. Er will, daß das Volk an Jehova und nicht an
sein irdisches Interesse denke; er will, daß sie aufs neue
sich aufmachen, das Haus zu bauen, — ein Werk, dessen
Fortgang die Feinde unterbrochen hatten, — und daß sie
es thun möchten im Vertrauen auf Jehova und ohne
auf die Erlaubnis des Königs von Persien zu warten.
Die Juden folgten der Aufforderung des Propheten; und
173
in der That, als sie im Glauben handelten, kam ihnen
die Vorsehung durch die Ermächtigung des Königs zu
Hülse. Aber für den Glauben war es Gott, der in
allem für sie sorgte; Er ist es, der die Herzen der
Könige lenkt. Das. ist die Regel des Glaubens, der nach
dem Worte Gottes, welches hier durch die Propheten
Haggai und Sacharja geredet wurde, handelt. Zugleich
giebt dies dem Propheten Gelegenheit anzukündigen, daß
Gott den Himmel und die Erde erschüttern werde, so daß
jede menschliche Macht samt den geistlichen Mächten, die
in der Luft sind, beseitigt werden würde. Dann würde
sich erfüllen, was die Kinder bei dem Einzug Jesu in
Jerusalem durch göttliche Eingebung riefen: „Friede im
Himmel!" — und die Macht Christi, des Fürsten Israels,
würde aufgerichtet werden, und zwar als gleichbedeutend
mit derjenigen Jehovas.
Sacharja beschäftigt sich mit der Wiederherstellung
Jerusalems in jener Zeit, während er zugleich die Geschichte
der Stadt bis zur ersten und sogar bis zur zweiten
Ankunft Christi mitteilt. Wohl spricht er von der Vernichtung
der Nationen, die gegen Jerusalem gewütet haben,
doch nur gelegentlich. Jerusalem wird gerechtfertigt und
dann gesegnet durch die Verwaltung der Gnade, gemäß
der vollkommnen und göttlichen Ordnung. Die Bösen
werden verbannt und finden ihren Platz bei Babylon, und
Christus wird eingeführt. Im 7. Kapitel beginnt eine
zweite Prophezeiung, welche im 11. Kapitel die Verwerfung
Christi bei Seinem ersten Kommen einführt; Israel
wird in die Hände eines bösen Hirten überliefert. Dann
wird Jerusalem der Ort sein, wo die Nationen gerichtet
werden, und der Geist der Buße wird über das Volk
174
ausgegossen wegen der Ermordung des Mannes, welcher der
Genosse Jehovas ist. Jerusalem wird eingenommen werden;
aber Jehova wird ausziehen, um Seine Feinde zu
richten, und alles in Jerusalem wird geheiligt werden.
Maleachi läßt uns einen Blick thun in den sittlichen
Verfall des Volkes nach seiner Rückkehr von Babylon.
Doch es wird einen Ueberrest geben: die Sendung
Johannes des Täufers wird vorhergesagt, der Tag Jehovas
kommt, und das Kommen Elias wird angekündigt;
das Volk wird zu dem Gesetz zurückgeführt. Beachten wir
wohl, daß hier keine Rede ist vom Christentum, sondern
nur von Christo und Seiner Verwerfung; der Hirt
(Sach. 13) wird geschlagen, und die Schafe werden zerstreut;
dann kommt das Gericht. Man versteht leicht,
daß in diesen drei Prophezeiungen, welche nach der Rückkehr
aus Babylon, als eines der „Tiere" bereits gefallen
war, ausgesprochen wurden, obwohl notwendigerweise auf
die Nationen angespielt wird, (denn es war ihre Zeit —
sie hatten die Erde in Besitz,) doch der Rahmen der Prophezeiung
sich verengert und man weit mehr unmittelbar
auf Christum sich beziehende Einzelheiten findet. Die
Hauptpersonen, welche unter den Nationen handelnd auftreten,
sind da und werden gerichtet; sie sind da und erwarten
die letzten Gerichte, um Babylon und den Tieren
Platz zu machen, deren Geschichte wir in Daniel finden,
und die alle in Verbindung stehen mit der Gefangenschaft
der Juden in dieser Stadt; denn diese Gefangenschaft
charakterisierte den Zustand. Bis dahin war der Assyrer
da gewesen, aber der Thron Gottes hatte sich in der
Mitte des Volkes zu Jerusalem befunden. Jetzt aber,
obwohl die Gefangenschaft unter der Macht der Nationen
175
immer noch fortdauert und anerkannt wird, verengert sich,
ich wiederhole es, der Gesichtskreis, und der Schauplatz
wird mehr von Christo selbst ausgefüllt, sowie von Einzelheiten,
die sich auf das wiederhergestellte Jerusalem beziehen;
dann kommt der große Tag Jehovas.
(Fortsetzung folgt.)
„Was wir gesehen und gehört haben,
verkündigen wir euch."
(1. J°h. 1, 3.)
Die Apostel waren Augen- und Ohrenzeugen dessen
gewesen, was sie verkündigten. Petrus sagt: „Denn nicht
indem wir künstlich erdichteten Fabeln folgten, haben wir
euch die Macht und Ankunft unsers Herrn Jesu Christi
kundgethan, sondern als die da Augenzeugen Seiner
Majestät gewesen sind." (2. Petr. 1, 16.) Zu Paulus
wurde gesagt: „Denn du wirst Ihm an alle Menschen
ein Zeuge sein von dem, was du gesehen und gehört
haft." (Apstgsch. 22, 15.) Und Johannes sagt:
„Was wir gehört, was wir mit unsern Augen gesehen,
was wir angeschaut und unsre Hände betastet
haben .. . was wir gesehen und gehört haben,
verkündigen wir euch." (1. Joh. 1, 1—3.)
Dies hatte für die Apostel die gesegnete Wirkung,
daß sie betreffs ihres Dienstes und Wandels auf der
Höhe dessen erhalten wurden, was sie gesehen und gehört
hatten. Sie schöpften ihre Kraft aus dem beständigen
Anschauen der ihnen geoffenbarten Herrlichkeiten. Zu demselben
Zwecke sind sie dann auch uns verkündigt worden.
Es ist unser gesegnetes Vorrecht, unsre Blicke von dem
17k
gegenwärtigen Schauplatz des Verderbens und des Verfalls
hinweg auf daS zu richten, was gänzlich außerhalb
des Verfalls steht; auf das, was kein Auge gesehen und
kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen
ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben."
(1. Kor. 2, 9.)
Alle Segnungen und Herrlichkeiten nun, welche die
Apostel uns verkündigen, haben ihren Ausgangs- und
Mittelpunkt in der persönlichen Herrlichkeit des Herrn
Jesu. Wird die letztere nicht genügend gewürdigt, so
werden auch die ersteren nicht nach ihrem wahren Werte
erkannt. Nur in dem Maße wie wir Ihn kennen, werden
wir verstehen, was es ist, Ihm gleich zu sein, oder
was das ewige Leben ist, oder was die Herrlichkeit Seines
Reiches sein wird. Darum ist die Erkenntnis Christi
Jesu die Grundlage aller wahren Erkenntnis. Sie macht
das Herz einfältig und bewahrt es vor „der fälschlich
sogenannten Kenntnis" (1. Tim. 6, 20) und vor den aus
ihr hervorgehenden Irrtümern. Was wären alle Herrlichkeiten
des Reiches oder des Himmels ohne Jesum,
vorausgesetzt daß eS ohne Ihn irgend eine Herrlichkeit
oder Segnung für ein Geschöpf geben könnte? Und was
nützt jede noch so reiche Erkenntnis, wenn sie nicht in
der Erkenntnis Christi Jesu ihre Quelle hat? Das Herz
bleibt kalt und leer dabei.
In all den herrlichen Dingen, welche die Apostel
uns verkündigt haben, so verschieden sie auch unter einander
sein mögen, nimmt die Person Jesu stets den ersten
Platz ein. Und wie gesagt, nur wenn unser anbetungswürdiger
Herr der Gegenstand unsrer Herzen ist, vermögen
wir die wahre Bedeutung jener Dinge, ja, überhaupt der
177
Schriften zu verstehen; anders ist das Erforschen derselben
nur eine eitle Spekulation des menschlichen Verstandes.
Was nützte zum Beispiel den Juden der Besitz des kostbaren
Wortes Gottes, da sie den Hauptgegenstand desselben,
Christum, nicht darin suchten? „Ihr erforschet
die Schriften, denn ihr meinet in ihnen ewiges Leben zu
haben, und sie sind es, die von mir zeugen; und ihr
wollt nicht zu mir kommen, auf daß ihr Leben habet."
(Joh. 5, 39. 40.) Wie sehr hat ferner die bekennende
Christenheit aus demselben Grunde ihr Ziel verfehlt!
Aber auch wahre Gläubige sind den traurigsten Irrtümern
anheimgefallen, wenn sie die Einfalt gegen Christum verloren
und nicht Ihn und Seine Verherrlichung allein
suchten. Wird es immer so bleiben? Dem Herrn sei
Dank, nein! Bald wird Er kommen, und die Worte der
über den Anblick ihres Geliebten entzückten Braut: „Mein
Geliebter ist ausgezeichnet vor Zehntausenden!" (Hohel.
5, 10) werden tausendfach wiederhallen von den Lippen
aller Erlösten.
Ach! infolge der selbstsüchtigen Neigungen unsrer
armen Herzen verlieren wir nur zu leicht die Herrlichkeit
der Person Jesu aus dem Auge, um an unsre Herrlichkeit
zu denken. Auch Petrus fiel auf dem „heiligen
Berge" in diesen Fehler, indem er den Herrn mit Moses
und Elias auf einen Boden stellte und mehr mit seiner
eignen Herrlichkeit als mit derjenigen des Herrn beschäftigt
war. „Rabbi, es ist gut, daß wir hier sind; und laß
uns drei Hütten machen, dir eine und Moses eine und
Elias eine." (Mark. 9, 5.) Aber er empfing eine Zurechtweisung
durch die Stimme aus der Wolke; und er
hat dieselbe sehr wohl verstanden. Denn in seinem zweiten
178
Briefe stellt er bei Erwähnung jenes Ereignisses die Herrlichkeit
des Herrn in den Vordergrund. Er spricht da von
dem Reiche als der Periode, in welcher die Herrlichkeit
Jesu geoffenbart werden wird. Und obgleich er ein
„Teilhaber der Herrlichkeit" (1. Petr. 5, 1)?sein wird,
so hebt er dies doch nicht hervor, sondern spricht nur von
der Majestät des Herrn Jesu. „Als die da Augenzeugen
Seiner Majestät gewesen sind. Denn Er
empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Herrlichkeit, als
von der prachtvollen Herrlichkeit eine solche Stimme an
Ihn erging: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem
ich Wohlgefallen gefunden habe."" Wie beschämend ist es
für uns, daß wir daran erinnert werden müssen, was der
Sohn in den Augen des Vaters ist! Wie ganz anders
würde es um die Versammlung Gottes auf der Erde
stehen, wenn alle ihre Glieder von Christo und Seiner
Herrlichkeit erfüllt wären! Wir sehen hier, wie der Vater
über die Ehre Seines Sohnes wacht. Er kann und wird
in Seiner Gnade uns in gleiche Herrlichkeit mit Christo
stellen, aber Er kann nie zugeben, daß der persönliche
Unterschied zwischen Ihm und uns auch nur für einen
Augenblick verschwinde. Ebenso besteht der'Heilige Geist
mit Nachdruck darauf, daß Christus „in allen Dingen den
Vorrang habe". (Kol. 1, 18.) Selbst unsre Herrlichkeit
wird dereinst nur die Seinige ins Licht stellen.
Und wenn wir nach dieser Zeit
Dort mit Dir verherrlicht stehen,
Wird doch jeder in uns sehen,
Herr, nur Deine Herrlichkeit.
Auf dem heiligen Berge wird dieser persönliche Unterschied
zwischen Ihm und uns noch besonders hervorgehoben
179
durch die Worte: „Und als diese Stimme geschah, ward
Jesus allein gefunden." (Luk. 9, 36.) Inmitten der
Herrlichkeiten des Reiches und der himmlischen Heerscharen
wird Er einen Platz einnehmen, der Seiner persönlichen
Herrlichkeit würdig ist und den niemand mit Ihm teilen
kann. Wie ErZvor Grundlegung der Welt der einzige
Gegenstand der Wonne des Vaters war, so auch während
Seines Pilgerganges durch diese sündige Welt; und so
wird Er es in alle Zeitalter sein inmitten einer erlösten
Schöpfung. (Spr. 8, 22—31.) Dann wird es sich völlig
offenbaren, was der Sohn für das Herz des Vaters stets
war und ewiglich sein wird, und daß alles, was wir sind,
wir nur durch Ihn sind. Gott kann nur in Ihm
Wohlgefallens an uns haben. Er allein ist unser Erlöser,
unsre Gerechtigkeit, unser Leben; Er ist uns geworden
vonWott zur)Weisheit, Heiligkeit rc. Nur Er
ist die Quelle 'unsrer Kraft und Freude, unsers Trostes
und unsrer Hülfe auf dem ganzen Wege, sowie der Gegenstand
unsrer Hoffnung. Er allein wird dem gegenwärtigen
Zustand des Verfalls und der Verunehrung Seines
Namens ein Ende machen, und die Gläubigen vollkommen
verherrlicht und'gereinigt in Liebe darstellen. Er allein
wird ein ewiges Reich der Gerechtigkeit und des Friedens
aufrichten und 'damit dem Seufzen der Kreatur ein
Ende machen. Durch Ihn allein sind die Welten gemacht;
und Er allein konnte die Erlösung vollbringen
und die Ratschlüsse Gottes ihrer Vollendung entgegenführen.
Wie unendlich kostbar ist daher der Name Jesu! Deshalb,
„wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!"
(1. Kor. 1, 31.)
Paulus war so erfüllt von der Herrlichkeit der Person
180
Christi, daß er sagen konnte: „Das Leben ist für mich
Christus." (Phil. 1, 21.) Ehemals ein Feind Christi,
hatte er gemeint, gegen den Namen Jesu viel Widriges
thun zu müssen (Apstgsch. 26, 9), und hatte die Gläubigen
in Gefängnis und Tod überliefert. Aber das Anschauen
des verherrlichten Christus, der ihm auf dem Wege
nach Damaskus erschien, und die Worte aus Seinem
Munde ließen ihn mit einem Male die schreckliche Finsternis
erkennen, in welcher er sich befand. Er sah im Lichte
jener Herrlichkeit, daß der natürliche Mensch — selbst der
bevorzugteste, mit einer nach dem Gesetz tadellosen Gerechtigkeit
(Phil. 3, 5. 6) — vor Gott nicht bestehen
kann, ja, daß er in den Gläubigen den Herrn selbst
verfolgt hatte. Damit war all sein Ruhm und alle seine
Hoffnung nach dem Fleische vernichtet. Er sah das „Mene,
Tekel" (Dan. 5, 25. 26), das Urteil des Todes, auf
sein ganzes Leben geschrieben; er mußte erkennen, daß
„alles Fleisch wie Gras, und alle seine Herrlichkeit wie
des Grases Blume ist". (1. Petr. 1, 24.) Diese schmerzliche,
aber notwendige Entdeckung, welche er — ich wiederhole
es — im Lichte der Herrlichkeit Christi machte, hatte
das gänzliche Aufgeben seiner selbst und jeglicher Verbindung
mit dieser Welt zur Folge; nichts blieb ihm als
Grund der Hoffnung übrig, als Jesus allein. In
Ihm, den er so schmählich verfolgt hatte, sand er seinen
Erretter, der ihn geliebt und sich selbst für ihn hingegeben
hatte. Durch Glauben an Ihn sand sein zerschlagenes
Herz Ruhe und Frieden. Aber mehr als das, er konnte
jetzt sagen: „Nicht habend meine Gerechtigkeit, die aus
dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christum
ist — die Gerechtigkeit aus Gott durch den Glauben."
181
(Phil. 3, 9.) Er hatte in jenem Lichte, welches den
Glanz der Sonne übertraf und ihn zu Boden schmetterte,
nicht nur die Wertlosigkeit des alten Menschen erkannt, sondern
auch die Stellung des neuen Menschen nach den Ratschlüssen
Gottes in Christo gesehen — eine ganz und gar
himmlische Stellung, die in dem auferstandenen und verherrlichten
Christus ihren vollkommenen Ausdruck findet.
Christus in der Herrlichkeit ist der Ausdruck der Gerechtigkeit
Gottes. Gott hat Seine Gerechtigkeit darin erwiesen,
daß Er Christum, der Ihn hienieden in Seinem
Leben und in Seinem Tode vollkommen verherrlicht hat,
auferweckte und zu Seiner Rechten setzte „über jeden Namen,
der genannt wird". (Eph. 1, 21. 22.) Und wir sind
in Ihm Gottes Gerechtigkeit geworden. (2. Kor. 5, 21.)
Wir sind vor Gott in Christo nach dem unendlichen Werte
Seiner Person und Seines Werkes. Wahrlich, die Erkenntnis
dieser Thatsache macht die Person Christi zum
Gegenstand unsrer innigsten Zuneigungen, unsrer Bewunderung
und Anbetung.
Zugleich sind wir zu Christo als Glieder Seines
Leibes und als Seine Braut in ein Verhältnis gebracht,
wie es enger und zarter nicht gedacht werden kann. Gott
hat Den, der Ihn verherrlicht hat, als Haupt über alles
der Versammlung gegeben, „welche Sein Leib ist, die Fülle
Dessen, der alles in allem erfüllt." (Eph. 1, 23.) Die
Versammlung nimmt also mit Christo den ersten Platz
in den ewigen Ratschlüssen Gottes und in der ganzen
Schöpfung ein. Wie Eva mit Adam, dem Haupte der
niederen Schöpfung, ein Ganzes ausmachte und diesen
vervollständigte, so ist die Versammlung die Fülle des
Christus, des letzten Adam. Infolge dessen ist sie der
182
Gegenstand Seiner zärtlichsten Liebe. Wie Mann und
Weib ein Fleisch sind, so auch Christus und die Versammlung
(Eph. 5, 29—33); und wie das Weib von
dem Manne ist (1. Kor. 11, 8), so ist auch die Versammlung
von Christo. Für Adam fand sich in der ganzen
Schöpfung keine Hülfe seines Gleichen. (1. Mose 2, 20.)
Die Engel standen weit über ihm, die Tiere weit unter
ihm — nur in Eva fand er seines Gleichen; sie war
von ihm. Die Versammlung aber ist von Christo, der
das Haupt über alles ist, sowohl über die Dinge auf
der Erde, als auch über die Engel, Fürstentümer und
Gewalten in den Himmeln. Nur von der Versammlung
kann Christus sagen, wie einst Adam von der Eva:
„Diese ist einmal Gebein von meinen Gebeinen und Fleisch
von meinem Fleische. Diese soll Männin heißen, denn
vom Manne ist diese genommen." (1. Mose 2, 23; Eph.
5, 30 — 33.) Wie Eva den Namen ihres Mannes trug,
so hat die Versammlung mit Christo einen und denselben
Namen. (Vergl. 1. Mose 5, 2 mit 1. Kor. 12, 12.)
Und wie ein Mensch seinen Vater und seine Mutter verläßt,
um seinem Weibe anzuhangen, so ist Christus aus
der Herrlichkeit herniedergekommen und hat sich selbst für
die Versammlung hingegeben. (Eph. 5, 25.) Er hat sie
geliebt, weil sie von Ihm ist nnd Gott sie Ihm zugeführt
hat.
Das ist das große Geheimnis, welches von den Zeitaltern
her in Gott verborgen war und durch den Heiligen
Geist dem Apostel Paulus geoffenbart worden ist, um es
uns mitzuteilen. Deshalb sagt er: „Mir, dem allergeringsten
von allen Heiligen, ist diese Gnade gegeben worden,
unter den Nationen den unausforschlichen Reichtum des
183
Christus zu verkündigen." (Eph. 3, 8.) Er war das
geeignete Werkzeug für diese Verkündigung. Er, der zuvor
ein Lästerer, Verfolger und Schmäher war, durfte
die überströmende Gnade Gottes an seinem eignen Herzen
erfahren (1. Tim. 1, 13. 14) und einen Blick in die
Herrlichkeit Christi thun. Und er wurde ausersehen, denen,
welche Kinder des Zorns waren und keinerlei Anspruch
auf irgendwelche Segnung hatten, die Gnade und Herrlichkeit
Christi zu verkündigen. Welch eine wunderbare
Gnade! Die Heiden, die Kinder des Zorns, und Saulus,
ein Lästerer, Verfolger und Schmäher Christi — das
waren die Miterben, Miteinverleibte und Mitteilhaber der
Verheißung in Christo Jesu! (Eph. 3, 6.) Da war kein
Unterschied zwischen Juden und Heiden: der erste unter
den Juden war der erste unter den Sündern (vergl.
Phil. 3, 4-6 und 1. Tim. 1, 15); alle standen auf
dem Boden des von Gott aus dem Paradiese verstoßenen
Adam; aller Los war der Fluch, „Dornen und Disteln",
und schließlich der Tod. Und siehe da! der in der tiefsten
Armut hoffnungslos verlorne Sünder tritt durch den
Glauben ein in den unausforschlichen Reichtum des
Christus, in die Vollkommenheit und Fülle dessen,
was Christus in den Augen Gottes ist. „In Ihm wohnt
die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig; und ihr seid
vollendet in Ihm, welcher das Haupt jedes Fürstentums
und jeder Gewalt ist." (Kol. 2, 9. 10.) Welch eine
überwältigende Thatsache! Christus ist in Seiner göttlichen
Liebe in unsern Zustand der Sünde und des Todes
eingetreten, um durch Seinen Tod an unsrer Statt
allen Anforderungen der Gerechtigkeit Gottes zu begegnen,
und uns in der göttlichen Macht Seiner Auferstehung in
184
Seme eigne Stellung einzuführen, in welcher Er jetzt als
verherrlichter Mensch vor Gott ist.
Während also Petrus uns den Herrn in Seiner
Herrlichkeit als Wiederhersteller aller Dinge vor Augen
führt, zeigt uns Paulus den verherrlichten Christus und
die Versammlung in Ihm in den himmlischen Oertern.
In erster Hinsicht ist Er der Erfüller der zeitlichen
Ratschlüsse Gottes, die Hoffnung Israels und der Befreier
der Schöpfung: Er wird Sein Reich aufrichten und Israel
in dasselbe einführen — in ein Reich, welches für sie
bereitet ist von Gründung der Welt an. (Matth. 25, 34.)
In zweiter Hinsicht ist Er, in Verbindung mit der Versammlung,
der Mittelpunkt der ewigen Ratschlüsse
Gottes; letztere oder vielmehr ihre Glieder sind auserwählt
in Ihm vor Grundlegung der Welt. (Eph. 1, 4.)
Aber damit diese Ratschlüsse erfüllt werden konnten, bedurfte
es der Erlösung; und wer anders hätte diese vollführen
können als nur Er, der zugleich wahrhaftiger Gott
und wahrhaftiger Mensch war? Nur Er, der in Seiner-
Person der wahrhaftige Gott und das ewige Leben war,
konnte für uns in das Gericht eintreten und den Tod
erdulden, ohne von demselben behalten zu werden.
(Schluß folgt.)
Ein Wort für bekümmerte Seelen.
„Was mag doch mit Sophie geschehen sein?" fragte
ich vor einiger Zeit eine Freundin; „sie sieht so niedergeschlagen
und traurig aus. Ihr Gesicht trägt einen ganz
andern Ausdruck als bisher. Und sie war doch so glücklich
im Glauben an ihren Heiland!"
185
„Ach," erwiderte meine Freundin, „sie sagt, sie sei
nicht errettet; sie glaube nicht mehr an den Herrn Jesum,
und ihre Sünden seien ihr nicht vergeben."
Da der Gegenstand unsrer Unterhaltung mir sehr
am Herzen lag, so bat ich den Herrn, mich mit meiner
jungen Freundin bald zusammenzuführen und mir ein
passendes Wort für sie zu geben. Mein Wunsch wurde
nicht lange nachher erfüllt, und ich möchte hier das Gespräch,
welches sich zwischen uns entspann, zum Nutzen
andrer, in ähnlicher Weise bekümmerter Seelen mitteilen.
Auf meine Frage, warum sie so traurig aussehe,
erwiderte sie: „O meine Sünden sind nicht vergeben, und
ich bin sehr, sehr unglücklich!"
„Aber das ist ja eine ganz andere Sprache, als Du
sie noch vor kurzer Zeit führtest. Noch vor wenigen
Wochen sagtest Du mir, Du seiest ganz glücklich in dem
Herrn und wissest, daß alle Deine Sünden vergeben seien.
Woher kommt der Unterschied?"
„Ach, ich glaube," erwiderte Sophie mit niedergeschlagenen
Augen, „daß ich das damals gesagt habe, um
Ihnen eine Freude zu machen. Aber jetzt fürchte ich, daß
ich gar nicht an den Herrn Jesum glaube, und daß ich deshalb
verloren bin."
„Deine Worte betrüben mich tief," entgegnete ich;
„allein ich muß eine ernste Frage an Dich richten, und
ich bitte Dich, dieselbe aufrichtig zu beantworten. Als
Du mir damals sagtest, daß alle Deine Sünden in
dem kostbaren Blute Christi abgewaschen seien, glaubtest
Du da wirklich, daß es so sei, oder hast Du es mir
nur aus dem Grunde gesagt, um mir eine Freude zu
machen?"
186
„O nein, ich könnte unmöglich in einer so ernsten
Sache lügen. Damals glaubte ich wirklich, daß es so
sei; aber jetzt weiß ich, daß ich mich getäuscht habe."
Diese Antwort zeigte mir, daß es sich genau so verhielt,
wie ich gedacht hatte: es war dem Feinde der Seelen
gelungen, meine junge Freundin mit ihrem eignen
Glauben zu beschäftigen, anstatt mit dem Gegenstände desselben,
mit dem Herrn Jesu; und so war sie an sich selbst
irre geworden und meinte nun, sie habe sich und andere
getäuscht. Nach einigem Besinnen schlug ich das 1. Kapitel
des 3. Buches Mose auf und las: „Wenn ein Mensch
von euch dem Jehova eine Opfergabe darbringen will, so
sollt ihr vom Vieh, vom Rind- und Kleinvieh, eure Opfergabe
darbringen. Wenn seine Opfergabe ein Brandopfer
ist vom Rindvieh, so soll er sie darbringen ein Männliches
ohne Fehl; an dem Eingang des Zeltes der Zusammenkunft
soll er sie darbringen, zum Wohlgefallen für
ihn, vor Jehova. Und er soll seine Hand auf den
Kopf des Brandopfers legen, und es wird wohlgefällig
für ihn sein, um Sühnung für ihn zu
thun." (Vers 2 — 4.)
„Nun, Sophie", fragte ich, „was würde Deine Hoffnung
sein, wenn es Gott gefallen sollte, Dich heute abzurufen?"
Sie sah mich einen Augenblick ganz erschrocken an,
brach dann in einen Strom von Thränen aus und sagte:
„Ach, ich hätte keine Hoffnung!"
„Komm," erwiderte ich, „laß uns die Schriftstelle,
die ich eben gelesen habe, etwas näher untersuchen. Du
bist eine arme, schuldige Sünderin, nicht wahr?"
„O ja", schluchzte sie.
187
„Du darfst deshalb Gott nicht nahen im Vertrauen
auf Dich selbst?"
„Nein, gewiß nicht."
„Der Mann, von welchem wir soeben gelesen haben,
brachte ein Opfertier, sagen wir ein Lamm; und Du erinnerst
Dich doch gewiß, von wem geschrieben steht: „Siehe
das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt",
nicht wahr?"
„Ja; Johannes sagt das von dem Herrn Jesu."
„Ganz recht. Wenn nun der Israelit sein Lamm
brachte, so legte er seine Hand auf dessen Kopf. Das
war gerade so, als wenn er gesagt hätte: „O Gott! ich
bin ein armer, sündiger Mensch; aber ich bringe dieses
reine, unschuldige Lamm als meinen Stellvertreter. Bitte,
nimm es für mich an." Kannst Du nicht auch in diesem
Augenblick sagen: „O Gott! ich bin ein armes, sündiges
Mädchen; aber, bitte, nimm Dein Lamm, den Herrn
Jesum Christum, für mich an?"
„Ja, das kann ich; es ist gerade das, was mir
not thut."
„Allerdings. Aber nun höre, was Gott hier sagt",
und damit wies ich mit dem Finger auf die Stelle und
las: „Und es wird wohlgefällig für ihn sein, um Sühnung
für ihn zu thun." Sie sah mich erstaunt an, und
ich fragte: „Wer ist der „ihn" hier?"
„Der Mann, welcher seine Hand auf den Kopf des
Lammes legte."
„Und wessen Worte sind dies?"
„Die Worte Gottes."
„Sind die Worte Gottes wahr oder nicht?"
„Sie sind ohne Zweifel wahr."
188
„Nun, dann möchte ich Dir noch eine andere Stelle
vorlesen. Sie steht im 1. Kapitel des Epheserbriefes und
lautet: „Zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade, worin
Er uns begnadigt (oder angenehm gemacht) hat in
dem Geliebten." (V. 6.) Wer ist der Geliebte?"
„Der Herr Jesus."
„Und wer sind die „uns", von denen hier die
Rede ist?"
„Alle diejenigen, welche ihre Hände auf den Kopf
des Lammes Gottes legen."
„Aber das ist es ja gerade, was Du gethan hast.
Nun sagt Dir Satan, Du seiest verloren, Du habest Dich
getäuscht u. s. w. Gott aber sagt Dir, daß Du begnadigt
oder angenehm gemacht seiest in dem Geliebten.
Wem willst Du glauben?"
„Ich muß Gott glauben."
„Laß uns weiter lesen: „in welchem (dem Geliebten)
wir die Erlösung haben durch Sein Blut, die Vergebung
der Vergehungen, nach dem Reichtum Seiner Gnade."
Du sagtest vorhin, Deine Sünden seien nicht vergeben;
nun denke einen Augenblick darüber nach, was Gott hier
sagt: „die Vergebung der Vergehungen". Doch es
giebt noch viele andere Stellen, in welchen von unsern
Sünden und ihrem Hinwegthun die Rede ist." Damit
schlug ich Jesaja 53 auf und las: „Wir alle irrten wie
Schafe, wir wandten uns ein jeder auf seinen Weg; und
Jehova hat Ihn treffen lassen unser aller Ungerechtigkeit."
(V. 6.) Indem ich dann auf die ersten Worte hinwies,
fragte ich: „Bist Du hier auch gemeint? Gingst Du
auch in der Irre?"
«Ja, ganz gewiß."
189
„Und hast Du Dich auch auf Deinen eignen Weg
gewandt?"
„Ja."
„Nun, dann höre, daß Gott alle Deine Sünden auf
den Herrn Jesum gelegt hat; denn das „unser" am Ende
des Verses bezieht sich auf dieselben Personen, wie die
beiden „wir" im Anfang. Und wann ist dies geschehen?
Der Apostel Petrus sagt: „welcher selbst unsre Sünde
an Seinem Leibe auf das Holz getragen hat". Alle
unsre Sünden lagen also am Kreuze auf unserm hochgelobten
Heilande. Er hat sie dort für uns getragen.
Trägt Er sie nun immer noch?"
„Nein; Er ist jetzt auf dem Throne des Vaters,
und dort können sie nicht sein."
„Ganz recht; aber nun laß uns sehen, was Er mit
unsern Sünden gethan hat: „So weit der Osten ist vom
Westen, hat Er von uns entfernt unsre Uebertretungen."
<Ps. 103, 12.) Weißt Du, wie weit der Osten vom Westen
entfernt ist?"
„Nein."
„Ich auch nicht; es ist eine Entfernung, die nicht
gemessen werden kann. Osten und Westen können nie
zusammenkommen, und Gott sagt uns, daß Er so weit
unsre Uebertretungen von uns entfernt habe. An einer
anderen Stelle heißt es: „Alle meine Sünden hast Du
hinter Deinen Rücken geworfen," (Jes. 38, 17) d. h. also
an einen Ort, wo Gott sie nicht mehr sehen kann. Und
der Prophet Micha sagt: „Du wirst alle ihre Sünden
in die Tiefen des Meeres werfen." (Kap. 7, 19.) Du
siehst also, auf welchem Wege Gott uns begnadigt hat:
in Seinem Geliebten; und daß wir in Ihm die
190
Erlösung haben, die ewige Vergebung aller unsrer Sünden.
Gott selbst ist eS, der uns dies wieder und wieder in
Seinem Worte verkündigt. Sollen wir nun nicht zusammen
niederknieen und Gott dafür danken, daß Er uns
um Christi willen alle unsre Sünden vergeben und uns
angenehm gemacht hat in Seinem geliebten Sohne?"
Sie nickte, und wir knieten nieder. Als wir uns
wieder erhoben, da war der traurige Ausdruck aus dem
Gesicht meiner jungen Freundin verschwunden und hatte
dem lieblichen Glanze einer göttlichen Freude Platz gemacht;
ja, sie frohlockte wieder in der Gewißheit ihrer
Errettung und in der Liebe ihres Heilandes. Der Feind
war besiegt, die Anfechtung vorüber. —
Sollten nun diese Zeilen in die Hände einer armen,
zweifelnden, von Satan angefochtenen Seele fallen, o
möchte diese dann doch daran gedenken, daß Christus das
Lamm Gottes ist, welches sich selbst ohne Flecken Gott
geopfert hat, ja, daß Er „uns geliebt und sich selbst
für uns hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer,
Gott zu einem duftenden Wohlgeruch;"
(Eph. 5, 2.) und ferner, daß infolge des unendlichen
Wertes Seiner Person und Seines Werkes ein jeder, der
in einfältigem Glauben sagt: „O Gott, nimm Deinen
geliebten Sohn an meiner Statt an!" sicher und gewiß
von Gott angenommen werden wird gemäß der Kostbarkeit
des Geliebten GotteS. Denn „euch, die ihr
glaubet, ist die Kostbarkeit." Und: „Wer an
Ihn glaubt, wird nicht zu Schanden werden."
(1. Petri 2, 6. 7.)
191
„Vergeben um Seines Namens willen."
„Ich schreibe euch, Kinder (nicht „Kindlein", wie
nachher, sondern „Kinder", d. h. alle Gläubige), weil euch
die Sünden vergeben sind nm Seines Namens willen."
(1. Joh. 2, 12.) Das, wovon der Apostel hier spricht,
ist eine geordnete Sache. Du bist überhaupt kein Christ,
wenn dir nicht deine Sünden vergeben sind. Der arme
Kerkermeister in Philippi bedurfte der Errettung, und gerade
das war es, was er empfing. Er rief: „WaS
muß ich thun, um errettet zu werden?" Wenn ich komme,
um das Zeugnis Gottes zu hören, so ist das, was ich
bedarf, die Errettung; ich muß Leben empfangen. Nikodemus
kam bei der Nacht mit seinen Fragen zu Jesu;
aber der Herr sagte zu ihm: „Du mußt von neuem
geboren werden." Nicht Belehrung, sondern
eine neue Geburt ist nötig. Wer in Christo ist,
ist eine neue Schöpfung. (2. Kor. 5, 17.)
Der Kerkermeister wußte nicht, was es heißt, „in
Christo zu sein", aber er glaubte; und was war die
Folge? Er war errettet — errettet durch ein Werk,
welches längst vollbracht war, ehe er irgendwie nach Errettung
verlangte. Indem er an Christum glaubte, wurde
er errettet; er empfing ewiges Leben. Wenn das Licht
in das Herz eines Sünders scheint, so kann er nicht
eher glücklich sein, bis er Frieden mit Gott gefunden hat.
Heute ist es allerdings oft schwierig zu entscheiden, ob
einer, der Christ zu sein bekennt, wirklich Frieden mit
Gott hat.
Ehe das Christentum zu einem allgemeinen Bekenntnis
in der Welt wurde, wußte und verstand man, daß
192
ein Christ ein Erretteter war. Heute aber behaupten alle,
Christen zu sein; und andrerseits fehlt vielen von denen,
welche eS wirklich sind, die volle Ueberzeugung, die Gewißheit,
daß sie wahre Christen sind. Dadurch wird
die einfache Thatsache der Erlösung vielfach verdunkelt
und aus dem Auge verloren. Doch was sagt Johannes?
„Eure Sünden sind vergeben um Seines Namens willen;"
oder mit andern Worten: Das Gericht Gottes ist bereits
in Christo über eure Sünden ergangen. Wenn ich im
Glauben auf Christum blicke, um errettet zu werden, so
besitze ich nach dem Urteil Gottes das ewige Leben; und
dieses Urteil ist so sicher und gewiß das Urteil GotteS, als
wenn Christus selbst es von dem großen, weißen Throne
herab verkündigte. Gott kennt den Wert des Werkes Seines
Sohnes; und Er ist Richter, nicht wir.
„Ich schreibe euch, Kindlein." Der Apostel mag
für die Kindlein manches hinzuzufügen haben, aber den
Vätern hat er nur eins zu sagen: „Ihr habt Den erkannt,
welcher von Anfang ist," d. i. Christum. Wenn
mir etwas gebracht wird, was nicht Christus ist, so verwerfe
ich es. Wenn ich jemanden kenne, so ist es die
Person selbst, die ich kenne. Ich muß allerdings
wissen, daß mir meine Sünden vergeben sind um Seines
Namens willen; aber ich muß auch Den kennen,
welcher von Anfang ist. Er ist der Gegenstand der
Wonne des Vaters.
Der Apostel spricht von einem Wachstum der Gläubigen;
er unterscheidet Kindlein, Jünglinge und Väter in
Christo. Die Väter haben Christum von Anfang an gekannt;
und Ihn zu kennen, bewahrt die Seele. Da giebt
es keine Ungewißheit, kein Schwanken und keine Zwei
193
deutigkeit. Der junge Christ ist voll von Freude und ist
auf diese Weise mehr mit sich selbst beschäftigt; der alte
Christ redet weniger von der Freude, sondern sagt: der
Besitz Christi selbst ist es, der mich glücklich macht. Sein
Herz vertraut auf den Herrn; die Vorgänge in dieser
Welt, ja, selbst inmitten der Versammlung bringen ihn
nicht außer Fassung. Er rechnet auf die Liebe, die stets
wachsam ist und ihr Ziel mit sicherem Auge verfolgt, und
er wird nicht durch böse Nachrichten erschreckt. Er weiß,
daß der Thron des Herrn ewig und unerschütterlich ist,
mögen auch Himmel und Erde sich auflösen und in Stücke
gehen. In seiner Seele ist Festigkeit, weil Er Den kennt,
welcher von Anfang ist — einen geoffenbarten Christus,
den er gleichsam mit seinen Augen gesehen und mit seinen
Händen betastet hat.
Mein Leser! Inwieweit hat deine Seele ihren festen
Ruhepunkt in Christo gefunden? oder inwieweit bist du
befriedigt mit Christo? Wenn Freunde dich verlassen, bist
du dann immer noch mit Ihm allein befriedigt? Oder
inwieweit sind andere Dinge da, nach welchen du verlangst
und denen du zu widerstehen hast? Hast du mit der Welt
abgeschlossen? — ich meine nicht wie einer, der ihre Eitelkeit
erfahren hat und ihrer Freuden und Vergnügungen
müde geworden ist, sondern dessen Seele etwas in Christo
gefunden hat, was ihn für alles das entschädigt und ihn
völlig befriedigt? Hast du einen solchen Reichtum in Ihm
entdeckt, daß deine Seele ihr volles Genüge in Ihm findet
und nichts anderes mehr begehrt? Kannst du mit dem
Apostel sagen: „Das Leben ist für mich Christus"?
(Phil. 1, 21.)
194
Gedanken.
Erkenntnis und Leben. — Wenn die Erkenntnis
im Worte Gottes der praktischen Gemeinschaft mit
Gott entbehrt, so fehlt ihr gerade das, was die göttliche
Freude der Seele ausmacht. Ein solches Christentum ist
ein armseliges Ding, das sich niemandem anempfiehlt.
Wir mögen dann vielleicht die herrlichsten Wahrheiten
besitzen; aber ohne die Gnade und Kraft, welche aus der
Gemeinschaft mit Gott hervorströmen, bleiben sie ohne
Frucht. Sie nützen uns nichts gegenüber der List und
Macht des Feindes. Nur die Verwirklichung der Gemeinschaft
mit Christo macht uns stark gegen Satan; anders
ist er stark gegen unS. Und sicher, wenn Gott uns nicht
trotz unsrer Untreue zu Hülfe käme und uns bewahrte,
so würde er uns ganz und gar mit sich fortreißen. Bloße
Erkenntnis giebt keine Kraft, sondern bläht auf.
In demselben Augenblick da ein Kind Gottes sich zu
einem Schuldner der Natur oder der Welt macht, verliert
eS seine Würde und wird bald seinen Verlust fühlen.
Abraham wollte nicht einen Schuhriemen von dem Könige
von Sodom nehmen, damit dieser nicht sagen konnte, er
habe Abraham reich gemacht.
Die Gnade vergiebt die Sünde und stellt die Seele
wieder her, wenn wahre Buße und aufrichtiges Selbstgericht
vorhanden sind; allein nichtsdestoweniger bleibt es
wahr, daß ein Mensch ernten wird, was er gesät hat.
„Wer für sein eignes Fleisch säet, wird von dem Fleische
Verderben ernten." Wie mancher Gläubige hat dies schon
zu seinem bittern Schmerze erfahren müssen!
195
Ein irdischer Vater liebt ein gehorsames Kind und
wird es zu seinem Vertrauten machen, mehr als ein ungehorsames.
Sollte dies nicht ebenso sein mit unserm
himmlischen Vater? Ohne Zweifel. „Und Jehova sprach:
Sollte ich vor Abraham verbergen, was ich thun will?"
— „Wenn ein Prophet unter euch ist, dem will ich, Jehova,
in einem Gesicht mich kundthun, in einem Traume
will ich mit ihm reden. Nicht also mein Knecht Mose;
er ist treu in meinem ganzen Hause. Mit ihm
rede ich von Mund zu Mund und deutlich und nicht in
Rätseln." (1, Mose 18, 17; 4. Mose 12, 6-8.) „Wer
meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich
liebt; wer aber mich liebt, wird von meinemVater
geliebt werden; und ich werde ihn lieben und mich
selbst ihm offenbar machen." (Joh. 14, 21.)
Es ist weit besser, durch die Freuden des Himmels
gezogen, als durch die Sorgen und Kümmernisse der
Erde getrieben zu werden. Laßt uns das bessere Teil
erwählen!
Der Gläubige sollte nicht darauf warten, mit Gewalt
aus den gegenwärtigen Dingen aufgerüttelt und von ihnen
gelöst zu werden. Er sollte nicht darauf warten, daß die
Welt ihn aufgebe; nein, er sollte vielmehr die Welt
aufgeben, und zwar in der Kraft der Gemeinschaft mit den
himmlischen Dingen. Und wahrlich, wenn er in dem lebendigen
Genuß dieser Gemeinschaft stehtLund in Wahrheit
Christum ergriffen hat, so ist es nicht schwierig für ihn, die
Welt aufzugeben. Es würde im Gegenteil schwierig für
ihn sein, sie zu behalten. Wenn einem Straßenkehrer
196
eine reiche Erbschaft zufiele, welche ihn in den Stand
setzte, sorgenfrei und in Wohlstand zu leben, so würde er
sicherlich sein schmutziges Geschäft bald aufgeben. Gerade
so ist es mit dem Gläubigen. Kennt und genießt er die
Kostbarkeit des ihm zugefallenen Erbes, kann er in Wirklichkeit
mit dem Psalmisten sagen: „Die Meßschnüre sind
mir gefallen in lieblichen Oertern", so wird er nicht mehr
nach dem Kote dieser Welt begehren.
Wir können nicht von der Welt Nutzen ziehen und
zu gleicher Zeit ein wirksames Zeugnis gegen ihre Bosheit
ablegen. Es ist eitel und nutzlos, von dem herannahenden
Gericht, dem „kommenden Zorn", zu reden,
während man seinen Platz, sein Teil und seinen Genuß
gerade in den Dingen findet, über welche das Gericht
kommt.
Wie traurig ist die Stellung eines weltlichen Christen,
wie beklagenswert sein Los i Anstatt das Herz des Herrn
zu erfreuen, quälte Lot seine gerechte Seele mit den bösen
Werken der Bewohner Sodoms; anstatt die süße, köstliche
Gemeinschaft mit dem Herrn zu genießen, befand er sich
weit von Ihm entfernt; und endlich, anstatt, wie Abraham,
für andere fürbittend eintreten zu können, hatte er genug
mit sich selbst zu thun, und nur mit genauer Not entrann
er dem Gericht über die gottlose Stadt.
Sobald wir mit Fleisch und Blut zu Rate gehen,
sind unser Zeugnis und unser Dienst geschwächt; denn
Fleisch und Blut können niemals gehorchen.
Einleitung in die Schriften des Alten und
des Neuen Testaments.
(Fortsetzung.)
Es bleibt mir noch übrig, einige Worte über die
sogenannten Hagiographen (heiligen Schriften) zu sagen.
Daniel wird von den Juden zu denselben gerechnet.
Wir haben über sein Buch als ein prophetisches Buch gesprochen,
obwohl eS einen besonderen Charakter trägt,
indem der Thron Gottes von der Erde verschwunden ist
und der Prophet sich in Babylon befindet; doch es teilt
wohl den Charakter der übrigen Hagiographen, welche sittliche
Ansprachen, ins Einzelne gehende Erzählungen enthalten,
nachdem Israel verworfen war, sowie den Ausdruck der
Liebe Christi zu Israel darstellen. Man findet darin die
Beziehungen Gottes zu dem Menschen und die Sorge,
welche Er in Seiner Vorsehung für Sein Volk trug, als
Er keine Beziehungen mehr zu ihm als Volk unterhielt
und es nicht mehr als solches anerkannte.
Die Psalmen stellen diesen Zustand der Dinge
vollständiger dar als irgend ein anderes Buch. Zwei
Grundsätze bilden die Grundlagen des ganzen Buches
(Psalm 1 und 2): der erste besteht darin, daß es inmitten
der Bösen einen Ueberrest giebt, welcher Gott
fürchtet; der zweite, daß Jehova und Sein Gesalbter von
feiten des Volkes und der Nationen Widerspruch finden.
198
Dann haben wir die Ratschlüsse Gottes in dem Gesalbten,
dem Sohne Gottes und König in Zion, und endlich dem
Herrscher über die ganze Erde —: wenn Er verworfen ist,
müssen die Seinen leiden, ihr Kreuz auf sich nehmen.
(Pf. 3—7.) Im 8. Psalm wird Er als der Sohn des
Menschen über alle Werke der Hand Gottes gesetzt. Mit
Psalm 9 beginnt die Geschichte inmitten des Volkes Israel.
Einige Grundsätze mögen hier als Leitfaden dienen, um
das Lesen des Buches zu erleichtern. Es ist bekannt, daß
die Psalmen in 5 Bücher eingeteilt sind: Psalm 1—41,
42—72, 73-89, 90-106, 107—150.
Die Form des Buches im allgemeinen errichtet
eine „Grundlage" von Gedanken; dann liefert es uns
Ausdrücke für die Erfahrungen des Ueberrestes in den zu
Grunde gelegten Umständen. So legen z. B. die Psalmen
9 und 10 den Grund; die folgenden bis zum Ende des
18. Psalms sind der Ausdruck der Gefühle, welche zu
diesen Umständen in Beziehung stehen; nur stellen uns
die drei letzten Christum in bestimmterer Weise vor. Ps. 18
ist deshalb besonders bemerkenswert, weil er die ganze
Geschichte Israels, von Egypten bis ans Ende, mit den
Leiden Christi verbindet. Die Psalmen 19, 20 und 21
sind die Zeugnisse Gottes: die Schöpfung, das Gesetz und
Christus. Psalm 21 führt Christum in die Herrlichkeit
ein. Psalm 22 stellt Ihn nicht dar als in Verbindung
mit den Juden stehend, sondern als vor Gott zur Sünde
gemacht. Vor dem 25. Psalm findet man kein Bekenntnis
der Sünden. In diesem 1. Buche ist vornehmlich von
Christo persönlich die Rede; der Ueberrest ist in Jerusalem,
aber in Gegenwart der Macht der Gottlosen.
Im 2. Buche befindet sich der Ueberrest außerhalb
199
Jerusalems. In Psalm 45 wird der Messias eingeführt
und von da an auch der Name Jehovas. Sobald wir
dem Namen Jehovas begegnen, erkennt der Glaube die
Beziehung zu Ihm an. (Vergl. Ps. 14 mit 53.) Ich
möchte hier bemerken, daß der erste oder die ersten Verse
eines Psalmes gewöhnlich den Gegenstand desselben andeuten,
während die folgenden Verse den Weg beschreiben,
auf welchem man zu dem in den ersten Versen Gesagten
gelangt. In diesem 2. Buche werden die Leiden Christi
völlig geschildert, und dann begegnen wir den Wünschen
Davids bezüglich der Einsetzung seines Sohnes in sein
tausendjähriges Reich.
Das 3. Buch umfaßt, obwohl es auch Juda und
Zion erwähnt, ganz Israel, und durchläuft die Geschichte
des Volkes rückwärts und verfolgt sie bis zu dem sichern
Bunde, der mit Abraham und seinem Samen gemacht
worden ist.
Das 4. Buch führt, nachdem es an Mose und zugleich
daran erinnert hat, daß Jehova zu jeder Zeit der
Gott Israels gewesen ist, und nachdem es dann von dem
Messias und dem Sabbath gesprochen hat, die Regierung
Jehovas ein und beschreibt Seinen Weggang aus der
Höhe, bis Er sich zwischen den Cherubim niederläßt und
bis die Nationen aufgefordert werden, vor Ihm anzubeten.
Wir finden hier die Grundsätze der Regierung Christi,
Seine Verwerfung, Seine Gottheit, die Länge Seiner
Tage als auferweckter Mensch, sowie die Segnung des
Volkes und der Welt durch Seine Gegenwart: Gott gedenkt
Seiner Verheißung an Abraham. Israel ist untreu
gewesen, aber Gott gedenkt seiner in Gnade.
Das 5. Buch geht bis zum Ende hin; es entfaltet die
200
Grundsätze und Wege Jehovas und redet von der Rückkehr
des Volkes in sein Land (die Stufenlieder), indem
Christus sich inzwischen zur Rechten GotteS gesetzt hat
und, als Sohn Davids, Herr ist. Die Güte Jehovas
währet ewiglich; das Gesetz ist in das Herz des einst
abgeirrten Israel geschrieben. Auf die Stufenlieder und
das Gericht Babylons folgt dann das große „Halle!"
oder Hallelujah, eine Reihe von Lobgesängen. Die Psalmen
72 und 145 sind die einzigen, welche die Regierung selbst
in prophetischer Weise beschreiben: sie beginnen mit einem
verworfenen Christus, führen dann Seine Rückkehr ein.
um daS Reich aufzurichten, und zeigen schließlich die Wege
des Volkes und seine Rückkehr in sein Land.
Man beachte auch, daß man in den Psalmen nie
den Vater findet, noch die Gefühle, welche der Sohnschaft
angehören. Wohl begegnet man Vertrauen, Gehorsam,
Glauben in den Schwierigkeiten, Hingebung, (wie in Ps. 63)
Glauben an die Verheißungen und Treue, aber nie dem
Verhältnis eines Kindes zu seinem Vater. Weil man
diesen Punkt nicht genug beachtet hat, ist der Charakter
der Gottesfurcht bei vielen aufrichtigen Seelen selbst durch
das Lesen dieses kostbaren Buches herabgestimmt worden.
Der Prediger fragt sich, ob es wohl möglich
sei, Glück zu finden unter der Sonne. Alle Anstrengungen
des Menschen sind Eitelkeit; aber es giebt
ein Gesetz, die vollkommene Richtschnur für das Verhalten
des Menschen, und jedes Werk wird im Gericht Gottes
gewogen werden. Es giebt in diesem Buche keine bestimmte
Beziehung zu Gott; man findet in ihm Gott als Schöpfer
und den Menschen, wie er in der Welt ist — nicht aber
Jehova und noch weniger den Vater.
201
In den Sprüchen ist es anders: sie stellen uns
die Weisheit der Autorität vor, welche den Willen des
Menschen zügelt, ferner das Verderben und die Gewaltthat,
die Selbstbefriedigung, welche stets eine Gefahr für
den Menschen bildet; dann die Ratschlüsse Gottes, darin
daß die Weisheit Gottes (Christus), der Gegenstand
des Wohlgefallens Gottes, Seine Wonne an den Menschenkindern
findet, und zwar noch ehe die Welt war. (Kap. 8.)
Hier ist es stets Jehova oder Gott, der sich zu erkennen
gegeben hat und nun vermittelst einer, dem Menschen, den
Eltern u. s. w. anvertrauten Autorität handelt. Endlich
teilt uns Gott in diesem Buche das mit, wodurch der
Mensch unterwiesen wird, (ohne daß er notwendigerweise
seine ganze Ungerechtigkeit kennen lernt,) die Schlingen zu
vermeiden, welche ihm in dieser armen Welt gelegt sind.
In Esra und Nehemia finden wir die Wiederherstellung
der Nationalität Israels in doppelter Hinsicht,
in religiöser und staatlicher Beziehung. Esra kommt nach
Jeschua und Serubbabel. In diesen Männern sieht man
Leute, die nach dem Glauben handeln: mitten unter ihren
Feinden bauen sie einen Altar zur Verteidigung gegen dieselben;
sie rechnen auf Gott. (Esra 3, 2.) Die Propheten
Haggai und Sacharja ermunterten die Juden von
feiten Gottes, und Gott antwortete ihrem Glauben. Später
kommt Esra, ein treuer Mann, voll Hingebung und Gottvertrauen;
im Gesetz unterwiesen, bringt er Ordnung in
das Verhalten der Juden. Doch scheint es mir, daß diese
Ordnung unter dem Einfluß des menschlichen Herzens in
pharisäisches Wesen ausgeartet ist. Für den Augenblick
handelte es sich um Treue, um sich als das Volk Gottes
abgesondert zu halten, eine anerkannte jüdische Abstammung
202
zu fordern, (besonders für die Priester), und die fremden
Weiber zu entlassen. Nehemia stellt die Mauern und die
Stadt wieder her; er ist ein treuer und hingebender Mann,
der aber gern von seiner Treue spricht; das Wort stellt
diese beiden Dinge dar, wie sie sind.
Das Buch Esther zeigt uns die Art und Weise,
in welcher Gott in Seiner Vorsehung, während Er sich
selbst verbirgt, für Israel Sorge trägt. Man hat oft bemerkt,
daß Gott in diesem Buche gar nicht genannt wird;
doch es muß gerade so sein, weil es sich um die Vorsehung
Gottes handelt, wobei Goit sich nicht öffentlich zeigt.
Das Lied der Lieder (Hohelied) ist, wie ich
glaube, die Erneuerung der Beziehungen des Sohnes Davids
zu dem treuen Ueberrest Israels in den letzten Tagen,
wenn dieser Ueberrest für Ihn „meine Lust an ihr" sein
wird. (Jes. 62, 4.) Es ist beachtenswert, daß Er, wenn
Er von der Sulammith spricht, immer zu ihr redet; sie dagegen
von Ihm, als dem Gegenstand ihrer Liebe, aber nicht
z u Ihm. Die Liebe der Kirche ist ruhiger als diejenige, um
welche es sich hier handelt, weil die Kirche sich schon der
Liebe Christi als einer gekannten Sache erfreut, indem sie
in einer wohlbegründeten Beziehung zu Ihm steht, wenn
auch die Folgen derselben noch nicht alle verwirklicht sind:
persönlich kann der Gläubige weiter darin eindringen.
Zu den Hagiographen gehören noch zwei kleine Bücher,
die in unsern Bibeln davon getrennt stehen: die Klagelieder
des Jeremias und das Buch Ruth. Die
rührende Geschichte der letzteren, welche die einfachsten
Sitten und zugleich wahrhaft ergreifende und schöne Charakterzüge
aufweist, und die den unverkennbaren Stempel
der Wirklichkeit trägt, ist wichtig, weil sie das Geschlechts
203
register von David, und infolge dessen von Christo, an-
giebt, wobei eine Heidin in dasselbe ausgenommen wird.
Die Klagelieder tragen den Charakter des Schmerzes,
welcher durch das Gefühl hervorgerufen ist, daß Gott
Sein Volk geschlagen, Seinen Altar niedergerissen,
Sein Haus zerstört hat. Für den Augenblick, unter
dem alten Bunde, ist es mit Jerusalem und dem Volke
Gottes aus. Jeremia sieht mit dem Auge Gottes ins
Innere hinein, und da ist kein Heilmittel! Indes werden
wir uns erinnern, daß die Bücher Esra und Nehemia uns
von der Rückkehr eines Ueberrestes der Juden erzählen,
welcher durch das Erbarmen Gottes zurückgeführt wird,
damit ein Volk da sei, welchem die Gnade Den, der verheißen
war, darstellen konnte. (Fortsetzung folgt.)
„Was wir gesehen und gehört haben,
verkündigen wir euch."
(Schluß.)
Die Herrlichkeit des Herrn als Sohn Gottes und
ewiges Leben, geoffenbart auf dieser Erde, ist der Gegenstand
des Apostels Johannes. Sein Evangelium beginnt
mit der Darstellung dieser Herrlichkeit. „Im Anfang
war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das
Wort war Gott." Wir haben hier den Sohn Gottes
als die zweite Person der Gottheit in ihrem ewigen Sein,
ehe irgend etwas geschaffen war. Es ist höchst feierlich
für ein Geschöpf, in das Heiligtum der Ewigkeit hineinblicken
zu dürfen, um die Erhabenheit Dessen zu betrachten,
der die Quelle alles Seins ist. „Alles ward durch dasselbe,
und ohne dasselbe ward auch nicht eins, das ge
204
worden ist." Ihm verdanken die sichtbaren und die unsichtbaren
Dinge mit all ihrer Herrlichkeit ihr Dasein. Kein
menschlicher Verstand vermag die Größe und Herrlichkeit
der sichtbaren Dinge zu ergründen; und die unsichtbaren
sind ihm völlig verborgen. Wie groß und unergründlich
muß daher die Herrlichkeit Dessen sein, durch den sie alle
geworden sind!
In Ihm war das Leben. (Vers 4.) Man beachte
den Unterschied, den der Heilige Geist hier macht zwischen
dem, was war und was geworden ist. Das Leben
ist nicht geworden, sondern war, wie die Person des
Sohnes, göttlich und ewig. Es war in dem Sohne
und konnte daher nicht geoffenbart werden, es sei denn
daß der Sohn selbst geoffenbart wurde. Auch kann
es niemand empfangen, es sei denn daß er den Sohn
selbst empfängt. „Und dieses Leben ist in Seinem Sohne.
Wer den Sohn hat, hat das Leben." (1. Joh. 5, 11. 12.)
Bis zum 4. Verse ist nur von dem die Rede, was
der Herr war in sich selbst, ehe die Welt war — das
Wort, der wahrhaftige Gott und das ewige Leben.
Als solcher ist Er in dieser Welt geoffenbart worden.
„Und daS Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und
wir haben Seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit
als eines Eingebornen vom Vater, voller Gnade und
Wahrheit." (Vers 14.) Alles was man von Ihm sah und
hörte, war der Ausdruck Gottes und des ewigen Lebens.
Als Jesus von den Juden gefragt wurde, wer Er sei,
antwortete Er: „Durchaus das, was ich auch zu euch
rede." (Joh. 8, 25.) Er hat den Vater kundgemacht,
und wer Ihn sah, sah den Vater. (Joh. 1, 18; 14, 9.)
Während also Paulus den Menschen in Christo vor
205
Gott in den himmlischen Oertern sieht, betrachtet Johannes
Gott vor den Menschen auf der Erde. Er setzt den
Verfall von allem hienieden voraus, und führt den Sohn
Gottes ein als Den, der sich offenbart in Seiner eignen
Herrlichkeit, wie Er ist. Das ist das besondere Kennzeichen
der Schriften und des Dienstes des Johannes. Er verkündigt
das, was ewig und unwandelbar ist. Sein Evangelium
beginnt mit dem, was im Anfang war, und seine
Episteln mit dem, was von Anfang war. Und in seiner
Offenbarung zeigt er uns als das Resultat der Wege
Gottes den ewigen Zustand, den eigentlichen Bereich des
ewigen Lebens, wo Gott alles in allem ist.
Das Werk der Apostel ist, soweit es dem Menschen
übergeben war und von ihm abhing, in Verfall geraten.
Petrus, der Apostel der Beschneidung, konnte mit dem
Herrn in Bezug auf Israel sagen: „Umsonst habe ich
mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt
. . . Israel ist nicht gesammelt worden." (Jes. 49,
4. 5.) Vergeblich rief er Israel zu: „Und jetzt, Brüder,
ich weiß, daß ihr in Unwissenheit gehandelt habt ... so
thut nun Buße und bekehret euch, daß eure Sünden aus-
getilgt werden, damit Zeiten der Erquickung kommen vom
Angesicht des Herrn." (Apstgsch. 3, 17—19.) Die Steinigung
des Stephanus und die Zerstreuung der Versammlung
seitens der Juden war die Antwort darauf. Paulus,
der Apostel der Nationen, um aus ihnen die Kirche
Zu sammeln, hatte als ein Weiser Baumeister den Grund
gelegt. Aber noch während seines Leben geriet das Werk
in Verfall: „Du weißt dieses, daß sich alle, die in Asien
find, von mir abgewandt haben." Die Kirche ist zu
einem „großen Hause" geworden, in welchem Gefäße zur
206
Ehre und solche zur Unehre sind. (2. Tim. 1, 15; 2, 20.)
Nachdem somit nicht nur der Verfall Israels, sondern
auch derjenige der Kirche, betrachtet als die letzte Haushaltung
Gottes unter Verantwortlichkeit auf der Erde,
festgestellt ist, führt uns Johannes zu dem zurück, was
im Anfang w a r. *) Er zeigt uns als einzigen Stützpunkt
des Glaubens den Sohn Gottes in Seiner eignen göttlichen
Vollkommenheit und als das ewige Leben.
*) Es sei hier bemerkt, daß seine Schriften am letzten von
allen inspirierten Schriften geschrieben wurden, nachdem der Verfall
der Kirche schon weit gediehen war — ein köstlicher Beweis von der
treuen Fürsorge Gottes für die Seinigen.
Welche Erleichterung für das Herz, inmitten des
uns umgebenden Verfalls auf Ihn blicken und in Ihm
ruhen zu können, der die Vollkommenheit selbst ist! in
Ihm das zu besitzen, was keinem Verfall unterworfen ist
— das ewige Leben! Das gab auch dem über den Verfall
niedergebeugten Apostel Trost; er sagt: „Doch der
feste Grund Gottes steht.» (2. Tim. 2, 19.) Er, der
Sohn des lebendigen Gottes, ist der Felsen, betreffs
dessen Er selbst sagt: „Auf diesen Felsen will ich meine
Versammlung bauen, und des Hades Pforten werden sie
nicht überwältigen." (Matth. 16, 16. 18.)
In seinem Evangelium zeigt uns Johannes den Sohn
Gottes, wie Er auf dieser Erde wandelte und durch alle
Umstände dieses Lebens hindurchging; und alles, was
wir von Ihm sehen und hören, ist der Ausdruck der Vollkommenheit,
der Ausdruck des ewigen Lebens. Obwohl
wahrhaftiger Mensch, war Er in allen Seinen Worten
und Werken der Ausdruck der Vollkommenheit; alles war
an seinem richtigen Platze und stand in Uebereinstimmung
207
mit Seiner göttlichen Natur. Selbst Seine Menschheit
und die damit verbundenen Bedürfnisse waren nur der
Ausdruck der göttlichen, vollkommenen Liebe, welche Ihn
zu einer solch tiefen Erniedrigung bewogen hatte. Sein
vollkommener Gehorsam bis zum Tode, ja, bis zum Tode
am Kreuze; Sein gänzliches Verzichten auf alle Ihm zukommenden
Rechte; Sein Sitzen am Jakobsbrunnen, wo
Er, müde von der Reise, einen Trunk Wasser begehrte
von einer armen Sünderin; Sein tiefes Mitgefühl am
Grabe des Lazarus, wo Er Thränen vergoß — alles das
war der Ausdruck der anbetungswürdigen Liebe GotteS.
Er hatte sich allen zum Diener gemacht und war gekommen,
um Sein Leben als Lösegeld zu geben für viele. Welch
eine Liebe!! Ja, nur der Vater vermochte diese Liebe nach
ihrem vollen Werte zu schätzen und zu würdigen. „Darum
liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf daß
ich es wiedernehme." (Joh. 10, 17.) Und ach, der Mensch,
anstatt anbetend vor dem Sohne Gottes niederzusinken,
der sich freiwillig so tief erniedrigte, fand in dieser Erniedrigung
nur einen Anlaß, Ihn zu verachten!
Der Sohn Gottes war also in diesem allem die
Darstellung des ewigen Lebens auf der Erde. Ihn haben
die Apostel gehört, mit ihren Augen gesehen, angeschaut
und mit ihren Händen betastet; und das, was sie hörten,
sahen und betasteten, war „das Wort des Lebens", daS
ewige Leben. Dieses haben sie von Anfang (des Christentums)
an verkündigt. „Was wir gesehen und gehört
haben, verkündigen wir euch." (1. Joh. 1, 3.)
Wie bereits bemerkt, setzt Johannes nicht nur den
Verfall des Judentums, sondern auch denjenigen des
Christentums voraus. Es gab zu seiner Zeit schon Anti
208
christen und Verführer, welche nicht „in der Lehre des
Christus geblieben, sondern weiter gegangen waren". (1. Joh.
2, 18; 2. Joh. Vers 9.) Wir sehen in unsern Tagen,
wie weit der Verfall gediehen ist; selbst wahre Christen
befinden sich in einer schrecklichen Verwirrung. Aber diese
Verwirrung hat allein ihren Grund in dem Mangel an
Einfalt gegen Christum. Wollen wir bewahrt bleiben vor
allen Spekulationen des menschlichen Geistes, so laßt uns
festhalten an dem, „was von Anfang war". Das erhält
uns in der Einfalt, giebt uns Festigkeit, bewahrt
uns in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne
und macht unsre Freude völlig. Das, „was von Anfang
war", genügte als Prüfstein für alle Christen, die
ältesten wie die jüngsten, die stärksten wie die schwächsten,
um die Wahrheit von dem Irrtum zu unterscheiden. Den
Kindlein wird gesagt: „Ihr, was ihr von Anfang gehört
habt, bleibe in euch. Wenn in euch bleibt, was ihr
von Anfang gehört habt, so werdet auch ihr in dem
Sohne und in dem Vater bleiben." (1. Joh. 2, 24.)
Und betreffs der Väter wird gesagt, daß sie Den erkannt
haben, der von Anfang ist. (1. Joh. 2, 13.)
Die Worte: „der von Anfang ist," sind gleichbedeutend
mit dem: „was von Anfang war", und bezeichnen den
Sohn Gottes als den Anfang des Christentums. Er ist
es, welcher diesem Seinen eignen Charakter aufprägt.
Er ist das Leben des Christen; durch Ihn sind wir eingeführt
in Seine eigene Beziehung zu Gott, in dasselbe
innige Verhältnis zum Vater — in ein Verhältnis, das
. außerhalb jeder Beziehung zu dieser Welt steht, in welcher
nur Tod und Finsternis herrschen. Wir sind für dieses
Verhältnis passend gemacht, indem wir Seiner Natur
209
teilhaftig geworden sind; denn Er selbst ist unser Leben.
Durch diese Thatsache sind wir eins mit Ihm, und Seine
Interessen, Gefühle und Freuden, sowie Seine Erfahrungen
auf Seinem einsamen Pfade hienieden werden die
unsrigen. Vom Vater in eine sündige Welt gesandt,
fremd und ungekannt, wandelte Er in ununterbrochener Gemeinschaft
mit dem Vater. Wie diese von Ewigkeit her
gewesen war, so vollkommen und ununterbrochen blieb sie
während Seines ganzen Wandels auf der Erde. Vollkommen
Mensch, war Er dennoch „der eingeborne Sohn, der
in des Vaters Schoß ist ... der Sohn des Menschen,
der im Himmel ist." (Joh. 1, 18; 3, 13.) „Bei dem
Vater" ist so zu sagen die eigentliche Wohnstätte des
ewigen Lebens.
Johannes sagt: „Wir haben gesehen und zeugen und
verkündigen euch das ewige Leben, welches bei dem Vater
war und uns geoffenbart worden ist." (1. Joh. 1, 2.)
Jeder, der dieses Leben besitzt, ist dadurch für immer in
die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne eingeführt.
Das ist das Leben des Christen; es ist sein Vorrecht,
den Vater und den Sohn zu kennen. „Dies aber
ist das ewige Leben, daß sie Dich, den allein wahren
Gott, und den Du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen."
(Joh. 17, 3.) Niemand kann den Vater kennen,
er sei denn ein Kind Gottes, aus Ihm geboren. „Ich
kenne Ihn," sagt der Herr, „weil ich von Ihm bin."
(Joh. 7, 29.) Man muß die Natur Gottes besitzen, um
Ihn zu kennen. Die Erkenntnis des Vaters ist daher
nicht das Vorrecht bloß einiger gereifter und geförderter
Christen, sondern alle wahren Christen besitzen sie, seien
sie Kindlein, Jünglinge oder Väter. „Ich schreibe euch,
210
Kindlein, weil ihr den Vater erkannt habt."
(1. Joh. 2, 13.) Von allen wird gesagt, daß sie das
ewige Leben und darum die Natur Gottes haben. „Dies
habe ich euch geschrieben, auf daß ihr wisset, daß ihr
ewiges Leben habt, die ihr glaubet an den Namen
des Sohnes Gottes." (1. Joh. 5, 13.) Welch ein unaussprechliches
Vorrecht, daß selbst der schwächste Gläubige
kraft dieses Lebens in die Gemeinschaft mit dem Vater
und dem Sohne eingeführt ist!
Dasselbe bestätigt uns der Herr selbst, wenn Er von
allen denen, die durch das Wort der Apostel an Ihn
glauben würden, sagt: „Auf daß sie alle eins seien,
gleichwie Du, Vater, in mir und ich in Dir, auf daß auch
sie in uns eins seien ... Ich in ihnen und Du in mir,
auf daß sie in eins vollendet seien." (Joh. 17, 21—23.)
Diese gesegnete Stellung hängt ganz und gar nicht von
unsrer Erkenntnis oder von unserm geistlichen Zustande
ab, sondern allein von der Thatsache, daß wir durch den
Glauben an den Sohn Gottes das ewige Leben haben.
Es ist die Stellung eines jeden wahren Christen von dem
Augenblick an, da er der Errettung teilhaftig geworden
ist; er tritt sofort in die Vollkommenheit der göttlichen
Natur ein, wenngleich seine Erkenntnis darüber äußerst
schwach sein mag. Gerade auf dieser Thatsache besteht
Johannes fort und fort in seinen Episteln, und sie ist es,
welche von Anfang an das Christentum kennzeichnete.
„Wer irgend bekennt, daß Jesus der Sohn GotteS
ist, in ihm bleibt Gott und er in Gott."
(1. Joh. 4, 15.) Die Erkenntnis und Verwirklichung
dieser gesegneten Dinge ist etwas anderes; aber unser
Platz ist in dem Vater und in dem Sohne.
211
Ohne Zweifel besteht ein großer Unterschied in dem
praktischen Zustande der Christen, und leider entspricht
derselbe bei vielen nur sehr wenig ihrer hohen Stellung.
Im allgemeinen steht er in unsern Tagen auf einer sehr
niedrigen Stufe, wenngleich viel Erkenntnis vorhanden
sein mag. Aber das, was einen geistlichen Zustand kennzeichnet,
ist nicht große Erkenntnis, sondern die Liebe
zu der Person des Herrn Jesu; und diese ist leider
schwach. Allein wie traurig und demütigend dies auch
für uns alle ist, so ändert es doch nichts an der Thatsache,
daß jeder wahre Christ das ewige Leben besitzt;
noch wird die göttliche Vollkommenheit dieses Lebens dadurch
berührt. Dieses Bewußtsein ist unendlich kostbar
für das Herz und vermag allein unsern geistlichen Zustand
zu heben. Wir besitzen das Leben, durch welches Gott
inmitten einer sündigen Welt vollkommen verherrlicht worden
ist, und welches keine Macht des Feindes zu überwinden
vermochte. Weder Sünde und Welt, noch Tod
und Teufel vermochten etwas an ihm auszurichten; es
blieb stets unveränderlich das, was es im Anfang war.
Welch ein Vorrecht für den Christen, die Macht und vollkommene
Reinheit dieses Lebens betrachten und sagen zu
können: Das ist mein Leben!
Wenn aber die Macht und Vollkommenheit des ewigen
Lebens schon hienieden auf dem Schauplatz der Sünde
und des Todes sich also geoffenbart haben, was muß
dann seine völlige Entfaltung dort in seinem eignen Bereich
sein, wo alles im vollkommenen Einklang mit ihm
stehen wird! Das zeigt uns Johannes am Schluß des
Buches der Offenbarung. Dort wird ihm das Leben in
seiner alles beherrschenden Macht und Fülle unter dem
212
Bilde eines Stromes gezeigt. Wie jetzt die Herrschaft des
Todes überall Angst und Schrecken verbreitet, so wird
alsdann die Macht des Lebens alles erneuern zu einem
ewigen Frühling, einem „Morgen ohne Wolken". (2. Sam.
23, 4.) Es ist interessant zu sehen, wie sich der Schluß
des Wortes Gottes mit dem Anfang desselben verbindet,
um zu zeigen, welches die wahren Absichten Gottes von
Anfang an waren, und wie alle Seine Wege zur Erfüllung
derselben gedient haben. Der Strom und der Baum
des Lebens im Paradiese finden sich am Ende wieder.
Zwischen diesen beiden Endpunkten liegt die Wirksamkeit
Satans, der Fall des Menschen und der vollendete Ruin
einer gefallenen Schöpfung. Aber durch dies alles hindurch
zieht sich gleichsam der Strom des Lebens, wie ein
goldner Faden die beiden Endpunkte mit einander verbindend,
und Leben spendend allen, welche dürsten und
keine Befriedigung in dieser Welt finden können. Diese
schöpfen ans ihm Trost, Kraft und Erquickung, und werden
so befähigt, selbst Kanäle lebendigen Wassers für
andere zu werden. So unversiegbar wie der Strom selbst,
so unversiegbar ist die Kraft derer, welche aus ihm trinken.
„Darum werden wir uns nicht fürchten, »venngleich gewandelt
würde die Erde, und wenn die Berge wankten
im Herzen des Meeres, wenn seine Wasser tobten und
schäumten, und die Berge erbebten durch sein Ungestüm.
Ein Strom — seine Bäche erfreuen die Stadt Gottes,
das Heiligtum der Wohnungen des Höchsten. Gott ist in
ihrer Mitte, sie wird nicht wanken; Gott wird ihr helfen
beim Anbruch des Morgens." (Psalm 46; Joh. 7, 37— 39.)
Der gegenwärtige Zeitlauf mit seinen Leiden, Schwierigkeiten
und Prüfungen wird aufhören, die Macht der alten
213
Schlange wird gebrochen werden, und jede Folge ihrer
Wirksamkeit spurlos verschwinden; aber der Strom des
Lebens wird in ungeschwächter Kraft und Fülle die Erquickung
der Erlösten bleiben von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Möchten wir gleich dem Propheten die unergründlichen
Tiefen dieses Stromes kennen zu lernen suchen! (Hes. 47,
3 - 5.) Möchten wir uns durch den Glauben und in der
Kraft des Geistes in die Unergründlichkeit Desjenigen versenken,
welcher uns unter diesem Bilde vorgestellt ist, — in
die Herrlichkeit des Eingebornen vom Vater, in die Herrlichkeit
Dessen, der „im Anfang war", — und aus Seiner
Fülle nehmen Gnade um Gnade! Ja, der Herr gebe
uns daß wir unS selbst vergessen, und in Ihm verlieren,
in welchem die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt!
Zu Jesu Füßen.
Dreimal finden wir Maria, die Schwester des Lazarus,
in dem Neuen Testament erwähnt, und es ist beachtenswert,
daß wir sie jedes Mal denselben Platz einnehmen
sehen, nämlich: zu Jesu Füßen. Wahrlich, ein gesegneter
Platz! Sie kannte den Herrn, sie war Sein Eigentum;
und wie hoch oder niedrig auch der Stand ihrer Erkenntnis
sein mochte — ihr Herz befand sich auf dem richtigen
Platz Dem gegenüber, der würdig ist, zu empfangen Macht
und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und
Herrlichkeit und Segnung. Sie liebte und verehrte Ihn;
Er war ihr Lehrer und ihre Zuflucht in der Not. Möchte
es allezeit so bei uns sein!
Wir begegnen der Maria von Bethanien zum ersten
Male in Lukas 10, 39. Dort hören wir von ihr, daß
214
sie „sich auch zu den Füßen Jesu niedersetzte und Seinem
Wort zuhörte". Martha, ihre Schwester, hatte den Herrn
in ihr Haus ausgenommen und war nun sehr beschäftigt
mit vielem Dienen. Sie war besorgt und beunruhigt um
viele Dinge. Maria aber hatte das gute Teil erwählt.
Es scheint oft viel leichter zu sein, sich eifrig thätig
zu erweisen, als still zu den Füßen Jesu zu sitzen. Und
doch ist letzteres ohne Zweifel das gesegnetere Teil, obwohl
wir es selbst über dem Dienst für den Herrn vergessen
können. Auch wissen wir, wie leicht sich im Dienst,
in der Arbeit, das eigne Ich, ein menschlicher Eifer, ein
fremdes Feuer, mit einem Wort, das Fleisch, geltend machen
kann. Wie sehr haben wir in dieser Beziehung über uns
zu wachen l Aber der Platz zu den Füßen Jesu ist stets
gesegnet. Von Ihm sich belehren lassen, Seinen Worten
lauschen, an Seinem Munde, Seinen Augen hängen, das
war es, was Maria that, und was der Herr „das gute
Teil" nennt. Und Er fügt hinzu, daß es nicht von ihr
genommen werden solle. Das gute Teil kann uns niemand
rauben. Wenn wir nicht selbst den Platz zu den
Füßen Jesu aufgeben, so kann uns niemand von dort
verdrängen. Wohl mögen wir mißverstanden werden, ja,
unser Verhalten mag großem Tadel begegnen — aber
niemand kann uns das gute Teil nehmen. Und wie sehr
der Herr die Würdigung Seiner Person anerkennt, das
ersehen wir aus dieser Geschichte. Er wußte, daß Er für
Maria mehr war als für Martha, trotz der Sorge und
Geschäftigkeit der letzteren; und gerade das war es, wie
mir scheint, was das Fleisch in Martha nicht ertragen
konnte. Sie wollte, daß die Schwester mit angreifen sollte.
Aber der Herr nimmt stets den in Schutz, der zu Seinen
215
Füßen sitzt. Wie lebhaft erinnert uns dies an die Worte
des Psalmisten: „Wer da sitzt im Verborgenen des Höchsten,
wird bleiben im Schatten des Allmächtigen"; und
weiter: „Mit Seinen Fittichen wird Er dich decken, und
du wirst Zuflucht finden unter Seinen Flügeln." (Psalm 91.)
Doch wem gehört der Platz zu Jesu Füßen? Einem
jeden der Seinigen! Und wann? Allezeit! Aber ach, wie
wenig wird er geschätzt! Und doch ist es ein so lieblicher
Platz, wo das Herz die herrlichsten Segnungen schmeckt
und die köstlichsten Erfahrungen macht. Könnte es etwas
Höheres geben, als Ihn immer mehr kennen zu lernen?
Und wo lernen wir Ihn besser kennen als zu Seinen
Füßen? Da hören wir Seine lieblichen Unterweisungen,
da vernehmen wir Seine belehrenden, erquickenden oder
ermahnenden Worte, da essen wir von der himmlischen
Speise, welche unsre Herzen belebt und erquickt; wie Je-
remia sagt: „Deine Worte waren vorhanden, und ich
habe sie gegessen, und Deine Worte waren mir zur Wonne
und zur Freude meines Herzens". (Jer. 15, 16.)
Aus dem Munde des Herrn hören wir einmal die
Worte: „Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort
halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden
zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen." Martha
öffnete dem Herrn die Thür ihres Hauses, aber Maria
that ihm die Thür ihres Herzens auf. Wir wollen hiermit
nicht sagen, daß dies letztere bei Martha nicht der
Fall gewesen wäre; wir lesen in Joh. 11: „Jesus aber
liebte die Martha und ihre Schwester und den Lazarus";
aber es trat bei ihr nicht in der charakteristischen
Weise zu tage wie bei Maria. Was bei Martha ins
Auge fällt, ist die menschlich natürliche, gastfreundliche
216
Hausfrau, bei Maria ist es die Jüngerin Jesu. Und
wir brauchen nicht zu sagen, daß wir nur dann das
Wohlgefallen des Herrn genießen können, wenn wir praktisch
den Platz einnehmen, der uns als Seinen Jüngern
geziemt. O möchten wir darnach trachten, Ihm zu gefallen!
Prüfen wir uns aufrichtig, ob das Lob aus
Seinem Munde uns mehr wert ist als alles Lob der
Menschen, so daß wir gern auf das letztere verzichten, ja,
selbst den Tadel der Menschen ruhig hinnehmen können,
wenn wir nur Jesu gefallen!
Wir kommen jetzt zu dem zweiten Teil unsrer kurzen
Betrachtung. Während wir Maria bisher zu Jesu Füßen
fitzen sahen, um Belehrung von Ihm zu empfangen, handelt
es sich bei der zweiten Gelegenheit, da wir von ihr
hören, um etwas ganz anderes. Sie ist in tiefe Trauer
versenkt. Ihr geliebter Bruder ist gestorben. Die Schwestern
hatten zu dem Herrn gesandt und Ihm sagen lassen:
„Herr, siehe, der, den Du lieb hast, ist krank." Wie
war Jesus immer so bereit zu helfen! Jeder Bittende
sand Erhörung bei Ihm; so mancher durfte die teilnehmende
Frage hören: „Was willst du, daß ich dir thun
soll?" nm dann Heilung oder Vergebung zu empfangen.
Und in diesem Falle handelte es sich sogar um einen, den
der Herr in besondrer Weise liebte. Und doch hören wir,
daß Jesus noch zwei Tage an dem Orte blieb, wo Er
war. Warum ging Er nicht sofort nach Bethanien?
Warum zögerte Er, dem Ruf der besorgten Schwestern
zu folgen? Seinen Jüngern sagte Er: „Diese Krankheit
ist nicht zum Tode, sondern um der Herrlichkeit Gottes
willen, auf daß der Sohn Gottes durch sie verherrlicht
— 217 -
werde." Es handelte sich um Seine Verherrlichung als
Sohn Gottes vor vielen Zeugen. Dort am Grabe des
Lazarus dankte Er angesichts der vielen Juden, welche gekommen
waren, um Martha und Maria über ihren Bruder
zu trösten, Seinem Vater dafür, daß Er Ihn erhört
habe, und fügte dann hinzu: „Ich wußte, daß Du mich
allezeit hörst; doch um der Volksmenge willen, die umhersteht,
habe ich es gesagt, auf daß sie glauben, daß Du
mich gesandt hast." Oeffentlich redete Er so zu Seinem
Vater, damit das Volk das Werk, welches Er that, die
Auferweckung des Lazarus, als eine Frucht Seiner Gemeinschaft
mit dem Vater erkennen und auf diese Weise
überführt werden möchte, daß Er der Sohn Gottes war.
Welch eine Herablassung der göttlichen Gnade, daß Er
sich vor denen, die schon so viele schlagende Beweise von
Seiner göttlichen Sendung und der Wahrheit Seiner
Worte empfangen hatten, herabläßt, dieses unwidersprech-
liche Zeichen zu verrichten! Ach, es diente nur dazu, die
Feinde mit solcher Wut zu erfüllen, daß sie auch den
Lazarus zu töten beschlossen.
Indes bewies der Herr hier in deutlichster Weise die
Wahrheit Seiner Worte: „Der Sohn kann nichts von
sich selbst thun, außer was Er den Vater thun sieht!
denn was irgend Er thut, das thut auch der Sohn
gleicherweise. Denn der Vater hat den Sohn lieb und
zeigt Ihm alles, was Er selbst thut; und Er wird Ihm
größere Werke als diese zeigen, auf daß ihr euch verwundert.
Denn gleichwie der Vater die Toten auferweckt
und lebendig macht, also macht auch der Sohn lebendig,
welche Er will." (Joh. 5, 19—21.) Er offenbarte sich
als in der Gemeinschaft mit Seinem Gott und Vater
218
stehend; und der Vater hatte Ihm gegeben, das Leben
zu haben in sich selbst. Die Kraft der Auferstehung, eine
Macht, die jenseits des Bereichs Satans und der Menschen
liegt, war in Ihm. Und diese Macht war von
Gott. Er redete zu Gott, Er dankte Ihm, ehe Er diese
Kraft offenbarte. Der Beweis Seiner göttlichen Sendung,
ja, Seiner Göttlichkeit lag so vor den Augen aller
derer offen, welche Augen hatten, zu sehen, und Herzen,
zu verstehen. Wir lesen deshalb auch nachher: „Viele
von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen,
was Er gethan hatte, glaubten an Ihn." Die Herrlichkeit
Gottes war ans Licht getreten, und der Sohn Gottes,
welcher den Vater verherrlicht hatte, wurde von Ihm wiederum
verherrlicht.
Das Herz der Maria wurde jedenfalls durch alles
dieses überschwenglich erquickt und getröstet. Sie erhielt
nicht nur ihren Bruder wieder, sondern sah auch Jesum
in einem ganz neuen Lichte, als den Herrn über Tod
und Grab, dessen Macht und Kraft durch nichts beschränkt
war, und der die Seinigen durch tiefe Proben hindurchführt,
um ihren Glauben zu läutern und sie weiter zu
führen. Anfänglich aber besaß sie diese Klarheit, dieses
Licht nicht; ihr Herz war umdunkelt und von Trauer
erfüllt, so daß auch Jesus, als Er „sie weinen sah und
die Juden weinen, die mit ihr gekommen waren," tief im
Geist seufzte und sich erschütterte. Jesus nahm teil an
ihrem Kummer, sowie an dem Elend, welches die Sünde
über die Menschen gebracht hatte. Er sah die Wirkung
dieses Elends, des Todes und der Sünde, und Er wurde
tief erschüttert. Maria hatte Ihn noch nicht völlig erkannt;
aber sie schüttete ihr Herz vor Ihm aus und offen
219
barte Ihm vertrauensvoll ihren Kummer. Sie wußte nur
ein Wort zu sagen: „Herr, wenn Du hier gewesen wärest,
so wäre mein Bruder nicht gestorben."
Martha offenbart anscheinend mehr Erkenntnis und
Glauben, indem sie demselben Worte hinzufügt: „Aber
auch jetzt weiß ich, daß, was irgend Du von Gott bitten
magst, Er Dir geben wird." Aber immerhin handelte es
sich für sie nur um dieses irdische Leben; sie wünschte
ihren Bruder zurück zu erhalten, während es wichtiger
war, Jesum zu erkennen und die Kraft der Auferstehung
in Ihm, um so eine bessere Auferstehung — zu einem
himmlischen und ewigen Leben — zu erlangen. Auf ihre
Bemerkung: „Ich weiß, das er (Lazarus) auferstehen
wird in der Auferstehung am letzten Tage", antwortet
der Herr: „Ich bin die Auferstehung und das Leben;
wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben
ist; und jeder, der da lebt und an mich glaubt, wird
nicht sterben in Ewigkeit."
Aber ich möchte darauf Hinweisen, daß wir hier wiederum
finden, was für Maria so charakteristisch ist, daß
sie, als sie Jesum sah, Ihm zu Füßen fiel. Vielleicht
möchte man dies einen nebensächlichen Zug nennen; aber
er steht in völliger Uebereinstimmung mit dem, was wir
an den beiden anderen Stellen von Maria hören. Bei
ihr sprach in diesem Augenblick, wie immer, wo wir ihr
begegnen, das Herz. Es war für sie jetzt nicht der
Augenblick, sich belehren zu lassen, wie für Martha, sondern
sie wirft sich mit ihrem ganzen Kummer Jesu zu
Füßen, sie nimmt zu Ihm ihre Zuflucht; sie bekennt dadurch,
daß sie, was Er auch immer thun oder nicht thun
mag, keinen anderen Halt kennt als Ihn allein. Und
220
das ist es gerade, was unsre Herzen in allen Schwierigkeiten,
in allen Nöten und Aengsten empfinden sollten.
Wie oft führt auch uns der Herr in Lagen, in denen
wir noch nicht gewesen, auf Wege, die wir noch nicht gegangen
sind, um sich, Seine Güte und Seine Macht, auch
in diesen Lagen, auf diesen Wegen vor unsern Augen und
an unsern Herzen zu offenbaren. Er will, daß der Eindruck,
die Empfindung, die wir von Seiner Liebe und
Seinen Hülfsquellen haben, mehr und mehr verstärkt und
vertieft werden, und daß wir Ihn in immer neuer und
stets gesegneter Weise als unsern Heiland und mächtigen
Erretter, als unsern treuen, guten Hirten kennen lernen
möchten. Er will, daß unsre Seelen durch alles dieses
geübt werden, auch in den größten Schwierigkeiten unverzagt
auf Ihn zu blicken und nie Seiner Macht und Seiner
Liebe Grenzen zu stecken. Möchten Seine gesegneten
Führungen auch an uns ihren Zweck erreichen! Er
wünscht, unser Ein und Alles zu sein. Möchten wir
Ihm, der stets von Anfang an den Ausgang kennt, völlig
vertrauen und Ihn nie durch Kleinglauben und Zweifel
verunehren! Ja, das Ende aller Seiner wunderbaren
Führungen wird sein, daß Er von den Seinigen in Ewigkeit
gepriesen und angebetet werden wird.
Kehren wir jedoch zu unserm Gegenstände zurück.
Wie bei der ersten Gelegenheit, so sehen wir auch hier
Martha thätiger als Maria. Sie geht Jesu entgegen,
während Maria im Hause sitzen bleibt. Indes scheint mir,
daß wir auch hier bei Maria mehr Gefühl finden. Ihre
Erkenntnis von der Macht des Herrn war gering, sie ging
nicht über den Tod hinaus; aber ihr Herz ging weiter
als ihre Erkenntnis. Wie gut, wenn es auch bei uns so
221
Wäre, daß sich in unsern Herzen mehr für den Herrn
fände als in unserm Munde und Kopfe! Leider ist das
Umgekehrte so oft der Fall: der Kopf ist mit Wissen erfüllt,
der Munde redet schöne und hohe Worte; aber das
Herz ist kalt und leer. Es sollte nicht so sein, mein lieber
Leser. Was ist aller äußere Schein, die eifrigste Geschäftigkeit,
das reichste Wissen ohne herzliche, innige Gemeinschaft
mit Ihm!
Zugleich macht sich bei Martha wieder die Vernunft
geltend, trotz der Belehrung des Herrn. Als Jesus den
Stein wegnehmen läßt, sagt sie: „Herr, er riecht schon;
denn er ist vier Tage hier". Aehnliches finden wir zu
wiederholten Malen bei den Jüngern: — „Für zweihundert
Denare Brot reichen nicht für sie hin, auf daß
ein jeder etwas Weniges bekomme;" oder: „Herr, zeige
uns den Vater, und es genügt uns." So redet die natürliche
Vernunft; sie steht in unmittelbarem Gegensatz zu
dem wahren Glauben. Das zeigt sich auch hier bei Martha.
Aus Marias Munde hören wir nur das eine Worte:
„Herr, wenn Du hier gewesen wärest rc." (V. 32.) Aber
der Herr kennt ihr Herz und sieht es an. Schweigend saß sie
einst zu Jesu Füßen und lauschte Seinem Worte; still
ertrug sie den Tadel der Martha und ließ den Herrn für
sich reden. Schweigend sehen wir sie hier mit ihrem Kummer
zu Hause sitzen, bis sie ihrem Schmerze bei Jesu Luft
machen kann.
In demselben Charakter erscheint Maria denn auch
im folgenden Kapitel, (Joh. 12.) bei dem letzten Zuge,
der uns von ihr berichtet wird. Schweigend tritt sie auf,
und still läßt sie den Tadel der Menschen über sich ergehen.
222
Martha ist wieder an ihrem charakteristischen Platz: sie
dient bei dem Abendessen. Maria dient nicht, aber sie
tritt hier, wenn auch schweigend, doch entschieden handelnd
auf. Und merkwürdig, wie wir sie zuerst zu den Füßen
Jesu sitzen, dann sich zu Seinen Füßen niederwerfen sehen,
so sehen wir sie hier Seine Füße salben. Es ist immer
der Platz der demütigen Unterwerfung, der Ergebenheit,
der Abhängigkeit, welchen sie einnimmt. Hier gilt wohl
dasselbe, was wir vorhin sagten, daß ihr Herz weiter
ging als ihre Erkenntnis. „Erlaube ihr, es auf den Tag
meines Begräbnisses aufbewahrt zu haben!" sagt der Herr.
Sie hatte mehr gethan, als sie verstand. Sie hatte die
Salbe aufbewahrt, und nun bot sich ihr der Gegenstand
dar, welchen sie für die kostbare Salbe am passendsten
hielt: Jesus, ihr geliebter Herr und Lehrer. Er hatte
den Kummer ihres Herzens weggenommen, — Lazarus
war einer von denen, die mit Jesu zu Tische lagen —
Er hatte so wunderbar geholfen, ihre Thränen getrocknet,
ihren Schmerz gestillt, Leben aus dem Tode hervorgebracht
und sich als Sohn Gottes so herrlich erwiesen. Das Wort
des Zweifels und der Klage war verstummt, und Freude,
Lob und Dank waren in ihr Herz eingekehrt. Aber nicht
nur das. Sie fühlte zugleich, daß das Leben ihres geliebten
Herrn in Gefahr stand, daß der Haß und die
Feindschaft der Menschen immer heftiger wurden und einen
baldigen schrecklichen Ausbruch erwarten ließen. Und obwohl
sie sich wohl selbst nicht völlig hätte Rechenschaft
geben können über das, was sie that, wurde sie doch durch
ihre Dankbarkeit und Liebe richtig geleitet. Der Tag des
Begräbnisses Jesu war nahe, und der Herr bringt ihre
That der Liebe im Geist mit jenem Tage in Verbindung.
223
Er erkennt ihr Thun als ein Werk der Liebe an in Uebereinstimmung
mit den Umständen, in welchen Er sich schon
befand und in die Er noch mehr einzutreten im Begriff
war. Es war eine That zur rechten Zeit, die für den
Herrn um so mehr Wert hatte, als wahre, einfältige Liebe
und eine tief empfundene Dankbarkeit die Triebfeder Zu
derselben gewesen waren. Diese Gefühle der Liebe und
Dankbarkeit, diese gottgewirkten Triebe leiteten Maria auf
dem richtigen Wege. Allerdings war es, wie schon bemerkt,
ein Weg, der ihr wieder den Tadel anderer zuzog: „Warum
ist diese Salbe nicht für dreihundert Denare verkauft und
den Armen gegeben worden?" Merkwürdig und doch auch
wieder nicht merkwürdig! Denn das Verhalten eines von
Liebe erfüllten und durch Liebe geleiteten Herzens wird
immer dem Tadel derer ausgesetzt sein, deren Sinn irdisch
ist, die auf das sinnen, was hienieden ist. Aber der Herr
nimmt auch hier wieder Sein Schäflein in Schutz. Der
gute Hirt „kennt" Seine Schafe; und das ist genug.
Wenn wir von Ihm gekannt, und wenn das, was wir
thun, von Ihm anerkannt ist, dann ist es genug für uns.
„Mich habt ihr nicht allezeit," sagte der Herr damals.
Wenn ein solches Werk der Liebe noch geschehen sollte, so
mußte es damals geschehen. Noch einige Tage, und Zeit
und Gelegenheit waren nicht mehr dafür vorhanden. So
ist es auch heute. Es giebt besondere Beweise der Liebe,
der Treue und Hingebung, welche wir dem Herrn nur
jetzt bringen können, in dieser Zeit der Lauheit, der Geringschätzung
der Wahrheit, der Versuchungen und Glaubensproben.
Wenn wir einmal in der Herrlichkeit bei Ihm
sein werden, dann wird unsre Liebe und Treue nicht mehr
auf die Probe gestellt werden, noch auch dem Tadel derer,
224
die uns nicht verstehen, ausgesetzt sein. DaS Herz sehnt
sich darnach, Jesum zu schauen und Ihm, der uns mit
Seinem Blute erkauft hat, das neue Lied zu singen; aber
jetzt ist noch die Zeit, wo sich die Treue offenbaren kann,
und das ist es, was der Herr schätzt und anerkennt.
Wir sehen Martha besorgt und beunruhigt um viele
Dinge, geschäftig, viel in Anspruch genommen, während
Maria sich ruhig und still verhält; aber wenn sie einmal
handelnd auftritt, so ist es zum besonderen Wohlgefallen
des Herrn. So giebt es auch in unsern Tagen viel Geschäftigkeit,
viel gute Absichten, wie man sagt; gute Zwecke
werden mit einem großen Aufwand an Zeit, Mühe und
Mitteln verfolgt. Aber die Frage ist: wie viel von all
dem Wirken geschieht nach dem Willen und zum Wohlgefallen
des Herrn? Wie viel von ihm gleicht dem Holz,
Heu und Stroh? und wie viel dem Gold, Silber und den
köstlichen Steinen? Der Herr allein weiß es. Eins aber
ist gewiß, daß nur das für Ihn Wert hat, was um
Seinetwillen geschieht, was durch Ihn im Herzen gewirkt
ist und zu Ihm, als der lebendigen Quelle, wieder zurückfließt.
Der Herr gebe uns in Seiner Gnade mehr stilles
Warten auf Ihn, stilles Lernen von Ihm und schweigendes
Vertrauen auf Ihn! Dann werden wir auch mehr in
unsern Handlungen Seinen Sinn treffen und Seine Anerkennung
finden. Dann werden unsre Gedanken, Worte
und Werke in unserm geringen Maße das sein, was Sein
Leben stets war — ein duftender Wohlgeruch, der zu
Ihm emporsteigt und Sein Herz erfreut.
Ein Wort der Ermahnung für die gegenwärtige
Zeit.
„Geliebte, indem ich allen Fleiß anwandte,
euch über unser gemeinsames Heil
zu schreiben, war ich genötigt, euch zu schreiben
und zu ermahnen, für den einmal den
Heiligenüberlieferten Glauben zu kämpfen."
(Judas, VerS 3.)
Judas, der Knecht Jesu Christi, hatte mit großem
Eifer daran gedacht, „den in Gott, dem Vater, geliebten
und in Jesu Christo bewahrten Berufenen" über das
allen Christen gemeinsame Heil zu schreiben, um sie dadurch
zu erbauen und zu, ermuntern; allein etwas anderes
war nötig geworden. Der Feind war in die Versammlung,
in die Kirche Gottes, eingedrungen und wandte seine ganze
List und Kraft auf, um sie aus ihrem ersten gesegneten
Zustande vor Gott zu verdrängen und sie zum Abfall
von dem allerheiligsten Glauben, von der ihr anvertrauten
Wahrheit, zu verleiten. Dies war dem wachsamen Auge
jenes treuen und eifrigen Knechtes Christi nicht entgangen,
und deshalb hielt er es für nötig, die Heiligen zu ermahnen,
ihre Waffenrüstung anzulegen, ihre Lenden zu
umgürten und für den ihnen überlieferten Glauben zu
kämpfen. Die ernste Ermahnung des Apostels Paulus
in Epheser 6, 10—18 ist ja freilich zu aller Zeit zu be
226
herzigen; allein in solchen Tagen, wenn der Feind durch
die von ihm verblendeten Diener beschäftigt ist, die Fundamente
der Wahrheit zu verderben und zu untergraben,
haben wir ganz besonders auf der Hut zu sein und zu
wachen. In solchen Zeiten gilt es für die Heiligen nicht
nur, „sich selbst auf ihren allerheiligsten Glauben zu erbauen,
in dem Heiligen Geiste zu beten, sich selbst in der
Liebe Gottes zu erhalten und die Barmherzigkeit unsers
Herrn Jesu Christi zum ewigen Leben zu erwarten,"
(Judas, Vers 20. 21) sondern auch, dem Feinde gegenüber
kampfbereit dazustehen.
In unsern Tagen, wo in der bekennenden Christenheit
die Gesetzlosigkeit, verbunden mit dem frechsten Unglauben,
immer offenbarer hervortritt, hat sich die Gnade
und Barmherzigkeit Gottes in ganz besonderer Weise
wirksam erwiesen. Tausende und aber Tausende von Verlornen
sind dahin gebracht worden, dem kommenden Zorn
zu entfliehen. Durch die Gnade Gottes und die Wirksamkeit
des Heiligen Geistes in ihrem Innern erleuchtet,
haben sie sich aufgemacht zu Jesu und haben im Glauben
an Ihn Frieden und Vergebung, Heil und Leben gefunden.
Einst auf dem Wege zur Verdammnis, sind sie jetzt fähig
gemacht, in die ewige Herrlichkeit einzugehen. Doch nicht
allein das: Tausende der Erlösten sind durch den Geist Gottes
aus allerlei Parteien zur Wahrheit, „zu dem, was von
Anfang war", zurückgeführt worden. Sie versammeln
sich zu dem Namen Jesu hin und unter der Leitung des
Heiligen Geistes, der Seine Gaben einem jeden austeilt,
wie Er will. (1. Kor. 12, 11.) Sie erkennen an, daß,
es auf der Erde nur eine Versammlung Gottes giebt,
daß alle Erlösten in einem Geiste zu einem Leibe
227
getauft sind; und am ersten Tage der Woche geben sie
dieser Einheit am Tische des Herrn Ausdruck: „denn ein
Brot, ein Leib sind wir, die Vielen, denn wir alle
sind des einen Brotes teilhaftig". Und indem sie den
Herrn zu ihrer Aufnahme von Tag zu Tage erwarten,
erfreuen sie sich durch Glauben und mit dankbarem Herzen
der von den Zeitaltern her verborgenen, jetzt aber durch
Seine Apostel und Propheten geoffenbarten herrlichen
Gedanken und Ratschlüsse Gottes. Sie stehen in der
glückseligen Hoffnung, bald ihren geliebten Herrn von
Angesicht zu Angesicht zu schauen und für immer bei Ihm
zu sein.
Allein sichert diese vermehrte Wirksamkeit der göttlichen
Gnade oder dieses höhere Maß von Erkenntnis die
Gläubigen vor den Anläufen Satans? Keineswegs; der
Feind bleibt immer derselbe. Er thut am Ende der Geschichte
der Kirche, was er auch bei Beginn derselben gethan
hat: er sucht zu verführen und zu verderben. Wie
wichtig und nötig ist es daher, wachsam und nüchtern zu
sein und im Gebet zu beharren! Wir wissen, daß wir
schwach sind, und daß in uns, das ist in unserm Fleische,
nichts Gutes wohnt. Zudem durchschreiten wir eine gefahrvolle
und versuchungsreiche Welt, deren Fürst Satan
ist, der nie ruhende, listige Feind der Kinder Gottes.
Er sucht sie auf allerlei Weise zu verlocken, indem er ihre
Gefühle und Neigungen, sei es durch die Versuchungen
der Wüste oder durch die Annehmlichkeit und Lust der
Welt, zu beeinflussen und ihr Gewissen nach und nach
einzuschläfern trachtet. Und ach ! nur zu oft gelingt ihm sein
böses Vorhaben. Möchten wir deshalb Tag für Tag auf
unsrer Hut sein und in dem steten Bewußtsein unsrer
228
Schwachheit und völligen Abhängigkeit von Gott unsern
Weg durch diese Wüste verfolgen!
Wie glücklich und gesegnet ist eine Versammlung'
die sich zu dem Namen Jesu hin versammelt, in ihrer
ersten Frische, wenn die Gewissen auf dem Werke Christi
ruhen, die Herzen mit Seiner herrlichen Person erfüllt
sind, und wenn alle mit sehnlichem Verlangen die Ankunft
ihres teuren Herrn erwarten! Mit einem dankbaren und
anbetenden Herzen verkündigen sie den Tod des Herrn an
Seinem Tische und erfreuen sich Seiner Gegenwart; denn
Er selbst ist ja in ihrer Mitte, wie Er verheißen hat.
Sein Wort ist ihnen wahrhaft Speise und Trank. Es
ist ihnen täglich ein Bedürfnis, unter Gebet und Flehen
darin zu forschen und jede Gelegenheit zu benutzen, sich
mit den Gläubigen zu versammeln und von den zu ihrer
Erbauung und Belehrung vorhandenen Gaben Gebrauch
zu machen. Sie wandeln vorsichtig gegen die, welche
draußen sind; sie haben ein waches Gewissen und ein
zartes Gefühl für das, was sich geziemt, was lieblich
und lauter, rein und ehrbar ist. Sie streben dem nach,
was zum Frieden und zur gegenseitigen Erbauung dient.
Der Geist Gottes in ihnen ist nicht betrübt; Seine gesegneten
Früchte kommen hervor. Sie wachen mit heiliger
Eifersucht über die Ehre des Tisches des Herrn und über
die Heiligkeit Seiner Versammlung.
Ebenso suchen sie mit aller Treue das schöne, ihnen
anvertraute Gut durch den Heiligen Geist zu bewahren,
und wenden sich mit Entschiedenheit und Entrüstung von
jedem ab, der Lehren bringt, durch welche die Wahrheit
untergraben und die Ehre unsers anbetungswürdigen Herrn
229
irgendwie geschmälert wird; denn Er ist der wahre Schatz
ihrer Herzen, der Gegenstand ihrer Freude und Wonne.
Er ist es, dem sie alles verdanken und in dem sie jetzt
schon und mit dem sie bald droben alles besitzen werden.
Sie sind wachsam über sich selbst und beharren im Gebet
und wachen darin mit Danksagung; sie pflegen einen
innigen, verborgenen Umgang mit ihrem geliebten Herrn,
der allezeit mit einer unveränderlichen Liebe der Seinigen
gedenkt und mit dem innigsten Mitgefühl auf sie blickt in
allen ihren Prüfungen. Auch befleißigen sie sich, die Einheit
des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens.
Sie lieben einander mit Inbrunst; ein jeder ist bereit, Liebe
zu erzeigen, aber denkt nicht daran, sie für sich zu beanspruchen.
Einer ist dem andern unterwürfig in der Furcht
Christi und dient ihm mit aller Bereitwilligkeit.
Das ist der glückliche und gesegnete Zustand einer
Versammlung in ihrer ersten Frische, so lange die Herzen
einfältig und demütig sind, so lange der Blick unverrückt
auf Christum gerichtet und der Wandel in Wahrheit mit
Gott ist. Ruhe und Frieden erfüllen die Herzen; Christus
wird verherrlicht, und Satan findet keinen Angriffspunkt.
Welch ein Segen, wenn es in einer Versammlung so steht!
Welch ein Glück, wenn es in allen so wäre und so bliebe
bis zur Ankunft des Herrn!
Doch ach! in Wirklichkeit entrollt sich ein anderes
Bild vor unsern Augen. Der allgemeine Zustand der
Gläubigen, welche Gottes Gnade zu dem zurückgeführt hat,
was von Anfang war, entspricht nicht der Höhe ihrer
Berufung und ihres Bekenntnisses; ja, er ist in mancher
Hinsicht selbst nicht mehr das, was er vor 20 oder 30
Jahren war. Dieselbe betrübende und schmerzliche Erfahrung,
230
welche von jeher gemacht worden ist, hat sich auch hier
gezeigt: Alles, was Gott zu irgend einer Zeit den Händen
des Menschen anvertraut hat, ist von diesem verdorben
worden. Adam verdarb das liebliche Kleid der Unschuld
und brachte alle seine Nachkommen unter das Gericht des
Todes und der Verdammnis. Noah, der Erbe und Regent
der durch die Sündflut gereinigten neuen Welt, betrank
und entehrte sich. Das aus Egypten erlöste Volk Israel
machte das goldene Kalb und brach damit den Bund, den
es mit Jehova eingegangen war. Die Söhne des so hoch
bevorzugten Priesters in Israel, Nadab und Abihu, brachten
fremdes Feuer vor Jehova, so daß Aaron fortan
nicht mehr in seinen herrlichen Kleidern ins Heiligtum
eingehen konnte. Salomo liebte viele fremde Weiber und
hurte deren Götzen nach, und nach seinem Tode spaltete
sich das Königreich in zwei Teile; u. s. w. — Unter dem
Christentum ist es nicht anders gewesen. Gott sandte
den Heiligen Geist hernieder, und der Mensch belog Ihn,
so daß ein ernstes Gericht nötig wurde. (Apostelg. 5.)
Er verlieh wunderbare Gaben; aber der Mensch gebrauchte
sie, um sich selbst darin zu gefallen, wie wir dies namentlich
in der Versammlung zu Korinth sehen. Er legte durch
die Apostel den Grund zu einem heiligen Tempel; aber
durch des Menschen Untreue wurde ein „großes Haus"
daraus, in welchem eS Gefäße zur Ehre und zur Unehre
giebt, so daß für den Gläubigen wiederum die Absonderung
notwendig wurde. Er offenbarte die wunderbare Wahrheit
von dem einen Leibe Jesu Christi, und der Mensch
machte unzählige Parteien und Sekten. Er führte in
unsern Tagen viele Tausende von Gläubigen auf der
ganzen Erde aus den Systemen und Satzungen der
231
Menschen heraus und vereinigte sie wieder auf dem Boden
der Wahrheit zu einem gesegneten Zeugnis für Seinen
Namen; und schon drohen auch diesem Zeugnis ernste
Gefahren durch die Untreue und den Eigenwillen des
Menschen, ja, es ist schon zum Teil verdorben worden.
Ach! wie viel Ursache haben wir, uns im Blick auf solch
traurige und schmerzliche Erfahrungen tief vor dem Herrn
zu demütigen!
Gott hat in Seiner Treue und Fürsorge nimmer
gefehlt; auch hat Er in Christo Jesu alles dargereicht,
was der Mensch bedarf, sei es um als ein Verlorner errettet
zu werden oder um als ein Erlöster Gott wohlgefällig
zu wandeln. Alles ist uns in Ihm in überströmender
Fülle geschenkt worden. Doch was nützt einem
Verlornen das Heil in Christo, wenn er es vernachlässigt?
Und was nützen dem Erlösten die Weisheit
Und Kraft, ja, die ganze Fülle, welche für ihn in
Christo ist, wenn er keinen Gebrauch davon macht? Viele
Gläubige wissen und bekennen, — und dies bringt sie
unter eine ernste Verantwortlichkeit, — daß sie in sich
selbst schwach und in allem von Gott abhängig sind, daß
sie alle ihre Quellen allein in Christo haben; aber ihr
Wandel bezeugt, daß dieses Bekenntnis nur ein Wort der
Lippen ist. Sind wir schwach und in einer versuchungsreichen
Welt, so haben wir nötig, wachsam und nüchtern
zu sein; und sind wir in allem von Gott abhängig, so
bedürfen wir des steten Gebets und Flehens. Aber ach!
wie viele sind darin müde geworden ! Obwohl sie sich
noch im Namen Jesu versammeln und an den gesegneten
Vorrechten der Seinigen teilnehmen, leben sie doch nicht
mehr mit demselben ungeteilten Herzen für Ihn, wie in
232
ihren früheren Tagen; Er ist nicht mehr in demselben
Maße der Gegenstand ihrer Freude wie im Anfang ihrer
Errettung. Indem sie sich wieder weit mehr mit sich und
den Umständen beschäftigen als mit Christo und Seiner
Liebe, ist ihr Herz mit Unruhe und Sorge erfüllt, anstatt
mit Frieden und Freude im Herrn. Ihre Wachsamkeit
hat nachgelassen, und ihre Gebete sind weniger die Frucht
eines wahren Herzensbedürfnisses, als vielmehr ein Mittel
zur Beruhigung ihres Gewissens; solche Gebete haben
dann auch meist nur die eigenen Interessen, sowie die
persönlichen Umstände und Schwierigkeiten zum Gegenstände
und sind wenig mit wahrer Danksagung vermischt.
Wahrlich, ein solcher Zustand ist ernst, und die Folgen,
wenn nicht eine wirkliche Demütigung und Umkehr zum
Herrn stattfindet, sind höchst traurige. Die Anbetung
wird immer trockner und kraftloser, und das Teilnehmer:
am Tische des Herrn geschieht mehr aus Gewohnheit als
aus einem tiefen innern Bedürfnis. Die schönsten Loblieder
werden gesungen, doch nicht mehr wie früher mit
einem glücklichen und dankerfüllten, sondern mit einem
kalten und gleichgültigen Herzen. Ebenso verliert für
Seelen, die in einem solchen Zustande sind, das Wort
Gottes mehr und mehr seine Kraft und seinen Wert.
Seine köstlichen Belehrungen und ernsten Ermahnungen
haben immer weniger Einfluß; wenn sie auch für den
Augenblick die Gefühle des Herzens rege machen, so ist
doch bald wieder alles vergessen, weil das Gewissen
nicht in Thätigkeit ist. Man sagt vielleicht: „Leider ist
manches bei mir nicht, wie es sein sollte," aber dabei
bleibt's. Das Böse wird nicht in Wahrheit gerichtet, und
der schlechte Zustand bleibt wie er ist.
233
Gott hat in diesen letzten bösen Tagen wahrlich reichlich
für uns gesorgt. Wir können uns in Ruhe versammeln
und dürfen ohne Störung von unsern gesegneten
Vorrechten Gebrauch machen. Gott hat auch durch Seinen
Geist Gaben zu unsrer Erbauung und Belehrung
gegeben. Allein die Ausübung der schönsten und reichsten
Gaben ist ohne Nutzen für einen gleichgültigen oder vergeßlichen
Hörer. Wie viele Gläubige giebt es auch in
unsern Tagen, die" das Zusammenkommen gewohnheitsmäßig
versäumen und sich so von vornherein alles Segens
und Nutzens berauben, welchen der Herr den Seinen niemals
vorenthält, wenn sie im Vertrauen auf Ihn sich
um Sein Wort scharen oder ihre Anliegen im gemeinschaftlichen
Gebet vor Ihm kundwerden lassen. Manche ziehen
sogar am Tage des Herrn einen schönen Spaziergang
oder einen angenehmen Besuch dem Zusammenkommen zur
Betrachtung des Wortes vor. Daß bei solchen Seelen
die Frische der ersten Liebe längst verloren gegangen ist,
brauchen wir nicht zu sagen. Anders würden sie wahrlich
nicht da fehlen, wo die Gläubigen um ihren Herrn und
Sein Wort versammelt sind. Die Person des Herrn hat
ihren Wert und ihre Anziehungskraft für sie verloren.
Sie haben vergessen, daß sie um einen Preis erkauft sind
und nicht mehr sich selbst angehören. Sie denken an sich,
nicht aber an Christum und Seine Verherrlichung. Ihr
Gewissen schlummert; und wenn es einmal seine mahnende
Stimme erhebt, so wissen sie es leicht zu beruhigen.
Indes hat der Herr nicht nur Gaben zum Dienst
in der Versammlung gegeben; Er hat auch in Seiner
Güte und Gnade viele gute Schriften zur Erbauung und
Belehrung in unsre Hände gelegt; aber wie viele mögen
234
derer sein, welche diese Schriften kaum lesen und noch
viel weniger ihren Inhalt beherzigen! Solche Seelen
bedenken nicht, wie sehr sie durch ihr Verhalten den Herrn
verunehren und Sein Wort geringschätzen; wie undankbar
sie sind und wie sehr sie sich selbst und auch andern zum
Schaden gereichen. Ja, nicht nur das: Indem sie sich
dem gesegneten Einfluß des Wortes entziehen, geraten sie
unter die Einwirkung des Feindes; und tritt einmal eine
Ermahnung der brüderlichen Liebe an sie heran, so findet
dieselbe keine Beachtung oder erweckt gar Bitterkeit und
Zorn in ihren Herzen. Der eigene Wille ist wirksam;
sie folgen ihren eigenen Gedanken, Gefühlen und Neigungen
und lassen sich nicht mehr durch den Geist leiten. Ihr
Herz sucht das, was auf der Erde, nicht das, was
droben ist. Und was ist das Ende eines solchen Weges?
Wenn der Herr ihnen nicht in besonderer Weise entgegentritt
und sie aus ihrem Schlaf aufrüttelt, so kommen sie endlich
wieder dahin, von wo sie einst ausgegangen waren —
in die Sünde und in die Welt. Das Herz ist erkaltet und
das Gewissen erstorben. Schrecklicher Zustand! Welch
ein Unterschied zwischen jenen ersten Tagen, wo die Liebe
Christi und Frieden und Freude das Herz erfüllten, und
jetzt, wo eS wieder von Sünde und Welt beherrscht wird!
Der Leser wird vielleicht ausrufen: „Das ist ein
finsteres Gemälde!" — Allerdings; aber es entspricht
leider nur zu sehr der Wirklichkeit. Man würde derartige
traurige Erscheinungen unter den Gläubigen kaum für
möglich halten, wenn nicht die Thatsachen laut redeten
und so manche schmerzliche Erfahrung von einem erschreckenden
Rückgang Zeugnis gäbe. Und beachten wir es wohl:
der Anfang eines solchen Rückganges ist immer ein Nach
235
lassen in der Wachsamkeit und im Gebet — ein Aufgeben
des verborgenen Umgangs mit dem Herrn.
So lange es in einer Versammlung nur Einzelne
giebt, die gleichgültig und matt geworden sind, während
der größere Teil in Treue und Eifer vorangeht, wird der
schlimme Zustand nicht so fühlbar werden. Wenn aber
die meisten oder gar alle die erste Frische verloren haben
und im Hören träge geworden sind; wenn die Wahrheit
zu einem bloßen Wissen geworden ist und sich nicht mehr
als eine lebendige Kraft im Herzen erweist; wenn vieles
nur deshalb geschieht, um das eigene Gewissen zu beruhigen
und den guten Schein vor den Menschen zu bewahren,
nicht aber aus aufrichtigem Bedürfnis und herzlicher
Liebe zum Herrn — dann sieht es in der That
traurig aus! Die äußere Ordnung oder Form mag dann
noch für daS Auge des Menschen vorhanden sein und
wertvoll erscheinen; vor Gott aber ist alles solches Formwesen
nicht nur ganz wertlos, sondern auch verwerflich.
Er sieht das Herz an und will vor allen Dingen Wirklichkeit
haben.
Möchte deshalb jeder gläubige Leser dieser Zeilen,
wenn er findet, daß er im Wachen und Beten nachgelassen
hat, sich mit aufrichtigem Herzen vor dem Herrn
demütigen und um Gnade und Kraft flehen! Der Herr
ist stets bereit, dem Demütigen Gnade darzureichen, ja,
ihm alles zu geben, was er bedarf. Dem Aufrichtigen
läßt Er's gelingen. Laßt uns auch nicht vergessen, mit
ausharrender Geduld auf einander acht zu haben, in herzlicher
Liebe einander zu ermuntern, und, wenn es nötig
ist, auch zu ermahnen; laßt uns vor allen Dingen nicht
müde werden, für einander zu beten! Bald ist unser
236
Pilgerlauf zu Ende; der Herr ist nahe! Bald werden
wir für immer bei Ihm sein und dann ohne Störung und
ohne Aufhören Ihm Lob, Dank und Anbetung darbringen.
Das Zurückgehen in die Welt ist aber nicht die einzige
Gefahr, welche einem unwachsamen und nachlässigen
Gläubigen oder einer Versammlung droht, die im Hören
oder Zusammenkommen träge geworden ist. Wenn die
Liebe zum Herrn erkaltet, so erkaltet auch die Liebe zu
den Seinigen. Das innige Band, das im Anfang die
Herzen umschlang und so glücklich machte, wird allmählich
lockerer und weniger gefühlt. Ein jeder fängt an, auf
das Seinige zu sehen und nicht auch auf das der Andern;
und während man sich früher befleißigte, die Einheit des
Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens, zeigt
sich nunmehr vielfach Parteisucht und eitles Rühmen; man
bläht sich auf für den Einen wider den Andern. Die
Demut, welche stets bereit ist, dem Andern zu dienen,
indem sie ihn höher achtet als sich selbst, wird immer
weniger gefunden. Man entfernt sich weiter und weiter
von der Gesinnung Christi und hält Großes von sich und
seiner Meinung. Welch traurige Folgen aus einem solchen
Zustande hervorgehen müssen, ist offenbar. Der Herr
wird verunehrt, die Herzen werden durch Bitterkeit, Neid
und Eifersucht verunreinigt, Zank und Streit entstehen,
und oft kommt es auch äußerlich zu einer wirklichen Trennung.
Das schöne Bekenntnis, die Einheit des Geistes
zu bewahren, auf dem Boden der Wahrheit zu stehen und
die Versammlung Gottes nach Seinen Gedanken darzustellen,
wird völlig wertlos, da man es durch sein praktisches
Verhalten Lügen straft.
237
ES bleibt uns noch übrig, auf eine Gefahr für die
Heiligen aufmerksam zu machen, welche oft am wenigsten
erkannt und durchschaut wird, die aber gerade deshalb um
so ernster ist. Satans Zweck ist allezeit die Zerstörung des
Werkes Gottes und das Verderben des Menschen, ja,
wenn Gott es ihm zuließe, auch des Gläubigen. Die
Wege, auf welchen er diesen Zweck zu erreichen sucht,
sind verschieden. Seine bösen Einwirkungen in sittlicher
Hinsicht haben wir bereits betrachtet, und haben
gesehen, wie er das persönliche und gemeinschaftliche Zeugnis
zu schwächen und schließlich zu vernichten weiß. Ein andrer
Weg ist: Verderbnis bezüglich der Lehre. Von jeher
ist er bemüht gewesen, Lehren in die Mitte der Gläubigen
einzuführen, durch welche das Fundament des Christentums
zerstört, die Wahrheit verdorben und die Herrlichkeit unsers
hochgelobten Herrn herabgewürdigt wird. Und dies thut
er mit großer List und Schlauheit. Er kommt nicht sogleich
mit groben Irrlehren, die von vornherein als solche
allseitig erkannt werden würden. Unter dem Deckmantel
der „Entwicklung" der göttlichen Wahrheit, unter dem
Vorgeben, „neue" köstliche Wahrheiten zu bringen, die
bisher gar nicht oder doch nur teilweise verstanden worden
seien, unter der Behauptung, diese oder jene Seite der
christlichen Lehre in ein helleres Licht zu setzen — sucht
er Lehren Eingang zu verschaffen, welche den Verstand des
Menschen beschäftigen und seiner eignen Weisheit Nahrung
geben, während sie das Herz dürre und leer lassen und
zugleich den Geschmack an dem himmlischen Manna verderben.
So war eS schon zur Zeit der Apostel, und so
ist es heute. (Vergl. Kol. 2, 8.)
Wenn nun eine Versammlung die Einfalt gegen
238
Christum verloren hat, wenn die einfache, ungekünstelte
„Wahrheit, wie sie in dem Jesus ist", (Eph. 4, 21) angefangen
hat, ihren Reiz für sie zu verlieren, wenn sie
darnach verlangt, immer etwas Neues, bis dahin nicht
Gelehrtes, zu hören — dann ist dem Feinde die Thür
geöffnet, und wir dürfen sicher sein, daß er die Gelegenheit
nicht unbenutzt vorübergehen lassen wird. Er wählt
sich Werkzeuge, die ihm, wenn auch ohne es zu wissen
und zu glauben, zur Erreichung seiner Absichten dienen
müssen; und die Versammlung lauscht nur zu bereitwillig
auf das, was diese Lehrer bringen. Seine geeignetsten
Werkzeuge findet Satan unter denen, die mit einem scharfen
Verstände und einer reichen Erkenntnis begabt sind,
und die nun, anstatt diese Gabe in Demut und Einfalt
des Herzens zum Wohle der Seelen zu benutzen, sich selbst
darin gefallen und so dem Feinde zur Beute werden.
Sesitzen sie Einfluß unter den Gläubigen, in deren Mitte
sie weilen, um so willkommener für Satan; denn je einflußreicher
sie sind, desto verderblicher ist die Wirkung
dessen, was sie bringen, und desto größer die Macht der
Verführung.
Solche Lehrer verkehrter Dinge sind auch, wie die
allerjüngste Zeit uns beweist, nicht verlegen um schön
klingende Gründe für ihre Thätigkeit. Sie wollen, wie
sie sagen, den schwachen, ungeistlichen Zustand der Gläubigen
heben, indem sie sie mit höheren, himmlischen Wahrheiten
bekannt machen; sie wollen, daß Christus nach
jeder Seite hin besser erkannt und alles in Ihm an seinen
wahren Platz gestellt werde. Wie schön und lieblich
klingt das! Aber ach! anstatt mit heiliger Furcht und
tiefster Ehrerbietung die gesegnete Person unsers Herrn
239
und Heilandes zu betrachten und Ihn zu genießen, so wie
Gott Ihn uns geschenkt hat, wollen sie in ein Geheimnis
eindringen, welches Gott den Menschen nicht zu erkennen
gegeben hat; und indem sie (zuweilen ohne jede Scham
und Scheu) die Person unsers anbetungswürdigen Herrn,
den doch niemand kennt als nur der Vater, (vergl.
Matth. 11, 27; Luk. 10, 22) wie unter dem Secier-
messer zerlegen, thun sie gerade das, was Satan will:
sie verunehren den Herrn, erniedrigen, so weit es an
ihnen ist, Seine Herrlichkeit und rauben den Seelen den
Jesus, der bis dahin die Freude und der Genuß ihrer
Herzen war.
Hand in Hand damit gehen neue, nie gehörte Lehren
über die verschiedenen Wahrheiten des Christentums.
In Ausdrücken, die das Wort Gottes nicht kennt und die
für den einfachen Hörer oder Leser ganz und gar unverständlich
sind, redet man z. B. im gegenwärtigen Augenblick
über das ewige Leben, die neue Geburt, die Gerechtigkeit
Gottes, die Menschheit Jesu Christi u. s. w. Warum
das? O der Feind ist schlau. Nicht umsonst wählt er
seine Werkzeuge unter denen, welche sich einer hohen menschlichen
Weisheit und einer tiefen Erkenntnis rühmen können.
Ein einfacher, ungebildeter Mann würde sehr bald auch
von einem einfachen Hörer durchschaut werden. Nun aber
werden die neuen Lehren in Ausdrücke gekleidet, die der
einfache Gläubige nicht versteht, und in welchen er, wenigstens
im Anfang, weder Gutes noch Böses erblickt. Indes ist
er nicht schutzlos der Verführung preisgegeben, der Herr
sei dafür gepriesen! Wenn er anders in der That einfältig
und gottesfürchtig ist, so wird er, obwohl er das,
was ihm gebracht wird, nicht zu ergründen vermag,
240
doch bald merken, daß nicht die Stimme des guten Hirten
zu ihm spricht, — denn diese versteht er, — sondern die
Stimme eines Fremden; und indem er dieses merkt, wendet
er sich mit aller Entschiedenheit ab.
Andere, die in der Wahrheit gegründet sind und die
List des Feindes zu durchschauen vermögen, entlarven
denselben, indem sie das Ungöttliche und Verderbenbringende
der neuen Lehren ans Licht stellen. — Wenn nun aber
trotzdem viele von denen, die sich im Namen Jesu versammeln
und auf dem Boden der Wahrheit zu stehen bekennen,
ja, vielleicht selbst sehr begabte und einflußreiche
Lehrer an jenen irrigen und schriftwidrigen Lehren, obwohl
sie als solche klar erwiesen sind, festhalten, was dann?
Ach, es zeigt dann nur, in welch einen traurigen Zustand
so viele gekommen sind, die man für fähig halten sollte,
das Gute vom Bösen, die Stimme des guten Hirten von
derjenigen des Fremden zu unterscheiden. Sie sind in die
Schlinge des Feindes gefallen, und er hat ihre Augen
verblendet und ihr Herz bethört. Es bleibt nichts anderes
übrig, als viel für sie zum Herrn zu flehen, daß Er ihnen
Augensalbe geben möge, um das Böse zu erkennen, und
Entschiedenheit, um sich von ihm loszusagen.
Durch solche Erfolge des Feindes wird eS allerdings für
die Treuen um so schwieriger und schmerzlicher, den Gott
wohlgefälligen Weg einzuschlagen. Sie zittern, und zwar
mit Recht, bei dem Gedanken an eine Trennung; aber sie
zittern noch mehr bei dem Gedanken an eine Verunehrung
ihres geliebten Herrn und wünschen, koste es, was es wolle,
Seine Ehre und Seine Wahrheit aufrecht zu erhalten.
Mögen auch Hunderte und selbst Tausende die verderblichen
Lehren annehmen, mögen selbst viele geliebte und
241
bisher anerkannte Lehrer sie mit Eifer verbreiten und
Anhänger dafür zu gewinnen suchen — der treue und
gottesfürchtige Christ wendet sich, dem Gebote des Herrn
folgend, von solchen ab, die verkehrte Dinge lehren und
Zwiespalt und Aergernis anrichten. (Röm. 16, 17.)
Nun wird es nicht ausbleiben, daß die Anhänger
der neuen Lehren denjenigen, welche sich von ihnen trennen,
zurufen: „Ihr geht zu weit! Die Aussprüche, um welche
es sich handelt, enthalten keinen Irrtum, sondern vielmehr
köstliche Wahrheiten; andere, von euch und uns anerkannte
Lehrer haben ja schon oft dasselbe oder doch Aehnliches
gesagt." Oder wenn dieser oder jener Ausdruck zu sehr
das Gepräge des Schriftwidrigen an der Stirn trägt und
man das Böse nicht gut bemänteln kann, so heißt es: „Der
Schreiber hat sich etwas dunkel ausgedrückt; aber er meint
nicht, waS er sagt." Doch wir wissen, daß der Teufel
nie meint, was er sagt; das hat er schon im Paradiese
bewiesen. Wenn nun ein Lehrer nicht meint, was er
sagt, so gleicht er darin dem Feinde, und wenn er andrerseits
nicht imstande ist, das auszudrücken, was er meint,
so sollte er schweigen; denn es kann denen, die auf seine
Worte lauschen, nur zum Schaden dienen und muß sie zum
Irrtum verleiten. Und weiter: wenn seine schriftwidrigen
und den Herrn verunehrenden Aussprüche von vielen als
solche klar erwiesen und die schrecklichen Folgen derselben
in der Zerstreuung und Spaltung der geliebten Herde
Christi bereits zu Tage getreten sind, so sollte er sie
bereitwilligst zurückziehen und entschieden verwerfen. Er
wird sicher dazu bereit sein, wenn er anders aufrichtig und
demütig ist. Thut er es nicht, so beweist er dadurch, daß
ihm seine Ehre mehr am Herzen liegt als die Ehre
242
des Herrn und das Wohl der Schafe und Lämmer Jesu
Christi.
Auch dürfen wir nicht vergessen, daß sich hinter allem
der Feind verbirgt. In den meisten Fällen weiß ein
böser Lehrer sehr wohl, was er sagt und auch was er
meint. Darum widerruft er auch nie einen falschen Ausspruch,
sondern giebt gewisse Erklärungen, beklagt sich über
verkehrte Auslegungen seiner Worte, oder beruft sich aus
andere von ihm gemachte Aeußerungen, die gerade das
Gegenteil von dem auszudrücken scheinen, was die Beunruhigung
hervorgebracht hat; aber alles ist unklar und
unrein, und zeigt nur die List des Feindes, der das Verderbliche
seiner Aussprüche zu verdecken sucht. Der gute
Hirt führt Seine Schäflein auf grüne Weiden und reicht
ihnen Nahrung dar, die sie erquickt, nährt, stärkt und
belebt. Wird den Schäflein aber Nahrung dargeboten,
die das Gegenteil bewirkt, die anstatt Erquickung Beunruhigung
hervorruft, anstatt das Herz mit Christo zu beschäftigen
und ihm Seine Person teurer zu machen, nur
dem Verstände schwer zu lösende Aufgaben stellt, während
zugleich der anbetungswürdige Herr in einer Weise behandelt
wird, welche die Liebe und das Zartgefühl der Seinigen
aufs tiefste verletzt — dann können wir versichert sein,
daß der Feind seine Hand im Spiele hat.
Auch die Anhänger und Verteidiger solcher verkehrter
Lehren stehen unter seinem Einfluß. Anfänglich waren
sie selbst mehr oder weniger beunruhigt durch die neuen
Dinge, welche sie hörten; viele Ausdrücke erschienen ihnen
sogar höchst anstößig und unehrerbietig. Indem sie sich
aber nicht von vornherein entschieden von denselben abwandten,
sondern auf die Stimme des Fremden lauschten,
243
hat diese Einfluß und Gewalt über sie bekommen. Das,
was sie im Anfang stutzig machte, (so groß ist die verführerische
und berückende Macht der Lüge, selbst wenn
sie sich erst in ihren Keimen zeigt,) hat nach und nach
seinen Charakter für sie verändert; was sie einst für verkehrt
und schriftwidrig, oder doch für sehr auffällig und
sonderbar hielten, ist jetzt „neue köstliche Wahrheit"
für sie geworden. Anderes wird entschuldigt, gedreht und
gedeutelt, das Böse hinwegerklärt u. s. w. u. s. w. In
ihren Schriften umgehen sie möglichst die anstößigen Lehrpunkte
und beschäftigen sich mit Nebendingen, beschuldigen
die Gegner der Lieblosigkeit und klagen sie des Abfalls
von der Wahrheit an, weil sie sich von den irreführenden
Lehren und ihren Anhängern, dem Worte Gottes gemäß,
getrennt haben; ja, sie wissen alles in ein so schönes Licht
zu stellen, daß einfache Leser leicht dadurch beunruhigt
werden, indem sie fürchten, durch ihre Absonderung zu weit
gegangen zu sein. Daß auch im gegenwärtigen Augenblick
viele einfältige Seelen durch solche „überredenden Worte"
verführt worden sind, steht außer allem Zweifel. Doch wir
dürfen, dem Herrn sei Dank! das Vertrauen zu der Gnade
und Treue Gottes haben, daß Er die aufrichtigen Seelen
über kurz oder lang aus der verderblichen Schlinge des
Feindes und dem Stricke des Vogelstellers befreien wird.
Es sind glückliche Tage, wenn die Heiligen sich im
Frieden versammeln, um sich über ihr gemeinsames Heil
zu unterhalten und auf ihren allerheiligsten Glauben zu
erbauen. Allein es ist die Freude des Feindes der Seelen,
solch gesegnete Tage in bittere und schmerzliche zu verwandeln,
wo die „in Christo Jesu bewahrten Berufenen"
244
genötigt sind, anstatt sich im Frieden zu erbauen, sich zum
Kampfe gegen den Feind zu rüsten. So war es schon
in den ersten Tagen der christlichen Kirche auf der Erde,
selbst während noch die Apostel lebten; wie vielmehr in
den „schweren" Tagen des Endes, wo rings um uns her.
nah und fern, alles im Verfall ist! Jahrelang haben
wir uns in Ruhe zu dem Namen Jesu hin versammelt,
indem wir uns gemeinschaftlich der Wahrheit, des schönen,
nnvertrauten Gutes, erfreuten und mit innigem Verlangen
die Rückkehr unsers geliebten Herrn zu unsrer Aufnahme
erwarteten; aber wie steht es jetzt? Der Feind ist beschäftigt,
auch dieses letzte Zeugnis zu zerstören und Zwiespalt
und Aergernis anzurichten. Aus unsrer Mitte, wenn
auch nicht in nächster Nähe, sind Männer aufgestanden,
welche verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen
hinter sich her. (Apstgsch. 20, 30.) Wenn je, so haben
die bewahrten Heiligen heute nötig, auf ihrer Hut zu sein
und die ernste Ermahnung des Judas, des treuen Knechtes
Jesu Christi, zu beachten, „für den einmal den
H eiligen überlieferten Glauben zu kämpfen."
Unsre einzige und allezeit sichere Zuflucht ist der Herr.
Wir sind ermahnt, „stark zu sein in Ihm und in der
Macht Seiner Stärke". In Ihm finden wir alles, was
wir im Kampfe bedürfen, um den Listen des Feindes zu
begegnen und das Feld zu behalten. In Ihm allein, der
„durch Seinen Tod den zunichte machte, der die Macht
des Todes hat, das ist den Teufel," (Hebr. 2, 14)
sind wir vollkommen sicher. O möchten wir an Ihn uns
klammern, in Ihm erfunden werden! Möchte Er unsre
Herzen in Seiner Gemeinschaft und unser Auge einfältig
erhalten! Dann werden wir, wenn unter dem Einfluß
245
Satans Lehren aufgestellt und verbreitet werden, durch
welche die Herrlichkeit des Herrn herabgewürdigt und die
Wahrheit verunstaltet wird, fähig sein, dieselben entschieden
zu verwerfen und uns auch von denen abzuwenden,
(Röm. 16, 17) welche sie festhalten und anprejsen. Seien
wir auf unsrer Hut! Der Feind ist sehr listig und sucht
uns mit seinen Auslegungen dieser neuen Lehre zu beschäftigen,
um uns, wenn möglich, zu überzeugen, daß wir
ein großes Unrecht begangen haben, uns davon abzuwenden.
Er möchte uns gern einreden, daß sie nicht nur
nichts Schriftwidriges und Verderbliches enthalten, sondern
im Gegenteil Wahrheiten, die, wie schon früher bemerkt,
dem niedrigen Zustand der Gläubigen aufzuhelfen und
ihnen eine höhere Erkenntnis über die Person Christi
zu verleihen vermögen. Wenn ihm nun seine List gelingt,
und wir uns mit seinen Auslegungen und seiner Schönfärberei
einlassen, so werden wir wankend und unsicher werden.
Auch liebt es der Feind, uns immer aufs neue daran
zu erinnern, welch eine große Menge von Gläubigen in
diesen neuen Lehren durchaus nichts Schriftwidriges und
Gefährliches erblicken, sondern sogar viel Segen aus ihnen
erhalten zu haben behaupten. Und in der That, dies ist
keine kleine Versuchung. Doch der treue und bewährte
Gläubige, dem die Ehre Seines Herrn über alles geht
und die Aufrechterhaltung der Wahrheit am Herzen liegt,
hat für alle derartigen Einflüsterungen und überredenden
Worte des Feindes kein Ohr. Er prüft die neuen Lehren
nach dem Worte Gottes, und sieht er, daß sie irrig
sind, daß sie seinen teuern Herrn verunehren und die
Wahrheit entstellen, — vernimmt er nicht die Stimme des
guten Hirten, sondern die Stimme eines Fremden in
246
ihnen, so verwirft er sie; auch nimmt er ihre Bekenner
nicht an, nach dem bestimmten Gebote des Herrn: „Wenn
jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so
nehmet ihn nicht ins Haus aus und grüßet
ihn nicht." (2. Joh. Vers 10.) Mögen dann auch
geliebte Brüder und selbst allgemein anerkannte Lehrer
daran festhalten, so steht ihm doch (obwohl ihn jenes tief
schmerzt) Einer höher als alle Brüder und Lehrer, und
dieser Eine ist Sein geliebter, anbetungswürdiger Herr.
Und mögen jene Brüder bisher noch so gesegnet gewesen
sein — Ihm allein verdankt er alles, und mit Ihm weiß
er sich innig verbunden für Zeit und Ewigkeit. Seines
Beifalls ist er gewiß, wenn er auch der Menschen Beifall
nicht findet. Das hält ihn aufrecht und standhaft.
Geliebte Brüder! Laßt uns inmitten des traurigen
Verfalls um uns her durch die Gnade des Herrn und in
der Kraft des Heiligen Geistes eine solche Gesinnung bezüglich
der Verherrlichung unsers geliebten Herrn und der
Bewahrung des schönen, uns anvertrauten Gutes allezeit
zur Schau tragen! Laßt uns entschieden sein in unserm
Zeugnis gegenüber dem Bösen, zugleich aber auch in persönlicher
und gemeinschaftlicher Fürbitte unsrer irrenden
Brüder gedenken, daß der Herr sie aus der Schlinge des
Feindes befreie und so den Weg bahne, um wieder wie
früher in brüderlicher Liebe und Eintracht mit einander
vorwärts pilgern zu können unserm himmlischen Ziele zu.
Ich schließe mit dem Worte des Schreibers der Epistel
an die Hebräer: „Ich bitte euch aber, Brüder, ertraget
das Wort der Ermahnung!" (Hebr. 13, 22) indem
ich zugleich zum Herrn flehe, daß er dieses schwache Zeugnis
zum Wohle vieler teuer erkaufter Seelen und zur
247
Verherrlichung Seines Namens benutzen möge. Die ernsten,
tiefbetrübenden Erscheinungen, mit welchen wir uns
beschäftigt haben, beweisen, wie schwach und niedrig der
Zustand der Gläubigen im allgemeinen sein muß, und wie
berechtigt im Blick auf so viele, viele die Ermahnung des
Apostels ist: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf
aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten!"
(Eph. 5, 14.) Der Herr gebe in Seiner Gnade, daß
auch diese Zeilen manchen schläfrig gewordenen aufrütteln,
manchen Gleichgültigen zum Nachdenken bringen und manchen
Abgeirrten zurückführen möchten! Die übrigen aber,
deren Auge und Herz noch offen und wach geblieben sind,
wolle Er selbst ermuntern, unaufhörlich zu Ihm zu rufen,
daß Er sich Seines Werkes annehmen, Seines Zeugnisses
gedenken und Seine Gnade groß machen wolle!
Möchte überall unter den Geliebten Gottes das Bedürfnis
erwachen, sich oft mit einander zu vereinigen, um
sich vor Ihm zu demütigen, die gemeinsame Schande vor
Ihm zu bekennen und um Sein Erbarmen zu flehen!
Wir dürfen versichert sein, daß Er, der einst an Israel
gedachte in seiner Niedrigkeit (Ps. 136, 23), auch auf
uns in unserm schwachen, niedrigen Zustande mit Gnade
und Erbarmen herabblicken wird. Er ist allezeit bereit,
zu beleben, zu stärken, wiederherzustellen und zu erhalten,
denn „Seine Güte währet ewiglich".
Gott aber sei gepriesen, daß der Augenblick nahe ist,
der uns dieser armen Welt, dem Schauplatz der Sünde
und des Verfalls, entrücken und aller Zwietracht und aller
Verunehrung des heiligen Namens unsers Herrn seitens
der Seinigen für ewig ein Ziel setzen wird! — „Amen;
komm Herr Jesu!"
248
Einleitung in die Schriften des Alten und
des Neuen Testaments.
(Fortsetzung.)
Die Verantwortlichkeit des Menschen, als Mensch,
und insoweit er für sein eignes Verhalten verantwortlich
war, ist völlig auf die Probe gestellt worden, ohne Gesetz
und unter Gesetz; aber die Güte Gottes hat von dem
Fall an, bevor noch der Mensch aus dem Garten Eden
vertrieben wurde, die Verheißung eines Heilandes gegeben,
welcher der Schlange den Kops zermalmen würde. Mit
Ausnahme dessen, was nötig war, damit der Mensch die
neue Welt wieder füllen könnte, machte die Sündflut dem
gefallenen Geschlecht, welches in Verderden und Gewaltthat
versunken war, ein Ende; doch bald verfielen die
Menschen in dieser neuen Welt wieder alle dem Götzendienst.
Dann berief die Gnade den Abraham, und ihm
wurden die ausdrücklichen Verheißungen des Samens gegeben.
Vierhundertdreißig Jahre später wurde das für
Gott abgesonderte Volk unter das Gesetz gestellt, unter
die vollkommene Richtschnur dessen, was der Mensch sein
sollte, wenn man das Verbot des Begehrens in Betracht
zieht. Die Propheten brachten daS Gesetz dem Gewissen
des Volkes wieder in Erinnerung, aber zugleich unterstützten
sie den Glauben derer, welche inmitten der allgemeinen
Treulosigkeit treu waren, indem sie die Verheißung
des Samens und das Kommen des großen und schrecklichen
Tages Gottes bestätigten und weiter entwickelten.
Man betrachte, als Beispiel hierfür, die letzten Worte
der Prophezeiung Maleachis. (Kap. 4.) Beständig wurde
die Verheißung des Samens durch die Propheten wieder
249
holt und das Gewissen ihrer Hörer angefaßt, bis es kein
Heilmittel mehr gab. Dennoch hat Gott die Verheißung
erfüllt, indem Er Christum sandte, den Samen Davids.
DaS war Gnade — ohne Zweifel auch Treue von feiten
Gottes Seiner Verheißung gegenüber, und in diesem Sinne
Gerechtigkeit Gottes (das ist die Kraft von 2. Petri 1, 1);
aber es handelte sich nicht mehr um die Verantwortlichkeit
des Menschen, eine Richtschnur einzuhalten, die ihm auferlegt
war, sondern darum, Christum anzunehmen. Ueber-
dies war Christus das Fleisch gewordene Wort. Gott
selbst war in Christo, die Welt mit sich selbst versöhnend
und ihnen ihre Uebertretungen nicht zurechnend. Aber Er
kam zu den Seinigen, und die Seinigen nahmen Ihn
nicht an: die Welt wollte Ihn nicht und kannte Ihn
nicht, und die Seinigen nahmen Ihn nicht an. Und da
der Vater in dem Sohne geoffenbart war, in Seinen
Worten und in Seinen Werken, und die Welt Ihn nicht
erkannt hat, so sagt der Heiland: „Sie haben gesehen
und gehaßt sowohl mich als auch meinen Vater." Auf
diese Weise haben die Juden jedes Anrecht an die Verheißungen
verloren, indem sie Den verwarfen, in welchem
sie erfüllt wurden. Doch was noch mehr ist, der Mensch
ist nicht nur ungehorsam gewesen (daS war er schon
früher), sondern er hat auch seinen Haß gegen Gott gezeigt,
als Gott da war und sich in Gnade offenbarte. Auf
dem Boden der Verantwortlichkeit des Menschen war jede
Beziehung zu Gott unmöglich. Das Kreuz war daS
öffentliche Zeugnis von dieser Verwerfung, von dieser
Feindschaft gegen Gott; zugleich aber war es die Offenbarung
der Liebe Gottes zu dem Menschen, so wie er war.
Es war ferner die Vollbringung eines vollkommnen Süh-
250
riungswerkes — ein Opfer zur Wegnahme der Sünde,
eine ganz neue Grundlage der Beziehungen zwischen dem
Menschen und Gott, die nicht von der Verantwortlichkeit
des Menschen abhing (auf diesem Gebiet war der Mensch
verloren), sondern von der unendlichen Gnade Gottes,
welcher Seines eignen Sohnes nicht geschont hat, während
dieser Sohn durch den ewigen Geist sich ohne Flecken
Gott opferte, auf daß die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit
zu ewigem Leben durch Jesum Christum, unsern
Herrn. Die Verheißungen werden erfüllt werden; und
der Gläubige besitzt das ewige Leben und wird es in
Herrlichkeit besitzen, gleichförmig gemacht dem Sohne Gottes,
der als Mensch in die Herrlichkeit zurückgekehrt ist,
auf daß das Herz Gottes in Liebe befriedigt und Seine heilige
Gerechtigkeit geoffenbart und geehrt werde, und auf daß
Sein Sohn, der für uns die Herrlichkeit aufgegeben und
sich erniedrigt hat im Gehorsam bis zum Tode, vollkommen
verherrlicht werde, gemäß der Herrlichkeit, die Ihm gebührt.
Damit sind wir auf das Gebiet des Evangeliums
getreten. (Fortsetzung folgt.)
Was ist ein Christ?
Nach dem Worte Gottes ist ein Christ ein Mensch,
der als Sünder in der Gegenwart Gottes gewesen ist,
dort sich kennen gelernt und sich vor der Wahrheit gebeugt
hat, daß er nach Natur und Wandel verderbt und verloren
ist (Eph. 2, 3—12 ; Luk. 5, 8), der aber zugleich
auch durch die Gnade gelernt und geglaubt hat, daß seine
Sünden für immer abgewaschen sind in dem Blute Christi
(Hebr. 9, 14; Röm. 3, 24), um nie wieder ins Gedächt
251
nis vor Gott zu kommen. Er ist mit Gott versöhnt
(Röm. 5, 10; 2. Kor. 5, 18), von allem gerechtfertigt
(Apstgsch. 13, 39), von jeder Schuldfreigesprochen (Röm.8,
33. 34) und jetzt passend gemacht für die Herrlichkeit
(Kol. 1, 12); nachdem er Gott in Christo begegnet ist,
hat er Frieden mit Gott, steht in der Gunst Gottes, ist
glücklich in Seiner Gegenwart und rühmt sich in Hoffnung
der Herrlichkeit Gottes. (Röm. 5, 1—11.) Er wird nicht
länger mehr betrachtet als „im Fleische", sondern er ist „im
Geiste", ein „Mensch in Christo". (Röm. 8, 9; 2. Kor.
5, 17; 12, 2.) Er ist versiegelt mit dem Heiligen Geiste
(Eph. 1, 13; 2. Kor. 5, 5), ein Glied des Leibes Christi
(1. Kor. 12, 13), ein Kind Gottes (Gal. 3, 26; 1. Joh.
3, 1), ein Erbe Gottes und ein Miterbe Jesu Christi.
(Gal. 4, 7; Röm. 8, 16. 17.) Indem er mit Christo
gestorben ist, steht er in einer gegenwärtigen, lebendigen
Verbindung mit Ihm, dem Auferstandenen; er ist mit
Christo auferweckt und in Ihm schon versetzt in die himmlischen
Oerter. (Eph. 2, 6.) Er besitzt ewiges Leben und
befindet sich außerhalb des Bereiches jeder feindlichen
Macht; keine Macht der Erde oder der Hölle vermag ihn
aus der Hand seines Erretters zu reißen oder von der
Liebe Gottes zu scheiden, die in Christo Jesu ist, seinem
Herrn. (Joh. 10, 28. 29; Kol. 3, 3; Röm. 8, 38. 39.)
Er ist ein für Gott abgesonderter, heiliger Priester, um
Ihm jetzt schon als Anbeter in dem himmlischen Heiligtum
zu dienen, in der Hütte, welche der Herr errichtet
hat und nicht der Mensch (Offb. 1, 6; Hebr. 10, 19;
8, 2); und er ist ein königlicher Priester, um hienieden
die Tugenden Dessen zu verkündigen, der ihn berufen hat
aus der Finsternis in Sein wunderbares Licht. (1. Petr.
252
2, 5. 9.) Herausgenommen aus der gegenwärtigen bösen
Welt (Gal. 1, 4), um praktisch von ihr getrennt zu sein
(Joh. 17, 16. 17; Röm. 12, 2; Jak. 1, 27), ist er
ein Bürger des Himmels, von woher er auch den Herrn
Jesum Christum als Heiland erwartet, damit Er seinen Leib
der Niedrigkeit umgestalte zur Gleichförmigkeit mit Seinem
verherrlichten Leibe. (Phil. 3, 20.) Er ist ein Mitbürger
der Heiligen und ein Hausgenosse Gottes. (Eph. 2, 19.)
Vor ihm liegt eine herrliche Zukunft, die Herrlichkeit Gottes
selbst (Röm. 5, 2; Joh. 17, 24); der Gegenstand
seines Herzens ist ein zur Rechten Gottes erhöhter und verherrlichter
Christus (Phil. 3, 14), der Zweck und Mittelpunkt
seines Lebens hienieden ist wiederum Christus (Phil.
1, 21), und seine Hoffnung ist, Christum zu schauen, wie
Er ist, mit Ihm einzugehen in die vielen Wohnungen des
Vaterhauses und für ewig bei Ihm und Ihm gleich zu
sein. (1. Joh. 3, 2; 1. Thess. 4, 17; Joh. 14, 3.)
Ist es nicht eine wunderbare Sache, geliebter Leser,
ein Christ zu sein? und ist es nicht ein armseliges Ding,
selbst schon in dieser Welt, etwas anderes zu sein als ein
Christ? Alles ist sein, und er selbst gehört Christo an; er
ist um einen teuren Preis erkauft (1. Kor. 3, 22. 23;
6, 20.) Möchten doch alle die geliebten Kinder Gottes verstehen,
was sie sind in Christo, was ihr Teil ist in Ihm,
jetzt schon hienieden und bald droben in der Herrlichkeit!
Möchten aber auch alle, angesichts dieser gesegneten Dinge,
sich stets daran erinnern, „welche sie sein sollten in heiligem
Wandel und Gottseligkeit", sich befleißigend, „ohne Flecken
und tadellos vor Ihm erfunden zu werden in Frieden!"
(2. Petr. 3, 11. 14.)
Einleitung in die Schriften des Alten und
des Neuen Testaments.
(Fortsetzung.)
Das Neue Testament hat, wie man gleich sieht,
einen von dem Alten durchaus verschiedenen Charakter.
Wenn auchIdas Alte Testament uns die Gedanken offenbart,
die Gott denen mitgeteilt hat, welche die Werkzeuge
dieser Offenbarung waren, und uns die Weisheit bewundern
läßt, die sich darin entfaltet, so bleibt doch Gott selbst
im Alten Testament immer hinter dem Vorhang verborgen.
In dem Neuen Testament aber offenbart sich Gott: man
findet Ihn selbst, sanftmütig, demütig, menschlich. In
den Evangelien sehen wir Gott auf der Erde; dann
finden wir Ihn, wie Er in den späteren Mitteilungen des
Geistes göttliches Licht verbreitet. Früher hatte Gott
Verheißungen gegeben und andrerseits Gerichte ausgeübt;
Er hatte ein Volk auf Erden regiert; Er hatte mit den
Nationen gehandelt im Blick auf dieses Volk. Diesem
Volke selbst hatte Er Sein Gesetz gegeben, und ihm vermittelst
der Propheten ein stets zunehmendes Licht geschenkt,
indem Er mehr und mehr das Kommen Dessen
ankündigte, der ihnen alles von seiten Gottes verkündigen
sollte. Aber die Gegenwart Gottes selbst, als Mensch
in der Mitte der Menschen, veränderte alles da, wo der
Mensch Ihn in der Person Christi als die Krone der
254
Segnung und Herrlichkeit hätte annehmen sollen, — Ihn,
dessen Gegenwart alles Böse verbannen und jedes Element
des Guten entfalten und zur Vollendung bringen sollte,
indem sie zugleich allen Zuneigungen einen Gegenstand
und einen Mittelpunkt darbot, und dieselben so durch den
Genuß dieses Gegenstandes vollkommen befriedigte. Andrerseits
sollte in der Verwerfung dieses Christus unsre arme
Natur sich zeigen als das, was sie ist: Feindschaft gegen
Gott, — und die Notwendigkeit einer völlig neuen Ordnung
der Dinge erweisen, in welcher das Glück des Menschen
und die Herrlichkeit Gottes auf eine neue Schöpfung gegründet
sein würden. Wir wissen, was sich zugetragen
hat: Derjenige, welcher daS Bild des unsichtbaren GotteS
war, mußte, nachdem Er eine vollkommene Geduld bewiesen
hatte, sagen: „Gerechter Vater! die Welt hat Dich
nicht erkannt;" ja, leider noch mehr: „sie haben gehaßt
sowohl mich als auch meinen Vater." (Joh. 17, 25;
15, 24.)
Doch dieser Zustand des Menschen hat Gott keineswegs
verhindert, Seine Ratschlüsse auszuführen; im Gegenteil,
gerade dieser traurige Zustand hat Ihm Gelegenheit
gegeben, sich in der Ausführung derselben zu verherrlichen.
Gott hat den Menschen nicht eher verwerfen wollen, bis
der Mensch Ihn verworfen hatte: gerade so wie der Mensch
im Garten Eden, indem er, der Sünde sich bewußt, die
Gegenwart Gottes nicht ertragen konnte, sich von Ihm
entfernte, bevor Gott ihn aus dem Garten vertrieben hatte.
Aber als der Mensch seinerseits Gott völlig von sich gestoßen
hatte, Ihn, der in Güte in sein Elend herabgekommen
war, war Gott frei, (wenn man so sagen darf und der
Ausdruck moralisch richtig ist,) Seine ewigen Vorsätze zu
255
verfolgen. Doch nun vollzieht Gott nicht das Gericht wie
in Eden, als der Mensch sich von Ihm entfernt hatte;
vielmehr ist es die unumschränkte Gnade, welche, nachdem
der Mensch offenbar verloren ist und sich als Feind
Gottes erwiesen hat, ihr Werk vollführt, um ihre Herrlichkeit
in der Rettung armer, feindseliger Sünder vor den
Augen des Weltalls hervorstrahlen zu lassen. Damit aber
die Weisheit Gottes sich auch in den Einzelheiten offenbare,
mußte dieses Werk der freien Gnade, in welchem
Gott sich selbst zu erkennen gab, mit allen Seinen früheren,
im Alten Testament enthüllten Wegen übereinstimmen
und auch Seiner Regierung der Welt freien Raum
lassen.
Alles dieses hat zur Folge, daß in dem Neuen
Testament, abgesehen von dem großen, alles beherrschenden
Gedanken, sich vier Gegenstände vor den Augen des Glaubens
entfalten. Der eigentliche und hauptsächlichste Gegenstand
ist die Thatsache, daß das vollkommene Licht geoffenbart
ist: Gott selbst offenbart sich.
Sodann wird Christus, der die Offenbarung dieses
Lichtes ist und, wenn Er angenommen worden wäre, die
Erfüllung aller Verheißungen herbeigeführt haben würde,
dem Menschen und besonders Israel (unter dem Gesichtspunkt
seiner Verantwortlichkeit betrachtet) vorgestellt, und
zwar mit allen Beweisen hinsichtlich Seiner Person, Seines
sittlichen Auftretens und Seiner Macht, welche dieses
Volk ohne Entschuldigung gelassen haben. Ferner wird,
da Christus verworfen worden ist, Seine Verwerfung das
Mittel, durch welches die Errettung sich vollzieht; und
die neue Ordnung der Dinge (die neue Schöpfung, der
verherrlichte Mensch, die Kirche, als mit Christo an der
256
himmlischen Herrlichkeit teilnehmend,) wird uns vor Augen
gestellt.
Weiter werden die Beziehungen zwischen der alten
und der neuen Ordnung der Dinge auf der Erde ans
Licht gestellt, in Bezug auf das Gesetz, die Verheißungen,
die Prophezeiungen oder die göttlichen Einrichtungen auf
der Erde; und dies geschieht, entweder um die neue Ordnung
als Erfüllung und Beiseitesetzung dessen, was veraltet
ist, darzustellen, oder um den Gegensatz zwischen der
alten und der neuen Ordnung hervorzuheben, oder endlich
um die vollkommene Weisheit Gottes in allen Einzelheiten
Seiner Wege zu zeigen.
Schließlich wird die Regierung der Welt von seiten
Gottes in prophetischer Weise geschildert, sowie die Wiederaufnahme
der Beziehungen Gottes zu Israel (in Gericht
oder in Segnung), gelegentlich des Aufhörens dieser Beziehungen
infolge der Verwerfung des Messias, kurz aber
deutlich festgestellt.
Man kann noch hinzufügen, daß alles das, was der
Mensch als Pilgrim auf der Erde bedarf, bis Gott
Seine Gnadenabsichten in Macht erfüllt, in reichem Maße
für ihn vorgesehen ist. Auf den Ruf Gottes von dem
ausgegangen, was verworfen und verurteilt ist, (und noch
nicht in den Besitz des Teiles, welches Gott ihm bereitet
hat, gebracht,) bedarf der Mensch, der diesem Rufe gefolgt
ist, einer Leitung und der Enthüllung der Quellen der
Kraft, welche zur Erreichung des Zieles seiner Berufung
notwendig ist, sowie der Mittel, um sich diese Kraft anzueignen.
Gott hat ihn, als Er ihn zur Nachfolge seines
von der Welt verworfenen Herrn berief, nicht ohne das
ganze Licht und alle die Anweisungen gelassen, welche ge
257
eignet sind, ihn auf seinem Wege zu erleuchten und zu
ermutigen.
Die Evangelien erzählen uns die Lebensgeschichte
des Herrn und stellen Ihn, sei es durch Seine Handlungen
oder durch Seine Reden, vor unsre Herzen in den
verschiedenen Charakteren, welche Ihn in jeder Beziehung
den Seelen der Erlösten kostbar machen, gemäß dem ihnen
mitgeteilten Verständnis und in Uebereinstimmung mit
ihren Bedürfnissen. Diese Charaktere bilden zusammen
die Fülle Seiner persönlichen Herrlichkeit, insoweit wir
fähig sind dieselbe zu erfassen, während wir uns noch in
diesen irdenen Gefäßen hienieden befinden. Die Beziehungen
Christi zu der Kirche finden wir jedoch nicht in den Evangelien,
mit Ausnahme der Thatsache, daß Christus eine
Kirche auf der Erde bauen würde; dieses kostbare Geheimnis
hat Er erst durch den nach Seiner Himmelfahrt
herniedergesandten Heiligen Geist den Aposteln und Propheten
geoffenbart.
Es ist klar, daß der Herr auf der Erde nach den
Ratschlüssen Gottes und den Offenbarungen Seines Wortes
mehr als einen Charakter in sich vereinigen mußte,
zur völligen Darstellung Seiner Herrlichkeit, sowie zur
Aufrechthaltung und Offenbarung der Herrlichkeit Seines
Vaters. Doch um dies zu ermöglichen, mußte Er auch
etwas sein, damit man Ihn betrachten könne, sei es als
hienieden wandelnd oder im Blick auf Seine wahre Natur.
Christus mußte den Dienst, den Er Gott darzubringen
hatte, vollbringen als der wahre Diener (im vollsten Sinne
dieses Wortes), und zwar indem Er Gott durch das
Wort inmitten Seines Volkes diente, nach Ps. 40, 8.
9. 10, Jes. 49, 4. 5 und andern Stellen.
258
Zahlreiche Zeugnisse hatten angekündigt, daß der
Sohn Davids von Gottes wegen auf dem Throne Seines
Vaters sitzen würde; und die Erfüllung der Ratschlüsse
Gottes in Bezug auf Israel wird im Alten Testament
mit der Person Dessen verbunden, der also kommen sollte,
und der auf der Erde als Sohn Gottes zu Jehova
Gott in Beziehung stehen würde. Christus, der Messias,
oder — ins Deutsche übertragen — der Gesalbte, mußte
erscheinen und sich Israel darstellen gemäß der Offenbarung
und den Ratschlüssen Gottes. Die Juden beschränkten
ihre Erwartung fast nur auf diesen Charakter Christi, als
Messias und Sohn Davids, und das noch auf ihre besondere
Weise, indem sie nichts darin sahen als die Erhebung
ihrer Natur, ohne ein Gefühl von ihren Sünden
und von den Folgen dieser Sünden zu haben. Dieser
Charakter Christi war jedoch nicht das einzige, was das
prophetische Wort, welches die Ratschlüsse Gottes mitgeteilt
hatte, betreffs Dessen ankündigte, den selbst die Welt
erwartete. Christus sollte Sohn des Menschen sein;
und dieser Titel, den der Herr Jesus sich gern giebt, ist
von großer Wichtigkeit für uns. Der Sohn des Menschen
ist, wie mir scheint, nach dem Worte der Erbe alles dessen,
was die Ratschlüsse Gottes, als zu der Stellung des
Menschen in der Herrlichkeit gehörend, für den Menschen
bestimmt hatten, — alles dessen, was Gott gemäß Seinen
Ratschlüssen den Menschen geben mußte. (Siehe Dan. 7,
13. 14 und Psalm 8, 5. 6.) Aber um Erbe alles
dessen, was Gott für den Menschen bestimmt hatte, sein
zu können, mußte Christus Mensch sein. Der Sohn des
Menschen war wirklich von dem Geschlecht des Menschen
— kostbare und tröstliche Wahrheit! — geboren von
259
einem Weibe; Er war wirklich und wahrhaftig ein Mensch,
und wurde, indem Er an Fleisch und Blut teilnahm, Seinen
Brüdern gleich, ausgenommen die Sünde. In diesem
Charakter mußte Er leiden und verworfen werden. Um
alle Dinge zu erben, mußte Er sterben und auferstehen:
das Erbe war verunreinigt und der Mensch in Empörung
gegen Gott; die Miterben Christi waren ebenso schuldig
wie die übrigen.
Jesus mußte also Diener, Sohn Davids und Sohn
des Menschen sein; und infolge dessen ein wirklicher Mensch
auf der Erde, geboren unter dem Gesetz, geboren von
einem Weibe, von dem Samen Davids, Erbe der Rechte
der Familie Davids, Erbe der Bestimmung des Menschen
gemäß der Absicht und den Ratschlüssen Gottes. Doch
wer war es, der alle diese Charaktere in sich vereinigen
sollte? War diese Herrlichkeit nur eine offizielle oder
amtliche Herrlichkeit, von welcher das Alte Testament gesagt
hatte, daß ein Mensch sie ererben sollte? Der unter
dem Gesetz geoffenbarte Zustand des Menschen bewies die
Unmöglichkeit, den Menschen, so wie er war, an den Segnungen
Gottes teilnehmen zu lassen. Die Verwerfung
Christi machte das Maß dieser Beweise voll. Und in der
That, der Mensch hatte vor allem nötig, selbst mit Gott
versöhnt zu werden, abgesehen von jeder Haushaltung und
der besonderen Regierung eines Volkes auf der Erde.
Der Mensch war ein Sünder; es mußte eine Erlösung
stattfinden, der Herrlichkeit Gottes und des Heiles der
Menschen wegen. Aber wer sollte sie vollbringen? — Der
Mensch bedurfte sie für sich selbst. Ein Engel mußte
seinen eignen Platz bewahren und ausfüllen, und konnte
weiter nichts thun; sonst wäre er kein Engel gewesen.
260
Und wer unter den Menschen konnte der Erbe aller Dinge
sein und alle Werke Gottes, dem Worte gemäß, seiner
Herrschaft unterstellt sehen? Es war der Sohn Gottes,
der sie erben mußte; derjenige, welcher sie geschaffen
hatte, mußte sie auch besitzen. Derselbe also, welcher der
Diener, der Sohn Davids, der Sohn des Menschen, der
Erlöser sein sollte, war der Sohn Gottes, der Schöpfer
— Gott.
Von diesen verschiedenen Charakteren Christi rührt
nicht nur der besondere Charakter eines jeden der Evangelien
her, sondern auch der Unterschied, welcher zwischen
den drei ersten Evangelien und demjenigen des Johannes
besteht. Jene stellen Christum dem Menschen vor, damit
der Mensch Ihn annehme, und zeigen dann Seine Verwerfung
seitens des Menschen. Johannes dagegen beginnt
mit dieser Verwerfung sein Evangelium, welches die Offenbarung
der göttlichen Natur ist, in deren Gegenwart der
Mensch und der Jude sich befanden, und die sie verworfen
haben; wie wir lesen: „Er war in der Welt, und die
Welt ward durch Ihn, und die Welt kannte Ihn nicht."
(Schluß folgt.)
„Um einen Preis erkauft."
(1. Kor. 6, 20.)
Wenn du, geliebter Leser, ein Kind Gottes bist durch
den Glauben an Jesum Christum, so weißt du, daß dir
die Sünden vergeben sind um Seines Namens willen.
(1. Joh. 2, 12.) Du kennst auch in größerem oder
geringerem Maße die Kostbarkeit der Freiheit der Kinder
Gottes, zu welcher du berufen worden bist. Du weißt,
daß der Himmel dein Teil ist mit der Gunst, der Güte,
261
ja, mit all den Gnadenreichtümern des Gottes des Himmels;
du hast teil an all den Segnungen, mit welchen
der Vater uns gesegnet hat in Christo Jesu, und du genießest,
wie ich hoffe, mit Wonne den unaussprechlichen,
allen Verstand übersteigenden Frieden Gottes — denselben
Frieden, welchen der Herr Jesus einst Seinen Frieden
nannte. (Joh. 14, 27.)
Und nun, was soll ich dir weiter sagen? Nichts,
als: Freue dich in dem Herrn; ja, freue dich in Ihm
allezeit! Sei fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal,
halte an am Gebet; wandle in einer Weise, die der Berufung
würdig ist, mit welcher du berufen worden bist;
wandle in Christo, so wie die Erlösten des Herrn, wie
Bürger des Himmels, wie Kinder des Lichtes und Söhne
des Tages, wie die Freigelassenen des Herrn, die Zeugen
Jesu und die Freunde des Friedens wandeln sollten.
Jage dem Frieden nach mit allen und der Heiligkeit; so
viel an dir ist, lebe in Frieden mit den Brüdern, ja, mit
allen Menschen, und laß deine Worte Gnade darreichen
allen, die sie hören. Mit einem Wort, verherrliche Gott
an deinem Leibe, welcher nicht dir, sondern Gott gehört,
welcher ein Glied Christi und ein Tempel des Heiligen
Geistes ist. Vergiß nie, daß du um einen Preis erkauft
bist, um den Preis des kostbaren Blutes Jesu
Christi, des fleckenlosen Lammes Gottes.
„Kein Gewissen mehr von Sünden."
(Hebr. 10, 2.)
„Kein Gewissen mehr von Sünden." Diese kostbaren
Worte wollen nicht sagen, (wie man es hie und da er
262
klären hört,) daß der Gläubige kein Bewußtsein mehr
von Sünden hätte. Weit davon entfernt! Auch nicht, daß
wir nicht durch Untreue und Gleichgültigkeit im Wandel
praktischer Weise ein böses Gewissen bekommen könnten;
noch endlich, daß wir nicht nötig hätten, uns zu üben,
„allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und
Menschen". Nichts von alledem. Sie wollen einfach sagen,
daß Christus durch das vollkommene, ein- für allemal geschehene
Opfer Seines Leibes alle unsre Sünden für immer
hinweggethan hat. Das Werk der Erlösung ist vollbracht,
eine vollkommene Erlösung geschehen, die Sünde, nach
Wurzel und Zweig, gänzlich hinweggethan; Gott gedenkt
der Sünden Seines Volkes nicht mehr. Die Frage der
Sünde ist zwischen Ihm und Christo, dem Vertreter der
Gläubigen, entschieden, ihre Sünden sind Ihm zugerechnet
worden, und so kann für den Gläubigen von Zurechnung
keine Rede mehr sein. Darum redet auch der
Psalmist von der Glückseligkeit des Menschen, „dem Jehova
die Ungerechtigkeit nicht zurechnet." (Ps. 32, 2.)
„Kein Gewissen mehr von Sünden." Das kostbare
Blut unsers anbetungswürdigen Heilandes hat uns von
jedem Flecken gereinigt und uns volle Freimütigkeit gegeben,
ins Heiligtum droben einzutreten. Wohl mag ein
tiefes Gefühl von der in uns wohnenden Sünde vorhanden
sein, (und es ist gut und heilsam, wenn es vorhanden
ist,) sowie ein schmerzliches Bewußtsein von vielen
Fehltritten, von mannigfaltigem Straucheln in unserm
täglichen Leben; wohl mag infolge dessen ein aufrichtiges,
ernstes Selbstgericht und Bekenntnis vor Gott, unserm
Vater, immer wieder nötig werden — trotz allem aber
dürfen wir die volle Gewißheit haben, daß Christus für
263
unsre Sünden gestorben ist, daß Er sie alle hinweggethan
hat, und daß keine von ihnen uns je zur Last gelegt werden
kann. Das ist in der That eine wunderbare, köstliche
Wahrheit — eine Wahrheit, deren Erkenntnis dem
Herzen Frieden und Freude verleiht und ohne welche ein
einsichtsvoller Gottesdienst, eine wahre Anbetung und ein
wirksamer Dienst unmöglich sind.
Eine offene Frage.
Man erzählt, daß ein berühmter Prediger einmal
eine Reihe von Predigten gegen den Unglauben gehalten
habe, und zwar zu dem besondern Zweck, einen ungläubigen
Nachbarn, der seine Kirche regelmäßig besuchte, von seinen
falschen Ansichten zu überzeugen und für den Herrn zu
gewinnen. Nicht lange vor Schluß dieser Predigten wurde
dem Pfarrer berichtet, daß der Ungläubige überwunden
zu sein bekenne; und es verlangte ihn nun nicht wenig
zu wissen, welche von seinen Predigten diese gute Wirkung
hervorgebracht hätte.
Einige Tgge darnach besuchte ihn der einst ungläubige
Nachbar und erzählte auf die Frage des Predigers,
was ihn zur Umkehr veranlaßt habe, folgendes: „Das
Mittel, welches Gott zu meiner Erweckung und Bekehrung
gebraucht hat, waren nicht Ihre Predigten gegen den
Unglauben, sondern eine einfache Frage aus dem Munde
einer armen Frau. Als ich nämlich eines Abends die
Kirche verließ, bemerkte ich neben mir eine Greisin, die
sich nur mit Mühe fortzubewegen vermochte. Sie war,
wie es schien, auf einer Seite gelähmt, und ich bot ihr
meinen Arm an, um sie die Treppe hinab zu geleiten.
264
Sie erhob ihr runzliches Antlitz, sah mich einen Augenblick
freundlich und dankbar an und sagte dann:
„Ich danke Ihnen, mein Herr! — Haben Sie auch
Jesum, meinen teuren Heiland, lieb?"
„Ich war stumm; diese Frage konnte ich nicht beantworten.
Die alte Frau hatte die Worte: „Jesum, meinen
teuren Heiland," mit solch ernstem Vertrauen und mit so
offenbarer Freude ausgesprochen, daß ich nicht daran zweifeln
konnte, daß sie in Wahrheit einen teuren Heiland
besaß, und ich schämte mich zu bekennen, daß ich diesen
Heiland nicht lieb habe. Ich konnte die Erinnerung an
die Begegnung mit der armen und doch so glücklichen
Alten nicht wieder loswerden; und je mehr ich über die
Sache nachdachte, desto tiefer wurzelte die Ueberzeugung
in mir, daß jene wirklich etwas besitzen müsse, was mir
fehle — einen lebendigen Herrn, einen teuren Heiland.
Weiter kam mir der Gedanke: Welch ein freundlicher Heiland
muß Jesus sein, wenn Er einem äußerlich so armen
und bedauernswerten Geschöpf eine solche Freude und einen
solchen Trost mitteilen kann! Und siehe da, ehe ich mich's
versah, wurden meine Augen naß; was ich nimmermehr
für möglich gehalten hätte, geschah: ich weinte über meine
schreckliche Undankbarkeit und Bosheit, einen solchen Heiland
bisher verleugnet und verworfen zu haben. Von jenem
Augenblick an begann ich, ernstlich den Herrn zu suchen, und
ich habe Ihn gefunden und kann jetzt auch sagen: „Ich
liebe Jesum, meinen teuren Heiland.""
Der Prediger hatte der Erzählung mit großer Verwunderung
gelauscht. Also nicht seine wohldurchdachten
Predigten, nicht seine gelehrten Beweisgründe, nicht seine
wohlgemeinten Anstrengungen zur Verteidigung der Wahr
265
heit hatten den Gegner besiegt, sondern die kurze, ernste
Frage eines armen Weibes. Vor dem einfältigen Vertrauen,
dem unerschütterlichen Glauben und der Freude
des Herzens, die sich in derselben kundgaben, waren die
Bollwerke des Unglaubens, welche „dem schweren Geschütz"
des Predigers siegreich standgehalten hatten, zusammengestürzt,
wie einst die Mauern von Jericho vor dem Geschrei
des Volkes und dem Tone der Hallposaunen.
Die Schlußscenen von Mnleachi und Judas.
i.
Bei einem Vergleich der inspirierten Schriften des
Propheten Maleachi und des Apostels Judas finden wir
viele ähnliche Punkte und viele Gegensätze. Beide schildern
Scenen des Ruins, des Verderbens und des Abfalls.
Maleachi ist beschäftigt mit dem Verderben des Judentums,
Judas mit dem Verderben des Christentums. Der
erstere stellt von vornherein und mit einer ungewöhnlichen
Lebendigkeit die Quelle der Segnung Israels und das Geheimnis
seines Falles vor Augen. „Ich habe euch geliebt,
spricht Jehova;" (V. 2.) daS war die Quelle aller Segnung,
aller Herrlichkeit und aller Würde Israels. Die Liebe Jehovas
erklärt die Herrlichkeit Israels in der Vergangenheit
und begründet seine noch weit größere Herrlichkeit in der
Zukunft. Auf der andern Seite erklärt und begründet die
unverschämte und ungläubige Gegenrede Israels: „Worin
hast Du uns geliebt?" die schreckliche Tiefe des gegenwärtigen
Verderbens dieses Volkes. Eine solche Frage
zu stellen nach alledem, was Jehova von den Tagen Moses
bis zu den Tagen Salomos für Israel gethan hatte, be
266
wies einen Zustand der Gefühllosigkeit, wie er niedriger
nicht gedacht werden kann. Bei solchen, welche mit der
wunderbaren Geschichte der Wege Jehovas vor ihren
Augen noch fragen konnten: „Worin hast Du uns geliebt?"
war alles moralische Gefühl verschwunden. Deshalb dürfen
wir uns über die scharfen Worte des Propheten nicht
wundern: „Wenn ich denn Vater bin, wo ist meine Ehre?
und wenn ich Herr bin, wo ist meine Furcht? spricht
Jehova der Heerscharen zu euch, ihr Priester, die ihr
meinen Namen verachtet und doch sprechet: Womit haben
wir Deinen Namen verachtet?" (V. 6.) Sowohl in Bezug
auf die Liebe des Herrn, als auch im Blick auf ihre
eigenen bösen Wege war die größte Gefühllosigkeit vorhanden.
Nur ein völlig verhärtetes Herz konnte sagen:
„Worin hast Du uns geliebt?" und: „Womit haben wir
Deinen Namen verachtet?" — angesichts einer tausendjährigen
Geschichte, die einerseits Zeugnis gab von der
beispiellosen Gnade, Barmherzigkeit und Langmut Gottes
und andrerseits von Anfang bis zu Ende durch die Untreue,
Thorheit und Sünde Israels befleckt war.
Doch horchen wir auf die weiteren Aussprüche des
Propheten, oder vielmehr auf die rührenden Vorstellungen
des verachteten und beleidigten GotteS Israels. „Ihr
bringet unreines Brot auf meinem Altar dar und sprechet
doch: Womit haben wir Dich verunreinigt? Damit daß
ihr saget: der Tisch Jehovas ist verächtlich. Und wenn
ihr Blindes darbringet, um es zu opfern, so ist es nichs
Böses; und wenn ihr Lahmes und Krankes darbringet,
so ist es nichts Böses. Bringe es doch deinem Landpfleger
dar: wird er dich wohlgefällig annehmen oder
Rücksicht mit dir haben? spricht Jehova der Heerscharen....
267
Wäre doch nur einer unter euch, der die Thüren verschlösse,
damit ihr nicht vergeblich auf meinem Altar
Feuer anzündetet! Ich habe keine Lust an euch, spricht
Jehova der Heerscharen, und eine Opfergabe nehme ich
nicht wohlgefällig an aus eurer Hand. — Denn vom
Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang wird mein
Name groß sein unter den Nationen; und an jedem Orte
wird geräuchert, dargebracht werden meinem Namen, und
zwar reine Opfergaben. Denn mein Name wird groß
sein unter den Nationen, spricht Jehova der Heerscharen.
Ihr aber entweihet ihn, indem ihr sprechet: Der Tisch
des Herrn ist verunreinigt, und sein Einkommen, seine
Speise, ist verächtlich. Und ihr sprechet: Siehe, welch
eine Mühsal! und ihr blaset ihn an, spricht Jehova der
Heerscharen, und bringet Geraubtes herbei und das Lahme
und daS Kranke; und so bringet ihr die Opfergabe. Soll
ich das wohlgefällig von eurer Hand annehmen? spricht
Jehova."
Welch ein finsteres und trauriges Gemälde von dem
moralischen Zustande Israels! Die öffentliche Anbetung
Gottes war in äußerste Verachtung gekommen. Sein Altar
war entweiht, Sein Dienst verachtet. Den Priestern diente
der Gottesdienst nur als ein Mittel, um ihre schmutzige
Gewinnsucht zu befriedigen, und dem Volke war die ganze
Sache zum Ueberdruß, zu einer leeren Form, zu einer toten
und herzlosen Gewohnheit geworden. Da war kein Herz für
Gott; das ganze Dichten und Trachten war auf schnöden
Gewinn gerichtet. Mochte ein Opfertier noch so lahm und
krank sein — für den Altar war es immer noch gut genug.
Das Schlechteste, was zu haben war, das Lahme, Blinde
und Kranke, was man einem menschlichen Herrscher niemals
268
zu bringen gewagt hätte, wurde auf den Altar Gottes
gelegt. Das war der bedauernswerte Zustand der Dinge
in den Tagen MaleachiS. Wahrlich, man kann nur mit
tiefem Schmerz dabei verweilen.
Indes hat das Gemälde, Gott sei dafür gepriesen,
auch eine Kehrseite. Es gab einige seltene und liebliche
Ausnahmen von der traurigen Regel, die um so schärfer
von dem Hintergründe des Gemäldes abstachen, je düsterer
dieser war. Es ist wahrhaft erfrischend, inmitten des
allgemeinen Verderbens, inmitten der Kälte und Gleichgültigkeit,
der Dürre und Gefühllosigkeit, des Stolzes und der
Störrigkeit der Herzen solche zu finden, von denen gesagt
werden konnte: „Da unterredeten sich die Jehova fürchten
mit einander, und Jehova merkte auf und hörte; und ein
Gedenkbuch ward vor Ihm geschrieben für die, welche Jehova
fürchten und welche Seinen Namen achten." (Kap. 3, lb.)
Wie kostbar sind diese wenigen Worte! Wie erfreulich
ist eS, diesen Ueberrest zu betrachten inmitten des
sittlichen Verfalls um ihn her! Man findet bei ihm
weder Einbildung noch Anmaßung; man hört von keinem
Versuch, etwas Neues aufzurichten, von keiner Anstrengung,
die verfallene Haushaltung wiederherzustellen, noch endlich
von irgendwelcher Entfaltung einer eingebildeten Macht.
Diese wenigen Getreuen blickten im Gefühl ihrer Schwachheit
zu Jehova empor, und das ist — mögen wir es
wohl beachten und nie vergessen! — das wahre Geheimnis
aller wirklichen Kraft. Das Bewußtsein unsrer Schwachheit
braucht uns keine Furcht einzuflößen. Was wir zu
fürchten haben und wovor wir stets zurückschrecken sollten,
ist eine eingebildete Kraft. Die gesegnetste und sicherste
Regel für das Volk Gottes liegt zu allen Zeiten in den
269
Worten: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark."
(2. Kor. 12, 10.) Wir dürfen immer und in allen Lagen
auf Gott rechnen; und es ist eine unbedingt feststehende
Thatsache, daß der Zustand der bekennenden Kirche, wie
niedrig er auch sein mag, niemals den persönlichen Glauben
hindern kann, die Gemeinschaft mit Gott im vollsten
Sinne des Wortes zu genießen.
Es ist dies ein überaus wichtiger Grundsatz, an
welchem wir stets festhalten sollten. Mag das bekennende
Volk Gottes auch noch so tief gesunken sein, der einzelne
Gläubige, der sich selbst vor Gott richtet und demütigt,
kann Seine Gegenwart und Seine Segnungen allezeit
ohne Ziel und Schranken genießen. Dies bezeugt uns ein
Daniel, ein Mordokai, ein Esra, ein Nehemia, ein Josia,
ein Jehiskia und viele, viele andere Männer des Glaubens,
welche mit Gott wandelten, die erhabensten Grundsätze
verwirklichten und die höchsten und seltensten Vorrechte
der herrschenden Haushaltung genossen, trotzdem
alles um sie her in hoffnungslosem Verfall lag. In den
Tagen des Königs Josia wurde ein Passah gefeiert, wie
es seit den Tagen Samuels, des Propheten, nicht gefeiert
worden war. (2. Chron. 35, 18.) Der schwache Ueberrest
der Juden beging nach seiner Rückkehr aus Babylon das
Laubhüttenfest — ein Vorrecht, welches die Kinder Israel
seit den Tagen Josuas, des Sohnes Runs, nicht genossen
hatten. (Neh. 8, 17.) Mordokai errang ohne Schwertstreich
einen Sieg über Amalek, wie ihn Josua in den
Tagen von 2. Mose 17 nicht glänzender davongetragen
hatte. (Esther 6, 11. 12.) In dem Buche des Propheten
Daniel endlich sehen wir den stolzesten Monarchen der Erde
sich niederwerfen vor den Füßen eines gefangenen Juden.
270
Was lehren uns alle diese Beispiele? Einfach dieses,
daß eine demütige, gläubige und gehorsame Seele die
innigste und völligste Gemeinschaft mit Gott genießen
kann, trotz des Verderbens und Verfalls des bekennenden
Volkes Gottes um sie her, und obgleich die Herrlichkeit
von der Haushaltung gewichen sein mag, in welcher sie
sich befindet.
So war eS in den Schlußscenen von Maleachi. Alles
lag in hoffnungslosem Verfall. Aber das hinderte diejenigen,
welche den Herrn liebten und fürchteten, nicht,
sich um Ihn zu versammeln und sich von Seinem kostbaren
Namen zu unterhalten. Ohne Zweifel stand der
schwache Ueberrest jener Zeit in keinem Vergleich zu der
großen Versammlung, welche in den Tagen des Königs
Salomo von Dan bis Beerseba zusammenströmte; aber er
hatte eine besondere Herrlichkeit für sich — er genoß die
göttliche Gegenwart in einer nicht weniger wunderbaren,
wenn auch nicht so auffallenden Weise wie damals. Wir
hören nichts von einem „Gedenkbuch" in den Tagen Salomos,
noch wird dort gesagt, daß „Jehova aufmerkte
und hörte". Vielleicht wird man einwenden, daß das
damals nicht nötig gewesen sei. Sei es so; aber dies
schwächt nicht die Herrlichkeit der Gnade, welche über
jener kleinen Herde in den Tagen Maleachis leuchtete.
Wir dürfen überzeugt sein, daß ihre inbrünstigen Gebete
dem Herzen Jehovas ebenso wohlthuend waren wie die
glänzenden Opfergaben in den Tagen der Weihe Salomos.
Ihre Liebe strahlte gegenüber dem gefühllosen Formenwesen
des Judentums und der schnöden Gewinnsucht der
Priester nur um so Heller hervor.
„Und sie werden mir, spricht Jehova der Heerscharen,
271
zum Eigentum sein an dem Tage, den ich machen werde;
und ich werde ihrer schonen wie ein Mann seines Sohnes
schont, der ihm dient. Und ihr werdet wiederum den
Unterschied sehen zwischen dem Gerechten und dem Gesetzlosen,
zwischen dem, der Gott dient, und dem, der Ihm
nicht dient. Denn siehe, der Tag kommt, brennend wie
ein Ofen; und es werden alle Uebermütigen und jeder
Thäter der Gesetzlosigkeit zu Stoppeln werden; und der
kommende Tag wird sie verbrennen, spricht Jehova der
Heerscharen, so daß er ihnen weder Wurzel noch Zweig
lassen wird. Aber euch, die ihr meinen Namen fürchtet,
wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen mit Heilung
in ihren Flügeln. Und ihr werdet ausziehen und Hüpfen
gleich Mastkälbern; und ihr werdet die Gesetzlosen zertreten;
denn sie werden Asche sein unter euern Fußsohlen
an dem Tage, den ich machen werde, spricht Jehova der
Heerscharen." (Kap. 3, 17. 18; 4, 1 — 3.)
2.
Werfen wir jetzt einen kurzen Blick auf die Epistel
des Judas. Dieselbe liefert uns ein noch abschreckenderes
Bild von Abfall und Verderben. Man sagt mit Recht,
daß das Verderben der besten Sache das schlimmste Verderben
sei, oder mit anderen Worten: je schöner ein
Ding, desto schrecklicher sein Verderben. Aus diesem
Grunde ist auch die Beschreibung, welche Judas vor unsern
Blicken entrollt, noch weit düsterer und abschreckender
als diejenige des Propheten Maleachi. Es ist der gänzliche
Verfall des Menschen unter den höchsten und herrlichsten
Vorrechten, welche ihm jemals anvertraut werden
konnten.
272
Gleich im Anfang seiner feierlichen Anrede läßt uns
Judas wissen, daß es in seiner Absicht gelegen, ja, daß
er allen Fleiß angewandt habe, uns „über unser gemeinsames
Heil zu schreiben". (Vers 3.) Es würde die
weitaus angenehmste Beschäftigung, ja, eine Freude und
Erquickung für ihn gewesen sein, wenn er sich über die
gegenwärtigen Vorrechte und zukünftigen Herrlichkeiten
hätte verbreiten können, welche alle in dem kostbaren Wörtchen
„Heil" für den Gläubigen eingeschlossen sind. Allein
er sah sich „genötigt", davon abzustehen, um die Seelen
der Gläubigen zu befestigen gegenüber dem immer mehr
anschwellenden Strom des Irrtums und Bösen, welcher
die wahren Grundlagen des Christentums umzustürzen
drohte. „Geliebte, indem ich allen Fleiß anwandte, euch
über unser gemeinsames Heil zu schreiben, war ich genötigt,
euch zu schreiben und zu ermahnen, für den einmal
den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen."
Das Wesen und Fundament des Christentums stand, in
Frage; es galt, in allem Ernst für den Glauben selbst
zu kämpfen. „Denn gewisse Menschen haben sich neben-
eingeschlichen, die schon vorlängst zu diesem Gericht zuvor
ausgezeichnet waren, Gottlose, welche die Gnade unsers
Gottes in Ausschweifung verkehren und unsern alleinigen
Gebieter und Herrn Jesum Christum verleugnen."
(Vers 4.)
Das war weit schlimmer als alles, was wir in Maleachi
fanden. Dort handelte es sich um das Gesetz:
„Gedenket des Gesetzes Moses, meines Knechtes, welches
ich ihm auf Horeb an ganz Israel geboten habe — Satzungen
und Rechte." (Mal. 4, 4.) Aber zur Zeit des Apostels
Judas handelte es sich um die Thatsache, daß man
273
die reine und kostbare Gnade Gottes in Ausschweifung
verkehrte und die Herrschaft Christi verleugnete. Anstatt
daher bei dem Heil Gottes verweilen zu können, war der
Apostel gezwungen, die Gläubigen zu ermahnen und sie
gegenüber der Bosheit und Gesetzlosigkeit der Menschen zu
befestigen. „Ich will euch aber," sagt er, „die ihr einmal
alles wußtet, erinnern, daß der Herr, nachdem Er das
Volk aus dem Lande Aegypten gerettet hatte, zum andern-
mal die zerstörte, welche nicht geglaubt haben; und Engel,
die ihren ersten Zustand nicht bewahrt, sondern ihre eigne
Behausung verlassen haben, hat Er zum Gericht des großen
Tages mit ewigen Ketten unter der Finsternis verwahrt."
(V. 5. 6.)
Dies alles ist sehr ernst; jedoch möchten wir für
jetzt nicht länger bei den finstern Zügen dieser Scene verweilen.
Betrachten wir vielmehr daS anziehende Bild des
christlichen Ueberrestes, welches wir am Schluß dieser ernsten
Epistel finden. Wie uns Maleachi eine kleine Schar jüdischer
Anbeter zeigt, die inmitten des traurigen Verfalls
des Judentums den Herrn liebten und fürchteten und Gemeinschaft
mit einander pflegten, so führt der Heilige Geist
in diesem Briefe ein Häuflein Getreuer vor unsre Blicke,
die inmitten des noch schrecklicheren Verderbens der bekennenden
Kirche ihrer Berufung treu geblieben waren, und
welche der Apostel mit dem Namen „Geliebte" bezeichnet.
(V. 17.)
Sie waren die „in Gott, dem Vater, geliebten und
in Jesu Christo bewahrten Berufenen"; und der Apostel
warnt sie ernstlich vor den verschiedenen Formen des Irrtums
und des Bösen, welche schon damals in die Erscheinung
traten, seitdem aber eine so furchtbare Aus
274
dehnung gewonnen haben. In eindringlicher und zugleich
liebevoller Weise ermahnt er sie: „Ihr aber, Geliebte,
euch selbst erbauend auf euern allerheiligsten Glauben,
betend in dem Heiligen Geiste, erhaltet euch selbst in der
Liebe Gottes, erwartend die Barmherzigkeit unsers Herrn
Jesu Christi zum ewigen Leben." (V. 20. 21.)
Hier haben wir den göttlichen Schutz gegen alle die
finstern und schrecklichen Formen des Abfalls: „den Weg
Kains, den Irrtum Bileams und den Widerspruch Ko-
rahs" — „das Murren und Klagen" — „die stolzen
Worte" — „die wilden Meereswogen" — „die Jrrsterne"
— „das Bewundern der Personen Vorteils halber" ec.
Die „Geliebten" sollen „sich selbst auferbauen auf ihren
allerheiligsten Glauben". Möge der Leser dies wohl beachten!
Mit keiner Silbe weist der Apostel die Gläubigen
auf sogenannte „Nachfolger der Apostel" oder auf besonders
begabte Personen hin; ebensowenig wie Paulus in
seiner letzten rührenden Ansprache an die Aeltesten von
Ephesus dies thut. (Apstgsch. 20.) Es ist nützlich, dies zu
verstehen und sich stets daran zu erinnern. Wie oft hört
man heutzutage klagen über den Mangel an Gaben und
Kraft, über die geringe Zahl von wahren Hirten und
Lehrern! Wir möchten demgegenüber fragen: Wie könnten
wir viele Gaben und Kraft erwarten? Haben wir sie verdient?
Ach! wir haben gefehlt und gesündigt und in so
mancher Hinsicht unsrer Berufung nicht entsprochen. Laßt
uns dies anerkennen und uns auf den lebendigen Gott
stützen! Wir werden dann erfahren, daß Er ein auf Ihn
vertrauendes Herz nie zu Schanden werden läßt.
Wem befiehlt der Apostel Paulus die Gläubigen in
seiner eben erwähnten Ansprache? Der Augenblick war
275
gekommen, daß der apostolische Dienst in ihrer Mitte aufhören
sollte. Redet er ein Wort von apostolischer Nachfolge?
Nicht im geringsten; vielmehr spricht er von „verderblichen
Wölfen", oder von Männern, die aus ihrer Mitte
aufstehen und verkehrte Dinge reden würden, um die Jünger
abzuziehen hinter sich her. Worin besteht nun die Hülfsquelle
des Glaubens? Hören wir, was der Apostel sagt: „Und
nun befehle ich euch Gott und dem Worte Seiner Gnade,
welches vermag aufzuerbauen und euch ein Erbe zu geben
unter allen Geheiligten." (Apstgsch. 20, 17—38.)
Welch eine kostbare Hülfsquelle! Kein Wort wird
gesagt von begabten Männern, so schätzenswert diese auch
au ihrem richtigen Platze sein mögen. Gott bewahre uns
vor irgendwelcher Geringschätzung der Gaben, welche der
Herr in Seiner Gnade trotz all unsrer Fehler und Sünden
der Kirche darzureichen für gut findet! Aber dennoch
bleibt es eine unumstößliche Wahrheit, daß der Apostel
bei seinem Abschiede von der Kirche uns nicht begabten
Männern befiehlt, sondern Gott selbst und dem Worte
Seiner Gnade. Hieraus folgt, daß wir, mag unsre
Schwachheit auch noch so groß sein, nur auf Gott zu
blicken und auf Ihn zu vertrauen haben. Seine Gnade
kennt keine Schranken; Er beschämt nie eine Seele, die
auf Ihn vertraut, und Er vermag uns in überströmender
Fülle zu segnen, wenn wir nur einfältig und demütig
auf Ihn allein rechnen.
In dieser Demut und in diesem Vertrauen auf Gott
liegt das Geheimnis aller wahren Segnung und geistlichen
Kraft. Einerseits haben wir uns keine Kraft anzumaßen,
und andrerseits dürfen wir nicht dem Unglauben unsrer
Herzen erlauben, der Güte und Treue Gottes Schranken
276
zu setzen. Er kann und wird Seinem Volke die nötigerr
Gaben zur Auferbauung darreichen, und Er wird dies
umsomehr thun, jemehr wir auf Ihn warten und nicht
selbst die Hand ans Werk legen. Würde die Kirche mehr
auf Christum, ihr lebendiges Haupt und ihren liebenden
Herrn, geblickt haben, anstatt auf menschliche Einrichtungen
und auf die Hülfsmittel dieser Welt, wahrlich, sie würde
eine ganz andere Geschichte aufzuweisen haben. Wenn
wir, geleitet durch unsre ungläubigen Pläne, ruhelos unsre
eignen Einrichtungen zu treffen suchen und so den Heiligen
Geist betrüben, auslöschen und hindern, was anders können
wir dann erwarten als Dürre und Leere, Enttäuschung
und Verwirrung? Christus genügt allezeit und für alles;
aber wir müssen in Wahrheit auf Ihn harren, Ihm vertrauen
und Ihn wirken lassen. Die Bahn muß völlig
frei bleiben für die Wirksamkeit des Heiligen Geistes zur
Entfaltung der Kostbarkeit, Fülle und Allgenugsamkeit
Christi.
Aber leider fehlen wir gerade hierin am meisten.
Wir suchen unsre Schwachheit zu verbergen, anstatt sie
anzuerkennen; und anstatt hinsichtlich all unsrer Bedürfnisse
einfältig und gänzlich auf Christum zu vertrauen,
suchen wir unsre Blöße mit einem selbst gewirkten Gewände
zu bedecken. Wir werden des demütigen und geduldigen
Wartens auf Ihn müde und sind nur zu bereit,
uns den Schein der Kraft zu geben. Nichts ist thörichter
als das und nichts schadet uns mehr. Ach, wenn wir
es nur glauben wollten, daß unsre wirkliche Kraft darin
besteht, unsre Schwachheit zu kennen und anzuerkennen,
und uns von Tag zu Tage an Christum anzuklammern
in ungekünsteltem Glauben!
277
Diesen vortrefflichen Weg einzuschlagen, dazu ermahnt
Judas in den Schlußzeilen seines Briefes den christlichen
Ueberrest: „Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend auf
euern allerheiligsten Glauben." (Vers 20.) Diese Worte
bezeugen offenbar die Verantwortlichkeit aller wahren
Christen, mit einander verbunden, nicht aber getrennt und
zerstreut zu sein. Wir sollen einander in Liebe dienen
nach dem Maße der uns mitgeteilten Gnade und nach
der Natur der uns verliehenen Gaben. Das „euch selbst
erbauend" ist eine gegenseitige Sache. Wir haben nicht
auf menschliche Anordnungen zu blicken, noch sollen wir
bei der Klage über unsern Mangel an Gaben stehen bleiben;
nein, ein jeder sollte einfältig thun, was er kann,
um den gemeinschaftlichen Segen und den Nutzen aller zu
fördern.
Der Leser wolle die vier Dinge beachten, zu deren
Ausführung wir ermahnt werden: „Erbauen", „Beten",
„Erhalten" und „Erwarten". Welch ein gesegnetes Werk
ist das, und zwar ein Werk für alle! Es giebt nicht
einen einzigen wahren Christen auf der Erde, der nicht
einige dieser Dienstleistungen oder sie alle erfüllen könnte;
ja, ein jeder ist verantwortlich, der Ermahnung des Apostels
nachzukommen. Wir können uns selbst auferbauen auf
unsern allerheiligsten Glauben; wir können beten in dem
Heiligen Geiste; wir können uns selbst erhalten in der
Liebe Gottes; und indem wir dieses thun, können wir
die Barmherzigkeit unsers Herrn Jesu Christi erwarten.
Fragt man, wer die „Geliebten" seien, so antworten
wir: alle, die durch die Gnade Gottes ein Anrecht auf
diesen gesegneten Titel haben. Es ist nicht ein angenommener
Name oder ein leeres Bekenntnis, sondern die Be
278
zeichnung der wahren Stellung der Christen. Und ein
jeder sehe zu, ob er auf dem Boden derer stehe, die also
benannt sind.
Indes beschränkt sich die Verantwortlichkeit des christlichen
Ueberrestes nicht auf die vier genannten Dinge. Er
soll nicht bloß an sich denken, sondern auch in helfender
Liebe seine Hand zu denen ausstrecken, die in Gefahr sind.
„Und die einen, welche streiten, weiset zurecht, die andern
aber rettet mit Furcht, sie aus dem Feuer reißend, indem
ihr sogar das vom Fleische befleckte Kleid hasset." (V. 22.
23.) Wer sind hier die „einen", und wer die „andern"?
Beide Ausdrücke sind ebenso unbestimmt und doch auch
wieder ebenso weitumfassend wie der Ausdruck „Geliebte".
Und dies ist schön; denn obwohl die Personen, an welche
der Apostel denkt, nicht näher bezeichnet werden, so wird
es den „Geliebten" doch nicht schwer fallen, sie ausfindig
zu machen. Es giebt viele teure Seelen überallhin zerstreut
inmitten der verfallenen Christenheit, von welchen die einen
zurechtgewiesen, und die andern mit Furcht gerettet werden
müssen — mit göttlicher Furcht, damit die „Geliebten"
nicht in ihre Befleckung mit verwickelt werden.
Die Annahme, daß man in das Feuer hineingehen
müsse, um einen andern aus demselben zu reißen, ist ganz
und gar verkehrt. Viemehr muß ich mich, um jemanden aus
einer bösen Stellung befreien zu können, zunächst selbst
außerhalb derselben befinden. Denn wie kann ich jeman
den aus einem Sumpfe ziehen? Sicherlich nicht, indem
ich' in den Sumpf hineingehe, sondern indem ich
mich auf festen Boden stelle und ihm von dort aus meine
helfende Hand entgegenstrecke. Unmöglich kann ich jemand
aus etwas herausreißen, es sei denn ich befinde
279
mich selbst außerhalb desselben. Darum, wenn wir den
Gläubigen helfen wollen, die in das Verderben der Christenheit
verwickelt sind, so müssen wir zunächst selbst entschieden
davon getrennt sein. Doch dies allein genügt
noch nicht; wollen wir ihnen wirklich von Nutzen sein, so
müssen unsre Herzen in lauterer, inbrünstiger Liebe allen
denen entgegenschlagen, welche dem Herrn angehören.
Indem wir hiermit schließen, möchten wir die Aufmerksamkeit
des Lesers noch auf die Lobpreisung lenken,
mit welcher der Apostel seine ernste und wichtige Epistel
beendigt: „Dem aber, der euch ohne Straucheln zu bewahren
und vor Seiner Herrlichkeit tadellos darzustellen
vermag mit Frohlocken, dem alleinigen Gott, unserm Heilande,
durch Jesum Christum, unsern Herrn, sei Herrlichkeit,
Majestät, Macht und Gewalt vor aller Zeit und jetzt
und in alle Zeitalter! Amen." Wir hören in dieser Epistel
viel von Straucheln — Israel ist gestrauchelt, Engel sind
gestrauchelt, Städte sind gefallen. Gott aber sei Dank!
da ist Einer, der uns ohne Straucheln zu bewahren vermag,
und Seiner heiligen Bewahrung sind wir übergeben.
Gedanken.
Eine geistliche Belehrung wird stets durch eine beständige
Darstellung der Person Christi gekennzeichnet sein.
Der Heilige Geist kann bei nichts anderem verweilen als
bei Jesu; von Ihm zu reden, Seine Kostbarkeit und
Schönheit darzustellen, ist Seine Wonne. Wenn deshalb
jemand durch die Kraft des Geistes dient, so wird sich
in seinem Dienste stets mehr von Christo als von irgend
etwas anderem finden.
280
Es ist von keiner großen Bedeutung, was wir von
uns denken, oder was andere über uns urteilen; die
große, allein wichtige Frage ist: Was denkt Gott von
uns? „Mir aber ist es das Geringste, daß ich von euch
beurteilt werde, oder von einem menschlichen Tage; ich
beurteile mich aber auch selbst nicht . . . Der mich aber
beurteilt, ist der Herr." — Der Tag des Herrn kommt,
„und dann wird einem jeden sein Lohn werden
von Gott". (1. Kor. 4, 3. 4. 5.)
Wir fühlen uns oft ganz zufrieden mit uns selbst,
wenn wir unsern Anordnungen unser Gebet hinzu gefügt
haben, oder mit andern Worten, wenn wir alle
rechtmäßigen Mittel, uns selbst zu helfen, angewandt und
Gottes Segen darüber angerufen haben. Aber wir dürfen
versichert sein, daß in einem solchen Falle unsre Gebete
nicht viel mehr wert sind als unsre Pläne; und ferner,
daß wir nie an das Ende unsrer Pläne kommen werden,
bis wir wirklich mit uns selbst zu Ende gekommen sind.
Gott hat Seine Wonne an Christo; und so sollte eS
unser stetes Begehren sein, Gott das darzubringen, woran
Er alle Seine Wonne findet.
Das Einzige, was in dieser Welt das Herz Gottes
wirklich erfreut und erquickt, ist der Glaube, welcher einfältig
auf Ihn vertraut; und da, wo dieser Glaube vorhanden
ist, werden sich sicher auch Liebe, Hingebung im
Dienst und wahre Anbetung finden.
Einleitung in die Schriften des Alten und
des Neuen Testaments.
(Schluß.)
Doch gehen wir wieder etwas zurück. Matthäus
giebt uns die Erfüllung der Verheißung und der Prophezeiung.
Wir finden in seinem Evangelium Immanuel in der
Mitte der Juden, von ihnen verworfen, indem sie sich an
dem Stein des Anstoßes stoßen. Dann wird Christus als
ein wirklicher Säemann vorgestellt: Frucht zu suchen war
nutzlos. Darauf folgen die Kirche und das Reich, welche an
die Stelle des gemäß den Verheißungen gesegneten Israel
treten, weil dieses jene Verheißungen in der Person Jesu
zurückwies; nach dem Gericht jedoch werden die Juden,
wenn sie Ihn annehmen werden, wieder anerkannt als
Gegenstände der Barmherzigkeit. In Matthäus ist nicht
die Rede von der Himmelfahrt, und wir denken, daß
gerade aus diesem Grunde Galiläa, und nicht Jerusalem,
der Schauplatz der Zusammenkunft des Herrn mit Seinen
Jüngern nach der Auferstehung ist. Jesus ist bei den
Armen der Herde, die auf das Wort des Herrn gelauscht
haben, da wo das Licht über das Volk, welches im
Finstern saß, aufgegangep ist. Der Auftrag zu taufen
geht von dort aus und bezieht sich auf die Nationen.
Markus zeigt uns den Diener und Propheten, den
Sohn Gottes. — Lukas stellt uns den Sohn des
282
Menschen vor und giebt uns in den beiden ersten Kapiteln
ein herrliches Bild von dem Ueberrest Israels. — Johannes
macht uns, wie wir schon oben sagten, mit der
göttlichen und fleischgewordenen Person des Herrn bekannt,
mit der Grundlage aller Segnung, sowie mit einem Versöhnungswerke,
welches die Grundlage jenes Zustandes bildet,
wo die Sünde nicht mehr vorhanden sein wird — der
neue Himmel und die neue Erde, in welchen Gerechtigkeit
wohnt. Am Ende finden wir die Gabe des Trösters;
und alles das steht im Gegensatz zu dem Judentum.
Anstatt die Abstammung des Herrn auf Abraham und
David, auf welchen die Verheißung ruhte, zurückzuführen,
oder auf Adam, damit Er als Sohn des Menschen den
Segen dem Menschen bringe, oder uns von Seinem thätigen
Dienst als der große Prophet, der da kommen sollte, zu
erzählen, führt Johannes eine göttliche Person, das fleischgewordene
Wort, in die Welt ein.
Paulus und Johannes teilen uns mit, daß wir uns
in einer ganz neuen Stellung in Christo befinden; aber
der Hauptgegenstand des Johannes ist, uns den Vater in
dem Sohne zu offenbaren und so, das Leben durch den
Sohn in uns, während Paulus uns vor Gott hinstellt
und uns Seine Gnadenratschlüsse enthüllt. Wenn wir bei
den Briefen stehen bleiben, so spricht nur Paulus von der
Kirche, mit Ausnahme dessen, was sich auf das Aufbauen
lebendiger Steine bezieht (ein noch nicht vollendetes Bauwerk),
was wir in 1. Petri 2 finden; aber Paulus allein
spricht von dem „Leibe".
Die Apostelgeschichte erzählt uns die Gründung
der Kirche durch den vom Himmel herabgekommenen Heiligen
Geist, ferner das Wirken der Apostel in Jerusalem
283
oder in Palästina und dasjenige andrer freier Arbeiter,
namentlich die Thätigkeit des Petrus und später diejenige
des Paulus, indem die Geschichte der Schrift mit
der Erzählung der Verwerfung des Evangeliums Pauli
seitens der in der Zerstreuung wohnenden Juden endigt.
Es würde uns zu weit führen, den Inhalt der Briefe
auch nur kurz anzudeuten; wir müssen uns darauf beschränken,
einige Worte über ihre zeitliche Reihenfolge zu
sagen, und machen nur darauf aufmerksam, daß sie die
Wirkung des Werkes Christi und die in Ihm geoffenbarte
Liebe des Vaters darstellen. Indem wir diejenigen, deren
Entstehungszeit sicher ist, voranstellen, kommen wir zu folgender
Ordnung: 1. und 2. Brief an die Thessalonicher,
1. und 2. Brief an die Korinther, Brief
an die Römer, dann diejenigen an die Epheser,
Kolosser, Philipper und an Philemon; die vier
letzten wurden während der Gefangenschaft Pauli in Rom
geschrieben. Der Brief an die Galater entstand zwischen
dem 14. und 20. Jahre nach der Berufung des Apostels,
nachdem er eine Zeitlang in Kleinasien gearbeitet hatte,
vielleicht während seines Aufenthaltes zu Ephesus, obwohl
nicht, lange nach der Gründung der Versammlungen von
Galatien. Der 1. Brief an Timotheus wurde gelegentlich
der Abreise des Apostels von Ephesus geschrieben,
der genaue Zeitpunkt ist nicht bekannt; der 2. datiert
von dem Ende des Lebens des Apostels, als er unmittelbar
vor seinem Märtyrertode stand. Der Brief an Titus
schließt sich an eine Reise Pauli nach Kreta an, ohne daß
wir wissen, wann diese Reise auSgeführt wurde (man hat
gedacht, daß sie vielleicht während des Aufenthaltes des
Apostels in Ephesus stattfand); in moralischer Hinsicht
284
ist er gleichzeitig mit dem 1. Briefe an Timotheus. Es
hat nicht in der Absicht Gottes gelegen, uns genaue Zeitangaben
zu machen; die Weisheit Gottes hat das nicht
gewollt; aber die moralische Ordnung ist sehr deutlich,
wie dies schon aus der Art und Weise hervorgeht, in
welcher der 2. Brief an Timotheus an den Verfall dessen
anknüpft, dessen Ordnung der erste festgestellt hatte.
Der Brief an die Hebräer wurde zu einer verhältnismäßig
späten Zeit geschrieben, und zwar im Blick auf
das Gericht, welches über Jerusalem hereinbrechen sollte:
er forderte die christlichen Juden aus, sich von dem zu
trennen, was Gott im Begriff stand zu richten.
Der Brief des Jakobus bezieht sich auf die Zeit,
wo diese Trennung noch in keiner Weise stattgefunden
hatte: die jüdischen Christen werden darin noch betrachtet
als einen Teil des Israel bildend, welches noch nicht
endgültig verworfen war, indem sie Jesum nur als den
Herrn der Herrlichkeit anerkannten. Wie alle die sogenannten
katholischen (allgemeinen) Episteln wurde der
Brief des Jakobus in den letzten Tagen der apostolischen
Geschichte geschrieben, als das Christentum unter den
Stämmen Israels bereits einen großen Eingang gefunden
hatte und das Gericht im Begriff stand, die Geschichte
der Juden zu beschließen.
In dem 1. Briefe des Petrus sehen wir, daß das
Evangelium sich unter den Juden sehr ausgebreitet hatte;
er ist an die jüdischen Christen von der Zerstreuung gerichtet.
Der 2. Brief ist selbstredend viel später geschrieben
und gehört an das Ende der Laufbahn des Apostels,
als die Zeit der Ablegung seiner Hütte und des Abscheidens
von seinen Brüdern herannahte; er wollte diese
285
nicht ohne die Warnungen lassen, welche die Sorge des
Apostels bald nicht mehr an sie würde richten können.
Aus diesem Grunde lenkt der 2. Brief Petri, wie der
Brief des Judas, den Blick auf diejenigen, welche den
Glauben verleugnet hatten, indem sie den Pfad der Gottesfurcht
verließen, sowie auf die Spötter, die sich dem Zeugnis,
daß der Herr kommen würde, widersetzten.
In dem 1. Briefe des Johannes befinden wir
uns nach dem eignen Zeugnis des Schreibers in der „letzten
Stunde": Abtrünnige waren schon offenbar, Abtrünnige
von der Wahrheit des Christentums, die den Vater
und den Sohn leugneten und zu gleicher Zeit, im Verein
mit dem jüdischen Unglauben, leugneten, daß Jesus
der Christus sei.
Judas geht in moralischer Hinsicht Johannes voran;
wir finden hier falsche Brüder, die sich unter die
Heiligen nebeneingeschlichen hatten. Die Darstellung dehnt
sich jedoch noch weiter aus bis zu der schließlichen Empörung
und dem Gericht. Der Brief weicht insofern von
dem 2. Briefe Petri ab, als das Böse nicht einfach als
Ungerechtigkeit, sondern als ein Verlassen des ersten Zustandes
betrachtet wird.
Die Offenbarung vervollständigt das Gemälde,
indem sie Christum als Richter inmitten der Leuchter
zeigt; der ersten Versammlung wird, da sie ihre erste
Liebe verlassen hat, angedroht, daß, wenn sie nicht Buße
thue und zu ihrem ersten Zustand zurückkehre, ihr Leuchter
weggenommen werden würde. Das schließliche Gericht findet
sich in Thyatira und in Laodicäa; dann wird das Gericht
der Welt und die Rückkehr des Herrn, das Reich und die
himmlische Stadt sowie der ewige Zustand gezeigt.
286
Dieser allgemeine Charakter des Abfalls und des
Verfalls, der sich in den sämtlichen letzten Büchern des
Neuen Testaments, von dem Hebräerbriefe bis zur Offenbarung,
wiederfindet, ist sehr beachtenswert. Die Briefe
Pauli — mit Ausnahme des 2. Briefes an Timotheus,
der dem Einzelnen Anweisungen für sein Verhalten inmitten
des Verfalls giebt, indem er zugleich diesen Zustand der
Dinge vorher ankündigt — sind der Ausdruck der Arbeit und
der Sorgen des weisen Baumeisters. Das Interesse an der
Zeit ihrer Abfassung steht in Verbindung mit der Apostelgeschichte;
aber der Brief an die Hebräer, die katholischen
Episteln und die Offenbarung zeigen uns den ganzen Verfall
als schon gekommen, (der 1. Brief Petri, der am
wenigsten diesen Stempel trägt, sagt uns, daß die Zeit
gekommen sei, daß das Gericht beim Hause Gottes anfange,)
und infolge dessen das Gericht der bekennenden
Kirche und darnach prophetisch dasjenige der Welt, welche
sich im Aufruhr gegen Gott befindet. Dieser endgültige
Charakter der katholischen Briefe ist treffend und lehrreich.
Die Einheit des Geistes.
Die Vereinigung der Gläubigen zu einem Leibe ist
einzig und allein das Werk des Heiligen Geistes. „Denn
auch in einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe
getauft worden." (1. Kor. 12, 13.) Sie ist daher göttlich,
vollkommen und ewig. Jede Mitwirkung an dieser
Vereinigung seitens des Menschen ist ausgeschlossen, und
ebenso kann sie durch keine menschliche oder teuflische Macht
zerstört.werden. Trotz der traurigen Zersplitterung der
Christen ist und bleibt es eine unumstößliche Wahrheit,
287
daß alle Gläubigen einen Leib bilden, dessen Haupt
Christus ist und in welchem der Heilige Geist wohnt.
Anders verhält es sich mit der Offenbarung oder
der'spraktischen Darstellung dieser Einheit. Für diese
ist jeder Gläubige verantwortlich, und sie kann infolgedessen
sehr mangelhaft sein, und ist es in der That. Allen
Gläubigen gilt die Ermahnung: „euch befleißigend, die
Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens."
(Eph. 4, 3.) Leider aber kennt die große Mehrzahl
der Christen diese Einheit nicht, und die wenigen,
welche sie kennen, sind in großer Gefahr, die Grundsätze
derselben aus dem Auge zu verlieren. Wie groß auch
der Verfall ist, so bleiben doch die Grundsätze bestehen,
auf welchen von Anfang an die Offenbarung der Einheit
des Geistes beruhte; und wenn wir diese bewahren wollen,
so müssen wir jene aufrecht erhalten.
Als erster Grundsatz gilt die Anerkennung der Autorität
Christi, sei es nun daß wir Ihn als Sohn über
Sein Haus, oder als Haupt Seines Leibes betrachten.
Christus ist treu „als Sohn über Sein Haus, dessen
Haus wir sind". (Hebr. 3, 6.) Und „Er ist das
Haupt des Leibes, der Versammlung, welcher ist der Anfang,
der Erstgeborne aus den Toten, auf daß Er in
allen Dingen den Vorrang hab e." (Kol. 1, 18.)
In der letzten Stelle wird nicht so sehr das innige Verhältnis
zwischen Haupt und Gliedern hervorgehoben, wie im
Epheserbriefe, sondern vielmehr die persönliche Herrlichkeit
Christi als Herr über alles, auch über die Versammlung.
„Alle Dinge sind durch Ihn und für Ihn geschaffen.
Und Er ist vor allen, und alle Dinge bestehen zusammen
durch Ihn . . ., auf daß Er in allen Dingen den
288
Vorrang habe." Indes lesen wir auch im Epheserbriefe,
daß die Versammlung dem Christus unterworfen ist,
und daß es nur „einen Herrn" giebt. (Eph. 5, 24; 4, 5.)
Die Versammlung ist S ei n e Versammlung, Sein HauS,
Sein Leib; der in ihrer Mitte aufgerichtete Tisch ist
Sein Tisch; die in ihr thätigen Arbeiter sind Seine
Arbeiter. „Er hat etliche gegeben als Apostel und etliche
als Propheten und etliche als Evangelisten und etliche als
Hirten und Lehrer." (Eph. 4, 11.) „Es sind Verschiedenheiten
von Diensten, und derselbe Herr." (1. Kor.
12, 5.) Die für alle Gläubigen maßgebenden Verhal-
tungSregeln sind Sein Wort.
Alle Gläubigen auf der Erde gehören zu dieser
einen Versammlung, bilden den einen Leib, das eine
Haus, und haben folglich nur einen Herrn, ein Haupt
— Christum. Alle sind daher verpflichtet, Seine Autorität
anzuerkennen; und wenn sie dies thun, so werden
sie die Einheit des Geistes bewahren. Sie werden alle
um einen Tisch versammelt sein (wennauch örtlich getrennt)
und dort ihrer Einheit Ausdruck geben — „denn
ein Brot, ein Leib sind wir, die Vielen." (1. Kor. 10,17.)
Sie werden alle die vom Herrn berufenen Arbeiter anerkennen
und denselben unterworfen sein, eingedenk der Worte
des Herrn: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer den
aufnimmt, den irgend ich senden werde, nimmt mich auf."
Und ferner: „Auf daß auch ihr solchen Unterthan seid
und jedem, der mitwirkt und arbeitet." (Joh. 13, 20;
1. Kor. 16, 16.) Kurz, sie werden in jeder Beziehung
in Uebereinstimmung sein mit dem Worte des Herrn,
wie geschrieben steht: „Wenn jemand mich liebt, so wird
er mein Wort halten." (Joh. 14, 23.) Einer wird
289
dem andern unterwürfig sein in der Furcht Christi.
(Eph. 5, 21.)
Bei den ersten Christen war diese Anerkennung der
Autorität Christi vorhanden — die Furcht Christi beherrschte
alle. „Es kam aber jede Seele Furcht an."
(Apstgsch. 2, 43.) Durch das ernste Gericht, welches
Ananias und Sapphira traf, wurde diese Furcht nur noch
vermehrt. Wir lesen wiederholt: „Und es kam große
Furcht über alle, die es hörten .... Und es kam große
Furcht über die ganze Versammlung und über alle, die
dies hörten." (Apstgsch. 5, 5. 11.) Als späterhin die
durch Saulus erweckte Verfolgung wider die Versammlung
aufgehört hatte, hören wir wieder, daß die Gläubigen in
der Furcht des Herrn wandelten. (Apstgsch. 9, 31.)
Es war dies keine knechtische Furcht; sie entsprang
vielmehr dem lebendigen Bewußtsein, welches sie von der
Gegenwart des Herrn in ihrer Mitte hatten. Es war
eine Furcht, die sich für sie ihrem Herrn und Haupte
gegenüber geziemte. Sie verstanden, daß Er den ersten
Platz in dem Herzen und den Ratschlüssen des Vaters
einnimmt; daß Er von Ihm zu Seiner Rechten gesetzt
ist über jedes Fürstentum und jede Gewalt und Kraft
und Herrschaft und jeden Namen, der genannt wird.
(Eph. 1, 21.) Sie kannten den Wert Seines Namens,
der „über jeden Namen ist" (Phil. 2, 9), und wußten,
was das Zusammenkommen in diesem Namen zu bedeuten
hat — daß da jede eigenwillige Thätigkeit und jede menschliche
Anmaßung fern bleiben müssen; daß da nichts geduldet
werden kann, was nicht der Gesinnung, der Liebe,
Geduld und Heiligkeit des Herrn entspricht. Und also
bewahrten sie die Einheit des Geistes. Ja, sie waren so
290
innig mit einander verbunden, daß von ihnen gesagt werden
konnte: „Die Menge derer aber, die gläubig geworden,
war ein Herz und eine Seele." (Apstgsch. 4, 32.) Was
war die Ursache dieses gesegneten Zustandes? Der Herr
war der erste Gegenstand der Herzen, und Ihm, dem
Haupte des Leibes, dem Sohne über Sein Haus, waren
alle unterworfen.
Heute aber ist alles verändert. Die Gläubigen in
ihrer Gesamtheit wandeln nicht mehr in der Einheit des
Geistes. Sie kommen nicht mehr in einem Geiste an
dem einen Tische des Herrn zusammen; die Erkenntnis
der Wahrheit von dem einen Brote und dem einen
Leibe ist verloren gegangen. Es ist nicht mehr „ein
Herr", sondern viele Herren haben sich die Herrschaft über
die Herde Gottes angemaßt. Der Mensch spricht von
seiner Gemeinde, in welcher nur er zu wirken, zu
ermahnen, zu erbauen und zu belehren hat. Wo ist da
die Autorität Christi über Sein Haus? Wo die Anerkennung
Seiner Arbeiter, die Er der ganzen Versammlung
zum Nutzen gegeben hat? Es ist ein offenbarer
Eingriff in die Rechte des Herrn über Seinen Tisch,
Seine Versammlung und Seine Arbeiter. Denn was liegt
in Wirklichkeit all den Parteien in dem weiten Bereich
der Christenheit zu Grunde? Nichts Geringeres als die
Verleugnung der Autorität Christi. Nicht Sein Wille und
Gebot ist die Richtschnur, nach welcher man handelt, sondern
der Wille und das Gebot des Menschen. Hält man auch
an dem Namen Christi fest, so mangelt doch die Furcht
Christi. Der „alleinige Gebieter und Herr" (d. h. also nicht
so sehr die Person, sondern die Autorität Christi)
wird verleugnet. (Vergl. 2. Petr. 2, 1; Judas Vers 4.)
291
Wenn aber die Furcht Christi aus den Herzen verschwindet,
so bleibt die erste Bedingung zur Bewahrung
der Einheit des Geistes unerfüllt. Denn wenn man nicht
auf den Herrn achtet, so achtet man auch nicht auf Sein
Wort, und noch weniger auf die Ermahnungen Seiner
Boten; und die gegenseitige Unterwürfigkeit in der Furcht
Christi ist erst recht eine unbekannte Sache. Uyd wohin
ein solcher Zustand führt, haben wir soeben gesehen.
Die Furcht Christi läßt sowohl der Selbstüberhebung
als auch der Menschenfurcht keinen Raum. Sie bewahrt
jedes Glied an dem ihm von dem Haupte angewiesenen
Platze und läßt keinen Neid noch Eifersucht aufkommen.
Denn wohnt die Furcht Christi im Herzen, so ist man
klein in seinen eignen Augen und zufrieden, den letzten
Platz einzunehmen, wenn nur Christus den ersten hat.
Man achtet in Demut den Andern höher als sich selbst;
man sucht nicht das Seine, sondern auch das was der
Andern ist; und also offenbart sich die Gesinnung des
Herrn Jesu. (Phil. 2.)
DaS ist der Weg, auf welchem die Einheit des Geistes
im Bande des Friedens verwirklicht und bewahrt wird.
Nicht als ob damit alle Glieder in praktischer Beziehung
vollkommen und fehlerfrei wären, so daß sie nicht mehr
nötig hätten, einander zu ertragen, und zu vergeben; weit
davon entfernt! Die Notwendigkeit, uns gegenseitig in
Geduld und Liebe zu tragen, wird bleiben, so lange wir
in diesem sterblichen Leibe sind. Aber es wird uns nicht
schwer werden, dies zu thun, wenn die Furcht Christi
unser Herz erfüllt und wir Ihn thatsächlich als das Haupt
des Leibes anerkennen. Er ist das Haupt, und den Gliedern
geziemt Unterwürfigkeit. Ein selbständiges Vorgehen
292
derselben in Unabhängigkeit von Ihm ist eine Einführung
der Autorität des Menschen und heißt die Einheit des
Geistes zerstören. Möchten wir alle von dem großen
Apostel lernen, „jeden Gedanken gefangen zu nehmen unter
den Gehorsam des Christus"! (2. Kor. 10, 5.)
Aber die Anerkennung der Autorität Christi schließt
noch eine andere höchst wichtige Sache in sich: mit derselben
ist unabweislich eine entschiedene Trennung vom
Bösen verbunden. Wir können nicht mit irgend etwas in
Gemeinschaft sein, was Seinen heiligen Namen verunehrt;
wir können die Einheit des Geistes nicht bewahren auf
Kosten der Heiligkeit des Herrn. Es ist schon bemerkt
worden, daß wir in aller Liebe und Geduld einander tragen
müssen. Wenn aber Böses in der Mitte der Versammlung
hervortritt, welches die Natur des Aussatzes
annimmt, so ist Trennung davon der einzige Weg zur
Bewahrung der Einheit des Geistes. Liebe und Geduld,
die auf Kosten der Heiligkeit geübt werden, sind nicht die
Liebe und Geduld Christi, sondern rein menschlich und
können nur zur Unehre des Herrn und zum Schaden der
ganzen Versammlung ausschlagen.
Es mag in manchen Fällen schwierig sein, den wahren
Charakter des Bösen zu erkennen; aber die Schwierigkeit
wird schwinden, wenn bei der Beurteilung desselben
die Ehre des Herrn in den Vordergrund gestellt wird.
Man ist geneigt, sittliche Vergehen weit schärfer zu beurteilen
als falsche Lehren und verderbliche Grundsätze.
Woher kommt das? Es hat wohl seinen Hauptgrund
darin, daß die Christen in unsern Tagen des Verfalls
im allgemeinen mehr an ihre eigne Ehre als an die Ehre
des Herrn denken. Man gelangt z. B. in Fällen von
293
Trunksucht oder Unsittlichkeit viel schneller zu einem einstimmigen
Urteil, als wenn es sich um Lehren oder Grundsätze
handelt, welche die Person oder das Werk des Herrn
angreifen. Es ist dies eine höchst traurige Erscheinung
unsrer Tage, die den geistlichen Zustand der Gläubigen
in sehr demütigender Weise kennzeichnet. Nichts sollte unS
so sehr am Herzen liegen als die Ehre des Herrn; und
doch zögert und zögert man, sich von Lehren und Grundsätzen
zu trennen, durch welche jene herabgewürdigt wird.
Und zwar geschieht dieses Zögern sehr häufig unter dem
Vorwande der Bruderliebe. Aber wo bleibt da die Liebe
zu Christo? Wo die Furcht Christi und die Anerkennung
Seiner Autorität? „Wenn ich Herr bin, wo ist meine
Furcht?" (Mal. 1, 6.) Eine solche Bruderliebe entspringt
nicht der rechten Quelle — der Liebe zu Gott. Denn
Johannes schreibt: „Hieran wissen wir, daß wir die Kinder
Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und
Seine Gebote halten." (1. Joh. 5, 2.) Und ein
Aufrechthalten der Gemeinschaft auf Kosten der Liebe zu
Christo ist nicht mehr die Bewahrung der Einheit des
Geistes. Daß wir, um letztere zu bewahren, unmöglich
mit sittlichen Vergehen in Gemeinschaft bleiben dürfen, ist
offenbar; aber ebensowenig mit Lehren oder Grundsätzen,
welche den Herrn verunehren und vielleicht die Grundlagen
deS Christentums umstoßen. Denn solche Lehren
sind von Anfang an eine Hauptquelle des Verfalls
und vielfach auch sittlicher Vergehungen gewesen. Durch
sie werden die Herzen von Christo, der Quelle der Kraft,
des Friedens, der Freude und der Heiligung, entfernt;
und ist dieses geschehen, so mangelt dem Wandel der
wahre göttliche Beweggrund und Zweck.
294
Wir sehen daher auch, wie die Apostel das Böse,
welches in Form von falschen Lehren und verderblichen
Grundsätzen auftrat, weit schärfer verurteilten, als das
Böse in irgend einer andern Form. Wiederholt spricht
Paulus den Fluch aus über solche, die ein anderes Evangelium
verkündigten, und wünscht, daß sie abgeschnitten
würden. Er war in Verlegenheit betreffs der Versammlungen,
die solchen Lehrern ihr Ohr liehen, und fürchtete,
vergeblich an ihnen gearbeitet zu haben; er hatte abermals
Geburtswehen um sie, bis Christus in ihnen gestaltet
sei. (Gal. 1, 8. 9; 4, 11. 19. 20.) Johannes sagt:
„Jeder, der weitergeht und nicht in der Lehre des Christus
bleibt, hat Gott nicht. . . . Wenn jemand zu euch
kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmet ihn nicht ins
Haus auf und grüßet ihn nicht." (2. Joh. Vers 9. 10.)
Sind wir weiser als die Apostel, oder haben wir mehr
Liebe als sie? Wenn aber damals eine solch entschiedene
Trennung von alledem nötig war, was die Autorität
Christi über Sein Haus in Frage stellte und die Einheit
des Geistes zerstörte, wie viel mehr heute, in den schweren
Zeiten des Endes! Und bedenken wir wohl, daß die
Grundsätze zur Bewahrung der Einheit des Geistes heute
noch dieselben sind wie damals; sie sind unveränderlich.
Stößt man die ersteren um, so ist eS unmöglich, die letztere
zu bewahren. Wollen wir daher der Ermahnung
des Apostels zur Bewahrung jener Einheit nachkommen,
so müssen wir vor allem die Autorität Christi als Haupt
des Leibes thatsächlich, und nicht bloß dem Bekenntnis
nach, anerkennen; wir müssen Ihm in allen Dingen den
Vorrang lassen, Ihm nns bedingungslos unterwerfen und
in Seiner Furcht wandeln. „Die Furcht Jehovas ist der
295
Weisheit Anfang." (Sprüche 9, 10.) Wandeln wir in
dieser Furcht, so sind unsre Herzen einfältig, und fähig,
das Gute von dem Bösen zu unterscheiden.
Wir kommen jetzt zu dem zweiten der Grundsätze,
von welchen wir im Anfang gesprochen haben. Als solcher
gilt die Thatsache, daß wir zur Bewahrung der
Einheit der Macht und Leitung des Heiligen Geistes bedürfen.
Ohne Zweifel zeigt das allseitige Streben nach
Vereinigung, welches sich unter den Gläubigen kundgiebt,
wie tief das Bedürfnis nach Einheit von allen gefühlt
wird. Aber die meisten übersehen dabei nicht nur die
Thatsache, daß die Einheit bereits durch den Heiligen Geist
gemacht ist (1. Kor. 12, 13), sondern auch, daß wir sie
nur durch die Macht des Geistes bewahren können.
Sie übersehen völlig, daß es dazu einer einheitlichen Leitung
bedarf, wo alle Fäden in der Hand einer Person,
der göttlichen Person des Heiligen Geistes, zusammenlaufen.
Er, der alle die Glieder Christi zu einem
Leibe vereinigt hat, der in ihnen wohnt und wirkt, der
die Gaben austeilt, wie und wem Er will u. s. w., Er
allein kann die zur Bewahrung der Einheit nötige Gnade,
Weisheit und Kraft darreichen. Ohne einen Wandel
nach dem Geiste ist diese Bewahrung unmöglich. Statuten,
Regeln und Vorschriften vermögen hier nichts, es
seien denn diejenigen, welche der Heilige Geist der Versammlung
Gottes gegeben hat — mit andern Worten, das
Wort Gottes selbst.
Wir erkennen nun entweder die Macht des Heiligen
Geistes an, und in diesem Falle warten wir auf Seine
Leitung; oder wir handeln in unsrer eignen Macht und
Weisheit, und alsdann richten wir nur Verwirrung an.
296
Leider hat die bekennende Kirche in der letzteren Weise
gehandelt. Sie hat dem Grundsatz nach beides, die Autorität
Christi über Sein Haus und die Macht deS Heiligen
Geistes, beiseite gesetzt und dafür die Macht und Autorität
des Menschen eingeführt. Vergeblich hat der Herr lange
auf ihre Buße gewartet (Offbg. 2, 21); vergeblich ist die
Ermahnung an sie gerichtet worden: „Wer ein Ohr hat,
der höre, was der Geist den Versammlungen sagt."
(Offbg. 2, 7. 11.17.) Infolge dessen ist sie einer schrecklichen
Verblendung anheimgefallen, so daß sich die obige
Mahnung schon seit lange nicht mehr an die Kirche als
solche richtet, sondern nur noch an die einzelnen wahren
Christen in ihr. Diese bleiben trotz aller Verwirrung
verantwortlich, die Einheit des Geistes zu bewahren,
Christo als ihrem gemeinsamen „Herrn" unterwürfig zu
sein und der einheitlichen Leitung deS Geistes zu folgen,
indem sie auf Seine Stimme hören.
Das Bedürfnis nach Einheit wird nun, wie bereits
gesagt, von vielen Gläubigen gefühlt; aber anstatt die
Einheit, welche der Heilige Geist gemacht hat, einfach
anzuerkennen, bestreben sie sich — der eine auf diesem,
der andere auf jenem Boden — eine Vereinigung herbeizuführen.
Dieses Bestreben ist an und für sich schon
eine Leugnung der durch den Heiligen Geist bewirkten
Einheit aller Gläubigen. „Denn in einem Geiste sind
wir alle zu einem Leibe getauft worden, es seien Juden
oder Griechen, es seien Sklaven oder Freie, und sind
alle mit einem Geiste getränkt worden." (1. Kor. 12,13.)
Es ist daher offenbar, daß alle solche Bemühungen, eine
Einheit zu machen, nicht durch den Heiligen Geist gewirkt
sein können, sondern aus dem Fleische hervorkommen
297
müssen. So belehrt uns denn auch der Apostel, daß die
„Sekten" ebensowohl zu den Werken des Fleisches gehören,
wie „Hurerei, Götzendienst" u. dergl. (Gal. 5, 19—20.)
Der Weg, welchen der Heilige Geist uns leitet, um
die Einheit praktisch darzustellen und zu bewahren, besteht
also erstens in der Anerkennung der Autorität Christi über
Sein Haus; zweitens in der Anerkennung der von Ihm
gemachten Einheit; drittens in der Trennung von allem,
was dieser Einheit entgegenstrebt, und viertens in dem
Beharren unter der Leitung des Heiligen Geistes. Dieser
Weg ist heute noch so einfach und klar wie im Anfang.
Und alle, die ihn gehen, offenbaren oder verwirklichen die
Einheit des Geistes, genießen den Trost des Heiligen
Geistes (Apstgsch. 9,31), haben durch Ihn die feste und
sichere Ueberzeugung von der Richtigkeit des Weges, den
sie gehen, und bleiben bewahrt vor tausendfachen Irrwegen.
Wie nur der Heilige Geist einer Seele die Gewißheit
ihrer Errettung geben kann, so kann auch
nur Er allein die Gläubigen von der Richtigkeit des
Weges überzeugen, den sie zu gehen haben. Dies liegt
in keines Menschen Macht. Wohl mag einer dem andern
die Wahrheit klar vorstellen können, aber die innere, felsenfeste
Ueberzeugung, daß man auf dem Boden der Wahrheit
steht, kann nur der Heilige Geist geben. „Wenn aber
jener, der Geist der Wahrheit, gekommen ist, wird Er
euch in die ganze Wahrheit leiten." (Joh. 16, 13.)
Darum: „Wer ein Ohr hat, der höre, was der Geist
den Versammlungen sagt." Wer dieser Ermahnung nicht
Gehör schenkt, steht allezeit in Gefahr, Menschen zu
folgen.
Zum Schluß sei nochmals an die ernste Verantwort
298
lichkeit erinnert, die wir als Gläubige betreffs dieser Sache
haben. Wir wissen, wie sehr dem Herrn die Einheit der
Seinigen am Herzen liegt, und jedem einzelnen Gläubigen
liegt es ob, sie zu offenbaren und praktisch zu verwirklichen.
Keiner kann behaupten, daß die dazu nötigen
Bedingungen, die wir oben anführten, unerfüllbar seien,
oder daß das von uns Gesagte einen parteiischen Charakter
trüge. Jene Bedingungen sind das Geringste, was
der Herr von jedem der Seinigen erwartet und erwarten
muß; und es bedarf keiner besonderen Erkenntnis oder
Begabung, um sie zu verstehen. Auch kann keiner sagen,
daß die Leitung des Heiligen Geistes in^diesen Tagen des
Verfalls nicht mehr so wahrnehmbar sei wie im Anfang.
Jeder weiß, daß er in der Furcht Christi zu wandeln
hat; und wenn er dies in Wahrheit thut, so hat er
den wichtigsten Schritt zur Verwirklichung der Einheit gethan.
Denn alsdann wird der Heilige Geist ihn leiten;
er wird die Stimme des Geistes verstehen, und die Einheit
des Geistes von allen menschlichen Nachahmungen zu
unterscheiden wissen. „Der Geistliche beurteilt alles, er
selbst aber wird von niemandem beurteilt." (1. Kor. 2, 15.)
Wachstum in der Gnade.
Eines der Kennzeichen eines wahren Gläubigen ist
das Vorhandensein des tiefen Gefühls und Bewußtseins,
daß er Christum nötig hat, daß er ohne Ihn nichts vermag.
Ein solcher kann alles andere entbehren, nur nicht
Ihn. Er weiß, daß alle seine Quellen in Christo sind,
und daß nichts die Beschäftigung und Gemeinschaft mit Ihm
ersetzen kann; daß vielmehr Dürre und Leere sein Herz
299
erfüllen müssen, sobald er sein Auge von Christo abwendet.
Eines der Kennzeichen eines wachsenden Gläubigen
ist die Begierde nach dem Worte. Ein solcher forscht in
den Schriften, und zwar nicht so sehr um seine Erkenntnis
zu bereichern, sondern vielmehr um Christum in ihnen zu
finden; denn er weiß aus dem Munde des Herrn selbst,
daß sie von Ihm zeugen. Auch erinnert er sich daran,
wie eingehend der Herr nach Seiner Auferstehung aus den
Toten Seine Jünger belehrte und wie liebevoll Er sie
tröstete, indem Er ihnen aus den Schriften des Alten
Testamentes das erklärte, was Ihn betraf. (Luk. 24, 27.)
Und obgleich ein solcher Gläubiger allezeit Gott dafür
dankt, daß Er ihm das ewige Leben gegeben und ihn,
den Verlornen, zu Seinem Kinde gemacht hat, ist er sich
doch völlig bewußt, daß es im geistlichen Leben ein Wachstum,
ein Fortschreiten giebt, und daß wir ermahnt sind,
„zu wachsen in der Gnade und Erkenntnis unsers Herrn
und Heilandes Jesu Christi". (2. Petr. 3, 18.)
In der ersten Epistel des Apostels Petrus ist ebenfalls
von einem Wachstum die Rede. Wir lesen im 2. 'Kapitel:
„Wie neugeborne Kindlein seid begierig nach der vernünftigen,
unverfälschten Milch, auf daß ihr durch dieselbe
wachset, wenn ihr anders geschmeckt habt, daß der Herr
gütig ist." Aus dieser Stelle geht deutlich hervor, daß
das geschriebene Wort Gottes das Mittel zu unserm
Wachstum ist, und zwar indem wir es durch den Glauben
in unsern Herzen aufnehmen. Ebenso klar ist es aber
auch, daß diejenigen, welche das Lesen und Erforschen der
Schriften vernachlässigen, nicht erwarten können, in der
Gnade zu wachsen.
300
In 1. Petri 5, 10 wird unser Gott „der Gott
aller Gnade" genannt. Kostbare Wahrheit! Gott ist
demnach die Quelle aller Gnade, und sie ist zu uns gekommen
durch Jesum Christum, Seinen Sohn, der einst
hienieden war „voller Gnade und Wahrheit". So ist
also die Quelle der Gnade Gott selbst, der Kanal,
durch welchen sie uns zugeflossen ist, Christus, und die
Bedienung unsrer Seelen mit der Gnade geschieht durch
das geschriebene Wort in der Kraft des Heiligen Geistes.
Auf diesem Wege werden wir „befestigt durch Gnade"
und wissen, daß wir in der Gnade vor Gott stehen, und
daß wir „unter der Gnade" sind; so daß wir, indem
wir der Gunst Gottes gewiß sind, uns in Hoffnung der
Herrlichkeit Gottes erfreuen können. Die innige Beschäftigung
mit dem Worte des Gottes aller Gnade ruft ferner
Gnade in uns selbst hervor, und indem die Liebe
Gottes in unsre Herzen ausgegossen ist durch den Geist,
den Er uns gegeben hat, besitzen wir sowohl geistliche
Kraft als auch Frieden und Freude, so daß wir in Gnade
gegen andere wandeln können. So werden wir denn auch,
wenn von einem treuen, hingebenden Dienst für den Herrn
die Rede ist, zunächst ermahnt, „stark zu sein in der
Gnade, die in Christo Jesu ist". (2. Tim. 2, 1.)
Durch die Gnade Gottes verstehen wir also nicht
nur die gegenwärtige Stellung der vollen Gunst, in welche
wir eingeführt sind, sondern da Gott uns geliebt hat, als
wir noch Sünder waren, und uns in dieselbe Nähe, in
dasselbe Verhältnis zu sich gebracht hat, in welchem sich
Christus befindet, so wissen wir, daß wir auch zu Miterben
Christi gemacht sind und die gewisse Aussicht haben,
bald alle Seine Herrlichkeit mit Ihm zu teilen. Ja, nicht
301
nur das; wir wissen auch, daß der Herr als unser großer
Hoherpriester und Sachwalter allen unsern Bedürfnissen
auf dem Wege zu jener Herrlichkeit entgegenkommt. Je
mehr das Wort Gottes uns nahe gebracht und durch die
Belehrung und die Macht des Heiligen Geistes im Glauben
ausgenommen wird, desto mehr wachsen wir in der
Erkenntnis Gottes, und desto mehr schmilzt und bildet die
Gnade Gottes unsre Herzen. Wir wachsen, wir machen
Fortschritte und werden fähiger, praktisch die Tugenden
Dessen zu verkündigen, der uns „berufen hat aus der
Finsternis zu Seinem wunderbaren Licht". (1. Petr. 2, 9.)
Ein Wachsen in der Erkenntnis unsers Herrn und
Heilandes Jesu Christi wird ebenfalls das Wachstum in
der Gnade begleiten; nur sind wir sehr leicht geneigt, uns
mit der einen oder andern besondern Seite der Person
Christi zu beschäftigen, während wir die übrigen Seiten
vernachlässigen. Manche Christen gleichen in dieser Beziehung
einem Manne, der ein Kästchen mit Edelsteinen
vor sich hat, alle kostbar und alle von einander verschieden,
der aber nun, anstatt die Schönheiten eines jeden
einzelnen Steines zu betrachten, nur einen oder zwei herausgreift
und diese eingehend in Augenschein nimmt. Die
Gebete und Unterhaltungen vieler geliebter Kinder Gottes
gehen nicht über das hinaus, was Christus für uns als
Opferlamm auf dem Kreuze gethan hat. Andere wissen
etwas über Sein Priestertum und Seine Sachwalterschaft
zu sagen; noch andere reden vielleicht auch von Ihm als
dem Haupte Seines Leibes; aber nur wenige Gläubige
scheinen sich der unendlich mannigfaltigen Arten bewußt zu
sein, in welchen der Herr Jesus uns vorgestellt wird:
was Er ist in Seiner Person, in Seiner moralischen Voll
302
kommenheit, in Seinen Aemtern und Verrichtungen; was
Er für Gott ist und wozu Gott Ihn für uns gemacht
hat. Wenn wir unsre Gedanken allein auf das beschränken,
was Christus am Kreuze für uns gethan hat,
so werden wir einen ernsten Verlust erleiden. Das Werk
Christi auf dem Kreuze ist sicherlich überaus herrlich und
kostbar, denn alle unsre Segnungen sind auf dasselbe
gegründet; allein wenn wir die Schriften des Neuen
Testamentes durchforschen, so finden wir weit mehr als
das, ja, wir werden zu staunender Bewunderung hingerissen,
wenn wir sehen, in welch mannigfaltiger Weise
Sein Wort zu unserm Nutzen gegeben und Christus vor
unsre Seelen gestellt ist.
Nehmen wir z. B. den Brief an die Hebräer. Vielleicht
ist es schwierig, Gläubige in einem niedrigeren Zustande
zu finden, als die Hebräer waren; denn sie dachten
daran, zum Judentum zurückzukehren und den christlichen
Boden zu verlassen. Und gerade diesen Christen stellt der
inspirierte Schreiber Christum unter den mannigfaltigsten
Gesichtspunkten vor Augen. Im ersten Kapitel finden
wir den Sohn Gottes, betrachtet hinsichtlich Seiner Gottheit;
in dem zweiten Kapitel handelt es sich um Seine
vollkommene Menschheit. Im dritten tritt Er vor uns
als der Apostel, der vom Himmel herniedergekommen, und
als der Hohepriester, der in den Himmel hinausgestiegen
ist; auch ist Er größer als Moses und ist Sohn über Sein
Haus. Im vierten Kapitel ist Er größer als David und
Josua. Im fünften Kapitel wird gezeigt, daß Er größer
ist als Aaron, und daß Er allen denen, die Ihm gehorchen,
der Urheber ewigen Heils geworden ist. Im
sechsten Kapitel ist von Ihm die Rede als dem Vorläufer,
303
der für uns in das Innere des Vorhangs eingegangen
ist. Im siebenten Kapitel wird bewiesen, daß Er größer
ist als Abraham; als der Sohn, vollendet in Ewigkeit,
besitzt Er ein unveränderliches und unübertragbares Priestertum.
Vom zweiten bis zum neunten Kapitel wird Er uns
vorgestellt als unser treuer und barmherziger Hoherpriester,
als Jesus, der Sohn Gottes, der durch die Himmel gegangen
und fähig ist, uns in der Stunde der Versuchung
beizustehen und Mitleid mit uns zu haben in unsern
Schwachheiten; der da allezeit lebt, um uns zu vertreten
und sich in jeder Beziehung für uns zu verwenden, und der,
obwohl Er die Verrichtungen des aaronitischen Priestertums
ausübt, nach der Ordnung Melchisedeks ist. In
den Kapiteln neun und zehn finden wir den ewigen Wert
Seines einmaligen Opfers, welches uns nicht nur Vergebung
der Sünden und ein gereinigtes Gewissen gebracht,
sondern auch Freiheit gegeben hat, durch Sein Blut in
das Allerheiligste einzutreten, wo unser Hoherpriester ist;
daneben werden andere kostbare Wahrheiten in gesegneter
Weise entwickelt: der Gläubige ist jetzt durch den Glauben,
als ein gereinigter Anbeter, innerhalb des Vorhangs
gebracht. Im elften Kapitel lesen wir von „der Schmach
Christi", als verbunden mit dem Wandel des Glaubens.
Im zwölften Kapitel werden wir berufen, während unsers
Glaubens-Wettlaufs hienieden von allem ab- und auf
Jesum hinzublicken, der jetzt auf dem Throne Gottes
sitzt, aber einst den Pfad des Glaubens hienieden begann
und vollendete. — So werden also in diesem Briefe unsre
Blicke hingelenkt auf Jesum, der jetzt zur Rechten des
Thrones Gottes sitzt, als Den, der unsre Sünden gesühnt
und sich nach vollbrachtem Werke als Priester gesetzt hat,
304
sowie auf Ihn als den Vorläufer, der während Seines
Hierseins in vollkommner Weise den Pfad des Glaubens
wandelte. Im dreizehnten Kapitel endlich spricht der
Schreiber von dem Leiden des Herrn außerhalb des
Thores, sowie von der praktischen Bedeutung dieser Thatsache
für uns, und schließt dann mit einer weiteren Betrachtung
der überströmenden Herrlichkeiten des Sohnes,
als des „großen Hirten der Schafe", welchen der Gott
des Friedens aus den Toten wiederbrachte, in dem Blute
des ewigen Bundes.
Nachdem wir so in der Kürze diese Epistel durchlaufen
haben, fragen wir den christlichen Leser: Ist es
möglich, bei einer so flüchtigen Betrachtung nicht überrascht
zu sein von der Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte,
unter welchen die Person, das vollbrachte Werk, die moralischen
Herrlichkeiten und die Aemter Christi dargestellt
werden, und zwar zu dem Zwecke, um müde gewordene
Gläubige aus ihrem niedrigen Zustande zu erheben und
ihre Herzen in der Güte und Gnade Gottes zu befestigens
Doch wir finden dasselbe in den meisten der andern
Briefe. Werfen wir einen kurzen Blick auf den rührenden
Brief des Apostels Paulus an die Gläubigen in Philippi.
Dieselben werden angeredet als „Heilige in Christo Jesu".
In dem ersten Kapitel ist der Schreiber so völlig von der
Herrlichkeit und Würde Christi hingenommen, daß er alles
nur im Hinblick auf Ihn beurteilt. Handelt es sich um
den Dienst, so schaut er vorwärts auf den Tag Christi;
er freut sich, wenn nur Christus verkündigt wird, mag er
selbst auch äußerlich zur Unthätigkeit verurteilt sein; seine
Ketten trägt er als „Bande in Christo"; er ist zufrieden.
305
zu leben oder zu sterben, wenn nur Christus an seinem
Leibe hocherhoben wird; zu leben ist für ihn „Christus".
Denkt er ans Fruchttragen, so spricht er von „der Frucht
der Gerechtigkeit, die durch Jesum Christum ist". Sein
ganzes Sehnen ist darauf gerichtet, Christum zu verherrlichen,
sei es im Leben oder im Tode. Denkt er ans
Sterben, so hat er Lust abzuscheiden und „bei Christo zu
sein". Er betrachtet es als ein Vorrecht, als ein „Geschenk"
von oben, „für Christum zu leiden". (V. 29.)
In dem zweiten Kapitel sehen wir Christum als
unser Vorbild in Seinem vollkommnen Pfade selbstloser
Liebe und demütigen Gehorsams, und wir werden ermuntert,
Ihm nachzuahmen. Wenn der Apostel dann von
sich selbst spricht, so erklärt er sich völlig bereit, als ein
Opfer für Christum zu sterben; redet er von Timotheus,
so kann er sagen, daß sein geliebtes Kind im Glauben
nicht für das Seinige besorgt sei, sondern für das, was
Jesu Christi ist; und kommt er auf Epaphroditus zu sprechen,
so kann er den Philippern berichten, daß er krank,
ja, dem Tode nahe gewesen sei um des Werkes Christi
willen.
Im dritten Kapitel wird die Vortrefflichkeit der Erkenntnis
Christi Jesu, des in den Himmeln Verherrlichten,
als die Macht dargestellt, welche Saulus von all seinem Vertrauen
auf die jüdische Religion befreit und ihn zu einem
himmlischen Menschen auf der Erde gemacht hatte. Diese
Erkenntnis befähigte ihn, alles andere für Verlust und Dreck
zu achten. Als ein himmlischer Fremdling hienieden eilte
er Christo entgegen als dem Kampfpreis, den er zu gewinnen
und für immer zu besitzen hoffte. Er wünschte, Christum
noch besser zu erkennen, die Kraft Seiner Auferstehung
306
völliger in sich wirken zu sehen und erfahrungsgemäß in
die Gemeinschaft der Leiden Seines von den Menschen verworfenen
Herrn einzutreten. Er weinte über diejenigen,
welche sich Christen nannten, deren Wandel aber so fleischlich
und weltförmig war, daß sie Feinde des Kreuzes
Christi genannt werden mußten, weil sie das Urteil Gottes
über das Fleisch und die Welt vermittelst jenes Kreuzes
praktisch leugneten. Von sich und anderen konnte er
sagen, daß sie ein himmlisches Volk auf Erden bildeten,
indem sie Christo dienten in einer Welt, die Ihn verworfen
hatte, und indem alle ihre Hülfs quellen, ihre Freuden
und ihre Heimat im Himmel waren, von woher sie auch die
Wiederkunft des Heilandes erwarteten, damit Er ihren
Leib der Niedrigkeit umgestalte und ihn Seinem Leibe der
Herrlichkeit gleichförmig mache, und ihnen so auch die
leibliche Fähigkeit gebe, Christo zu dienen und Ihn zu
verherrlichen in alle Ewigkeit.
Im vierten Kapitel endlich werden wir daran erinnert,
daß Gott alle unsre Notdurft hienieden erfüllen will, und
zwar nicht kärglich, sondern „nach Seinem Reichtum in
Herrlichkeit in Christo Jesu"; und daß, so schwierig und
prüfungsvoll unser Pfad auch sein mag, wir doch fähig sind,
ihn zu gehen durch die Kraft, welche Christus darreicht.
Der Apostel konnte sich allezeit in dem Herrn freuen, obwohl
er um Seinetwillen ein Gefangner war. Er spricht
auch von einer Hülfeleistung der Philipper in zeitlichen
Dingen, von einer Gabe, die sie ihm durch Epaphroditus
gesandt hatten, und er nennt dieselbe „einen duftenden
Wohlgeruch, ein angenehmes Opfer, Gott wohlgefällig".
Geliebter Leser! ich denke, es ist unnötig, noch weitere
Zeugnisse aus der Schrift anzuführen, um zu zeigen, in
307
welch mannigfaltiger Weise Christus vor unsre Seelen gestellt
ist. Ein weites, unendlich weites Feld der gesegnetsten
Betrachtungen thut sich in dem kostbaren Worte
Gottes vor unsern Blicken auf. Und weil dieses nun so ist,
geziemt es uns da nicht, wenn wir anders kluge und treue
Knechte sein wollen, die Ermahnung des Apostels Tag
für Tag zu beherzigen: „Wachset in der Gnade und
Erkenntnis unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi"?
Der Herr gebe uns, viel mit Ihm und Seinem Worte
beschäftigt zu sein, damit wir in Wahrheit zunehmen an
Gnade und Erkenntnis, zum Wohle unsrer Seelen und
zu Seinem Preise, bis das Vollkommene kommt und wir
Ihn schauen werden, wie Er ist!
Ein Brief Christi.
„Ihr seid unser Brief, eingeschrieben in unsre Herzen,
gekannt und gelesen von allen Menschen; die ihr offenbar
geworden, daß ihr ein Bries Christi seid, ... geschrieben
nicht mit Tinte, sondern mit dem Geiste des
lebendigen Gottes." (2. Kor. 3, 2. 3.)
Wir sind auf dem Wege, Christum, unsern Herrn, zu
sehen und Ihm gleich zu sein; was anders könnte da
unsre Herzen erfüllen als der Wunsch, Ihm jetzt schon
so ähnlich zu sein wie möglich? ES ist ja wahr, daß wir
alle mannigfaltig fehlen; aber das tägliche Begehren unsrer
Herzen sollte sein, nicht nur an Christum zu
glauben, sondern auch Christum in unserm Leben
darzustellen.
Ach, wenn die Gläubigen nicht so oft vergessen möchten,
daß sie ein Brief Christi sind, daß der Herr selbst
ihnen das Vorrecht gegeben hat, Sein Brief zu sein,
308
gekannt und gelesen von allen Menschen! Zu diesem Zweck
sind wir hienieden zurückgelassen; das Leben Christi sollte
sich in uns offenbaren. Christus hat die Frage der Sünde
geordnet und erscheint jetzt in der Gegenwart Gottes für
uns; und wir sind hienieden, in dieser Welt, für Ihn.
„An jenem Tage werdet ihr erkennen, daß ich in meinem
Vater bin, und ihr in mir und ich in euch." (Joh. 14, 20.)
Wenn ich weiß, daß Christus in mir ist, so sollte sich
das Leben Christi in all meinem Thun und Lassen offenbaren.
Und wenn das Bewußtsein in mir lebendig ist,
daß Er mich geliebt hat mit einer Liebe, die alle Erkenntnis
übersteigt, so werde ich an Ihm hangen, und
Seine Verherrlichung wird mein Zweck und Ziel sein in
allem, was ich thue. Ich bin um einen Preis erkauft,
und darum bin ich Sein.
Geliebter Leser! das, wozu ich dich und mich ermuntern
möchte, ist jener Ernst des Herzens, welcher sich an
Christum klammert und nach Ihm sich sehnt, besonders in
diesen letzten bösen Tagen, während wir aus die Ankunft
unsers teuren Herrn warten. Wenn die Christen unsrer
Zeit nur mehr Christen wären, wahrlich, die Welt
würde besser verstehen, um was es sich handelt. Es giebt
viel Bekenntnis, viel Wirken und Reden in unsern Tagen;
auch ist der Geist Gottes wirksam wie vielleicht nie zuvor,
Gott sei dafür gepriesen! Aber wenn ein Heide in unser
Land käme, um kennen zu lernen, was das Wort
„Christentum" bedeutet, würde er wohl seinen Zweck erreichen
?
Der Herr gebe uns allen ein tieferes Gefühl von
Seiner Liebe, damit es in Wahrheit das Begehren unsrer
Herzen sei, durch Christum und für Christum zu leben,
als solche, die um einen Preis erkauft sind, ja, als ein
Brief Christi, der gekannt und gelesen wird von allen
Menschen!
Gehorsam — die Freiheit des Gläubigen.
Hebr. 13, 17—25.)
Der Geist des Gehorsams ist das große Geheimnis
aller Gottseligkeit, während die Unabhängigkeit des Willens
von jeher die Quelle alles Bösen gewesen ist. Gehorsam
ist der einzig richtige Zustand für das Geschöpf; anders
würde Gott aufhören, unumschränkt, ja, aufhören, Gott
zu sein. Wo Unabhängigkeit und Eigenwille wirksam sind,
da ist stets Sünde vorhanden. Würden wir diese Regel
mehr beachten, wahrlich, sie würde uns bei der Bestimmung
unsers Verhaltens von großem Nutzen sein.
Es kann nie einen Fall geben, in welchem wir unsern
eigenen Willen thun sollten; denn wenn wir unserm
Willen folgen, so sind wir nicht fähig, unser Verhalten
richtig zu beurteilen noch es vor Gott zu bringen. Vielleicht
mag ich in die Lage kommen, in Unabhängigkeit von der
höchsten Autorität in dieser Welt handeln zu müssen; aber
auch das sollte niemals nach dem Grundsatz geschehen,
daß ich meinem eignen Willen folge. Vergessen wir nie,
daß dieser Grundsatz derjenige des ewigen Todes ist.
Die Freiheit des Gläubigen ist nicht eine Vollmacht,
zu thun was ihm beliebt. *) Wenn irgend etwas die
*) Eine gänzliche Selbstverleugnung (und diese geht sehr weit,
wenn wir die List und Verschlagenheit des Herzens kennen) ist das
einzige Mittel, uni in dem Genuß des vollen Segens wandeln zu
können, der unsrer glückseligen Stellung des Dienstes, Gott, unsern
Brüdern und . den Menschen gegenüber, angehört.
310
Freiheit des Herrn Jesu hätte wegnehmen können, so
würde es dies gewesen sein: Ihn zu verhindern, zu aller
Zeit und in allen Lagen dem Willen Gottes unterworfen
zu sein. Alles, was sich in dem Bereich des Willens des
Menschen regt, ist Sünde. Der Anspruch auf freie Ausübung
des eignen Willens ist der Grundsatz der Sünde.
Wir sind geheiligt zum Gehorsam Jesu Christi, d. h. wir
sind abgesondert, um zu gehorchen, wie Er gehorcht hat.
Das Wesen aller Heiligung ist die Verleugnung des eignen
Willens. Wenn ich die höchste Weisheit besäße, die je
ein Geschöpf besitzen kann, und ich machte sie nur meinem
eignen Willen dienstbar, so würde alle meine Weisheit sich
als Thorheit erweisen. Ein Sklave seines eignen Willens
zu sein, das ist wahre Sklaverei; die wahre Freiheit besteht
darin, seinen eignen Willen gänzlich beiseite gesetzt
zu haben. Wenn wir unsern Willen thun, so ist das
eigne Ich unser Mittelpunkt.
Der Herr Jesus „nahm Knechtsgestalt an", und „in
Seiner Stellung wie ein Mensch erfunden, erniedrigte Er
sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja, zum
Tode am Kreuze". (Phil. 2, 6 - 8.) Als der erste Mensch,
ein Sünder wurde, hörte er auf ein Knecht zu sein, obgleich
er durch seine Sünde und Auflehnung gegen Gott
der Sklave eines mächtigeren Rebellen wurde, als er selbst
ist. Wenn wir geheiligt sind, so sind wir ebensowohl in
die Stellung von Knechten als von Söhnen versetzt. Der
Geist der Sohnschaft offenbarte sich in Jesu gerade darin,
daß Er kam, um den Willen des Vaters zu thun. Satan
suchte Seine Sohnschaft mit Seinem unbedingten Gehorsam
gegen Gott in Widerspruch zu bringen; aber der
Herr Jesus wollte von Beginn Seines Lebens bis zum
311
Ende Seiner Laufbahn hienieden nie etwas anderes thun
als den Willen des Vaters.
In dem 13. Kapitel des Hebräerbriefes wird der
Geist des Gehorsams solchen gegenüber eingeschärft, welche
in der Kirche Gottes eine leitende, führende Stellung einnehmen.
„Gehorchet euern Führern und seid unterthänig."
(V. 17.) Es ist in jeder Beziehung von Nutzen für uns,
nach diesem Geiste zu trachten. „Sie wachen über eure
Seelen", sagt der Apostel, „als die da Rechenschaft zu
geben haben." Alle diejenigen, welche der Herr in Seinen
Dienst stellt, macht Er sich gegenüber verantwortlich.
Das ist daS wahre Geheimnis alles wirklichen Dienstes.
Sie sind Knechte, und es ist ihre Verantwortlichkeit, den
ihnen übertragenen Dienst auszuüben. Wehe ihnen, wenn
sie nicht führen, leiten, vorstehen, tadeln, ermahnen rc.I
Wenn sie es nicht thun, so wird „der Herr" es von
ihnen fordern. Andrerseits werden diejenigen, welche unter
der Leitung und Beratung jener Knechte stehen, unmittelbar
„dem Herrn" verantwortlich, zu gehorchen.
Der große Kardinalgrundsatz für unser Verhalten in
der Kirche Gottes ist die persönliche Verantwortlichkeit „dem
Herrn" gegenüber. Keine Leitung von feiten eines andern
darf jemals zwischen das persönliche Gewissen und Gott
treten. In dem päpstlichen System ist diese persönliche
Verantwortlichkeit Gott gegenüber beseitigt. Diejenigen
aber, von welchen hier als Führern in der Kirche Gottes
die Rede ist, hatten von ihrem eignen Verhalten „Rechenschaft
zu geben", nicht aber von den Seelen, die ihrer
Sorge anvertraut waren. In der Heiligen Schrift finden
wir nirgendwo ein Wort davon, daß jemand von den
Seelen andrer Rechenschaft zu geben hätte. Im Gegenteil
312
lesen wir in Röm. 14, 12: „Also wird nun ein jeder von
uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben." Persönliche
Verantwortlichkeit sichert stets die Aufrechterhaltung der
Autorität Gottes. Allein obwohl der Grundsatz der persönlichen
Verantwortlichkeit allezeit bestehen bleibt, so sind
wir doch gehalten, denen zu gehorchen, welche der Herr
berufen hat, Seiner Herde vorzustehen, sie zu leiten und
über ihre Seelen zu wachen, „auf daß sie dies mit Freuden
thun und nicht mit Seufzen". Denn wenn wir durch
unser Verhalten dieses Wachen über unsre Seelen erschweren,
so daß es nur „mit Seufzen" geschehen kann,
so ist es uns „nicht nützlich".
Wenn irgendwie der Grundsatz des Gehorsams aus
unsern Herzen schwindet, so geht alles verkehrt, alles ist
Sünde. Nie sollte der Gedanke unser Verhalten bestimmen:
„Ich muß thun, was ich für gut und richtig halte,"
sondern: „Ich muß Gott gehorchen."
Der Apostel fährt dann fort zu sagen: „Betet für
uns; denn wir halten dafür, daß wir ein gutes Gewissen
haben, da wir in allem ehrbar zu wandeln begehren."
(V. 18.) Es ist für diejenigen, welche sich beständig mit den
Dingen Gottes beschäftigen, stets eine gefährliche Schlinge
gewesen, kein „gutes Gewissen" zu haben. Niemand ist
so geneigt zum Straucheln und Fallen wie einer, der beständig
am Worte Gottes dient, wenn er nicht sorgfältig
darüber wacht, sich „ein gutes Gewissen" zu bewahren.
Das fortwährende Reden über die Wahrheit und das Beschäftigtsein
mit andern birgt die Gefahr in sich, bezüglich
des eignen Gewissens verhärtet zu werden. Der Apostel
sagt deshalb nicht, was wohl zu beachten ist: „Betet für
uns, denn wir arbeiten mit großer Anstrengung und
313
unermüdlichem Eifer" oder dergleichen; sondern das, was
ihm Vertrauen giebt, die Gläubigen zur Fürbitte für ihn
aufzufordern, ist die Thatsache, daß er „ein gutes Gewissen"
hat. Von demselben Grundsatz ist in 1. Tim.
1, 19 die Rede, wo wir lesen: „indem du den Glauben
bewahrst und ein gutes Gewissen, welches etliche von sich
gestoßen und, was den Glauben betrifft, Schiffbruch gelitten
haben". Wenn wir nicht allen' Fleiß anwenden,
um uns „ein „gutes Gewissen" zu bewahren, so kommt
Satan und zerstört das Vertrauen zwischen der Seele und
Gott, oder wir geraten in ein falsches Vertrauen. Wo
in dem Herzen ein Gefühl von der Gegenwart Gottes
vorhanden ist, da ist auch der Geist des demütigen Gehorsams.
Aber ich wiederhole: Sobald jemand sehr thätig
ist im Dienste oder ein reiches Maß von Erkenntnis
besitzt und in irgend einer Weise inmitten der Versammlung
in den Vordergrund tritt, so ist große Gefahr für
ihn vorhanden; und er sollte wohl auf seiner Hut sein,
um sich ein gutes Gewissen zu bewahren.
Es ist schön zu sehen, wie der Apostel in den nächsten
Versen, nach all den Uebungen, durch welche sein
Herz gegangen ist, zu dem Gedanken zurückkommt, daß
Gott „der Gott des Friedens" ist. „Der Gott des Friedens
aber, der aus den Toten wiederbrachte unsern Herrn
Jesum, den großen Hirten der Schafe, in dem Blute des
ewigen Bundes, vollende euch in jedem guten Werke, um
Seinen Willen zu thun, in euch schaffend was vor Ihm wohlgefällig
ist, durch Jesum Christum, welchem die Herrlichkeit
sei in die Zeitalter der Zeitalter! Amen." (V. 20. 21.)
Der Apostel war von den Gläubigen getrennt und
befand sich selbst in Banden und Trübsal. Er geht in
314
dessen auf alle die Trübsale der gläubigen Hebräer ein
und ist offenbar sehr besorgt um sie: aber trotz allem ist
er fähig, sich zu Gott zurückzuwenden als dem „Gott des
Friedens".
Wir sind zum Frieden berufen. Paulus schließt
seine zweite Epistel an die Thessalonicher mit den Worten:
„Er selbst aber, der Herr des Friedens, gebe euch
den Frieden immerdar, auf allerlei Weise!" Es giebt
wohl nichts, was der Seele des Gläubigen auf dem Wege
durch diese Welt eindringlicher zum Bewußtsein kommt,
als daß wir „des Ausharrens bedürfen". (Hebr. 10, 36.)
Aber wenn irgend etwas ihn verhindert, Gott als „den
Gott des Friedens" zu genießen, wenn Trübsale und
Prüfungen dieses Hindernis bilden, so darf er versichert
sein, daß der Wille des Fleisches in Thätigkeit ist. Wenn
das Herz beschwert und durch tausenderlei Dinge beunruhigt
ist, so kann von einem ruhigen, stillen Thun des
Willens Gottes keine Rede sein. Es ist unser Vorrecht,
im Frieden zu wandeln und allezeit völlig ruhig zu sein,
kein unbehagliches Gefühl zu haben bei dem Gedanken an
Gott, sondern in der Stille Seinen Willen zu thun.
Aber nur dann wird Ruhe und Klarheit in unserm Innern
herrschen, wenn Gott „als der Gott des Friedens"
von uns gekannt ist. Ruht das Auge auf den mancherlei
Schwierigkeiten des Weges, so ist der Friede gestört;
denn wenn die Sorge für irgend etwas auf meinem Herzen
lastet, so hört Gott praktischer Weise sür mich auf,
der Gott des Friedens zu sein.
Es giebt in dieser Hinsicht drei Abschnitte oder
Stufen:
1) Die Erkenntnis, daß Gott „Frieden gemacht hat
315
durch das Blut des Kreuzes". (Kol. 1, 20.) Diese Erkenntnis
giebt uns „Frieden mit Gott". (Röm. 5, 1.)
2) Im Blick auf alle unsre Sorgen und Kümmernisse
besitzen wir die Verheißung, daß, wenn wir sie auf
Gott werfen, „der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt,
unsre Herzen und unsern Sinn bewahren wird in
Christo Jesu". (Vergl. Phil. 4, 6. 7.) Gott selbst übernimmt
für uns die Sorge für alles, und Er ist niemals
beunruhigt, verwirrt oder bestürzt; und es heißt: „Sein
Friede wird eure Herzen und euern Sinn bewahren."
Als Jesus über die unruhige, wogende See wandelte, war
Er ebenso ruhig und friedeerfüllt wie immer; Er war weit
erhaben über den Wellen und Wogen.
3) „Der Gott des Friedens" ist mit uns und wirkt
in uns, um das Wollen und Vollbringen dessen, was vor
Ihm wohlgefällig ist, in uns hervorzubringen. (Vergl.
V. 20. 21.) Die heilige Macht Gottes wird hier als
dasjenige beschrieben, was die Seele in den Dingen erhält,
die vor Ihm wohlgefällig sind, durch Jesum Christum.
Früher bestand kein Friede, sondern Krieg — Krieg
mit Satan und Unfriede in unsern eignen Gewissen.
Dieser Zustand kam auf dem Kreuze Christi, wenn ich so
sagen darf, zu einem entscheidenden Wendepunkt. -Sobald
Christus aus den Toten auferweckt war, wurde Gott völlig
als „der Gott des Friedens" geoffenbart. Er konnte
Seinen Sohn nicht im Grabe lassen; nachdem die ganze
Macht des Feindes sich entfaltet hatte, versetzte Gott den
Herrn Jesum an die Stätte des Friedens, und uns, die
wir an Ihn glauben, mit Ihm; und Er selbst wurde
nichts weniger als „der Gott des Friedens".
Er ist der Gott des Friedens sowohl im Blick auf
316
unsre Sünden als auch hinsichtlich unsrer Umstände. Aber
ich wiederhole, nur in Seiner Gegenwart wird der
Friede in Wahrheit genossen. Dort erblickt der von seiner
völligen Unwürdigkeit überführte Sünder den Herrn Jesum,
und im Glauben an den Gott, der Jesum aus den Toten
auferweckt hat, empfängt er vollkommnen Frieden. Dort
findet auch das Herz inmitten der Umstände und Schwierigkeiten
Ruhe. Sobald ich aber anfange, in menschlicher
Weise die letzteren zu behandeln und über sie zu grübeln,
werde ich unruhig und bestürzt. Gott sei ewig gepriesen!
es ist nicht nur durch das Versöhnungswerk Frieden für
uns gemacht worden, sondern der Friede kennzeichnet auch
die Macht Dessen, der unsern Herrn Jesum aus den
Toten wiedergebracht hat; und deshalb kennen wir Ihn
als „den Gott des Friedens".
Die Segnung des Gläubigen hängt nicht von dem
alten Bunde ab, bei welchem der Mensch die eine Partei
bildete, und der deshalb gebrochen werden konnte, sondern
sie ruht auf dem Gott, der durch alle Schwierigkeiten und
Drangsale, ja, selbst durch die Macht SatanS hindurch
„unsern Herrn Jesum aus den Toten wiederbrachte" und
auf diese Weise eine „ewige Erlösung" sicherte. (Vergl.
Hebr. 9, 12.) Alles, waS Gott hinsichtlich deS Gerichts
über die Sünde ausgesprochen hatte, und die ganze böse
Macht Satans lasteten auf Jesu, als Er am Kreuze hing;
aber Gott selbst hat Ihn aus den Toten auferweckt. Hier
findet die Seele vollkommnen Trost und völliges Vertrauen.
„Nichts vermag uns zu scheiden von der Liebe
Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn." (Röm. 8,
31—39.) So urteilt der Glaube; denn als alle unsre
Sünden auf Jesum gelegt waren, trat Gott in Seiner
317
göttlichen Macht ins Mittel und „brachte aus den Toten
wieder den großen Hirten der Schafe, in dem Blute des
ewigen Bundes". Das Blut war ebensosehr der Beweis
und daS Zeugnis von der Liebe Gottes gegen den Sünder
wie von Seiner Gerechtigkeit und Majestät gegenüber der
Sünde. Dieser ewige Bund ist auf die Thatsache gegründet,
daß die Wahrheit und Heiligkeit des ewigen
Gottes in dem Kreuze Christi eine vollgültige Antwort
gefunden haben. Das kostbare Blut Christi hat allen
Ansprüchen und Forderungen Gottes genügt. Ist Gott
nicht „der Gott des Friedens", so muß Er das Blut
Seines geliebten Sohnes für ungenügend erklären. Und
wir wissen, daß das unmöglich ist. Gott ruht in ihm als
einem duftenden Wohlgeruch.
Fragen wir nun, welche Wirkung alles dieses auf
das Leben des Gläubigen ausübt, so ist die Antwort:
Die Erkenntnis dieser kostbaren Dinge ruft Gemeinschaft
mit Gott hervor und bewirkt Freude in unsern Herzen,
indem wir Seinen Willen thun. „Er schafft in uns,"
wie es hier heißt, „was vor Ihm wohlgefällig ist, durch
Jesum Christum."
Das Einzige, was in dem Herzen eines Christen ein
Zögern Hervorrufen sollte, wenn es sich um den Wunsch
handelt, abzuscheiden und bei Christo zu sein, ist das
Begehren, hienieden noch Gottes Willen auszuführen. Wir
können uns einen Christen vorstellen, der bei dem Gedanken
an die Freude, bei Christo zu sein, durch den
Wunsch aufgehalten wird, noch etwas für den Herrn
hienieden sein und Gottes wohlgefälligen Willen thun zu
können. Der Apostel Paulus war ein solcher Christ.
(Vergl. Phil. 1, 20—25.) Doch ein solcher Herzenszu
318
stand setzt Vertrauen auf Gott voraus als „den Gott
des Friedens", sowie Vertrauen auf Seine stützende und
erhaltende Macht, während der Gläubige hienieden pilgert.
So lange die Seele sich mit ihren eigenen Gedanken und
mit der steten Unruhe des natürlichen Herzens abmüht,
genießt sie die Segnung nicht, Gott als den Gott des
Friedens zu kennen.
Doch das Fleisch ist noch in dem Gläubigen, und da
es so leicht erregt wird und sich immer wieder geltend
machen will, so ist das Wort der Ermahnung nötig.
Deshalb fügt der Apostel hinzu: „Ich bitte euch aber,
Brüder, ertraget das Wort der Ermahnung." (V. 22.)
Möchten auch wir es allezeit ertragen, geliebter Leser!
Laß uns stets bedenken, daß der GM des Gehorsams
einzig und allein der Geist der Heiligkeit ist; oder mit
andern Worten, daß wir nur dann in wahrer Absonderung
von dem Bösen einhergehen werden, wenn wir demütig
und unterwürfig sind, unsern eignen Willen in Knechtschaft
halten und im Gehorsam gegen die Wahrheit wandeln.
Der Herr gebe uns Gnade, dies zu thun, umsomehr
als wir in den Tagen des Endes leben, wo die
Gesinnung des Antichristen so überaus wirksam ist, der
Geist dessen, der sich selbst erhöht und thut, was
ihm gefällt!
Der unbekannte Gott.
(Apstgsch. 17)
Es gab eine Zeit, in welcher die Bewohner unsers
Landes Götzendiener waren und in den Wäldern und auf
den Höhen den Götzen Altäre errichteten. Obwohl diese
319
Zeit längst vorüber ist und alle unsre Landsleute jetzt
Christen zu sein bekennen, so ist Gott dennoch, so sonderbar
es lauten mag, dem allergrößten Teil des deutschen Volkes
ein unbekannter Gott. Die Person Jesu und die
Auferstehung, welche Paulus einst in Athen verkündigte,
werden ebenso wenig von ihnen verstanden wie damals
von den Athenern, von welchen wir lesen: „Als sie aber
von Toten-Auferstehung hörten, spotteten die einen, die
andern aber sprachen: Wir wollen dich darüber auch nochmals
hören." (Apstgsch. 17, 32.)
Das Wort Gottes erklärt: „Dies ist das ewige
Leben, daß sie Dich, den allein wahren Gott, und den Du
gesandt hast, Jesum Christum, erkennen." (Joh. 17, 3.)
Allein große Mengen von denen, welche sich Christen
nennen und allsonntäglich der Predigt des Wortes Gottes
beiwohnen, haben keine wahre Kenntnis von Gott, wie
Er durch Seinen Sohn geoffenbart worden ist. Dazu
ist etwas mehr nötig, als regelmäßig eine Stätte der Anbetung
zu besuchen. Die Heiden in alter und neuer Zeit
thaten dies auch und thun es noch. Besteht auch ein großer
Unterschied zwischen der Art und dem Gegenstand der
Anbetung, so ist doch die Sache selbst im Grunde die
nämliche: man sucht durch diese äußern Dinge seine religiösen
Bedürfnisse zu befriedigen. Der wahre Gott aber
ist den einen wie den andern unbekannt. Das Urteil
scheint hart zu sein, aber leider ist es nur zu wahr.
Doch hören wir, was der Apostel einst zu den Athenern
sagte: „Der Gott, der die Welt gemacht hat und
alles, was darinnen ist, dieser, indem Er der Herr
des Himmels und der Erde ist, wohnt nicht in Tempeln,
die mit Händen gemacht sind, noch wird Er von
320
Menschenhänden bedient, als wenn Er noch etwas bedürfte,
da Er selbst allen Leben und Odem und alles giebt."
(V. 24. 25.)
Die alte heidnische Meinung, daß Gott etwas von
dem Menschen bedürfe, ist tief in das menschliche Herz
eingewurzelt. Daher die schönen griechischen und römischen
Tempel vor alters, die gewaltigen Pagoden in Indien 2c.;
daher auch die prächtigen Kirchen in der heutigen Christenheit.
Die Menschen wähnen, Gott bedürfe ihrer Gebete,
ihrer Gaben und ihrer Werke; und anstatt der glücklichen,
dankbaren Gefühle der erneuerten Seele, statt der einfältigen,
kindlichen Anbetung eines Herzens, das in dem
vollbrachten Werke Christi ruht und dem Vater für Seine
unaussprechliche Gabe dankt, spricht man von „religiösen
Pflichten" u. dergl. Man betet, man „feiert den
Sabbath", mau geht in die Kirche rc., weil man das für
seine Pflicht hält und Gott damit etwas darbringen will.
Aber ehe Gott nicht als Geber gekannt ist, so wie der
Apostel Paulus hier von Ihm spricht, sind alle jene Bemühungen,
Ihm etwas darzubringen, eitel und fruchtlos,
ja, ohne jeden Wert vor Gott. Man versucht etwas zu
thun, was nur „im Geist und in Wahrheit" geschehen
kann. Denn der Vater sucht solche Anbeter, die im Geist
und in Wahrheit Ihn anbeten. (Joh. 4, 23.)
Und wie oft und viel redet die Schrift von Gott
als einem Geber! „Also hat Gott die Welt geliebt, daß
Er Seinen eingebornen Sohn gab, auf daß jeder, der
an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben
habe." (Joh. 3, 16.) „Wenn Du die Gabe Gottes
känntest und wer es ist, der zu dir spricht: Gieb mir zu
trinken, so würdest du Ihn gebeten haben, und Er hätte
321
dir lebendiges Wasser gegeben." (Joh. 4, 10.) „Die
Gnadengabe Gottes ist ewiges Leben in Christo Jesu,
unserm Herrn." (Röm. 6, 23.) „Gott sei Dank für
Seine unaussprechliche Gabe!" (2. Kor. 9, 15.)
„Ich will dem Dürstenden aus der Quelle des Wassers
des Lebens geben umsonst." (Offbg. 21, 6.) „Dies
ist das Zeugnis: daß Gott uns ewiges Leben gegeben
hat, und dieses Leben ist in Seinem Sohne."
(1. Joh. 5, 11.) Diese und viele andere ähnliche Schriftstellen
würden dem Menschen so klar sein wie die Mittagssonne,
wenn er nur sein selbstgerechtes oder sein sündiges
Ich aus dem Spiele lassen und einfältig die wunderbare
Gabe Dessen annehmen wollte, der es liebt, den Hungrigen
mit Gutem zu erfüllen und den Reichen leer Wegzusenden.
Beachten wir auch den gebietenden, mit Autorität
bekleideten Charakter der Botschaft des Apostels: „Nachdem
nun Gott die Zeiten der Unwissenheit übersehen hat,
gebietet Er jetzt den Menschen, daß sie alle allenthalben
Buße thun sollen." (V. 30.) Diese Worte räumen
den Meinungen und Ueberlegungen des menschlichen Geistes
nicht den geringsten Spielraum ein. Das Evangelium läßt
die Frage, ob der Mensch durchaus böse ist oder nicht,
keineswegs offen; es richtet sich vielmehr an ihn als
einen überführten und verurteilten Sünder. Welch eine
Gnade offenbart sich aber andrerseits in der Thatsache,
daß Gott an solche Sünder sich wendet und ihnen ein
Gebot auferlegt!
Ferner sind alle Menschen allenthalben gehalten,
Buße zu thun. Nicht als ob die einen etwas mehr, die
andern etwas weniger von der Gnade Gottes bedürften;
322
denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit
Gottes (Röm. 3, 23), und alle sind tot in Vergehungen
und Sünden. (Eph. 2, 1.) An alle, die nicht
geglaubt haben, ob gelehrt oder ungelehrt, reich oder
arm, hoch oder niedrig, ehrbar oder ausschweifend, liebenswürdig
oder unliebenswürdig — an alle ergeht das
bestimmte Gebot, Buße zu thun. Und dieses Wort
bedeutet weit mehr, als man oft aus ihm macht. Die
Kraft des Wortes ist nichts Geringeres als eine entschiedene
Umkehr, eine völlige Sinnesänderung. Buße ist
nicht einfach Reue über etwas, das man gethan hat (in
diesem Sinne bereute Judas sogar seine schreckliche That);
eine solche Reue ist noch keine „Buße zu Gott" (Apstgsch.
20, 21), obgleich eine göttliche Betrübnis über die SünStz
eine der Folgen der Buße ist. Denn niemand ist wirklich
betrübt über die Sünde, der sie nicht im Lichte des
Kreuzes gesehen und ihre Schrecklichkeit an dem Gericht
gemessen hat, welches dort das reine, fleckenlose Lamm
Gottes traf; und niemand hat in Wahrheit Buße gethan,
der noch nicht geglaubt hat an den Herrn Jesum
Christum. Man kann nicht Buße und Glauben getrennt
von einander verkündigen; wenn echt und aufrichtig, so
sind sie unzertrennlich.
Gott gebietet jetzt also allen Menschen allenthalben
Buße zu thun, „weil Er einen Tag gesetzt hat, an welchem
Er den Erdkreis richten wird in Gerechtigkeit durch einen
Mann, den Er bestimmt hat, und hat allen den Beweis
davon gegeben, indem Er Ihn auferweckt hat aus den
Toten." So lesen wir auch in 1. Petri 4, 5, daß Gott
„bereit ist, Lebendige und Tote zu richten". Der Mensch
steht nicht länger unter einer Probe. Die Probezeit ist
323
vorüber; keine weiteren Versuche sind nötig, um den hoffnungslosen
Charakter seines Zustandes zu beweisen; alle
diese Versuche waren beendigt, als der Sohn Gottes verworfen
und ans Kreuz geschlagen wurde. Nichts als
Gericht blieb für diese Welt übrig. (Vergl. Joh. 12, 31.)
Welche Vorstellungen sich der Mensch auch von der Zukunft
machen und was er auch denken mag über die Verbesserung
und'Veredlung der Welt — das eine schreckliche
Wort bleibt bestehen: „Er hat einen Tag gesetzt,
an welchem Er den Erdkreis richten wird,"
und zwar „in Gerechtigkeit"! Ob der Mensch es
glauben will oder nicht — jeder Tag bringt ihn jenem
ernsten Augenblick näher, in welchem die Gerechtigkeit Gottes
den Prüfstein für alles und für alle bilden wird.
Doch durch wen wird Gott die Welt richten? Gott
selbst giebt Antwort auf diese Frage: Durch Ihn, der
einst als ein zartes Kindlein in Bethlehem geboren wurde,
durch den verachteten Jesus von Nazareth! Durch Ihn,
welchem unter andern wunderbaren Titeln auch der Name:
„starker Gott" gebührt! (Vergl. Jes. 9, 6.) Durch Ihn,
der einst im Lande Israel umherging, lehrend und Gutes
thuend! Durch Ihn, welchen gottlose Sünder verhöhnt
und mißhandelt und endlich ans Fluchholz gehängt haben,
und dessen Leib dann im Grabe des Joseph von Arimathia
eine Ruhestätte fand! Durch Ihn, welchen Gott aus den
Toten auferweckt hat, wodurch allen der Beweis gegeben
worden ist, daß die Welt gerichtet werden soll!
Doch ehe dieser Tag des Gerichts erscheint, ist Gott
gnädig und langmütig, „da Er nicht will, daß irgend
welche verloren gehen, sondern daß alle zur Buße kommen".
(2. Petr. 3, 9.) Er hat das Zeugnis in diese
324
Welt gesandt, daß, wer da glaubt, nicht ins Gericht
kommen werde, sondern aus dem Tode in das Leben hinübergegangen
sei; und die Auferstehung Jesu, welche einerseits
der Welt in göttlicher Weise ihr Gericht bezeugt,
versichert andrerseits dem Gläubigen von feiten Gottes,
daß er gerechtfertigt ist, und daß seiner Sünden und Vergehungen
nie mehr gedacht werden wird.
Indes naht jener von Gott festgesetzte Tag
des Gerichts, von welchem der Apostel spricht, eilend
heran. Und wenn er kommt, dann werden die ungläubigen
Athener sich jener Predigt auf dem Marshügel erinnern.
Dann werden alle Ungläubigen, wo und wann
sie gelebt haben mögen, sich an die Gelegenheiten erinnern,
welche sie während ihres Lebens hienieden gehabt haben,
um die Wahrheit zu hören und sich zu Jesu zu wenden —
Gelegenheiten, die sie entweder vernachlässigt oder verachtet
haben. Dann werden alle in der That „nochmals
von dieser Sache hören", aber dann nicht von feiten eines
Boten der Gnade, sondern von Einem, der den gerechten
Zorn Gottes schonungslos ausführen wird. Und ach!
wenn dann alle die sogenannten Namenchristen, alle die
unwissenden Anbeter vor dem Throne „des unbekannten
GotteS" erscheinen müssen, wie werden sie entrinnen!
O möchte doch ein jeder, den es noch angeht, sich bei Zeiten
aufmachen und dem kommenden Zorn entfliehen!
„Sehet nun zu, daß nicht über euch komme, was in
den Propheten gesagt ist: Sehet, ihr Verächter, und verwundert
euch und verschwindet; denn ich wirke ein Werk
in euern Tagen, ein Werk, das ihr nicht glauben werdet,,
wenn es euch jemand erzählt." (Apstgsch. 13, 40. 41.)
325
„Kehret auch unter den Matten!"
Ein junges Dienstmädchen wurde kürzlich bekehrt.
Als sie nach einiger Zeit gefragt wurde, ob sie im Blick
auf ihre Arbeit jetzt einen Unterschied gegen früher bemerke,
antwortete sie freudig: „O ja; ich kehre jetzt auch
unter den Matten."
Den gläubigen Lesern dieser Zeilen, vor allem den
jüngeren unter ihnen, möchte ich zurufen: „Kehret auch
ihr unter den Matten!" Was ich damit meine, ist wohl
nicht schwer verständlich. Die Oberfläche erscheint oft gut
gefegt, und alles sieht hübsch und rein aus, so daß ein
oberflächlicher Blick keinen Flecken entdecken kann; aber
ach! unter der hübschen Decke steckt oft viel Schmutz und
Unrat. Das H«rz ist verunreinigt, das Gewissen befleckt,
und die Freude am Herrn mangelt.
O laßt uns nicht vergessen, daß wir es mit einem
Gott zu thun haben, der durch die Matten hindurchsieht!
Er prüft Herzen und Nieren, und Er hat Wohlgefallen
an der Wahrheit im Innern. Laßt uns dem Schmutz
nicht erlauben, sich in den Ecken festzusetzen. Gott sieht
auch in die dunkelsten Ecken, in die finstersten Winkel;
denn Er „ist Licht, und gar keine Finsternis ist in Ihm".
Doch noch eins. Sollten nicht die Worte jenes Dienstmädchens
auch in ihrer buchstäblichen Bedeutung manche
ihrer Mitschwestern beschämen? Sie bezeugen, wie ganz
anders das junge Mädchen nach ihrer Bekehrung ihren
Dienst auffaßte und wie sie bestrebt war, auch in den
kleinsten Dingen, ja, selbst da treu zu sein, wohin das
Auge der Herrschaft vielleicht nicht blickte. Liegt darin nicht
ein beherzigenswerter Wink für alle gläubigen Dienstboten?
326
Ein Wort über „Anbetung".
Es ist von hoher Wichtigkeit für jeden Gläubigen,
den wahren Charakter der Anbetung zu verstehen, so wie
Gott sie wünscht und wie Er sich in ihr erfreut. Gott
findet alle Seine Wonne an Christo, und deshalb sollte
es unser Begehren sein, Ihn vor Gott zu bringen, von
Seiner Vollkommenheit, von Seinen Tugenden, von Seiner
unvergleichlichen Schönheit und Lieblichkeit zu reden.
Christus sollte stets den Stoff unsrer Anbetung bilden;
und eS wird so sein in demselben Verhältnis wie wir unS
durch den Heiligen Geist leiten lassen.
Wie oft es sich anders verhält, wie oft bei unsern
Zusammenkünften oder daheim im Kämmerlein der Ton
unsrer Gebete ein niedriger und das Herz trocken und leer
ist, davon können wir alle zu unsrer Beschämung erzählen.
Woher kommt das? Weil wir so viel mit uns selbst, mit
unsern Umständen, Schwierigkeiten und Prüfungen beschäftigt
sind, anstatt mit Christo; und ach! leider auch
oft deshalb, weil der Heilige Geist, anstatt unsre Blicke
auf Christum lenken und mit Seiner Fülle beschäftigen zu
können, uns in die Tiefe unsrer eignen Herzen führen und
uns mit unserm Verhalten auf dem Pilgerpfade beschäftigen
muß. Es ist selbstverständlich, daß, wenn letzteres der
Fall ist, von einer Anbetung keine Rede sein kann. An
die Stelle derselben tritt Selbstgericht und Demütigung.
Wahrlich, es sollte nicht so sein. Wir berauben uns
selbst auf diese Weise eines gesegneten Vorrechts, und
Gott „Seiner Speise", dessen, was Ihm gebührt und
was Seinem liebenden Herzen so wohlgefällig und annehmlich
ist. Sind die Herzen mit Christo erfüllt, so
327
fließen Lob und Anbetung von selbst hervor. Es kann
nicht anders sein; denn „alles an Ihm ist sehr köstlich"
und fordert zur Bewunderung und Anbetung auf.
Fähig gemacht für den Himmel.
(Kol. 1. 12—14.)
Der Mensch in seinem natürlichen, verlornen Zustande
ist der Gegenstand der Gnade Gottes. Aber wo
findet ihn diese Gnade? wie errettet sie ihn? was thut
sie für ihn, und wohin versetzt sie ihn? Sie findet ihn
unter der Gewalt Satans, als einen Sklaven des Fürsten
der Finsternis; sie errettet ihn aus diesem schrecklichen
Zustande, reinigt ihn von aller Schuld und versetzt ihn
in das Licht und die Freiheit der Kinder Gottes. Die
Segnung der Seele ist vollkommen: nicht durch eine Regel,
die sie zu befolgen hat; nicht durch lange Kämpfe, durch
Fasten und Beten — so gut diese Dinge an und für
sich auch sein mögen —, sondern durch die Gnade Gottes,
die in errettender Macht handelt und den glaubenden
Sünder in ganz und gar neue Beziehungen zu Gott
bringt.
Dieses Werk der Gnade übersteigt so völlig alle
menschlichen Begriffe, daß es nur durch die Einfalt des
Glaubens verstanden werden kann. Das Wort GotteS
offenbart es, der Glaube ergreift es und hält es für
wahr und über alle Zweifel erhaben. Die Menschen
reden sehr viel von Erfahrungen und dergleichen. Gewiß,
wir werden Erfahrungen machen; wir werden immer
mehr erfahren, daß wir nichts sind, zugleich aber auch,
welch eine Freude und welch ein tiefes Glück uns zu teil
328
werden, wenn wir der Wahrheit einfältig glauben und
uns auf den Boden stellen, auf welchen die Gnade Gottes
den Gläubigen versetzt. Das sind aber andere Erfahrungen
als jene, von denen so viel gesprochen wird.
So lange wir in uns hineinblicken, um da Beweise
für die Vergebung unsrer Sünden und unsrer Annahme
bei Gott zu finden, wird Ungewißheit und Finsternis
unser Teil sein.
Nur der Gläubige, welcher seinen Platz in Christo
versteht und einnimmt, kann in Wahrheit anbeten. Er hat
hinsichtlich seiner Errettung und der Segnung seiner Seele
nichts mehr zu bitten; er ist vollkommen gemacht in Christo,
„vollendet in Ihm", obwohl er im Blick auf seinen Pfad
hienieden alle seine Anliegen mit Gebet und Flehen vor
Gott kundwerden lassen soll. Aber seine Gebete sind voll
von Lob und Dank; er ist so vollkommen zur Ruhe gebracht,
so völlig versichert von der unwandelbaren Liebe
und Gunst Gottes, daß sein Herz, gleich dem Becher
Davids, überfließt. Wie könnte es auch anders sein?
Hören wir nur, was der Apostel sagt:
„Danksagend dem Vater, der uns fähig
gemacht hat zu dem Anteil am Erbe der Heiligen
in dem Lichte." (Kol. 1, 12.) Groß, überwältigend
groß ist die Gnade, die sich in diesen Worten
kundgiebt. Keine menschliche Feder vermöchte der Segenssülle
derselben noch etwas hinzuzufügen. Wir thun wohl,
einen Augenblick stille zu stehen und über diese wunderbare
Thatsache nachzusinnen: „fähig gemacht zu sein zu
dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte". ES
heißt nicht einfach: zu dem Anteil am Erbe der Heiligen,
oder der Heiligen im Himmel, sondern der Heiligen „in
329
dem Lichte", in dem Lichte der unmittelbaren Gegenwart
Gottes, in dem Lichte Seines Vaterantlitzes. Wie wunderbar
ist die Wirkung des Werkes Christi auf die Seele!
Weißer als Schnee steht der Gläubige in der Gegenwart
Dessen, der „Licht" ist, da wo Heiligkeit und Gerechtigkeit
wohnen, und entdeckt, daß er fähig gemacht ist,
dort das Teil der Kinder zu genießen.
Allein es möchte eingewandt werden, daß die Gläubigen,
an welche der Apostel jene Worte richtet, im
Christentum weit gefördert sein und eine hohe Stufe im
christlichen Leben erreicht haben müßten. Doch das ist
ein Irrtum; es handelt sich nicht um einzelne Gläubige,
vielleicht um „Väter in Christo", sondern um alle, die
an den Herrn Jesum glauben. Die jüngsten wie die
ältesten, die unwissendsten wie die erkenntnisreichsten —
alle, die da glauben, sind durch den Vater fähig gemacht
für düs Licht, in welchem Er wohnt. Es ist das Werk
Gottes in Christo Jesu und hat nichts mit unsern Fortschritten
und Erfahrungen zu thun. Der Christ ist von
dem Tage seiner Bekehrung an in dem Lichte, so wie
Gott in dem Lichte ist. Wir wissen wohl, daß junge
und alte Christen dies praktischer Weise vergessen und
nicht immer nach dem Lichte wandeln, ja, daß sie zuweilen
in einem finstern und unglücklichen Zustande sein können;
aber dennoch ist der Gläubige, was seinen Platz und
seine Annahme in Christo betrifft, stets im Lichte. Das
ist gleichsam sein Heimatsland und bleibt es immerdar, und
gerade dieser Umstand macht es umso ernster für ihn,
wenn er fehlt und sündigt.
Der sterbende Räuber am Kreuze war in dem Augenblick,
da er glaubte, ebenso passend für den Himmel, als
330
wenn er fünfzig Jahre lang als der frommste und ergebenste
Gläubige gewandelt hätte. Seine Krone würde
in letzterem Falle allerdings eine andere gewesen sein,
aber er selbst hätte niemals passender für das Reich des
Lichts und der Herrlichkeit werden können. Er besaß
Christum und war annehmlich gemacht in Ihm, dem Geliebten.
Der verlorene Sohn ist ein anderes ähnliches
Beispiel, ein herrliches Bild von jeder wahren Bekehrung
— stets frisch und stets erfrischend. Die Liebe des
Vaters kommt ihm entgegen, des Vaters Kuß verschließt
ihm den Mund, und des Vaters Ring besiegelt seine Annahme
als Sohn; das Beste von allem, was der Himmel
aufweisen kann, ist sein. Er vertauscht die Träber mit
dem gemästeten Kalbe — jene waren seine letzte Mahlzeit
in dem alten Lande, dieses seine erste in dem neuen.
Und hätte er je etwas Besseres empfangen können? Das
gemästete Kalb ist bekanntlich ein Bild von Christo, dem
Auferstandenen. Hätte er jemals sein Kleid, seinen Ring
und alle die reichen Schätze des Vaterhauses wieder verlieren
können? Unmöglich! Befindet sich das einst verlorne
Schäflein einmal sicher innerhalb der Thore der
Herrlichkeit, sicher in Jesu Armen, so kann kein Feind es
mehr erreichen, keine Macht es aus der Hand seines treuen
und mächtigen Hirten rauben.
Alles das ist für den Glauben eine unumstößliche
Wahrheit. Wir sind fähig gemacht zu dem Anteil am
Erbe der Heiligen. Es ist eine gegenwärtige Sache,
ein gegenwärtiger Besitz. O welche Ruhe liegt für das
Herz in der unergründlichen, schrankenlosen Gnade Gottes!
Wir können jetzt mit glücklichem Herzen von solchen reden,
die ihren Lauf vollendet haben; und wir können es thun.
331
nicht aus Grund des stets wechselnden Charakters ihrer
Frömmigkeit hienieden, sondern im Blick auf die unveränderliche
Gnade und Treue unsers Gottes. Wir lesen
in dem ewigen Worte von der Bereitschaft der im Glauben
Entschlafenen für den Himmel, von ihrer Heimat und
von ihren Gefährten im Lichte droben. Nicht der Schatten
eines Zweifels kann unser Herz im Blick auf unsre Lieben,
die uns vorangegangen sind, trüben. Denn nicht ihre
Treue, nicht ihr frommer, hingebender Wandel oder irgend
etwas dergleichen ist die Grundlage unsrer Hoffnung, sondern
die unumschränkte Gnade Gottes und das vollbrachte
Werk Jesu Christi. Es macht nichts aus, w o der Tod sie
ereilt hat, oder wann er sie traf — ihre letzten Augenblicke
waren die glücklichsten ihres ganzen Lebens. Denn abzuscheiden
und bei Christo zu sein, was weit besser ist, beschließt
den mühevollen Pfad des Pilgrims hienieden und führt
ihn hinauf in die Gegenwart seines geliebten Herrn, wo
viele Tausende von Erlösten bereits auf den Augenblick der
Wiederkunft Christi warten. Ob es uns vergönnt war, an
dem Sterbebett eines der Unsrigen zu stehen und es mit
liebender Sorge zu umgeben, oder ob der Entschlafene fern
von uns, auf des Lebens rauhen Wogen seinen Lauf vollendete
— eins ist gewiß, unser Gott war und ist allezeit
da, und Er ordnet alles. Wir dürfen Ihm völlig vertrauen.
Sanft treibt ein Gatteshauch mein Schiff
Hinweg vom Strand;
Das Steuer führt, durch Sturm und Riff,
Nicht meine Hand.
Er, dessen Kraft ich oft erprobt,
Ist mit an Bord:
Ob Wind und Wetter mich umtobt,
Er bleibt mein Hort.
332
Er hält mich, wenn die Flut auch steigt;
Ich falle nicht.
Wenn schwer, ist's kurz; wenn lang, ist's leicht;
Er ist mein Licht.
Er lenkt mein Schiff mit starker Hand
Dem Ziele zu;
Bald lande ich am Heimatsstrand
Zu ew'ger Ruh'!
Aber so sicher und gewiß die Trennung von unsern
Lieben auch nur für „eine kleine Weile" ist, und obwohl
wir überzeugt sind, daß der Wille Gottes nuff gut sein
kann, so ist der Trennungsschmerz doch, tief und anhaltend,
und das Herz blutet. Die innigsten natürlichen Bande
werden durch den Tod mit rauher Hand zerrissen, und die
Natur fordert ihre Rechte. Allein so tief der Schmerz
und die Trauer auch sein mögen, so ist es doch, Gott sei
Dank! keine Betrübnis wie diejenige „der übrigen, welche
keine Hoffnung haben". Nichts ist da, was dem
Schmerze der letzteren seinen Stachel nehmen könnte; kein
Hoffnungsstrahl erleuchtet die Nacht ihres Kummers. Ihre
Trauer ist trostlos, ihr Schmerz hoffnungslos. Aber nicht
so ist es mit uns, die wir an Jesum geglaubt haben und
wiedergezeugt sind zu einer lebendigen Hoffnung durch die
Auferstehung Jesu Christi. Uns ruft der Apostel zu:
„Wir wollen aber nicht, Brüder, daß ihr, was die Entschlafenen
betrifft, unkundig seid, auf daß ihr euch nicht
betrübet, wie auch die übrigen." (1. Thess. 4, 13.) Betrübnis
ist da, aber eine andere Betrübnis wie diejenige
der Welt; Schmerz ist da, aber er ist nicht ohne Trost;
Trauer ist da, aber es ist keine hoffnungslose Trauer, sie
ist vermischt mit seliger Freude, mit Lob und Dank gegen
den Herrn, der uns über das Los der in Ihm Entschla
333
fenen nicht in Unkenntnis gelassen hat. Wir wissen, daß
sie bei Ihm sind und mit Ihm in seliger Ruhe dem herrlichen
Auferstehungsmorgen entgegenharren. Der Gedanke
an sie erfüllt das Herz mit Ruhe und Glück, obwohl das
Auge noch thränt; und die Gemeinschaft mit dem Herrn,
der sie zu sich genommen hat und den wir aus den Himmeln
erwarten, um uns mit allen den Seinen dann in
Herrlichkeit um sich zu vereinigen, träufelt lindernden Balsam
in die Wunde unsers Herzens. Die Beschäftigung
niit Seinem teuren Worte richtet den niedergebeugten
Geist auf und giebt Kraft, weiter zu pilgern und trotz
des eignen Leides nicht müde zu werden in Seinem Dienste.
Und nichts ist so sehr imstande, ein betrübtes Herz von
seinem Kummer abzuziehen und wieder aufzurichten, als
die Beschäftigung mit dem ewigen Wohle anderer.
Es bleibt uns noch übrig, einen kurzen Blick auf die
beiden letzten Verse der unsrer Betrachtung zu Grunde
liegenden Schriftstelle zu werfen. Wir lesen: „Danksagend
dem Vater . . ., der uns errettet hat aus der Gewalt
der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes
Seiner Liebe, in welchem wir die Erlösung haben, die
Vergebung der Sünden." (V. 13. 14.) Hier wird uns
der Charakter des Werkes geschildert, das uns in das
Licht gebracht hat. Jene große Segnung, fähig gemacht
zu sein zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem
Lichte, beruht auf zwei Dingen: auf Errettung oder
Befreiung, und Vergebung. Wir sind vollkommen und
für immer errettet aus der Gewalt der Finsternis, aus
dem Reiche Satans, des Fürsten der Finsternis; und nicht
nur das, sondern wir sind auch „versetzt in das Reich
des Sohnes Seiner Liebe". Beides ist jetzt für den
334
Glauben unbedingt vollendet. „Der uns errettet hat",
lesen wir — nicht: der uns erretten kann oder will.
Und welch eine Segnung, setzt schon in das Reich des
Sohnes Seiner Liebe versetzt zu sein! Wie zeigen uns
diese Worte unser nahes und inniges Verhältnis zum
Vater! Es ist nicht einfach „das Reich des Sohnes",
sondern „das Reich des Sohnes Seiner Liebe", d. h.
der Liebe des Vaters. Doch was giebt uns ein Recht,
an diesem Reiche teilzuhaben? was giebt uns Freimütigkeit,
dieses innige Verhältnis zu genießen? Die folgenden
Worte belehren uns darüber in der gesegnetsten Weise:
„in welchem wir die Erlösung haben, die Vergebung der
Sünden". Erlösung und Vergebung aller Sünden —
das ist die kostbare Grundlage all der Segnungen, welche
der Vater für Seine geliebten Kinder bereitet hat, damit
sie dieselben genießen möchten in glückseliger Gemeinschaft
mit dem Sohne Seiner Liebe von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Der Herr gebe in Seiner Gnade, daß alle Leser
dieser Zeilen sich mit Ernst und Aufrichtigkeit die Frage
vorlegen möchten: „Bin ich bereit, wenn in dieser Nacht
meine Seele von mir gefordert werden würde, oder wenn
der Herr käme, um Seine geliebte Braut heimzuführen?
Kann ich Ihm mit Freuden begegnen, oder bin ich noch ein
Sklave Satans und in dem Reiche der Finsternis?" Hier
giebt es keinen Mittelweg, keinen sogenannten neutralen
Boden. Ein jeder Leser dieser Zeilen ist entweder fähig
gemacht zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte,
oder er ist noch in der Gewalt der Finsternis. O welch
ein Unterschied! Entweder gehört ihm das herrliche Erbteil
in der Höhe, oder der finstere, schreckliche Bereich der
Hölle! Was wird dein Teil sein, mein Leser?
335
Wir stehen wieder an dem Ende eines Jahres;
schnell und flüchtig ist es dahingeeilt wie alle seine Vorgänger.
Wir sind wieder um einen großen Schritt dem Ziele
näher gekommen. Mein lieber, unbekehrter Leser! stehe still
auf deinem Wege; triff heute deine Wahl, und laß dein
Herz sich für Christum entscheiden! Ruhe nicht, schlafe nicht,
bis du dein ganzes Herz dem Herrn übergeben hast. Ein
Glaubensblick auf Ihn verändert alles: deine gegenwärtige
Stellung, deinen Herzenszustand und deine Aussichten für
die Ewigkeit. Er ist für die Sünder, für dich gestorben;
Er hat ein Lösegeld bezahlt, das für jeden Schuldner,
für die größte Schuld ausreicht. Er steht bereit, um einen
jeden aufzunehmen, der zu Ihm kommt, und ihn willkommen
zu heißen, wie Er einst den Räuber am Kreuze
willkommen hieß. Willst du nicht kommen? Willst du
den Weg der Sünde wählen und ewig verloren gehen?
O thue es nicht! Kehre, um, kehre um, ehe es für ewig
zu spät ist!
Aber auch für dich, mein lieber, gläubiger Leser, ist ein
Jahr dahingeflogen. War es ein Jahr des Dienstes für den
Herrn und Seine Sache? Hast du Fortschritte gemacht in
der Erkenntnis Seiner Person? Hast du Ihn erwartet und
jeden Tag mit Verlangen nach Ihm ausgeschaut? Warst
du darauf bedacht, dir einen Schatz für den Himmel zu
erwerben, oder war dein Sinnen auf die irdischen Dinge
gerichtet? Das sind ernste Fragen, und wir thun wohl, sie
in der Gegenwart des Herrn mit Aufrichtigkeit zu erwägen.
Vielleicht veranlaßt es uns zu einem ernsten Selbstgericht
und zu tiefer Demütigung; und wohl uns, wenn wir
nicht leichtfertig darüber hinweggehen! Die Ankunft unsers
geliebten Herrn ist wiederum ein Jahr näher gerückt. Welch
336
ein beglückender Gedanke für alle aufrichtigen Seelen, aber
auch wie ernst für alle gleichgültigen und oberflächlichen!
O möchte doch jedes Herz bereit sein, dem geliebten Bräutigam
entgegenzugehen! Möchten die Lampen brennen und
die Lenden umgürtet sein! Was könnte es Köstlicheres
geben für ein Herz, das Jesum liebt, als an jenen herrlichen
Morgen zu denken, wenn Er erscheinen wird, wenn
alle Thränen getrocknet und alle Schatten für ewig entfliehen
werden! Ja, es wird ein Morgen sein „ohne Wolken";
alle unsre entschlafenen Brüder und Schwestern
werden auferstehen, und wir, die Lebenden, werden verwandelt
und in verherrlichten Leibern mit ihnen vereinigt
werden, um dann dem Herrn entgegenzugehen, alle vollkommen
dem Bilde deS Herrn gleichgestaltet. Wir werden
in ununterbrochener Freude, in ungestörtem Glück bei Ihm
sein, den unsre Seele liebt, und die endlosen Zeitalter der
Ewigkeit hindurch uns sonnen in den freundlichen Strahlen
Seiner unveränderlichen Liebe.
Ja, wir dürfen singen, und wir sollten es allezeit
thun können mit freudeerfülltem Herzen:
Süßer Trost! der Herr wird kommen
Eilend mit Posaunenschall;
Morgenrot, bereits erglommen,
Mehrt das Sehnen überall.
Geist und Braut, sie rufen, flehen:
Komm, o Jesu, Bräutigam!
Laß uns bald zur Heimat gehen,
Dich zu schauen, Gotteslamm!
Welch ein Glück, mit Dir zu leben,
Dort in Deiner Herrlichkeit;
Deinen Thron stets zu umgeben,
Fern von Kummer, Angst nnd Leid!
Dort im Vaterhaus zu wohnen
Mit Dir, der so hoch beglückt;
Dort an Deiner Seit' zu thronen,
Ganz des Feindes Macht entrückt!