Botschafter des Heils in Christo 1892

01/29/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Botschafter des Heils in Christo 1892 Jahresband
Inhalts-Verzeichnis 1892Seite
Die Seligpreisungen1, 49, 74, 93, 124, 169, 177, 204
Der Einfluß der Erwartung Christi.13
„Es ist nicht mehr nötig, beunruhigt zu sein."17
Gedanken.27, 83, 138, 196
Asa oder: Wen suchst du?29
„Siehe, wie gut und wie lieblich ist es ac." (Gedicht)56
Da bin ich in ihrer Mitte."57
Dreierlei Arten von Gericht65
Eine Glaubensprobe71
Schwierigkeiten eines Neubekehrten85
Der eine Leib" und „die Einheit des Geistes.".104
Die Fülle Gottes und ein leeres Gefäß107
Der Weg des Glaubens in einer bösen Zeit113, 153, 169, 197
Ein schöner Wahlspruch134
Die Felsenkluft (Gedicht)140
Christus, wandelnd inmitten der sieben Versammlungen141
„Er denkt an mich."168
Der Mensch ohne Gott187
Die beiden Religionen193
Der Säemann216, 242, 268, 309
Jesus allein.222
Gott in allen Dingen225
„Die Salbung von dem Heiligen."234, 253
Nichts gleich Ihm.250
Der müde Pilger (Gedicht)252
Ein Wort über den Dienst276
Rettungsjubel279
Ergebung (Gedicht)280
Die Lehre des Christus281
Segenskanäle329
Steige eilend hernieder!" (Gedicht).336


Die Seligpreisungen. ( Matth. S, 1—12.)

Da unsre natürlichen Gedanken über Segen und Segnung, gleich den irdischen Erwartungen der Juden, in völligem Gegensatz stehen zu der Belehrung des Herrn über diesen Gegenstand, so kann es für unsre Seelen sicher nur von Nutzen sein, gleichsam in Seiner Gegenwart die wahren Grundsätze des Glückes zu prüfen und näher zu betrachten. Sicher werden unsre Herzen nach einer vollkommneren Segnung verlangen, welche gleichbedeutend ist mit vollkommenem Glück, d. h. mit dem Glück des Himmels, nicht mit dem ungewissen Glück oder vielmehr der vorübergehenden, flüchtigen Erregung dieser Erde. 

Gewohnheitsgemäß teilen wir alle mehr oder weniger die allgemein herrschenden menschlichen Begriffe über das, was ein glückliches Leben hienieden ausmacht; da wir aber die Belehrungen unsers großen Lehrmeisters vor uns haben, tun wir wohl, zu Seinen Füßen unsern Platz einzunehmen und von Ihm zu lernen, auf welchem Wege wir zu einem Leben der Heiligkeit und des Glückes hienieden und unvermischter Segnung droben gelangen.

Die Menschen im allgemeinen würden sagen: „Glückselig sind die Reichen, die sich mit aller Art von Bequemlichkeit umgeben können und sich keinen Wunsch zu versagen brauchen; glückselig sind die Fröhlichen, die Geistreichen, die Unabhängigen, die nichts wissen von Hunger und Durst!" Aber der Herr, der aus dem Himmel herabkam, und den Charakter kannte, welcher für das Reich passend ist, sagt: „Glückselig sind die Armen, die Trauernden, die Sanftmütigen, die Hungernden und Dürstenden Das heißt das allgemeine menschliche Urteil geradezu ins Gegenteil verkehren und den liebsten Gedanken des menschlichen Herzens widersprechen. Doch welch eine unaussprechliche

Gnade ist es- für alle Klassen der menschlichen Gesellschaft,

dass. das Glück nicht von unsern Umständen

abhängt, noch von der Frage, wie viel oder wie wenig

wir von den Gütern dieser Welt besitzen, sondern einzig

und allein von dem Zustande des Herzens und Geistes,

oder, mit einem Wort, von dem Charakter, einem

Charakter, der demjenigen Christi (wenn wir im Blick auf

den Herrn überhaupt von einem „Charakter" reden dürfen)

gleich gestaltet ist! Denn die Seligpreisungen schildern

wesentlich den Charakter des hochgelobten Herrn selbst.

Wer war so arm im Geiste, so sanftmütig und demütig

wie Er? Wer war so gehorsam und abhängig als Mensch

wie Christus? Wer so mit Frieden erfüllt und so ununterbrochen

in Gemeinschaft mit dem Vater im Himmel? Und

Er hat uns ein Beispiel hinterlassen, dass wir Seinen

Fußstapfen nachfolgen sollen.

Doch bevor wir von den verschiedenen Zügen jenes

wunderbaren Charakters (welcher der unsrige sein sollte)

reden, müssen wir uns an einige Ereignisse in dem öffentlichen

Dienste unsres Herrn erinnern, die zu dieser vollständigen

und förmlichen Ankündigung des Reiches und

der Offenbarung seiner Grundsätze führten. Und wenn

wir dann den Charakter des Herrn und Seine Belehrung,

Seine Wunder und Seine Wege in Gnade und Liebe,.

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betrachten, möge Er uns dann durch Seinen Heiligen

Geist leiten, unsern Seelen Seine mannigfaltigen Herrlichkeiten

offenbaren und unsern Charakter bilden, damit wir,

so lange wir hienieden sind, die himmlischen Grundsätze

Seines Reiches darstellen und befolgen! Möchten wir

uns bei der Betrachtung dieser Seligpreisungen, der verschiedenen

Züge des Charakters des Treuen in Israel, in

ihrem Lichte prüfen und richten, damit wir ein getreues

Abbild von Ihm seien in dieser selbstsüchtigen, eigen-

liebigen Welt! Das ist offenbar unser Platz und unser

Vorrecht während der Abwesenheit unsers Herrn.

Indes möchte eingewandt werden: Stellen nicht die

Jünger, an welche der Herr sich hier wendet, den treuen

Ueberrest in Israel dar? Gewiß; die Bergpredigt richtete

sich an die Jünger, aber sie war für ganz Israel bestimmt,

und sie entfaltet die Grundsätze des Reiches in Verbindung

mit diesem Volke und im Gegensatz zu den Vorstellungen,

welche die Juden sich hinsichtlich dieses Reiches

gebildet hatten. Der Charakter und das Verhalten derer,

welche für das Reich passend sind, sowie die Bedingungen,

um in dasselbe eingehen zu können, werden ebenfalls durch

den Propheten und König angekündigt. Aber ach! infolge

des Unglaubens des Volkes und der Verwerfung seines

Königs ist die Errichtung des irdischen Königreiches aufgeschoben

und die Kirche, deren Charakter himmlisch ist, ein-

gesührt worden; und nun sind die Christen die Träger des

Zeugnisses Gottes und die Zeugen Christi in dieser Welt.

Das ist die Sendung des Christen — gesegnet, aber

auch verantwortlich. „Gleichwie mein Vater mich gesandt

hat," sagt der Herr, „sende ich auch euch." Hier hören

wir aus dem Munde des Herrn selbst, daß unsre Sen-

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dung in diese Welt auf denselben Grundsätzen beruht

und denselben Charakter trägt wie Seine eigene. Und zu

diesem Zwecke offenbarte Er Seinen Jüngern — nicht

nur Seinen Aposteln als solchen — die große Wahrheit,

daß sie kraft Seines vollbrachten Werkes in eine Verbindung

mit Ihm gekommen waren wie nie zuvor; denn gleichzeitig

mit jenen Worten sagt Er zum ersten Male: „Ich

fahre auf zu meinem Vater und euerm Vater und zu

meinem Gott und euerm Gott." Und in der vollen

Gewißheit der Vergebung ihrer Sünden und des Friedens

mit Gott und erfüllt mit dem Heiligen Geiste, sollten sie

jetzt als die Träger Seiner Botschaft ausgehen und stets

durch Seinen Geist charakterisiert sein.

Wenden wir uns jetzt zu den Umständen, welche den

Herrn anleiteten, auf den Berg zu steigen und zu der

Volksmenge zu reden.

Mehr als lieblich auf den Bergen Israels (vergl.

Jes. 52, 7) waren die Füße Dessen, der als der Bote Jehovas

mit solcher Heilung und solchem Segen zu Seinem

Volke kam. Aber wunderbare, segensreiche Wahrheit!

Er selbst war Jehova. Der Geist Gottes findet Seine

Freude daran, Ihn im Matthäus-Evangelium als Jehova-

Jesus, als Emmanuel: Gott mit uns, vor unsre

Augen zu stellen. O Geheimnis der Geheimnisse! —

Emmanuel, Gott geoffenbart im Fleische; und zwar nicht

nur als König der Herrlichkeit, auf einem Throne im

Himmel sitzend, sondern als ein Kindlein, geboren von

einer Jungfrau und in einer Krippe liegend — und doch

der Sohn Davids, der Geliebte Gottes! Er litt und

starb als Menschensohn; aber ein unendlicher Wert wurde

Seinem Werke verliehen durch die Herrlichkeit Seiner Per

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son als Emmanuel, Gott mit uns. Welch ein Ruheplatz

für eine bekümmerte, geängstigte Seele — für dich, mein

Leser, ja, für alle, die an Ihn glauben!

Kein Mensch dies Wunder fassen kann,

Kein Engel kann's verstehen;

Der Glaube schaut's und betet an,

Bewundert, was geschehen.

Aus Absichten, die mit dem Charakter unsers Evangeliums

in Uebereinstimmung stehen, wird die ganze Geschichte

unsers Herrn bis zum Beginn Seines Dienstes nach

der Gefangennahme Johannes des Täufers mit Stillschweigen

übergangen. Dann tritt Er vor uns als der

Erfüller der Prophezeiungen Jesajas, als ein großes Licht,

das da scheint in dem Lande der Finsternis und des

Todesschattens. „Land Zabulon und Land Nephthalim,

gegen den See hin, jenseit des Jordans, Galiläa der

Nationen: das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes

Licht gesehen, und denen, die im Lande und Schatten

des Todes saßen, Licht ist ihnen aufgegangen/' (Matth.

4, 15. 16; Jes. 9, 1. 2.)

Das ganze Land, selbst bis jenseit des Jordans, bis

zu den alten Grenzen Israels hin, geriet durch die mächtigen

Thaten des Herrn in Bewegung. Diese Thaten

waren die getreuen Zeugen von der Thatsache, daß Er

der Messias Seines Volkes war; und die Stämme Israels

wurden somit gleichsam zu dem Banner ihres Messias

berufen. Der Unglaube hatte jetzt keine Entschuldigung

mehr. Christus war nicht nur das Licht, das inmitten

des Todesschattens leuchtete, sondern Er war auch die

Kraft Gottes, die sich in Heilung und Segnung offenbarte.

Er hatte den Starken gebunden und beraubte ihn

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NUN seines Hausrats. Die Bedürfnisse und das Elend

des Menschen, im Blick auf Seele und Leib, waren die

großen Gegenstände Seiner Sendung. Er war gegenwärtig,

um ihre Ungerechtigkeit zu vergeben, ihre Krankheiten

zu heilen, ihr Leben vom Verderben zu erlösen und

sie zu krönen mit Güte und Barmherzigkeit. (Vergl.

Ps. 103.) So lesen wir denn: „Und sein Ruf ging aus

in das ganze Syrien; und sie brachten zu ihm alle Leidenden,

die mit mancherlei Krankheiten und Qualen behaftet

waren, und Besessene und Mondsüchtige und Gichtbrüchige;

und er heilte sie. Und es folgte ihm eine große

Volksmenge von Galiläa und Dekapolis und Jerusalem

und Judäa und von jenseit des Jordans." (V. 24. 25.)

Als so die Aufmerksamkeit des ganzen Landes erregt

war und große Mengen Ihm folgten, in dem Verlangen,

Seine gnadenreichen Worte zu hören, begann Er den Charakter

des Reiches der Himmel und derer, die in dasselbe eingehen

würden, zu entfalten; und diese Rede des Herrn, die

sogenannte Bergpredigt, beginnt mit den Seligpreisungen.

1. „Glückselig dieArmen im Geiste, dennihrer

ist das Reich der Himmel." (Matth. 5, 3.)

Laß uns, geliebter Leser, diese Worte mit Ernst und

im Lichte des Heiligtums erwägen! Wie überaus wichtig

ist es, die Bedeutung der eignen Worte des Herrn Jesu zu

verstehen und in den Geist Seiner Belehrung einzudringen!

Der Zustand der Seele und der Segen derselben sind nicht

von einander zu trennen; der eine ist abhängig von dem

andern. Es ist heilsam und nötig, dies zu lernen. Auch

müssen wir uns daran erinnern, daß nicht große Gelehrsamkeit

oder viel Gelegenheit und Muße zum Lernen — so

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schätzenswert beides ist — die Mittel sind, um Jesum

kennen zu lernen, oder Sein Wort zu verstehen und Seine

Herrlichkeiten zu erkennen; nein, das geschieht vielmehr

durch die Erleuchtung und Belehrung des Heiligen Geistes,

wie der Herr selbst sagt: „Er wird mich verherrlichen;

denn von dem Meinen wird er empfangen und euch verkündigen."

(Joh. 16, 14.)

Die erste Seligpreisung liegt so zu sagen allen andern

zu Grunde. Sie beschreibt nicht nur einen einzelnen

Charakterzug, sondern sie sollte alle die übrigen Seligpreisungen,

ja, alle, die Jesu angehören, kennzeichnen.

Sicherlich kann für eine Seele, die es mit Gott zu thun

hat, nichts notwendiger sein als Armut des Geistes. Nicht

Armut in den äußern Umständen, oder Armut im Reden

und Handeln, sondern Armut im Geiste, im Herzen, in

den Gefühlen, in dem innern Menschen, und alles das

vor dem lebendigen Gott. Wie oft mögen wir, im Blick

auf jemanden, der uns Unrecht gethan hatte, gesagt oder

doch wenigstens gedacht haben: „Ich vergebe ihm gern,

und ich will wieder gegen ihn sein wie früher; aber vergessen

kann ich die Sache deshalb doch noch nicht." Das

heißt nicht „arm im Geiste" sein; es scheint äußerlich so,

ist es aber nicht wirklich. Eine solche Redeweise entspringt

derselben Quelle wie der Geist dieser Welt, welcher sagt:

„Ich will die Sache mit ihm ausfechten; so etwas lasse

ich mir nicht gefallen!" Wie verschieden ist das von dem

Zustande des Mannes, der hier durch den Herrn beschrieben

wird, der nicht nur „arm" ist in seinem äußern Verhalten,

sondern auch innerlich, im Geiste. Das äußere

Verhalten sollte stets der wahre Ausdruck des innern Zustandes

sein; und, möchten wir es nie vergessen, „die

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Opfer Gottes sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes

und zerschlagenes Herz wirst Du, Gott, nicht verachten."

(Ps. 51, 17.) Das war allezeit der Geist, welcher in

göttlicher Vollkommenheit den demütigen, abhängigen Sohn

des Menschen beseelte. Aber die Gnade vermag auch den

stolzen Geist des Menschen zu Boden zu werfen und ihn

selbst, demütig und gebrochen, vor Gott in den Staub

zu beugen; und das ist die Grundlage eines wahren

christlichen Charakters und der Boden, auf welchem für

die Seele die reichsten Segnungen wachsen. Allerdings

kann es sein, ja, es ist leider nur zu oft so, daß ein

Gläubiger eines Tages seinen rechten Platz vergißt und

dem alten Geiste des natürlichen Menschen sür eine Zeit

hervorzutreten erlaubt; aber der Herr weiß ihn wieder

niederzubeugen und auf den richtigen Boden zurückzuführen.

Nichts ist trauriger, als wenn jemand, der diesen Boden

einmal erkannt und eingenommen hat, ihn wieder verläßt,

sei es auch nur für einen Augenblick. Ein solcher verliert

dann die Gnade aus dem Auge, die in Christo so

herrlich ans Licht trat und welche Gott von jeher so

wohlgefällig war.

Ich wiederhole, mein Leser, laß uns ein wenig über

die geheimnisvollen Tiefen dieser Dinge nachsinnen! Kennst

du sie in der tiefen Erfahrung deiner eignen Seele?

Stehst du auf jenem Boden? Wenn alles, was von uns

ist, verschwunden ist, wenn wir nichts sind, selbst in

unserm Denken und Fühlen durchaus nichts, dann kommt

alles von Gott in uns hinein — von Gott in Christo

Jesu; und wir sind befriedigt. Ja, Gott sei ewig gepriesen

! das ist der Zustand, das ist die Segnung. Das

Kleid, der Ring, die Schuhe wären nicht genug sür den

s

verlornen Sohn gewesen; nichts als das gemästete Kalb

tonnte den Hungernden befriedigen, nachdem er feine ganze

Habe vergeudet hatte. Als er bei den Trübern angelangt

war und selbst diese ihm von niemandem gegeben wurden,

da gedachte er an das Haus seines Vaters, an die Stätte,

wo allein das gemästete Kalb zu finden war. So muß

«S stets sein. Als Noomi „leer" in das Land Israel

Zurückkehrte, da entdeckte sie, daß gerade die Gerstenernte

begonnen hatte. (Ruth 1.) Als Abraham vor Gott auf sein

Angesicht fiel, da flössen Ströme der Gnade aus dem Meere

der göttlichen Liebe ihm zu. „Ich werde, ich werde", so

heißt es wieder und wieder auf feiten Gottes. Gnade

und nichts als Gnade umgiebt Abraham. — „Abraham

soll dein Name sein; denn zum Vater einer Menge Nationen

habe ich dich gemacht. Und ich werde dich sehr,

sehr fruchtbar machen, und ich werde dich zu Nationen

machen . . . Und ich werde meinen Bund errichten zwischen

mir und dir und deinem Samen nach dir . . . Und

ich werde dir und deinem Samen nach dir das Land

deiner Fremdlingschaft geben, das ganze Land Kanaan,

Zum ewigen Besitztum, und ich werde ihnen zum Gott

sein." (1. Mose 17, 1—8.)

Aehnlich war es mit dem Aussätzigen. (3. Mose 14.)

Sobald die böse Energie des Fleisches aufhörte zu wirken,

wurde er für rein erklärt. Der Priester konnte zu dem

unreinen Orte, wo der Aussätzige sich aufhielt, hinausgehen

und ihn in das Lager führen, in der vollen Segnung

des Todes und der Auferstehung (vorbildlich betrachtet);

und dann, am achten Tage, dem Tage der Auferstehung,

trat die Fülle des Segens ein: er durfte in sein Zelt

gehen. So lange wir etwas von uns selbst aufrecht zu

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erhalten suchen, so lange wir im Blick auf irgend eine

Lieblingsmeinung oder einen Lieblings-Gegenstand einen

ungebrochenen Geist nähren, widerstehen wir dem Willen

Gottes und schließen Seine Gnade aus. Sobald wir aber

am Ende unsers eignen Ichs angelangt und uns unsers

völligen Nichts bewußt geworden sind und nun nichts

anderes als Christum und Seine Ehre aufrecht zu erhalten

wünschen, dann thun sich die Schleusen auf, und

die Gnade fließt in Strömen.

Manche haben gemeint, daß buchstäbliche Armut, in

ihrem gewöhnlichen Sinne, in den Gedanken des Herrn

mit den Segnungen des Reiches verbunden sei, und haben

deshalb mit einem Male alle ihre Habe dahingegeben und

sind um des Reiches der Himmel willen arm geworden.

Anstatt über ihre Einkünfte als die Verwalter des Herrn

zu beschicken und sie zu benutzen, jenachdem Er sie dazu

berufen würde, haben sie andere damit betraut und selbst

den Platz der Abhängigkeit eingenommen. Das erstere

ist sicher ein viel leichterer Weg als das letztere; aber

was ist das richtige? Ein Besitztum zu verwalten für

Christum und Seinen Dienst in dieser Welt und es zu

benutzen als Sein Verwalter nach Seinen Gedanken, ist

ein christlicher Dienst, der viel Warten auf den Herrn,

sowie eine große Freiheit der Seele in Seiner Gegenwart

erfordert. Ein ängstliches Gewissen wird in steter Knechtschaft

liegen.

Der Gedanke, in dieser Weise arm zu werden um

des Reiches der Himmel willen, gründet sich auf Luk. 6,

wo es heißt: „Glückselig ihr Armen, denn euer ist das

Reich Gottes." Die Worte „im Geiste" sind hier ausgelassen.

Allein in dieser Stelle findet sich durchaus kein

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Grund für einen solchen Gedanken. Er ist nicht die

Frucht des Glaubens, sondern des Aberglaubens und

trägt den Keim des Mönchtums in sich. Es handelt sich

um den innern Menschen, nicht um den äußern. Ein

Armer hinsichtlich der Güter dieser Welt trägt vielleicht

einen stolzen, unbändigen Geist in sich, während ein Reicher

wahrhaft demütig sein kann. Andrerseits glauben

wir gewiß, daß der Herr viel öfter das Elend und die

Not des Menschen als Mittel benutzt, um ihn zu sich zu

Ziehen, als seinen Wohlstand; aber das ist des Herrn

Weise zu handeln und eine ganz andere Sache. Für einen

Verwalter ist es am Platze, die Gedanken seines Herrn zu

beachten und auszuführen, nicht aber seinen eigenen nachzuhängen.

Der Unterschied zwischen Matthäus und Markus

bezüglich ihrer Darstellungsweise der Seligpreisungen gründet

sich auf die charakteristische und göttlich geordnete

Verschiedenheit der beiden Evangelien.

Matthäus teilt uns die Bergpredigt mehr in abstrakter

Weise mit, indem er jede Segnung für die und die

Klasse vorstellt: „Glückselig die Armen im Geiste." In

Lukas ist es eine persönliche Ansprache: „Glückselig ihr

Armen." Der Grund dafür liegt auf der Hand. Im

ersten Falle ist es der Prophet, „größer als Moses", der

die Grundsätze des Reiches der Himmel aufstellt im

Gegensatz zu allen jüdischen Gedanken, Gefühlen und Er­

wartungen ; im zweiten ist es der Herr, der die um

Ihn versammelten Jünger tröstet, indem Er sie selbst

anredet als so für Ihn abgesondert. Es war eine Zeit

der Drangsal, denn der Mensch wollte Ihn nicht und

verwarf Ihn.

Indem wir noch einmal zu unserm Texte zurück

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kehren, möchten wir nur noch bemerken, daß der Herr

hier also das Reich der Himmel als jenen „Armen im

Geiste" gehörend bezeichnet. Sie sind die Erben des

Reiches. Die Reichtümer des Königs und die Herrlichkeiten

Seines Reiches sind herabgekommen, um den „Armen

im Geiste" zu gehören. Wir mögen deshalb wohl

ausrufen: Wer möchte nicht arm im Geiste sein ? Wer

möchte nicht von sich selbst ausgeleert vor dem Herrn

stehen? Aber ach! die Gefahr ist so groß, schon mit

andern Dingen beschäftigt und erfüllt zu sein, wenn die

Einladung an uns herantritt. Häuser, Aecker, Ochsen,

die Familie, die Welt und, was das Schlimmste ist, das

eigne Ich, die Beschäftigung mit uns selbst in tausenderlei

Weise — alle diese Dinge umstricken so leicht unsre

Herzen und lenken unsre Blicke von Christo ab. Aber

den Armen im Geiste, denen, die mit sich selbst zu Ende

gekommen sind, aber durch den Glauben sich an Christum

und an Sein Kreuz klammern; denen, die ihrem Verstände

Schweigen geboten und die bestechenden Formen einer

äußerlichen Religiosität ausgegeben haben, und nun sagen

können: Ich besitze nichts mehr als Christum; alles was

ich einst so hoch schätzte und zu behalten wünschte, habe

ich aufgegeben; nichts ist mir geblieben als Christus allein

— ja, diesen gehören die ganzen Reichtümer und Segnungen

Seines Reiches; ja, mehr noch, ihnen gehört

Christus, jetzt und in alle Ewigkeit.

(Fortsetzung folgt.)

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Der Einfluß der Erwartung Christi.

Es giebt zwei Dinge, welche die Freude eines Christen

ausmachen und seine Stärke auf dem Wege durch diese

Welt sind; erstens: die praktische Gemeinschaft mit Gott,

dem Vater, und mit Seinem Sohne Jesu Christo, und

zweitens: die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi. Diese

beiden Dinge können ohne ernstlichen Schaden für unsre

Seelen nicht von einander getrennt werden. Wenn wir

nicht nach der Ankunft Jesu ausschauen, so vermag uns

nichts in gleicher Weise von dem gegenwärtigen bösen

Zeitlauf abzusondern; Christus ist dann nicht in Wahrheit

der Gegenstand, der vor unsrer Seele steht, und wir sind

nicht fähig, die Gedanken und Pläne Gottes bezüglich

dieser Welt zu verstehen. Und wenn andrerseits diese

Hoffnung vorhanden ist ohne praktische Gemeinschaft mit

Gott, so fehlt uns die nötige Kraft, da unser Herz müde

und matt wird, indem es sich zu viel mit dem Bösen

beschäftigt, das uns umringt. Denn wir können nicht

wirklich nach der Wiederkunft des Sohnes Gottes aus

den Himmeln ausschauen, ohne zu gleicher Zeit zu sehen,

wie die Welt Ihn verworfen hat und wie sie stets in

ihrer Gottlosigkeit fortschreitet, wie ihre weisen Männer

keine Weisheit haben, und wie sie dem Gericht entgegenreift,

da die Grundsätze des Bösen alle Bande lösen

und alle Schranken durchbrechen. Indem aber das Auge

dieses sieht, wird die Seele niedergebeugt und das Herz

mutlos. Wenn indes der Christ durch die Gnade in praktischer

Gemeinschaft mit Gott lebt, so ist sein Herz standhaft

und ruhig und glücklich vor Gott, weil in Ihm eine

Quelle des Segens ist, die durch keine Umstände angetastet

14

oder verändert werden kann. Wohl vernimmt man die

traurigen Berichte, wohl sieht man das Elend und den

Jammer um sich her, aber das Herz ist voll Vertrauen

auf den Herrn gerichtet, und das erhebt den Gläubigen

über die Umstände.

Geliebte Brüder! wir alle haben nötig, hieran erinnert

zu werden; denn wir alle sind in Gefahr, in der

Erwartung unsers Herrn müde zu werden oder den gesegneten

Genuß der Gemeinschaft mit dem Vater und dem

Sohne zu verlieren. Und doch bedürfen wir, wie wir

gesehen haben und es auch täglich erfahren, sowohl dieser

Hoffnung als auch dieser Gemeinschaft, um standhaft mit

Gott zu wandeln. Ich glaube nicht, daß ein Christ gut

stehen kann, wenn er nicht den Sohn Gottes aus den

Himmeln erwartet. Ein Christ, der in dieser lebendigen

Erwartung steht, beurteilt die Dinge um ihn her ganz

anders wie ein Gläubiger, der diese Erwartung nicht teilt;

er sieht alles mit ganz andern Augen an. Er denkt nicht

daran, diese Welt, die Christum verworfen hat, verbessern

zu wollen. Er erwartet den Herrn selbst aus den Himmeln,

damit Er ihn mit der ganzen Versammlung Gottes

zu sich nehme; wie Er gesagt hat: „Ich komme wieder

und werde euch zu mir nehmen, auf daß, wo ich bin,

auch ihr seiet." Wo ich meine Freude finde, da sollt

auch ihr sie finden, ich mit euch, und ihr mit mir. (Joh.

14, 3.) — Ja, geliebter Leser, wir werden allezeit bei

dem Herrn sein!

Doch noch etwas anderes ist mit der Erwartung des

Sohnes Gottes aus den Himmeln verbunden. Ich habe

die Person, die ich liebe, noch nicht bei mir; und während

ich auf Ihn warte, gehe ich durch die Welt, ermüdet und

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betrübt durch den Geist und Charakter alles dessen, was

ich rund um mich her sehe. Je mehr ich in Gemeinschaft

mit Gott bin, desto mehr werde ich den Geist dieser Welt

erkennen und mich über all die Ungerechtigkeit betrüben,

die ich täglich erblicke. Allein ich werde nicht mutlos,

sondern Gott erhält meine Seele aufrecht durch den Genuß

der Gemeinschaft mit Ihm, und mein Auge blickt vorwärts

auf die herrliche Zukunft, die vor mir liegt. Darum ruft

auch der Apostel in 2. Thess. 1 den bedrängten Gläubigen

zu: „euch, die ihr bedrängt werdet, Ruhe mit uns bei

der Offenbarung des Herrn Jesu vom Himmel". Ich genieße

jetzt Ruhe für meine Seele in der Erwartung des

Herrn; denn ich weiß, daß Er bei Seiner Ankunft alle

Dinge nach Seinem Willen ordnen wird. Und diese

Ankunft, welche über die Welt Bedrängnis bringen

wird, führt die Heiligen, in die vollkommene und ewige

Ruhe ein.

Sollten wir deshalb müde und matt in unsern Seelen

sein? O nein, wir sollten uns durch den Dienst und durch

den Kampf nicht ermüden lassen, sondern vielmehr jeden

Tag „Ueberwinder" sein. Zwar ist Kämpfen nicht Ruhen.

Aber wenn wir mit Gott wandeln, so werden wir nicht

so viel an den Kampf denken, sondern uns in Gott erfreuen.

Wir werden sicherlich, wenn wir einmal in der

Herrlichkeit sind, alles besser kennen und verstehen wie

heute; unsre Seele wird fähiger sein, Gott zu genießen.

Allein es ist dieselbe Art von Freude, die wir heute genießen;

wir werden keine andere Freude schmecken, wenn

der Herr kommt, um in Seinen Heiligen verherrlicht zu

Werden, obwohl sie ohne Zweifel dann völliger sein wird.

Und wenn diese Freude in Gott jetzt in Kraft meine

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Seele erfüllt, so verliert die Welt ihren Reiz, uni»

die Liebe zu denen, welche in der Welt sind, kehrt m

mein Herz ein; denn obgleich ich durch den Kampf ermüdet

bin, fühle ich doch, daß Menschen in der Welt

sind, welche der Liebe bedürfen, die ich genieße, und ich

wünsche, daß sie dieselbe auch kennen lernen möchten. Wenn

die Liebe Gottes mein Herz erfüllt, so geht es aus zu

denen, welche ein Bedürfnis für diese Liebe haben, zu den

Gläubigen und zu den Sündern, und zwar in Uebereinstimmung

mit ihren Bedürfnissen; denn wenn ich die Macht:

dieser Liebe in meinem Herzen fühle, so begehre ich anderen

zu dienen, und die Kraft dieser Liebe macht mich geschickt,,

mich mit Freuden all der Mühe und Arbeit dieses Dienstes

zu unterziehen. Ich bin innig mit Christo verbunden,,

und das treibt mich an zu dienen und stärkt mich in denr

Leiden für Ihn; zugleich drückt diese Verbindung mit dem

letzten Adam ihren Stempel auf alles, was von bemerkten

Adam ist.

Wenn aber diese Liebe mich zum Dienst antreibt, so

ist der Kampf unausbleiblich. In 2. Kor. 1 hören wir

von Trost inmitten der Bedrängnis; in 2. Thess. 1 von-

der Ruhe, die unser Teil sein wird, wenn Jesus kommt..

Ihr werdet verfolgt und bedrängt, schreibt Paulus an die

Thessalonicher, „auf daß ihr würdig geachtet werdet des

Reiches Gottes, um dessentwillen ihr auch leidet"; während

er den Korinthern zuruft, daß der Vater der Erbarmungen,

und der Gott alles Trostes uns tröstet in all unsrer

Drangsal. Wenn wir um Christi willen bedrängt werden,

so kommt der Trost Gottes in unsre Seele. Welch eine-

reiche Quelle des Segens tauschen wir so ein für das

geringe Leiden, das unser Teil ist! Gott offenbart sich.

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meiner Seele; Seine Freude erfüllt mich. Gott hat Wohlgefallen

an mir, und ich an Ihm. Er macht sich eins

mit denen, die für Ihn leiden.

Wenn also die Erwartung Christi und Seine Liebe

zu uns mich antreibt, andern zu dienen, damit auch sie

an denselben Segnungen teilhaben möchten, die ich genieße,

und wenn auf diesem Wege Bedrängnis und Verfolgung

mich treffen, welch reiche und stärkende Tröstungen reicht

der Herr dann meiner Seele dar! „Denn gleichwie die

Leiden des Christus gegen uns überschwenglich sind, also

ist auch durch den Christus unser Trost überschwenglich."

(2. Kor. 1, 5.) Möge der Herr unsre Seelen allezeit mit

dem Gefühl Seiner Gegenwart erfüllen und unsre Herzen

in der beständigen Erwartung Seiner Wiederkunft erhalten !

„Es ist nicht mehr nötig, beunruhigt

zu sein."

Die volle, gesegnete Tragweite der obigen Worte: „Es

ist nicht mehr nötig, beunruhigt zu sein," mag von dem, der

sie zuerst aussprach, nicht ganz verstanden worden sein;

aber diejenigen, welche sie hörten, werden sie Wohl nicht

so bald wieder vergessen. Und in der That, wenn sie

verstanden werden in Verbindung mit dem Werke Christi

und einem gegenwärtigen Heil, so sind sie höchst bezeichnend

für die Segnung der glaubenden Seele und

für den Frieden, den wir mit Gott haben durch unsern

Herrn Jesum Christum.

An einem Sonntag Abend, nach der Verkündigung

des Evangeliums, unterhielt sich der Schreiber dieser

Zeilen, im Verein mit mehreren andern Gläubigen, noch

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einen Augenblick mit einigen Zuhörern, die im Versammlungslokale

zurückgeblieben waren. Unter den letzteren

befanden sich auch zwei Knaben. Der eine derselben war

uns schon seit längerer Zeit bekannt als ein glücklicher,

entschiedener Jünger Jesu, so jung er auch noch sein

mochte; den anderen aber hatten wir noch nie gesehen.

Wie wir hörten, war er von seinem Schulkameraden,

jenem gläubigen Knaben, mitgebracht worden; und da er

zum ersten Male einer derartigen Versammlung beigewohnt

hatte, so meinten wir, nicht viel Verständnis bezüglich des

Gehörten bei ihm voraussetzen zu dürfen. Einer von uns

fragte ihn deshalb freundlich: „Nun, mein Junge, bist

Du durch die Predigt heute Abend über das Heil Deiner

Seele beunruhigt worden?"

Der Knabe blickte den Frager einen Augenblick ernst

an und sagte dann in bestimmtem - Tone: „Es ist nicht

mehr nötig, beunruhigt zu sein."

Da wir auf eine solche Antwort durchaus nicht vorbereitet

waren, standen wir eine Weile sprachlos da, indem

wir uns im Stillen wegen unsers Unglaubens verurteilt

fühlten. Das was der Knabe sagte, war gerade

das, was wir an jenem Abend als die Wahrheit Gottes

verkündigt hatten; und doch, als wir hier jemanden vor

uns sahen, der die göttliche Wahrheit in Einfalt des Herzens

ausgenommen hatte, waren wir im höchsten Grade

erstaunt und verwundert. Ach, unsre kleingläubigen Herzen

sind oft so wenig auf das vorbereitet, was eigentlich stets die

Folge der Predigt des Evangeliums sein sollte. Denn was

könnte wahrer sein als die Antwort jenes Knaben? Und

warum sollte der überführte Sünder die frohe Botschaft

von der Liebe Gottes nicht sofort itn Glauben annehmen?

19

Im weiteren Verlauf unsrer Unterhaltung mit dem

Knaben fragten wir ihn, auf was sich seine Ueberzeugung,

daß er keine Ursache mehr habe beunruhigt zu sein, denn

gründe. Er schien es etwas merkwürdig zu finden, daß

wir überhaupt eine solche Frage an ihn richteten, erzählte

unS dann aber mit einfachen Worten, wie er sich heute Abend

als einen fündigen, verlornen Knaben erkannt und wie er

dann Jesum im Glauben ergriffen habe. Er erinnerte

uns an mehrere Bibelstellen, die in den Vorträgen angeführt

worden waren, und bekannte freimütig, daß Christus

für ihn am Kreuze gestorben sei und alle seine Sünden

in Seinem kostbaren Blute abgewaschen habe. Nichts hätte

einfacher, klarer und richtiger sein können als das Bekenntnis,

welches der glückliche Knabe ablegte. Seine Erkenntnis

war selbstverständlich äußerst gering, aber er hatte einfältig

an Jesum als seinen Heiland und Erretter geglaubt,

und er wußte jetzt, daß er errettet war, und daß

es keinen Grund mehr für ihn geben konnte, irgendwie

beunruhigt zu sein. Wir schieden von einander mit glücklichen,

dankerfüllten Herzen.

Es ist jedoch nicht mein Zweck, die Geschichte jenes

Knaben weiter zu verfolgen; ich wünschte durch die Erzählung

obigen Vorfalls nur darauf hinzuweisen, wie überaus

wichtig es ist, einfältig zu sein bezüglich alles dessen,

was die Wahrheit Gottes, sowie unsern Glauben und

praktischen Wandel betrifft. Wenn wir, anstatt einfältig

und kindlich zu glauben, unserm Verstände erlauben, seine

Schlüsse zu ziehen; wenn wir, anstatt die Wahrheit Gottes

aufzunehmen, so wie sie uns in Seinem kostbaren Worte

mitgeteilt ist, über menschliche Lehren und Meinungen

nachgrübeln; wenn wir endlich mit unsern eignen Ge

20

fühlen beschäftigt sind, anstatt mit der Liebe und Güte

unsers gepriesenen Herrn, — dann, ja, dann fahre hin

Entschiedenheit, Friede, Ruhe und Glück!

Wenn man so oft von solchen, die da kommen, um

das Evangelium zu hören, ja, selbst von den Lippen

ernster, aufrichtiger Seelen die entmutigenden Worte

hört: „Ich hoffe zu glauben," oder: „ich wünsche zu

glauben," oder: „ich thue, was ich kann," und dergl., dann

ist es in Wahrheit ermunternd und erfrischend, auch einmal

eine so klare, entschiedene Sprache zu hören, wie jener

Knabe sie führte: „Es ist nicht mehr nötig, beunruhigt

zu sein."

Aber ist dies denn wirklich so? fragt vielleicht der

eine oder andre meiner Leser, der schon seit langer Zeit

über den Zustand seiner Seele beunruhigt war. Sicher

und gewiß ist es so, lautet meine Antwort. Ist Jesus

nicht gestorben? Hat Er nicht das Werk vollbracht, das

nötig war zu unserm Heil? Hat Er nicht selbst, ehe Er

Sein Haupt neigte und Seinen Geist den Händen des

Vaters übergab, ausgerufen: „Es ist vollbracht!"? War

nicht in jenem Augenblick das Werk, welches Gott verherrlicht

hat und jede glaubende Seele errettet, vollendet?

„Ja" und wiederum „Ja" antworten wir auf alle diese

Fragen. Die Worte: „Es ist vollbracht!" umfassen alles,

was von Gott gefordert wurde und für den bedürftigen

Sünder vonnöten war; und in demselben Augenblick, da

der schuldigste Sünder an das Evangelium glaubt, tritt

er ein in die ganze Fülle und Segnung des göttlichen

Heiles. Nicht als ob jeder Gläubige diese Fülle und

Segnung immer in ihrem ganzen Umfange genösse; der

Unglaube hindert ihn leider oft daran. Aber die Wahr-

21

cheit ist es, und sie ist da für einen jeden, der da glaubt.

Wenn ein Gläubiger in einfältigem Glauben handelt, so

kann er das kostbare Buch Gottes zur Hand nehmen und

hie ganze reiche Liste von Segnungen darin aufspüren

welche in Christo Jesu sein Teil sind, und zwar sein Teil

ohne daß irgend eine Möglichkeit vorläge, sie jemals wieder

zu verlieren; denn das Werk, auf welches sie sich

gründen, kann sich in seinem Werte niemals verändern.

And indem er dies thut, kann er in einsichtsvollem Glauben

und mit dankbarem Herzen ausrufen: „Wahrlich, es

ist nicht mehr nötig, beunruhigt zu sein!"

Wenn eine von ihren Sünden überführte Seele sich

vor Gott in den Staub beugt und von Grund ihres Herzens

ruft: „O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!" was wird

der Herr dann sagens Wird Er antworten: „Ich habe

kein Erbarmen für dich"? Nimmermehr! Das würde eine

Verleugnung Seiner selbst und der ganzen göttlichen Wahrheit

sein. Nein, in demselben Augenblick, da ein Sünder in

Aufrichtigkeit so ruft, hört Gott, und dem Sünder wird

Gnade und Erbarmen zu teil gemäß der Güte Gottes

und kraft des Wertes des Opfers Jesu Christi. Es

handelt sich dann nicht länger um die Gedanken und Gefühle

des Sünders, so wichtig diese an ihrem Platze auch

sein mögen, sondern alles wird jetzt gemessen nach dem

Werte und der Tragweite des Erlösungswerkes; und

indem der bußfertige, glaubende Sünder in dem Namen

und in dem Werte Christi Gott naht, empfängt er alles,

was Christo gebührt.

Diese herrliche Wahrheit wird uns im 9. und 10.

Kapitel des Hebräerbriefes in klarster Weise vor Augen

gestellt. In der ersten Hälfte deS 9. Kapitels weist der

22

Apostel unter anderm auf die Resultate des Merkes Christe

hin, die, wenn anders verstanden, das Herz für immer

von aller Sorge und Unruhe betreffs der Zukunft befreien

müssen.

Zunächst spielt er auf den zerrissenen Vorhang an,

und zwar im Gegensatz zu dem Zustand der Dinge unter

dem Gesetz, als der Weg ins Allerheiligste noch nicht

geoffenbart war. Nachdem der Vorhang zerrissen ist, liegt

der Weg ins Heiligtum offen vor uns, jedes Hindernis

ist entfernt; dieselbe Hand, welche das fleckenlose Lamm

im Gericht schlug, zerriß den Vorhang in Stücke. Wir

lesen in Matth. 27: „Jesus aber schrie wiederum mit

lauter Stimme und gab den Geist auf. Und siehe, der

Vorhang des Tempels zerriß in zwei Stücke, von oben

bis unten." Diese Thatsache ist von unermeßlicher Wichtigkeit,

da sie jede Ursache zum Zweifel oder zur Furcht

hinwegräumt und dem Gläubigen ein vollkommnes Vertrauen

in der Gegenwart Gottes giebt. War es nicht

Gottes eigne Hand, die den Vorhang von oben bis unten

zerriß? Und warum geschah dies? Weil das große

Werk, das die Sünde hinwegthut, Gott verherrlicht und

jedem Bedürfnis des verlornen Sünders begegnet, vollendet

war. Und nun, mein lieber Leser, beachte den unendlichen

Segen dieses Resultates des Opfers Christi: Der Gläubige

— jeder Gläubige — hat Zugang zu Gott; er

darf da hinzunahen, wo Er im Lichte ist. Könnte die

Segnung der Seele noch vollkommener sem? Unmöglich!

In dem durchdringenden Lichte jenes Thrones, in den

glänzenden Strahlen jener Gegenwart stehen zu können,,

ohne daß jemals der beängstigende Gedanke die Seele

durchkreuzt, daß dieses Glück eines Tages unterbrochene

23

werden könne, — das ist Ruhe, vollkommene Ruhe. Dort,

In jenem Lichte, ist der Wohnplatz des Gläubigen, das

Vaterhaus, die Heimat der Braut, des Weibes des Lammes,

und zwar für alle Ewigkeit. Welch eine Gnade!

welch ein Glück! welch eine Sicherheit! Ja, welch eine

Herrliche Folge jenes wunderbaren Werkes auf Golgatha,

ber Vergießung jenes kostbaren Blutes, das da reinigt von

-aller Sünde! Ehre und Anbetung sei unserm hochgelobten

und geliebten Heilande jetzt und immerdar!

Doch das kostbare Blut Jesu hat nicht allein die

Thore der Herrlichkeit weit vor uns geöffnet und uns

-einen Weg in die unmittelbare Nähe Gottes gebahnt, sondern

es macht auch den Gläubigen völlig passend, dort zu

weilen; es begegnet in vollkommenster Weise allen seinen

Bedürfnissen. Das Opfer Christi macht, im Gegensatz

zu den Opfern des alten Bundes, den Gläubigen vollkommen,

was sein Gewissen betrifft; er hat „kein Gewissen

mehr von Sünden". Im zehnten Kapitel finden

wir den ins Einzelne gehenden Beweis von diesem kostbaren

Resultate des Werkes Christi. Indem wir die

-ewige Wirksamkeit des Blutes Jesu kennen, können wir

in das Heiligtum eintreten, ohne irgendwie befürchten zu

müssen, daß die Frage der Sünde dort jemals erhoben werden

könnte; diese ernste Frage wurde einst auf dem Kreuze

für immer zum Abschluß gebracht. „Denn durch ein

Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die

geheiligt werden." Das Gewissen trägt gleichsam den

Widerschein des Opfers. Ein vollkommenes Opfer muß

ein vollkommenes Gewissen geben, gerade so wie die unvoll-

kommnen Opfer unter dem Gesetz niemals ein vollkomm-

ues Gewissen geben konnten. Das leitet uns zu dem

24

lieblichen, ja, unaussprechlich lieblichen Gedanken, dast

wir in dem Lichte sind ohne einenFlecken von

Sünde, rein und tadellos. Nicht nur sind alle

meine Sünden vergeben, sondern auch mein Gewissen ist

für immer zur Ruhe gebracht durch die reinigende Kraft

des Blutes Jesu Christi, meines Herrn und Heilandes.

Der Wert einer guten Sache ist in hohem Maße bedingt

durch ihre Beständigkeit. Manche unsrer schönsten

Freuden hienieden werden durch den Gedanken getrübt,

daß wir sie vielleicht morgen schon einbüßen können. Die

aufbrechende Knospe kann geknickt werden oder verdorren,

bevor sie sich in ihrer vollen Schönheit entfaltet. Aber

der Glaube wird niemals über getäuschte Hoffnungen zu

klagen haben; jede Knospe der Verheißung wird zu ihrer

vollen Entfaltung kommen und in ihrer Herrlichkeit unb

Schönheit glänzen für immer und ewig. Christus ist

schon ins Heiligtum eingegangen, nachdem Er eine ewige

Erlösung für uns erfunden hatte, und damit wir die

Verheißung eines ewigen Erbteils empfingen. Alles,

was wir jetzt im Glauben besitzen, ist ewig; der Name

des Herrn sei dafür gepriesen! Jenes kostbare Blut kann

nie seinen Wert und seine Kraft verlieren; das Werk ist

vollkommen und für immer vollbracht; unser Hohepriester

ist im Himmel kraft einer ewigen Erlösung, und ein

ewiges Erbteil ist uns gesichert. Es ist nicht, wie

manche es nennen möchten, eine bedingte Erlösung,

d. h. bedingt durch unsre Standhaftigkeit und Treue.

Sicherlich sollten wir allezeit treu sein, allezeit feststehen

im Herrn, und es ist unsre Sünde und Schande, wenn

wir es nicht thun; allein, dem Herrn sei Dank! unsre

Erlösung, unser Erbe, unsre Heimat droben ist nicht ab

25

hängig von unsrer Treue, sondern von dem ewigen Werte

und der ewigen Wirksamkeit des Blutes Jesu Christi,

des Sohnes Gottes. Dieses Blut ist vergossen und auf

den Gnadenstuhl gesprengt worden; dieses Blut hat allen

Forderungen Gottes entsprochen; dieses Blut ist der Not

und dem Elend des gefallenen Menschen begegnet, ja, es

bleibt, ein für allemal vergossen, ewig wirksam.

Und nun, mein lieber Leser, kannst du „Amen"

sagen auf diese kostbaren Wahrheiten? Wenn es der Fall

ist, so bist du errettet, und deine Antwort mag dann

wohl lauten:

„Es ist nicht mehr nötig, beunruhigt zu sein."

Bekümmerte Seelen, die durch die Verkündigung eines

vollen, gesunden Evangeliums bekehrt werden, finden gewöhnlich

sofort Frieden, und verlassen nicht selten das Versammlungslokal

oder den, der ihnen die frohe Botschaft verkündigt

hat, in der vollen Gewißheit und triumphierenden

Freude des Heils. Und weshalb nicht? Warum sollte

man das für etwas Merkwürdiges oder Auffallendes halten?

Ist nicht Jesus für den vornehmsten der Sünder

gestorben? Und wenn für den vornehmsten, dann doch

sicherlich auch für den untergeordneten. Darum, mein

lieber Freund, der du bis heute hin vielleicht noch ängstlich

gezögert hast, dir das Heil anzueignen, welches dir

in Christo so frei und bedingungslos angeboten wird,

zögere nicht länger! Glaube mit kindlichem Herzen und

einfältigem Sinn!

Doch vielleicht fragst du: Was soll ich glauben?

Meine Antwort ist einfach; sie lautet: Glaube dem Zeugnis

Gottes, das Er gezeugt hat über Seinen Sohn. „Wenn

wir das Zeugnis der Menschen annehmen, das Zeugnis

Gottes ist größer . . . Und dies ist daS Zeugnis: daß

26

Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben

ist in Seinem Sohne. Wer den Sohn hat, hat das

Leben . . . Dies habe ich euch geschrieben, auf daß ihr

wisset, daß ihr ewiges Leben habt, die ihr

glaubet an den Namen des Sohnes Gottes."

(1. Joh. 5, 9—13.) Ja, das Werk ist vollendet, wie

wir gesehen haben, für ewig vollbracht. Wer da glaubt,

der hat. Von Natur sind wir Kinder des Zornes, durch

den Glauben sind wir Kinder Gottes. So lautet das

Zeugnis, so lauten die unveränderlichen Aussprüche des

lebendigen Gottes.

Aber vielleicht fallen diese Zeilen einem gleichgültigen,

sorglosen Leser in die Hände, der sich noch niemals ernstlich

mit diesen Dingen beschäftigt hat. Ein solcher möge

bedenken, daß jeder Tag ihn einen Schritt näher bringt

zum Ziele, näher zur Ewigkeit, näher zu jenem Augenblick,

wo alles in dem untrüglichen Lichte deS Richterstuhls

Christi geoffenbart werden wird. Die Zeit fliegt dahin;

noch wenige Stunden oder Tage vielleicht trennen uns

von der Ankunft unsers geliebten Herrn, wo dann für

alle, die so oft eingeladen worden sind, aber nicht hören

noch folgen wollten, die Thür der Gnade verschlossen

werden wird. „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges

Leben; wer aber dem Sohne nicht glaubt, wird

das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes

bleibt auf ihm." Auch dieses Wort bleibt ewig

bestehen; es ist ebensosehr die Wahrheit Gottes wie jene

herrlichen Verheißungen, von denen wir soeben gesprochen

haben. Die Gedanken und Meinungen der Menschen vermögen

nichts daran zu ändern. Himmel und Erde werden

vergehen und mit ihnen alle die eitlen Gedanken und

27

Pläne der Menschen; aber nicht ein Jota, nicht ein Strichlein

wird von diesem Worte fallen. Darum, mein Leser,

entfliehe dem Netze des Vogelstellers, den Schlingen

Satans; zerreiße das falsche, gleißende Gewebe, das er

um dich gewoben hat, und übergieb dich mit deinem

ganzen Herzen dem Herrn, der für dich litt und starb;

dem Jesus, der für alle, die an Ihn glauben, einen geöffneten

Himmel, ein gereinigtes, vollkommnes Gewissen

und eine ewige Erlösung bereitet hat. Der Vorhang ist

zerrissen, die Thür der Gnade, die Pforte der Herrlichkeit

ist weit geöffnet. Tritt ein, und du bist für ewig

geborgen, für ewig in Sicherheit!

Gedanken.

Nichts stellte den wirklichen Zustand des menschlichen

Herzens jemals so ans Licht wie das Kommen Christi in

diese Welt. Das wahrhaftige Licht schien inmitten der

Finsternis.

Wir find so geneigt, uns nur mit dem zu beschäftigen,

was Christus für uns gethan hat, während wir

das, was Er für Gott ist, mehr oder weniger

außer acht lassen. So sind unsere eigenliebigen, selbstsüchtigen

Herzen. Möchten wir uns doch stets daran

erinnern, daß es in unserm anbetungswürdigen Herrn

etwas mehr giebt als die Vergebung unsrer Sünden und

die Errettung unsrer Seele. Was stellen z. B. das

Brandopfer, das Speisopfer und das Trankopfer vor?

Wir erblicken darin Christum als den lieblichen Wohlgeruch,

als die Speise Gottes und als die Freude und Wonne

28

Seines Herzens. Wahrlich, es ist der Mühe wert, ein

wenig darüber nachznsinnen und nicht immer nur an das

zu denken, was es in dem Werke Christi für uns

Kostbares und Scgenbringendes giebt.

Was uns auf unserm Wege so not thut, ist der

Charakter eines kleinen Kindes. Was weiß ich aus mir

selbst? Nichts; aber ich glaube und bin gewiß, daß

ich das ewige Leben besitze, weil Gott es mir gesagt

hat. „Dies ist die Verheißung, welche Er uns verheißen

hat: das ewige Leben." (1. Joh. 2, 25.)

Alle, die da glauben, besitzen dieses Leben. Er, dessen

Urteil allein Wert hat, sagt es; Er, der allein ein Recht

hat zu reden, versichert es mir, und ich danke Ihm, daß Er

fähig ist, solch wunderbare Worte, solch große Dinge

betreffs meiner auszusprechen. Was so manchen Christen

fehlt, ist die Einfalt eines Kindes, um gerade das zu

glauben, was Gott sagt; und darum wandeln sie auch

nicht, wie sie sollten, nicht wie Kinder des Vaters. Wie

könnten sie auch also wandeln, wenn sie nicht einmal

glauben, daß sie Kinder sind?

Welch eine Kraft und Freude liegt darin, nichts zu

sein, nichts zu haben, nichts zu kennen als einen verherrlichten

Christus droben im Himmel, und hienieden um

nichts anderes besorgt zu sein als um die Verherrlichung

Seines kostbaren Namens! Und das ist das gesegnete

Teil des Christen.

Asa

-7 oder: ' '

Wen fuchst du ?

(2. Chron. 14—16.) -- -

Der Anfang und das Ende der Geschichte des Königs

Asa stehen in schroffem Gegensatz zu einander; und es ist

wohl nicht bedeutungslos, wenn wir hier, wie bei der Geschichte

der Könige Salomo, Josaphat, Ussija u. and.,

lesen: „Die Geschichte Asas, die erste und die letzte."

(2. Chron. 16, 11.) Die erste zeigt uns Asa als einen

treuen und gottesfürchtigen Gläubigen, der sich durch den

Herrn leiten ließ und darum Erfolg hatte auf allen seinen

Wegen; die letzte zeigt uns ihn als einen Verblendeten,

der sich den Ermahnungen des Herrn widersetzte und sogar

zum Widersacher des Volkes Gottes wurde. Jener herrliche

Anfang und dieses traurige Ende des Königs Asa

machen seine ganze Geschichte für uns ernst und lehrreich;

um so ernster und lehrreicher, wenn wir uns die Ursache

vergegenwärtigen, durch welche die traurige Veränderung

bewirkt wurde. Der Herr wolle deshalb die Betrachtung

dieser Geschichte, die Er zu unsrer Belehrung aufbewahrt

hat, an dem Schreiber und dem Leser dieser Zeilen segnen!

Der Anfang der Regierung Asas war eine Zeit der

Ruhe, und er benutzte dieselbe in der besten Weise. Zunächst

stellt ihm der Heilige Geist das schöne Zeugnis

aus, daß er vor den Augen Jehovas wandelte. „Und

30

Asa that, was gut und recht war in den Augen

Jehovas, seines Gottes." (Kap. 14, 2.) Das ist immer

das Kennzeichen von Treue und Aufrichtigkeit. Man

wandelt im Gehorsam gegen die Gebote Gottes und sucht,

frei von Menschenfurcht und Menschengefälligkeit, nur die

Ehre und Verherrlichung Gottes. Das erste Werk Asas

bestand daher darin, das Land von alledem zu reinigen,

was in den Augen des Herrn mißfällig war, indem er die

fremden Altäre, die Höhen und die zu Ehren der Götzen »

errichteten Bildsäulen und Ascherim beseitigte. Alsdann

forderte er Juda auf, „daß sie Jehova, den Gott ihrer

Väter, suchen und das Gesetz und das Gebot thun sollten."

(Vers 4.) Er hatte den wichtigen Grundsatz erfaßt,

nach welchem man Gott nicht dienen kann, ohne mit der

Welt und ihren Götzen gebrochen zu haben. Er hatte

verstanden, daß man nicht Gott und dem Mammon

dienen kann. (Jos. 24, 19—23; Luk. 16, 13.) Er offenbarte

darin ein ungeteiltes Herz für den Herrn zur Beschämung

für manche Gläubige unsrer Tage, welche es

mit dem Herrn und der Welt halten wollen, ohne daran

zu denken, daß „die Freundschaft der Welt Feindschaft

wider Gott ist", und daß man, um „Festfeier" zu halten,

den alten Sauerteig ausgefegt haben muß. (Jak. 4, 4;

1. Kor. 5, 7. 8.)

Nichts ist mißfälliger in den Augen des Herrn als

ein geteiltes Herz. Er sagt: „Wer Vater oder Mutter

mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer

Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht

würdig." (Matth. 10, 37.) Asa und sein Volk beseitigten

die Götzen und suchten Jehova; sie entschieden sich für

Ihn, um Ihm den ersten Platz in ihren Herzen und

31

Häusern einzuräumen. Sie wichen vom Bösen und

wandten sich zum Herrn und zu Seinem Worte. Sie

hatten verstanden, daß dies die erste notwendige Sache

war, von der aller Segen und alles Gelingen abhing.

„Denn wir haben Jehova, unsern Gott, gesucht; wir haben

Ihn gesucht, und Er hat uns Ruhe geschafft ringsum."

(Vers 7.) Sie hatten nicht den Segen, sondern die

Person Jehovas gesucht — ein sicheres Kennzeichen eines

echten, gesunden Glaubens und eines wahrhaft ergebenen

Herzens. Den Herrn zu suchen ist das Bedürfnis einer

Seele, die, unbefriedigt durch die Nichtigkeiten der Welt,

nur in dem Herrn ihre volle Befriedigung findet — ein

Bedürfnis, welches Maria Magdalena nicht ruhen ließ,

bis sie den Gegenstand ihres Herzens gefunden hatte.

(Joh. 20, 11 — 16.)

Erst nachdem Asa so in sein wahres Verhältnis zum

Herrn eingetreten war, begann er sein Werk und benutzte

die Zeit der Ruhe, um die Städte Judas zu bauen und

zu befestigen. (VerS 7.) Alles dieses ist schön und belehrend

für uns. Auch unsre Aufgabe ist es, so viel an

uns liegt, mitzuwirken an dem Werke des Herrn, die

Seelen zu erbauen, zu stärken und zu befestigen. Und

dies umsomehr, als der Herr auch uns eine Zeit der

Ruhe gegeben hat. Geliebte Brüder! benutzen wir sie

wirklich zu diesem Zwecke? Oder veranlaßt uns die

Ruhe nach außen, uns umsomehr den Bequemlichkeiten

und Genüssen der Welt hinzugeben? Wie ernst und

wichtig ist diese Frage! Leider giebt es Gläubige, die

nur wenig an das Werk des Herrn denken; die für sich

und die Welt leben und die Arbeit andern überlassen.

Aber sie erleiden einen großen Verlust, der, wenn auch

32

nicht hier, so doch an jenem Tage offenbar werden wird.

Alsdann wird der Herr ans Licht stellen, „was ein jeder

mit dem ihm anvertrauten Pfunde erhandelt hat". (Luk.

19, 15.) Der Apostel ruft allen Gläubigen, nicht bloß

einigen, zu: „Daher, meine geliebten Brüder, seid fest,

unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werke des

Herrn, da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich ist

im Herrn." (1. Kor. 15, 58.)

Andrerseits ist es nötig uns daran zu erinnern, daß

unser Laufen und Arbeiten wenig Wert hat, wenn nicht

unser Verhältnis zum Herrn geordnet ist, wie es bei Asa

der Fall war. Wenn der Herr nicht den ersten Platz in

unsern Herzen hat, so werden wir entweder bald müde

werden im Werke, oder wir laufen Gefahr, durch falsche

Beweggründe geleitet zu werden und etwas aufzubauen,

was wieder abgebrochen werden wird. Alles Gelingen hängt

davon ab, daß der Herr mit uns ist; aber Er kann nicht

mit uns sein, es sei denn daß wir mit Ihm sind. Früher

oder später kommt für jeden eine Zeit der Prüfung, „und

welcherlei das Werk eines jeden ist, wird das Feuer bewähren.

Wenn das Werk jemandes bleiben wird, so

wird er Lohn empfangen; wenn das Werk jemandes verbrennen

wird, so wird er Schaden leiden." (1. Kor.

3, 13—15.)

Diese Zeit der Prüfung kam auch für Asa. Es

sollte sich zeigen, ob er wirklich nur den Herrn gesucht hatte,

und ob sein Vertrauen auf Ihn, sowie die Arbeit, welche

er in der Zeit der Ruhe ausgeführt hatte, echt war. Ein

mächtiger Feind zog gegen ihn heran mit einem Heere

von tausend mal tausend Mann und dreihundert Wagen.

(Vers 9.) Asa befand sich in einer schwierigen Lage.

33 —

Wohl hatte auch er ein Heer, das Schild und Lanze

trug und aus durchweg geübten Streitern und tapfern

Helden bestand (Vers 8); aber die Uebermacht war auf

feiten des Feindes, ja, dieser war Israel an Zahl doppelt

überlegen. In der That, eine ernste Prüfung für Asa!

Aber sie zeigte, daß sein Glaube echt war; sein Blick

war auf Jehova gerichtet und nicht aus das Sichtbare.

Er war sich seiner Lage völlig bewußt, aber er übersah

sie mit einer Ruhe, die nur dem lebendigen Glauben an

den Herrn eigen ist. Da war keine Ueberstürzung, auch

keine Selbsttäuschung oder Selbstüberhebung. Er kannte

seine eigne Schwachheit, sowie die Ueberlegenheit des

Feindes; aber er kannte auch Den, den er in den

Tagen der Ruhe gesucht hatte. Zu Ihm nahm er seine

Zuflucht am Tage des Kampfes. „Und Asa rief zu

Jehova, seinem Gott." (Vers 11.) Das Bewußtsein, welches

der Glaube von der Kraft Gottes hat, geht immer

gepaart mit einem tiefen Gefühl der eignen Schwachheit.

„Meine Kraft," sagt der Herr, „wird in Schwachheit

vollbracht." (2. Kor. 12, 9.) Asa hatte die Wahrheit

der Worte verstanden: „Ein König wird nicht gerettet

durch die Größe seines Heeres; ein Held wird nicht befreit

durch die Größe der Kraft. Ein Trug ist das

Roß zur Rettung, und durch die Größe seiner Stärke

läßt es nicht entrinnen. Siehe, das Auge Jehovas ist

gerichtet auf die, so ihn fürchten, auf die, welche

auf Seine Güte harren." (Psalm 33, 16 —18.)

„Und Asa rief zu Jehova, feinem Gott." Welch

ein schöner Ausdruck von dem innigen Verhältnis, das

zwischen ihm und Gott bestand! Es erinnert uns an

einen Ausspruch des Apostels Paulus in seinem Briefe

34

an die Philipper: „Mein Gott aber wird alle eure Notdurft

erfüllen nach Seinem Reichtum." (Kap. 4, 19.) Asa

blickte mit völligem Vertrauen auf Ihn und sprach: „Jehova!

um zu helfen ist bei dir kein Unterschied zwischen

dem Mächtigen und dem Kraftlosen. Hilf uns, Jehova,

unser Gott! denn wir stützen uns auf dich." Für ihn

hing die Entscheidung in diesem Kampfe nur von Jehova

ab; der Mächtige wie der Kraftlose waren in demselben

gleich Null. Doch Asa geht noch weiter und macht den

ganzen Kampf zu einer Sache Jehovas, indem er sagt:

„Und in deinem Namen sind wir gekommen wider

diese Menge. Du bist Jehova, unser Gott; laß den

Menschen nichts wider dich vermögen." Konnte es anders

sein, als daß Gott auf diesen Glauben antwortete und die

Sache in Seine Hand nahm? Wir lesen deshalb auch

schon im nächsten Verse: „Und Jehova schlug die Ku-

schiter vor Asa und vor Juda." (Vers 12.) Welch ein schönes

Zeugnis des Glaubens und welch ein vollständiger Sieg!

„Und es fielen so viele von den Kuschitern, daß sie sich

nicht wieder erholen konnten; denn sie wurden zerschmettert

vor Jehova und vor Seinem Heere." (Vers 13.)

Asa und sein Volk hatten Jehova gesucht und sich auf

Ihn gestützt, und Er bekannte sich zu ihnen als Seinem

Volke und Seinem Heere.

Welch eine wichtige Belehrung enthält dieses für

uns! Hätte wohl Asa so vertrauensvoll Gott als seinem

Gott nahen, und im Namen des ganzen Volkes zu

Ihm als „unserm Gott" beten können, wenn sie sich

nicht zuvor gereinigt und die Götzen aus ihrer Mitte weggethan

hätten? Und würde wohl anders Jehova sich zu

ihnen bekannt haben als Seinem Heere? Liegt hierin

35

nicht eine ernste Mahnung für die Gläubigen unsrer Tage,

an die Worte des Apostels zu gedenken, in welchen er

uns, unter Hinweisung auf unsre hohen Vorrechte, auffordert,

uns von dem Bösen abznsondern? „Denn ihr

seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt

hat: „Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und

ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein."

Darum gehet aus aus ihrer Mitte und sondert euch ab, spricht

der Herr, und rühret Unreines nicht an, und ich

werde euch aufnehmen; und ich werde euch zum Vater

sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein,

spricht der Herr, der Allmächtige." (2. Kor. 6, 11—18.)

Denken wir daran, daß die Prüfung nicht ausbleibt, unter

welcher Form sie auch für den Einzelnen kommen mag.

Täuschen wir uns nicht und lassen wir uns durch die

Tage augenblicklicher Ruhe nicht in falsche Sicherheit einwiegen.

Möchte vielmehr ein feder von uns von Herzen

den Herrn suchen, eine innige Gemeinschaft mit Ihm Pflegen

und in unablässigem Gebet und Flehen Seines Werkes

und all Seiner Heiligen gedenken! Wahrlich, man

kann nur mit großer Besorgnis an viele Gläubige denken,

die sorglos und leichtfertig wandeln, sich der Weltlichkeit

hingeben und nicht achten auf die Ermahnungen des

Herrn. Ach! solche vergessen ganz und gar, daß ihre Gebete

und ihre Gottesdienste wertlos sind, so lange sie in

Verbindung mit dem Bösen bleiben. Der Herr will, daß

die Deinigen „heilige Hände" aufheben; auch will

Er geheiligt werden in denen, die Ihm nahen. (1. Tim.

2, 8; 3. Mose 1V, 3.)

Der fernere Verlauf der Geschichte Asas zeigt uns,

wie nötig es ist, zu wachen und zu beten, und wie sehr

36

wir bedürfen, ermahnt und ermuntert zu werden. Wir

sind hienieden stets in Gefahr, zu straucheln und zu fallen,

und gerade dann am meisten, wenn wir einen Sieg davongetragen

haben. Der Feind schlummert nie und sucht

jede Gelegenheit zu benutzen, uns zum Fall zu bringen.

Aber andrerseits ist auch der Herr beschäftigt und kommt

uns in Seiner Treue zu Hülfe. Er sah jene Gefahr

auch für Seinen Knecht voraus und sandte deshalb Seinen

Propheten zu ihm, um ihn an die Grundsätze zu erinnern,

nach welchen allein Er mit ihm und dem Volke

fein konnte. „Und auf Asarja, den Sohn Odeds, kam

der Geist Gottes. Und er ging hinaus, Asa -entgegen,

und sprach zu ihm: Höret mich, Asa und ganz Juda und

Benjamin! Jehova ist mit euch, wenn ihr mit Ihm

seid. Und wenn ihr Ihn suchet, wird Er sich von

euch finden lassen; wenn ihr Ihn aber verlasset, wird Er euch

verlassen." (Kap. 15, 1. 2.) Beachten wir den Nachdruck,

den der Prophet auf die Worte legt: „wenn ihr mit

Ihm seid", und „wenn ihr Ihn suchet". Das waren die

Grundsätze, welche er Asa und seinem Volke einzuprägen suchte.

Denn gerade durch das Aufgeben derselben ist Asa gefallen,

wie wir später sehen werden. Möchten sie daher tief in

unsre Herzen eindringen! Der erste jener beiden Grundsätze

setzt voraus, daß unser Wandel in Uebereinstimmung

mit der Heiligkeit, Gerechtigkeit und Liebe des Herrn ist,

gemäß den Worten des Apostels: „Uebrigens, Brüder, alles

was wahr, alles was würdig, alles was gerecht, alles was

rein, alles was lieblich ist, alles was wohllautet, wenn es

irgend eine Tugend und wenn es irgend ein Lob giebt, dieses

erwäget .... und der Gott des Friedens wird mit

euch sein." (Phil. 4, 8. 9.) Der zweite erinnert uns

37

daran, daß wir dem Herrn stets den ersten Platz einräumen

und nichts thun sollten ohne Ihn.

Asa und sein Volk waren auf gutem Wege bis dahin;

sie hatten sich vom Bösen gereinigt, Jehova gesucht

und infolge dessen auch Seine Hülfe reichlich erfahren.

Aber um auf diesem Wege zu bleiben, war es nötig

für sie, Jehova immer wieder zu suchen, ihre Herzen und

Gedanken stets von neuem zu Ihm hin zu richten, und

nicht zu erlauben, daß sich etwas zwischen sie und Ihn

drängte. Wir bedürfen einer täglichen, ja stündlichen „Erneuerung",

und sind nur zu geneigt, dieselbe zu unterlassen.

Immer wieder sollten wir uns die Frage vorlegen:

„Wen suchst du?" Auf was sind in diesem Augenblick

deine Gedanken, Wünsche und Pläne gerichtet? Das ist

die Erneuerung, von welcher der Apostel spricht, wenn er

sagt: „Werdet verwandelt durch die Erneuerung euers

Sinnes." (Röm. 12, 2.) Weit entfernt von einer Verbesserung

des Fleisches, oder einer Erneuerung des alten

Menschen, ist es vielmehr der „neue Mensch", der also

„erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Bilde Dessen,

der ihn erschaffen hat". (Kol. 3, 10.) Wenn wir diese

beständige Erneuerung unsers Sinnes, diese Selbstbeurteilung

unterlassen, und in der Wachsamkeit über die Neigungen

unsrer Herzen müde werden, so kommen wir unvermeidlich

von dem richtigen Wege ab, auch wenn wir

schon längere Zeit auf demselben gewandelt und die herrlichsten

Erfahrungen gemacht haben.

Wie ermunternd waren daher die Worte des Propheten

für Asa und sein Volk! „Ihr aber, seid stark und

lasset eure Hände nicht erschlaffen! Denn es giebt Lohn

für euer Thun." (Vers 7.) Wie groß ist die Treue, wie

38

gnädig die Fürsorge des Herrn! Er kennt unsre Gefahren

und unsre Schwachheit, und läßt es deshalb nie an Ermahnungen

und Aufmunterungen fehlen. Möchten wir

nur allezeit auf dieselben achten und sie nicht in den Wind

schlagen! Asa hörte sie mit einem offnen Ohr und einem

demütigen, willigen Herzen, und infolge dessen ging er

mit neuem Mut und Eifer voran. „Und als Asa diese

Worte und die Weissagung Odeds, des Propheten, hörte,

faßte er Mut; und er schaffte die Greuel weg aus dem

ganzen Lande Juda und Benjamin und aus den Städten,

die er vom Gebirge Ephraim eingenommen hatte, und er

erneuerte den Altar Jehovas, der vor der Halle Jehovas

war." (Pers 8.) Asa machte Fortschritte, wie es stets

der Fall sein wird, wenn das Herz eines Gläubigen in

der rechten Stellung ist; er dehnte seine Thätigkeit hinsichtlich

der Reinigung über alles aus, was der Herr

seiner Herrschaft unterwarf. Das ist die gesegnete Frucht

eines demütigen Herzens, welches sich den Ermahnungen

des Herrn unterwirft. Und in demselben Maße wie Asa

segensreich in seinem Werke voranging, wurde es überall

offenbar, daß der Herr mit ihm war. Infolge dessen

hatte das Volk Vertrauen zu ihm, und selbst aus Israel

liefen sie in Menge zu ihm über. (Vers 9.) Er ging

„von Kraft zu Kraft", da sein Sinnen allein auf die

Verherrlichung des Herrn und die Stärkung des Volkes

Gottes gerichtet war. Nicht nur vollzog er eine gründliche

Reinigung in dem ganzen Lande seiner Herrschaft,

sondern er versammelte auch das Volk zu Jerusalem, um

gemeinschaftlich mit ihm Jehova zu opfern und Ihn zu

suchen „mit ihrem ganzen Herzen und mit ihrer ganzen

Seele". (Vers 9 — 12.) Weit davon entfernt, die Folgen

39

des glänzenden Sieges über die Knschiter zu seiner eignen

Verherrlichung oder zu seinem eignen Vorteil auszubeuten,

brachte er Jehova seinen Dank und seine Huldigung dar.

Auf seine Veranlassung opferte das Volk „Jehova an selbigem

Tage von der Beute, die sie eingebracht hatten,

siebenhundert Rinder und siebentausend Schafe". Das

ganze Fest war dem Preise des Herrn gewidmet und

endigte mit einer entschiedenen Hingebung des ganzen

Volkes an Jehova. „Und sie schwuren Jehova mit lauter

Stimme und mit Jauchzen und mit Trompeten und mit

Posaunen. Und ganz Juda freute sich des Eides; denn

sie schwuren mit ihrem ganzen Herzen, und sie suchten

Ihn mit ihrem ganzen Willen; und Er ließ sich von

ihnen finden." (Vers 14. 15.)

Welch ein liebliches Gemälde! Ja, welch ein glänzendes

Zeugnis war dieses Fest von der persönlichen

Treue Asas, von seinem Eifer und seiner Hingebung an

den Herrn, und von der Demut seines Herzens! Und wie

gesegnet war der Einfluß, den seine Entschiedenheit auf

das ganze Volk ausübte! Er hatte sich die Worte des

Propheten zu Herzen genommen, und darum gab der Herr

ihm Gnade und ließ es ihm gelingen. Es erfüllte sich

an ihm, was geschrieben steht: „Aber auf diesen will ich

blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes

ist, und der da zittert vor meinem Worte." (Jes. 66, 2.)

Und wie es damals war, so ist es heute noch. Die göttlichen

Grundsätze verändern sich niemals. Es zeugt stets

von wahrer Demut des Herzens, wenn sich jemand dem

Worte der Ermahnung unterwirft; und dem Demütigen

giebt Gott Gnade, und dem Aufrichtigen läßt

Er es gelingen.

40

Doch Asa blieb hierbei nicht stehen. Seine Treue

gegen den Herrn offenbarte sich nicht nur nach außen hin,

sondern auch gegen sein eignes Haus. Aus seiner eignen

Familie beseitigte er schonungslos die Götzen, und trat

ohne Rücksicht gegen seine eigne Mutter auf, weil diese

der Aschera ein Götzenbild gemacht hatte. (Vers 16.) Er

ließ sich durch nichts beeinflußen, weder durch Familienbande,

noch durch irgend welchen irdischen Gewinn oder Vorteil.

Es erinnert uns dies lebhaft an die Söhne Levis, welche

in ihrer Treue gegen den Herrn nicht nach Vater noch

Mutter fragten, zur Zeit als Israel das goldene Kalb

gemacht hatte. „Und Mose stellte sich auf im Thore des

Lagers und sprach: Her zu mir, wer für Jehova ist!

Und es versammelten sich zu ihm alle Söhne Levis. Und

er sprach zu ihnen: Also spricht Jehova, der Gott Israels:

Thut ein jeder sein Schwert an seine Hüfte, gehet hin

und wieder von Thor zu Thor im Lager, und erschlaget

ein jeder seinen Bruder und ein jeder seinen Freund und

ein jeder seinen Nachbar. Und die Söhne Levis thaten

nach dem Worte Moses." (2. Mose 32, 26—28.) Sicherlich

kann eine solche Treue nur da gefunden werden, wo ein

ungeteiltes Herz für den Herrn ist. Wie oft kommt es vor,

daß Gläubige trotz aller Hindernisse ganz entschieden finden

Herrn vorangehen, und doch plötzlich Halt machen,

wenn ihre Treue in der eignen Familie auf die Probe

gestellt wird. Es zeigt sich dann, daß ihr Herz nicht

ungeteilt für den Herrn ist, und daß Weib, Eltern

oder Kinder mehr Wert für sie haben als der Herr; ihre

Treue besteht die Probe nicht. Die Söhne Levis bestanden

die Probe, und wir sehen deshalb auch, wie der Herr

bei der Erteilung des Segens ihre Treue anerkennt: „Und

41

von Levi sprach er: Deine Thummim und deine Urim

sind für deinen Frommen, den du versucht hast zu Massa,

mit dem du hadertest bei dem ÄZasser von Meriba; der von

seinem Vater und von seiner Mutter sprach: Ich sehe ihn

nicht, und der seine Brüder nicht kannte, und von seinen

Söhnen nichts wußte; denn sie haben dein Wort' beobachtet,

und deinen Bund bewahrten sie." (5. Mose 33, 8. 9.)

So wird auch der Augenblick kommen, wo der Herr die

Treue eines jeden ans Licht stellen und wo es sich zeigen

wird, daß es wahrlich der Mühe wert war, in allen

Proben entschieden auf der Seite des Herrn gestanden

zu haben.

Was Asa betrifft, so bestand seine Treue ebenfalls

die Probe in jeder Beziehung. Der Heilige Geist bezeugt

von ihm: „Doch das Herz Asas war ungeteilt alle seine

Tage," und sügt sodann noch einen weiteren schönen Zug

hinzu: „Und er brachte die geheiligten Dinge seines Vaters

und seine geheiligten Dinge in das Haus Gottes: Silber

und Gold und Geräte." (Vers 18.) Asa hielt sein Gewissen

rein von alledem, was dem Herrn gehörte; er verwandte

nichts davon zu seinem eignen Vorteil, sondern

brachte es an den dafür bestimmten Platz, in das Haus

Gottes. Mochten es nun Dinge sein, die er oder sein

Vater freiwillig dem Herrn gelobt hatten, oder solche, die

nach dem Gesetz an den Leviten und Fremdling, die Waise

und Witwe abzugeben waren — es waren „heilige" Dinge,

die dem Herrn gehörten, leider aber vielfach Ihm vorenthalten

wurden. Asa konnte daher als ein treuer

Israelit sagen: „Ich habe das Heilige aus dem

Hause weggeschafft .... Ich habe nicht davon

gegessen in meiner Trauer, und habe nicht davon wegge

42

schafft als ein Unreiner, und habe nicht davon gegeben

für einen Toten; ich habe der Stimme Jehovas, meines

Gottes, gehorcht, ich habe gethan nach allem, was du mir

geboten hast." (5. Mose 26, 12—14.) Offenbar hatte

sein Vater diese Pflicht gegen Jehova versäumt und das

Heilige zurückbehalten; aber er holte das Versäumte nach.

Welch ein schöner Zug der Treue! Können auch wir sagen,

daß wir das Heilige aus dem Hause weggeschafft haben?

Hat der Herr uns nichts gegeben, um eS für Arme oder

für Sein Werk zu benutzen? Hat Er uns das, was Er

uns anvertraut hat, nur zu dem Zwecke gegeben, um es

für uns selbst zu verwenden? Sollten wir kärglicher sein

als die Gläubigen des Alten Bundes? Sollten wir deshalb

weniger „an den Bedürfnissen der Heiligen teilnehmen"

(Röm. 12, 13), weil wir nicht unter dem Gesetz stehen,

nach welchem jeder verpflichtet war, den Zehnten zu geben?

Möchten wir nicht vergessen, daß wir betreffs des Wohlthuns

und Mitteilens eine umso höhere Verantwortlichkeit

haben, als unsre Vorrechte höher sind als diejenigen

Israels.

In der That steht Asa bis hierhin als ein leuchtendes

Vorbild da für alle Gläubigen; und wie schön wäre

es, wenn seine Geschichte hier ihren Abschluß fände! Wie

gern möchte man hier Halt machen um seinetwillen, und

das Uebrige seiner Geschichte — seine letzte Geschichte

— mit dem Mantel ewiger Vergessenheit zudecken! Aber

der Heilige Geist ist weiser als wir und hat es für gut

befunden, uns auch mit seiner letzten Geschichte bekannt

zu machen, zur feierlichen Warnung der Gläubigen aller

Zeiten, damit „wer zu stehen sich dünkt, zusehe, daß er

nicht falle". (1. Kor. 10, 12.) Sie zeigt uns, daß selbst

43

der treueste Gläubige ein trauriges Ende nehmen kann,

wenn er nicht in steter Wachsamkeit beharrt. Wie sollten

wir stets an die Worte des Herrn denken: „Wachet und

betet, auf daß ihr nicht in Versuchung hineinkommet;" oder

an die Ermahnung des Apostels: „Bewirket eure eigne

Seligkeit mit Furcht und Zittern." (Matth. 26, 41;

Phil. 2, 12.)

Nicht ohne Grund hatte der Prophet den König

einst zur Wachsamkeit ermahnt. Ach! zu jener Zeit hatte

Asa die Ermahnung zu Herzen genommen; aber nach und

nach war es anders geworden, er hatte sich im Laufe der

Zeit einer falschen Sicherheit hingegeben. Ganz besonders

scheint die' lange Ruhepause, welche nach dem herrlichen

Siege über die Kuschiter eintrat, verhängnisvoll für ihn

geworden zu sein; denn „es war kein Krieg bis zum

fünfunddreißigsten Jahre der Regierung Asas". (Vers 19.)

Die Zeit der Ruhe im Anfang seiner Regierung hatte er

in gesegneter Weise benutzt, und war daher zur Zeit der

Prüfung in Gemeinschaft mit dem Herrn gefunden worden

und hatte die Prüfling herrlich bestanden. Jetzt

aber, nach Verlauf von- zwanzig Jahren, kam eine neue

Prüfung, und diese zeigte leider, daß er diese Gemeinschaft

verloren hatte. Eine große Veränderung zum Schlimmeren

war bei ihm eingetreten, so daß er jetzt geradezu

das Gegenteil von dem zeigte, was er bei der ersten Prüfung

geoffenbart hatte, trotzdem diese verhältnismäßig weit

schwerer war als die neue. Von einem Zufluchtnehmen

zu Jehova, seinem Gott, hören wir jetzt nichts. Asa

handelt einfach nach seinem Gutdünken. Es kommt ihm

nicht im entferntesten in den Sinn, den Herrn zu suchen,

wie dies früher seine Gewohnheit gewesen war. Er nimmt

Ä- - 44 -

seine Zuflucht zu einem Menschen, und noch dazu zu einem

Heiden, dem Könige von Syrien. Und um diesen für

seine Zwecke zu gewinnen, greift er zu Mitteln, welche

den tiefgesunkenen Zustand seines Herzens in der traurigsten

Weise bloßstellen. „Da brachte Asa Silber und

Gold heraus aus den Schätzen des Hauses Jehovas und

des Hauses des Königs; und er sandte zu Ben-Hadad,.

dem König von Syrien, der zu Damaskus wohnte, und

sprach: Ein Bund ist zwischen mir und dir und

zwischen meinem Vater und deinem Vater. Siehe, ich

sende dir Silber und Gold; gehe hin, brich deinen Bund

mit Baesa, dem König von Israel, daß er von mir abziehe."

(Kap. 16, 1—3.) Das Heilige, das er einst in

seiner Treue dem Herrn gewidmet hatte, nimmt er jetzt

zurück, um es zu einer unheiligen Verbindung mit einem

Ungläubigen zu benutzen. Er besiegelt damit öffentlich,

was in seinem Herzen schon länger zur Thatsache geworden

war: seinen Bruch mit dem Herrn. „Ein Bund ist

zwischen mir und dir"; welch einen Gegensatz bilden diese

Worte zu seiner einstmaligen Hingebung, als er mit seinem

Volke einen Bund einging, „Jehova, den Gott ihrer

Väter, zu suchen mit ihrem ganzen Herzen und mit ihrer

ganzen Seele"! Alle Ehrfurcht vor dem Heiligen, das dem

Herrn gehörte, ist verschwunden; er nimmt es als ein „Unreiner"

und giebt es für einen „Toten". Wie rief

war er gefallen!

Geliebter Leser! müssen wir nicht mit Furcht und

Zittern an uns selbst denken, wenn wir sehen, wohin ein

Gläubiger kommen kann? und zwar ein Gläubiger, der einst

ein so gesegnetes Werkzeug in der Hand des Herrn gewesen

war; der eine solch entschiedene Treue gegen Ihn gezeigt

45

und einen solch unermüdlichen Eifer für Seine Sache an

den Tag gelegt hatte? Und bedenken wir wohl: Asa ist

nicht gefallen, weil etwa seine Treue nicht aufrichtig, oder

sein Eifer erheuchelt gewesen wäre, sondern einfach deshalb,

weil er nicht über sich selbst gewacht hat und darum allmählich

groß in seinen eignen Augen geworden ist. Das

beweist uns der weitere Verlauf seiner Geschichte; und

das ist auch die verborgene Klippe, an welcher schon so

viele gescheitert sind; die gefährliche Schlinge, die der

Feind so geschickt zu legen weiß, und die uns allen beständig

droht. Keiner denke, daß seine Treue und sein

Eifer, oder überhaupt sein guter Zustand ihn schütze vor

falscher Sicherheit oder Verblendung. Unser einziger Schutz

ist der Herr. Suchen wir Ihn nicht Tag für Tag,

Stunde für Stunde, so giebt es keine Sicherheit für uns.

Wir bedürfen Ihn auf Schritt und Tritt; und jemehr

wir unsre Schwachheit kennen und fühlen, desto lebendiger

wird das Bedürfnis nach Ihm und Seiner Hülfe sein.

Wir werden kein Vertrauen auf Fleisch haben (Phil. 3, 3),

sondern mißtrauisch sein gegen uns selbst.

, Es ist stets ein sicheres Kennzeichen von Verblendung,

wenn jemand das Wort der Ermahnung nicht mehr annimmt.

Trotzdem Hanani, der Seher, dem König sein

trauriges Verhalten klar vor Augen stellt, nimmt dieser

nichts an. Auch die Erinnerung an seine segensreiche

Vergangenheit, an die herrlichen Erfahrungen, die er in

einer weit größeren Prüfung gemacht hatte, bleiben ohne

Wirkung. „Waren nicht," fragt der Prophet, „die Kuschi-

ler und die Libyer eine zahlreiche Heeresmacht, mit Wagen

und Reitern in großer Menge? Aber weil du dich auf

Jehova stütztest, gab Er sie in deine Hand." (Vers 8.)

46

Wahrlich, die Erinnerung an jene wunderbare Erhörung

seines Flehens hätte Asa zu ernstem Nachdenken aufwecken

sollen; und eS bedurfte in der That keiner großen Einsicht,

um den Gegensatz zwischen seinem damaligen und

seinem jetzigen Verhalten zu erkennen. Aber da war keine

Einsicht; denn anders würde er umgewandt sein und sich

reumütig und mit tiefem Schmerz zu den Füßen des

Herrn niedergeworfen haben; und dies umso eher, als der

Seher ihn unter die alles durchdringenden und erforschenden

Augen Jehovas stellte und ihn an die Bereitwilligkeit

Gottes erinnerte, denen zu helfen, die mit ganzem Herzen

Ihm anhängen. „Denn Jehovas Augen durchlaufen die

ganze Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren

Herz ungeteilt auf Ihn gerichtet ist." (Vers 9.) Aber

weder das Vorhalten klarer und offenbarer Thatsachen,

noch die Erinnerung an die Allwissenheit und Gnade des

Herrn — nichts machte Eindruck auf den König. Er

hatte kein Auge mehr für seinen Zustand, kein Gefühl,

keinen Schmerz, keine Reue. Welch ein trauriger Zustand,

umso beklagenswerter nach einer so schönen Vergangenheit!

Ach! wie völlig verblendet der Hochmut das Herz;

wie macht er es so hart und gefühllos! Das Gewissen ist

abgestumpft, das Herz wie mit einem eisernen Panzer

umgeben, an welchem jedes ermahnende und warnende

Wort wirkungslos abprallt.

Doch mehr noch als das; ein hochmütiges, von sich

selbst eingenommenes Herz ist nicht nur taub gegen jede

Ermahnung, sondern es lehnt sich auch auf gegen den, der

im Namen des Herrn zu ihm redet. Asa wurde zornig,

brauchte Gewalt gegen den Seher und „legte ihn in den

Stock". (Vers 10.) Er befand sich jetzt in offenbarem

47

Widerstand gegen den Knecht des Herrn, weil dieser ihm

treu und aufrichtig die Wahrheit gesagt hatte. Ach! er

wollte sie nicht hören, wollte nicht umkehren, noch sich

beugen. Wohin war er gekommen! Würde er wohl in

den Tagen, da er den Herrn mit ganzem Herzen suchte,

daran gedacht haben, daß er jemals in solcher Weise gegen

einen Knecht des Herrn auftreten könnte, und dies aus

dem einzigen Grunde, weil dieser ihm die Wahrheit gesagt

hatte? Giebt es wohl noch einen Unterschied zwischen seinem

Verhalten und demjenigen des Herodes, der den

Johannes ins Gefängnis werfen ließ, weil er ihm die

Wahrheit gesagt hatte? (Matth. 14,.3. 4.) „Und Asa

ward ärgerlich über den Seher und legte ihn in den

Stock; denn er war dieserhalb gegen ihn erzürnt." Anstatt

sich zu demütigen, ließ er der Bitterkeit seines Herzens

Raum, und suchte sich schließlich zu rächen an dem, der

doch nur ein Werkzeug in der Hand des Herrn war. Und

nicht genug damit; er wandte sich auch gegen etliche von

dem Volke und that ihnen Gewalt an. (Vers 10.) Es

wird uns nicht gesagt, aus welcher Ursache er dies that;

vielleicht waren es solche, die ebenfalls mit seinem Verhalten

nicht einverstanden waren. Wie dem aber auch fei,

wir sehen, daß er diejenigen gewaltthätig verfolgte, mit

denen er einst gemeinschaftlich den Herrn gesucht und Ihm

die Opfer des Dankes dargebracht hatte.

Wie anbetungswürdig ist allem diesem gegenüber die

geduldige Gnade Gottes! Das Ende der Geschichte Asas

zeigt uns, daß der Herr ihn trotz allem noch nicht aufgegeben

hatte. War sein Gewissen nicht mehr durch das

Wort zu erreichen, so versuchte Gott es mit ihm auf dem

Wege ernster Züchtigungen. Er ließ ihn „überaus krank"

48

werden. (Vers 12.) Ja, unendlich, göttlich groß ist die

Liebe, Geduld und Langmut des Herrn! Er versucht es

auf alle Weise, den Verirrten zurecht zu bringen; gelingt

es Ihm nicht durch Sein Wort, so versucht Er es durch

Seine Wege. Aber wie verhärtet mußte das Herz Asas

sein; selbst diese ernsten Züchtigungen fruchteten nichts.

Wir lesen: „Aber auch in seiner Krankheit suchte er nicht

Jehova, sondern die Aerzte." (Vers 12.) Mit

diesen Worten schließt seine Geschichte. Er ist nicht mehr

zur Einsicht gekommen. Welch ein trauriges Ende für

einen Gläubigen, dessen Lauf einen so herrlichen Anfang

genommen, der ein so schönes Zeugnis abgelegt, einen solch

glänzenden Sieg durch den Glauben davöngetragen, und

solch mächtige Beweise von der Güte und Treue des

Herrn erfahren hatte!

Geliebter Leser! wir haben die Geschichte Asas mit

einander betrachtet. Sie ist, ich wiederhole es, zu unsrer Belehrung

und Warnung ausgezeichnet und aufbewahrt worden.

Möchten wir aus ihr lernen, was der Herr uns lehren

will! Hüten wir uns vor dem ersten Schritt, der zu jenem

schrecklichen Zustande der Verblendung führt! Laß uns

acht haben auf die Regungen unsers Herzens, daß es dem

Feinde nicht gelinge, uns stolz und hochmütig zu machen.

Hochmut kommt vor dem Fall! Nichts ist schlimmer, als

von sich selbst eingenommen zu sein, von sich selbst

etwas zu halten, und nichts liegt uns näher als das.

Doch die Gnade des Herrn ist genug, um uns auch in

einer Zeit äußerer Ruhe demütig und wachsam zu erhalten.

Aber wir werden auch nur dann bewahrt bleiben, wenn

wir Ihn suchen mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele.

Möchten wir deshalb einfältig sein und klein in unsern

49

eignen Augen! Dann werden wir das Wort der Ermahnung

ertragen, wenn es an uns herantritt; ja, wir werden

es zu Herzen nehmen, wir werden uns gern warnen

lassen, und der Herr wird mit uns sein und sich mächtig

an uns erweisen.

Die Seligpreisungen.

(Matth, ö, 1—12.)

(Fortsetzung.)

2. „Glückselig die Trauernden, denn sie

werden getröstet werden!"

In den verschiedenen Seligpreisungen werden uns in

höchst anziehender Weise die mannigfaltigen CharakteMge

der Gnade vor Augen gestellt. Ja, sie sind nicht nur anziehend,

sondern auch belehrend, und sie sollten dazu dienen,

unsern Charakter nach diesem himmlischen Muster zu bilden.

Die zweite Seligpreisung ist von der ersten durchaus verschieden,

obwohl sich beide Eigenschaften in einer und derselben

Person vorfinden mögen. Die Form, in welcher sich

das göttliche Leben bei der zweiten Klasse kundgiebt, trägt

einen breiteren und mehr thätigen Charakter als bei der

ersten. Arm im Geiste zu sein ist mehr ein Zustand zwischen

der Seele und Gott allein. Aber ein „Trauernder" zu sein

in dem Sinne unsers Textes heißt: tief und innig bewegt

zu sein durch den Zustand — vor allem den sittlichen

und geistlichen Zustand — derer, die uns umgeben.

Es erfüllt z. B. ein treues Herz mit heiligem Schmerz,

wenn es die Weltlichkeit wahrer Christen sieht, oder die

Selbsttäuschung bloßer Bekenner, oder die gottlosen Wege

solcher, die vielleicht in unsrer nächsten Nachbarschaft woh-

50

neu, ohne daß wir sie erreichen oder zum Stillstehen und-

Nachdenken bewegen können. Dieser Schmerz wird begleitet

von einem tiefen Gefühl unsrer Unfähigkeit, wahre

Zeugen Gottes zu sein auf einem solchen Schauplatz der

Sünde und des Elends. Indes darf jener heilige Schmerz,

der so heilsam ist und zu vielem Gebet und zu steter

Abhängigkeit von Gott Anleitung giebt, nicht verwechselt

werden mit dem klagenden, unglücklichen, unzufriedenen

oder gar murrenden Geiste, den man bei manchen Gläubigen

antrifft und auf welchen man vielleicht die Seligpreisung

des Herrn in Anwendung bringen möchte. Nein;

solche Gläubige gehen selten oder nie in die Kümmernisse

andrer ein, noch trauern sie über die Unehre, die Gott und

Seiner Wahrheit in dieser Welt angethan wird. Sie sind

viel zu viel mit sich selbst beschäftigt, mit ihrem eignen

Gemütszustand und mit den Dingen, die sie persönlich

betreffen.

Wir könnten und sollten — wenn wir anders arm

im Geiste und wahrhaft Trauernde sind — stets glücklich

sein in der göttlichen Gegenwart, wo alles Friede und

Freude ist, und doch zu gleicher Zeit auf unserm Wege

durch diese Welt Gemeinschaft haben mit dem tiefen Mitgefühl

Dessen, der „ein Mann der Schmerzen" war. Und

je mehr wir Ihn kennen lernen, desto tiefer werden wir

fühlen, was Ihm gebührt, und desto schmerzlicher wird es

uns bewegen, wenn wir sehen, wie so viele sich gegen Seine

Autorität auflehnen und Seine Güte nur dazu benutzen,

ihren Stolz zu entfalten und ihre eigne Ehre zu suchen.

Der Herr läßt es in Seiner wunderbaren Gnade immer

noch über sich ergehen, verachtet und verworfen zu sein;

und wie gleichsam ein schmerzlicher Zug Seinen Pfad und

51

Seine Aussprüche in dieser Welt kennzeichnete, so sollte

sich auch bei den Gläubigen derselbe Geist finden, während

die Welt bleibt, wie sie ist. Der Herr wartet geduldig

auf das Kommen Seines Reiches in Macht und Herrlichkeit,

und dann wird Sein Wille geschehen wie im Himmel

so auch auf Erden. Jetzt besitzen wir das Reich in einem

Geheimnis. (Matth. 13.) Dann wird es in völliger

Offenbarung da sein. Jetzt herrschen die Dämonen,

obwohl Gott über allem steht; dann wird Christus mit

Seinen Heiligen herrschen. Wenn wir zu irgend einer

Stunde, bei Tage oder bei Nacht, den Schleier wegziehen

könnten, der die Welt vor unsern Augen verbirgt — was

würden wir sehen? Von der Hütte der Armut bis zum

Palaste des Reichtums nichts als eine weite, weite Scene

menschlichen Schmerzes und menschlicher Not. Das stimmt

das Herz des Christen, so heiter und fröhlich es auch in

der Gegenwart des Herrn sein mag, trübe und traurig,

umsomehr als es die schreckliche Quelle kennt, aus welcher

dieses allgemeine Elend entspringt.

Der Herr gebe uns, »mehr und mehr in Seinem

Geiste den Zustand der Dinge um uns her zu erkennen!

Nur dann, ich wiederhole es, wenn das Herz in Gemeinschaft

ist mit Ihm, dem verworfenen Herrn, wenn wir

ein wahres Gefühl haben von dem moralischen Zustande

der Kirche und der Welt, nur dann wird jene Trauer sich

bei uns vorfinden, von welcher der Herr redet. Wir können

dann nicht anders als trauern über die schrecklichen

Folgen der Sünde und des Abfalls, die uns auf Schritt

und Tritt begegnen. Wir wandeln inmitten von Ruinen.

Trümmer von allerlei Art umringen uns auf allen Seiten.

Getäuschte Hoffnungen, unerwartete Mißgeschicke, samt

52

einer zahllosen Menge kleinerer geheimer Sorgen und

Kümmernisse charakterisieren das Land, welches wir als

Fremdlinge und Pilgrime durchschreiten, so daß wir, gleich

den gefangenen Israeliten „an den Wassern von Babylon",

uns auch wohl hinsetzen und weinen mögen, obwohl wir

nicht genötigt sind, unsre Harfen an die Weiden zu hängen.

Nein, wir haben das Vorrecht, uns täglich der gesegneten

Hoffnung der Wiederkunft unsers Herrn zu erfreuen,

und dann werden wir völlig und für immer

getröstet werden.

Wie mancher treibt sorglos auf dem Strome der Zeit

dahin, nur träumend von Glück und Fortkommen in dieser

Welt, bis plötzlich ein Sturm sich erhebt und alles mit

einem Schlage sich verändert! Oder der Tod tritt ein —

der Bote kommt, an den man so wenig gedacht, den man

so fern gehalten hat; das Haupt der Familie wird plötzlich

hinweggerafft, und alles ist in Verwirrung und Unordnung;

man hört nichts anderes mehr als das Wehklagen

der Witwe und der Waisen. Aber, möchte gefragt werden,

gehören diese Dinge in den Bereich des Mitgefühls

des Christen? Sicher und gewiß; es kann nicht anders

sein, so lange wir menschliche Herzen haben. Sie stehen

in Verbindung mit der seufzenden Schöpfung und 'veranlassen

uns zu rufen: „Komm, Herr Jesu!" Wurde nicht

das Herz des Herrn durch den Anblick der um ihren

Bruder trauernden Schwestern zu Bethanien tief gerührt?

War Er nicht innerlich bewegt, als er am Thore von

Nain jenem Leichenzuge begegnete? Und wenn es bei dem

Herrn so war, sollte es dann bei uns anders sein? Etwas

von dem, was wir täglich um uns her geschehen sehen,

muß vor dem Geiste des Herrn gestanden haben, als Er

53

den reichen Weltling und sein schreckliches Ende beschrieb.

„Du Thor! in dieser Nacht wird man deine Seele von

dir fordern; was du aber bereitet hast, für wen wird es

sein?" (Luk. 12, 20.)

Merkwürdigerweise trifft gerade, während ich diese

Zeilen niederschreibe, eine Trauerbotschaft ein: ein reicher

Mann, mir wohlbekannt seit vielen Jahren, ist plötzlich

gestorben. Der Eindruck, den die Nachricht hervorruft, ist

für den Augenblick überwältigend. Die Gedanken eilen jene

vielen Jahre zurück; die verschiedenen Male, daß ich Gelegenheit

hatte, mit dem Verstorbenen ein Wort über den

Herrn und über sein Seelenheil zu reden, kehren in meine

Erinnerung zurück. Oft hatte er die Wichtigkeit der Sache

anerkannt und" versprochen, mehr daran zu denken. Doch

wer ist in einem solchen Augenblick zufrieden mit seiner

Treue? „Hast du auch deutlich genug, oft genug, ernst

genug gesprochen?" so fragt das Gewissen, und vielleicht

muß man sich anklagen. Aber alles ist jetzt vorüber; der

Vorhang ist gefallen, und wir vermögen nicht die finstere

Linie, welche die beiden Zustände tzes Seins trennt, zu

überschreiten. Dennoch mögen wir tief aufseufzen über

die traurigen Folgen der Sünde, wie der Herr selbst es

that am Grabe des Lazarus, obwohl dort keine Ungewißheit

bezüglich der kostbaren, unsterblichen Seele des Entschlafenen

bestand. Ein jeder Gläubige kennt etwas von

dem Werte der Seele und des ewigen Heiles, und wer

wollte nicht trauern, wenn beide verloren sind?

Nichts ist mehr geeignet, das Herz mit aufrichtigem

Schmerz zu erfüllen als die unermeßliche Zahl bloßer

Bekenner. Und sicher, auf denen, welche den Namen

Christi tragen und Ihm nachzufolgen bekennen, ruht eine

54

schwerere Verantwortlichkeit als auf dem unwissenden,

leichtfertigen Weltkinde. Die beiden Klassen werden nach

einem verschiedenen Maßstabe gerichtet werden. Viele

thörichte Jungfrauen sind heutiges Tages mit den klugen

vermengt, und ihr Mangel an Oel scheint nicht eher entdeckt

zu werden, bis es zu spät ist einzukaufen. Die verschlossene

Thür und die erloschenen Lampen lassen sie in

hoffnungsloser Finsternis und Verzweiflung. Ach! das

wird das Teil vieler, vieler sein, die heute eine hohe Stellung

in der bekennenden Kirche einnehmen. Aber wie

schwierig ist es, gerade diese Klasse zu erreichen, wie

schwierig, mit ihnen zu reden, wie schwierig, zu wissen,

wie es um sie steht! Alle haben Lampen, aber nicht alle

haben Oel. Die letzteren täuschen sich selbst und kommen

vielleicht nie zur Einsicht, bis sie, zu ihrer schrecklichen

Ueberraschung, ihre Augen in der Qual aufschlagen. Das

geistliche Auge erkennt allerdings heute schon, daß solche,

während sie viel Wert auf Aeußerlichkeiten legen, Christo

und dem, was Ihm gebührt, wenig Wert beimeffen.

Wiederum sucht das Herz, indem es diesen Zustand

der Dinge sieht und weiß, daß es nichts daran ändern,

sondern nur durch eine entschiedene Trennung ein Zeugnis

gegen ihn ablegen kann, Erleichterung in Seufzern und

Bitten vor dem Herrn; ja, es bleibt nichts anderes übrig,

als mit dem Herrn inmitten einer solchen Scene zu

trauern. Und waS noch ein ernstlicheres Seufzen Hervorzurusen

vermag, ist der Umstand, daß man so viele sieht,

die dem Herrn wirklich angehören, die sich aber weigern,

sich von der Welt abzusondern, sei es in ihrem natürlichen

oder religiösen Charakter. Der Pfad eines wahrhaft

Trauernden ist daher ein einsamer Pfad; seine einzigen

Freunde stehen, gleich ihm, außerhalb der Welt.

Sie trauern mit einander. „Ja, wir weinten, indem wir

Zions gedachten." Und was anders als der zeichensuchende

Unglaube Seines Volkes preßte dem „Manne

der Schmerzen" jenen tiefen Seufzer aus? „Und in Seinem

Geiste tief seufzend, spricht Er: Was begehrt dieses

55

Geschlecht em Zeichen? Wahrlich, ich sage euch: Wenn

diesem Geschlecht ein Zeichen gegeben werden wird!"

(Mark. 8, 12.) Es ist heute noch genau so. Alles was

auf die Sinne einwirkt, wird geglaubt; ihm läuft man

nach, während der hochgelobte, außerhalb des Lagers

stehende Herr heute ebenso wenig Anziehungskraft für die

zeichensuchende Menge besitzt wie damals. Allerdings

läßt man Christum und Sein Kreuz nicht ganz fahren,

das würde nicht volkstümlich sein; aber man sammelt die

Herrlichkeit der Welt um Seinen Namen, und Tausende

rufen: „Hosanna dem Sohne Davids!" Sobald man

aber das Kreuz in seinem wahren Charakter vorstellt,

mit der Schmach und Verwerfung, die jedem wahren Gläubigen

zu teil wird, dann heißt es: „Hinweg mit Ihm!"

Der Trauernde muß sich in die Stille zurückziehen

und seinen Schmerz dem Herrn klagen. Er muß fernstehen

all jenem traurigen Gemisch von Kirche und Welt,

obgleich er sehr Wohl weiß, daß man ihn, indem er so

handelt, des Mangels an brüderlicher Liebe, der Engherzigkeit

rc. beschuldigen wird. Aber der Herr weiß, was sein

Herz bewegt, Er kennt seinen Schmerz; und wahrlich, er

wird getröstet werden! Die Zeit kommt, wo er in

die Freude seines Herrn eingehen und die Frucht seines

Zeugnisses alle Ewigkeit hindurch genießen wird. „Glückselig

die Trauernden, denn sie werden getröstet werden!"

Jede Thräne, die vergossen worden, jeder Seufzer, der zu

Gott emporgestiegen ist in Gemeinschaft mit einem« verworfenen

Christus — sie werden alle von Ihm aufbewahrt

als Denkzeichen Seiner in uns wirkenden Gnade, und sie

werden sicherlich in ewiger Erinnerung bleiben.

Gott gebe uns, geliebter Leser, eine immer tiefere

und wahrere Erkenntnis von Jesu, nicht nur als unsers

Herrn und Heilandes, sondern auch als des Mannes der

Schmerzen, der allezeit umherging Gutes thuend und Liebe

erweisend, obwohl Er stets das tiefe Gefühl des Verworfenseins

in Seinem zärtlich liebenden Herzen mit sich

umhertrug! Möchten wir fähig sein, mit unserm ganzen

56

Herzen in das Mitgefühl unsers gepriesenen Herrn bezüglich

der uns umgebenden Scene der Sünde und des

Schmerzes einzutreten, bis Er kommt, um sie mit Freude

und Glückseligkeit zu erfüllen! — Amen, komm, Herr Jesu!

(Fortsetzung folgt.)

„Zichc, wie gut und wie lieblich ist es, wenu Sender

einträchtig bei einander wohnen!" ,

(Ps. ISS, I.) ---

Wie lieblich, wenn Jesus die Deinigen findet

Um Ihn, den Gekreuzigten, dankbar vereint;

Wenn innige Liebe die Herzen verbindet,

Und Thränen der Freude das Auge nur weint!

Ihr Danken und Loben

Steigt jubelnd nach oben,

Zu Dem, der den Sohn, den geliebten, geschenkt,

Mit Vatsrgefühlen der Seinen gedenkt.

Wie lieblich, wenn Brüder in Eintracht und Frieden

Sich sonntäglich scharen zum herrlichsten Mahl;

Den Tod ihres Herrn zu verkünden hienieden,

Mit Ihm in der Mitte, wie klein auch die Zahl!

Sie rühmen und preisen

In lieblichen Weisen . ,

Den Gott, der so Großes an ihnen gethan,

Dem sie als Erlöste und Kinder nun nah'n.

Wie lieblich, wenn Brüder gemeinschaftlich treten

Bor Gott, ihren Vater, im Namen des Herrn!

Zum Throne der Gnade hin dringet ihr Beten,

Noch ehe sie rufen, hört Er ja so gern!

Ihr Seufzen und Flehen, '

Es findet Verstehen, '

Ihr Bitten Erhörung, ob morgen, ob heut', - -

Bei Dem, der Len Winden und Wogen gebeut.

„Da bin ich in ihrer Mitte."

(Matth. 18, 20.)

Die Verheißungen des Herrn sind gewiß und wahrhaftig.

Wir dürfen zu unserm großen Troste in allen

Lagen und zu allen Zeiten fest auf sie rechnen. Sein

Wort: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur

Vollendung des Zeitalters", bleibt immer wahr; ebenso

das Wort: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem

Namen, da bin ich in ihrer Mitte." (Matth. 28, 20;

18, 20.) Obgleich der Herr zu Seinem Vater zurückgekehrt

und deshalb unsern leiblichen Augen verborgen ist,

so sieht Ihn doch das Auge des Glaubens. Wie Er der

Beschützer und Helfer der Seinen war während Seines

Wandelns auf der Erde, so ist Er es auch noch heute.

Er hat gesagt: „Ich werde euch nicht als Waisen lassen,

ich komme zu euch. Noch ein Kleines, und die Welt

sieht mich nicht mehr; ihr aber sehet mich: weil ich lebe,

werdet auch ihr leben." (Joh. 14, 18. 19.) Der Herr

kannte die ganze Schwachheit und Unwissenheit Seiner

Jünger und wußte auch, welchen Gefahren sie in dieser

Welt ausgesetzt waren; aber Er war bei ihnen, und das

genügte vollkommen für sie. In der Wüste, auf stürmischer

See, inmitten der Leidenden und Kranken, ja, selbst

angesichts des Todes hatten sie Gelegenheit, Seine Macht

und Liebe kennen zu lernen; zu sehen, daß Er Der war, der

58

einst zu Mose sagte: „Ich bin, der ich bin." (2. Mose

3, 14.) „Seid gutes Mutes, ich bin's; fürchtet euch

nicht!" — „Ich bin der gute Hirte." — „Ich bin die

Auferstehung und das Leben." — „Ich bin der Weg, die

Wahrheit und das Leben" — alle diese Seine eignen

Aussprüche sagen uns,' wer und was Er zu allen Zeiten

für die Seinigen ist. Er genügt vollkommen für alle

Bedürfnisse und Verhältnisse. Er bleibt stets derselbe und

erfüllt allezeit Sein Wort: „Ich bin bei euch alle Tage."

Wir leben in der Zeit, welche der Apostel als die

„letzten Tage" bezeichnet, die Tage der „schweren Zeiten".

(2. Tim. 3, 1.) Und alle aufrichtigen Christen fühlen

tiefen Schmerz über den stetig zunehmenden Verfall. Aber

zu ihrem großen Troste gilt auch für sie während dieser

bösen Tage das Wort des Herrn: „Ich bin bei euch."

Und Seine Gegenwart genügt jetzt ebenso vollkommen

für sie, wie sie einst für die schwachen Jünger genügte.

Sicherlich sind die Schwierigkeiten größer als je, aber

nicht größer als Er. Dem Feinde gelingt vieles, aber

nichts wider Ihn. Er ist und bleibt der Felsen,

den des Hades Pforten nicht zu überwältigen vermögen.

(Matth. 16, 18.) Im Blick auf den Verfall, die Untreue

der Christen und die große Verunehrung des Herrn

seitens derselben sollten wir daher tiefen Schmerz fühlen,

uns demütigen und trauern — aber nicht verzagen; denn

dazu haben wir keinen Grund. Den Herrn kann nichts

hindern, Sein Werk auszuführen und Seine Ratschlüsse

zu erfüllen, weder unsre eigne große Schwachheit und

unsre Unfähigkeit, das Verderben aufzuhalten, noch daS

Verderben selbst. Er ist bei uns, wenngleich unser leibliches

Auge Ihn nicht sieht; und Er erwartet, daß wir

59

an Seine Gegenwart glauben und unser Auge unverrückt

auf Ihn gerichtet halten. Er sagt nicht: „Seid gutes

Mutes, denn ihr seid mit allem Nötigen ausgerüstet";

sondern: „Seid gutes Mutes, ich bin bei euch; ich

habe die Welt überwunden." Er müßte aufhören, „der

Herr" zu sein, aufhören, der „Ich bin, der ich bin"

zu sein, wenn wir Grund haben sollten, zu verzagen.

Er hält Sein Wort, nicht um unsers Glaubens willen,

sondern weil Er die Wahrheit ist; und darum sollen

wir Ihm glauben. Und je kühner wir Ihm vertrauen,

desto mehr ehren wir Ihn, und desto mehr kann Er sich

verherrlichen.

Dasselbe gilt in Bezug auf unser Zusammenkommen.

Der Unglaube sagt: „Die Grundfesten sind erschüttert,

die Versammlung Gottes ist aufgelöst, da ist kein Halt

mehr." Er bedient sich dieser Ausreden, um seine eignen

Wege der Untreue zu rechtfertigen. Aber die Grundfesten

der Versammlung Gottes stehen heute noch ebenso fest

wie im Anfang. Der Herr ist noch immer in der Mitte,

wo zwei oder drei versammelt sind in Seinem Namen;

und die Beschlüsse einer solchen Versammlung haben heute

noch dieselbe Autorität wie im Anfang. Auch besteht

zwischen allen solchen Versammlungen, wo irgend sie auf

der Erde im Namen Jesu zusammenkommen mögen, eine

göttliche Einheit, da alle denselben Mittelpunkt haben.

Der Herr ist in ihrer Mitte, weil sie auf dem einzigen

von Gott anerkannten Boden der Wahrheit stehen, erhaben

über allen menschlichen Einrichtungen und Systemen;

denn sie sind versammelt im Namen Jesu. Der Herr

ist in ihrer Mitte, und darum sind sie gesegnet, wie schwach

und unscheinbar auch ihr äußeres Ansehen in den Augen der

60

Welt sein mag. Der Herr ist in ihrer Mitte, und darum

kann ihnen in der That nichts mehr gebracht werden,

was sie nicht schon besäßen. Sie sind um Ihn versammelt,

verkündigen Seinen Tod, bringen Ihm ihre Anbetung

dar, werden von Ihm selbst bedient, erfreuen sich

Seiner Anerkennung, wie schwach auch ihrerseits alles sein

mag. Die Thatsache, daß der Herr in ihrer Mitte ist,

giebt ihrem Zusammensein die göttliche Weihe; erzeugt in

aller Herzen eine göttliche Uebereinstimmung und gegenseitige

Unterwerfung;' sichert sie gegen die Angriffe des

Feindes und die Einflüsse einer bösen Welt. Kurz, die

Gegenwart des Herrn genügt vollkommen für alle Bedürfnisse

der Versammlung, selbst für die schwersten Zeiten,

so lange sie diese Gegenwart im Auge behält und durch

den Glauben verwirklicht.

Ohne Zweifel sind die Zeiten schwer und die Gefahren

groß, und der Herr erlaubt, daß Satan die Herde sichtet.

Irrlehren von allerlei Art, eine stetige Abnahme der Gottesfurcht

und eine dementsprechende Zunahme des Eigenwillens

und der Weltlichkeit unter den Gläubigen drohen das letzte

Zeugnis der Wahrheit zu vernichten. Aber alles dieses hebt

die Verheißung des Herrn nicht auf, in der Mitte derer zu

sein, die in Seinem Namen versammelt sind. Wie finster

auch die Nacht um uns her ist, so kann sie doch nicht

finsterer sein als diejenige, in welcher der Herr überliefert

wurde. Die Feindschaft der Welt, die Gewalt der Finsternis,

der Verrat des Judas, die Verleugnung des Petrus,

der Zustand der Jünger — alles das stand vor den

Augen des Herrn; aber nichts hinderte Ihn, mit Seinen

Jüngern als Seinen teuer Erkauften zu Tische zu liegen

und ihnen zu sagen, was Er für sie thun wollte. Und

61

jetzt ist Er mit uns zu Tische als Der, der das Werk

vollbracht hat; und wir können im Frieden und mit Dank

und Anbetung um Ihn versammelt sein, wie groß auch

das Verderben um uns her ist. Trotz der „schweren

Zeiten" bleibt uns das Vorrecht, im Namen Jesu zusammen

zu kommen und Seine Gegenwart zu genießen.

Und diese Zusammenkünfte sind die köstlichsten Stunden,

welche uns der Herr hienieden bereitet: Stunden der Ruhe,

der Erquickung, des Trostes und der Freude, vom Herrn

bestimmt, unser Ausgangspunkt zu sein, um immer wieder

mit erneuter Kraft in. die Arbeit und den Kampf eiuzu-

treten. Denn nie entläßt der Herr die Seinen ungesegnet

oder ungestärkt aus Seiner Gegenwart. Er konnte die

Volksmenge nicht entlassen, bevor Er sie gesättigt hatte,

damit sie nicht „auf dem Wege verschmachte"; wie könnte

Er Seine teuer Erkauften leer ausgehen lassen? Wenn

wir leer ausgehen, so liegt sicher nicht die Schuld am

Herrn, sondern an uns selbst.

Diese Erwägungen führen uns zu der für unsre Tage

so wichtigen Frage: Ist jede Versammlung von Gläubigen,

die außerhalb der Parteien auf dem Boden der Wahrheit

zu stehen bekennt, eine Versammlung im Namen Jesu?

Das erste und wichtigste Kennzeichen einer Versammlung

im Namen Jesu besteht darin, daß sie alles fern hält,

was sich nicht mit diesem heiligen Namen verbinden läßt.

Wie könnte der Herr das Böse durch Seine Gegenwart gutheißen?

Würde wohl ein irdischer König dulden, daß

man in seinem Namen Handlungen beginge, die seinem

Willen und seiner Würde zuwider liefen? Das Böse

mit dem Namen Jesu verbinden zu wollen, wäre ein

schrecklicher Mißbrauch dieses heiligen Namens, ja, das

62

Böse in seiner schlimmsten Form. Aber ach! gerade dieses

Mißbrauchs hat sich die bekennende Kirche schuldig

gemacht, und er ist es, gegen den wir, als eine beständige

Gefahr, stets auf der Hut sein müssen.

Doch dem Herrn sei Dank, daß trotz dieser ernsten

Gefahr daS Vorrecht des Zusammenkommens im Namen

Jesu, sowie die damit verbundene Verheißung des Herrn

für die Gläubigen nicht aufgehoben ist! Denn der feste

Grund Gottes steht; aber er hat dieses Siegel: „Jeder,

der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der

Ungerechtigkeit!" (2. Tim. 2, 19.) Hier begegnen wir

demselben Grundsatz, den wir eben besprochen haben: eine

Versammlung von Gläubigen kann nur dann eine Versammlung

im Namen Jesu genannt werden, wenn sie absteht

von dem Bösen in jeder Form, d. h. also zunächst,

wenn sie in Uebereinstimmung bleibt mit der Lehre Christi

und Seiner Apostel. Also war es mit den ersten Christen:

„Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in

der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den

Gebeten." (Apostgsch. 2, 42.) Unsre ernste Aufgabe und

heilige Pflicht besteht darin, trotz dem Verfall fest zu halten

an dem, „was wir von Anfang gehört haben". „Wenn

in euch bleibt, was ihr von Anfang gehört habt, so werdet

auch ihr in dem Sohne und in dem Vater bleiben."

„Jeder, der weitergeht und nicht bleibt in der Lehre

des Christus, hat Gott nicht; wer in der Lehre bleibt,

dieser hat sowohl den Vater als auch den Sohn. Wenn

jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so

nehmet ihn nicht ins Haus auf und grüßet ihn nicht.

Denn wer ihn grüßt, nimmt teil an seinen bösen Werken."

(1. Joh. 2, 24; 2. Joh. 9—11.) Diese Stellen zeigen

63

die Verantwortlichkeit der Versammlung betreffs Ueber-

wachung der Lehre.

Zweitens hat eine Versammlung im Namen Jesu

sich rein zu halten von allem Bösen in sittlicher Beziehung,

so weit sie als Versammlung dasür verantwortlich

ist. „Wenn jemand, der Bruder genannt wird, ein

Hurer ist, oder ein Habsüchtiger, oder Götzendiener, oder

Lästerer, oder Trunkenbold, oder Räuber, mit einem solchen

selbst nicht zu essen." (1. Kor. 5, 11.)

Der Herr erwartet nicht von einer Versammlung,

daß sie den Sauerteig des Bösen aus der bekennenden

Kirche ausfege, wohl aber, daß sie sich selbst fern davon

halte. Nur unter dieser Bedingung kann sie auf die

Erfüllung Seiner Verheißung rechnen, daß Er in ihrer

Mitte sein will. Er kann Seiner Verheißung nicht untreu

werden, aber auch nicht die Heiligkeit Seines Namens

aufgeben.

Wenn nun aber eine Versammlung als solche ihre

Stellung wahrnimmt und ihren Charakter behauptet, wie

steht es dann mit dem Einzelnen? Ist er um deswillen

vor aller Gefahr geborgen? Keineswegs. Der Genuß der

aus dem Zusammenkommen im Namen Jesu entspringenden

Segnungen hängt für den Einzelnen von dessen persönlichem

Zustande und Verhalten ab. Für einen jeden gilt die

Frage: Gehe ich im Namen Jesu dahin, wo Er in

der Mitte der Seinen ist? Kann ich mit Freimütigkeit

an Seinem Tische erscheinen? Habe ich in Seinem

Lichte alles verurteilt und gerichtet, was nicht in Seine

heilige Gegenwart paßt und was jene Freimütigkeit stören

muß? Diese ernste Selbstprüfung erwartet der Herr

von allen denen, die in Seinem Namen zusammenkommen.

64

Der Apostel sagt: „Ein Mensch aber prüfe sich selbst, und

also esse er von dem Brote und trinke von dem Kelche."

Und er fügt mit feierlichem Ernste hinzu: „Denn wer

unwürdiglich ißt und trinkt, der ißt und trinkt sich selbst

Gericht." (1. Kor. 11, 28. 29.)

Geliebter Leser, wie ernst ist das! Die Stunde der

größten Segnungen wird zum Anlaß der ernstesten Gerichte

für dich, wenn du diese Selbstprüfung vernachlässigst.

Darfst du es wagen, mit einem gleichgültigen

Herzen in die Gegenwart des Herrn zu kommen? Er,

der Herzen und Nieren prüft, dessen Augen sind wie eine

Feuerflamme, und vor dem alles bloß und aufgedeckt ist

(Ps. 7, 9; Offbg. 1, 14; Hebr. 4, 13) — Er sieht

auch die Gleichgültigkeit, die Bitterkeit, den Neid, den

Hochmut, die Eitelkeit, kurz alles das, was dein Herz

verunreinigt; Er weiß, ob diese Dinge bei dir vorhanden

sind oder nicht. Er weiß, wie du zu Seinem Tische

kommst; ob du jene Selbstprüfung übst oder versäumst.

Du kannst Ihn nimmermehr täuschen, und Er kann die

Sünde bei den Seinen nicht dulden, wie groß auch Seine

Geduld und Langmut sein mag. In dieser Beziehung

gilt vor Ihm kein Ansehen der Person (1. Petr. 1, 17);

Er richtet die Sünde bei den Seinigen ebenso sicher wie

bei der Welt, nur mit dem Unterschiede, daß jene nicht

mit dieser verurteilt werden. (1. Kor. 11, 32.) Es ist

sehr zu befürchten, daß viele diese Sache nicht ernst genug

nehmen. Sie mögen sich vielleicht vor groben Sünden hüten,

während sie es versäumen, die Unaufrichtigkeiten und Unlauterkeiten

ihrer Herzen im Lichte der Heiligkeit Gottes

zu richten. Niemand betrüge sich selbst! Es genügt nicht,

da seinen Platz einzunehmen, wo der Herr in der Mitte ist

65

die überaus wichtige Frage ist, wie wir da sind. Möchten

wir deshalb niemals dahin gehen, ohne zuvor alles

gerichtet zu haben, was das Licht der Gegenwart des

Herrn nicht ertragen kann! Ja, möchten wir ein tägliches,

stündliches Selbstgericht an uns üben und die mahnende

oder strafende Stimme des Heiligen Geistes in uns nicht

überhören! Die Folge davon wird sein, daß wir mit

glücklichem Herzen den Herrn selbst genießen werden, so

oft wir in Seinem Namen zusammenkommen. Wir werden

Ihn schauen mit unserm Glaubensauge; Er wird unsern

Herzen immer kostbarer werden, und unser Wandel wird

zu Seiner Verherrlichung gereichen.

Dreierlei Arten von Gericht.

Wir begegnen in der Schrift drei Arten von Gericht,

deren Verständnis für den Christen höchst wichtig ist,

nämlich dem Selbstgericht, dem Gericht von feiten der

Versammlung und dem Gericht von feiten Gottes.

1. Das Selbstgericht ist die ernste Pflicht eines

jeden wahren Christen. Es ist unmöglich, Fortschritte zu

machen, wenn die Gewohnheit, sich selbst zu richten, nicht

beharrlich ausgeübt wird. Wir sind in das Licht Gottes

gebracht, so daß wir fähig gemacht sind, die Dinge zu

betrachten, wie Gott sie betrachtet, sie zu beurteilen, wie Er

sie beurteilt; ja, wir kennen Seine Gedanken über alles,

was um uns hervorgeht. Wir sind berufen, in diesem

Lichte uns selbst zu richten. So lange wir in der

Finsternis der Natur wandelten, konnten wir uns weder

ein richtiges Urteil über uns selbst noch über irgend etwas

anderes bilden. Nachdem wir aber in das Licht gebracht

66

find, wie Gott im Lichte ist, und Seinen Geist und Sein

Wort haben, besitzen wir sowohl die Einsicht als auch

die Macht, alles zu beurteilen und zu unterscheiden, sowie

ferner die Wurzeln und Grundsätze des Bösen in unsern

eigenen Herzen zu richten, damit sie im praktischen Leben

nicht zum Vorschein kommen.

Der Boden, aus welchem wir dieses Gericht ausüben,

ist der, daß Gott uns nichts mehr zurechnen will,

weil Er bereits alle unsre Sünde und Schuld Jesu zugerechnet

hat auf dem Kreuze. Als solche, die mit Gott

versöhnt sind, die in Gnaden stehen und für welche es

keine Verdammnis mehr giebt noch geben kann, richten

wir uns selbst. Betrachteten wir dieses Gericht von einem

gesetzlichen Standpunkt aus, so würden wir sicher in einen

finstern, niedrigen, knechtischen Seelenzustand geraten. Aber

nein, wir führen das nötige und heilsame Werk des

Selbstgerichts als solche aus, die in unumwölkter Gnade

stehen und die reine Atmosphäre der Liebe einatmen. Der

gefördertste Gläubige hat eine Menge von Dingen in sich,

welche die größte Wachsamkeit erfordern. Da sind Lüste,

Leidenschaften, natürliche Neigungen, die gezügelt und in

Unterwürfigkeit gehalten werden müssen. „Die Glieder,

welche auf der Erde sind," müssen getötet werden. Die

unausgesetzte Ausübung einer strengen Censur über die

Natur in allen ihren Wirkungen ist erforderlich. Und

alles das — mögen wir es wohl beachten und uns tief

einprägen! — ist auf die große Thatsache gegründet, daß

„jetzt keine Verdammnis mehr ist für die, welche in Christo

Jesu sind". Verlieren wir diese Thatsache aus dem Auge,

so kann das Werk des Selbstgerichts unmöglich fort-

schreiten. Nur in dem Bewußtsein, daß unsre alte Natur

67

und alles, was zu ihr gehört, in dem Kreuze Christi

gerichtet worden ist, sind wir sähig, die Wurzeln des

Bösen Tag für Tag in unsern Herzen zu richten. Wir

richten uns als solche, welche Leben und Gerechtigkeit in

einem auserstandenen Heilande empfangen haben.

2. Wo und wann nun tritt das Gericht non

feiten der Versammlung ein? Wir glauben, daß

dieses Gericht in allen Fällen notwendig wird, in welchen

das Selbstgericht vernachlässigt worden ist. Dies

wird uns sehr deutlich in Matth. 18, 15—17 vorgestellt.

Wenn in einem Bruder, der gesündigt hat, der Geist des

Selbstgerichts vorhanden ist, so wird er bereit sein, auf

Andere Zn hören und sein Unrecht einzugestehen. Wenn

aber dieser Geist mangelt, so wird sich statt einer Selbstverurteilung

Selbstrechtfertigung zeigen, und dann ist die

Versammlung berufen, in die Sache einzutreten; beharrt

nun der Betreffende, trotz der Ermahnungen seitens der

Versammlung, bei seiner Halsstarrigkeit und Selbstrechtfertigung,

so ist er wie ein Heide und ein Zöllner zu

behandeln.

Aehnliches finden wir in 1. Kor. 5. Würde jener

„Böse" die anfänglichen Wirkungen, die ersten Keime des

Bösen in seinem Herzen gerichtet, seine Lüste gezügelt und

seine Glieder getötet haben, so würde die Versammlung

nicht beunruhigt worden sein; da er aber dem in seiner

Natur vorhandenen Bösen erlaubte, sich in seinem Verhalten

zu zeigen, wurde die Versammlung darein verwickelt

und war vor Gott verantwortlich, in der Sache zu

handeln. Die Versammlung wird in keiner Weise durch

das Böse in meiner Natur berührt, so lange ich diesem

Bösen nicht erlaube, sich thätig zu erweisen, oder wenn

68

es beim Beginn seiner Thätigkeit aufrichtig und treu gerichtet,

bekannt und hinweggethan wird. Nur dann wenn

dem Bösen gestattet wird, in Thätigkeit zu treten,

wenn ihm erlaubt wird, sich zu zeigen, ist die Versammlung,

sowohl von Gottes wegen, als auch um der

Aufrechterhaltung der Wahrheit und Heiligkeit willen, verpflichtet

zu handeln.

Wie sorgfältig sollten wir daher stets das Selbstgericht

auSüben, damit das Gericht von feiten der Versammlung

nicht erforderlich werden möge! Es ist wahrlich

tief beklagenswert, wenn wir uns in unserm täglichen

Leben so betragen, daß wir unsern Brüdern damit zu

schaffen machen. Wie vielmehr sollten wir, soweit es an

uns liegt, bemüht sein, das geistliche Wohl und das

Glück, das Gedeihen und das Wachstum, sowohl der

Versammlung, mit welcher wir örtlich verbunden sind, als

auch der ganzen Kirche Gottes zu fördern! „Keiner von

uns lebt sich selbst." Und es ist eine höchst ernste und

wichtige Erwägung, daß ich in diesem Augenblick den

Gliedern des Leibes Christi, obwohl sie mir vielleicht persönlich

ganz unbekannt sind, entweder förderlich oder

hinderlich bin. Dies, obwohl ein Stein des Anstoßes für

die menschliche Vernunft, ist nur eine einfache Schlußfolgerung

aus jener großen Wahrheit von der Einheit

des Leibes Christi hienieden. „Da ist ein Leib und ein

Geist." Und wiederum: „Gott hat den Leib zusammengefügt

..., auf daß keine Spaltung in dem Leibe sei, *)

*) Es ist ein großer, obgleich sehr gewöhnlicher Fehler, von

einem „Zerreißen des Leibes Christi" zu reden. Dieser Leib ist

unzertrennlich. Seine Einheit wird unfehlbar aufrecht erhalten

durch Gott selbst. Er hat so gewirkt und es so vorgesehen, daß

69

sondern die Glieder dieselbe Sorge für einander haben

möchten. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle

Glieder mit; oder wenn ein Glied verherrlicht wird, so

freuen sich alle Glieder mit. Ihr aber seid der Leib

Christi und Glieder insonderheit." (1. Kor. 12, 24—27.)

Wir wollen jedoch die Wahrheit von der Einheit

des Leibes Christi hier nicht weiter verfolgen; wir haben

nur darauf hingewiesen in Verbindung mit dem Gegenstände,

der uns beschäftigt, und um dem christlichen Leser

die Notwendigkeit des Selbstgerichts ans Herz zu legen.

Die Einheit des Leibes Christi ist entweder eine bloß

menschliche Theorie oder eine göttliche Wirklichkeit. Wir

glauben das letztere, und deshalb sagen wir, daß der

Wandel des Einzelnen Einfluß auf den ganzen Leib ausübt.

Das eine bedingt das andere. Wir können unmöglich

einen unabhängigen Platz einnehmen; denn wenn

wir mit dem Haupte verbunden sind, so sind wir es auch

mit den Gliedern; und diese Verbindung bildet die Grundlage

einer Verantwortlichkeit, die wir nicht von uns abschütteln

können. Die Vernunft mag ausrufen: „Wie kann

so etwas möglich sein?" u. s. w. Der Glaube erwidert:

„Gott hat es gesagt", und das genügt allen, die da

„versiegelt haben, daß Gott wahrhaftig ist". (Joh. 3, 33.)

in demselben keine Spaltung sei. Wenn man inmitten all der

Unruhe und Verwirrung in der bekennenden Kirche das nicht

wüßte, so würde man verzweifeln müssen. Aber, Gott sei Dank!

der Leib ist einer, vereinigt durch den einen inwohnenden

Geist mit seinem auferstandenen und verherrlichten Haupte im

Himmel. Er kann nimmer zerrissen oder zerteilt werden. Die

vereinigten Machte der Erde und der Hölle können die Einheit

des Leibes Christi nicht zerstören. Der Herr gebe uns Gnade,

diese große Grundwahrheit stets festzuhalten und danach zu handeln l

70

3. Zum Schluß noch ein Wort bezüglich des Gerichts

von feiten Gottes und des Platzes, den

dasselbe einnimmt. Wir haben gesehen, daß da, wo das

Selbstgericht nicht ausgeübt wird, die Versammlung in

die Sache hineingezogen wird. Wenn aber die Versammlung

das Gericht versäumt, was muß dann geschehen?

Gott muß eintreten. Ernster Gedanke! „Es ist furchtbar,

in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen."

(Hebr. 10, 31.) „Die Zeit ist gekommen, daß das Gericht

anfange bei dem Hause Gottes." (1. Petr. 4, 17.)

Betrachten wir die Geschichte Achans in Josua 7. Was

bedeutet der große Haufe Steine im Thale Achor? Was

für eine Inschrift trägt er? Welche Unterweisung giebt

er uns? Er lehrt uns in der feierlichsten Weise, daß

„der Herr Sein Volk richten wird", wenn es versäumt,

sich selbst zu richten. Hätte Achan die in seinem Herzen

aufsteigenden habsüchtigen Gedanken gerichtet, so würde

die ganze Gemeinde nicht in die Sache hineingezogen worden

sein; und wenn in der Gemeinde Kraft gewesen wäre,

das Böse zu entdecken und zu richten, so hätte Gott nicht

nötig gehabt, die Gemeinde zu richten. Da aber weder

ein Selbstgericht bei Achan, noch auch ein Gericht von

feiten der Gemeinde vorhanden war, so mußte das Gericht

Gottes notwendigerweise eintreten. Gott kann das Böse

vergeben, Er kann es auslöschen, aber Er kann es nicht

gutheißen und durch Seine Gegenwart bestätigen. Wenn

deshalb die Ruinen von Jericho die Gegenwart Gottes im

Sieg verkündigten, so redete der Haufe Steine im Thale

Achor von Seiner Gegenwart im Gericht.

Dieselbe ernste Unterweisung wird uns zu teil, wenn

wir uns zum Neuen Testament wenden. Denken wir an

71

Anamas und Sapphira in Apostelgeschichte 5. Begegnen

wir da nicht einem ernsten Gericht im Hause Gottes?

Und ferner, reden die vielen Schwachen, Kranken und Entschlafenen,

die der Apostel in 1. Korinth. 11 erwähnt,

nicht laut und deutlich von jener feierlichen Wahrheit,

daß „das Gericht bei dem Hause Gottes anfangen muß" ?

Sicherlich! „Deshalb sind viele unter euch schwach und

krank und ein gut Teil entschlafen. Aber wenn wir

uns selbst beurteilten, so würden wir nicht

gerichtet. Wenn wir aber gerichtet werden, so werden

wir vom Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht mit der

Welt verurteilt werden." Laß uns das beachten, geliebter

Leser! Welch ein unermeßlicher Unterschied besteht zwischen

Gottes gegenwärtigem Gericht über Sein Haus und Seinem

zukünftigen Gericht über die Welt! Der Vater züchtigt

Seine Kinder, damit sie Seiner Heiligkeit teilhaftig

und nicht mit der Welt verurteilt werden. Wir können

das herrliche Wort: „keine Verdammnis" ebenso bestimmt

in den Regierungswegen Gottes lesen wie in der aposto­

lischen Belehrung von Röm. 8. In der letzteren erwartet

man es zu finden; aber daß es auch in den ersteren zu

lesen ist, zeigt auf eine höchst treffende Weise den Boden,

welchen die Gläubigen in einem auferstandenen Christus

einnehmen. Was „die Welt" betrifft, so geht sie dem

gerechten, schonungslosen Gericht Gottes entgegen. Er hat

„einen Tag gesetzt, an welchem Er den Erdkreis richten

wird in Gerechtigkeit durch einen Mann, den Er bestimmt

hat, und hat allen den Beweis davon gegeben, indem Er

Ihn auferweckt hat aus den Toten." (Apstgesch. 17, 31.)

72

Eine Glaubensprobe.

Johannes N. gehörte einem Verein an, der die Unterstützung

seiner Mitglieder in Krankheitsfällen und dergl.

zum Zweck hatte. Eine geraume Zeit hindurch hielt er

dies für ganz richtig; er betrachtete es als eine verständige

Vorsorge für sein Weib und seine Familie, wenn er einmal

krank werden oder gar sterben sollte.

Nach und nach begann er jedoch ein wenig beunruhigt

zu werden über seine Stellung zu dem Verein.

Das Wort in 2. Kor. 6, 14: „Seid nicht in einem

ungleichen Joche mit Ungläubigen", trat mit Macht an

sein Gewissen heran. Ueberdies wurde die Ueberzeugung

immer mehr in ihm rege, daß es besser sei, auf den lebendigen

Gott zu vertrauen als auf das Vermögen eines

Vereins. Endlich, nach vielem Ueberlegen und ernstem

Flehen zum Herrn um Seine Leitung, meldete er seinen

Austritt an. Er fühlte, daß er nicht länger mit gutem

Gewissen Mitglied jenes Vereins bleiben konnte.

Johannes wurde selbstverständlich von seinen Freunden

und Bekannten wegen seines unklugen Schrittes heftig

getadelt. Selbst viele Kinder Gottes halten es ja sür

ganz richtig, einem derartigen Verein anzugehören. Aber

Johannes fühlte, daß er, koste es was es wolle, dem

Worte Gottes gehorchen müsse. Mochten andere thun, was

sie wollten — e r mußte mit Gott wandeln; und er hatte

Recht. Wohl mußte er sich manche scharfe Bemerkung

wegen seines Verhaltens gefallen lassen. Einige sagten:

„Es ist alles gut und wohl, so lange er imstande ist zu

arbeiten; aber laßt einmal eine längere Krankheit kommen--

dann wird man sehen, was aus seinem Glauben wird."

73

Nun, es gefiel Gott, unsern Freund krank werden

zu lassen. Längere Zeit mußte er zu Bett liegen und

war völlig unfähig zu arbeiten. Sein kleiner Geldvorrat

war bald aufgezehrt. So kam der Samstag-Abend, und

weder Geld noch Brot war im Hause.

Das war ein versuchungsreicher Augenblick. Der

Frau unsers Johannes ging es besonders nahe, ihre Kinder

darben zu sehen, und so ging sie gegen Abend in den

nächsten Laden, wo sie bekannt war, um einiges aus

Kredit zu holen. Als sie mit voller Schürze heimkehrte^

fragte sie ihr Mann, wo sie gewesen sei. Sie erzählte

ihm, was sie gethan hatte. Er sah sie einen Augenblick

schweigend an und sagte dann: „Es thut mir leid, meine

Liebe, Dich betrüben zu müssen; aber ich darf keine Schulden

machen. Das Wort Gottes sagt: „Seid niemandem

irgend etwas schuldig!" Bringe deshalb die Sachen zu

Herrn M. zurück und danke ihm für seine Freundlichkeit

und sein Vertrauen. Sage ihm aber zugleich, daß ich

keine Schulden machen könne." Nach einer Weile fügte

er hinzu: „Sage ihm auch, daß wir nochmals

wegen der Sachen schicken würden."

Ungefähr eine Stunde später kam jemand, um Johannes

zu besuchen. Der Besucher wußte nichts von den

schwierigen Umständen, in welchen sich unser Freund befand,

sondern hatte nur von seiner Treue gegen das Wort

Gottes gehört. Ehe er das Haus verließ, überreichte er

dem Kranken 10 Mark. Nun war Johannes imstande,

nochmals wegen der Sachen zu schicken, wie er gesagt

hatte; und zwar brauchte er sie jetzt nicht auf Kredit zu

holen, sondern konnte sie bezahlen mit dem, was Gott

ihm gesandt hatte.

U

Wie wichtig und wie schön ist der einfältige Gehorsam

gegen Gottes Wort in allen Dingen! Dasselbe

Wort, welches sagt: „Seid nicht in einem ungleichen Joche

mit Ungläubigen", sagt auch: „Seid niemandem irgend

etwas schuldig." Johannes gehorchte beiden Vorschriften.

Er überlegte nicht, noch machte er den Versuch, das Wort

seinen Meinungen anzupassen, wie es leider so mancher

Gläubige gethan hat und noch thut; nein, er gehorchte

einfach, und Gott segnete ihn, wie Er es stets thut und

thun wird. „Wer meine Gebote hat und sie hält, der

ist es, der mich liebt; wer aber mich liebt, wird von meinem

Vater geliebt werden; und ich werde ihn lieben und

mich selbst ihm offenbar machen. . . . Wenn jemand mich

liebt, so wird er mein Wort halten; und mein Vater

wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und

Wohnung bei ihm machen." (Joh. 14, 21. 23.)

Die Seligpreisungen.

(Matth. 5, 1—12.)

(Fortsetzung.)

3. „Glückselig die Sanftmütigen, denn

sie werden das Land ererben!"

Bei der Betrachtung dieser dritten Seligpreisung finden

wir unS in glücklicher Gemeinschaft mit dem Gesegneten,

der „sanftmütig und von Herzen demütig" war. Es giebt

in dieser dritten Klasse offenbar einen Fortschritt in der

Segnung der Seele. Der Erbe der Herrlichkeit hat in

der Schule Christi gelernt (und lernt es immerfort), den

Beschwerden und Mühsalen des Lebens hienieden zu begegnen,

so wie Christus ihnen begegnet ist. Dies ist ohne

— 75 —

Zweifel eine überaus wichtige und notwendige Unterweisung.

Laßt uns darauf achten, sie gründlich zu lernen.

In unsrer ersten Lektion wurde uns der wahre

Zustand einer jeden Seele gezeigt, die Gott wirklich kennt

und dem Charakter Christi gleichgestaltet ist — „arm im

Geiste". Da dieser Zustand aus der Erkenntnis der

Seele über das, was sie in der göttlichen Gegenwart ist,

hervorgeht, so ist es hauptsächlich eine Frage zwischen

der Seele und Gott. Alles ist darum Segen und Glück.

Indem wir aber dann unsern Wandel in der Welt beginnen

und uns der Erfüllung der mannigfaltigen Pflichten

dieses Lebens widmen, treten uns so viele Ursachen zur

Beunruhigung und Besorgnis in den Weg, daß wir im

Geiste seufzen. Das ist unsre zweite Lektion und

eine Sache der täglichen Erfahrung. Der große, in der

dritten Klasse hervortretende Fortschritt scheint folgender

zu sein: Die Seele ist so in der Gnade gewachsen, daß

der Jünger Christi, anstatt einen zweifelnden, grübelnden

und eigenwilligen Geist zu offenbaren, sein Haupt in

Demut unter den Willen des Vaters beugt und von Jesu

lernt, sanftmütig und von Herzen demütig zu sein; denn

schließlich handelt es sich in den Umständen unsers Lebens

doch um die Frage, ob wir unserm eignen Willen folgen

oder uns dem Willen Gottes unterwerfen wollen.

Der von Herzen Demütige erkennt immer deutlicher,

daß trotz allem, was ihn umgiebt, Gott die Ratschlüsse

Seines Willens zur Ausführung bringt und alle Dinge

zum Wohle derer mitwirken läßt, die Ihn lieben und

nach Seinem Vorsatz berufen sind. Diese völligere Erkenntnis

Gottes und Seiner Wege ruft Demütigung und

Beugung hervor. Obgleich im Geiste seufzend, und

76

trauernd über die Bosheit des Menschen, über die Verwerfung

Christi seitens derer, die wir lieben, sowie über

die vielen Fehler derer, welche Seinen Namen tragen, ist

der Mann des Glaubens ruhig und demütig. Er wandelt

mit Gott inmitten von dem allen und stellt Ihm alles

anheim. In dem leisesten Flüstern des Feindes wie in

seinem lautesten Wüten vernimmt er die Stimme seines

Vaters; in dem geringsten Unrecht, das ihm geschieht,

wie in der schlimmsten Beschimpfung und Vergewaltigung,

die ihm angethan wird, sieht er Seine Hand. Er beneidet

nicht die Welt um ihre Reichtümer, noch die Bösen

um ihre Wohlfahrt. Alle seine Quellen sind in dem

lebendigen Gott; und er kann sich zu Ihm wenden, in

Ihm ruhen, in Ihm sich erfreuen und mit Ihm wandeln,

erhaben über den Kämpfen und Unruhen dieser Erde.

Indes dürfen wir versichert sein, daß dieser Zustand des

Segens nur von denen genossen wird, die Gott so kennen,

und die da glauben, daß Er die verborgenen Ratschlüsse Seiner

Liebe ausführt trotz des überhandnehmenden Bösen und

der gottlosen Pläne des Menschen. Eines Vaters Stimme,

eines Vaters Hand, eines Vaters Wille und eines Vaters

Vorsatz können nicht anders als eine sanftmütige und

demütige Gesinnung Hervorrufen und erhalten.

Wollen wir jedoch die Sanftmut, von der wir reden,

in unbedingter Vollkommenheit sehen, so müssen wir auf

Ihn unsern Blick richten, der einen tieferen Schmerz hie-

nieden und eine innigere Gemeinschaft droben kannte, als

irgend einer der Deinigen jemals kennen kann. Während

Er mit dem Volke redete und ihre Fragen beantwortete,

hatte Er ein vollkommnes Bewußtsein von dem wahren

Zustande Seines Volkes, sowie von Seiner eignen Ver

77

werfung als der Messias, der König der Juden. Welch

ein Schmerz muß Sein Herz erfüllt haben! Aber auch

welch eine Ruhe und Erquickung sand Er stets in dem

Schoße Seines Vaters!

In Matth. 11, 20—30 begegnen wir dem Ausdruck

und der vollkommnen Verbindung dieser beiden Dinge in

Jesu: Seinem Seufzen im Geiste über das Ihn umringende

Böse und Seiner gänzlichen Unterwerfung unter

des Vaters Willen, verbunden mit Lob und Danksagung.

Kaum ist das „Wehe, wehe!" über Seine Lippen gekommen,

so blickt Er auf gen Himmel und sagt: „Ich preise

Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde." Bei

dem wachsenden, immer mehr sich vertiefenden Gefühl von

dem Unglauben des Volkes, das Er liebte, und von ihrer

blinden Verwerfung Seiner selbst als des Emmanuel

(Gott mit uns) in ihrer Mitte, unterwirft Er sich sanftmütig

dem unumschränkten Willen Seines Vaters und

erblickt in demselben nur Vollkommenheit für jenen Augenblick,

sowie die Herrlichkeit, die ihm hernach folgen sollte.

„Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und der

Erde, daß Du dies vor Weisen und Verständigen verborgen

hast, und hast es Unmündigen geoffenbart. Ja,

Vater, denn also war es wohlgefällig vor Dir." So

wie es damals war, so ist es seitdem stets gewesen, und

so ist es heute noch. Beachten wir, geliebter Leser, was

wir hier vor uns sehen: es ist Jesus als der vollkommen

abhängige und gehorsame Mensch, sowie die Gnadenwege

des Vaters mit den Sanftmütigen und Demütigen. Er

schützt die Person Seines geliebten Sohnes vor der unheiligen

Betrachtung des Unglaubens und verbirgt Seine

Herrlichkeit vor dem Stolze des Menschen. „Niemand

78

erkennt den Sohn als nur der Vater, noch erkennt jemand

den Vater, als nur der Sohn und wem irgend der Sohn

Ihn offenbaren will." Alle, die im stolzen Vertrauen

auf ihren Verstand es gewagt haben, in die tiefen Geheimnisse

Seiner Person einzudringen, haben nur ihre

eigne Blindheit und Thorheit geoffenbart und sich den

Fallstricken des Feindes ausgesetzt. Aber dem von Herzen

Demütigen, dem anbetenden Herzen, wird der volle Segen

der Erkenntnis Jesu und Seiner Wege mitgeteilt. „Er

leitet die Sanftmütigen im Recht und lehrt die Sanftmütigen

Seinen Weg. . . Die Sanftmütigen werden

das Land besitzen, und werden sich ergötzen an Fülle von

Wohlfahrt." (Ps. 28 u. 37.) Diese Stellen beziehen sich

ohne Zweifel auf die Erde im tausendjährigen Reiche,

wenn der gottesfürchtige Ueberreft sie besitzen wird in Verbindung

mit Christo als ihrem König der Herrlichkeit.

Es heißt nicht, daß sie den Himmel besitzen werden, sondern

die Erde. Der Ort ihrer Prüfung und ihrer Kümmernisse

wird dereinst zum Schauplatz ihrer Ruhe, ihrer

Herrlichkeit und Segnung werden. Der Christ wird dies

in einer höhern Weise besitzen, als eins mit Christo, seinem

Herrn, der dann die Armen mit Brot sättigen wird;

und gleich den Jüngern vor alters werden die himmlischen

Heiligen vielleicht das Vorrecht besitzen, es auszuteilen.

Doch kehren wir zu unserm Gegenstände zurück. Es

mag von Nutzen sein für den Diener Christi wie für jeden

Christen (vor allem für den geprüften und in seinen

Hoffnungen getäuschten), noch ein wenig genauer die Natur

der Entmutigungen zu betrachten, welche unsern hochgelobten

Herrn und Meister veranlaßten, sich zu Seinem

Vater als Seiner einzigen Hülfsquelle zu wenden.

Er war zu den Seinigen gekommen; aber die Sei-

nigen nahmen Ihn nicht auf. Das Volk, das Er liebte

und zu erlösen gekommen war, hatte kein Herz für Ihn.

Wenn Johannes der Täufer mit einer Trauerbotschaft

kam, so weigerten sie sich, zu wehklagen; wenn Jesus eine

Freudenbotschaft brachte, weigerten sie sich, sich zu freuen.

Sie wollten Ihn unter keiner Bedingung annehmen. Das

ist das Geheimnis des verhältnismäßig geringen Erfolges

des Evangeliums in allen Jahrhunderten. Das natürliche

Herz zieht den Genuß der gegenwärtigen Dinge einem

verworfenen Christus und einem Himmel vor, den man

sich weit entfernt denkt. Die ernstesten und feierlichsten

Warnungen des Johannes und die liebevollsten, gnädigsten

Einladungen Jesu wurden gleich unbeachtet gelassen von

jenem Geschlecht. Wahrlich, das war genug, um das Herz

des göttlichen Predigers zu brechen. Wenn das Anziehende

der Gnade, die eindringlichen Bitten und Aufforderungen

der Liebe, die Drohungen der Gerechtigkeit, die Vorstellung

der Qualen der Hölle und der Herrlichkeiten des Himmels

nicht imstande sind, die Gleichgültigen zum Nachdenken zu

bringen und die Sorglosen aufzuschrecken; und wenn das

Herz des Predigers des Evangeliums infolge der scheinbaren

Nutzlosigkeit seiner Arbeit und der Herzenshärtigkeit

seiner Zuhörer zu brechen droht — was bleibt ihm dann

übrig? Er kann sich in die Gegenwart Gottes zurückziehen

und in Gemeinschaft mit Ihm seine Lektion, sowohl

im Blick auf den Dienst als auch auf die Unterwürfigkeit,

vollkommner lernen, als er es bisher vermocht hat. Dort

ist der einzige Zufluchtsort und Ruheplatz für den in seinen

Hoffnungen getäuschten Arbeiter.

Laßt uns jetzt sehen, wie der Herr handelte. Er

80

kannte den Zustand des Volkes vollkommen; Er wußte,

daß es die Güte Gottes, wie sie sich in Seiner Person

und in Seinem Dienste offenbarte, von sich gestoßen hatte.

Was blieb nun übrig? Das unvermeidliche Ergebnis eines

solchen Unglaubens mußte das Gericht sein. Deshalb lesen

wir denn auch: „Dann fing Er an die Städte zu schelten,

in welchen Seine meisten Wunderwerke geschehen waren,

weil sie nicht Buße gethan hatten. Wehe dir, Chorazin l

wehe dir, Bethsaida! . . . Und du, Kapernaum, die du-

bis zum Himmel erhöht worden bist, bis zum Hades wirst

du hinabgestoßen werden. Denn wenn in Sodom die

Wunderwerke geschehen wären, die in dir geschehen sind,

sie wäre geblieben bis auf den heutigen Tag. Doch ich

sage euch: dem Sodomer Lande wird es erträglicher ergehen

am Tage des Gerichts als dir." Wie ernst ist das!

Ein schrecklicheres und schonungsloseres Gericht wird diesen

hochbegünstigten Städten im Lande Israel angekündigt als

selbst dem gottlosen Sodom, dessen Sünden zum Himmel

schrieen. Wie laut redet das zu den hochbegünstigten Hörern

des Evangeliums in unsern Tagen! Kein Gericht

wird so schwer, so schonungslos sein wie dasjenige, welches

in Bälde über die abtrünnige Christenheit hereinbrechen

wird. Je höher der Platz des Vorrechtes, desto tiefer muß

der Fall derer sein, die jenes Vorrecht unbenutzt lassen,

die nur den Namen Christi tragen ohne Leben und Wirklichkeit.

Und giebt es solcher Hörer heute nicht eine große,

große Menge, weit größer noch als in den Tagen von

Chorazin, Bethsaida und Kapernaum? Ach! eine Antwort

auf diese Frage ist unnötig; viel eher müßten wir fragen:

Wo sind die wirklichen, treuen Zeugen für die Herrlichkeit

der Person des Herrn und für die Autorität Seines

81

Wortes? Der Gedanke daran ist überwältigend. Was

bleibt uns zu thun übrig? Was that der Herr? Er

wandte sich zu Seinem Vater.

„Zu jener Zeit hob Jesus an und sprach: Ich preise

Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde!" Mit

einem Wort, anstatt sich über die Behandlung zu beklagen,

die Ihm von andern zu teil wurde, und sich selbst zu

rechtfertigen, beugte Er sich sanftmütig vor dem unumschränkten

Willen Seines Vaters und übergab sich Seinen

Händen, als des Herrn des Himmels und der Erde, des

weisen Beschickers aller Dinge. Und was war das Resultat?

Genau das, was es stets sein muß — Er empfing die

Segnung; nicht nur eine Verheißung, sondern den Besitz:

„Alles ist mir übergeben von meinem Vater." Und das

gab zugleich, durch die Gnade, Gelegenheit zu einer völligeren

Offenbarung Gottes und zu einer reicheren Segnung

für das menschliche Geschlecht: „Kommet her zu mir,

alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch

Ruhe geben." Wie schön und kostbar ist dies als ein

Beispiel für uns I Und es ist stets der Weg der Segnung

sowohl für uns als auch für andere. Als Jesus als

Mensch verachtet und als Messias verworfen wurde, trat

Er nicht, wie wir sagen würden, für Seine Rechte auf,

sondern unterwarf sich sanftmütig allem und blickte empor

zu Seinem Vater als dem Herrn des Himmels und der

Erde. Er konnte alles Seinen Händen überlassen und

auf Seinen Willen warten. Inzwischen strömte der

Segen, gleich einer Woge des Lebens, ans dem Ozean

der göttlichen Liebe hervor und überflutete weit die engen

Grenzen des Judentums.

Die Heiden werden hier eingeführt. Der Vater

82

wird geoffenbart als die Quelle alles Segens. „Kommet

her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und

ich werde euch Ruhe geben." Ob Heiden oder Juden —

seid ihr mühselig und beladen? „Kommet her zu

mir!" Nichts als reine, unvermischte Gnade wird jetzt

geoffenbart. Keine besondere Eigenschaft wird gefordert,

nur daß man mühselig und beladen ist. Kommet, gerade

so wie ihr seid, kommet jetzt, in dem gegenwärtigen

Augenblick — „ich werde euch Ruhe geben"! Unser hochgelobter

Herr sagt hier nicht, auf welchem Wege und

durch welches Mittel Er uns Ruhe geben will; wir

müssen Ihm vertrauen, und die Ruhe wird uns zu teil

werden. Er kann nicht mehr dem Menschen vertrauen,

der Mensch muß Ihm vertrauen. Es giebt jetzt keinen

andern Weg mehr, um Segen, Ruhe, Heil und Frieden

zu erlangen. Nur die eine Frage bleibt: Ist Er wert,

daß man Ihm vertraut — unweigerlich, rückhaltlos vertraut?

Das ist alles. Vertraue Ihm, mein Leser! „Glückselig

alle, die auf Ihn trauen!" (Ps. 2, 12.)

Aber kann dieser volle, freie Strom der Gnade nicht

leicht zu Sorglosigkeit im Wandel Anlaß geben? Der

Mensch möchte vielleicht so denken. Aber nein; hören

wir, was der Herr weiter sagt: „Nehmet auf euch mein

Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und

von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für

eure Seelen; denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist

leicht." Der Unterschied zwischen diesem und dem vorhergehenden

Verse ist sehr bestimmt, und schon oft ist darauf

hingewiesen worden. Im 28. Verse heißt es: „Kommet

her zu mir... , und ich werde euch Ruhe geben"; im

29. Verse aber lesen wir: „Nehmet auf euch mein Joch

83

und lernet von mir, und ihr werdet Ruhe finden

für eure Seelen." In dem ersten Falle handelt es sich

um die reine, unvermischte, bedingungslose Gnade für den

Sünder, in dem zweiten um das Joch Christi für den

Gläubigen. Der Grund, weshalb so wenige gelernt haben,

den Schwierigkeiten und Mühsalen dieses Lebens so zu

begegnen, wie Er ihnen begegnete, ist der, daß sie nicht

unter Seinem Joche sind und nicht von Ihm lernen.

Sie denken an sich selbst, an ihr eignes Ansehen rc.: wie

oft sie mißverstanden, wie verkehrt ihr Reden und Handeln

ausgelegt, wie falsch sie angeklagt und wie ungerecht oder

wie unfreundlich sie behandelt worden sind. Sie haben

noch nicht gelernt, daß ihr eigner Ruf, ihr eignes Ansehen

das letzte ist, woran sie denken sollten; daß vielmehr

ihre einzige Sorge darauf gerichtet sein sollte, den Charakter

Christi darzustellen. Wer mit einem andern unter demselben

Joch einhergeht, muß dicht neben ihm und Schritt

für Schritt mit ihm wandeln. Allerdings mag der Starke

den Schwachen mit durchziehen, wenn die Wagenräder in

dem Sande der Wüste zu versinken drohen; aber die

beiden müssen zusammengehen. Der Herr gebe uns, auf

diese Weise die Wahrheit unsrer dritten Seligpreisung zu

lernen: „Glückselig die Sanftmütigen, denn sie werden

das Land ererben!"

(Fortsetzung folgt.)

Gedanken.

Wenn einmal das ganze Werk, dessen Ausführung

Christus unternommen hat, vollendet sein wird, und die

Seinigen bei Ihm weilen werden in verherrlichten Leibern,

gleichgestaltet dem Leibe Seiner Herrlichkeit, dann wird

84

es voll und ganz ans Licht treten, daß alle Quellen

Gottes in Ihm sind, und die ewige Fülle des Lebens,

welches bei dem Vater war, wird dann geoffenbart sein.

Dieses Leben ist indes schon auf dieser Erde geoffenbart

worden. In der ganzen Geschichte Christi als Mensch

hienieden erblicken wir die Entfaltung dieses Lebens. Er

war der einzig Heilige, Unbefleckte und Makellose; in Ihm

gab es nur göttliche, geistliche Reinheit.

Wir besitzen das Leben Christi; aber wie leicht vergessen

wir, daß infolge dieses Besitzes alles, was jenem

Leben entgegen ist, ins Gericht kommen muß! Versetzen

wir uns einmal im Geiste unter die Gläubigen in Jerusalem,

wie sie sich kurz nach dem Herniederkommen des

Heiligen Geistes offenbarten; und fragen wir uns dann:

Nehmen auch wir jene Nasiräer-Stellung ein wie sie, abgesondert

von allem, was mit der Welt in Verbindung

steht? „Denn alles was in der Welt ist, ... ist nicht

von dem Vater." Brennen unsre Herzen in derselben

Liebe wie die ihrigen? Können wir von uns und andern

Gläubigen sagen, daß wir Christum darstellen, daß wir

gleichsam Ihm leben? Wenn jemand einst den Apostel

Paulus besucht hätte, würde er nicht von ihm weggegangen

sein mit dem Gefühl: Ich habe Christum gesehen

in einem Seiner Jünger? Würde er nicht etwas Neues,

etwas Köstliches von Christo genossen haben? Und sind

wir nicht auch schon von dem einen oder andern bettlägerigen

Gläubigen weggegangen mit dem Wunsche in

unserm Herzen: O wenn ich doch mehr diesem Bruder

oder dieser Schwester ähnlich wäre! — Der Herr gebe,

daß sich in uns und in jedem Gliede Seines Leibes dieses

Sein Leben mehr offenbare!

Schwierigkeiten eines Neubekehrten.

Bor längerer Zeit wurde der Schreiber dieser Zeilen

gebeten, einen jungen Mann zu besuchen, der an einer

ernsten Herzkrankheit litt. Er war Unteroffizier in einem

Dragoner-Regiment und befand sich schon seit zehn Wochen

im Lazareth. Ms ich ihn besuchte, fühlte er sich ein

wenig besser; er war auf und konnte mit mir in den

Kasernenhof hinuntergehen. Während wir hier plaudernd

auf und ab wandelten, bemerkte ich bald, daß der Kranke

sich in einem sehr unglücklichen Gemütszustand befand.

Er war seit fünf Jahren Soldat und hatte ohne Zweifel,

gleich den meisten seiner Kameraden, ein leichtfertiges

Leben geführt. Die Kasernenluft ist bekanntlich nicht

gerade förderlich für Sittsamkeit und Frömmigkeit. Es

gehört ein nicht geringes Maß von Gnade und sittlicher

Kraft dazu, um den verderblichen Einflüssen einer Umgebung,

wie die Kaserne sie meistens bietet, zu widerstehen.

Ich war deshalb nicht überrascht durch das, was

mein neuer Freund mir von seinem bisherigen Leben erzählte,

dankte aber Gott, daß ein Pfeil aus Seinem

Köcher das Gewissen des jungen Mannes erreicht hatte,

und daß die Pflugschar der Ueberführung ihr notwendiges

Werk that und tiefe Furchen in den harten Boden grub,

um ihn zur Aufnahme des unverweslichen Samens des

Evangeliums vorzubereiten. Es ist eine gute und heil-

86

fame Sache, wenn das Gewissen im Lichte der Heiligkeit

Gottes tief geübt wird. Diejenigen, welche durch heftige

Stürme hindurch den sichern Hafen des Evangeliums erreichen,

erweisen sich nachher gewöhnlich als die treuesten,

standhaftesten Christen. Es wäre allerdings verkehrt,

eine Regel aufstellen zu wollen; allein ein gründliches

Werk des Heiligen Geistes in dem Gewissen eines Sünders

kann nicht leicht überschätzt werden.

Ein solches Werk ging, wie ich immer mehr überzeugt

wurde, in der Seele des jungen Unteroffiziers vor; und

da der einzige Balsam für ein verwundetes Herz, einen

zerschlagenen Geist und ein überführtes Gewissen das

kostbare Blut Jesu ist, so zögerte ich nicht, ihn auf dieses

einzige, aber göttliche und vollgültige Heilmittel hinzuweisen.

Ich bemühte mich besonders, ihm eine Wahrheit

einAUprägen, die meiner eignen Seele viele Jahre vorher

Frieden gegeben hatte, nämlich diese: „Es ist ein für

uns vollbrachtes, nicht aber ein in uns vorgehendes

Werk, das uns errettet." Es unterlag keinem Zweifel,

daß in der Seele des jungen Mannes ein wirkliches Werk

des Geistes Gottes begonnen hatte, und das Ergebnis

desselben war ein tiefes Gefühl von der auf ihm lastenden

Sündenschuld. So ist es immer. Der Heilige Geist regt

die Frage der Sünde in dem Gewissen an; und ist diese

Frage einmal in göttlicher Weise angeregt, so kann sie

auch nur in göttlicher Weise, durch die Anwendung des

Wertes und der ewigen Wirksamkeit des Versöhnungswerkes

Christi gelöst werden. Es ist völlig wertlos zu rufen:

„Friede, Friedel" wenn kein Friede da ist. Der Wert

jenes kostbaren Versöhnungswerkes, das für immer die

Sünden des Gläubigen hinweggethan, die Forderungen

87

Gottes vollkommen befriedigt und Seine Gerechtigkeit erwiesen

hat in der Rechtfertigung eines jeden Sünders,

der einfältig an Jesum glaubt, — dieser Wert muß durch

die Macht des Heiligen Geistes der beunruhigten, geängstigten

Seele nahe gebracht werden.

Im Laufe der Unterhaltung stellte es sich heraus,

daß der Kranke sich mit allem Möglichen beschäftigte, nur

nicht mit diesem vollkommnen Werke des Sohnes Gottes.

So suchte er z. B. Trost und Ruhe in seinen religiösen

Uebungen zu finden; er las viel im Worte Gottes und

betete häufig. Ich sagte ihm, daß beides ganz recht und

an seinem Platze schätzenswert sei, daß es aber als Grundlage

des Friedens für einen schuldigen Sünder keinen

Wert habe, wie er selbst es ja auch erfahre. Ich suchte

ihm zu zeigen, wie ganz und gar unmöglich es ist, glücklich

zu werden oder Frieden zu finden, so lange man

gerade von dem Gegenstände wegblickt, auf welchen Gott

Sein Auge gerichtet hält. „Gott blickt auf Christum",

sagte ich unter anderm; „Sie blicken auf Ihre Werke.

Gott sagt: „Wenn ich das Blut sehe, so werde ich

an euch vorübergehen" (2. Mose 12, 13); d. h. Gott

ist befriedigt mit dem, was Er für Sie gethan hat;

Sie suchen Befriedigung in dem, was Sie für Ihn

thun zu können meinen. Das ist ein großer Unterschied,

nicht wahr? Während Gott stets ein vollbrachtes

Werk vor Seinen Blicken hat, steht vor Ihren Augen

unaufhörlich ein unvollendetes Werk. Deshalb sind Sie

auch unglücklich und beschwert. Es kann nicht anders

sein. Wenn ein Werk gethan werden muß, und ich

suche es zu thun, aber alle meine Bemühungen sind erfolglos

— wie könnte ich dann glücklich und zufrieden

88

sein? Je länger ich mich abmühe, um so unglücklicher

muß ich werden. Wenn ich aber entdecke, daß dieses

Werk bereits durch einen Andern für mich gethan

ist, und zwar durch Jesum Christum, den Herrn vom

Himmel selbst, so bin ich glücklich, und mein Herz ruht

in Frieden."

In dieser Weise sprach ich noch längere Zeit mit

meinem jungen Freunde. Er schien die Wahrheit meiner

Worte zu erfassen und Trost aus ihnen zu schöpfen. Ich

hatte das Gefühl, als ob ein Strahl göttlichen Lichtes in

seine Seele gefallen wäre. Meine Zeit war inzwischen

abgelaufen, und wir trennten uns. Er begleitete mich

noch bis ans Thor, und während er mir warm die

Hand drückte, dankte er mir wiederholt herzlich für meinen

Besuch und versprach, am folgenden Abend einer Versammlung

zur Verkündigung des Evangeliums beizuwohnen.

Er hielt sein Versprechen.

Nicht lange nach dem oben Erzählten mußte ich für

einige Wochen verreisen. Als ich heimkehrte, hörte ich,

daß Unteroffizier D. wieder sehr krank sei, und zwar

nicht nur körperlich krank, sondern auch in seiner Seele

unglücklicher als je. Dies betrübte mich tief, und sobald

es mir möglich war, begab ich mich von neuem in das

Lazareth. Der erste Blick, den ich auf den Kranken warf,

überzeugte mich von der Wahrheit des Gehörten. Mein

armer Freund sah in der That sehr leidend und sehr unglücklich

aus. Nach einigen kurzen Fragen betreffs seines

körperlichen Befindens sagte ich:

„Wie kommt es doch, mein lieber D., daß Sie

wieder so unglücklich sind? Was ist geschehen? Als wir

neulich am Kasernenthore Abschied von einander nahmen,

89

schienen Sie doch so glücklich zu sein. Was hat diese

Veränderung hervorgerufen?"

„Ach!" erwiderte er, während Thränen in seine

Augen traten, „ach, ich fürchte, daß ich nicht den rechten

Glauben habe. Ich fürchte, daß ich überhaupt nicht bekehrt

bin. Ich bin sehr, sehr unglücklich!"

Diese Worte zeigten mir, wie es um den Kranken

stand, und ich sagte: „Hören Sie einmal aufmerksam zu,

Freund D.. Vor etwa 6 Wochen besuchte ich Sie zum

ersten Male und fand Sie mit Ihren Werken beschäftigt

und infolge dessen elend und unglücklich. Heute besuche ich

Sie wieder und finde Sie mit Ihrem Glauben beschäftigt,

und das Resultat ist dasselbe: Sie sind unglücklich.

Wie kommt das? Einfach weil Sie, indem

Sie Ihren Glauben betrachten, Ihr Auge von Christo abwenden,

gerade so wie damals, als Sie sich mit Ihren

Werken beschäftigten. Der Glaube betrachtet nie sich selbst,

um zu erforschen, ob er auch rechter Art sei, sondern er

schaut auf Christum hin, völlig überzeugt, daß Christus der

rechte Gegenstand ist. Ferner möchte ich Sie daran erinnern,

daß der Grund meines Friedens nicht der ist, daß ich

vor etwa zwanzig Jahren bekehrt worden bin, sondern daß

Christus vor mehr als 1800 Jahren meine Sünden auf

dem Kreuze getragen hat und nun ohne dieselben im

Himmel ist. Ich glaube allerdings, daß ich damals bekehrt

wurde — ich glaube, daß eine wirkliche Veränderung

mit mir vorgegangen ist, und daß der Geist Gottes ein

gründliches Werk in mir gewirkt hat. Aber wenn das

auch so ist, ja, wenn alle Gläubigen auf der Erde und

alle Engel im Himmel sich bezüglich meiner Bekehrung

für durchaus befriedigt erklären würden, so könnte das

90

doch nicht den Grund meines Friedens bilden. Was mir

Frieden giebt, ist die Wahrheit, daß Gott betreffs meiner

Sünden befriedigt worden ist durch das vollendete Werk

Christi. Sie können in dieser Hinsicht nicht zu einfältig

sein. Der wahre Grund Ihres Friedens liegt nicht in der

Ueberzeugung, daß Sie wahrhaft bekehrt sind, noch in dem

Besitz des rechten Glaubens oder der rechten Gefühle,

sondern einfach in der Thatsache, daß Jesus für Sie

gestorben und wieder auferstanden ist. Allerdings darf

das Werk des Geistes bei der Bekehrung niemals von

dem Werke des Sohnes in der Versöhnung getrennt werden;

aber man darf die beiden auch nicht mit einander

verwechseln. Tausende thun dies leider, und geraten deshalb

gleich Ihnen, mein lieber D., in Finsternis und

Verwirrung."

Ich hatte einige Apfelsinen für den Kranken rnitge-

bracht, und indem ich eine derselben aus der Tasche zog,

fuhr ich fort: „Sehen Sie diese Apfelsine?" Er nickte

bejahend. „Gut", sagte ich, „wenn ich Ihnen dieselbe nun

gebe, ist es dann Ihre Hand oder die Apfelsine, die

Ihren Durst stillt und Sie erfrischt?"

„Selbstverständlich die Apfelsine", erwiderte er.

„Ohne Frage", bestätigte ich; „ein kleines Kind

kann das verstehen. Nicht die Hand, welche die Apfelsine

nimmt, sondern die Apfelsine selbst thut Ihnen gut.

Nicht die Art und Weise, wie Sie sie nehmen, erquickt

Sie, sondern die Frucht selbst. Die Hand mag schwach

sein und zittern; aber das macht nichts aus. Allerdings

bedürfen Sie der Hand, um die Apfelsine zu ergreifen

und zum Munde zu führen; aber Sie dürfen nicht die

Hand mit der Apfelsine verwechseln. Genau so ist es

91

mit dem Glauben und mit dem Gegenstände, den der

Glaube ergreift. Ihr Glaube kann schwach oder stark

sein; aber ob schwach oder stark, nicht der Glaube ist

es, der Ihren Bedürfnissen begegnet, sondern der Gegenstand,

welchen er ergreift, d. i. Christus."

Der junge Soldat sah mich einen Augenblick starr

an; dann aber ergriff er meine Hand und rief mit Wärme:

„O jetzt verstehe ich es; jetzt ist mir alles klar! Ich

habe meinen Blick von Christo weggewendet, und darum

bin ich in Finsternis und Verwirrung hineingeraten. —

O Herr, befähige mich, mein Auge unverrückt auf Dich

gerichtet zu halten!"

„Amen," sagte ich; „wenn Sie unglücklich zu sein

wünschen, so blicken Sie in sich hinein; wenn Sie

abgezogen und zerstreut werden wollen, so blicken sie um

sich her; wollen Sie aber glücklich sein, so schauen Sie

nach oben."

Wir unterhielten uns noch einige Zeit, dann mußte

ich gehen. Mehrere Tage später begegnete ich meinem

jungen Freunde unerwartet auf der Straße; er war wieder

viel wohler, und sein Antlitz strahlte von Glück und

Freude. Er schien ein ganz andrer Mensch geworden zu

sein. Der Arzt hatte erklärt, daß er für den fernern

Dienst im Heere untauglich sei, und nun wartete er auf

seine Entlassung. Nachdem ich ihm meine Freude darüber

ausgedrückt hatte, ihn so wohl zu sehen, fragte ich ihn,

ob er denn nun ganz klar in seinem Innern und völlig

glücklich sei.

„Ja", erwiderte er, „ich fühle mich jetzt ganz frei und

glücklich, und ich bin entschlossen, von nun an das blutbefleckte

Banner des Kreuzes weit und breit hin zu tragen."

92

Diese Worte wurden mit großem Enthusiasmus gesprochen.

Ich bezweifelte nicht im geringsten die Aufrichtigkeit

meines jungen Freundes, fürchtete aber, daß er

in Gefahr stehe, in eine neue Schlinge des Feindes zu

fallen, und sagte deshalb zu ihm: „Nehmen Sie sich in

acht, mein lieber D.! Vor zwei Monaten, als ich Sie

kennen lernte, waren Sie mit Ihren Werken beschäftigt;

sechs Wochen später, gelegentlich meines zweiten Besuches,

fand ich Sie unglücklich, weil Sie Ihren Glauben betrachteten;

heute finde ich Sie mit Ihrem Dienste beschäftigt,

und ich fürchte sehr, daß Ihr Auge dadurch

wieder von Christo abgelenkt werden wird, gerade so wie

früher durch Ihren Glauben und Ihre Werke. Nicht daß

ich einen Wertunterschied zwischen Glauben und Dienst

machen will; aber ich schätze Christum höher als alles.

Ich habe schon viele junge Gläubige kennen gelernt, die

in diese Schlinge gefallen und mehr mit ihrem Dienst

als mit Christo beschäftigt waren. Sie hatten ihrem

Werke erlaubt, zwischen ihre Herzen und Christum zu

treten, und waren dadurch in einen Zustand der Dürre

und Niedergeschlagenheit geraten. Ich rate Ihnen deshalb:

Halten Sie Ihr Auge auf den Herrn gerichtet, klammern

Sie sich an Christum, bleiben Sie in Ihm, und dann

werden Sie sicher auch in dem rechten Dienst erfunden

werden. Nur dann, wenn wir im Weinstock bleiben,

bringen wir Frucht. Der Herr sagt: „Wenn jemanden

dürstet, so komme er zu mir!" Zu welchem Zweck?

Um für andere aus der nie versiegenden Quelle zu schöpfen?

Nein, sondern um selbst „zu trinken". Und

was wird das Resultat sein? „Aus seinem Leibe werden

Ströme lebendigen Wassers fließen." Das ist die gött

93

liche Ordnung. Ein wahrer Dienst und ein wirksames

Zeugnis fließen aus der Gemeinschaft mit dem Herrn

hervor. Wenn Sie Ihren Dienst zu Ihrem Gegenstände

machen, so werden Sie zu schänden werden; haben

Sie aber Christum als Ihren alles beherrschenden Gegenstand,

so werden Sie glücklich und frisch erhalten bleiben,

und Ihr Dienst wird von der rechten Art sein."

Das Vorstehende ist der wesentliche Inhalt meiner

drei Unterredungen mit Unteroffizier D., so weit sie mir

noch im Gedächtnis sind. Ich habe sie niedergeschrieben

in dem Gedanken, daß die Schwierigkeiten und Schlingen,

welche sich auf dem Pfade eines Neubekehrteu fanden,

auch auf dem Pfade andrer nicht ausbleiben werden;

und solchen zu helfen ist mein Wunsch. Möge der Herr

in Seiner Güte diese Zeilen dazu dienen lassen, um den

Leser in Seiner ewigen Wahrheit zu befestigen, damit

Sein herrlicher Name allein gepriesen werde!

Die Seligpreisungen.

(Matth, b, 1—12.)

(Fortsetzung.)

4. „Glückselig, die nach der Gerechtigkeit

hungern und dürsten, denn sie werden

gesättigt werden."

Die vollkommne Art und Weise, in welcher die Liebe

des Vaters den mancherlei geistlichen Gefühlen und Zuständen

der Kinder entspricht, ist äußerst interessant und

belehrend. Den Armen im Geiste werden die Schätze des

Reiches verheißen — „ihrer ist das Reich der Himmel".

94

Göttlicher Trost ist, zu seiner Zeit, das sichere Teil der

Trauernden — „sie werden getröstet werden", und zwar

wie der Prophet sagt: „Wie einen, den seine Mutter

tröstet, also werde ich euch trösten; und in Jerusalem

sollt ihr getröstet werden." (Jes. 66, 13.) Der zukünftige

Besitz des Landes Israel wird denen als Lohn in Aussicht

gestellt, die sich in dem Lande ihrer Fremdlingschaft

demütig unter den Willen Gottes beugen und alle ihre

Angelegenheiten und Interessen Seinen Händen überlassen

— „sie werden das Land ererben". Der vierten Klasse

endlich, denen, die nach der Gerechtigkeit hungern und

dürsten, wird eine volle Befriedigung ihrer Seele verheißen

— „sie werden gesättigt werden".

Das ist Gnade und steht in Uebereinstimmung mit den

Gnadenwegen des Herrn von Anfang an. Seine Antwort

entspricht dem gefühlten Bedürfnis der Seele. Er

erweckt den Wunsch, um ihn dann befriedigen zu können.

Wenn das Herz nach dem Guten begehrt, so dürfen wir

versichert sein, daß Gottes Gnade wirksam ist. Denn weil

es in dem natürlichen Herzen nichts geistlich Gutes giebt,

so muß der erste (wie jeder nachfolgende) gute Wunsch von

Gott kommen. „Ich will mich aufmachen und zu meinem

Vater gehen" — dieser Entschluß war die Wirkung der

Gnade auf das Herz des verlornen Sohnes; und er war

in jenem Augenblick ebenso sicher wie nachher, als er in

den Armen seines Vaters lag, obwohl er es nicht wußte.

So ist ein guter Wunsch stets die Frucht der Gnade und,

in gewissem Sinne, bereits der Besitz des Gewünschten.

Er ist gleichsam das Unterpfand des Erbes.

In dieser Thatsache liegt ein großer Trost und eine

reiche Ermunterung für diejenigen, welche ernstlich den

95

Herrn suchen, wie sie sagen, die aber furchtsam sind und

daran zweifeln, ob sie Ihn bereits gefunden haben. Alle

solche täuschen sich, denn gerade das Gegenteil ist der

Fall: Christus hat sie gesucht und gefunden, und Er

erweckt in dem Herzen das Gefühl, daß es nimmer durch

irgend etwas anderes befriedigt werden kann als durch Ihn

selbst. Die Welt, ihre Reichtümer, ihre Freuden und gesellschaftlichen

Vergnügungen sind alle zu klein, um das

Herz auszufüllen. Selbst ein Salomo machte die Entdeckung,

daß alles unter der Sonne zu klein war, um

sein Herz zu befriedigen. Zu gleicher Zeit wurde er dahin

geleitet, uns in seinem erhabenen Liede zu zeigen, wie

das Herz einer armen, umherirrenden Magd von Freude

überströmt, wenn sie den Messias findet oder vielmehr

von Ihm gefunden wird. „Deine Liebe," sagt sie, „ist

besser als Wein", besser für mich als alle gesellschaftlichen

Freuden der Erde. Das muß das Werk Seiner Gnade

sein. Kein wahres, aufrichtiges Verlangen nach dem

Christus Gottes kann, wie wir wissen, aus unserm verderbten

Herzen hervorkommen; und sicherlich pflanzen

Welt und Satan es auch nicht hinein. Woher muß es

dann kommen? Nur von der Gnade Gottes. Gott bewirkt

dieses Verlangen, und Er begehrt auch, die sehnlichen

Wünsche und Erwartungen, die Er erweckt hat, zu stillen.

Aber Er möchte uns dahin bringen, mit dem Psalmisten

ausrufen zu können: „Nur auf Gott vertraue still meine

Seele! denn von Ihm kommt meine Erwartung. Nur

Er ist mein Fels und meine Rettung, meine hohe Feste;

ich werde nicht wanken. Auf Gott ruht mein Heil und

meine Herrlichkeit; der Fels meiner Stärke, meine Zuflucht

ist in Gott." (Ps. 62, 5 —7.) Es ist das Wörtchen

96

„nur" in diesem Psalme, das unsre Herzen so von Grund

aus prüft und erforscht. Der Herr gebe uns, in Seiner

Gegenwart darüber zu sinnen!

Wir schließen also aus diesen Betrachtungen — und

Betrachtungen sind es, denn sehr wenig wird in den

Seligpreisungen von Vergebung, Errettung oder Versöhnung

gesagt —, daß jedes Verlangen des Herzens nach

Christo für immer gestillt werden wird. So weit ist dies

auch jetzt schon wahr; möchte deshalb der Herr in diesen

letzten Tagen ein tiefes, ernstes, sehnliches Verlangen

nach Ihm selbst erwecken! — Wenden wir uns jetzt zu

einer eingehenderen Betrachtung der vierten Seligpreisung.

Da wir alle mit der Bedeutung und Kraft des von

dem Herrn gebrauchten Bildes wohl bekannt sind, so

können wir auch leicht seine geistliche Anwendung verstehen.

Nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten bedeutet offenbar

ein ernstes Verlangen der erneuerten Seele, den Willen

Gottes in dieser Welt zu thun; und dieses Verlangen

wird nur noch vermehrt, wenn man findet, daß die Welt

allem dem, was in den Augen Gottes recht und gut ist,

feindlich gegenübersteht. Diese Entdeckung verstärkt das

Gefühl des Hungerns und Dürstens. Die Wirkung dieses

Trachtens nach der Aufrechterhaltung dessen, was dem

Willen Gottes entspricht, ist ein großer Segen für die

Seele. „Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern

und dürsten!" Aber obwohl diese Glückseligkeit der

sichere Lohn der Gerechtigkeit ist, so wird der gerechte Pfad

doch stets große Prüfungen und mannigfaltige Schwierigkeiten

mit sich bringen. Der Grundsatz, nach welchem die

Welt handelt, ist nicht das, was recht ist vor Gott, sondern

das, was bequem, nützlich oder angenehm für das eigene

97

Ich ist. Was Gott über diese oder jene Sache denkt,

danach wird nicht gefragt; und wollte jemand diese

Frage erheben, so würde er als ungeeignet für die praktischen

Wirklichkeiten dieses Lebens betrachtet werden.

Indes ist diese Lockerheit der Grundsätze nicht nur

auf die eigentliche Welt beschränkt; wir begegnen ihr auch

in der bekennenden Kirche. Wie viele Dinge werden hier

eingeführt und in praktische Ausübung gebracht, (und

zwar mit dem größtmöglichen Scheine göttlicher Autorität)

die in dem Worte Gottes keine Spur von Begründung

haben! Wer daher die Autorität und die Herrlichkeit

Gottes aufrecht zu erhalten, oder, mit andern Worten,

in den Pfaden der Gerechtigkeit zu wandeln sucht, sei es

in der Welt oder in der Kirche, muß sich bei jedem

Schritt auf Prüfungen und Schwierigkeiten gefaßt machen.

Die Gnade muß trauern, wenn der Wille des Menschen

den Platz der Gerechtigkeit Gottes einnimmt. Auch

wird die Sanftmut des göttlichen Lebens in Ausübung

kommen, indem sie nach oben schaut und alles

Gott anheimstellt.

Doch was andere auch thun mögen, der Grundsatz

des Mannes Gottes muß immer der sein: Ist das, was

ich thue, recht? Steht es in Uebereinstimmung mit dem

geoffenbarten Willen Gottes? Nicht nur: Ist es praktisch?

oder: bietet es eine Gewähr, daß der beabsichtigte

Zweck erreicht wird? sondern einfach: ist es recht? „Denn

gerecht ist Jehova, Gerechtigkeiten liebt Er. Sein Angesicht

schaut den Aufrichtigen an." (Ps. 11, 7.) Wir geben

zu, daß Gerechtigkeit einen besonderen Platz bei dem

Israeliten hatte, der unter dem Gesetz stand und darauf

achten mußte, daß alles nach dem Buchstaben des Gesetzes

98

geschah; aber sicherlich haben wir im Neuen Testament

sowohl tiefere wie höhere Grundsätze als im Alten —

sie treten zwar nicht so sehr in der Bergpredigt, als vielmehr

nach dem Tode und der Auferstehung des Herrn

ans Licht — und es wird auch eine weitergehende Gerechtigkeit

erwartet, gerade weil wir uns selbst für gestorben

und auferstanden mit Ihm halten sollen und nicht

unter Gesetz, sondern unter Gnade stehen. Der Apostel

sagt daher in Röm. 6: „Stellet euch selbst Gott dar

als Lebende aus den Toten, und eure Glieder Gott zu

Werkzeugen der Gerechtigkeit. Denn die Sünde wird

nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz,

sondern unter Gnade."

Als ein Prüfstein des wahren Charakters alles dessen,

was wir thun und lassen, ist jene kurze und einfache

Frage: Ist es recht? unschätzbar. Nicht als ob wir für-

alles, was wir thun oder uns erlauben, eine besondere

Schriftstelle zu erwarten hätten; aber wir dürfen und

sollten stets ernsthaft fragen: Steht es in Uebereinstimmung

mit dem geoffenbarten Willen Gottes? Sind

wir sicher, daß es Seinen Beifall findet? Wenn nicht,

welchen Wert hat es dann? Es ist schlechter als nutzlos;

es ist verkehrt. Es mag eine allgemeine, religiöse Gewohnheit

sein oder ein anerkannter Grundsatz in den Angelegenheiten

dieses Lebens; aber wenn Gott es nicht

gutheißt, so ist es besser, es aufzugeben. Nach der Gerechtigkeit

hungern und dürsten ist das ernste Begehren,

das zu thun und aufrecht zu erhalten, was in den Augen

Gottes recht ist, obwohl es uns dem Widerspruch und

der Feindschaft der Welt und sogar der weltlich gesinnten

Christen aussetzen mag.

99

Aber, möchte vielleicht jemand fragen, muß nicht

Dieses Trachten, in Uebereinstimmung mit einer Regel

oder einem gegebenen Maßstab zu wandeln, zu einem gesetzlichen

Geiste führen? Durchaus nicht; im Gegenteil

finden wir, daß das Wort Gottes „das vollkommne

Gesetz der Freiheit" (Jak. 1) für das göttliche Leben ist,

welches wir als Christen besitzen. Doch dies führt uns

zu der Wurzel dieses wichtigen Gegenstandes, über welchen

wir wohl thun noch eine Weile unter Gebet nachzusinnen.

Wir werden hier das Geheimnis der wirklichen, heiligen

Freiheit entdecken.

Dem Leben Christi, welches das unsrige geworden

ist und in dem wir wandeln, kann niemals Sein Wort

mißfallen, noch kann es sich mit diesem Worte in Widerspruch

befinden. Die neue Natur findet ihre Freude an

den Worten oder Geboten Christi; sie sind für dieselbe

nur Seine Ermächtigung, um das zu thun, was das

göttliche Leben zu thun wünscht. Nehmen wir ein Beispiel.

Ein junger Christ, durch die reinsten Beweggründe geleitet,

verlangt sehnlich darnach, einer Gebetsversammlung

beiwohnen zu können; es ist dies offenbar ein richtiger,

den Gedanken Christi entsprechender Wunsch — mit einem

Wort: Gerechtigkeit. Nun aber ist diesem jungen Manne

der Weg versperrt, sein Verlangen zu stillen; er befindet

sich in einer abhängigen Stellung und kann nicht, wie

er will. Er wartet ruhig auf Gott. Nach einiger Zeit

wird ihm gesagt, er solle in die Gebetsversammlung gehen.

Das ist es, was sein Herz begehrt; er gehorcht mit

Freuden; es ist das „Gesetz der Freiheit". Die Neigungen

seines neuen Lebens und das Wort Christi stehen mit

einander in Uebereinstimmung, sind eins.

100

Doch nehmen wir ein anderes Beispiel. Ein junger

Christ befindet sich in einem weltförmigen Zustand. Er

wird gebeten, eine Gebetsversammlung zu besuchen, aber

er hat keine Neigung dazu. Der Wille seiner fleischlichen

Gesinnung steht im Gegensatz zu dem Willen Christi.

Die Gebote des Herrn sind ihm nicht erfreulich, sondern

unangenehm und beschwerlich; sie sind für ihn nicht ein

Gesetz der Freiheit, sondern der Knechtschaft, und er ist

sehr unglücklich. So kommt es, daß der Gehorsam und

ein Wandeln in Gerechtigkeit vollkommne Freiheit, heilige

Freude und göttliche Kraft für das Leben Christi in der

Seele bedeuten. Allerdings ist der Heilige Geist die Kraft

dieses Lebens; allein wir können die Macht des Geistes

nicht von der Autorität des Wortes trennen. Die Wünsche

des neuen Lebens, die Autorität des Wortes und die

Macht des Geistes gehen Hand in Hand mit einander.

Der erste Brief des Johannes, besonders das zweite

Kapitel, ist eine göttliche Auslegung dieses großen praktischen

Grundsatzes des Christentums. „Wer irgend Sein

Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes

vollendet. Hieran wissen wir, daß wir in Ihm sind.

Wer da sagt, daß er in Ihm bleibe, ist schuldig, selbst

auch so zu wandeln, wie Er gewandelt hat." Die

Worte Christi waren der Ausdruck Seines Lebens, als

Er hienieden war; und dieses selbe Leben ist unser Leben

— wunderbare, kostbare, gesegnete Wahrheit! Und es

wird unser Leben sein für immerdar, die Grundlage

unsrer seligen Gemeinschaft und göttlichen Vertraulichkeit

mit Christo alle die endlosen Zeitalter der Ewigkeit hindurch.

„Wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart

wird, dann werdet auch ihr mit Ihm geoffenbart werden in

101

Herrlichkeit." (Kol. 3, 4.) Aber bis dahin, geliebter Leser,

laß uns Seinem Worte erlauben, uns so zu leiten und

zu führen, daß wir wandeln, wie Er gewandelt hat!

Bevor wir unsre Betrachtung über die vierte Seligpreisung

schließen, mag es gut sein, noch einen kurzen

Blick auf Psalm 16 und 17 zu werfen. Wir begegnen

dort denselben Wahrheiten — Leben und Gerechtigkeit —

nur in unmittelbarer Verbindung mit Christo und dem

gottesfürchtigen Ueberrest in Israel. In Psalm 16 haben

wir den Pfad des Lebens mit Gott, und zwar durch

diese Welt, durch den Tod, bis hinauf zu der Fülle von

Freuden in Seiner Gegenwart. „Du wirst mir kundthun

den Weg des Lebens; Fülle von Freuden ist vor

Deinem Angesicht, Lieblichkeiten in Deiner Rechten immerdar."

In Psalm 17 haben wir den Pfad der Gerechtigkeit

in völliger Abhängigkeit von Gott. Unbedingte

Treue und Aufrichtigkeit in Herz und Leben, Goit und

Menschen gegenüber, kennzeichnete den Weg Jesu durch

diese Welt. „Höre die Gerechtigkeit, Jehova!" so lautete

Sein Ruf; und das sollte auch des Christen Wahlspruch

sein: „Höre die Gerechtigkeit, Jehova!" Der einzige,

alles beherrschende Gegenstand und Zweck Jesu war, den

Gedanken Seines Vaters zu entsprechen, den Willen

Seines Vaters zu thun und für uns einen Pfad zu bezeichnen,

damit wir in Seinen Fußstapfen wandeln könnten.

Und hier ist es, wo das Herz geprüft wird, und

wo es sich zeigt, welchen Wert das Wort Gottes für uns

hat. „Du hast mein Herz geprüft, hast mich deS Nachts

durchforscht; Du hast mich geläutert — nichts fandest

Du; mein Gedanke geht nicht weiter als mein Mund.

Was das Thun des Menschen anlangt, so habe ich mich

102

durch das Wort Deiner Lippen bewahrt vor den Wegen

des Gewalttätigen." (V. 3. 4.) Unbedingt wahr konnte

dies nur von Christo sein; von uns ist es nur insoweit

wahr, als wir das Leben Christi leben. Nichtsdestoweniger

sollten wir fähig sein, uns bezüglich des Vorsatzes

unsrer Herzen auf Gott selbst berufen zu können.

Der Herr befähige uns durch Seine Gnade, vor Ihm

zu wandeln mit geprüften Herzen, mit Ausharren und

Beständigkeit, trotz des Widerstandes und der Feindschaft,

die wir vielleicht zu erfahren haben! Hungern und dürsten

wir nach der Gerechtigkeit, nach der Erfüllung des ganzen

Willens Gottes in Christo Jesu, sowie nach einer praktischen

Gleichförmigkeit mit dem gesegneten Pfade des

Sohnes des Menschen in dieser Welt — und sicher, wir

werden gesättigt werden. Jener schöne 17. Psalm beginnt

mit dem Rufe: „Höre die Gerechtigkeit, Jehova!" und endet

mit den erhabenen Worten: „Ich, ich werde Dein Angesicht

schauen in Gerechtigkeit, werde gesättigt werden, wenn ich

erwache, mit Deinem Bilde." Herrliches Ende! Wird es

das deinige sein, mein Leser? Stehe einen Augenblick

still und prüfe dich! Hast du Glauben an Christum?

Ist Sein Leben dein Leben? Sind Seine Wege in dieser

Welt deine Wonne? — Welch eine kostbare, gesegnete

Hoffnung, von dem langen Todesschlafe zu erwachen,

aus dem Staube des Grabes aufzustehen und in der

strahlenden Schönheit und himmlischen Herrlichkeit des

Herrn Jesu zu erscheinen! Was ließe sich mit dieser

Hoffnung vergleichen? Wahrlich, es ist eine Aussicht,

die unsrer aufmerksamsten Betrachtung würdig ist.

Während ich diese Zeilen niederschreibe, ist einer

meiner nächsten Nachbarn aus der Zeit in die Ewigkeit

103

hinübergegangen. Er war ein Mann dieser Welt und

ein reicher Mann; sein Vermögen wird auf Millionen

geschätzt. Aber wenn er auch alle diese Millionen hätte

mitnehmen können, würden sie ihn in den Stand setzen,

auch nur einen Zollbreit Boden in dem herrlichen Paradiese

Gottes oder einen einzigen Tropfen kalten Wassers

in dem schrecklichen Bereich der Hölle damit zu erkaufen?

Wie mancher stürzt aus dem Schoße eines bequemen,

luxuriösen Lebens hinab in die Tiefen ewigen Elends und

ewiger Qual! Nichts kann die Segnungen des Himmels

erkaufen, nichts die Seele von der Sünde und ihren

schrecklichen Folgen erlösen, als nur das kostbare Blut

Jesu Christi, des Sohnes Gottes. Das ist der einzig

gültige Paß, der den Sünder durch die finstern Pforten

des Todes hindurchführt, sein einzig rechtmäßiger Besitztitel

auf die herrlichen Wohnungen in dem Vaterhause

droben. Gebete, Bußübungen, Werke der Nächstenliebe,

verbunden mit einer eifrigen und strengen Beobachtung

religiöser Vorschriften und Satzungen, mögen in diesem

Leben für bare Münze durchgehen; aber ohne Christum

und Sein reinigendes Blut sind sie wertlos und müssen

an den Thoren des Himmels als falsches Geld zurückgewissen

werden. Das Werk, welches allein die Seele zu

erretten vermag, ist ein vollendetes Werk.

„Es ist vollbracht!" das große Werk, das schwere;

Gott ist gerecht — Ihm ward nun Seine Ehre

Durch Seinen Sohn, der laut verkündet hat:

„Es ist vollbracht!^

Es ist vollbracht, was Gottes Liebe wollte,

Was für den Sünder, den verlornen, sollte

Zur Rettung und zum ew'gen Heile sein;

Das ist vollbracht.

104

„Es ist vollbracht!" durchtönt's die Ewigkeiten

Zu Gottes Lob, zu der Erlösten Freuden;

Sie danken Gott, sie beten Jesum an,

Daß Er's vollbracht.

Ja, mein Leser, sei versichert, daß das große, schwere

Werk der Errettung des Sünders für ewig vollbracht ist.

Sei ferner versichert, daß keinerlei gute Werke annehmlich

sind vor Gott, sie seien denn die Frucht einer lebendigen

Verbindung und Gemeinschaft mit Christo selbst. Der

von Natur wilde Zweig muß in den wahren Oelbanm

eingepfropft und der Fettigkeit seiner Wurzeln teilhaftig

werden, bevor er imstande ist, Frucht zu tragen zur Verherrlichung

Gottes, des Vaters. Glaube deshalb, wenn

du bis heute noch ferngeblieben bist, an den hochgelobten

Herrn; vertraue Seinem kostbaren Blute, als vermögend,

alle deine Sünden abzuwaschen; vertraue Seinem heiligen

Worte, ohne zu zweifeln, und warte mit Ausharren auf

Seine Rückkehr, bei welcher Er noch weit mehr und

weit Besseres für dich thun wird, als du jemals erbeten

nder erdacht shast; „denn ihr alle seid Söhne Gottes

durch den Glauben an Jesum Christum". (Gal. 3, 26.)

(Fortsetzung folgt.)

Der „eine Leib" und „die Einheit

des Geistes".

Ein jedes Kind Gottes ist ein Glied des „einen

Leibes", der durch den „einen Geist" gebildet ist. Der

Leib kann nicht gebrochen oder zerteilt werden, denn er

ist gebildet durch göttliche Macht. Aber in der Offenbarung

des einen Leibes und des einen Geistes ist in

105

trauriger Weise gefehlt worden; daher die gegenwärtige

Verwirrung in der Christenheit.

Wir sind angewiesen, praktischer Weise die Gliedschaft

des „einen Leibes" darzustellen, und die Thätigkeit

des „einen Geistes" leitet dahin; aber es wird uns

nirgendwo gesagt, daß wir die Einheit des Leibes

bewahren sollen, sondern „die Einheit des Geistes". Der

Heilige Geist ist die Kraft für alles, was Gott gemäß

ist; und Er ordnet durch das Wort alle Dinge, sowohl

im Blick auf unsern praktischen Wandel, als auch hinsichtlich

unsers gemeinsamen Handelns als Versammlung.

Wenn der Herr zu Seinen Versammlungen spricht,

so fordert Er uns auf, zu hören „was der Geist sagt";

und da es nur einen Geist giebt und Er in der Versammlung

auf der Erde wohnt, so fordert Er einen jeden

Einzelnen auf, zu hören, was der Geist zu jeder Versammlung

sagt. „Wer ein Ohr hat, höre, was der

Geist den Versammlungen sagt." (Offbg. 2. 3.) Wenn

nun jedes Glied des „einen Leibes" hörte, was der Geist

den Versammlungen sagt, und darnach handelte, so würde

die Einheit des Geistes bewahrt werden. Aber nicht alle

hören, und manche wünschen vielleicht nicht einmal zu

hören, was der Geist sagt. Ist es nun nicht klar, daß

diejenigen, welche hören, handeln müssen in Treue

gegen den Herrn und, so schmerzlich es sein mag, sich

trennen müssen von denen, welche nicht hören oder nicht

hören wollen? Denn es ist uns geboten, die Einheit

des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens.

Auf welche andre Weise könnte sie bewahrt werden?

Nehmen wir den Fall an, daß in irgend einem Teile

der Welt unter denen, die auf dem Boden der Versamm

106

lung Gottes versammelt sind, etwas Böses zum Vorschein

käme. Was haben die Treuen zu thun? Vielleicht zeigt

sich das Böse an einem Orte, der Hunderte von Meilen

entfernt ist; aber können wir gleichgültig gegen dasselbe

sein? Unmöglich, wenn wir anders glauben, daß

„ein Geist" in der Kirche oder Versammlung wohnt.

Würden jene Treuen nicht sogleich den Herrn zu ihrer

Zuflucht machen und sich zu „dem Worte Seiner Gnade"

wenden? Leitet nicht der Heilige Geist alle aufrichtigen

Herzen in dieser Weise? Nun, der Herr ruft uns zu:

„Höret, was der Geist sagt." Sicher, sie würden bald

herausfinden, daß der Geist das Böse offenbar macht und

es straft als unheilig, als der Wahrheit zuwider

und als ungeziemend für Den, der sich den Heiligen und

den Wahrhaftigen nennt. Alle, welche nur auf Menschen

blicken, müssen auf einen verkehrten Weg kommen; nur

diejenigen können den Sinn des Herrn erfassen, die auf

Ihn warten und den Heiligen Geist ehren.

Ferner muß die Einheit des Geistes erstens der

Heiligkeit oder der Absonderung von dem Bösen gemäß

sein; denn Er ist ein Heiliger Geist. Zweitens muß

sie der Wahrheit entsprechen (und wir wissen, wer gesagt

hat: „Dein Wort ist Wahrheit"); denn der Geist ist

die Wahrheit, und Er leitet in alle Wahrheit.

Drittens muß der Pfad des Geistes sicherlich die Ehre

und Herrlichkeit „des Sohnes" im Auge haben; denn Jesus

hat gesagt: „Er wird mich verherrlichen." Viertens vermehren

diejenigen, welche sich der Wirksamkeit des „einen

Geistes" irgendwie oder aus irgend einem Grunde widersetzen,

in ernster Weise den Herrn, betrüben den Heiligen

Geist, mit dem sie versiegelt sind, schaden ihren eignen

107

Seelen, führen vielleicht andere irre, verderben das Zeugnis

Gottes und fallen unter Sein Urteil.

Möchten darum alle die geliebten Kinder Gottes

hören, „was der Geist sagt", und auf Den blicken, der

uns vor dem Straucheln und Fallen zu bewahren vermag!

Die Fülle Gottes und ein leeres Gefäß.

Die Fülle Gottes wartet stets auf ein leeres Gefäß.

Das ist eine praktische Wahrheit, die leicht ausgesprochen

ist, aber nicht so leicht erfaßt und in ihrer

Tragweite verwirklicht wird. Das ganze Buch Gottes,

sowie Seine Wege mit dem Menschen erläutern diese

Wahrheit. Sie gilt sowohl von dem Sünder, wenn er

zum ersten Male seine Zuflucht zu Christo nimmt, als

auch von dem Gläubigen während seiner ganzen Laufbahn,

von ihrem Ausgangspunkt bis zu ihrem Ziele.

Was zunächst den Sünder betrifft, so ist es nichts

anderes als die Fülle Gottes, die in erlösender Liebe

und vergebender Gnade auf ein leeres Gefäß wartet, um

es füllen zu können. Was not thut, ist, den Sünder

dahin zu bringen, daß er den Platz eines leeren Gefäßes

einnimmt. Ist er einmal dort, so ist die Frage seiner

Errettung bald geordnet. Aber ach! welche Mühen, welche

Kümpfe, wie viele fruchtlose Anstrengungen, wie viele Gelübde

und Vorsätze kostet es in Hunderten und tausenden

von Fällen, ehe der Sünder wirklich dahin kommt, sich selbst

aufzugebcn und sich als ein leeres Gefäß mit dem Heile

Gottes füllen zu lassen. Wie schwer hält es, das arme,

gesetzliche Herz von seiner Gesetzlichkeit zu befreien, den

Selbstgerechten von seinem eitlen Wahne zu überzeugen!

108

Das Herz will etwas von dem eignen Ich haben, um

sich darauf stützen und daran anklammern zu können.

Viele verbringen Jahre mit allerlei gesetzlichen Anstrengungen,

ehe sie dahin kommen, sich in ihrer ganzen

Ohnmacht, in ihrem Nichts und ihrer Leere zu erkennen

und sich als verlorene Sünder zu Jesu zu wenden. Wenn

sie einmal diesen Punkt erreicht haben, dann allerdings

wundern sie sich darüber, wie es möglich war, so lange

in Blindheit und Thorheit voranzugehen und den einfachen

Heilsweg Gottes nicht zu erkennen. Aber so ist

es; so lange der Mensch noch meint, sich selbst helfen

zu können, ist alles dunkel und schwierig um ihn her;

er sieht keinen Ausweg. Sobald er aber ausruft: „Ich

elender Mensch! wer wird mich erlösen?" wird die Antwort

nicht lange ausbleiben: „Ich danke Gott durch

Jesum Christum, unsern Herrn."

Man wird auch immer finden, daß, je tiefer ein

Sünder sein Verderben erkennt, je leerer und ohnmächtiger

er sich fühlt, desto gegründeter sein Friede sein wird.

Wenn nicht das eigne Wirken in seiner ganzen Verwerflichkeit

erkannt worden ist, werden sicher Zweifel und Befürchtungen,

Zeiten der Finsternis und des Dunkels nicht

ausbleiben. Je mehr ich aber mein Nichts und meine

Leere erkenne, desto mehr werde ich die Fülle Christi genießen.

So lange ich voll von Selbstvertrauen bin, so

lange ich mich auf meine Sittlichkeit, Religiosität und

Gerechtigkeit stütze, habe ich keinen Platz für Christum.

Alle diese Dinge müssen über Bord geworfen werden, ehe

ich Christum voll und ganz schätze und annehme. Es kann

nicht teilweise Christus und teilweise das eigne Ich sein;

entweder das eine oder das andere.

Verstehst du dies, mein Leser? Bist du als ein von

sich selbst ausgeleerter, nichtswürdiger Sünder zu Jesu

gekommen, um in Seiner Fülle, in Seiner Allgenugsamkeit

deine Befriedigung und in Ihm allein die unerschütterliche

Ruhe deines Herzens und Gewissens zu finden? Bist du

wirklich völlig befriedigt mit Christo? Ist Er genug für

109

dein Herz, genug für dein Gewissen? Ruhest du ganz

in Christo? Ist es Christus allein, oder Christus und

irgend etwas anderes? Verbirgst du in einem geheimen

Winkel deines Herzens noch einen Rest von Gesetzlichkeit,

von Selbstvertrauen oder von Selbstgerechtigkeit? Wenn

es so ist, so kannst du keinen wahren Frieden genießen.

Denn Christus ist unser Friede. Wahrer Friede ist

nicht ein bloßes Gefühl. Er wird in einer göttlichen,

lebendigen Person, in Christo selbst gefunden, der durch

das Blut Seines Kreuzes Frieden gemacht hat und nun

unser Friede geworden ist in der Gegenwart Gottes.

Dieser Friede kann nimmermehr gestört werden, da Er,

der unser Friede ist, stets derselbe bleibt, „gestern und

heute und in Ewigkeit". Wäre er ein bloßes Gefühl,

so würde er sich so veränderlich erweisen wie das Quecksilber

in einem .Barometer. Beschäftige ich mich mit

meinen Gefühlen, so bin ich nicht von mir selbst ausgeleert,

und infolge dessen kann ich nicht den Frieden und

die Freude kennen, die das Teil dessen sind, der allein

mit Christo beschäftigt ist; denn die Fülle Gottes wartet

stets auf ein leeres Gefäß.

Und so wie es mit dem Sünder ist, so steht es

auch mit dem Christen. Wir haben oft eine gar geringe

Vorstellung davon, wie sehr wir mit dem eignen Ich und

mit der Welt erfüllt sind. Wie Jakob vor alters, so

ringen auch wir oft bis aufs Aeußerste und halten fest an

unserm Vertrauen auf das Fleisch, bis endlich die Quelle

unsrer Kraft versiegt und der Boden unsers Vertrauens

unter unsern Füßen wankt.

Es giebt kein größeres Hindernis für den Genuß

eines beständigen Friedens und der Gemeinschaft mit Gott

als Selbstvertrauen. Gott kann nicht das Haus mit

der Kreatur teilen. Jakob wurde das Gelenk seiner Hüfte

angerührt, damit er lerne, sich allein auf Gott zu stützen.

Der hinkende Jakob fand seine sichern Hilfsquellen in dem

Gott, der uns nur von der Natur ausleert, um uns mit

sich selbst füllen zu können. Er weiß, daß in demselben

110

Maße, wie wir mit Selbstvertrauen oder mit Vertrauen

auf die Kreatur erfüllt sind, wir der tiefen Segnung

verlustig gehen, mit Seiner Fülle erfüllt zu sein. Deshalb

leert Er uns in Seiner großen Gnade und Huld aus,

damit wir lernen, mit kindlichem Vertrauen uns an Ihn

zu klammern. Das ist der einzige Ort der Kraft, des

Sieges und der Ruhe.

„Ich war nie wahrhaft glücklich," hat einmal jemand

gesagt, „bis ich aufhörte zu wünschen, groß zu sein."

Das ist ein schönes, aber auch ein ernstes Wort. Wenn

wir aufhören zu wünschen, etwas zu sein, und damit

zufrieden sind, nichts zu sein, dann werden wir erfahren,

was wahre Größe, wahre Erhabenheit, wahres Glück und

wahrer Friede sind. DaS rastlose Begehren des Herzens,

etwas zu sein und etwas zu gelten, zerstört die Ruhe

der Seele von Grund aus. Der Stolz und Ehrgeiz des

natürlichen Menschen mag dies eine armselige, verächtliche

Anschauung nennen; allein wenn wir unsern Platz in den

Bänken der Schule Christi eingenommen haben, wenn

wir anfangen, von Ihm zu lernen, der sanftmütig und

von Herzen demütig war, so sehen wir die Dinge mit

ganz andern Augen an. „Wer sich selbst erniedrigt,

wird erhöht werden." Hin ab st eigen ist der Weg, um

erhöht zu werden. Das ist die Lehre Christi, die einst

von Seinen Lippen floß und in Seinem Leben hienieden

ihre praktische Darstellung fand. „Und als Jesus ein

Kindlein herzugerufen hatte, stellte Er eS in ihre Mitte

und sprach: Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehret

und werdet wie die Kindlein, so werdet ihr nicht

in das Reich der Himmel eingeheu. Darum, wer irgend

sich selbst erniedrigen wird wie dieses Kindlein, dieser ist

der Größte im Reiche der Himmel." (Matth. 18, 2 — 4.)

Das ist, wie gesagt, die Lehre Christi, die Lehre des

Himmels. Wie verschieden ist sie von aledem, was uns

auf diesem Schauplatz der Selbstsucht und der Selbsterhebung

umgiebt!

In Johannes dem Täufer entdeckt das geistliche

111

Auge das schöne Beispiel eines Mannes, der in hohem

Maße von sich selbst ausgeleert war. Als die Juden

von Jerusalem Priester und Leviten zu ihm sandten mit

der Frage: „Wer bist du? was sagst du von dir selbst?"

antwortete er: „Ich bin eine Stimme". Wahrlich, ernährn

den ihm gebührenden Platz ein. „Eine Stimme"

hat nicht viel Ursache sich zu rühmen. Er sagte nicht:

„Ich bin ein Rufender in der Wüste". Nein, er war

nur „die Stimme" eines solchen. Er verlangte nicht

danach, mehr zu sein. Er kannte, wie es scheint, keinen

Ehrgeiz. Er war von sich selbst ausgeleert. Und was

war das Resultat? Er fand seinen einzigen, alles andere

verdrängenden Gegenstand in Christo. „Des folgenden

Tages stand wiederum Johannes und zwei von seinen

Jüngern, und hinblickend auf Jesum, der da wandelte,

spricht er: Siehe, das Lamm Gottes!" Was war alles

dieses anders als die Fülle Gottes, die da auf ein leeres

Gefäß wartete? Johannes war nichts, Christus war

alles; und wir dürfen versichert sein, daß kein unzufriedenes

Wort über seine Lippen kam, als seine Jünger

ihn verließen und Jesu nachfolgten. In einem Herzen,

das von sich selbst ausgeleert ist, giebt es keinen Neid.

Wer gelernt hat, seinen wahren Platz einzunehmen, ist

nicht empfindlich oder eifersüchtig. Hätte Johannes seine

eignen Interessen gesucht, so würde er wohl in Klagen

ausgebrochen sein, als seine Jünger ihn verließen. Aber,

mein Leser, wenn jemand seinen völlig befriedigenden

Gegenstand in „dem Lamme Gottes" gefunden hat, so

liegt ihm nicht viel daran, einige Jünger zu verlieren,

wenn sie nur Jesu nachfolgen.

Im 3. Kapitel des Evangeliums Johannes finden

wir ein weiteres schönes Beispiel von der Selbstlosigkeit

des Täufers. „Und sie kamen zu Johannes und sprachen

zu ihm: Rabbi, der jenseit des Jordan bei dir war, dem

du Zeugnis gegeben hast, siehe, der tauft, und alle kommen

zu Ihm." Diese Mitteilung war in der That geeignet,

den Neid und die Eifersucht des armen menschlichen

112

Herzens wachzurufen. Aber hören wir die Antwort, die

wahrhaft edle Antwort des Johannes: „Ein Mensch kann

nichts empfangen, es sei ihm denn aus dem Himmel

gegeben... Er muß wachsen, ich aber abnehmen. Der

von oben kommt, ist über allen; der von der

Erde ist, ist von der Erde und redet von der Erde. Der

vom Himmel kommt, ist über allen." Wahrlich,

ein kostbares Zeugnis! Ein Zeugnis von seinem eignen

völligen Nichts und von der Fülle, Herrlichkeit und unvergleichlichen

Vortrefflichkeit Christi! Eine Stimme war

nichts; Christus war erhaben über allen.

O gebe uns der Herr ein Herz, das von sich selbst

ausgeleert und befreit ist von aller Sucht nach eigner Ehre

und eignem Ruhm! Möchten wir mehr los sein von dem

Ich mit allen seinen verächtlichen Windungen und Drehungen!

Dann könnte der Herr uns mehr gebrauchen,

uns mehr anerkennen und segnen. Lauschen wir auf Sein

Zeugnis über Johannes, über den, der selbst von sich

sagte, daß er nichts als eine Stimme sei: „Wahrlich, ich

sage euch, unter den von Weibern Geborenen ist kein

Größerer aufgestanden als Johannes der Täufer." (Matth.

11, 11.) Wie viel besser ist es, so etwas aus dem Munde

des Meisters zu hören, als aus dem Munde des Knechtes!

Johannes sagte: „Ich bin eine Stimme." Christus sagte,

er sei der größte der Propheten. Simon, der Magier,

„sagte von sich selbst, daß er etwas Großes sei". Das

ist die Weise der Welt, die Weise des Menschen. Johannes

der Täufer, der größte Prophet, gab sich selbst für nichts

aus und sagte, daß Christus „über allen" sei. Welch

ein Gegensatz!

Möchten wir daher klein und demütig sein, geliebter

christlicher Leser, ausgeleert von uns selbst, damit wir

beständig mit Christo gefüllt seien! Das giebt wahre

Ruhe, ist wahre Segnung. Möchte die Sprache unsrer

Herzen und der Ausdruck unsers Lebens stets sein:

Siehe, das Lamm Gottes!"


Der Weg des Glaubens in einer bösen Zeit.

Ein Wort der Warnung und Ermunterung.

„Ihr, was ihr von Anfang gehört habt, bleibe

in euch. Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang

gehört habt, so werdet auch ihr in dem Sohne und

in dem Vater bleiben." (1. Joh. 2, 24.)

Gott hat gesprochen; wir besitzen Sein Wort und

sind berufen, das Zeugnis Gottes in einfältigem Glauben

aufzunehmen. Ueber die Dinge Gottes zu klügeln und

zu philosophieren, ist nicht Glaube, sondern Unglaube.

Der Glaube kennt keine andere geschriebene Autorität als

das Wort Gottes, und er ruht mit vollem Vertrauen,

ohne zu zweifeln, auf dem, was Gott sagt.

Die Schriften sind völlig und für alles genügend.

Sie vermögen den Menschen Gottes zu jedem guten

Werke geschickt zu machen; und indem der Heilige Geist

in dem Gläubigen wohnt und wirkt, ist dieser fähig, durch

all die Verwirrung des Christentums hindurch seinen Weg

in Frieden zu pilgern.

Die endgültige und entscheidende Autorität des geschriebenen

Wortes für jeden Abschnitt der Geschichte der

Kirche hienieden wird wieder und wieder in den Schriften

der Apostel betont. Paulus legt in seinem letzten inspirierten

Briefe, den er angesichts seines nahen Märtyrer

114

todes schrieb, seinem Kinde Timotheus mit eindringlichen

Worten die Autorität und Allgenugsamkeit „aller Schrift"

ans Herz. Petrus spricht, wenn er die verhängnisvolle

Wirksamkeit des Bösen in der bekennenden Kirche verfolgt,

von dem Beginn des Gerichts am Hause Gottes und

fordert uns auf, vor „falschen Lehrern" auf der Hut zu

sein und zu „gedenken der von den heiligen Propheten

zuvor gesprochenen Worte und des Gebotes des Herrn

und Heilandes durch die Apostel". Judas, der die Geschichte

der bekennenden Kirche bis zu ihrem Abfall hin

verfolgt, ermahnt uns ebenfalls, „für den einmal den

Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen"; während

Johannes es als ein Kennzeichen der Treuen hinstellt,

daß sie Sein „Wort" bewahren und Seinen „Namen"

nicht verleugnen. (Offbg. 3.)

Ohne das Wort Gottes kann es keinen Glauben

geben, und „ohne Glauben ist es unmöglich, Gott wohlzugefallen".

Die verschiedenen Zustände der Kirche auf

der Erde sind in den Heiligen Schriften zum voraus

dargeftellt worden; der Heilige Geist hat Vorsorge für sie

getroffen, und Er bleibt bei uns und ist in nns. Wir

besitzen daher eine unfehlbare Leitung und Kraft bis zu

dem Augenblick, da der „gebietende Zuruf" bei der Ankunft

des Herrn ertönen wird und wir zu Ihm ausgenommen

werden, um für allezeit bei Ihm zu sein.

Absonderung vom Bösen.

In der ganzen Heiligen Schrift wird das Volk Gottes

aufgefordert, von dem Bösen abzustehen und zur Ehre

Gottes zu leben, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil

es Sein Volk ist. Vor alters hieß es: „Deinem Hause

115

geziemt Heiligkeit, Jehova, auf Länge der Tage"; und

sehr oft lesen wir: „und du sollst das Böse hinwegschaffen

aus deiner Mitte". Im Neuen Testament heißt es: „Seid

heilig"; „seid Nachahmer Gottes als geliebte Kinder";

„jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von

der Ungerechtigkeit" u. s. w., — weil Unser Verhältnis zu

Gott keinen niedrigeren Wandel zuläßt. Wir finden, daß

selbst die Heiden wegen ihrer sündigen Wege zuweilen

ernstlich gestraft wurden, da sie aus den sichtbaren Dingen

etwas von dem unsichtbaren Gott, der sie erschaffen, hätten

erkennen sollen. Als jedoch unser Herr und Heiland auf

diese Erde kam, der Gott war, geoffenbart im Fleische,

und der den Vater kundmachte, hören wir Ihn sagen,

„daß von jedem unnützen Worte, das irgend die Menschen

reden werden, sie von demselben Rechenschaft geben werden

am Tage des Gerichts." Und der Tod des Sohnes

Gottes auf dem Fluchholze als unser Sündenträger offenbarte

nicht nur die Gnade und Gerechtigkeit Gottes, sondern

auch Seine unbegrenzte Heiligkeit, Seinen Haß gegen

die Sünde und Sein schonungsloses Gericht derselben,

indem Er Seinen eignen Sohn verließ, der doch vollkommen

würdig war, geliebt zu werden, und der auch

unendlich von Ihm geliebt wurde. Seitdem wird von

uns, als den teuren Kindern Gottes, ein Leben und ein

Wandel erwartet, die dem Vater und dem Sohne, mit

denen wir durch die Gnade in ewige Beziehungen gebracht

find, entsprechen. Keinerlei Böses kann daher gestattet

werden. Dennoch zeigen uns die späteren Schriften der

Apostel, wie wenige in der Wahrheit blieben. Die Apostel

sahen voraus, daß eine Zeit kommen würde, in welcher

man „die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern . . . die

116

Ohren von der Wahrheit abkehren und zu den Fabeln

sich hinwenden" würde (2. Tim. 4); und ferner, daß um

der Bekenner des Christentums willen „der Weg der

Wahrheit verlästert werden" würde. (2. Petr. 2.) Wir

dürfen nie vergeßen, daß Er, der inmitten der Versammlung

ist, alles sieht — denn „Seine Augen sind wie eine

Feuerflamme", und daß eS Ihm zugleich zusteht, alles

Böse zu richten — denn „Seine Füße sind gleich glänzendem

Kupfer, als glühten sie im Ofen". Seine Worte:

„Wenn wir uns selbst beurteilten, so würden wir nicht

gerichtet", sind für viele ein Trost gewesen; andrerseits

aber heißt es auch: „Wenn wir gerichtet werden, so

werden wir vom Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht mit

der Welt verurteilt werden". (Vergl. 1. Kor. 11.) Etwas

Böses in einer anderen, milderen Form darstellen heißt

sicherlich nicht, es richten; und ein wahres Selbstgericht

geht weit tiefer als das.

Nichts ist wohl klarer in der Heiligen Schrift ausgesprochen,

als daß Gott von Seinem Volke Heiligkeit

erwartet, sowohl persönliche Heiligkeit als auch Heiligkeit

(oder Absonderung von dem Bösen) in der Versammlung.

WaS die erstere Seite der Heiligkeit betrifft, so sind wir

berufen, uns von jeder Art des Bösen fern zu halten,

es zu hassen, zu wandeln als Kinder Gottes, als Glieder

des Leibes Christi und als solche, in denen der Heilige

Geist wohnt. Wir sind durch die Gnade in diese kostbaren

Beziehungen gebracht, und es ist offenbar, daß das

Bewußtsein dieser Beziehungen uns Pflichten auferlegt.

Was die Versammlung anlangt, so lesen wir, daß

„wir mitaufgebaut werden zu einer Behausung Gottes

im Geiste". Deshalb heißt es auch: „Thut den Bösen

117

von euch selbst hinaus"; „feget den alten Sauerteig aus-

auf daß ihr eine neue Masse sein möget" u. s. w. In

Josuas Zeiten wollte Gott nicht auf feiten Seines Volkes

stehen, um ihm den Sieg über seine Feinde zu geben,

sondern Er erlaubte den Feinden, Israel zu besiegen.

Und warum? Weil ein Mann in der Gemeinde gesündigt

und das Volk es unterlassen hatte, diese Sünde zu

richten und sich von ihr zu reinigen. (Jos. 7.)

Als jedoch die Versammlung aus der Erde, durch

Untreue gegen den Herrn, einem großen Hause gleich

wurde, in welchem Gefäße zur Unehre mit solchen zur

Ehre vermischt waren, so daß das Böse nicht mehr hinausgethan

werden konnte, ermahnte der Geist Gottes

die Treuen, sich persönlich von dem Bösen zu reinigen,

indem sie sich von den Gefäßen zur Unehre

trennten. Dies ist in einer Zeit des Verfalls so völlig

nach den Gedanken des Herrn, daß dem Gläubigen, der

in dieser Weise seine Treue gegen den Herrn beweist,

große Ermunterung zu teil wird. „Wenn sich nun jemand

von diesen (d. h. von den Gefäßen zur Unehre)

reinigt, so wird er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt,

nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werke bereitet."

(2. Tim. 2, 21.) So tief gefallen, so verderbt und verunreinigt

die bekennende Kirche auch sein mag, wir finden

hier die klarste Anweisung, uns von dem Bösen abzusondern,

und zwar verbunden mit der kostbaren Versicherung des

Wohlgefallens Gottes, so daß wir uns wohl in dem

Herrn, unserm Gott, stärken und ermuntern können.

Daß es daher höchst thöricht und verkehrt ist, von einer

Einheit unter den Kindern Gottes zu reden ohne Absonderung

von dem Bösen, braucht kaum noch gesagt zu wer

118

den. Selbst eine Frau wurde von einem Apostel gewarnt,

einen Lehrer, der nicht die Lehre Christi brächte, nicht in

ihr Haus aufzunehmen, ja, ihn nicht einmal zu grüßen,

da sie sich dadurch seiner bösen Werke teilhaftig machen

würde. (2. Joh. 9—11.)

Neben diesen göttlichen Belehrungen über den in Rede

stehenden Gegenstand unterscheidet die Schrift auch zwischen

sittlich Bösem und Bösem betreffs der Lehre;

und damit wir von dem letzteren nicht gering denken oder

gar es oberflächlich behandeln möchten, wird es sehr oft im

Worte Gottes in der bestimmtesten und schonungslosesten

Weise behandelt. Das natürliche Gewissen schreckt vielleicht

vor sittlich Bösem zurück, aber um etwas BöseS

betreffs der Lehre erkennen und zurückweisen zu können,

müssen wir geistlich sein; denn solches Böse richtet sich stets

in der einen oder andern Form gegen den Herrn Jesum,

der „die Wahrheit" ist. Allerdings erlaubt die Schrift

nicht, daß irgend ein Flecken von moralischer Sünde

geduldet werde, weil „der Heilige und der Wahrhaftige"

in unsrer Mitte ist. Der Betrug des Anamas und der

Sapphira war eine Sünde zum Tode. Der Hurer in

Korinth mußte „hinausgethan" werden; und der Apostel,

der sich im Geiste mit der Handlung der Versammlung

einsmachte, überlieferte „einen solchen dem Satan zum

Verderben des Fleisches, auf daß der Geist errettet werde

am Tage des Herrn Jesu". Die Gläubigen durften keine

Gemeinschaft machen mit einem Manne, der Bruder genannt

wurde und in sittlicher Hinsicht in der Sünde wandelte.

(1. Kor. 5.)

Wenn indes Böses in der Lehre uns entgegentritt,

so ist es oft so mit Wahrheit vermischt, tritt so anmaßend

119

auf und wird so gelobt oder von angesehenen Männern

so warm empfohlen und verteidigt, daß es einer Seele

bedarf, die in Abhängigkeit von dem Herrn und unter

der Leitung Seines Geistes Sein Wort erforscht, um das

Böse zu entdecken und zu richten. Böse Lehre wird nicht

entdeckt durch die Kräfte unsrer Vernunft (welche die

falsche Lehre stets auf ihrer Seite hat), sondern nur auf

dem Wege, den wir eben bezeichnet haben; und obwohl

der verderbliche Charakter der bösen Lehre im ersten Augenblick

vielleicht nicht in seiner ganzen Tragweite entdeckt

werden mag, so weist eine gottesfürchtige Seele sie doch

zurück, weil sie nicht ist, „wie geschrieben steht" —

„nicht nach Christo". (Kol. 2, 8.)

In den Tagen der Apostel wurden diejenigen, welche

an ungesunder Lehre festhielten, in der entschiedensten

Weise behandelt. Bei einer Gelegenheit entdeckte Paulus,

daß zwei Lehrer etwas „sagten", was wider die Wahrheit

war. Manchen mochte es vielleicht als eine geringfügige

Sache erscheinen, daß jene „sagten, die Auferstehung sei

schon geschehen"; aber nach.dem Urteil des Apostels war

es durchaus nicht geringfügig, denn er wußte, daß „ihr

Wort um sich fressen würde wie ein Krebs". So unrein

und verderblich war jene böse Lehre, daß wir lesen:

„Die von der Wahrheit abgeirrt sind, indem sie sagen,

(beachten wir, daß der Apostel sich mit dem beschäftigt,

was sie sagten,) daß die Auferstehung schon geschehen sei,

und den Glauben etlicher umkehren". (2. Tim. 2, 15—18.)

In dem ersten Briefe an Timotheus sagt uns der Apostel,

daß Hymenäus und Alexander „ein gutes Gewissen

von sich gestoßen und so, was den Glauben betrifft,

Schiffbruch gelitten hätten," und fügt dann hinzu: „die

120

ich dem Satan überliefert habe, auf daß sie durch Zucht

unterwiesen würden, nicht zu lästern". Wir sehen also,

daß Paulus sie als Lästerer beurteilte. (1. Tim. 1, 19. 20.)

Wenn ferner gewisse Lehrer die kostbare Lehre von

der Rechtfertigung aus Glauben untergruben, indem sie

ihr die Beschneidung hinzufügten, ruft der Apostel in heiliger

Entrüstung: „Ich wollte, daß sie sich auch abschnitten,

die euch aufwiegeln"! oder an einer andern Stelle:

„ES sind etliche, die euch verwirren und das Evangelium

des Christus verkehren wollen. Aber wenn auch wir oder

ein Engel aus dem Himmel euch etwas als Evangelium

verkündigte außer dem, was wir euch als Evangelium

verkündigt haben, der sei verflucht!" (Gal. 1, 7. 8; 5, 12.)

Einen weiteren Beweis dafür, wie eifersüchtig „die

Wahrheit" in der Zeit der Apostel bewacht wurde, finden

wir in Gal. 2, 11—21. Als die Lehre von der Rechtfertigung

„aus Glauben ohne Gesetzeswerke" durch keine

geringere Persönlichkeit, als der Apostel Petrus war, in Gefahr

gebracht wurde, erzählt uns die Schrift, daß Paulus

ihm ins Angesicht widerstand,, weil er dem Urteil verfallen

war; und Petrus nahm ohne Zweifel den Tadel an und

bereute seine That. Beachten wir, daß diese That des

Petrus darin bestand, daß er sich weigerte, mit den Gläubigen

aus den Nationen zu essen, indem er so den Unterschied

zwischen Juden und Heiden wieder einführte, nachdem

das Kreuz beide als gleich schuldig erwiesen hatte,

und die Zwischenwand der Umzäunung wieder aufbaute,

die doch durch den Tod Christi abgebrochen worden war;

und diese That untergrub die Wahrheit des Evangeliums.

Wir sehen daraus, wie leicht es möglich ist, daß wir,

obwohl wir gesund in der Lehre sind, sie doch durch

121

unsre Thaten untergraben können. Andrerseits ist es

schön zu sehen, wie Petrus nachher Paulus andern empfiehlt

als „unsern geliebten Bruder Paulus", und wie er die

Schriften des Apostels mit „den übrigen Schriften" auf

gleichen Boden stellt. (2. Petr. 3, 15. 16.) Ein solcher

Beweis der christlichen Liebe redet laut zu uns und giebt

uns eine beherzigenswerte Unterweisung.

Der vorliegende Gegenstand gewinnt an ernster Bedeutung,

wenn wir in der Schrift den vielen Warnungen

vor böser Lehre begegnen und die schrecklichen Wirkungen

derselben sehen, wie sie der Heilige Geist durch Paulus,

Petrus, Johannes und Judas hat aufzeichnen lassen;

wenn wir ferner der ernsten Kämpfe gedenken, durch welche

die Apostel gingen, weil sie sich Christo gegenüber für

schuldig hielten, „den guten Kampf des Glaubens zu

kämpfen", oder wie Judas sagt, „für den einmal den

Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen". Es ist

offenbar, mit welcher Entschiedenheit Paulus handelte,

damit die Wahrheit des Evangeliums bei uns verbliebe,

welch großen Kampf er hatte, wie besorgt er war

angesichts seines Märtyrertodes, daß Timotheus die

Wahrheit, die er gehört hatte, treuen Männern anvertrauen

möchte, die auch fähig wären, andere zu lehren.

Mit welch einem Ernst befahl er ferner die Gläubigen

„Gott und dem Worte Seiner Gnade", da er

wußte, daß nach seinem Abschiede verderbliche Wölfe zu

ihnen hereinkommen würden, die der Herde nicht schonen

würden; ja, aus ihrer eignen Mitte würden, wie er sagt,

Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die

Jünger abzuziehen hinter sich her. (Gal. 2, 5; 2. Tim.

2, 2; Apstgsch. 20, 29. 30.) Petrus warnt uns vor

— 122 —

„falschen Lehrern" unter uns, deren bösen Wegen viele

nachfolgen würden, um welcher willen der Weg der Wahrheit

verlästert werden würde. (2. Petr. 2, 1. 2.) Johannes

mahnt uns, auf unsrer Hut zu sein vor den „vielen

falschen Propheten", indem der Geist des Antichrists schon

in der Welt sei; unter andern Kennzeichen nennt er besonders

dieses: daß die treuen Knechte Gottes den wahren

Christus vor ihren Augen haben und den Worten

des Apostels unterworfen sein würden. (1. Joh. 4, 1 — 6.)

Auch finden wir in der Offenbarung, daß der Herr die

Versammlung in Pergamus beschuldigt, einige in ihrer

Mitte zu haben, welche an Lehren festhielten, die Ihm

verhaßt waren. (Offbg. 2, 15.) Judas bezeichnet drei

Richtungen der falschen Lehre, aus welchen die Grundsätze,

die den Abfall herbeiführen, gewoben sind. Zunächst hören

wir von dem „Wege Kains", d. h. einem Nahen zu Gott

ohne Blut; dann von dem „Irrtum Balaams", der den

Lohn der Ungerechtigkeit liebte, anstatt Gott durch eine

völlige Unterwürfigkeit unter Ihn zu ehren und Sein

Volk zu lieben; und drittens von dem „Widerspruch Ko-

rahs", oder dem Ausrichten eines falschen Priestertums.

Es ist offenbar, daß diese verschiedenen Arten von böser

Lehre auch heute noch allerwärts wirksam sind und in

dem Gericht Gottes über die bekennende Kirche enden

werden. Es ist thatsächlich unmöglich, die Briefe der

Apostel sorgfältig und in Abhängigkeit von dem Geiste

Gottes zu lesen, ohne jenen einen großen Gegenstand zu

bemerken, der vor der Seele der Treuen jener ersten

Tage der Christenheit stand, nämlich: um jeden Preis

„die Wahrheit" aufrecht zu erhalten, in ihr zu wandeln

und für sie zu kämpfen.

123

So verhaßt dem Herrn, der in der Mitte der zu

Seinem Namen hin Versammelten weilt, unsittliche

Dinge sein mögen, so könnte doch auch nichts entschiedener

sein als die Art und Weise, wie böse Lehre in dem

frühesten Abschnitt der Geschichte der Kirche behandelt

und gerichtet wurde. Wie könnte es auch anders sein,

wenn wir daran gedenken, daß wir „mitaufgebaut werden

zu einer Behausung Gottes im Geiste"? Haben

wir ein wahres Gefühl davon, was die Versammlung

Gottes ist, daß Er, „der Heilige und Wahrhaftige", in

der Mitte ist, wenn wir in Seinem Namen versammelt

sind; daß wir geheiligt sind durch den Willen des Vaters,

durch das Werk des Geistes und durch das Blut Jesu

zum Gehorsam Jesu Christi, ja, praktisch geheiligt durch die

Wahrheit — dann werden wir auch in etwa ein Gefühl

davon haben, was sich dem Herrn gegenüber geziemt und

was wir Ihm schuldig sind. Auch ist es gut, uns stets

daran zu erinnern, daß wir sowohl bezüglich der Lehre als

auch hinsichtlich des praktischen Wandels die ernste

Warnung vernehmen: „Ein wenig Sauerteig durchsäuert

den ganzen Teig." (Gal. 5, 9; 1. Kor. 5, 6.) Je

mehr wir die Briefe erforschen, desto mehr werden wir

unsre göttliche Verpflichtung erkennen, die „gesunde Lehre"

aufrecht zu erhalten. Der Herr gebe uns allen in diesen

„schweren Zeiten" Treue und Entschiedenheit, um bei der

Wahrheit zu beharren und nicht um eines Haares Breite

nach rechts oder links von ihr abzuweichen! Hüten wir

uns, daß wir nicht durch die Irrtümer, die auch in unsern

Tagen in so mancherlei Formen austreten, mit fortgerissen

werden und aus unsrer eignen Festigkeit fallen! (Vergl.

2. Petr. 3, 17.)

— 124 —

Die Seligpreisungen.  (Matthä 5, 1—12.)

1 (Fortsetzung.) 

„Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen

wird Barmherzigkeit widerfahren."

Wir kommen jetzt zu dem, wie wir es nennen möchten,

zweiten Abschnitt der Seligpreisungen. Diese sind

offenbar in vier und drei eingeteilt — eine Einteilung,

die in der Schrift nicht ungewöhnlich ist. Die ersten vier

tragen den Charakter der Gerechtigkeit, d. h. sie kennzeichnen

sich durch das, was wir Gott schuldig sind, was

Ihm gebührt; während die letzten drei durch Gnade charakterisiert

sind, oder durch die verschiedenen Arten 8er Thätigkeit

der Gnade anderen gegenüber. Die Einteilung in

diese beiden Klassen ist sehr schön und belehrend. Sie

ist ohne Zweifel göttlich und deshalb unsrer eingehenden

Betrachtung würdig. Wenn der Sünder zum ersten Male

aufwacht und, in die Gegenwart Gottes gebracht, seinen

wahren Zustand erblickt und die Eitelkeit alles dessen,

waS der Mensch ist, kennen lernt, so ist ein Zusammenbrechen

und eine tiefe Demütigung seinerseits unausbleiblich.

Er stellt sich auf die Seite Gottes, rechtfertigt Gott

und verurteilt sich. Die Buße ist aufrichtig; er ist zufrieden

damit, nichts zu sein. So sehen wir denn, daß

die erste Segnung Armut des Geistes ist, und daß sie

die Seele in die andern Segnungen einführt. Doch wenden

wir uns jetzt zu der ersten der letzten drei Seligpreisungen.

„Glückselig die Barmherzigen!" In dem ganzen

reichen Schatze unsrer Sprache giebt es kein Wort, das

einen lieblicheren Klang hätte als das Wort „Barm

125

Herzigkeit"; und kein anderes vermöchte den Charakter

Gottes in einer vollständigeren Weise vor unsre Seelen

hinzustellen als dieses. Es führt uns zu unsrer tiefsten

Freude und reichsten Segnung: zu dem Verweilen bei

dem Charakter Gottes, zu dem Sinnen über das, was

Er ist. Er ist „der Vater der Erbarmungen". Barmherzigkeit

ist nicht nur eine Hülfsquelle Gottes, aus

welcher Er schöpft; nein, Gott ist die Quelle der Barmherzigkeit,

„der Vater der Erbarmungen". Er ist der

Born, aus welchem alle die Bächlein der Güte und Freundlichkeit,

des Mitgefühls und der erbarmenden Liebe entspringen,

die in zeitlicher wie geistlicher Beziehung diese

Welt des Elends durchströmen. Und diese Güte und

Barmherzigkeit des Herrn ist, gepriesen sei Sein Name!

von Ewigkeit her und währt bis in Ewigkeit; sie ist

ohne Anfang, ohne Ende. Sie war, ehe die Zeit begann,

und sie wird fortdauern, wenn die Zeit nicht mehr ist.

„Die Güte Jehovas ist von Ewigkeit zu Ewigkeit über

die, welche Ihn fürchten." (Ps. 103, 17.) In der

Zwischenzeit aber, zwischen der Vergangenheit und Zukunft,

fließt die Güte und Barmherzigkeit Gottes durch diese

Welt der Sünde wie ein mächtiger Strom dahin und verbindet

gleichsam die Ufer des Ozeans der Ewigkeit. Seine

Barmherzigkeit kennt keine Unterbrechung; sie bildet die

Grundlage Seiner Thätigkeit, ja, Seines Seins in dieser

Welt. Denn „Seiner Erbarmungen sind viele" — „Seine

Erbarmungen sind nicht zu Ende", und „Seine Güte währet

ewiglich." (Ps. 119, 156; Klage!. 3,22; Ps. 106, 1.) Wer

könnte den Segen und die Kostbarkeit einer solchen Wahrheit

aussprechen auf einem Schauplatz der Sünde und

des Schmerzes, wie diese Welt ist! Ja, wenn nicht der

126

Strom Seiner Erbarmungen sich unaufhörlich ergösse, so

würde diese Welt nur jenem Orte gleichen, wo alle Barmherzigkeit

für immer ein Ende hat und Er ewiglich keine

Gunst mehr erzeigt. Ist einmal das Ohr der Barmherzigkeit

verschlossen und der Arm der Barmherzigkeit abgewandt,

so bleibt nichts anderes übrig als wilde, bittere

Verzweiflung. Jetzt aber hat Gott Seine Wonne daran,

barmherzig zu sein, und Er will sich an Güte und

Barmherzigkeit erfreuen.

„Denn Er sagt zu Mose: Ich werde (oder „ich will")

begnadigen, wen ich begnadige, und mich erbarmen, wessen

ich mich erbarme." (Röm. 9, 15.) Gott allein kann

sagen: „Ich werde" oder „ich will";" Er allein hat

ein Recht, so zu reden. Kein Geschöpf kann sagen: „ich

will", nur Gott; aber Seine „ich will" bedeuten Gnade

und Barmherzigkeit und sind alle unser in Christo Jesu

für immer und ewig. Satan mag dies abzuleugnen

suchen, und das arme menschliche Herz es bezweifeln;

aber das Wort des Herrn steht fest und unerschütterlich,

es kann nicht gebrochen werden. „Die Gütigkeiten

Jehovas will ich besingen ewiglich", sagt der Psalmist,

„denn ich sagte: Auf ewig wird die Güte gebaut

werden." (Ps. 89, 1. 2.)

Aber, möchte jemand fragen, ist diese Güte, diese

reiche, zärtliche, ewige Barmherzigkeit Gottes frei und

umsonst da für alle, die nach ihr verlangen, für alle, die

um Erbarmen zu Gott rufen? Sicher und gewiß! Ist

niemand von denen, die heute von dieser Barmherzigkeit

hören, ausgeschlossen? Nein; nur diejenigen, welche

sich selbst ausschließen. Die Thür der Gnade steht

weit offen, das Ohr der Barmherzigkeit wartet auf den

127

Ruf nach Erbarmen, und schneller, weit schneller als der

elektrische Funke läuft, ist die Antwort des Himmels auf

den Notschrei des Sünders da. Nehmen wir ein wohlbekanntes

Beispiel und erinnern wir uns dabei daran, daß

Jesus derselbe ist gestern und heute und in Ewigkeit.

Als der arme, blinde Bettler (Luk. 18) die Kunde

vernahm, „daß Jesus, der Nazaräer, vorübergehe, rief er

und sprach: Jesu, Sohn Davids, erbarme Dich meiner!"

Wie lautete die Antwort des Herrn? Hätte Er sagen

ckönnen: Ich habe kein Erbarmen für dich? Unmöglich!

Das würde mit einer Verleugnung des Charakters Gottes

und der ganzen Wahrheit der Bibel gleichbedeutend gewesen

sein. Die reiche Fülle des göttlichen Erbarmens

war das Teil des Bettlers von dem Augenblick an, da

er der Not seines Herzens Ausdruck gab. Die glaubenslose

Volksmenge mochte den blinden Mann tadeln und

ihn zum Schweigen zu bringen suchen, nicht aber Jesus.

Sobald der Ruf um Erbarmen Sein Ohr erreichte, blieb

Er stehen; auch der ganze große Zug blieb stehen, ja,

wenn es notwendig gewesen wäre, würden die Sphären

des Weltalls still gestellt worden sein. Alles muß diesem

Dienst der Barmherzigkeit Raum machen. „Jesus aber

stand still und hieß ihn zu sich führen. Als er aber sich

näherte, fragte Er ihn und sprach: Was willst du, daß

ich dir thun soll? Er aber sprach: Herr, daß ich sehend

werde! Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! dein

Glaube hat dich geheilt." Wahrlich, das ist Barmherzigkeit,

voll und frei; und diese Barmherzigkeit ist da für

alle, keiner ist ausgeschlossen; „denn jeder, der irgend

den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden."

Und diese Dinge sind geschrieben, mein Leser, auf

128

daß du glauben möchtest. Derselbe Schrei wird auch heute

noch dieselbe Segnung herbeiführen.

Zugleich kannst du, wenn du ein Gläubiger bist,

hier lernen, wie du Barmherzigkeit üben sollst. Gieb

deine Almosen den Armen nicht so, wie du einem Hunde

einen Knochen hinwirfst. Mit welch einer Gnade wendet

sich der Herr zu dem armen Manne! Er thut so, als

wenn Er sein Diener wäre. „Was willst du, daß ich

dir thun soll?" Weit davon entfernt, einen Platz sichtlicher

Ueberlegenheit einzunehmen und in dem Armen das

Gefühl zu wecken, daß er weit unter Ihm, weit von Ihm

entfernt stehe, läßt Er ihn vielmehr wissen und fühlen,,

daß Er in Gnade und Liebe sich mit ihm beschäftigte,

und fesselt so das Herz des Hülflosen ganz und gar an

Seine gesegnete Person. Der Christ soll nicht nur barmherzig,

sehr barmherzig und allezeit barmherzig sein, sondern

Er muß auch lernen, nach der Weise seines Herrn

und Meisters Barmherzigkeit zu üben. Die Weise der

Welt ist, als „Gönner" der Armen aufzutreten und als

„Wohlthäter" zu gelten; und viele opfern große Summen

für diesen Zweck. Ganz anders aber ist es mit denen,

auf welche der Herr Seine Hand legt und sie Glückselige

nennt. „Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird

Barmherzigkeit widerfahren."

Möchten wir deshalb aus der obigen Erzählung

nicht nur die Freiheit der göttlichen Gnade kennen lernen,

sondern auch die Art und Weise, wie sie sich offenbart.

Wer zu Gott ruft um Gnade und Erbarmen — mag er

auch körperlich, sittlich und geistlich arm und blind, ja,

das schwächste und verkommenste Glied der menschlichen

Gesellschaft sein — wird eine unmittelbare Antwort von

129

Dem empfangen, der „reich an Barmherzigkeit" ist. Gott

hat noch niemals auf den Notschrei eines demütigen,

zerschlagenen Herzens geantwortet: „Ich habe kein Erbarmen

für dich"; und Er kann und wird es nie thun.

Einem jeden, der seine Not fühlt und zu Gott ausblickt

um Hülfe und Rettung, ist das Erbarmen Gottes gewiß.

Es giebt nichts in dem Herzen oder in den Umständen

eines Sünders, das den reichen Ausfluß des göttlichen

Gnadenguelles hindern könnte, wenn der Sünder sich nur

in Demut und Abhängigkeit von Jesu zu Seinen Füßen

niederwirft. Andrerseits aber giebt es auch keine Möglichkeit

der Errettung, außer durch die Barmherzigkeit Gottes

in Christo Jesu, Seinem hochgelobten Sohne.

Nachdem wir so in allgemeiner Weise von der Natur

der Barmherzigkeit gesprochen haben, wird es gut sein,

ihren wahren Charakter noch etwas näher zu bezeichnen

und bei der Frage zu verweilen, wie sie von allen denen,

welche Erbarmen seitens des Herrn gefunden haben,

geübt werden sollte.

Inwiefern, könnte da zunächst gefragt werden, unterscheidet

sich Barmherzigkeit von Gnade? Offenbar bedeuten

die beiden Worte nicht dasselbe, obwohl sie sich bezüglich

ihres Sinnes sehr nahe kommen mögen. Sie werden

in der Schrift sorgfältig unterschieden, und wir werden

diesen Unterschied am besten aus dem Gebrauch erkennen,

den der Geist Gottes von ihnen macht.

Beide Worte bezeichnen hervorstechende Charakterzüge

Gottes, wie wir dies sehen, wenn Gott Seinen Charakter

vor Mose enthüllt: „Jehova, Jehova, Gott, barmherzig

und gnädig." (2. Mose 34, 6.) Er ist barmherzig, um

zu vergeben, und gnädig, um in jeder Zeit der Not zu

130

helfen. Auch durch die apostolischen Schreiber wird der

Unterschied der beiden Worte in ganz bestimmter Weise

sestgehalten. Wenn sie sich in ihren Briefen an eine

Versammlung wenden, so wünschen sie dieser „Gnade und

Friede"; wenn sie aber an einzelne Gläubige schreiben,

so sagen sie: „Gnade, Barmherzigkeit und Friede".

Der Grund Zu diesem bedeutungsvollen Wechsel kennzeichnet

nicht nur den wesentlichen Unterschied, der zwischen

den beiden Worten besteht, sondern offenbart auch die

besondere Stellung der Kirche oder Versammlung. Sie

wird betrachtet als auferweckt mit Christo und an denselben

Platz des Vorrechts, der Segnung und der Annahme

versetzt wie Er. Daher wird nie das Wort „Barmherzigkeit"

gebraucht, wenn sie in diesem Verhältnis angeredet

wird. Unser hochgelobter Herr war, obwohl Er

als der demütige Sohn des Menschen durch diese Welt

wandelte, niemals ein Gegenstand der Barmherzigkeit

und konnte es nicht sein; aber „Gottes Gnade war auf

Ihm", und die reichsten Gaben des Himmels umringten

den Pfad des Vollkommnen. Die Kirche wird jetzt als

eins mit Ihm betrachtet. „Denn gleichwie der Leib einer

ist und viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber,

obgleich viele, ein Leib sind: also auch der Christus."

(1. Kor. 12, 12.) Die Schlußworte dieses Verses

sind wahrhaft beachtenswert: „also auch der Christus".

Sie zeigen die vollkommne Einheit Christi und der Kirche.

Aber weshalb sagt der Apostel nicht: „also auch die Versammlung"

? Er spricht doch von her Versammlung und

nicht von Christo! Warum verletzt er alle gewöhnlichen

Sprachregeln und sagt: „also auch der Christus"? Weil

der ganze Leib, Haupt und Glieder, hier als „ein Leib"

131

betrachtet werden, an denselben Platz des Vorrechts und

der Segnung versetzt. Wahrlich, das sollte dem Herzen

ewige, vollkommne Ruhe geben und alle Fragen bezüglich

des himmlischen Charakters und der himmlischen Beziehungen

der Kirche beantworten. Der Herr gebe, daß

es so sei bei dem Schreiber und dem Leser dieser Zeilen!

Doch kehren wir zu unserm Gegenstände zurück. —

Einzelne Christen werden andrerseits als Menschen betrachtet,

die noch in diesem Leibe und daher mit Schwachheiten

umgeben sind, die durch Uebungen und Kämpfe

gehen und beständig der Barmherzigkeit (selbstverständlich

auch der Gnade) bedürfen. Der Apostel wünscht daher

dem Timotheus: „Gnade, Barmherzigkeit und Friede";

und wenn er an die Hebräer schreibt, so sagt er: „Laßt

uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten Zu dem Throne

der Gnade, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und

Gnade finden zur rechtzeitigen Hülfe."

Der Ausdruck „Gnade" enthält offenbar den Gedanken

an eine freie Gabe, eine Gunstbezeugung

— ohne eine Verpflichtung auf feiten Gottes, ohne einen

Anspruch auf unsrer Seite, oder mit andern Worten: ohne

die Frage des Zustandes des also Begünstigten zu erheben.

Man könnte es die Befriedigung der Liebe nennen.

(S. Joh. 3, 16; 2. Kor. 8, 9; in letzter Stelle haben

wir die Gnade in ihrer göttlichen Fülle.) Barmherzigkeit

aber kennzeichnet den Empfänger stets als einen,

der Unrecht gethan hat. „Barmherzig sein" heißt bereit

sein, ein Unrecht zu übersehen oder Zu vergeben, verbunden

mit dem Bewußtsein, daß derjenige, welchem die Barmherzigkeit

widerfährt, eigentlich eine entgegengesetzte Behandlung

verdient. Man nennt dies unter den Menschen

132

eine zum Vergeben geneigte Gesinnung, eine friedliebende

Veranlagung des Charakters. Die Christen sollten jedoch

Barmherzigkeit üben aus dem höheren Beweggründe, daß

ihnen selbst seitens des Herrn Barmherzigkeit zu teil geworden

ist; und indem sie daran denken, noch völliger

Barmherzigkeit zu erlangen, sind sie „barmherzig" gegen

ihre Mitmenschen.

Indes möchte gefragt werden: Worin besteht denn

der Lohn, der hier den Barmherzigen verheißen wird —

„ihnen wird Barmherzigkeit widerfahren" ? Wir bedürfen

doch im Himmel keiner Barmherzigkeit mehr. Sicherlich

nicht. Nichtsdestoweniger ist die Verheißung zukünftig,

mögen wir sie nun buchstäblich auf die Juden, oder

moralisch auf die Christen anwenden. Onesiphorus war

ohne Zweifel ein Christ, und Paulus fleht für ihn, „daß

er von feiten des Herrn Erbarmen finde an jenem Tage",

d. h. zur Zeit der zukünftigen Belohnungen. Das Herz

des Apostels war so voll von Dankbarkeit für die besondere

Freundlichkeit und Liebe, die Onesiphorus ihm bewiesen

hatte, indem er sein Leben aufs Spiel setzte, um

Paulus aufzusuchen und ihm im Gefängnis zu dienen,

daß er für ihn um eine Belohnung bat, die einen Widerschein

seines edlen Liebesdienstes bilden und diesen für

immer in Erinnerung halten würde. Das ist, wie wir

nicht bezweifeln, die Weise des Himmels, besonders aber

während der Dauer des tausendjährigen Reiches. Jeder

Liebesdienst, von einem Becher kalten Wassers an und

aufwärts, wird an jenem Tage nicht nur belohnt werden,

sondern die Belohnung wird den Dienst kennzeichnen, und

dieser wird auf solche Weise in ewiger Erinnerung bleiben.

Dies geht klar aus vielen Stellen der Schrift hervor;

133

Wir möchten nur eine besonders schöne hier anführen:

„Und die Nationen sind zornig gewesen, und Dein Zorn

ist gekommen und die Zeit der Toten, um gerichtet zu

werden, unddenLohnzu gebenDeinenKnechten,

den Propheten, und den Heiligen und denen,

die Deinen Namen fürchten, den Kleinen und

den Großen." (Offbg. 11, 18.) Der Kleinen wie

der Großen wird an jenem Tage gedacht werden. Welch

eine Gnade! Welch ein Tag wird es sein! Möchten

wir stets daran denken bei all unserm Dienst, den wir

heute unserm geliebten Herrn erweisen können!

Doch mancher wird sagen: Was kann ich Großes

für den Herrn thun? Wenn ich nur dort sein werde,

so will ich gern auf jeden Lohn verzichten. — Allen, die

so reden, möchte ich zurufen: Halt! sehet zu, daß ihr

euch nicht auf einen verkehrten Boden begebet! Viele

reden nur so, um ihre geistliche Trägheit und ihre Welt-

förmigkeit zu entschuldigen. Was will der Herr uns in

diesen Seligpreisungen lehren? Jedenfalls das Eine,

daß sich jeder Charakterzug, der hier „glückselig" gepriesen

wird, in jeder Seele findet, die aus Gott geboren ist,

wenn auch nicht überall in gleicher Stärke. Wir sehen

Armut des Geistes in dem einen Gläubigen und hervorragende

Thätigkeit in dem andern. Aber die Trauernden

werden getröstet werden, die Sanftmütigen werden das

Land ererben, und den Barmherzigen wirb Barmherzigkeit

widerfahren.

Möge der Herr uns alle dahin leiten, mehr und

mehr in dieser himmlischen, göttlichen Gnade der Barmherzigkeit

überströmend zu sein! In der Ausübung der

Barmherzigkeit gegen andere werden wir immer von neuem

134

die Lieblichkeit des Erbarmens Gottes gegen unsre eigne

Seele schmecken. Ein gnädiges Auge, ein mitfühlendes

Herz und eine offene Hand tragen ihre göttliche Belohnung

mit sich. Wer verabscheut nicht den Charakter jenes

Knechtes, dem von seinem Herrn zehntausend Talente erlassen

wurden, der aber seinen Mitknecht um hundert

Denare willen ins Gefängnis werfen ließ? Und andrerseits,

wer bewundert nicht die Barmherzigkeit, die sich in

jenem Samariter kundgab, der dem unter die Räuber Gefallenen

so bereitwillig die Nächstenpflicht erwies? Das

ist die Barmherzigkeit des Evangeliums, wenn wir es so

nennen dürfen, die stets darauf aus ist, den verlornen

Sünder zu erretten. Aber vergessen wir auch jene Art

von Barmherzigkeit nicht, die sich in Worten, Blicken und

Thaten kundgiebt. Barmherzigkeit — das ist die große,

wichtige Sache, die dem menschlichen Geschlecht not thut;

Sünder, Gläubige, alle bedürfen sie! Gott selbst ist

ihre Quelle in Christo Jesu. Möchten wir Kanäle

sein, durch welche sie sich ungehindert ergießen kann, zum

leiblichen und geistlichen Wohle unsrer Mitmenschen!

(Fortsetzung folgt.)

Ein schöner Wahlspruch.

„Daher, meine geliebten Brüder, seidfest, unbeweglich,

allezeit überströmend in dem Werke

des Herrn, da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich

ist im Herrn." (1. Kor. 15, 58.)

Diese Worte bilden einen außergewöhnlich schönen

Wahlspruch für den christlichen Arbeiter — und jeder

Christ sollte ein Arbeiter sein. Wir finden darin eine un

135

bewegliche Festigkeit verbunden mit unermüdlicher Thätigkeit.

Diese Verbindung ist schön und überaus wichtig.

Manche von uns haften so ängstlich und engherzig an

gewissen Grundsätzen, daß sie sich fast fürchten, an irgend

welcher weitherzigen, christlichen Thätigkeit teilzunehmen.

Andere wieder haben alle ihre Gedanken so sehr auf den

Dienst gerichtet, daß sie, um den gewünschten Zweck zu

erreichen und große Erfolge zu sehen, nicht zögern, die

Grenzlinie der Wahrheit und gesunder Grundsätze zu überschreiten.

Nun, unser Wahlspruch enthält ein göttliches Gegenmittel

für beide Uebel. Er errichtet eine solide Grundlage,

auf welcher wir mit festem Vorsatz des Herzens und unerschütterlicher

Entschiedenheit stehen können. Wir dürfen

nicht um eines Haares Breite von dem schmalen Pfade

der göttlichen Wahrheit abweichen, wenn wir auch durch

die scheinbar überzeugendsten menschlichen Beweisgründe

dazu versucht werden. „Gehorchen ist besser als Opfer,

Aufmerken besser als das Fett der Widder." (1. Sam.

15, 22.) Schöne und zugleich ernste Worte! Möchten

sie sich tief in das Herz eines jeden Arbeiters eingraben!

Sie sind von besonderem Werte in unsern Tagen, wo so

viel Eigenwille herrscht in der Art des Wirkens, eine so

starke Neigung, zu thun, was gut ist in unsern eignen

Augen, und wo die unumschränkte Autorität des Wortes

Gottes so vielfach außer acht gelassen wird.

Es ist wahrhaft betrübend zu sehen, mit welcher

Entschiedenheit das Wort Gottes selbst von solchen beiseite

geschoben wird, die ihrem Bekenntnis nach es für

das Wort Gottes halten. Wir reden jetzt nicht von der

Frechheit des offenbaren Unglaubens, sondern von der

136

herzlosen Gleichgültigkeit so vieler rechtgläubiger (wie man

sie nennt) Bekenner. Tausende, nein, Millionen bekennen

zu glauben, daß die Bibel Gottes Wort sei, denken aber

trotzdem nicht im entferntesten daran, sich seiner Autorität

bedingungslos zu unterwerfen. Der menschliche Wille

herrscht, die menschliche Vernunft regiert. Die wichtigen

Fragen sind: Was ist schicklich? wie errege ich am

wenigsten Anstoß in dieser Welt? wie richte ich meinen

Weg am bequemsten ein? Die ernsten, heiligen Grundsätze

der göttlichen Wahrheit bleiben unbeachtet; sie verwehen

wie dürre Herbstblätter vor dem Sturme volkstümlicher

Ansichten und Meinungen.

Wie wertvoll und wichtig ist daher angesichts dieser

Erscheinungen der erste Teil unsers Wahlspruchs: „Daher,

meine geliebten Brüder, seid fest, unbeweglich!"

Das Wörtchen „Daher" führt die Seele zurück zu der

festen Grundlage, welche der Apostel in dem vorhergehenden

Teil des Kapitels gelegt hat, indem er eine der erhabensten

und kostbarsten Wahrheiten entwickelt, die des

Christen Herz beschäftigen kann — eine Wahrheit, welche

die Seele über die finstern Nebel der alten Schöpfung

erhebt und auf den unerschütterlichen Felsen der Auferstehung

stellt. Auf diesem Felsen sollen wir fest und unbeweglich

stehen. Es ist nicht ein Festhalten an eignen Meinungen,

an irgend einer Lieblingslehre oder an dem einen oder

andern Lehrsystem, zu dem wir ermahnt werden, sondern

ein festes Ergreifen und treues Bekennen der Wahrheit

Gottes, deren ewiger Mittelpunkt Christus ist. Es gab

solche in Korinth, die da sagten, es gebe keine Auferstehung

der Toten. Es gab solche — und es hat deren immer

gegeben, und giebt es auch heute noch —, die nicht

137

blieben in der Lehre unsers Herrn und Heilandes Jesu

Christi, sondern mancherlei und fremde Dinge lehrten; und

diesen gegenüber ermahnt der Apostel die Gläubigen, fest

und unbeweglich zu sein.

Allein es giebt für den christlichen Arbeiter noch

etwas mehr zu thun, als fest auf dem Boden der Wahrheit

zu stehen. Er hat auch thätig zu sein in Liebe und

Gnade. Dies führt uns zu dem zweiten Teile unsers

Gegenstandes: „allezeit überströmend in dem Werke

des Herrn". Wenn einerseits der Boden der göttlichen

Wahrheit nie verlassen werden darf, so muß andrerseits

auch das Werk des Herrn sorgfältig, mit allem Fleiß

und mit aller Ausdauer getrieben werden. Manche find,

wie bereits bemerkt, so ängstlich besorgt, etwas Verkehrtes

zu thun, daß sie gar nichts thun; andere wieder, aus

Furcht, nichts zu thun, sind so eifrig darauf aus, zu

arbeiten und zu wirken, daß sie in allerlei verkehrte Dinge

hineingeraten. Unser Wahlspruch korrigiert beide. Er

lehrt uns, unsre Angesichter hart wie einen Kieselstein zu

machen, wenn eS sich um die Aufrechthaltung der Wahrheit

handelt; und er leitet uns andrerseits an, in wahrer

Weitherzigkeit auszugehen und alle unsre Kräfte und

Fähigkeiten in den Dienst des Herrn zu stellen.

Beachten wir ferner den Ausdruck: „Werk des

Herrn". Wir dürfen nicht denken, daß alles das, was von

bekennenden Christen auf dem Gebiet der Missionsthätigkeit

w. geschieht, Anspruch auf den Titel „Werk des

Herrn" machen kann. Ach! eS giebt eine Menge Dinge,

die als ein Dienst für den Herrn unternommen werden,

mit denen aber ein geistlicher Christ unmöglich den heiligen

Namen Christi verbinden könnte. Wir möchten hier nicht

138

in Einzelheiten eingehen; was wir wünschen, ist, daß die

Gewissen der Gläubigen geübt werden möchten bezüglich

des Werkes, an welchem sie teilnehmen. Wenn jemals,

so ist es in unsern Tagen geboten, die Autorität Christi

auch bezüglich alles dessen anzuerkennen, woran wir im

Wege des Dienstes oder Werkes unsre Hand legen. Er

erlaubt uns, gepriesen sei Sein Name! Ihn mit den gewöhnlichsten

Dingen und Beschäftigungen des täglichen

Lebens in Verbindung zu bringen. Wir dürfen, ja, wir

sollen sogar essen und trinken in Seinem heiligen Namen

und zu Seiner Ehre. Der Bereich des Dienstes ist

wahrlich weit genug; er wird nur begrenzt durch jenes

ernste Wort: „Werk des Herrn". Der christliche Arbeiter

sollte von allem seine Hand zurückziehen, was nicht

im Namen des Herrn geschehen kann, oder mit andern

Worten, von alledem, was nicht mit Seiner Heiligkeit

und Wahrheit in Uebereinstimmung ist. Er sollte sich,

ehe er einen Dienst beginnt, stets in Aufrichtigkeit die

Frage vorlegen: Kann dies wirklich das „Werk des Herrn"

genannt werden? aber im Bejahungsfälle sollte er auch

das, was seine Hand zu thun findet, thun mit aller Kraft

und aller Treue, wissend, daß seine „Mühe nicht vergeblich

ist im Herrn". Köstliche, ermunternde Verheißung!

Möchte sie uns antreiben, die Zeit auszukaufen und keine

Gelegenheit unbenutzt vorübergehen zu lassen! Der Herr

ist nahe!

Gedanken.

Alles, was der Herr Jesus hienieden that, hatte,

wenn wir es so nennen dürfen, einen himmlischen Geschmack,

und das gerade ist es, was die Welt nicht er

139

tragen kann. Sie haßte Ihn; und je treuer wir als

Jünger sind, und je mehr unser Leben und Thun himmlisch

ist, desto mehr wird sie uns hassen.

Das Volk Gottes sollte stets warten mit dem Gürtel

und derLampe, den schönen beständigen Symbolen ihrer

Berufung, bis der Herr erscheint; d. h. ihre Seele sollte

gleichsam aufgeschürzt sein zu heiliger Absonderung von

den gegenwärtigen Dingen, und ihr Herz erhellt durch

die sehnsuchtsvolle Erwartung der zukünftigen.

Wir sind oft unruhig und besorgt. Was ist die

Ursache, die wahre Quelle davon? Wir wünschen irgendwo

zu sein, wo Gott uns nicht haben will, oder irgend etwas

zu sein, wozu Er uns nicht bestimmt hat.

Als Petrus eS am besten meinte und mit feinem

Herrn in Gefängnis und Tod gehen wollte, mußte er

entdecken, welch ein böses Herz er hatte; und als er das

Schlimmste that und seinen Herrn verleugnete, erfuhr er,

welch ein gütiges, liebevolles Herz in Christo war.

Christus starb nicht nur „sür unsre Sünden,

nach den Schriften", sondern Er wurde auch „für uns zur

Sünde gemacht". Diese letztere Wahrheit wird von vielen

Gläubigen nicht verstanden; daher ist ihr Friede schwankend,

ihre Freude veränderlich. Ein unerschütterlicher Friede

und eine ungestörte Freude können erst dann von uns

genossen werden, wenn wir verstanden haben, daß alle

unsre Uebertretungen vergeben und unsre Sünde gerichtet ist,

und wenn in unserm Geiste „kein Trug" ist. (Ps. 32, 1. 2.)

140

Es giebt in der Geschichte eines jeden Menschen

einen entscheidenden Wendepunkt, wo es sich zeigen wird,

auf welchem Boden er steht, welche Beweggründe ihn

leiten und was für ein Ziel er verfolgt.

Unsre Sünden können nie wieder in die Gegenwart

Gottes kommen, da ja Christus, der sie alle getragen

und hinweggethan hat, an ihrer Statt dort ist.

Die Felsenkluft.

„Ich werde dich in die Felsenkluft stellen und meine Hand

über dich decken." — (2. Mose 34, 22.)

In der Felsenkluft geborgen,

Sicher vor des Sturms Gebraus,

Still und froh und ohne Sorgen

Ruh' ich nun in Jesu aus.

In der Felsenkluft ist Frieden,

Trotz der Flut, die mich umgiebt;

Mitten in der wilden Brandung

Bleibt die Ruhe ungetrübt.

Lang, ja, lang hab' ich geirret

Auf dem weiten, düstern Meer;

Wollt' auch wo mein Schifflein ankern,

Ach, der Strand war öd' und leer.

Aber nun hab' ich gefunden

Einen Hafen sichrer Ruh',

In der Kluft des ew'gen Felsen,

Der mich deckt so selig zu.

In der Felsenkluft geborgen,

Sicher vor des Sturms Gebraus,

Still und froh und ohne Sorgen

Ruh' ich nun auf ewig aus.

(Glaubenslieder.)

Christus, wandelnd inmitten der sieben

Versammlungen. '

Die Sendschreiben an die sieben Versammlungen in

Kleinasien (Offbg. 2. 3) geben uns bekanntlich ein Bild

von der bekennenden Kirche auf der Erde. Christus wird

dort gesehen als wandelnd inmitten der sieben Versammlungen.

Diese Thatsache beweist, daß in dem praktischen

Verhältnis zwischen Christo und der Kirche eine

große Veränderung eingetreten ist. Es ist nicht mehr

das ursprüngliche, so zu sagen natürliche oder normale

Verhältnis zwischen Bräutigam und Braut, Haupt und

Gliedern. Wohl ist die Kirche *) noch Sein Haus, aber

Er hat nicht mehr den ersten Platz in demselben; vielmehr

wird Sein Recht über dieses Haus in Frage gestellt.

Er wandelt durch dasselbe in einer Weise, wie Er einst

im Tempel umherwandelte. Dieser war auch Sein

Haus, auf welches Er allein ein Recht hatte; trotzdem

aber wagten die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Nettesten,

Ihm dieses Recht streitig zu machen. (Mark. 11,

27. 28.) „Er kam in das Seinige, und die Seinigen

nahmen Ihn nicht an." (Joh. 1, 11.)

*) in ihrem Zustand der Verantwortlichkeit.

Dasselbe traurige Verhältnis haben wir jetzt in der

bekennenden Kirche vor uns; aber nur dann, wenn wir

verstehen, was dieses Verhältnis zwischen Christo und

— 142 —

der Kirche nach den Ratschlüssen Gottes ist,

können wir den tiefen Fall der letzteren ermessen, sowie

die große Veränderung verstehen, die in der Stellung

Christi ihr gegenüber eingetreten ist. Anstatt in ihrer

Mitte zu sein zu dem einzigen Zweck, sie zu segnen und

sich ihrer Zuneigungen zu erfreuen, wandelt Er durch sie

hindurch in einem richterlichen Charakter. Er hat nötig.

Seine Rechte über sie geltend zu machen, und stellt sich

zunächst als Der dar, „der die sieben Sterne in Seiner

Rechten hält". (Offbg. 2, 1.)

Bekennen wir Christen zu sein, so sagen wir damit,

daß wir ein Eigentum Christi sind, und daß niemand außer

Ihm ein Recht an uns hat. Dies gilt von der ganzen

Kirche wie von jedem einzelnen Christen. Unser Leben,

unsre Herzen, unsre ganzen Zuneigungen gehören Ihm

allein. Ihm gebührt der erste Platz in unserm Privat-

und Gemeinschaftsleben, in unsern Familien und Versammlungen.

Er wandelt inmitten der Versammlungen,

kommt zu einem jeden von uns, zu dem Schreiber und

Leser dieser Zeilen; Er durchschaut die verborgensten

Winkel unsrer Herzen und Häuser. Er kann von jedem

Einzelnen sagen: „Ich kenne deine Werke".

Und nun, geliebter Leser, was sieht Er bei dir und

mir? Können wir mit dem Apostel sagen: „Das Leben ist

für mich Christus" ? (Phil. 1, 21.) Es handelt sich nicht

zunächst um die Frage: „Was sieht Er in der Kirche?"

oder: „was sieht Er bei diesem und jenem?" sondern: „was

sieht Er bei dir und mir?" Betreffs der Kirche in ihrer

Allgemeinheit hat Er bereits gesagt: „Ich habe wider dich,

daß du deine erste Liebe verlassen hast." (Offbg. 2, 4.)

Er hat keinen Platz mehr in ihren Zuneigungen, und

143

jede Hoffnung auf eine Wendung zum Besseren ist verloren,

ach! für immer verloren. Aber du und ich bekennen

wahre Christen zu sein; wir haben uns von

dem Bösen in der Kirche getrennt, um auf der Seite des

Herrn zu stehen. Geben w i r dem Herrn, was Ihm von

Rechtswegen gehört, unser Herz und unsre Zuneigungen?

Oder suchst du dich mit dem Gedanken zu trösten, daß,

wenn auch vieles zu wünschen übrig bleibe, doch noch

manches Gute bei dir sei? Dann wisse, daß das ein

schlechter Trost ist, der nicht standhält vor Dem, der da

wandelt inmitten der sieben goldnen Leuchter. Sicherlich

fand Er in der Versammlung zu Ephesus viel Gutes —

wohl mehr als in irgend einer christlichen Versammlung

unsrer Tage — Eifer, Thätigkeit, Absonderung vom

Bösen u. s. w.; und Er erkannte es bereitwilligst an.

Aber vermochte das alles den Mangel eines ganzen Herzens

für Christum zu ersetzen? Wir kennen die Antwort des

Herrn: „Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und thue

Buße und thue die ersten Werke". Alle ihre guten

Werke, ihr Eifer, ihre Thätigkeit rc. reichten nicht an die

ersten Werke, weil sie nicht aus der allein wahren Quelle

hervorgingen — aus einem Herzen für Christum. Der

Herr verlangt unser Herz, und Er hat ein Recht daran,

denn Er hat einen teuren Preis für uns bezahlt; Er hat

uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben. Kann

Er zufrieden sein mit einem noch so guten Wandel ohne

Herz für Ihn? Sicherlich nicht; heute ebensowenig wie

damals.

Auch ist es nutzlos, unsern Mangel an Liebe für

Christum nur oberflächlich zu bekennen. Das Einzige,

was Ihm gefallen kann in unsern Tagen eines ver

144

weltlichten Christentums, ist ein zerschlagenes Herz.

Ein solches Herz geziemt uns im Blick aus uns selbst

und den kalten, herzlosen Zustand der Christen im Allgemeinen;

und wenn wir ein wirkliches Verständnis von

jenem Mangel und diesem Zustand haben, so werden wir

nicht anders können als uns in den Staub beugen und

um Gnade und Erbarmen zu Ihm rufen.

Es ist bemerkenswert, die verschiedenen Charaktere

zu sehen, unter welchen Christus sich jeder einzelnen Versammlung

vorstellt. Er richtet sich dabei ganz nach dem

Zustand, in welchem Er jede findet. So tritt Er zum

Beispiel nicht vor die Versammlung in Smyrna mit dem

scharfen, zweischneidigen Schwerte, noch vor diejenige in

Philadelphia mit Augen wie eine Feuerflamme und Füßen

gleich glänzendem Kupfer. Er hat in Smyrna nicht nötig

zu schlagen, denn sie lag bereits im Staube; Er hat nur

Worte des Trostes und der Gnade für sie. Ihr Zustand

war in Uebereinstimmung mit Ihm; sie ging denselben

Weg und machte dieselben Erfahrungen, wie Er sie hienieden

in Seiner Verwerfung gemacht hatte — ein Beweis

von der Aechtheit ihres Christentums. Verfolgt,

geschmäht und verworfen wie Er, konnte Er ihren Blick

auf sich selbst lenken als Den, der auf diesem Pfade

eins mit ihr war; der für sie im Tode gewesen war,

nun aber als Ueberwinder desselben lebte in die Zeitalter

der Zeitalter. Er tröstet sie und richtet sie auf mit

ähnlichen Worten, wie Er Seinen geliebten Jünger

Johannes aufgerichtet hatte. (Vergl. Kap. 1, 17. 18 mit

2, 8.) „Fürchte dich nicht!" ruft Er beiden zu. Würde

Er wohl so zu ihr geredet haben, wenn sie in den Wegen

der Welt gewandelt und sich den Genüssen und Be

145

quemlichkeiten derselben hingegeben hätte? „Ich kenne

deine Trübsal und deine Armut... und die Lästerung

von denen, die da sagen, sie seien Juden,' und sind es nicht,

sondern eine Synagoge des Satans. Fürchte nichts von

dem, was du leiden wirst." Die Welt, die religiöse wie

die heidnische, war gegen sie; der Herr aber war sür sie.

So ist eS immer, wenn die Christen ihren wahren Platz

einnehmen. Der Herr richtet die Niedergebeugten

auf und giebt den Demütigen Gnade. (Ps. 146, 8;

1. Petr. 5, 5.)

Ganz umgekehrt stand es in Pergamus; dort war

die Welt für die Christen, und der Herr gegen sie.

Wie verschieden war der Zustand dieser beiden Versammlungen,

sowie das Verhalten des Herrn ihnen gegenüber!

Denselben Unterschieden begegnen wir heute, wenn auch

vielleicht nicht in der gleichen Stärke. Während die einen

wegen ihrer Hingebung für Christum und ihres Festhaltens

an der Wahrheit von der Welt verspottet und verfolgt

werden, sind die andern von ihr geachtet und geehrt, oder

nehmen gar einen hervorragenden Platz in ihr ein, wie

einst Lot in den Thoren Sodoms. Wie schmerzlich für

den Herrn, Gläubige Hand in Hand mit der Welt

gehen zu sehen! Sie stehen in unmittelbarem Widerspruch

mit Ihm und mit allen denen, die ihrer Treue

wegen zu leiden haben und die Schmach Christi hienieden

nagen.

Der Apostel Paulus und die Gläubigen zu Korinth

standen ihrem Bekenntnis nach auf einem und demselben

Boden, aber welch ein großer Unterschied machte sich in

ihrem praktischen Verhalten bemerkbar! „Denn mich

dünkt", sagt der Apostel, „daß Gott uns, die Apostel,

146

als die Letzten dargestellt hat, wie zum Tode bestimmt;

denn wir sind der Welt ein Schauspiel geworden, sowohl

Engeln als Menschen. Wir sind Narren um Christi

willen, ihr aber seid klug in Christo ; wir schwach, ihr

aber stark; ihr herrlich, wir aber verachtet. Bis auf die

jetzige Stunde leiden wir sowohl Hunger als Durst, und

sind nackt, und werden mit Fäusten geschlagen, und haben

keine bestimmte Wohnung, und mühen uns ab, mit unsern

eignen Händen arbeitend. Geschmäht, segnen wir; verfolgt,

dulden wir; gelästert, bitten wir; als Auskehricht der

Welt sind wir geworden, ein Auswurf aller bis jetzt."

(1. Kor. 4, 9—13.) Müssen wir, angesichts einer solchen

Treue, uns nicht tief schämen?

Der Herr wandelt inmitten der Versammlungen auch

in unsern Tagen, und, geliebter Leser, Er beobachtet auch

dich und mich. Kann es uns gleichgültig sein, ob Er

Worte des Trostes und der Ermunterung an uns richtet,

oder ernste und durchbohrende Worte des Tadels? Wandeln

wir auf dem Pfade, wo Er das erstere thun kann?

Befinden wir uns unter den Armen im Geiste, den

Trauernden und den nach der Gerechtigkeit Hungernden

und Dürstenden u. s. w. ? Oder sind wir zufrieden mit

einem weltlichen Christentum? zufrieden, ein bequemes

Leben zu führen und unsre eignen Pläne zu verfolgen,

unbekümmert um die Ehre und Verherrlichung des Herrn?

Ach, wenn es so bei dir steht, mein Leser, dann wisse,

daß du das Wort Gottes nicht für, sondern gegen

dich hast! Du magst dein Gewissen zu beschwichtigen

suchen, magst deine Verhältnisse, deine gesellschaftliche

Stellung, oder was es sonst sei, zur Entschuldigung anführen;

aber das Wort Gottes ist gegen dich. Wie un

147

tadelhaft auch dein äußerer Wandel sein, und wie regelmäßig

du selbst den Versammlungen beiwohnen magst,

das Wort Gottes verurteilt deine Gesinnung, den Boden,

auf dem du stehst. Dein Herz, dein Leben, die Quelle

deiner Freuden ist in der Welt, und nicht in Christo.

„Ich weiß, wo du wohnst, wo der Thron des Satans

ist." Man beachte wohl, daß der Herr hier nicht sagt:

„Ich kenne deine Werke", sondern: „Ich weiß, wo du

wohnst" — nicht im Himmel, in der glückseligen Gemeinschaft

mit Jesu, sondern in der Welt, da wo Satan

Fürst ist. Die Welt ist für dich nicht mehr eine Wüste,

sondern ein Ruhort, eine Heimat. Deine ganze Stellung

steht im Widerspruch mit deinem christlichen Bekenntnis. Und

darum verurteilt dich das Wort: „Wisset ihr nicht, daß

die Freundschaft der Welt Feindschaft wider Gott ist?

Wer nun irgend ein Freund der Welt sein will, stellt sich

als Feind Gottes dar." (Jak. 4, 4.) Was haben die

zu erwarten, die auf der Erde wohnen? Die Stunde

der Versuchung. (Offbg. 3,10.) Du sagst vielleicht: „Als

Christ werde ich davor bewahrt bleiben". Ganz recht.

Aber du stehst in den Reihen derer, die jene Stunde zu

erwarten haben. Wenn der Apostel sagt: „Dieser Dinge

wegen kommt der Zorn Gottes über die Söhne des Ungehorsams",

dann fügt er hinzu: „So seid nun nicht

ihre Mit gen offen." (Eph. 5, 6. 7.) Vielleicht sagst

du: „Ich habe keine Gemeinschaft mit der Welt". Aber

die Frage ist: „Hast du die Welt in deinem Herzen oder

Christum? Wandelst du in einer irdischen oder

in einer himmlischen Gesinnung?" Beides kann nicht

zusammengehen. Gott und die Welt, Christus und Satan,

Geist und Fleisch stehen im schroffsten Gegensatz zu ein

148

ander; zwischen beiden zieht das Wort Gottes eine scharfe

Grenzlinie. Dieses Wort „ist schärfer als jedes zweischneidige

Schwert, und durchdringend bis zur Zerteilung der Seele

und des Geistes, sowohl der Gelenke als des Markes,

und ein Beurteiler der Gedanken und Gesinnungen des

Herzens; und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, sondern

alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Dessen, mit dem

wir es zu thun haben." (Hebr. 4, 12. 13.)

Erinnern wir uns jedoch daran, daß das Schwert

nicht gegen die Gläubigen in Smyrna gerichtet war, wider

jene Armen und von der Welt Unterdrückten, aber Reichen

in Christo und Mitgenossen Seiner Leiden. Welch ein

Vorrecht, in den Reihen dieser Treuen gefunden zu werden!

die Billigung des Herrn betreffs unsers Verhalten zu

haben! ein Mitgenosse Seiner Leiden zu sein! Ihn als

das „verborgene Manna" zu genießen inmitten der Trübsale

dieser armen Erde, und Ihm auf Seinem einsamen

Pfade der Verwerfung zu folgen! Die Welt mit allen

ihren Schätzen und Herrlichkeiten vermag daS Glück einer

solchen verborgenen Gemeinschaft mit Ihm nicht zu ersetzen

— einer Gemeinschaft, die im Himmel ihre ungestörte

Fortsetzung finden, und deren inniges Verhältnis

kein Dritter kennen wird. Es ist eine persönliche

Sache, sowohl hier auf der Erde, als auch später in der

Herrlichkeit, und hängt ab von unsrer persönlichen Treue.

„Dem, der überwindet, dem werde ich von dem verborgenen

Manna geben; und ich werde ihm einen weißen

Stein geben, und auf den Stein einen neuen Namen geschrieben,

welchen niemand kennt, als wer Ihn empfängt."

(Offbg. 2, 17.)

Denselben schönen Zug einer praktischen Ueberein-

149

stimmung mit dem Herrn finden wir bei der Versammlung

in Philadelphia. Darum erscheint Christus auch hier

nicht in Seinem Charakter als Richter, sondern alles zeugt

von Seinem innigen Verhältnis zu dieser geliebten Versammlung.

Seine persönliche Erscheinung und Seine

Worte dienen nur zu ihrer Ermunterung und Freude.

Er erkennt die Gläubigen an, trotzdem sie eine kleine

Kraft haben; und indem Er dies thut als „der Heilige

und der Wahrhaftige", bezeugt Er dadurch umsomehr

ihren guten Zustand. Würde Er dies gethan haben,

wenn sie nicht von dem sie umringenden Bösen, von Irrtum

und Lüge abgesondert gewesen wären? Wie hätte

Er, der Heilige und Wahrhaftige, mit solchen Dingen in

Gemeinschaft sein können? Aber Er wendet das scharfe,

zweischneidige Schwert gegen sie ebensowenig an wie gegen

Smyrna, sondern bezeugt ihnen, daß sie Sein Wort bewahrt,

Seinen Namen nicht verleugnet und das Wort

Seines Ausharrens bewahrt hätten. Dieses Zeugnis war

der schlagendste Beweis von ihrer Absonderung vom Bösen.

Denn wie könnte man das Wort bewahren, und gleichzeitig

in Verbindung sein mit Irrtum und Lüge? Oder

wie könnte man den Namen Jesu wertschätzen, und gleichzeitig

in Dingen leben, die mit diesem heiligen Namen

im Widerspruch stehen?

Wie erfrischend ist es, eine solche Versammlung zu

betrachten, die ihre Absonderung bewahrte, während in

den übrigen Versammlungen sich so viele traurige Dinge

offenbarten! Sicherlich erkannte der Herr all das Gute

an, das sich in diesen vorfand, aber wie viel Betrübendes

war damit verbunden! Ephesus hatte die „erste Liebe"

verlassen. Pergamus hatte die Welt zu ihrem Wohnplatz

— ISO —

erwählt und duldete falsche Lehrer in ihrer Mitte»

Thyatira ging noch weiter und duldete das Weib Jesabel,

welches Sittenlosigkeit und offenbaren Götzendienst einführte.

In Sardes zeigte sich ein totes Formen-Christentum;

und in Laodicäa endlich Lauheit, verbunden mit

religiöser Anmaßung. Diese Anmaßung erscheint um so

häßlicher, als der Herr nicht das Geringste in Laodicäa

anzuerkennen findet.

Diese Versammlungen geben uns in ihrer Gesamtheit

ein Bild von dem gegenwärtigen Zustand der Christenheit.

Die große Masse derselben kennt Christum nicht, obwohl

sie Seinen Namen trägt. Während ein Teil in Aberglauben

und Abgötterei versunken ist, giebt sich ein andrer

dem offenbaren Unglauben hin und leugnet Christum und

Sein Wort. Eine dritte Klaffe verwirft wiederum die

beiden ersten, bekennt den Glauben an Christum und Sein

Wort, ist dabei aber dem Leben aus Gott völlig fremd.

Obgleich sie die äußern Formen des Christentums entschieden

aufrecht hält, fern bleibt von groben Lastern und

Ausschweifungen, vielmehr auf einen sittlichen Lebenswandel

dringt, kann der Herr trotzdem nicht das geringste Anerkennenswerte

bei ihr entdecken. Ihr Zustand zeugt nur

von Eigengerechtigkeit und stolzer Anmaßung, ohne irgendwelches

Interesse für Christum. Und während der Herr

den beiden ersten Klassen Sein Kommen zum Gericht

ankündigt, giebt Er Seinem Widerwillen gegen die letztere

Ausdruck durch die Worte: „Ich werde dich auSspeien

aus meinem Munde." (Offbg. 2, 23; 3, 3. 16.)

Wie wohlthuend berührt es daher das Herz, inmitten

dieses traurigen Zustandes der Dinge ein Häuflein zn

sehen, das dem Herzen des Herrn, des Heiligen und

151

Wahrhaftigen, entspricht! Sie haben nach Seinem

eignen Urteil Sein Wort bewahrt und Seinen

Namen nicht verleugnet; sie wandeln auf dem schmalen

Pfade, den Er ihnen in Seinem Worte vorgezeichnet, und

auf welchem Er selbst hienieden gewandelt hat — dem

Pfade der Absonderung vom Bösen. Sie haben sich

fern gehalten von dem, was sich nicht mit Seinem heiligen

Namen verbinden läßt. Ferner bezeugt ihnen der Herr,

daß sie das Wort Seines Ausharrens bewahrt haben,

wodurch Er sie wiederum eins mit sich macht. Welch

eine Ermutigung für dieses kleine, schwache Häuflein, sich

eins mit Ihm, dem Heiligen und Wahrhaftigen, zu wissen,

und zwar auf Grund des Zeugnisses des Herrn selbst!

zu wissen, daß der von ihnen eingehaltene Weg der von

dem Herrn anerkannte ist! Dieses Bewußtsein ist überaus

tröstlich für sie, verleiht ihnen Kraft und Entschiedenheit,

und läßt sie mit Freuden auf alle Anerkennung seitens

der Welt verzichten.

Die bekennende Kirche hat die Anerkennung der

letzteren gesucht und gefunden, dafür aber diejenige des

Herrn eingebüßt. Er ist wider sie, Er steht ihr gegenüber

mit dem scharfen, zweischneidigen Schwerte, mit

Augen wie eine Feuerflamme und Füßen gleich glänzendem

Kupfer, als Der, der Nieren und Herzen erforscht. Und

der Augenblick naht mit schnellen Schritten heran, wo

Er ihr vergelten wird nach ihren Werken. Zuvor aber

wird Er die wahren Gläubigen, den treuen Ueberrest,

aus ihrer Mitte wegnehmen. Bis dahin ermuntert Er

diesen mit den herrlichen Worten: „Ich komme bald;

halte fest, was du hast, auf daß niemand deine Krone

nehme!" Er zeigt ihm im Voraus, was seiner wartet:

152

„Wer überwindet, den will ich zu einer Säule machen

im Tempel meines Gottes, und er wird nicht mehr

hinausgehen; und ich will auf ihn schreiben den Namen

meines Gottes und den Namen der Stadt meines Gottes,

des neuen Jerusalem, das aus dem Himmel herniederkommt

von meinem Gott, und meinen neuen Namen."

(Offbg. 3, 7—12.) Sie, die schwach und arm in sich

selbst, hienieden gleich Ihm für nichts geachtet wurden,

will Er zu Säulen machen in dem Tempel Seines

Gottes. *) Sie, die hier eins mit Ihm waren in Seiner

Verwerfung, sollen auch eins mit Ihm sein in Seiner

Herrlichkeit. Sie haben Sein Wort bewahrt, Seinen

Namen nicht verleugnet und teilgenommen an Seinem

Ausharren; sie sollen auch den Namen Seines Gottes,

der Stadt Seines Gottes, und Seinen neuen Namen

tragen.

*) Sie sind schon hier, ohne daß die stolze, sichere Welt es

ahnt, die geheimnisvollen Stützen zur Ausrechthaltung der bestehenden

Ordnung, der Damm gegen den drohenden Umsturz.

Ihretwegen sind die Gerichte bis jetzt noch zurückgehalten worden.

(2. Thess. 2, 7.) ..............

Geliebter Leser! kannst du, in dem glücklichen Bewußtsein

der Anerkennung seitens des Herrn, auf diejenige

der Welt verzichten? Ist dir die erstere genug,

um ihretwegen alles hienieden aufzugeben und dem geliebten

Herrn auf Seinem schmalen Pfade zu folgen? Bist

du bereit, die ganze Welt gegen dich zu haben, aber

den Herrn für dich? oder wünschest du das Umgekehrte?

Ja, sind wir alle bereit, Ihm das zu geben, was Ihm

von Rechtswegen gehört — unser Herz?

Das sind Fragen, die das Herz bis auf den tiefsten

153

Grund erforschen. Laßt uns ihnen nicht ausweichen,

sondern sie erwägen angesichts Dessen, der inmitten der

sieben goldnen Leuchter wandelt, und der da sagt: „Siehe,

ich komme bald und mein Lohn mit mir, um einem jeden

zu vergelten, wie sein Werk sein wird" ! (Offbg. 22, 12.)

Der Weg des Glaubens in einer

bösen Zeit.

Ein Wort der Warnung und Ermunterung.

II.

Absonderung vom Bösen nicht genug.

Im Alten Testament wurde das Volk Gottes ermahnt,

„vom Uebelthun abzulassen" und „Gutes thun zu

lernen"; im Neuen Testament heißt es: „Verabscheuet

das Böse, haltet fest am Guten" und dergl.. (Jes. 1, 16.

17; Röm. 12, 9.) Bei gottesfürchtigen, vom Geiste

Gottes geleiteten Seelen gehen diese beiden Dinge auch

immer Hand in Hand. Dabei stehen zu bleiben und darin

zu ruhen, daß man sich vom Bösen abgesondert hat, würde

in der That gefährlich sein und vielleicht bald zu größerem

Uebel ausschlagen, oder aber in einer kalten, dürren Rechtgläubigkeit

enden. Es ist stets ein kritischer Augenblick

in unsrer Geschichte, wenn wir berufen werden, den alten

Sauerteig auszufegen oder uns zu reinigen von Gefäßen

zur Unehre, da die Gefahr nahe liegt, zu viel von unsrer

Handlung der Treue zu denken und aufgebläht zu werden,

anstatt in allen Dingen nur den einen Zweck, die Verherrlichung

Gottes im Gehorsam gegen Sein Wort, zu

verfolgen.

154

Im Blick auf das, was stets der Trennung vom

Bösen folgen sollte, mag es von Nutzen sein, einige der

vorbildlichen Beispiele zu betrachten, die uns im Alten

Testament mitgeteilt werden, und die immer die offenbare

Segnung Gottes im Gefolge hatten. Wir werden finden,

daß in jedem Falle der Anfang mit einer entschiedenen

Absonderung vom Bösen gemacht wurde. Blicken wir z. B.

auf das mächtige Werk Gottes, das in den Tagen des Königs

Hiskia vor sich ging. Der Stand der praktischen Frömmigkeit

war ein so niedriger, der von Jehova angeordnete

Weg der Segnung so völlig vergessen, daß die Lampen

ausgelöscht, die Thüren des Tempels verschlossen waren

und Unreinigkeit an der heiligen Stätte wohnte. Gottes

Mittelpunkt für Sein irdisches Volk war auf diese Weise

gänzlich verloren. Es ist schwer, sich einen solchen Zustand

der Dinge unter dem bekennenden Volke Gottes

vorzustellen; aber er giebt uns vorbildlich sehr ernste

Unterweisungen. Das Werk Gottes begann damit, daß

die Thüren geöffnet und die Unreinigkeit aus dem

Hause des Herrn hinausgeschafft wurde. Aber hörte man

damit auf? War das genügend? Sicherlich nicht. Hiskia

und sein Volk kehrten zurück zu dem, was — nicht von

Salomo, oder David, oder Samuel — sondern von Anfang

war. Sie wandten sich zu „dem Gesetz Moses,

des Mannes GotteS"; und deshalb entdeckten sie, daß

man das Passah seit langer Zeit nicht gefeiert hatte,

„wie es vorgeschrieben war". Dann handelten sie im

Glauben nach dem Worte, so wie es im Anfang

niedergeschrieben worden war, und Gottes Segen war in

wunderbarer Weise mit ihnen. „Und es war große

Freude in Jerusalem; denn seit den Tagen Salomos,

155

Des Sohnes Davids, des Königs von Israel, war desgleichen

in Jerusalem nicht gewesen." Das Passahfest,

der Tod und das Vergießen des Blutes des Lammes,

sowie das Essen desselben mit bittern Kräutern giebt uns

die kostbare Unterweisung, daß, wenn der Geist Gottes

wirksam ist, stets der Wohlgeruch der Leiden, des Todes

und des Blutvergießens unsers Herrn Jesu Christi vorhanden

sein wird; denn der Heilige Geist zeugt von Ihm

und verherrlicht Ihn. Es ist eitel, von einem Werke

Gottes zu reden, wenn das Opfer und Versöhnungswerk

des Sohnes Gottes und die Hoffnung Seiner Ankunft in

dem Dienste fehlen, oder die Autorität des geschriebenen

Wortes nicht den Seelen eingeprägt wird. (2. Chron.

29. 30.)

Wir finden nahezu dieselben Grundsätze des Geistes

wirksam in der großen Erweckung zu Josias Zeiten. DaS

gute Werk begann mit der Verurteilung dessen, was in

GotteS Augen böse war. Man reinigte mit aller Entschiedenheit

Juda und Jerusalem von den Höhen, den

Ascherim, den geschnitzten und gegossenen Bildern und riß

die Altäre der Baalim nieder. Dann wandte man sich

zu der Wiederherstellung und Ausbesserung des Hauses

Jehovas. Als „das Buch des Gesetzes JehovaS durch

Mose" im Tempel gefunden wurde, las Schaphan dasselbe

vor dem Könige, und mit tiefer Demütigung und

heiliger Furcht suchten Josia und die Seinen nach dem

Gehörten zu handeln. Nachdem sie sich von dem, was

Jehova verunehrte, gereinigt hatten und zu dem zurückgekehrt

waren, was „von Anfang war", zu „dem Gesetz

Jehovas durch Mose", feierten sie „dem Jehova Passah

Zu Jerusalem". Den Leviten wurde geboten, das Passah

156

zu schlachten, sich selbst zu heiligen und für ihre Brüder

zuzubereiten, damit sie nach dem Worte Jehovas

durch Mose thun könnten. Wir hören ferner, daß sie

alles dieses thaten nach der Vorschrift, „wie geschrieben

ist im Buche Mose". Wir finden also, gerade wie in

den Tagen Hiskias, daß sie zunächst sich in der ent--

schiedensten Weise von dem Bösen reinigten; dann kehrten

sie zu dem zurück, was von Anfang war, wie es im Gesetz

Moses geschrieben stand; und drittens handelten sie

nach dem Worte Jehovas und feierten das Passah. Und

wir lesen am Ende: „Und es war kein Passah gefeiert

worden in Israel wie dieses, seit den Tagen

Samuels, des Propheten; und alle Könige von

Israel hatten kein Passah gefeiert wie dasjenige, welches

Josia feierte." (2. Chron. 34. 35.)

In welch bemerkenswerter Weise stellten alle diese

vielen Opfer, die gebracht wurden, den Tod und das

Blutvergießen des Sohnes Gottes vorbildlich dar! Und

wir mögen Wohl fragen: Hat es jemals eine Zeit besondern

Segens in der Kirche Gottes gegeben, in welcher

nicht das Opfer Christi, Sein Leiden, Sein Tod und

Sein Blutvergießen vor den Seelen standen und einen

hervorragenden Platz in dem Dienst der Knechte Gottes

einnahmen?

Ein anderes ermunterndes Beispiel aus dem Alten

Testament liefern die Zeiten Esras und Nehemias, als

ein kleiner Ueberrest von Juda aus der babylonischen Gefangenschaft

in sein Heimatland zurückgekehrt war. Sie

wurden nicht nur durch die gnädige Hülfe Gottes von

Babylon und seinen bösen Wegen getrennt, sondern sie

lehnten auch standhaft jede unheilige Verbindung ab und-

157

erlaubten nicht ein verunreinigtes Priestertum. Sie kehrten

zu dem zurück, was von Anfang war. Zunächst bauten

sie den Altar des Gottes Israels wieder auf, dieses einzig,

wahre Verbindungsmittel zwischen Jehova und dem Volke,

„um Brandopfer darauf zu opfern, wie geschrieben ist

in dem Gesetze Moses, des Mannes Gottes". (Esra 3, 2.)

Dann bauten sie das Haus Gottes, den wahren Mittelpunkt,

zu welchem hin sich alle Treuen in Israel versammeln

konnten. Zur Einweihung des Hauses Gottes,

des Tempels, brachten sie dar hundert Rinder, zweihundert

Widder, vierhundert Lämmer, und zum Sündopfer für

ganz Israel zwölf Ziegenböcke, nach der Zahl der Stämme

Israels. Es war eine Zeit großer Freude.

Nachher, als die Mauer der Absonderung in einer

schwierigen Zeit von Nehemia erbaut worden war, wurde

dennoch die Absonderung vom Bösen aufrecht erhalten,

und man ging wieder zurück zu dem, was von Anfang war,

und handelte darnach. „Und Esra, der Schriftgelehrte,

stand auf einem Gerüst von Holz . . . , und sie lasen

in dem Buche, in dem Gesetz Gottes, deutlich und

gaben den Sinn an, so daß man das Gelesene verstand.

... Und das ganze Volk weinte, als es die Worte

des Gesetzes hörte. ... Und sie sanden im Gesetz geschrieben,

daß Jehova durch Mose geboten hatte, daß

die Kinder Israel in Laubhütten wohnen sollten am Feste

im siebenten Monat." Und das Volk ging hinaus und

machte Hütten, wie geschrieben ist; und zum Schluß

hören wir: „Denn die Kinder Israel hatten nicht also

gethan seit den Tagen Josuas, des Sohnes Runs, bis auf

diesen Tag. Und es war eine sehr große Freude." (Neh. 8.)

Wir thun wohl, uns auch daran zu erinnern, daß.

158

alle die Beispiele, die wir betrachtet haben, aus einer

Zeit des Verfalls herrühren. Das macht sie so besonders

ermunternd für uns. Israel war als Volk lange vorher

in Verfall geraten, die zehn Stämme waren in die Gefangenschaft

weggeführt; doch wie lieblich ist es, sowohl

bei Hiskia als auch bei den andern zu bemerken, daß

Gottes Segen in reichem Maße mit ihnen war, obgleich

sie nur einen schwachen Ueberrest bildeten. Sie hießen

auch ganz Israel bei dem Passah willkommen und opferten

zwölf Ziegenböcke bei der Einweihung des Hauses Gottes,

nach den zwölf Stämmen Israels. — Wie ermutigend

ist es ferner, zu sehen, daß, so unheilig das Volk auch

Gott gegenüber geworden war, Gott dennoch, als sie sich

vom Bösen absonderten und mit Herzensentschluß, Seinem

Worte gemäß, sich zu Ihm wandten, sie überströmend

erfreute und reichlich segnetet Selbst in den Tagen

Jeremias, als das Volk sich so weit von Gott entfernt

und sich so erniedrigt und Gott verunehrt hatte, daß es

kein Heilmittel mehr gab, wurde der treue Prophet dennoch

von Jehova ermuntert, sich vom Bösen zu trennen.

„Darum spricht Jehova also: . . . wenn du das Köstliche

vom Gemeinen ausscheidest, so sollst du wie mein Mund

sein. Jene sollen zu dir umkehren, du aber sollst nicht

zu ihnen umkehren." (Jer. 15, 19.) Daniel war ebenfalls

ein abgesonderter Mann inmitten eines Schauplatzes

des Bösen, und wir wissen, wie Gottes Macht und Gunst

mit ihm waren. Die Wege Gottes mit dem Volke Israel

geben uns daher höchst nützliche und ermunternde Unterweisungen;

nur dürfen wir nicht vergessen, daß, wenn

es sich um das Christentum und um Gottes Wege mit

denen handelt, die zu Seinem himmlischen Volke, zu

159

Seiner Versammlung, zu gehören bekennen, wir es mil

geistlichen Dingen zu thun haben, sowie mit dem, was

dem Vater und dem Sohne gebührt, sowie sie uns durch

den Heiligen Geist bekannt gemacht worden sind.

Die Seligpreisungen.

(Match ö, 1—12.)

(Fortsetzung.)

„Glückselig die Reinen im Herzen, denn sie

werden Gott schauen."

Wir kommen jetzt zu der himmlischsten und erhabensten

aller Seligpreisungen, und zugleich zu derjenigen, die

in verschiedener Hinsicht am schwierigsten zu erklären ist.

Nicht daß wir weniger mit einem reinen Herzen bekannt

sein sollten als mit einem barmherzigen; aber der Gegenstand

und die Wirkung der Betrachtung desselben ist ein

Segen, der in Worten nicht ausgedrückt werden kann.

Die menschliche Sprache ist zu schwach dazu. Wir werden

das vielleicht besser verstehen, wenn wir an die Wirkung

denken, welche Gegenstände von geringerer Bedeutung auf

uns ausüben können. Wir betrachten z. B. einen Gegenstand,

der unser ganzes Interesse einnimmt oder der unsre

Liebe besitzt — ein Antlitz vielleicht — das Bild einer

zärtlich geliebten Mutter; wir sind ganz hingerissen und

haben für nichts anderes mehr Auge und Ohr. Wir

stehen und betrachten die teuren Züge, und während liebliche

Erinnerungen an unserm Geiste vorüberziehen und

die Zukunft heitre Bilder vor unser Auge malt, gedenken

wir der „kleinen Weile", die uns noch von dem Augenblick

trennt, da wir den teuren Gegenstand, den das Bild

160

darstellt, in unsre Arme schließen können. Wir stehen,

in stilles Sinnen verloren, da; das Herz ist bis in seine

innersten Tiefen bewegt, und das Auge ruht mit einer

Art melancholischer Freude auf den geliebten Zügen; das

eigne Ich samt allem, was uns umgiebt, ist vergessen.

Bon solch tiefen Bewegungen kann man zu Einzelnen

reden, aber sie müssen stets unbeschrieben bleiben; man

muß sowohl den Zustand des Herzens als auch den Gegenstand

besitzen, um ihre volle Bedeutung zu kennen.

Gerade so ist es mit der Betrachtung der himmlischen

Dinge, der Herrlichkeit Gottes, wie sie uns im Angesicht

Jesu Christi entgegenstrahlt. — Versuchen wir jetzt eine

« Erklärung unsrer Seligpreisung.

Der moralische Zustand des Herzens oder der Seele

ist die wichtige Frage, um die es sich hier handelt. Da

Gott allein absolut rein ist, so muß Reinheit des Herzens

vorhanden sein, um Ihn schätzen und genießen zu können.

Wir brauchen kaum zu sagen, daß hier kein Gedanke ist

an ein leibliches Schauen; denn Jesus selbst ist jetzt

vor unsern Blicken verborgen. Nur mit den Augen des

Herzens oder mit dem moralischen Gesicht der Seele

(d. h. durch den Glauben) können wir Gott schauen oder

Seine Vortrefflichkeit und Herrlichkeit wertschätzen; und

diese Segnung ist abhängig gemacht von dem Zustande

des Herzens. „Glückselig die Reinen im Herzen, denn

sie werden Gott schauen." Je reiner das Herz ist, desto

klarer wird es Gott schauen, und je klarer es Gott schaut,

desto reiner wird es werden. Die beiden Dinge stehen

in gegenseitiger Wechselwirkung zu einander.

Die Reinheit des Herzens, welche hier „glückselig"

.gepriesen wird, mag die Folge eines treuen Wandelns in

161

1)em Geiste der früheren Seligpreisungen sein, besonders

der ersten dieser letzten Klasse, welche zu der Betrachtung

Gottes in einer der anziehendsten Seiten Seines Charakters

— Güte und Barmherzigkeit — Anleitung giebt.

Vom ersten bis zum letzten Blatt der Heiligen Schrift

wird von der Barmherzigkeit als dem großen Vorrecht

Gottes gesprochen; es ist das, worin Er sich verherrlicht.

Die Psalmen reden besonders viel von Seiner „Güte und

Wahrheit". Er ist „reich an Barmherzigkeit", Seine

Güte ist „höher als die Himmel", und „die Erde ist voll

Seiner Barmherzigkeit". Nun, wenn jemand aus dieser

Quelle der Barmherzigkeit trinkt, so ist die einfache Wirkung

die, daß er „barmherzig" wird, und diese Gnade

leitet ihn dann unmittelbar zu jenem sittlichen Ergreifen und

Erfassen Gottes, welches Reinheit des Herzens hervorruft.

Die Bemerkung mag hier am Platze sein, daß wir

nicht dadurch das Herz rein machen oder rein erhalten

können, daß wir versuchen es zu thun. Müßten wir in

uns hineinblicken und den Zustand unsers Herzens zum

Gegenstände unsrer Erforschung machen, so würden wir,

wie es bei vielen geschehen ist, in einen Zustand rein

mystischer Selbstbeschäftigung versinken. Um barmherzig

zu sein, muß das Herz einen Gegenstand haben, der der

vollkommne Ausdruck göttlicher Barmherzigkeit ist; um

rein zu sein, muß es einen Gegenstand haben, der absolut

in Reinheit ist. Da das Herz nicht aus sich selbst rein

ist, so kann es nur dann für rein gelten, wenn es einen

reinen Gegenstand zurückstrahlt; und weil dieser Gegenstand

Christus ist, so finden wir in Ihm die wahre Erklärung

eines reinen Herzens und eines Gottschauens.

Das Herz wird gereinigt durch den Glauben an Christum,

162

welcher der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und der Abdruck

Seines Wesens ist. (Vergl. Apstgsch. 15, 9; 1. Petr.

1, 22; Hebr. 1, 3.) Welch eine Erleichterung, welch eine

Ruhe findet das Herz, wenn es Ihn findet! Keine Lehrsätze,

keine Anstrengungen, keine Erfahrungen können die

Frage lösen; nur Er, und zwar gekannt als der einst

niedrige und jetzt hoch erhobene Mensch in der Herrlichkeit.

Laß dein Auge, mein Leser, auf Ihm ruhen — das

Auge des Glaubens, das Auge deines Herzens! Sinne

lauge, sinne tief über Ihn nach! Betrachte dieses herrliche

Antlitz! Hier findest du die Strahlen aller göttlichen Vollkommenheit

und jedes beseligenden Anblicks mit einander

vereinigt. Der König der Könige, ewig, unsterblich, unsichtbar,

der allein weise Gott, dessen göttliche Majestät

ihre mannigfaltigen Herrlichkeiten verbindet mit den lieblichen

Gnaden der Sanftmut, der Gerechtigkeit, Güte und

Barmherzigkeit, der Heiligkeit und des Friedens, samt

aller Güte, Weisheit und Liebe — das ist der Gott, den

das reine Herz schaut; ja, nicht nur schaut, nein, sein

Vorrecht ist, sich in den Strahlen dieser moralischen Herrlichkeit

zu baden, jetzt und immerdar.

Aber siehe zu, daß Christus dein einziger Gegenstand

sei; ein reines Herz muß ein ungeteiltes Herz sein —

ein ganzes Herz. So, und nur so, wird dein ganzer Leib

voll von Licht sein. Alle andern Gegenstände verdunkeln

nur deinen geistlichen Gesichtskreis. „Sie sahen ihn an",,

sagt der Psalmist, „und wurden erheitert." Wenn die

Finsternis mehr geliebt wird als das Licht, so kann

moralische Schönheit weder erfaßt noch geschätzt werden.

Derart war die Blindheit Israels und ist es heute noch;,

aber der Tag naht heran, an welchem sie Ihn anschauen

163

werden, den sie verworfen haben, und dann werden sie in

Ihm die Herrlichkeiten und Vollkommenheiten der Gottheit

erblicken. Dann werden sie in Wahrheit Gott schauen

und werden wissen, wie gesegnet es ist, „rein im Herzen"

zu sein.

Daß dies im Blick auf Israel zukünftig ist, wissen

wir; wie steht eS aber mit der Reinheit deines Herzens,

mein Leser? Ist sie eine gegenwärtige, tiefe,

göttliche, gesegnete Wirklichkeit? Ist dein Herz rein?

Schaust du Gott? Das sind ernste, aber durchaus

passende Fragen; und Gott wolle verhüten, daß einer

von uns von diesen Dingen reden sollte, ohne sie persönlich

in der göttlichen Gegenwart kennen gelernt zu

haben! Aber sicher, wir kennen Ihn, in welchem die

Heiligkeit Gottes ihren vollkommnen Abglanz findet; und

da allein können wir Gott schauen und Gemeinschaft mit

Ihm haben.

Im ganzen Neuen Testament ist oft von Reinheit

des Herzens die Rede. Sie wird als der wahre Zustand

aller Christen betrachtet, obwohl leider nicht alle

reines Herzens sind. In unsern Unterhaltungen und

Schriften wird so viel von der Betrüglichkeit des menschlichen

Herzens gesprochen, daß der Ausdruck „rein im

Herzen" selbst von den meisten Christen als ein Bild betrachtet

wird, das nicht das bedeuten soll, was es ausdrückt;

und so geht man darüber hinweg. Aber wenn

die Schrift von „Reinheit des Herzens" spricht,

so meint sie nicht etwas Unbestimmtes, nie Erreichbares.

In seinem zweiten Briefe an sein Kind Timotheus schreibt

der Apostel: „Strebe nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe,

Frieden mit denen, die den Herrn anrufen aus reinem

164

Herzen." Diese Stelle zeigt klar und deutlich, was

wir bei allen denen erwarten sollten, die zum Tische

des Herrn kommen — daß sie Ihn anrufen aus reinem

Herzen. Nur solche können Dem angenehm sein, der sich

„den Heiligen, den Wahrhaftigen", nennt. Der Apostel

Petrus redet in seiner Ansprache in Apstgsch. 15 von den

Gläubigen aus den Heiden als solchen, deren „Herzen,

durch den Glauben gereinigt" worden seien und

deshalb dasselbe Anrecht an die christliche Gemeinschaft

hätten wie die jüdischen Gläubigen; und in seinem ersten

Briefe sagt er: „Da ihr eure Seelen gereinigt

habt durch den Gehorsam gegen die Wahrheit zur ungeheuchelten

Bruderliebe, so liebet einander mit Inbrunst

aus reinem Herzen." (Kap. 1, 22.) Jakobus gebraucht

in seinen Ermahnungen einen ähnlichen Ausdruck,

indem er sagt: „Reinigt die Herzen, ihr Wankelmütigen."

(Kap. 4, 8. 9.) Auch Johannes sagt, wenn

er von der Ankunft des Herrn spricht: „Und jeder, der

diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst,

gleichwie Er" — das ist Christus — „rein ist". Hier

wird der Herr Jesus nicht nur als in sich selbst wesentlich

rein vor uns gestellt, sondern auch als der Maßstab der

Reinheit für uns. „Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm

hat, reinigt sich selbst, gleichwie Er rein ist."

Die Hoffnung auf die Ankunft des Herrn hat deshalb

eine umgestaltende, verwandelnde Kraft.

Indem wir nach Ihm ausschauen und auf Ihn warten,

suchen wir uns selbst zu reinigen, gleichwie Er rein ist.

Wenn wir Ihn sehen, wie Er ist in der Herrlichkeit,

werden wir Ihm gleich sein — vollkommen Ihm gleichgestaltet

in allem. Jetzt werden wir nach und nach

165

verwandelt, dann werden wir Ihm völlig und für

Immer gleichgestaltet sein.

Das ist auch die Lehre von 2. Kor. 3, 18: „Wir

alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des

Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde

von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den

Geist". Die Bedeutung dieser Worte ist klar und höchst

wichtig. Mit aufgedecktem Angesicht schauen wir die

Herrlichkeit des Herrn, des in der Herrlichkeit erhöhten

Menschen, und werden nach demselben Bilde von einer

Herrlichkeit zur andern verwandelt durch den Herrn, den

Geist. Aber nicht nur werden wir in moralischer Hinsicht

in Sein Gleichnis verwandelt, sondern wir sind auch berufen,

Seine Herrlichkeit von uns zurückstrahlen zu lassen.

Laß uns diese große, erhabene Wahrheit nicht vergessen,

mein Leser! Möchte dieser Gedanke von unserm

ganzen Wesen Besitz nehmen! Was? das Bild unsers

abwesenden Herrn soll sich in unsrer Gesinnung und in

unserm Thun abspiegeln? O laß uns zusehen, daß sich

nichts zwischen unser Herz und Ihn drängt, damit das

Bild nicht verunstaltet werde! Je reiner der Spiegel ist,

desto klarer wird jeder Zug hervortreten. Wunderbares,

göttliches Geheimnis! Unendliche Segnung! Die Sprache

ist in der That zu schwach, um die freudenvolle Bewunderung

zu beschreiben, die das Herz bei der Betrachtung

dieses Ausdrucks der unumschränkten Gnade erfüllt.

In äußerer Reinheit bewahrt zu bleiben, ist sicher eine

große Gnade, für die man nie zu dankbar sein kann.

Wer verstände nicht, daß Joseph in praktischer Hinsicht

ein reineres Herz hatte als Ruben und Juda? Die

Menschen haben ja das Siegel ihres Beifalls darauf ge-

166

-rückt. Aber dem Herrn so nahe gebracht und durch den

Glauben so gereinigt zu sein, daß man einem polierten

Spiegel gleich wird, der die Strahlen Seiner Herrlichkeit

zurückzuwerfen vermag — das ist etwas so Hohes, so

Wunderbares, daß die Worte fehlen, um den Seinem

hochgelobten Namen gebührenden Dank auszudrücken.

Aber der Tag ist nahe, da wir den Herrn sehen

werden von Angesicht zu Angesicht und so wie Er ist,

in all den Wirklichkeiten Seiner Liebe und Herrlichkeit.

Dann wird keine Vergeßlichkeit, kein Fehler, keine Verunreinigung

je mehr den Glanz des Spiegels trüben,

noch das Ausstrahlen Seiner Herrlichkeit verhindern. Die

große Verheißung des neuen Jerusalem wird dann in

Erfüllung gehen: „sie werden Sein Angesicht sehen, und

Sein Name wird an ihren Stirnen sein." Dann wird

die Gleichheit vollendet und allen offenbar sein. Höher

als das könnten wir niemals steigen, reicher an Segnung

nie werden; und um diese Vollendung alles Segens bitten

nicht nur wir, sondern auch unser Jesus selbst, wenn Er

sagt: „daß sie bei mir seien, wo ich bin, auf daß sie

meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast."

(Joh. 17, 24.)

Ehe wir für heute unsre Betrachtung schließen,

möchte ich an einen jeden Leser dieser Zeilen die Frage

richten: Wird das auch deine Ewigkeit himmlischer

Segnung seins Oder bist du in deiner Seele noch unentschieden

im Blick auf den Herrn? Ist Er noch nicht

dein Heilands — Warum dann noch länger zögerns Warum

noch länger zweifeln s Das zu deiner Errettung nötige

Werk ist von Jesu gethan worden — gethan für dich,

wenn du nur glauben willst, gethan für den vornehmsten

167

der Sünder. Du hast nichts, worauf du vertrauen könntest,

als Sein vollendetes Werk. Darum glaube an Ihn,

vertraue Ihm, warte auf Ihn, zweifle nie an Ihm, und

deine himmlische Segnung ist gesichert für immer und

ewig. Bedenke aber auch, daß es ohne Glauben, ohne

Glauben an Jesum, keine Segnung, keine Reinheit giebt;

und ohne Reinheit kann es keinen Himmel für dich geben.

Die Stadt unsers Gottes ist eine reine Stadt, und über

ihren Perlenthoren stehen die Worte: „Nicht wird in

sie eingehen irgend etwas Gemeines." Was ihre Bewohner

einst auch gewesen sein mögen, jetzt sind sie alle

rein; und ihre Kleider von blendendem Weiß können dort

nie wieder befleckt werden. Die verwirrenden Mischungen

der Zeit: Gesetz und Gnade, Glaube und Werke, Christus

und die Welt, Fleisch und Geist, sind dort unbekannt;

unbedingte Reinheit charakterisiert alles. Die Straßen

sind von reinem Golde, gleich reinem Glase; die Mauern

bestehen aus Jaspis, und ein Strom des Wassers des

Lebens, glänzend wie Krystall, geht hervor aus dem

Throne Gottes und des Lammes. (Offbg. 21. 22.)

Mein lieber unbekehrter Leser! der Herr gebe dir,

jetzt, heute noch zu Jesu zu kommen. Gieb Ihm

dein Herz, ganz, ungeteilt! Das ist der erste große

Schritt auf dem Wege zu einem reinen Herzen. O wirf

dich unverzüglich zu Seinen Füßen nieder! Die finstern

Regionen der Hölle, wo der düstere Schein eines unauslöschlichen

Feuers die Finsternis nur umso schärfer hervortreten

lassen wird, stehen in schrecklichem Gegensatz zu

der herrlichen Stadt, dem himmlischen Jerusalem droben

von welchem wir lesen: „Uyd die Stadt bedarf nicht der

Sonne, noch des Mondes, auf daß sie ihr scheinen; denn

168

die Herrlichkeit Gottes hat sie erleuchtet, und ihre Lampe

ist das Lamm." Welcher von diesen beiden Orten wird

der deinige sein, mein Leser — dein für immer und

ewig? Kannst du, mit beiden vor dir, noch einen Augenblick

zögern? Wahrlich nicht!

Ich muß dich jetzt dem Herrn überlassen. Aber

noch einmal laß dich bitten: Schiebe nicht länger auf,

entscheide dich heute; und möge fortan dein Wahlspruch

lauten: „Alles für Jesum!"

(Fortsetzung folgt.)

„Er denkt an mich."

Ein alter Christ lag auf seinem Sterbebett. Eine

langwierige Krankheit hatte seine Kräfte völlig erschöpft.

Er war so schwach, daß er kaum wußte, was um ihn her

vorging. Auf seinem faltenreichen Antlitz aber lag ein

stiller, seliger Friede, und ein glückliches Lächeln umspielte

von Zeit zu Zeit seine Lippen. Als er einmal die Augen

aufschlug, fragte ihn einer der Umstehenden, woher es

komme, daß er trotz der Nähe des Todes so glücklich sei.

„Ach", entgegnete er flüsternd, „wenn ich denken kann, —

so denke ich an Jesum; — und wenn ich zu schwach bin,

— an Ihn zu denken, — so weiß ich doch, daß Er

an mich denkt. — Das macht mich so glücklich."

„Auch wenn ich wandelte im Thale des Todesschattens,

fürchte ich nichts Uebles, denn du bist bei

mir; Dein Stecken und Dein Stab, sie trösten mich."

<Ps. 23, 4.)

Der Weg des Glaubens in einer

bösen Zeit.

Ein Wort der Warnung und Ermunterung.

III.

Die wesentlichen Kennzeichen des Christentums.

Es ist oft und mit Recht bemerkt worden, daß es

zwei wesentliche Kennzeichen oder Merkmale des Christentums

gebe, die von niemandem gekannt und genossen

werden konnten, ehe der große Pfingsttag (Apstgsch. 2)

kam, und die auch nach der Ankunft des Herrn zur

Aufnahme Seiner Braut hienieden nicht mehr genossen

werden. Wir meinen die beiden gesegneten Thatsachen: die

Verherrlichung des Menschen Christus Jesus zur Rechten

Gottes und das Herniederkommen des Heiligen Geistes,

den Er dort von dem Vater empfing und herabsandte, um

die Kirche auf der Erde zu bilden und in jedem Gläubigen

zu wohnen, indem Er uns zu Gliedern Seines

Leibes macht. Vorher waren ohne Zweifel Vergebung

der Sünden, Rechtfertigung und Wiedergeburt in gewissem

Maße bekannt; es gab ein Volk Gottes, das von dem

Geiste belehrt und geleitet wurde; aber vor der Verherrlichung

des Sohnes des Menschen gab es keine Kirche

oder Versammlung auf Erden.

Ehe der Herr gen Himmel fuhr und dort einen

Namen empfing, der über jeden Namen ist, und ehe Er

als Haupt über alles der Versammlung gegeben wurde,

170

welche Sein Leib ist, gab es kein Haupt, mit welchem die

Gläubigen verbunden werden konnten; und kein Heiliger

Geist war herniedergesandt, um diese Verbindung mit dem

Haupte zu vollziehen. Niemand kann daher in die Gedanken

Gottes über Seine Versammlung oder Sein gegenwärtiges

Werk hienieden eingehen, der nicht die glorreiche

Thatsache erfaßt hat, daß der verherrlichte Menschensohn

das „Haupt" ist, und daß die durch den Heiligen Geist

hienieden mit Ihm verbundenen Gläubigen Seinen Leib,

den „einen Leib", bilden. Unser gegenwärtiges Verhältnis

ist dasjenige von Kindern Gottes, die da rufen: „Abba,

Vater!" sowie von Gliedern des Leibes Christi, indem

unsre Leiber Tempel des Heiligen Geistes sind, durch den

wir diese wunderbaren und gesegneten Beziehungen kennen.

Wer diese Beziehungen nicht kennt und genießt, dessen

Wandel und Verhalten kann solch erhabenen Segnungen

offenbar nicht entsprechen. Denn nur dann, wenn ich ein

Verhältnis, eine Beziehung kenne, bin ich imstande, die

daraus hervorgehenden Pflichten zu verstehen; und dann

ist es eine beglückende Sache, dem Herrn zu dienen und

auf Sein Kommen zu warten.

Wahres praktisches Christentum fließt aus dem Verkehr

und der Gemeinschaft mit dem Herrn Jesu Christo

hervor, da wo Er jetzt ist, auf dem Throne des Vaters,

mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt, indem wir in dem

Bewußtsein unsrer neuen Beziehungen stehen und infolge

dessen die Gegenwart, Wirksamkeit und Macht des stets bet

uns bleibenden Sachwalters anerkennen. Ein inniges Anhängen

am Herrn kennzeichnet ein aufrichtiges Herz. Gleichgültigkeit

gegen Ihn charakterisiert den verderbten Zustand

der bekennenden Kirche in ihren letzten Tagen hienieden.

171

Es würde uns zu weit führen, wenn wir auch nur

in kurzen Worten die wesentlichen Charakterzüge des Christentums

hier aufzeichnen wollten; aber ich kann nicht umhin,

die Aufmerksamkeit des Lesers auf zwei oder drei

Punkte zu lenken, die zu allen Zeiten, und besonders in

dem gegenwärtigen Augenblick, für diejenigen von tiefstem

Interesse waren und sind, welche zur Ehre ihres Herrn

zu leben begehren.

1. Die Person des Sohnes, das Wort, welches

Fleisch wurde und unter uns wohnte, das ewige Leben,

das bei dem Vater war und uns geoffenbart worden ist,

Er, der jetzt in der Herrlichkeit ist, die Er bei dem Vater

hatte, ehe die Welt war, — Er ist es, von dem die

Schrift zeugt. Jeder Irrtum bezüglich Seiner herrlichen

Person ist daher verhängnisvoll und verdirbt jede Seite

der göttlichen Wahrheit; denn Er ist „das Leben", „die

Wahrheit", „das Licht der Welt", „das Licht der Menschen",

„das wahrhaftige Licht, welches, kommend in die

Welt, jeden Menschen erleuchtet", „der wahrhaftige Gott

und das ewige Leben". Von Ihm, der das Werk vollbrachte,

das der Vater Ihm zu thun gegeben hatte, redet

und zeugt die Schrift; und wir lesen in Joh. 20, 31:

„Diese sind geschrieben, auf daß ihr glaubet, daß Jesus

der Christus ist, der Sohn Gottes, und aus daß ihr glaubend

Leben habt in Seinem Namen". (Beachten wir hier

die Verbindung zwischen „glauben" und „Leben haben" in

Seinem Namen.) Ferner lesen wir: „So viele Ihn auf-

uahmen, denen gab Er das Recht, Kinder Gottes zu werden,

denen, die an Seinen Namen glauben." Je mehr

wir die unendliche Herrlichkeit und Vollkommenheit des

Sohnes Gottes betrachten, desto mehr wird Er der be

172

friedigende und alles andere verdrängende Gegenstand

unsrer Herzen werden. Nichts haben wir mehr zu fürchten

als ein Aufstellen unsrer eignen Gedanken über Ihn, anstatt

einfältig auf das zu lauschen, was Gott uns in

Seinem Worte betreffs Seiner geoffenbart hat; denn

„niemand erkennt den Sohn als nur der Vater".

Alle unsre Hoffnungen gründen sich aus Sein vollendetes

Werk. Wir könnten keinen Zugang zu Gott

haben als nur durch das Vergießen Seines kostbaren

Blutes. Unsre Hoffnungen gründen sich auf ein Werk,

das für ewig vollbracht ist und welches den heiligen Gott

bezüglich unsrer Sünden vollkommen verherrlicht hat —

auf ein Werk, das ewiglich gültig ist wegen der Herrlichkeit

und des W ert e s D e s s e n, der es vollbracht

hat; so daß Gott jetzt von uns reden kann als

„auf immerdar vollkommen gemacht" durch dieses eine

Opfer. Ja, Er kann sagen: „Ihrer Sünden und ihrer

Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken." Welch ein

gesegneter Boden unsers Hinzunahens zu Gott und unsers

Bleibens in Seiner Gegenwart! Getrennt von Christo

haben wir kein Leben. „Wahrlich, wahrlich, ich sage

euch: Es sei denn daß ihr das Fleisch des Sohnes des

Menschen esset und Sein Blut trinket, so habt ihr kein

Leben in euch selbst." (Joh. 6, 53.)

2. Der „Mensch Christus Jesus", „der Sohn Gottes",

„Jesus", d. i. Jehova, der Heiland, der sich in solch

wunderbarer Gnade herabließ, den Platz eines „ermüdeten"

Pilgrims am Brunnen zu Sicher einzunehmen, der am

Grabe des Lazarus „weinte", der aus Golgatha „starb",

ist aus den Toten auferweckt worden durch die Herrlichkeit

des Vaters und hat sich „in Gerechtigkeit" auf Seinen

— 173 —

Thron gesetzt. Dort ist Er als Haupt über alles der

Versammlung gegeben, welche Sein Leib ist. Nachdem

Er dort den Heiligen Geist, die Verheißung des Vaters,

empfangen, hat Er Ihn als das Siegel für einen jeden,

der dem Evangelium unsers Heils glaubt, herniedergesandt,

um die Versammlung hienieden zu bilden und während

der Abwesenheit des Herrn für alle Gläubigen zu sorgen

und ihnen zu dienen. Dort setzt Er in Treue und

Barmherzigkeit Seine Thätigkeit als Hohepriester und

Sachwalter zu unsern Gunsten fort. Dort sitzt Er auch

als Der, welcher eine ewige Erlösung vollbracht hat, bis

Er wiederkommt, um uns in der Luft zu begegnen, ehe

Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße gelegt werden.

3. Die Gabe des Heiligen Geistes (nicht ein gewisses

Maß des Heiligen Geistes, sondern Seine Person) an

alle diejenigen, welche Vergebung der Sünden haben, Seine

Jnwohnung und bleibende Gegenwart, — alles das ist

eine Folge des vollbrachten Werkes unsers Herrn und

Heilandes und Seiner Rückkehr zu dem Vater. Die neuen

Beziehungen, in welche die Gläubigen gebracht sind; die

neue und himmlische Ordnung der Dinge, als verbunden

mit Christo in dem Himmel durch den Geist, sowie als

Glieder untereinander; der neue Charakter der Anbetung,

welche jetzt im Geist und in Wahrheit geschehen „muß";

die neuen Arten von Gaben, welche der gen Himmel gefahrene

Christus zur Auferbauung der Glieder des einen

Leibes dargereicht hat; das Evangelium der Gnade Gottes,

sowie die Verwaltung der Versammlung hienieden

samt dem ihr geziemenden Verhalten — alles das sind

Dinge, mit welchen die Gläubigen „von Anfang" beschäftigt

waren. Die Wirkung dieser Beschäftigung war wunder-

174

bar; denn indem sie bewußter Weise durch die Gnade in

diese neuen und himmlischen Verbindungen eingeführt

wurden, lösten sich ihre Herzen nicht nur von der Welt,

sondern auch von jener Religiosität, die den Menschen

außerhalb des Vorhangs, in einer Entfernung von Gott

hielt; und dieser Grundsatz ist heute noch so wahr wie

damals.

Was wir von Anfang gehört haben.

Die Beschäftigung mit dem Bösen ist überaus schädlich

für unsre Seelen, und der einzige Weg, um davon

befreit zu werden, ist die Beschäftigung mit dem Guten.

Durch die Wahrheit widerstehen wir dem Irrtum und

überwinden ihn. Indem wir durch den Glauben unsre

neue und himmlische- Stellung, unsre neuen Beziehungen

und Verbindungen genießen, werden wir von falschen Verbindungen

befreit. Die herrliche Wahrheit von der Einheit

der Kirche Gottes trennt uns von allen menschlichen

Vereinigungen. Es ist die positive Wahrheit der göttlichen

Offenbarung, die uns frei macht und frei erhält. Fast alle

Angriffe des Unglaubens sind negativ (verneinend); sie

geben der Seele nichts. Aber das Zeugnis der

Schrift hat Ihn zum Gegenstände, der gestern und heute

und in Ewigkeit derselbe ist. Dieses Zeugnis erfüllt unsre

Seelen mit gegenwärtigem Segen, läßt uns Ihn und Seine

Kostbarkeit mehr genießen und giebt uns die Aussicht auf

eine Fülle von Freuden und Lieblichkeiten in alle Ewigkeit.

Johannes wurde von dem Geiste Gottes geleitet, die

positiven Segnungen des Christentums vorzustellen und

an einem bösen Tage uns zu ermahnen, zu dem zurückzukehren,

was von Anfang war, und standhaft alles abzuweisen,

was nicht Christo gemäß ist.

175

Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel, daß die Briefe

des Johannes viele Jahre nach dem Abschiede des Apostels

Paulus geschrieben wurden, welcher prophezeit hatte, daß

verderbliche Wölfe in die Herde einbrechen und ihrer

nicht schonen würden. Der bejahrte Apostel lebte lange

genug, um einige von diesen Wölfen ihre Verwüstungen in

der Kirche Gottes amichten zu sehen. Er sah „viele Antichristen",

„viele falsche Propheten", Lehrer, die einen falschen

Christus verkündigten und nicht in der Lehre des

Christus blieben. Allerlei menschliche Spekulationen bezüglich

der Person unsers Herrn waren hervorgetreten,

und die Zahl derer, welche die Gottheit Christi leugneten,

war anscheinend schon sehr groß. Nun, worin bestand

der inspirierte Dienst des Apostels diesen Erscheinungen

gegenüber? Er unterscheidet in seinen Briefen klar und

deutlich zwischen Wahrem und Falschem, zwischen dem

Geist der Wahrheit und dem Geist des Irrtums, damit

treue Seelen die bösen Lehren richten und sich von ihnen

reinigen möchten. Dann bittet er diese Seelen, das zu

beachten und festzuhalten, was sie von Anfang gehört

hatten. „Ihr, was ihr von Anfang gehört habt, bleibe

in euch. Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang gehört

habt, so werdet auch ihr in dem Sohne und in dem

Vater bleiben." (1. Joh. 2, 24.) Deshalb beginnt der

alte, treue Knecht auch seinen Brief mit der Person des

Sohnes — „dem ewigen Leben, welches bei dem Vater

war und uns geoffenbart worden ist". Er erwähnt die

von aller Sünde reinigende Kraft Seines kostbaren Blutes,

redet von der Vollkommenheit unsers Herrn im Himmel

als „der Gerechte", von Seinem Dienst dort als

„Sachwalter bei dem Vater", von unserm gegenwärtigen

176

Verhältnis zu dem Vater als Seine Kinder und von der

reinigenden Kraft der Hoffnung, unsern Herrn zu sehen wie

Er ist, bei Ihm und Ihm gleich zu sein. Das sind einige

von den Dingen, die von Anfang waren und die in den

Gläubigen bleiben sollten; und die verheißene Segnung,

wenn dies geschieht, ist: „Ihr werdet in dem Sohne und

in dem Vater bleiben." Wahrlich, das ist eine gegenwärtige,

kostbare Segnung! Wie ermunternd für unsre Herzen

in einer Zeit wie die gegenwärtige! Ein großer

Teil der ersten Epistel Johannes beschäftigt uns mit der

göttlichen Gewißheit unsers gegenwärtigen Besitzes des

ewigen Lebens, eines neuen Lebens, das „uns gegeben"

ist; und dieses Leben ist in Seinem Sohne und offenbart

sich in uns in praktischer Gerechtigkeit, in Gehorsam und

Liebe, mit einem Worte, in einem Wandel, wie Er gewandelt

hat.^

Im Anfang des Christentums waren die Gläubigen

versammelt in dem Namen unsers Herrn Jesu Christi,

sei es um in der Verkündigung Seines Todes Seiner zu

gedenken und Ihn anzubeten, oder zum Gebet oder zur

Auferbauung, oder endlich zur Ausübung der Zucht, unter

Anerkennung der Gegenwart und Autorität des Herrn

in ihrer Mitte. „Wahrlich, ich sage euch: Was irgend

ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden

sein; und was irgend ihr auf der Erde lösen

werdet, wird im Himmel gelöst sein . . . Denn wo zwei

oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin

ich in ihrer Mitte." (Vergl. 1. Kor. 11; Apstgsch. 4;

1. Kor. 14; 1. Kor. 5, 4; Matth. 18, 18-20.)

177

Die Seligpreisungen.

(Matth. 5, 1—12.) /

- ' (Fortsetzung.)

„Glückselig die Friedensstifter, denn sie

werden Söhne Gottes heißen."

Die Mission der Kinder Gottes in dieser Welt trägt

einen Charakter, der, wie wir befürchten müssen, das

Maß unsrer Einsicht und unsers Glaubens weit überschreitet.

Es ist eine Würde, eine moralische Schönheit und

Herrlichkeit mit ihr verbunden, die wir leider nicht genug

zu schätzen wissen. Sie geht von Gott dem Vater aus,

hat teil an Seinen moralischen Eigenschaften und ist der

Widerschein — so schwach es auch sein mag — des hochgelobten

Herrn, der einst die göttliche Herrlichkeit in voll-

kommnem Maße von sich ausstrahlen ließ. Jeder Gedanke,

jedes Gefühl Seines Herzens atmete die vollkommne Ruhe

und erhob sich zu der Höhe der absoluten Reinheit und

des unbedingten Friedens der Gottheit. Die sieben Seligpreisungen

leuchten in ihrer göttlichen Vollkommenheit

aus dem demütigen, niedrigen Pfade des Menschensohnes

— des Immanuel, Gott mit uns — hervor; und da

Er unser Leben ist, so sollten die Züge Seines Charakters,

vermittelst des Glaubens, durch die Macht des Heiligen

Geistes, auch in uns hervorgebracht werden.

Das ist die Mission des Gläubigen, ob Jude oder

Christ. In unsern Betrachtungen haben wir uns mit

beiden beschäftigt, vornehmlich aber mit der Anwendung

der Wahrheit auf die Christen, obgleich wir uns in der

Gewißheit freuen, daß Israel in den letzten Tagen den

Charakter aller Seligpreisungen offenbaren und mit den

verheißenen Segnungen derselben gekrönt werden wird.

178

So schätzenswert sie für den Christen heute auch sein

mögen, so schauen sie doch vorwärts, auf den Augenblick

hin, da das Reich in Macht und Herrlichkeit aufgerichtet

werden wird; und an jenem zukünftigen Tage werden sie

ihre volle Erfüllung finden. In der Zwischenzeit aber

sollte der Christ suchen, alle die Tugenden zur Schau zu

tragen, deren Träger hier „glückselig" gepriesen werden.

Sie alle sollten sich bei jedem Christen wiederfinden, obwohl

einige in dem einen mehr ans Licht treten werden

als in dem andern.

Laß uns denn beachten, mein lieber christlicher Leser,

und wohl erwägen, was unsre Mission ist und wodurch

sie sich kennzeichnen sollte. Habe acht, daß du einen guten

Anfang machst, daß dein erster Schritt ein richtiger sei.

Das ist stets von großer Wichtigkeit. Du mußt mit

Gott beginnen und von Ihm aus deine Arbeit anfangen.

Ein allmähliches sich Emporarbeiten zu Gott, wovon mancher

Christ träumt, giebt eS nicht; unser Wirken muß

seinen Ausgangspunkt in Gott haben. Das allein ist

der richtige Weg. Laß uns zuerst unser eignes Nichts in

Seiner Gegenwart kennen lernen, laß uns dort gewogen

und gemessen werden; nirgendwo anders ist eine gerechte

Wage für das eigene Ich zu finden. O vor wie vielen

Dingen, unwürdig eines Christen, würden wir bewahrt

bleiben, wenn wir immer von Gott aus unsre Arbeit begännen!

Ach, wie oft sind wir eigenwillig und selbstgenügsam,

anstatt uns durch Demut, Abhängigkeit und

Gehorsam auszuzeichnen, wie unser gepriesener Herr es

that! Haben wir aber zu den Füßen unsers Herrn und

Meisters unsre Lektion gut gelernt, so werden wir fähig

und geschickt sein, auszugehen und für Ihn Zeugnis ab

179

zulegen, dem Bilde gemäß, das hier von dem Gläubigen

entworfen wird. Wir werden trauern wegen der Unehre,

die Seinem Namen angethan wird; wir werden uns,

gleich Ihm, demütig unter alles beugen, was uns persönlich

vielleicht tief berührt, und ruhig alles Seinen Händen

überlassen; wir werden suchen, den Willen Gottes zu thun,

barmherzig zu sein gegen unsre Umgebung und vor Gott

zu wandeln mit einem reinen Herzen. — Diese Erwägungen

leiten uns zu der letzten der sieben Seligpreisungen.

„Glückselig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne

Gottes heißen." Beachten wir: nicht diejenigen, welche

in Frieden leben, in Frieden wandeln oder Frieden halten

mit andern, werden mit der göttlichen Segnung gekrönt,

sondern die Frieden machen, „die Friedensstifter".

Der Unterschied ist wichtig, da es viele Christen giebt,

die eine durchaus friedliche Natur haben, aber sehr wenig

geeignet sind, Frieden zu stiften; sie laufen vielmehr Gefahr,

untreu zu sein nm des Friedens willen. Frieden stiften

ist eine ganz andere Sache. Es ist die Gnade des Herrn

Jesu in gesegneter Ausübung, ein Oelgießen auf die beunruhigten

Wogen — auf die erregten Leidenschaften der

Menschen, und zwar ohne dabei die Heiligkeit Gottes aufzugeben

oder zu sagen: „Friede, Friede!" wenn kein Friede

da ist. Eine solche Thätigkeit mag viel Selbstverleugnung,

viel Sorge, viel Warten auf Gott erfordern und viel

Unruhe in unser eignes Gemüt bringen. Die widerstreitendsten

Gefühle, Ueberzeugungen und Interessen, wobei

Charakter und Lebensglück in Frage kommen, mögen

behandelt und in den Wagschalen des Heiligtums gewogen

werden müssen. Aber der Friedensstifter muß unparteiisch

sein; er muß darauf sehen, daß „Güte und Wahrheit

— 180 —

sich begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen". Es

muß sowohl Wahrheit vorhanden sein wie Gnade, sowohl

Reinheit wie Friede. Ferner muß der Wirksamkeit Gottes

Raum und Zeit gelassen werden. Der Friede ist nicht

zu erzwingen. Wo irgend aber sich die geringste Möglichkeit

zeigt, in Uebereinstimmung mit der Heiligkeit und

Wahrheit Gottes Frieden in eine Scene der Unruhe und

Kümmernis zu bringen, da sollte der Christ sich seines

Vorrechts und seiner Berufung erinnern und, wenn er

sich in dieser Scene befindet, auf Gottes gnädige Leitung

und auf Seinen Segen rechnen. „Glückselig die Friedensstifter,

denn sie werden Söhne Gottes heißen."

Allein es möchte gefragt werden: Ist denn jeder

Christ berufen, ein Friedensstifter zu sein? Wir erwidern

darauf: Ein jeder besitzt in Christo Jesu die Gnade, sowie

das Vorrecht der Gnade, in diesem gesegneten Werke

thätig zu sein, aber nicht alle haben sie in gleicher Weise

benutzt. Die Eigenschaft oder das Maß der Gnade, das in

einem Friedensstifter notwendig ist, hängt von seinem persönlichen

Seelenzustand in der Gegenwart Gottes ab. Wir

möchten fragen: Zeigen sich in ihm die übrigen Züge des

Charakters des Herrn? Genießt er z. B. die Segnung der

vorigen Seligpreisung: „Glückselig die Reinen im Herzen,

denn sie werden Gott schauen"? Das ist die göttliche

Vorbereitung für einen Friedensstifter. Er muß selbst

Gott gegenüber in der richtigen Stellung sein und den

süßen Frieden der Gemeinschaft mit Ihm schmecken.

Die Reinen im Herzen sind im Frieden mit Gott

durch das kostbare Blut Christi. Gereinigt von aller Sünde,

weißer als Schnee, schauen sie Gott und haben in der

göttlichen Gegenwart vieles gelernt, was sie zu Friedens

181

stiftern geeignet macht. Wer mit Gott wandelt, muß in

dem Geist des Selbstgerichts leben — muß alles verurteilen,

was ihm selbst in natürlicher Hinsicht angehört,

und dadurch seinen eignen Geist, sein Temperament, sein

Reden und Handeln beherrschen lernen. Ein reines Herz

ist ein friedeerfülltes Herz; es liebt den Frieden und sucht

ernstlich, den Frieden und das Glück anderer zu fördern.

Die Liebe beherrscht ein solches Herz und fließt über

gegen alle diejenigen, welche sich in der Lage befinden,

einen Friedensstifter nötig zu haben.

Aber, wird man einwendsn, außer der Liebe ist auch

ein gesundes geistliches Urteil nötig, wenn es sich um

streitige Punkte oder um Fälle der Zucht handelt. Sehr

wahr; aber wer ist so geschickt für ein gesundes geistliches

Urteil wie diejenigen, welche sich selbst richten und im

Lichte wandeln, wie Gott im Lichte ist? Die sechste

Seligpreisung ist daher, wie schon gesagt, die wahre Vorbereitung

zur Ausübung der göttlichen Gnade der siebenten;

oder wie Jakobus schreibt: „Aufs erste rein, sodann

friedsam." (Kap. 3, 17.)

Doch was sollen wir von denen sagen, die nicht nur

ihre himmlische Friedensmission vergessen, sondern selbst

Beunruhigung Hervorrufen? Die, anstatt beschuht zu sein

mit der Bereitschaft des Evangeliums des Friedens und

auf Schritt und Tritt Frieden mit sich zu bringen, einhergehen

in einem Geiste des Splitterrichtens und Streitens?

Wir vertrauen zum Herrn, daß es solcher nicht

viele giebt. Aber sie sind da, und die Elemente der

Zwietracht sind in Thätigkeit; Beunruhigungen aller Art

entstehen. Hie und da mag ein verkehrter Eifer für das,

was man Wahrheit und Gerechtigkeit nennt, vorhanden

182 —

sein. Es giebt Personen, die einen geringen Fehler gern

zu einem ernsten Vergehen vergrößern, die einen ungenauen

Ausdruck sogleich als eine bewußte Lüge hinstellen, und,

indem sie ganz verschiedenartige Dinge zusammenbringen,

eine schwere Beschuldigung gegen einen Bruder oder eine

Schwester konstruieren und erheben, ohne daß diese sich

ihrer Schuld irgendwie bewußt wären. Und beide Seiten

mögen bis zu einem gewissen Punkte Recht haben; aber

wer soll zwischen ihnen entscheiden?

O welch ein Segen ist ein Sohn des Friedens in

einem solchen Augenblick! Ein wenig Weisheit, ein wenig

Geduld, ein wenig Liebe, ein wenig Rücksicht auf die

menschliche Schwachheit, ein wenig Warten auf den Herrn

könnte vielleicht den Schwachen retten und die Bedenken des

Starken zerstreuen. Vielleicht ist gar nichts wirklich Böses,

weder in sittlicher Hinsicht, noch im Blick auf die Lehre,

vorhanden; es handelt sich möglicherweise nur um scheinbare

Widersprüche, die von den einen zu rasch und scharf

getadelt, von den andern zu langsam entdeckt und anerkannt

werden. Ja, viel geringere Dinge als die eben beschriebenen

haben häufig Unruhe und Streit hervorgerufen

und viele Herzen in Brand gesetzt, so daß selbst die Zeit

den Schaden nicht mehr zu heilen vermochte. Gott sei Dank!

alles das hört auf mit unserm gegenwärtigen Zustand der

Schwachheit; im Paradiese droben ist alles Frieden und

Ruhe. Aber es würde nur Christo gemäß sein und uns

vor manchem Schmerz, vor mancher bittern Thräne bewahren,

wenn wir verständen, durch die Hand des Glaubens

ein wenig von diesem lieblichen Frieden in unsern gegenwärtigen

unvollkommnen Zustand herabzuziehen. „Glückselig

die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen."

183

Doch es giebt noch eine andere Klasse von Personen,

die weniger zu entschuldigen sind, indem sie ihre Friedens-

Misston soweit vergessen, daß sie ganz enttäuscht sind, wenn

man sie wenig beachtet, oder wenn ihr Dienst nach ihrer

Meinung nicht hoch genug geschätzt wird. Unglücklich und

unzufrieden in sich selbst, erwecken sie in andern dieselben

Gefühle. Ein Parteigeist offenbart sich, und Verwirrung

und Betrübnis sind das unausbleibliche Resultat. Verletzte

Eitelkeit, Neid und Eifersucht im Blick auf den

Dienst und dergl. ähnliche Dinge liegen solchen Unruhen

und Schwierigkeiten meist zu Grunde. Was könnte trauriger

sein für einen Diener des Herrn, als wenn er

für seine eigne Wichtigkeit mehr besorgt ist als für den

Frieden seiner Brüder? Ach! das Ich in irgend einer

seiner tausendfachen Formen ist die fruchtbare Quelle von

Schwierigkeiten, Won Streit und Zwietracht, sowohl in

geistlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Verständen

wir nur, das Ich vom Schauplatz zu verbannen und

würden wir allein für die Verherrlichung des Herrn besorgt

sein, indem wir jenes lieblichsten aller Titel: „sie

werden Söhne Gottes heißen", würdig wandelten, sicher,

alles würde dann Frieden und Liebe sein.

Wie überaus wichtig ist es daher für jeden Gläubigen,

diesen Ausdruck seines Charakters eingehend zu

erwägen! Was könnte Mn Fehlen ersetzen? was das

Vorhandensein des Gegenteils entschuldigen? Nichts! Wer

aus irgend welchem Grunde Zwietracht sät, anstatt Frieden

zu bewahren und zu stiften, hat seinen Weg als Kind

Gottes verfehlt. Wohl mag ein Christ in gewissen Kreisen

infolge seiner Treue für Christum der Anlaß zu vielem

Unfrieden werden; aber das ist eine ganz andere Sache.

184

Satan mag viele gegen ihn aufhetzen, weil er eben mit

seinem ganzen Herzen für Christum steht; ja, der Gläubige

darf dies erwarten, nach dem Worte des Herrn in Matth.

10, 34: „Wähnet nicht, daß ich gekommen sei, Frieden

auf die Erde zu bringen; ich bin nicht gekommen, Frieden

zu bringen, sondern das Schwert." Allein er wird, soviel

an ihm liegt, darauf aus sein, keinen Anstoß zu geben und,

wenn möglich, keinen zu nehmen. Er wird sich fern halten

von Streit und Hader, sanftmütig leiden um Christi willen

und für seine ungläubige und sorglose Umgebung beten.

Die sieben Seligpreisungen sollten in lieblichem Verein

in seinem Verhalten zu tage treten, der Stellung gemäß,

in welcher er sich befindet. Ein wenig Besonnenheit,

Weisheit und Geduld, ein wenig Warten auf Gott seinerseits

wird manche scharfe Zunge zum Schweigen bringen,

manches aufgeregte Gemüt beruhigen, nicht selten dem

Widerstand die Spitze abbrechen und vielleicht Herzen für

Christum gewinnen. Keine einzige christliche Tugend offenbart

Gott in Seinen Kindern so sehr wie dieser friedenstiftende

Geist: „sie werden Söhne Gottes heißen."

Das, was Gott ist und woran Er sich erfreur, wird in

ihnen gesehen. Die moralische Aehnlichkeit wird offenbar

und ihre Sohnschaft bezeugt. Möchte so auch deine Sohnschaft

sich bewahrheiten, mein Leser; um diese Gnade bete

unaufhörlich, ernst, inbrünstig!

Gott ist der große Friedensstifter. Er hat Frieden

gestiftet, Er thut es noch und wird es thun, bis der

Friede für immer und ewig festgestellt ist in dem neuen

Himmel und auf der neuen Erde. Er hat Seine Wonne

an dem Titel: „Gott des Friedens", welcher siebenmal

in den Episteln vorkommt. Er liebt den Frieden; Streit

185

und Hader können nicht bei Ihm weilen. Wenn der

Dämon der Zwietracht naht, so zieht sich der Gott des

Friedens zurück; und ohne Frieden giebt es keine Auferbauung.

Als die Geburt Jesu durch die himmlischen Heerscharen

angekündigt wurde, riefen sie: „Herrlichkeit Gott

in der Höhe, und Friede auf Erden, an den Menschen

ein Wohlgefallen I" Und während des demütigen Wandelns

des Herrn als Friedensstifter durch diese Welt war Gott

in Christo, die Welt mit sich selber versöhnend, ihnen ihre

Uebertretungen nicht zurechnend. Er ist der große Versöhner

und hat Seinen Gesandten „das Wort der Versöhnung"

übertragen; und in diesem Geiste sollte das

gesegnete Werk stets vorangehen.

„Friede euch! Gleichwie der Vater mich gesandt hat,

sende ich auch euch." Der wahre Grund des Friedens

zwischen Gott und Menschen wurde in dem großen Werke

des Kreuzes gelegt. Dort wurde Gott verherrlicht und

dort auch Sein Wohlgefallen an den Menschen ans Licht

gestellt. Christus machte Frieden durch das Blut Seines

Kreuzes; und als Sein gesegnetes Werk vollbracht war,

kehrte Er zu Seinem Vater zurück, indem Er Seinen

Jüngern den vollen Segen des Friedens zurückließ: „Frieden

lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht

wie die Welt giebt, gebe ich euch." Der Friede, den Er

am Kreuze machte, und Sein eigner persönlicher Friede,

den Er bei Seinem Vater genoß, während Er durch die

Schwierigkeiten und Kümmernisse dieses Lebens ging, hat

Er als das reiche Vermächtnis Seiner Liebe allen denen

zurückgelassen, die an Ihn glauben.

Welch ein Vermächtnis! magst du Wohl ausrufen.

186

mein Leser. Ja, welch ein Vermächtnis für dich und

mich, und das für alle Ewigkeiten! Der Friede mit

Gott ist gemacht und unser Teil auf immer und ewig;

aber nicht nur das, nein, auch jener sütze Friede, der einst

das Herz unsers Heilandes in Seines Vaters Gegenwart

erfüllte, gehört unS, ist uns geschenkt. Darum laß uns

acht haben, daß wir einhergehen, erfüllt und bekleidet mit

diesem Frieden, daß alle unsre Pfade wirkliche Friedenspfade

seien!

O möchten alle, welche diese Zeilen lesen, aus eigner

köstlicher Erfahrung wissen, wie gesegnet alle diese Dinge

sind! Welch ein Vorrecht, sich in der Gegenwart Gottes

zu wissen, gereinigt von aller Sünde durch das ° Blut

Jesu, mit Gött versöhnt durch den Tod Seines Sohnes!

Gott hat keine Anklage mehr gegen uns; Christus ist

allem begegnet, hat jede Schuld auf sich genommen. Der

Friede ist errichtet auf dem festen, sichern Boden der erfüllten

und befriedigten Gerechtigkeit. Und dieser Friede

ist das unmittelbare, sichere und ewige Teil aller derer,

welche an Ihn glauben. Er hat ihn allen denen, die

aus Gott geboren sind, vermacht als ihr Geburtsrecht.

Lies es in Joh. 14^ür dich selbst, mein lieber Mitpilger,

glaube es für dich selbst und vertraue Ihm für dich selbst;

mache einen guten Gebrauch von dem dir zugefallenen

Vermächtnis, es kann nie geringer werden trotz der ausgiebigsten

Benutzung, nie abnehmen trotz der größten

Freigebigkeit. Suche es zu teilen mit allen denen, die

es annehmen wollen; teile es freigebig aus in, den Hütten

der Armen und in den Palästen der Reichen.

Ja, du kannst es dir gestatten freigebig zu sein, wenn

du ein Erbe des Friedens bist. Dein Erbteil kann nie

187

mals fehlen, nie sich erschöpfen. Seine Quelle ist das

Herz Gottes, sein Kanal das Kreuz Christi, seine Kraft

der Heilige Geist, daS Mittel, durch welches es dein wird,,

das Wort Gottes. Aber bedenke, daß der Unglaube nichts

ererbt als daS gerechte Gericht der beleidigten Güte und

Liebe Gottes. Der Unglaube verwirft alles, was die

göttliche Güte für uns bereitet hat: den Frieden und den

Gott des Friedens, das Heil und den Heiland, den Himmel

und sein Glück. Manche halten ihn bloß für ein

unthätiges oder verneinendes Uebel; aber nach Gottes

Urteil ist er die thätige Kraft alles Bösen. Er verwirft

die Wahrheit und glaubt einer Lüge; er weist den Frieden

ab und nährt die Feindschaft; er verschließt die Thür

des Himmels und öffnet die Pforten der Hölle; sein Atem

ist Trotz, sein Thun Selbstmord.

Das ist der Unglaube, die schreckliche, verhängnisvolle

Sünde des Unglaubens. Der Glaube aber, selbst wenn

er so klein wäre wie ein Senfkorn, setzt dich in den

Besitz des siebenfältigen Segens unsrer Seligpreisungen

und macht dich passend für das ewige Glück und die unvergängliche

Herrlichkeit des Vaterhauses droben. „Glaube

an den Herrn Jesum, und du wirst errettet werden."

(Apstgsch. 16, 31.) ' (Schluß folgt.)

Der Mensch ohne Gott.

Der Mensch ist ohne Gott, verderbt und verloren. Das

ist die traurige und schreckliche Folge seiner Sünde und

seines Abfalls von Gott. Was könnte schrecklicher sein für

das Geschöpf, als die Kenntnis Gottes, seines Schöpfers,

verloren zu haben! Aber so ist es mit dem Menschen in

188

seinem natürlichen Zustande. Er ist ohne Gott und

ohne die Kenntnis Gottes in dieser Welt. Gott ist von

allen seinen Gedanken ausgeschlossen. Eine christliche

Erziehung kann ihn dahin bringen, etwas von Gott zu

wissen oder von Ihm sagen zu können, aber in Wirklichkeit

kennt er Ihn nicht; und wenn Seine gerecheten

Forderungen und Ansprüche ihm vorgestellt werden, so

wendet er sich unwillig ab.

Der Mensch ist nicht so erschaffen worden. O

nein; der gegenwärtige Zustand des Menschen ist nicht

Gottes Werk, nicht das Ergebnis Seines Schaffens als

Schöpfer. Gott hat den Menschen „aufrichtig" geschaffen;

„Er schuf den Menschen in Seinem Bilde, im Bilde

Gottes schuf Er ihn." (Pred. 7, 29; 1. Mose 1, 27.)

Alles war vollkommen, und als der Schöpfer es ansah,

siehe, da war es „sehr gut".

Woher kommt denn die Veränderung, das Verderben,

der Fluch und die Entfernung des Menschen von Gott?

Ach! der Mensch, das abhängige, verantwortliche Geschöpf,

das Haupt dieser Schöpfung, hat sich von Gott abgewandt,

ist Satan gefolgt, hat der Lüge Satans geglaubt

und das Wort und die Güte seines Schöpfers verachtet.

Die Sünde in all ihrer verderbenden, verwüstenden und

trennenden Kraft ist gekommen und hat den Frieden und

Segen Edens gebrochen, den Menschen von Gott getrennt

und ihn zu einem unstäten, schuldigen Wanderer auf

Erden gemacht. Ja, er ist so völlig ohne Gott, daß er nicht

einmal wünscht, „Gott in Erkenntnis zu haben". Er

wünscht nicht, daß sein Geist mit dem Gedanken an Gott

beschwert werde. Wie schrecklich ist daS! Wie furchtbar

ist die Macht, wie entsetzlich sind die Folgen der Sünde!

189

Doch nicht genug damit; der Mensch ist auch der

Feind, der rastlos thätige Feind Dessen geworden, dem

er alle seine Segnungen verdankt. Gott läßt Seine Sonne

aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte

und Ungerechte. Der Mensch nimmt die Segnungen

in Empfang und verachtet Den, der sie giebt. Indem er

sich Satan unterworfen hat, hat er den Geist Satans in

sich ausgenommen — er ist ein Feind Gottes geworden.

„Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott,

denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht Unterthan, denn sie

vermag es auch nicht. Die aber, welche im Fleische sind,

können Gott nicht gefallen." (Röm. 8, 7. 8.) „Wer nun

irgend ein Freund der Welt sein will, stellt sich als Feind

Gottes dar." (Jak. 4, 4.)

Aber hat der Mensch infolge seines Falles seine

Verantwortlichkeit verloren? Ist er für sein Thun keine

Rechenschaft mehr schuldig? Hören wir, was die Schrift

sagt. Es steht geschrieben: „Ich sage euch aber, daß von

jedem unnützen Worte, das irgend die Menschen reden

werden, sie von demselben Rechenschaft geben werden am

Tage des Gerichts"; und: „Gott wird jedes Werk, es sei

gut oder böse, in das Gericht über alles Verborgene

bringen". (Matth. 12, 36; Pred. 12, 14.) Vor dem

großen weißen Throne werden alle, die einst dort stehen

werden, gerichtet „nach ihren Werken". (Offbg. 20,

11—15.) — Aber wenn dem so ist, wenn der Mensch

schuldig und unrein ist, getrennt von Gott, ein armes,

verlornes Wesen, wie kann er dann errettet, wie mit Gott

versöhnt werdens

Sollte der Mensch Gott kennen lernen und in Seine

Gegenwart zurückgeführt werden, so mußte Gott sich selbst

190

offenbaren und die Sünde des Menschen hinweggethan

werden. Man redet oft von Ursache und Wirkung. In

dem vorliegenden Falle ist die Sünde die Ursache, und

die Thatsache, daß der Mensch ohne Gott und ein schuldiges

Wesen ist, die Wirkung. Die Sünde, die Ursache,

mußte hinweggethan werden, und zwar durch Ihn, der

die vollkommene Offenbarung Gottes sür den Menschen

ist. Der Mensch kennt Gott nicht; Christus, der Ein-

geborne vom Vater, das fleischgewordene Wort, hat Ihn

kundgemacht. Gott ist dem Menschen nahe gekommen und

hat sich ihm in der Person Seines geliebten Sohnes geoffenbart.

„Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborne

Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat Ihn kundgemacht."

(Joh. 1, 18.) Welch eine unendliche Segnung,

daß es Gott in Seiner wunderbaren Gnade gefallen hat,

sich so dem Menschen zu offenbaren, als er ohne Gott

und in seinen Sünden verloren war! Nicht durch sein

Suchen findet der Mensch Gott, sondern dadurch, daß

Gott sich ihm offenbart.

Wie sollten wir Gott dafür danken, geliebter

Leser, daß Er sich selbst uns so bekannt gemacht hat!

Trotz des unreinen und rebellischen Zustandes des

Menschen tritt Gott hervor und offenbart sich in dem

Charakter der Gnade und Liebe in dem Herrn Jesu.

Wie beugt das das Herz nieder und gewinnt es zugleich

sür Gott! Das Vertrauen des Menschen auf Gott

ist durch sein Glauben an die Lüge Satans verloren gegangen;

es wird wiederhergestellt, indem er den also

geoffenbarten Gott anschaut und in Ihm nicht, wie Satan

ihn glauben machen möchte, einen Feind, sondern einen

Freund findet.

191

Wie kostbar sind die Worte Christi: „Alles ist mir

übergeben von meinem Vater; und niemand erkennt den

Sohn, als nur der Vater, noch erkennt jemand den

Vater, als nur der Sohn, und wem irgend

der Sohn Ihn offenbaren will." (Matth. 11, 27.)

Wir begegnen in Matthäi 11 zwei bestimmt unterschiedenen

Klassen von Personen, den „Weisen und Verständigen",

d. i. den Klugen, mit sich selbst Zufriedenen, und den

„Unmündigen", d. i. denen, die da wissen und bekennen,

daß sie unwissend, hülslos und für Gott unpassend sind.

Jene wunderbare Offenbarung Gottes in Christo nun ist

vor den „Weisen und Verständigen" verborgen, aber —

Gott sei gepriesen! — den „Unmündigen" geoffenbart.

Der in sich selbst weise und deshalb sich selbst betrügende

Sünder wird verworfen, während der zitternde Unmündige,

der von seinem Gewissen Ueberführte, der Hülflose, Mühselige

und Beladene angenommen wird und Gott kennen

lernt in Seinem anbetungswürdigen Sohne.

Die Kenntnis Gottes und das Vertrauen auf Ihn

giebt Ruhe, süße, gesegnete Ruhe. An die zweite Klasse

wendet sich Christus mit den Worten: „Kommet her zu

mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde

euch Ruhe geben." (V. 28.) Ja fürwahr, zu einem verlassenen

und trotzdem so überaus gnädigen Gott zurückzukehren,

das giebt Ruhe. Die stete Unruhe des menschlichen

Herzens ist die Folge seiner Entfernung von

Gott. „Kommet her zu mir" — Gott, geoffenbart im

Fleische, — „und ich werde euch Ruhe geben", sagt

Jesus. So lerne ich Gott als einen Heiland kennen,

und das verleiht Ruhe und befreit mich von dem, was

die Trennung bewirkt hat, von Sünde und Schuld.

192

Aber die Sünde muß doch hinweggethan werden?

Gewiß; und wie wunderbar! derselbe Herr, welcher den

Vater kundgemacht und Gott geoffenbart hat, weil Er Gott

war, obwohl zugleich wahrhaftiger Mensch, hat die Sünde

hinweggethan; und Er hat deshalb ein Recht zu sagen:

„Kommet her zu mir, und ich werde euch Ruhe geben."

Wie deutlich und klar spricht die Schrift über diesen

Punkt! Und Gott sei Dank, daß es so ist! Möchten

unsre Seelen stets mit tiefer Ehrfurcht auf Erklärungen

lauschen wie die folgenden: „Nachdem Gott vielfältig und

auf mancherlei Weise ehemals zu den Vätern geredet hat

in den Propheten, hat Er am Ende dieser Tage zu uns

geredet im Sohne, den Er gesetzt hat zum Erben aller

Dinge, durch den Er auch die Welten gemacht hat; welcher,

der Abglanz Seiner Herrlichkeit und der Abdruck

Seines Wesens seiend und alle Dinge durch das Wort

Seiner Macht tragend, nachdem Er durch sich selbst

die Reinigung der Sünden gemacht, sich gesetzt

hat zur Rechten der Majestät in der

Höhe." (Hebr. 1, 1—3.)

Er, der „der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und

der Abdruck Seines Wesens" war, ist also derselbe, welcher

durch sich selbst „die Reinigung unsrer Sünden gemacht"

und, nachdem Er das gethan, „sich gesetzt hat

zur Rechten der Majestät in der Höhe". Welch eine

sichere Grundlage unsers Heils! Möchten wir alle, Schreiber

und Leser dieser Zeilen, mehr die Freude und das

ewige Glück genießen, Ihn zu kennen als Den, der Gott

geoffenbart und die Reinigung unsrer Sünden

gemacht hat!

193

Die beiden Religionen.

„Zwischen Ihrer Religion nnd der meinigen besteht

ein großer Unterschied", sagte eines Abends eine Christin

zu einem Bekannten, für dessen geistlichen Zustand sie sich

schon seit langer Zeit sehr interessiert hatte.

„Wirklich?" fragte der andere; „inwiefern denn?"

„Ihre Religion," lautete die Antwort, „besteht aus

vier Buchstaben, die meinige aus sechs."

Der also angeredete Mann gehörte zu jener zahlreichen

Klasse von Personen, welche durch ihr Thun in

den Himmel zu kommen suchen. Religiös, ehrbar, eifrig in

der Beobachtung christlicher Formen und Satzungen, und

bereit, zu allen Werken der Nächstenliebe hülfreiche Hand

zu bieten, sind sie reich an dem, was der Apostel im

9. Kapitel des Hebräerbriefes „tote Werke" nennt.

Der gute Mann wußte nicht, was er aus der sonderbaren

Antwort seiner Freundin machen sollte. Diese hatte

schon oft mit ihm über religiöse Dinge gesprochen und

war an jenem Abend gekommen, um Abschied von ihm

zu nehmen, da sie für einige Zeit verreisen wollte. Endlich,

nach längerem Besinnen, sagte er:

„Was meinen Sie eigentlich mit den „vier" und

„sechs" Buchstaben?"

„O das ist sehr einfach. Ihre Religion heißt:

„thun"; die meinige: „gethan"."

Weiter wurde nichts gesprochen. Man nahm Abschied,

und die Sache war damit scheinbar erledigt. Aber

Gott benutzte die kurze Unterhaltung zum ewigen Heil

des Mannes. Die Worte seiner Freundin gingen ihm

194

nach und thaten ein Werk in seiner Seele, wie er es

nie für möglich gehalten hätte. Sie riefen eine völlige

Umwälzung in allen seinen Gedanken hervor. Er fühlte

sehr wohl den Unterschied zwischen seiner Religion und

derjenigen seiner Freundin, denn „thun" und „gethan"

sind zwei sehr verschiedene Dinge. Das eine bedeutet

Gesetzlichkeit, das andere bildet die Grundlage des Christentums.

Es war allerdings eine neue und etwas merkwürdige

Art, das Evangelium von dem vollbrachten Werke

Christi vorzustellen; aber sie war gerade passend für einen

gesetzlichen Charakter, und der Geist Gottes bediente sich

ihrer zum Nutzen des Hörers. Als der Mann das nächste

Mal wieder mit seiner Freundin zusammentraf, sagte er

Zu ihr: „Jetzt kann ich auch sagen, daß meine Religion

aus sechs Buchstaben besteht. Der Herr sei ewig gepriesen,

daß Er alles gethan hat!"

Er hatte seine „toten" Werke in ihrer ganzen Wertlosigkeit

vor Gott erkannt und gelernt, völlig von ihnen

abzusehen und in dem vollbrachten Werke Christi zu ruhen.

Die Gnade Gottes hatte ihn dahin geleitet zu sehen, daß

es sich nicht mehr darum handelte, was er für Gott

thun konnte, sondern was Gott für ihn gethan hatte.

Das ordnete alles. Gethan — alles gethan, alles

für ewig vollbracht, was zu unserm Heile nötig ist!

Kostbares Wort! Wer könnte die tiefe Freude und Erleichterung

eines mühseligen und beladenen Herzens schildern,

wenn es entdeckt, daß alles gethan ist? Welch

ein Glück, zu wissen, daß das, dessen Erreichung es vielleicht

seit vielen Jahren vergeblich angestrebt hat, schon vor

mehr als achtzehn Jahrhunderten auf dem Kreuze geschehen

ist. Christus hat alles gethan. Er hat die Sünde

195

hinweggethan, den Forderungen der göttlichen Gerechtigkeit

völlig genügt, den Fluch des Gesetzes getragen, Satan besiegt,

dem Tode seinen Stachel genommen und dem Grabe

seinen Sieg; Er hat Gott gerade da verherrlicht, wo Er

verunehrt worden war, und eine ewige Gerechtigkeit für

den glaubenden Sünder erworben. Alles das liegt eingeschlossen

in dem einen kurzen, aber so kostbaren Worte:

„gethan". O wer wollte dafür nicht sein eignes armseliges

„Thun" aufgeben?

Mein Leser! was ist deine Religion? Besteht sie

aus vier oder aus sechs Buchstaben? Bist du immer

noch damit beschäftigt, zu „thun", oder hast du mit dir

selber und all deinem eignen Wirken abgeschlossen und

deine Ruhe in der seligen Gewißheit gefunden, daß alles

„gethan" ist? Möchte das letztere der Fall sein! Nur

so kannst du wahrhaft glücklich sein, nur dann, wenn du

in dem vollbrachten Werke Christi Ruhe gesunden hast,

beginnen, etwas für Den zu thun, der alles für dich

gethan hat. Denn dann ist alles verändert. Statt

der fruchtlosen Anstrengungen eines ohnmächtigen, verlornen

Sünders, statt der „toten" Werke eines von Satan

gebundenen Sklaven zeigen sich die lieblichen Früchte eines

neuen Lebens, dessen Quelle Gott selbst ist; es erklingen

die Lobgesänge eines aus der Gewalt der Finsternis und

der Herrschaft der Sünde erlösten Gläubigen, der, aufrecht

erhalten und gekräftigt durch die Güte und Macht

seines Erlösers, fähig gemacht ist, auf dem schmalen Pfade

der Wahrheit zu Seiner Verherrlichung zu wandeln. Die

Zeit der „toten" Werke ist vorüber, und die Zeit der

„guten" hat begonnen, wie wir lesen: „Er hat sich selbst

für uns gegeben, auf daß Er uns loskaufte von aller

196

Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein Eigentums-Volk,

-eifrig in guten Werken." (Tit. 2, 14.)

Der Herr gebe unS allen ein einfältiges Auge, ein

kindliches, demütiges Herz und einen aufrichtigen Eifer

für Seinen Namen! „Denn einst wäret ihr Finsternis,

jetzt aber Licht in dem Herrn; wandelt als Kinder

des Lichts." (Eph. 5, 8.)

Gedanken.

Wenn Gott einen Menschen dadurch ehrt, daß Er

ihm viel zu thun giebt, so möge dieser sich darüber freuen,

aber nicht murren; denn wenn er murrt, kann er sehr

bald diese Ehre verlieren. Gott ist niemals in Verlegenheit

um Werkzeuge. Er ist an keinen Menschen gebunden

und wird uns niemals zwingen, an einem Ehrenplätze zu

bleiben, wenn wir Ihm nicht das Vertrauen schenken,

daß Er uns da aufrecht erhalten kann. So war es mit

Mose. Mose beklagte sich über die Last, die auf seinen

Schultern ruhte; die Last wurde sehr bald entfernt, damit

aber auch die hohe Ehre, sie allein tragen zu dürfen.

(4. Mose 11.)

Wenn andrerseits ein Mensch in der Eitelkeit seines

Sinnes sich selbst in den Vordergrund stellt und eine

Last auf seine Schultern nimmt, die Gott ihm nie zu

übertragen beabsichtigt und für die Er ihn auch nie befähigt

hat, so können wir sicher erwarten, ihn unter dem

Gewicht zusammenbrechen zu sehen; aber wenn Gott eine

Last auf uns legt, so wird Er uns auch die Fähigkeit

und die Kraft geben, sie zu tragen.

Der Weg des Glaubens in einer

bösen Zeit.

Gin Wort der Warnung und Ermunterung.

IV.

Christus, das Haupt.

Wir brauchen nur einen Blick in die Briefe an die

Epheser und Kolosser zu werfen, um zu sehen, welch ein

hervorragender Platz Christo als dem Haupte des Leibes

im Anfang des Christentums gegeben wurde. Gerade der

Umstand, daß die jungen Gläubigen in Kolossä „daS

Haupt nicht festhielten", brachte sie in Gefahr, durch die

falschen Lehren der Engel-Anbetung, des religiösen Formenwesens,

der Philosophie und des Vernunftglaubens irregeleitet

zu werden. Selbstverständlich genügt es nicht,

die bloße Lehre von Christo als dem Haupte Seines

Leibes zu kennen; was not thut, ist, in dem Glauben

und den innigen Zuneigungen des Herzens das Haupt

festzuhalten und so mit Ihm in Gemeinschaft zu bleiben.

Wenn der Herr Jesus als das Haupt aller Fürstentümer

und Gewalten daS Herz eines Gläubigen erfüllt, und wenn

das Bewußtsein in diesem lebt, daß er in Ihm vollendet

ist, wie könnte er dann daran denken, Engel anzubeten, die

durch Ihn erschaffen und Ihm unterworfen sind? Wenn

er ferner seinen neuen Platz der Begnadigung in Ihm,

dem Geliebten, kennt und genießt, wie könnte er dann

sein Vertrauen auf irgendwelche religiösen Formen setzen,

198

oder glauben, durch die Erfüllung derselben Gott näher

zu kommen?

Er, der „das Haupt aller Fürstentümer und Gewalten"

ist, ist zugleich „das Haupt des Leibes", so daß die Quellen

aller Auferbauung des Leibes in Ihm sind. (Kol. 2, 10;

Eph. 4, 15.) Es ist deshalb unmöglich, auf dem wahren

Boden des Christentums zu stehen oder gegenüber den

Gliedern des Leibes Christi in der richtigen Stellung zu

sein, wenn man nicht das Haupt festhält. Wenige thun

dies leider so, wie es im Anfang geschah, und daher

zeigen sich so viel Trägheit und so viele verkehrte Dinge.

Manche erheben sich in ihren Gedanken nicht über die

Thatsache, daß wir „Brüder" sind; aber dieses Verhältnis

werden selbst die Juden im tausendjährigen Reiche kennen.

Das Verhältnis von „Haupt" und „Gliedern" aber

gehört, so weit wir die Schriften verstehen, allein der Kirche

oder Versammlung Gottes an; und nur wenn wir „das

Haupt festhalten", sind wir imstande, die Glieder Seines

Leibes gleichsam mit Seinen Augen und nach Seinem

Herzen und Seinen Gedanken zu betrachten. Möchten

deshalb alle Gläubige zu dem zurückkehren, was von

Anfang war!

Die bleibende Gegenwart des Heiligen Geistes.

Ein anderer wesentlicher Charakterzug des Christentums

ist die Gegenwart des Heiligen Geistes, der aus

dem Himmel herniedergekommen ist, um bei uns und in

uns zu sein, um uns zu leiten, zu belehren, zu trösten

und, wenn es nötig ist, zu strafen, so lange unser Herr

abwesend ist. Die Art und Weise, wie wir diesen „andern

Sachwalter" behandeln, ist ein ernster Prüfstein für den

— 199 —

Zustand unsrer Seele. Wenn wir einhergehen ohne das

bestimmte Bewußtsein, daß wir stets Seines Beistandes,

Seines Dienstes und Seiner Leitung bedürfen, und wenn

wir uns nicht fürchten, Ihn zu betrüben, so wandeln wir

offenbar in Selbstvertrauen, so schön und fromm auch

unser äußeres Kleid scheinen mag.

ES ist wichtig, sestzuhalirn, daß eS die Person

des Heiligen Geistes ist, die uns gegeben und die das

göttliche Siegel der reinigenden Wirkung des Blutes Christi

ist. Es ist nicht ein Maß des Geistes, nicht bloß ein

Ausfluß der Gottheit, sondern Gott, der Heilige Geist,

mit welchem wir versiegelt und gesalbt sind, der zugleich

die Kraft der Einheit und das Unterpfand des Erbes ist,

bis zur Erlösung des erworbenen Besitzes.

Die Einheit der drei Personen der Gottheit zeigt sich

unter anderm darin, daß der Heilige Geist uns Zeugnis

giebt von dem Vater und dem Sohne, und daß der

Herr Jesus in uns und durch uns handelt durch den

G ei st. Wir lesen, daß zu einigen, die dem Herrn

dienten und fasteten, der Heilige Geist sprach:

„Sondert mir nun Barnabas und Saulus aus zu dem

Werke, zu welchem ich sie berufen habe." (Apstgsch. 13, 2.)

Ferner ist in den Sendschreiben an die sieben Versammlungen

der Herr der Redende, und doch sagt Er siebenmal:

„Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den

Versammlungen sagt." Aus diesen und andern Schrift-

stellen geht klar hervor, daß, wenn wir mit dem Herrn

beschäftigt sind, wo Er jetzt ist, der Geist uns leiten und

belehren wird; und umgekehrt, wenn wir in Abhängigkeit

von dem Geiste stehen, so wird Er uns mit unserm Herrn

Jesu Christo in den Himmeln beschäftigen, sowie mit dem,

200

waS zu Seiner Verherrlichung gereicht. Wir lesen von

unserm Herrn, daß Er die Gefangenschaft gefangen geführt

und den Menschen Gaben gegeben hat (Eph. 4, 8);

und ferner lesen wir von „Verschiedenheiten von Gaben",

aber von „demselben Geist", und alles ist zur Auferbauung

des Leibes Christi.

Laß uns nie vergessen, geliebter christlicher Leser,

daß „jedem einzelnen von uns die Gnade gegeben worden

ist nach dem Maße der Gabe des Christus", so daß jedes

Glied des Leibes, gerade so wie beim menschlichen Körper,

seinen besondern Platz und ein gewisses Maß des Dienstes

auszufüllen hat, welches kein anderes Glied ausfüllen

könnte, und ferner, daß jedes Gieb zum Wohle des ganzen

Leibes notwendig ist. „Der Leib ist nicht ein Glied,

sondern viele"; d. h. er ist aus vielen und mancherlei

Gliedern zusammengesetzt, so daß niemand sagen kann, er

bedürfe nicht aller Glieder des „einen Leibes". Wir bedürfen

einander, so wie unsre natürlichen Glieder in ihren

verschiedenen Verrichtungen zum Wohlbefinden des ganzen

Leibes notwendig sind. Diese Erwägung ist von großer

praktischer Bedeutung. Wir könnten sagen: es ist das

Christentum, so wie eS im Anfang war, und es steht im

völligsten Gegensatz zu Unabhängigkeit und Selbstsucht.

Ein Gläubiger, der nicht in dieser Weise die Gnade und

die Gaben der Glieder des Leibes Christi ehrt, (nicht nur

innerhalb der Versammlung, sondern auch im allgemeinen,)

wandelt praktisch nicht so, wie er wandeln sollte. Viel

Kummer und viele schwere Fehler entstehen unter den Christen

aus dem Mangel an Unterwürfigkeit gegenüber dem

Herrn, indem sie Seine Hülfe vermittelst Seiner Glieder

nicht benutzen und es unbeachtet lassen, daß dem einen

201

„das Wort der Weisheit", dem andern „das Wort der

Erkenntnis" durch denselben Geist zugeteilt ist. Welch

reiche Segnungen würden vorhanden sein, wenn alle

Gläubigen das Haupt festhielten und so in der Kraft

eines ungetrübten Geistes für die Glieder Seines Leibes

Sorge trügen!

Der Leib ist also, wie wir gesehen haben, „nicht

ein Glied, sondern viele. Wenn der Fuß spräche: Weil

ich nicht Hand bin, so bin ich nicht von dem Leibe; ist

er deswegen nicht von dem Leibe? . . . Nun aber sind

der Glieder zwar viele, der Leib aber einer. Das Auge

kann nicht zu der Hand sagen: Ich bedarf deiner nicht;

oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich bedarf

euer nicht; ... auf daß keine Spaltung in dem Leibe

sei, sondern die Glieder dieselbe Sorge für einander haben

möchten." (1. Kor. 12, 14—26.) Wunderbare Wahrheit!

Aber, mögen wir wohl fragen, wer befindet sich heute

praktisch in diesem Kreise? Wo find diejenigen, welche

mit allem Ernst für diese Wahrheit streiten als für den

Glauben, der einst den Heiligen überliefert worden ist?

Es hat eine Zeit gegeben, wo die Gläubigen so sehr in diesen

Dingen lebten, daß schon das bloße Wort „unabhängig"

die Gefühle vieler verletzte. Die Wahrheit wurde mit

Entschiedenheit festgehalten, daß „einem durch den Geist

das Wort der Weisheit gegeben wird, einem andern aber

das Wort der Erkenntnis nach demselben Geiste,, einem

andern aber Glauben in demselben Geiste ec."; so daß

die Glieder des Leibes in Abhängigkeit von dem Haupte

wandelten und, indem sie jene Wege des Geistes anerkannten,

mit einander die Schritte berieten, die sie einschlagen

wollten, um so vielleicht die richtige Leitung des

202

Herrn zu empfangen. Beachten wir wohl, wie oft wiederholt

wird: „durch denselben Geist"! (1. Kor. 12, 8—18.)

Wenn daher Glieder des Leibes unabhängig von einander

wandeln und handeln, so setzen sie dadurch die Ordnung

beiseite, die Gott zu Seiner Verherrlichung und unserm

Segen gegenwärtig auf Erden eingerichtet hat. Unabhängigkeit

ist nicht Christentum.

Viel von der Schwachheit und Untreue unter den

Gläubigen unsrer Tage hat seinen Grund auch darin,

daß sie sich so wenig mit dem beschäftigen, was Christus,

ihr Herr, jetzt droben für sie ist und thut. Die Beschäftigung

mit Seinen mannigfaltigen Thätigkeiten droben

würde ihren Sinn auf die Dinge richten, die droben sind,

sie von dem gegenwärtigen bösen Zeitkauf loslösen, und

sie antreiben, zu Seiner Verherrlichung zu leben. Wir

sollten zu allen Zeiten fähig sein, zu sagen: „Unser

Bürgertum ist in den Himmeln" — unser Leben, unsre

Gerechtigkeit, unser Friede, unsre Segnungen, unsre Heimat,

unsre Quellen, mit einem Wort, alles ist dort.

Und wenn wir dies wirklich zu sagen vermögen, so werden

wir auch wahrheitsgemäß hinzufügen können: „von

woher wir auch den Herrn Jesum Christum als Heiland

erwarten, der unsern Leib der Niedrigkeit umgestalten wird

zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der Herrlichkeit,

nach der wirksamen Kraft, mit der Er vermag, auch alle

Dinge sich zu unterwerfen." (Phil. 3, 20. 21.)

Aus allem, was gesagt worden ist, geht klar hervor,

daß viele der Wahrheiten, die im Anfang des Christentums

eine so große Gewalt über die Herzen und Gewissen

hatten, den Gläubigen praktisch entschwunden sind; und

wir dürfen versichert sein, daß der Pfad des Glaubens

203

in einer treuen Rückkehr zu diesen Wahrheiten und in

einem entschiedenen Handeln nach denselben besteht. Die

ermunternden Worte des Herrn gelten heute noch: „Sei

getreu bis zum Tode, und ich werde dir die Krone des

Lebens geben." Und wenn unsre Herzen ängstlich und

verzagt werden wollen wegen der Leiden oder der mancherlei

Verluste, die ein solches Handeln im Glauben für

uns im Gefolge haben könnte, so ruft Er uns tröstend

zu: „Meine Gnade genügt dir; denn meine Kraft wird

in Schwachheit vollbracht." Er fordert uns auf, „zu

Ihm hinauszugehen, außerhalb des Lagers, Seine

Schmach tragend", und Er sagt unS: „Euch ist es

in Bezug auf Christum geschenkt worden, nicht allein

an Ihn zu glauben, sondern auch für Ihn zu leiden."

(Offbg. 2, 10; 2. Kor. 12, 9; Hebr. 13, 13;

Phil. 1, 29.)

Niemand kann heute in einer richtigen Stellung sich

befinden, der nicht demütig den Verfall der Kirche oder

Versammlung als der Zeugin Gottes auf Erden anerkennt.

Die Darstellung ihrer Einheit hienieden ist dahin, um nie

wieder hergestellt zu werden, obgleich die Treuen verantwortlich

sind, nach ihren Grundsätzen zu handeln, so weit

ein Ueberrest dies vermag. Dies schließt das Bewußtsein

in sich, daß vieles verloren ist, was im Anfang war,

sowie die dankbare Annahme und Anerkennung dessen, was

durch Gottes Gnade noch geblieben ist. Obgleich wir weder

Apostel und Propheten, noch Zeichen- und Wundergaben

haben, so bleiben doch der Heilige Geist, die Schriften,

Christus in Seiner mannigfaltigen Thätigkeit droben und

die Gaben zur Auserbauung der Heiligen; Gott sei dafür

gepriesen! Und diejenigen, welche das, was geblieben ist,

204

in Demut anerkennen und auf die Barmherzigkeit und

Treue Gottes rechnen, werden auch stets die Zeichen Seiner

Macht und Seines Segens sehen.

Selbstverständlich ist die bloß äußerliche Einnahme

einer Stellung (so schriftgemäß sie auch sein mag)

ohne jenen Zustand des Glaubens, der Liebe und der

Hoffnung, der unserm Herrn gegenüber sich gebührt, ein

armseliges Ding und wird bald zu einer bloßen Formsache

herabsinken. Aber wir dürfen andrerseits versichert

sein, daß dann, wenn unsre Stellung der Wahrheit Gottes

gemäß ist und wir mit Herzensentschluß bei dem Herrn

verharren, auch ein Zeugnis für Ihn vorhanden sein

wird, selbst wenn die Dinge um uns her eine noch

traurigere Gestalt annehmen sollten, als es bereits der

Fall ist. Gott erwartet Wirklichkeit von uns. Die große

wichtige Frage für uns alle ist: Sind unsre Herzen darauf

gerichtet. Ihm wohlzugefallen durch einen Wandel in

der Wahrheit? Wie bald mögen wir ausgenommen werden,

um unserm Herrn in der Luft zu begegnen! Trachten

wir darnach, aus Seinem Munde ein: „Wohl, du

guter und getreuer Knecht!" zu vernehmen?

Die Seligpreisungen.

(Matth. 5, 1—12.)

(Schluß.)

„Glückselig die um Gerechtigkeit willen

Verfolgten, denn ihrer ist das Reich der

Himmel. Glückselig seid ihr, wenn sie euch

schmähen und verfolgen und jedes böse Wort lügnerisch

wider euch reden werden um meinetwillen.

205

Freuet euch und frohlocket, denn euer Lohn

ist groß in den Himmeln; denn also haben

sie die Propheten verfolgt, die vor euch

waren." (V. 10—12.)

Müßten wir nicht die Kinder des Reiches in einer

feindseligen Welt zurücklassen, so könnten wir hier unsre

Betrachtung über die Seligpreisungen schließen, in der

völligen Gewißheit, daß jene vollkommen gesegnet seien;

denn siebenmal gesegnet zu sein, das ist göttliche Vollkommenheit.

Allein so gesegnet sie auch sein mögen, so

glücklich in der göttlichen Gegenwart, so passend für die

Ererbung der Erde in der herrlichen Zeit des tausendjährigen

Reiches, so passend selbst für die Herrschaft mit

Christo in den höheren Regionen der Herrlichkeit — sie

stehen doch noch in dieser Welt, gerade so wie sie darin

standen, ehe sie aus Gott geboren wurden; ja, sie sind

vielleicht von denselben Personen und Verhältnissen umgeben

wie vorher.

Wir können das alle Tage sehen. Die Heimat, die

einst so traulich und angenehm war, ist für manche zu einer

trostlosen Einöde geworden. Wie oft haben Jungbekehrte

die schmerzliche Erfahrung machen müssen, daß sie in

demselben Hause, in welchem sie die glücklichen Tage ihrer

Kindheit verlebten und wo sie in ihrem unbekehrten Zustande

geliebt und geachtet waren, als Fremdlinge betrachtet

oder gar wie Ausgestoßene behandelt wurden!

Da sie selbst völlig verändert sind, die Familie aber dieselbe

geblieben ist, können sie keine Gemeinschaft mehr

mit den Wegen der letzteren haben, und umgekehrt kann

jene nicht mit ihnen harmonieren. Alles ist verändert;

ein Widerspruch ist unvermeidlich, und Verfolgung in der

206

einen oder andern Form sicher, vor allem wenn der

Jünger Christi das Bild seines Meisters trägt, so wie es

in den sieben Seligpreisungen beschrieben ist. „Alle aber

auch, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, werden

verfolgt werden." (2. Tim. 3, 12.)

„Schweige! bist du weiser als dein Vater und

deine Mutter, verständiger als deine Brüder und Schwestern?

Müssen wir alle uns unter dich beugen?" —

das ist vielleicht die leichteste Form der Verfolgung, die

ein Jünger des Herrn zu erdulden hat. Aber doch ist es

ein Widerstand gegen die Gnade Gottes und den Geist

Christi, der sich in dem jungen Gläubigen offenbart. Dieser

muß jetzt einsam und allein seinen Pfad gehen.

Wir haben bis jetzt hauptsächlich von dem Charakter

der Kinder Gottes gesprochen; wir möchten nun für

einen Augenblick bei ihrer Stellung in einer bösen

Welt verweilen. Wenn der moralische Charakter derer,

die Christo angehören, sich bis zu der Höhe der siebenten

Seligpreisung erhebt, so muß notwendigerweise der Geist

der Verfolgung erwachen und sie Leiden und Trübsalen

aussetzen; und dies wird so lange der Fall sein, bis das

Reich der Himmel in Macht und Herrlichkeit errichtet

werden wird. Hätte der Herr nicht eine besondere Seligpreisung

für diesen Zustand der Dinge ausgesprochen, so

würden die Jünger vielleicht geneigt gewesen sein, zu

sagen, daß ihre Lage nichts weniger als glückselig sei,

da die Seligpreisung des Himmels nur den Haß und die

Feindschaft des Menschen auf sie bringe. In der That,

eine solche Sprache wäre natürlich gewesen, aber nicht

geistlich — ein Wandeln durch Schauen, nicht durch

Glauben. Aber wozu ist der Unglaube nicht fähig! Was

207

alles wird er nicht sagen und thun! Und leider liegt noch

viel Unglaube in den Herzen der Gläubigen versteckt. Aber

wie reich und überströmend ist dem gegenüber die Gnade

unsers Herrn Jesu! Er preist diejenigen zweimal glückselig,

welche der Verfolgung seitens der Welt ausgesetzt

sind. Das vervollständigt das schöne Gemälde, das Er

von dem Charakter und der Lage Seines Volkes entwirft,

und verleiht jedem einzelnen Umstand in ihrer Stellung

während des Wartens aus das Reich ein großes Interesse.

„Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten,

denn ihrer ist das Reich der Himmel." Wie merkwürdig

und fremd muß diese Sprache denen geklungen haben,

die eine äußere Herrlichkeit, oder eine Herrschaft des

Friedens, ein Paradies auf Erden, erwarteten! Aber der

Herr stellt Seinen Jüngern deutlich vor, was ihre neue

Stellung in dieser Welt sein würde; und je deutlicher

ihre Aehnlichkeit mit Ihm hervorträte, desto schwerer würden

ihre Verfolgungen sein. Er bezieht sich hier insbesondere auf

die erste Gruppe der Seligpreisungen, die durch „Gerechtigkeit"

charakterisiert wird, wie die zweite durch „Gnade".

„Glückselig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Reich

der Himmel." Jede wiedergeborue Seele muß mehr oder

weniger ein Gefühl von ihrem eignen Nichts haben, sowie

ein aufrichtiges und ernstes Verlangen, im Gehorsam

gegenüber dem Willen Gottes erfunden zu werden. Das

ist Gerechtigkeit, und zwar die Gerechtigkeit, welche Verfolgung

in diesem Leben hervorruft. Nehmen wir ein

Beispiel. Ein mit dem Herrn wandelnder Christ fürchtet

sich, irgend etwas zu thun, was verkehrt ist, und wünscht,

stets den rechten, Gott wohlgefälligen Weg zu gehen; er

übt sich, „allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor

208

Gott und den Menschen". (Apstgsch. 24, 16.) Das ist

der Brustharnisch der Gerechtigkeit. Aber nun wird ihm

eine Verbesserung seiner Lage, eine einträglichere Stellung

oder dergl. angeboten, wenn er sich zu etwas verstehen

will, bezüglich dessen er fürchtet, daß es nicht recht

sei. Das Anerbieten ist vielleicht sehr vorteilhaft und

verführerisch, während er selbst sich in einer mißlichen

Lage befindet. Die Versuchung ist groß; aber er wartet

auf den Herrn; er bringt die Sache vor Ihn; das Licht

scheint, und der Zweck des Versuchers wird offenbar.

Das Anerbieten wird bestimmt abgewiesen; die Gerechtigkeit

trägt den Sieg davon, aber der Gläubige leidet um

ihretwillen. Er wird mißverstanden, ein Thor genannt,

oder gar als ein großer Narr und Fanatiker hingestellt.

Er verliert nicht nur, was ihm angeboten wurde, sondern

möglicherweise auch das, was er bisher besaß. Man

kann ihn nicht mehr brauchen, und er wird entlassen.

Dennoch kann er sagen: Mein gegenwärtiger Verlust

wird sich unter der gerechten Regierung Gottes als mein

ewiger Gewinn erweisen. Er hat ein vorwurfsfreies

Gewissen und ein glückliches Herz; er wird dem Herrn

näher gebracht, da er in Abhängigkeit von Ihm einhergeht.

„Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten,

denn ihrer ist das Reich der Himmel." Wenn der König

aus dem fernen Lande heimkehren und Seine Knechte um

sich sammeln wird, was wird es dann sein, aus Seinem

Munde die Worte zu vernehmen: „Wohl, du guter und

getreuer Knecht! über weniges warst du getreu, über

vieles werde ich dich setzen; gehe ein in die Freude deines

Herrn!" (Matth. 25, 21.)

Stehen wir hier einen Augenblick still, mein Leser.

209

Laß uns geduldig und mit Gebet über diesen so überaus

praktischen Gegenstand nachsinnen. Erwägen wir mit Ernst

die vielen Wege, auf welchen wir treu oder untreu sein

mögen. Giebt es da nicht mancherlei Schatten von praktischer

Ungerechtigkeit in den Angelegenheiten dieses Lebens

? Sie müssen alle einmal wieder hervorgebracht und

nach einem gerechten Maßstabe gemessen werden. Wie

ernst, obgleich auch gesegnet ist der Gedanke, daß wir

alle vor dem Richterstuhl Christi geoffenbart werden

müssen, daß jeder Gedanke, jedes Wort und jede Handlung

dort ins Licht gebracht, untersucht und beurteilt

werden wird! Erwartest du, dort von Ihm zu hören:

„Wohl, du guter und getreuer Knecht"? Ich verlange

keine Antwort auf meine Frage, aber laß dein Herz Ihm

antworten. Sei jetzt vor Ihm offenbar; suche, in allen

Dingen und während deines ganzen Pilgerlaufs hienieden

den vollkommnen Willen Gottes zu thun. Wenn schon

hier der Herr so viel von Glückseligkeit spricht, was muß

es dereinst sein, wenn alles nach Seinem Willen geordnet

ist und jede Glückseligkeit ihren vollen und ewigen Widerschein

in uns finden wird! Darum, mein Leser, fürchten

wir uns, zu sündigen, obwohl wir deshalb zu leiden

haben mögen.

Wir kommen jetzt zu der letzten Seligpreisung des

Reiches der Himmel. Sie bezieht sich ebenfalls zurück,

und zwar auf die zweite Gruppe der sieben ersten Seligpreisungen,

die sich durch „Gnade" kennzeichnet — durch

die Gnaden der Barmherzigkeit, der Reinheit und des

Friedens. Auf diese Weise werden hier die verschiedenen

Tugenden des göttlichen Lebens, die in allen Kindern

Gottes ans Licht treten sollten, unter zwei Häuptern:

210

Gerechtigkeit und Gnade, zusammengebracht; wir finden

zuerst das, was recht ist vor Gott, und dann das, was

Gnade ist gegenüber den Menschen. „Glückselig seid ihr,

wenn sie euch schmähen und verfolgen und jedes böse

Wort lügnerisch wider euch reden werden um meinetwillen."

Die den Duldern um Christi willen verheißene Segnung

hat etwas besonders Liebliches und Kostbares. Wir

brauchen uns darüber nicht zu verwundern; denn welcher

Name ist gleich dem Seinigen! Es giebt nichts Höheres,

nichts Besseres; wer Seinen Namen hat, besitzt alles, was

Gott geben kann; er besitzt jede Segnung, die jemals in

den endlosen Zeitaltern der Ewigkeit genossen werden kann.

Die Verheißung ist unmittelbar persönlich. „Glückselig

seid ihr" — nicht wie sonst: sind „die". Der Herr

blickt auf Seine Jünger, und Wohl wissend, was sie durchzumachen

haben würden, redet Er unmittelbar zu ihren

Herzen und giebt ihnen zu verstehen, welch ein persönliches

Interesse Er an ihnen nehmen und wie nahe sie Ihm

stehen würden. So muß es stets sein, wenn wir um

Seines Namens willen leiden. Es ist dies eine viel

höhere Sache, als um der Gerechtigkeit willen zu leiden,

obgleich beide Arten von Leiden oft zusammengehen mögen.

Viele aufrichtige Seelen haben um der Gerechtigkeit willen

gelitten, ohne daß sie die Liebe des Heilandes oder

Seine errettende Gnade kannten. Von Natur aufrichtig

angelegt, wollten sie sich nicht dazu hergeben, andere zu

betrügen, und sie hatten infolge dessen zu leiden. Schon

eine bloß natürliche Aufrichtigkeit ist zu gerade für die

krummen Wege dieser traurigen, betrügerischen Welt. O

wie schwierig und versuchungsvoll ist der Pfad des Chris

211

ten inmitten von diesem allem! Er muß leben und wandeln

durch das Wort des Herrn und in Gemeinschaft

mit Ihm, wenn er vor einem verunreinigten Gewissen

und einem geschwächten Zeugnis bewahrt bleiben will.

Ein Leiden um Christi willen ist die Folge eines

Redens von Ihm zu andern. Es handelt sich nicht nur

um ein entschiedenes „Nein", wenn wir aufgefordert werden,

etwas Unrechtes zu thun, sondern um ein ernstes,

liebeerfülltes Herz, das jede Gelegenheit benutzt, um von

dem hochgelobten Herrn und Seinem Heil zu reden; wenn

möglich auch zu solchen, die uns gern Schwierigkeiten in

den Weg legen möchten. Es giebt immer eine Menge

weltkluger Christen um uns her, die unter dem Vorwande,

man müsse verständig und klug handeln, nur zu gern bereit

sind, den Eifer zu dämpfen und die Treue für Christum

zu hindern.

Indes möchte jemand einwenden: „Alles hat seine Zeit

und seinen besondern Platz; es ist nutzlos, andere zu

beleidigen, seinen Einfluß preiszugeben oder leichtfertig

seine Aussichten für dieses Leben zu opfern. Wir sind doch

nicht berufen, stets von Christo zu reden oder überall das

Evangelium zu verkündigen; man kann auch leicht Anlaß

geben, daß unser Gut verlästert werde u. s. w." Ach,

wie oft kommen solche oder ähnliche Worte von den Lippen

lauer Christen oder bloßer Bekenner, und wie oft schon

mögen derartige Scheingründe, wenigstens für eine Zeit,

den treuen, aber vielleicht etwas zaghaften Zeugen für

Christum zum Schweigen gebracht haben! Aber wir

dürfen versichert sein, daß es die Stimme des Feindes

ist, von welchen Lippen die Worte auch kommen mögen;

und sie sollten als solche behandelt werden. Es ist wahr

212

lich nicht die Stimme des guten Hirten; und Seine

Schafe hören Seine Stimme und folgen Ihm.

Wenn Christus unsern Herzen kostbar ist, so haben

solche Einwürfe keine Gewalt über uns. Wir wisfen,

daß Er unendlich wertvoller ist als alles, was die Welt

thun oder geben kann. Die schönen Worte menschlicher

Klugheit erscheinen dann in ihrem Nichts, und die Gnade

triumphiert. Christus steht vor der Seele, Er gebietet

über ihre ganze Kraft; Seine Liebe inspiriert die Zunge,

und der Mund kann nicht schweigen. Sein Name brennt

in unsern Herzen und Worten, und wir sehnen uns

darnach, daß Er auch in dem Herzen und auf den Lippen

andrer brennen möge.

Gelten diese Worte nur dem Leser dieser Zeilen?

O nein; ich rede zu mir selbst wie zu allen andern. Die

Richtschnur ist für alle die gleiche. In demselben Verhältnis

wie Christus vor unsrer Seele steht und sie

regiert, in demselben Verhältnis werden wir treu sein

und für Ihn leiden. Vielleicht mögen nicht körperliche

Leiden oder weltliche Verluste unser Teil sein, aber sicher

wird nur ein schmaler Pfad für uns übrigbleiben und

Schmach und Verwerfung uns zufallen. Ja, wir würden

völlig allein sein auf diesem schmalen Pfade, wenn nicht

durch die Gnade Gottes noch andere ihn gingen. Man

kann zu deri Menschen von allem Möglichen reden: von

Religion, von Predigern, von Kirchen, von der Heidenmission,

von christlichen Vereinen, von menschenfreundlichen

Bestrebungen u. s. w. u. s. w., und bei alledem geachtet

und beliebt bleiben. Sobald man aber von dem Herrn

Jesu zu reden beginnt, von Seinem kostbaren Blute, von

einer völligen Heilsgewißheit, von dem Einssein mit Ihm

213

droben in den Himmeln, von einer Trennung von der

Welt und ihren sündigen Freuden und Vergnügungen, —

offenbart sich sofort die Feindschaft des menschlichen

Herzens. Die Zuhörer wenden sich weg, die Zahl der

Freunde nimmt reißend ab, und wenn der Feind es vermag,

bringt er Spott und Verfolgung über die Zeugen

Christi. Sie leiden um Seines Namens willen. Vielleicht

bleibt es bei einem mitleidigen Achselzucken oder

einigen verächtlichen Bemerkungen; allein es ist derselbe

Geist, der einst überall Scheiterhaufen errichtete, um die

Stimme der lästigen Zeugen Christi in den Flammen zu

ersticken. Er würde heute dasselbe thun, wenn Gott es

ihm erlaubte und nicht Seine Hand über Seinen schwachen

Kindern hielte. Wer waren die unversöhnlichsten Feinde

des Herrn und Seines Dieners Paulus? Die religiösesten

Männer in Israel. Hat sich die Welt oder die

menschliche Natur seitdem verändert? Wir glauben es

nicht.

Allein es möchte gefragt werden: Warum giebt es

denn heute so wenig Verfolgung um des Namens Jesu

willen? Es giebt vielleicht mehr, als viele denken mögen.

Ein Christ, der mit Entschiedenheit seinen Pfad außerhalb

des Lagers verfolgt, zu Christo hinausgeht, dahin wo Er

litt, muß die Bitterkeit oder besser gesagt die Süßigkeit der

Verfolgung schmecken. Solche Christen werden von allen

Seiten gemieden, wenn nicht verachtet, und am meisten

von solchen, die ein christliches Gewand zu tragen lieben,

es aber nicht mit der Welt verderben wollen. Der Platz

außerhalb des Lagers, das von der Welt und ihren

Dingen getrennte Leben ist ein fortwährender, lästiger

Vorwurf für den bloßen Bekenner und erregt seinen Haß.

214

Den treuen Zeugen für Christum wird überall widersprochen

und oft am meisten von solchen, die sie am

wenigsten kennen. Dian nennt sie ungerechter Weise geheime

Verbreiter ketzerischer Lehren; man kennzeichnet sie

als solche, die einfältige Seelen abziehen und bethören;

sie sind Verführer, Betrüger, Sektierer u. s. w. — Nun,

wird man vielleicht sagen, alles das ist nicht so schlimm.

Allerdings öffnet eS nicht die Kerker, bringt niemanden

auf die Folterbank, zündet keine Scheiterhaufen an und

entblößt nicht das Schwert des Henkers; aber wie viel

weiter würde der Geist der Verfolgung gehen, wenn Gott

es zuließe! Die Kirchengeschichte redet laut und deutlich

genug. Wer sich nicht scheut, seine Mitchristen zu schmähen

und zu lästern, weil sie in gewissen Punkten der Lehre

oder des praktischen Lebens von ihm abweichen, ist nicht

weit von dem Geiste Roms entfernt, welches um einer

bloßen Meinungsverschiedenheit willen stets zu blutiger

Verfolgung bereit war.

Doch alles dieses wurde von unserm gepriesenen

Herrn vorausgesehen, und Er traf in Gnaden Vorsorge

dafür. Er denkt an alles. Die Gläubigen sind Seinem

Herzen nie teurer, als wenn sie um Seinetwillen verachtet

werden und leiden. „Glückselig seid ihr," so lautet

das liebliche Trostwort, das Er an ihre Herzen richtet,

„glückselig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen

und jedes böse Wort lügnerisch wider euch reden werden

um meinetwillen. Freuet euch und frohlocket, denn euer

Lohn ist groß in den Himmeln; denn also haben sie die

Propheten verfolgt, die vor euch waren."

Sollten sie bis zum Tode leiden, so würde der

Himmel ihre sofortige Heimat sein. „Groß ist euer Lohn

215

in den Himmeln." Auch würden sie die Ehre genießen,

in den Fußstapfen derer zu wandeln, die bereits

früher als die Herolde Seiner Ankunft gelitten und von

den Leiden, die auf Christum kommen sollten, und von

den Herrlichkeiten darnach zuvor gezeugt hatten. Und so

wie dies wahr war von den Propheten des Alten Testaments

und wahr ist von den Christen aller Zeiten, so

wird es auch wahr sein von dem jüdischen Ueberrest, der

in den letzten Tagen um seines Messias willen getötet

werden wird. (Offbg. 6, 9—11.)

Indem wir hiermit diese Betrachtungen schließen,

laß uns, geliebter Leser, zusehen, daß wir unsre Lektion

gut gelernt haben! Laß uns sorgfältig sein betreffs

dessen, was wir von den Erlösten des Herrn sagen und

wie wir gegen sie handeln! Sie sind nicht nur Seinem

Herzen teuer; nein, Er hat Seine Wonne an ihnen.

Betrüben wir Ihn nicht durch irgendwelche Unfreundlichkeit

gegen sie! Wenn es nötig ist, mit dem einen oder

andern offen zu reden oder in Treue mit ihm zu handeln,

so geschehe es in Liebe und Zartheit. „Die Bruderliebe

bleibe!" (Hebr. 13, 1.) Die brüderliche Liebe sollte nie

eine Unterbrechung erfahren, wenn auch der brüderliche

Verkehr, falls der Herr eS fordert, unterbrochen werden

muß.

Der Herr gebe, daß unsre Betrachtungen über diese

herrlichen Seligpreisungen einen unverwischbaren Eindruck

bei Schreiber und Leser dieser Zeilen zurücklassen mögen,

damit der Charakter des Heilandes in unserm ganzen

Leben mehr hervortrete! Wir werden dann auch den

beiden göttlichen Sinnbildern, von denen hier weiterhin

die Rede ist: „Salz" und „Licht", mehr entsprechen.

216

Salz und Licht — die erhaltende Kraft an der Stätte,

zu welcher das Licht bereits gedrungen ist und wo die

Wahrheit bekannt wird, sowie die gesegnete Thätigkeit der

Liebe, die im Licht der Gnade und der Wahrheit ausgeht

zu einer finstern, umnachteten Welt. Das sei unsre

Mission, geliebter Leser, unermüdlich, unveränderlich, damit

noch viele sich bekehren mögen von der Finsternis

zum Licht und von der Gewalt Satans zu Gott, auf

daß sie Vergebung der Sünden empfangen und ein Erbe

unter denen, die geheiligt sind durch den Glauben an

Christum Jesum! (Apstgsch. 26, 18.)

Der Säemann.

Von allen Gleichnissen, die unser Herr während

Seines Dienstes in dieser Welt ausgesprochen hat, ist

wohl keines von umfassenderer Bedeutung und hervorragenderer

Wichtigkeit als dasjenige von dem Säemann.

Die Tiefe und der Ernst der in ihm enthaltenen Lehren,

sowie die außerordentliche praktische Kraft, die es auf

Herz und Gewissen ausübt, lassen es von besonderem

Werte erscheinen, soweit überhaupt ein Vergleich zwischen

den einzelnen Teilen des Wortes Gottes erlaubt ist.

Möge der Heilige Geist uns bei der Betrachtung desselben

leiten, möge Er selbst es auslegen und auf unsre Seelen

anwenden!

Das Gleichnis teilt sich naturgemäß in drei verschiedene

Gegenstände, nämlich den Säemann, den

Samen und den Boden.

Was zunächst den Säemann betrifft, so ist es niemand

anders als der Herr selbst. Ohne Zweifel benutzt

217

Er andere in dem Werke der Aussaat des kostbaren

Samens, aber Er selbst ist der große Säemann. So

lange Er auf Erden weilte, war Er stets beschäftigt,

den Samen des Wortes auszustreuen; und nachdem Er

jetzt Seinen Platz in den Himmeln eingenommen hat,

befähigt, füllt und sendet Er durch den Heiligen Geist

Männer aus, die das herrliche Werk fortsetzen. Er selbst

arbeitet mit ihnen, um ihrem Zeugnis Kraft und Wirksamkeit

zu verleihen und den Samen in den Herzen der

Menschenkinder aufgehen zu lassen.

Es ist unmöglich, einen Säemann die Furchen eines

Ackerstückes entlang schreiten und mit vollen Händen den

Samen ausstreuen zu sehen, ohne von der Schönheit und

Kraft des von dem Herrn gebrauchten Bildes getroffen

zu werden.

Wir möchten jedoch von vornherein den Leser daran

erinnern, daß es nicht in den Bereich dieses Gleichnisses

gehört, die Wirkungen des Geistes Gottes darzustellen,

die in irgend einem gegebenen Falle unumgänglich nötig

sind, damit der Same Wurzel fasse und Frucht hervorkomme.

Von diesen Wirkungen ist in andern Teilen des

Wortes die Rede. Bei der Betrachtung eines Gleichnisses

ist es stets nötig, den Hauptpunkt, um den es sich handelt,

zu erfassen und nicht andere, fremde Dinge hinein zu

bringen. Die Beachtung dieses Grundsatzes ist von der

höchsten Wichtigkeit; eine Vernachlässigung desselben kann

zu der schlimmsten Verwirrung führen.

Daß das Werk des Geistes durchaus notwendig ist,

haben wir bereits gesagt; ja, wir möchten hinzufügen:

nicht die geringste wahre Frucht könnte hervorgebracht

werden, wenn nicht der Heilige Geist die Herzen für die

218

Aufnahme des guten Wortes Gottes zubereitete. Wir

sagen dies mit besonderem Nachdruck, da der eine oder

andere unsrer Leser vielleicht denken möchte, daß eS in der

Art des Bodens wichtige Unterschiede gebe, daß in gewissen

Fällen etwas bei dem Menschen vorhanden sein

könne, was ihn, ohne ein göttliches Werk in der Seele,

befähige, Frucht zu bringen. Allein es giebt nichts derartiges,

durchaus nichts. Die Schrift belehrt uns an

vielen Stellen, daß es in dieser Beziehung keinen Unterschied

giebt, daß von Natur nichts Gutes in uns wohnt, daß,

gleichwie in dem Weinberge des Judentums nie etwas

anderes als Herlinge hervorkamen, so auch auf dem weiten

Erntefelde des christlichen Bekenntnisses nur taube Frucht

sich zeigen würde, wenn nicht durch den Dienst des Heiligen

Geistes der Boden zur Aufnahme des Samens vorbereitet

würde.

Dies läßt die große Frage der Verantwortlichkeit

des Menschen ganz und gar unberührt. Sie wird in der

Schrift gerade so bestimmt gelehrt wie die Wahrheit von

der Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Beide Dinge finden

sich indes nicht in unserm Gleichnis, obgleich eS, wie wir

kaum zu sagen brauchen, in völligem Einklang mit ihnen

steht. Es stellt uns den Herrn Jesum in einem ganz

neuen Charakter vor Augen, nämlich als Den, der in

diese Welt herabgestiegen ist und dasjenige mit sich bringt,

was Frucht hervorzubringen vermag, nachdem alle Seine

früheren Wege und Handlungen mit dem Menschen nur

dessen gänzliche Untauglichkeit zu allem Guten erwiesen

hatten.

Lauschen wir einen Augenblick auf die gewaltigen

und doch zugleich so rührenden Worte, mit denen Jehova

219

sich in Jes. 5 an Sein irdisches Volk wendet: „Wohlan,

ich will singen von meinem Geliebten ein Lied meines

Lieben von seinem Weinberge: Mein Geliebter hatte

einen Weinberg auf einem fetten Hügel. Und er grub

ihn um und säuberte ihn von Steinen und bepflanzte ihn

mit Edelreben; und er baute einen Turm in seine Mitte

und hieb auch eine Kelter darin aus; und er erwartete,

daß er Trauben brächte, aber er brachte Herlinge. —

Nun denn, Bewohner von Jerusalem und Männer von

Juda, richtet doch zwischen mir und meinem Weinberge!

Was war noch an meinem Weinberge zu thun, das ich

nicht an ihm gethan hätte? Warum habe ich erwartet,

daß er Trauben brächte, und er brachte Herlinge?

Nun, so will ich euch denn kundmachen, was ich

meinem Weinberge thun will: seinen Zaun wegnehmen,

daß er abgeweidet werde, seine Mauer niederreißen, daß

er zertreten werde. Und ich werde ihn zu Grunde richten;

er soll nicht beschnitten noch behackt werden, und Dornen

und Disteln sollen aufschießen; und ich will den Wolken

gebieten, daß sie keinen Regen auf ihn regnen lassen.

Denn der Weinberg Jehovas der Heerscharen ist das

Haus Israel, und die Männer von Juda sind die Pflanzung

Seines Ergötzens; und Er wartete auf Recht, und

siehe da: Blutvergießen, auf Gerechtigkeit, und siehe da:

Wehgeschrei."

Das war das traurige Resultat aller Wege Gottes

mit dem Hause Israel: „Herlinge," „Dornen und Disteln",

ein hoffnungsloses Verderben, „Blutvergießen" und „Wehgeschrei".

Nicht ein einziger versöhnender Zug zeigt sich

in dem ganzen Gemälde. Das Haus Israel und die

Männer von Juda hatten trotz all der Mühe, die sich

220

Jehova mit ihnen gegeben hatte, Seinen Gedanken nicht

entsprochen. Der Weinberg hatte auch nicht eine einzige

Traube zur Erfrischung Seines Geistes hervorgebracht; und

deshalb muß Er von neuem beginnen und das weite Erntefeld

dieser Welt betreten, um hier weit und breit den

unverweslichen Samen des Wortes auszustrenen. „Siehe,

der Säemann ging aus, zu säen."

Der Gedanke, unsern Herrn und Heiland unter dem

Charakter eines Säemanns in dieser Welt auftreten zu

sehen, hat etwas überaus Liebliches. Der Hohe und Erhabene,

der die Ewigkeit bewohnt, der die Himmel ausgespannt

hat wie ein Zelt, der über dem Erdkreise thront,

der das ganZe unendliche Weltall durch das Wort Seiner

Macht trägt, der Gegenstand der Anbetung des Himmels

und des Dienstes der Engel — Er durchschreitet die

rauhen Furchen dieser Welt, um Seinen kostbaren Samerr

auszustreuen! O geliebter Leser, welch einen Blick läßt

uns das thun in Seinen Charakter, in Seine Natur, in

Sein Herz! Wie treffend stellt es dar, wie rührend beweist

es Sein liebendes Verlangen, den bestimmten Vorsatz

Seines Herzens, mit den Menschenkindern in Verbindung

zu treten, sich mit Sündern zu umgeben, die aus Gnaden

errettet sind!

Weshalb all diese Mühe, dieses rastlose Wirken,

diese geduldige Arbeit? Warum überließ Er uns nicht

unserm selbsterwählten, dem Abgrunde zuführenden Pfade?

Warum erlaubte Er eS nicht, daß wir dem verdienten

Verderben anheimfielen? — Die Antwort auf alle diese

und tausend ähnliche Fragen liegt in jenem kurzen, aber

so wunderbaren Ausspruch des Apostels Johannes: „Gott

ist Liebe". Ja, hier ist die Quelle von allem, von

221

Seiner Güte und Freundlichkeit gegen uns elende Sünder,

von Seiner Menschenliebe und von Seinem brennenden

Verlangen nach unserm Heil. Sein herrlicher Name sei

ewig gepriesen!

Es ist unmöglich, an den Herrn, unsern Gott, in

dem wunderbaren Charakter eines Säemanns zu denken,

ohne daß unsre Herzen bis in ihre innersten Tiefen bewegt

werden. Nichts kann das Ausströmen Seiner Liebe

verhindern, nichts die Quellen Seiner Gnade erschöpfen.

Er wird Seine Ratschlüsse ausführen trotz aller Bosheit

und Feindschaft des Menschen. Er ist unermüdlich in

Seinem geduldigen Wirken in dieser Welt. Sieht Er

sich in Seinem Weinberge in Palästina getäuscht, so geht

Er hinaus in die Felder der weiten, weiten Welt, um

den kostbaren Samen Seines heiligen Wortes überallhin

zu tragen. Er will erretten; Er will sich umgeben

mit den Gegenständen Seiner Liebe, mit den Siegeszeichen

Seiner Gnade. Nichts kann Sein liebendes Herz befriedigen,

als Sein Haus mit armen, elenden, verdammungswürdigen

Sündern gefüllt zu sehen, die Er selbst

gesucht, errettet, bekleidet und fähig gemacht hat, in den

himmlischen Höfen zu weilen und alle Ewigkeit hindurch

das Lob Seiner erlösenden Liebe zu besingen. Noch einmal

erheben wir unsre Herzen zu Ihm und rufen mit

Anbetung und Bewunderung: Preis und Ehre sei Seinem

herrlichen Namen! Ja, ewig sei unser Heiland-Gott gepriesen,

der uns geliebt hat, als wir noch Sünder und

Feinde waren, und der unsre Seelen erlöst hat vom

ewigen Verderben!

(Fortsetzung folgt.)

222

Jesus allem.

Biele wahre Christen sind bezüglich der Vollkommenheit

ihrer Errettung in Finsternis, und manche von ihnen

geraten infolge dessen in einen Zustand, der an hoffnungslose

Verzweiflung grenzt. Woher kommt das? Ach, sie

setzen ihr Vertrauen auf ihre Erfahrungen und Gefühle,

anstatt auf Christum! Es kann nicht oft genug wiederholt

werden, daß wir, je mehr wir in uns hinein

blicken, um so unglücklicher und elender werden müssen.

Was uns not thut, ist von uns weg auf Jesum zu

blicken. Nur so können wir glücklich sein und in Frieden

unsre Pfade ziehen. Wenn ich mit dem Rücken gegen

das Licht stehe und meinen Schatten betrachte, so brauche

ich mich nicht zu verwundern, daß er so schwarz ist; je

Heller das Licht, desto dunkler der Schatten. Wenn ich

aber meinem Schatten den Rücken wende und mich der

Sonne zukehre, so wird ihr Licht mein Angesicht beleuchten.

Gerade so ist es mit den Gläubigen. Die

einen blicken auf sich selbst und beschäftigen sich mit ihren

eignen finstern Gedanken, und darum ist ihr Herz unglücklich

und ihr Geist beschwert; die andern blicken auf

Jesum, und sind deshalb erfüllt mit dem Lichte der Gegen­

wart Gottes.

Vor mehr als zwanzig Jahren kam eine junge Frau,

als sie einer Verkündigung des Evangeliums beiwohnte, zur

Erkenntnis ihres verlornen Zustandes vor Gott und wurde

gläubig an Jesum. Nicht lange nachher beging sie eine

Sünde, welcher viele nur wenig Bedeutung beigelegt haben

würden; dieselbe lastete aber so schwer auf ihrer Seele,

daß sie ihre Freude und bald nachher auch ihren Frieden

223

verlor. Anstatt zu Gott zu gehen und Ihm ihren Fehltritt

zu bekennen, suchte sie unaufhörlich in sich nach der

Freude, die durch ihre Sünde verscheucht worden war.

So vergingen mehr als zwanzig Jahre, und die einst so

glückliche junge Gläubige schien nichts anders zu sein als

eine verzweiselnde, tief unglückliche Verstoßene. Welch

ein trauriger Abschnitt in der Geschichte eines Gläubigen l

Zwanzig Jahre lang ntedergebeugt, zwanzig Jahre lang

unfähig, auf Jesum zu blicken! Doch der Herr bleibt

allezeit treu. Er führte dieses verirrte Schäflein zurück.

Eines Sonntag-Abends war sie wieder zugegen, als die

frohe Botschaft von dem ein für allemal vollendeten Werke

Christi verkündigt wurde. Das Wort drang in ihr Herz;

die Finsternis schwand, und das göttliche Licht leuchtete.

Als sie den Saal verließ, konnte sie mit überströmender

Freude ausrufen: „Ich habe Ihn gefunden; ich habe

Ihn gefunden! Jetzt verstehe ich, daß alles Jesus ist.

Meine Gefühle haben nichts mit meiner Errettung zu

thun; es ist Christus von Anfang bis zu Ende. O wie

thöricht bin ich gewesen! Mehr als zwanzig Jahre habe

ich in Finsternis und Knechtschaft gelebt, weil mein eignes

Ich den ersten Platz einnahm, und Jesus den zweiten!"

Mein lieber Leser! Der Tod und die Auferstehung

Jesu sind die einzige Grundlage unsers Heils. Welch eine

elende Stütze ist die Erinnerung an ein vergangenes Glück I

Wie steht es mit dir? Bist du auch müde und matt von

den trüben Erfahrungen, die du mit deinem eignen Ich

gemacht hast? Mußt du auch auf eine unglückliche, finstere

Zeit zurückschauen? O dann laß dir sagen: Blicke von dir

ab und beginne mit Jesu! Ob ein stolzes Ich oder ein

demütiges Ich, ob ein natürlich gutes oder ein schlechtes

224

Ich — es'ist gleich böse und unverbesserlich. Du kannst

nur glücklich sein, wenn du deinen Blick auf Jesum gerichtet

hältst. Wer kommt zuerst: das Ich oder Jesus?

das ist die wichtige Frage. Wir sind „begnadigt in dem

Geliebten", auferstanden mit Ihm, dem Verherrlichten,

„vollendet in Ihm" — was könnten wir mehr bedürfen?

Wir sind gerechtfertigt für immer und ewig, weil der

Herr Sein kostbares Blut für unsre Sünden vergossen

hat; und nun ruft Er uns zu: „Bleibet in mir, und

ihr werdet viel Frucht bringen."

Was aber mit unsern täglichen Fehlern? Wir alle

straucheln doch oft? Im Blick darauf lesen wir die herrlichen

Worte: „Wenn wir unsre Sünden bekennen, so ist

Er treu und gerecht, daß Er uns die Sünden vergiebt

und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit;" und weiter:

„Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf daß ihr nicht

sündiget; und wenn jemand gesündigt hat — wir haben

«inen Sachwalter bei dem Vater, Jesum Christum, den

Gerechten; und Er ist die Sühnung für unsre Sünden."

(1. Joh. 1, 9; 2, 1. 2.)

Darum noch einmal: der einzige Weg, um glücklich

zu sein und Frucht zu bringen zur Verherrlichung Gottes

des Vaters, ist, von sich selbst abzublicken auf Jesum

hin, mit Ihm beschäftigt zu sein und von Ihm zu lernen.

Er allein ist die Quelle unsrer Freude und unsrer Kraft.

„Freuet euch in dem Herrn allezeit, und wiederum will

ich sagen: Freuet euch!" (Phil. 4, 4.) „Die Freude

Jehovas ist eure Stärke." (Neh. 8, 10.)

Gott in allen Dingen.

Ein einfältiges Auge und ein kindliches Herz sind

eine kostbare Gabe Gottes. Alle Gläubigen könnten und

sollten sie besitzen; aber leider begegnet man ihr nur

selten unter den Kindern Gottes. Die eigene Kraft, der

eigene Verstand und der eigene Wille spielen gewöhnlich

eine so große Rolle, daß das Glaubensauge trübe, der

Blick umschleiert und das Herz unfähig ist, die Wege

Gottes zu verstehen und Sein geheimnisvolles, verborgenes

Wirken in allem wahrzunehmen. Das ist ein großer

Verlust für uns und eine Unehre für unsern Gott.

Nichts hilft dem Christen mehr, still und getrost seinen

Weg zu gehen, die Schwierigkeiten und Versuchungen

auf dem Pilgerpfade zu ertragen und Gott darin zu verherrlichen,

als die Gewohnheit, Ihn in allen Dingen

zu sehen. Es giebt keine Lage, keinen Umstand, kein

Ereignis in dem Leben eines Gläubigen, so unbedeutend

und geringfügig sie auch dem natürlichen Auge erscheinen

mögen, die nicht als stille Boten Gottes an ihn betrachtet

werden könnten. Wenn nur das Auge einfältig, das

Ohr geöffnet, das Herz kindlich und der Sinn geistlich

ist, so werden wir köstliche, gesegnete Erfahrungen machen

von dem Thun Gottes; wir werden erfahren, daß Er

Seine Hand hat in den alltäglichsten Dingen dieses Lebens,

und daß ^es Seine Freude ist, uns durch den Wink Sei

226

nes Auges zu leiten. Ach! wenn wir uns doch mehr in

dieser Weise leiten ließen, daß Er nicht nötig hätte, uns

Zaum und Zügel anzulegen!

Wie groß, wie anbetungswürdig ist unser Gott, der

Schöpfer des Himmels und der Erde, daß Er sich herabläßt,

sich um die kleinsten und unwichtigsten Dinge zu

bekümmern! Er, der einst sprach: „Es werde!", der

alle Dinge durch das Wort Seiner Macht trägt und erhält

— Er bekümmert sich auch um den Sperling auf

dem Dache, Er zählt die Haare auf unserm Haupte!

UnS erscheint manches groß, manches gering, da wir alles

nach unsrer Kraft und unserm Vermögen messen. Für

Ihn, den Allmächtigen, giebt es nichts Großes und nichts

Geringes. Ob Er Millionen von Welten ins Dasein

ruft oder die jungen Raben speist, ist für Ihn gleich.

Seine wunderbare Größe offenbart sich in dem tosenden

Orkan nicht mehr als in dem sanften Säuseln des Südwindes,

in der majestätischen Ceder auf dem Libanon

nicht mehr als in dem kleinen Veilchen, das still am

Wege blüht. ,

Wenn wir nur. einfältigere Augen hätten, um zu

sehen, und kindlichere Herzen, um zu verstehen! Erblicken

wir in den täglichen Umständen nichts anderes als was

der natürliche Mensch darin sieht — Zufälle und selbstverständliche

Ereignisse, wie das menschliche Leben sie einmal

mit sich bringt — so mag das Leben zu einer langweiligen

Einförmigkeit für uns werden, kaum der Mühe

wert, daß man es lebt; oder zu einer drückenden Bürde,

die man je eher je lieber ablegen möchte. Wenn wir

aber Gott in alles und jedes hineinbringen, so erhält

unser Leben hienieden einen unendlichen Wert, eine tiefe

227

Bedeutung für den erneuerten Sinn und einen wunderbaren

Reiz für das Auge des Glaubens. Wir erblicken

dann in allen Dingen die Hand eines allweisen, allmächtigen

und liebenden Vaters; wir erkennen auf Schritt und

Tritt die gesegneten Spuren Seiner Gegenwart und Seines

Wirkens. Und wie sehr dadurch das Gebetsleben,

der verborgene Umgang mit dem Vater, gefördert wird,

brauchen wir kaum zu sagen. Wie lieblich und erfrischend

ist es, das kindlich-einfältige Gebet eines Gläubigen zu

hören, der die Treue und Güte Seines Herrn auf dem

zurückgelegten Wege erfahren, zugleich aber auch sich selbst,

feine eigene Kraft und Weisheit in ihrem ganzen Nichts

kennen gelernt hatI Er läßt „alle seine Anliegen",

die großen und die kleinen, mit Gebet, Flehen und Danksagung

vor dem Vater kund werden; er wirft alle seine

Sorgen, die großen und die kleinen, auf Ihn, der sich

bereitwillig damit beladen will, und — der Friede Gottes,

der allen Verstand übersteigt, bewahrt sein Herz und seinen

Sinn in Christo Jesu. (Phil. 4.) Glückselig ein

jeder, der so den Herrn in allem zu seiner Zuversicht

und Stärke macht! Für ihn ist kein Tag unwichtig. Er

verachtet auch nicht „den Tag kleiner Dinge". Die

Geschichte eines jeden Tages erweckt seine Teilnahme; und

wie könnte es anders sein, da sie ja für seinen Gott und

Vater wichtig ist?

Wir lernen in der ganzen Schrift, daß es für den

Gläubigen keinen Zufall giebt, daß nichts von ungefähr

kommt. Vor allem liefert uns das Buch des Propheten

Jona einige höchst treffende Beweise für diese Wahrheit.

In der ganzen Geschichte des Propheten zeigt sich wieder

und wieder, selbst in den gewöhnlichsten Dingen, die Da

228

zwischenkunft Gottes. Und wird es nicht auch bei einem

jeden von uns so sein, wenn wir einmal unsre Geschichte

in dem Lichte der göttlichen Gegenwart erblicken werden?

Wie werden wir dann staunen über unsre Kurzsichtigkeit,

über unser schwaches Verständnis, über unsern Kleinglauben

und unsre Thorheit! Und wie werden wir die wunderbare

Güte, Treue und Geduld unsers Gottes bewundern,

dessen Hand alle unsre Wege hienieden geleitet und uns

mit unendlicher Langmut bis ans Ziel gebracht hat!

Ich möchte nicht in eine ausführliche Erklärung des

genannten Buches eingehen, sondern nur auf einen Ausdruck

aufmerksam machen, der sich beinahe in jedem Kapitel

wiederholt, nämlich: „ Iehova bestellte". Der Heilige

Geist läßt uns gleichsam einen Blick hinter die Scene

thun und zeigt uns das verborgene Wirken Gottes. Er

ist es, der alles in Seiner Hand hat: Wind und Wellen,

Hitze und Kälte, Mensch und Tier; und Er lenkt alles

nach dem Rate Seines Willens.

Im 1. Kapitel sendet der Herr einen starken Sturm,

um durch ihn zu dem Herzen und Gewissen Seines ungehorsamen

Knechtes zu reden. Jona wollte sich dem ihm

gewordenen göttlichen Auftrag entziehen, indem er in ein

Schiff stieg, das nach Tarsis fuhr. Ninive lag im

Osten von Palästina, Tarsis im Westen. Gott sagte:

„Gehe rechts!" Aber Jona ging links. So ist der

Mensch. „Da warf Jehova einen heftigen Wind auf

das Meer, und es entstand ein großer Sturm auf dem

Meere, so daß das Schiff zu zerbrechen drohte." (V. 4.)

Dieser Sturm redete eine eindringliche, ernste Sprache zu

dem Propheten, wenn nur sein Ohr geöffnet gewesen wäre,

die Stimme Gottes zu vernehmen. Es war eine feier

229

liche Botschaft Gottes an ihn. Jona bedurfte, belehrt

und zurecht gebracht zu werden, nicht die armen heidnischen

Schiffsleute. Sie waren ohne Zweifel schon ost

einem Sturme begegnet; für sie war ein Sturm nichts

Neues, nichts Besonderes, nichts anderes als eines der

gewöhnlichen Erlebnisse eines Seemannes. Aber es gab

einen Mann im Schiffe, für den er etwas Besonderes,

Außergewöhnliches war. Aber wie wunderbar! — die

heidnischen Schiffer merken bald, daß Gott wider sie

ist, während Jona, der Prophet Gottes, im untern Schiffsräume

liegt und so fest schläft, daß der Obersteuermann

ihn mit kräftigem Rufe aufwecken muß. Welch eine ernste

Lektion für uns! Wie ist es möglich, mögen wir wohl

fragen, daß ein Gläubiger so gefühllos werden kann?

Ach! daß es möglich ist, beweist unsre eigne Geschichte.

Erst als die Schiffer das Los werfen, um zu erfahren,

um wessentwillen das Unglück sie erreiche, ja, erst

als das Los den Propheten trifft und die Seeleute ihn

fragen, woher er komme und was sein Geschäft sei, kommt

Iona zur Einsicht. Erst jetzt vernimmt er die Stimme

des Boten Gottes und bekennt, daß der Herr um seinetwillen

so ernst rede. Auf seinen eignen Rat werfen die

geängstigten Seeleute ihn ins Meer. Damit war für sie

die Sache beendigt, nicht aber für Jona und Gott. Die

Schiffer sahen nichts mehr von Jona, aber Gott sah ihn

und gedachte an ihn.-

Gott in allen Dingen! Jona ist in eine

neue Lage, in neue Umstände versetzt, aber nicht in solche,

wo die Boten Gottes ihn nicht mehr erreichen könnten.

Der Gläubige kann sich nie in einer Lage befinden, in welcher

die Hand seines Vaters zu kurz wäre oder die Stimme

230

seines Vaters sein Ohr nicht erreichen könnte. Als Jona

ins Meer geworfen wurde, „bestellte Jehova einen großen

Fisch, um Jona zu verschlingen". Jehova bestellte den

Sturm, und Jehova bestellte den Fisch. Ein großer Fisch

war nichts Ungewöhnliches; es giebt deren viele im Meere.

Aber der Herr bestellte einen besonderen für Jona, damit

er der Bote Gottes an seine Seele werde. Und

siehe da, im Bauche des Fisches kommt Jona zur Besinnung,

ja, er wird in seinen Umständen und selbst in

seinen Worten ein Vorbild von Christo.

Wir überspringen jetzt die nächsten Kapitel, um im

letzten unsern Propheten an der Ostseite der Stadt Ninive

wiederzufinden. Er hatte den Bewohnern der Stadt die

Botschaft Gottes verkündigt, und sie hatten auf seine

Predigt hin Buße gethan, so daß Gott sich des Uebels

gereuen lassen konnte, das Er wegen ihrer Sünden über sie

beschlossen hatte. Jona ist unzufrieden darüber und hadert

mit Gott. Lieber hätte er dem Untergang der großen,

dichtbevölkerten Stadt zugeschaut, als nun sehen zu müssen,

daß der Herr in Gnade und Erbarmen handelte. Argzer

Jona! rufen wir unwillkürlich auS; aber laßt uns nicht

etwa denken, daß unsere Herzen andere wären als das

Herz des murrenden Propheten. Wir sind aus demselben

Stoff bereitet und derselben Thorheit fähig.

Jona scheint die Wahrheiten, die er während der

drei Tage im Bauche des Fisches gelernt hatte, schon

wieder völlig vergessen zu haben, und er bedarf eines

neuen Boten von feiten Gottes. O wie gnädig und

langmütig ist unser Gott! Unermüdlich beschäftigt Er

sich mit uns, und wieder und wieder lehrt Er uns dieselben

Lektionen.

' D HE

— 231 —

„Und Jehova, Gott, bestellte einen Wunderbaum

und ließ ihn über Jona emporwachsen, damit Schatten

über seinem Haupte wäre, um ihn von seinem Mißmut

zu befreien." (Kap. 4, 6.) Welch eine anbetungswürdige

Gnade! Der Wunderbaum wie der große Fisch

bildeten ein Glied in der Kette der Umstände, durch welche

der Prophet nach der Absicht Gottes wandeln sollte.

Obgleich sehr verschieden in ihrer Art, waren sie doch beide

Boten Gottes für seine Seele. „Und Jona freute sich

über den Wunderbaum mit großer Freude." Er hatte

vorher verlangt zu sterben; aber sein Verlangen war

nicht das Ergebnis eines heiligen Wunsches, diese arme

Erde verlassen zu dürfen und für ewig in Ruhe zu sein,

sondern die Folge seines Unwillens und seiner Enttäuschung.

Nicht das Glück der Zukunft, ja, nicht einmal die Leiden

der Gegenwart erweckten den Wunsch in ihm, abzuscheiden;

es war nur gekränkter Ehrgeiz, die eitle Sorge um seinen

Ruf als Prophet.

Bei uns erwecken oft die Leiden der Gegenwart das

Verlangen, abzuscheiden und bei Christo zu sein. Wir

wünschen von dem augenblicklichen Druck befreit zu werden,

und deshalb, wenn dieser Druck vorüber ist, hört auch

das Verlangen auf. Ist dagegen die Person des Herrn

der Gegenstand unsers Verlangens, sehnen wir uns nach

Seinem Kommen, um Ihn von Angesicht zu Angesicht,

„wie Er ist", schauen zu können, so üben die äußern

Umstände wenig Einfluß aus. Unser Sehnen nach Ihm

ist dann ebenso groß in den Tagen des Sonnenscheins

und der Ruhe, als in Zeiten des Sturmes und des

Druckes.

Als Jona unter dem Schatten des Wunderbaumes

232

saß, trug er kein Verlangen mehr nach dem Tode. Seine

Freude über den Wunderbaum und dessen kühlen Schatten

ließ ihn seinen Unmut vergessen. Gerade diese letztere

Thatsache beweist, wie sehr er der besondern Boten des

Herrn bedurfte. Der Zustand seiner Seele mußte offenbar

werden, und er wurde offenbar zu seiner tiefen Beschämung.

Der Herr kann alles benutzen, um die Geheimnisse und

Tiefen des menschlichen Herzens zu enthüllen, auch einen

Wunderbaum, „den Sohn einer Nacht"; und Er thut es

zu unserm ewigen Wohl und zur Verherrlichung Seines Namens.

Wahrlich, der Christ kann sagen: „Göttin allen

Dingen." Er kann Seine Stimme vernehmen in dem

Heulen des Sturmes wie in dem Hinwelken einer Pflanze.

Doch wir sind noch nicht am Ende der Wege Gottes

mit Jona angelangt. Der Wunderbaum war, wie bereits

gesagt, nur ein Glied in der bedeutsamen Kette der Umstände;

das folgende Glied ist ein Wurm! „Aber Gott

bestellte einen Wurm am folgenden Tage, beim Aufgang

der Morgenröte; und dieser stach den Wunderbaum, daß

er verdorrte." Dieser Wurm, so unbedeutend er sein

mochte, war nichtsdestoweniger der ernste Bote Gottes,

gerade so wie der Sturm und der große Fisch. Ein

Wurm, wenn er von Gott benutzt wird, kann Wunder

thun. Der Wunderbaum verdorrte. „Und es geschah, als

die Sonne aufging, da bestellte Gott einen schwülen Ostwind,

und die Sonne stach Jona aufs Haupt." Alles

muß mitwirken, um Jona zur Erkenntnis seines Unrechts

zu bringen. Ein Wurm und ein schwüler Wind —

wunderbare Mittel in der Hand Gottes! Aber gerade

in ihrer scheinbaren Geringfügigkeit offenbart sich umso

auffallender die Größe unsers himmlischen Vaters. Ob

— 233 —

ein heftiger Orkan oder ein unbedeutender Wurm — Gott

kann beide zur Erfüllung Seiner Absichten der Liebe benutzen.

Der Sturm, der große Fisch, der Wurm, der

schwüle Ostwiud — alle sind Werkzeuge in Seiner Hand.

Der unbedeutendste wie der gewaltigste Bote muß Seine

Absichten fördern helfen. Wem wäre es in den Sinn

gekommen, daß ein Orkan und ein Wurm mit einander

die Mittel sein könnten, um ein Werk Gottes zu thun?

Und doch war es so. Groß und klein sind, wie im Anfang

bemerkt, nur Ausdrücke, die unter den Menschenkindern

im Gebrauch sind. Bei Gott ist nichts groß und nichts

klein. Er zählt die Menge der Sterne, und Er nimmt

Kenntnis von dem Sperling, der vom Dache fällt. Er

macht die Wolken zu Seinem Gefähr und ein demütiges

Herz zu Seiner Wohnung.

Darum noch einmal: Gott in allen Dingen.

Für den Gläubigen giebt es nichts Zufälliges, nichts Bedeutungsloses

in allem, was ihm begegnet. Er mag

durch dieselben Umstände zu gehen und dieselben Versuchungen

zu bestehen haben wie andere Menschen; aber

er darf sie nicht nach denselben Grundsätzen deuten. Sie

führen für sein geöffnetes Ohr eine ganz andere Sprache

als für das Ohr des natürlichen Menschen. Er sollte

in den unbedeutendsten wie in den wichtigsten Ereignissen

eines jeden Tages die Stimme Gottes vernehmen und

Seine Boten erkennen. Er wird auf diesem Wege köstliche

Erfahrungen machen.

Die Sonne, die in majestätischem Lauf ihre Bahn

durchzieht, und der Wurm, der über den Weg kriecht —

beide sind von Gott geschaffen, und beide können in der

Ausführung Seiner unerforschlichen Absichten mitwirken.

234

„Die Salbung von dem Heiligen."

„Gesehen haben sie Deine Züge, o Gott, die Züge

meines Gottes, meines Königs, im Heiligtum." (Ps. 68,

24.) So lautet die glühende Sprache des Psalmisten,

wenn er das Haus der Herrlichkeit und seinen Dienst in

den Tagen des tausendjährigen Reiches sich

im Voraus vorstellt.

Das gegenwärtige Haus Gottes, so verfallen es

sein mag, hat auch seinen Dienst und seine Züge, und

deshalb sollte der Gläubige dementsprechend darin erfunden

werden.

Durch die Predigt des Evangeliums wird „die Gerechtigkeit

Gottes" geoffenbart, und durch den Glauben

steht der Sünder in dieser Gerechtigkeit; und glaubende

Sünder, lebendig gemacht durch diesen unverweslichen

Samen des Evangeliums, kommen zusammen, werden mit

einander auferbaut und lernen und wandeln die Wege,

welche sich für sie an diesem Platze und in diesem Charakter

geziemen. Sie beobachten die ihnen überlieferten

Gebote und bewahren sich als eine „ungesäuerte Masse".

Sie erkennen die Pflicht an, für einander zu sorgen, in

der brüderlichen Liebe zu bleiben und einander zu guten

Werken zu ermahnen. Sie schätzen die Bedienung des

Wortes hoch, und, indem sie die Schrift zur Richtschnur

all ihres Denkens und zu dem Maßstabe alles wahren

Wissens machen, suchen sie die Unterweisungen derselben

immer völliger zu lernen. Sie wünschen nicht nur, sich

durch die im Worte ihnen gegebenen Ratschläge leiten zu

lassen, sondern auch durch seine unaussprechlich kostbaren

Offenbarungen genährt und gefördert zu werden.

235

M/

Auch erfassen sie den Charakter, der ihnen als versammelten

Heiligen gehört — „eine Behausung Gottes

im Geiste" — und bekennen, daß, so schwach es sein

mag, ihr einziges Licht und ihre Kraft zu jeglicher Auferbauung

in der Gnade und Wirksamkeit des Heiligen

Geistes in ihnen liegt.

Sie nennen Jesum „Herr" und erkennen Seine

Gegenwart an; und in dieser Anerkennung nehmen sie

einander an, doch nicht zur Entscheidung zweifelhafter

Fragen. Wenn der Name des Herrn anerkannt und

Seine Autorität als unumschränkt hochgehalten wird,

werden Speisen und Tage, Enthaltungen von Speisen und

Eeremouieen und dergleichen Dinge, die dem Urteil des

persönlichen Gewissens unterliegen, kein Hindernis bilden,

noch die Herzen von einander trennen. Sie wissen, daß

Christus zu dem Ende gestorben und wieder auferstanden

ist, um Herr zu sein sowohl über Lebendige als über

Tote. Ihm allein muß sich, nach dem heiligen Urteil

des Gläubigen, jedes Knie beugen; denn so lautet der

Beschluß des lebendigen Gottes. Und wenn der Tag „dem

Herrn" geachtet und das Fleisch „dem Herrn" gegessen

wird (Röm. 14, 6), so erkennen alle den Boden wahrer

Gemeinschaft an.

Alles dieses und manches ähnliche erreichen die

Heiligen, indem sie den Belehrungen des Geistes in den

an die Versammlungen vor alters gerichteten Episteln

Gehör geben. Es wird von den Versammlungen des

Herrn verstanden; und wenn es sich in ihnen verwirklicht

findet, so ist es kostbar in Seinen Augen. Es sind dies,

um mit den Worten des Psalmisten zu reden, ihre „Züge

in dem Heiligtum"; und keiner von ihnen wird vermißt

236

werden, wenn die Gnade und Gegenwart des Heiligen

Geistes mit ihnen ist. Auch tragen sie Sorge, daß ihre

Umgebung erfährt, was der Herr an ihren Seelen gethan

hat, und sie laden andere ein, auch zu kommen und von

demselben Wasser des Lebens umsonst zu trinken. *)

*) In diesem allem gebe ich selbstverständlich nur den richtigen

Gedanken von dem Hause Gottes wieder, abgesehen von jeder thatsächlichen

Darstellung desselben.

Aber so schön und lieblich alles dieses ist, giebt es

doch noch einen andern Dienst von tieferem Charakter;

vielleicht wird er nicht so rasch erfaßt wie die übrigen,

allein er ruft, wenn er in einer rechten und geistlichen

Weise erfüllt wird, die kostbarsten Seelenübungen wach.

Ich meine dies: die Ehre des Namens des

Sohnes Gottes aufrecht zu erhalten. Das

ist in der That der glücklichste Dienst, die heiligste und

zarteste Uebung des Herzens!

Der Herr trug in den Tagen Seines Fleisches keine

Sorge für sich selbst. Er ließ es geschehen, daß man

Ihn mit Fäusten schlug und Ihm ins Angesicht spie.

Er nahm keine Ehre von Menschen. Er wurde verachtet

und verworfen. Aber inmitten von allem diesem versetzte

Er sich im Geiste in die Zeit, wo Er gerächt werden

würde. Das ist kostbar. Jesus wollte nicht Seine eigene

Sache verfechten, aber Er wußte, daß es Einen gab, der

Seine Ehre suchen würde; und in diesem Bewußtsein lag

Kraft und Freude für Ihn.

Als man Ihn anklagte, daß Er durch Beelzebub

die Teufel austreibe, antwortete Er Seinen Gegnern,

daß die Lästerung wider den Heiligen Geist nicht vergeben

werden würde, indem Er es ihren Seelen überließ, den

237

Gedanken zu erfassen, daß das große Geschäft des

Heiligen Geistes in Seinen Tagen (wie auch in der

gegenwärtigen Zeit) darin bestände, die Ehre Seines

Namens aufrecht zu erhalten, obgleich Er selbst'in dieser

Beziehung unbesorgt war und selbst Worte, die gegen

Ihn gesprochen wurden, vergab. (S. Mark. 3, 22 — 30.)

So auch, wenn Er aufgefordert wurde, sich vor den Juden

zu verteidigen, sagte Er ihnen, daß Leben und Gericht

Ihm übergeben seien, auf daß alle Menschen Ihn ehren

möchten, wie sie den Vater ehrten. (Joh. 5.) Als Er

bei einer andern Gelegenheit beschuldigt wurde, Er sei

ein Samariter und habe einen Teufel, erwiderte Er:

„Ich habe keinen Teufel" und fügte dann die rührenden

Worte hinzu: „Ich suche nicht meine Ehre; es ist Einer,

der sie sucht und richtet." (Joh. 8.)

Welch wunderbare Worte! Welch zarte, innige Gefühle

sollten die Seele erfüllen, wenn wir an Ihn denken,

der so wenig um Seine eigene Ehre besorgt war, an Ihn,

der in jenem Augenblick sagte: „Ich ehre meinen Vater,

und ihr verunehret mich," und Trost in dem Gedanken

fand, daß es Einen gab, der sie für Ihn suchen würde,

wenn die Zeit dafür gekommen wäre.

Wahrlich, dies läßt uns das Herz Christi in einem

rührenden Licht erscheinen. Und die Ehre Christi zu suchen,

ist gerade so wahrhaftig das Geschäft des Geistes Gottes

in der Kirche im gegenwärtigen Augenblick, als eS dereinst

das Geschäft des Thrones Gottes sein wird. Der Heilige

Geist hat gleichsam jetzt die Aufgabe übernommen, für die

Verherrlichung Christi Sorge zu tragen, und dasselbe

wird der Vater thun in den Tagen des Reiches. Der

Herr selbst sagte von dem verheißenen Sachwalter: „Er

- -U . - -

— 238 —

wird von mir zeugen", und: „Er wird mich verherrlichen",

und: „Er wird von dem Meinen empfangen

und euch verkündigen", und endlich, wenn Er von Seinen

Heiligen spricht: „aber auch ihr zeuget, weil ihr von

Anfang an bei mir seid."

Wenn der Gläubige die Wohnstätte des Heiligen

Geistes bildet, wie es ja thatsächlich der Fall ist, welche

Pflicht liegt dann aus ihm, wenn nicht diese: für die Ehre

Dessen besorgt zu sein, der selbst Seine Ehre nicht suchte?

Wenn die Kirche diesen Dienst nicht erfüllt, so ist sie,

was den ihr zugewiesenen Dienst betrifft, dahin. Giebt es

Einen, der die Ehre des Herrn sucht und richtet? Hat

der Herr selbst dies in den Tagen Seiner Erniedrigung

verheißen? Nun, wenn es so ist, sollten oder könnten

wir dann etwas thun oder etwas vernachlässigen, was

Seinem Herzen eine Enttäuschung bereiten könnte? Gott

wird dereinst von Seinem Throne herab Seinen verworfenen

Sohn rächen, wie geschrieben steht: „Doch jene,

meine Feinde, die nicht wollten, daß ich über sie herrschen

sollte, bringet her und erwürget sie vor mir." Aber bis

zu jener Zeit des Gerichts und der Herrlichkeit hat die

Kirche, durch den Geist, diesen Dienst zu verrichten; natürlich

nicht dadurch, daß sie die Feinde ans Licht zieht

und vor Ihm erschlägt, sondern durch ein klares, volles

Erfassen jenes Beschlusses, daß alle Menschen den Sohn

ehren sollen, gleichwie sie den Vater ehren.

Wenn ferner der Heiland vor den Hohenpriester gebracht

und aufgefordert wurde, zu sagen, ob Er der

Christus, der Sohn des Gesegneten, sei, beantwortete Er

diese Frage, obwohl Er wußte, daß es gleichbedeutend war

mit Seinem Todesurteil. Aber in diesem über alle Vor

Z -ff

— 239 —

stellung feierlichen Augenblick fand Er Seine Kraft hierin:

„Und ihr werdet den Sohn des Menschen sehen, fitzend

Zur Rechten der Macht und kommend mit den Wolken

des Himmels."

So wurde Sein Herz in jenem ernsten Augenblick

wiederum aufrecht erhalten durch die nämliche Erwartung,

daß, so sehr Er auch für die Gegenwart zu leiden berufen

war, doch ein Tag glorreicher Rechtfertigung und Verherrlichung

vor Ihm lag. Und Petrus entspricht durch den

Heiligen Geist ebenfalls von vornherein dieser Erwartung

Christi; denn wieder und wieder erklärt er in seiner

ersten Predigt an Israel (Apstgsch. 2), daß Der, den sie

gekreuzigt hätten, jetzt zur Rechten Gottes droben im

Himmel sei. Der Heilige Geist wartet nicht, bis der

Thron Gottes Jesum rechtfertigen wird, sondern Er verkündigt

sofort, daß Jesus erhoben und Zum „Herrn über

alles" gemacht ist; so daß der Mensch Ihn jetzt schon in

dieser Weise zur rechten Hand Gottes erblicken und

Christus schon jetzt in dieser Weise die Erwartungen

Seines Herzens erfüllt sehen kann.

Und gerade diese Thatsache verleiht dem Dienste

des Gläubigen oder der Kirche seine besondere Kostbar­

keit und Schönheit. Es ist ein Dienst, welcher der

Ehre und Herrlichkeit oder, ich möchte noch lieber sagen,

dem Herzen und den Erwartungen Christi erwiesen

wird.

Alles dieses ist von ernster Bedeutung, geliebte

Brüder; und wir verletzen eine unsrer höchsten Pflichten,

wenn wir die geringste Gleichgültigkeit verraten bezüglich

der heiligen Sorge für den Namen Christi, die uns in

so feierlicher und zugleich rührender Weise anvertraut

240

ist. Der Tag wird alles klar machen. Gott wird über

kurz oder lang in Macht „suchen und richten"; Er wird

nach der Ehre und Verherrlichung jenes Namens sehen.

Jedes Knie wird sich beugen, und jede Zunge bekennen,

daß dieser Name „über jeden Namen" ist. Zu Seiner

Zeit wird der Herr erscheinen, und Seine Namen werden

an Ihm sein: „Treu und Wahrhaftig", „das Wort

Gottes", „der König der Könige", sowie jener Name, den

niemand kennt als Er allein. Aber bis dahin ist uM

die Hut dieses Namens anvertraut, um in der Kraft des

Heiligen Geistes jeden Gedanken zu verurteilen, der ihn

beschmutzen könnte, und jede Hand zurückzuweisen, welche

die Schranken, die Liebe und Anbetung um ihn errichten,

niederreißen will.

Der Name des Sohnes Gottes ist für uns das,

was der Name Jehovas vor alters für Israel war. Es

bedeutete Verderben und Zerstörung für Israel, wenn es

sich zu andern Göttern wandte. Ob ein Prophet mit

erfüllten, eingetroffenen Prophezeiungen, oder der nächste,

teuerste Verwandte, oder eine Stadt mit allen ihren Bewohnern

sich andern Göttern zuneigte und zum Götzendienst

verführte — in keinem Falle war Schonung und

Erbarmen am Platze: „du sollst ihm nicht zu Willen

sein und nicht auf ihn hören; und dein Auge soll seiner

nicht schonen, und du sollst dich seiner nicht erbarmen,

noch ihn verbergen, sondern du sollst ihn gewißlich töten . . ..

Du sollst die Bewohner selbiger Stadt gewißlich schlagen

mit der Schärfe des Schwertes; du sollst sie verbannen

und alles, waS in ihr ist." (5. Mose 13.) Gericht

und Verderben trafen das Volk, wenn es nicht durch ein

entschiedenes, schonungsloses Handeln den Zorn Jehovas

241

abwendete. Levi durfte in einem solchen Falle weder

Vater noch Mutter verschonen; die Häupter des Volkes,

die sich durch Baal-Peor versündigt hatten, mußten aufgehängt

werden vor dem Herrn. Und ist es nicht heute

noch genau so im Blick auf den Namen des Sohnes?

Allerdings ist weder Schwert noch Speer in der Hand

der Kirche, aber sie muß die Thür verschließen vor einem

jeden, der nicht die Lehre Christi mit sich bringt, der nicht

bleibt in dem, was wir gelernt und empfangen haben.

Vergessen wir nicht, daß es der Name des Sohnes

Gottes ist, um den es sich handelt. Es mag Tausende

von Fällen geben, wo man zu untersuchen hat, ob wenig

oder viel geistliche Kraft und geistliches Licht bei dem

vorhanden ist, der gefehlt hat, und wo dieses verschiedene

Maß von straft und Licht in Berechnung zu ziehen ist.

Aber wenn es sich um den Namen des Sohnes Gottes

handelt, so darf ich nicht darnach fragen, ob Kraft oder

Schwachheit vorhanden ist; es giebt dann nur einen

einzigen Gesichtspunkt, nur eine einzige Frage, und diese

lautet: „Ist die Ehre Seines Namens gewahrt?"

Das Gebot des VaterS an uns ist, daß wir,

„wie wir von Anfang gehört haben, darin wandeln sollen,"

wandeln in der Wahrheit von der Herrlichkeit des Sohnes.

(2. Joh. 6.) Und wir können nicht Gleichgültigkeit und

Unentschiedenheit in der Bewahrung der Wahrheit damit

entschuldigen, daß nur wenig geistliche Kraft unter uns

vorhanden sei. Nein, wir sollten eine Mauer von Feuer

um sie her bauen. Der Herr gebe uns allen eine heilige

Entschiedenheit, um nicht zu erlauben, daß auch nur der

geringste Flecken auf Seinen Namen gebracht werde!

(Fortsetzung folgt.)

242

: Der Säemann.

(Fortsetzung.)

Ehe wir zu der Betrachtung „des SamenS" übergehen,

müssen wir noch ein wenig bei dem Charakter

„des Säemanns" verweilen. Es ist in der That überaus

lieblich und belehrend, unsern gepriesenen Herrn in Seinem

Werke als Säemann zu betrachten; zu beobachten» was

Er that und wie Er es that; Sein Werk zu sehen,

sowie den Geist, in welchem Er es ausführte.

Wersen wir z. B. einen Blick auf den Beginn des

Evangeliums Markus, dieses bewunderungswürdigen Berichtes

über das Werk und den Dienst eines unermüdlichen

Arbeiters. Wir lesen dort: „Nachdem aber Johannes

überliefert war, kam Jesus nach Galiläa und predigte

das Evangelium des Reiches Gottes." Das war Sein

Werk als der große Säemann! Laßt uns darüber sinnen!

Der Sohn Gottes predigt das Evangelium! Gesegnete

Thatsache — eine Thatsache, die lauter und mächtiger zu

uns redet, als tausend Beweisgründe und Ermahnungen.

Möchte jeder Evangelist Trost schöpfen aus diesem

kurzen, ober so wichtigen Bericht. Wie oft wird in etwas

geringschätziger Weise von dem Werke des Evangeliums

gesprochen; wie manches geschieht, was dazu angethan ist,

die Hände derer, die sich mit diesem herrlichen Werke beschäftigen,

matt zu machen! Aber alles das ist von

geringer Bedeutung, wenn wir sehen, wie unser Herr und

Meister selbst sich mit ganzer Seele diesem Dienste hin-

giebt. Wenn wir Sein Beispiel vor uns haben, so sind

alle Meinungen der Menschen wertlos.

Manche finden Gefallen daran, das Werk des Evan

U

- 243 -

geliums in den Schatten zu stellen, indem sie es mit der

Belehrung der Kirche Gottes und dem Weiden der Herde

Christi in Gegensatz bringen und es so gleichsam als

minderwertig bezeichnen. Das ist aber, nach unsrer tiefen

Ueberzeugung, ein ernster, schlimmer Fehler. Jeder Teil

des Werkes hat seinen besondern Platz und Wert, sein

ihm eigentümliches Interesse. Allerdings müssen die Schafe

Christi geweidet werden, und ein jeder, der Christum

liebt, wird auch bestrebt sein, den liebenden Wunsch des

Herzens des guten Hirten zu erfüllen: „Weide meine

Lämmlein" — „hüte meine Schafe!"

Aber müssen nicht die Schafe zunächst gesammelt

werden, ehe von einem Hüten und Weiden die Rede sein

kann? Sicherlich. Und wie sollen sie gesammelt werden,

wenn nicht durch das große Werk der Evangelisation?

Der Prediger des Evangeliums ist berufen, auf die Landstraßen

und Kreuzwege, an die Hecken und Zäune zu

gehen und dort die frohe Botschaft des Heils zu verkündigen.

Seine Sendung richtet sich an die weite, weite

Welt. Er hat die kostbare Geschichte von der Liebe

Gottes und dem vollendeten Werke Christi jedem Geschöpf

zu erzählen, das unter dem Himmel ist.

Auf diesem Wege wird die Kirche gesammelt. Das

Werk der Evangelisation geht deshalb der Belehrung der

Kirche voraus; der Evangelist kommt vor dem Lehrer und

Hirten. Allein es ist ganz und gar verkehrt, den einen

dem andern voranzustellen bezüglich ihres Wertes oder

des Interesses ihrer Arbeit. Beide sind dem liebenden

Herzen des Meisters gleich nahe. Er war der eifrigste

Evangelist und der ernsteste, von brennender Liebe erfüllte

Hirt, der je diese Erde betrat. Wer hat jemals das

244

Evangelium gepredigt, wie Er es that? Wer sorgt für

die Herde wie Er?

Doch laßt uns Seinen gesegneten Pfad noch etwas

weiter verfolgen.

„Und frühmorgens, als es noch sehr Nacht war, stand

Er auf und ging hinaus, und ging hin an einen wüsten

Ort und betete daselbst. Und Simon und die mit ihm

waren gingen Ihm nach; und als sie Ihn gefunden hatten,

sagen sie zu Ihm: Alle suchen dich. Und Er spricht

zu ihnen: Laßt uns anderswohin in die nächsten Flecken

gehen, auf daß ich auch daselbst predige; denn

dazu bin ich ausgegangen. Und Er predigte in

ihren Synagogen, in ganz Galiläa, und trieb die Teufel

aus." (Mark. 1, 35-39.)

Beachten wir diese Worte: „Dazu bin ich ausgegangen."

Wer möchte eS solchen Worten gegenüber

wagen, in gleichgültiger Weise von der Predigt des Evangeliums

zu reden? Wahrlich, niemand, der irgendwie das

Herz Christi kennt und in Seinen Fußstapfen zu wandeln

wünscht.

Lauschen wir ferner auf die folgenden rührenden

Laute: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil Er mich

gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen;

Er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung

auszurufen und Blinden das Gesicht, Zerschlagene in

Freiheit hinzusenden, auszurufen das annehmliche Jahr

des Herrn." (Luk. 4, 18. 19.)

Wie lieblich und gewaltig zugleich reden solche Worte zu

unsern Herzen! Wie ermunternd sind sie für jeden wahren

und ernsten Evangelisten! Wer könnte daran denken, daß

der Herr Jesus mit dem Heiligen Geiste gesalbt war

245

Mr Predigt des Evangeliums, daß der Sohn Gottes selbst

einst hienieden die frohe Botschaft verkündigte, und dann

in geringschätziger Weise von der Arbeit und dem Dienste

des Evangelisten reden! Ohne Zweifel muß jeder Arbeiter

Zusehen, wie er seine Arbeit verrichtet. Des Herrn Werk

sollte stets nach des Herrn Gedanken getrieben werden.

Leider werden heutzutage in Verbindung mit dem Werke

des Evangeliums oft Wege eingeschlagen, die kein geistlicher

-Christ gutheißen kann, und die dazu angethan sind, Werk

und Arbeiter in den Augen der Hörer verächtlich zu

machen.

Alles das ist tief zu beklagen und sollte von den

Knechten des Herrn durchaus vermieden werden. Wir

sollten es uns angelegen sein lassen, das Werk zu treiben

sowohl' mit Besonnenheit als mit Ernst, sowohl mit

Weisheit als mit Eifer, sowohl mit Bescheidenheit als mit

Energie. Das kostbare Evangelium von der Gnade Gottes

kann in all seiner lebendigen Fülle und Kraft gepredigt

und Seelen können errettet werden, ohne daß man die

Regeln des Anstandes und des guten Tones verletzt. Die

Evangelien belehren uns über die Art und Weise, wie

unser Herr und Meister Sein Werk trieb; und in der

Apostelgeschichte hören wir, wie der Heilige Geist die

ersten großen Prediger unterwies, ihr Werk zu thun. Das

Wort muß hier wie in allen Dingen unser Führer sein.

Der Herr gebe, daß das Werk geschehe mit allem

Ernst, mit Hingebung und Ausharren! Möchte trotz aller

Schwierigkeiten und trotz der Feindschaft des Menschen

das lautere Evangelium Gottes fleißig gepredigt werden!

Der Evangelist hat unentwegt seinen Auftrag zu erfüllen:

„Gehet hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium

246

der ganzen Schöpfung." Der Teufel wird alles thun,

waS in seinen Kräften steht, um ein Werk zu hindern,

das er mit ganzer Seele haßt; und er mag zu Zeiten

selbst laue, träge Christen dazu benutzen, um den Eifer

der Diener des Herrn zu dämpfen und sie in ihrer Arbeit

aufzuhalten. Alle, welche sich so von dem Feinde der

Seelen gebrauchen lassen, werden dereinst dem Herrn

davon Rechenschaft zu geben haben. „Ich bezeuge ernstlich

vor Gott und Christo Jesu, der da richten wird Lebendige

und Tote, und bei Seiner Erscheinung und Seinem

Reiche: Predige das Wort, halte darauf in gelegener

und ungelegener Zeit; ... thue das Werk eines

Evangelisten, vollführe deinen Dienst." (2. Tim.

4, 1. 2. 5.)

Hier begegnen wir der unerschütterlichen Grundlage

des Werkes, sowie einer klaren, unzweifelhaften Autorität.

Und zu unserm Trost und zu unsrer Ermunterung, während

wir das Werk treiben, steht allezeit das vollkommne Vorbild

unsers Herrn und Meisters vor uns, dessen innige

Freude es war, armen, zerbrochenen und mühseligen

Herzen die frohe Botschaft des Heils zu verkündigen, und

der selbst daun, wenn nur ein einziges elendes, ausgestoßenes

Geschöpf Sein Wort ins Herz ausgenommen

hatte, Seinen Mitarbeitern die Worte zurufen konnte:

„Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennet . . .

Meine Speise ist, daß ich den Willen Dessen thue, der

mich gesandt hat, und Sein Werk vollbringe. Saget ihr

nicht: Es sind noch vier Monate, und die Ernte kommt?

Siehe, ich sage euch: Hebet eure Augen auf und schauet

die Felder an, denn sie sind schon weiß zur Ernte. Der

' da erntet, empfängt Lohn und sammelt Frucht zum

247

ewigen Leben, auf daß beide, der da säet und der da

erntet, Zugleich sich freuen." (Joh. 4, 32-36.)

Welch ein Erguß eines liebenden Herzens — und

alles das in Verbindung mit der Errettung einer einzigen

Seele! Welch eine Unterweisung für alle Evangelisten und

welch ein Tadel für jeden, der ihr Werk geringschätzig

behandelt! —

Wir kommen jetzt zu dem zweiten Abschnitt unsers

Gegenstandes, zu „dem Samen".

„Der Säemann säet das Wort." Wie einfach und

doch wie überaus wichtig ist dieser kurze Ausspruch! Das

Wort Gottes ist das große Mittel und Werkzeug, um

Frucht hervorzubringen und Seelen lebendig zu machen

und zu segnen. Allerdings muß der Heilige Geist das

Wort auf die Seele anwenden; aber wir dürfen nie

vergessen, daß es das Wort ist, welches Er anwendet.

Der große Säemann säte das Wort, und alle Seine

Nachfolger dürfen nichts anderes säen. Mag die Form,

in welche das Wort gekleidet ist, sein, welche sie will —

eine Strophe aus einem Liede, oder eine einfache Erläuterung

der Wahrheit aus der Natur oder dem täglichen

Leben, — dennoch ist das Wort das einzige Mittel,

welches der Heilige Geist in dem großen Werke der

Lebendigmachung der Seelen benutzt.

Es liegt, wie bereits bemerkt, nicht in dem Bereich

dieses Gleichnisses, das Werk des Heiligen Geistes in der

Anwendung der Wahrheit auf die Seele darzustellen; es

redet einfach von dem Worte als dem Mittel der Wiedergeburt.

Wir brauchen nichts anderes als das Wort; es

ist völlig genügend. Wir bedürfen keiner Mittel, um auf

die natürlichen Gefühle zu wirken oder die Sinne zu er

248

regen. Das Wort Gottes in seiner heiligen Würde und

Autorität ist alles, was der Säemann zu gebrauchen hat;

und wenn wir nur dieses unschätzbare Mittel mit einfältigerem

Glauben und Vertrauen benutzten, so würden

wir mehr gesegnete Resultate sehen.

Man kann unmöglich die Evangelien oder die Apostelgeschichte

lesen, ohne sich getroffen zu fühlen von dem

hervorragenden, ja, ausschließlichen Platz, der dem Worte

überall gegeben wird. Der Raum dieser Blätter gestattet

es nicht, auch nur einen Teil der bezüglichen Stellen anzuführen

; allein wir möchten alle unsre lieben Mitarbeiter

dringend bitten, jener Thatsache ihre ernste Aufmerksamkeit

zu widmen. „Es sei denn daß jemand aus Wasser und

Geist geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes

eingehen." — „Der Säemann säet das Wort."

Das Wort sollte stets Anfang, Mittel und Ende

unsrer Predigt bilden. Erläuterungen aus der Natur

oder dem täglichen Leben mögen gelegentlich eingefügt

werden; der große Snemann selbst that dies mit bewunderungswürdiger

Weisheit und Kraft, und alle Evangelisten

und Lehrer werden finden, daß sie behülflich sind,

den Herzen und Gewissen ihrer Zuhörer die Wahrheit

näher zu bringen. Sehr oft wird eine einfache, erläuternde

Erzählung mehr wirken als die ausführlichste und

schlagendste Beweisführung. Trotz alledem aber muß das

Wort Gottes stets das große Werkzeug in der Hand des

Predigers bilden, wenn anders seine Predigt von göttlicher

Wirksamkeit sein soll. Ein Ueberfluß an Erläuterungen

oder Anekdoten schwächt die Predigt und stimmt ihren

Ton herab. So nützlich sie als ein gelegentliches Hülfsmittel

sein mögen, setzen sie doch, wenn sie allzusehr vor

249

herrschen, das Wort Gottes thatsächlich beiseite, anstatt

es zu erläutern oder wirkungsvoller zu machen. Wir

sollten suchen, mit einem tieferen Glauben an das Wort

selbst, an seine göttliche Kraft und Fülle, zu predigen.

ES bedarf keiner Hinzufügungen oder Ausschmückungen.

Ein einziger Vers der Heiligen Schrift genügt in der

Hand des Heiligen Geistes völlig, um die Tiefen der

Seele zu erreichen und dort zu dem Keime des ewigen

Lebens zu werden. Wir dürfen überzeugt sein, daß unser

schwacher Glaube an die Kraft des Wortes nicht selten

die Ursache des Mangels an Frucht von unsrer

Predigt ist. Möchten wir alle ein tieferes Bewußtsein

davon haben, „daß das Evangelium Gottes Kraft

ist zum Heile jedem Glaubenden".

Ja^ das Evangelium selbst in seiner göttlichen Herrlichkeit

und Fülle, getrennt von allem, was der Mensch

darüber zu sagen haben mag, — das kostbare Evangelium,

so voll und rein, wie es aus dem Herzen Gottes hervor-

fließt, — die gesegnete Botschaft von einer vollbrachten

Erlösung, die in der Kraft des Heiligen Geistes in die

Seele dringt, — die herrliche, auf das inspirierte Wort

gegründete Erzählung von der freien Liebe Gottes und

dem vollendeten Werke Christi, — das ist die Kraft

Gottes zum Heile jedem Glaubenden, ob Jude oder

Grieche.

Nicht daß wir deu Ernst, den Eifer und die Energie

in dem Prediger selbst unterschätzen möchten. Weit davon

entfernt! Wollte Gott, daß mehr von diesen Dingen

in unsrer Mitte vorhanden wären! Wir verlangen nach

einem größeren Maße von himmlischem Feuer in unsern

Predigten, nach einem brennenderen Verlangen des Herzens

250

Aach kostbaren Seelen, nach einem innigeren Wunsche,

unsre armen, dem Verderben entgegeneilenden Mitmenschen

vor der ewigen Qual zu bewahren, nach einem tieferen

Bewußtsein von den Schrecken der Hölle und den unaussprechlichen

Freuden des Himmels. Alle diese Dinge

würden unserm Reden und Thun mehr Tiefe und Kraft,

mehr Ernst und Feierlichkeit verleihen. Aber so begehrenswert

sie auch sein mögen, laßt uns vor allem nie die

wichtige Thatsache vergessen, „daß der Säemann das

Wort säet".

(Fortsetzung folgt.)

Nichts gleich Ihm.

Welch eine kostbare, gesegnete Sache ist eS, Gott in

Christo geoffenbart zu sehen! Wie herrlich hebt sich die

Person Christi ab von dem Hintergründe des Schauplatzes

dieser Welt, um unsre Blicke auf sich zu ziehen und unsre

Herzen mit Gott zu verbinden! Er steht allein da. In

dieser Hinsicht ist der Anfang des Evangeliums Johannes

von besonderem Interesse. In welch einer vollständigen

Weise wird Christus dort unsern Blicken dargestellt! Er

sammelt um sich; Er muß Gott sein, anders würde Er

uns von sich weisen müssen. Er sagt: „Folge mir nach."

Er ist der Mensch, der den Weg bereitet, den einzigen

Weg durch diese Wüste; denn für den Menschen giebt

es keinen Weg mehr, seitdem er von Gott getrennt ist.

Ueber dem Menschen Christus ist der Himmel offen; Er

ist, als Mensch, der Gegenstand des Himmels und des

Dienstes der Engel Gottes. Johannes (ein schönes Beispiel

von der Abwesenheit aller Selbstsucht und Selbstgefälligkeit)

empfängt ein Zeugnis von oben, aber er redet

251

von dem, was irdisch ist. Nun, das ist nur ein Zeugnis;

aber Der, welcher von oben kam, zeugt von dem, was

Er gesehen hat, und offenbart in sich selbst den

Himmel. Er giebt — Er ist — das ewige Leben,

damit wir es genießen möchten. Welch eine wunderbare

Sache: der Himmel, seine Natur, seine Freuden, mit einem

Worte das, was er ist, sollte uns durch das Wort und

die Gegenwart Dessen geoffenbart werden, der

dort wohnt, der der Mittelpunkt und die Herrlichkeit des

Himmels ist! Ohne Zweifel hat der Mensch jetzt Eingang

in den Himmel gefunden; allein es ist nicht weniger

köstlich, daß Gott auf diese Erde herabgestiegen ist. Der

Mensch und seine Zulassung in den Himmel ist der Gegenstand

des Apostels Paulus, Gott' und das auf Erden

geoffenbarte Leben der Gegenstand des Johannes. Der

eine Gegenstand ist himmlisch, was den Menschen betrifft,

der andere göttlich. Das ist auch der Grund, weshalb

die Schriften des Johannes eine solche Anziehungskraft für

uns haben. Es giebt eben nichts gleich Ihm.

Wenn die Seele von dem Gedanken durchdrungen

ist, daß der Hochgelobte hienieden derselbe war, der von

Ewigkeit her im Schoße des Vaters war, — wenn dieser

Gedanke durch den Heiligen Geist in der Seele lebendig

erhalten bleibt, so wird er manche Neigung in Schranken

halten, welche die Seele jetzt vielleicht verunreinigt. Er, der

im Mutterleibe der Jungfrau lag, ist derselbe, der im Schoße

des Vaters war — welch ein Gedanke! Der majestätische

Jehova des Alten Testaments, den die geflügelten Seraphim

anbeteten (Jes. 6), war Jesus von Galiläa — welch

ein Gedanke! So fleckenlos als Mensch, wie Er als

252

Gott war — so rein in dem menschlichen Gefäße wie

in dem ewigen Schoße — so makellos inmitten der Verunreinigungen

der Welt wie zur Zeit, da Er die Wonne

des Vaters bildete vor Grundlegung der Welt!

Möchte die Seele von diesem Geheimnis durchdrungen

sein; dann wird mancher Gedanke, der aufsteigen will,

sofort seine Beantwortung finden. Wer möchte angesichts

eines solchen Geheimnisses reden, wie manche in unsern

Tagen geredet haben? Wenn nur diese Herrlichkeit vor

der Seele steht, so werden wahrlich die Flügel wieder das

Antlitz bedecken und die Schuhe von den Füßen gezogen

werden. (Vergl. Jes. 6, 2; 2. Mose 3, 5.)

Der müde Pilger.

„Wie drückend ist die Wüste,

„Der Weg so öd' und hart!

„So einsam oft die Reise,

„So rauh die Pilgerfahrt!" —

Getrost, du müder Pilger!

Bald ist das Ziel erreicht;

Des ew'gen Morgens Röte

Sich schon am Himmel zeigt.

Getrost! bald ruhst du droben

Bon allen Mühen aus;

Bald führt dein Herr und Heiland

Dich heim ins Vaterhaus.

Will drum dein Fuß ermüden,

Brennt heiß der Sonne Glut —

So blick' hinauf zum Ziele,

Das giebt dir frischen Mut.

Und sieh! des Herren Güte

Ist jeden Morgen neu;

Ob Freund und Bruder weichen,

Gr bleibt dir immer treu.

Er kann dich niemals täuschen,

Er läßt dich nie allein;

Er schenkt trotz aller Feinde

Den Becher voll dir ein.

Er fühlt, wie keiner fühlet,

Mit dir jedweden Schmerz,

Enttäuschung, Kummer, Sorgen,

Er kennt dein banges Herz.

Er schenkt dein Schwachen Stärke,

Dem Müden neue Kraft;

Er wird auch dich nicht lassen

Auf Leiner Pilgerschaft.

Harr' aus, du müder Pilger!

Bald ist das Ziel erreicht;

Des ew'gen Morgens Röte

Sich schon am Himmel zeigt.

Harr' aus! die Wüstenreise

Kürzt täglich, stündlich ab;

Auf sel'gen Friedensauen

Ruht bald der Wanderstab.

„Die Salbung von dem Heiligen."

(Schluß.)

Johannes zeigt uns in seinen Briefen, wie der

Gläubige oder die Versammlung Gottes diese ihr anvertraute

heilige und kostbare Pflicht, die Ehre des Namens

des Sohnes Gottes aufrecht zu erhalten, erfüllt; und

wahrlich, diese Briefe sind Schriften von ausgezeichneter

Schönheit und reichstem Segen für die Seele. Laßt uns

sie einen Augenblick betrachten.

- In dem 1. Briefe stellt der Geist (in dem Apostel)

den Gläubigen dar als in Gemeinschaft stehend mit jenem

überaus herrlichen Gegenstände: „Gott, geoffenbart im

Fleische". Sie beginnt mit einer Erklärung der Wahrheit

jenes großen Geheimnisses, der Offenbarung des ewigen

Lebens, welches bei dem Vater war. Sie verkündet, daß

diese Offenbarung in einer Weise geschehen sei, daß unsre

Ohren, Augen und Hände das Vorrecht hatten, sie sich

gleichsam zu eigen zu machen. Sie war nahe und vertraulich,

und die Gemeinschaft mit ihr war wirklich und

lebendig. Und nachdem der Apostel den Gegenstand in

der ihm eigenen Herrlichkeit und in seiner Nähe zu uns

entfaltet hat, beginnt er dann die herrlichen Eigenschaften

und Segnungen der Gemeinschaft mit ihm zu schildern.

Das ist sein großer Zweck.

Zunächst erklärt er, daß eine Fülle von Freude dieser

Gemeinschaft harrt. (Kap. 1, 4.) Wie kostbar sollte uns

dies sein! Der Geist stellt einen Gegenstand vor unsre

254

Augen, dessen naturgemäße und nächstliegende Eigenschaft

die ist, der Seele eine Fülle von Freude mitzuteilen.

Hier giebt es keinen Schrecken, der uns bestürzt machen

könnte, keine Hand, die sich schwer auf uns legte. Es

gleicht nicht der Entfaltung der göttlichen Majestät auf

dem Berge Sinai, noch selbst jener geheimnisvollen Gestalt,

deren Erscheinen Josua einst zu der Frage veranlaßte:

„Bist du für uns oder für unsre Feinde?" (Josua 5, 13.)

Auch erscheint der Gegenstand des Apostels zunächst nicht

auf dem Platze der Autorität, so daß die Worte hervorgerufen

würden: „Hier bin ich, sende mich!" oder: „Rede,

Herr, denn dein Knecht hört." (Jes. 6, 8; 1. Sam. 3.)

Nein, er tritt an die Seele heran in einer Weise, daß

sie mit Freude erfüllt wird. Er wird nicht verstanden,

wenn diese Freude nicht genossen wird; und er wird

nur teilweise verstanden, wenn die Freude an ihm keine

völlige ist.

Auch ist Licht in ihm. (Kap. 1, 5.) Er richtet

ebensosehr eine Botschaft aus an das Gewissen und das

Verständnis, wie er dem Herzen Freude darreicht. Diese

Offenbarung des ewigen Lebens sagt uns, „daß Gott

Licht ist und gar keine Finsternis in Ihm ist"; und das

Gewissen wird gewarnt, daß es eine Lüge sei, von Gemeinschaft

mit ihm zu reden, während man in der

Finsternis (der Verderbtheit und Unwissenheit der Natur)

wandelt. Es ist dies eine weitere herrliche Eigenschaft

des geoffenbarten ewigen Lebens; und diese Eigenschaft

ist seiner würdig. Wenn es einerseits der lebendige Born

einer Fülle von Freude ist, so ist es andrerseits die nie

versiegende Quelle des Lichtes und der Reinheit. Und die

Seele, die diese große Offenbarung erfaßt hat, muß als

255

ein Kind des Lichtes wandeln, und nicht länger mit einem

verfinsterten Verstände, entfremdet dem Leben Gottes.

So heißt es auch weiterhin: Der Sohn Gottes „ist

geoffenbart worden, auf daß Er unsre Sünden wegnehme;

und Sünde ist nicht in Ihm". (Kap. 3, 5.) Da ist kein

Makel an dieser Offenbarung, kein Flecken auf diesem

Antlitz der Herrlichkeit. Mögen wir sie anschauen wie

hier (Kap. 3, 5), oder auf die Botschaft lauschen, die

sie uns bringt (Kap. 1, 5) — in beiden Fällen lernen

wir dieselbe Lektion. Es ist dasselbe Zeugnis, welches

das Ohr hört und das Auge sieht — „was wir gehört,

was wir mit unsern Augen gesehen, was wir. angeschaut

und unsre Hände betastet haben" — dasselbe Zeugnis

ag. das Gewissen. Von Gemeinschaft mit Gott reden

und in der Finsternis wandeln, ist eine Lüge; und „jeder,

der sündigt, hat Ihn nicht gesehen, noch Ihn erkannt."

Ferner ist jene Offenbarung eine Offenbarung der

Liebe, und zwar einer Liebe, die eine zwiefache Frucht

in der Seele hervorbringt. Sie bewirkt Vertrauen zu

Gott und Liebe gegen andere. Was Gott betrifft, so

treibt sie die Furcht aus und verleiht dem Herzen und

Gewissen Kühnheit, selbst wenn ein Tag des Gerichts

ihm bevorsteht. Sie füllt den Ort, den sie betritt, so

völlig mit der ihr eignen Kraft und Freiheit aus, daß

für den Geist der Furcht kein Raum mehr bleibt. Und

was die Umgebung betrifft, so wirkt sie nach der ihr

eignen Kraft in dem Geiste und dem Dienste der Liebe

so mächtig, daß man bereit ist, das Leben für die Brüder

darzulegen. (Kap. 3, 16; 4, 8—20.)

Das Herz, das Gewissen und das Verständnis stehen

somit im Verkehr mit ihr. Freude ist die Frucht dieser

256

Gemeinschaft, sowie Licht und Reinheit, Liebe und Vertrauen.

Das Ohr, das Auge, die Hand, sowie alle

Liebestriebe und Kräfte der Seele werden eingeführt in

diesen herrlichen, geheimnisvollen Gegenstand, die Offenbarung

des ewigen Lebens, daS bei dem Vater war;

und sie entdecken die herrlichen Eigenschaften desselben und

ernten den Segen, den er für alle diejenigen hat, die

unter der mächtigen Leitung des Heiligen Geistes von

ihm nehmen.

Doch daS ist nicht alles. Es giebt noch etwas mehr,

etwas anderes, ich möchte lieber sagen, etwas über alles

dieses hinaus. Gerade so wie wir Segen aus jener

Offenbarung schöpfen dürfen, giebt es auch Pflichten

gegen sie zu erfüllen. Allein das ist dem Herzen nur

willkommen, gerade so willkommen, in einem Sinne, wie

alles andere. Wir möchten ihr ebenso gern einen Dienst

zu erweisen haben, wie wir jenes reiche Maß von Licht

und Freiheit durch sie empfangen. Und gerade mit diesen

Pflichten und Diensten verbindet der Apostel ausdrücklich

die Salbung, die wir, wie er sagt, empfangen haben.

Die Salbung war ohne Zweifel in dem ganzen übrigen

Teil seiner Abhandlung über diese Offenbarung mit ein-

gefchlossen; denn ohne die Salbung von dem Heiligen,

ohne den Heiligen Geist, den Geist der Wahrheit, hätten

wir unmöglich eine lebendige Gemeinschaft mit diesem

Gegenstände haben können. Es ist die Sache des Geistes,

von den Dingen Christi zu nehmen und sie uns zu verkündigen.

Ohne Seine Wirksamkeit in uns würden wir

nie imstande gewesen sein, diesen großen Gegenstand zu

erfassen. Wir würden nie unser Auge, unser Ohr oder

unsre Hand dahin gebracht haben, ihn zu sehen, zu hören

257

und zu betasten. Wir würden nie eine lebendige, wirksame

Gemeinschaft mit Jesu, dem geoffenbarten ewigen Leben,

haben genießen können, wenn nicht die Salbung uns

diesen Weg geführt und uns Zu diesem Gegenstände hingeleitet

hätte. Doch beachten wir, daß der Apostel nicht

in Verbindung mit den Tugenden und Segnungen, die

uns aus dieser Offenbarung zufließen, sondern mit den

Pflichten, die wir ihr schulden, ausdrücklich die Salbung

erwähnt, die wir empfangen haben.

Wir sehen das im 2. Kapitel. Dort lesen wir, daß

die Salbung uns über die Herrlichkeit jenes Gegenstandes

belehrt, so daß wir keines Menschen zu unsrer Belehrung

bedürfen. Wir mögen durch unsre Brüder vieles andere

lernen, aber dies zu lernen haben wir nicht nötig. Die

Salbung, die wir empfangen haben, läßt uns in dem

Vater und in dem Sohne bleiben und verleiht der Seele

Gemeinschaft mit beiden in der Ergebenheit, der Ehrerbietung

und dem Vertrauen unsrer Herzen. Die Salbung

offenbart uns die Herrlichkeit, die es in jenem Gegenstände

giebt. Diese Herrlichkeit wird von uns erkannt vermittelst

der Salbung, die wir empfangen haben. Selbst

„die Kindlein" unter uns, wie Johannes sich ausdrückt,

haben sie empfangen und bedürfen niemandes, um sie

über diese Herrlichkeit zu belehren. Und diese Salbung

durchdringt, oder besser bildet, so völlig die Atmosphäre

des Aufenthaltsortes des Gläubigen, daß niemand, der auf

einem andern Boden steht, niemand, der nicht auch Jesu,

dem geoffenbarten ewigen Leben, Herrlichkeit zu geben

bereit ist, es da aushalten kann. Und diesen Dienst haben

wir Ihm noch immer darzubringen. Die Stätte unsrer

Anbetung sollte mit einem solchen Element von uns an

258

gefüllt werden, daß alle, die nicht in dem Sohne und in

dem Vater bleiben, es nicht ertragen können und Weggehen.

Und wahrlich, dem Herzen ist dieser Dienst willkommen.

Das ist die Luft, die wir einzuatmen begehren, gerade so

wie die Salbung ihre Freude daran findet, sie zu verbreiten.

Und welche Lüge könnte ihr gegenüber standhaften?

Mag es nur eine kleine Lüge sein, mag der Flecken auf

dem Antlitz dieser Herrlichkeit nur unscheinbar, nicht größer

als ein Sonnenstäubchen fein; ja, sei die Form des Gedankens,

welcher Jesum verunehrt, nur dunkel oder kaum

zu erklären — die Salbung verwirft ihn! Selbst die

Kindlein wissen, „daß keine Lüge aus der Wahrheit ist".

Das ist unser Dienst und unsre Pflicht gegenüber

diesem herrlichen Gegenstände, gegenüber Jesu Christo,

dem Sohne Gottes, dem ewigen Leben, das bei dem

Vater war und uns geoffenbart worden ist. Und die

Ausübung dieses Dienstes giebt, wie der Apostel sagt,

Freimütigkeit an dem Tage Seiner Ankunft. „Bleiben

in Ihm", das ist die Regel dieser Freimütigkeit. Die

zehn Pfunde, die Frucht einer fleißigen Benutzung der

Güter des Herrn während Seiner Abwesenheit, mögen

den Gläubigen mit Ehren in die Gebiete des Königs

einführen, um dort die Herrschaft über die zehn Städte

anzutreten; aber es ist nicht das, was in dem Sinne

der Salbung (nach Johannes) Freimütigkeit geben wird

an dem Tage Seiner Erscheinung. Wenn die Herrschaft

ausgeteilt wird, so wird der Fleiß für den Herrn seinen

Lohn empfangen; aber es ist die eifersüchtige Sorge für

den Namen des Sohnes (wie Johannes es darstellt), die

uns Gewißheit giebt, daß „wir nicht beschämt werden vor

Ihm bei Seiner Ankunft". (S. Kap. 2, 28.)

259

Auch ist es das unmittelbare und erste Gebot des

Vaters, daß wir diesen göttlichen Dienst dem Sohne

darbringen sollen: „Dies ist Sein Gebot, daß wir glauben

an den Namen Seines Sohnes Jesu Christi und

einander lieben, gleichwie Er uns ein Gebot gegeben hat."

(Kap. 3, 23.) An Seinen Namen glauben heißt, Ihm

göttliche Ehre erweisen. Man mag Ihm gehorchen, als

einem Herrn, oder Seine Unterweisungen entgegennehmen,

als von einem Lehrer; aber wenn Ihm göttliche Ehre,

alle göttliche Ehre verweigert wird, so ist das erste

Gebot des Vaters gebrochen. Auch in seinem zweiten

Briefe schreibt Johannes: „Dies ist das Gebot, wie ihr

von Anfang gehört habt, daß ihr darin wandeln sollt."

(V. 6.) Dienst oder Bemühung, oder ein Ohr, das für

die Lehren und Vorschriften des Herrn geöffnet ist, genügt

nicht, wenn Ihm dies verweigert wird. Der Glaube an

Sein Werk genügt nicht; Seine Person hat Ansprüche

an uns. Denn der Vater hat es sich vorgesetzt

und wird darnach sehen, daß alle den Sohn ehren,

gleichwie sie den Vater ehren.

DaS, Geliebte, ist unsre Pflicht dieser herrlichen

Offenbarung gegenüber. Wir kennen die Freiheit, das

Licht, die reinigende und erfreuende Kraft, die aus ihr

jeder Seele zuströmen, welche durch den Heiligen Geist

zu der Gemeinschaft mit ihr gebracht wird; aber wir

haben auch jene Pflicht ihr gegenüber zu erfüllen. Und

die Salbung offenbart in besondrer und ausdrücklicher

Weise Seine Gegenwart in uns und unter uns dadurch,

daß sie diese Herrlichkeit Jesu zuschreibt und unS anleitet,

jene Pflicht und jenen Dienst Ihm zu erweisen. Sie

erfüllt, wie gesagt, den Ort, wo wir sind, mit einem

260

solchen Gefühl und Widerschein dieser Herrlichkeit des

geoffenbarten ewigen Lebens, daß ein jeder, der ihm fremd

ist, fortgetrieben wird.

'Wie einfach und doch wie willkommen ist die Belehrung

dieser Epistel, die in gewissem Sinne herrlicher ist als die

meisten der übrigen Briefe! Denn wenn sich an den Himmeln

Stern von Stern an Herrlichkeit unterscheidet, so giebt

es auch wohl unter den Lichtern des Heiligtums keines, das

Heller leuchtete und zugleich lieblicher und notwendiger wäre

als daS Licht dieser Epistel, die uns den Heiligen Geist bei

der Ihm eignen Thätigkeit zeigt, nämlich von den Dingen

Christi zu nehmen und uns zu verkündigen. Inmitten dieser

Dinge verkündigt Er uns auch „das Zukünftige". Er

sagt uns, daß, wenn Christus erscheinen wird, „wir Ihm

gleich sein werden, denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist".

Aber das ist nicht der Gegenstand, der uns jetzt beschäftigt.

Wir begegnen indessen noch mehr von dieser Art bei

unserm Apostel. In seinem zweiten Briefe finden wir

die heilige und liebliche Empfehlung einer Person, die

von Johannes treu erfunden worden war im Blick auf

die Pflicht und den Dienst, wovon wir reden. Und dies

ist ganz am Platze. Der erste Brief behandelt die Pflicht,

die wir jener herrlichen Offenbarung schulden; und der

zweite zeigt, wie dieser Pflicht durch die „auserwählte

Frau" genügt wurde. Ein jedes der „Kindlein" wird

die Pflicht kennen und anerkennen; und ein Weib, „das

schwächere Gefäß", kann und will sie erfüllen. Zugleich

beweist ein solcher Brief, wenn das überhaupt nötig wäre,

wie wertvoll dieser Dienst nach dem Urteil des Geistes

ist, indem Er sich in einer besondern Schrift damit

beschäftigt, ihn darzustellen und zu empfehlen.

261

Diese auserwählte Frau wurde geliebt „in der Wahrheit".

Das sind Worte, die an dieser Stelle ihre besondere

Bedeutung haben. Denn wenn Johannes von

der „Wahrheit" spricht, so meint er etwas anderes als

die Wahrheit, wie sie z. B. in dem Dienste des Apostels

Paulus hervortrat. Es handelt sich hier nicht um das

Evangelium der Gnade Gottes, noch um die Lehren, die

Christus selbst predigte oder Seinen Aposteln eingab zu

predigen, sondern es ist die Wahrheit oder die Lehre

bezüglich der Person Christi; mit einem Wort: „die

Lehre des Christus". (S. V. 9.) Vers 7 bezeugt dies

unmittelbar, indem dort die Verführer als solche beschrieben

werden, welche die Lehre bezüglich der Person

Christi angreifen oder leugnen.

Paulus und Johannes müssen unterschieden werden.

Bei Paulus ist die „Wahrheit" das allgemeine Geheimnis

des Evangeliums, bei Johannes ist sie „die Lehre des

Christus". Paulus wachte darüber, daß das Werk

Christi für den Sünder in all seiner Einfachheit bewahrt

blieb, und belehrte den Gläubigen über seine Annahme

in der Person Christi. Aber Johannes spricht wie

einer, dem die Aufrechthaltung der Ehre der Person

Christi anvertraut war; er verteidigte „die Lehre des

Christus", und zwar nicht so sehr um des Interesses

willen, das wir daran haben, sondern vielmehr um der

Herrlichkeit Christi selbst willen. Wenn Paulus von dem

Geheimnis der Gottseligkeit spricht, so kann er nicht bei

dem ersten Teil desselben: „Gott ist geoffenbart worden

im Fleische", stehen bleiben, sondern er muß es weiter

entwickeln, bis er zu dem Interesse gelangt, das wir

daran haben, und sagt: „gepredigt unter den Nationen".

262

Johannes hat aber nur einen Gegenstand hier vor sich:

die Herrlichkeit der Person des Sohnes, sowie nur eine

Pflicht gegenüber diesem Gegenstände: die eifersüchtige

Aufrechthaltung dieser Herrlichkeit angesichts von allem.

Johannes, war, um in levitischer Sprache zu reden,

ein Kehathiter; und vor allem ist er es in dieser Schrift.

Er ist im Allerheiligsten mit der Bundeslade (dem Vorbilde

von Christo) beschäftigt. Er mag zu andern Zeiten

andere, ebenfalls notwendige Geschäfte versehen, (Paulus

und andere mit ihm hatten fortwährend mit solchen

zu thun,) aber in dem vorliegenden Briefe ist er ein

Kehathiter, der sich mit der Person Christi, des Sohnes

des Vaters, und mit dieser allein, beschäftigt. (Vergl.

4. Mose 4.) *)

*) Der Dienst der Kehathiter war mit Gefahr verbunden.

Wenn sie irgendwie die Bundeslade anrührten oder nur einen Blick

auf sie warfen, so mußten sie sterben. (4. Mose 4, 17—20.) Mit

dem Dienst der Söhne Gersons oder Meraris war es anders.

Gerade das Vorrecht des Kehathiters, sich dem Allerheiligsten nahen

zu dürfen, setzte ihn der ernstesten Gefahr aus. Das ist nichts

Ungewöhnliches. Das Vorrecht ist aber um der Gefahr willen

nicht zurückzuweisen, sondern nur in einem rechten Geiste zu benutzen.

Möge tiefe Ehrfurcht uns erfüllen, wenn wir den Dienst

eines Kehathiters thun; und dann dürfen wir ihn thun mit dem

vollen Bewußtsein unsers Vorrechts und in einem Geiste der

Freude und der Freiheit.

Die Briefe des Johannes behandeln ferner einen

„bösen Tag" — eine Zeit, in welcher in besondrer Weise

Angriffe auf „die Lehre des Christus" gemacht wurden.

Johannes, der Kehathiter, war (unter der Leitung des

Geistes) sich sehr wohl bewußt, was für eine solche Zeit

nötig war. Aber er stand nicht allein. „Die auserwählte

Frau" und „Gajus" werden beide von ihm als Geliebte

263

„in der Wahrheit" angeredet. (S. die 3. Epistel.) Und

obwohl dem Hause des Gajus ein andrer Charakter verliehen

wird als demjenigen der auserwählten Frau, so

standen doch beide gemeinsam in dem Dienste der Wahrheit

in jenen Tagen.

Das Haus der Frau war gleichsam das Heiligtum

der Wahrheit und hatte alles fern zu halten, was nicht

aus der Wahrheit war, alle abzuweisen, die nicht „die

Lehre des Christus" mit sich brachten. Das Haus des

Gajus war andrerseits das Gastzimmer der Wahrheit

und hatte sich allen Zeugen der Wahrheit zu öffnen.

Sie war die Hüterin dieses Geheimnisses, er derMit-

arb eiter desselben, indem er denen diente, die es, aus

Liebe getrieben, überall hinbrachten, die „um des Namens

Christi willen" ausgingen und nichts von denen aus den

Nationen nahmen.

So fand also der Aelteste Johannes an einem bösen

Tage Gefährten „in der Wahrheit", die ihr daheim oder

draußen dienten, als Hüter oder als Mitarbeiter, indem

ihre Häuser entweder den Jüngern der Wahrheit als Tempel

dienten, oder die Zeugen derselben gastlich aufnahmen.

Die Atmosphäre innerhalb des Hauses sollte stets so von

dem Wohlgeruch des Namens Christi durchdrungen sein,

daß alle, die andern Sinnes sind, hinausgedrängt werden

(1. Joh. 2, 19); die Thür des Hauses sollte so fest verschlossen

sein, daß jene das Bewußtsein haben: hier ist

für uns kein Eingang zu finden (2. Joh. 10); und zugleich

sollte der Willkommsgruß so deutlich und innig

fein, daß alle, die von dem kostbaren Namen Christi zeugen

und seinen Wohlgeruch mit sich bringen, sich in dem Hause

daheim fühlen. (3. Joh. 8.) ...

264

Geliebter Leser! möchten wir nicht alle mit Freuden

an einem solchen Dienste teilnehmen? Wahrlich, alles

dieses ist der Dienst eines Kehathiters, ein Beschäftigtsein

mit der Bundeslade selbst. Rinder «und Wagen können

dabei nicht behülflich sein. (S. 4. Mose 7; vergl. auch

1. Chron. 13.) Das Material des Dienstes ist zu zart für

eine solche Hülfe. Die Schultern der Leviten müssen diesen

Dienst verrichten, und selbst ihre Hände dürfen nur in tiefster

Ehrfurcht das ihnen anvertraute heilige Gut berühren.

In einer Stunde also, in der es schon viele Verführer

gab und jener herrlichen Offenbarung die ihr gebührende

Ehrerbietung verweigert wurde, freute sich der

Apostel darüber, daß er sie als ein Bindemittel zwischen

seinem Herzen und dieser auserwählten Frau nebst ihren

Kindern und seinem geliebten Gajus anerkennen konnte.

Denn selbst schwache und junge Seelen sind, wie wir

oben sagten, vermögend, dieses kostbare Geheimnis heilig

zu halten und zu hüten. Das Verhalten der auserwählten

Frau war ein sehr gutes. Der Apostel hatte einige von

ihren Kindern in der Wahrheit wandelnd gefunden, wie

wir ein Gebot von dem Vater empfangen haben. (Vers 4.)

Und nun brauchte er sie nur zu ermuntern, fest zu stehen

an dem bösen Tage. Er wünschte, daß sie „vollen Lohn"

empfangen und in keiner Weise verlieren möchte, was sie

erarbeitet hatte. Andrerseits hatte Gajus das Herz des

Apostels dadurch erfreut, daß die Brüder von seinem

Festhalten an der Wahrheit Zeugnis gegeben hatten. Wie

klar und einfach ist die Belehrung, die uns hier entgegentritt,

aber zugleich auch wie inbrünstig und bestimmt die

Ermahnung! AuS diesem allen gehen indes für uns

noch besondere Warnungen hervor.

265

In der gegenwärtigen Zeit wird nah und fern viel

Zeugnis gegeben von dem Werke des Sohnes Gottes

für Sünder, oder von der Wahrheit, die man allgemein

(und mit Recht) „das Evangelium" nennt. Und wahrlich,

diese Wahrheit sollte stets verkündigt und vor dem Verderben

geschützt werden. Paulus war, wie bereits bemerkt,

in hervorragender Weise in diesem Dienste beschäftigt.

Er wachte sorgfältig über jeden Versuch des Feindes, die

Einfalt, die in Christo war, zu verderben. Wir sehen

ihn eifrig thätig unter Juden und Griechen, beweisend

und verteidigend, predigend und verkündigend das Evangelium

der Gnade Gottes und das Heil der Sünder durch

den Glauben an das Blut Jesu. Aller Orten offenbarte

sich die glühende Inbrunst seines Geistes in diesem guten,

kostbaren und notwendigen Dienste. Allein wir dürfen

nicht vergessen, daß, wie das Werk des Sohnes Gottes

unserm Zeugnis, so Seine Person unsrer Hut anvertraut

ist. Es ist uns, wenn ich es so nennen darf, eine

Verwaltung dieses großen Geheimnisses übertragen. Es

handelt sich nicht so sehr um unser Interesse für den

Namen des Sohnes, als vielmehr um die Rechte und die

Ehre, die Ihm gebühren, wenn wir denen, die Einlaß bei

uns begehren, eine Antwort zu geben haben. Und zu einer

Zeit, wie die gegenwärtige, wo evangelische Grundsätze weit

und breit angenommen werden und wo man mit dem Evangelium

allgemein bekannt ist, thut es not, daß diese Pflicht,

die wir dem Sohne Gottes schulden, der Seele in steter,

eifersüchtiger Erinnerung bleibe. Sie wird den zartesten

und heiligsten Dienst des Herzens Ihm gegenüber erwecken.

Auch ist die Kirche Gottes in Gefahr, von dem Geiste

der Vereins- und Bündnismacherei, der heute so wirksam

266

ist, angesteckt zu werden. Es liegt nahe, daß dieser Geist

auch in ihrer Mitte Raum finde, und zwar in einer Form,

die dazu angethan ist, sie zu verführen und dann zu verderben.

Dieser Geist wird selbstverständlich stets behaupten,

ihr in christlicher Weise dienen zu wollen, und vielleicht

einige der wertvollsten Grundsätze Gottes nehmen un5

durch sie wirken. Er redet vielleicht von Bruderschaft und

Liebe; wenn aber die „Wahrheit", wie Johannes von

ihr spricht, nicht ängstlich und eifersüchtig gehütet wird,

wenn die verheißene Bruderschaft nicht eine Liebe „in der

Wahrheit", Liebe „um der Wahrheit willen" ist, in dem

göttlichen Sinne unsers Apostels, so muß der Geist als

nicht von Gott bloßgestellt werden, und die Salbung, die

wir empfangen haben, muß ihn zurückweisen.

Gott sei Dank, daß es so ist! Wir lieben diese

Eifersucht für Jesum, wir heißen diesen Dienst für Ihn

willkommen; und wir haben unsern Weg zum Himmel

zu verfolgen, nicht nur in Gerechtigkeit hinsichtlich unsers

täglichen Lebens, nicht nur in der Gemeinschaft und Liebe

der Brüder, ja, nicht nur in dem unverderbten Bekenntnis

des Evangeliums oder in der eifrigen Verkündigung desselben

unter denen, die uns umgeben, — sondern auch

in der Kraft dieser Salbung von dem Heiligen, die uns

verpflichtet, die Ehre der Person des Sohnes Gottes

hoch zu halten. Wir müssen vorangehen als eine gesalbte

Schar, als ein Volk, das da weiß und anerkennt, daß

ihm der Name Jesu Christi und „die Geheimnisse Gottes",

wie Paulus sagt, anvertraut sind, um sie unversehrt,

heilig und in Ehrerbietung durch diese Welt zu tragen;

gerade so wie vor alters die Stämme Israels die Bundeslade

durch die Wüste geleiteten.

267

Müssen wir nicht fürchten, daß viel von diesem kostbaren

Geheimnis, das unsrer Verwaltung anvertraut und

Zu unsrer Freude geoffenbart ist, sich nicht in den Herzen

vieler Gläubigen vorstndet mit der Gewißheit und

dem Licht, oder nicht von ihnen verteidigt wird mit der

Eifersucht, die es stets begleiten sollten? Ist der Gedanke

an die Person des Sohnes unsern Herzen so

kostbar wie der an Sein Werk? Es kann Wohl sein,

daß die heutigen Gläubigen, trotz ihres größeren Lichtes

über die prophetischen Wahrheiten und andere Fragen,

weit unter vielen stehen, die einst mit immer neuer Freude

und Inbrunst über die gesegneten Geheimnisse Gottes

nachsannen und sich an ihnen ergötzten.

In der Erfüllung des großen Werkes des Evangeliums

ist der volle „Name" Gottes — Vater, Sohn

und Heiliger Geist, drei Personen in einer göttlichen

Herrlichkeit, eine Gottheit — geoffenbart und das große

Geheimnis entfaltet worden, daß Gott geoffenbart war

im Fleische, und daß der Heilige Geist jetzt den wunderbaren

Endzwecken der göttlichen Liebe dient, indem Er

das herrliche Evangelium der Gnade Gottes in den Herzen

der Auserwählten wirksam macht. Und demgemäß verhieß

der Herr in den Tagen Seines Dienstes den zukünftigen

Dienst des Heiligen Geistes und ehrte ihn als

solchen. Er sagte Seinen Jüngern, daß da Einer sei,

der sie in einer weit höheren Weise belehren würde, als Er

selbst es damals that. Der andere Sachwalter würde ihnen

alles das ins Gedächtnis zurückrufen und sie über das

belehren, waS Er ihnen bloß sagte; Er würde sie in

die ganze Wahrheit leiten, indem Er die Worte des

Herrn auf ihre Seelen anwandte und sich nicht nur

268

an ihre Ohren, sondern auch an ihre Herzen wandte.

(Joh. 14 u. 15.)

Das ist sehr kostbar; und jeder Christ sollte jetzt

der glückliche Zeuge von unserm andern Lehrmeister sein.

Die Dinge von Jesu, von dem Vater und von Christo

sind „in dem Buche" niedergeschrieben; wir können sie da

lesen und lernen. Aber der Heilige Geist nimmt und

verkündigt sie uns. Das Buch liefert gleichsam die

Lektion, und der Heilige Geist legt sie uns aus. Seine

lebendige Kraft begleitet die Lektion und wendet sie aufs

Herz an. Und geistlich sein heißt deshalb nicht nur

die Lektion kennen, wie das Buch sie uns mitteilt, sondern

sie so kennen, daß dieses Nehmen und Verkündigen

des Geistes, dieses große Geschäft der „Salbung von dem

Heiligen", sich darin offenbart. Wenn die Dinge Christi

so von unsern Seelen behandelt werden, wie der Geist

der Wahrheit sie in uns behandeln würde, so sind wir

„geistlich gesinnt", und das zu sein ist „Leben und Friede".

Möchte es so bei uns allen sein, hochgelobter Herr!

Der Säemann.

(Fortsetzung.)

Wersen wir jetzt einen Blick auf den dritten Hauptgegenstand

in unserm Gleichnis, auf den Boden.

Wir haben bereits den Leser vor dem falschen Gedanken

zu warnen gesucht, als ob es in den Herzen der

Menschen einen wesentlichen Unterschied im Hinblick auf

das Wort Gottes gebe. Die Schrift belehrt uns mit

großer Klarheit und unwiderstehlicher Kraft, daß es „keinen

Unterschied" giebt. Der Mensch mag das nicht gern hören;

269

aber das ändert nichts an der Wahrheit Gottes. Betrachtet

von einem göttlichen Standpunkte aus, gemessen

mit einem göttlichen Maßstabe und gewogen in der göttlichen

Wage, giebt es keinen Unterschied. Von einem

menschlichen Gesichtspunkt aus gesehen, nach menschlichem

Maßstabe gemessen, in sittlicher und gesellschaftlicher Hinsicht

betrachtet, giebt es Schattierungen, verschiedene Grade

und Zustände, die nicht übersehen werden dürfen. Aber

wenn es sich um „die Herrlichkeit Gottes" handelt, so

erklärt der Heilige Geist, daß da „kein Unterschied" ist,

indem sie alle gesündigt haben, allesamt untauglich

geworden sind und die Herrlichkeit Gottes

nicht erreichen.

Aber, wird man einwenden, spricht der Herr in unserm

Gleichnis nicht von „gutem Boden" ? Allerdings. Nun, beweist

das denn nicht, daß es doch einen Unterschied giebt?

Zwischen „gut" und „böse" besteht doch ein wesentlicher

Unterschied? Ohne Zweifel; allein der Herr sagt uns an

dieser Stelle nicht, was es ist, das den Boden gut macht.

Es ist dies weder Sein Gegenstand noch Seine Absicht in

diesem Gleichnis. Die Schrift erklärt wieder und wieder,

daß da kein Gerechter, kein Guter sei; hieraus folgt, daß

der hier erwähnte gute Boden nur durch göttliche Thätigkeit

gut geworden sein kann. In dem ganzen Gebiete der

gefallenen Natur, der alten Schöpfung, giebt es nicht

einen Zollbreit Boden, auf welchem gute Frucht wachsen

könnte, es sei denn daß der Tau des Himmels darauf

falle und die Hand des göttlichen Ackerbauers ihn in

Gnaden bearbeite.

Aber wir wiederholen: es ist nicht der Zweck des

vorliegenden Gleichnisses, die Wahrheit von der Natur

270

des Bodens vorzustellen, noch auch die unbedingte Notwendigkeit

des Wirkens der göttlichen Gnade in jedem

Falle, wo gute Frucht hervorgebracht wird, zu betonen.

Es ist von andrer Seite mit Recht bemerkt worden, daß

ein Gleichnis wie eine Glaskugel ist, die eine ebene Fläche

berührt. L)ie Kugel berührt die Fläche nur an einem

Punkte, und wenn man versucht, eine Berührung an

mehreren Stellen zugleich herzustellen, so zerbricht man die

Kugel. Es ist wichtig, diese Thatsache bei der Auslegung

eines Gleichnisses im Gedächtnis zu behalten.

Betrachten wir nunmehr die verschiedenen Arten des

Bodens. „Siehe, der Säemann ging aus zu säen. Und

es geschah, indem er säete, fiel etliches an den Weg, und

die Vögel kamen und fraßen es auf." In der Erklärung,

die der Herr Seinen Jüngern nachher giebt, sagt Er:

„Der Säemann säet das Wort. Diese aber sind die an

dem Wege, wo das Wort gesäet wird, und wenn sie es

hören, alsbald der Satan kommt und das Wort

wegnimmt, das in ihre Herzen gesäet war." (Mark. 4.)

Das ist überaus ernst für alle, die unter dem Schall

des Evangeliums stehen oder in irgend einer Weise mit

dem Worte Gottes in Berührung kommen. Der Teufel

ist stets auf der Hut; er meint es in seiner Art ernst.

Er weiß sehr Wohl, was für ihn auf dem Spiele steht,

so sorglos die Menschen auch sein mögen. Und ach! wie

sorglos und gleichgültig sind Tausende und Millionen

bezüglich ihrer unsterblichen Seele! So hart wie der festgetretene

Weg! Das Wort, das in ihre Herzen gesäet

wird, redet in klarer und eindringlicher Sprache von ihrem

wirklichen Zustande in den Augen Gottes, von ihrer

Schuld, ihrer Gefahr, ihrem gänzlichen Verderben und

271

ihrer furchtbaren Verantwortlichkeit. Es redet zu ihnen

von dem kommenden Zorn, von dem Wurm, der nicht

stirbt, und dem Feuer, das nicht erlischt. Es stellt vor

die Augen ihrer Herzen die unaussprechliche Segnung und

Herrlichkeit jenes Himmels, der aller derer wartet, die

einfältig und aufrichtig an Jesum glauben.

Aber alles ist vergeblich. Diese Klasse von Hörern

bleibt unberührt, unbewegt — hart wie die Straße, die

sie gekommen sind, oder wie die Bänke, auf denen sie

sitzen. Die Boten deS Herrn reden ernst und liebevoll

zu ihnen; sie warnen, bitten und flehen; ihr Herz blutet bei

dem Gedanken an ihre Zuhörer; sie suchen sie zu überreden,

doch Buße zu thun und nicht länger aufzuschieben. Aber

alle Mühe ist umsonst. Sie bleiben sorglos und unbußfertig

; und Satan, immer wachsam, immer thätig, nie

müßig, nimmt sogleich das Wort wieder weg, das in ihre

Herzen gesäet wurde, und sie bleiben in seiner Gewalt,,

verblendet, verhärtet und gleichgültig.

Wie traurig ist es, an alle solche und an ihre kostbaren

Seelen zu denken! Wie erstaunlich, daß irgend

jemand sorglos sein könnte im Blick auf sein ewiges Heil,

sorglos hinsichtlich seines ewigen Schicksals, sorglos bezüglich

der ernsten Frage, wo er die endlosen Zeitalter,

die vor ihm liegen, zubringen wird! Wenn jemand sicher

wüßte, daß er noch hundert Jahre auf dieser Erde zu

leben hätte, und daß ihm eine Stunde gegeben wäre,

in welcher er für diese hundert Jahre Vorsorge zu treffen

hätte, und ferner, daß ihm für diese eine Stunde die

Geldschränke eines reichen Bankhauses offen ständen, um

aus ihnen so viel Geld zu entnehmen, als er nur fortzubringen

imstande wäre — mit welch einem Eifer würde

272

er sich an dieses wichtige Geschäft machen! Wie würde

er jeden Nerv, jeden Muskel anspannen! mit welchem

Fleiß Säcke und Kästen herbeischleppen und sie mit dem

kostbaren Schatze füllen, damit er für die hundert Jahre

genug hätte!

Was würden wir aber von einem solchen Menschen

denken, wenn wir ihn während jener wichtigen Stunde

nachlässig auf der Treppe des Bankhauses sitzen oder

einem umherziehenden Puppentheater zuschauen oder einer

Musikbande Nachlaufen sähen? Wahrlich, wir würden

ihn für einen Narren oder gar Wahnsinnigen erklären.

Und doch, mein Leser, wenn du bezüglich des Heils deiner

unsterblichen Seele gleichgültig bist, so bist du ein unendlich

größerer Narr als jener. Denn gerade in demselben

Matze wie die Ewigkeit die kurze Spanne von hundert

Jahren an Länge übertrifft, und in demselben Maße wie

die Interessen der unsterblichen Seele die Bedürfnisse des

Leibes an Wichtigkeit überragen, in demselben Maße

übertrifft deine Thorheit diejenige jenes Mannes.

Es giebt in der That keinen wahnsinnigeren Menschen

als den, der das Heil seiner Seele vernachlässigt.

Und doch, wie viele Millionen tragen diesen Wahnsinn

zur Schau Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr

für Jahr! Gleich Leuten, denen die Augen verbunden

sind, taumeln sie an dem Rande des Abgrundes dahin,

dessen Tiefe den Feuersee birgt, der mit Feuer und

Schwefel brennt. Sie beachten keine Warnungen, hören

auf keine Bitten, schlagen alle Ermahnungen in den

Wind, sind taub gegen die Stimme des Herrn und Seiner

Boten. Blindlings, ja, mit Willen eilen sie ihrem

ewigen Verderben entgegen. Sie wollen Christum nicht;

— 273 —

sie wollen die Welt und ihre Vergnügungen, Satan

und die Sünde. Sie verachten den Himmel und wählen

eine ewige Hölle.

Es ist eine leere Ausflucht, wenn jemand dem gegenüber

einwendet, er könne nichts dazu, daß sein Herz so

hart und unempfänglich sei, er könne Satan nicht verhindern,

das Wort aus seinem Herzen wegzunehmen, er

würde es gern darin behalten, wenn er nur dazu imstande

wäre. Alle solche Beweisführungen und Entschuldigungen

werden am Tage des Gerichts keinen Augenblick standhalten;

ja, niemand wird in dem durchdringenden Lichte

jenes Tages auch nur den Versuch machen, sie vorzubringen.

Sie sind ja heute schon völlig gründ- und wertlos.

Es giebt nicht eine einzige Seele unter dem Himmel,

die das leiseste Verlangen nach dem Worte Gottes, das

geringste Begehren nach Errettung hat, und die dieser Errettung

nicht jetzt teilhaftig werden könnte in all ihrer

Fülle, Freiheit und göttlichen Kostbarkeit. Nein, mehr

als das; ich möchte sagen, es giebt nicht eine einzige

Seele auf dem ganzen Erdenrund, die jemals die frohe

Botschaft von dem Heile Gottes gehört hat oder im Besitze

eines Neuen Testamentes ist, die nicht verantwortlich

wäre, zu glauben und ihre Errettung zu suchen; und die,

wenn sie verloren geht, nicht einzig und allein sich und

niemanden anders dafür zu tadeln hat. Ihr Blut wird

auf ihrem Kopfe sein von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Wir halten es für unsre heilige Pflicht, dies allen

denen immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, die hinter

dem nichtigen Vorwande Schutz suchen, daß sie nicht verantwortlich

gemacht werden können. Solche dürfen versichert

sein, daß es nichts anders als eine Lügen-Zuflucht

274

ist. Ja, eine Lügen-Zuflucht, obwohl sie von einer einseitigen

Theologie einen Schatten von Unterstützung finden

mag. Ein jeder, auch „der am Wege", ist verantwortlich

und macht sich der Verwerfung des guten Wortes Gottes

schuldig. Wer oder was hat ihn zu einem solch gleichgültigen,

sorglosen Hörer gemacht? Die einfache Thatsache

ist, daß alle solche Hörer kein Verlangen nach Errettung

haben; sie wollen Christum und den Himmel nicht und

hüllen sich in jenes dünne, durchsichtige Spinnengewebe

von Entschuldigungen, welches, anstatt die ewige Verdammnis

von ihnen abzuwenden, sie nur noch vertiefen

und erschweren wird.

Wir finden stets in der Schrift, daß gerade die

Entschuldigungen, welche die Menschen Vorbringen, zur

Grundlage ihrer Verdammung gemacht werden. Adam sagte:

„Das Weib, das du mir beigegeben hast, sie gab mir

von dem Baume, und ich aß." Und nun hören wir,

was folgt: „Und zu Adam sprach Er: Weil du gehört

hast auf die Stimme deines Weibes und gegessen

von dem Baume, von dem ich dir geboten und

gesprochen habe: Du sollst nicht davon essen — so sei

verflucht der Erdboden um deinetwillen; mit Mühsal wirst

du davon essen alle Tage deines Lebens rc." (1. Mose 3.)

Gerade so ist es in dem Falle des bösen und faulen

Knechtes in Luk. 19. Er sagt: „Herr, siehe, dein Pfund,

welches ich in einem Schweißtuch verwahrt hielt; denn

ich fürchtete dich, weil du ein strenger Mann bist: du

nimmst, was du nicht hingelegt, und du erntest, was du

nicht gesäet hast." Hilft ihm diese alberne Entschuldigung

etwas? Sicherlich nicht. „Er spricht zu ihm: Aus

deinem Munde werde ich dich richten, du böser

275

Knecht! .. . Und er sprach zu den Dabeistehenden: Nehmet

das Pfund von ihm und gebet es dem, der die zehn

Pfunde hat." Gerade seine Entschuldigung wird zu dem

klaren, handgreiflichen und gerechten Grunde seiner Verurteilung.

So wird es in jedem Falle sein. Jeder Mund wird

verstopft werden. Ein jeder wird, wenn einmal zur

Rechenschaft gezogen vor dem Richterstuhl Christi, stumm

dastehen; und wir sind überzeugt, wenn irgend jemand

mehr bestürzt sein wird als ein anderer, so wird es derjenige

sein, der seine Verantwortlichkeit, dem Evangelium

zu glauben, leugnet und den lebendigen Gott zu beschuldigen

wagt, der Urheber seines Unglaubens und seiner

Herzenshärtigkeit zu sein.

Darum wachet auf, wachet auf, ihr sorglosen Sünder,

ihr Verächter des Evangeliums, ihr gleichgültigen Hörer!

Erwachet zu einem Bewußtsein eurer schweren Verantwortlichkeit!

Erlaubet nicht den Vögeln des Himmels,

d. i. Satan und seinen Mitarbeitern, den kostbaren Samen

des Wortes Gottes aus euern Herzen wegzunehmen.

Laßt es euch Ernst werden um das Heil eurer unsterblichen

Seelen. Gott meint es ernst, Christus meint es

ernst, der Heilige Geist meint es ernst; und wir mögen

wohl hinzufügen, Satan, euer großer Widersacher, meint

es ernst. Wollt ihr allein gleichgültig und sorglos sein?

Laßt euch bitten, laßt euch warnen! „Heute, wenn ihr

Seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht." Kommt,

ja, kommt heute, in diesem Augenblick! Kommt zu Jesu;

glaubet an Ihn und errettet eure Seele!

(Fortsetzung folgt.)

276

Ein Wort über den Dienst»

- (1. Kor. 12—14.)

In den oben angeführten drei Kapiteln, die ich dem

eingehenden Studium des Lesers empfehlen möchte, giebt

eS drei höchst wichtige Punkte in Verbindung mit dem

Gegenstand des Dienstes in der Versammlung Gottes.

1. In Kapitel 12 haben wir die einzige göttliche

Grundlage des Dienstes, nämlich die Gliedschaft an dem

Leibe Christi gemäß dem Willen Gottes, wie wir im 18.

Verse lesen: „Nun aber hat Gott die Glieder gesetzt,

jedes einzelne von ihnen an dem Leibe, wie es Ihm gefallen

hat." Ohne diese Gliedschaft giebt es keinen Dienst.

Wer nicht ein Glied an dem Leibe Christi ist, kann

auch nicht den übrigen Gliedern dienen. Er mag sich

einen Diener nennen, aber er ist kein wahrer Diener.

Denn „Gott hat die Glieder gesetzt . . ., wie

es Ihm gefallen hat." Das ist der große, wichtige

Grundsatz. Nicht daß ein Mensch sich selbst setzt, oder

daß der eine den andern setzt; davon finden wir nichts

in dieser Abhandlung über den Dienst. Es ist dem

Worte Gottes völlig fremd. „Es sind aber Verschiedenheiten

von Gnadengaben, aber derselbe Geist; und es

sind Verschiedenheiten von Diensten, und derselbe Herr;

und es sind Verschiedenheiten von Wirkungen, aber derselbe

Gott, der alles in allen wirkt." (V.""4 —6.) Hier

wird die ganze heilige Dreieinheit als mit dem Dienste

in Verbindung stehend vorgestellt. Es ist die Gabe des

Geistes, ausgeübt unter der Herrschaft des Sohnes und

wirksam gemacht durch Gott den Vater. Der Heilige

Geist „teilt einem jeden insbesondere aus, wie Er

277

will." (V. 11.) „Einem jeden" — laß uns das nicht

vergessen, geliebter Leser! und: „einem jeden insbesondere"!

Der Fuß ist nicht Hand, und das Auge

nicht Ohr; jeder hat seinen besondern Dienst, seine besondere

Gabe, seine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen.

Kein Glied ist überflüssig oder für nichts da. Nein,

„vielmehk find die Glieder des Leibes, die schwächer zu

sein scheinen, notwendig." (V. 22.) Wofür notwendig?

notwendig für die übrigen Glieder, notwendig

für den ganzen Leib. Möchte uns dies stets vor Augen

stehen; es würde viel Ernst und Eifer in uns wachrufen.

2. Im 13. Kapitel finden wir dann den Beweggrund

des Dienstes; und dieser ist die Liebe. Es mag

jemand die glänzendste Gabe besitzen; aber wenn sie nicht

ausgeübt wird in Liebe, wenn nicht Liebe die treibende

Kraft ist, so nützt die Gabe nichts. Es hätte in jenen

ersten Tagen der christlichen Kirche ein Mann in der Versammlung

aufstehen können, um seine Gabe, in Sprachen zu

reden oder zu prophezeien, sein Verständnis der Geheimnisse

Gottes, seine Erkenntnis in der Lehre, die Macht seiner

Beredsamkeit u. s. w. zu zeigen, ohne daß es der Versammlung

oder einem einzelnen Gliede derselben von

irgendwelchem Nutzen gewesen wäre, einfach weil nicht

die Liebe der Beweggrund seines Dienstes war. Es ist

gut, dies mit Aufrichtigkeit vor Gott zu erwägen. Es ist

ein ernster Prüfstein für alle, die sich irgendwie im Dienste

bemühen. Jeder Diener sollte sich immer wieder die Frage

vorlegen: „Ist es Liebe, was mich treibt und leitet?"

Wenn es nicht Liebe ist, wenn irgend ein anderer Beweggrund

ihn leitet, so wird sein Dienst sich als wertlos

erweisen, und er selbst wird früher oder später zu Schanden

278

werden. „Wenn ich mit den Sprachen der Menschen und der

Engel rede, aber nicht Liebe habe, so bin ich ein tönendes

Erz geworden oder eine schallende Cymbel.

Und wenn ich Prophezeiung habe und alle Geheimnisse

und alle Erkenntnis weiß, und wenn ich allen Glauben

habe, so daß ich Berge versetze, aber nicht Liebe habe, so

bin ich nichts." (V. 1. 2.) Möge der Heilige Geist

uns allen dies kräftig zum Bewußtsein bringen!

3. In Kapitel 14 endlich begegnen wir dem Zweck

oder dem Resultat des Dienstes, nämlich der „Erbauung".

Das ist der große Endzweck alles Dienstes. Der

Apostel wollte lieber „fünf Worte reden" zur Erbauung

der Versammlung, als „zehntausend" zur Verherrlichung

seines eignen Ichs. Die Erbauung der Versammlung ist der

Hauptpunkt, von dem in diesem ganzen Kapitel die Rede ist;

und die Liebe wird stets diesen Zweck zu erreichen suchen,

mag die Gabe groß oder klein, glänzend oder unscheinbar

sein. Die Liebe kennt kein anderes Ziel, als das Wohl

der andern. Die Eigenliebe denkt nur an sich, an die eigne

Ehre, an die Verherrlichung des armen, elenden Ichs.

Wie traurig und verwerflich muß ein solcher Dienst in den

Augen Gottes sein! Mag er auch vor den Menschen einen

schönen Schein haben, vor Gott ist er ein Greuel.

Laßt uns denn dieser drei Dinge stets eingedenk

fein, geliebter Leser: der Grundlage, des Beweggrundes

und des Zweckes alles wahren Dienstes. Laßt uns

suchen, sie gründlich zu verstehen und sie praktisch darzustellen

zur Ehre Gottes und zum Wohle Seiner Versammlung.

Laßt uns treu wuchern mit dem Pfunde,

Las wir empfangen haben, bis der Herr kommt.

279

Rettungsjubel.

„Du bist ein Bergungsort für mich; vor Bedrängnis

behütest Du mich; Du umgiebst mich mit Rettungsjubel."

(Pst 32, 7.)

In d^m Herzen eines einfältigen Gläubigen giebt

es ein „Singen und Spielen dem Herrn", und das nicht

öffentlich, sondern daheim, im Kämmerlein. Durch den

Glauben an Jesum aus der Finsternis ins Licht gebracht,

sieht er jetzt alles in diesem Lichte. Wie kann es da

anders sein, als daß sein Herz mit Frieden und Freude

erfüllt ist? Er hat im Anfang das Erbarmen und die

Güte Gottes erfahren, als er im Gefühl seiner Schuld

Zu Ihm kam; und dasselbe Erbarmen und dieselbe Güte

begleiten ihn nun" auf Schritt und Tritt. Sein Leben

ist eine ununterbrochene Kette von Beweisen der Liebe

und Treue Gottes, von Bewahrungen und Errettungen.

Denn „unser Gott ist ein Gott der Errettungen". Die

gläubige Seele kann in allen Fällen auf die Güte Gottes,

ja, auf Gott selbst rechnen. Er, der starke, mächtige

Gott, ist ihr Bergungsort in Zeiten der Drangsal, und

Er wird sie am Ende stets mit Rettungsjubel umgeben.

Die erfahrene Güte zieht das Herz unwiderstehlich zu

Gott hin. In dem tiefen Gefühl der eignen Abhängigkeit

und Bedürftigkeit wendet sich der Fromme zu Dem hin,

dessen vergebende Gnade und errettende Macht er kennen

gelernt hat, und er ist wohl geborgen, komme was da

wolle. „Gewiß, bei Flut großer Wasser — sie werden

ihn nicht erreichen." (V. 6.)

Es ist eine glückliche Schule, in die wir gebracht

find: Gott kennen zu lernen in dem Charakter, in welchem

280

Er sich uns geoffenbart hat. Die Geschichte eines jeden

Gläubigen wird dieselbe Wahrheit ans Licht stellen; es

wird sich zeigen, daß da, wo die Sünde überströmend

war, die Gnade noch überschwenglicher geworden ist. Und

das Ende eines jeden Gläubigen, wie der ganzen Kirche

Gottes, wird sein „zum Preise der Herrlichkeit

Steiner Gnade, worin Er uns begnadigt hat in dem

Geliebten." O möchten wir treu und aufrichtig mit Gott

wandeln und in Wahrheit unsre Hülfe, unsre Kraft, unsern

Trost, unser Alles in Ihm suchen! Werden wir dann

einerseits auch demütigende Erfahrungen von unserm Nichts,

von der Thorheit und Verkehrtheit unsrer Herzen machen

müssen, so werden wir doch andrerseits auch Gottes

wunderbare Führungen mit uns, Seine Güte und Treue

anschauen dürfen, und wir werden jubeln über Seine Errettungen

und dem Herrn singen und spielen in unserm

Herzen.

„Lobet Jehova! denn es ist gut, unsern Gott zu

besingen; denn es ist lieblich, es geziemt sich Lobgesang."

(Ps.'l47, 1.)

Ergebung.

Immer will ich stille

Sem vor Dir;

Es gescheh' Dein Wille,

Herr, mit mir!

Jst's doch lauter Liebe,

Die das Herz

Zieht mit heil'gem Triebe

Himmelwärts.

Will nicht bang verzagen,

Schickst Du Leid;

Will's geduldig tragen

Jederzeit.

Der Du Schmerz und Wehe

Gerne stillst,

Stets, o Herr, geschehe,

Was Du willst.

Die Lehre des Christus.

Die freiwillige Erniedrigung des Sohnes Gottes, durch

welche die Liebe Gottes zu uns geoffenbart, unsre Erlösung

bewirkt, und Gott auf's Höchste verherrlicht worden ist —

das, was die Lobpreisungen der himmlischen Heerscharen

wachries und die Herzen der Erlösten alle die endlosen Zeitalter

der Ewigkeit hindurch mit tiefster Anbetung erfüllen

wird — hat der Mensch unter dem Einfluß des Feindes

dazu benutzt, Christum zu verachten und mit Geringschätzung

zu behandeln. Wenn dies seitens einer gottlosen Welt

geschehen ist, so brauchen wir uns nicht so sehr darüber

zu verwundern; wie schrecklich aber ist es, wenn die sogenannte

Christenheit es thut! Es ist das Zeichen ihres

Endes. „Kindlein," sagt der Apostel im Blick auf diese

Thatsache, „es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört

habt, daß der Antichrist kommt, so sind auch jetzt viele

Antichristen geworden; daher wissen wir, daß es die

letzte Stunde ist." (1. Joh. 2, 18.) Schon damals war

der Geist des Antichristen wirksam im Schoße der bekennenden

Kirche (das Verderben ist von ihr ausgegangen),

und es ist dem Feinde gelungen, sie auf die abschüssige

Bahn des Verfalls zu führen, die in dem gänzlichen

Abfall und in der Unterwerfung unter die Person des

Antichristen enden wird. Indes hat es Gott in Seiner

reichen Gnade gefallen, die Seinigen in diesen letzten Tagen

noch einmal klar und deutlich mit der Wahrheit betreffs

ber Lehre des Christus bekannt zu machen. Aber ach! was

282

in den Tagen der Apostel geschehen ist, als die Wahrheit

noch in ungetrübter Klarheit geoffenbart war, ist auch in

unsern Tagen geschehen — der Feind hat einen erfolgreichen

Versuch gemacht, die Lehre des Christus zu verfälschen,

und zwar gerade da, wo die Wahrheit bekannt

war. Und daß dies ein Zeichen des nahen Endes ist,

brauche ich kaum hinzuzufügen.

Keine Wahrheit sollte uns heiliger sein, als diejenige

betreffs der Person Jesu. Johannes sagt: „Wenn jemand

zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmet

ihn nicht ins Haus aus und grüßet ihn nicht. Denn wer

ihn grüßt, nimmt teil an seinen bösen Werken." (2. Joh.

10. 11.) Dies zeigt zur Genüge die Wichtigkeit der Lehre

des Christus; denn davon spricht Johannes. Er verkündigt

und verteidigt „die Lehre des Christus", d. h. die

Wahrheit oder die Lehre bezüglich Seiner Person. Und

diese Lehre bildet die Grundlage, mit welcher das Christentum

steht und fällt. Sie ist der Eckstein, auf dem das

ganze Gebäude ruht. „Jeder, der weitergeht und nicht

bleibt in der Lehre des Christus, hat Gott nicht;

wer in der Lehre bleibt, dieser hat sowohl den Vater als

auch den Sohn." (2. Joh. 9.)

Man leugnet in unsern Tagen, daß Jesus Christus

hienieden zu jeder Zeit, sowohl persönlich als auch in

allen Seinen Worten und Werken, der Ausdruck Gottes

und des ewigen Lebens gewesen sei. Als Beweis dafür

seien hier einige Auszüge angeführt, die einer vor kurzer

Zeit erschienenen Betrachtung über die erste Epistel Johannes

entnommen sind *): „Der lebendige Stein war

*) I^etnrss on tve Lest Lpistle ol lovn von F. E- Raven.

Seite 71 u. 72. ,>

-

— 283 —

Christus, wie Er dem Petrus durch den Vater als der

Sohn des lebendigen Gottes bekannt gemacht war. Petrus

bekennt Ihn also, und der Herr sagt zu ihm: „Fleisch

und Blut haben es dir nicht geoffenbart, sondern mein

Vater, >der in den Himmeln ist"; was nach meinem Urteil

bedeutet, daß der Fleisch- und Blutzustand, selbst in Christo,

es in sich selbst nicht offenbarte.... Denn ewiges Leben

war nicht etwas, das nach außen hin ausgedrückt war in

dem Fleisch- und Blutzustand; denn jener Zustand sollte

nach dem Willen Gottes im Tode ein Ende nehmen."

Obwohl wir gern Zugebeu, daß es nicht in der

Absicht des Verfassers obiger Schrift gelegen hat, eine

Lästerung wider die heilige Person Jesu auszusprechen,

so verbirgt sich trotzdem eine solche in den angeführten

Worten. Gab es etwas in Christo, das dem Tode

unterworfen war? War nicht Sein Fleisch und Blut,

d. i. der Mensch Jesus, so wie Er in dieser Welt geoffenbart

war und von jedermann gesehen werden konnte,

„das Heilige, das geboren werden und Gottes Sohn

genannt werden sollte"? (Luk. 1, 25.) Er nahm unsre

Sünden auf sich, nahm unsern Platz ein auf dem Kreuze,

damit unser Zustand im Tode ein Ende nehme; und

Er konnte dieses gerade deshalb thun, weil Er in sich

selbst der Heilige und Reine war. Sein Blut reinigt

uns von aller Sünde, weil es das Blut Jesu Christi,

des Sohnes Gottes, ist. (1. Joh. 1, 7.) Der Fleischund

Blutzustand in Christo — wenn man diesen Ausdruck

einmal gebrauchen will, obwohl er durchaus unpassend

und nicht schriftgemäß ist — war heilig, und kann

nicht von der Person des Herrn getrennt werden. Er

begreift das ganze Leben Jesu auf der Erde in sich.

284

Und dieses Leben war das Leben des Sohnes Gottes

und die Offenbarung des ewigen Lebens. Wer vermag

die Heiligkeit zu ergründen, die Sein Leib in der Krippe

hatte? Wer die Heiligkeit dieses Leibes, wenn er als

Opfer die Heiligkeit, Majestät und Gerechtigkeit Gottes

vollkommen befriedigte? Ist es nicht Lästerung, von

diesem Leibe in solch geringschätzender Weise zu reden,

wie der Verfasser obiger Schrift es thut? So sagt er

z. B. auch: „Man denke sich ein hülfloses Kindlein als

die Darstellung des ewigen Lebens." Ferner: „Er war

als Säugling die Darstellung der Kindheit in ihrer Hülf-

lofigkeit; denn alles andere, obgleich vorhanden, war für

den Augenblick verhüllt." *) Oder, wie bereits oben angeführt:

„Ewiges Leben war nicht etwas, das nach außen

hin ausgedrückt war in dem Fleisch- und Blutzustand;

denn dieser Zustand sollte nach dem Willen Gottes im

Tode ein Ende nehmen." — Spricht wohl der Heilige Geist

in solcher Weise von der Person des Herrn?

*) Siehe die Briefe vom 20. März und 2. Juli 1890. Der

Schreiber hat zwar das Wort „hülflos" aus Wunsch andrer zurückgezogen,

aber der Sinn des Satzes bleibt dadurch unverändert.

Wenn unsre in Sünden empfangenen und gebornen

Leiber, welchen der Grundsatz der Sterblichkeit innewohnt,

auf Grund der Erlösung „Tempel des Heiligen Geistes"

geworden sind, Leiber, an denen das Leben Jesu sich

offenbaren soll (1. Kor. 6, 19; 2. Kor. 4, 10. 11),

sollte dann nicht der Leib des Herrn Jesu, der vom

Heiligen Geiste gezeugt war, dieser heilige Tempel,

in welchem die Fülle der Gottheit wohnte, das

ewige Leben nach außen hin ausgedrückt haben?

Nun sagt man uns aber: der-Verfasser meint es

285

nicht so schlimm. Allein wir müssen urteilen nach dem,

was er sagt, und seine Worte an dem untrüglichen

Prüfstein des Wortes Gottes messen. Halten sie diese

Probe nicht aus, so müssen wir sie als verkehrt und

schriftwidrig abweisen. Ueberdies ist jener Einwurf schon

deshalb nicht stichhaltig, weil aus zahlreichen andern

Briefen und Schriften des Verfassers hervorgeht, daß er

sehr wohl weiß, was er sagt. Es handelt sich nicht um

eine unbedachte Aeußerung, um ein gelegentliches „Straucheln

im Worte" (Jak. 3, 2), sondern um ein wohl

durchdachtes, nach allen Seiten hin reiflich erwogenes

Lehrsystem, dessen einzelne Teils in einander greisen wie

die Glieder einer Kette oder die Maschen eines Gewebes.

Indes ist es nicht unsre Absicht, hier weiter auf diese

Lehren einzugehen; wir möchten nur in Verbindung mit

dem uns beschäftigenden Gegenstände zeigen, in welch

verderblicher Weise „die Lehre des Christus" in unsern

Tagen angetastet wird.

Wer darf es wagen, die heilige Person des

Herrn, den niemand kennt als nur der Vater, in solcher

Weise zu zerlegen und zu zertrennen, wie der Verfasser

es thut? Die Schrift sagt an einer Stelle: „Sein

Fleisch hat die Verwesung nicht gesehen" (Apstgsch. 2,

31); au einer andern: „Der aber, den Gott auferweckt

hat, sah die Verwesung nicht." (Apstgsch. 13, 37; vergl.

auch Ps. 16, 10.) Diese Stellen beweisen, daß die Person

Christi und Sein Fleisch stets als ein einheitliches Ganzes

und nicht von einander getrennt betrachtet werden. Auf

Grund dieser Thatsache sagt der Verfasser mit seinen

Worten: „Der Fleisch- und Blutzustand in Christo in

sich selbst hat nicht geoffenbart, daß Er der Sohn des

- 286 —

lebendigen Gottes war" rc., thatsächlich nichts anderes

als: Christus hat nicht geoffenbart, daß Er der Sohn

Gottes war; in Christo war nach außen hin das ewige

Leben nicht ausgedrückt.

Diese uuheilige, schriftwidrige Zerteilung der Person

des Herrn finden wir auch in andern Stellen der oben

erwähnten Schrift. So heißt es z. B. auf Seite 72

und 73: „Es (das ewige Leben) war wirklich die Person

Christi, aber in einem Sinne abgesondert von dem, was

Er annahm, indem Er teilnahm an Blut und Fleisch ...

Sie (die Apostel) kannten Christum als unterschieden

von dem, was Er hier war als Mensch nach dem Fleische."

Hier begegnen wir wieder demselben Gedanken: das Fleisch

und Blut oder die Menschheit Christi wird von Seiner

Person unterschieden, als sei jene nicht so heilig wie

diese, und als gäbe es zwei Personen: einen Menschen

Christus und einen Gott Christus. Aber der Herr selbst

antwortet auf die Frage: „Wer bist du?" —: „Durchaus

das, was ich auch zu euch rede." (Joh. 8, 25.) Christus

unterscheidet also in keiner Weise Seine göttliche Person

(Er war daS ewige, fleischgewordene Wort) von dem, was

Er als Mensch war. Gottheit und Menschheit waren unzertrennlich

in Ihm vereinigt, und wer könnte die Art

ihrer Vereinigung erklären oder gar sie von einander

trennen, ohne in die größten Irrtümer zu verfallen?

Denn welche Kreatur kann sagen, wo die Menschheit in

Ihm aufhört und die Gottheit anfängt? Wie kann ein

Sterblicher, der das Weltall nicht einmal zu ergründen

vermag, dessen Schöpfer und Erhalter ergründen, und erklären

wollen, was ein heiliger Leib ist?

Wenn der Apostel sagt: „Wenn wir aber auch

287

Christum nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir

Ihn doch jetzt nicht mehr also," so spricht er von der jetzigen

Stellung Christi in Herrlichkeit im Gegensatz zu Seiner

Stellung hienieden, aber sicherlich nicht von einem Unterschied

in der Person Christi selbst; denn diese war

immer dieselbe, sei es in Niedrigkeit oder in Herrlichkeit.

Sein Einssein mit dem Vater hat von Ewigkeit her bis

zu Seiner jetzigen Stellung in Herrlichkeit nie eine Unterbrechung

erlitten. Und darum mußte Er stets der Ausdruck

Gottes und des ewigen Lebens sein, oder aber Er

war nur ein gewöhnlicher Mensch. Aber der Herr selbst

sagt: „Wer mich gesehen, hat den Vater gesehen."

(Joh. 14, 9.) Nicht bloß die Apostel oder die Gläubigen,

sondern wer Ihn sah, sah den Vater. Darf man zu

behaupten wagen, daß es irgend einen Augenblick in Seinem

Leben gegeben habe, wo man den Vater nicht sah,

wenn man Christum sah? Der Herr sagt in der angeführten

Stelle nicht: Durch meine Worte oder Handlungen

ist der Vater geoffenbart, so wahr dieses auch ist; sondern:

wer mich (also Seine Person) gesehen, hat den

Vater gesehen. Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes,

der Abdruck Seines Wesens. (Kol. 1, 15; Hebr. 1, 3.)

Er redete die Worte Gottes, und Er war das, was Er

redete. (Joh. 3, 34.) Ebenso spricht Johannes von Seiner

Person und dem ewigen Leben oder dem Worte des

Lebens als einer und derselben Sache: „Was wir gehört,

was wir mit unsern Augen gesehen, was wir angeschaut

und unsre Hände betastet haben, betreffend das Wort des

Lebens; und das Leben ist geoffenbart worden, und wir

haben gesehen und zeugen und verkündigen euch das ewige

Leben, welches bei dem Vater war und uns geoffenbart

288

worden ist." (1. Joh. 1, 1. 2.) Offenbar hatten die

Apostel die Person des Herrn Jesu und somit das

Wort des Lebens angeschaut und mit ihren Händen betastet.

Wenn man aber den Vater und das ewige Leben sah,

indem man Christum sah, so beweist dieses, daß Er der

Ausdruck von beiden war. Auch machte Er die Welt

dafür verantwortlich, daß sie sowohl Ihn als auch Seinen

Vater gesehen und gehaßt hatten. (Joh. 15, 24.)

Wohl hat Er sich selbst zu nichts gemacht und Knechtsgestalt

angenommen, ist in Gleichheit der Menschen geworden

und in Seiner Stellung wie ein Mensch erfunden

(Phil. 2, 7. 8); aber das will nicht sagen, daß Er

aufgehört habe, dieselbe Person oder der Ausdruck von

dem zu sein, was Er von Ewigkeit her war.

Wie könnte Gott aufhören, Gott zu sein? Aber das,

was Er war, verlieh Seiner Menschheit, Seiner Erniedrigung

und Seinem Gehorsam bis zum Tode am Kreuze

einen Charakter und Wert, den nur Gott gebührend zu

schätzen wußte. Es ließ allen Seinen Worten, allen Seinen

Handlungen, selbst den einfachsten und unscheinbarsten,

und allen Seinen Wegen einen Wohlgeruch entströmen,

der unendlich kostbar war für Gott. Es machte Sein

Opfer zu dem, was unvergleichlich dastand gegenüber all

den Opfern des alten Bundes, und was diese nur in

schwacher Weise vorbilden konnten. Wie anders hätte Er

auch den Tod überwinden können als nur in der Macht

dessen, was Er war — der wahrhaftige Gott und das

ewige Leben?

Die Behauptung, daß Er in Seiner Niedrigkeit nicht

der vollkommene Ausdruck Gottes und des ewigen Lebens

gewesen sei, heißt daher: Seine Worte, Wege und Hand

289

lungen, mit einem Wort Sein ganzes Leben zu dem eines

gewöhnlichen Menschen stempeln. Denn wenn Er

nicht der Ausdruck dessen war, was Er von Ewigkeit

her war, wovon war Er dann der Ausdruck? Und wo

bleibt dann die Wahrheit: „Gott istgeofsenbart worden

im Fleische"? „Wer mich gesehen, hat den Vater

gesehen?" Eine solche Behauptung steht nicht nur in

entschiedenem Widerspruch mit den klaren, unzweideutigen

Aussprüchen der Schrift, sondern ist auch eine Herabwürdigung

der hochgelobten Person des Herrn und führt

zur Verleugnung Seiner Gottheit und zum Umsturz des

Christentums.

Offenbar geht durch solche Lehren die Person Christi,

so wie sie in der Schrift dargestellt ist, für uns verloren,

und es ist daher von der höchsten Wichtigkeit, festzuhalten

an der uns anvertrauten Lehre des Christus. Die Schrift

geht in ihrer Darstellung der Person Christi stets von

dem aus, was Er von Ewigkeit her war. Nur

in diesem Lichte betrachtet sie Ihn von der Krippe bis

zum Kreuze und bis zum Throne in Seiner Herrlichkeit;

betrachtet sie Seinen ganzen Pfad, jeden Seiner Schritte,

jedes Seiner Worte und jede Seiner Bewegungen; nur so

betrachtet sie Ihn in allen Verhältnissen und Umständen

Seines Lebens hienieden, sei es in der Krippe als Säugling

oder in Seiner Stellung der Unterwürfigkeit unter

Seine Eltern; sei es als den müden Wanderer am Brunnen

Sichars, oder als den Weinenden am Grabe des Lazarus;

sei es als den, der auf den Wogen des Meeres wandelte,

oder als den, der am Kreuze aufs tiefste erniedrigt war.

Sicherlich dürfen wir keinen andern Standpunkt einnehmen,

wenn die Person Jesu ihren Wert für uns

290

behalten, und wir den Geist der Anbetung bewahren

wollen. Jeder andere Standpunkt bringt uns in Widerspruch

mit der Schrift und führt uns auf das öde Gebiet

des menschlichen Verstandes mit seinen fruchtlosen, das

Herz ausdörrenden Spekulationen. Wir dürfen bei der

Betrachtung der Menschheit des Herrn niemals außer

acht lassen, was Er von Ewigkeit her war und nie aufhörte

zu sein. Der in Niedrigkeit hienieden wandelnde

„Jesus von Galiläa" war derselbe, der von Ewigkeit her

im Schoße des Vaters war, der sich als der „Allmächtige"

dem Abraham offenbarte und als der ewige „Ich

bin" Sein Volk Israel durch die Wüste führte; der die

Wasser mißt mit Seiner hohlen Hand und die Himmel

ausgebreitet hat wie ein Zelt. Nur wenn wir dieser

Thatsache ehrfurchtsvoll eingedenk bleiben, werden wir in

Uebereinstimmung sein mit den Gedanken Gottes über

Ihn, und nur dann werden unsre Herzen genährt und

erquickt werden. Es ist unendlich kostbar, Den auf der

Erde als einen wirklichen Menschen wandeln zu sehen,

der von Ewigkeit her war, und von Ihm zu lernen, was

der Vater, was das ewige Leben, was der Himmel ist,

und was himmlische Beziehungen, Zuneigungen und Gefühle

sind. Er konnte sagen: „Wir reden, was wir

wissen, und zeugen, was wir gesehen haben." (Joh. 3, 11.)

Auf welchem andern Wege könnten wir dies alles kennen

als nur durch Ihn, der im Schoße des Vaters war?

Die Schrift sagt: „Und das Wort ward Fleisch und

wohnte unter uns". (Joh. 1, 14.) Das Wort war

Gott, der Schöpfer des Weltalls; in Ihm war das Leben

(Joh. 1, 2—4); und Er wohnte unter uns als ein

wahrhaftiger Mensch. Welch ein Gedanke, Gott, der

291

Schöpfer des Weltalls, die Quelle des Lebens, wandelnd

als Mensch auf dieser Erde! Er war in die Mitte sündiger

Menschen gekommen, um zu zeigen, was in Seinem

Herzen für sie war, und ihren Bedürfnissen zu

begegnen; did Liebe des Vaters kundzumachen, deren das

unter der Last seiner Sünden niedergebeugte Herz bedurfte.

Er war die vollkommene Offenbarung Gottes in Liebe

und Gnade. Er kam, um Mühselige und Beladene zu

sich zu rufen und ihnen Ruhe zu geben; und „aus

Seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar

Gnade um Gnade". (Matth. 11, 28; Joh. 1, 16.)

Aber, sagt man, Er war hienieden nicht die Darstellung

des ewigen Lebens; Er hat es der Welt nicht

geoffenbart. Das heißt mit andern Worten: Er hat

nicht gezeigt, was in Seinem Herzen für die Welt war;

Er war für sie nicht gekommen. Aber war eS nicht der

ursprüngliche Zweck der Sendung des Sohnes, die Welt

zu erretten? (Joh. 3, 16.17; 12, 47.) „Das Brot Gottes

ist Der, welcher aus dem Himmel herniederkommt und

der Welt das Leben giebt." Und: „So lange ich in

der Welt bin, bin ich das Licht der Welt." (Joh. 6,

33; 9, 5.) Erst als die Welt Ihn endgültig verworfen

hatte, brach Er jede Beziehung mit ihr ab. Und wofür

anders machte Er sie verantwortlich, als daß sie Ihn und

Len Vater gesehen und gehaßt habe?

Das ewige Leben ist die Erkenntnis des Vaters

und des Sohnes. „Dies aber ist das ewige Leben, daß

sie Dich, den allein wahren Gott, und den Du gesandt

hast, Jesum Christum, erkennen." (Joh. 17, 3.) Diese

Worte zeigen klar, daß die Offenbarung des ewigen Lebens

mit der Offenbarung des Vaters und des Sohnes un

292

zertrennlich verbunden ist. Niemand kannte den Vater;

alle, Juden wie Nationen, standen in dieser Beziehung auf

gleichem Boden; niemand hatte das ewige Leben; alle

lagen in der Macht der Finsternis und des Todes. Aber

Christus, gekommen im Fleische, war in Seiner Person

sowohl die Offenbarung des Vaters als auch des ewigen

Lebens in der Welt. „Niemand hat Gott je gesehen; der

eingeborne Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat Ihn

kund gemacht." (Joh. 1,18.) „Und das Leben ist geoffenbart

worden, und wir haben gesehen und zeugen

und verkündigen euch das ewige Leben, welches bei dem

Vater war und uns geoffenbart worden ist; was wir

gesehen und gehört haben, verkündigen wir euch." (1. Joh.

1, 2. 3.) Hier wird uns klar und bestimmt gesagt, daß

Christus persönlich das ewige Leben war, und dies

stimmt völlig überein mit den ersten Versen des Evangeliums

Johannes: „In Ihm war das Leben, und das

Leben war das Licht der Menschen." Alles knüpft

sich an die Person Christi, im Fleische gekommen. Als

Mensch hienieden seiend, war Er der vollkommene Ausdruck

dessen, was Er von Ewigkeit her war — der wahrhaftige

Gott und das ewige Leben.

Demgegenüber behauptet man, daß Er nur als

der auferstandene und verherrlichte Mensch

die Darstellung des ewigen Lebens sei. Aber hat Er

nicht hienieden den Vater kund gemacht? Und wir

wissen, daß die Erkenntnis des Vaters und des Sohnes

das ewige Leben ist. Der Apostel Johannes knüpft die

herrliche Offenbarung des wahrhaftigen Gottes und des

ewigen Lebens an die Offenbarung Christi, gekommen im

Fleische. „Und das Wort ward Fleisch und wohnte

293

unter uns, (und wir haben Seine Herrlichkeit angeschaut,

eine Herrlichkeit als eines Eingebornen vom Vater,) voller

Gnade und Wahrheit." Ebenso Paulus: „Gott ist geoffenbart

worden im Fleisch e." Aber weil der Mensch

mit seiner Weisheit dieses „große Geheimnis" nicht fassen

noch erklären kann, will er jene herrliche Offenbarung

nicht zugeben und verlegt sie gänzlich außerhalb der Welt

— sie war nicht für diese. Und doch sagt die Schrift:

„Das Licht scheint in der Finsternis." Die Finsternis

hat es allerdings nicht erfaßt, aber trotzdem gesehen;

denn wie könnte es anders heißen, daß „das Licht, in

die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet"? (Joh.

1, 9.) ES schien hienieden in seinem vollen, ungetrübten

Glanze; und niemand kann diese herrliche Wahrheit hinwegleugnen,

ohne sich in offenbaren Gegensatz zu der

Schrift zu bringen und die Herrlichkeit der Person Jesu

zu verdunkeln. „Das Volk, das in Finsternis saß, hat

ein großes Licht gesehen, und denen, die da saßen im

Lande und Schatten des Todes — Licht ist ihnen aufgegangen."

(Matth. 4, 16.) Simeon sagte von dem

Kindlein Jesu, als er es auf seinen Armen hielt: „Meine

Augen haben Dein Heil gesehen .... ein Licht zur

Offenbarung der Nationen." (Luk. 2, 28 — 32.) Der

stolze Vernunftmensch schüttelt den Kopf darüber und

ärgert sich an diesem Lichte, aber der Glaube betet an

und bewundert dieses große Geheimnis. Er erfreut sich

in dem Anschauen des großen Gottes, der ihm in der

Person Jesu so nahe gekommen ist, um von ihm erkannt

und genossen zu werden wie Er ist.

Es ist ganz besonders Johannes, der in seinen

Schriften die große Wahrheit hervorhebt, daß Jesus

294

Christus hienieden als der wahrhaftige Gott und

das ewige Leben geoffenbart worden ist. Sie wurde bereits

in seinen Tagen angegriffen, weshalb er wiederholt auf

dem Bekenntnis besteht, daß Jesus Christus im

Fleische gekommen ist. Unter dem Namen „Jesus

Christus" wird stets die ganze Person des Herrn verstanden:

alles was Er war, und was Er geworden ist,

wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch. Alle die

verschiedenen Titel und Herrlichkeiten, die sich an Seine

Person knüpfen, sind in diesem Namen eingeschlossen.

Jesus Christus ist Gott, der Sohn Gottes, das

Wort, das ewige Leben — im Fleische gekommen.

Aber diese Einheit der Person des Herrn wird geleugnet,

wenn gelehrt wird: „Was den zweiten Menschen

charakterisierte, konnte nicht alles das einschließen, was

von einer göttlichen Person wahr war, wie Bestehen aus

sich selbst, Leben haben in sich selbst, Allmacht und Allwissenheit

und viele andere Eigenschaften einer göttlichen

Person." Christus ist der Zweite Mensch; aber, sagt

man, was Ihn, den zweiten Menschen, charakterisierte,

konnte nicht die Eigenschaften einer göttlichen Person in

sich schließen! Ist das nicht eine Zerlegung und Zerteilung

der Person Christi? Heißt es nicht, die göttliche

Person von dem zweiten Menschen trennen und Seine

Herrlichkeit in den Staub ziehen? Was sagt die Schrift?

„Es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, in Ihm

zu wohnen." Und wiederum: „Denn in Ihm wohnt die

ganze Fülle der Gottheit leibhaftig." (Kol. 1, 19;

2, 9.) Mögen wir Ihn betrachten als den erniedrigten

oder als den verherrlichten Menschen, stets ist Er der

Mensch, in dem die ganze Fülle der Gottheit wohnt.

295

Unter dem Namen „Jesus Christus" giebt uns die

Schrift den ganzen Christus, Gottheit und Menschheil

tn einer Person. „Du sollst Seinen Namen Jesus nennen,

denn Er wird Sein Volk erretten von ihren Sünden

... . und sie werden Seinen Namen Emmanuel

nennen, was verdolmetscht ist: Gott mit uns."

(Matth. 1, 21. 23.) Er ist der Jehova Seines irdischen

Volkes, der Sohn des Menschen, der letzte Adam, der

zweite Mensch, alles in einer Person. Auf Seine Frage:

„Wer sagen die Menschen, daß ich, der Sohn des

Menschen, sei?" antwortet Petrus: „Du bist Christus,

der Sohn des lebendigen Gottes." Der Sohn

des Menschen ist also der Sohn des lebendigen Gottes,

der deshalb die ewigen und göttlichen Eigenschaften des

lebendigen Gottes hat. Er ist zugleich der Sohn des

Vaters; „denn", sagt Er, „Fleisch und Blut haben es

dir nicht geoffenbart, sondern mein Vater, der in den

Himmeln ist." Ferner hören wir aus Seinem Munde

die Worte: „Ehe Abraham ward, bin ich," und:

„Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich

ihn aufrichten." (Joh. 2, 19; 8, 58.) Der Sohn des

Menschen war also der „Ich bin", der Ewige, der Jehova

deS Alten Testaments mit all den Eigenschaften

einer göttlichen Person. Zu sagen,

daß das, was den zweiten Menschen charakterisierte, nicht

in sich schließen konnte, was von einer göttlichen Person

wahr war, ist daher im Grunde nichts anderes als eine

Leugnung der göttlichen Eigenschaften des Herrn. Es

ist ein Angriff des Feindes auf Seine persönliche Herrlichkeit.

Aber wie eifersüchtig wacht Gott stets darüber,

daß diese bewahrt bleibt! Moses und Elias erschienen

296

in gleicher Herrlichkeit mit dem Herrn auf dem heiligen

Berge — ein Bild von unsrer zukünftigen Stellung mit

Christo in Herrlichkeit. Aber als Petrus darüber die

persönliche Herrlichkeit des Herrn vergaß, indem er

Ihn mit Moses und Elias auf gleichen Boden stellen

wollte, empfing er eine Zurechtweisung durch die Stimme

des Vaters aus der Wolke: „Dieser ist mein geliebter

Sohn, Ihn höret." Und es ist bemerkenswert, zu lesen:

„Und indem diese Stimme geschah, ward Jesus allein

gefunden." (Luk. 9, 28—36.)

Die Schrift umgiebt den Herrn eben deshalb, weil

Er sich so tief erniedrigt hat, mit um so größerer Herrlichkeit.

Die „ganze Fülle der Gottheit", welche die

Herrlichkeit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen

Geistes umfaßt, wohnt in Ihm; und dies war hienieden

ebenso wahr von Ihm, als es in der Herrlichkeit wahr

ist. Er war der vollkommene Ausdruck des Vaters;

Seine Worte und Seine Werke waren die Worte und

Werke des Vaters, so daß Er sagen konnte: „Wer mich

sieht, der sieht Den, der mich gesandt hat." (Joh. 12,

44—50; 10, 11.) Ebenso waren Sein ganzes Wesen und

Sein ganzer Wandel der Ausdruck der Fülle und Macht

des Heiligen Geistes, der in Ihm wohnte ohne Maß.

(Joh. 3, 34.) Als Mensch gezeugt von dem Heiligen

Geiste, gesalbt mit dem Heiligen Geiste, that Er alles in

der Kraft des Heiligen Geistes, und opferte sich selbst

ohne Flecken Gott durch den ewigen Geist.

Diese Wahrheit wird vorgebildet durch das Speisopfer,

das aus Feinmehl, Oel und Weihrauch zusammengesetzt

war und bekanntlich das herrliche Bild der reinen,

heiligen und vollkommenen Menschheit Christi ist. Wir

297

können hier nicht auf eine nähere Erklärung desselben

eingehen; wohl aber sei erinnert an den Wert dieses

Opfers vor Gott: „Es ist ein Hochheiliges von den

Feueropfern Jehovas." Nur die Priester durften davon

essen, und'zwar an „heiligem Orte", nachdem sie zuvor eine

Handvoll von dem Mehl und Oel nebst dem ganzen

Weihrauch auf dem Altar geräuchert hatten. (3. Mose

2, 2. 3; 6, 16.) Es zeigt uns, was die Menschheit Christi,

Sein Leben der Hingebung und des Gehorsams, in den

Augen Gottes ist — „ein duftender Wohlgeruch", der für

Gott allein war und den nur Er nach seinem vollen

Werte zu würdigen wußte. Steht jemand, so mögen wir

wohl fragen, an „heiligem Orte", wenn er in so geringschätzender

Weise von der Menschheit Christi spricht, daß

er darin nur einen Zustand sieht, der im Tode ein Ende

nehmen sollte? der die göttliche und menschliche Natur

Christi in einer Weise zerlegt, daß schließlich Seine erhabene

göttliche Person ganz unsern Blicken entschwindet s

Welch ein unberechenbarer Verlust für alle, die sich durch

solche Lehren fortreißen lassen! Sie genießen nicht mehr

das kostbare Vorrecht, sich in der Gegenwart Gottes von

Christo zu nähren. Christus verliert Seinen zarten Wohlgeruch

für sie, das Manna seinen lieblichen Geschmack.

Anstatt den Herrn mit anbetender Bewunderung auf Seinem

einsamen Pfade hienieden zu betrachten, wie Er in all

dem Mangel, den Entbehrungen und Leiden, die dieser

Pfad für Ihn mit sich brachte, Gott verherrlichte; wie

Er, verkannt von der Welt und selbst von den Seinigen,

in geduldigem und unermüdlichem Dienst verharrte, zufrieden,

den Willen des Vaters gethan zu haben —

grübeln sie darüber, was in dem Leben Christi der Aus

298

druck des ewigen Lebens war und was nicht. Ach, nur

in der heiligen Gegenwart Gottes, wo der Verstand

schweigt und der Glaube allein thätig ist, lernen wir

etwas davon verstehen, was Gott in Christo hienieden

gesehen hat; nur da lernen wir Ihn schätzen in Uebereinstimmung

mit der Schätzung Gottes.

Die Worte: „Niemand erkennt den Sohn als nur

der Vater", lassen Christum als eine Person erscheinen,

deren Tiefen unergründlich für uns sind, die aber darum

unsre Herzen mit um so größerer Ehrfurcht erfüllt. Der

Vater bewahrt die Erhabenheit und Herrlichkeit des Sohnes.

Niemand vermag die wunderbare Person des Gottmenschen

zu ergründen als der Vater allein. Hier ist

dem menschlichen Geiste eine Schranke gezogen, die seinem

vermessenen Vordringen ein gebieterisches Halt zuruft.

„Niemand erkennt den Sohn", auch die Engel nicht;

keine Kreatur kann diese Schranke überschreiten. Einem

jeden ruft sie zu: „Ziehe deine Schuhe aus von deinen

Füßen, denn der Ort, auf dem du stehest, ist heiliges

Land." (2. Mose 3, 5.) Der Glaube thut dieses und

erfreut sich gerade an der Unergründlichkeit jenes Geheimnisses.

Er schaut und betet an. Durch den Geist

Gottes geleitet, erblickt er Tiefen und Höhen, die ein

heiliges Verlangen nach einer größeren Erkenntnis Christi

in ihm wachrufen, und die dem Dichter die Worte entlockt

haben:

„Jesus-Nam'I" Wer kann ergründen

Deine Tiefe, Deine Höh';

Wer die Gnad' und Lieb' verkünden,

Deren End' ich nirgend seh'I

Unausforschlich bleibet hier

Deines Namens Fülle mir. "

299

Und wie verschieden ist eine solche Erkenntnis von

den eitlen und thörichten Spekulationen und stolzen Vernunftschlüssen

des menschlichen Geistes! Während diese nur

den Verstand beschäftigen, aber das Herz immer weiter

von Chriskd entfernen, nährt und erquickt jene das Herz

und zieht es immer mächtiger zu Christo hin. Während

durch diese der Mensch aufgebläht und von sich selbst eingenommen,

Christus aber verkleinert wird, macht jene uns

klein in unsern Augen, erhebt Christum und macht Ihn

zum ersten und köstlichsten Gegenstände für uns; während

durch diese Christus verunehrt wird, wird Er durch

jene verherrlicht. Die wahre Erkenntnis Christi erzeugt

nie Streit und Unfrieden, Zwiespalt und Aergernis unter

den Gläubigen, sondern einigt die Herzen in Liebe und

Wahrheit in Ihm als ihrem gemeinsamen Mittelpunkt,

und führt sie zu einer entschiedenen Nachfolge des Herrn.

Man denke an die aufopfernde Hingebung des Apostels

Paulus für Christum, und sehe die Wirkungen der wahren

Erkenntnis Christi: „Ja, wahrlich, ich achte auch alles

für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis

Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen ich alles

eingebüßt habe und es für Dreck achte, auf daß ich

Christum gewinne." (Phil. 3, 8.) Möchte diese wahre

Erkenntnis Christi mehr unter uns vorhanden sein!

Vergessen wir nicht, den Herrn Jesum hienieden stets

im Lichte dessen zu betrachten, was Er war, ehe die

Welt war. Als das fleischgewordene Wort war Er immer

der eingeborne Sohn, der in des Vaters Schoß ist; der

Sohn des Menschen, der im Himmel ist. (Joh. 1, 18;

3, 13.) Wie deutlich kennzeichnet dieses Wörtchen „ist"

das tiefe Geheimnis Seiner Person! Seine Erniedrigung.

300

hat weder Seine Person noch Seinen Platz verändert.

Er, der als ein Kindlein in der Krippe lag, der als ein

müder Wanderer einsam am Jakobsbrunnen saß, war

zugleich im Schoße des Vaters, in Seinem ewigen Wohnplatz

im Himmel, verfügte über alles und trug alle Dinge

durch das Wort Seiner Macht. (Hebr. 1, 3.) Er konnte

sagen: „Ehe Abraham ward, bin ich." (Joh. 8, 58.)

Er war der Jehova der Heerscharen, vor dem die Seraphim

ihre Angesichter verhüllten und riefen: „Heilig,

heilig, heilig ist Jehova der Heerscharen!" (Vergl. Jes. 6,

1—4 mit Joh. 12, 41.) Johannes beweist durch die

Anführung dieser Stelle, daß er den Herrn hienieden mit

derselben Ehrfurcht betrachtete, wie einst die Seraphim in

Jesaja 6 es thaten. In dem Tone tiefster Ehrfurcht und

heiliger Scheu spricht er beständig von Ihm in allen seinen

Schriften. Für ihn ist Jesus Christus stets diese heilige

und göttliche Person, im Fleische gekommen — wahrhaftiger

Gott und wahrhaftiger Mensch — in welcher die göttliche

und menschliche Natur unzertrennlich vereinigt und

ausgedrückt war. Und wenn wir daran gewöhnt

sind, den Herrn in diesem Lichte zu betrachten, so wird

auch in uns derselbe Geist der Anbetung wach erhalten

bleiben. Es kann unsre Herzen ja nur mit tiefster Anbetung

erfüllen, Ihn zu einer Zeit als den mächtigen

Schöpfer und Erhalter des Weltalls, und zu einer andern

als Den zu erblicken, der nicht hatte, wohin Er Sein

Haupt legen konnte. Und diese Anbetung wird in demselben

Maße zunehmen, wie wir Ihn tiefer und tiefer

herniedersteigen sehen, bis Er endlich am Fluchholze für

uns zur Sünde gemacht wurde. Anbetungswürdiger

Heiland! Du stiegst freiwillig aus Deiner ewigen Herr

301

lichkeit herab zum schmachvollen Kreuze, und von da

wiederum zum Throne — aus Liebe für uns!

Durch die Zerteilung der Person Jesu geht indes

nicht nur Seine persönliche Herrlichkeit verloren, sondern

auch diejenige Seines Werkes, an welchem die ganze

Gottheit beteiligt war. Gott, der Vater, und Gott, der

Heilige Geist, hatten gleiches Interesse mit Gott, dem

Sohne, an diesem kostbaren Werke der Erlösung. Es

war der Wille Gottes, und der Sohn kam, um vermittelst

Seiner Menschwerdung denselben zu erfüllen.

„Darum, als Er in die Welt kommt, spricht Er:

Schlachtopfer und Speisopfer hast Du nicht gewollt,

einen Leib aber hast Du mir bereitet . . . .

Siehe, ich komme, (in der Rolle des Buches steht von

mir geschrieben,) um Deinen Willen, o Gott, zu thun."

(Hebr. 10, 5. 7. 9.) Wiederum sagt der Herr: „Mein

Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke." (Joh. 5, 17.)

Ferner kam der Heilige Geist auf Ihn hernieder und

blieb auf Ihm, so daß das ganze Werk nach dem Willen

des Vaters, durch die Hingebung des Sohnes und in der

Kraft des Geistes auSgeführt wurde. Welch eine Liebe

giebt sich kund in jener Unterhaltung des Sohnes mit dem

Vater: „Siehe, ich komme, um Deinen Willen, o Gott,

zu thun!" Welche Liebe im Herzen des VaterS, der den

Sohn, den Eingebornen, gab! (Röm. 8, 32.) Welche

Liebe in dieser freiwilligen Annahme des Leibes seitens

des Sohnes mit all der damit verbundenen Erniedrigung

Welche Liebe in diesem einmütigen Zusammenwirken des

Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes für die

Errettung des verlornen Sünders! Was ist größer, diese

Liebe oder die Erlösung, welche das Ergebnis der Liebe

302

war? Ohne Zweifel werden die Resultate des Erlösungs-

Werkes groß, unendlich groß sein; wir sehen sie vorbildlich

auf dem heiligen Berge, wo Moses und Elias in gleicher

Herrlichkeit mit dem Herrn erschienen. Aber noch unendlich

größer erscheint die Liebe, die Ihn vom Berge

herniedersteigen ließ, um den sauren Gang nach Jerusalem

anzutreten, den einzigen Weg, der zu diesen herrlichen

Resultaten führen konnte. Wahrlich, die ganze Schönheit

dieses Werkes geht verloren, wenn die Person des Herrn

Jesu zerteilt wird, und man Seiner Menschheit einen

untergeordneten Platz anweist, getrennt von der ewigen

Gottheit. Man schließt die ganze Gottheit, die Mitwirkung

des Vaters, der dem Sohne den Leib bereitete, und diejenige

des Heiligen Geistes, der den Leib gezeugt hat,

von diesem Werke aus, wenn man in der Menschheit

Christi nur das sieht, was im Tode ein Ende nehmen

sollte, nur damit jene herrlichen Resultate für uns herbeigeführt

würden. Das heißt in der That, diese Resultate

höher stellen als die Liebe, welche sie herbeigeführt hat.

Nicht nur geht der Wert der Stellvertretung Christi durch

solch unheiliges Zerteilen verloren, sondern auch die ganze

Offenbarung Gottes. Wo anders als im Tode Christi

fand alles das, was Gott ist — Licht und Liebe —

seinen höchsten und vollkommensten Ausdruck?

Es ist daher von der höchsten Wichtigkeit zu sehen,

wie die Schrift, entgegen diesem Streben des menschlichen

Geistes, mit Nachdruck hervorhebt, daß Jesus Christus

hienieden stets der Ausdruck Gottes und des ewigen

Lebens war, und zwar gegenüber einer ungläubigen Welt.

Der Herr selbst sagt: „Wenn ich nicht die Werke meines

Vaters thue, so glaubet mir nicht; wenn ich sie aber thue,

303

so glaubet den Werken, wenn ihr auch mir nicht glaubet,

auf daß ihr erkennet und glaubet, daß der Vater in mir

ist, und ich in Ihm." (Joh. 10, 37. 38.) Ganz besonders

drückt Johannes in seinen Episteln auf diese

Wahrheit, daß Christus als Mensch hienieden die Offenbarung

Gottes und des ewigen Lebens war. „Deswegen

erkennt uns die Welt nicht, weil sie Ihn nicht erkannt

hat." (1. Joh. 3, 1.) Er bezieht das Wörtchen „Ihn"

auf Gott, von dem er unmittelbar vorher gesprochen hat.

Gott war hienieden in Christo geoffenbart in all Seiner

Liebe und Güte. Ferner: „Und wir wissen, daß der

Sohn Gottes gekommen ist und uns ein Verständnis

gegeben hat, auf daß wir den Wahrhaftigen kennen;

und wir sind in dem Wahrhaftigen, in Seinem Sohne

Jesu Christo. Dieser ist der wahrhaftige Gott und

das ewige Leben." (1. Joh. 5, 20.) Dieser Vers enthält

in seinen wenigen Worten den Inbegriff der ganzen

Epistel. Der Sohn Gottes ist gekommen —

Jesus Christus, gekommen im Fleische — das ist die

große und wichtige Thatsache, von der die ganze Offenbarung

Gottes und des ewigen Lebens abhing. Er ist

gekommen, der von Ewigkeit her bei dem Vater war, um

uns Gott zu offenbaren wie Er ist. Wir kennen den

Wahrhaftigen und wissen, was das ewige Leben ist, weil

wir Ihn kennen, der der wahrhaftige Gott und das ewige

Leben ist. Ihn haben die Apostel gehört, gesehen und

mit ihren Händen betastet. Und hieran knüpft sich die

andere große Wahrheit: „Wer den Sohn hat, hat das

Leben." (Kap. 5, 12.) Alles, die Erkenntnis Gottes,

des Wahrhaftigen, und der Besitz des ewigen Lebens,

knüpft sich an die Person des Sohnes, geoffenbart hie-

304

nieden. Wenn man leugnet, daß Er hienieden der Ausdruck

des ewigen Lebens war, so leugnet man damit,

daß Er hienieden die Offenbarung Gottes war. Denn

das Wort: „Dies aber ist das ewige Leben, daß sie Dich,

den allein wahren Gott, und den Du gesandt hast, Jesum

Christum, erkennen", bezieht sich auf Jesum Christum,

gekommen im Fleische.

Die Wahrheit könnte nicht einfacher ausgedrückt

werden, wie die Schrift es thut: „Dieser ist der wahrhaftige

Gott und das ewige Leben." Es bedarf daher

keiner besonderen Gelehrsamkeit und Kenntnis, um die

Lehre des Christus von falschen Lehren zu unterscheiden,

wenn nur diese einfache Wahrheit festgehalten wird.

Johannes schrieb an eine Frau, solche nicht aufzunehmen,

welche diese Lehre nicht brächten. Wenn jemand leugnet,

daß Christus hienieden der vollkommene Ausdruck Gottes

und des ewigen Lebens war, die Offenbarung alles dessen,

was den Bedürfnissen eines verlornen, nach Erlösung

seufzenden Sünders entsprach, was war Er dann für ihn?

Aber der Herr sei gepriesen! Er, der am Brunnen Sichars

saß, war vollkommen genug für das arme sündige Weib —

die Quelle des lebendigen Wassers. Das Wort des Herrn:

„Ich bin das Brot des Lebens: wer zu mir kommt, wird

nie hungern, und wer an mich glaubt, wird nimmermehr

dürsten", hatte sich an ihr bewährt. Sie vergaß ihre

leiblichen Bedürfnisse, ließ ihren Wasserkrug stehen und

wurde der Anlaß für andere, daß auch sie kamen und

erkannten und bekannten: „Dieser ist wahrhaftig der Heiland

der Welt." (Joh. 4.) „Herr, zu wem sollen wir gehen?"

sagte Petrus, „Du hast Worte des ewigen Lebens."

(Joh. 6, 68.) Alle diese Seelen waren überzeugt, daß

805

Jesus hienieden der Ausdruck des ewigen Lebens war.

Und wie viele Tausende haben seitdem mit Petrus bekannt:

„Zu wem sollen wir gehen?" haben in Ihm Den

gefunden, der allein die Leere ihres Herzens ausfüllen

konnte. Sollen wir weiter gehen? Die Antwort des Apostels

ist: „Jeder, der weiter geht und nicht bleibt in der

Lehre des Christus, hat Gott nicht; wer in der Lehre

bleibt, dieser hat sowohl den Vater, als auch den Sohn."

(2. Joh. 9.)

Ohne Zweifel ist die Herrlichkeit, die eigentliche

Wohnstätte des ewigen Lebens, noch nicht geoffenbart;

aber dies hinderte nicht, daß das Leben selbst in seiner

ganzen, seelenbefriedigenden Fülle in Christo hienieden

geoffenbart war. Aber nahe ist der Augenblick, wo Christus,

unser Leben, in Herrlichkeit geoffenbart werden wird, und

wir mit Ihm. (Kol. 3, 4.) Und Er ruft uns zu:

„Ich komme bald; halte fest, was du hast, auf daß niemand

deine Krone nehme!"

Möge der Herr uns allen Gnade geben, bis dahin

fest zu halten an der Lehre des Christus, und ein ganzes

Herz sür Ihn zu bewahren, der uns so teuer erkauft hat l

Der Säemann.

(Fortsetzung.)

In Matth. 13 begegnen wir einem Ausdruck in

Bezug auf „die am Wege", der bemerkenswert ist: „So

oft jemand das Wort des Reiches hört und nicht versteht,

kommt der Böse rc." — Wie zahlreich ist diese

Klasse von Hörern! Wie viele kommen unter den Schall

des Wortes, ohne auch nur im geringsten ihr Herz darauf

306

Zu richten, es auch zu verstehen! Sie kommen und hören

das Wort aus reiner Gewohnheit, aus einem gewissen

religiösen Bedürfnis: sie haben aber keinerlei Interesse

für die Wahrheit. DaS Geredete geht über ihre Köpfe

hin; sie beachten es nicht. Wenn man solche Personen

am Ende der Versammlung fragen würde: „Habt ihr

auch verstanden, was ihr gehört habt?" so würden sie

vielleicht die Frage eifrig bejahen, aber ihr Herz weiß

nichts davon. Die Folge ist, daß der Böse alsbald

kommt und wegreißt, was in ihre Herzen gesäet war.

Wie ernst ist das und wie sollte es mit Macht zu

den Gewissen aller derer reden, die das Wort Gottes

hören oder lesen! Es ist eine ernste Sache, in irgend

einer Weise mit dem göttlichen Worte in Berührung zu

kommen. Viele mögen es als etwas Geringfügiges betrachten,

einer Predigt des Wortes beizuwohnen oder die

Bibel im Familienkreise zu lesen; aber weit entfernt

davon, bringt es im Gegenteil eine ernste Verantwortlichkeit

auf alle, die daran teilnehmen. Wer das Wort

Gottes hört oder liest, ob Mann, Weib oder Kind, kommt

durch diese einfache Thatsache unter eine Verantwortlichkeit,

wie sie schwerer nicht gedacht werden kann.

Es ist eine eitle Ausflucht, zu sagen: Wer das

Wort nicht versteht, kann auch nicht verantwortlich dafür

gemacht werden. Denn warum versteht er es nicht? Hat

er es jemals ernstlich versucht? Hat er sich jemals bemüht,

die Gedanken Gottes zu erfassen? Wo liegt die

Schwierigkeit? Die Heilige Schrift ist einfach, klar und

bestimmt. Auf diesem Boden giebt es keine Entschuldigung.

Noch nie hat jemand aufrichtig gewünscht, das Wort zu

verstehen, dem das Verständnis nicht willig dargereicht

worden wäre. Ein Mensch mag suchen, sich hinter dem

Einwand zu verstecken, er könne die göttlichen Dinge

nicht ohne göttliche Belehrung verstehen. Aber ist dieser

Einwand stichhaltig? Zeigt er nicht vielmehr die schreckliche

Verkehrtheit des menschlichen Herzens? Ist Gott nicht

bereit, zu belehren? Ist es nicht Seine Freude, jedem.

307

der da will, in Gnade zu begegnen? Ach der Mensch

meint, auf solche Weise seiner Verantwortlichkeit entgehen

zu können. Eitles Bemühen!

Allerdings ist das Maß der Verantwortlichkeit und

infolge dessen die Schwere des Gerichts verschieden. Der

Heide ist verantwortlich, das Zeugnis der Schöpfung verworfen

zu haben; der Jude hat sich des Bruches des

Gesetzes schuldig gemacht; und der Hörer des Evangeliums

vom Reiche ist verantwortlich, dieses verworfen zu haben.

Will man behaupten, der Heide könne nicht das Zeugnis

der Schöpfung verstehen, oder der Jude nicht die Stimme

des Gesetzes? Warum nicht? Ist es nicht offenbar, daß^

der wahre Grund der Schwierigkeit nicht in dem Charakter

des Zeugnisses, sondern einzig und allein in dem Zustande

des Herzens liegt? Und weil das so ist, so ist ein jeder

dem Gericht verfallen; und das Gericht wird dem Maße der

Verantwortlichkeit entsprechen, so wie das Maß der Verantwortlichkeit

dem Maße des empfangenen Lichtes entspricht.

Ja, alle sind schuldig, obwohl nicht auf demselben

Boden oder nach demselben Maße. Der Heide steht auf

seinem Boden, und der Jude auf dem seinigen. Jeder

Mund wird verstopft werden. Alle die stolzen Reden

und nichtigen Einwände des Menschen werden einmal verstummen.

Allen denen, die es wagen, gegen Gott aufzustehen

und über Sein Thun zu Gericht zu sitzen, werden

einmal die Augen aufgehen, um ihren verhängnisvollen

Irrtum zu erkennen. Aber ach! dann wird cs für immer

zu spät sein; sie werden ihn erkennen inmitten der ewigen

Qualen des FeuerseeS.

Doch es giebt eine Klasse von Personen, deren Verantwortlichkeit

noch ungleich schwerer ist als die des

Heiden oder des Juden. Es sind diejenigen, welche das

Evangelium von der Gnade Gottes, die frohe Botschaft

von einer vollkommnen Erlösung durch den Tod und die

Auferstehung Jesu Christi vernommen haben, denen wieder

und wieder die Liebe Gottes zu einer verlorenen, feindseligen

Welt verkündigt worden ist — die aber das Ge

— 308 —

hörte nicht beachtet und der göttlichen Liebe den Rücken

gewandt haben — bloße Bekenner, die den Namen Christi

tragen, aber Ihn nicht kennen, Ihm nicht vertrauen, Ihn

nicht lieben. Solche werden das schwerste Gericht empfangen.

Denn soweit das Zeugnis von Christo das

Zeugnis der Schöpfung an Wert, Wichtigkeit und Herrlichkeit

überragt, so weit das Evangelium der Gnade Gottes

das Gesetz Moses übertrifft, gerade so viel schwerer ist

die Verantwortlichkeit des Verächters des Evangeliums als

diejenige des Juden oder des Heiden. Eine ewige Strafe,

ein ewiges Verderben wird sein Teil sein. (Vergleiche

2. Thess. 1, 7-9.)

Ja, wenn einmal die Stunde der Abrechnung kommt,

dann wird keiner mehr ein Wort zu erwidern haben.

Jeder Mund wird vor dem Richterstuhl Christi verstopft

werden. Jeder wird gerichtet werden nach seinen Werken;

aber das schwerste Gericht, die tiefste Finsternis, die

peinlichste Strafe wird diejenigen erreichen, welche das

herrliche Evangelium der Gnade Gottes verworfen haben.

Und wir dürfen versichert sein, daß dann keiner von

„denen am Wege" sich damit entschuldigen wird, daß er

„daS Wort des Reiches" nicht habe verstehen können.

Nein, nein, er wird dann seine Thorheit und Schuld erkennen,

dem Teufel erlaubt Zu haben, den guten Samen

aus seinem Herzen zu reißen. Nur in diesem Leben

macht der Mensch seine Einwürfe und Entschuldigungen;

an jenem Tage nicht mehr. Alle werden bekennen müssen:

„Wir empfangen nur, was unsre Thaten wert sind."

O möchte doch ein jeder an diese Dinge denken, so

lange die Zeit der Langmut Gottes noch währt! Die

Wolke des Gerichts ballt sich immer dichter zusammen,

und wehe einem jeden, über den der Sturm losbrechen

wird! Die Thür der Gnade wird bald für immer geschlossenwerden;

und allen denen, die so oft gehört, aber

nicht gehorcht haben, werden dann die Worte entgegentönen:

„Ich habe euch niemals gekannt; weichet von

mir!" (Schluß folgt.)

Der Säemann.

(Schluß.)

Wir kommen jetzt zu der zweiten Klasse von Hörern

des Wortes vom Reiche, zu denen, bei welchen das Wort

auf steinichten Boden fällt. Sie unterscheiden sich wesentlich

von der ersten Klasse. Bei „denen am Wege" zeigt sich

niemals irgend ein praktisches Ergebnis der Predigt. Der

hoffnungsfreudigste Evangelist könnte keinen Augenblick

daran denken, sie unter die Früchte seines Werkes zu

rechnen. Sie gehen wieder hin, wie sie gekommen sind,

unerreicht, ohne Interesse, ohne wahre, tiefe Eindrücke.

Anders ist es mit der zweiten Klasse von Hörern.

Durch sie kann mancher Arbeiter getäuscht werden, da

sich in ihnen wirklich ein Resultat zeigt — Erscheinungen,

die zu dem Schluffe zu berechtigen scheinen, daß ein göttliches

Werk in der Seele begonnen habe. Doch hören

wir des Herrn eigene Worte über diese Klasse:

„Anderes aber fiel auf daS Steinichte, wo es nicht

viel Erde hatte." Etwas Erde ist vorhanden; es ist

nicht alles harter Felsen oder festgetretener Weg. „Und

alsbald ging es auf, weil es nicht tiefe Erde hatte.

Als aber die Sonne aufging, ward es verbrannt, und weil

es keine Wurzel hatte, verdorrte es." (Matth. 13, 5. 6.)

In Markus lauten die Worte fast ebenso. In Lukas

lesen wir: „Und anderes fiel auf den Felsen; und als

es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtig

310

keit hatte." Die Erklärung, welche der göttliche Lehrmeister

Seinen Jüngern über diese Art von Hörern giebt,

lautet folgendermaßen: „Der aber auf das Steinichte ge-

säet ist, dieser ist's, der das Wort hört und es alsbald

mit Freuden aufnimmt, hat aber keine Wurzel

in sich, sondern ist nur für eine Zeit; und wenn

Drangsal entsteht oder Verfolgung um des Wortes willen,

alsbald ärgert er sich." (V. 20. 21.)

Dies verdient in der That die ernsteste Beachtung

aller derer, welche sich irgendwie im Werke des Evangeliums

bemühen. Jeder ernste Evangelist verlangt nach Ergebnissen

seines Wirkens, nach der Errettung seiner Zuhörer;

und je mächtiger die Liebe Christi, des großen Evangelisten,

im Herzen wirkt, desto sehnlicher ist dieser Wunsch.

Aber gerade das Verlangen nach Frucht setzt den Arbeiter

der Gefahr aus, sich über die Resultate seines Wirkens zu

täuschen. Es kann ihn leicht dahin führen, etwas für eine

echte, aufrichtige Bekehrung zu halten, was sich schließlich

nur als eine bloße Erregung der Gefühle erweist. Wie

manche sind als bekehrt ausgegeben worden, die sehr bald

nicht nur in die Welt zurückgingen, sondern gar aus anscheinend

glücklichen Bekeunern des Namens Christi bittere

Feinde des Kreuzes wurden!

Das ist sehr ernst und sollte alle Evangelisten anleiten,

viel zum Herrn zu rufen um Weisheit und geistliches

Unterscheidungsvermögen, damit sie fähig seien, die

verschiedenen Fälle, die ihnen in ihrem Dienste begegnen,

richtig zu beurteilen. Mancher verlangt allzu eifrig nach

sofortigen, sichtbaren Resultaten; mit andern Worten:

der Beweggrund, der ihn leitet, Bekehrungen zu erwarten,

ist nicht rein, nicht geistlich und himmlisch. Gegen diese

311

Schlinge sollten alle die teuren Arbeiter des Herrn auf

der Hut sein. Es giebt Gefahren auf allen Seiten.

Im Gegensatz zu der eben genannten Gefahr haben

andere über die Neigung zu wachen, diejenigen, welche

wirklich begehren, dem kommenden Zorn zu entfliehen und

dem Herrn nachzufolgen, zurückzustoßen. Wir müssen

stets bereit sein, alles anzuerkennen, was irgendwie als

vom Herrn kommend anerkannt werden darf; stets bereit,

schwachen, zagenden Seelen hülfreiche Hand zu bieten.

Es ist in der That traurig, hie und da alten Christen

zu begegnen, die Gefallen daran zu finden scheinen, jungbekehrten

Seelen Anstöße in den Weg zu legen. Es

mag vielleicht mit den besten Absichten geschehen, indem

man fürchtet, getäuscht zu werden oder andere zu täuschen.

Allein so nötig es ist, vorsichtig zu sein und gründlich

zu Werke zu gehen, müssen wir uns doch auch sehr davor

hüten, das schwache, zarte Pflänzlein mit rauher Hand

zu knicken.

Wieder andern fällt es schwer, Bekehrungen als echt

anzuerkennen, wenn sie nicht selbst in irgend einer Weise

dabei beteiligt gewesen sind. Allein das ist ganz und gar

eines Mannes unwürdig, der sich einen Christen oder gar

einen Diener Christi nennt. Wir sollten stets eine hoffnungsvolle,

gnadenerfüllte Gesinnung gegen alle offenbaren,

die irgendwie Gegenstände eines geistlichen Werkes zu sein

scheinen; und selbst wenn wir nicht imstande sind, anzuerkennen,

sollten wir doch niemals zurückstoßen. Wir

haben nur eine schwache Vorstellung von der niederschmetternden

Wirkung, die es auf neuerweckte Seelen hat,

wenn gereifte Christen sie mit Argwohn oder auch nur

mit Gleichgültigkeit behandeln.

312

Trotz allem, was wir gesagt haben, dürfen wir jedoch

nicht vergessen, daß es thatsächlich Hörer giebt, die

dem steinichten Boden gleichen, und weiter, daß man durch

solche leicht getäuscht werden kann. „Der aber auf das

Steinichte gesäet ist, dieser ist's, der das Wort hört und

es alsbald mit Freuden aufnimmt." Das sieht sehr hoffnungsvoll

aus, und bei allen größeren Erweckungen, die

im Laufe der Zeit stattgefunden haben, sind gewiß Hunderte

von Fällen vorgekommen, die unter diese Rubrik

gehörten.

Doch beachten wir den ernsten Schluß des Satzes:

„hat aber keine Wurzel in sich, sondern ist nur

für eine Zeit; und wenn Drangsal entsteht oder Verfolgung

um des Wortes willen, alsbald ärgert er sich."

Es ist gut, nicht zu eilig und zu hoffnungsvoll zu sein;

es ist weit besser, ein wenig zn warten. Ein wirklich

göttliches Werk wird sich sicher zu seiner Zeit als solches

offenbaren. Möchten daher alle, die sich im Werke des

Evangeliums bemühen, mit Ernst und vielem Gebet vor­

angehen !

Indes möchte gefragt werden: Wie können wir denn

diese zweite Klasse von Hörern unterscheiden? Der Herr

selbst giebt uns ein sehr deutliches Kennzeichen, wenn Er

sagt: „alsbald mit Freuden". Es ist niemals ein

gutes Zeichen, wenn jemand das Wort sofort mit Freuden

aufnimmt. Es beweist einen Mangel an jener tiefen

Gewissensübung, die zur Bildung eines wahren christlichen

Charakters so wesentlich notwendig ist. Es ist eine ernste

Sache, wenn einem Menschen zum ersten Male die Augen

aufgehen und er seinen wahren Zustand, seine Schuld,

sein Elend und die Gefahr, in der er schwebt, erkennt.

313

Es erregt keine freudigen Gefühle, wenn die Pflugschar

der Ueberzeugung in der innersten Seele ihr Werk thut.

Selbstgericht und wahre Buße sind nichts weniger als

etwas Freudiges. Saulus, von TarsuS war in jenen

drei Tagen und Nächten, die seiner Bekehrung folgten,

wahrlich nicht mit Freude erfüllt. Nein, eine aufrichtige

Buße ist eine ernste Sache; und wir dürfen versichert

sein, daß da, wo der Geist Gottes in einer Seele wirkt,

tiefe Herzens- und Gewissensübungen nicht ausbleiben

werden — Uebungen, die mit freudigen Gefühlen ganz

und gar unverträglich sind. Es ist nichts Erfreuliches,

sich in dem Lichte Gottes als ein verderbtes, böses und

schuldiges Geschöpf zu erkennen, oder einen Rückblick zu

werfen auf ein verlorenes, sündiges Leben, ein Leben in

Gleichgültigkeit, Leichtfertigkeit und Auflehnung gegen Gott.

Freude und Friede werden sicher kommen, wenn ein göttliches

Werk in der Seele vorgeht, aber erst nach einer,

wenn auch kurzen, Zeit, nicht „alsbald". Der verlorene

Sohn näherte sich nicht mit muntern, elastischen Schritten

dem Vaterhause. Er sollte ohne Zweifel in den Armen

seines Vaters ein nie gekanntes Glück genießen; aber auf

seinem Wege dahin ging er durch Erfahrungen, die sehr

verschieden waren von „alsbald mit Freuden".

Mit einem Wort: Bekehrungen, die den eben besprochenen

Charakter tragen, halten nicht stand. Es ist

keine „tiefe Erde" vorhanden und deshalb auch keine

„Wurzel". Es fehlt an der notwendigen Feuchtigkeit,

und deshalb verdorren sie. Es ist gut, wenn die

Pflugschar tiefe Furchen zieht; aber das ist unmöglich,

wenn nicht viel Erde da ist. Werden nur die natürlichen

Gefühle erregt, ohne daß ein Werk des Geistes Gottes

314

in dem Gewissen vorgeht, so wird alles in nichts, ja, in

Schlimmerem als nichts enden. „Wenn Drangsal entsteht

oder Verfolgung um des Wortes willen, alsbald ärgert

er sich." An die Stelle der anfänglich vielleicht hochgespannten

Hoffnungen tritt bald die schmerzliche Entdeckung,

daß alles nur oberflächlich und unecht ist. Wird

das Werk irgendwie auf die Probe gestellt, „alsbald

ärgert er sich".

Das Aufgeben des Wortes geht gerade so rasch vor

sich wie die Aufnahme desselben. Es ist nicht in die

Tiefen der Seele gedrungen. Der steinichte Untergrund,

das ungebrochene, steinharte Material, das unter der

dünnen Oberfläche liegt, verhindert den kostbaren Samen,

in Herz und Gewissen einzudringen. Die Kraft der

Wahrheit wird nicht gefühlt, ihr Wert nicht erkannt noch

geschätzt. Sobald daher um der Wahrheit willen eine

Prüfung über solche Seelen kommt, ärgern sie sich und

geben sie alsbald wieder auf, da sie die Wahrheit nicht

genug schätzen, um ihretwegen irgend etwas fahren lassen

zu können. Es ist sehr schön, die frohe Botschaft des

Heils durch das Blut des Lammes zu hören, die liebliche

Geschichte von Gottes wunderbarer, bedingungsloser Liebe

zu vernehmen; zu hören, wie eine volle, freie Vergebung

einem jeden zu teil wird, der au Jesum Christum glaubt,

und wie Gott bereit ist, uns von einer ewigen Verdammnis

zu befreien und ein „über die Maßen überschwengliches,

ewiges Gewicht von Herrlichkeit" über uns auszuschütten —

alles daS ist, wie gesagt, sehr schön und sehr gesegnet. Aber

wenn diese kostbaren Dinge nur als ebenso viele Wahrheiten

mit dem Verstände ausgenommen werden, während

das Gewissen nicht ins Licht Gottes kommt und nichts

315

von dem mächtigen Wirken des Heiligen Geistes erfährt,

dann — wenn Schwierigkeiten und Prüfungen kommen,

wenn es gilt, sich bestimmt für Christum zu entscheiden

und die Schmach eines gekreuzigten Heilandes auf sich zu

nehmen — dann wird es offenbar, daß keine lebendige

Verbindung zwischen der Seele und Christo besteht. Es

ist keine Tiefe, keine Kraft, keine Festigkeit, kein Ausharren

vorhanden. Die Seele ist nicht wirklich bearbeitet und

für Christum gewonnen. „Diese sind es, die auf

das Steinichte gesäet werden."

Mein Leser! Es geziemt uns, diese Dinge mit

Ernst zu erwägen. Es ist unmöglich, ihre Wichtigkeit zu

überschätzen. Laß uns wohl darauf acht haben, daß wir

nicht zu denen gehören, die auf das Steinichte gesäet

werden! Laß uns zusehen, daß das kostbare Wort

Gottes, der unverwesliche Same des Reiches, eine tiefe

und bleibende Stätte in unsern Herzen gefunden habe!

Wenn es jemals in der Geschichte der bekennenden Kirche

eine Zeit gab, in der es nötig war, solchen Gedanken

seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, so ist es heute der

Fall, wo es so viel leichtfertiges, leeres Bekenntnis giebt,

so viel „Wort und Zunge", und so wenig „That und

Wahrheit".

„Anderes aber fiel unter die Dornen." —

Welch eine Tiefe, welch eine Kraft und ernste Bedeutung

liegt in diesen wenigen Worten! Wie oft fühlt sich der

denkende Leser der Heiligen Schrift von der schlagenden

Kürze der Aussprüche derselben getroffen! In unzähligen

Fällen ist eine Fülle von tiefen, praktischen Wahrheiten

in einem einzigen Satze eingeschlossen. Welche menschliche

316

Feder wäre imstande, alles das zu beschreiben, was in

dem oben angeführten kurzen Ausspruch enthalten ist?

Wahrlich, nur Der, welcher das Bild gebrauchte, kann

unsern Herzen seine wunderbare Bedeutung auslegen.

Und welche Erklärung giebt Er? „Der aber unter die

Dornen gesäet ist, dieser ist's, der das Wort hört, und

die Sorge dieses Lebens und der Betrug des Reichtums

ersticken das Wort, und er bringt keine Frucht."

Hier haben wir zwei völlig entgegengesetzte Einflüsse,

die aber dieselbe Wirkung hervorbringen. „Sorgen" und

„Reichtum" scheinen nicht viel mit einander gemein zu

haben; und doch ersticken beide den kostbaren Samen des

Reiches. Tausende und Hunderttausende werden so völlig

von den Sorgen dieses Lebens in Anspruch genommen,

daß sie keinen Augenblick für die große und über alles

wichtige Frage des Heils ihrer Seele übrig zu haben

scheinen. Von Montag Morgen bis Samstag Abend

sorgen und streben sie dem einzigen Ziele nach, vorwärts

zu kommen. Sie haben keine Zeit, an etwas anderes

zu denken als an die Dinge dieses Lebens; und wenn

sie am Sonntage wirklich für einige Minuten unter

den Schall des Wortes Gottes kommen, so ist ihr Herz

doch so erfüllt mit weltlichen Dingen, daß das Wort,

obwohl es an ihr Ohr dringt, keinen Eingang in ihr

Herz findet, weil die Sorgen den Weg dahin völlig versperren.

Sie denken mit Sorge an morgen, mit Sorge

an ihre Kinder, mit Sorge an ihr Geschäft, mit Sorge

an die Frage, wie sie den mannigfachen Anforderungen,

die an sie herantreten können, entsprechen, und wie sie

durch die möglicherweise entstehenden Schwierigkeiten der

begonnenen Woche hindurchkommen sollen. Mit einem

317

Wort, der gute Same wird erstickt von den Sorgen dieses

Lebens und bringt keine Frucht.

Das Gewissen dieser Klasse von Personen zu erreichen

ist insofern sehr schwierig, als die Dinge, welche

ihre Zeit und all ihr Denken in Anspruch nehmen, anscheinend

ganz rechtmäßig und gut sind. Diese Art von

Leuten ist nicht unmoralisch; sie trinken, fluchen und

spielen nicht. Sie scheinen sehr brave, gutgesinnte, fleißige

Leute zu sein, die alle ihre Kräfte daran setzen, sich und

ihre Familien ehrlich durchzubringen und einen anständigen

Lebenswandel zu führen. Im Wirtshause, beim Kartenoder

Billiardspiel, im Theater, bei Musik und Tanz suchst

du sie vergebens. Sie sind, wie man zu sagen pflegt,

durchaus harmlose Menschen, liegen ihrem Beruf mit

Fleiß und Treue ob und erfüllen ihre Pflichten gegen

Familie und Freunde, gegen Kirche und Staat mit anerkennenswertem

Eifer. Wenn du es wagst, ein Wort der

Warnung an sie zu richten, sie an ihre unsterbliche Seele

zu erinnern, sowie an die Notwendigkeit, auf die Ewigkeit

vorbereitet zu sein, der sie entgegeneilen, so werden sie dir

antworten, daß sie wirklich keine Zeit haben, an solche Dinge

zu denken, daß ein dringendes Geschäft nach dem andern zu

besorgen sei, daß sie jede Minute benutzen müssen, um für

die Bedürfnisse ihrer Familie zu sorgen, daß Zinsen und

Pacht zu bezahlen seien u. s. w. u. s. w. Sie würden gern

lauschen, wenn sie nur einmal ein wenig vor sich gebracht

hätten, wenn ihre Kinder erzogen und versorgt wären; aber

so lange das nicht der Fall sei, bleibe ihnen nichts anderes

übrig als rastlos zu wirken und zu arbeiten. Und in der

That, Gott hat es ja so geordnet, daß wir arbeiten sollen;

wie könnte es deshalb unrichtig sein? Hat Er nicht gesagt:

318

„Wenn jemand für die Seinigen, und besonders für die

Hausgenossen, nicht sorgt, so hat er den Glauben verleugnet

und ist schlechter als ein Ungläubiger" ? oder an

einer andern Stelle: „Wenn jemand nicht arbeiten will,

so soll er auch nicht essen"? (1. Tim. 5, 8; 2. Thess.

3, 10.) Es kann deshalb doch nicht unrecht sein, fleißig

zu arbeiten!

Das sind die Beweisgründe, mit welchen diese Klasse

von Personen die Schärfe des Wortes Gottes abzustumpfen

sucht, damit es nur nicht ihr Herz und Gewissen erreiche.

Die Thatsache, daß ihr Leben so ehrbar und so weit von

grober Unsittlichkeit entfernt ist, bildet ein weiteres Hindernis

für sie, ihren wahren Zustand zu erkennen oder die

Gefährlichkeit ihrer Lage einzusehen. Sie verstehen nicht,

daß „Sorgen" gerade so gut wie „Reichtümer", „Lüste

und Vergnügungen" das Wort ersticken und unfruchtbar

machen. Sie würden sich tief verletzt fühlen, wenn man

sie mit der unsittlichen, gottlosen Menge, deren einziges

Ziel die sündigen Freuden dieser Welt find, auf einen

und denselben Boden stellen wollte; und doch wird bei

allen in gleicher Weise das Wort erstickt, Christus verworfen

und das Heil der Seele vernachlässigt.

Man mag einwenden, daß „Sorgen" doch nicht so

böse und verunreinigend seien wie „Lüste und Vergnügungen";

aber wenn die einen wie die andern uns

dahin führen, unser Seelenheil aufs Spiel zu setzen, was

sollen wir dann sagen? Es giebt verschiedene Wege zur

Hölle; der breite Weg hat allerlei besondere Pfade: sowohl

für den Ehrbaren, für den Religiösen und Sittlichen, wie

auch für den Lebemann, den Gottlosen, den Lästerer und

Trunkenbold. Der eine will nicht mit dem andern wan

319

dein, aber der breite Weg hat Platz für alle; und das

Ende für alle, die darauf wandeln, ist „der zweite

Tod". Und wenn am Ende der fleißige, unermüdlich

thätige Mann, der Tag und Nacht für Weib und Kind sich

abmühte, der nie einen Pfennig im Wirtshause ausgab,

nie eine Stunde an einem Vergnügungsorte zubrachte, der

einen Lebenswandel führte ohne Tadel und Vorwurf —

wenn ein solcher, sage ich, am Ende sich in dem Feuersee

wiederfindeu wird, Seite an Seite mit einem armen, vergnügungssüchtigen

Verschwender, der sein Leben in Saus

und Braus verbracht hat, so wird er sich kaum versucht

fühlen, Betrachtungen über den Unterschied zwischen sich

und jenem anzustellen oder gar sich dieses Unterschiedes

zu rühmen. Beide haben, obwohl auf verschiedenen Wegen,

dasselbe Ziel erreicht, jenen schrecklichen Ort, wohin kein

Hoffnungsstrahl dringt und wo alle die volle Bedeutung

jener hienieden so wenig verstandenen und so viel widersprochenen

Worte verstehen werden: „Es ist kein

Unterschied; denn alle haben gesündigt und erreichen

nicht die Herrlichkeit Gottes".

Aber, mag der eine oder andere meiner Leser versucht

sein zu fragen, sollen wir denn unsre irdischen Pflichten

vernachlässigen? Müssen wir den Wirkungskreis verlassen,

den die Vorsehung uns angewiesen hat? Sind wir nicht

verpflichtet, für unsre Familien zu sorgen? Sollen wir

aufhören zu arbeiten, um an unsre Seele und an die

Ewigkeit denken zu können? Sollen wir ein Leben träumerischer

Betrachtungen und trägen Dahinbrütens führen?

Mein Leser! dein eignes Gewissen giebt dir die

Antwort auf solche Fragen. Du weißt sehr wohl, daß

so etwas weder gelehrt noch gemeint wird. Aber vergiß

320

nicht, daß die erste Pflicht, die eine große Sorge, die

einem Sünder obliegt, die ist, an das ewige Heil seiner

unsterblichen Seele zu denken. So lange dieser Pflicht

nicht genügt ist, sind alle andern Pflichten, Sorgen und

Interessen von geringer Wichtigkeit. Als der Herr in

den Tagen Seines Fleisches einmal von den Juden gefragt

wurde: „WaS sollen wir thun, daß wir die Werke

Gottes wirken?" antwortete Er: „Dies ist das Werk

Gottes, daß ihr an Den glaubet, den Er gesandt hat."

(Joh. 6, 28. 29.) Beachte diese Antwort, mein lieber

Leser; erwäge sie mit allem Ernst! Sie sagt dir, daß es

die erste große Pflicht eines jeden Menschen — Mann,

Weib oder Kind — ist, an Den zu glauben, dev- Jesum

in diese Welt gesandt hat; und dies zu thun bedeutet

ewiges Leben, ewiges Heil, ewige Herrlichkeit. Alles, was

dich hindert, dieser ernsten Pflicht Zu genügen, kann deshalb

nur ein Fallstrick und sündhaft sein, etwas von den

„Dornen", mit welchen der Teufel das Wort zu ersticken

sucht. Verlaß dich darauf, mein Freund, so lange deine

Seele nicht errettet ist, kannst du nichts für Gott thun;

aber wenn sie errettet ist, kannst du alles für Ihn thun,

selbst essen und trinken zu Seiner Verherrlichung. Er

hat einen Pfad guter Werke zuvor bereitet, in welchem

Sein erlöstes Volk wandeln soll. (Eph. 2, 10.) Aber

um diesen Pfad gehen zu können, mußt du von neuem

geboren sein; denn nur die Erlösten können darauf wandeln.

Auf diesem Pfade können, Gott sei Dank, weder Pflichten

noch Sorgen daS Wort ersticken, da die Pflichten zu

Seinem Preise erfüllt werden können; und was die

„Sorgen" betrifft, so gebietet Er uns, sie alle auf Ihn

zu werfen.

321

Doch vergessen wir nicht, daß es noch andere

„Dornen" giebt als „die Sorge des Lebens". Unser

göttlicher Lehrmeister spricht auch von dem „Betrug des

Reichtums". Mancher Armx meint vielleicht, wenn er

nur reich wäre, so würde er sich sicher Zeit nehmen, an

sein Seelenheil zu denken. Aber ach, welch ein Trugschluß!

Es giebt bekanntlich kein schrecklicheres Hindernis

als gerade der Reichtum. Er betrügt die Seele und zieht

sie ab von Gott, von Christo, vom Himmel. Der Reiche

baut auf seine Reichtümer. Er kennt keine Not und keine

Sorgen, es sei denn die eine Sorge, sein Kapital zu

vergrößern und seine Einnahmequellen zu vermehren.

Unser Herr und Heiland hat selbst gesagt: „Es ist leichter,

daß ein Kamel durch ein Nadelöhr eingehe, als daß ein

Reicher in das Reich Gottes eingehe." Er kann unmöglich

als Reicher eingehen. Wohl kann Gott — gepriesen

sei Sein Name! — reiche Leute erretten, indem Er ihnen

ihre tiefe Armut zu sehen und zu fühlen giebt, und sie

zu dem Bekenntnis führt, daß sie arm und elend, sündig,

blind und bloß sind; und weiter, indem Er sie zu Jesu

hinzieht, in welchem sie unerforschliche, ewig dauernde

Reichtümer und göttliche Gerechtigkeit finden. Aber ein

Reicher ist als solcher fern vom Reiche Gottes. Er

gehört ganz und gar zu einem andern Reiche. Er schenkt

die Liebe seines Herzens einem Andern als Christo. Er

huldigt dem Gott dieser Welt. Der Reichtum ist sein

Gegenstand, das Geld sein Götze, und der Gewinn sein

Ziel. Der Besitz an irdischen Gütern betrügt sein Herz,

indem er den wahren Zustand geistlichen Elends, in welchem

er sich befindet, vor seinen Blicken verbirgt. Der

Arme wird von Sorgen verzehrt, der Reiche durch seine

322

Reichtümer übersättigt. Bei beiden wird der Same des

Reiches erstickt; beide verwerfen die Wahrheit, wenden

Christo den Rücken und schreiten den finstern Schatten einer

nie endenden Verdammnis zu. Ja, mein Leser, „Sorgen"

und „Reichtümer" verderben in gleicher Weise unsterbliche

Seelen und führen sie dem ewigen Verderben entgegen.

So belehrt uns unser hochgelobter Herr und Meister;

und wahrlich, wir thun Wohl, Seine himmlische Belehrung

zu beachten.

Doch wie schrecklich ist der Gedanke an einen Menschen,

der aus dem Schoße des Reichtums und Luxus

hinübergeht in die finstre Ewigkeit, hinabsinkt in die nie

erlöschenden Flammen des Feuersees! Wie entsetzlich für

jemanden, der nach langem Wohlleben hienieden plötzlich

aus seinem bequemen Hause, aus dem glänzenden Kreise

seiner Feste und Vergnügungen sich versetzt sieht in all

die Schrecken jenes Ortes, wo es nicht einmal einen

Tropfen Wassers giebt, um die brennende Zunge zu kühlen.

Welch ein Gegensatz! Auf Erden kannte er keine

Not, keinen unerfüllten Wunsch. Er war umgeben mit

allem, was der Reichtum verschaffen kann. Seine Tafel

war beladen mit den köstlichsten Leckerbissen. Reich betreßte

Diener standen bereit, jeden seiner Winke auszuführen.

Sein Keller war gefüllt mit den besten und

teuersten Weinen. In glänzender Karosse rollte er durch

die Straßen der Stadt, angestaunt und beneidet von den

Vorübergehenden. Im Winter eilte er in den sonnigen

Süden; die heißen Sommermonate verbrachte er am Meere

oder auf seinem schattigen Landsitze.

Aber dann starb er und ward begraben. Welch eine

Veränderung! Lauschen wir einen Augenblick auf die

323

erschütternden Worte des Herrn in der Geschichte von dem

reichen Mann und dem armen Lazarus: „Und in dem

Hades seine Augen aufschlagend, als er in Qualen war,

sieht er Abraham von ferne und Lazarus in seinem

Schoße. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme

dich meiner und sende Lazarus, daß er die Spitze

feines Fingers ins Wasser tauche und meine Zunge kühle;

denn ich leide Pein in dieser Flamme." (Luk. 16.)

Könnte es etwas Schrecklicheres geben als das?

Wie furchtbar ist der Gegensatz zwischen dem Purpur,

der feinen Leinwand und dem herrlichen Leben auf dieser

Erde und den peinigenden Flammen dort an dem Orte

der Qual! Der bloße Gedanke daran ist überwältigend;

und bedenken wir Wohl, daß es des Herrn eigne Hand ist,

die das schreckliche Gemälde entworfen hat! Es ist keine

Legende oder altweibische Fabel. Nein, nein, mein Leser!

Der Herr selbst zieht den Vorhang zurück und zeigt uns den

thatsächlichen Zustand eines Menschen, der über all dem

Guten, das er hienieden genossen, die Zeit der Gnade

versäumt hat und nun vergeblich um Erbarmen ruft. Es

ist eine ernste Sache, gerade von den Lippen Dessen, der

sprach, wie nie ein Mensch gesprochen hat, eine solche Erzählung

zu vernehmen. In der That, der Herr spricht

mehr von dem höllischen Feuer als irgend einer Seiner

Apostel. Wieder und wieder erinnert Er daran, und

in der Geschichte des reichen Mannes geht Er sogar in

die ernstesten Einzelheiten ein. „Sende Lazarus, daß er

die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und meine

Zunge kühle; denn ich leide Pein in dieser Flamme."

Aber dort giebt es keinen Tropfen Wasser mehr zur

Kühlung; kein Herz denkt daran, kein Finger rührt sich.

324

ihn zu bringen. Dort ist nur marternde Verzweiflung

und unabänderliche Qual; und alles das für immer und

immer und immer! Wenn schon die bloße Beschäftigung

mit diesen Dingen zu viel ist für das Herz, was muß

dann die thatsächliche Erfahrung derselben sein! Gott

gebe in Gnaden, daß der Leser diese Erfahrung nie machen

müsse! — O mein Freund, wenn es noch nicht geschehen

ist, so fliehe heute vor dem kommenden Zorn! Bist du

ein reicher Mann, dann laß mich in aller Liebe dich

bitten: Setze nicht dein Vertrauen auf deinen Reichtum;

klammere dich nicht an dein eitles, vergängliches Hab und

Gut; laß es dich nicht hindern, zu Jesu Zu eilen! Was

ist denn all dein Besitz anders als Staub und Asche?

und, wenn es von Satan benutzt wird, was ist es anders

als tötender, erstickender Rost auf deiner Seele? O laß

deinen Reichtum dir nicht im Wege stehen! Was für einen

Wert hat er? In einem Augenblick kann er dahin sein.

Laß dich nicht durch ihn betrügen, nicht durch ihn abhalten

von Christo, vom Himmel, von der ewigen Herrlichkeit!

Komme zu Jesu, komme noch heute! Die Zeit

ist kurz, und die Ewigkeit liegt vor dir. —

Es bleibt uns noch übrig, einen kurzen Blick auf

die dritte Art von „Dornen" zu werfen, welche der Herr

mit den Worten bezeichnet: „die Begierden nach

den übrigen Dingen". (Mark. 4, 19.)

Welch ein unabsehbares Feld eröffnet sich hier vor

unsern Blicken! Die Worte des Herrn weisen hin auf

jenen weiten, weiten Bereich, den das arme menschliche

Herz mit seinen unersättlichen Wünschen zu durchstreifen

pflegt, indem es unermüdlich nach Gegenständen sucht, die

eS erfreuen und befriedigen sollen. „Die Begierden nach

325

den übrigen Dingen" — unreine Begierden, unheilige,

stets wechselnde Wünsche, die nie befriedigt werden können

durch eine Welt, die in den Armen des Bösen liegt. Diese

Welt mit allem, was sie umschließt, ist nicht imstande, die

öde, schmerzliche Leere des Herzens auszufüllen. Das

vermag nur Einer — Jesus Christus, der Herr vom Himmel,

der Ausgezeichnete vor Zehntausenden, an welchem

„alles sehr köstlich ist". Und Er thut es, gepriesen sei

Sein Name!

Es wäre unmöglich, „die Begierden nach den übrigen

Dingen" hier einzeln aufzuzählen; sie find thatsächlich

zahl- und namenlos. Allein so verschieden sie auch sein

und so verschieden sie sich in den Menschen offenbaren

mögen — ihr Ziel ist dasselbe: sie ersticken das Wort

und verhindern es, Frucht zu bringen. Welch ein Unterschied

zwischen einem tiefgesunkenen Trunkenbolde, dessen

unreiner Atem und stierer Blick jedem sofort verraten,

worauf seine Begierde gerichtet ist, und einem sorgfältig

erzogenen, hochgebildeten Manne dieser Welt, dessen guter

Geschmack, feine Manieren, menschenfreundliche Gesinnung,

wissenschaftliche Erfolge, geistreiche Schriften rc. 2c. ihn zu

einem begehrten Gesellschafter, zum Mittelpunkt eines

Kreises auserlesener Männer, zu einem hochgeachteten Gliede

der menschlichen Gesellschaft machen! Der Unterschied

könnte kaum größer gedacht werden. Und doch begegnen

sich diese beiden Gegensätze in einem gemeinschaftlichen

Punkte: in der Verwerfung Christi; und dereinst auf einem

gemeinschaftlichen Boden: in dem See, der mit Feuer und

Schwefel brennt! Beide werden, obwohl in ganz verschiedener

Weise, durch „die Begierden nach den übrigen

Dingen" verhindert, das Wort vom Reiche aufzunehmen.

326

Wohl mag der eine mit dem andern durchaus nichts zu

thun haben wollen; aber wie einst „böse Männer vom

Gassenpöbel" und Fürsten, Gelehrte und die Angesehensten

des Volkes einen Berührungspunkt fanden in der Verwerfung

des Evangeliums und in der Verfolgung des

Herrn und Seiner Knechte, so reichen sich auch die heutigen

Vertreter dieser verschiedenen Klassen die Hand in ihrem

Haß gegen Gott und Seinen Gesalbten.

Indem wir hiermit unsre Betrachtungen über „den

Säemann" schließen, erinnern wir noch einmal daran, daß bei

den drei Klassen von Personen, die uns bisher beschäftigten,

weder die Pflugschar noch die Egge jemals in Anwendung

gekommen sind und deshalb auch keine Frucht möglich ist.

Bei der ersten Klasse liegt der gute Same auf der harten

Oberfläche des Weges und wird sofort von dem Bösen

weggerissen. Bei der zweiten wird das Wort nur mit

dem Verstände ausgenommen; eine äußerlich fromme,

religiöse Natur scheint für eine Zeit das Evangelium zu

erfassen, aber der Zustand des Herzens ist ungebrochen

und ungerichtet. „Das Fleisch nützt nichts." Bei der

dritten Klasse endlich kann der Pflug sein Werk nicht

thun, weil die Dornen ihm im Wege sind. Vermöchte er

einzudringen und die Dornen auszureißen, so würde der

Same vielleicht eine Stätte im Innern des Herzens finden.

Mit andern Worten: würde die Welt und ihre Lust,

dieses Leben mit seinen Sorgen und Begierden, erkannt

und gerichtet werden, so würde das gute Wort Gottes

aufgehen und Frucht tragen können. So aber erstickt es.

Noch einmal denn, das Herz und das Gewissen

müssen durch die Kraft des Heiligen Geistes bearbeitet

327

sein, und das Wort Gottes muß gleichsam ein Teil unsers

eignen Ichs werden, wenn irgend ein bleibendes Resultat

erzielt oder irgend eine echte Frucht hervorgebracht werden

soll. Und hier ist es, wo der große Gegensatz zwischen

dem guten und schlechten Boden so klar ans Licht tritt.

„Der aber auf die gute Erde gesäet ist, dieser ist's, der

das Wort hört und versteht, welcher wirklich' Frucht

bringt; und der eine trägt hundert-, der andere sechzig-,

der andere dreißigfältig." (Matth. 13, 23.) So auch in

Markus: „Und diese sind es, die auf die gute Erde

gesäet sind, welche das Wort hören und aufnehmen

und Frucht bringen: eines dreißig- und eines sechzig- und

eines hundertfältig." (Mark. 4, 20.) Das Zeugnis des

Evangelisten Lukas ist, wenn möglich, noch ausdrucksvoller.

Dort lesen wir: „Das in der guten Erde aber

sind diese, welche in einem redlichen und guten

Herzen das Wort, nachdem sie es gehört haben, bewahren

und Frucht bringen mit Ausharren."

(Luk. 8, 15.)

Wenn wir diese drei Stellen zusammennehmen, so

haben wir die drei großen unterscheidenden Charakterzüge

der auf die gute Erde Gesäeten vor uns: sie verstehen

das kostbare Wort Gottes, sie nehmen es auf und bewahren

es in einem redlichen Herzen. Und das Resultat

ist ein „Fruchtbringen mit Ausharren".

Gesegnetes Resultat! Wollte Gott, daß wir mehr

davon sähen in unsern Tagen! Jeder aufrichtige Arbeiter

muß darnach verlangen. Aber ach! wie wenig ist davon

zu sehen! Wie viele Hörer der drei ersten Klassen füllen

die Bänke, wenn die frohe Botschaft von der Liebe Gottes

verkündigt wird; wie viele täuschen die Erwartungen der

328

nach ihrem Seelenheil verlangenden Evangelisten! Wie

wenige sind derer, die das Wort Gottes wirklich verstehen,

die es im Glauben aufnehmen und bewahren, und dann

hingehen und Frucht bringen mit Ausharren zur Freude

derer, welche das Werk des Evangeliums treiben!

Woher kommt diese Erscheinung? Sie muß sicherlich

eine Ursache haben. Unser Gott hat uns in diesen letzten

Tagen viel Licht geschenkt und uns mit der ganzen Fülle

des Evangeliums bekannt gemacht; der wahre Grund

des Friedens eines Sünders, sowie der wahre Charakter

der Stellung des Gläubigen in Christo werden mit einer

Kraft und Klarheit verkündigt, wie es seit vielen Jahrhunderten

nicht geschehen ist. Woher kommt es nun,

daß wir so wenig echte Bekehrungen sehen? Und selbst

von denen, die als bekehrt ausgegeben werden, erweisen

sich so viele als unecht. — Geliebte Brüder und Mitarbeiter!

laßt uns diese wichtige Frage mit allem Ernst erwägen.

Es muß ein Hindernis da sein. Untersuchen wir mit

Aufrichtigkeit, wo es liegt. Richten wir uns selbst in

der Gegenwart unsers hochgelobten Herrn. Unser Platz

ist auf unserm Angesicht, in aufrichtiger Herzensübung betreffs

dieser Sache. Verlangen wir wirklich mit Ernst

nach gesegneten Resultaten? Predigen wir das Evangelium

mit dem wahren Herzensentschluß, Seelen zu Christo zu

führen? Haben wir ein eifriges Verlangen nach dem

Heil unsrer Zuhörer? Sind wir viel vor Gott betreffs

ihrer? Oder sind wir damit zufrieden, eine gewisse Reihe

von Vorträgen zu halten, unbekümmert darum, ob sie

Frucht hervorbringen oder nicht?

Möge der Herr selbst in allen Seinen geliebten

.Knechten an allen Orten und Enden der Erde ein tiefes

329

Gefühl über die Wichtigkeit dieses großen Gegenstandes

erwecken! Möge Er Sein Werk in unsern eignen

Seelen beleben, die erschlafften Hände stärken und die

gelähmten Kniee aufrichten, damit Sein Wort laufen

und verherrlicht werden könne, und viele Tausende dahin

geführt werden, nicht nur das Wort zu hören, sondern

es auch zu verstehen, aufzunehmen und zu bewahren und

hundertfältige Frucht zu bringen mit Ausharren, zu

Seinem Preise und zur Freude und Erquickung Seiner

Diener!

Segenskanäle.

„In jenen Tagen, als wiederum eine große Volksmenge

da war und nichts zu essen hatte, rief Er Seine

Jünger herzu und spricht zu ihnen: Ich bin innerlich bewegt

über die Volksmenge, denn schon drei Tage weilen sie bei

mir und haben nichts zu essen; und wenn ich sie nach Haufe

entlasse, ohne daß sie gegessen haben, so werden sie auf dem

. Wege verschmachten; denn etliche von ihnen sind von ferne

gekommen. Und Seine Jünger antworteten Ihm: Woher

wird jemand diese hier in der Einöde mit Brot sättigen

können? Und Er fragte sie: Wie viele Brote habt ihr?

Sie aber sagten: Sieben. Und Er gebot der Volksmenge,

. sich auf der Erde zu lagern. Und Er nahm die sieben

Brote, dankte und brach sie und gab sie Seinen Jüngern,

auf daß sie vorlegien; und sie legten der Volksmenge vor.

Und sie hatten einige kleine Fische; und als Er sie gesegnet

hatte, hieß Er auch diese vorlegen. Sie aßen aber und

wurden gesättigt; und sie hoben auf, was an Brocken übrigblieb,

sieben Körbe. Es waren aber derer, welche gegessen

' hatten, bei viertausend; und Er entließ sie." (Mark. 8,1—9.)

Diese Geschichte stellt uns ein treffendes Vorbild von

der Berufung des Christen in dieser Welt vor Augen —

ein Vorbild von allgemeiner, alle Kinder Gottes umfassen

330

der Anwendung. Ein jeder von uns sollte daran denken,

daß er in diese Welt gesandt ist, um ein Verbindungskanal

zwischen dem Herzen Christi und den mannigfaltigen

Bedürfnissen zu sein, die uns Tag für Tag auf unserm

Wege begegnen. Diese Seite der Berufung des Christen

ist von großem Werte und ausnehmender Schönheit. Sie

setzt selbstverständlich voraus, daß ich ein wahrer Christ

bin. Wenn ich nicht weiß, daß ich das ewige Leben

habe; wenn ich an meiner Errettung zweifle; wenn ich

Christum nicht kenne als meinen Heiland und Herrn, als

das Teil, den Gegenstand und die Ruhe meines Herzens

— dann betrüge ich mich selbst und bin blind über den

Zustand meiner Seele, wenn ich mich mit der Berufung

des Christen beschäftigen will. Um dieser Berufung nachkommen

zu können, muß ich zu allererst wissen, daß

ich errettet bin durch den Glauben an Jesum.

„In jenen Tagen, als wiederum eine große Volksmenge

da war und nichts zu essen hatte." Das

Bedürfnis war also groß und keine sichtbaren Hülfsmittel

vorhanden, um es zu stillen. Aber Jesus war da mit

all der Liebe Seines Herzens und mit all der Kraft

Seiner Hände. Er war da, der vor alters ein Volk von

drei Millionen Menschen vierzig Jahre lang in einer dürren

Sandwüste ernährt hatte. Er hätte ohne Zweifel sofort

und unmittelbar die Bedürfnisse des Augenblicks stillen

können, ohne die Hülfe Seiner armen, ungläubigen, an

sich selbst denkenden Jünger in Anspruch zu nehmen. Er

hätte auch Engel kommen und durch sie der hungrigen

Menge die nötige Speise darreichen lassen können. Aber

Er that weder das eine noch das andere. Seine gnädige

Absicht war, Seine Jünger als Segenskanäle zwischen sich

331

und der Volksmenge zu benutzen; und zwar nicht nur als

die Werkzeuge Seiner Macht, — das hätten auch Engel sein

können, — sondern auch als den Ausdruck Seines Herzens.

Beachten wir, wie Er dies thut. Hätte Er sie

allein als Werkzeuge Seiner Macht gebrauchen wollen, so

hätte Er ihnen nur die Mittel zur Stillung des vorliegenden

Bedürfnisses in die Hände zu geben brauchen.

Aber nein! Er wollte sie zu Kanälen machen, d'urch welche

das Mitgefühl Seines Herzens fließen sollte. Wie aber

konnte das geschehen? Hören wir nur: „Er rief Seine

Jünger herzu und spricht zu ihnen: Ich bin innerlich

bewegt über die Volksmenge, denn schon drei Tage weilen

sie bei mir und haben nichts zu essen; und wenn ich sie

nach Hause entlasse, ohne daß sie gegessen haben, so werden

sie auf dem Wege verschmachten; denn etliche von

ihnen sind von ferne gekommen."

Hier haben wir das Geheimnis der Vorbereitung zu

unsrer hohen und heiligen Berufung. Unser teurer Heiland

versammelt erst Seine Jünger um sich und sucht ihre Herzen

mit Seinen Gedanken und Gefühlen zu erfüllen, bevor

Er ihre Hände mit Brot und Fisch füllt. Es ist, als wenn

Er sagen wollte: „Ich bin innerlich bewegt, und ich

wünsche, daß ihr es auch seid. Ich wünsche, daß ihr in

meine Gedanken und Gefühle eingeht; daß ihr denkt wie

ich und fühlt wie ich. Ich wünsche, daß ihr mit meinen

Augen diese hungrige Menge betrachtet, damit ihr in einem

passenden Zustande seid, um meine Segenskanäle zu sein."

Wie schön ist das! Wird nicht jeder von uns ausrufen:

„Ich möchte auch ein solcher Segenskanal sein"?

Aber mancher wird vielleicht seufzend hinzufügen: „Das

ist unerreichbar für mich; das geht über meine Kraft.

332

Wie könnte ich jemals so weit kommen?" Nun, die einfache

Antwort auf diese zweifelnde Frage lautet: Verkehre

so innig mit dem Herrn, daß du denken und fühlen lernst

wie Er. Das ist der einzige Weg, um das ersehnte Ziel

zu erreichen. Wenn ich sage: Ich muß versuchen, oder:

ich muß mich an strengen, ein Segenskanal für andere

zu werden, so rede ich wie ein Thörichter und werde nur

ein Zerrbild liefern. Wenn ich aber an der wahren

Lebensquelle trinke, so werde ich bis zum Ueberfließen

gefüllt werden; mein ganzes Wesen wird der Ausdruck des

Geistes Christi sein, so daß Er mich benutzen und daß ich

von den Mitteln Gebrauch machen kann, die Er mir darreicht.

Habe ich meine Hände gefüllt, ehe mein Herz von Christo

erfüllt ist, so werde ich die Mittel nicht zur Ehre Christi,

sondern zu meiner Selbstverherrlichung gebrauchen.

Laß uns hierüber ernstlich nachdenken, mein lieber

Leser! Vergessen wir nie, wozu wir berufen sind und

worin das Geheimnis besteht, um diese Berufung erfüllen

zu können. Möchten wir verstehen, daß wir berufen sind,

Kanäle zu sein, durch welche die Segnungen Christi den

Seinigen und einer armen, verlornen Welt zufließen können.

Allerdings erscheint es fast zu groß und zu wunderbar,

um wahr sein zu können; aber, Gott sei gepriesen! es

ist ebenso wahr wie wunderbar. Suchen wir nur, es uns

im Glauben zuzueignen. Begnügen wir uns nicht damit,

es als eine schöne Theorie zu bewundern, sondern trachten

wir darnach, unsre Herzen damit zu erfüllen in der

Kraft des Heiligen Geistes.

Doch beachten wir, wie träge die Jünger waren,

dem Verlangen des Herzens Christi zu entsprechen. Er

wollte sie in Seiner Gnade als Segeuskanäle für die

333

Volksmenge benutzen; allein sie waren, gerade wie wir,

wenig imstande, dieses Vorrecht zu schätzen, und das hatte

seinen Grund darin, daß sie Seine Gedanken nicht verstanden

und nicht hinblickten auf,die Herrlichkeit Seiner Person.

„Und Seine Jünger antworteten Ihm: Woher wird jemand

diese hier in der Einöde mit Brot sättigen können?" Bei

einer andern Gelegenheit sagen sie: „Wir haben nichts hier

als nur fünf Brote und zwei Fische." (Matth. 14, 17.)

Wußten sie nicht, oder hatten sie ganz vergessen, daß

sie Den bei sich hatten, der das Weltall erschaffen hat

und erhält? Er war bei ihnen in der niedrigen Gestalt

des Jesus von Nazareth. Seine göttliche Herrlichkeit war

dem natürlichen Auge hinter dem Kleide Seiner Menschheit

verborgen. Doch sie hätten besser wissen sollen, wer und

was Er war und wie sie von Seiner Gegenwart und

von Seinen unerschöpflichen Reichtümern Gebrauch machen

konnten. Wenn ihre Herzen die Herrlichkeit Seiner Person

verstanden hätten, so würden sie sicher nicht gefragt haben:

„Woher wird jemand diese hier in der Einöde mit

Brot sättigen können?" Mose hatte Jahrhunderte vorher

in ähnlicher Weise gefragt: „Woher soll ich Fleisch haben,

diesem ganzen Volke zu geben?" (4. Mose 11, 13.) Das

arme, ungläubige Herz schließt stets Gott aus. Hatte

Jehova Mose aufgefordert, Israel Fleisch zu geben? Ach,

nein! Kein Mensch würde dazu imstande gewesen sein;

und ebensowenig hätte ein Geschöpf viertausend Menschen

in einer Einöde speisen können.

Aber Gott war da — Gott, der mit menschlichen

Lippen gesagt hatte: „Ich bin innerlich bewegt über die

Volksmenge." Gott war es, der acht hatte auf die Umstände

eines jeden Einzelnen aus dieser großen Zahl

334

müder und hungriger Leute. Er kannte genau die Länge

des Weges, den jeder gegangen war, und wie lange jeder

gefastet hatte. Er beschäftigte sich mit den etwaigen Folgen-

wenn Er sie ohne Speise entlassen würde. Gott selbst

ließ die rührenden Worte hören: „Wenn ich sie nach

Hause entlasse, ohne daß sie gegessen haben, so werden

sie auf dem Wege verschmachten; denn etliche von ihnen

sind von ferne gekommen."

Ja, Gott war da in all der Zärtlichkeit einer Liebe,

welche die geringfügigsten Umstände der Schwachheit und

der Bedürfnisse eines jeden Seiner Geschöpfe in Rechnung

ziehen konnte. Er war da mit Seiner allmächtigen Kraft

und mit Seinen unerschöpflichen Hülfsquellen, um Seine

armen Jünger in den Stand zu setzen, die Gefäße Seiner

Güte und die Kanäle Seiner Gnade zu sein. Und was

hatten sie nötig, um ihren lieblichen Beruf erfüllen zu

können? Sie mußten einfach auf Ihn blicken und zu

Ihm gehen. Sie mußten den einfältigen Glauben bethätigen,

der betreffs aller Dinge auf Gott schaut und

alle seine Quellen in Ihm findet.

So war es für die Jünger, und so ist es für uns.

Wollen wir Kanäle der Gnade Christi sein, so müssen

wir uns mit Christo beschäftigen. Wir müssen von Ihm

lernen, von Ihm uns nähren, mit Ihm Gemeinschaft

pflegen; wir müssen nahe genug bei Ihm sein, um Seine

Gedanken zu kennen und Seine Liebesabsichten zu verstehen.

Wollen wir zeigen, wer Er ist, so müssen wir

Ihn anschauen. Wollen wir Ihn darstellen, so muß Er

durch den Glauben in unsern Herzen wohnen. Denn eines

ist sicher: was in unsern Herzen ist, das wird sich auch

in unserm Leben offenbaren. Wir können viele Wahr-

335

Heiken in unserm Kopfe und viele Worte auf unsern Lippen

haben; aber wenn wir wirklich Segenskanäle für

unsre Umgebung sein wollen, so müssen wir selbst uns beständig

an der Liebe Christi erquicken. Auf einem andern

Wege ist es unmöglich. „Wer an mich glaubt, gleichwie

die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Ströme

lebendigen Wassers fließen." (Joh. 7, 38.)

Das ist das große Geheimnis. „Wenn jemanden

dürstet, so komme er zu mir und trinke." Sollen die

Ströme fließen, so müssen wir trinken. Das kann nicht

anders sein. Ach, wenn alle Glieder der Gemeinde Gottes

unter dem Einfluß dieses Grundsatzes ständen, wie ganz

anders würde dann der Zustand der Dinge um uns her

sein! Und worin liegt das Hindernis? Wir verkehren

nicht innig genug mit unserm anbetungswürdigen Herrn

und Heilande. Er wünscht uns zu gebrauchen, gerade so

wie Er damals Seine Jünger gebrauchte. Er sammelte

sie um sich und suchte das Mitleiden, welches Sein eignes

Herz erfüllte, auch in ihre Herzen auszugießen, damit sie zu

fühlen vermöchten wie Er fühlte, und imstande seien, für

Ihn zu arbeiten. Wir dürfen überzeugt sein, daß, wenn

das Herz mit Christo erfüllt ist, auch die Kraft zum

Handeln nicht mangeln wird.

Doch ach! es geht uns wie den Jüngern. Sie

schätzten die Kraft nicht, die in ihrer Mitte war, und

machten keinen Gebrauch von ihr. Sie fragten: „Woher

kann jemand?" während sie hätten sagen sollen: „Wir

haben Christum." Sie sahen an dem Herrn vorbei;

und wie oft thun wir dasselbe! Wir beklagen unsre

Armut, unsre Kälte und Gleichgültigkeit; wir sagen, daß

wir dies oder jenes nicht besitzen; während in Wirklichkeit

336

das, was uns mangelt, nur ein Herz ist, welches mit

Christo erfüllt ist, erfüllt mit Seinen Gedanken, mit

Seiner Liebe, Güte und Freundlichkeit — ein Herz, erfüllt

mit Selbstverleugnung und Selbstvergessenheit. Wir

klagen über den Mangel an Hülfsmitteln, während wir

eines guten Herzenszustandes bedürfen; und dieser gute

Herzenszustand hat seine Quelle nur in einem innigen

Umgang mit Christo, in der Gemeinschaft mit Seinen

Gedanken und in dem Trinken Seines Geistes.

Mein Leser! laß uns diese Sache ernstlich zu Herzen

nehmen. Möchte ein jedes Glied am Leibe Christi sich

als einen Kanal gebrauchen lassen, durch welchen Seine

kostbare Gnade sich in Strömen des Lebens ergießen könne

gegen alle, die uns umringen! Möchte ein jeder von

uns ein Strom werden, der dahinstießt in lebendiger

Kraft, auf seinem Laufe Fruchtbarkeit und Frische verbreitend;

nicht aber ein totes, stillstehendes Wasser, daS

ein so treffendes Bild ist von einem Christen, der nicht

in Gemeinschaft mit dem Herrn wandelt!

Ja, Herr, wecke Du selbst unsre Herzen auf und

mache uns geschickt, um unsre erhabene und heilige Berufung

als Kanäle Deiner Gnade zu erfüllen in einer

Welt, die Dich verworfen hat!

„Steige eilend hernieder!"

Man kann den Herrn von hohen Zweigen

Wohl sehn, wie Ihn Zachäus sah;

Doch muß man tief herniedersteigen,

Will man Ihn haben ganz und nah'.

So viele sind, die Ihn nur sehen,

Und nie kehrt Er bei ihnen ein;

Sie wiegen sich auf stolzen Höhen

Und lernen niemals niedrig sein.

Herr, lehr' mich das Herniedersteigen,

Zieh' selbst mich kräftig niederwärts;

Dann kannst Du ganz Dich zu mir neigen

Und Einkehr halten in mein Herz.

Vierzigster Jahrgang.

R. Brockhaus, Elberfeld. 1892

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