Botschafter des Heils in Christo Jahresband 1893 | |
Inhalts-Verzeichnis: Botschafter 1893 - 1902 | Seite |
Botschafter des Heils in Christo 1893 Jahresband | |
Inhalts-Verzeichnis. | |
Joseph | 1 |
Die Entrüdung der Kirche | 10 |
Vom Kreuze ins Paradies | 23 |
Ein Brief an eine bekümmerte Seele | 40 |
„Er küsse mich mit den Ktüssen seines Mundes." | 48 |
Ziehe mich: wir werden dir nachlaufen." | 70 |
„Von den Höhen herab." | 82 |
Lass nur die Woge toben! (Gedicht) | 84 |
Alles geschehe wohlanständig und in Ordnung." | 95 |
Ich bin schwarz, aber anmutig." | 103 |
Ein starker Trost | 111 |
Du, den meine Seele liebt." | 132 |
Die Söhne Korahs ." | 137 |
Gehe hinaus, den Spuren der Herde nach | 159 |
Das Wort der Gnade (Gedicht) | 168 |
Ich halte es für recht, so lange ich in dieser Hütte bin, | 169 |
„Einem Rosse an des Pharao Prachtwagen vergleiche ich dich." | 181 |
Er ist nicht hier | 189 |
Gedanken. | 196 |
„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe." | 206 |
Der Tau des Hermon | 222 |
„Ich bin eine Narzisse Sarons." | 240 |
Ruhe | 248 |
Würdig der Berufung Gottes | 253 |
„Sein Panier über mir ist die Liebe." | 266 |
„Allezeit gutes Mutes.". | 276 |
Die Ursachen des kirchlichen Verfalls. | 281 |
Horch! mein Geliebter!" | 292 |
An einen Neubekehrten | 301 |
„Die Ihn lieben." | 308 |
Deine Stimme ist süsß und deine Gestalt anmutig." | 309 |
„Die Herrlichkeit des Herrn anschauend." | 325 |
Das vollkommene Onfer | 330 |
Botschafter des Heils in Christo 1893
„Der Herr ist nahe!" Phil. 4, 5.
Inhalts-Verzeichnis. Seite.
Joseph......................................................1.29. 57. 85. 113. 141
Die Entrückung der Kirche............................................................. 10
Vom Kreuze ins Paradies............................................................... -8
Ein Brief an eine bekümmerte Seele.......................................... 40
„Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes.".......................... 48
„Ziehe mich: wir werden dir nachlaufen.".....................................70
„Von den Höhen herab."................................................................82
Laß nur die Woge toben I (Gedicht)................................................84
„Alles geschehe wohlanständig und in Ordnung." .05. 122. 152
„Ich bin schwarz, aber anmutig."............................................ 103
Ein starker Trost..........................................................................111
„Du, den meine Seele liebt."......................................................132
Die Söhne Korahs........................................................................137
„Gehe hinaus, den Spuren der Herde nach."............................. 159
Tas Wort der Gnade (Gedicht)...................................................168
„Ich halte es für recht, so lange ich in dieser Hütte bin, euch
durch Erinnerung aufzuwecken."................... 169. 197. 22,o
„Einem Rosse an des Pharao Prachtwagen vergleiche ich dich." 181
Er ist nicht hier..............................................................................l89
Gedanken................................................................ 196
„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe."........................206
Der Tau des Hermon...................................................................222
„Ich bin eine Narcisse Sarons."...................................................240
Ruhe...................................................................................................248
Würdig der Berufung Gottes........................................................253
„Sein Panier über mir ist die Liebe."........................................260
„Allezeit gutes Mutes.".......................................................... . 276
Die Ursachen des kirchlichen Verfalls............................................. 281
„Horch! mein Geliebter!" . . '...................................................292
An einen Neubekehrteu...................................................................301
„Die Ihn lieben."............................................................................. 308
„Deine Stimme ist süß und deine Gestalt anmutig." . . . 309
„Die Herrlichkeit des Herrn anschanend."...................................325
Das vollkommene Opfer.................................................................. 330
Joseph.
„Durch Glauben gedachte Joseph sterbend des
Auszuges der Söhne Israels und gab Befehl wegen
seiner Gebeine." (Hebr. 11, 22.)
Mit der vorliegenden Betrachtung über „Joseph"
beabsichtige ich, eine Reihe von Aufsätzen zu schließen, die
nach und nach unter den Titeln: „Die Welt vor der
Flut," „Noah," „Abraham," „Isaak" und „Jakob" erschienen
und manchem meiner Leser wohl noch im Gedächtnis sind. *)
*) Vergl. die Jahrgänge 1886, 1887, 1889 und 1890 des
Botschafters.
Vom 37. Kapitel des 1. Buches Mose ab bildet
Joseph die Hauptperson und bleibt es auch bis ans Ende
des Buches. Seine Geschichte hat, wie alle anderen in
diesem Buche, ihren besondern Platz, ihr eigenes Geheimnis
und ihre charakteristische Nutzanwendung. In Abraham
wurde, wie wir gesehen haben, die Auserwählung
dargestellt; in Isaak die Sohnschaft oder die Annahme
des Auserwählten zum Sohne, und in Jakob die Zucht
des zum Sohne Angenommenen. In Joseph endlich tritt
die Erbschaft vor unsre Augen.
Das alles ist in göttlicher Ordnung. Und in Uebereinstimmung
mit dem Gesagten finden wir bei Joseph,
daß der Herrlichkeit oder der Ererbung des Reiches Leiden
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vorangehen, so daß sich das Wort des Apostels bestätigt:
„wenn aber Kinder, so auch Erben — wenn wir anders
mit leiden, auf daß wir auch mit verherrlicht werden."
Denn während Zucht unser Teil als Kinder ist, müssen
wir durch Leiden gehen, bevor wir unser Erbe antreten;
und das zeigt uns den Unterschied zwischen Jakob und
Joseph. Bei Jakob sehen wir Zucht, und zwar eine
Zucht, die ihn als Kind, unter der Hand des Vaters der
Geister, der Heiligkeit Gottes teilhaftig werden ließ. Bei
Joseph finden wir Leiden, Leiden eines Märtyrers, Leiden
um der Gerechtigkeit willen; Leiden bezeichnen seinen Pfad
zur Herrlichkeit.
Dies letztere ist die Krönung des Gebäudes, und
darum kommt es erst am Schlüsse dieses wunderbaren
Buches, welches sich auf diese Weise als ebenso vollkommen
in seiner Zusammenstellung erweist, wie es in seinen
Erzählungen wahr ist. Eine Belehrung nach der andern
wird behandelt, ein Geheimnis nach dem andern enthüllt
in den ungekünstelten Familienscenen, die den Stoff dieses
Buches bilden; und in ihnen lernen wir unsre Berufung,
die Ursprünge und Ausgänge unsrer Geschichte, kennen,
von der Auserwählung bis zum Antritt des Erbes.
Dagegen giebt es in diesem Buche kein Gesetzt
Wir werden in Röm. 5, 13 darüber belehrt. Indes hätte
unser Gefühl uns auch schon dasselbe sagen können; denn
in der Verwaltung der Zeiten bildet die Zeit dieses
Buches gleichsam das Zeitalter der Kindheit. Die Auserwählten
waren wie Kinder, die nie die Heimat verlassen
hatten, noch jemals unter einem Zuchtmeister gewesen
waren.
Ebensowenig gab es Wunder; ich meine Wunder,
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die durch die Hand des Menschen gewirkt wurden. Denn
Kraft würde nicht besser zu solchen Händen gepaßt
haben, wie das Gesetz oder ein Zuchtmeister zu einem
solchen Zeitabschnitt. Ferner gab es weder eine Mission
noch eine Apostelschaft zu besiegeln; Wunder und Zeichen
waren als Beglaubigung einer Sendung nicht erforderlich.
Aber sobald wir dieses Buch verlassen und in das 2. Buch
Mose eintreten, finden wir eine Mission oder eine Apostelschaft,
und dementsprechend auch sofort Wunder, um die
Sendung zu beglaubigen.
So ist die Abwesenheit dessen, was wir nicht finden,
ebenso passend wie das Vorhandensein dessen, was wir
finden. Weder Kraft noch Gesetz würden der Zeit entsprechend
gewesen sein, und darum finden wir weder das
eine noch das andere.
Doch gehen wir jetzt zur Betrachtung der Geschichte
Josephs oder der Kapitel 37 — 50 unsers Buches über.
Die Gegenstände, die wir in diesen Kapiteln finden,
lassen sich in vier Teile einteilen:
1. Die früheste Zeit Josephs im Hause seines Vaters
im Lande Kanaan.
2. Sein Leben als ein Abgesonderter in Egypten.
3. Seine Wiedervereinigung mit seinem Vater und
seinen Brüdern, und die Folgen dieser Wiedervereinigung.
4. Seine letzte Zeit im Laude Egypten bis zu seinem
Tode.
Das ist in kurzem der Inhalt der wunderbaren Geschichte
Josephs. Die Art und Weise, in der sie erzählt
wird, hat zu allen Zeiten die Teilnahme und die Gefühle
lausender von Herzen erweckt.
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(Kap. 37 u. 38.)
Gleich bei Beginn der Geschichte erblicken wir iw
Joseph den Erben. Seine Träume haben die Herrlichkeit
zum Gegenstände. Aber ebenso schnell bringt
die Wirklichkeit ihm Leiden.
Die Erzählung beginnt mit der Stellung Josephs
als Zeuge an und gegen seine Brüder. Er erzählt
seinem Vater ihre bösen Thaten, und ihnen selbst teilt
er seine Träume mit. Ich kann ihn in beidem nicht
tadeln. Ich sage nicht, inwieweit die Natur ihn bei diesen
Handlungen befleckt haben mag; aber die Zeugnisse
selbst geschahen, wie ich glaube, unter göttlicher Autorität.
Es hat Einen gegeben, der in allem vollkommen war, in
allem, was Er that oder sagte; und Er zeugte gegen die
Welt und von Seiner eigenen Herrlichkeit. Ein Mangel
in Betreff des passenden Augenblicks oder des richtigen
Maßes mag diesen Dienst bei Joseph befleckt haben; denn
eine Handlung, die nicht zur paffenden Zeit geschieht oder
über das rechte Maß hinausgeht, bringt, obwohl sie an
und für sich richtig sein mag, Befleckung mit sich. Ein Gefäß
im Hause des Herrn hat den Schatz, der in ihm ist,
zu Zeiten zu verbergen, und sollte wissen, wann, wo
und wie er benutzt werden muß. David hatte das Oel
Samuels, die Salbung des Herrn, aus sich, und er wußte,
daß das Königtum ihm gehören sollte; aber er verbarg
seine Herrlichkeit, bis Abigail sie durch den Glauben erkannte.
Und hierin mag David Joseph übertroffen haben.
Aber daß Joseph erzählte, was der Geist ihm in seinen
Träumen oder Gesichten mitgeteilt hatte, war von Gott.
Seine Leiden waren eine Folge davon. Der Herr
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bezeichnet ihn als den Erben der Herrlichkeit. Joseph spricht
von der Gunst, die ihm zu teil geworden war, und von
dem hohen Vorsatz Gottes betreffs seiner; und seine
Brüder hassen ihn. Sie beneiden ihn; und wer kann
dem Neide gegenüber bestehen? Sie hatten ihn schon
wegen der Liebe seines Vaters beneidet, und jetzt hassen
sie ihn wegen der Gunst Gottes. Sie hassen ihn um
seiner Worte und seiner Träume willen; und als sie
zusammen auf dem Felde waren, (wie vor alters Kain
und Abel,) beratschlagen sie, ob sie ihn töten, oder in
eine Grube werfen, oder an Fremde verkaufen sollen.
Und das geschah zu einer Zeit, als er ihnen diente.
Er war weither gekommen, um sich nach ihrem Wohlergehen
zu erkundigen und ihnen einen Segen aus dem
Vaterhause samt den Grüßen ihres Vaters zu überbringen,
sowie diesem Antwort von ihnen znrückzubringen. Ein
solcher Augenblick war eine passende Gelegenheit für sie.
Sie nehmen ihn nicht auf als den Ueberbringer guter
Nachrichten, sondern empfangen ihn mit den Worten:
„Siehe, da kommt jener Träumer!" „Dieser ist der
Erbe" (Matth. 21, 38) — das war der Sinn ihrer Worte.
Aus Neid überliefern sie ihn; wegen seiner Liebe sind sie
seine Feinde; und schließlich verkaufen sie ihn an die
Jsmaeliter für zwanzig Sekel Silber.
Diese allen Brüdern Josephs gemeinsame Feindschaft
mag sich nicht bei allen in gleicher Stärke offenbaren;
aber alle stehen auf demselben Boden, sind von einem
Geschlecht. Ruben war Jakobs Erstgeborner, und wir
dürfen annehmen, daß er sich feinem alten Vater gegenüber
betreffs des Knaben für verantwortlicher hielt als
die übrigen. Er rettet Joheph vom Tode; Juda schlägt
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vor, ihn den Jsmaelitern zu verkaufen, anstatt ihn in
der Grube zu lassen. So giebt es wohl ein verschiedenes
Maß bei der allen gemeinsamen Feindschaft; wie die
einen auch von Jesu sagten: „Er ist gut", andere: „Nein,
sondern Er verführt die Volksmenge"; oder wie in dem
Gleichnis von „der Hochzeit des Königssohnes" die einen
auf den Acker gingen, andere an den Handel, während
wieder andere die Knechte ergriffen und sie töteten. Aber
der Herr betrachtet sie alle als ein Geschlecht, indem Er
sagt: „die übrigen aber griffen seine Knechte, schmähten
und töteten sie". Der Richter der ganzen Erde wird
sicherlich Recht thun, und die Sünden werden dem einen
viel, dem andern wenig Schläge einbringen; aber die
Welt hat Jesum verworfen, und die Welt ist die Welt.
So auch hier: Alle sind die schuldigen Brüder Josephs,
und er wird infolge ihrer Ratschläge und ihres gemeinsamen
Hasses an die Jsmaeliter verkauft und von diesen auf
den Markt nach Egypten gebracht, um dort mit Gewinn
weiter verkauft zu werden.
Was dabei am meisten unsern Unwillen erregt, ist
ihre Gefühllosigkeit; und gerade das ist es auch, was der
Prophet Amos unter der Leitung des Heiligen Geistes
so feierlich betont, wenn er von solchen spricht, „die sich
nicht grämen um die Wunde Josephs". (Kap. 6, 6.) Und
auch wir mögen heutiges Tages wohl unser Teil von
dem Tadel des Propheten hinnehmen; denn wir machen uns
einer ähnlichen Gefühllosigkeit schuldig, wenn wir willig
die Welt lieben können, die den wahren Joseph verwirft.
Und was sollen wir sagen, wenn wir auf den gepriesenen
Fortschritt von allem in dieser Welt, sowie auf die Kunstfertigkeit
blicken, mit welcher man unaufhörlich sich be-
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müht, jenes Haus zu fegen und zu schmücken, das mit
dem Blute Jesu befleckt ist? Die elfenbeinernen Betten,
der Klang der Harfen, der Wein und die Salbungen
mit dem besten Oel sind nie in solchem Ueberfluß vorhanden
gewesen wie in unsern Tagen. Und wenn das
Leben in einer solchen Welt unsre Herzen anziehen kann,
sind wir dann, wie wir es doch sein sollten, dem Kreuze
Christi treu? Wahrlich, ein gefühlloses Herz haben wir,
und in einer gefühllosen Welt leben wir, und es sind
gefühllose Brüder Josephs, die wir hier hetrachten. Ein
jeder weiß das für sich selbst sehr wohl; und ich wiederhole,
gerade diese Gefühllosigkeit ist es, die (wenn ich
für andere reden darf) unsern Unwillen erregt, gerade so
wie sie dem Geiste in Amos so überaus anstößig war.
Wir sind nicht bekümmert über die Wunde Josephs, wie
wir es sein sollten; wir sind nicht treu gegenüber der
Berwerfung Christi. Bedenken wir es wohl: Weltlichkeit
ist Gefühllosigkeit gegen Ihn.
Ach, welche Tiefen des Verderbens giebt es in uns!
Hören wir nur, was die Brüder Josephs thaten: sie
tauchten den langen Leibrock, den der alte Vater seinem
geliebten Kinde hatte machen lassen, in Blut und sandten
ihn ihrem Vater mit den Worten: „Dieses haben wir
gesunden; erkenne doch, ob es der Leibrock deines Sohnes
ist oder nicht." Das ist die Sprache Kains: „Bin ich
meines Bruders Hüter?" Kain schob die Schuld an
Abels Tode dem Herrn zu, indem er durch seine Worte
andeutete, daß der Herr Abels Hüter hätte sein sollen,
da Er ja ein solches Wohlgefallen an ihm und seinem
Opfer gehabt hatte. So scheinen auch die Worte der
Brüder Josephs die Schuld an Josephs Tode auf den
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betagten Vater zu werfen, welcher, wenn er Joseph wirklich
so liebte, wie das lange Gewand zu sagen schien,
besser auf ihn hätte achten sollen, als er es laut des Blutes
gethan hatte.
In der That, welche Tiefen giebt es in dem abtrünnigen,
verderbten Herzen des Menschen! Wie deckt
die Versuchung zuweilen diese Tiefen auf! Die Brüder
Josephs sündigten in diesem allen gegen ihren betagten
Vater und gegen ihren harmlosen Bruder, und zwar zu
einer Zeit, als die Liebe des einen in Gnade und Segen
eine Botschaft an sie gesandt, und die Liebe des andern
diese Botschaft überbracht hatte; ja, in moralischer und
vorbildlicher Weise stellten sie jene Personen dar, von
denen gesagt wird: „sie gefallen Gott nicht, und sind
allen Menschen entgegen".
Wahrlich, eine schwarze That! Josephs Blut ist
aus ihnen, mögen sie es noch so eifrig zu verbergen suchen;
und der Tag wird kommen, an welchem ihre Sünde sie
finden und das Blut an Josephs Rock laut wider sie
zeugen wird. Für den Augenblick allerdings geht es
ihnen gut; sie schreiten in ihrer Gottlosigkeit voran, damit
sie ihr Maß voll machen. Der Lauf der Geschichte Josephs
wird unterbrochen, um uns im 38. Kapitel (während der
Trennung Josephs von seinen Brüdern) ein Bild von diesem
Zustande zu geben; und wir sehen da in der That Abfall
und ein völliges Abweichen von dem „Wege Jehovas",
in welchem Abraham gewandelt, und in dem zu wandeln
er seinen Kindern und seinem Hause nach ihm befohlen
hatte. Der heilige Same vermischt sich mit dem Samen
der Menschen. Er entweiht den Bund seiner Väter.
Juda handelt treulos, indem er die Tochter eines kana-
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nitischen Mannes heiratet. Allerdings wird die Gnade
sich noch überschwenglicher erweisen, aber die Sünde war
wahrlich überströmend. Der Weg des Herrn wurde von
Juda aufs äußerste verachtet und verlassen. *) Doch auch
hier handelt Gott in Gnade; und Perez, ein zweiter
Ueberlister, wird die Hoffnung Israels, der Stammvater
des Herrn. Ein Segen ist in der Traube; aber wahrlich,
es ist eine Traube von einem wilden Weinstock, die abgeschnitten
zu werden verdiente, wenn nicht die unumschränkte,
überströmende Gnade sagte: „Verdirb sie nicht!"
(Jes. 65, 8; vergl. Matth. 1, 3.)
*) Vergl. die frühere Betrachtung über Isaak im 37. Jahrgang
des Botschafters.
Und wie die Sünde ihres Vaters Juda, so ist auch
die Sünde des Volkes Israel; aber auch dieselbe Gnade
wird diesem Volke in späteren Tagen widerfahren. Gnade
wird dann in der Geschichte Israels herrschen, wie sie es
jetzt thut in der Person eines jeden Heiligen, der nach dem
unumschränkten Wohlgefallen Gottes auserwählt und als ein
Denkmal der errettenden Macht Christi hingestellt ist.
Wir sind auf diese Gnade Gottes in einigen ihrer
besonders hervorragenden Offenbarungen vielleicht nicht vorbereitet.
Wahrscheinlich sind wir weniger empfänglich dafür,
als wir selbst denken. Jona, AnaniaS und Petrus waren auch
nicht darauf vorbereitet. (Vergl. Jon. 4; Apstgsch. 9 u. 10.)
Wir sind nicht immer Wiegemeister, die in dem Gebrauch
der Wagen, Gewichte und Maße des Heiligtums geübt und
geschickt sind. Halten wir die Gefühllosigkeit in Kap. 37
und die Befleckung in Kap. 38, und noch dazu wenn
beides vereinigt gefunden wird, für zu schlecht, um dabei
an „Buße und Vergebung der Sünden" in der Gnade
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Gottes zu denken? Das sittliche Gefühl, das natürliche
Gewissen, die Selbstgerechtigkeit, die gesellschaftlichen Regeln
und die Urteile der Menschen versehen uns mit falschen
Maßen und Gewichten, und wir tragen dieselben mehr
mit uns herum, als wir uns bewußt sind. Aber sie sind
ein Greuel. (5. Mose 25, 16.) Nach unsern Gedanken
sind die Handlungen der Huren und Zöllner schlechter als
der gefällige und achtbare Lauf der Welt. Hätten wir
die Wage des Heiligtums, so würden wir die Dinge
anders wägen. „Was unter den Menschen hoch ist, ist
ein Greuel vor Gott." (Fortsetzung folgt.)
Die Entrückung der Kirche *).
*) d. i. der Kirche nach Len Gedanken Gottes, bestehend aus-
allen wahren Gläubigen.
Im Allgemeinen geben wohl alle Gläubigen nach
1. Thess. 4, 15—17 die Entrückung der Kirche zu; die
bestehende Uneinigkeit betrifft nur die Frage des Zeitpunktes
derselben. Woher nun diese Uneinigkeit? Sie
hat hauptsächlich ihren Grund darin, daß viele den Unterschied
zwischen Israel und der Kirche nicht beachten. Man
versteht nicht, welch einen hervorragenden Platz Israel in
den Gedanken und Ratschlüssen Gottes und darum auch
in der Schrift einnimmt, und denkt wenig daran, daß-
dieses Volk noch eine große Zukunft hat. Würde man dieser
Thatsache mehr Aufmerksamkeit schenken, so würde man
leicht die Stellen unterscheiden, die von dem Kommen des
Herrn für Israel und demjenigen für die Kirche reden.
Man würde zum Beispiel in Matth. 24, Luk. 17 und 21
aus dem Zusammenhang sehen, daß es sich dort nur um
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Israel handelt, um Ereignisse, die hauptsächlich im jüdischen
Lande stattfinden werden. Der Greuel der Verwüstung wird
an heiliger Stätte (im Tempel) stehen; die in Judäa
sind, werden aufgefordert zu fliehen; die Auserwählten,
um derentwillen die Tage der Drangsal verkürzt werden,
sind nicht die Glieder der Kirche, sondern der jüdische
Ueberrest. Dieser Ueberrest wird unter der Herrschaft des
Antichristen, dem die große Masse des Volkes anhangen
wird, schrecklich zu leiden haben. (Vergl. Luk. 21, 16. 17.)
Er erwartet daher das Kommen des Herrn zu seiner
Befreiung; und diesen Auserwählten — nicht der Kirche —
sagt der Herr, daß sie ihre Häupter emporheben sollen,
wenn diese Dinge anfangen zu geschehen, weil alsdann
ihre Erlösung sich nahe. (Luk. 21, 28.)
Wohl ermahnt der Herr in den angeführten Kapiteln
zur Wachsamkeit und beständigen Bereitschaft auf Seine
Ankunft. Und als ein allgemeiner Grundsatz findet diese
Ermahnung sicherlich auf die Gläubigen aller Zeiten und
unter jeder Haushaltung bis zum Kommen des Herrn
ihre Anwendung. (Siehe Matth. 24, 42—51.) Petrus,
der in seinem zweiten Briefe (Kap. 3) denselben Grundsatz
der Verantwortlichkeit im Auge hat, spricht daher
auch nicht von der Entrückung, sondern von der Ankunft
des Tages des Herrn (Vers 10), der hier die ganze
Gerichtsperiode, das tausendjährige Reich und das Endgericht
umfaßt, und den Zweck hat, den Tag Gottes
(Vers 12), das heißt den ewigen Zustand, den neuen
Himmel und die neue Erde, einzuführen.
Abgesehen von diesen allgemeinen Grundsätzen beziehen
sich Matth. 24, Luk. 17 und 21 nur auf Israel
und nicht auf die Kirche. Die Worte des Herrn: „Als
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dann werden zwei auf dem Felde sein, einer wird genommen
und einer gelassen u. s. w." zeigen dieS
deutlich. Sie wollen sagen, daß einer durch das Gericht
hinweggenommen, und der andere für das Reich gelassen
wird, nicht aber, wie manche erklären, „genommen" zur
Aufnahme oder „gelassen" für das Gericht. Der Herr
selbst bezeichnet unmittelbar vorher das „Hinwegnehmen"
als eine Handlung des Gerichts und nicht der Segnung:
„Aber gleichwie die Tage Noahs, also wird auch die Ankunft
des Sohnes des Menschen sein. Denn gleichwie
sie in den Tagen vor der Flut waren: sie aßen und
tranken, sie heirateten und wurden verheiratet, bis zu dem
Tage, da Noah in die Arche hineinging, und sie es nicht
erkannten, bis die Flut kam und alle hinwegnahm,
also wird auch die Ankunft des Sohnes des Menschen
sein." (Matth. 24, 37—41.) So wie Noah „gelassen"
wurde für die neue Erde, während alle übrigen durch
die Flut hinweggerafft wurden, so wird auch der Ueber-
rest Israels gelassen werden für das Reich, während das
Gericht alle übrigen hinwegnimmt.
Die Aufnahme der Kirche steht gänzlich außerhalb
dieser Ereignisse. Henoch ist ein treffendes Vorbild davon.
Gleichwie dieser vor der Flut ausgenommen und nicht
mehr gesehen wurde, so wird auch die Kirche vor den
Gerichten ausgenommen und nicht mehr gefunden werden.
Noah ist das Bild des durch die Gerichte hindurch
geretteten Ueberrestes. Das Kommen des Herrn zum
Gericht wird aller Welt offenbar und von gewaltigen
Katastrophen begleitet sein; Sein Kommen zur Aufnahme
der Kirche aber ist eine vor der Welt verborgene Sache.
Hieraus folgt schon, daß diese beiden Ereignisse zu ver
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schiedenen Zeiten stattfinden müssen. Und wir sind, Dank
dem Herrn! betreffs derselben nicht auf bloße Vermutungen
oder Meinungen angewiesen; nein, Er hat uns in Seinem
kostbaren Worte völlige Gewißheit über diese Dinge
gegeben. So lesen wir z. B.: . . . „und Seinen Sohn
aus den Himmeln zu erwarten, den Er auferweckt hat
aus den Toten — Jesum, der uns errettet von
dem kommenden Zorn". (1. Thess. 1, 10.) Der
„kommende Zorn" ist nicht nur der Feuersee mit seinen
Schrecken, sondern er umfaßt auch die Gerichte, die über
diese Erde kommen werden; ja, er bezieht sich zunächst
auf diese Gerichte, in welchen die Schalen voll des Grimmes
Gottes auf die Erde ausgegossen werden. (Offenb. 15,7;
16, 1.) Es ist die schreckliche Zeit, von welcher die
bereits erwähnten Kapitel Matth. 24, Luk. 17 und 21,
sowie zahlreiche Stellen des Alten und Neuen Testaments
reden; die Zeit, in der die „große Drangsal" sein wird,
„dergleichen von Anfang der Welt bis jetzthin nicht gewesen
ist, noch je werden wird". Der Herr sagt von
dieser Zeit: „Denn dies sind Tage der Rache, daß alles
erfüllt werde, was geschrieben steht. Wehe aber den
Schwängern und den Säugenden in jenen Tagen! Denn
große Not wird in dem Lande sein, und Zorn über dieses
Volk." (Luk. 21, 22. 23.) Der Apostel nennt diese
Zeit den „Tag des Zornes und der Offenbarung des
gerechten Gerichts Gottes". (Röm. 2, 5.) Im Propheten
Daniel und in der Offenbarung Johannes wird sie als
ein Zeitraum von „einer Woche" (d. h. einer Jahrwoche,
eines Zeitraumes von sieben Jahren) bezeichnet.
(Dan. 9, 27; Offenb. 12, 6-14; 13, 5.) Johannes
beschäftigt sich hauptsächlich mit den Ereignissen der letzten
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Hälfte dieser Jahrwoche, und alle die Gerichte, die vom 6.
bis zum 19. Kapitel erwähnt werden, fallen in sie hinein,
und finden ihren Abschluß in der Erscheinung des Herrn
mit den Kriegsheeren des Himmels. (Kap. 19, 12—21.)
In 1. Thess. 4, 14 sagt der Apostel, daß Gott die
durch Jesum Entschlafenen mit Ihm, d. i. mit Jesu
bei Seiner Erscheinung, bringen werde. Sie müssen also
vorher bei Ihm sein. Dann erklärt er, wie dies zugehen
wird: „Die Toten in Christo werden zuerst auserstehen;
darnach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben,
zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken
dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir
allezeit bei dem Herrn sein." (1. Thess. 4, 15—17.)
Ohne Zweifel sind die alttestamentlichen Heiligen in dieser
Auferweckung mit einbegriffen, (denn auch sie gehören zu
den „Toten in Christo",) und so wird die ganze Kirche
in Verbindung mit jenen dem Herrn entgegengerückt werden
in die Luft, um für immer bei Ihm zu sein.
Diese Entrückung geschieht plötzlich, „in einem Nu".
„Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht
alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden,
in einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune."
(1. Kor. 15, 51. 52.) Der Ausdrück „letzte Posaune"
ist wohl eine Anspielung auf eine militärische Gewohnheit
der Römer. Man hatte verschiedene Posaunensignale:
zum Abbrechen deS Lagers, zur Aufstellung in Reih und
Glied und endlich zum Aufbruch. An dieses letzte Signal
oder diese letzte Posaune denkt wohl der Apostel.
Die oben erwähnte Gerichtsperiode wird in der Schrift
wiederholt „der Tag des Herrn" genannt, der wie „ein Dieb
in der Nacht", „wie ein Fallstrick" die sichere Welt über
15
Men wird. (1. Thess. 5, 2; Luk. 21, 35.) Dies ist
«in weiterer Beweis für die Aufnahme der Kirche vor den
Gerichten. Denn wie könnten ihre Glieder von diesem
Tage wie von einem Diebe überfallen werden, da sie ja
Söhne des Lichtes und Söhne des Tages sind und mit
dem Herrn erscheinen werden? Ein solcher Gedanke ist
ein Widerspruch in sich selbst. Der Apostel sagt deshalb
auch nicht: „Denn ihr selbst wisset genau, daß der Tag
des Herrn über euch kommt", sondern: „wenn sie (die
Gottlosen) sagen werden: Friede und Sicherheit! dann
kommt ein plötzliches Verderben über sie, gleichwie die
Geburtswehen über die Schwangere; und sie werden
nicht entfliehen."
Außerdem giebt uns der Herr selbst die Bestätigung,
daß die Entrückung der Kirche vor dem Beginn der Gerichte
stattfinden wird, wenn Er sagt: „Weil du das Wort
meines Ausharrens bewahrt hast, so werde auch ich dich
bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über den
ganzen Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen,
welche auf der Erde wohnen." (Offbg. 3, 10.) Die
Kirche wird also nicht in diese Stunde hineinkommen,
sondern vorher zum Himmel entrückt werden. Wenn wir
keine weitere Stelle in der Schrift für die Entrückung
bor den Gerichten hätten, so würde diese allein vollständig
genügen. Beachten wir auch, daß der Herr jene Worte
den Gläubigen zum Troste und zur Ermunterung zurust,
damit sie sich in der Erwartung Seiner Ankunft durch
nichts beirren lassen sollen, als müsse dieses oder jenes
borher geschehen. „Ich komme bald; halte fest, was
du hast, auf daß niemand deine Krone nehme." (V. 11.)
Wohl mögen mancherlei Anzeichen das Herannahen des
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Tages des Zornes ankündigen, und in der That mehre»
sich dieselben in unsern Tagen in überraschender Weise;
aber der Tag selbst kommt nicht, es sei denn daß der,
welcher bis jetzt zurückhält, aus dem Wege
ist, und dann wird der Gesetzlose geoffenbart werden.
(2. Thess. 2, 7.) Das, was das Vorhandensein dieses
Tages kennzeichnet, ist die Abwesenheit des Heiligen Geistes
und die Gegenwart deS Gesetzlosen.
Dem Feinde war es gelungen, die Gläubigen zm
Theffalonich in der Erwartung des Herrn zu ihrer Aufnahme
wankend zu machen, indem er sie glauben zu machen
suchte, daß der Tag des Herrn bereits da sei. Seine
Werkzeuge waren böse Arbeiter, welche Vorgaben, durch
den Geist zu ihnen zu reden, oder die sogar gefälschte,
angeblich von den Aposteln herrührende Briefe vorzeigten.
Diese Verführer benutzten die Verfolgungen und Drangsale,
welche die Gläubigen zu erdulden hatten, zur Bekräftigung
ihrer falschen Behauptungen. Sie sagten, die
vielen Drangsale seien der klare Beweis, daß der Tag
des Herrn da sei. Hatten sie Recht, dann war freilich
die Hoffnung der Thessalonicher auf ihre Entrückung vor
diesem Tage eine Täuschung gewesen. Der Apostel schrieb
deshalb seinen zweiten Brief zu dem besonderen Zwecke^
um die Gläubigen in dieser Hoffnung wieder zu befestigen.
Zunächst erklärt er ihnen im ersten Kapitel, daß
gerade jene Verfolgungen und Drangsale ein Beweis seien,
daß der Tag des Herrn noch nicht da sei. Denn dieser
Tag ist für die Gläubigen ein Tag der Ruhe, für die
Gesetzlosen dagegen ein Tag der Vergeltung. „Wenn es
anders bei Gott gerecht ist, Drangsal zu vergelten denen„
die euch bedrängen, und euch, die ihr bedrängt werdet^
17
Ruhe mit uns bei der Offenbarung des Herrn Jesu vom
Himmel." (V. 6 — 10.) Im zweiten Kapitel führt er
dann weiter aus, daß dieser Tag nicht komme, es sei
denn daß zuerst der Abfall komme und der Mensch der
Sünde, der Sohn des Verderbens, geoffenbart sei. Nur
eine abgefallene Christenheit wird den Antichristen annehmen.
So lange noch treue Zeugen da sind, welche
die Wahrheit des Christentums hoch halten, kann der
Antichrist nicht bestehen. Diese, und vor allem der
Heilige Geist, der in ihnen wohnt, stehen seiner Offenbarung
im Wege. Darum die Worte: „Nur ist jetzt der
(der Heilige Geist), welcher zurückhält, bis er aus dem Wege
ist." Was auch die äußeren Werkzeuge der Vorsehung
zur Zurückhaltung des Gesetzlosen sein mögen, so geschieht
diese doch nur durch die Macht des Heiligen Geistes. Aber
wie einst der Herr die Erde verließ, so wird auch Er
die Erde verlassen und mit der Kirche zum Himmel
gehen. Seine Wirksamkeit auf der Erde wird für eine
Zeit aufhören. Der Gesetzlose wird jedes göttliche Zeugnis
vernichten, und die Nacht wird kommen, wo niemand
wirken kann (Joh. 9, 4), die Zeit der Flucht des treuen
Ueberrestes. (Matth. 24, 15. 16.) Welch eine finstere
Nacht wird das sein! Kein Lichtstrahl göttlichen Zeugnisses
wird sie durchdringen; sie wird nur der Erscheinung
des Herrn in Macht und Herrlichkeit, dem glänzenden Aufgang
der „Sonne der Gerechtigkeit", weichen. „Und dann
wird der Gesetzlose geoffenbart werden, den der Herr
Jesus verzehren wird durch den Hauch Seines Mundes
und vernichten durch die Erscheinung Seiner Ankunft."
(2. Thess. 2, 8.)
Die verschiedenen Bilder, unter welchen in der Schrift
18
ras Kommen des Herrn dargestellt wird, bezeugen ebenfalls
den Unterschied zwischen Seinem Kommen zur Aufnahme
der Kirche und Seiner Erscheinung zum Gericht.
Während Seine Erscheinung dem gottesfürchtigen Ueberrest
Israels als der Aufgang „der Sonne der Gerechtigkeit"
«»gekündigt wird, stellt sich der Herr der Kirche als „der
glänzende Morgenstern" vor. „Denn siehe, der Tag
kommt, brennend wie ein Ofen; und es werden alle
Uebermütigen und Thäter der Gesetzlosigkeit zu Stoppeln
werden; und der kommende Tag wird sie verbrennen...
Aber euch, die ihr meinen Namen fürchtet, wird die Sonne
der Gerechtigkeit aufgehen mit Heilung in ihren Flügeln."
<Mal. 4,1. 2; Offbg. 22, 16.) Der Morgenstern erscheint
lange vor dem Aufgang der Sonne und wird nur von
denen gesehen, welche wachen. Er ist deshalb ein treffendes
Bild von dem Kommen des Herrn zur Aufnahme
der Kirche. Diese wird Ihn als den glänzenden Morgenstern
sehen und Ihm in der Luft begegnen, während die
sorglose Welt noch im tiefsten Schlummer liegt, aus dem
sie erst durch den Aufgang der Sonne aufgeschreckt wird.
Die Kirche war ein „von den Zeitaltern her verborgenes
-Geheimnis" (Ephes. 3, 3 — 9), und ist es in ihrer wahren
Bedeutung auch heute noch für die Welt. So wird auch
ihre Entrückung für diese ein Geheimnis sein. So wenig
die Welt die Herrlichkeit des Sohnes Gottes erkennen
konnte, so wenig erkennt sie auch die wahre Stellung der
Kirche. Erst dann, wenn diese in Herrlichkeit mit dem
Herrn erscheinen wird, wird die Welt erkennen, daß sie
geliebt ist, wie Jesus selbst vom Vater geliebt ist. „Deswegen
erkennt uns die Welt nicht, weil sie Ihn nicht
-erkannt hat . . . und es ist noch nicht offenbar geworden.
19
was wir sein werden; wir wissen, daß, wenn es offenbar
werden wird, wir Ihm gleich sein werden." (1. Joh.
3, 1. 2.) „Und die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast,
habe ich ihnen gegeben ... auf daß die Welt erkenne,
daß du mich gesandt und sie geliebt hast, gleichwie du
mich geliebt hast." (Joh. 17, 22. 23.)
Schließlich sei noch bemerkt, daß wir in der Offenbarung
im Anfang der Gerichtsperiode die Kirche bereite
im Himmel sehen, dargestellt (in Verbindung mit den himmlischen
Heiligen) unter dem Symbol der vierundzwanzig
Aeltesten. (Offbg. 4, 4.) Während die Erde unter den.
Donnerschlägen des Gerichts erbebt, und „die Menschen verschmachten
vor Furcht und Erwartung der Dinge, die über
den Erdkreis kommen" (Luk. 21, 26), sehen wir die Erlösten
droben in vollkommener Ruhe um den Thron des Gerichts
versammelt, und hören sie Den anbeten, der auf dem Throne
sitzt, und das neue Lied singen zur Ehre des geschlachteten
Lammes. Die von dem Throne ausgehenden Blitze,
Stimmen und Donner vermögen sie nicht zu erschrecken p
sie stehen gänzlich außerhalb des Bereichs des Gerichts,
gereinigt durch das Blut des Lammes, in vollkommener
Uebereinstimmung mit der Natur Dessen, der auf dem
Throne sitzt — ein ewiges Zeugnis der Liebe, Macht
und Weisheit Gottes, zum Preise der Herrlichkeit Seiner
Gnade.
In der That, nichts könnte bestimmter und deutlicher
sein als die Art und Weise, wie die Schrift sich ausspricht
über unsre Entrückung vor dem Beginn der Gerichte."
Es würde auch der Liebe Gottes nicht entsprechen,
uns bezüglich einer so wichtigen Sache in Ungewißheit zu
lassen. Nein, Er hat uns — Sein Name sei dafür
20
gepriesen! — völlige Gewißheit darüber gegeben. Wenn
jemandem diese Gewißheit trotzdem mangelt, so trägt nicht
das Wort die Schuld, sondern er selbst, indem er seine
eignen Gedanken in das Wort hineinträgt und sie an die
Stelle der Gedanken Gottes setzt. Dadurch betrügt er
sich selbst und andere; und nicht allein das, er betrübt
auch den Herrn, welcher will, daß wir mit sehnsüchtigem
Verlangen Sein Kommen zu unsrer Aufnahme erwarten
sollen. Mit dem Hinweis darauf nahm Er Abschied von
den Seinigen: „In dem Hause meines Vaters sind viele
Wohnungen... ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten.
Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so
komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, auf
daß, wo ich bin, auch ihr seiet." (Joh. 14, 2. 3.)
Diese Erwartung sollte die Kirche hienieden in ihrem
ganzen Verhalten kennzeichnen und leiten. Sie wartet
nicht auf Sein Kommen zum Gericht, auch nicht auf den
Tod, sondern auf ihre Aufnahme, um bei Ihm zu sein
im Vaterhause. Nur eine solche Erwartung kann ihrem
innigen Verhältnis zu Christo, als Seiner Braut, und
der Liebe Seines Herzens entsprechen. „Ich, Jesus, habe
meinen Engel gesandt, um euch diese Dinge zu bezeugen
in den Versammlungen. Ich bin die Wurzel und das
Geschlecht Davids, der glänzende Morgenstern. Und
der Geist und die Braut sagen: Komm! Und
wer es hört, spreche: Komm!" (Offbg. 22, 16. 17.)
Aber ach! wie weit haben sich die Gläubigen in
ihren Herzen von dieser Erwartung entfernt. Man
redet davon, daß viele Gläubige „durch ein seliges
Sterben vor dem Ausbruch der großen Trübsalszeit
geborgen werden würden", und beruft sich dabei auf die
21
Stelle: „Der Gerechte kommt um, und niemand nimmt
es zu Herzen, und die Frommen werden hinweggerafft,
ohne daß jemand es beachtet, daß der Gerechte vor dem
Unglück hinweggerafft wird. Er geht ein zum Frieden;
sie ruhen auf ihren Lagerstätten, ein jeder, der in Geradheit
gewandelt hat." (Jes. 57, 1. 2.) Andere sollen
geborgen werden durch eine Flucht. Wieder andere sollen
durch den „Drachen" und das „Tier" getötet werden.
Alles das findet seine passende Anwendung auf den jüdischen
Ueberrest in den letzten Tagen; aber es auf die
Kirche anwenden wollen, heißt die Erwartung derselben zu
Grunde richten und sie von dem richtigen Pfade abwenden.
Gleicherweise ist die Idee von einer Auswahl aus
den Gläubigen, die von dem Herrn als „Erstlinge"
oder als „Brautseelen" zur Hochzeit des Lammes
abgeholt werden sollen, der Schrift völlig fremd. Wahrscheinlich
denkt man dabei an die Hundertvierundvierzigtausend,
die mit dem Lamme auf dem Berge Zion stehen
werden. (Offbg. 14, 1.) Aber im 7. Kapitel der Offenbarung
wird ausdrücklich gesagt, daß diese Tausende die Versiegelten
aus Israel (der Ueberrest) seien. Diese werden
dann nachher mit dem Lamme im Reiche — auf dem Berge
Zion — gesehen. Ohne Zweifel giebt es eine Auswahl aus
der sogenannten Christenheit; aber dazu gehören alle
Gläubigen auf der Erde. Sie alle zusammen, ohne Unterschied,
bilden die Kirche nach den Gedanken Gottes, die
Braut und den Leib Christi. Sie alle zusammen werden
mit den in Christo Entschlafenen (nachdem diese auferweckt
sind) dem Herrn entgegengerückt werden, um auf immerdar
bei Ihm zu sein und mit Ihm zu erscheinen, wenn
Er wiederkommt, um Gericht zu halten.
22
Indem man die Aufnahme der Kirche mit der Er-
scheinung des Herrn zum Gericht verwechselt, entsteht denn
auch die eigentümliche, befremdende Frage, welchen Zweck
das verborgene Kommen des Herrn haben solle. Als
ob die Entrückung der Braut in den Himmel, um dort
mit ihrem geliebten Herrn vereinigt zu werden, eine zweck»
lose Sache wäret Wahrlich, man würde nicht so denken
und reden, wenn man nur ein wenig von dem sehnenden
Verlangen des Herrn nach Seiner teuer erkauften Braut
verstände.
Ebenso denkt man sich die „erste Auferstehung"
vielfach nur in Verbindung mit der Erscheinung des
Herrn zum Gericht. Dies kommt aber immer wieder daher,
daß man nur die eine Klasse von Gläubigen oder Auserwählten
vor Augen hat, welche durch die Gerichte gehen,
in denselben umkommen und dann bei der Erscheinung
des Herrn auferweckt werden. Die in der großen Trübsal
getöteten Heiligen werden gewiß vor Beginn deA
tausendjährigen Reiches auferweckt werden, denn anders
würden sie nicht teil haben an der ersten Auferstehung^
(Offbg. 20, 6.) Aber können deswegen nicht schon
vorher die Toten in Christo auferweckt worden feind'
Sicher ist, daß die erste Auferstehung einen längeren Zeitabschnitt
umfaßt, während dessen zu verschiedenen Malen
Heilige auferweckt werden. Der Erstling ist Christusselbst
; dann die, welche des Christus sind bei Seiner Ankunft;
dann die zwei Propheten während der Gerichte
(Offbg. 11), und endlich die in der Drangsalszeit umgekommenen
Heiligen, die bei der Erscheinung des Herrn
auferstehen werden.
Der Einwand, daß die Offenbarung nirgendwo eine
23
Entrückung vor der großen Trübsal lehre, trifft nicht
zu; denn wir haben schon oben geseben, was der Herr in
dieser Beziehung sagt. (Offbg. 3, 10) Auch wird sie
durch die Gegenwart der vierundzwanzig Nettesten in den
Himmeln (Kap. 4 u. 5) bestätigt; ebenso in der Geschichte
des „männlichen Sohnes". (Kap. 12, 5.) Dieser ist
offenbar Christus, und Israel nicht die Kirche — ist
das Weib, das Ihn geboren hat. Denn Christus ist
dem Fleische nach aus dem Samen Davids geworden.
(Röm. 1, 3 ; 9, 5.) Nach den Ratschlüssen Gottes ist
die Kirche eins mit Christo, und wird nach der Lehre
der Schrift betrachtet als in und mit Ihm in die himmlischen
Oerter versetzt. (Cphes. 2, 16.) Folglich wird in der
Entrückung des männlichen Sohnes diejenige der Kirche im
voraus gesehen. Thatsächlich wird die Kirche im Himmel
sein, während das Weib (Israel) hienieden durch den
Drachen verfolgt, und vor diesem durch die Flucht in
Sicherheit gebracht wird. (Offbg. 12, 6. 14; vergl. auch
Matth. 24, 16-20.)
Vom Kreuze ins Paradies. (Luk. 23, 39—43.)
Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern daß
er sich bekehre und lebe. So lautete die Botschaft der
Liebe Gottes schon im Alten Bunde; so lautete sie zur
Zeit, als der Sohn Gottes auf dieser Erde wandelte,
und so lautet sie heute noch. Hunderttausende und
Millionen haben im Laufe der Jahrhunderte diese frohe
Botschaft gehört und sie mit gläubigem Herzen ausgenommen.
Sie sind umgekehrt von ihren bösen Wegen
24
zu Dem, der reich ist an Vergebung und groß an Barmherzigkeit,
und — sie leben ewiglich. Welch eine gewaltige
Schar wird dereinst aubetend und jubelnd einstimmen in
die himmlischen Weisen des neuen Liedes! Auch einer
wird dort sein, den wohl niemand dort erwarten würde,
wenn es nicht Gott gefallen hätte, uns seine wunderbare
Bekehrungsgeschichte mitzuteilen. Ein armer, elender
Räuber, den die menschliche Gerechtigkeit zu dem schimpflichen
Kreuzestode verurteilen mußte, wird dereinst auch
seine Krone niederwerfen vor dem Throne des Lammes
und seine Stimme erheben zur Ehre seines Erlösers.
Seine Krone niederwerfen? Ja, mein lieber Leser,
seine Krone! Ein gekrönter Räuber ist eine wunderbare
Sache, nicht wahr? aber nicht zu wunderbar für einen
Heiland-Gott, nicht zu groß für den Reichtum der
Herrlichkeit Seiner Gnade.
„Ist dieser nicht ein Brand, der aus dem Feuer^
gerettet ist?" Dem ewigen Gericht gleichsam schon übergeben,
und doch noch im letzten Augenblick herausgerissen!
Dem gerechten Urteil verfallen, und doch noch errettet!
Eine sichere Beute des Todes, und doch seiner Macht
für ewig entrückt! Ja wahrlich, Gott will nicht den
Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe!
Sein Licht leuchtete mit Macht in das finstere Herz jenes
armen, elenden Mannes, der da neben dem Herrn der
ganzen Erde, dem Sohne Gottes, hing, und wunderbar
waren die Resultate des göttlichen Wirkens.
Beide Räuber stimmten nach Matth. 27, 44 anfänglich
ein in den grausamen Spott der Vorübergehenden.
Ihre natürliche Feindschaft gegen „den Gerechten" war
so groß, daß sie trotz ihrer eignen schrecklichen Leiden
25
Den schmähten, der stumm wie ein Lamm zur Schlacht»
bank gegangen war. Aber dann verstummte der eine.
Was mag in jenen Augenblicken in seiner Seele vorgegangen
sein! Sein Gewissen erwachte. Sein Geistesauge
schaute zurück auf das hinter ihm liegende Leben,
und was erblickte es? Eine lange, lange Reihe schwarzer^
schrecklicher Sünden! Es schaute vorwärts, und was
erblickte es? Einen heiligen Gott und eine ewige, finstre
Nacht der Verzweiflung! Wie lange dieser Vorgang in
dem Innern des gekreuzigten Mannes gedauert hat, wird-
uns nicht mitgeteilt; vielleicht nur wenige Augenblicke.
Gott kann eS allmählich licht werden lassen in der
Seele; aber Er vermag auch in einem Augenblick so
mächtig in das Herz hineinzuleuchten, daß ein verwegener
Lästerer und Schmäher plötzlich zu einem armen, zitternden
Sünder wird. So war es bei Saulus von Tarsus, sowohl
auch bei dem sterbenden Räuber.
Sein Genosse fährt fort, zu schmähen und zu Höhnenr
„Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns."
Entsetzliche Feindschaft des menschlichen Herzens! „Der
andere aber antwortete und strafte ihn und sprach: Auch
du sülchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist?'
und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre
Thaten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes
gethan."
Welch ein wunderbarer Wechsel! Aber so ist es
stets. Sobald das Licht Gottes ins Herz fällt, ist alles verändert
: statt Haß entsteht Furcht, statt Selbstentschuldigung
Selbstverurteilung, statt Schmähung Rechtfertigung des
hochgelobten Herrn. Das sind die drei Dinge, die uns
in den Worten des Räubers mit besonderer Klarheit
26
«ntgegentreten. In sein vor kurzem noch mit Haß und
Feindschaft erfülltes Herz ist Furcht eingekehrt, und er
denkt mit Schrecken an den Augenblick, da er vor das
heilige Auge Gottes hintreten muß. Er begreift jetzt
nicht mehr, wie jemand diesen Gott nicht fürchten kann,
noch dazu wenn er nach einem schrecklichen Leben auf der
Schwelle der Ewigkeit steht; er straft den Lästerer. Er
verurteilt sich: „wir empfangen, was unsre Thaten wert
sind", und er rechtfertigt den Herrn: „Dieser hat nichts
Ungeziemendes gethan". Er macht es wie die Zöllner
und Sünder, die auf die Predigt Johannes des Täufers
hin Buße gethan hatten; auch sie verurteilten sich und
rechtfertigten Gott. So lange ein Mensch blind und sein
Herz finster ist, macht er es umgekehrt: er rechtfertigt
sich und verurteilt oder beschuldigt Gott.
Wie überraschend ist das Wirken des Geistes
Gottes in dem Herzen dieses armen Mannes! Gottes
Hand hat sich in Erbarmen nach ihm auSgestreckt, und
in überwältigender Fülle tritt uns die göttliche Gnade
und erlösende Liebe in diesem letzten Abschnitt seiner
Geschichte entgegen. Hier giebt es keine lange Vorbereitung,
kein Zaudern und Zögern; unaufhaltsam schreitet
der Räuber von Stufe zu Stufe, von Erkenntnis zu
Erkenntnis, von Licht zu Licht. Aus dem Munde Gottes
ist der Ruf ergangen: „Erlöse ihn, daß er nicht in die
Grube hinabfahre," (Hiob 33, 24) und mit Eile wird
daS Werk ausgeführt.
Wie schön ist es auch, daß Gott selbst hier am Kreuze
noch Seinem Geliebten das Zeugnis ausstellen läßt: „Dieser
hat nichts Ungeziemendes gethan." Die Hohenpriester
And Schriftgelehrten suchten vergeblich nach einem Vor
27
wände, um Ihn wenigstens unter einem Schein von Recht?
umbringen zu können; Herodes und Pilatus fanden nichts
Todeswürdiges an Ihm; der Räuber bekannte Seine Unschuld,
und endlich bestätigte der wachehaltende Hauptmann
das allgemeine Urteil mit den Worten: „Fürwahr, dieser
Mensch war gerecht!" Die Jünger waren geflohen, alle
Seine Bekannten standen von ferne; da müssen ein Räuber
und ein heidnischer Hauptmann das Zeugnis von der
Unschuld und der Gerechtigkeit Jesu fortsetzen. „Wenw
diese schweigen, so müssen die Steine schreien."
Hier endet in gewissem Sinne die Geschichte des-
Räubers; er hat nur Böses gethan, er bricht dem,
Stab über sich und rechtfertigt Gott. Aber dann wendet
er sich zu Jesu; und wenn irgend jemand sich
in Wahrheit und Aufrichtigkeit zu Jesu wendet, so endet
seine alte Geschichte, und seine neue beginnt. Er fängfl
dann eigentlich erst an zu leben. „Und er sprach zu
Jesu: Gedenke meiner, Herr, wenn Du in Deinem Reiche
kommst!" Stehe hier einen Augenblick stille, mein Leser,
nnd sinne über diese Worte nach! Wer hatte dem Räuber
gesagt, daß der neben ihm hängende, von den Deinigen
verlassene, von allen übrigen geschmähte und verachtete
Jesus der Herr vom Himmel sei? Wer
hatte ihm gesagt, daß der mit Dornen gekrönte, blutig
Geschlagene an seiner Seite dereinst in der Herrlichkeit
Seines Reiches wiederkommen würde? O wunderbare,
anbetungswürdige Gnade! Während die Jünger alle ihre
Hoffnungen aufgegeben hatten, schaut dieser arme Sünder
glaubensvoll vorwärts auf die Zeit der Rückkehr des
Herrn in Macht und Herrlichkeit. Mochten alle an Ihm
irre werden, er nicht! Welch ein Glaube! welch eine
28
Erquickung für das Herz des einsamen, leidenden Heilandes!
und welch eine Verherrlichung Gottes, des Vaters, der diesen
elenden Missethäter hinzog zu Seinem Sohne! Es gab
Raum im Vaterhause, Raum im Vaterherzen auch für
diesen Sünder unter den Sündern.
„Gedenke meiner, Herr!" So redet der Glaube.
Der Unglaube möchte sich verbergen vor dem allsehenden
Auge Gottes; er wäre zufrieden, wenn er nur unbeachtet
bliebe. Nicht so der Glaube. Er will beachtet sein.
Er rechnet auf die erbarmende Liebe und errettende Gnade.
Er tritt ins Licht und ruft: „Gedenke meiner!" Und
er empfängt eine Antwort, wie sie eines Heilandes würdig
ist: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit
mir im Paradiese sein!" — Heute, nicht erst
bei meiner Wiederkunft! Heute noch soll der ganze
Reichtum der göttlichen Gnade und Liebe über dich ausgegossen
werden. Heute noch will ich deiner gedenken,
nein, nicht gedenken — heute noch sollst du mit mir im
Paradiese Gottes sein. Du, der arme, elende Räuber,
der Schmäher und Lästerer, mit mir, dem Reinen und
Heiligen, dem Herrn vom Himmel, dem Sohne Gottes!
Hand in Hand mit mir sollst du heute noch die Wohnstätte
des ewigen Friedens, der ewigen Freude betreten,
als ein herrliches Zeichen meines Sieges über Tod, Sünde
und Teufel.
Vom Kreuze geradewegs ins Paradies! vom Fluchholze
in die ewige Herrlichkeit droben! — Was sollen
wir hierzu sagen, mein Leser?!
Joseph. (Fortsetzung.) 2.
In den Kapiteln 39—41, welche nach unsrer Einteilung
den zweiten Teil bilden, finden wir das Leben
Josephs, während er sich als ein Abgesonderter im Lande
Egypten befand. In diesem Abschnitt tritt der Anfang
seines Tages oder seine Erhöhung vor unser Auge;
vorher jedoch sind wir noch Zeugen seiner weiteren Leiden,
und zwar seiner Leiden von der Hand Fremder.
Wir denken vielleicht, und in gewissem Sinne ist das
auch naturgemäß, daß der Jude in besonderer Weise
schuldig sei, soweit es sich um die moralische Geschichte
dieser Welt handelt — in besonderer Weise verantwortlich
wegen der Sünde gegen den Herrn. Doch das ist nicht
ganz zutreffend. Allerdings hat der Jude einen besondern
Anteil an den Leiden Christi; und als Volk betrachtet
befindet sich Israel auch unter einem besondern Gericht.
Allein der Heide ist, wenn auch unterschieden, so
doch nicht verschieden von dem Juden. Der Dienst
des Herrn Jesu stellte sowohl „die Welt", als auch „das
Seinige" auf die Probe. Die Schrift sagt betreffs des
Kreuzes: „In dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit
wider deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt
hast, sowohl Herodes als Pontius Pilatus mit den Na
30
tionen und den Völkern Israels." (Apstgsch. 4, 27.)
Alle waren schuldig; wie auch der Apostel der Heiden in
seiner Lehre sagt, daß „die ganze Welt dem Gericht
Gottes verfallen sei". Juden und Heiden haben sich in
gleicher Weise als unter der Sünde erwiesen.
Das vorliegende Kapitel deutet dies ebenfalls an.
Josephs Trübsal, die unter seinen Brüdern begonnen hatte,
setzt sich jetzt inmitten der Fremden fort. Seine Brüder
hatten ihn schon gehaßt, in die Grube geworfen und ihn
wieder herausgezogen, um ihn als Sklaven zu verkaufen;
jetzt klagt ihn ein schlechtes Weib in Egypten fälschlich an
und bringt ihn ins Gefängnis; und ein andrer Egypter,
dem er gedient und Freundschaft erwiesen hatte, vergißt
und verläßt ihn. Doch wie es auch mit ihm stehen mag,
ob er daheim oder in der Fremde ist, Gott ist mit ihm.
Das kennzeichnet nunmehr in charakteristischer Weise seine
ganze Geschichte. (Siehe Kap. 39 u. Apstgsch. 7, 9. 10.)
Denn in den Wegen Gottes mit Seinen Auserwählten
kommt Sein Mitgefühl zuerst, und dann Seine Macht;
Sein Mitgefühl begleitet sie durch die Trübsal, und dann
befreit sie Seine Macht aus derselben. Wir sind stets
geneigt, augenblicklich Erleichterung zu wünschen, und möchten
gern jede Unbequemlichkeit und Widerwärtigkeit sofort
beseitigt sehen. Doch das ist nicht Seine Handlungsweise.
In dem Hause zu Bethanien „weinte Jesus"; und erst
nachher sagte Er: „Lazarus, komm heraus!" Die Natur
würde gern den Tod, der die Thränen hervorgerufen hatte,
verhindert haben. Nach unsrer Meinung hätte uns manche
Trübsal erspart bleiben können, und unser Verstand zieht
den klaren und unwiderleglichen Schluß, daß Gott ja
die Macht dazu besessen hätte; gerade so wie die Freunde
31
der Familie zu Bethanien sagten: „Konnte dieser, der die
Augen des Blinden aufthat, nicht machen, daß auch dieser
nicht gestorben wäre?" Aber ihr Urteil war unvollkommen,
weil sie nur die eine Seite ins Auge faßten, nämlich die
Macht Christi.
Wir sollten die Zeit Seines Mitgefühls viel höher
schätzen als wir es gewöhnlich thun; sie bringt Ihn
selbst uns nahe in einer ganz besondern Weise. Joseph
erfuhr dieses Mitgefühl des Herrn in den Tagen seiner
Trübsal in reichem Maße. Wie gesagt, die Worte „Gott
war mit ihm" kennzeichneten seine Lage; und er erhielt
davon Beweise in Fülle. Sobald er in dem Hause
Potiphars ist, gedeiht unter seiner Hand alles, was sein
Herr ihm anvertraut. Und ob auch der Schauplatz sich
verändern mag, in dieser Beziehung tritt keine Veränderung
ein; denn sobald er im Gefängnis ist, lesen wir dasselbe
von ihm, wie vorher in dem Hause des Egypters. Der
Oberste der Feste setzt dasselbe Vertrauen in ihn, wie
Potiphar es gethan hatte; und unter seiner Hand gelingt
auch im Gefängnis alles, so daß Joseph ein vollkommenes
Zeugnis von Gott hatte, daß Gott für ihn genug war.
Für einen solchen Mann war es nicht am Platze,
die Hülfe des Herrn für die Hülfe des Geschöpfes aufzugeben.
Aber Joseph trachtet nach dem Mitgefühl des
Schenken und bittet ihn, seiner zu gedenken und ein
gutes Wort bei dem Könige für ihn einzulegen. Das
war ganz natürlich. Joseph hatte dem Schenken des
Königs einen Freundschaftsdienst erwiesen, und dieser
war imstande, für ihn dasselbe zu thun. Wir können
deshalb sein Verlangen nach dem Mitgefühl des Schenken
weder aus natürlichen und menschlichen, noch selbst aus
32
moralischen Gründen verurteilen. Ob es aber Josephs
ganz würdig war, so zu handeln, mag dahingestellt bleiben,
wie auch, ob es genau der Weg war, den der Glaube
ihm angewiesen haben würde. *) Und es führte zu nichts.
Der Schenke vergißt ihn, wie wir wissen, und er bleibt
noch zwei lange Jahre im Gefängnis; denn Gott wollte
alles für ihn sein. Hülfe sollte kommen, aber sie sollte
von Ihm selbst kommen. Mit dem Herrn wird der
Kummer der Nacht sicher der Freude des Morgens
weichen; und ehe noch diese Zeit der Trennung von
seinen Brüdern zu Ende ging, wurde Joseph freigelassen,
gesegnet und geehrt. Sie wurde zur Blütezeit seiner
Herrlichkeit.
*) So war auch seine spätere Handlungsweise ganz natürlich,
als er die rechte Hand seines Vaters von Ephraims Haupt
wegnehmen wollte. Die Natur rechtfertigte das, aber es war
nicht vom Geiste (siehe die frühere Betrachtung über Jakob).
So glaube ich auch hier, daß Joseph einigermaßen auf dem Boden
der Natur und nicht völlig auf dem des Glaubens stand.
Wahrlich, herrliche Dinge finden wir in dem Zustande
Josephs in seiner Absonderung — Dinge, die unsre Gedanken
auf Den hinlenken, der größer ist als Joseph.
Ich möchte viererlei besonders hervorheben.
Zunächst seine große sittliche Schönheit. Er
war ein Nasiräer, so rein wie Daniel in ähnlichen Umständen,
als ein Gefangener unter den Unbeschnittenen,
der seine Beschneidung, seine Absonderung für Gott, unverletzt
aufrecht erhielt. Sodann die kostbare geistliche
Gabe in ihm. Er war ein Gefäß in dem Hause
Gottes, welches den Geist Christi besaß und dadurch,
wie Daniel, Träume deutete und, obwohl selbst noch im
33
Zustande der Erniedrigung, sogar Königen kundthat, was
auf der Erde geschehen würde. Ferner ist der Platz
zur Rechten der Macht und Würde für ihn. Er
erhält seinen Platz in der nächsten Nähe des Thrones
und kommt in den Besitz jener Hülfsquellen, von denen
binnen kurzem seine Brüder, die ihn verworfen hatten,
sowie die ganze Welt betreffs ihrer Erhaltung auf der Erde
abhängig sein sollten. Schließlich finden wir Freude,
eine besondere Freude, für ihn bereitet. Der
König macht eine Hochzeit für ihn, und er wird das Haupt
einer Familie unter den Heiden; und das ist eine Quelle
solcher Freude für ihn, daß er in gewissem Sinne, wie
die Namen seiner Kinder uns anzeigen, seine Verwandten
vergessen und sogar in seiner Trübsal sich freuen kann.
Das sind sicher herrliche Dinge, die wir in Joseph
finden, während er von seinen Brüdern getrennt war.
Wir erblicken in ihnen den Herrn selbst in der gegenwärtigen
Zeit, der Zeit Seiner Trennung von Israel.
Ein Kind könnte die Aehnlichkeit erkennen; und Er, der
Unmündigen und Säuglingen Seine Offenbarungen giebt,
hat uns hierin den Weg gezeigt. In den wundervollen
Worten des Stephanus in Apostelgesch. 7 werden Joseph
und andere auf einen verwandten Platz und in gleichartige
Umstände mit dem Herrn gestellt, der dort „der
Gerechte" genannt wird. Und das ist so voll von Interesse,
daß wir, wenn auch nur für einen Augenblick, den Faden
unsrer Betrachtung unterbrechen und auf jene wichtige
Stimme des Geistes Gottes horchen müssen.
Stephanus erscheint nur vorübergehend in dem Laufe
der göttlichen Geschichte; allein er nimmt einen sehr
hervorragenden und ausgezeichneten Platz ein. Die Ge
34
legenheit, bei der er gesehen wird und handelnd auftritt,
ist überaus bedeutungsvoll. Die jüdische Feindschaft vollbrachte
wieder eine ihrer schwarzen Thaten, und der Gott
der Herrlichkeit offenbarte wieder Seine herrlicheren
Vorsätze.
Stephanus ist ein weiterer Zeuge des Herrn, der
von der Erde zum Himmel ging, die Erde eine Zeitlang
ihrem Unglauben und Abfall überließ und ein Volk für
die himmlischen Oerter berief. Auch war die Zeit des
Stephanus von neuem eine Zeit der Absonderung. Die
Zeit Abrahams war bereits eine solche gewesen, ebenso
die Zeit Josephs, die Zeit Moses und die des „Gerechten",
Jesu. Die Umstände der Absonderung von der Verwandtschaft
zu Fremdlingen (das ist von der Erde zum
Himmel) mögen verschieden sein, aber die Absonderung
ist die gleiche. Abraham wurde abgesondert, weil Gott
eine verderbte Welt ungerichtet ließ; und ungerichtetes
Verderben kann Gott nicht zu Seiner Wohnstätte machen,
noch erlauben, daß es der Wohnplatz Seiner Auserwählten
sei. Die Welt nach der Flut hatte sich verderbt, und
der Herr überließ sie ihrem Verderben, indem Er sie nicht
durch eine zweite Flut reinigte; und in Uebereinstimmung
damit wird Er selbst ein Fremdling in ihr und ruft
Seinen Auserwählten mit sich aus ihr heraus. So wurde
Abraham ein abgesonderter Mann. Joseph war zu seiner
Zeit auch ein solcher, abgesondert von Haus und Verwandtschaft
wie Abraham. Ebenso Moses. Aber Joseph und Moses
waren nicht in derselben Weise abgesondert wie Abraham,
indem Gott sie einfach aus dem ungerichteten Verderben
berief, sondern sie waren es durch die Feindschaft und die
Verfolgungen ihrer Brüder. Gerade so war es mit Jesu;
35
„das Seinige" (Sein Volk Israel) und „die Welt, die
durch Ihn geworden war", nahmen Ihn nicht an und
wollten nichts von Ihm wissen. Gottlose Hände brachten
Ihn um, und der Himmel nahm Ihn auf. Dasselbe
finden wir bei Stephanus.
Auf diese Weise befindet sich Stephanus in der
Gesellschaft dieser Abgesonderten: des Abraham, des
Joseph, des Mose und endlich des „Gerechten" selbst.
Und er wird ganz naturgemäß durch den Geist dahin
geleitet, ihre Geschichte in jenem wunderbaren Kapitel
(Apstgsch. 7) der Reihe nach zu betrachten. Diese Abgesonderten
haben in verschiedenen Zeiten und Zwischenräumen,
in der fortschreitenden Entwicklung der Wege Gottes auf
der Erde, Seine höheren und herrlicheren Vorsätze betreffs
des Himmels vorbildlich dargestellt. Denn ihre Zeiten
waren so zu sagen Uebergangszeiten.
So war es auch mit der Zeit des Stephanus.
Bis dahin war die Erde der Schauplatz der Apostelgeschichte
gewesen. Im 1. Kapitel hatte der auferstandene
Herr zu Seinen Aposteln von dem „Reiche Gottes" gesprochen.
In demselben Kapitel fordern die Engel die
Männer von Galiläa (wie sie die Jünger nennen) auf,
nicht länger gen Himmel zu schauen, indem sie ihnen die
Verheißung geben, daß Jesus wieder auf die Erde
zurückkommen werde. Wenn im 2. Kapitel der Heilige
Geist gegeben wird, so reden die Apostel unter Seinem
Einfluß von Dingen der Erd e. Sie bezeugen, daß Jesus
zur Rechten Gottes im Himmel sitzen solle, bis Seine
Feinde auf Erden zu Seinem Fußschemel gemacht würden.
Dann predigen sie, daß auf die Buße Israels hin Jesus
zur Erde zurückkehren würde mit Zeiten der Erquickung
36
und der Wiederherstellung aller Dinge, und daß Er erhöht
worden sei, um Israel Buße und Vergebung der
Sünden zu geben. Israel ist also das Volk, und die
Erde ist der Schauplatz in den Handlungen oder dem
Zeugnis des Geistes in den Aposteln in diesen ersten
Kapiteln.
Doch die jüdische Feindschaft geht wieder ihren Weg
wie zu so manchen andern Zeiten, ja, wie von Anfang an;
und die göttliche Gnade geht ebenfalls ihren Weg, wie sie
es zu jenen andern Zeiten gethan hatte. Und Stephanus
nimmt, unter der Leitung des Geistes Gottes, einen
solchen Augenblick gleichsam zu seinem Texte. Er blickt
zurück auf den Weg des Volkes, welches, unbeschnitten
an Herzen und Ohren, dem Herrn in dem einen oder
andern Seiner Zeugen widerstrebt hatte; aber er blickt
auch zurück auf den Weg des Gottes der Herrlichkeit,
welcher diejenigen, die durch irdisches Verderben oder
jüdische Feindschaft abgesondert oder ausgestoßen wurden,
zu neuer und besonderer Segnung berief.
Seine eigene Lage in jenem Augenblick bildete also
seinen Text, gerade so wie die Lage der Dinge im 2. Kapitel
der Gegenstand der Rede Petri gewesen war. Petrus
predigte über die Gabe der Sprachen; Stephanus, wenn
ich so sagen darf, über sein eignes Antlitz, das in jenem
Augenblick glänzte wie eines Engels Antlitz, sowie über
die Feindschaft der Juden, die ihn bedrängte und bedrohte.
Der Geist in Stephanus erfaßte den Augenblick. Es war
ein Wendepunkt, eine Uebergangszeit. Es war die Stunde
des glänzenden Antlitzes und der mörderischen Steine,
der Feindschaft der Erde und der noch herrlicheren und
reicheren Entfaltung einer Gnade, die zum Himmel berief.
37
Es war ein ähnlicher Wendepunkt hier in der
Apostelgeschichte, wie einst bei Joseph in dem 1. Buche
Mose; und dies giebt dem Heiligen Geist in Stephanus
eine natürliche Veranlassung, sich auf Joseph zu beziehen.
Doch wenn die Erde Stephanus einen Platz verweigert,
wie die Brüder Josephs diesem einen Platz in dem Lande
seiner Väter verweigert hatten, so thut sich der Himmel
für Stephanus auf. Ist die Feindschaft im Menschen
thätig, so bleibt die Gnade in Gott nicht müßig. Der
Himmel öffnet sich, und ein Strahl himmlischen Lichtes
findet von dort seinen Weg und verklärt glänzend das
Antlitz des Stephanus, als das Volk der Erde ihn hinausstößt.
Und so besiegelt vom Himmel und für den Himmel,
spricht er vom Himmel; der Himmel selbst thut sich ihm
auf, und dann richtet der Heilige Geist sein Auge zum
Himmel empor, und sein Geist wird von dem Herrn
Jesu in den Himmel ausgenommen. Alles ist hier der
Himmel; wir hören von nichts anderem. Stephanus
empfängt zuerst das Unterpfand desselben, dann den Aufblick
in seine weit geöffneten Herrlichkeiten und endlich seinen
Platz in ihm bei Jesu.
Nichts kann, solange man noch im Leibe ist, den
Glanz eines solchen Augenblicks übertreffen. Es war
gleichsam die „Verklärung" der Apostelgeschichte. Es ging
über das Bethel des Patriarchen hinaus; denn hier war
die Spitze der Leiter enthüllt, und dem Stephanus wurde
zu erkennen gegeben, daß sein Platz droben bei dem Herrn
sei, und nicht nur am Fuße der Leiter, bei Jakob. Der
Augenblick war ein Wendepunkt, was der Zeitabschnitt von
1. Mose 28 nicht gewesen war. Er hatte sein Vorbild
eher in dem verworfenen, ausgestoßenen Joseph, der seine
38
größeren Freuden und glänzenderen Ehren unter den
fernen Heiden in Egypten fand. Oder wenn man will^
die Geschichte Josephs wie die des Stephanus sind jede
zu ihrer Zeit und in ihrem verschiedenen Charakter ein
Vorbild und Unterpfand jener Herrlichkeit und jenes
Erbteils im Himmel, zu welchen die Kirche, die Auserwählten
der Jetztzeit, berufen sind.
In ganz naturgemäßer und notwendiger Weise werden
daher Joseph und Stephanus in Apostelgesch. 7 mit
einander in Verbindung gebracht. Jeder von ihnen füllte
denselben Uebergangsplatz aus, obwohl dies, und zwar
mit Recht, bei Stephanus stärker hervortritt. Alles war
bei Stephanus neu und himmlisch. Er wird nicht aufgefordert,
nach unten, sondern nach oben zu blicken.
Die Engel hatten die Männer von Galiläa in Kap. 1
veranlaßt, ihre Augen vom Himmel wegzuwenden; hier
im 7. Kapitel aber heißt der Geist selbst Stephanus
seinen Blick geradewegs in den Himmel hinein richten.
Die Herrlichkeit des Irdischen war eine Sache gewesen;
die Herrlichkeit des Himmlischen war jetzt eine zweite.
Selbst die Gabe der Sprachen in Kap. z2 war für die
Jünger nicht ein Unterpfand des Himmels gewesen. Es
fand bei dieser Gelegenheit keine Verklärung statt; es
gab kein Angesicht, das wie eines Engels Angesicht glänzte.
Der Heilige Geist ruhte ans der Versammlung zu Jerusalem,
aber die Versammlung selbst befand sich nicht im
Angesicht des Himmels als ihrer Heimat und ihres Erbteils.
Stephanus dagegen stand auf der Grenze der
beiden Welten. Sein Leib war das Opfer der Feindschaft
der Welt des Menschen, und sein Geist stand im
Begriff, in die Herrlichkeiten der Welt Christi aufge
39
nommen zu werden. Er wurde von seinen Brüdern verworfen,
von Goit ausgenommen. Alles deutete einen
Uebergang an; und so war es am Platze, daß er auf
Joseph und Mose zurnckblickte, die vor ihm in einer ähnlichen
Lage gewesen waren.
Bei dieser Anspielung auf Joseph und andere in
Apostelgesch. 7 möchte ich darauf Hinweisen, daß wir über
diesen vorbildlichen und gleichnisartigen Charakter der
Geschichten des Alten Testaments nicht erstaunt sein sollten.
Im Gegenteil; wir sollten durchaus darauf vorbereitet
sein, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: Gott,
handelnd in diesen Geschichten, ist sicherlich in ihnen thätig,
sich und Seinen Ratschlüssen entsprechend.
Und infolge dessen werden diese Geschichten zu ebenso
vielen Offenbarungen Seiner selbst und der Vorsätze, die
Er zur Ausführung bringen will.
Die Gewißheit, daß die Erzählung göttlich inspiriert
ist, giebt uns darum noch nicht in dem vollen Sinne des
Wortes Gott in der Erzählung. Dieselbe ist nicht nur
völlig wahr, sondern sie enthält auch eine Absicht; es tritt
uns in ihr nicht nur die Thatsache der göttlichen Eingebung,
sondern auch ein „Vorbild" entgegen. „Diese Dinge
widerfuhren jenen als Vorbilder." Die Ereignisse
trugen sich so zu, wie sie erzählt werden; sie sind geschichtlich
wahr. Aber Gott ließ sie geschehen, damit sie
„Vorbilder" seien; und so lange wir nicht dieses Vorbild,
das ist die göttliche Absicht in der Geschichte, finden,
haben wir nicht Gott in ihr gefunden. Wir sollten an
diese Erzählungen, sei es nun diejenige von Joseph oder
von irgend einem andern, in dem Geiste herantreten, wie
der Prophet in das Haus des Töpfers gehen mußte.
40
(Jerem. 18.) Er sollte dort eine thatsächliche Arbeit
sehen, Gefäße, die von der Hand und durch die Geschicklichkeit
des Töpfers gemacht wurden. Doch in dieser
Arbeit lag zugleich eine Unterweisung. Sie hatte
eine bildliche Bedeutung, denn der Prophet sollte ebenso
gut Gott selbst an der Scheibe sehen, wie den Töpfer.
So ist es auch mit diesen Geschichten, die uns die Schrift
mitteilt. Es ist Wirklichkeit in ihnen, genaue Wahrheit,
wie sie uns die Inspiration verbürgt; aber es liegt auch
eine Bedeutung in ihnen; und so lange wir nicht diese
entdecken, und Gott und Seine Absicht in der Geschichte
wahrnehmen, sind wir noch nicht wirklich in das Haus
des Töpfers gegangen.
Doch ich erwähne dies nur nebenbei, veranlaßt durch
den Gebrauch, den der Geist selbst durch Stephanus von
den alttestamentlichen Geschichten von Abraham, Joseph
und Mose in diesem wunderbaren Kapitel (Apostelgesch. 7)
wacht. (Fortsetzung folgt.)
Ein Brief an eine bekümmerte Seele.
Lieber Freund! — Dein Brief hat mich sehr
interessiert. Es ist eine schöne und liebliche Aufgabe,
bekümmerte und beschwerte Herzen zu trösten und zu ermuntern;
ja es ist, wenn ich mich so ausdrücken darf,
ein Werk, das unserm Herrn und Heilande besonders
am Herzen liegt. Er selbst sprach einst die kostbaren
Worte: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil Er
mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen;.
Er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung auszurufen
und Blinden das Gesicht, Zerschlagene
41
in Freiheit hinzusenden;" und bei einer andern Gelegenheit:
„Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen
und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben!"
(Luk. 4, 18; Matth. 11, 28.) Wie kostbar ist der Gedanke,
daß Gott Seinen Sohn in diese Welt gesandt
hat, um Armen das Evangelium zu predigen, um Zerschlagene
in Freiheit zu setzen und Mühseligen und Beladenen
Ruhe zu geben!
Aus deinem Briefe nun geht klar hervor, daß du
ein Mühseliger und Beladener bist, und deshalb bist du
gerade der passende Gegenstand für den gnädigen Dienst
des Herrn. Du bist einer von denen, um derentwillen
Er in diese Welt kam. Gerade die Kümmernisse, denen
du Ausdruck giebst, liefern den unzweideutigen Beweis,
daß ein Werk des Geistes Gottes in deiner Seele vorgeht.
Nicht daß ich dich veranlassen möchte, deinen
Frieden darauf zu gründen. Weit entfernt davon!
Wenn alle Engel im Himmel und alle Menschen auf der
Erde ihre Ueberzeugung aussprechen würden, daß du ein
wahrer Christ wärest, so möchte dich das vielleicht trösten
und ermutigen, aber nimmer könnte es den Grund deines
Friedens bilden angesichts eines heiligen, die Sünde
hassenden Gottes. Es macht wenig aus, was die Menschen
von dir denken; die wichtige Frage ist: Was denkt Gott
von dir? Er kennt dich durch und durch, dein ganzes
Verderben und deine ganze Sündhaftigkeit; und doch
liebt Er dich und hat Seinen Sohn für dich in den
Tod gegeben. Hier ist der einzige Grund des Friedens
für den Sünder. Gott selbst hat deine Sache in die
Hand genommen. Er ist in dem Tode Seines Sohnes
betreffs deiner Sünden vollkommen verherrlicht worden.
42
Du sagst, daß du zuweilen nicht wüßtest, wie du dich betrachten
solltest: ob als einen gänzlich Unbekehrten oder als
einen, der zurückgegangen ist. Was dir not thut, mein
lieber Freund, ist, mit dir selbst ganz und gar zu Ende zu
kommen; und wenn du dahin gekommen bist, dann wirst
du Gott finden in all der Fülle Seiner in Christo geoffenbarten
Gnade. Mit sich selbst zu Ende zu kommen und
Christum zu finden, das ist der wahre Weg zum Frieden.
Du leidest an einer ernsten Krankheit; und diese
heißt: Selbstbeschäftigung. An dieser Krankheit leiden
Tausende. Wohl ist es wahr, daß der Heilige Geist
unsre Seelen bezüglich; unsers Zustandes übt und uns
dahin bringen will, diesen zu richten; allein Er thut es
nur, um uns auf den Grund der ganzen Sache zu führen,
damit wir in der Fülle »und Allgenugsamkeit Christi unsre
Ruhe finden. Diese Art von Seelenübung ist sehr heilsam.
Je tiefer eine Seele in dieser Weise geübt wird, desto
besser; je tiefer die Furche, desto stärker die Wurzel.
Ein oberflächliches Werk in dem Gewissen ist von geringem
Werte. Denn obwohl wir nicht durch irgend welche
Vorgänge in unsern Herzen oder Gewissen errettet werden,
so hat es sich doch oft gezeigt, daß^Personen, die leichthin
zu einem gewissen Friedensgefühl kamen, auch ebenso
leicht wieder dieses Gefühl verloren und nachher unglücklicher
waren als je. Die Sünde muß in ihrer Häßlichkeit erkannt
werden, und je bälder und gründlicher das geschieht,
desto besser. Denn alsdann sind wir in dem Zustande,
Christum zu ergreifen als Gottes Antwort auf alle
unsre Not; und wenn wir Ihn so ergreifen, so genießt
das Herz einen bleibenden Frieden und ist nicht jenem
steten Wechsel unterworfen, über den so viele klagen.
43
Auch giebt es eine Art von Selbstbeschäftigung, zu
welcher Satan eine erweckte Seele zu bringen sucht, um
sie so von Christo fern zu halten; und ich glaube, daß
es dem Feinde gelungen ist, dich in dieser Schlinge zu
fangen. Ich achte das Gefühl, das dich veranlaßt, in
deinem gegenwärtigen Seelenzustande vom Tische des
Herrn fern zu bleiben. Es ist der Leichtfertigkeit und
Gleichgültigkeit, mit welcher viele an diesem heiligen
Mahle teilnehmen, weit vorzuziehen; und es liegt mir
völlig fern, dich zu einer Teilnahme am Abendmahl zu
drängen, so lange du dich in diesem unglücklichen Herzenszustande
befindest. Was ich dir aber wünsche, ist, daß
du das Evangelium von der Gnade Gottes, die völlige
Vergebung deiner Sünden, deine vollkommne Rechtfertigung
durch den Tod und die Auferstehung Christi, so im
Glauben erfassen und dir zu eigen machen möchtest, daß
du imstande wärest, gleich dem armen Manne in Apstgsch. 3,
aus deinem verkrüppelten Zustande aufzustehen und in
den Tempel einzutreten, „wandelnd und springend und
Gott lobend". Glaube mir, es ist dein Vorrecht, das
Zu thun. Es giebt nichts, was dich an dem Genuß
jener kostbaren Dinge hindern kann, als nur der Unglaube
und die Gesetzlichkeit deines eignen Herzens. Der Feind
sucht dich mit dir selbst zu beschäftigen, um dich von Christo
fern zu halten. Weise ihn ab I Es ist die hoffnungsloseste,
trübseligste Arbeit, nach irgend etwas Gutem in dir selbst
zu suchen. Blicke auf Jesum! In Ihm wirst du alles
finden, was du bedarfst. Ja, möge der Heilige Geist deine
ganze Seele mit der Kostbarkeit Christi erfüllen, damit du
in jener heiligen und glücklichen Freiheit wandeln könnest,
die das Teil eines jeden Kindes Gottes ist.
44
Verzeihe mir, wenn ich dir ferner sage, daß beim
Brief auch das Vorhandensein einer gesetzlichen Gesinnung
bei dir verrät. Das ist ein Uebel, welches
dem Geiste Gottes ebensosehr zuwider wie für deinen
Frieden verhängnisvoll ist. Es thut dir not, in die
Atmosphäre der freien Gnade einzutreten, jener Gnade,
die durch Gerechtigkeit herrscht zu ewigem Leben durch
Jesum Christum, unsern Herrn. Du hast ganz und
gar unwürdige Gedanken über Gottes vollkommene, ewige
und unveränderliche Liebe. Du missest Gott nach dem
Maßstabe deiner eignen Gedanken. Du ziehst deine
Schlüsse von dem, was du für Gott bist, anstatt zn
glauben, was Gott für dich ist. Das ist ein ernster,
obwohl leider sehr verbreiteter Fehler, zu dem wir alle
mehr oder weniger hinneigen. Es giebt verhältnismäßig
nur wenige, die in dem thatsächlichen, ungestörten Genuß
des Heils leben. Stets ist man beschäftigt, sich selbst
in einer gesetzlichen Wage zu wägen; und nichts als die
mächtige Kraft des Geistes Gottes kann uns von dem
Grundsatz des Gesetzes, der uns allen so tief eingeprägt
ist, befreien und uns zu einem praktischen Verständnis der
Worte des Apostels leiten: „Ihr seid nicht unter Gesetz,
sondern unter Gnade." (Röm. 6, 14.)
Eine Seele kann sich unmöglich eines gegründetem
Friedens erfreuen, so lauge sie irgendwie unter Gesetz steht-
Die Sonne mag wohl für Augenblicke die finstern Wölkender
Zweifel und Befürchtungen durchbrechen, wie du es
aus eigner Erfahrung weißt, aber ein bleibender Friede
ist einer solchen Seele unbekannt; dieser entspringt nur
der tiefen, praktischen Erkenntnis der freien Gnade
Gottes, die auf Grund einer vollbrachten Versöhnung:
45
gegen den Sünder handelt. Gesetzlichkeit lenkt immer dem
Blick auf das eigne Ich. Sie bringt uns stets dahin,
unsre Stellung vor Gott nach unsern Fortschritten im
der Heiligung, nach unsern Anstrengungen und Gefühlen,
nach unserm Thun und Lassen, Wirken und
Streben zu messen; und dies muß unfehlbar geistliche
Finsternis, düstere Ungewißheit, Niedergeschlagenheit unfl
Seelenqual Hervorrufen. Die Harfe hängt unberührt an
den Weiden. Ein freudiges Danklied kann, wie dm
sagst, nur gelegentlich gesungen werden. Das Abendmahl,
dieses kostbare Gedächtnis an eine vollbrachte Erlösung,
wird vernachlässigt, oder begangen — ich möchte nicht
sagen gefeiert — ohne Frische, Salbung und Kraft.
Christus wird verunehrt, der Heilige Geist betrübt und-
das Zeugnis verdorben. Ueberdies benutzt der Feind
einen solchen Seelenzustand, um in mancherlei Weise auf
unsre Lüste und Begierden zu wirken, die gerade aus der
Thatsache, daß wir unter Gesetz sind, ihre Kraft ziehen;
wie der Apostel sagt: „Die Kraft der Sünde ist das
Gesetz." Wie ein Spielball wird die Seele hin und
her geworfen, und zwar so lange, bis die freie, unumschränkte
Gnade sie von „Gesetz und Lust" befreit.
Ja, mein Freund, die Gnade giebt dir Kraft über die
Sünde, während das Gesetz der Sünde Kraft über dich
verleiht. Die Gnade führt dich von Sieg zu Sieg, das
Gesetz von Niederlage zu Niederlage.
Möge daher der Herr dir und allen den Seinigen
eine tiefere Erkenntnis und ein entschiedeneres Ergreifen
der Gnade verleihen, damit dein Friede fließe wie eim
Strom und die Früchte der Gerechtigkeit reich werden zunr
Preise Seines Namens!
46
Doch' ich bin noch nicht fertig mit deinem Briefe.
Ich glaube noch eine andere Sache zu unterscheiden, die
geeignet ist, die Niedergeschlagenheit, über welche du
klagst, hervorzurufen. Wenn ich mich nicht sehr täusche,
so ist dein Gewissen krank. Auch das ist ein schlimmes
Uebel, eine schwere Last, eine große Prüfung. Ein
krankes Gewissen beeinflußt nicht nur uns selbst, sondern
auch alle, mit denen wir in Berührung kommen. Es
besteht ein großer Unterschied zwischen einem kranken und
einem zarten Gewissen. Das erste wird durch seine eignen
Gedanken und ängstlichen Befürchtungen geleitet, das
zweite durch das Wort Gottes. Jenes ruft Schwachheit
und Unbeständigkeit in allen unsern Wegen hervor, dieses
verleiht uns eine heilige Festigkeit und Beständigkeit. Ich
kann mir kaum einen lästigeren Gefährten denken als
ein krankes Gewissen. Es schafft seinem Besitzer stete
Schwierigkeiten und legt unaufhörlich Anstöße in seinen
Weg. Ein zartes Gewissen ist dagegen von unschätzbarem
Werte. Seine Thätigkeit ist wahr und gesund. Es
empfindet nur das, was es empfinden soll, sucht aber
nicht krankhaft nach einer Ursache der Beunruhigung und
Verunreinigung. Bearbeitet und geübt durch das von
dem Heiligen Geiste angewandte Wort Gottes, erfüllt es
mit Einsicht und Kraft die ihm von Gott angewiesenen
Verrichtungen.
Darum, mein Lieber, höre auf, dich mit dir selbst
zu beschäftigen; quäle dich nicht länger mit deinen gesetzlichen
Anstrengungen; weise die Wirkungen eines kranken
Gewissens von dir! Ein mit sich selbst beschäftigtes
Herz, eine gesetzliche Gesinnung und ein krankes Gewissen
— drei thätige Agenten des Feindes! Möge die Kraft
47
des Heiligen Geistes dich von allen dreien befreien!
Möge Er jede Kette brechen und dich die Süßigkeit einer
wahren geistlichen Freiheit und einer Herzensgemeinschaft
mit deinem Gott und Vater schmecken lassen!
Martere dich nicht länger mit den Fragen: „Bin
ich bekehrt ? oder bin ich zurückgegangen? Bin ich dies,
oder bin ich das?" Du bist in dir selbst nur ein armer,
verlorner, unwürdiger, zu nichts tauglicher Sünder; und
doch hat Gott Seine Liebe gegen dich darin erwiesen,
daß Er Seinen eingebornen Sohn dahingab, um deinen
Fluch und deine Last auf dem Fluchholze zu tragen.
Wirf dich in das Meer Seiner schrankenlosen Liebel
Das Werk ist vollbracht, die Schuld bezahlt. Satan ist
zum Schweigen gebracht, die Sünde hinweggethan. Gott
ist befriedigt, ja verherrlicht. Was willst du mehr? Auf
was wartest du noch? Vielleicht erwiderst du: „Ich
weiß das alles." Du sagst in deinem Briefe, „daß du
kaum erwarten könnest, etwas anderes zu hören, als was
du bereits gehört habest". Nun denn; mache dir das,
was du gehört hast, zu eigen in einfältigem, kindlichem
Glauben. Verlasse alle deine selbstgemachten, gesetzlichen
Schlupfwinkel, und tritt hervor in den vollen Glanz der
göttlichen und ewigen Liebe. Nimm Gott bei Seinem
Worte und nimm Besitz von allem, was Er dir umsonst
anbietet. Ich wünsche nicht, deine Wunde leichthin zu
heilen, indem ich „Friede, Friede!" rufe, wo doch kein
Friede ist. (Bergl. Jer. 6, 14.) Das wäre grausam.
Nein, ich wünsche, daß du die Dinge kennen möchtest, die
dir von Gott geschenkt sind (1. Kor. 2, 12), und die Er
in Seinem Worte ebenso klar geoffenbart hat, wie sie dir
umsonst aus Gnaden geschenkt sind. Dann wirst du
48
Mig sein, Loblieder zu singen und deinen Platz am
Tische des Herrn einzunehmen in glücklicher und heiliger
Gemeinschaft und dankbarer Anbetung.
Der Herr begegne dir gnädiglich in deiner gegenwärtigen
Not! Möge Er durch die Hellen, erwärmenden
Strahlen Seiner Liebe die finstere Wolke zerstreuen, die
sich auf deinen Geist herabgesenkt hat, und dich mit
göttlicher Freude und tiefem Frieden erfüllen! Ihm befehle
ich dich, indem ich Ihn bitte, meine schwachen Worte
zum Segen für deine kostbare Seele zu benutzen; dann
wird Seinem Namen alles Lob werden immer und
ewiglich.
„Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes."(Hohel. 1, 2.)
Nichts ist, was die Menschen dieser Welt mehr fürchten
als Einsamkeit und eine Zeit des Nachdenkens
oder der innern Einkehr. Sie sind lieber mit Arbeit
überladen, als daß sie Muße für stille Betrachtungen
haben möchten. DaS unruhige Gewissen erhebt zu solchen
Zeiten seine Stimme, und diese sucht man mit der bequemen
Ausflucht zu betäuben, daß man Pflichten zu
erfüllen und keine Zeit für derlei Ueberlegungen habe.
Sünden, viele Sünden sind da, und der Gedanke an
Gott als den Richter der Sünde ist schrecklich. Der Zustand
der Seele ist derart, daß sie das Licht nicht ertragen
kann, und darum liebt man die Finsternis. Man sucht
und liebt das geschäftige, ruhelose Treiben des gegenwärtigen
Lebens, um dadurch dem drückenden Gewicht der stillen
49
-Stunden zu entrinnen. Die Vergnügungen und Freuden
der Welt dienen zu ihrer Zeit und an ihrem Platze demselben
Zweck.
So wird eifrig Sorge getragen, die Einsamkeit zu
vermeiden und jede Gelegenheit zu ruhiger und ernster
Betrachtung unmöglich zu machen. Den Interessen der
Seele wird keine Beachtung geschenkt, keine Minute gewidmet,
trotz ihres dringenden, tiefen Bedürfnisses. Der
höhere und edlere Teil des Menschen wird gänzlich vernachlässigt
und außer acht gelassen. Aber ach, „was
wird es einem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt
gewänne und seine Seele einbüßte? Denn was wird
ein Mensch als Lösegeld geben für seine Seele?" (Mark.
8, 36. 37.)
So ist der Mensch, der Mensch ohne die Erkenntnis
Gottes, ohne Erkenntnis über Seinen Zustand als Sünder
und über Jesum als den Heiland der Sünder. Doch
wenden wir uns für einen Augenblick weg von dieser
herzbetrübenden Scene, obgleich starke und doch zarte Bande
uns immer wieder hinziehen möchten, um solche, die wir
lieben, aus ihr zu befreien und für Christum zu gewinnen.
Laßt uns einen Geist stiller Betrachtung nähren in der
lieblichen Einsamkeit der Absonderung der Seele von der
Welt, da wo der Schauplatz von der Gegenwart des Heilandes
erhellt wird und „das Lied der Lieder" ertönt
zu Seiner Ehre. Je weiter die Trennung von der Welt,
desto tiefer die Gemeinschaft, desto reicher die Segnung.
Es gilt, in Herz und Geist keine Sympathie mit der
Welt zu haben, und obwohl in ihr, doch thatsächlich weit
entfernt zu sein von ihrem Gewühl und ihren unheiligen
Scenen. Eine gewaltige Kluft trennt die Gläubigen von
50
dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf. „Sie sind nicht vom
der Welt", sagt Christus, „gleichwie ich nicht von der
Welt bin." Die Stellung Christi in der Auferstehung
ist die Beschreibung der unsrigen, als in Ihm betrachtet.
Die Stunden ruhigen, stillen NachsinnenS der Seele in
Gemeinschaft mit der Person des erhöhten Herrn sind die
lieblichsten Augenblicke in ihrer Geschichte hienieden. Man
kann sie finden im Krankenzimmer, in ländlicher Stille
oder selbst in dem Mittelpunkt des geschäftlichen Lebens
dieser Welt. Alles hängt von dem Zustande des Herzens ab.
Allein zu sein, und doch nicht allein, wie gesegnet ist das!
Doch warum heißt das kostbare kleine Buch, mit
dem wir uns beschäftigen, „das Lied der Lieder"? Eben
weil es von Salomo, oder besser von Christo handelt, der
zu seiner Zeit König in Jerusalem sein wird in wahrer
salomonischer Herrlichkeit. Nach demselben Grundsatz wird
Er „König der Könige und Herr der Herren" genannt.
Ihm gebührt der Vorrang in allen Dingen. Es giebt
viele liebliche Lieder in der Schrift. Mose, Mirjam und
ihre Mägde, Debora und David, alle sangen in lieblicher
Weise von der Güte des Herrn. Von Salomo selbst
wird gesagt: „seiner Lieder waren tausend und fünf"
(1. Kön. 4, 32); aber nur dieses eine nennt er „das
Lied der Lieder". Es übertraf sie alle bei weitem. Es
ist der melodische Gesang von Herzen, die mit heiliger
Liebe erfüllt sind und die ihre höchste Freude finden an
jenem vollen und freien Ausdruck der Liebe: „Wir lieben,
weil Er uns zuerst geliebt hat." O möchten wir fähig
sein, zu allen Zeiten das Lied von der Liebe des Heilandes
zu singen, sowohl mit dem Herzen als auch mit
dem Verstände!
51
„Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes."
Welch eine reine und zugleich leidenschaftliche Zuneigung
giebt sich in diesen Worten kund! Sie gleicht dem ungekünstelten,
inbrünstigen Aufwallen der Liebe zwischen nahen
Verwandten, wenn sie nach langer Trennung einander
wieder begegnen. Das Herz ist so völlig von seinem
Gegenstand eingenommen, daß Formen, Regeln und Umstände
ganz und gar außer acht gelassen werden. Das
selige Bewußtsein des Platzes, den sie in Seinem Herzen
einnimmt, läßt die Braut alles andere vergessen. Wie
wenige giebt es in dieser Welt, an die man sich so ohne
jede Förmlichkeit und in solcher Liebe wenden könnte!
und doch ist dies die Sprache eines erretteten Sünders
dem heiligen Herrn gegenüber. Verstehst du sie, mein
lieber Leser? Keine Zweifel, keine Befürchtungen sind
in einem Herzen, das so zu dem göttlichen Bräutigam,
dem verherrlichten Jesus droben, reden kann. Viele halten
es allerdings für Anmaßung, ein vollkommnes, nicht zweifelndes
Vertrauen zu Seiner Gnade und Liebe zu haben,
und wenn sie Ihm wirklich zu vertrauen wagen, so geschieht
es mit vielen Zweifeln und Befürchtungen; und alles
das, nachdem Er Seine Liebe zu verlornen Sündern gleichsam
in Buchstaben von Blut geschrieben hat. Was müssen
solche denken von der Kühnheit der Braut? Daß sie sich
selbst und ihren Platz vergessen hat? Ach nein; das
Geheimnis ist dieses: Nachdem das Gewissen durch das
eine Opfer des einst in Demut hienieden wandelnden
Jesus von aller Sünde gereinigt ist, fühlt sich das Herz
jetzt frei und glücklich in der Gegenwart des auferstandenen
und verherrlichten Christus. Und dies ist alles, was ein
schuldiger Sünder bedarf, um sich daheim und glücklich
52
zu fühlen „in den Gemächern des Königs" (V. 4); d. h.
also das Blut Christi für das Gewissen, und die Person
Christi für das Herz. Jede Segnung wird sich in diesen
beiden Dingen eingeschlossen finden; und jeder Christ besitzt
beides. — O Herr, hilf ihnen, daß sie es glauben!
In dem ganzen Hohenliede ist keine Rede von Sünde,
von Vergebung oder Rechtfertigung. Warum das? Diese
Fragen sind vorher geordnet worden, und das Herz genießt
jetzt eine vollkommene Freiheit in der Gegenwart
des Herrn. Alle jene Fragen werden geordnet, wenn
der Sünder zum ersten Male in Wahrheit zu Jesu Füßen
niedersinkt, und zwar geordnet auf Grund des vollendeten
Werkes des Erlösers; und sie können nie, nie wieder erhoben
werden, so weit Gott und der Glaube in Betracht
kommen. Satan und der Unglaube unsrer Herzen mögen
versuchen, diese für ewig geordneten Fragen wieder anzuregen,
aber alle solche Gedanken sollten als aus diesen bösen
Quellen kommend verurteilt werden. „Ich habe erkannt,
daß alles, was Gott thut, für ewig sein wird: es ist
ihm nichts hinzuzufügen und nichts davon wegzunehmen."
(Pred. 3, 14.) Deshalb ist das Herz, das diese Dinge
kennt, frei und glücklich und fühlt sich daheim in der
unmittelbaren Nähe des Herrn. „Er küsse mich mit den
Küssen seines Mundes!"
Das Verlangen des Herzens geht nicht nach dem
Bewußtsein der Vergebung, sondern nach einer unmittelbareren
Offenbarung Seiner Liebe. Die Braut ist mit
Ihm selbst beschäftigt; nicht so sehr mit irgend einer
Seiner Eigenschaften oder mit einem besondern Beweise
Seiner Freundlichkeit gegen sie, sondern mit Ihm persönlich.
Hat sie Ihn, so hat sie alle Seine Eigenschaften
53
und Seine ganze Gütigkeit; darum: „Er küsse mich":
Sie denkt nicht daran, zu erklären, von wem sie so redet.
Es erinnert uns das lebhaft an das liebende und ihres
Gegenstandes beraubte Herz der Maria, wenn sie sagt:
„Herr, wenn du ihn weggetragen, so sage mir, wo du
ihn hingelegt hast." Er war der Erste und der Letzte
in ihren Gedanken; niemand anders war in ihrem Herzen,
von dem sie Ihn hätte unterscheiden müssen. Keiner war
mit Ihm zu vergleichen. Nichts konnte ihr Herz befriedigen
als die Person ihres Herrn, ob tot oder lebendig.
Wunderbare Liebe! O daß Er auch einen solchen Platz
in meinem und deinem Herzen hätte! Noch „über ein
Kleines", und Er wird ihn haben, und das für immer!
O beschleunige den glücklichen Tag Deiner Ankunft, teurer
Herr, Du, der Geliebte der Kirche, Deiner Braut!
In der Heiligen Schrift ist der Kuß das Zeichen
der Versöhnung, das Unterpfand des Friedens und der
Ausdruck der Liebe. Es heißt von Jonathan und David,
daß sie einander küßten und mit einander weinten, bis
David über die Maßen weinte. (1. Sam. 20, 41.)
Liebliches Bild von dem wahren David, der stets alle
unsre Liebe übertrifft. „Wo die Sünde überströmend geworden,
ist die Gnade noch überschwenglicher geworden."
Auch Joseph „küßte alle seine Brüder und weinte an
ihnen, und darnach redeten seine Brüder mit ihm."
(1. Mose 45, 15.) Ferner küßte der Vater den verlornen
Sohn, als dieser noch in seinen Lumpen war. Ist es
deshalb zuviel von der Braut im Hohenliede, (oder für
den, der an Jesum glaubt,) wenn sie nach einer solchen
Kundgebung der Liebe des Herrn verlangt? Sicherlich
nicht. Wir sind überzeugt, daß ihr Wunsch nicht aus
54 !
irgend einem Zweifel betreffs des Vorhandenseins
der Liebe hervorging, sondern weil sie sich darnach sehnte,
sie geoffenbart zu sehen. Liebe kann nur durch Liebe
befriedigt werden.
„Denn deine Liebe ist besser als Wein." Die Liebe
Jesu wird allen Freuden der Erde vorgezogen. Der Wein
ist das Sinnbild der irdischen Genüsse, der Freuden und
des Wohllebens des Menschen. Aber was sind diese
Dinge alle, selbst in ihrer bezauberndsten Gestalt, für eine
Seele, die ihre Wonne an Jesu findet? Sie haben ihren
Reiz für Herz und Auge verloren und würden nur als
eine ermüdende und drückende Last gefühlt werden. Jesus
selbst ist die Freude des Herzens: „welchen ihr, obgleich
ihr Ihn nicht gesehen habt, liebet; an welchen glaubend,
obgleich ihr Ihn jetzt nicht sehet, ihr mit unaussprechlicher
und verherrlichter Freude frohlocket." (1. Petr. 1, 8.)
Der Weinstock hat seine Wurzeln in der Erde. Der
Nasiräer durfte, so lange er unter seinem Gelübde war,
„nicht essen von allem, was vom Weinstock bereitet wird,
von den Kernen bis zur Hülse". (4. Mose 6.) Er
mußte gänzlich abgesondert sein von den Vergnügungen
der Welt für den Herrn. Ein jeder Gläubige ist heute
ein Nasiräer Gottes, und er sollte seiner Berufung und
Stellung treu sein. Aber er vermag das nur dann, wenn
er alle seine Freude und sein Genüge in der Liebe
Jesu findet. Der Herr wartet jetzt, fern von den
Freuden der Erde, auf den herrlichen Anbruch des tausendjährigen
Reiches (vergl. Matth. 26, 29), wann Er in
Seinem wahren Melchisedek-Charakter hervorkommen wird,
um die siegreichen Scharen Israels, die Kinder Abrahams,
mit dem Brote und Weine deS Reiches zu erquicken.
55
(Vergl. 1. Mose 14.) Auch wir sollten geduldig bis
dahin warten, denn wir werden dann mit Ihm in himmlischer
Herrlichkeit erscheinen. Der König in Jerusalem
wird dann wieder mit Seinem irdischen Volke vereinigt
sein, und alle Nationen werden sich weiden an der Freude
und dem Glücke Israels. Dann wird auch die Tochter
Zion die Bedeutung der lange vorher, auf dem Hochzeitsfeste
zu Kana, ausgesprochenen Worte verstehen: „Du hast
den guten Wein bis jetzt aufbewahrt." (Joh. 2, 10.)
„Lieblich an Geruch sind deine Salben, ein ausgegossenes
Salböl ist dein Name; darum lieben dich dw
Jungfrauen." (V. 3.) Hier giebt uns die Braut eine
Darstellung von Seinem Namen: „wie ausgegossenes
Salböl ist dein Name". Für ihr Herz ist er von lieblichstem
Wohlgeruch. Alle Seine Namen, Titel, Eigenschaften
und Beziehungen sind überaus kostbar für sie.
Sein Name ist Er selbst; er drückt Seine Natur, Seine
ausgezeichneten Eigenschaften und Tugenden aus. Sie
weiß nicht, wie sie dem Reichtum Seiner Güte Ausdruck
geben soll; deshalb sagt sie: „Dein Name ist ein aus-
gegossenes Salböl." Der Wohlgeruch Seines
Salböls ist nicht auf sie allein beschränkt; ihre Gefährtinnen
teilen auch von dem Ueberfluß. Sie werden
angezogen und erquickt durch die süßen Wohlgerüche Seines
Namens. Glücklicher Gedanke! Es ist nicht ein verschlossenes,
versiegeltes Salböl, sondern es ist „ausgegossen".
O welch eine Gemeinschaft giebt eS in der Liebe
Jesu! Stehe hier einen Augenblick still, meine Seele, unb
sinne nach über die Fülle des Namens Jesu: „Denn in
Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig."
Welch ein Mittelpunkt, welch eine Quelle ist dieser Name l
56
Um ihn als ihren einzigen Mittelpunkt ist die Kirche
Gottes jetzt gesammelt durch die lebendig machende Kraft
und Einwohnung des Heiligen Geistes. „Denn wo zwei
oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in
ihrer Mitte." Bald jedoch werden Himmel und Erde durch
die Macht und Herrlichkeit dieses Namens mit einander verbunden
werden. Das irdische Jerusalem und die Städte
Judas mit den Nationen rings um sie her; das himmlische
Jerusalem und die unzähligen Heerschaaren der Engel, die
allgemeine Versammlung und die Versammlung der Erstgebornen,
die in den Himmeln angeschrieben sind — alle,
alle werden angezogen und vereinigt werden durch diesen
einen teuren Namen. Der Vater hat es sich vorgesetzt
(und eS wird sicher und gewiß zustande kommen) „für die
Verwaltung der Fülle der Zeiten (das 1000jährige Reich):
alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus,
das was in den Himmeln und das was auf der Erde ist,
in Ihm." (Eph. 1, 10.) Dann wird der Wohlgeruch
Seines Namens von jedem Lüftchen weitergetragen werden,
und alle Geschlechter und Zungen werden einstimmen in
das Loblied: „Jehova, unser Herr, wie herrlich ist Dein
Name auf der ganzen Erde!" (Psalm 8.)
Und wenn die 1000 Jahre des Segens und der
Herrlichkeit vorüber, wenn Himmel und Erde entflohen und
die Gerichte vollendet sind, so wird dieser Name nichts von
seinem Wohlgeruch, seiner Kraft und Schönheit eingebüßt
haben. Er wird auch dann noch sein wie ein ausgegossenes
Salböl, ja „ausgegossen" für immer und ewig. Alle Seine
Kleider duften von Myrrhe, Aloe und Kassia. (Ps. 45.)
Und während Zeitalter auf Zeitalter dahinrollen, werden die
reichen und mannigfaltigen Gnaden Seiner Liebe dennoch
ausgegossen bleiben in unendlicher Fülle; alle Hände
werden träufeln von süßduftender Myrrhe, und die weiten,
weiten Reiche des Segens werden erfüllt sein mit dem
ewigen Wohlgeruch Seines heiligen Namens.
Joseph. (Fortsetzung.) 3.
Wir kommen jetzt zu dem Teil der Geschichte Josephs,'
in welchem er seinen Vater und seine Brüder wiederfindet,
sowie zu den Folgen dieses Wiederfindens.
Unter den Dingen, welche Joseph und seine Umstände
während seiner Trennung von seinen Brüdern kennzeichneten,
sahen wir namentlich dies: daß er in den Besitz
jener Hülfsquellen gebracht wurde, von denen seine Brüder
selbst, wie auch die ganze Welt, bezüglich ihrer Erhaltung
auf der Erde abhängig sein sollten. (Vergl. S. 32 u. 33.)
Die bestimmte Zeit für die Welt, diese Hülfsquellen in
Anspruch zu nehmen, war jetzt gekommen, und damit auch
für Joseph die Zeit, mit seinen Brüdern wieder vereinigt
zu werden.
Joseph steht jetzt in Ansehen und Würden; der Tag
der Erniedrigung und der Trübsal ist für ihn vorüber.
Er befindet sich zur Rechten des Thrones von Egypten
und übt Macht und Herrschaft im Lande. Ohne ihn kann
niemand weder Hand noch Fuß aufheben. Er hat den
Ring des Königs bekommen und fährt in dem zweiten
Wagen. Er ist der Schatzmeister und Verwalter des
ganzen Vermögens der Nation, der Einzige, der ihre
Vorratshäuser öffnen oder schließen konnte, wie es ihm
gefiel. Er, der einst in der Grube war, ist jetzt auf
dem Throne.
58
So ist Joseph gleichsam auferstanden. Ich sage:
gleichsam auferstanden; denn die Sache selbst (die Auferstehung
aus den Toten) mußte auf den Tag des Sohnes
des lebendigen Gottes warten, der in Seiner eignen
Person aus den Toten wieder lebend hervorkommen sollte.
Doch wenn wir auch „das Ebenbild" dieses großen Geheimnisses
im Alten Testament nicht finden können, so finden
wir doch „Schatten" davon, sowohl in gewissen Anordnungen
des Gesetzes, als auch in den Geschichten der
Auserwählten. Unter anderm sind der geschlachtete und
der lebendige Vogel in 3. Mose 14 und die zwei Böcke
im 16. Kapitel desselben Buches solche Anordnungen; und
manche geschichtliche Scenen, wie z. B. das LoSbinden
Isaaks von dem Altar auf dem Berge Morija, oder
Jonas Befreiung aus dem Bauche des großen Fisches,
stellen dasselbe dar. Gerade so ist es mit diesem Abschnitt
in der Geschichte Josephs, als dem Tage seiner Macht
und Herrschaft in Egypten nach den schweren Trübsalen
in der Grube und im Gefängnis.
Der Geist Gottes, der im M. Kapitel Seine Gedanken
Jakob in den Mund legt, blickt auf Joseph in
dieser Lage zurück und preist ihn dementsprechend: „Sohn
eines Fruchtbaumes ist Joseph, Sohn eines FruchtbaumeL
am Quell; die Schößlinge treiben über die Mauer. Unfi
es reizen ihn und (schießen, und es befehden ihn die
Bogenschützen; aber sein Bogen bleibt fest, und gelenkig
sind die Arme seiner Hände, durch die Hände des Mächtigen
Jakobs." Und nachdem der Geist dies von Joseph -
gesagt hat, benutzt Er es als ein Bild von einem Größeren'
als Joseph; denn Jakob fügt hinzu: „Von dannen ist
der Hirte, der Stein Israels." Wir erblicken Christum
59
in Joseph; der auferstandene Christus wird hier wie in
einem Bilde gesehen. Alle Macht ist jetzt in Ihm im
Himmel und auf Erden; Er sitzt zur Rechten der Majestät
in der Höhe. Seine Ansprüche auf alle Hülfsguellen der
Schöpfung sind gesichert, besiegelt durch die Würde des
Platzes, den Er jetzt einnimmt. Und die Hülfsguellen,
die Ihm jetzt gehören, wird Er dereinst gebrauchen
für Israel und für die ganze Erde, gemäß dem Muster
dieses Geheimnisses, wie es uns in Joseph gezeigt wird.
Am Ende des 41. Kapitels beginnt die Hungersnot
und mit ihr das Oeffnen der Vorratshäuser Josephs.
Aber dann verändert sich die Scene für einen Augenblick,
und die Erzählung der Reue seiner Brüder und ihre Annahme
wird als eine Art Zwischenhandlung eingeschoben.
Doch gerade das ist von besonderer^Schönheit, da die
Wiederherstellung aller Dinge, wie wir wissen, auf die
Buße und Vollzahl Israels wartet. Die Vorgänge in
Egypten und das völlige Oeffnen der Vorratshäuser
Josephs für Egypten und die ganze Erde wird erst später
zur passenden Zeit im 47. Kapitel erzählt. Denn „was
wird ihre Annahme anders sein, als Leben aus den
Toten"? fragt der Apostel, indem er unter der Leitung
des Geistes die Geschichte Israels aufzeichnet. (Röm. 11.)
„Wenn ihr Fall der Reichtum der Welt ist, und ihre
Verminderung der Reichtum der Nationen, wieviel mehr
ihre Vollzahl!" So können wir denn nicht anders erwarten,
als daß die Buße der Brüder der vollen Segnung
der Erde vorangeht.
ES ist unmöglich, bei diesem Erweichungsprozeß ihrer
Herzen unter der Hand Josephs nicht für einen Augenblick
Zu verweilen. Unsre eignen Herzen würden etwas ent-
60
Lehren, wenn wir diesen Vorgang nicht aufmerksam betrachten
wollten, um ihn zu bewundern und uns mit
Dankbarkeit seiner zu erfreuen; so voll ist er von den
schönsten Zügen wahrer Zuneigung, so tief in der Entfaltung
der sittlichen Grundsätze unsrer Natur, und so
wichtig im Blick auf das Gemälde, welches Er von dem
Wirken Gottes vermittelst Seines Geistes entwirft, indem
Er Sünder durch Ueberführung und durch die Erkenntnis
ihres verderbten Zustandes zur Buße und Neuheit des
Lebens leitet.
Dieses Wirken Gottes vollzieht sich in einer Zeit
der Not und der Drangsal, wie das gewöhnlich in den
Wegen des Gottes aller Gnade der Fall ist; denn Er
weigert sich nicht, von uns gesucht zu werden, wenn wir
keinen Ausweg mehr sehen. So war es bei dem verlornen
Sohne, so bei Josephs Brüdern; und bald wird es sich
ohne Zweifel zeigen, daß es so bei sehr Vielen von denen
der Fall war, die bestimmt sind, Seinen Namen ewig zu
preisen. Der verlorne Sohn wußte nicht mehr aus noch
ein; so blieb ihm nichts anderes übrig, als zu seinem
Vater und seines Vaters Haus zurückzukehren. Josephs
Brüder wissen sich nicht mehr zu helfen, und so müssen
sie hinab nach Egypten und zu Egyptens Vorratshäusern.
Es mag eine niedrige und schlechte Gesinnung in dem
Herzen des Menschen verraten, daß er sich erst dann zu
Gott wendet, wenn alles andere ihn im Stich gelassen
hat; aber der Herr läßt sich von solch schlechten und
selbstsüchtigen Herzen finden. Er läßt sich herab, durch
diese verächtlichen Thüren der Natur einzutreten. Zwanzig
lange Jahre hatten Josephs Brüder behaglich und gut
gelebt, mit aufgespeicherten Gütern und reichen Segnungen
61
um sich her, und Joseph und seine Trübsale waren ganz
und gar in Vergessenheit geraten. Eine Zeitlang besaß
der verlorne Sohn sein Geld, das Erbteil seines Vaters,
das ihm zugefallen war; und so lange sein Geld vorhielt,
suchte er sein Vergnügen und kehrte seinem Vater den
Rücken. Aber die Hungersnot überfällt „das ferne Land"
und „das Land Kanaan", und dann müssen, ob freiwillig
oder unfreiwillig, das Vaterhaus und Josephs Vorratshäuser
ausgesucht werden. (Siehe Hosea 5, 15.)
So kamen Josephs Brüder nach Egypten hinab,
um Speise zu kaufen. Sobald Joseph sie sah, erkannte
er sie. „Er gedachte der Träume, die er von ihnen geträumt
hatte." Und sogleich reifte der Entschluß in ihm,
ihre Seelen wiederherzustellen. Das ist auffallend, aber
zugleich von ausgezeichneter Schönheit. Seine Träume hatten
nur von seiner Erhebung über sie gehandelt. Wenn er
deshalb nur darnach getrachtet hätte, diese Träume wahr
zu machen, so würde er sich seinen Brüdern sofort entdeckt
und, wie die bevorzugte Garbe auf dem Felde oder
wie die Sonne am Himmel, sie vor sich auf ihren Angesichtern
liegend gesehen haben. Mein seine sofortige
Absicht war, ihre Seelen wiederherzustellen, nicht aber sich
selbst zu erheben. Das war der Entschluß, der in seinem
Herzen aufkam, als er den Augenblick vor sich sah, in
welchem er seine eigne Größe und ihre Erniedrigung hätte
verwirklichen können. Wie erhaben und schön ist das!
Es gab Einen in späteren Tagen, der, indem Er wußte,
daß Er von Gott ausgegangen war und zu Gott hinging,
und daß der Vater Ihm alles in die Hände
gegeben hatte, aufstand und sich umgürtete und anfing,
die Füße Seiner Jünger zu waschen. Das Bewußtsein
62
Seiner Würden leitete Ihn nur dahin, den Bedürfnissen
Seiner Heiligen zu dienen. Wer könnte den Charakter
eines solchen Augenblicks schildern? Doch Joseph erinnert
hier in seinem Maße daran. „Er gedachte seiner
Träume" — Träume, die ihn erhöhten und nur erhöhten;
und dennoch wendet er sich sogleich zu den beschmutzten
Füßen, den schuldigen Herzen und verunreinigten Gewissen
seiner Brüder, um sie zu waschen, zu heilen und
wiederherzustellen.
Das ist, ich wiederhole es, in der That auffallend.
Zwischen jener Erinnerung an die Träume und einer solchen
Handlungsweise giebt es keine Verbindung, es sei denn
daß Gnade, göttliche Gnade, deren Zeuge Joseph war, gekannt,
und daß der Jesus von Joh. 13 verstanden wird.
„Joseph gedachte der Träume, die er von ihnen
geträumt hatte, und er sprach zu ihnen: Ihr seid Kundschafter;
die Blöße des Landes zu sehen, seid ihr gekommen."
Das hieß das gute Werk der Wiederherstellung
ihrer Seele beginnen, obwohl der Prozeß demütigend und
schmerzlich war. Das Gewissen muß mit aller Treue
behandelt werden, wenn etwas erreicht werden soll. Und
darauf arbeitet Joseph sogleich hin. Er stellt sich fremd
gegen sie. Er spricht mit ihnen durch einen Dolmetscher,
und er redet hart. Er muß ihr Gewissen in Thätigkeit
bringen, wie schwer das auch für seine persönlichen Gefühle
sein mochte. Seine Liebe muß für den Augenblick
strenge sein; die Stunde der Rührung und der Zärtlichkeit
wird auch kommen. Die Liebe wird einmal belohnt
werden, jetzt aber muß sie dienen. An dem Tage ihrer
Sünde hatten die Brüder von ihm gesagt: „Siehe, da kommt
jener Träumer!" und jetzt, am Tage ihrer Ueberführung,
63
sagt er zu ihnen: „Ihr seid Kundschafter; die Blöße des
Landes zu sehen, seid ihr gekommen." Sie hatten einst
ihren armen Bruder gebunden und verkauft, als ihr Herz
kein Erbarmen kannte; jetzt wird mit aller Entschiedenheit,
die keine Zurückhaltung kennt, einer von ihnen genommen
und gebunden. Doch das alles geschah nur in der gnädigen
Absicht, den Pfeil tief in das Gewissen eindringen zu
lassen, damit sein Gift dort wirke und das Urteil des
Todes dort niederschreibe. Und dieser Zweck wurde erreicht.
Wenn Gott handelt, so dient die Macht des Geistes dem
Vorsatz der Liebe. „Wenn sie mit Fesseln gebunden sind,
in Stricken des Elends gefangen werden, dann macht Er
ihnen kund ihr Thun und ihre Uebertretungen, daß sie
sich trotzig gebärdeten." (Hiob 36, 8. 9.) „Fürwahr,
wir sind schuldig wegen unsers Bruders", sagen sie alle
wie mit einem Gewissen, „dessen Seelenangst wir sahen,
als er zu uns flehte, und wir hörten nicht; darum ist
diese Drangsal über uns gekommen."
Das war schon etwas, ja, es war viel; aber Joseph
muß in dem Dienst der Liebe noch weiter gehen. Hätte
er von Anfang an seinen Namen berücksichtigt, so würde
er sich gleich geoffenbart und als der Geehrte inmitten
seiner beschämten und gedemütigten Brüder gestanden
haben. Hätte er jetzt sein Herz zu Rate gezogen, so
würde er sich geoffenbart und als der Befriedigte an der
Brust seiner überführten, trauernden Brüder gelegen haben.
Doch er that weder das eine noch das andere. Die
Liebe war mit dem Dienst beschäftigt, und
der Ackersmann der Seele muß zu Zeiten, gleich dem
Bearbeiter des Erdbodens, lange Geduld haben und auf
den Früh- und Spätregen warten.
64
Das war ein glücklicher und verheißungsvoller Anfang,
weil es ein richtiger Anfang war. Joseph muß
nunmehr wissen, ob Gefühle kindlicher und brüderlicher
Liebe in seinen Brüdern vorhanden sind, oder ob sie sich immer
noch, wie früher, um das Geschrei eines Bruders und
den Kummer eines Baiers nicht kümmern. Deshalb stellt
er sie weiter auf die Probe. Härte und Freundlichkeit,
Ermunterung und Erschrecken, Forderungen und Gastmähler,
Gunstbezeugungen und Vorwürfe, alles wird benutzt
und alles muß zusammenwirken. Doch alle diese
Dinge sind nach der Schätzung eines schuldigen Gewissens
wenig verschieden. Nach den Vorstellungen eines solchen
Gewissens ist Jesus der aus den Toten auferstandene Johannes
der Täufer. Für ein schuldiges Gewissen ist ein
fallendes Blatt ein bewaffneter Feind. Die Brüder sind
erschreckt, weil sie in das Haus Josephs gebracht werden;
sie fürchten sich, wo kein Grund zur Furcht ist. Aber
alles das bewirkt eine nicht zu bereuende Buße, und die
einer solchen Buße würdige Frucht muß bald hervorkommen.
Joseph entwirft einen Plan, um völlig zu erproben,
ob jetzt wirklich die Gefühle eines Kindes und eines
Bruders in ihnen sind. Als sie im Begriff stehen, zum
zweiten Male mit Speise für sich und ihre Haushaltungen
nach Kanaan zurückzukehren, wird der Kelch Josephs in
Benjamins Sack gethan — wir kennen die Erzählung ja
alle — und sie treten ihre Reise an. Damit haben wir,
so einfach die Sache auch scheinen mag, den Wendepunkt
erreicht. Ihre eignen Lippen werden jetzt das Urteil
sprechen müssen; denn es handelt sich nunmehr um die
Frage, ob sie noch sind, wie sie früher waren, oder ob
65
ihnen ein Herz von Fleisch gegeben worden ist. Wird
die Trübsal Benjamins sie bewegen, wozu die Angstrufe
Josephs einst nicht imstande waren? Wird der Kummer
des betagten Vaters daheim zu ihren Herzen reden, was
er einst nicht gethan hatte? Wir stehen hier gleichsam
wieder auf dem Felde zu Dothan. Die Brüder werden
im Geist wieder an den Ort zurückgeführt, wo sie einst
ihre Missethat begangen hatten. Auf dem Felde zu
Dothan (im 37. Kapitel) handelte es sich um die Frage,
ob sie ihren unschuldigen Bruder Joseph ihren Lüsten,
ihrem Neid und ihrer Bosheit opfern wollten. Hier, wo
Benjamin zum Gefangenen gefordert wird, weil der Kelch
in seinem Sack gefunden wurde — gefordert als einer,
der Leben und Freiheit bei dem Herrn von Egyptenland
verwirkt hatte — werden sie auf dieselbe Weise vor
die Frage gestellt, ob sie ihn opfern und dann leichtfertig,
sorglos und zufrieden ihres Weges nach Hause weiter
ziehen wollen, oder nicht.
Nichts könnte die Weisheit Josephs übertreffen, die
sich darin kundgiebt, daß er seine Brüder moralisch und
im Geiste zu dem Felde in Dothan zurückführt. Hier
wie dort wird dieselbe Frage erhoben und ihnen in ernster
Weise vorgelegt. Juda, „den seine Brüder loben werden",
giebt Antwort auf diese Frage. Was den Kelch betrifft,
so sind sie allerdings unschuldig. Doch das hat für ihre
Gewissen nichts zu bedeuten und wird von Juda gar
nicht erwähnt. Wenn das Gewissen einmal erwacht und
überführt ist, so wird an nichts anderes mehr gedacht als
an die Sünde. „Ich kenne meine Uebertretungen, und
meine Sünde ist beständig vor mir." Die Brüder hätte»
von ihrer Unschuld sprechen und einigermaßen darüber
66
verletzt sein können, daß sie von Joseph immer wieder
falsch verstanden und beschuldigt wurden. Sie waren
Kundschafter genannt worden, als sie aufrichtige Männer
waren; und jetzt wurden sie als gemeine Diebe behandelt,
obwohl sie ehrlich waren. Sie hätten sagen können, das
sei zu arg. Sie hätten manches beleidigende Wort, manche
harte Behandlung ertragen können; aber so behandelt zu
werden, war doch etwas zu viel für Fleisch und Blut,
um es still und ruhig hinzunehmen. Aber nein, nichts von
dem allen hören wir. So waren Josephs Brüder jetzt
nicht mehr. Sie hatten einst ihre Schuld hinter der
Lügenbotschaft, die sie ihrem Vater sandten, versteckt; jetzt
sind sie bereit, ihre Unschuld betreffs des Kelches unter
dem Bekenntnis, das sie Joseph machen, zu verbergen.
Juda tritt auf, um diese neue Gesinnung in ihnen darzustellen.
Sie waren in der That schuldlos in allen
Liefen Dingen, von Anfang öis zu Ende; fie waren weder
Kundschafter noch Diebe; aber einige zwanzig Jahre früher
hatten sie sich einer Sache schuldig gemacht, von welcher
dieser Fremdling in Egypten (wie sie nicht anders voraus-
setzeu konnten), nichts wußte, die aber Gott und ihr Gewissen
kannte. Sie mögen augenblicklich unschuldig sein,
aber damals waren sie schuldig gewesen; und ihre Sünde,
und diese allein, steht jetzt vor ihnen. Bekenntnis und
nicht Rechtfertigung ist ihre Sprache. „Was sollen wir
reden," sagt Juda, „und wie uns rechtfertigen? Gott
hat die Missethat deiner Knechte gefunden."
Joseph stellt sich einen Augenblick so, als ob ihn
das alles nichts anginge; das sei ihre Sache, aber Benjamin
gehöre ihm. Benjamin war der Schuldige, soweit
es den großen Mann in Egypten betraf; er muß bleiben.
67
die übrigen können, so rasch es ihnen gefällt, nach Hause
zurückkehren. „Der Mann, in dessen Hand der Kelch gefunden
worden ist, der soll mein Knecht sein; und ihr,
ziehet hinauf in Frieden zu eurem Vater."
Was könnte die Weisheit Josephs übertreffen! War
die Weisheit Salomos größer, als er den Streit zwischen
den beiden Huren entschied? Wenn er, in einem Geiste
des Gerichts, der für einen auf dem Richterstuhl
Sitzenden passend war, das Herz einer Mutter ausfindig
machte, deckte dann nicht Joseph hier mit derselben göttlichen
Weisheit in wirklich bewundernswürdiger Weise das
Herz seiner Brüder auf?
Nach jenen Worten Josephs tritt Juda mit den
Gefühlen eines Sohnes und Bruders für Jakob und
Benjamin ein. „Der Knabe" und „der alte Vater" bilden
den Hauptinhalt seiner Rede, denn sein Herz ist jetzt von
ihnen erfüllt. Er will ein Knecht seines Herrn bleiben,
wenn nur „der Knabe" zu „seinem Vater" zurückkehren
kann. Wenn nur das Herz des Vaters getröstet wird
und Benjamins Unschuld ihn bewahrt, so will Juda dankbar
sein, mag mit ihm selbst geschehen was da will.
Der Erfolg, den Joseph von Anfang an im Auge
hatte, ist jetzt erreicht. Die Güte Gottes hat zur Buße
geleitet. Joseph war in der That erhöht, die Garbe
hatte sich aufgerichtet und stand aufrecht; doch der Zweck
von allem war, ihre Sünde hinwegzunehmen. So ist auch
Christus jetzt, wie wir lesen, „zum Führer und Heiland
erhöht worden, um Israel Buße und Vergebung der
Sünden zu geben". (Apstgsch. 5, 31.)
Und nun kann der Schleier zerrissen werden, und
er wird zerrissen. Joseph wird sich seinen Brüdern zu
68
erkennen geben. Doch das war ein Augenblick, der außergewöhnliche
Weisheit erforderte. Das Wiedererscheinen
dessen, den sie gehaßt und verkauft hatten, und bei dessen
Andenken ihre Seelen eben noch so tief erschüttert worden
waren, konnte zu überwältigend für sie sein. Joseph muß
dieses Licht für ihre Augen dämpfen, damit es sich nicht
unerträglich für sie erweise. Doch die Liebe ist erfinderisch
und hat für jede Gelegenheit die passenden Mittel und
Wege. „Ich bin Joseph," sagt er zu seinen Brüdern,
fügt aber so zu sagen in demselben Atem hinzu: „lebt
mein Vater noch?"
Welch ein schöner Beweis von der Größe der Gnade
und von der Erfindungsgabe der Liebe! Joseph hätte
sich diese Frage selbst beantworten können. Judas Worte
(die ihm sicherlich noch in den Ohren klangen, da sie zu
kostbar für ihn waren, als daß er sie so rasch hätte vergessen
können,) hatten ihm schon gesagt, daß sein Vater
noch am Lehen sei. Aber Joseph beeilte sich, die Gedanken
seiner Brüder auf eine dritte Person hinzulenken.
Die Aufseher und Diener des Palastes durften nicht
gegenwärtig sein, wenn er sich seinen Brüdern zu erkennen
gab; denn das hätte sie vor jenen blobgestellt. Aber
ebensosehr fürchtete Joseph, mit ihnen allein zu sein, weil
er dies für zu schwer für sie hielt. Darum brachte er
eine dritte Person hinein; und er hätte keine passendere
finden können als gerade diejenige, welche er durch seine
Worte einführte.
Das war in der That an seinem Platze vollkommen.
Es erinnert mich an die Scene am Brunnen zu Sichar.
„Ich bin's, der mit dir redet," sagt der Herr zu dem
Weibe, welches gerade durch Ihn dahin gebracht worden
69
war, sich selbst in ihren vielen Sünden zu erkennen. Er
sagt nicht nur: „Ich bin's," sondern: „Ich bin's, der
mit dir redet". In diesen Worten offenbart Er Seine
Herrlichkeit. Er steht vor ihr als der Messias, der nach
ihren eignen Worten alles verkündigen konnte, und der
ihr, wie sie es gerade erfahren, wirklich alles gesagt hatte,
und zwar Dinge, die für das Ohr eines erwachten Gewissens
schrecklich waren. Aber Er offenbart zugleich mit
Seiner Herrlichkeit auch die liebliche, herablassende und
einladende Gnade Dessen, der da saß und mit ihr, dem
sündigen Weibe, redete. Und auf diesem Grunde fand
ihre Seele Freimütigkeit, während man meinen möchte, sie
hätte überwältigt werden müssen.
Ja, die Liebe weiß immer das rechte Wort und den
rechten Weg zu finden. Doch wir werden noch mehr davon
bei Joseph sehen.
Kurz nachher sagt er ihnen nochmals: „Ich bin
Joseph", und fügt dann hinzu: „den ihr nach Egypten
verkauft habt". Aber in unmittelbarer Verbindung damit
setzt er ihnen Gottes Vorsätze bezüglich dieser ganzen
Sache weitläufig auseinander und sagt ihnen, wie wichtig
es für den Pharao, für Egypten und für die ganze Welt,
ja selbst für sie und ihre Haushaltungen gewesen sei und
noch sein würde, daß er seine Heimat verlassen habe. Die
Liebe läßt ihnen somit keine Zeit, sich mit Gedanken über
sich selbst zu beschäftigen. Joseph erfüllt ihre Herzen mit
einer Menge andrer Gedanken — und dann küßt er sie
und weint mit ihnen.
Jetzt, nachdem alles dieses geschehen ist, mögen auch
die Leute des Pharao wieder zugegen sein und in den
Fremden aus Kanaan nicht Josephs Verfolger, sondern
70
seine Brüder erkennen. Nur in diesem Charakter werden
sie in den Palast geführt. Gerade wie in dem Gleichnis
vom verlorenen Sohn: der Vater allein will ihn in seinem
Elend sehen; und während er noch mit Lumpen bedeckt,
in Hunger und Schande ist, küßt und bewillkommt
er ihn; aber die Haushaltung soll ihn als Sohn am
Tische sehe». „Lasset jedermann von mir hinausgehen",
hatte Joseph gesagt, als er im Begriff stand, sich seinen
Brüdern zu erkennen zu geben; aber jetzt soll das ganze
Haus des Pharao hören, daß Josephs Brüder angekommen
sind. Alles das atmet den Geist des Hochgelobten, von
welchem uns die Evangelien erzählen; wir befinden uns
gleichsam in Joh. 4 und Luk. 15, wenn wir 1. Mose 45
betrachten. (Fortsetzung folgt.)
„Ziehe mich: wir werden dir nachlaufen."(Hohel. 1, 4.)
„Ziehe mich: wir werden dir nachlaufen." Je mehr
wir von Christo kennen, desto größer wird unser Verlangen
sein, noch mehr von Ihm kennen zu lernen. Je näher
wir Ihm sind, desto mehr werden wir wünschen, Ihm
noch näher zu kommen. Wie Paulus sagt: „um Ihn
zu erkennen" (Phil. 3, 10), und doch kannte Ihn niemand
auf Erden so gut wie er. Und wiederum: „auf
baß ich Christum gewinne", und doch war nie ein Heiliger
seines Kampfpreises sicherer als Paulus. Obwohl
er ein Gefangener zu Nom war und Mangel litt, konnte
er in Wahrheit sagen: „Das Leben für mich ist Christus
und das Sterben Gewinn." O welch eine reiche Erfahrung,
welch ein ruhiges Vertrauen, welch eine tiefe,
71
keine Grenzen kennende Freude strahlt aus seinem Briefe
an die Philipper hervor!
Die Fülle der Segnungen, die es in Christo für
uns giebt, ist so unendlich, daß, je mehr wir sie erfassen,
wir umsomehr erkennen, wie wenig wir sie noch erfaßt
haben. Je mehr wir von der Wirklichkeit und Fülle Seiner
Liebe schmecken, desto mehr werden wir imstande sein, in
Wahrheit auszurufen, daß sie alle Erkenntnis übersteigt.
Da sind Breiten und Längen und Tiefen und
Höhen, die wir niemals erfassen und ergründen werden.
Und die Freude, die in Seiner Gegenwart geschmeckt
wird, ist eine solche, daß das Herz, selbst indem es sie
genießt, sich nach größerer Nähe sehnt, ja daß es das
Gefühl hat, als wenn es sich verhältnismäßig noch in
einer gewissen Entfernung von Ihm befände.
Gerade aus den Worten der liebenden Braut: „Ziehe
mich: wir werden dir nachlaufen", scheint hervorzugehen,
daß ihr Verlangen nach der Nähe der Person des Herrn so
groß war, daß sie, so nahe und teuer sie auch sein mochte,
doch noch etwas wie eine Entfernung von Ihm wahrnahm.
Darum der tiefe Wunsch ihres Herzens: „Ziehe mich" —
o ziehe mich näher, inniger, Herr, zu Dir! Wenn wir
diesen Vers mit dem Inhalt des 2. Verses vergleichen,
so ist offenbar ein Wachstum in der Gnade zu erkennen,
eine wachsende Erkenntnis Seiner selbst. Ein größeres
Verlangen nach innigerer Gemeinschaft giebt sich kund,
ähnlich wie wir es in vielen Psalmen finden: „Gott,
du bist mein Gott! frühe suche ich dich. Es dürstet nach
dir meine Seele, nach dir schmachtet mein Fleisch in einem
dürren und lechzenden Lande ohne Wasser. . . . Meine
Seele hängt dir nach, es hält mich aufrecht deine Rechte."
72
(Psalm 63.) Die gesegnetste Gemeinschaft mit dem Herrn
steht immer in Uebereinstimmung mit dem heißesten Verlangen
nach größerer Nähe zu Ihm. Kannst du das
bestätigen, mein lieber Leser? Kennst du eS aus eigener
Erfahrung? Prüfe alle deine Worte und Wege vor dem
Herrn und laß dein Urteil über sie ergehen; der Heilige
Geist sagt uns, daß die Worte des Herrn reine Worte
sind, geläutert in dem Schmelztiegel, „siebenmal" gereinigt.
Ach, wie oft sprechen und schreiben wir, ohne unsre Worte
auch nur ein einziges Mal zu läutern!
Es besteht ein herrlicher Zusammenhang zwischen
dem Ziehen des Herrn und unserm Nachlaufen. „Wir
werden dir nachlaufen." Beachten wir sorgfältig die
Worte: „dir nach"! In diesen Worten ist viel mehr
enthalten, als man zu sagen vermöchte; sie sind von der
größten Wichtigkeit. „Dir nach", nicht unsern eignen
Meinungen nach, oder selbst den besten Menschen auf
Erden nach, sondern „dir nach". Wie es in dem herrlichen
16. Psalme heißt: „Ich habe Jehova stets vor
mich gestellt." Nicht bloß zu gewissen Zeiten, sondern „stets".
O welch einen Pfad würden wir auf Erden wandeln,
wenn das stets bei uns der Fall wäre! Wie abgesondert
würde er von allem sein, was nicht Christus ist.
Und sicherlich, wenn wir bitten: „Ziehe mich", so sollten
wir auch bereitwillig hinzufügen können, wie die Braut
und ihre Gefährtinnen es thun: „wir wollen dir nachlaufen".
Doch noch ein anderer köstlicher Gedanke ergiebt sich
aus dem Gegenstände unsrer Betrachtung. Derjenige,
welcher zieht, geht voran. So geht der Herr vor Seinem
Volke her in der Wüste, und sieht die Gefahren und
73
begegnet ihnen, bevor die Seinigen zu ihnen gelangen.
Viele, viele sind der Gefahren, von denen wir durch Jesum
befreit werden, ohne daß wir sie nur kennen lernen.
„Wenn Er Seine eignen Schafe alle herausgelassen hat,
geht Er vor ihnen her, und die Schafe folgen Ihm."
(Joh. 10, 4.) Der Feind mag uns auf dem Wege, den wir
zu gehen gedachten, eine Schlinge gelegt haben; aber unser
göttlicher Führer, die Schlinge erkennend, führt uns einen
andern Weg, leitet uns nach einer andern Richtung hin,
und so sind wir der Schlinge, die uns hätte verhängnisvoll
werden können, entgangen. Und bei alledem fühlen
wir uns vielleicht getäuscht und sind unzufrieden, weil uns
ein Hindernis das vorgenommene Ziel nicht erreichen ließ.
— Anbetungswürdiger Herr! möchten wir doch allezeit
und allein „Dir nachlaufen"! —
„Der König hat mich in seine Gemächer geführt:
wir wollen frohlocken und deiner uns freuen, wollen deine
Liebe preisen mehr als Wein. Sie lieben dich in Aufrichtigkeit."
Hier haben wir das Resultat, die gesegneten
Früchte des Ziehens und des Nachlaufens. Das
Gebet war der Ausdruck bewußter Schwäche und Abhängigkeit,
verbunden mit heiligem Fleiß. Die Jungfrauen
sind rüstig gelaufen und haben das Ziel erreicht.
Und nun finden wir sie in des Königs Gemächern, gekrönt
mit Freude und Fröhlichkeit. Aber vergessen wir es nie:
es ist Gnade, die zieht, Gnade, welche nachläuft, Gnade^
die da krönt; und alles dieses fließt hervor aus dem
endlosen Ozean der Liebe des Heilandes. „Wir wollen
deine Liebe preisen mehr als Wein." Jetzt gebraucht die
Braut das Wort „preisen". Erkannt hatte sie Seine Liebe
schon vorher, aber sie erfreut sich ihrer jetzt mit wachsendem
74
Interesse, sie preist sie in bewußtem Genuß. Sie ist von
ihr umgeben wie von der Luft, ist ganz in sie eingeschlossen.
„Der König hat mich in seine Gemächer gebracht."
Aber warum wird wohl Christus hier „der König"
genannt? Weil hier in prophetischer Weise von Seinen
Beziehungen zu Israel nach dessen Wiederherstellung
die Rede ist. Wenn es sich um die Rechte und Titel
des Herrn handelt, so ist Er stets der König. Aber wird
Er jemals der König der Kirche genannt? Nirgendwo in
der ganzen Heiligen Schrift. Er ist ein König und würdig
aller Ehrerbietung; aber die Schrift spricht von Ihm als
dem Haupte Seines Leibes, der Kirche, und als dem
König der Juden. Als solcher kam Er zuerst in Niedrigkeit
und Gnade auf diese Erde herab und stellte sich
der Tochter Zion dar. Aber ach! sie wollte nichts von
Ihm; Er wurde verachtet und verworfen, gekreuzigt und
getötet. Aber Gott weckte Ihn auf aus den Toten und
gab Ihm Herrlichkeit, wodurch Seine Rechte und Titel,
nicht allein als König der Juden, sondern auch als Haupt
Seines Leibes, der Kirche, und als Mittelpunkt aller
zukünftigen Herrlichkeit, gewahrt wurden. (Vergl. Sach. 9;
Joh. 12; Apostgsch. 2; Eph. 1; Phil. 2.) Die Juden
schrieen fast in demselben Atemzuge: „Hosanna! Gepriesen
sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels!"
und: „Hinweg, hinweg! kreuzige Ihn!" Ach! so
kurz ist die Dauer menschlicher Volkstümlichkeit. Die Juden
machten auf diese Weise das Maß ihrer Sünden voll,
und ihre Beziehungen zu Gott wurden abgebrochen. Der
Messias wurde abgeschnitten, das Zeugnis des Heiligen
Geistes verworfen, und für den Augenblick war im Blick
auf das Reich alles dahin.
75
Dessenungeachtet wird das Wort des Herrn feststehen
in Ewigkeit. Der Unglaube und die Sünde des Menschen
können nimmer die Treue Gottes aufheben. In dem
durch Christum vollbrachten Erlösungswerke wurde die
Grundlage gelegt für die spätere Wiederherstellung Israels
in Gnaden, gemäß der unveränderlichen Ratschlüsse Gottes,
und um die Kinder in den vollen Besitz und Genuß der
Segnungen einzuführen, die den Vätern einst verheißen
waren. „Denn ich sage, daß Jesus Christus ein Diener
der Beschneidung geworden ist um der Wahrheit Gottes
willen, um die Verheißungen der Väter zu
bestätigen." (Röm. 15, 8.) Nichts könnte klarer und
deutlicher sein als die prophetischen Erklärungen des
Wortes Gottes bezüglich der zukünftigen Herrschaft des
Herrn Jesu in Verbindung mit dem Throne Davids und
dem ganzen Hause Israels. Sicherlich wird Seine Herrschaft
und Herrlichkeit sich nicht auf die wiederhergestellten
Stämme und das Land Israel beschränken; aber Jerusalem
und die Städte Judas werdenden irdischen Mittelpunkt
Seines tausendjährigen Reiches ausmachen, gleichwie das
himmlische Jerusalem, die Stadt des lebendigen Gottes,
den himmlischen Mittelpunkt der vielen Kreise Seiner
himmlischen Herrlichkeit bilden wird. (Hebr. 12, 22—24.>
Da wir einmal von „dem König" reden, so laßt uns
noch einen Augenblick bei den Prophezeiungen verweilen,
die Ihn uns in diesem Charakter vor Augen stellen^
„Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn uns gegeben,
und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und man
nennt seinen Namen: Wunderbarer, Berater, starker
Gott, Vater der Ewigkeit, Friedefürst. Die Mehrung
der Herrschaft und der Friede werden kein Ende haben
76
auf dem Throne Davids und über sein Königreich, um
es zu befestigen und zu stützen durch Gericht und durch
Gerechtigkeit, von nun an bis in Ewigkeit. Der Eifer
Jehovas der Heerscharen wird dieses thun."
<Jes. 9, 6. 7.) Diese alte Prophezeiung, die der Eifer
Jehovas der Heerscharen zu seiner Zeit voll und ganz
erfüllen wird, wurde ihrem wesentlichen Inhalte nach durch
den Engel Gabriel wiederholt, als er mit der Botschaft zu
Maria kam: „Du wirst einen Sohn gebären, und du sollst
seinen Namen Jesus heißen. Dieser wird groß sein und
Sohn deS Höchsten genannt werden; und der Herr, Gott,
wird ihm den Thron seines Vaters David geben; und er
wird über das HauS Jakobs herrschen in die Zeitalter,
und seines Reiches wird kein Ende sein." (Luk. 1, 31
bis 33.) Schier unzählig sind die Prophezeiungen, die
diesen Gegenstand behandeln, aber ihrer vollen Erfüllung
noch harren.
Aber war nicht Jehova in alten Zeiten schon König
in Jerusalem? Sicher und gewiß. Von der Zeit der
Befreiung Israels aus Egypten bis zu den Tagen Samuels
war Jehova Israels König. Dann aber verlangte das Volk
einen König, gleich den übrigen Nationen, die um sie
her wohnten, und verwarf den Herrn als seinen König.
Gott entsprach ihrem Verlangen und gab ihnen einen
König; aber die Sache endete, wie alles andere bei Israel
unter dem Gesetz, in vollständigem Mißlingen. Die
ganze Geschichte Israels, von den Ufern des Roten Meeres
bis zum Kreuze auf Golgatha oder bis zur Steinigung
des Stephanus, ist nichts anderes als ein beständiges
Mißlingen und Fehlschlagen, und zwar in jeder Beziehung
und unter allen Umständen. Mögen wir Israel
77
unter dem Gesetz betrachten, oder als den Weinstock, den
Gott aus Egypten in das Land Kanaan verpflanzte, oder
als das verehelichte Weib und als Gottes Zeugnis auf
der Erde — wir finden nicht allein ein beständiges Fehlen,
sondern das Volk wurde auch unverbesserlich in
seinen Sünden. Darum kam schließlich Gottes gerechtes
Gericht über sie. Ihre geliebte Stadt Jerusalem wurde
von Heeren umlagert, ihr Tempel und die heilige Stadt
dem Erdboden gleichgemacht, und diejenigen, welche der
Schärfe des Schwertes entrannen, wurden in alle vier
Winde des Himmels zerstreut.
Von jenem Tage an bis auf unsre Zeit ist der
Zustand Israels „öde und verlassen" gewesen. Es wird
aber nicht immer so bleiben. Es ist notwendig, stets im
Auge zu behalten, daß es einen großen Unterschied giebt
zwischen den Regierungswegen Gottes mit Seinem
Volke und Seinen Wegen in Gnade. Unter der gerechten
Regierung Gottes haben die Juden, infolge ihrer
Sünden und ihrer Unbußfertigkeit, bisher unter Seiner
Züchtigenden Hand gestanden und stehen heute noch darunter;
aber die Gnade und Liebe Seines Herzens gegen sie
bleiben unveränderlich dieselben. Beachten wir die Bedingungen
des Bündnisses: „Und ich werde den Samen
Davids um deswillen demütigen, doch nicht alle Tage."
<1. Kön. 11, 39.) Das ist ein Grundsatz von außerordentlicher
Wichtigkeit, nicht allein im Blick auf Israel
und die Kirche, sondern auch auf den einzelnen Gläubigen.
Auf denselben großen Grundsatz bezieht sich der Apostel,
wenn er von Israels Verwerfung und Wiederherstellung
redet: „Sie sind ausgebrochen worden durch den Unglauben
. . .; hinsichtlich der Auswahl aber sind sie
78
Geliebte um der Väter willen. Denn die Gnadengaben
und die Berufung Gottes sind unbereubar." (Röm. 11.)
Der gegenwärtige Zustand und die zukünftige Wiederherstellung
der Juden werden auch in rührender Weise
durch den Propheten Hosea beschrieben: „Denn die Kinder
Israel werden 'viele Tage ohne König bleiben und ohne
Fürsten, und ohne Schlachtopfer und ohne Bildsäule, und
ohne Ephod und Teraphim. Darnach werden die Kinder
Israel umkehren und Jehova, ihren Gott, und David,
ihren König, suchen; und sie werden sich zitternd wenden
zu Jehova und zu Seiner iGüte am Ende der Tage."
(Hos. 3, 4. 5.) Herrlicher Gedanke! Sie werden nochmals
„Jehova, ihren Gott, und David, ihren König,
suchen". Und was ist das Hohelied Salomos anders als
die immer von neuem wiederholte Zusicherung an den
Ueberrest, daß die Zuneigung des Königs zu ihm unveränderlich
sei? Der gottesfürchtige ^Ueberrest in den letzten
Tagen kann Seine Liebe in diesem Liede lesen — die
unermüdliche, nichts vorwerfende, treu ausharrende Liebe
„Jehovas, ihres Gottes, und Davids, ihres Königs".
In der Vergangenheit haben sie alle das Gesetz gebrochen;
in der Zukunft werden sie alle wiederhergestellt werden
auf Grund der Gnade. In der Vergangenheit standen
sie auf dem Boden eines mit Bedingungen verknüpften
Bündnisses; in der Zukunft werden sie auf dem Boden
der bedingungslosen Gnade Gottes stehen. Der Wert
des Opfers ihres einst verworfenen Messias, sowie die
Fülle der Liebe Gottes werden das Maß ihrer Segnungen
bilden. Wer aber könnte ermessen, was unermeßlich ist?
Und so wird die Liebe des Königs zu seiner jüdischen
Braut sein: unermeßlich, ohne Schranken!
79
Das Buch Ruth giebt uns in sehr einfacher und
wahrhaft rührender Weise eine bildliche Erläuterung von
dem vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zustande
Israels. Aus dem Eheleben Noomis blieb kein Same
übrig. „Nennet mich nicht Noomi" (Lieblichkeit), sagt
sie, „sondern nennet mich Mara (Bitterkeit), denn der Allmächtige
hat es mir sehr bitter gemacht." Ihr Mann
Elimelech (welches bedeutet: mein Gott ist König)
und ihre beiden Söhne waren im Lande Moab gestorben.
Noomi war jetzt eine Witwe, einsam, ohne Nachkommen
und ohne alle Hülfsguellen. — „Nennet mich Mara . . .
Voll bin ich gegangen, und leer hat mich Jehova zurückkehren
lassen." Welch ein treffendes Bild von der jüdischen
Nation, die Gott als ihren König und Ehemann verloren
hat und nun einsam und eine Witwe ist! Aber ein
schwacher Ueberrest in der Person der sanften und demütigen
Ruth hängt Noomi an und sucht Schutz unter den
Flügeln des Gottes Israels. „Glückselig die Sanftmütigen,
denn sie werden das Land ererben!" (Matth.
5, 5.) Das Feld, welches sie als eine arme Nachleserin
betrat, wurde ihr Eigentum. Aber der nächste Anverwandte
weigerte sich, das Erbteil zu lösen, wenn er zu gleicher
Zeit Ruth zum Weibe nehmen mußte. Die Angelegenheit
wurde in Gegenwart von zehn Zeugen geordnet. (Kap.
4, 1—12.) Diese zehn Männer aus der Stadt mögen
vorbildlich an die zehn Gebote erinnern, welche gegeben
waren, bevor Christus kam; aber es gab keine Frucht
für Gott unter dem Gesetz. (Vergl. Röm. 7, 1—4.)
Boas (welches bedeutet: in ihm ist Stärke)
nimmt sich jetzt mit ganzem Herzen der Sache des schwachen
Ueberrestes von Elimelechs Hause an. Er ist ein Vor
80
bild des auferstandenen Christus, der als „Sohn Gottes
in Kraft erwiesen worden ist durch Toten-Auferstehung".
(Röm. 1, —4.) Was dieses Gemälde so überaus schön
macht, ist der Umstand, daß Ruth keine unmittelbaren
Ansprüche an Boas hatte. Er war nicht der nächste Verwandte;
darum war sein Thun gänzlich Gnade. Israel
sowohl wie auch die Heiden können das Erbteil nur besitzen
aus reiner Gnade. „Und Ruth gebar einen
Sohn . . . und Noomi nahm das Kind und legte es
in ihren Schoß und ward ihm zur Wärterin. Und die
Nachbarinnen gaben ihm einen Namen, indem sie sprachen:
Ein Sohn ist der Noomi geboren." Rührende Scene!
Liebliche Gnade! Das Herz der Witwe wird froh gemacht
und singt wie in den Tagen ihrer Jugend. Die Einsame
ist sozusagen die Mutter von Kindern geworden. Der
beraubte Schoß ist wieder mit einem lebenden Erben gesegnet.
Alles ist Freude. So haben wir hier ein überaus
liebliches Vorbild von der dereinstigen vollständigen
Wiederherstellung Israels zu Ehren, Herrlichkeit und Würden
im Lande. Der wahre Boas wird über kurz oder
lang die Sache des gottesfürchtigen Ueberrestes in Seine
Hand nehmen und Israel im Lande wieder aufrichten
auf einem ganz und gar neuen Boden.
Derselben Wahrheit begegnen wir in zahlreichen
andern Stellen der Heiligen Schrift. So lesen wir z. B.
in Jesaja 62: „Und die Nationen werden deine Gerechtigkeit
sehen, und alle Könige deine Herrlichkeit; und du
wirst mit einem neuen Namen genannt werden, welchen
der Mund Jehovas bestimmen wird. Und du wirst eine
prachtvolle Krone sein in der Hand Jehovas und ein
königliches Diadem in der Hand deines Gottes. Nicht
81
mehr wird man dich „Verlassene" heißen, und dein Land
nicht mehr „Wüste" heißen; sondern man wird dich nennen:
„Meine Lust an ihr", und dein Land: „Vermählte"; denn
Jehova wird Lust an dir haben, und dein Land wird
vermählt werden." Und in Hosea 2: „Darum siehe, ich
werde sie locken und sie in die Wüste führen, und ihr
zum Herzen reden; und ich werde ihr von dort aus ihre
Weinberge geben, und das Thal Achor zu einer Thür
der Hoffnung. Und sie wird daselbst singen wie in dem
Tagen ihrer Jugend, und wie an dem Tage, da sie aus
dem Lande Egypten heraufzog ..... Und ich will dich
mir verloben in Ewigkeit, und ich will dich mir verloben,
in Gerechtigkeit und in Gericht, und in Güte und in
Barmherzigkeit, und ich will dich mir verloben in Treue p
und du wirst Jehova erkennen." O wunderbare, schrankenlose
Gnade! Es ist die Gnade Gottes in Christo Jesu
gegenüber Seinem widerspenstigen, Halsstarrigen Volke, ja
Seine Gnade gegenüber dem größten der Sünder! Die Liebe
ist ihre Quelle; die Gnade strömt hervor; der Verlorne
ist gefunden. Die Liebe bleibt sich immer gleich. Der Herr:
liebt Israel, Er liebt die Kirche, Er liebt den einzelnen
Gläubigen. Jede Seele, die sich zu Ihm ziehen läßt,
wird von Ihm geliebt mit einer vollkommnen Liebe. Mögen
wir auch von Herzen Ihn lieben und uns Seinererfreuen,
die tiefere Liebe und Freude liegen auf Seiner
Seite. O grenzenlose Liebe, unermeßliche Gnade, himmlische
Freude, ewige Wonne! „Der König hat mich in
seine Gemächer geführt; wir wollen frohlocken und deinee
uns freuen, wollen deine Liebe preisen mehr als Wein."
82
„Von den Höhen herab."(4. Mose 23, 9.)
Wollen wir unsern Mitgläubigen von Nutzen sein
und (vor allem in einer Zeit der Verwirrung und des
Verfalls) in der richtigen Gesinnung ihnen gegenüber
bleiben, so dürfen wir nicht aufhören, sie „vom Gipfel
der Felsen und von den Höhen herab" zu betrachten;
oder mit andern Worten, wir müssen uns stets zu den
Gedanken Gottes über Seine Kirche oder Versammlung
erheben, zu dem, was sie für Ihn ist, wie Er sie steht
in Christo Jesu, Seinem Geliebten. Thun wir dies nicht,
so werden unsre Seelen bald ermatten ; wir werden enttäuscht
unsre Bemühung der Liebe einstellen und mutlos
die Hände in den Schoß sinken lassen. Anstatt darnach zu
trachten, die Versammlung zu nähren und zu pflegen, wie
unser geliebter Herr es unermüdlich thut, und die Einzelnen
immer von neuem zu ermuntern, zu trösten und
zu ermahnen, so wenig Erfolg sich auch zeigen mag —
werden wir entweder den Maßstab, den wir bisher an
unser christliches Leben zu legen pflegten, gleich den Andern
erniedrigen und dem allgemeinen Strome zur Welt hin
folgen, oder wir werden unzufrieden und ärgerlich werden
und in einem gesetzlichen Geiste über unsre Mitpilger zu
Gericht sitzen. Beides ist böse. Der Glaube erhebt sich
stets über die Umstände, so traurig und niederdrückend sie
sein mögen, und während er die Versammlung allezeit in
ihrer Schönheit und Lieblichkeit in Christo sieht, sucht er
die einzelnen Gläubigen praktisch in dem Wohlgeruch der
Gnade Christi zu erhalten. In Demut und Treue ist er bemüht
zu dienen, die Müden und Schwachen aufzurichten,
die Verirrten auf den rechten Weg zurückzuführen, die
83
Kleinmütigen zu trösten, die Unordentlichen zurechtzuweisen^
die Schläfrigen aufzurütteln u. s. w. Und gerade das
Bewußtsein, was jene alle in Christo sind, befähigt ihn,
seinen Dienst in der rechten Weise zu üben.
Wie wunderbar sind die Aussprüche Gottes über
Sein allezeit irrendes Volk in der Wüste! „Wie schön
sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!
Gleich Thälern breiten sie sich aus, gleich Gärten am
Strome, gleich Aloebäumen, die Jehova gepflanzt hat,
gleich Cedern am Gewässer." (4. Mose 24, 5. 6.) Sollte
man sagen, daß es dasselbe Volk wäre, mit dem Gott
im nächsten Kapitel so ernst reden und das Er seiner
Sünde wegen so schwer heimsuchen muß? Ja, es ist
dasselbe Volk; wunderbarer Gott, anbetungswürdige Gnade!
Und wir? Könnte es uns, wenn Gott ein so herrliches
Gemälde von den Seinigen entwirft, gleichgültig sein,
sie träge, weltförmig und Christum verunehrend dahingehen
zu sehen? Unmöglich!
Die Gläubigen sind „ein Brief Christi, geschrieben
mit dem Geiste des lebendigen Gottes". (2. Kor. 3, 3.)
Darum kommt die Herrlichkeit Christi in Frage, wenn
ihr Verhalten ein unwürdiges ist. Wie ernst! Sie sind
gleich „Aloebäumen, die Jehova gepflanzt hat, gleich
Cedern am Gewässer". O möchten wir doch stets die
Versammlung und jeden einzelnen Gläubigen so mit den
Augen Gottes betrachten! Und wir dürfen es thun
angesichts, ja inmitten der Macht Satans. „Du bereitest
vor mir einen Tisch, angesichts meiner Feinde", sagt
David; und so ist es in der That. Die Feinde können
nur sehen, wie gesegnet ich bin und wie ich mich an dem
erquicke, was Gott bereitet hat. „Du hast mein Haupb
84
mit Oel gesalbt, mein Becher fließt über." Nicht nur
habe ich Gnade und Barmherzigkeit empfangen, sondern
ich habe auch ihre Fülle verstanden: mein Becher fließt
über. Und so wie ich mich für die Gegenwart auf die
erprobte Treue Gottes stützen kann, so darf ich ihr auch
für die Zukunft vertrauen: „Fürwahr, Güte und Huld
werden mir folgen alle Tage meines Lebens, und ich
werde wohnen im Hause Jehovas auf Länge der Tage."
Wo ein richtiges Gefühl von der Schönheit der
Versammlung in den Augen Gottes und zugleich von ihrer
Schwachheit und Fehlerhaftigkeit ist, da wird auch ein
Geist der Sanftmut und Demut Gott und den Gläubigen
gegenüber nicht fehlen. Der Herr gebe uns, daß wir
nicht verzagen, aber auch nicht gleichgültig seien im Blick
auf das Böse in uns und in unsern Brüdern! Die
Wasser Gottes sind an der Wurzel der Pflanze, wie armselig
sie auch aussehen und wie schlecht sie auch gepflegt
sein mag. Kostbarer Gedanke! Möchten wir stets imstande
sein, uns zu den Gedanken Gottes bezüglich Seines
Volkes zu erheben und uns in Ihm zu erfreuen, der
Gottes Wonne und unsre Freude und Herrlichkeit ist!
Laß nur die Woge toben!
Laß nur die Woge toben,
Die an dein Schifflein schlägt;
Dein Heiland sieht von oben,
Was hier dein Herz bewegt.
Wenn auch in manchen Stürmen
Dein Lebensschifflein schwankt;
Dein Heiland wird dich schirmen,
Deß Treue nimmer wankt.
O traue Ihm, dem Treuen,
Doch alles, alles zu!
Bald wird Er dich erfreuen
Mit ew'ger, sel'ger Ruh'.
85
Joseph. (Fortsetzung.) 4
Es giebt Zeiten und Verhältnisse im menschlichen
Leben, wo das Herz ganz und gar in den Vordergrund
tritt und seine Rechte geltend macht. Wir alle kommen
zuweilen in eine solche Lage, wie auch der Herr selbst es
that. In Seinem Verkehr mit den Jüngern finden wir
eine nie wankendc^Treue. Er ließ ihre Fehler nicht ungestraft
durchgehen; vielmehr tadelte Er sie oft, weil Er
sie vollkommen liebte. Es lag Ihm mehr daran, ihre
Seelen zu erziehen und zu üben, als Sein eignes Herz
zu befriedigen. Doch es kam ein Augenblick, wo die Treue
der Zärtlichkeit Platz machen mußte. Ich meine die Stunde
der Trennung, wie sie uns in Joh. 14—16 beschrieben
wird. Da war es nicht mehr an der Zeit, treu zu sein.
Die Erziehung der Seele unter den Zurechtweisungen eines
Hirien sollte nicht länger fortgesetzt werden. Kein: „O
ihr Kleingläubigen!" oder: „Wie, verstehet ihr noch nicht?"
wurde mehr gehört. Die Stunde der Trennung war gekommen,
und das Herz hatte Freiheit, sie für sich auszu
nutzen.
Nun, eine Versöhnungsstunde gleicht in dieser
Beziehung einer Scheidestunde. Das Herz nimmt sie
ganz für sich in Anspruch. Zärtlichkeit allein paßt für sie,
Treue würde nicht am Platze sein. Und so finden wir es
denn auch jetzt bei Joseph. Er weinte laut, so daß das
86
ganze Haus des Pharao es hörte. Er weinte an dem
Halse aller seiner Brüder; er fiel seinem Bruder Benjamin
um den Hals und weinte und küßte ihn. Und wenn
er inmitten dieser strömenden Thränen sprach, so geschah
es nur, um ihre Herzen zu ermutigen und ihnen Versicherungen
und Erklärungen zu geben, die dazu geeignet
waren, ihnen volles Vertrauen und Zuversicht in seiner
Gegenwart zu geben. *)
*) Weder dem Pharao, noch seinem Hause, noch irgend einem
Menschen in Egypten scheint jemals etwas von der Sünde der
Brüder mitgeteilt worden zu sein.
Doch als diese Stunde vorüber war und er sie in
den Palast des Pharao geführt hatte, und als sie wiederum
im Begriff waren, nach Kanaan zurückzukehren, um
ihren alten Vater nach Egypten zu holen, ja, als sie so
dastanden, Benjamin und Simeon bei ihnen, alle überglücklich
in dem Genuß dieser frohen Stunde, da war
wohl ein Wort der Warnung an seinem Platze; und
Joseph hatte auch ein solches für sie. Er sagt zu ihnen:
„Erzürnet euch nicht auf dem Wege". Die Frage:
„Simon, Sohn Jona', hast du mich lieb?" wurde in
ähnlicher Weise und in einem verwandten Augenblick an
das Herz des Petrus gerichtet, als die Versöhnung, wenn
ich sie so nennen darf, vollendet war, das Netz des
Petrus 153 Fische umschlossen und er mit dem von ihm
verleugneten Herrn am Ufer des Sees gegessen hatte.
Alles dieses ist von Anfang bis zu Ende wirklich
vollkommen. Es giebt in der Schrift eine moralische
Schönheit, welche sie in Wahrheit zu dem vorzüglichsten,
wie wir wohl sagen dürfen, unters den Werken Gottes
macht; Sein Geist weht überall darin. Ihre Zartheit,
87
ihre Erhabenheit und ihre Tiefe sind alle gleicherweise
Sein. Der Ausgang der Geschichte Josephs und seiner
Brüder ist außerordentlich schön. Den Rechten Josephs
und dem Unrecht, das ihm widerfahren war, den Ansprüchen,
die er gemacht, und den Beleidigungen, denen
er ausgesetzt gewesen war, allem wurde in wunderbarer
Weise entsprochen. Welch erhabene Würden ihm seine
Träume auch zugesprochen haben mochten, sie wurden ihm
alle in vollem Maße zu teil. Wie groß auch das Unrecht
war, das er erduldet hatte, es wurde alles gerächt,
und zwar in einer Weise, die auch sein eignes Herz gewählt
haben würde. Das Gericht über die an ihm verübte
Sünde wurde in den Herzen der Brüder selbst ausgeübt;
nicht ein hartes Wort betreffs derselben kam
von Anfang bis zu Ende über die Lippen Josephs.
Bei der Betrachtung dieser wunderbaren Ausgänge
der Geschichte Josephs und seiner Brüder werden wir
unwillkürlich an das Wort des Propheten erinnert: „Auch
dieses geht aus von Jehova der Heerscharen; Er ist wunderbar
in Seinem Rat, groß an Verstand." (Jes. 28, 29.)
Doch ich möchte noch auf etwas anderes aufmerksam
machen. Die Ueberführung des Gewissens kann eine bloß
natürliche sein, die gewöhnliche, notwendige Thätigkeit der
Seele, deren Mangel einen unreinen, verhärteten Zustand
verraten würde. Wenn jene Ueberführung dagegen mehr
ist als eine bloße Aufrüttelung der Seele unter der
Wirksamkeit der Natur — wenn der Geist Gottes sie
hervorgebracht hat — so nimmt dieser gleichsam Sein
eignes Werkzeug zur Hand und arbeitet damit. David,
von dem Geiste überführt, sagt: „Gegen dich, gegen dich
allein habe ich gesündigt, und ich habe gethan, was böse
88
ist in deinen Augen." (Ps. 51, 4.) Und so wird es
auch mit dem Volke Israel an dem Tage seiner Ueber-
führung sein; ihr Gewissen wird sie dann auf den einst
verworfenen und gekreuzigten Jesus Hinweisen; wie der
Herr durch den Propheten sagt: „Ich werde über das
Haus Davids und über die Bewohner von Jerusalem den
Geist der Gnade und des Flehens ausgießen; und sie
werden auf mich blicken, den sie durchbohrt
haben, und werden über ihn wehklagen gleich der Wehklage
über den Eingebornen, und bitterlich über ihn leidtragen,
wie man bitterlich über den Erstgebornen leidträgt."
(Sach. 12.) So ist die Ueberführung, wenn
der Geist Gottes jene Arbeit aus der Hand der Natur
in Seine eigene Hand nimmt; und so thut das Gewissen
sein Werk „in dem Heiligen Geiste", wie der Apostel eS
ausdrückt. An einem solchen Tage und unter solch
mächtiger Einwirkung wird Israel sich dereinst unmittelbar
an Jesum wenden. Jes. 53 zeigt uns dieselbe Sache in
einer andern Form. Und wahrlich, es ist dies ein köstliches
Werk in der Seele, ja, nicht nur köstlich, sondern
auch notwendig in einem jeden von uns.
Nun, dieses Werk sehen wir in den Brüdern Josephs,
und es ist in der That unsrer eingehenden Betrachtung
wert. Ihre Sünde gegen Joseph war es, die sie sich an
dem Tage ihrer Bedrängnis ins Gedächtnis zurückriefen.
„Fürwahr, wir sind schuldig wegen unsers Bruders",
sagen sie, „dessen Seelenangst wir sahen, als er zu uns
flehte, und wir hörten nicht." Andere Sünden mochten
zu gleicher Zeit vor ihrem Gewissen stehen; Ruben mochte
an die Schändung des Bettes seines Vaters denken,
Simeon und Levi an ihr Blutvergießen und ihre Treu
89
losigkeit, und Juda an seine Ehe mit der Tamar; aber
bis ins Herz bewegt, nicht bloß durch die Trübsal, die
über sie gekommen war, sondern durch den Geist selbst,
gedenken sie der gemeinsamen Sünde und sprechen,
wie aus einem Gewissen, von ihrer Bosheit gegen Joseph.
Und das ist es, was das Werk des Geistes bei dieser
Uebersührung verrät.
Es ist dies, ich wiederhole es, ein notwendiges Werk
in einem jeden von uns. Aber die Quelle der Gnade
muß ebenso gut ihr Werk thun, wie der Geist der Gnade.
Joseph gab, wie wir gesehen haben, eine Erklärung seiner
Trübsale, obwohl diese sehr verschieden war von derjenigen,
die ihre Befürchtungen und ihr Schuldbewußtsein
den Brüdern gegeben hatte. Sie sagen, und zwar mit
allem Recht: „Fürwahr, wir sind schuldig wegen unsers
Bruders;" — er sagt, und er sagt es der Wahrheit gemäß:
„Gott hat mich vor euch hergesandt, um euch am
Leben zu erhalten". Gerade so ist das Evangelium. Wir
werden überführt, aber gerettet. Wir lernen, daß wir uns
selbst zu Grunde gerichtet haben, aber zugleich auch, daß
in Ihm unsre Hilfe ist. Die Quelle der Gnade öffnet
sich uns gerade in jenen Wunden, die unsre eigenen
Hände geschlagen haben. Dasselbe wird der jüdische
Ueberrest (dessen Geschichte, wie wir wissen, in derjenigen
der Brüder Josephs vorbildlich dargestellt ist) in jenen
Tagen erfahren, von welchen Jes. 53 und Sach. 13 reden.
Das Kreuz ist das Zeugnis; der Glaube steht vor ihm
und lernt dort Verderben und Erlösung kennen.
Im Verlauf dieser wunderbaren Geschichte ist die
Versöhnung also eine völlige geworden. Joseph hat seine
90
Brüder angenommen, und infolge dessen ist alles zu Israels
völliger Segnung bereit. Auf die Bekehrung muß die
Wiederherstellung folgen. „Zeiten der Erquickung und der
Wiederherstellung" (Apstgsch. 3) müssen kommen, wenn
Israel Buße thut. Der betagte Vater wird mit seiner
Haushaltung und seinen Herden aus Kanaan geholt und
mit seinen Söhnen vor den Pharao gestellt, und der allerbeste
Teil des Landes, das Land Gosen, wird ihnen zum
Wohnsitz gegeben. *)
*) Auf die Einzelheiten der Reise Jakobs und ihre Folgen,
sowie auf seine Einführung bei dem Pharao gehe ich hier nicht
näher ein, da dies bereits in der früher im Botschafter erschienenen
Betrachtung über „Jakob" geschehen ist
Sie waren aufgefordert worden, ihren ganzen Hausrat
zurückzulassen, da ja das Beste deS ganzen Landes
Egypten vor ihnen sei. Und so erwies es sich auch.
Ihre leeren Säcke waren das erste Mal nach Egypten
gekommen, um dort gefüllt zu werden, und jetzt sollten
sie aufs neue erfahren, daß es ein Herz und eine Hand
in Egypten gab, die sowohl fähig als auch bereit waren,
ohne Maß zu geben; und je leerer sie hinabkamen, desto
reichlicher und herrlicher sollten sie dies erfahren.
Sie waren allerdings nur Hirten, und solche waren
den Egyptern ein Greuel; aber Joseph „schämte sich nicht,
sie Brüder zu nennen". Sie waren Fremdlinge und
Beisassen; aber ich wiederhole, der Mann jenes Tages,
der Herr von Egypten, „schämte sich nicht, sie Brüder zu
nennen". Er erkennt sie an in Gegenwart des Königs,
des Palastes und des Volkes. Und der König zeigt
dieselbe Gesinnung. Daß sie Josephs Brüder waren,
war für den Pharao genug. Wahrlich, das redet laut
91
und verständlich zu uns. Ein Tag ist nahe, an dem
diese Vorbilder ihre volle Verwirklichung finden werden
in Christo und Israel. Er wird sich wieder zu ihm
wenden und sagen: „Mein Volk" ; und Israel wird sagen:
„Jehova ist mein Gott".
Doch so groß und erhaben dies auch sein mag, so
ist es doch noch nicht alles. Die Erde selbst muß geordnet
und gesegnet, das Erbe muß in Besitz genommen
und vor aller Augen gezeigt werden. Dazu kommen wir
jetzt. Joseph wird im 47. Kapitel der Erhalter der Welt
in Bezug auf Leben und Ordnung. Durch ihn wird das
Leben auf der Erde erhalten und die Ordnung bewahrt;
und das ganze Volk ist willig gemacht am Tage seiner Macht.
(Vergl. Pf. 110, 3.) Alles was Joseph thut, ist recht in den
Augen des ganzen Volkes. Ihr Geld, ihr Vieh, ihr Land und
sogar sie selbst werden in den Besitz des Pharao gebracht;
und doch sind sie mit allem einverstanden, denn sie verdanken
Joseph ihr Leben. Das Egypten jener Tage war
ein Vorbild von der neuen Welt, von der durch Erlösung
wieder für Gott erworbenen Welt. Es war
„ein erworbener Besitz", was ja auch die Erde im tausendjährigen
Reiche sein soll. (Eph. 1, 14.) ES war eine
versöhnte Schöpfung, von dem Verderben der Hungersnot,
von Tod und Fluch befreit durch die Hand eines Retters.
Josephs Korn hatte das Land, das Vieh und das Volk
gekauft. Alles gehörte dem Pharao in einem neuen
Charakter, als ein erworbener Besitz, der unter der Gnade
der Erlösung stand. Der Pharao, der einst König des
Landes war, ist auch noch König; aber er ist jetzt mit
einem Andern, einem Erlöser des Landes und des Volkes,
verbunden, was vorher nicht der Fall war. Gerade so wird
92
der Thron im tausendjährigen Reiche „der Thron Gottes
und des Lammes" sein. Welch ein Bild hat die Hand
Gottes hier für uns ausgezeichnet! Welch ein Unterpfand,
ja welch ein Beispiel haben wir hier von der neuen
Welt, von der Erde in den Tagen des Reiches, wenn
jede Zunge den wahren Joseph als Herrn bekennen wird
zur Verherrlichung Gottes des Vaters, wenn der Thron
Gottes und des Lammes ausgerichtet sein wird.
Der Pharao hatte im Anfang Joseph Vertrauen
geschenkt, und Joseph hatte dem Pharao Versicherungen
gegeben, bevor irgend etwas geschehen war. Ehe das
Wort Josephs in Erfüllung ging, hatte der Pharao ihn
in Macht und Würden eingesetzt, ihm ein Weib gegeben
aus den Töchtern der Ersten des Landes und ihm einen
Namen beigelegt, der einem jeden, der ihn zu deuten verstand,
sagte, was der Pharao von ihm dachte und wie
er ihn betrachtete. *) Und Joseph hatte im Vertrauen
darauf, daß alles nach der Traumdeutung, die Gott ihm
zu verkünden gegeben hatte, geschehen würde, dies alles
aus der Hand des Pharao angenommen; und dann erst
kamen die Jahre des Ueberflusses, eines nach dem andern,
um die Versicherungen, die Joseph dem Pharao gegeben
hatte, wahr zu machen und alle die Ehrenbezeugungen, die
der Pharao Joseph erwiesen hatte, zu rechtfertigen. (Siehe
Kap. 41.)
*) Wie man sagt, bedeutet Zaphnat-Pahneach in der alt-
egyptischen Sprache: „Erhalter der Welt".
Das sind kostbare Aufzeichnungen von alledem, was
sein Urbild, seine zuvor beschlossene und ewige Verwirklichung
in den Geheimnissen findet, welche zwischen Gott
und Seinem Gesalbten von jeher bestanden haben. Es
93
bleibt uns nichts anderes übrig, als uns niederzubeugen
und anzubeten und, wenn wir die Beute und die Reichtümer
des Wortes Gottes einsammeln, uns daran zu
erfreuen und dankbar zu sein. „Ich freue mich über
dein Wort, wie einer, der große Beute findet." „An dem
Wege deiner Zeugnisse habe ich mich erfreut wie über
allen Reichtum." (Ps. 119.)
Es ist ganz naturgemäß, daß wir dieses Muster der
neuen Welt oder des zukünftigen Zustandes der Erde im
tausendjährigen Reiche in der Geschichte Josephs finden;
denn, wie ich im Anfang sagte, er ist der Erbe, und
er war dazu gesetzt, einen solchen unter der Gnade Gottes
darznstellen, nachdem ein jeder seiner Väter unter derselben
fruchtbringenden und überströmenden Gnade seinen besonderen
Teil der Gedanken Gottes vorbildlich ausgedrückt
hatte. In Abraham fanden wir die Erwählung; in
Isaak die Sohnschaft, zu der uns die Erwählung
zuvorbestimmt hat; in Jakob die Zucht, unter welche
die Sohnschaft uns bringt; und jetzt in Joseph den
Erben und die Erbschaft, die der Sohnschaft folgt;
und damit schließt dann die Enthüllung des Geheimnisses,
welches die Gnade sich vorgesetzt hat, und zugleich das
erste Buch Mose.
Hier ist keine Rede oder Sprache, aber das geöffnete
Ohr vernimmt eine Stimme, die klar, voll und harmonisch
klingt. Und wenn wir auf die Geschichte Josephs allein
zurückblicken, so haben wir ein Blatt der Heiligen Schrift
vor uns, das voll von Jesus ist; zuerst sehen wir einen
verworfenen Jesus, dann einen auferstandenen
und verherrlichten Jesus, und schließlich den Jesus
des tausendjährigen Reiches in Seinem Erbe und König
94
reich. — Wie groß und wunderbar ist Gott! Ihm sind
alle Seine Werke von Anfang an bekannt. Er hat das
Licht und die Finsternis gebildet.
Doch das, was wir hier nicht finden, ist ebenso lehrreich
wie das, was wir finden. In der herrlichen Darstellung
der Erbschaft tritt Eine, die wir vielleicht hauptsächlich
zu sehen erwartet hätten, gar nicht hervor. Asnath,
das Weib Josephs, wird hier nicht gefunden. Sie und
ihre Kinder erhalten kein Teil bei diesem Ordnen aller
Dinge im Lande; sie werden dabei nicht einmal erwähnt.
Sollten sie etwa vergessen worden sein? Das wäre unmöglich.
Nein, die Ursache ist eine andere. Sie war das
Bild der himmlischen Braut, das Weib, welches dem
Joseph aus den Nationen gegeben wurde während seiner
Absonderung von seiner Verwandtschaft, und ihr Teil ist
erhabener als was das Land in seinem besten Zustande
ihr hätte bieten können; ihr Teil ist in ihm und mit ihm,
der der Herr und der Verwalter von allem ist. Asnath
geht in Joseph auf, oder wird nur in Joseph gesehen.
Und so wird uns das volle Ende von Anfang an
mitgeteilt; denn alles das, was wir hier im ersten Buche
Mose finden, stellt „die Verwaltung der Fülle der Zeiten"
dar, wenn Gott alles unter ein Haupt zusammenbringen
wird in dem Christus, das was in den Himmeln und
das was auf der Erde ist. Und in der That, Geliebte,
es ist köstlich, angesichts der gegenwärtigen Verwirrung
in der Welt und inmitten des Streites menschlicher
Meinungen, wovon wir stets umgeben sind, aus dem
Munde solcher Zeugen zu erfahren, daß das Ende so vor
Gott steht und von Anfang an so vor Ihm gestanden
hat. „Der Ratschluß JehovaS besteht ewiglich, die
95
Gedanken Seines Herzens von Geschlecht zu Geschlecht."
(Ps. 33, 11.) Sein Volk und Seine Ratschlüsse betreffs
desselben stehen in gleicher Weise vor Ihm; und solche
Wahrheiten trösteten auch die Apostel, als sie inmitten
des Verfalls der Kirche Enttäuschung auf Enttäuschung
erfuhren. (Siehe 2. Tim. 2, 19.)
(Fortsetzung folgt.)
„Alles geschehe wohlanständig und in Ordnung."(1. Kor. 14, 40.)
I.
Um mehrseitig geäußerten Wünschen zu entsprechen,
will ich versuchen, in Nachstehendem verschiedene, das
Gemeinschaftsleben der Gläubigen betreffende Punkte, über
welche bei manchen der geliebten Kinder Gottes nicht
völlige Klarheit zu herrschen scheint, an der Hand des
göttlichen Wortes zu beleuchten. Ich möchte indes von
vornherein darauf aufmerksam machen, daß wir nicht über
jede Einzelheit, die im christlichen Leben oder auf
dem Gebiete des Gemeinschaftslebens Vorkommen kann,
bestimmte Anweisungen im Worte erwarten dürfen. Aber
das Wort giebt uns für unser Verhalten in allen Verhältnissen
eine göttliche Richtschnur an die Hand, und
der Heilige Geist, der in jedem einzelnen Gläubigen wie
in der Versammlung Gottes wohnt, wird da, wo wirkliche
Unterwerfung unter Seine Leitung vorhanden
ist, die Gläubigen zu einem, dieser Richtschnur
entsprechenden Verhalten leiten. Ein gehorsames Kind,
das die Gesinnung seiner Eltern kennt, wird nicht zweifelhaft
sein, wie es sich ihrem Willen gemäß zu verhalten hat
96
selbst in den zahlreichen Fällen, für welche ihm keine
besondere Vorschrift von feiten der Eltern gegeben worden ist.
Zunächst denn ein Wort über das, was die Versammlung
oder die Kirche nach den Gedanken Gottes ist.
Wir können uns in unsern Tagen des Verfalls und der
allgemeinen Verwirrung nicht zu oft an die einfachen
göttlichen Grundwahrheiten erinnern, die, mag auch alles
um uns her zu wanken und zu stürzen scheinen, stets
unveränderlich dieselben bleiben.
Nach Eph. 1, 23, Kol. 1,18. 24 und andern Stellen
ist die Versammlung der Leib Christi, und Er selbst
ist das Haupt dieses Leibes. Auch ist sie das Haus
Gottes, die Versammlung des lebendigen Gottes, und
berufen, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit zn
sein. (1. Tim. 3, 15.) Von Christo, dem Haupte, geht
nach Eph. 4, 7—16 alles aus, was zur Sammlung,
Auferbauung und Pflege Seines Leibes gehört und notwendig
ist. Zu diesem Zwecke hat Er auch jedem einzelnen
Gliede einen Platz zum Dienste angewiesen, wodurch der
ganze Leib, wohl zusammengefügt, wächst und seine Selbstauferbauung
in Liebe bewirkt.
In 1. Kor. 12 ist der Dienst der einzelnen Glieder
und die Abhängigkeit des einen vom andern, als alle zu
dem einen Leibe gehörend, ausführlich dargestellt, und
zwar als das Resultat der mächtigen Wirksamkeit des
Heiligen Geistes, welcher sie in göttlicher Macht alle mit
Christo und unter einander zu einem Leibe vereinigt hat.
Die Versammlung Gottes, die wahre Kirche, besteht
also, nach den angeführten Stellen, aus allen Gliedern
des Leibes Christi, d. h. aus allen den Menschen, welche
durch die Macht des Heiligen Geistes in lebendigem
97
Glauben mit Christo verbunden und in die Gemeinschaft
des Lebens, welches in Ihm, dem Haupte ist, eingeführt
worden sind. Wie nun die Glieder unsers Körpers, jedes
an seinem Platze, einen Dienst für die andern versehen,
so haben auch die Glieder des Leibes Christi sich unter
einander zu dienen, und zwar in demselben Sinne und
Geiste, wie das Haupt den Gliedern dient. Welch ein
weites Gebiet ist da der Thätigkeit der Liebe geöffnet!
Es erstreckt sich auf alle Gläubigen ohne Unterschied,
sowie auf die verschiedensten Zustände derselben.
Das Hauptziel dieser Thätigkeit ist das „Heranwachsen zu
Ihm hin, der das Haupt ist".
Die Zersplitterung der Christen in so viele Parteien
bringt es zwar mit sich, daß manche Gläubige sich entweder
diesem Dienste von feiten solcher, die nicht zu ihrer Partei
gehören, entziehen, oder denselben ihrerseits nur auf die
Glieder ihrer Partei beschränken. Aber beides entspricht
nicht dem Charakter des Leibes Christi und ebensowenig
der Absicht des Hauptes; und einem von der Liebe Christi
gedrungenen und der Leitung des Heiligen Geistes unterworfenen
Christen wird es eine Freude sein (und niemals
wird es ihm auch an Gelegenheit fehlen), seinen Dienst
gegen alle auszuüben, selbst wenn derselbe sich nur auf
die Fürbitte beschränken müßte. Verantwortlich ist jedes
Glied für den Dienst, den es für den ganzen Leib
auszuüben hat. Doch ist nicht zu leugnen, daß in der
Zersplitterung der Christen eine Schwierigkeit in Bezug
auf die allgemeine Anwendung des Dienstes liegt, ja
daß derselbe durch Parteischranken in mancher Beziehung
unmöglich gemacht ist.
Es ist leider dem Feinde gelungen, die Schafe Christi
98
zu zerstreuen und sie dadurch manches Segens hienieden
zu berauben. Doch Dank der Liebe und Treue des guten
Hirten, wird er sie niemals aus Seiner Hand rauben
können, noch wird er vermögen, den Dienst des Hauptes
für alle Seine Glieder, trotzdem sie zerstreut sind, zu verhindern.
Doch, möchten wir alle die Gefühle des Hauptes
für alle Seine Glieder, ohne Unterschied, teilen und den
uns anvertrauten Dienst im Sinne des Hauptes treu erfüllen,
bis zur Grenze der Möglichkeit!
Die Trennung der Christen in Sekten und Parteien
ist ein Werk des Feindes, dessen Anfänge bis in die
apostolische Zeit zurückreichen. Der Herr hat dem Feinde
erlaubt, schon damals mit seinen Zerstörungsplänen hervorzutreten,
damit Er durch Seine Apostel ein klares und
bestimmtes Zeugnis dagegen geben könnte, welches für
die Christen aller Zeiten göttliche Autorität besitzt. Der
Apostel Paulus behandelt diesen Gegenstand in 1. Kor. 1,
10—13 und Kap. 3 desselben Briefes in so entschiedener,
nicht mißzuverstehender Weise, daß Gläubige, welche das
geschriebene Wort wirklich als ihre einzige Richtschnur anerkennen,
(der sie, allen menschlichen Ueberlieferungen zum
Trotz, unbedingt zu folgen haben,) nicht zweifelhaft darüber
sein können, daß ihr Gott wohlgefälliger Platz nicht
in einer christlichen Partei sein könne, und wäre es auch
die älteste und angesehenste, oder in noch so vielen Punkten
sich auf das Wort stützende. Diesen Platz werden sie
allein da finden, wo Gläubige außerhalb aller
Parteien sich einfach als Glieder des Leibes Christi
im Namen Jesu versammeln, ihrer Einheit mit allen
Gläubigen auf der Erde durch das Brechen des einen
Brotes Ausdruck geben, und der Leitung des Heiligen
99
Geistes die einzige Autorität in ihrer Mitte einräumen.
Nur auf diese Weise kann der Charakter der Versammlung
Gottes auf der Erde, dem Worte Gottes entsprechend,
verwirklicht werden; während jede Partei sich eine besondere
Stellung beimißt und dadurch den Charakter der Einheit
zerstört, — wie Paulus den Korinthern, welche Parteien
bilden wollten, zuruft: „Ist der Christus zerteilt?"
(1. Kor. 1, 13.)
Es giebt nun, Gott sei Dank, eine große Anzahl
von Gläubigen, welche den bezeichneten, schriftgemäßen
Platz eingenommen haben, und dadurch dem Charakter der
Versammlung Gottes Ausdruck geben, so schwach und
unvollkommen dies auch sein mag. Es ist wichtig für
diese, daß sie in jeder Beziehung jenem Charakter gemäß
handeln, und vor allem, daß sie wachsam und nüchtern,
demütig und klein in ihren Augen bleiben; sonst wird
Gott ihren Leuchter von seiner Stelle hinwegthun. So«
bald sie anfangen, von sich und ihrem Zeugnis etwas zu
halten, sich selbst zu erheben, werden sie, wie die Er«
fahrung in schmerzlichster Weise gelehrt hat, nur ein
Zeugnis ihrer eignen Schwachheit sein. An jedem Orte,
wo sie sich um den Tisch des Herrn (der nicht ein Part ei -
tisch ist) versammeln, haben sie, in wahrer Abhängigkeit
von der Leitung des Heiligen Geistes, nach den Unterweisungen
des göttlichen Wortes die Versammlung Gottes
an diesem Orte (1. Kor. 1, 2; Kol. 4, 15. 16) dar-
zust eilen, d. h. die den örtlichen Versammlungen im
Worte gegebenen Anweisungen in ihrer Mitte zur Ausführung
zu bringen. Für alle andern etwa noch an diesem
Orte wohnenden Gläubigen bleibt der Platz am Tische
des Herrn offen; denn sie gehören, wenn sie wirklich
100
Glieder des Leibes Christi sind, auch zu der Versammlung
Gottes an diesem Orte. Sehr ist darüber zu wachen, daß
es dem Feinde nicht gelinge, das Gefühl der Zusammengehörigkeit
mit allen Gläubigen zu schwächen oder gar
ganz zu zerstören. Sollte ihm dies gelingen, so würde
das nur eine Fortsetzung seiner bisherigen erfolgreichen
Thätigkeit sein, die Glieder des Leibes Jesu durch Aufrichtung
von Parteischranken von einander zu trennen;
und seine List würde auch diese, dem Parteiwesen durch
die Gnade Gottes eben entronnenen Gläubigen (wenigstens
ihren Gefühlen nach) zu einer neuen Partei stempeln.
Nicht alle Gläubigen haben ein Verständnis für das, was
das Wort sagt über die Einheit des Leibes und den
Platz, den jedes Glied in dieser Einheit einnimmt. Indes
sind sie alle verantwortlich, „der Berufung würdig zu
wandeln, womit sie berufen sind" (Eph. 4); und dieses bezieht
sich hauptsächlich auf die Verwirklichung der Einheit
des Leibes und den Dienst der einzelnen Glieder für den
Leib, wie aus dem ganzen Kapitel (Eph. 4) hervorgeht.
Aber das Verständnis darüber ist, wie gesagt, bei vielen
durch mangelhafte oder falsche Belehrung ganz und gar
verdunkelt. Diejenigen Gläubigen daher, denen durch die
Gnade die Augen über diese herrliche Wahrheit geöffnet
sind, haben eine um so größere Verantwortlichkeit, die
Einheit des Leibes zu verwirklichen, indem sie gegen alle
Glieder, auch gegen die, welche in Bezug auf die Wahrheit
nicht klar find, die gleichen Gesinnungen der Liebe
offenbaren.
Um mancher irrigen Auffassung zu begegnen, wiederhole
ich noch einmal, daß alle Gläubigen an einem Orte
die Versammlung Gottes an diesem Orte bilden, so daß
101
diejenigen unter ihnen, welche ihren schriftgemäßen Platz,
außerhalb der Parteien, am Tische des Herrn einnehmen,
nicht eigentlich d i e Versammlung genannt werden können,
da sie ja nur einen Teil (in vielen Fällen nur einen
ganz geringen Bruchteil) derselben ausmachen. Wohl aber
stellen sie die Versammlung Gottes an dem betreffenden
Orte dar, indem sie die damit verbundene Verwaltung
gottgemäß ausüben. Es ist dabei wichtig, festzuhalten,
daß alle, die sich so im Namen Jesu an einem Orte
versammeln, für die Verwaltung ihrer Angelegenheiten
verantwortlich sind und nicht einzelnen Gliedern die Verantwortlichkeit
übertragen können.
Seit der apostolischen Zeit giebt es keine mit göttlicher
Autorität bekleidete Personen mehr, welche in den
Versammlungen öffentlich anerkannte Aelteste und Vorsteher
anstellen könnten. (Vergl. Apstgsch. 14, 23; Tit.
1, 5.) Den Versammlungen selbst aber ist nirgendwo in
der Schrift die Vollmacht gegeben, sich solche zu wählen.
Wohl kann der Herr, der als Haupt für die Bedürfnisse
Seiner Versammlung, bis zu ihrer Aufnahme in die.
Herrlichkeit, treu sorgt, begabte, einsichtsvolle und treue
Brüder erwecken, die in der Pflege der Seelen, in der
Aufsicht und in allen Angelegenheiten der Versammlung
gewissenhaft dienen. Doch sind diese niemals Stellvertreter
der Versammlung, und können deshalb auch nicht
Fragen, über welche die Versammlung eine Entscheidung
treffen muß, nach ihrem persönlichen Ermessen endgültig
zur Erledigung bringen. Das würde ein Eingriff in die
Rechte des Herrn sein, der persönlich in der Mitte der in
Seinem Namen Versammelten ist und die unter der
Leitung des Heiligen Geistes gefaßten Beschlüsse derselben,
102
nach Matth. 18, 15—20 und Joh. 20, 23 mit Seiner
eigenen Autorität bekleidet. Freilich konnten die Apostel
eine ihnen vom Herrn übertragene Autorität ausüben
(siehe Matth. 16, 19; 1. Kor. 5, 3—5); aber Apostel
giebt es jetzt nicht mehr, noch solche einzelne Personen, die
von ihnen beauftragt wären. Bemerkenswert ist es auch,
daß der Apostel Paulus, wie aus 1. Kor. 5, 3—5 hervorgeht,
seine Macht über den der Zucht verfallenen Sünder
nur in Verbindung mit der Versammlung ausüben
wollte. Ebenso später, nachdem die Zucht die gewünschte
Wirkung hervorgebracht hatte und es sich um die Wiederaufnahme
des bußfertigen Sünders handelte, führte Paulus
denselben nicht etwa in eigner Machtvollkommenheit wieder
in die Gemeinschaft zurück, sondern er forderte dazu die
Versammlung auf. (2. Kor. 2, 6—10.) Auch sind
alle Briefe des Apostels Paulus, sofern sie nicht an einzelne
Personen (Timotheus, Titus, Philemon) geschrieben
sind, an die Versammlungen und nicht an einzelne
Glieder derselben (Aufseher, Aelteste >c.) gerichtet. Aus
allem diesem geht hervor, daß nur eine Versammlung in
ihrer Gesamtheit berufen ist, ihre Angelegenheiten, welche
auch die Angelegenheiten ihres Hauptes sind, gottgemäß
zu ordnen.
Die örtliche Versammlung in Korinth wird, trotzdem
so viel an ihr zu tadeln war, in 1. Kor. 3, 16 der
Tempel Gottes und die Wohnung des Geistes Gottes
genannt. Das berechtigt uns, jede örtliche Versammlung
in dieser Hochbegnadigten Stellung zu sehen. Der Herr
in ihrer Mitte, der Heilige Geist ihr Leiter! — welch ein
Vorrecht, aber auch welch eine Verantwortlichkeit für jede
Versammlung! Jedes Glied derselben sollte es fühlen
103
und deshalb mit heiligem Interesse teilnehmen an allen
ihren Angelegenheiten, aber auch mit heiliger Scheu sich
davor hüten, eine eigenmächtige, willkürliche Thätigkeit in
der Versammlung auszuüben, oder sich — wenn auch unbewußt
— mit einer Autorität zu bekleiden, die nur der
Herr selbst besitzt und die Er nur auf die Versammlung,
als solche, übertragen hat.
„Ich bin schwarz, aber anmutig."(Hohelied 1. 5 )
„Ich bin schwarz, aber anmutig, Töchter Jerusalems,
wie die Zelte Kedars, wie die Zeltbehänge Salomos.
Sehet mich nicht an, weil ich schwärzlich bin, weil die
Sonne mich verbrannt hat; meiner Mutter Söhne zürnten
mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge; meinen
eignen Weinberg habe ich nicht gehütet." (Hohel. 1, 5. 6.)
Die Braut hat in den vorhergehenden Versen von der
Liebe, dem Namen und den Gemächern des Königs gesprochen
und jetzt, aufmerksam gemacht durch irgend ein
Ereignis, erinnert sie sich dessen, was sie selbst ist, und
legt ein offenes Geständnis ab. Zu gleicher Zeit aber
versichert sie mit ebenso freudigem Herzen, welchen Wert
sie in Seinen Augen hat. Die Erkenntnis dieser Wahrheit
thut uns zu allen Zeiten not, wenn wir anders innerlich
im Gleichgewicht bleiben wollen. Je gründlicher wir die
Wertlosigkeit des Fleisches erkennen, desto mehr werden
wir den Wert Christi zu schätzen wissen, und desto besser
werden wir auch das Werk des Heiligen Geistes verstehen.
Wenn die gänzliche Verderbtheit der menschlichen Natur
keine ausgemachte Wirklichkeit in der Seele ist, so wird
104
in unsern Erfahrungen bezüglich der eitlen Einbildungen
des Fleisches und der göttlichen Wirkungen des Geistes
stete Verwirrung herrschen.
In unsrer alten Natur ist nichts Gutes zu finden.
Der im göttlichen Leben wohl am meisten Vorgeschrittene
hat gesagt: „In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt
nichts Gutes." Wie schmettert dies alle eitlen Einbildungen
zu Boden! „Nichts Gutes!" Kann denn
die Natur nicht verbessert werden durch fleißiges Beten
und stete Wachsamkeit? Nimmermehr; sie ist ganz und
gar unverbesserlich. Dieses Urteil hat schon vor langer,
langer Zeit durch den Gott der Wahrheit seine Bestätigung
erhalten: „Und Jehova sah, daß des Menschen Bosheit
groß war auf Erden, und alles Gebilde der Gedanken
seines Herzens nur böse den ganzen Tag .... Und
Gott sprach zu Noah: Das Ende alles Fleisches ist vor
mich gekommen, denn die Erde ist voll Gewaltthat durch
sie; und siehe, ich will sie verderben mit der Erde."
(1. Mose 6.) Was also ist das Ende oder das Ergebnis
alles Fleisches? Es ist „böse", „nur böse" und
„böse den ganzen Tag". Das ist eine deutliche Sprache.
Das Fleisch ist böse ohne irgend etwas Gutes, böse ohne
Aufhören; und beachten wir, daß das von allem
Fleische gesagt wird. Alle sind eingeschlossen. Wohl
mögen wir in einigen Menschen die Natur verfeinert,
ausgebildet und veredelt finden, während andere ungeschliffen
und roh sind; aber in beiden Klaffen ist es die
nämliche fleischliche Natur. Eine Stange hartes, unbiegsames
Eisen kann wohl so ausgereckt oder breitgeschlagen
werden, daß sie ganz biegsam wird; allein es ist und
bleibt stets dasselbe Eisen.
105
Doch zugegeben, daß alles das wahr ist, warum thut
es uns so not, diese Wahrheit zu erkennen? Weil wir
nur dann imstande sind, zwischen Fleisch und Geist zu
unterscheiden und zu wissen, von welchem dieser beiden
ein Gedanke oder eine Neigung kommen mag. Es ist
überaus wichtig, zu wissen, daß beide, Fleisch und Geist,
in uns sind, das eine unverbesserlich böse, der andere unvermischt
gut. Endlose Verwirrung und Sorgen, und in
manchen Fällen tiefe Niedergeschlagenheit, sind die unglücklichen
Resultate der Unwissenheit über das Vorhandensein
der beiden Naturen in dem Gläubigen. Nichts Gutes
irgendwelcher Art kann aus unsrer fleischlichen Natur hervorkommen.
Nehmen wir an, ich begegne einer Person,
die über ihren Seelenzustand in Wahrheit tief bekümmert
ist und aufrichtig darnach verlangt, Christum und die Erlösung
kennen zu lernen. Es steht außer aller Frage,
daß der Heilige Geist in dieser Seele wirkt. Ein solches
aufrichtiges Verlangen nach Christo ist gut und kann
nimmer aus einer Natur entspringen, die sowohl Gott
als auch Christum haßt und die Welt mehr liebt als den
Himmel. Jene Seele mag noch in großer Not sein,
und voller Zweifel und Befürchtungen bezüglich des
Ausganges, ja, sie mag selbst jeden Trost abweisen;
aber in Wirklichkeit ist schon ein göttliches Werk in ihr
geschehen. Sie hat dem Zeugnis Gottes bereits geglaubt,
und sobald sie dahin kommt, von sich ab auf
Christum zu blicken, wird sie sich freuen. Das gute Werk
hatte in dem verlornen Sohne schon begonnen, als er zu
sich selbst sagte: „Ich will mich aufmachen und zu meinem
Vater gehen." Der Geist Gottes wird jedes Verlangen,
das Er erzeugt hat, auch völlig befriedigen. Christus
106
selbst ist die vollkommene Antwort auf jedes Verlangen
des Herzens.
Wir lernen aus der Heiligen Schrift drei Punkte
von täglicher praktischer Wichtigkeit: nämlich, das Fleisch
widersteht dem Geist, Satan widersteht Christo, und die
Welt widersteht dem Vater. (Gal. 5; 1. Mose 3;.
1. Joh. 2.) Fleisch, Satan und Welt — das sind
unsere drei großen Feinde; und deshalb ist es so überaus
wichtig, zu wissen, auf wessen Seite wir stehen. Zum
Beispiel: Anstatt mich mit der Frage zu beunruhigen,
wo die Welt anfängt und wo sie aufhört in dem, was
man Weltlichkeit nennt, habe ich einfach zu fragen:
„Ist es aus dem Vater?" In Hunderten von Fällen
wird es unmöglich sein zu sagen, wo die Weltlichkeit
anfängt und wo sie endet, wenn man auf die Sache
selbst blickt. Es fällt uns aber nicht schwer, zu entscheiden,
ob es „aus dem Vater" ist. Und wenn wir finden, daß
es nicht aus dem Vater ist, so ist die Frage entschieden;
es muß dann von der Welt sein. Es giebt in dieser Beziehung
keinen Mittelweg, keinen neutralen Boden.
Dieselbe Regel ist anwendbar auf die beiden andern Feinde.
Was nicht vom Geiste ist, ist aus dem Fleische, und was
nicht von Christo ist, ist vom Satan.
Indes möchte der Leser fragen: Denkt die Braut iin
Hohenliede wohl an diese Dinge, wenn sie sagt: „Ich bin
schwarz, aber anmutig" ? Nein, in keinem Falle, da die
jüdischen Erfahrungen stets einen mehr äußerlichen, zeitlichen
und vorbildlichen Charakter tragen. Kehren wir deshalb
nach dieser Abschweifung in praktische Einzelheiten
zu unserm Texte zurück. Die Schwärze, von welcher die
Braut spricht, ist eine äußerliche, eine Verdunkelung.
107
der Hautfarbe — sie ist sonnenverbrannt; das Warnungswort
des Propheten ist an ihr in Erfüllung gegangen:
„Statt der Schönheit wird ein Brandmal sein." (Jes. 3,
24.) Und deswegen empfindet sie tief die neugierigen Blicke
der Töchter Jerusalems. „Sehet mich nicht an, weil ich
schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat."
Es gab eine Zeit, wo die Tochter Zions schön und herrlich
war, ein Ruhm auf der ganzen Erde. „Und dein
Ruf ging aus unter die Nationen wegen deiner Schönheit;
denn sie war vollkommen durch meine Herrlichkeit,
die ich auf dich gelegt hatte, spricht der Herr, Jehova."
(Hes. 16, 14.) Aber wegen ihrer Undankbarkeit und Untreue
ist sie zu dem traurigen Zustande einer armen,
sonnenverbrannten Sklavin herabgesunken. Der Prophet
Jeremia beschreibt ebenfalls in seinen „Klageliedern" über
die Versunkenheit Jerusalems in der rührendsten Weise
sowohl was es früher war, als auch was eS durch
Trübsal und Bedrängnis geworden ist. „Ihre Fürsten
waren reiner als Schnee, weißer als Milch; röter waren
sie am Leibe als Korallen, wie Saphir ihre Gestalt.
Dunkler als Schwärze ist ihr Aussehen, man erkennt sie
nicht auf den Straßen; ihre Haut klebt an ihrem Gebein,
ist dürre geworden wie Holz." (Klagel. 4, 7. 8.) Wohl
mochte der Prophet in der Bitterkeit seiner Seele ausrufen:
„Wie ward verdunkelt das Gold, verändert das gute,
feine Gold!" (Vers 1.) Ach, mein Leser, wenn das die
schrecklich bösen, bittern und schmerzlichen Früchte der
Sünde schon in dieser Welt sind, während „die Barmherzigkeit
sich rühmt wider das Gericht", was müssen sie
erst sein in der zukünftigen Welt, wo alle Hoffnung zu
Ende ist und Verzweiflung sich jeder schuldigen Seele be
108
mächtigt! Kannst du zum Kreuze zurückblicken und dort
deine Sünden, alle deine Sünden gerichtet, hinweggethan
und in dem Grabe ewiger Vergessenheit versunken
sehens Gott und der Glaube allein kennen die
Kraft jenes Kreuzes und rühmen seine ewige Wirksamkeit.
Aber wenn du geglaubt hast und dich des Kreuzes rühmen
kannst, so richte jetzt alles Böse in deinem Herzen und
deinen Wegen schonungs- und rückhaltlos, in dem Bewußtsein,
daß Christus einst dafür gerichtet worden ist.
Das was Christo am Kreuze zugerechnet wurde, wird dir
nimmermehr zugerechnet werden. „Glückselig der Mensch,
dem Jehova die Ungerechtigkeit nicht zurechnet, und in
dessen Geist kein Trug ist!« (Ps. 32.)
Wenn ich sehe, daß die Sünde, über die ich traurig
bin, durch Jesum getragen worden ist, und daß Er sie
für immer hinweggethan hat durch das Opfer Seiner selbst,
so verschwindet aller Trug. Ich habe kein Verlangen
mehr, meine Sünde zu verbergen, zu verkleinern oder zu
entschuldigen. Sie ist hinweggethan auf dem Kreuze
und ist nun vergeben kraft des Erlösungswerkes. Angesichts
einer solchen Liebe und Güte verschwindet alle
Furcht. Ich bin frei und offenherzig, und ich kann nur
den Herrn preisen für die grenzenlose Gnade, die Er mir
bewiesen hat.
Das Wort „schwarz« wird in der Schrift vielfach
als bezeichnend für Trübsal, Schmerz und Verfolgung gebraucht.
„Meine Haut,« sagt Hiob, „ist schwarz geworden
und löst sich von mir ab, und mein Gebein ist brennend
vor Glut.« (Kap. 30, 30.) Es ist in besondrer Weise
so mit dem ungehorsamen Israel. Hier jedoch wird das
Bekenntnis in lieblicher Weise mit dem Glauben an
109
Christum verbunden und wird so (in moralischer Beziehung)
der wahre Ausdruck aller Gläubigen. „Ich bin schwarz,
aber anmutig." Schwarz wie die Sünde in mir selbst,
aber weißer als Schnee in Christo.
So wird die Sprache des gottesfürchtigen Ueberrestes
in den letzten Tagen lauten, wenn er durch die ganze
Tiefe der Trübsale Jakobs hindurchgegangen sein wird;
wahrlich, er wird schwer geschlagen sein von der Gluthitze
„der großen Drangsal". Nicht allein werden die gläubigen
Israeliten jener Tage von dem Antichristen, dem großen
Bedränger, verfolgt werden, sondern sogar ihre eigenen
Brüder nach dem Fleische werden sich gegen sie wenden.
„Höret das Wort Jehovas, die ihr zittert vor Seinem
Worte! Es sagen eure Brüder, die euch hassen, die euch
verstoßen um meines Namens willen: Jehova erzeige sich
herrlich, daß wir eure Freude sehen mögen! aber sie
werden beschämt werden." (Jes. 66, 5.)
Daran denkt, wie es mir scheint, die nunmehr freudige
Braut, wenn sie sagt: „Meiner Mutter Söhne zürnten
mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge." Gleich
einer zweiten Ruth werden die Weinberge, in denen sie
gezwungen wurde zu arbeiten, ihr Eigentum. Und glücklich
in der Liebe ihres großen Befreiers und reichen Herrn,
kann sie jetzt freimütig von dem reden, was sie durchgemacht
hat, und was sie noch immer in ihren eignen Augen
ist: „Schwarz wie die Zelte Kedars, anmutig wie die
Zeltbehänge Salomos."
Die Söhne Ismaels benutzen, wie man sagt, die
rauhen, zottigen Felle ihrer schwarzen Ziegen zur äußeren
Bedeckung ihrer Zelte, so daß diese für das Auge des
Wüsten-Reisenden in den blendenden Strahlen der Sonne
110
ein tiefschwarzes Aussehen haben. Und sicherlich, wenn
der Mensch in seinem besten Zustande unter die unendlich
helleren Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit gestellt
würde, so würde er noch viel schwärzer erscheinen als die
Zelte der wilden Araber. Selbst von einer brennenden
Lampe ist, wie jemand gesagt hat, in den Hellen Sonnenstrahlen
nicht viel mehr zu sehen als der schwarze Docht.
Aber o glücklicher Gedanke! wenn auch das Gefühl unsrer
eignen Unwürdigkeit uns noch besorgt machen sollte, so
macht es unserm hochgelobten Herrn doch keine Sorgen
mehr. Er hat sie ganz und für immer aus Seinen
Augen entfernt. Und das Auge des Glaubens sieht, wie
Er sieht. Das Urteil Gottes und das Urteil des Glaubens
sind stets gleich. „Deswegen sage ich dir: Ihre vielen
Sünden sind vergeben." (Luk. 7, 47.) „Das Blut
Jesu Christi reinigt uns von aller Sünde."
Die „Töchter Jerusalems", die hier angeführt werden,
sind ohne Zweifel unterschieden von der Braut, obgleich
sie in naher Beziehung zu ihr stehen, wie wir dies aus
der wichtigen Stellung, die sie in dieser herrlichen Szene
haben, entnehmen können. Wenn die Braut die geliebte
Stadt Jerusalem vorstellt, den irdischen Sitz des
großen Königs, so dürften die Töchter Jerusalems wohl
die Städte Judas repräsentieren. Daraus können wir
uns auch erklären, warum sie an so manchen Stellen auf
den Schauplatz treten, obwohl sie niemals in der Wertschätzung
des Königs die Stelle der Braut einnehmen. Nach
dem Worte des Herrn muß Jerusalem allezeit den Vorrang
haben. „Und nun habe ich dieses Haus erwählt und geheiligt,
daß mein Name daselbst sei ewiglich; und meine Augen und
mein Herz sollen daselbst sein alle Tage." (2. Chron. 7,16.)
111
Ein starker Trost.
Auf dem Wege durch eine versuchungsreiche Wüste,
die dem gläubigen Pilgrim täglich neue Kämpfe und
Schwierigkeiten, neue Enttäuschungen und niederdrückende
Erfahrungen bringt, bedürfen wir neben der Kraft von
oben auch der Ermunterung und des Trostes; und wahrlich,
unser treuer Gott und Vater läßt es an beidem nicht
fehlen. Er wird „kein Gutes vorenthalten denen,
die in Lauterkeit wandeln". (Ps. 84, 11.) Je schwieriger
die Zeiten werden, je dunkler die Zukunft vor uns
liegt, desto mehr wird der aufrichtige, in Lauterkeit wandelnde
Gläubige seine Zuflucht zu dem starken, allmächtigen
Gott nehmen und in Ihm seine Ruhe, seine Kraft, seinen
Trost finden.
Als das Volk Israel in der Wüste das goldene Kalb
gemacht hatte und Jehovas gerechter Zorn über Sein abtrünniges,
halsstarriges Volk entbrannt war, so daß Er
nicht mehr in der Mitte desselben hinaufziehen wollte,
sondern Seinem Knechte Mose den Auftrag gab, es nach
Kanaan zu führen, da war wirklich ein Augenblick gekommen,
wie er nicht finstrer und niederdrückender gedacht
werden kann. Der allgemeine Zustand des Volkes war
ein solcher, daß Mose sein Zelt außerhalb des Lagers,
fern vom Lager, ausschlagen mußte. (2. Mose 33.)
Aber der Glaube in ihm wankte keinen Augenblick.
„Siehe, daß diese Nation Dein Volk ist", sagt er zu
Gott und wirst so das Volk samt allen seinen Bedürfnissen
auf Gott zurück. Wie hätte er auch ein solches Volk
leiten, ein solches Werk ausführen können? Das war eine
Sache für Gott und für Ihn allein, nicht für den Menschen.
112
Und Gott nimmt sie in Seine Hand! Könnte Er
jemals den Glauben beschämen? Könnte Er je Sein
Volk vergessen?
Wohl hätte Mose gern den W eg gewußt, auf welchem
Gott Seine Verheißungen an dem Volke wahr machen
wollte. Wie gut verstehen wir das! Wie oft ergeht es
uns ähnlich: Die Schwierigkeiten liegen vor uns, und
obwohl wir überzeugt sind, daß sie für Gott nichts sind,
so möchten wir doch gern wissen, wie Gott sie Hinwegräumen
und unS hindurchführen wird. Doch wie lautet
die göttliche Antwort auf jene Bitte? „Mein Angesicht
wird mitgehen, und ich werde dir Ruhe geben."
Köstliche Antwort! Mein Angesicht wird mitgehen.
Das ist genug; was könnten wir Herrlicheres wünschen! —
und ich werde dir Ruhe geben: Ruhe schon auf dem
Wege hienieden, selige Ruhe in dem Bewußtsein, daß ein
Vaterauge auf uns gerichtet ist und uns leitet, daß eine
Vaterhand alles zu unserm Besten lenkt, und daß ein
Vaterherz in göttlicher, erbarmender Liebe für uns schlägt.
Und ist die Wüste durchschritten, der Kampf ausgekämpft,
so nimmt uns die ewige Sabbathruhe Gottes auf. Welch
ein starker, mächtiger Trost! Das Volk ist Sein Volk,
das Werk ist Sein Werk, der Kampf ist Sein
Kampf; und:
Weg' hat Er allerwegen,
An Mitteln fehlt's Ihm nicht;
Sein Thun ist lauter Segen,
Sein Gang ist lauter Licht.
Der Wolken, Luft und Winden,
Giebt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Wo dein Fuß gehen kann.
Joseph. 5 (Fortsetzung.)
4.
Die Kapitel 48—50 bilden mehr einen Anhang als
einen Teil der Geschichte Josephs. Sie erzählen einige
für sich dastehende Handlungen aus seinen spätern Tagen.
Das erste Ereignis, dem wir hier begegnen, trägt indes
einen der ganzen Geschichte Josephs verwandten Charakter.
Das 48. Kapitel teilt uns nämlich die Verleihung des
Erstgeburtsrechtes an Joseph mit; und Erstgeburtsrecht
und Erbschaft sind in gewissem Sinne dasselbe.
In Israel (oder unter dem Gesetz) trug das Erstgeburtsrecht
ein doppeltes Teil ein. Der Erstgeborne erhielt
zwei Teile von den Gütern des Vaters; und
das Gesetz erklärte dies für sein unverletzliches Recht,
das nicht umgestoßen werden durfte. Das doppelte
Teil durfte weder auf Grund einer persönlichen Zuneigung
noch infolge irgendwelcher Parteilichkeit einem andern
Kinde der Familie gegeben werden. (S. 5. Mose
21, 15-17.)
Doch obwohl dies so war, konnte das Erstgeburtsrecht
doch von dem Erstgebornen selbst verkauft oder verwirkt
werden. Seine eignen Handlungen konnten es ihm
entziehen. Und wir finden, daß beides vorgekommen ist.
Esau verkaufte es, und Ruben verwirkte es. (1. Mose 25;
114
1. Chron. 5.) Bei dem Verkauf durch Esau empfing
naturgemäß Jakob, der es kaufte, das Anrecht daran;
der Kauf und Verkauf machten es zu seinem Eigentum.
Aber wer sollte es in dem Falle der Verwirkung durch
Ruben erhalten? Es fiel auf den Vater zurück; aber
welchem seiner Söhne würde er es verleihen? Das war
die Frage, und diese Frage beantwortet das vorliegende
Kapitel. Es zeigt uns den betagten Vater, den sterbenden
Jakob, wie er in feierlicher Weise Joseph in das Erst-
gebnrtsrecht einsetzt, welches Ruben, sein Erstgeborner,
verwirkt hatte.
Auf die Nachricht von der Erkrankung seines Vaters
eilt Joseph an dessen Bett und bringt seine beiden Söhne
Manasse und Ephraim mit. Keiner der andern Söhne
Jakobs war gegenwärtig. Der Geist Gottes hatte durch
Jakob etwas Besonderes mit Joseph zu thun.
Jakob erinnert zunächst Joseph daran, daß Gott
ihnen das Land Kanaan geschenkt habe. Er weist auf
das Familiengut hin, welches er seinen Kindern zu hinterlassen
hatte. Darauf adoptiert er die Söhne Josephs;
denn das war notwendig, um ihnen Kindesrechte zu verleihen,
da sie in streng gesetzlichem Sinne nicht zu Abraham
gehörten. Ihre Mutter war eine Egypterin. Sie waren
deshalb ein Same, den das Gesetz zur Zeit seiner Geltung
beiseite gesetzt haben würde. (Vergl. Esra 10, 3.)
Doch Jakob adoptiert sie; er nimmt sie in die Familie
auf. „Und nun," sagt er zu Joseph, „deine beiden
Söhne, die dir geboren sind im Lande Egypten, ehe ich
zu dir gekommen bin nach Egypten, sollen mein sein."
Sie werden dem Samen Abrahams einverleibt und zu
Kindern Jakobs gemacht; und nachdem dies geschehen ist.
115
versetzt Jakob sie sofort an den Platz des Erstgebornen,
indem er hinzufügt: „sie sollen mein sein wie Ruben und
Simeon".
Das war ein feierlicher Verleihungsakt, durch welchen
die Rechte des Aeltesten, das doppelte Teil, in der
Person seiner beiden Söhne auf Joseph überging. (Siehe
1. Chron. 5; Hesek. 47, 13.) *)
*) Das hier verliehene Anrecht wurde später verwirklicht, als
das Familiengut, das Land Kanaan, unter die Stämme verteilt
wurde. Joseph bekam da in seinen beiden Söhnen zwei Teile,
indem dieselben behandelt wurden, als ob sie zwei verschiedene
Söhne Jakobs gewesen wären.
Doch die Frage bleibt: warum wurde Joseph so
bevorzugt? War es einfach Gnade? Ich glaube nicht.
Ich weiß wohl, daß die Gnade auch bei dieser Gelegenheit
ihren Weg ging, aber doch möchte ich lieber sagen,
daß Joseph das Erstgeburtsrecht sich erworben habe.
Wir haben bereits seinen Weg bis zur Besitzergreifung des
Erbes angedeutet; es war ein Pfad gleich dem seines
göttlichen Meisters, dessen ferner Schatten er war, ein
Pfad der Schmerzen, der Verwerfung, der Absonderung, und
doch der Gerechtigkeit und des treuen Zeugnisses. Und dieser
Pfad hatte sein Ende gefunden in Lob und Ehre und
Herrlichkeit in dem Reiche oder dem Erbe; und Erstgeburtsrecht
und Erbe sind, wie wir bereits gesagt haben,
verwandte Begriffe.
Es ist deshalb natürlich zu sagen, daß Joseph sich das
Erstgeburtsrecht erworben habe. Juda erwarb das Königtum,
Levi das Priestertum, und so Joseph das doppelte Teil.
Auch giebt ihm sein Vater ein Pfand, „ein Unterpfand
des Erbes"; denn am Schluß dieser Begebenheit sagt er
116
zu ihm: „Ich habe dir eine Strecke Landes gegeben über
deine Brüder, die ich genommen habe von der Hand der
Amoriter mit meinem Schwerte und mit meinem Bogen."
Das war ein Unterpfand und zugleich ein charakteristisches
Beispiel von dem Erbe Josephs. Diese Strecke Landes
hatte das Schwert Jakobs erworben, so wie das Ausharren
Josephs das Erbe und das Erstgeburtsrecht erworben hatte;
und demgemäß preist ihn nachher der sterbende Vater.
„Die Segnungen deines Vaters überragen die Segnungen
meiner Voreltern bis zur Grenze der ewigen Hügel. Sie
werden sein auf dem Haupte Josephs und aus dem Scheitel
des von seinen Brüdern Abgesonderten."
Oder wie Moses, der Mann Gottes, von ihm sagt: „Es
komme der Segen auf das Haupt Josephs und auf den
Scheitel des von seinen Brüdern Abgesonderten." (5. Mose
33, 16.)
Der Apostel spricht von der „Vergeltung des Erbes",
Worte, die gerade nicht so lauten, als ob sie genau zusammen
paßten; denn ein Erbe ist aus Gnaden, eine Vergeltung
aber die Folge eines Werkes. So spricht auch der Herr
davon, daß Er eine „Krone des Lebens" geben wolle, —
Worte, die auch in etwa so klingen, als ob sie nicht zusammen
gehörten, denn Leben ist eine Gnadengabe, und
eine Krone ist eine Belohnung. Doch die Seele versteht
diese Dinge und macht keine Schwierigkeit daraus; denn
in einem Sinne sind die Segnungen alle erworben, in
einem andern verheißen oder geschenkt. Und Joseph empfing,
meine ich, auf diese Weise das Erstgeburtsrecht oder das
Erbe. Es war für ihn „die Vergeltung des Erbes".
ES war etwas Erworbenes und doch Geschenktes, etwas
Verdientes und doch eine freie Gabe. In der Erteilung
117
desselben erblicken wir einerseits Gnade, andrerseits aber
auch die Frucht oder den Ausgang des dornenvollen Pfades
eines Märtyrers, den er, und er allein unter allen Söhnen
Jakobs, geduldig und triumphierend gegangen war.
Die Handlung des 48. Kapitels steht daher in völliger
Uebereinstimmung mit dem besondern Charakter der Geschichte
Josephs. Wir sehen in ihm den Erben; und als
solchem wird ihm das Erstgeburtsrecht, das zwiefache Teil,
und zugleich damit das Pfand, „das Unterpfand des
Erbes", übertragen.
Im folgenden Kapitel wird Joseph nur als einer
der vielen Söhne Jakobs betrachtet, indem Jakob, der
Vater, hier die Hauptperson ist. Joseph und seine Brüder
befinden sich in Gegenwart und vor den Gedanken des
sterbenden Patriarchen, der durch den Geist geleitet
ihnen kuudthut, was ihnen am Ende der Tage begegnen
würde. Doch ich will hier nicht näher darauf eingehen,
da dies bereits in der früheren Betrachtung über „Jakob"
geschehen ist. *)
In dem letzten Kapitel tritt Joseph wieder in den
Vordergrund, jedoch weniger als Vorbild, sondern mehr persönlich,
d. h. nicht als Erbe, sondern mehr als Mensch.
Wir erblicken hier Joseph selbst, seinen Charakter und
seine Tugenden, weniger den Herrn von Egypten mit
dessen Stellung und Würden. Und persönlich betrachtet
ist er vielleicht der anziehendste Charakter im ganzen ersten
Buche Mose. Es offenbart sich bei ihm mehr Frucht
und Kraft der Gottseligkeit als bei irgend einem seiner"
Vorväter. Wir.finden bei ihm den stetigsten, allezeit sich
gleich bleibenden Wandel in den Wegen Gottes. Wohl
*) Bergt. Jahrgang 1890 des „Botschafters", S. 124 ss-
118
zeigt sich nicht die Erhabenheit wie bei Abraham, und
selbstverständlich auch weniger Uebung des Geistes als bei
Jakob; aber durch alle Umstände, Versuchungen, Ehren
und Wechsel hindurch bleibt Joseph stets der Mann Gottes,
der in der Furcht Gottes und vor Gott wandelt. Seine
Geschichte besteht nicht aus Fehltritten und Wiederherstellungen,
noch weist sie die Notwendigkeit einer Rückkehr
zu den ersten Werken auf; sie ist vielmehr ein Pfad
des Lichtes, und wenn dieses Licht auch nicht fort und
fort bis zur Tageshöhe zunahm, so schien es doch klar
und ruhig und beständig. In seiner Geschichte hören wir
nichts von Besuchen seitens der Engel, oder von Erscheinungen
des Herrn, oder vom Empfangen göttlicher Aussprüche;
aber wir erblicken in Joseph selbst ein Gefäß,
das von Gott benutzt wurde, weil es von Ihm erprobt
war — etwas sehr Köstliches bei Gott. Wir begegnen keiner
Wiederholung von Pniel oder Beerseba, keinen gelegentlichen
Erfrischungen und Erleuchtungen, sondern vielmehr einem
bleibenden inneren Zeugnis, so daß Joseph den Weg
Gottes kannte und ihn ging. „Das Wort Jehovas läuterte
ihn." (Ps. 105, 19.) Die Autorität, welche Egypten zu
seiner Zeit in ihm anerkannte, hatte er vorher in dem Herrn
anerkannt. Er war selbst der Gehorsame, und dann
wurde er der Eine, dem alles Unterthan war. Er harrte
gleichsam mit Christo in Seinen Versuchungen aus, und
dann wurde er zum Königtum bestimmt. Unterwerfung
war sein Pfad zur Verherrlichung, und das ist der rechte
Pfad aller Erben desselben Königtums.
Doch es giebt außer dem bereits Berührten noch
einige besondere Umstände in der Geschichte Josephs. So
finden wir z. B. bei ihm weder Altar noch Zelt, wie bei
119
seinen Vätern, weil uns in ihm nicht Fremdlingschaft auf
der Erde vor Augen gestellt wird, sondern Erbschaft und
Königtum, nach Leiden und Erniedrigung. Statt des
Zeltes seiner Väter finden wir die Grube und das Gefängnis;
und diese sind nur sein Teil, nicht das Teil
seiner Väter. Zelt und Altar waren die passenden
Symbole ihrer Berufung; Grube und Gefängnis, und
nachher der Thron, sind die Symbole der seinigen.
Weiter ist zu erwähnen, daß der Herr niemals der
Gott Josephs genannt wird, wie Er „der Gott Abrahams
und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs" heißt. Auch
das hat seinen besondern Grund. Joseph gehörte eher
zu den Söhnen als zu den Vätern. Mit ihm war
nicht der Bund gemacht worden, wie mit Abraham, Isaak
und Jakob, noch war irgend jemand beiseite gesetzt worden,
um ihm die Segnung zu teil werden zu lassen. Der
Bund war mit Abraham gemacht worden, als er von
seinem Vaterland, von seiner Verwandtschaft und von
seines Vaters Hause abgesondert wurde. Er war mit
Isaak erneuert worden, wodurch Ismael beiseite gesetzt
wurde, und wiederum mit Jakob, was die Beiseitesetzung
Esaus herbeiführte. Aber mit Joseph wurde er nicht erneuert,
denn er war nur einer der Söhne Jakobs, die
alle gleichen Anteil daran hatten; sie alle gehörten zu dem
Samen, auf den der Bund sich bezog, und zwar Joseph
nicht mehr als jeder der übrigen. So war kein Grund
vorhanden für den besonderen Namen: „der Gott Josephs".
Denn während die Gnade sich offenbarte in der Berufung
Abrahams und darauf in der Auswahl Isaaks, des
Jüngeren, und schließlich in der Auswahl Jakobs, des
Jüngeren, entfaltete sie sich bei Joseph nur in dem ge-
120
wöhnlichm Maße zu Gunsten des ganzen Samens, ohne
im Blick auf Joseph eine Ausnahme zu machen. *)
*) Später wird Gott „der Gott Israels" genannt, wie Er
zuvor „der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" hieß, weil Sein
Bund mit dem Volke Israel errichtet wurde.
So ist Joseph an unsern Blicken vorübergezogen in
seinem moralischen, wie in seinem vorbildlichen Charakter, mit
den ihm eignen Tugenden, wie in seiner besondern symbolischen
Stellung. Doch sind wir noch nicht ganz mit ihm fertig.
Er war auch ein Mann derThränen. Paulus
sagt, daß er „eingedenk" sei der Thränen des Timotheus;
und manche Thränen waren bei verschiedenen Gelegenheiten
in den Augen Josephs, deren wir wohl eingedenk sein
sollten. Inmitten der anerzogenen und höflichen Umgangsformen
unsrer Tage thun uns ernste, wahre und
herzliche Gefühle wirklich not. Thränen sind oft etwas
Kostbares und zuweilen sogar etwas Heiliges.
Im Anfang, als Joseph sah, daß ein Schuldbewußtsein
in den Herzen seiner Brüder erwachte, weinte er. Das
waren Thränen des Schmerzes und zugleich der Freude.
Er fühlte den Kampf in ihren Seelen mit ihnen, und
doch muß er sich gefreut haben zu sehen, wie der Pfeil
sie ins Mark traf und die Wunden aufingen zu bluten.
Er weinte aufs neue, als er Benjamin sah, den
Sohn seiner eignen Mutter, dessen Geburt zugleich ihr
Tod gewesen war, und den einzigen unter den Söhnen
seines Vaters, der sich nicht seines Blutes schuldig gemacht
hatte. Diese Thränen waren daher mehr eine Folge
natürlicher Gefühle.
Wiederum weinte er, als er sah, daß das Werk der
Buße in seinen Brüdern Fortschritte machte. In seiner
121
Weise sehnte er sich nach ihnen mit dem Herzen Jesu
Christi, bis zuletzt Judas Worte zu viel für ihn wurden;
die Ueberführung des Gewissens endete in der Wiederherstellung
des Herzens. Der „alte Vater" und der
„Knabe", von denen Juda wieder und wieder in beredtester
Weise sprach, wirkten so mächtig auf ihn, daß er sich nicht
länger bezwingen konnte. Er schluchzte laut, und das
ganze Haus des Pharao hörte ihn. Das war mehr als
die Thränen der Natur; es waren die Gefühle Christi,
oder die Thränen des Vaters am Halse des verlorenen
Sohnes.
Doch wir sind noch nicht fertig. Joseph fiel auch
auf das Angesicht seines Vaters und weinte, als dieser
den Geist aufgegeben hatte. Es war für ihn dasselbe
wie das Grab des Lazarus für Maria und Martha, und
da konnten er und sein Herr zusammen weinen.
Ferner weinte er, als nach seines Vaters Tode seine
Brüder anfingen, seiner Liebe zu mißtrauen. Er war
enttäuscht. Diese unwürdige Antwort auf alle die Wege
und Handlungen einer stetigen, ausharrenden und dienenden
Liebe brachte ihn zum Weinen — in dem Geiste Dessen,
möchte ich sagen, der in späteren Tagen über Jerusalem
weinte. Jahrelang hatte er alles gethan, was er konnte,
um ihr Vertrauen zu gewinnen. Er hatte sie und ihre
Kinder versorgt. Jahre waren vergangen, und weder in
seinem Leben noch in seiner Handlungsweise hatte sich
irgend ein Tadel ihnen gegenüber gezeigt. Die Trauer
über ihren Heimgegangenen Vater hatte ihnen eben erst
anfs neue gezeigt, welche gemeinsamen Gefühle sie mit
einander verbanden. Joseph hatte ihnen wahrlich alle
Ursache gegeben, ihm zu vertrauen; und doch, nach allen
122
diesen Dingen, fürchteten sie sich vor ihm. Das war ein
harter Stoß für ein Herz, wie dasjenige des Joseph.
Doch er verwies es ihnen nicht, außer durch seine Thränen;
er gab ihnen vielmehr aufs neue Versicherungen seiner
rastlosen, treuen Liebe. Und sind nicht solche Thränen,
möchte ich fragen, von so kostbarer Art, wie Thränen je sein
können ? Sie gleichen den Aeußerungen des schmerzlich verletzten
Geistes des Herrn, wenn Er sagt: „Wie lange soll
ich bei euch sein?" „Warum seid ihr furchtsam?" „So
lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt,
Philippus?" Jesus weinte heilige Thränen und machte
sie, wie alles andere, was von Ihm zu Gott emporstieg,
zu einem Opfer lieblichen Wohlgeruchs; Joseph, Paulus,
Timotheus und andere weinten kostbare Thränen und
legten sie gleichsam in der Schatzkammer des Geistes im
Schoße der Kirche nieder.
So steht Joseph vor uns, und ich wiederhole, vielleicht
als der anziehendste Charakter im ganzen 1. Buche
Mose. Wir sehen in ihm die Gnade und das tadellose
Leben, dem wir bei Isaak begegneten; Frömmigkeit kennzeichnete
ihn in allen Lebenslagen. Zugleich aber finden
wir bei ihm, was wir bei Isaak vermißten: sein Zartgefühl
war mit Festigkeit und Energie verbunden, was
bei Isaak nicht der Fall war. (Schluß folgt.)
„Alles geschehe wohlanständig und
in Ordnung."(1. Kor. 14, 40.)
II.
Indem ich jetzt auf einzelne Fälle und Fragen bezüglich
des Gemeinschaftslebens der Gläubigen, wie sie in
123
den örtlichen Versammlungen vorkommen, eiugehe, möchte
ich vorausschicken, daß mir der Gedanke durchaus fern
liegt, eine menschliche Richtschnur für das Verhalten des
Gläubigen in dieser Beziehung aufstellen zu wollen. Unsre
einzige Richtschnur ist, wie schon wiederholt gesagt, hier
wie überall das Wort Gottes. Mein Wunsch ist
nur, einem Bedürfnis zu begegnen, das sich durch immer
wieder auftauchende Fragen nach dem richtigen Verhalten
in den verschiedenen Fällen kundgegeben hat, indem ich
versuche, die am häufigsten vorkommenden Verwaltungsfragen
im Lichte des göttlichen Wortes zu besprechen.
Vielleicht wird der eine oder andere Leser manches als
selbstverständlich bezeichnen; allein man wolle bedenken,
daß der Grad der Erkenntnis verschieden ist, und daß
es nicht nur „Väter", sondern auch „Jünglinge" und
„Kindlein in Christo" giebt. Ferner wird das Gesagte
hie und da (besonders hinsichtlich der Fälle, über welche
das Wort keine unmittelbare Vorschrift giebt) als
eine persönliche Meinung betrachtet werden können, die
man annehmen kann oder nicht. Indes hoffe ich mich
in jeder Beziehung auf die Belehrungen des Wortes über
das Wesen der Versammlung Gottes zu gründen. Und
mögen auch über einzelne unwesentliche Punkte immer
Meinungsverschiedenheiten bestehen bleiben, so werden wir
doch, wenn wir anders aus dem Worte Gottes allein
die Richtschnur für unser Verhalten herleiten, in allen
wichtigeren Fragen einig gehen. Möchte deshalb stets
auch in den Fällen, die hier nicht besprochen sind, diese
Richtschnur als die allein maßgebende treu befolgt werden!
In unsern Tagen der Verwirrung und des Verfalls mag
es oft schwierig erscheinen, daß alles wohlanständig
124
und in Ordnung geschehe; allein einem einfältigen
Herzen und einem aufrichtigen Sinn wird der Herr stets
zu Hilfe kommen. „Denn Gott ist nicht ein Gott der
Unordnung, sondern des Friedens, wie in allen Versammlungen
der Heiligen." (1. Kor. 14, 33.)
1. Der Tisch des Herrn ist der Sammelpunkt der
Gläubigen, an welchem sie ihrer Einheit mit dem Haupte
und unter einander, also der Einheit des Leibes, Ausdruck
geben. Der Tisch des Herrn erinnert an den ganzen
Inhalt der göttlichen Wahrheit hinsichtlich der Versammlung,
vor allem an die Liebe Dessen, der als Haupt
sich selbst für Seinen Leib, d. i. die Versammlung hin-
gegeben hat. (Eph. 5, 23—32.) Deshalb ist er der Mittelpunkt
der Verwaltung aller Versammlungs-Angelegenheiten,
deren Behandlung sich nach diesem Mittelpunkt richten muß.
Die Teilnahme an dem Tische des Herrn ist, dem
ganzen Charakter desselben gemäß, nur das Vorrecht
derer, welche lebendige Glieder des Leibes Christi sind.
Außerdem paßt weder die Sünde, noch eine Irrlehre zu
diesem Tische. Wenn das Wort den Gläubigen gebietet,
keine Gemeinschaft mit offenbaren Sündern zu haben
(1. Kor. 5, 11), noch mit solchen, die einer falschen
Lehre *) anhangen (Tit. 3, 10; 2. Joh. 10), so dürfen
sie dieselben sicher nicht zum Tische des Herrn zulassen,
welcher der Mittelpunkt aller christlichen Gemeinschaft ist.
Alle Glieder einer örtlichen Versammlung sind verantwortlich
dafür, nur mit solchen sich am Tische des Herrn
*) Wir haben unter „falscher Lehre" vor allem solche Lehren
zu verstehen, welche die Person Christi und Sein Versöhnungswerk
nicht in ihrem vollen, göttlichen Werte bestehen lassen.
125
zu vereinigen, die, wie oben gesagt, wahre Glieder am Leibe
Christi und in Wandel und Lehre lauter und unanstößig
sind. Jeder, der am Brotbrechen teilzunehmen begehrt, muß
diesen notwendigen Bedingungen entsprechen. Vielleicht sind,
namentlich bei größeren Versammlungen, nicht alle in der
Lage, zu prüfen, ob dies der Fall ist, und müssen die Beschäftigung
mit dieser Frage einer Anzahl von Brüdern überlassen.
Diese werden indes das Resultat ihrer Untersuchungen,
falls daraufhin die Zulassung empfohlen werden
kann, der ganzen Versammlung mitzuteilen haben, weil
alle Glieder derselben verantwortlich für die Entscheidung
sind. Ganz unstatthaft aber würde es sein, wenn jene
wenigen Brüder oder gar nur einer, ohne eine solche Mitteilung,
auf eigne Hand eine Entscheidung treffen wollten.
Das würde, nach dem oben Gesagten, eine Verkennung des
Wesens der Versammlung und der Rechte des in ihrer
Mitte anwesenden Herrn in sich schließen. Nachdem urteilsfähige
Brüder für sich die volle Ueberzeugung gewonnen
haben, daß der, welcher am Tische des Herrn teilzunehmen
wünscht, die dazu erforderlichen Eigenschaften besitzt, wird
die Zulassung desselben den um den Tisch des Herrn
Versammelten vorzuschlagen sein, damit jeder von ihnen
(auch die Schwestern), falls ihnen etwas bekannt sein
sollte, was gegen den Vorgeschlagenen spricht, Einsprache
gegen seine Zulassung erheben kann. Erfolgt eine solche
nicht, so ist das als das Urteil der ganzen Versammlung
zu betrachten, woraufhin bei der nächsten Gelegenheit
den um den Tisch des Herrn Versammelten mitzuteilen
sein wird, daß sie mit dem Vorgeschlagenen in die Gemeinschaft
des Brotbrechens eintritt.
Beiläufig sei noch bemerkt, daß die Tauffrage, die
126
vielfach bei Gelegenheit der Zulassung zum Tische des Herrn
erhoben wird, nicht Sache der Versammlung ist. Sicherlich
sollte kein Ungetaufter zum Brotbrechen zugelassen
werden, und nur in dieser Beziehung kann die
Frage der Taufe die Versammlung berühren. Die
Taufe an und für sich aber ist in keiner Weise eine Versammlungs-
Angelegenheit oder Gemeinschaftsfrage. Da
wo sie zu einer solchen gemacht wird, entstehen, bei der
herrschenden Verschiedenheit der Ansichten über dieselbe,
notwendig Spaltungen, — das gerade Gegenteil von der
Einheit, welche die Versammlung Gottes darzustellen hat.
Das würde heißen, den Einigungspunkt in der Taufe
suchen, anstatt in Christo, die Taufe an die Stelle
Christi setzen.
Auch entspricht es wohl nicht der uns geziemenden
Ehrfurcht vor dem Tische des Herrn, Kinder daran
teilnehmen zu lassen, die, infolge ihrer Jugend, die hohe
Bedeutung des Brotbrechens noch nicht in dem Maße zu
erfassen vermögen, daß eine in jeder Hinsicht würdige Feier
des Abendmahls von ihnen erwartet werden kann. Gewiß
gehören gläubige Kinder ebenso gut zur Versammlung
oder zur Familie Gottes, wie die erwachsenen Gläubigen.
Aber obwohl die Kinder einer irdischen Familie alle
an den Familientisch gehören, so wird man dieselben
doch bei Anwesenheit eines hohen Gastes nur in dem
Maße an einem demselben zu Ehren bereiteten Mahle
teilnehmen lassen, als man von ihnen ein Benehmen erwarten
kann, welches der Auszeichnung entspricht, die dem
Gaste erwiesen werden soll. — Und wie viel höhere Ehre
sind wir dem Herrn schuldig, als selbst einem irdischen
Könige!
127
2. Wie bei der Zulassung eines Gläubigen zum
Tische des Herrn, so ist auch bei der durch das Wort
vorgeschriebenen Ausübung der Zucht die ganze Versammlung
beteiligt. Das in ihrer Mitte vorkommende
Uebel, welches eine Zucht erfordert, ist ihr Uebel; denn
„wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit".
(1. Kor. 12, 26.) Die ganze Versammlung hat sich
darüber zu richten und zu demütigen; anders ist sie nicht
fähig, die Zucht im „Hause Gottes" in demselben Sinne
auszuüben, wie Gott selbst jetzt Seine Kinder und Hausgenossen
züchtigt und richtet. Die Liebe ist die Quelle
Seiner Zucht. (Hebr. 12, 6; 1. Kor. 11, 32.) Wenn
das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem, der gefehlt
hat, nicht vorhanden ist, so wird die Zucht leicht den
Charakter eines Richterspruchs annehmen, und das würde
ganz im Widerspruch stehen mit dem Dienst, welchen nach
Eph. 4 und 1. Kor. 12 die Glieder des Leibes „zu seiner
Selbstauferbauung in Liebe" unter einander darzu-
reichen haben. Die Liebe zu dem fehlenden Gliede,
verbunden mit der vollen Entschiedenheit gegen das
Böse und für die Aufrechthaltung der Reinheit des
Tisches des Herrn, wird allein zu einer gott gemäßen
Ausübung der Zucht in der Versammlung befähigen.
Jeder, der am Tische des Herrn teilnimmt, stellt
sich dadurch unter die Aufsicht und Ermahnung, oder, wenn
nötig, die Zucht der Versammlung. (Röm. 16, 17;
1. Kor. 5; Gal. 6, 1. 2; Eph. 5. 21; 1. Thess. 5,
14. 15; 2. Thess. 3, 6-15; Hebr. 10, 24.) Wie nun
die Versammlung darüber zu wachen hat, daß niemand
zum Brotbrechen zu gelassen wird, der in Wandel, Ge
128
sinnung und Lehre nicht zu der Heiligkeit des Tisches des
Herrn und in die Gemeinschaft der Gläubigen paßt, ebenso
ist sie auch verantwortlich dafür, daß solche, welche in
dieser Gemeinschaft sind, aber in den bezeichneten Punkten
fehlen, unter Ermahnung und Zucht gestellt, ja nötigenfalls
vom Tische des Herrn wieder entfernt werden.
Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, den Gegenstand-
der Aufsicht und Zucht ausführlich zu behandeln. Dies
ist anderswo geschehen, u. a. in den Traktaten „Die
christliche Zucht" und „Ueber das Verhalten des Gläubigen
in den Tagen des Verfalls". Es soll hier nur
besonders darauf hingewiesen werden, daß die Ausübung
der Zucht ebenso Sache der ganzen Versammlung ist,
wie die Zulassung zum Tische des Herrn. Wenn deshalb
nach der Ueberzeugung derjenigen Brüder, welche sich eingehend
mit einem dahin gehörenden Falle beschäftigt haben,
die Anwendung irgend einer Zucht, nach den Vorschriften
des göttlichen Wortes, notwendig erscheint, so wird dies
der ganzen Versammlung mitznteilen sein, und die Zucht
kann erst in Kraft treten, wenn von keinem Gliede der
Versammlung eine begründete Einwendung dagegen
erhoben worden ist. Dadurch wird die Zucht zu einem
Versammlungsbeschluß, welcher wiederum als solcher den
um den Tisch des Herrn versammelten Gläubigen mitzuteilen
sein wird, damit ein jeder derselben ein der Zucht entsprechendes
Verhalten gegen den, über welchen sie ausgesprochen
ist, beobachten und auf diese Weise praktisch an der Ausübung
der Zucht teilnehmen kann. Indem so die ganze
Versammlung dem Bösen gegenüber in Thätigkeit tritt,
reinigt sie sich von dem in ihr vorhanden gewesenen
„Sauerteig". (1. Kor. 5, 1—8; 2. Kor. 7, 11.)
129
Aber, wie gesagt, auch jedes einzelne Glied hat m
seinem Verhalten gegen den der Zucht Verfallenen daS-
ernste Handeln der Versammlung zu bestätigen. Wenn
z. B. die Zucht im Ausschluß vom Tische des Herrn oder-
von der brüderlichen Gemeinschaft besteht, so würde jeder,
der noch irgendwelche christliche Gemeinschaft mit dem
Ausgeschlossenen machen würde, (und wenn es nur im
Reichen der Hand (Gal. 2, 9) bestehen sollte,) seinerseits
die Zucht der Versammlung wirkungslos machen. Nicht
allein aber das, sondern er würde dadurch auch die Einheit
des Leibes verleugnen, indem er eigenmächtig, im
Widerspruch mit der Versammlung, handelte und sich dadurch
praktisch von ihr trennte. Wenn ein solcher, nach
vorhergegangener Ermahnung, beharrlich den unerlaubten
Verkehr fortsetzen sollte, würde die Versammlung sich auch
von ihm trennen müssen. Denn eine Handlungsweise,
die im Widerspruch mit der Versammlung steht, ist auch
im Widerspruch mit dem Herrn selbst, der das, was sie
in Seinem Namen und in Uebereinstimmung mit Seinem
Worte thut, mit Seiner eignen Autorität bekleidet; denn
Er selbst ist in der Mitte der in Seinem Namen Versammelten.
(Matth. 18, 17—20.) Eine ernste Verantwortung
laden demnach alle diejenigen auf sich, welche
aus falschen Rücksichten einen christlichen Verkehr mit
einem Ausgeschlossenen beibehalten oder anknüpfen.
Trifft der Ausschluß ein Familienglied von Gläubigen,
so können allerdings die Familien-Beziehungen nicht abgebrochen
werden. Aber die christliche Gemeinschaft kann
auch in diesem Falle nicht aufrecht erhalten bleiben; anders
würden die irdischen Beziehungen über die himmlischen
gestellt werden. Außerdem aber würde auch dem Aus-
130
-geschlossenen geschadet werden, indem die Wirkung der
Zucht, die doch nm seine Wiederherstellung bezweckt,
dadurch mehr oder weniger verhindert würde.
3. Es kommt leider vor, daß Gläubige, welche ihren
Platz am Tische des Herrn eingenommen haben, eine große
Gleichgültigkeit gegen denselben an den Tag legen, indem
sie, ohne triftige Gründe, oft längere Zeit davon fern
bleiben. Wenn man bedenkt, welch eine Liebe zu den
Seinigen der Herr dadurch geoffenbart hat, daß Er ihnen,
für die Zeit Seiner sichtbaren Abwesenheit, einen Tisch
bereitet hat, um welchen Er sie als Seine teuer Erkauften
mit glücklichem Herzen versammelt zu sehen wünscht, um
Seiner zu gedenken und Seinen Tod, den höchsten Beweis
Seiner Liebe zu ihnen, zu verkündigen, — so wird
man ein willkürliches Fernbleiben von diesem Tische als
<ine Mißachtung Seiner Liebe und als einen Mangel an
Liebe zu Ihm bezeichnen müssen. Und der Herr sagt
in Joh. 14, 24: „Wer mich nicht liebt, hält meine Worte
nicht," und das legt uns den Schluß nahe, daß die,
bei welchen ein solcher Mangel an Liebe zu Ihm hervortritt,
es auch nicht genau nehmen werden mit dem würdigen
Wandel, wie er in Uebereinstimmung ist mit der
Heiligkeit des Tisches des Herrn. Gleichgültigkeit gegen
dieses kostbare Vermächtnis des Herrn ist ohne Zweifel
Gleichgültigkeit gegen Ihn selbst, und das ist ein bedenklicher
Zustand, der diejenigen, welche sich darin befinden,
in Gefahr bringt, auf unwürdige Weise am Abendmahl
teilzunehmen und dadurch ein Gericht über sich zu
bringen. (1. Kor. 11, 27—30.)
Die Versammlung aber ist berufen, darüber zu
131
wachen, daß der Tisch des Herrn nicht verunehrt werde»
Was ist nun in einem solchen Falle zu thun? Zunächst
werden wohl treue, nüchterne Brüder, denen die Ehre deA
Herrn und das Heil der Seelen am Herzen liegen, sich in
geeigneter, liebevoller Weise mit dem, der eine solch strafbare
Nachlässigkeit gegen den Tisch des Herrn offenbart,,
in Belehrung, Zurechtweisung und Ermahnung zu beschäftigen
haben, um ihn, womöglich, zu einem gesunden
Zustande zurückzuführen. Sollte aber alle Bemühung in
dieser Beziehung fruchtlos sein, so wird die Versammlung,
die geeignete Stellung zu dem Betreffenden einzunehmen
haben, die nach meiner Meinung darin bestehen wird, die
Gemeinschaft mit demselben am Tische des Herrn so lange
als aufgehoben zu betrachten, bis er eine unverkennbare
Sinnesänderung an den Tag legt und mit Aufrichtigkeit
begehrt, den gesegneten Platz am Tische des Herrn anst
geziemende Weise einzunehmen. Sollte diese Aufhebung
der Gemeinschaft für nötig erachtet werden und-
eine diesbezügliche Mitteilung in der Versammlung ohne
berechtigten Einspruch bleiben, so wird das als die Entscheidung
der ganzen Versammlung zu betrachten und in
der Versammlung bekannt zu machen sein. Unstatthaft aber
wäre es sicher auch in diesem Falle, wenn eine solche-
Entscheidung nur von einzelnen Brüdern getroffen würde,
wie es aus Unkenntnis wiederholt geschehen sein mag. Die
Würdigung dessen, was die Versammlung ist, in deren
Mitte der Herr wohnt, unter dessen Autorität sie ihre
Angelegenheiten ordnen soll, wird treue und gewissenhafte
Brüder von jedem eigenmächtigen Handeln zurückhalten
und sie in allem zu einem richtigen Verhalten leiten.
Der in vorstehendem Abschnitt besprochene Fall isU
132
etwas ganz anderes als ein Ausschluß vom Tische des
Herrn und der christlichen Gemeinschaft, wovon vorhin die
Rede war. Während bei einem Ausschluß jeglicher Verkehr
auf dem Boden der christlichen Gemeinschaft abzubrechen
ist, liegt in dem letzter« Falle dafür kein Grund vor. Der
betreffende Bruder (oder die Schwester) tritt, hinsichtlich
des Verkehrs mit ihm, einfach in die Stellung zurück,
welche er vor seiner Zulassung zum Tische des Herrn
einnahm und in welcher alle Gläubigen sich befinden, die
nicht außerhalb der Parteien sich um diesen Tisch versammeln.
Es kommt auch vor, daß jemand sich vom Tische
des Herrn zurückzieht und auf eine, dieserhalb an ihn
gerichtete Ermahnung erklärt, daß er überhaupt nicht mehr
am Brotbrechen teilnehmen wolle. Dies wird dann ebenfalls
der ganzen Versammlung mitzuteilen sein.
Es giebt auch Fälle, daß unlautere Glieder, welche
der Zucht der Versammlung verfallen sind, sich dieser
Zucht zu entziehen suchen, indem sie erklären, daß sie sich
vom Tische des Herrn zurückziehen. Eine Versammlung
aber, welche ihre Verantwortlichkeit kennt, wird sich dadurch
nicht beirren lassen und gegen einen solchen handeln, wie
die Ehre des Tisches des Herrn, an welchem derselbe bis
dahin seinen Platz hatte, es erfordert.
„Du, den meine Seele liebt."(Hohel. 1, 7.)
„Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo
weidest du, wo lässest du lagern am Mittag? denn warum
sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden deiner
133
Genossen?" Eine herrliche Veränderung hat stattgefunden
in dem, was die Braut beschäftigt. Der Bräutigam steht
vor ihren Blicken und füllt ihr ganzes Herz aus. Das
eigne Ich ist aus dem Auge verloren. Welch eine Gnade!
Es ist weder das schwarze Ich, noch das liebliche Ich,
mit dem sie beschäftigt ist. Das Resultat ist immer ein
unglückliches, wenn wir mit unS selbst beschäftigt sind.
Unzählige Schwierigkeiten und Sorgen entstehen, sobald
der Blick sich nach innen richtet, anstatt nach außen
auf Christum:
Drei Dinge sind in diesem schönen Verse unsrer besondern
Betrachtung wert:
1. Die aufrichtige Zuneigung des Herzens der Braut.
Sie sagt nicht: „Du, den meine Seele" lieben sollte,
oder zu lieben begehrt, sondern: „Du, den meine Seele
liebt". Eine Helle Flamme der Liebe zu der Person
ihres Herrn und Erlösers brennt in ihrem Herzen. Sie
liebt Ihn aufrichtig und innig. „Sage mir an, du,
den meine Seele liebt." Das ist ein bewußtes Nahesein:
„Mir" — „du". Welch ein gesegneter Zustand für eine
Seele! Kennst auch du etwas davon, mein lieber Leser?
Ach, wie oft tritt etwas zwischen die Seele und den Herrn
und verhindert diese innige Gemeinschaft und stört den
seligen Genuß dieser Nähe! Aber Gott sei gepriesen, der
Tag ist nahe, an welchem diese meine Augen den König
in Seiner Herrlichkeit schauen werden! Dann wird dieses
kalte, träge Herz ganz hingerissen sein von Seiner Schönheit
und für immer brennen mit einer reinen Flamme
vollkommener Liebe für Ihn allein.
2. Die Braut verlangt Erquickung und Nahrung
unmittelbar von Ihm selbst. „Sage mir an, ... wo
134
weidest du, wo lässest du lagern am Mittag?" Sie
geht nicht zu den Hirten Israels, welche mehr die Wolle
als die Schafe liebten, sondern zu dem Erzhirten selbst.
Sie war zu Ihm gebracht worden als dem König,
jetzt aber wendet sie sich an Ihn als den Hirten. Wie
David vor alters, so ist auch Er der königliche Hirte;
und o, wie gnädig, liebevoll und zärtlich wird Er noch
einmal die jetzt zerstreuten Schafe Israels sammeln l
Nichts könnte die Gnade übertreffen, die sich in den
folgenden Versen kundgiebt: „Denn so spricht der Herr,
Jehova: Siehe, ich bin da, und ich will nach meinen
Schafen fragen und mich ihrer annehmen. Wie ein Hirt
sich seiner Herde annimmt an dem Tage da er unter seinen
zerstreuten Schafen ist, also werde ich mich meiner Schafe
annehmen und werde sie erretten aus allen Orten, wohin
sie zerstreut worden sind am Tage des Gewölks und des
Wolkendunkels. Und ich werde sie herausführen aus den
Völkern und sie aus den Ländern sammeln und sie in
ihr Land bringen; und ich werde sie weiden auf den
Bergen Israels, in den Thälern und an allen Wohnplätzen
des Landes. Auf guter Weide werde ich *sie weiden,
und auf den hohen Bergen Israels wird ihre Trift sein;
daselbst, auf den Bergen Israels, werden sie auf guter
Trift lagern und fette Weide beweiden. Ich will meine
Schafe weiden, und ich will sie lagern, spricht der Herr,
Jehova." (Hes. 34, 11—15.)
3. Ihr Herz sehnt sich nach der Mittagsruhe Seiner
hochbegünstigten Herde. „Sage mir an, .... wo lässest
du lagern am Mittage?" Persönliche Gemeinschaft,
geistliche Speise und friedliche Ruhe sind die reichen
Segnungen, nach denen ihre Seele jetzt inbrünstig verlangt.
135
Ermüdet von dem fruchtlosen Suchen nach Ruhe und Erquickung
fern von Gott, sehnt sie sich nach den grünen
Weiden und den stillen Wassern Seiner Liebe und Gnade.
Diejenigen, welche selbst einmal auf den finstern Bergen
umhergeirrt sind, unerfreut durch das Licht des Antlitzes
Gottes, verstehen die schreckliche Dürre in ihrer Seele.
Wenn aber die Wiederherstellung eine vollständige und
glückliche ist, so schmecken die zarten Triebe der Weide
süßer als je zuvor. Nachdem die Braut einmal den
Segen der Gemeinschaft mit Gott geschmeckt hat, kennt
sie nur noch das eine Verlangen, daß dieser Segen
wachsend und ununterbrochen sein möge.
Der Gedanke, von Andern als unaufrichtig beargwöhnt
zu werden, beunruhigt sie. „Denn warum," sagt
sie, „sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden
deiner Genossen?" Wer diese Genossen sind, dürfte schwer
zu bestimmen sein; vielleicht die Unterhirten, die ihre
Lage nicht so zu verstehen und zu beurteilen vermögen,
wie der Haupthirte selbst. Er kennt ihr Herz, und sie
kann dem Seinigen vertrauen. Der Ausdruck „Verschleierte"
scheint den Gedanken an eine Beargwöhnung
zu enthalten. (Vergl. 1. Mose 38, 15.) Das ist sehr
schmerzlich für ein aufrichtiges, ehrliches Gemüt, obwohl
nicht ungewöhnlich. Viele, welche Hirten der Herde Gottes
zu sein bekennen, verstehen nur sehr wenig von dem Pfade
einer Seele, die mit dem Herrn wandelt, frei von allen
Vorschriften und Regeln der Menschen — die nur das
Verlangen hat, dem Herrn zu gefallen, mag sie auch das
Mißfallen aller andern auf sich ziehen. Es giebt eine
Energie der Liebe, die sich über alle menschlichen Einrichtungen
erhebt und eine unmittelbare (nicht
136
mittelbare) Gemeinschaft mit dem Herrn unterhält;
eine Energie, die nicht zufrieden ist mit der geläufigen
Beobachtung menschlicher Formen. Eine solche Seele
wird sehr wahrscheinlich mißverstanden und mißdeutet
werden von denen, die sich in der mehr ausgetretenen Spur
alltäglicher Religiosität bewegen; gleich Hanna, der Mutter
Samuels, die mit einer innerlich geistlichen Energie betete,
welche selbst von Eli, dem Priester Gottes, nicht verstanden
wurde. Aber der Herr kennt die Beweggründe
des Herzens und die Quelle dieser Energie.
Doch gerade in dem Augenblick, da die Geliebte in
ihrer Seele leidet von dem niedrigen Argwohn Anderer,
erscheint der Geliebte ihr zum Troste. Dies ist das erste
Mal im Hohenliede, daß wir die Stimme des Bräutigams
vernehmen. Und ach! welch eine Huld und Gnade strömen
der fragenden Braut entgegen! Welche Worte fließen
von Seinen Lippen! „Du Schönste unter den Weibern",
so lautet die erste Aeußerung Seines Herzens. Wahrlich,
das ist genug, um auch die tiefste Bitterkeit der Seele zu
verbannen.
Sie mochte bekümmert gewesen sein über ihre äußere
Erscheinung und über die unwürdigen Gedanken Anderer;
allein eine solche Zusicherung Seiner Liebe und Wertschätzung
ist hinreichend, um alle ihre Kümmernisse zu
verscheuchen und ihr Herz mit überströmender Freude zu
erfüllen. Anstatt auf sich selbst zu blicken, auf das was
sie in sich selbst ist: „schwarz wie die Zelte Kedars",
eine sonnenverbrannte Sklavin, — versichert Er ihr, daß
Er sie nicht allein für schön und anmutig halte, sondern
für die Schön st eunter den Schönen.
137
Die Söhne Korahs.
Die Lieder und Gesänge der Söhne Korahs sind
von besonderer Lieblichkeit und Schönheit. Es giebt sich
in ihnen eine Tiefe der Gefühle kund, wie wir sie nicht
überall in den Psalmen finden. (Vergl. z. B. Ps. 42;
45; 46 rc.) Einer der schönsten ist wohl Psalm 84:
„Wie lieblich find Deine Wohnungen, Jehova der Heerscharen!"
Wenn diese Schatten der himmlischen Dinge
schon so begehrenswert waren; wenn diese Leviten sich so
innig sehnten, ja schmachteten nach den Vorhöfen Jehovas,
die doch nur zeitlich waren und längst vergangen sind —
dann mögen wir uns wohl fragen: Verlangen auch wir
so sehnlich nach der Stätte Seiner heiligen Wohnung? Ist
es die tiefe Freude unsrer Herzen, da zu sein, wo zwei
oder drei zu Seinem Namen hin versammelt sind?
Doch wer waren diese Söhne Korahs? War nicht
das ganze böse Geschlecht der Korhiter einst von der Erde
verschlungen worden? Nach der Erzählung in 4. Mose
16 scheint es allerdings so zu sein. Aber im 26. Kapitel
desselben Buches wird uns ausdrücklich gesagt, daß die
Kinder Korahs nicht starben, „als das Feuer die 250
Männer verzehrte". Sie wurden vom Rande des Verderbens
hinweg gerettet, wie ein Brand aus dem Feuer
gerissen und standen nun da als die herrlichen Siegeszeichen
einer überströmenden Gnade. Aber das war nicht
alles. Nicht nur wurden sie vor dem entsetzlichen Gericht
bewahrt, lebendig in den Abgrund zu fahren, sondern sie
erhielten auch, als ein Teil des Geschlechts der Kehathiter,
eine Zufluchtsstadt. (Vergl. 1. Chron. 6, 54—70.)
O wie groß ist die Freude Gottes, Gnade zu üben!
138
Die Gnade verschont die Schuldigen und giebt ihnen
einen Platz der Sicherheit. Einst Kinder des Zorns,
wie auch die übrigen, sind wir jetzt durch die unumschränkte
Gnade Gottes dahin gebracht, in Christo in
den himmlischen Oertern zu wohnen. Die gesegnete Stadt
ewiger Zuflucht, das Jerusalem droben, ist unser Wohnort.
Sollten wir nicht die Reichtümer der göttlichen
Gnade jubelnd preisen?
Doch die Gnade geht noch weiter. Von dem Abgrunde
des Verderbens erlöst, wurden gerade die Söhne
Korahs über das Werk des Dienstes im Hause Gottes,
zu Hütern der Schwellen des Zeltes bestellt. Sie hatten
die Aussicht „über die Thore des Hauses Jehovas, als
Wachen", sowie „über die Zellen und über die Schätze
des Hauses Gottes". Welch ein Dienst! Alle Geräte
des Heiligtums, und das Feinmehl, der Wein, das Oel,
der Weihrauch, die Gewürze, das Speisopfer und die
Schaubrote waren ihrer Hut anvertraut. (Vergl. 1.
Chron. 9, 19—32.) Kostbare, belehrende Vorbilder für
uns, die wir von dem Abgrunde erlöst und durch das
Blut Jesu in die Gegenwart Gottes selbst gebracht sind!
Alle die Reichtümer der Herrlichkeit Christi sind gleichsam
unsrer Hut und Verwaltung anvertraut. Das Feinmehl,
der Weihrauch, die Gewürze und das Speisopfer — alles
Bilder von der Person Jesu Christi in Seiner anbetungswürdigen
Vollkommenheit — sind unser Teil, sind uns
gegeben zu unserm Genuß und zu unsrer Bedienung.
Wie erhaben ist das Vorrecht, aber wie groß auch die
Verantwortlichkeit! Für einen solchen Dienst war Entschiedenheit,
Treue und Kraft erforderlich, und diese Dinge
wurden den Söhnen Korahs nicht vorenthalten. Sie waren
139
„tapfere" oder „tüchtige" Männer und „wackere Männer,
fähig zum Dienste". (1. Chron. 26, 6 — 8.)
So sind auch zu dem Dienste, zu dem wir heute
berufen sind, tüchtige und wackere Männer erforderlich,
Männer, die treu zu ihrem Herrn stehen und darüber
wachen, daß der kostbare Name Jesu nicht verunehrt, und
daß das Feinmehl, der Weihrauch, die Gewürze ?c. nicht
mit fremden Dingen vermengt werden. Auch laßt
uns bedenken, daß dieser Dienst nicht nur Einzelnen anvertraut
ist, sondern dem ganzen erlösten Volke des Herrn,
und daß jeder seinen Platz mit aller Treue ausfüllen
und (obwohl schwach, ganz schwach in sich selbst) stark
sein sollte in der Macht Seiner Stärke.
Gnade auf Gnade tritt uns in diesen so reich bevorzugten
Söhnen Korahs entgegen. Sie waren die
Wachen des Hauses Gottes, die Hüter der Schwellen.
Erlöst von der Grube des Verderbens, waren sie berufen,
die Wachen des verborgenen, aber kommenden Königs der
Herrlichkeit zu sein. Und wir? Wächter des Hauses
Gottes, Hüter der Schwellen, der Grundlagen der Wahrheit;
einst Kinder des Verderbens und jetzt Kinder der
Herrlichkeit — welch eine Würde! O möchten unsre
Herzen Ihm ergeben sein, nur für Ihn schlagen, dem
wir bald in der Luft begegnen werden!
Diese überströmende göttliche Gnade, die sich in
der Geschichte der Söhne Korahs kundgiebt, ist es auch,
welche ihren Psalmen eine so besondere Lieblichkeit verleiht.
Aber ich muß wiederum fragen: Sollten wir nicht noch
viel mehr als sie sagen können: „Wie lieblich sind Deine
Wohnungen, o Herr! Es sehnt sich :c?" Giebt es
irgend ein größeres Vorrecht hienieden, als in dem Namen
140
des Herrn Jesu versammelt zu sein? „Da bin ich in
ihrer Mitte", sagt Er. Giebt es etwas Höheres, als
mit Freimütigkeit ins Heiligtum zu treten? O welch
eine Wohnstätte ist die Gegenwart des Herrn! Die in
Seinem Hause wohnen, werden Ihn stets preisen. — Ist
das auch deine liebliche Beschäftigung, mein Leser? Ein
Wohnen im Hause, ein stetes Preisen und ein Gehen
von Kraft zu Kraft waren die Zeichen der göttlichen
Gnade, wie sie den Söhnen Korahs zu teil wurde.
Sollte es mit uns anders sein? Als Söhne Gottes ist
es unser Vorrecht, in diesem Thränenthal gesegnet zu
sein und überall Segen zu verbreiten. Können wir nicht
sagen: Ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst
tausend? Ist unser Gott nicht auch für uns Sonne und
Schild? Ja wahrlich, auch uns wird der Herr Gnade
und Herrlichkeit geben, kein Gutes vorenthalten denen, die
in Lauterkeit wandeln.
Der Gesang der Korhiter beschämt uns tief. In
ihren Tagen war der Weg ins Heiligtum noch nicht geoffenbart;
jetzt aber ist der Vorhang zerrissen. Wir
dürfen mit aller Zuversicht ins Allerheiligste treten durch
das Blut Jesu. Und wie groß ist die Freude Gottes,
uns dort zu empfangen! „Laßt uns essen und fröhlich
sein I" sagt der Vater, wenn der verlorne Sohn heimkehrt.
Welch ein Vorwurf liegt in diesen Worten für unsre oft
so trägen, kalten Herzen! O möchten wir aufwachen und
von neuem unsre Stärke allein „in Ihm" finden, der uns
geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat!
„Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den
Toten, und der Christus wird dir leuchten!
Sehet nun zu, wie ihr sorgfältig wandelt, nicht als
Unweise, sondern als Weise, die gelegene Zeit auskaufend,
denn die Tage sind böse." (Eph. 5, 14 — 16.)
Joseph.(Schluß.)
Joseph hat jetzt noch einen letzten Liebesdienst dem
Andenken seines Vaters zu weihen, und er übt ihn in
aller Schönheit und Treue aus. Er beerdigt seinen Vater,
wie dieser es gewollt hatte, im Lande Kanaan. Die
ganze Handlung geht mit großer Feierlichkeit und in einer
Weise vor sich, daß wir noch einen Augenblick dabei verweilen
müssen.
In früheren Zeiten war der Gottesdienst mit einem
prächtigen Ceremoniell umgeben. Tempel, Altäre, Feste,
Opfer und dergleichen riefen diese Pracht hervor, und
Diener verschiedener Ordnungen, mit entsprechenden Gewändern
bekleidet, verrichteten den Dienst. Warum das
alles? In jenen Tagen wies der Gottesdienst vorwärts
auf gewisse große Geheimnisse, die damals bildlich dargestellt
werden sollten. Da aber jetzt diese Geheimnisse in der
Offenbarung Christi, in Seiner Person, Seinem Werke,
Seinen Leiden und Siegen, ihre Erfüllung gefunden haben,
so würde ein prunkvoller Gottesdienst jetzt nur eine Herabsetzung
alles dessen sein, was in seiner vollen Wirklichkeit
und Kraft in Ihm gefunden wird.
Wie mit dem Gottesdienst, so ist es auch mit Leichenbegängnissen.
In früheren Zeiten waren sie mit Recht
prunkvoll, weil die Auferstehung nur in der Ferne gesehen
142
wurde, und die Leichenbegängnisse eine Art Unterpfand
der erwarteten Auferstehung bildeten. Es geziemte sich,
daß das Unterpfand prachtvoll war, entsprechend der Herrlichkeit
dessen, was es verbürgte. Aber jetzt, nachdem die
Auferstehung in der Person des Herrn Jesu, des Sohnes
Gottes, ihre Verwirklichung gefunden hat, ist ein prunkvolles
Leichenbegängnis, gerade so wie ein ceremonieller
Gottesdienst, eher eine Herabsetzung oder Schmähung, als
ob das große Geheimnis selbst noch nicht in seiner
Wirklichkeit und Kraft geoffenbart worden wäre. Denn
jetzt ist nicht der Pomp eines Leichenbegängnisses das
Unterpfand unsrer künftigen Auferstehung, sondern vielmehr
die Auferstehung des Herrn, sie, die Erstlingsfrucht
einer verheißenen Ernte.
Demgemäß sollte jetzt dieselbe Einfachheit beim
Gottesdienst wie bei der Beerdigung den Glauben der
Kirche an erfüllte Geheimnisse verraten. Wir haben
jetzt den Sieg des Herrn Jesu vor Augen; wir geben
oder empfangen nicht mehr ein Unterpfand desselben,
wie in den Satzungen und Verordnungen früherer Tage,
sondern wir feiern ihn. Joseph von Arimathia bereitete
dem Leibe unsers Heilandes ein prunkvolles Begräbnis,
wie es Joseph, der Sohn Jakobs, hier dem Leibe seines geliebten
und verehrten Vaters that. Wir lesen von Jesu:
„Man hat Sein Grab bei Gesetzlosen bestimmt; aber bei
einem Reichen ist Er gewesen nach Seinem Tode." In
den Tagen Josephs von Arimathia war das Grab noch
nicht vernichtet, und deshalb mochte noch ein Unterpfand
— ein gleiches Unterpfand wie in den Tagen des Patriarchen
— gegeben werden. Aber bei der Beerdigung
des Herrn Jesu sehen wir mit Recht dieses Unterpfand
143
zum letzten Male, weil wir in Ihm die Erstlingsfrucht
der Vernichtung des Hades erblicken. Jesus ist auferstanden.
Die Grabtücher lagen in dem leeren Grabe als
Beute eines glorreichen Krieges und als Trophäen eines
herrlichen Sieges. Der Tod war zunichte gemacht, und
jetzt feiert der Glaube das, was Satzungen und Gebräuche *),
Verordnungen und Ceremonien einst nur verbürgt und
vorgebildet hatten. Und ich möchte hinzufügen, der Glaube
verstand dieses; denn bei dem Begräbnis, welches auf
dasjenige des Herrn Jesu folgte, hören wir weder von
Einbalsamirung noch von irgend welcher Prachtentfaltung.
Es wurde ganz einfach veranstaltet; gewiß in aller Ehrerbietung
und Liebe, aber doch ohne besondere Feierlichkeit.
„Gottesfürchtige Männer bestatteten den Stephanus und
stellten eine große Klage über ihn an."
Wenn wir Glauben hätten, so würden wir dies alles
hoch schätzen. Unsere Vorrechte sind wahrlich groß. In
dem Dienst des Hauses Gottes ist der Tisch an die Stelle
des Altars getreten, und statt eines Opfers haben wir
ein Fest auf Grund eines Opfers. Und so haben wir
auch Tod und Beerdigung im Lichte der Auferstehung
Jesu zu betrachten.
Der Tod Jakobs hatte auch eine moralische Wirkung
auf die Familie, indem er etwas aufdeckte, was vorher
*) Ein Leichenbegängnis war keine Verordnung, sondern ein
Brauch, eine Sitte (vergl. Joh. 19, 40); wir hören nicht, daß es
den Patriarchen aufgetragen worden, oder daß es in dem Gesetzbuch«
Israels enthalten gewesen wäre, Leichenbegängnisse zu veranstalten.
Machpela wurde von Abraham ohne ein unmittelbares Gebot
Gottes gekauft. Aber Leichenbegängnisse wurden durch den Glauben
an die Auferstehung eingegeben, und zwar mit Recht. Die Auferstehung
war das, was der Glaube zu erlangen hoffte. (Apstgsch. 26.)
144
nicht wahrgenommen wurde; und das ist oft der Fall,
wenn das Haupt einer Familie weggenommen wird.
Hierauf möchte ich noch etwas näher eingehen.
Die Einfalt des Glaubens der Patriarchen ist sehr
bemerkenswert. Ihr Glaube sowohl wie ihre Gewohnheiten
waren schön, weil sie ungekünstelt waren. Es gab nichts
von dem Geiste der Knechtschaft in diesen Heiligen des
1. Buches Mose. Die Patriarchen wandelten in der
Gewißheit, daß Gott ihr Gott war, daß Seine Verheißungen
ihnen gehörten, und daß die Stadt und das
Land der Herrlichkeit ihr Erbteil ausmachten. Sie lebten
und starben in diesem Geiste des Glaubens. Kein Argwohn,
kein Ueberlegen, kein Mißtrauen hinsichtlich der
Gnade befleckte ihre Seelen. Und das ist um so befremdender,
als wir diesem Geist der Knechtschaft sonst überall
in der ganzen Schrift begegnen, sobald wir das erste Buch
Ptose verlassen. Es würde unmöglich sein, alle die
Beispiele davon in der Schrift zu verfolgen. Er wirkt
naturgemäß und leider in ausgedehntem Maße auch in
uns. Wahrlich, wir haben ihn bei uns selbstkennen gelernt
und sehen ihn rund um uns her.
Woher kommt es nun, daß er sich nicht in den
Patriarchen verrät? Lag es daran, daß sie für sich selbst
so beständige Zeugen der Gnade und der Auserwählung
Gottes waren und die Stimme des Gesetzes nie gehört
hatten? Sicherlich trug dies dazu bei, ihre Gesinnung
zu bilden; aber abgesehen davon stand das Fehlen des
Geistes der Knechtschaft in lieblicher Weise in Uebereinstimmung
mit ihrer derzeitigen Stellung, da sie wie Kinder
waren, die nie von Hause entfernt gewesen sind. Sie befanden
sich in dem Kindesalter, und konnten daher ebenso
145
wenig in der Gegenwart Gottes in einem Geiste der
Furcht und Ungewißheit wandeln, wie ein Kind, bevor es
das Elternhaus verläßt, in die Versuchung kommen kann,
seinen Anspruch an Unterhalt und Obdach in seines Vaters
Hause in Zweifel zu ziehen. Und es gehört mit zu der
Schönheit und Vollkommenheit des 1. Buches Mose, in
den Heiligen Gottes dort diesen kindlichen, nicht zweifelnden
Glauben zu sehen. Sie fehlen Wohl, und auch zu Zeiten
durch Mangel an Glauben unter dem Druck gewisser
Umstände; aber ihre Seelen verunreinigen sich nie durch
einen Geist des Mißtrauens und der Knechtschaft. Wir
finden diesen Geist erst, wenn wir im Begriff stehen, von
diesem Buche Abschied zu nehmen, und über den eigentlichen
patriarchalischen Charakter desselben hinauskommen;
und zwar entdecken wir ihn in Josephs Brüdern, sobald
das Begräbnis Jakobs vorüber ist.
Da stellte es sich heraus, daß sie ihrem Bruder nicht
in argloser, glücklicher Weise Vertrauen geschenkt hatten.
Es hatte einen Gegenstand gemeinsamen Interesses zwischen
ihnen gegeben, und auf diesen hatte sich ihr Vertrauen
viel mehr gegründet als auf Joseph selbst. Ihre Zuversicht
beruhte nicht auf dem, was Joseph war oder
gethan hatte, sondern auf den Umständen. Jakobs Gegen
wart war die Stütze ihrer Herzen. Sie hatten Buße
gethan; sie waren überführt und dann gleichsam lebendig
gemacht worden; aber dennoch ehrten sie Joseph nicht
durch ihr Vertrauen, wie er es doch so reichlich um sie
verdient gehabt hätte.
Liegt hierin nicht auch eine Mahnung für uns?
Wir mögen uns wohl fragen: Wenn Gott uns einmal
die Stütze und die Gemeinschaft Anderer entzöge, würde
146
es sich dann zeigen, daß unser ganzes Vertrauen allezeit
auf Jesum gerichtet gewesen wäre? daß wir die Gnade
so kennen gelernt hätten, um die Gegenwart einer unverhüllten
Herrlichkeit ertragen zu können? daß die Wegnahme
eines Jakob nicht die Atmosphäre umwölkte, in
welcher unsre Seelen sich aufzuhalten gewöhnt waren?
Wir sind jetzt am Ende der Geschichte Josephs angelangt.
Bevor ich jedoch von seinem Tode spreche, möchte
ich noch auf ein schönes Beispiel der Bekanntschaft des
Glaubens mit dem Laufe der Weltgeschichte Hinweisen.
Ich meine nicht die Kenntnis eines Propheten bezüglich
dessen, was unter den Nationen sich ereignen wird,
wie sie z. B. ein Daniel besaß, als er von den vier
Tieren und von dem großen Bilde redete. Solche Kenntnis
wurde durch den Geist mitgeteilt, indem der Herr das
Herz Daniels oder anderer Propheten mit Seinem Licht
erfüllte. Ich rede nur von der Kenntnis, die der Glaube
von dem Lauf der Geschichte der Nationen besitzt.
Joseph sagt zu seinen Brüdern: „Ich sterbe; und
Gott wird euch gewißlich heimsuchen und euch heraufführen
aus diesem Lande in das Land, das Er Abraham,
Isaak und Jakob geschworen hat."
Die Kinder Israel waren zu jener Zeit im Lande
Egypten sehr glücklich; sie genossen die volle Gunst des
Königs, besaßen den besten Teil des ganzen Landes und
sahen einen aus ihrer Mitte auf dem zweiten Platze im
Reiche. Es war nicht das geringste Anzeichen einer Gefahr
oder Veränderung ihrer Umstände wahrzunehmen;
und Joseph selbst war so glücklich, wie die Umstände ihn
nur machen konnten. „Er sah von Ephraim Kinder des
147
dritten Gliedes; auch die Söhne Makirs, des Sohnes
Manasses, wurden auf den Knieen Josephs geboren."
Aber bei alledem spricht Joseph davon, daß Gott sie
heimsuchen würde; und diese Worte deuten an, daß
Tage der Trübsal im Anzuge waren, Tage, in denen
Gott ihr einziger Freund und Helfer sein würde.
Das war sonderbar, sehr sonderbar! Wer konnte es
glauben? Hatte Joseph geträumt? so würden Staatsmänner
und Politiker gefragt haben. Aber nein, Joseph
hatte nicht geträumt; das Wort Gottes war seine Weisheit.
Der göttliche Ausspruch im 15. Kapitel hatte zuvor
angekündigt, daß die Egypter Israel bedrücken würden,
daß aber Gott sich als ihr Freund erweisen und sie nach
Kanaan zurückbringen würde; und dieses Wort aus dem
Munde Gottes galt für Joseph und für den Glauben
alles, der äußere Schein galt nichts. Gott hatte gesprochen;
Joseph glaubte dem göttlichen Ausspruch und
gedachte daran. Und daher sah er durch den Glauben
Israels Bedrückung zu einer Zeit, als das Volk sich
in den glänzendsten und glückverheißendsten Umständen
befand; er sah die Feindschaft Egyptens zur Zeit der
Freundschaft desselben. Durch denselben Glauben hatte
einst Noah 120 Jahre lang das Gericht der Welt vorhergesehen,
während um ihn her Saat und Ernte, Wein-
und Aehrenlese, Kaufen und Verkaufen, Pflanzen und
Bauen seinen ruhigen Fortgang nahm.
Solche Kenntnis hatte der Glaube von dem zukünftigen
Lauf der Dinge; und wahrlich, er sollte auch heutzutage
ein solcher Politiker sein und durch das Licht des
Wortes Gottes etwas von der Zukunft wissen, trotz alles
äußern Scheins. Dies ist auch der einzige Akt in Josephs
148
Leben, der als eine Handlung des Glaubens in Hebr. 11
ausgezeichnet und auf diese Weise besonders hervorgehoben
ist, unter so vielen Handlungen des Glaubens und der
Gottseligkeit, und bei einem solch ununterbrochenen Wandel
mit Gott, wie wir ihn bei ihm gesehen haben. Aber
er war auch wert, so ausgezeichnet zu werden; er war
ein lautes Zeugnis dafür, daß Joseph inmitten der Verlockungen
und Beschäftigungen der Welt von dem Worte
Gottes lebte, und zwar mit einem Herzen, das über allen
Aeußerlichkeiten und Scheinbarkeiten erhaben war. Abraham
war durch göttliche Gesichte und Aussprüche über die zukünftige
Geschichte Israels belehrt worden. Joseph benutzte
nur, was Abraham empfangen hatte; er erhielt keine Besuche
von feiten des Herrn wie Abraham. Joseph stand
vielleicht nicht auf der Höhe Abrahams, aber wir finden
in ihm, was in sittlicher Hinsicht das Vorzüglichste ist,
nämlich das Licht und die Gewißheit eines gläubigen
Herzens, das Verständnis und das entschiedene Urteilen
des Glaubens. Er gedachte dessen, was Abraham gehört
hatte, und handelte demgemäß. Was ihm an persönlicher
Erhabenheit fehlte, (indem er nicht wie Abraham die Aussprüche
Gottes empfing) besaß er an sittlicher Kraft als
ein an Gott Glaubender. Und wenn ich gezwungen wäre,
zwischen beidem zu wählen, so möchte ich lieber glauben,
als inspiriert sein. Und Joseph glaubte, als
er, wie wir lesen, „des Auszugs der Söhne Israels gedachte,
und gab Befehl wegen seiner Gebeine". (Hebr.
11, 22.) Dieses politische Verständnis des Glaubens
(wenn ich es so nennen darf) über das, was auf der
Erde geschehen wird, machte einen Noah und einen Joseph
weiser als alle Staatsmänner der weltlichen Reiche. Wir
149
wissen ja, wie genau Josephs Worte eintrafen, und in
welch unerwarteter Weise Ziegelhütten das blühende Land
Gosen schändeten, und Treiber Israel zur Arbeit antrieben;
gerade so wie früher in den Tagen Noahs das Wasser
die höchsten Spitzen der Berge bedeckte und ein Schiff,
das scheinbar in großer Thorheit für trocknes Land er»
baut worden war, die einzige Arche der Rettung wurde.
Aber sollte es mit dem Glauben nicht auch heute
noch so sein? möchte ich fragen. Haben wir nicht durch
den Glauben an das Wort Gottes eine Gewähr, den Lauf
dieser Welt kennen zu können, trotz ihrer wachsenden Verfeinerung
und ihrer Fortschritte aus allen Gebieten?
Haben wir keinen Grund dafür, zu wissen, daß sie sich
auf dem Wege zum Gericht befindet? Sicher und gewiß.
Der Herr Jesus ist in dieser Welt verworfen worden;
das ist es, was der Welt vor Gott ihren Charakter aufprägt.
Kein Fortschritt in Gesittung und Kultur, selbst
nicht die Ausbreitung der göttlichen Wahrheit unter den
Völkern, vermag die Welt von dem Gericht zu befreien,
welches sie wegen jener schrecklichen That zu erwarten hat.
Und wäre auch der Tag so glänzend, wie er es zur Zeit
Josephs für Israel war, so weiß der Glaube doch, daß
die schimmernde Oberfläche bald zerstört werden wird.
Die Umstände können nie dem Glauben einen Gegenstand
bieten; das kann nur das Wort Gottes; und den Umständen
und Erscheinungen sollte nimmer gestattet werden,
das Auge des Glaubens von seinem Gegenstände abzuziehen.
Das Haus, gekehrt und geschmückt wie es heute
ist, scheint viel zu verheißen; das that auch das Land
Gosen und die Freundschaft des Pharao in jenen Tagen.
Aber solche Verheißungen sind für das Ohr des Glaubens
150
leere Worte; es achtet nicht darauf. Wie Jeremia, als
das verbündete Heer angekommen und das feindliche abgezogen
war, zu dem Könige von Juda sagte: „Täuschet
euch nicht selbst" (Jer. 37, 9), so sagt heute der Glaube
zu der sich ihrer Fortschritte rühmenden Welt: „Täuschet
euch nicht selbst." Der Glaube sagt das mit aller Kühnheit,
denn er weiß genau, daß der letzte Zustand deS
gekehrten und geschmückten Hauses ärger sein wird als
der erste.
Joseph lieferte also den Beweis, daß er glaubte, was
er bezeugte. Wie das Herz Jakobs, so war auch sein "Herz
in Kanaan, dem Lande des Bundes und der^Gräber seiner
Väter. Und wie Jakob, so ließ auch er seine Brüder
schwören und sprach: „Gott wird euch gewißlich heimsuchen;
so führet meine Gebeine von hier hinauf." Die unsichtbare
Welt war für ihn das Wahre und Wirkliche, wie
sie eS auch für seine Väter gewesen war. Die Berufung
Gottes hatte sie alle mit dem verbunden, was jenseit des
Todes liegt, und dort waren ihre Gedanken und ihre
Herzen, bevor sie selbst dahin gelangten. Zu sterben war
für sie so natürlich wie zu leben.
„Joseph starb, hundert und zehn Jahre alt." Seine
Brüder, die Kinder Israel, benahmen sich treu gegen ihn,
wie er es gegen seinen Vater Jakob gethan hatte; sie
balsamierten seinen Leib sogleich ein. Später nahm Moses
ihn mit aus Egypten, und schließlich beerdigte ihn Josua
in Sichern im Lande Kanaan. (Siehe 1. Mose 50, 26;
2. Mose 13, 19; Josua 24, 32.)
Die Geschichte Josephs ist hiermit zu Ende, und
damit auch das 1. Buch Mose, das Buch der Schöpfung
151
und der ersten Wege Gottes mit dem Menschen, das Buch
der Patriarchen, der ersten Familien der Menschenkinder
und des Kindesalters der Auserwählten Gottes.
Ich glaube, wir alle fühlen, daß wir beim Verlassen
dieses Buches in gewisser Beziehung einen niedrigeren
Boden betreten. Im ersten Buche Mose offenbart
Gott mehr sich selbst, nachher das was der
Mensch ist. Der Mensch war, wie wir wiederholt bemerkten,
noch nicht unter Gesetz gestellt; er sollte Gott
unter mancherlei verschiedenen Offenbarungen Seiner selbst
kennen lernen. Aber sobald das Gesetz kommt, tritt der
Mensch notwendigerweise mehr in den Vordergrund, und
wir haben dann ihn zu betrachten, und zwar nicht einfach
unter der Berufung Gottes, sondern in seiner eignen
Stellung und in seinem Charakter. Das wird sicher
genügen, um uns fühlen zu lassen, daß wir uns in gewisser
Beziehung aus einem niedrigeren Boden befinden.
Selbstredend begegnen wir andrerseits in der Enthüllung
der Ratschlüsse, in der Darstellung der Hilfsquellen Gottes
gegenüber dem Fehlen des Menschen, sowie in den ferneren
Offenbarungen Seiner selbst gegenüber der Bloßstellung
des Menschen einem steten Fortschreiten in dem ganzen
Worte Gottes von Anfang bis zu Ende.
Doch so mannigfach und wunderbar die Ratschlüsse
sind, deren fortschreitende Enthüllung uns bei der Erforschung
der Schriften entgegentritt, und so mannigfaltig
die Weisheit Gottes auch sein mag, so können wir doch
sagen, daß jeder einzelne Teil derselben in irgend einer
Weise in dem ersten Buche Mose eine Erwähnung oder
ein Vorbild findet; allerdings schwach und dunkel, aber
die Grundzüge von allem sind darin enthalten. Versöhnung,
152
Glaube, Gericht, Herrlichkeit, Regierung, Berufung, daS
Reich, die Kirche, Israel, die Nationen, Bündnisse, Verheißungen,
Prophezeiungen, neben dem hochgelobten Gott
selbst in Seiner Heiligkeit, Liebe und Wahrheit, das Thun
Seiner Hand und die Arbeit und die Früchte Seines
Geistes — alles das und noch manches Aehnliche kommt
in diesem Buche zum Vorschein. Im Beginn wird die
Schöpfung dargestellt. Nachdem diese unter der Hand
des Menschen befleckt und verdorben ist, wird die Erlösung
geoffenbart. Sodann zeigt sich in den Erzählungen
von Henoch und Noah, daß Himmel und Erde die Schauplätze
der Erlösung sind (wie sie auch anfangs die der
Schöpfung gewesen waren). Weiter finden wir in Abraham,
Isaak, Jakob und Joseph den Menschen (den Hauptgegenstand
der Erlösung) in seiner Auserwählung, Sohnschaft,
Zucht und Besitznahme des Erbes. Alle diese
Geheimnisse liegen offen vor unsern Augen und sind
beachtenswert für unsre Seelen.
Möchten wir, Geliebte, zum Preise Gottes sagen
lernen, daß, wie die Himmel die Herrlichkeit Gottes
erzählen, und die Ausdehnung Seiner Hände Werk verkündet,
so auch die Blätter der Heiligen Schrift mit
nicht geringerer Klarheit und Bestimmtheit das Wehen
Seines Geistes verraten!
„Alles geschehe wohlanständig und in Ordnung."(1. Kor. 14, 40.)
III.
4. Der Zweck jeglicher Zucht ist, wie schon früher
bemerkt, außer der Wahrung der Ehre des Herrn, die
153
Wiederherstellung dessen, an welchem sie ausgeübt
wird. Wenn alle Ermahnungen fruchtlos bleiben, wenn
alle Mittel erschöpft sind, die zur Zurechtbringung eines
irrenden Gliedes angewandt werden können, so bleibt nur
noch die im Worte vorgeschriebene Zucht, als letztes Mittel,
übrig, um ihm dadurch behülflich zu sein, zum Bewußtsein
seiner Schuld und zum Bekenntnis vor Gott
und den Brüdern zu kommen. Paulus übte, in Verbindung
mit der Versammlung in Korinth, gegen den Sünder
in ihrer Mitte die Zucht aus, „auf daß sein
Geist errettet werde am Tage des Herrn Jesu".
(1. Kor. 5, 5.) Die Versammlung kann, nach Anwendung
dieses letzten Mittels, sich nur noch durch ihre Fürbitte
mit dem Verirrten beschäftigen, indem sie ihn der
Gnade des Herrn befiehlt, der durch die mächtige Wirkung
Seines Geistes auch zu einem, für die brüderlichen Ermahnungen
verschlossenen Herzen den Weg zu finden weiß.
Wenn nun ein solcher durch die Macht der Gnade
zu wahrer Buße gebracht wird, und in Aufrichtigkeit seine
Schuld bekennt, so daß vertrauenswürdige Brüder nach
eingehender Beschäftigung mit ihm die Ueberzeugung gewinnen,
daß der Zweck der Zucht erreicht und die Ursache,
weshalb sie angewandt werden mußte, beseitigt sei,
so wird dies der Versammlung mitzuteilen und seine Wiederaufnahme
zu empfehlen sein. Denn er bedarf zu seiner
Wiederherstellung nicht allein der Vergebung Gottes,
sondern auch der Vergebung von feiten der Versammlung.
(Matth. 18, 18; 2. Kor. 2, 6-8.) Diese Vergebung
wird ihren Ausdruck finden in seiner Wiederzulassung
zum Tische deS Herrn, und diese wird, als von
der Versammlung zugestanden betrachtet werden können,
154
wenn keine begründete Einwendung dagegen erhoben wird.
Indem dies bei der nächsten Gelegenheit zur Kenntnis der
am Tische des Herrn versammelten Gläubigen gebracht
wird, wird der von seinen Verirrungen Zurückgekehrte als
in die Gemeinschaft des Tisches des Herrn wieder eingeführt
betrachtet werden können.
5. In den vorstehenden Abschnitten ist wiederholt die
Rede gewesen von begründeten Einwendungen oder berechtigten
Einsprüchen gegen eine der Versammlung empfohlene
Handlung der Zulassung oder der Zucht. Da jedes Glied
einer örtlichen Versammlung die Mitverantwortlichkeit für
die von derselben gefaßten Beschlüsse trägt, so darf von
jedem auch eine gewissenhafte Prüfung der betreffenden
Angelegenheiten erwartet werden. Das Ergebnis einer
solchen Prüfung wird entweder eine stillschweigende Zustimmung
zu dem gemachten Vorschläge, oder eine Einwendung
dagegen sein. Daß beides in Uebereinstimmung
mit den Gedanken des Hauptes der Versammlung sein
möge, wird das ernste Anliegen jedes Gliedes sein.
Wenn nun der Versammlung Vorschläge zur Entscheidung
unterbreitet werden, welche nach der Ueberzeugung
einzelner Glieder nicht nach den in der Schrift ausgedrückten
Gedanken des Herrn sind, so ist es Gewissenssache
für sie, im Geiste der Sanftmut und Liebe ihre
Stimme dagegen zu erheben, indem sie ihre Einsprache
aus dem Worte Gottes begründen. Beruht eine solche
Begründung nicht auf einer mißverständlichen Auffassung
der betreffenden Schriftstellen, und kann dies nicht
durch Anführung anderer Stellen bewiesen werden, so
wird die Versammlung die gemachten Einwendungen als
155
berechtigt anerkennen müssen und in der betreffenden Angelegenheit
entweder gar nicht, oder doch nicht eher handeln
können, bis die Ursache, auf welche der Einspruch
sich gründet, beseitigt ist.
Indes können auch Einwendungen gemacht werden,
die nur auf Meinungsverschiedenheiten beruhen, ohne
daß dieselben sich auf bestimmte Schriftstellen gründen.
Oder es können schon in den Beratungen derjenigen
Brüder, welche sich eingehend mit der betreffenden Angelegenheit
beschäftigen, bevor sie der Versammlung zur
Entscheidung unterbreitet wird, Meinungsverschiedenheiten
der erwähnten Art hervortreten. In solchen Fällen würde
es bedenklich sein, Beschlüsse zu fassen, selbst wenn die
Mehrheit dafür sein sollte. Vielmehr wird es sich empfehlen,
die Sache dem Herrn in ernstem Gebet vorzutragen und
so lange geduldig zu warten, bis eine Uebereinstimmung
erzielt ist. Der Herr wird sicherlich auf das anhaltende
Flehen der Seinigen antworten und ihnen Seine Gedanken
in der Sache nicht vorenthalten.
Allerdings kann es Vorkommen, daß sich in einer
Versammlung bei einzelnen Gliedern ein Parteigeist offenbart,
der dieselben zum Widerstand gegen die für nötig
erachteten Beschlüsse leitet. Wenn dieser Widerstand sich
in Angelegenheiten geltend machen sollte, in welchen das
Wort Gottes das Verhalten klar vorschreibt, so werden
solche widerstrebenden Brüder ernstlich zu ermahnen sein;
falls sie trotzdem bei ihrem eigenwilligen Widerstande
beharren, mag es nötig werden, sie selbst aus der Versammlung
zu entfernen. Denn ihr Widerspruch richtet
sich nicht nur gegen die Versammlung, sondern gegen den
Herrn selbst, der Seinen Willen in der betreffenden An
156
gelegenheit in Seinem Worte kundgegeben hat. Es könnte
sich z. B. um den Ausschluß eines offenbaren Sünders
handeln, zu welchem einzelne Geschwister aus unlautern
Gründen ihre Zustimmung versagten. Diese Geschwister
würden dann die Versammlung zu verhindern suchen, sich,
dem Worte gemäß, von dem in ihrer Mitte befindlichen
Sauerteig zu reinigen und die Ehre des Tisches des
Herrn zu wahren. Ein solches Verhalten wäre nicht nur
ein Sicheinsmachen mit dem betreffenden Sünder, sondern
eine Versündigung gegen den Herrn selbst und die Heiligkeit
Seines Tisches. In einem solchen Falle würde die
Versammlung mit aller Entschiedenheit handeln müssen,
indem sie sich von dem Widerspenstigen trennt.
6. Schließlich sei noch ein Fall erwähnt, der sehr ernst
ist und schon wiederholt zu viel Herzeleid und Verunehrung
des Namens des Herrn Anlaß gegeben hat. Es giebt
Beispiele, daß eine Versammlung zu schwach ist, eine gottgemäße
Zucht auszuüben. Dies sollte alle Glieder derselben
veranlassen, sich ernstlich vor dem Herrn zu demütigen
und Seine gnädige Dazwischenkunft zu erflehen.
Geschieht das, so wird der Herr, der Seine Versammlung
so unaussprechlich lieb hat und den Schwachen so
gern zu Hilfe kommt, gewiß die nötige Weisheit und
Kraft darreichen, um die zur Aufrechthaltung der Heiligkeit
Seines Tisches notwendige Zucht ausüben zu können.
— Wie aber ist es, wenn diese Demütigung nicht erfolgt,
wenn sich also nicht nur ein allgemein schwacher, sondern
ein allgemein böser, verunreinigter Zustand offenbart?
wenn selbst Bitten und Mahnungen von andrer Seite,
sich von dem Bösen zu reinigen, ohne Erfolg bleiben und
157
die betreffende Versammlung mit dem Sauerteig in ihrer
Mitte in Verbindung bleiben will? In einem solchen
Falle wird für die mit jener Versammlung in Verbindung
stehenden Versammlungen kaum etwas anderes übrig
bleiben als die ernste Erwägung, ob sie sich nicht von
derselben zu trennen haben, damit nicht, wegen der Gemeinschaftlichkeit
des Tisches des Herrn, die Verunreinigung
auch auf sie übergehe.
Da gerade von der Gemeinschaftlichkeit des Tisches
des Herrn die Rede ist, so mögen hier noch einige damit
in Verbindung stehende Bemerkungen Platz finden.
Wie schon früher bemerkt, gehören alle lebendig
Gläubige au den Tisch des Herrn. Doch kann jede örtliche
Versammlung nur solche daran teilnehmen lassen,
die sie kennt und von denen sie die Ueberzeugung hat,
daß sie die im Worte bezeichneten, für die Gemeinschaft
der Gläubigen nötigen Eigenschaften besitzen. Wenn nun
ein Auswärtiger in eine Versammlung kommt und am
Tische des Herrn teilzunehmen wünscht, so wird es nötig
sein, daß er sich als ein solcher ausweise, der in Gemeinschaft
mit einer Versammlung ist, die auf dem Boden
der Wahrheit steht. Sollte er nicht Gliedern der Versammlung
persönlich bekannt sein und durch diese eingeführt
werden, so wird er der schriftlichen Empfehlung
eines bekannten auswärtigen Bruders bedürfen, um am
Tische des Herrn teilnehmen zu können. (Vergl. 2. Kor.
3, 1; Röm. 16, 1. 2; 1. Kor. 16, 3.)
Dies wird namentlich bei einer Verlegung des Wohnsitzes
von Geschwistern häufig außer acht gelassen, und
dadurch bereiten sie sich Ungelegenheiten. Um diese zu
vermeiden, würde es gut sein, wenn eine Versammlung,
158
aus welcher Geschwister in eine andere verziehen, dieser
andern Mitteilung darüber machte. Dadurch würde auch
noch einem weiteren Uebelstande begegnet werden können,
der mitunter in größeren Versammlungen hervortritt und
darin besteht, daß unter den Verzogenen sich solche
befinden, die im Besuch der Versammlung nachlässig sind,
es jedoch als ihr selbstverständliches Recht betrachten, sich
von Zeit zu Zeit an den Tisch des Herrn zu setzen. Da
sie aber unter der großen Anzahl unbeachtet und unbekannt
bleiben, so wird der Versammlung die Möglichkeit
entzogen, sich mit ihnen in geeigneter Weise zu beschäftigen,
um die Ehre des Tisches des Herrn zu wahren.
Die Mühe und Aufmerksamkeit, die den erwähnten
Mitteilungen gewidmet wird, kann gar nicht in Betracht
kommen gegenüber der Wichtigkeit des Gegenstandes. Es
handelt sich dabei um nichts Geringeres, als die Fürsorge
für die Ehre des Tisches des Herrn, ja die Ehre des
Herrn selber, und das Wohl der Seinigen.
Es giebt ohne Zweifel noch manche Fälle auf dem
Gebiete des Gemeinschaftslebens der Gläubigen, die in
diesen Blättern nicht besprochen sind. Möge nur in allen
Angelegenheiten der Versammlung, welche dieselbe zu ordnen
berufen sein sollte, jedes Glied durch das Bewußtsein geleitet
werden, daß die Versammlung der Leib Christi ist,
ihres im Himmel verherrlichten Hauptes, und daß die
Angelegenheiten der Versammlung auch die Seinigen sind,
damit in allem in völliger Uebereinstimmung mit Ihm
gehandelt werde!
159
„Gehe hinaus, den Spuren der Herde nach."(Hohel. 1, 8.)
„Wenn du es nicht weißt, du Schönste unter den
Frauen, so gehe hinaus, den Spuren der Herde nach, und
weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten."
Die Antwort des Bräutigams auf die Frage der Braut
im 7. Verse: „Sage mir an, du, den meine Seele liebt,
wo weidest du, wo lässest du lagern am Mittag?" wird
bereitwillig und deutlich erteilt, aber auch nichts mehr als
das. Kein Beweis des Beifalls bezüglich der Fragen
wird gegeben. Und doch find es ohne Zweifel höchst
wichtige und bedeutungsvolle Fragen.
Warum das? Ist der Geliebte nicht erfreut, solche
Fragen aus dem Munde Seiner Geliebten zu vernehmen?
Er sagt es nicht, so wichtig die Fragen auch sein mögen.
Er freut sich ihrer selbst und versichert sie Seines Wohlgefallens
in den stärksten Ausdrücken: „du Schönste
unter den Frauen!" Seine Liebe ist unveränderlich dieselbe.
Köstlicher Gedanke! Nichts von dem, was sie thut,
nichts von dem, was andere über sie sagen, kann je die
Liebe Seines Herzens zu Seiner Braut verändern, obwohl
leider vieles von ihr gesagt und gethan wird, was Er nicht
billigen kann. Der Gläubige ist persönlich vollkommen in
Christo, vollkommen in den Augen Gottes. Er ist „gerechtfertigt
von allem" (Apstgsch. 13, 38. 39); praktisch aber
ist er voller Mängel.
Im vorliegenden Falle ist die Anrede des Bräutigams
an die Braut und Seine Antwort auf ihre Fragen von
einem andern Geiste durchweht. Woher mag das kommen?
frage ich nochmals. Wünschen wir nicht die Gedanken
160
des Meisters zu kennens O wie kostbar ist ein Heller
Strahl des Lichtes des Heiligen Geistes auf die geheiligten
Urkunden! Dann werden wir nicht nur den Buchstaben
der Schrift verstehen, sondern auch die Gedanken und
Gefühle des Herzens, aus welchem sie hervorgeflossen ist.
Lernen wir denn, daß einem Beifall in der Heiligen Schrift
niemals Ausdruck gegeben wird, es sei denn im Zusammenhang
mit Wahrheit und Heiligkeit. O wie oft
bitten wir um das, was wir schon haben! Wie oft
bitten wir um Licht und Leitung betreffs unsers Weges,
während das Licht eines wolkenlosen Himmels den Pfad
bestrahlt, den wir gehen sollten.
Giebt es nicht etwas in dem Wörtchen „wenn", was
anzudeuten scheint, daß der Herr von Seiner Braut erwartete,
daß sie die Spuren der Herde kenne? Es ist, als
ob Er sagte: „Gewiß, du kennst sie. Meine Gedanken über
alle diese Fragen, als der Hirte Israels, liegen offen
vor dir. Warum liesest und verstehest du sie nichts"
Der Herr tadelt nicht, doch Seine Liebe ist treu. So
sagte Er einst auch zu Philippus: „So lange Zeit bin
ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?"
Ach, wie zärtlich leitet Er! Wie sanft und gelinde sind
selbst die Verweise Seiner Liebe!
Christliche Gemeinschaft, wie sie im Worte gelehrt
wird, wird oft sehr wenig von jungen Bekehrten beachtet
und geschätzt. Sie gehen im allgemeinen den Weg, der am
bequemsten und angenehmsten für sie ist, ohne daß ihr Gewissen
jemals hinsichtlich der Frage in Uebung kommt, ob sie
auch den Spuren der Herde nachfolgen. Vielleicht sind sie
auf dem richtigen Wege; aber sie haben nie unter Gebet das
Wort Gottes untersucht, um sich über diesen Punkt Ge
161
wißheit zu verschaffen. Wäre die Kirche ungeteilt geblieben,
wie sie es am Pfingstfeste war, so würde keine Notwendigkeit
für eine solche Uebung und Untersuchung vorliegen.
Da aber die bekennende Kirche sich in so viele
Parteien und Teile gespalten hat, geziemt es jedem Kinde
Gottes, die Schrift zu untersuchen, um so den heiligen
Willen Gottes zu erkennen und zu thun.
Es ist eine betrübende Erscheinung, daß viele der
Geliebten des Herrn diesen Gegenstand für unwichtig
und unwesentlich halten. Dieser Gedanke entstammt
nimmermehr der Bibel. Er ist höchst verunehrend für
Gott und nachteilig für die Seele. Die Prüfungen, durch
welche wir die Braut in den verschiedenen Abschnitten des
Hohenliedes gehen sehen, scheinen ganz und gar aus der
Vernachlässigung der Unterweisungen herzurühren, die ihr
hier gegeben werden. Wir sagen wohl nicht zu viel, wenn
wir behaupten, d a ß die nächstwichtigeFrage nach
der Errettung der Seele diejenige der kirchlichen
Gemeinschaft ist. Wenn ein Christ bezüglich
dieses Punktes gleichgültig ist, wenn ihm nicht viel daran
liegt, den Willen des Herrn in dieser Hinsicht zu kennen,
so wird er sicher seinem eignen Willen folgen. Und was
muß dann die Folge sein? Gott wird Seiner Ehre
beraubt, Sein Wort wird beiseite gesetzt, dem Meister
wird nicht nachgefolgt, der Geist wird betrübt, und die
Seele verliert ihre Frische. Unter solchen Umständen
nimmt die „erste Liebe" bald ab, und Frieden und Freude
machen allerlei Befürchtungen und Zweifeln Platz.
Wir glauben, daß verhältnismäßig nur wenige
Gläubige lange in göttlicher Frische ihre erste Liebe bewahren.
Das lebendige Bewußtsein der „großen Liebe"
162
des Herrn zu uns, und wie Er allen unsern Bedürfnissen
entgegengekommen ist, verliert sehr bald seine Kraft. Wir
verlassen unsre erste Liebe. Und warum ist das so?
Anstatt zuzunehmen in der Erkenntnis des Herrn und
Ihm allein zu gefallen zu suchen, wählen wir unsern
eignen Weg, folgen unserm eignen Willen und betrüben
dadurch den Heiligen Geist; und die Folge ist, daß
Dunkelheit unsere Herzen überschleicht; das Licht ist sozusagen
ausgeschlossen, und wir werden schwach und ungewiß
bezüglich aller Dinge.
Der Herr spricht in Matth. 11 von zwei Arten
von Ruhe, worüber hier eine Bemerkung wohl am
Platze sein mag. „Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen
und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben."
Diese Ruhe ist die unmittelbare Gabe Seiner Liebe durch
den Glauben an Ihn. Alle Gläubigen, ohne Ausnahme,
besitzen diese Ruhe. Alle unsere mühsamen und fruchtlosen
Anstrengungen nach Errettung hören auf, wenn wir
zu Jesu kommen, und die schwere Last der Sünden,
unter welcher wir seufzten, wird für immer weggenommen.
Aber der Herr sagt weiter: „Nehmet auf euch mein Joch
und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von
Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für
eure Seelen." Ruhe des Gewissens giebt Er
durch die Vergebung unsrer Sünden, wenn wir an Ihn
glauben; Ruhe des Herzens finden wir im Gehorsam
und in der Unterwürfigkeit unter Seinen Willen.
„Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir ... .
und ihr werdet Ruhe finden" — Ruhe und Frieden
in jeder Lage, wie schwierig dieselbe auch sein möge.
Diese Schriftstelle erklärt uns, warum so viele Seelen
163
schon kurz nach der ersten Freude über ihre Bekehrung in
Unruhe geraten, und warum sie, trotzdem sie sich der Vergebung
ihrer Sünden bewußt sind, unruhig und unglücklich
werden, sobald Schwierigkeiten sich einstellen. Unterwürfigkeit
unter Christum in den Einzelheiten des täglichen
Lebens und das Lernen von Ihm werden aus dem Auge
verloren. Unter demselben Joch mit Christo sein bedeutet,
an Seiner Seite und Schritt für Schritt mit Ihm
wandeln. „Nehmet auf euch mein Joch." Das ist in
der That ein Wandeln in Seiner unmittelbaren Nähe;
und wenn es so mit uns ist, so werden wir sicher „Ruhe
finden", denn alle unsre Schwachheit fällt dann auf Ihn.
Wenn zwei zusammengejocht sind, so kann der Stärkere
den Schwächer» unterstützen; und sicherlich braucht der
schwächste Christ, wenn er anders in demselben Joche mit
Jesu, dem Starken, ist, keine Schwierigkeiten zu fürchten.
Alle unnützen Befürchtungen werden vor Seiner Gegenwart
verschwinden, und die Räder unsers Wagens werden sich
leicht durch den tiefsten Sand der Wüste fortbewegen.
Indes könnte eingewandt werden, daß alles dieses
klar genug erscheine, sofern es unsern persönlichen Wandel
und unsre persönliche Heiligkeit betreffe, daß aber unser
Pfad und unsre Stellung in kirchlicher Hinsicht nicht so
klar geoffenbart seien. Nichts würde jungen Christen
weniger geziemen, als über die verschiedenen Benennungen
der bekennenden Christenheit zu Gericht zu sitzen; aber
allen, sowohl jungen als alten, liegt es ob, die Gedanken
Gottes über diesen Gegenstand zu erforschen.
Es ruht auf uns sowohl eine persönliche wie eine korporative
Verantwortlichkeit, und das Wort des Herrn unterrichtet
uns über die eine so deutlich wie über die andere.
164
Nichts könnte einfacher und klarer sein, wenn es sich
um den Gegenstand der kirchlichen Gemeinschaft handelt,
als Matth. 18, 20: „Wo zwei oder drei versammelt
sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte."
Hier haben wir in klaren Worten die wahre Grundlage
aller christlichen Gemeinschaft — Christus der Mittelpunkt,
und die Gläubigen durch den Geist zu Ihm hin versammelt.
Beachten wir wohl, daß es nicht heißt: wo
zwei oder drei sich versammeln, oder wo zwei oder
drei zusammenkommen, sondern wo zwei oder drei
versammelt sind. Das deutet hin auf eine versammelnde
Kraft; eS ist nicht die bloße Wahl oder Wirksamkeit des
menschlichen Willens. Der Heilige Geist ist, wie wir
alle wissen, die Kraft, die zu dem Namen Jesu hin versammelt.
(Vergl. Joh. 14 und 16.) Christus ist der
Mittelpunkt Gottes, Sein Geist ist die Kraft, die zu.
diesem Mittelpunkt hin versammelt, und Seine Kinder
sind diejenigen, welche versammelt sind. Das ist die
Kirche Gottes. Und das ist es, wonach wir zu trachten
haben, nicht allein im Wort und im Geiste, sondern auch
in einer verkörperten Form.
Als unser hochgelobter Herr im Begriff stand, Seine
Jünger zu verlassen, sagte Er: „Ich werde den Vater
bitten, und Er wird euch einen andern Sachwalter geben,
daß Er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist der
Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie
Ihn nicht sieht, noch Ihn kennt. Ihr aber kennet Ihn,
denn Er bleibt bei euch und wird in euch sein."
(Joh. 14, 16. 17.) Hier haben wir die sammelnde,
bildende und erhaltende Kraft der Kirche Gottes.
Im Blick auf die Gegenwart des Heiligen Geistes
165
in der Kirche sind besonders drei Punkte bemerkenswert:
1. „daß Er bei euch fei in Ewigkeit;" nicht für eine
gewisse, begrenzte Zeit, wie es der Heiland selbst gewesen
war, sondern „für immer". 2. „Er bleibt bei euch;"
als Versammlung werdet ihr Ihn „bei euch" haben;
und 3. „Er wird in euch sein" — wohnend in jedem
Gläubigen persönlich. Dieselben köstlichen Wahrheiten
wurden später in der deutlichsten Weise durch den Apostel
in seinen Episteln gelehrt: „Wisset ihr nicht, daß euer
Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch
wohnt?" (1. Kor. 6, 19.) „In welchem auch ihr mitaufgebaut
werdet zu einer Behausung Gottes im
Geiste." (Eph. 2, 22.) Wunderbare, köstliche, gesegnete
Wahrheit: der Geist „in euch", „bei euch", „für
immer!" O wie überschwenglich reich ist die Mitgift
der Braut des Lammes!
Wenden wir jetzt einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit
einer praktischen Erläuterung von Matth. 18,
20 zu: „Als es nun Abend war an jenem Tage, dem
ersten der Woche, und die Thüren, wo die Jünger waren,
aus Furcht vor den Juden verschlossen waren, kam Jesus
und stand in der Mitte und spricht zu ihnen: Friede
euch! . . Und als Er dies gesagt hatte, hauchte Er in
sie und spricht zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist."
(Joh. 20.) Hier haben wir ein wahres und liebliches
Bild von der Versammlung Gottes. Christus in der
Mitte, der Mittelpunkt, und die Jünger versammelt um
den auferstandenen Jesus. Friede, Anbetung, Dienst und
der Geist der Kindschaft charakterisierten sie. Eine Versammlung,
die auf diesem göttlichen Boden versammelt
ist, wird nicht nur Christum in ihrer Mitte anerkennen,
166
sondern auch den Heiligen Geist als ihren unumschränkten
Leiter und als die Quelle aller Auferbauung
und Ermunterung. Die also Versammelten werden auf
den Herrn schauen, damit sie geleitet werden mögen durch
Seinen Geist zur Verherrlichung Gottes. (Vergl. 1. Kor.
12 und 14.)
Wenn wir nun eine so klare Vorschrift und ein so
deutliches Beispiel vor uns haben, ist es dann noch nötig,
den Herrn zu fragen, wo Er Seine Herde weide? Was
könnte Er mehr sagen, als Er uns bereits gesagt hat?
Es mag mir unmöglich sein, die Unterschiede zwischen der
einen und andern Kirchenpartei aufzuzählen, aber ich
brauche nicht im Unklaren darüber zu sein, ob eine derselben
in Uebereinstimmung mit dem Worte Gottes ist,
welches so deutlich Seinen Willen offenbart. Vielmehr
sollte ich Ihn bitten, mich vor jedem Nebenpfade zu bewahren
und mich nicht meinem eignen Willen folgen zu
lassen, sondern durch Seinen Heiligen Geist in den Wegen
der Wahrheit zu leiten. Und, mein lieber christlicher Leser,
laß uns nie vergessen, daß Er versichert hat da zu sein,
wo Seine Jünger zu Seinem Namen hin versammelt
sind. Dort ist die Stätte ihrer Ruhe und Weide. Seine
Gegenwart ist genug, um die Seele bis zum Uebersließen
zu füllen. „Vor Seinem Angesicht ist Fülle von Freuden."
Der anziehendste Dienst, die glänzendsten und
bezauberndsten Ceremonien, die angenehmsten Verbindungen
sind nicht Christus. WaS ich begehre, was mir not thut,
ist da zu sein, wo der Glaube mit Gewißheit sagen kann:
Christus selbst ist gegenwärtig.
Wie lieblich, wenn Jesus die Seinigen findet
Um Ihn, den Gekreuzigten, dankbar vereint;
167
Wenn innige Liebe die Herzen verbindet,
Und Thränen der Freude das Auge nur weint!
Ihr Danken und Loben
Steigt jubeknd nach oben,
Zu Dem, der den Sohn, den geliebten, geschenkt,
Mit Vatergefühlen der Seinen gedenkt.
Wie lieblich, wenn Brüder in Eintracht und Frieden
Sich sonntäglich scharen zum herrlichsten Mahl;
Den Tod ihres Herrn zu verkünden hienieden,
Mit Ihm in der Mitte, wie klein auch die Zahl!
Sie rühmen und preisen
In lieblichen Weisen
Den Gott, der so Großes an ihnen gethan,
Dem sie als Erlöste und Kinder nun nah'n.
„Weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten."
Nachdem wir den wahren Boden und Charakter
christlicher Gemeinschaft aus dem Worte kennen gelernt
haben, find wir verantwortlich, auch die jüngern unter
uns auf diese Wege zu leiten, zu den Spuren der Herde
Gottes. Göttliche Nahrung sür jung und alt ist nur
dort zu finden. Das Lämmlein lernt bald den Fußstapfen
seiner Mutter folgen und auf derselben Weide sich
nähren. Der königliche Hirte Israels sorgt für die Lämmer
Seiner Herde. „Er wird Seine Herde weiden wie ein
Hirt, die Lämmer wird Er in Seinen Arm nehmen und
in Seinem Busen tragen, die Säugenden wird Er sanft
leiten." (Jes. 40, 11.) Er sorgte für die Schwächsten
Seiner Herde, als Er Sein Volk Israel aus Egypten und
durch das Rote Meer leitete. Nicht eine Klaue durfte
zurückbleiben. (2. Mose 10, 26.) Und Speise fand sich
für alle rund um ihre Zelte her an jedem Morgen, so
lange sie durch die dürre, schreckliche Wüste zogen.
168
Unser guter Herr will es auch jetzt so haben in den
Versammlungen Seiner Heiligen. Und da, wo der Heilige
Geist in Seiner Wirksamkeit frei und ungehindert ist,
wird Er sicherlich Milch für die Unmündigen und feste
Speise für die Erwachsenen darretchen. Von der Kirche
wird gesagt, daß sie die Wohnung, das Zelt oder die
Behausung Gottes sei. (Eph. 2, 22.) Zu diesem Zelte
hin, in welchem Gott selbst zu wohnen sich herabgelassen
hat, möchten wir alle Lämmer Jesu versammelt sehen;
das ist unser Flehen zu Gott. O daß die Gegenwart
des Herrn eine größere Anziehungskraft für die Herzen
besäße, als alles andere! Höre Ihn sagen, mein lieber
Leser: „da bin ich in ihrer Mitte!" und sei auch du da,
wo Jesus ist! Wer oder was könnte Ihn ersetzen? Was
wäre die schönste Versammlung auf Erden ohne Ihn?
Ja, was würde der Himmel selbst sein ohne Seine Gegenwart
? Ein leerer Raum! Doch was ist die Wüste mit
Seiner Gegenwart? Das Paradies Gottes. Stets und
überall ist Seine Gegenwart die Stätte des Segens, der
Freude und des Glückes. Möge unser treuer Gott und
Vater die vielen teuren Lämmer Christi in diesen letzten
Tagen aus allen menschlichen Höfen und Umzäunungen
hinausführen und sie als die eine wahre Herde sammeln
um den Hirten und Aufseher unsrer Seelen!
Das Wort der Gnade.
Ich suchte Trost und fand ihn nicht;
Da ward das Wort der Gnade
Mein Labsal, meine Zuversicht,
Das Licht auf meinem Pfade.
Es zeigte mir den Weg zu Dir,
Und leuchtet meinen Schritten
Bis zu den ew'gen Hütten-
Ich halte es für recht, so lange ich in
dieser Hütte bin, euch durch Erinnerung
aufzuwecken."
„Deshalb will ich Sorge tragen, euch immer an
diese Dinge zu erinnern, wiewohl ihr sie wisset und
in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt seid. Ich halte es
aber für recht, so lange ich in dieser Hütte bin, euch durch
Erinnerung aufzuwecken." (2. Petr. 1, 12. 13.)
So schrieb vor beinahe zweitausend Jahren ein alter,
treuer Diener Christi an die ihm anvertraute Herde. In
Liebe und Hingebung hatte er ihr lange Zeit gedient, eingedenk
des hohen, ehrenvollen Auftrages seines Herrn und
Meisters: „Weide meine Lämmlein" — „hüte meine
Schafe!" und nun stand er im Begriff, diese Erde zu
verlassen, seinen Hirtenstab in die Hände des Erzhirten
zurückzulegen und seinen Glauben mit dem Märtyrertode
zu besiegeln. Angesichts dieses nahe bevorstehenden Ereignisses
und durch jahrelange Erfahrung vertraut mit den
Bedürfnissen der Herde, hielt er es für recht, sie immer
wieder an die alten, längstgekannten Wahrheiten zu erinnern
und sie durch Erinnerung „aufzuwecken".
Wenn diese Erinnerung damals so not that, sollte
es heute anders sein? Fortschritte in der Erkenntnis zu
machen, ist sicher gut und gesegnet; aber wir wissen aus
schmerzlicher, demütigender Erfahrung, daß eine große Erkenntnis
nicht bewahrt, vielmehr ernste Gefahren in sich
birgt. Was heute wie damals vor allen Dingen not thut,
170
ist praktisches Christentum; und um dieses zu üben,
bedürfen wir der fortwährenden Erinnerung an die uns
überlieferten Wahrheiten, an Dinge, die wir vielleicht längst
wissen, die wir aber gerade deshalb so leicht vergessen und
außer acht lassen. Auch richten sich die einfachsten praktischen
Ermahnungen mit derselben Kraft an den Vater wie an
das Kindlein in Christo. Alter und Erkenntnis schützen
nicht vor Straucheln und Fallen. Nur in dem steten Verkehr
mit dem Herrn und in einer ununterbrochenen Wachsamkeit
liegt die Bürgschaft für die Bewahrung auf dem Wege.
Mag der Geist auch willig sein, so ist doch das Fleisch
schwach. Gerade Petrus hat dies in einer höchst auffallenden
Weise erfahren müssen. Irgendwie auf sich selbst,
auf seine Kraft, Erkenntnis oder Erfahrung zu vertrauen,
ist eine gefährliche Klippe, und mancher ist schon daran
gescheitert. Der Herr, der unsre Bewahrung sucht und
wünscht, ermahnt uns deshalb wiederholt in Seinem Worte,
zu wachen und zu beten. „Sehet zu, wachet und
betet!" — „Was ich euch sage, sage ich allen: Wachet!"
(Mark. 13, 33. 37.) „Beharret im Gebet und
wachet in demselben mit Danksagung." (Kol. 4, 2.)
„Seid nun besonnen und seid nüchtern zum Gebet."
(1. Petr. 4, 7.)
Wenn irgend ein Ruf heute Gehör und Beachtung
bei uns finden sollte, so ist es dieser: „Wachet!" Die
Zeit der Ruhe und des Friedens nach außen wirkt einschläfernd.
Ein Heer, das lange keinen Angriff von feiten
des Feindes zu erfahren hatte, wird leicht sorglos. Die
Wachen wandern nachlässig auf ihren Posten hin und her.
Die Führer beschäftigen sich mit Dingen, zu denen sie
früher keine Neigung, für die sie auch keine Zeit hatten.
171
Das Heer selbst giebt sich dem behaglichen Gefühl der
Sicherheit hin, richtet sich so bequem wie möglich ein und
schaut gleichfalls nach Dingen aus, die ihm die Zeit vertreiben
helfen. Wohl ertönt hie und da eine warnende
Stimme, aber man hat kein Ohr dafür; der Warner ist
allzu ängstlich, denkt man, er sieht zu schwarz, und er
wird zuletzt gar lästig.
Der Feind aber ist unermüdlich thätig. Die Schläfrigkeit
der Wachen und die Sorglosigkeit des Heeres benutzend,
schleicht er sich ins Lager ein, kundschaftet die schwachen
Stellen desselben aus, und plötzlich, ehe man sich's versieht,
ist er da, mitten im Lager! Gelingt es ihm auch
nicht, das ganze Heer zu vernichten, so zieht er doch, mit
reicher Beute beladen, von dannen, Verwirrung, Beschämung
und Trauer zurücklasseud.
Trifft dieses Bild nicht in etwa auch auf uns zu,
geliebte Brüder? Und wenn es so ist, sollten wir dann
nicht wieder mehr wachen, wie wir es im Anfang gethan
haben, wieder eifriger sein im Gebet und inbrünstiger in
unserm Rufen zum Herrn? O laßt uns von neuem beginnen,
unverrückt auf den Herrn zu schauen und mit
sehnlichem Verlangen Seiner Ankunft zu unsrer Errettung
aus allem Kampf und Leid entgegen zu harren! So lange Er
der Gegenstand, die Freude und Wonne unsrer Herzen ist,
so lange wir mit Ihm in einem vertrauten Umgang stehen
und mit Sehnsucht Seine Rückkehr erwarten, bleiben wir
in den mannigfachen Versuchungen stark und getrost, sind
auf unsrer Hut, und der Feind kann uns nicht antasten.
Wir sind alsdann, wie wir in 1. Thefs. 5, 8 lesen, angethan
mit dem Brustharnisch des Glaubens und der
Liebe, und als Helm mit der Hoffnung der Seligkeit.
172
Wir befinden uns in den Tagen der „kleinen Kraft";
aber der Herr hat „die Thüren geöffnet, die niemand zu
schließen vermag". (Offb. 3, 7—12.) Es sind die letzten
Tage der Kirche Christi auf der Erde, und der Herr ruft
uns zu: „Ich komme bald; halte fest, was du hast, auf
daß niemand deine Krone nehme!" Ja, Er kommt bald,
um Seine geliebte Braut heimzuholen, damit sie für immer
bei Ihm im Vaterhause in der Herrlichkeit droben sei, wo
es keine Thränen und keine Trennung mehr giebt. Ist
es deshalb nicht der Mühe wert, mit aller Treue und
Entschiedenheit an dem festzuhalten, was Er uns anvertraut
hat?
Die Ankunft des Bräutigams ist, wie gesagt, nahe
gerückt. Unsre glückselige Hoffnung, Ihn zu schauen, kann
sich jeden Tag erfüllen, und sie wird sich sicher erfüllen,
sobald das letzte Glied dem Leibe Christi hinzugefügt ist.
Dann ist unser Sehnen für ewig gestillt, der Kampf ausgestritten,
die Wüstenwanderung zurückgelegt, das herrliche Ziel erreicht.
Darum: Aufgeschaut!
Nacht entflieht, der Morgen graut.
Kummerthränen, nachts geweinet,
Glänzen, wenn der Morgen scheinet,
Dann als Freudenperl' im Licht
Vor des Heilands Angesicht.
Aufgeschaut, Sel'ge Braut!
Der Herr sammelt in großer Eile und vermehrt die
Zahl der Seinigen von Tag zu Tage. Sein Name, in
welchem allein Rettung vor dem kommenden Zorn zu
finden ist, ist in den letzten Jahrzehnten mehr als je verkündigt,
und eine große, schier unzählige Schar ist dem
173
Herrn hinzugefügt worden. Und ist auch durch die List
des Feindes und durch die Untreue derer, die um einen
so teuren Preis erkauft sind, die Versammlung Gottes
immer mehr zersplittert und die Wahrheit in ihrer Mitte
vielfach verdorben worden, so hat der Herr Seine Gnade
doch nur um so überströmender erwiesen. Er hat durch
Seinen Geist die Wahrheit, „wie sie in dem Jesus ist"
(Eph. 4, 21), wieder ans Licht gebracht und in den Herzen
vieler Tausender Eingang finden lassen. Sie erfreuen
sich nicht allein der Vergebung ihrer Sünden durch das
Opfer Christi, sondern wissen auch, daß sie nach ihrem
frühern Zustande vor Gott völlig beseitigt sind, daß der
Leib der Sünde abgethan ist, indem sie mit Christo gekreuzigt,
gestorben und begraben sind; sie wissen, daß sie
sich in einer neuen Stellung vor Ihm befinden, und zwar
in Christo Jesu, der zur Rechten Gottes sitzt. (Röm.
6, 6; Kol. 3, 3; Eph. 2, 5. 6.) Nichts vermag sie
von Seiner Liebe zu scheiden (Röm. 8, 39), und niemand
sie aus Seiner Hand zu rauben. (Joh. 10, 28. 29.)
Sie sind in Christo, und darum ihrer Stellung nach
ebenso sicher wie Er selbst. In Ihm sind sie jetzt schon
gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen
Oertern (Eph. 1, 3); sie erfreuen sich der Erkenntnis der
Gedanken und Ratschlüsse Gottes vor Grundlegung der
Welt — des großen Geheimnisses, dessen Gegenstand
Christus und die Versammlung ist. Er ist das Haupt,
sie der Leib, die Fülle Dessen, der alles in allem erfüllt.
Sie ist, so zu sagen, Sein zweites Ich, gemäß Seinen
eignen Worten, die Er einst an Saulus, den rasenden
Verfolger der Versammlung Gottes, richtete: „Saul, Saul,
was verfolgst du mich?" Sie ist für Zeit und Ewigkeit
174
unzertrennlich mit Ihm verbunden. Deshalb wird sie auch
alles mit Ihm besitzen; sie ist Seine Miterbin; sie wird
mit Ihm richten und regieren und die Ihm vom Vater
gegebene Herrlichkeit mit Ihm teilen. (Röm. 8, 17;
1. Kor, 6, 2. 3; Joh. 17, 22.)
Vielleicht möchte der eine oder andere Leser hier
denken: Das alles sind Dinge, die mir längst bekannt
sind; warum sie wieder aufzählen? Gewiß, es sind bekannte,
längst unter uns bekannte Dinge! Ich rede auch
nicht davon, um dir etwas Neues zu sagen, sondern um
dich durch Erinnerung „aufzuwecken", wiewohl du jene Dinge
kennst und in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt bist.
Wahrheiten zu kennen und in ihnen zu leben sind
zwei sehr verschiedene Dinge. Mancher Christ gleicht einem
reichen Manne, der in einem wohl verschlossenen Schranke
kostbare Kleinodien aufbewahrt. Anfänglich, als sie in
seinen Besitz kamen, betrachtete er sie mit großem Interesse
und herzlicher Freude, und konnte sich nicht satt an ihnen
sehen; aber nach und nach sind sie etwas Altes für ihn
geworden, und jetzt zeigt er sie nur noch dann und wann
einem guten Freunde, der ihn besucht. — Gerade so geht
es, wie gesagt, manchem Gläubigen mit den kostbaren
Dingen Christi. Das was sein Herz im Anfang so überaus
glücklich machte, das was er nicht genug betrachten
konnte, liegt schon lange im Schranke und wird nur
gelegentlich einmal hervorgeholt, um vor andern damit
zu glänzen.
Wie steht es in dieser Hinsicht mit dir, mein lieber
Leser? Gehörst du auch zu diesen armen reichen Leuten?
Sind die unergründliche Güte und die alle Erkenntnis
-übersteigende Liebe Christi etwas Altes für dich geworden?
175
Haben sie ihre ursprüngliche Lieblichkeit für dich verloren?
Liegen die Kleinodien im Schranke? O dann hole sie
hervor und weide dich von neuem an ihrem wunderbaren,
unvergänglichen Glanze. Betrachte sie von allen Seiten!
Wie du sie auch drehen und wenden magst, sie strahlen
immer in reinem, herrlichem Lichte. Dein Herz wird
wieder anfangen in Liebe zu brennen. Du wirst ausrufen:
Welch ein Thor war ich! Wie konnte ich diese
Liebe je vergessen? Wie konnte ich müde werden, Ihn zu
betrachten und zu preisen, der mich geliebt hat, als ich
noch tot war in Vergehungen und Sünden, der um meinetwillen
arm wurde und mich nun so unermeßlich reich gemacht
hat in Seiner Liebe?
Auch hat der Herr in dieser letzten Zeit uns und
viele Tausende der Seinigen mit uns zu dem zurückgeführt,
was von Anfang war. Von Ihm selbst belehrt,
versammeln wir uns wieder einfach in dem Namen Jesu
und unter der Leitung des Heiligen Geistes. An jedem
ersten Wochentage (Apstgsch. 20, 7) kommen wir an dem
Tische unsers geliebten Herrn zusammen und verkündigen
Seinen Tod in dem süßen Bewußtsein, daß Er selbst in
unsrer Mitte ist. — Der Tod des Herrn! „Es ist unmöglich,"
schreibt ein Bruder, der nun schon längst von
seiner Arbeit beim Herrn ausruht, „zwei Worte zu finden,
in deren Verbindung eine so tiefe Bedeutung liegt wie in
den Worten: der Tod deS Herrn. Wie vieles liegt
in der Thatsache, daß Er, der Herr genannt wird, gestorben
ist! Welch eine Liebe! welche Ratschlüsse! welch
eine Kraft! welche Resultate!" Und diesen bedeutungs-
vpllen Worten reihen sich die andern an: „Wo zwei oder
drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in
176
ihrer Mitte." Was könnte es Kostbareres geben, als
den Herrn selbst in unsrer Mitte zu haben, wenn auch
nicht sichtbar für unsre natürlichen Augen, so doch spürbar
für den Glauben? Ihn, der in der Nacht, als
Er überliefert wurde, dieses Gedächtnis Seiner
Leiden und Seiner Liebe einsetzte? Ihn, dessen heiliger Leib
für uns geopfert wurde, der jetzt droben in der Herrlichkeit
ist und dessen Wiederkunft wir jeden Tag erwarten? Ihn,
der uns mehr geliebt hat als Sein eigenes Leben?
Wahrlich, es ist ein unaussprechlich hohes Vorrecht,
da sein zu dürfen, wo der Mensch völlig in den Hintergrund
tritt, wo Christus und Seine Liebe alles sind, wo
die Gefühle und Zuneigungen des Herzens in einer Weise
in Thätigkeit treten können, wie bei keiner andern Gelegenheit.
Aber wird dieses Vorrecht wohl so von uns
geschätzt, wie es verdient geschätzt zu werden, oder wie es
selbst im Anfang von uns geschätzt wurde, als der Herr
uns die Augen über diese kostbaren Dinge öffnete und
uns aus den menschlichen Systemen herausführte? Vergessen
wir nicht, daß die Größe des Vorrechts immer
auch der Größe der Verantwortlichkeit entspricht. Es ist,
wie gesagt, der Tod des Herrn, den wir verkündigen,
und der Tisch des Herrn, um den wir uns allsonntäglich
scharen. Wie waren wir am letzten Sonntage
dort? Mit reinem Herzen und vorwurfsfreiem Gewissen?
Haben wir die Lieblichkeit Seiner Gegenwart geschmeckt,
und hat Er von unS empfangen, was Er so gern von
uns zu empfangen wünscht? Haben wir wirklich Sein
Gedächtnismahl gefeiert? War es eine Stunde freudiger
und dankbarer Anbetung? Prüfen wir uns mit Ernst
und Aufrichtigkeit, eingedenk der Worte des Apostels:
177
„Wer unwürdiglich ißt und trinkt, ißt und trinkt sich selbst
Gericht, indem er den Leib nicht unterscheidet." (Vergl.
1. Kor. 11, 27—32.)
Und wie steht es mit unsern Zusammenkünften zum
gemeinschaftlichen Gebet? Welch eine Gnade, daß wir alle
unsre Anliegen mit Gebet und Flehen vor Ihm kundwerden
lassen dürfen! Und wer ist so bereit, uns zu erhören
und alles Gute uns darzureichen wie Er? Allezeit
in Liebe unser gedenkend, ist Er stets für unser Bestes
besorgt. Er liebt Seine Versammlung; denn Er hat sich
selbst für sie hingegeben. (Eph. 5, 25.) Wo ist eine Liebe
wie Seine Liebe?
Wie aber entsprechen wir dieser Liebe? Während Er
da ist, wo zwei oder drei in Seinem Namen versammelt sind,
während E r mit liebender Teilnahme auf all unser Flehen
lauscht und hören will, noch ehe wir rufen, findet sich bei
uns oft eine unbegreifliche Nachlässigkeit im Besuch der
Zusammenkünfte zum Gebet. Ich sage „unbegreiflich", denn
eine Nachlässigkeit in der Benutzung eines unsrer gesegnetsten
Vorrechte ist in der That nicht zu begreifen. Man hat
den Besuch der Gebetsstunden und den Geist, der in ihnen
herrscht, das sichere Barometer des geistlichen Zustandes
einer Versammlung genannt; und nicht mit Unrecht. Denn
wenn die Gebetsstunde wenig besucht wird, wenn die Teilnahme
an der Fürbitte schwach und der Ton der Gebete
niedrig ist, so kann man mit Sicherheit den Schluß ziehen,
daß die Herzen träge geworden sind, und daß daheim im
Kämmerlein auch nicht viel gebetet wird. Und was ist
die notwendige Folge eines solchen Zustandes? Eine
immer mehr zunehmende Lauheit und Dürre, eine fortschreitende
Abnahme der Thätigkeit für den Herrn und
178
eine erschreckende Zunahme des Weltsinns, der Vergnügungssucht
und des Jagens nach den irdischen Dingen.
Müssen wir nicht über diese traurigen Erscheinungen
klagen in der Mitte mancher Versammlungen? Und doch
singt man:
Dank Dir, o Herr, daß Gold und Schätze,
Und Pracht und Schönheit dieser Welt,
Daß kein Ding je mich kann ergötzen,
Das mir die Welt vor Augen stellt!
Mein Jesus, Du bist meine Freude,
Mein Gold, mein Schatz, mein schönstes Bild;
Nur Du bist meine Lust und Weide,
Und was mein Herz für ewig stillt.
Ist nicht sehr zu befürchten, daß der Gesang bei
vielen nur ein Wort der Lippen ist, von dem daS Herz
nichts weiß? Anstatt ein solches Lied zu singen, wäre es
wohl oft viel mehr am Platze, Leid zu tragen und sich
in tiefer Zerknirschung vor Gott in den Staub zu beugen.
Ein hohes Bekenntnis, verbunden mit geistlicher Armut
und Lauheit, ist das Kennzeichen Laodicäas, zu welchem
der Herr sagt: „Weil du lau bist und weder kalt noch
warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem Munde."
(Offbg. 3, 16.) Ernstes, niederschmetterndes Urteil, das
auch uns wohl zu denken geben sollte!
Es bleibt mir noch übrig, ein kurzes Wort über das
Zusammenkommen zur Betrachtung des Wortes zu sagen.
Wenn dasselbe auch nicht gerade die gleiche Bedeutung
haben mag wie der Gottesdienst und die Gebetsversammlung,
so können wir doch sicher auch hierauf die Ermahnung
des Apostels anwenden: „indem wir unser Zusammenkommen
nicht versäumen, wie es bei etlichen Sitte
ist, sondern einander ermuntern, und das umsomehr, je-
179
mehr ihr den Tag herannahen sehet." (Hebr. 10, 25.)
Wie es bei etlichen Sitte ist — wahrlich, ein
ernster Vorwurf für die gläubigen Hebräer! Aber würde
der Apostel nicht heute in ähnlicher Weise an uns schreiben
müssen? Ist es nicht bei manchem eine Sitte geworden,
das Zusammenkommen zu versäumens
Dian wendet ein: Kann man sich denn nicht auch im
Kreise der Seinen erbauens Ist der Segen des Herrn
nur den versammelten Gläubigen verheißen s Nein,
nicht nur, aber doch in besonderer Weise. Und was
thut man im Grunde mit solchen Einwänden s Doch nichts
anderes, als daß man sich für weiser erklärt als Gott
selbst. Gott läßt uns auffordern, unser Zusammenkommen
nicht zu versäumen, sondern uns gegenseitig zu ermuntern
und uns zu erbauen, und das umsomehr, je
näher wir dem Tage kommen, an welchem alles
offenbar werden und ein jeder seinen Lohn empfangen
wird nach seiner Treue. Aber der Mensch erklärt: An
dem vielen Zusammenkommen liegt es auch nicht; zudem
muß man Rücksichten auf seine Familie nehmen; man ist
die ganze Woche hindurch im Drange der Geschäfte, und
ist deshalb froh, am Sonntag einmal einige Stunden
seinen Kindern widmen zu können; ebenso muß man an
seinen Körper denken u. s. w. u. s. w. So unumwunden
nun auch jeder zugeben wird, daß wir Pflichten gegen
unsre Familie und unsern Körper haben, und daß der
Sonntag, besonders für Handwerker, Fabrikarbeiter ?c., ein
Tag ist, an dem sie dankbar die Ruhe genießen dürfen,
die Gott selbst für sie vorgesehen hat, so wird doch niemand
behaupten können, daß neben den sonntäglichen Zusammenkünften
nicht genügende Zeit bleibe, um mit der
180
Familie sich in der frischen Lust ergehen zu können. Und
was die Ruhe betrifft, so ist es offenbar, daß Geist und
Herz eines Christen durch nichts mehr erquickt und belebt
werden, als durch das Sitzen zu den Füßen Jesu und
durch die Pflege der Gemeinschaft mit den Geschwistern.
Zudem laßt uns nicht vergessen, daß der Sonntag der
Tag des Herrn ist — der Tag, der Ihm in ganz
besonderer Weise gehört und Ihm deshalb auch in ganz
besonderer Weise gewidmet werden sollte. Wenn jemand
an diesem Tage keine Zeit findet, da zu sein, wo der
Herr Seines Namens Gedächtnis gestiftet hat, so wird
er in der Woche wohl erst recht das Zusammenkommen
versäumen und schließlich nur noch am Sonntag Morgen
sich in der Mitte der Gläubigen einfinden.
Sehr ernst sind die Folgen einer solchen Vernachlässigung
und Versäumung des Zusammenkommens, nicht
nur für den betreffenden Bruder oder die Schwester selbst,
sondern auch für seine Angehörigen, seine Kinder und für
andere junge oder wenig befestigte Gläubige. Das Interesse
an den göttlichen Dingen nimmt immer mehr ab, und
das Zeugnis wird schwächer und schwächer. Anstatt ein
Vorbild im Guten zu sein und andere zu gleicher Entschiedenheit
und Treue anzuspornen, tritt man in die Reihe
derer, welche auf dem Wege „zurückzubleiben scheinen",
und veranlaßt andere, dasselbe zu thun. Ach, wie wenig
denken wir oft daran, daß wir für unsre Mitpilger entweder
eine Hilfe oder ein Hindernis sind! — O Herr,
erwecke in diesen bösen, schweren Zeiten in uns und allen
den Deinigen den aufrichtigen Herzensentschluß, bei
Dir zu verharren und uns gegenseitig zu ermuntern, bis
Du kommst und uns heimführst in Deine Herrlichkeit!
181
Ja, schenke uns die Gnade, daß wir von Tag zu Tage
im Lichte Deines Richterstuhls wandeln, vor dem wir alle
einmal offenbar werden müssen!
(Fortsetzung folgt.)
„Einem Rosse an des Pharao Prachtwage»vergleiche ich dich."
(Hohel. 1, 9—12.)
„Einem Rosse an des Pharao Prachtwagen vergleiche
ich dich, meine Freundin. Anmutig sind deine Wangen
in den Kettchen, *) dein Hals in den Schnüren." Jetzt
spricht der Bräutigam nur über die Braut selbst. Den
Gegenstand ihrer Fragen hat Er fallen lassen; Seine Anrede
ist direkt und persönlich. Und o, wie voll und frei
sind die Ausdrücke Seiner bewundernden Liebe! „Ich
vergleiche dich, meine Freundin . . . Anmutig sind
deine Wangen . . . dein Hals in den Schnüren."
Wie oft bekleidet der menschliche Geist den Gegenstand
seiner Bewunderung mit anmutigen Reizen und betrachtet
dann in Selbstgefälligkeit und Selbstverehrung sein eignes
Bild. Nicht so der göttliche Geist; hier ist alles wirklich
und echt. Der Herr schmückt die Braut Seines Herzens
mit Seiner eigenen Anmut, und dann bewundert Er sie.
Er liebte sie, Sein Name sei gepriesen! ehe irgend etwas
an ihr zu bewundern war. Das ist göttlich. „Gott erweist
Seine Liebe gegen uns darin, daß Christus, da wir
noch Sünder waren, für uns gestorben ist." (Röm. 5, 8.)
Nachdem Er sie mit Seinen eigenen Reizen geschmückt hat,
*) Eig. rundliche Schmuckstücke, die zu beiden Seiten vom
Kopfbunde herabhingen.
182
bleibt nichts an ihr, was Sein Auge beleidigen oder Sein
Herz betrüben könnte. „Ganz schön bist du, meine
Freundin, und kein Makel ist an dir." (Kap. 4, 7.)
„Das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden."
(2. Kor. 5, 17.) Sie hat dasselbe Leben und dieselbe
Stellung mit ihrem auferstandenen, lebenden Herrn. Welch
eine Würde, Herrlichkeit und Segnung!
In der Größe Seiner Liebe hat „Er sich selbst für
uns dahingegeben", und jetzt, als der gekreuzigte und auferstandene
Jesus, sind wir Seine Miterben. „Nicht wie
die Welt giebt, gebe ich euch." (Joh. 14, 27.) Die Welt
giebt einen Teil und behält einen Teil für sich; aber
Christus giebt alles. „Die Herrlichkeit, die du mir
gegeben hast, habe ich ihnen gegeben." (Joh. 17, 22.)
In der Bewunderung Seiner Braut, obgleich sie noch in
der Wüste ist, steht Er in Uebereinstimmung mit sich selbst,
weil sie vollkommen ist in Seiner eigenen Vollkommenheit.
Rebekka war geschmückt mit den Juwelen Isaaks, lange
bevor sie das Zelt seiner Mutter erreichte. Und von der
Braut Jehovas finden wir geschrieben: „Und ich schmückte
dich mit Schmuck: ich legte Armringe an deine Hände
und eine Kette um deinen Hals, und legte einen Reif in
deine Nase und Ringe in deine Ohren und setzte eine
Prachtkrone auf dein Haupt. Und so wurdest du mit
Gold und Silber geschmückt . . . und dein Ruf ging aus
unter die Nationen wegen deiner Schönheit; denn sie war
vollkommen durch meine Herrlichkeit, die ich auf dich gelegt
hatte, spricht der Herr, Jehova." (Hes. 16, 11 — 14.)
„Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit Punkten
von Silber." Eine goldene Kette ist bekanntlich ein
Zeichen von Beförderung, von hoher Gunst und Würde,
183
wie z. B. bei Joseph und Daniel. Aber was bedeuten
diese wunderbaren Worte des Königs? Er hat Seine
Braut, ihre Schmuckstücke und goldnen Schnüre bewundert;
und jetzt fühlt Er sich veranlaßt, noch mehr für sie zu
thun. „Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit
Punkten von Silber."
Wir? warum wir? Will uns die Mehrzahl au
das Geheimnis der heiligen Dreieinigkeit erinnern? Bei
dem Werke der Schöpfung hieß es: „Lasset uns Menschen
machen in unserm Bilde nach unserm Gleichnis."
Und das Werk der Erlösung gab Anlaß, wie wir wissen,
zur Offenbarung der verschiedenen Personen der Gottheit.
„Wenn jemand mich liebt," sagt der Herr, „so wird er
mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und
wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm
machen." Und von dem Heiligen Geiste sagt Er: „Ihr
kennet Ihn, denn Er bleibt bei euch und wird in euch
fein." (Joh. 14.)
Was aber haben wir unter den „goldenen Kettchen
mit Punkten von Silber" zu verstehen? Es handelt sich
hier ohne Zweifel um einen Kopfschmuck, vielleicht eine
Art Diadem, ein Kranz oder eine Krone. Ist es ein
goldener Kranz mit Punkten von Silber? Die bereits
angeführte Stelle aus dem Propheten Hesekiel giebt diesem
Gedanken viel Wahrscheinlichkeit. „Und ich setzte eine
Prachtkrone auf dein Haupt; und so wurdest du mit Gold
und Silber geschmückt." Wird demnach der zurückgebrachte
königliche Stamm Juda noch einmal diese herrliche Krone
im Lande Israel, in der heiligen Stadt Jerusalem tragen?
Ja, der Herr selbst wird sie auf sein Haupt setzen. —
Wunderbare Gnade! Anbetungswürdige, göttliche Liebe!
184
Könnte Juda, könnten wir je vergessen, daß die erhabene
Stirn des Königs von Salem einst auf dieser
Erde mit einer Dornenkrone geschmückt war? Keine
irdischen Juwelen zierten jene Krone; aber Sein kostbares
Blut spendete reiche Rubinen-Tropfen von ewigem Glanze
und unvergänglichem Werte. Wache auf, wache auf,
meine Seele! und sinne über die Gnade und Liebe Jesu!
Wie wird dir sein, wenn jene einst durchbohrte Hand
deine Stirn mit einem Kranze unverwelklicher Herrlichkeit
schmücken wird? Wird dein Auge gefesselt werden durch
die Krone oder geblendet durch die Herrlichkeit? Nein!
der erste Anblick Seines herrlichen Angesichts wird dein
Auge fesseln und dein ganzes Herz einnehmen auf ewig.
In der Art und Weise, wie der Herr Seine
Liebe offenbart, giebt es immer etwas, das dem Herzen
überaus kostbar ist. Hier sagt Er der Braut selbst,
was in Seinem Herzen ist. Dieses befriedigt das erste
Verlangen der Liebe, den Wunsch nach persönlicher Gemeinschaft.
Jesus weiß wohl, wie Er das Herz mit tiefer,
unergründlicher Freude erfüllen kann. Wird das aber
immer so sein? Ja, und nochmals ja! Seine Liebe
wird ewig währen; Er verändert sich nicht. Er ist derselbe
gestern und heute und in Ewigkeit. In der Vergangenheit,
in der Gegenwart und in der Zukunft ist Er
derselbe. Welch eine Freude für das Herz, wenn es so
unmittelbar, so persönlich und so deutlich von Ihm angeredet
wird! Unter den Myriaden der Erlösten giebt
es keinen, der von Ihm übersehen oder vernachlässigt
würde. „Der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben
hat", das wird das ewige Thema des Gesanges
der Erlösten bilden. Seine Liebe in ihrer ewigen Fülle
185
und Kostbarkeit wird alle Herzen erfüllen und sie alle zu
lieblich gestimmten Harfen machen, die das Lob Seiner
nimmer endenden Liebe ewiglich erklingen lassen.
Liebe, die mich überkleidet
Und entrücket dieser Zeit,
Liebe, die mich droben weidet
Und mich schmückt mit Herrlichkeit;
Liebe, dir sei Preis und Ruhm
Hier und dort im Heiligtum!
Die Wahl des ersten Vergleiches verrät göttliche
Weisheit und ist belehrend für die Seele: „Einem Rosse
an des Pharao Prachtwagen vergleiche ich dich, meine
Freundin." Die mystische Braut des wahren Salomo
wird hier an Egypten erinnert, aus welchem Er sie einst
mit einem ausgestreckten Arm erlöste, sowie an den Pharao,
aus dessen eiserner Gewalt Er sie befreite. Höchst eindrucksvolle
Andeutungen für die Kinder Israel und moralisch
auch für uns! Die Wahrheit GotteS ist gleich einem
Kreise. Die Liebe, die uns aus Egypten erlöste und uns
nach Kanaan bringt, mit allen ihren Segnungen auf dem
Wege dahin, ist ein vollkommener, ununterbrochener Kreis
von Gnade und Wahrheit. Und sicherlich wird jeder besondere
Teil dieses Kreises uns ewiglich in Erinnerung
bleiben. Die Gnade, die uns in der Welt begegnet,
führt uns zu dem Herzen Gottes, aus welcher sie hervorfließt.
„Jetzt aber, in Christo Jesu, seid ihr, die ihr
einst ferne wäret, durch das Blut des Christus nahe geworden."
(Eph. 2, 13.)
Das edle Roß mit seinem glänzenden Geschirr darf
man wohl als das Sinnbild der Stärke, des Ebenmaßes,
der Schnelligkeit, der königlichen Würde und der Willigkeit
im Dienste betrachten. Kaum hat der Wagenlenker
186
seinen Sitz eingenommen, so sind auch seine edlen Tiere
bereit, anzuziehen. Jede Verzögerung macht sie ungeduldig.
Ihr Scharren und Stampfen, das stolze Emporwerfen
des Kopfes, das Zucken jeder Muskel — alles zeigt ihm
deutlich, daß sie bereit sind, wenn er nur fertig ist.
Und dann, wie gehorsam sind sie, trotz ihrer Stärke, dem
geringsten Druck des Zügels! Erkennst du, mein Leser,
in dieser Bereitwilligkeit und Unterwürfigkeit ein Bild deines
eigenen Dienstes? Ist eS so? Oder ist das Gegenteil
der Fall? Ach, prüfe alle deine Wege unter dem Strahl
des Auges deines Herrn und Meisters. Giebt es etwas
auf Erden, das du mehr fürchten würdest, als aus Seinem
Dienste entlassen zu werden? Bedenke, o bedenke,
daß, obgleich du für immer als Sohn in deines Vaters
Hause sein wirst, obgleich du als Sünder durch die Gnade
für ewig errettet bist, daß dennoch als Diener, wenn du
deine Zeit nutzlos verbringst oder dein Werk lässig treibst,
dein Dienst von dir genommen und einem Andern gegeben
werden kann. — O langmütiger Herr, erhalte
Deine Diener stets umgürtet, gehorsam und bereitwillig
zum Dienst, stets nur für das Eine besorgt, Deinen
Willen zu thun!
„Während der König an seiner Tafel war, gab (od.
ist, giebt) meine Narde ihren Duft." Es besteht ein
unermeßlicher Unterschied zwischen den anziehenden Eigenschaften
der Natur und den geistlichen Tugenden. Honig,
die Süßigkeit der Natur, war im Alten Bunde bei allen
Opfern verboten. Ein wenig Honigseim, mit dem Ende
eines Stabes zum Munde geführt, mag die Augen hell
machen und das Herz des Kriegers erfrischen am Tage
der Schlacht (1. Sam. 14, 27), aber es kann nimmer
187
das Herz des Herrn der Heerscharen erquicken. Die
liebenswürdigen Eigenschaften der Natur sind ohne Zweifel
wertvoll für die Familie, für den gesellschaftlichen Kreis
und für die Welt im Allgemeinen, aber durchaus untauglich
für den Altar Gottes oder den Tisch des Königs.
Das Süße wie das Saure der Natur sind für den Heiligen
Israels gleich verwerflich. „Die aber, welche im Fleische
sind, vermögen Gott nicht zu gefallen." (Röm. 8, 8.)
Wir bedürfen einer neuen Natur, des Lebens des
auferstandenen Jesus in der Seele, bevor wir irgend
etwas Gott Wohlgefälliges thun oder ein Ihm annehmliches
Opfer darbringen können. „Ihr müsset von neuem
geboren werden." „Die Frucht des Geistes aber ist: Liebe,
Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue,
Sanftmut, Enthaltsamkeit." (Gal. 5, 22. 23.) Das
göttliche Leben, welches durch den Heiligen Geist Früchte
hervorbringt, ist die wohlriechendste und erfrischendste
Frucht in den Augen des Heilandes. Die „Narde" hat
für Ihn „einen duftenden Wohlgeruch", und ihr Wert
ist unvergänglich. Die Alabasterflasche mit Salbe, welche
einst das Haus in Bethanien mit lieblichem Duft erfüllte,
hat ihren Wohlgeruch für Ihn heute noch nicht verloren.
„Sie hat gethan, was sie konnte", so lautete das unmittelbare,
ungeschmälerte Lob Seiner Liebe. Und: „wo irgend
dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen
Welt, wird auch von dem geredet werden, was diese
gethan hat, zu ihrem Gedächtnis." (Matth. 26, 13.)
Es ist verkehrt zu denken, daß wir dem Könige
nichts darzubringen hätten, während Er zu Tische sitzt.
Allerdings geben wir Ihm von Seinem Eigenen, aber das
macht die Sache nur umso lieblicher für Ihn und uns.
188
Was ist lieblicher als Gnade? Der Israelit mußte einen
Korb, gefüllt mit seinen Erstlingsfrüchten, herzubringen
und ihn vor Jehova, seinem Gott, niedersetzen. (5. Mose
26.) Wahrer Gottesdienst, wahre Anbetung ist Gemeinschaft.
Wenn der Bräutigam seine „guten Salben"
hat, so besitzt die Braut ihre „Narde"; doch alles ist
Gnade. Der Tisch ist Sein, die Salbe und die Narde
sind ebenfalls Sein. „Du bereitest vor mir einen Tisch
angesichts meiner Feinde; du hast mein Haupt mit Oel
gesalbt, mein Becher fließt über." (Ps. 23.)
Das Herz erreicht niemals eher die Höhe der Anbetung,
bis es überfließt. Dann hat es um nichts mehr
zu bitten, nichts mehr zu wünschen. Wahre Anbetung
ist daS Ueberströmen des Herzens. Und wie lieblich, wie
köstlich und wie gesegnet ist sie! Wenn der Heilige Geist
von der Fülle Jesu unsern Seelen mitteilt, wie bald
strömt dann das Herz über! Und dieses Ueberströmen
des Herzens von der Fülle Christi ist wahre, himmlische
Anbetung. Daher der wichtige Unterschied zwischen einer
Versammlung zum Gebet oder zur Anbetung. Zu der
erstern sollten wir kommen mit leeren Gefäßen und so
zum Herrn schreien, als wenn wir eher den Himmel erstürmen,
als ohne Antwort weggehen möchten. Zu der
letztem jedoch sollten wir kommen mit vorhergegangenem
Selbstgericht, Wohl vorbereitet für den Tisch des Königs
und fähig, uns an Seinen reichen Gaben zu laben und
die Beute Seines Sieges, die Frucht der Erlösung, zu
genießen. So werden wir stets alle unsre Bedürfnisse
gestillt und jedes Verlangen befriedigt finden. Haben
wir denn um nichts zu bitten an dem Tische unsers
Herrn? Um nichts, es sei denn um ein weiteres
— 189 —
Herz; anders müßte ja der König etwas, das uns not
ist, vergessen haben. Und wie wäre das möglich? Wie
könnten wir anders als befriedigt sein in dem
Empfangszimmer des Königs, im Allerheiligsten, wo wir
die reichen Spenden Seiner Tafel genießen? Wie könnten
wir anders als loben und preisen, bewundern und anbeten,
lieben und verehren unsern Gott und Vater und
unsern Herrn Jesum Christum?
Die Braut hat jetzt den Höhepunkt des Segens erreicht.
Sie erfreut sich in Ruhe und Frieden der Gegenwart des
Königs, während Er an Seinem Tische ruht. Die Thätigkeiten
des Dienstes haben der Ruhe der Anbetung
Platz gemacht. Die versengenden Strahlen der Sonne,
die Verfolgung, die Armut, die Sorgen — alles ist vergessen
in der Fülle der Freuden, die Seine Gegenwart
verleiht. Die Flasche ist zerbrochen, die kostbare Narde
fließt, der Wohlgeruch erfüllt das Haus, das Haupt und
die Füße Jesu werden gesalbt, und Sein Herz ist hingerissen
durch das Entgegenkommen ihrer Liebe.
Er ist nicht hier. (Luk. 24, 6.)
Der Zustand, den die Jünger unmittelbar nach dem
Tode des Herrn offenbarten, enthält viel Belehrendes für
uns. Das Wort des Herrn hatte sich an ihnen erfüllt:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, daß ihr weinen und
wehklagen werdet, aber die Welt wird sich freuen; ihr
werdet traurig sein, aber eure Traurigkeit wird zur Freude
werden." (Joh. 16, 20.) Sie weinten, waren niedergeschlagen,
fühlten sich einsam und verlassen, getäuscht in
190
allen ihren Hoffnungen. Einerseits war ihr Verhalten
tadelnswert, denn es zeugte von einem Mangel an Glauben
und an wahrem Verständnis der Schriften: „O ihr Unverständigen
und trägen Herzens, zu glauben an alles,
was die Propheten geredet haben!" (Luk. 24, 25.) Der
Herr selbst hatte ihnen zum Oeftern gesagt, als Er noch
bei ihnen war, daß alles erfüllt werden müßte, was von
Ihm geschrieben stand in dem Gesetz Moses und in den
Propheten und Psalmen. Doch allezeit gnädig, tadelte Er
sie nicht nur, sondern Er öffnete ihnen auch das Verständnis,
daß sie die Schriften verstanden. (Luk. 24, 44. 45.)
Andrerseits zeugte das Verhalten der Jünger von
ihrer großen Liebe zum Herrn und von ihrer Anhänglichkeit
an Seine Person; ihr einziges Verlangen war nach
Ihm. Und der Herr kam, um dieses Verlangen zu stillen,
indem Er sich ihnen offenbarte, und zwar zunächst der
Maria, deren Verlangen am heißesten war. Weinend
stand sie an der Gruft und wollte nicht weggehen, ohne
Ihn gefunden zu haben, wenngleich eS sich nach ihrer
Meinung nur um Seinen Leichnam handeln konnte. Unmöglich
hätte der Herr sich ihr jetzt länger verbergen
können; Er rief sie bei ihrem Namen, und sie erkannte
sofort die wohlbekannte Stimme des guten Hirten. In
unmittelbarer Verbindung damit aber zeigt ihr der Herr,
daß Er Sein Verhältnis zu den Seinigen, wie es bisher
in dieser Welt bestanden hatte, nicht länger fortsetzen
konnte; es mußte von nun an einen anderen Charakter
annehmen. Nicht daß ihre Gemeinschaft mit Ihm jemals
wieder eine Unterbrechung erleiden sollte. Sie war unterbrochen
worden, als Er für sie in den Tod ging; dorthin
konnten sie Ihm nicht folgen. Sein Tod war der
191
Beweis Seiner unendlichen Liebe für sie gewesen, indem
Er durch denselben ihre Erlösung bewirkt hatte; aber er
war auch der Beweis, daß die Welt Ihn verworfen hatte
und Er dadurch für immer von ihr getrennt war. Er
nahm von nun an Seinen Platz ein bei dem Vater, wo
Er vor Grundlegung der Welt gewesen war; und dort
sollten die Seinigen Gemeinschaft mit Ihm haben. Darum
sagte Er zu Maria: „Rühre mich nicht an, denn ich bin
noch nicht aufgefahren zu meinem Vater. Gehe aber hin
zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf
Zu meinem Vater und euerm Vater, und zu meinem Gott
und euerm Gott." (Joh. 20, 11—17.)
Diese Botschaft des Herrn erfüllte die Jünger mit
unaussprechlicher Freude. Und diese Freude verblieb ihnen
selbst dann noch, als der Herr wieder von ihnen schied
und gen Himmel fuhr. „Sie huldigten Ihm und kehrten
nach Jerusalem zurück mit großer Freude; und sie
waren allezeit im Tempel, Gott lobend und preisend."
<Luk. 24, 51-53.)
Ihre Traurigkeit hatte sich in Freude verwandelt.
Ohne Zweifel verstanden sie damals noch nicht die Tragweite
ihrer neuen Stellung, wie sie sich in den Worten
uusdrückte: „Ich fahre auf zu meinem Vater und euerm
Vater, und zu meinem Gott und euerm Gott." Sie
sollte ihnen erst später durch den Heiligen Geist völlig klar
gemacht werden. Aber trotzdem war ihre Freude groß,
da sie Ihn wieder besaßen, den sie so schmerzlich vermißt
hatten. „Aber ich werde euch Wiedersehen, und euer
Herz wird sich freuen, und eure Freude wird niemand
von euch nehmen." (Joh. 16, 22.) Der Grund ihrer
Freude war ausschließlich die Person des Herrn; Ihn
192
wieder zu haben machte sie so glücklich und erfüllte sie
mit Lob und Dank gegen Gott.
Die Liebe zum Herrn war es auch, die sie von der
Welt getrennt hielt und aufs innigste unter einander verband,
noch ehe die Einheit des Leibes geoffenbart war.
Der bittere Haß der Welt gegen Christum, der am Kreuze
seinen schrecklichen Ausdruck gefunden hatte, hatte ihnen
den wahren Zustand derselben in grellen Farben vor
Augen gemalt. Wie hätten sie noch in irgend welcher
Gemeinschaft mit einer Welt sein können, die den teuersten
Gegenstand ihrer Herzen haßte! Wie halten sie da Befriedigung
finden können, wo Er nicht war! Sie hatten
in der Tiefe ihrer Herzen die Wahrheit der Worte gefühlt:
„Er ist nicht hier" (Luk. 24, 6), und fortan
war nicht nur das Grab, wo der Herr gelegen hatte„
sondern auch die ganze Welt für sie eine Stätte des
Todes, eine öde Wüste. Unter der Frische des Eindrucks
stehend, den das Kreuz in dieser Beziehung auf sie gemacht
hatte, schlossen sie sich nur um so enger an einander
an. Ihre Gefühle standen zu denen der Welt im
schroffsten Gegensatz. Während diese darüber frohlockte, daß
sie Den aus ihrer Mitte entfernt hatte, dessen Gegenwart
sie nicht ertragen konnte, waren sie durch dieses Ereignis
in tiefste Trauer versenkt. Alle anderen Interessen traten
darüber in den Hintergrund; nur diese eine Thatsache nahm
alle ihre Gedanken und Unterhaltungen in Anspruch. Ganz
verwundert darüber, daß es noch jemanden geben könne,
der nicht wisse, was ihre Herzen bewegte, fragen sie den
Herrn: „Weilest du allein in Jerusalem und weißt nicht,
was in ihr geschehen ist in diesen Tagen?" (Luk. 24, 18.)
Durch die gemeinsamen Gefühle der Trauer und des
193
Schmerzes wurden die Jünger zu einander hingezogen;
Gefühle, welche die Welt nicht kannte, die aber ihre
Herzen brennend machten, als der vermeintliche Fremdling
diesen Gefühlen entsprechend mit ihnen redete.
Und sie fanden nichts Eiligeres zu thun, als nach
Jerusalem zurückzukehren und den übrigen Jüngern die
frohe Botschaft mitzuteilen, daß der Herr wirklich aufer-
ftanden sei und sich ihnen geoffenbart habe. Sie wußten
nur zu gut, welche Freude diese Botschaft Hervorrufen
würde. (Luk. 24, 32-35.)
Wie belehrend und zugleich beschämend für uns ist
dieser Zustand der Jünger im Vergleich zu dem allgemeinen
Zustand der Gläubigen heute! Während jene in
inniger Liebe mit einander verbunden und entschieden von
der Welt getrennt waren, sind heute die Gläubigen in
traurigster Weise von einander getrennt und mehr oder
weniger mit der Welt verbunden. Und dies ist um so
beschämender für uns, als jene bei weitem nicht das
hatten, was wir besitzen. Der Heilige Geist war noch nicht
gekommen und hatte sie noch nicht in die ganze Wahrheit
eingeführt. Ihre Erkenntnis war weit geringer als die
unsrige heute ist. Aber sie hatten ein ganzes Herz
für Christum, und gerade das war es, was das Band
unter ihnen so befestigte und sie zugleich von der Welt getrennt
hielt. Alle ihre Interessen vereinigten sich in der
Person des Herrn Jesu. Alle fühlten sich gleichmäßig
mit Ihm verworfen, und alle genossen gemeinsam die
Freude des Wiedersehens.
Je bitterer der Haß der Welt gegen Christum sich offenbarte,
um so enger scharten sich die Jünger um ihren geliebten
Herrn. Und je mehr heute Sein Name verunehrt wird.
194
um so mehr scharen sich alle, die Ihn aufrichtig lieben,
um Seine Person. Das Kreuz verkündigt noch heute
wie damals mit derselben lauten und mächtigen Sprache,
daß diese Erde mit dem Blute des Sohnes Gottes befleckt
ist. Und Gott vergißt nie, was die Welt an Seinem
Eingebornen gethan hat; wenngleich Jahrhunderte
darüber vergangen sind, so steht doch die That noch so
frisch vor Seinen Augen, als ob sie erst gestern geschehen
wäre. Und ebenso sieht Er auch jede Schmach und Verunehrung,
die Seinem Sohne gegenwärtig von der sogenannten
christlichen Welt widerfährt. Und wenn wir
das Kreuz mit denselben Augen betrachten, wie Gott es
betrachtet, so können wir nicht anders als entschlossen auf
der Seite des Herrn stehen und mit Ihm leiden. Das
Kreuz übt in dieser Beziehung eine Macht, einen unwiderstehlichen
Reiz aus auf einen jeden, der den Herrn wirklich
liebt und die Gemeinschaft mit Ihm allem andern
vorzieht. Wir sehen dies bei dem Apostel, wenn er sagt:
„Zu erkennen Ihn und die Kraft Seiner Auferstehung
und die Gemeinschaft Seiner Leiden, indem
ich Seinem Tode gleichgestaltet werde, ob ich auf irgend
eine Weise hingelangen möge zur Auferstehung aus den
Toten." (Phil. 3, 10. 11.) Sein einziges Ziel war,
mit dem Herrn in Gemeinschaft zu sein, hier durch Glauben,
noch lieber aber durch Schauen. Um dieses Ziel zu
erreichen, war ihm selbst sein Leben nicht zu teuer; und
er betrachtete es als ein Vorrecht, mit Christo zu leiden.
Aber es gab zu seiner Zeit schon viele, über die er mit
Weinen klagte, daß sie die Feinde des Kreuzes Christi
seien. (Phil. 3, 18.) Diese waren nicht bereit, mit
Christo zu leiden, sondern sannen auf das Irdische. Und
195
so war es selbstverständlich, daß der Apostel nicht mit
ihnen in Gemeinschaft sein konnte. Ihre Gefühle, Neigungen
und Wege standen in schroffem Gegensatz zu den seinigen.
Und wie viele giebt es heute, die sich Christen nennen,
aber trotzdem eine große Kreuzesscheu an den Tag legen!
Sie suchen nicht Christum, sondern verfolgen ihre eigenen
Interessen, und so durchkreuzen sich ihre Wege mit den
Wegen derer, welche den Herrn und Seine Ehre allein
begehren.
Wir haben gesehen, daß die Gemeinschaft des Herrn
mit den Seinigen, wie sie auf dieser Erde bestanden hatte,
nicht mehr fortgesetzt werden konnte; sie sollten jetzt mit
Ihm als dem Auferstandenen Gemeinschaft haben jenseit
des Todes. „Er ist nicht hier, sondern ist auf-
erftanden." Das sind wichtige, bedeutungsvolle Worte.
Je lebendiger unsre Gemeinschaft mit dem Herrn ist, um
so mehr wird uns diese Welt als eine Wüste erscheinen,
aber um so mehr werden wir auch die Freude und Kraft
Seiner Auferstehung erfahren. Im Bewußtsein dieser
Thatsache rief auch der Apostel dem Timotheus zu:
„Halte im Gedächtnis Jesum Christum, auferweckt aus
den Toten, aus dem Samen Davids, nach meinem Evangelium,
in welchem ich Trübsal leide bis zu Banden, wie
ein Uebelthäter." (2. Tim. 2, 8. 9.) Wie bei den
Jüngern, so war auch bei dem Apostel die Freude groß
im Blick auf den Auferstandenen. Aus der Gemeinschaft
mit Ihm schöpfte er seinen Mut und seine Kraft; er
war entschlossen, mit Ihm zu leiden. Aber diese Gemeinschaft
mit Ihm ist unmöglich, wenn unsre Herzen in
der Welt sind.
Der Tod Christi hat eine ewige Grenze gezogen.
196
zwischen uns und der Welt, gerade so wie einst das Rote
Meer Israel für immer von Egypten trennte. Das sollte
für jeden wahren Christen genug sein, um die Grundsätze
und selbst die Religiosität dieser Welt zu fliehen, und in
Gemeinschaft mit Christo, dem Auferstandenen, zu wandeln
jenseit des Todes. Wenn wir allsonntäglich am
Tische des Herrn zusammenkommen, um dort das Gedächtnis
Seines Todes zu feiern, so schließt diese Feier
ohne Zweifel die beständige Erinnerung an unsre Trennung
von der Welt in sich, gleichwie Israel das Passah
zur beständigen Erinnerung an seinen Auszug aus Egypten
feiern mußte. „Und es sei dir zum Zeichen an deiner
Hand und zum Denkmal zwischen deinen Augen, damit
das Gesetz Jehovas in deinem Munde sei; denn mit
starker Hand hat dich Jehova herausgeführt aus
Egypten." (2. Mose 13, 9.)
Möchten deshalb auch wir, getrennt von dieser Welt,
unsern Platz stets da einnehmen, wo Er ist! „Er ist nicht
hier, sondern ist auferstanden'"
Gedanken.
Wir thun einen verkehrten Tritt auf unserm Wege
und geraten infolge dessen in eine drückende Lage; und dann,
anstatt uns unter die Hand Gottes zu beugen und in Demut
mit Ihm zu wandeln, werden wir ärgerlich und widerspenstig.
Wir hadern mit den Umständen, anstatt uns
selbst zu richten, und suchen eigenwillig den Umständen zu
entrinnen, anstatt sie als die gerechte und notwendige Folge
unsers Verhaltens aus der Hand Gottes anzunehmen.
Unabhängigkeit und Ungehorsam gehen stets Hand
in Hand.
„Ich halte es für recht, so lange ich in
dieser Hütte bin, euch durch Erinnerung
aufzuwecken."(Fortsetzung.)
Viele Tausende der Erlösten sind in unsern Tagen
zu der Wahrheit, „wie sie insdem Jesus ist", zurückgekehrt,
und haben dem Worte gemäß ihren Platz vor dem Herrn
eingenommen; allein obschon ihrer so viele sind, ist es
doch nur ein kleiner Teil der Versammlung Gottes. Zu
dieser gehören, wie schon wiederholt bemerkt, alle Erlösten
auf der Erde; alle sind mit derselben Liebe geliebt. Alle
sind Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte, alle Kinder
und Erben Gottes, Miterben Christi und Glieder Seines
Leibes; aber auch alle sind für die ihnen zu teil gewordene
Gnade und für das ihnen anvertraute Gut verantwortlich.
„Jedem," sagt der Herr, „dem viel gegeben ist — viel
wird von ihm verlangt werden; und dem man viel anvertraut
hat, von dem wird man desto mehr fordern."
(Luk. 12, 48.) Das ist ein unveränderlicher göttlicher
Grundsatz, sowohl im Blick auf die Belohnung der
Gläubigen, als auch hinsichtlich der Beurteilung und Bestrafung
der Ungläubigen. Wer den Willen des Herrn
gekannt, aber nicht nach diesem Willen gethan hat, wird
mit vielen Schlägen geschlagen werden. (Luk. 12, 47.)
Ueber Sodom, Tyrus und Sidon, diese gottlosen Städte,
198
wird ein erträglicheres Gericht ergehen als über Chorazin,
Bethsaida und Kapernaum, weil der Herr in den letztgenannten
Städten so viel gepredigt und so viele Wunderwerke
gethan hatte. (Matth. 11, 20—24.) Wenn dem also
ist, wie groß muß dann die Verantwortlichkeit sein, die auf
uns ruht, denen so viel anvertraut worden ist! Der Herr gebe
uns allen ein tiefes Gefühl darüber! Wo das Bewußtsein
dieser Verantwortlichkeit lebendig ist, da wird viel Flehen
zum Herrn emporsteigen; das Auge wird Hinblicken auf Ihn,
den Anfänger und Vollender des Glaubens, und das
Herz von Ihm zu lernen begehren, dessen Speise es hie-
nieden war, den Willen Seines Vaters in allem zu erfüllen.
Alle unsre Quellen sind in Ihm, und der Apostel
ermahnt uns: „Seid stark in dem Herrn und in der
Macht Seiner Stärke." (Eph. 6, 10.) Außer Ihm vermögen
wir nichts zu thun, alle unsre Anstrengungen sind
nutzlos. Aber in Ihm empfangen wir immer neue Kraft,
so daß wir laufen und nicht ermatten, gehen und nicht
ermüden. (Jes. 40, 31.) Ja wahrlich, „glückselig der
Mensch, dessen Stärke in Dir ist, in deren Herzen gebahnte
Wege sind!... Sie gehen von Kraft zuKraft."
(Pf. 84.)-
Bilden wir auch nur einen kleinen Teil der Versammlung
Gottes, so haben wir uns doch ebenso zu verhalten und
mit gleicher Treue die an dieselbe gerichteten Ermahnungen
zu befolgen, wie die Gläubigen im Anfang. Der Herr sagt:
„Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten",
mein ganzes Wort, nicht nur einzelne Gebote. Zeiten
und Umstände mögen sich verändert haben, nicht aber Sein
Wort, noch auch unsre Verantwortlichkeit, diesem Worte
in allem zu folgen und uns mit Einfalt und Demut
199
unter seine Autorität zu beugen. Wir sind in Christo,
sind Seines Lebens und Geistes teilhaftig geworden, und
deshalb geziemt eS uns auch, gesinnt zu sein, wie Er gesinnt
war, zu wandeln, wie Er gewandelt hat. In unzähligen
Stellen der Schrift werden wir im Blick auf alle unsre
Beziehungen hienieden zu einer lautern Gesinnung und zu
einem würdigen Wandel ermahnt, und dies bezeugt uns,
welch einen hohen Wert der Herr daraus legt, wenn wir
Seinem Worte in allem treu folgen. Welch einen Undank
gegen Seine unvergleichliche Liebe verrät es auch, wenn
jemand das Wort des Herrn vernachlässigt und durch
einen leichtfertigen, unlauter» Wandel Seinem Namen
Schande macht! Ein ungehorsamer, undankbarer Sohn
ist eine traurige, betrübende Erscheinung; ein ungehorsamer,
undankbarer Christ ist es in demselben Maße mehr, als
die Liebe des Herrn und die Liebe Gottes die Liebe der
Eltern übertreffen.
Ein solcher Christ wird wahrlich auch keine Liebe
Zu seinen Brüdern offenbaren. Denn „hieran wissen wir,
daß wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott
lieben undSeineGebote halten." (1. Joh. 5,2.)
Ach, wie arm und öde ist ein solches Leben! Keine Liebe
zu Gott, keine Liebe zu den Brüdern! Und doch werden
wir im Worte Gottes so oft zur brüderlichen Liebe ermahnt
— zu einer Liebe, „nicht in Worten, sondern in
That und Wahrheit". (1. Joh. 3, 18.) Der Herr sagte
an dem letzten Abend vor Seinem Leiden zu Seinen
Jüngern: „Dies ist mein Gebot, daß ihr einander liebet,
gleichwie ich euch geliebt habe." Seine Liebe
zu uns ist das Muster und das Maß unsrer Liebe zueinander.
In 1. Kor. 13, 4—7 wird uns der Charakter
200
dieser Liebe und die Art und Weise, wie sie sich offenbart,
einfach und klar vor Augen gestellt: „Die Liebe ist langmütig,
ist gütig; die Liebe neidet nicht; die Liebe thut
nicht groß, sie bläht sich nicht auf, sie gebärdet sich nicht
unanständig, sie sucht nicht das Ihrige, sie läßt sich nicht
erbittern; sie rechnet Böses nicht zu, sie freut sich nicht
der Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit
; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie
erduldet alles."
Das ist die Liebe, welche Gott anerkennt, denn Er
ist ihre Quelle. Wie schön und lieblich sind alle ihre
Eigenschaften! Jede einzelne enthält eine Fülle von Gedanken
und Belehrungen für ein aufmerksames Ohr und
ein lernbegieriges Herz. Wenn wir in diesen reinen
Spiegel hineinschauen — und wir sollten es jeden Tag
thun — so giebt es ohne Zweifel vieles zu verurteilen,
vieles zu bekennen. Jedes einzelne Wort wird zu einem
Finger, der mit zartem Vorwurf auf dieses oder jenes
Vorkommnis in unserm Leben hinweist, zugleich aber auch
das Herz mit Bewunderung und Anbetung auf Den hinlenkt,
dessen Leben ein einziges herrliches Beispiel dieser
Liebe war; und tief im Innern der Seele wird das Begehren
immer mächtiger, diesem Beispiel nachzueifern, und
das Sehnen stärker, da zu sein, „wo alles Liebe ist".
Ist die Liebe in uns wirksam, so sind wir auch
fähig, einander die Füße zu waschen, so wie unser Herr
und Meister sie uns wäscht. In Joh. 13, 1 lesen wir:
„Da Er die Seinigen, die in der Welt waren, geliebt
hatte, liebte Er sie bis ans Ende"; und in unmittelbarer
Verbindung damit wird uns erzählt, wie Er
sich umgürtete, Wasser nahm und sich zu den Füßen
201
Seiner Jünger niederbeugte, um den daran haftenden
Schmutz zu entfernen. Anbetungswürdiger Heiland! Er
beschäftigt sich, nachdem Er uns durch Sein kostbares
Blut von allen Sünden vor Gott gereinigt hat, mit unsern
Verunreinigungen auf dem Wege und sucht sie zu entfernen,
damit wir praktisch rein seien und Teil mit
Ihm haben können, da wo Er ist.
Wahrlich, zu solch einem Dienste ist Liebe nötig,
eine Liebe bis ans Ende, so lange noch eines der
Seinigen hienieden den Verunreinigungen der Wüste ausgesetzt
ist. Und diesen Dienst übt unser teurer Herr aus,
trotzdem Er zu Gott hingegangen ist, und der Vater Ihm
alles in Seine Hände gegeben hat. Trotz Seiner Verherrlichung
und Erhöhung hat Er nicht aufgehört, der
Diener der Seinigen zu sein, und Er will nicht aufhören.
Wenn nun Er, „der Herr und der Lehrer", diesen Dienst
an uns vollzieht, wie steht es dann mit uns? Wir sind
schuldig, dasselbe zu thun, d. h. einander die Füße
zu waschen, für einander in selbstvergessender Liebe thätig
zu sein, dem andern wieder zurecht zu helfen, wenn er
sich verirrt hat, ihm behülflich zu sein, daß die Sünde,
die ihm Ruhe und Frieden geraubt hat, von ihm entdeckt
und gerichtet werde. Dazu ist aber, wie gesagt, Liebe,
viel Liebe nötig, Liebe zum Herrn und Liebe zu den
Seinigen.
Sind dir dies unbekannte Dinge, mein lieber Leser?
Nein, du kennst sie; du bist in der gegenwärtigen Wahrheit
befestigt. Aber vielleicht hast du sie in etwa vergessen.
Laß dich denn in Liebe daran erinnern und höre
das Wort des Herrn: „Wenn ihr dies wisset, glückselig
seid ihr, wenn ihr es thut." (Joh. 13, 17.) Laß uns
202
stets im Gedächtnis behalten, daß wir schuldig sind,
einander die Füße zu waschen, ja selbst schuldig, für
die Brüder das Leben zu lassen. (1. Joh. 3,16.) Geliebte!
wie viel haben wir in der Vergangenheit, wie viel heute
von dieser Schuld abgetragen? Unsre Herzen und Gewissen
mögen antworten.
In unmittelbarer Verbindung mit dem Gesagten
stehen auch die Ermahnungen des Apostels an unS, einer
des andern Lasten zu tragen, einander unterwürfig zu
sein in der Furcht Christi, und in Demut einer den andern
höher zu achten als sich selbst. (Gal. 6, 2; Eph. 5, 21;
Phil. 2, 3.) Alles das ist schnurstracks unsrer alten
Natur zuwider, die weder gern freiwillig eine Last auf
sich nimmt, noch es liebt, dem andern unterwürfig zu
sein oder ihn höher zu achten als sich selbst.
„Bin ich meines Bruders Hüter?" (1. Mose 4, 9.) —
„Laßt es euch genug sein; denn die ganze Gemeinde, sie
allesamt sind heilig, und Jehova ist in ihrer Mitte! Und
warum erhebet ihr euch über die Versammlung Jehovas?"
(4. Mose 16, 3.) — „Hat Jehova nur mit Mose allein geredet
? hat Er nicht auch mit unS geredet?" (4. Mose 12,2.)
Das sind einige der häßlichen Ausbrüche der ungerichteten
Natur, des ungebrochenen Willens, des Hochmuts und
der Eigenliebe des menschlichen Herzens. Der Mensch
will sich nicht kümmern um das Wohl seines Bruders;
sein eigenes Ich und seine eigenen Interessen find der
Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Er will nicht
dem andern unterworfen sein, noch den bevorzugten Platz,
den Gott diesem vielleicht gegeben hat, anerkennen. Er
will selbst im Vordergründe stehen und frei und unabhängig
sein.
203
Vergessen wir nicht, Geliebte, daß diese verabscheuungswürdige
Natur in uns allen ist und in ihrer ganzen Häßlichkeit
hervortritt, wenn wir nicht wachsam sind und sie
im Tode halten. Sind nicht auch in unsrer Mitte hie
und da schon Aeußerungen gehört worden, wie die folgenden:
„Ich habe genug mit mir selbst zu thun; ich
kann mich nicht um andere kümmern!" oder: „Was maßt
der oder der sich eigentlich an?" oder: „Das brauche ich
mir nicht gefallen zu lassen; bin ich nicht dasselbe wie
er?" u. s. w. Ach, der Herr gebe uns Gnade in diesen
Tagen, wo der Geist der Unabhängigkeit und der Empörung,
die Sucht nach Freiheit und Gleichheit so schrecklich wirksam
ist in den Söhnen des Ungehorsams, von Ihm zu
lernen, der sanftmütig und von Herzen demütig war!
Nur so werden wir imstande sein, Ihn zu verherrlichen
und unsern Geschwistern in Wahrheit zu dienen. Nur so
werden Selbstsucht, Neid und Eifersucht keinen Anknüpfungspunkt
bei uns finden. Der Apostel konnte den Thessalonichern
zurufen: „Was aber die Bruderliebe betrifft,
so habt ihr nicht nötig, daß wir euch schreiben, denn ihr
selbst seid von Gott gelehrt, einander zu lieben; denn
das thut ihr auch gegen alle Brüder, die in ganz Mace-
donien sind." (1. Thess. 4, 9. 10.) Und im 2. Briefe
konnte er ihnen das schöne Zengnis geben, daß „die Liebe
jedes einzelnen von ihnen allen gegen einander überströmend
sei". (2. Thess. 1, 3.) Würde er auch uns
dieses schöne Zeugnis geben können? Ich glaube kaum.
Und warum nicht? Weil der Herr nicht mehr der erste
Gegenstand aller Herzen ist. Die Liebe zum Herrn und
die Liebe zu den Brüdern stehen in Wechselwirkung zu
einander. Erkaltet die Liebe zum Herrn im Herzen, so
204
erkaltet auch die Liebe zu den Brüdern. Man wird gleichgültig
gegen andere, während man sich selbst leicht verletzt
und gekränkt fühlt und darüber klagt, daß andere so
wenig Liebe beweisen. Das ist sicher ein trauriger Zustand,
und wer darin gefunden wird, hat praktisch aufgehört,
ein Jünger des Herrn zu sein.
In Eph. 4, 15. 16 werden wir ermahnt: „Die
Wahrheit festhaltend in Liebe, laßt uns heranwachsen in
allem, zu Ihm hin, der das Haupt ist, der Christus, aus
welchem der ganze Leib, wohl zusammengefügt und verbunden
durch jedes Gelenk der Darreichung, nach der
Wirksamkeit in dem Maße eines jeden einzelnen Teiles,
für sich das Wachstum des Leibes bewirkt zu seiner
Selbstauferbauung in Liebe." Liebe und Wahrheit finden
wir in Christo vollkommen vereinigt und ausgedrückt. Er
ist in Seiner ganzen Fülle geoffenbart worden, und dieser
Offenbarung entsprechend sollen alle Glieder des Leibes
immer mehr zu Seiner Aehnlichkeit heranwachsen. Und
wie geschieht dies? Indem wir die Wahrheit festhalten in
Liebe, indem ein jedes Glied erfüllt wird mit den Reichtümern
eines wohlgekannten Christus, statt hin- und hergeworfen
zu werden von jedem Winde der Lehre, die vom
Feinde hervorgebracht wird, um die Seelen zu verführen.
Als Glieder des Leibes Christi sind wir aufs Engste
mit einander vereinigt; aus Ihm ist der ganze Leib wohl
zusammengefügt und verbunden, und durch die Wirksamkeit
Seiner Gnade in jedem Gliede wächst derselbe und
bewirkt so seine Selbstauferbauung in Liebe. Jedes Glied
hat den Zweck, dem ganzen Leibe in irgend einer Weise
nützlich zu sein; ja, alle sind innig mit einander verbunden
und von einander abhängig, wie die Glieder unsers
205
eigenen Leibes. Deshalb sagt der Apostel in 1. Kor. 12:
„Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; oder
wenn ein Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle
Glieder mit." Keines kann zu dem andern sagen: „Ich
bedarf deiner nicht." „Das Auge kann nicht zu der
Hand sagen: Ich bedarf deiner nicht; oder wiederum das
Haupt zu den Füßen: Ich bedarf euer nicht." (V. 21.)
Wir bedürfen einander, bis wir alle hingelangen zu
dem vollen Wüchse der Fülle des Christus. Leider
wird diese Einheit nur sehr wenig verwirklicht, und
infolge der traurigen Zersplitterung unter den Gläubigen
und des vielfachen Mangels an Liebe und Unterwürfigkeit
unter das Wort wird es selbst denen, die jene
Einheit zu verwirklichen begehren, sehr schwer, ja oft unmöglich
gemacht, dem Leibe in der von dem Herrn gewünschten
Weise zu dienen und den einzelnen Gliedern
wahrhaft nützlich zu sein.
Unsre persönliche Untreue ist ein weiteres
ernstes Hindernis für die Pflege und Auferbauung des
Leibes Christi. Manches, manches könnte und sollte bei
uns anders sein. Wie oft fehlen wir in der rechten Ausfüllung
des Platzes, den der Herr uns gegeben hat! Wie
vielfach mangelt es an der selbstverleugnenden Hingebung
und unermüdlichen Treue! Möchten wir alle es erkennen!
Wie gut, daß der Herr trotz allem treu bleibt und in
Seiner Gnade und Liebe nicht ermüdet, Seine Glieder
zu pflegen und heranwachsen zu lassen! Er kann sie nie
versäumen, nie vergessen. Unsre Untreue, so beklagenswert
und unentschuldbar sie ist, giebt Seiner Treue nur
Gelegenheit, sich zu verherrlichen. (Schluß folgt.)
206
„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe."(Hohel. 1, 13—17.)
„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe, das
zwischen meinensBrüstenruht." (V. 13.) Wenn das Wagenroß
den Gedanken an einen bereitwilligen Dienst erweckt,
und die Narde das Symbol göttlicher Anbetung
ist, könnte dann nicht das „Bündel Myrrhe" das Sinnbild
eines täglichen und stündlichen Zeugnisses für Christum
sein? Und was wäre als Folge einer tiefen und ununterbrochenen
Gemeinschaft mit dem Herrn natürlicher als
ein solches Zeugnis? Wird nicht das Herz in solch
glücklichen Zeiten zum Zeugnis gestärkt? All unser Dienst
wird kraft- und wirkungslos werden, sobald die persönliche
Gemeinschaft mit dem Herrn vernachlässigt wird.
Wie kam es, daß David im Terebinthenthal einen solchen
Heldenmut offenbarte? (1. Sam. 17.) War es die
rasche Handlungsweise jugendlicher Unerfahrenheit? Nein,
durchaus nicht! Sein Glaube hatte sich durch eine verborgene
Gemeinschaft mit dem Herrn zu den Gedanken
aufgeschwungen, die Gott über Sein Volk hatte. Daher
seine Tapferkeit, als er an die Oeffentlichkeit trat. „Gepriesen
sei Jehova, mein Fels, der meine Hände unterweiset
zum Kampf, meine Finger zum Kriege!" konnte er singen.
(Psalm 144, 1.)
Auch wir werden durch unsern hochgelobten Herrn
in Joh. 7, 37 über dieselbe Wahrheit belehrt: „An dem
letzten, dem großen Tage des Festes aber stand Jesus
und rief und sprach: Wenn jemanden dürstet, so komme
er zu mir und trinke." Umsonst werden wir suchen.
207
die Werkzeuge zur Stärkung und Erquickung anderer zu
werden, wenn wir nicht selbst täglich und reichlich an der
Hauptquelle trinken. Jedes neue Zeugnis für Christum
sollte das Ergebnis neuer Gemeinschaft mit Ihm sein.
O wie notwendig ist es für die Diener des Herrn, sich
hieran stets zu erinnern! Vergiß es nicht, meine Seele,
sondern wie einst Mose im Lande Midian, so setze auch
du dich nieder an der Quelle — der Quelle des lebendigen
Wassers. „Und ersaß an einem Brunnen." (2. Mose 2,15.)
So nahe bei dem Brunnen, war Mose in der Lage, den
sieben Töchtern des Priesters von Midian behülflich zu
sein und ihre Herden zu tränken. Dieses liebliche Bild
mag vielleicht mehr anwendbar sein auf Christum, wie Er
der Braut die Quellen Seiner erlösenden Liebe öffnet;
sicherlich aber ist es auch eine sehr belehrende Unterweisung
für den Evangelisten. Möchten wir in unsern Herzen
allezeit der Quele des Lebens so nahe sein, daß wir ein
Kanal lebendigen Wassers auch für andere werden können!
Das Herz der Braut, gleich dem Weibe am Jakobsbrunnen
in späteren Tagen, strömt über. Sie muß die
Herrlichkeit des Namens ihres Erlösers ausrufen und
andern mitteilen. Ihr Geliebter ist ihrem Herzen teurer
als ein Bündel kostbarer Myrrhe dem Kaufmann. „Mein
Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe." Das ist die gesegnete
Frucht des Naheseins und der Gemeinschaft mit
Ihm. Beachte auch, mein Leser, die tiefe Zuneigung, die
Er in dem Herzen erzeugt. Die Braut kann in Wahrheit
sagen: „mein Geliebter." Glückliche, gesegnete Braut!
„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe, das zwischen
meinen Brüsten ruht." Dort, so nahe wie möglich ihrem
Herzen, birgt sie ihre süßduftende Myrrhe. Und nun,
208
wohin sie sich auch wenden mag, überall verbreitet sie den
herrlichen Wohlgeruch ihres kostbaren Schatzes.
Ein Bündel Myrrhe, im Busen getragen, durchduftet
die ganzen Kleider und verbreitet seinen Wohlgeruch nach
allen Seiten hin, sei es daheim oder draußen, bei der
Arbeit oder bei der Ruhe, im Heiligtum oder im gesellschaftlichen
Kreise; still, aber sicher, erfüllt der balsamische
Duft des Gewürzes die ganze Umgebung. Und selbst wenn
die Person sich entfernt hat, bleibt doch der Duft zurück,
als ein Zeugnis von dem Werte Dessen, der ihrem Herzen
am nächsten ist. Herrliches Vorbild! Bist du auch deinem
Jesus so treu, mein lieber Leser? Ist Er tief im Innern
deines Herzens verborgen? und begleitet dich der süße
Wohlgeruch Seines Namens, wohin du auch gehen magst?
und bleibt er zurück, selbst nachdem du weggegangen bist?
Das sind herzerforschende Fragen. „Handelt damit, bis
ich komme", so lauteten die Abschiedsworte des verworfenen
Jesus an Seine Jünger; und über die Denkzeichen
Seiner sterbenden Liebe hat Er in wunderbarer
Gnade geschrieben: „Dieses thut zu meinem Gedächtnis."
Er hat nicht von uns verlangt, irgend etwas Großes für
Ihn zu thun, oder irgend ein Opfer von hohem Werte
auf Seinen Altar zu legen. Nein, was Er wünscht, ist,
daß wir während Seiner Abwesenheit stets Seiner eingedenk
seien als des hienieden verworfenen Christus, und daß
wir Ihm einen Platz in unsern Herzen einräumen. „Gedenket
meiner", das war Seine letzte Bitte; bringet alles
in euren Herzen zu mir in Beziehung. — Haben wir das
gethan? Thun wir es jetzt? Hat die Braut des Lammes
Ihm diesen Platz in ihrem Busen gegeben und Ihn dort
verborgen während der langen, finstern Nacht Seiner
209
Abwesenheit? Ach, ach! die Wünsche Seiner Liebe sind
in Vergessenheit geraten! Nebenbuhler sind eingelassen
worden; und schmerzlich ist es. Ihn draußen zu finden,
wie Er in Seiner unermüdlichen Liebe an die Thür klopft,
bis (um mit der bildlichen Sprache des Hohenliedes zu
reden) „Sein Haupt voll Tau ist und Seine Locken voll
Tropfen der Nacht". (Kap. 5, 2.) „Aber die Nacht ist weit
vorgerückt, und der Tag ist nahe." Ja, der glückliche Tag
naht heran, an welchem, auf Grund Seiner langmütigen
Gnade, die Liebe Seines himmlischen und irdischen Volkes
Seiner eigenen Liebe vollkommen entsprechen wird.
„Eine Cypertraube *) ist mir mein Geliebter, in den
Weinbergen von Engedi." (V. 14.) Das Bündel Myrrhe
wird vor den Blicken im Busen verborgen; aber die Cyper--
traube ist ein Gegenstand für das Auge, sie wird offen
in der Hand getragen. Die Myrrhe ist der Lebenssaft
des arabischen Balsambaumes, welcher durch die geborstenen
Teile der Rinde hervortröpfelt, ähnlich wie das Blut aus
den Adern oder die Thränen aus dem Auge. Die Cyper-
trauben wachsen in dichten Büscheln und sind ebenso schön
wie wohlriechend. „Daß der Christus durch den Glauben
in euren Herzen wohne", war das Gebet des Apostels.
Zugleich sollen wir „allezeit das Sterben Jesu am Leibe
umhertragen, auf daß auch das Leben Jesu an unserm
Leibe offenbar werde". (2. Kor. 4, 10.)
Wie verschieden sind die Gedanken, die durch einen
Baum erweckt werden, der in voller Blüte steht, von denen,
die ein verwundeter Baum hervorruft, dessen Lebenssaft
gleichsam aus seinen Adern fließt! Der eine ist das Bild
der Lebenskraft, der andere das Bild des Todes. Die
*) Der traubenförmige Blumenbüschel der Cyperpflanze.
210
zarte Knospe, die ihren Weg durch den harten Bast des
Winters findet, ist immer ein treffendes und interessantes
Bild von der Auferstehung; die Blüten und Früchte
find die Offenbarungen der Kraft des Lebens und der
reichen Segnungen für den Menschen. Das winzige Samenkorn,
welches dem Boden anvertraut und mit Erdschollen
bedeckt wird, mag eine Zeit lang hoffnungslos verloren
scheinen; aber wenn die warme Frühlingssonne
kommt, so wird bald durch die in dem Körnlein schlummernde
Lebenskraft jedes Hindernis überwunden, das
zarte Blatt erscheint, und in kurzer Zeit wogt die goldene
Aehre triumphierend im Winde.
Wie lieblich sind alle diese Dinge! und noch Herrlicheres
finden wir in dem Stabe Aarons vorgebildet, der
durch die Wirkung der Gnade Gottes sproßte und Blüten
trieb. (4. Mose 17.) In einer Nacht brachte der dürre
Stab, ein Stück totes Holz, Knospen, Blüten und Früchte
hervor. Herrliches Vorbild von einem auferstandenen
Christus, der in der Auferstehung Frucht bringt! Hier
lernen wir in Vorbildern und Schatten, daß wir eines
auserstandenen Jesus bedürfen, als unsers großen Hohenpriesters,
um uns durch die Wüste in das Land Kanaan
zu führen. Die Gnade herrscht in dem Priestertum und
errettet das Volk. Nichts weniger als der priesterliche
Dienst Jesu kann unsern Bedürfnissen begegnen. Er, der
starb, um uns rein zu machen, lebt jetzt, um uns rein
Zu erhalten. Er ist alles: unser Opfer, unser Priester
und unser Sachwalter bei dem Vater. Das Blut der
Versöhnung und das Wasser der Reinigung floß zugleich
aus der geöffneten Seite Jesu hervor.
Wie lieblich für das Auge und duftend für das Herz
211
ist unser auferstandener, erhöhter und verherrlichter Herr.
Seine Person, Sein Dienst, Seine Beziehungen zu uns
sind von unendlicher Kostbarkeit, und sie bleiben immer
dieselben. „Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet
vor Zehntausenden, . . . alles an Ihm ist lieblich."
(Kap. 5.) „Denn in Ihm wohnt die ganze Fülle der
Gottheit leibhaftig." (Kol. 2, 9.) Die Fülle der Gnade
und Herrlichkeit wohnt in Ihm. „Wenn ihr nun mit dem
Christus auferweckt worden seid, so suchet, was droben
ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet
auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde
ist." (Kol. 3, 1. 2.) O welche Bündel und Trauben
von anziehenden Eigenschaften finden wir hier! Hätten
wir nur Augen, sie zu sehen und Herzen, sie zu verstehen l
Die Weingärten von Engedi waren berühmt wegen
ihrer reichen Früchte und köstlichen Gewürze. Was schön
für das Auge, lieblich für den Geschmack und angenehm
für die Sinne ist, konnte man dort in Uebersluß finden.
Berühmt waren diese Gegenden außerdem dadurch, daß
David mit seinen Getreuen dort einen Bergungsort fand,
als er von Saul verfolgt wurde. (1. Sam. 24, 1—4.)
Die fruchtbaren Thäler und die Festen in den umliegenden
Bergen gewährten dem Gesalbten Gottes und seinen Gefährten
Schutz, Nahrung und Erfrischung.
Und doch, wie schwach und unvollkommen ist das
Bild, das alle die guten und kostbaren Dinge dieser Erde
von den unermeßlichen Reichtümern Christi zu geben vermögen!
Aller Ueberfluß kommt von Ihm. Nichts ist
reich, das Er nicht reich gemacht, nichts süß, das Er
nicht süß, nichts voll, das Er nicht voll gemacht hätte;
und doch ist alles, was wir jetzt von Seiner Fülle kennen,
212
nur wie ein Tropfen gegenüber dem Ozean. Alles Gute
kommt von oben, und alles redet von Ihm. Das wirklich
Gute, das in dem Geschöpf gefunden wird, erinnert nur
an Ihn, in welchem alle Vollkommenheit ihren Mittelpunkt
findet, an Ihn, den Menschen Christus Jesus — Gott
mit uns. Wandeln wir umher im Felde oder im Garten,
im Thale oder auf den Bergen, bewegen wir unS
in unserm gewöhnlichen täglichen Wirkungskreise, möchte
dann jeder zweite Gedanke Ihn zum Gegenstände haben,
den „geliebten" abwesenden Herrn! Die blutende Myrrhe
und die blühende Cypertraube mögen uns wohl das Kreuz
und die Herrlichkeit in Erinnerung rufen und uns anleiten.
Dessen zu gedenken, „der unsrer Uebertretungen wegen
dahingegeben und unsrer Rechtfertigung wegen auferweckt
worden ist". (Röm. 4, 25.)
Kein Holz hat je solche Frucht getragen für Gott
und den Menschen, wie das Kreuz auf Golgatha. Dort
wurde die Frage der Sünde geordnet, entsprechend den
Forderungen der Herrlichkeit Gottes; und dort wurde zugleich
der Feind überwunden und seine ganze Kraft völlig
vernichtet. Das Kreuz ist die Grundlage unsrer Vergebung,
unsers Friedens, unsrer Versöhnung, unsrer Annahme,
ja aller Segnungen für Zeit und Ewigkeit. Dort
hat Gott sich geoffenbart in vollkommner Liebe und voll-
kommner Gerechtigkeit; als Den, der die Sünde haßt, aber
den Sünder liebt. Die Liebe triumphierte in dem Kreuze;
doch Heiligkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit wurden entfaltet
und verherrlicht. Auf diesem festen Boden empfängt
der größte Sünder völlige und freie Vergebung in demselben
Augenblick, da er an Christum glaubt; die Vergebung ist
so vollkommen wie das Werk des Kreuzes selbst. Dort
213
wurden die Sünden hinweggethan, die Sünde gerichtet,
so daß der Gläubige jetzt sowohl im Blick auf die vielen
Sünden seines Lebens als auch auf die in ihm wohnende
Sünde völlig ruhig sein und in heiligem Triumpfe ausrufen
kann: „Er wurde unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben."
Wo sind dieselben geblieben? Hinweggethan
— für immer dahin! Er, der für unsre Sünden starb,
ist „aus den Toten auferweckt worden durch die Herrlichkeit
des Vaters", und damit ist die Frage der Sünde
für ewig geordnet. „Er ist unsrer Rechtfertigung wegen
auferweckt worden." Der auferstandene Jesus ist Gottes
eigener Zeuge, daß der Gläubige gerechtfertigt ist. Das
Werk ist vollbracht. Christus ist auferstanden; und die
Folgen des Glaubens sind jene vielen duftenden Trauben
des reichsten Segens für die Seele. „Da wir nun gerechtfertigt
worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden
mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum, durch
welchen wir mittelst des Glaubens auch Zugang haben
zu dieser Gnade, in welcher wir stehen, und rühmen uns
in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes. .... Nicht
allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes
durch unsern Herrn Jesum Christum, durch welchen wir
jetzt die Versöhnung empfangen haben." (Röm. 5,
1-11.)
„Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist
schön, deine Augen sind Tauben." (V. 15.) Was ist es,
so möchte der eine oder andere Leser fragen, das ein durch
die Sünde beflecktes und entstelltes Geschöpf in den Augen
Jesu schön machen kann? Wo, wann und wie kann es
gefunden werden? Nichts anderes ist ja nötig, um den
214
Freudenbecher der Seele zum Ueberfließen zu füllen! Was
sind alle Reichtümer, Würden und Herrlichkeiten dieser
Welt im Vergleich mit solchen Worten von Seinen Lippen:
„Siehe, du bist schön, meine Freundin!" ? — Das Evangelium
der Gnade Gottes, mein Freund, giebt dir Antwort auf
jene Fragen. Siehe, wenn eine Seele zu Jesu gezogen
wird, so wird sie von Ihm ausgenommen und in das
Licht der Gegenwart Gottes, in den vollen Wert Seines
vollendeten Werkes und in die unvergleichliche Schönheit
Seiner anbetungswürdigen Person versetzt. Das ist Gnade,
die Gnade Gottes im Evangelium Seines Sohnes für
einen jeden, der da glaubt. „Von allem, wovon ihr im
Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, wird
in diesem (Jesus) jeder Glaubende gerechtfertigt."
(Apstgsch. 13, 39.) Und a l l e, die da glauben,
sind „begnadigt (oder angenehm gemacht) in dem Geliebten",
auf Grund des am Kreuze vollbrachten Werkes. (Eph. 1.2.)
Sein kostbares Blut reinigt uns von aller Sünde.
(1. Joh. 1.) Darum wie „schön"! Die Schönheit der
Engel wird vollkommen sein nach ihrer Art und Ordnung,
aber der aus Gnaden errettete Sünder wird strahlen in
der Schönheit des Herrn selbst für immer und ewig.
Viele halten alles dieses für wahr, und doch fragen
sie zitternd: Kann solch ein Platz, kann solch ein Segen
je mein Teil sein? „Glaube an den Herrn Jesum, und
du wirst errettet werden", ist die Antwort des Himmels
einem jeden zitternden Sünder gegenüber. Ja, so lautet
die himmlische Botschaft der vollkommnen Gnade für
alle, die da fragen: „Was muß ich thun, daß ich errettet
werde?" Glaube an Jesum, vertraue aus Ihn, so unrein
und verderbt du auch sein magst, und schneller als deine
215
Gedanken ihren Gegenstand wechseln können, bist du „schön"
in Seinen Augen. „Glaube nur"; das Werk ist vollbracht,
vor langer, langer Zeit. O vertraue nicht auf
deine eignen „toten Werke". Das Evangelium ist zu
einfach, um einer Erklärung zu bedürfen. Es ist eine
Botschaft, die geglaubt, eine Einladung, die angenommen
werden muß; eine Stimme der Liebe, die dich eindringlich
bittet, dich mit Gott versöhnen zu lassen, eine Ankündigung
der Vergebung und des Friedens durch Jesum Christum.
(Apstgsch. 10, 36; 13, 38. 39.) Beachte es Wohl, mein
Leser! es ist nicht eine Verheißung der Vergebung
und des Friedens, sondern eine Verkündigung dieser
gesegneten Dinge.
Das ist ein höchst beachtenswerter Unterschied. Ferner
ist es weder durch Gesetz noch durch Verheißung,
daß die Seele so reich gesegnet wird, sondern durch Jesum
Christum. In dem Augenblick also, wo ein Sünder
an Jesum glaubt, werden ihm Vergebung, Rechtfertigung
und Versöhnung verkündigt durch das Wort Gottes.
Nehmen wir als Erläuterung der Gnadenwege Gottes
mit dem Sünder ein Beispiel. In Sach. 3 sehen wir
den Hohenpriester Josua vor dem Herrn stehen. Er ist
ein Vorbild der Gnadenhandlungen Gottes mit Jerusalem
in den letzten Tagen. Dieses Kapitel erklärt, wie ich
glaube, warum die Braut des Königs so „schön" ist in
Seinen Augen. Zugleich enthält es die Geschichte eines
jeden durch Gnade erretteten Sünders. Josua ist mit
schmutzigen Kleidern angethan. Satan ist da, um ihm zu
widerstehen; er sucht immer, die Segnungen der Seelen
zu verhindern. Aber der Herr nimmt sich des Schutzlosen
an. Er stößt niemanden von sich, der zu Ihm
216
kommt. Er tadelt den Widersacher, bringt ihn zum
Schweigen, und spricht und handelt für Josua. Die
schmutzigen Kleider werden weggenommen; seine Sünden
sind vergeben. Nicht ein Fetzen bleibt zurück, auf welchen
Satan sich berufen könnte. Also gereinigt von allen seinen
Befleckungen, werden ihm Feierkleider angezogen. Er wird
bekleidet mit dem Kleide Gottes, und ein reiner Kopfbund
wird ihm aufgesetzt. Und nun, wie „schön"! — Was
sollen wir sagen? „Dem, der uns liebt und uns von
unsern Sünden gewaschen hat in Seinem Blute, und uns
gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern Seinem
Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht
in die Zeitalter der Zeitalter! Amen." Sowohl die
königliche als auch die priesterliche Krone sind unser;
bekleidet mit der höchsten Würde, aus königlichem Geschlecht,
und als Priester in Anbetung in die innigste Nahe gebracht
zu Gott! Und wie köstlich ist der Gedanke, daß alles,
von Anfang bis zu Ende, das Werk Gottes ist, und darum
für immerdar vollkommen! „Jehova hat Jerusalem
erwählt. . . Siehe, ich habe deine Ungerechtigkeit von
dir weggenommen, und i ch kleide dich in Feierkleider. . . .
Und ich sprach: Man setze einen reinen Kopfbund auf sein
Haupt." Alles ist von Gott, durch Christum Jesum, auf
Grund des Werkes des Kreuzes. Die Gnade herrscht,
Gott ist verherrlicht, der Glaube triumphiert, Satan ist
vernichtet und der Sünder für ewig gerettet.
Indem wir vereinigt sind mit dem auferstandenen
Jesus, sind wir auch eins mit Ihm in der Auferstehung.
(Eph. 2.) Das giebt uns unsere wunderbare Stellung
in Seinen Augen. Alle, die in diese neue Stellung
gebracht sind, sind schön, wie Christus schön ist. Nur
217
daß Er in allen Dingen den Vorrang hat, wie geschrieben
steht: „Du bistschöner als die Menschensöhne". (Ps. 45.)
So finden wir denn auch dieselben Ausdrücke der Bewunderung
auf Bräutigam und Braut angewandt; von beiden wird
dasselbe gesagt, denn die Braut ist der Abglanz des Bräutigams.
Duften die Kleider der Braut von dem Wohlgeruch
der Myrrhe, so heißt es von dem Bräutigam: „Myrrhen und
Aloe, Kassia sind alle deine Kleider." Welch ein gesegneter
Gegenstand für unsere Betrachtung: Einheit mit
Christo als dem Auferstandenen und Verherrlichten!
Wie verächtlich würde uns die Welt
mit allen ihren Verbindungen und Beziehungen erscheinen,
wenn wir sie mehr von diesem Gesichtspunkt aus betrachteten!
Was hier von Israel, oder von dem Ueberreste in
prophetischer Weise gesagt wird („Siehe, du bist
schön, meine Freundin"), ist jetzt schon in tieferem Sinne
wahr von der Kirche Gottes, der Braut des Lammes.
Zugleich ist der große Grundsatz des Liedes beiden gemeinsam
: die Liebe des Herrn ist vollkommen. Er liebt
Israel, Er liebt die Kirche, und zu seiner Zeit wird Er
Zuneigungen in beider Herzen wachrufen, die den Seinigen
vollkommen entsprechen. Die moralische Anwendung unsers
Buches auf den Christen ist daher von großer Wichtigkeit.
Es handelt sich um Herzens-Gemeinschaft. Indes thun
wir stets wohl, den Unterschied zwischen dem Platze des
Juden in den letzten Tagen und dem Platze des Christen "
in der Gegenwart im Auge zu behalten.
Wenn auch die Hochzeit des Lammes noch nicht gekommen
ist, so sind doch die Beziehungen zwischen Christo
und der Kirche bereits gebildet. Wie der Apostel sagt:
„Ich habe euch einem Manne verlobt, um euch als eine
218
keusche Jungfrau dem Christus darzustellen." (2. Kor. 11,2.)
Kostbare Wahrheit! Die Braut des Erlösers, des Sohnes
des Vaters! Kennst du, mein Leser, die Gefühle der
Liebe, die einem so nahen und innigen Verhältnis eigen
sind? Genießest du, statt jener peinlichen Ungewißheit,
welche so oft die Gemüter derer verwirrt, die ein solch
nahes Verhältnis erst in der Zukunft erwarten, die ruhige,
friedliche Zuneigung und Freude, die aus dieser bewußten
Verbindung hervorgehen? Wenn dem so ist, dann wird
auch das Verlangen deines Herzens nach der Wiederkunft
deines Herrn groß sein. Denn Liebe ist der wahre Grund
des Rufes: „Komm, Herr Jesu, komme bald!"
„Du bist schön, meine Freundin . . ., deine Augen
sind Tauben." Es ist sehr belehrend, zu sehen, wie wir
in der Schrift mit der Taube in Verbindung gebracht
werden. Vom 8. Kapitel des ersten Buches Mose bis
hinab zu den Zeiten des Neuen Testaments nimmt sie
einen bemerkenswerten Platz im Worte Gottes ein.
Zuerst hören wir von ihr in Verbindung mit der
Arche und dem Oelbaum. Herrliche Sinnbilder der
Errettung und des Friedens Gottes! Die Taube pflückte
und hielt das Oelblatt fest, als die Gerichte Gottes die
Erde bedeckten. Und so lange die Wasser nicht weggetrocknet
waren, konnte sie keinen Ruheplatz für ihre Füße finden.
Die unter dem Gericht liegende Welt war kein Aufenthaltsort
für sie. Weiterhin finden wir, daß die Taube,
und zwar sie allein von allem Gevögel, als Opfer dargebracht
werden konnte, und so als Vorbild des Herrn
selbst diente. Dasselbe Vorbild wird also für beide gebraucht,
für den Herrn und für Seine Braut, wenn auch
selbstverständlich in verschiedener Weise. Wunderbare
219
Einheit! „Denn gleichwie der Leib einer ist und viele
Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich viele,
ein Leib sind: also auch d er Christ» s." (1. Kor.
12, 12.) Beachte, mein Leser, der Apostel spricht von
dem, was ein Bild der Kirche ist; anstatt aber zu sagen:
„also auch die Kirche", sagt er: „also auch der
Christus". Er sieht die Kirche in Ihm. Sie sind
ein Leib.
Auch der Heilige Geist wird durch die Taube sinnbildlich
dargestellt. „Und Johannes zeugte und sprach:
Ich schaute den Geist wie eine Taube aus dem Himmel
herniederfahren, und Er blieb auf Ihm." Einfalt, Reinheit,
Harmlosigkeit und Treue scheinen in der Taube eine
bildliche Darstellung zu finden. Wenn daher das Auge
des Christen einfältig, keusch und beständig auf Christum
gerichtet ist, so kann man von ihm sagen: „Deine Augen
sind Tauben".
„Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig;
ja, unser Lager ist frisches Grün. Die Balken unsrer Behausung
sind Cedern, unser Getäfel Cypressen." (V. 16.17.)
Wie schön sind diese Worte! Die Braut spricht nicht von
sich selbst; sie hört die Ausdrücke Seiner bewundernden
Liebe, aber sie sagt nichts von sich selbst, nicht einmal,
daß sie einer solchen Liebe unwürdig sei. Wie tief bewegt
sie auch sein mag, das eigne Ich wird völlig außer acht
gelassen. Das ist wahre Demut. Man kann viel über
das verdorbene und unwürdige „Ich" reden und doch das
Herz voll Stolz haben. Wahre Demut spricht nie von
sich selbst, weder Gutes noch Böses. Aber das ist eine
schwer zu erlernende Lektion. Christus ist unser einziges
220
vollkommenes Vorbild. Unser hochgelobter Herr erniedrigte
sich selbst; Er nahm den niedrigsten Platz ein. Der erste
Adam erhöhte sich selbst und wurde erniedrigt; der letzte
Adam erniedrigte sich, und Gott „hat Ihn hoch erhoben".
Folge darum Jesu, meine Seele! Harre allein auf Gott,
vertraue auf Ihn! „Denn jeder, der sich selbst erhöht,
wird erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt,
wird erhöht werden." (Luk. 18, 14.) Dieser Grundsatz
erstreckt sich auf alle Einzelheiten des täglichen Lebens und
ist von unendlicher praktischer Wichtigkeit. Man kann ihn
täglich, ja stündlich in den beiden Naturen ausgedrückt
finden. Die arme menschliche Natur ist immer bereit,
auf die Lüge des Versuchers zu lauschen: „Ihr werdet
sein wie Gott". Die göttliche Natur dagegen ist zufrieden
mit dem Platze, den Gott ihr anweist, bis Er ihr zuruft r
„Rücke höher hinauf".
Wenn nichts anderes als Christus vor den Blicken
steht, so ist das Herz völlig befriedigt. Wir sind dann
bereit, den niedrigsten Platz einzunehmen. Alles was zu
unserm Glücke nötig ist, wird in Ihm gefunden. Er ist
nicht allein schön für das Auge, sondern auch holdselig
für das Herz. Viele sind schön, aber nicht
holdselig; Christus ist beides. „Siehe, du bist schön,
mein Geliebter, ja, holdselig." O welche harmonischen
Verbindungen, welche Vollkommenheiten finden wir in
Jesu. Hier, und hier allein, kann das Herz wahre Ruhe
finden. Darum fügt die Braut sehr bezeichnend hinzu:
„Ja, unser Lager ist frisches Grün." Die grünen Auen
und stillen Wasser der reichen Gnade Jehovas sind wohlbekannte,
ausdrucksvolle Bilder der Ruhe und Erquickung,
welche die Schafe Christi unter Seiner Hirtenhut genießen.
221
„Jehova ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er
lagert mich auf grünen Auen, er führet mich zu stillen
Wassern." Auen von frischem Grün und stille Wasser
sind das tägliche Teil derer, welche „den Spuren der
Herde" nachfolgen. (V. 8.) Der Hirte schlägt nimmer
sein Zelt innerhalb der Stadtmauern auf. Dort giebt
es kein zartes Gras, keine stillen Wasser. Nein, fern
von den geräuschvollen Straßen, in ländlicher Stille, läßt
Er Seine Herde lagern. „Die Stadt" ist in diesem
Buche unzweifelhaft ein Sinnbild der Welt, während „das
Land" die himmlischen Oerter vorstellt. Sobald die Braut
sich verführen läßt, die Stadt zu betreten, warten ihrer
nur Beschämung und Sorgen. Der Bräutigam ist dort
nimmer zu finden; Seine Aufenthaltsorte sind die Weinberge,
die Gärten, die würzigen Hügel, die mit Balsambäumen
bedeckten Berge und die Thäler, wo die Lilien
blühen.
Das Wörtchen „unser" in: „unser Lager ist frisches
Grün", „unsre Behausung", „unser Getäfel", drückt das
Bewußtsein der vollen, gesegneten und beglückenden Gemeinschaft
mit dem „Geliebten" aus. Es ist gleich den
köstlichen kleinen Wörtchen „uns" und „wir" im Epheserbriefe.
O herrliche Vereinigung, gesegnete, ewige Einheit
mit Christo! Eins im Leben, eins in Gerechtigkeit, eins
in der Annahme, eins im Frieden, eins in der Ruhe,
eins in der Freude, eins in himmlischer, ewiger Herrlichkeit!
Wahrlich, freudenlos würde der lieblichste Schauplatz
hienieden, und freudenlos die vielen Wohnungen droben
sein, wenn nicht unser hochgelobter Herr, der göttliche
Bräutigam unsrer Herzen, dort wäre. Aber das sichere
Verheißungswort lautet: „und also werden wir allezeit
222
bei dem Herrn sein". Und: „auf daß, wo ich bin,
auch ihr seiet." — Es ist genug, teurer Herr! Für ewig
bei Dir und Dir gleich!
Sinne einen Augenblick hierüber nach, mein Leser.
Hier ist vollkommne Ruhe, süße Erquickung für dich zu
finden. Auf ewig bei dem Herrn zu sein im Paradiese
Gottes, in den vielen Wohnungen des Vaterhauses, das
bringt das Maß unsers ewigen Glückes und Segens zum
Ueberströmen.
Der Tau des Hermon.
„Siehe, wie gut und wie lieblich ist es, wenn Brüder
einträchtig bei einander wohnen! Wie das köstliche Oel
auf dem Haupte, das herabfließt aus den Bart, auf den
Bart Aarons, das herabfließt auf den Saum seiner
Kleider; wie der Tau des Hermon, dec herabfällt auf
die Berge Zions; denn dort hat Jehova den Segen
verordnet, Leben bis in Ewigkeit." (Pf. 133.)
Wir finden in diesem kurzen Psalm zwei liebliche
Bilder von brüderlicher Einheit und Gemeinschaft. Sie
ist gleich dem köstlichen Oele auf dem Haupte des Hohenpriesters,
das herabfließt auf den Saum seiner Kleider;
und sie ist gleich dem Tau des Hermon (des höchsten
Berges in dem jüdischen Lande), der in erfrischender Kraft
von dem schneebedeckten Gipfel auf das ganze umliegende
Land herabfällt.
Wie schön sind diese Bilder! Das Zusammenwohnen
von Brüdern in wahrer Einheit des Geistes verbreitet
einen herrlichen Wohlgeruch, angenehm für Gott und
Menschen; zugleich erweckt es eine anhaltende Frische des
Lebens, wahre Herzensfreude und ruft liebliche Früchte
223
hervor, so daß Kälte, Dürre und Selbstsucht verbannt
werden.
Doch wie kann diese Einheit bewirkt und erhalten
werden? Durch ein Leben in Gemeinschaft mit unserm
großen Hohenpriester, wodurch das wohlriechende Oel, das
von Ihm herabfließt, auf uns herniederträufelt; durch ein
Leben in Gemeinschaft mit dem Herrn der Herrlichkeit,
wodurch der erfrischende Tau Seiner Gnade unsre Seelen
belebt und mit herrlichen Früchten zu Seiner Ehre erfüllt.
Das ist der Weg, um in glücklicher Einheit mit
unsern Brüdern zusammen zu wohnen. Ueber Einheit
zu r eben ist etwas ganz anderes, als in Einheit zusammen
zu wohnen. ES kann sein, daß wir die herrlichen
Wahrheiten von der „Einheit des Leibes" und der „Einheit
des Geistes" wohl verstehen und doch voll sind von
Streitlust, Parteisucht und selbstsüchtigem Wesen, — alles
Dinge, welche für die praktische Bewahrung der Einheit
gleich einem tödlichen Gifte sind. Sollen Brüder in wahrer
Einheit bei einander wohnen, so müssen sie die Salbung
von dem Haupte und die erfrischenden Tautropfen von
dem wahren Hermon empfangen. Sie müssen in der
Gegenwart Christi leben, so daß die scharfen Ecken und
Kanten abgeschliffen, Selbstsucht und Hochmut verurteilt,
Mißtrauen und Leichtverletzlichkeit beseitigt werden. An
ihre Stelle müssen Zartheit, wahres Mitgefühl, aufrichtige
Liebe, Demut und Weitherzigkeit treten; und dies wird
geschehen, wenn unser Blick unverrückt auf Jesum gerichtet
bleibt, wenn wir von Ihm lernen, der sanftmütig und
von Herzen demütig war. Wir lernen dann einander
tragen und ertragen, und fühlen uns verbunden mit allen,
die unsern Herrn Jesum Christum lieben in Unverderblichkeit.
224
Werfen wir einen kurzen Blick auf Philippe: 2.
Dort sehen wir zunächst das göttliche Haupt, und von
Ihm fließt das Oel hernieder auf den Saum Seiner
Kleider. Wie kam es, daß Paulus sich freuen konnte,
selbst wenn er wie ein Trankopfer über das Opfer und
den Dienst seiner Brüder gesprengt wurde? Wodurch wurde
Timotheus befähigt, mit solcher Treue und Hingebung
für andere Sorge zu tragen? Was brachte Epaphroditus
dahin, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um den Mangel
in dem Dienste der Philipper gegen den Apostel auszufüllen
d Die Antwort ist: Alle diese treuen Knechte Christi
lebten so in der Gegenwart ihres Herrn, daß das wohlriechende
Oel und der erfrischende Tau überströmend auf
sie Herabfloß, so daß sie Kanäle des Segens für andere
werden konnten, sich selbst völlig vergaßen und nur für
ihre Brüder zu leben schienen.
Welch eine Freude und welch ein Vorrecht, in unserm
geringen Maße das Herz Gottes erfreuen und erquicken
zu können! Er hat Seine Wonne daran, wenn Seine
Kinder in Liebe mit einander wandeln. Er ist es, der
da sagt: „Siehe, wie gut und wie lieblich ist es, wenn
Brüder ^einträchtig bei einander wohnen!" Sollte das
nicht il^unsern Herzen das Verlangen wecken, diese liebliche
^Einheit auf jede mögliche Weise zu befördern, alle
Eigenliebe und Selbstsucht schonungslos zu verurteilen
und Mes Hinwegzuthun, was unsre Herzen von Christo
und^von einander zu trennen vermag?
„Ich halte es für recht, so lange ich in
dieser Hütte bin, euch durch Erinnerung
aufzuwecken."(Schluß.)
In dem Kapitel, mit dem wir uns am Schlüsse
des vorigen Abschnitts beschäftigt haben (Eph. 4), heißt
es auch: „Und Er (Christus) hat etliche gegeben als
Apostel und etliche als Propheten und etliche als
Evangelisten und etliche als Hirten und Lehrer, zur
Vollendung der Heiligen: für das Werk des Dienstes,
für die Auferbauung des Leibes Christi rc." (V. 11. 12.)
Die Apostel und Propheten des Neuen Testaments
bilden die Grundlage des himmlischen Baues; vergleiche
Kap. 2, 20: „aufgebaut auf die Grundlage der
Apostel und Propheten". Ihr Dienst ist vollendet; sie
haben keine Nachfolger. Aber Evangelisten, Hirten und
Lehrer werden vorhanden sein, bis der ganze Bau vollendet
und kein Werk des Dienstes mehr nötig ist. Leider
müssen wir auch hier wieder sagen, daß die traurige Zersplitterung,
in welche die Versammlung Gottes durch die
List des Feindes und durch die Untreue der Gläubigen
gekommen ist, ein großes Hindernis bildet für die Ausübung
und gesegnete Wirksamkeit der verschiedenen Gaben;
doch hebt dies die Verantwortlichkeit derer nicht auf, die
226
mit denselben betraut sind. Sie haben mit aller Treue
jede Gelegenheit zu benutzen, die sich ihnen bietet, mit
ihrer Gabe zu dienen.
Dem Evangelisten steht die ganze weite Welt offen;
das Feld seiner Thätigkeit ist unbegrenzt. Wenn auch
heute, wie zu aller Zeit, der Haß der Welt und der Wider
stand des Feindes ihm entgegentreten; wenn auch das
Antichristentum, das den Vater und den Sohn leugnet,
in unsern Tagen sich zusehends ausbreitet; wenn auch selbst
Neid und Eifersucht seitens der von Menschen angestellten
Prediger den Bemühungen des Evangelisten oft entgegenzuwirken
suchen, so hat doch der Herr die Thüren geöffnet,
die niemand zu schließen vermag. Wir können uns nicht
darüber beklagen, daß wir keine Gelegenheit haben, verlornen
Sündern die frohe Botschaft von Jesu nahe zu
bringen; wir müssen vielmehr darüber klagen, daß wir
die uns gebotenen Gelegenheiten zu wenig benutzen, die
Zeit zu wenig auskaufen. Denn wir alle können, wenn
uns auch nicht gerade die Gabe eines Evangelisten verliehen
ist, mitarbeiten und mitwirken. Ein Herz, das den
Herrn liebt und Seine Gefühle für die Verlornen kennt,
kann nicht unthätig sein. Durch die Liebe Christi gedrängt
und den Schrecken des Herrn kennend, überredete
Paulus die Menschen, umzukehren von ihren bösen
Wegen und dem kommenden Zorn zu entfliehen. Er
war nicht zufrieden damit, selbst errettet zu sein, wie wir
es so leicht sind, sondern in seinem Herzen brannte das
sehnliche Verlangen, auch andere den Banden Satans zu
entreißen und sie seinem geliebten Herrn, dem guten Hirten,
zuzuführen. Laßt uns deshalb den Herrn brünstig bitten,
uns noch viele treue, wackere Evangelisten zu geben und unser
227
aller Herzen mit dem Wunsche zu erfüllen, Boten Seiner
Gnade zu sein an viele arme, finstre Sünderherzen!
Auch jenen Gliedern des Leibes Christi, welche die
Gabe empfangen haben, die Gläubigen zu unterweisen,
ist reiche Gelegenheit geboten, von dieser Gabe Gebrauch
zu machen. Ebenso stehen denen, die zur speziellen Pflege
der Seelen berufen und begabt sind, viele Thüren offen,
um ihren so wichtigen und nötigen Dienst auszuüben.
Mag ihr Werk auch oft unscheinbar und gering erscheinen,
so war und ist es doch eines der notwendigsten, ein Werk,
das dem Herzen des Erzhirten, wenn wir so sagen dürfen,
besonders nahe liegt. Wie gesegnet ist es, die Einzelnen
in ihren Wohnungen aufzusuchen, an ihren Freuden und
Leiden Anteil zu nehmen, mit wahrem Mitgefühl in ihre
Prüfungen und Schwierigkeiten einzugehen, sie zu ermuntern
und zu trösten und ihr Vertrauen zu der nie
fehlenden Gnade und Liebe des Herrn zu beleben; oder
sie auch mit Liebe und Ernst zu ermahnen und zurechtzuweisen,
wenn etwas bei ihnen vorhanden sein sollte,
das nicht zur Ehre des Herrn gereicht. Ein solch treuer
und teilnehmender Hirte war Paulus. Er konnte im
Blick auf sein Verhalten in Ephesus zu den Aeltesten
sagen: „Ihr wisset von dem ersten Tage an, da ich nach
Asten kam, wie ich die ganze Zeit bei euch gewesen bin,
dem Herrn dienend mit aller Demut und mit Thränen . ..;
wie ich nichts zurückgehalten habe von dem, was nützlich ist,
daß ich es euch nicht verkündigt und euch gelehrt hätte,
öffentlich und in den Häusern." Und: „darum
wachet und gedenket, daß ich drei Jahre lang Nacht und
Tag nicht aufgehört habe, einen jeden mit Thränen zu
ermahnen." (Apstgesch. 20, 18—21. 31.) Und an die
228
Thessalonicher konnte er schreiben: „Ihr seid Zeugen und
Gott, wie göttlich und gerecht und untadelig wir gegen
euch, die Glaubenden, waren; gleichwie ihr wisset, wie wir
jeden einzelnen von euch, wie ein Vater seine eignen Kinder,
euch ermahnt und getröstet und euch bezeugt haben, daß
ihr wandeln solltet würdig des Gottes, der euch zu Seinem
eignen Reiche und zu Seiner eignen Herrlichkeit beruft."
(1. Thess. 2, 10—12.) Und so wie der Apostel Tag
und Nacht in aufopfernder Liebe mit der Herde Christi
im Dienst beschäftigt war, ebenso trug er sie auch im
Ganzen wie im Einzelnen unablässig auf betendem Herzen.
Sagst du: Paulus war ein auserwähltes Rüstzeug
in der Hand des Herrn? Allerdings, er war das. Aber
in sich selbst war er so schwach und ohnmächtig wie wir;
die Freude im Herrn war seine Stärke. Und dieselbe
Quelle der Kraft steht auch uns heute zu Gebote; und
alle, die der Herr in Seinen Dienst — sei es zur Verkündigung
des Evangeliums, oder zur Belehrung, Erbauung,
Ermahnung oder Pflege der Seinigen — berufen und
befähigt hat, sind Ihm für die treue Ausübung desselben
verantwortlich. Deshalb thut es ihnen vor allem not,
die Ermahnung des Herrn: „Wachet und betet!" zu beherzigen.
Nur wenn sie in der Wachsamkeit und im Gebet
beharren, werden sie fähig sein, den Einflüsterungen des
Feindes ihr Ohr zu verschließen, aller Selbstsucht und
eitlen Ehre gegenüber sich für tot zu halten und in keiner
Weise dem Fleische Raum zu geben. Wenn Selbstgefälligkeit
und eitle Ehre den Arbeiter bei der Bedienung seiner
Gabe leiten, wenn er nach dem Lobe und dem Gefallen der
Menschen geizt oder nach Wohlleben und äußern Vorteilen
trachtet, so hört er auf, als ein Diener des Herrn den
229
Seinigen nützlich zu sein. Sein Gewissen stumpft immer
mehr ab, und nach und nach tritt Verblendung ein. Ohne
sich dessen selbst bewußt zu sein, wird er zu einem Werkzeuge,
das der Feind zur Erreichung seiner bösen Zwecke
benutzt, und dies um so mehr, je größer seine Begabung
ist. Er dient nicht mehr zum Auferbauen, sondern zum
Niederreißen und Zerstören der Versammlung Gottes.
Es ist dies keine neue Erscheinung. Schon zur Zeit
der Apostel kamen ähnliche Dinge zum Vorschein. Paulus
schreibt an Timotheus: „Alle, die in Ästen sind, haben
sich von mir abgewandt, unter welchen Phygelus ist und
Hermogenes." Er sagt von Hymenäus und Philetus,
daß sie von der Wahrheit abgeirrt seien, und von Demas,
daß er den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen habe. (2. Tim.
1, 15; 2, 17. 18; 4, 10.) Doch wie ernst wird das
Erwachen solcher Arbeiter sein, wenn sie einmal im Lichte
Gottes erkennen müssen, wie sehr sie den Herrn, der sie
in Seinen Dienst gestellt, verunehrt und Seiner teuer erkauften
Herde zum Schaden gedient haben!
Darum, mein lieber Leser, wenn der Herr dir eine
Gnadeugabe anvertraut hat, so stehe zu, daß du sie „anfachest"
(2. Tim. 1, 6) und benutzest zur Ehre des
Herrn und zum Wohle der Seinigen. Wuchere treu mit
dem Pfunde, das Er dir gegeben hat, damit, wenn die
Zeit der Vergeltung kommt, du reichen Lohn finden mögest.
„Siehe auf den Dienst, den du im Herrn empfangen hast,
daß du ihn erfüllest." (Kol. 4, 17.) Sei ein treuer
Verwalter des dir anvertrauten Gutes (1. Kor. 4, 2),
und „sei stark in der Gnade, die in Christo Jesu ist".
(2. Tim. 2, 1.)
„Jenachdem ein jeder eine Gnadengabe empfangen.
230
hat, dienet einander damit als gute Verwalter der
mancherlei Gnade Gottes." (1. Petr. 4, 10.)
Bist du ein Evangelist, so „thue das Werk eines Evangelisten,
vollführe deinen Dienst". Bist du ein Lehrer,
so „predige das Wort, halte darauf in gelegener und
ungelegener Zeit, überführe, strafe, ermahne mit aller
Langmut und Lehre." (2. Tim. 4.) „Bewahre
das anvertraute Gut, indem du dich von den ungöttlichen,
eitlen Reden und Widersprüchen der fälschlich sogenannten
Kenntnis wegwendest." „Halte fest das Bild
gesunder Worte." (1. Tim. 6, 20; 2. Tim. 1, 13.)
Bist du ein Hirte, so hüte die Herde Gottes, nicht aus
Zwang, sondern' freiwillig, indem du dich in allem als
ein Vorbild der Herde erweisest. (1. Petr. 5, 2.3.)
Habe acht auf dich selbst und auf die ganze Herde, in
welcher dich der Heilige Geist als Aufseher gesetzt hat.
(Apstgsch. 20, 28.)
Uns allen aber gilt in stets ungeschwächter Kraft das
Wort des Apostels: „Daher, meine geliebten Brüder, seid
fest, unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werke
des Herrn, da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich
ist im Herrn." (1. Kor. 15, 58.) Der Augenblick ist nahe,
wo ein jeder seinen Lohn empfangen wird „nach seiner
eignen Arbeit". — „Siehe, ich komme bald, und mein Lohn
mit mir, um einem jeden zu vergelten, wie sein Werk
sein wird." (Offbg. 22, 12.)
Indes möchte der eine oder andere Leser ängstlich
fragen: Giebt es denn nicht viele Hindernisse und
Schwierigkeiten auf dem Wege des Dienstes? Gewiß'.
Wann hätte es einen Arbeiter im Werke des Herrn
231
gegeben, der nicht mit Hindernissen irgend welcher Art zu
kämpfen gehabt hätte? Mit wie vielen und großen Hindernissen
hatte selbst der Herr, der göttliche Arbeiter, hienieden
zu kämpfen! Welch einem Widerspruch und Haß, welch
einem Unglauben und Kleinglauben begegnete Er täglich,
von Seiner Armut und verachteten Stellung gar nicht zu
reden! Wie erging es ferner dem Apostel Paulus und
seinen treuen Mitarbeitern! Wie den übrigen Aposteln?
— Ja, Hindernisse und Schwierigkeiten giebt es auf
Schritt und Tritt, aber keine solchen, die nicht durch den
Glauben und in der Kraft Gottes überwunden werden
könnten. Welch ein Verlust wäre es auch für uns, wenn
unser Weg immer so eben und glatt wäre, daß es gar
keiner Uebung des Glaubens und Bewährung unsers Vertrauens
auf die Hilfe von oben bedürfte! Gerade die
Schwierigkeiten des Weges bringen ans Licht, was wir
find, und offenbaren zugleich, was in Gott für uns ist.
„Ich glaubte, darum redete ich", sagt der Psalmist,
indem er sich an die schweren Tage, die hinter ihm liegen,
sowie an die in denselben erfahrene Hilfe Gottes erinnert;
und der Apostel Paulus führt diese Worte in ähnlicher
Weise im Blick auf sich und seine Mitarbeiter an. (Ps. 116;
2. Kor. 4.) Der Glaube erhebt die Seele über die Umstände
und läßt sie inmitten derselben von der Güte und
Treue Gottes reden. Die Macht Gottes könnte alle
Hindernisse mit einem Schlage Hinwegräumen, aber die
Treue Gottes läßt sie bestehen zu unsrer Erziehung und
zu unserm Segen.
Doch, wird man sagen, es giebt noch mehr als
Hindernisse und Schwierigkeiten. Ohne Frage. Eines
jeden Dieners Christi warten auch Enttäuschungen
232
aller Art; und diese sind schmerzlicher und schwerer zu
überwinden als Hindernisse. Aber auch sie müssen unter
der Leitung Gottes denen, die Ihn lieben, zum Guten
mitwirken; und auch hier giebt es für den abhängigen
Arbeiter eine gesegnete Zuflucht. Sein Herr und Meister
hat ihm in diesem wie in allem andern ein vollkommenes
Beispiel hinterlassen. Was that Er, als Johannes zwei
seiner Jünger zu Ihm sandte mit der zweifelnden Frage:
„Bist du der Kommende oder sollen wir eines Andern
warten?" (Matth. 11) und als Er zu gleicher Zeit die
Städte Chorazin, Bethsaida und Kapernaum, in denen
Er so viel gelehrt und so viele Wunderwerke gethan hatte,
schelten mußte wegen ihres Unglaubens? Er ermunterte
Seinen Knecht, sein Vertrauen nicht wegzuwerfen, indem
Er ihn auf die gesegneten Beweise der Gegenwart des
Messias inmitten Seines Volkes hinwies; und Er wandte
Seinen Blick nach oben und pries den Herrn des Himmels
und der Erde, daß Er dies vor Weisen und Verständigen
verborgen und es Unmündigen geoffenbart habe. Anscheinend
hatte Er sich umsonst bemüht, vergeblich und für
nichts Seine Kraft verzehrt, aber Sein Recht war bei
Jehova und Sein Lohn bei Seinem Gott. (Jes. 49.)
Er schaute hinweg über die sichtbaren Dinge und sah im
Glauben die herrliche Erfüllung der Gnadenratschlüsse Gottes.
Auch uns mag es hie und da scheinen, als ob alle
unsre Mühe vergeblich wäre: der Zustand der Versammlung
ist schwach, in dem Werke des Evangeliums
zeigt sich wenig Frucht; da, wo wir am meisten erwartet
hätten, zeigt sich sehr wenig oder vielleicht gar nichts. Das
ist niederdrückend und entmutigend. Aber, mein lieber
Mitarbeiter und Mitstreiter, laß den Mut nicht sinken!
233
Hast du das Deinige, wenn auch in großer Schwachheit,
treu gethan, so darfst du deine Sache getrost Gott anheimstellen.
Du wirst deinen Lohn nicht verlieren, und
Gott wird Sein Werk trotz allem herrlich hinausführen.
Er, der den Samen darreicht, giebt auch Frucht und Gedeihen
zu Seiner Zeit. Darum laß dich nicht beirren,
den guten Samen weiter auszustreueii und mit Gebet und
Flehen auf den Segen von oben zu warten.
Doch wir sind noch nicht am Ende der schmerzlichen
Erfahrungen angelangt, die es für den treuen Arbeiter
giebt. Wenn ein Mann wie der Apostel Paulus dem
Neid und der Eifersucht anderer begegnen mußte,
so brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn uns in
unserm geringen Maße dasselbe Los zu teil wird. „Es
ist kaum möglich," sagt ein anderer Schreiber, „einen in
etwa hervorragenden Platz im Dienste des Herrn einzunehmen
oder in besonderer Weise von Gott benutzt zu
werden, ohne zu der einen oder andern Zeit den Angriffen
neidischer und unzufriedener Menschen ausgesetzt zu fein,
die es nicht ertragen können, irgend jemanden mehr geehrt
Zu sehen als sich selbst." Und so ist eS in der That.
Wie aber soll man sich solchen Angriffen gegenüber
verhalten? Ein vorwurfsfreies Gewissen kann völlig
ruhig sein und seine Rechtfertigung dem Herrn anheimstellen,
der da recht richtet und vor dem die Anschläge
der Herzen offenbar sind. Paulus ließ sich nicht im
Geringsten durch die Eifersüchteleien ruhmgieriger Prediger
stören. Mochten s i e auch Christum aus Neid und Streit
verkündigen und seinen Banden Trübsal zuzufügen gedenken
(Phil. 1, 15—19), er freute sich, daß Christus verkündigt
wurde. Was lag an ihm und seiner Ehre vor
234
den Menschen? Der Herr kannte Seinen Knecht; das
war ihm genug. Für ihn gab eS nur ein Ziel: die
Verherrlichung Christi und die Ausbreitung Seines Zeugnisses.
Wenn dieses Ziel erreicht wurde, so mochte mit
ihm geschehen, was da wollte. Welch eine moralische
Erhabenheit verleiht ein ganzes Herz für Christum! Der
Neid und Streit jener bösen Arbeiter richtete sich im
Grunde nicht gegen Paulus, sondern gegen den Herrn
selbst. Denn wenn Gott einem Menschen einen gewissen
Platz anweist und ihm ein gewisses Werk überträgt, und
seine Genossen beginnen mit ihm zu streiten, weil er
jenen Platz ausfüllt und jenes Werk thut, so richtet sich
ihr Streit thatsächlich gegen Gott selbst, der ihn zu Seiner
Zeit und in Seiner Weise zu Ende führen wird. Darüber
können wir völlig gewiß sein; und gerade diese Gewißheit
giebt dem Knechte des Herrn eine heilige Ruhe und erhebt
ihn über jene unruhigen, eifersüchtigen Geister, die gegen
ihn auftreten. Selbst mit diesen zu streiten wäre nutzlos;
weit besser ist es, sie den Händen des Herrn zu
übergeben und ihnen den Platz zu lassen, nach dem ihre
eitlen, thörichten Herzen begehren. Ueber kurz oder lang
wird gerade dieser Platz die Stätte ihrer Niederlage und
gänzlichen Verwirrung werden.
Schließlich sei noch eine Sache erwähnt, die schon
manchem Diener des Herrn schwere Stunden und heiße
Kämpfe verursacht hat und gegen die es kein Schutzmittel
giebt. Ich meine Verleumdungen und Verdächtigungen.
Gehen sie von feiten der Welt aus, die in
ihrem Haß gegen Christum und Sein Volk nur zu gern
ihrem Herrn, dem Verkläger der Brüder, ihr Ohr leiht,
so sind sie verhältnismäßig leicht zu ertragen. Lassen sich
235
aber Gläubige dazu gebrauchen, Verleumdungen gegen
ihre Brüder auszustreuen, um sie in den Augen ihrer
Mitpilger herabzusetzen und zu verdächtigen, so ist viel
Gnade von oben nötig, um den Widersachern in Sanftmut
zu begegnen und das Böse zu ertragen. Ach! wenn
jene Verleumder bedächten, was sie thun, so würden sie
erschrecken und sich nicht länger als Werkzeuge des Feindes
gebrauchen lassen. Sehr beherzigenswert sind in dieser Beziehung
die Worte in Psalm 15, 1—3: „Jehova, wer
wird in deinem Zelte weilen? wer wird wohnen auf deinem
heiligen Berge? Der in Lauterkeit wandelt und
Gerechtigkeit wirkt und Wahrheit redet von
Herzen, nicht verleumdet mit seiner Zunge,
kein Uebel thut seinem Genossen, und keine
Schmähung bringt auf seinen Nächsten."
Doch was soll ein Knecht des Herrn thun, wenn er
verleumdet und verdächtigt wird? Soll er sich zu rechtfertigen
suchen? Nein, ausgenommen in den Fällen, wo
die Ehre des Herrn und das Wohl der Versammlung
es erfordern. In solchen Fällen rechtfertigte sich auch der
große Apostel. Im Uebrigen aber darf ein aufrichtiger
Arbeiter mit Paulus sagen: „Der mich beurteilt ist der
Herr. So urteilet nicht etwas vor der Zeit, bis der Herr
kommt, welcher auch das Verborgene der Finsternis
ans Licht bringen und die Ratschläge der Herzen offenbaren
wird; und dann wird einem jeden sein Lob werden
von Gott." (1. Kor. 4, 4. 5.) Und was ihn persönlich
betrifft, so wird er „sich üben, allezeit ein Gewissen ohne
Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen." (Apstgsch.
24, 16.) In diesem wie in allem ist der Herr die einzige
Zuflucht und Hilfe für den Arbeiter. Er, der die Gabe
236
gegeben und den Dienst anvertraut hat, wird auch die
nötige Weisheit und Kraft darreichen, um inmitten aller
Schwierigkeiten und entmutigenden Erscheinungen nach
Seinem wohlgefälligen Willen und zum Besten der Seinigen
im Dienste auszuharren.
Was der Zweck deS Feindes bei allen diesen Dingen
ist, braucht kaum gesagt zu werden. Seine Freude ist,
zu zerstören und zu zerreißen, Neid und Streit, Zwietracht
und Hader zu erregen. „Seine Gedanken sind uns nicht
unbekannt." O möchte der Herr allen den Seinigen Gnade
geben, daß sie sich nicht von ihm „Übervorteilen" lassen!
(2. Kor. 2, 11.)
Je mehr nun ein Knecht des Herrn die ernsten Ermahnungen,
die das Wort an ihn richtet, erwägt, je mehr
er sich der Gefahren und Schwierigkeiten bewußt wird,
die mit der Ausübung des ihm anvertrauten Dienstes
verknüpft sind, desto mehr wird er seine Untüchtigkeit und
Ohnmacht erkennen und im Blick auf die hohe Wichtigkeit
seines Werkes immer tiefer fühlen, wie sehr er
der täglichen Unterweisung, Leitung und Stärkung von
oben bedarf. Und indem er in eifrigem Gebet und Flehen
sich und sein Werk Gott befiehlt, wird er auch sehnlichst
wünschen, daß andere seiner viel vor dem Herrn gedenken.
Selbst der Apostel Paulus, dieser so reich begabte und
dem Herrn so völlig gewidmete Diener, empfahl sich und
seine Mitarbeiter wiederholt und dringend der Fürbitte
derer, an welche er schrieb. So lesen wir in Kol. 4, 3:
„Und betet zugleich auch für uns, auf daß Gott uns eine
Thür des Wortes aufthue, um das Geheimnis des Christus
zu reden .... auf daß ich es offenbare, wie ich reden
soll." (Vergl. Eph. 6,18. 19.) Ebenso in 2. Thess. 3, 1:
237
„Uebrigens, Brüder, betet für uns, daß das Wort des
Herrn laufe und verherrlicht werde." (Siehe auch 1. Thess.
5, 25; Hebr. 13, 18.)
Gewiß wird in jener ersten Zeit ein jeder, dem die
Ehre des Herrn und das Wohl der Seinigen am Herzen
lag, den Wunsch des Apostels gern erfüllt haben; und
solche, die also gesinnt sind, thun dasselbe auch heute
mit aller Willigkeit. Sie tragen das Werk des Herrn
und die in dasselbe berufenen Arbeiter auf betendem
Herzen, sind dadurch vom Herrn anerkannte Mitarbeiter
und werden auch Mitteilnehmer des Lohnes sein. Indem
solche mit dankbarem Herzen die große Güte und Fürsorge
des Herrn für das Wohl Seiner geliebten Versammlung
anerkennen, beachten sie gern die Ermahnungen bezüglich
ihres Verhaltens gegen solche, die Er zu ihrer Bedienung,
Auferbauung und Pflege berufen und befähigt hat. Der
Herr hat uns auch in dieser Beziehung nicht ohne deutliche
Belehrungen gelassen. So schreibt z. B. der Apostel
Paulus an die Korinther: „Ihr kennet das Haus des
Stephanas, daß es der Erstling von Achaja ist, und daß
sie sich selbst den Heiligen zum Dienst verordnet haben;
daß auch ihr solchen Unterthan seid und jedem, der mitwirkt
und arbeitet." (1. Kor. 16, 15. 16.) Aehnlich
schreibt er an die Thessalonicher: „Wir bitten euch aber,
Brüder, daß ihr die erkennet, die unter euch arbeiten und
euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen, und daß
ihr sie über die Maßen in Liebe achtet um ihres Werkes
willen." (1. Thess. 5, 12. 13.)
Ein demütiges, dem Herrn ergebenes Herz wird
solchen Ermahnungen gern und freudig nachkommen zu
seinem eigenen Wohl und zur Ehre des Herrn. Leider
238
hat ja, wie wir schon früher sahen, der Geist der Unbotmäßigkeit
und Unabhängigkeit, der in der Welt herrscht,
auch in unsrer Mitte viel Eingang gefunden. Das Bild,
das der Apostel von dem Charakter der letzten Tage entwirft,
weist dunkle Züge auf, und mit tiefem Schmerz
müssen wir sagen, daß einige derselben sich mehr und
mehr auch bei den Christen in ihrem Familien- und Gemeinschaftsleben
zu zeigen beginnen. Der Apostel sagt:
„Dieses aber wisse, daß in den letzten Tagen schwere
Zeiten da sein werden; denn die Menschen werden eigen-
liebig sein, geldliebend, prahlerisch, hochmütig, Lästerer,
den Eltern ungehorsam, undankbar .... aufgeblasen,
mehr das Vergnügen liebend als Gott." (2. Tim. 3, 1—4.)
Müssen wir nicht bekennen, daß diese traurigen Dinge,
wenn nicht in ihrer Vollendung, so doch in ihren Anfängen
sich mehr und mehr unter uns bemerkbar machen? Ist
es nicht so, daß Eigendünkel, Hochmut, Ungehorsam, Aufgeblasenheit
und Vergnügungssucht sich besonders bei den
Jüngeren unter uns zeigen? Hat nicht bei den meisten die
erste Frische des geistlichen Lebens abgenommen, und ist
nicht schon bei manchem viel äußere Form und Gewohnheit
an die Stelle der innern Kraft und Wirklichkeit
getreten? Sind nicht viele, die im Anfang, als sie die
Wahrheit erkannten, mit großer Freude und mit dankbarem
Herzen ihren Platz am Tische des Herrn einnahmen,
gleichgültig und träge geworden und besuchen die Versammlungen
heute mehr zur Beruhigung ihres Gewissens, als aus
wahrem Herzensbedürfnis und aus Liebe zum Herrn? Sind
nicht sogar manche in tiefen Schlaf und, was ihr Gewissen
und die geistlichen Regungen ihre Herzens betrifft,
in den Zustand eines Toten versunken, so daß ihnen die
239
ernste Ermahnung gilt: „Wache aus, der du schläfst, und
stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir
leuchten" ? (Eph. 5, 14.) Wir werden alle antworten
müssen: Leider ist es so! Soll es so bleiben, soll es so
sortgehen, Geliebte? O möchten alle schläfrig Gewordenen
aufwachen und wir alle mit neuer Entschiedenheit und
Treue für unsern Herrn dastehen, damit Er nicht genötigt
sei, uns das, was Er uns anvertraut hat, wieder zu
nehmen und es andern zu übertragen! Er ist bereit zu
vergeben und wiederherzustellen, und Er selbst will den
Aufgewachten voranleuchten, daß sie fortan gewisse Tritte
thun zu Seiner Ehre.
O wie anbetungswürdig ist die Gnade und Liebe
unsers teuren Herrn! Er nährt und pflegt Seine Versammlung
bis ans Ende; Er hebt und trägt, ermahnt und
warnt, erquickt und stellt wieder her, ermuntert und tröstet.
Möchten unter Seiner gnädigen Leitung auch die vorstehenden
Zeilen manchem Leser zum Nutzen und Segen
dienen! Möchte Er selbst uns immer von neuem durch
Seinen Geist an die kostbaren und ernsten Dinge erinnern,
die wir besprochen haben, damit wir alle dastehen als ein
glückliches, in Liebe mit einander verbundenes Volk, Ihn
erwartend, nach Ihm ausschauend mit sehnlichem Verlangen!
Das ist der Wunsch und das Gebet des Schreibers
und gewiß vieler mit Ihm.
„Ich werfe keine andere Last auf euch; doch
was ihr habt, haltet fest, bis ich komme."
(Offbg. 2, 24. 25.)
240
„Ich bin eine Narcisse Sarons."(Hohe!. 2, 1—3.)
„Ich bin eine Narcisse Sarons, eine Lilie der
Thäler." Welch eine wunderbare Sache ist die Gnade,
die Gnade Gottes gegen den Sünder! Welch mächtige
Veränderungen bringt sie in denen hervor, die sie kennen, in
Bezug auf ihre Gedanken, Gegenstände, Wünsche und Zuneigungen!
Sie teilt uns die Gedanken des Herrn mit
hinsichtlich dessen, was wir in Seinen Augen und für
Sein Herz sind. Beachte dieses wohl, mein Leser, und
sinne darüber. Der Brunnen ist tief, und seine Wasser
sind allezeit frisch und erquickend. Trinke daraus, frei und
ungehindert.
Gnade kennen heißt Gott kennen, sowie Sein volles
Heil durch Jesum Christum, vermittelst der Belehrung
des Heiligen Geistes. Noch vor kurzem hat die Braut
bekannt: „Ich bin schwarz . . . schwarz wie die Zelte
Kedars"; und jetzt ist sie durch die Gnade fähig gemacht,
in Wahrheit und ohne Zweifel zu sagen: „Ich bin eine
Narcisse Sarons, eine Lilie der Thäler"; ich bin das,
was den höchsten Schmuck Sarons bildet, was die Thäler
schön und lieblich macht. Sie spricht nicht in allgemeinen
Ausdrücken, sondern in der bestimmtesten Weise von dem,
was sie dem Bräutigam so anziehend erscheinen läßt.
Sie rühmt sich nicht eitler Weise andern gegenüber, sondern
redet unmittelbar zu Ihm, in dem freudigen Bewußtsein
des Platzes, den sie in Seinem Herzen hat. Eine völlige
Gemeinschaft ist vorhanden; denn Er fügt sofort hinzu:
„Wie eine Lilie inmitten der Dornen, so ist meine
Freundin inmitten der Töchter."- Und an einer späteren
Stelle dieses Buches sagt Er: „Eine ist meine Taube,
241
meine Vollkommene; sie ist die einzige ihrer Mutter,
sie ist die Auserkorene ihrer Gebärerin." Derart ist die
Liebe und Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu
Christi, und das ist der besondere Platz, den Seine
Braut in Seinen Augen hat; die Ausdrücke Seiner Zuneigung
übertreffen stets diejenigen der ihrigen. Das ist
überaus köstlich für das Herz. Wie groß ist doch der
Unterschied zwischen der herrlichen, duftenden Lilie und
einem scharfen, verletzenden Dorn!
Es giebt viele Gläubige, die, wenn sie solche Wahr-,
heiten hören, unwillkürlich ausrufen: „O ich bin eines solchen
Platzes nicht wert!" — Sicherlich nicht, mein Freund,
wenn du an deine eigene Würdigkeit denkst. Was für
eines Platzes aber meinst du wert zu sein? Wahrscheinlich
eines niedrigeren. Aber ist das Demut? Nein, eA
ist Stolz! Wir verdienen in Seiner Gegenwart überhaupt
keinen Platz; folglich muß jeder Platz, den Er uns giebt,
eine Folge reiner, unumschränkter Gnade sein. An der
Thürschwelle zu stehen, würde ebensowohl unvermischtL
Gnade sein, als auf Thronen zu sitzen.
Ohne Zweifel dachte der verlorne Sohn, daß es sehr
demütig von ihm sein würde, zu sagen: „Mache mich,wie
einen deiner Tagelöhner." Aber es war nicht Demut,
sondern ein Rest von Stolz und Gesetzlichkeit des Herzens.
Alle solche Gedanken entstammen dem natürlichen Herzen,'
welches überaus stolz und selbstgerecht ist und weder seinen
eigenen Zustand noch die Gnade Gottes kennt. Wahre
Demut steht von ferne und bekennt, daß sie nicht wert
sei, auch nur die Augen zum Himmel aufschlagen zn
dürfen. (Vergl. Luk. 18.) Der verlorene Sohn hatte ebensowenig
Anspruch auf den Empfang eines Tagelöhners,
242
als auf den eines Sohnes. Er hatte auf dem Boden
der Gerechtigkeit alle Ansprüche verloren. Er hatte nur
einen Grund, auf welchen hin er zu kommen wagen
durfte, nämlich seine dringende Not. Nur Gnade
konnte ihm begegnen. Wäre ihm Gerechtigkeit widerfahren,
so würde eine ewige Verdammnis sein Los gewesen sein.
Aber die Gnade herrscht; kein Wort wird gesagt über
seine Sünden. Er würde auch nicht für eine aus tausend
haben einstehen können. Die Frage der Sünde wurde
am Kreuze zwischen Gott und Christo geordnet. Und
jetzt strahlt die Gnade in ihrem ganzen himmlischen Glanze.
Das Herz des Vaters ist die Quelle von allem, und Er
hat seine Freude daran, Gnade zu üben. Er handelt
sich selbst gemäß. Die vorher überlegte Ansprache des
verlorenen Sohnes wird unterbrochen; er kommt nicht so
weit zu sagen: „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner".
Wie hätte es auch sein können? Die Gnade verhinderte
es; der Vater lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals
und küßte ihn sehr. Die Versöhnung fand ihren Ausdruck
und ihre Vollendung in demselben Augenblick, da
Vater und Sohn zusammentrafen. Der Sohn empfing
sofort den Kuß des Friedens. Die Gnade ist frei.
Nachdem Gott das Sühnungswerk am Kreuze entgegengenommen
hat, wird uns die Versöhnung in demselben
Augenblick zu teil, da wir in Christo mit Ihm zusammentreffen.
Und nun, durch das Blut des Kreuzes versöhnt, wird
der einst verlorene und verderbte Sünder zum Sohne und
Erben gemacht, zum Erben Gottes und Miterben Christi.
Das ist Gnade, die Gnade Gottes in Christo Jesu für
alle, die an Seinen Namen glauben. Sie werden die
243
leuchtenden Gefäße dieser Gnade bilden alle die endlosen
Zeitalter der Ewigkeit hindurch. Welch ein Platz für den
einst armen, freund- und heimatlosen Wanderer, und zwar
für immer und ewig! So offenbart Gott Seinen Charakter
der Gnade; Er will „in den kommenden Zeitaltern den
überschwenglichen Reichtum Seiner Gnade offenbaren in
Güte gegen uns in Christo Jesu". (Eph. 2, 7.)
Beachten wir auch, daß die Braut sagt: „Ich bin
eine Lilie der Thäler". In dem stillen Thale findet
sie ihren heimatlichen Boden. Dort blüht sie für das
Auge ihres Geliebten, und dort verbreitet sie ihren Wohlgeruch
zu Seiner Erquickung. „Er weidet unter den
Lilien." Es ist in der Stadt, wo sie die Freude Seiner
Gegenwart verliert und wo sie von den Wächtern verhöhnt
und beschämt wird. (Kap. 5.) Wie viel besser wäre es
für sie gewesen, hätte sie nimmer ihre stillen Thäler verlassen.
Welch eine beachtenswerte Unterweisung liegt
hierin auch für uns, geliebter Leser! Fern von dem
Strom und dem Geiste dieser Welt, fern von ihren Reizen
und anziehenden Dingen, sollten wir darüber sinnen, was
dem Auge Jesu wohlgefällig und Seinem Herzen angenehm
ist. Wie wunderbar, daß Er, der sich auf den Thron
Seines Vaters gesetzt und mit dessen Herrlichkeit umgeben
hat, noch an solch wertlose Geschöpfe gedenkt, wie wir
sind; ja, mehr noch, daß Er erfreut und erquickt, oder
betrübt und verwundet wird durch unser Verhalten hie»
nieden! Ach, daß Er so oft verwundet wird in dem Hause
derer, die Ihn lieben! Sollte es irgend etwas unter
der Sonne geben, das einem Christen mehr Freude bereiten
könnte, als Ihm zu gefallen? Können wir uns etwas
Unwürdigeres denken als einen Christen, der sich selbst
244
zu gefallen sucht und seine Freude an den Dingen dieser
Welt findet? obwohl er weiß, daß er das Herz Dessen
betrübt, den zu erfreuen sein ganzes Bestreben sein sollte
— Ihn, der für ihn starb auf Golgatha?
O möchten wir uns alle in Aufrichtigkeit prüfen,
wie es in dieser Beziehung mit uns steht, und schonungslos
mit uns ins Gericht gehen! „Richtet auf die erschlafften
Hände und die gelähmten Kniee und machet
gerade Bahn für eure Füße, auf daß nicht das Lahme
vom Weg« abgewandt, sondern vielmehr geheilt werde."
<Hebr. 12, 12. 13.) Wie köstlich ist es für das Auge
des guten Hirten, diejenigen, für welche Er starb, standhaft
und mit freudigem Herzen wandeln zu sehen in den
„Spuren Seiner Herde", und weiden zu finden „bei den
Wohnungen der Hirten"! Dort finden sie zarte, grüne
Weide und stille Wasser der Ruhe. Wie betrübend dagegen
für den Erzhirten und Seine Unterhirten, einen
Jünger Jesu, der für eine Zeit mit seinem ganzen Herzen
dem Herrn ergeben schien, den Vorstellungen unbekehrter
Freunde und den Reizen der Welt nachgeben zu sehen;
wie betrübend, wenn ein solcher nach allerlei Gründen
und Entschuldigungen sucht, um wenigstens bis zu einem
gewissen Grade Hand in Hand mit der Welt gehen zu
können! „Muß ich denn wirklich dieses, muß ich jenes
aufgeben?" hört man oft fragen. Ach, mein Bruder,
meine Schwester, denke lieber daran, was du zuerst aufgeben
mußt, um die Freuden der Welt wieder genießen
zu können. Für ihre Eitelkeiten und Thorheiten
mußt du Christum ausgeben! Ich meine,
Christum im Blick auf den praktischen Genuß. Du weißt,
daß du nicht zu gleicher Zeit den Herrn und jene Dinge
245
genießen kannst. Darum: du mußt diese Dinge für
Christum aufgeben. Zögerst du noch? O richte
dann deinen Blick auf das Kreuz! Wie hat Er dich geliebt!
Seine Liebe trieb Ihn in den Tod, in den Tod
für dich, um dich von deinen Sünden, von der Welt
und ihren Dingen, ja, von der ewigen Verdammnis zu
befreien. Wirf dich zu Seinen Füßen nieder mit aufrichtiger,
göttlicher Betrübnis! Du hast Sein Auge beleidigt,
Sein Herz betrübt, Seinen Namen verunehrt.
Bekenne Ihm alles; und deine Wiederherstellung wird
eine vollkommene sein, deine vergangenen Sünden werden
vergeben und vergessen werden für immer!
So lange dieses nicht geschieht, ist die Gemeinschaft
mit dem Herrn unterbrochen, die geistliche Gesinnung und
der Ernst des Herzens sind dahin. Du gehst rückwärts,
schneller und immer schneller; und wenn nicht der Herr
tu Seiner Gnade die Räder des Wagens zum Stehen
bringt, wer kann dann sagen, wie schnell und wie weit
er abwärts rollen wird? Vielleicht tritt etwas ein, das
Plötzlich den Rückgang aufhält; aber der Schaden, der
geschieht, läßt vielleicht für immer seine ernsten, beschämenden
Spuren zurück. Möge die Gnade des Herrn uns erleuchten
und viele in die Wüste zurückführen, die zu nahe am
Rande der Welt sich aufhalten und begehrliche Blicke über
die Linie der Absonderung hinüberwerfen! Ja, Herr,
entwöhne uns alle von dem gegenwärtigen, bösen Zeitlauf;
laß uns gekleidet sein in den bescheidenen, einfachen Schmuck
der Lilie für Dich allein! Bewahre uns vor der Sucht,
in den Augen der Welt glänzen zu wollen! Wahrlich,
teurer Herr, Deine Worte: „Wie eine Lilie inmitten der
Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter",
246
sind von unendlich höherm Werte als alles, was wir
um Deinetwillen aufgeben mögen!
„Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes,
so ist mein Geliebter inmitten der Söhne; ich habe mich
mit Wonne in seinen Schatten gesetzt, und seine Frucht
ist meinem Gaumen süß." (V. 3.) Aus verschiedenen
Stellen der Schrift (vergl. Joel 1, 12) geht hervor, daß
der Apfelbaum im Lande Palästina vielfach vorkam und
wegen seines kühlenden Schattens und seiner schmackhaften,
lieblich duftenden Frucht (vergl. Kap. 7, 8) allgemein
geschätzt wurde. Im Vergleich mit den gewöhnlichen
Bäumen des Waldes muß er ohne Zweifel dem müden,
durstigen Wanderer sehr begehrenswert erschienen sein.
Und so stellt auch die Braut einen Vergleich an zwischen
ihrem Geliebten und Andern. „Wie ein Apfelbaum unter
den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter inmitten
der Söhne." Niemand ist gleich Ihm. Er ist „ausgezeichnet
vor Zehntausenden"; und sie steht in dem vollen
Genusse dessen, was Er ist; nicht bloß Seiner Gaben,
so herrlich dieselben auch sein mögen, sondern Seiner selbst.
Hier finden wir eine völlige, persönliche Gemeinschaft.
Die Braut ist in dem ungetrübten Lichte Seiner Gunst
und Liebe, und ihre Antwort auf diese Liebe ist vollkommen.
Wenn Er sagt: „Wie eine Lilie inmitten der
Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter," so
erwidert sie: „Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen
des Waldes, so ist mein Geliebter inmitten der Söhne."
Welche Wunder hat die Gnade bewirkt! Zu welchen
Höhen leitet sie! Hätte der Jude, wenn er auch die
steilen Felsen des Sinai erstiegen hätte, je die Gegenwart
Gottes erreichen können? Nimmermehr. Alles muß Gnade
247
sein von Anfang bis zu Ende. Durch sie haben wir nicht
nur eine vollkommene Versöhnung, sondern sind auch in
die Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes eingeführt.
Und der Herr freut sich über das Werk Seiner Liebe,
wie geschrieben steht: „Erfreut sich über dich mit Wonne,
Er schweigt in Seiner Liebe, frohlockt über dich mit
Jubel." (Zeph. 3, 17.) Die Braut ruht ebenfalls in
dieser unveränderlichen Liebe. „Ich habe mich mit Wonne
in Seinen Schatten gesetzt, und Seine Frucht ist meinem
Gaumen süß." Ihre Seele findet Ruhe, Freude und
Ueberfluß. Das Herz nährt sich von Christo. Jedes
Bedürfnis ist gestillt. Sie fühlt sich bei Ihm zu Hause
und glücklich. Einst hatte sie einen andern Platz, den
Platz der Sünde und des Todes. Aber der Herr hat
sie daraus erlöst und sie an Seinen eigenen, Seinen
neuen Platz als der auferstandene Messias gebracht. Das
ist jetzt ihr Platz; sie kann nicht an beiden Plätzen zugleich
sein. „Unter dem Apfelbaum habe ich dich geweckt."
(Kap. 8, 5.) Der Apfelbaum ist Christus.
Israel wird, wie wir wissen, dermaleinst wieder aufgeweckt
werden aus seinem gegenwärtigen Zustande des
nationalen Todes, um die Segnungen des neuen Bundes
unter Christo zu genießen. Sie können aber nur aufgeweckt
werden durch Christum und den Segen erreichen
unter Christo. Barmherzigkeit ist der einzige Boden
für sie, vollkommene Hilflosigkeit ihr einziges Anrecht, und
Christus ihr einziger Weg. Wenn es einmal so weit
gekommen ist, so steht alles Wohl, für immer Wohl, für
Israel wie für die Nationen. Israel wird noch einmal
auf diesem Boden und unter diesem gesegneten Haupte
gesammelt werden. Dann werden sie unter Seinem Schat
248
ten sitzen im vollsten Sinne des Wortes, und Seine Frucht
wird ihrem Gaumen süß sein — die herrliche Frucht
Seiner wunderbaren Liebe, indem Er für das widerspenstige
Volk starb. „Und also wird ganz Israel errettet
werden, wie geschrieben steht: „Es wird aus Zion der
Erretter kommen. Er wird die Gottlosigkeiten von Jakob
abwenden"." (Röm. 11, 26.) „An jenem Tage, spricht
Jehova der Heerscharen, werdet ihr einer den andern
einladen unter den Weinstock und unter den Feigenbaum."
(Sach. 3, 10.) .
Ruhe.
Der ermüdete Arbeiter, der erschöpfte Wanderer, die
besorgte Mutter, welche die Nacht wachend am Bette ihres
Kindes zugebracht hat, der arme Dulder, der sich schlaflos
auf seinem Lager hin und her wälzt, — alle diese verlangen
nach Ruhe. Wer in gemächlicher Muße seine
Tage verbringen kann, schätzt sie nicht. Gerade so ist es
mit der Ruhe, die das Evangelium giebt. Es sind die
Mühseligen und Beladenen, die nach ihr verlangen; wer
mit sich selbst und seinem Leben zufrieden ist, lebt und
stirbt ohne sie.
Das Evangelium Gottes giebt uns vollkommene
Ruhe. Dem Sünder bringt es Ruhe für sein erwachtes
Gewissen; dem Gläubigen bietet es Ruhe für sein
Herz dar; und dem, dessen Gewissen und Herz befriedigt
ist, stellt es eine ewige Ruhe in der Herrlichkeit droben
in gewisfe Aussicht.
Seufzt einer unsrer Leser: „O daß ich Ruhe hätte
von der schweren Last meiner Sünden!"? Komm dann,
249
du Mühseliger und Beladener, mit deiner ganzen Last zu
Ihm, der unsere Sünden an Seinem eigenen Leibe auf
das Holz trug; zu Ihm, dessen Blut unser Gewissen ein
für allemal zu reinigen vermag! Laß nicht das Gefühl
deiner Sünden dich aufhalten, zu Ihm zu eilen; denn
gerade die Thatsache, daß du ihr Gewicht fühlst, beweist,
daß du einer der besonders Eingeladenen bist. Jesus
ladet a l l e Mühseligen und Beladenen zu sich. „Kommet
her zu mir!" Er ruft dich, Er streckt Seine Arme nach
dir aus. Laß dich deshalb weder durch deinen Unglauben
noch durch Satan zurückhalten. Siehe, dieselbe Hand, die
sich jetzt in errettender Liebe dir entgegenstreckt, wurde
einst um deinetwillen ans Kreuz genagelt. Dort floß
Sein kostbares Blut für dich. Kannst du noch länger
Seiner Einladung widerstehen? noch länger an Seiner
Liebe zweifeln?
Das Blut allein ist es, welches die Sündenlast wegnimmt
und dem armen, mühseligen Sünderherzen Ruhe
giebt; und je größer die Last, desto dringender ist das
Bedürfnis nach Ruhe. Der Herr sagt: „Kommet her
zu mir . . ., ich will euch Ruhe geben." Sein Leiden
und Sterben befreit alle diejenigen, die zu Ihm kommen,
für immer von dem überwältigenden Gewicht der Sünde.
Noch einmal denn, komme zu Ihm mit allen deinen
Sünden und lerne kraft Seines Opfers die Ruhe kennen,
welche Sein Blut für dein anklagendes Gewissen bereitet hat.
Doch es giebt, wie gesagt, noch eine andere Ruhe
als diejenige des Gewissens. Wir dürfen nicht denken,
daß ein Mensch, der der Vergebung seiner Sünden gewiß-
ist, schon den Gipfel des Berges erreicht habe; nein, ersteht
erst am Fuße desselben. „Kein Gewissen mehr von
250
Sünden zu haben" (Hebr. 10, 2), ist der Anfang der
christlichen Laufbahn, nicht ihr Ende. Die Beschwichtigung
der unaufhörlich anklägenden und verdammenden Stimme
des Gewissens ist gleichsam nur eine Vorbereitung auf
den Ausbruch deS Lobes und Dankes des Herzens. Ruhe
für das Gewissen wird erlangt durch den Glauben an
das, was Christus für uns gethan hat; Ruhe für das
Herz wird uns zu teil, indem wir Sein Joch auf uns
nehmen. „Nehmet auf euch mein Joch und lernet von
mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig,
und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen." O wie
mancher ruhelose Christ wandert umher auf dieser Erde!
Wie mancher, der auf die reinigende Kraft des Blutes
vertraut, der der Vergebung seiner Sünden und des
Himmels gewiß ist, geht doch mit einem unbefriedigten
Herzen einher! Der eigenwillige Sünder findet keine Ruhe
für sein Gewissen; denn er verwirft den einzigen Balsam,
der seine Wunden heilen könnte: das Blut Christi. Der
eigenwillige Gläubige findet keine Ruhe für sein Herz;
denn er weist das einzige Heilmittel für seine Krankheit
zurück: das Joch Christi, eine völlige Unterwerfung unter
das Wort und den Willen Gottes. Wie viele solch unglücklicher
Christen können wir täglich erblicken! Ihr Wille
ist ungebrochen, sie wollen sich nicht beugen; sie haben
keine Ruhe für ihre Seelen.
Als unser Herr und Meister hienieden pilgerte, war
Er der in allem gehorsame, abhängige Mensch; Er trug
das Joch, gehorchte Seinem Vater und erfüllte Seinen
Willen. Sünder mochten ihn verhöhnen, die Zecher in
ihren Liedern Ihn verspotten (Ps. 69, 12), die Pharisäer
Ihn mit Eifersucht verfolgen und Seine Jünger Ihn
251
mißverstehen und selbst tadeln — Er verließ keinem
Augenblick den Pfad des unbedingten Gehorsams. „Und",
sagte Er, „mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht."
Ohne Zweifel wird der Pfad des Gehorsams Prüfungen-
aller Art mit sich bringen; aber unser göttlicher Meister,
der jetzt droben in der Herrlichkeit thront, bittet uns„
Seinen Fußstapfen nachzufolgen. Er ladet dich ein,
mein lieber christlicher Leser, Sein Joch auf dich zu
nehmen und von Ihm zu lernen und dann die tiefe, köstliche
Ruhe des Herzens zu genießen, die Sein stetes Teil
hienieden war. Trägst du Sein Joch des Gehorsams?
Lernst du von Ihm, dem Sanftmütigen und von Herzen
Demütigen? Dann ist das Joch sanft und die Last leicht.
Es ist eine Last wie die Segel für ein Schiff oder wie
die Flügel für einen Vogel. Anstatt dich niederzudrücken,
leitet sie dich aufwärts, himmelwärts, heimwärts.
Solche nun, deren Gewissen durch das Blut Christi
in Ruhe gebracht sind und deren Herzen in Seiner Liebe
ruhen, sind wahrhaft fähig, zu Seiner Ehre zu wandeln.
An sie tritt die Ermahnung heran: „Laßt uns nun
Fleiß anwenden, in jene Ruhe einzugehen." (Hebr. 4, 11.)
In welche Ruhe? In die ewige Sabbathruhe Gottes, die
dem Volke Gottes noch übrigbleibt. Die Herrlichkeit
liegt vor uns. Hier befinden wir uns in der Wüste,
obwohl der gnädige Gott es nicht an Wasferguellen und
schattigen Palmbäumen (2. Mose 15, 27) fehlen läßt;
aber unsre Heimat ist droben. „Vorwärts!" sei deshalb
unser Wahlspruch. Laßt uns Fleiß anwenden, in jene
Ruhe einzugehen! Möge unser Leben von unserm Glauben
Zeugnis geben! Es ist jetzt nicht an der Zeit, stille zu
sitzen und der Ruhe zu pflegen. Wer kann erkennen, daß.
252
es uns wirklich Ernst ist mit unserm Bekenntnis, wenn
wir die Wüste zu unsrer Heimat machen? Wer wird uns
glauben, daß wir die Herrlichkeit erwarten, wenn wir
die Ehre dieser Welt suchend „Laßt uns Fleiß anwenden,"
sagt die Schrift; Gott sei Dank! nicht um errettet zu
werden, sondern weil wir errettet sind; nicht um
Ruhe zu finden im Blick auf unsere Sünden, sondern
weil wir Ruhe gefunden haben, weil wir zu Gott gebracht
sind und Ihm angehören für immer und ewig.
Der Herr gebe uns Gnade, daß unser tägliches
Verhalten nicht einmal den Anschein erwecken möchte, als
ob einer von unS auf dem Wege zurückbliebe! Laßt uns
daran gedenken, daß, wenn wir hienieden eine Ruhestätte
suchen und diese Welt zu unsrer Heimat machen, wir der
zukünftigen Ruhe verlustig zu gehen scheinen. Welch ein
Schaden für uns, welch ein Anstoß vielleicht für andere,
und vor allem, welch eine Unehre für den Herrn! Wenn
einmal diese arme Welt vorübergegangen und Gottes
ewige Sabbathruhe angebrochen sein wird, welchen Wert
werden dann noch die gegenwärtigen Dinge für uns haben,
die jetzt so leicht unser Herz gefangen nehmen, unsern
Wettlauf aufhalten und unser Zeugnis für Gott schwächen?
Absolut keinen! Sollten sie denn heute mehr Wert für
uns haben als dann?
„Fürchten wir uns nun, daß nicht etwa, da
eine Verheißung, in Seine Ruhe einzugehen, hinterlassen
ist, jemand von euch zurückzubleiben scheine!"
(Hebr. 4, 1.)
Würdig der Berufung Gottes.
Die Berufung Gottes ist die Grundlage des christlichen
Wandels. Wir sind durch dieselbe in unmittelbare
Beziehung zu Gott gebracht, und zwar gemäß der voll-
kommnen Offenbarung Seiner selbst in Christo. Diese
Thatsache verleiht unsrer Berufung den erhabensten Charakter
und stellt uns in die höchsten Beziehungen, in welche je
eine Kreatur zu Gott gestellt werden kann. Die Engel
stehen in Beziehung zu Gott als ihrem Schöpfer und
Gebieter; sie sind die „Gewaltigen an Kraft, Thäter
Seines Wortes, gehorsam der Stimme Seines Wortes".
(Ps. 103, 20.) Israel steht in Beziehung zu Ihm als
dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, als dem ewigen
„Ich bin". Dem Abraham hatte Er sich geoffenbart als der
„Allmächtige" und ihm unbedingte Verheißungen gegeben,
nach welchen Israel das erste Volk der Erde bilden
und mit allen irdischen Segnungen gesegnet werden sollte.
(1. Mose 12, 2. 3; 17, 1; 2. Mose 3, 6. 14-16.) Die
übrigen Nationen werden betrachtet als „keine Hoffnung
habend und ohne Gott in der Welt" (Eph. 2, 11. 12),
aber verantwortlich für die Gnadenheimsuchung während
der Zeit, in welcher Gott die Kirche aus ihnen sammelt.
Später werden sie Gott als den „Höchsten" anerkennen,
und unter Seiner Regierung mit Israel gesegnet sein.
Unsre Beziehungen zu Gott aber sind ganz andrer Natur.
254
Wir kennen Ihn als den „Gott und Vater unsers Herrn
Jesu Christi" (Eph. 1, 3), und alles, was Gott für
Christum ist, ist Er auch für uns. Wer könnte die Tiefen
und Höhen dieses Verhältnisses zwischen dem Vater und
dem Sohne ergründen? Wer dessen Innigkeit und Liebe
ermessen? Was im ganzen Weltall könnte mit Ihm verglichen
werden, der von Ewigkeit her im Schoße des
Vaters war und durch den alle Dinge sind? Und wir
sind Kinder Gottes durch Ihn, „gesegnet mit aller geistlichen
Segnung in den himmlischen Oertern in Christo",
und haben teil an dem „unausforschlichen Reichtum des
Christus". (Eph. 1, 3-5; 3, 8.)
Selbstredend können wir nie die Herrlichkeit Seiner
Person teilen; aber es ist diese herrliche und erhabene
Person, in welcher wir vor Gott dargestellt sind, wie
geschrieben steht: „denn in Ihm wohnt die ganze Fülle
der Gottheit leibhaftig; und ihr seid vollendet in Ihm,
welcher das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt
ist." (Kol. 2, 9. 10.) Kein Geringerer als Er, der
„das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborne aller
Schöpfung ist", Er, durch den „alle Dinge erschaffen
worden sind, die in den Himmeln und die auf der Erde,
die sichtbaren und unsichtbaren, es seien Throne oder
Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten", Er, der
in allen Dingen den Vorrang haben muß, — Er ist das
Haupt des Leibes, der Versammlung. (Kol. 1,15—19.)
Er, der „Geliebte", der „Sohn Seiner (des Vaters) Liebe",
ist der Maßstab unsrer Beziehungen zu Gott und der uns
zu teil gewordenen Gnade. Gott hat uns begnadigt „i n
dem Geliebten", hat uns errettet aus der Gewalt der
Finsternis und versetzt in das Reich deS Sohnes Seiner
255
Liebe. (Eph. 1, 6; Kol. 1, 13.) Gleicherweise werden
wir auch mit denselben Namen bezeichnet wie Er. Von
Ihm wird gesagt: „Siehe, mein Knecht, den ich erwählt,
mein Geliebter, an welchem meine Seele Wohlgefallen
gefunden hat"; und wir werden genannt: „Auserwählte
Gottes, Heilige und Geliebte". (Matth. 12,18; Kol. 3,12.)
Wir stehen also in Beziehung zu Gott in Christo
— eine Beziehung, in welche weder ein Engel (wie erhaben
seine Stellung auch sein mag), noch Israel (wie herrlich auch
seine Verheißungen sind), noch irgend eine andere Kreatur
gestellt ist. Wir sind in Ihm, in welchem die Fülle der
Gottheit — Vater, Sohn und Heiliger Geist — wohnt.
Infolge dessen sind wir berufen, erstens zu wandeln als
„Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder" (Eph. 5, 1),
zweitens zu wandeln „würdig des Herrn zu allem Wohlgefallen"
(Kol. 1, 10), und drittens mit Fleiß „die Einheit
des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens".
(Eph. 4, 3.)
Indessen ist es wichtig daran zu denken, daß unsre Berufung
in keinerlei Weise abhängig ist von unserm Wandel;
sie bildet vielmehr die Grundlage desselben. Sie ist eine
feststehende, unumstößliche Thatsache, beschlossen in den ewigen
Ratschlüssen Gottes und gegründet auf das Werk Christi.
Wir können nicht ermahnt werden, auf Grund von
Verhältnissen zu wandeln, die in Wirklichkeit nicht für uns
bestehen. Ein Engel z. B. ist nicht berufen, als ein Kind
Gottes oder als ein Glied des Leibes Christi zu wandeln,
weil diese Verhältnisse nicht für ihn da sind. Für uns
aber bestehen sie, und so müssen sie notwendigerweise die
Grundlage oder den Ausgangspunkt unsers Wandels bilden.
Und da es keine höheren Beziehungen giebt als die, in
256
welche wir gestellt sind, so muß selbstverständlich jede andere
Grundlage niedriger sein, und der daraus hervorgehende
Wandel kann nicht mehr auf der Höhe der eigentlich
christlichen Berufung stehen. Mag er auch noch so
aufopfernd und hingebend sein, er trägt nicht das wirkliche
Gepräge der Berufung Gottes. Wie können z. B.
Gläubige die Einheit des Geistes bewahren, wenn ein jeder
von ihnen sagt: „Ich bin des Paulus, ich aber des
Apollos, ich aber des Kephas, ich aber Christi" ? (1. Kor.
1, 12.) Solche Gläubige stehen von vornherein nicht
mehr auf dem Boden der Einheit des Geistes. Oder wie
werden wir getrennt von der Welt und ihren Grundsätzen,
würdig des Herrn, wandeln, wenn nicht Sein Tod und
unser Gestorbensein mit Ihm der Ausgangspunkt unsers
Wandels ist? Wir mögen dann vielleicht gerecht und tadellos
in unserm äußern Verhalten sein, aber das war Paulus
vor seiner Bekehrung auch, und doch war er zu jener Zeit
ein Feind Christi. DaS „Ich" bildete die Grundlage
seines Verhaltens und nicht Christus. (Phil. 3, 4—6.)
Zunächst also sind wir durch unsre Beziehung zum
Vater als Kinder befähigt, Nachahmer Gottes zu sein.
Wir sind Kinder, weil Gott „uns zuvorbestimmt hat zur
Sohnschaft durch Jesum Christum für sich selbst nach dem
Wohlgefallen Seines Willens". (Eph. 1, 5.) Wir haben
nichts dazu beigetragen, es sei denn daß unsre Sünden
der Anlaß zur Offenbarung dieser wunderbaren Gnade
wurden. Denn was anders konnten wir aufweisen als
unsre Sünden? Wir waren tot in Vergehungen und
Sünden; dennoch hatte Gott Gedanken der Gnade und des
Friedens über uns, und zwar schon vor Grundlegung der
Welt. Es war Sein Ratschluß, das Wohlgefallen Seines
257
Willens, ja noch mehr, es war das Bedürfnis Seines
Herzens, daß wir Seine Kinder sein sollten; Er wollte
uns „für sich selbst" haben. Sein eignes Herz findet
eine Befriedigung darin, Kinder zu haben. Das woran
Er zuerst dachte, war nicht, die Welt mit glücklichen Geschöpfen
zu füllen, die, zu einem Chor vereinigt, Sein
Lob verkündigen sollten (vergl. Psalm 103, 20—22),
sondern Kinder zu haben für Sein Herz und für Sein
Haus. Das war vor allem das Verlangen Seiner Liebe.
Welch einen Platz haben wir in Seinem Herzen! Möchten
wir dies mehr verstehen! Dann würden wir auch besser
erkennen, was Er für uns als Vater ist.
Daß Gott nicht die Engel, diese Gewaltigen an
Kraft, zu einem solch bevorzugten Platze ausersehen hat,
sondern unS, die wir Sünder und Feinde waren, ist
„zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade". (Eph.
1, 6.) Wir haben die Vergebung unsrer Sünden „nach
dem Reichtum Seiner Gnade" (Eph. 1, 7); aber
daß wir, so tief gefallene Geschöpfe, Kinder sein sollten,
zeugt von der Herrlichkeit Seiner Gnade. Das Maß
dieser Gnade entspricht dem Werte, den Christus in Gottes
Augen hat. Er ist der „Geliebte", und wir sind begnadigt
(oder: annehmlich gemacht) worden „in dem Geliebten".
Dementsprechend nannte der Herr Seine Jünger „Brüder"
und ließ ihnen sagen: „Ich fahre auf zu meinem Vater
und euerm Vater, und zu meinem Gott und euerm Gott."
(Joh. 20, 17.)
Wir sind also Kinder nach dem ewigen Ratschluß
Gottes, und sind es ferner „durch Jesum Christum".
(Ephes. 1, 5.) Er hat diesen Ratschluß ausgeführt, indem
Er durch Seinen Tod unsre Sünden gesühnt und
258
uns in Seiner Auferstehung in der Macht des Lebens
mit sich eins gemacht hat. Durch Jesum Christum vollkommen
gereinigt und befreit gemäß den Anforderungen
eines heiligen und gerechten Gottes, sind wir passend gemacht
für Seine Gegenwart durch Ihn. Wir sind vor
Gott nach dem Werte und dem Wohlgeruch der Person
und des Werkes Christi, „heilig und tadellos in Liebe".
(Eph. 1, 4; 5, 2.)
Aber mehr noch; wir haben auf Grund des Werkes
Christi auch den Geist der Sohnschaft empfangen, durch
welchen wir rufen: Abba, Vater! (Röm. 8,15; Gal. 4, 6.)
Wir haben also ein Zeugnis in uns, daß wir Kinder
sind, denn „der Geist selbst zeugt mit unserm Geiste, daß
wir Kinder Gottes sind". (Röm. 8, 16.) Wir sind nicht
nur durch das kostbare Werk Christi passend gemacht für
die Gegenwart GotteS, sondern sind auch durch den in
uns wohnenden Geist der Sohnschaft befähigt, die Liebe
des Vaters zu kennen und zu genießen.
Ferner sind wir Kinder, weil wir aus Gott geboren
und auf diese Weise des Lebens aus Gott, der göttlichen
Natur teilhaftig geworden sind. (1. Joh. 2, 29; 3, 1. 2.)
Johannes giebt in den eben angeführten Kapiteln die
äußern Kennzeichen der göttlichen Natur in den Kindern
Gottes an, zum Beweise dafür, daß sie aus Gott geboren
sind. „Wenn ihr wisset, daß Er gerecht ist, so erkennet,
daß jeder, der die Gerechtigkeit thut, aus Ihm geboren
ist." — „Hieran sind offenbar die Kinder Gottes und
die Kinder des Teufels. Jeder, der nicht Gerechtigkeit
thut, ist nicht aus Gott, und wer nicht seinen Bruder
liebt." (Kap. 3, 10.) Gerechtigkeit und Liebe sind die
Kennzeichen der göttlichen Natur, denn Gott ist Licht und
259
Liebe. (1. Joh. 1, 5; 4, 8.) Nicht daß wir für uns
selbst jene Beweise nötig hätten, um uns zu überzeugen,
daß wir Kinder Gottes sind; das hieße das Bewußtsein
unsrer Kindschaft von unserm Wandel abhängig machen,
wie leider viele Gläubige es thun und deshalb steten
Zweifeln unterworfen sind. Das lag durchaus nicht in
der Absicht des Apostels, als er jene Kennzeichen anführte.
Er wollte vielmehr zeigen, daß die Kinder Gottes auch
die Natur Gottes haben, weil sie aus Gott geboren sind,
und daß sich diese Natur nie anders in ihnen offenbart
als in Gott selbst.
Die Ermahnung, Nachahmer Gottes zu sein, ist
daher für uns eine Bestätigung des hohen Vorrechts, daß
wir Kinder Gottes und Seiner Natur teilhaftig geworden
sind. Dies tritt noch klarer ans Licht durch die Worte:
„Und wandelt in Liebe, gleichwie auch der Christus
uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als
Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden
Wohlgeruch." (Ephes. 5, 1. 2.) Gleichwie wir betreffs
unsrer Stellung mit Christo auf gleichen Boden gestellt
sind, indem Sein Vater unser Vater und Sein Gott unser
Gott ist, so sind wir es auch hinsichtlich unsers Wandels.
Wir sind berufen, so zu wandeln, wie Er gewandelt hat.
Dieser Gleichstellung mit Ihm begegnen wir an verschiedenen
Stellen der Schrift. So heißt es z. B.: „Sie sind nicht
von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin."
„Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner
Liebe bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters
gehalten habe und in Seiner Liebe bleibe." „Gleichwie
mich der Vater geliebt hat, habe auch ich euch
geliebt." „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden,
260
auf daß wir Freimütigkeit haben am Tage des Gerichts,
daß, gleichwie Er ist, auch wir sind in dieser Welt."
(Joh. 17, 16; 15, 9. 10; 1. Joh. 4, 17.) Diese
Stellen bezeugen neben vielen andern die Natur unsers
Verhältnisses zu dem Gott und Vater unsers Herrn Jesu
Christi. Wir sind heilig und tadellos in Beziehung zu
„Gott", geliebte Kinder in Beziehung zu dem „Vater".
Das ist die Grundlage unsers Wandels als Nachahmer
Gottes.
Was den zweiten Punkt, den Wandel „würdig des
Herrn zu allem Wohlgefallen", betrifft, so kennzeichnet sich
dieser dadurch, daß er der Liebe Christi und den Beziehungen
entspricht, in welche wir zu Ihm gebracht sind. Die Versammlung
ist Seine Braut und Sein Leib; sie ist daher
der Gegenstand Seiner zärtlichsten Liebe. Gleichwie wir
schon vor Grundlegung der Welt einen Platz als Kinder
im Herzen Gottes hatten, so war auch die Versammlung
schon der Gegenstand der Liebe Christi, als sie noch sündig
und unrein war. Er hat sie geliebt und sich selbst für
sie hingegeben, auf daß Er sie heiligte, sie reinigend durch
die Waschung mit Wasser durch das Wort, auf daß Er
sich selbst die Versammlung verherrlicht darstellte, die nicht
Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern daß
sie heilig und tadellos sei. (Eph. 5, 25—27.) Die Versammlung
lag in demselben Verderben wie das ganze
Menschengeschlecht; aber Christus liebte sie. Statt daß
ihr Zustand ein Hindernis für Seine Liebe gewesen wäre,
wurde er vielmehr der Anlaß zu einer um so größeren
Offenbarung derselben: Er gab sich selbst für sie hin. Er
hat sie erlöst durch diese Seine Hingabe in den Tod.
Aber das ist es nicht, was der Heilige Geist in jener
261
Stelle hervorheben will, sondern vielmehr Seine unendliche
Liebe zu ihr: Er hat sie mehr geliebt als Sein eignes
Leben. Dieser Seiner Liebe und Herrlichkeit entsprechend
stellt Er sie sich selbst verherrlicht dar ohne Flecken oder
Runzel. Wie der Vater Kinder haben wollte für sich
selbst, so will der Herr die Braut haben für sich selbst,
zur Befriedigung Seines Herzens. Welch eine Uebereinstimmung
im Blick auf uns zwischen dem Vater und dem
Sohne! Welch ein tiefes Interesse haben Beide an uns!
Es übersteigt alle anderweitigen Interessen, mag es sich
nun um das ganze Weltall oder um alle himmlischen
Heerscharen handeln. Wie der Vater uns auserwählt
hatte vor Grundlegung der Welt zur Sohnschaft, so hat
Er uns dem Sohne gegeben aus der Welt. Er hat uns
aus der Welt herausgenommen als solche, die nicht dieser,
sondern Ihm angehören, und hat uns dem Sohne Seiner
Liebe geschenkt, dessen Interessen bezüglich dieser Gabe
vollkommen eins mit den Seinigen sind. „Ich habe deinen
Namen geoffenbart den Menschen, die du mir aus der
Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir
gegeben." (Joh. 17, 6.)
Wie nach den Gedanken Gottes Mann und Weib
ein Fleisch sind, so sind wir eins mit Christo, „Glieder
Seines Leibes, von Seinem Fleische und von Seinen Gebeinen",
und diesem Verhältnis entsprechend nährt und
pflegt Er die Versammlung. (Eph. 5, 29. 30.) Er versäumt
sie keinen Augenblick. Wie könnte Er es auch, da
es ja so zu sagen in Seinem eigenen Interesse liegt, sie
Zu nähren und zu pflegen, denn sie ist Seine Versammlung,
Seine Braut, Sein Leib. „Wer sein Weib liebt, liebt
sich selbst. Denn niemand hat jemals sein eignes Fleisch
262
gehaßt . . . rc." Wie niedrig auch der praktische Zustand
der Versammlung, und wie schwach ihre Liebe zu Christo
sein mag, so ist und bleibt sie doch der Gegenstand Seines
Herzens und Seiner unveränderlichen Liebe. „Denn
die Liebe ist gewaltsam wie der Tod, hart wie der Scheol
ihr Eifer; ihre Gluten sind Feuergluten, eine Flamme
Jahs. Große Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen,
und Ströme überfluten sie nicht." (Hohel. 8, 6. 7.)
Mein lieber Leser! wer ist es, der uns so unaussprechlich
lieb gehabt hat, daß Er sich selbst für uns hingeben
konnte? Wer hat uns in ein solch inniges Verhältnis
mit sich gebracht und die Versammlung zu Seiner
Braut und Seinem Leibe erkoren? Es ist der Fürst der
Könige der Erde, ja noch mehr, der Erstgeborne aller
Schöpfung, der Sohn Gottes, der Eingeborne des Vaters!
Er ist es, „der uns liebt und uns von unsern Sünden
gewaschen hat in Seinem Blute, und uns gemacht hat
zu einem Königtum, zu Priestern Seinem Gott und Vater."
(Offbg. 1, 5. 6.) Die Frage, was eines solchen Herrn,
einer solchen Liebe und eines solchen Verhältnisses würdig
ist, kann sich wohl jeder Gläubige selbst beantworten. Er
kann leicht verstehen, daß ein Wandel nach kalten, trocknen
und gesetzlichen Vorschriften hier nicht genügt, sondern
daß die Liebe Christi die alleinige Triebfeder sein
muß. Es ist nicht gethan mit einem bloß sittlichen, ehrbaren
Wandel; Seine Liebe macht Ansprüche auf unsre
Herzen. Ein Mann, der sein Weib von ganzem Herzen
liebt, kann nicht durch eine noch so pünktliche und gewissenhafte
Besorgung seines Hauswesens befriedigt werden;,
seine Liebe verlangt nach Gegenliebe. Und sicherlich wird
ein Weib, das seinen Mann wirklich liebt, ihn auch als
263
solchen achten und ehren durch Unterwürfigkeit. Diese
Unterwürfigkeit nun ist auch der thatsächliche Beweis
unsrer Liebe zum Herrn. Wir haben gesehen, daß Seine
Liebe nicht von unserm Verhalten abhängt; aber um so
mehr muß es Ihn betrüben, wenn Ihm unserseits die
schuldige Anerkennung und Achtung versagt wird, oder
wenn gar statt dieser Dinge Gleichgültigkeit und Geringschätzung
in unserm Verhalten zu tage treten. Möchten
wir uns in der That der hohen Berufung, der Braut
und dem Leibe Christi anzugehören, würdig erweisen durch
einen Wandel in aller Ehrfurcht und Unterwürfigkeit; denn
das ist die Frucht eines wirklichen Verständnisses Seiner
unaussprechlichen Liebe!
Was den dritten Punkt, die Bewahrung der Einheit
des Geistes, anlangt, so bedürfen wir dazu zunächst der
Anerkennung, daß diese Einheit eine feststehende Thatsache
ist. Und in der That, sie ist das Werk des Heiligen
Geistes, eine Schöpfung Seiner Hand, ebenso voll und
ganz, wie die Erlösung das Werk Christi ist. Und wie
diese den Beweis der unaussprechlichen Liebe Christi erbringt,
so ist die Zusammenfügung der Gläubigen zu
einem Leibe ein Zeugnis von der göttlichen Macht und
Weisheit des Heiligen Geistes. „Da ist ein Leib und
ein Geist." Wie verschieden auch die Gläubigen nach
ihren Sprachen, Ständen und Charakteren sein mögen,
so sind sie dennoch eins durch die Thatsache, daß ein
Geist in ihnen allen wohnt, in ihnen wirkt und sie leitet.
Und zwar wohnt Er nicht vorübergehend, sondern bleibend
in ihnen, wie geschrieben steht: „Und ich werde den Vater
bitten, und Er wird euch einen andern Sachwalter geben,
daß Er bei euch sei in Ewigkeit . . . ; denn Er bleibt
264
bei euch und wird in euch sein." (Joh. 14, 16. 17.)
So wenig wie unser Verhältnis zu Christo von unserm
Verhalten abhängig ist, so wenig wird auch die Einheit
des Geistes davon beeinflußt. So wenig wie die Gläubigen
jemals aufhören können, Kinder Gottes oder der
Leib Christi zu sein, so wenig können sie aufhören, einen
Leib zu bilden, weil der Heilige Geist nie aufhören wird,
in ihnen zu sein. Alle diese unsre Beziehungen sind
gegründet auf den ewigen Ratschluß Gottes, das Werk
Christi und die Macht des Heiligen Geistes, und bestätigt
durch das geschriebene Wort Gottes. Darum kann keine
Macht des Feindes dieselben zunichte oder ungültig machen.
Sie sind und bleiben daher die Grundlage des
christlichen Wandels, aber sie sind nicht die Kraft desselben;
denn diese besteht in unsrer Abhängigkeit von
Christo und in der Leitung des Heiligen Geistes. So
unwandelbar, vollkommen und erhaben auch unsre Beziehungen
zu Gott sind, wird doch das Fleich in uns nicht
durch sie verändert; vielmehr nimmt es Anlaß aus ihnen,
sich zu erheben, und dies um so mehr, je größer unsre
Erkenntnis ist. Keiner der Gläubigen hat wohl je so
hohe Offenbarungen betreffs unsrer Stellung in Christo
gehabt, wie Paulus. Er war als „Mensch in Christo"
in den dritten Himmel und in das Paradies entrückt
worden, und hatte dort unaussprechliche Worte gehört,
welche der Mensch nicht sagen darf. (2. Kor. 12.) Er
hatte dort gesehen und gehört, was ein „Mensch in Christo",
was dessen Platz und Stellung nach den Gedanken Gottes
ist, aber das Fleisch hatte keinen Anteil daran; denn er
wußte nicht, ob er im Leibe oder außer dem Leibe dort
gewesen war. Aber sobald er in seinen gewöhnlichen Zu
265
stand zurückgekehrt war, suchte das Fleisch in ihm diese
hohe Offenbarung zu seiner Selbsterhebung zu benutzen,
so daß Gott ihm zu Hilfe kommen mußte. „Und auf
daß ich mich nicht durch die Ueberschwenglichkeit der Offenbarungen
überhebe, wurde mir ein Dorn für das Fleisch
gegeben, ein Engel des Satan, auf daß er mich mit
Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe." (Vers 7.)
Dieser einzige Fall beweist, wenn es überhaupt noch eines
Beweises bedürfte, daß wir in uns selbst nur schwache
Gefäße sind, weil das Fleisch noch in uns ist. Nur in
dem Maße, wie wir unsrer Schwachheit eingedenk bleiben,
kann die Kraft Christi in und durch uns wirken. Wir
müssen mit dem Apostel die ernste und selige Bedeutung
der Worte verstehen lernen: „Meine Gnade genügt dir,
denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht."
(VerS 9.) Wir haben im Blick auf uns wahrlich nur
Ursache, demütig und klein zu bleiben. Der Herr gebe
uns Gnade, uns selbst beständig für tot zu halten, und
immer daran zu denken, daß nicht außer uns, sondern in
uns das größte Hindernis für die Offenbarung der Kraft
Christi liegt!
Das ist wahr in all den Beziehungen unsrer Berufung.
Wie die Einheit der Gläubigen durch den Heiligen
Geist gemacht ist, so kann sie auch nur durch Seine
Kraft bewahrt werden; und dies bedingt ein demütiges
Warten auf Seine Leitung und. Wirksamkeit. Wo dieses
Warten vorhanden ist, wird Seine Gegenwart gefühlt, und
durch Ihn einerlei Gesinnung, dieselbe Liebe, Einmütigkeit
und einerlei Sinn in allen gewirkt werden. (Phil. 2, 2.)
Alle Parteisucht samt den häßlichen Regungen des Fleisches
wird aus der Mitte der Gläubigen fern bleiben,
266
und alle werden in Unterwürfigkeit gegen einander in der
Furcht Christi bewahrt werden.
Möchten wir nie vergessen, daß „Demut" die erste
notwendige Eigenschaft ist, um würdig wandeln zu können
der Berufung Gottes! „Ich ermahne euch nun, ich, der
Gefangene im Herrn, daß ihr würdig wandelt der Berufung,
womit ihr berufen worden seid, mit aller Demut
und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe."
(Eph. 4, 1. 2.)
„Sein Panier über mir ist die Liebe."(Hohel. 2, 4—7.)
„Er Hatz mich in das Haus des Weines geführt,
und Sein Panier über mir ist die Liebe." (V. 4.) Indem
wir die verschiedenen Scenen der Freude betrachten,
in welche die glückliche Braut durch den König eingeführt
wird, müssen wir einen Augenblick bei der Quelle dieser
vielen Segensströme verweilen. Es ist das Vorrecht des
Gläubigen, sowohl aus der Quelle als auch aus dem Strome
zu trinken. Gott selbst ist die Quelle aller unsrer Segnungen.
Die Freuden, die zu Seiner Rechten sich finden,
sind zahllos.^ Aber die tiefe Quelle des vollsten, reichsten
Segens ist die glückselige Gewißheit, daß nichts, gar
nichts nötfig war, um das Herz Gottes uns
zuzuwenden. Kostbare Wahrheit! Seine Liebe ist
gleich dem Ringe, der an die Hand des verlornen Sohnes
gelegt wurde; sie hat weder Anfang noch Ende. „Gott
ist Liebe." Er verändert sich nicht. Und darum sind uns
die reichen Segnungen Seiner Liebe für immer gesichert,
nicht durch das, was wir sind, sondern durch das,
267
was Er ist. „Hierin ist die Liebe: nicht daß wir
Gott geliebt haben, sondern daß Er uns geliebt und
Seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere
Sünden." (1. Joh. 4, 10.)
Hier ist der vollkommene Ruheplatz des Glaubens:
das Herz Gottes, die Urquelle alles wahren Glückes. Wie
könnte ich jemals an der Liebe zweifeln, die den einge-
bornen Sohn dahingab? Welch eine Antwort auf jede
Frage: Er gab Seinen Sohn für mich, den Sünder, dahin!
„Gott aber erweist Seine Liebe gegen uns darin, daß
Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben
ist." (Röm. 5, 8.) Was ist Unglaube? Das Nicht-Glauben
an die Güte Gottes, der Seinen Sohn für uns in den
Tod gab. Was ist Glaube? Das Glauben an die vollkommene
Liebe GotteS und die Gabe Seines geliebten
Sohnes. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein
Wort hört und glaubt Dem, der mich gesandt hat, hat
ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er
ist aus dem Tode in das Leben hinübergegangen."
(Joh. 5, 24.)
Es bedurfte nicht des Werkes Christi, um das Herz
Gottes dem Sünder zuzuwenden, sondern um das Herz des
Sünders zu Gott zu kehren. Die ganze Schrift bezeugt
diese herrliche Wahrheit. Die erste Gelegenheit zu ihrer
Offenbarung gab der Fall des Menschen im Garten Eden.
Das schuldige Menschenpaar suchte einen Bergungsort vor
dem Angesicht des Herrn hinter den Bäumen des Gartens;
aber die Stimme Dessen, der da kam, um zu
suchen und zu erretten, was verloren ist, schlug in gnadenreichen
Lauten an ihr Ohr: „Adam, wo bist du?" Der
Mensch war jetzt ein verlorner Sünder, und Gott suchte
268
ihn. Die ersten Worte der erlösenden Liebe kennzeichnen
das ganze Werk der Erlösung; und die Offenbarung der
Liebe in der Verheißung, daß der Same des WeibeS der
Schlange den Kops zertreten solle, gewann ohne Zweifel
das Vertrauen der beiden Gefallenen und gab ihnen Mut,
aus ihrem Versteck hervorzukommen und in die Gegenwart
Gottes zu treten. Und so ist es seitdem immer gewesen.
Wenn der Sünder durch die Gnade dahin geführt wird,
an die vollkommne Liebe Gottes, wie sie sich in der
Gabe und dem Werke Seines Sohnes geoffenbart hat, zu
glauben, so tritt er mit Vertrauen in die Gegenwart
Gottes, in den vollen Besitz dessen, was der Tod, die
Auferstehung und Verherrlichung des Herrn Jesu für ihn
erworben haben. Eine völlige Vergebung wird ihm zu
teil, er wird angenommen in dem Geliebten, und die
Wünsche des Herzens Gottes gegen ihn werden vollkommen
befriedigt.
Aber obgleich die Liebe Gottes gegen uns stets dieselbe
war, gab es doch vieles in uns, das ihr volles und
freies Ausströmen verhinderte. Gott ist ebensowohl gerecht
als die Liebe. Er ist gerade so heilig wie barmherzig.
Er muß stets in Uebereinstimmung mit sich bleiben. Was
aber die Liebe wünschte, hat Seine Weisheit ersonnen
und Seine Macht zu stände gebracht. Die
Beseitigung der Hindernisse zeugen von der Größe Seiner
Liebe. Jesus kam, um den Willen Gottes zu thun. Er
vollbrachte das Werk. Er brachte das Opfer, das zur
Abschaffung der Sünde notwendig war. Die Liebe, die
göttliche, ewige Liebe, konnte nicht mehr thun, als sie
gethan hat. Zu welchem Zwecke, mein lieber Leser, wurde
jenes große, geheimnisvolle Opfer gebracht? Der Apostel
269
antwortet: „damit Er uns zu Gott führe". Nicht bloß
in den Himmel, sondern zurück zu Gott selbst, zu der
Erkenntnis Gottes und zu der vollkommenen Versöhnung
mit Ihm. „Denn es hat ja Christus einmal für Sünden
gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß
Er uns zu Gott führe." (1. Petr. 3, 18.) Und
an einer andern Stelle steht geschrieben: „Ihn, der Sünde
nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht, auf
daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm." (2. Kor.
5, 21.) So finden wir also beides in Christo: Liebe
und Gerechtigkeit. Beide sind unser in Ihm. Auch
ist Er als der auferstandene Jesus unser Leben, und
zwar ein Leben, das jenseit des Grabes liegt und den
Stempel des Sieges über Tod und Grab trägt. Wir
besitzen schon jetzt in Christo alles, was uns für die
unmittelbare Gegenwart Gottes passend macht, dort, wo
es eine Fülle von Freuden und Lieblichkeiten giebt auf
immerdar.
In Gemeinschaft mit Jesu erfreut sich die Braut
hier alles dessen, woran Er selbst Seine Freude findet.
Sie suchen gleichsam gemeinschaftlich die vielen Quellen
göttlichen Glückes auf. Er leitet sie zu den Brunnen des
„lebendigen Wassers". Am Morgen des Tages sagt sie:
„Der König hat mich in Seine Gemächer geführt." Ein
wenig später sieht man sie mit Ihm in dem Gefilde, wo
Er Seine Herde weidet und am Mittag lagern läßt.
Noch weiter am Tage sagt sie: „Unser Lager ist frisches
Grün; die Balken unsrer Behausung sind Cedern, unser
Getäfel Cypressen." Nachher saß sie unter dem Apfelbaum,
dessen Frucht ihrem Gaumen süß war. Und jetzt, am
Schluffe des Tages, wie wir wohl sagen dürfen, wird sie
270
von ihrem Geliebten zu dem Weingelage geführt unter
dem Panier Seiner Liebe. Die offen und frei ausströmende
Liebe des Bräutigams ist das Geheimnis aller ihrer
Freuden, die Quelle aller ihrer Genüsse.
Lange, lange Zeit hat das Panier der Liebe des
Herrn für Israel gleichsam zusammengerollt gelegen. Der
Glaube hat immer gewußt, daß nach Gottes Ratschlüssen
es nur für eine Zeit beiseite gelegt ist, sicher geborgen
in dem Worte der Verheißung, wiewohl nicht öffentlich
entfaltet. Manche fromme Männer haben gesagt und
geschrieben, daß das Banner der Gunst Jehovas nimmer
wieder über Seinem alten Zion wehen werde. Sie haben
die Wahrheit Gottes bezüglich des Wiederaufbaues der
Stadt und des Tempels und der Wiederherstellung Israels
übersehen; andere haben sie vergeistlicht. Was aber sagt
die Schrift? Seitdem „der hochgeborene Mann", von
dem wir im Gleichnisse hören, „in ein fernes Land gezogen
ist, um ein Reich für sich zu empfangen und wiederzukommen",
hat kein Banner göttlicher Liebe über
Jerusalem geweht. Schon mehr als achtzehnhundert Jahre
haben die geliebte Stadt und der herrliche Tempel in
Trümmern gelegen, und die Einwohner sind nach allen vier
Winden des Himmels zerstreut werden. Der Herr selbst hat
dies wiederholt vorhergesagt: „Jerusalem, Jerusalem, die
da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt
sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen,
wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel,
und ihr habt nicht gewollt. Siehe, euer Haus wird euch
wüste gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von
jetzt an nicht sehen, bis ihr sprechet: Gepriesen sei, der
da kommt im Namen deS Herrn!" (Matth. 23, 37—39.)
271
Der Herr hat, wie wir wissen, Seine Rückkehr verzögert,
und zwar in reicher Gnade gegen uns. Seine
Liebe ist stets thätig gewesen, wenn auch nicht in Israel.
Seine Langmut ist Errettung. (Vergl. 2. Petr. 3, 9.)
Aus Juden und Heiden hat Er durch die Kraft des Heiligen
Geistes, mittelst der Predigt des Evangeliums, ein Volk
berufen für Seinen Namen. (Apstgsch. 15, 14—18.) Seit
dem Pfingsttage ist Er beschäftigt gewesen, „aus den zweien
einen neuen Menschen zu schaffen". (Eph. 2, 15.) Und
nicht lange mehr, so wird die Kirche, welche Sein Leib ist,
die Fülle Dessen, der alles in allem erfüllt, vollständig
sein und ausgenommen werden, um Ihm in der Luft zu
begegnen; „und also werden wir allezeit bei dem Herrn
sein". (Eph. 1, 22. 23; 1. Thess. 4.) Diese Aufnahme
der Kirche muß stattfinden, ehe Israel wieder als das
Volk Jehovas anerkannt werden kann. Aber obgleich die
Juden lange beiseite gesetzt und ihrer Sünden wegen gezüchtigt
worden sind, versichert uns doch der Apostel, daß
Gott Sein Volk nicht für immer verstoßen habe; denn
„die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar".
(Röm. 11.)
Die Zeit, um Zion gnädig zu sein, wird kommen;
Gott hat sie in Seinem Ratschluß bestimmt. Der Herr
wird in Seiner Herrlichkeit erscheinen, wenn Er Zion
wieder aufbauen wird. Denn der Name Jehovas wird
in Zion verkündigt werden, und in Jerusalem Sein Lob.
(Ps. 102.) Das Wort des Herrn besteht in Ewigkeit;
die Gedanken und Meinungen der Menschen vergehen.
„Denn siehe, Tage kommen, spricht Jehova, da ich die
Gefangenschaft meines Volkes Israel und Juda wenden
werde, spricht Jehova; und ich werde sie in das Land
272
zurückbringen, welches ich ihren Vätern gegeben habe, damit
sie es besitzen." (Jer. 30, 3.) Und: „Ich werde
mich über sie freuen, ihnen Wohl zu thun, und werde sie
in diesem Lande pflanzen in Wahrheit mit meinem ganzen
Herzen und mit meiner ganzen Seele." (Jer. 32, 41.)
Dann wird sicherlich das Panier der unveränderlichen Liebe
Gottes sich von neuem über ihnen entrollen. O wie
groß müssen die Segnungen des Volkes sein, welches Gott
segnen wird mit Seinem ganzen Herzen und mit
Seiner ganzen Seele! Welch eine Gnade und
Herablassung von feiten Gottes, so zu sprechen! Welche
Segnungen warten noch der jetzt ausgestoßenen und niedergetretenen
Juden! Wenige wollen es glauben; aber der
Tag wird kommen und ist nahe, an welchem der Messias,
ihr König, für sie aufstehen wird gegen alle ihre Feinde
— wenn Er eine Mauer von Feuer rings um Sein geliebtes
Jerusalem und die Herrlichkeit in seiner Mitte sein
wird. Dann wird das lange verhüllt gewesene Banner
Seiner Liebe entrollt werden für immer; dann werden alle
Geschlechter der Erde die treue Liebe des Herrn sehen,
wenn sie hinaufziehen werden nach Jerusalem, um den
König, Jehova der Heerscharen, anzubeten und das Laubhüttenfest
zu feiern. (Sach. 14.) Und dann, ja dann
wird das kostbare Wort in Erfüllung gehen: „Er hat
mich in das Haus des Weines geführt, und Sein Panier
über mir ist die Liebe. Stärket mich mit Traubenkuchen,
erquicket mich mit Aepfeln, denn ich bin krank vor Liebe."
Und nun, mein Leser, was bringen diese wechselnden
Scenen des tiefen und tiefsten Segens, diese mannigfaltigen
Quellen immer neuer Genüsse vor deine Seele? Welche
Stimme haben sie für dich? Mögen es auch Bilder und
273
Schatten sein, so wurden sie doch in der Vorzeit zu deiner
Unterweisung niedergeschrieben. Sie stellen in aller Einfachheit
die Wirklichkeit der Gemeinschaft mit Christo dar,
die gegenseitigen Zuneigungen des Bräutigams und der
Braut, die Sympathieen von Herzen, die eins sind. Hast
du nicht zuweilen empfunden, daß die Stimmung deines
Herzens und der Ton deiner Gedanken und Gefühle geistlicher
wurde, wenn du dich für eine Weile ganz von der
Welt zurückzogest und im Verborgenen eine innige Gemeinschaft
mit dem Herrn pflegtest? Wurde nicht die Gegenwart
des Herrn dann mehr verwirklicht? Wurde nicht der
Geist freier und das Hindernde des Leibes weniger empfunden
? Fühltest du dich nicht weiter als sonst von der
Erde getrennt und in demselben Maße dem Himmel näher
gerückt, in dem bewußten Genusse der himmlischen Dinge
und in der Gewißheit der Liebe des Herrn und Seiner
Freude an uns?
Aber dieser Zustand eines höheren, geistlichen Genusses
ist nur gelegentlich; auch erreicht man ihn im allgemeinen
nicht in einem Augenblick. Wir können uns nicht so mit
einem Schlage von dem Genusse irdischer Dinge zu
diesem Maße des Genusses der himmlischen erheben.
Wir besitzen allerdings Christum, den Geist, das Wort
und die Liebe des Vaters in immer gleicher Unveränderlichkeit;
aber unsre Gemeinschaft mit diesen Dingen ist
nicht immer die gleiche. Selbst die notwendige, nicht zu
umgehende Beschäftigung des Geistes und Leibes mit
den zeitlichen Dingen wirkt für die Zeit lähmend auf
unsre geistlichen Empfindungen. Ein verborgenes, stilles
Reden mit dem Herrn, ein Sinnen über Sein Wort, ein
wahres Selbstgericht, ein Niederhalten des Leibes, während
274
das Herz sich erfreut an den Dingen Gottes und der Heilige
Geist die Liebe Jesu unsern Herzen offenbart, — das
sind die Dinge, die sich in den meisten Fällen mit jenem
Zustande hohen geistliches Genusses verbunden finden. Ja,
wir möchten sagen, diese Uebungen müssen die Gewohnheit
des Gläubigen bilden, wenn er anders himmlisch
gesinnt sein will. Wir müssen im Glauben wandeln,
als solche, die der neuen Schöpfung angehören, nicht im
Schauen, der alten Schöpfung gemäß. (2. Kor. 5,16—18.)
Indes dürfen wir zu gleicher Zeit nicht vergessen,
daß unser hochgelobter Herr nicht an eine gewisse Klasse
von Mitteln gebunden ist, um Seine Geliebten in Sein Haus
des Weines zu führen, au die Stätte Seiner Gegenwart,
wo eine Fülle von Freuden ist. Wir haben schon gesehen,
daß eine Seele von Freude überströmte, weil sie plötzlich
zu der Einsicht ihrer eignen Ohnmacht und Fehlerhaftigkeit
und der unveränderlichen Liebe des Herrn Jesu kam.
Hier jedoch, in der Geschichte der Braut, begegnen wir
keinen Fehlern und Verkehrtheiten; es zeigt sich vielmehr
ein stetiges Fortschreiten in ihrer Erfahrung, gleich einer
Seele, die aus dem stillen Kämmerlein zum Familien-
Gottesdienst kommt und sich von da zu dem öffentlichen
Gedächtnismahle zu Ehren seines Erlösers begiebt. Ihre
Gemeinschaft mit dem Bräutigam nimmt einen immer
innigeren Charakter an; ihre Freude steigert sich, bis endlich
die Offenbarung der Liebe und Güte ihres Herrn so überwältigend
auf ihre Seele wirkt, daß der Leib darunter
zusammenzubrechen droht. Trotzdem aber sucht sie gerade
durch das gekräftigt zu werden, was sie so völlig erschöpft
hat: „Stärket mich mit Traubenkuchen, erquicket mich mit
Aepfeln, denn ich bin krank vor Liebe."
275
Die Beschäftigung mit Christo macht die Seele nie
satt. Obwohl sie das Herz völlig befriedigt, steigert sie doch
stets den Appetit. Und des Herrn Freude ist es, immer
mehr und in Ueberfluß zu geben. „Thue deinen Mund
weit auf, und ich will ihn füllen." (Ps. 81, 10.) Er
allein kann die Wünsche des Herzens befriedigen. Und
beachten wir, daß Er die Braut immer näher zu sich zieht:
„Seine Linke ist unter meinem Haupte, und Seine Rechte
umfaßt mich." (V. 6.) Anbetungswürdiger Herr! wo sollen
wir die Höhen und Tiefen, die Längen und Breiten deiner
Liebe finden? Eine innigere, wirklichere, gesegnetere
Gemeinschaft könnte nie genossen werden. Die Braut
lehnt ihr Haupt an die Brust ihres Geliebten, die Stätte
vollkommener, ewiger Ruhe. Höheres als das kann es
nicht geben. O möchten wir mehr bekannt sein mit der
überwältigenden und aufrecht haltenden Macht
der Gegenwart unsers gnädigen Herrn! Er gebe uns
ein weiteres Herz, eine Seele, die fähiger sei, diese kostbaren
Dinge zu fassen und zu genießen!
„Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den
Gazellen oder bei den Hindinnen des Feldes, daß ihr
nicht wecket noch aufwecket die Liebe, bis es ihr gefällt!"
Am Schluffe dieses glücklichen, wolkenlosen Tages lassen
wir die Braut des Königs in der Ruhe zurück, die Seine
unveränderliche Liebe allein geben kann. Das Banner
Seiner Liebe über ihr, die ewigen Arme unter ihr, so
ruht sie selig an Seiner Brust. Sie schwelgt in dem
Genusse dessen, was Er ist. Darum redet sie von Seinem
Schatten, von Seiner Frucht, Seinem Panier,
von Seiner Linken und Seiner Rechten. Alles ist
Christus und nur Christus. Wenn die Seele so mit Ihm
276
beschäftigt ist, so ist Er am meisten besorgt, daß sie nicht
gestört werde. Die Gazellen und Hindinnen sind die
scheuesten Tiere des Feldes, und ihr Gehör ist so scharf,
daß das fernste, leiseste Geräusch sie beunruhigt. So
aufmerksam sollten auch wir auf alles acht haben, was
sich uns nähern will, um unsre Gemeinschaft mit dem
Herrn zu unterbrechen, oder uns von dem Pfade der praktischen
Heiligkeit und Hingebung für Ihn abzuwenden.
„Allezeit gutes Mutes."(2. Kor. 5, 6.)
Nicht alle Christen sind „allezeit gutes Mutes". Sie
gleichen vielmehr dem Manne, der in Jakobus 1 beschrieben
wird, der „gleich einer Meereswoge ist, die vom Winde bewegt
und hin und her getrieben wird". Einen Augenblick sind
sie glücklich und gutes Mutes, „auf der Höhe", wie die
Meereswoge, um im nächsten in Zweifel, Befürchtungen
und Besorgnisse aller Art zu versinken.
Ein „allezeit guter Mut" bedarf einer festen Grundlage.
Ist diese vorhanden, so wird auch Mut und Vertrauen
da sein. Der Apostel Paulus sagt: „So sind wir
nun allezeit gutes Mutes", indem er so auf die Ursache
seines Vertrauens zurückweist. Worin bestand diese? Wir
lesen: „Der uns aber eben hierzu bereitet hat, ist Gott,
der uns auch das Unterpfand des Geistes gegeben hat."
Gott selbst war die Grundlage seines Vertrauens. Gott
hatte in sein Herz hineingeleuchtet „zum Lichtglanz der
Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht
Christi", und seitdem war er allezeit gutes Mutes.
Einst war dieses Herz tot und finster; kein Licht,
277
keine Liebe war da, nur Feindschaft gegen Gott und
Seinen Gesalbten. Sünde und unreine Begierden regierten
in diesem Herzen, wenn auch nach außen hin ein tadelloses
Leben die Bewunderung der Mitmenschen wachrufen
mochte. Doch Gott leuchtete in dieses Herz hinein. Er
sprach: „Es werde Licht!" und es ward Licht. Gott schied
zwischen dem Licht und der Finsternis und zeigte dem erschrockenen,
zerknirschten Sünder in Seinem Lichte, was
er war, zugleich aber auch Seine eigne Herrlichkeit in dem
Angesicht Jesu Christi. So wurde ihm sein sündiger Zustand,
sein ganzes Verderben in diesem strahlenden Lichte
gezeigt, aber nicht um zu verzweifeln und zu vergehen,
sondern um zu Dem geführt zu werden, in welchem Gott
den ganzen Reichtum Seiner Sünderliebe geoffenbart hat.
Gott selbst hatte dies gethan, und darum war Paulus
allezeit gutes Mutes.
Von dem finstersten Fleckchen auf dieser Erde wurde
der Blick Pauli nach oben gelenkt, zu dem herrlichsten
Platze in den Himmeln; von seinem eignen finstern Herzen
durfte er wegschauen, hinauf zu Christo auf dem Thron
der Herrlichkeit. Das Auge des Glaubens verfolgte den
Strahl der Gnadensonne bis zu seiner Quelle hin. „Süß
ist das Licht, und wohlthuend den Augen, die Sonne zu
sehen." (Pred. 11, 7.) Ist dir dieses süße Licht auch
schon aufgegangen, mein Leser? Hast du Jesum gesehen?
„Wir sehen Jesum, der ein wenig unter die Engel wegen
des Leidens des Todes erniedrigt war, mit Herrlichkeit
und Ehre gekrönt." (Hebr. 2.) Ja, wir sehen den Gekreuzigten
droben in der Herrlichkeit, zur Rechten der
Majestät: die Schuld ist für jeden Glaubenden bezahlt,
das Gericht getragen, der Zorn vorüber, das arme.
278
sündige Ich hinweggethan. Als das Haupt der neuen
Schöpfung, als der Erstgeborene aus den Toten lebt
Christus droben, der Heiland aller, die auf Ihn vertrauen,
der Beweis ihrer ewigen Sicherheit, das Bild ihrer vollkommenen
Errettung. Und weil das so ist, blicken wir
hinauf in den Himmel und sind allezeit gutes Mutes.
Die Schwachheit des Gesäßes bleibt natürlich immer
die gleiche, das Fleisch wird durch die Bekehrung nicht
verbessert, noch die Umstände verändert; die erste Schöpfung
bleibt stets dieselbe. „Wir haben diesen Schatz in irdenen
Gefäßen." Denken wir aber an den Schatz, an Christum
in uns, nicht an uns selbst, arme, schwache und mangelhafte
Knechte wie wir sind, so werden wir „uns beeifern,
Ihm wohlgefällig zu sein", und uns in Gott freuen, in
dem Bewußtsein, daß „die Ueberschwenglichkeit der Kraft
Gottes ist und nicht aus uns"; und indem wir uns so
freuen, werden wir bei unserm Dienst stets sagen: „So
sind wir nun allezeit gutes Mutes."
Die Prüfungen des täglichen Lebens müssen ertragen
werden, denn Schmerz und Leid ist das Teil der Menschenkinder
; und der Gläubige hat noch andere Trübsale, außer
denen, die allen Menschen gemeinsam sind. Er ist berufen,
für Christum zu leiden; aber wird dieses Leiden seinen
Triumphgesang zum Schweigen bringen? Lauschen wir
einen Augenblick auf die Worte von Männern, welche
litten, wie in unsern Tagen kein Christ zu leiden hat:
„Allenthalben bedrängt, aber nicht eingeengt; keinen Ausweg
sehend, aber nicht ohne Ausweg; verfolgt, aber nicht
verlassen; niedergeworfen, aber nicht umkommend." — „Allezeit
gutes Mutes", obwohl die Trübsale und Leiden täglich
Zunahmen und sie allezeit das Sterben Jesu am Leibe
279
umhertrugen. Ja, nicht nur das; auch der Tod stand
drohend vor ihnen: „Denn wir, die wir leben, werden
allezeit dem Tode überliefert um Jesu willen." Aber inmitten
eines Kampfes ohne Ende und angesichts eines
vielleicht schrecklichen Märtyrertodes blieb ihr Glaube klar
und fest. Was konnte auch der Tod ihnen anhaben?
Er konnte sie nur aus allem Kampf und Leid befreien
und sie in die Gegenwart Dessen führen, der für sie
gestorben war.
Wie steht es mit dir, mein lieber Leser? Wie wirst
du diesen „König der Schrecken" begrüßen, wenn es Gott
gefallen sollte, dich heute oder morgen abzurufen? Mit
den Worten des Apostels: „Wir wissen, daß, wenn unser
irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau
von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht,
ein ewiges, in den Himmeln"? Wir wissen! Welch
eine Sicherheit! und wie früher, so stützt sich auch hier
wieder das Vertrauen auf Gott. Und in der That, es
giebt keine andere Stütze in der Todesstunde als den
lebendigen Gott selbst; und wenn du weißt, daß Gott
einen Auferstehungsleib für dich in Bereitschaft hat, daß
eine Heimat in der Herrlichkeit droben deiner wartet, so
kannst auch du angesichts des Todes sagen: „Der uns aber
eben hierzu bereitet hat, ist Gott, der uns auch das Unterpfand
des Geistes gegeben hat. So sind wir nun
allezeit gutes Mutes".
Doch es giebt noch Köstlicheres für den Gläubigen
als die Erwartung des Todes. Der Herr ist nahe! Er
mag kommen, ehe der Tod an uns herantritt. Der Tod
war nicht der Gegenstand des Begehrens für den Apostel
und feine Gefährten. Er sagt: „Wiewohl wir nicht ent
280
kleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit das
Sterbliche verschlungen werde von dem Leben." Die Ankunft
des Herrn war ihre Hoffnung. Und, mein Leser,
wenn du an diese Ankunft denkst, an den Anbruch des
herrlichen Auferstehungsmorgens, an den Beginn des ewigen
Jubels in der Gegenwart des geliebten Herrn, an den
Eingang ins Vaterhaus droben, bist du dann nicht auch
„gutes Mutes?"
Und wenn du noch über das alles hinausblickst, über
jene frohe Stunde, in welcher alle, die Sein sind, in
Sein Bild verwandelt werden sollen; wenn deine Gedanken
sich auf den Richterstuhl richten, wo alle deine
Thaten offenbar werden müssen, wo die Kreatur in dem
Lichte Dessen stehen wird, der Herzen und Nieren prüft —
darfst du dann auch noch gutes Mutes sein? Ja, Gott
sei Dank! Wenn du dem Herrn angehörst, wenn du weißt,
daß du in Ihm, dem Auferstandenen, begnadigt bist, so
brauchst du keine Furcht zu haben, so ernst auch der Gedanke
an jenen Augenblick ist, wo ein jeder empfangen
wird, was er in dem Leibe gethan, nach dem er gehandelt
hat. Gottes vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, so
daß wir „Freimütigkeit haben an dem Tage des Gerichts".
Denn „gleichwie Er (Christus) ist, sind auch wir in
dieser Welt". (1. Joh. 4, 17. 18.) Darum, mein lieber
Leser, freue dich in Gott, diene Ihm mit glücklichem Herzen
und sage mit dem Apostel: „So sind wir nun allezeit
gutes Mutes."
Die Ursachen des kirchlichen Verfalls.
Die Ursachen des kirchlichen Verfalls sind verschieden,
je nach dem" Gesichtspunkt, von welchem aus die
Kirche betrachtet wird. In Römer 11 wird sie gesehen
als eine Körperschaft, welche die Güte Gottes an die
Stelle des Volkes Israel gesetzt hat, nachdem dieses durch
seinen Unglauben dem Gericht anheimgefallen ist. Nicht
als ob die Kirche eine Fortsetzung Israels bilde und die
Erbin seiner irdischen Segnungen sei, (wie viele Christen
meinen); sie ist vielmehr der Fettigkeit des guten Oelbaums
teilhaftig geworden im geistlichen Sinne. Der Segen
Abrahams ist in Christo Jesu zu den Nationen gekommen.
(Gal. 3, 14.) Es ist allerdings der Segen
Abrahams, aber in Christo Jesu, und daher ist er geistlicher
Natur. Die Nationen hatten keine Verheißungen
und daher auch keine Ansprüche auf irgend welche Segnungen.
Sie waren ohne Christum, entfremdet dem
Bürgerrecht Israels, Fremdlinge in betreff der Bündnisse
der Verheißung, ohne Hoffnung und ohne Gott in der
Welt. (Eph. 2, 11. 12.) Statt der Segnungen Abrahams
war der Fluch Adams ihr Teil, und in den Augen Israels
waren sie Hunde, unreine Geschöpfe. „Es ist nicht schön",
sagt der Herr zu dem kananäischen Weibe, „das Brot
der Kinder zu nehmen und den Hünd lein hinzuwerfen."
Matth. 15, 26.) Es war daher nichts als Güte von
282
feiten Gottes, wenn Er sie trotzdem des Segens Abrahams
in Christo Jesu teilhaftig machte, während Er Sein Volk,
die eigentlichen Erben der Verheißung, Seine Strenge
fühlen ließ.
Ein liebliches Vorbild von dieser „Güte Gottes"
liefert unS die Geschichte Mephiboseths. Als Nachkomme
Sauls, des Feindes Davids, und als ein Glied des
Hauses, über welches Gott Sein Gericht ausgesprochen
hatte, konnte Mephiboseth nicht erwarten noch eine Ahnung
davon haben, daß David Güte Gottes an ihm erweisen
würde. Und darum konnte die an ihn ergangene Aufforderung,
vor dem Könige zu erscheinen, ihn nur mit
Furcht erfüllen. Aber wie groß muß seine Ueberraschung
und Freude gewesen sein, als die Worte sein Ohr erreichten:
„Fürchte dich nicht! denn ich will gewißlich
Güte an dir erweisen um Jonathans, deines Vaters,
willen, und will dir alle Felder deines Vaters Saul zurückgeben;
du aber sollst beständig an meinem Tische essen."
Ueberwältigt von einer solchen Güte und im Gefühl seines
wahren Zustandes bückt sich Mephiboseth zur Erde und
spricht: „Was ist dein Knecht, daß du dich zu solch einem
toten Hunde gewandt hast, wie ich bin?" (2. Sam. 9.)
Welch ein treffendes Bild von der Güte Gottes denen
gegenüber, die von Natur Kinder des Zornes waren!
Wie David um Jonathans willen den Mephiboseth mit
Güte überhäufte, so hat Gott um Jesu willen, der für
uns ein Fluch wurde (Gal. 3, 13), uns mit Segnungen
überschüttet und an Seinen Tisch geführt. (Vergl. Luk.
15, 11—25.) Wie sollten wir Ihm dafür danken!
Mephiboseth offenbarte David gegenüber in lieblicher
Weise die Gefühle, die sich für ihn geziemten. Sollten
283
wir hinter ihm zurückstehen in unsern Gefühlen gegenüber
dem Gott, dessen Güte wir in unendlich höherem Maße
geschmeckt haben?
Ach! die Kirche hat diese Gefühle der dankbaren
Liebe nicht zu bewahren gewußt. Die Güte Gottes verlor
nach und nach ihren Wert für sie. Sie vergaß, daß die
Grundlage ihrer Stellung und aller ihrer Segnungen
Güte und nichts als Güte ist; und so hat ihr Verfall
begonnen und bald reißende Fortschritte gemacht. Sie
hat die Ermahnung vergessen: „Sei nicht hochmütig, sondern
fürchte dich; denn wenn Gott die natürlichen Zweige
nicht verschont hat, daß Er auch dich etwa nicht verschonen
werde. Siehe nun die Güte und die Strenge Gottes;
gegen die, die gefallen sind, Strenge, gegen dich aber
Güte, wenn du an der Güte bleibst, sonst wirst du auch
ausgehauen werden." Dieses „Aushauen" der Kirche
hat noch nicht stattgefunden; denn Gott ist sehr langmütig,
wie Er es einst auch gegen Israel war. Allein Seine
Langmut hat ihre Grenzen. Als Israel den Herrn Jesum
verwarf und so bewies, daß der Verfall seinen Höhepunkt
erreicht hatte, war die Geduld Gottes gegen Sein irdisches
Volk zu Ende. Auch der kirchliche Verfall ist so weit
gediehen, daß er mehr und mehr den Charakter des offenbaren
Unglaubens, der Leugnung der Gottheit Christi
annimmt, und dies ist für die Kirche das Zeichen ihres
nahen Endes.
In dem Sendschreiben an die Versammlung in
Ephesus wird uns die Ursache des kirchlichen Verfalls
in einer andern Form dargestellt, obgleich er dem Wesen
nach denselben Charakter trägt. Wie in Röm. 11, so
wird auch hier die Kirche als eine verantwortliche Körper-
284
schäft betrachtet, indes mehr in ihren Beziehungen zu
Christo, der mit Recht Anspruch macht auf ihre Liebe
und die innigen Zuneigungen ihres Herzens. Er hat
sie für sich erkauft und in dieser Welt zurückgelassen,
damit sie während Seiner Abwesenheit ein Zeugnis für
Ihn sei, zur Verherrlichung Seines Namens. Aber wir
sehen, daß sie schon bald „ihre erste Liebe" verlassen hat;
in demselben Maße, wie sie nicht an der Güte Gottes
blieb, verlor auch die Person Christi ihren Wert für sie.
Und von da an war ihr Verfall unvermeidlich.
Wir haben die Folgen davon vor Augen; aber wie
wenig denken wir oft daran, daß wir in derselben Gefahr
sind, der Güte Gottes satt zu werden und Christo nicht
mehr den ersten Platz in unsern Herzen zu geben. Wir vergessen
nichts leichter als den Zustand, aus dem wir
gekommen sind, und was Gott an uns gethan hat. Die
Worte Mephiboseths sollten uns tief inS Herz geprägt
sein: „Was ist dein Knecht, daß du dich zu solch einem
toten Hunde gewandt hast, wie ich bin?" Die Erfahrung
hat gezeigt, wie leicht wir auf Abwege geraten können,
wenn unser Blick nicht beständig auf den Herrn gerichtet
bleibt. Ach! wie viele werden in unsern Tagen, wo das
geistliche Leben im allgemeinen schwach ist, irre geleitet!
Wollen wir vor dem Verfall bewahrt bleiben, so müssen
wir die Wege vermeiden, welche die Kirche ihrem Ruin
entgegen geführt haben. Und darum haben wir in erster
Linie zu achten auf die Ermahnung: „Sei nicht hochmütig,
sondern fürchte dich." Nur zu leicht halten wir etwas
von uns, und vergessen, daß wir in uns selbst nur „tote
Hunde" sind und alles, was wir haben, ausschließlich der
Güte Gottes verdanken. „Was aber hast du, das du
285
nicht empfangen hast? Wenn du es aber auch empfangen
hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen ?
Schon seid ihr gesättigt, schon seid ihr reich geworden."
(1. Kor. 4, 7. 8.)
Trotzdem die Kirche die Geschichte des Bolkes Israel
als ein warnendes Beispiel vor Augen hatte, trat sie
doch in dessen Fußstapfen, und wandelte dieselben Wege.
Es ist ergreifend, wie der Heilige Geist diese Wege schildert:
„Er fand ihn (Jakob) in einem Lande der Wüste
und in der Oede des Geheuls der Wildnis; er umgab
ihn, gab acht auf ihn, er behütete ihn wie seinen Augapfel.
. . Er ließ ihn einherfahren auf den Höhen der
Erde, und er aß den Ertrag des Feldes; und er ließ
ihn Honig saugen aus dem Felsen und Oel aus dem
Kieselfelsen; geronnene Milch der Kühe und Milch der
Schafe, samt dem Fette der Mastschafe und Widder, der
Söhne Basans und der Böcke, samt dem Nierenfett des
Weizens; und der Traube Blut trankest du — Wein."
Wie groß erscheint hier die Güte Gottes gegenüber dem
ursprünglichen, trostlosen Zustand Israels! Gott hatte
es aus der tiefsten Armut der Wüste zu den reichsten
Segnungen geführt; hatte es erhoben aus der Oede der
Wildnis zu den Höhen der Erde; hatte es mit zärtlichster
Sorgfalt überwacht und behütet wie Seinen Augapfel.
Doch was hat Israel gethan gegenüber all dieser Güte,
die ihm zu teil geworden ist? „Da ward Jeschurun fett
und schlug aus — du wurdest fett, dick, feist — und er
verließ den Gott, der ihn gemacht, uniO verachtete den
Fels seiner Rettung." (5. Mose 32, 10—15.) Das
Volk empörte sich gegen seinen Retter und Wohlthäter,
verließ und verachtete Ihn; und der erste Schritt diesem
286
traurigen Endziele zu war Uebermut: es wurde fett
und schlug aus.
Alles das hat die Kirche gesehen, aber sie hat sich
nicht warnen lassen und es nicht zu Herzen genommen,
obgleich auch sie der „Fettigkeit des Oelbaums" in ungleich
höherem Maße teilhaftig geworden ist. Sie ist aus einem
noch tieferen Verderben nicht bloß zu den Höhen der
Erde, sondern zu den Höhen des Himmels erhoben worden,
wie wir lesen: „Auch euch, die ihr tot wäret in
euern Vergehungen und Sünden, in welchen ihr einst
wandeltet nach dem Zeitlauf dieser Welt, nach dem Fürsten
der Gewalt der Luft, des Geistes, der jetzt wirksam ist
in den Söhnen des Ungehorsams; unter welchen auch wir
einst alle unsern Verkehr hatten in den Lüsten unsers
Fleisches, indem wir den Willen des Fleisches und der
Gedanken thaten und von Natur Kinder des Zornes
waren, wie auch die übrigen. Gott aber, der reich ist
an Barmherzigkeit, wegen Seiner vielen Liebe, womit Er
uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot
waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht —
durch Gnade seid ihr errettet — und hat uns mitauferweckt
und mitsitzen lassen in den himmlischen Oertern
in Christo Jesu." (Ephes. 2, 1—6.) Welch eine ergreifende
Bestätigung der Worte, die der Apostel im
Römerbrief der Kirche zuruft: „Siehe nun die Güte...
gegen dich aber Güte Gottes, wenn du an der Güte
bleibst." — Ist sie an der Güte geblieben? Leider nein.
Wir sehen, wohin sie gekommen ist: sie ist versunken in
die Laster des Heidentums; und wie bei Israel, so war
auch bei ihr der erste Schritt auf dem Wege des Verderbens
Hochmut, Selbstbefriedigung, Sattsein; sie ist bald
287
„satt" geworden der Güte Gottes. „Schon seid ihr
gesättigt."
Wie ernst ist die Mahnung, die sowohl in der Geschichte
Israels als auch der Kirche für uns liegt! Wie
sollten wir über uns wachen und uns hüten vor dem
ersten Schritt, der so verhängnisvoll für jene geworden
ist! Es ist gewiß ein unschätzbares Vorrecht, in der
gegenwärtigen Zeit der Verwirrung die Wahrheit zu kennen.
Aber das allein schützt uns nicht vor dem Verfall; denn
die Kirche besaß im Anfang sicherlich die Wahrheit, da
sie dieselbe ja unmittelbar von den Aposteln empfangen
hatte. Trotzdem ist sie gefallen. Auch hat es Gott in
Seiner Güte nicht an Ermahnungen und Warnungen bei
ihr fehlen lassen, ebenso wenig wie bei Israel. Er war
Israel nachgegangen mit großer Langmut und Geduld,
wie Er sagt: „Von dem Tage an, da eure Väter aus
dem Lande Egypten auszogen, bis auf diesen Tag habe
ich alle meine Knechte, die Propheten, zu euch gesandt,
täglich frühe mich ausmachend und sendend. Aber
sie haben nicht auf mich gehört und ihr Ohr nicht geneigt;
und sie haben ihren Nacken verhärtet, haben es ärger
gemacht als ihre Väter." (Jer. 7, 25. 26.) Der Herr
selbst war schließlich in ihre Mitte gekommen, um sie zu
versammeln, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt
unter ihre Flügel, aber sie haben „nicht gewollt".
(Matth. 23, 37.) In ähnlicher Weise konnte der Apostel
zu den Aeltesten von Ephesus sagen: „Ihr wisset von
dem ersten Tage an, da ich nach Asien kam, wie ich die
ganze Zeit bei euch gewesen bin . . . wie ich nichts zurückgehalten
habe von dem, was nützlich ist, daß ich eS
euch nicht verkündigt und euch gelehrt hätte, öffentlich und
288
in den Häusern. . . Darum wachet und gedenket, daß
ich drei Jahre Nacht und Tag nicht aufgehört habe, einen
jeden mit Thränen zu ermahnen." (Apgsch. 20, 17—36.)
Aber alle Ermahnungen, alle Bemühungen der Liebe
waren vergeblich. Gerade von dieser so hoch bevorzugten
und sorgsam gepflegten Versammlung wird gesagt, daß
sie ihre erste Liebe verlassen habe.
Wir sehen aus diesen ernsten Beispielen, wie nahe
die Möglichkeit liegt, von dem richtigen Wege abzuirren.
All die Güte, die Gott der Kirche erwiesen, all die Liebe,
in welcher Christus sich für sie hingegeben hat, alle die
Ermahnungen und Warnungen, welche Tag und Nacht an
sie gerichtet wurden, konnten ihren Verfall nicht aufhalten.
Beweist das nicht klar und bestimmt, wie groß die Gefahr
auch für uns ist? Wenn die Güte Gottes und die Person
Christi ihren Wert für uns verlieren, so ist der Verfall
ebenso unvermeidlich für uns, wie er für jene war, obgleich
Gott in diesen letzten Tagen Großes an uns gethan
hat. Möchte niemand unter uns sein Auge vor dieser
Gefahr verschließen; denn die Zustände in unsrer Mitte
lassen es ernstlich bezweifeln, ob wir noch alle an der
Güte Gottes und in der ersten Liebe geblieben sind. Fragen
wir uns, wie viel wir anerkennen, was Gott an uns
gethan hat und täglich thut, und ob wir Ihm den gebührenden
Dank dafür darbringen, wie geschrieben sieht:
„Danksagend dem Vater, der uns fähig gemacht hat
zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte, der
uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und versetzt
in das Reich des Sohnes Seiner Liebe." (Kol. 1,
12. 13.) Und wiederum: „Danksagend allezeit
für alles dem Gott und Vater im Namen unsers Herrn
289
Jesu Christi." (Eph. 5, 20.) Hören wir nicht statt
dieses unaufhörlichen Dankens viel Murren und Klagen
in unsrer Mitte? Begegnen wir nicht immer wieder einer
großen Unzufriedenheit und Undankbarkeit? Es ist dies
«in untrügliches Zeichen, daß man der Güte Gottes nicht
mehr eingedenk ist; ein Zeichen des Unglaubens und des
Abweichens von Gott, ein Zeichen, daß das Fleisch wirksam
ist. Man findet die Güte, Treue und Fürsorge
Gottes nicht mehr ausreichend; man ist ihrer satt geworden
wie einst die Kinder Israel des Mannas überdrüssig
wurden: „Und nun ist unsre Seele dürre; gar
nichts ist da, nur aus das Man sehen unsre Augen."
(4. Mose 11, 6.) Das Wort Gottes, die köstlichsten
Wahrheiten, alles genügt nicht mehr; die Seele ist dürre,
man verlangt nach etwas anderem, man will etwas Neues.
In einem solchen Herzenszustand macht die Verhärtung
rasche Fortschritte, und dem Feinde wird bald Thür
und Thor geöffnet. Man wird der Verleugnungen,
Schwierigkeiten und Prüfungen, welche mit dem Pfade
des Glaubens unausbleiblich verbunden sind, müde; man
findet den Weg zu enge und sucht nach einem Auswege, nach
Erholung und Befriedigung des Fleisches. Und es wird
nicht lange dauern, so giebt man den Lüsten des Fleisches
Raum, erlaubt sich Dinge, die nicht mit dem wohlgefälligen
Willen Gottes im Einklang stehen, giebt vor, nichts BöseS
darin zu sehen, und verfällt schließlich in allerlei traurige
Ausschreitungen. Es ist sehr ernst und beachtenswert,
daß man niemals sagen kann, wo man enden wird, wenn
man einmal den Pfad des Glaubens verlassen hat und
die Güte Gottes nicht mehr genügend findet; Verhärtung
und Verblendung halten alsdann gleichen Schritt mit ein-
290
ander. Judas spricht in seiner Epistel von dem Abfall
der Christenheit in den letzten Tagen, und bezeichnet die
Abgefallenen als „Murrende, ihr Schicksal Beklagende, die
nach ihren Lüsten wandeln". (Vers 16.) Sollten wir
nicht erschrecken, wenn wir einen ähnlichen Zustand bei
uns wahrnehmen? wenn wir unzufrieden sind, anstatt an der
Güte Gottes uns zu erfreuen und Ihm dafür zu danken?
Wahrlich, die Gefahr, nicht an der Güte zu bleiben, liegt
uns viel näher als wir denken.
Und wie steht es um die hochgelobte Person Jesu,
unsers Herrn und Heilandes? Hat sie wirklich noch ihren
wahren, alles beherrschenden Wert für uns? Ach! es ist
eine Thatsache, daß Er durch Wort und Schrift in der
Mitte der Seinigen gröblichst verunehrt worden ist. Und
wie wenig sieht man im allgemeinen von dem Schmerz, den
eine solche Behandlung des Herrn unter uns Hervorrufen
würde, wenn Er den Platz in unser aller Herzen und inmitten
der Versammlung hätte, der Ihm gebührt! Wie leicht
sind wir erregt, wenn es sich um unsre eigne Ehre handelt;
aber wo ist die gerechte Erregung oder Entrüstung über
eine solche Verunehrung des Herrn? Leider, leider läßt
es sich nicht leugnen, daß die „erste" Liebe im allgemeinen
nicht mehr vorhanden ist, und daß der Zustand vieler
Gläubigen weit mehr den Charakter von Laodicäa als
den von Philadelphia trägt. Die Liebe zu Christo und
die Erwartung Seiner nahen Ankunft hat ihre Frische
verloren und einer großen Erschlaffung, einer betrübenden
Lauheit gegen Ihn Platz gemacht.
O laßt uns aufwachen und umkehren! Laßt uns
nicht länger in einem gleichgiltigen und weltlichen Zustande
beharren, sondern aufrichtig Buße thun und zum
291
Herrn schreien um Hilfe! Es unterliegt keinem Zweifel,
daß gegenwärtig eine Sichtung der Gläubigen vor sich
geht infolge ihres lauen Zustandes. Wird sie von uns
allen verstanden und beherzigt? Hoffen wir es im Vertrauen
auf die Güte Gottes und die unendliche Liebe des
Herrn Jesu! Denn so ernst und demütigend die Sichtung
auch für uns alle ist, so ist sie trotzdem auch ein Beweis
der Liebe Christi, die es nicht ertragen kann, uns in einem
Zustande zu lassen, der Seiner Liebe zu uns nicht entspricht.
Er ruft uns durch eine solche Sichtung zurück
an Sein liebendes Herz, als den einzigen Ort der Heilung
und Erwärmung unsrer armen, kalten Herzen. Wie anbetungswürdig
ist der Herr, und wie rein, mächtig und
unveränderlich ist Seine Liebe! Nach all unsrer Untreue
ist Er immer derselbe geblieben, und Sein liebendes Herz
trägt heute noch dasselbe Verlangen nach uns wie je zuvor.
Für alle, bei denen die Absichten des Herrn erreicht
werden, wird deshalb die gegenwärtige Sichtung von
reichem Segen sein. Sie werden sich Ihm um so enger
anschließen, weil sie, zerschlagenen Herzens über ihre Untreue
und die Ihm widerfahrene Schmach und angezogen
durch Seine unveränderte Liebe, in Ihm ihre einzige
Hilfe erblicken. Und so unveränderlich wie die Liebe
Christi, so unerschütterlich ist auch die Güte Gottes gegen
die Seinigen. Er ist bereit, sie wiederherzustellen und zu
befestigen. Er ist mächtig, durch Seinen Geist uns jegliche
Gnade darzureichen, wie geschrieben steht: „Gott aber ist.
mächtig, jede Gnade gegen euch überströmen zu lassen,
auf daß ihr in allem, allezeit alle Genüge habend, überströmend
seid zu jedem guten Werke." Und an einer
andern Stelle: „Dem aber, der euch ohne Straucheln zu
292
bewahren und vor Seiner Herrlichkeit tadellos darzustellen
vermag mit Frohlocken u. s. w." (2. Kor. 9, 8; Judas
Vers 24.) Die Macht Gottes ist vollkommen ausreichend
für uns in allen Lagen, in allen unsern Schwachheiten
und Schwierigkeiten. Er ist nicht an Zeiten und Umstände
gebunden, und kein Feind kann Ihn hindern, die Seinigen
zu bewahren bis ans Ende, ihnen Mut, Trost und Kraft
zu geben und sie mit Weisheit und Einsicht zu erfüllen,
daß sie den Schlingen des Feindes zu entgehen und mit
ungeteiltem Herzen für Christum zu leben vermögen. Doch
vergessen wir nicht, daß neben dieser unumschränkten
Macht und Güte Gottes unsre Verantwortlichkeit voll und
ganz bestehen bleibt, an Seiner Güte zu bleiben — festzuhalten,
daß alles reine, unverdiente Güte ist. Möchte
uns daher das Wort der Ermahnung tief eingeprägt
bleiben: »Sei nicht hochmütig, sondern fürchte
dich!" und laßt uns nie den Grundsatz der Wege Gottes
vergessen: „Gott widersteht den Hochmütigen,
den Demütigen aber giebt Er Gnade!"
(1. Petr. 5, 5.)
„Horch! wein Geliebter!"(Hohel. 2, 8.)
„Horch! mein Geliebter! siehe, da kommt er, springend
über die Berge, hüpfend über die Hügel." Wenn die
Seele eine längere Zeit in ununterbrochener Gemeinschaft
mit dem Herrn gewesen ist, so werden die Zuneigungen
lebendiger und das Verlangen nach Seiner Rückkehr ernster
und wirklicher. Hast du, mein Leser, den Geist der liebenden
und geliebten Sulammith erfaßt, wie er sich in den Herr
293
lichen Worten kundgiebt: „Horch! mein Geliebter! (oder:
Stimme meines Geliebten!) siehe, er kommt!"? Ist Er
wirklich Der, den du am meisten liebst? Ist keine Stimme
dir so wohlklingend wie die Seinige? Harrest du auf
Ihn, und ist dein tägliches Verlangen nach Ihm?
Es besteht ein großer Unterschied zwischen einer Person,
die an die sogenannte „Lehre von der zweiten Ankunft
des Herrn" glaubt, und einer liebenden Seele, die sich
Seiner Gemeinschaft erfreut und sehnsüchtig auf das
Kommen ihres geliebten Herrn wartet. Der bloße Glaube
an die Lehre übt nur wenig Einfluß auf das Herz aus
im Vergleich mit dem Besitze der Person Christi selbst als
des alles beeinflussenden und beherrschenden Gegenstandes
für das Herz. Es ist etwas ganz anderes, nur zu wissen,
daß der Herr wiederkommt, oder, wie die Thessalonicher,
den Sohn Gottes aus den Himmeln zu erwarten, gleich
einer Braut, die mit Sehnsucht der Ankunft ihres Bräutigams
entgegenschaut. Der Geist und die Braut sagen:
Komm!" Es ist das Herz der Braut, welches ruft:
Komm! wenngleich getrieben durch den Geist, der in diesem
Herzen wohnt. Er giebt uns das selige Bewußtsein von
dem Verhältnis zu Christo, in welches wir eingeführt
sind, sowie von den diesem Verhältnis angehörenden Zuneigungen.
Wir unterscheiden schnell den Klang einer Stimme,
die wir lieben. „Maria!" rief der Herr am Grabe
Seiner trauernden Jüngerin zu; und die wohlbekannte
Stimme durchdrang ihre ganze Seele. Und selbst wenn
die redende Person zu weit entfernt ist, als daß man
die Worte genau verstehen könnte, ist doch der Klang der
Stimme hinreichend, um die Saite zu berühren, deren
294
Tönen das ganze Herz durchzittert und seine schlummernden
Kräfte weckt. „Horch! mein Geliebter!" sagt die Braut.
Sie vernimmt Seine Stimme in der Ferne, und ihre
ganze Seele ist mit sehnlicher Erwartung erfüllt. Und
sie braucht nicht lange zu warten. Sie darf sogleich hinzufügen:
„Siehe, da kommt Er!" — Ja, Er kommt,
„der Herr ist nahe!" Erwartest du Ihn heute, geliebter
Leser? — „Siehe, da kommt Er, springend über die
Berge, hüpfend über die Hügel. Mein Geliebter gleicht
einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche." Seine
Füße sind schnell wie die der Hindin.
Anstatt dem Herzen volle Befriedigung zu geben,
steigert die Nähe des Herrn im Geiste nur das Verlangen
nach den höheren Freuden, die Seine persönliche Gegenwart
verleiht. Was könnte näher, inniger und vertrauter
sein, als die Gemeinschaft, deren sich die Braut durch
Glauben von Beginn unsrer Betrachtungen an erfreut hat?
Ihre Freude hat keine Unterbrechung erlitten, wohl aber
hat die Erkenntnis Seiner Liebe und der Genuß Seiner
Gunst stetig zugenommen.
Manche sind der Meinung, daß in der vorliegenden
Stelle sich Zeichen eines Rückganges bemerkbar machten,
daß die Zeit der Ruhe verhängnisvoll für die Braut gewesen
sei, und daß die überströmende Fülle ihrer Vorrechte
sie zu einer gewissen Sorglosigkeit verleitet habe.
Allein obwohl so etwas gewiß Vorkommen mag, obwohl
einer großen geistlichen Freude zu Zeiten eine Art von
Erschlaffung und selbst ein Zurückgehen und Abirren aus
der Gemeinschaft des Herrn folgen kann, scheint dies doch
gerade hier nicht der Fall zu sein. Denn wann verlangen
wir am meisten nach der Ankunft des Herrn? Wenn wir
295
in Gemeinschaft oder außer Gemeinschaft mit Ihm
find? Diese Frage ist nicht schwer zu beantworten. Unmöglich
kann ein wahres Verlangen nach Seiner Wiederkunft
im Herzen sein, wenn wir nicht in glücklicher Gemeinschaft
mit Ihm stehen. Allerdings sind wir immer
sicher in Ihm, aber wir sind nicht immer glücklich mit Ihm.
Wenn wir einen Schritt zu weit gegangen sind mit der
Welt, oder wenn wir versäumt haben uns selbst zu richten,
so verlieren wir unsere Freude an Ihm, und zu solchen
Zeiten tragen wir kein Verlangen nach Seiner Ankunft.
„Petrus spricht zu Ihm: Du sollst nimmermehr meine
Füße waschen! Jesus antwortete ihm: Wenn ich dich nicht
wasche, so hast du kein Teil mit mir." (Joh. 13, 8.)
Beachten wir wohl, daß der Herr nicht sagt: du hast kein
Teil a n mir. Das hätte Er nimmermehr sagen können;
nein, Er belehrt Petrus und uns, daß, wenn das
Selbstgericht vernachlässigt wird, wenn die täglichen Verunreinigungen
nicht weggewaschen werden „durch die
Waschung mit Wasser durch das Wort", die Gemeinschaft
mit Ihm eine Unterbrechung erleiden muß. Der Herr
kann nicht mit ungerichtetem Bösen vorangehen. „Du
hast kein Teil mit mir", sind Worte voll des tiefsten
Ernstes. Möchtest du nicht lieber alles aufgeben, meine
Seele, als die Gemeinschaft mit deinem Herrn auch nur
für einen Tag, für eine Stunde entbehren? Wo wolltest
du Kraft finden für Wandel, Anbetung und Dienst, wenn
du sie nicht von Ihm empfingest? Welche Schwäche, welche
Finsternis würde deinen Pfad kennzeichnen in der Entfernung
von Ihm! Scham mag dein Antlitz bedecken und
Schmerz deine Seele erfüllen, wenn du deine beschmutzten
Füße in Seine Hände legst; denn wahrlich, Er weiß und
296
sieht, wo du gewesen bist. Aber bedenke das Eine: sie
können nimmermehr gewaschen werden, es sei denn daß
Er es thut. „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du
kein Teil mit mir." Wenn du mit Jesu wandeln und
glücklich bei Ihm sein willst, so mußt du in Absonderung
wandeln, in wahrer Absonderung von allem Bösen —
von allem, was Seiner Heiligkeit entgegen und mit Seiner
Natur unverträglich ist. — O Herr, leite uns in
Deinen Wegen in diesen bösen Tagen, damit wir immer
mit ernstlichem Gebet und liebendem Verlangen auf Deine
Wiederkunft harren!
„Mein Herr verzieht zu kommen", ist die Sprache
eines Herzens, das in dieser Welt Befriedigung sucht.
„Komm, Herr Jesu, komme bald!" ist die Sprache eines
Herzens, das mit der Liebe Christi erfüllt ist und ernstlich
nach einem persönlichen Ihm Nahesein verlangt. In demselben
Maße wie wir uns Christi geistlicherweise erfreuen,
werden wir auch verlangen, Ihn von Angesicht zu Angesicht
zu sehen. Dies ist immer ein sicherer Prüfstein für den
Zustand der Seele. Wenn das Haus in Unordnung ist,
so verlangt die Frau nicht nach der Rückkehr ihres Mannes;
sie ist vielmehr beschäftigt, die Ordnung wiederherzustellen.
Wenn sich aber alles an seinem Platze befindet
und so ist, wie er es gern hat, dann beginnt sie an seine
Rückkehr zu denken und verlangt danach, seine Stimme
zu hören und sein Angesicht zu sehen.
Manche Christen sagen in ihren Herzen: „Ist es nicht
genug für mich zu wissen, daß ich dem Herrn angehöre?
Warum sollte ich Tag für Tag nach Seiner Wiederkunft
vom Himmel ausschauen? Ich weiß, daß meine Sünden
vergeben sind, und daß ich errettet bin; überdies kann ich
297
auch den unsichtbaren Heiland lieben und Ihm vertrauen.
— Schon recht, mein lieber Mitpilger; aber ich
möchte dich doch fragen: Redet so ein Herz, das den Herrn
Jesum aufrichtig liebt, oder ist es die Sprache eines Herzens,
das hinsichtlich Seiner gesegneten Person kalt und gleich-
giltig geworden ist? Kannst du an alle Seine Liebe und
Huld, an alle Seine Leiden, an Seinen Tod für dich,
an Seine Erhöhung und Verherrlichung denken, ohne
danach zu verlangen, Ihn zu sehen? Sehnst du dich
nicht nach einem Blick in jenes Antlitz, welches dein Herz
für immer hinnehmen und deinen Mund mit den erhabensten
Lobliedern füllen wird? Was würde der abwesende
Gatte denken, was würde er fühlen, wenn er
vernähme, daß sein Weib sagte: „Ich weiß, daß ich sein
bin. Das befriedigt mich völlig. Zudem höre ich täglich
von ihm und weiß, daß er mich innig liebt. Warum
also sollte ich so sehnlichst nach seiner Rückkehr verlangen?
warum ihm immer wieder schreiben: „Kehre doch bald
heim; ich verlange danach, dein Antlitz zu sehen"?
Wie würdest du, mein lieber Leser, einen solchen
Zustand der Dinge deuten? Würdest du das Liebe zu
dem abwesenden Gatten nennen? Und wenn du selbst
dieser Gatte wärest, würde es dein Herz befriedigen,
namentlich wenn du dein Weib mit „großer Liebe" liebtest?
Nimmermehr! Liebe kann nur durch Gegenliebe befriedigt
werden. „Wir lieben Ihn, weil Er uns zuerst geliebt
hat." Die Liebe des Gläubigen ist der Widerschein der
Liebe Christi. Je häufiger ein liebendes Weib von ihrem
abwesenden Manne hört, desto mehr wird ihr Verlangen
nach seiner Rückkehr lebendig werden. Der häusliche Kreis
mag noch so angenehm und behaglich für sie sein, aber
298
um ihr Herz völlig glücklich zu machen, bedarf es der
Gegenwart des Einen, der in der Ferne weilt. So lange
er nicht da ist, kann nichts aus Erden die Lücke ausfüllen.
Ach, wie wenig fühlen wir die Lücke, die nur
die Person Christi auszufüllen vermag!
Es ist der Herr selbst, als Messias und König,
nach dem die liebende Braut hier so sehnlichst verlangt.
„Horch! mein Geliebter! siehe, Er kommt!" Er hat sich
selbst ihrem Herzen geoffenbart, und sie dringt nun durch
den Glauben ein in Seine Liebe und Freude als Bräutigam
und König in Zion. Sie kennt und schätzt diese
Liebe und verlangt, Ihn als ihren Messias zu besitzen.
Herrlicher Wechsel! Die Stätte, an welcher Er einst verachtet
und verworfen wurde durch die Tochter Zion, wird
binnen kurzem der Schauplatz Seiner Bräutigamsliebe
und Seiner tausendjährigen Herrlichkeit werden. Das
heiße, inbrünstige Verlangen des gottesfürchtigen Ueber-
restes der letzten Tage nach der Erscheinung des Messias,
als ihres Königs und Erlösers, findet in den Psalmen
und Propheten wiederholt beredten Ausdruck. So lesen
wir z. B. in Jes. 64, 1. 2: „O daß du die Himmel
zerrissest, herniederführest, daß vor deinem Angesicht die
Berge erbebten, wie Feuer Reisig entzündet, Feuer die
Wasser wallen macht, um deinen Namen kundzuthun
deinen Widersachern: damit die Nationen vor deinem
Angesicht erzittern!"
In dem Hohenliede begegnen wir demselben starken
Verlangen, nur unter einem andern Charakter. Der
Ueberrest tritt in dem Bilde einer Braut vor unS, die
nicht so sehr die eigene Befreiung und die Vernichtung
der Feinde, oder selbst die Aufrichtung des Reiches Christi
299
in Herrlichkeit und Macht herbeisehnt, als vielmehr nach
der Person ihres kommenden Messias Verlangen trägt.
Es ist „ihr Geliebter", und Er kommt bald; Er ist
gleich einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche. Er
ist sozusagen bereits zur Seite des Hauses, schaut durch
die Fenster und blickt durch die Gitter. (Vers 9.) Es
ist die Person des Herrn, um die es sich handelt. Der
Ueberrest in Jerusalem ahnt hier die nahende Ankunft
seines Königs, seine eigene völlige Erlösung und die Erscheinung
der tausendjährigen Herrlichkeit; und der Herr
erfreut ihn durch noch größere Offenbarungen Seiner selbst,
durch die wiederholte Versicherung Seiner Liebe und der
Freude Seines Herzens an ihm. Nichts könnte schöner
und rührender sein, als die Worte des Herrn in den
nächsten Versen. Er spricht zu der Braut, und sie findet ihre
Freude daran, Seine Worte zu wiederholen: „Mein Geliebter
hob an und sprach zu mir: „Mache dich auf, meine
Freundin, meine Schöne, und komm! Denn siehe, der
Winter ist vorbei, der Regen ist vorüber, er ist dahin.
Die Blumen erscheinen im Lande, die Zeit des Gesanges
ist gekommen, und die Stimme der Turteltaube läßt sich
hören in unserm Lande. Der Feigenbaum rötet seine
Feigen, und die Weinstöcke sind in der Blüte, geben Duft.
Mache dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und
komm!"" (V. 10—13.) Kurz zuvor konnte sie nur den
Klang Seiner Stimme unterscheiden und durch die Gitter
einen flüchtigen Blick Seiner Augen erhaschen. Aber jetzt,
o glückliche Braut! ist Er nahe genug, daß du die Worte
Seines Mundes vernehmen kannst. Und gepriesen sei
Sein herrlicher Name! dem Glauben ist Er immer nahe,
immer gegenwärtig.
300
„Seine Linke ist unter meinem Haupte, und Seine
Rechte umfaßt mich." So redet der Glaube. Der Glaube
kann sich an Seine Brust lehnen; er kann in der Nacht
in Seinen Armen ruhen und am Morgen mit Ihm ausgehen
in die Weingärten, um die Weinstöcke blühen zu
sehen. Wie gesegnet ist das! Allerdings persönlich
ist Er noch nicht hier; Er ist im Himmel, und wir sind
auf der Erde. Allein während wir im Glauben in Ihm
ruhen, verlangen wir sehnlich nach Seiner Wiederkunft,
um von Ihm ausgenommen zu werden und bei Ihm zu
sein in der Herrlichkeit droben. O möchten wir doch in
unsern Herzen freier sein von der Welt und ihren Dingen
und, wie der Vogel in den Zweigen, stets bereit, unsere
Schwingen auszubreiten und diese Erde zu verlassen! Was
sind die schönsten Scenen dieser Erde im Vergleich mit
dem Himmel, was der glücklichste Platz hienieden im Vergleich
mit dem Paradiese Gottes!
Nun, der Freudentag beginnt zu dämmern für das
lange unterdrückte Volk Israel. Der Herr selbst wird bald
erscheinen. „Das Reich der Himmel ist nahe gekommen."
Der lange, dunkle und öde Winter der Abwesenheit des
Herrn ist vorüber. Der Frühling ist gekommen, der
Sommer ist nahe. Der Helle, wolkenlose Morgen bricht
an. Seit dem Falle des ersten Menschenpaares hat
diese seufzende Erde nie eine solch freudenvolle, liebliche
Scene gesehen, wie diese Verse sie beschreiben. Sie schildern
in herrlicher Sprache die zukünftige Herrlichkeit und Segnung
des Landes Israel und der ganzen Erde.
Man hat oft gedacht und gesagt, daß Israels Winter
ein immerwährender sein würde, und daß kein Frühling
oder Sommer je wiederkehren würde für die von Gott
301
dahingegebene Nation. Allein in dem Worte Gottes lesen
wir Har und deutlich: „In Zukunft wird Jakob Wurzel
schlagen, Israel wird blühen und knospen; und sie werden
mit Früchten füllen die Fläche des Erdkreises." (Jes. 27, 6.)
Die Hellen Strahlen der „Sonne der Gerechtigkeit" werden
für immer das Dunkel und die Oede des langen Winters
verscheuchen. Die knospenden Blumen, die reifenden Feigen,
die blühenden Reben, die singenden Vögel, die Stimme
der Turteltaube, alles das sind sichere Zeichen, nicht nur
daß der Winter vergangen, sondern auch daß der Frühling
gekommen ist. Und obwohl in dem Weinberge der
Braut bis jetzt noch nichts zur Reife gekommen ist, so
liegt doch in der göttlichen Verheißung die sichere Bürgschaft
eines herrlichen Sommers und eines reichen Herbstes.
An einen Neubekehrten.
Mein lieber C. —
Die Nachricht von des Herrn Güte, die deiner Seele
Frieden schenkte, hat mein Herz mit Lob und Dank erfüllt.
Ich freue mich aufrichtig mit dir und nehme innigen
Anteil an deinem Glück. Dem Herrn allein aber gebührt
alle Ehre für Seine Liebe und Gnade. Welch eine Wirklichkeit
ist das Werk des Geistes Gottes in der Seele l
Er verwundet, um heilen zu können; Er schmettert in
Seiner Macht zu Boden, damit Er wieder aufrichte in
Gnade. DaS hast auch du erfahren und in kurzer Zeit
manches gelernt, was dir früher unbekannt war. Ich
hoffe, du wirst das, was dein göttlicher Lehrmeister dir
gezeigt hat, fleißig benutzen zur Verherrlichung des Herrn
und zum Wohle kostbarer Seelen. Du kannst jetzt von
302
Frieden reden, nachdem dein Gewissen so lange beunruhigt
war; von Ruhe, nachdem du so tief unter der
Last deiner Sünden geseufzt hast; von Freude, nachdem
du durch solche Not und Seelenangst gegangen bist.
Wahrlich, wunderbar wirkt der Herr in unsern Tagen!
An vielen Orten und in vielen, vielen Herzen hat Er ein
Feuer angezündet, und es brennt fort, und der Feind
vermag es nicht auszulöschen. Sein heiliger Name sei
dafür gepriesen!
Wie mir dein Brief zeigt, hast du auch eine Wahrheit
gelernt, die von der größten Wichtigkeit für jemanden
ist, der wirklich Ruhe für seine Seele zu finden wünscht;
nämlich, daß wir Frieden empfangen, wenn wir glauben,
nicht aber ehe wir glauben. Und nun „erfülle dich der
Gott der Hoffnung mit aller Freude und allem Frieden
im Glauben". (Röm. 15, 13.) Beachte den Ausdruck
„im Glauben". Es steht im Griechischen hier nicht das
Dingwort „Glaube", sondern das Zeitwort „glauben",
also: „indem du glaubst". Wir werden nicht errettet
um des Glaubens willen, als eines Preises, noch
nach dem Glauben, als einer erfüllten Bedingung, sondern
im Glauben; die göttliche Botschaft selbst macht uns
glücklich, indem wir sie glauben. Präge dir diese
einfache Wahrheit tief ein. Viele beachten sie nicht und
gehen deshalb oft jahrelang unter stetem Druck einher.
Wenn du einen Brief mit guten Nachrichten erhältst,
welch eine Wirkung übt dann das Lesen desselben auf
dich aus? Du wirst froh, nicht wahr? Und wenn er
dir schlimme Nachrichten bringt, was dann? Du wirst
traurig. Gerade so ist es in geistlicher Beziehung. In
demselben Augenblick, da eine bekümmerte Seele im
303
Glauben auf Jesum blickt, weicht die Last von ihrem
Herzen, und Ruhe und Freude kehren ein. Warum?
Einfach weil sie glaubt, daß in Ihm alle ihre Bedürfnisse
für ewig gestillt sind. So lange sie auf Ihn blickt, hat
sie keinerlei Zweifel. Sie weiß sich im Besitz der Vergebung
ihrer Sünden durch Sein kostbares Blut, ja im
Besitz des ewigen Lebens und jeder Segnung durch den
Glauben an Seinen gesegneten Namen. Sie findet alles
in Ihm, was sie bedarf, und so hat sie vollkommnen Frieden.
Sie ruht in Ihm und singt mit glücklichem Herzen:
Ich preise Dich! Du hast Dein Blut vergossen,
Für meine Sünden ist's am Kreuz geflossen.
Versöhnung seh' ich — seh' ich, Jesu, Dich;
Ich preise Dich, ich preise Dich!
Jesus selbst ist jetzt der allein würdige Gegenstand
für dein Herz. Besäßest du alles, was die Welt dir bieten
kann, aber nicht Ihn, so würde in deinem Innern eine
öde Leere bleiben. Aber wenn man Ihn besitzt, den
Christus Gottes, so ist das Herz zum Ueberströmen voll,
und man sieht alles in dem Lichte Seines Antlitzes, in
einem Lichte, das niemals durch eine Wolke verdunkelt
werden kann. Das ist der Sonnenschein der Seele; ohne
dieses Licht ist alles Finsternis. Die Gegenwart des Herrn
ist das Heiligtum für die Seele, und Seine Liebe die
Fülle und Summe alles Segens.
Und nun, mein lieber C., da du, wie du schreibst,
„völlig glücklich in Jesu" bist, da du Ihn kennen gelernt
hast als deinen Heiland und Erretter, welchen Gebrauch
willst du von dieser Kenntnis machen? Willst du sie
für dich behalten? Willst du sie vor andern verbergen?
Sicherlich nicht! Während es sehr verkehrt sein würde,
304
sich höher oder besser zu dünken als andere, oder unweise
über die Wahrheit zu reden, so daß man die Hörer ärgert,
müssen wir doch treue Zeugen für Christum sein und ein
entschiedenes Zeugnis für die Wahrheit ablegen, wie sie
in Ihm ist. Wir müssen die passende Gelegenheit abwarten
und dann reden in Sanftmut und Liebe. Suche
diejenigen, zu welchen du redest, zu überzeugen, daß du
in Demut ihr Bestes suchst. Vermeide alles, was den
Anschein erwecken könnte, als wolltest du dich selbst zeigen.
Ein Unbekehrter wird leicht durch das Zeugnis eines
jungen Christen geärgert. Es muß daher abgelegt werden
in großer Demut, unter Gebet und in Abhängigkeit von
Christo. Zunächst suche mit denen zu reden, die dir durch
Alter oder Umstände nahe stehen, zu deinen Verwandten
und früheren Bekannten.
Andreas, der Bruder des Simon Petrus, giebt uns
ein schönes und belehrendes Beispiel, wie man am besten
den Dienst für Christum und für andere Seelen beginnt.
Er findet zuerst seinen eignen Bruder Simon und
spricht zu ihm: „Wir haben den Messias gefunden (was
verdolmetscht ist: Christus). Und er führte ihn zu Jesu."
(Joh. 1, 41. 42.) Mein lieber C., gehe hin und thue
desgleichen. Suche zuerst deinen eignen Bruder zu erreichen;
sage ihm, was du gefunden hast, und suche ihn
zu Jesu zu führen. Wie einfach war das, was Andreas
that, wie natürlich! und doch wie passend und zweckentsprechend!
Er sagt nicht viel, nur das was er selbst gesunden
hatte. Wenn dies in einer richtigen Weise, mit
einem glücklichen Herzen geschieht, so wird es immer Eindruck
machen. Es ist kein Versuch, andere zu belehren
oder ihnen zu predigen, sondern die einfache Erzählung
305
einer Thatsache, die das Herz mit ungekannter, himmlischer
Freude erfüllt hat. Und wenn dein Bruder fühlt, daß dir
sein Wohl am Herzen liegt, so wird er auch nicht beleidigt
werden. Vielleicht mag er wenig Wert auf das
zu legen scheinen, was dir so wichtig und kostbar ist.
Aber laß dich nicht entmutigen. Denke daran, wo du
selbst einst wärest; rechne auf Gott und warte mit Ausharren
auf seine Seele. Nichts ist so geeignet, dein
eignes Herz in einem gesunden Zustande zu erhalten als
dieses Warten auf die Seele deines Bruders; denn du
wirst dann eifrig besorgt sein, daß dein Leben mit deinem
Bekenntnis in Uebereinstimmung stehe. Unbeständigkeit
würde dein Zeugnis bald schwächen und deinem Bruder
zum Anstoß gereichen. Und dies gilt nicht nur von
deinem Bruder, sondern auch von deinem Freunde, deinem
Nachbarn u. s. w. Jeder Mensch ist im Sinne des Evangeliums
unser Bruder; und unser Werk ist nie vollendet,
so lange es noch einen Menschen giebt, der sich weigert,
zu Jesu zu kommen. Doch vor allem bete viel für
deinen Bruder, deinen Freund oder deinen Nachbar. Ich
glaube nicht, daß wir ein wirkliches Interesse für jemanden
haben, so lange wir nicht für ihn beten. Im Gebet
treten wir vor Gott und in Seiner Gegenwart mit der
Person in Verbindung, für die wir beten, und dies wird
uns anspornen, gerade so vor der Person zu wandeln,
wie wir vor Gott wandeln würden.
Laß mich dich auch bitten, dich vor allem Disputieren
und Streiten zu hüten. Der Feind wird immer wieder
versuchen, dich in diese Schlinge zu locken; „ein Knecht
des Herrn aber soll nicht streiten". (Lies sorgfältig
2. Tim. 2, 22—26.) Streit erregt allezeit Aerger und
306
Feindschaft und macht unsre eignen Herzen unglücklich.
Folge dem Beispiel des Andreas: „Wir haben den Messias
gefunden". Dieses einfache Zeugnis war genug für
Simon. Sein Interesse wurde erregt, und er ließ sich
zu Christo führen. Mache es wie Andreas. Rede einfach,
aber mit aller Bestimmtheit von Dem, den du
gefunden hast; von dem, was du weißt, besitzest und
genießest. Gehe nicht weiter, als Gott dir Gnade und
Erkenntnis gegeben hat.
Ein junges Mädchen schrieb einmal an eine Person,
die ihr sehr nahe stand und sehr teuer war: „Ich glaube
an Jesum; ich habe Jesum gefunden. Ich weiß, daß
Jesus mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben
hat. Und jetzt weiß ich, daß ich errettet bin. Ich bete
jeden Tag für Dich, auch für den lieben O. und auch
für andere, daß Jesus Euch alle segnen möge." Wie
einfach und doch wie ergreifend ist eine solche Berufung
an das Herz des Empfängers, sei es nun ein sorgsamer
Vater, eine liebende Mutter oder irgend eine andere
geliebte Person.
Und nun, mein lieber C., ehe ich meinen langen
Brief schließe, muß ich dich noch einmal auf den zweiten
Teil dessen, was Andreas that, aufmerksam machen. Wir
haben gelesen: „Er führte ihn zu Jesu". Thue dasselbe
mit deinem ganzen Herzen. Sei ernst und entschieden;
laß dich durch nichts von deinem Vorhaben zurückschrecken.
Es handelt sich um Leben oder Tod, um Himmel oder
Hölle. Kannst du daran denken, daß „dein eigner
Bruder" sich noch auf dem breiten Wege des Verderbens
befindet, ohne alles zu thun, was in deinen Kräften steht,
um ihn zu erretten? O sei treu, wachsam, halte an am
307
Gebet I Wäre wohl irgend ein Opfer an Zeit oder Mühe
zu groß, wenn es sich darum handelt, einen geliebten
Bruder dem ewigen Verderben zu entreißen? Hast du gethan,
was du konntest? Es mag dir scheinen, als ob
der letzte Pfeil aus deinem Köcher vergeblich verschossen
wäre. Doch vertraue auf Gott. Sein Köcher ist noch
voll von Pfeilen. Werde nicht müde, von Jesu zu reden
und zu Seiner Ehre zu wandeln. „Wie ihr nun den
Christus Jesus, den Herrn, empfangen habt, so
wandelt in Ihm." (Kol. 2, 6.) Du wirst erfahren,
daß Gott zu Seiner Zeit deine Gebete erhören und deine
Mühe belohnen wird. Sie ist nicht vergeblich im Herrn.
O sprich von Ihm, von Seiner Liebe,
Die all Erkennen übersteigt;
Von Ihm, der von des Vaters Throne
Zu Sündern sich herabgeneigt;
Der kam, vom Tode zu erretten,
Dich zu befrein aus Satans Ketten!
Ja, sprich von Jesu, von der Gnade,
Die allen, allen Hilfe bot;
Von Seinem Leben, Seinem Wirken,
Von Seinem Leiden, Seinem Tod;
Und Seine Thaten, Seine Worte
Verkünde treu an jedem Orte!
O sprich von Ihm, dem Sohne Gottes,
Der still den Kelch des Zornes trank;
Von Ihm, dem hehren Fürst des Lebens,
Der in den Staub des Todes sank;
Laß Wort und Werk, dein ganzes Leben
Von Ihm, von Ihm nur Kunde geben!
308
„Die Ihn lieben."
„Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat
und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott
bereitet hat denen, die Ihn lieben." (1. Kor. 2, 9.)
Wie gnädig ist unser Gott! Das, wovon wir nie reden
würden, nie reden dürften, das erwähnt Er: unsre Liebe
zu Ihm. Hat Gott denn in unsrer Liebe einen Beweggrund
gefunden, solch herrliche Dinge, die kein Auge
gesehen und kein Ohr gehört hat, für uns zu bereiten?
Nein, der Beweggrund dazu lag inSeiner Liebe zu uns,
als wir noch Sünder und Feinde waren. Aber Sein
Herz erfreut sich daran, unsre schwache Liebe zu Ihm anzuerkennen
und uns zu sagen, daß Er für solche, die in
einer gottentfremdeten und Ihn hassenden Welt Ihn lieben
und Ihm dienen, Segnungen bereitet hat, die nie in eines
Menschen Herz gekommen sind.
Aber die oben angeführte Stelle ist nicht die einzige,
in welcher Gott von unsrer Liebe zu Ihm redet. In
Röm. 8, 28 z. B. heißt es: „Wir wissen aber, daß
denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken",
und in Jak. 1, 12, wo von der Krone des
Lebens die Rede ist, lesen wir: „die Er verheißen hat
denen, die Ihn lieben."
Gott hat uns zuerst geliebt und Seine Liebe in unsre
Herzen ausgegossen, und nun ist unsre schwache Antwort
auf diese Seine Liebe so wertvoll für Ihn, daß Er sie
immer wieder hervorhebt; ähnlich wie eine Mutter mit
herzlicher Freude bei jeder noch so geringen Kundgebung
der Liebe ihres Kindes verweilt und darin nur einen neuen
Anlaß zu Liebesbeweisen ihrerseits erblickt.
Ja, wie gnädig, wie anbetungswürdig ist unser Gott!
Wo ist eine Liebe wie Seine Liebe! Möchte Er in uns
allen die Gefühle wahrer, aufrichtiger Liebe zu Jhmvermehren!
„Deine Stimme ist süß und deine Gestalt anmutig."(Hohel. 2, 14—17.)
„Meine Taube im Geklüft der Felsen, im Versteck
der Felswände, laß mich sehen deine Gestalt, laß mich
hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süß und
deine Gestalt anmutig." (V. 14.) Wir thun wohl, uns
immer wieder an den Unterschied zwischen der irdischen
Berufung Israels und der himmlischen Berufung
der Kirche zu erinnern. Unser hochgelobter Herr wird sich
als Jehova am Ende der Tage der Sache Seines irdischen
Volkes wieder anuehmen, und Jerusalem wird in seinem
Charakter als die Braut des Königs der Mittelpunkt
aller irdischen Herrlichkeit und Segnung werden. Die
Kirche dagegen ist die Braut des Lammes, des einst
erniedrigten, nun aber droben verherrlichten Christus. Der
Ausdruck Braut ist das Symbol der Liebe und der Einheit
hinsichtlich der Stellung. Die Braut steht in gleichem
Range mit dem Bräutigam, und zwar die jüdische Braut
im Blick auf die irdische Herrlichkeit, die Kirche im Blick
auf die himmlische. Da sie Ihn anerkannt und Ihm
vertraut hat während der Zeit Seiner Erniedrigung und
Verwerfung, wird sie auch die Ihm Nächste und Teuerste
sein in Seiner Erhöhung und Herrlichkeit. Ein einzelner
Gläubiger könnte nicht sagen, daß Christus sein Bräutigam
310
sei. Er kann sagen: Er ist mein Erlöser, und: „Er
hat mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben."
Aber Christus ist der Bräutigam der Kirche.
Verfolgen wir den Unterschied zwischen Israels Platz
und Segnung in Verbindung mit dem kommenden Reiche
und der Stellung der Kirche noch etwas weiter. Der
Herr kommt hernieder zu Israel, und segnet es da,
wo es sich befindet. „Der Erlöser wird in Zion erscheinen."
(Vergl. Luk. 1, 68—79.) Die Kirche dagegen
wird ausgenommen in Wolken, um dem Herrn in der
Luft zu begegnen. (1. Thess. 4.) Der jüdische Ueberrest
wird gesegnet werden mit allen zeitlichen Segnungen in
einem herrlichen Lande (Amos 9, 11 - 15); wir sind gesegnet
mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen
Oertern. (Eph. 1.) Jerusalem auf der Erde wird den
Mittelpunkt der irdischen Herrlichkeit uud Segnung bilden,
und durch sie werden alle Nationen der Erde gesegnet
werden. „Denn von Zion wird ausgehen das Gesetz, und
das Wort Jehovas von Jerusalem." (Jes. 2, 3.) Das
Jerusalem droben aber ist der Mittelpunkt der himmlischen
Herrlichkeit; denn „die Herrlichkeit Gottes wird sie erleuchten,
und ihre Lampe ist das Lamm". (Offenb. 21.) Die himmlischen
Heiligen werden ihre verherrlichten Leiber tragen,
gleichgestaltet dem verherrlichten Leibe Christi. (Phil. 3,
21.) Das ganze Haus Israel wird gesegnet sein mit den
lange verheißenen Segnungen eines neuen Herzens und
eines aufrichtigen Geistes. (Hes. 36, 24 — 28.)
Seitdem Israel seiner Untreue wegen von Gott als
Volk beiseite gesetzt ist, steht es mit allen Sündern auf
einem und demselben Boden. In der Predigt des Evangeliums
werden Juden wie Heiden angeredet als verlorene
311
Sünder; und alle, die durch die Gnade Gottes gesammelt
werden, werden zu „einem Leibe" gebildet. Alle genießen
in Christo dieselben Vorrechte. „Er hat aus beiden eines
gemacht und abgebrochen die Zwischenwand der Umzäunung,
auf daß Er die zwei, Frieden stiftend, in sich selbst zu
einem neuen Menschen schüfe,... denn durch Ihn
haben wir beide den Zugang durch einen Geist zu dem
Vater." (Eph. 2.)
Die Hoffnung der Kirche — des „einen Leibes", in
welchem der eine Geist wohnt, — ist die Wiederkunft
des Herrn Jesu vom Himmel, um uns
zu sich zu nehmen. „Ich gehe hin, euch eine Stätte zu
bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte
bereite, so komme ich wieder und werde euch zu
mir nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr
seiet." (Joh. 14, 2. 3.) Wenn diese Verheißung in
Erfüllung gegangen ist, wird Israel wieder auf den Schauplatz
treten, und der Geist Gottes wird in dem Ueber-
reste Judas zu wirken beginnen. Nach der Aufnahme der
Kirche und während der Regierung des Antichristen wird
dieser Ueberrest Gegenstand der besonderen Liebe und
Sorge des Herrn sein. Indem Er in dem Bilde eines
Weibes von Israel redet, sagt Er: „Ich werde sie locken
und sie in die Wüste führen, und ihr zum Herzen reden.
Und ich werde ihr von dort aus ihre Weinberge geben,
und das Thal Achor zu einer Thür der Hoffnung. Und
sie wird daselbst singen wie in den Tagen ihrer Jugend
und wie an dem Tage, da sie aus dem Lande Egypten
heraufzog. Und es wird geschehen an jenem Tage, spricht
Jehova, da wirst du mich nennen: Mein Mann; und du
wirst mich nicht mehr nennen: Mein Baal .... Und
312
ich will dich mir verloben in Ewigkeit . . . und du wirst
Jehova erkennen." (Hos. 2, 14—20.)
Wie haben wir nun die vorliegende Schriftstelle zu
verstehen: „Meine Taube im Geklüft der Felsen, im Versteck
der Felswände, laß mich sehen deine Gestalt, laß
mich hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süß und
deine Gestalt anmutig" ? Vom 10.—15. Verse finden wir
eine ununterbrochene Ansprache voll zärtlicher Liebe, lieblicher
Ermunterung und freudiger Hoffnung. Aus vielen
Stellen der Schrift geht klar hervor, daß der volle Strom
der tausendjährigen Segnungen nicht auf einmal über das
Land Israel und die Nationen hereinbrechen wird; er
kommt vielmehr allmählich, gleich dem Schwinden des
Winters und dem langsamen Herannahen des Frühlings.
Daher die Notwendigkeit des Glaubens auf feiten der
Braut. Doch der Herr erfreut ihr Herz mit der Versicherung,
daß der Tag ihrer Erlösung nahe sei. Er will,
daß sie wisse, daß Sein Auge auf sie gerichtet ist, und
daß sie geduldig ausharre. Andrerseits lernen wir aus
vielen Schriftstellen, daß sie gerade während dieser Zeit
den besondern Zielpunkt des Hasses und der Verfolgung
des Antichristen ausmachen wird. Er wird alles aufbieten,
um den gläubigen Ueberrest zu vertilgen. (Offenb.
12, 6. 17.) Aber durch den Geist Gottes geleitet, findet
er eine Zufluchtsstätte in der Wüste; und der Geliebte
kennt den Bergungsort Seiner Braut. Für Sein Auge
und Sein Herz ist sie gleich der Taube im Geklüft der
Felsen, im Versteck der Felswände. Ihre Stimme klingt
Ihm angenehm, wenngleich sie dem trauernden Klagen
der einsamen Taube gleicht. Ihre Gestalt ist anmutig;
sie ist schön in Seinen Augen, wie sehr sie auch durch
313
Leiden und Verfolgungen entstellt sein mag. Er sucht sie
zu sehen, sie zu hören. O welch eine tiefe, zärtliche Liebe I
Gab es je eine Liebe gleich der Seinigen? Wahrlich,
von Ihm darf gesagt werden, aber auch nur von Ihm:
„Die Liebe ist gewaltsam wie der Tod, hart wie der
Scheol ihr Eifer." (Kap. 8, 6.) Erfaßt der Tod nicht
sein Opfer mit eisernem Griff? Ja, er ist gewaltsam;
was er einmal erfaßt hat, läßt er nicht wieder los. Und
so ist die Liebe, die Liebe unsers Herrn und Heilandes.
Sinne über diese Liebe, mein Leser! Es ist die Liebe
Christi zu Seiner Braut, zu dir! Denke an den harten,
gewaltsamen Griff des Todes, und wie er seine Beute
festhält! und dann denke an das allmächtige Ergreifen,
an die ewige Festigkeit der Liebe des Erlösers! Der Vergleich
ist erschreckend', überwältigend; aber die Wirklichkeit
ist über die Maßen tröstend, ermunternd und stärkend.
Und jetzt richte deine Gedanken auf die andere Seite
der Liebe des Heilandes: „Hart wie der Scheol ist ihr
Eifer." Was bedeutet das? Es scheinen harte Worte
zu sein, um die zärtliche Liebe des Erlösers auszudrücken.
Allein nur starke Gleichnisse können eine Vorstellung von der
Kraft Seiner Liebe geben. Ist es der Tod, der eine
Person mit gewaltsamem Griff erfaßt, so ist es der Scheol,
der sie zurückhält. Er giebt nichts wieder zurück. Er ist
grausam; der bittere Schrei des Beraubten, das tiefe
Weh der Witwe, das ergreifende Seufzen der Waise —
nichts rührt ihn. Er hält sein Opfer unerbittlich fest;
er giebt nichts wieder heraus. — Könnte es stärkere
Bilder geben als diese?
Lerne denn, mein Leser, aus diesen starken Gleichnissen
den Charakter der Liebe des Erlösers kennen. In der
314
Felsenkluft versteckt, in Seiner verwundeten Seite geborgen,
ruht Seine furchtsame, verscheuchte Taube an diesem geheimnisvollen
Herzen der Liebe. Kein Raubvogel kann
sie dort erreichen oder ihr schaden. Kein feindlicher Geier
könnte ihr je eine Feder ausrupfen. Die Felsenkluft, in
der sie geborgen ist, ist unerreichbar für alle ihre Feinde.
Könnte sie aber trotz allem nicht in einem unbewachten
Augenblick in die Hände derer fallen, die sie zu vernichten
trachten? Ja, wenn ihre Sicherheit im geringsten Grade
davon abhinge, daß sie sich festhielte, so würde allerdings
alles für sie verloren sein. Aber, Gott sei gepriesen'
alles hängt von der Kraft und Beständigkeit Jesu und
Seiner Liebe ab. Die göttliche Liebe hält ihren Gegenstand
fest mit einer Kraft, die stärker ist als der Tod,
und doch zugleich so süß und zärtlich,' daß sie keinen Ver
gleich zulätzt; sie bewahrt ihn sicherer als selbst der Schevl.
Wird der hochgelobte Herr jemals „die Seele Seiner
Turteltaube dem Raubtiere hingeben" ? (Ps. 74, 19.)
Nein, nie und nimmer! Hören wir nur, was Er selbst sagt:
„Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie,
und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und
sie gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus
meiner Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben
hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus der
Hand meines Vaters rauben." (Joh. 10, 27—29.)
O Liebe ohne Gleichen!
Kein Sinn kann je erreichen
Die Fülle, die du giebst.
Selbst Engel werden stehen
Und voll Anbetung sehen,
Wie Du, o Herr, die Deinen liebstl
315
„Fanget uns die Füchse, die kleinen Füchse, welche
die Weinberge verderben; denn unsre Weinberge sind in
der Blüte." In lieblicher Weise verbindet sich hier der
Geliebte mit Seiner Braut in der Pflege des Weinberges.
Fanget uns die Füchse — denn unsre Weinberge sind
in der Blüte. Der Weinberg muß sorgfältig gehütet
werden. Die kleinen Fuchse haben scharfe Zähne, und
obwohl sie klein sind, so sind sie doch schlau und richten
leicht großen Schaden an. Im Winter, wenn die Zweige
kahl sind, finden sie keinen Versteck. Sobald aber der
Frühling wiederkehrt, bietet ihnen das Laub hinreichenden
Schutz, um ihre zerstörende Arbeit beginnen zu können.
Wache deshalb, mein Leser, über den Zustand deines
Herzens. Wache besonders gegen die täglichen Sorgen
des gegenwärtigen Zeitlaufs und die tausenderlei kleinen
Dinge, welche dem Fruchtbringen so leicht hindernd in den
Weg treten. Bleibe in dem wahren Weinstock, ziehe deine
Nahrung aus Seinen Wurzeln, so wirst du viel Frucht
tragen zur Verherrlichung des Vaters.
In Zeiten der Erquickung von feiten des Herrn und
großer Erweckungen ist doppelte Wachsamkeit nötig. Es
ist wahrhaft erfreulich, zu beobachten, wie die Knospen
aufbrechen und die Blüten sich entfalten, und dabei dem
lieblichen Gesang der Vögel zu lauschen. Aber der Weingärtner
hat mehr als das zu thun; er hat zu wachen
gegen den schlauen Verderber, der Zwischen dem grünenden
Laube der Reben lauert, um ihre Wurzeln zu unterwühlen
und ihre Frucht zu rauben. Wie manche gute Rebe
haben wir im Laufe der Jahre kränkeln sehen infolge der
verführerischen Ränke des Feindes, der stets auf der
Lauer liegt!
316
Wie bitter sind solche Enttäuschungen! Der Winzer
giebt sich alle Mühe, die Reben zu bewässern, zu pflegen
und zu beschneiden. Schön und vielversprechend verläßt er
sie am Abend; aber ach, welch ein Anblick bietet sich ihm
am nächsten Morgen! Während er der Ruhe pflegte,
hat der Fuchs sein verderbliches Werk gethan. Seine
scharfen Zähne haben den Stamm bis aufs Mark abgenagt,
den Boden umgewühlt, die zarten Triebe abgerissen.
Ach, in einer Nacht, in einer bösen Stunde ist die
herrliche Pflanze, die einen so reichen Herbst verhieß, ein
Opfer deS Feindes geworden. Mit traurigen Blicken betrachtet
der Winzer seine arme Rebe. Sie ist dahin I —
Für immer dahin? Nein, Gott sei Dank! die Wurzel
ist geblieben. Denn selbst die Füchse der Hölle vermögen
nicht die Wurzeln einer Pflanze, welche der himmlische
Vater gepflanzt hat, auszurotten. Aber der Schaden ist geschehen
; auf lange Zeit hinaus wird die einst so hoffnungsvolle
Rebe nur wenig Frucht bringen.
Die Anwendung des Bildes ist nicht schwierig. In
der stillen Einsamkeit der göttlichen Gegenwart laß uns
unsre Lektion lernen, mein Leser! Hat Gott dir Liebe
zu den Seelen gegeben? Hat Er dir das Herz eines
Hirten geschenkt? O suche dann Seelen für Christum
zu gewinnen, suche sie zu schützen und zu nähren, und
wache mit Fleiß über die Schafe und Lämmer Seiner
Herde! „Hütet die Herde Gottes, die bei euch ist, indem
ihr die Aufsicht nicht aus Zwang führet, sondern freiwillig
.... Und wenn der Erzhirte offenbar geworden
ist, so werdet ihr die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit
empfangen." (1. Petr. 5, 2—4.)
317
„ Mein Geliebter ist mein, und ich bin Sein, der unter
den Lilien weidet." (V. 16.) Die glückliche Braut redet
jetzt mit voller Gewißheit von dem Besitz des Gegenstandes
ihrer Liebe. „Mein Geliebter ist mein", nicht:
„Ich hoffe, daß Er mein ist". Wenn die Liebe wirklich
und wahr ist, so verlangt das Herz nach dem Besitz
seines Gegenstandes. Nichts anderes genügt ihm.
Bisher haben wir die Braut mit bewundernder Freude
von den vielen herrlichen Eigenschaften ihres Geliebten reden
hören; auch stand sie in dem Genuß der Segnungen
Seiner Liebe. Jetzt aber besitzt sie Ihn selbst. So wird
es sein am Ende der Tage. Christus wird für den
Ueberreft sein, und der Ueberrest für Christum. Aber unsre
Herzen sind so träge, zu glauben. Wieder und wieder
versichert der Herr die Braut Seiner Liebe und Seines
Wohlgefallens an ihr. Selbst wenn sie von ihrem Schwarzsein
spricht, nennt Er sie sofort: „Du Schönste unter
den Weibern". Und jetzt kann sie mit aller Gewißheit
sagen': „Er ist mein!" Welch ein Triumph! „Jesus
ist mein!" Die Braut spricht jetzt nicht mehr von den
Ergebnissen Seiner Liebe oder von Seinen ausgezeichneten
Eigenschaften, sondern von Ihm selbst.
Könnte man mit eben solcher Bestimmtheit von dem
Besitz irgend eines irdischen Gegenstandes reden? Sicherlich
nicht. Man Mnn mit einem gewissen Maße von
Wahrheit sagen: „Dieses Geld ist mein; dieses Haus ist
mein; dieser Ehrenplatz ist mein u. s. w." Aber wie
rasch können alle diese Dinge uns entschwinden oder wir
ihnen! Wie oft ist gerade dann, wenn wir meinten, der
Erfüllung unsers Herzenswunsches endlich nahe zu sein,
diese Erfüllung in weite Fernen gerückt worden; oder
318
wenn wir wirklich den lange ersehnten Gegenstand in unsrer
Hand hielten, wie oft ist er über Nacht verwelkt wie
eine dem nährenden Boden entrissene Blume! Ach, wie
viele Tausende und Millionen müssen am Ende ihres
Lebens ausrufen: „Alles das, wofür ich sorgte und lebte,
wofür ich kämpfte und litt, ist nicht mein und wird nicht
mein sein in Ewigkeit! Für ein Linsengericht habe ich
mein Erstgeburtsrecht verkauft, und nun ist alle Hoffnung
dahin; nichts bleibt mir als eine finstere, schreckliche
Ewigkeit!"
Wie thöricht ist es, auf irgend etwas in dieser Welt
sein Vertrauen zu setzen! Und wenn ich von alledem,
was die Menschen der Welt schätzen, reden könnte als
„mein": mein Reichtum, meine Ehre, mein Einfluß, meine
Macht, mein Verstand ec. rc. — was könnte es mir
nützen, was thun für meine unsterbliche Seele? Aber wie
ganz anders ist es, wenn Christus, der Geliebte, der Gegenstand
meines Herzens ist; wenn der Glaube mit voller
Gewißheit sagen kann: Christus ist mein, mein jetzt und
in Ewigkeit, mein, um meine Sünden abzuwaschen und
mich mit der Gerechtigkeit Gottes zu bekleiden, mein, um
in meinem Herzen zu wohnen, mein in allen Umständen
und Schwierigkeiten dieses Lebens, mein in ewiger Herrlichkeit!
Ja, mein Leser, und noch mehr als das: Er
ist mein als Der, auf den ich blicke und mit dem ich rede,
der mich liebt, für mich sorgt, mit mir fühlt und mich
aufrecht hält, der mich mit Güte und Huld umgiebt bis
an das Ende meines Pilgerpfades und der mich bald
heimholen wird ins Vaterhaus droben! Ist das nicht
ein seliges Teil? Sage mir, ist es nicht genug für einen
armen, schuldigen Sünder?
319
O wer ermißt
Den Reichtum, der in diesen Worten liegt:
„Ich bin des Herren, und der Herr ist mein!"?
Welch eine Zukunft thut sich hier dem Blick
Des Glaubens auf! Nicht fürchtet sich die Braut,
So kühn zu reden; nein, sie rühmt sich laut:
Mein Gott, mein Heiland, mein geliebter Herr! —
Und hat sie nicht Sein Wort? Sagt Er nicht selbst:
„Wie mich der Vater liebte, lieb' ich euch" ?
Und hat Er bis ans Ende nicht geliebt,
Nicht dieses Eine nur von ihr begehrt:
„Gieb mir dein Herz!"?
Wie ist es möglich, so fragt das liebende Herz, daß
irgend jemand diesen Jesus vernachlässigen oder gar verachten
könnte? „In Ihm wohnt die ganze Fülle der
Gottheit leibhaftig." Alles andere ist leer und eitel.
Und als der auferstandene, verherrlichte Mensch ladet Er
jetzt alle ein, zu Ihm zu kommen und Seinen Reichtum,
Seine Herrlichkeit und Seinen Platz mit Ihm zu teilen.
„Denn es ist kein Unterschied, denn derselbe Herr
von allen ist reich für alle, die Ihn anrufen; denn
jeder, der irgend den Namen des Herrn
anrufen wird, wird errettet werden."
(Röm. 10, 12. 13.)
Andrerseits wagt es manche aufrichtige Seele, die
den Herrn wirklich lieb hat, nicht zu sagen: „Mein Geliebter
ist mein." Man meint, das sei Anmaßung. Aber
alle, die so denken, vergessen, daß Er es zuerst sagt.
Und kann es Anmaßung sein, zu bestätigen, daß Sein
Wort wahr ist. Es ist stets demütiger, sich durch Sein
Wort leiten zu lassen, als durch die eignen Gedanken
und Gefühle. Wie kommt es, daß solche Geschöpfe, wie
wir sind, Ihn lieben? Der einzige Grund liegt darin,
320
daß Er uns zuerst geliebt hat. (1. Joh. 4, 19.) Eine
Seele, die in Aufrichtigkeit nach Christo und Seinem
Heile verlangt, besitzt schon beides, wenn sie es auch noch
nicht glaubt und weiß. Der Herr hat eine solche Seele
bereits in dem Reichtum Seiner Gnade besucht. Er
schafft das Verlangen, um es zu befriedigen; Er
schafft die Liebe, um ihr zu begegnen; Er schafft den
Glauben, um ihm zu antworten. Alles Gute kommt
von oben herab. In unsern Herzen von Natur ist nichts
Gutes, und Welt und Satan können auch nichts Gutes
hineinpflanzen; alles Gute muß von oben kommen.
Jeder gute Gedanke, jedes gute, aufrichtige Verlangen
kommt vom Herrn. Jede Seele, die wirklich danach verlangt,
Christum kennen zu lernen, Ihm zu vertrauen,
Ihn zu lieben und Ihm zu dienen, wird deshalb sicherlich
Ihn kennen und lieben lernen, Ihm dienen und Ihn an-
beten ewiglich. Der Mensch mag Erwartungen erwecken,
denen er nicht entsprechen kann, er mag Liebe Hervorrufen,
die er nachher enttäuscht; aber nicht so der hochgelobte
Herr. Er ist der wahrhaftige Gott; Seine Liebe ist
vollkommen. Und Er ist unser, mein lieber Mitgläubiger,
unser durch die freie Gabe Gottes, so daß wir in aller
Demut sagen können: „Mein Geliebter ist mein."
O möchten wir mehr alles das zu erfassen vermögen,
was Er ist und was Er hat für uns!
„Und ich bin Sein." Die Braut weiß sehr
wohl, daß sie des Herrn ist. Sie ruft sich diese kostbare
Wahrheit immer wieder ins Gedächtnis zurück, und Er
versichert sie in der lieblichsten Weise, daß sie Ihm über
alles teuer sei. „Meine Freundin, meine Schöne, meine
Taube", so nennt Er sie. Ist es nicht ein beglückender
321
Gedanke, mein Leser, daß der Gläubige niemandem anders
angehört als Christo, und daß er Ihm allein unterworfen
ist? „So rühme sich denn niemand der Menschen",
sagt der Apostel, „denn alles ist euer. Es sei Paulus
oder Apollos oder Kephas, es sei Welt oder Leben oder
Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges: alles ist
euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes."
(1. Kor. 3, 21—23.) Kostbare Wahrheit! „Ihr seid
Christi." Jeder Gläubige kann sagen: „Ich bin Sein."
So ehren wir Gott und Sein Wort. Wir gehören ausschließlich
Christo an und sind nur Ihm unterworfen.
Und während wir keinem andern als Ihm angehören,
sind alle Dinge unser: „es sei Paulus oder Apollos oder
Kephas u. s. w." Sie sind unsre Diener, nicht unsre
Meister. Einer ist unser Meister. Selbst der Tod
hat seine Herrschaft über uns verloren. Er ist für den
Gläubigen kein Herr mehr, sondern ein Bote des Friedens,
ein Diener. Der Tod kann mich nicht länger als seine
Beute betrachten; die Welt kann nicht länger sagen, daß
ich ihr angehöre, und der Feind kann nicht sagen, daß
ich sein sei. Das einfache, aber so herrliche Wort: „ihr
seid Christi", ordnet alles. O glaube es, mein Leser,
und glaube es so, daß du auch Ihm allein zu folgen
begehrst! Wir sind um einen Preis erkauft, und dieser
Preis ist Sein kostbares Blut. Wir gehören nicht mehr
uns selber an, sondern Ihm.
„Er weidet unter den Lilien." Die Braut
erinnert sich an den Namen, den Er ihr gegeben hat.
(V. 2.) Ist das Anmaßung? Wahrlich nicht. Möchten
wir im Gegenteil mehr an die Worte denken, die Er
gebraucht, und die Titel beachten, die Er giebt! Als
322
„die Lilie" ist sie die Vertreterin Seines ganzen Volkes;
und in der Weite ihres Herzens nennt sie sie alle „Lilien".
Ueberdies weiß sie, daß Er unter den Lilien weidet. Da
ist Er zu finden, nirgendwo anders. In dem Liliengarten
findet Er Seine Erquickung, Seine Freude, Sein Genüge.
Welch ein Vorrecht, Lilien in diesen Garten sammeln zu
dürfen, während Er noch Seine Ankunft hinausschiebt!
„Bis der Tag sich kühlt und die Schatten fliehen,
wende dich, sei gleich, mein Geliebter, einer Gazelle oder
einem Jungen der Hirsche auf den zerklüfteten Bergen."
(V. 17.) Die volle Gewißheit Seiner Liebe und der
selige Genuß Seiner selbst im Glauben vermehren das
Verlangen der Braut nach dem Tage Seiner Herrlichkeit.
Dann werden „alle Schatten fliehen". Indem alle Schatten
und Vorbilder bei Seiner Erscheinung ihre Erfüllung
finden, verschwinden sie für immer. Jetzt sehen wir durch
einen Spiegel, dunkel und trübe; dann von Angesicht zu
Angesicht. Wir werden zwar keinen andern Jesus sehen
wie jetzt, aber das trübe Glas wird entfernt sein. „Wir
werden Ihn sehen, wie Er ist." Für Israel wird die
ausgehende Sonne der Gerechtigkeit für immer alle Finsternis
verscheuchen und den langen, öden Winter in einen
herrlichen Frühling verkehren. Die Blumen werden erscheinen,
die Vögel ihren Gesang beginnen, und die ganze
Schöpfung wird mit Freude erfüllt sein.
Bis zu dem Anbruch dieses glücklichen Tages bittet
die Braut den Geliebten, bei ihr zu bleiben. Sie verlangt
sehnlichst nach Seiner Gegenwart und dem Trost Seiner
Liebe, bis Er selbst in Herrlichkeit erscheint. Sie hängt
an der Person ihres Geliebten. „Wende dich, sei gleich,
mein Geliebter, einer Gazelle oder einem Jungen der
323
Hirsche auf den zerklüfteten Bergen!" Sie ist noch in
der Wüste. Ihre Prüfungen sind mannigfaltig. Der
Pfad ist rauh und schwierig. Deshalb sehnt sie sich nach
der Ankunft ihres Geliebten in Macht und Herrlichkeit,
mit der Schnelligkeit einer Gazelle oder eines jungen
Hirsches auf den zerklüfteten Bergen. Was sind Felsen
und Klüfte für eine flüchtige Gazelle? Nichts. Was sind
alle die Schwierigkeiten der vollen Wiederherstellung Israels
für den Herrn? Nichts. Ein Strahl Seiner zukünftigen
Herrlichkeit wird Schrecken in den Herzen Seiner Feinde
verbreiten und den Weg ebnen für „die Befreiten Jehovas,
um zurückzukehren und nach Zion zu kommen mit Jubel,
und ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; sie werden
Wonne und Freude erlangen, und Kummer und Seufzen
werden entfliehen". (Jes. 35, 10.) Dann „wird jedes
Thal erhöht, und jeder Berg und Hügel erniedrigt werden,
und das Höckerichte soll zur Ebene werden, und das
Hügelige zur Niederung. Und die Herrlichkeit Jehovas
tvird sich offenbaren, und alles Fleisch mit einander wird
sie sehen." (Jes. 40, 4. 5.) Aber bis zu dem Anbruch
dieses lange ersehnten Augenblicks bittet die Braut, in dem
Genuß Seiner Liebe erhalten zu bleiben. Liebliche Früchte
der Gnade: ein Glaube, der das Wort erfaßt, eine
Hoffnung, die nach dem ersten Dämmern des Tages ausschaut,
und ein Bitten um den gegenwärtigen Genuß
Seiner Gegenwart! Die Braut streckt sich aus nach dem
Ziele, und kein Hindernis kaun sie aufhalten. Sie verlangt,
bei Ihm zu sein.
Ist es auch so mit uns, geliebter Leser? Haben
wir Glauben an das Wort des Herrn? schauen wir aus
mach Ihm, verlangen und erwarten wir Seine Rückkehr?
324
Und ist es unser beständiges Flehen, in Seiner Gemeinschaft
erhalten zu bleiben, „bis Er kommt" ? Die Stunde, die
dem Tagesanbruch unmittelbar vorangeht, gilt als die
kälteste und finsterste Stunde der Nacht. So wird es
mit Israel sein am Ende der Tage. „Wehe! denn groß
ist jener Tag, ohne Gleichen, und es ist eine Zeit der
Drangsal für Jakob; doch wird er aus ihr
gerettet werden. Denn es wird geschehen an jenem
Tage, spricht Jehova der Heerscharen, daß ich sein Joch
von deinem Halse zerbrechen und deine Fesseln zerreißen
werde." (Jer. 30, 7. 8.) Die Morgendämmerung jenes
Tages wird dem harrenden, betenden Ueberrest Befreiung
und ihren stolzen Bedrängern Verderben bringen. Und
was die Kirche betrifft, so schreibt der Apostel Paulus
an Timotheus: „Dieses wisse, daß in den letzten Tagen
schwere (od. gefahrvolle) Zeiten da sein werden." Glücklich
ein jeder, der einfältig und treu an Seinem Worte festhält,
dem Herrn nachfolgt und auf Sein Kommen wartet!
Die letzte Stunde der Nacht mag in der That kalt und
finster sein; aberlaß dich nicht beirren, mein Leser, wache
und bete, der Morgen wird bald anbrechen. Glückselig
alle, die mit wachem Auge das erste Aufleuchten des
Morgensterns erblicken!
„Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend auf euern
allerheiligsten Glauben, betend in dem Heiligen Geiste,
erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes, erwartend die
Barmherzigkeit unsers Herrn Jesu Christi zum ewigen
Leben." (Jud. 20. 21.)
325
„Die Herrlichkeit des Herrn anschauend."(2. Kor. 3, 18.)
Als Moses zum zweiten Male auf den Berg Sinar
stieg und dort die Herrlichkeit Jehovas sah und Seinen
gnadenreichen Namen hörte: „Jehova, Jehova, Gott, barmherzig
und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte
und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der
Ungerechtigkeit, Uebertretung und Sünde vergiebt rc." —
da leuchtete sein Angesicht. Und als er dann vom Berge
herabkam, mit den Gesetzestafeln in seinen Händen und
dem Widerschein der Gnade Gottes auf seinem Angesicht,
fürchtete sich das Volk, ihm zu nahen. Moses legte
hierauf eine Decke über sein Angesicht, die er entfernte,
so oft er mit Gott redete, aber wieder auflegte, wenn er
zu dem Volke sprach.
Im Gegensatz zu dieser Furcht im Herzen und dieser
Decke auf dem Angesicht, ist es das Teil des Gläubigen,
ohne Furcht und mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit
des Herrn anzuschauen. Israel konnte die Bedeutung
jenes wunderbaren Glanzes auf dem Antlitz Moses nicht
verstehen, weil die Gesetzestafeln in seinen Händen waren.
Jene Entfaltung der Gnade brachte nur Furcht hervor;
denn es ist unmöglich, von einem Gesetzgeber Gnade, oder
durch „den Dienst der Verdammnis" Leben zu empfangen.
Es giebt allerdings viele Christen, die Gesetz und Gnade
mit einander vermengen; aber sie sind niemals frei und
glücklich vor Gott. Sie versuchen, das Gesetz zu halten
und bessere Menschen zu werden, sie mühen sich ab, das
Gute zu thun und das Böse zu lassen; aber anstatt durch
ihre Anstrengungen dem Ziele näher zu kommen und
326
heiliger zu werden, müssen sie die Wahrheit des Wortes
erfahren: „In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt
nichts Gutes". Anstatt Gnade zu finden in Gott und
Herrlichkeit in Christo Jesu, entdecken sie in sich selbst
eine Natur, die zu allem Guten unfähig und nicht imstande
ist, zu gehorchen. Betrübende Entdeckung! Aber
wie könnte es anders sein? Ihr Blick ist auf ihre eigne
Person gerichtet, und da muß das Ergebnis ein niederdrückendes
sein. Ohne Zweifel ist die Lektion eine höchst
nützliche, aber man macht keine Fortschritte dabei.
Was ist es, das uns wachsen läßt, nicht nur in
unsrer Erkenntnis, sondern auch in der praktischen Verwirklichung
und Darstellung dessen, was wir bekennen?
Die Beschäftigung mit Christo, dem verherrlichten
Menschen zur Rechten Gottes! Sein Sitzen dort
verkündigt uns die Gerechtigkeit Gottes. Er würde nicht
als verherrlichter Mensch dort sein können, wenn Er nicht
ein gekreuzigter Mensch hienieden gewesen wäre. Er ist verherrlicht,
weil Er das Werk vollbracht hat, das der Vater
Ihm zu thun gegeben hatte; und wir blicken zum Himmel
empor und sehen Ihn — Gott sei Dank! — nicht mit
den Gesetzestafeln in Seinen Händen und den Worten
auf Seinen Lippen: „Thue dieses, und du wirst leben";
sondern wir sehen Ihn mit Händen, die einst um unsrer
Sünden willen durchbohrt wurden, und von Seinem Angesicht
leuchtet uns die Herrlichkeit Gottes entgegen und
verkündet laut, daß alles, was nötig war, geschehen ist,
daß unsre Sünden auf immerdar hinweggethan und Gottes
Heiligkeit und Gerechtigkeit vollkommen befriedigt sind.
Um wachsen und in der praktischen Heiligkeit Fortschritte
machen zu können, müssen wir zunächst „geschmeckt
327
haben, daß der Herr gütig ist" (1. Petr. 2, 3); wir
müssen uns frei und glücklich fühlen in der Gegenwart
Gottes, und „wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit".
Er hat uns belehrt, daß alle unsre Sünden,
gesühnt, daß wir selbst mit Christo gestorben sind und-
jetzt mit Ihm auf dem Boden der neuen Schöpfung,
stehen, so daß wir im Glauben mit aufgedecktem Angesicht
Seine Herrlichkeit anschauen können. Alles ist Liebe„
Gnade und Herrlichkeit. Nicht ein Wölkchen verdeckt uns-
das Angesicht Christi, nicht der geringste Zweifel ist in
unsern Herzen zurückgeblieben. Das Erlösungswerk ist:
vollbracht; Er wurde für uns gerichtet, und Er lebt jetzt
für uns in der Herrlichkeit. Ein Glaubensblick auf Ihn/
wie Er dort ist — und alle Zweifel bezüglich unsrer Annahme
verschwinden wie die Schatten der Nacht vor der
ausgehenden Sonne; denn Er, der einst für uns gerichtet
wurde, ist der Maßstab unsrer Annahme: „wir sind begnadigt
(od. annehmlich gemacht) in dem Geliebten".
In diesem Aufschauen zu Ihm liegt zugleich eine
göttliche Kraft. Denn wir lesen: „Wir alle aber, mit
aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend,
werden verwandelt nach demselben Bilde."
Indem wir Christum im Himmel betrachten, werden wir
himmlisch. Allerdings ist all unser Sehen und Erkennen
Stückwerk; allein durch den Glauben sehen wir Ihn, und-
die unmittelbare Folge unsers Anschauens ist Trennung
von dem Bösen und Wachstum in der Heiligkeit. Wir
werden verwandelt, unmittelbar und in demselben Maße,
wie wir unser Auge unverrückt auf Ihn gerichtet halten.
Sieh hier, mein lieber Leser, das Geheimnis alleA
wahren Fortschritts im christlichen Leben, alles wirklichen
328
Wachstums in Erkenntnis und Kraft. Die Sache ist so
einfach, und doch fällt es uns so schwer, sie wirklich zu
erfassen und danach zu handeln. Wie sind wir so geneigt,
gute Vorsätze zu fassen! und doch müssen wir immer
wieder erfahren, daß die besten Vorsätze wert- und kraftlos
sind. Christus wurde für unsre Sünden gekreuzigt,
und ein großer Teil dieser Sünden sind gebrochene Vorsätze
und nicht gehaltene Gelübde. Wie mancher Christ
faßt den aufrichtigen Entschluß, von nun an sich fern zu
halten vom Bösen und in Heiligkeit zu wandeln! Aber
was ist es anders als ein Blicken auf sich selbst, anstatt
auf Christum, ein Vertrauen aus die eigne Kraft und insofern
ein Aufgeben Christi? Ein Gläubiger, der gute
Vorsätze und ernste Entschlüsse faßt, wird nicht verändert,
wohl aber der, welcher nicht mit sich, sondern mit Christo
in der Herrlichkeit beschäftigt ist. Auch liegt die verändernde
Kraft nicht in uns selbst. Nein, „wir werden verwandelt
... als durch den Herrn, den Geist". Ferner ist
die Verwandlung eine fortschreitende: „von Herrlichkeit zu
Herrlichkeit". Hier giebt es keinen Stillstand; entweder
schreiten wir vorwärts oder wir gehen zurück. Auch giebt
es nicht eher ein Aufhören, bis das Vollkommene gekommen
ist, und wir Ihn schauen, wie Er ist.
Das ist Wachstum. In der Natur kann das Auge
kaum das allmähliche Reifen der Frucht verfolgen, und
doch wird die Frucht nach und nach durch die Strahlen
der Sonne verwandelt; sie wächst und zieht Süßigkeit
und Wohlgeruch aus der belebenden Quelle des Lichts.
Gerade so ist es in geistlicher Beziehung. Ergießt sich das
Licht eines verherrlichten Christus in die Seele, so ruft
es Heiligkeit, Wachstum und liebliche Früchte hervor.
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Ein Lehrling wird nicht dadurch zum Meister, daß er
in eigner Kraft und Geschicklichkeit sucht, ein Stück Arbeit
zu machen. Er mag es noch so gut und treu meinen;
aber anstatt die Arbeit zu vollenden, verdirbt er Werkzeug
und Material. Nein, er muß auf die Hand des Meisters
blicken, muß sehen, wie dieser das Werkzeug anfaßt und
benutzt; und indem er das mit allem Fleiße thut, lernt
er und wird, ohne es selbst zu wissen, nach und nach in
dasselbe Bild verwandelt.
So ist es mit dem Christen. Indem er mit anhaltendem
Fleiß die Herrlichkeit Seines Meisters anschaut,
wird er moralisch in dasselbe Bild verwandelt „von Herrlichkeit
zu Herrlichkeit"; er geht „von Kraft zu Kraft".
Cs bedarf dazu keiner Anstrengung seinerseits; „anschauen"
kann ein kleines Kind. Doch das Traurige ist, daß wir
so wenig anschauen! Wir verhindern unser Wachstum
so vielfach dadurch, daß wir unsern Blick auf die Erde
richten, auf die Dinge hienieden, auf uns selbst, auf
andere rc. ec. Kein Wunder, daß dann das Wachstum
unmöglich ist. Wo nicht Christus „alles" ist, giebt es
wenig Frucht, wenig Fortschritte.
Wir können uns nicht selbst heiligen; aber wir können
den Geist des Herrn hindern, Sein Werk in uns zu thun.
Mit unsern eignen Erfahrungen, mit unserm Glauben
oder mit irgend etwas von oder in uns selbst beschäftigt
zu sein, ist gerade so verhängnisvoll für unser Wachstum
wie das Blicken auf die Dinge hienieden. Wir haben
dann einen andern Gegenstand als Christum. Ebenso
verkehrt und nutzlos ist es, sich mit unsrer Heiligkeit oder
unsrer Schwachheit zu beschäftigen, wie so viele Christen
es thun. Christus, wie Er ist in der Herrlichkeit droben,
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das ist der einzige Gegenstand des Glaubens. O möchten
wir doch lernen, Ihn mehr im Glauben anzuschauen,
damit wir durch Ihn verwandelt werden in Sein Bild
von Herrlichkeit zu Herrlichkeit!
Das vollkommene Opfer.
Unter den Sündvpsern, welche Gott einst im Alten
Bunde anordnete, um von verschiedenen Gesichtspunkten aus
die Vollkommenheit des Opfers Christi darzustellen, nimmt
dasjenige, welches am großen Versöhnungstage dargebracht
werden mußte, wohl den ersten Platz ein. Es war das
jährliche Opfer für Israel und deckte gleichsam die Sünden
des Volkes für zwölf Monate zu. Auf Grund desselben
konnte Gott inmitten Seines Volkes wohnen, und der
Israelit Gott nahen.
Das Blut der gewöhnlichen Sündopfer wurde nur
ins „Heilige" gebracht, in den vorderen Raum der „Wohnung"
Gottes, in welchem der goldne Räucheraltar, der
goldne Leuchter und der Schaubrottisch standen; am großen
Versöhnungstage aber wurde das Blut des Opfertieres
ins „Allerheiligste" getragen, in jenen heiligen inneren
Raum, in welchem Gott über den beiden Cherubim thronte,
und den niemand betreten durfte als nur der Hohepriester
einmal im Jahre.
Dieses Vorbild ist von der tiefsten Bedeutung für
uns; denn an dem Tage, da Jesus starb und das Vorbild
seine Erfüllung fand, „zerriß der Vorhang des
Tempels in zwei Stücke, von oben bis unten"; und er
ist bis heute zerrissen geblieben, und alle wahren Gläubigen
werden ermahnt, Gott zu nahen an jenem Orte,
331
Welcher geistlicherweise das Allerheiligste heißt; ja, wir
Werden ermuntert, mit aller Freimütigkeit und zu aller Zeit
da einzutreten, wo der Hohepriester nur einmal im Jahre
erscheinen durfte. (Vergl. 3. Mose 16 mit Hebr. 9 u. 10.)
Dieser freie Zugang ist das Vorrecht aller Gläubigen,
des ganzen Volkes Gottes, nicht etwa nur eines Teiles
von ihnen oder gar einer besondern, bevorzugten Klasse.
Alle Grenzen und Schranken, die man zieht, sind menschlich.
Gottes Ermahnung an uns lautet: „Laßt unS
hinzutreten!" ja, hinzutreten zu Gott selbst, zu dem Thron
Seiner Gnade, und zwar in der vollen Gewißheit des
Glaubens, daß unser Zugang gegründet ist auf die Wirksamkeit
des Blutes unsers großen Sündopfers, sowie auf
die nie fehlende Gegenwart Jesu in der Herrlichkeit.
Kein noch so dünner Vorhang trennt den Gläubigen von
Gott; nein, mit vollkommner Freimütigkeit, mit heiliger
Kühnheit darf er Gott nahen. Mit dem Worte Gottes
in unsrer Hand dürfen wir behaupten, daß jedes religiöse
System, welches einen Vorhang zwischen Gott und Sein
Volk schiebt, in demselben Maße Goit verunehrt, wie es
Ihn vor den Blicken der Seinigen verbirgt.
An dem großen Versöhnungstage in Israel wurden
Zwei Böcke vor Jehova gestellt, und durchs Los der
eine für Jehova, der andere für das Volk bestimmt.
Erkenne hier, mein Leser, die beiden großen Seiten des Versöhnungswerkes
: seine Wirkung erstreckt sich zunächst gegen
den heiligen Gott und dann gegen den unreinen Sünder
hin. Gottes heiligen und gerechten Forderungen mußte
genügt, und der Sünder mußte versöhnt, seine Schuld gesühnt
werden. Beschäftigen wir uns zunächst ein wenig mit
Lieser letzteren, dem Sünder zugekehrten Seite des Opfers.
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Auf den Kopf des Bockes, der für das Volk war,
wurden „alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und
alle ihre Uebertretungen nach allen ihren Sünden" bekannt
und vermittelst der Handauflegung des Hohenpriesters
auf ihn übertragen. Dann wurde er durch einen bereitstehenden
Mann in die Wüste geführt, „daß der Bock auf
sich trage alle ihre Ungerechtigkeiten in ein ödes Land".
(V. 20 — 22.) Mit den Sünden auf sich wanderte der
Bock in die Wüste, um nie wieder von dem Volke gesehen
zu werden. Welch ein ausdrucksvolles Bild! die Sünden
für immer hinweggethan, der ewigen Vergessenheit anheimgegeben!
Gerade so ist es mit den Sünden des Sünders:
sie sind auf Jesum gelegt und durch Ihn in das Meer
der Vergessenheit versenkt worden. „Ihrer Sünden un!>
ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken."
(Hebr. 10,17.) Möchten wir in dieser vollkommnen Gnade
Gottes gegen uns frohlocken!
Mit dem Bocke, auf den das Los für Jehova gefallen
war, wurde in ganz andrer Weise verfahren. Er
hieß „der Bock des Sündopfers" und wurde geschlachtet.
Sein Blut wurde innerhalb des Vorhangs, in das Allerheiligste,
gebracht und dort auf und vor den Deckel der
Bundeslade gesprengt. Wir erinnern uns, daß zwischen,
den Cherubim hervor, die den Sühnungs-Deckel überschatteten,
die Stimme Jehovas ertönte; von dort aus
redete Er mit Mose, dem Mittler zwischen Ihm und dem
Volke. So wurde also das Sühnungsblut auf den Thron
Jehovas selbst gebracht und siebenmal (d. h. in göttlicher
Vollkommenheit) vor ihn gesprengt. Die Sünden forderten
das Blut; aber nachdem letzteres ins Allerheiligste gebracht
war, redeten nicht mehr die Sünden, sondern das Blut
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von dem Throne der Gerechtigkeit her. Gottes Heiligkeit
forderte den Tod des Sünders; nun aber, da der Tod
Jesu für den Sünder eingetreten ist, ruft Sein kostbares
Blut von dem Throne in der Höhe her dem Sünder „Frieden"
zu. Für den, der den Tod verdient hatte, ist von
Gott selbst Frieden gemacht worden. Die Gnade herrscht
jetzt durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum
Christum, unsern Herrn. (Röm. 5, 21.) „Güte und-
Wahrheit sind sich begegnet, Gerechtigkeit und Frieden
haben sich geküßt." (Ps. 85,10.) Aus den Wunden des
einst gekreuzigten, aber jetzt verherrlichten Jesus verkündigen
beide, Gerechtigkeit und Gnade, die frohe Botschaft,
daß alle, die an Ihn glauben, Frieden haben durch Sein
kostbares Blut.
Der Herr ist eingegangen in „die wahrhaftige Hütte"
droben. Er ist durch die Himmel gegangen, und der Blick'
des Glaubens dringt jetzt hinauf, geradewegs bis zu Gottz
hin. Ja, mein lieber gläubiger Leser, es giebt nichts
Trennendes mehr zwischen dir und Gott, oder besser zwischen
Gott und dir. Die Frage der Sünde ist durch das Blutz
Jesu für ewig geordnet, und Er sitzt jetzt zur Rechten
Gottes als dein Heiland und Erretter. Gott blickt iw
vollkommner Liebe und Gerechtigkeit aus Seiner Herrlichkeit
auf uns herab, und wir erblicken durch den Vorhang,
das ist das Fleisch Jesu, Gottes Liebe und GotteS-
Gerechtigkeit und erkennen zu unsrer Freude, daß Gott
auf unsrer Seite ist, daß Er die Sache des Menschen in
Seine Hand genommen und dem größten Sünder den Zugang
zu sich geöffnet hat.
Beachten wir, wie Gott den Gnadenstuhl zum Segen
des Sünders aufgerichtet hat. Im Briefe an die Römer wird-
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unmittelbar nach dem Beweise der Schuld des Menschen
Gottes Gerechtigkeit zu Gunsten des Gläubigen verkündigt.
Und zwar von wo aus? Von dem Gnadenstuhl. (Kap. 3.)
Gott stellt Christum vor unsre Blicke, den zu Seiner Rechten
erhöhten, verherrlichten Menschen, und zwar als Gnadenstuhl
durch den Glauben an Sein Blut. Jesus, unser vollkomm-
nes Sündopfer, das Lamm Gottes, geschlachtet für uns,
ist dort; Sein Blut ist in Seinem ganzen unermeßlichen
Werte allezeit vor den Augen Gottes, und darum erweist
Gott jetzt Seine Gerechtigkeit darin, daß Er den
rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist. (Röm. 3, 26.)
Unser großer Stellvertreter ist in den Himmel selbst eingegangen,
um dort vor dem Angesicht Gottes für uns zu
erscheinen und sich als unser Hoherpriester allezeit für
uns zu verwenden. Wir wiederholen deshalb: von feiten
Gottes existiert kein Vorhang mehr, der Ihn irgendwie
vor den Blicken des Gläubigen verbergen könnte.
Und doch giebt es einen Vorhang! Aber wie heißt
er? Unglaube. Und woraus ist er gemacht? Aus zwei
Dingen: zunächst aus verkehrten Vorstellungen über Gott
und dann aus Selbstvertrauen. Diese beiden Dinge werden
mit einander verwoben und bilden zuweilen eine so dichte
Decke, daß kein menschliches Auge hindurchzudringen vermag.
Hängt dieser Vorhang auch vor deinen Blicken,
mein lieber Leser? O dann zerreiße ihn unverzüglich!
Glaube einfältig und rückhaltlos dem Worte Gottes.
Lausche nicht länger auf menschliche Gedanken und Mein-
ungen, noch auf die verkehrten, thörichten Eingebungen
deines eignen Herzens. Tritt auf die Seite Gottes in
dieser ernsten, wichtigen Frage. Erkenne dein völliges
Verderben von Natur, deinen hilflosen, schuldigen Zustand,
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und erfreue dich in einfältigem Glauben in Christo, deur
von Gott für dich aufgerichteten Gnadenstuhl in dem
Himmeln droben.
Noch ein Wort möchte ich hinzufügen. Die Opfem
im Alten Bunde mußten immer wiederholt werden, weib
sie nur Schatten und Vorbilder waren; „der Körper
aber ist Christi". Sein Opfer ist vollkommen. Es kann
nicht wiederholt werden. Es ist ein für allemal
vollbracht und von ewigem Werte. Die alten Opfer
konnten niemals Sünden hinwegnehmen; denn wenn sie
es vermocht hätten, „würden sie dann nicht aufgehört
haben dargebracht zu werden" ? (Hebr. 10, 2.) Ihre
fortwährende Wiederholung kennzeichnete ihren Charakter.
Auch gab es in der Stiftshütte keinen Sitz irgendwelcher
Art für die Priester; ihr Werk war ein ununterbrochen
fortdauerndes, sie durften und konnten niemals
ruhen. Wie wahr ist das auch heute in praktischer Hinsicht
von allen denen, die nicht ihre Herzen da ruhem
lassen, „wo Gott mit Wonne ruhet", in dem vollendeten
Werke und in der Person unsers Herrn und Heilandes
Jesu Christi! Solche kennen keinen Frieden, keine Ruhe
für Herz und Gewissen, kein bleibendes Glück. Sie
wirken und arbeiten Tag und Nacht, aber ihr Gewissen
bleibt beschwert, ihr Herz unglücklich. Ihr Zustand ist
höchst beklagenswert. Ach, wenn sie doch ihren Blick von
sich selbst abwenden und auf Christum richten, wenn sie
lauschen wollten auf das Zeugnis Gottes über Seinen
Sohn! „Neiget euer Ohr und kommet zu mir; höret,
und eure Seele wstd leben!" (Jes. 55, 3.)
Der jüdische Priesterdienst mit seinen Opfern wurde
von Gott nur so lange anerkannt, bis Christus sich selbst
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Gott geopfert hatte. Das Geschäft der Priester, die täglich
dastanden, „den Dienst verrichtend und oft dieselben
Schlachtopfer darbringend" (Hebr. 10, 11), hörte auf, sobald
Gott den Vorhang des Tempels zerriß und so vor
allen, die Augen hatten zu sehen, den Gnadenstuhl in
der Herrlichkeit droben enthüllte.
Darum zweifle nicht länger, mein lieber christlicher
Leser. Blicke hinauf gen Himmel. Dort lebt Christus
für dich; dort „hat Er sich auf immerdar gesetzt
zur Rechten GotteS, nachdem Er ein Schlachtopfer für
Sünden dargebracht hat". Dort ist Er eingegangen mit
Seinem kostbaren Blute, und im Glauben an dieses Blut
darfst auch du dort eintreten, darfst Gott nahen im Lichte
des Heiligtums. „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit
haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut
Jesu, den neuen und lebendigen Weg, welchen Er uns
eingeweiht hat durch den Vorhang, sdas ist Sein Fleisch,
und einen großen Priester über das Haus Gottes, so
laßt uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in voller
Gewißheit des Glaubens!" (Hebr. 10, 19—22.)
Du führtest uns ins Heiligtum,
Nicht sind wir mehr geschieden;
Wir singen Deines Namens Ruhm
Und beten an in Frieden.
O Liebesglut! Du gabst Dein Blut;
Von Sund' sind wir gereinigt
Und sind mit Dir vereinigt.
Einundvierzigster Jahrgang.
R. Brockhaus, Elberfeld. 1893.