Botschafter des Heils in Christo 1893

01/29/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger
Botschafter des Heils in Christo Jahresband 1893
Inhalts-Verzeichnis: Botschafter 1893 - 1902 Seite
Botschafter des Heils in Christo 1893 Jahresband
Inhalts-Verzeichnis.
Joseph 1
Die Entrüdung der Kirche 10
Vom Kreuze ins Paradies 23
Ein Brief an eine bekümmerte Seele 40
„Er küsse mich mit den Ktüssen seines Mundes." 48
Ziehe mich: wir werden dir nachlaufen." 70
„Von den Höhen herab." 82
Lass nur die Woge toben! (Gedicht) 84
Alles geschehe wohlanständig und in Ordnung." 95
Ich bin schwarz, aber anmutig." 103
Ein starker Trost 111
Du, den meine Seele liebt." 132
Die Söhne Korahs ." 137
Gehe hinaus, den Spuren der Herde nach 159
Das Wort der Gnade (Gedicht) 168
Ich halte es für recht, so lange ich in dieser Hütte bin, 169
„Einem Rosse an des Pharao Prachtwagen vergleiche ich dich." 181
Er ist nicht hier 189
Gedanken. 196
„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe." 206
Der Tau des Hermon 222
„Ich bin eine Narzisse Sarons." 240
Ruhe 248
Würdig der Berufung Gottes 253
„Sein Panier über mir ist die Liebe." 266
„Allezeit gutes Mutes.". 276
Die Ursachen des kirchlichen Verfalls. 281
Horch! mein Geliebter!" 292
An einen Neubekehrten 301
„Die Ihn lieben." 308
Deine Stimme ist süsß und deine Gestalt anmutig." 309
„Die Herrlichkeit des Herrn anschauend." 325
Das vollkommene Onfer 330

 Botschafter des Heils in Christo 1893

„Der Herr ist nahe!" Phil. 4, 5.

Inhalts-Verzeichnis. Seite.

Joseph......................................................1.29. 57. 85. 113. 141

Die Entrückung der Kirche............................................................. 10

Vom Kreuze ins Paradies............................................................... -8

Ein Brief an eine bekümmerte Seele.......................................... 40

„Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes.".......................... 48

„Ziehe mich: wir werden dir nachlaufen.".....................................70

„Von den Höhen herab."................................................................82

Laß nur die Woge toben I (Gedicht)................................................84

„Alles geschehe wohlanständig und in Ordnung." .05. 122. 152

„Ich bin schwarz, aber anmutig."............................................ 103

Ein starker Trost..........................................................................111

„Du, den meine Seele liebt."......................................................132

Die Söhne Korahs........................................................................137

„Gehe hinaus, den Spuren der Herde nach."............................. 159

Tas Wort der Gnade (Gedicht)...................................................168

„Ich halte es für recht, so lange ich in dieser Hütte bin, euch

durch Erinnerung aufzuwecken."................... 169. 197. 22,o

„Einem Rosse an des Pharao Prachtwagen vergleiche ich dich." 181

Er ist nicht hier..............................................................................l89

Gedanken................................................................ 196

„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe."........................206

Der Tau des Hermon...................................................................222

„Ich bin eine Narcisse Sarons."...................................................240

Ruhe...................................................................................................248

Würdig der Berufung Gottes........................................................253

„Sein Panier über mir ist die Liebe."........................................260

„Allezeit gutes Mutes.".......................................................... . 276

Die Ursachen des kirchlichen Verfalls............................................. 281

„Horch! mein Geliebter!" . . '...................................................292

An einen Neubekehrteu...................................................................301

„Die Ihn lieben."............................................................................. 308

„Deine Stimme ist süß und deine Gestalt anmutig." . . . 309

„Die Herrlichkeit des Herrn anschanend."...................................325

Das vollkommene Opfer.................................................................. 330

Joseph.

„Durch Glauben gedachte Joseph sterbend des

Auszuges der Söhne Israels und gab Befehl wegen

seiner Gebeine." (Hebr. 11, 22.)

Mit der vorliegenden Betrachtung über „Joseph"

beabsichtige ich, eine Reihe von Aufsätzen zu schließen, die

nach und nach unter den Titeln: „Die Welt vor der

Flut," „Noah," „Abraham," „Isaak" und „Jakob" erschienen

und manchem meiner Leser wohl noch im Gedächtnis sind. *)

*) Vergl. die Jahrgänge 1886, 1887, 1889 und 1890 des

Botschafters.

Vom 37. Kapitel des 1. Buches Mose ab bildet

Joseph die Hauptperson und bleibt es auch bis ans Ende

des Buches. Seine Geschichte hat, wie alle anderen in

diesem Buche, ihren besondern Platz, ihr eigenes Geheimnis

und ihre charakteristische Nutzanwendung. In Abraham

wurde, wie wir gesehen haben, die Auserwählung

dargestellt; in Isaak die Sohnschaft oder die Annahme

des Auserwählten zum Sohne, und in Jakob die Zucht

des zum Sohne Angenommenen. In Joseph endlich tritt

die Erbschaft vor unsre Augen.

Das alles ist in göttlicher Ordnung. Und in Uebereinstimmung

mit dem Gesagten finden wir bei Joseph,

daß der Herrlichkeit oder der Ererbung des Reiches Leiden

2

vorangehen, so daß sich das Wort des Apostels bestätigt:

„wenn aber Kinder, so auch Erben — wenn wir anders

mit leiden, auf daß wir auch mit verherrlicht werden."

Denn während Zucht unser Teil als Kinder ist, müssen

wir durch Leiden gehen, bevor wir unser Erbe antreten;

und das zeigt uns den Unterschied zwischen Jakob und

Joseph. Bei Jakob sehen wir Zucht, und zwar eine

Zucht, die ihn als Kind, unter der Hand des Vaters der

Geister, der Heiligkeit Gottes teilhaftig werden ließ. Bei

Joseph finden wir Leiden, Leiden eines Märtyrers, Leiden

um der Gerechtigkeit willen; Leiden bezeichnen seinen Pfad

zur Herrlichkeit.

Dies letztere ist die Krönung des Gebäudes, und

darum kommt es erst am Schlüsse dieses wunderbaren

Buches, welches sich auf diese Weise als ebenso vollkommen

in seiner Zusammenstellung erweist, wie es in seinen

Erzählungen wahr ist. Eine Belehrung nach der andern

wird behandelt, ein Geheimnis nach dem andern enthüllt

in den ungekünstelten Familienscenen, die den Stoff dieses

Buches bilden; und in ihnen lernen wir unsre Berufung,

die Ursprünge und Ausgänge unsrer Geschichte, kennen,

von der Auserwählung bis zum Antritt des Erbes.

Dagegen giebt es in diesem Buche kein Gesetzt

Wir werden in Röm. 5, 13 darüber belehrt. Indes hätte

unser Gefühl uns auch schon dasselbe sagen können; denn

in der Verwaltung der Zeiten bildet die Zeit dieses

Buches gleichsam das Zeitalter der Kindheit. Die Auserwählten

waren wie Kinder, die nie die Heimat verlassen

hatten, noch jemals unter einem Zuchtmeister gewesen

waren.

Ebensowenig gab es Wunder; ich meine Wunder,

3

die durch die Hand des Menschen gewirkt wurden. Denn

Kraft würde nicht besser zu solchen Händen gepaßt

haben, wie das Gesetz oder ein Zuchtmeister zu einem

solchen Zeitabschnitt. Ferner gab es weder eine Mission

noch eine Apostelschaft zu besiegeln; Wunder und Zeichen

waren als Beglaubigung einer Sendung nicht erforderlich.

Aber sobald wir dieses Buch verlassen und in das 2. Buch

Mose eintreten, finden wir eine Mission oder eine Apostelschaft,

und dementsprechend auch sofort Wunder, um die

Sendung zu beglaubigen.

So ist die Abwesenheit dessen, was wir nicht finden,

ebenso passend wie das Vorhandensein dessen, was wir

finden. Weder Kraft noch Gesetz würden der Zeit entsprechend

gewesen sein, und darum finden wir weder das

eine noch das andere.

Doch gehen wir jetzt zur Betrachtung der Geschichte

Josephs oder der Kapitel 37 — 50 unsers Buches über.

Die Gegenstände, die wir in diesen Kapiteln finden,

lassen sich in vier Teile einteilen:

1. Die früheste Zeit Josephs im Hause seines Vaters

im Lande Kanaan.

2. Sein Leben als ein Abgesonderter in Egypten.

3. Seine Wiedervereinigung mit seinem Vater und

seinen Brüdern, und die Folgen dieser Wiedervereinigung.

4. Seine letzte Zeit im Laude Egypten bis zu seinem

Tode.

Das ist in kurzem der Inhalt der wunderbaren Geschichte

Josephs. Die Art und Weise, in der sie erzählt

wird, hat zu allen Zeiten die Teilnahme und die Gefühle

lausender von Herzen erweckt.

4

(Kap. 37 u. 38.)

Gleich bei Beginn der Geschichte erblicken wir iw

Joseph den Erben. Seine Träume haben die Herrlichkeit

zum Gegenstände. Aber ebenso schnell bringt

die Wirklichkeit ihm Leiden.

Die Erzählung beginnt mit der Stellung Josephs

als Zeuge an und gegen seine Brüder. Er erzählt

seinem Vater ihre bösen Thaten, und ihnen selbst teilt

er seine Träume mit. Ich kann ihn in beidem nicht

tadeln. Ich sage nicht, inwieweit die Natur ihn bei diesen

Handlungen befleckt haben mag; aber die Zeugnisse

selbst geschahen, wie ich glaube, unter göttlicher Autorität.

Es hat Einen gegeben, der in allem vollkommen war, in

allem, was Er that oder sagte; und Er zeugte gegen die

Welt und von Seiner eigenen Herrlichkeit. Ein Mangel

in Betreff des passenden Augenblicks oder des richtigen

Maßes mag diesen Dienst bei Joseph befleckt haben; denn

eine Handlung, die nicht zur paffenden Zeit geschieht oder

über das rechte Maß hinausgeht, bringt, obwohl sie an

und für sich richtig sein mag, Befleckung mit sich. Ein Gefäß

im Hause des Herrn hat den Schatz, der in ihm ist,

zu Zeiten zu verbergen, und sollte wissen, wann, wo

und wie er benutzt werden muß. David hatte das Oel

Samuels, die Salbung des Herrn, aus sich, und er wußte,

daß das Königtum ihm gehören sollte; aber er verbarg

seine Herrlichkeit, bis Abigail sie durch den Glauben erkannte.

Und hierin mag David Joseph übertroffen haben.

Aber daß Joseph erzählte, was der Geist ihm in seinen

Träumen oder Gesichten mitgeteilt hatte, war von Gott.

Seine Leiden waren eine Folge davon. Der Herr

5

bezeichnet ihn als den Erben der Herrlichkeit. Joseph spricht

von der Gunst, die ihm zu teil geworden war, und von

dem hohen Vorsatz Gottes betreffs seiner; und seine

Brüder hassen ihn. Sie beneiden ihn; und wer kann

dem Neide gegenüber bestehen? Sie hatten ihn schon

wegen der Liebe seines Vaters beneidet, und jetzt hassen

sie ihn wegen der Gunst Gottes. Sie hassen ihn um

seiner Worte und seiner Träume willen; und als sie

zusammen auf dem Felde waren, (wie vor alters Kain

und Abel,) beratschlagen sie, ob sie ihn töten, oder in

eine Grube werfen, oder an Fremde verkaufen sollen.

Und das geschah zu einer Zeit, als er ihnen diente.

Er war weither gekommen, um sich nach ihrem Wohlergehen

zu erkundigen und ihnen einen Segen aus dem

Vaterhause samt den Grüßen ihres Vaters zu überbringen,

sowie diesem Antwort von ihnen znrückzubringen. Ein

solcher Augenblick war eine passende Gelegenheit für sie.

Sie nehmen ihn nicht auf als den Ueberbringer guter

Nachrichten, sondern empfangen ihn mit den Worten:

„Siehe, da kommt jener Träumer!" „Dieser ist der

Erbe" (Matth. 21, 38) — das war der Sinn ihrer Worte.

Aus Neid überliefern sie ihn; wegen seiner Liebe sind sie

seine Feinde; und schließlich verkaufen sie ihn an die

Jsmaeliter für zwanzig Sekel Silber.

Diese allen Brüdern Josephs gemeinsame Feindschaft

mag sich nicht bei allen in gleicher Stärke offenbaren;

aber alle stehen auf demselben Boden, sind von einem

Geschlecht. Ruben war Jakobs Erstgeborner, und wir

dürfen annehmen, daß er sich feinem alten Vater gegenüber

betreffs des Knaben für verantwortlicher hielt als

die übrigen. Er rettet Joheph vom Tode; Juda schlägt

6

vor, ihn den Jsmaelitern zu verkaufen, anstatt ihn in

der Grube zu lassen. So giebt es wohl ein verschiedenes

Maß bei der allen gemeinsamen Feindschaft; wie die

einen auch von Jesu sagten: „Er ist gut", andere: „Nein,

sondern Er verführt die Volksmenge"; oder wie in dem

Gleichnis von „der Hochzeit des Königssohnes" die einen

auf den Acker gingen, andere an den Handel, während

wieder andere die Knechte ergriffen und sie töteten. Aber

der Herr betrachtet sie alle als ein Geschlecht, indem Er

sagt: „die übrigen aber griffen seine Knechte, schmähten

und töteten sie". Der Richter der ganzen Erde wird

sicherlich Recht thun, und die Sünden werden dem einen

viel, dem andern wenig Schläge einbringen; aber die

Welt hat Jesum verworfen, und die Welt ist die Welt.

So auch hier: Alle sind die schuldigen Brüder Josephs,

und er wird infolge ihrer Ratschläge und ihres gemeinsamen

Hasses an die Jsmaeliter verkauft und von diesen auf

den Markt nach Egypten gebracht, um dort mit Gewinn

weiter verkauft zu werden.

Was dabei am meisten unsern Unwillen erregt, ist

ihre Gefühllosigkeit; und gerade das ist es auch, was der

Prophet Amos unter der Leitung des Heiligen Geistes

so feierlich betont, wenn er von solchen spricht, „die sich

nicht grämen um die Wunde Josephs". (Kap. 6, 6.) Und

auch wir mögen heutiges Tages wohl unser Teil von

dem Tadel des Propheten hinnehmen; denn wir machen uns

einer ähnlichen Gefühllosigkeit schuldig, wenn wir willig

die Welt lieben können, die den wahren Joseph verwirft.

Und was sollen wir sagen, wenn wir auf den gepriesenen

Fortschritt von allem in dieser Welt, sowie auf die Kunstfertigkeit

blicken, mit welcher man unaufhörlich sich be-

7

müht, jenes Haus zu fegen und zu schmücken, das mit

dem Blute Jesu befleckt ist? Die elfenbeinernen Betten,

der Klang der Harfen, der Wein und die Salbungen

mit dem besten Oel sind nie in solchem Ueberfluß vorhanden

gewesen wie in unsern Tagen. Und wenn das

Leben in einer solchen Welt unsre Herzen anziehen kann,

sind wir dann, wie wir es doch sein sollten, dem Kreuze

Christi treu? Wahrlich, ein gefühlloses Herz haben wir,

und in einer gefühllosen Welt leben wir, und es sind

gefühllose Brüder Josephs, die wir hier hetrachten. Ein

jeder weiß das für sich selbst sehr wohl; und ich wiederhole,

gerade diese Gefühllosigkeit ist es, die (wenn ich

für andere reden darf) unsern Unwillen erregt, gerade so

wie sie dem Geiste in Amos so überaus anstößig war.

Wir sind nicht bekümmert über die Wunde Josephs, wie

wir es sein sollten; wir sind nicht treu gegenüber der

Berwerfung Christi. Bedenken wir es wohl: Weltlichkeit

ist Gefühllosigkeit gegen Ihn.

Ach, welche Tiefen des Verderbens giebt es in uns!

Hören wir nur, was die Brüder Josephs thaten: sie

tauchten den langen Leibrock, den der alte Vater seinem

geliebten Kinde hatte machen lassen, in Blut und sandten

ihn ihrem Vater mit den Worten: „Dieses haben wir

gesunden; erkenne doch, ob es der Leibrock deines Sohnes

ist oder nicht." Das ist die Sprache Kains: „Bin ich

meines Bruders Hüter?" Kain schob die Schuld an

Abels Tode dem Herrn zu, indem er durch seine Worte

andeutete, daß der Herr Abels Hüter hätte sein sollen,

da Er ja ein solches Wohlgefallen an ihm und seinem

Opfer gehabt hatte. So scheinen auch die Worte der

Brüder Josephs die Schuld an Josephs Tode auf den

8

betagten Vater zu werfen, welcher, wenn er Joseph wirklich

so liebte, wie das lange Gewand zu sagen schien,

besser auf ihn hätte achten sollen, als er es laut des Blutes

gethan hatte.

In der That, welche Tiefen giebt es in dem abtrünnigen,

verderbten Herzen des Menschen! Wie deckt

die Versuchung zuweilen diese Tiefen auf! Die Brüder

Josephs sündigten in diesem allen gegen ihren betagten

Vater und gegen ihren harmlosen Bruder, und zwar zu

einer Zeit, als die Liebe des einen in Gnade und Segen

eine Botschaft an sie gesandt, und die Liebe des andern

diese Botschaft überbracht hatte; ja, in moralischer und

vorbildlicher Weise stellten sie jene Personen dar, von

denen gesagt wird: „sie gefallen Gott nicht, und sind

allen Menschen entgegen".

Wahrlich, eine schwarze That! Josephs Blut ist

aus ihnen, mögen sie es noch so eifrig zu verbergen suchen;

und der Tag wird kommen, an welchem ihre Sünde sie

finden und das Blut an Josephs Rock laut wider sie

zeugen wird. Für den Augenblick allerdings geht es

ihnen gut; sie schreiten in ihrer Gottlosigkeit voran, damit

sie ihr Maß voll machen. Der Lauf der Geschichte Josephs

wird unterbrochen, um uns im 38. Kapitel (während der

Trennung Josephs von seinen Brüdern) ein Bild von diesem

Zustande zu geben; und wir sehen da in der That Abfall

und ein völliges Abweichen von dem „Wege Jehovas",

in welchem Abraham gewandelt, und in dem zu wandeln

er seinen Kindern und seinem Hause nach ihm befohlen

hatte. Der heilige Same vermischt sich mit dem Samen

der Menschen. Er entweiht den Bund seiner Väter.

Juda handelt treulos, indem er die Tochter eines kana-

9

nitischen Mannes heiratet. Allerdings wird die Gnade

sich noch überschwenglicher erweisen, aber die Sünde war

wahrlich überströmend. Der Weg des Herrn wurde von

Juda aufs äußerste verachtet und verlassen. *) Doch auch

hier handelt Gott in Gnade; und Perez, ein zweiter

Ueberlister, wird die Hoffnung Israels, der Stammvater

des Herrn. Ein Segen ist in der Traube; aber wahrlich,

es ist eine Traube von einem wilden Weinstock, die abgeschnitten

zu werden verdiente, wenn nicht die unumschränkte,

überströmende Gnade sagte: „Verdirb sie nicht!"

(Jes. 65, 8; vergl. Matth. 1, 3.)

*) Vergl. die frühere Betrachtung über Isaak im 37. Jahrgang

des Botschafters.

Und wie die Sünde ihres Vaters Juda, so ist auch

die Sünde des Volkes Israel; aber auch dieselbe Gnade

wird diesem Volke in späteren Tagen widerfahren. Gnade

wird dann in der Geschichte Israels herrschen, wie sie es

jetzt thut in der Person eines jeden Heiligen, der nach dem

unumschränkten Wohlgefallen Gottes auserwählt und als ein

Denkmal der errettenden Macht Christi hingestellt ist.

Wir sind auf diese Gnade Gottes in einigen ihrer

besonders hervorragenden Offenbarungen vielleicht nicht vorbereitet.

Wahrscheinlich sind wir weniger empfänglich dafür,

als wir selbst denken. Jona, AnaniaS und Petrus waren auch

nicht darauf vorbereitet. (Vergl. Jon. 4; Apstgsch. 9 u. 10.)

Wir sind nicht immer Wiegemeister, die in dem Gebrauch

der Wagen, Gewichte und Maße des Heiligtums geübt und

geschickt sind. Halten wir die Gefühllosigkeit in Kap. 37

und die Befleckung in Kap. 38, und noch dazu wenn

beides vereinigt gefunden wird, für zu schlecht, um dabei

an „Buße und Vergebung der Sünden" in der Gnade

10

Gottes zu denken? Das sittliche Gefühl, das natürliche

Gewissen, die Selbstgerechtigkeit, die gesellschaftlichen Regeln

und die Urteile der Menschen versehen uns mit falschen

Maßen und Gewichten, und wir tragen dieselben mehr

mit uns herum, als wir uns bewußt sind. Aber sie sind

ein Greuel. (5. Mose 25, 16.) Nach unsern Gedanken

sind die Handlungen der Huren und Zöllner schlechter als

der gefällige und achtbare Lauf der Welt. Hätten wir

die Wage des Heiligtums, so würden wir die Dinge

anders wägen. „Was unter den Menschen hoch ist, ist

ein Greuel vor Gott." (Fortsetzung folgt.)

Die Entrückung der Kirche *).

*) d. i. der Kirche nach Len Gedanken Gottes, bestehend aus-

allen wahren Gläubigen.

Im Allgemeinen geben wohl alle Gläubigen nach

1. Thess. 4, 15—17 die Entrückung der Kirche zu; die

bestehende Uneinigkeit betrifft nur die Frage des Zeitpunktes

derselben. Woher nun diese Uneinigkeit? Sie

hat hauptsächlich ihren Grund darin, daß viele den Unterschied

zwischen Israel und der Kirche nicht beachten. Man

versteht nicht, welch einen hervorragenden Platz Israel in

den Gedanken und Ratschlüssen Gottes und darum auch

in der Schrift einnimmt, und denkt wenig daran, daß-

dieses Volk noch eine große Zukunft hat. Würde man dieser

Thatsache mehr Aufmerksamkeit schenken, so würde man

leicht die Stellen unterscheiden, die von dem Kommen des

Herrn für Israel und demjenigen für die Kirche reden.

Man würde zum Beispiel in Matth. 24, Luk. 17 und 21

aus dem Zusammenhang sehen, daß es sich dort nur um

11

Israel handelt, um Ereignisse, die hauptsächlich im jüdischen

Lande stattfinden werden. Der Greuel der Verwüstung wird

an heiliger Stätte (im Tempel) stehen; die in Judäa

sind, werden aufgefordert zu fliehen; die Auserwählten,

um derentwillen die Tage der Drangsal verkürzt werden,

sind nicht die Glieder der Kirche, sondern der jüdische

Ueberrest. Dieser Ueberrest wird unter der Herrschaft des

Antichristen, dem die große Masse des Volkes anhangen

wird, schrecklich zu leiden haben. (Vergl. Luk. 21, 16. 17.)

Er erwartet daher das Kommen des Herrn zu seiner

Befreiung; und diesen Auserwählten — nicht der Kirche —

sagt der Herr, daß sie ihre Häupter emporheben sollen,

wenn diese Dinge anfangen zu geschehen, weil alsdann

ihre Erlösung sich nahe. (Luk. 21, 28.)

Wohl ermahnt der Herr in den angeführten Kapiteln

zur Wachsamkeit und beständigen Bereitschaft auf Seine

Ankunft. Und als ein allgemeiner Grundsatz findet diese

Ermahnung sicherlich auf die Gläubigen aller Zeiten und

unter jeder Haushaltung bis zum Kommen des Herrn

ihre Anwendung. (Siehe Matth. 24, 42—51.) Petrus,

der in seinem zweiten Briefe (Kap. 3) denselben Grundsatz

der Verantwortlichkeit im Auge hat, spricht daher

auch nicht von der Entrückung, sondern von der Ankunft

des Tages des Herrn (Vers 10), der hier die ganze

Gerichtsperiode, das tausendjährige Reich und das Endgericht

umfaßt, und den Zweck hat, den Tag Gottes

(Vers 12), das heißt den ewigen Zustand, den neuen

Himmel und die neue Erde, einzuführen.

Abgesehen von diesen allgemeinen Grundsätzen beziehen

sich Matth. 24, Luk. 17 und 21 nur auf Israel

und nicht auf die Kirche. Die Worte des Herrn: „Als

12

dann werden zwei auf dem Felde sein, einer wird genommen

und einer gelassen u. s. w." zeigen dieS

deutlich. Sie wollen sagen, daß einer durch das Gericht

hinweggenommen, und der andere für das Reich gelassen

wird, nicht aber, wie manche erklären, „genommen" zur

Aufnahme oder „gelassen" für das Gericht. Der Herr

selbst bezeichnet unmittelbar vorher das „Hinwegnehmen"

als eine Handlung des Gerichts und nicht der Segnung:

„Aber gleichwie die Tage Noahs, also wird auch die Ankunft

des Sohnes des Menschen sein. Denn gleichwie

sie in den Tagen vor der Flut waren: sie aßen und

tranken, sie heirateten und wurden verheiratet, bis zu dem

Tage, da Noah in die Arche hineinging, und sie es nicht

erkannten, bis die Flut kam und alle hinwegnahm,

also wird auch die Ankunft des Sohnes des Menschen

sein." (Matth. 24, 37—41.) So wie Noah „gelassen"

wurde für die neue Erde, während alle übrigen durch

die Flut hinweggerafft wurden, so wird auch der Ueber-

rest Israels gelassen werden für das Reich, während das

Gericht alle übrigen hinwegnimmt.

Die Aufnahme der Kirche steht gänzlich außerhalb

dieser Ereignisse. Henoch ist ein treffendes Vorbild davon.

Gleichwie dieser vor der Flut ausgenommen und nicht

mehr gesehen wurde, so wird auch die Kirche vor den

Gerichten ausgenommen und nicht mehr gefunden werden.

Noah ist das Bild des durch die Gerichte hindurch

geretteten Ueberrestes. Das Kommen des Herrn zum

Gericht wird aller Welt offenbar und von gewaltigen

Katastrophen begleitet sein; Sein Kommen zur Aufnahme

der Kirche aber ist eine vor der Welt verborgene Sache.

Hieraus folgt schon, daß diese beiden Ereignisse zu ver

13

schiedenen Zeiten stattfinden müssen. Und wir sind, Dank

dem Herrn! betreffs derselben nicht auf bloße Vermutungen

oder Meinungen angewiesen; nein, Er hat uns in Seinem

kostbaren Worte völlige Gewißheit über diese Dinge

gegeben. So lesen wir z. B.: . . . „und Seinen Sohn

aus den Himmeln zu erwarten, den Er auferweckt hat

aus den Toten — Jesum, der uns errettet von

dem kommenden Zorn". (1. Thess. 1, 10.) Der

„kommende Zorn" ist nicht nur der Feuersee mit seinen

Schrecken, sondern er umfaßt auch die Gerichte, die über

diese Erde kommen werden; ja, er bezieht sich zunächst

auf diese Gerichte, in welchen die Schalen voll des Grimmes

Gottes auf die Erde ausgegossen werden. (Offenb. 15,7;

16, 1.) Es ist die schreckliche Zeit, von welcher die

bereits erwähnten Kapitel Matth. 24, Luk. 17 und 21,

sowie zahlreiche Stellen des Alten und Neuen Testaments

reden; die Zeit, in der die „große Drangsal" sein wird,

„dergleichen von Anfang der Welt bis jetzthin nicht gewesen

ist, noch je werden wird". Der Herr sagt von

dieser Zeit: „Denn dies sind Tage der Rache, daß alles

erfüllt werde, was geschrieben steht. Wehe aber den

Schwängern und den Säugenden in jenen Tagen! Denn

große Not wird in dem Lande sein, und Zorn über dieses

Volk." (Luk. 21, 22. 23.) Der Apostel nennt diese

Zeit den „Tag des Zornes und der Offenbarung des

gerechten Gerichts Gottes". (Röm. 2, 5.) Im Propheten

Daniel und in der Offenbarung Johannes wird sie als

ein Zeitraum von „einer Woche" (d. h. einer Jahrwoche,

eines Zeitraumes von sieben Jahren) bezeichnet.

(Dan. 9, 27; Offenb. 12, 6-14; 13, 5.) Johannes

beschäftigt sich hauptsächlich mit den Ereignissen der letzten

14

Hälfte dieser Jahrwoche, und alle die Gerichte, die vom 6.

bis zum 19. Kapitel erwähnt werden, fallen in sie hinein,

und finden ihren Abschluß in der Erscheinung des Herrn

mit den Kriegsheeren des Himmels. (Kap. 19, 12—21.)

In 1. Thess. 4, 14 sagt der Apostel, daß Gott die

durch Jesum Entschlafenen mit Ihm, d. i. mit Jesu

bei Seiner Erscheinung, bringen werde. Sie müssen also

vorher bei Ihm sein. Dann erklärt er, wie dies zugehen

wird: „Die Toten in Christo werden zuerst auserstehen;

darnach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben,

zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken

dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir

allezeit bei dem Herrn sein." (1. Thess. 4, 15—17.)

Ohne Zweifel sind die alttestamentlichen Heiligen in dieser

Auferweckung mit einbegriffen, (denn auch sie gehören zu

den „Toten in Christo",) und so wird die ganze Kirche

in Verbindung mit jenen dem Herrn entgegengerückt werden

in die Luft, um für immer bei Ihm zu sein.

Diese Entrückung geschieht plötzlich, „in einem Nu".

„Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht

alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden,

in einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune."

(1. Kor. 15, 51. 52.) Der Ausdrück „letzte Posaune"

ist wohl eine Anspielung auf eine militärische Gewohnheit

der Römer. Man hatte verschiedene Posaunensignale:

zum Abbrechen deS Lagers, zur Aufstellung in Reih und

Glied und endlich zum Aufbruch. An dieses letzte Signal

oder diese letzte Posaune denkt wohl der Apostel.

Die oben erwähnte Gerichtsperiode wird in der Schrift

wiederholt „der Tag des Herrn" genannt, der wie „ein Dieb

in der Nacht", „wie ein Fallstrick" die sichere Welt über

15

Men wird. (1. Thess. 5, 2; Luk. 21, 35.) Dies ist

«in weiterer Beweis für die Aufnahme der Kirche vor den

Gerichten. Denn wie könnten ihre Glieder von diesem

Tage wie von einem Diebe überfallen werden, da sie ja

Söhne des Lichtes und Söhne des Tages sind und mit

dem Herrn erscheinen werden? Ein solcher Gedanke ist

ein Widerspruch in sich selbst. Der Apostel sagt deshalb

auch nicht: „Denn ihr selbst wisset genau, daß der Tag

des Herrn über euch kommt", sondern: „wenn sie (die

Gottlosen) sagen werden: Friede und Sicherheit! dann

kommt ein plötzliches Verderben über sie, gleichwie die

Geburtswehen über die Schwangere; und sie werden

nicht entfliehen."

Außerdem giebt uns der Herr selbst die Bestätigung,

daß die Entrückung der Kirche vor dem Beginn der Gerichte

stattfinden wird, wenn Er sagt: „Weil du das Wort

meines Ausharrens bewahrt hast, so werde auch ich dich

bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über den

ganzen Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen,

welche auf der Erde wohnen." (Offbg. 3, 10.) Die

Kirche wird also nicht in diese Stunde hineinkommen,

sondern vorher zum Himmel entrückt werden. Wenn wir

keine weitere Stelle in der Schrift für die Entrückung

bor den Gerichten hätten, so würde diese allein vollständig

genügen. Beachten wir auch, daß der Herr jene Worte

den Gläubigen zum Troste und zur Ermunterung zurust,

damit sie sich in der Erwartung Seiner Ankunft durch

nichts beirren lassen sollen, als müsse dieses oder jenes

borher geschehen. „Ich komme bald; halte fest, was

du hast, auf daß niemand deine Krone nehme." (V. 11.)

Wohl mögen mancherlei Anzeichen das Herannahen des

16

Tages des Zornes ankündigen, und in der That mehre»

sich dieselben in unsern Tagen in überraschender Weise;

aber der Tag selbst kommt nicht, es sei denn daß der,

welcher bis jetzt zurückhält, aus dem Wege

ist, und dann wird der Gesetzlose geoffenbart werden.

(2. Thess. 2, 7.) Das, was das Vorhandensein dieses

Tages kennzeichnet, ist die Abwesenheit des Heiligen Geistes

und die Gegenwart deS Gesetzlosen.

Dem Feinde war es gelungen, die Gläubigen zm

Theffalonich in der Erwartung des Herrn zu ihrer Aufnahme

wankend zu machen, indem er sie glauben zu machen

suchte, daß der Tag des Herrn bereits da sei. Seine

Werkzeuge waren böse Arbeiter, welche Vorgaben, durch

den Geist zu ihnen zu reden, oder die sogar gefälschte,

angeblich von den Aposteln herrührende Briefe vorzeigten.

Diese Verführer benutzten die Verfolgungen und Drangsale,

welche die Gläubigen zu erdulden hatten, zur Bekräftigung

ihrer falschen Behauptungen. Sie sagten, die

vielen Drangsale seien der klare Beweis, daß der Tag

des Herrn da sei. Hatten sie Recht, dann war freilich

die Hoffnung der Thessalonicher auf ihre Entrückung vor

diesem Tage eine Täuschung gewesen. Der Apostel schrieb

deshalb seinen zweiten Brief zu dem besonderen Zwecke^

um die Gläubigen in dieser Hoffnung wieder zu befestigen.

Zunächst erklärt er ihnen im ersten Kapitel, daß

gerade jene Verfolgungen und Drangsale ein Beweis seien,

daß der Tag des Herrn noch nicht da sei. Denn dieser

Tag ist für die Gläubigen ein Tag der Ruhe, für die

Gesetzlosen dagegen ein Tag der Vergeltung. „Wenn es

anders bei Gott gerecht ist, Drangsal zu vergelten denen„

die euch bedrängen, und euch, die ihr bedrängt werdet^

17

Ruhe mit uns bei der Offenbarung des Herrn Jesu vom

Himmel." (V. 6 — 10.) Im zweiten Kapitel führt er

dann weiter aus, daß dieser Tag nicht komme, es sei

denn daß zuerst der Abfall komme und der Mensch der

Sünde, der Sohn des Verderbens, geoffenbart sei. Nur

eine abgefallene Christenheit wird den Antichristen annehmen.

So lange noch treue Zeugen da sind, welche

die Wahrheit des Christentums hoch halten, kann der

Antichrist nicht bestehen. Diese, und vor allem der

Heilige Geist, der in ihnen wohnt, stehen seiner Offenbarung

im Wege. Darum die Worte: „Nur ist jetzt der

(der Heilige Geist), welcher zurückhält, bis er aus dem Wege

ist." Was auch die äußeren Werkzeuge der Vorsehung

zur Zurückhaltung des Gesetzlosen sein mögen, so geschieht

diese doch nur durch die Macht des Heiligen Geistes. Aber

wie einst der Herr die Erde verließ, so wird auch Er

die Erde verlassen und mit der Kirche zum Himmel

gehen. Seine Wirksamkeit auf der Erde wird für eine

Zeit aufhören. Der Gesetzlose wird jedes göttliche Zeugnis

vernichten, und die Nacht wird kommen, wo niemand

wirken kann (Joh. 9, 4), die Zeit der Flucht des treuen

Ueberrestes. (Matth. 24, 15. 16.) Welch eine finstere

Nacht wird das sein! Kein Lichtstrahl göttlichen Zeugnisses

wird sie durchdringen; sie wird nur der Erscheinung

des Herrn in Macht und Herrlichkeit, dem glänzenden Aufgang

der „Sonne der Gerechtigkeit", weichen. „Und dann

wird der Gesetzlose geoffenbart werden, den der Herr

Jesus verzehren wird durch den Hauch Seines Mundes

und vernichten durch die Erscheinung Seiner Ankunft."

(2. Thess. 2, 8.)

Die verschiedenen Bilder, unter welchen in der Schrift

18

ras Kommen des Herrn dargestellt wird, bezeugen ebenfalls

den Unterschied zwischen Seinem Kommen zur Aufnahme

der Kirche und Seiner Erscheinung zum Gericht.

Während Seine Erscheinung dem gottesfürchtigen Ueberrest

Israels als der Aufgang „der Sonne der Gerechtigkeit"

«»gekündigt wird, stellt sich der Herr der Kirche als „der

glänzende Morgenstern" vor. „Denn siehe, der Tag

kommt, brennend wie ein Ofen; und es werden alle

Uebermütigen und Thäter der Gesetzlosigkeit zu Stoppeln

werden; und der kommende Tag wird sie verbrennen...

Aber euch, die ihr meinen Namen fürchtet, wird die Sonne

der Gerechtigkeit aufgehen mit Heilung in ihren Flügeln."

<Mal. 4,1. 2; Offbg. 22, 16.) Der Morgenstern erscheint

lange vor dem Aufgang der Sonne und wird nur von

denen gesehen, welche wachen. Er ist deshalb ein treffendes

Bild von dem Kommen des Herrn zur Aufnahme

der Kirche. Diese wird Ihn als den glänzenden Morgenstern

sehen und Ihm in der Luft begegnen, während die

sorglose Welt noch im tiefsten Schlummer liegt, aus dem

sie erst durch den Aufgang der Sonne aufgeschreckt wird.

Die Kirche war ein „von den Zeitaltern her verborgenes

-Geheimnis" (Ephes. 3, 3 — 9), und ist es in ihrer wahren

Bedeutung auch heute noch für die Welt. So wird auch

ihre Entrückung für diese ein Geheimnis sein. So wenig

die Welt die Herrlichkeit des Sohnes Gottes erkennen

konnte, so wenig erkennt sie auch die wahre Stellung der

Kirche. Erst dann, wenn diese in Herrlichkeit mit dem

Herrn erscheinen wird, wird die Welt erkennen, daß sie

geliebt ist, wie Jesus selbst vom Vater geliebt ist. „Deswegen

erkennt uns die Welt nicht, weil sie Ihn nicht

-erkannt hat . . . und es ist noch nicht offenbar geworden.

19

was wir sein werden; wir wissen, daß, wenn es offenbar

werden wird, wir Ihm gleich sein werden." (1. Joh.

3, 1. 2.) „Und die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast,

habe ich ihnen gegeben ... auf daß die Welt erkenne,

daß du mich gesandt und sie geliebt hast, gleichwie du

mich geliebt hast." (Joh. 17, 22. 23.)

Schließlich sei noch bemerkt, daß wir in der Offenbarung

im Anfang der Gerichtsperiode die Kirche bereite

im Himmel sehen, dargestellt (in Verbindung mit den himmlischen

Heiligen) unter dem Symbol der vierundzwanzig

Aeltesten. (Offbg. 4, 4.) Während die Erde unter den.

Donnerschlägen des Gerichts erbebt, und „die Menschen verschmachten

vor Furcht und Erwartung der Dinge, die über

den Erdkreis kommen" (Luk. 21, 26), sehen wir die Erlösten

droben in vollkommener Ruhe um den Thron des Gerichts

versammelt, und hören sie Den anbeten, der auf dem Throne

sitzt, und das neue Lied singen zur Ehre des geschlachteten

Lammes. Die von dem Throne ausgehenden Blitze,

Stimmen und Donner vermögen sie nicht zu erschrecken p

sie stehen gänzlich außerhalb des Bereichs des Gerichts,

gereinigt durch das Blut des Lammes, in vollkommener

Uebereinstimmung mit der Natur Dessen, der auf dem

Throne sitzt — ein ewiges Zeugnis der Liebe, Macht

und Weisheit Gottes, zum Preise der Herrlichkeit Seiner

Gnade.

In der That, nichts könnte bestimmter und deutlicher

sein als die Art und Weise, wie die Schrift sich ausspricht

über unsre Entrückung vor dem Beginn der Gerichte."

Es würde auch der Liebe Gottes nicht entsprechen,

uns bezüglich einer so wichtigen Sache in Ungewißheit zu

lassen. Nein, Er hat uns — Sein Name sei dafür

20

gepriesen! — völlige Gewißheit darüber gegeben. Wenn

jemandem diese Gewißheit trotzdem mangelt, so trägt nicht

das Wort die Schuld, sondern er selbst, indem er seine

eignen Gedanken in das Wort hineinträgt und sie an die

Stelle der Gedanken Gottes setzt. Dadurch betrügt er

sich selbst und andere; und nicht allein das, er betrübt

auch den Herrn, welcher will, daß wir mit sehnsüchtigem

Verlangen Sein Kommen zu unsrer Aufnahme erwarten

sollen. Mit dem Hinweis darauf nahm Er Abschied von

den Seinigen: „In dem Hause meines Vaters sind viele

Wohnungen... ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten.

Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so

komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, auf

daß, wo ich bin, auch ihr seiet." (Joh. 14, 2. 3.)

Diese Erwartung sollte die Kirche hienieden in ihrem

ganzen Verhalten kennzeichnen und leiten. Sie wartet

nicht auf Sein Kommen zum Gericht, auch nicht auf den

Tod, sondern auf ihre Aufnahme, um bei Ihm zu sein

im Vaterhause. Nur eine solche Erwartung kann ihrem

innigen Verhältnis zu Christo, als Seiner Braut, und

der Liebe Seines Herzens entsprechen. „Ich, Jesus, habe

meinen Engel gesandt, um euch diese Dinge zu bezeugen

in den Versammlungen. Ich bin die Wurzel und das

Geschlecht Davids, der glänzende Morgenstern. Und

der Geist und die Braut sagen: Komm! Und

wer es hört, spreche: Komm!" (Offbg. 22, 16. 17.)

Aber ach! wie weit haben sich die Gläubigen in

ihren Herzen von dieser Erwartung entfernt. Man

redet davon, daß viele Gläubige „durch ein seliges

Sterben vor dem Ausbruch der großen Trübsalszeit

geborgen werden würden", und beruft sich dabei auf die

21

Stelle: „Der Gerechte kommt um, und niemand nimmt

es zu Herzen, und die Frommen werden hinweggerafft,

ohne daß jemand es beachtet, daß der Gerechte vor dem

Unglück hinweggerafft wird. Er geht ein zum Frieden;

sie ruhen auf ihren Lagerstätten, ein jeder, der in Geradheit

gewandelt hat." (Jes. 57, 1. 2.) Andere sollen

geborgen werden durch eine Flucht. Wieder andere sollen

durch den „Drachen" und das „Tier" getötet werden.

Alles das findet seine passende Anwendung auf den jüdischen

Ueberrest in den letzten Tagen; aber es auf die

Kirche anwenden wollen, heißt die Erwartung derselben zu

Grunde richten und sie von dem richtigen Pfade abwenden.

Gleicherweise ist die Idee von einer Auswahl aus

den Gläubigen, die von dem Herrn als „Erstlinge"

oder als „Brautseelen" zur Hochzeit des Lammes

abgeholt werden sollen, der Schrift völlig fremd. Wahrscheinlich

denkt man dabei an die Hundertvierundvierzigtausend,

die mit dem Lamme auf dem Berge Zion stehen

werden. (Offbg. 14, 1.) Aber im 7. Kapitel der Offenbarung

wird ausdrücklich gesagt, daß diese Tausende die Versiegelten

aus Israel (der Ueberrest) seien. Diese werden

dann nachher mit dem Lamme im Reiche — auf dem Berge

Zion — gesehen. Ohne Zweifel giebt es eine Auswahl aus

der sogenannten Christenheit; aber dazu gehören alle

Gläubigen auf der Erde. Sie alle zusammen, ohne Unterschied,

bilden die Kirche nach den Gedanken Gottes, die

Braut und den Leib Christi. Sie alle zusammen werden

mit den in Christo Entschlafenen (nachdem diese auferweckt

sind) dem Herrn entgegengerückt werden, um auf immerdar

bei Ihm zu sein und mit Ihm zu erscheinen, wenn

Er wiederkommt, um Gericht zu halten.

22

Indem man die Aufnahme der Kirche mit der Er-

scheinung des Herrn zum Gericht verwechselt, entsteht denn

auch die eigentümliche, befremdende Frage, welchen Zweck

das verborgene Kommen des Herrn haben solle. Als

ob die Entrückung der Braut in den Himmel, um dort

mit ihrem geliebten Herrn vereinigt zu werden, eine zweck»

lose Sache wäret Wahrlich, man würde nicht so denken

und reden, wenn man nur ein wenig von dem sehnenden

Verlangen des Herrn nach Seiner teuer erkauften Braut

verstände.

Ebenso denkt man sich die „erste Auferstehung"

vielfach nur in Verbindung mit der Erscheinung des

Herrn zum Gericht. Dies kommt aber immer wieder daher,

daß man nur die eine Klasse von Gläubigen oder Auserwählten

vor Augen hat, welche durch die Gerichte gehen,

in denselben umkommen und dann bei der Erscheinung

des Herrn auferweckt werden. Die in der großen Trübsal

getöteten Heiligen werden gewiß vor Beginn deA

tausendjährigen Reiches auferweckt werden, denn anders

würden sie nicht teil haben an der ersten Auferstehung^

(Offbg. 20, 6.) Aber können deswegen nicht schon

vorher die Toten in Christo auferweckt worden feind'

Sicher ist, daß die erste Auferstehung einen längeren Zeitabschnitt

umfaßt, während dessen zu verschiedenen Malen

Heilige auferweckt werden. Der Erstling ist Christusselbst

; dann die, welche des Christus sind bei Seiner Ankunft;

dann die zwei Propheten während der Gerichte

(Offbg. 11), und endlich die in der Drangsalszeit umgekommenen

Heiligen, die bei der Erscheinung des Herrn

auferstehen werden.

Der Einwand, daß die Offenbarung nirgendwo eine

23

Entrückung vor der großen Trübsal lehre, trifft nicht

zu; denn wir haben schon oben geseben, was der Herr in

dieser Beziehung sagt. (Offbg. 3, 10) Auch wird sie

durch die Gegenwart der vierundzwanzig Nettesten in den

Himmeln (Kap. 4 u. 5) bestätigt; ebenso in der Geschichte

des „männlichen Sohnes". (Kap. 12, 5.) Dieser ist

offenbar Christus, und Israel nicht die Kirche — ist

das Weib, das Ihn geboren hat. Denn Christus ist

dem Fleische nach aus dem Samen Davids geworden.

(Röm. 1, 3 ; 9, 5.) Nach den Ratschlüssen Gottes ist

die Kirche eins mit Christo, und wird nach der Lehre

der Schrift betrachtet als in und mit Ihm in die himmlischen

Oerter versetzt. (Cphes. 2, 16.) Folglich wird in der

Entrückung des männlichen Sohnes diejenige der Kirche im

voraus gesehen. Thatsächlich wird die Kirche im Himmel

sein, während das Weib (Israel) hienieden durch den

Drachen verfolgt, und vor diesem durch die Flucht in

Sicherheit gebracht wird. (Offbg. 12, 6. 14; vergl. auch

Matth. 24, 16-20.)

Vom Kreuze ins Paradies. (Luk. 23, 39—43.)

Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern daß

er sich bekehre und lebe. So lautete die Botschaft der

Liebe Gottes schon im Alten Bunde; so lautete sie zur

Zeit, als der Sohn Gottes auf dieser Erde wandelte,

und so lautet sie heute noch. Hunderttausende und

Millionen haben im Laufe der Jahrhunderte diese frohe

Botschaft gehört und sie mit gläubigem Herzen ausgenommen.

Sie sind umgekehrt von ihren bösen Wegen

24

zu Dem, der reich ist an Vergebung und groß an Barmherzigkeit,

und — sie leben ewiglich. Welch eine gewaltige

Schar wird dereinst aubetend und jubelnd einstimmen in

die himmlischen Weisen des neuen Liedes! Auch einer

wird dort sein, den wohl niemand dort erwarten würde,

wenn es nicht Gott gefallen hätte, uns seine wunderbare

Bekehrungsgeschichte mitzuteilen. Ein armer, elender

Räuber, den die menschliche Gerechtigkeit zu dem schimpflichen

Kreuzestode verurteilen mußte, wird dereinst auch

seine Krone niederwerfen vor dem Throne des Lammes

und seine Stimme erheben zur Ehre seines Erlösers.

Seine Krone niederwerfen? Ja, mein lieber Leser,

seine Krone! Ein gekrönter Räuber ist eine wunderbare

Sache, nicht wahr? aber nicht zu wunderbar für einen

Heiland-Gott, nicht zu groß für den Reichtum der

Herrlichkeit Seiner Gnade.

„Ist dieser nicht ein Brand, der aus dem Feuer^

gerettet ist?" Dem ewigen Gericht gleichsam schon übergeben,

und doch noch im letzten Augenblick herausgerissen!

Dem gerechten Urteil verfallen, und doch noch errettet!

Eine sichere Beute des Todes, und doch seiner Macht

für ewig entrückt! Ja wahrlich, Gott will nicht den

Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe!

Sein Licht leuchtete mit Macht in das finstere Herz jenes

armen, elenden Mannes, der da neben dem Herrn der

ganzen Erde, dem Sohne Gottes, hing, und wunderbar

waren die Resultate des göttlichen Wirkens.

Beide Räuber stimmten nach Matth. 27, 44 anfänglich

ein in den grausamen Spott der Vorübergehenden.

Ihre natürliche Feindschaft gegen „den Gerechten" war

so groß, daß sie trotz ihrer eignen schrecklichen Leiden

25

Den schmähten, der stumm wie ein Lamm zur Schlacht»

bank gegangen war. Aber dann verstummte der eine.

Was mag in jenen Augenblicken in seiner Seele vorgegangen

sein! Sein Gewissen erwachte. Sein Geistesauge

schaute zurück auf das hinter ihm liegende Leben,

und was erblickte es? Eine lange, lange Reihe schwarzer^

schrecklicher Sünden! Es schaute vorwärts, und was

erblickte es? Einen heiligen Gott und eine ewige, finstre

Nacht der Verzweiflung! Wie lange dieser Vorgang in

dem Innern des gekreuzigten Mannes gedauert hat, wird-

uns nicht mitgeteilt; vielleicht nur wenige Augenblicke.

Gott kann eS allmählich licht werden lassen in der

Seele; aber Er vermag auch in einem Augenblick so

mächtig in das Herz hineinzuleuchten, daß ein verwegener

Lästerer und Schmäher plötzlich zu einem armen, zitternden

Sünder wird. So war es bei Saulus von Tarsus, sowohl

auch bei dem sterbenden Räuber.

Sein Genosse fährt fort, zu schmähen und zu Höhnenr

„Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns."

Entsetzliche Feindschaft des menschlichen Herzens! „Der

andere aber antwortete und strafte ihn und sprach: Auch

du sülchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist?'

und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre

Thaten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes

gethan."

Welch ein wunderbarer Wechsel! Aber so ist es

stets. Sobald das Licht Gottes ins Herz fällt, ist alles verändert

: statt Haß entsteht Furcht, statt Selbstentschuldigung

Selbstverurteilung, statt Schmähung Rechtfertigung des

hochgelobten Herrn. Das sind die drei Dinge, die uns

in den Worten des Räubers mit besonderer Klarheit

26

«ntgegentreten. In sein vor kurzem noch mit Haß und

Feindschaft erfülltes Herz ist Furcht eingekehrt, und er

denkt mit Schrecken an den Augenblick, da er vor das

heilige Auge Gottes hintreten muß. Er begreift jetzt

nicht mehr, wie jemand diesen Gott nicht fürchten kann,

noch dazu wenn er nach einem schrecklichen Leben auf der

Schwelle der Ewigkeit steht; er straft den Lästerer. Er

verurteilt sich: „wir empfangen, was unsre Thaten wert

sind", und er rechtfertigt den Herrn: „Dieser hat nichts

Ungeziemendes gethan". Er macht es wie die Zöllner

und Sünder, die auf die Predigt Johannes des Täufers

hin Buße gethan hatten; auch sie verurteilten sich und

rechtfertigten Gott. So lange ein Mensch blind und sein

Herz finster ist, macht er es umgekehrt: er rechtfertigt

sich und verurteilt oder beschuldigt Gott.

Wie überraschend ist das Wirken des Geistes

Gottes in dem Herzen dieses armen Mannes! Gottes

Hand hat sich in Erbarmen nach ihm auSgestreckt, und

in überwältigender Fülle tritt uns die göttliche Gnade

und erlösende Liebe in diesem letzten Abschnitt seiner

Geschichte entgegen. Hier giebt es keine lange Vorbereitung,

kein Zaudern und Zögern; unaufhaltsam schreitet

der Räuber von Stufe zu Stufe, von Erkenntnis zu

Erkenntnis, von Licht zu Licht. Aus dem Munde Gottes

ist der Ruf ergangen: „Erlöse ihn, daß er nicht in die

Grube hinabfahre," (Hiob 33, 24) und mit Eile wird

daS Werk ausgeführt.

Wie schön ist es auch, daß Gott selbst hier am Kreuze

noch Seinem Geliebten das Zeugnis ausstellen läßt: „Dieser

hat nichts Ungeziemendes gethan." Die Hohenpriester

And Schriftgelehrten suchten vergeblich nach einem Vor

27

wände, um Ihn wenigstens unter einem Schein von Recht?

umbringen zu können; Herodes und Pilatus fanden nichts

Todeswürdiges an Ihm; der Räuber bekannte Seine Unschuld,

und endlich bestätigte der wachehaltende Hauptmann

das allgemeine Urteil mit den Worten: „Fürwahr, dieser

Mensch war gerecht!" Die Jünger waren geflohen, alle

Seine Bekannten standen von ferne; da müssen ein Räuber

und ein heidnischer Hauptmann das Zeugnis von der

Unschuld und der Gerechtigkeit Jesu fortsetzen. „Wenw

diese schweigen, so müssen die Steine schreien."

Hier endet in gewissem Sinne die Geschichte des-

Räubers; er hat nur Böses gethan, er bricht dem,

Stab über sich und rechtfertigt Gott. Aber dann wendet

er sich zu Jesu; und wenn irgend jemand sich

in Wahrheit und Aufrichtigkeit zu Jesu wendet, so endet

seine alte Geschichte, und seine neue beginnt. Er fängfl

dann eigentlich erst an zu leben. „Und er sprach zu

Jesu: Gedenke meiner, Herr, wenn Du in Deinem Reiche

kommst!" Stehe hier einen Augenblick stille, mein Leser,

nnd sinne über diese Worte nach! Wer hatte dem Räuber

gesagt, daß der neben ihm hängende, von den Deinigen

verlassene, von allen übrigen geschmähte und verachtete

Jesus der Herr vom Himmel sei? Wer

hatte ihm gesagt, daß der mit Dornen gekrönte, blutig

Geschlagene an seiner Seite dereinst in der Herrlichkeit

Seines Reiches wiederkommen würde? O wunderbare,

anbetungswürdige Gnade! Während die Jünger alle ihre

Hoffnungen aufgegeben hatten, schaut dieser arme Sünder

glaubensvoll vorwärts auf die Zeit der Rückkehr des

Herrn in Macht und Herrlichkeit. Mochten alle an Ihm

irre werden, er nicht! Welch ein Glaube! welch eine

28

Erquickung für das Herz des einsamen, leidenden Heilandes!

und welch eine Verherrlichung Gottes, des Vaters, der diesen

elenden Missethäter hinzog zu Seinem Sohne! Es gab

Raum im Vaterhause, Raum im Vaterherzen auch für

diesen Sünder unter den Sündern.

„Gedenke meiner, Herr!" So redet der Glaube.

Der Unglaube möchte sich verbergen vor dem allsehenden

Auge Gottes; er wäre zufrieden, wenn er nur unbeachtet

bliebe. Nicht so der Glaube. Er will beachtet sein.

Er rechnet auf die erbarmende Liebe und errettende Gnade.

Er tritt ins Licht und ruft: „Gedenke meiner!" Und

er empfängt eine Antwort, wie sie eines Heilandes würdig

ist: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit

mir im Paradiese sein!" — Heute, nicht erst

bei meiner Wiederkunft! Heute noch soll der ganze

Reichtum der göttlichen Gnade und Liebe über dich ausgegossen

werden. Heute noch will ich deiner gedenken,

nein, nicht gedenken — heute noch sollst du mit mir im

Paradiese Gottes sein. Du, der arme, elende Räuber,

der Schmäher und Lästerer, mit mir, dem Reinen und

Heiligen, dem Herrn vom Himmel, dem Sohne Gottes!

Hand in Hand mit mir sollst du heute noch die Wohnstätte

des ewigen Friedens, der ewigen Freude betreten,

als ein herrliches Zeichen meines Sieges über Tod, Sünde

und Teufel.

Vom Kreuze geradewegs ins Paradies! vom Fluchholze

in die ewige Herrlichkeit droben! — Was sollen

wir hierzu sagen, mein Leser?!

Joseph. (Fortsetzung.) 2.

In den Kapiteln 39—41, welche nach unsrer Einteilung

den zweiten Teil bilden, finden wir das Leben

Josephs, während er sich als ein Abgesonderter im Lande

Egypten befand. In diesem Abschnitt tritt der Anfang

seines Tages oder seine Erhöhung vor unser Auge;

vorher jedoch sind wir noch Zeugen seiner weiteren Leiden,

und zwar seiner Leiden von der Hand Fremder.

Wir denken vielleicht, und in gewissem Sinne ist das

auch naturgemäß, daß der Jude in besonderer Weise

schuldig sei, soweit es sich um die moralische Geschichte

dieser Welt handelt — in besonderer Weise verantwortlich

wegen der Sünde gegen den Herrn. Doch das ist nicht

ganz zutreffend. Allerdings hat der Jude einen besondern

Anteil an den Leiden Christi; und als Volk betrachtet

befindet sich Israel auch unter einem besondern Gericht.

Allein der Heide ist, wenn auch unterschieden, so

doch nicht verschieden von dem Juden. Der Dienst

des Herrn Jesu stellte sowohl „die Welt", als auch „das

Seinige" auf die Probe. Die Schrift sagt betreffs des

Kreuzes: „In dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit

wider deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt

hast, sowohl Herodes als Pontius Pilatus mit den Na

30

tionen und den Völkern Israels." (Apstgsch. 4, 27.)

Alle waren schuldig; wie auch der Apostel der Heiden in

seiner Lehre sagt, daß „die ganze Welt dem Gericht

Gottes verfallen sei". Juden und Heiden haben sich in

gleicher Weise als unter der Sünde erwiesen.

Das vorliegende Kapitel deutet dies ebenfalls an.

Josephs Trübsal, die unter seinen Brüdern begonnen hatte,

setzt sich jetzt inmitten der Fremden fort. Seine Brüder

hatten ihn schon gehaßt, in die Grube geworfen und ihn

wieder herausgezogen, um ihn als Sklaven zu verkaufen;

jetzt klagt ihn ein schlechtes Weib in Egypten fälschlich an

und bringt ihn ins Gefängnis; und ein andrer Egypter,

dem er gedient und Freundschaft erwiesen hatte, vergißt

und verläßt ihn. Doch wie es auch mit ihm stehen mag,

ob er daheim oder in der Fremde ist, Gott ist mit ihm.

Das kennzeichnet nunmehr in charakteristischer Weise seine

ganze Geschichte. (Siehe Kap. 39 u. Apstgsch. 7, 9. 10.)

Denn in den Wegen Gottes mit Seinen Auserwählten

kommt Sein Mitgefühl zuerst, und dann Seine Macht;

Sein Mitgefühl begleitet sie durch die Trübsal, und dann

befreit sie Seine Macht aus derselben. Wir sind stets

geneigt, augenblicklich Erleichterung zu wünschen, und möchten

gern jede Unbequemlichkeit und Widerwärtigkeit sofort

beseitigt sehen. Doch das ist nicht Seine Handlungsweise.

In dem Hause zu Bethanien „weinte Jesus"; und erst

nachher sagte Er: „Lazarus, komm heraus!" Die Natur

würde gern den Tod, der die Thränen hervorgerufen hatte,

verhindert haben. Nach unsrer Meinung hätte uns manche

Trübsal erspart bleiben können, und unser Verstand zieht

den klaren und unwiderleglichen Schluß, daß Gott ja

die Macht dazu besessen hätte; gerade so wie die Freunde

31

der Familie zu Bethanien sagten: „Konnte dieser, der die

Augen des Blinden aufthat, nicht machen, daß auch dieser

nicht gestorben wäre?" Aber ihr Urteil war unvollkommen,

weil sie nur die eine Seite ins Auge faßten, nämlich die

Macht Christi.

Wir sollten die Zeit Seines Mitgefühls viel höher

schätzen als wir es gewöhnlich thun; sie bringt Ihn

selbst uns nahe in einer ganz besondern Weise. Joseph

erfuhr dieses Mitgefühl des Herrn in den Tagen seiner

Trübsal in reichem Maße. Wie gesagt, die Worte „Gott

war mit ihm" kennzeichneten seine Lage; und er erhielt

davon Beweise in Fülle. Sobald er in dem Hause

Potiphars ist, gedeiht unter seiner Hand alles, was sein

Herr ihm anvertraut. Und ob auch der Schauplatz sich

verändern mag, in dieser Beziehung tritt keine Veränderung

ein; denn sobald er im Gefängnis ist, lesen wir dasselbe

von ihm, wie vorher in dem Hause des Egypters. Der

Oberste der Feste setzt dasselbe Vertrauen in ihn, wie

Potiphar es gethan hatte; und unter seiner Hand gelingt

auch im Gefängnis alles, so daß Joseph ein vollkommenes

Zeugnis von Gott hatte, daß Gott für ihn genug war.

Für einen solchen Mann war es nicht am Platze,

die Hülfe des Herrn für die Hülfe des Geschöpfes aufzugeben.

Aber Joseph trachtet nach dem Mitgefühl des

Schenken und bittet ihn, seiner zu gedenken und ein

gutes Wort bei dem Könige für ihn einzulegen. Das

war ganz natürlich. Joseph hatte dem Schenken des

Königs einen Freundschaftsdienst erwiesen, und dieser

war imstande, für ihn dasselbe zu thun. Wir können

deshalb sein Verlangen nach dem Mitgefühl des Schenken

weder aus natürlichen und menschlichen, noch selbst aus

32

moralischen Gründen verurteilen. Ob es aber Josephs

ganz würdig war, so zu handeln, mag dahingestellt bleiben,

wie auch, ob es genau der Weg war, den der Glaube

ihm angewiesen haben würde. *) Und es führte zu nichts.

Der Schenke vergißt ihn, wie wir wissen, und er bleibt

noch zwei lange Jahre im Gefängnis; denn Gott wollte

alles für ihn sein. Hülfe sollte kommen, aber sie sollte

von Ihm selbst kommen. Mit dem Herrn wird der

Kummer der Nacht sicher der Freude des Morgens

weichen; und ehe noch diese Zeit der Trennung von

seinen Brüdern zu Ende ging, wurde Joseph freigelassen,

gesegnet und geehrt. Sie wurde zur Blütezeit seiner

Herrlichkeit.

*) So war auch seine spätere Handlungsweise ganz natürlich,

als er die rechte Hand seines Vaters von Ephraims Haupt

wegnehmen wollte. Die Natur rechtfertigte das, aber es war

nicht vom Geiste (siehe die frühere Betrachtung über Jakob).

So glaube ich auch hier, daß Joseph einigermaßen auf dem Boden

der Natur und nicht völlig auf dem des Glaubens stand.

Wahrlich, herrliche Dinge finden wir in dem Zustande

Josephs in seiner Absonderung — Dinge, die unsre Gedanken

auf Den hinlenken, der größer ist als Joseph.

Ich möchte viererlei besonders hervorheben.

Zunächst seine große sittliche Schönheit. Er

war ein Nasiräer, so rein wie Daniel in ähnlichen Umständen,

als ein Gefangener unter den Unbeschnittenen,

der seine Beschneidung, seine Absonderung für Gott, unverletzt

aufrecht erhielt. Sodann die kostbare geistliche

Gabe in ihm. Er war ein Gefäß in dem Hause

Gottes, welches den Geist Christi besaß und dadurch,

wie Daniel, Träume deutete und, obwohl selbst noch im

33

Zustande der Erniedrigung, sogar Königen kundthat, was

auf der Erde geschehen würde. Ferner ist der Platz

zur Rechten der Macht und Würde für ihn. Er

erhält seinen Platz in der nächsten Nähe des Thrones

und kommt in den Besitz jener Hülfsquellen, von denen

binnen kurzem seine Brüder, die ihn verworfen hatten,

sowie die ganze Welt betreffs ihrer Erhaltung auf der Erde

abhängig sein sollten. Schließlich finden wir Freude,

eine besondere Freude, für ihn bereitet. Der

König macht eine Hochzeit für ihn, und er wird das Haupt

einer Familie unter den Heiden; und das ist eine Quelle

solcher Freude für ihn, daß er in gewissem Sinne, wie

die Namen seiner Kinder uns anzeigen, seine Verwandten

vergessen und sogar in seiner Trübsal sich freuen kann.

Das sind sicher herrliche Dinge, die wir in Joseph

finden, während er von seinen Brüdern getrennt war.

Wir erblicken in ihnen den Herrn selbst in der gegenwärtigen

Zeit, der Zeit Seiner Trennung von Israel.

Ein Kind könnte die Aehnlichkeit erkennen; und Er, der

Unmündigen und Säuglingen Seine Offenbarungen giebt,

hat uns hierin den Weg gezeigt. In den wundervollen

Worten des Stephanus in Apostelgesch. 7 werden Joseph

und andere auf einen verwandten Platz und in gleichartige

Umstände mit dem Herrn gestellt, der dort „der

Gerechte" genannt wird. Und das ist so voll von Interesse,

daß wir, wenn auch nur für einen Augenblick, den Faden

unsrer Betrachtung unterbrechen und auf jene wichtige

Stimme des Geistes Gottes horchen müssen.

Stephanus erscheint nur vorübergehend in dem Laufe

der göttlichen Geschichte; allein er nimmt einen sehr

hervorragenden und ausgezeichneten Platz ein. Die Ge

34

legenheit, bei der er gesehen wird und handelnd auftritt,

ist überaus bedeutungsvoll. Die jüdische Feindschaft vollbrachte

wieder eine ihrer schwarzen Thaten, und der Gott

der Herrlichkeit offenbarte wieder Seine herrlicheren

Vorsätze.

Stephanus ist ein weiterer Zeuge des Herrn, der

von der Erde zum Himmel ging, die Erde eine Zeitlang

ihrem Unglauben und Abfall überließ und ein Volk für

die himmlischen Oerter berief. Auch war die Zeit des

Stephanus von neuem eine Zeit der Absonderung. Die

Zeit Abrahams war bereits eine solche gewesen, ebenso

die Zeit Josephs, die Zeit Moses und die des „Gerechten",

Jesu. Die Umstände der Absonderung von der Verwandtschaft

zu Fremdlingen (das ist von der Erde zum

Himmel) mögen verschieden sein, aber die Absonderung

ist die gleiche. Abraham wurde abgesondert, weil Gott

eine verderbte Welt ungerichtet ließ; und ungerichtetes

Verderben kann Gott nicht zu Seiner Wohnstätte machen,

noch erlauben, daß es der Wohnplatz Seiner Auserwählten

sei. Die Welt nach der Flut hatte sich verderbt, und

der Herr überließ sie ihrem Verderben, indem Er sie nicht

durch eine zweite Flut reinigte; und in Uebereinstimmung

damit wird Er selbst ein Fremdling in ihr und ruft

Seinen Auserwählten mit sich aus ihr heraus. So wurde

Abraham ein abgesonderter Mann. Joseph war zu seiner

Zeit auch ein solcher, abgesondert von Haus und Verwandtschaft

wie Abraham. Ebenso Moses. Aber Joseph und Moses

waren nicht in derselben Weise abgesondert wie Abraham,

indem Gott sie einfach aus dem ungerichteten Verderben

berief, sondern sie waren es durch die Feindschaft und die

Verfolgungen ihrer Brüder. Gerade so war es mit Jesu;

35

„das Seinige" (Sein Volk Israel) und „die Welt, die

durch Ihn geworden war", nahmen Ihn nicht an und

wollten nichts von Ihm wissen. Gottlose Hände brachten

Ihn um, und der Himmel nahm Ihn auf. Dasselbe

finden wir bei Stephanus.

Auf diese Weise befindet sich Stephanus in der

Gesellschaft dieser Abgesonderten: des Abraham, des

Joseph, des Mose und endlich des „Gerechten" selbst.

Und er wird ganz naturgemäß durch den Geist dahin

geleitet, ihre Geschichte in jenem wunderbaren Kapitel

(Apstgsch. 7) der Reihe nach zu betrachten. Diese Abgesonderten

haben in verschiedenen Zeiten und Zwischenräumen,

in der fortschreitenden Entwicklung der Wege Gottes auf

der Erde, Seine höheren und herrlicheren Vorsätze betreffs

des Himmels vorbildlich dargestellt. Denn ihre Zeiten

waren so zu sagen Uebergangszeiten.

So war es auch mit der Zeit des Stephanus.

Bis dahin war die Erde der Schauplatz der Apostelgeschichte

gewesen. Im 1. Kapitel hatte der auferstandene

Herr zu Seinen Aposteln von dem „Reiche Gottes" gesprochen.

In demselben Kapitel fordern die Engel die

Männer von Galiläa (wie sie die Jünger nennen) auf,

nicht länger gen Himmel zu schauen, indem sie ihnen die

Verheißung geben, daß Jesus wieder auf die Erde

zurückkommen werde. Wenn im 2. Kapitel der Heilige

Geist gegeben wird, so reden die Apostel unter Seinem

Einfluß von Dingen der Erd e. Sie bezeugen, daß Jesus

zur Rechten Gottes im Himmel sitzen solle, bis Seine

Feinde auf Erden zu Seinem Fußschemel gemacht würden.

Dann predigen sie, daß auf die Buße Israels hin Jesus

zur Erde zurückkehren würde mit Zeiten der Erquickung

36

und der Wiederherstellung aller Dinge, und daß Er erhöht

worden sei, um Israel Buße und Vergebung der

Sünden zu geben. Israel ist also das Volk, und die

Erde ist der Schauplatz in den Handlungen oder dem

Zeugnis des Geistes in den Aposteln in diesen ersten

Kapiteln.

Doch die jüdische Feindschaft geht wieder ihren Weg

wie zu so manchen andern Zeiten, ja, wie von Anfang an;

und die göttliche Gnade geht ebenfalls ihren Weg, wie sie

es zu jenen andern Zeiten gethan hatte. Und Stephanus

nimmt, unter der Leitung des Geistes Gottes, einen

solchen Augenblick gleichsam zu seinem Texte. Er blickt

zurück auf den Weg des Volkes, welches, unbeschnitten

an Herzen und Ohren, dem Herrn in dem einen oder

andern Seiner Zeugen widerstrebt hatte; aber er blickt

auch zurück auf den Weg des Gottes der Herrlichkeit,

welcher diejenigen, die durch irdisches Verderben oder

jüdische Feindschaft abgesondert oder ausgestoßen wurden,

zu neuer und besonderer Segnung berief.

Seine eigene Lage in jenem Augenblick bildete also

seinen Text, gerade so wie die Lage der Dinge im 2. Kapitel

der Gegenstand der Rede Petri gewesen war. Petrus

predigte über die Gabe der Sprachen; Stephanus, wenn

ich so sagen darf, über sein eignes Antlitz, das in jenem

Augenblick glänzte wie eines Engels Antlitz, sowie über

die Feindschaft der Juden, die ihn bedrängte und bedrohte.

Der Geist in Stephanus erfaßte den Augenblick. Es war

ein Wendepunkt, eine Uebergangszeit. Es war die Stunde

des glänzenden Antlitzes und der mörderischen Steine,

der Feindschaft der Erde und der noch herrlicheren und

reicheren Entfaltung einer Gnade, die zum Himmel berief.

37

Es war ein ähnlicher Wendepunkt hier in der

Apostelgeschichte, wie einst bei Joseph in dem 1. Buche

Mose; und dies giebt dem Heiligen Geist in Stephanus

eine natürliche Veranlassung, sich auf Joseph zu beziehen.

Doch wenn die Erde Stephanus einen Platz verweigert,

wie die Brüder Josephs diesem einen Platz in dem Lande

seiner Väter verweigert hatten, so thut sich der Himmel

für Stephanus auf. Ist die Feindschaft im Menschen

thätig, so bleibt die Gnade in Gott nicht müßig. Der

Himmel öffnet sich, und ein Strahl himmlischen Lichtes

findet von dort seinen Weg und verklärt glänzend das

Antlitz des Stephanus, als das Volk der Erde ihn hinausstößt.

Und so besiegelt vom Himmel und für den Himmel,

spricht er vom Himmel; der Himmel selbst thut sich ihm

auf, und dann richtet der Heilige Geist sein Auge zum

Himmel empor, und sein Geist wird von dem Herrn

Jesu in den Himmel ausgenommen. Alles ist hier der

Himmel; wir hören von nichts anderem. Stephanus

empfängt zuerst das Unterpfand desselben, dann den Aufblick

in seine weit geöffneten Herrlichkeiten und endlich seinen

Platz in ihm bei Jesu.

Nichts kann, solange man noch im Leibe ist, den

Glanz eines solchen Augenblicks übertreffen. Es war

gleichsam die „Verklärung" der Apostelgeschichte. Es ging

über das Bethel des Patriarchen hinaus; denn hier war

die Spitze der Leiter enthüllt, und dem Stephanus wurde

zu erkennen gegeben, daß sein Platz droben bei dem Herrn

sei, und nicht nur am Fuße der Leiter, bei Jakob. Der

Augenblick war ein Wendepunkt, was der Zeitabschnitt von

1. Mose 28 nicht gewesen war. Er hatte sein Vorbild

eher in dem verworfenen, ausgestoßenen Joseph, der seine

38

größeren Freuden und glänzenderen Ehren unter den

fernen Heiden in Egypten fand. Oder wenn man will^

die Geschichte Josephs wie die des Stephanus sind jede

zu ihrer Zeit und in ihrem verschiedenen Charakter ein

Vorbild und Unterpfand jener Herrlichkeit und jenes

Erbteils im Himmel, zu welchen die Kirche, die Auserwählten

der Jetztzeit, berufen sind.

In ganz naturgemäßer und notwendiger Weise werden

daher Joseph und Stephanus in Apostelgesch. 7 mit

einander in Verbindung gebracht. Jeder von ihnen füllte

denselben Uebergangsplatz aus, obwohl dies, und zwar

mit Recht, bei Stephanus stärker hervortritt. Alles war

bei Stephanus neu und himmlisch. Er wird nicht aufgefordert,

nach unten, sondern nach oben zu blicken.

Die Engel hatten die Männer von Galiläa in Kap. 1

veranlaßt, ihre Augen vom Himmel wegzuwenden; hier

im 7. Kapitel aber heißt der Geist selbst Stephanus

seinen Blick geradewegs in den Himmel hinein richten.

Die Herrlichkeit des Irdischen war eine Sache gewesen;

die Herrlichkeit des Himmlischen war jetzt eine zweite.

Selbst die Gabe der Sprachen in Kap. z2 war für die

Jünger nicht ein Unterpfand des Himmels gewesen. Es

fand bei dieser Gelegenheit keine Verklärung statt; es

gab kein Angesicht, das wie eines Engels Angesicht glänzte.

Der Heilige Geist ruhte ans der Versammlung zu Jerusalem,

aber die Versammlung selbst befand sich nicht im

Angesicht des Himmels als ihrer Heimat und ihres Erbteils.

Stephanus dagegen stand auf der Grenze der

beiden Welten. Sein Leib war das Opfer der Feindschaft

der Welt des Menschen, und sein Geist stand im

Begriff, in die Herrlichkeiten der Welt Christi aufge

39

nommen zu werden. Er wurde von seinen Brüdern verworfen,

von Goit ausgenommen. Alles deutete einen

Uebergang an; und so war es am Platze, daß er auf

Joseph und Mose zurnckblickte, die vor ihm in einer ähnlichen

Lage gewesen waren.

Bei dieser Anspielung auf Joseph und andere in

Apostelgesch. 7 möchte ich darauf Hinweisen, daß wir über

diesen vorbildlichen und gleichnisartigen Charakter der

Geschichten des Alten Testaments nicht erstaunt sein sollten.

Im Gegenteil; wir sollten durchaus darauf vorbereitet

sein, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: Gott,

handelnd in diesen Geschichten, ist sicherlich in ihnen thätig,

sich und Seinen Ratschlüssen entsprechend.

Und infolge dessen werden diese Geschichten zu ebenso

vielen Offenbarungen Seiner selbst und der Vorsätze, die

Er zur Ausführung bringen will.

Die Gewißheit, daß die Erzählung göttlich inspiriert

ist, giebt uns darum noch nicht in dem vollen Sinne des

Wortes Gott in der Erzählung. Dieselbe ist nicht nur

völlig wahr, sondern sie enthält auch eine Absicht; es tritt

uns in ihr nicht nur die Thatsache der göttlichen Eingebung,

sondern auch ein „Vorbild" entgegen. „Diese Dinge

widerfuhren jenen als Vorbilder." Die Ereignisse

trugen sich so zu, wie sie erzählt werden; sie sind geschichtlich

wahr. Aber Gott ließ sie geschehen, damit sie

„Vorbilder" seien; und so lange wir nicht dieses Vorbild,

das ist die göttliche Absicht in der Geschichte, finden,

haben wir nicht Gott in ihr gefunden. Wir sollten an

diese Erzählungen, sei es nun diejenige von Joseph oder

von irgend einem andern, in dem Geiste herantreten, wie

der Prophet in das Haus des Töpfers gehen mußte.

40

(Jerem. 18.) Er sollte dort eine thatsächliche Arbeit

sehen, Gefäße, die von der Hand und durch die Geschicklichkeit

des Töpfers gemacht wurden. Doch in dieser

Arbeit lag zugleich eine Unterweisung. Sie hatte

eine bildliche Bedeutung, denn der Prophet sollte ebenso

gut Gott selbst an der Scheibe sehen, wie den Töpfer.

So ist es auch mit diesen Geschichten, die uns die Schrift

mitteilt. Es ist Wirklichkeit in ihnen, genaue Wahrheit,

wie sie uns die Inspiration verbürgt; aber es liegt auch

eine Bedeutung in ihnen; und so lange wir nicht diese

entdecken, und Gott und Seine Absicht in der Geschichte

wahrnehmen, sind wir noch nicht wirklich in das Haus

des Töpfers gegangen.

Doch ich erwähne dies nur nebenbei, veranlaßt durch

den Gebrauch, den der Geist selbst durch Stephanus von

den alttestamentlichen Geschichten von Abraham, Joseph

und Mose in diesem wunderbaren Kapitel (Apostelgesch. 7)

wacht. (Fortsetzung folgt.)

Ein Brief an eine bekümmerte Seele.

Lieber Freund! — Dein Brief hat mich sehr

interessiert. Es ist eine schöne und liebliche Aufgabe,

bekümmerte und beschwerte Herzen zu trösten und zu ermuntern;

ja es ist, wenn ich mich so ausdrücken darf,

ein Werk, das unserm Herrn und Heilande besonders

am Herzen liegt. Er selbst sprach einst die kostbaren

Worte: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil Er

mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen;.

Er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung auszurufen

und Blinden das Gesicht, Zerschlagene

41

in Freiheit hinzusenden;" und bei einer andern Gelegenheit:

„Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen

und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben!"

(Luk. 4, 18; Matth. 11, 28.) Wie kostbar ist der Gedanke,

daß Gott Seinen Sohn in diese Welt gesandt

hat, um Armen das Evangelium zu predigen, um Zerschlagene

in Freiheit zu setzen und Mühseligen und Beladenen

Ruhe zu geben!

Aus deinem Briefe nun geht klar hervor, daß du

ein Mühseliger und Beladener bist, und deshalb bist du

gerade der passende Gegenstand für den gnädigen Dienst

des Herrn. Du bist einer von denen, um derentwillen

Er in diese Welt kam. Gerade die Kümmernisse, denen

du Ausdruck giebst, liefern den unzweideutigen Beweis,

daß ein Werk des Geistes Gottes in deiner Seele vorgeht.

Nicht daß ich dich veranlassen möchte, deinen

Frieden darauf zu gründen. Weit entfernt davon!

Wenn alle Engel im Himmel und alle Menschen auf der

Erde ihre Ueberzeugung aussprechen würden, daß du ein

wahrer Christ wärest, so möchte dich das vielleicht trösten

und ermutigen, aber nimmer könnte es den Grund deines

Friedens bilden angesichts eines heiligen, die Sünde

hassenden Gottes. Es macht wenig aus, was die Menschen

von dir denken; die wichtige Frage ist: Was denkt Gott

von dir? Er kennt dich durch und durch, dein ganzes

Verderben und deine ganze Sündhaftigkeit; und doch

liebt Er dich und hat Seinen Sohn für dich in den

Tod gegeben. Hier ist der einzige Grund des Friedens

für den Sünder. Gott selbst hat deine Sache in die

Hand genommen. Er ist in dem Tode Seines Sohnes

betreffs deiner Sünden vollkommen verherrlicht worden.

42

Du sagst, daß du zuweilen nicht wüßtest, wie du dich betrachten

solltest: ob als einen gänzlich Unbekehrten oder als

einen, der zurückgegangen ist. Was dir not thut, mein

lieber Freund, ist, mit dir selbst ganz und gar zu Ende zu

kommen; und wenn du dahin gekommen bist, dann wirst

du Gott finden in all der Fülle Seiner in Christo geoffenbarten

Gnade. Mit sich selbst zu Ende zu kommen und

Christum zu finden, das ist der wahre Weg zum Frieden.

Du leidest an einer ernsten Krankheit; und diese

heißt: Selbstbeschäftigung. An dieser Krankheit leiden

Tausende. Wohl ist es wahr, daß der Heilige Geist

unsre Seelen bezüglich; unsers Zustandes übt und uns

dahin bringen will, diesen zu richten; allein Er thut es

nur, um uns auf den Grund der ganzen Sache zu führen,

damit wir in der Fülle »und Allgenugsamkeit Christi unsre

Ruhe finden. Diese Art von Seelenübung ist sehr heilsam.

Je tiefer eine Seele in dieser Weise geübt wird, desto

besser; je tiefer die Furche, desto stärker die Wurzel.

Ein oberflächliches Werk in dem Gewissen ist von geringem

Werte. Denn obwohl wir nicht durch irgend welche

Vorgänge in unsern Herzen oder Gewissen errettet werden,

so hat es sich doch oft gezeigt, daß^Personen, die leichthin

zu einem gewissen Friedensgefühl kamen, auch ebenso

leicht wieder dieses Gefühl verloren und nachher unglücklicher

waren als je. Die Sünde muß in ihrer Häßlichkeit erkannt

werden, und je bälder und gründlicher das geschieht,

desto besser. Denn alsdann sind wir in dem Zustande,

Christum zu ergreifen als Gottes Antwort auf alle

unsre Not; und wenn wir Ihn so ergreifen, so genießt

das Herz einen bleibenden Frieden und ist nicht jenem

steten Wechsel unterworfen, über den so viele klagen.

43

Auch giebt es eine Art von Selbstbeschäftigung, zu

welcher Satan eine erweckte Seele zu bringen sucht, um

sie so von Christo fern zu halten; und ich glaube, daß

es dem Feinde gelungen ist, dich in dieser Schlinge zu

fangen. Ich achte das Gefühl, das dich veranlaßt, in

deinem gegenwärtigen Seelenzustande vom Tische des

Herrn fern zu bleiben. Es ist der Leichtfertigkeit und

Gleichgültigkeit, mit welcher viele an diesem heiligen

Mahle teilnehmen, weit vorzuziehen; und es liegt mir

völlig fern, dich zu einer Teilnahme am Abendmahl zu

drängen, so lange du dich in diesem unglücklichen Herzenszustande

befindest. Was ich dir aber wünsche, ist, daß

du das Evangelium von der Gnade Gottes, die völlige

Vergebung deiner Sünden, deine vollkommne Rechtfertigung

durch den Tod und die Auferstehung Christi, so im

Glauben erfassen und dir zu eigen machen möchtest, daß

du imstande wärest, gleich dem armen Manne in Apstgsch. 3,

aus deinem verkrüppelten Zustande aufzustehen und in

den Tempel einzutreten, „wandelnd und springend und

Gott lobend". Glaube mir, es ist dein Vorrecht, das

Zu thun. Es giebt nichts, was dich an dem Genuß

jener kostbaren Dinge hindern kann, als nur der Unglaube

und die Gesetzlichkeit deines eignen Herzens. Der Feind

sucht dich mit dir selbst zu beschäftigen, um dich von Christo

fern zu halten. Weise ihn ab I Es ist die hoffnungsloseste,

trübseligste Arbeit, nach irgend etwas Gutem in dir selbst

zu suchen. Blicke auf Jesum! In Ihm wirst du alles

finden, was du bedarfst. Ja, möge der Heilige Geist deine

ganze Seele mit der Kostbarkeit Christi erfüllen, damit du

in jener heiligen und glücklichen Freiheit wandeln könnest,

die das Teil eines jeden Kindes Gottes ist.

44

Verzeihe mir, wenn ich dir ferner sage, daß beim

Brief auch das Vorhandensein einer gesetzlichen Gesinnung

bei dir verrät. Das ist ein Uebel, welches

dem Geiste Gottes ebensosehr zuwider wie für deinen

Frieden verhängnisvoll ist. Es thut dir not, in die

Atmosphäre der freien Gnade einzutreten, jener Gnade,

die durch Gerechtigkeit herrscht zu ewigem Leben durch

Jesum Christum, unsern Herrn. Du hast ganz und

gar unwürdige Gedanken über Gottes vollkommene, ewige

und unveränderliche Liebe. Du missest Gott nach dem

Maßstabe deiner eignen Gedanken. Du ziehst deine

Schlüsse von dem, was du für Gott bist, anstatt zn

glauben, was Gott für dich ist. Das ist ein ernster,

obwohl leider sehr verbreiteter Fehler, zu dem wir alle

mehr oder weniger hinneigen. Es giebt verhältnismäßig

nur wenige, die in dem thatsächlichen, ungestörten Genuß

des Heils leben. Stets ist man beschäftigt, sich selbst

in einer gesetzlichen Wage zu wägen; und nichts als die

mächtige Kraft des Geistes Gottes kann uns von dem

Grundsatz des Gesetzes, der uns allen so tief eingeprägt

ist, befreien und uns zu einem praktischen Verständnis der

Worte des Apostels leiten: „Ihr seid nicht unter Gesetz,

sondern unter Gnade." (Röm. 6, 14.)

Eine Seele kann sich unmöglich eines gegründetem

Friedens erfreuen, so lauge sie irgendwie unter Gesetz steht-

Die Sonne mag wohl für Augenblicke die finstern Wölkender

Zweifel und Befürchtungen durchbrechen, wie du es

aus eigner Erfahrung weißt, aber ein bleibender Friede

ist einer solchen Seele unbekannt; dieser entspringt nur

der tiefen, praktischen Erkenntnis der freien Gnade

Gottes, die auf Grund einer vollbrachten Versöhnung:

45

gegen den Sünder handelt. Gesetzlichkeit lenkt immer dem

Blick auf das eigne Ich. Sie bringt uns stets dahin,

unsre Stellung vor Gott nach unsern Fortschritten im

der Heiligung, nach unsern Anstrengungen und Gefühlen,

nach unserm Thun und Lassen, Wirken und

Streben zu messen; und dies muß unfehlbar geistliche

Finsternis, düstere Ungewißheit, Niedergeschlagenheit unfl

Seelenqual Hervorrufen. Die Harfe hängt unberührt an

den Weiden. Ein freudiges Danklied kann, wie dm

sagst, nur gelegentlich gesungen werden. Das Abendmahl,

dieses kostbare Gedächtnis an eine vollbrachte Erlösung,

wird vernachlässigt, oder begangen — ich möchte nicht

sagen gefeiert — ohne Frische, Salbung und Kraft.

Christus wird verunehrt, der Heilige Geist betrübt und-

das Zeugnis verdorben. Ueberdies benutzt der Feind

einen solchen Seelenzustand, um in mancherlei Weise auf

unsre Lüste und Begierden zu wirken, die gerade aus der

Thatsache, daß wir unter Gesetz sind, ihre Kraft ziehen;

wie der Apostel sagt: „Die Kraft der Sünde ist das

Gesetz." Wie ein Spielball wird die Seele hin und

her geworfen, und zwar so lange, bis die freie, unumschränkte

Gnade sie von „Gesetz und Lust" befreit.

Ja, mein Freund, die Gnade giebt dir Kraft über die

Sünde, während das Gesetz der Sünde Kraft über dich

verleiht. Die Gnade führt dich von Sieg zu Sieg, das

Gesetz von Niederlage zu Niederlage.

Möge daher der Herr dir und allen den Seinigen

eine tiefere Erkenntnis und ein entschiedeneres Ergreifen

der Gnade verleihen, damit dein Friede fließe wie eim

Strom und die Früchte der Gerechtigkeit reich werden zunr

Preise Seines Namens!

46

Doch' ich bin noch nicht fertig mit deinem Briefe.

Ich glaube noch eine andere Sache zu unterscheiden, die

geeignet ist, die Niedergeschlagenheit, über welche du

klagst, hervorzurufen. Wenn ich mich nicht sehr täusche,

so ist dein Gewissen krank. Auch das ist ein schlimmes

Uebel, eine schwere Last, eine große Prüfung. Ein

krankes Gewissen beeinflußt nicht nur uns selbst, sondern

auch alle, mit denen wir in Berührung kommen. Es

besteht ein großer Unterschied zwischen einem kranken und

einem zarten Gewissen. Das erste wird durch seine eignen

Gedanken und ängstlichen Befürchtungen geleitet, das

zweite durch das Wort Gottes. Jenes ruft Schwachheit

und Unbeständigkeit in allen unsern Wegen hervor, dieses

verleiht uns eine heilige Festigkeit und Beständigkeit. Ich

kann mir kaum einen lästigeren Gefährten denken als

ein krankes Gewissen. Es schafft seinem Besitzer stete

Schwierigkeiten und legt unaufhörlich Anstöße in seinen

Weg. Ein zartes Gewissen ist dagegen von unschätzbarem

Werte. Seine Thätigkeit ist wahr und gesund. Es

empfindet nur das, was es empfinden soll, sucht aber

nicht krankhaft nach einer Ursache der Beunruhigung und

Verunreinigung. Bearbeitet und geübt durch das von

dem Heiligen Geiste angewandte Wort Gottes, erfüllt es

mit Einsicht und Kraft die ihm von Gott angewiesenen

Verrichtungen.

Darum, mein Lieber, höre auf, dich mit dir selbst

zu beschäftigen; quäle dich nicht länger mit deinen gesetzlichen

Anstrengungen; weise die Wirkungen eines kranken

Gewissens von dir! Ein mit sich selbst beschäftigtes

Herz, eine gesetzliche Gesinnung und ein krankes Gewissen

— drei thätige Agenten des Feindes! Möge die Kraft

47

des Heiligen Geistes dich von allen dreien befreien!

Möge Er jede Kette brechen und dich die Süßigkeit einer

wahren geistlichen Freiheit und einer Herzensgemeinschaft

mit deinem Gott und Vater schmecken lassen!

Martere dich nicht länger mit den Fragen: „Bin

ich bekehrt ? oder bin ich zurückgegangen? Bin ich dies,

oder bin ich das?" Du bist in dir selbst nur ein armer,

verlorner, unwürdiger, zu nichts tauglicher Sünder; und

doch hat Gott Seine Liebe gegen dich darin erwiesen,

daß Er Seinen eingebornen Sohn dahingab, um deinen

Fluch und deine Last auf dem Fluchholze zu tragen.

Wirf dich in das Meer Seiner schrankenlosen Liebel

Das Werk ist vollbracht, die Schuld bezahlt. Satan ist

zum Schweigen gebracht, die Sünde hinweggethan. Gott

ist befriedigt, ja verherrlicht. Was willst du mehr? Auf

was wartest du noch? Vielleicht erwiderst du: „Ich

weiß das alles." Du sagst in deinem Briefe, „daß du

kaum erwarten könnest, etwas anderes zu hören, als was

du bereits gehört habest". Nun denn; mache dir das,

was du gehört hast, zu eigen in einfältigem, kindlichem

Glauben. Verlasse alle deine selbstgemachten, gesetzlichen

Schlupfwinkel, und tritt hervor in den vollen Glanz der

göttlichen und ewigen Liebe. Nimm Gott bei Seinem

Worte und nimm Besitz von allem, was Er dir umsonst

anbietet. Ich wünsche nicht, deine Wunde leichthin zu

heilen, indem ich „Friede, Friede!" rufe, wo doch kein

Friede ist. (Bergl. Jer. 6, 14.) Das wäre grausam.

Nein, ich wünsche, daß du die Dinge kennen möchtest, die

dir von Gott geschenkt sind (1. Kor. 2, 12), und die Er

in Seinem Worte ebenso klar geoffenbart hat, wie sie dir

umsonst aus Gnaden geschenkt sind. Dann wirst du

48

Mig sein, Loblieder zu singen und deinen Platz am

Tische des Herrn einzunehmen in glücklicher und heiliger

Gemeinschaft und dankbarer Anbetung.

Der Herr begegne dir gnädiglich in deiner gegenwärtigen

Not! Möge Er durch die Hellen, erwärmenden

Strahlen Seiner Liebe die finstere Wolke zerstreuen, die

sich auf deinen Geist herabgesenkt hat, und dich mit

göttlicher Freude und tiefem Frieden erfüllen! Ihm befehle

ich dich, indem ich Ihn bitte, meine schwachen Worte

zum Segen für deine kostbare Seele zu benutzen; dann

wird Seinem Namen alles Lob werden immer und

ewiglich.

Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes."(Hohel. 1, 2.)

Nichts ist, was die Menschen dieser Welt mehr fürchten

als Einsamkeit und eine Zeit des Nachdenkens

oder der innern Einkehr. Sie sind lieber mit Arbeit

überladen, als daß sie Muße für stille Betrachtungen

haben möchten. DaS unruhige Gewissen erhebt zu solchen

Zeiten seine Stimme, und diese sucht man mit der bequemen

Ausflucht zu betäuben, daß man Pflichten zu

erfüllen und keine Zeit für derlei Ueberlegungen habe.

Sünden, viele Sünden sind da, und der Gedanke an

Gott als den Richter der Sünde ist schrecklich. Der Zustand

der Seele ist derart, daß sie das Licht nicht ertragen

kann, und darum liebt man die Finsternis. Man sucht

und liebt das geschäftige, ruhelose Treiben des gegenwärtigen

Lebens, um dadurch dem drückenden Gewicht der stillen

49

-Stunden zu entrinnen. Die Vergnügungen und Freuden

der Welt dienen zu ihrer Zeit und an ihrem Platze demselben

Zweck.

So wird eifrig Sorge getragen, die Einsamkeit zu

vermeiden und jede Gelegenheit zu ruhiger und ernster

Betrachtung unmöglich zu machen. Den Interessen der

Seele wird keine Beachtung geschenkt, keine Minute gewidmet,

trotz ihres dringenden, tiefen Bedürfnisses. Der

höhere und edlere Teil des Menschen wird gänzlich vernachlässigt

und außer acht gelassen. Aber ach, „was

wird es einem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt

gewänne und seine Seele einbüßte? Denn was wird

ein Mensch als Lösegeld geben für seine Seele?" (Mark.

8, 36. 37.)

So ist der Mensch, der Mensch ohne die Erkenntnis

Gottes, ohne Erkenntnis über Seinen Zustand als Sünder

und über Jesum als den Heiland der Sünder. Doch

wenden wir uns für einen Augenblick weg von dieser

herzbetrübenden Scene, obgleich starke und doch zarte Bande

uns immer wieder hinziehen möchten, um solche, die wir

lieben, aus ihr zu befreien und für Christum zu gewinnen.

Laßt uns einen Geist stiller Betrachtung nähren in der

lieblichen Einsamkeit der Absonderung der Seele von der

Welt, da wo der Schauplatz von der Gegenwart des Heilandes

erhellt wird und „das Lied der Lieder" ertönt

zu Seiner Ehre. Je weiter die Trennung von der Welt,

desto tiefer die Gemeinschaft, desto reicher die Segnung.

Es gilt, in Herz und Geist keine Sympathie mit der

Welt zu haben, und obwohl in ihr, doch thatsächlich weit

entfernt zu sein von ihrem Gewühl und ihren unheiligen

Scenen. Eine gewaltige Kluft trennt die Gläubigen von

50

dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf. „Sie sind nicht vom

der Welt", sagt Christus, „gleichwie ich nicht von der

Welt bin." Die Stellung Christi in der Auferstehung

ist die Beschreibung der unsrigen, als in Ihm betrachtet.

Die Stunden ruhigen, stillen NachsinnenS der Seele in

Gemeinschaft mit der Person des erhöhten Herrn sind die

lieblichsten Augenblicke in ihrer Geschichte hienieden. Man

kann sie finden im Krankenzimmer, in ländlicher Stille

oder selbst in dem Mittelpunkt des geschäftlichen Lebens

dieser Welt. Alles hängt von dem Zustande des Herzens ab.

Allein zu sein, und doch nicht allein, wie gesegnet ist das!

Doch warum heißt das kostbare kleine Buch, mit

dem wir uns beschäftigen, „das Lied der Lieder"? Eben

weil es von Salomo, oder besser von Christo handelt, der

zu seiner Zeit König in Jerusalem sein wird in wahrer

salomonischer Herrlichkeit. Nach demselben Grundsatz wird

Er „König der Könige und Herr der Herren" genannt.

Ihm gebührt der Vorrang in allen Dingen. Es giebt

viele liebliche Lieder in der Schrift. Mose, Mirjam und

ihre Mägde, Debora und David, alle sangen in lieblicher

Weise von der Güte des Herrn. Von Salomo selbst

wird gesagt: „seiner Lieder waren tausend und fünf"

(1. Kön. 4, 32); aber nur dieses eine nennt er „das

Lied der Lieder". Es übertraf sie alle bei weitem. Es

ist der melodische Gesang von Herzen, die mit heiliger

Liebe erfüllt sind und die ihre höchste Freude finden an

jenem vollen und freien Ausdruck der Liebe: „Wir lieben,

weil Er uns zuerst geliebt hat." O möchten wir fähig

sein, zu allen Zeiten das Lied von der Liebe des Heilandes

zu singen, sowohl mit dem Herzen als auch mit

dem Verstände!

51

„Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes."

Welch eine reine und zugleich leidenschaftliche Zuneigung

giebt sich in diesen Worten kund! Sie gleicht dem ungekünstelten,

inbrünstigen Aufwallen der Liebe zwischen nahen

Verwandten, wenn sie nach langer Trennung einander

wieder begegnen. Das Herz ist so völlig von seinem

Gegenstand eingenommen, daß Formen, Regeln und Umstände

ganz und gar außer acht gelassen werden. Das

selige Bewußtsein des Platzes, den sie in Seinem Herzen

einnimmt, läßt die Braut alles andere vergessen. Wie

wenige giebt es in dieser Welt, an die man sich so ohne

jede Förmlichkeit und in solcher Liebe wenden könnte!

und doch ist dies die Sprache eines erretteten Sünders

dem heiligen Herrn gegenüber. Verstehst du sie, mein

lieber Leser? Keine Zweifel, keine Befürchtungen sind

in einem Herzen, das so zu dem göttlichen Bräutigam,

dem verherrlichten Jesus droben, reden kann. Viele halten

es allerdings für Anmaßung, ein vollkommnes, nicht zweifelndes

Vertrauen zu Seiner Gnade und Liebe zu haben,

und wenn sie Ihm wirklich zu vertrauen wagen, so geschieht

es mit vielen Zweifeln und Befürchtungen; und alles

das, nachdem Er Seine Liebe zu verlornen Sündern gleichsam

in Buchstaben von Blut geschrieben hat. Was müssen

solche denken von der Kühnheit der Braut? Daß sie sich

selbst und ihren Platz vergessen hat? Ach nein; das

Geheimnis ist dieses: Nachdem das Gewissen durch das

eine Opfer des einst in Demut hienieden wandelnden

Jesus von aller Sünde gereinigt ist, fühlt sich das Herz

jetzt frei und glücklich in der Gegenwart des auferstandenen

und verherrlichten Christus. Und dies ist alles, was ein

schuldiger Sünder bedarf, um sich daheim und glücklich

52

zu fühlen „in den Gemächern des Königs" (V. 4); d. h.

also das Blut Christi für das Gewissen, und die Person

Christi für das Herz. Jede Segnung wird sich in diesen

beiden Dingen eingeschlossen finden; und jeder Christ besitzt

beides. — O Herr, hilf ihnen, daß sie es glauben!

In dem ganzen Hohenliede ist keine Rede von Sünde,

von Vergebung oder Rechtfertigung. Warum das? Diese

Fragen sind vorher geordnet worden, und das Herz genießt

jetzt eine vollkommene Freiheit in der Gegenwart

des Herrn. Alle jene Fragen werden geordnet, wenn

der Sünder zum ersten Male in Wahrheit zu Jesu Füßen

niedersinkt, und zwar geordnet auf Grund des vollendeten

Werkes des Erlösers; und sie können nie, nie wieder erhoben

werden, so weit Gott und der Glaube in Betracht

kommen. Satan und der Unglaube unsrer Herzen mögen

versuchen, diese für ewig geordneten Fragen wieder anzuregen,

aber alle solche Gedanken sollten als aus diesen bösen

Quellen kommend verurteilt werden. „Ich habe erkannt,

daß alles, was Gott thut, für ewig sein wird: es ist

ihm nichts hinzuzufügen und nichts davon wegzunehmen."

(Pred. 3, 14.) Deshalb ist das Herz, das diese Dinge

kennt, frei und glücklich und fühlt sich daheim in der

unmittelbaren Nähe des Herrn. „Er küsse mich mit den

Küssen seines Mundes!"

Das Verlangen des Herzens geht nicht nach dem

Bewußtsein der Vergebung, sondern nach einer unmittelbareren

Offenbarung Seiner Liebe. Die Braut ist mit

Ihm selbst beschäftigt; nicht so sehr mit irgend einer

Seiner Eigenschaften oder mit einem besondern Beweise

Seiner Freundlichkeit gegen sie, sondern mit Ihm persönlich.

Hat sie Ihn, so hat sie alle Seine Eigenschaften

53

und Seine ganze Gütigkeit; darum: „Er küsse mich":

Sie denkt nicht daran, zu erklären, von wem sie so redet.

Es erinnert uns das lebhaft an das liebende und ihres

Gegenstandes beraubte Herz der Maria, wenn sie sagt:

„Herr, wenn du ihn weggetragen, so sage mir, wo du

ihn hingelegt hast." Er war der Erste und der Letzte

in ihren Gedanken; niemand anders war in ihrem Herzen,

von dem sie Ihn hätte unterscheiden müssen. Keiner war

mit Ihm zu vergleichen. Nichts konnte ihr Herz befriedigen

als die Person ihres Herrn, ob tot oder lebendig.

Wunderbare Liebe! O daß Er auch einen solchen Platz

in meinem und deinem Herzen hätte! Noch „über ein

Kleines", und Er wird ihn haben, und das für immer!

O beschleunige den glücklichen Tag Deiner Ankunft, teurer

Herr, Du, der Geliebte der Kirche, Deiner Braut!

In der Heiligen Schrift ist der Kuß das Zeichen

der Versöhnung, das Unterpfand des Friedens und der

Ausdruck der Liebe. Es heißt von Jonathan und David,

daß sie einander küßten und mit einander weinten, bis

David über die Maßen weinte. (1. Sam. 20, 41.)

Liebliches Bild von dem wahren David, der stets alle

unsre Liebe übertrifft. „Wo die Sünde überströmend geworden,

ist die Gnade noch überschwenglicher geworden."

Auch Joseph „küßte alle seine Brüder und weinte an

ihnen, und darnach redeten seine Brüder mit ihm."

(1. Mose 45, 15.) Ferner küßte der Vater den verlornen

Sohn, als dieser noch in seinen Lumpen war. Ist es

deshalb zuviel von der Braut im Hohenliede, (oder für

den, der an Jesum glaubt,) wenn sie nach einer solchen

Kundgebung der Liebe des Herrn verlangt? Sicherlich

nicht. Wir sind überzeugt, daß ihr Wunsch nicht aus

54 !

irgend einem Zweifel betreffs des Vorhandenseins

der Liebe hervorging, sondern weil sie sich darnach sehnte,

sie geoffenbart zu sehen. Liebe kann nur durch Liebe

befriedigt werden.

„Denn deine Liebe ist besser als Wein." Die Liebe

Jesu wird allen Freuden der Erde vorgezogen. Der Wein

ist das Sinnbild der irdischen Genüsse, der Freuden und

des Wohllebens des Menschen. Aber was sind diese

Dinge alle, selbst in ihrer bezauberndsten Gestalt, für eine

Seele, die ihre Wonne an Jesu findet? Sie haben ihren

Reiz für Herz und Auge verloren und würden nur als

eine ermüdende und drückende Last gefühlt werden. Jesus

selbst ist die Freude des Herzens: „welchen ihr, obgleich

ihr Ihn nicht gesehen habt, liebet; an welchen glaubend,

obgleich ihr Ihn jetzt nicht sehet, ihr mit unaussprechlicher

und verherrlichter Freude frohlocket." (1. Petr. 1, 8.)

Der Weinstock hat seine Wurzeln in der Erde. Der

Nasiräer durfte, so lange er unter seinem Gelübde war,

„nicht essen von allem, was vom Weinstock bereitet wird,

von den Kernen bis zur Hülse". (4. Mose 6.) Er

mußte gänzlich abgesondert sein von den Vergnügungen

der Welt für den Herrn. Ein jeder Gläubige ist heute

ein Nasiräer Gottes, und er sollte seiner Berufung und

Stellung treu sein. Aber er vermag das nur dann, wenn

er alle seine Freude und sein Genüge in der Liebe

Jesu findet. Der Herr wartet jetzt, fern von den

Freuden der Erde, auf den herrlichen Anbruch des tausendjährigen

Reiches (vergl. Matth. 26, 29), wann Er in

Seinem wahren Melchisedek-Charakter hervorkommen wird,

um die siegreichen Scharen Israels, die Kinder Abrahams,

mit dem Brote und Weine deS Reiches zu erquicken.

55

(Vergl. 1. Mose 14.) Auch wir sollten geduldig bis

dahin warten, denn wir werden dann mit Ihm in himmlischer

Herrlichkeit erscheinen. Der König in Jerusalem

wird dann wieder mit Seinem irdischen Volke vereinigt

sein, und alle Nationen werden sich weiden an der Freude

und dem Glücke Israels. Dann wird auch die Tochter

Zion die Bedeutung der lange vorher, auf dem Hochzeitsfeste

zu Kana, ausgesprochenen Worte verstehen: „Du hast

den guten Wein bis jetzt aufbewahrt." (Joh. 2, 10.)

„Lieblich an Geruch sind deine Salben, ein ausgegossenes

Salböl ist dein Name; darum lieben dich dw

Jungfrauen." (V. 3.) Hier giebt uns die Braut eine

Darstellung von Seinem Namen: „wie ausgegossenes

Salböl ist dein Name". Für ihr Herz ist er von lieblichstem

Wohlgeruch. Alle Seine Namen, Titel, Eigenschaften

und Beziehungen sind überaus kostbar für sie.

Sein Name ist Er selbst; er drückt Seine Natur, Seine

ausgezeichneten Eigenschaften und Tugenden aus. Sie

weiß nicht, wie sie dem Reichtum Seiner Güte Ausdruck

geben soll; deshalb sagt sie: „Dein Name ist ein aus-

gegossenes Salböl." Der Wohlgeruch Seines

Salböls ist nicht auf sie allein beschränkt; ihre Gefährtinnen

teilen auch von dem Ueberfluß. Sie werden

angezogen und erquickt durch die süßen Wohlgerüche Seines

Namens. Glücklicher Gedanke! Es ist nicht ein verschlossenes,

versiegeltes Salböl, sondern es ist „ausgegossen".

O welch eine Gemeinschaft giebt eS in der Liebe

Jesu! Stehe hier einen Augenblick still, meine Seele, unb

sinne nach über die Fülle des Namens Jesu: „Denn in

Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig."

Welch ein Mittelpunkt, welch eine Quelle ist dieser Name l

56

Um ihn als ihren einzigen Mittelpunkt ist die Kirche

Gottes jetzt gesammelt durch die lebendig machende Kraft

und Einwohnung des Heiligen Geistes. „Denn wo zwei

oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in

ihrer Mitte." Bald jedoch werden Himmel und Erde durch

die Macht und Herrlichkeit dieses Namens mit einander verbunden

werden. Das irdische Jerusalem und die Städte

Judas mit den Nationen rings um sie her; das himmlische

Jerusalem und die unzähligen Heerschaaren der Engel, die

allgemeine Versammlung und die Versammlung der Erstgebornen,

die in den Himmeln angeschrieben sind — alle,

alle werden angezogen und vereinigt werden durch diesen

einen teuren Namen. Der Vater hat es sich vorgesetzt

(und eS wird sicher und gewiß zustande kommen) „für die

Verwaltung der Fülle der Zeiten (das 1000jährige Reich):

alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus,

das was in den Himmeln und das was auf der Erde ist,

in Ihm." (Eph. 1, 10.) Dann wird der Wohlgeruch

Seines Namens von jedem Lüftchen weitergetragen werden,

und alle Geschlechter und Zungen werden einstimmen in

das Loblied: „Jehova, unser Herr, wie herrlich ist Dein

Name auf der ganzen Erde!" (Psalm 8.)

Und wenn die 1000 Jahre des Segens und der

Herrlichkeit vorüber, wenn Himmel und Erde entflohen und

die Gerichte vollendet sind, so wird dieser Name nichts von

seinem Wohlgeruch, seiner Kraft und Schönheit eingebüßt

haben. Er wird auch dann noch sein wie ein ausgegossenes

Salböl, ja „ausgegossen" für immer und ewig. Alle Seine

Kleider duften von Myrrhe, Aloe und Kassia. (Ps. 45.)

Und während Zeitalter auf Zeitalter dahinrollen, werden die

reichen und mannigfaltigen Gnaden Seiner Liebe dennoch

ausgegossen bleiben in unendlicher Fülle; alle Hände

werden träufeln von süßduftender Myrrhe, und die weiten,

weiten Reiche des Segens werden erfüllt sein mit dem

ewigen Wohlgeruch Seines heiligen Namens.

Joseph. (Fortsetzung.) 3.

Wir kommen jetzt zu dem Teil der Geschichte Josephs,'

in welchem er seinen Vater und seine Brüder wiederfindet,

sowie zu den Folgen dieses Wiederfindens.

Unter den Dingen, welche Joseph und seine Umstände

während seiner Trennung von seinen Brüdern kennzeichneten,

sahen wir namentlich dies: daß er in den Besitz

jener Hülfsquellen gebracht wurde, von denen seine Brüder

selbst, wie auch die ganze Welt, bezüglich ihrer Erhaltung

auf der Erde abhängig sein sollten. (Vergl. S. 32 u. 33.)

Die bestimmte Zeit für die Welt, diese Hülfsquellen in

Anspruch zu nehmen, war jetzt gekommen, und damit auch

für Joseph die Zeit, mit seinen Brüdern wieder vereinigt

zu werden.

Joseph steht jetzt in Ansehen und Würden; der Tag

der Erniedrigung und der Trübsal ist für ihn vorüber.

Er befindet sich zur Rechten des Thrones von Egypten

und übt Macht und Herrschaft im Lande. Ohne ihn kann

niemand weder Hand noch Fuß aufheben. Er hat den

Ring des Königs bekommen und fährt in dem zweiten

Wagen. Er ist der Schatzmeister und Verwalter des

ganzen Vermögens der Nation, der Einzige, der ihre

Vorratshäuser öffnen oder schließen konnte, wie es ihm

gefiel. Er, der einst in der Grube war, ist jetzt auf

dem Throne.

58

So ist Joseph gleichsam auferstanden. Ich sage:

gleichsam auferstanden; denn die Sache selbst (die Auferstehung

aus den Toten) mußte auf den Tag des Sohnes

des lebendigen Gottes warten, der in Seiner eignen

Person aus den Toten wieder lebend hervorkommen sollte.

Doch wenn wir auch „das Ebenbild" dieses großen Geheimnisses

im Alten Testament nicht finden können, so finden

wir doch „Schatten" davon, sowohl in gewissen Anordnungen

des Gesetzes, als auch in den Geschichten der

Auserwählten. Unter anderm sind der geschlachtete und

der lebendige Vogel in 3. Mose 14 und die zwei Böcke

im 16. Kapitel desselben Buches solche Anordnungen; und

manche geschichtliche Scenen, wie z. B. das LoSbinden

Isaaks von dem Altar auf dem Berge Morija, oder

Jonas Befreiung aus dem Bauche des großen Fisches,

stellen dasselbe dar. Gerade so ist es mit diesem Abschnitt

in der Geschichte Josephs, als dem Tage seiner Macht

und Herrschaft in Egypten nach den schweren Trübsalen

in der Grube und im Gefängnis.

Der Geist Gottes, der im M. Kapitel Seine Gedanken

Jakob in den Mund legt, blickt auf Joseph in

dieser Lage zurück und preist ihn dementsprechend: „Sohn

eines Fruchtbaumes ist Joseph, Sohn eines FruchtbaumeL

am Quell; die Schößlinge treiben über die Mauer. Unfi

es reizen ihn und (schießen, und es befehden ihn die

Bogenschützen; aber sein Bogen bleibt fest, und gelenkig

sind die Arme seiner Hände, durch die Hände des Mächtigen

Jakobs." Und nachdem der Geist dies von Joseph -

gesagt hat, benutzt Er es als ein Bild von einem Größeren'

als Joseph; denn Jakob fügt hinzu: „Von dannen ist

der Hirte, der Stein Israels." Wir erblicken Christum

59

in Joseph; der auferstandene Christus wird hier wie in

einem Bilde gesehen. Alle Macht ist jetzt in Ihm im

Himmel und auf Erden; Er sitzt zur Rechten der Majestät

in der Höhe. Seine Ansprüche auf alle Hülfsguellen der

Schöpfung sind gesichert, besiegelt durch die Würde des

Platzes, den Er jetzt einnimmt. Und die Hülfsguellen,

die Ihm jetzt gehören, wird Er dereinst gebrauchen

für Israel und für die ganze Erde, gemäß dem Muster

dieses Geheimnisses, wie es uns in Joseph gezeigt wird.

Am Ende des 41. Kapitels beginnt die Hungersnot

und mit ihr das Oeffnen der Vorratshäuser Josephs.

Aber dann verändert sich die Scene für einen Augenblick,

und die Erzählung der Reue seiner Brüder und ihre Annahme

wird als eine Art Zwischenhandlung eingeschoben.

Doch gerade das ist von besonderer^Schönheit, da die

Wiederherstellung aller Dinge, wie wir wissen, auf die

Buße und Vollzahl Israels wartet. Die Vorgänge in

Egypten und das völlige Oeffnen der Vorratshäuser

Josephs für Egypten und die ganze Erde wird erst später

zur passenden Zeit im 47. Kapitel erzählt. Denn „was

wird ihre Annahme anders sein, als Leben aus den

Toten"? fragt der Apostel, indem er unter der Leitung

des Geistes die Geschichte Israels aufzeichnet. (Röm. 11.)

„Wenn ihr Fall der Reichtum der Welt ist, und ihre

Verminderung der Reichtum der Nationen, wieviel mehr

ihre Vollzahl!" So können wir denn nicht anders erwarten,

als daß die Buße der Brüder der vollen Segnung

der Erde vorangeht.

ES ist unmöglich, bei diesem Erweichungsprozeß ihrer

Herzen unter der Hand Josephs nicht für einen Augenblick

Zu verweilen. Unsre eignen Herzen würden etwas ent-

60

Lehren, wenn wir diesen Vorgang nicht aufmerksam betrachten

wollten, um ihn zu bewundern und uns mit

Dankbarkeit seiner zu erfreuen; so voll ist er von den

schönsten Zügen wahrer Zuneigung, so tief in der Entfaltung

der sittlichen Grundsätze unsrer Natur, und so

wichtig im Blick auf das Gemälde, welches Er von dem

Wirken Gottes vermittelst Seines Geistes entwirft, indem

Er Sünder durch Ueberführung und durch die Erkenntnis

ihres verderbten Zustandes zur Buße und Neuheit des

Lebens leitet.

Dieses Wirken Gottes vollzieht sich in einer Zeit

der Not und der Drangsal, wie das gewöhnlich in den

Wegen des Gottes aller Gnade der Fall ist; denn Er

weigert sich nicht, von uns gesucht zu werden, wenn wir

keinen Ausweg mehr sehen. So war es bei dem verlornen

Sohne, so bei Josephs Brüdern; und bald wird es sich

ohne Zweifel zeigen, daß es so bei sehr Vielen von denen

der Fall war, die bestimmt sind, Seinen Namen ewig zu

preisen. Der verlorne Sohn wußte nicht mehr aus noch

ein; so blieb ihm nichts anderes übrig, als zu seinem

Vater und seines Vaters Haus zurückzukehren. Josephs

Brüder wissen sich nicht mehr zu helfen, und so müssen

sie hinab nach Egypten und zu Egyptens Vorratshäusern.

Es mag eine niedrige und schlechte Gesinnung in dem

Herzen des Menschen verraten, daß er sich erst dann zu

Gott wendet, wenn alles andere ihn im Stich gelassen

hat; aber der Herr läßt sich von solch schlechten und

selbstsüchtigen Herzen finden. Er läßt sich herab, durch

diese verächtlichen Thüren der Natur einzutreten. Zwanzig

lange Jahre hatten Josephs Brüder behaglich und gut

gelebt, mit aufgespeicherten Gütern und reichen Segnungen

61

um sich her, und Joseph und seine Trübsale waren ganz

und gar in Vergessenheit geraten. Eine Zeitlang besaß

der verlorne Sohn sein Geld, das Erbteil seines Vaters,

das ihm zugefallen war; und so lange sein Geld vorhielt,

suchte er sein Vergnügen und kehrte seinem Vater den

Rücken. Aber die Hungersnot überfällt „das ferne Land"

und „das Land Kanaan", und dann müssen, ob freiwillig

oder unfreiwillig, das Vaterhaus und Josephs Vorratshäuser

ausgesucht werden. (Siehe Hosea 5, 15.)

So kamen Josephs Brüder nach Egypten hinab,

um Speise zu kaufen. Sobald Joseph sie sah, erkannte

er sie. „Er gedachte der Träume, die er von ihnen geträumt

hatte." Und sogleich reifte der Entschluß in ihm,

ihre Seelen wiederherzustellen. Das ist auffallend, aber

zugleich von ausgezeichneter Schönheit. Seine Träume hatten

nur von seiner Erhebung über sie gehandelt. Wenn er

deshalb nur darnach getrachtet hätte, diese Träume wahr

zu machen, so würde er sich seinen Brüdern sofort entdeckt

und, wie die bevorzugte Garbe auf dem Felde oder

wie die Sonne am Himmel, sie vor sich auf ihren Angesichtern

liegend gesehen haben. Mein seine sofortige

Absicht war, ihre Seelen wiederherzustellen, nicht aber sich

selbst zu erheben. Das war der Entschluß, der in seinem

Herzen aufkam, als er den Augenblick vor sich sah, in

welchem er seine eigne Größe und ihre Erniedrigung hätte

verwirklichen können. Wie erhaben und schön ist das!

Es gab Einen in späteren Tagen, der, indem Er wußte,

daß Er von Gott ausgegangen war und zu Gott hinging,

und daß der Vater Ihm alles in die Hände

gegeben hatte, aufstand und sich umgürtete und anfing,

die Füße Seiner Jünger zu waschen. Das Bewußtsein

62

Seiner Würden leitete Ihn nur dahin, den Bedürfnissen

Seiner Heiligen zu dienen. Wer könnte den Charakter

eines solchen Augenblicks schildern? Doch Joseph erinnert

hier in seinem Maße daran. „Er gedachte seiner

Träume" — Träume, die ihn erhöhten und nur erhöhten;

und dennoch wendet er sich sogleich zu den beschmutzten

Füßen, den schuldigen Herzen und verunreinigten Gewissen

seiner Brüder, um sie zu waschen, zu heilen und

wiederherzustellen.

Das ist, ich wiederhole es, in der That auffallend.

Zwischen jener Erinnerung an die Träume und einer solchen

Handlungsweise giebt es keine Verbindung, es sei denn

daß Gnade, göttliche Gnade, deren Zeuge Joseph war, gekannt,

und daß der Jesus von Joh. 13 verstanden wird.

„Joseph gedachte der Träume, die er von ihnen

geträumt hatte, und er sprach zu ihnen: Ihr seid Kundschafter;

die Blöße des Landes zu sehen, seid ihr gekommen."

Das hieß das gute Werk der Wiederherstellung

ihrer Seele beginnen, obwohl der Prozeß demütigend und

schmerzlich war. Das Gewissen muß mit aller Treue

behandelt werden, wenn etwas erreicht werden soll. Und

darauf arbeitet Joseph sogleich hin. Er stellt sich fremd

gegen sie. Er spricht mit ihnen durch einen Dolmetscher,

und er redet hart. Er muß ihr Gewissen in Thätigkeit

bringen, wie schwer das auch für seine persönlichen Gefühle

sein mochte. Seine Liebe muß für den Augenblick

strenge sein; die Stunde der Rührung und der Zärtlichkeit

wird auch kommen. Die Liebe wird einmal belohnt

werden, jetzt aber muß sie dienen. An dem Tage ihrer

Sünde hatten die Brüder von ihm gesagt: „Siehe, da kommt

jener Träumer!" und jetzt, am Tage ihrer Ueberführung,

63

sagt er zu ihnen: „Ihr seid Kundschafter; die Blöße des

Landes zu sehen, seid ihr gekommen." Sie hatten einst

ihren armen Bruder gebunden und verkauft, als ihr Herz

kein Erbarmen kannte; jetzt wird mit aller Entschiedenheit,

die keine Zurückhaltung kennt, einer von ihnen genommen

und gebunden. Doch das alles geschah nur in der gnädigen

Absicht, den Pfeil tief in das Gewissen eindringen zu

lassen, damit sein Gift dort wirke und das Urteil des

Todes dort niederschreibe. Und dieser Zweck wurde erreicht.

Wenn Gott handelt, so dient die Macht des Geistes dem

Vorsatz der Liebe. „Wenn sie mit Fesseln gebunden sind,

in Stricken des Elends gefangen werden, dann macht Er

ihnen kund ihr Thun und ihre Uebertretungen, daß sie

sich trotzig gebärdeten." (Hiob 36, 8. 9.) „Fürwahr,

wir sind schuldig wegen unsers Bruders", sagen sie alle

wie mit einem Gewissen, „dessen Seelenangst wir sahen,

als er zu uns flehte, und wir hörten nicht; darum ist

diese Drangsal über uns gekommen."

Das war schon etwas, ja, es war viel; aber Joseph

muß in dem Dienst der Liebe noch weiter gehen. Hätte

er von Anfang an seinen Namen berücksichtigt, so würde

er sich gleich geoffenbart und als der Geehrte inmitten

seiner beschämten und gedemütigten Brüder gestanden

haben. Hätte er jetzt sein Herz zu Rate gezogen, so

würde er sich geoffenbart und als der Befriedigte an der

Brust seiner überführten, trauernden Brüder gelegen haben.

Doch er that weder das eine noch das andere. Die

Liebe war mit dem Dienst beschäftigt, und

der Ackersmann der Seele muß zu Zeiten, gleich dem

Bearbeiter des Erdbodens, lange Geduld haben und auf

den Früh- und Spätregen warten.

64

Das war ein glücklicher und verheißungsvoller Anfang,

weil es ein richtiger Anfang war. Joseph muß

nunmehr wissen, ob Gefühle kindlicher und brüderlicher

Liebe in seinen Brüdern vorhanden sind, oder ob sie sich immer

noch, wie früher, um das Geschrei eines Bruders und

den Kummer eines Baiers nicht kümmern. Deshalb stellt

er sie weiter auf die Probe. Härte und Freundlichkeit,

Ermunterung und Erschrecken, Forderungen und Gastmähler,

Gunstbezeugungen und Vorwürfe, alles wird benutzt

und alles muß zusammenwirken. Doch alle diese

Dinge sind nach der Schätzung eines schuldigen Gewissens

wenig verschieden. Nach den Vorstellungen eines solchen

Gewissens ist Jesus der aus den Toten auferstandene Johannes

der Täufer. Für ein schuldiges Gewissen ist ein

fallendes Blatt ein bewaffneter Feind. Die Brüder sind

erschreckt, weil sie in das Haus Josephs gebracht werden;

sie fürchten sich, wo kein Grund zur Furcht ist. Aber

alles das bewirkt eine nicht zu bereuende Buße, und die

einer solchen Buße würdige Frucht muß bald hervorkommen.

Joseph entwirft einen Plan, um völlig zu erproben,

ob jetzt wirklich die Gefühle eines Kindes und eines

Bruders in ihnen sind. Als sie im Begriff stehen, zum

zweiten Male mit Speise für sich und ihre Haushaltungen

nach Kanaan zurückzukehren, wird der Kelch Josephs in

Benjamins Sack gethan — wir kennen die Erzählung ja

alle — und sie treten ihre Reise an. Damit haben wir,

so einfach die Sache auch scheinen mag, den Wendepunkt

erreicht. Ihre eignen Lippen werden jetzt das Urteil

sprechen müssen; denn es handelt sich nunmehr um die

Frage, ob sie noch sind, wie sie früher waren, oder ob

65

ihnen ein Herz von Fleisch gegeben worden ist. Wird

die Trübsal Benjamins sie bewegen, wozu die Angstrufe

Josephs einst nicht imstande waren? Wird der Kummer

des betagten Vaters daheim zu ihren Herzen reden, was

er einst nicht gethan hatte? Wir stehen hier gleichsam

wieder auf dem Felde zu Dothan. Die Brüder werden

im Geist wieder an den Ort zurückgeführt, wo sie einst

ihre Missethat begangen hatten. Auf dem Felde zu

Dothan (im 37. Kapitel) handelte es sich um die Frage,

ob sie ihren unschuldigen Bruder Joseph ihren Lüsten,

ihrem Neid und ihrer Bosheit opfern wollten. Hier, wo

Benjamin zum Gefangenen gefordert wird, weil der Kelch

in seinem Sack gefunden wurde — gefordert als einer,

der Leben und Freiheit bei dem Herrn von Egyptenland

verwirkt hatte — werden sie auf dieselbe Weise vor

die Frage gestellt, ob sie ihn opfern und dann leichtfertig,

sorglos und zufrieden ihres Weges nach Hause weiter

ziehen wollen, oder nicht.

Nichts könnte die Weisheit Josephs übertreffen, die

sich darin kundgiebt, daß er seine Brüder moralisch und

im Geiste zu dem Felde in Dothan zurückführt. Hier

wie dort wird dieselbe Frage erhoben und ihnen in ernster

Weise vorgelegt. Juda, „den seine Brüder loben werden",

giebt Antwort auf diese Frage. Was den Kelch betrifft,

so sind sie allerdings unschuldig. Doch das hat für ihre

Gewissen nichts zu bedeuten und wird von Juda gar

nicht erwähnt. Wenn das Gewissen einmal erwacht und

überführt ist, so wird an nichts anderes mehr gedacht als

an die Sünde. „Ich kenne meine Uebertretungen, und

meine Sünde ist beständig vor mir." Die Brüder hätte»

von ihrer Unschuld sprechen und einigermaßen darüber

66

verletzt sein können, daß sie von Joseph immer wieder

falsch verstanden und beschuldigt wurden. Sie waren

Kundschafter genannt worden, als sie aufrichtige Männer

waren; und jetzt wurden sie als gemeine Diebe behandelt,

obwohl sie ehrlich waren. Sie hätten sagen können, das

sei zu arg. Sie hätten manches beleidigende Wort, manche

harte Behandlung ertragen können; aber so behandelt zu

werden, war doch etwas zu viel für Fleisch und Blut,

um es still und ruhig hinzunehmen. Aber nein, nichts von

dem allen hören wir. So waren Josephs Brüder jetzt

nicht mehr. Sie hatten einst ihre Schuld hinter der

Lügenbotschaft, die sie ihrem Vater sandten, versteckt; jetzt

sind sie bereit, ihre Unschuld betreffs des Kelches unter

dem Bekenntnis, das sie Joseph machen, zu verbergen.

Juda tritt auf, um diese neue Gesinnung in ihnen darzustellen.

Sie waren in der That schuldlos in allen

Liefen Dingen, von Anfang öis zu Ende; fie waren weder

Kundschafter noch Diebe; aber einige zwanzig Jahre früher

hatten sie sich einer Sache schuldig gemacht, von welcher

dieser Fremdling in Egypten (wie sie nicht anders voraus-

setzeu konnten), nichts wußte, die aber Gott und ihr Gewissen

kannte. Sie mögen augenblicklich unschuldig sein,

aber damals waren sie schuldig gewesen; und ihre Sünde,

und diese allein, steht jetzt vor ihnen. Bekenntnis und

nicht Rechtfertigung ist ihre Sprache. „Was sollen wir

reden," sagt Juda, „und wie uns rechtfertigen? Gott

hat die Missethat deiner Knechte gefunden."

Joseph stellt sich einen Augenblick so, als ob ihn

das alles nichts anginge; das sei ihre Sache, aber Benjamin

gehöre ihm. Benjamin war der Schuldige, soweit

es den großen Mann in Egypten betraf; er muß bleiben.

67

die übrigen können, so rasch es ihnen gefällt, nach Hause

zurückkehren. „Der Mann, in dessen Hand der Kelch gefunden

worden ist, der soll mein Knecht sein; und ihr,

ziehet hinauf in Frieden zu eurem Vater."

Was könnte die Weisheit Josephs übertreffen! War

die Weisheit Salomos größer, als er den Streit zwischen

den beiden Huren entschied? Wenn er, in einem Geiste

des Gerichts, der für einen auf dem Richterstuhl

Sitzenden passend war, das Herz einer Mutter ausfindig

machte, deckte dann nicht Joseph hier mit derselben göttlichen

Weisheit in wirklich bewundernswürdiger Weise das

Herz seiner Brüder auf?

Nach jenen Worten Josephs tritt Juda mit den

Gefühlen eines Sohnes und Bruders für Jakob und

Benjamin ein. „Der Knabe" und „der alte Vater" bilden

den Hauptinhalt seiner Rede, denn sein Herz ist jetzt von

ihnen erfüllt. Er will ein Knecht seines Herrn bleiben,

wenn nur „der Knabe" zu „seinem Vater" zurückkehren

kann. Wenn nur das Herz des Vaters getröstet wird

und Benjamins Unschuld ihn bewahrt, so will Juda dankbar

sein, mag mit ihm selbst geschehen was da will.

Der Erfolg, den Joseph von Anfang an im Auge

hatte, ist jetzt erreicht. Die Güte Gottes hat zur Buße

geleitet. Joseph war in der That erhöht, die Garbe

hatte sich aufgerichtet und stand aufrecht; doch der Zweck

von allem war, ihre Sünde hinwegzunehmen. So ist auch

Christus jetzt, wie wir lesen, „zum Führer und Heiland

erhöht worden, um Israel Buße und Vergebung der

Sünden zu geben". (Apstgsch. 5, 31.)

Und nun kann der Schleier zerrissen werden, und

er wird zerrissen. Joseph wird sich seinen Brüdern zu

68

erkennen geben. Doch das war ein Augenblick, der außergewöhnliche

Weisheit erforderte. Das Wiedererscheinen

dessen, den sie gehaßt und verkauft hatten, und bei dessen

Andenken ihre Seelen eben noch so tief erschüttert worden

waren, konnte zu überwältigend für sie sein. Joseph muß

dieses Licht für ihre Augen dämpfen, damit es sich nicht

unerträglich für sie erweise. Doch die Liebe ist erfinderisch

und hat für jede Gelegenheit die passenden Mittel und

Wege. „Ich bin Joseph," sagt er zu seinen Brüdern,

fügt aber so zu sagen in demselben Atem hinzu: „lebt

mein Vater noch?"

Welch ein schöner Beweis von der Größe der Gnade

und von der Erfindungsgabe der Liebe! Joseph hätte

sich diese Frage selbst beantworten können. Judas Worte

(die ihm sicherlich noch in den Ohren klangen, da sie zu

kostbar für ihn waren, als daß er sie so rasch hätte vergessen

können,) hatten ihm schon gesagt, daß sein Vater

noch am Lehen sei. Aber Joseph beeilte sich, die Gedanken

seiner Brüder auf eine dritte Person hinzulenken.

Die Aufseher und Diener des Palastes durften nicht

gegenwärtig sein, wenn er sich seinen Brüdern zu erkennen

gab; denn das hätte sie vor jenen blobgestellt. Aber

ebensosehr fürchtete Joseph, mit ihnen allein zu sein, weil

er dies für zu schwer für sie hielt. Darum brachte er

eine dritte Person hinein; und er hätte keine passendere

finden können als gerade diejenige, welche er durch seine

Worte einführte.

Das war in der That an seinem Platze vollkommen.

Es erinnert mich an die Scene am Brunnen zu Sichar.

„Ich bin's, der mit dir redet," sagt der Herr zu dem

Weibe, welches gerade durch Ihn dahin gebracht worden

69

war, sich selbst in ihren vielen Sünden zu erkennen. Er

sagt nicht nur: „Ich bin's," sondern: „Ich bin's, der

mit dir redet". In diesen Worten offenbart Er Seine

Herrlichkeit. Er steht vor ihr als der Messias, der nach

ihren eignen Worten alles verkündigen konnte, und der

ihr, wie sie es gerade erfahren, wirklich alles gesagt hatte,

und zwar Dinge, die für das Ohr eines erwachten Gewissens

schrecklich waren. Aber Er offenbart zugleich mit

Seiner Herrlichkeit auch die liebliche, herablassende und

einladende Gnade Dessen, der da saß und mit ihr, dem

sündigen Weibe, redete. Und auf diesem Grunde fand

ihre Seele Freimütigkeit, während man meinen möchte, sie

hätte überwältigt werden müssen.

Ja, die Liebe weiß immer das rechte Wort und den

rechten Weg zu finden. Doch wir werden noch mehr davon

bei Joseph sehen.

Kurz nachher sagt er ihnen nochmals: „Ich bin

Joseph", und fügt dann hinzu: „den ihr nach Egypten

verkauft habt". Aber in unmittelbarer Verbindung damit

setzt er ihnen Gottes Vorsätze bezüglich dieser ganzen

Sache weitläufig auseinander und sagt ihnen, wie wichtig

es für den Pharao, für Egypten und für die ganze Welt,

ja selbst für sie und ihre Haushaltungen gewesen sei und

noch sein würde, daß er seine Heimat verlassen habe. Die

Liebe läßt ihnen somit keine Zeit, sich mit Gedanken über

sich selbst zu beschäftigen. Joseph erfüllt ihre Herzen mit

einer Menge andrer Gedanken — und dann küßt er sie

und weint mit ihnen.

Jetzt, nachdem alles dieses geschehen ist, mögen auch

die Leute des Pharao wieder zugegen sein und in den

Fremden aus Kanaan nicht Josephs Verfolger, sondern

70

seine Brüder erkennen. Nur in diesem Charakter werden

sie in den Palast geführt. Gerade wie in dem Gleichnis

vom verlorenen Sohn: der Vater allein will ihn in seinem

Elend sehen; und während er noch mit Lumpen bedeckt,

in Hunger und Schande ist, küßt und bewillkommt

er ihn; aber die Haushaltung soll ihn als Sohn am

Tische sehe». „Lasset jedermann von mir hinausgehen",

hatte Joseph gesagt, als er im Begriff stand, sich seinen

Brüdern zu erkennen zu geben; aber jetzt soll das ganze

Haus des Pharao hören, daß Josephs Brüder angekommen

sind. Alles das atmet den Geist des Hochgelobten, von

welchem uns die Evangelien erzählen; wir befinden uns

gleichsam in Joh. 4 und Luk. 15, wenn wir 1. Mose 45

betrachten. (Fortsetzung folgt.)

Ziehe mich: wir werden dir nachlaufen."(Hohel. 1, 4.)

„Ziehe mich: wir werden dir nachlaufen." Je mehr

wir von Christo kennen, desto größer wird unser Verlangen

sein, noch mehr von Ihm kennen zu lernen. Je näher

wir Ihm sind, desto mehr werden wir wünschen, Ihm

noch näher zu kommen. Wie Paulus sagt: „um Ihn

zu erkennen" (Phil. 3, 10), und doch kannte Ihn niemand

auf Erden so gut wie er. Und wiederum: „auf

baß ich Christum gewinne", und doch war nie ein Heiliger

seines Kampfpreises sicherer als Paulus. Obwohl

er ein Gefangener zu Nom war und Mangel litt, konnte

er in Wahrheit sagen: „Das Leben für mich ist Christus

und das Sterben Gewinn." O welch eine reiche Erfahrung,

welch ein ruhiges Vertrauen, welch eine tiefe,

71

keine Grenzen kennende Freude strahlt aus seinem Briefe

an die Philipper hervor!

Die Fülle der Segnungen, die es in Christo für

uns giebt, ist so unendlich, daß, je mehr wir sie erfassen,

wir umsomehr erkennen, wie wenig wir sie noch erfaßt

haben. Je mehr wir von der Wirklichkeit und Fülle Seiner

Liebe schmecken, desto mehr werden wir imstande sein, in

Wahrheit auszurufen, daß sie alle Erkenntnis übersteigt.

Da sind Breiten und Längen und Tiefen und

Höhen, die wir niemals erfassen und ergründen werden.

Und die Freude, die in Seiner Gegenwart geschmeckt

wird, ist eine solche, daß das Herz, selbst indem es sie

genießt, sich nach größerer Nähe sehnt, ja daß es das

Gefühl hat, als wenn es sich verhältnismäßig noch in

einer gewissen Entfernung von Ihm befände.

Gerade aus den Worten der liebenden Braut: „Ziehe

mich: wir werden dir nachlaufen", scheint hervorzugehen,

daß ihr Verlangen nach der Nähe der Person des Herrn so

groß war, daß sie, so nahe und teuer sie auch sein mochte,

doch noch etwas wie eine Entfernung von Ihm wahrnahm.

Darum der tiefe Wunsch ihres Herzens: „Ziehe mich" —

o ziehe mich näher, inniger, Herr, zu Dir! Wenn wir

diesen Vers mit dem Inhalt des 2. Verses vergleichen,

so ist offenbar ein Wachstum in der Gnade zu erkennen,

eine wachsende Erkenntnis Seiner selbst. Ein größeres

Verlangen nach innigerer Gemeinschaft giebt sich kund,

ähnlich wie wir es in vielen Psalmen finden: „Gott,

du bist mein Gott! frühe suche ich dich. Es dürstet nach

dir meine Seele, nach dir schmachtet mein Fleisch in einem

dürren und lechzenden Lande ohne Wasser. . . . Meine

Seele hängt dir nach, es hält mich aufrecht deine Rechte."

72

(Psalm 63.) Die gesegnetste Gemeinschaft mit dem Herrn

steht immer in Uebereinstimmung mit dem heißesten Verlangen

nach größerer Nähe zu Ihm. Kannst du das

bestätigen, mein lieber Leser? Kennst du eS aus eigener

Erfahrung? Prüfe alle deine Worte und Wege vor dem

Herrn und laß dein Urteil über sie ergehen; der Heilige

Geist sagt uns, daß die Worte des Herrn reine Worte

sind, geläutert in dem Schmelztiegel, „siebenmal" gereinigt.

Ach, wie oft sprechen und schreiben wir, ohne unsre Worte

auch nur ein einziges Mal zu läutern!

Es besteht ein herrlicher Zusammenhang zwischen

dem Ziehen des Herrn und unserm Nachlaufen. „Wir

werden dir nachlaufen." Beachten wir sorgfältig die

Worte: „dir nach"! In diesen Worten ist viel mehr

enthalten, als man zu sagen vermöchte; sie sind von der

größten Wichtigkeit. „Dir nach", nicht unsern eignen

Meinungen nach, oder selbst den besten Menschen auf

Erden nach, sondern „dir nach". Wie es in dem herrlichen

16. Psalme heißt: „Ich habe Jehova stets vor

mich gestellt." Nicht bloß zu gewissen Zeiten, sondern „stets".

O welch einen Pfad würden wir auf Erden wandeln,

wenn das stets bei uns der Fall wäre! Wie abgesondert

würde er von allem sein, was nicht Christus ist.

Und sicherlich, wenn wir bitten: „Ziehe mich", so sollten

wir auch bereitwillig hinzufügen können, wie die Braut

und ihre Gefährtinnen es thun: „wir wollen dir nachlaufen".

Doch noch ein anderer köstlicher Gedanke ergiebt sich

aus dem Gegenstände unsrer Betrachtung. Derjenige,

welcher zieht, geht voran. So geht der Herr vor Seinem

Volke her in der Wüste, und sieht die Gefahren und

73

begegnet ihnen, bevor die Seinigen zu ihnen gelangen.

Viele, viele sind der Gefahren, von denen wir durch Jesum

befreit werden, ohne daß wir sie nur kennen lernen.

„Wenn Er Seine eignen Schafe alle herausgelassen hat,

geht Er vor ihnen her, und die Schafe folgen Ihm."

(Joh. 10, 4.) Der Feind mag uns auf dem Wege, den wir

zu gehen gedachten, eine Schlinge gelegt haben; aber unser

göttlicher Führer, die Schlinge erkennend, führt uns einen

andern Weg, leitet uns nach einer andern Richtung hin,

und so sind wir der Schlinge, die uns hätte verhängnisvoll

werden können, entgangen. Und bei alledem fühlen

wir uns vielleicht getäuscht und sind unzufrieden, weil uns

ein Hindernis das vorgenommene Ziel nicht erreichen ließ.

— Anbetungswürdiger Herr! möchten wir doch allezeit

und allein „Dir nachlaufen"! —

„Der König hat mich in seine Gemächer geführt:

wir wollen frohlocken und deiner uns freuen, wollen deine

Liebe preisen mehr als Wein. Sie lieben dich in Aufrichtigkeit."

Hier haben wir das Resultat, die gesegneten

Früchte des Ziehens und des Nachlaufens. Das

Gebet war der Ausdruck bewußter Schwäche und Abhängigkeit,

verbunden mit heiligem Fleiß. Die Jungfrauen

sind rüstig gelaufen und haben das Ziel erreicht.

Und nun finden wir sie in des Königs Gemächern, gekrönt

mit Freude und Fröhlichkeit. Aber vergessen wir es nie:

es ist Gnade, die zieht, Gnade, welche nachläuft, Gnade^

die da krönt; und alles dieses fließt hervor aus dem

endlosen Ozean der Liebe des Heilandes. „Wir wollen

deine Liebe preisen mehr als Wein." Jetzt gebraucht die

Braut das Wort „preisen". Erkannt hatte sie Seine Liebe

schon vorher, aber sie erfreut sich ihrer jetzt mit wachsendem

74

Interesse, sie preist sie in bewußtem Genuß. Sie ist von

ihr umgeben wie von der Luft, ist ganz in sie eingeschlossen.

„Der König hat mich in seine Gemächer gebracht."

Aber warum wird wohl Christus hier „der König"

genannt? Weil hier in prophetischer Weise von Seinen

Beziehungen zu Israel nach dessen Wiederherstellung

die Rede ist. Wenn es sich um die Rechte und Titel

des Herrn handelt, so ist Er stets der König. Aber wird

Er jemals der König der Kirche genannt? Nirgendwo in

der ganzen Heiligen Schrift. Er ist ein König und würdig

aller Ehrerbietung; aber die Schrift spricht von Ihm als

dem Haupte Seines Leibes, der Kirche, und als dem

König der Juden. Als solcher kam Er zuerst in Niedrigkeit

und Gnade auf diese Erde herab und stellte sich

der Tochter Zion dar. Aber ach! sie wollte nichts von

Ihm; Er wurde verachtet und verworfen, gekreuzigt und

getötet. Aber Gott weckte Ihn auf aus den Toten und

gab Ihm Herrlichkeit, wodurch Seine Rechte und Titel,

nicht allein als König der Juden, sondern auch als Haupt

Seines Leibes, der Kirche, und als Mittelpunkt aller

zukünftigen Herrlichkeit, gewahrt wurden. (Vergl. Sach. 9;

Joh. 12; Apostgsch. 2; Eph. 1; Phil. 2.) Die Juden

schrieen fast in demselben Atemzuge: „Hosanna! Gepriesen

sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels!"

und: „Hinweg, hinweg! kreuzige Ihn!" Ach! so

kurz ist die Dauer menschlicher Volkstümlichkeit. Die Juden

machten auf diese Weise das Maß ihrer Sünden voll,

und ihre Beziehungen zu Gott wurden abgebrochen. Der

Messias wurde abgeschnitten, das Zeugnis des Heiligen

Geistes verworfen, und für den Augenblick war im Blick

auf das Reich alles dahin.

75

Dessenungeachtet wird das Wort des Herrn feststehen

in Ewigkeit. Der Unglaube und die Sünde des Menschen

können nimmer die Treue Gottes aufheben. In dem

durch Christum vollbrachten Erlösungswerke wurde die

Grundlage gelegt für die spätere Wiederherstellung Israels

in Gnaden, gemäß der unveränderlichen Ratschlüsse Gottes,

und um die Kinder in den vollen Besitz und Genuß der

Segnungen einzuführen, die den Vätern einst verheißen

waren. „Denn ich sage, daß Jesus Christus ein Diener

der Beschneidung geworden ist um der Wahrheit Gottes

willen, um die Verheißungen der Väter zu

bestätigen." (Röm. 15, 8.) Nichts könnte klarer und

deutlicher sein als die prophetischen Erklärungen des

Wortes Gottes bezüglich der zukünftigen Herrschaft des

Herrn Jesu in Verbindung mit dem Throne Davids und

dem ganzen Hause Israels. Sicherlich wird Seine Herrschaft

und Herrlichkeit sich nicht auf die wiederhergestellten

Stämme und das Land Israel beschränken; aber Jerusalem

und die Städte Judas werdenden irdischen Mittelpunkt

Seines tausendjährigen Reiches ausmachen, gleichwie das

himmlische Jerusalem, die Stadt des lebendigen Gottes,

den himmlischen Mittelpunkt der vielen Kreise Seiner

himmlischen Herrlichkeit bilden wird. (Hebr. 12, 22—24.>

Da wir einmal von „dem König" reden, so laßt uns

noch einen Augenblick bei den Prophezeiungen verweilen,

die Ihn uns in diesem Charakter vor Augen stellen^

„Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn uns gegeben,

und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und man

nennt seinen Namen: Wunderbarer, Berater, starker

Gott, Vater der Ewigkeit, Friedefürst. Die Mehrung

der Herrschaft und der Friede werden kein Ende haben

76

auf dem Throne Davids und über sein Königreich, um

es zu befestigen und zu stützen durch Gericht und durch

Gerechtigkeit, von nun an bis in Ewigkeit. Der Eifer

Jehovas der Heerscharen wird dieses thun."

<Jes. 9, 6. 7.) Diese alte Prophezeiung, die der Eifer

Jehovas der Heerscharen zu seiner Zeit voll und ganz

erfüllen wird, wurde ihrem wesentlichen Inhalte nach durch

den Engel Gabriel wiederholt, als er mit der Botschaft zu

Maria kam: „Du wirst einen Sohn gebären, und du sollst

seinen Namen Jesus heißen. Dieser wird groß sein und

Sohn deS Höchsten genannt werden; und der Herr, Gott,

wird ihm den Thron seines Vaters David geben; und er

wird über das HauS Jakobs herrschen in die Zeitalter,

und seines Reiches wird kein Ende sein." (Luk. 1, 31

bis 33.) Schier unzählig sind die Prophezeiungen, die

diesen Gegenstand behandeln, aber ihrer vollen Erfüllung

noch harren.

Aber war nicht Jehova in alten Zeiten schon König

in Jerusalem? Sicher und gewiß. Von der Zeit der

Befreiung Israels aus Egypten bis zu den Tagen Samuels

war Jehova Israels König. Dann aber verlangte das Volk

einen König, gleich den übrigen Nationen, die um sie

her wohnten, und verwarf den Herrn als seinen König.

Gott entsprach ihrem Verlangen und gab ihnen einen

König; aber die Sache endete, wie alles andere bei Israel

unter dem Gesetz, in vollständigem Mißlingen. Die

ganze Geschichte Israels, von den Ufern des Roten Meeres

bis zum Kreuze auf Golgatha oder bis zur Steinigung

des Stephanus, ist nichts anderes als ein beständiges

Mißlingen und Fehlschlagen, und zwar in jeder Beziehung

und unter allen Umständen. Mögen wir Israel

77

unter dem Gesetz betrachten, oder als den Weinstock, den

Gott aus Egypten in das Land Kanaan verpflanzte, oder

als das verehelichte Weib und als Gottes Zeugnis auf

der Erde — wir finden nicht allein ein beständiges Fehlen,

sondern das Volk wurde auch unverbesserlich in

seinen Sünden. Darum kam schließlich Gottes gerechtes

Gericht über sie. Ihre geliebte Stadt Jerusalem wurde

von Heeren umlagert, ihr Tempel und die heilige Stadt

dem Erdboden gleichgemacht, und diejenigen, welche der

Schärfe des Schwertes entrannen, wurden in alle vier

Winde des Himmels zerstreut.

Von jenem Tage an bis auf unsre Zeit ist der

Zustand Israels „öde und verlassen" gewesen. Es wird

aber nicht immer so bleiben. Es ist notwendig, stets im

Auge zu behalten, daß es einen großen Unterschied giebt

zwischen den Regierungswegen Gottes mit Seinem

Volke und Seinen Wegen in Gnade. Unter der gerechten

Regierung Gottes haben die Juden, infolge ihrer

Sünden und ihrer Unbußfertigkeit, bisher unter Seiner

Züchtigenden Hand gestanden und stehen heute noch darunter;

aber die Gnade und Liebe Seines Herzens gegen sie

bleiben unveränderlich dieselben. Beachten wir die Bedingungen

des Bündnisses: „Und ich werde den Samen

Davids um deswillen demütigen, doch nicht alle Tage."

<1. Kön. 11, 39.) Das ist ein Grundsatz von außerordentlicher

Wichtigkeit, nicht allein im Blick auf Israel

und die Kirche, sondern auch auf den einzelnen Gläubigen.

Auf denselben großen Grundsatz bezieht sich der Apostel,

wenn er von Israels Verwerfung und Wiederherstellung

redet: „Sie sind ausgebrochen worden durch den Unglauben

. . .; hinsichtlich der Auswahl aber sind sie

78

Geliebte um der Väter willen. Denn die Gnadengaben

und die Berufung Gottes sind unbereubar." (Röm. 11.)

Der gegenwärtige Zustand und die zukünftige Wiederherstellung

der Juden werden auch in rührender Weise

durch den Propheten Hosea beschrieben: „Denn die Kinder

Israel werden 'viele Tage ohne König bleiben und ohne

Fürsten, und ohne Schlachtopfer und ohne Bildsäule, und

ohne Ephod und Teraphim. Darnach werden die Kinder

Israel umkehren und Jehova, ihren Gott, und David,

ihren König, suchen; und sie werden sich zitternd wenden

zu Jehova und zu Seiner iGüte am Ende der Tage."

(Hos. 3, 4. 5.) Herrlicher Gedanke! Sie werden nochmals

„Jehova, ihren Gott, und David, ihren König,

suchen". Und was ist das Hohelied Salomos anders als

die immer von neuem wiederholte Zusicherung an den

Ueberrest, daß die Zuneigung des Königs zu ihm unveränderlich

sei? Der gottesfürchtige ^Ueberrest in den letzten

Tagen kann Seine Liebe in diesem Liede lesen — die

unermüdliche, nichts vorwerfende, treu ausharrende Liebe

„Jehovas, ihres Gottes, und Davids, ihres Königs".

In der Vergangenheit haben sie alle das Gesetz gebrochen;

in der Zukunft werden sie alle wiederhergestellt werden

auf Grund der Gnade. In der Vergangenheit standen

sie auf dem Boden eines mit Bedingungen verknüpften

Bündnisses; in der Zukunft werden sie auf dem Boden

der bedingungslosen Gnade Gottes stehen. Der Wert

des Opfers ihres einst verworfenen Messias, sowie die

Fülle der Liebe Gottes werden das Maß ihrer Segnungen

bilden. Wer aber könnte ermessen, was unermeßlich ist?

Und so wird die Liebe des Königs zu seiner jüdischen

Braut sein: unermeßlich, ohne Schranken!

79

Das Buch Ruth giebt uns in sehr einfacher und

wahrhaft rührender Weise eine bildliche Erläuterung von

dem vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zustande

Israels. Aus dem Eheleben Noomis blieb kein Same

übrig. „Nennet mich nicht Noomi" (Lieblichkeit), sagt

sie, „sondern nennet mich Mara (Bitterkeit), denn der Allmächtige

hat es mir sehr bitter gemacht." Ihr Mann

Elimelech (welches bedeutet: mein Gott ist König)

und ihre beiden Söhne waren im Lande Moab gestorben.

Noomi war jetzt eine Witwe, einsam, ohne Nachkommen

und ohne alle Hülfsguellen. — „Nennet mich Mara . . .

Voll bin ich gegangen, und leer hat mich Jehova zurückkehren

lassen." Welch ein treffendes Bild von der jüdischen

Nation, die Gott als ihren König und Ehemann verloren

hat und nun einsam und eine Witwe ist! Aber ein

schwacher Ueberrest in der Person der sanften und demütigen

Ruth hängt Noomi an und sucht Schutz unter den

Flügeln des Gottes Israels. „Glückselig die Sanftmütigen,

denn sie werden das Land ererben!" (Matth.

5, 5.) Das Feld, welches sie als eine arme Nachleserin

betrat, wurde ihr Eigentum. Aber der nächste Anverwandte

weigerte sich, das Erbteil zu lösen, wenn er zu gleicher

Zeit Ruth zum Weibe nehmen mußte. Die Angelegenheit

wurde in Gegenwart von zehn Zeugen geordnet. (Kap.

4, 1—12.) Diese zehn Männer aus der Stadt mögen

vorbildlich an die zehn Gebote erinnern, welche gegeben

waren, bevor Christus kam; aber es gab keine Frucht

für Gott unter dem Gesetz. (Vergl. Röm. 7, 1—4.)

Boas (welches bedeutet: in ihm ist Stärke)

nimmt sich jetzt mit ganzem Herzen der Sache des schwachen

Ueberrestes von Elimelechs Hause an. Er ist ein Vor

80

bild des auferstandenen Christus, der als „Sohn Gottes

in Kraft erwiesen worden ist durch Toten-Auferstehung".

(Röm. 1, —4.) Was dieses Gemälde so überaus schön

macht, ist der Umstand, daß Ruth keine unmittelbaren

Ansprüche an Boas hatte. Er war nicht der nächste Verwandte;

darum war sein Thun gänzlich Gnade. Israel

sowohl wie auch die Heiden können das Erbteil nur besitzen

aus reiner Gnade. „Und Ruth gebar einen

Sohn . . . und Noomi nahm das Kind und legte es

in ihren Schoß und ward ihm zur Wärterin. Und die

Nachbarinnen gaben ihm einen Namen, indem sie sprachen:

Ein Sohn ist der Noomi geboren." Rührende Scene!

Liebliche Gnade! Das Herz der Witwe wird froh gemacht

und singt wie in den Tagen ihrer Jugend. Die Einsame

ist sozusagen die Mutter von Kindern geworden. Der

beraubte Schoß ist wieder mit einem lebenden Erben gesegnet.

Alles ist Freude. So haben wir hier ein überaus

liebliches Vorbild von der dereinstigen vollständigen

Wiederherstellung Israels zu Ehren, Herrlichkeit und Würden

im Lande. Der wahre Boas wird über kurz oder

lang die Sache des gottesfürchtigen Ueberrestes in Seine

Hand nehmen und Israel im Lande wieder aufrichten

auf einem ganz und gar neuen Boden.

Derselben Wahrheit begegnen wir in zahlreichen

andern Stellen der Heiligen Schrift. So lesen wir z. B.

in Jesaja 62: „Und die Nationen werden deine Gerechtigkeit

sehen, und alle Könige deine Herrlichkeit; und du

wirst mit einem neuen Namen genannt werden, welchen

der Mund Jehovas bestimmen wird. Und du wirst eine

prachtvolle Krone sein in der Hand Jehovas und ein

königliches Diadem in der Hand deines Gottes. Nicht

81

mehr wird man dich „Verlassene" heißen, und dein Land

nicht mehr „Wüste" heißen; sondern man wird dich nennen:

„Meine Lust an ihr", und dein Land: „Vermählte"; denn

Jehova wird Lust an dir haben, und dein Land wird

vermählt werden." Und in Hosea 2: „Darum siehe, ich

werde sie locken und sie in die Wüste führen, und ihr

zum Herzen reden; und ich werde ihr von dort aus ihre

Weinberge geben, und das Thal Achor zu einer Thür

der Hoffnung. Und sie wird daselbst singen wie in dem

Tagen ihrer Jugend, und wie an dem Tage, da sie aus

dem Lande Egypten heraufzog ..... Und ich will dich

mir verloben in Ewigkeit, und ich will dich mir verloben,

in Gerechtigkeit und in Gericht, und in Güte und in

Barmherzigkeit, und ich will dich mir verloben in Treue p

und du wirst Jehova erkennen." O wunderbare, schrankenlose

Gnade! Es ist die Gnade Gottes in Christo Jesu

gegenüber Seinem widerspenstigen, Halsstarrigen Volke, ja

Seine Gnade gegenüber dem größten der Sünder! Die Liebe

ist ihre Quelle; die Gnade strömt hervor; der Verlorne

ist gefunden. Die Liebe bleibt sich immer gleich. Der Herr:

liebt Israel, Er liebt die Kirche, Er liebt den einzelnen

Gläubigen. Jede Seele, die sich zu Ihm ziehen läßt,

wird von Ihm geliebt mit einer vollkommnen Liebe. Mögen

wir auch von Herzen Ihn lieben und uns Seinererfreuen,

die tiefere Liebe und Freude liegen auf Seiner

Seite. O grenzenlose Liebe, unermeßliche Gnade, himmlische

Freude, ewige Wonne! „Der König hat mich in

seine Gemächer geführt; wir wollen frohlocken und deinee

uns freuen, wollen deine Liebe preisen mehr als Wein."

82

Von den Höhen herab."(4. Mose 23, 9.)

Wollen wir unsern Mitgläubigen von Nutzen sein

und (vor allem in einer Zeit der Verwirrung und des

Verfalls) in der richtigen Gesinnung ihnen gegenüber

bleiben, so dürfen wir nicht aufhören, sie „vom Gipfel

der Felsen und von den Höhen herab" zu betrachten;

oder mit andern Worten, wir müssen uns stets zu den

Gedanken Gottes über Seine Kirche oder Versammlung

erheben, zu dem, was sie für Ihn ist, wie Er sie steht

in Christo Jesu, Seinem Geliebten. Thun wir dies nicht,

so werden unsre Seelen bald ermatten ; wir werden enttäuscht

unsre Bemühung der Liebe einstellen und mutlos

die Hände in den Schoß sinken lassen. Anstatt darnach zu

trachten, die Versammlung zu nähren und zu pflegen, wie

unser geliebter Herr es unermüdlich thut, und die Einzelnen

immer von neuem zu ermuntern, zu trösten und

zu ermahnen, so wenig Erfolg sich auch zeigen mag —

werden wir entweder den Maßstab, den wir bisher an

unser christliches Leben zu legen pflegten, gleich den Andern

erniedrigen und dem allgemeinen Strome zur Welt hin

folgen, oder wir werden unzufrieden und ärgerlich werden

und in einem gesetzlichen Geiste über unsre Mitpilger zu

Gericht sitzen. Beides ist böse. Der Glaube erhebt sich

stets über die Umstände, so traurig und niederdrückend sie

sein mögen, und während er die Versammlung allezeit in

ihrer Schönheit und Lieblichkeit in Christo sieht, sucht er

die einzelnen Gläubigen praktisch in dem Wohlgeruch der

Gnade Christi zu erhalten. In Demut und Treue ist er bemüht

zu dienen, die Müden und Schwachen aufzurichten,

die Verirrten auf den rechten Weg zurückzuführen, die

83

Kleinmütigen zu trösten, die Unordentlichen zurechtzuweisen^

die Schläfrigen aufzurütteln u. s. w. Und gerade das

Bewußtsein, was jene alle in Christo sind, befähigt ihn,

seinen Dienst in der rechten Weise zu üben.

Wie wunderbar sind die Aussprüche Gottes über

Sein allezeit irrendes Volk in der Wüste! „Wie schön

sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!

Gleich Thälern breiten sie sich aus, gleich Gärten am

Strome, gleich Aloebäumen, die Jehova gepflanzt hat,

gleich Cedern am Gewässer." (4. Mose 24, 5. 6.) Sollte

man sagen, daß es dasselbe Volk wäre, mit dem Gott

im nächsten Kapitel so ernst reden und das Er seiner

Sünde wegen so schwer heimsuchen muß? Ja, es ist

dasselbe Volk; wunderbarer Gott, anbetungswürdige Gnade!

Und wir? Könnte es uns, wenn Gott ein so herrliches

Gemälde von den Seinigen entwirft, gleichgültig sein,

sie träge, weltförmig und Christum verunehrend dahingehen

zu sehen? Unmöglich!

Die Gläubigen sind „ein Brief Christi, geschrieben

mit dem Geiste des lebendigen Gottes". (2. Kor. 3, 3.)

Darum kommt die Herrlichkeit Christi in Frage, wenn

ihr Verhalten ein unwürdiges ist. Wie ernst! Sie sind

gleich „Aloebäumen, die Jehova gepflanzt hat, gleich

Cedern am Gewässer". O möchten wir doch stets die

Versammlung und jeden einzelnen Gläubigen so mit den

Augen Gottes betrachten! Und wir dürfen es thun

angesichts, ja inmitten der Macht Satans. „Du bereitest

vor mir einen Tisch, angesichts meiner Feinde", sagt

David; und so ist es in der That. Die Feinde können

nur sehen, wie gesegnet ich bin und wie ich mich an dem

erquicke, was Gott bereitet hat. „Du hast mein Haupb

84

mit Oel gesalbt, mein Becher fließt über." Nicht nur

habe ich Gnade und Barmherzigkeit empfangen, sondern

ich habe auch ihre Fülle verstanden: mein Becher fließt

über. Und so wie ich mich für die Gegenwart auf die

erprobte Treue Gottes stützen kann, so darf ich ihr auch

für die Zukunft vertrauen: „Fürwahr, Güte und Huld

werden mir folgen alle Tage meines Lebens, und ich

werde wohnen im Hause Jehovas auf Länge der Tage."

Wo ein richtiges Gefühl von der Schönheit der

Versammlung in den Augen Gottes und zugleich von ihrer

Schwachheit und Fehlerhaftigkeit ist, da wird auch ein

Geist der Sanftmut und Demut Gott und den Gläubigen

gegenüber nicht fehlen. Der Herr gebe uns, daß wir

nicht verzagen, aber auch nicht gleichgültig seien im Blick

auf das Böse in uns und in unsern Brüdern! Die

Wasser Gottes sind an der Wurzel der Pflanze, wie armselig

sie auch aussehen und wie schlecht sie auch gepflegt

sein mag. Kostbarer Gedanke! Möchten wir stets imstande

sein, uns zu den Gedanken Gottes bezüglich Seines

Volkes zu erheben und uns in Ihm zu erfreuen, der

Gottes Wonne und unsre Freude und Herrlichkeit ist!

Laß nur die Woge toben!

Laß nur die Woge toben,

Die an dein Schifflein schlägt;

Dein Heiland sieht von oben,

Was hier dein Herz bewegt.

Wenn auch in manchen Stürmen

Dein Lebensschifflein schwankt;

Dein Heiland wird dich schirmen,

Deß Treue nimmer wankt.

O traue Ihm, dem Treuen,

Doch alles, alles zu!

Bald wird Er dich erfreuen

Mit ew'ger, sel'ger Ruh'.

85

Joseph. (Fortsetzung.) 4

Es giebt Zeiten und Verhältnisse im menschlichen

Leben, wo das Herz ganz und gar in den Vordergrund

tritt und seine Rechte geltend macht. Wir alle kommen

zuweilen in eine solche Lage, wie auch der Herr selbst es

that. In Seinem Verkehr mit den Jüngern finden wir

eine nie wankendc^Treue. Er ließ ihre Fehler nicht ungestraft

durchgehen; vielmehr tadelte Er sie oft, weil Er

sie vollkommen liebte. Es lag Ihm mehr daran, ihre

Seelen zu erziehen und zu üben, als Sein eignes Herz

zu befriedigen. Doch es kam ein Augenblick, wo die Treue

der Zärtlichkeit Platz machen mußte. Ich meine die Stunde

der Trennung, wie sie uns in Joh. 14—16 beschrieben

wird. Da war es nicht mehr an der Zeit, treu zu sein.

Die Erziehung der Seele unter den Zurechtweisungen eines

Hirien sollte nicht länger fortgesetzt werden. Kein: „O

ihr Kleingläubigen!" oder: „Wie, verstehet ihr noch nicht?"

wurde mehr gehört. Die Stunde der Trennung war gekommen,

und das Herz hatte Freiheit, sie für sich auszu­

nutzen.

Nun, eine Versöhnungsstunde gleicht in dieser

Beziehung einer Scheidestunde. Das Herz nimmt sie

ganz für sich in Anspruch. Zärtlichkeit allein paßt für sie,

Treue würde nicht am Platze sein. Und so finden wir es

denn auch jetzt bei Joseph. Er weinte laut, so daß das

86

ganze Haus des Pharao es hörte. Er weinte an dem

Halse aller seiner Brüder; er fiel seinem Bruder Benjamin

um den Hals und weinte und küßte ihn. Und wenn

er inmitten dieser strömenden Thränen sprach, so geschah

es nur, um ihre Herzen zu ermutigen und ihnen Versicherungen

und Erklärungen zu geben, die dazu geeignet

waren, ihnen volles Vertrauen und Zuversicht in seiner

Gegenwart zu geben. *)

*) Weder dem Pharao, noch seinem Hause, noch irgend einem

Menschen in Egypten scheint jemals etwas von der Sünde der

Brüder mitgeteilt worden zu sein.

Doch als diese Stunde vorüber war und er sie in

den Palast des Pharao geführt hatte, und als sie wiederum

im Begriff waren, nach Kanaan zurückzukehren, um

ihren alten Vater nach Egypten zu holen, ja, als sie so

dastanden, Benjamin und Simeon bei ihnen, alle überglücklich

in dem Genuß dieser frohen Stunde, da war

wohl ein Wort der Warnung an seinem Platze; und

Joseph hatte auch ein solches für sie. Er sagt zu ihnen:

„Erzürnet euch nicht auf dem Wege". Die Frage:

„Simon, Sohn Jona', hast du mich lieb?" wurde in

ähnlicher Weise und in einem verwandten Augenblick an

das Herz des Petrus gerichtet, als die Versöhnung, wenn

ich sie so nennen darf, vollendet war, das Netz des

Petrus 153 Fische umschlossen und er mit dem von ihm

verleugneten Herrn am Ufer des Sees gegessen hatte.

Alles dieses ist von Anfang bis zu Ende wirklich

vollkommen. Es giebt in der Schrift eine moralische

Schönheit, welche sie in Wahrheit zu dem vorzüglichsten,

wie wir wohl sagen dürfen, unters den Werken Gottes

macht; Sein Geist weht überall darin. Ihre Zartheit,

87

ihre Erhabenheit und ihre Tiefe sind alle gleicherweise

Sein. Der Ausgang der Geschichte Josephs und seiner

Brüder ist außerordentlich schön. Den Rechten Josephs

und dem Unrecht, das ihm widerfahren war, den Ansprüchen,

die er gemacht, und den Beleidigungen, denen

er ausgesetzt gewesen war, allem wurde in wunderbarer

Weise entsprochen. Welch erhabene Würden ihm seine

Träume auch zugesprochen haben mochten, sie wurden ihm

alle in vollem Maße zu teil. Wie groß auch das Unrecht

war, das er erduldet hatte, es wurde alles gerächt,

und zwar in einer Weise, die auch sein eignes Herz gewählt

haben würde. Das Gericht über die an ihm verübte

Sünde wurde in den Herzen der Brüder selbst ausgeübt;

nicht ein hartes Wort betreffs derselben kam

von Anfang bis zu Ende über die Lippen Josephs.

Bei der Betrachtung dieser wunderbaren Ausgänge

der Geschichte Josephs und seiner Brüder werden wir

unwillkürlich an das Wort des Propheten erinnert: „Auch

dieses geht aus von Jehova der Heerscharen; Er ist wunderbar

in Seinem Rat, groß an Verstand." (Jes. 28, 29.)

Doch ich möchte noch auf etwas anderes aufmerksam

machen. Die Ueberführung des Gewissens kann eine bloß

natürliche sein, die gewöhnliche, notwendige Thätigkeit der

Seele, deren Mangel einen unreinen, verhärteten Zustand

verraten würde. Wenn jene Ueberführung dagegen mehr

ist als eine bloße Aufrüttelung der Seele unter der

Wirksamkeit der Natur — wenn der Geist Gottes sie

hervorgebracht hat — so nimmt dieser gleichsam Sein

eignes Werkzeug zur Hand und arbeitet damit. David,

von dem Geiste überführt, sagt: „Gegen dich, gegen dich

allein habe ich gesündigt, und ich habe gethan, was böse

88

ist in deinen Augen." (Ps. 51, 4.) Und so wird es

auch mit dem Volke Israel an dem Tage seiner Ueber-

führung sein; ihr Gewissen wird sie dann auf den einst

verworfenen und gekreuzigten Jesus Hinweisen; wie der

Herr durch den Propheten sagt: „Ich werde über das

Haus Davids und über die Bewohner von Jerusalem den

Geist der Gnade und des Flehens ausgießen; und sie

werden auf mich blicken, den sie durchbohrt

haben, und werden über ihn wehklagen gleich der Wehklage

über den Eingebornen, und bitterlich über ihn leidtragen,

wie man bitterlich über den Erstgebornen leidträgt."

(Sach. 12.) So ist die Ueberführung, wenn

der Geist Gottes jene Arbeit aus der Hand der Natur

in Seine eigene Hand nimmt; und so thut das Gewissen

sein Werk „in dem Heiligen Geiste", wie der Apostel eS

ausdrückt. An einem solchen Tage und unter solch

mächtiger Einwirkung wird Israel sich dereinst unmittelbar

an Jesum wenden. Jes. 53 zeigt uns dieselbe Sache in

einer andern Form. Und wahrlich, es ist dies ein köstliches

Werk in der Seele, ja, nicht nur köstlich, sondern

auch notwendig in einem jeden von uns.

Nun, dieses Werk sehen wir in den Brüdern Josephs,

und es ist in der That unsrer eingehenden Betrachtung

wert. Ihre Sünde gegen Joseph war es, die sie sich an

dem Tage ihrer Bedrängnis ins Gedächtnis zurückriefen.

„Fürwahr, wir sind schuldig wegen unsers Bruders",

sagen sie, „dessen Seelenangst wir sahen, als er zu uns

flehte, und wir hörten nicht." Andere Sünden mochten

zu gleicher Zeit vor ihrem Gewissen stehen; Ruben mochte

an die Schändung des Bettes seines Vaters denken,

Simeon und Levi an ihr Blutvergießen und ihre Treu

89

losigkeit, und Juda an seine Ehe mit der Tamar; aber

bis ins Herz bewegt, nicht bloß durch die Trübsal, die

über sie gekommen war, sondern durch den Geist selbst,

gedenken sie der gemeinsamen Sünde und sprechen,

wie aus einem Gewissen, von ihrer Bosheit gegen Joseph.

Und das ist es, was das Werk des Geistes bei dieser

Uebersührung verrät.

Es ist dies, ich wiederhole es, ein notwendiges Werk

in einem jeden von uns. Aber die Quelle der Gnade

muß ebenso gut ihr Werk thun, wie der Geist der Gnade.

Joseph gab, wie wir gesehen haben, eine Erklärung seiner

Trübsale, obwohl diese sehr verschieden war von derjenigen,

die ihre Befürchtungen und ihr Schuldbewußtsein

den Brüdern gegeben hatte. Sie sagen, und zwar mit

allem Recht: „Fürwahr, wir sind schuldig wegen unsers

Bruders;" — er sagt, und er sagt es der Wahrheit gemäß:

„Gott hat mich vor euch hergesandt, um euch am

Leben zu erhalten". Gerade so ist das Evangelium. Wir

werden überführt, aber gerettet. Wir lernen, daß wir uns

selbst zu Grunde gerichtet haben, aber zugleich auch, daß

in Ihm unsre Hilfe ist. Die Quelle der Gnade öffnet

sich uns gerade in jenen Wunden, die unsre eigenen

Hände geschlagen haben. Dasselbe wird der jüdische

Ueberrest (dessen Geschichte, wie wir wissen, in derjenigen

der Brüder Josephs vorbildlich dargestellt ist) in jenen

Tagen erfahren, von welchen Jes. 53 und Sach. 13 reden.

Das Kreuz ist das Zeugnis; der Glaube steht vor ihm

und lernt dort Verderben und Erlösung kennen.

Im Verlauf dieser wunderbaren Geschichte ist die

Versöhnung also eine völlige geworden. Joseph hat seine

90

Brüder angenommen, und infolge dessen ist alles zu Israels

völliger Segnung bereit. Auf die Bekehrung muß die

Wiederherstellung folgen. „Zeiten der Erquickung und der

Wiederherstellung" (Apstgsch. 3) müssen kommen, wenn

Israel Buße thut. Der betagte Vater wird mit seiner

Haushaltung und seinen Herden aus Kanaan geholt und

mit seinen Söhnen vor den Pharao gestellt, und der allerbeste

Teil des Landes, das Land Gosen, wird ihnen zum

Wohnsitz gegeben. *)

*) Auf die Einzelheiten der Reise Jakobs und ihre Folgen,

sowie auf seine Einführung bei dem Pharao gehe ich hier nicht

näher ein, da dies bereits in der früher im Botschafter erschienenen

Betrachtung über „Jakob" geschehen ist

Sie waren aufgefordert worden, ihren ganzen Hausrat

zurückzulassen, da ja das Beste deS ganzen Landes

Egypten vor ihnen sei. Und so erwies es sich auch.

Ihre leeren Säcke waren das erste Mal nach Egypten

gekommen, um dort gefüllt zu werden, und jetzt sollten

sie aufs neue erfahren, daß es ein Herz und eine Hand

in Egypten gab, die sowohl fähig als auch bereit waren,

ohne Maß zu geben; und je leerer sie hinabkamen, desto

reichlicher und herrlicher sollten sie dies erfahren.

Sie waren allerdings nur Hirten, und solche waren

den Egyptern ein Greuel; aber Joseph „schämte sich nicht,

sie Brüder zu nennen". Sie waren Fremdlinge und

Beisassen; aber ich wiederhole, der Mann jenes Tages,

der Herr von Egypten, „schämte sich nicht, sie Brüder zu

nennen". Er erkennt sie an in Gegenwart des Königs,

des Palastes und des Volkes. Und der König zeigt

dieselbe Gesinnung. Daß sie Josephs Brüder waren,

war für den Pharao genug. Wahrlich, das redet laut

91

und verständlich zu uns. Ein Tag ist nahe, an dem

diese Vorbilder ihre volle Verwirklichung finden werden

in Christo und Israel. Er wird sich wieder zu ihm

wenden und sagen: „Mein Volk" ; und Israel wird sagen:

„Jehova ist mein Gott".

Doch so groß und erhaben dies auch sein mag, so

ist es doch noch nicht alles. Die Erde selbst muß geordnet

und gesegnet, das Erbe muß in Besitz genommen

und vor aller Augen gezeigt werden. Dazu kommen wir

jetzt. Joseph wird im 47. Kapitel der Erhalter der Welt

in Bezug auf Leben und Ordnung. Durch ihn wird das

Leben auf der Erde erhalten und die Ordnung bewahrt;

und das ganze Volk ist willig gemacht am Tage seiner Macht.

(Vergl. Pf. 110, 3.) Alles was Joseph thut, ist recht in den

Augen des ganzen Volkes. Ihr Geld, ihr Vieh, ihr Land und

sogar sie selbst werden in den Besitz des Pharao gebracht;

und doch sind sie mit allem einverstanden, denn sie verdanken

Joseph ihr Leben. Das Egypten jener Tage war

ein Vorbild von der neuen Welt, von der durch Erlösung

wieder für Gott erworbenen Welt. Es war

„ein erworbener Besitz", was ja auch die Erde im tausendjährigen

Reiche sein soll. (Eph. 1, 14.) ES war eine

versöhnte Schöpfung, von dem Verderben der Hungersnot,

von Tod und Fluch befreit durch die Hand eines Retters.

Josephs Korn hatte das Land, das Vieh und das Volk

gekauft. Alles gehörte dem Pharao in einem neuen

Charakter, als ein erworbener Besitz, der unter der Gnade

der Erlösung stand. Der Pharao, der einst König des

Landes war, ist auch noch König; aber er ist jetzt mit

einem Andern, einem Erlöser des Landes und des Volkes,

verbunden, was vorher nicht der Fall war. Gerade so wird

92

der Thron im tausendjährigen Reiche „der Thron Gottes

und des Lammes" sein. Welch ein Bild hat die Hand

Gottes hier für uns ausgezeichnet! Welch ein Unterpfand,

ja welch ein Beispiel haben wir hier von der neuen

Welt, von der Erde in den Tagen des Reiches, wenn

jede Zunge den wahren Joseph als Herrn bekennen wird

zur Verherrlichung Gottes des Vaters, wenn der Thron

Gottes und des Lammes ausgerichtet sein wird.

Der Pharao hatte im Anfang Joseph Vertrauen

geschenkt, und Joseph hatte dem Pharao Versicherungen

gegeben, bevor irgend etwas geschehen war. Ehe das

Wort Josephs in Erfüllung ging, hatte der Pharao ihn

in Macht und Würden eingesetzt, ihm ein Weib gegeben

aus den Töchtern der Ersten des Landes und ihm einen

Namen beigelegt, der einem jeden, der ihn zu deuten verstand,

sagte, was der Pharao von ihm dachte und wie

er ihn betrachtete. *) Und Joseph hatte im Vertrauen

darauf, daß alles nach der Traumdeutung, die Gott ihm

zu verkünden gegeben hatte, geschehen würde, dies alles

aus der Hand des Pharao angenommen; und dann erst

kamen die Jahre des Ueberflusses, eines nach dem andern,

um die Versicherungen, die Joseph dem Pharao gegeben

hatte, wahr zu machen und alle die Ehrenbezeugungen, die

der Pharao Joseph erwiesen hatte, zu rechtfertigen. (Siehe

Kap. 41.)

*) Wie man sagt, bedeutet Zaphnat-Pahneach in der alt-

egyptischen Sprache: „Erhalter der Welt".

Das sind kostbare Aufzeichnungen von alledem, was

sein Urbild, seine zuvor beschlossene und ewige Verwirklichung

in den Geheimnissen findet, welche zwischen Gott

und Seinem Gesalbten von jeher bestanden haben. Es

93

bleibt uns nichts anderes übrig, als uns niederzubeugen

und anzubeten und, wenn wir die Beute und die Reichtümer

des Wortes Gottes einsammeln, uns daran zu

erfreuen und dankbar zu sein. „Ich freue mich über

dein Wort, wie einer, der große Beute findet." „An dem

Wege deiner Zeugnisse habe ich mich erfreut wie über

allen Reichtum." (Ps. 119.)

Es ist ganz naturgemäß, daß wir dieses Muster der

neuen Welt oder des zukünftigen Zustandes der Erde im

tausendjährigen Reiche in der Geschichte Josephs finden;

denn, wie ich im Anfang sagte, er ist der Erbe, und

er war dazu gesetzt, einen solchen unter der Gnade Gottes

darznstellen, nachdem ein jeder seiner Väter unter derselben

fruchtbringenden und überströmenden Gnade seinen besonderen

Teil der Gedanken Gottes vorbildlich ausgedrückt

hatte. In Abraham fanden wir die Erwählung; in

Isaak die Sohnschaft, zu der uns die Erwählung

zuvorbestimmt hat; in Jakob die Zucht, unter welche

die Sohnschaft uns bringt; und jetzt in Joseph den

Erben und die Erbschaft, die der Sohnschaft folgt;

und damit schließt dann die Enthüllung des Geheimnisses,

welches die Gnade sich vorgesetzt hat, und zugleich das

erste Buch Mose.

Hier ist keine Rede oder Sprache, aber das geöffnete

Ohr vernimmt eine Stimme, die klar, voll und harmonisch

klingt. Und wenn wir auf die Geschichte Josephs allein

zurückblicken, so haben wir ein Blatt der Heiligen Schrift

vor uns, das voll von Jesus ist; zuerst sehen wir einen

verworfenen Jesus, dann einen auferstandenen

und verherrlichten Jesus, und schließlich den Jesus

des tausendjährigen Reiches in Seinem Erbe und König

94

reich. — Wie groß und wunderbar ist Gott! Ihm sind

alle Seine Werke von Anfang an bekannt. Er hat das

Licht und die Finsternis gebildet.

Doch das, was wir hier nicht finden, ist ebenso lehrreich

wie das, was wir finden. In der herrlichen Darstellung

der Erbschaft tritt Eine, die wir vielleicht hauptsächlich

zu sehen erwartet hätten, gar nicht hervor. Asnath,

das Weib Josephs, wird hier nicht gefunden. Sie und

ihre Kinder erhalten kein Teil bei diesem Ordnen aller

Dinge im Lande; sie werden dabei nicht einmal erwähnt.

Sollten sie etwa vergessen worden sein? Das wäre unmöglich.

Nein, die Ursache ist eine andere. Sie war das

Bild der himmlischen Braut, das Weib, welches dem

Joseph aus den Nationen gegeben wurde während seiner

Absonderung von seiner Verwandtschaft, und ihr Teil ist

erhabener als was das Land in seinem besten Zustande

ihr hätte bieten können; ihr Teil ist in ihm und mit ihm,

der der Herr und der Verwalter von allem ist. Asnath

geht in Joseph auf, oder wird nur in Joseph gesehen.

Und so wird uns das volle Ende von Anfang an

mitgeteilt; denn alles das, was wir hier im ersten Buche

Mose finden, stellt „die Verwaltung der Fülle der Zeiten"

dar, wenn Gott alles unter ein Haupt zusammenbringen

wird in dem Christus, das was in den Himmeln und

das was auf der Erde ist. Und in der That, Geliebte,

es ist köstlich, angesichts der gegenwärtigen Verwirrung

in der Welt und inmitten des Streites menschlicher

Meinungen, wovon wir stets umgeben sind, aus dem

Munde solcher Zeugen zu erfahren, daß das Ende so vor

Gott steht und von Anfang an so vor Ihm gestanden

hat. „Der Ratschluß JehovaS besteht ewiglich, die

95

Gedanken Seines Herzens von Geschlecht zu Geschlecht."

(Ps. 33, 11.) Sein Volk und Seine Ratschlüsse betreffs

desselben stehen in gleicher Weise vor Ihm; und solche

Wahrheiten trösteten auch die Apostel, als sie inmitten

des Verfalls der Kirche Enttäuschung auf Enttäuschung

erfuhren. (Siehe 2. Tim. 2, 19.)

(Fortsetzung folgt.)

Alles geschehe wohlanständig und in Ordnung."(1. Kor. 14, 40.)

I.

Um mehrseitig geäußerten Wünschen zu entsprechen,

will ich versuchen, in Nachstehendem verschiedene, das

Gemeinschaftsleben der Gläubigen betreffende Punkte, über

welche bei manchen der geliebten Kinder Gottes nicht

völlige Klarheit zu herrschen scheint, an der Hand des

göttlichen Wortes zu beleuchten. Ich möchte indes von

vornherein darauf aufmerksam machen, daß wir nicht über

jede Einzelheit, die im christlichen Leben oder auf

dem Gebiete des Gemeinschaftslebens Vorkommen kann,

bestimmte Anweisungen im Worte erwarten dürfen. Aber

das Wort giebt uns für unser Verhalten in allen Verhältnissen

eine göttliche Richtschnur an die Hand, und

der Heilige Geist, der in jedem einzelnen Gläubigen wie

in der Versammlung Gottes wohnt, wird da, wo wirkliche

Unterwerfung unter Seine Leitung vorhanden

ist, die Gläubigen zu einem, dieser Richtschnur

entsprechenden Verhalten leiten. Ein gehorsames Kind,

das die Gesinnung seiner Eltern kennt, wird nicht zweifelhaft

sein, wie es sich ihrem Willen gemäß zu verhalten hat

96

selbst in den zahlreichen Fällen, für welche ihm keine

besondere Vorschrift von feiten der Eltern gegeben worden ist.

Zunächst denn ein Wort über das, was die Versammlung

oder die Kirche nach den Gedanken Gottes ist.

Wir können uns in unsern Tagen des Verfalls und der

allgemeinen Verwirrung nicht zu oft an die einfachen

göttlichen Grundwahrheiten erinnern, die, mag auch alles

um uns her zu wanken und zu stürzen scheinen, stets

unveränderlich dieselben bleiben.

Nach Eph. 1, 23, Kol. 1,18. 24 und andern Stellen

ist die Versammlung der Leib Christi, und Er selbst

ist das Haupt dieses Leibes. Auch ist sie das Haus

Gottes, die Versammlung des lebendigen Gottes, und

berufen, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit zn

sein. (1. Tim. 3, 15.) Von Christo, dem Haupte, geht

nach Eph. 4, 7—16 alles aus, was zur Sammlung,

Auferbauung und Pflege Seines Leibes gehört und notwendig

ist. Zu diesem Zwecke hat Er auch jedem einzelnen

Gliede einen Platz zum Dienste angewiesen, wodurch der

ganze Leib, wohl zusammengefügt, wächst und seine Selbstauferbauung

in Liebe bewirkt.

In 1. Kor. 12 ist der Dienst der einzelnen Glieder

und die Abhängigkeit des einen vom andern, als alle zu

dem einen Leibe gehörend, ausführlich dargestellt, und

zwar als das Resultat der mächtigen Wirksamkeit des

Heiligen Geistes, welcher sie in göttlicher Macht alle mit

Christo und unter einander zu einem Leibe vereinigt hat.

Die Versammlung Gottes, die wahre Kirche, besteht

also, nach den angeführten Stellen, aus allen Gliedern

des Leibes Christi, d. h. aus allen den Menschen, welche

durch die Macht des Heiligen Geistes in lebendigem

97

Glauben mit Christo verbunden und in die Gemeinschaft

des Lebens, welches in Ihm, dem Haupte ist, eingeführt

worden sind. Wie nun die Glieder unsers Körpers, jedes

an seinem Platze, einen Dienst für die andern versehen,

so haben auch die Glieder des Leibes Christi sich unter

einander zu dienen, und zwar in demselben Sinne und

Geiste, wie das Haupt den Gliedern dient. Welch ein

weites Gebiet ist da der Thätigkeit der Liebe geöffnet!

Es erstreckt sich auf alle Gläubigen ohne Unterschied,

sowie auf die verschiedensten Zustände derselben.

Das Hauptziel dieser Thätigkeit ist das „Heranwachsen zu

Ihm hin, der das Haupt ist".

Die Zersplitterung der Christen in so viele Parteien

bringt es zwar mit sich, daß manche Gläubige sich entweder

diesem Dienste von feiten solcher, die nicht zu ihrer Partei

gehören, entziehen, oder denselben ihrerseits nur auf die

Glieder ihrer Partei beschränken. Aber beides entspricht

nicht dem Charakter des Leibes Christi und ebensowenig

der Absicht des Hauptes; und einem von der Liebe Christi

gedrungenen und der Leitung des Heiligen Geistes unterworfenen

Christen wird es eine Freude sein (und niemals

wird es ihm auch an Gelegenheit fehlen), seinen Dienst

gegen alle auszuüben, selbst wenn derselbe sich nur auf

die Fürbitte beschränken müßte. Verantwortlich ist jedes

Glied für den Dienst, den es für den ganzen Leib

auszuüben hat. Doch ist nicht zu leugnen, daß in der

Zersplitterung der Christen eine Schwierigkeit in Bezug

auf die allgemeine Anwendung des Dienstes liegt, ja

daß derselbe durch Parteischranken in mancher Beziehung

unmöglich gemacht ist.

Es ist leider dem Feinde gelungen, die Schafe Christi

98

zu zerstreuen und sie dadurch manches Segens hienieden

zu berauben. Doch Dank der Liebe und Treue des guten

Hirten, wird er sie niemals aus Seiner Hand rauben

können, noch wird er vermögen, den Dienst des Hauptes

für alle Seine Glieder, trotzdem sie zerstreut sind, zu verhindern.

Doch, möchten wir alle die Gefühle des Hauptes

für alle Seine Glieder, ohne Unterschied, teilen und den

uns anvertrauten Dienst im Sinne des Hauptes treu erfüllen,

bis zur Grenze der Möglichkeit!

Die Trennung der Christen in Sekten und Parteien

ist ein Werk des Feindes, dessen Anfänge bis in die

apostolische Zeit zurückreichen. Der Herr hat dem Feinde

erlaubt, schon damals mit seinen Zerstörungsplänen hervorzutreten,

damit Er durch Seine Apostel ein klares und

bestimmtes Zeugnis dagegen geben könnte, welches für

die Christen aller Zeiten göttliche Autorität besitzt. Der

Apostel Paulus behandelt diesen Gegenstand in 1. Kor. 1,

10—13 und Kap. 3 desselben Briefes in so entschiedener,

nicht mißzuverstehender Weise, daß Gläubige, welche das

geschriebene Wort wirklich als ihre einzige Richtschnur anerkennen,

(der sie, allen menschlichen Ueberlieferungen zum

Trotz, unbedingt zu folgen haben,) nicht zweifelhaft darüber

sein können, daß ihr Gott wohlgefälliger Platz nicht

in einer christlichen Partei sein könne, und wäre es auch

die älteste und angesehenste, oder in noch so vielen Punkten

sich auf das Wort stützende. Diesen Platz werden sie

allein da finden, wo Gläubige außerhalb aller

Parteien sich einfach als Glieder des Leibes Christi

im Namen Jesu versammeln, ihrer Einheit mit allen

Gläubigen auf der Erde durch das Brechen des einen

Brotes Ausdruck geben, und der Leitung des Heiligen

99

Geistes die einzige Autorität in ihrer Mitte einräumen.

Nur auf diese Weise kann der Charakter der Versammlung

Gottes auf der Erde, dem Worte Gottes entsprechend,

verwirklicht werden; während jede Partei sich eine besondere

Stellung beimißt und dadurch den Charakter der Einheit

zerstört, — wie Paulus den Korinthern, welche Parteien

bilden wollten, zuruft: „Ist der Christus zerteilt?"

(1. Kor. 1, 13.)

Es giebt nun, Gott sei Dank, eine große Anzahl

von Gläubigen, welche den bezeichneten, schriftgemäßen

Platz eingenommen haben, und dadurch dem Charakter der

Versammlung Gottes Ausdruck geben, so schwach und

unvollkommen dies auch sein mag. Es ist wichtig für

diese, daß sie in jeder Beziehung jenem Charakter gemäß

handeln, und vor allem, daß sie wachsam und nüchtern,

demütig und klein in ihren Augen bleiben; sonst wird

Gott ihren Leuchter von seiner Stelle hinwegthun. So«

bald sie anfangen, von sich und ihrem Zeugnis etwas zu

halten, sich selbst zu erheben, werden sie, wie die Er«

fahrung in schmerzlichster Weise gelehrt hat, nur ein

Zeugnis ihrer eignen Schwachheit sein. An jedem Orte,

wo sie sich um den Tisch des Herrn (der nicht ein Part ei -

tisch ist) versammeln, haben sie, in wahrer Abhängigkeit

von der Leitung des Heiligen Geistes, nach den Unterweisungen

des göttlichen Wortes die Versammlung Gottes

an diesem Orte (1. Kor. 1, 2; Kol. 4, 15. 16) dar-

zust eilen, d. h. die den örtlichen Versammlungen im

Worte gegebenen Anweisungen in ihrer Mitte zur Ausführung

zu bringen. Für alle andern etwa noch an diesem

Orte wohnenden Gläubigen bleibt der Platz am Tische

des Herrn offen; denn sie gehören, wenn sie wirklich

100

Glieder des Leibes Christi sind, auch zu der Versammlung

Gottes an diesem Orte. Sehr ist darüber zu wachen, daß

es dem Feinde nicht gelinge, das Gefühl der Zusammengehörigkeit

mit allen Gläubigen zu schwächen oder gar

ganz zu zerstören. Sollte ihm dies gelingen, so würde

das nur eine Fortsetzung seiner bisherigen erfolgreichen

Thätigkeit sein, die Glieder des Leibes Jesu durch Aufrichtung

von Parteischranken von einander zu trennen;

und seine List würde auch diese, dem Parteiwesen durch

die Gnade Gottes eben entronnenen Gläubigen (wenigstens

ihren Gefühlen nach) zu einer neuen Partei stempeln.

Nicht alle Gläubigen haben ein Verständnis für das, was

das Wort sagt über die Einheit des Leibes und den

Platz, den jedes Glied in dieser Einheit einnimmt. Indes

sind sie alle verantwortlich, „der Berufung würdig zu

wandeln, womit sie berufen sind" (Eph. 4); und dieses bezieht

sich hauptsächlich auf die Verwirklichung der Einheit

des Leibes und den Dienst der einzelnen Glieder für den

Leib, wie aus dem ganzen Kapitel (Eph. 4) hervorgeht.

Aber das Verständnis darüber ist, wie gesagt, bei vielen

durch mangelhafte oder falsche Belehrung ganz und gar

verdunkelt. Diejenigen Gläubigen daher, denen durch die

Gnade die Augen über diese herrliche Wahrheit geöffnet

sind, haben eine um so größere Verantwortlichkeit, die

Einheit des Leibes zu verwirklichen, indem sie gegen alle

Glieder, auch gegen die, welche in Bezug auf die Wahrheit

nicht klar find, die gleichen Gesinnungen der Liebe

offenbaren.

Um mancher irrigen Auffassung zu begegnen, wiederhole

ich noch einmal, daß alle Gläubigen an einem Orte

die Versammlung Gottes an diesem Orte bilden, so daß

101

diejenigen unter ihnen, welche ihren schriftgemäßen Platz,

außerhalb der Parteien, am Tische des Herrn einnehmen,

nicht eigentlich d i e Versammlung genannt werden können,

da sie ja nur einen Teil (in vielen Fällen nur einen

ganz geringen Bruchteil) derselben ausmachen. Wohl aber

stellen sie die Versammlung Gottes an dem betreffenden

Orte dar, indem sie die damit verbundene Verwaltung

gottgemäß ausüben. Es ist dabei wichtig, festzuhalten,

daß alle, die sich so im Namen Jesu an einem Orte

versammeln, für die Verwaltung ihrer Angelegenheiten

verantwortlich sind und nicht einzelnen Gliedern die Verantwortlichkeit

übertragen können.

Seit der apostolischen Zeit giebt es keine mit göttlicher

Autorität bekleidete Personen mehr, welche in den

Versammlungen öffentlich anerkannte Aelteste und Vorsteher

anstellen könnten. (Vergl. Apstgsch. 14, 23; Tit.

1, 5.) Den Versammlungen selbst aber ist nirgendwo in

der Schrift die Vollmacht gegeben, sich solche zu wählen.

Wohl kann der Herr, der als Haupt für die Bedürfnisse

Seiner Versammlung, bis zu ihrer Aufnahme in die.

Herrlichkeit, treu sorgt, begabte, einsichtsvolle und treue

Brüder erwecken, die in der Pflege der Seelen, in der

Aufsicht und in allen Angelegenheiten der Versammlung

gewissenhaft dienen. Doch sind diese niemals Stellvertreter

der Versammlung, und können deshalb auch nicht

Fragen, über welche die Versammlung eine Entscheidung

treffen muß, nach ihrem persönlichen Ermessen endgültig

zur Erledigung bringen. Das würde ein Eingriff in die

Rechte des Herrn sein, der persönlich in der Mitte der in

Seinem Namen Versammelten ist und die unter der

Leitung des Heiligen Geistes gefaßten Beschlüsse derselben,

102

nach Matth. 18, 15—20 und Joh. 20, 23 mit Seiner

eigenen Autorität bekleidet. Freilich konnten die Apostel

eine ihnen vom Herrn übertragene Autorität ausüben

(siehe Matth. 16, 19; 1. Kor. 5, 3—5); aber Apostel

giebt es jetzt nicht mehr, noch solche einzelne Personen, die

von ihnen beauftragt wären. Bemerkenswert ist es auch,

daß der Apostel Paulus, wie aus 1. Kor. 5, 3—5 hervorgeht,

seine Macht über den der Zucht verfallenen Sünder

nur in Verbindung mit der Versammlung ausüben

wollte. Ebenso später, nachdem die Zucht die gewünschte

Wirkung hervorgebracht hatte und es sich um die Wiederaufnahme

des bußfertigen Sünders handelte, führte Paulus

denselben nicht etwa in eigner Machtvollkommenheit wieder

in die Gemeinschaft zurück, sondern er forderte dazu die

Versammlung auf. (2. Kor. 2, 6—10.) Auch sind

alle Briefe des Apostels Paulus, sofern sie nicht an einzelne

Personen (Timotheus, Titus, Philemon) geschrieben

sind, an die Versammlungen und nicht an einzelne

Glieder derselben (Aufseher, Aelteste >c.) gerichtet. Aus

allem diesem geht hervor, daß nur eine Versammlung in

ihrer Gesamtheit berufen ist, ihre Angelegenheiten, welche

auch die Angelegenheiten ihres Hauptes sind, gottgemäß

zu ordnen.

Die örtliche Versammlung in Korinth wird, trotzdem

so viel an ihr zu tadeln war, in 1. Kor. 3, 16 der

Tempel Gottes und die Wohnung des Geistes Gottes

genannt. Das berechtigt uns, jede örtliche Versammlung

in dieser Hochbegnadigten Stellung zu sehen. Der Herr

in ihrer Mitte, der Heilige Geist ihr Leiter! — welch ein

Vorrecht, aber auch welch eine Verantwortlichkeit für jede

Versammlung! Jedes Glied derselben sollte es fühlen

103

und deshalb mit heiligem Interesse teilnehmen an allen

ihren Angelegenheiten, aber auch mit heiliger Scheu sich

davor hüten, eine eigenmächtige, willkürliche Thätigkeit in

der Versammlung auszuüben, oder sich — wenn auch unbewußt

— mit einer Autorität zu bekleiden, die nur der

Herr selbst besitzt und die Er nur auf die Versammlung,

als solche, übertragen hat.

Ich bin schwarz, aber anmutig."(Hohelied 1. 5 )

„Ich bin schwarz, aber anmutig, Töchter Jerusalems,

wie die Zelte Kedars, wie die Zeltbehänge Salomos.

Sehet mich nicht an, weil ich schwärzlich bin, weil die

Sonne mich verbrannt hat; meiner Mutter Söhne zürnten

mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge; meinen

eignen Weinberg habe ich nicht gehütet." (Hohel. 1, 5. 6.)

Die Braut hat in den vorhergehenden Versen von der

Liebe, dem Namen und den Gemächern des Königs gesprochen

und jetzt, aufmerksam gemacht durch irgend ein

Ereignis, erinnert sie sich dessen, was sie selbst ist, und

legt ein offenes Geständnis ab. Zu gleicher Zeit aber

versichert sie mit ebenso freudigem Herzen, welchen Wert

sie in Seinen Augen hat. Die Erkenntnis dieser Wahrheit

thut uns zu allen Zeiten not, wenn wir anders innerlich

im Gleichgewicht bleiben wollen. Je gründlicher wir die

Wertlosigkeit des Fleisches erkennen, desto mehr werden

wir den Wert Christi zu schätzen wissen, und desto besser

werden wir auch das Werk des Heiligen Geistes verstehen.

Wenn die gänzliche Verderbtheit der menschlichen Natur

keine ausgemachte Wirklichkeit in der Seele ist, so wird

104

in unsern Erfahrungen bezüglich der eitlen Einbildungen

des Fleisches und der göttlichen Wirkungen des Geistes

stete Verwirrung herrschen.

In unsrer alten Natur ist nichts Gutes zu finden.

Der im göttlichen Leben wohl am meisten Vorgeschrittene

hat gesagt: „In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt

nichts Gutes." Wie schmettert dies alle eitlen Einbildungen

zu Boden! „Nichts Gutes!" Kann denn

die Natur nicht verbessert werden durch fleißiges Beten

und stete Wachsamkeit? Nimmermehr; sie ist ganz und

gar unverbesserlich. Dieses Urteil hat schon vor langer,

langer Zeit durch den Gott der Wahrheit seine Bestätigung

erhalten: „Und Jehova sah, daß des Menschen Bosheit

groß war auf Erden, und alles Gebilde der Gedanken

seines Herzens nur böse den ganzen Tag .... Und

Gott sprach zu Noah: Das Ende alles Fleisches ist vor

mich gekommen, denn die Erde ist voll Gewaltthat durch

sie; und siehe, ich will sie verderben mit der Erde."

(1. Mose 6.) Was also ist das Ende oder das Ergebnis

alles Fleisches? Es ist „böse", „nur böse" und

„böse den ganzen Tag". Das ist eine deutliche Sprache.

Das Fleisch ist böse ohne irgend etwas Gutes, böse ohne

Aufhören; und beachten wir, daß das von allem

Fleische gesagt wird. Alle sind eingeschlossen. Wohl

mögen wir in einigen Menschen die Natur verfeinert,

ausgebildet und veredelt finden, während andere ungeschliffen

und roh sind; aber in beiden Klaffen ist es die

nämliche fleischliche Natur. Eine Stange hartes, unbiegsames

Eisen kann wohl so ausgereckt oder breitgeschlagen

werden, daß sie ganz biegsam wird; allein es ist und

bleibt stets dasselbe Eisen.

105

Doch zugegeben, daß alles das wahr ist, warum thut

es uns so not, diese Wahrheit zu erkennen? Weil wir

nur dann imstande sind, zwischen Fleisch und Geist zu

unterscheiden und zu wissen, von welchem dieser beiden

ein Gedanke oder eine Neigung kommen mag. Es ist

überaus wichtig, zu wissen, daß beide, Fleisch und Geist,

in uns sind, das eine unverbesserlich böse, der andere unvermischt

gut. Endlose Verwirrung und Sorgen, und in

manchen Fällen tiefe Niedergeschlagenheit, sind die unglücklichen

Resultate der Unwissenheit über das Vorhandensein

der beiden Naturen in dem Gläubigen. Nichts Gutes

irgendwelcher Art kann aus unsrer fleischlichen Natur hervorkommen.

Nehmen wir an, ich begegne einer Person,

die über ihren Seelenzustand in Wahrheit tief bekümmert

ist und aufrichtig darnach verlangt, Christum und die Erlösung

kennen zu lernen. Es steht außer aller Frage,

daß der Heilige Geist in dieser Seele wirkt. Ein solches

aufrichtiges Verlangen nach Christo ist gut und kann

nimmer aus einer Natur entspringen, die sowohl Gott

als auch Christum haßt und die Welt mehr liebt als den

Himmel. Jene Seele mag noch in großer Not sein,

und voller Zweifel und Befürchtungen bezüglich des

Ausganges, ja, sie mag selbst jeden Trost abweisen;

aber in Wirklichkeit ist schon ein göttliches Werk in ihr

geschehen. Sie hat dem Zeugnis Gottes bereits geglaubt,

und sobald sie dahin kommt, von sich ab auf

Christum zu blicken, wird sie sich freuen. Das gute Werk

hatte in dem verlornen Sohne schon begonnen, als er zu

sich selbst sagte: „Ich will mich aufmachen und zu meinem

Vater gehen." Der Geist Gottes wird jedes Verlangen,

das Er erzeugt hat, auch völlig befriedigen. Christus

106

selbst ist die vollkommene Antwort auf jedes Verlangen

des Herzens.

Wir lernen aus der Heiligen Schrift drei Punkte

von täglicher praktischer Wichtigkeit: nämlich, das Fleisch

widersteht dem Geist, Satan widersteht Christo, und die

Welt widersteht dem Vater. (Gal. 5; 1. Mose 3;.

1. Joh. 2.) Fleisch, Satan und Welt — das sind

unsere drei großen Feinde; und deshalb ist es so überaus

wichtig, zu wissen, auf wessen Seite wir stehen. Zum

Beispiel: Anstatt mich mit der Frage zu beunruhigen,

wo die Welt anfängt und wo sie aufhört in dem, was

man Weltlichkeit nennt, habe ich einfach zu fragen:

„Ist es aus dem Vater?" In Hunderten von Fällen

wird es unmöglich sein zu sagen, wo die Weltlichkeit

anfängt und wo sie endet, wenn man auf die Sache

selbst blickt. Es fällt uns aber nicht schwer, zu entscheiden,

ob es „aus dem Vater" ist. Und wenn wir finden, daß

es nicht aus dem Vater ist, so ist die Frage entschieden;

es muß dann von der Welt sein. Es giebt in dieser Beziehung

keinen Mittelweg, keinen neutralen Boden.

Dieselbe Regel ist anwendbar auf die beiden andern Feinde.

Was nicht vom Geiste ist, ist aus dem Fleische, und was

nicht von Christo ist, ist vom Satan.

Indes möchte der Leser fragen: Denkt die Braut iin

Hohenliede wohl an diese Dinge, wenn sie sagt: „Ich bin

schwarz, aber anmutig" ? Nein, in keinem Falle, da die

jüdischen Erfahrungen stets einen mehr äußerlichen, zeitlichen

und vorbildlichen Charakter tragen. Kehren wir deshalb

nach dieser Abschweifung in praktische Einzelheiten

zu unserm Texte zurück. Die Schwärze, von welcher die

Braut spricht, ist eine äußerliche, eine Verdunkelung.

107

der Hautfarbe — sie ist sonnenverbrannt; das Warnungswort

des Propheten ist an ihr in Erfüllung gegangen:

„Statt der Schönheit wird ein Brandmal sein." (Jes. 3,

24.) Und deswegen empfindet sie tief die neugierigen Blicke

der Töchter Jerusalems. „Sehet mich nicht an, weil ich

schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat."

Es gab eine Zeit, wo die Tochter Zions schön und herrlich

war, ein Ruhm auf der ganzen Erde. „Und dein

Ruf ging aus unter die Nationen wegen deiner Schönheit;

denn sie war vollkommen durch meine Herrlichkeit,

die ich auf dich gelegt hatte, spricht der Herr, Jehova."

(Hes. 16, 14.) Aber wegen ihrer Undankbarkeit und Untreue

ist sie zu dem traurigen Zustande einer armen,

sonnenverbrannten Sklavin herabgesunken. Der Prophet

Jeremia beschreibt ebenfalls in seinen „Klageliedern" über

die Versunkenheit Jerusalems in der rührendsten Weise

sowohl was es früher war, als auch was eS durch

Trübsal und Bedrängnis geworden ist. „Ihre Fürsten

waren reiner als Schnee, weißer als Milch; röter waren

sie am Leibe als Korallen, wie Saphir ihre Gestalt.

Dunkler als Schwärze ist ihr Aussehen, man erkennt sie

nicht auf den Straßen; ihre Haut klebt an ihrem Gebein,

ist dürre geworden wie Holz." (Klagel. 4, 7. 8.) Wohl

mochte der Prophet in der Bitterkeit seiner Seele ausrufen:

„Wie ward verdunkelt das Gold, verändert das gute,

feine Gold!" (Vers 1.) Ach, mein Leser, wenn das die

schrecklich bösen, bittern und schmerzlichen Früchte der

Sünde schon in dieser Welt sind, während „die Barmherzigkeit

sich rühmt wider das Gericht", was müssen sie

erst sein in der zukünftigen Welt, wo alle Hoffnung zu

Ende ist und Verzweiflung sich jeder schuldigen Seele be

108

mächtigt! Kannst du zum Kreuze zurückblicken und dort

deine Sünden, alle deine Sünden gerichtet, hinweggethan

und in dem Grabe ewiger Vergessenheit versunken

sehens Gott und der Glaube allein kennen die

Kraft jenes Kreuzes und rühmen seine ewige Wirksamkeit.

Aber wenn du geglaubt hast und dich des Kreuzes rühmen

kannst, so richte jetzt alles Böse in deinem Herzen und

deinen Wegen schonungs- und rückhaltlos, in dem Bewußtsein,

daß Christus einst dafür gerichtet worden ist.

Das was Christo am Kreuze zugerechnet wurde, wird dir

nimmermehr zugerechnet werden. „Glückselig der Mensch,

dem Jehova die Ungerechtigkeit nicht zurechnet, und in

dessen Geist kein Trug ist!« (Ps. 32.)

Wenn ich sehe, daß die Sünde, über die ich traurig

bin, durch Jesum getragen worden ist, und daß Er sie

für immer hinweggethan hat durch das Opfer Seiner selbst,

so verschwindet aller Trug. Ich habe kein Verlangen

mehr, meine Sünde zu verbergen, zu verkleinern oder zu

entschuldigen. Sie ist hinweggethan auf dem Kreuze

und ist nun vergeben kraft des Erlösungswerkes. Angesichts

einer solchen Liebe und Güte verschwindet alle

Furcht. Ich bin frei und offenherzig, und ich kann nur

den Herrn preisen für die grenzenlose Gnade, die Er mir

bewiesen hat.

Das Wort „schwarz« wird in der Schrift vielfach

als bezeichnend für Trübsal, Schmerz und Verfolgung gebraucht.

„Meine Haut,« sagt Hiob, „ist schwarz geworden

und löst sich von mir ab, und mein Gebein ist brennend

vor Glut.« (Kap. 30, 30.) Es ist in besondrer Weise

so mit dem ungehorsamen Israel. Hier jedoch wird das

Bekenntnis in lieblicher Weise mit dem Glauben an

109

Christum verbunden und wird so (in moralischer Beziehung)

der wahre Ausdruck aller Gläubigen. „Ich bin schwarz,

aber anmutig." Schwarz wie die Sünde in mir selbst,

aber weißer als Schnee in Christo.

So wird die Sprache des gottesfürchtigen Ueberrestes

in den letzten Tagen lauten, wenn er durch die ganze

Tiefe der Trübsale Jakobs hindurchgegangen sein wird;

wahrlich, er wird schwer geschlagen sein von der Gluthitze

„der großen Drangsal". Nicht allein werden die gläubigen

Israeliten jener Tage von dem Antichristen, dem großen

Bedränger, verfolgt werden, sondern sogar ihre eigenen

Brüder nach dem Fleische werden sich gegen sie wenden.

„Höret das Wort Jehovas, die ihr zittert vor Seinem

Worte! Es sagen eure Brüder, die euch hassen, die euch

verstoßen um meines Namens willen: Jehova erzeige sich

herrlich, daß wir eure Freude sehen mögen! aber sie

werden beschämt werden." (Jes. 66, 5.)

Daran denkt, wie es mir scheint, die nunmehr freudige

Braut, wenn sie sagt: „Meiner Mutter Söhne zürnten

mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge." Gleich

einer zweiten Ruth werden die Weinberge, in denen sie

gezwungen wurde zu arbeiten, ihr Eigentum. Und glücklich

in der Liebe ihres großen Befreiers und reichen Herrn,

kann sie jetzt freimütig von dem reden, was sie durchgemacht

hat, und was sie noch immer in ihren eignen Augen

ist: „Schwarz wie die Zelte Kedars, anmutig wie die

Zeltbehänge Salomos."

Die Söhne Ismaels benutzen, wie man sagt, die

rauhen, zottigen Felle ihrer schwarzen Ziegen zur äußeren

Bedeckung ihrer Zelte, so daß diese für das Auge des

Wüsten-Reisenden in den blendenden Strahlen der Sonne

110

ein tiefschwarzes Aussehen haben. Und sicherlich, wenn

der Mensch in seinem besten Zustande unter die unendlich

helleren Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit gestellt

würde, so würde er noch viel schwärzer erscheinen als die

Zelte der wilden Araber. Selbst von einer brennenden

Lampe ist, wie jemand gesagt hat, in den Hellen Sonnenstrahlen

nicht viel mehr zu sehen als der schwarze Docht.

Aber o glücklicher Gedanke! wenn auch das Gefühl unsrer

eignen Unwürdigkeit uns noch besorgt machen sollte, so

macht es unserm hochgelobten Herrn doch keine Sorgen

mehr. Er hat sie ganz und für immer aus Seinen

Augen entfernt. Und das Auge des Glaubens sieht, wie

Er sieht. Das Urteil Gottes und das Urteil des Glaubens

sind stets gleich. „Deswegen sage ich dir: Ihre vielen

Sünden sind vergeben." (Luk. 7, 47.) „Das Blut

Jesu Christi reinigt uns von aller Sünde."

Die „Töchter Jerusalems", die hier angeführt werden,

sind ohne Zweifel unterschieden von der Braut, obgleich

sie in naher Beziehung zu ihr stehen, wie wir dies aus

der wichtigen Stellung, die sie in dieser herrlichen Szene

haben, entnehmen können. Wenn die Braut die geliebte

Stadt Jerusalem vorstellt, den irdischen Sitz des

großen Königs, so dürften die Töchter Jerusalems wohl

die Städte Judas repräsentieren. Daraus können wir

uns auch erklären, warum sie an so manchen Stellen auf

den Schauplatz treten, obwohl sie niemals in der Wertschätzung

des Königs die Stelle der Braut einnehmen. Nach

dem Worte des Herrn muß Jerusalem allezeit den Vorrang

haben. „Und nun habe ich dieses Haus erwählt und geheiligt,

daß mein Name daselbst sei ewiglich; und meine Augen und

mein Herz sollen daselbst sein alle Tage." (2. Chron. 7,16.)

111

Ein starker Trost.

Auf dem Wege durch eine versuchungsreiche Wüste,

die dem gläubigen Pilgrim täglich neue Kämpfe und

Schwierigkeiten, neue Enttäuschungen und niederdrückende

Erfahrungen bringt, bedürfen wir neben der Kraft von

oben auch der Ermunterung und des Trostes; und wahrlich,

unser treuer Gott und Vater läßt es an beidem nicht

fehlen. Er wird „kein Gutes vorenthalten denen,

die in Lauterkeit wandeln". (Ps. 84, 11.) Je schwieriger

die Zeiten werden, je dunkler die Zukunft vor uns

liegt, desto mehr wird der aufrichtige, in Lauterkeit wandelnde

Gläubige seine Zuflucht zu dem starken, allmächtigen

Gott nehmen und in Ihm seine Ruhe, seine Kraft, seinen

Trost finden.

Als das Volk Israel in der Wüste das goldene Kalb

gemacht hatte und Jehovas gerechter Zorn über Sein abtrünniges,

halsstarriges Volk entbrannt war, so daß Er

nicht mehr in der Mitte desselben hinaufziehen wollte,

sondern Seinem Knechte Mose den Auftrag gab, es nach

Kanaan zu führen, da war wirklich ein Augenblick gekommen,

wie er nicht finstrer und niederdrückender gedacht

werden kann. Der allgemeine Zustand des Volkes war

ein solcher, daß Mose sein Zelt außerhalb des Lagers,

fern vom Lager, ausschlagen mußte. (2. Mose 33.)

Aber der Glaube in ihm wankte keinen Augenblick.

„Siehe, daß diese Nation Dein Volk ist", sagt er zu

Gott und wirst so das Volk samt allen seinen Bedürfnissen

auf Gott zurück. Wie hätte er auch ein solches Volk

leiten, ein solches Werk ausführen können? Das war eine

Sache für Gott und für Ihn allein, nicht für den Menschen.

112

Und Gott nimmt sie in Seine Hand! Könnte Er

jemals den Glauben beschämen? Könnte Er je Sein

Volk vergessen?

Wohl hätte Mose gern den W eg gewußt, auf welchem

Gott Seine Verheißungen an dem Volke wahr machen

wollte. Wie gut verstehen wir das! Wie oft ergeht es

uns ähnlich: Die Schwierigkeiten liegen vor uns, und

obwohl wir überzeugt sind, daß sie für Gott nichts sind,

so möchten wir doch gern wissen, wie Gott sie Hinwegräumen

und unS hindurchführen wird. Doch wie lautet

die göttliche Antwort auf jene Bitte? „Mein Angesicht

wird mitgehen, und ich werde dir Ruhe geben."

Köstliche Antwort! Mein Angesicht wird mitgehen.

Das ist genug; was könnten wir Herrlicheres wünschen! —

und ich werde dir Ruhe geben: Ruhe schon auf dem

Wege hienieden, selige Ruhe in dem Bewußtsein, daß ein

Vaterauge auf uns gerichtet ist und uns leitet, daß eine

Vaterhand alles zu unserm Besten lenkt, und daß ein

Vaterherz in göttlicher, erbarmender Liebe für uns schlägt.

Und ist die Wüste durchschritten, der Kampf ausgekämpft,

so nimmt uns die ewige Sabbathruhe Gottes auf. Welch

ein starker, mächtiger Trost! Das Volk ist Sein Volk,

das Werk ist Sein Werk, der Kampf ist Sein

Kampf; und:

Weg' hat Er allerwegen,

An Mitteln fehlt's Ihm nicht;

Sein Thun ist lauter Segen,

Sein Gang ist lauter Licht.

Der Wolken, Luft und Winden,

Giebt Wege, Lauf und Bahn,

Der wird auch Wege finden,

Wo dein Fuß gehen kann.

Joseph. 5 (Fortsetzung.)

4.

Die Kapitel 48—50 bilden mehr einen Anhang als

einen Teil der Geschichte Josephs. Sie erzählen einige

für sich dastehende Handlungen aus seinen spätern Tagen.

Das erste Ereignis, dem wir hier begegnen, trägt indes

einen der ganzen Geschichte Josephs verwandten Charakter.

Das 48. Kapitel teilt uns nämlich die Verleihung des

Erstgeburtsrechtes an Joseph mit; und Erstgeburtsrecht

und Erbschaft sind in gewissem Sinne dasselbe.

In Israel (oder unter dem Gesetz) trug das Erstgeburtsrecht

ein doppeltes Teil ein. Der Erstgeborne erhielt

zwei Teile von den Gütern des Vaters; und

das Gesetz erklärte dies für sein unverletzliches Recht,

das nicht umgestoßen werden durfte. Das doppelte

Teil durfte weder auf Grund einer persönlichen Zuneigung

noch infolge irgendwelcher Parteilichkeit einem andern

Kinde der Familie gegeben werden. (S. 5. Mose

21, 15-17.)

Doch obwohl dies so war, konnte das Erstgeburtsrecht

doch von dem Erstgebornen selbst verkauft oder verwirkt

werden. Seine eignen Handlungen konnten es ihm

entziehen. Und wir finden, daß beides vorgekommen ist.

Esau verkaufte es, und Ruben verwirkte es. (1. Mose 25;

114

1. Chron. 5.) Bei dem Verkauf durch Esau empfing

naturgemäß Jakob, der es kaufte, das Anrecht daran;

der Kauf und Verkauf machten es zu seinem Eigentum.

Aber wer sollte es in dem Falle der Verwirkung durch

Ruben erhalten? Es fiel auf den Vater zurück; aber

welchem seiner Söhne würde er es verleihen? Das war

die Frage, und diese Frage beantwortet das vorliegende

Kapitel. Es zeigt uns den betagten Vater, den sterbenden

Jakob, wie er in feierlicher Weise Joseph in das Erst-

gebnrtsrecht einsetzt, welches Ruben, sein Erstgeborner,

verwirkt hatte.

Auf die Nachricht von der Erkrankung seines Vaters

eilt Joseph an dessen Bett und bringt seine beiden Söhne

Manasse und Ephraim mit. Keiner der andern Söhne

Jakobs war gegenwärtig. Der Geist Gottes hatte durch

Jakob etwas Besonderes mit Joseph zu thun.

Jakob erinnert zunächst Joseph daran, daß Gott

ihnen das Land Kanaan geschenkt habe. Er weist auf

das Familiengut hin, welches er seinen Kindern zu hinterlassen

hatte. Darauf adoptiert er die Söhne Josephs;

denn das war notwendig, um ihnen Kindesrechte zu verleihen,

da sie in streng gesetzlichem Sinne nicht zu Abraham

gehörten. Ihre Mutter war eine Egypterin. Sie waren

deshalb ein Same, den das Gesetz zur Zeit seiner Geltung

beiseite gesetzt haben würde. (Vergl. Esra 10, 3.)

Doch Jakob adoptiert sie; er nimmt sie in die Familie

auf. „Und nun," sagt er zu Joseph, „deine beiden

Söhne, die dir geboren sind im Lande Egypten, ehe ich

zu dir gekommen bin nach Egypten, sollen mein sein."

Sie werden dem Samen Abrahams einverleibt und zu

Kindern Jakobs gemacht; und nachdem dies geschehen ist.

115

versetzt Jakob sie sofort an den Platz des Erstgebornen,

indem er hinzufügt: „sie sollen mein sein wie Ruben und

Simeon".

Das war ein feierlicher Verleihungsakt, durch welchen

die Rechte des Aeltesten, das doppelte Teil, in der

Person seiner beiden Söhne auf Joseph überging. (Siehe

1. Chron. 5; Hesek. 47, 13.) *)

*) Das hier verliehene Anrecht wurde später verwirklicht, als

das Familiengut, das Land Kanaan, unter die Stämme verteilt

wurde. Joseph bekam da in seinen beiden Söhnen zwei Teile,

indem dieselben behandelt wurden, als ob sie zwei verschiedene

Söhne Jakobs gewesen wären.

Doch die Frage bleibt: warum wurde Joseph so

bevorzugt? War es einfach Gnade? Ich glaube nicht.

Ich weiß wohl, daß die Gnade auch bei dieser Gelegenheit

ihren Weg ging, aber doch möchte ich lieber sagen,

daß Joseph das Erstgeburtsrecht sich erworben habe.

Wir haben bereits seinen Weg bis zur Besitzergreifung des

Erbes angedeutet; es war ein Pfad gleich dem seines

göttlichen Meisters, dessen ferner Schatten er war, ein

Pfad der Schmerzen, der Verwerfung, der Absonderung, und

doch der Gerechtigkeit und des treuen Zeugnisses. Und dieser

Pfad hatte sein Ende gefunden in Lob und Ehre und

Herrlichkeit in dem Reiche oder dem Erbe; und Erstgeburtsrecht

und Erbe sind, wie wir bereits gesagt haben,

verwandte Begriffe.

Es ist deshalb natürlich zu sagen, daß Joseph sich das

Erstgeburtsrecht erworben habe. Juda erwarb das Königtum,

Levi das Priestertum, und so Joseph das doppelte Teil.

Auch giebt ihm sein Vater ein Pfand, „ein Unterpfand

des Erbes"; denn am Schluß dieser Begebenheit sagt er

116

zu ihm: „Ich habe dir eine Strecke Landes gegeben über

deine Brüder, die ich genommen habe von der Hand der

Amoriter mit meinem Schwerte und mit meinem Bogen."

Das war ein Unterpfand und zugleich ein charakteristisches

Beispiel von dem Erbe Josephs. Diese Strecke Landes

hatte das Schwert Jakobs erworben, so wie das Ausharren

Josephs das Erbe und das Erstgeburtsrecht erworben hatte;

und demgemäß preist ihn nachher der sterbende Vater.

„Die Segnungen deines Vaters überragen die Segnungen

meiner Voreltern bis zur Grenze der ewigen Hügel. Sie

werden sein auf dem Haupte Josephs und aus dem Scheitel

des von seinen Brüdern Abgesonderten."

Oder wie Moses, der Mann Gottes, von ihm sagt: „Es

komme der Segen auf das Haupt Josephs und auf den

Scheitel des von seinen Brüdern Abgesonderten." (5. Mose

33, 16.)

Der Apostel spricht von der „Vergeltung des Erbes",

Worte, die gerade nicht so lauten, als ob sie genau zusammen

paßten; denn ein Erbe ist aus Gnaden, eine Vergeltung

aber die Folge eines Werkes. So spricht auch der Herr

davon, daß Er eine „Krone des Lebens" geben wolle, —

Worte, die auch in etwa so klingen, als ob sie nicht zusammen

gehörten, denn Leben ist eine Gnadengabe, und

eine Krone ist eine Belohnung. Doch die Seele versteht

diese Dinge und macht keine Schwierigkeit daraus; denn

in einem Sinne sind die Segnungen alle erworben, in

einem andern verheißen oder geschenkt. Und Joseph empfing,

meine ich, auf diese Weise das Erstgeburtsrecht oder das

Erbe. Es war für ihn „die Vergeltung des Erbes".

ES war etwas Erworbenes und doch Geschenktes, etwas

Verdientes und doch eine freie Gabe. In der Erteilung

117

desselben erblicken wir einerseits Gnade, andrerseits aber

auch die Frucht oder den Ausgang des dornenvollen Pfades

eines Märtyrers, den er, und er allein unter allen Söhnen

Jakobs, geduldig und triumphierend gegangen war.

Die Handlung des 48. Kapitels steht daher in völliger

Uebereinstimmung mit dem besondern Charakter der Geschichte

Josephs. Wir sehen in ihm den Erben; und als

solchem wird ihm das Erstgeburtsrecht, das zwiefache Teil,

und zugleich damit das Pfand, „das Unterpfand des

Erbes", übertragen.

Im folgenden Kapitel wird Joseph nur als einer

der vielen Söhne Jakobs betrachtet, indem Jakob, der

Vater, hier die Hauptperson ist. Joseph und seine Brüder

befinden sich in Gegenwart und vor den Gedanken des

sterbenden Patriarchen, der durch den Geist geleitet

ihnen kuudthut, was ihnen am Ende der Tage begegnen

würde. Doch ich will hier nicht näher darauf eingehen,

da dies bereits in der früheren Betrachtung über „Jakob"

geschehen ist. *)

In dem letzten Kapitel tritt Joseph wieder in den

Vordergrund, jedoch weniger als Vorbild, sondern mehr persönlich,

d. h. nicht als Erbe, sondern mehr als Mensch.

Wir erblicken hier Joseph selbst, seinen Charakter und

seine Tugenden, weniger den Herrn von Egypten mit

dessen Stellung und Würden. Und persönlich betrachtet

ist er vielleicht der anziehendste Charakter im ganzen ersten

Buche Mose. Es offenbart sich bei ihm mehr Frucht

und Kraft der Gottseligkeit als bei irgend einem seiner"

Vorväter. Wir.finden bei ihm den stetigsten, allezeit sich

gleich bleibenden Wandel in den Wegen Gottes. Wohl

*) Bergt. Jahrgang 1890 des „Botschafters", S. 124 ss-

118

zeigt sich nicht die Erhabenheit wie bei Abraham, und

selbstverständlich auch weniger Uebung des Geistes als bei

Jakob; aber durch alle Umstände, Versuchungen, Ehren

und Wechsel hindurch bleibt Joseph stets der Mann Gottes,

der in der Furcht Gottes und vor Gott wandelt. Seine

Geschichte besteht nicht aus Fehltritten und Wiederherstellungen,

noch weist sie die Notwendigkeit einer Rückkehr

zu den ersten Werken auf; sie ist vielmehr ein Pfad

des Lichtes, und wenn dieses Licht auch nicht fort und

fort bis zur Tageshöhe zunahm, so schien es doch klar

und ruhig und beständig. In seiner Geschichte hören wir

nichts von Besuchen seitens der Engel, oder von Erscheinungen

des Herrn, oder vom Empfangen göttlicher Aussprüche;

aber wir erblicken in Joseph selbst ein Gefäß,

das von Gott benutzt wurde, weil es von Ihm erprobt

war — etwas sehr Köstliches bei Gott. Wir begegnen keiner

Wiederholung von Pniel oder Beerseba, keinen gelegentlichen

Erfrischungen und Erleuchtungen, sondern vielmehr einem

bleibenden inneren Zeugnis, so daß Joseph den Weg

Gottes kannte und ihn ging. „Das Wort Jehovas läuterte

ihn." (Ps. 105, 19.) Die Autorität, welche Egypten zu

seiner Zeit in ihm anerkannte, hatte er vorher in dem Herrn

anerkannt. Er war selbst der Gehorsame, und dann

wurde er der Eine, dem alles Unterthan war. Er harrte

gleichsam mit Christo in Seinen Versuchungen aus, und

dann wurde er zum Königtum bestimmt. Unterwerfung

war sein Pfad zur Verherrlichung, und das ist der rechte

Pfad aller Erben desselben Königtums.

Doch es giebt außer dem bereits Berührten noch

einige besondere Umstände in der Geschichte Josephs. So

finden wir z. B. bei ihm weder Altar noch Zelt, wie bei

119

seinen Vätern, weil uns in ihm nicht Fremdlingschaft auf

der Erde vor Augen gestellt wird, sondern Erbschaft und

Königtum, nach Leiden und Erniedrigung. Statt des

Zeltes seiner Väter finden wir die Grube und das Gefängnis;

und diese sind nur sein Teil, nicht das Teil

seiner Väter. Zelt und Altar waren die passenden

Symbole ihrer Berufung; Grube und Gefängnis, und

nachher der Thron, sind die Symbole der seinigen.

Weiter ist zu erwähnen, daß der Herr niemals der

Gott Josephs genannt wird, wie Er „der Gott Abrahams

und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs" heißt. Auch

das hat seinen besondern Grund. Joseph gehörte eher

zu den Söhnen als zu den Vätern. Mit ihm war

nicht der Bund gemacht worden, wie mit Abraham, Isaak

und Jakob, noch war irgend jemand beiseite gesetzt worden,

um ihm die Segnung zu teil werden zu lassen. Der

Bund war mit Abraham gemacht worden, als er von

seinem Vaterland, von seiner Verwandtschaft und von

seines Vaters Hause abgesondert wurde. Er war mit

Isaak erneuert worden, wodurch Ismael beiseite gesetzt

wurde, und wiederum mit Jakob, was die Beiseitesetzung

Esaus herbeiführte. Aber mit Joseph wurde er nicht erneuert,

denn er war nur einer der Söhne Jakobs, die

alle gleichen Anteil daran hatten; sie alle gehörten zu dem

Samen, auf den der Bund sich bezog, und zwar Joseph

nicht mehr als jeder der übrigen. So war kein Grund

vorhanden für den besonderen Namen: „der Gott Josephs".

Denn während die Gnade sich offenbarte in der Berufung

Abrahams und darauf in der Auswahl Isaaks, des

Jüngeren, und schließlich in der Auswahl Jakobs, des

Jüngeren, entfaltete sie sich bei Joseph nur in dem ge-

120

wöhnlichm Maße zu Gunsten des ganzen Samens, ohne

im Blick auf Joseph eine Ausnahme zu machen. *)

*) Später wird Gott „der Gott Israels" genannt, wie Er

zuvor „der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" hieß, weil Sein

Bund mit dem Volke Israel errichtet wurde.

So ist Joseph an unsern Blicken vorübergezogen in

seinem moralischen, wie in seinem vorbildlichen Charakter, mit

den ihm eignen Tugenden, wie in seiner besondern symbolischen

Stellung. Doch sind wir noch nicht ganz mit ihm fertig.

Er war auch ein Mann derThränen. Paulus

sagt, daß er „eingedenk" sei der Thränen des Timotheus;

und manche Thränen waren bei verschiedenen Gelegenheiten

in den Augen Josephs, deren wir wohl eingedenk sein

sollten. Inmitten der anerzogenen und höflichen Umgangsformen

unsrer Tage thun uns ernste, wahre und

herzliche Gefühle wirklich not. Thränen sind oft etwas

Kostbares und zuweilen sogar etwas Heiliges.

Im Anfang, als Joseph sah, daß ein Schuldbewußtsein

in den Herzen seiner Brüder erwachte, weinte er. Das

waren Thränen des Schmerzes und zugleich der Freude.

Er fühlte den Kampf in ihren Seelen mit ihnen, und

doch muß er sich gefreut haben zu sehen, wie der Pfeil

sie ins Mark traf und die Wunden aufingen zu bluten.

Er weinte aufs neue, als er Benjamin sah, den

Sohn seiner eignen Mutter, dessen Geburt zugleich ihr

Tod gewesen war, und den einzigen unter den Söhnen

seines Vaters, der sich nicht seines Blutes schuldig gemacht

hatte. Diese Thränen waren daher mehr eine Folge

natürlicher Gefühle.

Wiederum weinte er, als er sah, daß das Werk der

Buße in seinen Brüdern Fortschritte machte. In seiner

121

Weise sehnte er sich nach ihnen mit dem Herzen Jesu

Christi, bis zuletzt Judas Worte zu viel für ihn wurden;

die Ueberführung des Gewissens endete in der Wiederherstellung

des Herzens. Der „alte Vater" und der

„Knabe", von denen Juda wieder und wieder in beredtester

Weise sprach, wirkten so mächtig auf ihn, daß er sich nicht

länger bezwingen konnte. Er schluchzte laut, und das

ganze Haus des Pharao hörte ihn. Das war mehr als

die Thränen der Natur; es waren die Gefühle Christi,

oder die Thränen des Vaters am Halse des verlorenen

Sohnes.

Doch wir sind noch nicht fertig. Joseph fiel auch

auf das Angesicht seines Vaters und weinte, als dieser

den Geist aufgegeben hatte. Es war für ihn dasselbe

wie das Grab des Lazarus für Maria und Martha, und

da konnten er und sein Herr zusammen weinen.

Ferner weinte er, als nach seines Vaters Tode seine

Brüder anfingen, seiner Liebe zu mißtrauen. Er war

enttäuscht. Diese unwürdige Antwort auf alle die Wege

und Handlungen einer stetigen, ausharrenden und dienenden

Liebe brachte ihn zum Weinen — in dem Geiste Dessen,

möchte ich sagen, der in späteren Tagen über Jerusalem

weinte. Jahrelang hatte er alles gethan, was er konnte,

um ihr Vertrauen zu gewinnen. Er hatte sie und ihre

Kinder versorgt. Jahre waren vergangen, und weder in

seinem Leben noch in seiner Handlungsweise hatte sich

irgend ein Tadel ihnen gegenüber gezeigt. Die Trauer

über ihren Heimgegangenen Vater hatte ihnen eben erst

anfs neue gezeigt, welche gemeinsamen Gefühle sie mit

einander verbanden. Joseph hatte ihnen wahrlich alle

Ursache gegeben, ihm zu vertrauen; und doch, nach allen

122

diesen Dingen, fürchteten sie sich vor ihm. Das war ein

harter Stoß für ein Herz, wie dasjenige des Joseph.

Doch er verwies es ihnen nicht, außer durch seine Thränen;

er gab ihnen vielmehr aufs neue Versicherungen seiner

rastlosen, treuen Liebe. Und sind nicht solche Thränen,

möchte ich fragen, von so kostbarer Art, wie Thränen je sein

können ? Sie gleichen den Aeußerungen des schmerzlich verletzten

Geistes des Herrn, wenn Er sagt: „Wie lange soll

ich bei euch sein?" „Warum seid ihr furchtsam?" „So

lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt,

Philippus?" Jesus weinte heilige Thränen und machte

sie, wie alles andere, was von Ihm zu Gott emporstieg,

zu einem Opfer lieblichen Wohlgeruchs; Joseph, Paulus,

Timotheus und andere weinten kostbare Thränen und

legten sie gleichsam in der Schatzkammer des Geistes im

Schoße der Kirche nieder.

So steht Joseph vor uns, und ich wiederhole, vielleicht

als der anziehendste Charakter im ganzen 1. Buche

Mose. Wir sehen in ihm die Gnade und das tadellose

Leben, dem wir bei Isaak begegneten; Frömmigkeit kennzeichnete

ihn in allen Lebenslagen. Zugleich aber finden

wir bei ihm, was wir bei Isaak vermißten: sein Zartgefühl

war mit Festigkeit und Energie verbunden, was

bei Isaak nicht der Fall war. (Schluß folgt.)

„Alles geschehe wohlanständig und

in Ordnung."(1. Kor. 14, 40.)

II.

Indem ich jetzt auf einzelne Fälle und Fragen bezüglich

des Gemeinschaftslebens der Gläubigen, wie sie in

123

den örtlichen Versammlungen vorkommen, eiugehe, möchte

ich vorausschicken, daß mir der Gedanke durchaus fern

liegt, eine menschliche Richtschnur für das Verhalten des

Gläubigen in dieser Beziehung aufstellen zu wollen. Unsre

einzige Richtschnur ist, wie schon wiederholt gesagt, hier

wie überall das Wort Gottes. Mein Wunsch ist

nur, einem Bedürfnis zu begegnen, das sich durch immer

wieder auftauchende Fragen nach dem richtigen Verhalten

in den verschiedenen Fällen kundgegeben hat, indem ich

versuche, die am häufigsten vorkommenden Verwaltungsfragen

im Lichte des göttlichen Wortes zu besprechen.

Vielleicht wird der eine oder andere Leser manches als

selbstverständlich bezeichnen; allein man wolle bedenken,

daß der Grad der Erkenntnis verschieden ist, und daß

es nicht nur „Väter", sondern auch „Jünglinge" und

„Kindlein in Christo" giebt. Ferner wird das Gesagte

hie und da (besonders hinsichtlich der Fälle, über welche

das Wort keine unmittelbare Vorschrift giebt) als

eine persönliche Meinung betrachtet werden können, die

man annehmen kann oder nicht. Indes hoffe ich mich

in jeder Beziehung auf die Belehrungen des Wortes über

das Wesen der Versammlung Gottes zu gründen. Und

mögen auch über einzelne unwesentliche Punkte immer

Meinungsverschiedenheiten bestehen bleiben, so werden wir

doch, wenn wir anders aus dem Worte Gottes allein

die Richtschnur für unser Verhalten herleiten, in allen

wichtigeren Fragen einig gehen. Möchte deshalb stets

auch in den Fällen, die hier nicht besprochen sind, diese

Richtschnur als die allein maßgebende treu befolgt werden!

In unsern Tagen der Verwirrung und des Verfalls mag

es oft schwierig erscheinen, daß alles wohlanständig

124

und in Ordnung geschehe; allein einem einfältigen

Herzen und einem aufrichtigen Sinn wird der Herr stets

zu Hilfe kommen. „Denn Gott ist nicht ein Gott der

Unordnung, sondern des Friedens, wie in allen Versammlungen

der Heiligen." (1. Kor. 14, 33.)

1. Der Tisch des Herrn ist der Sammelpunkt der

Gläubigen, an welchem sie ihrer Einheit mit dem Haupte

und unter einander, also der Einheit des Leibes, Ausdruck

geben. Der Tisch des Herrn erinnert an den ganzen

Inhalt der göttlichen Wahrheit hinsichtlich der Versammlung,

vor allem an die Liebe Dessen, der als Haupt

sich selbst für Seinen Leib, d. i. die Versammlung hin-

gegeben hat. (Eph. 5, 23—32.) Deshalb ist er der Mittelpunkt

der Verwaltung aller Versammlungs-Angelegenheiten,

deren Behandlung sich nach diesem Mittelpunkt richten muß.

Die Teilnahme an dem Tische des Herrn ist, dem

ganzen Charakter desselben gemäß, nur das Vorrecht

derer, welche lebendige Glieder des Leibes Christi sind.

Außerdem paßt weder die Sünde, noch eine Irrlehre zu

diesem Tische. Wenn das Wort den Gläubigen gebietet,

keine Gemeinschaft mit offenbaren Sündern zu haben

(1. Kor. 5, 11), noch mit solchen, die einer falschen

Lehre *) anhangen (Tit. 3, 10; 2. Joh. 10), so dürfen

sie dieselben sicher nicht zum Tische des Herrn zulassen,

welcher der Mittelpunkt aller christlichen Gemeinschaft ist.

Alle Glieder einer örtlichen Versammlung sind verantwortlich

dafür, nur mit solchen sich am Tische des Herrn

*) Wir haben unter „falscher Lehre" vor allem solche Lehren

zu verstehen, welche die Person Christi und Sein Versöhnungswerk

nicht in ihrem vollen, göttlichen Werte bestehen lassen.

125

zu vereinigen, die, wie oben gesagt, wahre Glieder am Leibe

Christi und in Wandel und Lehre lauter und unanstößig

sind. Jeder, der am Brotbrechen teilzunehmen begehrt, muß

diesen notwendigen Bedingungen entsprechen. Vielleicht sind,

namentlich bei größeren Versammlungen, nicht alle in der

Lage, zu prüfen, ob dies der Fall ist, und müssen die Beschäftigung

mit dieser Frage einer Anzahl von Brüdern überlassen.

Diese werden indes das Resultat ihrer Untersuchungen,

falls daraufhin die Zulassung empfohlen werden

kann, der ganzen Versammlung mitzuteilen haben, weil

alle Glieder derselben verantwortlich für die Entscheidung

sind. Ganz unstatthaft aber würde es sein, wenn jene

wenigen Brüder oder gar nur einer, ohne eine solche Mitteilung,

auf eigne Hand eine Entscheidung treffen wollten.

Das würde, nach dem oben Gesagten, eine Verkennung des

Wesens der Versammlung und der Rechte des in ihrer

Mitte anwesenden Herrn in sich schließen. Nachdem urteilsfähige

Brüder für sich die volle Ueberzeugung gewonnen

haben, daß der, welcher am Tische des Herrn teilzunehmen

wünscht, die dazu erforderlichen Eigenschaften besitzt, wird

die Zulassung desselben den um den Tisch des Herrn

Versammelten vorzuschlagen sein, damit jeder von ihnen

(auch die Schwestern), falls ihnen etwas bekannt sein

sollte, was gegen den Vorgeschlagenen spricht, Einsprache

gegen seine Zulassung erheben kann. Erfolgt eine solche

nicht, so ist das als das Urteil der ganzen Versammlung

zu betrachten, woraufhin bei der nächsten Gelegenheit

den um den Tisch des Herrn Versammelten mitzuteilen

sein wird, daß sie mit dem Vorgeschlagenen in die Gemeinschaft

des Brotbrechens eintritt.

Beiläufig sei noch bemerkt, daß die Tauffrage, die

126

vielfach bei Gelegenheit der Zulassung zum Tische des Herrn

erhoben wird, nicht Sache der Versammlung ist. Sicherlich

sollte kein Ungetaufter zum Brotbrechen zugelassen

werden, und nur in dieser Beziehung kann die

Frage der Taufe die Versammlung berühren. Die

Taufe an und für sich aber ist in keiner Weise eine Versammlungs-

Angelegenheit oder Gemeinschaftsfrage. Da

wo sie zu einer solchen gemacht wird, entstehen, bei der

herrschenden Verschiedenheit der Ansichten über dieselbe,

notwendig Spaltungen, — das gerade Gegenteil von der

Einheit, welche die Versammlung Gottes darzustellen hat.

Das würde heißen, den Einigungspunkt in der Taufe

suchen, anstatt in Christo, die Taufe an die Stelle

Christi setzen.

Auch entspricht es wohl nicht der uns geziemenden

Ehrfurcht vor dem Tische des Herrn, Kinder daran

teilnehmen zu lassen, die, infolge ihrer Jugend, die hohe

Bedeutung des Brotbrechens noch nicht in dem Maße zu

erfassen vermögen, daß eine in jeder Hinsicht würdige Feier

des Abendmahls von ihnen erwartet werden kann. Gewiß

gehören gläubige Kinder ebenso gut zur Versammlung

oder zur Familie Gottes, wie die erwachsenen Gläubigen.

Aber obwohl die Kinder einer irdischen Familie alle

an den Familientisch gehören, so wird man dieselben

doch bei Anwesenheit eines hohen Gastes nur in dem

Maße an einem demselben zu Ehren bereiteten Mahle

teilnehmen lassen, als man von ihnen ein Benehmen erwarten

kann, welches der Auszeichnung entspricht, die dem

Gaste erwiesen werden soll. — Und wie viel höhere Ehre

sind wir dem Herrn schuldig, als selbst einem irdischen

Könige!

127

2. Wie bei der Zulassung eines Gläubigen zum

Tische des Herrn, so ist auch bei der durch das Wort

vorgeschriebenen Ausübung der Zucht die ganze Versammlung

beteiligt. Das in ihrer Mitte vorkommende

Uebel, welches eine Zucht erfordert, ist ihr Uebel; denn

„wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit".

(1. Kor. 12, 26.) Die ganze Versammlung hat sich

darüber zu richten und zu demütigen; anders ist sie nicht

fähig, die Zucht im „Hause Gottes" in demselben Sinne

auszuüben, wie Gott selbst jetzt Seine Kinder und Hausgenossen

züchtigt und richtet. Die Liebe ist die Quelle

Seiner Zucht. (Hebr. 12, 6; 1. Kor. 11, 32.) Wenn

das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem, der gefehlt

hat, nicht vorhanden ist, so wird die Zucht leicht den

Charakter eines Richterspruchs annehmen, und das würde

ganz im Widerspruch stehen mit dem Dienst, welchen nach

Eph. 4 und 1. Kor. 12 die Glieder des Leibes „zu seiner

Selbstauferbauung in Liebe" unter einander darzu-

reichen haben. Die Liebe zu dem fehlenden Gliede,

verbunden mit der vollen Entschiedenheit gegen das

Böse und für die Aufrechthaltung der Reinheit des

Tisches des Herrn, wird allein zu einer gott gemäßen

Ausübung der Zucht in der Versammlung befähigen.

Jeder, der am Tische des Herrn teilnimmt, stellt

sich dadurch unter die Aufsicht und Ermahnung, oder, wenn

nötig, die Zucht der Versammlung. (Röm. 16, 17;

1. Kor. 5; Gal. 6, 1. 2; Eph. 5. 21; 1. Thess. 5,

14. 15; 2. Thess. 3, 6-15; Hebr. 10, 24.) Wie nun

die Versammlung darüber zu wachen hat, daß niemand

zum Brotbrechen zu gelassen wird, der in Wandel, Ge

128

sinnung und Lehre nicht zu der Heiligkeit des Tisches des

Herrn und in die Gemeinschaft der Gläubigen paßt, ebenso

ist sie auch verantwortlich dafür, daß solche, welche in

dieser Gemeinschaft sind, aber in den bezeichneten Punkten

fehlen, unter Ermahnung und Zucht gestellt, ja nötigenfalls

vom Tische des Herrn wieder entfernt werden.

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, den Gegenstand-

der Aufsicht und Zucht ausführlich zu behandeln. Dies

ist anderswo geschehen, u. a. in den Traktaten „Die

christliche Zucht" und „Ueber das Verhalten des Gläubigen

in den Tagen des Verfalls". Es soll hier nur

besonders darauf hingewiesen werden, daß die Ausübung

der Zucht ebenso Sache der ganzen Versammlung ist,

wie die Zulassung zum Tische des Herrn. Wenn deshalb

nach der Ueberzeugung derjenigen Brüder, welche sich eingehend

mit einem dahin gehörenden Falle beschäftigt haben,

die Anwendung irgend einer Zucht, nach den Vorschriften

des göttlichen Wortes, notwendig erscheint, so wird dies

der ganzen Versammlung mitznteilen sein, und die Zucht

kann erst in Kraft treten, wenn von keinem Gliede der

Versammlung eine begründete Einwendung dagegen

erhoben worden ist. Dadurch wird die Zucht zu einem

Versammlungsbeschluß, welcher wiederum als solcher den

um den Tisch des Herrn versammelten Gläubigen mitzuteilen

sein wird, damit ein jeder derselben ein der Zucht entsprechendes

Verhalten gegen den, über welchen sie ausgesprochen

ist, beobachten und auf diese Weise praktisch an der Ausübung

der Zucht teilnehmen kann. Indem so die ganze

Versammlung dem Bösen gegenüber in Thätigkeit tritt,

reinigt sie sich von dem in ihr vorhanden gewesenen

„Sauerteig". (1. Kor. 5, 1—8; 2. Kor. 7, 11.)

129

Aber, wie gesagt, auch jedes einzelne Glied hat m

seinem Verhalten gegen den der Zucht Verfallenen daS-

ernste Handeln der Versammlung zu bestätigen. Wenn

z. B. die Zucht im Ausschluß vom Tische des Herrn oder-

von der brüderlichen Gemeinschaft besteht, so würde jeder,

der noch irgendwelche christliche Gemeinschaft mit dem

Ausgeschlossenen machen würde, (und wenn es nur im

Reichen der Hand (Gal. 2, 9) bestehen sollte,) seinerseits

die Zucht der Versammlung wirkungslos machen. Nicht

allein aber das, sondern er würde dadurch auch die Einheit

des Leibes verleugnen, indem er eigenmächtig, im

Widerspruch mit der Versammlung, handelte und sich dadurch

praktisch von ihr trennte. Wenn ein solcher, nach

vorhergegangener Ermahnung, beharrlich den unerlaubten

Verkehr fortsetzen sollte, würde die Versammlung sich auch

von ihm trennen müssen. Denn eine Handlungsweise,

die im Widerspruch mit der Versammlung steht, ist auch

im Widerspruch mit dem Herrn selbst, der das, was sie

in Seinem Namen und in Uebereinstimmung mit Seinem

Worte thut, mit Seiner eignen Autorität bekleidet; denn

Er selbst ist in der Mitte der in Seinem Namen Versammelten.

(Matth. 18, 17—20.) Eine ernste Verantwortung

laden demnach alle diejenigen auf sich, welche

aus falschen Rücksichten einen christlichen Verkehr mit

einem Ausgeschlossenen beibehalten oder anknüpfen.

Trifft der Ausschluß ein Familienglied von Gläubigen,

so können allerdings die Familien-Beziehungen nicht abgebrochen

werden. Aber die christliche Gemeinschaft kann

auch in diesem Falle nicht aufrecht erhalten bleiben; anders

würden die irdischen Beziehungen über die himmlischen

gestellt werden. Außerdem aber würde auch dem Aus-

130

-geschlossenen geschadet werden, indem die Wirkung der

Zucht, die doch nm seine Wiederherstellung bezweckt,

dadurch mehr oder weniger verhindert würde.

3. Es kommt leider vor, daß Gläubige, welche ihren

Platz am Tische des Herrn eingenommen haben, eine große

Gleichgültigkeit gegen denselben an den Tag legen, indem

sie, ohne triftige Gründe, oft längere Zeit davon fern

bleiben. Wenn man bedenkt, welch eine Liebe zu den

Seinigen der Herr dadurch geoffenbart hat, daß Er ihnen,

für die Zeit Seiner sichtbaren Abwesenheit, einen Tisch

bereitet hat, um welchen Er sie als Seine teuer Erkauften

mit glücklichem Herzen versammelt zu sehen wünscht, um

Seiner zu gedenken und Seinen Tod, den höchsten Beweis

Seiner Liebe zu ihnen, zu verkündigen, — so wird

man ein willkürliches Fernbleiben von diesem Tische als

<ine Mißachtung Seiner Liebe und als einen Mangel an

Liebe zu Ihm bezeichnen müssen. Und der Herr sagt

in Joh. 14, 24: „Wer mich nicht liebt, hält meine Worte

nicht," und das legt uns den Schluß nahe, daß die,

bei welchen ein solcher Mangel an Liebe zu Ihm hervortritt,

es auch nicht genau nehmen werden mit dem würdigen

Wandel, wie er in Uebereinstimmung ist mit der

Heiligkeit des Tisches des Herrn. Gleichgültigkeit gegen

dieses kostbare Vermächtnis des Herrn ist ohne Zweifel

Gleichgültigkeit gegen Ihn selbst, und das ist ein bedenklicher

Zustand, der diejenigen, welche sich darin befinden,

in Gefahr bringt, auf unwürdige Weise am Abendmahl

teilzunehmen und dadurch ein Gericht über sich zu

bringen. (1. Kor. 11, 27—30.)

Die Versammlung aber ist berufen, darüber zu

131

wachen, daß der Tisch des Herrn nicht verunehrt werde»

Was ist nun in einem solchen Falle zu thun? Zunächst

werden wohl treue, nüchterne Brüder, denen die Ehre deA

Herrn und das Heil der Seelen am Herzen liegen, sich in

geeigneter, liebevoller Weise mit dem, der eine solch strafbare

Nachlässigkeit gegen den Tisch des Herrn offenbart,,

in Belehrung, Zurechtweisung und Ermahnung zu beschäftigen

haben, um ihn, womöglich, zu einem gesunden

Zustande zurückzuführen. Sollte aber alle Bemühung in

dieser Beziehung fruchtlos sein, so wird die Versammlung,

die geeignete Stellung zu dem Betreffenden einzunehmen

haben, die nach meiner Meinung darin bestehen wird, die

Gemeinschaft mit demselben am Tische des Herrn so lange

als aufgehoben zu betrachten, bis er eine unverkennbare

Sinnesänderung an den Tag legt und mit Aufrichtigkeit

begehrt, den gesegneten Platz am Tische des Herrn anst

geziemende Weise einzunehmen. Sollte diese Aufhebung

der Gemeinschaft für nötig erachtet werden und-

eine diesbezügliche Mitteilung in der Versammlung ohne

berechtigten Einspruch bleiben, so wird das als die Entscheidung

der ganzen Versammlung zu betrachten und in

der Versammlung bekannt zu machen sein. Unstatthaft aber

wäre es sicher auch in diesem Falle, wenn eine solche-

Entscheidung nur von einzelnen Brüdern getroffen würde,

wie es aus Unkenntnis wiederholt geschehen sein mag. Die

Würdigung dessen, was die Versammlung ist, in deren

Mitte der Herr wohnt, unter dessen Autorität sie ihre

Angelegenheiten ordnen soll, wird treue und gewissenhafte

Brüder von jedem eigenmächtigen Handeln zurückhalten

und sie in allem zu einem richtigen Verhalten leiten.

Der in vorstehendem Abschnitt besprochene Fall isU

132

etwas ganz anderes als ein Ausschluß vom Tische des

Herrn und der christlichen Gemeinschaft, wovon vorhin die

Rede war. Während bei einem Ausschluß jeglicher Verkehr

auf dem Boden der christlichen Gemeinschaft abzubrechen

ist, liegt in dem letzter« Falle dafür kein Grund vor. Der

betreffende Bruder (oder die Schwester) tritt, hinsichtlich

des Verkehrs mit ihm, einfach in die Stellung zurück,

welche er vor seiner Zulassung zum Tische des Herrn

einnahm und in welcher alle Gläubigen sich befinden, die

nicht außerhalb der Parteien sich um diesen Tisch versammeln.

Es kommt auch vor, daß jemand sich vom Tische

des Herrn zurückzieht und auf eine, dieserhalb an ihn

gerichtete Ermahnung erklärt, daß er überhaupt nicht mehr

am Brotbrechen teilnehmen wolle. Dies wird dann ebenfalls

der ganzen Versammlung mitzuteilen sein.

Es giebt auch Fälle, daß unlautere Glieder, welche

der Zucht der Versammlung verfallen sind, sich dieser

Zucht zu entziehen suchen, indem sie erklären, daß sie sich

vom Tische des Herrn zurückziehen. Eine Versammlung

aber, welche ihre Verantwortlichkeit kennt, wird sich dadurch

nicht beirren lassen und gegen einen solchen handeln, wie

die Ehre des Tisches des Herrn, an welchem derselbe bis

dahin seinen Platz hatte, es erfordert.

Du, den meine Seele liebt."(Hohel. 1, 7.)

„Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo

weidest du, wo lässest du lagern am Mittag? denn warum

sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden deiner

133

Genossen?" Eine herrliche Veränderung hat stattgefunden

in dem, was die Braut beschäftigt. Der Bräutigam steht

vor ihren Blicken und füllt ihr ganzes Herz aus. Das

eigne Ich ist aus dem Auge verloren. Welch eine Gnade!

Es ist weder das schwarze Ich, noch das liebliche Ich,

mit dem sie beschäftigt ist. Das Resultat ist immer ein

unglückliches, wenn wir mit unS selbst beschäftigt sind.

Unzählige Schwierigkeiten und Sorgen entstehen, sobald

der Blick sich nach innen richtet, anstatt nach außen

auf Christum:

Drei Dinge sind in diesem schönen Verse unsrer besondern

Betrachtung wert:

1. Die aufrichtige Zuneigung des Herzens der Braut.

Sie sagt nicht: „Du, den meine Seele" lieben sollte,

oder zu lieben begehrt, sondern: „Du, den meine Seele

liebt". Eine Helle Flamme der Liebe zu der Person

ihres Herrn und Erlösers brennt in ihrem Herzen. Sie

liebt Ihn aufrichtig und innig. „Sage mir an, du,

den meine Seele liebt." Das ist ein bewußtes Nahesein:

„Mir" — „du". Welch ein gesegneter Zustand für eine

Seele! Kennst auch du etwas davon, mein lieber Leser?

Ach, wie oft tritt etwas zwischen die Seele und den Herrn

und verhindert diese innige Gemeinschaft und stört den

seligen Genuß dieser Nähe! Aber Gott sei gepriesen, der

Tag ist nahe, an welchem diese meine Augen den König

in Seiner Herrlichkeit schauen werden! Dann wird dieses

kalte, träge Herz ganz hingerissen sein von Seiner Schönheit

und für immer brennen mit einer reinen Flamme

vollkommener Liebe für Ihn allein.

2. Die Braut verlangt Erquickung und Nahrung

unmittelbar von Ihm selbst. „Sage mir an, ... wo

134

weidest du, wo lässest du lagern am Mittag?" Sie

geht nicht zu den Hirten Israels, welche mehr die Wolle

als die Schafe liebten, sondern zu dem Erzhirten selbst.

Sie war zu Ihm gebracht worden als dem König,

jetzt aber wendet sie sich an Ihn als den Hirten. Wie

David vor alters, so ist auch Er der königliche Hirte;

und o, wie gnädig, liebevoll und zärtlich wird Er noch

einmal die jetzt zerstreuten Schafe Israels sammeln l

Nichts könnte die Gnade übertreffen, die sich in den

folgenden Versen kundgiebt: „Denn so spricht der Herr,

Jehova: Siehe, ich bin da, und ich will nach meinen

Schafen fragen und mich ihrer annehmen. Wie ein Hirt

sich seiner Herde annimmt an dem Tage da er unter seinen

zerstreuten Schafen ist, also werde ich mich meiner Schafe

annehmen und werde sie erretten aus allen Orten, wohin

sie zerstreut worden sind am Tage des Gewölks und des

Wolkendunkels. Und ich werde sie herausführen aus den

Völkern und sie aus den Ländern sammeln und sie in

ihr Land bringen; und ich werde sie weiden auf den

Bergen Israels, in den Thälern und an allen Wohnplätzen

des Landes. Auf guter Weide werde ich *sie weiden,

und auf den hohen Bergen Israels wird ihre Trift sein;

daselbst, auf den Bergen Israels, werden sie auf guter

Trift lagern und fette Weide beweiden. Ich will meine

Schafe weiden, und ich will sie lagern, spricht der Herr,

Jehova." (Hes. 34, 11—15.)

3. Ihr Herz sehnt sich nach der Mittagsruhe Seiner

hochbegünstigten Herde. „Sage mir an, .... wo lässest

du lagern am Mittage?" Persönliche Gemeinschaft,

geistliche Speise und friedliche Ruhe sind die reichen

Segnungen, nach denen ihre Seele jetzt inbrünstig verlangt.

135

Ermüdet von dem fruchtlosen Suchen nach Ruhe und Erquickung

fern von Gott, sehnt sie sich nach den grünen

Weiden und den stillen Wassern Seiner Liebe und Gnade.

Diejenigen, welche selbst einmal auf den finstern Bergen

umhergeirrt sind, unerfreut durch das Licht des Antlitzes

Gottes, verstehen die schreckliche Dürre in ihrer Seele.

Wenn aber die Wiederherstellung eine vollständige und

glückliche ist, so schmecken die zarten Triebe der Weide

süßer als je zuvor. Nachdem die Braut einmal den

Segen der Gemeinschaft mit Gott geschmeckt hat, kennt

sie nur noch das eine Verlangen, daß dieser Segen

wachsend und ununterbrochen sein möge.

Der Gedanke, von Andern als unaufrichtig beargwöhnt

zu werden, beunruhigt sie. „Denn warum," sagt

sie, „sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden

deiner Genossen?" Wer diese Genossen sind, dürfte schwer

zu bestimmen sein; vielleicht die Unterhirten, die ihre

Lage nicht so zu verstehen und zu beurteilen vermögen,

wie der Haupthirte selbst. Er kennt ihr Herz, und sie

kann dem Seinigen vertrauen. Der Ausdruck „Verschleierte"

scheint den Gedanken an eine Beargwöhnung

zu enthalten. (Vergl. 1. Mose 38, 15.) Das ist sehr

schmerzlich für ein aufrichtiges, ehrliches Gemüt, obwohl

nicht ungewöhnlich. Viele, welche Hirten der Herde Gottes

zu sein bekennen, verstehen nur sehr wenig von dem Pfade

einer Seele, die mit dem Herrn wandelt, frei von allen

Vorschriften und Regeln der Menschen — die nur das

Verlangen hat, dem Herrn zu gefallen, mag sie auch das

Mißfallen aller andern auf sich ziehen. Es giebt eine

Energie der Liebe, die sich über alle menschlichen Einrichtungen

erhebt und eine unmittelbare (nicht

136

mittelbare) Gemeinschaft mit dem Herrn unterhält;

eine Energie, die nicht zufrieden ist mit der geläufigen

Beobachtung menschlicher Formen. Eine solche Seele

wird sehr wahrscheinlich mißverstanden und mißdeutet

werden von denen, die sich in der mehr ausgetretenen Spur

alltäglicher Religiosität bewegen; gleich Hanna, der Mutter

Samuels, die mit einer innerlich geistlichen Energie betete,

welche selbst von Eli, dem Priester Gottes, nicht verstanden

wurde. Aber der Herr kennt die Beweggründe

des Herzens und die Quelle dieser Energie.

Doch gerade in dem Augenblick, da die Geliebte in

ihrer Seele leidet von dem niedrigen Argwohn Anderer,

erscheint der Geliebte ihr zum Troste. Dies ist das erste

Mal im Hohenliede, daß wir die Stimme des Bräutigams

vernehmen. Und ach! welch eine Huld und Gnade strömen

der fragenden Braut entgegen! Welche Worte fließen

von Seinen Lippen! „Du Schönste unter den Weibern",

so lautet die erste Aeußerung Seines Herzens. Wahrlich,

das ist genug, um auch die tiefste Bitterkeit der Seele zu

verbannen.

Sie mochte bekümmert gewesen sein über ihre äußere

Erscheinung und über die unwürdigen Gedanken Anderer;

allein eine solche Zusicherung Seiner Liebe und Wertschätzung

ist hinreichend, um alle ihre Kümmernisse zu

verscheuchen und ihr Herz mit überströmender Freude zu

erfüllen. Anstatt auf sich selbst zu blicken, auf das was

sie in sich selbst ist: „schwarz wie die Zelte Kedars",

eine sonnenverbrannte Sklavin, — versichert Er ihr, daß

Er sie nicht allein für schön und anmutig halte, sondern

für die Schön st eunter den Schönen.

137

Die Söhne Korahs.

Die Lieder und Gesänge der Söhne Korahs sind

von besonderer Lieblichkeit und Schönheit. Es giebt sich

in ihnen eine Tiefe der Gefühle kund, wie wir sie nicht

überall in den Psalmen finden. (Vergl. z. B. Ps. 42;

45; 46 rc.) Einer der schönsten ist wohl Psalm 84:

„Wie lieblich find Deine Wohnungen, Jehova der Heerscharen!"

Wenn diese Schatten der himmlischen Dinge

schon so begehrenswert waren; wenn diese Leviten sich so

innig sehnten, ja schmachteten nach den Vorhöfen Jehovas,

die doch nur zeitlich waren und längst vergangen sind —

dann mögen wir uns wohl fragen: Verlangen auch wir

so sehnlich nach der Stätte Seiner heiligen Wohnung? Ist

es die tiefe Freude unsrer Herzen, da zu sein, wo zwei

oder drei zu Seinem Namen hin versammelt sind?

Doch wer waren diese Söhne Korahs? War nicht

das ganze böse Geschlecht der Korhiter einst von der Erde

verschlungen worden? Nach der Erzählung in 4. Mose

16 scheint es allerdings so zu sein. Aber im 26. Kapitel

desselben Buches wird uns ausdrücklich gesagt, daß die

Kinder Korahs nicht starben, „als das Feuer die 250

Männer verzehrte". Sie wurden vom Rande des Verderbens

hinweg gerettet, wie ein Brand aus dem Feuer

gerissen und standen nun da als die herrlichen Siegeszeichen

einer überströmenden Gnade. Aber das war nicht

alles. Nicht nur wurden sie vor dem entsetzlichen Gericht

bewahrt, lebendig in den Abgrund zu fahren, sondern sie

erhielten auch, als ein Teil des Geschlechts der Kehathiter,

eine Zufluchtsstadt. (Vergl. 1. Chron. 6, 54—70.)

O wie groß ist die Freude Gottes, Gnade zu üben!

138

Die Gnade verschont die Schuldigen und giebt ihnen

einen Platz der Sicherheit. Einst Kinder des Zorns,

wie auch die übrigen, sind wir jetzt durch die unumschränkte

Gnade Gottes dahin gebracht, in Christo in

den himmlischen Oertern zu wohnen. Die gesegnete Stadt

ewiger Zuflucht, das Jerusalem droben, ist unser Wohnort.

Sollten wir nicht die Reichtümer der göttlichen

Gnade jubelnd preisen?

Doch die Gnade geht noch weiter. Von dem Abgrunde

des Verderbens erlöst, wurden gerade die Söhne

Korahs über das Werk des Dienstes im Hause Gottes,

zu Hütern der Schwellen des Zeltes bestellt. Sie hatten

die Aussicht „über die Thore des Hauses Jehovas, als

Wachen", sowie „über die Zellen und über die Schätze

des Hauses Gottes". Welch ein Dienst! Alle Geräte

des Heiligtums, und das Feinmehl, der Wein, das Oel,

der Weihrauch, die Gewürze, das Speisopfer und die

Schaubrote waren ihrer Hut anvertraut. (Vergl. 1.

Chron. 9, 19—32.) Kostbare, belehrende Vorbilder für

uns, die wir von dem Abgrunde erlöst und durch das

Blut Jesu in die Gegenwart Gottes selbst gebracht sind!

Alle die Reichtümer der Herrlichkeit Christi sind gleichsam

unsrer Hut und Verwaltung anvertraut. Das Feinmehl,

der Weihrauch, die Gewürze und das Speisopfer — alles

Bilder von der Person Jesu Christi in Seiner anbetungswürdigen

Vollkommenheit — sind unser Teil, sind uns

gegeben zu unserm Genuß und zu unsrer Bedienung.

Wie erhaben ist das Vorrecht, aber wie groß auch die

Verantwortlichkeit! Für einen solchen Dienst war Entschiedenheit,

Treue und Kraft erforderlich, und diese Dinge

wurden den Söhnen Korahs nicht vorenthalten. Sie waren

139

„tapfere" oder „tüchtige" Männer und „wackere Männer,

fähig zum Dienste". (1. Chron. 26, 6 — 8.)

So sind auch zu dem Dienste, zu dem wir heute

berufen sind, tüchtige und wackere Männer erforderlich,

Männer, die treu zu ihrem Herrn stehen und darüber

wachen, daß der kostbare Name Jesu nicht verunehrt, und

daß das Feinmehl, der Weihrauch, die Gewürze ?c. nicht

mit fremden Dingen vermengt werden. Auch laßt

uns bedenken, daß dieser Dienst nicht nur Einzelnen anvertraut

ist, sondern dem ganzen erlösten Volke des Herrn,

und daß jeder seinen Platz mit aller Treue ausfüllen

und (obwohl schwach, ganz schwach in sich selbst) stark

sein sollte in der Macht Seiner Stärke.

Gnade auf Gnade tritt uns in diesen so reich bevorzugten

Söhnen Korahs entgegen. Sie waren die

Wachen des Hauses Gottes, die Hüter der Schwellen.

Erlöst von der Grube des Verderbens, waren sie berufen,

die Wachen des verborgenen, aber kommenden Königs der

Herrlichkeit zu sein. Und wir? Wächter des Hauses

Gottes, Hüter der Schwellen, der Grundlagen der Wahrheit;

einst Kinder des Verderbens und jetzt Kinder der

Herrlichkeit — welch eine Würde! O möchten unsre

Herzen Ihm ergeben sein, nur für Ihn schlagen, dem

wir bald in der Luft begegnen werden!

Diese überströmende göttliche Gnade, die sich in

der Geschichte der Söhne Korahs kundgiebt, ist es auch,

welche ihren Psalmen eine so besondere Lieblichkeit verleiht.

Aber ich muß wiederum fragen: Sollten wir nicht noch

viel mehr als sie sagen können: „Wie lieblich sind Deine

Wohnungen, o Herr! Es sehnt sich :c?" Giebt es

irgend ein größeres Vorrecht hienieden, als in dem Namen

140

des Herrn Jesu versammelt zu sein? „Da bin ich in

ihrer Mitte", sagt Er. Giebt es etwas Höheres, als

mit Freimütigkeit ins Heiligtum zu treten? O welch

eine Wohnstätte ist die Gegenwart des Herrn! Die in

Seinem Hause wohnen, werden Ihn stets preisen. — Ist

das auch deine liebliche Beschäftigung, mein Leser? Ein

Wohnen im Hause, ein stetes Preisen und ein Gehen

von Kraft zu Kraft waren die Zeichen der göttlichen

Gnade, wie sie den Söhnen Korahs zu teil wurde.

Sollte es mit uns anders sein? Als Söhne Gottes ist

es unser Vorrecht, in diesem Thränenthal gesegnet zu

sein und überall Segen zu verbreiten. Können wir nicht

sagen: Ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst

tausend? Ist unser Gott nicht auch für uns Sonne und

Schild? Ja wahrlich, auch uns wird der Herr Gnade

und Herrlichkeit geben, kein Gutes vorenthalten denen, die

in Lauterkeit wandeln.

Der Gesang der Korhiter beschämt uns tief. In

ihren Tagen war der Weg ins Heiligtum noch nicht geoffenbart;

jetzt aber ist der Vorhang zerrissen. Wir

dürfen mit aller Zuversicht ins Allerheiligste treten durch

das Blut Jesu. Und wie groß ist die Freude Gottes,

uns dort zu empfangen! „Laßt uns essen und fröhlich

sein I" sagt der Vater, wenn der verlorne Sohn heimkehrt.

Welch ein Vorwurf liegt in diesen Worten für unsre oft

so trägen, kalten Herzen! O möchten wir aufwachen und

von neuem unsre Stärke allein „in Ihm" finden, der uns

geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat!

„Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den

Toten, und der Christus wird dir leuchten!

Sehet nun zu, wie ihr sorgfältig wandelt, nicht als

Unweise, sondern als Weise, die gelegene Zeit auskaufend,

denn die Tage sind böse." (Eph. 5, 14 — 16.)

Joseph.(Schluß.)

Joseph hat jetzt noch einen letzten Liebesdienst dem

Andenken seines Vaters zu weihen, und er übt ihn in

aller Schönheit und Treue aus. Er beerdigt seinen Vater,

wie dieser es gewollt hatte, im Lande Kanaan. Die

ganze Handlung geht mit großer Feierlichkeit und in einer

Weise vor sich, daß wir noch einen Augenblick dabei verweilen

müssen.

In früheren Zeiten war der Gottesdienst mit einem

prächtigen Ceremoniell umgeben. Tempel, Altäre, Feste,

Opfer und dergleichen riefen diese Pracht hervor, und

Diener verschiedener Ordnungen, mit entsprechenden Gewändern

bekleidet, verrichteten den Dienst. Warum das

alles? In jenen Tagen wies der Gottesdienst vorwärts

auf gewisse große Geheimnisse, die damals bildlich dargestellt

werden sollten. Da aber jetzt diese Geheimnisse in der

Offenbarung Christi, in Seiner Person, Seinem Werke,

Seinen Leiden und Siegen, ihre Erfüllung gefunden haben,

so würde ein prunkvoller Gottesdienst jetzt nur eine Herabsetzung

alles dessen sein, was in seiner vollen Wirklichkeit

und Kraft in Ihm gefunden wird.

Wie mit dem Gottesdienst, so ist es auch mit Leichenbegängnissen.

In früheren Zeiten waren sie mit Recht

prunkvoll, weil die Auferstehung nur in der Ferne gesehen

142

wurde, und die Leichenbegängnisse eine Art Unterpfand

der erwarteten Auferstehung bildeten. Es geziemte sich,

daß das Unterpfand prachtvoll war, entsprechend der Herrlichkeit

dessen, was es verbürgte. Aber jetzt, nachdem die

Auferstehung in der Person des Herrn Jesu, des Sohnes

Gottes, ihre Verwirklichung gefunden hat, ist ein prunkvolles

Leichenbegängnis, gerade so wie ein ceremonieller

Gottesdienst, eher eine Herabsetzung oder Schmähung, als

ob das große Geheimnis selbst noch nicht in seiner

Wirklichkeit und Kraft geoffenbart worden wäre. Denn

jetzt ist nicht der Pomp eines Leichenbegängnisses das

Unterpfand unsrer künftigen Auferstehung, sondern vielmehr

die Auferstehung des Herrn, sie, die Erstlingsfrucht

einer verheißenen Ernte.

Demgemäß sollte jetzt dieselbe Einfachheit beim

Gottesdienst wie bei der Beerdigung den Glauben der

Kirche an erfüllte Geheimnisse verraten. Wir haben

jetzt den Sieg des Herrn Jesu vor Augen; wir geben

oder empfangen nicht mehr ein Unterpfand desselben,

wie in den Satzungen und Verordnungen früherer Tage,

sondern wir feiern ihn. Joseph von Arimathia bereitete

dem Leibe unsers Heilandes ein prunkvolles Begräbnis,

wie es Joseph, der Sohn Jakobs, hier dem Leibe seines geliebten

und verehrten Vaters that. Wir lesen von Jesu:

„Man hat Sein Grab bei Gesetzlosen bestimmt; aber bei

einem Reichen ist Er gewesen nach Seinem Tode." In

den Tagen Josephs von Arimathia war das Grab noch

nicht vernichtet, und deshalb mochte noch ein Unterpfand

— ein gleiches Unterpfand wie in den Tagen des Patriarchen

— gegeben werden. Aber bei der Beerdigung

des Herrn Jesu sehen wir mit Recht dieses Unterpfand

143

zum letzten Male, weil wir in Ihm die Erstlingsfrucht

der Vernichtung des Hades erblicken. Jesus ist auferstanden.

Die Grabtücher lagen in dem leeren Grabe als

Beute eines glorreichen Krieges und als Trophäen eines

herrlichen Sieges. Der Tod war zunichte gemacht, und

jetzt feiert der Glaube das, was Satzungen und Gebräuche *),

Verordnungen und Ceremonien einst nur verbürgt und

vorgebildet hatten. Und ich möchte hinzufügen, der Glaube

verstand dieses; denn bei dem Begräbnis, welches auf

dasjenige des Herrn Jesu folgte, hören wir weder von

Einbalsamirung noch von irgend welcher Prachtentfaltung.

Es wurde ganz einfach veranstaltet; gewiß in aller Ehrerbietung

und Liebe, aber doch ohne besondere Feierlichkeit.

„Gottesfürchtige Männer bestatteten den Stephanus und

stellten eine große Klage über ihn an."

Wenn wir Glauben hätten, so würden wir dies alles

hoch schätzen. Unsere Vorrechte sind wahrlich groß. In

dem Dienst des Hauses Gottes ist der Tisch an die Stelle

des Altars getreten, und statt eines Opfers haben wir

ein Fest auf Grund eines Opfers. Und so haben wir

auch Tod und Beerdigung im Lichte der Auferstehung

Jesu zu betrachten.

Der Tod Jakobs hatte auch eine moralische Wirkung

auf die Familie, indem er etwas aufdeckte, was vorher

*) Ein Leichenbegängnis war keine Verordnung, sondern ein

Brauch, eine Sitte (vergl. Joh. 19, 40); wir hören nicht, daß es

den Patriarchen aufgetragen worden, oder daß es in dem Gesetzbuch«

Israels enthalten gewesen wäre, Leichenbegängnisse zu veranstalten.

Machpela wurde von Abraham ohne ein unmittelbares Gebot

Gottes gekauft. Aber Leichenbegängnisse wurden durch den Glauben

an die Auferstehung eingegeben, und zwar mit Recht. Die Auferstehung

war das, was der Glaube zu erlangen hoffte. (Apstgsch. 26.)

144

nicht wahrgenommen wurde; und das ist oft der Fall,

wenn das Haupt einer Familie weggenommen wird.

Hierauf möchte ich noch etwas näher eingehen.

Die Einfalt des Glaubens der Patriarchen ist sehr

bemerkenswert. Ihr Glaube sowohl wie ihre Gewohnheiten

waren schön, weil sie ungekünstelt waren. Es gab nichts

von dem Geiste der Knechtschaft in diesen Heiligen des

1. Buches Mose. Die Patriarchen wandelten in der

Gewißheit, daß Gott ihr Gott war, daß Seine Verheißungen

ihnen gehörten, und daß die Stadt und das

Land der Herrlichkeit ihr Erbteil ausmachten. Sie lebten

und starben in diesem Geiste des Glaubens. Kein Argwohn,

kein Ueberlegen, kein Mißtrauen hinsichtlich der

Gnade befleckte ihre Seelen. Und das ist um so befremdender,

als wir diesem Geist der Knechtschaft sonst überall

in der ganzen Schrift begegnen, sobald wir das erste Buch

Ptose verlassen. Es würde unmöglich sein, alle die

Beispiele davon in der Schrift zu verfolgen. Er wirkt

naturgemäß und leider in ausgedehntem Maße auch in

uns. Wahrlich, wir haben ihn bei uns selbstkennen gelernt

und sehen ihn rund um uns her.

Woher kommt es nun, daß er sich nicht in den

Patriarchen verrät? Lag es daran, daß sie für sich selbst

so beständige Zeugen der Gnade und der Auserwählung

Gottes waren und die Stimme des Gesetzes nie gehört

hatten? Sicherlich trug dies dazu bei, ihre Gesinnung

zu bilden; aber abgesehen davon stand das Fehlen des

Geistes der Knechtschaft in lieblicher Weise in Uebereinstimmung

mit ihrer derzeitigen Stellung, da sie wie Kinder

waren, die nie von Hause entfernt gewesen sind. Sie befanden

sich in dem Kindesalter, und konnten daher ebenso

145

wenig in der Gegenwart Gottes in einem Geiste der

Furcht und Ungewißheit wandeln, wie ein Kind, bevor es

das Elternhaus verläßt, in die Versuchung kommen kann,

seinen Anspruch an Unterhalt und Obdach in seines Vaters

Hause in Zweifel zu ziehen. Und es gehört mit zu der

Schönheit und Vollkommenheit des 1. Buches Mose, in

den Heiligen Gottes dort diesen kindlichen, nicht zweifelnden

Glauben zu sehen. Sie fehlen Wohl, und auch zu Zeiten

durch Mangel an Glauben unter dem Druck gewisser

Umstände; aber ihre Seelen verunreinigen sich nie durch

einen Geist des Mißtrauens und der Knechtschaft. Wir

finden diesen Geist erst, wenn wir im Begriff stehen, von

diesem Buche Abschied zu nehmen, und über den eigentlichen

patriarchalischen Charakter desselben hinauskommen;

und zwar entdecken wir ihn in Josephs Brüdern, sobald

das Begräbnis Jakobs vorüber ist.

Da stellte es sich heraus, daß sie ihrem Bruder nicht

in argloser, glücklicher Weise Vertrauen geschenkt hatten.

Es hatte einen Gegenstand gemeinsamen Interesses zwischen

ihnen gegeben, und auf diesen hatte sich ihr Vertrauen

viel mehr gegründet als auf Joseph selbst. Ihre Zuversicht

beruhte nicht auf dem, was Joseph war oder

gethan hatte, sondern auf den Umständen. Jakobs Gegen­

wart war die Stütze ihrer Herzen. Sie hatten Buße

gethan; sie waren überführt und dann gleichsam lebendig

gemacht worden; aber dennoch ehrten sie Joseph nicht

durch ihr Vertrauen, wie er es doch so reichlich um sie

verdient gehabt hätte.

Liegt hierin nicht auch eine Mahnung für uns?

Wir mögen uns wohl fragen: Wenn Gott uns einmal

die Stütze und die Gemeinschaft Anderer entzöge, würde

146

es sich dann zeigen, daß unser ganzes Vertrauen allezeit

auf Jesum gerichtet gewesen wäre? daß wir die Gnade

so kennen gelernt hätten, um die Gegenwart einer unverhüllten

Herrlichkeit ertragen zu können? daß die Wegnahme

eines Jakob nicht die Atmosphäre umwölkte, in

welcher unsre Seelen sich aufzuhalten gewöhnt waren?

Wir sind jetzt am Ende der Geschichte Josephs angelangt.

Bevor ich jedoch von seinem Tode spreche, möchte

ich noch auf ein schönes Beispiel der Bekanntschaft des

Glaubens mit dem Laufe der Weltgeschichte Hinweisen.

Ich meine nicht die Kenntnis eines Propheten bezüglich

dessen, was unter den Nationen sich ereignen wird,

wie sie z. B. ein Daniel besaß, als er von den vier

Tieren und von dem großen Bilde redete. Solche Kenntnis

wurde durch den Geist mitgeteilt, indem der Herr das

Herz Daniels oder anderer Propheten mit Seinem Licht

erfüllte. Ich rede nur von der Kenntnis, die der Glaube

von dem Lauf der Geschichte der Nationen besitzt.

Joseph sagt zu seinen Brüdern: „Ich sterbe; und

Gott wird euch gewißlich heimsuchen und euch heraufführen

aus diesem Lande in das Land, das Er Abraham,

Isaak und Jakob geschworen hat."

Die Kinder Israel waren zu jener Zeit im Lande

Egypten sehr glücklich; sie genossen die volle Gunst des

Königs, besaßen den besten Teil des ganzen Landes und

sahen einen aus ihrer Mitte auf dem zweiten Platze im

Reiche. Es war nicht das geringste Anzeichen einer Gefahr

oder Veränderung ihrer Umstände wahrzunehmen;

und Joseph selbst war so glücklich, wie die Umstände ihn

nur machen konnten. „Er sah von Ephraim Kinder des

147

dritten Gliedes; auch die Söhne Makirs, des Sohnes

Manasses, wurden auf den Knieen Josephs geboren."

Aber bei alledem spricht Joseph davon, daß Gott sie

heimsuchen würde; und diese Worte deuten an, daß

Tage der Trübsal im Anzuge waren, Tage, in denen

Gott ihr einziger Freund und Helfer sein würde.

Das war sonderbar, sehr sonderbar! Wer konnte es

glauben? Hatte Joseph geträumt? so würden Staatsmänner

und Politiker gefragt haben. Aber nein, Joseph

hatte nicht geträumt; das Wort Gottes war seine Weisheit.

Der göttliche Ausspruch im 15. Kapitel hatte zuvor

angekündigt, daß die Egypter Israel bedrücken würden,

daß aber Gott sich als ihr Freund erweisen und sie nach

Kanaan zurückbringen würde; und dieses Wort aus dem

Munde Gottes galt für Joseph und für den Glauben

alles, der äußere Schein galt nichts. Gott hatte gesprochen;

Joseph glaubte dem göttlichen Ausspruch und

gedachte daran. Und daher sah er durch den Glauben

Israels Bedrückung zu einer Zeit, als das Volk sich

in den glänzendsten und glückverheißendsten Umständen

befand; er sah die Feindschaft Egyptens zur Zeit der

Freundschaft desselben. Durch denselben Glauben hatte

einst Noah 120 Jahre lang das Gericht der Welt vorhergesehen,

während um ihn her Saat und Ernte, Wein-

und Aehrenlese, Kaufen und Verkaufen, Pflanzen und

Bauen seinen ruhigen Fortgang nahm.

Solche Kenntnis hatte der Glaube von dem zukünftigen

Lauf der Dinge; und wahrlich, er sollte auch heutzutage

ein solcher Politiker sein und durch das Licht des

Wortes Gottes etwas von der Zukunft wissen, trotz alles

äußern Scheins. Dies ist auch der einzige Akt in Josephs

148

Leben, der als eine Handlung des Glaubens in Hebr. 11

ausgezeichnet und auf diese Weise besonders hervorgehoben

ist, unter so vielen Handlungen des Glaubens und der

Gottseligkeit, und bei einem solch ununterbrochenen Wandel

mit Gott, wie wir ihn bei ihm gesehen haben. Aber

er war auch wert, so ausgezeichnet zu werden; er war

ein lautes Zeugnis dafür, daß Joseph inmitten der Verlockungen

und Beschäftigungen der Welt von dem Worte

Gottes lebte, und zwar mit einem Herzen, das über allen

Aeußerlichkeiten und Scheinbarkeiten erhaben war. Abraham

war durch göttliche Gesichte und Aussprüche über die zukünftige

Geschichte Israels belehrt worden. Joseph benutzte

nur, was Abraham empfangen hatte; er erhielt keine Besuche

von feiten des Herrn wie Abraham. Joseph stand

vielleicht nicht auf der Höhe Abrahams, aber wir finden

in ihm, was in sittlicher Hinsicht das Vorzüglichste ist,

nämlich das Licht und die Gewißheit eines gläubigen

Herzens, das Verständnis und das entschiedene Urteilen

des Glaubens. Er gedachte dessen, was Abraham gehört

hatte, und handelte demgemäß. Was ihm an persönlicher

Erhabenheit fehlte, (indem er nicht wie Abraham die Aussprüche

Gottes empfing) besaß er an sittlicher Kraft als

ein an Gott Glaubender. Und wenn ich gezwungen wäre,

zwischen beidem zu wählen, so möchte ich lieber glauben,

als inspiriert sein. Und Joseph glaubte, als

er, wie wir lesen, „des Auszugs der Söhne Israels gedachte,

und gab Befehl wegen seiner Gebeine". (Hebr.

11, 22.) Dieses politische Verständnis des Glaubens

(wenn ich es so nennen darf) über das, was auf der

Erde geschehen wird, machte einen Noah und einen Joseph

weiser als alle Staatsmänner der weltlichen Reiche. Wir

149

wissen ja, wie genau Josephs Worte eintrafen, und in

welch unerwarteter Weise Ziegelhütten das blühende Land

Gosen schändeten, und Treiber Israel zur Arbeit antrieben;

gerade so wie früher in den Tagen Noahs das Wasser

die höchsten Spitzen der Berge bedeckte und ein Schiff,

das scheinbar in großer Thorheit für trocknes Land er»

baut worden war, die einzige Arche der Rettung wurde.

Aber sollte es mit dem Glauben nicht auch heute

noch so sein? möchte ich fragen. Haben wir nicht durch

den Glauben an das Wort Gottes eine Gewähr, den Lauf

dieser Welt kennen zu können, trotz ihrer wachsenden Verfeinerung

und ihrer Fortschritte aus allen Gebieten?

Haben wir keinen Grund dafür, zu wissen, daß sie sich

auf dem Wege zum Gericht befindet? Sicher und gewiß.

Der Herr Jesus ist in dieser Welt verworfen worden;

das ist es, was der Welt vor Gott ihren Charakter aufprägt.

Kein Fortschritt in Gesittung und Kultur, selbst

nicht die Ausbreitung der göttlichen Wahrheit unter den

Völkern, vermag die Welt von dem Gericht zu befreien,

welches sie wegen jener schrecklichen That zu erwarten hat.

Und wäre auch der Tag so glänzend, wie er es zur Zeit

Josephs für Israel war, so weiß der Glaube doch, daß

die schimmernde Oberfläche bald zerstört werden wird.

Die Umstände können nie dem Glauben einen Gegenstand

bieten; das kann nur das Wort Gottes; und den Umständen

und Erscheinungen sollte nimmer gestattet werden,

das Auge des Glaubens von seinem Gegenstände abzuziehen.

Das Haus, gekehrt und geschmückt wie es heute

ist, scheint viel zu verheißen; das that auch das Land

Gosen und die Freundschaft des Pharao in jenen Tagen.

Aber solche Verheißungen sind für das Ohr des Glaubens

150

leere Worte; es achtet nicht darauf. Wie Jeremia, als

das verbündete Heer angekommen und das feindliche abgezogen

war, zu dem Könige von Juda sagte: „Täuschet

euch nicht selbst" (Jer. 37, 9), so sagt heute der Glaube

zu der sich ihrer Fortschritte rühmenden Welt: „Täuschet

euch nicht selbst." Der Glaube sagt das mit aller Kühnheit,

denn er weiß genau, daß der letzte Zustand deS

gekehrten und geschmückten Hauses ärger sein wird als

der erste.

Joseph lieferte also den Beweis, daß er glaubte, was

er bezeugte. Wie das Herz Jakobs, so war auch sein "Herz

in Kanaan, dem Lande des Bundes und der^Gräber seiner

Väter. Und wie Jakob, so ließ auch er seine Brüder

schwören und sprach: „Gott wird euch gewißlich heimsuchen;

so führet meine Gebeine von hier hinauf." Die unsichtbare

Welt war für ihn das Wahre und Wirkliche, wie

sie eS auch für seine Väter gewesen war. Die Berufung

Gottes hatte sie alle mit dem verbunden, was jenseit des

Todes liegt, und dort waren ihre Gedanken und ihre

Herzen, bevor sie selbst dahin gelangten. Zu sterben war

für sie so natürlich wie zu leben.

„Joseph starb, hundert und zehn Jahre alt." Seine

Brüder, die Kinder Israel, benahmen sich treu gegen ihn,

wie er es gegen seinen Vater Jakob gethan hatte; sie

balsamierten seinen Leib sogleich ein. Später nahm Moses

ihn mit aus Egypten, und schließlich beerdigte ihn Josua

in Sichern im Lande Kanaan. (Siehe 1. Mose 50, 26;

2. Mose 13, 19; Josua 24, 32.)

Die Geschichte Josephs ist hiermit zu Ende, und

damit auch das 1. Buch Mose, das Buch der Schöpfung

151

und der ersten Wege Gottes mit dem Menschen, das Buch

der Patriarchen, der ersten Familien der Menschenkinder

und des Kindesalters der Auserwählten Gottes.

Ich glaube, wir alle fühlen, daß wir beim Verlassen

dieses Buches in gewisser Beziehung einen niedrigeren

Boden betreten. Im ersten Buche Mose offenbart

Gott mehr sich selbst, nachher das was der

Mensch ist. Der Mensch war, wie wir wiederholt bemerkten,

noch nicht unter Gesetz gestellt; er sollte Gott

unter mancherlei verschiedenen Offenbarungen Seiner selbst

kennen lernen. Aber sobald das Gesetz kommt, tritt der

Mensch notwendigerweise mehr in den Vordergrund, und

wir haben dann ihn zu betrachten, und zwar nicht einfach

unter der Berufung Gottes, sondern in seiner eignen

Stellung und in seinem Charakter. Das wird sicher

genügen, um uns fühlen zu lassen, daß wir uns in gewisser

Beziehung aus einem niedrigeren Boden befinden.

Selbstredend begegnen wir andrerseits in der Enthüllung

der Ratschlüsse, in der Darstellung der Hilfsquellen Gottes

gegenüber dem Fehlen des Menschen, sowie in den ferneren

Offenbarungen Seiner selbst gegenüber der Bloßstellung

des Menschen einem steten Fortschreiten in dem ganzen

Worte Gottes von Anfang bis zu Ende.

Doch so mannigfach und wunderbar die Ratschlüsse

sind, deren fortschreitende Enthüllung uns bei der Erforschung

der Schriften entgegentritt, und so mannigfaltig

die Weisheit Gottes auch sein mag, so können wir doch

sagen, daß jeder einzelne Teil derselben in irgend einer

Weise in dem ersten Buche Mose eine Erwähnung oder

ein Vorbild findet; allerdings schwach und dunkel, aber

die Grundzüge von allem sind darin enthalten. Versöhnung,

152

Glaube, Gericht, Herrlichkeit, Regierung, Berufung, daS

Reich, die Kirche, Israel, die Nationen, Bündnisse, Verheißungen,

Prophezeiungen, neben dem hochgelobten Gott

selbst in Seiner Heiligkeit, Liebe und Wahrheit, das Thun

Seiner Hand und die Arbeit und die Früchte Seines

Geistes — alles das und noch manches Aehnliche kommt

in diesem Buche zum Vorschein. Im Beginn wird die

Schöpfung dargestellt. Nachdem diese unter der Hand

des Menschen befleckt und verdorben ist, wird die Erlösung

geoffenbart. Sodann zeigt sich in den Erzählungen

von Henoch und Noah, daß Himmel und Erde die Schauplätze

der Erlösung sind (wie sie auch anfangs die der

Schöpfung gewesen waren). Weiter finden wir in Abraham,

Isaak, Jakob und Joseph den Menschen (den Hauptgegenstand

der Erlösung) in seiner Auserwählung, Sohnschaft,

Zucht und Besitznahme des Erbes. Alle diese

Geheimnisse liegen offen vor unsern Augen und sind

beachtenswert für unsre Seelen.

Möchten wir, Geliebte, zum Preise Gottes sagen

lernen, daß, wie die Himmel die Herrlichkeit Gottes

erzählen, und die Ausdehnung Seiner Hände Werk verkündet,

so auch die Blätter der Heiligen Schrift mit

nicht geringerer Klarheit und Bestimmtheit das Wehen

Seines Geistes verraten!

Alles geschehe wohlanständig und in Ordnung."(1. Kor. 14, 40.)

III.

4. Der Zweck jeglicher Zucht ist, wie schon früher

bemerkt, außer der Wahrung der Ehre des Herrn, die

153

Wiederherstellung dessen, an welchem sie ausgeübt

wird. Wenn alle Ermahnungen fruchtlos bleiben, wenn

alle Mittel erschöpft sind, die zur Zurechtbringung eines

irrenden Gliedes angewandt werden können, so bleibt nur

noch die im Worte vorgeschriebene Zucht, als letztes Mittel,

übrig, um ihm dadurch behülflich zu sein, zum Bewußtsein

seiner Schuld und zum Bekenntnis vor Gott

und den Brüdern zu kommen. Paulus übte, in Verbindung

mit der Versammlung in Korinth, gegen den Sünder

in ihrer Mitte die Zucht aus, „auf daß sein

Geist errettet werde am Tage des Herrn Jesu".

(1. Kor. 5, 5.) Die Versammlung kann, nach Anwendung

dieses letzten Mittels, sich nur noch durch ihre Fürbitte

mit dem Verirrten beschäftigen, indem sie ihn der

Gnade des Herrn befiehlt, der durch die mächtige Wirkung

Seines Geistes auch zu einem, für die brüderlichen Ermahnungen

verschlossenen Herzen den Weg zu finden weiß.

Wenn nun ein solcher durch die Macht der Gnade

zu wahrer Buße gebracht wird, und in Aufrichtigkeit seine

Schuld bekennt, so daß vertrauenswürdige Brüder nach

eingehender Beschäftigung mit ihm die Ueberzeugung gewinnen,

daß der Zweck der Zucht erreicht und die Ursache,

weshalb sie angewandt werden mußte, beseitigt sei,

so wird dies der Versammlung mitzuteilen und seine Wiederaufnahme

zu empfehlen sein. Denn er bedarf zu seiner

Wiederherstellung nicht allein der Vergebung Gottes,

sondern auch der Vergebung von feiten der Versammlung.

(Matth. 18, 18; 2. Kor. 2, 6-8.) Diese Vergebung

wird ihren Ausdruck finden in seiner Wiederzulassung

zum Tische deS Herrn, und diese wird, als von

der Versammlung zugestanden betrachtet werden können,

154

wenn keine begründete Einwendung dagegen erhoben wird.

Indem dies bei der nächsten Gelegenheit zur Kenntnis der

am Tische des Herrn versammelten Gläubigen gebracht

wird, wird der von seinen Verirrungen Zurückgekehrte als

in die Gemeinschaft des Tisches des Herrn wieder eingeführt

betrachtet werden können.

5. In den vorstehenden Abschnitten ist wiederholt die

Rede gewesen von begründeten Einwendungen oder berechtigten

Einsprüchen gegen eine der Versammlung empfohlene

Handlung der Zulassung oder der Zucht. Da jedes Glied

einer örtlichen Versammlung die Mitverantwortlichkeit für

die von derselben gefaßten Beschlüsse trägt, so darf von

jedem auch eine gewissenhafte Prüfung der betreffenden

Angelegenheiten erwartet werden. Das Ergebnis einer

solchen Prüfung wird entweder eine stillschweigende Zustimmung

zu dem gemachten Vorschläge, oder eine Einwendung

dagegen sein. Daß beides in Uebereinstimmung

mit den Gedanken des Hauptes der Versammlung sein

möge, wird das ernste Anliegen jedes Gliedes sein.

Wenn nun der Versammlung Vorschläge zur Entscheidung

unterbreitet werden, welche nach der Ueberzeugung

einzelner Glieder nicht nach den in der Schrift ausgedrückten

Gedanken des Herrn sind, so ist es Gewissenssache

für sie, im Geiste der Sanftmut und Liebe ihre

Stimme dagegen zu erheben, indem sie ihre Einsprache

aus dem Worte Gottes begründen. Beruht eine solche

Begründung nicht auf einer mißverständlichen Auffassung

der betreffenden Schriftstellen, und kann dies nicht

durch Anführung anderer Stellen bewiesen werden, so

wird die Versammlung die gemachten Einwendungen als

155

berechtigt anerkennen müssen und in der betreffenden Angelegenheit

entweder gar nicht, oder doch nicht eher handeln

können, bis die Ursache, auf welche der Einspruch

sich gründet, beseitigt ist.

Indes können auch Einwendungen gemacht werden,

die nur auf Meinungsverschiedenheiten beruhen, ohne

daß dieselben sich auf bestimmte Schriftstellen gründen.

Oder es können schon in den Beratungen derjenigen

Brüder, welche sich eingehend mit der betreffenden Angelegenheit

beschäftigen, bevor sie der Versammlung zur

Entscheidung unterbreitet wird, Meinungsverschiedenheiten

der erwähnten Art hervortreten. In solchen Fällen würde

es bedenklich sein, Beschlüsse zu fassen, selbst wenn die

Mehrheit dafür sein sollte. Vielmehr wird es sich empfehlen,

die Sache dem Herrn in ernstem Gebet vorzutragen und

so lange geduldig zu warten, bis eine Uebereinstimmung

erzielt ist. Der Herr wird sicherlich auf das anhaltende

Flehen der Seinigen antworten und ihnen Seine Gedanken

in der Sache nicht vorenthalten.

Allerdings kann es Vorkommen, daß sich in einer

Versammlung bei einzelnen Gliedern ein Parteigeist offenbart,

der dieselben zum Widerstand gegen die für nötig

erachteten Beschlüsse leitet. Wenn dieser Widerstand sich

in Angelegenheiten geltend machen sollte, in welchen das

Wort Gottes das Verhalten klar vorschreibt, so werden

solche widerstrebenden Brüder ernstlich zu ermahnen sein;

falls sie trotzdem bei ihrem eigenwilligen Widerstande

beharren, mag es nötig werden, sie selbst aus der Versammlung

zu entfernen. Denn ihr Widerspruch richtet

sich nicht nur gegen die Versammlung, sondern gegen den

Herrn selbst, der Seinen Willen in der betreffenden An

156

gelegenheit in Seinem Worte kundgegeben hat. Es könnte

sich z. B. um den Ausschluß eines offenbaren Sünders

handeln, zu welchem einzelne Geschwister aus unlautern

Gründen ihre Zustimmung versagten. Diese Geschwister

würden dann die Versammlung zu verhindern suchen, sich,

dem Worte gemäß, von dem in ihrer Mitte befindlichen

Sauerteig zu reinigen und die Ehre des Tisches des

Herrn zu wahren. Ein solches Verhalten wäre nicht nur

ein Sicheinsmachen mit dem betreffenden Sünder, sondern

eine Versündigung gegen den Herrn selbst und die Heiligkeit

Seines Tisches. In einem solchen Falle würde die

Versammlung mit aller Entschiedenheit handeln müssen,

indem sie sich von dem Widerspenstigen trennt.

6. Schließlich sei noch ein Fall erwähnt, der sehr ernst

ist und schon wiederholt zu viel Herzeleid und Verunehrung

des Namens des Herrn Anlaß gegeben hat. Es giebt

Beispiele, daß eine Versammlung zu schwach ist, eine gottgemäße

Zucht auszuüben. Dies sollte alle Glieder derselben

veranlassen, sich ernstlich vor dem Herrn zu demütigen

und Seine gnädige Dazwischenkunft zu erflehen.

Geschieht das, so wird der Herr, der Seine Versammlung

so unaussprechlich lieb hat und den Schwachen so

gern zu Hilfe kommt, gewiß die nötige Weisheit und

Kraft darreichen, um die zur Aufrechthaltung der Heiligkeit

Seines Tisches notwendige Zucht ausüben zu können.

— Wie aber ist es, wenn diese Demütigung nicht erfolgt,

wenn sich also nicht nur ein allgemein schwacher, sondern

ein allgemein böser, verunreinigter Zustand offenbart?

wenn selbst Bitten und Mahnungen von andrer Seite,

sich von dem Bösen zu reinigen, ohne Erfolg bleiben und

157

die betreffende Versammlung mit dem Sauerteig in ihrer

Mitte in Verbindung bleiben will? In einem solchen

Falle wird für die mit jener Versammlung in Verbindung

stehenden Versammlungen kaum etwas anderes übrig

bleiben als die ernste Erwägung, ob sie sich nicht von

derselben zu trennen haben, damit nicht, wegen der Gemeinschaftlichkeit

des Tisches des Herrn, die Verunreinigung

auch auf sie übergehe.

Da gerade von der Gemeinschaftlichkeit des Tisches

des Herrn die Rede ist, so mögen hier noch einige damit

in Verbindung stehende Bemerkungen Platz finden.

Wie schon früher bemerkt, gehören alle lebendig

Gläubige au den Tisch des Herrn. Doch kann jede örtliche

Versammlung nur solche daran teilnehmen lassen,

die sie kennt und von denen sie die Ueberzeugung hat,

daß sie die im Worte bezeichneten, für die Gemeinschaft

der Gläubigen nötigen Eigenschaften besitzen. Wenn nun

ein Auswärtiger in eine Versammlung kommt und am

Tische des Herrn teilzunehmen wünscht, so wird es nötig

sein, daß er sich als ein solcher ausweise, der in Gemeinschaft

mit einer Versammlung ist, die auf dem Boden

der Wahrheit steht. Sollte er nicht Gliedern der Versammlung

persönlich bekannt sein und durch diese eingeführt

werden, so wird er der schriftlichen Empfehlung

eines bekannten auswärtigen Bruders bedürfen, um am

Tische des Herrn teilnehmen zu können. (Vergl. 2. Kor.

3, 1; Röm. 16, 1. 2; 1. Kor. 16, 3.)

Dies wird namentlich bei einer Verlegung des Wohnsitzes

von Geschwistern häufig außer acht gelassen, und

dadurch bereiten sie sich Ungelegenheiten. Um diese zu

vermeiden, würde es gut sein, wenn eine Versammlung,

158

aus welcher Geschwister in eine andere verziehen, dieser

andern Mitteilung darüber machte. Dadurch würde auch

noch einem weiteren Uebelstande begegnet werden können,

der mitunter in größeren Versammlungen hervortritt und

darin besteht, daß unter den Verzogenen sich solche

befinden, die im Besuch der Versammlung nachlässig sind,

es jedoch als ihr selbstverständliches Recht betrachten, sich

von Zeit zu Zeit an den Tisch des Herrn zu setzen. Da

sie aber unter der großen Anzahl unbeachtet und unbekannt

bleiben, so wird der Versammlung die Möglichkeit

entzogen, sich mit ihnen in geeigneter Weise zu beschäftigen,

um die Ehre des Tisches des Herrn zu wahren.

Die Mühe und Aufmerksamkeit, die den erwähnten

Mitteilungen gewidmet wird, kann gar nicht in Betracht

kommen gegenüber der Wichtigkeit des Gegenstandes. Es

handelt sich dabei um nichts Geringeres, als die Fürsorge

für die Ehre des Tisches des Herrn, ja die Ehre des

Herrn selber, und das Wohl der Seinigen.

Es giebt ohne Zweifel noch manche Fälle auf dem

Gebiete des Gemeinschaftslebens der Gläubigen, die in

diesen Blättern nicht besprochen sind. Möge nur in allen

Angelegenheiten der Versammlung, welche dieselbe zu ordnen

berufen sein sollte, jedes Glied durch das Bewußtsein geleitet

werden, daß die Versammlung der Leib Christi ist,

ihres im Himmel verherrlichten Hauptes, und daß die

Angelegenheiten der Versammlung auch die Seinigen sind,

damit in allem in völliger Uebereinstimmung mit Ihm

gehandelt werde!

159

Gehe hinaus, den Spuren der Herde nach."(Hohel. 1, 8.)

„Wenn du es nicht weißt, du Schönste unter den

Frauen, so gehe hinaus, den Spuren der Herde nach, und

weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten."

Die Antwort des Bräutigams auf die Frage der Braut

im 7. Verse: „Sage mir an, du, den meine Seele liebt,

wo weidest du, wo lässest du lagern am Mittag?" wird

bereitwillig und deutlich erteilt, aber auch nichts mehr als

das. Kein Beweis des Beifalls bezüglich der Fragen

wird gegeben. Und doch find es ohne Zweifel höchst

wichtige und bedeutungsvolle Fragen.

Warum das? Ist der Geliebte nicht erfreut, solche

Fragen aus dem Munde Seiner Geliebten zu vernehmen?

Er sagt es nicht, so wichtig die Fragen auch sein mögen.

Er freut sich ihrer selbst und versichert sie Seines Wohlgefallens

in den stärksten Ausdrücken: „du Schönste

unter den Frauen!" Seine Liebe ist unveränderlich dieselbe.

Köstlicher Gedanke! Nichts von dem, was sie thut,

nichts von dem, was andere über sie sagen, kann je die

Liebe Seines Herzens zu Seiner Braut verändern, obwohl

leider vieles von ihr gesagt und gethan wird, was Er nicht

billigen kann. Der Gläubige ist persönlich vollkommen in

Christo, vollkommen in den Augen Gottes. Er ist „gerechtfertigt

von allem" (Apstgsch. 13, 38. 39); praktisch aber

ist er voller Mängel.

Im vorliegenden Falle ist die Anrede des Bräutigams

an die Braut und Seine Antwort auf ihre Fragen von

einem andern Geiste durchweht. Woher mag das kommen?

frage ich nochmals. Wünschen wir nicht die Gedanken

160

des Meisters zu kennens O wie kostbar ist ein Heller

Strahl des Lichtes des Heiligen Geistes auf die geheiligten

Urkunden! Dann werden wir nicht nur den Buchstaben

der Schrift verstehen, sondern auch die Gedanken und

Gefühle des Herzens, aus welchem sie hervorgeflossen ist.

Lernen wir denn, daß einem Beifall in der Heiligen Schrift

niemals Ausdruck gegeben wird, es sei denn im Zusammenhang

mit Wahrheit und Heiligkeit. O wie oft

bitten wir um das, was wir schon haben! Wie oft

bitten wir um Licht und Leitung betreffs unsers Weges,

während das Licht eines wolkenlosen Himmels den Pfad

bestrahlt, den wir gehen sollten.

Giebt es nicht etwas in dem Wörtchen „wenn", was

anzudeuten scheint, daß der Herr von Seiner Braut erwartete,

daß sie die Spuren der Herde kenne? Es ist, als

ob Er sagte: „Gewiß, du kennst sie. Meine Gedanken über

alle diese Fragen, als der Hirte Israels, liegen offen

vor dir. Warum liesest und verstehest du sie nichts"

Der Herr tadelt nicht, doch Seine Liebe ist treu. So

sagte Er einst auch zu Philippus: „So lange Zeit bin

ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?"

Ach, wie zärtlich leitet Er! Wie sanft und gelinde sind

selbst die Verweise Seiner Liebe!

Christliche Gemeinschaft, wie sie im Worte gelehrt

wird, wird oft sehr wenig von jungen Bekehrten beachtet

und geschätzt. Sie gehen im allgemeinen den Weg, der am

bequemsten und angenehmsten für sie ist, ohne daß ihr Gewissen

jemals hinsichtlich der Frage in Uebung kommt, ob sie

auch den Spuren der Herde nachfolgen. Vielleicht sind sie

auf dem richtigen Wege; aber sie haben nie unter Gebet das

Wort Gottes untersucht, um sich über diesen Punkt Ge

161

wißheit zu verschaffen. Wäre die Kirche ungeteilt geblieben,

wie sie es am Pfingstfeste war, so würde keine Notwendigkeit

für eine solche Uebung und Untersuchung vorliegen.

Da aber die bekennende Kirche sich in so viele

Parteien und Teile gespalten hat, geziemt es jedem Kinde

Gottes, die Schrift zu untersuchen, um so den heiligen

Willen Gottes zu erkennen und zu thun.

Es ist eine betrübende Erscheinung, daß viele der

Geliebten des Herrn diesen Gegenstand für unwichtig

und unwesentlich halten. Dieser Gedanke entstammt

nimmermehr der Bibel. Er ist höchst verunehrend für

Gott und nachteilig für die Seele. Die Prüfungen, durch

welche wir die Braut in den verschiedenen Abschnitten des

Hohenliedes gehen sehen, scheinen ganz und gar aus der

Vernachlässigung der Unterweisungen herzurühren, die ihr

hier gegeben werden. Wir sagen wohl nicht zu viel, wenn

wir behaupten, d a ß die nächstwichtigeFrage nach

der Errettung der Seele diejenige der kirchlichen

Gemeinschaft ist. Wenn ein Christ bezüglich

dieses Punktes gleichgültig ist, wenn ihm nicht viel daran

liegt, den Willen des Herrn in dieser Hinsicht zu kennen,

so wird er sicher seinem eignen Willen folgen. Und was

muß dann die Folge sein? Gott wird Seiner Ehre

beraubt, Sein Wort wird beiseite gesetzt, dem Meister

wird nicht nachgefolgt, der Geist wird betrübt, und die

Seele verliert ihre Frische. Unter solchen Umständen

nimmt die „erste Liebe" bald ab, und Frieden und Freude

machen allerlei Befürchtungen und Zweifeln Platz.

Wir glauben, daß verhältnismäßig nur wenige

Gläubige lange in göttlicher Frische ihre erste Liebe bewahren.

Das lebendige Bewußtsein der „großen Liebe"

162

des Herrn zu uns, und wie Er allen unsern Bedürfnissen

entgegengekommen ist, verliert sehr bald seine Kraft. Wir

verlassen unsre erste Liebe. Und warum ist das so?

Anstatt zuzunehmen in der Erkenntnis des Herrn und

Ihm allein zu gefallen zu suchen, wählen wir unsern

eignen Weg, folgen unserm eignen Willen und betrüben

dadurch den Heiligen Geist; und die Folge ist, daß

Dunkelheit unsere Herzen überschleicht; das Licht ist sozusagen

ausgeschlossen, und wir werden schwach und ungewiß

bezüglich aller Dinge.

Der Herr spricht in Matth. 11 von zwei Arten

von Ruhe, worüber hier eine Bemerkung wohl am

Platze sein mag. „Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen

und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben."

Diese Ruhe ist die unmittelbare Gabe Seiner Liebe durch

den Glauben an Ihn. Alle Gläubigen, ohne Ausnahme,

besitzen diese Ruhe. Alle unsere mühsamen und fruchtlosen

Anstrengungen nach Errettung hören auf, wenn wir

zu Jesu kommen, und die schwere Last der Sünden,

unter welcher wir seufzten, wird für immer weggenommen.

Aber der Herr sagt weiter: „Nehmet auf euch mein Joch

und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von

Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für

eure Seelen." Ruhe des Gewissens giebt Er

durch die Vergebung unsrer Sünden, wenn wir an Ihn

glauben; Ruhe des Herzens finden wir im Gehorsam

und in der Unterwürfigkeit unter Seinen Willen.

„Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir ... .

und ihr werdet Ruhe finden" — Ruhe und Frieden

in jeder Lage, wie schwierig dieselbe auch sein möge.

Diese Schriftstelle erklärt uns, warum so viele Seelen

163

schon kurz nach der ersten Freude über ihre Bekehrung in

Unruhe geraten, und warum sie, trotzdem sie sich der Vergebung

ihrer Sünden bewußt sind, unruhig und unglücklich

werden, sobald Schwierigkeiten sich einstellen. Unterwürfigkeit

unter Christum in den Einzelheiten des täglichen

Lebens und das Lernen von Ihm werden aus dem Auge

verloren. Unter demselben Joch mit Christo sein bedeutet,

an Seiner Seite und Schritt für Schritt mit Ihm

wandeln. „Nehmet auf euch mein Joch." Das ist in

der That ein Wandeln in Seiner unmittelbaren Nähe;

und wenn es so mit uns ist, so werden wir sicher „Ruhe

finden", denn alle unsre Schwachheit fällt dann auf Ihn.

Wenn zwei zusammengejocht sind, so kann der Stärkere

den Schwächer» unterstützen; und sicherlich braucht der

schwächste Christ, wenn er anders in demselben Joche mit

Jesu, dem Starken, ist, keine Schwierigkeiten zu fürchten.

Alle unnützen Befürchtungen werden vor Seiner Gegenwart

verschwinden, und die Räder unsers Wagens werden sich

leicht durch den tiefsten Sand der Wüste fortbewegen.

Indes könnte eingewandt werden, daß alles dieses

klar genug erscheine, sofern es unsern persönlichen Wandel

und unsre persönliche Heiligkeit betreffe, daß aber unser

Pfad und unsre Stellung in kirchlicher Hinsicht nicht so

klar geoffenbart seien. Nichts würde jungen Christen

weniger geziemen, als über die verschiedenen Benennungen

der bekennenden Christenheit zu Gericht zu sitzen; aber

allen, sowohl jungen als alten, liegt es ob, die Gedanken

Gottes über diesen Gegenstand zu erforschen.

Es ruht auf uns sowohl eine persönliche wie eine korporative

Verantwortlichkeit, und das Wort des Herrn unterrichtet

uns über die eine so deutlich wie über die andere.

164

Nichts könnte einfacher und klarer sein, wenn es sich

um den Gegenstand der kirchlichen Gemeinschaft handelt,

als Matth. 18, 20: „Wo zwei oder drei versammelt

sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte."

Hier haben wir in klaren Worten die wahre Grundlage

aller christlichen Gemeinschaft — Christus der Mittelpunkt,

und die Gläubigen durch den Geist zu Ihm hin versammelt.

Beachten wir wohl, daß es nicht heißt: wo

zwei oder drei sich versammeln, oder wo zwei oder

drei zusammenkommen, sondern wo zwei oder drei

versammelt sind. Das deutet hin auf eine versammelnde

Kraft; eS ist nicht die bloße Wahl oder Wirksamkeit des

menschlichen Willens. Der Heilige Geist ist, wie wir

alle wissen, die Kraft, die zu dem Namen Jesu hin versammelt.

(Vergl. Joh. 14 und 16.) Christus ist der

Mittelpunkt Gottes, Sein Geist ist die Kraft, die zu.

diesem Mittelpunkt hin versammelt, und Seine Kinder

sind diejenigen, welche versammelt sind. Das ist die

Kirche Gottes. Und das ist es, wonach wir zu trachten

haben, nicht allein im Wort und im Geiste, sondern auch

in einer verkörperten Form.

Als unser hochgelobter Herr im Begriff stand, Seine

Jünger zu verlassen, sagte Er: „Ich werde den Vater

bitten, und Er wird euch einen andern Sachwalter geben,

daß Er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist der

Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie

Ihn nicht sieht, noch Ihn kennt. Ihr aber kennet Ihn,

denn Er bleibt bei euch und wird in euch sein."

(Joh. 14, 16. 17.) Hier haben wir die sammelnde,

bildende und erhaltende Kraft der Kirche Gottes.

Im Blick auf die Gegenwart des Heiligen Geistes

165

in der Kirche sind besonders drei Punkte bemerkenswert:

1. „daß Er bei euch fei in Ewigkeit;" nicht für eine

gewisse, begrenzte Zeit, wie es der Heiland selbst gewesen

war, sondern „für immer". 2. „Er bleibt bei euch;"

als Versammlung werdet ihr Ihn „bei euch" haben;

und 3. „Er wird in euch sein" — wohnend in jedem

Gläubigen persönlich. Dieselben köstlichen Wahrheiten

wurden später in der deutlichsten Weise durch den Apostel

in seinen Episteln gelehrt: „Wisset ihr nicht, daß euer

Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch

wohnt?" (1. Kor. 6, 19.) „In welchem auch ihr mitaufgebaut

werdet zu einer Behausung Gottes im

Geiste." (Eph. 2, 22.) Wunderbare, köstliche, gesegnete

Wahrheit: der Geist „in euch", „bei euch", „für

immer!" O wie überschwenglich reich ist die Mitgift

der Braut des Lammes!

Wenden wir jetzt einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit

einer praktischen Erläuterung von Matth. 18,

20 zu: „Als es nun Abend war an jenem Tage, dem

ersten der Woche, und die Thüren, wo die Jünger waren,

aus Furcht vor den Juden verschlossen waren, kam Jesus

und stand in der Mitte und spricht zu ihnen: Friede

euch! . . Und als Er dies gesagt hatte, hauchte Er in

sie und spricht zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist."

(Joh. 20.) Hier haben wir ein wahres und liebliches

Bild von der Versammlung Gottes. Christus in der

Mitte, der Mittelpunkt, und die Jünger versammelt um

den auferstandenen Jesus. Friede, Anbetung, Dienst und

der Geist der Kindschaft charakterisierten sie. Eine Versammlung,

die auf diesem göttlichen Boden versammelt

ist, wird nicht nur Christum in ihrer Mitte anerkennen,

166

sondern auch den Heiligen Geist als ihren unumschränkten

Leiter und als die Quelle aller Auferbauung

und Ermunterung. Die also Versammelten werden auf

den Herrn schauen, damit sie geleitet werden mögen durch

Seinen Geist zur Verherrlichung Gottes. (Vergl. 1. Kor.

12 und 14.)

Wenn wir nun eine so klare Vorschrift und ein so

deutliches Beispiel vor uns haben, ist es dann noch nötig,

den Herrn zu fragen, wo Er Seine Herde weide? Was

könnte Er mehr sagen, als Er uns bereits gesagt hat?

Es mag mir unmöglich sein, die Unterschiede zwischen der

einen und andern Kirchenpartei aufzuzählen, aber ich

brauche nicht im Unklaren darüber zu sein, ob eine derselben

in Uebereinstimmung mit dem Worte Gottes ist,

welches so deutlich Seinen Willen offenbart. Vielmehr

sollte ich Ihn bitten, mich vor jedem Nebenpfade zu bewahren

und mich nicht meinem eignen Willen folgen zu

lassen, sondern durch Seinen Heiligen Geist in den Wegen

der Wahrheit zu leiten. Und, mein lieber christlicher Leser,

laß uns nie vergessen, daß Er versichert hat da zu sein,

wo Seine Jünger zu Seinem Namen hin versammelt

sind. Dort ist die Stätte ihrer Ruhe und Weide. Seine

Gegenwart ist genug, um die Seele bis zum Uebersließen

zu füllen. „Vor Seinem Angesicht ist Fülle von Freuden."

Der anziehendste Dienst, die glänzendsten und

bezauberndsten Ceremonien, die angenehmsten Verbindungen

sind nicht Christus. WaS ich begehre, was mir not thut,

ist da zu sein, wo der Glaube mit Gewißheit sagen kann:

Christus selbst ist gegenwärtig.

Wie lieblich, wenn Jesus die Seinigen findet

Um Ihn, den Gekreuzigten, dankbar vereint;

167

Wenn innige Liebe die Herzen verbindet,

Und Thränen der Freude das Auge nur weint!

Ihr Danken und Loben

Steigt jubeknd nach oben,

Zu Dem, der den Sohn, den geliebten, geschenkt,

Mit Vatergefühlen der Seinen gedenkt.

Wie lieblich, wenn Brüder in Eintracht und Frieden

Sich sonntäglich scharen zum herrlichsten Mahl;

Den Tod ihres Herrn zu verkünden hienieden,

Mit Ihm in der Mitte, wie klein auch die Zahl!

Sie rühmen und preisen

In lieblichen Weisen

Den Gott, der so Großes an ihnen gethan,

Dem sie als Erlöste und Kinder nun nah'n.

„Weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten."

Nachdem wir den wahren Boden und Charakter

christlicher Gemeinschaft aus dem Worte kennen gelernt

haben, find wir verantwortlich, auch die jüngern unter

uns auf diese Wege zu leiten, zu den Spuren der Herde

Gottes. Göttliche Nahrung sür jung und alt ist nur

dort zu finden. Das Lämmlein lernt bald den Fußstapfen

seiner Mutter folgen und auf derselben Weide sich

nähren. Der königliche Hirte Israels sorgt für die Lämmer

Seiner Herde. „Er wird Seine Herde weiden wie ein

Hirt, die Lämmer wird Er in Seinen Arm nehmen und

in Seinem Busen tragen, die Säugenden wird Er sanft

leiten." (Jes. 40, 11.) Er sorgte für die Schwächsten

Seiner Herde, als Er Sein Volk Israel aus Egypten und

durch das Rote Meer leitete. Nicht eine Klaue durfte

zurückbleiben. (2. Mose 10, 26.) Und Speise fand sich

für alle rund um ihre Zelte her an jedem Morgen, so

lange sie durch die dürre, schreckliche Wüste zogen.

168

Unser guter Herr will es auch jetzt so haben in den

Versammlungen Seiner Heiligen. Und da, wo der Heilige

Geist in Seiner Wirksamkeit frei und ungehindert ist,

wird Er sicherlich Milch für die Unmündigen und feste

Speise für die Erwachsenen darretchen. Von der Kirche

wird gesagt, daß sie die Wohnung, das Zelt oder die

Behausung Gottes sei. (Eph. 2, 22.) Zu diesem Zelte

hin, in welchem Gott selbst zu wohnen sich herabgelassen

hat, möchten wir alle Lämmer Jesu versammelt sehen;

das ist unser Flehen zu Gott. O daß die Gegenwart

des Herrn eine größere Anziehungskraft für die Herzen

besäße, als alles andere! Höre Ihn sagen, mein lieber

Leser: „da bin ich in ihrer Mitte!" und sei auch du da,

wo Jesus ist! Wer oder was könnte Ihn ersetzen? Was

wäre die schönste Versammlung auf Erden ohne Ihn?

Ja, was würde der Himmel selbst sein ohne Seine Gegenwart

? Ein leerer Raum! Doch was ist die Wüste mit

Seiner Gegenwart? Das Paradies Gottes. Stets und

überall ist Seine Gegenwart die Stätte des Segens, der

Freude und des Glückes. Möge unser treuer Gott und

Vater die vielen teuren Lämmer Christi in diesen letzten

Tagen aus allen menschlichen Höfen und Umzäunungen

hinausführen und sie als die eine wahre Herde sammeln

um den Hirten und Aufseher unsrer Seelen!

Das Wort der Gnade.

Ich suchte Trost und fand ihn nicht;

Da ward das Wort der Gnade

Mein Labsal, meine Zuversicht,

Das Licht auf meinem Pfade.

Es zeigte mir den Weg zu Dir,

Und leuchtet meinen Schritten

Bis zu den ew'gen Hütten-

Ich halte es für recht, so lange ich in

dieser Hütte bin, euch durch Erinnerung

aufzuwecken."

„Deshalb will ich Sorge tragen, euch immer an

diese Dinge zu erinnern, wiewohl ihr sie wisset und

in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt seid. Ich halte es

aber für recht, so lange ich in dieser Hütte bin, euch durch

Erinnerung aufzuwecken." (2. Petr. 1, 12. 13.)

So schrieb vor beinahe zweitausend Jahren ein alter,

treuer Diener Christi an die ihm anvertraute Herde. In

Liebe und Hingebung hatte er ihr lange Zeit gedient, eingedenk

des hohen, ehrenvollen Auftrages seines Herrn und

Meisters: „Weide meine Lämmlein" — „hüte meine

Schafe!" und nun stand er im Begriff, diese Erde zu

verlassen, seinen Hirtenstab in die Hände des Erzhirten

zurückzulegen und seinen Glauben mit dem Märtyrertode

zu besiegeln. Angesichts dieses nahe bevorstehenden Ereignisses

und durch jahrelange Erfahrung vertraut mit den

Bedürfnissen der Herde, hielt er es für recht, sie immer

wieder an die alten, längstgekannten Wahrheiten zu erinnern

und sie durch Erinnerung „aufzuwecken".

Wenn diese Erinnerung damals so not that, sollte

es heute anders sein? Fortschritte in der Erkenntnis zu

machen, ist sicher gut und gesegnet; aber wir wissen aus

schmerzlicher, demütigender Erfahrung, daß eine große Erkenntnis

nicht bewahrt, vielmehr ernste Gefahren in sich

birgt. Was heute wie damals vor allen Dingen not thut,

170

ist praktisches Christentum; und um dieses zu üben,

bedürfen wir der fortwährenden Erinnerung an die uns

überlieferten Wahrheiten, an Dinge, die wir vielleicht längst

wissen, die wir aber gerade deshalb so leicht vergessen und

außer acht lassen. Auch richten sich die einfachsten praktischen

Ermahnungen mit derselben Kraft an den Vater wie an

das Kindlein in Christo. Alter und Erkenntnis schützen

nicht vor Straucheln und Fallen. Nur in dem steten Verkehr

mit dem Herrn und in einer ununterbrochenen Wachsamkeit

liegt die Bürgschaft für die Bewahrung auf dem Wege.

Mag der Geist auch willig sein, so ist doch das Fleisch

schwach. Gerade Petrus hat dies in einer höchst auffallenden

Weise erfahren müssen. Irgendwie auf sich selbst,

auf seine Kraft, Erkenntnis oder Erfahrung zu vertrauen,

ist eine gefährliche Klippe, und mancher ist schon daran

gescheitert. Der Herr, der unsre Bewahrung sucht und

wünscht, ermahnt uns deshalb wiederholt in Seinem Worte,

zu wachen und zu beten. „Sehet zu, wachet und

betet!" — „Was ich euch sage, sage ich allen: Wachet!"

(Mark. 13, 33. 37.) „Beharret im Gebet und

wachet in demselben mit Danksagung." (Kol. 4, 2.)

„Seid nun besonnen und seid nüchtern zum Gebet."

(1. Petr. 4, 7.)

Wenn irgend ein Ruf heute Gehör und Beachtung

bei uns finden sollte, so ist es dieser: „Wachet!" Die

Zeit der Ruhe und des Friedens nach außen wirkt einschläfernd.

Ein Heer, das lange keinen Angriff von feiten

des Feindes zu erfahren hatte, wird leicht sorglos. Die

Wachen wandern nachlässig auf ihren Posten hin und her.

Die Führer beschäftigen sich mit Dingen, zu denen sie

früher keine Neigung, für die sie auch keine Zeit hatten.

171

Das Heer selbst giebt sich dem behaglichen Gefühl der

Sicherheit hin, richtet sich so bequem wie möglich ein und

schaut gleichfalls nach Dingen aus, die ihm die Zeit vertreiben

helfen. Wohl ertönt hie und da eine warnende

Stimme, aber man hat kein Ohr dafür; der Warner ist

allzu ängstlich, denkt man, er sieht zu schwarz, und er

wird zuletzt gar lästig.

Der Feind aber ist unermüdlich thätig. Die Schläfrigkeit

der Wachen und die Sorglosigkeit des Heeres benutzend,

schleicht er sich ins Lager ein, kundschaftet die schwachen

Stellen desselben aus, und plötzlich, ehe man sich's versieht,

ist er da, mitten im Lager! Gelingt es ihm auch

nicht, das ganze Heer zu vernichten, so zieht er doch, mit

reicher Beute beladen, von dannen, Verwirrung, Beschämung

und Trauer zurücklasseud.

Trifft dieses Bild nicht in etwa auch auf uns zu,

geliebte Brüder? Und wenn es so ist, sollten wir dann

nicht wieder mehr wachen, wie wir es im Anfang gethan

haben, wieder eifriger sein im Gebet und inbrünstiger in

unserm Rufen zum Herrn? O laßt uns von neuem beginnen,

unverrückt auf den Herrn zu schauen und mit

sehnlichem Verlangen Seiner Ankunft zu unsrer Errettung

aus allem Kampf und Leid entgegen zu harren! So lange Er

der Gegenstand, die Freude und Wonne unsrer Herzen ist,

so lange wir mit Ihm in einem vertrauten Umgang stehen

und mit Sehnsucht Seine Rückkehr erwarten, bleiben wir

in den mannigfachen Versuchungen stark und getrost, sind

auf unsrer Hut, und der Feind kann uns nicht antasten.

Wir sind alsdann, wie wir in 1. Thefs. 5, 8 lesen, angethan

mit dem Brustharnisch des Glaubens und der

Liebe, und als Helm mit der Hoffnung der Seligkeit.

172

Wir befinden uns in den Tagen der „kleinen Kraft";

aber der Herr hat „die Thüren geöffnet, die niemand zu

schließen vermag". (Offb. 3, 7—12.) Es sind die letzten

Tage der Kirche Christi auf der Erde, und der Herr ruft

uns zu: „Ich komme bald; halte fest, was du hast, auf

daß niemand deine Krone nehme!" Ja, Er kommt bald,

um Seine geliebte Braut heimzuholen, damit sie für immer

bei Ihm im Vaterhause in der Herrlichkeit droben sei, wo

es keine Thränen und keine Trennung mehr giebt. Ist

es deshalb nicht der Mühe wert, mit aller Treue und

Entschiedenheit an dem festzuhalten, was Er uns anvertraut

hat?

Die Ankunft des Bräutigams ist, wie gesagt, nahe

gerückt. Unsre glückselige Hoffnung, Ihn zu schauen, kann

sich jeden Tag erfüllen, und sie wird sich sicher erfüllen,

sobald das letzte Glied dem Leibe Christi hinzugefügt ist.

Dann ist unser Sehnen für ewig gestillt, der Kampf ausgestritten,

die Wüstenwanderung zurückgelegt, das herrliche Ziel erreicht.

Darum: Aufgeschaut!

Nacht entflieht, der Morgen graut.

Kummerthränen, nachts geweinet,

Glänzen, wenn der Morgen scheinet,

Dann als Freudenperl' im Licht

Vor des Heilands Angesicht.

Aufgeschaut, Sel'ge Braut!

Der Herr sammelt in großer Eile und vermehrt die

Zahl der Seinigen von Tag zu Tage. Sein Name, in

welchem allein Rettung vor dem kommenden Zorn zu

finden ist, ist in den letzten Jahrzehnten mehr als je verkündigt,

und eine große, schier unzählige Schar ist dem

173

Herrn hinzugefügt worden. Und ist auch durch die List

des Feindes und durch die Untreue derer, die um einen

so teuren Preis erkauft sind, die Versammlung Gottes

immer mehr zersplittert und die Wahrheit in ihrer Mitte

vielfach verdorben worden, so hat der Herr Seine Gnade

doch nur um so überströmender erwiesen. Er hat durch

Seinen Geist die Wahrheit, „wie sie in dem Jesus ist"

(Eph. 4, 21), wieder ans Licht gebracht und in den Herzen

vieler Tausender Eingang finden lassen. Sie erfreuen

sich nicht allein der Vergebung ihrer Sünden durch das

Opfer Christi, sondern wissen auch, daß sie nach ihrem

frühern Zustande vor Gott völlig beseitigt sind, daß der

Leib der Sünde abgethan ist, indem sie mit Christo gekreuzigt,

gestorben und begraben sind; sie wissen, daß sie

sich in einer neuen Stellung vor Ihm befinden, und zwar

in Christo Jesu, der zur Rechten Gottes sitzt. (Röm.

6, 6; Kol. 3, 3; Eph. 2, 5. 6.) Nichts vermag sie

von Seiner Liebe zu scheiden (Röm. 8, 39), und niemand

sie aus Seiner Hand zu rauben. (Joh. 10, 28. 29.)

Sie sind in Christo, und darum ihrer Stellung nach

ebenso sicher wie Er selbst. In Ihm sind sie jetzt schon

gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen

Oertern (Eph. 1, 3); sie erfreuen sich der Erkenntnis der

Gedanken und Ratschlüsse Gottes vor Grundlegung der

Welt — des großen Geheimnisses, dessen Gegenstand

Christus und die Versammlung ist. Er ist das Haupt,

sie der Leib, die Fülle Dessen, der alles in allem erfüllt.

Sie ist, so zu sagen, Sein zweites Ich, gemäß Seinen

eignen Worten, die Er einst an Saulus, den rasenden

Verfolger der Versammlung Gottes, richtete: „Saul, Saul,

was verfolgst du mich?" Sie ist für Zeit und Ewigkeit

174

unzertrennlich mit Ihm verbunden. Deshalb wird sie auch

alles mit Ihm besitzen; sie ist Seine Miterbin; sie wird

mit Ihm richten und regieren und die Ihm vom Vater

gegebene Herrlichkeit mit Ihm teilen. (Röm. 8, 17;

1. Kor, 6, 2. 3; Joh. 17, 22.)

Vielleicht möchte der eine oder andere Leser hier

denken: Das alles sind Dinge, die mir längst bekannt

sind; warum sie wieder aufzählen? Gewiß, es sind bekannte,

längst unter uns bekannte Dinge! Ich rede auch

nicht davon, um dir etwas Neues zu sagen, sondern um

dich durch Erinnerung „aufzuwecken", wiewohl du jene Dinge

kennst und in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt bist.

Wahrheiten zu kennen und in ihnen zu leben sind

zwei sehr verschiedene Dinge. Mancher Christ gleicht einem

reichen Manne, der in einem wohl verschlossenen Schranke

kostbare Kleinodien aufbewahrt. Anfänglich, als sie in

seinen Besitz kamen, betrachtete er sie mit großem Interesse

und herzlicher Freude, und konnte sich nicht satt an ihnen

sehen; aber nach und nach sind sie etwas Altes für ihn

geworden, und jetzt zeigt er sie nur noch dann und wann

einem guten Freunde, der ihn besucht. — Gerade so geht

es, wie gesagt, manchem Gläubigen mit den kostbaren

Dingen Christi. Das was sein Herz im Anfang so überaus

glücklich machte, das was er nicht genug betrachten

konnte, liegt schon lange im Schranke und wird nur

gelegentlich einmal hervorgeholt, um vor andern damit

zu glänzen.

Wie steht es in dieser Hinsicht mit dir, mein lieber

Leser? Gehörst du auch zu diesen armen reichen Leuten?

Sind die unergründliche Güte und die alle Erkenntnis

-übersteigende Liebe Christi etwas Altes für dich geworden?

175

Haben sie ihre ursprüngliche Lieblichkeit für dich verloren?

Liegen die Kleinodien im Schranke? O dann hole sie

hervor und weide dich von neuem an ihrem wunderbaren,

unvergänglichen Glanze. Betrachte sie von allen Seiten!

Wie du sie auch drehen und wenden magst, sie strahlen

immer in reinem, herrlichem Lichte. Dein Herz wird

wieder anfangen in Liebe zu brennen. Du wirst ausrufen:

Welch ein Thor war ich! Wie konnte ich diese

Liebe je vergessen? Wie konnte ich müde werden, Ihn zu

betrachten und zu preisen, der mich geliebt hat, als ich

noch tot war in Vergehungen und Sünden, der um meinetwillen

arm wurde und mich nun so unermeßlich reich gemacht

hat in Seiner Liebe?

Auch hat der Herr in dieser letzten Zeit uns und

viele Tausende der Seinigen mit uns zu dem zurückgeführt,

was von Anfang war. Von Ihm selbst belehrt,

versammeln wir uns wieder einfach in dem Namen Jesu

und unter der Leitung des Heiligen Geistes. An jedem

ersten Wochentage (Apstgsch. 20, 7) kommen wir an dem

Tische unsers geliebten Herrn zusammen und verkündigen

Seinen Tod in dem süßen Bewußtsein, daß Er selbst in

unsrer Mitte ist. — Der Tod des Herrn! „Es ist unmöglich,"

schreibt ein Bruder, der nun schon längst von

seiner Arbeit beim Herrn ausruht, „zwei Worte zu finden,

in deren Verbindung eine so tiefe Bedeutung liegt wie in

den Worten: der Tod deS Herrn. Wie vieles liegt

in der Thatsache, daß Er, der Herr genannt wird, gestorben

ist! Welch eine Liebe! welche Ratschlüsse! welch

eine Kraft! welche Resultate!" Und diesen bedeutungs-

vpllen Worten reihen sich die andern an: „Wo zwei oder

drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in

176

ihrer Mitte." Was könnte es Kostbareres geben, als

den Herrn selbst in unsrer Mitte zu haben, wenn auch

nicht sichtbar für unsre natürlichen Augen, so doch spürbar

für den Glauben? Ihn, der in der Nacht, als

Er überliefert wurde, dieses Gedächtnis Seiner

Leiden und Seiner Liebe einsetzte? Ihn, dessen heiliger Leib

für uns geopfert wurde, der jetzt droben in der Herrlichkeit

ist und dessen Wiederkunft wir jeden Tag erwarten? Ihn,

der uns mehr geliebt hat als Sein eigenes Leben?

Wahrlich, es ist ein unaussprechlich hohes Vorrecht,

da sein zu dürfen, wo der Mensch völlig in den Hintergrund

tritt, wo Christus und Seine Liebe alles sind, wo

die Gefühle und Zuneigungen des Herzens in einer Weise

in Thätigkeit treten können, wie bei keiner andern Gelegenheit.

Aber wird dieses Vorrecht wohl so von uns

geschätzt, wie es verdient geschätzt zu werden, oder wie es

selbst im Anfang von uns geschätzt wurde, als der Herr

uns die Augen über diese kostbaren Dinge öffnete und

uns aus den menschlichen Systemen herausführte? Vergessen

wir nicht, daß die Größe des Vorrechts immer

auch der Größe der Verantwortlichkeit entspricht. Es ist,

wie gesagt, der Tod des Herrn, den wir verkündigen,

und der Tisch des Herrn, um den wir uns allsonntäglich

scharen. Wie waren wir am letzten Sonntage

dort? Mit reinem Herzen und vorwurfsfreiem Gewissen?

Haben wir die Lieblichkeit Seiner Gegenwart geschmeckt,

und hat Er von unS empfangen, was Er so gern von

uns zu empfangen wünscht? Haben wir wirklich Sein

Gedächtnismahl gefeiert? War es eine Stunde freudiger

und dankbarer Anbetung? Prüfen wir uns mit Ernst

und Aufrichtigkeit, eingedenk der Worte des Apostels:

177

„Wer unwürdiglich ißt und trinkt, ißt und trinkt sich selbst

Gericht, indem er den Leib nicht unterscheidet." (Vergl.

1. Kor. 11, 27—32.)

Und wie steht es mit unsern Zusammenkünften zum

gemeinschaftlichen Gebet? Welch eine Gnade, daß wir alle

unsre Anliegen mit Gebet und Flehen vor Ihm kundwerden

lassen dürfen! Und wer ist so bereit, uns zu erhören

und alles Gute uns darzureichen wie Er? Allezeit

in Liebe unser gedenkend, ist Er stets für unser Bestes

besorgt. Er liebt Seine Versammlung; denn Er hat sich

selbst für sie hingegeben. (Eph. 5, 25.) Wo ist eine Liebe

wie Seine Liebe?

Wie aber entsprechen wir dieser Liebe? Während Er

da ist, wo zwei oder drei in Seinem Namen versammelt sind,

während E r mit liebender Teilnahme auf all unser Flehen

lauscht und hören will, noch ehe wir rufen, findet sich bei

uns oft eine unbegreifliche Nachlässigkeit im Besuch der

Zusammenkünfte zum Gebet. Ich sage „unbegreiflich", denn

eine Nachlässigkeit in der Benutzung eines unsrer gesegnetsten

Vorrechte ist in der That nicht zu begreifen. Man hat

den Besuch der Gebetsstunden und den Geist, der in ihnen

herrscht, das sichere Barometer des geistlichen Zustandes

einer Versammlung genannt; und nicht mit Unrecht. Denn

wenn die Gebetsstunde wenig besucht wird, wenn die Teilnahme

an der Fürbitte schwach und der Ton der Gebete

niedrig ist, so kann man mit Sicherheit den Schluß ziehen,

daß die Herzen träge geworden sind, und daß daheim im

Kämmerlein auch nicht viel gebetet wird. Und was ist

die notwendige Folge eines solchen Zustandes? Eine

immer mehr zunehmende Lauheit und Dürre, eine fortschreitende

Abnahme der Thätigkeit für den Herrn und

178

eine erschreckende Zunahme des Weltsinns, der Vergnügungssucht

und des Jagens nach den irdischen Dingen.

Müssen wir nicht über diese traurigen Erscheinungen

klagen in der Mitte mancher Versammlungen? Und doch

singt man:

Dank Dir, o Herr, daß Gold und Schätze,

Und Pracht und Schönheit dieser Welt,

Daß kein Ding je mich kann ergötzen,

Das mir die Welt vor Augen stellt!

Mein Jesus, Du bist meine Freude,

Mein Gold, mein Schatz, mein schönstes Bild;

Nur Du bist meine Lust und Weide,

Und was mein Herz für ewig stillt.

Ist nicht sehr zu befürchten, daß der Gesang bei

vielen nur ein Wort der Lippen ist, von dem daS Herz

nichts weiß? Anstatt ein solches Lied zu singen, wäre es

wohl oft viel mehr am Platze, Leid zu tragen und sich

in tiefer Zerknirschung vor Gott in den Staub zu beugen.

Ein hohes Bekenntnis, verbunden mit geistlicher Armut

und Lauheit, ist das Kennzeichen Laodicäas, zu welchem

der Herr sagt: „Weil du lau bist und weder kalt noch

warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem Munde."

(Offbg. 3, 16.) Ernstes, niederschmetterndes Urteil, das

auch uns wohl zu denken geben sollte!

Es bleibt mir noch übrig, ein kurzes Wort über das

Zusammenkommen zur Betrachtung des Wortes zu sagen.

Wenn dasselbe auch nicht gerade die gleiche Bedeutung

haben mag wie der Gottesdienst und die Gebetsversammlung,

so können wir doch sicher auch hierauf die Ermahnung

des Apostels anwenden: „indem wir unser Zusammenkommen

nicht versäumen, wie es bei etlichen Sitte

ist, sondern einander ermuntern, und das umsomehr, je-

179

mehr ihr den Tag herannahen sehet." (Hebr. 10, 25.)

Wie es bei etlichen Sitte ist — wahrlich, ein

ernster Vorwurf für die gläubigen Hebräer! Aber würde

der Apostel nicht heute in ähnlicher Weise an uns schreiben

müssen? Ist es nicht bei manchem eine Sitte geworden,

das Zusammenkommen zu versäumens

Dian wendet ein: Kann man sich denn nicht auch im

Kreise der Seinen erbauens Ist der Segen des Herrn

nur den versammelten Gläubigen verheißen s Nein,

nicht nur, aber doch in besonderer Weise. Und was

thut man im Grunde mit solchen Einwänden s Doch nichts

anderes, als daß man sich für weiser erklärt als Gott

selbst. Gott läßt uns auffordern, unser Zusammenkommen

nicht zu versäumen, sondern uns gegenseitig zu ermuntern

und uns zu erbauen, und das umsomehr, je

näher wir dem Tage kommen, an welchem alles

offenbar werden und ein jeder seinen Lohn empfangen

wird nach seiner Treue. Aber der Mensch erklärt: An

dem vielen Zusammenkommen liegt es auch nicht; zudem

muß man Rücksichten auf seine Familie nehmen; man ist

die ganze Woche hindurch im Drange der Geschäfte, und

ist deshalb froh, am Sonntag einmal einige Stunden

seinen Kindern widmen zu können; ebenso muß man an

seinen Körper denken u. s. w. u. s. w. So unumwunden

nun auch jeder zugeben wird, daß wir Pflichten gegen

unsre Familie und unsern Körper haben, und daß der

Sonntag, besonders für Handwerker, Fabrikarbeiter ?c., ein

Tag ist, an dem sie dankbar die Ruhe genießen dürfen,

die Gott selbst für sie vorgesehen hat, so wird doch niemand

behaupten können, daß neben den sonntäglichen Zusammenkünften

nicht genügende Zeit bleibe, um mit der

180

Familie sich in der frischen Lust ergehen zu können. Und

was die Ruhe betrifft, so ist es offenbar, daß Geist und

Herz eines Christen durch nichts mehr erquickt und belebt

werden, als durch das Sitzen zu den Füßen Jesu und

durch die Pflege der Gemeinschaft mit den Geschwistern.

Zudem laßt uns nicht vergessen, daß der Sonntag der

Tag des Herrn ist — der Tag, der Ihm in ganz

besonderer Weise gehört und Ihm deshalb auch in ganz

besonderer Weise gewidmet werden sollte. Wenn jemand

an diesem Tage keine Zeit findet, da zu sein, wo der

Herr Seines Namens Gedächtnis gestiftet hat, so wird

er in der Woche wohl erst recht das Zusammenkommen

versäumen und schließlich nur noch am Sonntag Morgen

sich in der Mitte der Gläubigen einfinden.

Sehr ernst sind die Folgen einer solchen Vernachlässigung

und Versäumung des Zusammenkommens, nicht

nur für den betreffenden Bruder oder die Schwester selbst,

sondern auch für seine Angehörigen, seine Kinder und für

andere junge oder wenig befestigte Gläubige. Das Interesse

an den göttlichen Dingen nimmt immer mehr ab, und

das Zeugnis wird schwächer und schwächer. Anstatt ein

Vorbild im Guten zu sein und andere zu gleicher Entschiedenheit

und Treue anzuspornen, tritt man in die Reihe

derer, welche auf dem Wege „zurückzubleiben scheinen",

und veranlaßt andere, dasselbe zu thun. Ach, wie wenig

denken wir oft daran, daß wir für unsre Mitpilger entweder

eine Hilfe oder ein Hindernis sind! — O Herr,

erwecke in diesen bösen, schweren Zeiten in uns und allen

den Deinigen den aufrichtigen Herzensentschluß, bei

Dir zu verharren und uns gegenseitig zu ermuntern, bis

Du kommst und uns heimführst in Deine Herrlichkeit!

181

Ja, schenke uns die Gnade, daß wir von Tag zu Tage

im Lichte Deines Richterstuhls wandeln, vor dem wir alle

einmal offenbar werden müssen!

(Fortsetzung folgt.)

Einem Rosse an des Pharao Prachtwage»vergleiche ich dich."

(Hohel. 1, 9—12.)

„Einem Rosse an des Pharao Prachtwagen vergleiche

ich dich, meine Freundin. Anmutig sind deine Wangen

in den Kettchen, *) dein Hals in den Schnüren." Jetzt

spricht der Bräutigam nur über die Braut selbst. Den

Gegenstand ihrer Fragen hat Er fallen lassen; Seine Anrede

ist direkt und persönlich. Und o, wie voll und frei

sind die Ausdrücke Seiner bewundernden Liebe! „Ich

vergleiche dich, meine Freundin . . . Anmutig sind

deine Wangen . . . dein Hals in den Schnüren."

Wie oft bekleidet der menschliche Geist den Gegenstand

seiner Bewunderung mit anmutigen Reizen und betrachtet

dann in Selbstgefälligkeit und Selbstverehrung sein eignes

Bild. Nicht so der göttliche Geist; hier ist alles wirklich

und echt. Der Herr schmückt die Braut Seines Herzens

mit Seiner eigenen Anmut, und dann bewundert Er sie.

Er liebte sie, Sein Name sei gepriesen! ehe irgend etwas

an ihr zu bewundern war. Das ist göttlich. „Gott erweist

Seine Liebe gegen uns darin, daß Christus, da wir

noch Sünder waren, für uns gestorben ist." (Röm. 5, 8.)

Nachdem Er sie mit Seinen eigenen Reizen geschmückt hat,

*) Eig. rundliche Schmuckstücke, die zu beiden Seiten vom

Kopfbunde herabhingen.

182

bleibt nichts an ihr, was Sein Auge beleidigen oder Sein

Herz betrüben könnte. „Ganz schön bist du, meine

Freundin, und kein Makel ist an dir." (Kap. 4, 7.)

„Das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden."

(2. Kor. 5, 17.) Sie hat dasselbe Leben und dieselbe

Stellung mit ihrem auferstandenen, lebenden Herrn. Welch

eine Würde, Herrlichkeit und Segnung!

In der Größe Seiner Liebe hat „Er sich selbst für

uns dahingegeben", und jetzt, als der gekreuzigte und auferstandene

Jesus, sind wir Seine Miterben. „Nicht wie

die Welt giebt, gebe ich euch." (Joh. 14, 27.) Die Welt

giebt einen Teil und behält einen Teil für sich; aber

Christus giebt alles. „Die Herrlichkeit, die du mir

gegeben hast, habe ich ihnen gegeben." (Joh. 17, 22.)

In der Bewunderung Seiner Braut, obgleich sie noch in

der Wüste ist, steht Er in Uebereinstimmung mit sich selbst,

weil sie vollkommen ist in Seiner eigenen Vollkommenheit.

Rebekka war geschmückt mit den Juwelen Isaaks, lange

bevor sie das Zelt seiner Mutter erreichte. Und von der

Braut Jehovas finden wir geschrieben: „Und ich schmückte

dich mit Schmuck: ich legte Armringe an deine Hände

und eine Kette um deinen Hals, und legte einen Reif in

deine Nase und Ringe in deine Ohren und setzte eine

Prachtkrone auf dein Haupt. Und so wurdest du mit

Gold und Silber geschmückt . . . und dein Ruf ging aus

unter die Nationen wegen deiner Schönheit; denn sie war

vollkommen durch meine Herrlichkeit, die ich auf dich gelegt

hatte, spricht der Herr, Jehova." (Hes. 16, 11 — 14.)

„Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit Punkten

von Silber." Eine goldene Kette ist bekanntlich ein

Zeichen von Beförderung, von hoher Gunst und Würde,

183

wie z. B. bei Joseph und Daniel. Aber was bedeuten

diese wunderbaren Worte des Königs? Er hat Seine

Braut, ihre Schmuckstücke und goldnen Schnüre bewundert;

und jetzt fühlt Er sich veranlaßt, noch mehr für sie zu

thun. „Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit

Punkten von Silber."

Wir? warum wir? Will uns die Mehrzahl au

das Geheimnis der heiligen Dreieinigkeit erinnern? Bei

dem Werke der Schöpfung hieß es: „Lasset uns Menschen

machen in unserm Bilde nach unserm Gleichnis."

Und das Werk der Erlösung gab Anlaß, wie wir wissen,

zur Offenbarung der verschiedenen Personen der Gottheit.

„Wenn jemand mich liebt," sagt der Herr, „so wird er

mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und

wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm

machen." Und von dem Heiligen Geiste sagt Er: „Ihr

kennet Ihn, denn Er bleibt bei euch und wird in euch

fein." (Joh. 14.)

Was aber haben wir unter den „goldenen Kettchen

mit Punkten von Silber" zu verstehen? Es handelt sich

hier ohne Zweifel um einen Kopfschmuck, vielleicht eine

Art Diadem, ein Kranz oder eine Krone. Ist es ein

goldener Kranz mit Punkten von Silber? Die bereits

angeführte Stelle aus dem Propheten Hesekiel giebt diesem

Gedanken viel Wahrscheinlichkeit. „Und ich setzte eine

Prachtkrone auf dein Haupt; und so wurdest du mit Gold

und Silber geschmückt." Wird demnach der zurückgebrachte

königliche Stamm Juda noch einmal diese herrliche Krone

im Lande Israel, in der heiligen Stadt Jerusalem tragen?

Ja, der Herr selbst wird sie auf sein Haupt setzen. —

Wunderbare Gnade! Anbetungswürdige, göttliche Liebe!

184

Könnte Juda, könnten wir je vergessen, daß die erhabene

Stirn des Königs von Salem einst auf dieser

Erde mit einer Dornenkrone geschmückt war? Keine

irdischen Juwelen zierten jene Krone; aber Sein kostbares

Blut spendete reiche Rubinen-Tropfen von ewigem Glanze

und unvergänglichem Werte. Wache auf, wache auf,

meine Seele! und sinne über die Gnade und Liebe Jesu!

Wie wird dir sein, wenn jene einst durchbohrte Hand

deine Stirn mit einem Kranze unverwelklicher Herrlichkeit

schmücken wird? Wird dein Auge gefesselt werden durch

die Krone oder geblendet durch die Herrlichkeit? Nein!

der erste Anblick Seines herrlichen Angesichts wird dein

Auge fesseln und dein ganzes Herz einnehmen auf ewig.

In der Art und Weise, wie der Herr Seine

Liebe offenbart, giebt es immer etwas, das dem Herzen

überaus kostbar ist. Hier sagt Er der Braut selbst,

was in Seinem Herzen ist. Dieses befriedigt das erste

Verlangen der Liebe, den Wunsch nach persönlicher Gemeinschaft.

Jesus weiß wohl, wie Er das Herz mit tiefer,

unergründlicher Freude erfüllen kann. Wird das aber

immer so sein? Ja, und nochmals ja! Seine Liebe

wird ewig währen; Er verändert sich nicht. Er ist derselbe

gestern und heute und in Ewigkeit. In der Vergangenheit,

in der Gegenwart und in der Zukunft ist Er

derselbe. Welch eine Freude für das Herz, wenn es so

unmittelbar, so persönlich und so deutlich von Ihm angeredet

wird! Unter den Myriaden der Erlösten giebt

es keinen, der von Ihm übersehen oder vernachlässigt

würde. „Der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben

hat", das wird das ewige Thema des Gesanges

der Erlösten bilden. Seine Liebe in ihrer ewigen Fülle

185

und Kostbarkeit wird alle Herzen erfüllen und sie alle zu

lieblich gestimmten Harfen machen, die das Lob Seiner

nimmer endenden Liebe ewiglich erklingen lassen.

Liebe, die mich überkleidet

Und entrücket dieser Zeit,

Liebe, die mich droben weidet

Und mich schmückt mit Herrlichkeit;

Liebe, dir sei Preis und Ruhm

Hier und dort im Heiligtum!

Die Wahl des ersten Vergleiches verrät göttliche

Weisheit und ist belehrend für die Seele: „Einem Rosse

an des Pharao Prachtwagen vergleiche ich dich, meine

Freundin." Die mystische Braut des wahren Salomo

wird hier an Egypten erinnert, aus welchem Er sie einst

mit einem ausgestreckten Arm erlöste, sowie an den Pharao,

aus dessen eiserner Gewalt Er sie befreite. Höchst eindrucksvolle

Andeutungen für die Kinder Israel und moralisch

auch für uns! Die Wahrheit GotteS ist gleich einem

Kreise. Die Liebe, die uns aus Egypten erlöste und uns

nach Kanaan bringt, mit allen ihren Segnungen auf dem

Wege dahin, ist ein vollkommener, ununterbrochener Kreis

von Gnade und Wahrheit. Und sicherlich wird jeder besondere

Teil dieses Kreises uns ewiglich in Erinnerung

bleiben. Die Gnade, die uns in der Welt begegnet,

führt uns zu dem Herzen Gottes, aus welcher sie hervorfließt.

„Jetzt aber, in Christo Jesu, seid ihr, die ihr

einst ferne wäret, durch das Blut des Christus nahe geworden."

(Eph. 2, 13.)

Das edle Roß mit seinem glänzenden Geschirr darf

man wohl als das Sinnbild der Stärke, des Ebenmaßes,

der Schnelligkeit, der königlichen Würde und der Willigkeit

im Dienste betrachten. Kaum hat der Wagenlenker

186

seinen Sitz eingenommen, so sind auch seine edlen Tiere

bereit, anzuziehen. Jede Verzögerung macht sie ungeduldig.

Ihr Scharren und Stampfen, das stolze Emporwerfen

des Kopfes, das Zucken jeder Muskel — alles zeigt ihm

deutlich, daß sie bereit sind, wenn er nur fertig ist.

Und dann, wie gehorsam sind sie, trotz ihrer Stärke, dem

geringsten Druck des Zügels! Erkennst du, mein Leser,

in dieser Bereitwilligkeit und Unterwürfigkeit ein Bild deines

eigenen Dienstes? Ist eS so? Oder ist das Gegenteil

der Fall? Ach, prüfe alle deine Wege unter dem Strahl

des Auges deines Herrn und Meisters. Giebt es etwas

auf Erden, das du mehr fürchten würdest, als aus Seinem

Dienste entlassen zu werden? Bedenke, o bedenke,

daß, obgleich du für immer als Sohn in deines Vaters

Hause sein wirst, obgleich du als Sünder durch die Gnade

für ewig errettet bist, daß dennoch als Diener, wenn du

deine Zeit nutzlos verbringst oder dein Werk lässig treibst,

dein Dienst von dir genommen und einem Andern gegeben

werden kann. — O langmütiger Herr, erhalte

Deine Diener stets umgürtet, gehorsam und bereitwillig

zum Dienst, stets nur für das Eine besorgt, Deinen

Willen zu thun!

„Während der König an seiner Tafel war, gab (od.

ist, giebt) meine Narde ihren Duft." Es besteht ein

unermeßlicher Unterschied zwischen den anziehenden Eigenschaften

der Natur und den geistlichen Tugenden. Honig,

die Süßigkeit der Natur, war im Alten Bunde bei allen

Opfern verboten. Ein wenig Honigseim, mit dem Ende

eines Stabes zum Munde geführt, mag die Augen hell

machen und das Herz des Kriegers erfrischen am Tage

der Schlacht (1. Sam. 14, 27), aber es kann nimmer

187

das Herz des Herrn der Heerscharen erquicken. Die

liebenswürdigen Eigenschaften der Natur sind ohne Zweifel

wertvoll für die Familie, für den gesellschaftlichen Kreis

und für die Welt im Allgemeinen, aber durchaus untauglich

für den Altar Gottes oder den Tisch des Königs.

Das Süße wie das Saure der Natur sind für den Heiligen

Israels gleich verwerflich. „Die aber, welche im Fleische

sind, vermögen Gott nicht zu gefallen." (Röm. 8, 8.)

Wir bedürfen einer neuen Natur, des Lebens des

auferstandenen Jesus in der Seele, bevor wir irgend

etwas Gott Wohlgefälliges thun oder ein Ihm annehmliches

Opfer darbringen können. „Ihr müsset von neuem

geboren werden." „Die Frucht des Geistes aber ist: Liebe,

Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue,

Sanftmut, Enthaltsamkeit." (Gal. 5, 22. 23.) Das

göttliche Leben, welches durch den Heiligen Geist Früchte

hervorbringt, ist die wohlriechendste und erfrischendste

Frucht in den Augen des Heilandes. Die „Narde" hat

für Ihn „einen duftenden Wohlgeruch", und ihr Wert

ist unvergänglich. Die Alabasterflasche mit Salbe, welche

einst das Haus in Bethanien mit lieblichem Duft erfüllte,

hat ihren Wohlgeruch für Ihn heute noch nicht verloren.

„Sie hat gethan, was sie konnte", so lautete das unmittelbare,

ungeschmälerte Lob Seiner Liebe. Und: „wo irgend

dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen

Welt, wird auch von dem geredet werden, was diese

gethan hat, zu ihrem Gedächtnis." (Matth. 26, 13.)

Es ist verkehrt zu denken, daß wir dem Könige

nichts darzubringen hätten, während Er zu Tische sitzt.

Allerdings geben wir Ihm von Seinem Eigenen, aber das

macht die Sache nur umso lieblicher für Ihn und uns.

188

Was ist lieblicher als Gnade? Der Israelit mußte einen

Korb, gefüllt mit seinen Erstlingsfrüchten, herzubringen

und ihn vor Jehova, seinem Gott, niedersetzen. (5. Mose

26.) Wahrer Gottesdienst, wahre Anbetung ist Gemeinschaft.

Wenn der Bräutigam seine „guten Salben"

hat, so besitzt die Braut ihre „Narde"; doch alles ist

Gnade. Der Tisch ist Sein, die Salbe und die Narde

sind ebenfalls Sein. „Du bereitest vor mir einen Tisch

angesichts meiner Feinde; du hast mein Haupt mit Oel

gesalbt, mein Becher fließt über." (Ps. 23.)

Das Herz erreicht niemals eher die Höhe der Anbetung,

bis es überfließt. Dann hat es um nichts mehr

zu bitten, nichts mehr zu wünschen. Wahre Anbetung

ist daS Ueberströmen des Herzens. Und wie lieblich, wie

köstlich und wie gesegnet ist sie! Wenn der Heilige Geist

von der Fülle Jesu unsern Seelen mitteilt, wie bald

strömt dann das Herz über! Und dieses Ueberströmen

des Herzens von der Fülle Christi ist wahre, himmlische

Anbetung. Daher der wichtige Unterschied zwischen einer

Versammlung zum Gebet oder zur Anbetung. Zu der

erstern sollten wir kommen mit leeren Gefäßen und so

zum Herrn schreien, als wenn wir eher den Himmel erstürmen,

als ohne Antwort weggehen möchten. Zu der

letztem jedoch sollten wir kommen mit vorhergegangenem

Selbstgericht, Wohl vorbereitet für den Tisch des Königs

und fähig, uns an Seinen reichen Gaben zu laben und

die Beute Seines Sieges, die Frucht der Erlösung, zu

genießen. So werden wir stets alle unsre Bedürfnisse

gestillt und jedes Verlangen befriedigt finden. Haben

wir denn um nichts zu bitten an dem Tische unsers

Herrn? Um nichts, es sei denn um ein weiteres

— 189 —

Herz; anders müßte ja der König etwas, das uns not

ist, vergessen haben. Und wie wäre das möglich? Wie

könnten wir anders als befriedigt sein in dem

Empfangszimmer des Königs, im Allerheiligsten, wo wir

die reichen Spenden Seiner Tafel genießen? Wie könnten

wir anders als loben und preisen, bewundern und anbeten,

lieben und verehren unsern Gott und Vater und

unsern Herrn Jesum Christum?

Die Braut hat jetzt den Höhepunkt des Segens erreicht.

Sie erfreut sich in Ruhe und Frieden der Gegenwart des

Königs, während Er an Seinem Tische ruht. Die Thätigkeiten

des Dienstes haben der Ruhe der Anbetung

Platz gemacht. Die versengenden Strahlen der Sonne,

die Verfolgung, die Armut, die Sorgen — alles ist vergessen

in der Fülle der Freuden, die Seine Gegenwart

verleiht. Die Flasche ist zerbrochen, die kostbare Narde

fließt, der Wohlgeruch erfüllt das Haus, das Haupt und

die Füße Jesu werden gesalbt, und Sein Herz ist hingerissen

durch das Entgegenkommen ihrer Liebe.

Er ist nicht hier. (Luk. 24, 6.)

Der Zustand, den die Jünger unmittelbar nach dem

Tode des Herrn offenbarten, enthält viel Belehrendes für

uns. Das Wort des Herrn hatte sich an ihnen erfüllt:

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, daß ihr weinen und

wehklagen werdet, aber die Welt wird sich freuen; ihr

werdet traurig sein, aber eure Traurigkeit wird zur Freude

werden." (Joh. 16, 20.) Sie weinten, waren niedergeschlagen,

fühlten sich einsam und verlassen, getäuscht in

190

allen ihren Hoffnungen. Einerseits war ihr Verhalten

tadelnswert, denn es zeugte von einem Mangel an Glauben

und an wahrem Verständnis der Schriften: „O ihr Unverständigen

und trägen Herzens, zu glauben an alles,

was die Propheten geredet haben!" (Luk. 24, 25.) Der

Herr selbst hatte ihnen zum Oeftern gesagt, als Er noch

bei ihnen war, daß alles erfüllt werden müßte, was von

Ihm geschrieben stand in dem Gesetz Moses und in den

Propheten und Psalmen. Doch allezeit gnädig, tadelte Er

sie nicht nur, sondern Er öffnete ihnen auch das Verständnis,

daß sie die Schriften verstanden. (Luk. 24, 44. 45.)

Andrerseits zeugte das Verhalten der Jünger von

ihrer großen Liebe zum Herrn und von ihrer Anhänglichkeit

an Seine Person; ihr einziges Verlangen war nach

Ihm. Und der Herr kam, um dieses Verlangen zu stillen,

indem Er sich ihnen offenbarte, und zwar zunächst der

Maria, deren Verlangen am heißesten war. Weinend

stand sie an der Gruft und wollte nicht weggehen, ohne

Ihn gefunden zu haben, wenngleich eS sich nach ihrer

Meinung nur um Seinen Leichnam handeln konnte. Unmöglich

hätte der Herr sich ihr jetzt länger verbergen

können; Er rief sie bei ihrem Namen, und sie erkannte

sofort die wohlbekannte Stimme des guten Hirten. In

unmittelbarer Verbindung damit aber zeigt ihr der Herr,

daß Er Sein Verhältnis zu den Seinigen, wie es bisher

in dieser Welt bestanden hatte, nicht länger fortsetzen

konnte; es mußte von nun an einen anderen Charakter

annehmen. Nicht daß ihre Gemeinschaft mit Ihm jemals

wieder eine Unterbrechung erleiden sollte. Sie war unterbrochen

worden, als Er für sie in den Tod ging; dorthin

konnten sie Ihm nicht folgen. Sein Tod war der

191

Beweis Seiner unendlichen Liebe für sie gewesen, indem

Er durch denselben ihre Erlösung bewirkt hatte; aber er

war auch der Beweis, daß die Welt Ihn verworfen hatte

und Er dadurch für immer von ihr getrennt war. Er

nahm von nun an Seinen Platz ein bei dem Vater, wo

Er vor Grundlegung der Welt gewesen war; und dort

sollten die Seinigen Gemeinschaft mit Ihm haben. Darum

sagte Er zu Maria: „Rühre mich nicht an, denn ich bin

noch nicht aufgefahren zu meinem Vater. Gehe aber hin

zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf

Zu meinem Vater und euerm Vater, und zu meinem Gott

und euerm Gott." (Joh. 20, 11—17.)

Diese Botschaft des Herrn erfüllte die Jünger mit

unaussprechlicher Freude. Und diese Freude verblieb ihnen

selbst dann noch, als der Herr wieder von ihnen schied

und gen Himmel fuhr. „Sie huldigten Ihm und kehrten

nach Jerusalem zurück mit großer Freude; und sie

waren allezeit im Tempel, Gott lobend und preisend."

<Luk. 24, 51-53.)

Ihre Traurigkeit hatte sich in Freude verwandelt.

Ohne Zweifel verstanden sie damals noch nicht die Tragweite

ihrer neuen Stellung, wie sie sich in den Worten

uusdrückte: „Ich fahre auf zu meinem Vater und euerm

Vater, und zu meinem Gott und euerm Gott." Sie

sollte ihnen erst später durch den Heiligen Geist völlig klar

gemacht werden. Aber trotzdem war ihre Freude groß,

da sie Ihn wieder besaßen, den sie so schmerzlich vermißt

hatten. „Aber ich werde euch Wiedersehen, und euer

Herz wird sich freuen, und eure Freude wird niemand

von euch nehmen." (Joh. 16, 22.) Der Grund ihrer

Freude war ausschließlich die Person des Herrn; Ihn

192

wieder zu haben machte sie so glücklich und erfüllte sie

mit Lob und Dank gegen Gott.

Die Liebe zum Herrn war es auch, die sie von der

Welt getrennt hielt und aufs innigste unter einander verband,

noch ehe die Einheit des Leibes geoffenbart war.

Der bittere Haß der Welt gegen Christum, der am Kreuze

seinen schrecklichen Ausdruck gefunden hatte, hatte ihnen

den wahren Zustand derselben in grellen Farben vor

Augen gemalt. Wie hätten sie noch in irgend welcher

Gemeinschaft mit einer Welt sein können, die den teuersten

Gegenstand ihrer Herzen haßte! Wie halten sie da Befriedigung

finden können, wo Er nicht war! Sie hatten

in der Tiefe ihrer Herzen die Wahrheit der Worte gefühlt:

„Er ist nicht hier" (Luk. 24, 6), und fortan

war nicht nur das Grab, wo der Herr gelegen hatte„

sondern auch die ganze Welt für sie eine Stätte des

Todes, eine öde Wüste. Unter der Frische des Eindrucks

stehend, den das Kreuz in dieser Beziehung auf sie gemacht

hatte, schlossen sie sich nur um so enger an einander

an. Ihre Gefühle standen zu denen der Welt im

schroffsten Gegensatz. Während diese darüber frohlockte, daß

sie Den aus ihrer Mitte entfernt hatte, dessen Gegenwart

sie nicht ertragen konnte, waren sie durch dieses Ereignis

in tiefste Trauer versenkt. Alle anderen Interessen traten

darüber in den Hintergrund; nur diese eine Thatsache nahm

alle ihre Gedanken und Unterhaltungen in Anspruch. Ganz

verwundert darüber, daß es noch jemanden geben könne,

der nicht wisse, was ihre Herzen bewegte, fragen sie den

Herrn: „Weilest du allein in Jerusalem und weißt nicht,

was in ihr geschehen ist in diesen Tagen?" (Luk. 24, 18.)

Durch die gemeinsamen Gefühle der Trauer und des

193

Schmerzes wurden die Jünger zu einander hingezogen;

Gefühle, welche die Welt nicht kannte, die aber ihre

Herzen brennend machten, als der vermeintliche Fremdling

diesen Gefühlen entsprechend mit ihnen redete.

Und sie fanden nichts Eiligeres zu thun, als nach

Jerusalem zurückzukehren und den übrigen Jüngern die

frohe Botschaft mitzuteilen, daß der Herr wirklich aufer-

ftanden sei und sich ihnen geoffenbart habe. Sie wußten

nur zu gut, welche Freude diese Botschaft Hervorrufen

würde. (Luk. 24, 32-35.)

Wie belehrend und zugleich beschämend für uns ist

dieser Zustand der Jünger im Vergleich zu dem allgemeinen

Zustand der Gläubigen heute! Während jene in

inniger Liebe mit einander verbunden und entschieden von

der Welt getrennt waren, sind heute die Gläubigen in

traurigster Weise von einander getrennt und mehr oder

weniger mit der Welt verbunden. Und dies ist um so

beschämender für uns, als jene bei weitem nicht das

hatten, was wir besitzen. Der Heilige Geist war noch nicht

gekommen und hatte sie noch nicht in die ganze Wahrheit

eingeführt. Ihre Erkenntnis war weit geringer als die

unsrige heute ist. Aber sie hatten ein ganzes Herz

für Christum, und gerade das war es, was das Band

unter ihnen so befestigte und sie zugleich von der Welt getrennt

hielt. Alle ihre Interessen vereinigten sich in der

Person des Herrn Jesu. Alle fühlten sich gleichmäßig

mit Ihm verworfen, und alle genossen gemeinsam die

Freude des Wiedersehens.

Je bitterer der Haß der Welt gegen Christum sich offenbarte,

um so enger scharten sich die Jünger um ihren geliebten

Herrn. Und je mehr heute Sein Name verunehrt wird.

194

um so mehr scharen sich alle, die Ihn aufrichtig lieben,

um Seine Person. Das Kreuz verkündigt noch heute

wie damals mit derselben lauten und mächtigen Sprache,

daß diese Erde mit dem Blute des Sohnes Gottes befleckt

ist. Und Gott vergißt nie, was die Welt an Seinem

Eingebornen gethan hat; wenngleich Jahrhunderte

darüber vergangen sind, so steht doch die That noch so

frisch vor Seinen Augen, als ob sie erst gestern geschehen

wäre. Und ebenso sieht Er auch jede Schmach und Verunehrung,

die Seinem Sohne gegenwärtig von der sogenannten

christlichen Welt widerfährt. Und wenn wir

das Kreuz mit denselben Augen betrachten, wie Gott es

betrachtet, so können wir nicht anders als entschlossen auf

der Seite des Herrn stehen und mit Ihm leiden. Das

Kreuz übt in dieser Beziehung eine Macht, einen unwiderstehlichen

Reiz aus auf einen jeden, der den Herrn wirklich

liebt und die Gemeinschaft mit Ihm allem andern

vorzieht. Wir sehen dies bei dem Apostel, wenn er sagt:

„Zu erkennen Ihn und die Kraft Seiner Auferstehung

und die Gemeinschaft Seiner Leiden, indem

ich Seinem Tode gleichgestaltet werde, ob ich auf irgend

eine Weise hingelangen möge zur Auferstehung aus den

Toten." (Phil. 3, 10. 11.) Sein einziges Ziel war,

mit dem Herrn in Gemeinschaft zu sein, hier durch Glauben,

noch lieber aber durch Schauen. Um dieses Ziel zu

erreichen, war ihm selbst sein Leben nicht zu teuer; und

er betrachtete es als ein Vorrecht, mit Christo zu leiden.

Aber es gab zu seiner Zeit schon viele, über die er mit

Weinen klagte, daß sie die Feinde des Kreuzes Christi

seien. (Phil. 3, 18.) Diese waren nicht bereit, mit

Christo zu leiden, sondern sannen auf das Irdische. Und

195

so war es selbstverständlich, daß der Apostel nicht mit

ihnen in Gemeinschaft sein konnte. Ihre Gefühle, Neigungen

und Wege standen in schroffem Gegensatz zu den seinigen.

Und wie viele giebt es heute, die sich Christen nennen,

aber trotzdem eine große Kreuzesscheu an den Tag legen!

Sie suchen nicht Christum, sondern verfolgen ihre eigenen

Interessen, und so durchkreuzen sich ihre Wege mit den

Wegen derer, welche den Herrn und Seine Ehre allein

begehren.

Wir haben gesehen, daß die Gemeinschaft des Herrn

mit den Seinigen, wie sie auf dieser Erde bestanden hatte,

nicht mehr fortgesetzt werden konnte; sie sollten jetzt mit

Ihm als dem Auferstandenen Gemeinschaft haben jenseit

des Todes. „Er ist nicht hier, sondern ist auf-

erftanden." Das sind wichtige, bedeutungsvolle Worte.

Je lebendiger unsre Gemeinschaft mit dem Herrn ist, um

so mehr wird uns diese Welt als eine Wüste erscheinen,

aber um so mehr werden wir auch die Freude und Kraft

Seiner Auferstehung erfahren. Im Bewußtsein dieser

Thatsache rief auch der Apostel dem Timotheus zu:

„Halte im Gedächtnis Jesum Christum, auferweckt aus

den Toten, aus dem Samen Davids, nach meinem Evangelium,

in welchem ich Trübsal leide bis zu Banden, wie

ein Uebelthäter." (2. Tim. 2, 8. 9.) Wie bei den

Jüngern, so war auch bei dem Apostel die Freude groß

im Blick auf den Auferstandenen. Aus der Gemeinschaft

mit Ihm schöpfte er seinen Mut und seine Kraft; er

war entschlossen, mit Ihm zu leiden. Aber diese Gemeinschaft

mit Ihm ist unmöglich, wenn unsre Herzen in

der Welt sind.

Der Tod Christi hat eine ewige Grenze gezogen.

196

zwischen uns und der Welt, gerade so wie einst das Rote

Meer Israel für immer von Egypten trennte. Das sollte

für jeden wahren Christen genug sein, um die Grundsätze

und selbst die Religiosität dieser Welt zu fliehen, und in

Gemeinschaft mit Christo, dem Auferstandenen, zu wandeln

jenseit des Todes. Wenn wir allsonntäglich am

Tische des Herrn zusammenkommen, um dort das Gedächtnis

Seines Todes zu feiern, so schließt diese Feier

ohne Zweifel die beständige Erinnerung an unsre Trennung

von der Welt in sich, gleichwie Israel das Passah

zur beständigen Erinnerung an seinen Auszug aus Egypten

feiern mußte. „Und es sei dir zum Zeichen an deiner

Hand und zum Denkmal zwischen deinen Augen, damit

das Gesetz Jehovas in deinem Munde sei; denn mit

starker Hand hat dich Jehova herausgeführt aus

Egypten." (2. Mose 13, 9.)

Möchten deshalb auch wir, getrennt von dieser Welt,

unsern Platz stets da einnehmen, wo Er ist! „Er ist nicht

hier, sondern ist auferstanden'"

Gedanken.

Wir thun einen verkehrten Tritt auf unserm Wege

und geraten infolge dessen in eine drückende Lage; und dann,

anstatt uns unter die Hand Gottes zu beugen und in Demut

mit Ihm zu wandeln, werden wir ärgerlich und widerspenstig.

Wir hadern mit den Umständen, anstatt uns

selbst zu richten, und suchen eigenwillig den Umständen zu

entrinnen, anstatt sie als die gerechte und notwendige Folge

unsers Verhaltens aus der Hand Gottes anzunehmen.

Unabhängigkeit und Ungehorsam gehen stets Hand

in Hand.

Ich halte es für recht, so lange ich in

dieser Hütte bin, euch durch Erinnerung

aufzuwecken."(Fortsetzung.)

Viele Tausende der Erlösten sind in unsern Tagen

zu der Wahrheit, „wie sie insdem Jesus ist", zurückgekehrt,

und haben dem Worte gemäß ihren Platz vor dem Herrn

eingenommen; allein obschon ihrer so viele sind, ist es

doch nur ein kleiner Teil der Versammlung Gottes. Zu

dieser gehören, wie schon wiederholt bemerkt, alle Erlösten

auf der Erde; alle sind mit derselben Liebe geliebt. Alle

sind Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte, alle Kinder

und Erben Gottes, Miterben Christi und Glieder Seines

Leibes; aber auch alle sind für die ihnen zu teil gewordene

Gnade und für das ihnen anvertraute Gut verantwortlich.

„Jedem," sagt der Herr, „dem viel gegeben ist — viel

wird von ihm verlangt werden; und dem man viel anvertraut

hat, von dem wird man desto mehr fordern."

(Luk. 12, 48.) Das ist ein unveränderlicher göttlicher

Grundsatz, sowohl im Blick auf die Belohnung der

Gläubigen, als auch hinsichtlich der Beurteilung und Bestrafung

der Ungläubigen. Wer den Willen des Herrn

gekannt, aber nicht nach diesem Willen gethan hat, wird

mit vielen Schlägen geschlagen werden. (Luk. 12, 47.)

Ueber Sodom, Tyrus und Sidon, diese gottlosen Städte,

198

wird ein erträglicheres Gericht ergehen als über Chorazin,

Bethsaida und Kapernaum, weil der Herr in den letztgenannten

Städten so viel gepredigt und so viele Wunderwerke

gethan hatte. (Matth. 11, 20—24.) Wenn dem also

ist, wie groß muß dann die Verantwortlichkeit sein, die auf

uns ruht, denen so viel anvertraut worden ist! Der Herr gebe

uns allen ein tiefes Gefühl darüber! Wo das Bewußtsein

dieser Verantwortlichkeit lebendig ist, da wird viel Flehen

zum Herrn emporsteigen; das Auge wird Hinblicken auf Ihn,

den Anfänger und Vollender des Glaubens, und das

Herz von Ihm zu lernen begehren, dessen Speise es hie-

nieden war, den Willen Seines Vaters in allem zu erfüllen.

Alle unsre Quellen sind in Ihm, und der Apostel

ermahnt uns: „Seid stark in dem Herrn und in der

Macht Seiner Stärke." (Eph. 6, 10.) Außer Ihm vermögen

wir nichts zu thun, alle unsre Anstrengungen sind

nutzlos. Aber in Ihm empfangen wir immer neue Kraft,

so daß wir laufen und nicht ermatten, gehen und nicht

ermüden. (Jes. 40, 31.) Ja wahrlich, „glückselig der

Mensch, dessen Stärke in Dir ist, in deren Herzen gebahnte

Wege sind!... Sie gehen von Kraft zuKraft."

(Pf. 84.)-

Bilden wir auch nur einen kleinen Teil der Versammlung

Gottes, so haben wir uns doch ebenso zu verhalten und

mit gleicher Treue die an dieselbe gerichteten Ermahnungen

zu befolgen, wie die Gläubigen im Anfang. Der Herr sagt:

„Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten",

mein ganzes Wort, nicht nur einzelne Gebote. Zeiten

und Umstände mögen sich verändert haben, nicht aber Sein

Wort, noch auch unsre Verantwortlichkeit, diesem Worte

in allem zu folgen und uns mit Einfalt und Demut

199

unter seine Autorität zu beugen. Wir sind in Christo,

sind Seines Lebens und Geistes teilhaftig geworden, und

deshalb geziemt eS uns auch, gesinnt zu sein, wie Er gesinnt

war, zu wandeln, wie Er gewandelt hat. In unzähligen

Stellen der Schrift werden wir im Blick auf alle unsre

Beziehungen hienieden zu einer lautern Gesinnung und zu

einem würdigen Wandel ermahnt, und dies bezeugt uns,

welch einen hohen Wert der Herr daraus legt, wenn wir

Seinem Worte in allem treu folgen. Welch einen Undank

gegen Seine unvergleichliche Liebe verrät es auch, wenn

jemand das Wort des Herrn vernachlässigt und durch

einen leichtfertigen, unlauter» Wandel Seinem Namen

Schande macht! Ein ungehorsamer, undankbarer Sohn

ist eine traurige, betrübende Erscheinung; ein ungehorsamer,

undankbarer Christ ist es in demselben Maße mehr, als

die Liebe des Herrn und die Liebe Gottes die Liebe der

Eltern übertreffen.

Ein solcher Christ wird wahrlich auch keine Liebe

Zu seinen Brüdern offenbaren. Denn „hieran wissen wir,

daß wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott

lieben undSeineGebote halten." (1. Joh. 5,2.)

Ach, wie arm und öde ist ein solches Leben! Keine Liebe

zu Gott, keine Liebe zu den Brüdern! Und doch werden

wir im Worte Gottes so oft zur brüderlichen Liebe ermahnt

— zu einer Liebe, „nicht in Worten, sondern in

That und Wahrheit". (1. Joh. 3, 18.) Der Herr sagte

an dem letzten Abend vor Seinem Leiden zu Seinen

Jüngern: „Dies ist mein Gebot, daß ihr einander liebet,

gleichwie ich euch geliebt habe." Seine Liebe

zu uns ist das Muster und das Maß unsrer Liebe zueinander.

In 1. Kor. 13, 4—7 wird uns der Charakter

200

dieser Liebe und die Art und Weise, wie sie sich offenbart,

einfach und klar vor Augen gestellt: „Die Liebe ist langmütig,

ist gütig; die Liebe neidet nicht; die Liebe thut

nicht groß, sie bläht sich nicht auf, sie gebärdet sich nicht

unanständig, sie sucht nicht das Ihrige, sie läßt sich nicht

erbittern; sie rechnet Böses nicht zu, sie freut sich nicht

der Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit

; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie

erduldet alles."

Das ist die Liebe, welche Gott anerkennt, denn Er

ist ihre Quelle. Wie schön und lieblich sind alle ihre

Eigenschaften! Jede einzelne enthält eine Fülle von Gedanken

und Belehrungen für ein aufmerksames Ohr und

ein lernbegieriges Herz. Wenn wir in diesen reinen

Spiegel hineinschauen — und wir sollten es jeden Tag

thun — so giebt es ohne Zweifel vieles zu verurteilen,

vieles zu bekennen. Jedes einzelne Wort wird zu einem

Finger, der mit zartem Vorwurf auf dieses oder jenes

Vorkommnis in unserm Leben hinweist, zugleich aber auch

das Herz mit Bewunderung und Anbetung auf Den hinlenkt,

dessen Leben ein einziges herrliches Beispiel dieser

Liebe war; und tief im Innern der Seele wird das Begehren

immer mächtiger, diesem Beispiel nachzueifern, und

das Sehnen stärker, da zu sein, „wo alles Liebe ist".

Ist die Liebe in uns wirksam, so sind wir auch

fähig, einander die Füße zu waschen, so wie unser Herr

und Meister sie uns wäscht. In Joh. 13, 1 lesen wir:

„Da Er die Seinigen, die in der Welt waren, geliebt

hatte, liebte Er sie bis ans Ende"; und in unmittelbarer

Verbindung damit wird uns erzählt, wie Er

sich umgürtete, Wasser nahm und sich zu den Füßen

201

Seiner Jünger niederbeugte, um den daran haftenden

Schmutz zu entfernen. Anbetungswürdiger Heiland! Er

beschäftigt sich, nachdem Er uns durch Sein kostbares

Blut von allen Sünden vor Gott gereinigt hat, mit unsern

Verunreinigungen auf dem Wege und sucht sie zu entfernen,

damit wir praktisch rein seien und Teil mit

Ihm haben können, da wo Er ist.

Wahrlich, zu solch einem Dienste ist Liebe nötig,

eine Liebe bis ans Ende, so lange noch eines der

Seinigen hienieden den Verunreinigungen der Wüste ausgesetzt

ist. Und diesen Dienst übt unser teurer Herr aus,

trotzdem Er zu Gott hingegangen ist, und der Vater Ihm

alles in Seine Hände gegeben hat. Trotz Seiner Verherrlichung

und Erhöhung hat Er nicht aufgehört, der

Diener der Seinigen zu sein, und Er will nicht aufhören.

Wenn nun Er, „der Herr und der Lehrer", diesen Dienst

an uns vollzieht, wie steht es dann mit uns? Wir sind

schuldig, dasselbe zu thun, d. h. einander die Füße

zu waschen, für einander in selbstvergessender Liebe thätig

zu sein, dem andern wieder zurecht zu helfen, wenn er

sich verirrt hat, ihm behülflich zu sein, daß die Sünde,

die ihm Ruhe und Frieden geraubt hat, von ihm entdeckt

und gerichtet werde. Dazu ist aber, wie gesagt, Liebe,

viel Liebe nötig, Liebe zum Herrn und Liebe zu den

Seinigen.

Sind dir dies unbekannte Dinge, mein lieber Leser?

Nein, du kennst sie; du bist in der gegenwärtigen Wahrheit

befestigt. Aber vielleicht hast du sie in etwa vergessen.

Laß dich denn in Liebe daran erinnern und höre

das Wort des Herrn: „Wenn ihr dies wisset, glückselig

seid ihr, wenn ihr es thut." (Joh. 13, 17.) Laß uns

202

stets im Gedächtnis behalten, daß wir schuldig sind,

einander die Füße zu waschen, ja selbst schuldig, für

die Brüder das Leben zu lassen. (1. Joh. 3,16.) Geliebte!

wie viel haben wir in der Vergangenheit, wie viel heute

von dieser Schuld abgetragen? Unsre Herzen und Gewissen

mögen antworten.

In unmittelbarer Verbindung mit dem Gesagten

stehen auch die Ermahnungen des Apostels an unS, einer

des andern Lasten zu tragen, einander unterwürfig zu

sein in der Furcht Christi, und in Demut einer den andern

höher zu achten als sich selbst. (Gal. 6, 2; Eph. 5, 21;

Phil. 2, 3.) Alles das ist schnurstracks unsrer alten

Natur zuwider, die weder gern freiwillig eine Last auf

sich nimmt, noch es liebt, dem andern unterwürfig zu

sein oder ihn höher zu achten als sich selbst.

„Bin ich meines Bruders Hüter?" (1. Mose 4, 9.) —

„Laßt es euch genug sein; denn die ganze Gemeinde, sie

allesamt sind heilig, und Jehova ist in ihrer Mitte! Und

warum erhebet ihr euch über die Versammlung Jehovas?"

(4. Mose 16, 3.) — „Hat Jehova nur mit Mose allein geredet

? hat Er nicht auch mit unS geredet?" (4. Mose 12,2.)

Das sind einige der häßlichen Ausbrüche der ungerichteten

Natur, des ungebrochenen Willens, des Hochmuts und

der Eigenliebe des menschlichen Herzens. Der Mensch

will sich nicht kümmern um das Wohl seines Bruders;

sein eigenes Ich und seine eigenen Interessen find der

Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Er will nicht

dem andern unterworfen sein, noch den bevorzugten Platz,

den Gott diesem vielleicht gegeben hat, anerkennen. Er

will selbst im Vordergründe stehen und frei und unabhängig

sein.

203

Vergessen wir nicht, Geliebte, daß diese verabscheuungswürdige

Natur in uns allen ist und in ihrer ganzen Häßlichkeit

hervortritt, wenn wir nicht wachsam sind und sie

im Tode halten. Sind nicht auch in unsrer Mitte hie

und da schon Aeußerungen gehört worden, wie die folgenden:

„Ich habe genug mit mir selbst zu thun; ich

kann mich nicht um andere kümmern!" oder: „Was maßt

der oder der sich eigentlich an?" oder: „Das brauche ich

mir nicht gefallen zu lassen; bin ich nicht dasselbe wie

er?" u. s. w. Ach, der Herr gebe uns Gnade in diesen

Tagen, wo der Geist der Unabhängigkeit und der Empörung,

die Sucht nach Freiheit und Gleichheit so schrecklich wirksam

ist in den Söhnen des Ungehorsams, von Ihm zu

lernen, der sanftmütig und von Herzen demütig war!

Nur so werden wir imstande sein, Ihn zu verherrlichen

und unsern Geschwistern in Wahrheit zu dienen. Nur so

werden Selbstsucht, Neid und Eifersucht keinen Anknüpfungspunkt

bei uns finden. Der Apostel konnte den Thessalonichern

zurufen: „Was aber die Bruderliebe betrifft,

so habt ihr nicht nötig, daß wir euch schreiben, denn ihr

selbst seid von Gott gelehrt, einander zu lieben; denn

das thut ihr auch gegen alle Brüder, die in ganz Mace-

donien sind." (1. Thess. 4, 9. 10.) Und im 2. Briefe

konnte er ihnen das schöne Zengnis geben, daß „die Liebe

jedes einzelnen von ihnen allen gegen einander überströmend

sei". (2. Thess. 1, 3.) Würde er auch uns

dieses schöne Zeugnis geben können? Ich glaube kaum.

Und warum nicht? Weil der Herr nicht mehr der erste

Gegenstand aller Herzen ist. Die Liebe zum Herrn und

die Liebe zu den Brüdern stehen in Wechselwirkung zu

einander. Erkaltet die Liebe zum Herrn im Herzen, so

204

erkaltet auch die Liebe zu den Brüdern. Man wird gleichgültig

gegen andere, während man sich selbst leicht verletzt

und gekränkt fühlt und darüber klagt, daß andere so

wenig Liebe beweisen. Das ist sicher ein trauriger Zustand,

und wer darin gefunden wird, hat praktisch aufgehört,

ein Jünger des Herrn zu sein.

In Eph. 4, 15. 16 werden wir ermahnt: „Die

Wahrheit festhaltend in Liebe, laßt uns heranwachsen in

allem, zu Ihm hin, der das Haupt ist, der Christus, aus

welchem der ganze Leib, wohl zusammengefügt und verbunden

durch jedes Gelenk der Darreichung, nach der

Wirksamkeit in dem Maße eines jeden einzelnen Teiles,

für sich das Wachstum des Leibes bewirkt zu seiner

Selbstauferbauung in Liebe." Liebe und Wahrheit finden

wir in Christo vollkommen vereinigt und ausgedrückt. Er

ist in Seiner ganzen Fülle geoffenbart worden, und dieser

Offenbarung entsprechend sollen alle Glieder des Leibes

immer mehr zu Seiner Aehnlichkeit heranwachsen. Und

wie geschieht dies? Indem wir die Wahrheit festhalten in

Liebe, indem ein jedes Glied erfüllt wird mit den Reichtümern

eines wohlgekannten Christus, statt hin- und hergeworfen

zu werden von jedem Winde der Lehre, die vom

Feinde hervorgebracht wird, um die Seelen zu verführen.

Als Glieder des Leibes Christi sind wir aufs Engste

mit einander vereinigt; aus Ihm ist der ganze Leib wohl

zusammengefügt und verbunden, und durch die Wirksamkeit

Seiner Gnade in jedem Gliede wächst derselbe und

bewirkt so seine Selbstauferbauung in Liebe. Jedes Glied

hat den Zweck, dem ganzen Leibe in irgend einer Weise

nützlich zu sein; ja, alle sind innig mit einander verbunden

und von einander abhängig, wie die Glieder unsers

205

eigenen Leibes. Deshalb sagt der Apostel in 1. Kor. 12:

„Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; oder

wenn ein Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle

Glieder mit." Keines kann zu dem andern sagen: „Ich

bedarf deiner nicht." „Das Auge kann nicht zu der

Hand sagen: Ich bedarf deiner nicht; oder wiederum das

Haupt zu den Füßen: Ich bedarf euer nicht." (V. 21.)

Wir bedürfen einander, bis wir alle hingelangen zu

dem vollen Wüchse der Fülle des Christus. Leider

wird diese Einheit nur sehr wenig verwirklicht, und

infolge der traurigen Zersplitterung unter den Gläubigen

und des vielfachen Mangels an Liebe und Unterwürfigkeit

unter das Wort wird es selbst denen, die jene

Einheit zu verwirklichen begehren, sehr schwer, ja oft unmöglich

gemacht, dem Leibe in der von dem Herrn gewünschten

Weise zu dienen und den einzelnen Gliedern

wahrhaft nützlich zu sein.

Unsre persönliche Untreue ist ein weiteres

ernstes Hindernis für die Pflege und Auferbauung des

Leibes Christi. Manches, manches könnte und sollte bei

uns anders sein. Wie oft fehlen wir in der rechten Ausfüllung

des Platzes, den der Herr uns gegeben hat! Wie

vielfach mangelt es an der selbstverleugnenden Hingebung

und unermüdlichen Treue! Möchten wir alle es erkennen!

Wie gut, daß der Herr trotz allem treu bleibt und in

Seiner Gnade und Liebe nicht ermüdet, Seine Glieder

zu pflegen und heranwachsen zu lassen! Er kann sie nie

versäumen, nie vergessen. Unsre Untreue, so beklagenswert

und unentschuldbar sie ist, giebt Seiner Treue nur

Gelegenheit, sich zu verherrlichen. (Schluß folgt.)

206

Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe."(Hohel. 1, 13—17.)

„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe, das

zwischen meinensBrüstenruht." (V. 13.) Wenn das Wagenroß

den Gedanken an einen bereitwilligen Dienst erweckt,

und die Narde das Symbol göttlicher Anbetung

ist, könnte dann nicht das „Bündel Myrrhe" das Sinnbild

eines täglichen und stündlichen Zeugnisses für Christum

sein? Und was wäre als Folge einer tiefen und ununterbrochenen

Gemeinschaft mit dem Herrn natürlicher als

ein solches Zeugnis? Wird nicht das Herz in solch

glücklichen Zeiten zum Zeugnis gestärkt? All unser Dienst

wird kraft- und wirkungslos werden, sobald die persönliche

Gemeinschaft mit dem Herrn vernachlässigt wird.

Wie kam es, daß David im Terebinthenthal einen solchen

Heldenmut offenbarte? (1. Sam. 17.) War es die

rasche Handlungsweise jugendlicher Unerfahrenheit? Nein,

durchaus nicht! Sein Glaube hatte sich durch eine verborgene

Gemeinschaft mit dem Herrn zu den Gedanken

aufgeschwungen, die Gott über Sein Volk hatte. Daher

seine Tapferkeit, als er an die Oeffentlichkeit trat. „Gepriesen

sei Jehova, mein Fels, der meine Hände unterweiset

zum Kampf, meine Finger zum Kriege!" konnte er singen.

(Psalm 144, 1.)

Auch wir werden durch unsern hochgelobten Herrn

in Joh. 7, 37 über dieselbe Wahrheit belehrt: „An dem

letzten, dem großen Tage des Festes aber stand Jesus

und rief und sprach: Wenn jemanden dürstet, so komme

er zu mir und trinke." Umsonst werden wir suchen.

207

die Werkzeuge zur Stärkung und Erquickung anderer zu

werden, wenn wir nicht selbst täglich und reichlich an der

Hauptquelle trinken. Jedes neue Zeugnis für Christum

sollte das Ergebnis neuer Gemeinschaft mit Ihm sein.

O wie notwendig ist es für die Diener des Herrn, sich

hieran stets zu erinnern! Vergiß es nicht, meine Seele,

sondern wie einst Mose im Lande Midian, so setze auch

du dich nieder an der Quelle — der Quelle des lebendigen

Wassers. „Und ersaß an einem Brunnen." (2. Mose 2,15.)

So nahe bei dem Brunnen, war Mose in der Lage, den

sieben Töchtern des Priesters von Midian behülflich zu

sein und ihre Herden zu tränken. Dieses liebliche Bild

mag vielleicht mehr anwendbar sein auf Christum, wie Er

der Braut die Quellen Seiner erlösenden Liebe öffnet;

sicherlich aber ist es auch eine sehr belehrende Unterweisung

für den Evangelisten. Möchten wir in unsern Herzen

allezeit der Quele des Lebens so nahe sein, daß wir ein

Kanal lebendigen Wassers auch für andere werden können!

Das Herz der Braut, gleich dem Weibe am Jakobsbrunnen

in späteren Tagen, strömt über. Sie muß die

Herrlichkeit des Namens ihres Erlösers ausrufen und

andern mitteilen. Ihr Geliebter ist ihrem Herzen teurer

als ein Bündel kostbarer Myrrhe dem Kaufmann. „Mein

Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe." Das ist die gesegnete

Frucht des Naheseins und der Gemeinschaft mit

Ihm. Beachte auch, mein Leser, die tiefe Zuneigung, die

Er in dem Herzen erzeugt. Die Braut kann in Wahrheit

sagen: „mein Geliebter." Glückliche, gesegnete Braut!

„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe, das zwischen

meinen Brüsten ruht." Dort, so nahe wie möglich ihrem

Herzen, birgt sie ihre süßduftende Myrrhe. Und nun,

208

wohin sie sich auch wenden mag, überall verbreitet sie den

herrlichen Wohlgeruch ihres kostbaren Schatzes.

Ein Bündel Myrrhe, im Busen getragen, durchduftet

die ganzen Kleider und verbreitet seinen Wohlgeruch nach

allen Seiten hin, sei es daheim oder draußen, bei der

Arbeit oder bei der Ruhe, im Heiligtum oder im gesellschaftlichen

Kreise; still, aber sicher, erfüllt der balsamische

Duft des Gewürzes die ganze Umgebung. Und selbst wenn

die Person sich entfernt hat, bleibt doch der Duft zurück,

als ein Zeugnis von dem Werte Dessen, der ihrem Herzen

am nächsten ist. Herrliches Vorbild! Bist du auch deinem

Jesus so treu, mein lieber Leser? Ist Er tief im Innern

deines Herzens verborgen? und begleitet dich der süße

Wohlgeruch Seines Namens, wohin du auch gehen magst?

und bleibt er zurück, selbst nachdem du weggegangen bist?

Das sind herzerforschende Fragen. „Handelt damit, bis

ich komme", so lauteten die Abschiedsworte des verworfenen

Jesus an Seine Jünger; und über die Denkzeichen

Seiner sterbenden Liebe hat Er in wunderbarer

Gnade geschrieben: „Dieses thut zu meinem Gedächtnis."

Er hat nicht von uns verlangt, irgend etwas Großes für

Ihn zu thun, oder irgend ein Opfer von hohem Werte

auf Seinen Altar zu legen. Nein, was Er wünscht, ist,

daß wir während Seiner Abwesenheit stets Seiner eingedenk

seien als des hienieden verworfenen Christus, und daß

wir Ihm einen Platz in unsern Herzen einräumen. „Gedenket

meiner", das war Seine letzte Bitte; bringet alles

in euren Herzen zu mir in Beziehung. — Haben wir das

gethan? Thun wir es jetzt? Hat die Braut des Lammes

Ihm diesen Platz in ihrem Busen gegeben und Ihn dort

verborgen während der langen, finstern Nacht Seiner

209

Abwesenheit? Ach, ach! die Wünsche Seiner Liebe sind

in Vergessenheit geraten! Nebenbuhler sind eingelassen

worden; und schmerzlich ist es. Ihn draußen zu finden,

wie Er in Seiner unermüdlichen Liebe an die Thür klopft,

bis (um mit der bildlichen Sprache des Hohenliedes zu

reden) „Sein Haupt voll Tau ist und Seine Locken voll

Tropfen der Nacht". (Kap. 5, 2.) „Aber die Nacht ist weit

vorgerückt, und der Tag ist nahe." Ja, der glückliche Tag

naht heran, an welchem, auf Grund Seiner langmütigen

Gnade, die Liebe Seines himmlischen und irdischen Volkes

Seiner eigenen Liebe vollkommen entsprechen wird.

„Eine Cypertraube *) ist mir mein Geliebter, in den

Weinbergen von Engedi." (V. 14.) Das Bündel Myrrhe

wird vor den Blicken im Busen verborgen; aber die Cyper--

traube ist ein Gegenstand für das Auge, sie wird offen

in der Hand getragen. Die Myrrhe ist der Lebenssaft

des arabischen Balsambaumes, welcher durch die geborstenen

Teile der Rinde hervortröpfelt, ähnlich wie das Blut aus

den Adern oder die Thränen aus dem Auge. Die Cyper-

trauben wachsen in dichten Büscheln und sind ebenso schön

wie wohlriechend. „Daß der Christus durch den Glauben

in euren Herzen wohne", war das Gebet des Apostels.

Zugleich sollen wir „allezeit das Sterben Jesu am Leibe

umhertragen, auf daß auch das Leben Jesu an unserm

Leibe offenbar werde". (2. Kor. 4, 10.)

Wie verschieden sind die Gedanken, die durch einen

Baum erweckt werden, der in voller Blüte steht, von denen,

die ein verwundeter Baum hervorruft, dessen Lebenssaft

gleichsam aus seinen Adern fließt! Der eine ist das Bild

der Lebenskraft, der andere das Bild des Todes. Die

*) Der traubenförmige Blumenbüschel der Cyperpflanze.

210

zarte Knospe, die ihren Weg durch den harten Bast des

Winters findet, ist immer ein treffendes und interessantes

Bild von der Auferstehung; die Blüten und Früchte

find die Offenbarungen der Kraft des Lebens und der

reichen Segnungen für den Menschen. Das winzige Samenkorn,

welches dem Boden anvertraut und mit Erdschollen

bedeckt wird, mag eine Zeit lang hoffnungslos verloren

scheinen; aber wenn die warme Frühlingssonne

kommt, so wird bald durch die in dem Körnlein schlummernde

Lebenskraft jedes Hindernis überwunden, das

zarte Blatt erscheint, und in kurzer Zeit wogt die goldene

Aehre triumphierend im Winde.

Wie lieblich sind alle diese Dinge! und noch Herrlicheres

finden wir in dem Stabe Aarons vorgebildet, der

durch die Wirkung der Gnade Gottes sproßte und Blüten

trieb. (4. Mose 17.) In einer Nacht brachte der dürre

Stab, ein Stück totes Holz, Knospen, Blüten und Früchte

hervor. Herrliches Vorbild von einem auferstandenen

Christus, der in der Auferstehung Frucht bringt! Hier

lernen wir in Vorbildern und Schatten, daß wir eines

auserstandenen Jesus bedürfen, als unsers großen Hohenpriesters,

um uns durch die Wüste in das Land Kanaan

zu führen. Die Gnade herrscht in dem Priestertum und

errettet das Volk. Nichts weniger als der priesterliche

Dienst Jesu kann unsern Bedürfnissen begegnen. Er, der

starb, um uns rein zu machen, lebt jetzt, um uns rein

Zu erhalten. Er ist alles: unser Opfer, unser Priester

und unser Sachwalter bei dem Vater. Das Blut der

Versöhnung und das Wasser der Reinigung floß zugleich

aus der geöffneten Seite Jesu hervor.

Wie lieblich für das Auge und duftend für das Herz

211

ist unser auferstandener, erhöhter und verherrlichter Herr.

Seine Person, Sein Dienst, Seine Beziehungen zu uns

sind von unendlicher Kostbarkeit, und sie bleiben immer

dieselben. „Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet

vor Zehntausenden, . . . alles an Ihm ist lieblich."

(Kap. 5.) „Denn in Ihm wohnt die ganze Fülle der

Gottheit leibhaftig." (Kol. 2, 9.) Die Fülle der Gnade

und Herrlichkeit wohnt in Ihm. „Wenn ihr nun mit dem

Christus auferweckt worden seid, so suchet, was droben

ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet

auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde

ist." (Kol. 3, 1. 2.) O welche Bündel und Trauben

von anziehenden Eigenschaften finden wir hier! Hätten

wir nur Augen, sie zu sehen und Herzen, sie zu verstehen l

Die Weingärten von Engedi waren berühmt wegen

ihrer reichen Früchte und köstlichen Gewürze. Was schön

für das Auge, lieblich für den Geschmack und angenehm

für die Sinne ist, konnte man dort in Uebersluß finden.

Berühmt waren diese Gegenden außerdem dadurch, daß

David mit seinen Getreuen dort einen Bergungsort fand,

als er von Saul verfolgt wurde. (1. Sam. 24, 1—4.)

Die fruchtbaren Thäler und die Festen in den umliegenden

Bergen gewährten dem Gesalbten Gottes und seinen Gefährten

Schutz, Nahrung und Erfrischung.

Und doch, wie schwach und unvollkommen ist das

Bild, das alle die guten und kostbaren Dinge dieser Erde

von den unermeßlichen Reichtümern Christi zu geben vermögen!

Aller Ueberfluß kommt von Ihm. Nichts ist

reich, das Er nicht reich gemacht, nichts süß, das Er

nicht süß, nichts voll, das Er nicht voll gemacht hätte;

und doch ist alles, was wir jetzt von Seiner Fülle kennen,

212

nur wie ein Tropfen gegenüber dem Ozean. Alles Gute

kommt von oben, und alles redet von Ihm. Das wirklich

Gute, das in dem Geschöpf gefunden wird, erinnert nur

an Ihn, in welchem alle Vollkommenheit ihren Mittelpunkt

findet, an Ihn, den Menschen Christus Jesus — Gott

mit uns. Wandeln wir umher im Felde oder im Garten,

im Thale oder auf den Bergen, bewegen wir unS

in unserm gewöhnlichen täglichen Wirkungskreise, möchte

dann jeder zweite Gedanke Ihn zum Gegenstände haben,

den „geliebten" abwesenden Herrn! Die blutende Myrrhe

und die blühende Cypertraube mögen uns wohl das Kreuz

und die Herrlichkeit in Erinnerung rufen und uns anleiten.

Dessen zu gedenken, „der unsrer Uebertretungen wegen

dahingegeben und unsrer Rechtfertigung wegen auferweckt

worden ist". (Röm. 4, 25.)

Kein Holz hat je solche Frucht getragen für Gott

und den Menschen, wie das Kreuz auf Golgatha. Dort

wurde die Frage der Sünde geordnet, entsprechend den

Forderungen der Herrlichkeit Gottes; und dort wurde zugleich

der Feind überwunden und seine ganze Kraft völlig

vernichtet. Das Kreuz ist die Grundlage unsrer Vergebung,

unsers Friedens, unsrer Versöhnung, unsrer Annahme,

ja aller Segnungen für Zeit und Ewigkeit. Dort

hat Gott sich geoffenbart in vollkommner Liebe und voll-

kommner Gerechtigkeit; als Den, der die Sünde haßt, aber

den Sünder liebt. Die Liebe triumphierte in dem Kreuze;

doch Heiligkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit wurden entfaltet

und verherrlicht. Auf diesem festen Boden empfängt

der größte Sünder völlige und freie Vergebung in demselben

Augenblick, da er an Christum glaubt; die Vergebung ist

so vollkommen wie das Werk des Kreuzes selbst. Dort

213

wurden die Sünden hinweggethan, die Sünde gerichtet,

so daß der Gläubige jetzt sowohl im Blick auf die vielen

Sünden seines Lebens als auch auf die in ihm wohnende

Sünde völlig ruhig sein und in heiligem Triumpfe ausrufen

kann: „Er wurde unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben."

Wo sind dieselben geblieben? Hinweggethan

— für immer dahin! Er, der für unsre Sünden starb,

ist „aus den Toten auferweckt worden durch die Herrlichkeit

des Vaters", und damit ist die Frage der Sünde

für ewig geordnet. „Er ist unsrer Rechtfertigung wegen

auferweckt worden." Der auferstandene Jesus ist Gottes

eigener Zeuge, daß der Gläubige gerechtfertigt ist. Das

Werk ist vollbracht. Christus ist auferstanden; und die

Folgen des Glaubens sind jene vielen duftenden Trauben

des reichsten Segens für die Seele. „Da wir nun gerechtfertigt

worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden

mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum, durch

welchen wir mittelst des Glaubens auch Zugang haben

zu dieser Gnade, in welcher wir stehen, und rühmen uns

in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes. .... Nicht

allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes

durch unsern Herrn Jesum Christum, durch welchen wir

jetzt die Versöhnung empfangen haben." (Röm. 5,

1-11.)

„Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist

schön, deine Augen sind Tauben." (V. 15.) Was ist es,

so möchte der eine oder andere Leser fragen, das ein durch

die Sünde beflecktes und entstelltes Geschöpf in den Augen

Jesu schön machen kann? Wo, wann und wie kann es

gefunden werden? Nichts anderes ist ja nötig, um den

214

Freudenbecher der Seele zum Ueberfließen zu füllen! Was

sind alle Reichtümer, Würden und Herrlichkeiten dieser

Welt im Vergleich mit solchen Worten von Seinen Lippen:

„Siehe, du bist schön, meine Freundin!" ? — Das Evangelium

der Gnade Gottes, mein Freund, giebt dir Antwort auf

jene Fragen. Siehe, wenn eine Seele zu Jesu gezogen

wird, so wird sie von Ihm ausgenommen und in das

Licht der Gegenwart Gottes, in den vollen Wert Seines

vollendeten Werkes und in die unvergleichliche Schönheit

Seiner anbetungswürdigen Person versetzt. Das ist Gnade,

die Gnade Gottes im Evangelium Seines Sohnes für

einen jeden, der da glaubt. „Von allem, wovon ihr im

Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, wird

in diesem (Jesus) jeder Glaubende gerechtfertigt."

(Apstgsch. 13, 39.) Und a l l e, die da glauben,

sind „begnadigt (oder angenehm gemacht) in dem Geliebten",

auf Grund des am Kreuze vollbrachten Werkes. (Eph. 1.2.)

Sein kostbares Blut reinigt uns von aller Sünde.

(1. Joh. 1.) Darum wie „schön"! Die Schönheit der

Engel wird vollkommen sein nach ihrer Art und Ordnung,

aber der aus Gnaden errettete Sünder wird strahlen in

der Schönheit des Herrn selbst für immer und ewig.

Viele halten alles dieses für wahr, und doch fragen

sie zitternd: Kann solch ein Platz, kann solch ein Segen

je mein Teil sein? „Glaube an den Herrn Jesum, und

du wirst errettet werden", ist die Antwort des Himmels

einem jeden zitternden Sünder gegenüber. Ja, so lautet

die himmlische Botschaft der vollkommnen Gnade für

alle, die da fragen: „Was muß ich thun, daß ich errettet

werde?" Glaube an Jesum, vertraue aus Ihn, so unrein

und verderbt du auch sein magst, und schneller als deine

215

Gedanken ihren Gegenstand wechseln können, bist du „schön"

in Seinen Augen. „Glaube nur"; das Werk ist vollbracht,

vor langer, langer Zeit. O vertraue nicht auf

deine eignen „toten Werke". Das Evangelium ist zu

einfach, um einer Erklärung zu bedürfen. Es ist eine

Botschaft, die geglaubt, eine Einladung, die angenommen

werden muß; eine Stimme der Liebe, die dich eindringlich

bittet, dich mit Gott versöhnen zu lassen, eine Ankündigung

der Vergebung und des Friedens durch Jesum Christum.

(Apstgsch. 10, 36; 13, 38. 39.) Beachte es Wohl, mein

Leser! es ist nicht eine Verheißung der Vergebung

und des Friedens, sondern eine Verkündigung dieser

gesegneten Dinge.

Das ist ein höchst beachtenswerter Unterschied. Ferner

ist es weder durch Gesetz noch durch Verheißung,

daß die Seele so reich gesegnet wird, sondern durch Jesum

Christum. In dem Augenblick also, wo ein Sünder

an Jesum glaubt, werden ihm Vergebung, Rechtfertigung

und Versöhnung verkündigt durch das Wort Gottes.

Nehmen wir als Erläuterung der Gnadenwege Gottes

mit dem Sünder ein Beispiel. In Sach. 3 sehen wir

den Hohenpriester Josua vor dem Herrn stehen. Er ist

ein Vorbild der Gnadenhandlungen Gottes mit Jerusalem

in den letzten Tagen. Dieses Kapitel erklärt, wie ich

glaube, warum die Braut des Königs so „schön" ist in

Seinen Augen. Zugleich enthält es die Geschichte eines

jeden durch Gnade erretteten Sünders. Josua ist mit

schmutzigen Kleidern angethan. Satan ist da, um ihm zu

widerstehen; er sucht immer, die Segnungen der Seelen

zu verhindern. Aber der Herr nimmt sich des Schutzlosen

an. Er stößt niemanden von sich, der zu Ihm

216

kommt. Er tadelt den Widersacher, bringt ihn zum

Schweigen, und spricht und handelt für Josua. Die

schmutzigen Kleider werden weggenommen; seine Sünden

sind vergeben. Nicht ein Fetzen bleibt zurück, auf welchen

Satan sich berufen könnte. Also gereinigt von allen seinen

Befleckungen, werden ihm Feierkleider angezogen. Er wird

bekleidet mit dem Kleide Gottes, und ein reiner Kopfbund

wird ihm aufgesetzt. Und nun, wie „schön"! — Was

sollen wir sagen? „Dem, der uns liebt und uns von

unsern Sünden gewaschen hat in Seinem Blute, und uns

gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern Seinem

Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht

in die Zeitalter der Zeitalter! Amen." Sowohl die

königliche als auch die priesterliche Krone sind unser;

bekleidet mit der höchsten Würde, aus königlichem Geschlecht,

und als Priester in Anbetung in die innigste Nahe gebracht

zu Gott! Und wie köstlich ist der Gedanke, daß alles,

von Anfang bis zu Ende, das Werk Gottes ist, und darum

für immerdar vollkommen! „Jehova hat Jerusalem

erwählt. . . Siehe, ich habe deine Ungerechtigkeit von

dir weggenommen, und i ch kleide dich in Feierkleider. . . .

Und ich sprach: Man setze einen reinen Kopfbund auf sein

Haupt." Alles ist von Gott, durch Christum Jesum, auf

Grund des Werkes des Kreuzes. Die Gnade herrscht,

Gott ist verherrlicht, der Glaube triumphiert, Satan ist

vernichtet und der Sünder für ewig gerettet.

Indem wir vereinigt sind mit dem auferstandenen

Jesus, sind wir auch eins mit Ihm in der Auferstehung.

(Eph. 2.) Das giebt uns unsere wunderbare Stellung

in Seinen Augen. Alle, die in diese neue Stellung

gebracht sind, sind schön, wie Christus schön ist. Nur

217

daß Er in allen Dingen den Vorrang hat, wie geschrieben

steht: „Du bistschöner als die Menschensöhne". (Ps. 45.)

So finden wir denn auch dieselben Ausdrücke der Bewunderung

auf Bräutigam und Braut angewandt; von beiden wird

dasselbe gesagt, denn die Braut ist der Abglanz des Bräutigams.

Duften die Kleider der Braut von dem Wohlgeruch

der Myrrhe, so heißt es von dem Bräutigam: „Myrrhen und

Aloe, Kassia sind alle deine Kleider." Welch ein gesegneter

Gegenstand für unsere Betrachtung: Einheit mit

Christo als dem Auferstandenen und Verherrlichten!

Wie verächtlich würde uns die Welt

mit allen ihren Verbindungen und Beziehungen erscheinen,

wenn wir sie mehr von diesem Gesichtspunkt aus betrachteten!

Was hier von Israel, oder von dem Ueberreste in

prophetischer Weise gesagt wird („Siehe, du bist

schön, meine Freundin"), ist jetzt schon in tieferem Sinne

wahr von der Kirche Gottes, der Braut des Lammes.

Zugleich ist der große Grundsatz des Liedes beiden gemeinsam

: die Liebe des Herrn ist vollkommen. Er liebt

Israel, Er liebt die Kirche, und zu seiner Zeit wird Er

Zuneigungen in beider Herzen wachrufen, die den Seinigen

vollkommen entsprechen. Die moralische Anwendung unsers

Buches auf den Christen ist daher von großer Wichtigkeit.

Es handelt sich um Herzens-Gemeinschaft. Indes thun

wir stets wohl, den Unterschied zwischen dem Platze des

Juden in den letzten Tagen und dem Platze des Christen "

in der Gegenwart im Auge zu behalten.

Wenn auch die Hochzeit des Lammes noch nicht gekommen

ist, so sind doch die Beziehungen zwischen Christo

und der Kirche bereits gebildet. Wie der Apostel sagt:

„Ich habe euch einem Manne verlobt, um euch als eine

218

keusche Jungfrau dem Christus darzustellen." (2. Kor. 11,2.)

Kostbare Wahrheit! Die Braut des Erlösers, des Sohnes

des Vaters! Kennst du, mein Leser, die Gefühle der

Liebe, die einem so nahen und innigen Verhältnis eigen

sind? Genießest du, statt jener peinlichen Ungewißheit,

welche so oft die Gemüter derer verwirrt, die ein solch

nahes Verhältnis erst in der Zukunft erwarten, die ruhige,

friedliche Zuneigung und Freude, die aus dieser bewußten

Verbindung hervorgehen? Wenn dem so ist, dann wird

auch das Verlangen deines Herzens nach der Wiederkunft

deines Herrn groß sein. Denn Liebe ist der wahre Grund

des Rufes: „Komm, Herr Jesu, komme bald!"

„Du bist schön, meine Freundin . . ., deine Augen

sind Tauben." Es ist sehr belehrend, zu sehen, wie wir

in der Schrift mit der Taube in Verbindung gebracht

werden. Vom 8. Kapitel des ersten Buches Mose bis

hinab zu den Zeiten des Neuen Testaments nimmt sie

einen bemerkenswerten Platz im Worte Gottes ein.

Zuerst hören wir von ihr in Verbindung mit der

Arche und dem Oelbaum. Herrliche Sinnbilder der

Errettung und des Friedens Gottes! Die Taube pflückte

und hielt das Oelblatt fest, als die Gerichte Gottes die

Erde bedeckten. Und so lange die Wasser nicht weggetrocknet

waren, konnte sie keinen Ruheplatz für ihre Füße finden.

Die unter dem Gericht liegende Welt war kein Aufenthaltsort

für sie. Weiterhin finden wir, daß die Taube,

und zwar sie allein von allem Gevögel, als Opfer dargebracht

werden konnte, und so als Vorbild des Herrn

selbst diente. Dasselbe Vorbild wird also für beide gebraucht,

für den Herrn und für Seine Braut, wenn auch

selbstverständlich in verschiedener Weise. Wunderbare

219

Einheit! „Denn gleichwie der Leib einer ist und viele

Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich viele,

ein Leib sind: also auch d er Christ» s." (1. Kor.

12, 12.) Beachte, mein Leser, der Apostel spricht von

dem, was ein Bild der Kirche ist; anstatt aber zu sagen:

„also auch die Kirche", sagt er: „also auch der

Christus". Er sieht die Kirche in Ihm. Sie sind

ein Leib.

Auch der Heilige Geist wird durch die Taube sinnbildlich

dargestellt. „Und Johannes zeugte und sprach:

Ich schaute den Geist wie eine Taube aus dem Himmel

herniederfahren, und Er blieb auf Ihm." Einfalt, Reinheit,

Harmlosigkeit und Treue scheinen in der Taube eine

bildliche Darstellung zu finden. Wenn daher das Auge

des Christen einfältig, keusch und beständig auf Christum

gerichtet ist, so kann man von ihm sagen: „Deine Augen

sind Tauben".

„Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig;

ja, unser Lager ist frisches Grün. Die Balken unsrer Behausung

sind Cedern, unser Getäfel Cypressen." (V. 16.17.)

Wie schön sind diese Worte! Die Braut spricht nicht von

sich selbst; sie hört die Ausdrücke Seiner bewundernden

Liebe, aber sie sagt nichts von sich selbst, nicht einmal,

daß sie einer solchen Liebe unwürdig sei. Wie tief bewegt

sie auch sein mag, das eigne Ich wird völlig außer acht

gelassen. Das ist wahre Demut. Man kann viel über

das verdorbene und unwürdige „Ich" reden und doch das

Herz voll Stolz haben. Wahre Demut spricht nie von

sich selbst, weder Gutes noch Böses. Aber das ist eine

schwer zu erlernende Lektion. Christus ist unser einziges

220

vollkommenes Vorbild. Unser hochgelobter Herr erniedrigte

sich selbst; Er nahm den niedrigsten Platz ein. Der erste

Adam erhöhte sich selbst und wurde erniedrigt; der letzte

Adam erniedrigte sich, und Gott „hat Ihn hoch erhoben".

Folge darum Jesu, meine Seele! Harre allein auf Gott,

vertraue auf Ihn! „Denn jeder, der sich selbst erhöht,

wird erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt,

wird erhöht werden." (Luk. 18, 14.) Dieser Grundsatz

erstreckt sich auf alle Einzelheiten des täglichen Lebens und

ist von unendlicher praktischer Wichtigkeit. Man kann ihn

täglich, ja stündlich in den beiden Naturen ausgedrückt

finden. Die arme menschliche Natur ist immer bereit,

auf die Lüge des Versuchers zu lauschen: „Ihr werdet

sein wie Gott". Die göttliche Natur dagegen ist zufrieden

mit dem Platze, den Gott ihr anweist, bis Er ihr zuruft r

„Rücke höher hinauf".

Wenn nichts anderes als Christus vor den Blicken

steht, so ist das Herz völlig befriedigt. Wir sind dann

bereit, den niedrigsten Platz einzunehmen. Alles was zu

unserm Glücke nötig ist, wird in Ihm gefunden. Er ist

nicht allein schön für das Auge, sondern auch holdselig

für das Herz. Viele sind schön, aber nicht

holdselig; Christus ist beides. „Siehe, du bist schön,

mein Geliebter, ja, holdselig." O welche harmonischen

Verbindungen, welche Vollkommenheiten finden wir in

Jesu. Hier, und hier allein, kann das Herz wahre Ruhe

finden. Darum fügt die Braut sehr bezeichnend hinzu:

„Ja, unser Lager ist frisches Grün." Die grünen Auen

und stillen Wasser der reichen Gnade Jehovas sind wohlbekannte,

ausdrucksvolle Bilder der Ruhe und Erquickung,

welche die Schafe Christi unter Seiner Hirtenhut genießen.

221

„Jehova ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er

lagert mich auf grünen Auen, er führet mich zu stillen

Wassern." Auen von frischem Grün und stille Wasser

sind das tägliche Teil derer, welche „den Spuren der

Herde" nachfolgen. (V. 8.) Der Hirte schlägt nimmer

sein Zelt innerhalb der Stadtmauern auf. Dort giebt

es kein zartes Gras, keine stillen Wasser. Nein, fern

von den geräuschvollen Straßen, in ländlicher Stille, läßt

Er Seine Herde lagern. „Die Stadt" ist in diesem

Buche unzweifelhaft ein Sinnbild der Welt, während „das

Land" die himmlischen Oerter vorstellt. Sobald die Braut

sich verführen läßt, die Stadt zu betreten, warten ihrer

nur Beschämung und Sorgen. Der Bräutigam ist dort

nimmer zu finden; Seine Aufenthaltsorte sind die Weinberge,

die Gärten, die würzigen Hügel, die mit Balsambäumen

bedeckten Berge und die Thäler, wo die Lilien

blühen.

Das Wörtchen „unser" in: „unser Lager ist frisches

Grün", „unsre Behausung", „unser Getäfel", drückt das

Bewußtsein der vollen, gesegneten und beglückenden Gemeinschaft

mit dem „Geliebten" aus. Es ist gleich den

köstlichen kleinen Wörtchen „uns" und „wir" im Epheserbriefe.

O herrliche Vereinigung, gesegnete, ewige Einheit

mit Christo! Eins im Leben, eins in Gerechtigkeit, eins

in der Annahme, eins im Frieden, eins in der Ruhe,

eins in der Freude, eins in himmlischer, ewiger Herrlichkeit!

Wahrlich, freudenlos würde der lieblichste Schauplatz

hienieden, und freudenlos die vielen Wohnungen droben

sein, wenn nicht unser hochgelobter Herr, der göttliche

Bräutigam unsrer Herzen, dort wäre. Aber das sichere

Verheißungswort lautet: „und also werden wir allezeit

222

bei dem Herrn sein". Und: „auf daß, wo ich bin,

auch ihr seiet." — Es ist genug, teurer Herr! Für ewig

bei Dir und Dir gleich!

Sinne einen Augenblick hierüber nach, mein Leser.

Hier ist vollkommne Ruhe, süße Erquickung für dich zu

finden. Auf ewig bei dem Herrn zu sein im Paradiese

Gottes, in den vielen Wohnungen des Vaterhauses, das

bringt das Maß unsers ewigen Glückes und Segens zum

Ueberströmen.

Der Tau des Hermon.

„Siehe, wie gut und wie lieblich ist es, wenn Brüder

einträchtig bei einander wohnen! Wie das köstliche Oel

auf dem Haupte, das herabfließt aus den Bart, auf den

Bart Aarons, das herabfließt auf den Saum seiner

Kleider; wie der Tau des Hermon, dec herabfällt auf

die Berge Zions; denn dort hat Jehova den Segen

verordnet, Leben bis in Ewigkeit." (Pf. 133.)

Wir finden in diesem kurzen Psalm zwei liebliche

Bilder von brüderlicher Einheit und Gemeinschaft. Sie

ist gleich dem köstlichen Oele auf dem Haupte des Hohenpriesters,

das herabfließt auf den Saum seiner Kleider;

und sie ist gleich dem Tau des Hermon (des höchsten

Berges in dem jüdischen Lande), der in erfrischender Kraft

von dem schneebedeckten Gipfel auf das ganze umliegende

Land herabfällt.

Wie schön sind diese Bilder! Das Zusammenwohnen

von Brüdern in wahrer Einheit des Geistes verbreitet

einen herrlichen Wohlgeruch, angenehm für Gott und

Menschen; zugleich erweckt es eine anhaltende Frische des

Lebens, wahre Herzensfreude und ruft liebliche Früchte

223

hervor, so daß Kälte, Dürre und Selbstsucht verbannt

werden.

Doch wie kann diese Einheit bewirkt und erhalten

werden? Durch ein Leben in Gemeinschaft mit unserm

großen Hohenpriester, wodurch das wohlriechende Oel, das

von Ihm herabfließt, auf uns herniederträufelt; durch ein

Leben in Gemeinschaft mit dem Herrn der Herrlichkeit,

wodurch der erfrischende Tau Seiner Gnade unsre Seelen

belebt und mit herrlichen Früchten zu Seiner Ehre erfüllt.

Das ist der Weg, um in glücklicher Einheit mit

unsern Brüdern zusammen zu wohnen. Ueber Einheit

zu r eben ist etwas ganz anderes, als in Einheit zusammen

zu wohnen. ES kann sein, daß wir die herrlichen

Wahrheiten von der „Einheit des Leibes" und der „Einheit

des Geistes" wohl verstehen und doch voll sind von

Streitlust, Parteisucht und selbstsüchtigem Wesen, — alles

Dinge, welche für die praktische Bewahrung der Einheit

gleich einem tödlichen Gifte sind. Sollen Brüder in wahrer

Einheit bei einander wohnen, so müssen sie die Salbung

von dem Haupte und die erfrischenden Tautropfen von

dem wahren Hermon empfangen. Sie müssen in der

Gegenwart Christi leben, so daß die scharfen Ecken und

Kanten abgeschliffen, Selbstsucht und Hochmut verurteilt,

Mißtrauen und Leichtverletzlichkeit beseitigt werden. An

ihre Stelle müssen Zartheit, wahres Mitgefühl, aufrichtige

Liebe, Demut und Weitherzigkeit treten; und dies wird

geschehen, wenn unser Blick unverrückt auf Jesum gerichtet

bleibt, wenn wir von Ihm lernen, der sanftmütig und

von Herzen demütig war. Wir lernen dann einander

tragen und ertragen, und fühlen uns verbunden mit allen,

die unsern Herrn Jesum Christum lieben in Unverderblichkeit.

224

Werfen wir einen kurzen Blick auf Philippe: 2.

Dort sehen wir zunächst das göttliche Haupt, und von

Ihm fließt das Oel hernieder auf den Saum Seiner

Kleider. Wie kam es, daß Paulus sich freuen konnte,

selbst wenn er wie ein Trankopfer über das Opfer und

den Dienst seiner Brüder gesprengt wurde? Wodurch wurde

Timotheus befähigt, mit solcher Treue und Hingebung

für andere Sorge zu tragen? Was brachte Epaphroditus

dahin, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um den Mangel

in dem Dienste der Philipper gegen den Apostel auszufüllen

d Die Antwort ist: Alle diese treuen Knechte Christi

lebten so in der Gegenwart ihres Herrn, daß das wohlriechende

Oel und der erfrischende Tau überströmend auf

sie Herabfloß, so daß sie Kanäle des Segens für andere

werden konnten, sich selbst völlig vergaßen und nur für

ihre Brüder zu leben schienen.

Welch eine Freude und welch ein Vorrecht, in unserm

geringen Maße das Herz Gottes erfreuen und erquicken

zu können! Er hat Seine Wonne daran, wenn Seine

Kinder in Liebe mit einander wandeln. Er ist es, der

da sagt: „Siehe, wie gut und wie lieblich ist es, wenn

Brüder ^einträchtig bei einander wohnen!" Sollte das

nicht il^unsern Herzen das Verlangen wecken, diese liebliche

^Einheit auf jede mögliche Weise zu befördern, alle

Eigenliebe und Selbstsucht schonungslos zu verurteilen

und Mes Hinwegzuthun, was unsre Herzen von Christo

und^von einander zu trennen vermag?

Ich halte es für recht, so lange ich in

dieser Hütte bin, euch durch Erinnerung

aufzuwecken."(Schluß.)

In dem Kapitel, mit dem wir uns am Schlüsse

des vorigen Abschnitts beschäftigt haben (Eph. 4), heißt

es auch: „Und Er (Christus) hat etliche gegeben als

Apostel und etliche als Propheten und etliche als

Evangelisten und etliche als Hirten und Lehrer, zur

Vollendung der Heiligen: für das Werk des Dienstes,

für die Auferbauung des Leibes Christi rc." (V. 11. 12.)

Die Apostel und Propheten des Neuen Testaments

bilden die Grundlage des himmlischen Baues; vergleiche

Kap. 2, 20: „aufgebaut auf die Grundlage der

Apostel und Propheten". Ihr Dienst ist vollendet; sie

haben keine Nachfolger. Aber Evangelisten, Hirten und

Lehrer werden vorhanden sein, bis der ganze Bau vollendet

und kein Werk des Dienstes mehr nötig ist. Leider

müssen wir auch hier wieder sagen, daß die traurige Zersplitterung,

in welche die Versammlung Gottes durch die

List des Feindes und durch die Untreue der Gläubigen

gekommen ist, ein großes Hindernis bildet für die Ausübung

und gesegnete Wirksamkeit der verschiedenen Gaben;

doch hebt dies die Verantwortlichkeit derer nicht auf, die

226

mit denselben betraut sind. Sie haben mit aller Treue

jede Gelegenheit zu benutzen, die sich ihnen bietet, mit

ihrer Gabe zu dienen.

Dem Evangelisten steht die ganze weite Welt offen;

das Feld seiner Thätigkeit ist unbegrenzt. Wenn auch

heute, wie zu aller Zeit, der Haß der Welt und der Wider­

stand des Feindes ihm entgegentreten; wenn auch das

Antichristentum, das den Vater und den Sohn leugnet,

in unsern Tagen sich zusehends ausbreitet; wenn auch selbst

Neid und Eifersucht seitens der von Menschen angestellten

Prediger den Bemühungen des Evangelisten oft entgegenzuwirken

suchen, so hat doch der Herr die Thüren geöffnet,

die niemand zu schließen vermag. Wir können uns nicht

darüber beklagen, daß wir keine Gelegenheit haben, verlornen

Sündern die frohe Botschaft von Jesu nahe zu

bringen; wir müssen vielmehr darüber klagen, daß wir

die uns gebotenen Gelegenheiten zu wenig benutzen, die

Zeit zu wenig auskaufen. Denn wir alle können, wenn

uns auch nicht gerade die Gabe eines Evangelisten verliehen

ist, mitarbeiten und mitwirken. Ein Herz, das den

Herrn liebt und Seine Gefühle für die Verlornen kennt,

kann nicht unthätig sein. Durch die Liebe Christi gedrängt

und den Schrecken des Herrn kennend, überredete

Paulus die Menschen, umzukehren von ihren bösen

Wegen und dem kommenden Zorn zu entfliehen. Er

war nicht zufrieden damit, selbst errettet zu sein, wie wir

es so leicht sind, sondern in seinem Herzen brannte das

sehnliche Verlangen, auch andere den Banden Satans zu

entreißen und sie seinem geliebten Herrn, dem guten Hirten,

zuzuführen. Laßt uns deshalb den Herrn brünstig bitten,

uns noch viele treue, wackere Evangelisten zu geben und unser

227

aller Herzen mit dem Wunsche zu erfüllen, Boten Seiner

Gnade zu sein an viele arme, finstre Sünderherzen!

Auch jenen Gliedern des Leibes Christi, welche die

Gabe empfangen haben, die Gläubigen zu unterweisen,

ist reiche Gelegenheit geboten, von dieser Gabe Gebrauch

zu machen. Ebenso stehen denen, die zur speziellen Pflege

der Seelen berufen und begabt sind, viele Thüren offen,

um ihren so wichtigen und nötigen Dienst auszuüben.

Mag ihr Werk auch oft unscheinbar und gering erscheinen,

so war und ist es doch eines der notwendigsten, ein Werk,

das dem Herzen des Erzhirten, wenn wir so sagen dürfen,

besonders nahe liegt. Wie gesegnet ist es, die Einzelnen

in ihren Wohnungen aufzusuchen, an ihren Freuden und

Leiden Anteil zu nehmen, mit wahrem Mitgefühl in ihre

Prüfungen und Schwierigkeiten einzugehen, sie zu ermuntern

und zu trösten und ihr Vertrauen zu der nie

fehlenden Gnade und Liebe des Herrn zu beleben; oder

sie auch mit Liebe und Ernst zu ermahnen und zurechtzuweisen,

wenn etwas bei ihnen vorhanden sein sollte,

das nicht zur Ehre des Herrn gereicht. Ein solch treuer

und teilnehmender Hirte war Paulus. Er konnte im

Blick auf sein Verhalten in Ephesus zu den Aeltesten

sagen: „Ihr wisset von dem ersten Tage an, da ich nach

Asten kam, wie ich die ganze Zeit bei euch gewesen bin,

dem Herrn dienend mit aller Demut und mit Thränen . ..;

wie ich nichts zurückgehalten habe von dem, was nützlich ist,

daß ich es euch nicht verkündigt und euch gelehrt hätte,

öffentlich und in den Häusern." Und: „darum

wachet und gedenket, daß ich drei Jahre lang Nacht und

Tag nicht aufgehört habe, einen jeden mit Thränen zu

ermahnen." (Apstgesch. 20, 18—21. 31.) Und an die

228

Thessalonicher konnte er schreiben: „Ihr seid Zeugen und

Gott, wie göttlich und gerecht und untadelig wir gegen

euch, die Glaubenden, waren; gleichwie ihr wisset, wie wir

jeden einzelnen von euch, wie ein Vater seine eignen Kinder,

euch ermahnt und getröstet und euch bezeugt haben, daß

ihr wandeln solltet würdig des Gottes, der euch zu Seinem

eignen Reiche und zu Seiner eignen Herrlichkeit beruft."

(1. Thess. 2, 10—12.) Und so wie der Apostel Tag

und Nacht in aufopfernder Liebe mit der Herde Christi

im Dienst beschäftigt war, ebenso trug er sie auch im

Ganzen wie im Einzelnen unablässig auf betendem Herzen.

Sagst du: Paulus war ein auserwähltes Rüstzeug

in der Hand des Herrn? Allerdings, er war das. Aber

in sich selbst war er so schwach und ohnmächtig wie wir;

die Freude im Herrn war seine Stärke. Und dieselbe

Quelle der Kraft steht auch uns heute zu Gebote; und

alle, die der Herr in Seinen Dienst — sei es zur Verkündigung

des Evangeliums, oder zur Belehrung, Erbauung,

Ermahnung oder Pflege der Seinigen — berufen und

befähigt hat, sind Ihm für die treue Ausübung desselben

verantwortlich. Deshalb thut es ihnen vor allem not,

die Ermahnung des Herrn: „Wachet und betet!" zu beherzigen.

Nur wenn sie in der Wachsamkeit und im Gebet

beharren, werden sie fähig sein, den Einflüsterungen des

Feindes ihr Ohr zu verschließen, aller Selbstsucht und

eitlen Ehre gegenüber sich für tot zu halten und in keiner

Weise dem Fleische Raum zu geben. Wenn Selbstgefälligkeit

und eitle Ehre den Arbeiter bei der Bedienung seiner

Gabe leiten, wenn er nach dem Lobe und dem Gefallen der

Menschen geizt oder nach Wohlleben und äußern Vorteilen

trachtet, so hört er auf, als ein Diener des Herrn den

229

Seinigen nützlich zu sein. Sein Gewissen stumpft immer

mehr ab, und nach und nach tritt Verblendung ein. Ohne

sich dessen selbst bewußt zu sein, wird er zu einem Werkzeuge,

das der Feind zur Erreichung seiner bösen Zwecke

benutzt, und dies um so mehr, je größer seine Begabung

ist. Er dient nicht mehr zum Auferbauen, sondern zum

Niederreißen und Zerstören der Versammlung Gottes.

Es ist dies keine neue Erscheinung. Schon zur Zeit

der Apostel kamen ähnliche Dinge zum Vorschein. Paulus

schreibt an Timotheus: „Alle, die in Ästen sind, haben

sich von mir abgewandt, unter welchen Phygelus ist und

Hermogenes." Er sagt von Hymenäus und Philetus,

daß sie von der Wahrheit abgeirrt seien, und von Demas,

daß er den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen habe. (2. Tim.

1, 15; 2, 17. 18; 4, 10.) Doch wie ernst wird das

Erwachen solcher Arbeiter sein, wenn sie einmal im Lichte

Gottes erkennen müssen, wie sehr sie den Herrn, der sie

in Seinen Dienst gestellt, verunehrt und Seiner teuer erkauften

Herde zum Schaden gedient haben!

Darum, mein lieber Leser, wenn der Herr dir eine

Gnadeugabe anvertraut hat, so stehe zu, daß du sie „anfachest"

(2. Tim. 1, 6) und benutzest zur Ehre des

Herrn und zum Wohle der Seinigen. Wuchere treu mit

dem Pfunde, das Er dir gegeben hat, damit, wenn die

Zeit der Vergeltung kommt, du reichen Lohn finden mögest.

„Siehe auf den Dienst, den du im Herrn empfangen hast,

daß du ihn erfüllest." (Kol. 4, 17.) Sei ein treuer

Verwalter des dir anvertrauten Gutes (1. Kor. 4, 2),

und „sei stark in der Gnade, die in Christo Jesu ist".

(2. Tim. 2, 1.)

„Jenachdem ein jeder eine Gnadengabe empfangen.

230

hat, dienet einander damit als gute Verwalter der

mancherlei Gnade Gottes." (1. Petr. 4, 10.)

Bist du ein Evangelist, so „thue das Werk eines Evangelisten,

vollführe deinen Dienst". Bist du ein Lehrer,

so „predige das Wort, halte darauf in gelegener und

ungelegener Zeit, überführe, strafe, ermahne mit aller

Langmut und Lehre." (2. Tim. 4.) „Bewahre

das anvertraute Gut, indem du dich von den ungöttlichen,

eitlen Reden und Widersprüchen der fälschlich sogenannten

Kenntnis wegwendest." „Halte fest das Bild

gesunder Worte." (1. Tim. 6, 20; 2. Tim. 1, 13.)

Bist du ein Hirte, so hüte die Herde Gottes, nicht aus

Zwang, sondern' freiwillig, indem du dich in allem als

ein Vorbild der Herde erweisest. (1. Petr. 5, 2.3.)

Habe acht auf dich selbst und auf die ganze Herde, in

welcher dich der Heilige Geist als Aufseher gesetzt hat.

(Apstgsch. 20, 28.)

Uns allen aber gilt in stets ungeschwächter Kraft das

Wort des Apostels: „Daher, meine geliebten Brüder, seid

fest, unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werke

des Herrn, da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich

ist im Herrn." (1. Kor. 15, 58.) Der Augenblick ist nahe,

wo ein jeder seinen Lohn empfangen wird „nach seiner

eignen Arbeit". — „Siehe, ich komme bald, und mein Lohn

mit mir, um einem jeden zu vergelten, wie sein Werk

sein wird." (Offbg. 22, 12.)

Indes möchte der eine oder andere Leser ängstlich

fragen: Giebt es denn nicht viele Hindernisse und

Schwierigkeiten auf dem Wege des Dienstes? Gewiß'.

Wann hätte es einen Arbeiter im Werke des Herrn

231

gegeben, der nicht mit Hindernissen irgend welcher Art zu

kämpfen gehabt hätte? Mit wie vielen und großen Hindernissen

hatte selbst der Herr, der göttliche Arbeiter, hienieden

zu kämpfen! Welch einem Widerspruch und Haß, welch

einem Unglauben und Kleinglauben begegnete Er täglich,

von Seiner Armut und verachteten Stellung gar nicht zu

reden! Wie erging es ferner dem Apostel Paulus und

seinen treuen Mitarbeitern! Wie den übrigen Aposteln?

— Ja, Hindernisse und Schwierigkeiten giebt es auf

Schritt und Tritt, aber keine solchen, die nicht durch den

Glauben und in der Kraft Gottes überwunden werden

könnten. Welch ein Verlust wäre es auch für uns, wenn

unser Weg immer so eben und glatt wäre, daß es gar

keiner Uebung des Glaubens und Bewährung unsers Vertrauens

auf die Hilfe von oben bedürfte! Gerade die

Schwierigkeiten des Weges bringen ans Licht, was wir

find, und offenbaren zugleich, was in Gott für uns ist.

„Ich glaubte, darum redete ich", sagt der Psalmist,

indem er sich an die schweren Tage, die hinter ihm liegen,

sowie an die in denselben erfahrene Hilfe Gottes erinnert;

und der Apostel Paulus führt diese Worte in ähnlicher

Weise im Blick auf sich und seine Mitarbeiter an. (Ps. 116;

2. Kor. 4.) Der Glaube erhebt die Seele über die Umstände

und läßt sie inmitten derselben von der Güte und

Treue Gottes reden. Die Macht Gottes könnte alle

Hindernisse mit einem Schlage Hinwegräumen, aber die

Treue Gottes läßt sie bestehen zu unsrer Erziehung und

zu unserm Segen.

Doch, wird man sagen, es giebt noch mehr als

Hindernisse und Schwierigkeiten. Ohne Frage. Eines

jeden Dieners Christi warten auch Enttäuschungen

232

aller Art; und diese sind schmerzlicher und schwerer zu

überwinden als Hindernisse. Aber auch sie müssen unter

der Leitung Gottes denen, die Ihn lieben, zum Guten

mitwirken; und auch hier giebt es für den abhängigen

Arbeiter eine gesegnete Zuflucht. Sein Herr und Meister

hat ihm in diesem wie in allem andern ein vollkommenes

Beispiel hinterlassen. Was that Er, als Johannes zwei

seiner Jünger zu Ihm sandte mit der zweifelnden Frage:

„Bist du der Kommende oder sollen wir eines Andern

warten?" (Matth. 11) und als Er zu gleicher Zeit die

Städte Chorazin, Bethsaida und Kapernaum, in denen

Er so viel gelehrt und so viele Wunderwerke gethan hatte,

schelten mußte wegen ihres Unglaubens? Er ermunterte

Seinen Knecht, sein Vertrauen nicht wegzuwerfen, indem

Er ihn auf die gesegneten Beweise der Gegenwart des

Messias inmitten Seines Volkes hinwies; und Er wandte

Seinen Blick nach oben und pries den Herrn des Himmels

und der Erde, daß Er dies vor Weisen und Verständigen

verborgen und es Unmündigen geoffenbart habe. Anscheinend

hatte Er sich umsonst bemüht, vergeblich und für

nichts Seine Kraft verzehrt, aber Sein Recht war bei

Jehova und Sein Lohn bei Seinem Gott. (Jes. 49.)

Er schaute hinweg über die sichtbaren Dinge und sah im

Glauben die herrliche Erfüllung der Gnadenratschlüsse Gottes.

Auch uns mag es hie und da scheinen, als ob alle

unsre Mühe vergeblich wäre: der Zustand der Versammlung

ist schwach, in dem Werke des Evangeliums

zeigt sich wenig Frucht; da, wo wir am meisten erwartet

hätten, zeigt sich sehr wenig oder vielleicht gar nichts. Das

ist niederdrückend und entmutigend. Aber, mein lieber

Mitarbeiter und Mitstreiter, laß den Mut nicht sinken!

233

Hast du das Deinige, wenn auch in großer Schwachheit,

treu gethan, so darfst du deine Sache getrost Gott anheimstellen.

Du wirst deinen Lohn nicht verlieren, und

Gott wird Sein Werk trotz allem herrlich hinausführen.

Er, der den Samen darreicht, giebt auch Frucht und Gedeihen

zu Seiner Zeit. Darum laß dich nicht beirren,

den guten Samen weiter auszustreueii und mit Gebet und

Flehen auf den Segen von oben zu warten.

Doch wir sind noch nicht am Ende der schmerzlichen

Erfahrungen angelangt, die es für den treuen Arbeiter

giebt. Wenn ein Mann wie der Apostel Paulus dem

Neid und der Eifersucht anderer begegnen mußte,

so brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn uns in

unserm geringen Maße dasselbe Los zu teil wird. „Es

ist kaum möglich," sagt ein anderer Schreiber, „einen in

etwa hervorragenden Platz im Dienste des Herrn einzunehmen

oder in besonderer Weise von Gott benutzt zu

werden, ohne zu der einen oder andern Zeit den Angriffen

neidischer und unzufriedener Menschen ausgesetzt zu fein,

die es nicht ertragen können, irgend jemanden mehr geehrt

Zu sehen als sich selbst." Und so ist eS in der That.

Wie aber soll man sich solchen Angriffen gegenüber

verhalten? Ein vorwurfsfreies Gewissen kann völlig

ruhig sein und seine Rechtfertigung dem Herrn anheimstellen,

der da recht richtet und vor dem die Anschläge

der Herzen offenbar sind. Paulus ließ sich nicht im

Geringsten durch die Eifersüchteleien ruhmgieriger Prediger

stören. Mochten s i e auch Christum aus Neid und Streit

verkündigen und seinen Banden Trübsal zuzufügen gedenken

(Phil. 1, 15—19), er freute sich, daß Christus verkündigt

wurde. Was lag an ihm und seiner Ehre vor

234

den Menschen? Der Herr kannte Seinen Knecht; das

war ihm genug. Für ihn gab eS nur ein Ziel: die

Verherrlichung Christi und die Ausbreitung Seines Zeugnisses.

Wenn dieses Ziel erreicht wurde, so mochte mit

ihm geschehen, was da wollte. Welch eine moralische

Erhabenheit verleiht ein ganzes Herz für Christum! Der

Neid und Streit jener bösen Arbeiter richtete sich im

Grunde nicht gegen Paulus, sondern gegen den Herrn

selbst. Denn wenn Gott einem Menschen einen gewissen

Platz anweist und ihm ein gewisses Werk überträgt, und

seine Genossen beginnen mit ihm zu streiten, weil er

jenen Platz ausfüllt und jenes Werk thut, so richtet sich

ihr Streit thatsächlich gegen Gott selbst, der ihn zu Seiner

Zeit und in Seiner Weise zu Ende führen wird. Darüber

können wir völlig gewiß sein; und gerade diese Gewißheit

giebt dem Knechte des Herrn eine heilige Ruhe und erhebt

ihn über jene unruhigen, eifersüchtigen Geister, die gegen

ihn auftreten. Selbst mit diesen zu streiten wäre nutzlos;

weit besser ist es, sie den Händen des Herrn zu

übergeben und ihnen den Platz zu lassen, nach dem ihre

eitlen, thörichten Herzen begehren. Ueber kurz oder lang

wird gerade dieser Platz die Stätte ihrer Niederlage und

gänzlichen Verwirrung werden.

Schließlich sei noch eine Sache erwähnt, die schon

manchem Diener des Herrn schwere Stunden und heiße

Kämpfe verursacht hat und gegen die es kein Schutzmittel

giebt. Ich meine Verleumdungen und Verdächtigungen.

Gehen sie von feiten der Welt aus, die in

ihrem Haß gegen Christum und Sein Volk nur zu gern

ihrem Herrn, dem Verkläger der Brüder, ihr Ohr leiht,

so sind sie verhältnismäßig leicht zu ertragen. Lassen sich

235

aber Gläubige dazu gebrauchen, Verleumdungen gegen

ihre Brüder auszustreuen, um sie in den Augen ihrer

Mitpilger herabzusetzen und zu verdächtigen, so ist viel

Gnade von oben nötig, um den Widersachern in Sanftmut

zu begegnen und das Böse zu ertragen. Ach! wenn

jene Verleumder bedächten, was sie thun, so würden sie

erschrecken und sich nicht länger als Werkzeuge des Feindes

gebrauchen lassen. Sehr beherzigenswert sind in dieser Beziehung

die Worte in Psalm 15, 1—3: „Jehova, wer

wird in deinem Zelte weilen? wer wird wohnen auf deinem

heiligen Berge? Der in Lauterkeit wandelt und

Gerechtigkeit wirkt und Wahrheit redet von

Herzen, nicht verleumdet mit seiner Zunge,

kein Uebel thut seinem Genossen, und keine

Schmähung bringt auf seinen Nächsten."

Doch was soll ein Knecht des Herrn thun, wenn er

verleumdet und verdächtigt wird? Soll er sich zu rechtfertigen

suchen? Nein, ausgenommen in den Fällen, wo

die Ehre des Herrn und das Wohl der Versammlung

es erfordern. In solchen Fällen rechtfertigte sich auch der

große Apostel. Im Uebrigen aber darf ein aufrichtiger

Arbeiter mit Paulus sagen: „Der mich beurteilt ist der

Herr. So urteilet nicht etwas vor der Zeit, bis der Herr

kommt, welcher auch das Verborgene der Finsternis

ans Licht bringen und die Ratschläge der Herzen offenbaren

wird; und dann wird einem jeden sein Lob werden

von Gott." (1. Kor. 4, 4. 5.) Und was ihn persönlich

betrifft, so wird er „sich üben, allezeit ein Gewissen ohne

Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen." (Apstgsch.

24, 16.) In diesem wie in allem ist der Herr die einzige

Zuflucht und Hilfe für den Arbeiter. Er, der die Gabe

236

gegeben und den Dienst anvertraut hat, wird auch die

nötige Weisheit und Kraft darreichen, um inmitten aller

Schwierigkeiten und entmutigenden Erscheinungen nach

Seinem wohlgefälligen Willen und zum Besten der Seinigen

im Dienste auszuharren.

Was der Zweck deS Feindes bei allen diesen Dingen

ist, braucht kaum gesagt zu werden. Seine Freude ist,

zu zerstören und zu zerreißen, Neid und Streit, Zwietracht

und Hader zu erregen. „Seine Gedanken sind uns nicht

unbekannt." O möchte der Herr allen den Seinigen Gnade

geben, daß sie sich nicht von ihm „Übervorteilen" lassen!

(2. Kor. 2, 11.)

Je mehr nun ein Knecht des Herrn die ernsten Ermahnungen,

die das Wort an ihn richtet, erwägt, je mehr

er sich der Gefahren und Schwierigkeiten bewußt wird,

die mit der Ausübung des ihm anvertrauten Dienstes

verknüpft sind, desto mehr wird er seine Untüchtigkeit und

Ohnmacht erkennen und im Blick auf die hohe Wichtigkeit

seines Werkes immer tiefer fühlen, wie sehr er

der täglichen Unterweisung, Leitung und Stärkung von

oben bedarf. Und indem er in eifrigem Gebet und Flehen

sich und sein Werk Gott befiehlt, wird er auch sehnlichst

wünschen, daß andere seiner viel vor dem Herrn gedenken.

Selbst der Apostel Paulus, dieser so reich begabte und

dem Herrn so völlig gewidmete Diener, empfahl sich und

seine Mitarbeiter wiederholt und dringend der Fürbitte

derer, an welche er schrieb. So lesen wir in Kol. 4, 3:

„Und betet zugleich auch für uns, auf daß Gott uns eine

Thür des Wortes aufthue, um das Geheimnis des Christus

zu reden .... auf daß ich es offenbare, wie ich reden

soll." (Vergl. Eph. 6,18. 19.) Ebenso in 2. Thess. 3, 1:

237

„Uebrigens, Brüder, betet für uns, daß das Wort des

Herrn laufe und verherrlicht werde." (Siehe auch 1. Thess.

5, 25; Hebr. 13, 18.)

Gewiß wird in jener ersten Zeit ein jeder, dem die

Ehre des Herrn und das Wohl der Seinigen am Herzen

lag, den Wunsch des Apostels gern erfüllt haben; und

solche, die also gesinnt sind, thun dasselbe auch heute

mit aller Willigkeit. Sie tragen das Werk des Herrn

und die in dasselbe berufenen Arbeiter auf betendem

Herzen, sind dadurch vom Herrn anerkannte Mitarbeiter

und werden auch Mitteilnehmer des Lohnes sein. Indem

solche mit dankbarem Herzen die große Güte und Fürsorge

des Herrn für das Wohl Seiner geliebten Versammlung

anerkennen, beachten sie gern die Ermahnungen bezüglich

ihres Verhaltens gegen solche, die Er zu ihrer Bedienung,

Auferbauung und Pflege berufen und befähigt hat. Der

Herr hat uns auch in dieser Beziehung nicht ohne deutliche

Belehrungen gelassen. So schreibt z. B. der Apostel

Paulus an die Korinther: „Ihr kennet das Haus des

Stephanas, daß es der Erstling von Achaja ist, und daß

sie sich selbst den Heiligen zum Dienst verordnet haben;

daß auch ihr solchen Unterthan seid und jedem, der mitwirkt

und arbeitet." (1. Kor. 16, 15. 16.) Aehnlich

schreibt er an die Thessalonicher: „Wir bitten euch aber,

Brüder, daß ihr die erkennet, die unter euch arbeiten und

euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen, und daß

ihr sie über die Maßen in Liebe achtet um ihres Werkes

willen." (1. Thess. 5, 12. 13.)

Ein demütiges, dem Herrn ergebenes Herz wird

solchen Ermahnungen gern und freudig nachkommen zu

seinem eigenen Wohl und zur Ehre des Herrn. Leider

238

hat ja, wie wir schon früher sahen, der Geist der Unbotmäßigkeit

und Unabhängigkeit, der in der Welt herrscht,

auch in unsrer Mitte viel Eingang gefunden. Das Bild,

das der Apostel von dem Charakter der letzten Tage entwirft,

weist dunkle Züge auf, und mit tiefem Schmerz

müssen wir sagen, daß einige derselben sich mehr und

mehr auch bei den Christen in ihrem Familien- und Gemeinschaftsleben

zu zeigen beginnen. Der Apostel sagt:

„Dieses aber wisse, daß in den letzten Tagen schwere

Zeiten da sein werden; denn die Menschen werden eigen-

liebig sein, geldliebend, prahlerisch, hochmütig, Lästerer,

den Eltern ungehorsam, undankbar .... aufgeblasen,

mehr das Vergnügen liebend als Gott." (2. Tim. 3, 1—4.)

Müssen wir nicht bekennen, daß diese traurigen Dinge,

wenn nicht in ihrer Vollendung, so doch in ihren Anfängen

sich mehr und mehr unter uns bemerkbar machen? Ist

es nicht so, daß Eigendünkel, Hochmut, Ungehorsam, Aufgeblasenheit

und Vergnügungssucht sich besonders bei den

Jüngeren unter uns zeigen? Hat nicht bei den meisten die

erste Frische des geistlichen Lebens abgenommen, und ist

nicht schon bei manchem viel äußere Form und Gewohnheit

an die Stelle der innern Kraft und Wirklichkeit

getreten? Sind nicht viele, die im Anfang, als sie die

Wahrheit erkannten, mit großer Freude und mit dankbarem

Herzen ihren Platz am Tische des Herrn einnahmen,

gleichgültig und träge geworden und besuchen die Versammlungen

heute mehr zur Beruhigung ihres Gewissens, als aus

wahrem Herzensbedürfnis und aus Liebe zum Herrn? Sind

nicht sogar manche in tiefen Schlaf und, was ihr Gewissen

und die geistlichen Regungen ihre Herzens betrifft,

in den Zustand eines Toten versunken, so daß ihnen die

239

ernste Ermahnung gilt: „Wache aus, der du schläfst, und

stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir

leuchten" ? (Eph. 5, 14.) Wir werden alle antworten

müssen: Leider ist es so! Soll es so bleiben, soll es so

sortgehen, Geliebte? O möchten alle schläfrig Gewordenen

aufwachen und wir alle mit neuer Entschiedenheit und

Treue für unsern Herrn dastehen, damit Er nicht genötigt

sei, uns das, was Er uns anvertraut hat, wieder zu

nehmen und es andern zu übertragen! Er ist bereit zu

vergeben und wiederherzustellen, und Er selbst will den

Aufgewachten voranleuchten, daß sie fortan gewisse Tritte

thun zu Seiner Ehre.

O wie anbetungswürdig ist die Gnade und Liebe

unsers teuren Herrn! Er nährt und pflegt Seine Versammlung

bis ans Ende; Er hebt und trägt, ermahnt und

warnt, erquickt und stellt wieder her, ermuntert und tröstet.

Möchten unter Seiner gnädigen Leitung auch die vorstehenden

Zeilen manchem Leser zum Nutzen und Segen

dienen! Möchte Er selbst uns immer von neuem durch

Seinen Geist an die kostbaren und ernsten Dinge erinnern,

die wir besprochen haben, damit wir alle dastehen als ein

glückliches, in Liebe mit einander verbundenes Volk, Ihn

erwartend, nach Ihm ausschauend mit sehnlichem Verlangen!

Das ist der Wunsch und das Gebet des Schreibers

und gewiß vieler mit Ihm.

„Ich werfe keine andere Last auf euch; doch

was ihr habt, haltet fest, bis ich komme."

(Offbg. 2, 24. 25.)

240

Ich bin eine Narcisse Sarons."(Hohe!. 2, 1—3.)

„Ich bin eine Narcisse Sarons, eine Lilie der

Thäler." Welch eine wunderbare Sache ist die Gnade,

die Gnade Gottes gegen den Sünder! Welch mächtige

Veränderungen bringt sie in denen hervor, die sie kennen, in

Bezug auf ihre Gedanken, Gegenstände, Wünsche und Zuneigungen!

Sie teilt uns die Gedanken des Herrn mit

hinsichtlich dessen, was wir in Seinen Augen und für

Sein Herz sind. Beachte dieses wohl, mein Leser, und

sinne darüber. Der Brunnen ist tief, und seine Wasser

sind allezeit frisch und erquickend. Trinke daraus, frei und

ungehindert.

Gnade kennen heißt Gott kennen, sowie Sein volles

Heil durch Jesum Christum, vermittelst der Belehrung

des Heiligen Geistes. Noch vor kurzem hat die Braut

bekannt: „Ich bin schwarz . . . schwarz wie die Zelte

Kedars"; und jetzt ist sie durch die Gnade fähig gemacht,

in Wahrheit und ohne Zweifel zu sagen: „Ich bin eine

Narcisse Sarons, eine Lilie der Thäler"; ich bin das,

was den höchsten Schmuck Sarons bildet, was die Thäler

schön und lieblich macht. Sie spricht nicht in allgemeinen

Ausdrücken, sondern in der bestimmtesten Weise von dem,

was sie dem Bräutigam so anziehend erscheinen läßt.

Sie rühmt sich nicht eitler Weise andern gegenüber, sondern

redet unmittelbar zu Ihm, in dem freudigen Bewußtsein

des Platzes, den sie in Seinem Herzen hat. Eine völlige

Gemeinschaft ist vorhanden; denn Er fügt sofort hinzu:

„Wie eine Lilie inmitten der Dornen, so ist meine

Freundin inmitten der Töchter."- Und an einer späteren

Stelle dieses Buches sagt Er: „Eine ist meine Taube,

241

meine Vollkommene; sie ist die einzige ihrer Mutter,

sie ist die Auserkorene ihrer Gebärerin." Derart ist die

Liebe und Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu

Christi, und das ist der besondere Platz, den Seine

Braut in Seinen Augen hat; die Ausdrücke Seiner Zuneigung

übertreffen stets diejenigen der ihrigen. Das ist

überaus köstlich für das Herz. Wie groß ist doch der

Unterschied zwischen der herrlichen, duftenden Lilie und

einem scharfen, verletzenden Dorn!

Es giebt viele Gläubige, die, wenn sie solche Wahr-,

heiten hören, unwillkürlich ausrufen: „O ich bin eines solchen

Platzes nicht wert!" — Sicherlich nicht, mein Freund,

wenn du an deine eigene Würdigkeit denkst. Was für

eines Platzes aber meinst du wert zu sein? Wahrscheinlich

eines niedrigeren. Aber ist das Demut? Nein, eA

ist Stolz! Wir verdienen in Seiner Gegenwart überhaupt

keinen Platz; folglich muß jeder Platz, den Er uns giebt,

eine Folge reiner, unumschränkter Gnade sein. An der

Thürschwelle zu stehen, würde ebensowohl unvermischtL

Gnade sein, als auf Thronen zu sitzen.

Ohne Zweifel dachte der verlorne Sohn, daß es sehr

demütig von ihm sein würde, zu sagen: „Mache mich,wie

einen deiner Tagelöhner." Aber es war nicht Demut,

sondern ein Rest von Stolz und Gesetzlichkeit des Herzens.

Alle solche Gedanken entstammen dem natürlichen Herzen,'

welches überaus stolz und selbstgerecht ist und weder seinen

eigenen Zustand noch die Gnade Gottes kennt. Wahre

Demut steht von ferne und bekennt, daß sie nicht wert

sei, auch nur die Augen zum Himmel aufschlagen zn

dürfen. (Vergl. Luk. 18.) Der verlorene Sohn hatte ebensowenig

Anspruch auf den Empfang eines Tagelöhners,

242

als auf den eines Sohnes. Er hatte auf dem Boden

der Gerechtigkeit alle Ansprüche verloren. Er hatte nur

einen Grund, auf welchen hin er zu kommen wagen

durfte, nämlich seine dringende Not. Nur Gnade

konnte ihm begegnen. Wäre ihm Gerechtigkeit widerfahren,

so würde eine ewige Verdammnis sein Los gewesen sein.

Aber die Gnade herrscht; kein Wort wird gesagt über

seine Sünden. Er würde auch nicht für eine aus tausend

haben einstehen können. Die Frage der Sünde wurde

am Kreuze zwischen Gott und Christo geordnet. Und

jetzt strahlt die Gnade in ihrem ganzen himmlischen Glanze.

Das Herz des Vaters ist die Quelle von allem, und Er

hat seine Freude daran, Gnade zu üben. Er handelt

sich selbst gemäß. Die vorher überlegte Ansprache des

verlorenen Sohnes wird unterbrochen; er kommt nicht so

weit zu sagen: „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner".

Wie hätte es auch sein können? Die Gnade verhinderte

es; der Vater lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals

und küßte ihn sehr. Die Versöhnung fand ihren Ausdruck

und ihre Vollendung in demselben Augenblick, da

Vater und Sohn zusammentrafen. Der Sohn empfing

sofort den Kuß des Friedens. Die Gnade ist frei.

Nachdem Gott das Sühnungswerk am Kreuze entgegengenommen

hat, wird uns die Versöhnung in demselben

Augenblick zu teil, da wir in Christo mit Ihm zusammentreffen.

Und nun, durch das Blut des Kreuzes versöhnt, wird

der einst verlorene und verderbte Sünder zum Sohne und

Erben gemacht, zum Erben Gottes und Miterben Christi.

Das ist Gnade, die Gnade Gottes in Christo Jesu für

alle, die an Seinen Namen glauben. Sie werden die

243

leuchtenden Gefäße dieser Gnade bilden alle die endlosen

Zeitalter der Ewigkeit hindurch. Welch ein Platz für den

einst armen, freund- und heimatlosen Wanderer, und zwar

für immer und ewig! So offenbart Gott Seinen Charakter

der Gnade; Er will „in den kommenden Zeitaltern den

überschwenglichen Reichtum Seiner Gnade offenbaren in

Güte gegen uns in Christo Jesu". (Eph. 2, 7.)

Beachten wir auch, daß die Braut sagt: „Ich bin

eine Lilie der Thäler". In dem stillen Thale findet

sie ihren heimatlichen Boden. Dort blüht sie für das

Auge ihres Geliebten, und dort verbreitet sie ihren Wohlgeruch

zu Seiner Erquickung. „Er weidet unter den

Lilien." Es ist in der Stadt, wo sie die Freude Seiner

Gegenwart verliert und wo sie von den Wächtern verhöhnt

und beschämt wird. (Kap. 5.) Wie viel besser wäre es

für sie gewesen, hätte sie nimmer ihre stillen Thäler verlassen.

Welch eine beachtenswerte Unterweisung liegt

hierin auch für uns, geliebter Leser! Fern von dem

Strom und dem Geiste dieser Welt, fern von ihren Reizen

und anziehenden Dingen, sollten wir darüber sinnen, was

dem Auge Jesu wohlgefällig und Seinem Herzen angenehm

ist. Wie wunderbar, daß Er, der sich auf den Thron

Seines Vaters gesetzt und mit dessen Herrlichkeit umgeben

hat, noch an solch wertlose Geschöpfe gedenkt, wie wir

sind; ja, mehr noch, daß Er erfreut und erquickt, oder

betrübt und verwundet wird durch unser Verhalten hie»

nieden! Ach, daß Er so oft verwundet wird in dem Hause

derer, die Ihn lieben! Sollte es irgend etwas unter

der Sonne geben, das einem Christen mehr Freude bereiten

könnte, als Ihm zu gefallen? Können wir uns etwas

Unwürdigeres denken als einen Christen, der sich selbst

244

zu gefallen sucht und seine Freude an den Dingen dieser

Welt findet? obwohl er weiß, daß er das Herz Dessen

betrübt, den zu erfreuen sein ganzes Bestreben sein sollte

— Ihn, der für ihn starb auf Golgatha?

O möchten wir uns alle in Aufrichtigkeit prüfen,

wie es in dieser Beziehung mit uns steht, und schonungslos

mit uns ins Gericht gehen! „Richtet auf die erschlafften

Hände und die gelähmten Kniee und machet

gerade Bahn für eure Füße, auf daß nicht das Lahme

vom Weg« abgewandt, sondern vielmehr geheilt werde."

<Hebr. 12, 12. 13.) Wie köstlich ist es für das Auge

des guten Hirten, diejenigen, für welche Er starb, standhaft

und mit freudigem Herzen wandeln zu sehen in den

„Spuren Seiner Herde", und weiden zu finden „bei den

Wohnungen der Hirten"! Dort finden sie zarte, grüne

Weide und stille Wasser der Ruhe. Wie betrübend dagegen

für den Erzhirten und Seine Unterhirten, einen

Jünger Jesu, der für eine Zeit mit seinem ganzen Herzen

dem Herrn ergeben schien, den Vorstellungen unbekehrter

Freunde und den Reizen der Welt nachgeben zu sehen;

wie betrübend, wenn ein solcher nach allerlei Gründen

und Entschuldigungen sucht, um wenigstens bis zu einem

gewissen Grade Hand in Hand mit der Welt gehen zu

können! „Muß ich denn wirklich dieses, muß ich jenes

aufgeben?" hört man oft fragen. Ach, mein Bruder,

meine Schwester, denke lieber daran, was du zuerst aufgeben

mußt, um die Freuden der Welt wieder genießen

zu können. Für ihre Eitelkeiten und Thorheiten

mußt du Christum ausgeben! Ich meine,

Christum im Blick auf den praktischen Genuß. Du weißt,

daß du nicht zu gleicher Zeit den Herrn und jene Dinge

245

genießen kannst. Darum: du mußt diese Dinge für

Christum aufgeben. Zögerst du noch? O richte

dann deinen Blick auf das Kreuz! Wie hat Er dich geliebt!

Seine Liebe trieb Ihn in den Tod, in den Tod

für dich, um dich von deinen Sünden, von der Welt

und ihren Dingen, ja, von der ewigen Verdammnis zu

befreien. Wirf dich zu Seinen Füßen nieder mit aufrichtiger,

göttlicher Betrübnis! Du hast Sein Auge beleidigt,

Sein Herz betrübt, Seinen Namen verunehrt.

Bekenne Ihm alles; und deine Wiederherstellung wird

eine vollkommene sein, deine vergangenen Sünden werden

vergeben und vergessen werden für immer!

So lange dieses nicht geschieht, ist die Gemeinschaft

mit dem Herrn unterbrochen, die geistliche Gesinnung und

der Ernst des Herzens sind dahin. Du gehst rückwärts,

schneller und immer schneller; und wenn nicht der Herr

tu Seiner Gnade die Räder des Wagens zum Stehen

bringt, wer kann dann sagen, wie schnell und wie weit

er abwärts rollen wird? Vielleicht tritt etwas ein, das

Plötzlich den Rückgang aufhält; aber der Schaden, der

geschieht, läßt vielleicht für immer seine ernsten, beschämenden

Spuren zurück. Möge die Gnade des Herrn uns erleuchten

und viele in die Wüste zurückführen, die zu nahe am

Rande der Welt sich aufhalten und begehrliche Blicke über

die Linie der Absonderung hinüberwerfen! Ja, Herr,

entwöhne uns alle von dem gegenwärtigen, bösen Zeitlauf;

laß uns gekleidet sein in den bescheidenen, einfachen Schmuck

der Lilie für Dich allein! Bewahre uns vor der Sucht,

in den Augen der Welt glänzen zu wollen! Wahrlich,

teurer Herr, Deine Worte: „Wie eine Lilie inmitten der

Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter",

246

sind von unendlich höherm Werte als alles, was wir

um Deinetwillen aufgeben mögen!

„Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes,

so ist mein Geliebter inmitten der Söhne; ich habe mich

mit Wonne in seinen Schatten gesetzt, und seine Frucht

ist meinem Gaumen süß." (V. 3.) Aus verschiedenen

Stellen der Schrift (vergl. Joel 1, 12) geht hervor, daß

der Apfelbaum im Lande Palästina vielfach vorkam und

wegen seines kühlenden Schattens und seiner schmackhaften,

lieblich duftenden Frucht (vergl. Kap. 7, 8) allgemein

geschätzt wurde. Im Vergleich mit den gewöhnlichen

Bäumen des Waldes muß er ohne Zweifel dem müden,

durstigen Wanderer sehr begehrenswert erschienen sein.

Und so stellt auch die Braut einen Vergleich an zwischen

ihrem Geliebten und Andern. „Wie ein Apfelbaum unter

den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter inmitten

der Söhne." Niemand ist gleich Ihm. Er ist „ausgezeichnet

vor Zehntausenden"; und sie steht in dem vollen

Genusse dessen, was Er ist; nicht bloß Seiner Gaben,

so herrlich dieselben auch sein mögen, sondern Seiner selbst.

Hier finden wir eine völlige, persönliche Gemeinschaft.

Die Braut ist in dem ungetrübten Lichte Seiner Gunst

und Liebe, und ihre Antwort auf diese Liebe ist vollkommen.

Wenn Er sagt: „Wie eine Lilie inmitten der

Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter," so

erwidert sie: „Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen

des Waldes, so ist mein Geliebter inmitten der Söhne."

Welche Wunder hat die Gnade bewirkt! Zu welchen

Höhen leitet sie! Hätte der Jude, wenn er auch die

steilen Felsen des Sinai erstiegen hätte, je die Gegenwart

Gottes erreichen können? Nimmermehr. Alles muß Gnade

247

sein von Anfang bis zu Ende. Durch sie haben wir nicht

nur eine vollkommene Versöhnung, sondern sind auch in

die Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes eingeführt.

Und der Herr freut sich über das Werk Seiner Liebe,

wie geschrieben steht: „Erfreut sich über dich mit Wonne,

Er schweigt in Seiner Liebe, frohlockt über dich mit

Jubel." (Zeph. 3, 17.) Die Braut ruht ebenfalls in

dieser unveränderlichen Liebe. „Ich habe mich mit Wonne

in Seinen Schatten gesetzt, und Seine Frucht ist meinem

Gaumen süß." Ihre Seele findet Ruhe, Freude und

Ueberfluß. Das Herz nährt sich von Christo. Jedes

Bedürfnis ist gestillt. Sie fühlt sich bei Ihm zu Hause

und glücklich. Einst hatte sie einen andern Platz, den

Platz der Sünde und des Todes. Aber der Herr hat

sie daraus erlöst und sie an Seinen eigenen, Seinen

neuen Platz als der auferstandene Messias gebracht. Das

ist jetzt ihr Platz; sie kann nicht an beiden Plätzen zugleich

sein. „Unter dem Apfelbaum habe ich dich geweckt."

(Kap. 8, 5.) Der Apfelbaum ist Christus.

Israel wird, wie wir wissen, dermaleinst wieder aufgeweckt

werden aus seinem gegenwärtigen Zustande des

nationalen Todes, um die Segnungen des neuen Bundes

unter Christo zu genießen. Sie können aber nur aufgeweckt

werden durch Christum und den Segen erreichen

unter Christo. Barmherzigkeit ist der einzige Boden

für sie, vollkommene Hilflosigkeit ihr einziges Anrecht, und

Christus ihr einziger Weg. Wenn es einmal so weit

gekommen ist, so steht alles Wohl, für immer Wohl, für

Israel wie für die Nationen. Israel wird noch einmal

auf diesem Boden und unter diesem gesegneten Haupte

gesammelt werden. Dann werden sie unter Seinem Schat

248

ten sitzen im vollsten Sinne des Wortes, und Seine Frucht

wird ihrem Gaumen süß sein — die herrliche Frucht

Seiner wunderbaren Liebe, indem Er für das widerspenstige

Volk starb. „Und also wird ganz Israel errettet

werden, wie geschrieben steht: „Es wird aus Zion der

Erretter kommen. Er wird die Gottlosigkeiten von Jakob

abwenden"." (Röm. 11, 26.) „An jenem Tage, spricht

Jehova der Heerscharen, werdet ihr einer den andern

einladen unter den Weinstock und unter den Feigenbaum."

(Sach. 3, 10.) .

Ruhe.

Der ermüdete Arbeiter, der erschöpfte Wanderer, die

besorgte Mutter, welche die Nacht wachend am Bette ihres

Kindes zugebracht hat, der arme Dulder, der sich schlaflos

auf seinem Lager hin und her wälzt, — alle diese verlangen

nach Ruhe. Wer in gemächlicher Muße seine

Tage verbringen kann, schätzt sie nicht. Gerade so ist es

mit der Ruhe, die das Evangelium giebt. Es sind die

Mühseligen und Beladenen, die nach ihr verlangen; wer

mit sich selbst und seinem Leben zufrieden ist, lebt und

stirbt ohne sie.

Das Evangelium Gottes giebt uns vollkommene

Ruhe. Dem Sünder bringt es Ruhe für sein erwachtes

Gewissen; dem Gläubigen bietet es Ruhe für sein

Herz dar; und dem, dessen Gewissen und Herz befriedigt

ist, stellt es eine ewige Ruhe in der Herrlichkeit droben

in gewisfe Aussicht.

Seufzt einer unsrer Leser: „O daß ich Ruhe hätte

von der schweren Last meiner Sünden!"? Komm dann,

249

du Mühseliger und Beladener, mit deiner ganzen Last zu

Ihm, der unsere Sünden an Seinem eigenen Leibe auf

das Holz trug; zu Ihm, dessen Blut unser Gewissen ein

für allemal zu reinigen vermag! Laß nicht das Gefühl

deiner Sünden dich aufhalten, zu Ihm zu eilen; denn

gerade die Thatsache, daß du ihr Gewicht fühlst, beweist,

daß du einer der besonders Eingeladenen bist. Jesus

ladet a l l e Mühseligen und Beladenen zu sich. „Kommet

her zu mir!" Er ruft dich, Er streckt Seine Arme nach

dir aus. Laß dich deshalb weder durch deinen Unglauben

noch durch Satan zurückhalten. Siehe, dieselbe Hand, die

sich jetzt in errettender Liebe dir entgegenstreckt, wurde

einst um deinetwillen ans Kreuz genagelt. Dort floß

Sein kostbares Blut für dich. Kannst du noch länger

Seiner Einladung widerstehen? noch länger an Seiner

Liebe zweifeln?

Das Blut allein ist es, welches die Sündenlast wegnimmt

und dem armen, mühseligen Sünderherzen Ruhe

giebt; und je größer die Last, desto dringender ist das

Bedürfnis nach Ruhe. Der Herr sagt: „Kommet her

zu mir . . ., ich will euch Ruhe geben." Sein Leiden

und Sterben befreit alle diejenigen, die zu Ihm kommen,

für immer von dem überwältigenden Gewicht der Sünde.

Noch einmal denn, komme zu Ihm mit allen deinen

Sünden und lerne kraft Seines Opfers die Ruhe kennen,

welche Sein Blut für dein anklagendes Gewissen bereitet hat.

Doch es giebt, wie gesagt, noch eine andere Ruhe

als diejenige des Gewissens. Wir dürfen nicht denken,

daß ein Mensch, der der Vergebung seiner Sünden gewiß-

ist, schon den Gipfel des Berges erreicht habe; nein, ersteht

erst am Fuße desselben. „Kein Gewissen mehr von

250

Sünden zu haben" (Hebr. 10, 2), ist der Anfang der

christlichen Laufbahn, nicht ihr Ende. Die Beschwichtigung

der unaufhörlich anklägenden und verdammenden Stimme

des Gewissens ist gleichsam nur eine Vorbereitung auf

den Ausbruch deS Lobes und Dankes des Herzens. Ruhe

für das Gewissen wird erlangt durch den Glauben an

das, was Christus für uns gethan hat; Ruhe für das

Herz wird uns zu teil, indem wir Sein Joch auf uns

nehmen. „Nehmet auf euch mein Joch und lernet von

mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig,

und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen." O wie

mancher ruhelose Christ wandert umher auf dieser Erde!

Wie mancher, der auf die reinigende Kraft des Blutes

vertraut, der der Vergebung seiner Sünden und des

Himmels gewiß ist, geht doch mit einem unbefriedigten

Herzen einher! Der eigenwillige Sünder findet keine Ruhe

für sein Gewissen; denn er verwirft den einzigen Balsam,

der seine Wunden heilen könnte: das Blut Christi. Der

eigenwillige Gläubige findet keine Ruhe für sein Herz;

denn er weist das einzige Heilmittel für seine Krankheit

zurück: das Joch Christi, eine völlige Unterwerfung unter

das Wort und den Willen Gottes. Wie viele solch unglücklicher

Christen können wir täglich erblicken! Ihr Wille

ist ungebrochen, sie wollen sich nicht beugen; sie haben

keine Ruhe für ihre Seelen.

Als unser Herr und Meister hienieden pilgerte, war

Er der in allem gehorsame, abhängige Mensch; Er trug

das Joch, gehorchte Seinem Vater und erfüllte Seinen

Willen. Sünder mochten ihn verhöhnen, die Zecher in

ihren Liedern Ihn verspotten (Ps. 69, 12), die Pharisäer

Ihn mit Eifersucht verfolgen und Seine Jünger Ihn

251

mißverstehen und selbst tadeln — Er verließ keinem

Augenblick den Pfad des unbedingten Gehorsams. „Und",

sagte Er, „mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht."

Ohne Zweifel wird der Pfad des Gehorsams Prüfungen-

aller Art mit sich bringen; aber unser göttlicher Meister,

der jetzt droben in der Herrlichkeit thront, bittet uns„

Seinen Fußstapfen nachzufolgen. Er ladet dich ein,

mein lieber christlicher Leser, Sein Joch auf dich zu

nehmen und von Ihm zu lernen und dann die tiefe, köstliche

Ruhe des Herzens zu genießen, die Sein stetes Teil

hienieden war. Trägst du Sein Joch des Gehorsams?

Lernst du von Ihm, dem Sanftmütigen und von Herzen

Demütigen? Dann ist das Joch sanft und die Last leicht.

Es ist eine Last wie die Segel für ein Schiff oder wie

die Flügel für einen Vogel. Anstatt dich niederzudrücken,

leitet sie dich aufwärts, himmelwärts, heimwärts.

Solche nun, deren Gewissen durch das Blut Christi

in Ruhe gebracht sind und deren Herzen in Seiner Liebe

ruhen, sind wahrhaft fähig, zu Seiner Ehre zu wandeln.

An sie tritt die Ermahnung heran: „Laßt uns nun

Fleiß anwenden, in jene Ruhe einzugehen." (Hebr. 4, 11.)

In welche Ruhe? In die ewige Sabbathruhe Gottes, die

dem Volke Gottes noch übrigbleibt. Die Herrlichkeit

liegt vor uns. Hier befinden wir uns in der Wüste,

obwohl der gnädige Gott es nicht an Wasferguellen und

schattigen Palmbäumen (2. Mose 15, 27) fehlen läßt;

aber unsre Heimat ist droben. „Vorwärts!" sei deshalb

unser Wahlspruch. Laßt uns Fleiß anwenden, in jene

Ruhe einzugehen! Möge unser Leben von unserm Glauben

Zeugnis geben! Es ist jetzt nicht an der Zeit, stille zu

sitzen und der Ruhe zu pflegen. Wer kann erkennen, daß.

252

es uns wirklich Ernst ist mit unserm Bekenntnis, wenn

wir die Wüste zu unsrer Heimat machen? Wer wird uns

glauben, daß wir die Herrlichkeit erwarten, wenn wir

die Ehre dieser Welt suchend „Laßt uns Fleiß anwenden,"

sagt die Schrift; Gott sei Dank! nicht um errettet zu

werden, sondern weil wir errettet sind; nicht um

Ruhe zu finden im Blick auf unsere Sünden, sondern

weil wir Ruhe gefunden haben, weil wir zu Gott gebracht

sind und Ihm angehören für immer und ewig.

Der Herr gebe uns Gnade, daß unser tägliches

Verhalten nicht einmal den Anschein erwecken möchte, als

ob einer von unS auf dem Wege zurückbliebe! Laßt uns

daran gedenken, daß, wenn wir hienieden eine Ruhestätte

suchen und diese Welt zu unsrer Heimat machen, wir der

zukünftigen Ruhe verlustig zu gehen scheinen. Welch ein

Schaden für uns, welch ein Anstoß vielleicht für andere,

und vor allem, welch eine Unehre für den Herrn! Wenn

einmal diese arme Welt vorübergegangen und Gottes

ewige Sabbathruhe angebrochen sein wird, welchen Wert

werden dann noch die gegenwärtigen Dinge für uns haben,

die jetzt so leicht unser Herz gefangen nehmen, unsern

Wettlauf aufhalten und unser Zeugnis für Gott schwächen?

Absolut keinen! Sollten sie denn heute mehr Wert für

uns haben als dann?

„Fürchten wir uns nun, daß nicht etwa, da

eine Verheißung, in Seine Ruhe einzugehen, hinterlassen

ist, jemand von euch zurückzubleiben scheine!"

(Hebr. 4, 1.)

Würdig der Berufung Gottes.

Die Berufung Gottes ist die Grundlage des christlichen

Wandels. Wir sind durch dieselbe in unmittelbare

Beziehung zu Gott gebracht, und zwar gemäß der voll-

kommnen Offenbarung Seiner selbst in Christo. Diese

Thatsache verleiht unsrer Berufung den erhabensten Charakter

und stellt uns in die höchsten Beziehungen, in welche je

eine Kreatur zu Gott gestellt werden kann. Die Engel

stehen in Beziehung zu Gott als ihrem Schöpfer und

Gebieter; sie sind die „Gewaltigen an Kraft, Thäter

Seines Wortes, gehorsam der Stimme Seines Wortes".

(Ps. 103, 20.) Israel steht in Beziehung zu Ihm als

dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, als dem ewigen

„Ich bin". Dem Abraham hatte Er sich geoffenbart als der

„Allmächtige" und ihm unbedingte Verheißungen gegeben,

nach welchen Israel das erste Volk der Erde bilden

und mit allen irdischen Segnungen gesegnet werden sollte.

(1. Mose 12, 2. 3; 17, 1; 2. Mose 3, 6. 14-16.) Die

übrigen Nationen werden betrachtet als „keine Hoffnung

habend und ohne Gott in der Welt" (Eph. 2, 11. 12),

aber verantwortlich für die Gnadenheimsuchung während

der Zeit, in welcher Gott die Kirche aus ihnen sammelt.

Später werden sie Gott als den „Höchsten" anerkennen,

und unter Seiner Regierung mit Israel gesegnet sein.

Unsre Beziehungen zu Gott aber sind ganz andrer Natur.

254

Wir kennen Ihn als den „Gott und Vater unsers Herrn

Jesu Christi" (Eph. 1, 3), und alles, was Gott für

Christum ist, ist Er auch für uns. Wer könnte die Tiefen

und Höhen dieses Verhältnisses zwischen dem Vater und

dem Sohne ergründen? Wer dessen Innigkeit und Liebe

ermessen? Was im ganzen Weltall könnte mit Ihm verglichen

werden, der von Ewigkeit her im Schoße des

Vaters war und durch den alle Dinge sind? Und wir

sind Kinder Gottes durch Ihn, „gesegnet mit aller geistlichen

Segnung in den himmlischen Oertern in Christo",

und haben teil an dem „unausforschlichen Reichtum des

Christus". (Eph. 1, 3-5; 3, 8.)

Selbstredend können wir nie die Herrlichkeit Seiner

Person teilen; aber es ist diese herrliche und erhabene

Person, in welcher wir vor Gott dargestellt sind, wie

geschrieben steht: „denn in Ihm wohnt die ganze Fülle

der Gottheit leibhaftig; und ihr seid vollendet in Ihm,

welcher das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt

ist." (Kol. 2, 9. 10.) Kein Geringerer als Er, der

„das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborne aller

Schöpfung ist", Er, durch den „alle Dinge erschaffen

worden sind, die in den Himmeln und die auf der Erde,

die sichtbaren und unsichtbaren, es seien Throne oder

Herrschaften oder Fürstentümer oder Gewalten", Er, der

in allen Dingen den Vorrang haben muß, — Er ist das

Haupt des Leibes, der Versammlung. (Kol. 1,15—19.)

Er, der „Geliebte", der „Sohn Seiner (des Vaters) Liebe",

ist der Maßstab unsrer Beziehungen zu Gott und der uns

zu teil gewordenen Gnade. Gott hat uns begnadigt „i n

dem Geliebten", hat uns errettet aus der Gewalt der

Finsternis und versetzt in das Reich deS Sohnes Seiner

255

Liebe. (Eph. 1, 6; Kol. 1, 13.) Gleicherweise werden

wir auch mit denselben Namen bezeichnet wie Er. Von

Ihm wird gesagt: „Siehe, mein Knecht, den ich erwählt,

mein Geliebter, an welchem meine Seele Wohlgefallen

gefunden hat"; und wir werden genannt: „Auserwählte

Gottes, Heilige und Geliebte". (Matth. 12,18; Kol. 3,12.)

Wir stehen also in Beziehung zu Gott in Christo

— eine Beziehung, in welche weder ein Engel (wie erhaben

seine Stellung auch sein mag), noch Israel (wie herrlich auch

seine Verheißungen sind), noch irgend eine andere Kreatur

gestellt ist. Wir sind in Ihm, in welchem die Fülle der

Gottheit — Vater, Sohn und Heiliger Geist — wohnt.

Infolge dessen sind wir berufen, erstens zu wandeln als

„Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder" (Eph. 5, 1),

zweitens zu wandeln „würdig des Herrn zu allem Wohlgefallen"

(Kol. 1, 10), und drittens mit Fleiß „die Einheit

des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens".

(Eph. 4, 3.)

Indessen ist es wichtig daran zu denken, daß unsre Berufung

in keinerlei Weise abhängig ist von unserm Wandel;

sie bildet vielmehr die Grundlage desselben. Sie ist eine

feststehende, unumstößliche Thatsache, beschlossen in den ewigen

Ratschlüssen Gottes und gegründet auf das Werk Christi.

Wir können nicht ermahnt werden, auf Grund von

Verhältnissen zu wandeln, die in Wirklichkeit nicht für uns

bestehen. Ein Engel z. B. ist nicht berufen, als ein Kind

Gottes oder als ein Glied des Leibes Christi zu wandeln,

weil diese Verhältnisse nicht für ihn da sind. Für uns

aber bestehen sie, und so müssen sie notwendigerweise die

Grundlage oder den Ausgangspunkt unsers Wandels bilden.

Und da es keine höheren Beziehungen giebt als die, in

256

welche wir gestellt sind, so muß selbstverständlich jede andere

Grundlage niedriger sein, und der daraus hervorgehende

Wandel kann nicht mehr auf der Höhe der eigentlich

christlichen Berufung stehen. Mag er auch noch so

aufopfernd und hingebend sein, er trägt nicht das wirkliche

Gepräge der Berufung Gottes. Wie können z. B.

Gläubige die Einheit des Geistes bewahren, wenn ein jeder

von ihnen sagt: „Ich bin des Paulus, ich aber des

Apollos, ich aber des Kephas, ich aber Christi" ? (1. Kor.

1, 12.) Solche Gläubige stehen von vornherein nicht

mehr auf dem Boden der Einheit des Geistes. Oder wie

werden wir getrennt von der Welt und ihren Grundsätzen,

würdig des Herrn, wandeln, wenn nicht Sein Tod und

unser Gestorbensein mit Ihm der Ausgangspunkt unsers

Wandels ist? Wir mögen dann vielleicht gerecht und tadellos

in unserm äußern Verhalten sein, aber das war Paulus

vor seiner Bekehrung auch, und doch war er zu jener Zeit

ein Feind Christi. DaS „Ich" bildete die Grundlage

seines Verhaltens und nicht Christus. (Phil. 3, 4—6.)

Zunächst also sind wir durch unsre Beziehung zum

Vater als Kinder befähigt, Nachahmer Gottes zu sein.

Wir sind Kinder, weil Gott „uns zuvorbestimmt hat zur

Sohnschaft durch Jesum Christum für sich selbst nach dem

Wohlgefallen Seines Willens". (Eph. 1, 5.) Wir haben

nichts dazu beigetragen, es sei denn daß unsre Sünden

der Anlaß zur Offenbarung dieser wunderbaren Gnade

wurden. Denn was anders konnten wir aufweisen als

unsre Sünden? Wir waren tot in Vergehungen und

Sünden; dennoch hatte Gott Gedanken der Gnade und des

Friedens über uns, und zwar schon vor Grundlegung der

Welt. Es war Sein Ratschluß, das Wohlgefallen Seines

257

Willens, ja noch mehr, es war das Bedürfnis Seines

Herzens, daß wir Seine Kinder sein sollten; Er wollte

uns „für sich selbst" haben. Sein eignes Herz findet

eine Befriedigung darin, Kinder zu haben. Das woran

Er zuerst dachte, war nicht, die Welt mit glücklichen Geschöpfen

zu füllen, die, zu einem Chor vereinigt, Sein

Lob verkündigen sollten (vergl. Psalm 103, 20—22),

sondern Kinder zu haben für Sein Herz und für Sein

Haus. Das war vor allem das Verlangen Seiner Liebe.

Welch einen Platz haben wir in Seinem Herzen! Möchten

wir dies mehr verstehen! Dann würden wir auch besser

erkennen, was Er für uns als Vater ist.

Daß Gott nicht die Engel, diese Gewaltigen an

Kraft, zu einem solch bevorzugten Platze ausersehen hat,

sondern unS, die wir Sünder und Feinde waren, ist

„zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade". (Eph.

1, 6.) Wir haben die Vergebung unsrer Sünden „nach

dem Reichtum Seiner Gnade" (Eph. 1, 7); aber

daß wir, so tief gefallene Geschöpfe, Kinder sein sollten,

zeugt von der Herrlichkeit Seiner Gnade. Das Maß

dieser Gnade entspricht dem Werte, den Christus in Gottes

Augen hat. Er ist der „Geliebte", und wir sind begnadigt

(oder: annehmlich gemacht) worden „in dem Geliebten".

Dementsprechend nannte der Herr Seine Jünger „Brüder"

und ließ ihnen sagen: „Ich fahre auf zu meinem Vater

und euerm Vater, und zu meinem Gott und euerm Gott."

(Joh. 20, 17.)

Wir sind also Kinder nach dem ewigen Ratschluß

Gottes, und sind es ferner „durch Jesum Christum".

(Ephes. 1, 5.) Er hat diesen Ratschluß ausgeführt, indem

Er durch Seinen Tod unsre Sünden gesühnt und

258

uns in Seiner Auferstehung in der Macht des Lebens

mit sich eins gemacht hat. Durch Jesum Christum vollkommen

gereinigt und befreit gemäß den Anforderungen

eines heiligen und gerechten Gottes, sind wir passend gemacht

für Seine Gegenwart durch Ihn. Wir sind vor

Gott nach dem Werte und dem Wohlgeruch der Person

und des Werkes Christi, „heilig und tadellos in Liebe".

(Eph. 1, 4; 5, 2.)

Aber mehr noch; wir haben auf Grund des Werkes

Christi auch den Geist der Sohnschaft empfangen, durch

welchen wir rufen: Abba, Vater! (Röm. 8,15; Gal. 4, 6.)

Wir haben also ein Zeugnis in uns, daß wir Kinder

sind, denn „der Geist selbst zeugt mit unserm Geiste, daß

wir Kinder Gottes sind". (Röm. 8, 16.) Wir sind nicht

nur durch das kostbare Werk Christi passend gemacht für

die Gegenwart GotteS, sondern sind auch durch den in

uns wohnenden Geist der Sohnschaft befähigt, die Liebe

des Vaters zu kennen und zu genießen.

Ferner sind wir Kinder, weil wir aus Gott geboren

und auf diese Weise des Lebens aus Gott, der göttlichen

Natur teilhaftig geworden sind. (1. Joh. 2, 29; 3, 1. 2.)

Johannes giebt in den eben angeführten Kapiteln die

äußern Kennzeichen der göttlichen Natur in den Kindern

Gottes an, zum Beweise dafür, daß sie aus Gott geboren

sind. „Wenn ihr wisset, daß Er gerecht ist, so erkennet,

daß jeder, der die Gerechtigkeit thut, aus Ihm geboren

ist." — „Hieran sind offenbar die Kinder Gottes und

die Kinder des Teufels. Jeder, der nicht Gerechtigkeit

thut, ist nicht aus Gott, und wer nicht seinen Bruder

liebt." (Kap. 3, 10.) Gerechtigkeit und Liebe sind die

Kennzeichen der göttlichen Natur, denn Gott ist Licht und

259

Liebe. (1. Joh. 1, 5; 4, 8.) Nicht daß wir für uns

selbst jene Beweise nötig hätten, um uns zu überzeugen,

daß wir Kinder Gottes sind; das hieße das Bewußtsein

unsrer Kindschaft von unserm Wandel abhängig machen,

wie leider viele Gläubige es thun und deshalb steten

Zweifeln unterworfen sind. Das lag durchaus nicht in

der Absicht des Apostels, als er jene Kennzeichen anführte.

Er wollte vielmehr zeigen, daß die Kinder Gottes auch

die Natur Gottes haben, weil sie aus Gott geboren sind,

und daß sich diese Natur nie anders in ihnen offenbart

als in Gott selbst.

Die Ermahnung, Nachahmer Gottes zu sein, ist

daher für uns eine Bestätigung des hohen Vorrechts, daß

wir Kinder Gottes und Seiner Natur teilhaftig geworden

sind. Dies tritt noch klarer ans Licht durch die Worte:

„Und wandelt in Liebe, gleichwie auch der Christus

uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als

Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden

Wohlgeruch." (Ephes. 5, 1. 2.) Gleichwie wir betreffs

unsrer Stellung mit Christo auf gleichen Boden gestellt

sind, indem Sein Vater unser Vater und Sein Gott unser

Gott ist, so sind wir es auch hinsichtlich unsers Wandels.

Wir sind berufen, so zu wandeln, wie Er gewandelt hat.

Dieser Gleichstellung mit Ihm begegnen wir an verschiedenen

Stellen der Schrift. So heißt es z. B.: „Sie sind nicht

von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin."

„Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner

Liebe bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters

gehalten habe und in Seiner Liebe bleibe." „Gleichwie

mich der Vater geliebt hat, habe auch ich euch

geliebt." „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden,

260

auf daß wir Freimütigkeit haben am Tage des Gerichts,

daß, gleichwie Er ist, auch wir sind in dieser Welt."

(Joh. 17, 16; 15, 9. 10; 1. Joh. 4, 17.) Diese

Stellen bezeugen neben vielen andern die Natur unsers

Verhältnisses zu dem Gott und Vater unsers Herrn Jesu

Christi. Wir sind heilig und tadellos in Beziehung zu

„Gott", geliebte Kinder in Beziehung zu dem „Vater".

Das ist die Grundlage unsers Wandels als Nachahmer

Gottes.

Was den zweiten Punkt, den Wandel „würdig des

Herrn zu allem Wohlgefallen", betrifft, so kennzeichnet sich

dieser dadurch, daß er der Liebe Christi und den Beziehungen

entspricht, in welche wir zu Ihm gebracht sind. Die Versammlung

ist Seine Braut und Sein Leib; sie ist daher

der Gegenstand Seiner zärtlichsten Liebe. Gleichwie wir

schon vor Grundlegung der Welt einen Platz als Kinder

im Herzen Gottes hatten, so war auch die Versammlung

schon der Gegenstand der Liebe Christi, als sie noch sündig

und unrein war. Er hat sie geliebt und sich selbst für

sie hingegeben, auf daß Er sie heiligte, sie reinigend durch

die Waschung mit Wasser durch das Wort, auf daß Er

sich selbst die Versammlung verherrlicht darstellte, die nicht

Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern daß

sie heilig und tadellos sei. (Eph. 5, 25—27.) Die Versammlung

lag in demselben Verderben wie das ganze

Menschengeschlecht; aber Christus liebte sie. Statt daß

ihr Zustand ein Hindernis für Seine Liebe gewesen wäre,

wurde er vielmehr der Anlaß zu einer um so größeren

Offenbarung derselben: Er gab sich selbst für sie hin. Er

hat sie erlöst durch diese Seine Hingabe in den Tod.

Aber das ist es nicht, was der Heilige Geist in jener

261

Stelle hervorheben will, sondern vielmehr Seine unendliche

Liebe zu ihr: Er hat sie mehr geliebt als Sein eignes

Leben. Dieser Seiner Liebe und Herrlichkeit entsprechend

stellt Er sie sich selbst verherrlicht dar ohne Flecken oder

Runzel. Wie der Vater Kinder haben wollte für sich

selbst, so will der Herr die Braut haben für sich selbst,

zur Befriedigung Seines Herzens. Welch eine Uebereinstimmung

im Blick auf uns zwischen dem Vater und dem

Sohne! Welch ein tiefes Interesse haben Beide an uns!

Es übersteigt alle anderweitigen Interessen, mag es sich

nun um das ganze Weltall oder um alle himmlischen

Heerscharen handeln. Wie der Vater uns auserwählt

hatte vor Grundlegung der Welt zur Sohnschaft, so hat

Er uns dem Sohne gegeben aus der Welt. Er hat uns

aus der Welt herausgenommen als solche, die nicht dieser,

sondern Ihm angehören, und hat uns dem Sohne Seiner

Liebe geschenkt, dessen Interessen bezüglich dieser Gabe

vollkommen eins mit den Seinigen sind. „Ich habe deinen

Namen geoffenbart den Menschen, die du mir aus der

Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir

gegeben." (Joh. 17, 6.)

Wie nach den Gedanken Gottes Mann und Weib

ein Fleisch sind, so sind wir eins mit Christo, „Glieder

Seines Leibes, von Seinem Fleische und von Seinen Gebeinen",

und diesem Verhältnis entsprechend nährt und

pflegt Er die Versammlung. (Eph. 5, 29. 30.) Er versäumt

sie keinen Augenblick. Wie könnte Er es auch, da

es ja so zu sagen in Seinem eigenen Interesse liegt, sie

Zu nähren und zu pflegen, denn sie ist Seine Versammlung,

Seine Braut, Sein Leib. „Wer sein Weib liebt, liebt

sich selbst. Denn niemand hat jemals sein eignes Fleisch

262

gehaßt . . . rc." Wie niedrig auch der praktische Zustand

der Versammlung, und wie schwach ihre Liebe zu Christo

sein mag, so ist und bleibt sie doch der Gegenstand Seines

Herzens und Seiner unveränderlichen Liebe. „Denn

die Liebe ist gewaltsam wie der Tod, hart wie der Scheol

ihr Eifer; ihre Gluten sind Feuergluten, eine Flamme

Jahs. Große Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen,

und Ströme überfluten sie nicht." (Hohel. 8, 6. 7.)

Mein lieber Leser! wer ist es, der uns so unaussprechlich

lieb gehabt hat, daß Er sich selbst für uns hingeben

konnte? Wer hat uns in ein solch inniges Verhältnis

mit sich gebracht und die Versammlung zu Seiner

Braut und Seinem Leibe erkoren? Es ist der Fürst der

Könige der Erde, ja noch mehr, der Erstgeborne aller

Schöpfung, der Sohn Gottes, der Eingeborne des Vaters!

Er ist es, „der uns liebt und uns von unsern Sünden

gewaschen hat in Seinem Blute, und uns gemacht hat

zu einem Königtum, zu Priestern Seinem Gott und Vater."

(Offbg. 1, 5. 6.) Die Frage, was eines solchen Herrn,

einer solchen Liebe und eines solchen Verhältnisses würdig

ist, kann sich wohl jeder Gläubige selbst beantworten. Er

kann leicht verstehen, daß ein Wandel nach kalten, trocknen

und gesetzlichen Vorschriften hier nicht genügt, sondern

daß die Liebe Christi die alleinige Triebfeder sein

muß. Es ist nicht gethan mit einem bloß sittlichen, ehrbaren

Wandel; Seine Liebe macht Ansprüche auf unsre

Herzen. Ein Mann, der sein Weib von ganzem Herzen

liebt, kann nicht durch eine noch so pünktliche und gewissenhafte

Besorgung seines Hauswesens befriedigt werden;,

seine Liebe verlangt nach Gegenliebe. Und sicherlich wird

ein Weib, das seinen Mann wirklich liebt, ihn auch als

263

solchen achten und ehren durch Unterwürfigkeit. Diese

Unterwürfigkeit nun ist auch der thatsächliche Beweis

unsrer Liebe zum Herrn. Wir haben gesehen, daß Seine

Liebe nicht von unserm Verhalten abhängt; aber um so

mehr muß es Ihn betrüben, wenn Ihm unserseits die

schuldige Anerkennung und Achtung versagt wird, oder

wenn gar statt dieser Dinge Gleichgültigkeit und Geringschätzung

in unserm Verhalten zu tage treten. Möchten

wir uns in der That der hohen Berufung, der Braut

und dem Leibe Christi anzugehören, würdig erweisen durch

einen Wandel in aller Ehrfurcht und Unterwürfigkeit; denn

das ist die Frucht eines wirklichen Verständnisses Seiner

unaussprechlichen Liebe!

Was den dritten Punkt, die Bewahrung der Einheit

des Geistes, anlangt, so bedürfen wir dazu zunächst der

Anerkennung, daß diese Einheit eine feststehende Thatsache

ist. Und in der That, sie ist das Werk des Heiligen

Geistes, eine Schöpfung Seiner Hand, ebenso voll und

ganz, wie die Erlösung das Werk Christi ist. Und wie

diese den Beweis der unaussprechlichen Liebe Christi erbringt,

so ist die Zusammenfügung der Gläubigen zu

einem Leibe ein Zeugnis von der göttlichen Macht und

Weisheit des Heiligen Geistes. „Da ist ein Leib und

ein Geist." Wie verschieden auch die Gläubigen nach

ihren Sprachen, Ständen und Charakteren sein mögen,

so sind sie dennoch eins durch die Thatsache, daß ein

Geist in ihnen allen wohnt, in ihnen wirkt und sie leitet.

Und zwar wohnt Er nicht vorübergehend, sondern bleibend

in ihnen, wie geschrieben steht: „Und ich werde den Vater

bitten, und Er wird euch einen andern Sachwalter geben,

daß Er bei euch sei in Ewigkeit . . . ; denn Er bleibt

264

bei euch und wird in euch sein." (Joh. 14, 16. 17.)

So wenig wie unser Verhältnis zu Christo von unserm

Verhalten abhängig ist, so wenig wird auch die Einheit

des Geistes davon beeinflußt. So wenig wie die Gläubigen

jemals aufhören können, Kinder Gottes oder der

Leib Christi zu sein, so wenig können sie aufhören, einen

Leib zu bilden, weil der Heilige Geist nie aufhören wird,

in ihnen zu sein. Alle diese unsre Beziehungen sind

gegründet auf den ewigen Ratschluß Gottes, das Werk

Christi und die Macht des Heiligen Geistes, und bestätigt

durch das geschriebene Wort Gottes. Darum kann keine

Macht des Feindes dieselben zunichte oder ungültig machen.

Sie sind und bleiben daher die Grundlage des

christlichen Wandels, aber sie sind nicht die Kraft desselben;

denn diese besteht in unsrer Abhängigkeit von

Christo und in der Leitung des Heiligen Geistes. So

unwandelbar, vollkommen und erhaben auch unsre Beziehungen

zu Gott sind, wird doch das Fleich in uns nicht

durch sie verändert; vielmehr nimmt es Anlaß aus ihnen,

sich zu erheben, und dies um so mehr, je größer unsre

Erkenntnis ist. Keiner der Gläubigen hat wohl je so

hohe Offenbarungen betreffs unsrer Stellung in Christo

gehabt, wie Paulus. Er war als „Mensch in Christo"

in den dritten Himmel und in das Paradies entrückt

worden, und hatte dort unaussprechliche Worte gehört,

welche der Mensch nicht sagen darf. (2. Kor. 12.) Er

hatte dort gesehen und gehört, was ein „Mensch in Christo",

was dessen Platz und Stellung nach den Gedanken Gottes

ist, aber das Fleisch hatte keinen Anteil daran; denn er

wußte nicht, ob er im Leibe oder außer dem Leibe dort

gewesen war. Aber sobald er in seinen gewöhnlichen Zu

265

stand zurückgekehrt war, suchte das Fleisch in ihm diese

hohe Offenbarung zu seiner Selbsterhebung zu benutzen,

so daß Gott ihm zu Hilfe kommen mußte. „Und auf

daß ich mich nicht durch die Ueberschwenglichkeit der Offenbarungen

überhebe, wurde mir ein Dorn für das Fleisch

gegeben, ein Engel des Satan, auf daß er mich mit

Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe." (Vers 7.)

Dieser einzige Fall beweist, wenn es überhaupt noch eines

Beweises bedürfte, daß wir in uns selbst nur schwache

Gefäße sind, weil das Fleisch noch in uns ist. Nur in

dem Maße, wie wir unsrer Schwachheit eingedenk bleiben,

kann die Kraft Christi in und durch uns wirken. Wir

müssen mit dem Apostel die ernste und selige Bedeutung

der Worte verstehen lernen: „Meine Gnade genügt dir,

denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht."

(VerS 9.) Wir haben im Blick auf uns wahrlich nur

Ursache, demütig und klein zu bleiben. Der Herr gebe

uns Gnade, uns selbst beständig für tot zu halten, und

immer daran zu denken, daß nicht außer uns, sondern in

uns das größte Hindernis für die Offenbarung der Kraft

Christi liegt!

Das ist wahr in all den Beziehungen unsrer Berufung.

Wie die Einheit der Gläubigen durch den Heiligen

Geist gemacht ist, so kann sie auch nur durch Seine

Kraft bewahrt werden; und dies bedingt ein demütiges

Warten auf Seine Leitung und. Wirksamkeit. Wo dieses

Warten vorhanden ist, wird Seine Gegenwart gefühlt, und

durch Ihn einerlei Gesinnung, dieselbe Liebe, Einmütigkeit

und einerlei Sinn in allen gewirkt werden. (Phil. 2, 2.)

Alle Parteisucht samt den häßlichen Regungen des Fleisches

wird aus der Mitte der Gläubigen fern bleiben,

266

und alle werden in Unterwürfigkeit gegen einander in der

Furcht Christi bewahrt werden.

Möchten wir nie vergessen, daß „Demut" die erste

notwendige Eigenschaft ist, um würdig wandeln zu können

der Berufung Gottes! „Ich ermahne euch nun, ich, der

Gefangene im Herrn, daß ihr würdig wandelt der Berufung,

womit ihr berufen worden seid, mit aller Demut

und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe."

(Eph. 4, 1. 2.)

Sein Panier über mir ist die Liebe."(Hohel. 2, 4—7.)

„Er Hatz mich in das Haus des Weines geführt,

und Sein Panier über mir ist die Liebe." (V. 4.) Indem

wir die verschiedenen Scenen der Freude betrachten,

in welche die glückliche Braut durch den König eingeführt

wird, müssen wir einen Augenblick bei der Quelle dieser

vielen Segensströme verweilen. Es ist das Vorrecht des

Gläubigen, sowohl aus der Quelle als auch aus dem Strome

zu trinken. Gott selbst ist die Quelle aller unsrer Segnungen.

Die Freuden, die zu Seiner Rechten sich finden,

sind zahllos.^ Aber die tiefe Quelle des vollsten, reichsten

Segens ist die glückselige Gewißheit, daß nichts, gar

nichts nötfig war, um das Herz Gottes uns

zuzuwenden. Kostbare Wahrheit! Seine Liebe ist

gleich dem Ringe, der an die Hand des verlornen Sohnes

gelegt wurde; sie hat weder Anfang noch Ende. „Gott

ist Liebe." Er verändert sich nicht. Und darum sind uns

die reichen Segnungen Seiner Liebe für immer gesichert,

nicht durch das, was wir sind, sondern durch das,

267

was Er ist. „Hierin ist die Liebe: nicht daß wir

Gott geliebt haben, sondern daß Er uns geliebt und

Seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere

Sünden." (1. Joh. 4, 10.)

Hier ist der vollkommene Ruheplatz des Glaubens:

das Herz Gottes, die Urquelle alles wahren Glückes. Wie

könnte ich jemals an der Liebe zweifeln, die den einge-

bornen Sohn dahingab? Welch eine Antwort auf jede

Frage: Er gab Seinen Sohn für mich, den Sünder, dahin!

„Gott aber erweist Seine Liebe gegen uns darin, daß

Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben

ist." (Röm. 5, 8.) Was ist Unglaube? Das Nicht-Glauben

an die Güte Gottes, der Seinen Sohn für uns in den

Tod gab. Was ist Glaube? Das Glauben an die vollkommene

Liebe GotteS und die Gabe Seines geliebten

Sohnes. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein

Wort hört und glaubt Dem, der mich gesandt hat, hat

ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er

ist aus dem Tode in das Leben hinübergegangen."

(Joh. 5, 24.)

Es bedurfte nicht des Werkes Christi, um das Herz

Gottes dem Sünder zuzuwenden, sondern um das Herz des

Sünders zu Gott zu kehren. Die ganze Schrift bezeugt

diese herrliche Wahrheit. Die erste Gelegenheit zu ihrer

Offenbarung gab der Fall des Menschen im Garten Eden.

Das schuldige Menschenpaar suchte einen Bergungsort vor

dem Angesicht des Herrn hinter den Bäumen des Gartens;

aber die Stimme Dessen, der da kam, um zu

suchen und zu erretten, was verloren ist, schlug in gnadenreichen

Lauten an ihr Ohr: „Adam, wo bist du?" Der

Mensch war jetzt ein verlorner Sünder, und Gott suchte

268

ihn. Die ersten Worte der erlösenden Liebe kennzeichnen

das ganze Werk der Erlösung; und die Offenbarung der

Liebe in der Verheißung, daß der Same des WeibeS der

Schlange den Kops zertreten solle, gewann ohne Zweifel

das Vertrauen der beiden Gefallenen und gab ihnen Mut,

aus ihrem Versteck hervorzukommen und in die Gegenwart

Gottes zu treten. Und so ist es seitdem immer gewesen.

Wenn der Sünder durch die Gnade dahin geführt wird,

an die vollkommne Liebe Gottes, wie sie sich in der

Gabe und dem Werke Seines Sohnes geoffenbart hat, zu

glauben, so tritt er mit Vertrauen in die Gegenwart

Gottes, in den vollen Besitz dessen, was der Tod, die

Auferstehung und Verherrlichung des Herrn Jesu für ihn

erworben haben. Eine völlige Vergebung wird ihm zu

teil, er wird angenommen in dem Geliebten, und die

Wünsche des Herzens Gottes gegen ihn werden vollkommen

befriedigt.

Aber obgleich die Liebe Gottes gegen uns stets dieselbe

war, gab es doch vieles in uns, das ihr volles und

freies Ausströmen verhinderte. Gott ist ebensowohl gerecht

als die Liebe. Er ist gerade so heilig wie barmherzig.

Er muß stets in Uebereinstimmung mit sich bleiben. Was

aber die Liebe wünschte, hat Seine Weisheit ersonnen

und Seine Macht zu stände gebracht. Die

Beseitigung der Hindernisse zeugen von der Größe Seiner

Liebe. Jesus kam, um den Willen Gottes zu thun. Er

vollbrachte das Werk. Er brachte das Opfer, das zur

Abschaffung der Sünde notwendig war. Die Liebe, die

göttliche, ewige Liebe, konnte nicht mehr thun, als sie

gethan hat. Zu welchem Zwecke, mein lieber Leser, wurde

jenes große, geheimnisvolle Opfer gebracht? Der Apostel

269

antwortet: „damit Er uns zu Gott führe". Nicht bloß

in den Himmel, sondern zurück zu Gott selbst, zu der

Erkenntnis Gottes und zu der vollkommenen Versöhnung

mit Ihm. „Denn es hat ja Christus einmal für Sünden

gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß

Er uns zu Gott führe." (1. Petr. 3, 18.) Und

an einer andern Stelle steht geschrieben: „Ihn, der Sünde

nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht, auf

daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm." (2. Kor.

5, 21.) So finden wir also beides in Christo: Liebe

und Gerechtigkeit. Beide sind unser in Ihm. Auch

ist Er als der auferstandene Jesus unser Leben, und

zwar ein Leben, das jenseit des Grabes liegt und den

Stempel des Sieges über Tod und Grab trägt. Wir

besitzen schon jetzt in Christo alles, was uns für die

unmittelbare Gegenwart Gottes passend macht, dort, wo

es eine Fülle von Freuden und Lieblichkeiten giebt auf

immerdar.

In Gemeinschaft mit Jesu erfreut sich die Braut

hier alles dessen, woran Er selbst Seine Freude findet.

Sie suchen gleichsam gemeinschaftlich die vielen Quellen

göttlichen Glückes auf. Er leitet sie zu den Brunnen des

„lebendigen Wassers". Am Morgen des Tages sagt sie:

„Der König hat mich in Seine Gemächer geführt." Ein

wenig später sieht man sie mit Ihm in dem Gefilde, wo

Er Seine Herde weidet und am Mittag lagern läßt.

Noch weiter am Tage sagt sie: „Unser Lager ist frisches

Grün; die Balken unsrer Behausung sind Cedern, unser

Getäfel Cypressen." Nachher saß sie unter dem Apfelbaum,

dessen Frucht ihrem Gaumen süß war. Und jetzt, am

Schluffe des Tages, wie wir wohl sagen dürfen, wird sie

270

von ihrem Geliebten zu dem Weingelage geführt unter

dem Panier Seiner Liebe. Die offen und frei ausströmende

Liebe des Bräutigams ist das Geheimnis aller ihrer

Freuden, die Quelle aller ihrer Genüsse.

Lange, lange Zeit hat das Panier der Liebe des

Herrn für Israel gleichsam zusammengerollt gelegen. Der

Glaube hat immer gewußt, daß nach Gottes Ratschlüssen

es nur für eine Zeit beiseite gelegt ist, sicher geborgen

in dem Worte der Verheißung, wiewohl nicht öffentlich

entfaltet. Manche fromme Männer haben gesagt und

geschrieben, daß das Banner der Gunst Jehovas nimmer

wieder über Seinem alten Zion wehen werde. Sie haben

die Wahrheit Gottes bezüglich des Wiederaufbaues der

Stadt und des Tempels und der Wiederherstellung Israels

übersehen; andere haben sie vergeistlicht. Was aber sagt

die Schrift? Seitdem „der hochgeborene Mann", von

dem wir im Gleichnisse hören, „in ein fernes Land gezogen

ist, um ein Reich für sich zu empfangen und wiederzukommen",

hat kein Banner göttlicher Liebe über

Jerusalem geweht. Schon mehr als achtzehnhundert Jahre

haben die geliebte Stadt und der herrliche Tempel in

Trümmern gelegen, und die Einwohner sind nach allen vier

Winden des Himmels zerstreut werden. Der Herr selbst hat

dies wiederholt vorhergesagt: „Jerusalem, Jerusalem, die

da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt

sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen,

wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel,

und ihr habt nicht gewollt. Siehe, euer Haus wird euch

wüste gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von

jetzt an nicht sehen, bis ihr sprechet: Gepriesen sei, der

da kommt im Namen deS Herrn!" (Matth. 23, 37—39.)

271

Der Herr hat, wie wir wissen, Seine Rückkehr verzögert,

und zwar in reicher Gnade gegen uns. Seine

Liebe ist stets thätig gewesen, wenn auch nicht in Israel.

Seine Langmut ist Errettung. (Vergl. 2. Petr. 3, 9.)

Aus Juden und Heiden hat Er durch die Kraft des Heiligen

Geistes, mittelst der Predigt des Evangeliums, ein Volk

berufen für Seinen Namen. (Apstgsch. 15, 14—18.) Seit

dem Pfingsttage ist Er beschäftigt gewesen, „aus den zweien

einen neuen Menschen zu schaffen". (Eph. 2, 15.) Und

nicht lange mehr, so wird die Kirche, welche Sein Leib ist,

die Fülle Dessen, der alles in allem erfüllt, vollständig

sein und ausgenommen werden, um Ihm in der Luft zu

begegnen; „und also werden wir allezeit bei dem Herrn

sein". (Eph. 1, 22. 23; 1. Thess. 4.) Diese Aufnahme

der Kirche muß stattfinden, ehe Israel wieder als das

Volk Jehovas anerkannt werden kann. Aber obgleich die

Juden lange beiseite gesetzt und ihrer Sünden wegen gezüchtigt

worden sind, versichert uns doch der Apostel, daß

Gott Sein Volk nicht für immer verstoßen habe; denn

„die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar".

(Röm. 11.)

Die Zeit, um Zion gnädig zu sein, wird kommen;

Gott hat sie in Seinem Ratschluß bestimmt. Der Herr

wird in Seiner Herrlichkeit erscheinen, wenn Er Zion

wieder aufbauen wird. Denn der Name Jehovas wird

in Zion verkündigt werden, und in Jerusalem Sein Lob.

(Ps. 102.) Das Wort des Herrn besteht in Ewigkeit;

die Gedanken und Meinungen der Menschen vergehen.

„Denn siehe, Tage kommen, spricht Jehova, da ich die

Gefangenschaft meines Volkes Israel und Juda wenden

werde, spricht Jehova; und ich werde sie in das Land

272

zurückbringen, welches ich ihren Vätern gegeben habe, damit

sie es besitzen." (Jer. 30, 3.) Und: „Ich werde

mich über sie freuen, ihnen Wohl zu thun, und werde sie

in diesem Lande pflanzen in Wahrheit mit meinem ganzen

Herzen und mit meiner ganzen Seele." (Jer. 32, 41.)

Dann wird sicherlich das Panier der unveränderlichen Liebe

Gottes sich von neuem über ihnen entrollen. O wie

groß müssen die Segnungen des Volkes sein, welches Gott

segnen wird mit Seinem ganzen Herzen und mit

Seiner ganzen Seele! Welch eine Gnade und

Herablassung von feiten Gottes, so zu sprechen! Welche

Segnungen warten noch der jetzt ausgestoßenen und niedergetretenen

Juden! Wenige wollen es glauben; aber der

Tag wird kommen und ist nahe, an welchem der Messias,

ihr König, für sie aufstehen wird gegen alle ihre Feinde

— wenn Er eine Mauer von Feuer rings um Sein geliebtes

Jerusalem und die Herrlichkeit in seiner Mitte sein

wird. Dann wird das lange verhüllt gewesene Banner

Seiner Liebe entrollt werden für immer; dann werden alle

Geschlechter der Erde die treue Liebe des Herrn sehen,

wenn sie hinaufziehen werden nach Jerusalem, um den

König, Jehova der Heerscharen, anzubeten und das Laubhüttenfest

zu feiern. (Sach. 14.) Und dann, ja dann

wird das kostbare Wort in Erfüllung gehen: „Er hat

mich in das Haus des Weines geführt, und Sein Panier

über mir ist die Liebe. Stärket mich mit Traubenkuchen,

erquicket mich mit Aepfeln, denn ich bin krank vor Liebe."

Und nun, mein Leser, was bringen diese wechselnden

Scenen des tiefen und tiefsten Segens, diese mannigfaltigen

Quellen immer neuer Genüsse vor deine Seele? Welche

Stimme haben sie für dich? Mögen es auch Bilder und

273

Schatten sein, so wurden sie doch in der Vorzeit zu deiner

Unterweisung niedergeschrieben. Sie stellen in aller Einfachheit

die Wirklichkeit der Gemeinschaft mit Christo dar,

die gegenseitigen Zuneigungen des Bräutigams und der

Braut, die Sympathieen von Herzen, die eins sind. Hast

du nicht zuweilen empfunden, daß die Stimmung deines

Herzens und der Ton deiner Gedanken und Gefühle geistlicher

wurde, wenn du dich für eine Weile ganz von der

Welt zurückzogest und im Verborgenen eine innige Gemeinschaft

mit dem Herrn pflegtest? Wurde nicht die Gegenwart

des Herrn dann mehr verwirklicht? Wurde nicht der

Geist freier und das Hindernde des Leibes weniger empfunden

? Fühltest du dich nicht weiter als sonst von der

Erde getrennt und in demselben Maße dem Himmel näher

gerückt, in dem bewußten Genusse der himmlischen Dinge

und in der Gewißheit der Liebe des Herrn und Seiner

Freude an uns?

Aber dieser Zustand eines höheren, geistlichen Genusses

ist nur gelegentlich; auch erreicht man ihn im allgemeinen

nicht in einem Augenblick. Wir können uns nicht so mit

einem Schlage von dem Genusse irdischer Dinge zu

diesem Maße des Genusses der himmlischen erheben.

Wir besitzen allerdings Christum, den Geist, das Wort

und die Liebe des Vaters in immer gleicher Unveränderlichkeit;

aber unsre Gemeinschaft mit diesen Dingen ist

nicht immer die gleiche. Selbst die notwendige, nicht zu

umgehende Beschäftigung des Geistes und Leibes mit

den zeitlichen Dingen wirkt für die Zeit lähmend auf

unsre geistlichen Empfindungen. Ein verborgenes, stilles

Reden mit dem Herrn, ein Sinnen über Sein Wort, ein

wahres Selbstgericht, ein Niederhalten des Leibes, während

274

das Herz sich erfreut an den Dingen Gottes und der Heilige

Geist die Liebe Jesu unsern Herzen offenbart, — das

sind die Dinge, die sich in den meisten Fällen mit jenem

Zustande hohen geistliches Genusses verbunden finden. Ja,

wir möchten sagen, diese Uebungen müssen die Gewohnheit

des Gläubigen bilden, wenn er anders himmlisch

gesinnt sein will. Wir müssen im Glauben wandeln,

als solche, die der neuen Schöpfung angehören, nicht im

Schauen, der alten Schöpfung gemäß. (2. Kor. 5,16—18.)

Indes dürfen wir zu gleicher Zeit nicht vergessen,

daß unser hochgelobter Herr nicht an eine gewisse Klasse

von Mitteln gebunden ist, um Seine Geliebten in Sein Haus

des Weines zu führen, au die Stätte Seiner Gegenwart,

wo eine Fülle von Freuden ist. Wir haben schon gesehen,

daß eine Seele von Freude überströmte, weil sie plötzlich

zu der Einsicht ihrer eignen Ohnmacht und Fehlerhaftigkeit

und der unveränderlichen Liebe des Herrn Jesu kam.

Hier jedoch, in der Geschichte der Braut, begegnen wir

keinen Fehlern und Verkehrtheiten; es zeigt sich vielmehr

ein stetiges Fortschreiten in ihrer Erfahrung, gleich einer

Seele, die aus dem stillen Kämmerlein zum Familien-

Gottesdienst kommt und sich von da zu dem öffentlichen

Gedächtnismahle zu Ehren seines Erlösers begiebt. Ihre

Gemeinschaft mit dem Bräutigam nimmt einen immer

innigeren Charakter an; ihre Freude steigert sich, bis endlich

die Offenbarung der Liebe und Güte ihres Herrn so überwältigend

auf ihre Seele wirkt, daß der Leib darunter

zusammenzubrechen droht. Trotzdem aber sucht sie gerade

durch das gekräftigt zu werden, was sie so völlig erschöpft

hat: „Stärket mich mit Traubenkuchen, erquicket mich mit

Aepfeln, denn ich bin krank vor Liebe."

275

Die Beschäftigung mit Christo macht die Seele nie

satt. Obwohl sie das Herz völlig befriedigt, steigert sie doch

stets den Appetit. Und des Herrn Freude ist es, immer

mehr und in Ueberfluß zu geben. „Thue deinen Mund

weit auf, und ich will ihn füllen." (Ps. 81, 10.) Er

allein kann die Wünsche des Herzens befriedigen. Und

beachten wir, daß Er die Braut immer näher zu sich zieht:

„Seine Linke ist unter meinem Haupte, und Seine Rechte

umfaßt mich." (V. 6.) Anbetungswürdiger Herr! wo sollen

wir die Höhen und Tiefen, die Längen und Breiten deiner

Liebe finden? Eine innigere, wirklichere, gesegnetere

Gemeinschaft könnte nie genossen werden. Die Braut

lehnt ihr Haupt an die Brust ihres Geliebten, die Stätte

vollkommener, ewiger Ruhe. Höheres als das kann es

nicht geben. O möchten wir mehr bekannt sein mit der

überwältigenden und aufrecht haltenden Macht

der Gegenwart unsers gnädigen Herrn! Er gebe uns

ein weiteres Herz, eine Seele, die fähiger sei, diese kostbaren

Dinge zu fassen und zu genießen!

„Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den

Gazellen oder bei den Hindinnen des Feldes, daß ihr

nicht wecket noch aufwecket die Liebe, bis es ihr gefällt!"

Am Schluffe dieses glücklichen, wolkenlosen Tages lassen

wir die Braut des Königs in der Ruhe zurück, die Seine

unveränderliche Liebe allein geben kann. Das Banner

Seiner Liebe über ihr, die ewigen Arme unter ihr, so

ruht sie selig an Seiner Brust. Sie schwelgt in dem

Genusse dessen, was Er ist. Darum redet sie von Seinem

Schatten, von Seiner Frucht, Seinem Panier,

von Seiner Linken und Seiner Rechten. Alles ist

Christus und nur Christus. Wenn die Seele so mit Ihm

276

beschäftigt ist, so ist Er am meisten besorgt, daß sie nicht

gestört werde. Die Gazellen und Hindinnen sind die

scheuesten Tiere des Feldes, und ihr Gehör ist so scharf,

daß das fernste, leiseste Geräusch sie beunruhigt. So

aufmerksam sollten auch wir auf alles acht haben, was

sich uns nähern will, um unsre Gemeinschaft mit dem

Herrn zu unterbrechen, oder uns von dem Pfade der praktischen

Heiligkeit und Hingebung für Ihn abzuwenden.

Allezeit gutes Mutes."(2. Kor. 5, 6.)

Nicht alle Christen sind „allezeit gutes Mutes". Sie

gleichen vielmehr dem Manne, der in Jakobus 1 beschrieben

wird, der „gleich einer Meereswoge ist, die vom Winde bewegt

und hin und her getrieben wird". Einen Augenblick sind

sie glücklich und gutes Mutes, „auf der Höhe", wie die

Meereswoge, um im nächsten in Zweifel, Befürchtungen

und Besorgnisse aller Art zu versinken.

Ein „allezeit guter Mut" bedarf einer festen Grundlage.

Ist diese vorhanden, so wird auch Mut und Vertrauen

da sein. Der Apostel Paulus sagt: „So sind wir

nun allezeit gutes Mutes", indem er so auf die Ursache

seines Vertrauens zurückweist. Worin bestand diese? Wir

lesen: „Der uns aber eben hierzu bereitet hat, ist Gott,

der uns auch das Unterpfand des Geistes gegeben hat."

Gott selbst war die Grundlage seines Vertrauens. Gott

hatte in sein Herz hineingeleuchtet „zum Lichtglanz der

Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht

Christi", und seitdem war er allezeit gutes Mutes.

Einst war dieses Herz tot und finster; kein Licht,

277

keine Liebe war da, nur Feindschaft gegen Gott und

Seinen Gesalbten. Sünde und unreine Begierden regierten

in diesem Herzen, wenn auch nach außen hin ein tadelloses

Leben die Bewunderung der Mitmenschen wachrufen

mochte. Doch Gott leuchtete in dieses Herz hinein. Er

sprach: „Es werde Licht!" und es ward Licht. Gott schied

zwischen dem Licht und der Finsternis und zeigte dem erschrockenen,

zerknirschten Sünder in Seinem Lichte, was

er war, zugleich aber auch Seine eigne Herrlichkeit in dem

Angesicht Jesu Christi. So wurde ihm sein sündiger Zustand,

sein ganzes Verderben in diesem strahlenden Lichte

gezeigt, aber nicht um zu verzweifeln und zu vergehen,

sondern um zu Dem geführt zu werden, in welchem Gott

den ganzen Reichtum Seiner Sünderliebe geoffenbart hat.

Gott selbst hatte dies gethan, und darum war Paulus

allezeit gutes Mutes.

Von dem finstersten Fleckchen auf dieser Erde wurde

der Blick Pauli nach oben gelenkt, zu dem herrlichsten

Platze in den Himmeln; von seinem eignen finstern Herzen

durfte er wegschauen, hinauf zu Christo auf dem Thron

der Herrlichkeit. Das Auge des Glaubens verfolgte den

Strahl der Gnadensonne bis zu seiner Quelle hin. „Süß

ist das Licht, und wohlthuend den Augen, die Sonne zu

sehen." (Pred. 11, 7.) Ist dir dieses süße Licht auch

schon aufgegangen, mein Leser? Hast du Jesum gesehen?

„Wir sehen Jesum, der ein wenig unter die Engel wegen

des Leidens des Todes erniedrigt war, mit Herrlichkeit

und Ehre gekrönt." (Hebr. 2.) Ja, wir sehen den Gekreuzigten

droben in der Herrlichkeit, zur Rechten der

Majestät: die Schuld ist für jeden Glaubenden bezahlt,

das Gericht getragen, der Zorn vorüber, das arme.

278

sündige Ich hinweggethan. Als das Haupt der neuen

Schöpfung, als der Erstgeborene aus den Toten lebt

Christus droben, der Heiland aller, die auf Ihn vertrauen,

der Beweis ihrer ewigen Sicherheit, das Bild ihrer vollkommenen

Errettung. Und weil das so ist, blicken wir

hinauf in den Himmel und sind allezeit gutes Mutes.

Die Schwachheit des Gesäßes bleibt natürlich immer

die gleiche, das Fleisch wird durch die Bekehrung nicht

verbessert, noch die Umstände verändert; die erste Schöpfung

bleibt stets dieselbe. „Wir haben diesen Schatz in irdenen

Gefäßen." Denken wir aber an den Schatz, an Christum

in uns, nicht an uns selbst, arme, schwache und mangelhafte

Knechte wie wir sind, so werden wir „uns beeifern,

Ihm wohlgefällig zu sein", und uns in Gott freuen, in

dem Bewußtsein, daß „die Ueberschwenglichkeit der Kraft

Gottes ist und nicht aus uns"; und indem wir uns so

freuen, werden wir bei unserm Dienst stets sagen: „So

sind wir nun allezeit gutes Mutes."

Die Prüfungen des täglichen Lebens müssen ertragen

werden, denn Schmerz und Leid ist das Teil der Menschenkinder

; und der Gläubige hat noch andere Trübsale, außer

denen, die allen Menschen gemeinsam sind. Er ist berufen,

für Christum zu leiden; aber wird dieses Leiden seinen

Triumphgesang zum Schweigen bringen? Lauschen wir

einen Augenblick auf die Worte von Männern, welche

litten, wie in unsern Tagen kein Christ zu leiden hat:

„Allenthalben bedrängt, aber nicht eingeengt; keinen Ausweg

sehend, aber nicht ohne Ausweg; verfolgt, aber nicht

verlassen; niedergeworfen, aber nicht umkommend." — „Allezeit

gutes Mutes", obwohl die Trübsale und Leiden täglich

Zunahmen und sie allezeit das Sterben Jesu am Leibe

279

umhertrugen. Ja, nicht nur das; auch der Tod stand

drohend vor ihnen: „Denn wir, die wir leben, werden

allezeit dem Tode überliefert um Jesu willen." Aber inmitten

eines Kampfes ohne Ende und angesichts eines

vielleicht schrecklichen Märtyrertodes blieb ihr Glaube klar

und fest. Was konnte auch der Tod ihnen anhaben?

Er konnte sie nur aus allem Kampf und Leid befreien

und sie in die Gegenwart Dessen führen, der für sie

gestorben war.

Wie steht es mit dir, mein lieber Leser? Wie wirst

du diesen „König der Schrecken" begrüßen, wenn es Gott

gefallen sollte, dich heute oder morgen abzurufen? Mit

den Worten des Apostels: „Wir wissen, daß, wenn unser

irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau

von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht,

ein ewiges, in den Himmeln"? Wir wissen! Welch

eine Sicherheit! und wie früher, so stützt sich auch hier

wieder das Vertrauen auf Gott. Und in der That, es

giebt keine andere Stütze in der Todesstunde als den

lebendigen Gott selbst; und wenn du weißt, daß Gott

einen Auferstehungsleib für dich in Bereitschaft hat, daß

eine Heimat in der Herrlichkeit droben deiner wartet, so

kannst auch du angesichts des Todes sagen: „Der uns aber

eben hierzu bereitet hat, ist Gott, der uns auch das Unterpfand

des Geistes gegeben hat. So sind wir nun

allezeit gutes Mutes".

Doch es giebt noch Köstlicheres für den Gläubigen

als die Erwartung des Todes. Der Herr ist nahe! Er

mag kommen, ehe der Tod an uns herantritt. Der Tod

war nicht der Gegenstand des Begehrens für den Apostel

und feine Gefährten. Er sagt: „Wiewohl wir nicht ent

280

kleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit das

Sterbliche verschlungen werde von dem Leben." Die Ankunft

des Herrn war ihre Hoffnung. Und, mein Leser,

wenn du an diese Ankunft denkst, an den Anbruch des

herrlichen Auferstehungsmorgens, an den Beginn des ewigen

Jubels in der Gegenwart des geliebten Herrn, an den

Eingang ins Vaterhaus droben, bist du dann nicht auch

„gutes Mutes?"

Und wenn du noch über das alles hinausblickst, über

jene frohe Stunde, in welcher alle, die Sein sind, in

Sein Bild verwandelt werden sollen; wenn deine Gedanken

sich auf den Richterstuhl richten, wo alle deine

Thaten offenbar werden müssen, wo die Kreatur in dem

Lichte Dessen stehen wird, der Herzen und Nieren prüft —

darfst du dann auch noch gutes Mutes sein? Ja, Gott

sei Dank! Wenn du dem Herrn angehörst, wenn du weißt,

daß du in Ihm, dem Auferstandenen, begnadigt bist, so

brauchst du keine Furcht zu haben, so ernst auch der Gedanke

an jenen Augenblick ist, wo ein jeder empfangen

wird, was er in dem Leibe gethan, nach dem er gehandelt

hat. Gottes vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, so

daß wir „Freimütigkeit haben an dem Tage des Gerichts".

Denn „gleichwie Er (Christus) ist, sind auch wir in

dieser Welt". (1. Joh. 4, 17. 18.) Darum, mein lieber

Leser, freue dich in Gott, diene Ihm mit glücklichem Herzen

und sage mit dem Apostel: „So sind wir nun allezeit

gutes Mutes."

Die Ursachen des kirchlichen Verfalls.

Die Ursachen des kirchlichen Verfalls sind verschieden,

je nach dem" Gesichtspunkt, von welchem aus die

Kirche betrachtet wird. In Römer 11 wird sie gesehen

als eine Körperschaft, welche die Güte Gottes an die

Stelle des Volkes Israel gesetzt hat, nachdem dieses durch

seinen Unglauben dem Gericht anheimgefallen ist. Nicht

als ob die Kirche eine Fortsetzung Israels bilde und die

Erbin seiner irdischen Segnungen sei, (wie viele Christen

meinen); sie ist vielmehr der Fettigkeit des guten Oelbaums

teilhaftig geworden im geistlichen Sinne. Der Segen

Abrahams ist in Christo Jesu zu den Nationen gekommen.

(Gal. 3, 14.) Es ist allerdings der Segen

Abrahams, aber in Christo Jesu, und daher ist er geistlicher

Natur. Die Nationen hatten keine Verheißungen

und daher auch keine Ansprüche auf irgend welche Segnungen.

Sie waren ohne Christum, entfremdet dem

Bürgerrecht Israels, Fremdlinge in betreff der Bündnisse

der Verheißung, ohne Hoffnung und ohne Gott in der

Welt. (Eph. 2, 11. 12.) Statt der Segnungen Abrahams

war der Fluch Adams ihr Teil, und in den Augen Israels

waren sie Hunde, unreine Geschöpfe. „Es ist nicht schön",

sagt der Herr zu dem kananäischen Weibe, „das Brot

der Kinder zu nehmen und den Hünd lein hinzuwerfen."

Matth. 15, 26.) Es war daher nichts als Güte von

282

feiten Gottes, wenn Er sie trotzdem des Segens Abrahams

in Christo Jesu teilhaftig machte, während Er Sein Volk,

die eigentlichen Erben der Verheißung, Seine Strenge

fühlen ließ.

Ein liebliches Vorbild von dieser „Güte Gottes"

liefert unS die Geschichte Mephiboseths. Als Nachkomme

Sauls, des Feindes Davids, und als ein Glied des

Hauses, über welches Gott Sein Gericht ausgesprochen

hatte, konnte Mephiboseth nicht erwarten noch eine Ahnung

davon haben, daß David Güte Gottes an ihm erweisen

würde. Und darum konnte die an ihn ergangene Aufforderung,

vor dem Könige zu erscheinen, ihn nur mit

Furcht erfüllen. Aber wie groß muß seine Ueberraschung

und Freude gewesen sein, als die Worte sein Ohr erreichten:

„Fürchte dich nicht! denn ich will gewißlich

Güte an dir erweisen um Jonathans, deines Vaters,

willen, und will dir alle Felder deines Vaters Saul zurückgeben;

du aber sollst beständig an meinem Tische essen."

Ueberwältigt von einer solchen Güte und im Gefühl seines

wahren Zustandes bückt sich Mephiboseth zur Erde und

spricht: „Was ist dein Knecht, daß du dich zu solch einem

toten Hunde gewandt hast, wie ich bin?" (2. Sam. 9.)

Welch ein treffendes Bild von der Güte Gottes denen

gegenüber, die von Natur Kinder des Zornes waren!

Wie David um Jonathans willen den Mephiboseth mit

Güte überhäufte, so hat Gott um Jesu willen, der für

uns ein Fluch wurde (Gal. 3, 13), uns mit Segnungen

überschüttet und an Seinen Tisch geführt. (Vergl. Luk.

15, 11—25.) Wie sollten wir Ihm dafür danken!

Mephiboseth offenbarte David gegenüber in lieblicher

Weise die Gefühle, die sich für ihn geziemten. Sollten

283

wir hinter ihm zurückstehen in unsern Gefühlen gegenüber

dem Gott, dessen Güte wir in unendlich höherem Maße

geschmeckt haben?

Ach! die Kirche hat diese Gefühle der dankbaren

Liebe nicht zu bewahren gewußt. Die Güte Gottes verlor

nach und nach ihren Wert für sie. Sie vergaß, daß die

Grundlage ihrer Stellung und aller ihrer Segnungen

Güte und nichts als Güte ist; und so hat ihr Verfall

begonnen und bald reißende Fortschritte gemacht. Sie

hat die Ermahnung vergessen: „Sei nicht hochmütig, sondern

fürchte dich; denn wenn Gott die natürlichen Zweige

nicht verschont hat, daß Er auch dich etwa nicht verschonen

werde. Siehe nun die Güte und die Strenge Gottes;

gegen die, die gefallen sind, Strenge, gegen dich aber

Güte, wenn du an der Güte bleibst, sonst wirst du auch

ausgehauen werden." Dieses „Aushauen" der Kirche

hat noch nicht stattgefunden; denn Gott ist sehr langmütig,

wie Er es einst auch gegen Israel war. Allein Seine

Langmut hat ihre Grenzen. Als Israel den Herrn Jesum

verwarf und so bewies, daß der Verfall seinen Höhepunkt

erreicht hatte, war die Geduld Gottes gegen Sein irdisches

Volk zu Ende. Auch der kirchliche Verfall ist so weit

gediehen, daß er mehr und mehr den Charakter des offenbaren

Unglaubens, der Leugnung der Gottheit Christi

annimmt, und dies ist für die Kirche das Zeichen ihres

nahen Endes.

In dem Sendschreiben an die Versammlung in

Ephesus wird uns die Ursache des kirchlichen Verfalls

in einer andern Form dargestellt, obgleich er dem Wesen

nach denselben Charakter trägt. Wie in Röm. 11, so

wird auch hier die Kirche als eine verantwortliche Körper-

284

schäft betrachtet, indes mehr in ihren Beziehungen zu

Christo, der mit Recht Anspruch macht auf ihre Liebe

und die innigen Zuneigungen ihres Herzens. Er hat

sie für sich erkauft und in dieser Welt zurückgelassen,

damit sie während Seiner Abwesenheit ein Zeugnis für

Ihn sei, zur Verherrlichung Seines Namens. Aber wir

sehen, daß sie schon bald „ihre erste Liebe" verlassen hat;

in demselben Maße, wie sie nicht an der Güte Gottes

blieb, verlor auch die Person Christi ihren Wert für sie.

Und von da an war ihr Verfall unvermeidlich.

Wir haben die Folgen davon vor Augen; aber wie

wenig denken wir oft daran, daß wir in derselben Gefahr

sind, der Güte Gottes satt zu werden und Christo nicht

mehr den ersten Platz in unsern Herzen zu geben. Wir vergessen

nichts leichter als den Zustand, aus dem wir

gekommen sind, und was Gott an uns gethan hat. Die

Worte Mephiboseths sollten uns tief inS Herz geprägt

sein: „Was ist dein Knecht, daß du dich zu solch einem

toten Hunde gewandt hast, wie ich bin?" Die Erfahrung

hat gezeigt, wie leicht wir auf Abwege geraten können,

wenn unser Blick nicht beständig auf den Herrn gerichtet

bleibt. Ach! wie viele werden in unsern Tagen, wo das

geistliche Leben im allgemeinen schwach ist, irre geleitet!

Wollen wir vor dem Verfall bewahrt bleiben, so müssen

wir die Wege vermeiden, welche die Kirche ihrem Ruin

entgegen geführt haben. Und darum haben wir in erster

Linie zu achten auf die Ermahnung: „Sei nicht hochmütig,

sondern fürchte dich." Nur zu leicht halten wir etwas

von uns, und vergessen, daß wir in uns selbst nur „tote

Hunde" sind und alles, was wir haben, ausschließlich der

Güte Gottes verdanken. „Was aber hast du, das du

285

nicht empfangen hast? Wenn du es aber auch empfangen

hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen ?

Schon seid ihr gesättigt, schon seid ihr reich geworden."

(1. Kor. 4, 7. 8.)

Trotzdem die Kirche die Geschichte des Bolkes Israel

als ein warnendes Beispiel vor Augen hatte, trat sie

doch in dessen Fußstapfen, und wandelte dieselben Wege.

Es ist ergreifend, wie der Heilige Geist diese Wege schildert:

„Er fand ihn (Jakob) in einem Lande der Wüste

und in der Oede des Geheuls der Wildnis; er umgab

ihn, gab acht auf ihn, er behütete ihn wie seinen Augapfel.

. . Er ließ ihn einherfahren auf den Höhen der

Erde, und er aß den Ertrag des Feldes; und er ließ

ihn Honig saugen aus dem Felsen und Oel aus dem

Kieselfelsen; geronnene Milch der Kühe und Milch der

Schafe, samt dem Fette der Mastschafe und Widder, der

Söhne Basans und der Böcke, samt dem Nierenfett des

Weizens; und der Traube Blut trankest du — Wein."

Wie groß erscheint hier die Güte Gottes gegenüber dem

ursprünglichen, trostlosen Zustand Israels! Gott hatte

es aus der tiefsten Armut der Wüste zu den reichsten

Segnungen geführt; hatte es erhoben aus der Oede der

Wildnis zu den Höhen der Erde; hatte es mit zärtlichster

Sorgfalt überwacht und behütet wie Seinen Augapfel.

Doch was hat Israel gethan gegenüber all dieser Güte,

die ihm zu teil geworden ist? „Da ward Jeschurun fett

und schlug aus — du wurdest fett, dick, feist — und er

verließ den Gott, der ihn gemacht, uniO verachtete den

Fels seiner Rettung." (5. Mose 32, 10—15.) Das

Volk empörte sich gegen seinen Retter und Wohlthäter,

verließ und verachtete Ihn; und der erste Schritt diesem

286

traurigen Endziele zu war Uebermut: es wurde fett

und schlug aus.

Alles das hat die Kirche gesehen, aber sie hat sich

nicht warnen lassen und es nicht zu Herzen genommen,

obgleich auch sie der „Fettigkeit des Oelbaums" in ungleich

höherem Maße teilhaftig geworden ist. Sie ist aus einem

noch tieferen Verderben nicht bloß zu den Höhen der

Erde, sondern zu den Höhen des Himmels erhoben worden,

wie wir lesen: „Auch euch, die ihr tot wäret in

euern Vergehungen und Sünden, in welchen ihr einst

wandeltet nach dem Zeitlauf dieser Welt, nach dem Fürsten

der Gewalt der Luft, des Geistes, der jetzt wirksam ist

in den Söhnen des Ungehorsams; unter welchen auch wir

einst alle unsern Verkehr hatten in den Lüsten unsers

Fleisches, indem wir den Willen des Fleisches und der

Gedanken thaten und von Natur Kinder des Zornes

waren, wie auch die übrigen. Gott aber, der reich ist

an Barmherzigkeit, wegen Seiner vielen Liebe, womit Er

uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot

waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht —

durch Gnade seid ihr errettet — und hat uns mitauferweckt

und mitsitzen lassen in den himmlischen Oertern

in Christo Jesu." (Ephes. 2, 1—6.) Welch eine ergreifende

Bestätigung der Worte, die der Apostel im

Römerbrief der Kirche zuruft: „Siehe nun die Güte...

gegen dich aber Güte Gottes, wenn du an der Güte

bleibst." — Ist sie an der Güte geblieben? Leider nein.

Wir sehen, wohin sie gekommen ist: sie ist versunken in

die Laster des Heidentums; und wie bei Israel, so war

auch bei ihr der erste Schritt auf dem Wege des Verderbens

Hochmut, Selbstbefriedigung, Sattsein; sie ist bald

287

„satt" geworden der Güte Gottes. „Schon seid ihr

gesättigt."

Wie ernst ist die Mahnung, die sowohl in der Geschichte

Israels als auch der Kirche für uns liegt! Wie

sollten wir über uns wachen und uns hüten vor dem

ersten Schritt, der so verhängnisvoll für jene geworden

ist! Es ist gewiß ein unschätzbares Vorrecht, in der

gegenwärtigen Zeit der Verwirrung die Wahrheit zu kennen.

Aber das allein schützt uns nicht vor dem Verfall; denn

die Kirche besaß im Anfang sicherlich die Wahrheit, da

sie dieselbe ja unmittelbar von den Aposteln empfangen

hatte. Trotzdem ist sie gefallen. Auch hat es Gott in

Seiner Güte nicht an Ermahnungen und Warnungen bei

ihr fehlen lassen, ebenso wenig wie bei Israel. Er war

Israel nachgegangen mit großer Langmut und Geduld,

wie Er sagt: „Von dem Tage an, da eure Väter aus

dem Lande Egypten auszogen, bis auf diesen Tag habe

ich alle meine Knechte, die Propheten, zu euch gesandt,

täglich frühe mich ausmachend und sendend. Aber

sie haben nicht auf mich gehört und ihr Ohr nicht geneigt;

und sie haben ihren Nacken verhärtet, haben es ärger

gemacht als ihre Väter." (Jer. 7, 25. 26.) Der Herr

selbst war schließlich in ihre Mitte gekommen, um sie zu

versammeln, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt

unter ihre Flügel, aber sie haben „nicht gewollt".

(Matth. 23, 37.) In ähnlicher Weise konnte der Apostel

zu den Aeltesten von Ephesus sagen: „Ihr wisset von

dem ersten Tage an, da ich nach Asien kam, wie ich die

ganze Zeit bei euch gewesen bin . . . wie ich nichts zurückgehalten

habe von dem, was nützlich ist, daß ich eS

euch nicht verkündigt und euch gelehrt hätte, öffentlich und

288

in den Häusern. . . Darum wachet und gedenket, daß

ich drei Jahre Nacht und Tag nicht aufgehört habe, einen

jeden mit Thränen zu ermahnen." (Apgsch. 20, 17—36.)

Aber alle Ermahnungen, alle Bemühungen der Liebe

waren vergeblich. Gerade von dieser so hoch bevorzugten

und sorgsam gepflegten Versammlung wird gesagt, daß

sie ihre erste Liebe verlassen habe.

Wir sehen aus diesen ernsten Beispielen, wie nahe

die Möglichkeit liegt, von dem richtigen Wege abzuirren.

All die Güte, die Gott der Kirche erwiesen, all die Liebe,

in welcher Christus sich für sie hingegeben hat, alle die

Ermahnungen und Warnungen, welche Tag und Nacht an

sie gerichtet wurden, konnten ihren Verfall nicht aufhalten.

Beweist das nicht klar und bestimmt, wie groß die Gefahr

auch für uns ist? Wenn die Güte Gottes und die Person

Christi ihren Wert für uns verlieren, so ist der Verfall

ebenso unvermeidlich für uns, wie er für jene war, obgleich

Gott in diesen letzten Tagen Großes an uns gethan

hat. Möchte niemand unter uns sein Auge vor dieser

Gefahr verschließen; denn die Zustände in unsrer Mitte

lassen es ernstlich bezweifeln, ob wir noch alle an der

Güte Gottes und in der ersten Liebe geblieben sind. Fragen

wir uns, wie viel wir anerkennen, was Gott an uns

gethan hat und täglich thut, und ob wir Ihm den gebührenden

Dank dafür darbringen, wie geschrieben sieht:

„Danksagend dem Vater, der uns fähig gemacht hat

zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte, der

uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und versetzt

in das Reich des Sohnes Seiner Liebe." (Kol. 1,

12. 13.) Und wiederum: „Danksagend allezeit

für alles dem Gott und Vater im Namen unsers Herrn

289

Jesu Christi." (Eph. 5, 20.) Hören wir nicht statt

dieses unaufhörlichen Dankens viel Murren und Klagen

in unsrer Mitte? Begegnen wir nicht immer wieder einer

großen Unzufriedenheit und Undankbarkeit? Es ist dies

«in untrügliches Zeichen, daß man der Güte Gottes nicht

mehr eingedenk ist; ein Zeichen des Unglaubens und des

Abweichens von Gott, ein Zeichen, daß das Fleisch wirksam

ist. Man findet die Güte, Treue und Fürsorge

Gottes nicht mehr ausreichend; man ist ihrer satt geworden

wie einst die Kinder Israel des Mannas überdrüssig

wurden: „Und nun ist unsre Seele dürre; gar

nichts ist da, nur aus das Man sehen unsre Augen."

(4. Mose 11, 6.) Das Wort Gottes, die köstlichsten

Wahrheiten, alles genügt nicht mehr; die Seele ist dürre,

man verlangt nach etwas anderem, man will etwas Neues.

In einem solchen Herzenszustand macht die Verhärtung

rasche Fortschritte, und dem Feinde wird bald Thür

und Thor geöffnet. Man wird der Verleugnungen,

Schwierigkeiten und Prüfungen, welche mit dem Pfade

des Glaubens unausbleiblich verbunden sind, müde; man

findet den Weg zu enge und sucht nach einem Auswege, nach

Erholung und Befriedigung des Fleisches. Und es wird

nicht lange dauern, so giebt man den Lüsten des Fleisches

Raum, erlaubt sich Dinge, die nicht mit dem wohlgefälligen

Willen Gottes im Einklang stehen, giebt vor, nichts BöseS

darin zu sehen, und verfällt schließlich in allerlei traurige

Ausschreitungen. Es ist sehr ernst und beachtenswert,

daß man niemals sagen kann, wo man enden wird, wenn

man einmal den Pfad des Glaubens verlassen hat und

die Güte Gottes nicht mehr genügend findet; Verhärtung

und Verblendung halten alsdann gleichen Schritt mit ein-

290

ander. Judas spricht in seiner Epistel von dem Abfall

der Christenheit in den letzten Tagen, und bezeichnet die

Abgefallenen als „Murrende, ihr Schicksal Beklagende, die

nach ihren Lüsten wandeln". (Vers 16.) Sollten wir

nicht erschrecken, wenn wir einen ähnlichen Zustand bei

uns wahrnehmen? wenn wir unzufrieden sind, anstatt an der

Güte Gottes uns zu erfreuen und Ihm dafür zu danken?

Wahrlich, die Gefahr, nicht an der Güte zu bleiben, liegt

uns viel näher als wir denken.

Und wie steht es um die hochgelobte Person Jesu,

unsers Herrn und Heilandes? Hat sie wirklich noch ihren

wahren, alles beherrschenden Wert für uns? Ach! es ist

eine Thatsache, daß Er durch Wort und Schrift in der

Mitte der Seinigen gröblichst verunehrt worden ist. Und

wie wenig sieht man im allgemeinen von dem Schmerz, den

eine solche Behandlung des Herrn unter uns Hervorrufen

würde, wenn Er den Platz in unser aller Herzen und inmitten

der Versammlung hätte, der Ihm gebührt! Wie leicht

sind wir erregt, wenn es sich um unsre eigne Ehre handelt;

aber wo ist die gerechte Erregung oder Entrüstung über

eine solche Verunehrung des Herrn? Leider, leider läßt

es sich nicht leugnen, daß die „erste" Liebe im allgemeinen

nicht mehr vorhanden ist, und daß der Zustand vieler

Gläubigen weit mehr den Charakter von Laodicäa als

den von Philadelphia trägt. Die Liebe zu Christo und

die Erwartung Seiner nahen Ankunft hat ihre Frische

verloren und einer großen Erschlaffung, einer betrübenden

Lauheit gegen Ihn Platz gemacht.

O laßt uns aufwachen und umkehren! Laßt uns

nicht länger in einem gleichgiltigen und weltlichen Zustande

beharren, sondern aufrichtig Buße thun und zum

291

Herrn schreien um Hilfe! Es unterliegt keinem Zweifel,

daß gegenwärtig eine Sichtung der Gläubigen vor sich

geht infolge ihres lauen Zustandes. Wird sie von uns

allen verstanden und beherzigt? Hoffen wir es im Vertrauen

auf die Güte Gottes und die unendliche Liebe des

Herrn Jesu! Denn so ernst und demütigend die Sichtung

auch für uns alle ist, so ist sie trotzdem auch ein Beweis

der Liebe Christi, die es nicht ertragen kann, uns in einem

Zustande zu lassen, der Seiner Liebe zu uns nicht entspricht.

Er ruft uns durch eine solche Sichtung zurück

an Sein liebendes Herz, als den einzigen Ort der Heilung

und Erwärmung unsrer armen, kalten Herzen. Wie anbetungswürdig

ist der Herr, und wie rein, mächtig und

unveränderlich ist Seine Liebe! Nach all unsrer Untreue

ist Er immer derselbe geblieben, und Sein liebendes Herz

trägt heute noch dasselbe Verlangen nach uns wie je zuvor.

Für alle, bei denen die Absichten des Herrn erreicht

werden, wird deshalb die gegenwärtige Sichtung von

reichem Segen sein. Sie werden sich Ihm um so enger

anschließen, weil sie, zerschlagenen Herzens über ihre Untreue

und die Ihm widerfahrene Schmach und angezogen

durch Seine unveränderte Liebe, in Ihm ihre einzige

Hilfe erblicken. Und so unveränderlich wie die Liebe

Christi, so unerschütterlich ist auch die Güte Gottes gegen

die Seinigen. Er ist bereit, sie wiederherzustellen und zu

befestigen. Er ist mächtig, durch Seinen Geist uns jegliche

Gnade darzureichen, wie geschrieben steht: „Gott aber ist.

mächtig, jede Gnade gegen euch überströmen zu lassen,

auf daß ihr in allem, allezeit alle Genüge habend, überströmend

seid zu jedem guten Werke." Und an einer

andern Stelle: „Dem aber, der euch ohne Straucheln zu

292

bewahren und vor Seiner Herrlichkeit tadellos darzustellen

vermag mit Frohlocken u. s. w." (2. Kor. 9, 8; Judas

Vers 24.) Die Macht Gottes ist vollkommen ausreichend

für uns in allen Lagen, in allen unsern Schwachheiten

und Schwierigkeiten. Er ist nicht an Zeiten und Umstände

gebunden, und kein Feind kann Ihn hindern, die Seinigen

zu bewahren bis ans Ende, ihnen Mut, Trost und Kraft

zu geben und sie mit Weisheit und Einsicht zu erfüllen,

daß sie den Schlingen des Feindes zu entgehen und mit

ungeteiltem Herzen für Christum zu leben vermögen. Doch

vergessen wir nicht, daß neben dieser unumschränkten

Macht und Güte Gottes unsre Verantwortlichkeit voll und

ganz bestehen bleibt, an Seiner Güte zu bleiben — festzuhalten,

daß alles reine, unverdiente Güte ist. Möchte

uns daher das Wort der Ermahnung tief eingeprägt

bleiben: »Sei nicht hochmütig, sondern fürchte

dich!" und laßt uns nie den Grundsatz der Wege Gottes

vergessen: „Gott widersteht den Hochmütigen,

den Demütigen aber giebt Er Gnade!"

(1. Petr. 5, 5.)

Horch! wein Geliebter!"(Hohel. 2, 8.)

„Horch! mein Geliebter! siehe, da kommt er, springend

über die Berge, hüpfend über die Hügel." Wenn die

Seele eine längere Zeit in ununterbrochener Gemeinschaft

mit dem Herrn gewesen ist, so werden die Zuneigungen

lebendiger und das Verlangen nach Seiner Rückkehr ernster

und wirklicher. Hast du, mein Leser, den Geist der liebenden

und geliebten Sulammith erfaßt, wie er sich in den Herr

293

lichen Worten kundgiebt: „Horch! mein Geliebter! (oder:

Stimme meines Geliebten!) siehe, er kommt!"? Ist Er

wirklich Der, den du am meisten liebst? Ist keine Stimme

dir so wohlklingend wie die Seinige? Harrest du auf

Ihn, und ist dein tägliches Verlangen nach Ihm?

Es besteht ein großer Unterschied zwischen einer Person,

die an die sogenannte „Lehre von der zweiten Ankunft

des Herrn" glaubt, und einer liebenden Seele, die sich

Seiner Gemeinschaft erfreut und sehnsüchtig auf das

Kommen ihres geliebten Herrn wartet. Der bloße Glaube

an die Lehre übt nur wenig Einfluß auf das Herz aus

im Vergleich mit dem Besitze der Person Christi selbst als

des alles beeinflussenden und beherrschenden Gegenstandes

für das Herz. Es ist etwas ganz anderes, nur zu wissen,

daß der Herr wiederkommt, oder, wie die Thessalonicher,

den Sohn Gottes aus den Himmeln zu erwarten, gleich

einer Braut, die mit Sehnsucht der Ankunft ihres Bräutigams

entgegenschaut. Der Geist und die Braut sagen:

Komm!" Es ist das Herz der Braut, welches ruft:

Komm! wenngleich getrieben durch den Geist, der in diesem

Herzen wohnt. Er giebt uns das selige Bewußtsein von

dem Verhältnis zu Christo, in welches wir eingeführt

sind, sowie von den diesem Verhältnis angehörenden Zuneigungen.

Wir unterscheiden schnell den Klang einer Stimme,

die wir lieben. „Maria!" rief der Herr am Grabe

Seiner trauernden Jüngerin zu; und die wohlbekannte

Stimme durchdrang ihre ganze Seele. Und selbst wenn

die redende Person zu weit entfernt ist, als daß man

die Worte genau verstehen könnte, ist doch der Klang der

Stimme hinreichend, um die Saite zu berühren, deren

294

Tönen das ganze Herz durchzittert und seine schlummernden

Kräfte weckt. „Horch! mein Geliebter!" sagt die Braut.

Sie vernimmt Seine Stimme in der Ferne, und ihre

ganze Seele ist mit sehnlicher Erwartung erfüllt. Und

sie braucht nicht lange zu warten. Sie darf sogleich hinzufügen:

„Siehe, da kommt Er!" — Ja, Er kommt,

„der Herr ist nahe!" Erwartest du Ihn heute, geliebter

Leser? — „Siehe, da kommt Er, springend über die

Berge, hüpfend über die Hügel. Mein Geliebter gleicht

einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche." Seine

Füße sind schnell wie die der Hindin.

Anstatt dem Herzen volle Befriedigung zu geben,

steigert die Nähe des Herrn im Geiste nur das Verlangen

nach den höheren Freuden, die Seine persönliche Gegenwart

verleiht. Was könnte näher, inniger und vertrauter

sein, als die Gemeinschaft, deren sich die Braut durch

Glauben von Beginn unsrer Betrachtungen an erfreut hat?

Ihre Freude hat keine Unterbrechung erlitten, wohl aber

hat die Erkenntnis Seiner Liebe und der Genuß Seiner

Gunst stetig zugenommen.

Manche sind der Meinung, daß in der vorliegenden

Stelle sich Zeichen eines Rückganges bemerkbar machten,

daß die Zeit der Ruhe verhängnisvoll für die Braut gewesen

sei, und daß die überströmende Fülle ihrer Vorrechte

sie zu einer gewissen Sorglosigkeit verleitet habe.

Allein obwohl so etwas gewiß Vorkommen mag, obwohl

einer großen geistlichen Freude zu Zeiten eine Art von

Erschlaffung und selbst ein Zurückgehen und Abirren aus

der Gemeinschaft des Herrn folgen kann, scheint dies doch

gerade hier nicht der Fall zu sein. Denn wann verlangen

wir am meisten nach der Ankunft des Herrn? Wenn wir

295

in Gemeinschaft oder außer Gemeinschaft mit Ihm

find? Diese Frage ist nicht schwer zu beantworten. Unmöglich

kann ein wahres Verlangen nach Seiner Wiederkunft

im Herzen sein, wenn wir nicht in glücklicher Gemeinschaft

mit Ihm stehen. Allerdings sind wir immer

sicher in Ihm, aber wir sind nicht immer glücklich mit Ihm.

Wenn wir einen Schritt zu weit gegangen sind mit der

Welt, oder wenn wir versäumt haben uns selbst zu richten,

so verlieren wir unsere Freude an Ihm, und zu solchen

Zeiten tragen wir kein Verlangen nach Seiner Ankunft.

„Petrus spricht zu Ihm: Du sollst nimmermehr meine

Füße waschen! Jesus antwortete ihm: Wenn ich dich nicht

wasche, so hast du kein Teil mit mir." (Joh. 13, 8.)

Beachten wir wohl, daß der Herr nicht sagt: du hast kein

Teil a n mir. Das hätte Er nimmermehr sagen können;

nein, Er belehrt Petrus und uns, daß, wenn das

Selbstgericht vernachlässigt wird, wenn die täglichen Verunreinigungen

nicht weggewaschen werden „durch die

Waschung mit Wasser durch das Wort", die Gemeinschaft

mit Ihm eine Unterbrechung erleiden muß. Der Herr

kann nicht mit ungerichtetem Bösen vorangehen. „Du

hast kein Teil mit mir", sind Worte voll des tiefsten

Ernstes. Möchtest du nicht lieber alles aufgeben, meine

Seele, als die Gemeinschaft mit deinem Herrn auch nur

für einen Tag, für eine Stunde entbehren? Wo wolltest

du Kraft finden für Wandel, Anbetung und Dienst, wenn

du sie nicht von Ihm empfingest? Welche Schwäche, welche

Finsternis würde deinen Pfad kennzeichnen in der Entfernung

von Ihm! Scham mag dein Antlitz bedecken und

Schmerz deine Seele erfüllen, wenn du deine beschmutzten

Füße in Seine Hände legst; denn wahrlich, Er weiß und

296

sieht, wo du gewesen bist. Aber bedenke das Eine: sie

können nimmermehr gewaschen werden, es sei denn daß

Er es thut. „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du

kein Teil mit mir." Wenn du mit Jesu wandeln und

glücklich bei Ihm sein willst, so mußt du in Absonderung

wandeln, in wahrer Absonderung von allem Bösen —

von allem, was Seiner Heiligkeit entgegen und mit Seiner

Natur unverträglich ist. — O Herr, leite uns in

Deinen Wegen in diesen bösen Tagen, damit wir immer

mit ernstlichem Gebet und liebendem Verlangen auf Deine

Wiederkunft harren!

„Mein Herr verzieht zu kommen", ist die Sprache

eines Herzens, das in dieser Welt Befriedigung sucht.

„Komm, Herr Jesu, komme bald!" ist die Sprache eines

Herzens, das mit der Liebe Christi erfüllt ist und ernstlich

nach einem persönlichen Ihm Nahesein verlangt. In demselben

Maße wie wir uns Christi geistlicherweise erfreuen,

werden wir auch verlangen, Ihn von Angesicht zu Angesicht

zu sehen. Dies ist immer ein sicherer Prüfstein für den

Zustand der Seele. Wenn das Haus in Unordnung ist,

so verlangt die Frau nicht nach der Rückkehr ihres Mannes;

sie ist vielmehr beschäftigt, die Ordnung wiederherzustellen.

Wenn sich aber alles an seinem Platze befindet

und so ist, wie er es gern hat, dann beginnt sie an seine

Rückkehr zu denken und verlangt danach, seine Stimme

zu hören und sein Angesicht zu sehen.

Manche Christen sagen in ihren Herzen: „Ist es nicht

genug für mich zu wissen, daß ich dem Herrn angehöre?

Warum sollte ich Tag für Tag nach Seiner Wiederkunft

vom Himmel ausschauen? Ich weiß, daß meine Sünden

vergeben sind, und daß ich errettet bin; überdies kann ich

297

auch den unsichtbaren Heiland lieben und Ihm vertrauen.

— Schon recht, mein lieber Mitpilger; aber ich

möchte dich doch fragen: Redet so ein Herz, das den Herrn

Jesum aufrichtig liebt, oder ist es die Sprache eines Herzens,

das hinsichtlich Seiner gesegneten Person kalt und gleich-

giltig geworden ist? Kannst du an alle Seine Liebe und

Huld, an alle Seine Leiden, an Seinen Tod für dich,

an Seine Erhöhung und Verherrlichung denken, ohne

danach zu verlangen, Ihn zu sehen? Sehnst du dich

nicht nach einem Blick in jenes Antlitz, welches dein Herz

für immer hinnehmen und deinen Mund mit den erhabensten

Lobliedern füllen wird? Was würde der abwesende

Gatte denken, was würde er fühlen, wenn er

vernähme, daß sein Weib sagte: „Ich weiß, daß ich sein

bin. Das befriedigt mich völlig. Zudem höre ich täglich

von ihm und weiß, daß er mich innig liebt. Warum

also sollte ich so sehnlichst nach seiner Rückkehr verlangen?

warum ihm immer wieder schreiben: „Kehre doch bald

heim; ich verlange danach, dein Antlitz zu sehen"?

Wie würdest du, mein lieber Leser, einen solchen

Zustand der Dinge deuten? Würdest du das Liebe zu

dem abwesenden Gatten nennen? Und wenn du selbst

dieser Gatte wärest, würde es dein Herz befriedigen,

namentlich wenn du dein Weib mit „großer Liebe" liebtest?

Nimmermehr! Liebe kann nur durch Gegenliebe befriedigt

werden. „Wir lieben Ihn, weil Er uns zuerst geliebt

hat." Die Liebe des Gläubigen ist der Widerschein der

Liebe Christi. Je häufiger ein liebendes Weib von ihrem

abwesenden Manne hört, desto mehr wird ihr Verlangen

nach seiner Rückkehr lebendig werden. Der häusliche Kreis

mag noch so angenehm und behaglich für sie sein, aber

298

um ihr Herz völlig glücklich zu machen, bedarf es der

Gegenwart des Einen, der in der Ferne weilt. So lange

er nicht da ist, kann nichts aus Erden die Lücke ausfüllen.

Ach, wie wenig fühlen wir die Lücke, die nur

die Person Christi auszufüllen vermag!

Es ist der Herr selbst, als Messias und König,

nach dem die liebende Braut hier so sehnlichst verlangt.

„Horch! mein Geliebter! siehe, Er kommt!" Er hat sich

selbst ihrem Herzen geoffenbart, und sie dringt nun durch

den Glauben ein in Seine Liebe und Freude als Bräutigam

und König in Zion. Sie kennt und schätzt diese

Liebe und verlangt, Ihn als ihren Messias zu besitzen.

Herrlicher Wechsel! Die Stätte, an welcher Er einst verachtet

und verworfen wurde durch die Tochter Zion, wird

binnen kurzem der Schauplatz Seiner Bräutigamsliebe

und Seiner tausendjährigen Herrlichkeit werden. Das

heiße, inbrünstige Verlangen des gottesfürchtigen Ueber-

restes der letzten Tage nach der Erscheinung des Messias,

als ihres Königs und Erlösers, findet in den Psalmen

und Propheten wiederholt beredten Ausdruck. So lesen

wir z. B. in Jes. 64, 1. 2: „O daß du die Himmel

zerrissest, herniederführest, daß vor deinem Angesicht die

Berge erbebten, wie Feuer Reisig entzündet, Feuer die

Wasser wallen macht, um deinen Namen kundzuthun

deinen Widersachern: damit die Nationen vor deinem

Angesicht erzittern!"

In dem Hohenliede begegnen wir demselben starken

Verlangen, nur unter einem andern Charakter. Der

Ueberrest tritt in dem Bilde einer Braut vor unS, die

nicht so sehr die eigene Befreiung und die Vernichtung

der Feinde, oder selbst die Aufrichtung des Reiches Christi

299

in Herrlichkeit und Macht herbeisehnt, als vielmehr nach

der Person ihres kommenden Messias Verlangen trägt.

Es ist „ihr Geliebter", und Er kommt bald; Er ist

gleich einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche. Er

ist sozusagen bereits zur Seite des Hauses, schaut durch

die Fenster und blickt durch die Gitter. (Vers 9.) Es

ist die Person des Herrn, um die es sich handelt. Der

Ueberrest in Jerusalem ahnt hier die nahende Ankunft

seines Königs, seine eigene völlige Erlösung und die Erscheinung

der tausendjährigen Herrlichkeit; und der Herr

erfreut ihn durch noch größere Offenbarungen Seiner selbst,

durch die wiederholte Versicherung Seiner Liebe und der

Freude Seines Herzens an ihm. Nichts könnte schöner

und rührender sein, als die Worte des Herrn in den

nächsten Versen. Er spricht zu der Braut, und sie findet ihre

Freude daran, Seine Worte zu wiederholen: „Mein Geliebter

hob an und sprach zu mir: „Mache dich auf, meine

Freundin, meine Schöne, und komm! Denn siehe, der

Winter ist vorbei, der Regen ist vorüber, er ist dahin.

Die Blumen erscheinen im Lande, die Zeit des Gesanges

ist gekommen, und die Stimme der Turteltaube läßt sich

hören in unserm Lande. Der Feigenbaum rötet seine

Feigen, und die Weinstöcke sind in der Blüte, geben Duft.

Mache dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und

komm!"" (V. 10—13.) Kurz zuvor konnte sie nur den

Klang Seiner Stimme unterscheiden und durch die Gitter

einen flüchtigen Blick Seiner Augen erhaschen. Aber jetzt,

o glückliche Braut! ist Er nahe genug, daß du die Worte

Seines Mundes vernehmen kannst. Und gepriesen sei

Sein herrlicher Name! dem Glauben ist Er immer nahe,

immer gegenwärtig.

300

„Seine Linke ist unter meinem Haupte, und Seine

Rechte umfaßt mich." So redet der Glaube. Der Glaube

kann sich an Seine Brust lehnen; er kann in der Nacht

in Seinen Armen ruhen und am Morgen mit Ihm ausgehen

in die Weingärten, um die Weinstöcke blühen zu

sehen. Wie gesegnet ist das! Allerdings persönlich

ist Er noch nicht hier; Er ist im Himmel, und wir sind

auf der Erde. Allein während wir im Glauben in Ihm

ruhen, verlangen wir sehnlich nach Seiner Wiederkunft,

um von Ihm ausgenommen zu werden und bei Ihm zu

sein in der Herrlichkeit droben. O möchten wir doch in

unsern Herzen freier sein von der Welt und ihren Dingen

und, wie der Vogel in den Zweigen, stets bereit, unsere

Schwingen auszubreiten und diese Erde zu verlassen! Was

sind die schönsten Scenen dieser Erde im Vergleich mit

dem Himmel, was der glücklichste Platz hienieden im Vergleich

mit dem Paradiese Gottes!

Nun, der Freudentag beginnt zu dämmern für das

lange unterdrückte Volk Israel. Der Herr selbst wird bald

erscheinen. „Das Reich der Himmel ist nahe gekommen."

Der lange, dunkle und öde Winter der Abwesenheit des

Herrn ist vorüber. Der Frühling ist gekommen, der

Sommer ist nahe. Der Helle, wolkenlose Morgen bricht

an. Seit dem Falle des ersten Menschenpaares hat

diese seufzende Erde nie eine solch freudenvolle, liebliche

Scene gesehen, wie diese Verse sie beschreiben. Sie schildern

in herrlicher Sprache die zukünftige Herrlichkeit und Segnung

des Landes Israel und der ganzen Erde.

Man hat oft gedacht und gesagt, daß Israels Winter

ein immerwährender sein würde, und daß kein Frühling

oder Sommer je wiederkehren würde für die von Gott

301

dahingegebene Nation. Allein in dem Worte Gottes lesen

wir Har und deutlich: „In Zukunft wird Jakob Wurzel

schlagen, Israel wird blühen und knospen; und sie werden

mit Früchten füllen die Fläche des Erdkreises." (Jes. 27, 6.)

Die Hellen Strahlen der „Sonne der Gerechtigkeit" werden

für immer das Dunkel und die Oede des langen Winters

verscheuchen. Die knospenden Blumen, die reifenden Feigen,

die blühenden Reben, die singenden Vögel, die Stimme

der Turteltaube, alles das sind sichere Zeichen, nicht nur

daß der Winter vergangen, sondern auch daß der Frühling

gekommen ist. Und obwohl in dem Weinberge der

Braut bis jetzt noch nichts zur Reife gekommen ist, so

liegt doch in der göttlichen Verheißung die sichere Bürgschaft

eines herrlichen Sommers und eines reichen Herbstes.

An einen Neubekehrten.

Mein lieber C. —

Die Nachricht von des Herrn Güte, die deiner Seele

Frieden schenkte, hat mein Herz mit Lob und Dank erfüllt.

Ich freue mich aufrichtig mit dir und nehme innigen

Anteil an deinem Glück. Dem Herrn allein aber gebührt

alle Ehre für Seine Liebe und Gnade. Welch eine Wirklichkeit

ist das Werk des Geistes Gottes in der Seele l

Er verwundet, um heilen zu können; Er schmettert in

Seiner Macht zu Boden, damit Er wieder aufrichte in

Gnade. DaS hast auch du erfahren und in kurzer Zeit

manches gelernt, was dir früher unbekannt war. Ich

hoffe, du wirst das, was dein göttlicher Lehrmeister dir

gezeigt hat, fleißig benutzen zur Verherrlichung des Herrn

und zum Wohle kostbarer Seelen. Du kannst jetzt von

302

Frieden reden, nachdem dein Gewissen so lange beunruhigt

war; von Ruhe, nachdem du so tief unter der

Last deiner Sünden geseufzt hast; von Freude, nachdem

du durch solche Not und Seelenangst gegangen bist.

Wahrlich, wunderbar wirkt der Herr in unsern Tagen!

An vielen Orten und in vielen, vielen Herzen hat Er ein

Feuer angezündet, und es brennt fort, und der Feind

vermag es nicht auszulöschen. Sein heiliger Name sei

dafür gepriesen!

Wie mir dein Brief zeigt, hast du auch eine Wahrheit

gelernt, die von der größten Wichtigkeit für jemanden

ist, der wirklich Ruhe für seine Seele zu finden wünscht;

nämlich, daß wir Frieden empfangen, wenn wir glauben,

nicht aber ehe wir glauben. Und nun „erfülle dich der

Gott der Hoffnung mit aller Freude und allem Frieden

im Glauben". (Röm. 15, 13.) Beachte den Ausdruck

„im Glauben". Es steht im Griechischen hier nicht das

Dingwort „Glaube", sondern das Zeitwort „glauben",

also: „indem du glaubst". Wir werden nicht errettet

um des Glaubens willen, als eines Preises, noch

nach dem Glauben, als einer erfüllten Bedingung, sondern

im Glauben; die göttliche Botschaft selbst macht uns

glücklich, indem wir sie glauben. Präge dir diese

einfache Wahrheit tief ein. Viele beachten sie nicht und

gehen deshalb oft jahrelang unter stetem Druck einher.

Wenn du einen Brief mit guten Nachrichten erhältst,

welch eine Wirkung übt dann das Lesen desselben auf

dich aus? Du wirst froh, nicht wahr? Und wenn er

dir schlimme Nachrichten bringt, was dann? Du wirst

traurig. Gerade so ist es in geistlicher Beziehung. In

demselben Augenblick, da eine bekümmerte Seele im

303

Glauben auf Jesum blickt, weicht die Last von ihrem

Herzen, und Ruhe und Freude kehren ein. Warum?

Einfach weil sie glaubt, daß in Ihm alle ihre Bedürfnisse

für ewig gestillt sind. So lange sie auf Ihn blickt, hat

sie keinerlei Zweifel. Sie weiß sich im Besitz der Vergebung

ihrer Sünden durch Sein kostbares Blut, ja im

Besitz des ewigen Lebens und jeder Segnung durch den

Glauben an Seinen gesegneten Namen. Sie findet alles

in Ihm, was sie bedarf, und so hat sie vollkommnen Frieden.

Sie ruht in Ihm und singt mit glücklichem Herzen:

Ich preise Dich! Du hast Dein Blut vergossen,

Für meine Sünden ist's am Kreuz geflossen.

Versöhnung seh' ich — seh' ich, Jesu, Dich;

Ich preise Dich, ich preise Dich!

Jesus selbst ist jetzt der allein würdige Gegenstand

für dein Herz. Besäßest du alles, was die Welt dir bieten

kann, aber nicht Ihn, so würde in deinem Innern eine

öde Leere bleiben. Aber wenn man Ihn besitzt, den

Christus Gottes, so ist das Herz zum Ueberströmen voll,

und man sieht alles in dem Lichte Seines Antlitzes, in

einem Lichte, das niemals durch eine Wolke verdunkelt

werden kann. Das ist der Sonnenschein der Seele; ohne

dieses Licht ist alles Finsternis. Die Gegenwart des Herrn

ist das Heiligtum für die Seele, und Seine Liebe die

Fülle und Summe alles Segens.

Und nun, mein lieber C., da du, wie du schreibst,

„völlig glücklich in Jesu" bist, da du Ihn kennen gelernt

hast als deinen Heiland und Erretter, welchen Gebrauch

willst du von dieser Kenntnis machen? Willst du sie

für dich behalten? Willst du sie vor andern verbergen?

Sicherlich nicht! Während es sehr verkehrt sein würde,

304

sich höher oder besser zu dünken als andere, oder unweise

über die Wahrheit zu reden, so daß man die Hörer ärgert,

müssen wir doch treue Zeugen für Christum sein und ein

entschiedenes Zeugnis für die Wahrheit ablegen, wie sie

in Ihm ist. Wir müssen die passende Gelegenheit abwarten

und dann reden in Sanftmut und Liebe. Suche

diejenigen, zu welchen du redest, zu überzeugen, daß du

in Demut ihr Bestes suchst. Vermeide alles, was den

Anschein erwecken könnte, als wolltest du dich selbst zeigen.

Ein Unbekehrter wird leicht durch das Zeugnis eines

jungen Christen geärgert. Es muß daher abgelegt werden

in großer Demut, unter Gebet und in Abhängigkeit von

Christo. Zunächst suche mit denen zu reden, die dir durch

Alter oder Umstände nahe stehen, zu deinen Verwandten

und früheren Bekannten.

Andreas, der Bruder des Simon Petrus, giebt uns

ein schönes und belehrendes Beispiel, wie man am besten

den Dienst für Christum und für andere Seelen beginnt.

Er findet zuerst seinen eignen Bruder Simon und

spricht zu ihm: „Wir haben den Messias gefunden (was

verdolmetscht ist: Christus). Und er führte ihn zu Jesu."

(Joh. 1, 41. 42.) Mein lieber C., gehe hin und thue

desgleichen. Suche zuerst deinen eignen Bruder zu erreichen;

sage ihm, was du gefunden hast, und suche ihn

zu Jesu zu führen. Wie einfach war das, was Andreas

that, wie natürlich! und doch wie passend und zweckentsprechend!

Er sagt nicht viel, nur das was er selbst gesunden

hatte. Wenn dies in einer richtigen Weise, mit

einem glücklichen Herzen geschieht, so wird es immer Eindruck

machen. Es ist kein Versuch, andere zu belehren

oder ihnen zu predigen, sondern die einfache Erzählung

305

einer Thatsache, die das Herz mit ungekannter, himmlischer

Freude erfüllt hat. Und wenn dein Bruder fühlt, daß dir

sein Wohl am Herzen liegt, so wird er auch nicht beleidigt

werden. Vielleicht mag er wenig Wert auf das

zu legen scheinen, was dir so wichtig und kostbar ist.

Aber laß dich nicht entmutigen. Denke daran, wo du

selbst einst wärest; rechne auf Gott und warte mit Ausharren

auf seine Seele. Nichts ist so geeignet, dein

eignes Herz in einem gesunden Zustande zu erhalten als

dieses Warten auf die Seele deines Bruders; denn du

wirst dann eifrig besorgt sein, daß dein Leben mit deinem

Bekenntnis in Uebereinstimmung stehe. Unbeständigkeit

würde dein Zeugnis bald schwächen und deinem Bruder

zum Anstoß gereichen. Und dies gilt nicht nur von

deinem Bruder, sondern auch von deinem Freunde, deinem

Nachbarn u. s. w. Jeder Mensch ist im Sinne des Evangeliums

unser Bruder; und unser Werk ist nie vollendet,

so lange es noch einen Menschen giebt, der sich weigert,

zu Jesu zu kommen. Doch vor allem bete viel für

deinen Bruder, deinen Freund oder deinen Nachbar. Ich

glaube nicht, daß wir ein wirkliches Interesse für jemanden

haben, so lange wir nicht für ihn beten. Im Gebet

treten wir vor Gott und in Seiner Gegenwart mit der

Person in Verbindung, für die wir beten, und dies wird

uns anspornen, gerade so vor der Person zu wandeln,

wie wir vor Gott wandeln würden.

Laß mich dich auch bitten, dich vor allem Disputieren

und Streiten zu hüten. Der Feind wird immer wieder

versuchen, dich in diese Schlinge zu locken; „ein Knecht

des Herrn aber soll nicht streiten". (Lies sorgfältig

2. Tim. 2, 22—26.) Streit erregt allezeit Aerger und

306

Feindschaft und macht unsre eignen Herzen unglücklich.

Folge dem Beispiel des Andreas: „Wir haben den Messias

gefunden". Dieses einfache Zeugnis war genug für

Simon. Sein Interesse wurde erregt, und er ließ sich

zu Christo führen. Mache es wie Andreas. Rede einfach,

aber mit aller Bestimmtheit von Dem, den du

gefunden hast; von dem, was du weißt, besitzest und

genießest. Gehe nicht weiter, als Gott dir Gnade und

Erkenntnis gegeben hat.

Ein junges Mädchen schrieb einmal an eine Person,

die ihr sehr nahe stand und sehr teuer war: „Ich glaube

an Jesum; ich habe Jesum gefunden. Ich weiß, daß

Jesus mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben

hat. Und jetzt weiß ich, daß ich errettet bin. Ich bete

jeden Tag für Dich, auch für den lieben O. und auch

für andere, daß Jesus Euch alle segnen möge." Wie

einfach und doch wie ergreifend ist eine solche Berufung

an das Herz des Empfängers, sei es nun ein sorgsamer

Vater, eine liebende Mutter oder irgend eine andere

geliebte Person.

Und nun, mein lieber C., ehe ich meinen langen

Brief schließe, muß ich dich noch einmal auf den zweiten

Teil dessen, was Andreas that, aufmerksam machen. Wir

haben gelesen: „Er führte ihn zu Jesu". Thue dasselbe

mit deinem ganzen Herzen. Sei ernst und entschieden;

laß dich durch nichts von deinem Vorhaben zurückschrecken.

Es handelt sich um Leben oder Tod, um Himmel oder

Hölle. Kannst du daran denken, daß „dein eigner

Bruder" sich noch auf dem breiten Wege des Verderbens

befindet, ohne alles zu thun, was in deinen Kräften steht,

um ihn zu erretten? O sei treu, wachsam, halte an am

307

Gebet I Wäre wohl irgend ein Opfer an Zeit oder Mühe

zu groß, wenn es sich darum handelt, einen geliebten

Bruder dem ewigen Verderben zu entreißen? Hast du gethan,

was du konntest? Es mag dir scheinen, als ob

der letzte Pfeil aus deinem Köcher vergeblich verschossen

wäre. Doch vertraue auf Gott. Sein Köcher ist noch

voll von Pfeilen. Werde nicht müde, von Jesu zu reden

und zu Seiner Ehre zu wandeln. „Wie ihr nun den

Christus Jesus, den Herrn, empfangen habt, so

wandelt in Ihm." (Kol. 2, 6.) Du wirst erfahren,

daß Gott zu Seiner Zeit deine Gebete erhören und deine

Mühe belohnen wird. Sie ist nicht vergeblich im Herrn.

O sprich von Ihm, von Seiner Liebe,

Die all Erkennen übersteigt;

Von Ihm, der von des Vaters Throne

Zu Sündern sich herabgeneigt;

Der kam, vom Tode zu erretten,

Dich zu befrein aus Satans Ketten!

Ja, sprich von Jesu, von der Gnade,

Die allen, allen Hilfe bot;

Von Seinem Leben, Seinem Wirken,

Von Seinem Leiden, Seinem Tod;

Und Seine Thaten, Seine Worte

Verkünde treu an jedem Orte!

O sprich von Ihm, dem Sohne Gottes,

Der still den Kelch des Zornes trank;

Von Ihm, dem hehren Fürst des Lebens,

Der in den Staub des Todes sank;

Laß Wort und Werk, dein ganzes Leben

Von Ihm, von Ihm nur Kunde geben!

308

Die Ihn lieben."

„Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat

und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott

bereitet hat denen, die Ihn lieben." (1. Kor. 2, 9.)

Wie gnädig ist unser Gott! Das, wovon wir nie reden

würden, nie reden dürften, das erwähnt Er: unsre Liebe

zu Ihm. Hat Gott denn in unsrer Liebe einen Beweggrund

gefunden, solch herrliche Dinge, die kein Auge

gesehen und kein Ohr gehört hat, für uns zu bereiten?

Nein, der Beweggrund dazu lag inSeiner Liebe zu uns,

als wir noch Sünder und Feinde waren. Aber Sein

Herz erfreut sich daran, unsre schwache Liebe zu Ihm anzuerkennen

und uns zu sagen, daß Er für solche, die in

einer gottentfremdeten und Ihn hassenden Welt Ihn lieben

und Ihm dienen, Segnungen bereitet hat, die nie in eines

Menschen Herz gekommen sind.

Aber die oben angeführte Stelle ist nicht die einzige,

in welcher Gott von unsrer Liebe zu Ihm redet. In

Röm. 8, 28 z. B. heißt es: „Wir wissen aber, daß

denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken",

und in Jak. 1, 12, wo von der Krone des

Lebens die Rede ist, lesen wir: „die Er verheißen hat

denen, die Ihn lieben."

Gott hat uns zuerst geliebt und Seine Liebe in unsre

Herzen ausgegossen, und nun ist unsre schwache Antwort

auf diese Seine Liebe so wertvoll für Ihn, daß Er sie

immer wieder hervorhebt; ähnlich wie eine Mutter mit

herzlicher Freude bei jeder noch so geringen Kundgebung

der Liebe ihres Kindes verweilt und darin nur einen neuen

Anlaß zu Liebesbeweisen ihrerseits erblickt.

Ja, wie gnädig, wie anbetungswürdig ist unser Gott!

Wo ist eine Liebe wie Seine Liebe! Möchte Er in uns

allen die Gefühle wahrer, aufrichtiger Liebe zu Jhmvermehren!

Deine Stimme ist süß und deine Gestalt anmutig."(Hohel. 2, 14—17.)

„Meine Taube im Geklüft der Felsen, im Versteck

der Felswände, laß mich sehen deine Gestalt, laß mich

hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süß und

deine Gestalt anmutig." (V. 14.) Wir thun wohl, uns

immer wieder an den Unterschied zwischen der irdischen

Berufung Israels und der himmlischen Berufung

der Kirche zu erinnern. Unser hochgelobter Herr wird sich

als Jehova am Ende der Tage der Sache Seines irdischen

Volkes wieder anuehmen, und Jerusalem wird in seinem

Charakter als die Braut des Königs der Mittelpunkt

aller irdischen Herrlichkeit und Segnung werden. Die

Kirche dagegen ist die Braut des Lammes, des einst

erniedrigten, nun aber droben verherrlichten Christus. Der

Ausdruck Braut ist das Symbol der Liebe und der Einheit

hinsichtlich der Stellung. Die Braut steht in gleichem

Range mit dem Bräutigam, und zwar die jüdische Braut

im Blick auf die irdische Herrlichkeit, die Kirche im Blick

auf die himmlische. Da sie Ihn anerkannt und Ihm

vertraut hat während der Zeit Seiner Erniedrigung und

Verwerfung, wird sie auch die Ihm Nächste und Teuerste

sein in Seiner Erhöhung und Herrlichkeit. Ein einzelner

Gläubiger könnte nicht sagen, daß Christus sein Bräutigam

310

sei. Er kann sagen: Er ist mein Erlöser, und: „Er

hat mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben."

Aber Christus ist der Bräutigam der Kirche.

Verfolgen wir den Unterschied zwischen Israels Platz

und Segnung in Verbindung mit dem kommenden Reiche

und der Stellung der Kirche noch etwas weiter. Der

Herr kommt hernieder zu Israel, und segnet es da,

wo es sich befindet. „Der Erlöser wird in Zion erscheinen."

(Vergl. Luk. 1, 68—79.) Die Kirche dagegen

wird ausgenommen in Wolken, um dem Herrn in der

Luft zu begegnen. (1. Thess. 4.) Der jüdische Ueberrest

wird gesegnet werden mit allen zeitlichen Segnungen in

einem herrlichen Lande (Amos 9, 11 - 15); wir sind gesegnet

mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen

Oertern. (Eph. 1.) Jerusalem auf der Erde wird den

Mittelpunkt der irdischen Herrlichkeit uud Segnung bilden,

und durch sie werden alle Nationen der Erde gesegnet

werden. „Denn von Zion wird ausgehen das Gesetz, und

das Wort Jehovas von Jerusalem." (Jes. 2, 3.) Das

Jerusalem droben aber ist der Mittelpunkt der himmlischen

Herrlichkeit; denn „die Herrlichkeit Gottes wird sie erleuchten,

und ihre Lampe ist das Lamm". (Offenb. 21.) Die himmlischen

Heiligen werden ihre verherrlichten Leiber tragen,

gleichgestaltet dem verherrlichten Leibe Christi. (Phil. 3,

21.) Das ganze Haus Israel wird gesegnet sein mit den

lange verheißenen Segnungen eines neuen Herzens und

eines aufrichtigen Geistes. (Hes. 36, 24 — 28.)

Seitdem Israel seiner Untreue wegen von Gott als

Volk beiseite gesetzt ist, steht es mit allen Sündern auf

einem und demselben Boden. In der Predigt des Evangeliums

werden Juden wie Heiden angeredet als verlorene

311

Sünder; und alle, die durch die Gnade Gottes gesammelt

werden, werden zu „einem Leibe" gebildet. Alle genießen

in Christo dieselben Vorrechte. „Er hat aus beiden eines

gemacht und abgebrochen die Zwischenwand der Umzäunung,

auf daß Er die zwei, Frieden stiftend, in sich selbst zu

einem neuen Menschen schüfe,... denn durch Ihn

haben wir beide den Zugang durch einen Geist zu dem

Vater." (Eph. 2.)

Die Hoffnung der Kirche — des „einen Leibes", in

welchem der eine Geist wohnt, — ist die Wiederkunft

des Herrn Jesu vom Himmel, um uns

zu sich zu nehmen. „Ich gehe hin, euch eine Stätte zu

bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte

bereite, so komme ich wieder und werde euch zu

mir nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr

seiet." (Joh. 14, 2. 3.) Wenn diese Verheißung in

Erfüllung gegangen ist, wird Israel wieder auf den Schauplatz

treten, und der Geist Gottes wird in dem Ueber-

reste Judas zu wirken beginnen. Nach der Aufnahme der

Kirche und während der Regierung des Antichristen wird

dieser Ueberrest Gegenstand der besonderen Liebe und

Sorge des Herrn sein. Indem Er in dem Bilde eines

Weibes von Israel redet, sagt Er: „Ich werde sie locken

und sie in die Wüste führen, und ihr zum Herzen reden.

Und ich werde ihr von dort aus ihre Weinberge geben,

und das Thal Achor zu einer Thür der Hoffnung. Und

sie wird daselbst singen wie in den Tagen ihrer Jugend

und wie an dem Tage, da sie aus dem Lande Egypten

heraufzog. Und es wird geschehen an jenem Tage, spricht

Jehova, da wirst du mich nennen: Mein Mann; und du

wirst mich nicht mehr nennen: Mein Baal .... Und

312

ich will dich mir verloben in Ewigkeit . . . und du wirst

Jehova erkennen." (Hos. 2, 14—20.)

Wie haben wir nun die vorliegende Schriftstelle zu

verstehen: „Meine Taube im Geklüft der Felsen, im Versteck

der Felswände, laß mich sehen deine Gestalt, laß

mich hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süß und

deine Gestalt anmutig" ? Vom 10.—15. Verse finden wir

eine ununterbrochene Ansprache voll zärtlicher Liebe, lieblicher

Ermunterung und freudiger Hoffnung. Aus vielen

Stellen der Schrift geht klar hervor, daß der volle Strom

der tausendjährigen Segnungen nicht auf einmal über das

Land Israel und die Nationen hereinbrechen wird; er

kommt vielmehr allmählich, gleich dem Schwinden des

Winters und dem langsamen Herannahen des Frühlings.

Daher die Notwendigkeit des Glaubens auf feiten der

Braut. Doch der Herr erfreut ihr Herz mit der Versicherung,

daß der Tag ihrer Erlösung nahe sei. Er will,

daß sie wisse, daß Sein Auge auf sie gerichtet ist, und

daß sie geduldig ausharre. Andrerseits lernen wir aus

vielen Schriftstellen, daß sie gerade während dieser Zeit

den besondern Zielpunkt des Hasses und der Verfolgung

des Antichristen ausmachen wird. Er wird alles aufbieten,

um den gläubigen Ueberrest zu vertilgen. (Offenb.

12, 6. 17.) Aber durch den Geist Gottes geleitet, findet

er eine Zufluchtsstätte in der Wüste; und der Geliebte

kennt den Bergungsort Seiner Braut. Für Sein Auge

und Sein Herz ist sie gleich der Taube im Geklüft der

Felsen, im Versteck der Felswände. Ihre Stimme klingt

Ihm angenehm, wenngleich sie dem trauernden Klagen

der einsamen Taube gleicht. Ihre Gestalt ist anmutig;

sie ist schön in Seinen Augen, wie sehr sie auch durch

313

Leiden und Verfolgungen entstellt sein mag. Er sucht sie

zu sehen, sie zu hören. O welch eine tiefe, zärtliche Liebe I

Gab es je eine Liebe gleich der Seinigen? Wahrlich,

von Ihm darf gesagt werden, aber auch nur von Ihm:

„Die Liebe ist gewaltsam wie der Tod, hart wie der

Scheol ihr Eifer." (Kap. 8, 6.) Erfaßt der Tod nicht

sein Opfer mit eisernem Griff? Ja, er ist gewaltsam;

was er einmal erfaßt hat, läßt er nicht wieder los. Und

so ist die Liebe, die Liebe unsers Herrn und Heilandes.

Sinne über diese Liebe, mein Leser! Es ist die Liebe

Christi zu Seiner Braut, zu dir! Denke an den harten,

gewaltsamen Griff des Todes, und wie er seine Beute

festhält! und dann denke an das allmächtige Ergreifen,

an die ewige Festigkeit der Liebe des Erlösers! Der Vergleich

ist erschreckend', überwältigend; aber die Wirklichkeit

ist über die Maßen tröstend, ermunternd und stärkend.

Und jetzt richte deine Gedanken auf die andere Seite

der Liebe des Heilandes: „Hart wie der Scheol ist ihr

Eifer." Was bedeutet das? Es scheinen harte Worte

zu sein, um die zärtliche Liebe des Erlösers auszudrücken.

Allein nur starke Gleichnisse können eine Vorstellung von der

Kraft Seiner Liebe geben. Ist es der Tod, der eine

Person mit gewaltsamem Griff erfaßt, so ist es der Scheol,

der sie zurückhält. Er giebt nichts wieder zurück. Er ist

grausam; der bittere Schrei des Beraubten, das tiefe

Weh der Witwe, das ergreifende Seufzen der Waise —

nichts rührt ihn. Er hält sein Opfer unerbittlich fest;

er giebt nichts wieder heraus. — Könnte es stärkere

Bilder geben als diese?

Lerne denn, mein Leser, aus diesen starken Gleichnissen

den Charakter der Liebe des Erlösers kennen. In der

314

Felsenkluft versteckt, in Seiner verwundeten Seite geborgen,

ruht Seine furchtsame, verscheuchte Taube an diesem geheimnisvollen

Herzen der Liebe. Kein Raubvogel kann

sie dort erreichen oder ihr schaden. Kein feindlicher Geier

könnte ihr je eine Feder ausrupfen. Die Felsenkluft, in

der sie geborgen ist, ist unerreichbar für alle ihre Feinde.

Könnte sie aber trotz allem nicht in einem unbewachten

Augenblick in die Hände derer fallen, die sie zu vernichten

trachten? Ja, wenn ihre Sicherheit im geringsten Grade

davon abhinge, daß sie sich festhielte, so würde allerdings

alles für sie verloren sein. Aber, Gott sei gepriesen'

alles hängt von der Kraft und Beständigkeit Jesu und

Seiner Liebe ab. Die göttliche Liebe hält ihren Gegenstand

fest mit einer Kraft, die stärker ist als der Tod,

und doch zugleich so süß und zärtlich,' daß sie keinen Ver­

gleich zulätzt; sie bewahrt ihn sicherer als selbst der Schevl.

Wird der hochgelobte Herr jemals „die Seele Seiner

Turteltaube dem Raubtiere hingeben" ? (Ps. 74, 19.)

Nein, nie und nimmer! Hören wir nur, was Er selbst sagt:

„Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie,

und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und

sie gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus

meiner Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben

hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus der

Hand meines Vaters rauben." (Joh. 10, 27—29.)

O Liebe ohne Gleichen!

Kein Sinn kann je erreichen

Die Fülle, die du giebst.

Selbst Engel werden stehen

Und voll Anbetung sehen,

Wie Du, o Herr, die Deinen liebstl

315

„Fanget uns die Füchse, die kleinen Füchse, welche

die Weinberge verderben; denn unsre Weinberge sind in

der Blüte." In lieblicher Weise verbindet sich hier der

Geliebte mit Seiner Braut in der Pflege des Weinberges.

Fanget uns die Füchse — denn unsre Weinberge sind

in der Blüte. Der Weinberg muß sorgfältig gehütet

werden. Die kleinen Fuchse haben scharfe Zähne, und

obwohl sie klein sind, so sind sie doch schlau und richten

leicht großen Schaden an. Im Winter, wenn die Zweige

kahl sind, finden sie keinen Versteck. Sobald aber der

Frühling wiederkehrt, bietet ihnen das Laub hinreichenden

Schutz, um ihre zerstörende Arbeit beginnen zu können.

Wache deshalb, mein Leser, über den Zustand deines

Herzens. Wache besonders gegen die täglichen Sorgen

des gegenwärtigen Zeitlaufs und die tausenderlei kleinen

Dinge, welche dem Fruchtbringen so leicht hindernd in den

Weg treten. Bleibe in dem wahren Weinstock, ziehe deine

Nahrung aus Seinen Wurzeln, so wirst du viel Frucht

tragen zur Verherrlichung des Vaters.

In Zeiten der Erquickung von feiten des Herrn und

großer Erweckungen ist doppelte Wachsamkeit nötig. Es

ist wahrhaft erfreulich, zu beobachten, wie die Knospen

aufbrechen und die Blüten sich entfalten, und dabei dem

lieblichen Gesang der Vögel zu lauschen. Aber der Weingärtner

hat mehr als das zu thun; er hat zu wachen

gegen den schlauen Verderber, der Zwischen dem grünenden

Laube der Reben lauert, um ihre Wurzeln zu unterwühlen

und ihre Frucht zu rauben. Wie manche gute Rebe

haben wir im Laufe der Jahre kränkeln sehen infolge der

verführerischen Ränke des Feindes, der stets auf der

Lauer liegt!

316

Wie bitter sind solche Enttäuschungen! Der Winzer

giebt sich alle Mühe, die Reben zu bewässern, zu pflegen

und zu beschneiden. Schön und vielversprechend verläßt er

sie am Abend; aber ach, welch ein Anblick bietet sich ihm

am nächsten Morgen! Während er der Ruhe pflegte,

hat der Fuchs sein verderbliches Werk gethan. Seine

scharfen Zähne haben den Stamm bis aufs Mark abgenagt,

den Boden umgewühlt, die zarten Triebe abgerissen.

Ach, in einer Nacht, in einer bösen Stunde ist die

herrliche Pflanze, die einen so reichen Herbst verhieß, ein

Opfer deS Feindes geworden. Mit traurigen Blicken betrachtet

der Winzer seine arme Rebe. Sie ist dahin I —

Für immer dahin? Nein, Gott sei Dank! die Wurzel

ist geblieben. Denn selbst die Füchse der Hölle vermögen

nicht die Wurzeln einer Pflanze, welche der himmlische

Vater gepflanzt hat, auszurotten. Aber der Schaden ist geschehen

; auf lange Zeit hinaus wird die einst so hoffnungsvolle

Rebe nur wenig Frucht bringen.

Die Anwendung des Bildes ist nicht schwierig. In

der stillen Einsamkeit der göttlichen Gegenwart laß uns

unsre Lektion lernen, mein Leser! Hat Gott dir Liebe

zu den Seelen gegeben? Hat Er dir das Herz eines

Hirten geschenkt? O suche dann Seelen für Christum

zu gewinnen, suche sie zu schützen und zu nähren, und

wache mit Fleiß über die Schafe und Lämmer Seiner

Herde! „Hütet die Herde Gottes, die bei euch ist, indem

ihr die Aufsicht nicht aus Zwang führet, sondern freiwillig

.... Und wenn der Erzhirte offenbar geworden

ist, so werdet ihr die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit

empfangen." (1. Petr. 5, 2—4.)

317

„ Mein Geliebter ist mein, und ich bin Sein, der unter

den Lilien weidet." (V. 16.) Die glückliche Braut redet

jetzt mit voller Gewißheit von dem Besitz des Gegenstandes

ihrer Liebe. „Mein Geliebter ist mein", nicht:

„Ich hoffe, daß Er mein ist". Wenn die Liebe wirklich

und wahr ist, so verlangt das Herz nach dem Besitz

seines Gegenstandes. Nichts anderes genügt ihm.

Bisher haben wir die Braut mit bewundernder Freude

von den vielen herrlichen Eigenschaften ihres Geliebten reden

hören; auch stand sie in dem Genuß der Segnungen

Seiner Liebe. Jetzt aber besitzt sie Ihn selbst. So wird

es sein am Ende der Tage. Christus wird für den

Ueberreft sein, und der Ueberrest für Christum. Aber unsre

Herzen sind so träge, zu glauben. Wieder und wieder

versichert der Herr die Braut Seiner Liebe und Seines

Wohlgefallens an ihr. Selbst wenn sie von ihrem Schwarzsein

spricht, nennt Er sie sofort: „Du Schönste unter

den Weibern". Und jetzt kann sie mit aller Gewißheit

sagen': „Er ist mein!" Welch ein Triumph! „Jesus

ist mein!" Die Braut spricht jetzt nicht mehr von den

Ergebnissen Seiner Liebe oder von Seinen ausgezeichneten

Eigenschaften, sondern von Ihm selbst.

Könnte man mit eben solcher Bestimmtheit von dem

Besitz irgend eines irdischen Gegenstandes reden? Sicherlich

nicht. Man Mnn mit einem gewissen Maße von

Wahrheit sagen: „Dieses Geld ist mein; dieses Haus ist

mein; dieser Ehrenplatz ist mein u. s. w." Aber wie

rasch können alle diese Dinge uns entschwinden oder wir

ihnen! Wie oft ist gerade dann, wenn wir meinten, der

Erfüllung unsers Herzenswunsches endlich nahe zu sein,

diese Erfüllung in weite Fernen gerückt worden; oder

318

wenn wir wirklich den lange ersehnten Gegenstand in unsrer

Hand hielten, wie oft ist er über Nacht verwelkt wie

eine dem nährenden Boden entrissene Blume! Ach, wie

viele Tausende und Millionen müssen am Ende ihres

Lebens ausrufen: „Alles das, wofür ich sorgte und lebte,

wofür ich kämpfte und litt, ist nicht mein und wird nicht

mein sein in Ewigkeit! Für ein Linsengericht habe ich

mein Erstgeburtsrecht verkauft, und nun ist alle Hoffnung

dahin; nichts bleibt mir als eine finstere, schreckliche

Ewigkeit!"

Wie thöricht ist es, auf irgend etwas in dieser Welt

sein Vertrauen zu setzen! Und wenn ich von alledem,

was die Menschen der Welt schätzen, reden könnte als

„mein": mein Reichtum, meine Ehre, mein Einfluß, meine

Macht, mein Verstand ec. rc. — was könnte es mir

nützen, was thun für meine unsterbliche Seele? Aber wie

ganz anders ist es, wenn Christus, der Geliebte, der Gegenstand

meines Herzens ist; wenn der Glaube mit voller

Gewißheit sagen kann: Christus ist mein, mein jetzt und

in Ewigkeit, mein, um meine Sünden abzuwaschen und

mich mit der Gerechtigkeit Gottes zu bekleiden, mein, um

in meinem Herzen zu wohnen, mein in allen Umständen

und Schwierigkeiten dieses Lebens, mein in ewiger Herrlichkeit!

Ja, mein Leser, und noch mehr als das: Er

ist mein als Der, auf den ich blicke und mit dem ich rede,

der mich liebt, für mich sorgt, mit mir fühlt und mich

aufrecht hält, der mich mit Güte und Huld umgiebt bis

an das Ende meines Pilgerpfades und der mich bald

heimholen wird ins Vaterhaus droben! Ist das nicht

ein seliges Teil? Sage mir, ist es nicht genug für einen

armen, schuldigen Sünder?

319

O wer ermißt

Den Reichtum, der in diesen Worten liegt:

„Ich bin des Herren, und der Herr ist mein!"?

Welch eine Zukunft thut sich hier dem Blick

Des Glaubens auf! Nicht fürchtet sich die Braut,

So kühn zu reden; nein, sie rühmt sich laut:

Mein Gott, mein Heiland, mein geliebter Herr! —

Und hat sie nicht Sein Wort? Sagt Er nicht selbst:

„Wie mich der Vater liebte, lieb' ich euch" ?

Und hat Er bis ans Ende nicht geliebt,

Nicht dieses Eine nur von ihr begehrt:

„Gieb mir dein Herz!"?

Wie ist es möglich, so fragt das liebende Herz, daß

irgend jemand diesen Jesus vernachlässigen oder gar verachten

könnte? „In Ihm wohnt die ganze Fülle der

Gottheit leibhaftig." Alles andere ist leer und eitel.

Und als der auferstandene, verherrlichte Mensch ladet Er

jetzt alle ein, zu Ihm zu kommen und Seinen Reichtum,

Seine Herrlichkeit und Seinen Platz mit Ihm zu teilen.

„Denn es ist kein Unterschied, denn derselbe Herr

von allen ist reich für alle, die Ihn anrufen; denn

jeder, der irgend den Namen des Herrn

anrufen wird, wird errettet werden."

(Röm. 10, 12. 13.)

Andrerseits wagt es manche aufrichtige Seele, die

den Herrn wirklich lieb hat, nicht zu sagen: „Mein Geliebter

ist mein." Man meint, das sei Anmaßung. Aber

alle, die so denken, vergessen, daß Er es zuerst sagt.

Und kann es Anmaßung sein, zu bestätigen, daß Sein

Wort wahr ist. Es ist stets demütiger, sich durch Sein

Wort leiten zu lassen, als durch die eignen Gedanken

und Gefühle. Wie kommt es, daß solche Geschöpfe, wie

wir sind, Ihn lieben? Der einzige Grund liegt darin,

320

daß Er uns zuerst geliebt hat. (1. Joh. 4, 19.) Eine

Seele, die in Aufrichtigkeit nach Christo und Seinem

Heile verlangt, besitzt schon beides, wenn sie es auch noch

nicht glaubt und weiß. Der Herr hat eine solche Seele

bereits in dem Reichtum Seiner Gnade besucht. Er

schafft das Verlangen, um es zu befriedigen; Er

schafft die Liebe, um ihr zu begegnen; Er schafft den

Glauben, um ihm zu antworten. Alles Gute kommt

von oben herab. In unsern Herzen von Natur ist nichts

Gutes, und Welt und Satan können auch nichts Gutes

hineinpflanzen; alles Gute muß von oben kommen.

Jeder gute Gedanke, jedes gute, aufrichtige Verlangen

kommt vom Herrn. Jede Seele, die wirklich danach verlangt,

Christum kennen zu lernen, Ihm zu vertrauen,

Ihn zu lieben und Ihm zu dienen, wird deshalb sicherlich

Ihn kennen und lieben lernen, Ihm dienen und Ihn an-

beten ewiglich. Der Mensch mag Erwartungen erwecken,

denen er nicht entsprechen kann, er mag Liebe Hervorrufen,

die er nachher enttäuscht; aber nicht so der hochgelobte

Herr. Er ist der wahrhaftige Gott; Seine Liebe ist

vollkommen. Und Er ist unser, mein lieber Mitgläubiger,

unser durch die freie Gabe Gottes, so daß wir in aller

Demut sagen können: „Mein Geliebter ist mein."

O möchten wir mehr alles das zu erfassen vermögen,

was Er ist und was Er hat für uns!

„Und ich bin Sein." Die Braut weiß sehr

wohl, daß sie des Herrn ist. Sie ruft sich diese kostbare

Wahrheit immer wieder ins Gedächtnis zurück, und Er

versichert sie in der lieblichsten Weise, daß sie Ihm über

alles teuer sei. „Meine Freundin, meine Schöne, meine

Taube", so nennt Er sie. Ist es nicht ein beglückender

321

Gedanke, mein Leser, daß der Gläubige niemandem anders

angehört als Christo, und daß er Ihm allein unterworfen

ist? „So rühme sich denn niemand der Menschen",

sagt der Apostel, „denn alles ist euer. Es sei Paulus

oder Apollos oder Kephas, es sei Welt oder Leben oder

Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges: alles ist

euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes."

(1. Kor. 3, 21—23.) Kostbare Wahrheit! „Ihr seid

Christi." Jeder Gläubige kann sagen: „Ich bin Sein."

So ehren wir Gott und Sein Wort. Wir gehören ausschließlich

Christo an und sind nur Ihm unterworfen.

Und während wir keinem andern als Ihm angehören,

sind alle Dinge unser: „es sei Paulus oder Apollos oder

Kephas u. s. w." Sie sind unsre Diener, nicht unsre

Meister. Einer ist unser Meister. Selbst der Tod

hat seine Herrschaft über uns verloren. Er ist für den

Gläubigen kein Herr mehr, sondern ein Bote des Friedens,

ein Diener. Der Tod kann mich nicht länger als seine

Beute betrachten; die Welt kann nicht länger sagen, daß

ich ihr angehöre, und der Feind kann nicht sagen, daß

ich sein sei. Das einfache, aber so herrliche Wort: „ihr

seid Christi", ordnet alles. O glaube es, mein Leser,

und glaube es so, daß du auch Ihm allein zu folgen

begehrst! Wir sind um einen Preis erkauft, und dieser

Preis ist Sein kostbares Blut. Wir gehören nicht mehr

uns selber an, sondern Ihm.

„Er weidet unter den Lilien." Die Braut

erinnert sich an den Namen, den Er ihr gegeben hat.

(V. 2.) Ist das Anmaßung? Wahrlich nicht. Möchten

wir im Gegenteil mehr an die Worte denken, die Er

gebraucht, und die Titel beachten, die Er giebt! Als

322

„die Lilie" ist sie die Vertreterin Seines ganzen Volkes;

und in der Weite ihres Herzens nennt sie sie alle „Lilien".

Ueberdies weiß sie, daß Er unter den Lilien weidet. Da

ist Er zu finden, nirgendwo anders. In dem Liliengarten

findet Er Seine Erquickung, Seine Freude, Sein Genüge.

Welch ein Vorrecht, Lilien in diesen Garten sammeln zu

dürfen, während Er noch Seine Ankunft hinausschiebt!

„Bis der Tag sich kühlt und die Schatten fliehen,

wende dich, sei gleich, mein Geliebter, einer Gazelle oder

einem Jungen der Hirsche auf den zerklüfteten Bergen."

(V. 17.) Die volle Gewißheit Seiner Liebe und der

selige Genuß Seiner selbst im Glauben vermehren das

Verlangen der Braut nach dem Tage Seiner Herrlichkeit.

Dann werden „alle Schatten fliehen". Indem alle Schatten

und Vorbilder bei Seiner Erscheinung ihre Erfüllung

finden, verschwinden sie für immer. Jetzt sehen wir durch

einen Spiegel, dunkel und trübe; dann von Angesicht zu

Angesicht. Wir werden zwar keinen andern Jesus sehen

wie jetzt, aber das trübe Glas wird entfernt sein. „Wir

werden Ihn sehen, wie Er ist." Für Israel wird die

ausgehende Sonne der Gerechtigkeit für immer alle Finsternis

verscheuchen und den langen, öden Winter in einen

herrlichen Frühling verkehren. Die Blumen werden erscheinen,

die Vögel ihren Gesang beginnen, und die ganze

Schöpfung wird mit Freude erfüllt sein.

Bis zu dem Anbruch dieses glücklichen Tages bittet

die Braut den Geliebten, bei ihr zu bleiben. Sie verlangt

sehnlichst nach Seiner Gegenwart und dem Trost Seiner

Liebe, bis Er selbst in Herrlichkeit erscheint. Sie hängt

an der Person ihres Geliebten. „Wende dich, sei gleich,

mein Geliebter, einer Gazelle oder einem Jungen der

323

Hirsche auf den zerklüfteten Bergen!" Sie ist noch in

der Wüste. Ihre Prüfungen sind mannigfaltig. Der

Pfad ist rauh und schwierig. Deshalb sehnt sie sich nach

der Ankunft ihres Geliebten in Macht und Herrlichkeit,

mit der Schnelligkeit einer Gazelle oder eines jungen

Hirsches auf den zerklüfteten Bergen. Was sind Felsen

und Klüfte für eine flüchtige Gazelle? Nichts. Was sind

alle die Schwierigkeiten der vollen Wiederherstellung Israels

für den Herrn? Nichts. Ein Strahl Seiner zukünftigen

Herrlichkeit wird Schrecken in den Herzen Seiner Feinde

verbreiten und den Weg ebnen für „die Befreiten Jehovas,

um zurückzukehren und nach Zion zu kommen mit Jubel,

und ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; sie werden

Wonne und Freude erlangen, und Kummer und Seufzen

werden entfliehen". (Jes. 35, 10.) Dann „wird jedes

Thal erhöht, und jeder Berg und Hügel erniedrigt werden,

und das Höckerichte soll zur Ebene werden, und das

Hügelige zur Niederung. Und die Herrlichkeit Jehovas

tvird sich offenbaren, und alles Fleisch mit einander wird

sie sehen." (Jes. 40, 4. 5.) Aber bis zu dem Anbruch

dieses lange ersehnten Augenblicks bittet die Braut, in dem

Genuß Seiner Liebe erhalten zu bleiben. Liebliche Früchte

der Gnade: ein Glaube, der das Wort erfaßt, eine

Hoffnung, die nach dem ersten Dämmern des Tages ausschaut,

und ein Bitten um den gegenwärtigen Genuß

Seiner Gegenwart! Die Braut streckt sich aus nach dem

Ziele, und kein Hindernis kaun sie aufhalten. Sie verlangt,

bei Ihm zu sein.

Ist es auch so mit uns, geliebter Leser? Haben

wir Glauben an das Wort des Herrn? schauen wir aus

mach Ihm, verlangen und erwarten wir Seine Rückkehr?

324

Und ist es unser beständiges Flehen, in Seiner Gemeinschaft

erhalten zu bleiben, „bis Er kommt" ? Die Stunde, die

dem Tagesanbruch unmittelbar vorangeht, gilt als die

kälteste und finsterste Stunde der Nacht. So wird es

mit Israel sein am Ende der Tage. „Wehe! denn groß

ist jener Tag, ohne Gleichen, und es ist eine Zeit der

Drangsal für Jakob; doch wird er aus ihr

gerettet werden. Denn es wird geschehen an jenem

Tage, spricht Jehova der Heerscharen, daß ich sein Joch

von deinem Halse zerbrechen und deine Fesseln zerreißen

werde." (Jer. 30, 7. 8.) Die Morgendämmerung jenes

Tages wird dem harrenden, betenden Ueberrest Befreiung

und ihren stolzen Bedrängern Verderben bringen. Und

was die Kirche betrifft, so schreibt der Apostel Paulus

an Timotheus: „Dieses wisse, daß in den letzten Tagen

schwere (od. gefahrvolle) Zeiten da sein werden." Glücklich

ein jeder, der einfältig und treu an Seinem Worte festhält,

dem Herrn nachfolgt und auf Sein Kommen wartet!

Die letzte Stunde der Nacht mag in der That kalt und

finster sein; aberlaß dich nicht beirren, mein Leser, wache

und bete, der Morgen wird bald anbrechen. Glückselig

alle, die mit wachem Auge das erste Aufleuchten des

Morgensterns erblicken!

„Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend auf euern

allerheiligsten Glauben, betend in dem Heiligen Geiste,

erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes, erwartend die

Barmherzigkeit unsers Herrn Jesu Christi zum ewigen

Leben." (Jud. 20. 21.)

325

Die Herrlichkeit des Herrn anschauend."(2. Kor. 3, 18.)

Als Moses zum zweiten Male auf den Berg Sinar

stieg und dort die Herrlichkeit Jehovas sah und Seinen

gnadenreichen Namen hörte: „Jehova, Jehova, Gott, barmherzig

und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte

und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der

Ungerechtigkeit, Uebertretung und Sünde vergiebt rc." —

da leuchtete sein Angesicht. Und als er dann vom Berge

herabkam, mit den Gesetzestafeln in seinen Händen und

dem Widerschein der Gnade Gottes auf seinem Angesicht,

fürchtete sich das Volk, ihm zu nahen. Moses legte

hierauf eine Decke über sein Angesicht, die er entfernte,

so oft er mit Gott redete, aber wieder auflegte, wenn er

zu dem Volke sprach.

Im Gegensatz zu dieser Furcht im Herzen und dieser

Decke auf dem Angesicht, ist es das Teil des Gläubigen,

ohne Furcht und mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit

des Herrn anzuschauen. Israel konnte die Bedeutung

jenes wunderbaren Glanzes auf dem Antlitz Moses nicht

verstehen, weil die Gesetzestafeln in seinen Händen waren.

Jene Entfaltung der Gnade brachte nur Furcht hervor;

denn es ist unmöglich, von einem Gesetzgeber Gnade, oder

durch „den Dienst der Verdammnis" Leben zu empfangen.

Es giebt allerdings viele Christen, die Gesetz und Gnade

mit einander vermengen; aber sie sind niemals frei und

glücklich vor Gott. Sie versuchen, das Gesetz zu halten

und bessere Menschen zu werden, sie mühen sich ab, das

Gute zu thun und das Böse zu lassen; aber anstatt durch

ihre Anstrengungen dem Ziele näher zu kommen und

326

heiliger zu werden, müssen sie die Wahrheit des Wortes

erfahren: „In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt

nichts Gutes". Anstatt Gnade zu finden in Gott und

Herrlichkeit in Christo Jesu, entdecken sie in sich selbst

eine Natur, die zu allem Guten unfähig und nicht imstande

ist, zu gehorchen. Betrübende Entdeckung! Aber

wie könnte es anders sein? Ihr Blick ist auf ihre eigne

Person gerichtet, und da muß das Ergebnis ein niederdrückendes

sein. Ohne Zweifel ist die Lektion eine höchst

nützliche, aber man macht keine Fortschritte dabei.

Was ist es, das uns wachsen läßt, nicht nur in

unsrer Erkenntnis, sondern auch in der praktischen Verwirklichung

und Darstellung dessen, was wir bekennen?

Die Beschäftigung mit Christo, dem verherrlichten

Menschen zur Rechten Gottes! Sein Sitzen dort

verkündigt uns die Gerechtigkeit Gottes. Er würde nicht

als verherrlichter Mensch dort sein können, wenn Er nicht

ein gekreuzigter Mensch hienieden gewesen wäre. Er ist verherrlicht,

weil Er das Werk vollbracht hat, das der Vater

Ihm zu thun gegeben hatte; und wir blicken zum Himmel

empor und sehen Ihn — Gott sei Dank! — nicht mit

den Gesetzestafeln in Seinen Händen und den Worten

auf Seinen Lippen: „Thue dieses, und du wirst leben";

sondern wir sehen Ihn mit Händen, die einst um unsrer

Sünden willen durchbohrt wurden, und von Seinem Angesicht

leuchtet uns die Herrlichkeit Gottes entgegen und

verkündet laut, daß alles, was nötig war, geschehen ist,

daß unsre Sünden auf immerdar hinweggethan und Gottes

Heiligkeit und Gerechtigkeit vollkommen befriedigt sind.

Um wachsen und in der praktischen Heiligkeit Fortschritte

machen zu können, müssen wir zunächst „geschmeckt

327

haben, daß der Herr gütig ist" (1. Petr. 2, 3); wir

müssen uns frei und glücklich fühlen in der Gegenwart

Gottes, und „wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit".

Er hat uns belehrt, daß alle unsre Sünden,

gesühnt, daß wir selbst mit Christo gestorben sind und-

jetzt mit Ihm auf dem Boden der neuen Schöpfung,

stehen, so daß wir im Glauben mit aufgedecktem Angesicht

Seine Herrlichkeit anschauen können. Alles ist Liebe„

Gnade und Herrlichkeit. Nicht ein Wölkchen verdeckt uns-

das Angesicht Christi, nicht der geringste Zweifel ist in

unsern Herzen zurückgeblieben. Das Erlösungswerk ist:

vollbracht; Er wurde für uns gerichtet, und Er lebt jetzt

für uns in der Herrlichkeit. Ein Glaubensblick auf Ihn/

wie Er dort ist — und alle Zweifel bezüglich unsrer Annahme

verschwinden wie die Schatten der Nacht vor der

ausgehenden Sonne; denn Er, der einst für uns gerichtet

wurde, ist der Maßstab unsrer Annahme: „wir sind begnadigt

(od. annehmlich gemacht) in dem Geliebten".

In diesem Aufschauen zu Ihm liegt zugleich eine

göttliche Kraft. Denn wir lesen: „Wir alle aber, mit

aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend,

werden verwandelt nach demselben Bilde."

Indem wir Christum im Himmel betrachten, werden wir

himmlisch. Allerdings ist all unser Sehen und Erkennen

Stückwerk; allein durch den Glauben sehen wir Ihn, und-

die unmittelbare Folge unsers Anschauens ist Trennung

von dem Bösen und Wachstum in der Heiligkeit. Wir

werden verwandelt, unmittelbar und in demselben Maße,

wie wir unser Auge unverrückt auf Ihn gerichtet halten.

Sieh hier, mein lieber Leser, das Geheimnis alleA

wahren Fortschritts im christlichen Leben, alles wirklichen

328

Wachstums in Erkenntnis und Kraft. Die Sache ist so

einfach, und doch fällt es uns so schwer, sie wirklich zu

erfassen und danach zu handeln. Wie sind wir so geneigt,

gute Vorsätze zu fassen! und doch müssen wir immer

wieder erfahren, daß die besten Vorsätze wert- und kraftlos

sind. Christus wurde für unsre Sünden gekreuzigt,

und ein großer Teil dieser Sünden sind gebrochene Vorsätze

und nicht gehaltene Gelübde. Wie mancher Christ

faßt den aufrichtigen Entschluß, von nun an sich fern zu

halten vom Bösen und in Heiligkeit zu wandeln! Aber

was ist es anders als ein Blicken auf sich selbst, anstatt

auf Christum, ein Vertrauen aus die eigne Kraft und insofern

ein Aufgeben Christi? Ein Gläubiger, der gute

Vorsätze und ernste Entschlüsse faßt, wird nicht verändert,

wohl aber der, welcher nicht mit sich, sondern mit Christo

in der Herrlichkeit beschäftigt ist. Auch liegt die verändernde

Kraft nicht in uns selbst. Nein, „wir werden verwandelt

... als durch den Herrn, den Geist". Ferner ist

die Verwandlung eine fortschreitende: „von Herrlichkeit zu

Herrlichkeit". Hier giebt es keinen Stillstand; entweder

schreiten wir vorwärts oder wir gehen zurück. Auch giebt

es nicht eher ein Aufhören, bis das Vollkommene gekommen

ist, und wir Ihn schauen, wie Er ist.

Das ist Wachstum. In der Natur kann das Auge

kaum das allmähliche Reifen der Frucht verfolgen, und

doch wird die Frucht nach und nach durch die Strahlen

der Sonne verwandelt; sie wächst und zieht Süßigkeit

und Wohlgeruch aus der belebenden Quelle des Lichts.

Gerade so ist es in geistlicher Beziehung. Ergießt sich das

Licht eines verherrlichten Christus in die Seele, so ruft

es Heiligkeit, Wachstum und liebliche Früchte hervor.

329

Ein Lehrling wird nicht dadurch zum Meister, daß er

in eigner Kraft und Geschicklichkeit sucht, ein Stück Arbeit

zu machen. Er mag es noch so gut und treu meinen;

aber anstatt die Arbeit zu vollenden, verdirbt er Werkzeug

und Material. Nein, er muß auf die Hand des Meisters

blicken, muß sehen, wie dieser das Werkzeug anfaßt und

benutzt; und indem er das mit allem Fleiße thut, lernt

er und wird, ohne es selbst zu wissen, nach und nach in

dasselbe Bild verwandelt.

So ist es mit dem Christen. Indem er mit anhaltendem

Fleiß die Herrlichkeit Seines Meisters anschaut,

wird er moralisch in dasselbe Bild verwandelt „von Herrlichkeit

zu Herrlichkeit"; er geht „von Kraft zu Kraft".

Cs bedarf dazu keiner Anstrengung seinerseits; „anschauen"

kann ein kleines Kind. Doch das Traurige ist, daß wir

so wenig anschauen! Wir verhindern unser Wachstum

so vielfach dadurch, daß wir unsern Blick auf die Erde

richten, auf die Dinge hienieden, auf uns selbst, auf

andere rc. ec. Kein Wunder, daß dann das Wachstum

unmöglich ist. Wo nicht Christus „alles" ist, giebt es

wenig Frucht, wenig Fortschritte.

Wir können uns nicht selbst heiligen; aber wir können

den Geist des Herrn hindern, Sein Werk in uns zu thun.

Mit unsern eignen Erfahrungen, mit unserm Glauben

oder mit irgend etwas von oder in uns selbst beschäftigt

zu sein, ist gerade so verhängnisvoll für unser Wachstum

wie das Blicken auf die Dinge hienieden. Wir haben

dann einen andern Gegenstand als Christum. Ebenso

verkehrt und nutzlos ist es, sich mit unsrer Heiligkeit oder

unsrer Schwachheit zu beschäftigen, wie so viele Christen

es thun. Christus, wie Er ist in der Herrlichkeit droben,

330

das ist der einzige Gegenstand des Glaubens. O möchten

wir doch lernen, Ihn mehr im Glauben anzuschauen,

damit wir durch Ihn verwandelt werden in Sein Bild

von Herrlichkeit zu Herrlichkeit!

Das vollkommene Opfer.

Unter den Sündvpsern, welche Gott einst im Alten

Bunde anordnete, um von verschiedenen Gesichtspunkten aus

die Vollkommenheit des Opfers Christi darzustellen, nimmt

dasjenige, welches am großen Versöhnungstage dargebracht

werden mußte, wohl den ersten Platz ein. Es war das

jährliche Opfer für Israel und deckte gleichsam die Sünden

des Volkes für zwölf Monate zu. Auf Grund desselben

konnte Gott inmitten Seines Volkes wohnen, und der

Israelit Gott nahen.

Das Blut der gewöhnlichen Sündopfer wurde nur

ins „Heilige" gebracht, in den vorderen Raum der „Wohnung"

Gottes, in welchem der goldne Räucheraltar, der

goldne Leuchter und der Schaubrottisch standen; am großen

Versöhnungstage aber wurde das Blut des Opfertieres

ins „Allerheiligste" getragen, in jenen heiligen inneren

Raum, in welchem Gott über den beiden Cherubim thronte,

und den niemand betreten durfte als nur der Hohepriester

einmal im Jahre.

Dieses Vorbild ist von der tiefsten Bedeutung für

uns; denn an dem Tage, da Jesus starb und das Vorbild

seine Erfüllung fand, „zerriß der Vorhang des

Tempels in zwei Stücke, von oben bis unten"; und er

ist bis heute zerrissen geblieben, und alle wahren Gläubigen

werden ermahnt, Gott zu nahen an jenem Orte,

331

Welcher geistlicherweise das Allerheiligste heißt; ja, wir

Werden ermuntert, mit aller Freimütigkeit und zu aller Zeit

da einzutreten, wo der Hohepriester nur einmal im Jahre

erscheinen durfte. (Vergl. 3. Mose 16 mit Hebr. 9 u. 10.)

Dieser freie Zugang ist das Vorrecht aller Gläubigen,

des ganzen Volkes Gottes, nicht etwa nur eines Teiles

von ihnen oder gar einer besondern, bevorzugten Klasse.

Alle Grenzen und Schranken, die man zieht, sind menschlich.

Gottes Ermahnung an uns lautet: „Laßt unS

hinzutreten!" ja, hinzutreten zu Gott selbst, zu dem Thron

Seiner Gnade, und zwar in der vollen Gewißheit des

Glaubens, daß unser Zugang gegründet ist auf die Wirksamkeit

des Blutes unsers großen Sündopfers, sowie auf

die nie fehlende Gegenwart Jesu in der Herrlichkeit.

Kein noch so dünner Vorhang trennt den Gläubigen von

Gott; nein, mit vollkommner Freimütigkeit, mit heiliger

Kühnheit darf er Gott nahen. Mit dem Worte Gottes

in unsrer Hand dürfen wir behaupten, daß jedes religiöse

System, welches einen Vorhang zwischen Gott und Sein

Volk schiebt, in demselben Maße Goit verunehrt, wie es

Ihn vor den Blicken der Seinigen verbirgt.

An dem großen Versöhnungstage in Israel wurden

Zwei Böcke vor Jehova gestellt, und durchs Los der

eine für Jehova, der andere für das Volk bestimmt.

Erkenne hier, mein Leser, die beiden großen Seiten des Versöhnungswerkes

: seine Wirkung erstreckt sich zunächst gegen

den heiligen Gott und dann gegen den unreinen Sünder

hin. Gottes heiligen und gerechten Forderungen mußte

genügt, und der Sünder mußte versöhnt, seine Schuld gesühnt

werden. Beschäftigen wir uns zunächst ein wenig mit

Lieser letzteren, dem Sünder zugekehrten Seite des Opfers.

332

Auf den Kopf des Bockes, der für das Volk war,

wurden „alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und

alle ihre Uebertretungen nach allen ihren Sünden" bekannt

und vermittelst der Handauflegung des Hohenpriesters

auf ihn übertragen. Dann wurde er durch einen bereitstehenden

Mann in die Wüste geführt, „daß der Bock auf

sich trage alle ihre Ungerechtigkeiten in ein ödes Land".

(V. 20 — 22.) Mit den Sünden auf sich wanderte der

Bock in die Wüste, um nie wieder von dem Volke gesehen

zu werden. Welch ein ausdrucksvolles Bild! die Sünden

für immer hinweggethan, der ewigen Vergessenheit anheimgegeben!

Gerade so ist es mit den Sünden des Sünders:

sie sind auf Jesum gelegt und durch Ihn in das Meer

der Vergessenheit versenkt worden. „Ihrer Sünden un!>

ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken."

(Hebr. 10,17.) Möchten wir in dieser vollkommnen Gnade

Gottes gegen uns frohlocken!

Mit dem Bocke, auf den das Los für Jehova gefallen

war, wurde in ganz andrer Weise verfahren. Er

hieß „der Bock des Sündopfers" und wurde geschlachtet.

Sein Blut wurde innerhalb des Vorhangs, in das Allerheiligste,

gebracht und dort auf und vor den Deckel der

Bundeslade gesprengt. Wir erinnern uns, daß zwischen,

den Cherubim hervor, die den Sühnungs-Deckel überschatteten,

die Stimme Jehovas ertönte; von dort aus

redete Er mit Mose, dem Mittler zwischen Ihm und dem

Volke. So wurde also das Sühnungsblut auf den Thron

Jehovas selbst gebracht und siebenmal (d. h. in göttlicher

Vollkommenheit) vor ihn gesprengt. Die Sünden forderten

das Blut; aber nachdem letzteres ins Allerheiligste gebracht

war, redeten nicht mehr die Sünden, sondern das Blut

333

von dem Throne der Gerechtigkeit her. Gottes Heiligkeit

forderte den Tod des Sünders; nun aber, da der Tod

Jesu für den Sünder eingetreten ist, ruft Sein kostbares

Blut von dem Throne in der Höhe her dem Sünder „Frieden"

zu. Für den, der den Tod verdient hatte, ist von

Gott selbst Frieden gemacht worden. Die Gnade herrscht

jetzt durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum

Christum, unsern Herrn. (Röm. 5, 21.) „Güte und-

Wahrheit sind sich begegnet, Gerechtigkeit und Frieden

haben sich geküßt." (Ps. 85,10.) Aus den Wunden des

einst gekreuzigten, aber jetzt verherrlichten Jesus verkündigen

beide, Gerechtigkeit und Gnade, die frohe Botschaft,

daß alle, die an Ihn glauben, Frieden haben durch Sein

kostbares Blut.

Der Herr ist eingegangen in „die wahrhaftige Hütte"

droben. Er ist durch die Himmel gegangen, und der Blick'

des Glaubens dringt jetzt hinauf, geradewegs bis zu Gottz

hin. Ja, mein lieber gläubiger Leser, es giebt nichts

Trennendes mehr zwischen dir und Gott, oder besser zwischen

Gott und dir. Die Frage der Sünde ist durch das Blutz

Jesu für ewig geordnet, und Er sitzt jetzt zur Rechten

Gottes als dein Heiland und Erretter. Gott blickt iw

vollkommner Liebe und Gerechtigkeit aus Seiner Herrlichkeit

auf uns herab, und wir erblicken durch den Vorhang,

das ist das Fleisch Jesu, Gottes Liebe und GotteS-

Gerechtigkeit und erkennen zu unsrer Freude, daß Gott

auf unsrer Seite ist, daß Er die Sache des Menschen in

Seine Hand genommen und dem größten Sünder den Zugang

zu sich geöffnet hat.

Beachten wir, wie Gott den Gnadenstuhl zum Segen

des Sünders aufgerichtet hat. Im Briefe an die Römer wird-

334

unmittelbar nach dem Beweise der Schuld des Menschen

Gottes Gerechtigkeit zu Gunsten des Gläubigen verkündigt.

Und zwar von wo aus? Von dem Gnadenstuhl. (Kap. 3.)

Gott stellt Christum vor unsre Blicke, den zu Seiner Rechten

erhöhten, verherrlichten Menschen, und zwar als Gnadenstuhl

durch den Glauben an Sein Blut. Jesus, unser vollkomm-

nes Sündopfer, das Lamm Gottes, geschlachtet für uns,

ist dort; Sein Blut ist in Seinem ganzen unermeßlichen

Werte allezeit vor den Augen Gottes, und darum erweist

Gott jetzt Seine Gerechtigkeit darin, daß Er den

rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist. (Röm. 3, 26.)

Unser großer Stellvertreter ist in den Himmel selbst eingegangen,

um dort vor dem Angesicht Gottes für uns zu

erscheinen und sich als unser Hoherpriester allezeit für

uns zu verwenden. Wir wiederholen deshalb: von feiten

Gottes existiert kein Vorhang mehr, der Ihn irgendwie

vor den Blicken des Gläubigen verbergen könnte.

Und doch giebt es einen Vorhang! Aber wie heißt

er? Unglaube. Und woraus ist er gemacht? Aus zwei

Dingen: zunächst aus verkehrten Vorstellungen über Gott

und dann aus Selbstvertrauen. Diese beiden Dinge werden

mit einander verwoben und bilden zuweilen eine so dichte

Decke, daß kein menschliches Auge hindurchzudringen vermag.

Hängt dieser Vorhang auch vor deinen Blicken,

mein lieber Leser? O dann zerreiße ihn unverzüglich!

Glaube einfältig und rückhaltlos dem Worte Gottes.

Lausche nicht länger auf menschliche Gedanken und Mein-

ungen, noch auf die verkehrten, thörichten Eingebungen

deines eignen Herzens. Tritt auf die Seite Gottes in

dieser ernsten, wichtigen Frage. Erkenne dein völliges

Verderben von Natur, deinen hilflosen, schuldigen Zustand,

335

und erfreue dich in einfältigem Glauben in Christo, deur

von Gott für dich aufgerichteten Gnadenstuhl in dem

Himmeln droben.

Noch ein Wort möchte ich hinzufügen. Die Opfem

im Alten Bunde mußten immer wiederholt werden, weib

sie nur Schatten und Vorbilder waren; „der Körper

aber ist Christi". Sein Opfer ist vollkommen. Es kann

nicht wiederholt werden. Es ist ein für allemal

vollbracht und von ewigem Werte. Die alten Opfer

konnten niemals Sünden hinwegnehmen; denn wenn sie

es vermocht hätten, „würden sie dann nicht aufgehört

haben dargebracht zu werden" ? (Hebr. 10, 2.) Ihre

fortwährende Wiederholung kennzeichnete ihren Charakter.

Auch gab es in der Stiftshütte keinen Sitz irgendwelcher

Art für die Priester; ihr Werk war ein ununterbrochen

fortdauerndes, sie durften und konnten niemals

ruhen. Wie wahr ist das auch heute in praktischer Hinsicht

von allen denen, die nicht ihre Herzen da ruhem

lassen, „wo Gott mit Wonne ruhet", in dem vollendeten

Werke und in der Person unsers Herrn und Heilandes

Jesu Christi! Solche kennen keinen Frieden, keine Ruhe

für Herz und Gewissen, kein bleibendes Glück. Sie

wirken und arbeiten Tag und Nacht, aber ihr Gewissen

bleibt beschwert, ihr Herz unglücklich. Ihr Zustand ist

höchst beklagenswert. Ach, wenn sie doch ihren Blick von

sich selbst abwenden und auf Christum richten, wenn sie

lauschen wollten auf das Zeugnis Gottes über Seinen

Sohn! „Neiget euer Ohr und kommet zu mir; höret,

und eure Seele wstd leben!" (Jes. 55, 3.)

Der jüdische Priesterdienst mit seinen Opfern wurde

von Gott nur so lange anerkannt, bis Christus sich selbst

336

Gott geopfert hatte. Das Geschäft der Priester, die täglich

dastanden, „den Dienst verrichtend und oft dieselben

Schlachtopfer darbringend" (Hebr. 10, 11), hörte auf, sobald

Gott den Vorhang des Tempels zerriß und so vor

allen, die Augen hatten zu sehen, den Gnadenstuhl in

der Herrlichkeit droben enthüllte.

Darum zweifle nicht länger, mein lieber christlicher

Leser. Blicke hinauf gen Himmel. Dort lebt Christus

für dich; dort „hat Er sich auf immerdar gesetzt

zur Rechten GotteS, nachdem Er ein Schlachtopfer für

Sünden dargebracht hat". Dort ist Er eingegangen mit

Seinem kostbaren Blute, und im Glauben an dieses Blut

darfst auch du dort eintreten, darfst Gott nahen im Lichte

des Heiligtums. „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit

haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut

Jesu, den neuen und lebendigen Weg, welchen Er uns

eingeweiht hat durch den Vorhang, sdas ist Sein Fleisch,

und einen großen Priester über das Haus Gottes, so

laßt uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in voller

Gewißheit des Glaubens!" (Hebr. 10, 19—22.)

Du führtest uns ins Heiligtum,

Nicht sind wir mehr geschieden;

Wir singen Deines Namens Ruhm

Und beten an in Frieden.

O Liebesglut! Du gabst Dein Blut;

Von Sund' sind wir gereinigt

Und sind mit Dir vereinigt.

Einundvierzigster Jahrgang.

R. Brockhaus, Elberfeld. 1893.