Botschafter des Heils in Christo 1895

01/30/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger
Botschafter des Heils in Christo Jahresband 1895
Inhalts-Verzeichnis. Seite
Die beiden letzten Zeugnisse Gottes an das Zehnstämmereich 1
Sehet, ihr Verächter, und verwundert euch und verschwindet!" 20
Gehorchen ist besser als Opfer." (Gedicht) 28
Die Gemeinschaft der Gläubigen 47
Liebst du Christum?. 56
Der Kampf des Christen 70
Die Welt 80
Kommet und sehet!" 83
Ich bin's 94
Gesunde Lehre.. 103
Geistliche Leitung 110
Ruth, oder Segnung und Ruhe 113
Befreiung 131
Der Tag Gottes 137
Der letzte Besuch 139
Henoch wandelte mit Gott 141
Wenn jemanden dürstet, so komme er zu mir und trinke." 153
Suchet, was droben ist 161
Einige Gedanken über den Dienst 166
Ein gutes Heilmittel. 167
David im Terebinthenthal 169
In der Synagoge zu Kapernaum 190
Die Höhle Adullam 197
Die Reinigung des Aussäßigen 215
Auf was harre ich?. 223
Wie, habt ihr keinen Glauben? 225
Die Salbung Davids 231
Der Gichtbrüchige 241
Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst" 249
Nabal und Abigail 253
Bethanien 271
Fasset Mut! (Gedicht) 280
Ziklag 281
Der Name Jesu 309

Die beiden letzten Zeugnisse Gottes an das Zehnstämmereich 1, 29, 57, 85

„Sehet, ihr Verächter, und verwundert euch und verschwindet!"., 20
„Gehorchen ist besser als Opfer." (Gedicht)....................................28
Diel Gemeinschaft der Gläubigen................................. 47
Liebst du Christum?.................................................................................56
Der Kampf des Christen..................................................................... 70
Die Welt......................................................................... 80
„Kommet und sehet!".................................................. 88
Ich bin's......................................................................... 04
Gesunde Lehre................................................................... 403
Geistliche Leitung.............................................................. 110
Ruth, oder Segnung und Ruhe................................. 113
Befreiung................................................................................................131
Der Tag Gottes.............................................................. 137
Der letzte Besuch.............................................................. 139
Henoch wandelte mit Gott............................................. 141
„Wenn jemanden dürstet, so komme er zu mir und trinke." . 153
Suchet, was droben ist ............................................. 161
Einige Gedanken über den Dienst............................ 166
Ein gutes Heilmittel.............................................................................. 167
David im Terebinthenthat...................................................................469
In der Synagoge zu Kapernaum.................................................. 190
Die Höhle Adullam.............................................................................. 197
Die Reinigung des Aussätzigen........................................................215
Auf was harre ich?........................................................ 223
Wie, habt ihr keinen Glauben?....................................................... 225
Die Salbung Davids.........................................................................231
Der Gichtbrüchige..............................................................................241
„Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich, selbst re." 249
Rabat und Abigail.............................................................................. 253
Bethanien................................................................... 271. 299. 320
Fasset Mut! (Gedicht).................................................. 280
Ziklag . ............................................................................................... 281
Der Name Jesu....................................................................................309

Die beiden letzten Zeugnisse Gottes an das Zehnstämmereich.
Gott hat zu aller Zeit „mit vieler Langmut ertragen
die Gefäße des Zorns". Selbst solchen gegenüber, die Seine
wiederholten Einladungen schnöde abwiesen, ist Er, — obgleich
Er sie züchtigen mußte, — doch nicht müde geworden,
immer aufs neue zu warnen, zu ermahnen, zu locken,
ehe Er Seinen Zorn endgültig über sie ausschüttete.
Ein hervorragendes Beispiel dafür ist das Volk Israel,
an welchem Gott einst in Seiner Güte gethan hat, was
irgend Er thun konnte; und doch erwies sich schließlich alles
als vergeblich. Wir lesen darüber in 2. Chron. 36, 15. 16:
„Und Jehova, der Gott ihrer Väter, sandte zu ihnen
durch Seine Boten, sriihe ausstehend und sendend; denn Er
erbarmte sich Seines Volkes und Seiner Wohnung. Aber
sic verspotteten die Boten Gottes und verachteten Seine
Worte und äfften Seine Propheten, bis der Grimm Jehovas
gegen Sein Volk stieg, daß keine Heilung mehr war."
Tiefe Stelle bezieht sich zunächst allerdings aus Juda,
aber das Gesagte ist ebenso wahr von dem Reiche Israel,
dem von Inda getrennten Zehnstämmereich. Elia, Elisa,
Jona, Hosea, Amos sind Namen von Zeugen, die Gott
ihnen im Laufe der Zeit sandte; aber sie hörten nicht auf
sie. „Und Jehova zeugte gegen Israel und gegen Juda


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durch alle Propheten, alle Leher, und sprach: Kehret um
von euern bösen Wegen, und beobachtet meine Gebote,
meine Satzungen, nach dem ganzen Gesetz, das ich euern
Vätern geboten, und das ich euch gesandt habe durch meine
Knechte, die Propheten. Aber sie hörten nicht und
verhärteten ihren Nacken" . . . nnd: „Da erzürnte
Jehova sehr wider Israel nnd that es vor Seinem
Angesicht hinweg." <2. Kön. 17, 13. 14. 18.) So hatte
Gott also auch diesem Reiche gegenüber alle Langmut und
Treue bewiesen und kein Mittel Seiner Gnade unversucht
gelassen: aber Israel hatte nichts nach Ihm gefragt, sondern
Ihn fortgesetzt durch Ungehorsam, Trotz, Götzendienst
nnd heidnischen Frevel gereizt, bis Er sie vor Seinem Angesicht
hinwegthun mußte. Wie bewundernswürdig sind
die Geduld und die Langmut Gottes gegenüber dein elenden
Menschenkinde, das nicht aufhört, Ihn zu reizen nnd
zu versuchen! Wahrlich, unter denen, die einmal „ewiges
Verderben vom Angesicht des Herrn nnd von der Herrlichkeit
Seiner Stärke" erleiden werden, wird kein einziger
sein, der sagen könnte, Gott habe sich ihm gegenüber un-
bezengt gelassen.
Tie letzten Zeugnisse (wenigstens soweit uns das Wort
darüber Bericht giebt), welche Gott an Israel, d. h. an
die Bewohner des Zehnstämmereichs, richtete, finden wir
in 2. Chrom 28, 9—15 und 30, 1—11. Schon der Umstand,
daß derselben in den Büchern der Könige nicht Erwähnung
geschieht, sagt uns, daß sie mit dein Reiche
Juda, wo der mit göttlicher Autorität bekleidete König und
der wahre Ort der Anbetung sich befanden, in Verbindung
stehen müssen. Und so ist es in der That. Das erste
Zengins straft das böse Verhalten der Israeliten gegen
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ihre Brüder, die Juden; das zweite geht von dem König
in Jerusalem ans und fordert zur Teilnahme an dem wahren
Gottesdienst auf. Ehe wir jedoch diese beiden Zeugnisse
näher betrachten, möchte ich noch einige einleitende Bemerkungen
vorausschicken.
In dem Zehnstämmereich haben wir das Bild eines
Systems vor uns, welches auf das Abweichen von der
Wahrheit gegründet ist und sich aus irdische Staatsgewalt
stützt — ein Bild, wie wir eS in der Christenheit seit den
Tagen Konstantins des Großen sehen. Schon unter Salomo
hatte das Verderben in Juda seinen Anfang genommen,
gerade so wie in der Kirche schon zu den Tagen der Apostel;
allein es war noch nicht zu einem fest gegliederten System
geworden, welches, obgleich cs einzelne Teile der Wahrheit
zu seinen Zwecken benutzen mochte, doch die Wahrheit als
solche grundsätzlich ansschloß. Jerobeam aber richtete aus
eigner Machtvollkommenheit einen Gottesdienst ein, den er
sich selbst erdacht hatte; und in Jsebcl erreichte das Verderben
seinen Höhepunkt. In ihr triumphierten heidnischer
Götzendienst und grausame Bersolgungswut, zu deren Werkzeug
die Macht des Königs dienen mußte.
Fragen wir nun nach dem Gegenbilde, so erinnert uns Jerobeam,
wie gesagt, an die Tage Konstantins, an den Zustand
der Kirche, der durch das Sendschreiben an Pergamns gerichtet
wird, i „ich weiß, Ivo du wohnst, wo der Thron des Satans
ist";; während uns in der mit Ahab verbundenen oder vielmehr
über ihn herrschenden heidnischen Königstochter Jsebel
die Kirche Roms vor Angen gestellt wird, die ans dem
Boden der heidnischen Kaiscrstadt erwuchs und sich rücksichtslos
und grausam die weltliche Macht nntcrwars, nm durch
sie ihre Zwecke zu erreichen, d. h. Götzendienst einznsühren
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und die Knechte Gottes blutig zu verfolgen. Bon ihr redet
das Sendschreiben an Thyatira. Hier hat die Kirche den
Charakter ihrer Fremdlingschaft hienieden vollständig verloren
und benutzt und beherrscht den Staat. Das Weib
sitzt ans dem Tiere. Jsebel wurde durch Zehn beseitigt,
samt ihrer ganzen Nachkommenschaft („ihre Kinder werde
ich mit Tod töten" Offbg. 2, 23), doch wurde das Böse
nicht völlig hinweggethan: man kehrte nicht nach Jerusalem,
als Ort der Anbetung, zurück; das „System", die Sünden
Jerobeams, des Sohnes Nebats, blieben. Aehnliches geschah
zu den Zeiten der Reformation. Ist auch das Endgericht
der abtrünnigen Kirche erst in Verbindung niit dem
Kommen des Herrn zu erwarten, so wurde sie doch damals
schon verurteilt und die Trennung von ihr vollzogen; aber
man kehrte nicht zu dem zurück, was von Anfang war.
Es entstand vielmehr der Zustand, der in dem Sendschreiben
an Sardes mit den Worten getadelt wird: „Ich kenne deine
Werke, das; du den Namen hast, daß du lebest, und bist tot."
In dem neben dem Zehnstämmereich bestehenden Reiche
Juda nahm das Verderben gleichfalls seinen Fortgang;
allein zwischen ihm und dem Reiche Israel giebt es doch einen
großen Unterschied. In Juda bildete Jerusalem mit dem
dort befindlichen Heiligtum stets den Mittelpunkt, und der
von Gott gegebene König, der Sohn Davids, wurde als
Herrscher anerkannt. Dieser Umstand ist von Wichtigkeit,
wenn wir das Reich vorbildlich betrachten wollen; denn
praktisch haben auch in Juda während der Periode
des gleichzeitigen Bestehens beider Reiche König und Volk
Viel gefehlt.
Wir sehen also in Juda ein Volk, das den wahren
Ort der Anbetung kenni und dem Sohne Davids unter
o
worfen ist. Und im Einklang damit können wir sagen,
daß Gott zu aller Zeit, selbst dann als das Verderben in
der Christenheit in den schrecklichsten Formen auftrat, Seelen
hatte, die Ihn im Geist und in der Wahrheit anbeteten,
und die Christo unterworfen waren. Wie schwach und gering
auch alles sein mochte, so war doch immer ein Ueber-
rest vorhanden, der Gott diente und über welchen Sein
Auge wachte. Und dieser Ueberrest stand dem herrschenden
Verderben, dem menschlichen System, mehr oder weniger
fern, Wie Juda von Israel getrennt war. Mochte es auch
zu Zeiten scheinen, als ob es mit dem Zeugnis für Gott
völlig aus fei, (wie auch in Juda solche Zeiten waren,
was von dem jedesmaligen König abhing,) so war doch der
göttliche Grundsatz der Wahrheit noch nicht völlig aufgegeben.
Dieses zu allen Zeiten bestehen gebliebene schwache
Zeugnis für Gott zeigt uns einerseits die unermüdliche
Gnade und nie endende Treue Gottes. Andrerseits aber
muß die Betrachtung eben dieses Zeugnisses, das wohl zu
den meisten Zeiten einem „geknickten Rohre" nnd einem
„glimmenden Dochte" glich, uns mit tiefer Beschämung
erfüllen. Ach, wie wenig hat der Mensch die sorgsame, geduldige
Mühe Gottes gelohnt! Wie wenig Seelen waren
es zu aller Zeit und sind es heute, die der Wahrheit den
ihr gebührenden Platz in ihren Herzen geben nnd wirklich
die Verherrlichung Gottes zu ihrer Lebensaufgabe gemacht
haben! lind wie vieles findet sich oft noch an und unter
diesen Wenigen, was zur Unehre des Herrn gereicht! Beim
Blick auf alles dieses bleibt uns nur ein Trost, und das
ist der Herr selbst, Seine unwandelbare Liebe, Seine
ewige Güte und Treue. Er vermag die Seinigen durch
alle Gefahren, denen sie in dieser Welt ausgesetzt siud,
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hindurchzuführen, ja, sie von diesem Schauplatz der Sünde hinwegzunehmen
und dahin zu versetzen, wo Ihm ewiges Lob
von ihnen allen zu teil werden wird; und Er vermag
dies nicht nur, sondern Er wird es auch sicher thun.
Gott in Seiner Treue legt so lange Zeugnis gegen
das Böse ab, als noch Hoffnung vorhanden ist, daß Seelen
das Böse aufgeben und die Wahrheit annehmen. Sein
Ziel ist: daß der Sünder die Sünde als solche erkenne
und verurteile, und daß er Ihn, Gott, erkenne und in
Beziehung zu Ihm trete. Der Sünder vermag sich nicht
von seiner Sünde zu befreien, noch weniger sich zu Gott
zu erheben. Gott aber kann in Seiner Macht und Gnade,
unter völliger Wahrung der Rechte Seiner Gerechtigkeit
und Heiligkeit, an den Sünder herantreten und ihm die
mangelnde Einsicht und Kraft zur Umkehr darreichen. Das
Bestehen der Sünde ist somit für Gott zu einer Gelegenheit
geworden, die ganze Fülle Seiner Macht und Gnade
zu offenbaren. So hat Er denn auch dem Zehnstämmereich
gegenüber, das freventlicher Weise die Beziehungen
zwischen sich und Ihm abgebrochen hatte, immer wieder
versucht, es aufs neue zu sich in Beziehung zu bringen.
Daher die gewaltigen, ernsten und doch auch so gnadenreichen
Zeugnisse des Elia und Elisa.
Auch der Christenheit gegenüber hat Gott es nicht
an mächtigen und liebevollen Mahnungen zur Umkehr und
zur Hinwendung zu Ihm fehlen lassen. Wir finden dieselben
schon in den Sendschreiben. Dem „Weibe Jesabel"
gab Er Zeit, auf daß sie Buße thäte; an die Versammlungen
in Pergamus und Sardes läßt Er schreiben:
„Thue Buße!" —und auch noch an Laodicäa, in welcher
wir die letzte Form, welche das Verderben in der Christen
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heit annimmt, dargestellt finden, ergehen die ernsten und
doch so freundlichen Worte: „Ich überführe und züchtige,
so viele ich liebe; sei nun eifrig nnd thue Buße!"
Ein Vergleich dieser letzten Einladung an die Christenheit,
Buße zu thun, mit den letzten Zeugnisfen Gottes an
das Zehnstämmereich ist höchst belehrend. Sind doch diese
Zeugnisse von nicht geringem Werte für uns in der gegenwärtigen
Zeit! Und ich meine, wenn wir sie betrachten,
so entdecken wir in ihnen die Offenbarung einer besonderen
Zärtlichkeit von feiten Gottes. Die gesteigerte Bosheit
des Menschen dient nur dazu, Seine Liebe, Sein Erbarmen
in um so hellerem Lichte zu zeigen. So war
es auch zur Zeit, als Jesus hienieden wandelte. Das
Jerusalem, welches Ihn verwarf, wollte Er versammeln,
wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel:
nnd noch am Kreuze hören wir Ihn für Seine Feinde beten:
„Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!"
Es ist das Verlorene, was Er sucht und nm dessent-
willen Er die Neunnndneunzig in der Wüste läßt. Wie
weit der Mensch auch von Ihm abgeirrt sein mag, Seine
Liebe und Sein Erbarmen sind unerschöpflich in der Erfindung
neuer Mittel und Wege, um das Herz des Menschen
zu erreichen und zu sich zu ziehen.
Wenden wir uns denn jetzt zu dem ersten jener beiden
wiederholt genannten Zeugnisse. In 2. Chrvn. 28
lesen wir, daß die Kinder Israel gegen Juda Krieg
führten, viele derselben erschlugen und dann von ihren
Brüdern zweihunderttausend Weiber, Söhne und Töchter
gefangen nach Samaria wegführten. „Und daselbst war
ein Prophet Jehovas, sein Name war Oded; und er ging
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hinaus, dem Heere entgegen, das nach Samaria kam, und
sprach zu ihnen: „Siehe, weil Jehova, der Gott eurer
Väter, gegen Juda zürnte, hat Er sie in eure Hand gegeben;
und ihr habt sie mit einer Wut gemordet, die bis
an den Himmel reicht. Und ihr gedenket nun, die Kinder-
Judas und Jerusalems euch zu Knechten und Mägden zu
unterwerfen. Sind aber nicht bei euch selbst Verschuldungen
gegen Jehova, euren Gott? Und nun höret aus
mich und bringet die Gefangenen zurück, die ihr von euren
Brüdern weggeführt habt; denn die Zornglut Jehovas
ist über euch." Zugleich „standen Männer auf von den
Häuptern der Kinder Ephraim . . . wider die vom Heereszuge
Kommenden und sprachen zu ihnen: Ihr sollt nicht
die Gefangenen hierherbringcn; denn um eine Schuld
gegen Jehova über uns zu bringen, gedenket ihr solches,
um unsre Verschuldungen zu mehren; denn wir Haben
schon eine große Schuld, und eine Zornglut ist über
Israel." Die Folge dieses entschiedenen Auftretens war,
daß die Gerüsteten die Gefangenen und die Beute Herausgaben
; und die eben genannten Männer kleideten, speisten
und verpflegten sie und brachten sie dann nach Jericho zn
ihren Brüdern zurück.
Welch ein Bild voll tieftrauriger und doch auch wieder
erfreuender Züge! Wie ist es möglich, mögen wir
wohl fragen, daß Brüder gegen Brüder in solcher Wut
handeln können? Ach, daß es möglich ist, davon haben
wir Beispiele genug in der Christenheit gesehen und sehen
sie täglich. Welch ein Parteihader überall! Welch ein
bitterer Geist des Urteilens und Richtens! Wie werden die
Schwächen und Fehler des Anderen ausgebeutet und bloßgestellt!
Und wie sehr wird der Name des Herrn da
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durch verunehrt und Sein Herz betrübt! Von welch ergreifender
Schönheit ist demgegenüber die Art und Weise,
wie der Geist Gottes die an den Brüdern verübte Unbill
straft! Er wirkte in jenem Propheten und jenen Männern
aus Ephraim die geziemenden Gefühle, daß sie nicht nur
ihren Brüdern ihr trauriges Verhalten gebührend Vorhalten
und ihre eigenen Verschuldungen bekennen, sondern auch
Liebe statt Haß beweisen konnten. Sie verstanden, daß
Israel und Juda, selbst in den Zeiten des traurigsten
Verfalls, vor Gott stets eins blieben, und daß Er von
ihnen erwartete, sich gegenseitig als Brüder anzuerkennen
und zu behandeln.
So war und ist auch die Kirche, als der Leib Christi,
stets eins in den Gedanken Gottes. Er sieht sie in
Christo und mit Ihm verbunden. Trotz aller Verwirrung
und Zertrennung hier auf Erden bleibt ihre himmlische
Stellung in Christo unveränderlich, da sie auf dem Werte
Seines vollbrachten Opfers und Seiner kostbaren Person
beruht. Gott sieht die Seinigen in Ihm bereits im
Himmel. So sah Er die Dinge schon vor Grundlegung
der Welt, — es war dies der unabänderliche Ratschluß
Seiner Liebe zu Seinem Sohne und zu uns, — und so
sieht Er uns jetzt an, nachdem das Werk, welches die
Grundlage hierzu bilden sollte, vollbracht ist, und Der,
welcher es vollbracht hat, zu Seiner Rechten sitzt. Und dies
ist noch nicht alles. Die Einheit besteht nicht nur in den
Gedanken Gottes, auch ist sie nicht nur in dem verherrlichten
Christus dargestellt; nein, sie ist auch thatsächlich
hier auf Erden vollzogen, und zwar durch die Sendung
des Heiligen Geistes am Pfingsttage, die erst erfolgen konnte,
nachdem Christus Seinen Platz in der Herrlichkeit einge
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nommen hatte. „In einem Geiste sind wir alle zn
einem Leibe getauft worden." Die Erkenntnis dieser
kostbaren Wahrheit ist allerdings infolge der Untreue des
Menschen mehr und mehr geschwunden, und äußerlich ist
die Einheit durch Errichtung menschlicher Systeme völlig
verdunkelt worden. Nichtsdestoweniger gab es zu aller
Zeit von Gott erleuchtete Seelen, die ein mehr oder weniger
klares Bewußtsein davon hatten, daß die wahre Kirche
eins sei. Es fehlte ihnen aber an der wahren Erkenntnis
dessen, was die Kirche nach den Gedanken Gottes ist, welchen
Platz sie vor Ihm hat; es mangelte ihnen ferner das
volle Verständnis über den Wert des Werkes Christi und
die Wirkung, welche Sein Sitzen zur Rechten Gottes für
die Seinigen hat; sie verstanden endlich nicht die Persönliche
Gegenwart des Heiligen Geistes auf Erden und deren
Wirkungen für die Gläubigen. Dieses Verständnis nun
hat Gott in unsern Tagen wieder aufleben lassen, wofür
wir Ihm nicht genug danken können. Er hat uns wieder
gezeigt, welches Seine Gedanken über die Kirche schon vor
Grundlegung der Welt waren; Er hat uns die Stellung
erkennen lassen, die sie jetzt kraft des Werkes Christi in
und mit Ihm hat, nnd endlich, daß der Geist Gottes
thatsächlich hienieden wohnt, daß die Einheit also thatsächlich
nach wie vor besteht, und es sich nur nm unsre
Anerkennung und Verwirklichung dieser kostbaren Wahrheit
handelt.
So finden wir denn sehr bemerkenswerte Berührungspunkte
zwischen dem Zeugnis Gottes durch den Propheten
Oded und die Männer von Ephraim und dem Zeugnis,
welches Gott uns in unsern Tagen gesandt hat. Es ist
bezeichnend, daß gerade die Versammlung, welche das Siegel
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der Anerkennung des Herrn trägt, und der die Verheißung
gegeben ist, daß Er sie bewahren wolle vor der Stunde
der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen
wird, den Namen „Philadelphia" d. h. „Bruderliebe"
trägt. Das Erste, was der Geist Gottes heute in einem
Gläubigen im Blick auf die Kirche Christi erweckt, ist tiefe
Trauer iiber den zerrissenen, zersplitterten Zustand derselben,
über den Neid, die Eifersucht, den Hader rc., denen
man überall unter den Bekennern Christi begegnet. Und
muß nicht ein jeder von uns sagen: „Ich habe mit Schuld
daran" ? Wie leicht findet sich bei uns Verurteilung, ja
ungerechte Verurteilung von Brüdern! Wie ist das Herz
zum Richten geneigt! Juda hatte sich in jenen Tagen
schwer verschuldet; aber Israel nicht weniger. Welches
von beiden hatte also ein Recht, den andern Teil zu verurteilen?
— Und ist es nicht heute ebenso? Wer könnte
heute auftreten nnd sagen: „Ich bin rein von der großen,
allgemeinen Schuld" ? — Die Zornglut Gottes droht hereinzubrechen
über die gesamte Christenheit, und wir bilden
einen Teil derselben, haben deshalb auch teil an ihrer
Schuld. Sollten wir uns nun nicht alle ernstlich fragen:
Fühlen wir auch wirklich diese Schuld? Erfüllt tiefer
Schmerz unsre Herzen? Haben wir uns in dieser Hinsicht
vor dem Herrn gedemütigt? Die Verschuldung ist
allgemein. Keiner hat Ursache, sich über den andern zu
erheben; jeder sollte sich vielmehr vor dem Herrn beugen
und anerkennen, daß Gott alle Ursache hat, zu zürnen und
zu strafen.
Es ist sehr beachtenswert, daß sowohl der Prophet
Oded als auch die Männer ans Ephraim ihre Brüder
darauf hinwiefen, daß sie alle eine große Schuld hatten,
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und daß eine Zornglut über Israel wäre. Dieses rückhaltlose
Bekenntnis war offenbar von dem Geiste Gottes bewirkt.
Sie suchten nichts zu beschönigen noch sich zu rechtfertigen.
Der Prophet verkündet das unmittelbare Zeugnis
des Geistes, und in den Worten der Männer erkennen wir
den Widerhall und die Wirkung desselben in den Herzen
der Führer des Volkes. Die Sünden und Verschuldungen,
an denen die Gesamtheit wie jeder Einzelne teil hatte, werden
völlig anerkannt. Der Zorn Jehovas war entbrannt,
und es ist keine Rede davon, daß er abgewandt werden
könne. Er ist bereit hereinzubrechen. Die Treusten unter
dem Volke müssen dies zugeben und sich darunter beugen.
Das ist immer die Wirkung des Geistes Gottes: bei dem
allgemeinen Verfall leitet Er das Herz der Treuen dahin,
die Schuld, die alle haben, anzuerkennen, ja sie als ihre
eigene Schuld zu bekennen; Er befähigt sie, sich unter das
Wort des Herrn, durch welches Er Sein Gericht ankündigen
läßt, zu beugen, und Ihn in der Ausführung dieses
Gerichts zu rechtfertigen.
Ohne Zweifel sollte die Stellung des treuen Gläubigen
in unsern Tagen mit der Stellung übereinstimmen, welche
jene ^Männer aus Ephraim einnahmen. Der Herr sagt
zu Laodicäa: „Ich werde dich ausspeien aus meinem
Munde". Es ist eine Ankündigung ohne Bedingung, bestimmt
und fest. Es handelt sich um ein Ereignis, das
sicher und gewiß eintreten wird. Nur der Unglaube und
die eitle Anmaßung des Menschen können des angekündigten
Gerichts nicht achten und sich des Fortbestehens eines
äußeren Rahmens freuen, der zwar mit dem Namen Gottes
geschmückt, aber ohne Kraft und innern Gehalt ist, und
darum vor Gott keinerlei Wert hat. Gleichfalls zeugt es
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von Anmaßung und Nichtachtung des göttlichen Wortes,
wenn man, anstatt zu trauern und sich zu demütigen, durch
vermehrte Geschäftigkeit nach selbstgemachten Plänen den
bestehenden Riß heilen will. Für die wahre Treue giebt
es im Blick auf den Verfall um uns her nur einen
Weg: den der Trauer, der Demütigung und des Schuldbekenntnisses.
Der wahrhaft treue Gläubige fühlt bei dem
Gedanken an den traurigen, zerrissenen Zustand der Kirche
Christi hienieden zweierlei: erstens leidet er als ein Glied
am Leibe, nach dem Wort: „Wenn ein Glied leidet, so
leiden alle Glieder mit". Er fühlt sich als Glied am
Leibe Christi; er erkennt alle, die errettet und aus Gott
geboren sind, als seine Brüder an; er sehnt sich nach
ihnen „mit dem Herzen Christi Jesu" (Phil. 1, 8), nnd
doch sieht er sich von ihnen getrennt, verkannt, zurückgestoßen.
Er sieht die Zerrissenheit und Trennung in dem
Lichte, in welchem der Herr sie sieht; er fühlt sie, wenn
auch nur in geringem Maße, wie Er sie fühlt. Sie
ist um so schmerzlicher für ihn, weil es die Geliebten
Gottes sind, von denen er sich getrennt sieht. Er weiß
sich eins mit ihnen, die Einheit ist göttlich fest; und doch
ist die Trennung da und wird hienieden nicht schwinden.
Israel und Juda wurden nicht wieder vereinigt. Erst in
den herrlichen Tagen des tausendjährigen Reiches werden
sie wieder geeint dastehen, um nie wieder von einander
getrennt zu werden. Die wohlgemeinten, aber menschlichen
Bündniswege eines Josaphat führten zu ganz verkehrten
Dingen. Ebenso ist es jetzt. Die menschlichen Systeme
sind da und werden bestehen bleiben, bis sie unter dem
Gericht Gottes zusammenbrechen werden. Gläubige, wahre
Gläubige, geliebte Kinder Gottes, stehen in diesen Systemen,
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und sind durch sie von einander getrennt. Das „Vcr-
sammeltwerden" (2. Thess. 2, 1) aller Gläubigen wird
„zu Ihm" hin stattfinden, in den Wolken, um Ihm, den:
Bräutigam, in der Luft zu begegnen. Dann erst wieder
werden „alle, welche glauben, zusammen" (Apstgsch. 2,44)
und „ein Herz und eine Seele" sein (Apstgsch. 4, 32).
Vorher haben wir nach der Schrift dies nicht zu erwarten.
Wer wirklich erkannt hat, was der Mensch ist, kann sich
auch darüber nicht mehr wundern. Nichtsdestoweniger ist
und bleibt dieser betrübende Zustand für die wahre Treue
tief schmerzlich. Es handelt sich für sie nicht nur um eine
Erkenntnissache. Wahre Treue äußert sich in Liebe, in
Bruderliebe. „Die Bruderliebe bleibe." (Hebr. 13, 1.)
Und diese Liebe verlangt danach, nicht in Worten allein,
sondern in That und Wahrheit Ausdruck zu finden. Sie hat
die Gefühle Christi für die Seinigen, und eben darum empfindet
sie den traurigen Zustand derselben aufs schmerzlichste.
Indessen hat der Schmerz, den der treue Gläubige
fühlt, wenn er den verfallenen Zustand der Kirche betrachtet,
noch einen anderen Grund. Er blickt auf alle
diejenigen, die, wenn auch nur äußerlich, den Namen
Christi bekennen, und fühlt, welche Unehre diesem kostbaren
Namen durch jene Bekenner angethan wird. Nichtsdestoweniger
sieht er sich selbst unter ihnen stehen, muß
sich mit zu ihnen zählen und muß die Schuld als eigene
Schuld vor Gott bringen. Er erkennt das Gericht Gottes
über den allgemeinen Zustand als gerecht an und geht somit
auch in dieser Beziehung in die Gedanken Gottes ein.
Denn das ist das Tröstliche, daß wir in allen diesen Dingen
uns in Seiner Gemeinschaft befinden können und daher
„mit Ihm" leiden dürfen. Mögen wir im Blick aus
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die wahren Glieder des Leibes Christi, oder auf den
Zustand der bloßen Bekenner, oder auf den der Welt im
Allgemeinen, die im Argen liegt, trauern, — bei all solchem
Schmerz wissen wir, daß ein Herz ihn mit uns empfindet,
daß dasselbe Herz, welches die Trauer in uns geweckt hat,
sie auch mit uns teilt. O möchten wir mehr davon
empfinden! Es wird in demselben Maße der Fall sein,
wie wir wirklich in Seiner Gemeinschaft wandeln.
Wir haben also gefunden, daß in jenen Tagen zwei
Dinge dem Volke Israel vorgestellt wurden: erstens werden
die Kinder Juda als Brüder anerkannt, und das
Verhallen Israels gegen sie wird bestraft; und zweitens
wird offen bekannt, daß eine Zornglut über Israel sei.
Wir haben ferner gesehen, daß beides seine Anwendung
findet auf die gegenwärtige Zeit; und der Herr gebe
Gnade, daß auch beides thatsächlich bei uns vorhanden
sei, denn beides will der Geist Gottes bei uns erwecken:
sowohl die Erkenntnis von der Einheit des Leibes Christi,
auf Grund deren die wahre Bruderliebe, die Liebe zu
allen Heiligen, wirksam ist, als auch ein Verständnis
über den gänzlichen Verfall des bekennenden Körpers der
Christenheit nnd über das Strafgericht, das ihm droht.
Erst wenn beides vorhanden ist, sind wir fähig, die Gedanken
Gottes zu den unsrigen zu machen. Fehlt ersteres,
so entsteht die Meinung, Gottes Werk sei zertrümmert
und müsse wiederholt werden. Fehlt letzteres, so entstehen
Hoffnungen, die noch etwas hienieden erwarten, was einzig
droben zu suchen ist. Gott sei gepriesen! Sein Werk
ist nicht zertrümmert und kann nicht zertrümmert werden;
des Menschen Werk aber gleicht einem großen Trümmer
16
Haufen, der völlig in Staub verwandelt werden und vor
dem Hauch des Mundes des Herrn verschwinden wird.
Wir fügen noch hinzu, daß bereits unter der Regierung
des Königs Pekach von Israel, desselben, der im
Bunde mit Rezin von Syrien in Juda einfiel und dort
so große Verheerungen anrichtete, das Strafgericht Jehovas
an Israel sich zu erfüllen begann. Naphtali und Gilead,
der Norden und der Osten des Landes, fielen damals in
die Hände des Königs von Assyrien. (Vergl. 2. Kön.
15, 29.) Diese Verluste waren eine unmittelbare Folge
der Kämpfe zwischen Juda und Israel. Denn der König
von Assyrien, Tiglath-Pileser, war auf den Hilferuf des
Königs Ahas von Juda herbeigekommeu. Welch ein Bild!
Das Volk Gottes im Kampfe unter sich, und dazu die
einzelnen Parteien im Bunde mit Unbeschnittenen, mit der
Welt! Israel ist mit Syrien verbündet gegen Juda, und
Juda sucht sich Halt in Assyrien! Und was ist die Folge?
Nichts als Schmach und Verwüstung. Juda verliert Elath
au Syrien (2. Kön. 16, 6) und wird schließlich selbst von
Assyrien bedrängt (2. Chron. 28, 20. 21), und über Ephraim
wird das Urteil ausgesprochen, daß es in fünfundsechzig
Jahren zerschmettert werden nnd kein Volk mehr sein solle
(Jes. 7, 8); und dieses Urteil beginnt sich bereits zu erfüllen.
Ja, welch ein trauriges, tiefbeschämendes Bild!
Aber ist es nicht immer so? Wo Neid, Streit, Mißgunst
und Parteihader unter Christen triumphieren, da wird
schließlich die Welt zu Hilfe gerufen, da werden nnheilige
Bündnisse geschlossen, um die Arme der sich gegenseitig
Zerfleischenden zu stärken. Schon in Korinth, wo jene
fleischlichen Dinge sich in so bedenklicher Weise zu entwickeln
begannen, sehen wir, wie Bruder mit Bruder vor
17
Ungläubigen rechtete. (1. Kor. 6, 6.) Und wie oft haben
sich seitdem solche und ähnliche traurige Schauspiele wiederholt
! Ach, welch eine Schmach für den Herrn! Welch ein
Triumph für die Welt und ihren Fürsten! Kann es uns
wundern, wenn der Herr endlich das, was Ihn so ver-
unehrt, gänzlich hinwegthun wird? Nein, wahrlich nicht;
Seine Wege sind gerecht.
Je trauriger aber die allgemeinen Zustände sind und
je näher das Endgericht kommt, desto erquickender ist es,
zu sehen, wie sich der Herr doch noch an die Einzelnen
wendet, um ihr Gewissen zu erreichen. Zu den ruchlosen
Königen Israels, von denen jeder der Mörder seines Vorgängers
war, redet Er nicht. Das ganze gottlose System
samt seinen Leitern ist dem Gericht verfallen; dagegen sehen
wir die Gnade in Einzelnen, wie z. B. in jenen Männern
aus Ephraim, wirksam. Sie bekennen die Schuld der
Gesamtheit und erweisen ihren Brüdern Liebe. Beachten
wir wohl, daß Gott sich mit keinem System verbindet oder
einläßt; Er erkennt keines an. Er beschäftigt sich mit den
Einzelnen. Wir sehen dies in Israel noch weit mehr als
in Juda, und zwar schon seit den Tagen des Elia und
Elisa. Was der Herr zur Zeit des Elia in Israel anerkannte,
war ein Ueberrest von siebentausend Mann. Die
Gnade vermag sich stets ein ihr entsprechendes Zeugnis
inmitten des allgemeinen Verfalls zu bewahren, mag dasselbe
auch noch so schwach und unbedeutend erscheinen, mag
es selbst wie zu Elias Zeiten vor den Augen der Menschen
ganz verschwunden sein. Der abgöttischen Grausamkeit einer
Jsebel setzte der Herr einen Elia und jene Siebentausend
entgegen; dem Brudermord in den Tagen Pekachs das
Zeugnis eines Oded und der Männer aus Ephraim; und
18
der eitlen Ueberhebung, die da sprach: „Die Ziegelsteine
sind eingesallen, aber mit behauenen Steinen bauen wir
auf" (Jes. !>, 10), das demütige Bekenntnis: „Wir haben
eine große Schuld, und eine Zornglut ist über Israel".
„Du hast eine kleine Kraft", sagt der Herr zu Philadelphia,
während Laodicäa spricht: „Ich bin reich und
bin reich geworden und bedarf nichts." So schwach, so
gering das Zeugnis ist, es ist vom Herrn hervorgerufen und
wird von Ihm anerkannt; es entspricht Seinen Gedanken
nnd dient Seinen Zwecken. Gideon muß wiederholt hören:
„Des Volkes ist zu viel, das bei dir ist", und schließlich
waren es nur dreihundert Mann, die er gegen die übermächtigen
Feinde führen mußte, damit es offenbar würde,
daß allein die Macht Jehovas es ist, die den Sieg verleiht.
Niemand denke, daß die Absicht Gottes jetzt dahin
gehe, die in der Christenheit bestehenden Systeme und
Parteien zu vereinigen. Er erkennt sie nicht an, sie
haben keinen Platz vor Ihm. Ein System ist kein
Zeugnis für Gott und kann es nicht sein, ebensowenig
irgend eine Vereinigung, eine Allianz von Systemen.
Gott kann des Menschen eigenes Werk nicht anerkennen.
Insoweit die Wahrheit in den Systemen der Menschen
benutzt wird, kann dieselbe die ihr innewohnende Kraft
äußern; doch niemals kann Gott die Zwecke der Menschen
zu den Seinigen machen. Er geht mit den Menschen
nur so weit, wie sie mit Ihm gehen. Daher beschäftigt
Er sich nicht mit der Masse, (als nur insofern, daß Er ihr
das Gericht ankttndigen läßt,) sondern mit den Einzelnen,
die Ihm treu sind. In Sardes sind es „einige wenige
Namen, die ihre Kleider nicht besudelt haben", und zn
Laodicäa sagt Er: „Wenn jemand meine Stimme
19
hört." Mag es auch nur eine Seele sein — ihr gilt
Sein Ruf. Aehnlich war in Pergamus Sein treuer Zeuge
ein „Antipas", dessen (vielleicht bildlicher) Name besagt,
daß er „gegen alle" stand. Noah stand ebenfalls zu seiner
Zeit allein für Gott da in einer Welt voll Frevel und
Gewaltthat, und Abraham ward allein aus dein allgemeinen
Götzendienst herausgerufen. Wenn dem aber so ist,
wenn der Ruf des Herrn dem Einzelnen gilt, wenn Er
auf die Treue des Einzelnen sieht, welch eine Verantwortung
ruht dann auf einem jeden von uns!
Nachdem Petrus in seinem zweiten Briefe aus die
„verderblichen Sekten" und „falschen Lehrer", sowie aus
die „Spötter" hingewiesen hat, die kommen werden, schreibt
er: „Ihr nun, Geliebte, da ihr es vorher wisset, so hütet
euch, daß ihr nicht, durch den Irrtum der Ruchlosen mit
fortgerissen, ans eurer eignen Festigkeit fallet". Wenn auch
viele jenen nachfolgen (2. Petri 2, 2), so werden doch die
Treuen ermahnt, festznstehen. Sie sollten „der von den
heiligen Propheten zuvor gesprochenen Worte und des Gebotes
des Herrn und Heilandes durch die Apostel" gedenken.
(Kap. 3, 2.) Das ist es, wofür jeder verantwortlich ist.
Das Wort ist und bleibt der untrügliche Wegweiser zu
allen Zeiten, und jeder Gläubige ist verpflichtet, ihm zu
folgen. „Ich habe keine größere Freude", schreibt der
hochbetagte Apostel Johannes, „als dieses, daß ich höre,
daß meine Kinder in der Wahrheit wandeln."
l3. Joh. 4.) Wie das Volk Israel dem Klang der silbernen
Trompeten unbedingt gehorchen mußte (4. Mose 10), so ist
cs unsre heilige Pflicht, dem Worte zu gehorchen. Ein
jeder ist verantwortlich, ohne Rücksicht auf das Verhalten,
auf den Gehorsam oder Nicht-Gehorsam des anderen, Gott
20
zu folgen. Es ist sehr ermunternd und tröstlich, wenn
wir auf dem Wege der Wahrheit und der Treue Vorbilder
haben, solche, deren Glauben wir nachahmen können.
Aber davon dürfen wir nie unsre eigne Treue abhängig
machen. Das Wort des Herrn genügt. Sollten sich solche,
auf die wir als Führer oder Vorbilder der Herde
(1. Petri 5, 3) zu blicken gewohnt waren, gegen eines
der Gebote Gottes gleichgültig beweisen, so giebt uns das
nicht das mindeste Recht, es ebenso zu machen. O möchten
doch alle die teuer Erkauften des Herrn sich ihrer Verantwortlichkeit
dem Worte Gottes gegenüber voll und ganz
bewußt werden! Ein wie viel reineres, kräftigeres und
für das Auge und Herz Gottes lieblicheres Zeugnis würden
dann ihr Leben und Wandel hienieden darstellen.
(Fortsetzung folgt.)
„Sehet, ihr Verächter, und verwundert
euch und verschwindet!"
Die Menschen wollen Gott nicht glauben. Sie verachten
Seine Güte, weisen Seine Gnade von sich und spotten
über Seine Aussprüche betreffs der Zukunft. Gleich dem
Pharao vor alters fragen sie: „Wer ist Jehova, auf dessen
Stimme ich hören soll?" (2. Mose 5, 2.) Oder wenn sie
Gott überhaupt anerkennen, so betrachten sie Ihn als einen
harten Herrn, der erntet, wo Er nicht gesät hat, und mehr
von uns fordert, als wir leisten können. Sie fürchten
deshalb die Zukunft, zittern vor dem Tode und dem darauf
folgenden Gericht und haben keine Ruhe für ihre Seelen.
Seitdem die Sünde in die Welt gekommen ist, war
21
es stets die Weise des Menschen, Gott zu verachten. Schon
in den frühesten Tagen vergaßen die Menschen Gott so
völlig, daß sie sich mit eignen Händen Götzen machten und
sie anbeteten. Späterhin verachteten sie das Gesetz Moses
und das Zeugnis der Propheten; und als der Herr Jesus
auf diese Erde kam, verachteten sie auch Ihn. Nie wurde
jemand so geschmäht wie der Sohn Gottes. Auch das
Evangelium war so verachtet, daß ein Apostel einmal ausrief:
„Sehet, ihr Verächter, und verwundert euch und
verschwindet!" (Apstgsch. 13, 41.) Und im Blick auf die
Aussprüche der Schrift bezüglich des Kommens des Herrn
Jesu vom Himmel lesen wir: „In den letzten Tagen
werden Spötter mit Spötterei kommen, die nach
ihren eignen Lüsten wandeln und sagen: „Wo ist die Verheißung
Seiner Ankunft? denn seitdem die Väter entschlafen
find, bleibt alles so von Anfang der Schöpfung an."
(2. Petr. 3, 3. 4.) Der Unglaube verwirft eben Gottes
Wort, was irgend es auch sagen mag; aber der Glaube
nimmt es an und ruht auf ihm, weil es das Wort Dessen
ist, der nicht lügen kann.
Mit der Lehre von der Ankunft Christi, die von
jenen Spöttern verworfen wird, aber für das Herz des
Gläubigen so überaus kostbar ist, steht in inniger Verbindung
die Verwandlung und Entrückung derer, die des
Christus sind bei Seiner Ankunft. Beide Wahrheiten sind
so klar wie möglich in der Schrift geoffenbart. Die Verwandlung
wird in einem Nu, in einem Augenblick geschehen.
Sie wird mit einem Male sterbliche Leiber in
unsterbliche umwandeln; das Verwesliche wird Unverweslichkeit
anziehen. Und nicht nur das; nachdem „die Toten
in Christo", die in Jesu Entschlafenen, unverweslich auf
22
erweckt und die noch lebenden Gläubigen verwandelt sind,
werden alle zusammen entrückt werden, dem Herrn entgegen in
die Luft, und also werden sie für immer bei dem Herrn sein.
Wunderbares Ereignis! Der Leser möge mit Aufmerksamkeit
1. Thess. 4, 18 u. 17 erwägen. Die Sprache
des Apostels ist einfach und bestimmt. In einer Seele,
die sich der Autorität des Wortes Gottes unterwirft, kann
kein Zweifel über die Bedeutung der Stelle bestehen. In
der ganzen Schilderung findet sich keine Spur von Gericht.
Kein Ungläubiger ist da. Die Personen, um welche es
sich handelt, sind Christus und Seine Heiligen.
Er kommt vom Himmel herab, und sie werden ausgenommen,
um Ihm in der Luft zu begegnen. Es ist noch
nicht Seine Offenbarung vom Himmel her in flammendem
Feuer, oder Sein Stehen auf dem Oelberge; beides wird
sicherlich geschehen, wenn Er mit den Seinigen ans dem
Himmel zurückkehrt; aber dann wird keine Entrückung stattfinden.
Dann wird jedes Auge Ihn kommen sehen, um die Welt
zu richten in Gerechtigkeit. Dann wird Er zuerst die
Lebendigen richten, und nach dem tausendjährigen Reich
die Toten vor dem großen weißen Thron. Bei Seiner
ersten Wiederkunft aber erscheint Christus nur den Seini-
geu, und sie werden Ihm entgegengerückt werden, um für
allezeit bei Ihm zu sein. Das ist unsre gesegnete Hoffnung
— eine Hoffnung, die auf alle, welche sie kennen
und in ihrem Herzen bewahren, eine heiligende und reinigende
Wirkung ausüüt. Gott sagt uns das in Seinem
Worte, und Sein Wort ist untrüglich. Er hat uns diese
Hoffnung auch zu unserm Trost gegeben, und der Geist
erhält sie lebendig in unsern Herzen. „Der Geist und
die Braut sagen: Komm!"
23
Diese Entrückung der Gläubigen bei der Ankunft
unsers Herrn bestreitet der Unglaube mit allen ihm zu
Gebote stehenden Waffen. Da muß selbst das Gesetz der
Schwere herhalten, um zu beweisen, daß eine Entrückung
so vieler Millionen von Menschen in einem Augenblick
einfach unmöglich sei. Doch der Herr sagt einmal zu den
Saddncäern, den Vernunftgläubigen jener Tage: „Ihr
irret, indem ihr die Schriften nicht kennet,
noch die Kraft Gottes." Der Unglaube vergißt,
daß Gott allmächtig ist; er kennt die Kraft Gottes nicht
und will sie nicht kennen. Er will nicht glauben, daß
Christus selbst als der auferstandene Mensch gen Himmel
gefahren ist; daß Seine Jünger Ihn höher und höher
steigen sahen, bis eine Wolke Ihn vor ihren Blicken hinwegnahm.
Er will es auch nicht annehmen, daß Stephanus
Ihn später stehen sah zur Rechten Gottes, und daß Saulus
durch den Anblick des verherrlichten Jesus zu Boden gestreckt
wurde und drei Tage lang blind war.
Andere huldigen nicht gerade diesem nackten Unglauben,
lassen aber ihre Vernunft reden, anstatt dem einfachen
Worte Gottes zu glauben. Sie sagen: Es ist nicht wahrscheinlich,
daß Christus wiederkommen und Sein Volk von
der Erde entrücken werde. Denn da ist keinerlei Zeichen
für ein so gewaltiges Ereignis, nichts, was ans eine solch
tiefgreifende Umwälzung hindeutete. Es bleibt alles so,
wie es von Anfang an gewesen ist; ja nicht nur das, es
wird besser: die Civilisation nimmt zu, Bildung und
Wissen werden immer mehr das Gemeingut aller, Handel
und Industrie machen ungeheure Fortschritte, und selbst
das Evangelium Wird in jeden Winkel der Erde gebracht.
Sie sehen nichts, was auf jenes ernste Ereignis hin
24
wiese, und darum wollen sie es auch nicht glauben.
Sie wissen nicht, daß kein Zeichen gegeben werden wird,
daß keine besondere Veränderung in den Umständen und
Verhältnissen zu erwarten steht, daß vielmehr die Welt
in altgewohnter Weise ihren Geschäften und Vergnügungen
nachgehen wird, bis der Herr kommt. So irren also
auch sie, indem sie aus dem Sichtbaren ihre Schlüsse ziehen,
anstatt sich dem Worte Gottes zu unterwerfen; und dieser
verderbliche Irrtum wird fortdauern bis ans Ende. Denn
„wenn sie sagen: Friede und Sicherheit! dann kommt ein
plötzliches Verderben über sie, und sie werden nicht entfliehen."
Wie schrecklich ist das Los des Verächters!
Denn Gottes Wort wird sich erfüllen; nicht ein Jota,
nicht ein Strichlein wird unerfüllt bleiben. Und wer
kann Seiner Hand widerstehen, oder zu Ihm sagen: Was
thust Du? „Der Ratschluß Jehovas besteht ewiglich, die
Gedanken Seines Herzens von Geschlecht zu Geschlecht."
(Ps. 33, 1l.)
Und, möchten wir fragen, ist nicht auch Henoch entrückt
worden? Was will der Mensch dazu sagen? Henoch
war ein Mensch von gleichen Gemütsbewegungen wie wir;
aber er glaubte Gott, und er wandelte mit
Gott. Er fürchtete und ehrte Gott, und er hat das
Zeugnis gehabt, daß er Ihm Wohlgefallen habe. Er wußte
auch, daß die Menschen ungläubig und gottlos waren und
so bleiben würden; und so hat er geweissagt, daß der
Herr kommen und die Gottlosen richten würde. (Judas B. 14.
15.) Als die Zeit gekommen war, hat Gott ihn zu sich genommen
in den Himmel, ohne daß er den Tod gesehen hätte.
Doch was dachten die Menschen darüber? Sie wollten nicht
glauben, daß er entrückt worden sein könne, und gingen
25
hierhin und dorthin, um ihn zu suchen; aber natürlich vergebens.
Wir lesen: „Er wurde nicht gefunden."
— „Durch Glauben war Henoch entrückt, damit er den
Tod nicht sehen sollte, und er wurde nicht gefunden, weil
Gott ihn entrückt hatte; denn vor der Entrückung hat er
das Zeugnis gehabt, daß er Gott Wohlgefallen habe."
(Hebr. 11, 5.) Wir ersehen daraus, daß die Spötter und
Verächter in Henochs Zeiten nicht glauben wollten, daß
„Gott ihn entrückt hatte". Aber nachdem Gott lange mit
ihnen Geduld gehabt und sie viele Jahre in großer Langmut
getragen hatte, kam Sein Gericht über sie. „Die
Flut kam und brachte sie alle um."
Elia wurde ebenfalls entrückt. Was sagen die weisen
Philosophen lies neunzehnten Jahrhunderts dazu? Elia
wußte, daß er weggenommen werden würde. Fünfzig Prophetensöhne
sahen ihn trocknen Fußes den Jordan durchschreiten,
und mit ihm Elisa; und gleich darauf lesen wir: „Und
es geschah, während sie gingen nnd im Gehen redeten, siehe
da, ein Wagen von Feuer und Rosse von Feuer, welche
sie beide trennten; und Elia fuhr auf im Sturmwinde
gen Himmel." (2. Kön. 2, 11.) Elisa sah ihn hinauffahren.
Aber die Menschen jener Tage wollten auch nicht glauben,
daß er entrückt worden sei. Fünfzig rüstige Männer zogen
drei Tage lang durch das ganze Land, um ihn zu
suchen. Sie meinten, vielleicht „habe der Geist Jehovas
ihn weggetragen und ihn auf einen der Berge oder in
eines der Thäler geworfen." (V. 16.) Der Gedanke war
ihnen unfaßlich, daß Gott ihn wirklich entrückt haben könne.
Sie konnten und wollten es nicht glauben; „und sie suchten
drei Tage lang, aber sie sanden ihn nicht".
Und dies war noch nicht alles. Als Elisa, der Mann
26
Gottes, nach Bethel kam, begegnete er demselben Geiste der
Verachtung. In Bethel (gleich Haus Gottes) hätte man
diesen Geist am allerwenigsten erwarten sollen. Aber
er war vorhanden, und zwar schon in den kleinen Kindern
des Ortes. Und giebt es nicht auch heute viele Bekenner
des Christentums, welche über die kostbaren Wahrheiten des
Wortes Gottes spotten und sie selbst vor ihren Kindern
lächerlich zu machen suchen? Es ist nicht schwer, ein Kind
zum Spotten zu verleiten, aber Wehe einem jeden, der es
thut! Wir lesen in unserm Kapitel: „Und als er auf
dem Wege hinausging, da kamen kleine Knaben aus der
Stadt heraus, und verspotteten ihn und sprachen zu ihm:
Komm herauf, Kahlkopf! komm herauf, Kahlkopf!" Doch
was war das Ende dieses Spottens? Hier wie dort ein
schreckliches Gericht. „Und er wandte sich um und sah sie
an, und fluchte ihnen im Namen Jehovas. Da kamen zwei
Bären aus dem Walde und zerrissen von ihnen zwei nnd
vierzig Kinder." (V. 24.)
Geliebter Leser! wir stehen am Ende der Tage, und
der Apostel Petrus sagt uns, wie bereits bemerkt, „daß in
den letzten Tagen Spötter mit Spötterei kommen werden",
die in Eigenwillen und Verachtung alles Göttlichen dahingehen
und spöttisch fragen: „Wo ist die Verheißung Seiner
Ankunft?" Sie spotten über die Hoffnung des Christen,
entrückt, ausgenommen zu werden, um seinem Herrn in der
Luft zu begegnen. Mögen solche sich warnen lassen, ehe
es zu spät ist! Jetzt noch werden Buße und Vergebung
der Sünden gepredigt in des Heilands Namen; jetzt
noch nimmt Er den größten Sünder an, vergiebt ihm und
segnet ihn ewiglich. Wer zu Ihm kommt, wird nicht hinausgeworfen.
Aber nicht lange mehr, und die Thür der
27
Gnade wird verschlossen werden! O und dann draußen
zn stehen, sür ewig ausgeschlossen zu sein von den
Segnungen des Himmels, sür ewig getrennt von Jesu und
Seiner erlösten, Unterkünften Schar! und auf immerdar
ei »geschlossen in dem See, der mit Feuer und
Schwefel brennt, der da bereitet ist für den Teufel und
seine"Engel! Welch ein Ende mit Schrecken!
Wie steht es mit dir, mein lieber Leser? Bist du
geborgen in Christo? Kannst du Ihn erwarten aus den
Himmeln, um auch deinen sterblichen, sündigen Leib umzugestalten
zu der Gleichförmigkeit Seines Leibes der Herrlichkeit?
Ach, dann Wohl dir! Horche dann nicht ans
die spöttischen Bemerkungen deiner Umgebung, noch auf
die zweifelnden Fragen deines Verstandes! Nein, glaube
nur! Glaube fest, daß Der, der die Verheißung gegeben
hat, sie auch erfüllen wird zu Seiner Zeit. Wirf deine
Zuversicht nicht weg! Sie hat eine große Belohnung.
„Denn noch über ein gar Kleines, und der Kommende
wird kommen und nicht verziehen/' (Hebr. 10, 37.) Hörst
du? Noch über ein gar Kleines!
Solltest du aber noch nicht errettet sein, o dann zögere,
zweifle, vernünftle nicht länger, sondern komm! Komm
h eute noch zu Jesu und glaube an Ihn! Verachte nicht
die Einladung! Traue nicht auf die Trugschlüsse deiner
Vernunft! „Denn der Grimm, möge er dich ja nicht
verlocken zur Verhöhnung, und die Größe des
Lösegeldes verleite dich nicht!" (Hiob 36, 18.) Hüte dich,
daß nicht über dich komme, was in den Propheten gesagt
ist: „Sehet, ihr Verächter, und verwundert euch und
verschwindet!"
28
„Gehorchen ist besser als Opfer."
(1. Sam. 15, 22.)
O leite mich, Herr Jesu,
Stets, was Du willst, zu thun;
Sei's thätig sein und wirken,
Sei's stille sein und ruhn.
Ich weih, es ist nicht wichtig,
Worin mein Werk besteht;
Wenn's nur nach Deinem Willen
Und Wohlgefallen geht.
Lehr' mich das „Bessre" wählen,
Gehorchen mir gebührt;
Lehr' mich Dir willig folgen,
Wohin der Weg auch führt!
O Herr, welch heil'ge Würde,
Welch hohe Seligkeit,
Dir leben und Dir dienen,
Dem Herrn der Herrlichkeit!
Der Treue hier im Kleinen
Versprichst Du reichen Lohn;
Noch eine kleine Weile,
Dann kommst Du, Gottes Sohn!
O Wonne, dann zu hören,
Wenn wir Dein Antlitz sehn:
„Das Kleine, das du thatest,
„Es ist für mich geschehn!"
„Siehe, ich komme bald, und mein Lohn mit mir,
mm einem jeden zu vergelten, wie sein Werk sein wird."
-(Ofsbg. 22, 12.)
„Ein jeder aber wird seinen eignen Lohn empfangen
mach seiner eignen Arbeit." (1. Kor. 3, 8.)
Die beiden letzten Zeugnisse Gottes an
das Zehnstämmereich.
(Fortsetzung.)
Wir komme» jetzt zu dem zweiten Zeugnis, welches
Gott an das abgefallene, verhärtete Volk Israel richten
ließ. Seit dem ersten war eine Reihe von Jahren vergangen;
aber das Volk hatte dieselben nicht zur Umkehr
benutzt. Ein großer Teil seines Gebietes samt dessen
Bewohnern war bereits in die Hände der Assyrer gefallen.
Die Ausführung des Gerichts Jehovas hatte begonnen.
Aber ach! Israel war weit davon entfernt, sich zu demütigen.
(Bergt, die Propheten Jesaja und Micha.) Samaria wird
vielmehr die stolze Krone der Trunkenen Ephraims genannt,
über welche der Starke, Mächtige — der Assyrer
— wie ein Hagelwetter kommen sollte. (Jes. 28.)
Auch dieses zweite und letzte göttliche Zeugnis galt
nicht dem Könige von Israel, Hosea, der ebenfalls (gleich
den früheren Königen) seinem Vorgänger das Leben geraubt
hatte, sondern wurde an das ganze Volk gerichtet;
jeder Einzelne wurde gewissermaßen unter Verantwortlichkeit
gestellt. Wir lesen in 2. Chron. 30, 1—3: „Und Jehis-
kia sandte hin zu ganz Israel und Juda, und schrieb auch
Briefe an Ephraim und Manasse, daß sie kämen zum Hause
Jehovas in Jerusalem, um Passah zu feiern Jehova, dem
Gott Israels. Und der König und seine Obersten und
30
die ganze Versammlung in Jerusalem wurden Rats, das
Passah im zweiten Monat zu feiern, . . . weil die Priester
sich nicht in hinreichender Anzahl geheiligt, und das Volk
sich noch nicht nach Jerusalem versammelt hatte." Und
weiter: „Und sie setzten fest, einen Ruf ergehen zu lassen
durch ganz Israel, von Beerseba bis Dan, daß sie kämen,
Passah zu feiern Jehova, dem Gott Israels, in Jerusalem:
denn sie hatten es lange Zeit nicht gefeiert wie es vorgeschrieben
ist. Und die Läufer gingen hin mit den Briefen
von der Hand des Königs und seiner Obersten, durch ganz
Israel und Juda, und nach dem Gebote des Königs und
sprachen: Kinder Israel! kehret um zu Jehova, dem Gott
Abrahams, Isaaks und Israels; so wird Er umkehren zu
den Entronnenen, die euch übriggeblieben sind aus der
Hand der Könige von Assyrien. Und seid nicht wie eure
Väter und wie eure Brüder, die treulos gehandelt haben
gegen Jehova, den Gott ihrer Väter, so daß Er sie der
Verwüstung hingegeben hat, wie ihr sehet. Nun verhärtet
nicht euern Nacken, wie eure Väter; gebet Jehova die
Hand und kommet zu Seinem Heiligtum, das Er geheiligt
hat auf ewig, und dienet Jehova, euerm Gott, damit die
Glut Seines Zornes sich von euch wende. Denn wenn
ihr zu Jehova umkehret, so werden eure Brüder und eure
Kinder Barmherzigkeit finden vor denen, die sie gefangen
weggeführt haben, und in dieses Land znrückkehren. Denn
gnädig und barmherzig ist Jehova, euer Gott, nnd Er
wird das Angesicht nicht von euch abwenden, wenn ihr
zu Ihm nmkehret." (Vers 5—9.) Und die Läufer zogen
von Stadt zu Stadt durch das Land Ephraim und Manasse,
und bis nach Sebnlon; aber man verlachte sie und
spottete ihrer. Nur einige Männer von Äser nnd
31
Manasse und von Sebulon demütigten sich und kamen nach
Jerusalem.
Dieses letzte Zeugnis ging also nicht aus der Mitte
des Reiches Israel hervor, sondern kam von außen, aus
Jerusalem, von dem Sohne Davids, der dort herrschte.
Der König Jehiskia ließ seinen Ruf durch das ganze
Land ergehen, ohne irgendwie den König von Israel zu
beachten. Er handelte in voller Machtvollkommenheit über
Juda und Israel, wie auch später der König Josia es
that, nur mit dem Unterschied, daß zu den Zeiten Josias
das Zehnstämmereich nicht mehr als Reich mit einem
eignen König an seiner Spitze bestand. Es war eine
ernste, zu Herzen gehende Einladung, die Jehiskia aussandte.
Er forderte alle Israeliten auf, an der Feier des
Gedächtnisses ihrer Errettung aus Aegypten teilzunehmen,
einer Feier, die nur in Jerusalem, dem wahren Ort der
Anbetung, wo das Heiligtum Jehovas war, stattfinden
konnte, und die das ganze Volk anging; denn alle waren
aus Aegypten ausgeführt worden. Es war nicht ein
freiwilliges Opfer Einzelner; nein, es war das von Gott
verordnete Passahopfer des ganzen Volkes, welches zur
bestimmten Zeit nnd am bestimmten Orte geschehen mußte.
Es war die erste Verordnung Gottes, die dem Volke als
solchem zuteil geworden war, und die zur bestimmten Zeit
in regelmäßiger Wiederholung Beachtung finden sollte, zu
einem ewigen Gedächtnis an die ein für allemal vollbrachte
Errettung aus Aegypten. Gott wollte in Seiner Güte
Sein Volk immer aufs neue daran erinnern, was Er für
sie und an ihnen gethan hatte; und als Sein von Ihm
errettetes Volk versammelten sie sich um Ihn an dem
Orte Seines Heiligtums.
32
Ein Lamm war es, welches geschlachtet wurde; denn
wenn auch die verschiedenen Haushaltungen jede eines für
sich nahmen, so gab es vor den Augen Gottes doch gleichsam
nur e in Lamm fiir das ganze Volk. Gott blickte auf
das Blut des Lammes, und das Volk hatte an dem Lamme
selbst teil, indem es sich von demselben nährte. Was von
der Mahlzeit übrigblieb, wurde verbrannt; es durfte nicht
wie Speise des alltäglichen Lebens behandelt werden. Der
Genuß des Volkes stand mit dem in Verbindung, was vor
Gott gebracht worden war. Es war eine Festfeier ^vor
Gott, eine heilige Mahlzeit.
Der Name Passah bedeutet „Vorübergehen". Gott
hatte bei der Einsetzung der Feier gesagt: „Sehe ich das
Blut, so werde ich an euch vorübergehen". Aegypten, die
stolze Macht des natürlichen Menschen, wurde von dem
schrecklichen Gericht Gottes getroffen; doch Israel wurde
verschont; an ihm, dem erwählten Volke, ging Gott vorüber
und erlaubte dem Verderber nicht, in ihre Häuser zu
kommen. Indessen war es keineswegs das Blut des Passahlammes,
um dessentwillen Gott das Volk verschonte. Er
hatte ein ganz anderes Lamm vor Augen, welches dereinst
geschlachtet werden und dessen Blut fließen sollte. Er ersah
sich selbst ein Lamm (1. Mose 22), Ihn, bei dessen
Anblick Johannes der Täufer ausrief: „Siehe, das Lamm
Gottes!" Ihn, von dem der Eunuch las: „Er wurde wie
ein Schaf zur Schlachtung geführt, und wie ein Lamm
stumm ist vor seinem Scherer, also thut Er Seinen Mund
nicht auf." Die Verschonung des Volkes Israel in Aegypten
war deshalb eine vorausgehende Wirkung des Todes Christi.
Gott hatte damals, wie vor- und nachher, stets das Blut
Seines geliebten Sohnes vor Augen. Das Blut des Passah
33
lammes war nur ein Vorbild von jenem Blute, und durch
das Lamm selbst wurde das Volk auf ein anderes Lamm
hingewiesen, welches ihren Platz vor Gott einnehmen und
ihre Strafe tragen sollte. So stand derselbe Gegenstand
vor den Augen Gottes wie vor ihren Blicken, so daß das
Passah eine Festfeier in Gemeinschast mit Gott wurde.
Indessen hatte die erste Feier in Aegypten einen anderen
Charakter als die folgenden. Damals war die Errettung
von Gericht und Knechtschaft noch nicht vollbracht,
und das Heiligtum Gottes noch nicht in der Mitte Israels
aufgerichtet. Die Errettung stand allerdings unmittelbar
bevor, und die Feier wurde eingesetzt und begangen im
Blick auf das, was geschehen sollte. Bei der ersten Wiederholung
der Feier aber (4. Mose 9) war der Auszug aus
Aegypten geschehen und das Heiligtum aufgerichtet: und
seitdem war sie das, was sie sein sollte: eine Gedächtnisfeier
an die vollbrachte Erlösung, die nur an dem Ort
begangen werden konnte, wo sich das Heiligtum Gottes
befand <5. Mose 16), eine Festseier des ganzen Volkes vor
Gott und in Gemeinschaft mit Gott. Beachten wir auch,
um welche Zeit das Passah gefeiert wurde. Es war das
erste in der Reihe der Feste Jehovas. Es fand am Anfang
des Jahres statt und bildete gleichsam, die Grundlage der
Stellung Israels als Volk vor Gott. Es sollte in der
ganzen Frische geistlicher Kraft gefeiert werden.
Diese Feier nun war, wie viele andere wichtige göttliche
Verordnungen, Jahrhunderte lang seitens des Volkes
nicht beobachtet worden. Der Götzendienst hatte die Oberhand
gewonnen, und der göttlichen Anordnungen wurde
nicht mehr gedacht. Auch bildete die Teilung des Volkes
ein großes Hindernis für eine Passahfeier, wie sie den
34
Gedanken Gottes entsprach. Denn gerade nm das Volk von
dem Hinaufziehen nach Jerusalem abzuhalten, war in Dan
nnd Bethel ein schrecklicher Götzendienst durch den König
Jerobeam eingerichtet worden. (Vergl. 1. Kön. 12, 26—33.)
Was nun im Besonderen die Zeit des Königs Iehiskia betraf,
so hatte sein Vorgänger, der gottlose König Ahas, den
vorgeschriebenen Gottesdienst, wie er in Verbindung mit dem
Hause Jehovas stattfinden sollte, vollständig beseitigt. Die
Geräte des Hauses waren zerschlagen, die Thüren desselben
verschlossen, die Lampen ausgelöscht, nnd selbst der eherne
Altar vor demselben war von seiner Stelle weggerückt, und
ein heidnischer Altar an seinen Platz gesetzt worden. Das
Heiligtum war also entweiht, und die Anbetung, wie sie
das Volk Gott darbringen sollte, hatte gänzlich ausgehört.
Wahrlich, ein tieftrauriger Zustand! Ein Volk Gottes,
aber ohne Anbetung, ohne Verbindung nut dem Heiligtum
Gottes, ohne sich der Vorrechte zu erfreuen, die Er ihm
gegeben, ohne Dem zu dienen, der es errettet hatte, ohne
Gemeinschaft mit dem Gott, der es liebte!
Und in solcher Zeit erweckte Gott einen Iehiskia, von
welchem es heißt: „Nach ihm ist seines Gleichen nicht gewesen
unter allen Königen von Juda, noch unter denen,
die vor ihm waren. Und er hing Jehova an, er wich nicht
von Ihm ab." (2. Kön. 18, 5. 6.) Seine erste That war
die Reinigung nnd Wiederherstellung des Heiligtums. Darauf
folgte ein Opfer, welches für das Heiligtum und für
das ganze Volk, Israel wie Juda, dargebracht wurde.
lS. 2. Chron. 29.) „Für ganz Israel", sprach der König,
„ist das Brandopfer und das Sündopser." <V. 24.) Beide
waren in seinen Augen eins, wie sie es thatsächlich vor Gott
waren. Für beide gab es nur ein Opfer, dasselbe, welches
35
auch für das Heiligtum dargebracht wurde. Beide wurden
also als zu dem Heiligtum gehörend betrachtet. Hierauf
erfolgte jene entschiedene, feierliche Einladung an das ganze
Volk, wieder mit dem Gott Israels in Gemeinschaft zn
treten, wiederum an den lange vernachlässigten Ort der
Anbetung zu kommen, aufs neue mitteilzunehmen an den
Vorrechten und Segnungen, die Gott Seinem Volke gewährt
hatte. Wenn wir bedenken, daß das erste Jahr des
Königs Jehiskia, in welchem diese Einladung erging, das
sechste vor dem Untergang des Zehnstämmereiches und das
dritte vor Beginn der letzten Belagerung Samarias durch
die Assyrer war, so müssen wir in dieser Einladung eine
besondere, herablassende Freundlichkeit Gottes gegen das so
weit abgeirrte Volk erkennen, ein gewaltiges Zeugnis dafür,
daß Er in Seiner Liebe und Gnade derselbe ist und
bleibt, mag sich der Mensch auch noch so weit von Ihm
entfernt haben, und mag das Endgericht, vor welchem es
kein Entrinnen mehr giebt, auch noch so nahe vor der Thür
stehen. Anbetungswürdiger Gott! Wo ist ein Gott wie
unser Gott!
Es ist unschwer zu erkennen, was für die Kirche Christi
hienieden den Platz einnimmt, den das Passah einst für
Israel hatte, nämlich: des Herrn Abendmahl. (1. Kor. 11, 20).
Vergleichen wir beide Feste mit einander, so werden wir
viele übereinstimmende oder doch sehr ähnliche Züge finden.
Wurde doch das Abendmahl von dem Herrn bei der Passahfeier
selbst eingesetzt, an dessen Stelle es, wenigstens was
die Jünger damals betras, treten sollte. Beide Feste reden
von demselben großen Ereignis, von der auf Golgatha vollbrachten
Versöhnung; indessen stellt das Passah dieselbe in
36
ihrem Wert für Israel dar, das Abendmahl dagegen den
Wert derselben sür uns. In dem Abendmahl geben wir
kund, daß das vollbrachte Werk in seinem vollen Umfang
uns gilt, daß wir in dem vollen Werte, welchen das Opfer
Christi vor Gott hat, angenommen find. Bei dem Passahmahl
in Aegypten wurde das Blut an die Thürpfosten
gestrichen, bei den Passahfeiern des Iehiskia und Josia
wurde es von den Leviten gesprengt; bei dem Abendmahl
dagegen gab der Herr Seinen Jüngern den Kelch, der das
Blut des neuen Bundes darstellte, selbst zu genießen. Der
neue Bund wird mit Israel abgeschlossen werden; wir aber
sind mit dem vollen Werte, den das Blut dieses Bundes
vor Gott hat, einsgemacht. Israel wird im tausendjährigen
Reiche wiederum das Passah, nicht aber das Abendmahl
feiern. Ich glaube, daß wir in dem Gesagten einen Grund
finden können, weshalb in 1. Kor. 10 der Kelch zuerst genannt
und so bezeichnend hervorgehoben wird: „Der Kelch
der Segnung, den wir segnen".
Ferner werden wir im Abendmahl als völlig eins
mit Christo betrachtet. „Das Brot, das wir brechen, ist
es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus? Denn
ein Brot, ein Leib sind wir, die Bielen, denn wir alle
sind des einen Brotes teilhaftig." Indem wir gemeinsam
das Brot brechen, drücken wir aus, daß wir alle eins sind,
ein Leib, und zwar der Leib des Christus. Diejenigen,
welche an diesem kostbaren Vorrecht teilnehmen, bekennen,
nichts anderes zu sein als Glieder Seines Leibes. Ihr
erstes Leben fand in dem Tode sein Ende, den sie nun
verkündigen; und was sie jetzt sind, sind sie durch und in
Ihm, dem Auferstandenen. Ferner tritt uns in dem Abendmahl
weit klarer und deutlicher die hochgepriesene Person
37
unsers Herrn vor Augen, als es einst in dem Passah der
Fall sein konnte, da Israel mit Schatten und Vorbildern
beschäftigt war, während wir das Wesen derselben, das
was jene darstelltcn und abschatteten, kennen und besitzen.
Israel feierte das Fest zum Andenken an seinen Auszug
aus Aegypten, wobei das Lamm und dessen Blut nur
dunkel von einem Opfer redeten, welches Gott im Auge
hatte; zu Seinen Jüngern sprach dagegen der Herr: „Dies
thut zu meinem Gedächtnis!" Wir kommen zusammen,
um gemeinsam uns des Herrn zu erinnern, dessen heiliger
Leib für uns im Tode dahingegeben wurde.
Mit dem Gesagten steht auch der Unterschied in der
Zeitdauer in Verbindung, für welche eine jede Feier bestimmt
war. Das Passah sollte eine „ewige Satzung" sein:
cs wird, wie bereits bemerkt, im tausendjährigen Reich
wieder gefeiert werden. (Bergt. Hes. 45, 21.) Das Abendmahl
dagegen wird gefeiert, „bis Er kommt". Sehen
die Seinigen den Herrn von Angesicht zu Angesicht, so
haben sie nichts mehr nötig, was sie an Ihn erinnert. Bis
dahin bedienen sie sich des kostbaren, gesegneten Vorrechtes,
welches Er ihnen gegeben hat. Er sehnte sich darnach,
mit den Seinigen dieses Mahl zu feiern: es ist Seine
Freude, sie bei demselben versammelt zu sehen. Und es
ist von großer Wichtigkeit und großem Segen für uns,
wenn wir diesen Platz, den uns Seine Liebe gegeben hat,
verstehen und einnehmen und somit auch in dieser Beziehung
in Seine Gedanken über Seinen Tod und die Früchte
desselben eingehen. Es ist der Platz, wo wahre Gemeinschaft
mit dem Herrn und den Seinigen hienieden zu ihrem
vollen Ausdruck kommt.
Wenn wir nun fragen, wo das Abendmahl gefeiert
38
werden sollte, so kann unzweifelhaft die Antwort nur fein:
„Da, wo Er ist; d. h. in einer Versammlung, die im
Namen Jesu stattfindet, wo Er selbst, nach Seiner Verheißung,
in der Mitte ist." Daß eine solche Versammlung
nur aus zwei oder drei Gläubigen bestehen kann, lehrt
uns der Herr in Matth. 18, 20. Doch was will der
Ausdruck: „im Namen Jesu" besagen? Es heißt wörtlich:
„zu meinem Namen hin". Damit ist ausgedrückt,
daß eine solche Versammlung nur um Seinetwillen stattfindet,
d. h. daß die Liebe zu Ihm der einzige Beweggrund
des Zusammenkommens ist; daß man ferner erwartet, in
der Versammlung Ihn selbst gegenwärtig zu finden, und
endlich, daß man sich in derselben unter die ausschließliche
Leitung Seines Geistes stellt. Die also Versammelten
werden dahin geleitet, den Vater „in Geist und Wahrheit"
(Joh. 4, 23) anzubeten — eine Anbetung, die im himmlischen
Heiligtum geschieht und irdische Oertlichkeiten nicht berücksichtigt.
Wie das Passah nur in Gemeinschaft mit dem König,
dem Sohne Davids, nur an dem Orte, wo dessen Autorität
anerkannt war, und nur in Verbindung mit dem irdischen
Heiligtum Gottes, gefeiert werden konnte, so das Abendmahl
nur in lebendiger Gemeinschaft mit Christo und unter völliger
Anerkennung Seiner ausschließlichen Autorität; und dies bringt
uns notwendigerweise in Verbindung mit dem Orte, wo Seine
Herrlichkeit und Macht jetzt allein in Wirklichkeit anerkannt
sind, das ist mit dem Himmel. Hier auf Erden wird Ihm
Herrlichkeit und Ehre nur von denen gegeben, welche dem
Himmel angehören, nur von den Seinigen; wie könnten
deshalb Seine Feinde unter denselben einen Platz haben,
die da sprechen: „Wir wollen nicht, daß dieser über uns
herrsche"? So wenig am Passahmahl ein Unbeschnittener
39
teilnehmen durfte, fo wenig ist das Abendmahl für Unwiedergeborene
und Unbekehrte.
Indessen besteht auch für die Kinder Gottes eine
Bedingung hinsichtlich der Teilnahme am Abendmahl; und
diese lautet: „Ein Mensch aber prüfe sich selbst, und also
esse er von dem Brote und trinke von dem Kelche." Der
praktische Zustand des Herzens muß zuvor der Selbstprüfung
unterzogen werden, damit alles, was den Gedanken Gottes
nicht entspricht und sich dadurch als eine Frucht unsrer
ersten, bösen Natur ausweist, vor Ihm verurteilt werde.
Es ist für jedes aufrichtige Herz eine schmerzliche und
demtitigende Thatsache, daß nicht nur diese Prüfung, sondern
auch die Verurteilung immer wieder notwendig wird.
Für die Prüfung ist jeder verantwortlich, und eines
jeden Platz ist am Tische des Herrn. In Israel mußte
vor dem Feste aller Sauerteig aus den Häusern weggethan
werden, und jeder, der Gesäuertes aß, mußte aus dem
Volke ausgerottet werden. Der Sauerteig (ein Bild jeder
Form des Bösen, wie sie sich in der menschlichen Natur
wirksam erweist,) wurde entfernt; jeden aber, der dieser
Forderung ungehorsam war, traf das Gericht. Dasselbe
ist der Fall, wenn die Kinder Gottes jenes Selbstgericht
nicht üben. Es hat zur Folge, daß an ihnen Gericht vollzogen
wird. „Wenn wir uns selbst beurteilten, so würden
wir nicht gerichtet." Wir haben es mit Dem zu thun, der
Augen wie Feuerflammen hat, mit Dem, der Nieren und
Herzen erforscht, und der unsre innersten Beweggründe
kennt. Er ist gegenwärtig inmitten Seiner Versammlung.
„Es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Dessen,
mit dem wir es zu thun haben." Unmöglich kann Er
'Böses dulden. „Wenn wir untreu sind — Er bleibt treu,
40
denn Er kann sich selbst nicht verleugnen." Wenn sich
Böses bei uns wirksam findet, so muß Er sich mit uns
hinsichtlich desselben beschästigen. Er thut dies durch Sein
Wort und Seinen Geist. Lassen wir Sein Wort nicht auf
uns wirken, so muß Er uns züchtigen. Tritt gar das
Böse auch vor Menschen offen hervor, indem wir nicht
davon lassen wollen, so muß die Versammlung, in deren
Mitte Er gegenwärtig ist, uns selbst als einen „Bösen"
betrachten und behandeln. Sie muß ihre Gemeinschaft mit
uns abbrechen; jeder Ausdruck derselben, damit auch namentlich
die Teilnahme am Brotbrechen, hört aus. „Thut den
Bösen von euch selbst hinaus!" (1. Kor. 5.)
Welch eine ernste und ergreifende Thatsache, daß auch
dieses unter solchen, die sich zum Namen Jesu hin versammeln,
notwendig wird! Wenn wir aber die Macht
und List des Feindes, sowie seine Anschläge, die auf die
Zerstörung des Zeugnisses Gottes hienieden gerichtet sind,
und endlich die gänzliche Verdorbenheit unsrer eignen Natur
kennen gelernt haben, wird uns diese Erscheinung — so
traurig sie ist — nicht mehr befremden. Sehen wir doch
in der Apostelgeschichte, wie bereits in die Versammlung
zu Jerusalem das Böse einzudringen suchte! Nnd was ist
seitdem aus dem großen Haufen der Bekenner Christi geworden?
Eine Masse Unbekehrter, Ungläubiger, unter
denen sich hie und da Christen befinden, die entweder kein
Licht oder keine Kraft haben, sich von jenen zu trennen!
Im Blick auf solche traurigen Zustände, durch welche der
Name des Herrn so sehr verunehrt wird, müssen wir sagen:
Es ist ein Beweis von der Gegenwart des Herrn und der
Wirksamkeit Seines Geistes in einer Versammlung, wenn
eine solche noch „den Bösen" aus ihrer Mitte hinausthnt.
41
Eine Versammlung^ die mit offenbarem Bösen Gemeinschaft
hat, ist nicht mehr eine Versammlung zu dem Namen Jesu
hin. Der „Name Jesu", Seine Heiligkeit, Gerechtigkeit
und Macht, und „offenbares Böse" schließen sich gegenseitig
vollständig aus. »Wo der Mensch beides zu vereinigen
sucht, da haben wir ein menschliches System, etwas was
der Mensch in seiner Anmaßung Gott gegenüber errichtet
hat und aufrecht zu erhalten sucht.
Es ist klar, daß in solchen Systemen oder Sekten —
ivas fauch der prahlerische Mund bekennen mag — „der
alleinige Gebieter und Herr Jesus Christus" verleugnet
wird. Der Mensch ist dort Gebieter und richtet alles nach
seinem Willen ein, freilich mit einem solchen Schein, daß
das Auge der Unkundigen getäuscht wird. Ebenso ist es
klar, daß in solchen Systemen von einer Anbetung „in
Geist nnd Wahrheit" nicht die Rede sein kann. Christen,
die in denselben stehen, bleiben mit dieser Anbetung unbekannt
; sie entbehren die herrlichsten Vorrechte, die das Kind
Gottes hienieden genießt. Mag auch in solchen Systemen
das „Abendmahl" gefeiert werden, so ist das doch keineswegs
der „Tisch des Herrn", sondern der Tisch einer Partei.
Trotz der feierlichsten Veranstaltungen, die man treffen mag,
trotzdem die Anwesenden zum Teil oder selbst ausschließlich
aus Gläubigen bestehen mögen, fehlt doch das unterscheidende
Merkmal: „der Herr in der Mitte der Seinen",
was nur in einer Versammlung anzutreffen ist, die in
Wahrheit „zu Seinem Namen hin" stattfindet.
Wir Haben also gesehen, daß das Abendmahl ebenfalls
seinen ganz bestimmten Ort hat, an dem es gefeiert
werden soll, nämlich — abgesehen von aller irdischen Deutlichkeit
— da, wo Gläubige, wahre Glieder des Leibes Jesu
42
Christi, „zu dem Namen Jesu hin" versammelt sind. Wir
können noch hinzufügen, daß dies in sich schließt, daß sic
sich keines anderen Namens bedienen oder nach keinem
andern Namen nennen, daß sie einfach als Glieder des
Leibes Christi zusammenkommen, so daß ihr Zusammenkommen
den Bereinigungspunkt aller wahren Gläubigen des
Ortes, wo sie sich befinden, darstellt, und zwar in völliger
Gemeinschaft mit allen denen auf der ganzen Erde, die
sich in gleicher Weise nach dem Worte des Herrn versammeln.
H
Wie der Ort des Zusammenkommens fest bestimn^t ist,
so auch die Zei t. Allerdings haben wir darüber keine gesetzliche
Vorschrift. Denn das Christentum besteht nicht in
Befolgung äußerlicher Vorschriften, sondern darin, den Geist
Gottes zu haben und sich von Ihm leiten zu lassen, von
welchem gesagt ist: „Er wird euch in die ganze Wahrheit
leiten". Das Wort Gottes giebt uns Bericht darüber,
wie der Geist bereits thatsächlich die Christen in dieser
Sache geleitet hat. Ohne gegebene Vorschrift, nur geleitet
von dem Geist, den sie empfangen hatten, feierten die ersten
Christen täglich das Abendmahl. In dieser Weise entsprach
cs dem Passah, indem es den ersten und wichtigsten Platz
von allen Zusammenkünften hatte. Es war das, was sich
immer wiederholte und doch immer neu und frisch blieb ;
die Gemeinschaft und geistliche Kraft kamen hier zu vollem,
lebendigem Ausdruck. Indessen entsprach das tägliche Brotbrechen
nur der Zeit, da das Böse sich noch nicht innerhalb
der Versammlung gezeigt hatte. Später finden wir
es nicht mehr. Vielmehr tritt uns in Apostelgesch. 20, 7
eine zweite Zeitbestimmung entgegen, nämlich: der erste
Tag der Woche.
43
In dem genannten Kapitel sehen wir den Apostel
Paulus an der Abendmahlsfeier jener Christen in Troas
teilnehmen. Wir dürfen deshalb überzeugt sein, hier einen
zweiten Fingerzeig bezüglich dieser gewiß nicht unwichtigen
Frage zu finden. Paulus war sieben Tage in Troas; der
erste Tag der Woche aber wird als derjenige bezeichnet,
an welchem sie versammelt waren, um Brot zu brechen.
Bis zu diesem Tage blieb Paulus dort. Der erste Wochentag
wird auch in 1. Kor. 16 hervorgehoben, indem an
demselben ein jeder zwecks der Sammlungen für die armen
Heiligen bei sich zurücklegen sollte. Es ist der Tag, an
welchem der Herr auferstanden ist. Johannes empfing
an demselben von Ihm die Offenbarung auf Patmos; iu
der Mitteilung hierüber trägt er den Namen: „Tag des
Herrn". Alle diese Stellen zeigen uns, daß dieser Tag
für uns von besonderer Wichtigkeit ist. Es ist desHerrn
Tag und daher vor allem auch für die Seinigen der Tag
ihres Zusammenkommens. Bethätigt sich auch heute nicht
mehr jene erste Frische geistlicher Kraft, wie sie sich in
Jerusalem nach dem Pfingstfest äußerte, so behält das
Brotbrechen doch stets seinen Platz als der vornehmste
Ausdruck der Gemeinschaft und des geistlichen Lebens.
Ich glaube, daß wir auch in dieser Beziehung einen
Vergleich mit den Vorschriften über das Passah machen
können. Denjenigen, die verhindert waren, im ersten Monat
das Passah zu feiern, war vorgeschrieben, es im zweiten
zu thun. (4. Mose 9.) Das Passah im zweiten Monat
hatte immer noch den ersten Platz vor allen übrigen Festen,
trug jedoch nicht mehr den Stempel voller geistlicher Frische.
Es stand mit einem Mangel in Verbindung, der sich bei
denen, die es feierten, vorfand. In jener Verordnung
44
selbst: „wenn irgend jemand unrein ist wegen einer Leiche
oder ist auf einem fernen Wege", scheint mir ein Hinweis
auf Israel zu liegen, das sich des Todes Christi schuldig
gemacht hat und fern von seinem Lande weilt, und nun
nicht als „die Ersten", sondern als „die Letzten" zur
Freude über die vollbrachte Versöhnung gelangt. Ist dieser
Gedanke richtig, so würde das Passah im ersten Monat
den Genuß, den die Versammlung an dem Opfer Christi
hat, vorbildlich darstellen.
Bei dem Passah des Jehiskia fand die Feier ebenfalls
im zweiten Monat statt, und zwar weil die Priester
nicht in hinreichender Anzahl geheiligt waren und das Volk
sich noch nicht nach Jerusalem versammelt hatte. Es war
ein Mangel in dem geistlichen Zustand vorhanden, der auch
äußerlich zu Tage trat und dadurch die Feier im ersten
Monat unmöglich machte, ein Mangel sowohl bei den
Priestern als auch bei dem ganzen Volke. Ein solcher
Mangel findet sich auch bei der Kirche Christi in ihrem
gegenwärtigen Zustand auf Erden; und zwar fehlt es
einerseits den Christen im allgemeinen M Willigkeit, sich
an den Ort der Anbetung zu begeben — diejenigen, welche
es thun, machen nur einen kleinen Teil des Ganzen aus
— andrerseits fehlt es an priesterlicher Gesinnung und
priesterlichem Handeln, selbst bei denen, die sich dem Worte
Gottes einst rückhaltlos unterwarfen. Wir dürfen daher
jetzt das Abendmahl feiern, obwohl es keineswegs die Tage
sind, in welchen die Wirksamkeit des Geistes sich in ihrer
ursprünglichen Kraft entfalten kann, und obwohl der Zustand
der Versammlung im allgemeinen wie der einzelnen
Gläubigen ein niedriger ist. Wir dürfen es thun in der
Gewißheit, daß es Ihm wohlgefällig ist (gerade so wie
45
damals die Treuen in Israel trotz des tiesgesunkenen, zerrissenen
Zustandes des Volkes, sich des Vorrechtes erfreuen
durften, das Passahfest vor Jehova zu feiern), ja daß Er '
selbst in unsrer Mitte gegenwärtig ist. Wir dürfen es
feiern in Uebereinstimmung mit Seinem Worte, in der Ge- '
wißheit, daß Sein Geist uns dabei leitet.
Abendmahl und Passah entsprechen sich also in vieler
Beziehung. Beide reden von den herrlichen Thatsachen,
durch welche die Erlösung des Volkes Gottes bewirkt worden
ist. H Beide stellen uns den Tod Christi vor Augen,
und zwcjr in seinem Werte vor Gott nnd in seiner Wirkung
für uns. Beide weisen auf Ihn hin als Den, welcher
der Genuß und die Freude der Seinigen ist, und zugleich
als den Vereinigungspunkt, um welchen sie sich versammeln
sollen. Beide dienen dazu, die Einheit des Volkes Gottes
an den Tag zu legen. Bei beiden wies auch die erstmalige
Feier auf das hin, was erst geschehen sollte. Erst nachdem
durch das Kommen des Heiligen Geistes der Leib
Christi auf Erden, die Behausung Gottes im Geiste, gebildet
worden war, wurde das Brotbrechen in der Kraft
des Geistes gefeiert zum Gedächtnis an Den, der sich für
die Seinigen dahingegeben hat.
Indessen ist das Abendmahl ebensowenig wie das
Passah dasjenige, was errettet. Es soll nur an die Errettung
und an Den, der sie vollbracht hat, erinnern.
Verkennt man dieses und sucht die Errettung in der Feier
selbst, oder will in dem Brote und dem Kelche den wahren
Leib und das wahre Blut des Herrn sehen, so ist es klar,
daß man die Absicht Gottes hierbei mißversteht; und die
Folgen eines solchen Irrtums, der aus dem auf das Aeußer-
liche gerichteten Sinn des Menschen entspringt, sind höchst
46
verhängnisvoll. Der Feind wird diesen Irrtum benutzen,
um die Seele an dem vorüberzuführen, was wirklich zu
ihrer Errettung bestimmt ist.
So feiern wir denn das Abendmahl als Glieder des
Leibes Christi, als solche, die Er errettet hat, die durch
Sein Blut mit Gott versöhnt, ja, in dem vollen Werte
Seines Opfers von Gott angenommen sind. Wir feiern
es, indem wir uns dieser Thatsachen vor Gott bewußt
sind und uns gemeinsam derselben erfreuen. Wir feiern
es, getrennt von dem Bösen, aus welchem uns der Herr
herausgenommen hat, indem wir dasselbe, wo es sich bei
uns zeigt, vor Gott verurteilen, nnd wo es in irgend
welcher Form an den Tisch des Herrn herandringen will,
entschieden zurückweisen. Wir feiern es, indem wir einzig
zu dem Namen Jesu hin uns versammeln, wozu wir
Seinen Tag benutzen, indem wir nur Ihn und Seine Verherrlichung
im Auge haben und, von allen menschlichen
Personen absehend, uns unter die Leitung Seines Geistes
stellen. Wir feiern es in der Gewißheit, daß Er selbst
im Geiste in unsrer Mitte ist, und daß wir durch den
Geist unsre Anbetung dem Vater in dem himmlischen Heiligtum
darbringen: „geistliche Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich,
durch Jesum Christum". Wir brechen das Brot
und essen es, wir trinken alle aus dem Kelche zum Gedächtnis
Dessen, „der uns liebt und uns von unsern Sünden
gewaschen hat in Seinem Blute", Dessen, der „sich selbst
für uns hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer,
Gott zu einem duftenden Wohlgeruch". So verkündigen
wir Seinen Tod, bis Er kommt; oder wenigstens,
sosolltenwiresthun. Wie schwach die Ausführung
von allen diesen Dingen bei denen ist, die bekennen, zu dem
47
Namen Jesu hin versammelt zu sein, ist Ihm allein bekannt.
Er wolle in Seiner Gnade allen den Seinigen
Seinen herrlichen, hochgepriesenen Namen immer kostbarer
machen!
(Schluß folgt.l
Die Gemeinschaft der Gläubigen.
Die Gemeinschaft der Gläubigen ist etwas anderes
als ihr Zusammenkommen am Tische des Herrn oder zum
Gebet, obgleich sie nicht daw,)- getrennt werden kann; denn
wenn Gläubige aufhören, Gemeinschaft mit einander zu
pflegen, so werden sie auch nicht mehr in einer des Herrn
würdigen Weise an Seinem Tische zusammenkommen, und
ihre Gebets- und Erbauungsstunden werden nach und nach
zu einer leblosen Form herabsinken. Damit ist dann der
Verfall unausbleiblich, wie die Geschichte der Kirche es
in augenscheinlicher Weise darthut.
Die ersten Christen verharrten in der Lehre der Apostel
und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in
den Gebeten (Apstgsch. 2, 42); und es ist sehr beachtenswert,
daß die ersten Angriffe des Feindes gegen die Gemeinschaft
der Gläubigen gerichtet waren. Diese waren
ein Herz und eine Seele, nichts störte die Eintracht
innerhalb der Versammlung: darum konnte sich auch die
Macht und Energie des Heiligen Geistes ungehindert in
ihr offenbaren. (Apstgsch. 4, 32.) Es war in der That
die Entfaltung der Gnade des Herrn Jesu Christi, der
Liebe Gottes und der Gemeinschaft des Heiligen Geistes.
(2. Kor. 13, 13.) Aber leider dauerte, wie wir wissen,
dieser herrliche Zustand nicht lange. Satan erfüllte das
48
Herz des Anamas und verleitete ihn, in Verbindung mit
seinem Weibe, eine erheuchelte Gemeinschaft zur Schau zu
stellen. (Apstgsch. 5.) Nicht lange nachher entstand ein
Murren der Hellenisten gegen die Hebräer, weil ihre Witwen
in der täglichen Bedienung übersehen würden. (Kap. 6.»
Obwohl nun diese Angriffe des Feindes durch die Kraft
des Heiligen Geistes abgeschlagen wurden, so erkennen wir
doch seine Absichten. Er weiß wohl, daß er gewonnenes
Spiel hat, wenn es ihm gelingt, die Gemeinschaft der
Gläubigen zn lockern. Wir sollten daher in diesen letzten
bösen Tagen nicht nnr alles vermeiden, was die Gemeinschaft
stören könnte, sondern darauf aus sein, sie in jeder
Beziehung zu Pflegen, indem wir, mit einander in Liebe
verbunden, einer des andern Wohl suchen.
Dies aber ist mir möglich, wenn wir im Lichte
wandeln; denn es steht geschrieben: „Wenn wir aber in
dem Lichte wandeln, Ivie Er in dem Lichte ist, so haben
wir Gemeinschaft mit einander". (1. Joh. 4, 7.) Der
Wandel im Licht ist also die göttliche Grundlage der christlichen
Gemeinschaft; und aus dieser Grundlage ist die Ausübung
und Pflege derselben ein glückseliges Vorrecht, eben
weil wir im Lichte sind. Wie hätten wir je daran denken
können, ini Lichte zn wandeln, die wir fern von Gott in
Finsternis waren? Wie hätten wir erwarten dürfen, nicht
nnr „Zugang zum Vater" (Eph. 2, 18), sondern auch „Gemeinschaft"
zu haben mit dem Gott, der Licht ist? Wie
hätten wir, erfüllt mit Haß und Feindschaft gegen Gott,
wissen können, was Liebe ist, wenn nicht Er, der Liebe
ist, sie uns geoffenbart hätte? wenn nicht Er uns in Christo
entgegengekommen wäre? Ja, Er ist uns nicht nur aus
halbem Wege entgegengekommen; nein, Er stieg in der
49
Person Seines Sohnes zn uns herab in unser Elend und
führte uns aus der Finsternis in Sein wunderbares Licht,
st. Petr. 2, 9. 10.) Er hat Seines eignen Sohnes nicht
geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben, um uns
in Ihm, dem Anferstandenen, heilig und tadellos vor sich
hinzustellen als geliebte Kinder. Er hat uns auf diese
Weise gezeigt, was Licht und Liebe ist, nnd wir sind im Lichte,
weil wir Ihn kennen. „Jeder, der liebt, ist ans Gott
geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott
nicht erkannt, denn Gott ist Liebe." (1. Joh. 4, 7. 8.»
Gott hat nicht gewartet, bis wir zn Ihm kamen:
Er kam zu uns. Das ist göttliche Liebe, der wahre Grundsatz
der Gemeinschaft. Sie dringt uns, Liebe einander
entgegenzubringen und nicht von einander zu erwarten;
uns selbst zu verleugnen und den Bruder zn
lieben, nicht nur den, der uns liebt, sondern auch den, dessen
Liebe gegen uns erkaltet ist. Wenn uns das schwer fällt, so
beweisen wir, daß die Liebe Gottes ihre Macht über unsre
Herzen verloren hat und sie kalt läßt; und in diesem Falle
ist unser eigner Zustand mindestens ebenso traurig, wenn
nicht trauriger, als der des Bruders. Denn was vermöchte
uns noch zu erwärmen, wenn die Liebe Gottes es
nicht mehr vermag, der für uns Hassenswürdige den eignen
Sohn dahingab? „Hierin ist die Liebe: nicht, daß wir
Gott geliebt haben, sondern daß Er uns geliebt und Seinen
Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsre Sünden."
<1. Joh. 4, 10.) Welch eine Beschämung für uns, wenn
wir die Brüd er nicht ohne Unterschied lieben können, nachdem
Gott uns geliebt hat, da wir noch Sünder nnd
Feinde waren!
Sollte dies dein Zustand sein, mein lieber christlicher
50
Leser, dann beklage dich nicht länger über den Zustand
deines Bruders, wie traurig dieser auch sein mag, sondern
beklage dich über dein eignes hartes Herz, und kehre um
zu Ihm, von dem du dich entfernt und dessen Liebe du
aus dem Auge verloren hast. Du täuschest dich über dich
selbst und meinst im Lichte zu wandeln, während dein
Verhalten beweist, daß du nicht im Lichte bist; denn dann
würdest du den Bruder lieben, ihm nachgehen und ihn
mit Geduld und Langmut tragen können, wie sehr er dich
auch verletzt oder beleidigt haben möchte. Du würdest
trotz allem glücklich sein im Genusse der Liebe Gottes,
nnd würdest nicht ruhen noch rasten können, bis du auch
deinen Bruder wiederhergestellt und glücklich sähest. Du
Würdest ihn nicht ausgeben und denken: Was geht er mich
an? bin ich meines Bruders Hüter? (1. Mose 4, 9.s
Nein, du würdest, wenn du nichts anderes mehr für ihn
thun könntest, zum wenigsten unablässig für ihn beten.
Ich wiederhole also: Um Gemeinschaft in der rechten
Weise mit einander Pflegen zu können, ist es nötig, daß
unsre Herzen in glücklicher Gemeinschaft mit Gott sind.
Ein glückliches Herz ist weit genug, um Liebe zu üben,
auch wenn sie keine Gegenliebe findet, statt dessen gar verkannt
wird. Panlus konnte sagen: „Ich will aber sehr
gern alles verwenden und völlig verwendet werden für
eure Seelen, wenn ich auch, je überschwenglicher ich euch
liebe, um so weniger geliebt werde." (2. Kor. 12, 15.)
Er fand reichlichen Ersatz in dem Genuß der Liebe Gottes
und in der Gemeinschaft mit Ihm. Denn diese Gemeinschaft
hat stets ein glückliches Herz, eine „völlige Freude"
zur Folge, wie geschrieben steht: „Unsre Gemeinschaft ist
mit dem Vater nnd mit Seinem Sohne Jesu Christo.
51
Und dies schreiben wir euch, auf daß eure Freude völlig
sei/' (1. Joh. 1, 3. 4.) Hierin liegt das Geheimnis der
wahren Hingebung für einander, der wahren Pflege der Gemeinschaft,
des Selbstvergessens und der Selbsterniedrigung
für andere. Niemand hat sich tiefer erniedrigt als der Herr
Jesus selbst: aber niemand hat auch eine größere Freude
genossen, als Er in der Gemeinschaft mit Seinem Vater
hienieden genoß. Und in dieser Freude machte Er sich
zum Diener der Seinigen und wusch ihnen die Füße, damit
sie teil mit Ihm haben möchten. Sein Beweggrund
dabei war, sie glücklich zu sehen, wie Er es war. Nur
wenn wir selbst glücklich sind, vermögen wir uns unter-
andere, auch unter die Schwächsten, zu beugen, ihnen zu
dienen und sie aufzurichten. „Ich habe euch ein Beispiel
gegeben", sagt der Herr, „auf daß, gleichwie ich euch gethan
habe, auch ihr thut . . . Wenn ihr dies wisset, glückselig
seid ihr, wenn ihr es thut." (Joh. 13, 15—17.)
Tie Pflege der Gemeinschaft ist ein glückseliges Vorrecht
für den, der im Lichte wandelt, weil er die Liebe Gottes
genießt.
Andrerseits läßt uns diese Gemeinschaft auch die wahre
Grenze und das Maß unsrer Geduld und gegenseitigen
Tragsamkeit erkennnen. Ueberschreiten wir diese Grenze
unter dem Einfluß unsrer natürlichen, bloß menschlichen Gefühle,
so geschieht dies stets auf Kosten der Wahrheit und
Heiligkeit Gottes, und unsre Gemeinschaft ist dann nicht
mehr die Folge eines Wandelns im Lichte. Die Liebe
Gottes, die uns dringt, einander zu lieben, dringt uns auch,
entschieden alles fern zu halten, was Ihn verunehrt und
unsre Gemeinschaft mit Ihm stören könnte. Der Feind
scheint es in unsern Tagen besonders darauf abgesehen zu
52
haben, das Böse in milderem Lichte erscheinen zn lassen,
als eine Sache, mit der man Geduld und Nachsicht haben
müsse. Er sucht ein entschiedenes Vorgehen gegen dasselbe
als Härte und Gesetzlichkeit darzustellen. Und was ist seine
Absicht dabei? Sie ist nicht schwer zu erkennen. Er
möchte die Versammlung Gottes ihres wahren Charakters
berauben, die göttlichen Grundsätze derselben untergraben
und, wenn möglich, die Zucht in ihrer Mitte zur Unmöglichkeit
machen. Es ist ein Zeichen der Zeit, welches
sich auch in der bürgerlichen Gesellschaft bemerkbar macht.
Die Bande der göttlichen Ordnung werden gelockert; Unterwürfigkeit
unter die von Gott eingesetzte Obrigkeit wird
als Knechtung und als ein Raub an der Freiheit und
Selbständigkeit des menschlichen Geistes bezeichnet. In
ähnlicher Weise sucht der Feind in der Versammlung die
Unterwürfigkeit unter einander als. etwas Knechtisches, als
etwas den heutigen Verhältnissen nicht mehr Entsprechendes
darzustellen. Aber so wenig Gott aufhören kann, Licht zu
sein, und so wenig Er Seine göttliche Autorität betreffs
Seiner Regierung über die Welt jemals aufgeben wird,
ebenso wenig, ja noch weit weniger kann Er dies thun im
Blick auf Seine Versammlung. Unterwürfigkeit unter Sein
Wort und Unterwürfigkeit unter einander, das sind die unerläßlichen
göttlichen Bedingungen des öffentlichen, häuslichen
und vor allem des christlichen Gemeinschaftslebens.
Leugnen wir dies, so widerstehen wir der göttlichen Anordnung
(Röm. 13, 2) und stellen Seine Autorität in Frage;
und das würde die Auflösung aller göttlichen Ordnung bedeuten
und das Gericht nach sich ziehen.
Wir sehen, wie gesagt, diesen Geist der Auflehnung
in unsern Tagen überall wirksam; sein Einfluß zieht immer
53
weitere Kreise. Und derselbe Geist bedroht auch die Versammlung;
wenn nicht in derselben Form der Auflehnung
gegen die weltliche Obrigkeit, so doch in der vielfach zu
Tage tretenden Ungebrochenheit und Unzufriedenheit. Man
ist nicht zufrieden mit seinem Lose; man begnügt sich nicht
mit dem, was vorhanden ist, und beneidet solche, die
irdische Güter besitzen; man findet sich nicht genug geliebt,
geehrt und geachtet; man kann das Wort der Ermahnung
nicht ertragen; man findet nicht die gewünschte Anerkennung
für geleistete Dienste u. s. w. u. s. w. Mögen alle, die
eine solche Gesinnung offenbaren, wohl bedenken, daß Unzufriedenheit
und Klagen — selbst wenn sie den Schein
der Berechtigung tragen — nie ein Beweis der Ergebung
in den Willen Gottes, wohl aber der Auflehnung gegen
denselben sind. Die eigentliche Ursache von allen jenen
Erscheinungen ist Mangel an Unterwürfigkeit und wahrer
Demnt des Herzens. Denn wo diese vorhanden sind, wird
man gern, nach dem Vorbilde des Herrn, mit dem letzten
Platz zufrieden sein, und nichts anderes suchen, als die Verherrlichung
Seines Namens. Anstatt andere zn beneiden,
zn verurteilen und zu richten, wird man das Schwert gegen
sich selbst kehren, sich auf die Seite Gottes stellen und das
Böse bei sich selbst verurteilen. Selbstgericht ist das Kennzeichen
eines Wandels im Lichte; ohne jenes ist dieser
unmöglich. Wahre Heiligkeit findet sich bei uns nur dann,
wenn unser Wille in demjenigen Gottes aufgeht; nur dann
ist anch wahre Gemeinschaft mit Gott und mit einander
möglich, und der Feind ist machtlos uns gegenüber.
Indessen ist es nötig, noch eines wesentlichen Punktes
zn gedenken, der bezüglich unsrer Gemeinschaft von großer
Wichtigkeit ist, der aber im Allgemeinen wohl kaum die
54
genügende Beachtung unter den Gläubigen findet; ich meine
das Bewußtsein der persönlichen Gegenwart des Heiligen
Geistes. Wir kennen zwar die Wahrheit Seiner
Gegenwart, sind uns ihrer aber wohl nicht so bewußt, wie
wir es sollten und es der Person des Heiligen Geistes
schuldig sind. Wir verlieren diese Wahrheit so leicht aus
dem Auge, trotzdem wir betreffs der Verwirklichung aller
unsrer Segnungen und Vorrechte ganz und gar von der
Wirksamkeit des Heiligen Geistes abhängig sind. Wir
können nichts ohne Ihn genießen und verwirklichen, auch
nicht die Gemeinschaft. Ohne Seine Kraft wird es uns,
trotz des aufrichtigsten Wunsches und der ernstesten Anstrengungen
unsrerseits, nicht gelingen, das zur Ausübung
jener Gemeinschaft nötige Selbstgericht, die Tötung des
Fleisches samt seinen Lüsten und Begierden, die Unterwerfung
des eignen Willens rc. zu vollbringen. Wir sind
in jeder Beziehung von Seiner Leitung und Wirksamkeit
abhängig, mag es sich nun um einen weisen und einsichtsvollen
Wandel oder um den Genuß und die Verwirklichung der
Liebe und Gnade Gottes handeln. Uns selbst überlassen,
würden wir in der That als arme, schwache Waisen hilf-
und ratlos dastehen, selbst nachdem der Herr alles für uns
bezüglich unsers Verhältnisses zu Gott gethan hat.
Aber der Herr sei gepriesen! Er hat in Seiner unendlichen
Gnade eine vollkommene Fürsorge für uns getroffen,
und uns nicht ohne einen Sachwalter gelassen. Er
kennt uns; Er weiß, was wir in uns selbst sind und was
wir bedürfen, und Er hat Seine Verheißung erfüllt: „Ich
werde euch nicht als Waisen lassen, ich komme zu euch/'
(Joh. 14, 18.) Offenbar spricht Er hier von Seinem
Kommen zu den Seinigen in der Person des Heiligen
55
Geistes, das sich am Pfingsttage vollzog; denn Er fügt
alsbald hinzu: „An jenem Tage werdet ihr erkennen, daß
ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch."
Er selbst wohnt im Geiste in uns, so daß unsre Gemeinschaft
mit dem Vater und dem Sohne zu einer lebendigen, thatsächlichen
Wirklichkeit geworden ist, ebenso wirklich, wie sie
zwischen dem Vater und dem Sohne besteht. (Dennoch
können wir sie nur durch die Kraft des Heiligen Geistes-
verwirklichen.) Wie verschieden auch die Gläubigen ihren
Charakteren und ihrem Stande nach fein mögen, so kann
dies doch ihre Gemeinschaft nicht im geringsten beeinträchtigen.
Denn nicht äußere Umstände und Verhältnisse,
sondern der Heilige Geist ist das Band derselben. Er
wohnt in jedem Gläubigen und erzeugt in jedem die gleichen
Gedanken, Gefühle, Neigungen und Absichten, Gott gemäß.
Er richtet die Herzen aus einen nnd denselben Gegenstand.
Die nämliche Wahrheit wird uns in Joh. 17, 21 vorgestellt:
„Auf daß sie alle eins seien, gleichwie du, Vater,
in mir und ich in dir, auf daß auch sie in uns eins
seien, ans daß die Welt glaube, daß du mich gesandt hast."
Eine solche Gemeinschaft in Gedanken, Gefühlen und Absichten
kann nur durch die Macht des Heiligen Geistes
gebildet und unterhalten werden.
Möchten wir daher der persönlichen Gegenwart des
Heiligen Geistes mehr Beachtung schenken und, im Gefühl
unsrer Schwachheit, in Seiner Kraft Gemeinschaft mit
einander pflegen, unter Verleugnung unser selbst, unsrer
Persönlichen Interessen nnd unsers eignen Willens! Das
wäre dann in Wahrheit „die Gemeinschaft des Heiligen
Geistes", nnd die Erfüllung des Verlangens des Herrn in
Joh. 17, 21, sowie des Wunsches des Apostels in 2. Kor.
— 5ü —
13, 13: „Die Gnade des Herrn Jesu Christi und die
Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen
Geistes sei mit euch allen!"
Liebst du Christum?
Liebst du Christum, deinen Herrn, mein Leser? Ist
dein Herz durch Seine wunderbare Liebe zu dir gerührt
und angezogen worden ? Kennst du Ihn als Den, der um
deinetwillen arm wurde und nicht hatte, wohin Er Sein
Haupt legen sollte? Wenn es so ist, gedenke dann daran,
-aß Er einst von dieser Welt verworfen worden ist, und
-aß die Welt sich seitdem in nichts verändert hat. Ihr
Haß und ihre Feindschaft sind heute nicht minder groß wie
zur Zeit, da der Heiland hienieden wandelte.
Es ist eine der besonderen Listen Satans, Seelen
dahin zn bringen, daß sie Wohl ihre Errettung von Christo
annehmen, aber dann sich weigern, mit Ihm den Platz
Seiner Verwerfung zu teilen. Während sie sich einerseits
das Versöhnungswerk Christi zu uutze machen, wollen sie
andrerseits bequem in der Welt bleiben, die sich der Ermordung
des Sohnes Gottes schuldig gemacht hat. Sie
wollen nicht „zu Ihm hinausgehen, Seine Schmach
tragend". Ach, welch eine Undankbarkeit! und welch
eine Unehre für Ihn, der alles aufgegeben, „alles verkauft
hat, was Er hatte", um uns zu besitzen!
Es ist eitel zu sagen, die Welt habe sich verändert.
Sie mag heute ein christliches Gewand tragen; aber ihre
Natur, ihr Geist und ihre Grundsätze sind die nämlichen
geblieben. Sie haßt Jesum noch gerade so bitter wie
damals, als der Rus ertönte: „Hinweg mit Ihm! Kreuzige
Ihn!"
Die beiden letzten Zeugnisse Gottes an
das Zehnstämmereich.
(Fortsetzung statt Schluß.)
Bei der Passahfeier des Jehiskia giebt es noch
mehrere bedeutsame Züge zu beachten. Wir haben bereits
bemerkt, daß demselben die Reinigung des Hauses Jehovas
seitens des Königs, sowie die Darbringung eines Brand-
und Sündopfers für das Heiligtum und für ganz Israel
voranging. Wenn wir in dem König Jehiskia, dessen
Treue in der Beobachtung der Gebote Jehovas besonders
hervorgehoben wird, ein schwaches Vorbild von einem
größeren Sohne Davids erblicken können, von Ihm, der
da sagen konnte: „Dein Wohlgefallen zu thun, mein Gott,
ist meine Lust, und dein Gesetz ist im Innern meines
Herzens", so weist uns die Reinigung des Heiligtums und
die Darbringung des Opfers seitens Jehiskias auf ein
größeres Werk hin, auf die Reinigung des himmlischen
Heiligtums, sowie auf ein Opfer, welches zu diesem Zweck
und um verlorne Menschen zu erretten dargebracht werden
mußte. Von diesem Größeren und Seinem Werke lesen
wir im Kolosserbrief: „Es war das Wohlgefallen der
ganzen Fülle, in Ihm zu wohnen, und durch Ihn alle
Dinge mit sich zu versöhnen — indem Er Frieden gemacht
hat durch das Blut Seines Kreuzes — durch Ihn,
es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den
58
Himmeln." (Kap. 1, 19. 20.) Und im Hebräerbries heißt
es: „Christus, gekommen als Hoherpriester der zukünftigen
Güter, in Verbindung mit der größeren nnd vollkommneren
Hütte, die nicht mit Händen gemacht ist, . . . auch nicht mit
Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit Seinem eignen
Blute, ist ein für allemal in das Heiligtum eingegangen, als
Er eine ewige Erlösung erfunden hatte." (Kap. 9, 11. 12.»
Er hat ein ewig vor Gott gültiges Opfer dargebracht, indem
Er sich selbst hingab, um den Platz des Menschen vor Gott
einzunehmen. Die Verunehrung Gottes seitens des Menschen
verlangte Sühnung. Deshalb führte der Weg Jesu in
den Tod. Er, der gekommen war, den Willen Gottes zn
thun, der in vollkommener Gemeinschaft mit Seinem Gott
und Vater lebte und wandelte, Er mußte, um diesen Willen
zur Ausführung zu bringen, leiden. Er vollbrachte ein
Opfer, dessen Tragweite für die Ewigkeit ist nnd in dessen
Tiefen nur Gott hineinzuschauen vermag.
Eine besondere Wirkung dieses Opfers ist die Reinigung
des himmlischen Heiligtums, welches durch die Anwesenheit
Satans und seiner Engel verunreinigt war. Bei
einem Vergleich der Passahfeier des Iehiskia mit der des
Josia scheint es mir jedoch, als ob in der vorbildlichen Anwendung
bei letzterer mehr an das irdische Heiligtum gedacht
werden müsse. Ahas, der den Altar von seiner Stelle rückt
und das Heiligtum zuschlicßt, also die Anbetung beseitigt,
(2. Kön. 16; 2. Chron. 28) scheint mehr dem Feinde zu
entsprechen; Manasse dagegen, welcher das geschnitzte Bild
im Tempel selbst anfstellt nnd unschuldiges Blut vergießt,
<2. Chron. 33; 2. Kön. 21, 16) dem Antichristen. Manasse
stellt den Höhepunkt des Verderbens in Juda dar; nm
seinetwillen kommt das Endgericht über Jerusalem. Ferner
59
wurde das Passah des Josia vollkommen dem Gesetz gemäß
gefeiert, was bei dem des Jehiskia nicht der Fall war.
Alles, was von Israel übrig war, nahm an demselben
teil; bei Jehiskia nur eine verspottete, verhältnismäßig
geringe Anzahl. Endlich erinnert der Ort, wo Josia sein
Ende fand, Megiddo, an das „Armagedon" (d. h. Berg
von Megiddo) in Offenbarung 16, wo die Könige des
ganzen Erdkreises zu dem Kriege des großen Tages Gottes
versammelt werden sollen. Während wir uns also bei Josia,
was die vorbildliche Anwendung der Geschichte betrifft,
auf rein jüdischem Boden befinden, können wir in der Geschichte
Jehiskias eine Reihe von Zügen bemerken, die eine
vorbildliche Bedeutung für uns und unsre Zeiten haben.
„Für ganz Israel, sprach der König, ist das Brandopfer
und das Sündopfer." (2. Chron. 29, 24.) Welch
ein schönes Wort! Das ganze Volk war, wie schon früher
bemerkt, trotz der herrschenden Zersplitterung, in den Augen
des Königs eins; ein Opfer wurde für ganz Israel
dargebracht. — Gepriesen sei unser Gott und Vater, daß
Er uns jetzt auch so in Christo betrachtet, daß das Thun
und der Zustand des Menschen den Wert und die Wirkung
des einen, vollkommenen Opfers nicht beeinträchtigen!
Weil dieser Wert und diese Wirkung unberührt fortbestehen,
kann Er selbst die weit Abgeirrten zu Seiner Gemeinschaft
zurückberufen. Er thut es auf Grund dieses
Opfers, dessen ganzen herrlichen Wert Er kennt. Dank
fei Seiner unergründlichen Gnade, Seiner unermüdlichen,
nie endenden Liebe!
Ein anderer Punkt, den es hier in Verbindung mit
dein Opfer zu erwähnen giebt, ist die Fürbitte. In der
That, wir sehen bei Jehiskia eine auffallende Vereinigung
60
priesterlicher Gesinnung und priesterlichen Handelns mit
dem Königtum. Wir lesen darüber in Kap. 30, 18—20:
„Ein großer Teil des Volkes, viele von Ephraim und
Manasse, Jssaschar und Sebulon, hatten sich nicht gereinigt,
sondern aßen das Passah nicht wie es vorgeschrieben ist.
Doch Jehiskia bat für sie und sprach: Jehova, der Gütige,
möge einem jeden vergeben, der sein Herz darauf
gerichtet hat, Gott zu suchen, Jehova, den Gott seiner
Väter, wenn auch nicht gemäß der Reinheit des Heiligtums.
Und Jehova erhörte Jehiskia und heilte das Volk."
— Um in Wahrheit Anbetung darbringen zu können, ist
das Hohepriestertum Christi für uns jetzt ebenso notwendig
wie Sein Opfer. Durch das Blut Jesu, den neuen und
lebendigen Weg, haben wir Freimütigkeit zum Eintritt in
das Heiligtum: indessen bedürfen wir, so lange wir noch
von der Schwachheit dieses Leibes umgeben sind, Seines
Dienstes als Hoherpriester. Er hat Mitleid mit unsern
Schwachheiten. Und da wir Ihn nun als den großen
Priester über das Haus Gottes kennen und besitzen, so
können wir in voller Gewißheit des Glaubens hinzutreten.
Seiner Fürbitte, Seinem Priesterdienst entspringt jede Hilfe,
die unsrer Schwachheit hienieden zuteil wird, und diese
Hilfe, diese Unterstützung befähigt uns, als glückliche Anbeter
vor Gott zu erscheinen; sie bewirkt es, daß uns trotz
dieses Leibes der Schwachheit die himmlischen, ewigen
Dinge so sicher, so gewiß erscheinen, daß wir alles Irdische
vergessen und uns im Geiste dort sehen, wo Er ist. Durch
Ihn können wir Gott stets die Opfer des Lobes darbringen,
trotzdem wir, was unsern Praktischen Zustand betrifft,
noch keineswegs „der Reinheit des Heiligtums" entsprechen.
Jehiskia thut Fürbitte für einen jeden, „der
61
sein Herz darauf gerichtet hat, Gott zu suchen". So gedenkt
auch der Herr eines jeden der Seinigen. Er weih,
welches Herz für Ihn ist; Er kennt es, Er vergißt es
nicht. Und wieviel Hilfe, wieviel Unterstützung, wieviel
Ermunterung wir in den mannigfachen Lagen unsers
Lebens Seiner treuen Fürbitte zu verdanken gehabt haben,
das werden wir erst droben ganz erkennen.
Bei dem Passah des Iehiskia tritt ferner auch die
Darbringung des Lobes Jehovas seitens der Leviten und
Priester bedeutsam hervor. Es steht dies in Uebereinstimmung
mit dem, was wir in 4. Mose 10, 10 lesen,
wo den Priestern vorgeschrieben wird, bei den Brand- und
Friedensopfern an den Freudentagen und Festen in die silbernen
Trompeten zu stoßen; sowie mit den Anordnungen,
welche David traf, indem er aus den Leviten bestimmte
Männer absonderte, um sowohl täglich „vor der Lade Jehovas"
Jehova durch Gesang zu Preisen, als auch diesen
Gesang durch allerhand Musikinstrumente, zart klingende
wie die Harfen und laut schallende wie die Cymbeln, zu
begleiten. (Vergl. 1. Chron. 6 u. 16.) Wahrlich, ein liebliches
Vorbild von dem Lobe, welches wir jetzt dem Herrn
in Gemeinschaft mit den Seinigen darbringen können!
„Auf daß ihr einmütig mit einem Munde den Gott und
Vater unsers Herrn Jesu Christi verherrlichet", schreibt der
Apostel.
Gerade die Einmütigkeit des Lobes ist hier besonders
bemerkenswert. Leviten und Priester preisen gemeinschaftlich
Jehova. Indem jeder Einzelne seinen Platz
in Uebereinstimmung mit den Anordnungen Gottes einnimmt,
offenbart sich als Frucht davon eine Ihm wohlgefällige
Harmonie, und zwar tritt diese Harmonie in der
62
Darbringung des Ihm geweihten Lobes hervor. So ist
es auch jetzt. Indem die Seinigen den Herrn gemeinschaftlich
Preisen, zeigt sich ihre Einheit. Wenn die wahren
Glieder des Leibes Christi im Namen Jesu versammelt
sind, so benutzt der Heilige Geist die Einzelnen als Seine
Werkzeuge, nm den Geliebten und Anbetungswürdigen zn
preisen; und es offenbart sich in dieser Verherrlichung ein
Völliger Einklang. Es zeigt sich, daß alle eine Gesinnung'
einen Gedanken, einen Gegenstand haben; daß ein
Geist sie regiert: daß sie alle ein Leib sind. Wir können
auch hier hinzufügen: Wenn es nicht immer so ist, so
sollte es doch wenigstens so sein. In demselben Maße,
wie unsre Herzen nicht mit Christo beschäftigt sind, fehlt
es unserseits auch an der praktischen Verwirklichung unsrer
Einheit in Ihm.
Auch möchte ich noch hinznfügen, daß überall da, wo,
durch den Geist Gottes bewirkt, die Einheit des Leibes
Christi sich offenbart, dieselbe in gemeinschaftlicher Anbetung
zum Ausdruck kommen wird. Wo andere Ziele und Zwecke
im Vordergrund stehen, da können wir sicher sein, daß das
Fleisch wirksam ist und der Geist gedämpft wird. Vereinigungen,
in welchen andere Bestrebungen Iso lobenswert
diese an und für sich auch sein mögen) den Vorrang haben,
sind daher nicht eine Frucht der Bemühungen des Geistes
Gottes.
Es bleibt uns noch eine Bemerkung hinsichtlich der
Priester nnd Leviten übrig. Wir haben bereits beobachtet,
daß sich in Juda ein Mangel bei den Priestern fand, was
ihren Zustand und ihre Gesinnung betraf. Dieser Mangel
wurde teilweise durch die Leviten ersetzt, worüber wir in
Kap. 29, 34 lesen: „Nnr waren der Priester zu wenig,
63
und sie konnten nicht allen Brandopfern die Haut abziehen;
nnd so unterstützten sie ihre Brüder, die Leviten, bis das
Werk vollendet war, nnd bis sich die Priester geheiligt
hatten; denn die Leviten waren redlichen Herzens, sich zu
heiligen, mehr als die Priester."
Beide, Priester wie Leviten, sind Vorbilder für uns.
Die Priester waren die Söhne Aarons. Priester sind wir
durch unsere Verbindung mit Christo, dem wahren Hohenpriester.
Wir sind Sein Haus. Er hat uns gemacht zu
Priestern Seinem Gott und Vater. Die Priester betraten
das Heiligtum; sie hatten sich mit den heiligen Dingen zu
beschäftigen, die Jehova dargebracht worden. Sie standen,
soweit dies zu jenen Zeiten möglich war, in Verbindung
nnd in Gemeinschaft mit dem, was Jehova gehörte, mit
dem Ort, wo Er wohnte, ja mit Ihm selbst. Es wird
also durch sie und die Stellung, welche sie einnahmen, die
bevorzugte Stellung, die wir durch uusrc Berbinduug mit
Christo haben und genießen, dargestellt. „Unsre Gemeinschaft
ist mit dem Vater und nut Seinem Sohne Jes»
Christo." Wir dürfen an dem, was der Vater hat und
genießt, mitteilhabeu und es mitgenießen, und ebenso an
dem, Was der Sohn hat und genießt. Wir werden dies
in Ewigkeit thun, ja dann erst in Vollkommenheit. Unser
Priestertum ist daher unvergänglich; es ist mit dem ewigen
Priestertum Christi verbunden. Das Priestertum ist eine
Gabe, ein Geschenk, welches umsonst zuteil wird, wie es
in 4. Mose 18, 7 heißt: „Als einen geschenkten Dienst
gebe ich euch (d. h. Aaron und seinen Söhnen) das Priestertum."
— Tie Priester waren bei ihrer Einweihung völlig
unthätig. lBergl. 3. Mose 8.) Sie ließen sich waschen
und bekleiden; das Opfer würde für sie herzugebracht und
64
geschlachtet; dann wurden sie mit Blut besprengt und endlich,
nachdem die Fettstücke auf ihre Hände gelegt und vor
Jehova gewebt waren, mit Oel gesalbt. In allem diesen,
war Moses der Handelnde, und die Priester ließen alles
für sich, an sich und mit sich geschehen. So ist jeder
Gläubige zu einem Priester geworden durch das Werk
Gottes in Christo für uns und das Werk Seines Geistes
an uns und in unsern Herzen. Durch dasselbe gelangen
wir unmittelbar zn den, Genuß der göttlichen und himmlischen
Dinge.
Das Erste, was wir die zu Priestern Gewordenen
in 3. Mose 8 thun sehen, ist, daß sie den Teil des Opfers,
der ihnen gegeben war, essen. So ist auch das erste, hauptsächlichste
und ewig bleibende Teil unsers Priestertums der
Genuß und die Freude an dem, was wir mit unserm Gott
und Vater und unserm Herrn Jesu Christo teilen dürfen,
— der Genuß an der Liebe des Sohnes, der sich zur Verherrlichung
Seines Gottes und Vaters freiwillig aufopferte,
und der Genuß an der Liebe des Vaters, die sich in der
Tahingabe Seines Sohnes völlig geoffenbart hat. Mit
diesem Genuß und dieser Freude steht in unmittelbarer
Verbindung die Darbringung dessen, was Gott gehört. Die
Priester im Alten Bunde brachten die verschiedenen Arten
von Opfern dar; wir opfern die Opfer des Lobes, das
ist die Frucht der Lippen, welche Seinen Namen bekennen.
Diese Lobopfer haben immer Christum und Sein Werk zur
Grundlage und zum Gegenstand, und zwar nach den verschiedenen
Seiten hin, nach welchen uns der Geist Gottes
diese Dinge vor Augen stellt. Auch diese Seite der Bethätigung
unsers Priestertums ist ewig, ja sie wird in der
Ewigkeit gleichfalls erst zn ihrem vollen Ausdruck gelangen.
65
Wie aber ist es, daß wir in 4. Mose 18, 1 Jehova
zu Aaron sagen hören: „Du und deine Söhne und das
Haus deines Vaters mit dir, ihr sollt die Ungerechtigkeit
des Heiligtums tragen; und dn und deine Söhne mit dir,
ihr sollt die Ungerechtigkeit eures Priestertums tragen" ?
Offenbar können diese Worte nur aus die Erde, den Schauplatz
der Sünde, Bezug haben. In der Herrlichkeit wird
von „Ungerechtigkeit des Heiligtums" und „des Priestertums"
keine Rede mehr sein. Beides wird dann vollkommen
der Heiligkeit Gottes entsprechen. Indessen sollte
dies schon hier der Fall sein. Der Tempel, welchen Gott
sich hier auf Erden erbaut, Seine Versammlung, die Sein
Haus ist, sowie das Priestertum, welches seitens der Gläubigen
in dem Hause ausgeübt wird, sollte völlig mit den
Gedanken Gottes in Uebereinstimmung stehen. Wir wissen,
daß dies nicht der Fall ist, und müssen es oft genug
erfahren, daß „das Gericht bei dem Hause Gottes an-
iüngt"; denn Gott will „in denen, die Ihm nahen, geheiligt
werden". In Seinem Lichte wird der kleinste Flecken
offenbar. An denen, die Ihm nahen, darf nicht das geringste
Ihm nicht Wohlgefällige unvernrteilt und unbestraft
bleiben. Daher haben wir hienieden als Priester die „Ungerechtigkeit
des Heiligtums" nnd „unsers Priestertums"
zu tragen. Obwol die höchsten Vorrechte uns geschenkt
sind, entspricht doch unser praktischer Instand, sowohl was
die Gesamtheit als auch was die Einzelnen betrifft, diesen
Vorrechten nicht. Dies müssen wir fühlen und in dem
demütigenden Bewußtsein der allgemeinen Verschuldung,
sowie unsrer Verantwortlichkeit für dieselbe und unsers
Anteils an derselben, vorangehen. Diese Gesinnung geziemt
sich für uns, so lange wir hienieden pilgern.
66
Gleich dem Priestertum stellt auch das Levitentum
einen Dienst für Gott dar, der jedoch nicht unmittelbar
Ihm, sondern zunächst dem Priestertum geleistet wurde.
„Zu den Geräten des Heiligtums und zn dem Altar sollen
sie nicht nahen, daß sie nicht sterben", heißt es von den
Leviten in 4. Mose 18, 3. In demselben Kapitel (Vers 6)
werden sie ebenfalls ein Geschenk genannt; dasselbe wurde
indes den Priestern (und so erst mittelbar dem Jehova)
gegeben. Sie dienten den Priestern, und waren der Hut
und Aufsicht Eleasars und Jthamars, der Söhne Aarons,
unterstellt. (4. Mose 4.) Auch standen sie in besonderer
Beziehung zu Aarou, dem sie sich anschließen sollten. (Kap.
l8, 2.) Er war ihr Oberhaupt, sie standen unter seinem
Befehl; doch war die Verbindung mit ihm nicht so nahe,
wie bei den Priestern, welche Söhne Aarons waren.
Während das Priestertum also mit der Sohnschaft in Verbindung
stand, bezeichnete das Levitentum ein rein dienendes
Verhältnis. Bei den Leviten begegnen wir deshalb auch
sogleich der Verantwortlichkeit: „Sie sollen das Schermesser
über ihr ganzes Fleisch gehen lassen und ihre Kleider waschen
und sich reinigen". <4. Mose 8.) Die Priester dagegen
wurden, wie bereits gesagt, gewaschen und bekleidet.
Auch wir sind Leviten, d. h. Diener. Wir dienen
Christo, unserm Herrn, und in dieser Beziehung giebt es
Unterschiede unter uns. „Es sind Verschiedenheiten von
Diensten und derselbe Herr." Die Söhne Kehaths, die
Söhne Gersons, die Söhne Meraris waren alle Leviten,
hatten aber ganz verschiedene Dienstleistungen (4. Mose 4)
zu verrichten. Auch in den Vorkehrungen, welche David
für den Gesang „vor der Lade Jehovas" traf, wurden
einzelnen Leviten besondere Dienstleistungen aufgetragen.
67
(Vergl. 1. Chron. 25. 26.) Unter den Priestern bestand
kein Unterschied. Jeder hatte dieselben Rechte und Pflichten,
cs sei denn daß diese durch persönliche Mängel beschränkt
wurden. Mit den Leviten aber war es anders. So
Hütte z. B. kein Sohn Meraris an dem Tragen der Bundeslade
teilnehmen dürfen: das war der Dienst der Söhne
Kehaths. Als Priester dürfen wir alle mit Freimütigkeit
in das Heiligtum eintreten, genießen alle die gleichen
Vorrechte, wenn wir ihres Genusses nicht durch persönliche
Verschuldung zeitweilig beraubt sind. Wenn es sich aber
um den Dienst handelt, so heißt es: „Sind etwa alle
Apostel? alle Propheten? alle Lehrer?"
Das Priestertum wie der Dienst stehen, wie schon
bemerkt, in enger Beziehung zu Christo; jedoch bezeichnet
ersteres ein unauflösliches Verhältnis, welches in Ewigkeit
fortbesteht, während der Dienst nur so lange dauert, als
wir uns hienieden befinden. Aller wahre Dienst fließt
von Ihm her und wird Ihm gethan, jedoch in den Seinigen.
Wir dienen Christo in den Seinigen, und zwar in ihrer
Eigenschaft als Priester. Der Dienst hat die Aufgabe, dem
Priestertum hier auf Erden behilflich zu sein. Wir begegnen
deshalb dem Dienst der Leviten zum ersten Male
da, wo es sich um den Aufbruch zum Zuge durch die Wüste
handelt. Die Anweisungen, welche die Leviten im 4. Buch
Mose für ihren Dienst empfangen, stehen nur mit der Wüste
in Verbindung.. Hieraus folgt, daß der Dienst, wie schon
gesagt, nur so lange dauert, wie wir hienieden sind. Er
hat es mit den Geliebten des Herrn zu thun, so lange sie
auf Erden wandeln. Ferner können wir aus dem Umstande,
daß die Bundeslade und alle Geräte des Heiligtums, welche
von den Leviten getragen wurden, nur von Christo redeten,
68
die einfache aber so wichtige Belehrung schöpfen, daß der
Dienst keinen andern Zweck Haben darf, als Christum den
Seinigen vor Augen zu stellen. Er soll das Priestertum
unterstützen, also die Freude am Herrn, die Anbetung, die
priesterliche Gesinnung befördern. Wo diese in Thätigkeit
ist, da tritt der Dienst zurück, da hat er seinen Zweck
erfüllt. Darum ist in der Ewigkeit für denselben kein
Raum mehr, und darum tritt er auch selbst heute schon am
Tische des Herrn zurück. Zwar sehen wir die Leviten sich
an der Darbringung der Opfer mit Musik beteiligen, nnd
auch im Neuen Testament werden wir zum Gebrauch von
„Lobliedern" und „geistlichen Liedern" aufgefordert, die
stets die Frucht einer vom Herrn geschenkten Gabe sein
werden und die wir darum auch mit Freuden zum Preise
des Herrn benutzen dürfen. Allein auch dieses ist jedenfalls
etwas, was mit der Schwachheit und Unvollkommenheit
unsers Zustandes hienieden zusammenhängt und demselben
nach Kräften zu begegnen sucht. Im Himmel werden
wir sicher keine „Liederbücher" mehr brauchen und keine
„Melodien" zu lernen nötig haben. Beachten wir indessen,
daß die Musik der Leviten sich in vollem Einklang mit den
von den Priestern gebrauchten silbernen Trompeten befand.
So muß auch eine vollkommene Uebereinstimmung bestehen
zwischen den Lobliedern und geistlichen Liedern, die zum
Gebrauch kommen, und dem einfachen Worte der Schrift;
anders wird die Anwendung jener Lieder nicht zum Preise
des Herrn sein.
Was den wiederholt erwähnten Mangel betrifft, der
sich in den Tagen des Iehiskia bei den Priestern geltend
machte und der teilweise durch die Leviten ersetzt wurde,
so glaube ich, daß wir einer ähnlichen Erscheinung auch
69
in unsern Tagen vielfach begegnen; ich meine, dem Zurücktreten
des wahren Priestertums und dem Hervortreten des
Dienstes, der jenen Mangel nach Kräften zu ersetzen bemüht
ist. Ist nicht im allgemeinen der Genuß, die Freude am
Herrn, die Anbetung äußerst schwach und gering? und ist
man nicht oft vielmehr geneigt, ein Wort der Erkenntnis
oder der Ermahnung zu hören? Ja, es ist ein Bild der
Schwachheit, der „kleinen Kraft", welches sich heute unsern
Blicken darstellt.
Wie erquickend ist es, gerade im Hinblick aus diesen
Umstand bei Iehiskia die priesterliche Gesinnung zu bemerken,
die wir bereits betrachtet haben! Und was bei Iehiskia
in schwachem Maße der Fall war, das finden wir bei unserm
geliebten Herrn in Vollkommenheit. Wir besitzen in Ihm
— Sein Name sei ewig dafür gepriesen! — „einen großen
Priester über das Haus Gottes", durch den wir Gott stets
die Opfer des Lobes darbringen können. Er erstattet jeden
Mangel der Seinigen. Er wird nicht müde, sich mit
uns zu beschäftigen und sür alles Sorge zu tragen. Bon
Iehiskia lesen wir, daß er zum Herzen aller Leviten redete,
welche der guten Kenntnis Jehovas kundig waren, und
weiter, daß durch sein und der Obersten Geschenk die Versammlung
in den Stand gesetzt wurde, noch weitere sieben
Tage zu feiern. (2. Chron. 30, 22—24.) So vermag
auch jetzt der Herr unsre Herzen zu trösten und zu ermuntern,
ja nnsre Freude zu erhöhen und selbst zu verdoppeln,
trotz der Schwachheit und des niedrigen Zustandes, in
welchem wir uns befinden. Er ist die unerschöpfliche
Quelle alles Trostes, aller Freude und aller Erquickung.
Ihm sei ewig Ruhm und Ehre! (Schluß folgt.)
70
Der Kampf des Christen.
„Kämpfe den guten Kampf des Glaubens."
(1. Tim. 6, 12.)
Mit dem Eintritt des Herrn in Seine Leiden kam
für die Jünger ein ernster Wendepunkt in ihrem Leben.
Bis dahin war der Herr für alle ihre Bedürfnisse eingetreten,
und auf Seine Frage: „Als ich euch ohne Börse
und Tasche und Sandalen sandte, mangelte euch etwas?"
konnten sie nur mit einem bestimmten „Nein" antworten.
Dann aber hören wir die bedeutungsvollen Worte: „Aber
jetzt, wer eine Börse hat, der nehme sie, und gleicherweise
eine Tasche, und wer keine hat, verkaufe sein Kleid
und kaufe ein Schwert". (Luk. 22, 35. 36.) Der Herr
legte den Jüngern damit in eindringlicher Weise die Thatsache
ans Herz, daß nunmehr die Zeit des Kampfes für
sie gekommen war, in welcher sie vor allem eines Schwertes
bedurften. Die Jünger hatten zwar in jenem Augenblick
noch kein Verständnis für die geistliche Bedeutung der
Worte des Herrn, weshalb Jesus auch, als sie Ihm zwei
Schwerter zeigten, antwortete: „Es ist genug".
Die Zeit, welche vor den Jüngern lag, war besonders
ernst; sie mag heute weniger schwierig erscheinen. Gleichwohl
bleibt die dringende Aufforderung des Herrn zum
Kampfe bestehen. Seitdem die Welt den Herrn Jesum
verworfen und unter die Gesetzlosen (Luk. 22, 37) gerechnet
hat, läßt ihr Fürst nichts unversucht, um die
Gläubigen zu Fall zu bringen. Kein Geringerer als Satan
mit seinem ganzen Anhänge, gewaltig an Macht und List,
ist unser Widersacher. „Denn unser Kampf ist nicht wider
Fleisch und Blut, sondern wider die Fürstentümer, wider
71
die Gewalten, wider die Weltbeherrscher dieser Finsternis,
wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen
Oertern/' (Ephes. 6, 12.) Wir sind geneigt, diesen Widersacher
nicht genügend zu beachten und seine Macht und
List zu unterschätzen. Um uns eine kleine Vorstellung von
dieser schrecklichen Macht und List zu machen, brauchen wir
nur einen Blick auf den Sündenfall und seine Folgen zu
werfen, auf all den Jammer und das Elend, unter welchem
die ganze Schöpfung seitdem seufzt; auf den großen Verfall
des Volkes Israel und der Kirche, auf die Geschichte
eines Hiob, eines Petrus re. rc. Die großeMerwirrung
unter den Gläubigen unsrer Tage, die vielen Fälle, wo
selbst ernste Gläubige eine Beute menschlicher Vernunftweisheit
geworden, oder wo andere in sittlicher Beziehung
zu Fall gekommen sind — alles das zeigt uns ebenfalls
zur Genüge, mit was für einem Widersacher wir es zn
thun haben, und wie ernst und beherzigenswert die Aufforderung
des Herrn zum Kampfe ist.
Wie wenig denken Wir oft daran, daß unser Widersacher,
der Teufel, umher geht und sucht, wen er
verschlinge. (1. Petr. 5, 8.) „Siehe, der Satan hat euer
begehrt", sagte der Herr zu Simon. Und auf die
Frage Jehovas: „Wo kommst du her?" antwortet Satan:
„Vom Durchstreifen der Erde und vom Umherwandeln
auf ihr". (Hiob 1, 7.) Wie oft mag er schon den einen
oder andern von uns zu sichten begehrt nnd zn verderben
gesucht haben, ohne daß wir mir eine Ahnung davon
hatten! Es ist seine Lust, das zu thun. Sind wir gewappnet
gegen seine Angriffe? Bedenken wir stets, daß
dieselben Gefahren, in denen schon so viele nmgekommen
sind, auch uns umgeben? daß dieselben Klippen, an denen
72
schon so manche scheiterten, auch unserm Schifflein Verderben
und Untergang drohen? Wer von uns kann dafür
bürgen, daß er nicht in Versuchung falle?
Es ist allerdings wahr, daß der Herr den Feind
überwunden hat. Er hat ihn für den Glauben durch
Seinen Tod zunichte gemacht, und der Feind weiß das;
er weiß sehr wohl, daß er unsre Errettung und unsre
Stellung in Christo ebenso wenig anzutasten vermag, wie
er das Werk Christi ungeschehen machen kann. Seine Anstrengungen
sind deshalb auch nicht daraus gerichtet; vielmehr
sucht er unsern Glauben zu erschüttern, uns auf
irgend eine Weise zn Fall zn bringen, zur Schmach und
Unehre unsers geliebten Herrn und zum Verderben des
Zeugnisses der Wahrheit. Er hat keine Macht mehr über
den Gläubigen, wenn nicht dessen praktischer Zustand den
Herrn nötigt, ihn der Sichtung Satans zu überlassen. Er
konnte Hiob nicht antasten ohne Erlaubnis von seiten Gottes.
Er sagt selbst: „Hast du denn nicht ihn und sein Haus
und alles was er hat eingezäunt ringsum?" (Hiob 1, 10.)
Sicher ist jeder Gläubige heute ebenso ringsum eingezäunt
durch die Gnade Gottes, und befindet sich außer dem Bereich
Satans. Aber Hiob und Petrus waren trotz ihrer
Frömmigkeit und wirklichen Anhänglichkeit an den Herrn
mit Selbstvertrauen erfüllt, und dies machte ihre Sichtung
notwendig.
Wir lernen aus diesen beiden Fällen, daß weder
unsre Frömmigkeit, noch unsre gute Meinung oder Erkenntnis
uns gegen die Angriffe Satans schützen können.
Mögen wir noch so gefördert, begabt und reich an Erkenntnis
sein, mögen uns selbst langjährige Glaubens-
Erfahrungen nnd die besten Zeugnisse der Treue und
73
Hingebung zur Seite stehen, so können wir trotz alledem
nicht dafür bürgen, daß wir nicht in eine der fein gelegten
Schlingen des Feindes fallen. Gott selbst bezeugte von
Hiob: „Seinesgleichen ist nicht auf der Erde, ein Mann,
vollkommen und rechtschaffen, gottesfürchtig und das Böse
meidend". (Hiob 1, 8.) Dennoch schützte ihn dies alles
nicht vor der Sichtung. Und Petrus meinte es sicherlich
ernst mit seinem Versprechen: „Selbst wenn ich mit dir
sterben müßte, werde ich dich nicht verleugnen". (Matth.
26, 35.) Er war nicht unaufrichtig, und er liebte wirklich
seinen Herrn; trotzdem unterlag er der List Satans.
Wie denn können wir uns gegen den Feind schützen
nnd ihn überwinden? Wie bewahrt bleiben nnd feststehen,
wo so viele gefallen sind? Der Herr hat uns auch in
dieser Hinsicht ein Beispiel hinterlassen. Er hat uns gezeigt,
welcherlei die Waffen unsers Kampfes sein sollen,
und welches die Bedeutung des Schwertes ist, dessen Erwerb
Er Seinen Jüngern so dringend ans Herz legte.
Keine Versuchung kann uns treffen, durch welche Er nicht
hindurchgegangen wäre, ausgenommen die Sünde. (Hebr.
4, 15.) Und Er hat stets gesiegt. Die Waffen unsers
Kampfes haben sich in Seiner Hand vollständig und ausreichend
bewährt, und wir dürfen uns ruhig auf sie verlassen.
Alle Waffen trügen und sind nutzlos im Kampf
gegen Satan, nur an diesen ist seine ganze Macht nnd
List gescheitert.
Betrachten wir denn einige der Gelegenheiten, bei
welchen unser Herr den Feind überwunden hat.
Zunächst wurde Er vom Teufel versucht in der Wüste.
Wie der erste Adam auf die Probe gestellt wurde, so auch
der letzte, nur unter weit verschiedenen Umständen wie jener.
74
Statt in den Garten Eden und den Genuß aller Annehmlichkeiten
der Erde, wurde Er in die Wüste geführt, wo
Er unter Ermangelung der notwendigsten Bedürfnisse vierzig
Tage vom Teufel versucht wurde, umgeben von dem Geheul
der wilden Tiere nnd allen Zeichen des Fluchs, der
auf der Erde lastete. (Mark. 1, 12. 13.) In der Schrift
werden nur drei Versuchungen erwähnt; von welcherlei
Art die übrigen während der vierzig Tage gewesen sind,
wird nicht gesagt; aber wir dürfen sicher annehmen, daß
Satan nichts unversucht gelassen haben wird, den Herrn
gleich dem ersten Adam zu Fall zu bringen.
Das menschliche Leben bietet (in seiner gegenwärtigen
Gestaltung durch die Sünde) dem Feinde Stoff und Gelegenheit
in Fülle zu den mannigfachsten Versuchungen.
Wie viele Bedrängnisse giebt es, wo peinliche Umstände,
äußere Not, das Zusammentreffen von mancherlei Schwierigkeiten
rc. vom Teusel benutzt werden, den Glauben des Christen
zu erschüttern, Zweifel und Mißtrauen gegen Gott in ihm
zu erwecken und ihn zur Selbsthilfe zu verleiten! Wie
verlockend erscheint dann eine durch Satan in Aussicht
gestellte Möglichkeit, nicht nur aller Not und allen Schwierigkeiten
mit einem mal enthoben zu werden, sondern sogar ein
Leben voller Genüsse und Annehmlichkeiten führen zu können'.
Allerdings auf Kosten des Gehorsams gegen
Gott! Und wie mancher Gläubige ist in Stunden der
Not solchen Versuchungen erlegen, und hat den Boden der
Abhängigkeit von Gott verlassen! Aber der Herr erlag
nicht, obgleich solche und ähnliche Versuchungen thatsächlich
an Ihn herantraten. Niemand war je so arm wie Er,
denn Er hatte nicht, wo Er Sein Haupt hinlegen konnte
(Luk. 9, 58); und gerade in der Stunde der Versuchung
75
war Er von dem Notwendigsten entblößt, hatte nicht einmal
Brot, um Seinen Hunger zu stillen. Dazu kam die
Trostlosigkeit der Einöde, das schreckliche „Geheul der
Wildnis", und niemand war da, der ein Wort des Trostes
oder des Mitgefühls für Ihn gehabt hätte. Nur Satan
erschien auf dem Schauplatz, um Ihn, wenn möglich, zu
Fall zu bringen. *) Aber umsonst versuchte er Ihn, zur
Stillung Seines Hungers von Seiner Macht als Sohn
Gottes Gebrauch zu machen, und also den Pfad der Abhängigkeit
zu verlassen. Sein Gehorsam war unerschütterlich,
weil er auf dem festen und untrüglichen Worte Gottes
ruhte. Für den Herrn genügte dieses Wort vollkommen:
es war für Ihn in jeder Lage entscheidend und bestimmend,
und ebenso bestimmt war die Wirkung Seiner Berufung
auf dasselbe gegenüber der Versuchung. Diese wurde durch
die Worte: „Es steht geschrieben!" völlig und endgültig
abgewiesen.
*) Zwar lesen wir, daß die Engel Ihm dienten (Mark. 1, 13-;
aber Lies änderte nichts an Seiner Prüfung, ebenso wenig wie die
Thatsache, daß Er der Sohn Gottes war. Er war gekommen, um zu
gehorchen, unter welchen Umständen es auch sein mochte, nicht aber
um zu Seinen Gunsten Gebrauch zu machen von Seiner Macht als
Sohn Gottes, oder selbst von der Macht der Engel.
Nachher machte Satan dem Herrn das verlockende
Anerbieten, alle Reiche des Erdkreises, alle Ihre Gewalt
und Herrlichkeit Ihm zu geben, wenn Er nur niederfallen
und ihn (Satan) anbeten wolle. Doch auch hier wandte
der Herr dieselbe Waffe an: „Es steht geschrieben!" Und
so bestimmt und entscheidend wie bei der ersten Versuchung,
ebenso entscheidend war auch hier die Wirkung. Es bestätigte
sich vollkommen die Wahrheit des Wortes: „Denn
76
das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer
als jedes zweischneidige Schwert". (Hebr. 4, 12.)
Nun aber könnte gefragt werden: Warum erweist sich
das Wort Gottes in unsern Händen nicht immer als
solch ein scharfes Schwert gegen den Widersacher? Die
Antwort ist einfach: weil es für unsre Herzen nicht
immer das entscheidende und allein bestimmende
Wort ist, wie es dies für den Herrn war. Wenn das
Wort unser eignes Herz und Leben verurteilt, können wir
es nicht als Schwert gegen Andere benutzen.
Die schlimmsten aller Versuchungen sind diejenigen,
in welchen sich der Feind selbst auf das Wort Gottes beruft.
Und leider gelingt es ihm nur zu oft, unter diesem
trügerischen Deckmantel die verwerflichsten Lügen und Irrlehren
zu verbreiten. Unter seinem Einfluß werden die
Gläubigen in unendliche Verwirrung gestürzt. Alle die
verschiedenen Sekten und Parteien berufen sich ans
die Schrift. Die schlimmsten Jrrlehrer bedienen sich zur
Stützung ihrer Behauptungen dieser oder jener Schriftstelle.
Betrachtet man aber die Art und Weise, wie der Teufel
die Schrift anführt, etwas näher, so erkennt man bald, daß
er sie unrichtig auführt oder daß er einzelne Stellen aus
ihrem Zusammenhang herausreißt, so daß sich seine Anführungen
nicht mehr mit der ganzen Schrift decken. Diese
aber steht mit sich selbst in vollkommenem Einklang von
Anfang bis zu Ende, und widerspricht sich niemals. Vom
ersten Kapitel des ersten Buches Mose bis zum letzten
Kapitel der Offenbarung hebt keine Stelle die andere aus,
es sei denn daß sie falsch angeführt oder angewandt würde.
Der Herr aber wußte einer solch falschen Anwendung ein
„Wiederum steht geschrieben!" entgegenzustellen, wodurch
77
Satan entlarvt und seine Falschheit bloßgestellt wurde.
Welch ein zuverlässiger Führer ist doch das Wort Gottes
für den Einfältigen! Es genügt vollkommen, ihn trotz aller
Verwirrung und Irrlehren — mögen die letzteren auch
noch so sehr den Schein der Wahrheit tragen — auf dem
einzig sichern Pfade des Willens Gottes zu leiten.
In allen diesen Versuchungen blieb der Herr Sieger
und behauptete das Feld, und Satan wich von Ihm —
aber nur für eine Zeit. (Luk. 4, 13.) Noch hatte Satan
nicht alle Hoffnung auf den fchließlichen Sieg seiner teuflischen
Pläne aufgegeben; in Gethsemane sehen wir ihn
zurückkehren, und zwar mit aller ihm zu Gebote stehenden
Macht. Er wußte, daß es sich dort um einen Entscheidungskampf
handelte, und nach Lukas scheinen die Leiden
des Herrn in Gethsemane sich hauptsächlich auf diesen
Kampf zu beziehen. Aber wie in der Wüste, so bediente
sich der Herr auch hier nicht Seiner göttlichen Macht,
obgleich Er, wie Johannes uns in seinem Evangelium
erzählt, Seine Feinde mit einein einzigen Worte zu Boden
strecken konnte. Als der völlig abhängige Mensch erwartete
Er in diesem Kampfe ohne Gleichen Seine Hilfe von Gott
allein. Wie in der Wüste das Wort Gottes Seine einzige
Waffe war, so war hier das Gebet Seine einzige
Zuflucht. Und je heißer der Kampf wurde, um so dringender
wurde Sein Gebet. „Und als Er in ringendem
Kampfe war, betete Er heftiger. Es wurde aber Sein
Schweiß wie große Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen."
(Luk. 22, 44.)
Welch ein Kampf! Welch ein Ringen! Was war es,
das dem Herrn diesen Schweiß auspreßte? Die folgende
Schriftstelle giebt uns Aufschluß darüber: „Der in den
78
Tagen Seines Fleisches, da Er sowohl Bitten als Flehen
zu Dem, der ihn aus dem Tode zu erretten vermochte,
mit starkem Geschrei und Thränen geopfert hat (und um
Seiner Frömmigkeit willen erhört worden ist) obwohl Er
Sohn war, an dem, was Er litt, den Gehorsam lernte".
(Hebr. 5, 7. 8.) Die Schrecken des Todes waren es,
mit welchen Satan, der die Macht des Todes hatte, hier
auf die Seele des Herrn eindrang. Es handelte sich nicht
einfach um den Tod als solchen, dem schon viele, selbst
Ungläubige, furchtlos ins Auge geschaut haben; es war
der Tod mit all den Schrecken des Gerichts Gottes über
die Sünde. Mit diesen suchte Satan den Herrn von der
Erfüllung des Erlösungswerkes abzuhalten. Die heilige
Seele des Herrn mußte sich gegen den Gedanken sträuben,
vor Gott für uns zur Sünde gemacht zu werden. Wie
hätte Er, der Heilige, der keine Sünde kannte, dies auch
nur im Entferntesten wollen oder begehren können? Aber
aus keinem andern Wege konnte der Wille Gottes, die Erlösung,
erfüllt werden. Wie schrecklich es daher auch sein,
und wie sehr die heilige Seele unsers hochgelobten Herrn
davor erzittern mochte, so unterwarf Er sich dennoch willig
dem Willen des Vaters: „Mein Vater, wenn dieser (Kelch)
nicht an mir vorübergehen kann, ohne daß ich ihn trinke,
so geschehe Dein Wille". (Matth. 26, 42.)
Er ist um Seiner Frömmigkeit willen erhört
worden. Sein Vertrauen zn Gott hat nicht euren Augenblick
gewankt, selbst nicht in dieser schrecklichen Stunde.
Es ist vollkommen erprobt, und ist bewährt worden infolge
Seines unablässigen, ringenden Bittens und Flehens,
welches sich bis zum „starken Geschrei mit Thränen" steigerte,
und Satan hat es mittelst all seiner Schrecken auch nicht
79
für einen einzigen Moment zn erschüttern vermocht. Der
Herr hat das Feld behauptet: in der Wüste durch das
Wort, in Gethsemane durch das Gebet. Er hat uns somit
gezeigt, wie wir als Christen den Kampf zu führen
haben. Er hat uns gezeigt, wie uns das Schwert des
Geistes in Verbindung mit unablässigem Gebet und Flehen
zum sichern Siege zu führen vermag. Beides, Gottes
Wort und Gebet, muß Zusammengehen. Fehlt eines, so
werden wir des Sieges verlustig gehen. Mit der Aufforderung:
„Nehmet . . . das Schwert des Geistes, welches
Gottes Wort ist", verbindet der Heilige Geist die Mahnung:
„zu aller Zeit betend mit allem Gebet und Flehen in deni
Geiste, und eben hierzu wachend in allem Anhalten und
Flehen für alle Heiligen". (Eph. 6, 17. 18.) Ein gläubiges,
vertrauensvolles Harren auf Gott, verbunden mit
dem treuen, einsichtsvollen Gebrauch Seines Wortes —
das ist der sichere Weg zum Siege, wie groß die Versuchung,
wie heiß der Kampf und wie ernst die Bedrängnis
auch sein mag. Die Prüfung mag schwer sein, kein Ausweg
sich zeigen, keine Hilfe sich blicken lassen; der Feind
mag sagen: „Wo ist dein Gott?", ja Not und Drangsal
mögen sich bergehoch steigern — aber ewig, unerschütterlich
wahr bleibt es: Gott läßt nicht beschämt werden,
die auf Ihn harren.
Am Tage des Kampfes (und wir leben an einem
solchen Tage) kann sich keiner auf den Andern stützen, auch
keiner den Andern schirmen: jeder muß für sich zusehen,
daß er nicht falle. Selbst der Herr vermochte in dieser
Beziehung den Petrus nicht zu schützen. Er konnte für Ihn
beten, und Er hat es gethan; aber die Sichtung konnte
Er ihm nicht ersparen, weil der Zustand Seines Jüngers
80
es nicht erlaubte. Der Herr hatte ihn gewarnt, hatte
ihm bestimmt gesagt, daß er Ihn verleugnen würde.
Petrus hätte infolge dessen Furcht und Schrecken vor sich
selbst bekommen und seine Zuflucht zum Gebet nehmen
sollen; aber in seinem Selbstvertrauen ließ er die Warnung
unbeachtet, und als er hätte beten sollen, schlief er. Es
blieb daher kein anderes Mittel übrig, um ihn zur Einsicht
zu bringen und von seinem Selbstvertrauen zu heilen, als
die Sichtung. Möchten wir stets unsrer Schwachheit
eingedenk und überzeugt sein, daß gute Meinungen im
Kampfe gegen Satan wertlos sind! Alles zeugte von
Schwachheit auf feiten des Herrn in diesem Kampfe; aber
die Kraft Gottes wurde in diefer Schwachheit vollbracht.
Scheinbar unterlag der Herr, aber in Wirklichkeit unterlag
Satan. Darum laßt auch uns der Worte des Herrn an
Seinen Apostel eingedenk sein und sie tief in unsre Herzen
einprägen: „Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft
wird in Schwachheit vollbracht"! (2. Kor. 12, 9.)
Die Welt.
Die Welt ist verderbt; sie liegt in der Sünde; sie
hat den Heiland — Gott, gekommen in Gnade — verworfen.
Nicht nur ist der Mensch aus dem Garten Eden
vertrieben worden, weil er ein Sünder war — das ist
geschehen, und die Thatsache, daß er ein Sünder ist, genügt,
um ihn zu verdammen; aber es giebt noch mehr als
das. Gott hat vieles gethan, um den Menschen zur Besinnung
zu bringen und zu sich zurückzuführen. Er gab
Abraham die Verheißungen, Er berief Israel zu Seinem
Volke, Er sandte die Propheten und zuletzt Seinen ein-
81
gebornen Sohn. Gott selbst kam in Gnade auf diese Erde
herab; aber der Mensch warf (so weit er es vermochte)
den Gott, der in Gnaden in der Welt war, hinaus. Deshalb
sagte der Herr zu Seinen Jüngern: „Jetzt ist das
Gericht dieser Welt". Das letzte, was Gott thun konnte,
war die Sendung Seines Sohnes; und diese Sendung ist
geschehen. „Ich habe noch", sagte Er, „einen einzigen
geliebten Sohn; vielleicht werden sie sich vor ihm scheuen,
wenn sie ihn sehen." Aber „sie nahmen ihn und töteten
ihn und warfen ihn aus dem Weinberg hinaus." Die
Welt hat also den Sohn Gottes bereits verworfen; und
wo sucht und findet sie jetzt ihre Freude? In Gott, oder
in Christo? Nein, sondern in den Lüsten des Fleisches,
in äußerer Größe, in Ansehen, Reichtum re.; sie sucht sich
glücklich zu machen ohne Gott, um dem Gefühl zu entgehen,
daß sie Seiner bedarf. Wenn sie glücklich wäre, brauchte sie
ihr Glück nicht in Vergnügungen und dergleichen zu suchen.
Da Gott den Menschen für sich geschaffen und ihm einen
Odem des Lebens eingehaucht hat, kann der Mensch durch
nichts Geringeres befriedigt werden als durch Gott selbst.
Lies die Geschichte Kains. Kain ging von dem Angesicht
des Herrn hinweg und wohnte im Lande Nod.
Dann baute er eine Stadt und nannte sie nach dem Namen
seines Sohnes Hanoch. Nachher wurde Jabal der Vater
derer, welche in Zelten wohnen und Herden besitzen (worin
der Reichtum in jenen Tagen bestand); und sein Bruder
Jubal war der Vater aller derer, welche mit der Laute
und Pfeife umgehen. Ferner gebar Zilla Tubalkain, einen
Hämmerer von allerlei Schneide-Werkzeug aus Erz und
Eisen. (1. Mose 4, 20—22.) Da hast du die Welt und'
ihre Civilisation; weil die Menschen Gott nicht besitzen.
82
müssen sie die Wett schön und angenehm machen. Doch
man wird sagen: Was für Böses liegt denn in Lauten
und Pfeifen? Nichts! Das Böse liegt in dem Herzen
-es Menschen, der diese Dinge benutzt, um sich ohne Gott
glücklich zn machen, indem er Ihn vergißt, Seine Nähe
flieht und sich in einer Welt der Sünde zu befriedigen
und diesen elenden Zustand der Entfremdung von Gott
dadurch zu vergessen sucht, daß er sich in das Verderben
stürzt, welches in der Welt regiert. Der äußere Glanz,
der schöne Schein, der auf den Menschen so viel Eindruck
macht, führt ihn nur zu oft unbewußt in dieses Verderben
hinein; und um dies zu verbergen, giebt er sich den Anschein
der Fröhlichkeit. Wenn er nicht wirk lich glücklich
nnd fröhlich ist, so will er doch wenigstens so scheinen.
Aber der neue Mensch, der aus Gott geboren ist und
an der göttlichen Natur teil hat, kann seine Freude nicht
in der Welt finden. Die neue Natur meidet und flieht
alles, was sie von Gott trennen könnte. Wo das Fleisch
sein Glück und sein Vergnügen findet, findet das geistliche
Leben nichts. Die Welt ist nicht zum Teil verderbt, zum
Teil rein; nein, sie ist verunreinigt und verderbt in allen
ihren Grundsätzen, in jeder Beziehung. Wer ihr gleichförmig
ist, dessen Wandel ist ebenfalls verunreinigt und verderbt.
Die Freundschaft der Welt ist Feindschaft gegen Gott. Wer
der Welt Freund sein will, ist Gottes Feind. Wir sind
berufen, uns von der Welt rein zu erhalten. Wir müssen
allerdings durch sie hindurchgehen, aber indem wir dies
thun, sollen wir der Brief Christi sein, unbefleckt durch die
Welt, die uns umgiebt, gleichwie Christus unbefleckt war
inmitten einer Welt, die Ihn nicht aufnehmen wollte.
83
„Kommet und sehet!" vi
Nachdem Johannes der Täufer Jesum als „das Lamnr
Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt", angekündigt
hatte, sah er Ihn am nächsten Tage „wandeln". (Joh.
l, 36.) Wunderbarer Anblick! Der Sohn Gottes, der
Herr vom Himmel, in Niedrigkeit wandelnd auf dieser
Erde! Dieser Anblick ergreift den Vorläufer des Herrn
so mächtig, daß er voll Bewunderung und Anbetung ausruft:
„Siehe, das Lamm Gottes!" Der größte
der von Weibern gebornen Propheten giebt dem Heilande
auf diese Weise Zeugnis und Ehre. Er ist völlig bereit,
jetzt, nachdem sein Dienst erfüllt ist, von dem Schauplatz
abzutreten. „Er muß wachsen, ich aber abnehmen", ist
die Sprache seines liebenden nnd demütigen Herzens. Der
Bräutigam war da; der Freund des Bräutigams hörte
Seine Stimme, und seine Freude war erfüllt. (Joh. 3,
29. 30.)
Nichts wirkt so mächtig auf das Herz des Menschen
als der wahre, aufrichtige Ausdruck der Freude und Wonne
an einem Gegenstände, der dieser Freude würdig ist. Nicht
schöne Worte, nicht schlagende Beweisgründe — nein, das
Ausströmen eines liebeerfüllten Herzens, der mächtig hervorquellende,
ungekünstelte Ausdruck dessen, was ein solches
Herz fühlt, ergreift den Zuhörer mit unwiderstehlicher
Gewalt. So war cs auch hier. Die beiden Jünger des
Johannes verlassen auf jenen Ausspruch hin ihren Meister
und folgen Jesu nach: und als sie sich dem Herrn nähern,
fragt Er sie: „Was suchet ihr?" — „Rabbi", antworten -
sie, „wo hältst du dich auf?" — Ihre Herzen waren für
Ihn gewonnen, und nur die Gemeinschaft mit Ihm, das
84
Weilen in Seiner nächsten Nähe konnte sie befriedigen.
„Kommet und.sehet", ruft ihnen der Herr freundlich zu,
und sie kamen und sahen, wo Er sich aufhielt, und —
sie blieben jenen Tag bei Ihm.
Was suchst d u, mein lieber Leser? Möchtest du auch
da sein, wo Er sich aufhält? Dann komm und siehe!
Er ist jetzt droben, zur Rechten Gottes, mit Ehre und
Herrlichkeit gekrönt. Darum heißt es: „Suchet, was droben
ist, wo der Christus ist!" (Kol. 3, 1.) Aber Er ist
auch hienieden, da wo zwei oder drei in Seinem Namen
versammelt sind; Er findet sich bei denen ein, deren Herzen
Ihm entgegenschlagen, die von Ihm reden und an
Ihm sich erfreuen. Sein Aufenthaltsort war damals der
Welt verborgen; er wird in unserm Kapitel nicht einmal
genannt. So ist er auch heute der Welt verborgen,
aber die Seinen kennen ihn und wissen davon zu reden,
was es heißt, in Seiner nächsten Nähe zu sein, da sich
aufzuhalten, wo Er sich aufhält. So wie Jesus damals
der Mittel- und Sammelpunkt für alle gläubigen Herzen
wurde, so ist Er es auch heute noch. Er ruft ihnen allen
zu: „Kommet und sehet!" und bald wird dieses „Kommet
und sehet!" in noch anderem Sinne erschallen. Er wird
die Seinigen Heimrusen ins Vaterhaus droben, und daun
werden sie in ewiger Herrlichkeit sehen, wo Er sich aufhält,
und nie, nie wieder von Ihm gehen. — O möchte
Er uns Herzen geben, die in Liebe zu Ihm brennen, die
ihre eignen, selbstsüchtigen Interessen vergessen und fähig
find, von Ihm zu zeugen!
Die beiden letzten Zeugnisse Gottes an das
Zehnstämmereich.
(Schluß.)
So haben wir denn gesehen, welch eine wichtige, ernste
Einladung es war, die von selten des Königs Jehiskia an
Israel erging. Das Volk wurde aufgefordert, wieder an
den Vorrechten teilzunehmen, welche Gott Seinem Volke
verliehen hatte, mochten dieselben auch noch so lange schnöde
mißachtet worden sein. Es wurde eingeladeu, wieder der
Einheit des Volkes Gottes Ausdruck zu geben, sich an dem
Ort des Gott geweihten Heiligtums, wv Seine Wohnung
lvar, zu versammeln und, unter der Leitung des Sohnes
Davids, des Königs, der seine Autorität von Gott hatte,
in Gemeinschaft mit ihren Brüdern Jehova zu preisen.
Diese Einladung erging, wie bereits früher gesagt, kurz
bevor der Herr Sein Gericht an Israel zur Ausführung
brachte. Es war ein lieblicher und rührender Beweis
dafür, daß Er Sein Volk nicht vergessen hatte. Es war
ein letzter „Ruf", doch in Gemeinschaft mit Ihm zu treten
nnd der Tage vor alters zu gedenken, da Er sie aus
Aegypten geführt und zu Seinem Volk erwählt hatte.
Auch in unsern Tagen hat der Herr eine Einladung
ergehen lassen, die derjenigen, welche einst von Jehiskia'
ausging, sehr ähnlich ist. Er hat wiederum Seine „Läufer"
überallhin gesandt; Sein Ruf ist erschollen, und zwar sind
86
es auch jetzt, wenn ich so reden darf, „die Briefe des
Königs und seiner Obersten", d. h. das uns von Ihm
vermittelst Seiner Apostel überlieferte Wort, auf welches
wir hingewiesen worden sind. Der Herr hat die Seinigen
zu dem zurückzuführen gesncht, was von Anfang ist: Er
hat eine Klarheit über die Bedeutung und die Tiefe Seines
Wortes geschenkt, wie sie seit den Tagen der Apostel nicht
mehr gekannt war. Er hat von neuem auf Seine Gedanken
über Seine Kirche, die Sein Leib ist, hiugewiesen
und zugleich die Seinigen auf ihr hohes Borrecht aufmerksam
gemacht, sich allein um Ihn, zn Ihm hin, zu versammeln
und unter der Leitung Seines Geistes Ihn an
Seinem Tische zu preisen. Die Bedeutung und Wichtigkeit
des Abendmahls, das auch „lange nicht gefeiert worden
war, wie es vorgeschrieben ist", wurde aufs neue lebendig.
Die Worte: „Dies thut zu meinem Gedächtnis!" erhielten
gleichsam einen neuen Klang für die Gläubigen, als wenn
sie gestern erst ausgesprochen worden wären: und wenn
wir lasen: „Ich habe'von dem Herrn empsangeu, was ich
auch euch überliefert habe" (1. Kor. 11, 23), so war es,
als wenn diese Worte unmittelbar uns gälten. Wahrlich, unser
anbetungswürdiger Herr hat uns Seine Gnade in wunderbarer,
nicht hoch genug zu schätzender Weise von neuem
bezeugt. In diesen Tagen des Verfalls, wo die Christenheit
einem großen Trümmerfelde gleicht, wo Sein Name
durch dieselbe so sehr verunehrt worden ist und beständig
verunehrt wird, wo die Ausführung Seines Gerichts über
die christliche Welt so nahe bevorsteht, hat Er eine solch
innige, liebevolle Einladung an diejenigen ergehen lassen,
welche wirklich Sein Eigentum und für Ihn sind !
Beachten wir indessen hierbei noch zwei Punkte. Erst
87
lich ist Er selbst es, der einladet. Bei Israel bemerkten
wir, daß dieses letzte Zeugnis nicht aus ihrer Mitte hervorging,
sondern von außen kam, von dem in Jerusalem
befindlichen König. Ich glaube, daß dieser Umstands gerade
uus jetzt besonders wichtig sein sollte. Wie der Herr selbst
kommen wird, um als Bräutigam Seine teuer erkaufte
Braut in das Vaterhaus einzusühren, um durch Seinen
gebietenden Zuruf alle die Seinigen um sich zu versammeln;
wie ferner ein jeder von uns sagen muß, daß Er selbst
uns geliebt und zu sich gezogen hat, so ist es auch Er
selbst, der die Seinigen jetzt znm Genuß solch hoher Vorrechte
beruft. Wie läßt uns dies aufs neue verstehen,
welche Liebe Er zu uns hat, wie Er sich nach uns sehnt,
welchen Wert Er darauf legt, daß wir auf Seinen Rnf
hören, daß wir Seine Gedanken verstehen und Seine Gemeinschaft
genießen!
Beachten wir ferner, daß Israel, als der Rus ertönte,
den mit göttlicher Autorität bekleideten König, den Sohn
Davids, nicht mehr in seiner Mitte hatte. So sagt der
Herr auch zu Laodicäa, dem Laodicäa, das Er bald ausspeien
muß aus Seinem Munde: „Siehe, ich stehe an
der Thür und klopfe an; wenn jemand meine Stimme
hört nnd die Thiir aufthut, zu dem werde ich eingehen und
das Abendbrot mit ihm essen, und er mit mir." (Offbg. 3.)
Er steht draußen, Er hat keinen Platz in einem menschlichen
System. Trotzdem drängt Ihn Seine Liebe, Seinen Ruf
an alle diejenigen ergehen zu lassen, welche noch irgend
bereit sind, auf Seine Stimme zu hören, und wenn es
auch nur eine einzige Seele wäre. Der Ruf ist persönlich,
ein Ruf der Liebe, und der Herr erwartet, daß Seine
Schafe auf denselben hören. Ist es schon traurig genug,
88
wenn eines Seiner Schafe sich an einem Ort befindet, wo
Er nicht weilen kann, wo Er ausgeschlossen ist, so ist es
gewiß noch viel trauriger, wenn ein solches Schaf nicht
auf den Ruf Seiner Liebe hört.
Indessen ist es nicht nur der Herr selbst, der ruft,
sondern Er ruft auch zu sich selbst. Es ist ein Rufi
bei dem es sich um die Wertschätzung Seiner Person und
Seiner Gegenwart, um den Genuß Seiner Gemeinschaft
handelt. Wie dereinst ein gebietender Zuruf uns zu Ihm
hin berufen wird, wenn wir in den Wolken Ihm werden
entgegengerückt werden, so ertönt jetzt ein zarter Zuruf der
Liebe, der nur von der Liebe vernommen und beachtet
wird, ein Ruf, durch welchen die Gesinnung der Herzen
der Gläubigen auf die Probe gestellt wird. Wenn wirklich
ein Herz jetzt für Ihn schlägt, so hat es Gelegenheit,
dies an den Tag zu legen. Der Gehorsam jenem Ruf
gegenüber bringt uns an den Platz, wo Er selbst ist,
nämlich außerhalb jedes menschlichen Systems, „außerhalb
des Lagers". Die Männer aus Israel mußten ihre Heimat
verlassen, um nach Jerusalem, dem Ort der Anbetung,
zu gelangen. Aehnlich ist es mit uns. Wollen wir uns
an den Ort begeben, wo wahre Anbetung dargebracht wird,
an den Ort, wo Er in der Mitte der Seinigen weilt, so
müssen wir jedes menschliche System verlassen: denn dort
ist nicht die Stätte wahrer Anbetung. Freilich setzen wir uns
dadurch dem Spott, der Schmach und der Verachtung aus.
Die Läufer Jehiskias wurden verlacht und verspottet. Auch
wir können nichts anderes erwarten. Wäre es anders, so
würde es keine Probe für unsre Herzen sein. Würde die
Welt, oder sagen wir lieber, die sich „christlich" nennende
Welt, die bekennenden Christen, im allgemeinen es verstehen
— 89
und anerkennen, wenn wir uns am Tische des Herrn zu
Seinem Preise versammeln, so hörte dieser Platz auf, ein
Prüfstein für unsre Liebe zu Ihm zu sein.
Vergessen wir jedoch nicht, daß es „Seine" Schmach
ist, um die es sich handelt. Iehiskia wurde in seinen
Boten verlacht und verspottet. So drückt auch heute die
Welt in den Beschimpfungen, die sie für die treuen Christen
hat, nur ihre Gesinnung gegen Christum aus. Und
gerade dies ist für ein Herz, das Jesum lieb hat, so überaus
wichtig. Es tröstet sich nicht nur, nein, es freut sich bei
dem Gedanken, daß die Schmach, die es trifft, diejenige
seines Meisters ist. Moses hielt die Schmach Christi für
größeren Reichtum als die Schätze Aegyptens. Ein treues
Herz hält es für ein Vorrecht, um Christi willen zu leiden,
und es wünscht, so lange es hienieden ist, nicht, die Gemeinschaft
des Herrn, getrennt von Seiner Schmach, zu
genießen. Sobald unsre Herzen irgendwie die Schmach,
die uns seitens der Welt angethan wird, eingeschränkt
wissen oder derselben entgehen möchten, können wir sicher
sein, daß unsre Liebe zn Ihm nicht so lebhaft ist, wie sie
sein sollte. „Deshalb laßt uns zu Ihm hinausgehen,
außerhalb des Lagers, Seine Schmach tragend!"
Das Kommen des Herrn steht nahe bevor. Bald
werden wir jenen gebietenden Zurus aus der Luft vernehmen
und in verherrlichten Leibern dem uns entgegenkommenden
Herrn begegnen, um auf immer bei Ihm zu
sein und die Wonne Seiner leiblichen Gegenwart zu gemeßen.
Werden sich dann diejenigen, welche jetzt den
freundlichen und liebreichen Ruf Seiner Gnade überhören,'
nicht dessen schämen müssen? Ja, wir möchten fragen:
Ist es möglich, die Hoffnung zu haben, dann mit Ihm
90
die Freude und die Herrlichkeit zu teilen, dann Sein teures
Antlitz zu schauen nnd in die Lobgesänge der Seinigen
mit einzustimmen, und dennoch heute Ihn nicht so wert
zn achten, daß man gern zu Ihm hinausgeht außerhalb des
Lagers und willig Seine Schmach trägt? Lautet doch
auch das Geschrei, welches um Mitternacht entstand
«Matth. 25) und die zehn Jungsrauen, ein Bild der gesamten
bekennenden Christenheit, in Bewegung brachte,
(wenn auch nur fünf dem Rufe wirklich folgten): „Siehe,
der Bräutigam! gehet aus, Ihm entgegen!" Wahrlich,
die lebendige Hoffnung auf Sein Kommen und das Ausgehen
Ihm entgegen gehören zusammen und werden schwerlich
irgendwo getrennt gefunden werden.
Nichtsdestoweniger ist es nur ein Werk der Gnade,
wenn wir fähig gemacht werden, dem Rufe zu folgen.
Bon jenen Männern von Äser, Manaffe und Sebulon
heißt es, daß sie sich „demütigten" und nach Jerusalem
kamen. Um dem Riffe zu gehorchen, die Wahrheit anzunehmen,
sich denen anzuschließen, die dem Wort Gottes
den ersten Platz einräumeu, nnd um die Schmach des Zeugnisses
zn tragen, war damals (und ist auch jetzt) Demut,
Einfalt nnd Hingabe des Herzens nötig: und diese Dinge
kann nur die Gnade Hervorrufen.
Wie schön ist ferner das Wort, das wir in 2. Chron.
30, 12 lesen: „Auch über Juda kam die Hand Jehovas,
daß Er ihnen einerlei Herz gab, um das Gebot des
Königs und der Obersten zu thun, nach dem Worte Jehovas!"
Wir sehen hier ein wirkliches Werk des Herrn,
eine Beweisung der Macht Seines Geistes, und infolge
dessen eine Einmütigkeit des Entschlusses und der Ausführung,
eine von Ihm gewirkte Hingabe an Ihn und
91
Seine Sache. So dürfen wir auch sagen, daß in unsern
Tagen die Gnade Gottes in vielen wirksam gewesen ist
nnd noch ist, um die Herzen willig zu machen, sich Ihm
völlig hinzugeben und die Wahrheit treu und entschieden
in Wort und Wandel zu bekennen. Ja, wie gnädig ist
unser hochgelobter Herr! Wenn alles verloren zu sein
scheint, offenbart Er Seine Gnade, stellt Seine Wahrheit
in lieblicher und kräftiger Weise vor unsre Augen, wirkt
in unsern Herzen und macht sie willig, Ihm zu folgen.
Diese wunderbare Gnade hebt indes keineswegs die
Verantwortlichkeit derer auf, welche den Ruf vernehmen,
macht dieselbe vielmehr umso größer. Wenn wir die
Wirkung betrachten, welche jene zwei Zeugnisse, mit denen
wir uns beschäftigt haben, sowie ihre Gegenbilder in
unsern Tagen, im allgemeinen auf die Herzen ausüben,
so können wir sagen, daß das erste, das Zeugnis Odeds
nnd der Männer von Ephraim, noch eher auf Beifall
rechnen kann, als das zweite, die Einladung JehiskiaS.
Auf das Wort Odeds und der Männer von Ephraim hin
wurden die Gefangenen in ihre Heimat entlassen; aber für
die Boten Jehiskias war nur Spott und Verachtung bereit.
So wenn heute die Wahrheit verkündigt wird, daß alle
wahren Christen eins sind, und daß Liebe unter ihnen
herrschen sollte, so ist das eine Predigt, die noch Anklang
findet und in den weitesten Kreisen auf Zustimmung rechnen
darf. Wenn aber auf das einfache, lautere Wort zurückgegangen
wird, auf das, was von Anfang war, auf die
Wahrheit, wie wir sie von dem Herrn und von Seinen
Aposteln empfangen haben; wenn es sich ferner handelt
um das einmütige Zusammenkommen an dem wahren Orte
der Anbetung, dem Tische des Herrn, und in Verbindung
92
damit um das Ausgehen aus all den verkehrten menschlichen
Systemen, so begegnet man nur wenig Verständnis-
Widerspruch von allen Seiten, ja selbst Verachtung und
Spott ist das Ergebnis der Predigt. Man ist wohl geneigt,
eine gewisse freundliche Gesinnung für alle Christen
an den Tag zu legen; aber, unter Hintansetzung aller-
menschlichen Rücksichten, den Herrn allein zn seinem Gegenstand
zu nehmen, Seinem Rufe allein zu folgen, Sein Wort
als einzige Richtschnur gelten zu lassen, und nicht nur mit
dem Munde, sondern auch praktisch demselben Folge zn
leisten, dafür hat man kein Ohr, kein Verständnis.- Daun
heißt es, man gehe zu weit, man übertreibe, das sei Einseitigkeit,
Engherzigkeit, das passe nicht in unsere Zeit u. s. w.
Darf uns dies jedoch Wunder nehmen? Ist cs
nicht immer so gewesen? War es nicht schon zur Zeit
des Herrn der Hauptsache nach genau so? Als der von
der Welt verworfene, ja von ihr zum Tode bestimmte
Herr setzte Er sich mit dem kleinen, verachteten Häuflein
Seiner Jünger zum letzten Passat-mahl nieder. Man verstand
Ihn nicht, man wurde irre an Ihm, man stieß sich
an Ihm; ja, die Feindschaft und Bosheit, die Ihn verfolgten,
hüllten sich auch damals in ein religiöses Gewand
und trugen den Charakter eines religiösen Systems, in
welchem der Mensch herrschte. Doch im Kreise Seiner
Jünger sand Er den Ort, wo Er Seine Liebe aufs
Wunderbarste offenbaren konnte, wo Er das Mahl mit
ihnen feierte, nach welchem Ihn so sehnlich verlangt hatte.
Die Welt hat ihre Stellung zu Ihm seitdem nicht geändert.
Es ist derselbe von ihr verworfene Herr, um
den wir uns versammeln und zu dessen Gedächtnis wir
das Mahl feiern.
93
Wir können daher unsre Betrachtung mit dem Wünsche
schließen, daß Seine große Liebe unsre Herzen immer
mehr und immer aufs neue erwärmen möchte, damit wir
trotz Spott und Hohn seitens der Welt, trotz der Geringschätzung
und des Mißverstandenwerdens seitens andrer
Christen, treu bei Ihn: ausharreu, bis Er kommt. Wir
können nicht erwarten, daß die Schwierigkeiten auf unserm
Wege geringer werden; aber wir dürfen gewiß sein, daß
Er sich mächtiger erweisen wird als alle Schwierigkeiten.
Denn wir wissen, wer es ist, an den wir geglaubt haben
und dem wir zu folgen und zu dienen wünschen, so schwach
es auch sein mag. Er allein kann es auch bewirken, daß
noch viele der Seinigen Seine liebevolle Einladung verstehen
und ihr folgen. — „Wer es hört, spreche: Komm! Und
wen da dürstet, der komme!"
Habt ihr den Ruf vernommen,
Den uns der Herr gesandt?
Zu wem ist er gekommen?
Wo ward der Rus bekannt?
Wem ist Sein Name teuer?
Wer schätzt das Wort des Herrn?
Wo brennt der Sehnsucht Feuer
Nach Ihm, dem Morgenstern?
Mit Ihm die Schmach zu tragen,
Bon Sünd' und Welt getrennt,
Der Heiligkeit nachjagen
Mit jedem, der Ihn kennt;
Den Tod Des zu verkünden,
Der uns so innig liebt,
Uns wusch von unsern Sünden,
Die wir Ihn nur betrübt:
94
Dazu sind wir geladen;
Er ladet selbst uns ein,
Der Schätze Seiner Gnaden
Mit Ihm uns zu ersreu'n. —
Wer wollte da nicht eilen
Auf Seiner Stimme Klang?
Wer nicht die Schmach gern teilen?
Es währt ja nicht mehr lang!
Bald wird Er uns erscheinen,
Bald werden wir Ihn sehn;
Bald ruft Er all die Seinen
Zu sich in lichte Höh'n.
Dann wird in Ewigkeiten,
Im wahren Heiligtum,
Er Freude uns bereiten,
Und wir Ihm Preis und Ruhm.
Ich bins.
Der Herr weiß zu rechter Zeit „den Müden durch
ein Wort aufzurichten". (Jes. 50, 4.) Das erfuhren auch
die Jünger, als ihr Schiff mitten auf dem See, von Wind
nnd Wellen bedroht, Not litt. „Seid gutes Mutes,
ich bin's; fürchtet euch nicht!" so rief der Herr
ihnen zu; und in der That, sie waren in einer Lage, das;
sie eines solchen Zurufs bedurften. Zugleich waren sie
fähig, die Bedeutung desselben zu verstehen und zu schätzen,
weil die Not ihre Herzen dafür empfänglich gemacht hatte.
Sie fühlten ihre Ohnmacht, das Schiff durch die stürmische
See zum jenseitigen Ufer zu führen; sie waren hilf- und
ratlos, und gerade diesen Augenblick hatte der Herr für
Seine Dazwischenkunft ausersehen.
95
Er hatte Seine Jünger genötigt, vor Ihm an das
jenseitige Ufer zu fahren; aber sie mußten inne werden,
daß sie nicht ohne Ihn dort ankamen. Welch eine tiefe
Unterweisung liegt hierin für uns! Aber ach! wie schwer
fällt es uns, zu lernen und festzuhalten, daß der Herr
allein alle Ratschlüsse Gottes auszuführen und uns wohlbehalten
durch alle Stürme hindurch an das jenseitige
Ufer zu bringen vermag.
Warum mochte wohl der Herr Seine Jünger genötigt
haben, in das Schiff zu steigen und vor Ihm
an das jenseitige Ufer zu fahren? Wußte Er nicht, daß
sie nicht ohne Ihn dorthin gelangen konnten? Ohne
Zweifel; aber die Jünger mußten auf die Probe gestellt
werden. Sie geben uns bekanntlich ein Bild von den
Trübsalswegen, durch welche der jüdische Ueberrest in den
letzten Tagen der großen Drangsal zu gehen haben wird,
sowie von der Dazwischenkunft des Herrn zu feiner Befreiung.
Zugleich aber finden wir hier ein Bild von der Verantwortlichkeit,
unter welche der Mensch in jeder Haushaltung
notwendig gestellt werden mußte, damit er lerne, daß alles
von Dem abhängig ist, der allein sagen kann: „Ich bin's."
Ein jeder muß die Wahrheit der Worte erkennen: „Ich,
ich bin Jehova, und außer mir ist kein Heiland". (Jes.
43, 11.) Er allein vermag zum jenseitigen Ufer, zur
wahren Ruhe zu führen, trotz Wind und Wogen. Alles
Vertrauen auf eigne Kraft und Weisheit ist eitel. Nichts
anderes bleibt übrig, als uns Christi Jesu zu rühmen und
nicht auf Fleisch zu vertrauen. (Phil. 3, 3.)
Die Geschichte des Menschen im allgemeinen, die
Geschichte Israels und der Kirche, unsre eignen persönlichen
Erfahrungen — alles lehrt uns dieselbe demütigende
96
Wahrheit. Gott wollte, daß der Mensch teilnehmen sollte
an Seiner Ruhe; aber sobald dies abhängig gemacht wurde
von dem Gehorsam des Menschen, verlor er das Paradies
und mit ihm die Ruhe. Später erwählte Gott Israel in
unumschränkter Gnade zu Seinem Volke; Er führte es aus
Aegypten und durch das Rote Meer, um es ins Land der
Ruhe zu bringen. Alles ging gut auf Grund Seiner
freien, unumschränkten Gnade bis zu dem Augenblick, wo
am Berge Sinai der Eingang in die Ruhe von der Verantwortlichkeit
des Volkes abhängig gemacht wurde. Auf
diesem Boden konnte es unmöglich in die Ruhe eingehen.
Selbst Josua vermochte das Volk nicht in die Ruhe einzuführen
(Hebr. 4, 8), obgleich er es in das Land Kanaan
brachte; und noch heute irrt Israel unstät auf der ganzen
Erde umher. Jesus allein, der wahre Josua, wird sie in
die Ruhe einführen, wenn sie in der letzten großen Drangsal
erkannt haben werden, daß Er es ist, der einst zu
Mose sagte: „Ich bin, der ich bin" <2. Mose 3, 14),
der sie aus Gnaden zu Seinem Volke erwählte und mit
erhobener Hand aus Aegypten ausführte. Dann, wenn
ihre Not den Gipfelpunkt erreicht hat und unter der Bedrängnis
des Gesetzlosen alle Hoffnung für sie verloren
scheint, wenn die Nacht des Unglaubens alle Bewohner
der Erde umschlossen hält und sie selbst alles Vertrauen
auf eigne Kraft und Hilfe aufgegeben haben, dann wird
Er ihnen erscheinen mit dem gnadenreichen Zuruf: „Seid
gutes Mutes, ich bin's; fürchtet euch nicht." „Und sie
werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und
werden über Ihn wehklagen gleich der Wehklage über den
Eingebornen, und bitterlich über Ihn leidtragen rc."
(Sach. 12, 10—14.) Sie werden alsdann verstehen, daß
97
Er es ist, der schon vorlängst gesagt hatte: „Ich bin Jehova,
der dich heilt". (2. Mose 15, 26.) „Ich, ich bin
es, der deine Uebertretungen tilgt um meinetwillen; und
deiner Sünden will ich nicht mehr gedenken." (Jes. 43, 25.)
„Ich, ich bin es, der euch tröstet." (Jes. 51, 12.) Der
Sturm wird sich legen, eine große Stille, eine vollkommene
Ruhe wird eintreten, und alle werden Ihm huldigen, und
bekennen: „Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn!" (Matth.
14, 32. 33; Mark. 4, 39.) Ach! wie vieler ernsten Wege
bedarf es, bis der Mensch dahin kommt, dem Herrn allein
die Ehre zu geben!
Und wie Israel, so hat auch die Kirche gefehlt in
allem, was ihrer Verantwortlichkeit unterstellt war. Sie
hat die schwere Schuld auf sich geladen, ihre eignen Glieder
in das Fahrwasser des Unglaubens eingeführt zn
haben. Ist auch das Ergebnis noch nicht völlig geoffenbart,
so sehen wir doch, daß die Wogen des Unglaubens
bereits hoch gehen und die große Masse zu überfluten
drohen. Mancher mag daher ängstlich fragen: Wird das
Schifflein des treuen Ueberrestes auch wohl das jenseitige
Ufer erreichen? Wird nicht alles zu Grunde gehen? In
der That, die Zeiten sind ernst und schwer; der Apostel
hat es vorausgesagt. (2. Tim. 3, 1.) Selbst unter denen,
welche wahre Christen zu sein bekennen und sich von der
toten Masse der bloßen Bekenner abgesondert haben, hat
der Unglaube bereits Eingang gefunden; und zwar nicht
in versteckter und verschleierter Weise, sondern in den unverblümten
und groben Formen, die dem offenbaren Abfall
unmittelbar vorausgehen. Man fängt an, die Gottheit
Christi in Frage zu ziehen. Man leugnet die „buchstäbliche
Inspiration der Heiligen Schriften". (Wird diese aber
98
geleugnet, welche Gewähr giebt es dann noch für die
Wahrheit des Christentums?) Man macht ferner die heilige
Person Christi zum Gegenstand ungeziemender Erörterungen;
man will Pas „anerkannt große Geheimnis der Gottseligkeit"
ergründen und in die Tiefen des „Sohnes" eindringen,
den doch niemand erkennt als nur der Vater
(Matth. 11, 27); man trennt Seine Gottheit und Menschheit
von einander, und fragt: Wer ist am Kreuze gestorben:
Gott oder ein Mensch? u. s. w. Von jeher
waren zwar die Angriffe des Feindes gegen die Fundamente
des Christentums — Christum und Sein Wort —
gerichtet, aber nie geschah dies in solch erfolgreicher Weise
wie in unsern Tagen. In allen Lagern der Christenheit
erhebt die Vernunftweisheit oder der offenbare Unglaube
immer kühner das Haupt. Wird das kleine Häuflein Getreuer
diesem Anprall gewachsen sein? Wird das Schiff-
lein nicht nntergehen? Ohne Zweifel, wenn Jesus nicht
wäre, was Er ist: der Sohn des lebendigen Gottes; der
Fels, auf welchen Er selbst Seine Versammlung gebaut
hat; der sich nennt: „Ich bin, der ich bin"; wenn Er
nicht wäre „des Leibes Heiland, der die Versammlung
geliebt und sich selbst für sie dahingegeben hat", als sie
noch fern von Ihm und unrein war. (Ephes. 5, 23—32.>
Was vermögen die Angriffe des Feindes gegen Ihn, „der
den Tod zunichte gemacht, aber Leben und Unverweslichkeit
ans Licht gebracht hat"? (2. Tim. 1, 10.) Au
diesem Felsen der Ewigkeiten zerschellen die Wogen des
Unglaubens. Er ist „wie ein Bergungsort vor dem
Winde und ein Schutz vor dem Regensturm, wie Wasserbäche
in dürrer Gegend, wie der Schatten eines gewaltigen
Felsen in lechzendem Lande". (Jes. 26, 4; 32, 2.)
98
Alle haben gefehlt, selbst die ausgezeichnetsten Werkzeuge
des Herrn; sowohl Israel wie die Kirche sind in Verfall
geraten. Und von diesem Standpunkt aus betrachtet
ist der Dienst des Apostels Johannes von besonderer Bedeutung,
indem er, den Verfall von allem voraussehend,
unsre Blicke auf den Sohn Gottes richtet, als die einzige
Stütze des gläubigen Ueberrestes; als Den, der im Anfang
war, in welchem wir das Leben haben; welcher der
wahrhaftige Gott und das ewige Leben ist, und der da
sagt: „Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids,
der glänzende Morgenstern". (Joh. 1, 1; Joh. 5, 11.
12. 20; Offenb. 22, 16.) Und nahe ist der Augenblick,
wo Er Seine Versammlung aufnehmen und sie „sich selbst
verherrlicht darstellen wird, die nicht Flecken oder Runzel
oder etwas dergleichen habe, sondern daß sie heilig und
tadellos sei" (Ephes. 5, 27); nnd wo der Ueberrest
Israels unter Seinem Scepter in Frieden und Glückseligkeit
in seinem Lande wohnen wird. Niemand vermag
Ihn an der Ausführung Seiner Gnadenratschlüsse
zu hindern.
Ja, geliebter Leser, die Zukunft ist herrlich, und sie
wirft ihre freundlichen, ermunternden Strahlen schon auf
die Gegenwart mit allen ihren Kämpfen, Prüfungen und
Schwierigkeiten. Sie stählt den Mut, belebt die Hoffnung,
giebt Kraft zum Ausharren und mahnt, festzustehen und
nicht zn verzagen. Der Lohn, den der Herr den Ueber-
windern verheißt, ist groß. Und vergessen wir nicht, der
Herr ist mit uns, wenn auch Menschen sich von uns
abwenden und unser Vertrauen auf sie zu Schanden machen,
wenn auch Wind und Wellen uns entgegen sind und das
Schifflein sich mit Wasser füllt und unterzugehen droht!
100
Er kennet Seine Scharen,
Die glaubend auf Ihn schaun,
Und Ihm, dem Unsichtbaren,
Als säh'n sie Ihn, vertraun.
Die von dem Worte zeugen,
Dem Wort, das sie ernährt;
Die vor dem Wort sich beugen,
Und die das Wort bewährt.
Selbst dann, als die Jünger, scheinbar sich selbst überlassen,
auf dem See Not litten, und der Herr abwesend von ihnen
auf dem Berge weilte, war Sein Auge auf sie gerichtet.
Er war im Gebet für sie vor Gott thätig. Sie konnten
Ihn nicht sehen, aber Er sah sie. Er sah, daß sie beim
Rudern Not litten, und daß der Wind ihnen entgegen war.
(Mark. 6, 48.) Scheinbar ist die kleine Herde schütz- und
wehrlos dem Ansturm des Feindes, den Angriffen der Wölfe
preisgegeben: aber es ist auch nur scheinbar so. Der Herr
wacht beständig über sie und verliert sie nie ans dem Auge;
nicht das Geringste entgeht Seinem wachsamen Auge. Erwacht
über sie, wie einst der Gott Israels wachte über
Sein unterdrücktes Volk in Aegypten: „Gesehen habe ich
das Elend meines Volkes, das in Aegypten ist, und sein
Geschrei wegen seiner Treiber habe ich gehört; denn ich
kenne seine Schmerzen." (2. Mose 3, 7.) Der Herr hat
alle Gewalt, um sie im geeigneten Augenblick zu Gunsten
der Seinigen zu verwenden; Er hat die Schlüssel Davids,
um nach Seinem Belieben zu öffnen und zu schließen zu
unsern Gunsten. (Offenb. 3, 7.) Aber nicht nur das; nein,
Er ist es, „der auch für uns bittet" (Röm. 8, 34)
während der Zeit unsrer Bedrängnis. Er ist ein barmherziger
und treuer Hoherpriester, der Mitleid zu haben
und denen zu helfen vermag, die versucht werden. (Hebr. 2,
101
17. 18; 4, 15.) Seine Liebe, Treue und Fürsorge für
die Seinigen sind ebenso vollkommen wie Seine Macht,
so daß wir mit dem Apostel ausrufen können: „Wer wird
uns scheiden von der Liebe des Christus?" (Röm. 8, 35.)
Und Gott sei Dank! alles dieses, was Er ist, ist
Er für uns, und zwar unabhängig von unserm Glauben
und Vertrauen. Letzteres ist die Folge der Erkenntnis
Seiner Person; denn wir glauben und vertrauen Ihm in
Wirklichkeit nur insoweit wie wir Ihn kennen. Der Apostel
sagt: „Ich weiß, wem ich geglaubt habe" (2, Tim. 1,12);
er hatte den Herrn kennen gelernt als Den, der seines
ganzen Vertrauens würdig war. Petrus kannte Ihn ebenfalls
so; denn die Worte des Herrn: „Ich bin's", erweckten
in seinem Herzen Verlangen nach Jesu, verscheuchten
alle Furcht aus seinem Innern, und erfüllten es mit
Glauben, Vertrauen und Mut. „Herr, wenn du es
bist, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Gewässer",
rief er dem Herrn entgegen. Das was der Herr
war, die Erkenntnis Seiner Person, verlieh feinem
Glauben den Mut, auf dem Gewässer zu wandeln. Und
in der That, der Kirche ist keine andere Stütze gegeben
worden, als die Person des Sohnes Gottes selbst; und
deshalb war ihr Fall unausbleiblich, sobald sie Ihn aus
dem Auge verlor und ihre „erste Liebe" verließ. (Offenb. 2,4,)
Keine Macht des Feindes hätte sie überwinden können, wenn
nur Er ihr Gegenstand geblieben wäre. Gerade so ist
es mit uns persönlich; die Ursache unsers Strauchelns liegt
darin, daß die Verbindung der Seele mit Ihm sich lockert,
daß das Auge von Ihm abblickt und auf Menschen, Umstände
und dergleichen hinschaut. Denn „wer ist es, der die
Welt überwindet, wenn nicht der, welcher glaubt, daß Jesus
102
der Sohn Gottes ist?" (1. Joh. 5, 5.) Wie unser
Leben in dem Sohne ist, so ist auch unsre Kraft in Ihm
und nicht in uns, nicht in unsern Mitgläubigen, noch in
irgend einem menschlichen oder kirchlichen System.
Was uns daher not thut in diesen letzten schweren
Zeiten, ist eine innige, persönliche Bekanntschaft mit der
Person des Herrn Jesu; denn nur dann sind wir fähig,
Seine Stimme von der des Fremden zu unterscheiden.
(Joh. 10, 3—5.) Die Jünger erkannten den Herrn nicht,
als Er auf dem See wandelnd in der Nacht zu ihnen kam;
sie hielten Ihn für ein Gespenst und schrieen vor Furcht.
Aber sie kannten Seine Stimme, nnd sobald sie diese vernahmen,
schwand ihre Furcht. Es war die wohlbekannte
Stimme Dessen, der sie in Seine Gemeinschaft berufen
und in Seinen Dienst gestellt hatte; dessen Liebe, Gnade
und Treue sie so oft erfahren, und der sie trotz ihrer
Schwachheit stets mit so großer Langmut und Geduld getragen
hatte. Wie unwissend sie auch sonst sein mochten,
diese Stimme kannten sie infolge ihrer vertrauten Bekanntschaft
mit Seiner Person. Sie vermochten sie sehr wohl
zu unterscheiden von jeder andern Stimme. Leider, leider
wird dieser Zug, der die Schafe Christi in besondrer Weise
kennzeichnet, in unsern Tagen oft so schmerzlich vermißt!
Es fehlt nicht an Gaben und großer Erkenntnis, aber an
Einfalt gegen Christum, an inniger, vertrauter Gemeinschaft
mit Ihm. Das Auge ist trübe, und das Ohr hat seine
Schärfe verloren. Ach! wäre Seine Person mehr der
Gegenstand unsrer Herzen, so würde es uns nicht schwer
fallen, Seine Stimme trotz Wind und Wogen, trotz aller
Wirren unsrer aufgeregten Zeit, von der des Fremden zu
unterscheiden, sollte dieser selbst in noch so geschickter und
103
schlauer Weise das Wort Gottes selbst gebrauchen, um
seine Lügen damit zu decken.
Gott gebe uns allen besser zu verstehen, daß alle
unsre Quellen in Ihm sind, „der uns geworden ist
Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und
Erlösung"; auf daß, wie geschrieben steht: „Wer sich rühmt,
der rühme sich des Herrn". (1. Kor. 1, 30. 31.)
Gesunde Kehre.
„Die das Geheimnis des Glaubens in reinem
Gewissen bewahren." (1. Tim. 3, 9.)
Nichts tritt in den Schriften der Apostel klarer hervor
als die entschiedene Weise, in welcher böse Lehre behandelt
und abgewiesen wurde. Praktische Vergehen, Unsittlichkeit
und dergleichen, werden ebenfalls besprochen und
entschieden verurteilt: „Hurerei aber und alle Unreinigkeit
oder Habsucht werde nicht einmal unter euch
genannt, gleichwie es Heiligen geziemt" (Eph. 5, 3 u. and.
Stellen); aber dennoch ist es auffallend zu sehen, mit
welch einer Sorge die inspirierten Schreiber über die Aufrechthaltung
der „Wahrheit" wachten und welch eine unbeugsame
Haltung sie denen gegenüber behaupteten, weicht
die Wahrheit zu verderben suchten.
Als Petrus einmal etwas that, was die kostbare
Wahrheit von der Rechtfertigung aus Glauben in Gefahr
brachte und deshalb unsern Herrn verunehrte, „widerstand
Paulus ihm ins Angesicht, weil er dem Urteil verfallen
war"; und wir dürfen aus der Anspielung, welche Petrus
späterhin auf Paulus macht, wohl den Schluß ziehen, daß.
104
«r den Tadel angenommen hat und aus der Schlinge befreit
worden ist. (Gal. 2, 11—21; 2. Petr. 3, 15. 16.)
Als ferner die Korinther verkehrten Vorstellungen
über die Auferstehung Raum gaben, suchte der Apostel
ihnen zu beweisen, daß sie durch die Leugnung der Auferstehung
des Leibes thatsächlich die Auferstehung Christi
leugneten. (1. Kor. 15, 12—20.) Daran hatten die
Korinther nicht gedacht; aber gerade dies machte die Sache
so ernst. Jede noch so geringe Abweichung von der
Wahrheit zieht, wenn nicht bei Zeiten erkannt, ein immer
weiteres Abirren nach sich. Als später Andere, wie Hyme-
uäus und Alexander, Dinge lehrten, die gegen den „Glauben"
und „ein gutes Gewissen" verstießen, überlieferte sie
Paulus durch seine apostolische Macht dem Satan, „auf
daß sie durch Zucht unterwiesen würden, nicht zu lästern".
«1. Tim. 1, 20.)
Wenn zu einer anderen Zeit jüdisch gesinnte Lehrer
die „Beschneidung" dem vollbrachten Werke Christi hinzufügen
wollten, lautete das unwillige und entschiedene Zeugnis
des Heiligen Geistes durch den Apostel: „Wenn auch
wir oder ein Engel aus dem Himmel euch etwas als
Evangelium verkündigte außer dem, was wir euch als
Evangelium verkündigt haben: er sei verflucht!" und: „Ich
wollte, daß sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln!"
'Gal. 1,8; 5, 12.) Laßt uns ferner nicht vergessen, daß
der Geist, mag er nun von falscher Lehre oder von praktisch
Bösem reden, uns in jedem Falle mit den Worten
warnt: „Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen
Teig". (1. Kor. 5, 6; Gal. 5, 9.) Wahrlich, eine überaus
ernste Warnung für jede gottesfürchtige Seele, —
Line Warnung, die uns veranlassen sollte, aller Art von
105
Bösem bei seinem ersten Erscheinen und Eindringen entschieden
entgegenzutreten.
Die unverletzte Bewahrung „der Wahrheit" wurde
von den ersten Christen so hoch gehalten, daß wir einmal
einen Apostel sagen hören: „Wir vermögen nichts wider
die Wahrheit, sondern für die Wahrheit"; und einen andern:
„Ich habe keine größere Freude als dieses, daß ich
höre, daß meine Kinder in der Wahrheit wandeln".
<2. Kor. 13, 8: 3. Joh. 4.) Timotheus wurde ermahnt,
„das Wort zu predigen", mochten auch manche der Wahrheit
widerstehen, und das was er von Paulus in Gegenwart
vieler Zeugen gehört hatte, „treuen Männern" anzuvertrauen,
welche „tüchtig sein würden, auch andere zu
lehren". (2. Tim. 2, 2.) Titus sollte reden, was der
gesunden Lehre geziemte, und die Kreter „streng"
zurechtweisen, damit sie gesund wären im Glauben.
iTit. 1, 13; 2, 1.)
Gesunde Lehre galt in den Tagen der Apostel für so
hervorragend wichtig, daß sich, als eine Frage entstand,
inwieweit heidnische Gläubige unter dem Gesetz Moses
ständen, die Apostel, Aeltesten und Brüder in Jerusalem
versammelten, um die Angelegenheit zu besehen; und das
Urteil dieser Versammlung stellte die falsche Lehre der
jüdisch gesinnten Lehrer klar ans Licht und zeigte deutlich,
daß wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind.
„Die Wahrheit" wurde schon sehr früh der Zielpunkt
der Angriffe Satans unter mancherlei Formen. Mit allen
Mitteln suchte er sie zu verdrehen und zu untergraben und
so den Glauben vieler zu verkehren. Später richteten
sich seine Anstrengungen unmittelbar gegen die Person des
Herrn Jesu selbst; denn es ist klar, wenn in Seiner
106
Person die geringste Unvollkommenheit nachgewiesen werden
könnte, so würde das die ewige Wirkung Seines Werkes
völlig in Frage stellen, und wir würden dadurch alles
Segens und Trostes beraubt werden. Aber Gott sei Dank!
die Schrift wacht mit heiliger Sorgfalt über die Unverletzlichkeit
Seiner Person. Selten ist in den inspirierten
Blättern von Seiner Gottheit die Rede, ohne daß nicht
bald darnach auch von Seiner Menschheit gesprochen würde.
Im Alten Testament wird Er uns vorgestellt als das
Kind, das geboren worden ist, als der Sohn, den Gott
gegeben hat, als der mächtige Gott, als der Sohn der
Jungfrau und doch zugleich Emmanuel — Gott mit uns.
Im Neuen Testament wird von Ihm geredet als dem
Lamme Gottes, dem Sohne Gottes, dem Sohne Davids,
geboren von Maria, als Emmanuel, als „dem ewigeu
Leben, welches bei dem Vater war und uns geoffenbart
worden ist". Seine Gottheit und vollkommne Menschheit
— und dennoch eine Person — werden uns immer
wieder vor Augen gestellt; Er ist Jesus Christus, im
Fleische gekommen, der Sohn Gottes, dessen Blut uns
von aller Sünde reinigt, in welchem und durch welchen
Gott uns das ewige Leben gegeben hat. Der Apostel
Johannes behauptet kühn: „Jeder Geist, der nicht Jesum
Christum im Fleische gekommen bekennt, ist nicht aus Gott",
so daß schon irgend eine unwahre Lehre bezüglich der
Person des Sohnes Gottes verhängnisvoll ist. Ein so
unnachgiebiger Eifer für die Wahrheit von Seiner Person,
„die Lehre des Christus", geziemt uns, daß Johannes
sogar an eine Frau und ihre Kinder schrieb: „Viele Verführer
sind in die Welt ausgegangen, die nicht Jesum
Christum im Fleische kommend bekennen . . . Sehet auf
107
euch selbst, auf daß wir nicht verlieren, was wir erarbeitet
haben, sondern vollen Lohn empfangen. Jeder, der weite
r g e h t und nicht bleibt in der Lehre des Christus, hat
Gott nicht . . . Wenn jemand zu euch kommt und diese
Lehre nicht bringt, so nehmet ihn nicht ins Haus auf und
grüßet ihn nicht. Denn wer ihn grüßt, nimmt teil an
seinen bösen Werken". (2. Joh. 7—11.) Das sind ernste
Worte. Nichts könnte deutlicher die Sorgfalt zeigen, mit
welcher man in jenen frühen Tagen der Christenheit über
die Bewahrung der gesunden Lehre wachte. Sollten wir
heute weniger sorgfältig sein?
Auch der Apostel Petrus warnte die Gläubigen vor
falschen Lehrern, welche nach und nach verderbliche
Sekten oder Parteiungen einführen und den Gebieter verleugnen
würden, der sie erkauft habe. (2. Petr. 2, 1.)
Judas ermahnt alle Gläubigen, „für den einmal den
Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen", und legt die
Wurzel des Verfalls bloß. Da ist 1) „der Weg Kains",
oder ein Nahen zu Gott ohne Blut; 2) „der Irrtum Ba-
laams", oder ein Trachten nach dem Lohne der Ungerechtigkeit,
während man bekennt, Gott zu dienen: 3) „der Widerspruch
Korahs", oder ein Verachten der göttlichen Ordnung
und des Priestertums und das Aufstellen einer neuen Ordnung.
So sind im Laufe der Zeit das Versöhnungswerk
Christi, der Dienst Christi und das Priestertum Christi
samt Seinen Rechten als Herr angetastet und durch Falsches
ersetzt worden: aber über das alles wird das Gericht
kommen.
Tie prophetische Warnung des Apostels Paulus bei
seinem Abschiede von den Nettesten aus Ephesus lautete:
„Nach meinem Abschiede werden verderbliche Wölfe zu
108
euch hereinkommen, die der Herde nicht schonen. Und aus
euch selbst werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge
reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her." Und
was ist das Heilmittel für eine solche Zeit? Der Apostel
sagt: „Und nun befehle ich euch Gott und dem Worte
Seiner Gnade, welches vermag aufzuerbauen rc." Hieraus
sehen wir, daß nur diejenigen, welche sich an Gott und
Sein Wort anklammern, erwarten dürfen, in einer bösen
Zeit bewahrt zu bleiben.
Wersen wir jetzt einen kurzen Blick auf das Buch der
Offenbarung, so finden wir dort dieselbe Sorge für die
Wahrheit, verbunden mit einer schonungslosen Bloßstellung
und Verurteilung böser Lehren. Die Gläubigen in Smyrna
und Philadelphia hatten der „Lästerung" solcher zu begegnen,
die den jüdischen Boden einer von den Vätern überlieferten
Religion einnahmen und in verschiedenen Beziehungen der
Wahrheit völlig entgegenstanden, obwohl sie in Wirklichkeit
keine Juden waren. Beachten wir, daß ihr Thun „Lästerung"
genannt wird! Die Gläubigen in Pergamus wurden
getadelt, weil sie einige in ihrer Mitte hatten, welche an
der Lehre Balaams und an der Lehre der Nikolaiten festhielten.
Thyatira wurde mit ernstem Gericht bedroht, weil
sie der Jesabel erlaubte zu lehren, wodurch die Herzen zum
Götzendienst und andern bösen Dingen verführt wurden.
Sardes hielt nicht die Wahrheit in Liebe fest, besaß nur
eine äußere Form, den Namen zu leben, war aber in
Wirklichkeit „tot". Laodicäa, obwohl anscheinend rechtgläubig,
ging ohne Christum dahin, war gleichgültig im
Blick auf Seine Ehre und war deshalb reif zur Verwerfung,
reif, um ausgespieen zu werden aus Seinem Munde.
Wie ernst ist diese Warnung auch für unsere Tage!
109
Wir sehen also, wie viel Unruhe und Schmerz böse
Lehren schon in den apostolischen Zeiten den Treuen bereiteten.
Neben ihren eifrigen Bemühungen im Dienste
der Wahrheit Gottes hatten sie unausgesetzt zu wachen gegen
die Angriffe, welche durch „böse Menschen und Gaukler"
auf die Wahrheit gemacht wurden. Sie kämpften den
guten Kampf des Glaubens und stritten ernstlich für das
Wort Gottes als die einzige, endgültige und entscheidende
Autorität. Dieser Kampf kostete Paulus viele Thränen
und brachte ihn nicht selten in Zwiespalt mit denen, die
er so innig liebte. In seinem letzten Briefe sagt er:
„Alle, die in Asien sind, haben sich von mir abgewandt",
und unter diesen hebt er besonders zwei hervor: Phygelus
und Hermogenes. Demos, einer seiner Mitarbeiter, hatte
ihn verlassen und den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen. Bei
seiner ersten Verantwortung vor dem Kaiser Nero stand
ihm niemand bei, sondern alle verließen ihn. Das waren
einige seiner Leiden bei seinem Kampfe für den einmal
den Heiligen überlieferten Glauben. Andrerseits aber hatte
er volles Vertrauen auf Gott und konnte hinzufügen: „Der
Herr aber stand mir bei und stärkte mich . . . und ich bin
gerettet worden aus dem Rachen des Löwen. Der Herr
wird mich retten von jedem bösen Werke und bewahren
für Sein himmlisches Reich, welchem die Herrlichkeit sei
in die Zeitalter der Zeitalter! Amen."
In prophetischem Vorausblick in die Zukunft sagt er:
„Böse Menschen aber und Gaukler werden im Bösen fort-
schreiten, indem sie verführen und verführt werden": und:
„es wird eine Zeit sein, da sie die gesunde Lehre
nicht ertragen . . . , und sie werden die Ohren von der
Wahrheit abkehren und zu den Fabeln sich hinwenden."
110
In dem Bewußtsein, daß er bald diese Erde verlassen
würde, ermahnt er den Timotheus in der ernstesten Weise,
vor Gott und dem Herrn Jesu Christo, „nüchtern zu sein
in allem, Trübsal zu leiden, das Werk eines Evangelisten
zn thun und seinen Dienst zu vollführen". „Denn," fügt
er hinzu, „ich werde schon als Trankopfer gesprengt, und
die Zeit meines Abscheidens ist vorhanden." (Vergl.
2. Tim. 4, 1—K.f Er sah, welchen Laus die Dinge
nehmen würden, und durch den Geist versetzte er sich in
die Zeit, in welcher wir uns befinden. Doch wie besorgt
war er bis zu seinem letzten Augenblick, daß die Wahrheit
durch treue Männer bewahrt werden möchte; nnd angesichts
eines vielleicht grausamen Märtyrertodes konnte er sagen:
„Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf
vollendet, ich habe den Glauben bewahrt; fortan
liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche der
Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird
an jenem Tage ; nicht allein aber mir, sondern auch allen,
die Seine Erscheinung lieb haben."
Geistliche Leitung.
„Ich will dich unterweisen und dich lehren den
Weg, den du wandeln sollst: mein Auge auf dich
richtend, will ich dir raten. Seid nicht wie ein Roß,
wie ein Maultier, das keinen Verstand hat; mit
Zaum und Zügel, ihrem Schmucke, mußt du sie bändigen,
sonst nahen sie dir nicht". (Ps. 32, 8. 9.)
Als es Jehova gefiel, Israel aus Aegypten zu erlösen,
wurde Er selbst ihr Führer. Die Israeliten bedurften
einer Leitung, und Jehova ging vor ihnen her in
einer Wolkensäule bei Tage und in einer Feuersäule bei
Nacht. So zog Er vor ihnen dahin, um einen Ruheort
für sic zu erkunden in der Wüste. Das war ohne Zweifel
eine gesegnete Leitung, die in Uebereinstimmung stand
mit dem Charakter der Versöhnung, wie sie damals geoffenbart
war, als Schatten einer viel tiefer gehenden
Wirklichkeit ; aber es war, soweit es die Israeliten betraf,
111
keine mit geistlicher Einsicht verbundene Leitung. Um sie
zu verstehen, war keine Gemeinschaft der Seele mit Jehova
nötig. Die Wolke zog angesichts, vor den Augen
des Volkes einher, so lange die Wüstenreise dauerte.
Heute aber ist es anders. Der Zweck des Versöhnungswerkes
Christi ist, uns in Gemeinschaft zu bringen
mit den Gedanken und Wegen Gottes. Eine Leitung, wie
sie Israel zu teil wurde, wäre daher unsrer Stellung nicht
angemessen. „Der Knecht weiß nicht, was sein Herr
thut." Er geht und kommt, wie der Herr es befiehlt,
aber er weiß nicht, weshalb er das eine oder das andere
thut. Ein solcher Charakter des Gehorsams würde
sich nicht für solche geziemen, die den Segen einer bewußten
Vergebung aller ihrer Sünden kennen und auf
diesem Wege in die Gedanken und Ratschlüsse Gottes selbst
eingeführt sind. „Wir haben Christi Sinn." Der Gehorsam,
der sich für die Gläubigen der Jetztzeit geziemt,
ist ein einsichtsvoller Gehorsam — „erfüllt mit
der Erkenntnis Seines Willens in aller Weisheit und
geistlichem Verständnis" — „auf daß ihr prüfen möget,
was da sei der gute und wohlgefällige nnd vollkommene
Wille Gottes". (Kol. 1, ll; Röm. 12, 2.)
Wie nötig ist deshalb die Gemeinschaft mit Gott sür den
Wandel des Gläubigen! Gerade durch die Vernachlässigung
dieser Gemeinschaft bringen wir so viele züchtigende Wege
über uns. Gott will uns leiten und uns den Weg lehren,
den wir wandeln sollen. Aber wir sind so oft wie ein
Roß oder ein Maultier, die keinen Verstand haben; wir
verstehen nicht den Willen Gottes, weil wir nicht auf Sein
Auge achten, nicht in Demut Seine Gedanken und Absichten
zu erforschen suchen. Wir lassen uns durch Menschen und
Umstände leiten, anstatt durch Seinen Geist. Wo irgend
der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Wir wandeln in
einem weiten Raume, wenn wir vor dem Herrn wandeln.
Aber wie leicht wendet sich ein jeder von uns auf seinen
eignen Weg, und dann muß Gott uns Zaum und Zügel
anlegen. Gott ist gewöhnt, diese Dinge für Seine Feinde zu
112
gebrauchen, wie geschrieben steht: „Weil dein Toben wider
mich und dein Uebermut in meine Ohren heraufgekommen
ist, so werde ich meinen Ring in deine Nase legen und
mein Gebiß in deine Lippen, und werde dich zurückführen
auf dem Wege, auf welchem du gekommen bist." (Jes. 37,2d.)
Ach, wie oft — zu unsrer Schande sei es gesagt — bedürfen
wir des Zaumes und des Zügels, um uns den Weg
zurückzuführen, den wir gekommen sind! Wer hätte nicht
zu bekennen, daß er den richtigen Weg (der leicht zu
finden gewesen wäre, wenn er nur acht gehabt hätte auf
die Leitung des Auges Gottes) oft erst erreicht hat nach
vielen schmerzlichen und demütigenden Züchtigungen? Unter
den mancherlei Beweisen des allgemein schwachen und niedrigen
Zustandes der Gläubigen unsrer Tage steht dieser obenan:
daß wir so wenig Vertrauen haben auf eine geistliche Leitung
in unsern verschiedenen Lagen und Umständen. Wir wandeln
nicht als solche, die sich von dem Geiste geleitet wissen.
Bei vielen Christen wird eine solche Leitung selbst als
Grundsatz nicht einmal anerkannt; man denkt nur an eine
Leitung mittelst der göttlichen Vorsehung. Aber selbst
da, wo der Grundsatz einer einsichtsvollen geistlichen Leitung
als das Vorrecht des Gaubigen anerkannt wird, will man
sich so gern durch die Wege der Vorsehung in seinem Handeln
bestimmen lassen. Daher verfolgt man nur mit Unsicherheit
seinen Weg, oder man schließt sich anderen an
und stützt sich auf deren Thun. Aber das ist ein Wandel
durch Schauen, nicht durch Glauben, ein Wandel,
der aus unsrer Gewohnheit hervorgeht, die Segnung, die
uns zu teil geworden ist, nur als unsern Schutz und
Schirm, nicht aber als das zu betrachten, was uns in die
Gegenwart Gottes selbst eingeführt hat. Würden wir mehr
in dieser Gegenwart weilen, so würde es nicht so viele zweifelnde
Fragen, nicht so viele Anstöße und Schwierigkeiten
auf dem Wege für uns geben. Unser Pfad würde klar
vor uns liegen, nnd wir würden imstande sein, ihn mit
festem Tritt zu gehen.
Ruth
oder
Segnung und Ruhe.
„Sollte ich dir nicht Ruhe suchen, daß
es dir wohl gehe?" (Ruth 3, 1.)
Es ist nicht mein Zweck, in Nachfolgendem eine Erklärung
des Buches Ruth zu versuchen in seiner vorbildlichen
Bedeutung bezüglich der Wege Gottes mit dem
Ueberrest Israels in zukünftigen Tagen, sondern ich möchte
gern ein wenig reden über den Unterschied zwischen der
Segnung der Seele und dem wahren Grunde des Friedens
und der Ruhe, wie er sich in der rührenden Geschichte
Ruths dargestellt findet. Zunächst muß ich jedoch auf die
ernste Belehrung aufmerksam machen, welche uns in der
Geschichte der rückfälligen Noomi entgegentritt. Ich sage
„rückfällig", denn als eine Hungersnot im Lande Israel entstand,
wandte Noomi, anstatt in dem Lande des Herrn zu
bleiben, mit ihrem Manne und ihren zwei Söhnen Bethlehem,
dem Hause des Brotes, den Rücken und zog in
das Land Moab, deren Bewohner Jehova nicht kannten;
und was noch schlimmer war: sie „blieben daselbst".
(Kap. 1, 2.)
Es ist sehr traurig, wenn Kinder Gottes in Zeiten
der Trübsal, anstatt entschieden und treu bei dem Herrn
zu verharren, sich der Welt zuwenden; aber es ist noch
114
betrübender, wenn sie dort bleiben. — Und was fand
Noomi fern von dem Lande Jehovas? Noomi, d. i.
Lieblichkeit, war ihr Name, aber sie fand Bitterkeit auf
ihrem Wege fern von Gott. Der Tod machte alle ihre
Hoffnungen zunichte. Zuerst stirbt ihr Mann und dann
ihre beiden Söhne; sie allein bleibt übrig. Und sicher, ein
jeder, der dem Herrn den Rücken wendet, wird erfahren,
wie bitter es ist, von Ihm abzuirren.
Doch der Herr ist treu. Obwohl Noomi Ihn verlassen
hatte, verließ Er sie nicht. Gleich dem verlornen
Sohne, der im fernen Lande daran gedachte, daß im Hause
seines Vaters Ueberfluß au Brot sei, drang im Gefilde
Moabs der Bericht an das Ohr Noomis, „daß Jehova
Sein Volk heimgesucht habe, um ihnen Brot zu geben".
Und gleich dem verlornen Sohne „zog sie aus von dem
Orte, wo sie gewesen war". Wahrlich, wunderbar ist die
Gnade unsers Gottes. Er vergißt nie den Verirrten, sondern
zieht ihn mit Seilen der Liebe zurück und stellt ihn
wieder her. Die Schwiegertöchter Noomis machen sich bereit,
mit ihr in das Land Juda zu gehen. Aber ach!
das Weilen im Lande Moab hatte einen bösen Einfluß
auf Noomis armes, vereinfamtes Herz ausgeübt. Anstatt
die beiden Frauen zu dem Gott Judas zu leiten, sagt sie:
„Kehret um zu eurem Lande und zu euren Göttern".
Sie wünschte ihnen, daß sie Ruhe finden möchten in dem
Hause eines Mannes, der Gott nicht kannte.
So ist es mit jedem Gläubigen: entweder wandelt
er in Gemeinschaft mit Gott und weist andern Seelen den
Weg zu Christo; oder er wandelt fern von Seiner Gegenwart
und leitet andere in eine Welt der Sünde und des
Todes. Wie ernst ist dieser Gedanke, mein Leser!
115
Der Herr hatte indes das Herz Ruths gerührt; anstatt
mit ihrer Gefährtin umzukehren, erklärt sie entschieden:
„Wohin du gehst, will ich gehen, wo du weilst, will ich
weilen; dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein
Gott". So kehrte denn Noomi, nachdem sie alles verloren
hatte, in Begleitung Ruths nach Bethlehem zurück. „Und
es geschah, als sie nach Bethlehem kamen, da geriet die
ganze Stadt ihretwegen in Bewegung, und sie sprachen:
Ist das Noomi? Und sie sprach zu ihnen: Nennet mich
nicht Noomi (Lieblichkeit), nennet mich Mara (Bitterkeit);
denn der Allmächtige hat es mir sehr bitter gemacht. Voll
bin ich gegangen, und leer hat mich Jehova zurückkehren
lassen." — Sollten diese Zeilen dem Auge eines Abgeirrten
begegnen, o laß mich dich dann fragen: Ist nicht
dieses Gemälde treu und wahr auch von dir? Du bist
voll gegangen; aber jetzt: wie leer bist du! wie öde und
dürr ist dein Herz! welch ein Leben voll Bitterkeit liegt
hinter dir! Du erinnerst dich mit Wehmut der Tage, in
welchen dein Name „Lieblichkeit" war. Ach, welch eine
Veränderung ist eingetreten! Die Welt hat dich verleitet
und dir glänzende Versprechungen gemacht; aber was hast
du empfangen? Doch sage nicht, der Herr sei wider dich!
Er war nicht wider Noomi, obgleich sie es meinte. Nein,
Er verzäunte ihr den verkehrten Weg, den sie gegangen
war, aber nur um sie nach Bethlehem zurückzubringen
„beim Anfang der Gerstenernte". Sie ging fort in den
Tagen der Hungersnot, und sie kehrte zurück beim Anfang
der Gerstenernte. Wie wenig erwartete der heimkehrende
verlorne Sohn den Ring, das vornehmste Kleid und das
gemästete Kalb!
Gepriesen sei der Gott aller Gnade! es ist stets so.
116
So weit auch das Kind sich verirrt haben mag, welch
ein tiefer Schmerz und welch eine Bitterkeit infolge
dessen auch sein Teil gewesen sein mögen — wenn es umkehrt,
so wird es stets erfahren, daß gerade die Gerstenernte
begonnen hat. Darum kehre um, du armer, verirrter
Wanderer! Der Herr ruft dich zurück zu der Heimstätte
Seiner Liebe! Welch reiche Segnungen warten deiner
dort! Welch ein Segen wartete der armen, so bitter getäuschten
Noomi! Sticht nur hatte die Gerstenernte gerade
begonnen, sondern Boas, der Herr der Ernte, war auch
ihr Blutsverwandter.
Eine Fremde geht aus, um im Felde Aehren aufzulesen.
Es ist Ruth, die Moabitin. Wie gleicht sie einem
Sünder, der zum ersten Male ausgeht, um das Wort des
Lebens zu hören, um einige wenige Segensähren zu
sammeln! Als Moabitin stand Ruth den reichen Segnungen
Israels fern; sie war ohne Gott und ohne Hoffnung.
Aber eine unwiderstehliche Macht hatte sie von dem Hause
des Todes zu dem Felde Boas' hingezogen. Gerade so
ist es mit dem Sünder, dessen Herz von dem Geiste Gottes
bearbeitet worden ist. Verloren und schuldig in sich selbst,
ein Fremdling Gott und Seinem Frieden gegenüber, fühlt
er sich dennoch zu dem Orte hingezogen, wo die Diener
Christi das Feld ernten. — Und Boas war dort, und er
sprach zu dem Knechte, der über die Schnitter bestellt war:
„Wessen ist diese Dirne?" Der Knecht sagt ihm, es sei
Ruth, und fügt hinzu: „sie ist gekommen und dageblieben
vom Morgen an bis jetzt". Er wußte, woher sie gekommen
war und wer sie war. So weiß auch der Heilige
Geist, der über die Knechte Christi gesetzt ist, ganz genau,
117
wer und woher jeder Sünder ist, der zu Christo gebracht
wird. Und nun hört Ruth die Stimme Boas': „Hörst
du, meine Tochter? gehe nicht, aufzulesen auf einem andern
Felde, und gehe auch nicht von hinnen, sondern halte dich
zu meinen Dirnen." Welch freundliche Worte! Boas treibt
Ruth nicht fort als eine unreine, wertlose Moabitin.
O nein; er ruft ihr im Gegenteil ein herzliches Willkommen
zu, das ihrem betrübten Herzen überaus wohlthun mußte.
Kostbares Bild von Ihm, der das geknickte Rohr nicht zerbrechen
und den glimmenden Docht nicht auslöschen Willi
„Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen,
und ich werde euch Ruhe geben", sagt Jesus.
Welch eine gesegnete Thatsache ist das! So unrein und
schuldig der Sünder, und so schwach sein Verlangen nach
Jesu auch sein mag, er findet in der Gegenwart Jesu
das, was Ruth bei Boas fand: ein herzliches Willkommen.
So wie Ruth die Stimme Boas' hörte, so hören die
Schäflein die Stimme des guten Hirten, und Er kennt sie,
und sie folgen Ihm. (Joh. 10.) „Gehe nicht, aufzulesen
auf einem andern Felde", sagt Boas, „bleibe hier". Und
so auch du, mein lieber, junger Mitpilger! Bleibe bei
Jesu und gehe nicht, um auf einem andern Felde
etwas zu suchen! Laß dich nicht verlocken, an den Vergnügungen
der Welt, an ihren Gesellschaften, Bällen rc.,
teilzunehmen! Fühlst du dich zu Jesu hingezogen? Kennst
du Ihn als deinen Heiland und besten Freund? Nun, so
hange an Ihm mit Herzensentschluß! Laß den Gedanken
an Seine Liebe dich bewahren, auf einem andern
Felde Aehren aufzulesen! Ach, wie manche giebt es in
unsern Tagen, die heute mit Christo und morgen mit
der Welt zu gehen scheinen! Gleiche ihnen nicht!
118
Weiter sagt Boas: „Und wenn dich dürstet, so gehe
zu den Gefäßen und trinke". Wie gleichen auch diese
Worte der freundlichen Einladung Jesu: „Wenn jemanden
dürstet, so komme er zu mir und trinke" ; (Joh. 7, 37)
oder dem ernsten Rufe des Propheten: „O ihr Durstigen
alle, kommet zu den Wassern und trinket!" (Jes. 55, 1.)
Und am Ende des kostbaren Buches der Offenbarung hören
wir noch einmal: „Ich will dem Dürstenden aus der
Quelle des Wassers des Lebens geben umsonst", und:
„Wen da dürstet, der komme; wer da will, nehme das
Wasser des Lebens umsonst!" (Offbg. 21, 6; 22, 17.)
Da siel Ruth auf ihr Angesicht und bückte sich zur
Erde und sprach zu ihm: „Warum habe ich Gnade gefunden
in deinen Augen, daß du mich beachtest, da ich
doch eine Fremde bin?" — Ja, es war Gnade, was
Ruth in den Staub niederbeugte. Und ist es nicht auch
die Gnade Gottes, die heute den Sünder zur Buße leitet?
Ruth sagt : Warum habe ich, eine arme Moabitin, Gnade
gefunden in deinen Augen? Und müssen nicht auch wir
sagen: Warum haben wir, solch wertlose, verwerfliche Geschöpfe,
eine solche Gnade gefunden? Ja, es ist lauter
Gnade, lauter Liebe zu uns verlornen Sündern, eine
Liebe, die für mich kam und starb! Die Güte Boas' veränderte
die Gedanken Ruths und gewann ihr Herz; und
keine Buße ist heute wahr und aufrichtig, als nur die,
welche durch die Erkenntnis der in Christo Jesu geoffenbarten
Gnade Gottes hervorgerufen wird. Wenn der
Sünder wirklich dahin kommt, Ihn zu erkennen, so beugt
er sich nieder in den Staub; all sein Denken und Fühlen
ist für immer verändert, sein Herz für immer gewonnen.
„Wir lieben Ihn, weil Er uns zuerst geliebt hat."
119
Was ist so mächtig und unwiderstehlich wie die Liebe
Gottes?
Und nun tröstet Boas das einsame Herz Ruths. „Du
hast mich getröstet", sagt sie, „und hast zum Herzen deiner
Magd geredet, und doch bin ich nicht wie eine deiner
Mägde." So hat der Herr auch zu seiner Zeit unsre Herzen
getröstet. Arm und einsam wie wir uns fühlten, völlig
unwert, dem Volke Gottes anzugehören, ein Glied der
Familie Gottes zu werden — ach! wie hat Er zu unserm
Herzen geredet, wie hat Er uns getröstet, wenn wir im
Kämmerlein auf unsre Kniee niedersanken, wo niemand
uns hörte als Er allein! Wie hat Er uns ausgerichtet
und Seinen Frieden in unsre Herzen gesenkt, als niemand
uns helfen konnte, als wir an uns und an allem schier
verzweifelten! Und Er, der ein gutes Werk in uns angefangen
hat, wird es vollführen bis auf den Tag Christi.
„Und Boas sprach zu ihr zur Zeit des Essens: Tritt
hierher, und iß von dem Brote und tunke deinen Bissen
in den Essig." O hungrige Seele, wie frei und kostenlos
ist daS Brot des Lebens! Wie reich ist der Tisch des
Herrn mit allem besetzt, was du bedarfst! Mit welch einer
zarten Sorge reichte Boas der Fremden die gerösteten
Körner! „Und sie aß und wurde satt und ließ übrig."
Wenn der König an Seinem Tische sich niederläßt und
uns darreicht, wie reichlich hat dann die Seele, die sich
von Ihm nährt! Wie unaussprechlich ist die Freude,
wenn so die Seele zum ersten Male Festfeier mit Ihm
hält! Ich werde nie die Freude und das heilige Staunen
vergessen, als ich zum ersten Male am Tische des Herrn
mich befand, wo Jesus und nur Jesus die Herzen
erfüllte, wo Er allein als der Herr und Leiter anerkannt
120
wurde. Wunderbar köstlich ist die Gemeinschaft der Seelen,
die Ihn so anerkennen.
Aber dennoch ist Ruth bis jetzt nur eine Aehrenleserin.
„Und Boas gebot seinen Knaben und sprach: Auch zwischen
den Garben soll sie auflesen, und ihr sollt sie nicht
beschämen: und auch sollt ihr selbst aus den Bündeln für
sie herausziehen und es liegen lassen, daß sie es auflese,
und sollt sie nicht schelten." (Kap. 2, 15. 16.) Wie steht
dies in Uebereinstimmung mit den Wegen unsers Gottes!
Wie ist es Seine Freude, einer furchtsamen Seele Segen
über Segen zufließen zu lassen! Seine Absicht ist, zu
segnen, und wer könnte Ihn daran hindern?
So schildert diese schöne Geschichte Schritt für Schritt
die gnädigen Wege unsers Gottes mit manch einer furchtsamen,
ängstlichen Seele. Das erste Erwachen eines Verlangens
nach Gott, das Finden eines kleinen Segens unter
den Stoppeln, dann die Stimme des guten Hirten, der
Durst und die Stillung desselben, die Buße, das Selbstgericht
und die Demütigung angesichts der göttlichen Gnade,
der Verkehr mit dem Herrn, das Essen von dem Brote
des Lebens, der Genuß eines überströmenden Segens in
Gemeinschaft mit dem Herrn, eines Segens, den Er selbst
bereitet und darreicht — welch ein Gemälde von den Bemühungen
der göttlichen Liebe!
Und doch hatte Ruth noch nicht Ruhe gefunden. „Und
Noomi, ihre Schwiegermutter, sprach zu ihr: Meine Tochter,
sollte ich dir nicht Ruhe suchen, daß es dir wohl gehe?"
(Kap. 3, 1.) Diese Worte leiten uns zu einem Teil unsers
Gegenstandes, der von tiefer, praktischer Wichtigkeit ist.
Manches Kind Gottes ist zu Christo gezogen worden, hat
121
Seine Kostbarkeit erkannt und süße Gemeinschaft mit Ihm
genossen, sein Durst ist gestillt, sein Hunger befriedigt
worden; und doch kennt und genießt es noch nicht den
wahren Grund einer unerschütterlichen Ruhe in Gott. Es
ist glücklich, wenn es die Segnung genießt, aber wenn Versuchungen
und Glaubensproben kommen, zweifelt es daran,
ob es wirklich ein Kind Gottes sei. — „Sollte ich dir nicht
Ruhe suchen, daß es dir wohl gehe?" — Gott gebe mir
Gnade, den wahren Grund der Ruhe einfach und verständlich
darzustellen, und Er schenke dem Leser, ihn zu erkennen!
Die Scene ist jetzt völlig verändert. Es handelt sich
nicht mehr um ein Suchen und Ausschlagen der Aehren;
nein, der Maria-Charakter beginnt Ruth zu kennzeichnen.
Sie geht nicht mehr aufs Feld, sondern legt sich nieder zu
den Füßen Boas', wie einst Maria zu den Füßen Jesu
saß. Sie liest nicht mehr Gerstenähren auf, sondern Boas
ist ihr Blutsverwandter; und wenn sie durch ihr Auslesen
ein Maß Gerste erhalten hat, empfängt sie jetzt sechs Maß
und wird dann entlassen. Aber sechs ist nicht die voll-
kommne Zahl, und sie hat noch keine Ruhe. So sehr
auch die Seele mit Segnungen erfüllt sein mag, so ist doch
bloßer Segen kein Grund der Ruhe.
Und Noomi sprach zu ihr: „Bleibe, meine Tochter,
bis du weißt, wie die Sache ausfällt; denn der Mann
wird nicht ruhen, er habe denn die Sache heute
beendigt." (Kap. 3, 18.) Es ist sehr wichtig zu bemerken,
daß, so wie Boas die Sache für Ruth in die Hand nahm
und nicht eher ruhen konnte, bis er sie zu Ende
geführt hatte, daß so auch unser anbetungswürdiger Stellvertreter
unsre Sache so in Seine Hand genommen hat,
daß Er nicht eher selbst Rnhe finden konnte,
122
bis Er das Werk vollbracht hatte, das uns in der Gegenwart
Gottes Ruhe giebt auf immerdar.
„Wahrlich", sagt Boas, „ich bin ein Blutsverwandter;
doch ist auch ein näherer Blutsverwandter da als ich." —
„Und Boas ging hinauf zum Thore und setzte sich daselbst.
Und siehe, der Blutsverwandte ging vorüber, von dem
Boas geredet hatte. Da sprach er: Komm her, setze dich
hierher, du, der und der. Und er kam herzu und setzte
sich. Und er nahm zehn Männer von den Aeltesten der
Stadt und sprach: Setzet euch hierher; und sie setzten sich."
(Kap. 4, 1. 2.) Und damit nicht nachher irgend welche
Unzufriedenheit oder Klage entstehen könnte, erzählte er
dem andern Blutsverwandten die ganze Geschichte Ruths
und stellte es ihm völlig frei, Ruth und ihr Feldstück zu
lösen. Der andere Blutsverwandte erklärte sich bereit, das
Feldstück zu lösen, aber es war ihm unmöglich, Ruth zu
lösen oder „den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbteil
zu erwecken". „Und der Blutsverwandte sprach: Ich
kann für mich nicht lösen, daß ich mein Erbteil nicht verderbe.
Löse du für dich, was ich lösen sollte, denn ich
kann nicht lösen."
Nun gab es in Israel vor alters einen sonderbaren
Brauch. Zur Bestätigung einer Lösung oder eines Tausches
zog einer der beiden Beteiligten seinen Schuh aus und
gab ihn dem andern, „nnd das war die Art der Bezeugung
in Israel". (Kap. 4, 7.) Diese Handlung beendigte
jeden Streit, sie bedeutete die Aufgabe aller Ansprüche von
feiten des andern Blutsverwandten. „Und der Blutsverwandte
sprach zu Boas: Kaufe für dich; und er zog seinen
Schuh aus." Die zehn Aeltesten der Stadt waren somit
Zeugen, daß die Ansprüche des andern Blutsverwandten
123
völlig aufgegeben wurden. Er konnte nicht lösen, noch
den Namen des Verstorbenen erwecken. Er konnte der
armen, einsamen Ruth keine Ruhe geben.
Und wer oder was ist es, welchem zunächst (und zwar
in völligster Weise) Gelegenheit geboten worden ist, den
armen, schuldigen und verlorenen Sünder zu retten? Es
ist das Gesetz. Der andere Blutsverwandte konnte sehr
wohl mit dem Lande Ruths fertig werden;, und so ist
auch das Gesetz für Gottes moralische Regierung in der
Welt ausgezeichnet und notwendig. Aber kann, das Gesetz,
welches den Sünder schonungslos verurteilt, ihn erlösen?
Unmöglich! es kann ihn nur verfluchen. (Gal. 3,10.)
Kann es vom Tode auferwecken? Niemals; das hieße
gleichsam sein eignes Erbteil verderben, denn es ist das
Teil des Gesetzes, zu töten, nicht aber lebendig zu machen.
Viele Jahrhunderte lang hat es Gelegenheit gehabt, Menschen
zu erretten; aber hat es das vermocht? Nein. Wie die
zehn Aeltesten Zeugnis dafür ablegten, daß der andere
Blutsverwandte nicht lösen konnte, so zeugen die zehn Gebote
dafür, daß kein Mensch auf dem Grundsatz der Gesetzes-
Erfüllung errettet werden kann. Wenn jemand vollkommen
gerecht wäre und stets in allem bliebe^ was in dem
Buche des Gesetzes geschrieben steht, so könnte ihm das
Gesetz Leben geben. Aber liegt die Sache so, lieber Leser?
Verurteilt dich nicht jedes der zehn Gebote? Hast du nicht
gesündigt in Gedanken, Worten und Werken? Ein Mensch
hofft vielleicht, einmal gerecht werden zu können durch das
Halten der Gebote. Wer es steht geschrieben: „Wenn
Gerechtigkeit durch Gesetz kommt, dann ist Christus umsonst
gestorben." (Gal. 2, 21.) Wie könnte also ein
Mensch Ruhe und Leben finden in dem, was der Dienst
124
des Todes und der Verdammnis genannt wird? (2. Kor. 3.)
Und wenn das Ausziehen des Schuhes sowohl die Unfähigkeit
wie auch das Ende aller Ansprüche
des andern Blutsverwandten bewies, wieviel mehr ist dies
dann geschehen; als Jesus die Handschrift des Gesetzes
nahm und sie an das Kreuz nagelte! Er hat dadurch
nicht nur bewiesen, daß das Gesetz durchaus unfähig war,
zu erretten, sondern auch daß es alle Ansprüche an den
Gläubigen verloren hat. Wie thöricht ist es daher, zu
dem Gesetz zurückzukehren !
Was der andere Blutsverwandte nicht thun konnte,
das konnte Boas thun; ja, er konnte nicht eher ruhen,
bis die Sache zu Ende geführt war. Dieselben Nettesten,
welche Zeugen der Unfähigkeit jenes waren, werden
von Boas zu Zeugen aufgerufen, daß er Ruth, die Moa-
bitin, das Weib Machlons, sich zum Weibe gekauft habe,
um den Namen des Verstorbenen ans seinem Erbteil zu
erwecken. Welch ein Tag der Freude für Ruth! Welch
ein vollkommenes Werk that Boas für sie! Wie war jetzt
alles für sie verändert! Nicht länger war sie die arme,
verachtete Moabitin, nicht länger sollte sie eine Stunde mit
Boas gesegnet, und die andere einsam und von ihm getrennt
sein. Nein, sie ist jetzt eins mit ihm, in vollkommner
Ruhe. Die beiden sind eins geworden, um nie wieder
getrennt zu werden. Glückliche Ruth! Die Liebe, die dich
gesucht und erkauft hat, wird nie von dir lassen: nichts
wird dich von seiner Liebe scheiden. Du hattest nichts,
was du ihm hättest bringen können; aber Boas hatte alles
dir zu geben. Er hat sein Werk in herrlicher Weise zu
Ende geführt. — An jenem Tage herrschte Freude in dem
Thore von Bethlehem. Alles Volk legte im Verein mit
125
den Aeltesten mit großer Freude Zeugnis ab von der voll-
kommnen Erlösung Ruths und ihrer Verheiratung mit
Boas, dem „vermögenden Manne".
Und wie ist es mit uns? Was das Gesetz nicht zu
thun vermochte, das hat Gott gethan in der Sendung Seines
geliebten Sohnes. Drei Dinge sind es, die dem Gläubigen
eine unerschütterliche, ewige Ruhe geben, und alle drei
finden sich in der Geschichte Ruths vorbildlich dargestellt.
Sie heißen: Erlösung, Auferstehung und Bereinigung mit
Christo. Es ist das glückselige und gegenwärtige Borrecht
aller Gläubigen, sagen zu können: „Wir haben die Erlösung
durch Sein Blut, die Vergebung der Vergehungen
nach dem Reichtum Seiner Gnade" (Eph. 1, 7); und:
„Umsonst gerechtfertigt durch Seine Gnade, durch die Erlösung,
die in Christo Jesu ist" (Röm. 3, 24); und endlich:
„Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in
Christo Jesu sind". Erlösung durch den Tod Jesu am
Kreuze ist die Grundlage von allem. Darüber hinaus hat
das Gesetz keine Ansprüche. Der Tod Christi ist das Ende
aller nur denkbaren Forderungen des Gesetzes. Ueber den
Tod kann es nicht hinausgehen. Er, der keine Sünde
kannte, ist für uns zur Sünde gemacht worden.
Welch ein Gedanke, mein Leser! Sinne darüber nach.
Dein Thun und deine Gefühle haben nichts hiermit zu
thun. Die Liebe Gottes hat das große Werk für dich
unternommen und vollendet, ohne daß du Ihn auch nur
darum gebeten hättest.
Nachdem der andere Blutsverwandte einmal seinen
Schuh ausgezogen hatte, konnte die Sache Ruths von ihm
aus nie wieder einer neuen Behandlung unterzogen werden.
Gerade so ist es mit dem Gesetz. Es war ein Zuchtmeister
126
auf Christum hin. Aber obgleich der Mensch unter dem
Gesetz auf die Probe gestellt worden ist, konnte es ihn
doch nur verurteilen. „Wir wissen aber, daß alles, was
das Gesetz sagt, es denen sagt, die unter dem Gesetz sind,
auf daß jeder Mund verstopft werde und die ganze Welt
dem Gericht Gottes verfallen sei." (Röm. 3, 19.) Nach
dem Kreuze kann also der Mensch nie wieder unter
dem Gesetz auf eine neue Probe gestellt werden. Es ist
ein für allemal erwiesen worden, daß er nur verloren und
schuldig ist, und das Gesetz kann ihm weder Erlösung, noch
ein neues Leben, noch Ruhe vor Gott geben. Jeder Versuch,
sich wieder unter das Gesetz zu stellen, ist deshalb
nichts als eine verhängnisvolle Thorheit. „Christus hat
uns losgekauft von dem Fluche des Gesetzes, indem Er ein
Fluch für uns geworden ist", und: „So viele aus Gesetzes
Werken sind, sind unter dem Fluche". (Gal. 3.) Damit
ist die Frage auf immerdar zu einem Abschluß gebracht.
Das Kreuz ist das Ende des Gesetzes und der Anfang der
unumschränkten Gnade — die große Schranke, welche den
Boden des Gesetzes und der Gnade unwiederbringlich von
einander trennt. Wenn.ich aus Werken errettet werden
könnte, so wäre es nicht mehr Gottes Gnade.
Wir kommen jetzt zu dem zweiten Punkte, der Auferstehung.
Der Tod Jesu allein hätte dem schuldigen
Sünder keine Ruhe geben können, wie denn auch geschrieben
steht: „Wenn Christus nicht auferweckt ist, so ist euer
Glaube eitel; ihr seid noch in euren Sünden." (1. Kor.
15,17.) Wie deutlich bezeichnet dies die Größe der Verantwortlichkeit,
welche Jesus für uns auf sich nahm! Wäre
nicht durch die Aufopferung Seines kostbaren Lebens eine
vollkommne Erlösung zuwege gebracht worden, so hätte Er
127
nicht anferstehen können; Er würde noch unter den Toten
weilen. Sind unsre Sünden nicht wirklich hinweggethan,
so kann Er nicht zu unsrer Rechtfertigung auferweckt worden
sein. Er hätte sich unmöglich zur Rechten der Majestät
in der Höhe niedersetzen können, wenn Er nicht unsre
Sünden auf immerdar gesühnt hätte. Die einzige Frage
ist daher: Hat Gott Ihn zu unsrer Rechtfertigung aus den
Toten auferweckt, und sitzt Er jetzt droben zur Rechten
Gottes, oder nicht? Du antwortest: Ganz gewiß hat Gott
Ihn auferweckt und zu Seiner Rechten gesetzt. Nun, dann
ist auch die Sündenfrage für immer und ewig geordnet.
Jesus, mein Stellvertreter, thront in demselben Leibe,
(obwohl jetzt verherrlicht,) in welchem Er am Kreuze hing,
droben; Er ist meine Gerechtigkeit, und die Bürgschaft
von feiten Gottes , daß Er meiner Sünden und Ueber-
tretungen nie mehr gedenken will. Ja, noch weit mehr
als das. Wir lesen in Eph. 2, 4—6: „Gott, aber, der
reich ist an Barmherzigkeit, wegen Seiner vielen Liebe,
womit Er uns geliebt hat , als auch wir in den Vergehungen
tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig
gemacht (durch Gnade seid ihr errettet), und hat uns mitauferweckt
und mitsitzen lassen in den himmlischen Oertern
in Christo Jesu." Gerade so denn, wie es sich bei Ruth
nicht mehr um das handelte, was sie in sich selbst als eine
arme Moabitin gewesen, sondern um das, was sie jetzt als
die geehrte Braut des Boas war, ist auch die Stellung
des Gläubigen vor Gott nicht mehr diejenige eines schuldigen,
verurteilten Sünders, sondern sie ist ganz und gar
von Gott in Christo Jesu, dem Haupte der neuen
Schöpfung. Ruth besaß nichts, um es Boas zu bringen;
aber welche Reichtümer hatte Boas sür Ruth! Der Sünder
128
besitzt nichts, um es Christo zu bringen; aber was hätte
Christus nicht für den Sünder? Ruth bedurfte nicht nur
der Lösung; nein, der Tod war auch auf ihr Haus geschrieben.
So bedurften auch wir nicht nur der Erlösung,
sondern wir lagen im Tode, und wir bedurften des Lebens;
denn „der Tod ist zu. allen Menschen durchgedrungen, weil
sie alle gesündigt haben". Wir sind erlöst durch Sein
Blut, und Seine Auferstehung ist unser Leben. Nicht als
ob der alte Mensch wieder lebendig gemacht würde: der
frühere Gatte Ruths wurde nicht aus den Toten auferweckt,
sondern sie erhielt einen neuen Gatten. So haben wir ein
ganz neues Leben, das Auferstehungs leben, empfangen.
Auch sind wir nicht wieder unter den alten Gatten, das
Gesetz, gestellt, sondern wir sind „dem Gesetz getötet worden
durch den Leib des Christus, um eines Andern zu werden,
des aus den Toten Auferweckten, auf daß wir Gott Frucht
brächten" ; und: „Wir sind von dem Gesetz losgemacht,
da wir dem gestorben sind, in welche!» wir festgehalten
wurden, so daß wir dienen in dem Neuen des Geistes und
nicht in dem Alten des Buchstabens". (Röm. 7, 4. 6.)
Möge Gott dem Schreiber und Leser Verständnis geben
in diesen Dingen! Wenn wir von dem Geiste geleitet
werden, sind wir nicht unter Gesetz.
Niemand denke indes, daß ich lehren wolle, Gott habe
Sein Gesetz beiseite gesetzt. Nein, gerade so wie die zehn
Aeltesten Zeugnis ablegten von der vollkommnen Lösung
Ruths und ihrer Vereinigung mit Boas, so legt auch das
erfüllte Gesetz Zeugnis ab. Der Tod Christi für die
Seinigen ist die große Erfüllung des Gesetzes. Das Gesetz
forderte das Leben des Sünders. Jesus gab Sein Leben
für den Sünder hin, und jetzt sitzt das Gesetz gleichsam im
129
Thore als ein voll und ganz befriedigter Zeuge von der
Gerechtigkeit Gottes.
Aber nicht nur ist der Gläubige durch das Blut
Christi erlöst, nicht nur besitzt er in der Auferstehung
Christi den vollgültigen Beweis seiner ewigen Sicherheit,
nein, er ist auch mit Christo vereinigt, und der Heilige
Geist benutzt das ausdrucksvolle Bild der Ehe, um diese
wunderbare Bereinigung darzustellen. Wenn ein Deutscher
eine Französin heiratet, so hört letztere auf, eine Französin
zu sein. Sie mag ihre französische Natur behalten, aber
ihre Stellung wird diejenige ihres Mannes, sie wird eine
Deutsche. Ihre frühere Stellung ist dahin, sie ist ihr
gleichsam gestorben. So war es mit Ruth. Sie hörte
auf, eine Moabitin zu sein, und wurde eins mit Boas.
Und so ist es mit dem Gläubigen: sobald seine Seele in
dem vollendeten Werke Christi Ruhe gefunden hat, wird
seine frühere Stellung als vorübergegangen betrachtet : er
ist ihr gestorben und eines Andern geworden. Die verheiratete
Frau kann nie wieder Fräulein So-und-so werden.
So auch kann der Christ, nachdem er mit Christo eins
geworden ist, nie wieder zu seiner alten Stellung, zu dem
was er in sich selbst ist, zurückkehren. Das was er in sich
selbst ist, hat sein Gericht auf dem Kreuze gefunden und
ist für immer vor Gott verschwunden. Er mag seine alte
Natur noch in sich tragen, aber er kann nie wieder in die
Stellung der Verdammnis zurückkehren. Für die, welche
in Christo sind, giebt es keine Verdammnis mehr.
Mein lieber Mitgläubiger! alle diese Dinge sind, so
arm und unwürdig du dich auch in dir selbst fühlen magst,
wahr von dir. Du hast die Erlösung durch Sein Blut.
130
Du besitzest in Ihm ein neues Leben. Du bist eins mit
Christo. Nichts kann dich je wieder von Ihm scheiden.
Er wird nicht wiederum sterben und dich gleichsam als
Witwe zuriicklassen. Du kannst nicht inniger mit Ihm
verbunden werden, als du es bist, und deshalb kann
auch deine ewige Ruhe nicht sicherer werden als sie
es ist. Er hat deine Sache auf sich genommen. Wer
könnte also irgend eine Anklage wider dich erheben?
„Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme?
Christus ist es, der gestorben, ja noch mehr, der
auch auferweckt, der auch zur Rechten Gottes ist, der auch
für uns bittet." Kannst du nicht triumphierend sagen:
„Wer wird uns scheiden von der Liebe des Christus" ?
(Röm. 8, 31—39.)
Und. nun, was soll ich zum Schluffe sagen? Ich
möchte dir mit dem Apostel zurufen: „Wenn ihr nun mit
dem Christus auferweckt worden seid, so suchet, was droben
ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet
auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde
ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen
mit dem Christus in Gott. Wenn der Christus, unser
Leben, geoffenbart wird, dann werdet auch ihr mit Ihm
geoffenbart werden in Herrlichkeit." (Kol. 3, 1—4.)
Wie hätte Ruth jemals an der Liebe ihres Mannes
zweifeln können? Das ganze Volk samt den Aeltesten war
Zeuge dieser Liebe. War es deshalb Anmaßung von ihr,
wenn sie vollkommen gewiß und sicher war? Unmöglich!
Und ist es Anmaßung, wenn wir es heute sind? Nein!
Christus hat uns geliebt und sich selbst für uns dahingegeben.
Wir sind Sein, und Er ist unser. Gott ist Zeuge,
die Aeltesten sind Zeugen, Zehntausende mal Zehntausende
131
sind Zeugen, ja alle Kreatur wird einmal Zeuge sein und
mit einstimmen in den Ruf: „Würdig ist das Lamm, das
geschlachtet worden ist!"
Gieb denn allen Zweifeln und Befürchtungen für immer
den Abschied! Wende dich ab von Moab, von dieser bösen,
betrügerischen Welt! Du bist eins mit Christo droben in
der Herrlichkeit. Die Heimat droben, jener Schauplatz
reiner, göttlicher Liebe, ist dein ans ewig. Dorthin richte
dein Sinnen und Trachten! Dort ist dein Schatz: dort
liegt dir auch die ewige Sabbathruhe bereit.
Befreiung.
Unter „Befreiung" verstehen wir nicht nur die Kenntnis
der „Vergebung der Sünden", sondern was es ist, von
sich selbst befreit worden zu sein. Manche sagen, daß sie
die Hoffnung haben, früher oder später mit sich zu Ende
zu kommen; aber dies beweist nicht nur, daß sie noch
nicht befreit sind, sondern auch daß sie sich auf einem ganz
verkehrten Wege befinden. Ein gottesfürchtiger Diener des
Evangeliums sagte einmal: „Ich habe viel mehr Seelenangst
ausgestanden, nachdem ich der Vergebung meiner
Sünden gewiß geworden war, als vorher, weil ich das
schreckliche Wirken einer bösen Natur in mir erkannte. Ich
pflegte zum Herrn zu rufen, vielleicht hundertmal an einein
Tage: „Herr, hilf mir gegen dies; Herr, hilf mir gegen
das!" Aber ich fand keine Hilfe, keinen Trost, bis der
Herr mir in Seiner Gnade zeigte, daß Er mich durch
Seinen Tod am Kreuze auf immerdar von der bösen Natur-
selbst befreit habe."
132
So lange wir das eigne Ich zum Gegenstände haben,
sei es nun (wie manche es nennen) unser „gutes Ich",
unser „religiöses Ich", oder unser „böses Ich", ist nicht
der Glaube in Thätigkeit, sondern mehr oder weniger der
Verstand; man grübelt, man überlegt, man macht Schlüsse
u. s. w. Aber wann wäre irgend jemand aus diesem
Wege mit seinem Ich zu Ende gekommen? Auch wenn
selbstgefällige und stolze Gedanken im Blick auf unsre
christlichen Fortschritte, auf unsern Dienst und dergleichen
uns beschäftigen (obwohl wir sicherlich in der Gnade wachsen
sollten), so ist es klar, daß wir nur wenig das Ich in
seinen mannigfachen betrüglichen Fornien der Selbstgerechtigkeit
und des Verderbens erkannt haben. Oder wenn
wir andrerseits unsre Gedanken auf die mancherlei unreinen
Regungen in unserm Innern richten, so werden wir — obwohl
wir uns mit der Thatsache trösten mögen, daß andere
Kinder Gottes ähnliche Erfahrungen machen wie wir —
dennoch um so unglücklicher uns fühlen, je zarter unser
Gewissen ist; und dies wird so lange fortdauern, bis wir
die Befreiung kennen lernen. Auch kann man von jemandem,
der die Lüste und Neigungen des Fleisches als Feinde betrachtet,
die er täglich und unaufhörlich bekämpfen müsse,
nicht sagen, daß er die Befreiung genieße; denn ein solcher
hält seinen alten Menschen nicht für tot, sondern im
Gegenteil für lebendig. Aber ein Christ sollte wissen, daß
er mit Christo gestorben, daß der alte Mensch mit seinen
Leidenschaften und Lüsten gekreuzigt ist, und daß der Glaube
stets auf die Seite Gottes tritt und den alten Menschen
als in dem Tode des Sohnes Gottes hinweggethan betrachtet.
Die im Glauben erfaßte und verwirklichte Thatsache,
daß wir mit Christo gestorben sind und in Ihm, dem
133
Auferstandenen, leben, das ist unsreMacht über den
alten Menschen. Wir werden durch den Heiligen
Geist aufgefordert, uns der Sünde für tot zu halten,
Gott aberlebend in Christo Jesu, unserm Herrn. (Röm. 6,11.)
Zu gestorbenen Personen haben wir nichts mehr zu reden,
noch weniger werden wir daran denken, mit ihnen einen
Streit zu führen. Der Gläubige wird in den Briefen des
Apostels Paulus betrachtet als „in Christo", als Besitzer
eines neuen Lebens in Ihm, der aus den Toten auferstanden
ist, und als mit Ihm, dem Aufgefahrenen, verbunden
durch den Heiligen Geist. Wenn diese Thatsache
als göttliche Wahrheit im Herzen ausgenommen wird, so
bringt sie Befreiung.
Die Schrift sagt: „Also ist jetzt keine Verdammnis
für die, welche in Christo Jesu sind." (Röm. 8, 1.) Das
ist die gegenwärtige Stellung des Gläubigen. „Ihr
seid vollendet in Ihm, welcher das Haupt jedes Fürstentums
und jeder Gewalt ist." (Kol. 2, 10.) Der Gläubige
war einst in seinen Sünden, und deshalb war er dem
Zorne Gottes ausgesetzt; aber jetzt besitzt er „durch die Erlösung,
die in Christo Jesu ist", die Vergebung seiner Sünden,
und Gott rechtfertigt ihn „umsonst durch Seine Gnade".
(Röm. 3, 24.) Er ist gerechtfertigt von allem. Er war
„im Fleische", hatte eine Natur der „Sünde im Fleische";
aber da Gott Seinen eingebornen Sohn, den Reinen und
Heiligen, in der Gleichheit des sündigen Fleisches gesandt
und in Ihm, dem wahren Sündopfer, „die Sünde im
Fleische" gerichtet hat, so haben wir, nachdem wir geglaubt
haben, das Recht, zu wissen, daß wir mit Ihm gestorben
sind, und besitzen einen ganz neuen Platz „in Christo
Jesu". Es wird uns gesagt: „Ihr seid nicht in dem
134
Fleische". Das ist der Weg, auf welchem die Befreiung
unser wird.
Gläubige, die unter dem Gesetz waren, aber
jetzt durch den Leib Christi dem Gesetz gestorben sind, sind
jetzt mit einem Andern verbunden, mit dem aus den
Toten Auferstandenen; und so bringen sie Gott Frucht.
Sie sind durch den Tod Christi von dem Fluche des Ge­
setzes befreit.
Das Zeugnis des Heiligen Geistes, vermittelst des
Wortes Gottes, versichert den Gläubigen, daß er durch den
Tod Befreiung gefunden habe, daß Er jetzt „in Christo
Jesu" sei, und daß er, annehmlich gemacht in dem Geliebten,
ein Gegenstand der ewigen und unveränderlichen
Liebe Gottes geworden sei. Er soll nicht nur wissen, daß
er aus Glauben gerechtfertigt ist und jetzt, durch unsern
Herrn Christum, „mittelst des Glaubens Zugang hat zu
der Gnade" oder Gunst, in welcher er steht, sondern auch,
daß er „in Christo Jesu" ist.
Es ist indes eine Sache, die Befreiung als Lehre
anzunehmen, und eine zweite Sache, sie auf dem Wege
der Erfahrung kennen zu lernen. Letzteres geschieht selten
ohne Demütigung und Schmerz. Wenn wir durch den
Geist Gottes belehrt werden, was das Fleisch ist, so daß
wir zu dem Schluffe kommen: „In mir, das ist in
meinem Fleische, wohnt nichts Gutes"; wenn wir erfahren,
daß das Fleisch so böse ist, daß Gottes Gebote nur
seine Lüste erregen und wecken, daß es unheilbar schlecht
ist, ja daß wir so hilflos ihm gegenüber sind, daß es alle
unsre besten Vorsätze zu Schanden macht und gerade dann
hervortritt, wenn wir das Gute thun wollen — dann ruft
das geängstigte, verzweifelnde Herz aus: „Ich elender
135
Mensch! wer wird mich retten von diesem Leibe des
Todes?" (Röm. 7, 24.)
Beachte, mein Leser, daß dieser Rnf nicht eine Bitte
um Vergebung enthält, sondern das Herz sehnt sich nach
Befreiung von der Herrschaft und dem Elend einer
bösen Natur. Der Gläubige verlangt nach Befreiung
von sich selbst. Und wie wird ihm diese Befreiung zu
teil? Durch das gläubige Erfassen der Wahrheit Gottes,
daß Er diese böse Natur verurteilt und auf gerichtlichem
Wege beseitigt hat, daß der alte Mensch in dem
Kreuze Seines Sohnes sein Ende gefunden hat. Und die Erkenntnis
dieser gesegneten Wahrheit ruft den Jubelruf wach:
„Ich danke Gott durch Jesum Christum, unsern Herrn!"
Welch eine Befreiung! Doch noch nicht genug damit;
nachdem der Gläubige Leben in Christo und die Gabe des
Heiligen Geistes empfangen hat — „den Geist des Lebens
in Christo Jesu" — sieht er sich „freigemacht von dem
Gesetz der Sünde und des Todes". Er ist von der Sünde
als einem Herr n nnd Gebieter befreit; er wird nicht
mehr von dem Gesetz der Sünde gefangen gehalten, sondern
ist in bewußter Weise frei gemacht, um nun dem Herrn
zu dienen nnd Ihn zu ehren; er braucht nicht mehr der
Sünde zu dienen, er ist ans ihrer harten Sklaverei erlöst.
Er hat dies jetzt auf dem Wege der Erfahrung gelernt.
Welch eine Befreiung! Sie ist von Gott, durch Jesum
Christum; und infolge der Gabe des Heiligen Geistes kennt
der Gläubige diese gesegnete Freiheit und weiß, daß er jetzt
Ursache hat, zu loben und zu danken, sowie Kraft, um der
Heiligkeit nachzujagen. (Der Leser wolle mit Aufmerksamkeit
und unter Gebet Röm. 7, 18. 21. 23—25 und
Röm. 8, 1—4 mit dem Gesagten vergleichen.)
136
Obgleich nun aber von dem Gläubigen gesprochen wird
als nicht mehr „im Fleische", sondern „im Geiste",
wenn anders der Geist Gottes in ihm wohnt, so hat er
doch noch „das Fleisch" in sich, und diese Thatsache bereitet
ihm viel Unruhe und macht eine stete Wachsamkeit notwendig.
Allein er soll sich thatsächlich der Sünde für
gestorben halten, Gott aber lebend in Christo Jesu, unserm
Herrn. Er soll kein Vertrauen auf Fleisch haben. Deshalb
fordert Paulus alle diejenigen, welche mit Christo
auferstanden sind, auf, ihre Glieder, die auf der Erde sind,
wie Unreinigkeit, Leidenschaft, böse Lust, Habsucht re. zn
töten. Petrus schreibt an die Fremdlinge und Pilgrime,
alle Bosheit, Heuchelei, Neid rc. abzulegen und „sich zu
enthalten von den fleischlichen Lüsten, die da wider die
Seele streiten". (Kol. 3, 1—10; 1. Petr. 1, 18—2, 12.)
Es ist gut, dies zu wissen und zu beachten, daß es im
Fleische keinerlei Hilfsquellen für uns giebt, sondern daß
wir es im Gegenteil als einen gekreuzigten Feind zu
betrachten und alle unsre Hilfsquellen in einem auferstandenen
und verherrlichten Christus zu suchen haben, so daß
wir unsern Pilgerweg wandeln im Aufblick zu Jesu, von
welchem wir alles empfangen und nehmen, was wir bedürfen.
Dann werden wir auch in unserm Maße mit
Paulus sagen können: „Ich bin mit Christo gekreuzigt;
und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir;
was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben,
durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich
selbst für mich dahingegeben hat." (Gal. 2, 20.)
137
Der Tag Gottes.
(2. Petri 3, 11—14.)
Der Apostel Petrus redet in dem letzten Kapitel
seines 2. Briefes von der Einführung der ewigen Zeit-'
alter. Er ergreift die prophetische Lampe, um den sittlichen
Zustand der Menschen am Ende der Tage zu
beleuchten, indem er uns an die „von den heiligen Propheten
zuvor gesprochenen Worte" erinnert, die uns angekündigt
haben, daß die Gottlosen über „die Verheißung
Seiner Ankunft" spotten würden. Diese Ankunft ist für
sie ein altweibisches Märchen. Sie sagen, daß „alles so
bleibe von Anfang der Schöpfung an". Sie behaupten
die Unwandelbarkeit des Stoffes und wollen es nicht
tvissen, daß die Existenz und die Zerstörung der Welt
von dem Worte Gottes abhängig sind. Durch dieses
Wort wurden die Welten geschaffen (Hebr. 11, 3), und
durch dieses Wort bestehen sie und werden sie zerstört
werden. (2. Petr. 3, 5—7.) Schon einmal ist die Welt
durch die Flut überschwemmt worden und untergegangen.
Aber jene Menschen wollen es nicht glauben und nicht
erkennen, daß die jetzigen Himmel und die Erde durch
Sein Wort aufbewahrt werden auf den Tag des Gerichts
und des Verderbens der gottlosen Menschen. Allein mögen
sie spotten und leugnen, so viel sie wollen, „der Tag
des Herrn wird kommen wie ein Dieb, an welchem die
Himmel vergehen werden mit gewaltigem Geräusch, die
Elemente aber im Brande werden aufgelöst und die Erde
und die Werke auf ihr werden verbrannt werden". (B. 10.)
Diese Wahrheit ist ein mächtiger Beweggrund für
unsern christlichen Wandel: „Da nun dies alles aufgelöst
138
Wird, welche solltet ihr dann sein in heiligem Wandel
und Gottseligkeit!" Wie könnten wir, da wir Gottes
Wort besitzen und Seine Gedanken iiber diese Welt kennen,
mit der Welt oder gleich ihr leben? Wie könnten wir
enge Beziehungen, vertraute Verbindungen mit dem haben,
was, wie wir wissen, den Flammen anheimfallen wird?
Indessen kann die Furcht, mit diesem Zustand der
Dinge in Verbindung erfunden zu werden, nicht unser
einziger, oder selbst unser hauptsächlicher Beweggrund sein.
Der Tag des Herrn wird einen andern Tag im Gefolge
haben, den Tag Gottes. Wegen dieses Tages „werden
die Himmel, in Feuer geraten, aufgelöst werden und
die Elemente im Brande zerschmelzen". (B. 12.) An diesem
Tage wird alles den Zustand einer vollen und endgültigen
Beständigkeit erreicht haben. Diesen Tag erwarten
wir; denn der Tag des Gerichts kann nicht der Gegenstand
unsrer Erwartung nnd Hoffnung fein. Der Tag
des Herrn wird die Herrschaft der Gerechtigkeit
über die durch das Gericht gereinigte Erde herbeiführen:
hernach wird diese Herrschaft, nachdem sie „den ersten
Himmel und die erste Erde" zerstört haben wird, den
Tag Gottes einführen, dessen Glanz sich entfalten wird,
in den neuen Himmeln und über einer neuen Erde,
„in welchen Gerechtigkeit wohnt".
Diesen Tag erwarten wir, und wir werden ermahnt,
sein Kommen zu beschleunigen. Doch wie ist
das möglich? Dadurch daß wir fortan in all unserm
Wandel und Verhalten die Charakterzüge der Gerechtigkeit
nnd Heiligkeit offenbaren, welche jenem Tage angehören.
Welche sollten wir also sein in heiligem Wandel und
Gottseligkeit! „Deshalb, Geliebte, da ihr dies erwartet,
139
so befleißiget euch, ohne Flecken und tadellos von Ihm
erfunden zu werden in Frieden!" (V. 14.)
Mein lieber Leser! der Herr ist nahe. Wir werden
Ihn sehen als den Hellen, glänzenden Morgenstern, als
unsern Herrn und Meister, als unsern Heiland und geliebten
Bräutigam; wir werden mit Ihm in Herrlichkeit
zurückkehren, um mit dem König zu herrschen, und dann
wird der Tag Gottes erscheinen. Indem wir darauf
warten, regiert das Böse noch in der Welt, und wir
leiden darunter. Aber fürchten wir nichts, und verlieren
wir nicht den Mut. Achten wir die Langmut unsers
Gottes für Errettung. Besitzen wir nicht inmitten des
allgemeinen Verfalls und des drohenden Umsturzes alles
Bestehenden die mächtigsten Beweggründe, um „die Gott-
s-eTTgkeit und die weltlichen Lüste zu verleugnen
und besonnen und gerecht und gottselig
zu leben in dem jetzigen Zeitlauf, erwartend die glückselige
Hoffnung und Erscheinung unsers großen Gottes
und Heilandes Jesu Christi" ? Er hat sich selbst für
uns hingegeben, um uns von aller Gesetzlosigkeit loszukaufen
und sich selbst ein Eigentums-Volk zu reinigen,
eifrig in guten Werken. (Tit. 2, 12—14.)
Der letzte Besuch.
Er saß in seinem Lehnstuhl, von Kissen gestützt. In
trauriger Weise war der arme, abgezehrte Leib verändert;
aber sein Geist frohlockte in seinem vielgeliebten Herrn.
„Als ich," so begann er, „vor zwei Monaten fühlte, daß
diese Krankheit zum Tode sei, da habe ich Ihn gebeten.
140
sich mir in vermehrter Lieblichkeit und Nähe zu offenbaren.
Er hat es gethan; Er hat mich mit sich selbst erfüllt.
Ich weiß, daß das Blut Sein gesegnetes Werk für meine
Seele gethan hat. Aber es ist Seine Liebe, Seine
Schönheit, Seine Vollkommenheit, die mein Herz und
meinen ganzen Gesichtskreis ausfüllen."
Auf Befragen erklärte er, daß er sich ein wenig Wohler
fühle als tags vorher; „aber," fügte er hinzu, „das ist
keine Freude für mich", und seine mageren Hände faltend,
sagte er, während Thränen über seine Wangen strömten:
„Mein teurer Herr Jesus! Du weißt, wie voll und
ganz ich mit Paulus sagen kann: Abzuscheiden und bei Dir
zu fein ist weit besser. O wie unvergleichlich besser! Ich
sehne mich danach! Man kommt und sagt mir, daß eine
Krone der Herrlichkeit meiner warte; ich bitte sie, auf-
znhören. Man spricht von der Herrlichkeit des Himmels
— ich bitte sie, zu schweigen. Ich bedarf keiner Kronen.
Ich habe Dich, Dich selbst!"
Nach einer Weile begann er von neuem: „Ich gehe
zu Jesu; ich werde bei Ihm sein, dem Manne von Sichar,
bei Ihm, der stehen blieb, um Zachäus zu rufen, bei dem
Manne von Joh. 8, bei Ihm, der am Kreuze hing, bei
Ihm, der starb! O bei Ihm zu sein, ehe die Herrlichkeit,
die Kronen oder das Reich erscheinen! Es ist wunderbar,
wunderbar! — allein mit dem Manne von Sichar, mit
Ihm, der an dem Thore von Nain stand! Und ich gehe hin,
um für immer bei Ihm zu sein, um den traurigen Schauplatz
dieser Welt, die Ihn verworfen hat, zu vertauschen
mit Seiner Gegenwart! O der Mann von Sichar!"
Henoch wandelte mit Gott.
(1. Mose 5, 22; Hebr. 11, 5.)
Die Lebensbeschreibung Henochs ist außerordentlich
kurz, aber von tiefer Bedeutung, vor allem für uns in der
gegenwärtigen Zeit. Wir stehen am Ende der Geschichte
der Kirche und sind nahe am Ziel. Nicht lange mehr, und
der gebietende Zuruf des Sohnes Gottes wird erschallen,
und alle die Toten in Christo werden auferweckt, und
wir, die Lebenden, werden verwandelt und gemeinschaftlich
mit jenen dem Herrn entgegengerückt werden in die Luft,
um für allezeit bei Jesu zu sein. Nicht lange mehr!
— Gott sei Lob und Dank für diese Hoffnung!
- Der Herr Jesus hat einmal zu Seinen Jüngern gesagt:
„Gleichwie es in den Tagen Noahs geschah, also wird es
auch sein in den Tagen des Sohnes des Menschen: sie
aßen, sie tranken, sie heirateten, sie wurden verheiratet,
bis zu dem Tage, da Noah in die Arche ging, und die
Flut kam und alle umbrachte." (Luk. 17, 26. 27.) Diese
prophetischen Worte haben sich bereits erfüllt, wenn auch
der in denselben beschriebene Zustand noch nicht völlig
ausgereift sein mag. Der Zustand der Welt, der christlichen
Welt, ist bereits so wie in den Tagen Noahs: man
ißt und trinkt, man kauft und verkauft, heiratet und wird verheiratet,
jagt den Freuden und Vergnügungen dieser Welt nach,
als ob nie ein Ende an all dieses Thun und Treiben kommen
142
würde. Man beschäftigt sich eifrig und unablässig mit den
materiellen Dingen dieser Welt; aber für die himmlischen
Dinge hat man kein Herz, kein Verständnis.
Dieser Zustand wird fortdauern und sich noch weiter
entwickeln bis zum Ende hin. Die Menschen werden sagen:
„Friede und Sicherheit!" obwohl das Gericht angekündigt
ist und die nahe Ankunft Christi gepredigt wird. Wir
befinden uns heute noch nicht gerade in „den Tagen des
Sohnes des Menschen", d. h. in der Seiner „Erscheinung"
unmittelbar vorhergehenden Zeit. Die sichtbare Erscheinung
Christi auf der Erde wird noch nicht heute oder
morgen erfolgen. So lange die wahren Gläubigen noch
hienieden sind, kann der Herr Jesus nicht auf diese Erde
kommen. Denn Er will mit allen Seinen Heiligen
kommen, und wenn Er mit Seinen Heiligen kommen will,
so müssen diese vorher im Himmel sein.
Doch, wie gesagt, schon heute ist der Geist wirksam,
der in den Tagen Noahs herrschte. Man trachtet nach
der Befriedigung seiner fleischlichen Wünsche und Begierden
und kümmert sich nicht um göttliche Dinge. Doch dieser
Zustand, so traurig er ist, wird noch schlimmer werden.
Gleichgültigkeit, Eigenwille und Bosheit werden zunehmen;
ja, das Gefühl der Sicherheit wird unmittelbar vor der
Ankunft des Herrn zum Gericht weit mehr in den Herzen
der Menschen vorhanden sein, als es heute der Fall ist.
(Bergl. 1. Thess. 5, 3.)
Ehe die große Flut kam, lebte ein Mann auf dieser
Erde, der mit Gott wandelte und der, ohne zu sterben, in
den Himmel einging. Durch Glauben ist Henoch entrückt
worden; Gott nahm ihn zu sich, ohne daß er den Tod
sah. Henoch lebte unter der Welt, gerade so wie die
143
Gläubigen es heute thun. Er lebte, wirkte und zeugte,
und dann — wurde er nicht mehr gefunden. Man suchte
ihn, aber er war verschwunden; Gott hatte ihn entrückt,
ehe das Gericht über diese Welt hereinbrach. Gerade so
wird es mit der Versammlung Gottes, der wahren Kirche,
sein. Sie wird, wie Henoch, ausgenommen und nicht mehr
gefunden werden. Sie wird nicht durch die Gerichte gehen.
Wenn der Herr Jesus heute kommt, um Seine Braut
zu holen, — und Er sagt: „Ich komme bald!" — so
werden alle, die „durch Jesum entschlafen", alle, die durch
Ihn von der Macht des Todes befreit sind, auferweckt
werden mit verherrlichten, verklärten Leibern; und wir,
die wir heute noch leben, werden verwandelt werden,
ohne durch Tod und Grab zu gehen. Denn der Herr
Jesus sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer
an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben
ist; und jeder, der da lebt und an mich glaubt, wird
nicht sterben in Ewigkeit." (Joh. 11, 25. 26.)
Sind aber alle durch Jesum Entschlafenen auferweckt und
die noch lebenden Gläubigen verwandelt, so ist die Braut
vollzählig versammelt. Diese Sammlung wird in einem
Nu, in einem Augenblick geschehen; und dann werden alle
mit einander „entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen
in die Luft". (1. Thess. 4, 16. 17.)
Von dieser Entrückung ist die Entrückung Henochs ein
Vorbild. Es wird genau so sein, wie es bei Henoch war.
Er lebte inmitten einer gottlosen Welt; das Gericht wurde
durch ihn angekündigt (Jud. 14. 15); die Bosheit der
Menschen nahm überhand, und endlich kam die Flut. Doch
bevor sie kam, wurde Henoch weggenommen. Gerade so
wird es mit der Kirche sein. Wir dürfen die Ankunft des
144
Herrn zu unsrer Aufnahme jeden Tag erwarten; es steht
ihr nichts mehr im Wege. Der Erscheinung des Herrn
auf dieser Erde werden noch manche Ereignisse vorangehen
müssen; ehe sie eintreten kann, müssen noch viele Prophezeiungen
erfüllt werden. Aber der Ankunft des Herrn
zur Einholung Seiner Braut ins Vaterhaus steht nichts
im Wege. Die Schrift redet von keinen Ereignissen, die
vorher stattfinden müßten. Das Einzige, was geschehen
muß, ist die Einsammlung des letzten Gliedes am Leibe
Christi. Sobald dies geschehen ist, sobald die nach dem
ewigen Vorsatz Gottes Auserwählten herzugebracht sind und
die Braut vollzählig dasteht, wird sie weggenommen werden.
Der Herr wird keine Minute länger zögern, als es nötig
ist. Denn Sein Herz sehnt sich danach, Seine geliebte, teuer
erkaufte Braut heimzuholen. Bis zu der von dem Vater
festgesetzten Stunde harrt Er aus; Er wartet geduldig,
und es ist einer der Charakterzüge der Gläubigen in unsern
Tagen, daß sie das Wort Seines Ausharrens bewahren.
(Offbg. 3,10.) Wie Er wartet und ausharrt, so sollen
auch wir warten und ausharren, und mit Geduld nach
Seiner Ankunft verlangen. Und wenn der Herr heute
kommt, — o denken wir daran, Geliebte! — so werden wir
Ihm entgegen gehen und Ihn sehen, wie Er ist. Wir
werden Sein freundliches Antlitz schauen und bei Ihm sein
ewiglich. Heute! — welch eine Hoffnung! „So ermuntert
nun einander mit diesen Worten!" (1. Thess. 4, 18.)
Diese Hoffnung und Erwartung kennzeichnet den gläubigen
Überrest in der christlichen Kirche. Der Geist Gottes
hat sie wieder lebendig werden lassen, indem Er von neuem
Verständnis gegeben hat über längst vergessene Wahrheiten.
Diese Hoffnung erfreut unsre Herzen, stärkt die Seele und
145
richtet das Auge von der Welt und ihren Dingen, von der
Erde und ihren Umständen nach oben, auf den glänzenden
Morgenstern, der bald erscheinen wird. Gerade aus diesem
Grunde ist auch die kurze Geschichte Henochs für uns von
so großer Wichtigkeit. Wir lesen von ihm, daß er von
der Geburt seines Sohnes an dreihundert Jahre lang mit
Gott wandelte. Mit fünsundsechzig Jahren glaubte er an
Gott und wandelte dann mit Ihm, bis er entrückt wurde.
Ununterbrochen? Ja, so wird es uns erzählt. Wird er
denn in all dieser Zeit nie einen Fehler zu beklagen, nie
eine Sünde zu bekennen gehabt haben? Sicherlich; er war
ein Mensch wie wir, aber ein Mensch, der mit Gott, in
Seinem Lichte wandelte. Dreihundert Jahre ist eine lange,
lange Zeit; wie ist es möglich, möchte man fragen, so
lange auszuharren und inmitten all der verderblichen Einflüsse
rund umher treu zu bleiben? Daß es möglich ist,
beweist die kurze Lebensbeschreibung Henochs, wie Gott
selbst sie für uns hat aufzeichnen lassen.
Was war denn die Ursache dieses treuen, ausharrenden
Wandels mit Gott? War die Welt besser, oder waren
die Gefahren geringer als heute? Durchaus nicht. Die
Menschen waren gerade so böse, und die Gefahren gerade
so groß. Die Menschen dachten ebenso wenig an Gott,
wie sie es heute thun, und das Fleisch, welches Henoch an
sich trug, war gerade so böse und verderbt wie das unsrige.
Es hat gewiß oft zu ihm gesagt: Warum willst du nicht
auch essen und trinken und fröhlich sein? Warum dich so
abschließen von dem Treiben der Kinder dieser Welt?
Genießen sie ihr Leben nicht viel mehr als du? u. s. w.
Aber Henoch hatte an Gott geglaubt, und er schaute hin
auf die Belohnung. „Wer Gott naht, muß glauben, daß
146
Er ist, und denen, die Ihn suchen, ein Belohnen ist."
l'Hebr. 11, 6.) Die Beweggründe seines Thuns und Lassens
lagen völlig außerhalb dieser Welt. Er schaute nicht auf
das Sichtbare und Gegenwärtige, sondern auf das Unsichtbare
und Zukünftige. Zudem, wie hätte er an den sündigen
Freuden, an dem bösen Treiben der Welt teilnehmen können?
Er hatte etwas gefunden, das die zeitliche Ergötzung der
Sünde, die Freuden und Reichtümer dieser Welt unendlich
übertraf. Er lebte und wandelte mit Gott. Er war
ein himmlischer Fremdling hienieden, der seine Freude an
den ewigen, unvergänglichen Dingen sand und der im
Lichte dieser Dinge die Eitelkeit und das Verderben alles
Irdischen erkannt hatte. Mochten auch die Menschen ihn
verhöhnen und verspotten, wie sie es ohne Zweifel gethan
haben, mochten sie ihn einen Thoren und Narren schelten
— alles das hinderte ihn nicht; nein, es veranlaßte ihn
vielmehr, sich um so fester an Gott zu klammern und Seine
Gemeinschaft zu suchen. Und das dreihundert Jahre lang!
Wie schön! Welch eine Gnade ist ihm zu teil geworden!
Geliebter Leser! Dieselbe Gnade kann uns heute zu
teil werden, so lange wir hienieden pilgern. In dein
Sendschreiben an Philadelphia (Offbg. 3) sehen wir die Stellung
des Überrestes in den letzten Tagen des Christentums;
und diese Stellung ist: Getrennt von der Welt mit
Gott wandeln. Das ist unser köstliches Teil, wie es einst
das Teil Henochs war: getrennt von der Welt, getrennt von
allem, was nicht von „Gott" ist, mit Gott zu wandeln, Umgang
zu haben mit dem Gott des Friedens inmitten einer bösen,
feindseligen Welt. Ist das nicht ein wunderbares, gesegnetes
Teil, nach welchem wir von ganzem Herzen verlangen und
nach dessen Verwirklichung wir streben sollten?
147
Nun, es giebt Gläubige, die mit Gott wandeln, und
es giebt solche, die es nicht thun. Es giebt Gläubige, die
wie Abraham mit Gott verkehren, und solche, die wie Lot
die Welt suchen. Lot war ein gläubiger Mann, er wird
ein „Gerechter" genannt (2. Petr. 2, 8); aber er liebte
die Welt. Er ging nach Sodom, obwohl er wußte, daß
„die Leute von Sodom böse und große Sünder vor Jehova"
waren. Gott hatte ihn nicht nach Sodom geschickt; er ging
aus eigner Wahl dorthin, angezogen durch die äußeren Vorteile,
welche die wasserreiche Ebene von Sodom und Gomorra
bot. Ach, sein armes, habsüchtiges Herz betrog ihn.
Und während er anfänglich nur seine Zelte „bis nach
Sodom hin" ausschlug, suchte er sich bald eine Wohnung
in der Stadt selbst, und schließlich saß er „im Thore
Sodoms", d. h. er nahm einen Ehrenplatz in der bösen
Stadt ein. Er hatte jedes Verständnis für die Gedanken
und Wege Gottes verloren. Selbst als er durch seine Verbindung
mit Sodom in die Gewalt Kedorlaomers und der
mit ihm verbündeten Könige gefallen war und durch
Abraham wieder befreit wurde, kam er nicht zur Besinnung.
Auch Abrahams treues, entschiedenes Verhalten dem Könige
von Sodom gegenüber, von welchem er nicht einen Faden,
nicht einen Schuhriemen annehmen wollte, bewirkte keine
Umkehr in seiner Seele. (1. Mose 14.) Er ging ruhig
wieder nach Sodom zurück und verweilte dort, bis das
Gericht die gottlose Stadt und ihre Bewohner erreichte.
Welch ein trauriges Bild von einem untreuen, weltliebenden
Gläubigen, und wie ernst ist die Warnung, die
für uns alle in der Geschichte Lots liegt! Wie wahrhaft
erquickend und ermunternd ist dagegen die Geschichte Abrahams!
Er wandelte mit Gott und ließ sich allein durch
148
Ihn leiten; er freute sich, in Gemeinschaft mit Gott leben
zu dürfen, und er nahm alles aus Seiner Hand. Überall
wo er sein Zelt aufschlug, erbaute er auch einen Altar,
um dem allein wahren Gott zu dienen. Er suchte nicht
die Freundschaft dieser Welt, sondern Gott war sein Schild
und sein sehr großer Lohn. Deshalb wurde er auch „Freund
Gottes" genannt, und Gott machte ihn zum Mitwisser
Seiner Gedanken und Ratschlüsse. Und Jehova sprach:
„Sollte ich vor Abraham verbergen, was ich thun will?"
(1. Mose 18, 17.) Der Herr selbst kehrte bei ihm einund
unterhielt sich mit ihm wie ein Freund mit seinem Freunde;
und schließlich wurde Abraham der Vater aller Gläubigen.
Gott sei Dank! es giebt auch heute noch Leute, die
mit Gott wandeln, wenn sie auch keine Abrahams oder
Davids oder Paulus sind. Aber die Frage ist, lieber
Leser, ob wir, du und ich, zu diesen Leuten gehören.
Frage dich! Prüfe dich! Was charakterisiert dein Verhalten:
die Liebe zur Welt und ihren Dingen, oder die Liebe zum
Herrn und zu dem, was droben ist? Trachtest du nach
irdischen oder nach himmlischen Dingen? Wandelst du
mit Gott, oder gehst du deine eigenen Wege? Ist der
Herr dein Vertrauter in all den großen und kleinen Vorkommnissen
des Lebens, oder kümmerst du dich wenig nm die
Leitung des Herrn und um Seinen wohlgefälligen Willen?
Ist Er dein Schild und dein sehr großer Lohn, oder suchst
du möglichst viel von den Schätzen dieser Erde zu erlangen?
Wie herrlich ist es, mit Gott zn wandeln! mit dem
Gott, der Seinen Sohn für uns hingegeben hat, mit dem
Gott, der alles weiß und. kennt, der alles zum Guten
wenden kann und will, der sich den Gott des Friedens,
den Gott des Ausharrens und der Ermunterung, den
149
Gott der Hoffnung, den Gott alles Trostes und den
Vater der Erbarmungen nennt! (Röm. 15- 2. Kor. 1,3.)
Muß da nicht alles für uns zum Segen ausschlagen? Und
in die Gemeinschaft dieses Gottes sind wir gebracht durch
das kostbare Blut Christi: vor Ihm stehen wir als geliebte
Kinder und rufen: „Abba, Vater!" Dieses Kindesverhältnis
kannte Henoch nicht. Er hatte nicht den Geist
der Sohnschaft empfangen, der in uns wohnt und der
Zeugnis giebt mit unserm Geiste, daß wir Kinder Gottes
sind; und wenn Kinder, dann auch Erben, Erben Gottes
und Miterben Christi. (Röm. 8, 14—17.) Er konnte
nicht mit der Freimütigkeit, die unser Teil ist, in die
Gegenwart Gottes kommen. Und doch war das, was er
von Gott kannte, so köstlich für ihn, daß er dreihundert
Jahre lang mit Gott wandelte. Wie ermunternd und zugleich
auch wie beschämend für uns! Henoch harrte, wie
Mose in späteren Tagen, aus, als sähe er den Unsichtbaren;
und sein Glaube und seine Treue wurden reich belohnt.
Möchten wir von ihm lernen und ebenfalls „mit
Ausharren laufen den vor uns liegenden Wettlauf,
hinschauend auf Jesum, den Anfänger und Vollender des
Glaubens, welcher, der Schande nicht achtend, für die
vor Ihm liegende Freude das Kreuz erduldete!"
Gebr. 12, 1. 2.)
Nicht mehr lange! Lehr' uns wachen!
Morgenröte zeigt sich schon von fern;
Bald wird landen unser Nachen,
Der uns trägt zu dir, dem guten Herrn.
Lehr' uns wachen, kämpfen ohn' Ermüden,
Immer näher bringt uns jeder Tag;
Lehr' uns wandeln völlig abgeschieden,
Unserm Kampf folgt sel'ge Ruhe nach.
150
Doch es giebt noch etwas anderes über Henoch zu
sagen. Er, der so lange Jahre mit Gott wandelte, wurde,
wie Abraham, zum Mitwisser der Gedanken Gottes gemacht.
Er erhielt eine Offenbarung von feiten Gottes
und wurde so der erste Prophet, von dem die Bibel uns erzählt.
Seine Prophezeiung lautete: „Siehe, der Herr ist
gekommen inmitten Seiner heiligen Tausenden, Gericht auszuführen
wider alle und völlig zu überführen alle ihre
Gottlosen von allen ihren Werken der Gottlosigkeit, die sie
gottlos verübt haben, und von all den harten Worten,
welche gottlose Sünder wider ihn geredet haben." (Jud.
14. 15.) Dürfen wir aus dieser Prophezeiung auf die
Erfahrungen HeNochs und den Zustand der Menschen zu
seinen Tagen einen Schluß ziehen, so muß dieser Zustand
ein schrecklicher gewesen sein, und manches harte, böse
Wort wird Henoch haben hören müssen.
Die Stellung Henochs als Ankündiger des kommenden
Gerichts ist ähnlich derjenigen Noahs; nur ist seine Prophezeiung
allgemeiner und zielt auf das End gericht hin. Er
wandelte, getrennt von der Welt, mit Gott und kündigte
das Gericht an, bis er von dieser Erde gen Himmel
genommen wurde. Siehe da, mein Leser, das getreue
Bild der Stellung des gläubigen Überrestes in unsern
Tagen. Über die beiden ersten Punkte, die Trennung von
der Welt und den Wandel mit Gott, haben wir bereits
gesprochen; hier kommt der dritte, die Ankündigung des
Gerichts, hinzu. Getrennt von der Welt, mit Gott wandelnd,
sind wir berufen, der Welt das Gericht anzukündigen
und sie vor dem kommenden Zorn zu warnen. „Thuet
Buße und bekehret euch", so lautet der Warnungsruf,
„der Richter steht vor der Thür!" Wie das Gericht einst
151
gekommen ist, Plötzlich und unerwartet, zu der von Gott
bestimmten Stunde, so wird es wiederum hereinbrechen,
plötzlich und unerwartet, wenn die Menschen am wenigsten
daran denken werden. „Denn gleichwie der Blitz von
einem Ende unter dem Himmel bis zum andern Ende
unter dem Himmel blitzend leuchtet, also wird der Sohn
des Menschen sein an Seinem Tage." (Luk. 17, 24.)
„Wenn sie sagen: Friede und Sicherheit! dann kommt ein
Plötzliches Verderben über sie, gleichwie die Geburtswehen
über die Schwangere; und sie werden nicht entfliehen."
(1. Thess. 5, 3.)
Wohl wissen wir, daß noch eine Zeit des Friedens
kommen soll für diese Erde, eine Segensherrschaft unter
dem Scepter des großen Friedensfürsten, wenn alle sich
vor Ihm niederbeugen und Seine Autorität anerkennen
werden. Aber vorher wird das Gericht kommen und alle
Ärgernisse und alle Gottlosen aus dem Reiche Christi
hinwegfegen. Dieses Gericht steht vor der Thür, und es
wird hereinbrechen, nachdem die Braut eingegangen ist ins
Vaterhaus. Auf dieses Gericht weisen wir hin, um, wenn
möglich, noch einigen behilflich zu sein, dem kommenden
Zorn zu entfliehen. Soll aber unser Zeugnis und unser
Warnungsruf von Nutzen sein, so müssen wir selbst getrennt
von der Welt und ihrem Geiste dastehen. Wie können wir
andere auffordern, die Welt zu verlassen und zu Jesu sich
zu wenden, wenn wir selbst die Freundschaft der Welt
suchen? Wie soll jemand uns glauben, daß es bei Jesu
so gut und herrlich ist, wenn wir selbst nicht in der Ge­
meinschaft des Herrn wandeln? wie uns glauben, daß das
Gericht so nahe vor der Thür steht, wenn wir uns ver- -
halten, als wollten wir immer hienieden bleiben?
152
Henoch hat „vor seiner Entrückung das Zeugnis gehabt,
daß er Gott Wohlgefallen habe". Dasselbe Zeugnis
können wir haben; aber nur dann, wenn wir im Lichte
wandeln und uns von der Welt unbefleckt erhalten. Ein
gleichgültiger, oberflächlicher Christ hat dieses Zeugnis
nicht; im Gegenteil, sein eignes Gewissen überführt ihn,
daß er Gott nicht wohlgefällig ist; und wie arm und
bedauernswert ist ein solcher Christ! Aber wie reich und
glücklich ist ein jeder, der in Einfalt und Treue den Willen
des Herrn zu thun sucht und in Ihm bleibt, dessen
Liebe und Treue so groß sind wie Seine Macht! Gott
gebe uns Gnade, in diesen letzten Tagen den Geist und
die Stellung des Überrestes von Philadelphia zu verwirk­
lichen ! Ihm ruft Jesus zu: „Weil du das Wort meines
Ausharrens bewahrt hast, so werde auch ich dich bewahren
vor der Stunde der Versuchung, die über den ganzen
Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen, welche
auf der Erde wohnen. Ich komme bald; halte fest,
was du hast, auf daß niemand deine Krone nehme!
Wer überwindet, den werde ich zu einer Säule
machen in dem Tempel meines Gottes, und er wird nie
mehr hinausgehen; und ich werde auf ihn schreiben den
Namen meines Gottes und den Namen der Stadt meines
Gottes, des neuen Jerusalem, das aus dem Himmel herniederkommt
von meinem Gott, und meinen neuen Namen."
(Offbg. 3, 10—12.)
Wir haben, was Henoch nicht hatte, die bestimmte
Verheißung, daß der Herr wiederkommen und uns heimholen
will, ja daß Er nahe ist, daß Er bald kommt.
Mitternacht ist vorüber, der Morgen dämmert. Nicht
lange mehr, und der Morgenstern wird erscheinen; wir
153
werden seinen Glanz sehen und uns in alle Ewigkeit an
seiner Schönheit und Kostbarkeit weiden.
Der Bräut'gam kommt! — O stärkt die lassen Hände!
Ein wenig noch harrt aus auf rauhem, schmalem Pfad!
Der Kamps ist kurz — die Ruhe ohne Ende;
Hebt Herz und Haupt empor, denn der Geliebte naht!
„Wenn jemanden dürstet, so komme er zu
mir und trinke."
(Joh. 7, 37.)
Es giebt wohl kein Menschenherz, in welchem sich nicht
bisweilen ein gewisses Sehnen und Verlangen fühlbar
machte, ohne daß es sich selbst über die Ursachen desselben
Rechenschaft zu geben vermöchte. Selbst inmitten der
Annehmlichkeiten und Genüsse dieses Lebens erfaßt es oft
ein Gefühl der Leere und der Nichtigkeit alles Irdischen,
ein ihm selbst unerklärliches Verlangen nach etwas anderem,
Höherem. Es sind die Wirkungen des Geistes Gottes,
der sich an keiner Menschenseele unbezeugt läßt. Aber
dieses leise Mahnen wird überhört; macht es sich stärker
geltend, so sucht man es in den Freuden der Welt, in
der Befriedigung der Begierden und Lüste des Fleisches
zu ersticken; oder aber man sucht Ruhe zu finden, indem
man religiös wird. Aber nichts bringt die ersehnte Ruhe;
um so weniger, je tiefer die durch den Geist Gottes erweckte
Sehnsucht nach ihr ist. Diese Sehnsucht kann nicht
durch die bloße Beobachtung religiöser Formen gefüllt
werden. Jesus allein kann dem Herzen wahre Ruhe
geben, die Leere ausfüllen und das Sehnen stillen. Er
ladet ein und sagt: „Kommet her zu mir, alle ihr Mich-
154
seligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben";
und: „Wenn jemanden dürstet, so komme er zu mir und
trinke".
Jesus fühlte tief Seine Verwerfung seitens der
Juden, als Er diese letzten Worte redete; und in der
That war ihr Haß gegen Ihn schon so hoch gestiegen,
daß sie Ihn zu töten suchten. (Joh. 7, 1.) Dies kennzeichnet
sowohl den Zustand der Juden und des Menschen
im allgemeinen, als auch das wahre Wesen des Herrn
Jesu — Haß und Feindschaft auf der einen, Gnade und
Liebe auf der andern Seite. Vertrieben und verworfen
von dieser Welt, stellt der Herr sich dar als die Quelle
des Wassers des Lebens.
Dies geschah „am letzten, dem großen Tage" des
Festes der Laubhütten. Dieser letzte große Tag war der
achte Tag des Festes. (3. Mose 23, 36.) Mit ihm begann
eine neue Woche, und er ist eine Anspielung aus den Tag
der Auferstehung, den Anfang der neuen Schöpfung.
Das ist die vorbildliche Bedeutung dieses „großen Tages"
An ihm hat der Herr, auferstehend aus den Toten, die
alte Schöpfung und alles, was mit ihr verbunden war,
hinter sich zurückgelassen und die neue Schöpfung eingeführt,
in welcher Er der anerkannte Mittelpunkt ist. Und
Er ladet uns ein, nicht in Verbindung mit der alten,
sondern mit der neuen Schöpfung. Diese Welt ist für
den Glauben nur eine Stätte des Gerichts, das Land der
Finsternis und des Todesschattens; eine Wüste, in welcher
der müde und lechzende Wanderer vergeblich nach einer
Quelle sucht. Doch da ertönt die Einladung des Herrn:
„Wenn jemanden dürstet, so komme er zu mir und trinke."
Er richtet damit den Blick von uns selbst und von dieser Welt
155
hinweg auf Seine eigne Person. Der Glaube hört die
Einladung, schaut Ihn an und trinkt mit vollen Zügen
aus Seiner unerschöpflichen Fülle.
Das war das Geheimnis der Kraft eines Paulus,
eines Stephanus und all der Männer des Glaubens, die
unerschrocken in Gefahren, mutig im Kampfe, hingebend in
Entbehrungen und Leiden, ihren Lauf durch die Wüste
vollendet haben— sie schauten Ihn an. „Wir alle aber,
mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend,
werden verwandelt nach demselben Bilde von
Herrlichkeit zu Herrlichkeit." (2. Kor. 3, 18.) Anstatt
ihre eigene Schwachheit, oder die Macht des Feindes, oder
die Schwierigkeiten der Wüste zu betrachten, schauten sie
hin auf die Stärke des Herrn, der die Schlüssel des David
in Seiner Hand hält, der den Feind überwunden hat und
dessen Liebe gegen die Seinigen unveränderlich ist. Stephanus
sah den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen;
Paulus sah Ihn in Herrlichkeit; und so sieht der Glaube
Ihn stets. „Wir sehen aber Jesum, der ein wenig unter
die Engel wegen des Leidens des Todes erniedrigt war,
mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt." (Hebr. 2, 9.) Welch
eine Ruhe und Erquickung giebt es dem Herzen, also auf
Jesum blicken zu können als Den, der jede Frage betreffs
unsrer Sünden und unsers Zustandes vor Gott geordnet
und uns jetzt mit sich in Seiner neuen Stellung für immer
vereinigt hat! Wir sind nicht auf uns selbst angewiesen,
noch auf menschliche Hilfsquellen, die früher oder später
alle versiegen werden; unsere Quellen sind in Ihm, in
welchem Gott selbst mit Wonne ruht, und den Er besaß
im Anfang Seines Weges. (Spr. 8, 22.) Wir besitzen
Ihn jetzt durch den Glauben, haben einen und denselben
156
Gegenstand mit Gott. Wir besitzen Ihn nicht teilweise,
sondern ganz, so wie Gott Ihn besitzt und wie Er uns in
Seiner ganzen Fülle in der Schrift geoffenbart ist. Wir
können trinken aus derselben Quelle, aus welcher die Apostel
und die ersten Christen Segen, Kraft und Trost geschöpft
haben.
Woher kommt es nun, daß die Gläubigen unsrer Tage
im allgemeinen so viel an Kraft, Mut und Frische verloren
haben? Fließt etwa die Quelle nicht mehr so reichlich und
ungetrübt wie im Anfang? Oder ist sie gar versiegt?
Wahrlich nicht; sie fließt heute noch ebenso klar, hell und
voll wie damals, und ist sür alle Lagen und Umstände
noch gerade so vollkommen genügend, wie im Anfang.
Nichts vermag sie zu trüben oder gar ihren Strom zu
hemmen, wie sehr auch die Anstrengungen des Feindes
dahin gerichtet sein mögen. Sie liegt gänzlich außer dem
Bereich der Macht Satans und ist heute noch ebenso
unantastbar, wie sie es von Ewigkeit her war. „Jesus
Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit."
(Hebr. 13, 8.)
Aber wie einst über Sein Volk Israel, so. muß der
Herr auch heute über viele Gläubige klagen: „Denn zwiefach
Böses hat mein Volk begangen: Mich, den Born
lebendigen Wassers, haben sie verlassen, um sich Cisterneu
auszuhauen, geborstene Cisternen, die kein Wasser halten."
(Jerem. 2, 13.) Seine herrliche Person hat für viele der
Seinigen ihren Wert verloren; ihr Christentum besteht
mehr in einer äußeren Erkenntnis von Wahrheiten, als
in einer wirklichen Gemeinschaft mit Ihm. Man bekennt
zurückgekehrt zu sein zu dem, was von Anfang war; aber
man ist nicht in wahrer Verbindung mit der Quelle
157
geblieben. Doch täuschen wir uns nicht; niemand wird
wandeln oder bleiben in dem, was von Anfang war —
in der Wahrheit — wenn er nicht in thatsächlicher Gemeinschaft
mit Christo wandelt. Der Besitz der Wahrheit
ohne Christum kann das Herz nicht befriedigen, und man
wird sich bald von ihr ab zu seinen eigenen Hilfsquellen
wenden, zu den thörichten, unfruchtbaren Spekulationen des
menschlichen Geistes. Aber es sind geborstene Cisternen,
die kein Wasser halten; das Herz bleibt öde und leer dabei
und hat die wahre Glückseligkeit verloren, die nur in der
Gemeinschaft mit Christo gefunden wird. Wenngleich die
Form der Gottseligkeit aufrecht erhalten wird, hat man in
Wirklichkeit doch nicht mehr das, was von Anfang war.
Der Mund spricht ein hohes Bekenntnis aus, aber das
Herz ist weit vom Herrn entfernt.
Doch die Quelle fließt trotz allem reichlich und ungetrübt,
und wer an Jesum glaubt, gleichwie die Schrift
gesagt hat, macht auch heute noch die praktische Erfahrung
davon. Er ist glücklich, wenngleich er mit dem Herrn außerhalb
des Lagers weilen muß, oder wenn er gar, gleich dem
Apostel, von allen verlassen, im Gefängnis schmachten sollte.
(Hebr. 13, 13; Phil. 3.) Er macht Erfahrungen von den
„grünen Auen" und den „stillen Wassern" (Psalm 23, 2);
denn der Herr selbst ist seine Quelle.
Aber er trinkt nicht nur selbst, sondern er wird auch,
weil in unmittelbarer Verbindung mit der Quelle stehend,
ein Kanal zur Erfrischung für andere. „Wer an mich glaubt,
gleichwie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden
Ströme lebendigen Wassers fließen. Dies aber sagte Er
von dem Geiste, welchen die an Ihn Glaubenden empfangen
sollten; denn der Geist war noch nicht, weil Jesus noch
158
nicht verherrlicht worden war." (Joh. 7, 38. 39.) Indem
der Gläubige in steter Gemeinschaft mit Christo wandelt,
kann der Heilige Geist als die Macht des Lebens sich
ungetrübt in ihm und durch ihn offenbaren zum Segen
für andere. *)
*) Es ist das besondere Vorrecht der Gläubigen der Kirche,
den Heiligen Geist in sich wohnend zu besitzen. Israel trank auf
dem Wege durch die Wüste aus dem geistlichen Fels, der nachfolgte;
der Fels aber war der Christus (1. Kor. 10, 4); aber sie hatten
nicht den Heiligen Geist in sich wohnend. Erst nachdem Jesus verherrlicht
war, wurde der Geist in Person herniedergesandt.
Die Bemühung, andern zu dienen, ohne daß man
selbst in unmittelbarer Verbindung mit der Quelle bleibt,
ist nichts anders als ein Schöpsen aus eignen Quellen,
und erzeugt nur bittere Früchte. Leider zeigen sich in
unsern Tagen nur zu viele Früchte dieser Art; vieles wird
geredet, gepredigt und geschrieben, was nur Erzeugnisse
des menschlichen nicht aber des Heiligen Geistes sind. Solche
Erzeugnisse sind nicht nur wertlos, sondern auch nachteilig
für andere. Sie führen von der wahren Quelle ab, ermüden
und schwächen die Gläubigen, und bringen viele in Ver­
wirrung.
Möchten wir dies bedenken und ein tiefes Gefühl
haben von dem, was wir in uns selbst sind: arme, hilflose
Geschöpfe, leere Gefäße, unfähig, irgend welche guten
Gedanken, Worte oder Werke zu erzeugen! Selbst der
große Apostel bedurfte eines Dornes für sein Fleisch, damit
er feiner Schwachheit eingedenk bleiben und die Kraft Christi
sich durch ihn offenbaren möchte. (2. Kor. 12, 7—9.)
Er war ein mächtiges Werkzeug des Geistes, ein auserwähltes,
hochbegnadigtes Gefäß; aber er war sich tief
159
bewußt, daß er in sich selbst schwach und zu allem Guten
untüchtig war. Die tiefen Wege, welche er geführt wurde,
halfen mit dazu, ihm seine Schwachheit und Ohnmacht stets
gegenwärtig zu erhalten. Aber er verstand dieselben, und
sein Herz war in völliger Übereinstimmung mit ihnen.
„Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf daß
die Überschwenglichkeit der Kraft sei Gottes und nicht aus
uns .... allezeit das Sterben Jesu am Leibe umhertragend,
auf daß auch das Leben Jesu an unserm Leibe
offenbar werde. Denn wir, die wir leben, werden allezeit
dem Tode überliefert um Jesu willen, auf daß auch das
Leben Jesu offenbar werde an unserm sterblichen Fleische.
So denn wirkt der Tod in uns, das Leben aber in euch."
(2. Kor. 4, 7—11.)
Wir haben gesehen, daß Jesus in Verbindung mit
der neuen Schöpfung die Quelle des lebendigen Wassers
ist. Und nur in Verbindung mit einem von der Welt
verworfenen, von Gott aber verherrlichten Christus können
unsere Leiber die Kanäle lebendigen Wassers werden; aber
sie müssen dazu, so widerspruchsvoll es klingen mag, geistlicher
Weise im Tode gehalten werden. Denn es läßt
sich nichts von der alten Schöpfung mit der neuen verbinden.
Der Glaube hält fest, daß das Fleisch gekreuzigt
ist samt den Leidenschaften und Lüsten; er lebt und wandelt
durch den Geist (Gal. 5, 24. 25), und darum ist Christus
sein Gegenstand. Denn wie der Vater, so hat auch der
Heilige Geist keinen andern Gegenstand als Christum.
Glücklich ein jeder, der in Übereinstimmung mit dem
Geiste seinen Blick nur auf Christum gerichtet hat; der
an Ihn glaubt, gleichwiedie Schrift gesagt hat.
Er genießt die Glückseligkeit, von welcher die Ströme
160
lebendigen Wassers, die aus seinem Leibe fließen, der Ausdruck
sind. Wenn andere durch ihn erquickt werden, wie
vielmehr er selbst! Denn er lagert an der Quelle und trinkt,
trinkt mit vollen, tiefen Zügen. Groß ist die Freude der Vergebung,
groß die Freude der Sohnschaft, groß die Herrlichkeit,
die seiner wartet. Aber größer noch als alles ist die
Freude, Jesum selbst zu besitzen, welcher der Gegenstand und
die Freude Gottes des Vaters und des Heiligen Geistes ist,
die Freude des Himmels und seiner Bewohner; Ihn selbst
zu besitzen, den Heiland und Erlöser, den die Liebe zu
uns auf diese arme Erde und ans Kreuz brachte, und
den die Erlösten alle Ewigkeiten hindurch mit Lob und
Dankesliedern erheben werden. Wer kann die Vollkommenheit,
Liebe, Macht, Weisheit und Größe, mit einem Wort
die Fülle Dessen ergründen, den niemand erkennt als nur
der Vater? Aber der Glaube kann sagen: Alles was Er
ist, ist Er sür mich; ich besitze Ihn selbst, der die Quelle
alles Lebens ist. Wenn wir nicht einmal die geschaffenen
Herrlichkeiten, seien es irdische oder himmlische, ergründen
können, wer muß dann Der sein, durch den und für den
sie alle geschaffen sind! (Kol. 1, 16.) Wir wissen, daß
wir Seine Miterben betreffs aller dieser Herrlichkeiten sein
werden; aber der geringste Gläubige kann heute schon
sagen: Ich besitze weit mehr als das alles, ich besitze Ihn
selbst! Er besitzt schon hienieden inmitten der Beschwerden
und Mühen der Wüste das, was inmitten der Herrlichkeiten
des Himmels seine höchste Freude ausmachen wird —
Ihn selbst, und kann fröhlichen Herzens singen:
Ich hab' genug, weil Dich ich habe,
Mein Geist frohlocket inniglich;
Wo findet eine solche Gabe
Auf Erden und im Himmel sich?
161
Mein Herz, zu groß für alle Dinge,
Zu klein, als daß es Dich umfinge.
O möchten wir mehr verstehen, was es heißt, Ihn
zu besitzen! Möchten wir mehr Umgang mit Ihm pflegen,
in Ihm uns erfreuen und an Ihn glauben, gleichwie die
Schrift gesagt hat! Er, der diesen Wunsch wachruft, kann
ihn auch allein erfüllen, und Er will es so gern thun!
Darum Seine Einladung: „Wenn jemanden dürstet, so
komme er zn mir und trinke!"
Suchet, was droben ist! /
„Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt worden
seid, so suchet, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend
zur Rechten Gottes. Sinnet auf das, was droben ist,
nicht auf das, was auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben,
und euer Leben ist verborgen mit dem Christus
in Gott. Wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart
wird, dann werdet auch ihr mit Ihm geoffenbaret werden
in Herrlichkeit." (Kol. 3, 1—4.)
Als Sünder standen wir in Beziehung zur Welt;
ihr Wesen war gleichsam unser Leben; wir liebten, was
in ihr war. Doch wir sind mit Christo der Welt gekreuzigt,
wir sind mit Ihm gestorben, und durch unsre
Auferweckung mit Ihm sind wir eines Lebens teilhaftig
geworden, das nicht von der Erde, sondern vom Himmel
ist. Es hat nichts gemein mit dem Wesen dieser Welt;
cs ist göttlicher Natnr, ewig und unvergänglich, und kann
deshalb durch nichts Irdisches oder Vergängliches befriedigt
werden. Wenn das Herz eines Christen sich wieder
mit den Dingen dieser Welt einläßt, wenn es nach dem
162
trachtet, was auf der Erde ist, so ist es ohne Ruhe und
Frieden. Es ist nicht mehr in seinem Element und wird
unglücklich und dürre. Dies wird umso fühlbarer sein,
je mehr das Leben Christi vorher in dem Herzen verwirklicht
war. Nur in Gemeinschaft mit Ihm, der unser
Leben ist, fühlen wir uns wohl und glücklich; nur so
können wir die himmlischen Dinge, ja alles das genießen,
was Er selbst genießt; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen
in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, welcher
uns gegeben ist.
Die Welt ist für den Christen eine Wüste; er findet
hier nichts, was seinem neuen Leben entspricht, was dieses
nähren und unterhalten könnte. Er ist ein Fremdling in
ihr. Seine Neigungen finden nur im Himmel ihre Befriedigung.
Die Welt bereitet ihm zwar viele Versuchungen,
bietet ihm aber keinen Trost, keine Freude. Wie könnte
es auch anders fein? Die Welt liegt in der Gewalt des
Fürsten der Finsternis, im Bösen. Wie könnte sich ein
himmlischer Pilgrim in ihr heimisch fühlen? Und die Erde
und alles was auf ihr ist, liegt unter dem Fluche, ist
vergänglich und eitel. Irdisches und Vergängliches kann
aber, wie bereits gesagt, nicht das Teil eines Lebens sein,
das göttlich und unvergänglich ist. Unser Teil ist in und
mit Christo, der unser Leben ist. Wir haben alles mit
Ihm gemein, sowohl Seine Stellung als auch Seine Herrlichkeit.
Wir sind nicht von der Welt, gleichwie Er nicht
von der Welt ist; wir sind vom Vater geliebt, gleichwie
Er geliebt ist (Joh. 17, 16. 26); und wie Er ist, so sind
auch wir in dieser Welt. (1. Joh. 4, 17.) Wir sind
gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen
Oertern in Christo, und Er hat uns dieselbe Herrlichkeit
163
gegeben, welche Er vom Vater empfangen hat. (Eph. 1,3:
Joh. 17, 22.) „Der Geist selbst zeugt mit unserm Geiste,
daß wir Kinder Gottes sind. Wenn aber Kinder, so auch
Erben — Erben Gottes und Miterben Christi/' (Röm. 8,
16. 17.)
Alles dieses läßt uns die bedeutsame Kraft der Ermahnung
des Apostels verstehen, wenn er uns zuruft:
„So suchet, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend
zur Rechten Gottes. Sinnet aus das, was droben ist,
nicht auf das, was auf der Erde ist." Ein Trachten
nach irdischen Dingen ist eine direkte Verleugnung unsers
himmlischen Charakters und eine Verkennung unsrer Vereinigung
mit einem auferstandenen Christus. Daher die
Unruhe eines Herzens, welches sich mit den Dingen dieser
Welt einläßt. Schon diese Unruhe sollte uns anspornen,
die Ermahnung des Apostels zu beachten; wieviel mehr
aber noch der Gedanke an den Verlust, den wir erleiden,
und die Unehre, die wir unserm geliebten Herrn zufügen.
Anstatt mit innigem Danke und seliger Freude die unaussprechlich
kostbaren Vorrechte zu genießen, von welchen
die Ermahnung des Apostels redet, anstatt Gemeinschaft
zu haben mit dem Vater und Seinem Sohne Jesu Christo
(1. Joh. 1, 3), trachten wir nach den armseligen Träbern
dieser Erde nnd machen Gemeinschaft mit den Kindern
dieser Welt. Welch ein Verlust für uns, und welch eine
Undankbarkeit der wunderbaren Liebe unsers Gottes und
Heilandes gegenüber!
Es ist schon jetzt unser gesegnetes Teil, Gemeinschaft
zu haben mit dem Vater und dem Sohne, obwohl wir
noch in der Fremde nnd in diesem Leibe der Schwachheit
sind. Indes können wir diese Gemeinschaft nur durch den
164
Glauben genießen; aber ist dieser lebendig, so genießen
wir sie auch mit all den lieblichen Gefühlen und Empfindungen,
welche ihr eigen find. Und unsre H offnung
geht noch weiter. Noch ist unser Leben mit Christo in
Gott verborgen, noch ist unsre Gemeinschaft mit Ihm nur
eine Gemeinschaft des Herzens durch den Glauben. Aber
Christus wird geoffenbart werden; und wenn E r geoffenbart
wird, so können wir nicht verborgen bleiben;
denn Er ist unser Leben. Diese Offenbarung wird in
Herrlichkeit geschehen. Aller Kampf des Glaubens wird
dann für immer vorüber sein. Wir werden in ungestörtem
Schauen Seine Gemeinschaft in vollkommner Wirklichkeit
genießen und mit Ihm In ungetrübter Freude uns alles
dessen erfreuen, was Sein ist. Selige Hoffnung für alle,
die Ihn kennen und lieben! Sie giebt Mut und Ausdauer
im Kampf wider die Sünde und zur Verleugnung alles
dessen, was nicht unser Teil ist. Erfüllt sie unsre Herzen,
so vergessen wir, was dahinten ist, und strecken uns aus
nach dem, was vor uns liegt, und streben, das vorgesteckte
Ziel immer anschauend, hin zu dem Kampfpreis der
Berufung Gottes nach oben in Christo Jesu. (Phil. 3, 14.)
Wir sind dann bereit, alles hienieden auszuschlagen, da
wir wissen, daß wir bald alles droben mit Christo besitzen
werden. Das himmlische Ziel, auf welches unsre
Blicke unverwandt gerichtet find und welchem wir mit
Sehnsucht zustreben, wird in unsrer Gesinnung und in
unserm ganzen Verhalten zum Ausdruck kommen.
In den unsrer Betrachtung zu Grunde liegenden
Versen finden wir also sowohl unsre jetzige Stellung, die
wir in Christo durch den Glauben einnehmen, als auch die
zukünftige, welche wir dereinst mit Ihm in Herrlichkeit
165
haben werden. Im Wesen sind beide eins, aber in ihrer
äußern Erscheinung verschieden. Die eine ist verborgen,
die andere offenbar; was Glaube und Hoffnung in der
einen festhalten, ist in der andern erfüllt. Nun, unser
Wandel soll dieser Stellung, die wir vor Gott in Christo
Jesu haben, entsprechen; wir sollen sie in unserm Leben
verwirklichen. Das erfordert unserseits Kampf, ja einen
entschiedenen Kampf des Glaubens. Alles Sichtbare kann
iür uns zu einer Versuchung werden; unser Fleisch, unsre
alte Natur liebt das Sichtbare und haßt das Unsichtbare,
nnd Satan ist im Verein mit den Mächten der Finsternis
immerdar beschäftigt, unsern Glauben und unsre Hoffnung
zu schwächen und uns durch allerlei zu täuschen , zu verführen
und zu verstricken. Wollen wir in allem Überwinder
sein, so können wir es nur durch Den, der uns geliebt
hat. Aber Er läßt uns auch nie allein, und nichts kann
uns von Seiner Liebe scheiden, weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch
Zukünftiges, noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe, noch
irgend eine andere Kreatur. (Röm. 8, 38. 3S.)
Welch ein köstliches Bewußtsein ist dies für ein gläubiges
Herz in den mannigfachen Versuchungen und Kämpfen
hienieden! Die durch den Glauben in uns wirksame Kraft
der Auferstehung Christi, des zur Rechten Gottes erhöhten
Menschensohnes, die lebendige Erkenntnis Seiner Person
und unsrer innigen Verbindung mit Ihm, der stete und
innige Verkehr mit Ihm in Liebe durch die Kraft des
Heiligen Geistes, das Ausharren in der Hoffnung auf
Seine baldige Ankunft und unsers Versammeltwerdens zu
Ihm hin — alles das wird uns in den Versuchungen
Kraft verleihen und unsre Herzen mit Mut, Trost und
166
Freude erfüllen. Doch damit diese Dinge bei uns seien
und reichlich vorhanden, dazu ist viel Wachsamkeit, viel
Gebet und Flehen, eine völlige Hingabe an den Herrn,
ein stetes und gläubiges Aufschaueu zu Ihm und ein
unverrücktes Festhalten an Gott und Seinem Wort erforderlich;
anders werden wir im Kampfe erliegen. Aber welch
ein Trost! Der Gott und Vater unsers Herrn Jesu Christi
ist für uns und mit uns. Er ist stets bereit, uns Gnade
und Kraft darzureichen, durch Seine Treue uns zu bewahren
und durch Seinen Geist in uns zu wirken. Seine Güte
ist jeden Morgen neu, Seine Erbarmungen sind ohne Ende.
Er ist ein Gott, der „allen willig giebt und nichts vorwirft".
(Jak. 1, 5.) Deshalb können wir getrost und
mit freudiger Zuversicht unsern Lauf fortsetzen und den
Kampf des Glaubens kämpfen. Bald wird die Ankunft
unsers geliebten Herrn uns alle vom Kampfplatz abrufen
und uns in die „vielen Wohnungen" droben einführen.
„So suchet, was droben ist, wo der Christus ist,
sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet auf das, was droben
ist, nicht auf das, was auf der Erde ist!"
Einige Gedanken über den Dienst.
Es ist keine leichte Sache, des Herrn Diener zu sein.
Keine gewöhnliche Erziehung, mag sie noch so ernst und
religiös sein, kann einem Menschen die für eine solche
Stellung nötigen Eigenschaften geben. Die Erziehung erweist
sich im Gegenteil oft als ein Hindernis. Um ein
gesegneter Diener des Herrn zu sein, muß vor allen
Dingen die Natur im Tode gehalten werden. Das Urteil
des Todes muß auf sie geschrieben sein. Das ist eine
167
ernste, aber unerläßliche Bedingung; und wenn wir ihr
auf die eine Weise zu entgehen suchen, werden wir ihr
auf eine andere begegnen müssen.
Vergessen wir nicht, daß ein Mensch, der von seiten
Gottes über Tod und Gericht, über Leben und Errettung
sprechen will, vorher an seiner eignen Seele die praktische
Kraft dieser Dinge erfahren haben muß.
Möchte doch ein jeder, der da aufsteht, um zu lehren
oder zu ermahnen oder in irgend einer Weise zu dienen,
sich ernstlich prüfen, ob er von Gott dazu ausgerüstet,
belehrt und gesandt ist! Denn wenn er dies nicht ist, so
wird sein Werk weder von Gott anerkannt werden noch
für die Zuhörer gesegnet sein; und je eher er aufhört,
desto besser für ihn selbst und für diejenigen, welchen er
die schwere Last aufgelegt hat, ihm zuzuhören. Weder
ein von Menschen eingerichteter noch auch ein eigenwilliger
Dienst kann die Anerkennung Gottes haben. Der Diener
muß von Gott selbst begabt, belehrt und gesandt sein.
Der Bote Gottes darf nie vergessen, wessen Botschaft
er bringt. Er sollte stets sagen können: „Der
Gott, vor dessen Angesicht ich stehe, dessen ich bin und
dem ich diene!"
Ein gutes Heilmittel.
Frau R., eine gute alte Bekannte von mir, erzählte
mir neulich folgendes (ich schicke voraus, daß Frau R.
schon seit Jahren den Herrn Jesum lieb hat und auch
weiß, daß sie von Ihm geliebt ist; aber sie ist nicht immer
ruhig und glücklich):
168
„Vor einigen Tagen sagte ich zu meinem Manne:
„Johann," sagte ich, „wenn du im Geschäft oder in der
Stadt bist und niemand kommt, um mich zu besuchen, so
kann ich es nicht lange im Hause aushalten. Ich fühle,
daß ich ausgehen und einen Besuch machen muß. Ich
niuß jemanden um mich sehen und mit ihm reden können;
das Alleinsein langweilt mich."
„Wissen Sie, was er mir erwiderte? O seine Antwort
hat mich tief beschämt. „Meine Liebe," sagte er,
„wenn es dich langweilt, allein zu sein, und du das Verlangen
fühlst, mit jemandem zu sprechen, so nimm deine
Bibel zur Hand, öffne sie und lies. So lange du liesest,
redet Gott zu dir; und wer könnte reden wie Er?
Und wenn du müde bist vom Lesen, so mache das Buch
zu, lege es beiseite, und dann rede d-u zu Gott. Wenn
du thust, was ich dir sage, so wirst du dich nie allein
fühlen und auch keine Langeweile verspüren."
„Ich bin diesem Rate gefolgt, und ich habe erfahren,
daß es ein guter Rat ist." —
Mein lieber Mitpilger! fühlst du dich auch zuweilen
einsam und unbefriedigt? Folge dann ebenfalls dem Rate.
Du wirst erfahren, daß es für ein unruhiges und unbefriedigtes
Herz kein besseres Heilmittel giebt als dieses.
Berichtigung eines Druckfehlers.
In Heft ö des „Botschafters", Seite 139, Zeile 14 und 15
von oben lies „Gottlosigkeit" statt „Gottseligkeit".
David im Terebinthenthal.
(1. Samuel 17.)
Nicht lange nachdem das Salböl aus das Haupt
Davids ausgegossen worden war, wurde er berufen, den
einsamen Platz bei seinen Herden aufzugeben und vor dem
König Saul zn stehen, der jetzt von Gott verlassen war
und von einem bösen Geist gequält wurde. Der unglückliche
Mann bedurfte der beruhigenden Töne der Harfe
Davids, um den schrecklichen Einfluß jenes Geistes abzuschwächen,
der ihn von Tag zu Tag ängstigte. Bedauerungs-
würdiger Mann! Das war das traurige Ende seines Weges
der Selbstsucht und des Ungehorsams.
David zögerte nicht, seinen Platz als Diener ein-
znnehmen, und war es auch in dem Hause eines Mannes,
der sich späterhin als sein bitterster Feind erweisen sollte.
Für ihn war es gleich, w o er diente, und w a s er that;
er hütete mit derselben Bereitwilligkeit seines Vaters Herde
in der Wüste, wie er jetzt im Hause des Königs auf seiner
Harfe spielte. Bon Anfang seiner Geschichte an erblicken
wir David in dem Charakter eines Dieners, der zu jeder
Arbeit bereit ist und sie willig und treu verrichtet. Auch
im Terebinthenthal tritt er in diesem Charakter vor uns.
Saul scheint anfänglich wenig davon gewußt zu haben,
wer es war, der da vor ihm stand und durch sein Spiel
seinen gequälten Geist erquickte; es kam ihm nicht in den
170
Sinn, daß er den zukünftigen König von Israel in seinem
Hanse beherberge. „Er lieble David sehr, und er ward
sein Waffenträger." (1. Sam. 16, 21.) Zur Zeit seiner
Not machte er sich gern den Dienst Davids zu nutze, aber
sobald er wußte, wer David war, war er ebenso bereit,
sein Blut zu vergießen.
Doch wenden wir uns zu den Ereignissen im Tere-
binthenthal.
„Und die Philister sammelten ihre Heere zum Streit."
Dies war ganz dazn angethan, den Charakter und Wert
eines Saul und eines David ans Licht zu stellen. Gerade
die Zeit der Prüfung bringt es an den Tag, worauf
ein Mensch sich stützt und wo seine Hilfsquellen liegen.
Saul war schon einmal auf die Probe gestellt worden —
„das ganze Volk zitterte hinter ihm," lesen wir in
Kap. 13, 7 — und es war nicht zu erwarten, daß er bei
dieser Gelegenheit sich als ein Führer erweisen würde, der
die Seele des Volkes mehr beleben und ermutigen würde
als damals. Ein Mann, der von Gott verlassen war nnd
von einem bösen Geist gequält wurde, war wenig dazu
geeignet, ein Heer in den Streit zu führen, oder gar allein
dem gewaltigen Riesen von Gath entgegen zu treten.
Der Streit im Terebinthenthale erhielt durch die Aufforderung
Goliaths, die Entscheidung durch einen Zweikampf
herbeizuführen, einen ganz besonderen Charakter.
Dadurch wurde die Sache zu einer rein persönlichen.
Es handelte sich nicht, wie gewöhnlich, um einen Kampf
zwischen Heer und Heer, sondern die Frage war, ob sich
in dem ganzen Lager Israels ein Mann finden würde, der
es unternähme, mit dem furchtbaren Gegner zu kämpfen.
Thatsächlich stand Gott im Begriff, dem Volke Israel wie-
171
herum ins Gedächtnis zu rufen, daß es als Volk völlig
kraftlos war, und daß nur der Arm Jehovas es zu befreien
vermochte. Er war immer noch bereit, in Seinem
wunderbaren Charakter als „Kriegsmann" zu handeln, so
oft nur der Glaube in dieser Weise von Ihm Gebrauch
machte.
Vierzig Tage nach einander trat der Philister hervor
nnd zeigte sich den Blicken des unglücklichen Saul und
seines furchtersüllten Heeres. Und beachten wir seinen
bittern Spott: „Bin ich nicht der Philister, und ihr die
Knechte Sauls?" Ach! es war nur zu wahr; sie
hatten ihren erhabenen Platz als Knechte Jehovas verlassen
und waren bloße Knechte Sauls geworden. Samuel hatte
sie vor allem diesem gewarnt; er hatte ihnen vorhergesagt,
daß sie nichts als Kriegsleute, Bäcker, Köche, Arbeiter re.
ihres selbsterwählten Herrn sein würden; und alles das,
weil sie nicht fähig waren, auf den Gott Israels als ihren
Herrn und König zu blicken und von Ihm ihr Heil zu
erwarten. Aber es ist eine alte, bekannte Sache: der
Mensch läßt sich durch nichts anderes belehren, als durch
bittere Erfahrung; und die höhnenden Worte des Philisters
zeigten Israel aufs neue seinen wahren, traurigen Zustand.
„Gebet mir einen Mann, daß wir mit einander
kämpfen", sagte der Riese. Wie wenig wußte er davon,
wer bereits auf dem Wege war, um ihm entgegenzutreten
und seinem Hohne ein Ende zu machen! In seiner vermeintlichen
fleischlichen Kraft bildete er sich ein, kein Israelit
könne ihm standhalten.
Doch der Herr bereitete sich im Geheimen ein Werkzeug
für diesen Zweck zu. Gott handelt immer so. Er
erzieht im Geheimen diejenigen, welche Er öffentlich ge
172
brauchen will. Er macht Seine Knechte in stiller, ernster
Verborgenheit mit ihrem Nichts bekannt und läßt Seine Größe
vor ihren Blicken vorübergehen, damit sie so befähigt werden,
mit festem Tritt und unerschrockenem Geist den Schwierigkeiten
ihres Weges zu begegnen. So war es anch mit
David. Er war allein mit Gott gewesen, als er die Schafe
seines Vaters in der Wüste weidete; seine Seele war von
einem tiefen Bewußtsein der Macht Gottes durchdrungen,
und er erscheint jetzt in dem Terebinthenthal in der sich
selbst verbergenden Würde eines Mannes des Glaubens.
Die stolzen Ruhmredereien Goliaths hatten nun bereits
vierzig Tage gewährt und bewiesen, wie völlig kraft- und
hilflos Israel war. Saul vermochte nichts, die drei ältesten
Söhne Jesses vermochten nichts, und selbst Jonathan,
der sich einst so glaubensmutig erwiesen hatte (vergl.
Kap. 14), war dieser Probe nicht gewachsen: alles schien
verloren zu sein, als der jugendliche David auf dem Schauplatz
erschien, angethan mit der Kraft Dessen, der im Begriff
stand, den Hochmut des stolzen Philisters in den
Staub zu werfen.
Die Worte Goliaths werden David berichtet, und er
erkennt in ihnen sogleich eine lästerliche Verhöhnung des
lebendigen Gottes. „Wer ist dieser Philister", sagt er,
„dieser Unbeschnittene, daß er die Schlachtreihen des
lebendigen Gottes höhnen sollte?" (V. 26.) Der
Glaube Davids erkannte in dem zitternden Heere vor ihm
die Schlachtreihen des lebendigen Gottes, und so machte
er die Sache sofort zu einer Frage zwischen Jehova und
dem Philister. Das ist sehr belehrend. Für das Auge
des Glaubens kann kein Wechsel, keine Veränderung in den
äußeren Umständen das Volk Gottes seiner Würde berauben.
173
Es mag nach menschlichem Urteil, wie in dem vorliegenden
Falle, aus einem niedrigen Boden stehen, aber es kann
niemals verlieren, was Gott ihm gegeben hat. David
verstand dieses; er erkannte daher seine armen Brüder, die
vor ihrem furchtbaren Feinde zitterten, als diejenigen an,
mit welchen der lebendige Gott selbst sich einsgemacht hatte,
und die deshalb nicht von einem unbeschnittenen Philister
verhöhnt werden durften. Wenn der Glaube in Thätigkeit
ist, so bringt er die Seele in unmittelbare Verbindung mit
der Gnade und Treue Gottes, sowie mit Seinen Ratschlüssen
bezüglich Seines Volks. Wohl hatte Israel diese
Demütigung und Trübsal durch feine Untreue über sich
gebracht; aber trotzdem lautete die Frage Davids: „Wer
ist dieser Philister, dieser Unbeschnittene?" So fragt der
Glaube. Für den Mann des Glaubens handelte es sich
nicht um das Heer Sauls, sondern um die Schlachtreihen
des lebendigen Gottes, die unter dem Befehl desselben Anführers
standen, der sie einst durch das Rote Meer, durch
die schreckliche Wüste und durch den Jordan geleitet hatte.
Nichts Geringeres als das könnte auch dem Glauben
genügen.
Aber ach! wie wenig wird das Urteil und das Thun
des Glaubens verstanden, wenn der Zustand des Volkes
Gottes ein niedriger ist! Dies tritt uns auf jeder Seite
der Geschichte Israels, und wir dürfen hinzufügen, der
Geschichte der Kirche, entgegen. Der Pfad des einfältigen,
kindlichen Glaubens liegt weit ab von den Gedanken und
Meinungen der Menschen; und wenn die Knechte des Herrn
in einen niedrigen, fleischlichen Zustand versinken, so können
auch sie die Kraft, die in der Seele eines Mannes des
Glaubens wirkt, nicht verstehen. Man wird Uhu mißdeuten,
174
ihm allerlei verkehrte Beweggründe unterschieben und ihn
anklagen, er wolle sich nur hervorthun oder eigenwillig
handeln. Da der Glaube bei der Mehrzahl schwach geworden
ist, so wird der Pfad eines solchen Mannes ein
einsamer sein; und sobald er handelnd sür Gott eintritt,
wird man ihn mißverstehen.
So war es bei David. Nicht nur stand er in diesem
schwierigen Augenblick ganz allein, sondern er mußte auch
noch den Spott des Fleisches über sich ergehen lassen.
„Und Eliab, sein ältester Bruder, hörte zu, als er zu den
Männern redete; und der Zorn Eliabs entbrannte wider
David, und er sprach: Warum doch bist du herabgekommen,
und wem hast du jene wenigen Schafe überlassen in der
Wüste? Ich kenne deine Vermessenheit Wohl
und die Bosheit deines Herzens; denn um den
Streit zn sehen, bist du herabgekommen." >V. 28.) So
lautete das Urteil des Fleisches über das Thun Davids.
„Und David sprach: Was habe ich nun gethan? Ist es
nicht der Mühe wert?" David wurde durch eine Energie
geleitet, die Eliab ganz und gar unbekannt war; und er
dachte nicht daran, sein Verhalten dem hochmütigen Bruder
gegenüber zu rechtfertigen. Warum war Eliab uicht selbst
für seine Brüder eingetreten? Warum nicht Abinadab
und Schamina? Weil sie keinen Glauben hatten. Das
war der einfache Grund.
Und Saul hörte die Worte, welche David geredet hatte,
und ließ ihn zu sich bringen. „Und David sprach zu Saul:
Es entfalle keinem Menschen das Herz seinetwegen! Dein
Knecht will gehen und mit diesem Philister kämpfen." (V. 32.)
Kostbarer Glaube! Er kennt keine Schwierigkeiten und Hindernisse.
Was war der Philister für David? Nichts. Seine
175
gewaltige Länge, seine furchtbare Waffenrüstung waren bloße
äußere Umstände; und der Glaube blickt nimmer
aus Um st än de, sondern geradeswegs auf Gott.
Hätte nicht der Glaube die Seele Davids erfüllt, so würde
er unmöglich haben sagen können: „Dein Knecht will
gehen" ; denn hören wir nur, was der Mann sagt, dessen
Pflicht es gewesen wäre, zu allererst dem schrecklichen Feinde
des Volkes entgegen zu treten. Er antwortet David auf
sein glaubensmutiges Anerbieten: „Du vermagst nicht
wider diesen Philister zu gehen." Welch eine Sprache
sür den König von Israel! Welch ein Gegensatz zugleich
zwischen Saul, dem Manne äußerer königlicher Würde,
und David, dem Manne wahrer innerlicher Kraft! Wahrlich,
Saul hätte die Herde, welche seiner Obhut anvertraut
war, verteidigen sollen; aber ach! er hatte kein Herz
für das Volk, und der Gedanke, sich selbst um Israels
willen einer solchen Gefahr auszusetzen, stieg in seinem
selbstsüchtigen Innern gar nicht auf. Und nicht nur war
er nicht willens, selbst zu handeln, sondern er suchte auch
noch den Mann zurückzuhalten, der bereit war, sein Leben
aufs Spiel zu setzen, um seinen Glauben, sowie seine Befähigung
für den hohen Platz, zu welchem Gott ihn be­
stimmt hatte, in herrlicher Weise darzuthun.
„Du vermagst nicht." Allerdings nicht; aber Jehova
vermochte es, und auf Seinen starken Arm stützte sich
David in aller Einfalt des Glaubens. Vor seinem Geistesauge
stand Er, der einst dem Josua unter den Mauern
von Jericho erschienen war, mit einem gezückten Schwert
in Seiner Hand, als „der Oberste des Heeres Jehovas".
Für David hatte Israel nicht aufgehört, das Heer Jehovas
zu sein, so tief es auch seit den Tagen Josuas gesunken
176
sein mochte. Der Streit Israels war heute noch gerade
so gut der Streit Jehovas wie damals, als Sonne und
Mond in ihrem Laufe aufgehalten wurden, damit Josua
das göttliche Strafgericht an den Kananitern vollziehen
könnte. Mochte Eliab ihn auch der Vermessenheit beschuldigen
und Saul von seiner Unfähigkeit reden — jenes
Bewußtsein hielt David aufrecht und leitete ihn in seinem Thun.
Mein Leser! es giebt nichts, was uns eine solche
Entschiedenheit und ausdauernde Kraft verleihen könnte
als das Bewußtsein, daß wir für Gott handeln, und
daß Gott mit uns ist. Das räumt jedes Hindernis aus
dem Wege, erhebt die Seele über alle menschlichen Einflüsse
und versetzt sie in den Bereich einer Kraft, die alles
vermag. Haben wir die Gewißheit, daß wir auf des
Herrn Seite stehen und daß Seine Hand mit uns ist, so
kann uns nichts von dem Pfade des Dienstes ablenken,
mag er uns auch führen, wohin er will. „Alles vermag ich",
sagt der Apostel, „in Dem, der mich kräftigt" (Phil. 4, 13);
und: „Daher will ich am allerliebsten mich vielmehr
meiner Schwachheiten rühmen, auf daß die Kraft des Christus
über mir wohne." (2. Kor. 12, 9.) Der schwächste
Gläubige vermag alles durch Christum; aber wenn das
menschliche Auge auf dem schwachen Gefäß ruht, so mag
es wohl wie Vermessenheit aussehen, so zu reden. Wenn
Saul daher David betrachtete und ihn mit Goliath verglich,
so urteilte er ganz richtig, wenn er sagte: „Du
vermagst nicht wider diesen Philister zu gehen, um mit
ihm zu kämpfen; denn du bist ein Jüngling, er aber ein
Kriegsmann von seiner Jugend an." Es war eine Vergleichung
von Fleisch mit Fleisch, und -da konnte das Ergebnis
kein anderes sein.
177
Solche Vergleiche aber zog David nicht. Für ihn
stand der Kraft eines Goliath die Kraft des Gottes der
Schlachtreihen Israels gegenüber. „Und David sprach zn
Saul: Dein Knecht weidete das Kleinvieh für seinen
Vater; kam nun ein Löwe oder ein Bär und trug ein
Stück weg von der Herde, so zog ich aus, ihm nach, und
schlug ihn und entriß es seinem Rachen; und erhob er
sich wider mich, so ergriff ich ihn bei dem Barte und
schlug ihn und tötete ihn. Sowohl den Löwen als auch
den Bären hat dein Knecht erschlagen; und dieser Philister,
dieser Unbeschnittene, soll sein wie einer von ihnen, weil
er die Schlachtreihen des lebendigen Gottes gehöhnt hat."
So lautete die Beweisführung des Glaubens. Die Hand,
welche David aus einer Schwierigkeit errettet hatte, konnte
ihn auch aus allen andern erretten. Hier giebt es kein
„Wenn", wie einst bei Jonathan (Kap. 14, 9. 10), noch
wartet David auf ein Zeichen. Er sagt einfach: „Dein
Knecht will gehen". Er hatte die Macht der Gegenwart
Gottes in der Einsamkeit der Wüste erfahren, ehe er
an die Oeffentlichkeit trat. Er hatte sich nie seines Sieges
über den Löwen und den Bären gerühmt, und er würde
wahrscheinlich auch nie davon gesprochen haben, wenn er
nicht bei dieser Gelegenheit hätte zeigen müssen, auf welch
einem festen Boden des Vertrauens er stand bezüglich des
vor ihm liegenden Werkes. Er wollte gern beweisen, daß
er nicht in seiner eignen Kraft voranging. Aehnlich war
es mit der Entrückung des Apostels Paulus in den dritten
Himmel. Vierzehn Jahre lang war dieses Ereignis in
dem Herzen des Apostels verborgen gewesen, und er würde
es wohl nie mitgeteilt haben, wenn nicht der Zustand der
Korinther ihn dazu gezwungen hätte.
178
Beide Fälle sind von tiefer Belehrung für uns. Wie
sind wir so sehr bereit, von unsern armseligen Thaten zu
reden oder doch wenigstens an sie zn denken! Das Fleisch
ist immer geneigt, sich in etwas zu rühmen, was das
eigne Ich zu erheben vermag; und hat einmal der Herr,
trotz des Bösen in uns, uns in irgend einer geringen Weise
als Seine Werkzeuge gebraucht, wie schnell sind wir dann
dabei, dies in einem selbstgefälligen Geiste andern nntzu-
teilen! Es ist recht nnd gut, von den Beweisen der Gnade
des Herrn zu reden und Herzen zu haben, die infolge derselben
mit Dank und Anbetung erfüllt sind; aber das ist
etwas ganz anderes, als sich über Dinge zu rühmen, die
mit dem armen „Ich" in Verbindung stehen.
David bewahrte, wie gesagt, das Geheimnis seiner
Siege über den Löwen und den Bären tief in seinem
Herzen und redete erst davon, als die Gelegenheit es erforderte,
und selbst dann sprach er nicht so, als ob er
eine Heldenthat vollbracht hätte, sondern sagte: „Jehova,
der mich errettet hat aus den Klauen des Löwen
und aus den Klauen des Bären, Er wird mich erretten
aus der Hand dieses Philisters." Noch einmal:
Welch ein kostbarer, sich selbst verleugnender Glaube! ein
Glaube!, der im Blick auf alles auf Gott rechnet und in
nichts dem Fleische vertraut; der Gott in jede Schwierigkeit
hineinbringt und uns anleitet, uns selbst zu verbergen
und Ihm alle Ehre zu geben. Möchten unsre Seelen
mehr von diesem gesegneten Glauben kennen!
Indes bedarf es eines geistlichen Verständnisses, um
den großen Unterschied zwischen der Sprache des Glaubens
und derjenigen einer bloß äußerlichen Religiosität zu unterscheiden.
Saul redete oft sehr fromm und religiös; auch
179
hier, in seiner Unterhaltung mit David, gab er sich einen
recht schönen, frommen Schein. Äußere Religiosität
und wahrer Glaube stehen sich hier schroff gegenüber.
Nachdem David seinem Glauben an die Gegenwart und
Macht Jehovas in so klarer, entschiedener Weise Ausdruck
gegeben hatte, sagte Saul: „Gehe hin, und Jehova
sei mit dir!" Aber ach! wie wenig wußte er, was es
heißt, den Herrn bei sich zu haben! Er schien dem
Herrn zu vertrauen, aber in Wirklichkeit setzte er sein
Vertrauen auf seine Waffenrüstung. Hätte er verstanden,
was er sagte, so würde er nicht weiter an das Anlegen
einer Rüstung gedacht haben. „Jehova sei mit dir!" war
in dem Munde Sauls nichts als eine gewöhnliche Redensart,
die thatsächlich gar keine Bedeutung hatte.
Wir thun gut, hierbei noch einen Augenblick zu verweilen.
Es ist eine böse Sache, schöne Worte zu gebrauchen,
die, soweit es uns betrifft, ohne Kraft und Bedeutung
sind, die aber ein Spielen mit dem Namen und der
Wahrheit des Herrn in sich schließen. Wie oft reden wir
von unserm Vertrauen auf den Herrn, während wir uns
in Wirklichkeit auf die Umstände um uns her stützen! Wie
oft sprechen wir von einem Leben in einfältiger Abhängigkeit
von dem Herrn, während wir, wenn wir den wirklichen
Zustand unsrer Seelen im Lichte Gottes Prüfen
wollten, finden würden, daß wir auf menschliche oder
irdische Hilfsquellen unser Auge gerichtet haben! Gegen
dieses Uebel sollten wir sorgfältig Wachen. Es war gerade
das, was Saul offenbarte, als er, nach dem so schön klingenden
Wunsche: „Jehova sei mit dir!" dazu überging,
David seinen Rock anzuziehen, ihm einen ehernen Helm
aufs Haupt zu setzen nnd ihm einen Panzer anzulegen.
180
(V. 38.) Er dachte gar nicht daran, daß David in einer
andern als der gewöhnlichen Weise kämpfen könnte. Seinem
Bekenntnis nach handelte er allerdings im Namen des
Herrn; aber er meinte, David müsse Mittel gebrauchen.
Wie oft geht es uns auch so! Wir gebrauchen Mittel
und schließen dadurch Gott vollständig aus; unserm Bekenntnis
nach gebrauchen wir die Mittel allerdings in
Abhängigkeit von Gott, in Wirklichkeit aber gebrauchen wir
den Namen Gottes in Abhängigkeit von den Mitteln. Das
heißt nach dem Urteil des Glaubens nichts anderes, als
aus den Mitteln einen Gott machen, und das ist Götzendienst.
Hatte Saul mehr Vertrauen auf Gott oder auf
die Rüstung? Ohne Frage auf letztere; und gerade so
wird es uns ergehen, wenn wir nicht wirklich durch
Glauben wandeln.
Indes möchte der Leser sich versucht fühlen zu fragen:
Dürfen wir denn gar keine Mittel gebrauchen? Sicherlich;
aber nur solche, die mit dem Glauben und mit der
Herrlichkeit des Gottes aller Macht und Gnade im Einklang
stehen. David fühlte, daß Sauls Rock und Panzer nicht
zu dieser Art von Mitteln gehörten, und er wies sie deshalb
zurück. Und wie gut war das! Hätte er sie benutzt,
so würde der Sieg nicht so offenbar des Herrn gewesen
sein. Laß uns deshalb Sorge tragen, geliebter Leser, daß
unsre Mittel nicht Gott ausschließen und Ihm Seine Ehre
rauben! Der Glaube wartet auf Gott und erlaubt Ihm,
die Mittel zu gebrauchen, welche Ihm Wohlgefallen.
„Und David gürtete sein Schwert über seinen Rock
und wollte gehen, denn er hatte es nie versucht. Da sprach
David zu Saul: Ich kann nicht darin gehen, denn ich
habe es nie versucht. Und David legte sie von sich
181
a b." Glückliche Befreiung von den elenden Fesseln menschlicher
Klugheit! Man hat mit Recht gesagt, daß David
nicht so ernstlich auf die Probe gestellt wurde, als er dem
Riesen entgegenging, als vielmehr da, wo er in Versuchung
kam, Sauls Waffenrüstung zu gebrauchen. Wäre es dem
Feinde gelungen, ihn zu der Benutzung jener Rüstung zu
verleiten, so wäre Gott allein die Ehre geraubt worden;
aber er schlug sie aus und überließ sich völlig den Händen
des Herrn. So handelt der Glaube stets; er überläßt
alles Gott allein.
Vers 40 zeigt uns die Waffenrüstung Davids: „Und
er nahm seinen Stab in seine Hand und wählte sich fünf
glatte Steine aus dem Bache und that sie in das Hirtengerät,
das er hatte, in die Tasche, und seine Schleuder
hatte er in seiner Hand; und er trat an den Philister
heran." Wir sehen also, daß David auch Mittel,gebrauchte;
aber was für Mittel! Mit welch einer Verachtung behandelte
David die furchtbare Rüstung seines Gegners!
Wie sehr stach seine Schleuder ab von dem gewaltigen
Speere Goliaths, der mehr einem Weberbaum als einem
Speere ähnlich sah. In der That, David hätte den Stolz
des riesenhaften Philisters nicht tiefer verwunden können
als dadurch,, daß er mit solchen Waffen ihm entgegentrat.
Goliath fühlte dies auch sehr wohl. „Bin ich ein Hund?"
fragte er. Es machte für das Urteil des Glaubens wenig
aus, was er war, ob ein Hund oder ein Riese; er war
ein Feind des Volkes Gottes, und David ging ihm entgegen
mit den Waffen des Glaubens. „Und David sprach
zu dem Philister: Du kommst zu mir mit Schwert und
mit Speer und mit Wurfspieß; ich aber komme zu dir im
Namen Jehovas der Heerscharen, des Gottes der Schlacht
182
reihen Israels, den du gehöhnt hast. An diesem Tage
wird dich Jehova in meine Hand überliefern . . . und
die ganze Erde soll erkennen, daß Israel einen Gott hat.
Und diese ganze Versammlung soll erkennen, daß Jehova
nicht durch Schwert und durch Speer rettet;
denn Jehovas ist der Streit, und Er wird euch in unsre
Hand geben."
Diese Worte lassen uns den wahren Zweck des Mannes
des Glaubens erkennen. Es ist nicht seine Person, nicht
sein Thun, die in den Vordergrund treten sollen: nein,
Israel und die ganze Erde sollen erfahren, daß Gott in
der Mitte Seines Volkes gegenwärtig ist. Dies hätte
nicht geschehen können, wenn David die Rüstung Sauls
angezogen hätte. Seine Art zu kämpfen hätte sich dann
in nichts von derjenigen andrer Krieger unterschieden, und
es wäre nicht kund geworden, daß Jehova nicht durch
Schwert und Speer rettet. Die Schleuder und der Stein
zeigten aber deutlich die Quelle an, aus welcher die Kraft
zum Siegen kam. Es ist auch beachtenswert, daß David
nicht zu Goliath sagte: „Ich komme mit einer
Schleuder und einem Stein", sondern: „Ich
komme im Namen Jehovas der Heerscharen". Für ihn
waren die Mittel, welche den Sieg herbeiführen sollten,
bedeutungslos; Gott war alles.
Der Glaube ehrt stets Gott, und Gott ehrt den
Glauben. David übergab sich, wie bereits gesagt, ganz
und gar den Händen des Herrn, und das Ergebnis war
ein vollkommner, herrlicher Sieg. „Und David, mit der
Schleuder und mit dem Steine, war stärker als der Philister,
und er schlug den Philister und tötete ihn; und
David hatte kein Schwert in der Hand." Welch
183
ein Triumph, und zugleich welch eine köstliche Frucht eines
einfältigen Glaubens an Gott! Wie sollte dies unsre
Herzen ermutigen, jedes fleischliche Vertrauen wegzuwerfen
und uns an die einzig wahre Quelle aller Kraft zu
halten! Es war eine wunderbare Befreiung, die dem Volke
Israel hier zu teil wurde, herbeigeführt durch einen einzigen
Wurf. Nicht Feldherrnkunst, nicht die Entfaltung
gewaltiger Heeresmassen, nicht die ungestüme Tapferkeit
kriegsgeübter Helden — nein, ein Stein aus dem Bache,
geschleudert von der Hand eines Hirten, führte die Entscheidung
herbei. Es war der Sieg des Glaubens.
„Und als die Philister sahen, daß ihr Held tot war,
da flohen sie." Wie eitel sind alle Hoffnungen, die sich
auf das Fleisch stützen, selbst wenn dieses in scheinbar unüberwindlicher
Kraft auftritt! Wer von uns hätte wohl
nicht für das Leben Davids gezittert, wenn wir ihn hätten
sehen können, wie er, der im Waffenhandwerk unerfahrene
Jüngling, auszog, dem gewaltigen, kampfgewohnten Feinde
entgegen? Doch betrachten wir das Ende. Der Held der
Philister fiel, und mit ihm stürzten alle ihre Hoffnungen
zusammen wie ein Kartenhaus. „Und die Männer von
Israel und Juda machten sich auf und erhoben ein Geschrei
und verfolgten die Philister." Ja, sie mochten wohl ein
Freudengeschrei erheben, denn Gott war vor ihnen her ausgezogen,
um sie von der Gewalt ihrer Feinde zn befreien.
Er hatte in Macht gehandelt durch die Hand eines Mannes,
den sie weder als ihren gesalbten König kannten noch anerkannten,
dessen Person aber jedes aufrichtige Herz hätte
anziehen sollen.
Indes lesen wir nur von einem aus all den Tausenden,
welche den Kampf und Sieg Davids angeschaut hatten,
184
dessen Herz sich in glühender Liebe zu dem Sieger hingezogen
fühlte. Wir dürfen wohl fagen, daß auch bei dieser
Gelegenheit „die Gedanken vieler Herzen offenbar wurden".
Einige mochten David bewundern, andere ihn beneiden;
einige mochten sich mit dem Siege, andere mit dem von
Gott gebrauchten Werkzeug beschäftigen und dieses rühmen;
einige mochten vielleicht auch „den Gott der Schlachtreihen
Israels", der ihnen so wunderbar geholfen hatte, preisen
und anbeten. Doch wir hören nur von einem, dessen
Herz sich so mächtig zu der Person des Siegers hingezogen
fühlte, daß alles andere in den Hintergrund trat;
und dieser Eine war Jonathan. „Und es geschah, als er
(David) zu Saul ausgeredet hatte, da verband sich
die Seele Jonathans mit der Seele Davids;
und Jonathan liebte ihn wie seine Seele." (Kap. 18, 1.)
Ohne Zweifel nahm Jonathan von Herzen an der allgemeinen
Freude teil; aber für ihn gab es in dem Triumphe
Davids mehr als die dadurch bewirkte Errettung. Es
war nicht so sehr der Sieg als vielmehr die Person des
Siegers, welche die tiefen Zuneigungen seiner Seele wachriefen.
David hatte eine schwere Last von seinem Geiste
entfernt nnd ein tiefes und schmerzlich gefühltes Bedürfnis
befriedigt. Die Herausforderung des Riesen Goliath hatte,
je länger sie ertönte, umso deutlicher die Armut Israels
ans Licht gestellt. Das Auge mochte immer aufs neue
die Schlachtreihen Israels durchlaufen, um einen Mann zu
finden, der imstande gewesen wäre, dem vorliegenden
Bedürfnis zu entsprechen; aber umsonst, 'da war keiner-
„Alle Männer von Israel flohen, wenn sie Goliath sahen,
und fürchteten sich sehr." (B. 24.) Da war niemand, der
Glauben und Mut genug gehabt hätte, dem schrecklichen
185
Feinde standzuhalten. Schwer genug mag diese demütigende
Thatsache auf dem Herzen Jonathans gelastet haben.
Da plötzlich kam David und vollbrachte das große Werk.
Kein Wunder, daß Jonathans Seele sich dem glaubensstarken
und doch so bescheidenen und demütigen Retter
aus tiefster Not zuwandte. Er bewunderte seinen Sieg,
aber noch mehr seine Person. Er schätzte das Werk, aber
noch mehr den, der es gethan hatte.
Ich verweile so lange bei diesem Punkte, weil die
Anwendung auf den wahren David ihn so beachtenswert
macht. Daß wir diese Anwendung machen dürfen, wird
wohl niemand in Frage ziehen. Die ganze Scene ist von
Anfang bis zu Ende so offenbar vorbildlich, daß eigentlich
kein Zweifel in dieser Beziehung bestehen kann. In
Goliath erblicken wir die Macht des Feindes, welcher die
Seele in Knechtschaft hielt. Von dieser Macht konnte sie
kein Geschöpf im Himmel nnd auf Erden befreien. Die
Herausforderung hätte Jahr für Jahr wiederholt werden
können; aber alles wäre umsonst gewesen. Immer von
neuem hätte im Laufe der Zeitalter den Myriaden von
gefallenen Nachkommen Adams der ernste Urteilsspruch
vorgehalten werden können: „Es ist den Menschen gesetzt,
einmal zu sterben, und darnach das Gericht", ohne daß
von seiten des Menschen eine andere Antwort erfolgt wäre,
als die, welche einst im Therebinthenthal gegeben wurde:
ein ängstliches Fliehen und Sichverbergen vor dem furchtbaren
Feinde. „Durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch
der Knechtschaft unterworfen" (Hebr. 2, 15), das
war die Antwort von seiten des Menschen. Das Bedürfnis
wurde gefühlt; das arme menschliche Herz sehnte sich
nach etwas, was seine Leere anszufüllen vermochte, und
186
es sehnte sich umsonst. Die Forderungen der göttlichen
Gerechtigkeit konnten nicht befriedigt werden; Tod nnd
Gericht standen drohend vor dem Menschen, und er konnte
nur zittern. Doch, gepriesen sei der Gott aller Gnade!
ein Befreier ist erschienen, Einer, der mächtig ist zu erretten,
der Sohn Gottes, der wahre David, der König
Israels und der ganzen Erde. Er ist dem Bedürfnis begegnet,
hat die Leere des menschlichen Herzens ausgefüllt
und sein Sehnen gestillt. Und wie und wann ist das geschehen?
Durch Seinen Tod auf Golgatha, in jenen schrecklichen
Stunden der Finsternis, als die ganze Schöpfung
gleichsam zu einem Gefühl dessen gebracht wurde, was
dort vorging.
Ja, mein Leser, das Kreuz war das Feld, wo die
Schlacht geschlagen und der Sieg erstritten wurde. Dort
wurde dem „Starken" seine ganze Waffenrüstung genommen
und sein Hausrat geraubt. Dort wurden die Forderungen
der göttlichen Gerechtigkeit aufs Völligste befriedigt; dort
wurde die Handschrift der Satzungen, die wider uns war,
ans Kreuz genagelt. Dort wurden auch durch das Blut
des Lammes die Flüche eines gebrochenem» Gesetzes auf
immerdar ausgelöscht und die Anklagen eines schuldigen Gewissens
auf ewig zum Schweigen gebracht. „Das kostbare
Blut Christi, als eines Lammes ohne Fehl und Flecken", hat
für die glaubende Seele alles in Ordnung gebracht. Der
arme, zitternde Sünder darf dasteheu und den Kampf und
seinen herrlichen Ausgang anschauen; er darf sehen, wie
die ganze Macht des Feindes durch seinen hochgelobten
Heiland zu Boden geschmettert wurde, und fühlen, wie das
zermalmende Gewicht seiner großen Schuld von ihm abgewälzt
worden ist. Der Strom göttlichen Friedens und
187
himmlischer Freude kann sich in sein Inneres ergießen, und
er kann von dannen gehen in der vollen Kraft einer Erlösung,
die durch das Blut für ihn bereitet ist und im
Evangelium ihm verkündigt wird.
Wenn das nun so ist, sollte dann eine solche befreite,
errettete Seele nicht die Person ihres Befreiers lieben?
Nicht nur das Werk, sondern die Person! Wie könnte es
anders sein? Wie könnte jemand, der die ganze Größe
seiner Not gefühlt und unter der unerträglichen Last seiner
Sünden hoffnungslos geseufzt hat, wie könnte er anders
als den Herrlichen und Hochgelobten lieben und anbeten,
der die Not gestillt und die Last entfernt hat? Das Werk
Christi ist ohne Zweifel von unendlicher Kostbarkeit; kein
menschlicher Geist könnte jemals seinen Wert ausmessen.
Aber die Person ist noch kostbarer, und das Werk Christi
bringt die Seele erst in die Stellung, in welcher sie die
Person betrachten kann. Das Werk des Heilandes ist
für den Sünder, Seine Person für den Gläubigen;
oder mit andern Worten: was Er hat ist für den ersteren,
was Er ist für den letzteren. Es kann deshalb sehr
wohl der Fall eintreten, daß ein Gläubiger im Blick auf
das Werk Christi völlig klar ist, während sein Herz nicht
mehr warm für Christum schlägt; ja, daß selbst ein Unbekehrter
mit erstaunlicher Geläufigkeit über die Vollgültigkeit
des Opfers Christi reden kann, während ihm die
Person Jesu im Grunde seines Herzens gleichgültig ist.
Im 6. Kapitel des Evangeliums Johannes sehen wir eine
Menge von Personen dem Herrn Jesu aus rein selbstsüchtigen
Gründen nachfolgen. Der Herr ist gezwungen,
ihnen zu sagen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch : Ihr
suchet mich, nicht weil ihr Zeichen gesehen, sondern weil
188
ihr von den Broten gegessen habt und gesättigt worden
seid." Sie snchten Ihn nicht um dessentwillen, was Er
war, sondern was Er hatte; und als Er ihnen deshalb
die ernsten Worte zurief: „Es sei denn, daß ihr das
Fleisch des Sohnes des Menschen esset und Sein Blut
trinket, so habt ihr kein Leben in euch selbst", gingen
viele Seiner Jünger zurück und wandelten nicht mehr mit
Ihm. Das ganze Evangelium Johannes ist eine Entfaltung
der persönlichen Herrlichkeit des fleischgewordenen
Wortes, des anerkannt großen Geheimnisses der Gottseligkeit:
Gott, geoffenbart im Fleische. Die Mehrzahl der
Jünger konnte es nicht ertragen, als die Wahrheit bezüglich
der Person des Sohnes des Menschen, des aus dem
Himmel herabgekommenen Brotes des Lebens, ihnen nahe
gebracht wurde; sie verließen den Herrn. Wie schön und
wahrhaft erquickend sind demgegenüber die Worte Petri:
„Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des
ewigen Lebens; nnd wir haben geglaubt und erkannt, daß
Du der Heilige Gottes bist." Hier haben wir beides:
was Er hatte und was Er war; Er hatte ewiges
Leben zu geben, und Er war der Heilige Gottes — Gott,
geoffenbart im Fleische. Durch das erstere wird der
Sünder zu Ihm gezogen, durch das letztere wird der
Gläubige an Ihn gefesselt und mit Bewunderung und Anbetung
erfüllt.
Doch kehren wir zu David und Jonathan zurück. Die
vielen Tausende Israels erhoben, wie wir hörten, ein
Triumphgeschrei und verfolgten die Philister, um die Früchte
des Sieges einzuernten, während Jonathan sich an der
Person des Siegers ergötzte. „Und Jonathan zog das
Oberkleid aus, das er anhatte, und gab es David, und
189
seinen Rock und bis auf sein Schwert und seinen Bogen
und seinen Gürtel." (Kap. 18, 4.) Das war Liebe, reine,
ungeteilte Liebe. Die Liebe zieht sich selbst aus um ihres
Gegenstandes willen. David hatte sich selbst vergessen und
sein Leben für Gott und das Volk aufs Spiel gefetzt, und
jetzt vergißt sich Jonathan um Davids willen.
Mein Leser, laß uns daran gedenken, daß die Liebe
zu Jesu die Quelle alles wahren Christentums ist. Diese
Liebe veranlaßt uns, uns selbst zu vergessen und uns
gleichsam auszuziehen um Christi willen; und wir dürfen
wohl sagen: wenn dies zur Ehre Christi geschieht, so ist
es die lieblichste Frucht des Werkes Gottes in der Seele.
Wie ganz anders waren die Gefühle, mit welchen
Saul die Person und das Werk Davids betrachtete! Er
hatte nicht gelernt, sich selbst zu verbergen und das Werk
durch einen Andern gethan zu sehen. Es ist eine seltene
Gnade, dies in Wahrheit thun zu können. Wir alle
lieben es von Natur, etwas zu sein oder etwas zu thun;
wir haben es gern, wenn man auf uns blickt und von
uns redet. So war es mit Saul. Er war ein Mann,
der wichtig war in seinen eignen Augen, und deshalb war
er nicht imstande, den Gesang der israelitischen Weiber zu
ertragen: „Saul hat seine Tausende erschlagen, und David
seine Zehntausende". Er konnte den Gedanken nicht ertragen,
den zweiten Platz einzunehmen. Er hatte ganz
vergessen, wie er vor Goliath gezittert hatte; obwohl ein
Feigling, hätte er doch so gern als ein tapferer Held gegolten.
„Und Saul sah scheel auf David von selbigem Tage
an und hinfort." Eifersucht und Neid erfüllten fein Herz.
Und in der That, mein lieber Leser, es erfordert ein
demütiges Herz und ein einfältiges Auge, um sich ebenso
190
aufrichtig über den Erfolg des Wirkens eines Andern zu
freuen, als über sein eignes Thun. Hätten die Verherrlichung
Gottes und das Wohl Seines Volkes allein Wert
für Saul gehabt, so würde er keinen Augenblick an die
Zahlen gedacht haben, welche die Weiber ihm und David
zuteilten. Aber leider war dies nicht der Fall. Er dachte
nur an seine eigne Ehre. Daher fein Neid und seine Eifersucht.
O welch eine heilige Ruhe und Erhabenheit verleiht
der Geist der Selbstverleugnung und des Sich-selbst-ver-
gessens, der aus der Beschäftigung des Herzens mit Christo
hervorgeht! Suchen wir aufrichtig die Ehre Christi, so
wird es uns wenig ausmachen, wer das Werk thut, wenn
nur Sein kostbarer Name erhoben und verherrlicht wird.
In der Synagoge zu Kapernaum.
„Und es war in ihrer Synagoge ein Mensch mit
einem unreinen Geiste; und er schrie auf und sprach:
Laß ab! was haben wir mit dir zu schaffen, Jesu,
Nazarener?"
„Und Er predigte in ihren Synagogen, in ganz
Galiläa, und trieb die Teufel aus."
(Mark. 1, 23. 24. 39.)
In den Wundern, welche der Herr auf Seinem Pilgergange
durch diese Welt verrichtete, trat nicht nur Seine
göttliche Macht und Sein unendliches Erbarmen an den
Tag, sondern sie zeigten auch klar und deutlich, in welch
einem Zustande der Mensch sich befand und welche Wege
Gott einschlug, um diesem Zustand in und durch Christum
zu begegnen. Er war das wahrhaftige Licht, welches alles
offenbar machte. Satan war in der Welt als die alte
Schlange, und er herrschte in Palast und Hütte als der
1S1
Gott dieser Welt. Ja, sogar in der Synagoge befanden
sich Dämonen oder unreine Geister. Ein ernster Gedanke!
Die Synagoge war der Versammlungsort der Juden, die
Stätte ihres Gottesdienstes, wie man heutzutage sagen
würde. Daß im Wirtshaus, im Theater, im Konzertsaal,
auf dem Tanzboden, am Billardtisch, oder in der Spielhölle
die Teufel ihr Wesen treiben, wird im allgemeinen zugegeben
werden. Daß aber Satan auch seine Diener im
Versammlungslokal oder an der geweihten Stätte des
Gottesdienstes hat, daran denkt man wenig. Und doch war
es damals so; und, wenn wir einige diesbezügliche Schriftstellen
vergleichen wollen, werden wir bald sehen, daß es
heute noch gerade so ist.
Alle Menschen befinden sich von Natur unter der
Macht und Gewalt Satans. Sie werden, obwohl unbewußt,
geleitet durch diesen bösen Geist, indem sie wandeln
„nach dem Zeitlaus dieser Welt, nach dem Fürsten der Gewalt
der Luft, des Geistes, der jetzt wirksam ist in den
Söhnen des Ungehorsams". (Eph. 2, 2.) Hier giebt es
keinen Mittel-Zustand. Die Menschen sind entweder mit
Christo gestorben und mit Ihm auferweckt, so daß sie jetzt
in Neuheit des Lebens wandeln können, oder sie werden
von dem Geist geleitet, der jetzt wirksam ist in den
Söhnen des Ungehorsams. In dem einen dieser beiden
Zustände befinden sich Schreiber und Leser dieser Zeilen.
Aber nicht nur stehen die Menschen unter dem unreinen
Einfluß Satans, sondern er verblendet sie auch;
wie wir lesen: „Wenn aber auch unser Evangelium verdeckt
ist, so ist es in denen verdeckt, die verloren gehen,
in welchen der Gott dieser Welt den Sinn der Ungläubigen
verblendet hat, damit ihnen nicht ausstrahle der Licht
192
glanz des Evangeliums rc." (2. Kor. 4, 3. 4.) Ein Blinder
kann nicht einmal die strahlende Sonne sehen; und ein
geistlich Blinder kann den Lichtglanz der Herrlichkeit Gottes
nicht erkennen, der in dem Antlitz Jesu Christi, unsers
göttlichen Stellvertreters, leuchtet. O welch eine Gnade,
welch ein kostbares Licht, wenn ich meinen Namen inmitten
des Glanzes dieser Herrlichkeit erblicken kann, als angenommen
und annehmlich gemacht in Christo, dem Geliebten!
Aber die von Satan Verblendeten können dieses Licht nicht
sehen. Sic sind blind, von Sünde und Satan verblendet.
Aber, mag der Leser fragen, was hat dies mit der
Synagoge zu thun? Dort ist Satan jetzt doch nicht zu
finden? Nun, laßt uns sehen, wenn wir anders Augen
haben, die von dem Geiste Gottes gesalbt und geöffnet
sind, — laßt uns sehen, worauf Satan ausging, selbst zur
Zeit als die Apostel noch lebten. Wir lesen in demselben
Briese, aus welchem wir die letzte Stelle anführten, in
welch einer listigen und schlauen Weise Satan die bekennende
Kirche schon damals durch seine Werkzeuge verblendete
und verdarb: „Denn solche sind salsche Apostel, betrügerische
Arbeiter, welche die Gestalt von Aposteln Christi
annehmen. And kein Wunder, denn der Satan selbst nimmt
die Gestalt eines Engels des Lichts an: es ist daher nichts
Großes, wenn auch seine Diener die Gestalt als Diener
der Gerechtigkeit annehmen, deren Ende nach ihren Werken
sein wird." ;2. Kor. 11, 13—15.) Und im Blick auf
unsre Tage hat der Heilige Geist „ausdrücklich" vorhergesagt,
„daß in den letzten Zeiten etliche von dem Glauben
abfallen werden, achtend auf betrügerische Geister und
Lehren der Teufel, die in Heuchelei Lügen reden . . .,
verbieten zu heiraten, und gebieten, sich von Speisen zu
193
enthalten in s. w." (1. Tim. 4, 1—3.) Wir könnten noch
eine Reihe ähnlicher Stellen anführen, aber diese beiden
genügen. Wie wenige glauben oder verstehen den Inhalt
dieser beiden! Welch eine Macht hat Satan ausgeübt,
seitdem das erste Weib seinen Worten Glauben schenkte
und Gott zu mißtrauen begann!
Es giebt besonders drei Weisen, in welchen Satan
seine Gewalt über die Menschen geltend macht. 1) Er leitet
sie, als der Fürst der Gewalt der Luft, durch ihre Lüste,
wohin er will; 2) er verblendet den Sinn der Ungläubigen,
und 3) er verwandelt sich in einen Engel des Lichts, indem
er die Stätten des Gottesdienstes betritt, um die Menschen
zu verführen. Wer würde dies für möglich gehalten
haben, wenn die Schrift es nicht geoffenbart hätte? Ja,
io groß ist die Verführung, daß die Werkzeuge Satans
sogar als Diener der Gerechtigkeit auftreten. Es ist ihm
einerlei, ob er die Seelen durch einen unreinen Geist ins
Verderben stürzt, oder ob er sie durch den Geist der
Selbstgerechtigkeit und Selbsttäuschung verdirbt.
Die Gegenwart Jesu beunruhigte diese Dämonen in
der Synagoge sofort. Gerade so ist es heute. Wenn
Jesus wahrhaftig in der Kraft des Heiligen Geistes gepredigt
wird, fo giebt es sofort Unruhe. Der Mann mit
dem unreinen Geiste schrie laut auf. Und was rief er?
„Laß ab!" — Das ist der Ruf einer jeden unbekehrten
Seele, fo lange nicht Gottes Gnade sie ergriffen hat.
„Laß ab! laß mich in Ruhe! Warum soll ich nicht meinem
eignen Willen folgen und meinen eignen Weg gehen dürfen?
Was beunruhigst du mich?"
„Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesu, Nazarener?
Bist du gekommen, uns zu verderben?" Es war der
194
Dämon selbst, der so in dem armen Manne redete. Wie
schrecklich ist der Zustand eines jeden unbekehrten Menschen,
ob er nun ein Sklave seiner unreinen Begierden ist, oder
den betrügerischen Dienern Satans folgt, die, gleich der
Schlange im Garten, nur das Wohl der von ihnen Verführten
zu suchen behaupten! Wird Jesus solchen als der
einzige und vollkommene Erretter gepredigt, so heißt's sogleich:
„Laß ab! Was haben wir mit dir zu schaffen?"
Wie oft ist dies selbst noch auf dem Sterbebette der Fall!
Da ist es Satan gelungen, als ein Engel des Lichts, sowie
durch seine Diener, die als Diener der Gerechtigkeit auftraten,
eine Seele in falsche Sicherheit zu lullen und sie
dahin zu bringen, daß sie völlig auf ihre eigne Gerechtigkeit
und aus die Wirksamkeit der sogenannten Gnadenmittel
vertraut. Du möchtest der 'Seele gern zu Hilfe
kommen und sie auf die schreckliche Gefahr, in welcher sie
schwebt, aufmerksam machen. Aber man verwehrt dir den
Zutritt zu dem Sterbezimmer, oder wenn du wirklich eintreten
darfst und von der Vergebung der Sünden durch
Jesum allein zu reden beginnst, so heißt's alsbald: „Laß
ab! Was haben wir mit der Vergebung der Sünden durch
Jesum zu schaffen? Wir haben sie nicht nötig. Wir sind
ehrbare, religiöse Leute u. s. w." — In einem andern
Falle ist es Satan vielleicht gelungen, die Seele von
Sünde zu Sünde zu führen, und wenn nun die schreckliche
Todesstunde herannaht, so malt sich wilde Verzweiflung
auf dem Antlitz des Sterbenden. Satan hat die arme
Seele verführt, verblendet, — und jetzt? Die finstere
Ewigkeit öffnet vor ihr ihre Pforten endlosen Wehs. Doch
Gott sei Dank! selbst in diesen letzten Stunden kann der
Seele noch Rettung werden. Jesus, der ewige Sohn
195
Gottes, hat Gewalt, zu erretten, zu vergeben und aus
der Macht Satans zu befreien. „Hierzu ist der Sohn
Gottes geoffenbart worden, auf daß Er die Werke des
Teufels vernichte." (1. Joh. 3, 8.) Er offenbarte nicht
nur damals, in den Tagen Seines Fleisches, Seine Wundermacht
zum Wohle der Menschen, sondern Er hat auch jetzt
noch die Gewalt, den Menschen aus seinem hoffnungslosen
Zustand, als Sklave Satans und der Sünde, zu befreien.
Doch noch eins. Wie herrlich zeigen sich in der uns beschäftigenden
Stelle die wahre Gottheit und Menschheit Jesu
Christi, unsers Herrn! Wer anders als Gott hätte den
Starken zu binden vermocht? „Und Er heilte viele, die an
mancherlei Krankheiten leidend waren; und Er trieb viele
Teufel aus und erlaubte den Teufeln nicht zu reden, weil
sie Ihn kannten." lV. 34.) Ja, sie kannten Ihn sehr gut;
sie wußten, daß Er Gott war, und daß sie Seinem Worte
gehorchen mußten. Und doch lesen wir schon im nächsten
Verse: „Und frühmorgens, als es noch sehr Nacht war,
stand Er auf und ging hinaus, und ging hin an einen
wüsten Ort und betete daselbst." Welch ein Anblick,
geliebter Leser! Der Sohn Gottes, der Schöpfer allen
Dinge, der Gebieter über Tod und Teufel, ist hier in der
Einsamkeit der Wüste im Gebet vor Gott! Als ein vollkommen
abhängiger Mensch und gehorsamer Diener holt
Er sich gleichsam am frühen Morgen, allein mit Gott,
Seine Belehrung und Kraft, wie wir es thun müssen,
wenn wir wandeln wollen zur Ehre unsers Gottes.
Welch eine Gnade, daß wir so mit Ihm an einen
wüsten Ort gehen können, mit Ihm, dem vollkommenen
Menschen, der in all der zärtlichen Liebe eines wahrhaft
menschlichen Herzens, mit uns fühlt! Fühlst du dich zu
196
weilen kalt und dürre in deinen Gebeten? O denke dann
an Ihn, wie Er einst hienieden betete und wie Er jetzt
droben sich sür uns verwendet! Er ist Mensch, und Er
ist Gott, gepriesen in Ewigkeit. So kannst du mit Ihm
beten und zu Ihm beten; und dann — Ihm dienen. Als
Petrus zu Ihm kam mit den Worten: „Alle suchen dich",
erwiderte Er: „Laßt uns anderswohin in die nächsten
Flecken gehen, auf daß ich auch daselbst predige; denn
dazu bin ich ausgegangen." — Willst du diesem Herrn
und Heiland dienen, so gehe mit Ihm an einen einsamen
Ort, um zu beten; und dann gehe mit Ihm in die
nächsten Flecken und verkündige auch dort, welch große
Dinge Er an dir gethan hat.
„Und Er predigte in ihren Synagogen, in ganz
Galiläa, und trieb die Teufel aus." Ja, so war der
Zustand der Synagogen damals, und so ist er heute;
aber auch heute wie damals ist dieselbe Macht vorhanden,
um diesem hoffnungslosen, verzweifelten Zustand des
Menschen zu begegnen. Der Wind weht, wo er will;
und wo unser geliebter Herr wirkt, da wird sich auch Seine
Macht offenbaren in der Errettung und Befreiung vieler
Seelen. Aber gehe nicht allein aus zu deinem Werke;
gehe mit Ihm. Er sagt: „Siehe, ich bin bei euch alle
Tage, bis zur Vollendung des Zeitalters." (Matth. 28, 20.)
O möchten doch alle Seine Knechte mehr mit Ihm an
einsamem Orte gefunden werden, und dann mehr mit
Ihm ausgehen von Stadt zu Stadt, bis sie Sein Antlitz
sehen und Seinen Zuruf vernehmen werden: „Wohl, du
guter und getreuer Knecht!" Er hat gesagt: „Siehe, ich
komme bald, und mein Lohn mit mir, um einem jeden
zu vergelten, wie sein Werk sein wird." (Offbg. 22, 12.)
Die Höhle Adullarn.
Nach dem siegreichen Kampfe im Terebinthenthal kehrte
David in das Hans Sanis zurück, wo als einzige Antwort
auf die besänftigenden Töne seiner Harfe und die
herrlichen Thaten seiner Schleuder und seines Schwertes
neidische Blicke und unaufhörliche Angriffe auf sein Leben
seiner warteten. Saul verdankte die Fortdauer seines
Königtums, nächst Gott, dem David, und er wußte dies;
aber zum Dank dafür warf er mit seinem Speere nach ihm.
Doch der Herr in Seiner Gnade behütete Seinen geliebten
Knecht inmitten all der Schwierigkeiten seiner keineswegs
leichten Stellung. „Und es gelang David auf allen seinen
Wegen, und Jehova war mit ihm. Und Saul sah, daß es
ihm wohl gelang, und er 'scheute sich vor ihm. Aber ganz
Israel und Juda hatten David lieb, denn er zog aus und
ein vor ihnen." (1. Sam. 18, 14—-16.)
So mußte denn David, während er schon der gesalbte
König Israels war, den Haß und die Nachstellungen der
regierenden Macht erdulden, obgleich er von allen, die
seinen Wert zu erkennen vermochten, geliebt wurde. Es
war unmöglich, daß Saul und David lange bei einander
wohnen konnten. Sie waren Männer von so völlig entgegengesetzten
Grundsätzen, daß eine Trennung notwendig
erfolgen mußte. David wußte, daß er der gesalbte König
war, aber da Saul noch auf dem Throne saß, war er
völlig bereit, Gottes Zeit abzuwarten. Bis dahin leitete
198
ihn der Geist Christi, seinen Platz außerhalb des Glanzes des
königlichen Palastes einzunehmen. Der Pfad eines Fremdlings
und Pilgrims, eines heimatlosen Wanderers,' lag
vor ihm, und er betrat ihn, ohne sich einen Augenblick zu
weigern. Sein Weg zu dem Throne führte durch mancherlei
Kümmernisse und Schwierigkeiten. Gleich seinem hochgelobten
Meister und Gegenbilde, wurde er zuerst zum Leiden
und dann erst zur Herrlichkeit berufen.
David würde Saul ohne Zweifel bis zum Ende hin
willig gedient haben, wenn dieser ihn nicht aus seinem
Hause vertrieben hätte; denn er ehrte in ihm den Gesalbten
Jehovas. Und wenn es seinerseits nur des Rührens eines
Fingers bedurft hätte, um Saul zu stürzen und sich auf
den Thron zu setzen, so würde er doch nimmermehr Vorteil
daraus gezogen haben. Wir ersehen dies aufs deutlichste
aus der Thatsache, daß er zweimal das Leben Sauls
schonte, als allem Anschein nach der Herr selbst ihn in
seine Hände gegeben hatte. David wartete einfältig aus
Gott. Hierin lag das Geheimnis seiner Kraft und seiner
Erhabenheit über alle menschlichen Beweggründe und Leidenschaften;
er war ganz und gar abhängig von Gott. Er
konnte sagen: „Nur auf Gott vertraue still, meine Seele!
denn von Ihm kommt meine Erwartung." (Ps. 62, 5.)
Auf diesem Wege wurde David sicher und glücklich durch
alle Gefahren und Fallstricke hindurch geführt. Der Herr
erlöste ihn von allem bösen Werk und bewahrte ihn für
das Reich, welches Er für ihn bereitet hatte und in welchem
er nach dem göttlichen Ratschluß herrschen sollte, „nachdem
er zuvor eine kleine Weile gelitten hatte".
David verließ nur für einen Augenblick den Ort der
verborgenen Erziehung seitens des Herrn, um sein Werk
199
auf dem Schlachtfelde zu thun, und dann mußte er sofort
wieder seinen Platz auf der Bank einehmen, um in der
Schule Christi noch einige schwerere und tiefere Lektionen
zu lernen. Die Unterweisungen des Herrn sind oft schmerzlich
und schwierig wegen der Verkehrtheit.und Trägheit
unsrer Herzen; aber jede neue Lektion, die wir lernen,
macht uns Passender und geschickter für alles das, was vor
uns liegt. Es ist in der That gesegnet, ein Schüler Christi
zu sein und sich Seiner gnädigen Erziehung und Zucht zu
überlassen. Der Ausgang wird stets beweisen, wie gut
ein solcher Platz ist. Aber wir brauchen nicht einmal auf
den Ausgang zu warten; schon inmitten der Schwierigkeit
oder der Trübsal erfährt die Seele, wie selig es ist, in
allen Dingen dem Meister unterwürfig zu sein. „Kommet
her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich
werde euch Ruhe geben. Nehmet auf euch mein Joch und
lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen
demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen;
denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht."
(Matth. 11, 28—30.) Es ist schon oft darauf hingewiesen
worden, daß in der Schrift von drei Arten von
Ruhe die Rede ist: 1) von der Ruhe, welche wir als
Sünder in dem vollbrachten Werke Christi finden, von der
Rühe des Gewissens; 2) von der gegenwärtigen Ruhe,
der Ruhe des Herzens, die wir als Gläubige in der
völligen Unterwerfung unter den Willen Gottes und in der
Nachfolge Christi finden; und 3) von der Ruhe, die dem
Volke Gottes noch bleibt, der ewigen Sabbathruhe droben.
Nun, David kannte und genoß viel von dem Segen
dieser zweiten Art von Ruhe, indem er den Ratschlüssen
und dem Willen Gottes bezüglich seiner Person völlig
200
unterworfen war. Er war, wie gesagt, bereit, auf Gottes
Zeit zu warten, da er überzeugt war, daß das die beste
und einzig richtige Zeit sein müsse. Wie begehrenswert
ist ein solcher Geist demütiger Unterwürfigkeit! Er bewahrt
das Herz vor allem ruhelosen und ängstlichen Sorgen. Wenn
man in der tiefen, aufrichtigen Überzeugung einhergeht, daß
„alles zum Guten mitwirken muß ", so ist der Geist ruhig
und das Herz still. Man überlegt und plant nicht, da
man weiß, daß Gott alle Fäden in Seiner Hand halt und
nach Seiner Liebe und Weisheit für uns plant; man ist
zufrieden, Ihm alles zu überlassen. Aber ach! wie oft
steht es anders mit uns! Wie oft bilden wir uns ein, die
Dinge besser ordnen zu können als Gott! Wir sagen
das vielleicht nicht, aber wir handeln so, als wenn es so
wäre. Der Herr gebe uns allen ein unterwürfigeres Herz
und erfülle uns mit einem aufrichtigeren Vertrauen! In
Bezug auf das kommende Reich unsers Herrn und Heilandes
sollten die Jünger bitten: „Dein Wille geschehe, wie im
Himmel also auch auf Erden!" Diese Bitte wird ihre Erfüllung
finden im tausendjährigen Reiche; der Wille des
Geschöpfes wird dann in den Willen Gottes aufgehen.
Aber wir sind berufen, uns jetzt schon durch den Willen
Gottes leiten zu lassen in allen Dingen.
Diese Unterwürfigkeit des Herzens brachte David dahin,
seine Rechte als gesalbter König nicht geltend zu
machen, sondern in der einsamen Höhle Adullam eine Zufluchtsstätte
vor dem Grimme Sauls zu suchen. Er überließ
Saul, das Königtum, samt allen seinen eignen Plänen
und Aussichten, den Händen Gottes, in der vollen Gewißheit,
daß alles zu einem guten Ende kommen müsse. Und
welch eine Erleichterung für ihn, die ungesunde Luft des
201
Hauses Sauls nicht länger einatmen zu müssen und den
neidischen Blicken des Königs entronnen zu sein! Er konnte
in der Höhle Adullam, so elend und jämmerlich sie den
Menschen erscheinen mochte, freier atmen als in dem königlichen
Palaste. So ist es stets; der Platz der Absonderung
ist der freieste und glücklichste. Der Geist des Herrn war
von Saul gewichen; das war die Bürgschaft für den
Glauben, daß es an der Zeit war, sich von seiner Person
abzusondern, während Sauls Macht als König Israels
nach wie vor rückhaltlos anerkannt wurde. Dem einsichtsvollen
Leser wird es nicht schwer fallen, diese beiden Dinge
von einander zu unterscheiden. Die Absonderung und die
Unterwerfung sollten beide vollständig sein. *)
*) Das Neue Testament fordert den Christen auf, sich willig
den obrigkeitlichen Gewalten zu unterwerfen; niemals aber setzt
es den Gedanken voraus, daß er selbst einen solchen Platz der
Autorität oder Gewalt einnehme. Es giebt eingehende Anweisungen
für einen Christen in der Stellung eines Gatten, eines Vaters, eines
Herrn oder Knechtes, aber gar keine sür einen christlichen König
oder eine christliche Obrigkeit. Das ist sehr beachtenswert.
Wir müssen jedoch Saul nicht nur von einem weltlichen,
sondern auch von einem religiösen Gesichtspunkt aus
betrachten; denn gerade im Blick auf das religiöse Element
in seinem Charakter und Verhalten lag die dringendste
Notwendigkeit einer entschiedenen und bestimmten Trennung
von ihm. Saul hatte von jeher die Neigung geoffenbart,
die Gewissen in religiösen Dingen zu beherrschen. Betrachten
wir nur den Inhalt von 1. Sam. 14, wo Saul
durch die von ihm aufgestellte Regel jede geistliche Energie
hemmte und lahm legte. Nun, wenn eine solche Regel aufgestellt
wird, so giebt es für den Treuen keinen andern Ausweg
202
als Trennung. Wenn eine Form der Gottseligkeit ohne Kraft
vorherrscht, so lautet das ernste Gebot des Heiligen Geistes:
„Von diesen wende dich weg!" Der Glaube fragt nicht:
„Wohin soll ich mich wenden?" Nein, er gehorcht einfach
dem Worte Gottes und wendet sich ab, und er darf sicher
darauf rechnen, daß Gott ihn bezüglich des Weiteren nicht
im Unklaren lassen wird.
Dieser Grundsatz wird uns noch in weit hellerem
Lichte erscheinen, wenn wir David in seinem vorbildlichen
Charakter betrachten. David wurde thatsächlich in die
Stellung der Absonderung hineingedrängt, und wir erblicken
in ihm, dem von Menschen Verworfenen, aber von Gott
Gesalbten, ein Bild von Christo in Seiner gegenwärtigen
Verwerfung. David war, dem Grundsatz nach, Gottes
König und erfuhr als solcher die Feindschaft des Menschen,
indem er, um dem Tode zu entrinnen, in die Verbannung
getrieben wurde. Die Höhle Adullam wurde der Sammelpunkt
für alle, welche David liebten und über die ungerechte
Regierung Sauls beschwert waren. So lange David
im Hause des Königs blieb, trat an niemanden der
Ruf heran, sich abzusondern; sobald aber der verworfene
David seinen Platz „außerhalb" eingenommen hatte, konnte
niemand mehr neutral bleiben. Wir lesen deshalb auch:
„Und es versammelten sich zu ihm jeder Bedrängte, und
jeder, der einen Gläubiger hatte, und jeder, der erbitterten
Gemütes war, und er ward ihr Oberster; und es waren
bei ihm an vierhundert Mann." (1. Sam. 22, 2.) Die
Grenzlinie war jetzt scharf nnd klar gezogen. David oder
Saul, so lautete fortan die Losung. Alle, die eine bloße
Form, einen leeren Namen und den eitlen Glanz eines kraftlosen
Königtums liebten, blieben bei Saul; alle aber,
203
welche von diesen Dingen nicht befriedigt waren und die
Person des von Gott erwählten und von Samuel gesalbten
Königs liebten, scharten sich um David in der
Höhle. Hier war der Prophet, der Priester und König;
hier waren, wenn wir so reden dürfen, die Gedanken und
Sympathieen Gottes; und obgleich die hier versammelte
Schar nach menschlichem Dafürhalten einen sonderbaren Anblick
gewährt haben muß, so war es doch eine Schar, die
um David versammelt war und mit seinen Schicksalen
in Verbindung stand. Sie war aus Männern zusammengesetzt,
die zum größten Teil, was ihren natürlichen
Zustand betraf, auf einer tiefen Stufe standen, die aber
jetzt Charakter und Auszeichnung durch ihre Nähe und
Hingebung der Person des Geliebten gegenüber erlangten.
Fern von Saul, fern von allem, was die Zeit seiner Herrschaft
kennzeichnete, konnten sie eine ungehinderte Gemeinschaft
mit der Person dessen genießen, der augenblicklich
zwar verworfen war, aber binnen kurzem den Thron besteigen
und das königliche Szepter zur Verherrlichung Gottes
und zur Freude Seines Volkes tragen sollte.
Mein Leser! sieh hier in David und seiner verachteten
Schar ein kostbares Bild von dem wahren David
und von denen, welche die Gemeinschaft mit Ihm allen
Freuden, Ehren und Vorteilen der Erde vorziehen. Was
hatten diejenigen, welche das Schicksal Davids zu dem
ihrigen machten, mit den Interessen Sauls gemein? Nicht
das Geringste. Sie hatten einen neuen Gegenstand, einen
neuen Mittelpunkt gefunden, und die Gemeinschaft mit
demselben trennte sie von allem anderen. Auch war ihr
Platz bei David in keiner Weise abhängig von dem, was
sie früher gewesen waren. In welch einer Stellung sie
204
sich vorher auch befunden haben mochten, sie waren jetzt
die Knechte Davids, und e r war ihr Obe r st e r. Das
verlieh ihnen einen ganz neuen Charakter. Sie hatten sich
mit dem Verbannten Gottes einsgemacht^ seine und ihre
Interessen waren die gleichen geworden. Glückliche Leute!
Entflohen der Herrschaft und dem Einflüsse Sauls, befanden
sie sich in Gemeinschaft mit dem Propheten, Priester
und König Gottes. Ihre Bedrängnis, ihre Schuld, ihre
Erbitterung — alles war vergessen. Die Gunst Davids
war ihr gegenwärtiges Teil, und die Herrlichkeit Davids
ihre Hoffnung.
Gerade so sollte es mit den Gläubigen heutigen Tages
sein. Wir haben alle, durch die Gnade und freundlichen
Führungen unsers Gottes und Vaters, den Weg zu Jesu
gefunden, zu Ihm, dem Gesalbten und Verworfenen und
jetzt bei Gott Verborgenen. Wir alle hatten in den Tagen
unsrer Schuld und Thorheit zweifellos unsre besondern
Charakter-Eigentümlichkeiten — die einen waren unzufrieden
und erbitterten Gemüts, die andern bedrängt, alle mit
schwerer Schuld beladen, arm und elend, schuldig und verderbt,
alles entbehrend, was die Zuneigungen Christi uns
hätte zuwenden können. Aber der Gott aller Gnade hat
uns zu den Füßen Seines geliebten Sohnes geführt, wo
wir Frieden und Vergebung gefunden haben durch Sein
kostbares Blut. Jesus hat unsre Unzufriedenheit und Erbitterung
entfernt, unsrer Bedrängnis ein Ende gemacht,
die schwere Schuld bezahlt und uns nahe zu sich gezogen.
Was thun wir angesichts all dieser Gnade? Scharen wir
uns in herzlicher Liebe und Dankbarkeit um „den Anführer
unsrer Errettung" ? Haben wir uns abgewandt
von dem Zustand der Dinge unter Saul? Leben wir wie
205
solche, die mit Verlangen auf den Augenblick warten, da
unser David den Thron besteigen wird? Trachten wir nach
den Dingen, die droben sind? „Wenn ihr nun mit dem
Christus auferweckt worden seid", sagt der Apostel, „so
suchet, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur
Rechten Gottes. Sinnet aus das, was droben ist, nicht
auf das, was auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben,
und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott.
Wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart wird, dann
werdet auch ihr mit Ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit."
(Kol. 3, 1—4.)
Es ist sehr zu befürchten, daß nur wenige Gläubige
die Natur ihrer Stellung, als verbunden mit dem gekreuzigten
und auferstandenen Jesus, wirklich erkennen und die
praktischen Folgen daraus ziehen. Nur wenige dringen in
die Tiefe der Worte unsers Herrn ein, wenn Er sagt:
„Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der
Welt bin"; oder der Worte des Geistes durch den Apostel:
„Der, welcher heiligt, und die, welche geheiligt werden,
sind alle von einem". Das Maß der Absonderung des
Gläubigen von der Welt ist kein geringeres als dasjenige
Christi selbst war, wenigstens dem Grundsatz nach; in
der praktischen Ausführung dieser Absonderung besteht sicher
ein großer, großer Unterschied, grundsätzlich aber keiner.
Es ist wichtig, dies gerade in unsern Tagen festzuhalten.
Die Stellung, die Berufung und Hoffnung der Kirche werden
nur unvollkommen verstanden und noch unvollkommner verwirklicht.
Der schwächste Gläubige ist nach Gottes Gedanken
geradeso von allem zu dieser Welt Gehörenden abgesondert
wie Jesus selbst. Es ist dies nicht eine Sache
mühevollen, allmählichen Erringens, sondern eine bestimmte.
206
bedingungslose Stellung; nicht ein Ziel, nach welchem wir
zu trachten haben, sondern ein Ausgangspunkt, von welchem
aus wir unsern Lauf beginnen müssen. Biele sind durch
den Gedanken irregeleitet worden, daß wir uns durch ein
Ablegen und Abschütteln der irdischen Dinge allmählich zu
einer himmlischen Stellung emporarbeiten müßten. Das
aber heißt am verkehrten Ende beginnen. Es ist derselbe
Irrtum, obschon im Blick auf einen andern Teil der Wahrheit,
als wenn man behauptet, wir müßten uns durch das
Töten der Sünden des Fleisches zu einem Zustand der
Rechtfertigung emporarbeiten. Nun, wir töten nicht „die
Glieder, die auf der Erde sind", um gerechtfertigt zu
werden, sondern weil wir gerechtfertigt, ja gestorben
und auferstanden sind mit Christo. Und ebenso legen
wir nicht die Dinge dieser Erde beiseite, um himmlisch zu
werden, sondern weil wir himmlische Fremdlinge sind.
Wir besitzen die himmlische Berufung unabhängig von allem
und jedem, und in demselben Maße, wie wir diese Berufung
verstehen und verwirklichen, werden wir thatsächlich
von der Erde und ihren Dingen abgesondert sein. „Wir
sind gestorben, und unser Leben ist verborgen mit dem
Christus in Gott." Der Apostel nennt uns „heilige Brüder,
Genossen der himmlischen Berufung". Wir sind
„nicht von der Welt", gleichwie Christus nicht von der
Welt ist. Sieh, mein Leser, das ist der Grund, weshalb
der Gläubige sich von der Welt abzusondern hat. Dabei
macht es nichts aus, ob die Welt gottlos oder religiös
ist; er ist nicht von der Welt, obwohl er noch i n ihr ist
und täglich zu kämpfen und zu lernen hat.
Die himmlische Berufung allein befähigt einen Menschen,
seine völlige Absonderung von der Welt zu erkennen, und
207
zwar auf Grund dessen, was Christus ist und wo Er ist.
Ein durch den Heiligen Geist über die Bedeutung von
Hebr. 2, 11 belehrtes Herz kennt das Geheimnis seiner
Befreiung von den Grundsätzen, Gewohnheiten und Zielen
des gegenwärtigen Zeitlaufs. Der Herr Jesus hat, als
Haupt Seines Leibes, Seinen Platz in der Höhe eingenommen,
und der Heilige Geist ist herniedergekommen, um
alle die zuvorerkannten und zuvorbestimmten Glieder des
Leibes in lebendige Gemeinschaft mit dem Haupte zu bringen,
welches von der Erde verworfen und in Gott verborgen
ist. In dem Evangelium, wie es von Paulus gepredigt
wurde, ist daher die Vergebung der Sünden unzertrennlich
mit der himmlischen Berufung des Gläubigen verbunden;
er verkündigte die Einheit des einen Leibes auf der Erde,
dessen Haupt im Himmel ist. Er predigte das Evangelium
in all der Fülle, Tiefe und Kraft, welche die Lehre von
der Kirche ihm verleiht.
Der Brief an die Epheser belehrt uns nicht nur, daß
Gott Sünden vergeben kann, sondern teilt uns auch die
wunderbare Thatsache mit, daß die Gläubigen Glieder des
Leibes Christi sind. „Denn wir", sagt der Apostel, „sind
Glieder Seines Leibes, von Seinem Fleisch und von Seinen
Gebeinen"; nnd an einer andern Stelle: „Gott aber, der
reich ist an Barmherzigkeit, ... hat uns mit dem Christus
lebendig gemacht . . . und hat uns mitauferweckt und mitsitzen
lassen in den himmlischen Örtern in Christo." Auch
lesen wir von Christo, daß Er „die Versammlung geliebt
und sich selbst für sie hingegeben hat, . . . auf daß Er
die Versammlung sich selbst verherrlicht darstellte, die nicht
Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern
daß sie heilig und tadellos sei". — Ja, der hochgelobte
208
Gott ist in Seinen Wegen mit der Kirche oder Versammlung
weit über alle menschlichen Gedanken hinausgegangen.
Er hat uns berufen, nicht nur nm hienieden in dem vollen
Bewußtsein der Vergebung unsrer Sünden zu wandeln,
sondern auch um die Liebe Christi zu Seinem Leibe zu
kennen, sowie die hohe und heilige Würde dieses Leibes,
der Versammlung, als sitzend in den himmlischen Örtern
in Ihm.
Doch der Leser wird fragen: Was hat denn die Höhle
Adullam mit dem himmlischen Platze der Versammlung zu
thun? Sie steht insofern damit in Verbindung, als sie
uns den Platz der Verwerfung zeigt, auf welchem Christus
heute steht und den alle mit Ihm teilen müssen, welche
Gemeinschaft mit Ihm machen wollen. Nicht als ob die
Männer Davids irgend etwas von der himmlischen Berufung
des Gläubigen verstanden hätten. Keineswegs.
Aber wir können heute in dem Verhalten und den Umständen
mancher hervorragender alttestamentlicher Charaktere
Schatten und Vorbilder ueutestamentlicher Wahrheiten entdecken,
ohne daß die betreffenden Personen eine Ahnung
davon hatten, daß sie solche Vorbilder waren. Die himmlische
Berufung, von welcher wir oben geredet haben, war
im eigentlichen Sinne nicht eher bekannt, als bis der Herr
Seinen Platz zur Rechten Gottes eingenommen hatte und
der Heilige Geist herabkam, um Gläubige aus Juden und
Heiden zu einem Leibe zu taufen. Erst dann wurde sie
in ihrer ganzen Kraft und Fülle geoffenbart. Sie bildete,
wie bemerkt, einen wesentlichen Teil des dem Apostel Paulus
anvertrauten Geheimnisses und war schon in der Frage
enthalten, welche der Herr auf dem Wege nach Damaskus
an den zitternden Saul richtete: „Was verfolgst du mich?"
209
Saul verfolgte die Jünger Jesu, und nun erschien ihm der
Herr in himmlischer Herrlichkeit, um ihm zu sagen, daß
diese armen Verfolgten einen Teil von Ihm selbst bildeten.
Diese wunderbare Wahrheit, die Einheit und himmlische
Berufung der Kirche, wurde fortan das große Thema der
Predigt des Apostels.
Der Leser wolle auch beachten, daß es sich nicht etwa
um eine Einführung des Heiden in den jüdischen Schashof
handelte. *) Nein, Jude und Heide wurden vielmehr beide
aus ihren natürlichen Umständen herausgenommen und in
ganz neue versetzt — neu für beide Teile. Das Werk
des Kreuzes war notwendig, um die Zwischenwand der
Umzäunung abzubrechen und aus den zweien einen neuen
Menschen zu schaffen, einen neuen, himmlischen Menschen,
*) Im Anfang des 10. Kapitels des Evangeliums Johannes
stellt sich der Herr gleichsam an die Thür des jüdischen Schafhofes
und, nachdem der Thürhüter Ihm aufgethan hat, ruft Er Seine
eignen Schafe heraus. Dann sagt Er: „Ich habe andere Schase,
die nicht aus diesem Hofe sind; auch diese muß ich bringen, und
sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde, ein
Hirte sein." Der Leser wolle beachten, daß es nicht heißt: ein
„Hos," sondern eine „Herde". Ein „Hof" erweckt den Gedanken
an gewisse Einrichtungen, die getroffen sind, um die Schafe zusammen
zu halten und zu bewahren; das Wort paßte daher sehr gut auf die
jüdische Haushaltung. Allein es handelt sich jetzt nicht länger nm
einen Hof, um eine Anordnung für diese Erde, ein Einschließen der
Schafe in eine Umzäunung hienieden; alles das ist vorüber. Der
himmlische Hirte hat Seine jüdischen Schafe aus dem Hofe herausgeholt
und sammelt Seine heidnischen Schafe von den finstern Bergen
dieser Welt; und nachdem Er aus beiden eine neue „Herde" gemacht
hat, befiehlt Er sie in Seines Vaters Hand. Es besteht also
ein großer Unterschied zwischen den beiden Worten: „Hof" und
„Herde", der leider von vielen Gläubigen nicht gemacht wird, wodurch
dann alles in Verwirrung gerät.
210
der völlig von der Erde und ihren Dingen getrennt ist.
Der gegenwärtige Platz Christi in den Himmeln steht in
Verbindung mit der Verwerfung Israels, des irdischen
Volkes. Gott hat jetzt kein irdisches Volk mehr (Er wird
später wieder mit Israel anknüpfen); dies zeigt uns wiederum
deutlich den himmlischen Charakter der Kirche Gottes.
Sie hat nichts mit dem gegenwärtigen Zeitlauf zu thun;
sie gehört ganz und gar dem Himmel an, obwohl sie berufen
ist, auf Erden die Kraft des in ihr wohnenden
Heiligen Geistes zu offenbaren.
Geradeso also, wie die Männer Davids durch ihre
Bereinigung mit ihm von aller Verbindung mit Saul und
seiner Umgebung abgeschnitten waren, so müssen auch alle,
die durch den Geist Gottes ihre Einheit mit dem abwesenden
und verworfenen Christus kennen gelernt haben,
gerade infolge dieser Einheit sich getrennt fühlen von allem
Gegenwärtigen und Irdischen. Wenn du daher einen wirklich
himmlisch gesinnten Menschen fragst, weshalb er sich
nicht mit den Plänen und Zielen des gegenwärtigen Zeit-,
laufs vermenge, so wird er dir antworten: Weil Christus
zur Rechten Gottes weilt und ich mit Ihm einsgemacht
bin. Alle, welche die Natur der himmlischen Berufung
verstehen, werden in Absonderung von der Welt wandeln;
wer diese Berufung nicht kennt, wird sein Teil hienieden
suchen und leben wie andere Menschen.
Biele Gläubige begnügen sich leider mit dem Bewußtsein
der Vergebung ihrer Sünden und kommen nie weiter.
Sie haben vielleicht das Rote Meer durchschritten, aber
sie denken nicht daran, auch durch den Jordan zu gehen
und von dem Ertrage des Landes der Verheißung zu
essen. Gerade so war es in den Tagen der Verwerfung
211
Davids. Nur ein ganz kleiner Teil des Volkes machte
sich mit ihm eins, obwohl alle Israeliten waren. Aber
ein Israelit sein und mit David die Höhle Adullam
teilen waren zwei sehr verschiedene Dinge. Selbst Jonathan
war nicht da; er hing noch dem alten System an.
Obgleich er David liebte wie seine eigne Seele, lebte und
starb er doch in Gemeinschaft mit Saul. Allerdings
wagte er es, zu Zeiten für David einzutreten, ja er
suchte hie und da seine Gesellschaft auf und hatte sich
selbst um Davids willen ausgezogen; aber er verband sich
nicht m i t David. Wenn deshalb die Namen und Thaten
der Helden Davids durch den Heiligen Geist aufgezählt
werden, suchen wir vergeblich nach dem Namen Jonathans;
und als später die ergebenen Gefährten des verbannten
David um seinen Thron geschart standen und von dem
Glanze seiner königlichen Herrlichkeit bestrahlt wurden,
lag der arme Jonathan im Staube, unrühmlich gefallen
im Kampfe mit den Unbeschnittenen auf dem Gebirge
Gilboa.
O möchten doch alle, welche den Herrn Jesum zu
lieben bekennen, nach einer entschiedeneren Einsmachung mit
Ihm in der gegenwärtigen Zeit Seiner Verwerfung trachten!
Die Bürger des Landes haben eine Gesandtschaft hinter
Ihm her gesandt mit der Botschaft: „Wir wollen nicht,
daß dieser über uns herrsche!" Sollten wir uns nun mit
diesen Bürgern verbinden und ihre Christo feindlichen
Pläne fördern helfen? Gott bewahre uns davor! Möchten
unsre Herzen mit Ihm verbunden und auf Ihn gerichtet
sein, da wo Er jetzt ist! Möchten wir mehr von der
heiligen Gemeinschaft in der Höhle Adullam kennen, wo
der Prophet, Priester und König in der geliebten Person
212
Dessen vor uns steht, der uns geliebt und uns gewaschen
hat von allen unsern Sünden in Seinem kostbaren
Blute!
Wir können nicht zu gleicher Zeit mit Saul und
mit David gehen; wir können nicht Christum und die
Welt genießen. Wir müssen unsre Wahl treffen, und der
Herr gebe uns Gnade, daß wir das Böse verwerfen und
das Gute erwählen, eingedenk der ernsten Worte des
Apostels: „Das Wort ist gewiß; denn wenn wir mitgestorben
sind, so werden wir auch mitleben; wenn wir
ausharren, so werden wir auch mitherrschen; wenn wir
verleugnen, so wird auch Er uns verleugnen!" (2. Tim.
2, 11. 12.) Jetzt ist die Zeit des Leidens, die Zeit
der Trübsal und des Ausharrens; wir warten aus die
Zeit der Ruhe. Die Männer Davids mußten infolge
ihrer Vereinigung mit ihm viele Mühsale, Leiden und
Entbehrungen ertragen, aber die Liebe machte ihnen alles
leicht; und als David später in Ruhe auf seinem
Throne saß, da wurden alle ihre Namen und Thaten in
Erinnerung gebracht und sorgfältig ausgezeichnet. Nichts
wurde vergessen. Das 23. Kapitel des 2. Buches Samuel
giebt uns das kostbare Verzeichnis ihrer Namen und
ihrer Thaten und leitet unsre Gedanken unwillkürlich auf
die Zeit hin, wo der Herr Jesus Seine treuen Knechte
belohnen wird, sie, die aus Liebe zu Seiner Person und
durch Seinen Geist geleitet, Ihm in der Zeit Seiner
Verwerfung gedient, für Ihn gelebt und gestritten haben.
Ihre Dienste mögen den Augen der Menschen im allgemeinen
verborgen geblieben sein; aber Jesus kennt sie,
nnd von dem Throne Seiner Herrlichkeit herab wird Er
sie verkünden und belohnen.
213
Wer würde etwas von den Thaten der Helden Davids
wissen, wenn der Heilige Geist sie nicht ausgezeichnet
hätte? Wer würde Kenntnis haben von den Dreien, die
Wasser aus der Cisterne von Bethlehem schöpften und es
David brachten? Wer würde von dem Erschlagen des
Löwen in der Grube an einem Schneetage wissen? —
Gerade so ist es jetzt. Manches Herz schlägt in Liebe
für die Person des Heilandes, ohne daß irgend jemand
etwas davon weiß; manche Hand ist im Dienste für Ihn
thätig, ohne daß ein menschliches Auge es sieht. Es ist
lieblich, daran zu denken, vor allem in einer Zeit kalten
Formenwesens und großer Gleichgültigkeit, — lieblich,
an solche zu denken, die, unsern Herrn Jesum Christum
lieben in Ausrichtigkeit nnd Wahrheit. Jene drei Helden
setzten ihr Leben aufs Spiel, um das Herz ihres Obersten
zu erfreuen; sobald er. seinen Wunsch äußerte, waren sie
bereit, ihn zu erfüllen, mochte es kosten, was es wollte.
Es war genügend für sie, zu wissen, daß David nach
einem Trunk aus der Cisterne von Bethlehem verlangt
hatte. „Da brachen die drei Helden durch das Lager der
Philister und schöpften Wasser aus der Cisterne von Bethlehem,
die im Thore ist, und sie trugen und brachten es
zu David. Aber er wollte es nicht trinken und goß es
aus als Trankopfer dem Jehova." (2. Sam. 23, 16.)
Welch eine liebliche Scene! Es ist ein schönes Bild
von dem, was die Kirche sein und thun sollte für ihren
Herrn — ihr Leben nicht lieben bis zum Tode um Christi
willen! O möchte der Heilige Geist in unsern Herzen
ein Feuer brennender Liebe zu der Person Jesu anzünden
! Möchte Er unsern Seelen die göttlichen Herrlichkeiten
Seiner Person mehr zu erkennen geben, damit
214
Wir auch mit der Braut im Hohenliede zu sagen vermögen:
„Mein Geliebter ist ausgezeichnet vor Zehn-
tausenden . . . alles an Ihm ist lieblich"; oder mit einem
der Helden Jesu: „Ja wahrlich, ich achte auch alles für
Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi
Jesu, meines Herrn, um derentwillen ich alles eingebüht
habe und es für Dreck achte, auf daß ich Christum gewinne!"
(Phil. 3, 8.)
Ich kann diese Betrachtung nicht schließen, ohne noch
einen Augenblick bei der eben besprochenen Scene zu verweilen.
Sie ist lieblich und ergreifend zugleich, sowohl
im Blick auf das, was die drei Helden für ihren Obersten
thaten, als auch hinsichtlich dessen, was David that, indem
er das Wasser als Trankopfer vor Jehova ausgoß.
„Ferne sei es von mir", sagte er, „daß ich solches thue!
Sollte ich das Blut der Männer trinken, die hingegangen
sind mit Gefahr ihres Lebens?" Er unterschied in
diesem Beweise einer ungewöhnlichen Liebe und Ergebung
sehr wohl ein Opfer, welches nur der Herr genügend zu
würdigen vermochte. Der Wohlgeruch eines solchen Opfers
war viel zu herrlich, als daß er in seinem Hinaufsteigen
zu dem Throne des Gottes Israels hätte aufgehälten werden
dürfen. So goß er das Wasser vor Dem aus, der allein
würdig war, ein solches Opfer entgegen zn nehmen, und
allein imstande, es nach Gebühr zu schätzen. Dies erinnert
uns mit Macht an den herrlichen Beweis christlicher
Hingebung, wie ihn uns der Apostel Paulus in
Phil- 2, 17. 18 giebt, wenn er sagt: „Wenn ich aber
auch wie ein Trankopfer über das Opfer und den Dienst
eures Glaubens gesprengt werde, so freue ich mich und
freue mich mit euch allen. Gleicherweise aber freuet auch
215
ihr euch und freuet euch mit mir." Mit diesen Worten
stellt der Apostel die Philipper in ihrem Charakter als
Priester vor unsre Augen, die Gott ein „Opfer" und
einen priesterlichen Dienst darbringen; und so groß war
seine selbstvergessende Hingebung an Christum, daß er sich
an dem Gedanken erfreuen konnte, selbst als ein Trank»
opfer ausgegossen zu werden (d. h. um Jesu willen zu
sterben) über ihr Opfer, damit so alles als ein duftender
Wohlgeruch zu Gott emporsteigen möchte. Die Philipper
legten ein Opfer auf den Altar Gottes, und der Apostel
wünschte, als ein Trankopfer darüber gesprengt zu werden.
Es war für ihn nicht wichtig, wer das Opfer auf den
Altar legte oder wer darüber ausgegossen wurde, wenn
nur Gott das Ihm so Wohlgefällige empfing. Wahrlich,
das ist ein göttliches Muster christlicher Hingebung.
Möchten wir Gnade haben, unser Verhalten nach diesem
Muster zu bilden! Dann würde man weniger reden
hören von „meinem Wirken", „meinem Reden" und
„meinem Thun und Lassen". Es würde, wenn wir
den einen oder andern Gläubigen ein Opfer auf den
Altar Gottes legen sähen, unsre Freude sein, gleichsam
auch als ein Trankopfer darüber gesprengt zu werden zur
Verherrlichung Gottes und zur Freude der Gläubigen.
Die Reinigung des Aussätzigen.
(Mark. 1, 40-45.)
In der letzten Nummer des „Botschafter" sahen wir,
wie Jesus dem verzweifelten Zustand eines Menschen begegnete,
der von einem unreinen Geiste besessen war.
216
Auch begleiteten wir Ihn, den vollkommnen Menschen,
in der Frühe des Morgens aus Kapernaum nach dem
wüsten Ort, wo Er betete. Endlich sahen wir Ihn in
Seiner göttlichen Macht in den Synagogen des so hoch
bevorzugten Galiläa die Teufel austreiben. In dem Schriftabschnitt,
der unsrer heutigen Betrachtung zu Grunde liegt,
tritt ein anderes, kaum weniger trauriges Gemälde von
dem Zustande des natürlichen Menschen vor unsre Blicke:
„Es kommt ein Aussätziger zu Ihm".
So oft Jesus, durch die Kraft des Heiligen Geistes,
eine Seele aus der Gewalt Satans befreit, wird auch
sicherlich die Entdeckung gemacht werden, was der Mensch
ist in seinem natürlichen, durch die Sünde verderbten
Zustande; nicht nur was er gethan hat, als verblendet
und geleitet durch Satan, sondern was er ist. Was ist
so häßlich und ekelhaft wie der Aussatz? Er ist unheilbar,
schreitet unaufhaltsam vorwärts und führt ein schweres,
oft Jahrzehnte dauerndes Siechtum herbei. Zuerst nur
einzelne Glieder befallend und verstümmelnd, vergiftet er
allmählich den ganzen Körper und endet unfehlbar mit
dem Tode. Kein Arzt, kein Heilmittel kann dem Fortschreiten
des schrecklichen Übels wehren. Gott allein vermag
es zu heilen.
Genau so ist es mit dem Sünder, mit jedem Menschen
von Natur. Er ist durch die Sünde verderbt, vergiftet;
seine Krankheit ist unheilbar und führt ihn sicher dem
zweiten Tode, der ewigen Verdammnis, entgegen. Und gerade
so wie niemand imstande war, dem Aussätzigen zu helfen, als
Gott allein, so auch vermochte Gott allein ein Mittel zn
ersinnen, durch welches der Sünder von seinen Sünden
-erlöst und aus seinem schrecklichen Zustande befreit werden
217
konnte. Geh in das Aussätzigen-Hospital und sieh die
unglücklichen Insassen desselben, wie es langsam schlimmer
und schlimmer mit ihnen wird, bis endlich ein gänzlicher
Verfall der Kräfte eintritt und der Tod die armen Dulder
von ihren irdischen Leiden erlöst. Geh umher in der Welt und
sieh sie dahinwandeln, die vielen Tausende und Millionen
von sündigen, unreinen Geschöpfen, die blind und taub dem
ewigen Verderben entgegengehen! Langsam, aber unaufhaltsam
vollzieht sich ihr Geschick, wenn sie nicht bei Zeiten
aufwachen und zu Dem ihre Zuflucht nehmen, der ihnen
allein zu helfen vermag.
Es waren hauptsächlich zwei Dinge, die dem Aussätzigen
in unsrer Stelle bekannt waren. Er kannte seinen
elenden Zustand, und er wußte, wer allein ihn heilen
konnte. Und so kam er zu Jesu. Zu wem hätte er
anders gehen sollen? Niemand konnte ihm helfen, als
Jesus allein. So ist es auch mit einem Sünder, der in
Wahrheit zu der Erkenntnis feines Zustandes kommt. Er
kennt seine elende Lage; sein ganzes Wesen ist von der
Sünde vergiftet. Vielleicht hat er manche ihm angeratene
Kur gebraucht, aber keine hat ihm Linderung und Heilung
gebracht. Nicht selten erfordert es allerdings viele
Jahre, um einen Menschen dahin zu bringen, daß er sich,
angesichts seiner vergeblichen Anstrengungen und der gepriesenen
menschlichen Religion, als unheilbar erkennt.
Gelehrte und Ungelehrte, Streng- und Frei-Religiöse,
Juden und bekennende Christen, alle haben sich bemüht,
Heilmittel für den verlorenen Sünder zu ersinnen; sie
haben Philosophie und Religion mit einander vermischt und
ihr trauriges Gemengsel dem armen, nach Heil und Frieden
dürstenden Menschen als unfehlbares Heilmittel angepriesen;
218
aber umsonst, er bleibt trotz allem was er ist: ein armer,
unreiner, hilfloser Sünder, ein Aussätziger, dessen schreckliches
Los besiegelt ist.
„Und es kommt ein Aussätziger zu Ihm, bittet Ihn
und kniet vor Ihm nieder und spricht zu Ihm: Wenn du
willst, kannst du mich reinigen." Der arme Mann kam
wie er war, in seinem Aussatz, ein Bild des Elends und
Jammers. Was antwortete Jesus auf seine Worte? Sagte
Er ihm, daß er erst seinen Aussatz ablegen müsse? Nein,
wie hätte er das zu thun vermocht? Er war ja unheilbar
krank, wenn nicht Gott sich seiner erbarmte. Und Gott war da,
Gott geoffenbart im Fleische. — Bist du auch schon so zu
Jesu gekommen, mein lieber Leser? als ein Unreiner und
Unheilbarer geradeswegs zu Jesu? Der Aussätzige kam
nicht zu der Mutter Jesu, nicht zu Seinen Jüngern; er
wandte sich auch nicht um Fürbitte an Engel und Heilige.
Nein, er kam zu Jesu, kniete vor Ihm nieder und sagte
zu Ihm: „Wenn du willst, kannst du mich reinigen".
Kostbarer Glaube! Noch einmal laß mich fragen: Bist
du jemals so zu Jesu gekommen, mein Leser? Wenn nicht,
so hast du deinen wahren, unheilbaren Zustand in dem
Aussatz der Sünde noch nicht erkannt.
Wie viele verkehrte Dinge werden gerade im Blick
auf diesen so überaus wichtigen Punkt gelehrt! Männer
von großer Gelehrsamkeit und tiefem Wissen, Männer von
dem besten Ruse in dieser Welt, leiten Tausende und
Hunderttausende an, in der Taufe, der Konfirmation und
der Teilnahme am Abendmahl Heilung für ihren traurigen Zustand
vor Gott zu suchen. Könnte es eine größere Unwissenheit
bezüglich des Evangeliums geben als diese? Könnte
sein kostbarer Inhalt mehr verdorben und verdreht werden?
219
Zeigt nicht gerade die Taufe die völlige Unheilbarkeit des
Fleisches, des alten Menschen? Beweist sie nicht, daß er
Zu nichts anderem tauglich ist, als mit Christo im Tode
begraben zu werden? Ist das Fleisch nicht im Kreuze
Christi gänzlich gerichtet und beiseite gethan worden? Wie
kann nun das konfirmirt oder eingesegnet werden, was für
tot und begraben gehalten werden soll? Und ferner, ist das
Abendmahl des Herrn für arme, irregeleitete Seelen bestimmt,
die sich selbst nicht für ganz gut genug, nicht für
völlig würdig halten, in den Himmel einzugehen? oder
für solche, die so böse und verdorben waren, daß nichts
Geringeres als der Versöhnungstod Christi sie zu erretten
vermochte? ja, sür solche, die Gott Dank und Anbetung
-arbringen könuen, weil sie die Erlösung haben durch
Sein Blut, die Vergebung aller ihrer Sünden? Das
Abendmahl des Herrn zu einem Gnadenmittel machen,
welches denen, die nicht ganz gut genug sind, das ihnen
noch Fehlende ersetzen soll, heißt: Seelen ins ewige Verderben
führen!
Doch kehren wir zu dem Aussätzigen zurück. Handelte
es sich bei ihm um die Frage, ob er würdig oder gut genug
für Jesum sei? Im Gegenteil; wir lesen in Luk. 5, 12,
baß er „voll Aussatz" war, und daß er vor Jesu auf
sein Angesicht fiel. Gerade die Hoffnungslosigkeit seiner
Lage machte ihn zu einem passenden Gegenstand für Jesum.
„Jesus aber, innerlich bewegt, streckte die Hand aus, rührte
ihn an und spricht zu ihm: Ich will, seigereinigt!" Hier
war Einer, der heilen konnte, und der auch Mitleid mit
dem unglücklichen Manne hatte, gerade so wie er war. Er
streckte Seine Hand aus und heilte ihn. So hat Er auch
Mitleid mit uns gehabt; Er war innerlich bewegt über
220
uns. Und so hat Er Seine Hände ausgestreckt und sie
für uns ans Kreuz nageln lassen. Er gab sich selbst für
uns in Tod und Gericht, um uns heilen und retten zu
können. Er trug unsre Sünden au Seinem Leibe auf
das Holz. Welch eine Liebe zn verlornen Sündern! und
andrerseits welch eine Gerechtigkeit vor Gott ist jetzt
unser Teil!
„Und während Er redete, wich alsbald der Aussatz
von ihm, und er war gereinigt." Das ist das große Geheimnis:
sobald die Worte Jesu gehört und geglaubt
werden, ist das Werk gethan, die Veränderung geschehen;
die Sünden sind für immer hinweggethan, um nie wieder
ins Gericht, ja um nie wieder ins Gedächtnis zu kommen
vor Gott. Wir betreten einen ganz neuen Boden, wir
kommen in eine neue Stellung, wir haben ewiges Leben.
Vergleichen wir sorgfältig dieses Wunder Jesu mit Seinen
Worten in Joh. 5, 24: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch:
Wer mein Wort hört und glaubt Dem, der mich gesandt
hat, hat ewiges Leben nnd kommt nicht ins Gericht,
sondern er ist aus dem Tode in das Leben hinübergegangen."
War es nicht genau so, wenn auch in
anderem Sinne, mit dem Aussätzigen? Und ist es nicht
immer noch so, so oft heute eine aus ihrem Sündenschlafe
aufgewachte Seele, in dem Bewußtsein ihrer Schuld und
ihres elenden, unreinen Zustandes, zu Jesu kommt? Ja,
geradeswegs zu Jesu, obgleich „voll Sünde", ganz und
gar verderbt und unrein! Wenn ein Sünder seinen wahren
Zustand erkennt und bekennt, ist Jesus innerlich bewegt;
und wenn der Sünder dann die freundliche Stimme Jesu
hört, und glaubt, daß Gott Ihn gesandt hat, um ihn vom
Tode zu erretten, so ist das Werk gethan, die Verände
221
rung geschehen. Er hat ewiges Leben, kommt nicht ins
Gericht und ist ans dem Tode in das Leben hinübergegangen.
Der Aussätzige wurde alsbald gereinigt; so
wird der glaubende Sünder alsbald gereinigt, und zu seinem
tiesen Erstaunen erkennt er, daß das Werk, welches ihn
von seinen Sünden reinigt, schon vor langer, langer Zeit
geschehen ist. Nun wandelt er nicht länger in der Finsternis
und sucht sein Heil in der Taufe, in der Konfirmation oder
dem Abendmahl des Herrn; nein, im Lichte wandelnd,
wie Er im Lichte ist, hat er Gemeinschaft mit seinen Mitgläubigen,
und das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes,
reinigt ihn von aller Sünde. (Bergt. 1. Joh. 1, 7.)
Ja, das Werk ist gethan, und es ist ein vollendetes
Werk. Handelt es sich um die Schuldfrage vor Gott, so
ist nichts mehr zu thun nötig; für den Gläubigen, der das
Zeugnis Gottes angenommen hat und nun im Lichte wandelt,
ist alle Schuld für immer dahin. Gott hat alle feine
Sünden in die Tiefe des Meeres versenkt. Handelt es sich
um seinen sündigen Zustand — derselbe ist gerichtet, und
Gott sieht den Gläubigen nicht mehr in seinem alten Zustande,
sondern in Christo; er ist ein „Mensch in
Christo", begnadigt und annehmlich gemacht „in dem Geliebten".
— Ja, hochgelobter Herr, es muß so sein! Dein
vollkommnes, unschätzbares Opfer kann nicht eine unvoll-
kommne Wirkung haben.
Beachten wir schließlich noch das Wörtchen „alsbald".
„Alsbald wich der Aussatz von ihm, und er war gereinigt."
Wer anders als der Sohn Gottes hätte den
Aussätzigen anrühren und sagen können: „Ich will,
sei gereinigt"? So etwas war nie auf Erden gehört
worden. „Bin ich Gott", fragte einst der erschreckte König
222
von Israel, „um zu töten und lebendig zu machen, daß
dieser zu nur sendet, einen Mann von seinem Aussatz zu
heilen?" (2. Kön. 5.) Wäre Jesus nur ein Mensch gewesen,
so hätte die Berührung des Aussätzigen nicht nur
keine Heilung bewirkt, sondern vielmehr Verunreinigung
auf Ihn selbst gebracht. Aber nein, so tief Jesus auch in
Seiner wunderbaren Gnade herabsteigen mochte, Er war der
Sohn Gottes, der in göttlicher Macht und Gnade den Bedürfnissen
des Aussätzigen begegnen konnte. Er fühlte mit
ihm mit einem vollkommen menschlichen Herzen, und Erhandelte
mit ihm in göttlicher Machtvollkommenheit. Es
war göttliche Gnade in Jesu, dem Sohne des Menschen,
dem vollkommnen Diener; Sein Thun und Seine Worte
offenbarten Den, der Gott und Mensch war in einer
Person. Und darum folgte auch Seinen Worten die unmittelbare
Reinigung. Während Er noch redete, wich alsbald
der Aussatz von dem armen Manne, der auf feinem
Angesicht vor Ihm lag.
„Und Er bedrohte ihn und schickte ihn alsbald fort
und spricht zu ihm: Siehe zu, sage niemandem etwas;
sondern gehe hin, zeige dich dem Priester und opfere für
deine Reinigung, was Moses geboten hat, ihnen zu einem
Zeugnis. Der Priester sollte durch den Anblick des gereinigten
Aussätzigen gezwungen werden, anzuerkennen und
Zeugnis davon zu geben, daß die Hand Gottes hier beschäftigt
gewesen war, und zwar nicht im Gericht, sondern
in der Macht und zugleich der tiefen Herablassung der
Gnade. Zugleich erkennen wir aus den Worten des Herrn,
daß die Gnade so lange das Gesetz achtete und aufrecht
erhielt, bis der Tod und die Auferstehung Jesu eine überströmende
und bleibende Herrlichkeit für alle diejenigen einführte,
welche durch den Glauben teil an ihr haben. Auch
sucht die Gnade nichts für sich selbst, sondern trachtet nur
nach der Verherrlichung Gottes durch Jesum Christum,
welchem Ehre nnd Herrlichkeit sei in Ewigkeit! Amen.
„Er aber ging weg und fing an, es viel kundzu
223
machen und die Sache auszubreiten, so daß Er nicht
mehr öffentlich in die Stadt hineingehen konnte; sondern
Er war draußen in wüsten Örtern, und sie kamen zu
Ihm von allen Seiten." Wie hätte der glückliche Mann
verschweigen können, was die Gnade an ihm gethan hatte!
Er konnte nicht anders, als überall von dem Jesus
reden, dessen zärtliche Liebe, dessen Gnade und Macht ihm
begegnet waren und aus einem unreinen Ausgestoßenen
einen reinen, glücklichen Anbeter Gottes gemacht hatten.
Und Jesus? Er verließ den Schauplatz Seiner Wunder
und verbarg sich. Gerade wie früher (V. 37) wurde der
menschliche Beifall die Veranlassung für Ihn, sich zurückzuziehen
und sich einem anderen, weniger in die Augen
fallenden Werke zuzuwenden. „Er war draußen in wüsten
Örtern, und sie kamen zu Ihm von allen Seiten."
Anbetungswürdiger Heiland! Möchten Deine armen,
schwachen und oft so selbstsüchtigen Knechte eifriger Dich
betrachten und von Dir lernen, um mehr in Dein herrliches
Bild verwandelt zu werden!
Auf was harre ich?
„Und nun, auf was harre ich, Herr?" (Pf. 39. 7.)
Wahrlich, eine erforschende Frage für das Herz, die wir
oft an uns richten und in der Gegenwart Gottes zu
beantworten suchen sollten. Das menschliche Herz gleicht
dem armen Lahmen, der an der schönen Pforte des Tempels
zu Jerusalem saß und aus die Vorübergehenden acht gab,
„in der Erwartung, etwas von ihnen zu empfangen".
(Apstgsch. 3.)
Wir befinden uns in schwierigen Umständen, in einer
Lage, die unsern Glauben und unser Vertrauen auf die
Probe stellt. Auf was harren wir? Können wir mit dem
Psalmisten sagen: „Meine Hoffnung ist auf dich"?
Blicken wir in Wahrheit zu Dem empor, der alle unsre
224
Pfade lenkt und verheißen hat, uns nie zu vergessen und
zu versäumen? Legen wir alles vertrauensvoll in Seine
Hände, eingedenk der Worte: „Werfet nun eure Zuversicht
nicht weg, die eine große Belohnung hat" ? Oder
harren wir auf einen Wechsel der Umstände, auf Hilfe
von feiten des Geschöpfes, auf bessere Zeiten re. re.?
Wir stehen vor einer wichtigen Entscheidung, vor
einer Frage, deren Beantwortung vielleicht unsern ganzen
ferneren Lebensweg in ernster Weise beeinflußt, und wir
wissen nicht, wie wir uns entscheiden sollen. Was thun
wir? Harren wir auf den Herrn? Ist unsre Hoffnung
auf Ihn gerichtet? Oder sind wir voll Unruhe und banger
Zweifel? Laufen wir von dem einen zum anderen, um
uns Rat bei Menschen zu holen? Ratnehmen mit andern
Gläubigen ist gut, aber das Gute wird zu einem Fallstrick
für uns, wenn Unruhe und Unglauben unsre Herzen erfüllen.
Und doch, wie thöricht, wie eitel ist alle unsre
Unruhe, all unser Laufen und Rennen! „Vergebens
ist er voll Unruhe", sagt der Psalmist. (Vers 6.)
Wir versammeln uns mit anderen Gläubigen, um
das Wort Gottes zu betrachten und Belehrung, Ermunterung
und Ermahnung daraus zu schöpfen. Auf was harren
wir? Harren wir auf den Herrn? oder schauen wir auf
irgend einen begabten Bruder, „in der Erwartung, etwas
von ihm zu empfangen" ? Ist letzteres der Fall, so werden
wir nicht selten bitter getäuscht werden. Denn was ist
der Mensch, was der begabteste Bruder, wenn der Herr
nicht durch ihn redet und der Heilige Geist ihn benutzt?
Harren wir aber auf den Herrn, so werden wir niemals
leer von dannen gehen.
„Und nun, auf was harre ich, Herr? Meine
Hoffnung ist auf dich." — Möchte das allezeit die
Sprache unsrer Herzen sein zur Ehre unsers Herrn und
zum Wohle unsrer Seelen!
Wie, habt ihr keinen Glauben?
(Mark. 4, 40.)
Wie oft hatten die Jünger Gelegenheit gehabt, die
Größe und Macht ihres Herrn kennen zu lernen! Schon
gleich im Anfang ihrer Berufung hatten sie diese Größe
gesehen, als sie auf das Wort des Herrn hin ihr Netz
auswarfen und einen so überreichen Fischfang thaten, daß
alle von Entsetzen ergriffen wurden. (Luk. 5, 9.) Der
Herr und Gebieter der ganzen Schöpfung, dem selbst die
Fische des Meeres gehorchten, war in ihr Schiff getreten.
Sie hatten ferner gesehen, wie Er Kranke heilte, Tote
auferweckte, Teufel austrieb, und sogar ihnen (den Jüngern)
die Gewalt gab, dasselbe zu thun. (Mark. 3, 15.) Alles
das war geschehen, und doch, als sie auf die Probe gestellt
wurden, bewiesen sie, daß sie nichts gelernt hatten. Wir
lesen in Mark. 4, 36—38: „Und als Er die Volksmenge
entlassen hatte, nehmen sie Ihn, wie Er war, in
dem Schiffe mit. . . . Und es erhebt sich ein heftiger
Sturmwind, und die Wellen schlugen in das Schiff, so
daß es sich schon füllte. Und Er war im Hinterteil des
Schiffes und schlief auf einem Kopfkissen; und sie wecken
Ihn auf und sprechen zn Ihm: Lehrer, liegt dir nichts
daran, daß wir umkommen?"
Welch eine Frage! Allerdings, die Gefahr war groß;
aber dennoch war kein Grund für irgendwelche Befürch
226
tungen vorhanden. Denn wie hätte das Schiff untersinken
können, so lange der Herr mit auf demselben war?
Konnten die Wasser des Meeres den Herrn der Schöpfung
verschlingen? Unmöglich. „Und Er wachte auf, bedrohte
den Wind und sprach zu dem See: Schweige, verstumme!
Und der Wind legte sich, und es ward eine große Stille."
Die entfesselten Elemente erkannten ihren Herrn und Gebieter
sofort an und gehorchten Ihm. Wie beschämend für
die Jünger! Sie hatten diese Seine Größe nicht anerkannt
und mußten infolge dessen von seiten des Herrn
eine gnädige und doch ernste Zurechtweisung erfahren.
„Und Er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam?
wie, habt ihr keinen Glauben?" Ach! sie hatten Ihn in
Seiner wahren Größe noch nicht erkannt, trotz all der
Beweise Seiner Liebe und Macht, die Er ihnen gegeben
hatte. Und auch diese neue Offenbarung Seiner Macht
vermochte sie nicht mit Vertrauen zu Ihm zu erfüllen;
vielmehr „fürchteten sie sich mit großer Furcht und sprachen
zu einander: Wer ist denn dieser, daß auch der Wind und
der See Ihm gehorchen?" — Ach, was ist der Mensch!
Der Glaube verherrlicht den Herrn, indem er Seine
Größe anerkennt. Ihm genügt das Bewußtsein Seiner
Gegenwart. Dieses Bewußtsein verbannt Furcht und
Sorgen aus dem Herzen und erfüllt es mit Mut und
Vertrauen.
Auch in unsern Tagen sind der Gefahren viele ; sie
leugnen zu wollen, würde Leichtfertigkeit und große Gleichgültigkeit
verraten. Der Verfall und die Verwirrung
nehmen mit jedem Tage zu. Wir sollen gewiß nicht unsre
Augen vor dieser ernsten Thatsache verschließen, aber —
auch nicht furchtsam sein. Er, der gesagt hat: „Mir ist.
227
gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden", hat auch
gesagt: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur
Vollendung des Zeitalters". (Matth. 28, 18—20.) Dies
genügt, um in jeder Lage ruhig zu sein. Das Schiff,
auf welchem die Jünger sich mit dem Herrn befanden,
mochte in sich nicht stärker sein als andere Schiffe, und
deshalb ebenso leicht zu Grunde gehen können, wie viele
andere vor und nach ihm. Aber der Herr war da,
und darum konnte ihm nichts geschehen, wenngleich die
Wellen hineinschlugen, „so daß es sich schon füllte". Die
Gegenwart des Herrn gewährte vollkommnen Schutz und
völlige Sicherheit, und zwar um Seiner eignen Herrlichkeit,
nicht um des Glaubens der Jünger willen.
Tie Geschichte des Volkes Gottes liefert uns manche
ähnliche Beispiele. So war Israel einst in großer Gefahr,
als es, eingeengt von allen Seiten, vor dem Roten Meere
lagerte, und die Ägypter es zu vernichten drohten. Den­
noch konnte ihm kein Haar gekrümmt werden; denn Gott
war da in der Wolkensäule. „Und sie (die Wolkensäule)
kam zwischen das Heer der Ägypter und das Heer Israels,
und sie ward dort Wolke und Finsternis, und erleuchtete
hier die Nacht; und so nahte jenes nicht diesem die ganze
Nacht." (2. Mose 14, 20.)
Bei der Besitzergreifung Kanaans bildete Israel ein
kleines, schwaches Häuflein im Vergleich mit den im Lande
wohnenden Völkern. Dennoch konnten diese nicht vor ihm
bestehen, weil der Herr an der Spitze des Heeres Israels
stand und vor ihm einherzog. „Und es geschah, als Josua
bei Jericho war, da hob er seine Augen auf, und siehe,
ein Mann stand vor ihm, und sein Schwert gezückt in
seiner Hand . . Und er sprach : . . . . Als der
228
Oberste des Heeres Jehovas bin ich jetzt gekommen."
(Jos. 5, 13. 14.)
Gleicherweise konnte zur Zeit Nebukadnezars die Glut
des siebenfach geheizten Ofens den drei Männern Sadrach,
Mesach und Abednego nichts anhaben; denn ein „Vierter,
gleich einem Sohne der Götter", war bei ihnen in dem
Feuer. (Dan. 3, 24. 25.)
Was könnte köstlicher sein inmitten der Gefahren, als
das Bewußtsein, daß der Herr nach Seiner Verheißung
alle Tage bei uns ist? Allein es gilt, geliebter Leser,
dieses Bewußtsein im Glauben festzuhalten; anders werden
unsere Herzen dennoch verzagen. Ist aber jenes Bewußtsein
in uns lebendig, so werden wir selbst in dem Feuer der
Prüfung sagen können: „Gott ist uns Zuflucht und Stärke,
eine Hilfe, reichlich gefunden in Drangsalen. Darum
werden wir uns nicht fürchten, wenngleich gewandelt
würde die Erde, und wenn die Berge wankten im Herzen
des Meeres, wenn seine Wasser tobten und schäumten,
und die Berge erbebten durch sein Ungestüm. Ein Strom
— seine Bäche erfreuen die Stadt Gottes — Gott ist
in ihrer Mitte, sie wird nicht wanken." (Ps. 46, 1—5.)
Wie ruhig würden die Jünger in dem Sturme geblieben
sein, wenn sie an die Größe Dessen geglaubt
hätten, der in ihrer Mitte war! Dieser Jesus, der,
müde von des Tages Arbeit, dort auf einem Kopfkissen
eingeschlafen war, war derselbe, der einst in der Wolkensäule
vor Israel Herzog, um ihm einen Ruheort zu erkunden,
und der später als Oberster an der Spitze des Heeres
Israels stand. Er wehrte des Feuers Kraft zur Zeit
Nebukadnezars, und Er „beherrschte des Meeres Toben"
(Psalm 89, 9) zur Zeit der Jünger. Und wie Er einst
229
in der Mitte Seines Volkes und Seiner Jünger war,
so ist Er gegenwärtig in der Mitte der Seinigen. Wir
sind uns heute ebensowenig selbst überlassen, wie die
Jünger damals es waren, wenn wir den Herrn auch
nicht mit unsern leiblichen Augen sehen können wie jene.
Er hat gesagt: „Ich werde euch nicht als Waisen lassen,
ich komme zu euch". (Joh. 14, 18.)
Allein es ist, wie bereits bemerkt, die Frage, ob wir
die Gegenwart des Herrn durch den Glauben verwirklichen;
ob wir Ihm vertrauen, als sähen wir den Unsichtbaren.
(Hebr. 11, 27.) Wenn der Herr Seine Jünger tadelte
wegen ihres Mangels an Glauben, so sind wir noch weit
tadelnswerter, als sie es in jenem Augenblick waren; denn
wir haben höhere und mächtigere Beweise Seiner Macht
und Liebe vor uns als die Jünger, und sind des Heiligen
Geistes teilhaftig geworden seitens eines erhöhten und
verherrlichten Christus. Als solcher ruft Er uns jetzt zu
in Seinem Worte: „Euer Herz werde nicht bestürzt! Ihr
glaubet an Gott, glaubet auch an mich". (Joh. 14, 1.)
Wahrlich, es giebt keine Entschuldigung für uns, wenn
unsre Herzen mit Sorgen und Unruhe erfüllt sind, indem
wir auf die Umstände blicken oder uns auf das Geschöpf
stützen, anstatt einzig und allein auf Ihn. „Wie, habt
ihr keinen Glauben?" so wird Er auch uns heute zu-
rufen müssen.
Ohne Zweifel hat jeder Gläubige seine besondern
Versuchungen und Schwierigkeiten; denn jeder muß auf
die Probe gestellt werden. Aber wir wissen auch, warum?
Es geschieht deshalb, „auf daß die Bewährung unsers
Glaubens, viel köstlicher als die des Goldes, das vergeht,
aber durch Feuer erprobt wird, erfunden werde zu Lob
230
und Herrlichkeit und Ehre in der Offenbarung Jesu Christi".
(1. Petr. 1, 7.) Wir werden alle auf mannigfache Weise
geprüft, im Familien- und Geschäftsleben, persönlich und
gemeinschaftlich. Der Herr erlaubt, daß Stürme sich
erheben, daß Widerwärtigkeiten aller Art uns treffen. Er
erlaubt auch dem Feinde, die Herde zu sichten, Parteiungen
inmitten der Gläubigen anzurichten, falsche Lehren und
Irrtümer einzuführen, um so die Gläubigen zu verwirren
und vom Wege der Wahrheit zu entfernen. Diese letzteren
Dinge gehören gleichfalls zu den Proben, und ich möchte
sagen, zu den schwersten Proben. Dennoch genügt die Gegenwart
des Herrn für alles. Wird sie durch den Glauben
verwirklicht, so wird Er uns durch alle Proben sicher und
siegreich hindurchführen.
Wie gut ist es, daß der Herr die Seinigen vollkommen
liebt! Die Ruhe Seines Schlafes wurde durch das Toben
der entfesselten Elemente nicht gestört, wohl aber durch
die Unruhe Seiner Jünger. Und trotzdem sie keinen Glauben
hatten, antwortete Er doch sofort auf ihr Schreien. Er
hat nicht nur die Macht zu helfen, sondern Er ist auch
vollkommen bereit dazu. Sein Ohr ist stets geöffnet
sür das Rufen der Seinen. Aus diesem Grunde können
wir uns aber auch um so weniger entschuldigen, wenn
wir unsere Zuflucht, statt zu Ihm, zu dem Geschöpf nehmen
und Hilfe bei Menschen suchen; oder wenn wir uns, anstatt
einfältig bei Ihm und Seiner Wahrheit zu beharren, durch
die List Satans verleiten und auf Irrwege führen lassen.
Für Ihn giebt es kein Hindernis, den Seinigen zu
Helsen, in welcher Lage sie sich auch befinden mögen.
Die ganze Macht und List des Feindes, alle Widerwärtigkeiten
und Schwierigkeiten sind nichts sür Ihn.
231
Ja, selbst unsre Schwachheiten verhindern Ihn nicht, uns
zu helfen.
Laßt uns daher in den gegenwärtigen bösen Tagen
auf Ihn allein uns stützen und das Bewußtsein Seiner
Gegenwart festhalten in einfältigem, kindlichem Glauben!
Laßt uns Ihn ehren durch die Anerkennung Seiner
Größe, Seiner Liebe und Macht, wie der wahre, lebendige
Glaube dies zn allen Zeiten gethan hat! Sicher,
wir werden nie beschämt werden. Denn „Jehova ist gütig
gegen die, welche auf Ihn harren, gegen die Seele, die
nach Ihm trachtet. Es ist gut, daß man stille warte auf
die Rettung Jehovas." (Klage!. 3, 25. 26.)
Die Salbung Davids.
(1. Sam. 16.)
Wenn wir die Schrift erforschen, so werden wir
die Bemerkung machen, in welch wunderbarer Weise Gott
stets aus dem Bösen Gutes hervorznbringen weiß. Es
war eine große Sünde von feiten Israels, daß es seinen
König-Jehova verwarf und einen Menschen als Fürsten
über sich haben wollte; und in jenem Manne, der zuerst
das königliche Scepter über Israel schwang, hatte es in
schmerzlicher Weise erfahren müssen, daß alles Vertrauen
auf menschliche Kraft und Hilfe eitel ist. Der Herr stand
jetzt im Begriff, Seinem Volke aus all seiner Sünde und
Thorheit einen reichen Segen hervorkommen zu lassen.
Saul wurde in den Ratschlüssen Gottes beiseite gesetzt,
obwohl er noch bis zu seinem Tode auf dem Throne blieb.
Er war in der Wage gewogen und zu leicht erfunden
worden. Sein Königtum sollte seinen Händen entschwinden,
232
und ein Mann nach dem Herzen Gottes sollte zu Seinem
Preise und zum Segen für Sein Volk an seine Stelle
treten. „Und Jehova sprach zu Samuel: Bis wann
willst du um Saul trauern, da ich ihn doch verworfen
habe, daß er nicht König sei über Israel?" (V. 1.) Diese
Worte enthüllen uns das Geheimnis der Trauer Samuels
um Saul wahrend der langen Zeit seiner Absonderung
von ihm. Im letzten Verse des 15. Kapitels lesen wir:
„Und Samuel sah Saul nicht mehr bis zum Tage seines
Todes; denn Samuel trauerte um Saul, da es Jehova
reute, daß Er Saul zum Könige gemacht hatte über
Israel."
Das war ganz natürlich. In der traurigen Geschichte
dieses unglücklichen Mannes gab es vieles, was das Herz
tief zu bewegen imstande war. Er war es, der einst das
ganze Volk zu dem jauchzenden Rufe veranlaßt hatte:
„Es lebe der König!" Manches Auge hatte ohne Zweifel
voll Bewunderung auf dem schönen, stattlichen Manne
geruht, den Jehova zum König erwählt hatte. Und jetzt
war alles dahin. Saul war verworfen, und Samuel fühlte
sich gezwungen, einen Platz völliger Absonderung von ihm
einzunehmen, als von einem Manne, den Gott beiseite
gesetzt hatte. Saul war schon der zweite Würdenträger,
den Samuel seiner hohen amtlichen Würde entkleidet sehen
mußte. Im Beginn seiner Laufbahn hatte er eine ernste,
böse Botschaft dem Hohenpriester Eli überbringen müssen,
und nun, am Ende seines Lebens, wurde er berufen, den
Ohren Sauls das Gericht des Himmels über sein Verhalten
anzukündigen. Allein, was auch die Gefühle Samuels sein
mochten, es konnte ihm nicht erspart bleiben, die Gedanken
Gottes über Saul zu erfahren.
233
„Bis wann willst du um Saul trauern, da ich ihn
doch verworfen habe?" Gemeinschaft mit Gott wird uns
stets dahin führen, Seine Wege zu erkennen und uns
ihnen zu unterwerfen. Sind nur unsere Gefühle thätig,
so werden wir über den Fall dessen, was uns so groß
und erhaben schien, weinen; der Glaube aber erfaßt
die große Wahrheit, daß Gottes nie irrender Ratschluß
bestehen bleiben muß, und daß Er alles ausführen wird
nach Seinem Wohlgefallen und nach dem Rate Seines
Willens. Der Glaube wird keine Thräne weinen, wenn
ein Agag vor Jehova in Stücke gehauen wird (Kap. 15, 33);
aber ebensowenig wird er weinen und trauern über die
Verwerfung eines Saul, da der Glaube stets mit den
Gedanken und Ratschlüssen Gottes in Übereinstimmung
ist, mögen diese nun niedermähen oder aufrichten, wen
sie wollen. Aber ach! zwischen wahrem Glauben und bloßem
Gefühlswesen besteht ein großer Unterschied. Während
letzteres sich hinsetzt und weint, erhebt sich ersterer nnd füllt
das Horn mit Öl.
Ter Leser thut Wohl, über diesen Gegensatz ein
wenig nachzusinnen. Wir sind alle so geneigt, uns durch
bloße Gefühle fortreißen zu lassen. Dies ist eine große
Gefahr, da unsere Gefühle, soweit sie nur aus der Natur
hervorkommen, in ihrer Wirkung böse sein müssen, jedenfalls
aber in einem Strome fließen, der den Gedanken
Gottes entgegen ist. Nun, das wirksamste Heilmittel gegen
ein solch bloßes Gefühlswesen und seine bösen Folgen ist
die tiefe, bleibende Ueberzeugung von der Wirklichkeit und
Unverletzlichkeit des Ratschlusses Gottes. Angesichts dieses
Ratschlusses schwindet alles Gefühlswesen, während der
Glaube wächst und zunimmt. Der Glaube sagt: „Ich
234
danke dir, Vater!" für Ereignisse und Umstände, Absichten
und Ratschlüsse, die allem Anschein nach jeder Regung der
natürlichen Gefühle den Todesstoß versetzen müssen.
„Bis wann willst du trauern? . . . Fülle dein Horn
mit Öl, und gehe hin, ich will dich zu Jsai, dem Beth-
lehemiter, senden; denn ich habe mir unter seinen Söhnen
einen König ersehen." Ja, bis wann willst du trauern
und klagen? Das ist die Frage. Menschliche Trauer und
Klage dauert so lange fort, bis das Herz Ruhe findet in
den reichen Hilfsquellen des hochgelobten Gottes. Die
Leeren und Lücken, welche die schmerzlichen Ereignisse dieses
Erdenlebens in dem Herzen schaffen, können nur ausgefüllt
werden durch den einfältigen, ungeteilten Glauben an das
kostbare Wort: „Ich habe mir ersehen". Das
ordnet in der That alles. Es trocknet die Thränen, lindert
den Schmerz und füllt die Leere aus. Sobald der Geist
in dem ruht, was Gottes Liebe vorgesehen hat, sind alle
seine Kümmernisse und Klagen abgeschuitten. Möchten wir
alle mehr die Kraft dieser Wahrheit in ihrer mannigfachen
Anwendbarkeit kennen lernen und unser Horn gefüllt haben
mit der Ueberzeugung, daß unser Vater in Seiner Weisheit
und Barmherzigkeit alles wohl versehen wird! Aber das
ist eine hohe und seltene Segnung. Es ist nicht leicht, sich
ganz über den Bereich menschlichen Denkens und Fühlens
zu erheben. Selbst ein Samuel machte Einwendungen
einem göttlichen Gebot gegenüber und zögerte, den Weg
des einfältigen Gehorsams zu betreten. Der Herr sagte:
„Gehe hin!" aber Samuel erwiderte: „Wie mag ich
hingehen?" Merkwürdige Frage! und doch wie völlig
zeigt sie, Was das menschliche Herz ist! Samuel hatte
lange um Saul getrauert, und wenn ihm jetzt gesagt wird,
235
er solle gehen und einen Andern an Sauls Statt zum
Könige salben, erwidert er: „Wie mag ich?" Wir dürfen
völlig versichert sein, daß der Glaube niemals so redet.
Er fragt nicht: „Wie soll dies, wie soll das geschehen?"
In seinem Wörterbuch giebt es kein „Wie?" Nein, sobald
der göttliche Befehl den Pfad klar bezeichnet hat, betritt
ihn der Glaube in willigem Gehorsam, keiner Schwierigkeiten
und Gefahren achtend.
Indessen kommt der Herr in gnädigem Erbarmen
Seinem Diener entgegen und räumt die Schwierigkeit
aus dem Wege. Auf den Einwand Samuels: „Wie mag
ich hingehen? Wenn Saul es hört, so tötet er mich",
antwortet Gott, ohne ein Wort des Vorwurfs: „Nimm
eine Färse mit dir und sprich: Ich bin gekommen, Jehova
zu opfern". Wie gnädig und herablassend ist unser Gott!
— So begiebt sich denn der Prophet mit einem gefüllten
Horn und einem Opfer auf den Weg nach der Stadt Davids,
wo ein unbekannter und bis dahin nie genannter Jüngling
ein Häuflein Schafe in der Wüste weidete.
Unter den Söhnen Jsais scheinen einige, von der
Natur sehr bevorzugte Männer gewesen zu sein, und wenn
Samuel seinem eignen Urteil überlassen geblieben wäre,
so würde er wohl einen von ihnen, vielleicht den größten
und stärksten, zum Nachfolger Sauls und zum Träger
der Königskrone Israels ausersehen haben. „Und es geschah,
als sie kamen, da sah er Eliab und sprach: Gewiß,
vor Jehova ist Sein Gesalbter." (V. 6.) Aber es war
nicht so. Natürliche Vorzüge haben nicht das Geringste
mit der Auswahl Gottes zu thun. Er schaut unter die
vergoldete Oberfläche von Menschen und Dingen und
urteilt nach Seinen eignen, nie irrenden Grundsätzen.
236
Welch ein hochmütiger und selbstsüchtiger Geist Eliab beseelte,
sehen wir im 17. Kapitel. Aber der Herr hat
„kein Gefallen an den Beinen des Mannes", keine Lust
an natürlicher Kraft, und so war Eliab nicht Sein auserwähltes
Gefäß.
Es ist sehr bemerkenswert, Samuel in diesem Kapitel
so viel und so oft irregehen zu sehen. Sein Trauern um
Saul, seine Weigerung oder besser sein Zögern, dem Befehl
Jehovas zu folgen und David zu salben, sein Irrtum
hinsichtlich Eliabs — alles das zeigt uns, wie wenig sein
Inneres mit den Wegen Gottes bekannt und in Über­
einstimmung war. Wie ernst sind die Worte des Herrn
an ihn: „Blicke nicht auf sein Aussehen und auf die Höhe
seines Wuchses, denn ich habe ihn verworfen; denn Jehova
sieht nicht auf das, worauf der Mensch sieht; denn der
Mensch sieht auf das Äußere, aber Jehova sieht auf
das Herz!" Hierin liegt der große Unterschied: „das
Äußere" und „das Herz". Selbst ein Samuel stand
in Gefahr, durch das erstere bestochen und betrogen zu
werden, wäre nicht der Herr in Seiner Gnade ins Mittel
getreten, um ihn über den Wert des letzteren zu belehren.
„Blicke nicht auf sein Aussehen." Beachtenswerte Worte!
„Da rief Jsai Abinadab und ließ ihn vor Samuel
vorübergehen; und er fprach: Auch diesen hat Jehova
nicht erwählt. Da ließ Jsai Schamina vorübergehen;
und er sprach: Auch diesen hat Jehova nicht erwählt.
Und Jsai ließ sieben seiner Söhne vor Samuel
vorübergehen; und Samuel sprach zu Jsai: Jehova hat
diese nicht erwählt." (V. 8—10.) So ging gleichsam
die Vollkommenheit der Natur an dem Propheten vorüber;
aber alles war umsonst ; die Natur konnte nichts
237
für Gott oder für Sein Volk hervorbringen. Und, was
noch bemerkenswerter ist, Jsai dachte bei diesem allen nicht
an David. Dieser befand sich in der Einsamkeit der Wüste,
bei den Schafen, und kam bei der Besichtigung dessen, was
die Natur hervorgebracht hatte, gar nicht ins Gedächtnis. Aber
das Auge Jehovas ruhte auf diesem verachteten Jüngling
und erblickte in ihm den, aus dessen Geschlecht, dem
Fleische nach, der Christus kommen sollte, um den Thron
Davids einzunehmen und über das Haus Israel zu herrschen
für immer und ewig. Wahrlich, Gott sieht nicht auf das,
worauf der Mensch sieht, denn „das Thörichte der Welt
hat Gott auserwählt, auf daß Er die Weisen zu Schanden
mache; und das Schwache der Welt hat Gott auserwählt,
auf daß Er das Starke zu Schanden mache: und das Unedle
der Welt und das Verachtete hat Gott auserwählt,
und das, was nicht ist, auf daß Er das, was ist, zunichte
mache, damit sich vor Gott kein Fleisch rühme." (1. Kor.
1, 27—29.) Wäre auf Eliab, oder Schamina, oder Abi-
nadab, oder einen der „sieben Söhne" Jsais das Salbungsöl
ausgegosseu worden, so würde das Fleisch sich vor Gott
haben rühmen können; aber sobald David, der vergessene
David, auf dem Schauplatz erscheint, erkennen wir in Ihm
einen Mann, welcher alle Ehre Dem geben würde, der im
Begriff stand, das königliche Scepter in seine Hand zu legen.
Mit einem Worte, David steht vor uns als das ausdrucksvolle
Vorbild des Herrn Jesu, der, als Er unter den Menschenkindern
erschien, verachtet, übersehen und vergessen wurde.
„Und Samuel sprach zu Jsai: Sind das die Knaben
alle? Und er sprach: Noch ist der Jüngste übrig, und
siehe, er weidet das Kleinvieh. Und Samuel sprach zu
Jsai: Sende hin und laß ihn holen; denn wir werden
238
uns nicht zu Tische setzen, bis er hierhergekommen ist.
Und er sandte hin und ließ ihn kommen; und er war
rötlich, dazu schön von Augen und von gutem Ansehen.
Und Jehova sprach: Auf, salbe ihn! denn dieser ist
es." (V. 11—12.) „Noch ist der Jüngste übrig." Wie
konnte Er der Erwählte sein? so dachte Jsai. Ach! der
Mensch kann die Wege Gottes nicht verstehen. Gerade das
Werkzeug, welches Gott zu benutzen im Begriff steht, wird
von den Menschen übersehen oder verachtet. Aber was
sagt Gott? „Auf, salbe ihn! denn dieser ist es." Welch
herrliche Worte, und welch eine göttlich vollkommene Antwort
auf die Gedanken Jsais und Samuels!
Wie lieblich ist es auch, die Beschäftigung Davids
zu betrachten! „Siehe, er weidet das Kleinvieh." Der
Herr selbst erinnert in späteren Tagen an diesen Umstand,
wenn Er zu David sagt: „Ich habe dich von der Trift
genommen, hinter dem Kleinvieh weg, daß du Fürst sein
solltest über mein Volk Israel." (2. Sam. 7, 8.) Nichts
könnte in lieblicherer Weise das Wesen des Königsamtes
erläutern, wie der Dienst und das Werk eines Hirten.
In der That, wenn die königliche Herrschaft nicht in dem
Geiste eines Hirten ausgeübt wird, so verfehlt sie ihr
Ziel. David verstand dies voll und ganz, wie wir dies
aus jenen rührenden Worten entnehmen können, die er zu
Jehova sprach, als er um seines Zählens des Volkes
willen so schwer gestraft wurde. „Siehe, ich habe gesündigt",
sagte er, „und ich habe verkehrt gehandelt;
aber diese Schafe, was haben sie gethan?" (2. Sam.
24, 17.) Das Volk war die Herde Jehovas, und er, als
der Hirte Jehovas, hütete sie auf den Bergen Israels,
gerade so wie er einst die Schafe seines Vaters in Beth-
239
lehems Einsamkeit gehütet hatte. Er veränderte seinen
Charakter nicht, als er von der Trift auf den Thron berufen
wurde und den Hirtenstab mit dem Scepter vertauschte.
Nein, er war und blieb ein Hirte, und er fühlte
sich verpflichtet, des Herrn Herde vor den Löwen und
Bären zu beschützen, welche sie von allen Seiten bedrohten.
Von rührender Schönheit ist auch die prophetische
Anspielung auf den wahren David in Hes. 34: „Ich
will meine Schafe retten, damit sie nicht mehr zur Beute
seien; und ich werde richten zwischen Schaf und Schaf.
Und ich werde einen Hirten über sie erwecken, und er
wird sie weiden — meinen Knecht David: der wird sie
weiden, nnd der wird ihnen zum Hirten sein. Und ich,
Jehova, werde ihnen zum Gott sein, und mein Knecht David
wird Fürst sein in ihrer Mitte. Ich, Jehova, habe geredet."
(B. 22—24.) Auch die Worte unsers Herrn in Joh. 6,
39 beziehen sich ohne Zweifel mehr oder weniger auf
Seinen Hirten-Charakter: „Dies aber ist der Wille Dessen,
der mich gesandt hat, daß ich von allem, was Er mir
gegeben hat, nichts verliere, sondern es auferwecke am
letzten Tage." Unabhängig von Seiner eignen, persönlichen
Liebe zu den Schafen, die Er im Leben und im
Tode so wunderbar bewiesen hat, stellt der Herr sich in
der angeführten Stelle als Den vor unsre Blicke, der
(ohne Zweifel aus freiem Willen) dem Vater verantwortlich
ist, jedes Glied der geliebten und hochgeschätzten
Herde durch alle Fährnisse des Pilgerlaufes, ja selbst durch
den Tod hindurchzuführen und es an dem letzten Tage
unverletzt in der Herrlichkeit der Auferstehung darzustellen.
Einem solchen Hirten hat uns die Hand des Vaters anvertraut!
O wie treu hat Gott für Zeit und Ewigkeit
240
für uns gesorgt, indem Er uns solchen Händen übergeben
hat, der Hut eines ewig-lebenden, ewig-liebenden und allmächtigen
Hirten, dessen Liebe viele Wasser nicht auszulöschen
vermögen, dessen mächtigem Arme kein Feind widerstehen
kann, der in Seinen Händen die Schlüssel des
Todes und des Hades hält, und der Sein Anrecht auf die
Hut der Herde durch die Dahingabe Seines eigenen Lebens
für sie erwiesen hat! Wahrlich, wir dürfen freudig sagen:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln!"
Wie könnte uns etwas mangeln, wenn Jesus uns nährt?
Unmöglich. Unsre thörichten Herzen mögen oft nach schädlicher,
verderblicher Weide verlangen, so daß unser guter
Hirte in Seiner gnädigen Fürsorge uns die Benutzung
derselben unmöglich machen muß; allein das Eine ist
gewiß, daß denjenigen, welche Jesus weidet, kein Gutes
mangeln wird.
Zum Schluß möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers
noch auf den Gegensatz richten zwischen den Umständen,
in welchen Samuel David fand, und denjenigen, in welchen
Saul bei seiner Berufung gefunden wurde. Saul befand
sich auf der Suche nach den Eseln seines Vaters, als er
mit Samuel in Berührung kam. Ich mache keinen Versuch,
diese Thatsache zn erklären; ich erwähne sie nur, da
ich sie für ausdrucksvoll halte hinsichtlich des späteren
Verhaltens Sauls, gerade so wie die Beschäftigung Davids
auf Bethlehems Fluren bedeutungsvoll war im Blick auf
seine nachherige Wirksamkeit als der Hirte Israels. Wenn
wir David seines Vaters Schafe in der Wüste weiden
sehen, vergessen oder doch wenig beachtet von feiten seiner
Familie, so forschen wir unwillkürlich nach Zügen in
seinem Charakter und Verhalten in späteren Tagen, die
241
damit in Uebereinstimmung stehen; und gerade so ist es,
wenn wir Saul die Esel seines Vaters suchen sehen. Und
in beiden Fällen forschen wir, wie es mir vorkommt, nicht
vergeblich. Davids liebende und zarte Sorge für die
Herde Jehovas, sowie seine Bereitwilligkeit, sich selbst um
Anderer willen zu vergessen, treten immer wieder in den
Einzelheiten seiner Geschichte ans Licht; und andrerseits
begegnen wir bei Saul stets von neuem einem ehrgeizigen,
auf eignes Wohl und eigne Vorteile gerichteten Streben.
Die Ausführung dieses Gedankens überlasse ich indes dem
Leser, so wie der Herr ihn bei der Betrachtung der Geschichte
beider Männer leiten mag; nur möchte ich noch
bemerken, daß nichts bedeutungslos sein kann, was der
Heilige Geist uns über zwei Männer berichtet, die durchweg
in solch schroffem Gegensatz zu einander stehen, und
welche beide, ein jeder in seiner Weise, einen so wichtigen
Platz in der Geschichte des Volkes Gottes einnehmen.
Wir können nur sagen: Gepriesen sei die Gnade,
welche einen Mann als Herrscher über Israel bestellte,
dessen Charakter Züge offenbarte, die in solch gesegneter
Weise zu dem Werke paßten, das Gott ihm übertragen
wollte! — „Und Samuel nahm das Ölhorn und salbte
ihn inmitten seiner Brüder. Und der Geist Jehovas geriet
über David von selbigem Tage an und hinfort." (V. 13.)
Der Gichtbrüchige.
(Mark. 2, 3—12.)
„Und sie kommen zu Ihm und bringen einen Gichtbrüchigen,
von vieren getragen." — Sieh hier, mein lieber
Leser, ein Bild von dem Menschen in seiner äußersten
242
Hilflosigkeit. Jener arme Mann war so hilflos, daß er
von vieren getragen werden mußte. Wir haben bereits
den Menschen unter der Macht eines unreinen Geistes
gesehen, ferner in dem Bilde eines Aussätzigen — völlig
unrein und verderbt, seine ganze Natur Sünde. (Bergl.
Heft 7 u. 8 des „Botschafter".) Hier erblicken wir ihn
völlig ohnmächtig und hilflos. Mag der Mensch auch
noch so hoch von sich denken, mag er noch so ehrbar und
religiös sein — nicht eher ist sein Urteil über sich selbst
wahr und aufrichtig, bis er anerkennt, daß er ganz und
gar verloren, unrein und verderbt ist. Das Wort Gottes
sagt, daß es sich so verhält, und unser Gewissen und unsre
Erfahrung bestätigen diese ernste Wahrheit in ihrer ganzen
furchtbaren Tragweite. Die Erkenntnis derselben ist
erschreckend für die Seele; allein es giebt, wenn möglich,
noch etwas Ernsteres und Erschreckenderes, und das ist
folgendes: Wenn eine Seele durch den Geist Gottes zu
einer wahren Erkenntnis über ihren Zustand vor Gott
aufgeweckt ist und nun darnach verlangt, das Böse zu
lassen und das Gute zu thun, so muß sie erfahren, daß
sie nicht dazu imstande ist. Von dieser Wahrheit ist der
Gichtbrüchige ein sprechendes Bild. Er befand sich in
einer äußerst hilflosen Lage und sehnte sich nach Heilung.
Seine Freunde hatten Mitleid mit ihm und brachten ihn
(zu seinem ewigen Heil) zu Dem, der allein ihm Kraft
verleihen konnte. O möchte auch durch das Lesen dieser
Zeilen die eine oder andere Seele Jesu nahe gebracht
werden, wie einst der Gichtbrüchige durch seine Freunde!
Es ist ein ganz seltener Fall, daß ein beunruhigter,
hilfloser Sünder geradeswegs zu Jesu gebracht wird.
Gewöhnlich rät man ihm, viel zu kämpfen und zu ringen,
243
Buße zu thun, zu beten — mit einem Worte: zu thun,
was in seinen Kräften steht, um sich selbst zu Helsen.
Oder man führt ihn zu allen möglichen Aerzten, nur nicht
zu Jesu, schlägt allerlei Heilmittel vor, nur nicht das eine
wahre. Indes möchte gefragt werden: Ist es denn wirklich
wahr, daß der Mensch im Blick auf göttliche Dinge ganz
und gar ohnmächtig und hilflos ist? Hören wir, was
die Schrift sagt. In Röm. 5, 6 heißt es: „Denn Christus
ist, da wir noch kraftlos waren, zur bestimmten
Zeit für Gottlose gestorben". Ja, noch mehr! In Eph.
2, 1 u. 5 lesen wir, daß wir „tot waren in Vergehungen
und Sünden"; in Kol. 2, 13: „und euch, als
ihr tot wäret in den Vergehungen". Der Zustand
eines Menschen unter dem Gesetz wird in Röm. 7,
5—23 klar und deutlich beschrieben; obgleich er lebendig
gemacht ist, muß er sagen: „Das Wollen ist bei mir
vorhanden, aber das Vollbringen dessen, was recht ist,
finde ich nicht". Das ist der hoffnungslose Zustand des
Menschen, und das Gesetz kann ihm nicht helfen, obwohl
es gerecht, heilig und gut ist. „Denn ich weiß, daß in
mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt."
So steht es um den Menschen von Natur; er ist ein
Sklave Satans, voll von Sünde, und er hat keine Kraft
— ein dreifach verlorener Zustand. Der Herr Jesus
allein konnte diesem traurigen Zustand begegnen.
Für Jesum ist aber auch kein Zustand zu schlimm,
kein Fall zu verzweifelt, mag es sich nun um leibliche
oder geistliche Schäden handeln. Das wußten ohne Zweifel
die Freunde des Kranken; sie glaubten an Jesum, und
so brachten sie den armen, hilflosen Menschen zu Ihm.
Doch es gab Schwierigkeiten auf dem Wege; durch welch
244
eine Menge mußten sie sich den Weg bahnen, und durch
welch eine Menge muß heute der glaubende Sünder sich
oft den Weg erzwingen! Aber der Glaube überwindet
alle Schwierigkeiten. Sieh nur, mit welch einer Entschiedenheit
sich die Männer durch die Volksmenge drängten.
Willst du eine arme, sündige Seele zu Jesu bringen, so
darfst du der Hindernisse nicht achten. Halte nicht ein,
bis sie bei Jesu ist; anders ist sie verloren.
„Und da sie wegen der Volksmenge nicht nahe zu
Ihm kommen konnten, deckten sie das Dach ab, wo Er
war, und als sie es aufgebrochen hatten, ließen sie das
Ruhebett hinab, auf welchem der Gichtbrüchige lag."
Wahrlich, das war ein ernster, alles überwindender Glaube;
es war jener Glaube, welcher eine Gabe Gottes genannt
wird. Und Jesus sah diesen Glauben und erkannte ihn
an. Beachten wir auch, daß die Männer nicht nur den
Kranken hinabließen, sondern auch das Ruhebett, auf
welchem er lag. Der Mann wurde hinabgelassen, und das
Bett wurde hinabgelasseri, hinab bis zu den Füßen Jesu.
Es ist etwas Großes und Ernstes, mein lieber Leser,
wenn wir, um in der Sprache des Bildes zu reden,
hinabgelassen werden zu den Füßen Jesu, und mit uns
das, worauf wir bis dahin geruht haben. Was ist dein
Bett bis heute gewesen? Giebt es irgend etwas außer
Jesu, worauf du ruhst und vertraust? Vielleicht bist du
auch bis zu der höchsten Spitze des Hauses gebracht
worden, in welchem Jesus sich aufhält — und welch ein
gewaltiges Haus ist die Christenheit geworden! — aber
das Dach muß abgedeckt, und du mußt hinabgelassen werden.
Nicht hinauf, nein, hinab mußt du, bis zu den Füßen
Jesu! — Es giebt allerlei Ruhebetten. Viele bereiten sich
245
ein Ruhebett aus der Taufe, viele aus ihrem fleißigen
Kirchengehen, aus ihrem regelmäßigen Teilnehmen am
Abendmahl, viele aus ihrem streng-religiösen Leben, aus
ihrer treuen Pflichterfüllung, aus ihrer Nächstenliebe u. s. w.
u. f. w. Aber worauf auch ein Mensch sich stützen, worin
auch sein Ruhebett bestehen mag, hinab muß es, und er
mit ihm, bis er anlangt zu den Füßen Jesu.
Doch ehe dem hilflosen Kranken Kraft verliehen wurde
zum Gehen, mußte noch etwas anderes für ihn gethan
werden; und Jesus wußte das. Vielleicht verlangst auch
du darnach, nach dem Willen Gottes wandeln zu können;
aber Jesus weiß, daß du vorher etwas anderes nötig
hast. Höre, was Er zu dem Gichtbrüchigen sagt. „Als
Jesus aber ihren Glauben sah, spricht Er zu dem Gichtbrüchigen:
Kind, deine Sünden sind vergeben." In dem
Evangelium Matthäus wird noch ein anderes Wort hinzugefügt.
Dort heißt es: „Sei gutes Mutes, Kind,
deine Sünden sind vergeben!" Das war das Erste, was der
arme Kranke bedurfte; das war die größte Not, und sie wurde
zuerst gestillt. Und bedürfen nicht auch wir dies zu allernächst?
Der Herr sagte nicht: Stehe auf und wandle, und dann
will ich dir deine Sünden vergeben. So sagt Er auch nicht
zu uns: Stehe auf und wandle in meinen Geboten, und dann
will ich deine Sündenschuld tilgen. Mancher denkt, daß es
sich also verhalte, daß das das Evangelium sei. Mancher
meint, daß er zunächst Kraft zum Wandel bedürfe. Aber des
Menschen tiefstes und erstes Bedürfnis, wenn er zu Jesu
gebracht wird, ist die Vergebung seiner Sünden.
Wie gesegnet ist es daher, wenn ein hilf- und kraftloser
Sünder zu Jesu gebracht und mit allem, worauf
er je geruht haben mag, hinabgelassen wird zu Seinen
246
Füßen! Niemand mag das tiefe Seufzen seines sündenbeladenen
Herzens hören und kennen. Aber Jesus vernimmt
es, und Er berührt sofort den wichtigsten Punkt; und
in welch rührender, lieblicher Weise thnt Er es! „Sei
gutes Mutes, Kind, deine Sünden sind vergeben!" Welch
ein Segen liegt in diesen Worten! Und wie traurig ist
der Gedanke, daß dieser Segen Jahrhundertelang von
Tausenden und aber Tausenden von Gläubigen nicht genossen
worden ist und heute noch von vielen nicht genossen
wird! Das Bewußtsein der Vergebung aller Sünden ist
das Vorrecht eines jeden Gläubigen, selbst des jüngsten
und schwächsten Kindes Gottes. „Ich schreibe euch, Kinder,
weil euch die Sünden vergeben sindum Seines Namens
willen." (1. Joh. 2, 12.)
Vergebung der Sünden wird gepredigt durch den
Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Sie ist der
Inhalt der frohen Botschaft Gottes. Damit unsre Sünden
vergeben werden könnten, deshalb starb Jesus und stand
wieder auf aus den Toten. Die Gläubigen in den ersten
Zeiten der Kirche wußten alle, daß ihre Sünden vergeben
waren; denn Gott hatte ihnen diese Vergebung verkündigen
lassen, gerade so wie Jesus zu dem Gichtbrüchigen sagte:
„Sei gutes Mutes, Kind, deine Sünden sind vergeben."
Der Heilige Geist ließ durch den Mund der Apostel
immer wieder dasselbe verkündigen; es war der Auftrag,
welchen Christus selbst Seinen Knechten gab, ehe Er diese
Welt verließ. Sie sollten „hingehen und in Seinem Namen
Buße und Vergebung der Sünden predigen allen Nationen,
anfangend von Jerusalem." (Luk. 24, 47.) Und so gingen
sie hin und predigten zuerst den Tod und die Auferstehung
Jesu Christi und dann Buße und Vergebung der Sünden.
247
„Diesem geben alle Propheten Zeugnis", rief Petrus dem
Hauptmann Kornelius zu, „daß jeder, der an Ihn glaubt,
Vergebung der Sünden empfängt durch Seinen Namen."
„Sv sei es euch nun kund, Brüder", predigte Paulus in
Antiochien, „daß durch diesen euch Vergebung der Sünden
verkündigt wird; und von allem, wovon ihr im Gesetz
Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, wird in diesem
jeder Glaubende gerechtfertigt." (Apstgsch. 10, 43; 13,
38. 39.) „Umsonst gerechtfertigt durch Seine Gnade,
durch die Erlösung, die in Christo Jesu ist", schrieb er an
die Gläubigen in Rom. (Röm. 3, 24.) Ja, sie konnten alle
sagen: „In welchem (Jesus) wir die Erlösung haben
durch Sein Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach
dem Reichtum Seiner Gnade". (Eph. 1, 7.) Sie hatten
an den Gott geglaubt, welcher Jesum, unsern Herrn, aus
den Toten auferweckt hat, Ihn, „welcher unsrer Ueber-
Iretungen wegen dahingegeben und unsrer Rechtfertigung
wegen auferweckt worden ist"; nnd gerechtfertigt aus
Glauben, hatten sie Frieden mit Gott durch unsern Herrn
Jesum Christum. (Rom. 4, 25; 5, 1.)
Die Worte, welche der Herr Jesus au den armen
Gichtbrüchigen richtete, waren daher nichts anderes, als
der genaue Ausdruck dieser Gnade, der unverdienten, freien
Gabe der Vergebung aller Sünden. Er, der für unsere
Sünden gestorben ist, hat das unzweifelhafte Recht, zu
sagen: „Sei gutes Mutes, deine Sünden sind dir vergeben".
Doch laß mich fragen: Hast du den Worten Jesu
geglaubt, mein lieber Leser? gerade so einfältig und rückhaltlos
wie einst jener Kranke in Kapernaum? Ohne Zweifel
erregt heute, wie damals, ein solcher Glaube den Unwillen
der Pharisäer und Schriftgelehrten. Nichts ist dem eigen
248
gerechten Geiste des religiösen Menschen unverständlicher
und mehr zuwider als eine solch freie, unverdiente und
unumschränkte Vergebung. Selbst wenn der Gläubige ansängt,
in seinem Herzen zu überlegen, entsteht nur zu
leicht die Frage: Bin ich auch einer solchen Gunstbezeugung
Gottes würdig? Wie thöricht ist der Mensch! Wären
wir ihrer würdig, so wäre es keine freie, unverdiente
Gnade mehr.
„Und Jesus sprach zu ihnen: Was überleget ihr in
euern Herzen? Was ist leichter, zu dem Gichtbrüchigeu
zu sagen: Deine Sünden sind vergeben, oder zu sagen:
Stehe auf, nimm dein Ruhebett auf und wandle? Auf
daß ihr aber wisset, daß der Sohn des Menschen Gewalt
hat auf der Erde Sünden zu vergeben .... spricht Er
zu dem Gichtbrüchigen: Ich sage dir, stehe auf, nimm
dein Ruhebett auf und gehe nach deinem Hause. Und alsbald
stand er auf, nahm das Ruhebett auf und ging hinaus vor
allen, so daß alle außer sich gerieten und Gott verherrlichten
und sagten: Niemals haben wir es also gesehen!"
Derselbe Herr, welcher unsre Sünden umsonst ver-
giebt, schenkt auch Kraft zum Wandeln. Niemals war es
früher also gesehen worden. Der Weg des Menschen ist
stets im Widerspruch mit den Wegen Gottes. Wenn wir
zuer st in den Geboten Gottes wandeln und dann Vergebung
erlangen könnten, würden wir dann nicht auf ein
Verdienst unserseits Anspruch machen können? O wie
verlangen unsre armen, stolzen Herzen nach einem, wenn
auch nur geringen Verdienst! Aber nichts kann u n,s auf
Rechnung gesetzt werden. Wenn wir meinen, selbst etwas
zu vermögen, so werden wir die schmerzliche Erfahrung,
machen müssen, daß wir völlig unfähig sind, auch nur
249
einen Schritt zur Ehre Gottes zu thun. Wenn wir aber
bis zu den Füßen Jesu gelangt sind und vor Ihm liegen
in all unsrer Ohnmacht und Hilflosigkeit, dann werden
wir nicht nur die herrliche Versicherung Seiner unendlichen,
vergebenden Liebe, die Vergebung aller unsrer
Sünden empfangen, sondern in der Kraft Seiner Auferstehung
und durch Seinen Heiligen Geist wird uns auch
alles das zu teil werden, was wir zu einem Wandel zu
Seiner Ehre bedürfen. Ja, wir nehmen dann dasselbe
Bett, auf welchem wir einst ruhten, auf unsre Schultern
und tragen es von dannen, Gott lobend und preisend.
„Zeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat,
reinigt sich selbst, gleichwie Er rein ist."
(1. Joh. 3, 3.)
Der Gläubige hat eine gesegnete Hoffnung. Er erwartet
nicht den Tod, er erwartet seinen Herrn. Jesus
hat verheißen, wiederzukommen und alle, die Sein sind,
zu sich zu nehmen in Seine Herrlichkeit. „Geliebte, jetzt
sind wir Gottes Kinder, und es ist noch nicht offenbar
geworden, was wir sein werden." Jetzt schon dürfen wir
uns Seine Kinder nennen: Kinder Gottes, Erben Gottes,
Miterben Christi — welch eine Kette von Segnungen!
Und es ist noch nicht offenbar geworden, was wir fein
werden. Diese Offenbarung wartet auf die Offenbarung
Jesu Christi, unsers Herrn. Wenn Er geoffenbart werden
wird, so werden wir mit Ihm geoffenbart werden in
Herrlichkeit; und: „wir werden Ihm gleich sein, denn
wir werden Ihn sehen, wie Er ist". (Vergl. Kol. 3.)
250
„Ihn sehen, wie Er ist" — das Herz frohlockt
bei dieser Aussicht. Nicht lange mehr, und wir werden
Sein freundliches Antlitz schauen, wir werden Ihn sehen,
an den wir geglaubt haben und den unsre Seele liebt;
und zwar wie Er ist, in all Seiner Schönheit und
Herrlichkeit. Um dies zu können, müssen wir Ihm gleich
sein, müssen denselben verherrlichten, verklärten Leib tragen
wie Er. Anders würden wir diesen Anblick nicht
ertragen können; er würde uns vernichten.
„Wir werden Ihm gleich sein." Wunderbare Aussicht!
Gesegnete Gewißheit! Was könnten wir mehr
wünschen, was in jenen Räumen endlosen, ewigen Segens
Höheres erwarten? In Seinem Bilde zu erwachen, in
der That, das ist ewige Freude, ewiger Genuß, volle
Befriedigung des Herzens. Diese arme Erde mit ihrem
Kummer und Leid für immer dahinten, dieser Leib mit
allen seinen Schwachheiten, mit der in ihm wohnenden
Sünde für immer abgelegt, und Ihm, Ihm, unserm
verherrlichten Herrn, gleichgestaltet — o wer könnte die
Fülle dieser Segnung verstehen, wer sie würdig beschreiben?
Doch was sagt der Apostel? „Ein jeder, der diese
Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie Er
rein ist." Diese Hoffnung „zu Ihm" — Gott sei
Dank, daß Er selbst die unerschütterliche Grundlage derselben
ist! — übt eine Wirkung auf jeden aus, der sie
hat. Beachte es, mein Leser, daß es nicht heißt: der sie
kennt, (ach! viele kennen sie, aber sie haben sie mehr
oder weniger vergessen, sie lebt nicht mehr in ihren
Herzen,) sondern: der sie zn Ihm hat. Jene Wirkung
ist eine absondernde, umwandelnde, reinigende. Wer da
wirklich hofft, Ihm bald — wer weiß, wie bald! —
gleich zu sein, wer darauf wartet mit sehnendem Verlangen,
wird wünschen, jetzt schon Ihm so ähnlich wie möglich zu
sein. Er reinigt sich, gleichwie Er rein ist. Christus
selbst ist der Maßstab, die Richtschnur seines Lebens,' sein
vollkommnes Vorbild und Muster. Ihm sucht er ähnlich
251
zu werden, Sein Bild in dieser Welt darzustellen. Er
betrachtet Ihn, und indem er mit aufgedecktem Angesicht
Seine Herrlichkeit anschaut, wird er in dasselbe Bild verwandelt
von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. (2. Kor. 3, 18.)
Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß der Gläubige
alles das nicht thut, um ein Kind Gottes zu werden,
sondern weil er ein solches ist. Der Apostel Paulus
schreibt an die Epheser: „Seid nun Nachahmer Gottes,
als geliebte Kinder, und wandelt in Liebe, gleich-,
wie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für uns
hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, Gott
zu einem duftenden Wohlgeruch." (Kap. 5, 1. 2.) Als
solche, die aus Gott geboren sind und eine vollkommene
Erlösung haben durch das Blut Christi, werden wir
ermahnt, den Heiligen Geist nicht zu betrüben, durch welchen
wir versiegelt sind auf den Tag der Erlösung.
Vielleicht wird der eine oder andere meiner Leser
einwenden: Aber wie könnte ich jemals das hohe, vollkommene
Vorbild erreichen? wie jemals hienieden Jesu
gleich werden? — Ich möchte dagegen fragen: Wünschest
du, daß Gott dir ein unvollkommenes Vorbild gebe?
Möchtest du einen niedrigeren Maßstab, eine weniger vollkommene
Richtschnur haben? Und weiter: Es handelt
sich gar nicht um die Frage, was du erreichen oder
nicht erreichen kannst; nein, wenn du jene Hoffnung zu
Ihm hast, so reinige dich selbst, gleichwie Er rein
ist — in diesem Augenblick, und im nächsten und
immerfort! Entdeckst du etwas in dir, was nicht gut ist,
was nicht in Uebereinstimmung steht mit Seiner Reinheit
und Heiligkeit, so thue es hinweg, richte es schonungslos;
und dann betrachte Ihn, die Wonne des Vaters,
Ihn, dessen Herrlichkeit dn ungehindert anschauen darfst,
der dir zur Freude, zur Speise und zum ewigen Genuß
gegeben ist. Das ist der Weg, auf welchem du dem Vorbilde
ähnlicher werden kannst, auf welchem deine Fortschritte
Anderen offenbar werden. Es ist allerdings
252
ein ernster Weg, ein Weg beständigen Selbstgerichts,
steter Selbstprüfung in dem untrüglichen Lichte der göttlichen
Gegenwart; aber es ist auch ein gesegneter Weg.
Und wer ihn geht, wartet mit Sehnsucht auf den Augenblick,
da er diesen armen Leib ablegen darf und Ihm
völlig gleich sein wird, der den Weg des Glaubens vollendet
hat und nun droben mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt ist.
Ehe wir scheiden, möchte ich den Leser noch auf eine
Stelle aufmerksam machen, deren Inhalt gerade für unsre
Tage von ernster Bedeutung ist. Sie findet sich am
Schlüsse des Buches der Offenbarung und lautet: „Die
Zeit ist nahe. Wer Unrecht thut, thue noch Unrecht,
nnd wer unrein ist, verunreinige sich noch, und wer gerecht
ist, übe noch Gerechtigkeit, und wer heilig ist, sei noch
geheiligt. Siehe, ich komme bald, und mein Lohn
mit mir, um einem jeden zu vergelten, wie sein Werk
sein wird."
„Der diese Dinge bezeugt, spricht: Ja, ich komme
bald." Im nächsten Augenblick schon kann sich diese mehrfach
wiederholte Verheißung erfüllen. Der Geist Gottes
ist überall in den Herzen der Gläubigen beschäftigt, um
das heilige Verlangen nach der Ankunft des Bräutigams
wachzurufen. „Der Geist und die Braut sagen: Komm!
Und wer es hört, spreche: Komm!" Kannst auch du,
mein Leser, zum Himmel emporblicken und deines Herzens
Verlangen in jenem einen Worte zum Ausdruck bringen:
„Komm!"? Der Geist sucht diesen Ruf in dem Herzen
der Braut zn erwecken; und wo diese glückselige Hoffnung
gekannt und genährt wird, wo sie im Herzen lebt,
da ist auch das Sehnen nach dem geliebten Herrn lebendig,
und wenn Er sagt: „Ja, ich komme bald!" so lautet die
Antwort: „Amen; komm, Herr Jesu!"
Nabal und Abigail.
(1. Sam. 25.)
Es ist interessant und belehrend, bei der Betrachtung
der Geschichte Davids die verschiedenen Eindrücke zu beobachten,
welche seine Person auf diejenigen machte, mit
denen er in Berührung kam, sowie die Stellung zu sehen,
welche letztere infolge jener Eindrücke einnahmen. Es war
eine bedeutende Glaubenskraft dazu nötig, um in dem
verachteten und Verbannten David den zukünftigen König
von Israel zu unterscheiden. Allen, die nur nach menschlichen
Grundsätzen urteilten, mochte sein Verhalten Saul
gegenüber unrichtig und sein Umherziehen im Lande unschicklich
und ungerechtfertigt erscheinen; aber der Glaube
urteilte völlig anders. In 1. Sam. 25 werden uns zwei
Personen vorgeführt, die in solch entgegengesetzter Weise
von der Person und dem Verhalten Davids berührt wurden.
„Es war ein Mann in Maon, der seine Geschäfte
zu Karmel hatte; und der Mann war sehr vermögend und
hatte dreitausend Schafe und tausend Ziegen; und er war
während der Schur seiner Schafe in Karmel. Und der
Name des Mannes war Nabal, und der Name seines
Weibes Abigail." (V. 2. 3.) Dieser Nabal war ein Israelit
wie David; aber welch ein Unterschied bestand schon in
den äußern Umständen dieser beiden Männer! Nabal war
ein sehr reicher Mann und genoß seine Reichtümer, während
254
David, obwohl er der gesalbte König von Israel war, nicht
hatte, wohin er sein Haupt legen sollte, sondern heimatlos
von Berg zu Berg, von Höhle zu Höhle umherwanderte.
Nabal war ferner ein selbstsüchtiger Mann und hatte kein
Mitgefühl mit David. Wenn er Segnungen besaß, so besaß
er sie nur für sich selbst; war er vermögend, so war er es
nur für sich selbst und dachte nicht im Entferntesten daran,
Andern von seinem Vermögen etwas zukommen zu lassen,
am allerwenigsten David und seinen Gefährten. Auch war er
undankbar und vergeßlich, ihm geleisteten Diensten gegenüber.
„Und David hörte in der Wüste, daß Nabal
seine Schafe schor. Da sandte David zehn Knaben, und
David sprach zu den Knaben: Ziehet hinauf nach Karmel,
und gehet zu Nabal und fraget ihn in meinem Namen nach
seinem Wohlergehen rc." (V. 4. 5.) David war in der
Wüste; das war sein Platz für die damalige Zeit. Nabal
war umgeben von allen Bequemlichkeiten des Lebens. David
verdankte alle seine Trübsale und Entbehrungen dem, was
er war - Nabal seinerseits verdankte all seinen Besitz dem,
was er war — ein Israelit, welchem Gott Verheißungen
für diese Erde gegeben hatte. Nun, wir finden gewöhnlich,
daß da, wo aus der religiösen Stellung und dem religiösen
Bekenntnis Vorteile gezogen werden, viel Selbstsucht vorhanden
ist. Wenn das Bekenntnis der Wahrheit nicht aufrichtig
ist und infolge dessen nicht mit Selbstverleugnung
gepaart geht, so wird es stets mit Selbst gefällig-
keit und Selbst befriedigung verbunden sein. Gerade in
unsern Tagen begegnet man vielfach einem hochtönenden Bekenntnis,
verbunden mit einem niedrigen Geist der Weltförmig-
keit. Das ist ein böses Übel, welches schon zu den Zeiten der
Apostel hervortrat und den treuen Knechten des Herrn viel
255
Sorge und Kummer bereitete. „Biele wandeln", schreibt
Paulus an die Philipper, „von denen ich euch oft gesagt
habe, nun aber auch mit Weinen sage, daßsiedieFeinde
des Kreuzes Christi sind: deren Ende Verderben,
deren Gott der Bauch und deren Ehre in ihrer Schande
ist, die auf das Irdische sinnen." (Kap. 3, 18.19.)
Die Personen, an welche der Apostel denkt, werfen
nicht allen christlichen Schein von sich ; weit davon entfernt:
„viele wandeln", sagt er. Dieser Ausdruck beweist,
daß sie an einem gewissen Maß von christlichem Bekenntnis
festhalten. Sie würden sich ohne Zweifel sehr beleidigt
fühlen, wenn man ihnen den Namen „Christen" absprechen
wollte. Aber sie sind Feinde des Kreuzes Christi; sie
wollen dieses Kreuz nicht aufnehmen. Sie wünschen keine
praktische Einsmachung mit einem gekreuzigten Christus.
Jedes Maß von äußerm Christentum, das man ohne Selbstverleugnung
besitzen kann, ist ihnen willkommen; aber nicht
ein Jota mehr als das. Ihr Gott ist der Bauch, und sie
sinnen auf irdische Dinge. Ach, wie viele Christen unsrer
Tage fallen unter diese Beschuldigung, auf irdische Dinge
zu sinnen! Es scheint vielen nicht schwer zu fallen, den
Namen Jesu auf die Lippen zu nehmen und ihn mit der
Sucht nach persönlicher Bequemlichkeit, mit Selbstbefriedigung
und Weltliebe zu verbinden. Aber wie traurig, wie verwerflich
und den Herrn verunehrend ist eine solche Verbindung!
Nabal war ein treffendes Exempel einer solchen Gesinnung.
Hängend an seinem Besitz und verhärtet durch
seinen Reichtum, kümmerte er sich nicht um den Gesalbten
Gottes, noch hatte er irgendwelche Gefühle für ihn in der
Zeit seiner schmerzlichen Verbannung und seines Umherirrens
in der Wüste. Hören wir, was er zu antworten
256
hat auf die freundlichen und herzlich bittenden Worte Davids:
„Wer ist David, und wer der Sohn Jsais?
Heutzutage sind der Knechte viele, die sich losreißen, ein
jeder von seinem Herrn. Und sollte ich mein Brot und
mein Wasser nehmen und mein Geschlachtetes, das ich für
meine Scherer geschlachtet habe, und es Männern geben,
von denen ich nicht weiß, woher sie sind?" (V- 10. 11.)
Was? er sollte von dem, was er zur Bewirtung seiner
Schafscherer zugerichtet hatte, nehmen und es David senden,
dem unbekannten Fremdling? Nimmermehr! Wer war
David, und woher kam er? Nabal wußte es nicht und
wollte es nicht wissen. Mochte David auch seine Knechte
beschützt und ihnen nichts zuleide gethan haben, so daß
nicht das Geringste von ihnen vermißt worden war, während
sie draußen ihre Herden weideten, so war dies alles doch
für Nabal kein Grund, dem Sohne Jsais freundlich zu
begegnen. Er kannte David nicht, er hatte kein Herz für
ihn und bedachte nicht, daß er mit seiner Antwort den
Gesalbten Jehovas schmähte und in seiner Thorheit und
Selbstsucht das große Vorrecht von sich wies, den Bedürfnissen
des zukünftigen Königs von Israel zu dienen.
Alle diese Dinge sind bedeutungsvoll und belehrend
für uns. Eine wirkliche Energie des Glaubens ist nötig,
um in der Zeit der Verwerfung Christi Seine Person zu
erkennen und mit ganzem Herzen an Ihm zu hangen. Ein
Christ zu sein, wie die Leute sagen, und Christum vor
den Menschen zu bekennen, sind zwei sehr verschiedene Dinge.
Man kann sich in der That kaum etwas Selbstsüchtigeres
vorstellen, als jenen Zustand des Herzens, welcher uns bereitwillig
alles hinnehmen läßt, was Jesus zu geben hat, ohne
daß wir nur einen Augenblick daran denken, Ihm etwas
257
dafür wiederzugeben. „Wenn ich nur errettet bin, so
ist alles andere unwesentlich", so denkt im Geheimen manche,
manche Seele. Ach! es wäre aufrichtiger, zu sagen: „Wenn
ich nur meiner Errettung gewiß bin, so liegt wenig daran,
ob Christus durch mich verherrlicht wird oder nicht."
Genau so handelte Nabal. Die Vorteile, welche ihm
von David geboten wurden, nahm er gern an; sobald aber
David auf sein Mitgefühl und seine Hilfe Anspruch machte,
offenbarte sich seine fleischliche, habsüchtige Gesinnung. „Und
ein Knabe von den Knaben berichtete der Abigail, dem Weibe
Nabals, und sprach: Siehe, David hat Boten gesandt aus
der Wüste, unsern Herrn zu segnen; aber er hat sie angefahren.
Und doch sind die Männer sehr gut gegen uns
gewesen, und es ist uns nichts zuleide geschehen, und wir
haben nicht das Geringste vermißt alle die Tage, die wir
mit ihnen umhergezogen sind, als wir auf dem Felde waren.
Sie find eine Mauer um uns gewesen, sowohl des Nachts
als auch des Tages, alle die Tage, die wir bei ihnen gewesen
sind, das Kleinvieh weidend." l(V. 14—16.) Das
war alles gut und Wohl. Nabal konnte den Vorteil des
Schutzes Davids wohl ermessen, aber seine Person
hatte keinen Wert für ihn. So lange Davids Männer
eine Mauer um seine Habe bildeten, Waren sie ihm willkommen;
sobald sie aber einen Gegendienst von ihm verlangten,
wurden sie geschmäht und hart angefahren.
Nabals Handlungsweise stand auch in unmittelbarem
Widerspruch mit der Heiligen Schrift, wie sein Geist mit
dem Geiste des Verfassers derselben. Im 15. Kapitel des
5. Buches Mose lesen wir: „Wenn ein Armer unter dir
sein wird, irgend einer deiner Brüder, in einem deiner
Thore in deinem Lande, das Jehova, dein Gott, dir giebt,
258
so sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht
verschließen vor deinem Bruder, dem armen; sondern du
sollst ihm deine Hand weit austhun und auf Pfand ihm
reichlich leihen, was hinreicht für den Mangel, den er hat.
Hüte dich, daß nicht in deinem Herzen ein Belialswort sei,
daß du sprechest: Es naht das siebente Jahr, das Erlaßjahr,
und daß dein Auge böse sei gegen deinen Bruder,
den armen, und du ihm nicht gebest, und er über dich zu
Jehova schreie, und Sünde an dir sei." Kostbare Worte!
Wie sind sie Gott so ähnlich, und wie unähnlich dem Nabal
und seinem Thun! Die Gnade erhält das Herz allezeit
weit geöffnet jedem bedürftigen Gegenstand gegenüber,
während die Selbstsucht es vor jedem Bittsteller verschließt.
Nabal hätte dem Worte Gottes gehorchen sollen, unbekümmert
darum, ob ein David oder irgend ein andrer seiner armen
Brüder sich an ihn gewandt hätte; aber seine Selbstsucht
war zu tiefgewurzelt, um ihm zu erlauben, dem Worte
Gottes zu gehorchen oder seine Liebe zu dem Gesalbten
Jehovas zu beweisen.
Nabals selbstsüchtiges Handeln führte indes zu sehr
wichtigen Ergebnissen. Bei David zunächst brachte es
manches ans Licht, das geeignet war, ihn in der Gegenwart
Gottes tief zu demütigen. Er verläßt bei dieser
Gelegenheit den erhabenen Platz, den er durch die Gnade
Gottes gewöhnlich einnahm. Ohne Zweifel war es keine
leichte Probe für ihn, einer solch niedrigen, undankbaren
Gesinnung bei einem Manne zu begegnen, für dessen Hab
und Gut er eine „Mauer" gewesen war. Auch war es
bitter, auf Grund seiner gegenwärtigen Lage, in welche
doch nur seine Treue ihn gebracht hatte, des Abfalls von
seinem Herrn angeklagt zu werden, während er doch gerade
259
in jenem Augenblick wie ein Rebhuhn über die Berge hin
gejagt wurde. Alles das war schwer zu ertragen, und
in der ersten Aufwallung seiner Gefühle spricht David
Worte aus, welche die göttliche Probe nicht zu ertragen
vermochten. „Gürtet ein jeder sein Schwert
um", sagt er. Eine solche Sprache hätten wir nicht gergde
von einem Manne erwartet, der bis dahin in einem so
demütigen und sanften Geiste vorangegangen war. Die
eben angeführte Schriftstelle giebt uns das Mittel an, zu
welchem der arme Bruder seine Zuflucht nehmen sollte,
wenn seine Bitte unerhört blieb. Es heißt: „Daß er
über dich zu Jehova schreie", nicht aber: daß er sein
Schwert ziehe, um sich selbst zu rächen. Nabals Selbstsucht
hätte nimmermehr durch das Schwert Davids geheilt
werden können, noch würde der Glaube jemals zu einem
solchen Mittel greifen. Im Blick auf Saul handelte
David ganz anders; er überließ seinen Feind Gott, und
selbst wenn er sich einmal verleiten ließ, einen Zipfel von
dem Oberkleide Sauls abzuschneiden, schlug ihm sein Herz.
Warum verhielt er sich gegen Nabal nicht gerade so?
Ohne Zweifel weil er die innige Gemeinschaft mit Gott
verloren hatte; er war nicht auf seiner Hut, und der
Feind benutzte dies zu seinem Vorteil. Die Natur wird
uns stets dahin leiten, unser Recht zu suchen und jede
Beleidigung mit gleicher Münze zu bezahlen. Wie oft
murrt das Herz im Stillen: „Er (Sie) hatte kein Recht,
mich so zu behandeln. Ich kann es wirklich nicht ertragen,
und ich brauche es mir auch nicht gefallen zu
lassen!" Vielleicht ist es so, vielleicht hat man dir Unrecht
gethan; aber der Mann des Glaubens steht über
diesen Dingen. Er sieht in allem Gott. Die Eifersucht
260
Sauls, die Thorheit und Bosheit Nabals, alles wird betrachtet
als aus der Hand Gottes kommend und wird in
Seiner heiligen Gegenwart behandelt. Das Werkzeug
ist für den Glauben nichts, Gott ist alles. Dieses Bewußtsein
giebt Kraft, um durch alle Umstände und
Schwierigkeiten ruhig hindurchzugehen. Erblicken wir aber
nicht Gott in allen Dingen, so werden wir immer neue
Schlingen und Fallstricke auf unserm Wege finden.
Wenden wir uns jetzt zu Abigail, dem Weibe Nabals,
einer Frau „von guter Einsicht und schön an Gestalt".
Das Haus des thörichten, geizigen Nabal muß
für eine solche Frau ein schwieriger Aufenthaltsort gewesen
sein; aber sie glaubte an Gott, vertraute auf Ihn
und wurde, wie wir sehen werden, nicht beschämt. Ihre
Geschichte ist voll Belehrung und Ermunterung für alle,
welche sich durch unvermeidliche oder unverbrüchliche Verbindungen
gehindert und eingeschränkt sehen. Allen solchen
ruft die Geschichte Abigails zu: Sei geduldig, warte auf
Gott und denke nicht, daß dir jede Gelegenheit zum
Zeugnis für den Herrn abgeschnitten sei! Der Herr kann
durch ein stilles, sanftmütiges Verhalten viel verherrlicht
werden, und am Ende wird Er gewiß Erleichterung und
Sieg geben. Allerdings haben manche es sich selbst zuzuschreiben,
daß sie sich in solchen Verbindungen befinden;
aber wenn sie ihre Thorheit und Sünde einsehen nnd aufrichtig
vor Gott bekennen, wenn die Seele wirklich vor
Gott gebeugt und gedemütigt ist, so wird selbst in solchen
Fällen das Ende Segen und Frieden sein.
Abigail diente thatsächlich als Werkzeug, um. keine geringere
Person als den Gesalbten des Herrn von einem verkehrten
Wege abzubringen. Es mag sein, daß ihr eigner Pfad
261
bis dahin ein schmerzlicher und Prüfungsreicher gewesen
war; an der Seite eines Mannes wie Nabal konnte es,
wie bereits bemerkt, kaum anders sein. Doch der Augenblick
kam, wo die Gnade, die in ihr wirkte, ans Licht
treten sollte. Sie hatte im Verborgenen gelitten, und jetzt
stand sie im Begriff, zu einem ungewöhnlich hohen Platz
erhoben zu werden. Wenige hatten ihr stilles, geduldiges
Zeugnis beobachtet; aber viele sollten ihre Erhebung sehen.
Das Kostbare des Dienstes Abigails bestand nicht darin,
daß sie Nabal von dem Schwerte Davids rettete, sondern
daß sie David davor bewahrte, das Schwert zu ziehen.
„David aber hatte gesagt: Fürwahr, umsonst habe ich
alles behütet, was diesem Menschen gehörte in der Wüste,
so daß nicht das Geringste vermißt wurde von allem, was
sein ist; und er hat mir Böses für Gutes vergolten.
So thue Gott den Feinden Davids, und so füge Er hinzu,
wenn ich von allem, was sein ist, bis zum Morgenlicht
übriglasse, was männlich ist!" .
David hatte den allein glücklichen und heiligen Platz
der Abhängigkeit von Gott verlassen, und zwar nicht einmal
um der Gemeinde des Herrn, sondern um seiner selbst
willen, um sich zu rächen an einem Manne, der ihn übel
behandelt hatte. Welch ein Glück für ihn, daß es in dem
Hause Nabals eine Abigail gab, die von Gott dazu gebraucht
werden sollte, um ihn zu bewahren, daß er nicht
gerade so thöricht handelte wie Nabal. Das war es
gerade, was der Feind wünschte. Er benutzte die Selbstsucht
Nabals, um David zu Fall zu bringen. Wie gut,
wenn der Gläubige die Wirksamkeit Satans entdeckt!
Aber um dies zu können, muß er viel in der Gegenwart
Gottes sein; denn dort allein findet er Licht und geist
262
liche Kraft, um einem solchen Widersacher zu begegnen.
Außerhalb dieser Gemeinschaft ist die Seele immer geneigt,
auf sichtbare Dinge, auf zweite Ursachen und untergeordnete
Werkzeuge zu blicken und die wahre Quelle der Versuchung
zu vergessen; gerade so wie David nur Nabal im Auge
hatte und ganz vergaß, daß der Feind hinter allem stand.
Hätte er die Sache ruhig vor Gott erwogen, so würde
er „diesen Menschen" sich selbst und Gott überlassen
haben. Der Glaube verleiht dem Charakter eines Menschen
wahre Würde und erhebt ihn über die gegenwärtigen
Umstände. Wer da weiß und verwirklicht, daß er ein
Fremdling und Pilgrim hienieden ist, wird sich stets daran
erinnern, daß die Leiden und Freuden dieses Lebens vorübergehend
sind, und wird sich weder durch die einen noch
durch die andern ungebührlich erregen lassen. „Vergänglichkeit"
ist auf alles Sichtbare geschrieben; es geht schnell
vorüber. Der Mann des Glaubens schaut daher auswärts
und vorwärts.
Abigail befreite durch die Gnade Gottes den Gesalbten
Jehovas von dem unglückseligen Einfluß der Gegenwart,
indem sie seine Seele aus die Zukunft hinlenkte.
Hören wir, mit welch schönen, ergreifenden Worten
sie zu ihm redete: „Und als Abigail David sah, ... fiel
sie ihm zu Füßen und sprach: Auf mir, mir, mein Herr,
sei die Ungerechtigkeit! und laß doch deine Magd zu deinen
Ohren reden, und höre die Worte deiner Magd. Mein
Herr kümmere sich doch nicht um diesen Mann Belials,
um Nabal; denn wie sein Name, so ist er: Nabal *) ist
sein Name, und Thorheit ist bei ihm. Und ich, deine
*) d. i. Thor, gemeiner Mensch.
263
Magd, habe die Knaben meines Herrn nicht gesehen, die
du gesandt hast. Und nun, mein Herr, so wahr Jehova
lebt und deine Seele lebt, es ist Jehova, der dich verhindert
hat, in Blutschuld zu kommen, und daß deine
Hand dir Hilfe schaffe! Und nun, mögen wie
Nabal sein deine Feinde und die Böses suchen wider
meinen Herrn! ... Denn Jehova wird gewißlich
meinem Herrn ein beständiges Haus
machen, weil mein Herr die Streite Jehovas
streitet, und kein Böses an dir gefunden ward, seitdem
du lebst. Und ein Mensch ist aufgestanden, dich zu
verfolgen und nach deiner Seele zu trachten; aber die
Seele meines Herrn wird eingebunden sein
in das Bündel der Lebendigen bei Jehova,
deinem Gott; und die Seele deiner Feinde, die wird
Er wegschleudern in der Pfanne der Schleuder. Und es
wird geschehen, wenn Jehova meinem Herrn thun
wird nach all dem Guten, das Er über dich
geredet hat, und dich bestellen wird zum
Fürsten über Israel, so wird dir dieses nicht zum
Anstoß sein und zum Herzensvorwurf für meinen Herrn,
daß du Blut vergossen habest ohne Ursache, und daß mein
Herr sich selbst Hilfe geschafft. Und wenn Jehova meinem
Herrn wohlthun wird, so gedenke deiner Magd."
(V. 23—31.)
Wir könnten uns kaum etwas Rührenderes denken
als diese Anrede. Jeder einzelne Punkt derselben war
darauf berechnet, das Herz Davids zu bewegen. Abigail
stellt ihm vor, wie böse es sei, sich selbst rächen zu
wollen; sie erinnert ihn an die Schwachheit und Thorheit
des Gegenstandes seiner Rache und ruft ihm ins Gedächtnis
264
zurück, daß er berufen war, die Streite Jehovas
zu streiten. Wie muß ihm alles dieses die demütigenden
Umstände zum Bewußtsein gebracht haben, in welchen
Abigail ihn sand!
Indes wird der Leser bemerken, daß der leitende
Gedanke in Abigails Worten der Hinweis aus die Zukunst
ist. Sie sagt: „Jehova wird gewißlich meinem Herrn
ein beständiges Haus machen." „Die Seele meines Herrn
wird eingebunden sein in das Bündel der Lebendigen."
„Und es wird geschehen, wenn Jehova meinem Herrn
thun wird . . . und dich bestellen wird zum Fürsten
über Israel w." Alle diese Hinweise auf Davids zukünftige
Segnung und Herrlichkeit waren in hervorragender Weise
dazu angethan, sein Herz von seiner gegenwärtigen Trübsal
abzulenken. Das beständige Haus, das Bündel der
Lebendigen nnd das Königtum waren ungleich bessere
Dinge als Nabals Rind- und Kleinvieh; und im Blick
auf jene kommenden Herrlichkeiten konnte David ihm getrost
sein Teil überlassen. Er hatte ein besseres Teil gefunden.
Für den Erben des Reiches konnten einige
Schafe keine Anziehungskraft haben; und einem Manne,
der da wußte, daß das Salbungsöl Jehovas auf seinem
Haupte war, konnte es nicht so schwer fallen, ein seinem
Herrn entlaufener Knecht genannt zu werden. Dem Glauben
Abigails waren alle diese Dinge bekannt. Sie kannte
David, und sie kannte auch seine hohe Berufung. Durch
Glauben sah sie in dem verachteten Flüchtling den zukünftigen
König von Israel. Nabal war ein Mann dieser
Welt, für welchen nur die gegenwärtigen, sichtbaren Dinge
Wert hatten. Für ihn gab es nichts Wichtigeres als sein
Brot, sein Fleisch, sein Geschlachtetes, seine Scherer.
265
Es war alles „Ich" und wieder „Ich". Für David und
seine Ansprüche gab es keinen Raum in seinem Herzen.
Wir können dies bei einem Manne von seinem Charakter
kaum anders erwarten; aber unter allen Umständen war
es verkehrt von David, seinen erhabenen Platz zu verlassen
und mit einem armen Weltkinde um dessen Besitz zu streiten.
Das zu erwartende Reich hätte seine Gedanken beschäftigen
und seinen Geist über alle niedrigeren Einflüsse erheben sollen.
Betrachten wir unsern gepriesenen Herrn selbst, als
Er vor den Schranken eines armen Erdenwurmes, eines
Geschöpfes Seiner eignen Hand, stand. Wie verhielt Er
sich? Forderte Er die kleine Schar Seiner Jünger auf,
das Schwert umzugürten und für Seine Ehre einzutreten?
Erinnerte Er den Mann, der sich vermaß, über Ihn zu
Gericht zu sitzen, an all das Gute, das Er gethan, an
die vielen Wohlthaten, die Er Seinem Volke erwiesen hatte?
Nein, Er schaute über Pilatus, Herodes, die Hohenpriester
und Schriftgelehrten hinaus. Er konnte sagen: „Den
Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht
trinken?" und Er konnte in die Zukunft blicken und
Seinen Feinden zurufen: „ Doch ich sage euch : von nun
an werdet ihr den Sohn des Menschen sehen, sitzend zur
Rechten der Macht und kommend auf den Wolken des
Himmels". Wir begegnen hier einer Kraft, die weit erhaben
war über alles Gegenwärtige. Das tausendjährige
Reich'mit seinen Freuden und herrlichen Segnungen erglänzte
in der Ferne und warf seine lieblichen Strahlen auf
den finstern Pfad des Mannes der Schmerzen. Inmitten
des Spottes nnd Hohnes, der Beschimpfungen und Mißhandlungen
seitens schuldiger Sünder blieb Er still und
ruhig und litt geduldig.
2K6
Mein lieber christlicher Leser! Jesus ist unser Vorbild.
So wie Er, sollen auch wir den Prüfungen
und Schwierigkeiten des gegenwärtigen Zeitlaufs, den
Schmähungen und Unbilden seitens der Welt begegnen.
Wir sollten alles im Lichte der Zukunft betrachten.
„Laßt eure Gelindigkeit kundwerden allen Menschen",
ruft uns ein hervorragender Dulder zu, „der Herr ist
nahe"; und: „Das schnell vorübergehende Leichte unsrer
Drangsal bewirkt uns ein über die Maßen überschwengliches,
ewiges Gewicht von Herrlichkeit". Ein andrer
schreibt an die schwergeprüften „Fremdlinge von der Zerstreuung"
: „Der Gott aller Gnade aber, der euch berufen
hat zu Seiner ewigen Herrlichkeit in Christo Jesu, nachdem
ihr eine kleine Zeit gelitten habt, Er selbst wird euch
vollkommen machen re." Und der Herr selbst sagt zu den
beiden Emmaus-Jüngern: „O ihr Unverständigen und
trägen Herzens, zu glauben an alles, was die Propheten
geredet haben! Mußte nicht der Christus dies leiden
und in Seine Herrlichkeit eingehen?" Ja, das
Leiden muß zuerst kommen, und darnach die Herrlichkeit;
und wer mit eigener Hand die Schärfe gegenwärtigen
Leidens und Geschmähtwerdens von sich abzuwenden sucht,
beweist, daß das kommende Reich nicht Gegenstand seiner
Erwartung ist, daß die Gegenwart mehr Einfluß auf ihn
hat als die Zukunft.
Wie sollten wir Gott dafür danken, daß Er uns
einen solchen Ausblick auf die Herrlichkeit der zukünftigen
Zeitalter geöffnet hat! Nichts kann uns so befähigen,
mit festem Tritt unsern rauhen Pfad durch die Wüste fortzusetzen.
Nichts erhebt uns so über die sichtbaren Dinge,
welche die Kinder dieser Welt über alles schätzen oder
267
fürchten. Möchten wir alle mehr imstande sein, während
wir durch dieses finstere Thränenthal gehen, zu singen und
zu sagen:
Diese Erde, voll Beschwerde,
Hat nichts mehr für unser Herz.
Uns erquicket und beglücket,
Was der Glaube dort erblicket,
Wo beendet jeder Schmerz!
In der letzten Hälfte unsers Kapitels begegnen wir
noch einem andern treffenden Beispiel von dem großen
Unterschiede, der zwischen dem Kinde der Natur und dem
Kinde des Glaubens besteht. Als Abigail von ihrer
Unterredung mit David zurückkehrte, fand sie Nabal
„trunken über die Maßen"; sie berichtete ihm deshalb
weder Kleines noch Großes, bis der Morgen hell wurde.
„Und es geschah am Morgen, als der Weinrausch von
Ngbal gegangen war, da berichtete ihm sein Weib diese
Dinge; und sein Herz erstarrte in seinem Innern, und
er ward zu Stein. Und es geschah ungefähr zehn Tage
nachher, da schlug Jehova Nabal, und er starb." Welch
ein trauriges Gemälde von einem Manne der Welt!
Während der Nacht in tiefem Rausche liegend, und am
Morgen von Furcht und Entsetzen ergriffen! Ernstes,
erschütterndes Bild von den vielen Millionen, welche der
Feind durch die vergänglichen Freuden einer Welt berauscht,
die unter dem Fluche Gottes liegt und das Feuer
Seines Gerichts erwartet! „Die da schlafen, schlafen des
Nachts, und die da trunken sind, sind des Nachts trunken."
Aber ach! der Morgen ist nahe, wo der Vorrat an
Wein — treffendes Bild von den Freuden dieser Welt! —
völlig erschöpft sein wird; der Augenblick kommt, wo die
268
fieberhafte Aufregung, in welcher Satan jetzt die Menschen
dieser Welt erhält, weichen, und die Ewigkeit alle ihre
Schrecken vor den Augen der voll Entsetzen Erwachenden
entfalten wird. Nabal trat nicht einmal David von Angesicht
zu Angesicht gegenüber; der bloße Gedanke an sein
Rächerschwert erfüllte seine Seele mit tödlicher Angst.
Wie viel schrecklicher muß es sein, dem Feuerauge des
verachteten und verworfenen Jesus begegnen zu müssen,
welchem alles Gericht vom Vater übergeben worden ist!
Dann werden die Abigails und die Nabals die ihnen zugehörenden
Plätze finden: die einen, welche den wahren
David in der Zeit Seiner Verwerfung gekannt und geliebt
haben, und die andern, welche Ihn haßten und verachteten-
Gott gebe in Seiner reichen Gnade, daß alle meine Leser
sich unter der glücklichen Schar der ersteren befinden
mögen!
Ehe wir unsere Betrachtung schließen, möchte ich noch
bemerken, daß die Geschichte Abigails und Nabals uns
auch ein interessantes Bild von der Kirche Gottes und der
Welt, als ein Ganzes betrachtet, gewähren — die eine,
vereinigt mit dem König und verbunden mit ihm in seiner
Herrlichkeit, die andere versenkt in Verderben und Untergang.
„Da nun dies alles aufgelöst wird, welche solltet
ihr dann sein in heiligem Wandel und Gottseligkeit, erwartend
und beschleunigend die Ankunft des Tages Gottes,
dessentwegen die Himmel, in Feuer geraten, werden aufgelöst
, und die Elemente im Brande zerschmelzen werden!
Wir erwarten aber, nach Seiner Verheißung, neue Himmel
und eine neue Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnt. Deshalb,
Geliebte, da ihr dies erwartet, so befleißiget euch,,
ohne Flecken und tadellos von Ihm erfunden zu werden
269
in Frieden." (2. Petr. 3, 11—14.) Das sind die gewaltigen,
erschütternden Thatsachen, welche uns im Worte
Gottes immer wieder vorgestellt werden, um unsre Herzen
von den gegenwärtigen Dingen zu lösen und sie in wahrer,
aufrichtiger Liebe an jene Gegenstände und Aussichten zu
fesseln, welche mit der Person des Sohnes Gottes in
Verbindung stehen. Die tiefe, entschiedene Ueberzeugung
von der Wirklichkeit dieser Dinge kann auch allein jenes
gesegnete Resultat hervorbringen. Wir kennen die bezaubernde
und berauschende Kraft der Pläne und Unternehmungen
der Welt; wir wissen, wie das menschliche
Herz, gleich dem leichten Boot in einer Stromschnelle, mit
fortgerissen wird, sobald geschäftliche Unternehmungen, gewinnbringende
Beschäftigungen, Vorgänge politischer Art,
soziale Bestrebungen und dergl. Dinge mehr zur Sprache
kommen. Alle diese Gegenstände üben auf den menschlichen
Geist einen ähnlichen Einfluß aus wie einst der Wein
auf Nabal. Sie nehmen ihn gefangen und berauschen ihn,
so daß es fast nutzlos ist, ihm die ernsten Dinge vorzustellen,
von denen wir eben gesprochen haben. Und doch
müssen wir immer wieder darauf zurückkommen, sie immer
von neuem ernstlich betonen, „und das umsomehr, je mehr
wir den Tag herannahen sehen". „Der Tag des Herrn
wird kommen wie ein Dieb in der Nacht." „Alles dieses
wird aufgelöst werden." „Die Himmel werden vergehen
mit gewaltigem Geräusch, die Elemente aber werden im
Brande aufgelöst und die Erde und die Werke auf ihr verbrannt
werden." (1. Thess. 5; 2. Petr. 3.)
Das sind die ernsten Aussichten für alle 'diejenigen,
welche, „beschwert durch Böllerei und Trunkenheit und
Lebenssorgen", die Ansprüche Jesu vergessen und die Ein
270
ladungen und Warnungen Gottes in den Wind schlagen.
Die Welt bereitet sich mit großer Schnelligkeit für den
Empfang des Menschen der Sünde vor, in welchem sich
"durch die Macht und Wirksamkeit Satans alle ihre bösen Grundsätze
verkörpern und ihre gottentfremdeten Kräfte vereinigen
werden. Ist einmal der letzte Erwählte eingesammelt, das
letzte Glied durch die lebendigmachende Kraft des Heiligen
Geistes in den Leib eingefügt, der letzte Stein an den ihm
zuvor bestimmten Platz in dem Tempel Gottes gebracht,
so wird das Salz, welches jetzt noch die Welt vor völligem
Verderben schützt, hinweggethan und die letzte Schranke,
welche durch die Gegenwart des Heiligen Geistes in der
Kirche Christi gebildet wird, entfernt werden; und dann
wird der Gesetzlose aus dem Schauplatz dieser Welt erscheinen,
„den der Herr Jesus verzehren wird durch den
Hauch Seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung
Seiner Ankunft, ihn, dessen Ankunft nach der Wirksamkeit
des Satans ist, in aller Macht und allen Zeichen und
Wundern der Lüge, und in allem Betrug der Ungerechtigkeit
denen, die verloren gehen, darum daß sie die Liebe
zur Wahrheit nicht annahmen, damit sie errettet würden."
<2. Thess. 2.)
Wahrlich, Worte wie diese sollten die Menschen dieser
Welt in ihrem Laufe einhalten und sie dahin führen, mit
allem Ernst ihr Ende zu bedenken. „Achtet die
Langmut unsers Herrn für Errettung", ermahnt der Apostel
Petrus. Manche achten diese Langmut für einen „Verzug",
als ob der Herr Seine Verheißung verzöge. Aber nein,
Er verzieht nicht Seine Verheißung, sondern Er wartet
in Langmut mit der Vollziehung des Gerichts, um noch
manchem Sünder gnädig sein zu können.
271
Gott sei gepriesen! Viele haben in unsern Tagen
das Zeugnis von der Freundlichkeit und Güte des wahren
David, sowie von dem kommenden Gericht, das Er ausführen
wird, gehört und es im Glauben ausgenommen.
Sie haben es gemacht wie Abigail, welche die Kunde von
David hörte und, im Glauben sie erfassend, nach den Gedanken
Gottes handelte. Sie sind ausgegangen aus der
Welt und haben sich mit Jesu verbunden, um heute den
Platz der Verwerfung und bald den Platz der Herrlichkeit
mit Ihm zu teilen. Möchten sie alle stets erfunden werden
auf dem Wege heiliger Absonderung, getrennt von der
Welt und ihren Dingen!
Bethanien.
(Joh. II u. 12.)
I.
Die Geschichte der Familie in Bethanien ist voll'
kostbarer Belehrungen. Im 11. Kapitel des Evangeliums
Johannes sehen wir, was Jesus für diese Familie war,
das 12. Kapitel teilt uns mit, was diese Familie war für
Jesum. Im 11. Kapitel werden uns vornehmlich drei Gegenstände
vor Augen gestellt: 1) der Pfad unsers hochgelobten
Herrn in Gemeinschaft mit dem Vater, 2) Sein tiefes Mitgefühl
mit den Seinigen, und 3) Seine wunderbare Macht
und Seine Gnade, die sich darin kundgiebt, daß Er uns-
mit sich in Seinem Werke verbindet, soweit dies möglich ist.
„Es war aber ein Gewisser krank, Lazarus von Bethanien,
aus dem Dorfe der Maria und ihrer Schwester
Martha. (Maria aber war es, die den Herrn mit Salbe
272
salbte und Seine Füße mit ihren Haaren abtrocknete; deren
Bruder Lazarus war krank.) Da sandten die Schwestern
zu Ihm und sagten: Herr, siehe, der, den du lieb hast,
ist krank. Als aber Jesus es hörte, sprach Er: Diese
Krankheit ist nicht zum Tode, sondern um der Herrlichkeit
Gottes willen, auf daß der Sohn Gottes durch sie verherrlicht
werde." — Die Schwestern wandten sich in ihrer
Not an ihren göttlichen Freund; und sie hatten Recht.
Jesus war eine sichere Zuflucht für sie, wie Er es stets
für Seine geprüften Jünger ist, wer oder wo sie sein mögen.
„Rufe mich an am Tage der Bedrängnis: ich will dich
erretten, und du wirst mich verherrlichen!" (Pf. 50, 15.)
Wir sind so geneigt, in Zeiten der Not und Bedrängnis
zunächst zu dem Geschöpf unsre Zuflucht zu nehmen, um
won ihm Hilfe und Mitgefühl zu erlangen; und darum
werden wir so oft getäuscht. Unser Gott selbst sorgt dafür,
daß wir die Thorheit alles Vertrauens auf menschliche Hilfe,
sowie die Eitelkeit aller menschlichen Hoffnungen und irdischen
Erwartungen erfahren, um uns dann in Seiner gnädigen
Weise die Wahrheit der Worte erproben zu lassen: „Die
auf mich harren, werden nicht beschämt werden".
Unser Gott und Vater beschämt nie ein Herz, das auf
Ihn vertraut und auf Seine Hilfe wartet; nein, nie!
gepriesen fei Sein heiliger Name! Er kann sich selbst nicht
verleugnen. Es ist Seine Freude, in unsern Bedürfnissen,
Schwachheiten und Kümmernissen immer neue Gelegenheiten
zu finden, um uns Seine zarte Sorge und väterliche Güte
in tausendfacher Weise zu erzeigen; zugleich aber belehrt
Er uns, wie gesagt, über die Unzulänglichkeit aller menschlichen
Hilfsquellen. Denn „so spricht Jehova: Verflucht
ist der Mann, der auf den Menschen vertraut und Fleisch
273
zu seinem Arme macht, und dessen Herz von Jehova weicht!
Und er wird sein wie ein Entblößter in der Steppe re."
Und andrerseits: „Gesegnet ist der Mann, der auf Jehova
vertraut und dessen Vertrauen Jehova ist! Und er
wird sein wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist und
am Bache seine Wurzeln ausstreckt rc." l'Jer. 17, 5—8.)
Welch eine Thorheit, auf Menschen, und wenn es die besten
und gutherzigsten sind, zu vertrauen und sich, mittelbar oder
unmittelbar, zu menschlichen Brunnen zu wenden, zu „geborstenen
Cisternen, die kein Wasser halten" ! Gottes Bach
aber ist allezeit voll Wassers, und glückselig der Mann, der
an ihm seine Wurzeln ausstreckt, der sich in einfältigem
Glauben auf den lebendigen Gott stützt, dessen Freude es
ist, dem Bedürftigen darzureichen, den Schwachen zu stärken
nnd den Niedergebeugten aufzurichten!
Die Schwestern in Bethanien handelten also ganz richtig,
als sie sich in der Stunde der Not an Jesum wandten. Er
Ivar fähig und bereit, ihnen zu helfen. Aber seltsamer
Weise antwortete Er nicht sogleich auf ihren Ruf. Er eilte
nicht herbei, um ihr Leid zu wenden. So innig und zärtlich
Er sie auch liebte, und so völlig Er in ihren Schmerz und
ihre Angst einging und mit ihnen fühlte, zögerte Er dennoch
nach Bethanien zu gehen. Der Feind mochte dies benutzen,
um allerlei verkehrte Gedanken in den Schwestern zu erwecken,
und ihre eignen Herzen mochten sich manch trüben
Überlegungen hingeben. Hatte ihr geliebter Herr sie denn
ganz und gar vergessen? War ihr Freund nicht mehr
derselbe wie früher ? Hatte irgend etwas eine Wolke zwischen
Ihn und sie gebracht? Wir alle wissen, wie das arme
Herz zu solchen Zeiten grübelt und sich selbst quält. Da
giebt es denn nur e i n Heilmittel für alle die kleingläubigen
274
Überlegungen, nur eine triumphierende Antwort auf die
bösen Einflüsterungen des Feindes. Und worin besteht dieses
Heilmittel? In dem felsenfesten Vertrauen auf die ewige
Unveränderlichkeit der Liebe Christi.
Mein lieber Leser! Kennst du den Herrn Jesum als
deinen Heiland, deinen guten Hirten und göttlichen Freund?
Nun, dann laß dich in deinem Vertrauen auf die Liebe
deines Herrn durch nichts irre machen! Mag kommen, was
da will; mag der Ofen der Trübsal noch so heiß werden;
mögen die Wasser noch so tief, die Schatten noch so dunkel
und der Pfad noch so rauh sein — halte fest an deinem
Vertrauen auf die vollkommene Liebe und das tiefe, zärtliche
Mitgefühl Dessen, der Seine Liebe zu dir durch Seinen
Tod besiegelt hat, der die finstern Wogen und Wellen des
Zornes Gottes willig über sich ergehen ließ, um deine
Seele vom ewigen Verderben zu erretten. Fürchte dich,
nicht, Ihm völlig zu vertrauen und dich Ihm rückhaltlos
und ohne einen Schatten von Zweifel zu übergeben. Miß
nicht Seine Liebe an deinen Umständen. Wenn du das
thust, mußt du notwendigerweise zu einem falschen Schluß
kommen. Urteile nicht nach dem äußern Schein. Ziehe
deine Schlüsse nicht aus dem, was dich umgiebt, aus deiner
Lage und deinen Schwierigkeiten. Fliehe an das Herz
Jesu, und von diesem gesegneten Mittelpunkte aus urteile
und schließe. Suche niemals Seine Liebe aus deinen Umständen
zu erklären, sondern deute deine Umstände stets aus
Seiner Liebe. Laß die Strahlen Seiner ewigen Gunst auf
deine finstre Umgebung fallen, und dann wirst du imstande
sein, jeden ungläubigen Gedanken zu beantworten, woher
er auch kommen mag.
Es ist etwas Großes, in allen Lagen Gott rechtfertigen
275
zu können und, wenn wir nichts anderes zu thun vermögen,
dazustehen als ein Denkmal Seiner unfehlbaren Treue allen
denen gegenüber, welche auf Ihn vertrauen. Was macht
es auch aus, ob der Horizont rund um uns her finster
ist, ob sich dichte Wolken sammeln und der Sturm tobt?
Gott ist treu und wird nicht erlauben, daß wir über Vermögen
versucht werden, sondern wird mit der Versuchung
auch einen Ausweg schaffen, so daß wir imstande sind, sie
zu ertragen.
Es ist ein großer Fehler, Gottes Liebe an der Art
ihrer Offenbarung messen zu wollen. Diese Liebe kleidet
sich in die verschiedensten Formen, und häufig erscheint uns
in unsrer Kurzsichtigkeit die Form geheimnisvoll und unverständlich.
Aber wenn wir nur geduldig warten, so wird
Sein Licht alles klar machen und unsre Herzen mit Bewunderung
und Anbetung erfüllen. Gottes Gedanken sind
nicht unsre Gedanken, Seine Wege nicht unsre Wege, und
Seine Liebe ist nicht unsre Liebe. Wenn wir hören, daß
ein lieber Freund von uns in großen Schwierigkeiten oder
Leiden ist, so möchten wir am liebsten sofort zu ihm eilen
und ihn wenn möglich aus seiner schlimmen Lage befreien.
Vielleicht aber wäre das ein großes Übel. Statt unserm
Freunde zu helfen, würden wir ihm möglicherweise zu
ernstem Schaden dienen. Es könnte sein, daß wir schnurstracks
den Gedanken Gottes entgegen handelten, indem wir
ihm aus einer Lage heraushälfen, in welche die göttliche
Regierung ihn zu seinem Nutzen und Segen gebracht hat.
Die Liebe Gottes ist weise, einsichtsvoll und treu. Wir
machen immer wieder die verhängnisvollsten Fehler, trotzdem
wir mit aller Aufrichtigkeit wünschen mögen, das Richtige
und Gute zu thun. Wir sind nicht fähig, die Wege der
276
Vorsehung zu beurteilen oder die Endergebnisse der Handlungen
Gottes mit Seinen Kindern abzuwägen. Es bleibt
uns daher nichts anderes übrig, als viel auf Gott zu warten
und vor allem an unserm Vertrauen auf Seine unveränderliche,
nie irrende noch fehlende Liebe festzuhalten. Er
wird einmal alles klar machen und aus der tiefsten und
schwersten Not die reichste Segensernte für uns hervorbringen.
Er läßt alle Dinge zu unserm Wohle mitwirken.
Aber Er ist nie in Eile. Er behält stets Seine weisen
Absichten im Auge und wird zu Seiner Zeit und in Seiner
Weise Sein Ziel erreichen.
Der Glaube kann die Zeit Gottes abwarten, da er
weiß, daß Seine Zeit die beste ist. Er wankt nicht, selbst
wenn Gott mit Seiner Hilfe zu zögern scheint. Er ruht in
der Gewißheit der unendlichen Liebe und unfehlbaren Treue
und Weisheit Gottes. Der Glaube erfüllt das Herz mit der
süßen Zuversicht, daß ein Aufschub, den Gott zuläßt, nur
zum Segen dienen kann, und daß schließlich alles zur Verherrlichung
Gottes ausschlagen muß. Er rechtfertigt Gott
inmitten der schmerzlichsten Trübsale und weiß und bekennt,
daß die göttliche Liebe allezeit nur das Beste für ihre
Gegenstände thut. Er weiß ferner, daß, wenn die Hilfe
im Augenblick nicht kommt, Gott irgend einen Zweck verfolgt,
der mit Seiner Herrlichkeit und unserm Wohle in
Verbindung steht. Für den Glauben sind alle Schwierigkeiten
nichts; denn was sind Tod und Grab angesichts
der göttlichen Macht? Für den wahren Gläubigen sind
alle seine Feinde nur „Brot". (4. Mose 14, 9.)
Ach! wir denken in Zeiten der Drangsal meist nur
an eine Sache, an die Befreiung aus unsrer Not. Aber
es giebt weit mehr als das zu erwägen. Wir sollten an
277
die Verherrlichung Gottes denken und Seinen Zweck zu
erforschen suchen, weshalb Er uns einen solchen Weg führt.
Wir sollten ernstlich begehren, daß dieser Zweck erreicht
und Sein Name verherrlicht werde. Vergessen wir nicht,
daß durch die Gnade Gottes Seine Verherrlichung und
unsre Segnung so unzertrennlich mit einander verbunden
sind, daß, wenn die erstere gesichert ist, die letztere
nimmermehr fehlen kann.
Es mag nicht so leicht sein, dies festzuhalten, wenn
der schwere Druck gerade auf uns lastet. Wenn wir mit
ängstlicher Sorge an dem Krankenbette eines geliebten
Verwandten oder Freundes wachen, wenn wir eines unsrer
Lieben abgeben müssen, oder wenn wir selbst aufs
Schmerzenslager geworfen werden oder vielleicht mit einem
Schlage all unser Hab und Gut verlieren — zu solchen
Zeiten mag es schwer sein, die Verbindung zwischen der
Verherrlichung Gottes und unsrer Segnung zu erkennen;
aber der Glaube vermag es. Der Unglaube irrt immer,
da er auf das Sichtbare blickt. Hätten jene Schwestern in
Bethanien nach dem Sehen ihrer Augen geurteilt, so würden
sie schwer versucht gewesen sein in den langen Tagen
und Nächten, die sie an dem Bette ihres geliebten Bruders
zubrachten; und als der schreckliche Augenblick der Trennung
herannahte, hätten manche finstere Gedanken in ihren vereinsamten
und gebeugten Herzen aufsteigen können.
Aber Jesus blickte vorwärts, auf das Ziel hin. Sein
Herz war mit den Schwestern; Er überwachte den ganzen
Vorgang, und zwar von dem höchsten Standpunkt aus: der
Herrlichkeit Gottes. „Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern
um der Herrlichkeit Gottes willen, auf daß der Sohn
Gottes durch sie verherrlicht werde." Er fühlte mit Maria
278
und Martha so wahr und tief, wie nur ein vollkommenes
menschliches Herz fühlen konnte. Obwohl dem Leibe nach
abwesend, war Er doch im Geiste bei ihnen, und Er
wartete nur auf die von Gott bestimmte Zeit, um ihnen
zu Hilfe zu kommen und die finstern Schatten des Todes
durch die Hellen Strahlen der Auferstehung zu verscheuchen.
„Er blieb noch zwei Tage an dem Orte, wo Er war."
Den Dingen wurde, wie man sagt, freier Lauf gelassen;
dem Tode wurde erlaubt, die friedliche Behausung, in
welcher Jesus so gern weilte, zu betreten. Aber alles
diente nur zur Verherrlichung Gottes. Der Fürst des
Todes schien allerdings einen Augenblick zu triumphieren;
aber es schien auch nur so. In Wirklichkeit bereitete er
nur den Boden für die Entfaltung der Herrlichkeit Gottes;
und wir dürfen versichert sein, daß auch die geliebte
Familie in Bethanien keinen Verlust erlitt durch eine
Verzögerung, die nur einem umso helleren Ausstrahlen
der göttlichen Herrlichkeit den Weg bahnte.
Wie schön ist es, unsern hochgelobten Herrn auf
diesem Seinem Pfade mit dem Vater zu verfolgen! All
Sein Thun und Lassen, jeder Schritt, jede Handlung,
jedes Wort, ja jeder Gedanke stand in unmittelbarer Beziehung
zu der Herrlichkeit Gottes. So sehr Er auch die
Familie in Bethanien liebte, — und Er liebte sie innig
(vergl. V. 5) — erblickte Er doch in der ganzen Sache mehr
eine Gelegenheit zur Entfaltung der göttlichen Herrlichkeit
als einen Anlaß, Seine persönliche Zuneigung zu offenbaren,
obwohl auch dies letztere in der herrlichsten Weise
geschah. Die Verherrlichung Gottes nahm den ersten Platz
ein und hatte den Vorrang über alle andern Erwägungen;
und sobald der Augenblick gekommen war, daß die göttliche
Herrlichkeit sich in ihrem vollen Glanze offenbaren
konnte, hielten Ihn auch keine persönlichen Befürchtungen
mehr zurück. „Darnach spricht Er dann zu den Jüngern:
Laßt uns wieder nach Judäa gehen. Die Jünger sagen
zu Ihm: Rabbi, eben suchten die Juden dich zu steinigen,
und wiederum gehst du dahin? Jesus antwortete: Sind
279
der Stunden des Tages nicht zwölf? Wenn jemand am
Tage wandelt, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser
Welt sieht; wenn aber jemand in der Nacht wandelt, stößt
er an, weil das Licht nicht in ihm ist."
So wandelte unser gepriesener Herr und Meister
stets in dem vollen Glanze des Lichtes der Herrlichkeit.
Alle Seine Beweggründe waren göttlich und himmlisch.
Die Beweggründe des Menschen dieser Welt, der in tiefer
moralischer Finsternis umhertappt, sind alle selbstsüchtig,
seine Gegenstände irdisch und fleischlich. Jesus aber that
nie etwas, um sich selbst zu gefallen. Der Wille und
die Herrlichkeit Seines Vaters leiteten und beherrschten
Ihn in allem. Weder persönliche Zuneigungen noch persönliche
Befürchtungen beeinflußten Ihn in Seinem Handeln.
Anbetungswürdiger Heiland! lehre uns, in Deinen
Fußstapfen zu wandeln! Laß uns Deinen Geist und
Deine Gesinnung mehr in uns aufnehmen! Wahrlich, das
ist es, was wir bedürfen. Wir haben eine so traurige
Neigung, uns selbst zu suchen und uns selbst zu gefallen,
selbst wenn wir das Richtige thun und mit dem Werke
des Herrn beschäftigt sind. Wir gehen hierhin und dorthin,
thun dies und das, reisen, Predigen und schreiben;
und doch mögen wir die ganze Zeit uns selbst gefallen
und nicht wirklich suchen, den Willen Gottes zu thun und
Ihn zu verherrlichen. Möchten wir unser göttliches Vorbild
mehr betrachten, eingehender studieren! Möchte Er
stets vor unsern Herzen stehen als Derjenige, in dessen
Bild wir verwandelt werden sollen! Gott sei Dank für
die kostbare und herzerhebende Gewißheit, daß wir Ihm
einmal gleich sein werden; denn wir werden Ihn sehen,
wie Er ist. Nur noch eine kleine Weile, und alles wird
für immer hinter uns liegen, was jetzt unsre Fortschritte
zu hindern und unsre Gemeinschaft zu unterbrechen geeignet
ist. Aber möchte es dem Heiligen Geiste gelingen,
uns bis dahin so mit Christo beschäftigt, uns so im
Glauben von Seiner Kostbarkeit uns nährend zu erhalten,
daß unsre praktischen Wege ein lebendigerer Ausdruck
280
Seiner selbst seien, und daß wir in reicherem Maße als
bisher die Früchte der Gerechtigkeit bringen, welche durch
Jesum Christum sind, zur Herrlichkeit und zum Preise
Gottes!
Fasset Mut!
Ist der Weg auch noch so lang und voll Ungemach,
Ist auch unser Pilgergang noch so matt und schwach:
Faßt man dennoch frohen Mut; hält sich nicht daran,
Was man selber schafft und thut, — nein, was Jesus kann.
Des sind wir in Zuversicht, halten daran fest,
Daß der Herr am Weg uns nicht gar verschmachten läßt.
Wenn die Kraft auch oftmals droht gänzlich zu entfliehn,
Denken wir: Es hat nicht Not, haben wir doch Ihn!
Der das Wasser wunderbar aus dem Felsen schlug,
Des Propheten Speisung gar Raben übertrug,
Der mit wenig Fisch nnd Brot Tausend machte satt:
Hätte Der für alle Not nicht noch immer Rat?
Der die Welten ganz allein in den Händen hält,
Ohne dessen Willen kein Haar vom Haupt uns fällt,
Dem das Große nicht zu groß, Kleines nicht zu klein:
Sollte Der erbarmungslos für uns Schwache sein?
Der den Himmel aufgethan aus so großer Lieb',
Und der deutlich uns die Bahn dahin selbst beschrieb,
Der die Stätte hält bereit: Ließe Der's geschehn,
Daß wir auf dem Weg vor Leid jämmerlich vergehn?
Nein, das kann und will Er nicht; Gott ist ewig-gut;
Hält getreu, was Er verspricht — darum fasset Mutl
Trifft euch Ungemach und Weh auf dem Pilgerpsad,
Hebt die Häupter in die Höh', die Erlösung naht!
(Spitta.)
Ziklafl.
(1. Sam. 27—30.)
Bei der Betrachtung der Geschichte Davids, die neben
vielen herrlichen Thaten des Glaubens auch so manche
Schwachheiten und Fehler aufweist, thun wir wohl, stets
im Gedächtnis zu behalten, was wir selbst sind, da wir
sonst Gefahr laufen, in einen Geist der Selbstgefälligkeit
zn geraten. Der göttlich inspirierte Schreiber berichtet
nut unbeugsamer Treue alle Unvollkommenheiten der Männer,
deren Geschichte er uns erzählt. Sein Zweck ist,
Gott in all der Fülle und Mannigfaltigkeit Seiner Hilfsquellen
und Wege vor unsre Seele zu stellen nnd uns zu
zeigen, wie bereitwillig und fähig Er ist, nicht nur dem
hilflosen Sünder in seiner tiefsten Not zu begegnen, sondern
auch den schwachen Gläubigen in allen seinen Fehlern und
Verkehrtheiten zu tragen und ihn in Seiner Weisheit und
Liebe zn erziehen. Wir haben nicht die Geschichte von
Engeln vor uns, sondern von Menschen, von Geschöpfen
von Fleisch und Blut und „denselben Gemütsbewegungen
wie wir". Gerade dieser Umstand macht die alttestament-
lichen Erzählungen so eindrucksvoll und belehrend für uns.
Die berichteten Ereignisse reden zu unfern Herzen. Wir
werden durch Umstände und Verhältnisse geführt, die mit
rührender Einfachheit, aber auch mit überwältigendem Ernst
die geheimen Triebfedern unsrer Natur neben den verborgenen
Quellen der Gnade ans Licht bringen.' Wir
282
lernen, daß der Mensch zu allen Zeiten derselbe ist: in
Eden, in Kanaan, inmitten der Segnungen der Kirche, ja
selbst in der Herrlichkeit des tausendjährigen Reiches beweist
er, daß er aus demselben demütigenden Stoff bereitet
ist. Zugleich aber lernen wir auch zu unsrer Freude und
Ermunterung, daß Gott derselbe ist, „derselbe gestern und
heute und in Ewigkeit", geduldig, gnädig, mächtig und
heilig. In Seiner Geduld trägt Er unsre betrübenden,
und mannigfaltigen Reizungen; in Seiner Gnade vergiebt
Er unsre sich so oft wiederholenden Übertretungen und stellt
unsre irrenden Seelen wieder her; in Seiner Macht befreit
Er uns aus den Schlingen Satans, von den Einflüssen
der Welt und der Wirksamkeit unsrer eignen bösen
Natur, und in Seiner Heiligkeit übt Er Gericht an
Seinem Hause und züchtigt Seine Söhne, damit sie Seiner
Heiligkeit teilhaftig werden.
Das ist der Gott, mit welchem wir es zu thun haben,
und wir sehen die wunderbaren Entfaltungen Seines
Charakters in den interessanten Berichten des Alten
Testaments, und vielleicht in keinem mehr als gerade in
dem vorliegenden. Wenige Gläubige weisen eine solche
Mannigfaltigkeit in ihren Erfahrungen auf wie David.
Er kannte in Wahrheit die Höhen und Tiefen, welche den
Pfad eines Mannes des Glaubens kennzeichnen. In einem
Augenblick entlockt er seiner Harfe die lieblichsten und
erhabensten Akkorde, in einem andern klingt der Schmerz
eines verunreinigten Gewissens und eines verwundeten
Geistes in Tönen aus, welche unser Innerstes mächtig
ergreifen. Seine Psalmen jubeln und weinen, »jauchzen
und klagen, frohlocken und trauern. Gerade diese Mannigfaltigkeit
der Erfahrungen Davids machten ihn zu einem
283
passenden Gegenstand, um uns die mannigfaltige Gnade
Gottes in lebendigen Bildern vor Augen zu führen. Es
ist immer so. Der arme verlorne Sohn würde nie eine
solch innige und erhabene Gemeinschaft mit dem Vater
haben schmecken können, hätte er nicht vorher die demütigenden
Erfahrungen des fernen Landes gemacht. Die Gnade,
die ihm das vornehmste Kleid anzog, hätte nicht in solchem
Glanze strahlen können, wäre der Sohn nicht in die
schmutzigen Lumpen eines Schweinehirten gehüllt gewesen.
Gottes Gnade wird durch des Menschen Verderben verherrlicht;
und je tiefer das Verderben gefühlt wird, desto
höher wird die Gnade geschätzt. Der ältere Bruder erhielt
nie ein Böcklein, um mit seinen Freunden fröhlich zu sein.
Und warum nicht? Weil er sich einbildete, ein solches
verdient zu haben. „Siehe", sagt er, „so viele Jahre
diene ich dir, und niemals habe ich ein Gebot von dir
übertreten". Eitler Mann! Wie konnte er den Ring,
das Kleid oder das gemästete Kalb erwarten? Hätte er
diese Dinge erlangt, so würden sie nur als Schaustücke
seiner eignen Gerechtigkeit gedient haben, nicht aber als der
herrliche Schmuck, mit welchem die Gnade den glaubenden
Sünder bekleidet.
Ähnlich verhielt es sich auch mit Saul und David.
Saul lernte niemals seine Bedürfnisse als Sünder so
kennen, wie David es that; auch werden von ihm keine
so auffallenden Sünden berichtet wie von David (wenigstens
was die Menschen „auffallend" nennen würden). Saul
war der äußerlich moralische und religiöse Mensch, dabei
aber ein selbstgerechter Mann. Seine Sprache lautete:
„Ich habe das Wort Jehovas erfüllt. ... Ich habe der
Stimme Jehovas gehorcht und bin auf dem Wege ge
284
gangen, den Jehova mich gesandt hat". (1. Sam. 15.)
Wie hätte ein solcher Mann die Gnade wertschätzen
können? Unmöglich. Ein ungebrochenes Herz und ein
nicht überführtes Gewissen werden nie verstehen, was Gnade
bedeutet. Wie ganz anders war es mit David! Er fühlte
feine Sünden, seufzte unter ihnen, bekannte und richtete
sie in der Gegenwart Gottes, dessen Gnade sie für immerdar
vergab und auslöschte. Wahrlich, es besteht ein großer
Unterschied zwischen einem Menschen, der kein Auge für
seine Sünden hat und in Selbstgefälligkeit wandelt, und
einem andern, der sich seiner Sünden tief bewußt ist, sich
zugleich aber der vollen Vergebung derselben erfreut.
„Und David sprach in seinem Herzen: Nun werde
ich eines Tages durch die Hand Sauls umkommen; mir
ist nichts besser, als daß ich eilend in das Land der
Philister entrinne." (1. Sam. 27, 1.) Dies war Davids
zweiter Besuch im Lande der Philister. Schon im Beginn
seines Umherwanderns vor Saul war David nach Philistäa
geflohen. Wir lesen im 21. Kapitel: „Und David machte
sich auf und floh an selbigem Tage vor Saul, und er
kam zu Achis, dem Könige von Gath." David nahm sich
damit gleichsam aus den Händen Gottes heraus und vertraute
sich den Händen des Philisterkönigs an. Er verließ
den Platz der Abhängigkeit und begab sich mitten unter die
Feinde Gottes und Israels. Und doch war er, beachten
wir es wohl, mit dem Schwerte Goliaths, des Philisterhelden,
umgürtet. Aber anstatt in seinem wahren Charakter
als Gottes Knecht aufzutreten, spielte er den Irrsinnigen
angesichts derer, welche ihn noch vor so kurzer Zeit als
den gewaltigsten Kämpfer Israels kennen gelernt hatten.
285
„Und die Knechte Achis' sprachen zu ihm: Ist das nicht
David, der König des Landes? Haben sie nicht von
diesem in den Reigen gesungen nnd gesprochen: „Saul
hat seine Tausende erschlagen, und David seine Zehntausende"?"
Die Philister erkannten Davids wahren
Charakter als König von Israel und als mächtigster Gegner
ihres Landes an, und sie meinten, daß er unmöglich als
ihr Freund zu ihnen kommen könne. Sie waren nicht
imstande, den Zustand seiner Seele m jenem Augenblick
zn verstehen, und dachten nicht im Entferntesten daran,
daß der Mann, welcher einen Goliath gefällt hatte, vor
Saul fliehen und bei ihnen Schutz suchen könne.
Die Welt kann die Veränderungen, die Ebben und
Fluten in dem Leben des Glaubens nicht verstehen.
Wer hätte auch, nachdem er Zeuge der Vorgänge im
Terebinthenthale gewesen, denken können, daß David sich
so bald schon fürchten würde, die Resultate des Glaubens,
mit welchem Gott ihn angethan hatte, vor seinen Feinden
zu bekennen? Wer hätte sich vorstellen können, daß er,
mit dem Schwerte Goliaths in der Hand, davor erzittern
würde, als der Besieger Goliaths aufzutreten? Und doch
war es so. „Und David nahm sich diese Worte zu Herzen
und fürchtete sich sehr vor Achis, dem Könige von
Gath. Und er verstellte seinen Verstand vor ihren Augen
und that unsinnig unter ihren Händen, und er kritzelte
an die Flügel des Thores und ließ seinen Speichel auf
seinen Bart Herabfließen."
So wird es stets gehen, wenn ein Gläubiger den
Pfad der einfältigen Abhängigkeit und der Fxemdlingschaft
in dieser Welt verläßt. Er wird ein anderer Mensch:
er fürchtet sich; er verliert feinen wahren Charakter und
286
schlägt ein Verhalten ein, das vor Gott den Charakter
des Betrugs und vor der Welt den Stempel der Thorheit
trägt. Wie traurig ist das! Ein Gläubiger sollte stets
seine Würde bewahren, jene erhabene Würde, die sich aus
dem Bewußtsein der Gegenwart Gottes herleitet. Aber
sobald der Glaube erlahmt, ist auch die Kraft zum Zeugnis
dahin, und der Gläubige wird sür einen „Narren" gehalten.
Als David in seinem Herzen sprach: „Nun werde
ich eines Tages durch die Hand Sauls umkommen", verließ
er den Pfad wahrer Kraft. Hätte er seinen Weg
als der heimatlose Flüchtling auf den Bergen Israels
fortgesetzt, so würde er niemals vor den Knechten des
Königs Achis eine so demütigende Rolle gespielt haben —
er würde niemals ein Wahnsinniger genannt worden sein.
Im Terebinthenthale hätte Achis sicher nicht gewagt, David
einen solchen Namen beizulegen: ebenso wenig in der
Höhle Adullam. Aber ach! David hatte sich der Macht
dieses Fremdlings übergeben, und deshalb mußte er entweder
um seiner früheren Treue willen leiden, oder er
mußte alles aufgeben und zu einem Narren in ihren Augen
werden. Er «wählte das letztere. Indem er sich vor den
Folgen fürchtete, die für ihn aus einer kühnen Behauptung
seiner Würde als König des Landes hätten erwachsen
können, verleugnete er sein Königtum und wurde ein Narr.
Wie oft können wir das nämliche Übel in dem Wan­
del mancher Christen unsrer Tage entdecken! Da ist ein
Mann, der durch sein früheres Verhalten und Wirken,
das durch die Kraft des Geistes Gottes geleitet war,
einen hohen Platz in den Gedanken seiner Brüder, ja selbst
der Kinder dieser Welt, erlangt hat; und doch, wenn
dieser Mann die Gemeinschaft mit Gott verliert, so wird
287
er sich fürchten, jenen Platz aufrecht zu erhalten, und in
demselben Augenblick, da die Ungläubigen nichts anderes
als ein entschiedenes, klares Zeugnis gegen ihr Thun und
Lassen von ihm erwarten, wird er sein Verhalten ändern,
„seinen Verstand verstellen" und nun, anstatt Achtung und
B e achtung zu finden, ver achtet werden. Laßt uns gegen
dieses Übel sorgsam auf der Hut sein, geliebter Leser!
Wir können ihm nur dann entgehen, wenn wir in der
göttlichen. Gegenwart bleiben und in dem vollen und gesegneten
Bewußtsein der Allgenugsamkeit Gottes beharren.
So lange wir im Lichte sind und das Bewußtsein in uns
tragen, daß Gott für alle unsre Bedürfnisse genügt,
bleiben wir unabhängig von der Welt; im andern Falle
werden wir die Wahrheit Gottes aufgeben und unsern
Charakter als himmlische Menschen verleugnen.
Wie vollständig muß David das Bewußtsein von
Gottes Allgenugsamkeit verloren haben, wenn er sagen
konnte: „Mir ist nichts besser, als daß ich eilend
in das Land der Philister entrinne" ! Nichts besser für
einen Mann des Glaubens, als in die Welt zurückzukehren,
um da Schutz zu suchen? Seltsame Verirrung!
Ach! es ist das Bekenntnis eines Menschen, der den Umständen
erlaubt hat, zwischen seine Seele und Gott zu
treten. Wenn wir einmal von dem schmalen Psade des
Glaubens abgleiten, sind wir in Gefahr, in die schlimmsten
Extreme zu geraten; und nichts könnte Wohl treffender
den Gegensatz darstellen zwischen einem Manne, der auf
Gott blickt,' und einem andern, der auf die Umstände
schaut, als David im Terebinthenthale und David vor
dem Könige Achis, wie er an die Flügel des Thores
kritzelt. Dieser Gegensatz ist voll ernster Belehrung und
288
Warnung für uns. Er zeigt uns, was wir sind und wie
wenig auf den Besten von uns zu rechnen ist. Arme,
irrende, strauchelnde Wesen, die bei jedem Wendepunkt des
Weges bereit sind, eine falsche Richtung einzuschlagen —
geneigt, den Fels der Zeitalter zu verlassen und auf die
zerbrochenen Stützen der Welt zu vertrauen — geneigt,
die Quelle des lebendigen Wassers aufzugeben und uns
selbst Brunnen auszuhauen, die kein Wasser halten — ja,
mein lieber christlicher Leser, das sind wir! Wahrlich,
es thut uns not, dringend not, in Demut, Wachsamkeit
und Gebet vor Gott zu wandeln; es thut uns not,
mit dem Psalmisten unaufhörlich zu flehen: „Unterstütze
mich nach deiner Zusage, so werde ich leben; und laß
mich nicht beschämt werden in meiner Hoffnung! Stütze
mich, so werde ich gerettet werden; und ich will stets
schauen auf deine Satzungen." (Ps. 119, 116. 117.) Es
thut uns not, daß unsre Füße denen der Hindinnen gleich
gemacht werden, damit wir in den glatten, schlüpfrigen
Örtern, durch welche unser Weg führt, nicht zu Fall
kommen.
Die göttliche Gnade allein kann uns befähigen, in
steter Hingebung und Treue zu wandeln. Sind wir uns
selbst überlassen, so giebt es nichts Böses und Verkehrtes,
in das wir nicht geraten könnten. Nur diejenigen sind
sicher, welche Gott an Seiner Rechten hält und in dem
Schatten Seiner Hand birgt. Und welch ein Glück, daß
wir den Einen kennen, der uns in all unserm Wankelmut
zu tragen und unsre Seelen wiederherzustellen vermag,
wenn sie unter dem Einfluß des Bösen um uns her zu
ermatten drohen. Andrerseits bewahre uns Gott davor,
von dem Ziklag-Abschnitt der Geschichte Davids einen
289
andern Gebrauch zu machen, als daß wir ihn in der göttlichen
Gegenwart auf unsre Herzen anwenden und ihn als
eine ernste und heilige Warnung für uns benutzen! Mögen
auch unsre Stellung und Vorrechte als Christen ganz
andere sein, als diejenigen Davids waren, so bleibt doch
die Natur stets die gleiche, und wir würden unsern Seelen
ernstlich schaden, wenn wir nicht jene tiefen, heilsamen
Unterweisungen aus der Geschichte eines Mannes zögen,
der in der Schule Christi so weit gefördert war wie
David. Die göttlichen Erziehungs-Grundsätze bleiben zu
allen Zeiten dieselben, mag auch die Stellung Seines
Volkes in den verschiedenen Haushaltungen noch so verschieden
sein.
Wenn wir die Geschichte Davids während seines zweiten
Aufenthaltes im Lande der Philister verfolgen, so finden
wir immer neue Ursachen zur Demütigung. David bittet
um einen Wohnplatz im Lande der Unbeschnittenen, und
Achis giebt ihm Ziklag. Er weilt hier sechzehn Monate,
und in all dieser Zeit ist er, obwohl von aller Furcht im
Blick auf Saul befreit, von Gott und von Israel entfernt.
Es ist in einem Sinne nicht schwer, einen prüfungsvollen
Platz zu verlassen; aber damit verlassen wir zugleich einen
Platz des Segens. Wäre es nicht viel gesegneter und
glückbringender für David gewesen, in einer Stellung zu
verbleiben, die ihn den Nachstellungen Sauls aussetzte?
nicht viel besser, sich dem Schutze des Gottes Israels anzuvertrauen,
als bei dem Könige von Gath einen Bergungsort
zu suchen? Allein wenn der Druck der Schwierigkeit
und Prüfung auf uns lastet, ist der Gedanke an eine
Erleichterung süß, und wir sind in Gefahr, eine solche Erleichterung
in unsrer eignen Weife zu suchen. Der Feind
290
hat stets einen Nebenweg für den Mann des Glaubens
bereit. Er hatte ein Ägypten für Abraham, ein Ziklag
für David, und er hat jetzt die Welt in ihren mancherlei
Formen für uns. „Wenn sie an jenes (Land) gedacht
hätten, von welchem sie ausgegangen waren, so hätten sie
Zeit gehabt zurückzukehren." (Hebr. 11, 15.) Gerade die
Möglichkeit der Rückkehr stellt uns auf die Probe, ob wir
mit aufrichtigem Herzen entschlossen sind voranzugehen,
oder nicht. Der Herr läßt Seinem Volke Freiheit, damit
sie „deutlich zeigen" können, „daß sie ein Vaterland
suchen". Und gerade dadurch verherrlichen wir Gott.
Würden wir wie mit Zaum und Zügel gezwungen, den Weg
von der Erde zum Himmel zu gehen, so würde das nicht
viel Wert haben; wenn wir aber, durch die Gnade befähigt,
freiwillig die irdischen Dinge aufgeben, um das zu suchen,
was droben ist, so dient dies zur Verherrlichung Gottes,
weil es beweist, daß das, was Er zu geben hat, weit
anziehender für uns ist als der gegenwärtige Zeitlauf.
David handelte leider bei dieser Gelegenheit nicht so.
Er nahm Ziklag gern an, und aus einem heimatlosen
Wanderer wurde ein Bürger in dem Lande der Philister.
Auch benimmt er sich jetzt nicht wie ein Irrsinniger, wie
früher; nein, er spielt geradezu die traurige Rolle eines
Betrügers. Er macht Einfälle in das Gebiet der Gesuriter
und Girsiter, erschlägt Mann und Weib, damit niemand
ihn verraten könne, und wenn Achis ihn dann fragt:
„Habt ihr heute keinen Einfall gemacht?", so belügt er ihn
und sagt: „In den Süden von Juda u. s. w." Ja, er
ging auf diesem unseligen Wege so weit, daß er auf den
Vorschlag des Königs von Gath, als sein Verbündeter
mit ihm in den Krieg zu ziehen, antwortete: „Darum
291
sollst du auch erfahren, was dein Knecht thun wird. Und
Achis sprach zu David: Darum will ich dich zum Hüter
meines Hauptes setzen alle Tage." Und gleich nachher
lesen wir: „Und die Philister versammelten alle ihre Heerlager
nach Aphek; und Israel lagerte sich an der Quelle,
die bei Jisreel ist. Und die Fürsten der Philister zogen
vorüber nach Hunderten und nach Tausenden, und David
und seine Männer zogen zuletzt vorüber
mit Achis." (1. Sam. 28. 29.)
Welch ein seltsamer Widerspruch! Ein König von
Israel steht im Begriff, zu dem Hüter des Hauptes eines
Philisters gemacht zu werden und das Schwert zu ziehen
wider die Schlachtreihen des lebendigen Gottes! War je
etwas Ähnliches dagewesen? Derselbe Mann, welcher den
riesenhaften Feind Israels erschlagen hatte, ist jetzt der
Knecht eines Philisters geworden. Wer hätte je so etwas
denken können? Wahrlich, es ist schwer zu entscheiden,
wie alles dieses geendet haben würde, wenn Gott Seinem
armen Knecht erlaubt hätte, seine Pläne bis zum Äußersten
zu verfolgen. Aber das war unmöglich. Gott wachte
in Gnaden über Seinen irregehenden Diener und hatte
reiche und mannigfaltige Segnungen für ihn in Bereitschaft,
neben demütigenden Lektionen und schmerzlichen
Herzensübungen. Er gebrauchte — Gott ist in Seinen
Mitteln nie beschränkt — gerade die Fürsten der Philister
als Werkzeuge, um David aus seiner verkehrten Stellung
zu befreien. Sie konnten, eingedenk seines früheren Verhaltens,
ihm als Bundesgenossen unmöglich Vertrauen
entgegenbringen. Als Achis für ihn eintrat,' wurden sie
zornig und forderten, daß David nach Ziklag zurückkehre
und ihnen nicht etwa im Streit ein Widersacher werde.
292
Sie hatten Recht. Wie konnte ein Philister sich in einem
Kampfe wider Hebräer auf einen Hebräer verlassen? Wie
könnten die Menschen dieser Welt Vertrauen zu einem
Manne haben, der einst entschieden für die Wahrheit
Gottes eingetreten ist, dann aber sich zu ihnen zurückgewandt
hat? Ein solcher ist weder das eine noch das
andere; er hinkt auf beiden Seiten. Ein Gläubiger, der
sich aus der Gemeinschaft mit Gott entfernt hat und wieder
nach dem trachtet, was hienieden ist, wird niemals, mag
er auch in seiner Verkehrtheit noch so weit gehen, von
der Welt als einer der Ihrigen betrachtet und geschätzt
werden. Er ist ein verdächtiger Mann, gerade so wie
David den Verdacht der Philister erregte.
„Laß den Mann zurückkehren, daß er zurückkehre an
seinen Ort, wohin du ihn bestellt hast, und daß er nicht
mit uns in den Streit hinabziehe und uns nicht zum
Widersacher werde im Streite." (Kap. 29, 4.) Die Philister
waren bereit, ihm einen Platz in ihrer Mitte zu überlassen,
aber sobald ein Krieg zwischen ihnen und Israel
in Frage kam, wollten sie ihn nicht anerkennen. Und sie
handelten verständig; denn mochte David auch einen
Charakter annehmen, welchen er wollte, er konnte in
Wirklichkeit nichts anderes sein als ein Feind der
Philister. Er mochte sich wahnsinnig stellen, er mochte
behaupten, Einfälle in den Süden von Juda gemacht
zu haben; aber wenn es zu einer Entscheidung kam, konnte
David nur in Übereinstimmung mit seinem wahren Charakter
handeln, als derjenige, welcher Zehntausende der Philister
erschlagen hatte.
Doch vergessen wir nicht, hinter allem stand der
Herr. Er wollte nicht erlauben, daß David auf dem
293
Schlachtfelde als ein Feind Israels erschiene. Er sandte
ihn zurück, oder richtiger, Er führte ihn beiseite, um im
Geheimen mit ihm über sein trauriges Verhalten zu reden.
„Und David machte sich früh auf, er und seine Männer,
daß sie am Morgen fortzögen, um in das Land der
Philister zurückzukehren; und die Philister zogen hinauf
nach Jisreel. Und es geschah, als David und seine Männer
nach Ziklag kamen am dritten Tage, da waren die
Amalekiter eingefallen in den Süden und in Ziklag; und
sie hatten Ziklag geschlagen und es mit Feuer verbrannt.
Und sie hatten die Weiber und alle, die darin waren,
gefangen weggeführt vom Kleinsten bis zum Größten;
sie hatten niemanden getötet, sondern sie weggetrieben, und
waren ihres Weges gezogen." David muß jetzt die bittern
Früchte seines Thuns ernten. Er hatte Schutz gesucht bei
Achis und sich unter den Unbeschnittenen niedergelassen,
und nun muß er die Folgen seiner Untreue tragen. Wäre
er auf den Bergen Judas geblieben, so würde er all
diesem Schmerz entronnen sein; sein Gott würde eine
feurige Mauer um ihn gewesen sein. Aber er war nach
Ziklag geflohen, um Saul zu entrinnen, und — ist es nicht
wunderbar? — fast in demselben Augenblick, da Saul auf
dem Gebirge Gilboa fiel, mußte David über die Ruinen
Ziklags trauern. Wahrlich, wir hätten nicht erwarten
können, David jemals in einer solchen Lage zu finden.
„Da erhoben David und das Volk, das bei ihm war,
ihre Stimme, und sie weinten, bis keine Kraft mehr in
ihnen war zu weinen. . . . Und David ward sehr angst,
denn das Volk sprach davon, ihn zu steinigen." In allem
diesem war Gott mit Seinem Knechte beschäftigt, nicht um
ihn gänzlich zu Boden zu schmettern, sondern um ihn zu
294
einem richtigen Gefühl über das Verhalten zu bringen,
welches er inmitten der Philister beobachtet hatte. In
der That, die rauchenden Trümmerhaufen Ziklags und der
Gedanke an seine Weiber, die auch von den Amalekitern
geraubt worden waren, belehrten ihn in ernster Weise,
wie böse und traurig es von ihm gewesen war, irgend
etwas von der Welt anzunehmen. Die Lage, in welcher
sich David in jenem Augenblick befand, war eine geradezu
herzzerreißende. Sechzehn Monate lang hatte er nun
schon einen Weg verfolgt, der sein Gewissen in der Gegenwart
Gottes schwer beunruhigen mußte; er war von denen
verworfen worden, unter deren Schutz er sich begeben
hatte; seine Zufluchtsstätte war verbrannt, verwüstet; seine
Weiber mit all seinem Hab und Gut waren geraubt; und
schließlich, um den bittern Kelch bis zum Rande zu füllen,
drohten seine Gefährten, die ihn bis dahin auf allen seinen
Wanderungen treu begleitet hatten, ihn zn steinigen.
So war David in jeder Beziehung auf dem tiefsten
Punkte angekommen. Alle menschlichen Hilfsquellen waren
versiegt; und nicht nur das, der Augenblick war auch
ganz und gar geeignet für den Feind, seine feurigen
Pfeile auf ihn abzuschießen. Das Gewissen mußte in
Thätigkeit kominen, und das Gedächtnis die ganze Vergangenheit
in ernsten Bildern dem Manne Gottes vor die
Seele führen. Das Aufgeben des gesegneten Platzes der
Abhängigkeit, die Flucht zu Achis, die .traurige Komödie
vor den Knechten des Königs, die Lüge, die bereitwillige
Erklärung, als der Knecht der Philister gegen Israel
kämpfen zu wollen — alles das muß in hohem Grade
die Seelenangst Davids vermehrt haben. Aber David war
nach allem nnd trotz allem doch ein Mann des Glaubens;>
295
er kannte die unerschöpflichen Vorräte der Gnade, und
hier fand er in diesem so finstern Augenblick seines Lebens
Freude und Trost. Wäre er nicht imstande gewesen, die
schwere Last auf die unendliche Gnade Gottes abzuwälzen,
so hätte er verzweifeln müssen. Nie vorher war er so
schwer geprüft worden. Er war dem Löwen und dem
Bären in der Wüste begegnet: er hatte mit dem Riesen
von Gath gestritten im Terebinthenthal; aber niemals
hatte ein solch überwältigendes Zusammentreffen schwieriger
und schmerzlicher Umstände stattgesunden. Doch
Gott war auch hierfür genug, und David wußte das.
Deshalb lesen wir: „Aber David stärkte sich in
Jehova, seinem Gott". Selige und wohlbegründete
Stärkung! Glücklich die Seele, welche sie kennt! Glücklich
der Mann, der sich in einem Augenblick aus den tiefsten
Tiefen menschlichen Jammers erheben kann zu Gott und
Seinen nie fehlenden Hilfsquellen! Der Glaube weiß, daß
Gott aller menschlichen Not, Schwachheit, Sünde und Verkehrtheit
gewachsen ist. Gott steht über allem und genügt
für alles; und das Herz, das im Glauben Ihn ergreift,
wird über alle Prüfungen und Schwierigkeiten des Weges
emporgehoben.
Der Christ könnte unmöglich in eine Lage kommen,
in welcher er nicht auf Gott rechnen dürfte. Geht er unter
dem Druck äußerer Umstände gebeugt einher? Möge er
Gottes Allmacht, Allwissenheit und Güte in diese Umstände
hineinbringen! Ist das Herz von der Last persönlicher
Schwachheit — in der Thqt, eine schwere Last! — niedergedrückt?
Möge es Zuflucht nehmen zu den unerschöpflichen
Quellen des Mitgefühls und Erbarmens Gottes!
Ist die Seele mit Schrecken erfüllt durch das Bewußtsein
296
von Sünde und Schuld? Möge sie sich wenden zu der
schrankenlosen Gnade Gottes und zu dem kostbaren Blute
Christi! Mit einem Wort, worin auch die Last, die
Prüfung, der Schmerz, die Not bestehen mögen, Gott ist
allem gewachsen, und es ist das Vorrecht des Glaubens,
von Ihm Gebrauch zu machen. „David stärkte sich in
Jehova, seinem Gott", als alles um ihn her so dunkel
und niederdrückend war wie möglich.
Mein Leser! möchten wir mehr diese gesegnete Wahrheit
verstehen! Sie macht nicht leichtfertig oder gleichgültig.
Im Gegenteil; der Verkehr mit Gott bewirkt
einen heiligen Ernst in der Seele, aber er giebt auch
Frieden, Glück und Kraft. Unsre Herzen zu lösen von
uns selbst und allem, was uns hienieden umgiebt, und sie
zu erheben in die heilige Ruhe der göttlichen Gegenwart,
das verleiht einen Trost und eine Erquickung, die nicht
mit Worten auszudrücken sind, die nur das Herz kennt
und genießt, welches in dieser Gegenwart weilt. Satans
Zweck ist stets, diese innige Verbindung der Seele mit
Gott zu hindern und zu stören. Er möchte so gern den
ganzen Gesichtskreis der Seele mit den gegenwärtigen
Dingen ausfüllen und uns in eine dichte, finstre, undurchdringliche
Wolke einhüllen, so daß wir nicht mehr fähig
sind, unsers Vaters Antlitz und unsers Vaters Hand in
und über allem zu erblicken.
Aber der Glaube durchdringt die Wolken und erhebt
sich zu Gott. Er schaut nicht auf das Sichtbare, sondern
auf das Unsichtbare. Er harrt aus, als sähe er den unsichtbaren
Gott. Davids Rückkehr nach Ziklag war sicherlich
eine der dunkelsten Stunden seines Lebens; aber Gott
erschien auf dem Schauplatz zu seiner Ermunterung und
297
Wiederherstellung. Er entfernte in Gnaden die schwere
Last von seinem Geiste. Er zerbrach die Ketten und ließ
den Gefangenen frei. Das ist die Weise Gottes. Er
erlaubt, daß Seine Kinder die bittern Folgen ihrer eignen
Wege schmecken müssen, damit sie zu Ihm zurückkehren in
der vollen Gewißheit, daß sie nur bei Ihm, in Seiner
heiligen Gegenwart, wahrhaft glücklich sein können. Ziklag
mag für eine Zeit einen Bergungsort bieten, aber es muß
nach kurzem verschwinden: und selbst so lange es Bestand
hat, kann es nur durch ein schweres Opfer erkauft werden,
durch das Aufgeben eines guten Gewissens Gott und Seinen:
Volke gegenüber. Wahrlich, ein hoher Preis, um dadurch
für einen Augenblick Erleichterung von einem Druck zu
finden! Wie viel besser ist es da, den Druck, so lange
es Gott gefällt, zu ertragen!
Doch, Gott sei gepriesen! „alle Dinge müssen zum
Guten mitwirken". Der Tod des Philisterhelden wie der
sechzehnmonatliche Aufenthalt in Ziklag, die Höhle Adullam
wie das Haus des Königs Achis — alles wirkte mit zum
Wohle Davids. Gott läßt gerade ans den Fehlern Seiner
Kinder einen reichen Segen für sie hervorkommen, indem
sie dadurch angeleitet werden, mit größerem Ernst im Gebet
zu beharren und inniger mit Ihm zu wandeln. Wenn
unser Straucheln uns lehrt, mit mehr Einfalt uns auf
Gott zu stützen und alles Vertrauen auf unser eignes
Können aufzugeben, so haben wir Ursache, selbst für jenes
Straucheln Gott zu danken, so tief wir uns auch bei der
Erinnerung daran demütigen müssen. Tief demütigend
waren Davids Erfahrungen in Ziklag; aber wir dürfen
versichert sein, daß er sie später um keinen Preis hätte
entbehren mögen. Sie lehrten ihn mehr von der Gnade
298
und Treue Gottes als vielleicht alle seine bisherigen Erfahrungen
zusammengenommen, und zeigten ihm, daß gerade
dann, wenn der Mensch am Ende von allem Eignen angelangt
ist, Gott sich finden läßt in der ganzen Fülle
Seiner Gnade.
Das war eine höchst wertvolle Unterweisung für David,
und auch wir sollten daraus lernen. Sind wir fähig,
uns inmitten des allgemeinen Verfalls und Verderbens
um uns her auf Gott allein zu stützen? Ist Er mehr
für unsre Seelen als alles und jedes, was unser Auge
erblickt? Können wir uns in Ihm stärken, wenn alles
in und außer uns direkt wider uns zu sein scheint? Ist
Sein Name uns über alles teuer in dieser Zeit der Untreue,
der Weltförmigkeit und Gleichgültigkeit? Sind wir bereit,
den Rest unsers Weges durch diese Wüste in Absonderung
und selbst in Einsamkeit zu gehen, wenn dieses nötig'-werden
sollte? Vielleicht haben wir gelernt, in keiner Weise mehr
aus die Kinder dieser Welt zu blicken und von ihnen etwas
zn erwarten; aber sind wir auch bereit, festzustehen, selbst
wenn unsre Brüder sich gegen uns wenden sollten? Davids
Gefährten redeten davon, ihn zn steinigen; doch der Herr
war ihm kostbarer als alles. Er stärkte sich in Jehova,
„seinem Gott". Kennen wir die Kraft und den
Trost eines solchen Verhältnisses? Der Herr gebe, daß
wir es mehr kennen lernen möchten! Ja, möchten wir
treuer und inniger an Christo hangen, mit einem tieferen
Gefühl von unserm eignen Nichts und Seiner Vollkommenheit!
Möchten wir uns gleichsam in Ihn einhttllen,
während wir durch diese kalte und glaubenslose Welt
pilgern, unserm herrlichen Ziele zu!
299
Bethanien.
(Joh. 11 u. 12.)
II.
Beschäftigen wir uns jetzt einen Augenblick mit dem
innigen Mitgefühl Christi mit Seinem leidenden Volke.
Er erlaubte, daß die Ihm so teure Familie in Bethanien
durch tiefe Wasser der Trübsal ging, „auf daß die Bewährung
ihres Glaubens, viel köstlicher als die des Goldes,
das vergeht, aber durch Feuer erprobt wird, erfunden
werde zu Lob und Herrlichkeit und Ehre". Von einem
rein menschlichen Standpunkt aus betrachtet, mochte es
scheinen, als ob alle Hoffnung dahin wäre und jeder Lichtstrahl
vom Horizont verschwunden sei. Lazarus war gestorben
und begraben; alles war vorüber. Und doch hatte
der Herr gesagt: „Diese Krankheit ist nicht zum Tode".
Wie war das möglich? Wie konnte Er so reden?
So mochte die Natur überlegen und fragen; aber
wir dürfen nimmer auf die Überlegungen der Natur achten,
sie führen uns unfehlbar in Zweifel und Finsternis, in
den traurigen Bereich der Schatten des Todes. Worauf
sollen wir denn lauschen? Auf die Stimme Jesu, auf
Seine lebendigen, tröstenden und ermunternden Worte!
Nur so werden wir fähig sein, Gott zu rechtfertigen und
zu verherrlichen, sei es am Krankenbett, oder gar angesichts
des Todes und des Grabes. Der Tod ist nicht der Tod,
wenn Christus gegenwärtig ist. Das Grab selbst ist dann
nur ein Ort, wo die Herrlichkeit Gottes in ihrem vollsten
Glanze hervorleuchten kann. Erst dann, wenn alles, was
vom Menschen ist, was dieser Schöpfung angehört, vom
Schauplatz verschwunden ist, können die Strahlen der gött
300
lichen Herrlichkeit ungehindert sich entfalten. Erst dann,
wenn alles dahin ist oder doch verloren zu sein scheint,
kann Christus auf dem Schauplatz erscheinen und unsre
Sache in Seine mächtigen Hände nehmen.
Nur der Glaube kann dies verstehen. Wir sind alle
in so betrübender Weise geneigt, uns auf irgend ein Geschöpf
zu stützen, auf einen Arm von Fleisch zu vertrauen,
uns an das Sichtbare zu hängen und in dem zu ruhen,
was gefühlt und betastet werden kann. Die „sichtbaren und
zeitlichen Dinge" haben noch so viel Wert und Bedeutung
für uns, ja, oft weit mehr Wert als die „unsichtbaren
und ewigen". Darum hält es unser treuer Herr für recht
und gut, uns vielleicht plötzlich diese oder jene menschliche
Stütze zu nehmen und uns die Eitelkeit und Wandelbarkeit
alles Sichtbaren und Zeitlichen erfahren zu lassen, damit
wir auf Ihn selbst uns stützen, den ewigen Felsen unsers
Heils, und alle unsre Quellen in Ihm finden, dem lebendigen
und unerschöpflichen Born alles Segens. Er ist
eifersüchtig auf unsre Liebe und unser Vertrauen, und
deshalb reinigt Er den Schauplatz von allem, was unsre
Herzen von Ihm abziehen will und sie nicht ungeteilt für
Ihn schlagen läßt. Er weiß, daß es unfern Seelen nur
zum Segen gereichen kann, ganz allein auf Ihn geworfen
zu sein, und darum reinigt Er unsre Herzen von ihren
Götzen.
Und sollten wir Ihm nicht dafür danken? Sicher
und gewiß; und nicht nur danken, sondern wir sollten auch
jedes Mittel willkommen heißen, welches Er zur Erreichung
Seiner weisen und gnädigen Endzwecke zu gebrauchen für
gut findet, so hart und streng es nach dem Urteil der
Natur auch erscheinen mag. Es ist möglich, daß Er uns
301
oft dasselbe sagen muß, was Er einst Seinem Jünger
Petrus sagte: „Was ich thue, weißt du jetzt nicht, du
wirst es aber hernach verstehen".
Ja, geliebter Leser, einmal werden wir alle Seine
Wege mit uns völlig verstehen und Ihn dafür preisen.
Wir werden aus dem Lichte Seiner Gegenwart auf unsern
ganzen Weg hienieden zurückblicken und erkennen und anerkennen,
daß der härteste Schlag Seiner Rute für den
betreffenden Augenblick gerade der stärkste und zärtlichste
Ausdruck Seiner Liebe war. Martha und Maria mochten
es wohl nicht fassen können, warum dem Tode erlaubt
wurde, ihr friedliches Heim zu betreten. Sie haben ohne
Zweifel Tag für Tag, Stunde für Stunde, ja, Minute
für Minute nach dem Erscheinen ihres geliebten Herrn
und Freundes ansgeschaut; aber statt ihrem Sehnen zu
entsprechen, hielt Er sich fern, der Tod trat ein, und alles
schien verloren.
Warum das alles? Hören wir die Antwort des
Herrn selbst. „Dies sprach Er, und darnach sagt Er zn
ihnen: Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen."
Welch eine rührende Liebe und gnadenvolle Vertraulichkeit
giebt sich in diesen Worten kund! In welch zarter Weise
verbindet der Herr sich einerseits mit der Familie in
Bethanien, und andrerseits mit Seinen Jüngern! „Lazarus,
unser Freund, ist eingeschlafen." Es war nur ein sanfter
Schlaf. Der Tod ist, wie gesagt, kein Tod in Gegenwart-
des Fürsten des Lebens. Das Grab ist nur eine Schlafstätte.
„Ich gehe hin, auf daß ich ihn auswecke." Solche
Worte hätten nicht gesprochen werden können, wenn Lazarus
nur von einem Krankenbett aufgerichtet worden wäre. Ist
es mit dem Menschen bis zum Äußersten gekommen, so
302
hat Gott Gelegenheit, sich am meisten zu verherrlichen:
und es bedars keiner Frage, daß das Grab Gott eine weit
bessere Gelegenheit zur Entfaltung Seiner Macht und
Herrlichkeit bot als ein Krankenbett.
Das also war der Grund,-weshalb Jesus von Bethanien
und von den geliebten Freunden dort fernblieb. Er wartete
den Passenden Augenblick ab, und dieser Augenblick kam,
als Lazarus bereits vier Tage im Grabe gelegen hatte,
als jede menschliche Hoffnung verschwunden und jede menschliche
Hilfe ausgeschlossen war. „Ich gehe hin, auf daß
ich ihn aufwecke." Jetzt war der Boden vorbereitet, um
der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes freien und ungehinderten
Spielraum zu lassen. Und ist es nicht gut,
wenn auf diese Weise alles, was vom Menschen ist, aus
dem Wege geräumt wird? Ist es nicht eine Gnade, ja,
ein bestimmter, deutlicher Beweis des göttlichen Erbarmens,
wenn Gott erlaubt, daß jede menschliche Stütze bricht und
jede menschliche Hoffnung schwindet? Der Glaube antwortet
ohne Zögern: „Ja". Die Natur sagt: „Nein".
Das arme Herz sehnt sich so sehr nach irgend etwas Sichtbarem
und Greifbarem. Der Glaube aber, der echte, von
Gott gewirkte Glaube, freut sich, wenn ihm Gelegenheit
geboten wird, sich unbedingt und ausschließlich auf den
lebendigen Gott zu stützen.
Aber es muß, wie gesagt, ein echter, wirklicher Glaube
sein. Es hat wenig Wert, über Glauben zu reden, wenn
das Herz seine Kraft nicht kennt. „Was nützt es, meine
Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben?" Ein
bloßes Bekenntnis ist wertlos; es nützt nichts. Aber der
wahre Glaube, und wenn er auch klein ist wie ein Senfkorn,
ist in jeder Beziehung von Nutzen und Segen.
303
Zunächst verherrlicht er Gott, wie nichts anderes dies in
gleicher Weise zu thun vermag; dann erhebt er die Seele
über die niederdrückenden Einflüsse der zeitlichen und sichtbaren
Dinge; ferner macht er den Geist ruhig und das
Herz weit, indem er uns aus dem engen Kreise persönlicher
Interessen, Sorgen und Kümmernisse heraushebt und
uns mit der ewigen Quelle der göttlichen Güte in Verbindung
bringt; und endlich wirkt er durch die Liebe und
führt uns in bereitwilliger, dienstfertiger Thätigkeit zu
einem jeden hin, der des Mitgefühls und der Hilfe bedarf,
und unter diesen besonders zu den „Hausgenossen
des Glaubens".
Der Glaube allein vermag den Pfad zu gehen, welchen
Jesus die Seinigen führt. Für die Natur ist dieser Pfad
ungangbar. Er erscheint rauh, finster und einsam. Selbst
diejenigen, welche unsern hochgelobten Herrn bei jener Gelegenheit
umgaben, scheinen völlig außer stände gewesen
zu sein, Seine Gedanken zn verstehen und in Seinen Fußstapfen
zu wandeln. Wenn Er sagt: „Laßt uns wieder
nach Judäa gehen", so denken sie nur daran, daß die
Juden noch vor ganz kurzer Zeit Ihn steinigen wollten.
Sagt Er: „Ich gehe hin, auf daß ich Lazarus aufwecke",
so antworten sie: „Herr, wenn er eingeschlafen ist, fo
wird er geheilt werden". Und wenn Er ihnen endlich
gerade heraus sagt: „Lazarus ist gestorben; und ich bin
froh um euertwillen, daß ich nicht dort war, auf daß
ihr glaubet", so kommt von den Lippen des Thomas
die zwar von Liebe zeugende, aber auch dem Unglauben
seines Herzens Ausdruck gebende Antwort: „Laßt auch
uns gehen, auf daß wir mit Ihm sterben!" Ach,
die Natur sieht da, wo der Glaube sich in dem Hellen
304
Licht der göttlichen Gegenwart sonnt, nichts anderes als
Finsternis und Tod. „Laßt auch uns gehen, ans daß wir
mit Ihm sterben!" Ach, ach! war das alles, was selbst
ein Jünger Jesu zu sagen hatte? Wie widersinnig sind
die Schlüsse des Unglaubens! Laßt uns mit dem Fürsten
des Lebens gehen, auf daß wir — was? — „auf daß
wir mit Ihm sterben". Welch eine Thorheit! welch ein
unbegreiflicher Widerspruch? Was hätte Thomas sagen
sollen? „Laßt uns mit Ihm gehen, auf daß wir Seine
Herrlichkeit schauen, daß wir an Seinen Triumphen teil--
nehmen und am Rande des Grabes unsre Hallelujah's
anstimmen zu Seiner Ehre." — —
Wir überspringen jetzt das Kommen des Herrn nach
Bethanien, sowie Seine Unterhaltung mit den beiden
Schwestern und wenden uns sogleich zu dem 33. Verse
unsers Kapitels, wo wir lesen: „Als nun Jesus sie
(Maria) weinen sah und die Juden weinen, die mit ihr
gekommen waren, seufzte Er tief im Geiste und erschütterte
sich und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sagen
zu Ihm: Herr, komm und siehe! Jesus vergoß Thränen."
Welch ein Anblick! Der Sohn Gottes seufzt und
weint! Laßt uns das nie vergessen! Obgleich Er Gott
war über alles, gepriesen in Ewigkeit, der ewige Sohn
des Vaters, die Auferstehung und das Leben; obgleich Er
die Toten lebendig machte und das Grab besiegte; obgleich
Er auf dem Wege war, den Leib Seines Freundes der
Macht des Todes zu entreißen — wie Er bald alle, die
in Ihm entschlafen sind, aus ihren Gräbern Hervorrufen
wird — dennoch fühlte Er so vollkommen den, Schmerz
der Schwestern und verwirklichte so gänzlich die schrecklichen
Folgen der Sünde, das Elend und den Jammer dieser
305
sündigen Welt, den furchtbaren Druck der Macht des
Feindes, der auf der ganzen menschlichen Familie lastete,
daß Er seufzte und weinte. Und diese Seufzer und
Thränen kamen aus der Tiefe eines vollkommen menschlichen
Herzens hervor, welches fühlte, wie nur ein vollkommenes,
menschliches Herz fühlen konnte. Obwohl Er
persönlich außerhalb der Sünde und aller ihrer schrecklichen
Folgen stand, ja, weil Er dies that, konnte Er in voll-
kommner Gnade in dieselben eingehen und teil daran
nehmen in einer Weise, wie es eben nur Ihm möglich war.
„Jesus vergoß Thränen." Wunderbare, bedeutungsvolle
Thatsache! Er weinte, nicht für sich selbst, sondern
für Andere; und Er weinte m i t ihnen. Daß Maria und
die Juden weinten, ist leicht verständlich. Daß aber Jesns
weinte, ist ein Geheimnis, welches kein geschaffenes Wesen
jemals ergründen kann. Es war göttliches Mitgefühl,
weinend durch menschliche Augen über das Elend, welches
die Sünde in diese arme Welt gebracht hatte, weinend
mit denen, welche durch die rauhe Hand des Todes zu
Boden geschmettert waren.
Möchten doch alle trauernden, bekümmerten, vereinsamten
Herzen hierüber sinnen! Jesus ist derselbe gestern
und heute und in Ewigkeit. Seine Umstände, wenn wir
so reden dürfen, mögen sich verändert haben, aber nicht
Sein Herz. Seine Stellung ist eine andere geworden,
aber Sein Mitgefühl ist dasselbe geblieben. „Wir haben
nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben
vermag mit unsern Schwachheiten, sondern der in allem
versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen
die Sünde." (Hebr. 4, 15.) Zur Rechten der Majestät
in der Höhe befindet sich ein vollkommen menschliches Herz,
306
und dieses Herz fühlt mit uns in allen unsern Kümmernissen,
Prüfungen, Übungen, Schwachheiten, in all unserm
Druck und unsrer Trauer. Er geht in vollkommenster
Weise in alles ein, ja Er offenbart und schenkt sich einem
jeden einzelnen Seiner Glieder hienieden in einer Weise,
als wenn Er nur für dieses eine zu sorgen hätte.
Wie lieblich und herzerquickend ist dieser Gedanke!
Es ist der Mühe wert, einen Schmerz zu haben, um die
Kostbarkeit des Mitgefühls Christi darin schmecken zu
können. Die Schwestern in Bethanien mochten sagen:
„Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre unser Bruder
nicht gestorben". Aber wenn ihr Bruder nicht gestorben
wäre, so hätten sie Jesum nicht weinen sehen, noch auch
Sein tiefes Seufzen in Seinem Mitgefühl mit ihrem
Schmerz vernehmen können. Und wer möchte sagen, daß
es nicht besser sei, das Mitgefühl Seines Herzens in
unserm Schmerz zu erfahren, als die Macht Seiner Hand
in der Bewahrung vor oder der Befreiung aus demselben?
War es nicht viel besser, erhabener und gesegneter für
die drei Männer in Daniel 3, den Sohn Gottes bei sich
im Feuerofen zu haben, als durch die Macht Seiner Hand
dem Ofen zu entrinnen?
Und so ist es in jedem Falle. Wir dürfen nicht
vergessen, daß jetzt nicht die Zeit der Macht Christi ist.
Einmal wird Er Seine große Macht und Herrschaft antreten.
Dann werden alle unsre Leiden, Prüfungen und
Trübsale für immer vorüber sein: die Nacht des Weinens
wird dem Morgen der Freude Raum machen, jenem
Morgen ohne Wolken, der nie einen Abend sehen
wird. Jetzt aber ist die Zeit des Ausharrens Christi, die
Zeit Seines kostbaren Mitgefühls; und wie ist dieses
307
Bewußtsein dazu angethan, unsre Herzen aufrecht zu
erhalten, wenn wir durch die tiefen Wasser der Trübsal
gehen müssen!
Und diese Wasser find da; es giebt Prüfungen,
Schmerzen, Leiden, Schwierigkeiten, Trauer, Leid und
Geschrei. Und nicht nur das, sondern Gott will auch,
daß wir diese Dinge fühlen. Seine Hand ist darin,
nm uns Wohlzuthun und sich zu verherrlichen. Es ist
unser Vorrecht, mit dem Apostel sagen zu können: „Wir
rühmen uns auch der Trübsale, wissend, daß die Trübsal
Ausharren bewirkt, das Ausharren aber Erfahrung, die
Erfahrung aber Hoffnung, die Hoffnung aber beschämt
nicht, denn' die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre
Herzen durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben
worden ist." (Röm. 5, 3—5.)
Der Herr sei gepriesen für alles dieses! Es wäre
thöricht, leugnen zu wollen, daß es Trübsale und Leiden
giebt; aber es wäre ebenso verkehrt, wenn wir ihnen
gefühllos gegenüber stehen wollten. Der Glaube thut
weder das eine noch das andere. Nein, indem er sich
des Mitgefühls Christi bewußt ist und weiß, welchen Zweck
Gott mit der Trübsal verfolgt, rühmt er sich derselben.
Er fühlt sie tief, aber er weiß, daß Gott es ist, der ihn
durch die Wasser führt, und daß Gott mit hindurchgeht
und, wenn Sein Zweck erreicht ist, auch wieder aus den
Wassern herausführt, zu unsrer Freude und zu Seinem
ewigen Preise.
Paulus flehte dreimal zum Herrn, daß der Engel
Satans, der ihn mit Fäusten schlug, von ihm abstehen
möge. Aber wie lautete die Antwort des Herrn? „Meine
Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit
308
vollbracht." Und dann hören wir den Apostel weiter sagen:
„Daher will ich am allerliebsten mich vielmehr meiner
Schwachheiten rühmen, aus daß die Krast des Christus
über mir wohne. Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten,
an Schmähungen, an Nöten, an Verfolgungen, an
Ängsten für Christum; denn wenn ich schwach bin, dann
bin ich stark." (2. Kor. 12, 8—10.) Zunächst wünschte
Paulus, von dem Dorn im Fleische befreit zu werden;
er flehte deshalb dreimal zum Herrn. Aber der Dorn
im Fleische war besser als der Hochmut im Herzen. Es
war weit besser, bedrängt zu sein und zu leiden, als sich
zu überheben; weit besser, das Mitgefühl Christi in der
Versuchung zu erfahren, als Seine Macht in der Befreiung
aus derselben. Und sobald Paulus die Antwort
des Herrn erhalten hatte, war er völlig zufrieden, den
Dorn zu behalten; ja nicht nur das, sondern er rühmte
sich gar desselben und hatte Wohlgesallen an Drangsalen
nnd Nöten, weil auf diesem Wege der Mensch nichts
nnd Gott alles wurde.
Laß dir genügen an meiner Gnad'!
Wunderbar, herrlich doch heißet mein Rat;
Führt er in finstere Tiefen hinab,
Bin ich im Dunkel dein Stecken und Stab.
Laß dir genügen an meiner Gnad'!
Wenn sie dich gänzlich entkleidet hat,
Gänzlich genommen dir alles, was dein,
Wird sie dir ewiglich alles sein.
Der Name Zesn.
„Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe eine geöffnete
Thür vor dir gegeben, die niemand zu schließen
vermag; denn du hast eine kleine Kraft, und hast mein
Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet."
(Offbg. 3, 8.) Diese Worte beweisen, welch
ein tiefes Interesse der Herr an unserm Verhalten gegen
Seine Person nimmt. Denn wir brauchen nicht zu sagen,
daß es sich hier nicht um ein bloß äußeres Bekenntnis
Seines Namens handelt, sondern um die damit verbundene
Anerkennung Seiner Person; und diese kann Ihm nicht
gleichgültig sein. Er schätzt unsre Zuneigung zu Ihm, so
schwach und unvollkommen sie sein mag; und Er sieht es
auch, wenn wir Seine Person mit Gleichgültigkeit oder
gar mit Geringschätzung behandeln. Er weiß und sieht
alles: ob wir Ihn ehren und lieben,, oder andere Dinge
Ihm vorziehen. Er achtet darauf, und Er kann bezüglich
eines jeden von uns sagen: „Ich kenne deine Werke".
Dieser Gedanke ist ernst, und doch auch wieder tröstlich
für den Aufrichtigen. Es ist ernst zu wissen, daß der
Herr in unsre Herzen, Familien, Häuser und Geschäfte blickt,
und daß Er alles sieht, was da täglich vorgeht. Und Er
sieht nicht nur alles, sondern Er kennt auch die Beweggründe,
die uns leiten, Er erforscht Herzen und Nieren,
die innersten, geheimsten Regungen unsrer Herzen.
310
Der Gedanke daran ist, wie gesagt, ernst und sollte
eine beständige Selbstprüfung in uns erzeugen betreffs der
Frage: Ist alles bei mir in Uebereinstimmung mit Ihm,
mit Seiner Gesinnung und Seinem Willen? Andrerseits
aber ist es auch ein großer Trost für den Aufrichtigen,
zu wissen, daß der Herr fein Herz, alle seine Umstände,
seine Prüfungen und Schwierigkeiten kennt. Denn der
da sagt: „Ich kenne deine Werke", sagt auch: „Ich kenne
deine Drangsal und deine Armut. . . und die Lästerung
von denen, welche sagen, sie seien Juden, und sind es
nicht, sondern eine Synagoge des Satans." (Offbg. 2, 9.)
Er kennt das Verlangen des Herzens, für Ihn zu leben,
und Ihm sind auch die Hindernisse nicht verborgen, die
sich der Ausführung dieses Verlangens inmitten eines verdrehten
und verkehrten Geschlechts und eines anmaßenden
religiösen Systems entgegenftellen. Der Aufrichtige freut
sich darüber, daß Er unter den Augen Dessen steht, der
da sagt: „. . . und alle Versammlungen werden erkennen,
daß ich es bin, der Nieren und Herzen erforscht". (Offbg.
2, 23.) Denn er kann betreffs all seiner Pläne und Beweggründe
mit dem Apostel sagen: „Gott aber sind wir
offenbar geworden". (2. Kor. 5, 11.) Und wie der Herr
Seinen Jüngern trotz ihrer großen Schwachheit am Ende
Seines Weges hienieden bezeugte: „Ihr seid es, die mit
mir ausgeharrt haben in meinen Versuchnngen" (Luk.
22, 28), so bezeugt Er auch heute einem jeden, der bei
aller Unvollkommenheit nnd Mangelhaftigkeit die Ehre
Seines Namens aufrichtig erstrebt: „Du hast meinen
Namen nicht verleugnet".
Es ist ein trauriges Zeichen, wenn das Bekenntnis
des Namens Jesu mit Gleichgültigkeit gegen Seine Person
311
verbunden ist. Das ist der Zustand' Laodicäas, die Ver­
bindung einer toten Rechtgläubigkeit mit Weltlichkeit und
Genußsucht; ein Zustand, der sich mit dem wahren Wesen
des Christentums, mit der Schmach und dem Kreuze Christi
nimmer vereinigen läßt. Das Ziel solcher Bekenner^ ist
die Welt und nicht der Himmel; während sie das Bekenntnis
des Namens Jesu aufrecht erhalten, .denken sie
nur an sich und ihre eigne Ehre. Die Person des Herrn
hat kein Interesse für ihr Herz; sie sind in Bezug auf
Ihn weder kalt noch warm. Es bestätigt sich an' ihnen
das Wort des Apostels: „Denn alle suchen das Ihrige,
nicht das, was Jesu Christi ist". (Phil. 2, 21.) Und der
Herr sagt betreffs ihrer: „Weil du lau bist und weder
kalt noch warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem
Munde." (Offbg. 3, 16.)
Dieser laodicäische Zustand kennzeichnet im allgemeinen
die verweltlichte Christenheit unsrer Tage. Daher
erkennt der Herr mit besonderer Freude solche an, die inmitten
dieses Zustandes ein Herz für Ihn offenbaren.
Und wiederum sind für diese die Worte des Herrn: „Du
hast meinen Namen nicht verleugnet", eine große Ermunterung,
um einerseits das festzuhalten, was mit diesem
Namen verbunden ist, und andrerseits alles zu verwerfen,
was sich nicht mit ihm vereinigen läßt.
An den kostbaren Namen des Herrn knüpfen sich alle
Herrlichkeiten Seiner Person, sowie alle Verheißungen und
Segnungen für den Gläubigen. Er ist der erhabenste
Gegenstand Gottes, des Vaters, der Mittelpunkt Seiner
Ratschlüsse und der höchsten Ehren; und Er war dieses
schon vor Grundlegung der Welt, von Ewigkeit her. Er
konnte sagen: „Jehova besaß mich im Anfang Seines
312
Weges, vor Seinen Werken von jeher. Ich war eingesetzt
von Ewigkeit her, von Anbeginn, vor den Uranfängen
der Erde . . ., als Er die Grundfesten der Erde feststellte:
da war ich Schoßkind bei Ihm, und war Tag für Tag
Seine Wonne, vor Ihm mich ergötzend allezeit re. rc."
(Sprüche 8, 22—31.)
Der Herr hat viele Namen und Titel; dieselben
stellen die verschiedenen Herrlichkeiten und Charaktere
Seiner Person dar. Aber wenn Er hier sagt: „meinen
Namen", so ist es der besondere Name, unter welchem
Gott Ihn hienieden geoffenbart hat und in welchem sich
einmal jedes Knie vor Ihm beugen muß. „Du sollst
Seinen Namen Jesus heißen", sagt der Engel zu Maria.
(Jesus bedeutet „Jehova-Erretter", „Gott-Heiland".) Das
ist Sein persönlicher Name als Mensch, der um so erhabener
und kostbarer für uns ist, als in ihm die unendliche
Gnade, Herablassung und Liebe Gottes zum Ausdruck
kommen. Er bezeichnet den Menschen, welcher Gott
ist, geoffenbart im Fleische, gekommen, um als ein wahrhaftiger
Mensch unter den Menschen zu wohnen, zu wandeln
und zu leiden, um das Opfer zu werden für ihre
Sünden; zugänglich für jeden Sünder, für all fein Elend
und seine Leiden; gekommen, um ihn zu erretten von
Sünde, Tod und Verdammnis; der Sohn Gottes und
doch der gehorsame Diener Gottes, ja der Diener sündiger
Menschen. „Ich aber bin in eurer Mitte wie der Dienende."
(Luk. 22, 27.)
Welch eine wunderbare, unergründliche Thatsache!
Der Sohn Gottes, der da war vor den Uranfängen der
Erde, das Wort, durch welches alles geworden ist (Joh.
1, 3), hat als ein wahrhaftiger Mensch hier auf dieser
313
sündigen Erde gewandelt; Er selbst hat unsre Sünden
an Seinem Leibe auf das Holz getragen. (1. Petr. 2, 24.)
Er selbst starb am Fluchholz für Sünder, für Seine
Feinde! Wer kann diese Liebe erfassen? Wer den Wert
Seines Opfers ergründen? Welch eine unermeßliche
Gnade, welch eine unendliche Fülle von göttlicher Liebe
nnd Huld, welch ein wunderbares Geheimnis - tritt vor
unsere Augen und Herzen, so oft der Name „Jesus" ertönt!
Sollte er uns deshalb nicht teurer sein als unser
eignes Leben? Für den Apostel war es so. Er konnte
sagen: „Denn ich bin bereit, nicht allein gebunden zu
werden, sondern auch in Jerusalem für den Namen Jesu
zu sterben". (Apstgsch. 21, 13.)
Und doch ist — solte man es glauben? — nichts
in der Welt so verhaßt wie dieser Name, selbst unter denen,
welche sich Christen nennen. Worin mag das seinen Grund
haben? Zunächst sicherlich in der allgemeinen natürlichen
Feindschaft des menschlichen Herzens gegen Gott, dann
aber insbesondere darin, daß man nicht zugeben will, daß
dieser einfache, demütige Mensch, der sich um unsertwillen
so tief erniedrigte, der Sohn Gottes ist. Das war von
jeher den Weisen und Verständigen ein Aergernis, den
Juden ein Anstoß und den Nationen eine Thorheit. (Matth. 11,
25 ; 1. Kor. 1, 23.) Daß Jesus im Lande Kanaan umherging,
„wohlthuend und heilend alle, die von dem Teufel
überwältigt waren" (Apstgsch. 10, 38) war seiner Zeit so
allgemein bekannt, daß es von niemandem geleugnet werden
konnte. Die Juden haben es auch thatsächlich niemals
zu leugnen gesucht; vielmehr wurden viele von ihnen durch
die Güte und die Wunderwerke Jesu angezogen und zu
einem, wenn auch nur äußeren Glauben an Ihn gebracht.
314
Sobald aber dieser Jesus es wagte, sich Gottes Sohn zu
nennen und sich als eins mit dem Vater hinzustellen,
wandten sich selbst Seine vermeintlichen Jünger in bitterm
Haß gegen Ihn. Gerade dieses Bekenntnis führte Seine
Verwerfung seitens der Juden herbei. „Wegen eines
guten Werkes steinigen wir dich nicht", riefen sie, „sondern
wegen Lästerung, und weil du, der du ein Mensch bist,
dich selbst zu Gott machst." (Joh. 10, 30—33.) Aus
demselben Grunde verfolgte Saulus die Jünger des Herrn:
auch er wollte nicht zugeben, daß dieser Jesus der Sohn
Gottes sei: „Ich meinte freilich bei mir selbst, gegen den
Namen Jesu, des Nazaräers, viel Widriges thun zu
müssen". (Apstgsch. 26, 9.) Aus demselben Grunde versagt
Ihm heute noch die große Masse der christlichen Bekenner
die Ihm gebührende Ehre und Anerkennung.
Aber auch aus demselben Grunde, können wir hinzu-
sügen, knüpft der Heilige Geist alle Herrlichkeiten der
Person des Herrn an den Namen „Jesus". Die hohe
Bedeutung desselben wurde Joseph schon durch den Engel
Gabriel erklärt: „Du sollst Seinen Namen Jesus nennen,
denn Er wird Sein Volk erretten von ihren
Sünden". (Matth. 1, 21.) Israel war Sein Volk,
Er ihr Jehova, ihr Bundesgott; auch ist Erretten von
Sünden, wie wir wissen, eine göttliche Herrlichkeit.
Weiter lesen wir: „Und als Jesus getauft war . . . .
und siehe, eine Stimme aus den Himmeln, welche spricht:
Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich
Wohlgefallen gefunden habe." (Matth. 3, 16. 17.) Diesem
Jesus gehorchten Wind und Wellen; Er vergab als
Sohn des Menschen die Sünden und verlieh Seinen
Jüngern Gewalt über die unreinen Geister. (Matth. 8, 27;)
315
9, 2—6; 10, 1.) Jesus, der Nazarener, gebot mit
Gewalt und Kraft den unreinen Geistern, und sie fuhren
aus. (Luk. 4, 36.) Jesus wußte, was im Menschen
war; Er kannte die Gedanken und Ueberlegungen der
Herzen und bedurfte nicht, daß jemand Zeugnis von dem
Menschen gab. (Matth. 9, 4; Luk. 5, 22; Joh. 2, 24. 25.)
In dem Namen Jesu muß sich dereinst jedes Knie beugen,
der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und
jede Zunge muß bekennen, daß Jesus Christus Herr
ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters. „Ich bin
Jesus, den du verfolgst", rief Er dem rasenden Saulus
aus der Herrlichkeit zu. Und am Schluffe der Offenbarung
lenkt Er ausdrücklich unsre Aufmerksamkeit auf
diesen Namen: „Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt,
euch diese Dinge zu bezeugen in den Versammlungen.
Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der
glänzende Morgenstern." (Offbg. 22, 16.) Jesus ist der
große Gegenstand der Weissagungen dieses Buches, die
Hoffnung Israels und der Kirche. Jesus ist der Name
des erniedrigten wie des erhöhten und verherrlichten Herrn.
„Das ganze Haus Israel wisse denn zuverlässig, daß
Gott Ihn sowohl zum Herrn als auch zum Christus
gemacht hat, diesen Iesus, den ihr gekreuzigt habt."
(Apstgsch. 2, 36.) Jesus ist der große Hohepriester,
der durch die Himmel gegangen ist: „Da wir nun einen
großen Hohenpriester haben, der durch die Himmel gegangen
ist, Jesum, den Sohn Gottes". (Hebr. 4, 14.) Alle
Herrlichkeiten, welche in Seinen verschiedenen Namen und
Titeln zum Ausdruck kommen, knüpfen sich an den Namen
„Jesus". Darum wird Jesus so bitter von der Welt
gehaßt, aber darum ist Er auch um so kostbarer für Gott,
316
der Ihn der Versammlung gegeben hat, Ihn, dessen Name
über jeden Namen und der das Haupt über alles ist.
(Eph. 1, 21—23.) Gott hat Ihn uns gegeben wie Er
ist, und mit Ihm das höchste und kostbarste Teil Seines
eigenen Herzens, Seine Wonne und Freude; Ihn, in
welchem die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt.
(Kol. 2, 9.) Er ist der lebendige Stein, „von Menschen
zwar verworfen, vor Gott aber auserwählt, kostbar", und
uns, die wir glauben, ist die Kostbarkeit. (1. Petr. 2,4. 7.)
Weiterhin ist der Name Jesu die Bürgschaft für die
Erfüllung aller Verheißungen, sowie die Quelle alles Heils
und aller Segnungen für den Gläubigen. Er, der alle
jene Herrlichkeiten und Würden in Seiner Person vereinigt,
wird sicher und gewiß jede Verheißung erfüllen, und zwar
um Seines Namens willen. Diese Erfüllung ist
nicht abhängig von dem, was wir sind, oder wie wir
unsrer Verantwortlichkeit entsprechen, sondern ist gesichert
durch das, was Er ist, was Sein Name „Jesus" bedeutet.
In diesem Namen finden wir göttliche Macht, vollkommne
Liebe und unumschränkte, freie Gnade vereinigt. Unsre
Errettung, unsre Bewahrung bis zur Herrlichkeit, alle
unsre Segnungen auf dem Wege dahin, seien es persönliche
oder gemeinschaftliche, finden ihre Grundlage und
Quelle in Ihm, dessen Name „Jesus" ist. Welch ein
Glück zu wissen, daß Er alles, was Er für uns thut, um
Seines Namens willen thut! Die Welt haßt uns um
dieses Namens willen (Joh. 15, 21), aber Er segnet uns
aus demselben Grunde. Wir beten in Seinem Namen,
und haben die köstliche Verheißung: „Wenn ihr etwas
bitten werdet in meinem Namen, so will ich es
thun". (Joh. 14, 14.) Und ferner: Wo zwei oder drei
317
versammelt sind in Seinem Namen, da ist Er in ihrer
Mitte gemäß der Fülle dieses Namens. Selbst was der
Vater für uns thut, geschieht um dieses Namens willen.
Er hat den Heiligen Geist herniedergesandt im Namen
Jesu; und der Herr sagt: „Alles, was irgend ihr den
Vater bitten werdet in meinem Namen, wird Er euch
geben". (Joh. 14, 26; 16, 23.) Die Person Jesu hat einen
solchen Wert in den Augen des Vaters, daß die gläubige
Berufung auf Seinen Namen uns die unerschöpflichen
Schatzkammern Gottes öffnet. Wir haben allezeit freien
Zugang zu Ihm in diesem Namen. So schwach wir auch
in uns selbst sein mögen, in dem Namen Jesu sind wir
ebenso vollkommen wie Christus selbst. Welch eine Freimütigkeit
giebt uns also dieser Name! Welch eine Fülle
von Gnade strahlt uns aus ihm entgegen! Wahrlich, wir
singen mit Recht:
„Jesus Nam'! Wer kann ergründen
Deine Tiefe, Deine Höh'!
Wer die Gnad' und Lieb' verkünden,
Deren End' ich nirgend seh' I
llnaussorschlich bleibet hier
Deines Namens Fülle mir.
Mannigfach sind die Gefahren, Schwierigkeiten, Leiden
und Nöte, durch welche unser Weg zur Herrlichkeit führt;
aber der Name Jesu genügt in jeder Lage als die unversiegbare
Quelle der Weisheit, des Trostes und der Kraft;
alles steht uns in demselben zu Gebote.
Wenn der Name Jesu in seiner wahren Bedeutung
erkannt wird, so flößt er unsern Herzen neben der tiefsten
Ehrfurcht ein felsenfestes Vertrauen ein. Gleichzeitig bewirkt
er eine entschiedene Absonderung von allem, was
sich nicht mit ihm vereinigen läßt, und verleiht dadurch
318
dem praktischen Leben des Gläubigen seinen eigentlichen
Charakter; es wird zu einem wahrhaft christlichen Leben.
Andrerseits ist es offenbar, daß ein verweltlichtes Christentum,
ein Trachten nach den Dingen und Genüssen dieser
Erde, verbunden mit einer bloßen Form der Gottseligkeit,
den Namen Jesu nur verunehren und verleugnen kann.
Wie ermunternd klingt daher das Wort des Herrn:
„Du hast meinen Namen nicht verleugnet" ! Wie ernst
mahnt es uns zugleich, den eben beschriebenen Zuständen
fern zu bleiben, unsre Herzen, Familien und Häuser frei
zu erhalten von dem Geiste dieser Welt, der sich nur allzuleicht
einschleichen kann! Wir sind beständig in Gefahr,
uns dem Geschmack dieser Welt ein wenig anzupassen, sei
es in religiöser Beziehung, sei es in äußern Dingen, in
der Einrichtung unsrer Häuser, der Erziehung der Kinder,
der Kleidung, der Geschäftsführung u. s. w. Es giebt
tausenderlei Dinge, die man gern als unschuldig oder
harmlos hinstellen möchte, die aber trotzdem geeignet sind,
uns zu umstricken, zu verblenden und nach und nach von
dem schmalen Pfade des Glaubens abzuführen. Möchten
wir doch stets den Namen Jesu als den einzigen Prüfstein
an alles legen und uns ehrlich fragen: Kann ich dieses
oder jenes mit dem Namen Jesu vereinigen? Wir werden
dann nicht lange im Zweifel sein, ob die betreffenden
Dinge harmlos sind oder nicht. Wir sind ermahnt: „Und
alles, was immer ihr thut, im Wort, oder im Werk,
alles thut im Namen des Herrn Jesu, danksagend Gott,
dem Vater, durch Ihn". (Kol. 3, 17.) Das Wörtchen
„alles" schließt Großes und Kleines, Wichtiges und
scheinbar Unwichtiges, ein und läßt in keiner Beziehung
unserm eignen Willen und unsern eignen Meinungen freien
319
Spielraum. Es zeigt uns zugleich, daß die Augen des
Herrn auf alle unsre Worte, Schritte und Bewegungen
gerichtet sind. Nichts entgeht Ihm, nichts ist Ihm gleichgültig
in unserm Leben. Welch ein köstlicher Beweis von
der Thatsache, daß wir Ihm teuer und wert sind!
Sollten wir deshalb nicht mit größter Vorsicht und
Treue vor Ihm wandeln und in allen Dingen Seinem
Namen Ehre zu machen suchen? Ein Herz, das Ihn lieb
hat, wird mit einem bestimmten, freudigen „Ja" antworten
und auch bereit sein, die sich aus dieser Antwort ergebenden
Folgerungen zu ziehen, d. h. um Seinetwillen etwas
aufzugeben, die Schmach Seines Namens willig zu tragen
und in allem zu fragen: „Herr, was willst Du, daß ich
thun soll?" Ein solches Herz wird auch in geistlicher
Beziehung nicht nach Willkür handeln, sondern an das
Wort des Herrn gedenken: „Wo zwei oder drei versammelt
sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte".
(Matth. 18, 20.) Wie köstlich ist das Vorrecht, Ihn in
unsrer Mitte zu wissen; aber wie groß auch unsre Verantwortlichkeit,
alles zu vermeiden, wodurch Seine Gegenwart
und Sein Tisch verunehrt werden könnte! Wir sind
Wohl berechtigt zu fragen: Wird Er in unsrer Mitte sein
können, wenn wir uns auf einem andern Boden als dem
Seiner Wahrheit versammeln? oder wenn wir böse Lehren
oder offenbare Sünden in unsrer Mitte dulden? oder wenn
wir mit gleichgültigen oder gar mit Neid und Bitterkeit
erfüllten Herzen zusammenkommen? Dürfen wir annehmen,
daß Er solche Dinge durch Seine Gegenwart bestätigen
würde? Sicherlich nicht; denn das hieße Ihn zu einem
„Diener der Sünde" machen. (Gal. 2, 17.) Das aber
sei ferne!
320
Bedenken wir, daß wir mit dem „Heiligen und Wahrhaftigen"
(Offbg. 3, 7) in Gemeinschaft gebracht find, und
daß Seine Worte in jenem Sendschreiben an Philadelphia:
„Du hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen
nicht verleugnet", an die Treuen der letzten Tage gerichtet
sind.
Bethanien.
(Joh. 11 u. 12.)
III.
Auf dem Wege zu dem Grabe Seines Freundes
Lazarus seufzte der Herr zweimal tief auf. Der erste
Seufzer wurde durch den Anblick der weinenden Maria
und der mit ihr trauernden Juden hervorgerufen. „Als
nun Jesus sie weinen sah, und die Juden weinen, die
mit ihr gekommen waren, seufzte Er tief im Geiste und
erschütterte sich." (V. 33.)
Wie kostbar ist dies für ein niedergebeugtes, trauerndes
Herz! Der Anblick menschlicher Thränen entlockte dem
liebenden, mitfühlenden Herzen des Sohnes Gottes einen
tiefen Seufzer. Jesus tadelte Maria nicht darüber, daß
sie weinte; er machte ihr keine Vorwürfe wegen ihrer
Trauer. Er sagte ihr nicht, es sei Unrecht, zu klagen;
sie müsse über allem Derartigen erhaben sein. O nein,
das sähe unserm geliebten Herrn nicht ähnlich. Manche
von uns mögen zuweilen in solch herzloser Weise reden;
aber Er verstand es besser. Obwohl Er der Sohn Gottes
war, war Er doch ein wirklicher Mensch, und Er fühlte
deshalb völlig, wie ein Mensch fühlen soll, und Er wußte.
321
was in dem Herzen eines Menschen vorgehen muß, während
er durch dieses finstere Thränenthal geht. Zuweilen
hört man sagen, ein Gläubiger müsse über der Natur
stehen und das Zerreißen der zartesten natürlichen Bande
nicht so schmerzlich fühlen; und das lautet dann sehr fromm
und geistlich. Aber es ist keines von beidem. Wer so
redet, befindet sich nicht im Einklang mit dem Herzen des
Menschen Christus Jesus; er ist thöricht und herzlos, und
man wird gewöhnlich finden, daß gerade diejenigen, welche
am lautesten gegen die Äußerungen des natürlichen
Schmerzes reden, am meisten am Boden liegen, wenn sie
selbst einmal durch körperliche Leiden, Trauer und Schmerz,
oder vielleicht nur durch Verluste an ihrer irdischen Habe
geführt werden. Sicherlich ist es nicht gut, sich rückhaltlos
seinem Schmerze zu überlassen oder sich gar darin zu
gefallen, das arme Herz mit kummervollen Gedanken und
schmerzlichen Gefühlen zu zermartern; wir sollten vielmehr
durch die ernsten Wirklichkeiten des Lebens hienieden gehen
mit einem Herzen, das Gott unterworfen ist und Ihm
vertraut. Aber nichts könnte thörichter sein, als Wesen
von Fleisch und Blut, wie wir sind, mit menschlichen
Herzen und menschlichen Gefühlen, zuzumuten, sie sollten
es nicht fühlen, wenn Schmerz und Trauer über sie
kommen. Gott will, daß wir es fühlen; aber welch ein
kostbarer, tröstlicher Gedanke: Jesus fühlt mit uns;
und der Gott, welcher die Trübsal über uns kommen läßt,
ist „der Vater der Erbarmungen und der Gott alles
Trostes". Er tröstet die Niedrigen. (2. Kor. 1, 3; 7, 6.)
Wenn wir nicht niedergebeugt würden, so könnten wir die
Kostbarkeit des göttlichen Trostes nicht genießen. Es ist
der Mühe wert, ein verwundetes Herz zu haben, um zu
322
erfahren, wie unser barmherziger Hohepriester es verbindet
und Balsam in die Wunden gießt.
Doch noch ein andrer Seufzer kam über die Lippen unsers
hochgelobten Herrn. Einige der Juden nämlich, welche
die Thränen des Herrn gesehen und Sein Seufzen vernommen
hatten, konnten sich nicht enthalten auszurufen:
„Siehe, wie lieb hat Er ihn gehabt!" Aber ach! andere
fanden in diesen rührenden Beweisen Seines tiefen Mitgefühls
nur Anlaß, Ihm über Sein bisheriges Verhalten
in herzloser Weise Vorwürfe zu machen und ihrer Unzufriedenheit
und Zweifelsucht Ausdruck zu geben. Sie
sagten: „Konnte dieser, der die Augen des Blinden auf-
that, nicht machen, daß auch dieser nicht gestorben wäre?"
Sieh hier, mein Leser, das arme menschliche Herz.
Es versteht weder die Person noch den Pfad des Sohnes
Gottes. Wie hätten deshalb jene Leute die Beweggründe
erkennen und schätzen können, welche den Herrn in Seinem
Thun und Lassen leiteten? Er öffnete die Augen des
Blindgeborenen, „damit die Werke Gottes an ihm geoffenbart
würden", und Er verhinderte den Tod des
Lazarus nicht, damit Gott dadurch verherrlicht werde.
Aber davon verstand die Welt nichts. Sie kannte Ihn
nicht und bildete sich ihre Urteile über Ihn inmitten jener
moralischen Finsternis, in welcher sie lebt.
So ist es auch heute noch. Menschliche Beurteilungen
göttlicher Dinge beginnen und enden im Dunkel. Der
Mensch vernünftelt und zieht seine Schlüsse über Gott,
über Christum, über die Heilige Schrift, über Leben und
Tod, über Himmel und Hölle, kurz über alles — aber
alle seine Vernünfteleien, alle die scharfen Schlüsse seines
Verstandes sind weniger als wertlos. Der Mensch ist
323
heute nicht fähiger, das geschriebene Wort zu verstehen
und zu schätzen, wie die Juden einst das lebendige Wort
zu erkennen vermochten. Und es hat auch gar keinen
Zweck, mit Weltleuten über göttliche Dinge zu streiten; es
kann sie höchstens zu der Meinung verleiten, daß sie wirklich
imstande wären, diese Dinge zu beurteilen, während
doch geschrieben steht: „Der natürliche Mensch nimmt
nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm
eine Thorheit, und er kann es nicht erkennen".
(1. Kor. 2, 14.) Es ist immer das Beste, sie
ernstlich auf ihren innern Zustand vor Gott aufmerksam
zu machen. Der Herr nahm nicht die geringste Notiz
von den ungläubigen Fragen und Schlüssen Seiner Umgebung
, sondern ging seufzend Seines Weges weiter.
„Jesus nun, wiederum tief in sich selbst seufzend, kommt
zur Gruft. Es war aber eine Höhle, und ein Stein lag
darauf."
Der erste Seufzer unsers Herrn und Heilandes war
also der Ausdruck Seines Mitgefühls mit den Leidtragenden
um Ihn her; zum zweiten Male seufzte Er über die
Härte und den finstern Unglauben des menschlichen Herzens
und vor allem des Herzens Israels. Aber, beachten
wir es wohl, Er machte keinen Versuch, Seine Gründe zu
erklären, weshalb Er den Tod Seines geliebten Freundes
nicht verhindert hatte. Als der vollkommene, in all Seinem
Thun von Gott abhängige und von Ihm geleitete Diener
war es nicht Seine Sache, Erklärungen zu geben. Es
lag Ihm ob, den Willen des Vaters zu thun und Sein
Werk zu vollbringen, nicht aber sich zu rechtfertigen, am
allerwenigsten vor solchen, die gar nicht fähig waren,
Seine Erklärungen zu verstehen. Laß uns, geliebter
324
Leser, wie in allem, so auch in diesem Punkte von unserm
Herrn und Meister lernen!
Am Grabe angelangt, sucht der Herr in Seiner
Gnade die Jünger zu Seinen Mitarbeitern zu machen, soweit
dies in dem vorliegenden Falle möglich war; aber
auch jetzt begegnet ihm wieder der finstere Unglaube des
menschlichen Herzens in betrübendster Weise. „Jesus
spricht: Nehmet den Stein weg!" Das konnten die Jünger
thun, und deshalb fordert der Herr sie in Seiner Güte
dazu auf. Aber noch ehe sie sich anschickten, das Gebot
des Herrn zu erfüllen, „spricht die Schwester des Verstorbenen,
Martha, zu Ihm: Herr, er riecht schon, denn
er ist vier Tage hier".
Nun, und wenn es so war, was hinderte es Den,
der über Tod und Grab gebieten konnte? Was waren
die demütigenden Merkmale der eingetretenen Verwesung
für Ihn, der sich die Auferstehung und das Leben nannte?
Konnten sie Ihn hindern, Sein Werk auszuführen? Unmöglich
! Führe Ihn ein, und alles ist klar und einfach;
laß Ihn aus, und alles ist dnnkel und unausführbar.
Bor der Stimme des Sohnes Gottes müssen Tod nnd
Verwesung entfliehen wie die Finsternis der Nacht vor
den Strahlen der aufgehenden Sonne. „Siehe, ich sage
euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen,
wir werden aber alle verwandelt werden, in
einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune;
denn Posaunen wird es, und die Toten werden auferweckt
werden unverweslich, und wir werden verwandelt werden.
Denn dieses Verwesliche muß Unverweslichkeit anziehen,
und dieses Sterbliche Unsterblichkeit anziehen. Wenn aber
dieses Verwesliche Unverweslichkeit anziehen und dieses
325
Sterbliche Unsterblichkeit anziehen wird, dann wird das
Wort erfüllt werden, das geschrieben steht: „Verschlungen
ist der Tod in Sieg". „Wo ist, o Tod, dein Stachel? wo
ist, o Tod, dein Sieg?" . . . Gott aber sei Dank, der
uns den Sieg giebt durch unsern Herrn Jesum Christum!"
Welche Worte! Was sind Tod, Grab und Verwesung
angesichts einer solchen Macht? Wie thöricht, von einem
viertägigen Liegen im Grabe als einer Schwierigkeit für
den Sohn Gottes zu reden! Millionen, die seit Jahrhunderten
und Jahrtausenden in Staub und Moder zerfallen
sind, werden in einem Nu, in einem Augenblick zum Leben
und zu ewiger Herrlichkeit auferstehen, gehorsam der
Stimme Dessen, welchem Martha ihre ungläubigen und
thörichten Einwände entgegenzustellen wagte.
Die Antwort des Herrn auf Marthas Einwurf ist von
besondrer Schönheit: „Habe ich dir nicht gesagt, wenn du
glauben würdest, so würdest du die Herrlichkeit
Gottes sehen?" Welch eine Kraft und Lieblichkeit liegt
in diesen Worten! Sie enthalten den Kern, das wahre
Wesen des Glaubenslebens. Nur das Auge des Glaubens
kann die Herrlichkeit Gottes sehen. Während der Unglaube
nur unüberwindliche Schwierigkeiten, Finsternis und Tod
erblickt, schaut der Glaube über alle diese Dinge hinweg
und erfreut sich der lieblichen Strahlen der göttlichen
Herrlichkeit. Die arme Martha sah nichts als einen verwesenden
menschlichen Leib; hätte sie geglaubt, so würde
sie mit Vertrauen auf Ihn geblickt haben, der sich ihr als
die Auferstehung und das Leben geoffenbart hatte.
So ist es stets, geliebter Leser. Der Glaube schaut
nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Er
harrt aus, als sähe er den Unsichtbaren. Er klammert
326
sich an den lebendigen Gott, stützt sich auf Seinen allmächtigen
Arm, macht Gebrauch von Seiner Stärke, schöpft
aus Seinen unergründlichen Quellen, wandelt in dem
Lichte Seines Antlitzes und erblickt Seine Herrlichkeit
inmitten der finstersten Scenen des menschlichen Lebens.
Das Wort Gottes ist voll der treffendsten Beispiele
von dem Gegensatz zwischen Glaube und Unglaube. Laßt
uns einige kurz betrachten. Wenden wir uns zunächst zu
4. Mose 13. Die Kundschafter, welche Mose in das Land
Kanaan geschickt hatte, brachten die Kunde zurück, daß das
Land in der That sehr gut sei und von Milch und Honig
fließe. Aber dann fuhren sie fort: „Nur daß das Volk
stark ist, das in dem Lande wohnt, und die Städte befestigt,
sehr groß; und auch die Kinder Enakim haben wir dort
gesehen." Ach! sie hatten alles und jedes gesehen, nur nicht
Gott und Seine Herrlichkeit. Nach und nach schwand selbst das
Gute vor ihren Augen, und sie brachten ein böses Gerücht
über das Land, indem sie sagten: „Das Land, welches
wir durchzogen haben, es auszukundschasten, ist ein Land,
das seine Bewohner frißt; und alles Volk, das
wir in dessen Mitte gesehen haben, sind Leute von
großer Länge". Jetzt gab es nur noch große Leute
im Lande; kleine hatten sie gar nicht gesehen. So ist es,
wenn man durch das Vergrößerungsglas des Unglaubens
schaut; die Schwierigkeiten wachsen im Nu riesengroß.
Angesichts der gewaltigen Riesen und der himmelanstrebenden
Mauern kamen sie sich in ihren eignen Augen vor „wie
Heuschrecken", und also waren sie auch, wie sie sagten, in
jener Augen.
So macht es der Unglaube stets. Er zählt mit größter
Genauigkeit alle Schwierigkeiten, Hindernisse und feind
327
lichen Einflüsse auf, aber den lebendigen Gott sieht er
nicht. Der Unglaube ist immer derselbe, ob er sich in
der Wüste Kades oder am Grabe des Lazarus zeigt.
Wie ganz anders offenbart sich der Glaube! Lauschen
wir nur einen Augenblick auf die schönen Worte Josuas
und Kalebs, mit denen sie sich der wachsenden Flut des
Unglaubens entgegenzustemmen suchten: „Und Josua, der
Sohn Runs, und Kaleb, der Sohn Jephunnes . . . .
zerrissen ihre Kleider; und sie sprachen zu der ganzen
Gemeinde der Kinder Israel und sagten: Das Land, das
wir durchzogen haben, es auszukundschaften, das Land ist
sehr, sehr gut. Wenn Jehova Gefallen an uns
hat, so wird Er uns in dieses Land bringen und es
uns geben, ein Land, das von Milch und Honig fließt; nur
empöret euch nicht wider Jehova, und ihr, fürchtet nicht das
Volk des Landes, denn unser Brot werden sie sein."
— Der Glaube nährt sich thatsächlich von den Schwierigkeiten,
welche den Unglauben erschrecken.— „Ihr Schirm ist von
ihnen gewichen, und Jehova ist mit uns; fürchtet sie nicht."
Herrliche Worte! Es thut dem Herzen wohl, sie
niederzuschreiben. „Habe ich dir nicht gesagt, wenn du
glauben würdest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes
sehen?" Kaleb und Josua richteten ihren Blick auf Gott,
und was waren Riesen und hohe Mauern in dem Lichte
der göttlichen Herrlichkeit? Wenn sie irgend etwas waren,
so waren sie Brot zur Speise für den Glauben. Der
Glaube führt Gott ein und schließt damit alle Schwierigkeiten
aus. „Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?"
So urteilt der Glaube. Er zieht alle seine Schlüsse in
dem gesegneten Lichte der göttlichen Gegenwart und findet
seine sichern und nie fehlenden Hilfsquellen in Gott.
328
Nehmen wir ein anderes, ebenso treffendes Bild.
In 1. Kön. 17 finden wir Elia, den Tisbiter, und die
Witwe von Zarpath. Worin bestand der Unterschied
zwischen diesen beiden Personen? Genau in dem, was
stets den Unterschied zwischen Glaube und Unglaube ausmacht.
Hören wir zunächst, was der Unglaube sagt: „Und
sie sprach: So wahr Jehova, dein Gott, lebt, wenn ich
einen Kuchen habe, außer einer Handvoll Mehl im Topfe
und ein wenig Oel im Kruge! und siehe, ich lese ein Paar
Holzstücke auf und will hineingehen und es mir und meinem
Sohne bereiten, daß wir es essen und sterben."
Ein leerer Topf, ein nahezu trockner Krug und der
Tod — wahrlich, ein düsteres Gemälde! Aber war das
alles? Ja, für den Unglauben war es alles. Es ist
wieder die alte Geschichte von den Riesen und den hohen
Mauern. Gott ist ausgeschlossen, obwohl das Weib sagt:
„So wahr Jehova, dein Gott, lebt!" Die arme Frau
verwirklichte die Gegenwart Gottes nicht, noch hatte sie
ein Bewußtsein davon, daß Er all ihrer Not begegnen
und in einem Augenblick sie stillen konnte. Es erging ihr
genau so wie den zehn Kundschaftern. Diese sahen nichts
als Schwierigkeiten und Gefahren; Martha sah nichts als
das Grab und die Verwesung, und die arme Witwe sah
nichts als Hunger nnd Tod.
Nicht so der Mann des Glaubens. Er vertraute auf
das Wort Gottes. Gott hatte gesagt: „Ich habe einer
Witwe geboten, dich zu versorgen". Das war genug für
ihn. Er wußte, daß Gott den Topf in Mehl und den Krug
in Öl verwandeln konnte, wenn es nötig war. Gleich
Kaleb und Josua brachte er Gott auf den Schauplatz und
fand in Ihm die Lösung aller Fragen und Schwierigkeiten.
329
Gleich jenen beiden glaubensmutigen Männern ruhte er
auf dem Worte Gottes, welches in Ewigkeit festgestellt ist
in den Himmeln, und mit diesem Worte suchte er auch
die Mtwe zu beruhigen. „Fürchte dich nicht!" sagte
er zu ihr, „gehe hinein, thue nach deinem Worte; doch
bereite mir zuerst einen kleinen Kuchen . . . Denn so
spricht Jehova, der Gott Israels: Das Mehl
im Topfe soll nicht ausgehen und das Öl im Kruge nicht
abnehmen bis auf den Tag, da Jehova Regen geben wird
auf den Erdboden."
„Fürchte dich nicht" — liebliches, herzbewegendes
Wort! Und warum nicht? Gott hatte gesprochen. Elia
versuchte nicht zu leugnen, daß der Topf und der Krug
beinahe leer waren; das hätte dem armen Weibe nichts
helfen können. Nein, Er brachte den lebendigen Gott und
Sein unfehlbares Wort vor den niedergebeugten Geist der
Witwe, und deshalb konnte er sagen: „Fürchte dich nicht!"
Er suchte ihre Seele dahin zu führen, wo er selbst Ruhe
gefunden hatte, nämlich zu dem Worte Gottes,
dem kostbaren, göttlichen Ruhort für jede bekümmerte
Seele. Das ist die Weise des Glaubens. Er übersieht
nicht die Schwierigkeiten, er ist nicht oberflächlich und
leichtfertig; aber er weiß, daß die Macht Gottes alle
Schwierigkeiten bei weitem übertrifft, und so ruht er in
heiligem Frieden in Gottes vollkommener Weisheit und
ewiger Liebe und vertraut fest und unerschütterlich Seinem
untrüglichen Worte.
Der Glaube hat auch seine „Wenn" und „Aber";
nur sind seine „Wenn" und „Aber" ganz andere als diejenigen
des Unglaubens. Während der Unglaube durch
sein „Wenn" nur seinen Zweifeln, und durch fein „Aber"
330
nur seinen Befürchtungen und bösen Einwänden Ausdruck
giebt, bezeichnet der Glaube durch seine „Wenn" und
„Aber" den Uebergang der Seele von den Schwierigkeiten
zu Gott. Hier nur einige kleine Beispiele: „Wenn
Gott für uns ist, wer wider uns?" „Wenn Jehova
Gefallen an. uns hat, so wird Er uns in dieses Land
bringen." — „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit."
„Jetzt aber, in Christo Jesu, seid ihr, die ihr
einst ferne wäret, durch das Blut des Christus nahe geworden."
So urteilt der Glaube. Er stellt Gott zwischen
die Seele und alles Sichtbare, und verleiht so einen Frieden,
der allen Verstand übersteigt.
Doch kehren wir zu dem Grabe des Lazarus zurück.
„Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glauben würdest, so
würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen?" Der Mensch
sagt: Erst sehen, dann glauben; wir dürfen sagen: Erst
glauben, dann sehen; ja, Glauben heißt Sehen. „Der
Glaube ist eine Verwirklichung dessen, was man hofft,
eine Ueberzeugung von Dingen, die man nicht sieht."
iHebr. 11, 1.) Laß uns dies festhalten, geliebter Leser l
Es wird uns befähigen, mit glücklichem Herzen durch die
schwierigsten Umstände und Lagen dieses Lebens zu gehen.
Det Glaube ist völlig überzeugt, daß es nichts giebt, was
zu schwer oder zu groß, aber auch nichts, was zu klein
oder zu geringfügig für Gott wäre. Er rechnet auf Ihn
für alles. Er freut sich immer, wenn der Schauplatz
von allem gesäubert wird, was von dem Geschöpf kommt,
so daß die Herrlichkeit Gottes ausstrahlen kann in all
ihrem Glanze.
Sehen wir nur, wie die göttliche Herrlichkeit sich am
Grabe des Lazarus entfaltet, trotz des Unglaubens und
331
der Zweifelsucht der armen Martha; denn es gefällt Gott
wohl, zu Zeiten ebensowohl unsre Befürchtungen zu zerstreuen
und unsern Kleinglauben zu beschämen, als auf
unsern Glauben zu antworten. „Sie nahmen nun den
Stein weg. Jesus aber hob die Augen empor und sprach:
Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast. Ich aber
wußte, daß du mich allezeit hörst; doch um der Volksmenge
willen, die umhersteht, habe ich es gesagt, auf daß
sie glauben, daß du mich gesandt hast. Und als Er dies
gesagt hatte, rief Er mit lauter Stimme: Lazarus, komm
heraus! Und der Verstorbene kam heraus, au Füßen und
Händen mit Grabtüchern gebunden, und ;sein Gesicht wärmst
einem Schweißtuch umbunden. Jesus spricht zu ihnen:
Löset ihn auf und laßt ihn gehen."
Wunderbarer Anblick! ein Schauspiel voll Herrlichkeit
und Gnade! voll Herrlichkeit, indem es uns unsern Jesus
zeigt als den Sohn Gottes, der mit göttlicher Macht den
Toten gebietet und sie aus der Verwesung wieder ins
Leben ruft — voll Gnade, indem dieser selbe Jesus sich
herabläßt, den Menschen als Seinen Mitarbeiter zu benutzen,
und ist es auch nur um den Stein wegzuwälzen
und die Grabtücher zu lösen. Wie gnädig von Ihm, daß
Er uns in dieser oder jener kleinen Weise gebrauchen will!
Möchte es unsre Freude sein, Seines Winkes stets gewärtig
zu stehen! Möchte Seine Gnade, die sich darin
zeigt, daß sie uns als Werkzeuge in Seinem Dienst gebrauchen
will, eine heilige Bereitwilligkeit in uns wachrufen,
uns von Ihm gebrauchen zu lassen, damit Gott in allem
verherrlicht werde!
332
IV.
Der Eingang des 12. Kapitels versetzt uns wieder
nach Bethanien, in eine ganz neue Scene, die aber deshalb
nicht weniger interessant und belehrend ist: „Jesus
nun kam sechs Tage vor dem Passah nach Bethanien, wo
Lazarus, der Gestorbene, war, welchen Jesus aus den
Toten auferweckt hatte. Sie machten Ihm nun daselbst
ein Abendessen, und Martha diente; Lazarus aber war
einer von denen, die mit Ihm zu Tische lagen. Da nahm
Maria ein Pfund Salbe von echter, sehr kostbarer Narde
und salbte die Füße Jesu und trocknete Seine Füße mit
ihren Haaren. Das Haus aber wurde von dem Geruch
der Salbe erfüllt."
Hier werden uns in höchst eindringlicher und sprechender
Weise die drei großen Charakterzüge vor Augen gestellt,
welche jeden Christen und jede christliche Versammlung
kennzeichnen sollten, nämlich friedliche Gemeinschaft
(Lazarus am Tische), heilige Anbetung (Maria zu den
Füßen Jesu) und liebender Dienst (Martha in ihrer
häuslichen Thätigkeit). Diese drei Dinge sollten in keiner
christlichen Versammlung fehlen. Wir alle sollten wissen,
was es heißt, mit unserm hochgelobten Herrn in lieblicher
Gemeinschaft zn Tische zu sitzen. Eine solche Gemeinschaft
wird Lob und Anbetung von selbst wachrufen, und wo
Gemeinschaft und Anbetung sind, da fehlt auch der Dienst
der Liebe nicht. .
Der Leser wird bemerken, daß Martha und Maria
bei dieser Gelegenheit nicht mit einander zusammenstoßen.
Alle sind an ihrem Platze. Lazarus ist am Tische, Maria
zu des Meisters Füßen und Martha im Hause beschäftigt.
Alles ist in schönster Ordnung und Harmonie, weil Christus
333
der Gegenstand aller Herzen ist. Martha beschwert sich
nicht über Maria; vielmehr dürfen wir versichert sein,
daß sie sich mit Lazarus über den herrlichen Duft der
Salbe gefreut haben wird, welche Maria über die Füße ihres
geliebten Herrn ausgoß. Denn alle drei waren eins in dein
Verlangen, dem Gegenstand der Zuneigungen ihres Herzens
ihre Liebe und Dankbarkeit zu beweisen und Sein Herz
zu erfreuen. „Sie machten ihm ein Abendmahl", lesen
wir. Alle drei waren also wohl gleichmäßig daran beteiligt,
und wenn nur das Herz Jesu erquickt wurde, so machte es
wenig aus, wer dieses und wer jenes that. Christus
war der Mittelpunkt, um welchen sich alles drehte.
So sollte es stets in den Zusammenkünften der
Gläubigen sein, und so würde es sein, wenn das verabscheuungswürdige
„Ich" im Tode gehalten würde und
jedes Herz nur mit Christo beschäftigt wäre. Aber ach!
hier liegt gerade der Punkt, in welchem wir so oft und
in so betrübender Weise fehlen. Wir sind beschäftigt mit
uns selbst, mit unserm armseligen Thun, Reden und
Denken, anstatt mit Christo. Wir legen unserm Thun
Wichtigkeit bei, nicht in dem Verhältnis, wie es zur Verherrlichung
Christi beiträgt, sondern wie es zu unsrer
Erhebung dient. Wenn Christus unser einziger Gegenstand
wäre, so würde es uns nicht das Geringste ausmachen,
wer das Werk thut oder wer den Dienst verrichtet,
wenn nur Sein Nanie verherrlicht und Sein Herz erquickt
würde. Aber wie gesagt, wir sind so selbstsüchtig und
eigenliebig, daß unsre Ehre oft weit mehr Wert für uns
hat als die Ehre Christi. Und doch werden wir alle
bekennen müssen, daß das eigene Ich nicht verächtlicher
und verabscheuungswürdiger ist, als wenn es sich in den
334
Dienst Gottes mengen will. Selbstsucht und Eigenliebe
sind geradezu der Todesstoß für alle wahre Gemeinschaft
und für jeden wahren Dienst; sie waren stets die ergiebigste
Quelle von Streit und Zwiespalt in der Kirche Gottes.
Wie heilsam und nötig ist es daher, uns immer wieder
die ernsten, herzbewegenden Worte des Apostels Paulus
im Briefe an die Philipper ins Gedächtnis zu rufen:
„Wenn es nun irgend eine Ermunterung giebt in Christo,
wenn irgend einen Trost der Liebe, .... so erfüllet meine
Freude, daß ihr einerlei gesinnt seid, dieselbe Liebe habend,
einmütig, eines Sinnes, nichts aus Parteisucht oder eitlem
Ruhm thuend, sondern in der Demut einer den andern
höher achtend als sich selbst; ein jeder nicht auf das
Seinige sehend, sondern ein jeder auch auf das der Anderen.
Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo
Jesu war, welcher, da Er in Gestalt Gottes war, es nicht
für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich
selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm."
Hier liegt das große Heilmittel für die schreckliche
Krankheit der Selbstsucht in allen ihren Entwicklungsstufen.
Es heißt: Habe Christum vor deinem Auge und Herzen
und laß durch den Heiligen Geist Seine demütige Gesinnung
in dir gestalten! Es ist unmöglich, in inniger Gemeinschaft
mit Ihm zu sein, gleichsam die Luft Seiner Gegenwart
einzuatmen, und zugleich seine eigne Ehre zu suchen.
In demselben Maße wie Christus das Herz erfüllt, sind
das eigne Ich und alles was dazu gehört ausgeschlossen;
und wir dürfen versichert sein, daß überall da, wo Neid,
Streit und Eifersucht herrschen, das Ich den ersten Platz
im Herzen einnimmt.
Doch kehren wir zu der Familie in Bethanien zurück.
Wir finden hier, wie gesagt, alles und alle im schönsten
und lieblichsten Einklang. In Luk. 10, 38—42 war es
anders. Dort sehen wir Martha mit sich selbst und ihrem
Thun beschäftigt. Dies nahm ihrem Dienen den lieblichen
Wohlgeruch und zog ihr tadelnde Worte von feiten ihres
liebevollen, aber treuen Herrn zu, — Worte, die sicher
335
niemals ihr Ohr berührt haben würden, wenn sie nicht
ihrer Schwester Maria Vorwürfe über ihre vermeintliche
Trägheit gemacht hätte. Jesus liebte Martha und ihre
Schwester, aber wenn Martha sich über Maria beklagen
wollte, so mußte sie lernen, daß es noch etwas anderes
zu bedenken gab als ein Mahl zu bereiten. Hätte Martha
ruhig ihre Arbeit gethan, indem sie dabei Christum zu
ihrem Gegenstand hatte, so würde sie keinen Tadel erfahren
haben; aber sie befand sich in einer verkehrten Gesinnung.
Sie war nicht in Gemeinschaft mit den Gedanken Christi,
anders würde sie nimmer haben sagen können: „Herr,
kümmert es dich nicht?" Wahrlich, Er kümmert
sich allezeit um uns und interessiert sich für all unser
Thun. Der geringste Dienst ist Seinem liebenden Herzen
kostbar nnd wird nie vergessen werden.
Allein wir müssen uns nicht in den Dienst eines
Andern mischen wollen. Unser Herr wird das nie erlauben.
Wir dürfen alle eine innige Gemeinschaft mit Christo genießen,
wir dürfen alle anbeten und dienen, und alle
unserm Herrn annehmlich sein. Sobald wir aber anfangen,
neidische Vergleiche zu ziehen, treten wir mit der
Gesinnung unsers Herrn und Meisters in Widerspruch.
Martha hielt das Thun ihrer Schwester für verkehrt;
aber sie irrte sich. Die beste Vorbereitung für einen
thätigen Dienst ist, zu den Füßen des Herrn zu sitzen und
auf Seine Worte zu lauschen. Martha mußte lernen,
daß ein hörendes Ohr und ein anbetendes Herz weit kostbarer
sind als geschäftige Hände.
Nicht als ob Martha den Herrn nicht lieb gehabt
hätte. Weit entfernt davon! Aber es gab bei ihr, wie
bei uns allen, etwas, das der Berichtigung bedurfte. Sie
war zu viel mit ihrem Dienen beschäftigt. „Kümmert es
dich nicht, daß meine Schwester mich allein gelassen hat
zu dienen? Sage ihr nun, daß sie mir helfe." Das
war verkehrt. Sie hätte wissen sollen, daß der Dienst
sich nicht auf Kochen und Backen beschränkt, und daß es
Höheres giebt als Speise und Trank. Zehntausende möchten
336
auch heute ein Abendmahl für den Herrn bereiten, während
vielleicht nur eine sich fände, um eine Alabasterflasche mit
Salbe über Ihn auszuschütten. Nicht daß der Herr das
Mahl unterschätzt hätte; aber was würde das Mahl für
Ihn gewesen sein ohne die Salbung? Was ist ein Dienst
ohne wahre, tiefe Hingebung des Herzens? Nichts.
Andrerseits aber ist der geringste Dienst Ihm köstlich,
wenn das Herz dabei ist. „Denn wenn die Geneigtheit
vorliegt, so ist einer annehmlich nach dem er hat",
und wenn es noch so wenig ist. (2. Kor. 8, 12.)
Laß uns das wohl bedenken, mein lieber christlicher
Leser! Es ist möglich, daß wir uns mit allem Eifer dem
Dienste des Herrn hingeben, von Ort zu Ort, von Haus
zu Haus gehen und überall Christum predigen und von
Ihm reden, während wir schließlich doch nur uns selbst
suchen und mit ungebrochenem Willen und liebeleerem
Herzen dahingehen. Laß uns deshalb viel zu den Füßen
unsers Herrn sitzen, und dann werden wir fähig sein für
jeden Dienst, zu welchem Er uns gebrauchen will. Machen
wir den Dienst zu unserm Gegenstände, so wird gerade
der Dienst ein Fallstrick für uns werden. Ist aber Christus
unser Gegenstand, so werden wir stets das Richtige thun,
ohne an uns oder unser Werk zu denken.
So war es mit Maria. Sie war mit ihrem Herrn
beschäftigt, nicht mit sich selbst oder mit ihrer Alabasterflasche.
„Der Ausgezeichnete vor Zehntausenden" füllte ihre
ganze Seele aus, und so beklagte sie sich nicht über Lazarus
oder Martha, sondern wurde durch die Triebe einer wahren,
aufrichtigen Liebe dahin geleitet, das zu thun, was für
den Augenblick passend war und das Herz ihres Herrn
so wunderbar erquickte. Und der Herr erkannte ihre That
der Liebe an und wird sie anerkennen in Ewigkeit; ja,
„wo irgend dieses Evangelium gepredigt werden wird in
der ganzen Welt, wird auch von dem geredet werden,
was diese gethan hat, zu ihrem Gedächtnis."