Botschafter des Heils in Christo 1901

01/30/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Botschafter des Heils in Christo Jahresband 1901

Inhalts-Verzeichnis.

Seite

Die Gnade Gottes 1, 29,

57

Ich bin's oder: Die Stimme Jesu im Sturm 11,

42

Von Gott verlassen

26

Kein Unterschied

53

Auf Hoffnung säen (Gedicht)

56

Gott ist Liebe

69

Gedanken über den 23. Psalm      79, 94, 122, 164, 180, 210, 237, 270,

294

Kommet her, frühstücket!"

85

Vollkommene Liebe

107

Was ist der Tod?

113

Habe ich dir nicht geboten?"

141

Halte fest was du hast!..

153

Die beiden Loblieder in Offenbarung 1, 5 6 u. 5. 9-14

158

Ein für allemal der Sünde gestorben

224

Lasset euer Licht Leuchten! (Gedicht)

250

Gedanken

279

Wegen seines in euch wohnenden Geistes."

280

Trost im Trennungsschmerz (Gedicht).

301

Das Werk der Gnade für uns und in uns

309

Fürwahr, Gott ist Israel gut."

320

Vertraune still dem Jehova und harre auf Ihn!"

331

Einfalt

335

Bethanien (Gedicht)

335

Die Gnade Gottes

Bibelstelle: Titus 2,11-13

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 1ff

„Denn die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen, und unterweist uns, dass wir, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht und gottselig leben sollen in dem jetzigen Zeitlauf, erwartend die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus" (Titus 2,11 - 13).

I.

Die Gnade Gottes! - Welch ein weites, unübersehbares Feld, voll der reichsten, kostbarsten Früchte, tut sich vor unseren Blicken auf, wenn wir dieses eine Wort: „die Gnade Gottes" vernehmen! - eine Schatzkammer gefüllt mit unerschöpflichen Reichtümern, mit Silber, Gold und blitzendem Edelgestein. Die Gnade eines mächtigen Fürsten auf dieser Erde ist gewiss ein köstliches, begehrenswertes Ding; aber was ist sie im Vergleich mit der Gnade Gottes? Wie ein einziger, und dazu noch nicht einmal reiner Tropfen gegenüber den kristallhellen Fluten eines gewaltigen Sees, dessen Tiefen von keinem Geschöpf ausgemessen werden können.

Die Gnade Gottes! - Wie süß und lieblich klingt das Wort in den Ohren eines verurteilten, dem ewigen Gericht verfallenen Sünders! Wie köstlich und erquickend spricht es zu dem Herzen des gläubigen Pilgers auf seinem Wege durch eine ermüdende, gefahrvolle Wüste!

Sehr bemerkenswert ist die Verbindung, in der das schlichte Wort in der oben angeführten Stelle (Titus 2) erscheint. In der ersten Hälfte des Kapitels redet der Apostel von dem geziemenden Verhalten derer, die sich zum Christentum bekennen, entsprechend der Stellung, in der sie sich befinden mögen. Er spricht von den Dingen, deren sich die alten Männer und die alten Frauen befleißigen sollten, beschreibt dann das Betragen der jungen Frauen, schildert die Charakterzüge der gläubigen Jünglinge und verweilt zum Schluss bei dem, was sich für einen Knecht und eine Magd ihrer Herrschaft gegenüber in den Einzelheiten des täglichen Lebens geziemt: sie sollen ihren Herren unterwürfig sein, in allem sich wohlgefällig machen, nicht widersprechen und nichts unterschlagen, sondern „alle gute Treue erweisen, auf dass sie die Lehre, die unseres Heiland-Gottes ist, zieren in allem". Dann heißt es weiter: „Denn die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen".

Der Leser wolle das „Denn" an dieser Stelle wohl beachten. Ein „Denn" leitet stets eine Begründung des Vorhergehenden ein. So ist es auch hier. Denn welchen Zweck hätte es, Ermahnungen, wie die eben angeführten, an Geschöpfe zu richten, die von Natur gerade das Gegenteil von dem Gesagten lieben, die widerspenstig, selbstsüchtig und eigennützig sind, wenn die Gnade Gottes nicht erschienen wäre und aus armen, in Ketten der Sünde schmachtenden Sklaven Satans freie, erlöste Kinder Gottes und Knechte und Mägde Jesu Christi gemacht hätte?

Aber noch aus einem anderen Grunde ist das „Denn" bemerkenswert. Der Mensch sieht nur das, was vor Augen ist. Er kann nicht das Herz und seine Beweggründe beurteilen. Er muss sich zufrieden geben mit dem äußeren christlichen Verhalten eines Gläubigen. Gott aber prüft das Herz und wägt die Beweggründe; Sein Wort beschäftigt sich mit den inneren Regungen, mit den Quellen, aus denen das äußere Verhalten hervorfließt, und regelt sie. Ja, mehr noch: kein noch so schönes äußeres Verhalten kann Gott befriedigen und in Seinen Augen wohlgefällig sein, wenn es nicht aus einem Herzen hervorkommt, das Seiner heilbringenden Gnade unterworfen ist und durch die Kraft dieser Gnade täglich beeinflusst und geleitet wird. Verhaltungsregeln können solchen nicht gegeben werden, deren Herzen sich nicht dem „Glaubensgehorsam" unterworfen haben. Was könnten sie ihnen nutzen, da ja doch die Gesinnung des natürlichen Herzens Feindschaft gegen Gott ist? - Wie schön und passend ist also das „Denn"!

„Die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen." Wann ist sie erschienen? Als der Herr Jesus in diese Welt kam, um das Werk der Erlösung zu vollbringen; als Gott Seine unergründliche Liebe, Seine „Güte und Menschenliebe" in der Sendung und Dahingabe Seines eingeborenen Sohnes offenbarte. Ehemals hatte Gott vielfach durch den Mund der Propheten zu den Menschen geredet; aber jetzt redet Er im Sohne eine so gewaltige, herzergreifende Sprache der Liebe, dass kein Mensch und kein Engel imstande ist, sie voll und ganz zu erfassen.

Ja, die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen. Da ist keiner ausgeschlossen. Das Wort Gottes ist nicht für ein besonderes Volk, nicht für eine auserwählte Klasse von Menschen, mit Ausschluss aller übrigen, bestimmt. Nein, es ist allumfassend, erdumspannend. Wie köstlich ist es, das zu wissen, das so einfach und klar im Worte Gottes ausgedrückt zu finden! „Wen da dürstet", „wer da will", so redet die Gnade Gottes. Niemand, auch nicht der Sündigste und am weitesten von Gott Entfernte, kann sagen: Für mich gibt es kein Heil, keine Gnade. Nein, an alle ohne Ausnahme richtet sich die Sprache der göttlichen Liebe, für alle ohne Ausnahme ist Gnade und Heil da. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe" (Johannes 3,16). Ach, wenn nur mehr Herzen sich auftäten, um das göttliche Heil zu empfangen; wenn nur mehr Lippen sich öffneten, um zu rufen: „O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!"

In einem Sinne weiß selbst die ungläubige Welt die Bedeutung der Worte: „heilbringend für alle Menschen", zu fassen und zu würdigen. Sie weiß sehr gut, dass da, wo das Wort vom Kreuz gepredigt und das Christentum, wenn auch vielfach nur äußerlich, angenommen wird, Gesittung und Bildung Fuß fassen und der Boden für ein friedliches Zusammenwohnen und eine gedeihliche Entwicklung des Landes geebnet wird. Auch ist es den Obrigkeiten und Regenten in dieser Welt sehr wohl bekannt, von welchem ungeheuren Einfluss das Christentum auf die Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung und des sozialen Friedens ist.

Doch wie segensreich diese Wirkungen der göttlichen Gnade auch sein mögen, so können wir sie doch nur „Begleiterscheinungen" des Christentums nennen; wir dürfen aber in ihnen nicht die Erfüllung oder auch nur teilweise Erfüllung der Worte: „heilbringend für alle Menschen" erblicken. Das Heil, zu dessen Einführung die Gnade Gottes einst erschien, ist unendlich kostbarer und herrlicher. Gott ist in Seiner vollkommenen Güte auf einem Schauplatz des Verfalls und des Todes, hervorgerufen durch die Sünde des Menschen, erschienen, um dem sündigen, verlorenen Menschenkinde eine völlige Befreiung aus zeitlichem und ewigem Elend zu bringen. Die Gnade hat Heil und Rettung in diese Welt eingeführt, wo Sünde, Tod und Teufelsmacht den Zustand des Menschen kennzeichneten; sie ist all den schrecklichen Folgen der Sünde begegnet und hat sie für den Gläubigen berichtigt, wenngleich einer, so lange er sich noch in dem Zustand der Schwachheit und Unvollkommenheit befindet, die ewigen Ergebnisse dieser Beseitigung noch nicht voll und ganz genießt.

Die Gnade Gottes ist erschienen - wie lieblich und zugleich ergreifend ist diese Tatsache an und für sich schon, ganz abgesehen von ihren Folgen! Dort wo nur Finsternis und Tod, Haß und Feindschaft herrschten, wo Unrecht und Gewalttat ihre blutgetränkten Pfade schritten, wo die Seufzer des Gefangenen, der Schrei des Unterdrückten, die Klage der Witwe und Waise und die Jammerlaute der Armen und Kranken gen Himmel stiegen, ist die Gnade Gottes, die Güte und Menschenliebe unseres Heiland-Gottes (Kap. 3,4), erschienen, um Licht und Leben, Frieden und Heil, Lösung und Befreiung zu bringen; so wie der Herr Jesus Selbst einst in der Synagoge von Nazareth vor den Ohren der Versammelten las: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen; er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung auszurufen und Blinden das Gesicht, Zerschlagene in Freiheit hinzusenden, auszurufen das angenehme Jahr des Herrn" (Lk. 4,18. 19).

Ja, die Gnade Gottes ist erschienen, Sein Name sei ewig dafür gepriesen! Und was hat sie gebracht? Wir haben schon darauf hingedeutet, aber wir müssen noch einmal darauf zurückkommen. Um die Ergebnisse dieser Dazwischenkunft Gottes in Gnade in etwa zu verstehen - das volle Verständnis wird ja erst die Ewigkeit bringen - müssen wir uns daran erinnern, wo der Mensch von Natur sich befindet, wohin die Sünde ihn gebracht hat. Gottes Wort beschreibt seinen Zustand als völlig verderbt und Gott entfremdet. Der Mensch ist in geistlichem Sinn „tot in Vergehungen und Sünde": er ist fern von Gott, unrein, ungerecht, gottlos, hassens- und verdammungswürdig, zu allem Guten untauglich, ein Kind des Zorns usw. Dazu ein Feind Gottes, voll von Eigenliebe und Selbstsucht. Sein Zustand könnte gar nicht schrecklicher und hoffnungsloser gedacht werden, als er ist. Er gleicht im besten Falle einem übertünchten Grab, das von außen zwar schön scheint, aber von innen voll Totengebeine und Unreinigkeit ist. Wie Gott über den Zustand des Menschen denkt und urteilt, das sieht man am Kreuz in den schrecklichen Leiden und dem Tode Christi.

Nun, um solch einem armen, beklagenswerten Geschöpf zu helfen, um solch Unwürdige und ganz und gar Verlorene zu erretten, erschien die Gnade Gottes. Nichts Geringeres als göttliche Gnade und göttliches Erbarmen hätte einem solchen Zustand begegnen können. Darum lesen wir auch: „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen Seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt hat"; und: „Also hat Gott die Welt geliebt"; und „Sehet, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Gottes Kinder heißen sollen!" und viele andere ähnliche Stellen. Ja, wo ist eine Liebe gleich dieser Liebe!

„Das Heil, das die Gnade Gottes bringt", sagt ein anderer Schreiber, „begegnet jeder Art sittlicher Entfernung von Gott, die durch die Sünde hervorgebracht ist, und beseitigt sie. Denn Christus hat ja einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf dass er uns zu Gott führe (1. Petrus 3,18). Die Sünde entfernt von Gott, das ist die Natur der Sünde; denn Licht kann keine Gemeinschaft mit Finsternis haben. Aber dann heißt es: „In Christo Jesu seid ihr, die ihr einst ferne wäret, durch das Blut des Christus nahe geworden" (Epheser 2,13). Sünde, Tod, Satans Macht und Gottes Gericht kennzeichneten miteinander den verderbten Zustand des Menschen, und ihnen allen muss begegnet werden, bevor ein volles und angemessenes Heil verkündigt werden kann. Es genügt nicht, den Menschen aus seiner Erniedrigung und sittlichen Verunreinigung herauszuheben, wenn eine solche Sache überhaupt möglich wäre, und ihn auf den Weg zum Glück zu stellen. Das Gewissen muss zur Ruhe gebracht werden, und zwar auf Grund der Befriedigung aller Ansprüche Gottes, die Er in Seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit erheben muß, und die Beseitigung aller irgend möglichen Folgen der Sünde. Und dies gerade ist das Heil, das die Gnade Gottes bringt. Es führt ewiges Leben in den Bereich des Todes ein; „denn Gott hat uns ewiges Leben gegeben, und dieses Leben ist in Seinem Sohne" (1. Joh. 5,11). Es bringt göttliche Gerechtigkeit dahin, wo die Verdammnis herrscht. „Denn Gott hat den, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2. Kor. 5,21). Es bringt Befreiung von der Macht Satans; denn Christus hat durch den Tod den zunichte gemacht, der die Macht des Todes hat, das ist der Teufel" (Heb. 2,14). Mehr noch als das: Das Heil, das die Gnade Gottes bringt, versetzt uns vor Gott an den Platz, in die Stellung und Annehmlichkeit Dessen, durch Den das Heil erworben wurde, und macht uns zu Teilhabern Seines Lebens und Seiner Herrlichkeit. Das ist das Maß und das der Charakter dieses Heils.

Ja, die Gnade Gottes ist ohne Schranken, so frei wie die Luft, die wir einatmen, wie der Sonnenstrahl, der uns erwärmt, und so tief und weit wie das Meer, ja wie der Raum, der ohne Grenzen und ohne Maße ist. Und wie schön und ermunternd ist es, dass zunächst von dem Erscheinen dieser vollen und für alle Menschen heilbringenden Gnade gesprochen wird, und dann erst davon, wie und wozu sie uns unterweist! Das ist eben das Charakteristische der göttlichen Gnade, wodurch sie in unmittelbaren Gegensatz zu dem Gesetz tritt: sie fordert nicht, sondern gibt, gibt überströmend und ganz umsonst, und dann erst unterweist sie den Begnadigten, wie er der neuen Stellung gemäß, in die er gebracht ist, wandeln soll. Doch ehe wir zu dem Inhalt der Unterweisung der Gnade übergehen, möchte ich noch auf einen anderen bemerkenswerten Punkt in unserer Stelle aufmerksam machen. Sie schließt mit den Worten: „erwartend die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi".

Unwillkürlich werden wir beim Lesen dieser Worte an eine Stelle aus dem 84. Psalm, einem der herrlichen Lieder der Söhne Korahs, erinnert. Diese Männer hatten auch etwas von der unbegreiflichen Gnade Gottes an sich erfahren: Sie waren von dem Rande des Abgrundes, der ihre aufrührerischen Väter verschlungen hatte, durch die mächtige Gnadenhand Gottes hinweggerissen und an einen Platz hoher Segnung gestellt worden. Sie waren es, die, durch den Geist der Prophezeiung geleitet, von dem großen, auf Golgatha vollbrachten Werk sangen: „Güte und Wahrheit sind sich begegnet, Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküsst" (Ps. 85,10); und sie waren es auch, die mit dankerfüllten Herzen und im Bewusstsein der erfahrenen Güte Gottes jubelnd riefen: „Jehova, Gott, ist Sonne und Schild; Gnade und Herrlichkeit wird Jehova geben, kein Gutes vorenthalten denen, die in Lauterkeit wandeln" (Psalm 84,11). Gnade und Herrlichkeit – Anfangs- und Endpunkt der Laufbahn des Gläubigen! Die Gnade geht dem Verlorenen nach und rettet ihn, und das Ziel, wohin sie ihn bringt, ist die Herrlichkeit. Beides ist die freie, unverdiente Gabe Gottes; aber welch eine Bezeichnung der beiden äußersten Punkte der christlichen Laufbahn, nicht wahr, mein Leser? Wie beneidenswert ist ein Mensch, dessen Weg durch diese beiden göttlichen Grenzpfähle bezeichnet wird! „Wo die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwänglicher geworden", so steht gleichsam an dem ersten Grenzpfahl; und: „Vater, ich will, dass die, welche du mir gegeben hast, auch bei mir seien, auf dass sie meine Herrlichkeit schauen", heißt es an dem zweiten.

Was sagen unsere Herzen hierzu, geliebter Leser? Können sie einer solchen Liebe und Gnade gegenüber gleichgültig bleiben? Sollen sie nicht mit unaussprechlicher Freude frohlocken? Ja, die Gnade, die uns gesucht und gefunden hat, wird uns geleiten und bringen bis ans Ziel; und ist das Ziel erreicht, so tut die Herrlichkeit ihre Tore vor uns auf. Zwischen diesen beiden Endpunkten der christlichen Laufbahn, der Errettung und dem Eingang in die Herrlichkeit, liegt die Wüste mit ihrem Kampf, ihren Versuchungen und ihren Schwierigkeiten. Der Weg ist bei dem einen kürzer, bei dem anderen länger, bei dem einen leichter, bei dem anderen schwerer; aber mag er kurz oder lang, leicht oder schwer sein - der Glaube sagt zuversichtlich: „Jehova, Gott, ist Sonne und Schild; Gnade und Herrlichkeit wird Jehova geben, kein Gutes vorenthalten denen, die in Lauterkeit wandeln"; und: „Fürwahr, Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens; und ich werde wohnen im Hause Jehovas auf Länge der Tage" (Psalm 23,6). Auch in diesem letzten Verse sind Gnade und Herrlichkeit unmittelbar miteinander verbunden, und so ist es auch in Römer 5,2 und manchen anderen Stellen: „Durch welchen (Jesum Christum) wir mittels des Glaubens auch Zugang haben zu dieser Gnade, in welcher wir stehen, und rühmen uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes".

Und vergessen wir nicht: der Tod ist nicht die Erwartung oder der Gegenstand der Hoffnung des Gläubigen; nein, seine Hoffnung hat ein viel herrlicheres Ziel. Es ist die Ankunft seines Herrn, „die Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi". Wie die Gnade erschienen ist, so wird auch die Herrlichkeit einmal erscheinen, und allen, denen die Erscheinung der Gnade Heil und Rettung gebracht hat, wird die Erscheinung der Herrlichkeit ewige Ruhe, ungestörte Freude im Anschauen des Antlitzes ihres hochgelobten Herrn und reiche Vergeltung ihrer Bemühung der Liebe hienieden bringen.

Schließen wir damit für heute unsere Betrachtung; so der Herr will, betrachten wir ein anderes Mal die Unterweisungen der Gnade.

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Ich bins! Oder: Die Stimme Jesu im Sturm

Bibelstelle: Markus 6,45 - 52

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 11ff

Ich bin’s! — Diese Worte, die einst aus dem Munde unseres teuren Heilandes hervorgingen und die vom Sturm hin- und hergeworfenen Jünger beruhigten, haben auch in späteren Tagen oft Ruhe und Frieden in

die Seele anderer Gläubiger gebracht, die von den Prüfungen und Leiden dieses Lebens zerschlagen oder dem Widerstande einer gottfeindlichen Welt ausgesetzt waren. Aber sollen die schönen Worte einer Seele diesen Segen bringen, so ist es notwendig, dass sie Jesum als ihren Heiland kennt; und ich brauche wohl kaum zu sagen, dass man diese Kenntnis nicht erlangt durch den menschlichen Verstand, sondern allein durch den Glauben, und zwar durch den Glauben des Herzens; wie geschrieben steht: „Mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit“ (Röm. 10, 10). Dieser Herzensglaube ergreift Christum und mit Ihm das ewige Leben. Denn wir lesen: „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben“; und: „Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen“. Und weiter: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt Dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das Leben hinübergegangen“ (Joh. 3, 36; 17, 3; 5, 24).

Der gläubige Leser versteht ohne Zweifel, warum ich so nachdrücklich auf der Tatsache bestehe, dass man, um sich die Worte des Heilandes aneignen zu können, die Gewissheit haben muss, Ihm anzugehören, Ihn wirklich zu kennen. In der bekennenden Christenheit gibt es bekanntlich eine große Anzahl von Seelen, die sich einbilden Christen zu sein, trotzdem sie die Wiedergeburt nie an sich erfahren haben; und sie haben diese Meinung einfach deshalb, weil sie eine gewisse Kenntnis von den Wahrheiten des Evangeliums besitzen, gewisse Werke tun und hier und da auch religiöse Gefühle und fromme Regungen erfahren haben. Aber das Wort Gottes spricht im Blick auf diesen Punkt so bestimmt wie möglich; z. B.: „Es sei denn dass jemand aus Wasser und Geist geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen“ (Joh. 3, 5 -— 7). Oder: „So viele Ihn (d. h. Christum) aber aufnahmen, denen gab Er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an Seinen Namen glauben“ (Joh. 1, 12). Nur diese sind wirklich Christen und haben allein das Vorrecht, die Worte des Herrn: „Ich bin’s“, auf sich anzuwenden und sich ihrer zu erfreuen.

Der einfache Menschenverstand sagt uns übrigens schon, dass sie nur den wahren Jüngern Jesu, den Schafen Seiner Herde, gelten können. Nehmen wir z. B. an, ein Mann sei mehrere Tage von Hause entfernt gewesen und käme nun früher zurück, als man ihn erwartet hätte. In später Nachtstunde tritt er vor sein Hans und klopft laut an die Tür, um sich bemerkbar zu machen. Die erste Wirkung seines Klopfens ist Furcht; das ganze Haus, das so plötzlich aus dem ersten Schlafe geweckt wird, erschrickt. Zitternd geht die Hausmutter an die Tür; aber ehe sie öffnet, fragt sie: „Wer ist da?“ Ihr Mann antwortet: „Ich bin’s!“ Die bekannte Stimme des geliebten Mannes vertreibt sofort alle Furcht, der Riegel wird eilig zurückgeschoben, und die Tür öffnet sich. So ähnlich war es bei den Jüngern in jener Gewitternacht. Jesus war für sie ein bekannter und geliebter Herr; Seine Stimme erweckte in ihren Herzen Gefühle, die keine andere Stimme hätte hervorrufen können. Glückselig der Jünger in gegenwärtiger Zeit, der dasselbe erfährt in den Tagen der Drangsal, die ja keinem Gläubigen erspart bleiben! Denn der Herr hat gesagt: „In der Welt habt ihr Angst“; und Paulus kündigt uns an, „dass wir durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen müssen“ (Apstgsch. 14, 22).

Die Trübsale sind ebenso verschieden wie zahlreich, aber Gott, unser Vater, bedient sich ihrer zu unserer geistlichen Erziehung, als Zuchtmittel. An dieser väterlichen Zucht hat jedes Kind Gottes teil, gemäß den Worten des Apostels: „Was ihr erduldet, ist zur Züchtigung: Gott handelt mit euch als mit Söhnen; denn wer ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Wenn ihr aber ohne Züchtigung seid, welcher alle teilhaftig geworden sind, so seid ihr denn Bastarde und nicht Söhne“.(Hebr. 12, 7. 8).

Zudem haben wir die schweren Zeiten erreicht, welche die letzten Tage charakterisieren, -— Zeiten, wo alles schwierig wird, besonders der Weg des Gläubigen infolge des Zustandes der Christenheit. Ja der Tat sind heute die Menschen so, wie Gott es in 2. Tim. 3, 1 -— 5 ankündigt; sie waren schon so im Heidentum, aber für die Jetztzeit tritt der schwerwiegende Unterschied hinzu, dass die Menschen „eine Form der Gottseligkeit haben, aber ihre Kraft verleugnen“.

Doch, meine lieben Freunde, mögen die Zeiten sich auch ändern, der Herr verändert sich nicht; Seine Stimme bleibt immer, wie einst für die Jünger auf dem bewegten Meere, eine bekannte Stimme, die ertönt, um uns zu beruhigen und zu ermutigen. Sie drang ins Ohr des Johannes, des geliebten Jüngers, als er auf der Insel Patmos erschrocken und zitternd zu den Füßen des Herrn niedergesunken war. „Fürchte dich nicht“, sagt Jesus, „ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige“ (Offbg. 1, 17. 18). Auch Paulus hörte sie, als er in Korinth „in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern“ tätig war. Der Herr sprach durch ein Gesicht in der Nacht zu ihm: „Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! denn ich bin mit dir“ (1. Kor. 2, 3; Apstgsch. 18, 9. 10). Und wir vernehmen heute dieselbe geliebte Stimme in dem Worte Gottes, welches uns inmitten alles Verfalls, aller Trübsale und Prüfungen bleibt, und aus dem wir den Gott kennen lernen, der uns allezeit „vermag aufzuerbauen und ein Erbe zu geben unter

allen Geheiligten“ (Apstgsch. 20, 32). Gepriesen sei Sein heiliger Name dafür!

Wie köstlich ist das Wort Gottes! Wenn der Feind seine Wut entfesselt und sich in dem Charakter eines

„brüllenden Löwen“, als Verfolger der Heiligen, zeigt, so finden diese in dem Worte kräftige Ermutigungen, die sie stützen und aufrecht halten. Kommt Satan als die alte Schlange und sucht die Kinder Gottes durch seine Listen zu verführen, so ist es wieder das göttliche Wort, welches uns fähig macht, seine Fallstricke und Schlingen zu entdecken, samt den Gefahren, die von innen oder außen an uns herantreten. Und wenn der Feind die Kirche zu verderben und die Jünger des Herrn durch falsche Lehren irre zu leiten sucht, so ist es wieder dieses kostbare Wort, zu welchem wir unsere Zuflucht nehmen sollen. Doch noch einmal: Nur das Lamm kennt die Stimme des guten Hirten; es weiß auch die Stimme der Fremden zu unterscheiden, aber zu welchem Zweck? Nur um vor ihnen zu fliehen (Joh. 10, 4. 5).

Doch dazu muss Jesus Seinen Platz in unseren Herzen .haben und unsere Neigungen beherrschen. Wie

viele arme Seelen schwimmen mit dem großen Strome und werden „durch den Irrtum der Ruchlosen mit fortgerissen“ (2. Petr. 3, 17), weil sie dem oder jenem in seiner Gemeinde angesehenen Menschen oder dieser Gemeinde selbst mehr Vertrauen und Liebe entgegenbringen als der Stimme des Herrn. Wenn das der Fall ist, so verdunkelt sich der Blick der Seele, und man weiß nicht mehr, Schutz und Schirm zu suchen bei dem guten Hirten, dem wahren Aufseher unserer Seelen (1. Petr. 2, 25).

Wohl ist es wahr, dass die Befehle und Anweisungen, welche das Wort des Herrn uns gibt, manchmal sehr geheimnisvoll zu sein scheinen, besonders wenn sie unseren Gedanken entgegen sind, unsere Pläne durchkreuzen und unserem Geschmack nicht behagen; aber sie stellen dann nur unseren Glauben auf die Probe und zeigen, wie unsere Herzen in Bezug auf den Herrn stehen. So war es auch mit den Jüngern in den Umständen, welche uns der unserer Betrachtung zu Grunde liegende Schriftabschnitt beschreibt.

Doch bevor wir auf diese Umstände näher eingehen, möchte ich noch auf einige andere Punkte aufmerksam machen. Als der Herr die Zwölfe berief (Mark. 3, 13 usw.), geschah es zu dem Zwecke, damit sie „bei Ihm seien“, und dann, damit Er „sie aussende, zu predigen und Gewalt zu haben, die Krankheiten zu heilen und die Teufel auszutreiben“. In Mark. 6, 7 usw. sehen wir weiter, dass Er sie zu zwei und zwei auf ihre erste Missionsreise, wie wir heutzutage sagen würden, aussandte. Im 30. Verse kehren sie zu Jesu zurück und erzählen Ihm, was sie getan und gelehrt haben. Der Herr, voll zarter Liebe,

fordert sie auf, sich mit Ihm an einen wüsten, abgelegenen Ort zurückzuziehen, um dort ein wenig auszuruhen. Sie folgen Seiner Aufforderung; aber als sie an den Ort gelangen, finden sie bereits eine große Volksmenge versammelt, die ihnen zuvorgekommen ist. Welch eine Enttäuschung für die Jünger! Denn diese Volksmenge, die wie Schafe ohne Hirten waren, beschäftigt sogleich den Herrn; Er war innerlich bewegt über sie. Die Jünger müssen sich wohl oder übel darein finden und warten, aber ihre Geduld ist bald erschöpft; und wer von uns versteht das nicht? Menschlich gesprochen war es sehr verzeihlich. Sie bitten Jesum, die Volksmenge fortzuschicken, und das aus zwei Gründen: es war schon spät, und der Ort war wüste. Das waren für die Jünger, die nur an sich dachten, gute Gründe; für den Herrn aber waren sie gerade von gegenteiliger Bedeutung. Sie bewogen Ihn erst recht, diejenigen, die sich um Ihn versammelt hatten, nicht zu entlassen, sondern zu speisen; sie hätten ja, so urteilte Sein liebendes Herz, auf dem Wege verschmachten können. (S. Kap. 8, 3.) Zugleich aber wünschte Jesus, dass die Jünger von der Kraft Gebrauch machen möchten, die in Ihm gegenwärtig war für die Bedürfnisse des Volkes, und sagte deshalb zu ihnen: „Gebet ihr ihnen zu essen“. Ach! sie hatten gelehrt, Kranke geheilt, Teufel ausgetrieben, aber jetzt können sie sich nicht zu der Höhe der Gedanken Gottes erheben, noch aus der Gnadenquelle schöpfen, die sich ihnen in den Worten öffnet: „Gebet ihr ihnen zu essen!

Und woher kam das? Einfach daher, weil sie nicht dieselben Gefühle und Gedanken betreffs der Volksmenge hatten wie der Herr. Man muss denken und fühlen wie Er, wenn man imstande sein will, zu handeln wie Er. Ohne Gemeinschaft im Denken und Fühlen gibt es keine Gemeinschaft im Handeln; das ist ein sehr wichtiger Punkt, an den wir uns immer wieder erinnern sollten. Der Herr handelt dann den wirklichen Gefühlen Seines Herzens gemäß und speist die Volksmmenge auf wunderbare Weise.

„Und alsbald nötigte Er Seine Jünger, in das Schiff zu steigen und an das jenseitige Ufer nach Bethsaida

vorauszufahren, während Er die Volksmenge entlässt“ (V. 45). Der Herr musste nötigen; denn diese Weisung musste den Jüngern wunderbar vorkommen. Ohne Zweifel verstanden sie die Ursache derselben nicht. Warum wollte ihr Meister allein bleiben, um die Volksmenge zu entlassen? Und wenn Er nun lieber allein sein wollte, warum konnten sie nicht am Ufer auf Ihn warten? Und wie wollte Er ihnen folgen, wenn sie das Schiff wegnahmen? Solche und ähnliche Fragen konnten wohl in ihrem Herzen aufsteigen. Vielleicht haben sie auch Einwendungen gemacht, aber schließlich musste es ihnen genügen, dass die Weisung an sie erging, vor Ihm wegzufahren. So ist es immer mit den Christen. Sie müssen manches tun und durchmachen auf den Befehl ihres Herrn, ohne das Warum zu wissen. Ein willenloser und gehorsamer Jünger fragt aber auch gar nicht: Warum soll ich dieses tun? oder: Warum muss ich jenes durchmachen? sondern sagt mit dem Apostel: „Herr, was willst du, dass ich tun soll?“ Ein Heerführer, ein Schiffskapitän, ein Fabrikherr und dergl. geben oft Befehle, deren Ursachen und Zwecke ihre Untergebenen nicht verstehen, und doch werden sie sofort ausgeführt. Sollten wir, die Jünger des Herrn, nun murren, oder zaudern zu handeln, weil wir Jesu Weisungen nicht verstehen? Sollten wir uns den Vorwurf zuziehen: „Was geht es dich an? Folge du mir nach!“?

Aber nicht allein sind uns Ursache und Zweck eines Befehls oft dunkel, nein, sehr oft ist das, was wir tun

sollen, unserem Willen entgegen, stößt unsere Pläne und Vorsätze um oder stimmt nicht mit unseren Wünschen und Neigungen überein. So war es, wie wir schon gesagt haben, bei den Jüngern. Sie wären lieber bei ihrem Meister geblieben und hätten mit Ihm die Begeisterung der Volksmenge genossen, die von dem Wunder der Speisung ganz hingerissen war (vergl. Joh. 6, 1.4. 15), anstatt ohne Ihn in das Schiff zu steigen. Es schien ihnen gewiss so, als sollten sie einen Verlust erleiden; aber der Schein trügt: wären sie bei Ihm geblieben, so hätten sie sicherlich nicht das gelernt, was ihre zeitweilige Trennung von Ihm, nach Seinem Befehl, sie lehrte. In diesem Falle war also die Trennung von Ihm aus Gehorsam besser, als das Bleibet: bei Ihm im Ungehorsam. Und das ist immer wahr und lässt sich auf viele Fälle in unserem christlichen Leben anwenden.

Wir finden im 45. und den folgenden Versen ein Bild des gegenwärtigen Zustandes der Dinge. Die von Jesu entlassene Volksmenge stellt Israel dar, das als Nation in der jetzigen Zeit verstoßen ist; und in der kleinen Schar der Jünger erblicken wir die Kirche, welche berufen ist, die einem sturmbewegten Meer gleichende Welt zu durchschreiten, während der Herr droben ist und sich für uns verwendet. (Vergl. Röm. 8, 34; Hebr. 4, 14 usw.; 7, 25 usw.) Aber ach! wie leicht verlieren wir das Bewusstsein des unauslöslichen Bandes, das uns mit Christo verbindet, wie leicht vergessen wir Seine Liebe, von der nichts uns zu scheiden vermag!

Wir dürfen wohl annehmen, dass das Wetter heiter war, als die Jünger sich am Schluss des Tages auf den Befehl Jesu einschifften; denn der Tag war schön gewesen, da die 5000, welche von den Broten gegessen, sich auf das grüne Gras gelagert hatten. Der Wind erhob sich erst, nachdem die Jünger von dem Ufer abgestoßen waren und als das Schiff sich mitten auf dem See befand. Sie hatten ohne Zweifel eine angenehme und leichte Überfahrt erwartet, und siehe da, Sturm und Mühsal erreichten sie. Ähnliches erlebt der Gläubige auch oft. Bei ruhigem Wetter beginnt er seinen Weg; eine Zeitlang schreitet er wie auf einer glatten Wiese dahin; aber aus den heitersten Tag folgt vielleicht die finsterste Gewitternacht. Ruhig und still liegt das Meer da, kein Lüftchen kräuselt seine kristallene Fläche; Aber mit einem Male erhebt sich die Windsbraut, und in kurzer Zeit wird die Flut durch den Sturm bis aus den Grund aufgewühlt. Wie oft sieht man Christen ein stilles, friedliches Leben genießen; man möchte sie fast beneiden. Aber siehe da, mit einem Schlage ist alles verändert. Krankheiten kommen, der Tod klopft an und nimmt ein geliebtes Wesen hinweg, oder irgend ein unvorhergesehenes Ereignis schneidet in einem Augenblick die teuersten Hoffnungen bis an die Wurzel ab, zerstört die liebsten Pläne oder raubt der Familie die nötigen Existenzmittel. So sind heiteres Wetter und Stille immer etwas Unsicheres und meist von geringer Dauer. Man muss stets auf ein Unwetter gefasst sein, gerade so wie die Matrosen eines Schiffes in schwierigen

Gewässern, die jeden Augenblick einen Sturm erwarten können und deshalb in steter Bereitschaft sind, der drohenden Gefahr zu begegnen, und alle Rettungsmittel klar halten müssen. Wie sehr sind diejenigen zu beklagen, die das Meer des Lebens, das so oft vom Sturme bewegt wird, durchschiffen ohne jene lebendige Hoffnung, „welche wir als einen sichern und festen Anker der Seele haben, der auch in das Innere des Vorhangs hineingeht, wohin Jesus als Vorläufer für uns eingegangen ist“! (Hebr. 6, 18 —- 20). Mit Jesu brauchen wir den schlimmsten Sturm nicht zu fürchten; ohne Ihn ist die tiefste Stille gefährlich.

Betrachten wir die erschreckten Jünger in ihrem gebrechlichen Fahrzeug. Der Wind ist ihnen entgegen, und wirft ihr Schifflein hin und her. Sie kämpfen gegen die Schwierigkeiten an und quälen sich mit Rudern. Die Nacht ist finster und die Gefahr dringend; denn „das Schiff war mitten auf dem See“. Und was noch schlimmer war, sie waren allein, Jesus war nicht bei ihnen.

Welch ein getreues Bild der Umstände, durch welche der Christ gehen muss und die ihm oft zu einer schmerzlichen Prüfung werden! Dichter und dichter ballen sich die Wolken über seinem Haupte zusammen, die Winde sind ihm entgegen, und tiefe Finsternis hüllt ihn von allen Seiten ein. Wie viele Gefahren drohen ihm! Und dabei scheint Jesus so fern zu sein! Der Augenblick ist günstig für den Feind der Seelen, um seine feurigen Pfeile auf die bedrängte Seele abzuschießen; und er lässt diese Gelegenheit sicher nicht unbenutzt vorübergehen. Er sucht den Gläubigen durch Zweifel niederzudrücken, durch Unglauben zu erschüttern, ihn zu erschrecken, indem er seine Blicke auf sich selbst lenkt und ihn an seine Fehler erinnert, an seinen Kleinglauben oder an seine mangelhafte Frömmigkeit. Auch kann es sein, dass der Christ falschen und fremden Lehren ausgesetzt wird, ohne die nötige geistliche Fähigkeit zu besitzen, sie zu unterscheiden und zurückzuweisen. Ein anderes Mal wird er durch eine lange und schmerzhafte Krankheit geprüft, die ihn gar zu einem Gegenstand des Ekels für seine Umgebung macht (vergl. Hiob 19, 17 — 20), oder er verliert sein Hab und Gut und wird von stets wachsenden Sorgen und Ängsten gequält. Vielleicht verliert er seine langjährige Stellung und steht da ohne die Arbeit, die doch ihn und die Seinigen ernährt; oder er muss sich Beleidigungen und Schmähungen von seiten der Feinde gefallen lassen, oder, was noch schmerzlicher ist, die Gleichgültigkeit und Unbeständigkeit seiner Freunde erfahren. Wie viele Eltern seufzen auch über ihre Kinder! Sie müssen sehen, wie diese trotz aller Bitten und Warnungen den breiten Weg wählen, und wie sie ihre Liebe und Sorge mit Undankbarkeit und Auflehnung belohnen. Andere beweinen ihre Lieben, welche der Tod ihnen genommen, und nichts vermag die Lücke, die sie gelassen haben, auszufüllen. O wie viele finstere Wolken hängen oft über dem treuen Jünger, bis endlich ein Lichtstrahl sich durch das Dunkel Bahn bricht in sein Herz und ihn erfreut und stille macht inmitten der Gefahren und Trübsale!

Vielleicht findet der Leser dieses Bild zu düster und meint, der Weg des Christen könne doch nicht so viele und große Schwierigkeiten aufweisen. Wenn ich, so überlegt er vielleicht, der Gegenstand solch zärtlicher und beständiger Liebe des Herrn Jesu bin, wenn Er mein Heiland, mein Beschützer und Freund ist, wie können dann solche Trübsale an mich herantreten, solch schwere Schläge mich treffen? Ich antworte darauf: Die Jünger haben sich in Schwierigkeiten befunden, und doch war Jesus auf der Erde! Seine Gegenwart bewahrte sie nicht vor dem Sturm, und doch war Er nicht gleichgültig im Blick auf sie. Darum, mein lieber Leser, sei weder erstaunt noch niedergeschlagen, wenn es dir manchmal so scheint, als wärest du auf einem sturmgepeitschten Meere, dessen Wellen sich unter dem schweren Druck der widrigen Winde rund um dich her auftürmen. Wer könnte annehmen, dass das Meer immer stille bliebe? Nein, der Weg des Christen zeichnet sich viel mehr durch Prüfungen als durch ein von Leiden Verschontbleiben aus. Wir haben schon darauf hingewiesen, „dass wir durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen müssen“ (Apstgsch. 14, 22). Der Herr sagt uns nirgendwo, dass uns kein Sturm und Unwetter begegnen würde, aber Er versichert uns Seiner zärtlichsten Teilnahme in der Prüfung, und verheißt uns Hülfe und Befreiung, sobald der Zweck, den Er im Auge hat, erreicht ist. „Keine Versuchung hat euch ergriffen“, sagt der Apostel, „als nur eine menschliche; Gott aber ist treu, der nicht zulassen wird, dass ihr über euer Vermögen versucht werdet, sondern wird mit der Versuchung auch den Ausgang schaffen, so dass ihr sie ertragen könnt“ (1. Kor. 10, 13). Die Heiligen aller Zeiten sind geprüft worden und haben Stürme aushalten müssen. Der Herr Jesus selbst hat gesagt: „Alle deine Wogen und deine Wellen sind über mich hingegangen“, und: „mit allen deinen Wellen hast du mich niedergedrückt“ (Ps. 42, 7; 88, 7). Er musste in allem den Brüdern gleich werden und „ist in allen Dingen versucht worden, in gleicher Weise wie wir, aus genommen die Sünde“ (Hebr.2,17 usw.;4,15). „Geliebte“, sagt Petrus, „lasst euch das Feuer der Verfolgung unter euch, das euch zur Versuchung geschieht, nicht befremden, als begegne euch etwas Fremdes“ (1.Petr.4,12).

Man trifft zuweilen gottesfürchtige Leute, die wohl zugeben, dass fleischliche und weltliche Christen zu ihrer Warnung und Züchtigung von Prüfungen aller Art heimgesucht werden, aber sie können nicht gut verstehen, dass auch solche davon betroffen werden, die in ihrem Wandel geistlich und treu sind. Das ist ein Irrtum, von dem man nach kurzem Nachdenken zurückkommen muss. Betrachten wir nur Jesum, den in Seinem Gehorsam und in Seiner Abhängigkeit vollkommenen Menschen. Niemals ist Er von dem Pfade des Willens Seines Vaters abgewichen, und doch sagte Er zu Seinen Aposteln: „Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen“ (Luk. 22, 28). Ja, von der Krippe bis zum Kreuze war Sein Weg mit Prüfungen und Leiden besät. Wie oft und mit welcher Heftigkeit ist der Sturm gegen Ihn losgebrochen, besonders in dem Augenblick, als Sein Gehorsam am Kreuze seinen Höhepunkt erreichte! Paulus war ein hervorragender Apostel, ein dem Herrn völlig ergebener Diener; er konnte sagen: „Seid meine Nachahmer, gleichwie auch ich Christi“; aber auch er war Prüfungen und Drangsalen aller Art ausgesetzt, wie die folgenden Stellen es beweisen: 2. Kor. 1, 3 —10; 4, 7 usw.; 6, 4 - 10; 11, 23 usw.; ohne den Dorn zu rechnen, der ihm für das Fleisch gegeben war (2. Kor. 12), damit er in der Demut erhalten bleibe. Johannes, der Jünger, den Jesus liebte, ist keineswegs von Trübsalen verschont geblieben, wie wir dies aus Offbg. 1, 9) ersehen. Und auch der Schriftabschnitt, mit welchem wir uns eben beschäftigen, beweist, dass der Sturm sich selbst dann gegen uns erheben kann, wenn wir in vollständigem Einklang mit dem Willen des Herrn handeln.

Die Jünger hatten sich nicht ohne Seinen Befehl eingeschifft, und trotzdem überfiel sie der Sturm. Als der Herr sie nötigte, in das Schiff zu steigen, wusste Er, dass der Wind sich erheben würde. Denn von Ihm wird gesagt: „Er spricht und bestellt einen Sturmwind, der hoch erhebt seine Wellen“ (Ps. 107, 25). Liebe Freunde, hüten wir uns deshalb wohl, den Erfolg als einen Beweis treuer Pflichterfüllung zu betrachten. Andererseits sind die Schwierigkeiten, denen wir aus unserem Wege begegnen, wenn wir uns vom Worte Gottes leiten lassen, keineswegs ein Beweis, dass wir uns getäuscht haben. Nein, Er, der Seine teuer Erkauften leitet, hat auch die Ereignisse in Seiner Hand, die großen und die kleinen, die, welche uns erfreuen, und die, welche uns betrüben und erschrecken. Es mag Sein Wille sein, dass der Sturm uns erreiche. Er kennt die Schwierigkeiten des Weges, den Er uns gehen heißt, im Voraus. Und der Glaube wendet sich niemals zurück. (Hebräer 11, 15.) Als der Wind ihnen entgegenblies, hätte in den Jüngern wohl der Wunsch wach werden können, an das Ufer zurückzukehren, das sie verlassen hatten, umso mehr als ihr Meister sich noch dort befand und der Wind ihnen in dieser Richtung günstig gewesen wäre. Aber Jesus hatte ihnen den Befehl gegeben, „an das jenseitige Ufer“ zu fahren, und so ruderten sie tapfer weiter, obwohl sie kaum vorwärtskamen. Sie waren nicht für den widrigen Wind verantwortlich, wohl aber dafür, dass sie ihrem Meister gehorchten und zur Ausführung Seines Befehls alle Anstrengungen machten.

So darf auch uns keine Schwierigkeit auch nur für einen Augenblick auf dem Wege des Gehorsams aufhalten- Unser Schifflein muss immer dem Befehle unseres Meisters gemäß seinen Kurs nehmen; das Steuerruder darf sich nicht verrücken, mögen auch die Wellen mit erschreckender Gewalt gegen uns anstürmen, ja, uns vielleicht für einen Augenblick zurückzudrängen scheinen. Wir kommen doch vorwärts, wenn wir nur mit Ausdauer gegen sie ankämpfen. Jesus sichert uns den Sieg zu, wenn wir treu bleiben. Es ist besser, alles zu verlieren, wenn es Sein Wille sein sollte, als durch ein Zurückweichen vor dem Sturm irgend einen zeitlichen Vorteil zu erringen. Es wäre selbst besser, im Sturme umzukommen, als sein Heil in einer Flucht zu suchen, die im Grunde nichts anderes wäre als Auflehnung gegen Gott; »denn wer irgend sein Leben erretten will, wird es verlieren; wer aber irgend sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden“.

Und flög’ aus wilder Wogenbahn

Dein Schifflein auch hinab, hinan,

und schlügen selbst die Wellen

ins Schiff hinein; kannst ruhig sein,

Er lässt es nicht zerschellen.

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Von Gott verlassen

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 26ff

Von Gott verlassen

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 26ff

Im Anfang des 22. Psalms begegnen wir einem Ausdruck, der von ergreifendem Ernst und von unvergleichlicher Wichtigkeit ist. Es ist die Frage: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wer war es, der diese Frage an Gott richtete? Es war der Sohn Gottes, der schon vor Grundlegung der Welt im Schoße des Vaters war, der Gegenstand der unendlichen Wonne Gottes; der Schöpfer und Erhalter des Weltalls, Gott über alles, gepriesen in Ewigkeit; zugleich der fleckenlose, heilige, vollkommene Mensch, der nie gesündigt hatte, noch sündigen konnte, weil Er Sünde nicht kannte; ein wahrhaftiger Mensch, geboren von einem Weibe, in allem uns gleich geworden, mit einer einzigen Ausnahme: die Sünde. Nie ward ein Betrug in Seinem Munde erfunden. Von der Krippe in Bethlehem bis zu dem Kreuze auf Golgatha stand Sein Leben in vollkommener Übereinstimmung mit dem Willen Gottes. Er lebte nur, um Gott zu verherrlichen. Alle Seine Worte und Taten, ja, alle Seine Blicke und Bewegungen waren voll süßen, duftenden Wohlgeruchs für Gott und erquickten Sein Herz. Wieder und wieder öffneten sich die Himmel über Ihm, und des Vaters Stimme gab Ihm Zeugnis: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe“.

Diese wunderbare Person also war es, die einst jene erschütternden Worte an Gott richtete. Unwillkürlich fragt das Herz: Ist es denn wirklich wahr, dass ein Solcher von Gott verlassen wurde? Hat Gott wirklich Sein Angesicht vor dem einzigen sündlosen und vollkommenen Menschen verborgen, der je auf dieser sündigen Erde wandelte? Hat Er Sein Ohr vor dem Schrei Dessen verschlossen, der nur gelebt hatte, um Seinen Willen zu tun und Seinen Namen zu verherrlichen? Ja, so wunderbar und unglaublich es auch scheinen mag, Gott hat das getan. Derselbe Gott, .welcher Sein Auge nicht abzieht von dem Gerechten, dessen Ohr stets offen ist für das Flehen des Bedürftigen, dessen Hand allezeit ausgestreckt ist, um dem Schwachen und Hilflosen beizustehen — derselbe Gott wandte Sein Antlitz, ab, als Sein Sohn zu Ihm schrie, und antwortete nicht auf Sein Flehen.

Hier stehen wir vor einer Tatsache von tiefer, geheimnisvoller Bedeutung. Wer könnte sie ergründen? Wer ihre Tiefen ausmessen? Wir können nur ein wenig ahnen von ihrem furchtbaren Ernst. Sie enthält gleichsam den Kern, das Wesen des Evangeliums und bildet die Grundlage alles wahren Christentums. Je mehr wir uns in die Herrlichkeiten Dessen versenken, der jene Frage aussprach, se mehr wir darüber sinnen, wer und was Er war, sowohl in sich selbst als auch für Gott, desto mehr erkennen wir die unerschöpflichen Tiefen dieser Frage. Und weiter: je mehr wir den Gott betrachten, an welchen die Frage erging, je mehr wir Seinen Charakter und Sein Tun kennen lernen, desto mehr werden wir auch den Wert und die Kraft der Antwort verstehen.

Warum denn verließ Gott Seinen Geliebten? O Leser, weißt du, warum? Weißt du es in seiner Bedeutung für dich persönlich? Kannst du sagen, aus dem Innersten deines Herzens heraus: „Ich weiß, warum Gott den hochgelobten Herrn verließ. Es geschah deshalb, weil Er meinen Platz eingenommen hatte, weil Er an meiner Stelle stand und all meine Schuld auf sich nahm, ja, weil Er für mich zur Sünde gemacht wurde. Alles was ich verschuldet hatte, wurde auf Ihn gelegt, und Gott hat mit mir gehandelt in der Person meines Stellvertreters“?

Sage mir, lieber Leser, hat der Heilige Geist dich über diese Dinge belehrt? Hast du sie in einfältigem Glauben, auf Grund des Wortes Gottes, angenommen? Wenn es so ist, dann ist auch ein unerschütterlicher Friede dein Teil, ein Friede, der durch keine feindliche Macht mehr gestört werden kann. Andererseits kann allerdings keine Seele diesen Frieden mit Gott kennen und genießen, 28 so lange sie nicht weiß, dass Gott selbst die ganze Frage der Sünde und der Sünden am Kreuze geordnet hat. Gott wusste was nötig war, und Er hat es vorgesehen. Gott und die Sünde begegneten sich am Kreuze. Dort wurde die Frage in göttlicher Weise behandelt und ein für allemal geordnet. Die Sünde wurde gerichtet und hinweggetan. Über den Sündenträger ergingen die Wogen und Wellen des göttlichen Zornes; Er sank in den Staub des Todes. Die Sünde wurde nach den unbeugsamen Forderungen der Natur und des Thrones Gottes behandelt, und jetzt befindet sich Der, welcher für uns zur Sünde gemacht und an unserer Statt gerichtet wurde, zur Rechten der Majestät Gottes, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Gerade die Tatsache, dass Er sich dort befindet, und die Krone, welche Sein Haupt schmückt, sind der Beweis, dass die Sünde für immer hinweggetan ist.

Aber in der Antwort aus das „Warum“ des am Kreuze verlassenen Herrn gibt es auch etwas überaus Liebliches. Es ist dies: die anbetungswürdige Liebe Gottes zu uns armen Sündern. Diese Liebe trieb Ihn nicht nur, Seinen Sohn aus Seinem Schoße zu geben, sondern auch, Ihn auf Golgatha zu zerschlagen. „Jehova gefiel es, Ihn zu zerschlagen, Er hat Ihn leiden lassen“ (Jes. 53, 10.) Warum? Weil es keinen anderen Weg des Entrinnens für uns gab. Entweder war die ewige Qual, der Wurm, der nicht stirbt, und das Feuer, das nicht erlischt, unser Teil, oder aber unser Stellvertreter musste den Kelch des Zornes Gottes wider die Sünde leeren. Gott sei ewig gepriesen! das Letzte ist geschehen, und somit ist. der Platz, welchen Christus jetzt einnimmt, der Platz aller derer, die von Herzen an Ihn glauben.

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Die Gnade Gottes

Bibelstelle: Titus 2,11 - 13

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 29ff

„Denn die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen, und unterweist uns, auf dass wir, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht und gottselig leben in dem jetzigen Zeitlauf, indem wir erwarten die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus" (Titus 2,11 - 13).

II.

„Die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen", das war der Gegenstand des ersten Teiles unserer Betrachtung. Heute wollen wir uns ein wenig mit den Unterweisungen dieser Gnade beschäftigen. Das ist ja, wie wir gesehen haben, die schöne göttliche Ordnung: die Gnade besucht uns in unserem Elend und unserer Sündhaftigkeit, schenkt uns ein ewiges, herrliches Heil, und dann unterweist sie uns, wie wir uns als Erlöste und Begnadigte in dieser Welt der Sünde zu verhalten haben.

Beachten wir zunächst, dass die Gnade es ist, die uns unterweist. Nicht das Gesetz ist uns als Richtschnur unseres Verhaltens auf Erden gegeben, nicht ein schweres Joch ist uns auf den Hals gelegt worden, das, wie Jakobus einst zu den in Jerusalem versammelten Aposteln und Ältesten sagte, „weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten" (Apg. 15,10), noch ist ein menschliches Sittengesetz für uns aufgestellt worden. Ebenso wenig sind wir unserer eigenen Meinung überlassen worden oder berufen, uns durch unser Gefühl oder unseren Verstand, mit einem Wort, durch menschliche Beweggründe leiten und bilden zu lassen. Nein, Gott sei gepriesen! Die Gnade, die uns Heil und Rettung gebracht hat, sorgt auch für alles Weitere; sie wirkt in uns, leitet und unterweist, warnt und belehrt uns. Sie beeinflusst das neue Leben in dem Gläubigen; sie wirkt auf die göttliche Natur, die sie mitteilt, und ruft herrliche Ergebnisse hervor.

Doch wie unterweist die Gnade? Ihre Belehrungen lassen sich in zwei Hauptabschnitte einteilen, entsprechend dem großen göttlichen Grundsatz: „Weiche vom Bösen und tue Gutes" (Psalm 34,14). Die erste und unerläßliche Bedingung für einen Gott wohlgefälligen Wandel ist die Umkehr von dem bisherig gen verkehrten Wege, die entschiedene Verurteilung alles Bösen, mit dem man in Verbindung stand oder noch steht, kurz, ein wahres, aufrichtiges Selbstgericht, welches das Fleisch, die alte Natur, nicht schont, sondern das Todesurteil anerkennt, das Gott darauf geschrieben hat. Mancher Gläubige fragt sich verwundert, weshalb er so wenig Fortschritte mache im geistlichen Leben, weshalb sein Herz so wenig in wahrem Frieden ruhe und nur so schwach die selige Freude der Gemeinschaft mit Gott genieße. Die Ursache kann in mangelhafter Erkenntnis der Wahrheit liegen, wird aber in vielen, wenn nicht in den meisten Fällen an der mangelhaften Ausführung des göttlichen Gebots: „weiche vom Bösen" zu suchen sein. Das Herz ist nicht entschlossen, koste es was es wolle, mit allem zu brechen, was das Licht Gottes nicht ertragen kann. Die eine oder andere Lieblingsneigung bleibt von dem Urteil der Seele unberührt; oder man geht der Sache nicht wirklich auf den Grund, man richtet nicht die Wurzel, aus der das Böse hervorgeht, und so bleibt die erste Bedingung eines Wandels mit Gott unerfüllt, denn Gott ist Licht, und gar keine Finsternis ist in Ihm. Demselben Grundsatz begegnen wir überall im Worte Gottes, und der Gläubige fühlt ganz unwillkürlich, dass es so ist und nicht anders sein kann. Sobald z. B. an den Patriarchen Jakob die Aufforderung erging: „Mache dich auf, ziehe nach Bethel und wohne daselbst und mache daselbst einen Altar", sprach er zu allen, die bei ihm waren: „Tut die fremden Götter hinweg, die in eurer Mitte sind, und reiniget euch, und wechselt eure Kleider" (1. Mose 35,1. 2). Und bevor den gläubigen Kolossern gesagt wird: „Ziehet an, als Auserwählte Gottes, als Heilige und Geliebte: Herzliches Erbarmen, Güte ...", wird ihnen zugerufen: „Jetzt aber leget auch ihr das alles ab: Zorn, Wut, Bosheit usw." (Kolosser 3,8. 12). So ist es immer. Es ist ein fruchtloses Beginnen, Gott dienen und Gutes tun zu wollen, so lange nicht der Schauplatz von allem Anstößigen gereinigt und der Bruch mit dem vollzogen ist, was wir als aus dem Fleische stammend erkannt haben.

So hören wir denn auch an anderer Stelle als erste Unterweisung, der Gnade Gottes, „dass wir die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste verleugnen sollen". Gottlosigkeit und Weltlust sind die beiden Bereiche, in denen sich der natürliche Mensch bewegt. Er ist ein Nachkomme Kains, der Gott nicht fürchtete, aus Seiner Gegenwart sich entfernte, um „los" von Ihm zu sein und diese Welt so viel wie irgend möglich zu genießen. „Kain ging weg von dem Angesicht Jehovas", und seine Nachkommen breiteten sich auf der Erde aus, erbauten Städte, wurden reich, erfanden Musikinstrumente und allerlei Werkzeuge aus Erz und Eisen und richteten sich, fern von Gott, auf der Erde wohnlich ein. - Auch wir gehörten einst zu dem Geschlecht Kains. Wir waren gottlos (los von Gott), fragten nicht nach Seinem Willen, folgten den natürlichen Neigungen und Begierden unseres Herzens und fanden unsere Freude an den weltlichen Lüsten, indem ein jeder auf seine Weise, seinem persönlichen Charakter, oder auch seinen Verhältnissen entsprechend, so viel wie möglich von der Welt und ihren Dingen zu genießen suchte. Unsere Wege waren vielleicht sehr verschieden voneinander, der eine versank tiefer in den Schlamm der Sünde, als der andere; aber Gottlosigkeit und weltliche Lust waren die Dinge, die uns alle ausnahmslos kennzeichneten.

Da kam die Gnade. Auf dem Wege des Verderbens stellte sie uns still, öffnete uns die Augen über unser Sündenelend und ließ uns das Ende unseres Weges sehen. Sie nahm uns heraus aus dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf, machte uns umkehren und stellte unsere Füße auf den Pfad des Friedens. Sie schenkte uns eine neue Natur mit ganz neuen Eigenschaften, Trieben und Wünschen und stellte ein herrliches, begehrenswertes Ziel vor unseren Blick. Jetzt erst begannen wir wirklich zu leben. Das Alte war vergangen, alles war neu geworden.

Wir haben gesehen, dass „Gnade und Herrlichkeit" die beiden Endpunkte der christlichen Laufbahn sind; wir könnten sie auch „Kreuz und Himmel" nennen. Das Kreuz Christi, der Glanzpunkt der göttlichen Gnade, ist der Anfang - der Himmel, die Heimstätte der göttlichen Herrlichkeit, das Ende des Pfades des Gläubigen. Beide, Gnade und Herrlichkeit, oder Kreuz und Himmel, sind schnurstracks aller Gottlosigkeit und allem weltlichen Wesen entgegengesetzt. Wie könnte ein Christ, wenn er auf das Kreuz blickt, an dem sein Heiland, verworfen und verspottet von der Welt, um seiner Sünden willen litt und starb, in irgendeine Sünde einwilligen, oder begehren, den Taumelkelch der weltlichen Lüste und Vergnügungen wieder an die Lippen zu setzen? Wie könnte er gemeinsame Sache machen mit einer Welt, die Jesum hasst und Satan als ihrem Fürsten huldigt? Wie könnte andererseits ein Christ, dessen Blick auf die vor ihm liegende Herrlichkeit gerichtet ist, der danach verlangt, ins Vaterhaus zu gehen, irgendwelcher Gottlosigkeit Kaum geben oder mit der Welt liebäugeln und nach ihren Träbern verlangen? Nein, sagt die Seele, es ist mir genug, die vergangene Zeit dem Willen des Fleisches und den Lüsten der Menschen gedient zu haben. Die Zeit, die mir hier noch bleibt, gehört Gott und der Erfüllung Seines Willens (vergl. 1.Petrus 4,2. 3). Sie hat ein für allemal gebrochen mit dem früheren Wesen und Treiben, sie hat ihm den Rücken gewandt, und der Blick ist nach oben, auf die Herrlichkeit gerichtet, in der weltliche Lüste und Begierden keinen Raum mehr haben. Wenn jene Herrlichkeit erscheint, wird die Welt und alles was von ihr ist verschwinden. „Denn alle« was in der Welt ist, die Lust des Fleisches und die Lust der Augen und der Hochmut des Lebens, ist nicht von dem Vater, sondern ist von der Welt. Und die Welt vergeht und ihre Lust" (1. Johannes 2,16. 17).

Die Unterweisung der Gnade ist aber nicht nur negativ, wenn ich mich so ausdrücken darf, d. h. wir werden nicht nur aufgefordert, aufzugeben, abzulegen, zu verleugnen, sondern sie ist auch positiv, d. h. sie bezweckt die Hervorbringung und Pflege der kostbaren Eigenschaften und Tugenden des neuen Lebens. Das Nichtige, Vergängliche und Böse soll verschwinden, und das Wirkliche, Bleibende und Gute an seine Stelle treten. „Denn die Gnade Gottes ... unterweist uns, auf dass wir, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht und gottselig leben in dem jetzigen Zeitlauf ".

Drei kostbare Dinge, drei Früchte der unterweisenden Gnade, treten hier vor unsere Blicke: die erste Frucht betrifft den Gläubigen persönlich, die zweite sein Verhalten anderen gegenüber und die dritte seine praktische Stellung zu Gott. Betrachten wir sie kurz der Reihenfolge nach, und Gott gebe Gnade, dass diese gesegneten Früchte reichlich bei uns allen gefunden werden möchten!

Im christlichen Leben gibt es keinen Stillstand; es kommt niemals eine Zeit, da wir sagen könnten: „So, nun sind wir fertig; jetzt können wir die Hände in den Schoß legen und es uns bequem machen." Selbst den gläubigen Thessalonichern, die in einem sehr guten geistlichen Zustand waren, als der Apostel seinen ersten Brief an sie schrieb, wurde gesagt: „Wir ermahnen euch aber, Brüder, reichlicher zuzunehmen"; und den gläubigen Ephesern, deren Herzen noch in der Frische der ersten Liebe standen: „Die Wahrheit festhaltend in Liebe, lasst uns heranwachsen in allem zu ihm hin, der das Haupt ist, der Christus", und den Philippern, für die der Apostel allezeit in jedem seiner Gebete Gott danken konnte: „Um dieses bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr überströme in Erkenntnis und aller Einsicht, damit ihr prüfen möget, was das Vorzüglichere sei." - Wenn aber jene ersten Christen in der Blütezeit der christlichen Kirche solche Ermahnungen nötig hatten, wie viel mehr wir in diesen letzten Tagen des Verfalls und der kleinen Kraft! Der Herr schenke uns deshalb ein offenes Ohr, ein aufmerksames Herz und einen willigen Geist.

Die erste der drei Früchte heißt „Besonnenheit". Es ist auffallend, wie oft wir in den Büchern des Neuen Testamentes ermahnt werden, besonnen zu sein. Es beweist, wie groß die Gefahr für uns ist, ins Gegenteil zu verfallen. Doch was ist Besonnenheit? Es ist jene Verfassung des Geistes, die uns befähigt, nicht vorschnell und unüberlegt zu reden, zu urteilen oder zu handeln, sondern all unser Reden und Tun wohl zu erwägen, uns nicht durch augenblickliche Gefühle und Eindrücke hinreißen oder durch den äußeren Schein blenden zu lassen. Ein ruhiger, besonnener Mann ist schon im natürlichen Leben eine angenehme Erscheinung und ein Segen für seine Umgebung, wie viel mehr im geistlichen! Kein Wunder daher, wenn der Apostel bei der Aufzählung der notwendigen Eigenschaften eines Aufsehers der Versammlung Gottes die Besonnenheit und Nüchternheit besonders betont. „Der Aufseher muss untadelig sein, eines Weibes Mann, nüchtern, besonnen, sittsam ..." (1. Timotheus 3,2; vergl. Titus 1,8). Zu einer sachgemäßen Behandlung der mancherlei Schwierigkeiten, die sich in dem persönlichen oder Gemeinschaftsleben der Gläubigen ergeben, sowie einer richtigen Berücksichtigung der verschiedenen Charaktere und Verhältnisse sind Ruhe und Besonnenheit erforderlich. Wie häufig hat ein unbesonnenes Wort, ein unüberlegter Rat zu großem Schaden und Unsegen gedient!

Aber nicht nur für den, der nach dem „schönen Werk" eines Aufseherdienstes trachtet, ist Besonnenheit am Platze, nein, sie tut uns allen not. „Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben worden, jedem, der unter euch ist, nicht höher von sich zu denken, als zu denken sich gebührt, sondern so zu denken, dass er besonnen sei, wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat" (Römer 12,3). Aus dieser Stelle sehen wir, wie eng wahre Besonnenheit mit Bescheidenheit und Demut verbunden ist. Ein wahrhaft besonnener Christ hält nicht viel von sich, von seiner Klugheit und Erfahrung, sondern er vertraut auf Gott und erbittet sich Weisheit von oben. Er geht auch nicht über das ihm zugeteilte Maß hinaus, sondern redet und handelt in dem Bewusstsein seiner Schwachheit und seines Unvermögens. Er prüft, „was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes sei", und beurteilt alles im Licht des göttlichen Wortes, eingedenk der menschlichen Kurzsichtigkeit und Torheit. Und wenn es sich um den einen oder anderen „Dienst" handelt, so ist er besorgt, nicht über „das Maß des Glaubens" hinauszugehen, das Gott ihm gegeben hat, damit sein Dienst wirklich gesegnet und nützlich sei. Wenn er redet, so redet er „Worte der Wahrheit und Besonnenheit" (Apg. 26,25).

Wie sehr sich Besonnenheit für uns geziemt, geht aus der ersten Hälfte unseres Kapitels (Titus 2) mit besonderem Nachdruck hervor. „Du aber rede", so lesen wir in Vers 1 und 2, „was der gesunden Lehre geziemt: dass die alten Männer nüchtern seien, würdig, besonnen, gesund im Glauben ..." Die alten Frauen werden ermahnt, „die jungen Frauen zu unterweisen, ihre Männer zu lieben, ihre Kinder zu lieben, besonnen, keusch ..." zu sein (Vers 4. 5). Bezüglich der jungen Männer lesen wir: „Die Jünglinge desgleichen ermahne, besonnen zu sein" (V. 6). So werden beide Geschlechter und alle Altersstufen zur Besonnenheit aufgefordert, und es ist besonders beachtenswert, dass bei den Jünglingen nur diese eine Sache genannt wird, weil sie gerade am meisten der Gefahr ausgesetzt sind, infolge ihrer Jugend und Unerfahrenheit und des damit gewöhnlich verbundenen Selbstvertrauens, unbedacht zu reden und unbesonnen zu handeln. Titus selbst wird von dem Apostel ermahnt, sich als ein Vorbild guter Werke darzustellen, würdigen Ernst zu zeigen und durch gesunde, nicht zu verurteilende Rede den Gegner zu beschämen.

Als letzte, unseren Gegenstand behandelnde Stelle sei ein Wort des Apostels Petrus angeführt. Er sagt im 1. Kapitel seines 1. Briefes zu den Gläubigen, die dem Verderben, das in der Welt ist, entflohen waren: „Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge. Seid nun besonnen und seid nüchtern zum Gebet" (V. 7). Die Ermahnung verbindet sich also hier mit dem besonderen Ernst, der den letzten Tagen, in denen wir leben, anhaftet. Wir stehen nahe vor dem Ende aller Dinge, heute noch näher als die Gläubigen damals standen. Die „schweren Zeiten" des Endes (2. Timotheus 3,1) sind gekommen. Der Geist des Eigenwillens und der Unbotmäßigkeit nimmt mit erschreckender Gewalt überhand, die Jagd nach den Gütern und Schätzen dieser Welt wird immer wilder, das Begehren nach ihren Genüssen immer ungestümer, und in der Wahl der Mittel, um das ersehnte Ziel zu erreichen, ist man immer weniger ängstlich und vorsichtig.

Da heißt es für den Christen: feststehen in der brandenden Flut und mit Besonnenheit, unter ernstem, anhaltendem Gebet, die beiden Angelpunkte des christlichen Lebens im Auge zu behalten! Solange das Kreuz und die Herrlichkeit den Gesichtskreis der Seele ausfüllen, steht es wohl um den Gläubigen. Er hält sich dann fern von dem Treiben der Welt, ja, von jeder Verbindung mit ihr, und er bleibt ein Fremdling, der hier keine bleibende Stadt hat, sondern die zukünftige sucht. Eingedenk des Wortes des Apostels, dass die Gestalt dieser Welt vergeht, und dass das Ende aller Dinge nahe gekommen ist, gehört er zu den Kaufenden als nicht Besitzenden und den der Welt Gebrauchenden als ihrer nicht als Eigentum Gebrauchende (1. Korinther 7,30. 31). O wie manche Gläubige unserer Tage scheinen dieses ernste, herzerforschende Wort vergessen zu haben! Wie manche haben den klaren, einfältigen Blick, das nüchterne, besonnene Urteil verloren! In ihren geschäftlichen Unternehmungen, in ihren Gewohnheiten und Handlungen sind sie auf den Boden der Kinder dieser Welt herabgesunken; das zarte Gefühl für das was wahr, würdig, gerecht, rein und lieblich ist, für alles was wohllautet und die Lehre unseres Heiland-Gottes ziert, ist ihnen abhanden gekommen. Menschliche Klugheit leitet sie in ihren Plänen und Entschlüssen, und der Gedanke an irdischen Gewinn beschäftigt sie mehr als die Sorge um die Ehre des Herrn und um die ewigen Dinge. Ach, dass doch alle die Geliebten Gottes aufwachen möchten! „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten und der Christus wird dir leuchten! Sehet nun zu, wie ihr sorgfältig wandelt, nicht als Unweise, sondern als Weise, die gelegene Zeit auskaufend, denn die Tage sind böse" (Epheser 5,14-16). Ja, die Tage sind böse, verhängnisvoll für viele. Wie mancher Gläubige hat sich auf dem Gebiet des Werkes des Herrn, der Evangelisation u. a., durch Mangel an Wachsamkeit in Dinge eingelassen, die ihm und anderen Gläubigen zu tiefem Schmerz und Leid und dem Herrn zur Unehre ausgeschlagen sind! Er war nicht besonnen, nicht nüchtern zum Gebet. Wie vieles geschieht auf diesem Gebiet, sowohl im Kreise der Gläubigen als auch im Zeugnis nach außen hin, was bei etwas mehr Besonnenheit und Nüchternheit gewiss unterbleiben würde! Wie macht sich da leider so oft das eigene Ich, der eigene Wille, die eigene Kraft und Weisheit geltend! O lasst uns darum die Ermahnung beachten: „Seid besonnen und seid nüchtern zum Gebet"! Jawohl, nüchtern zum Gebet; denn zwischen Beten und Beten ist ein großer Unterschied. Mancher Christ betet vielleicht noch regelmäßig zu gewissen Zeiten, aber seine Gebete sind mehr Worte als Kraft; sein Geist ist nicht wach und nüchtern, und das Bewußtsein davon, zu wem er redet, ist schwach. Doch kehren wir wieder zu unserem Text zurück. Die zweite Frucht der Unterweisung der Gnade Gottes ist praktische Gerechtigkeit. Diese gibt sich, wie bereits gesagt, anderen gegenüber kund, und zwar in Worten sowohl als in Handlungen; denn nicht umsonst wird die Zunge „die Welt der Ungerechtigkeit" genannt (Jak 3,6). Viel, unendlich viel Ungerechtigkeit geschieht durch die Zunge. Hier wird von dem Verkäufer eine minderwertige Ware als vollwertig angepriesen, dort von dem Käufer ein Gegenstand gegen besseres Wissen heruntergesetzt, um einen billigeren Preis zu erlangen; hier flüstert die Zunge leichtfertige, verführerische Worte, dort zerstört sie gefühllos den guten Ruf eines Menschen; hier beschönigt und schmeichelt sie, dort fällt sie ein hartes, ungerechtes Urteil; hier heuchelt und lügt, dort flucht und lästert sie usw. „Dies, meine Brüder, sollte nicht also sein." Nein, alle unsere Worte und Handlungen sollten gerecht und lauter sein. Von einem Christen sollte es stets heißen, wie einst von Daniel, als seine Feinde ihn zu verderben suchten: „Sie konnten keinen Anklagegrund und keine schlechte Handlung finden, weil er treu war und kein Vergehen und keine schlechte Handlung an ihm gefunden wurde" (Dan 6,5). Ach, es ist ein trauriges Ding, wenn Kinder der Welt auf Kinder Gottes hinweisen und sagen können: „Seht, das sind die, die uns den Weg zum Himmel zeigen wollen; aber wie handeln sie! Wo ist da die himmlische Gesinnung, von der sie so viel reden?" Ja, die Welt sieht unsere Grundsätze und Handlungen, hört unsere Worte, und sie urteilt scharf; und sie tut es mit vollem Recht. O möchte es sich doch tief in unsere Herzen einprägen, dass Gott ein gerechtes Epha, eine gerechte Waage und gerechte Entscheidungen liebt und dass wir berufen sind, in den Fußstapfen des Heiligen und Gerechten zu wandeln! Lasst uns unseren Wandel unter den Kindern dieser Welt ehrbar führen, auf dass sie, worin sie wider uns als Übeltäter reden, aus den guten Werken, die sie anschauen, Gott verherrlichen am Tage der Heimsuchung (vergl. 1. Petrus 2,12; Mt. 5,16)! Tadellos und lauter, unbescholtene Kinder Gottes inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts, hell leuchtende Lichter, darstellend das Wort des Lebens (vergl. Phil 2). Inwieweit passt diese Beschreibung auf mich und dich, geliebter Leser?

Zum Schluss noch ein kurzes Wort über die dritte und letzte Frucht der Unterweisung der Gnade, die Gottseligkeit. Worin sie besteht, ergibt sich aus dem Worte selbst; es bezeichnet den Zustand, die praktische Stellung der Seele Gott gegenüber. Der Mensch von Natur ist fern von Gott, gottlos, der Gläubige ruht in Gott und wandelt mit Gott. Der Feind ist bemüht, die Seele aus dieser seligen Gemeinschaft mit Gott zu entfernen, und legt dem, der gottselig leben will, Hindernisse und Anstöße aller Art in den Weg. Darum lesen wir: „Alle aber auch, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, werden verfolgt werden", und „übe dich zur Gottseligkeit", und „Du aber, o Mensch Gottes, ... strebe nach Gerechtigkeit, Gottseligkeit, Glauben, Liebe, Ausharren, Sanftmut des Geistes. Kämpfe den guten Kampf des Glaubens" (2. Timotheus 3,12; 1. Timotheus 4,7; 6,11. 12)! Wahre Gottseligkeit ist die Darstellung des Lebens Christi auf Erden, die selbstverständlich in uns immer unvollkommen bleibt; aber Seine anbetungswürdige Person ist das Muster, das vollkommene Vorbild für uns. Wenn wir daran denken, so verstehen wir, dass „Gottseligkeit mit Genügsamkeit" in der Tat ein großer Gewinn sein muss. Möchte deshalb das Bild unseres Herrn sich mehr in uns gestalten! Vergessen wir auch nicht, dass die Gottseligkeit „die Verheißung des Lebens hat, des jetzigen und des zukünftigen ", und dass „der Herr die Gottseligen aus der Versuchung zu retten weiß" (2. Petrus 2,9).

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Ich bins! Oder: Die Stimme Jesu im Sturm

Bibelstelle: Markus 6,45 - 52

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 42ff

Aber wo ist Jesus, während die Jünger gegen Wind und Wellen kämpfen? Hat Er sie vergessen? Nein; wie wäre das möglich? Allein mit Gott oben auf dem Berge, beschäftigt Er sich mit ihnen in Seinem Gebet: Er trägt sie auf Seinem Herzen, denn Er war nicht unbekannt mit ihrer Not, wie wir lesen: „Und als Er sie beim Rudern Not leiden sah“. Und du, mein lieber christlicher Leser, du stehst vielleicht auch gerade in einer schmerzlichen Prüfung und wirst vom Sturme hin- und hergeworfen. Die Anderen, selbst deine vertrautesten Freunde, wissen nichts davon; denn es gibt Kummer, der im Geheimen am Herzen nagt, Sorgen, die Anderen unbekannt sind, Schwierigkeiten, die man niemandem sagen kann, Lasten, die man

allein tragen muss; aber je einsamer man ist, umso leichter ist es, den Herrn an dem teilnehmen zu lassen, was uns bedrückt. Ihm ist nichts verborgen; Er kennt die verstecktesten Schmerzen, die geheimsten Sorgen und Kümmernisse unseres Herzens, gerade so wie die Gefahren auf unserem Wege, von denen wir selbst vielleicht gar keine Ahnung haben: Er weiß alles.

Er kannte die Gefahr, in die Sein Jünger Petrus sich begab, als dieser, aus seine eigene Kraft bauend, seinem Meister folgen wollte, selbst wenn der Weg ins Gefängnis oder in den Tod führen würde. Und indem Er ihm seine törichte Selbstüberhebung Vorhielt, sagte Er: „Ich aber habe für dich gebetet, auf dass dein Glaube nicht aufhöre“. (Luk. 22, 31. 32.) Achten wir darauf, dass Jesus nicht sagt: „Ich werde für dich beten“, sondern „Ich habe für dich gebetet“. Seine Fürbitte geht also unseren Gefahren voraus, den Stürmen, durch die wir hindurch müssen, oder den Trübsalen, die wir zu erleiden haben; denn es heißt in 1. Petr. 1, 6: „Die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es nötig ist, betrübt seid durch mancherlei Versuchungen“.

Köstliche Wahrheit! O welch eine unendliche Gnade ist es, zu wissen, dass der Herr droben sich mit uns beschäftigt, damit die Gnade Gottes uns im gegebenen Augenblick zu Hilfe komme! (Hebr. 4, 14 usw.) Wahrlich, das erweckt Vertrauen in der Seele und gibt dem Herzen Freiheit, sich dem Gnadenthron zu nahen.

Mein Leser, bist du vielleicht gedrückt und niedergeschlagen? Dann fasse Vertrauen: der Herr denkt an dich und beschäftigt sich mit deinen Bedürfnissen. Er ist nicht wie Mose, dessen Hände schlaff wurden und herabsanken, was für den Augenblick Amalek, dem Feinde des Volkes Gottes, den Sieg gab. (Vergl. 2. Mose 17, 8 usw.). Es heißt von Christo: ,,Dieser aber, weil Er in Ewigkeit bleibt, hat ein unveränderliches Priestertum. Daher vermag Er auch völlig zu erretten, die durch Ihn Gott nahen, indem Er immerdar lebt, um sich für sie zu verwenden“ (Hebr. 7, 24. 25). Fasse darum nur Mut und habe Vertrauen! Der Sturm mag schrecklich sein, die Prüfung lang und schmerzlich, aber der Herr weiß es. Er sieht, wie du leidest und dich abmühst, gerade so wie Er die Jünger „beim Rudern Not leiden sah“: und du darfst überzeugt sein: in dem Augenblick, wo es nötig ist, wird Er eingreifen.

In Joh. 6, 19 lesen wir: „Als sie nun etwa 25 oder 30 Stadien gerudert hatten“, und in dem Bericht des Markus: „Um die vierte Nachtwache“. Lieber Leser! der Weg ist genau abgemessen, und die Tage und Stunden sind gezählt. „Ihr werdet Drangsal haben zehn Tage“, wird den Leidenden in Smyrna gesagt (Offbg. 2, 10), aber ihr werdet nicht über euer Vermögen versucht werden. 35 Stadien würde das Glaubensmaß der Jünger überstiegen haben; um die vierte Nachtwache war der richtige Augenblick, sowohl für das Herz des Herrn als auch für den Glauben der Jünger.

Allerdings vermag nichts so sehr die Armut unseres geistlichen Zustandes, unseren Mangel an Glauben und Vertrauen zu offenbaren wie die Stürme, die entfesselten Elemente, die Prüfungen und Schwierigkeiten des Weges, und besonders solche, welche die empfindlichsten Stellen der natürlichen Neigungen unserer Herzen berühren. Das zeigt uns auch unsere Geschichte. Wenn die tiefe Dunkelheit der Nacht den Herrn nicht hinderte, Seine Jünger beim Rudern Not leiden zu sehen, könnte dann das tobende Meer ein Hindernis für Ihn sein, für Ihn, von dem es heißt: „Dich sahen die Wasser: sie bebten, ja, es erzitterten die Tiefen . . . Im Meere ist dein Weg und deine Pfade in großen Wassern, und deine Fußstapfen sind nicht bekannt“? (Ps. 77, 16. 19.) Nein, mein lieber Leser, die bewegten Fluten waren für Jesum kein Hindernis; Er konnte sich durch die schäumenden Wogen hindurch einen Weg bahnen, um Seinen in Not befindlichen, geliebten Jüngern zu helfen, und sie hätten singen können, wie wir es manchmal tun:

Jesus Name! Kraft der Schwachen,

Ruh’ der Müden, Trost im Schmerz,

Bist im Sturm ein sichrer Nachen,

Heilung für ein wundes Herz;

Manna, das die Seele nährt,

Zuflucht, wenn Versuchung währt.

Aber ach! die Jünger befanden sich nicht in diesem glücklichen Zustande, weil sie zu sehr hingenommen waren von der Gefährlichkeit ihrer Lage und der Dauer ihres Kampfes gegen die tobenden Wellen; wahrscheinlich dachten sie auch wenig oder gar nicht an die Liebe, die das Herz Jesu für sie erfüllte, noch auch an Seine Macht, der nichts zu widerstehen vermag. Wenn sie solche Gedanken gehabt hätten, würden sie Ihn gewiss nicht für „ein Gespenst“ gehalten haben. Nein, Sein wunderbares Eingreifen wäre

ihnen ganz natürlich vorgekommen, so merkwürdig und unerwartet Sein Kommen auch war.

Lieber Leser! ist es bei uns nicht leider auch oft so? Wenn die Prüfung heiß wird und ihre Dauer alles Maß

zu übersteigen scheint, so geht es uns wie dem Zacharias, dem Vater Johannes des Täufers. Er hatte kein Kind, weil sein Weib unfruchtbar war. Das war für ihn, einen Israeliten, eine schwere Prüfung, und er machte sie zum Gegenstand anhaltenden Gebets (Vergl. Luk. 1, 7. 13). Aber siehe da, als Gott ihn nun erhörte, konnte er es nicht glauben, sondern blickte auf die Umstände, anstatt auf Gott (V. 18). Das hielt allerdings weder die Gnade Gottes, noch Seine barmherzigen Absichten im Blick auf Israel auf, aber Zacharias musste die Folgen seines Unglaubens tragen: er wurde für eine Zeit stumm. Die Not der Jünger, ihr Geschrei, als sie Jesum auf dem Meere wandeln sahen, hielt den Herrn nicht zurück. Im Gegenteil, Er beeilte sich, sie zu beruhigen, indem Er ihnen zurief: „Seid gutes Mutes, ich bin’s; fürchtet euch nicht!“ So zerstreute Er durch Seine gnädigen und liebevollen Worte die Bestürzung, mit welcher Seine außergewöhnliche Erscheinung» die Herzen der Jungen: erfüllt hatte; und Er tat das, bevor Er den Wind und das Meer stillte. Sein Name sei in alle Ewigkeit dafür gepriesen, dass nichts Seine Gnade aufzuhalten und nichts uns von Seiner Liebe zu trennen vermag!

„Ich bin’s“; ja, das war Seine Stimme, das waren Seine Worte: „Seid gutes Mutes, ich bin’s; fürchtet euch nicht!“Welch wohltuender Balsam für das Herz der Jünger, die Ihn nicht erkannt hatten, weil Er in so geheimnisvoller Weise erschienen war! Nein, es war kein Gespenst. Wie töricht ist der Mensch, wenn er sich von seiner Einbildung und seinen augenblicklichen Eindrücken beherrschen lässt! Aber Jesus überließ Seine Jünger nicht länger ihren törichten Gedanken und der Gefahr der entfesselten Elemente. Seine sanfte Stimme, Seine liebreichen Worte beruhigen ihre Herzen, und Seine Gegenwart im Schiff stillt den Wind und das Meer. „Und Er stieg zu ihnen in das Schiff, und der Wind legte sich.“ Welch ein plötzlicher Wechsel! Wie werden die armen Jünger erleichtert aufgeatmet haben, und wie werden ihre Herzen von den widersprechendsten Gefühlen erfüllt gewesen sein, von Freude und Trauer, von Dankbarkeit und Schmerz!

Aber Jesus war bei ihnen; sie hatten Seine Stimme vernommen: „Ich bin`s; fürchtet euch nicht“. Ihre Herzen waren still geworden, sowohl im Blick auf die wirkliche Gefahr, als auch auf den Schrecken, den ihre törichte Einbildung ihnen eingejagt hatte. Es war kein Gespenst; es war Jesus, ihr Meister. und Freund, ihr Beschützer und Heiland. In wie Vielen Umständen hatten sie bereits Seine zärtliche Güte, Seine Liebe und Treue erfahren! Und doch kannten sie damals die Liebe Jesu noch nicht so, wie sie sie später kennen lernten und wie wir sie heute kennen. Ja, wir kennen sie als eine Liebe, die Ihn nicht nur zu uns herabgeführt hat, um uns zu helfen und zu segnen, sondern die Ihn trieb, das Kreuz zu erdulden, die Ihn leiden und sterben ließ an unserer Statt als das göttliche Sühnopfer eine Liebe, die Ihn dahin brachte, die schreckliche Strafe, die wir verdient hatten, auf sich zu nehmen, jenes Verlassensein von Gott, das für uns ewige Dauer gehabt haben würde. O wie finster waren jene drei Stunden, durch die Er am Kreuze ging, als Gott Sein Antlitz von Ihm abwandte, weil Er es auf sich genommen hatte, für uns zur Sünde gemacht zu werden, Er, der doch keine Sünde kannte! Und warum geschah das alles? Damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm. Welch eine Liebe offenbart uns der Schmerzensschrei, der Seinen Lippen am Ende jener feierlichen Stunden entfuhr: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“!

Auf diese Weise hat Jesus „die Reinigung der Sünden“ gemacht und, nachdem das herrliche Werk vollbracht war, sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe· Und dort ist Er ,,Derselbe gestern und heute und in Ewigkeit“ (Hebr. 1, 3; 13, 8). Und ob Er auch mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt ist, so hat Sein Herz sich doch nicht verändert. Er hört unser Bitten und Flehen, wie wir dies aus den Worten erkennen, die Er einst an Seinen demütigen Jünger Ananias richtete im Blick auf Saul von Tarsus. „Siehe, er betet“, sagte Er. Hat Er nicht auch das inbrünstige Flehen derer gehört, die im Hause der Maria zu Jerusalem versammelt waren und für Petrus beteten? Lieber Leser! Wie es damals war, so ist es heute noch; Er hört dich, ja, Er trägt dich auf dem Herzen.

Doch kehren wir zu unserem Text zurück. War die Prüfung für die Jünger vorüber, als Jesus zu ihnen in

das Schiff gestiegen war und der Wind sich gelegt hatte? Ja, was die äußeren Umstände anging; aber es folgten noch einige Herzens- und Gewissensübungen, die zu allen Zeiten für die Erlösten des Herrn ebenso notwendig wie segensreich sind. Ach, wie sind wir so geneigt, auf Menschen und Umstände zu blicken und nach zweiten oder nebensächlichen Ursachen zu forschen in den Wegen, die Gott uns führt, und in den Dingen, die Er über uns kommen lässt, anstatt Ihn in allem zu sehen! Der eine meint: „Mir ist zufällig dies oder das zugestoßen2; ein anderer: „Der oder der ist schuld daran“; ein dritter: „Wenn ich dies oder das nicht getan hätte“, oder auch: „wenn ich nur vorsichtiger gewesen wäre“ u. s. w. Aber Jesus sagt uns: „Ich bin’s“. Bin ich arm oder hilflos oder krank, oder in Trauer um einen geliebten Menschen, der mir genommen ist, oder in Sorge um mein Geschäft oder meine Familie, -— welcher Art der Sturm auch sein, von welcher Seite oder mit welcher Gewalt er auch wehen mag, der Herr sagt immer: „Ich bin’s!“ Es mag sein, dass unser Leichtsinn, unser Unverstand oder unsere Anmaßung uns in prüfungsvolle Verhältnisse oder gar in eine Lage gebracht haben, die uns tief niederbeugt, und das anerkennen zu müssen, ist peinlich und demütigend; aber nichts geschieht ohne die weise Zulassung des Herrn und ohne Seine Leitung. Es ist wahr, dass die schärfsten Ruten diejenigen sind, die man sich selbst geschnitten hat, aber auch darin können wir die Weisheit des Herrn erkennen.

Viele Greise beklagen die Torheiten ihrer Jugend und möchten sie gern ungeschehen machen; aber der Herr gebraucht gerade das zu ihrer Erziehung und Belehrung. Wenn man die Dinge und Umstände unmittelbar aus der Hand des Herrn annimmt, so sieht sich alles sogleich ganz anders an, und man gewinnt Zeit; im entgegengesetzten Falle verliert man köstliche Segnungen. Ich habe immer so gern die Stelle lesen hören: „Dass man alle Gefangenen der Erde unter seinen Füßen zertrete, das Recht eines Mannes beuge vor dem Angesicht des Höchsten, einem Menschen Unrecht tue in seiner Streitsache: sollte der Herr nicht darauf achten? Wer ist, der da sprach, und es geschah, ohne dass der Herr es geboten? Das Böse und das Gute, geht es nicht aus dem Munde des Höchsten hervor? Was beklagt sich der lebende Mensch? Über seine Sünden beklage sich der Mann“ (Klag. 3, 34 — 39; siehe auch Jes. 45, 5 — 7; vergl. 1. Sam. 3, 1,8 und 2. Sam. 16, 10 - 14).

In unserer Erzählung lesen wir, dass die Jünger „sehr über die Maßen bei sich selbst erstaunten und sich verwunderten“ Man wird vielleicht sagen: „Das war ganz natürlich“. Aber was der Heilige Geist hinzufügt, scheint uns doch auf eine andere Ursache aufmerksam zu machen; wir lesen: „Denn sie waren durch die Brote nicht verständig geworden, denn ihr Herz war verhärtet“. Die Art des Eingreifens des Herrn war ohne Zweifel auffallend, und es war Grund zum Berwundern vorhanden; aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Jünger nicht die ersten Schritte auf dem Wege der Erfahrungen machten. Es war nicht das erste Mal, dass sie die Liebe und Macht ihres Herrn sich entfalten sahen. Es war nicht weniger als das elfte Wunder, das sich unter ihren Augen vollzog, ohne die in Kap. 3, 10 u. 11 zusammengefassten mitzuzählen. Sie hatten gesehen, dass Jesus die Macht hatte, dem Winde zu gebieten und dem Meere zuzurufen: „Schweig, verstumme!“ Denn auf das Wort des Herrn „legte sich der Wind, und es ward eine große Stille“ (Kap. 4, 35 -— 41). Aber das Wunder, welches sie am meisten hätte verständig machen sollen, war das der Vermehrung der Brote. Da hätten sie sehen können, was der Heiland diesem sich selbst überlassenen Volke gegenüber war; sie hätten Sein von Mitleid bewegtes Herz sehen können, sowie Seine Macht, mit welcher Er die Speise desselben reichlich segnete und seine Armen mit Brot sättigte (Ps. 132, 15). Aber die armen Jünger vergaßen von heute auf morgen die Wunder des Herrn, und so kam es, dass ihre Erziehung und ihr Glaube nicht gefördert wurden.

Im elften Kapitel des Johannes-Evangeliums hören wir den Herrn zu Seinen Jüngern sagen: „Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dort war, auf dass ihr glaubet“. Diese Worte gelten uns gerade so viel wie den Jüngern, mein lieber Leser. Wir sind in derselben Schule wie sie, und wir haben denselben Lehrer. Das geht deutlich aus den beiden folgenden Stellen hervor: „Auch viele andere Zeichen hat nun zwar Jesus vor Seinen Jüngern getan, die nicht in diesem Buche geschrieben sind. Diese aber sind geschrieben, auf dass ihr glaubet, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und auf dass ihr glaubend Leben habet in Seinem Namen“ (Joh. 20, 30. 31).

Und warum waren die Jünger durch das Wunder der Brote nicht verständig geworden? Und warum machen wir so wenig Fortschritte in der Erkenntnis des Herrn Jesu und Seiner alles Verständnis übersteigenden Liebe? Gott sagt uns doch: „Darum seid nicht töricht, sondern verständig“ (Eph. 5, 17). Der Schluss unserer Geschichte gibt uns Antwort auf diese Fragen. Sie lautet: „Denn ihr Herz war verhärtet“. Das Herz ist der Sitz, der Gefühle und Zuneigungen, und die Gemeinschaft mit dem Herrn ist nicht Sache des Verstandes, sondern des Herzens. Es bedarf gar nicht vieler Eigenliebe, nicht vieler Selbstsucht, um jeden Fortschritt in der Erkenntnis des Herrn zu hemmen, ja selbst uns zurückgehen zu lassen. Wir lernen das durch das Wort des Herrn: „Die Lampe des Leibes ist dein Auge; wenn dein Auge einfältig ist, so ist auch dein ganzer Leib licht; wenn es aber böse ist, so ist auch dein Leib finster. Sieh nun zu, dass das Licht, welches in dir ist, nicht Finsternis ist· Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und keinen finstern Teil hat, so wird er ganz licht sein, wie wenn die Lampe mit ihrem Strahle dich erleuchtete“ (Luk. 11, 34 — 36). Das Auge der Jünger war nicht einfältig, als sie meinten, der Herr solle die verschmachtende Volksmenge fortschicken; ihr Herz war nicht zu der Liebe Gottes gerichtet. (2. Thess. 3, 5). Sind die unsrigen es immer? Ein kleiner finsterer Teil kann sich vergrößern und seinen Schatten über unser ganzes inneres Wesen werfen. Der Apostel Paulus gebraucht auch zwei auffallende Ausdrücke in seinen Gebeten für die gläubigen Epheser. In dem ersten, welches seinen Wunsch, dass sie erkennen möchten, zum Gegenstande hat, sagt er: ,,erleuchtet an den Augen eures Herzens“. Und in dem zweiten, in welchem er bittet, dass sie besitzen möchten, lesen wir: „auf dass Er euch gebe, nach dem Reichtum Seiner Herrlichkeit mit Kraft gestärkt zu werden durch Seinen Geist an dem inneren Menschen; dass der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne, indem ihr in Liebe gewurzelt und gegründet seid, auf dass ihr völlig zu erfassen vermöget mit allen Heiligen, welches die Breite und Länge und Tiefe und Höhe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, auf dass ihr erfüllt sein möget

zu der ganzen Fülle Gottes“ (Eph. 1, 18; 3, 16 -— 19).

Die Beschäftigung mit sich selbst, wenn sie nicht Selbstgericht zum Zweck hat, verhärtet unsere Herzen, begrenzt unsere geistlichen Fähigkeiten und bringt uns immer mehr dahin, uns zum Mittelpunkt unserer Gedanken zu machen. Die Beschäftigung mit Gott, mit Seiner Liebe und Seinem Erbarmen gegen uns macht uns fähig, mit allen Heiligen den Bereich zu erfassen, wo Gottes Wesen, alles was Er ist, zur Darstellung kommt, sowie die Liebe Christi zu erkennen; wir bleiben dadurch empfindsam für Seine Interessen, Seine Herrlichkeit und das Wohl der Seinen, während wir zugleich mit Ausharren auf Seine selige Rückkehr warten.

Darum musste der Herr Seine Jünger nötigen, an das jenseitige Ufer vorauszufahren. Seine Liebe erschöpft sich nie und ermüdet nie; wenn eine Seiner gnädigen Schickungen für uns unfruchtbar bleibt, wenn Er den Zweck, den Er sich zu Seiner Verherrlichung und uns zum Segen vorgesetzt hat, dadurch nicht erreicht, so wechselt Er mit Seiner Handlungsweise, denn Er ist ebenso reich an Mitteln wie groß an Macht. Oft aber muss der Herr, weil wir so unverständig und trägen Herzens sind zu glauben, dem Winde gebieten, sich zu erheben und unser gebrechliches Fahrzeug zu erschüttern. Dann wird der Weg rau und die Umstände oft erschreckend; aber das Ende ist des Herrn, und die Ergebnisse gereichen uns nur umso mehr zum Nutzen. Wir lernen den Wert des Wortes „Ich bin’s“ schätzen. Ja, Er ist immer bei uns, um uns die kostbare Lektion des Gehorsams, der Abhängigkeit und des Vertrauens zu lehren.

Er gebe uns, aufmerksame und willige Jünger zu sein, die in den Fußstapfen ihres göttlichen Vorbildes wandeln! Wir können dann stets mit vollem Vertrauen singen und sagen:

Wie mächtig auch die Woge grollt,

die Blitze sprüh’n, der Donner rollt,

mein Schifflein ist geborgen;

trägt’s doch den Herrn,

dem treu und gern

so Wind wie Meer gehorchen.

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Kein Unterschied

Bibelstelle: Römer 3,22.23

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 53ff

„Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“

(Röm. 3, 22. 23).

So lautet der Urteilsspruch Gottes über das ganze menschliche Geschlecht. Er trifft einen jeden mit gleicher Schärfe und gleichem Ernst, den Gebildetsten wie den Ungebildetsten, den Sittenreinsten wie den Sittenlosesten, den Reichsten wie den Ärmsten. Da ist kein Unterschied!

Es ist eine schwere Sache für den hochgebildeten und achtbaren Menschen dieser Welt, zu glauben, dass er im Blick auf seine Stellung vor Gott sich auf demselben Boden befindet wie der Verkommenste und Versunkenste, und dass er, will er anders errettet werden, auf keinem anderen Wege das Heil finden kann wie jener. Was das äußere Verhalten und die Schwere der Schuld betrifft, mag ein großer Unterschied bestehen, aber was den Zustand des Menschen als Sünder vor Gott betrifft, ist nach Gottes Urteil kein Unterschied, und Gott weiß gewiss am besten, was der Mensch in feinem gefallenen Zustand vor Ihm ist.

Der Apostel bleibt auch den Beweis seiner Behauptung nicht schuldig. Er sagt: „denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“. Kann irgend jemand sagen, er habe nicht gesündigt“? Vielleicht glaubt er wenig gesündigt zu haben, jedenfalls viel weniger als Andere; aber kann irgend jemand ehrlich sagen, er habe niemals gesündigt, nie einen unreinen Gedanken gehabt, nie ein böses oder zorniges Wort geredet, von Tatsünden ganz zu schweigen? Nein, das vermag niemand; deshalb gilt auch allen das weitere Wort: „und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“.

Doch unser Gegenstand hat noch eine andere Seite. Während es eine große Menge von Menschen gibt, die da meinen, sie seien zu gut, um mit der ganzen übrigen Menschheit auf einen Boden gestellt zu werden, gibt es Andere, die man für zu niedrigstehend hält, als dass man sie als einen Teil der allgemeinen menschljchen Gesellschaft betrachten könnte. Dies hat sich in manchen Ländern gezeigt. Als z. B. die ersten Missionare nach Süd-Afrika kamen, erklärten ihnen die dortigen Kolonisten, dass sie ebenso gut den Schweinen das Evangelium predigen könnten wie den Hottentotten; und selbst nachdem

schon einige Missions-Niederlassungen gegründet waren, fand ein Missionar eines Tages über der Tür einer Kapelle die Ausschrift: „Hunden und Hottentotten ist der Zutritt verboten“.

Ähnliches hat man von anderen Völkern gesagt, und zwar waren die Sprecher nicht selten Leute, die sich

selbst für recht gute Christen hielten. Aber Gott hat die Torheit solcher Behauptungen überall bewiesen. Die kostbare Botschaft von Jesu, dem Heilande der Verlorenen, ist in die finstersten Teile der Erde getragen worden, und Hottentotten und wilde Menschenfresser sind bekehrt worden und preisen nun die Gnade, die auch sie besucht hat.

Die Botschaft des Herrn an Seine Knechte lautete und lautet heute noch: „Gehet hin in die ganze Welt und prediget das Evangelium der ganzen Schöpfung!“ (Mark. 16, 15; vergl. Matth. 28, 19). Und in unserer

Stelle wird im Blick auf alle Menschen ohne Unterschied das Wort hinzugefügt: „und werden umsonst gerechtfertigt durch Seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christo Jesu ist“. An einer anderen Stelle des Römerbriefes heißt es: „Jeder, der an Ihn glaubt, wird nicht zu Schanden werden. Denn es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche, denn derselbe Herr von allen ist reich für alle, die Ihn anrufen.“ (Kap. 10, 11. 12.) Auch lesen wir im Blick auf die Zeit des Endes: „Und dieses Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreis, allen Nationen zu einem Zeugnis“ (Matth. 24, 14). 55

So ist denn dasselbe herrliche Evangelium da für hoch und niedrig, für reich und arm; allen gebührt es, denn alle stammen in ihrem gefallenen Zustande von demselben Elternpaar ab. Manche mögen im Blick auf Erziehung und Bildung eine höhere Stufe erreicht haben als Andere, aber wenn ihre Stellung vor Gott in Frage kommt, so gibt es, wie gesagt, „keinen Unterschied“. Alle sind verlorene Sünder und bedürfen derselben Errettung und Reinigung durch das kostbare Blut Jesu Christi. Wer sich unter dieses Urteil nicht beugen will, wird in der Ewigkeit seinen verhängnisvollen Irrtum erkennen müssen, aber dann zu spät. Möchte denn die kostbare Botschaft von dem Heil in Christo überallhin dringen, die Hohen von ihrer vermeintlichen Höhe hinabstürzen und die Niedrigen erhöhen, damit beide selige Kinder eines Gottes und Vaters und Glieder eines Leibes, des Leibes Christi, werden!

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Auf Hoffnung säen

Bibelstelle: Prediger 11,6

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 56ff

Am Morgen säe deinen Samen, und des Abends ziehe deine Hand nicht ab; denn du weißt nicht, welches gedeihen wird: ob dieses oder jenes, oder ob beides zugleich gut werden wird. Prediger 11,6

Streu auf Hoffnung deinen Samen,

sorge nicht, wohin er fällt;

streu getrost in Jesu Namen,

der das Samenkorn erhält.

Wenn auch gleich auf harten Boden

deine Saat gefallen ist –

säe fort; du wirst einst droben

sehn, was aufgegangen ist!

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Die Gnade Gottes

Bibelstelle: Titus 2,11-13

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 57ff

„Denn die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen, und unterweist uns, dass wir, die Gottlosigkeit und die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht und gottselig leben in dem jetzigen Zeitlauf, erwartend die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi." (Titus 2,11 - 13)

III.

Wir kommen jetzt zu dem dritten und letzten Teil unseres Gegenstandes, zu dem herrlichen Ziel, für das die Gnade Gottes die Glaubenden bestimmt und bereitet hat. Sie hat an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gedacht, sie hat für alles Sorge getragen. Wir begegnen dieser köstlichen Wahrheit auch im Anfang des 5. Kapitels des Römerbriefes. Dort haben wir, was die Vergangenheit betrifft, Frieden mit Gott, unsere Sünden sind nicht mehr; in der Gegenwart haben wir freien Zugang zu der Gnade, der Gunst Gottes, in welcher wir stehen, und im Blick auf die Zukunft rühmen wir uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes. Ähnliches finden wir in 1. Thes. 1,9. 10: Die gläubigen Thessalonicher hatten sich von den Götzenbildern, denen sie einst dienten, zu Gott bekehrt (die Vergangenheit), um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen (die Gegenwart) und Seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten (die Zukunft). Nun, in unserer Stelle ist es ebenso: die Gnade hat uns, den einst Verlorenen, Heil gebracht; gegenwärtig unterweist sie uns, und hinsichtlich der Zukunft zeigt sie uns die Herrlichkeit als das Ende unseres Pfades. Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass nichts einen mächtigeren Einfluss auf unser ganzes Verhalten im Leben auszuüben vermag, als die Hoffnung auf die Ankunft des Herrn. Wo diese Hoffnung in der Seele lebendig ist, da gestaltet sie den Charakter eines Menschen völlig um, regelt sein Tun und Lassen nach himmlischen Grundsätzen und macht ihn hier zu einem Fremdling, der nach dem verheißenen „köstlichen Lande" ausschaut. Die Hoffnung wird eine „glückselige" Hoffnung genannt; sie erfüllt tatsächlich das Herz mit Freude und Frieden, macht es ruhig und getrost im Leid, bewahrt es vor Überhebung in guten Tagen und lässt es fröhlich aufwärts und vorwärts schauen.

Der Herr Jesus Selbst hat die Seinigen zuerst mit dieser Hoffnung bekanntgemacht. Als Er im Begriff stand, zu Seinem Vater zurückzukehren, richtete Er die Blicke Seiner betrübten und bestürzten Jünger zum Himmel empor und erzählte ihnen von einem Vaterhause mit vielen Wohnungen droben in der Herrlichkeit. Wenn irgend etwas imstande war, ihre niedergebeugten Herzen aufzurichten, so war es dies. Der Herr wusste das; Er wusste aus Erfahrung, was es heißt, einsam durch eine sündige, feindselige Weit gehen zu müssen, und Sein liebendes Herz verlangte danach, den Seinigen, die in der Weit zurückbleiben mussten, einen „starken Trost" zu geben. So lenkte Er denn ihre Gedanken nach oben und zugleich auf Seine Wiederkehr: „Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, auf dass, wo ich bin, auch ihr seiet" (Johannes 14,2. 3). Er konnte nicht länger dableiben, wo sie waren, aber sie sollten dahin versetzt werden, wo Er fortan sein würde. Kostbarer Tausch! Die Verheißung des Herrn ist noch nicht erfüllt, aber wir warten darauf mit Ausharren; und bald wird sie in Erfüllung gehen. Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Morgen ist nahe. Es ist sehr bemerkenswert, wie diese Hoffnung auf die Wiederkunft unseres geliebten Herrn in den Schriften des Neuen Testaments mit den verschiedensten Gegenständen und Verhältnissen in Verbindung gebracht wird. Sie ist es zunächst, die uns nicht betrübt sein läßt „wie die übrigen, welche keine Hoffnung haben", wenn es Gott gefällt, einen geliebten Bruder oder eine treue Schwester aus unserer Mitte abzurufen. Sie erinnert uns daran, dass wir diese Entschlafenen in verherrlichtem Zustande wiedersehen werden, wenn Jesus kommt, und zwar nicht erst droben im Himmel, sondern schon hier, ehe wir alle miteinander Ihm entgegengerückt werden in die Luft (1. Thes. 4). Sie spornt uns an, treu und eifrig zu sein in unserem Dienst, allezeit überströmend in dem Werke des Herrn, indem wir wissen, dass unsere Mühe nicht vergeblich ist im Herrn (1. Korinther 15). Sie treibt uns, das uns anvertraute Pfund treu zu verwalten, und wachsam und nüchtern zu sein, damit, wenn Er kommt, uns ein reicher Lohn zuteil werde (Lk. 12 u. 19). Sie ermuntert die Knechte des Herrn, den Evangelisten, den Hirten und Lehrer zu hingebender Treue, zu anhaltendem Fleiß, zu unermüdlichem Wirken, sei es unter denen, die draußen sind, oder unter der Herde Christi selbst, damit sie eine Krone des Ruhmes empfangen und nicht beschämt werden vor dem Herrn bei Seiner Ankunft (2. Korinther 1,14; Philipper 2,16; 1. Thes. 2,19; 1. Johannes 2,28; 2. Johannes 8). Sie lehrt uns, allen Menschen gegenüber sanftmütig und gelinde zu sein (Phil. 4,5), Geduld zu haben (Jakobus 5,7. 8), nicht uns selbst zu rechtfertigen (1. Kor 4), dagegen uns zu reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes und die Heiligkeit zu vollenden in der Furcht Gottes, ja, uns zu reinigen, gleichwie Er rein ist. (1. Johannes 3,3). Sie lässt uns in Trübsal ausharren, gibt uns Kraft, Unrecht zu leiden und Dem alles anheimzustellen, der recht richtet, warnt unsere Herzen vor ihrer so natürlichen Neigung, sich an das Sichtbare zu hängen, und lenkt sie hin auf die unsichtbaren Dinge.

Wie wichtig ist es daher, dass diese Hoffnung in uns allen lebendig und wach erhalten bleibe. Der Herr sei gepriesen, dass Er uns nicht nur durch sein Wort und Seinen Geist (ach! wir sind oft so vergessliche Hörer und haben so unempfindliche Herzen für die Belehrungen und Mahnungen des Geistes), sondern auch durch die Umstände, durch Seine Wege mit uns, zu Hilfe kommt! Es ist schier unglaublich, wie rasch die wärmsten Gefühle erkalten und die tiefsten Eindrücke sich verflachen können: wohl jeder von uns weiß aus eigener beschämender Erfahrung, dass es so ist, und darum: wie gut ist es, dass das Auge des Herrn allezeit auf uns gerichtet bleibt, und dass Seine treue Hand uns leitet!

Dass es zwei Abschnitte in der Wiederkunft des Herrn gibt, Sein Kommen zur Aufnahme der Heiligen und Seine Erscheinung mit ihnen in Herrlichkeit, ist wohl allen meinen Lesern bekannt, so dass ich nicht näher darauf einzugehen brauche. Dass mit dem zweiten Abschnitt, der Erscheinung des Herrn in Macht und Herrlichkeit, das Gericht aller Feinde, die Niederwerfung aller Widersacher, zugleich aber auch die öffentliche Vergeltung der Treue des Gläubigen, die Austeilung des Lohnes, in Verbindung steht, darf ich auch wohl als bekannt voraussetzen. In unserer Stelle nun scheinen beide Abschnitte zusammengefasst zu sein, indem von der „glückseligen Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi" gesprochen wird. Der Gläubige erwartet beides mit glücklichem und dankbarem Herzen.

Die Ankunft Christi zur Entrückung der auferweckten oder verwandelten Heiligen (1. Thes. 4,15 - 17) ist etwas so Wunderbares und Erhebendes, dass der Gedanke daran den himmlischen Pilgrim nur ermuntern kann. Darum sagt auch der Apostel: „So ermuntert nun einander mit diesen Worten!" Mit welcher Wonne werden wir den mächtigen Zuruf unseres geliebten Herrn vernehmen! Jede Fessel wird fallen, jede Last weichen, und in verklärten, verherrlichten Leibern werden wir Ihn schauen, Den unsere Seele liebt. Selbst diese arme, gebrechliche Hütte, die uns heute noch an diese Schöpfung bindet und uns immer wieder schmerzlich daran erinnert, dass wir einem sündigen, gefallenen Menschengeschlecht angehören, wird die befreiende und erlösende Macht unseres Heilandes Jesu Christi erfahren. Unser Leib der Niedrigkeit wird umgestaltet werden zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der Herrlichkeit, gemäß der wirksamen Kraft, mit der Er vermag, sich alle Dinge zu unterwerfen. (Phil. 3,20. 21). „Wie wir das Bild dessen von Staub getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen" (1. Korinther 15,49). „Denn welche er zuvor erkannt hat, die hat er auch zuvor bestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern" (Römer 8,29). O, wie wird uns sein, wenn unser Herr Jesus die himmlische Familie ins Vaterhaus einführen und dem Vater darstellen wird, nach den Worten: „Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat"! Ist das nicht in Wahrheit eine „glückselige" Hoffnung? Und heute oder morgen kann sie sich erfüllen! Was sagt dein Herz dazu, geliebter Leser? Antwortet es mit innigem Verlangen: „Amen, komm, Herr Jesu!"? Oder ist da ein unbestimmtes Gefühl in dir, dem du nicht Worte verleihen möchtest, das sich aber immer wieder regt: Die Ankunft meines Herrn ist doch noch nicht so nahe? Wenn es so ist, dann verurteile es ohne Zögern; es ist vom Feinde, der dir gern deine köstlichste Freude rauben und dich wieder hinabziehen möchte in den Bereich und unter den Einfluss der sichtbaren Dinge. Ja, es ist im Grunde nichts anderes als Unglaube, der Keim von dem, was wir in den Spöttern der letzten Tage zur Reife gelangt sehen. Sie sagen: „Wo ist die Verheißung seiner Ankunft? Denn seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt alles so von Anfang der Schöpfung an" (2. Petrus 3,4). Möchtest du ihnen auch nur im Entferntesten gleichen, nur auf die leiseste Weise ihnen Recht geben? Nein, tausendmal nein! „Der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten, sondern er ist langmütig gegen euch, da er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen" (V. 9). Das Wort des Jakobus: „Das Ausharren habe ein vollkommenes Werk", können wir auch sicher auf diese Sache anwenden; und ich möchte fragen: Ist es nicht der Mühe wert, noch ein wenig auszuharren, wenn Gott die Wartezeit dazu benutzt, so viele Verlorene zu erretten?

Lasst uns deshalb auch nicht vergessen, dass Jesus droben mit weit größerem Verlangen auf den Augenblick der Vereinigung mit Seiner geliebten Braut wartet, als wir hier je warten können. Die Stärke des Verlangens richtet sich naturgemäß nach der Tiefe und Innigkeit der Liebe; und wo wäre eine Liebe wie Seine Liebe? Darum wünscht auch der Apostel, dass der Herr unsere Herzen richten möge zu der Liebe Gottes und dem Ausharren des Christus (2. Thes. 3,5).

Vielleicht möchte Jemand fragen: Wird denn „die Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi" nichts Erschreckendes oder doch wenigstens Niederdrückendes für uns haben? Unmöglich! Denn Der. den wir in Seiner göttlichen, majestätischen Herrlichkeit erblicken werden, ist unser Jesus, unser Heiland. der uns geliebt und „sich selbst für uns gegeben hat" (Titus 2,14). Wie könnte Sein Anblick Angst und Schrecken in uns wachrufen? Ihn zu sehen, wie Er ist, wird vielmehr eitel Wonne und Entzücken für uns sein. O Geliebte, wir werden Ihn schauen, an den wir geglaubt haben, von dem wir uns so oft unterhalten haben, dessen Liebe uns auf dem Wege durch die Wüste erquickte, dessen Worte uns nährten und dessen starker Arm uns hindurchtrug durch alle Versuchungen und Gefahren! Statt erschreckt zu sein, werden wir mit tiefer, dankbarer Freude die Herrlichkeit betrachten, die Ihm. dem jetzt Verachteten und Verworfenen, zuteil geworden ist, ja, die Ihm eigen ist kraft Seiner göttlichen Person. Und unser: „Du bist würdig!" wird mit einer Kraft und Innigkeit ertönen wie nie zuvor.

Ja, wir können mit völligem Vertrauen an Seine Erscheinung in Herrlichkeit denken. Denn Er, der da kommt, angetan mit Pracht und Majestät, ist der Geliebte unserer Herzen, der uns erkoren und zubereitet hat, damit wir Seine ganze Herrlichkeit mit Ihm teilen und neben Ihm thronen sollen als Seine Miterben. Fleisch und Blut können allerdings das Reich Gottes nicht ererben. Unsere jetzigen Augen sind nicht dazu geschaffen, die Sprache des himmlischen Kanaan zu verstehen; unsere Zunge ist nicht imstande, jene unaussprechlichen Worte auszusprechen, die der Mensch nicht sagen darf; unsere Hände sind nicht fähig, in die Saiten der Himmelsharfen zu greifen, und unsere Füße können nicht in den glänzenden Straßen des neuen Jerusalem wandeln; unser ganzes Verstehen ist Stückwerk und unser Verwirklichen unvollkommen und schwach. Aber das Vollkommene wird kommen, und wir werden erkennen, wie wir erkannt worden sind. Unser Leib der Niedrigkeit wird dann abgelegt sein, alles Irdische, Zeitliche und Vergängliche wird für immer verschwunden sein. Augen und Ohren, Hände und Füße - alles, alles wird neu gemacht und umgestaltet werden nach dem Bilde des verherrlichten Menschen droben. „Wie wir das Bild dessen von Staub getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen" (1. Kor. 15,49). „Wir werden ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wir er ist" (1. Johannes 3,2).

Wir haben weiter oben gesagt, dass mit der Erscheinung der Herrlichkeit des Herrn auch die öffentliche Vergeltung der Treue des Gläubigen, die Austeilung des Lohns, stattfinden werde. Ist nun dieser Gedanke nicht geeignet, ängstliche Sorge in unseren Herzen wachzurufen? Wiederum möchte ich antworten: Unmöglich! Denn was wird an jenem Tage von uns geschaut werden? Was wird diese Vergeltung uns zeigen? Nichts als die unendliche, überströmende Gnade unseres großen Gottes und Heilandes. Es wird uns ähnlich ergehen wie den „Schafen", die in Mt. 25 zur Rechten des auf Seinem Thron der Herrlichkeit sitzenden Menschensohnes stehen: gleich ihnen werden wir mit tiefem Staunen fragen: „O Herr, wann und womit habe ich denn die reiche Belohnung, die Du mir zuteil werden lassest, verdient?" Nie hat eine so gerechte, aber auch nie eine so gnädige, alle Erwartungen übertreffende Lohnauszahlung stattgefunden, wie sie dann stattfinden wird. Ohne Zweifel wird die Verteilung des Lohnes ganz anders ausfallen, als wir heute denken; wenn je, so werden wir dann erkennen, wie kurzsichtig wir auf Erden waren, wie viel Gewicht wir auf das Äußere gelegt haben und wie wenig wir imstande waren, Menschen und Handlungen nach ihrem wahren Wert vor Gott zu beurteilen. Aber wie dem auch sei, eins ist gewiss: jeder von uns wird die wunderbare Güte des Herrn preisen und wird erkennen, wie böse und grundschlecht die Aussage des faulen Knechtes ist: „Herr, ich kannte dich, dass du ein harter Mann bist" (Mt. 25,24).

Vergessen wir auch nicht, dass der öffentlichen Austeilung des Lohnes unsere Offenbarwerdung vor dem Richterstuhl Christi vorangeht. Wieder fragt da das arme, ängstliche Herz, das so wenig die Liebe seines großen Gottes und Heilandes kennt: Ist denn das nicht erschreckend und furchteinflößend? Dem gegenüber möchte ich fragen: Hat es heute etwas Erschreckendes für eine aufrichtige Seele, in das Licht Gottes zu kommen? Verlangt sie nicht vielmehr danach, heute schon ganz offenbar vor Gott zu sein, keinen, auch nicht den geringsten, Rückbehalt vor Ihm zu haben? Ja, ihre Sprache lautet: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf ewigem Wege!" (Psalm 139,23. 24). Sie ist nur dann wahrhaft glücklich und zufrieden, wenn zwischen ihr und dem heiligen Gott nicht der leiseste Schatten, nicht das schwächste Wölkchen steht. Wohl ist sie mit tiefem, heiligem Ernst erfüllt; und voll von Eifer, in allem Gott wohlgefällig zu sein; wohl fürchtet sie sich vor sich selbst, vor den Gefahren und Versuchungen, die es auf dem Wege durch diese sündige Welt gibt, und vor der Möglichkeit, ihren geliebten Herrn durch Untreue oder Unglauben zu betrüben. Aber die Quelle und Triebfeder ihres Verhaltens sind nicht Furcht und Misstrauen, sondern im Gegenteil Liebe und Vertrauen. Sie weiß, an wen sie geglaubt hat. Sie müht sich auch nicht eigentlich um des Lohnes willen, sondern um Des willen, der sie geliebt hat und liebt. Sie möchte gern einen reichen Lohn empfangen, aber nicht damit sie, sondern damit Jesus dadurch verherrlicht werde und weil der Lohn ihr aus Seiner Hand zukommt.

Wenn eine Seele so steht, und so sollte jede gläubige Seele stehen, das ist ihr normaler Zustand, dann denkt sie nicht mit Furcht an den Richterstuhl, sondern mit vollkommenem Frieden, ja, mit Freude. Sie sehnt sich nach dieser Offenbarwerdung, denn sie weiß aus Erfahrung: je näher dem Licht, soviel tiefer die Freude, soviel inniger und seliger die Gemeinschaft, um so klarer der Blick, um so ungetrübter der Friede und um so reiner der Genuss.

Ach, dass es so viele Gläubige gibt, die durch Mangel an Glauben oder an praktischer Treue von diesen kostbaren Dingen so wenig verstehen und genießen! Dass wir alle schwach, sehr schwach sind und weit hinter dem Ziel zurückbleiben, ist gewiss; der treueste Gläubige wird am meisten fühlen, wie schwach und unvollkommen sein Glaube, seine Treue, seine Hingabe, kurz alles, ist, was sich bei ihm von den Eigenschaften und Tugenden des neuen Lebens, das er besitzt, finden sollte. Aber wie viele Gläubige gibt es in unseren Tagen, deren Herzen weltförmig geworden sind, die nach dem trachten, was auf der Erde ist, und dabei naturgemäß die Gemeinschaft, die nahe Verbindung mit Gott, verloren haben. Oder andere, die nicht acht haben auf die Gedanken und natürlichen Neigungen ihrer Herzen, die dem Fleisch Raum lassen, Gebet und Selbstgericht versäumen und auf diese Weise eine Schranke zwischen Gott und sich aufrichten. Dass solche Seelen nicht mit Ruhe und Freude an das Offenbarwerden vor dem Richterstuhl Christi denken können, ist selbstverständlich; sie sind jetzt nicht offenbar vor Gott, wie könnten sie nach dem vollkommenen Licht des Richterstuhls verlangen? Sie erwarten nicht mit glücklichem Herzen die Erscheinung der Herrlichkeit Jesu Christi. Die Hoffnung, Ihn zu sehen, ist keine „glückselige" Hoffnung für sie. Wie tief beklagenswert sind solche Seelen! Wie freude- und friedelos ist ihr Weg, wie verloren ihre Zeit, wie nutzlos ihr Leben!

O mein lieber Leser! sollte irgendwie diese Beschreibung auf dich passen, möchtest du dann doch aufwachen und mit tiefem Schmerz vor Dem niedersinken, „der sich selbst für uns gegeben hat, auf dass er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein Eigentums-Volk, eifrig in guten Werken"! Sieh, du bist nicht mehr dein eigen; du bist losgekauft von aller Gesetzlosigkeit und dem Eigentums-Volk des Herrn zugezählt. Und was war der Preis? Jesus Selbst! Er gab Sich Selbst. Könnte es einen Beweggrund geben, der mehr ans Herz greift, uns zu einem hingebenden Wandel für Ihn anzuspornen? Er starb für uns, der Heilige für die Unheiligen, der Gerechte für die Ungerechten! Sein kostbares Blut floss, um uns zu reinigen, und nun sind wir Sein, Sein teuer erkauftes Eigentum.

„Ein Eigentums-Volk, eifrig in guten Werken" - berühren diese Worte nicht dein Herz? Der Herr hat ein Volk auf dieser Erde, das Ihm zum Eigentum gehört, das Er Sich erworben hat durch Sein eigenes Blut, das Seinen Namen trägt und in dem Er verherrlicht ist; und du bist einer von diesem Volk. Kann die Welt es sehen? Erkennt sie deinen Herrn in deinem Handel und Wandel? Bist du eifrig in guten Werken? Es gibt so viele Bedürfnisse in unseren Tagen, so viele Kranke, Schwache, Arme, Trauernde, so viele trostbedürftige Witwen und Waisen. Das Werk des Herrn ist so groß und ausgedehnt und erfordert so mancherlei Handreichung. Bist du eifrig, an diesen verschiedenen Bedürfnissen teilzunehmen, jedem guten Werke nachzugehen? O lasst uns nicht vergessen, dass wir zu diesem Zweck erkauft und hiergelassen sind! Wie freundlich und gütig ist unser Gott, dass Er uns in einer so ergreifenden Weise zu einem heiligen, Ihm wohlgefälligen Wandel ermuntert! Er fordert nicht streng, Er droht nicht mit Strafe. Nein, Er sagt gleichsam: „Mein Kind! Jesus hat Sich Selbst für dich hingegeben. Rührt das nicht dein Herz? Er hat dich für Sich erkauft. Könntest du noch irgendwie einem andern Herrn dienen wollen?"

O möchten doch unsere Herzen bereitwilliger antworten auf eine solche Sprache der Liebe! Die Gnade ist erschienen; die Herrlichkeit wird bald erscheinen. Lasst uns diese beiden Endpunkte der christlichen Laufbahn miteinander verbinden durch einen Wandel in Gottesfurcht und Treue!

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Gott ist Liebe

Bibelstelle: 1. Johannes 4,8

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 69ff

Jeder Mensch ist von Natur, wie uns das Wort Gottes sagt, tot in Sünden, entfremdet dem Leben aus Gott; und seine Natur, die er infolge seiner Geburt aus dem ersten Adam empfangen hat, ist Feindschaft gegen Gott. Das ist das Zeugnis Gottes über ihn. Da ist keine Liebe im Herzen, weder zu Gott noch zu seinem Nächsten. In einem natürlichen Herzen kann es wohl natürliche Liebe geben, aber wahre Liebe, Liebe zu Gott, Liebe zu den Brüdern, kennt es nicht; denn „die Liebe ist aus Gott“. Wenn aber ein Mensch durch die Macht des Heiligen Geistes lebendig gemacht, d. h. wiedergeboren wird, so empfängt er eine neue Natur das göttliche Leben. Der Heilige Geist hat durch das Wort in seinem Herzen und Gewissen gewirkt, ihn in das Licht Gottes gebracht, so dass er seine Sünden und seinen verdammungswürdigen Zustand erkannt hat. Aber er hat dann auch erfahren, dass Gott, anstatt ihn nach Seiner Gerechtigkeit zu richten, Seinen eingeborenen Sohn an seiner Statt gerichtet hat, und ihn, den Sünder, nicht allein gerecht gesprochen, sondern in der Auferstehung Christi aus den Toten mitlebendig gemacht und ihm in Christo das ewige Leben gegeben hat. Er weiß jetzt, dass Christus „unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt ist“ (Röm. 4, 25). Er sagt triumphierend mit dem Apostel: „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen Seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht . . . und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christo Jesu“ (Eph. 2, 4 - 6.) Oder: „Und dies ist das Zeugnis: dass Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in Seinem Sohne“. (1. Joh. 5, 11). Der Heilige Geist hat in dem Herzen den Glauben an das Erlösungswerk und das lebendige Bewusstsein von der darin geoffenbarten Liebe Gottes gewirkt; Er hat den unter der Erkenntnis seiner Schuld niedergebeugten und verzweifelnden Sünder einen Blick tun lassen in die unergründlichen Tiefen der Liebe und Gnade Gottes, wie sie sich in der Hingabe Seines vielgeliebten Sohnes geoffenbart haben.

Die Erkenntnis dieser wunderbaren Liebe Gottes zu dem, der Sein Feind war, bringt eine völlige Umwandlung in dem innersten Wesen des Menschen hervor: die bisherige Feindschaft gegen Gott verwandelt sich in herzliche Liebe; in dem einst toten und gottentfremdeten Menschen entstehen neue Gesinnungen und Gefühle, mit einem Worte: er ist der göttlichen Natur, des göttlichen Lebens teilhaftig geworden. „Dies ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen“ (Joh. 17, 3). Und diese göttliche Natur ist Liebe; denn „Gott ist Liebe“; Das ist das Wesen, die Natur Gottes; und dieser Natur ist der Gläubige teilhaftig geworden. Jetzt liebt er; er hat Liebe erfahren und wünscht Liebe zu üben.

Zudem ist „die Liebe Gottes ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben worden ist“. (Röm. 5, 5.) Sie ist uns in ihrer ganzen Fülle« und Vollkommenheit geschenkt, so dass wir sie genießen und, weil sie in unsere Herzen gesenkt ist, auch ausstrahlen lassen können. In einem wiedergeborenen und durch den Glauben gereinigten Herzen macht der Heilige Geist Wohnung, und wenn Er nicht betrübt und dadurch in Seiner Wirksamkeit gehindert wird, so zeugt Er fortwährend, auch selbst in Trübsalswegen, von der Liebe, die in dem Vater-und dem Sohne überströmend zu dem Gläubigen ist. Dadurch wird das neue Leben unausgesetzt genährt und in Tätigkeit erhalten; und je mehr wir so die Liebe Gottes genießen, desto mehr werden wir sie auch offenbaren, so dass die Früchte dieses neuen Lebens gesehen werden; denn „die Frucht des Geistes ist: Liebe, Freude, Friede usw.“ (Gal. 5, 22). Das göttliche Leben in einem Gläubigen ist also Liebe — Liebe zu Gott und Liebe zu den Kindern Gottes, denn „jeder, der Den liebt, welcher geboren hat, liebt auch den, der aus Ihm geboren ist“ (1. Joh. 5, 1). Indes hat Gott sich nicht nur als Liebe, sondern auch als Licht geoffenbart, und deshalb wird sich das göttliche Leben in dem Gläubigen gleichfalls in diesen beiden Charakterzügen zeigen, als Licht und Liebe. „Und dies ist— die Botschaft, die wir von Ihm gehört haben und euch verkündigen: dass Gott Licht ist und gar keine Finsternis in Ihm ist. Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit Ihm haben, und wandeln in der -Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber in dem Lichte wandeln, wie Er in dem Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft miteinander, und das Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde“ (1. Joh. 1, 5 — 7). „Geliebte, lasst uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott; und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe. Hierin ist die Liebe Gottes zu uns geoffenbart worden, dass Gott Seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, auf dass wir durch Ihn leben möchten. Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass Er uns geliebt und Seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden. Geliebte, wenn Gott uns also geliebt hat, so sind auch wir schuldig, einander zu lieben“ (1. Joh. 4, 7—11). In diesen zwei Schriftstellen werden uns die beiden Seiten der Natur Gottes, Licht und Liebe, vorgestellt, und wir, die Gläubigen, werden zu einem Wandel im Licht und zur Ausübung der Liebe ermahnt; und da der Gläubige die göttliche Natur empfangen hat, so wird sich, wie gesagt, auch beides bei ihm zeigen. Er ist in die innigste Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohne Jesu Christo gebracht worden, und begehrt nun, der. neuen Natur gemäß in Reinheit und Heiligkeit zu wandeln. Er hasst das Böse, und er wandelt in Furcht, damit diese kostbare Gemeinschaft nicht auf irgend eine Weise gestört und er des Genusses derselben beraubt werde. Andererseits hat er für sich selbst die unendliche

Liebe Gottes erfahren und genießt sie jeden Tag, und darum liebt er Gott und die Kinder Gottes, und begehrt, diese Liebe auch zu betätigen.

Wenn wir nun fragen, in welcher Weise diese Betätigung der Liebe stattfindet, so gibt uns der Apostel Johannes die Antwort: „Wer irgend Sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet. Hieran wissen wir, dass wir in Ihm sind“ (1. Joh. 2, 5). Die Liebe zu Gott offenbart sich also in einem Wandel in Seinem Licht und in dem Halten Seines Wortes. „Denn dies ist die Liebe Gottes, dass wir Seine Gebote halten, und Seine Gebote find nicht schwer“ (1. Joh. 5, 3). Die Gebote Gottes umfassen alles, was Er uns als Seinen. wohlgefälligen Willen mitgeteilt hat, und dieser besteht für uns im Wesentlichen darin, dass der durch die Macht des Heiligen Geistes lebendig gemachte und durch den Glauben mit Christo verbundene Mensch das Verhältnis verwirklicht, in welches Gott ihn in Christo versetzt hat; nämlich dass sein alter Mensch mit Christo gekreuzigt und gestorben ist, und dass er, mit Christo auferweckt und lebendig gemacht, jetzt das Leben des auferstandenen und verherrlichten Christus lebt. „Indem wir dieses wissen, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, auf dass der Leib der Sünde abgetan sei, dass wir der Sünde nicht mehr dienen. . .. Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde. Denn was

Er gestorben ist, ist Er ein für allemal der Sünde gestorben; was Er aber lebt, lebt Er Gott. Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christo Jesu“ (Röm. 6, 6. 7. 10. 11). „Denn wir sind Sein Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat, aus dass wir in ihnen wandeln sollen“ (Eph. 2, 10). Das göttliche Leben in einem wiedergeborenen Menschen steht in völliger Übereinstimmung mit dem Willen Gottes; es ist ihm Bedürfnis, diesen Willen zu tun, und deshalb wird es ihm nicht schwer. Bei Christo war dies stets und in vollkommenem Maße der Fall, denn in Ihm war keine Sünde. Da war keine sündige oder eigenwillige Regung, kein Gedanke, der nicht mit dem Willen Seines Gottes und Vaters in völligen: Einklang gestanden hätte; ja, es war Seine Speise, den Willen Seines Vaters zu tun. Unser gesegnetes Vorrecht ist es, durch den Glauben uns der Sünde für tot zu halten und in der Kraft des Heiligen Geistes und des neuen Lebens Ihm nachzufolgen.

Die Liebe zu den Kindern Gottes wird ihrer Natur nach nicht anders können, als sich in derselben Weise tätig zu erweisen, wie die Liebe Gottes sich erwiesen hat. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“ (Joh. 3, 16.) Die Liebe Gottes hat nicht in Worten bestanden, sondern in der Gabe des Besten, das

Er hatte; und zwar gab Er dieses Beste für Seine Feinde, für die Welt. Und nun lässt Er Seine Kinder durch Johannes ermahnen: „Kinder, lasst uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit“ (1. Joh. 3, 18.) „Hieran haben wir die Liebe erkannt, dass Er für uns Sein Leben dargelegt hat; auch wir sind schuldig, für die Brüder das Leben darzulegen. Wer aber der Welt Güter hat und sieht seinen Bruder Mangel leiden und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?“ (1.Joh. 3, 16. 17). „Geliebte, wenn Gott uns also geliebt hat, so sind auch wir schuldig, einander zu lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir einander lieben, so bleibt Gott in uns, und Seine Liebe ist vollendet in uns“ (1. Joh. 4, 11. 12). „Seid nun Nachahmer Gottes als geliebte Kinder, und wandelt in Liebe“ (Eph. 5, 1.) Welch ein weites Feld wird da der Tätigkeit des christlichen Lebens eröffnet! Es umfasst den ganzen Bereich der Liebe Gottes selbst: die Welt, d. h. alle Menschen, und insonderheit den engeren Kreis der Kinder Gottes. ,,Also nun, wie wir Gelegenheit haben, lasst uns das Gute wirken gegen alle, am meisten aber gegen die Hausgenossen des Glaubens“ (Gal. 6, 10).

In 1. Kor. 13 bezeichnet der Apostel den „vortrefflichen Weg“ eines Christen, der des göttlichen Lebens teilhaftig geworden ist. Wir sehen in diesem „Wege“ nichts Geringeres als die Fußstapfen Jesu, des Sohnes Gottes, der als Mensch auf der Erde den Vater auf die vollkommenste Weise unter den Menschen dargestellt hat, so dass Er sagen konnte: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh. 14, 9). Er wird deshalb auch in Kol. 1, 15 „das Bild des unsichtbaren Gottes“ und in Hebr. 1, 3 „der Abglanz Seiner Herrlichkeit und der Abdruck Seines Wesens« genannt. Nun, wie Er, der eingeborene Sohn, den unsichtbaren Gott aus Erden kundgemacht hat (Joh. 1, 18), so sind jetzt die, welche in Ihm Kinder Gottes geworden sind, berufen, durch das Wandeln in Seinen Fußstapfen „die Tugenden Dessen zu verkündigen, der sie berufen hat aus der Finsternis zu Seinem wunderbaren Licht“ (1. Petr. 2, 9). Es ist sehr bemerkenswert, dass dieselben Worte, welche im 1. Kapitel des Evangeliums Johannes ausgesprochen werden in Verbindung mit der Kundmachung des Vaters durch Jesum — „niemand hat Gott je gesehen“ — im 1. Briefe des Johannes in Beziehung zu den Gläubigen gesagt werden. (Vergl. Joh. 1, 18 mit 1. Joh. 4, 12).

Wie wir Jesum, unseren Herrn, auch betrachten mögen, überall tritt uns in Ihm das Bild des Gottes, der „Liebe“ ist, entgegen. Als Er, bevor Er Mensch wurde, als „das Wort“ bei Gott, als „der eingeborene Sohn“ im Schoße des Vaters war, da war „Seine Wonne bei den Menschenkindern“ (Spr. 8, 31): und als in dem Rate der ewigen Liebe die Heilspläne für verlorene Sünder gefasst wurden, da hören wir Ihn sagen: „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun“. Die Liebe zum Vater trieb Ihn, den Willen desselben

auszuführen, und die Liebe zu den Menschenkindern, sich für sie zum Opfer darzubringen. Welch eine Liebe gehörte schon dazu, aus der Herrlichkeit des Himmels herniederzukommen auf diese fluchbeladene Erde und sich selbst zu nichts zu machen, indem Er, der in Gestalt Gottes war, Knechtsgestalt annahm! Aber in welchem Glanze strahlt diese Liebe, wenn Er, beladen mit den Sünden Seiner Feinde und für sie zur Sünde gemacht, auf dem Fluchholz als Sühnopfer das schreckliche Gericht der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes über die Sünde erduldet! Das ist in Wahrheit eine „die Erkenntnis übersteigende Liebe“. Der Apostel bittet für die Gläubigen, dass sie fähig sein möchten, diese Liebe zu erkennen, auf dass sie erfüllt sein möchten zu „der ganzen Fülle Gottes“: auf dass Er euch gebe, nach dem Reichtum Seiner Herrlichkeit mit Kraft gestärkt zu werden durch Seinen Geist an dem inneren Menschen; dass der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne, indem ihr in Liebe gewurzelt und gegründet seid, auf dass ihr völlig zu erfassen vermöget mit allen Heiligen, welches die Breite und Länge und Tiefe und Höhe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, auf dass ihr erfüllt sein möget zu der ganzen Fülle Gottes“ (Eph. 3, 16 — 19).

Das Anschauen der wunderbaren Liebe, die sich da vor dem geöffneten Glaubensauge entfaltet, und das Versenken des Herzens in das unergründliche Meer derselben hat die Wirkung, dass der Gläubige in dasselbe Bild verwandelt wird. (2. Kor. 3, 18.) Das neue Leben, welches Liebe ist, schöpft seine Nahrung aus diesem unerschöpflichen Born und erstarkt dadurch zu einer Entfaltung dem angeschauten Bilde gemäß. Das christliche Leben besteht nicht in dem Erkennen und Bekennen der christlichen Wahrheiten, oder in äußeren Formen und Werken, sondern allein in der Entfaltung der Liebe; nur in der Liebe besteht das eigentliche Leben. Der wahre Glaube „wirkt durch die Liebe“ (Gal. 5, 6). Es gibt einen toten Glauben

(Jak. 2,17), eine tote Erkenntnis, glänzende, aber wertlose christliche Werke. (1. Kor. 13, 1 - 3). Vor Gott

aber kann nur Wert haben, was in Ihm seine Quelle hat: die Liebe. Wie wenig Wert mag wohl, am diesem

Maßstabe gemessen, manches Christenleben haben! Und wenn es in 2. Kor. 5, 15 heißt: „Er ist für alle gestorben, auf dass die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern Dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden“, wie wenig mag dann manches Christenleben dem entsprechen!

Lasst uns unser Leben: unsere Gesinnung und unser Tun und Lassen, oft in diesem Lichte betrachten; lasst uns aber auch nicht vergessen, dass jede wahre Frucht nur in Jesu ihre Quelle hat und nur aus dem Bleiben in Ihm hervorkommen kann! Jede Anstrengung, in einem gesetzlichen Geiste aus uns selbst diese Früchte des neuen Lebens hervorzubringen, wird völlig nutzlos sein; nur in dem Maße wie wir die Liebe Jesu genießen und in ihr ruhen, werden wir auch fähig sein, in Liebe zu wandeln und Ihn darzustellen. Er sagt uns: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun. . . . Hierin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringet, und ihr werdet meine Jünger werden. Gleichwie mich der Vater geliebt hat, habe auch ich euch geliebt; bleibet in meiner Liebe. Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in Seiner Liebe bleibe. Dies habe ich zu euch geredet, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde. Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebet, gleichwie ich euch geliebt habe“ (Joh.15, 5, 8 — 12).

So lasst uns denn immer nahe bei der göttlichen Quelle bleiben, um gesegnete Kanäle des göttlichen Lebens zu sein, zur Verherrlichung des Vaters und unseres geliebten Herrn!

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Gedanken über den 23. Psalm

Bibelstelle: Psalm 23

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 79ff

Der 23. Psalm gleicht einem alten, vertrauten Bekannten; er weckt in manchem Gläubigen Erinnerungen an die Tage der frühesten Jugend. Ereignisse, Stimmen, Gestalten, längst vergangen, treten lebendig und frisch vor die Seele, wenn dieser Psalm gelesen oder betrachtet wird. Man verweilt manchmal gern bei solchen Erinnerungen, und die Erfahrung lehrt, dass die in der Jugend gelernten Lektionen in reiferen Jahren, ja selbst bis ins hohe Alter hinein, am besten behalten werden. Es ist deshalb auch so überaus wichtig, junge Menschen so früh wie möglich in den göttlichen Dingen zu unterweisen.

Freilich scheinen die Bemühungen oft fruchtlos zu sein und die Gebete unbeantwortet zu bleiben; aber Gott kann die Bitten nicht vergessen, die der Glaube vor Ihm ausspricht. Ein Kind mag alles vergessen, was ihm gesagt wird, aber Gott vergisst nichts. Das Gebet des Glaubens ist stets vor Ihm, und oft wirkt Er in den Herzen derer, die wir lieben, zu einer Zeit, da wir es am allerwenigsten erwarten, und gebraucht Mittel, über die wir nur staunen können. Und wenn das Licht Gottes in die Seele fällt, so offenbart es ein langes Sündenleben mit all seinen finsteren Flecken zuweilen in einem Augenblick vor den Augen des zitternden Sünders, während er vielleicht schon in der nächsten Minute die ganze große Schuld durch die Gnade Gottes getilgt sieht mittelst des kostbaren Blutes Christi. Wenn Gott wirkt, wer und was kann Ihn dann hindern?

Der 23. Psalm beginnt mit den herrlichen Worten: „Jehova ist mein Hirte , mir wird nichts mangeln". Das ist sicherlich die Sprache eines Herzens, das mit dem Herrn Selbst erfüllt und beschäftigt ist, mag es Ihn nun als J e h o v a kennen, so wie Er Israel geoffenbart war, oder als Jehova-Jesus, d. h. als Den, der Sein Volk von seinen Sünden errettet. Wer so spricht, ist offenbar ein wahrhaft gottesfürchtiger Mensch, ob Israelit oder Christ; er macht den Herrn zu seinem alleinigen Vertrauen. Seine Seele ruht, mögen die Umstände sein wie sie wollen, auf der nie fehlenden Fürsorge des wohlbekannten Hirten der Schafe und erfreut sich Seiner mannigfaltigen Hilfsquellen, und zwar nicht nur für den gegenwärtigen Augenblick, sondern allezeit, für immer!

Das ist ein kostbarer Glaube, ein Glaube, der Gott ehrt und den Herrn erfreut. Er besteht nicht nur in Worten, sondern offenbart sich in praktischer Wirklichkeit: „J e h o v a ist mein Hirte". Ein solcher Glaube erhebt sich über das, was der Herr gibt, tut oder verheißt, so kostbar das alles auch sein mag. Er ruht auf dem, was Er ist. Wie das Auge Abrahams nicht auf die Verheißungen gerichtet war, als er seine Hand ausstreckte, um seinen Sohn zu schlachten, sondern auf Den, der die Verheißungen gegeben hatte, so ruht hier das Auge des Pilgers auf dem Herrn, und er kann sagen: „Mir wird nichts mangeln". Wenn ein solches Vertrauen das Herz erfüllt, werden Friede und Zuversicht das Leben des Gläubigen kennzeichnen.

Aber wo ist die geheime Quelle eines so gesegneten Zustandes zu finden? Wie kommt es, dass so wenige in ihrem Glaubensleben dieses Maß erreichen? Wer kennt etwas von diesem Frohlocken und diesem Vertrauen auf den Herrn, wie sie sich hier inmitten der Schwierigkeiten der Wüstenwanderung kundgeben? „Jehova ist mein Hirte". - Klingt das auch wie das Frohlocken eines überströmend glücklichen Herzens; „mir wird nichts mangeln" - ist das nicht der Ausdruck eines stillen, felsenfesten Vertrauens?

Wer die tiefen Unterweisungen des 22. Psalms erfasst hat, wird auch den im 23. Psalm beschriebenen Pfad verstehen, ja, er wird sich aufschwingen zu der freudigen Hoffnung der im 24. Psalm beschriebenen Herrlichkeit. Diese drei Psalmen gehören zusammen; aber der 22. muss zuerst verstanden werden. Um die Gnade begreifen zu können, die im 23. den Pfad des Pilgers erleuchtet und der ihn im 24. selbst in der Herrlichkeit ruhen lässt, muss er zuerst die Gnade kennengelernt haben, die uns im 22. aus den Leiden des Christus entgegenstrahlt. Wir müssen im Glauben durch den 22. Psalm gehen, um den 23. zu erreichen, es gibt keinen anderen Zugang zu ihm; ist er aber erreicht, so entdecken wir die Herrlichkeit. Der Christ steht somit im Geiste zwischen den Leiden und der Herrlichkeit, zwischen dem Kreuz und der Krone. Er blickt zurück auf das Kreuz, in dem sich die Gnade in ihrem herrlichsten Glänze entfaltete, und schaut vorwärts auf die Krone. Sünde, Tod und Gericht, Grab, Welt und Satan - alles liegt hinter ihm. „Sieg über jeden Feind", das ist gleichsam der Stempel, der unserem Auferstehungsleben aufgedrückt ist.

Die drei großen Gesichtspunkte, unter welchen der Hirten-Charakter des Herrn Jesus im Neuen Testament betrachtet wird, lehren uns dieselben kostbaren Wahrheiten. Als der „gute Hirte" hat Er zunächst Sein Leben für Seine Schafe gelassen (vergl. Joh. 10; Ps. 22). Als der „große Hirte der Schafe", den Gott wiedergebracht hat aus den Toten, sorgt Er sodann für Seine Herde, während sie „diese große und schreckliche Wüste" durchschreitet (vergl. Heb. 13; Ps. 23). Als der „Erzhirte" schließlich wird Er allen Seinen Hirten die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit geben bei Seiner Erscheinung und bei der Aufrichtung Seines Reiches (vgl. 1. Pet. 5; Ps. 24). Fürwahr, wenn wir den Herrn so kennen, muss unser Vertrauen zu Ihm ohne jeden Schatten und Zweifel sein. Wir erfahren Seine Liebe und Sorge, Seine Macht und Gnade, Seine Güte und Treue auf Schritt und Tritt, und da Er Selbst die Wüste durchpilgert hat, kennt Er auch alle Gefahren und Schwierigkeiten des Weges.

Auch die Gelegenheit, bei welcher unser hochgelobter Herr diesen Platz der Sorge und der Verantwortlichkeit im Blick auf Seine Herde zum ersten mal einnahm, ist beachtenswert. Im 8. Kapitel des Evangeliums nach Johannes wird Er als das Licht und die Wahrheit, im 9. Kapitel in Seinem Werk verworfen. So in Seiner Person und in Seinem Werk verworfen, nimmt Er im 10. Kapitel außerhalb des jüdischen Schafhofs förmlich Seinen Platz als „der gute Hirte" ein, um fortan „die Armen der Herde" um Sich Selbst als den neuen Mittel- und Sammelpunkt zu vereinigen; „Sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde" - nicht mehr ein „Schafhof" - „ein Hirte sein". Sie sind eine „kleine Herde" außerhalb des jüdischen Schafhofs, - zwar aus der Synagoge hinausgeworfen (Kap. 9), aber im Besitz aller Segnungen in Ihm, dem Sohne Gottes. Alles mag gegen sie sein, aber Sein Wort versichert sie eines gegenwärtigen Heils und einer seligen Freiheit. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: ... Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich eingeht, so wird er errettet werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden". Wie grundlegend unterscheidet sich das von den engen Grenzen des Judentums, der Stätte der Knechtschaft! Die Schaf lein Jesu besitzen die volle Gewissheit ihrer Errettung und nähren sich in Frieden auf den grünen Auen, wo ihr guter Hirte sie lagert. Auch können sie - in einem anderen Sinne - voll Zuversicht „eingehen" in das Heiligtum der Gegenwart Gottes und dort in Frieden anbeten und „ausgehen" zum Dienst der Liebe an einer armen, sündigen Welt.

Aber die Gnade ist noch überschwänglicher; sie übersteigt alle Begriffe. Das Herz des Herrn strömt über von tiefer, inniger Teilnahme und zärtlicher Sorge für die, welche alles verlassen haben und nun Ihm nachfolgen, die Seine Verwerfung mit Ihm teilen; oder, wie der Schreiber des Hebräerbriefes es ausdrückt, „die zu ihm hinausgehen außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend". Für solche gilt: Er geht vor ihnen her, und sie folgen Ihm, weil sie Seine Stimme kennen. „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus der Hand meine. Vaters rauben. Ich und der Vater sind eins". Diese Worte wird mit besonderem Interesse lesen, wer die Umstände in Betracht zieht, unter welchen sie zum ersten mal gesprochen wurden, oder wer sich gar selbst in ähnlichen Umständen befindet wie der Herr damals.

Hiergegen könnte eingewandt werden, dass David, der Schreiber dieses Psalms, lange vor der Erniedrigung und dem Kreuzestode Christus gelebt hat und daher doch unmöglich etwas von diesen Geschehnissen gewusst haben kann. Das ist an sich richtig; dennoch wusste er, was es heißt, von Menschen verworfen und ganz allein auf Gott angewiesen zu sein, selbst nachdem er schon der Gesalbte Jehovas war. David und seine Gefährten in der „Höhle Adullam" stellen vorbildlich sicher Christum und die um Ihn gescharten Gläubigen dar. Auch steht außer Zweifel, dass „der Geist Christi" David beim Niederschreiben des Psalms jene Fassung vermittelt hat, die eine Anwendung des Inhalts sowohl auf Juden wie auch auf Christen zulässt als wahrheitsgetreuen Ausdruck der Erfahrungen beider auf dem Wege des Glaubens.

Die jüdische Religion war am Platze und hatte ihre Zeit vor dem Kreuze, das Christentum fand beides nach dem Kreuze. Das macht den ganzen Unterschied aus. Wir kennen jetzt nicht mehr einen Messias nach dem Fleische, sondern einen auferstandenen Christus in der himmlischen Herrlichkeit und dort sind wir mit Ihm vereinigt. Das Judentum war seinem Wesen nach irdisch; es besaß von Gott gegebene „Satzungen des Dienstes" und ein weltliches Heiligtum". Das Christentum ist himmlisch. Die Christen sind in Christo mitversetzt in die himmlischen Örter. Unser Platz als Zeugen des Christus ist außerhalb des Lagers, als Anbeter innerhalb des Vorhangs. Und es ist unser seliges Vorrecht, von diesem himmlischen Standpunkt aus im vollen Lichte der evangelischen Wahrheit über die Erfahrungen zu sinnen, denen in diesem kostbaren Psalm Ausdruck gegeben wird.

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Kommet her frühstücket

Bibelstelle: Johannes 21,12

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 85ff

Wenn wir das Leben des Herrn Jesu betrachten, wie es uns durch den Heiligen Geist in den Evangelien mitgeteilt wird, so erfreut es das Herz, zu sehen, dass sich die Gefühle Seines Herzens den Seinen gegenüber nach Seiner Auferstehung in keiner Weise verändert haben. Dieselbe Liebe und treue Fürsorge, die Er vor Seinem Tode geoffenbart hatte, erblicken wir auch nachher.

In dem letzten Kapitel seines Evangeliums berichtet uns Johannes, dass mehrere der Jünger des Herrn beieinander waren, und dass Petrus den übrigen sein Vorhaben zu erkennen gab, sein früheres Gewerbe wieder aufzunehmen. Ohne Zweifel beeinflusst durch diese Mitteilung, -- denn Petrus nahm einen besonderen Platz unter seinen Mitjüngern ein, sein Wort galt etwas, — erklärten sich die Anderen bereit, mit ihm zu gehen. unmittelbar darauf finden wir sie im Schiff auf dem See von Tiberias, aber dann lesen wir: „in jener Nacht fingen sie nichts“. Ehe wir hierüber reden, lasst uns zunächst einen Blick auf das Verhalten der .Jünger werfen, eingedenk des Wortes, dass alles, was zuvor geschrieben, zu unserer Belehrung geschrieben ist (Röm. 15, 4).

Das Fischergewerbe war an und für sich eine durchaus ehrliche und erlaubte Beschäftigung; denn Gott hat auch die Fische den Menschen zur Speise gegeben. (1. Mose 9, 2.) Allein das Erlaubtsein einer Sache ermächtigt mich noch keineswegs, sie zu tun, Die Frage ist: Was will der Herr? Der Herr aber hatte die Jünger berufen, ihr Handwerk niederzulegen und Ihm nachzufolgen; sie sollten „Menschenfischer“ werden. Seinem Rufe Gehör gebend, hatten sie auch „alsbald“ ihre Netze und Schiffe, ja, wie bei den Söhnen Zebedäi, selbst ihre nächsten Verwandten verlassen (Mark. 1, 16 - 20.) Sie hatten es mit Recht als eine besondere Gnade und als ein kostbares Vorrecht betrachtet, das tun zu dürfen. Nun aber scheinen sie alles vergessen zu haben und kehren zu dem zurück, was sie einst bereitwillig verlassen hatten. Das konnte unmöglich der Weg des Herrn für sie sein. Und hätte Er ihr Vorhaben ihrem Wunsche gemäß gelingen lassen, wer weiß, wo sie geendet haben würden? Petrus war in diesem Falle der Hauptschuldige, denn er hatte die erste Veranlassung zu dem verkehrten Verhalten Aller gegeben. Wie ernst und beachtenswert ist dies auch für uns! Wie leicht können wir durch unser Verhalten unseren Brüdern zum Schaden gereichen, und vor allem dann, wenn wir durch Gaben oder Fähigkeiten, oder vielleicht auch durch unsere äußere Stellung, Einfluss auf Andere auszuüben vermögen! Paulus ist hierin ein schönes Vorbild für uns. Er konnte sagen: „Seid zusammen meine Nachahmer, Brüder“, und: „Was ihr gelernt und empfangen und gehört und an mir gesehen habt, dieses tut, und der Gott des Friedens wird mit euch sein“. (Phil. 3, 17; 4, 9).

Aber, möchte gefragt werden, wurde das Verhalten der Jünger nicht in etwa durch die Umstände gerechtfertigt? Allerdings schienen die Umstände einen lohnenden Erfolg ihrer Arbeit zu versprechen. Die Jünger waren in dem Fischergewerbe wohl unterrichtet und besaßen langjährige praktische Erfahrungen in demselben. Es fehlte ihnen auch nicht an den nötigen Gerätschaften: Schiff, Netze, alles war vorhanden; dazu war der See, der heute noch wegen seines Fischreichtums bekannt ist, mit großen, prächtigen Fischen gefüllt. Alles schien also durchaus günstig für sie zu sein. Nur eins fehlte, und zwar gerade das Wichtigste: der Herr hatte ihnen nicht geboten, fischen zu gehen, und darum fehlte Sein Segen zu ihrer Arbeit. Derselbe Herr, auf dessen Geheiß einst der Fisch mit dem Stater in die von Petrus ausgeworfene Angel beißen musste (Matth. 17, 27), ließ es jetzt nicht zu, dass die Fische in das Netz der Jünger gingen.

Sie mühten sich umsonst ab: „in jener Nacht fingen sie nichts“. Warum wohl? Hatte der Herr sie nicht lieb? Sicherlich! Betrachten wir Ihn nur, wie Er in früher Morgenstunde am Ufer steht, ihren vergeblichen Bemühungen zusieht, und wie Er sie dann mit dem zärtlichen Zuruf anredet: „Kindlein! habt ihr wohl etwas

zu essen?“ Fürwahr, herzlicher und teilnehmender hätte Er sich nicht ausdrücken können; und doch, — wie treu ist Seine Liebe! — nichts hätte andererseits ihre verkehrte Stellung und Handlungsweise deutlicher ans Licht zu stellen vermocht, wie gerade diese wenigen Worte. Bei all ihrer Mühe die ganze Nacht hindurch hatten sie doch nichts zu essen! Völliges Misslingen war das Ergebnis ihres vielversprechenden Unternehmens. Und hätte es anderssein können? Nein; sie waren ja ihre eigenen Wege gegangen, und der Herr in Seiner Treue musste ihnen entgegentreten. Es würde nur zu ernstem Schaden für sie gewesen sein, wenn sie auf diesem selbstgewählten Wege Erfolg gehabt hätten. Welch eine Gnade, dass der Herr so freundlich über sie wachte und ihnen so treu wieder zurechthalf! Zwar konnte Er ihre Arbeit nicht segnen, aber Er kam zu ihnen, sah mit innigem Mitgefühl ihren vergeblichen Anstrengungen zu und redete dann mit ihnen.

Die Erfahrungen, welche die Jünger hier am See von Tiberias machten, sind sehr beachtenswert für uns. Wie leicht können auch wir, durch die Umstände verleitet, einen Weg einschlagen, auf welchem der Herr nicht mit uns sein kann, oder ein Ziel ins Auge fassen, das Er uns nicht gesteckt hat! Wir verlassen dann den Platz, der uns gebührt, und Maßen uns Rechte an, die uns nicht zukommen. Denn wir sind nicht mehr unser selbst, sondern gehören Ihm an; Er hat uns teuer erkauft, und wir sind geheiligt „zum Gehorsam Jesu Christi“, d. h. abgesondert und berufen, so zu gehorchen, wie Er gehorcht hat. Er selbst ist das Vorbild für unseren Wandel. Und Sein Gehorsam war allezeit vollkommen, Seine Abhängigkeit vom Vater stets dieselbe, wiewohl Sein Weg voll von Kummer und Leiden war und Ihn endlich in den bittersten Tod führte. „Er ward gehorsam bis zum Tode, ja, zum Tode am Kreuze“ Aber „darum hat Gott Ihn auch hoch erhoben und Ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist“ (Phil. 2, 8. 9.) Und uns wird gesagt: „Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu war“. Der Herr gebe uns, das; wir stets begehren,

in Seinen Fußstapfen zu wandeln und nur Seinen Willen· zu tun!

Allerdings kann es für uns mitunter schwierig sein, den Willen des Herrn klar zu erkennen. Doch wir werden ermahnt, zu prüfen, „was der gute und wohlgefälIige und vollkommene Wille Gottes ist«. (Röm. 12, 2.) Auch kennen wir alle die ermunternden Worte: „Wenn aber jemandem von euch Weisheit mangelt, so bitte er von Gott, der allen willig gibt und nichts vorwirft, und sie wird ihm gegeben werden“ (Jak. 1, 5). Um den Willen des Herrn erkennen zu können, ist es vor allem wichtig, die Beweggründe zu prüfen, die uns bei unserem Tun leiten. Trachten wir z. B. danach, in dieser Welt etwas zu werden, unser Ansehen oder unser Vermögen zu mehren, so sind wir irdisch gesinnt. Die Gesinnung unseres Herrn, mit dem wir in Seinem Tode eins gemacht und von der Welt getrennt worden sind, ist dann nicht in uns. Denn Er suchte niemals Seine eigene Ehre; und wiewohl Er Herr von allem war, hatte Er doch hienieden nicht, wohin Er Sein Haupt legen sollte. Und Paulus, der treue Nachfolger des Herrn, sagt: „Wenn wir aber Nahrung und Bedeckung haben, so wollen wir uns daran genügen lassen. Die aber reich werden wollen, fallen in Versuchung und Fallstricke und in viele unvernünftige und schädliche Lüste, welche die Menschen versenken in Verderben und Untergang“ (1. Tim. 6, 8. 9).

„Die aber reich werden wollen“ —— das ist eine Gefahr von vielen, und sie ist, wie wir alle wissen, gerade in unseren Tagen besonders ernst. Eigenwille und Mangel an Unterwürfigkeit bilden eine zweite große Gefahr, Eitelkeit und Hochmut eine dritte, Hang zur Bequemlichkeit eine vierte u. s. w. Alle diese Dinge stehen uns oft im Wege und hindern uns, den Willen des Herrn zu erkennen. Darum ist es eine zwingende Notwendigkeit, uns ehrlich zu prüfen, was uns leitet; und ist unser Herz wahr und unser Wunsch aufrichtig, so wird der Herr uns sicherlich antworten und uns das Begehren unseres Herzens geben. Lasst uns aber vor allem nicht vergessen, dass die Dinge dieser Welt für die sind, welche der Welt angehören, die himmlischen Dinge für die, deren Bürgertum in den Himmeln ist.

Die Erfahrungen der Jünger in jener Nacht waren also sehr entmutigend; und es war gut so. Ganz anders

gestalteten sich die Dinge, als sie auf das Geheiß des Herrn ihr Netz, auswarfen. Wie oft mochten sie im

Laufe der Nacht das Netz vergeblich ausgeworfen haben! Jetzt aber, als sie es auf Sein Wort „auf der rechten Seite des Schiffes« ( also auch so, wie Er ihnen befohlen hatte) auswarfen, vermochten sie es vor der Menge der Fische nicht mehr zu ziehen. O welch ein Herr ist unser Jesus! wie voll von Liebe, Macht und Weisheit! Wahrlich, über alles gesegnet ist der Weg dessen, der im Gehorsam mit Ihm wandelt. — Aber ist das allezeit unser Weg, geliebter Leser?

Der überaus reiche Fischfang bringt die Jünger zur Besinnung, und sie sangen an, sich ihres für einen Augenblick vergessenen Herrn zu erinnern. Der, welcher während des Wandelns Jesu hienieden immer am nächsten bei Ihm gewesen war, „der Jüngers, den Jesus liebte“, erkennt Ihn zuerst. Petrus (der den Herrn auch aufrichtig liebte, aber oft durch seine Natur beeinflusst und irregeleitet wurde,) wirft sich, sobald er hört, dass es der Herr sei, in den See, umso schneller als die Anderen zu Ihm zu kommen. Wie am Tage vorher, so ist er auch jetzt wieder der, welcher den Anderen vorausgeht, diesmal aber in einer gesegneten Weise. Anstatt von dem Herrn ab, führt er sie jetzt dem Herrn zu. Wie grundverschieden ist doch das Verhalten des Gläubigen, wenn er den Herrn zum Gegenstande hat, oder wenn er durch das Fleisch geleitet wird; und gerade so verschieden sind auch die Wirkungen seines Verhaltens auf Andere. Als die Jünger ans Land gestiegen waren, wurde ihnen eine neue Überraschung zu teil. Der Herr tut immer ein vollständiges Werk; und wer könnte unterweisen wie Er? Sie sehen ein Kohlenfeuer, und auf demselben liegen Fische und Brot. (V. 9.) So finden sie gleichsam einen gedeckten Tisch und werden vom Herrn selbst eingeladen, näher zu treten und die für sie bereiteten Speisen zu genießen. „Kommt her, frühstücket!“ Ja, als sie bestürzt zur Seite stehen und nicht recht wagen, Seiner Aufforderung Folge zu leisten, „kommt Er und nimmt das Brot und gibt es ihnen, und gleicherweise den Fisch“ (V. 13). Er selbst bedient sie. *) Wohl fordert Er sie auf, von den Fischen, die sie gefangen hatten, herbeizubringen; aber sie bedurften ihrer nicht, Er hatte reichlich für sie gesorgt.

Der Herr beabsichtigte gewiss zunächst, Seinen Jüngern eine Belehrung hinsichtlich des ihnen aufgetragenen Dienstes zu geben; aber in Seinem wunderbaren Tun liegen noch andere kostbare Lehren, sowohl für die Jünger als auch für uns. Der Tisch war den Jüngern gedeckt ohne irgendwelche Bemühung ihrerseits. „Kommt her, frühstücket!“ Alles war bereit. Ja, Er war besorgt gewesen für sie, obschon sie nicht an Ihn gedacht und ihre Kräfte in eigenem Sorgen erschöpft hatten. So sagt der Herr auch zu uns: „Seid nicht besorgt für das Leben, was ihr essen, noch für den Leib, was ihr anziehen sollt“ (Luk. 12, 22). Er weist uns hin auf die Raben, welche Gott ernährt, und auf die Lilien des Feldes, die Er so prächtig kleidet; und doch haben sie alle miteinander nicht so viel Wert für Gott wie eine einzige Menschenseele. „Wenn aber Gott das Gras, das heute auf dem Felde ist und morgen in den Ofen geworfen wird, also kleidet, wieviel mehr euch, Kleingläubige!“ (V. 23 — 28).

Welch ein gesegnetes Vorrecht ist es für uns, alles, was wir nötig haben, ans der Hand unseres liebenden

Gottes und Vaters zu erhalten, von Ihm, der verheißen hat, uns nie zu versäumen noch zu verlassen! Wieviel sicherer ist es, sich auf Ihn zu stützen, als auf irgend etwas Sichtbares oder Greifbares! Mag Gott auch vielfach das von uns Erworbene zu unserer Ernährung und Erhaltung benutzen, so hat Er es doch keineswegs nötig. Er handelt nach Seiner Liebe und Weisheit, ganz wie es Ihm gefällt. Zu Elias am Bache Krith sagte Er: „Den Raben habe ich geboten, dich daselbst zu versorgen“ (1. Kön. 17, 4): und nachher gebot Er einer ganz armen, schwachen Witwe, Seinen Knecht zu ernähren. So handelt Gott; und was wollen wir tun? Zuschauen und anbeten!

Doch noch eins. Wenn wir durch den Glauben verwirklichen, dass wir alles aus Seiner Hand empfangen,

so macht uns das von Herzen dankbar. Aber ach! wie oft vergessen wir schon heute das, was uns gestern

noch kostbar und wichtig erschien! Wie ist unser Gedächtnis so gar kurz, besonders dann wenn es sich um empfangene Liebesbeweise handelt! Und da nun unsere Dankgebete sich bei jeder Mahlzeit wiederholen und immer denselben Zweck und Gegenstand haben, so ist die Gefahr groß, dass sie nach und nach zu einer bloßen Form, zu einer kalten, wertlosen Gewohnheit herabsinken. Das ist aber ein schlimmes, in seinen Folgen höchst verderbliches Übel, und der Herr wolle uns in Gnaden vor dieser Schlinge Satans bewahren!

Andererseits dürfen wir aus dem oben Gesagten nicht den Schluss ziehen, dass wir, da Gott ja für uns sorge, überhaupt nicht mehr nötig hätten zu arbeiten. Das wäre wiederum ganz verkehrt und dem Worte Gottes. zuwider, welches ausdrücklich erklärt: „Wenn jemand nicht arbeiten will, so soll er auch nicht essen“ (2. Thess. 3, 10).. Auch sind die Gläubiger: berufen, als Knechte ihres Herrn das ihnen anvertraute Gut für Ihn zu verwalten, gleichviel ob solches Gut in natürlichen Fähigkeiten und irdischen Gütern, oder in geistlichen Gnadengaben besteht. (Lies Matth. 25, 14 — 30.) Wir sind Verwalter der mancherlei Gnade Gottes; wir sollen einander damit dienen, und „an den Verwaltern sucht man hier, dass einer treu erfunden werde“ (Vergl. 1. Petr. 4, 10; 1. Korinther 4, 2.) Auch wissen wir, wie schädlich der Müßiggang für jeden Menschen ist; das weltbekannte Sprichwort: „Müßiggang ist aller Laster Anfang“, hat sich auch schon an manchem Gläubigen in erschreckender Weise bewahrheitet. Der allweise Gott hat es gnädiglich so eingerichtet, dass der Mensch in seinem gefallenen Zustande von früh bis spät Beschäftigung haben soll. Wie würde es in der Welt aussehen, wenn es nicht so wäre?

Aber so groß auch der Segen der Arbeit ist, bleibt es doch andererseits wahr, dass „jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk von oben herabkommt“ (Jak. 1, 17). An Gottes Segen ist alles gelegen, und

eine Arbeit nach eigenen Gedanken und in eigener Kraft muss früher oder später mit einem Misslingen enden. So sagt auch Paulus: „Denn für dieses arbeiten wir und werden geschmäht, weil wir auf einen lebendigen Gott hoffen, der ein Erhalter aller Menschen ist, besonders der Gläubigen“. (1. Tim. 4, 10). Möchten wir deshalb stets in Abhängigkeit von Ihm auf Seinen Wegen wandeln! Nur dann sind unsere Herzen wahrhaft glücklich; wir sind da, wo Er uns haben will, und tun das, was Er uns aufgetragen hat. Nur dann können wir auch auf einen gesegneten Erfolg unserer Arbeit rechnen. Wir sind in Frieden, wir genießen Seine Gegenwart, und wir arbeiten mit Ihm und für Ihn. Alles, was wir bedürfen, erwarten wir von Ihm, und mit dankbarem Herzen empfangen wir es aus Seiner Hand; wir erfahren, dass Er heute noch derselbe ist in Seiner Liebe und Macht, der Er einst war am See von Tiberias.

Fußnote:

*) Es ist nicht meine Absicht, hier auf die vorbildliche Bedeutung dieses Abschnittes im Blick auf das Tausendjährige Reich einzugehen; ich möchte nur die praktische Seite hervorheben.

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Gedanken über den 23. Psalm

Bibelstelle: Psalm 23

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 94ff

„Er lagert mich auf grünen Auen, er führt mich zu stillen Wassern" (V. 2). Das gläubige Erkennen, dass Jesus der gute und große Hirte Seiner Herde ist, bewirkt Ruhe der Seele in Ihm und einen stillen, friedlichen Genuss Seiner Liebe und Gnade. I h n zu erkennen ist ewiges Leben; Sein Werk zu erkennen, ist vollkommener Friede. „Er lagert mich". In diesen Worten liegt der Gedanke an eine völlige, erquickende Ruhe, an ein ungestörtes Ausruhen unter Seiner Hut. Das ist es, was der gute Hirte für Seine Schäflein bereitet, wohin Er sie zu leiten sucht; ob sie sich allezeit dahin leiten lassen, ist eine andere Frage. Wir wissen aus Erfahrung, dass es leider nicht immer der Fall ist. Wir wandern oft auf Gefilden umher, die keine gesunde Nahrung darbieten, und wenden uns zu unruhigen, trüben Wassern. Woher kommt das? Die äußeren Anlässe mögen verschieden sein, aber die inneren Ursachen sind wohl in den meisten Fällen Unglaube und die Beschäftigung mit dem eigenen Ich oder mit den Umständen. Der gute Hirte möchte alle Seine Schafe, auch die schwächsten Lämmlein, frei sehen von aller Unruhe und Sorge. Seine Liebe, die an alles denkt und für alles sorgt, genügt auch für alles. Er Selbst hat es auf Sich genommen, voll und ganz für alle zu sorgen, die Ihm folgen. Wir haben nur auf Ihn zu blicken und Seiner nie wankenden Treue und Fürsorge alles zu überlassen. „Mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten", und: „Ich werde dich nicht versäumen und dich nicht verlassen" - so lauten Seine eigenen Worte. Darum kann es Seinen Schafen an nichts mangeln. Sie mögen auf ihren Wüstenwanderungen oft schwer geprüft werden und zuweilen nahe daran sein, erschöpft niederzusinken oder wegen des langen, rauen Weges mutlos zu werden; dennoch lasst uns nicht vergessen: des Herrn treues Sorgen hört niemals auf, wir dürfen stets mit Ihm rechnen und mit dem, was wir in Ihm besitzen. Er ist allezeit, bis ans Ende unseres Weges, mit uns, selbst wenn es scheinen sollte, als hätte Er uns vergessen. Wir dürfen still und getrost in Ihm ruhen. Ja, Er lagert uns auf „grünen Auen", inmitten eines reichen Überflusses in der Fülle Seiner Gnade, und Er führt uns zu stillen Wassern, wo wir in Frieden unseren Durst löschen können. Wir singen mit Recht:

Du führest mich

Auf fette, grüne Weiden.

Hier blühen mir des Geistes reinste Freuden,

Und meine Seele sättigt sich.

Du tränkest mich,

Wenn Hitz' und Durst mich schwächen,

Aus frischem Quell, aus klaren Lebensbächen;

Und meine Seel' erschöpft sie nicht.

Frieden, Überfluss und Sicherheit kennzeichnen das Teil der geliebten Herde des Herrn. „Sie werden nicht mehr hungern, auch werden sie nicht mehr dürsten, noch wird je die Sonne auf sie fallen, noch irgend eine Glut; denn das Lamm, das in der Mitte des Thrones ist, wird sie weiden und sie leiten zu Quellen der Wasser des Lebens, und Gott wird jede Träne abwischen von ihren Augen". Diese herrliche Stelle, die in so rührender Weise die Freude des Herrn an dem erlösten Überrest aus den Nationen zum Ausdruck bringt, wird im Tausendjährigen Reich buchstäblich erfüllt werden an allen, die sich dem „König der Herrlichkeit" im Glauben unterwerfen werden (vgl. Jesaja 49 mit Offenbarung 7). Aber sie ist in geistlichem Sinne auch heute schon wahr von jedem Schäflein der so hoch begnadigten Herde des Christus. Die Frage ist nur: Inwieweit verwirklichen unsere Seelen diese kostbare Wahrheit; inwieweit kennen wir sie aus Erfahrung? Man kann sie nur durch das Wort Gottes kennen und im Herzen genießen nur durch den Glauben. „Denn wir wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen". Unsere Ruhe und unsere Segnungen sind nicht natürlich und irdisch, sondern geistlich und himmlisch.

So erkennen wir, dass das Maß unserer Segnung unbegrenzt ist; es ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, des Herrn eigenes Maß. Er sagte einst zu der Frau am Jakobsbrunnen: „Jeden, der von diesem Wasser trinkt, wird wiederum dürsten; wer irgend aber von dem Wasser trinken wird, das i c h ihm geben werde, den wird nicht dürsten in Ewigkeit". Die tiefste Quelle, der reichste Born menschlichen Segens kann unerwartet schnell versiegen; ehe man sich's versieht, hat er sich trocken gelaufen; aber die „lebendigen Wasserquellen" haben ihren Ursprung in dem Herzen Gottes, das nach jeder Seite hin unerschöpflich reich ist und niemals trügt.

Bei einer anderen Gelegenheit sagte der Herr Jesus: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird nimmermehr dürsten" (Joh. 6,35). Aber noch mehr: So wie der fremde Zweig, der in den Ölbaum eingepfropft wird, der Fettigkeit des Baumes teilhaftig wird oder wie die Glieder des Leibes von dem Haupte aus bedient und ernährt werden, so sind wir in lebendiger Weise mit Christus verbunden und nähren uns von Ihm. Ja, wir lesen in 1. Joh. 4,17, „dass, gleichwie er ist, auch wir sind in dieser Welt".

Doch es geht hier nicht darum, dass wir uns von dem Lamme nähren oder uns an Ihm weiden, als vielmehr, dass das Lamm uns weidet: „das Lamm, das in der Mitte des Thrones ist, wird sie weiden". An sich freilich ist beides wahr. Derselbe gute Hirte, der Sein Leben für die Schafe einsetzte und sie in Seinem Blute von ihren Sünden reinwusch, leitet und hütet sie jetzt mit Seiner eigenen Hand. Welch eine Gnade, dass wir uns auf unserer Wüstenreise beschützt und geweidet wissen durch dieselbe Hand, die um unserer Sünden willen durchbohrt wurde! Dieses Bewusstsein muss unsere Herzen mit einem tiefen, unerschütterlichen Vertrauen zu unserem Hirten erfüllen, mögen die Prüfungen und Schwierigkeiten des Weges so groß und mannigfaltig sein, wie sie wollen.

Überaus wichtig für uns ist, den Herrn Jesus zu kennen, zu wissen, was wir für Ihn sind und was Er für uns ist. Was hat Er getan, um Seine Liebe zu uns zu offenbaren? Als wir alles - Glück, Ruhe, Frieden, Unschuld, ja, Gott Selbst - verloren hatten, hat Er uns zu Gott zurückgeführt und der Seele Gott gleichsam wiedergeschenkt. Welch ein Gedanke ist das! Gott, der lebendige Gott, die einzige Quelle des Lebens und des Glücks für die Seele, der Gott, der Licht und Liebe ist, dieser Gott ist der Seele wieder nahegebracht und die Seele zu Gott zurückgeführt worden. Welch eine wunderbare Versöhnung hat Jesus zustande gebracht! Aber es ging nicht etwa darum, dass Gott mit uns hätte versöhnt werden müssen, nein, Gott war niemals des Menschen Feind; im Gegenteil, Er hat uns, als wir noch unreine Sünder waren, so geliebt, dass Er Seinen Sohn für uns in den Tod gab. Auch sagt die Schrift (2. Kor. 5,19), „dass Gott in Christo war, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend". Nichts war notwendig, um Gottes Herz uns zuzuwenden, um Ihn uns geneigt zu machen. Nein - Sein Name sei ewig dafür gepriesen! - Er hat uns geliebt, als wir noch Feinde und Gottlose waren. Aber das Kreuz war erforderlich, damit Gott Sühnung zuteil werde und uns Versöhnung; denn wir alle waren einst „entfremdet und Feinde nach der Gesinnung in den bösen Werken" (Kol. 1. 21). Aber die Liebe hat in dem Kreuze ihre herrlichsten Triumphe gefeiert; denn durch das Kreuz ist auf gerechter Grundlage eine vollkommene Versöhnung zuwege gebracht worden. Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf dass er uns zu Gott führe, getötet nach dem Fleische, aber lebendig gemacht nach dem Geiste" (1. Petrus 3,18).

„Er erquickt meine Seele; er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen" (V. 3). Obgleich wir unter der treuen Sorge und dem wachsamen Auge des guten Hirten stehen, müssen wir durch eine Welt gehen, in der uns viele und mächtige Gegner umringen und uns den Pfad versperren. „Der Gott dieser Welt" hasst uns; denn er weiß sehr wohl, dass dereinst, wenn er im „Abgrund" gebunden sein wird, wir uns in der vollen Freiheit der Herrlichkeit bei Christo befinden werden. Es ist ihm deshalb auch kein Buch der Bibel so zuwider, wie die „Offenbarung". So versucht er dann auch auf alle mögliche Weise zu verhindern, dass dieses Buch gelesen wird; denn es sagt seine völlige Niederwerfung am Ende der Tage voraus und redet in klaren, nicht misszuverstehenden Worten von seiner ewigen Qual. Das aber möchte er vor den Augen der Menschen verbergen, und leider ist es ihm auch geglückt, ihre Aufmerksamkeit jahrhundertelang von diesem Buche abzulenken, indem er die Meinung suggerierte, es sei unverständlich, mit sieben Siegeln verschlossen und es lohne sich nicht, dieses Buch zu lesen. Und doch hat der Herr gerade mit dem Erforschen dieses Buches eine besondere Segnung verknüpft: „Glückselig der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und bewahren was in ihr geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe" (Kap. 1. 3). Die richterlichen Wege und Handlungen Gottes nicht nur mit Satan, der Quelle alles Bösen, sondern auch mit den Juden, mit den Heiden und der untreuen Kirche werden in diesem Buche vor unseren staunenden Blicken entwickelt. Der Herr zeigt uns, wie Er mit ihnen allen abrechnen wird. Solange diese Gerichte nicht vollzogen sind, kann von der Aufrichtung des Tausendjährigen Reiches keine Rede sein. Denn „sollte mit dir vereint sein der Thron des Verderbens, der aus Frevel eine Satzung macht" (Psalm 94,20)?

Andere Bücher belehren uns über den „Verfall" jener vorstehend erwähnten drei großen Abteilungen oder Klassen von Menschen. Das Buch der Offenbarung berichtet uns über ihr Ende oder ihre Beseitigung als verantwortliche Zeugen Gottes auf der Erde. Es zeigt uns aber auch, wie der Herr Jesus Selbst den Platz des treuen und wahrhaftigen Zeugen einnimmt, nachdem alle anderen gefehlt haben, und wie Er alle Dinge auf einer neuen Grundlage wiederherstellt, damit Gott da, wo Er so schrecklich verunehrt worden ist, dann völlig verherrlicht wird. Er wird „der treue Zeuge, der Erstgeborene der Toten und der Fürst der Könige der Erde" genannt (Kap 1. 5), und von Ihm heißt es: „Dieses sagt der Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes" (Kap 3,14).

Doch wir können noch nicht in der Sprache des 24. Psalms, der uns unmittelbar ins Tausendjährige Reich versetzt, sagen: „Jehovas ist die Erde und ihre fülle, der Erdkreis und die darauf wohnen". Nein, wir stehen noch auf dem Boden des 23. Psalms, als die schwachen Schäflein Christi, und Satan ist noch der Gott und Fürst dieser Welt, „der Fürst der Gewalt der Luft, des Geistes, der jetzt wirksam ist in den Söhnen des Ungehorsams". Daher die vielen Prüfungen und Leiden auf dem Wege, und daher auch unser Bedürfnis für die erquickende und wiederherstellende Gnade des Herrn. Satan tut alles, was in seiner Macht steht, um die Schafe Christi zu erschrecken und zu schädigen, während sie sein Gebiet durchschreiten. Er legt Schlingen vor ihre Füße, stellt ihnen Fallen und Hinterhalte, wirft Anstöße in ihren Weg, erweckt Hass und Verfolgung oder - und das ist eine seiner schlimmsten Listen - er versieht die Dinge dieser Welt mit einem besonderen, goldenen Schimmer und sucht auf diese Weise das Auge der Schäflein von dem guten Hirten abzulenken. Der Feind weiß sehr wohl, dass alle seine Fallstricke und Lockungen erfolglos sind, solange die Schafe sich nahe hinter ihrem Hirten halten; denn dieser geht vor der Herde her und räumt jede Gefahr oder Schwierigkeit aus dem Weg, so dass kein Übel die Herde erreichen kann. Alle Schwierigkeiten zerrinnen vor Ihm in nichts, und alle Feinde sind machtlos Ihm gegenüber. Darum heißt die über alles wichtige Lektion, die wir in der Wüste zu lernen haben: völlige Abhängigkeit von dem Herrn.

Als Israel die Tiefen des Roten Meeres wohlbehalten durchschritten hatte und nun als das erlöste Volk des Herrn am Rand der Wüste stand, war seine Erlösung vollständig, aber Kanaan war noch nicht erreicht. Die Wüste mit all ihren Versuchungen und Schwierigkeiten lag noch zwischen dem Volk und dem gelobten Land, und der Herr hatte sie vieles auf diesem Wege zu lehren. Doch vergessen wir nicht, ehe sie berufen wurden, diese neue Art von Erfahrungen zu machen, hatte Gott Sich ihnen in Seiner Gnade und Macht als der große, erhabene „Ich bin" geoffenbart. In ihrer glorreichen Befreiung aus Ägypten hatte Er in reiner, unvermischter Gnade für sie gehandelt mittels des Blutes des Lammes; Gnade ohne irgendwelche Vorwürfe war ihnen zuteil geworden, und so hätten sie Ihn als würdig ihres ganzen Vertrauens kennen und anerkennen sollen.

Es ist kennzeichnend für die Wüste, dass Israel als erstes eine Schwierigkeit begegnet. „In welcher Richtung liegt unser Weg nach Kanaan"? so mochten sie wohl einander fragen; denn Wege waren nicht zu sehen; nur ein ödes pfadloses Sandmeer lag vor ihnen. Was war zu tun? Das was sie zuvor hatten tun müssen und was die Erlösten des Herrn allezeit tun sollten: nach oben blicken. Richteten sie ihr Auge empor, so schauten sie Jehova Selbst, den wahren Hirten Israels, wie Er in Seinem Wolkenwagen vor ihnen her zog. Wie einfach wurde dadurch ihre Reise! Sie brauchten nur Ihm zu folgen in der vollen Gewissheit, dass Er sie auf dem besten Wege in das Land der Verheißung führen würde. Ein eigener Wille, eigene Wünsche und eigene Wege konnten sie nur irreführen; ihre einzige Sicherheit lag in der Nachfolge Jehovas. O wie glücklich würde Israel damals gewesen sein, wenn es einfältig die Wolke im Auge behalten hätte, und welch ein Glück wäre es für uns heute, wenn wir stets damit zufrieden wären, dem Herrn auf dem Fuße nachzufolgen, dicht hinter dem „Hirten und Aufseher unserer Seelen" herzuwandeln!

Doch eine andere, tiefergehende Prüfung kam für Israel. Die Kenntnis einer vollbrachten Erlösung, die Gewissheit der Vergebung unserer Sünden, sowie der Genuss der Gunst Gottes schützen uns niemals vor Prüfungen und Enttäuschungen in dieser Welt. In der Wüste gibt es viele nützliche, wenngleich schmerzliche Lektionen zu lernen. Doch wer nie Not kennenlernt, kann auch nie erfahren, was es heißt, Hilfe in der Not zu finden und wer nie niedergebeugt, schwach und trostbedürftig ist, kann nie mit dem Psalmisten sagen: „Er erquickt meine Seele".

„Und Mose ließ Israel aufbrechen vom Schilfmeer, und sie zogen aus in die Wüste Sur; und sie wanderten drei Tage in der Wüste und fanden kein Wasser. Und sie kamen nach Mara, aber sie konnten das Wasser von Mara nicht trinken" (2. Mose 15,22. 23). Welch eine Enttäuschung! Während einer dreitägigen Reise durch die öde, glühend heiße Wüste kein Wasser zu finden und als sich endlich am Ende des dritten Tages das ersehnte Wasser zeigt, erkennen zu müssen, dass es ungenießbar ist - das war in der Tat eine schwere Prüfung. Aber der mächtige „Ich bin" war da, und ihr Glaube hätte selbst unter so niederdrückenden Umständen sagen sollen: „Jehova ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln Er lagert mich auf grünen Auen, er führt mich zu stillen Wassern. Er erquickt meine Seele". Nie rechnen wir vergebens mit Seiner Gnade. Werde ich müde und schwach, so erquickt Er meine Seele; vergesse ich mich und gehe irre, so stellt Er mich wieder her. Aber ich darf auch hinzufügen: „Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen". Gnadenreicher Herr! Er hält meine Seele aufrecht trotz all meiner Schwachheit und leitet mich in den Pfaden wahrer Heiligkeit um Seines Namens willen. So redet ein stiller, geduldiger Glaube. Er kann auf den Herrn harren und Seine Zeit abwarten. Das natürliche Herz möchte sich allerdings auflehnen und allerlei Zweifel und Fragen laut werden lassen; so hätte Israel fragen können: Kann das Liebe sein, ein Volk aus der Hand seiner Feinde zu befreien und dann tagelang in der Wüste ohne Wasser umherirren zu lassen? Sollte Gott nicht für Sein Volk sorgen? - Nur Geduld! Er sorgt ganz gewiss für Seine Erlösten; Er führt sie nicht aus Ägypten heraus, um sie in der Wüste vor Durst sterben zu lassen. Er steht im Begriff, ihnen in Seiner vollkommenen Liebe eine Unterweisung zu geben, die von bleibendem Wert für sie sein wird, eine Lektion, die wohl wert ist, um ihretwillen alle Entbehrungen und Enttäuschungen der Wüste kennenzulernen.

Und das Volk murrte wider Mose und sprach: Was sollen wir trinken"? Wirklich eine schwierige Lage für Mose, den Knecht Gottes! Was sollte er tun? Nichts anderes als was wir vorhin gesagt haben: aufblicken! Und der treue Mann tat das. „Er schrie zu Jehova, und Jehova wies ihm ein Holz; und er warf es in das Wasser, und das Wasser ward süß". So macht der Herr die bitteren Wasser süß. Es war nicht das Murren des Volkes noch irgendein von ihnen ersonnenes Mittel, das dem Wasser seine Bitterkeit nahm, sondern das Heilmittel des Herrn, und zwar angewandt nach Seinen eigenen Anweisungen. Er allein kann den bitteren Kelch versüßen, und Er kann es immer; ja, Er kann es nicht nur, sondern Er tut es auch, Sein Name sei dafür gepriesen! Besser einen bitteren Kelch zu haben und den Herrn dabei, der zu versüßen vermag, als überhaupt keinen Kelch. Besser, weit besser, gleich den drei Freunden Daniels an Händen und Füßen gebunden in den brennenden Feuerofen geworfen zu werden und dort die Ehre und Segnung zu genießen, in vollkommener Freiheit mit „dem Sohne Gottes" zu wandeln, als vor dem Ofen bewahrt zu bleiben.

Solche Lektionen in der Schule der Erfahrung sind teuer, aber auch von unschätzbarem Wert! Ich habe Hirten sagen hören, dass eine verschiedenartige Weide zuträglich sei für eine Herde; inwieweit das in buchstäblichem Sinne wahr ist, weiß ich nicht, sicherlich aber trifft es in geistlicher Beziehung zu. Wer sich nur mit einem Teil des Wortes Gottes beschäftigen will und nicht mit der ganzen Schrift, wird ganz gewiss nur eine Seite der Wahrheit verstehen lernen und so notgedrungen einseitig werden. Auf diesem Wege sind manche Gläubige zu völlig verkehrten und verwirrten Ansichten gekommen und haben in ihrem Glauben und praktischen Wandel Not gelitten. Unser herrlicher Psalm aber eröffnet uns hier weites, weites Feld der Wüsten-Erfahrungen.

Doch kehren wir nach Mara zurück. Jehova zeigte Mose ein Holz und dieser warf es ins Wasser - und das Wasser ward süß. Was für ein Holz kann bittere Wasser in süße verwandeln? Wo in aller Welt kann es gefunden werden? In welchem Walde wächst es, und wie heißt es? Es gibt nur ein Holz, das eine solche Wirkung hervorzubringen vermag, und dieses Holz ist von göttlicher Art: es verliert nie seine Kraft und versagt nie seine Wirkung. Es genügt, um den bittersten Kelch, der jemals menschlichen Lippen gereicht wurde, zu versüßen und all das Herbe der Wüsten-Erfahrungen in einen köstlichen Kelch himmlischer Segnungen umzuwandeln. Es ist das Holz, an dem Jesus starb, an dem die göttliche Liebe über den menschlichen Hass triumphierte, an dem Gott völlig verherrlicht, die Sünde hinweggetan, Satan besiegt, der Tod seines Stachels und das Grab seiner Macht beraubt wurde. An diesem Holze wurde für die Herde Christi eine ewige Erlösung vollendet, ein ewiger Friede gemacht; dort wurden die finsteren Pforten der Hölle geschlossen und die strahlenden Tore des Himmels geöffnet für alle, die an Den glauben, der an dem Holze starb. Dieses Holz, auf Golgatha errichtet, streckt seine mit reichstem Segen beladenen Zweige über die ganze Erde aus und füllt die Himmel mit seinen reifen Früchten. Es steht da als der geistige Mittelpunkt des Weltalls und bildet die majestätische Entfaltung der moralischen Herrlichkeiten Gottes. Wer möchte nicht den Wüsten-Kelch aus der Hand des Herrn annehmen, um durch ihn über die mannigfaltigen Herrlichkeiten des Kreuzes Christi belehrt zu werden?

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Vollkommene Liebe

Bibelstelle: 1. Johannes 4,18

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 107ff

Besitzen Sie eine vollkommene Liebe ?« so fragte ein alter Christ vor längerer Zeit den Schreiber dieser Zeilen. Der ernste Ton, in welchem er die Frage stellte, bewies, wie lange und ernstlich er nach vollkommener Liebegesucht hatte; aber er hatte sie da gesucht, wo sie nicht zu finden ist. Er fügte nämlich sogleich hinzu: „Kürzlich besuchte mich ein Freund und sagte mir, er besitze seit fünf Jahren eine vollkommene Liebe; und nun möchte ich gern wissen, ob Sie sie auch besitzen“.

„Ja,“ erwiderte ich, „ich besitze sie noch viel länger, schon seit dem Tage meiner Bekehrung. Ja, ich könnte noch Millionen von Jahren zurückgehen und sagen: diese Liebe war immer vollkommen. Aber sehen Sie, es war und ist nicht meine Liebe zu Gott, sondern die Liebe Gottes zu mir.“

Der Alte sah mich ganz verdutzt an und meinte: „Ach, ich habe mir so viel Mühe gegeben, meine Liebe vollkommener zu gestalten; aber wenn ich alles ansehe, was ich im Dienste des Herrn getan habe, so fürchte ich, dass mein Werk verbrennen wird, wie der Apostel sagt, und dass ich nur so wie durchs Feuer werde errettet werden“ (1. Kor. 3, 15).

Bei diesen Worten nahm sein Gesicht einen tiefbekümmerten Ausdruck an. Mein alter Freund hatte denselben Fehler gemacht, den so viele machen, indem sie nach einer vollkommenen Liebe in sich selbst suchen. Das hatte ohne Zweifel das Wachstum und die Freude seiner Seele viel gehindert und seinem Dienst geschadet, obwohl ich keineswegs glaube, dass seine Befürchtung in Erfüllung gehen wird.

Es geht, wie gesagt, manchen Christen ähnlich wie unserem Freunde. Indem sie nicht klar sind über die göttliche Gnade und nicht „vollendet in der Liebe“, d. h. indem sie die Vollkommenheit der Liebe Gottes nicht kennen, suchen sie in einem gesetzlichen Geiste in sich eine vollkommene Liebe hervorzubringen. Hat nicht, so fragen sie, der Herr selbst dem Gesetzgelehrten, der Ihn einst fragte: „Lehrer, was muss ich getan haben, um ewiges Leben zu ererben?“, geantwortet: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstande, und deinen Nächsten wie dich selbst“? Aber sie vergessen dabei ganz und gar, dass Christus

gerade deshalb für die Gottlosen gestorben ist, weil kein Mensch diese Forderung des Gesetzes erfüllen konnte; und dass Er dem Gesetzgelehrten nur zeigen wollte, wie auf dem Wege des eigenen Tuns niemand imstande ist, ewiges Leben zu ererben. „Denn wenn ein Gesetz gegeben worden wäre, das lebendig zu machen vermöchte, dann wäre wirklich die Gerechtigkeit aus Gesetz“ (Gal. 3, 21). Alle, die daher in sich selbst nach einer vollkommenen Liebe zu Gott suchen, verraten dadurch, dass sie, bewusst oder unbewusst, meinen, durch Gesetz, errettet werden zu können; und das ist unmöglich.

Im 17. Verse unseres Kapitels (1. Joh. 4) lesen wir: „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, auf dass wir Freimütigkeit haben an dem Tage des Gerichts, dass, gleichwie Er ist, auch wir sind in dieser Welt“. Von welcher Liebe ist hier die Rede? Ist es unsere Liebe zu Gott, oder Seine Liebe zu uns? Wo ist die Quelle dieser Liebe, in uns, oder in Gott? Ohne alle Frage in Gott, denn „die Liebe ist aus Gott“. Sie ist göttlichen Ursprungs und gleichsam göttlicher Natur. „Gott ist Liebe“, lesen wir; Seine Natur ist Liebe, während unser Zustand von Natur als „hassenswürdig und einander hassend“ beschrieben wird. Wenn wir deshalb lieben, so ist das der Beweis, dass wir aus Gott geboren, dass wir Seiner Natur teilhaftig geworden sind.

Gott hat diese Liebe zu uns in zwei Dingen geoffenbart, und beide beweisen, dass es sich in unserem Kapitel um Seine vollkommene Liebe zu uns, nicht aber um unsere Liebe zu Ihm handelt. Zunächst heißt es: „Hierin ist die Liebe Gottes zu uns geoffenbart worden, dass Gott Seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, auf dass wir durch Ihn leben möchten“ (V. 9). So war also die Liebe Gottes schon vollkommen im Blick auf uns, als wir noch tot in Sünden waren. Ja, gerade darin hat Gott Seine Liebe gegen uns erwiesen, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist. (Röm. 5,8.) Das Kreuz offenbarte die vollkommene Liebe, welche Gott schon vor Grundlegung der Welt zu uns hatte. Jesus erwartet mit Sehnsucht die Zeit, da es sich zeigen wird, dass Gott uns geliebt hat, gleichwie Er Ihn geliebt hat. (Joh.17,23.) Ist das nicht eine vollkommene Liebe, mein Leser? Sie hat ihren Ursprung in der Ewigkeit Gott hat uns geliebt von Ewigkeit her; und diese Liebe erstrahlte in ihrer ganzen Größe und Vollkommenheit zu einer Zeit, als wir noch keine Liebe zu Gott hatten. Alles war durch die Sünde verdorben und verloren. Da sandte Gott Seinen Sohn, auf dass wir durch Ihn leben möchten.

Zweitens lesen wir: „Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass Er uns geliebt und Seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden“ (V. 10). Deutlicher könnte der Apostel nicht reden. Und diese Liebe, die den eingeborenen Sohn dahingab, um für unsere Sünden zu sterben, ist sicher und gewiss eine vollkommene Liebe. Das Kreuz hat den Hass des Menschen geoffenbart, nicht seine Liebe; aber es hat zugleich auch die vollkommene Liebe Gottes zu uns gezeigt. Sinne ein wenig hierüber nach, mein lieber Leser, und suche es nicht ins Gegenteil zu verkehren, indem du die vollkommene Liebe in dir selbst finden zu müssen meinst. Wenn wir lieben, so ist das, wie schon gesagt, der Beweis, dass wir aus Gott geboren sind und dass, wie Johannes hier weiter ausführt, Gott in uns bleibt und Seine Liebe, nicht die unsrige, in uns vollendet ist (V. 12).

So zeigt denn der ganze Zusammenhang der Stelle, dass nicht etwa unsere Liebe zu Gott vollkommen ist

oder sein soll, sondern dass Seine Liebe zu uns geoffenbart und in uns vollendet worden ist; und nun heißt es im 17. Verse: „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, auf dass wir Freimütigkeit haben an dem Tage des Gerichts, dass, gleichwie Er ist, auch wir sind in dieser Welt“. Könnte es eine vollkommenere Liebe geben? Sie hat an uns gedacht in der Vergangenheit, indem sie gegen uns geoffenbart wurde, als wir noch tot in Sünden waren; sie ist unser Teil in der Gegenwart, indem sie in uns vollendet ist, d. h. so von dem Herzen gekannt und genossen wird, wie sie in Jesu sich geoffenbart hat; und sie hat in wunderbarer Weise für die Zukunft gesorgt, indem sie uns volle Freimütigkeit auf den Tag des Gerichts gegeben hat, dadurch dass sie uns (unserer Stellung nach) Ihm gleichmachte, der jetzt droben zur Rechten Gottes sitzt. Wir sind nicht, gleichwie Er hienieden war, das ist unmöglich, sondern wie Er jetzt ist. Wir sind schon in dieser Welt Ihm gleich, der einst als Richter auf dem Richterstuhle sitzen. wird. Wir sind mit Ihm eins gemacht, in Ihm tadellos vor Gott hingestellt; Er selbst ist unser Friede und unsere Gerechtigkeit. „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden.“

Die Erkenntnis dieser vollkommenen Liebe treibt notwendigerweise alle Furcht aus. Wie könnten wir uns vor jemandem fürchten, der uns so unaussprechlich liebt? „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.“ Und diese Liebe ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist. (Röm. 5, 5.) „Wir lieben, weil Er uns zuerst geliebt hat.“ Dazu ist keine Anstrengung unserseits nötig; wir: können gar nicht anders. Liebe erweckt Gegenliebe.

In welch einem Gegensatz steht dies zu der vergeblichen Anstrengung, in uns selbst eine vollkommene Liebe zu erzeugen! Dennoch bleibt immer die ernste Frage für uns bestehen: „Wenn die Liebe Gottes so vollkommen gegen uns ist, woher kommt es dann, dass wir so wenig in dem ungestörten Genuss dieser Liebe bleiben?“ Lasst uns hören, was Jesus bezüglich dieser Frage sagt: „Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in Seiner Liebe bleibe. Dies habe ich zu euch geredet, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde“ (Joh. 15, 10. 11). In diesen Worten finden wir die Auflösung des Rätsels, weshalb es im allgemeinen so wenig Genuss der vollkommenen Liebe Gottes unter uns gibt.

Folgen wir nicht vielfach unserem eigenen Willen? Oder tun wir nicht manches, weil wir Andere es tun, sehen? Leiter! uns» nicht häufig Menschenfurcht und Menschengefälligkeit in unserem Tun? Jesus wandelte niemals nach solchen Grundsätzen. Er hatte keinen bösen Willen, und Er tat nichts Anderen zu Gefallen. Für Sein Tun. war allein das Wort des Vaters maßgebend. Er konnte sagen: „Ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, Er hat mir ein Gebot gegeben, was ich sagen und was ich reden soll“ (Joh. 12,49). Und darum blieb Er in der Liebe des Vaters, und Seine Freude war völlig.

Er wünscht uns dasselbe; aber wie können wir mit Seiner Freude erfüllt sein, wenn wir nicht aufrichtig begehren, in allem Seinen Willen zu tun und in Seinen Geboten zu wandeln? Und Seine Gebote beziehen sich nicht nur auf die Verhältnisse und Vorkommnisse des praktischen Lebens, sondern auch auf unsere Stellung und unser Handeln in religiöser Beziehung. Dass ein weltförmiger, leichtfertiger Christ nicht in den Geboten des Herrn wandelt und deshalb auch nicht in Seiner Liebe bleibt, ist offenbar; aber ebenso gewiss ist es, dass jeder Gläubige, der wider besseres Wissen an menschlichen Satzungen, Formen und Einrichtungen festhält und, um Menschen zu gefallen, nicht treu und entschieden für die erkannte Wahrheit eintritt, Schaden leiden wird in seiner Seele. Der Genuss der Liebe Gottes ist umwölkt, es steht

etwas zwischen seinem Herzen und Gott; seine Freude ist nicht völlig.

Möchte der Herr diese kurzen Gedanken dazu benutzen, unsere Herzen mehr Ihm selbst, der Quelle der

vollkommenen Liebe, zuzuwenden, damit wir treuer Seine Gebote halten und das Ganze, göttlich eingegebene Wort Seiner Gnade« als Seinen Willen anerkennen und befolgen! Wir werden erfahren, dass wir in demselben Maße, wie wir Seine Gebote halten, auch in dem Genuss Seiner Liebe bleiben.

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Was ist der Tod?

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 113ff

Für den Ungläubigen könnte nichts schrecklicher sein als der Tod. Er wird mit Recht und auch in Übereinstimmung mit der Schrift „der König der Schrecken“ genannt. (Vergl. Hiob 18, 14.) Er ist der gerichtliche Abschluss des Seins des ersten Adam. Was könnte ihn an furchtbarer Majestät übertreffen? Und er ist nicht nur im Blick auf das äußere, leibliche Leben des Menschen schrecklich, nein, er ist es noch weit mehr, wenn wir ihn in Verbindung mit der sittlichen Natur, dem geistigen Leben des Menschen betrachten. Alles das, worin der Mensch seinen Verkehr hat, was seine Gedanken, ja, sein ganzes Sein beschäftigt, kommt zu einem Abschluss, zu einem Ende für immer. „Sein Geist geht aus, er kehrt wieder zu seiner Erde: an selbigem Tage gehen seine Pläne zu Grunde“ (Psalm 146, 4.) Der Mensch sieht in dem Tode das Ende all seiner Hoffnungen und Erwartungen, seiner Gedanken und Pläne. Die Quelle von allen versiegt; der Mensch kann aus nichts mehr rechnen. Der geschäftige Schauplatz, auf welchem sein Leben sich abspielte, kennt ihn nicht mehr (Vergl. Psalm 103, 15. 16). Er selbst sinkt dahin, und sein Name ist ausgelöscht. Niemand steht noch in Beziehung zu ihm, als zu dem Schauplatz dieser Welt gehörend. Seine Natur ist zusammengebrochen, ohnmächtig in ihrem Widerstand gegen den Herrn und Gebieter, dem sie unterworfen ist, und der erbarmungslos seine Rechte geltend macht.

Aber so ernst das ist, ist es doch bei weitem noch nicht alles. Der Mensch, als in dieser Welt lebend betrachtet, versinkt allerdings in das Nichts: „er kehrt wieder zu seiner Erde“; er zerfällt in Staub. Aber woher kommt das? Warum hat der Tod Gewalt über ihn? Ach! die Sünde ist in die Welt gekommen und mit der Sünde das Gewissen, mit der Sünde Satans Macht, ja, mit der Sünde auch Gottes Gericht. Der Tod ist der Ausdruck, der untrügliche Zeuge von allen diesen Dingen. Er ist der Lohn der Sünde, und darum der größte Schrecken für das Gewissen; er ist Satans Macht über den Menschen, denn der Teufel hat „die Macht des Todes“ (Hebr. 2, 14). Was ist zu tun? Kann Gott hier helfen? Ach, der Tod ist ja Gottes Gericht über die Sünde; er beweist nur aufs Deutlichste, dass die Sünde nicht unbeachtet und ungestraft bleiben kann; er ist, als der Zeuge des Gerichts Gottes, die furchtbare Geißel des Gewissens, er ist der Beweis der Schuld des Sünders angesichts des kommenden Gerichts, gleichsam der Gerichtsbeamte, der den verurteilten Verbrecher abführt. Er ist das Siegel, welches dem Fall, dem Verderben und der Verurteilung des ersten Adam ausgedrückt ist. Und der Mensch besitzt nichts als seine alte, von Adam ererbte, gefallene Natur. Er kann nicht vor Gott bestehen. „Tod“ ist auf ihn geschrieben, denn er ist ein Sünder und kann sich selbst nicht erretten. Er ist überdies schuldig und bereits verurteilt. Das Gericht naht heran; jeden Tag kann es hereinbrechen.

Ja, so steht es, geliebter Leser, insoweit es den Menschen betrifft. Keine Hilfe, keine Hoffnung gäbe es für ihn, wenn Gott nicht ins Mittel getreten wäre. Aber, Gott sei ewig dafür gepriesen! Christus ist gekommen. Er ist in den Tod hinabgestiegen, Er, der Fürst des Lebens. Wunderbare Wahrheit! Und was ist die Folge davon? Was ist der Tod jetzt für den Gläubigen? Lasst uns miteinander diese herrliche Dazwischenkunft Gottes zu unseren Gunsten betrachten und ihre Kraft und Bedeutung ein wenig zu ergründen suchen.

Wir haben gesehen, dass der Tod die Schwachheit des Menschen, die Auflösung seines Ichs, die Macht Satans, das Gericht Gottes und der Sold der Sünde ist. Aber alles das steht in Verbindung mit dem ersten Adam, dessen Teil, eben der Sünde wegen, Tod und Gericht ist. Auch haben wir den doppelten Charakter des Todes gesehen, wie er einerseits den Zusammenbruch des Lebens oder der Lebenskraft im Menschen bedeutet, und andererseits das Gericht Gottes bezeugt und ihn demselben entgegenführt. Nun, Christus ist für uns zur Sünde gemacht worden; Er hat sich dem Tode unterzogen und ist durch ihn hindurchgegangen in diesem seinem Charakter als Satans Macht und Gottes Gericht. Dem Tode mit seinen Ursachen, in jedem seiner Charaktere, ist Christus begegnet.

Das Gericht Gottes ist voll und ganz von Christo getragen worden, ehe der Tag des Gerichts kommt. Er ist durch den Tod als Sold der Sünde hindurchgegangen. So hat der Tod, als eine Ursache des Schreckens für die Seele, völlig und in jedem Sinne seine Macht für den Gläubigen verloren. Es mag sein, dass ein Gläubiger durch den Tod geht, dass er stirbt; aber notwendig ist das nicht. Christus hat die Macht des Todes so völlig gebrochen, dass der Apostel an die gläubigen Korinther schreiben konnte: „Es sei Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges — alles ist euer“, und: „Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden. (1. Kor. 3, 22; 15, 51). So auch in seinem zweiten Briefe: „Wir, die in der Hütte sind, seufzen beschwert, wiewohl wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben“ (2. Kor. 5, 4). So groß und herrlich ist die Macht des Lebens in Christo.

Aber der Tod ist nicht nur für uns vorübergegangen, nein, er ist auch „unser“, wie wir soeben hörten. Indem mein hochgelobter Herr für mich in den Tod ging, sind Tod und Gericht mein Heil geworden. Die Sünde, deren Lohn der Tod war, ist gerade durch den Tod hinweggetan, das Gericht ist für mich getragen worden. Der Tod hat deshalb keine Schrecken mehr für meine Seele. Er ist nicht ein Zeichen des Zornes, sondern der gesegnetste und völligste Beweis der Liebe, weil Christus für mich in ihn eintrat. Von der ganzen Macht des Gesetzes, die wider mich war, bin ich durch den Tod befreit, denn das Gesetz hat nur Macht über den Menschen, so lange er lebt; in Christo bin ich aber dem Gesetz gestorben. Gott ist, vermittelst des Todes, der Sünde und dem Gericht begegnet. Mit einem Wort, indem Christus, der Sündlose, in Gleichheit des Fleisches der Sünde und für die Sünde« auf diese Erde kam, wurde mein ganzer Zustand, wie er in dem ersten Adam war, behandelt, und zwar so, dass Christus sich allen seinen Folgen in gerechter Weise unterzogen hat; und nun sind durch den Tod der alte Mensch, die Macht Satans, die Sünde, das Gericht, ja, selbst die Sterblichkeit — kurz, alle die Dinge, die mit dem alten (oder sündigen) Menschen verbunden sind — vorüber und aus immer abgetan. Ich lebe jetzt vor Gott in dem Auferstandenen, welcher alles das, was dem Alten angehörte, für mich erduldet hat. Gott hat sich in Christo mit dem alten Menschen, samt allen seinen Früchten und Folgen für mich, beschäftigt, und der Tod hat mich von allem befreit, was zu dem alten Menschen gehörte und seiner wartete. Doch betrachten wir dies noch etwas näher.

Zunächst sind Verdammnis und Gericht gänzlich vorüber; die Seele ist vor Gott anneh1nlich gemacht. Das schreckliche Urteil, das über mir hing, ist an einem Anderen vollzogen worden, so dass ich, entsprechend der Gerechtigkeit Gottes, jetzt von demselben befreit bin. Das Gericht selbst ist meine Befreiung, gerade so wie einst für das Volk Israel. Die Fluten, welche die Ägypter verschlangen, standen wie eine Mauer zur Rechten und Linken von Israel und bildeten so den Pfad des Entrinnens für das Volk aus Ägypten. „Fürchtet euch nicht! Stehet und sehet die Rettung Jehovas, die Er euch heute schaffen wird“, hatte Mose den zitternden Israeliten zugerufen; und diesen Worten gemäß geschah es. Trockenen Fußes durchzogen sie das Schilfmeer. Ägypten und seine Knechtschaft lagen für immer hinter ihnen. Die Wasser des Roten Meeres trennten sie aus ewig von dem früheren Zustand der Sklaverei und Bedrückung. Genau so ist es heute mit uns. Der Tod bedeutet auch für uns Befreiung und Rettung.

Zweitens bin ich in der Kraft der Auferstehung Christi lebendig gemacht. Er selbst ist mein Leben geworden. Ich kann, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Leben des alten Menschen wohl entbehren; denn ich besitze das des neuen. Aber Er, der als der Auferstandene jetzt mein Leben ist, ging durch den Tod, und ich werde aufgefordert, mich als mit Ihm gestorben zu betrachten. Niemals wird uns im Worte Gottes gesagt, dass wir der Sünde sterben sollten. Der alte Mensch stirbt der Sünde nicht und will ihr nicht sterben, und der neue Mensch hat keine Sünde, welcher er sterben müsste. Nein, es wird uns immer wieder gesagt, dass wir gestorben seien, und wir werden ermahnt, uns für tot zu halten. „Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christo Jesu“ (Röm. 6, 11). „Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott“ (Kol. 3, 3.) Nachdem diese Tatsache festgestellt ist, werden wir angeleitet, unsere Glieder, die auf der Erde sind, in der Kraft jenes neuen Lebens und des in uns wohnenden Heiligen Geistes zu töten. Ich habe also das Recht, mich für gestorben zu halten.

Welch ein Gewinn ist in dieser, wie in jeder anderen Beziehung, der Tod für mich, wenn wirklich die Wünsche und Neigungen des neuen Menschen in mir sind! Ja, welch eine Befreiung und Kraft hat er mir gebracht! Der alte, sündige, mich stets hindernde und quälende Mensch ist für den Glauben gestorben; in ihm war ich, als verantwortliches Geschöpf, verloren und unfähig, Gott zu begegnen. Darum sagt der Apostel in Röm. 7, 5: „Denn als wir im Fleische waren, wirkten die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz sind, in unseren Gliedern, um dem Tode Frucht zu bringen“. Doch in Röm. 8, 9 lesen wir: „Ihr aber seid nicht im Fleische, sondern im Geiste, wenn anders Gottes Geist in euch wohnt“. Das Fleisch ist nicht unser Standort vor Gott. Wir haben uns in ihm als verloren und verderbt erkannt. Es war die Stellung des ersten Adam vor Gott, und wir befanden uns einst darin. Das Gesetz, sprach Tod und Gericht darüber aus. Aber ich bin jetzt nicht mehr im Fleische, sondern im Geiste, nicht mehr in dem ersten Menschen, sondern in dem zweiten.

So sagt auch der Apostel im Blick aus menschliche Satzungen und Verordnungen: „Wenn ihr mit Christo den Elementen der Welt gestorben seid, was unterwerfet ihr euch Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt?“ (Kol. 2, 20.) Für den Glauben leben wir nicht mehr in der Welt, sondern sind ihr gestorben. Darum ist auch alles, was uns dazu helfen kann, dies in unserem praktischen Leben zu verwirklichen, wie Trübsale, Leiden, Schmerzen, nur Gewinn für uns. Es macht unser Gestorbensein zu einer Wahrheit und Wirklichkeit für die Seele und befreit uns so von dem alten Menschen. Nach schwerer Krankheit sagte einst der König Hiskia: „O Herr! durch dieses lebt man, und in jeder Hinsicht ist darin das Leben meines Geistes“ (Jes. 38, 16). Das Leben wird auf diese Weise gelöst und befreit von den verfinsternden und tötenden Einflüssen des alten Menschen. Diese Leiden und Zerbrechungen des eigenen Lebens sind in geistlichem Sinne die Einzelheiten des Todes. Aber des Todes wessen? Des Todes des alten Menschen. So erfahren wir denn, wie einst schon Hiskia, dass die Leiden der Ietztzeit ein Gewinn für uns sind.

Aber wie ist es, wenn nun drittens der Tod tatsächlich an einen Gläubigen herantritt? Was ist es, das da stirbt? Nur das was sterblich ist, was, dem alten Menschen angehört. Könnte das neue Auferstehungsleben, welches uns zu teil geworden ist, sterben? Nein, dieses Leben ist ja in Christo durch den Tod gegangen und hat siegreich über den Tod triumphiert. Es kann nicht sterben. Es ist Christus selbst. Darum, wenn ein Gläubiger stirbt, so lässt dieses Leben einfach den Tod dahinten. Es legt alles ab, was sterblich ist. Der entschlafene Gläubige ist ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn. Das Leben war äußerlich mit dem Sterblichen verbunden; nach dem Tode ist das nicht mehr der Fall. Wir sind ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei Jesu, unserem Herrn. Wir scheiden ab, um bei Christo zu sein. Der wahre Glaube erwartet noch einen größeren Triumph, nämlich überkleidet zu werden; doch das ist Gottes Macht. Der alte Mensch wird, Gott sei Dank! nie wieder aufleben. Unsere sterblichen Leiber wird Gott wegen Seines in uns wohnenden Geistes auferwecken, und dann wird das Leben Christi sich in einem verherrlichten Leibe entfalten; wir werden dem Bilde des Sohnes Gottes gleichgestaltet werden, damit Er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Der alte Mensch aber wird nie wieder gesehen werden; Gott sei dafür gepriesen!

Doch wenn auch die wunderbare Macht Gottes sich erst in der Darstellung der Gläubigen in Herrlichkeit voll und ganz entfalten wird, so bedeutet doch der Tod für den Christen stets Befreiung; denn da der Gläubige ein neues Leben besitzt, wird er durch den Tod nur von dem alten Menschen losgemacht, der sich ihm immer wieder hindernd und hemmend in den Weg stellt. Er geht hin, um bei Christo zu sein. Wie lieblich ist dieser Gedanke, wie erquickt er das Herz! Wenn wir wirklich einmal den Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Menschen verstanden haben, sowie die Wirklichkeit des neuen Lebens, das uns in Christo zu teil geworden ist, dann wird der Tod des alten nur noch als ein wahrer und wirklicher Gewinn von uns erkannt und gefühlt werden. Nicht als ob wir nun den Tod herbeisehnen sollten. Nein, Gottes Zeit ist ohne Zweifel stets die beste; denn Er allein weiß, welches Maß von Erziehung und Übung nötig ist, um unsere Seelen für Ihn zu bilden, so dass wir allezeit getrost sein und Seine gute Zeit abwarten dürfen. Vielleicht will Er uns auch erhalten, um die ganze Macht jenes Lebens in Christo kennen zu lernen, so dass das Sterbliche verschlungen wird von dem Leben und wir den Tod überhaupt nicht sehen; und das ist sicher ein höchst begehrenswertes Teil.

Doch wenn der Tod das Aufhören des alten Menschen bedeutet, so ist er auch das Aufhören der Sünde, das Hinwegräumen aller Hindernisse, das Ende aller Prüfungen und Trübsale. Wir sind fertig mit dem alten Menschen, in welchem wir vor Gott schuldig waren, ja, wir haben in gerechter Weise mit ihm abgeschlossen, weil Christus für uns gestorben ist, und wir sind für immer fertig mit ihm, weil wir in der Kraft des neuen Menschen leben. Das ist der Tod für den Gläubigen. Ist das« nicht eine kostbare, gesegnete Tatsache, mein lieber Leser? „Abzuscheiden und bei Christo zu sein ist weit besser.“ Betrachten wir den Tod als Gericht, so hat Christus ihn für uns erduldet; denken wir an die Macht der Sünde, so erkennen wir, dass wir in diesem Tode gerade jener Natur gestorben sind, in welcher die Sünde lebt; und handelt es sich um das tatsächliche Sterben, so ist der Tod für uns die Befreiung von aller Sünde und Schwachheit, um bei Christo zu sein in dem neuen Menschen, der ohne Hindernisse und Störungen Ihn genießt. Wer möchte deshalb nicht sterben, da der Tod uns nur Gewinn bringt?

So lange wir hienieden leben, um Christo zu dienen, ist es der Mühe wert, die Leiden dieser Zeit zu tragen; aber diese Leiden sind deshalb nicht weniger Leiden, wie groß auch die Segnungen sein mögen, die uns erquicken, während wir durch sie hindurchgehen. Sie werden von uns als Leiden gefühlt. Möchten wir nur immer mehr fähig werden, mit dem Apostel zu sagen: „Das Leben für mich ist Christus, und das Sterben Gewinn“! Dass letzteres von allen Gläubigen wahr ist, haben wir bereits gesagt; denn es ist nur der alte Mensch, der stirbt. Aber auch das Erste sollte wahr sein. Selbstverständlich setzt dieses den Besitz des göttlichen Lebens voraus; und wenn es sich um unser praktisches Leben handelt, so muss das Herz mit anderen Dingen erfüllt sein als mit dem, worin der alte Mensch sein Leben hat. Nur so wird das Wort des Apostels auch für uns voll und ganz zur Wahrheit.

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Gedanken über den 23. Psalm

Bibelstelle: Psalm 23

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 122ff

Es ist zu allen Zeiten wahr, dass der gute Hirte „vor seinen Schafen hergeht", wie Er Selbst sagt. „Und seine Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen" (Johannes 10,4). Dies ist ein göttlicher Grundsatz von unermesslichem Wert und tiefgehender praktischer Bedeutung. Er versichert unseren Herzen, dass Jesus allezeit nahe ist, gleichsam in Sicht- und Hörweite Seiner Schafe. Auch findet der Gläubige auf dem Schauplatz, den Jesus vor ihm durchschritten hat, einen solchen Wohlgeruch Seiner Gegenwart, dass die Seele dadurch gestärkt und erquickt wird.

Möchten wir die kostbare Wahrheit, dass der gute Hirte vor uns hergeht, wohl verstehen! Sie hat Einfluss auf jede Einzelheit unseres Pfades durch diese Welt. Sie ist unser Schutz in Gefahren, unser Sieg im Kampf, unser Licht in der Finsternis, unsere Kraft in der Schwachheit, unser Trost im Leid, unsere Gemeinschaft in der Einsamkeit, unsere Hoffnung in den dunkelsten Stunden. Er, der vor uns hergeht und stets bei uns ist, hat das bitterste Leid der Wüste gekostet und ist durch die finsterste Nacht zu dem hellsten Tage gelangt, und das werden auch wir; folgen wir Ihm nur!

Der gute Hirte trägt Sorge für uns auf Schritt und Tritt bei unserer Wüstenreise; Er ist stets gegenwärtig und verlässt und versäumt uns nie. Durch Seine vollkommene Kenntnis des Weges bringt Er den Feind in Verwirrung und lässt alle seine Anläufe zu unserem Segen und zu Seiner Verherrlichung ausschlagen. Welch ein Trost für uns, während wir durch den tiefen Wüstensand der Heimat zupilgern!

„Wenn mir jemand dient, so folge er mir nach", sagt der Herr an einer anderen Stelle. Beachte, dass es nicht heißt, so tue er dies oder so tue er das für mich, sondern „so folge er mir nach". Ruhig auf den Herrn warten, um Seinen Willen zu erkennen, und treu Ihm nachfolgen, indem wir auf Seine Stimme lauschen, das ist der schwerste, aber auch der wohlgefälligste Dienst, den wir dem Herrn darbringen können. Den einen mag Er im Dienst mehr in die Öffentlichkeit, den ändern mehr in die Stille führen; aber ein genaues Befolgen der Anleitungen Seines Wortes, während unser Glaubensauge auf Ihn gerichtet bleibt, ist der Dienst, der Ihm gefällt. Und für alle, die dies tun, hat Er kostbare Verheißungen hinterlassen. „Wo ich bin, da wird auch mein Diener sein; wenn mir jemand dient, so wird der Vater ihn ehren".

Diese ernsten und inhaltsreichen Worte wurden ausgesprochen auf den Weg unseres geliebten Herrn vorauszuwerfen sprechen, als Gethsemane und Golgatha bereits ihre finsteren begannen. Es ist verhältnismäßig leicht, an einem schönen, sonnigen Tage etwas für den Herrn zu tun; aber wenn Sturm und Unwetter zu toben beginnen, wenn es sich darum handelt, Jesus durch eine feindselige, aufrührerische Welt oder auf einem einsamen, rauen Pfade nachzufolgen, so ist besondere Gnade nötig. Von den teuersten Freunden auf der Erde getrennt und verkannt zu werden, um Jesu willen für Auskehricht zu gelten - solche Wasser sind sehr bitter für die Natur. Aber der Herr in Seiner Liebe wünscht, dass wir ein wenig von Seinem Pfade durch diese Welt und von der Gemeinschaft Seiner Leiden erfahren sollten. Abel sollte nicht nur Zeugnis durch sein geschlachtetes Lamm ablegen, sondern es wurde ihm auch die Ehre zuteil, in seinem eigenen Tode ein Zeugnis Gottes zu werden. Nicht nur das Blut seines Opfers, auch sein eigenes Blut sollte zur Erde fließen. Wie viel mehr hatte Abel in dieser Welt mit dem Tode zu tun als Kain! Das ist bedeutungsvoll und belehrend für alle, die mit Abel dem Herrn nachfolgen wollen. Aber vergessen wir nicht, dass es schließlich doch nur Liebe war, die Abel jene Ehre zuteil werden ließ.

An den Wassern von Mara begegnen wir vorbildlich demselben Grundsatz. Israel kannte den Wert des Blutes des Lammes; es hatte das Volk vor dem Gericht geschützt und ihm Heil und Erlösung gebracht. Aber nun wollte der Herr, dass sie auch den nie fehlenden Wert dieses Blutes für alle Wechselfälle ihrer Wüstenwanderung durch Erfahrung kennenlernen sollten. Auf diese Weise blieben sie auf ihrem Weg mit dem Blute in Verbindung; sie wanderten durch die Wüste unter dem Schütze des Blutes, des ausdrucksvollen Sinnbildes des Todes. Nur auf diesem Boden konnte Jehova zu Bileam sagen: „Ich. sehe keine Ungerechtigkeit in Jakob und kein Unrecht in Israel". Es heißt nicht: „Da ist keine Ungerechtigkeit", sondern „ich sehe keine". Allerdings haben wir es hier nur mit einem Vorbild zu tun, aber wir können doch daraus erkennen, was in den Gedanken des Herrn allem anderen vorstand. „Wenn ich das Blut sehe, so werde ich vorübergehen", hatte Er gesagt, d. h. „Wenn ich das Blut des Lammes sehe, so erblicke ich das, was mich verherrlicht, die Sünde ausgelöscht, die Macht des Feindes vernichtet und eine ewige Erlösung für mein Volk zuwege gebracht hat". Es setzte den Herrn in den Stand, unter allen Umständen in unvermischter Gnade gegen Sein Volk zu handeln. Das Blut des Lammes war gleichsam der göttliche Reisepass für Israel von Ägypten bis Kanaan. Nichts vermochte vor ihm standzuhalten. Wenn die Heerscharen der Ägypter den Zug des durch Blut erkauften Volkes aufzuhalten versuchten, wurden sie in die Tiefen des Meeres geworfen; und wenn alle Völker der Erde gemeinsame Sache mit den Ägyptern gemacht hätten, es wäre ihnen nicht anders ergangen. „Ich gebe als dein Lösegeld Ägypten hin, Äthiopien und Seba an deiner Statt". Die tiefen Wasser des Roten Meeres mussten einen Weg bereiten für die Erlösten des Herrn; nicht eine Klaue blieb zurück. Das Manna, die Wolke, die Ströme lebendigen Wassers aus dem Kieselfelsen, die Unterwerfung aller Feinde, die Stillung aller Bedürfnisse - alles, alles gründete sich auf den Wert des kostbaren Blutes. Und wenn auch der Jordan, der Strom des Todes, am Ende der Reise alle seine Ufer überflutete und die Mauern Jerichos bis an den Himmel zu reichen schienen, so konnte das alles der unendlichen Kraft des Blutes dennoch keine Schranken entgegensetzen. Wo wird wohl die Kraft dieses Blutes, freiwillig oder unfreiwillig, nicht anerkannt und gefühlt? Es hat den Weg ins Allerheiligste droben gebahnt, und es hat die Pforten des Hades drunten ihrer Macht beraubt.

Doch wir alle sind, wie einst Israel, geneigt zu vergessen, was der Herr für uns getan, welch einen bitteren Kelch Er für uns getrunken hat und dass auch wir dasselbe „Zeichen" Seiner unveränderlichen Liebe mit uns durch die Wüste tragen. Immer wieder müssen wir deshalb einen Geschmack von dem „Bitteren" spüren, um an das erinnert zu werden, was allein das Bittere versüßen kann, wie auch an die Tatsache, dass alle Schwierigkeiten, Prüfungen und Versuchungen dieses Lebens in Gemeinschaft mit Ihm ertragen werden sollten. Das ist es, was Seine Liebe wünscht. Er ist für uns durch all diese Widrigkeiten hindurchgegangen, und zwar mit einer unendlichen Geduld, Sanftmut und Weisheit, um uns so ein Beispiel zu hinterlassen. Und während E r einsam durch diese Welt ging und am Ende Seines Weges von Gott und Menschen verlassen war, lässt Er uns in unseren Bedrängnissen Seine anbetungswürdige Gnade, Seinen nie ermüdenden Dienst der Liebe, des Mitgefühls und der Güte zuteil werden. Ach! Er musste klagen: „Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und ich bin ganz elend; und ich habe auf Mitleiden gewartet, und da war keines, und auf Tröster, und ich habe keine gefunden" (Psalm 69,20). O welch einen Zufluchtsort besitzen wir in dem einst gebrochenen und vereinsamten Herzen unseres Herrn Jesus!

Wenn der Herr uns durch die Schwierigkeiten und bitteren Erfahrungen des Weges zu einem tieferen Bewusstsein unserer Schwachheit und zu einem größeren Vertrauen auf Seine nie fehlende Kraft und beständige Fürsorge gebracht hat, sind die Absichten Seiner zärtlichen Liebe erreicht. Je tiefer und ernster die Prüfung, desto stärker die Offenbarung Seiner Liebe, desto gründlicher aber auch die Erfahrung: „Er erquickt meine Seele". Nicht die grünen Weiden und stillen Wasser - so lieblich und herrlich sie sind - nein, der Herr Selbst ist es, der die Seele erquickt. Und indem das Herz diese Erfahrung macht, kommt es dem Herrn immer näher; die Gemeinschaft mit Ihm wird fort und fort inniger und frohlockend ruft es aus: „Er erquickt meine Seele; er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen".

In diesem Zusammenhang sei die Aufmerksamkeit noch auf einen anderen Fall gelenkt, in dem auch ein „Holz" zur Anwendung kam, wenn auch in etwas anderer Weise als bei Mara.

Im 2. Buch der Könige lesen wir: „Und die Söhne der Propheten sprachen zu Elisa: Siehe doch, der Ort, wo wir vor dir wohnen, ist uns zu eng; lass uns doch an den Jordan gehen und von dort jeder einen Stamm holen und uns dort einen Ort herrichten, um daselbst zu wohnen. Und er sprach: Gehet hin. Und einer sprach: Lass es dir doch gefallen und gehe mit deinen Knechten. Und er sprach: Ich will mitgehen. Und er ging mit ihnen; und sie kamen an den Jordan und hieben die Bäume um. Es geschah aber, als einer einen Stamm fällte, da fiel das Eisen ins Wasser; und er schrie und sprach: Ach, mein Herr! und es war entlehnt! Und der Mann Gottes sprach: Wohin ist es gefallen? Und er zeigte ihm die Stelle; da schnitt er ein Holz ab und warf es hinein und machte das Eisen schwimmen. Und er sprach: Nimm es dir auf. Und er streckte seine Hand aus und nahm es" (Kap. 6,1-7). Wie dieses Ereignis auch immer gedeutet werden mag, unstreitig ist in dem Vorfall eine schönes Bild, eine bildliche Erläuterung von der Macht der Auferstehung zu erblicken. Über die geistliche Bedeutung des Jordan besteht wohl keine Meinungsverschiedenheit; alle nennen ihn ein Sinnbild des Todes. Nun, das Eisen (die Axt) lag verloren, wie tot, in seinen Tiefen. Von dort wurde es heraufgeholt. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass Elisa gleichsam vom Boden der Auferstehung aus seinen Dienst begann. Er durchschritt mit Elia, dessen Dienst einen mehr richterlichen Charakter getragen hatte, den Fluss des Todes und begann dann seinen Lauf von der anderen Seite aus, indem sein Blick gleichsam auf den gen Himmel Gefahrenen gerichtet war. In das Land Israel zurückkehrend, handelt Elisa in Gnade - nicht wie Elia, der Feuer vom Himmel herabfallen ließ - als ein liebliches Vorbild von dem auferstandenen Jesus, der für uns und zur Verherrlichung Gottes starb, damit Seine Gnade jetzt frei und ungehindert zu den Menschen ausströmen könne wie am Ende der Tage zu Israel. Elisa verweilt in Jericho, der Stätte des Fluches; aber er führt die Macht Gottes in Gnade ein, entfernt den Fluch und macht die Wasserquelle gesund, so dass kein Tod und keine Unfruchtbarkeit mehr daraus hervorkommen konnte.

Von Jericho geht der Prophet nach Bethel, dem Ort, der von Gottes ewiger, unwandelbarer Treue gegen Jakob und seinen Samen redete. Er verbindet so das Volk mit den unumschränkten Ratschlüssen der Liebe und Gnade Gottes über sie. Dann begibt er sich nach dem Berge Karmel, dem Bilde höchster Fruchtbarkeit, und bringt dadurch das Volk mit der Treue Jehovas und dem Überfluss des Landes in Verbindung. Welch eine Gnade! Der Fluch wird hinweggetan, das Böse abgeschafft, die Wasserquelle gesund gemacht; man erkundet Bethel, und die Segnungen des Karmel bedecken das Land gleich einem Fruchtgefilde. Nichtsdestoweniger - und dies ist eine ernste Warnung für alle Zeiten - muss das Gericht seinen Lauf nehmen, wenn das Zeugnis der Gnade Gottes verachtet und der göttliche Bote verspottet wird (vergl. Kap. 2,23. 24).

Wer so den Weg des Propheten betrachtet, dem erscheint die Geschichte von dem Eisen im 6. Kapitel in einem ganz neuen Lichte. Sie erinnert ihn jetzt unwillkürlich an Stellen wie: „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit..., als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht" oder: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der nach seiner großen Barmherzigkeit uns wie der gezeugt hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi aus den Toten" (Eph. 2,4. 5; 1. Pet. 1,3).

Es gibt nirgendwo Kraft, Verlorene zu retten oder tote Seelen lebendig zu machen, als nur in dem Kreuze Christi. Wenn das Holz ins Wasser geworfen wird, so schwimmt das Eisen. Sobald sich der Glaubensblick auf das Kreuz richtet und der Heilige Geist dessen Bedeutung der Seele offenbart, wird diese mit Christo lebendig gemacht, auferweckt und in Christo Jesu in die himmlischen Örter versetzt. Alles das bewahrheitet sich an uns kraft unserer Vereinigung mit Christo in demselben Augenblick, da wir an Seinen Namen glauben und auf Sein Kreuz vertrauen. Bis dahin befindet sich die Seele im geistlichen Sinne an der Stätte des Todes; sie ist „tot in Vergehungen und Sünden". Dass doch alle, die sich noch außer Christo befinden, dies bedenken möchten! Welch ein Zustand - tot, ohne irgendwelche Regung wahren, göttlichen Lebens! Wie tief ist die unsterbliche Seele gesunken, die doch durch die Gnade fähig gemacht werden kann, Gott Selbst zu erkennen und zu genießen und sich der vollen Herrlichkeit himmlischer Segnung für ewig zu erfreuen!

Wo befindest du dich, lieber Leser, in diesem Augenblick? Noch in der finsteren Tiefe des Todesflusses, oder in dem hellen Lichte der göttlichen Gnadensonne? Hier gibt es nur ein Entweder-Oder. Einen Mittelweg gibt es nicht, und nach dem Tode ist keine Veränderung mehr möglich. Willst du gedankenlos dein ewiges Glück verscherzen für die augenblickliche Befriedigung deiner Wünsche und Begierden? Warum solltest du so töricht, so grausam gegen dich selbst sein? War es weise von Esau, das ganze Land Kanaan für ein Linsengericht zu verkaufen, das er augenblicklich genießen konnte, während jenes noch ferne war? Und ist es weise von dir, wenn du das himmlische Kanaan für Dinge verkaufst, die du auch nur flüchtig in dieser Welt genießen kannst? Tu es nicht! Richte dein Auge und dein Herz mit Ernst auf die ewigen Dinge; ja, schaue hin auf den Herrn Jesus! Das große Werk der Erlösung ist am Kreuze vollbracht worden. Jesus ist in die Tiefen des Todes hinabgestiegen und hat ihm seine Macht und Gewalt genommen. Übrig bleibt nur zu Ihm zu kommen und an Ihn zu glauben; nichts anderes ist nötig, als in lebendige Verbindung zu treten mit dem Kreuz und mit Dem, der dort litt und starb. Darum zögere nicht länger, sondern lass dich retten, sogleich und für ewig!

Was aber hat es mit dem Einwand auf sich: Wenn ich auch so tot und hilflos bin wie das Eisen im Strome, wie kann ich dann - da ich mich doch ganz untätig dabei verhalten muss - etwas zu meiner Bekehrung beitragen? Dieser Einwand ist nicht unbegründet, enthält aber nicht die ganze Wahrheit. Die Seele ist tot im Blick auf Gott und auf geistliche Dinge, aber durchaus lebendig hinsichtlich dieser Welt. Da ist kein Herz und keine Bemühung für Christus und Sein Heil, wohl aber für die gegenwärtigen Dinge und darum redet die Schrift an zahlreichen Stellen von der Verantwortlichkeit des Sünders. - „Willst du mit diesem Manne gehen? " (1. Mose 24,58), ist eine sehr einfache und deutliche Frage und wo ist der Sünder, der, voll Tätigkeit und Verständnis für die gegenwärtigen Dinge, nicht mit einem „Ja" oder „Nein" darauf antworten könnte? Gott hat Seinen Heiligen Geist in diese Welt gesandt, um eine Braut für Seinen Sohn zu suchen, und an einen jeden, der unter den Schall des Evangeliums kommt, tritt nun die Frage heran: „Willst du gehen?" Vergessen wir auch nicht, dass geschrieben steht: „Wenn wir das Zeugnis der Menschen annehmen, das Zeugnis Gottes ist größer; denn dies ist das Zeugnis Gottes, welches er gezeugt hat Über seinen Sohn. Wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das Zeugnis in sich selbst; wer Gott nicht glaub t, hat ihn zum Lügner gemacht, weil er nicht geglaubt hat an das Zeugnis, welches Gott gezeugt hat über seinen Sohn" (1. Joh. 5,9. 10).

So finden wir denn im ganzen Wort Gottes, in den Schatten und Vorbildern des Alten Testaments sowohl, wie in den Offenbarungen der „ganzen Wahrheit" im Neuen Testament, dass die einzig wahren Hilfs- und Segensquellen für die Seele in dem gekreuzigten Christus liegen. Darum hielt Paulus auch dafür, unter den Korinthern nichts anderes zu wissen, „als nur Jesum Christum, und ihn als gekreuzigt" (1. Kor. 2,2). Die Erkenntnis Jesu, Seiner Liebe und Seines Kreuzes, macht den toten Sünder lebendig und gibt ihm einen Platz mit dem auferstandenen Christus. Sie stärkt den schwachen Gläubigen, hält ihn aufrecht in Kampf und Versuchung und tröstet ihn, wenn Leiden und Trübsale ihn niederbeugen wollen. Sie zerstört die Macht der Todesfluten des Jordan und versüßt die bitteren Wasser von Mara.

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Habe ich dir nicht geboten?

Bibelstelle: Josua 1,9

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 133ff

„Habe ich dir nicht geboten: Sei stark und mutig? Erschrick nicht und fürchte dich nicht; denn Jehova, dein Gott, ist mit dir überall, wohin du gehst“ (Josua 1, 9).

Zwei ernste und kostbare Dinge treten uns in obigen Worten entgegen, Dinge, die für den Frieden unserer Herzen und die ruhige Beständigkeit unseres Weges von der größten Bedeutung sind. Zeit und Umstände verändern auch nichts an ihrem Ernst oder ihrem Werte; sie sind unveränderlich, so lange Gläubige auf dieser Erde pilgern. Diese beiden Dinge sind: die Autorität Gottes für die Stellung, die wir einnehmen, für den Platz, auf dem wir stehen, und Seine Gegenwart 1nituns in dieser Stellung; das Wort des Herrn als einziger Maßstab und Prüfstein für das, was wir tun, und das Licht Seines Antlitzes, leuchtend über uns, indem wir es tun. Ohne diese beiden Dinge ist es unmöglich, in einer Gott wohlgefälligen Weise unseren Weg zu gehen. Auch genügt nicht das eine ohne das andere. Vielleicht können wir Kapitel und Vers für die Stellung angeben, in welcher wir uns befinden; aber wenn wir nicht in der bewussten und verwirklichten Gegenwart des Herrn wandeln, nützt alles nichts. Andererseits aber können wir nicht auf die Gegenwart und Anerkennung des Herrn rechnen, wenn wir für das, was wir tun, für den Weg, den wir gehen, nicht einen göttlichen Beleg, ein „So spricht der Herr“ anführen können.

Josua hätte ohne diese beiden Dinge nimmer den Schwierigkeiten und Erfordernissen seiner Zeit genügen können; und wenn heute auch nicht die gleichen Begegnisse auf unserem Pfade liegen, wie auf dem seinigen, so dürfen wir doch versichert sein, dass wir auch in unseren Tagen kein Gelingen haben werden, wenn nicht Gottes Wort unsere einzige Autorität und Seine Gegenwart unsere einzige Kraft ist. Wir leben in einer Zeit großer Verwirrung. Eine zahllose Menge einander widersprechender Stimmen schlagen an unser Ohr. Nicht nur scheiden sich die Geister immer schärfer in dem Kampf zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Glaube und Unglaube, sondern auch unter denen, die sich zu Christo bekennen, nimmt der Widerstreit der Meinungen eher zu als ab. Die Zahl der christlichen Benennungen und Parteien wächst zur Legion an. Obwohl nicht zu verkennen ist, dass der Geist Gottes in den Herzen der Gläubigen das Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit zu beleben bemüht ist, muss der unparteisch urteilende Gläubige doch zu seiner tiefen Betrübnis wahrnehmen, dass immer neue Zäune und Schranken aufgerichtet werden, statt dass die alten, bestehenden niedergerissen würden. Man fühlt wohl, dass diese Parteischranken vom Übel sind, ja, man spricht das sogar unverhohlen aus, man seufzt und klagt darüber; aber trotz alledem lässt man sie bestehen, man bricht sie nicht ab. Man veranstaltet zwar große Zusammenkünste, allgemeine Versammlungen von Christen aus den verschiedenen Benennungen, um, wie man meint, auf diesem Wege der Einheit der Kinder Gottes Ausdruck zu geben; aber man findet sich zusammen mit der bestimmten Absicht, Mitglied einer Partei zu bleiben, und jeder Teilnehmer an solchen Versammlungen ist gebunden, in seinem Auftreten oder Reden alles zu vermeiden, was den Anderen in seiner religiösen Sonderstellung verletzen könnte. So legt man von vornherein der Wahrheit Fesseln an, man darf nicht die ganze Wahrheit sagen; abgesehen davon, dass man schon durch die Bestrebungen, die Kinder Gottes für eine kurze Zeit. zu vereinigen, (und zwar unter der gegenseitigen Gutheißung oder doch stillschweigenden Anerkennung des Parteistandpunktes der Einzelnen,) die Wahrheit von der Einheit des Leibes, die da ein für allemal durch den Heiligen Geist gemacht ist, unbeachtet lässt, ja unmittelbar leugnet.

Was folgt aus allem diesem? Die Schlussfolgerung, die notwendig gezogen werden muss, ist ernst; sie mag manchem Gläubigen sogar hart erscheinen, von anderen auch lieblos genannt werden, aber sie kann nicht umgangen werden, wenn wir anders der Wahrheit die Ehre geben wollen. Sie lautet: Man will sich nicht trennen von den Zäunen und Schranken; es fehlt (wenigstens in dieser Hinsicht) an der nötigen Treue und an der Bereitwilligkeit, sich dem Worte Gottes bedingungslos zu unterwerfen; man macht Zugeständnisse, man will wohl für eine Zeit jene Schranken aus dem Auge lassen, aber man will nach wie vor durch dieselben von jenen geschieden bleiben, mit denen man doch durch einen Geist zu einem Leibe getauft ist. Ach! es geht damit wie mit einer tiefgewurzelten Lieblingsneigung, die ein Mensch

vielleicht als böse und verwerflich erkennt, die er aber nicht mit Stumpf und Stiel aus seinem Herzen ausrotten, über die er nicht unnachsichtlich das Todesurteil sprechen will, und von der er deshalb trotz alles Seufzens und Klagens nie Wirklich befreit wird.

O das Herz blutet bei dem Gedanken an so viele geliebte Kinder Gottes, die in ihrem praktischen Leben treu und von der Welt getrennt dastehen, als Lichter inmitten der Finsternis, als ein Zeugnis für ihren Herrn, die aber, wie gesagt, in dies er Hinsicht den klar ausgesprochenen Willen Gottes nicht befolgen. Das ernste, ergreifende Urteil des Apostels über alle menschlichen Parteiungen: „Seid ihr nicht fleischlich? — seid ihr nicht menschlich?“ (vergl. 1. Kor. 1 u. 3) sucht man auf die eine oder andere Weise zu umgehen oder doch seiner Schärfe zu berauben, indem man auf die veränderten Zeiten, Umstände und dergleichen hinweist. Als wenn die göttliche Wahrheit je beeinflusst oder verändert werden könnte durch Zeiten und Umstände oder gar durch die unaufhörlich wechselnden Anschauungen und Meinungen der Menschen! Ach, anstatt dass „alle dasselbe redeten und in demselben Sinne und in derselben Meinung völlig zusammengefügt“ wären, sehen wir die nach unserem Urteil besten und treuesten, hingebendsten und einsichtsvollsten Männer in derselben Frage einander scharf gegenüberstehen und völlig entgegengesetzte Wege einschlagen, obwohl sie alle demselben Herrn nachzufolgen bekennen. Was haben wir demgegenüber zu tun? Was ist uns not in einer solch schwierigen Lage? Dies Eine: tief in unseren Herzen, in der heiligen Gegenwart Gottes, jene beiden kurzen Sätze zu erwägen: „Habe ich dir nicht geboten?“ und: „Siehe, ich bin mit dir". Dieser beiden großen Wirklichkeiten kann der schwächste und ungelehrteste Gläubige sich erfreuen, und ohne sie Vermag auch der einsichtsvollste Christ der Flut der Meinungen und des eigenen Willens, die sich rings um ihn erhebt, nicht die Spitze zu bieten.

Es hat kaum jemals eine Zeit in der Geschichte des Christentums gegeben, welche so gebieterisch die unmittelbare, persönliche Verbindung der Seele mit Gott und Seiner Wahrheit forderte, wie die gegenwärtige. Gott stellt die Seelen der Seinigen aus eine bemerkenswerte Probe. Das Sieb tut sein ernstes Werk inmitten der bekennenden Kirche. Ohne Zweifel ernten diejenigen, welche mit Gott durch diese Sichtung und Erprobung gehen, einen reichen Segen; aber wir müssen hindurch. Es offenbart sich

heutzutage in einer ganz besonderen Weise, wessen Glaube nur auf Gottes-Kraft und nicht zugleich auch auf Menschen-Weisheit beruht. O möchte Gott unsere Herzen immer treuer und wahrer werden lassen im Blick auf den kostbaren Namen Jesu! „Den festen Sinn bewahrst du in Frieden, in Frieden; denn er vertraut auf dich“ (Jes. 26, 3).

Gott und Seine Wahrheit waren und sind zu allen Zeiten der unerschütterliche Zufluchtsort für die Seele. Darauf wies auch der Apostel Paulus in Apostelgesch. 20 die Ältesten von Ephesus am Schluss seiner rührenden und ergreifenden Rede hin. „Und nun“,— sagte er, „befehle ich euch Gott und dem Worte Seiner Gnade“ (V. 32). Er befahl sie nicht irgend einer menschlichen Anordnung, nicht den Aposteln oder ihren Nachfolgern, nicht allgemeinen Kirchenversammlungen oder deren Beschlüssen, nicht den Kirchenvätern oder deren Überlieferungen, nicht Lehrern und ihren Lehren, auch nicht ihren eigenen Überlegungen und guten Meinungen oder der Leitung ihres Gewissens; nein, alle diese Dinge hätten ihnen nicht helfen können angesichts der „verderblichen Wölfe“, die von außen zu ihnen hereinkommen, oder gegenüber den „verkehrten Dingen“, welche Männer aus ihrer Mitte aufstellen würden. Nichts als Gott und das Wort Seiner Gnade vermag die Seele an einem bösen Tage stehend zu erhalten. Selbst das Gewissen, von dem man im Blick auf die christliche Stellung, die man einnimmt, oder die Wege, die man geht, gern redet, ist kein untrüglicher Führer. Da, wo es sich nicht um den bestimmt geoffenbarten Willen Gottes handelt, wie in dem Essen oder Nichtessen gewisser Speisen, in dem Halten oder Nichthalten gewisser Tage und dergleichen äußeren Dingen, ist das Gewissen des Einzelnen für sein Tun maßgebend, und ich soll mich wohl hüten, in solchen Fällen den Hausknecht eines Anderen zu richten; er steht oder fällt seinem eigenen Herrn. (Röm. 14.) Aber wenn Gott gesprochen und Seinen Willen kundgegeben hat, so ist es meine einfache, aber auch meine heilige Pflicht, diesem Willen zu folgen, ohne zu deuteln oder zu überlegen, ohne Rücksicht auf Personen oder Umstände. In einem solchen Falle ist ein Nichtbefolgen des Willens Gottes, wenn nicht Unkenntnis vorliegt, direkt Ungehorsam.

Lasst uns auch wohl achthaben, dass wir nicht an einen Menschen uns hängen, und dass nicht in irgendeiner Weise der Mensch an die Stelle Christi trete. Die Gefahr ist groß, sowohl für den Prediger als auch für die, welche ihn hören. Wie schön war die eifersüchtige Sorge des Apostels Paulus, dass doch niemand auf ihn sich stützen möchte, oder auf irgendetwas außer dem lebendigen Gott selbst! „Darum danken wir auch Gott unablässig“, so schrieb er an die jungen Gläubigen in Thessalonich, dass, als ihr von uns das Wort der Kunde Gottes empfinget, ihr es nicht als Menschenwort aufnahmt, sondern, wie es wahrhaftig ist, als Gottes Wort, das auch in euch, den Glaubenden, wirkt“ (1. Thess. 2, 13). Dieser hingebende, einfältige Arbeiter suchte nichts anderes, als die Seelen mit Gott zu verbinden vermittelst des Wortes. Das ist auch der Zweck alles wahren Dienstes. Wo der Dienst nicht wahr, nicht wirklich von Gott ist, da wird er die Seelen mit sich selbst und dem, der ihn übt, verbinden; und in solchem Falle wird menschlicher Einfluss zur Geltung kommen: Charakter, Erziehung, Stellung, Ansehen und vielerlei andere Dinge, welche die Seelen verhindern, allein auf Christum zu blicken und in Gott zu ruhen.

Mein lieber, gläubiger Leser! Sieh zu, dass deine Seele in der unveränderlichen und nie wankenden Grundlage des Wortes Gottes ihren einzigen Stützpunkt finde, dass du Seine Autorität, Seine unzweideutige Anweisung habest sowohl für den Platz, auf welchem du stehst, als auch für das Werk, das du tust; und dann sieh zu, dass auch Seine Gegenwart dein gesegnetes Teil sei. Steht es in dieser zwiefachen Beziehung wohl mit dir, so wird ein süßer Friede dein Herz erfüllen, und deinen Pfad wird eine heilige Ruhe und Beständigkeit kennzeichnen, mag kommen was da will. „Habe ich dir nicht geboten?“ —- „Siehe, ich bin mit dir.“ Es ist dein seliges Vorrecht, die Kostbarkeit dieser beiden Worte heute ebenso völlig und bestimmt erfahren zu können, wie Josua sie in seinen Tagen erfuhr, oder wie der Prophet Jeremia und die Apostel zu ihrer Zeit. Die Umstände mögen verschieden sein, das Maß der Verwirklichung in den einzelnen Fällen größer oder kleiner; aber der Grundsatz bleibt stets derselbe. Sei deshalb mit nichts Geringerem zufrieden, als mit Gottes Autorität und mit Gottes Gegenwart. Lass dich nicht irre führen durch die widersprechenden Meinungen der Menschen. Sie sind nichts Neues und nichts Auffallendes. Aber vergiss nicht, dass weit über all dem Streit und der Verwirrung, dem Widerspruch der Sekten und Parteien, in dem hellen Lichte der göttlichen Gegenwart, in der erhabenen Ruhe des himmlischen Heiligtums, der Glaube mit Bestimmtheit jene kostbaren, herzstärkenden Worte vernehmen kann: „Habe ich dir nicht geboten?“ — „Siehe, ich bin mit dir.“

Ein Gläubiger sollte stets imstande sein, mit der Würde eines Glaubens, der sich nur auf die Macht und

Autorität Gottes stützt, den Pfad, den er geht, das Werk, das er tut, und den Platz, den er ausfällt, begründen zu können. Das ist nicht Hochmut oder» Stolz, nicht Selbstvertrauen oder eitle Ruhmrederei; nein, es bekundet gerade das Gegenteil: Misstrauen gegen sich selbst und Vertrauen auf Gott.

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Halte fest was du hast!

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 141ff

Einleitung.

Das Werk des Heiligen Geistes besteht nicht nur darin, Seelen vom ewigen Tode zu erretten, sondern die also Erretteten auch für Jesum abzusondern. Dieser letzte Teil Seiner Tätigkeit tritt in unseren Tagen, infolge des fortschreitenden Verfalls der bekennenden Kirche auf der Erde ganz besonders hervor. Je näher wir dem Ende und damit dem völlig ausgereiften Verderben und Abfall kommen, desto mehr sucht der Heilige Geist die wahren Gläubigen von der großen Masse der toten Bekenner zu scheiden. Aber auch der Feind ist rastlos tätig, um einerseits die Kraft des Evangeliums zu schwächen, und andererseits die Notwendigkeit der Absonderung von „aller Art des Bösen“ zu leugnen, oder durch menschliche Einschränkungen und fleischliche Überlegungen auf ein geringeres Maß, als Gott es will, zurückzuführen.

Diese Notwendigkeit der Absonderung ist vielen unserer Leser eine bekannte Sache. Auch werden viele von ihnen, im Gehorsam gegen Gottes Wort, den Platz der Absonderung eingenommen haben. Aber es gilt nicht nur diesen Platz einzunehmen, sondern auch aus demselben in Treue zu verharren; und mögen wir auch in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt sein, so tut Erinnerung doch immer not. Denn zwei ernste Gefahren drohen denen welche in dieser, wie in jeder anderen Hinsicht dem geoffenbarten Willen Gottes zu folgen wünschen. Die erste ist, in eine parteiische Gesinnung zu geraten und sich in einem sektiererischen Geiste von anderen Gläubigen abzuschließen. Die andere liegt in dem Umstand, dass in

diesen letzten „schweren“ Zeiten viele Kinder Gottes der Erkenntnis und der Verwirklichung der Wahrheit um ein Wesentliches näher gerückt sind, ohne völlig den Platz der Absonderung eingenommen zu haben. Die Liebe zu solchen Gläubigen und der Wunsch, das Gute, das Gott in ihnen gewirkt hat, anzuerkennen, erweckt die Neigung, ihnen auf halbem Wege entgegenzukommen und so die gottgewollten Schranken allmählich zu erweitern, die Grenzpfähle der göttlichen Wahrheit weiter zu stecken, den schmalen Pfad breiter zu machen.

Dies veranlasst uns, diesen Gegenstand nochmals an der Hand des Wortes Gottes zu beleuchten, und unser Flehen zum Herrn ist, dass Sein Heiliger Geist uns dabei leiten, und dass diese Betrachtung vielen Lesern, als Wegweiser oder doch zur Befestigung in der Wahrheit dienen möge.

„Die Furcht Jehovas ist der Weisheit Anfang; und die Erkenntnis des Heiligen ist Verstand“ (Spr. 9, 10). „Die Furcht Jehovas ist: das Böse hassen“ (Spr.8,13.) „Und zu dem Menschen sprach Gott: Siehe, die Furcht des Herrn ist Weisheit, und vom Bösen weichen ist Verstand“ (Hiob 28, 28.) — Die Furcht des Herrn ist die Grundlage alles wahren Christentums, und wo diese Furcht im Herz waltet, da wird das Verständnis „des Heiligen“ zunehmen und das Böse in jedweder Gestalt erkannt werden. »Wer ist nun der Mann, der Jehova fürchtet? Er wird ihn unterweisen in dem Wege, den er wählen soll“ (Ps. 25, 12). Wenn diese Furcht des Herrn noch nicht in deinem Herzen Platz gefunden hat, lieber Leser, so mache ihr Raum, ehe du diese Zeilen weiter liest, damit du lernst, das Böse mit dem Maßstabe der Heiligkeit Gottes, und nicht mit dem des beschränkten und durch die Sünde verblendeten menschlichen Verstandes zu messen. Dann wirst du erkennen, dass das Böse nach den Gedanken Gottes alles umfasst, was mit Seinen Gedanken und Mitteilungen, wie sie in Seinem Worte niedergelegt sind und durch Seinen in uns wohnenden Geist verstanden werden, nicht in Übereinstimmung ist. Und da handelt es sich nicht allein um das sittlich Böse, sondern auch um das religiös Böse, welches seine Quelle in dem frommen Fleische oder in dem ungebrochenen Willen des Menschen hat. Es gibt viele Kinder Gottes, welche in Bezug auf letzteres Böse die weitestgehende Duldsamkeit walten lassen. Nicht so das Wort Gottes. Wenn es das erstgenannte Böse, wie wir dies z. B. im 1. Korintherbriefe finden, mit allem Ernst straft, so führt es doch

gegen die zweite Art des Bösen, wie es in den Versammlungen der Galater zum Ausdruck kam, eine fast noch ernstere Sprache. Ja, es kommt bei Behandlung desselben eine weit tiefer gehende Befugnis zum Ausdruck. Warum wohl? Weil die Wirkungen des religiös Bösen viel schrecklicher und weittragender sind als die des sittlich Bösen. Während dieses den Einzelnen verdirbt und vielleicht auch die nächste Umgebung verunreinigt, zerstört jenes, weil es ein Abweichen von den Grundwahrheiten Gottes ist, die Grundlagen des Christentums. Nicht den Korinthern, sondern den Galatern musste Paulus zurufen: „Ihr seid abgetrennt von dem Christus, so viele ihr im Gesetz gerechtfertigt werdet; ihr seid aus der Gnade gefallen“. (Gal. 5, 4.) Worin bestand denn ihre große Sünde? Sie vermengten, was so viele heute noch tun, die „Elemente der Welt“ mit den Wahrheiten des Christentums, sie wollten das Gesetz mit der Gnade verbinden. Sie hielten die ,,Lehre Christi« nicht rein von jeglicher Beimischung. Wir besitzen in unseren Tagen das Wort Gottes „vollendet“ (Kol. 1, 25), so dass wir durch den Geist Gottes die Lehre Christi, welche wir zieren sollen, völlig zu erfassen, und den Weg, den wir wandeln sollen, klar zu erkennen vermögen. Wir brauchen nicht mehr als Unmündige dazustehen, die „hin- und hergeworfen und umhergetrieben werden von jedem Winde der Lehre, die da kommt durch die Betrügerei der Menschen, durch ihre Verschlagenheit zu listig ersonnenem Irrtum“, sondern wir sind berufen und befähigt, „die Wahrheit festhaltend in Liebe, zu Ihm heranzuwachsen, der das Haupt ist, der Christus“ (Eph. 4, 14. 15.) Man betrachte doch nur das Bild der Zerrissenheit, welches die heutige Christenheit bietet! Hat diese Zerrissenheit ihre Ursache in dem sittlich Bösen oder in dem religiös Bösen? Ohne allen Zweifel vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, in dem letzteren. „Sehet zu“, schreibt der Apostel Paulus an

die Kolosser, „dass nicht jemand sei, der euch als Beute wegführe durch die Philosophie und eitlen Betrug, nach der Überlieferung der Menschen, nach den Elementen der Welt, und nicht nach Christo“ (Kol. 2, 8). Die Kirche hat nicht auf diesen Mahnruf geachtet, und deshalb hören wir denselben Apostel bei seinem Abschiede von den Ephesern vorahnend sagen: „Aus euch selbst werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her“ (Apostelgesch. 20, 30.) Zugleich befahl er sie Gott und dem Wort Seiner Gnade. In demselben Maße wie dieses Wort aus den Augen verloren wurde und menschliche Meinungen in der Kirche Platz griffen, zeigte sich das traurige Ergebnis. Das Wort nennt es „Babylon“, d. i. Verwirrung.

Dieser Zustand der Dinge, so traurig er ist, verhindert indes den Aufrichtigen nicht, das Böse so zu beurteilen, wie Gott es beurteilt; und nicht das allein, er vermag auch trotz allem den Platz, kennen zu lernen, welchen der Herr den Seinigen inmitten dieses Zustandes anweist. Denn mögen auch der Unverstand und die Untreue des Menschen die wahre Darstellung des Christentums erschüttert haben, so bleiben doch, die Grundlagen bestehen: „Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit“ (Hebr. 13, 8), und: „Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit“ (1. Petr. 1, 25).

Es gibt leider Kinder Gottes, welche diesen Zustand der Zersplitterung und Verwirrung in unglaublicher Verblendung als „von Gott gewollt“ hinstellen. Könnte denn Gott jemals etwas gutheißen, was Er in Seinem Worte (1. Kor. 1 und 3) mit allem Ernst als „fleischlich“ bezeichnet? Würde Er dadurch nicht an sich selbst zum Lügner werden? Nein, eine solche Behauptung grenzt geradezu an Gotteslästerung, und wir dürfen wohl annehmen, dass bei allen, die so zu reden wagen, ein erschreckender Mangel an Gottesfurcht vorhanden sein muss. Es hat deshalb auch wenig Wert, sich mit solchen Seelen zu beschäftigen; wir wünschen nur mit denen zu reden, welche in Ausrichtigkeit mit dem Psalmisten sprechen: „Dein Knecht bin ich, gib mir Einsicht, so werde ich deine Zeugnisse erkennen. Es ist Zeit für Jehova zu handeln: sie haben dein Gesetz gebrochen. Darum liebe ich deine Gebote mehr als Gold und gediegenes Gold. Darum halte ich alle deine Vorschriften für recht; jeden Lügenpfad hasse ich“ (Ps. 119, 125 — 128). Solche Seelen verlangen ernstlich danach, Gottes Gedanken über alle diese Dinge zu erfahren, und sind bereit, ihnen unweigerlich zu folgen.

Der besseren Übersicht halber teilen wir unseren Gegenstand in verschiedene Unterabteilungen und betrachten, in Verbindung mit dem Bau der Kirche Gottes,

1. Die beiden Baumeister.

Um den Verfall der Kirche wirklich verstehen zu können, ist es vor allen Dingen nötig, die Gedanken Gottes über sie zu kennen. Nach den Mitteilungen, die Gott uns in Seinem Worte gegeben hat, kann sie von zwei Seiten aus betrachtet werden:

1. nach ihrer unsichtbaren, himmlischen Berufung und Stellung;

2. nach ihrer sichtbaren Darstellung als bekennende Körperschaft auf der Erde.

Das Bauen der Kirche als des „heiligen Tempels im Herrn“ oder des „geistlichen Hauses“ Gottes, d. h. also in dem ersteren Sinne, ist das Werk Jesu und des Heiligen Geistes, des „anderen Sachwalters“. Wir hören in Matth. 16, 18 den Herrn sagen: „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen, und des Hades Pforten werden sie nicht überwältigen“. Er sagt: „Ich will bauen“. Er konnte in den Tagen Seines Fleisches noch nicht mit dem Bauen beginnen; erst auf Grund Seines Todes und Seiner Auferstehung konnte das Material zu diesem Bau: „lebendige Steine“, bereitet werden. Nachdem Er aus den Toten auferstanden und der Heilige Geist herniedergekommen war, begann das Werk des Bauens. Paulus spricht in Eph. 2, 19 — 22 von diesem Bau, indem er sagt: „Also seid ihr denn nicht mehr Fremdlinge und ohne Bürgerrecht, sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, aufgebaut auf die Grundlage der Apostel und Propheten, indem Jesus Christus selbst Eckstein ist, in welchem der ganze Bau, wohl zusammengefügt, wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn, in welchem auch ihr mitaufgebaut werdet zu einer Behausung Gottes im Geiste“. Und Petrus deutet im 2. Kapitel seines ersten Briefes aus dieselbe Sache hin, wenn er schreibt: „Zu welchem kommend, als zu einem lebendigen Steine, von Menschen zwar verworfen, bei Gott aber auserwählt, kostbar, seid auch ihr selbst, als lebendige Steine, aufgebaut, ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um darzubringen geistliche

Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich durch Jesum Christum“. Und dieses Werk des Herrn werden des Hades Pforten, d. h. die ganze Macht Satans, der Sünde und des Todes, nicht überwältigen. Jeder von Ihm lebendig gemachte und in den Bau eingefügte Stein kann nicht wieder herausgerissen werden. „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus der Hand meines Vaters rauben“ (Johannes 10, 27 – 29).

Aber dieses für das natürliche Auge unsichtbare Bauwerk des Herrn sollte auf der Erde eine sichtbare Darstellung finden, und hierzu wurde der Mensch als Mitarbeiter berufen. Deshalb lesen wir in 1. Kor. 3, 9 —— 11: „Wir sind Gottes Mitarbeiter; Gottes Ackerfeld, Gottes Bau seid ihr. Nach der Gnade Gottes, die mir gegeben ist, habe ich als ein weiser Baumeister den Grund gelegt; ein anderer aber baut darauf; ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut. Denn einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ Hier haben wir also den Menschen als Baumeister und als Mitarbeiter Gottes. Der Apostel Paulus hat den Grund zu dem Gebäude gelegt. So sagt er auch, wenngleich in einem etwas anderen Sinne: „Mir, dem allergeringsten von allen Heiligen, ist diese Gnade gegeben worden, unter den Nationen den unausforschlichen Reichtum des Christus zu verkündigen und alle zu erleuchten, welches die Verwaltung des Geheimnisses sei, das von den Zeitaltern her verborgen war in Gott, der alle Dinge geschaffen hat“ (Eph. 3, 8. 9). Andere haben aus den durch den Apostel gelegten Grund weiter gebaut, aber nicht alle mit Material von gleicher Güte. Es hat Arbeiter gegeben, die unter der Leitung des Heiligen Geistes Gold, Silber und köstliche Steine gebaut haben; und es hat Arbeiter gegeben, und zwar gläubige Männer wie die vorigen, welche nach eigenem Gutdünken Holz, Heu und Stroh in den Bau einfügten. Diese Vermengung von gutem und schlechtem Material hat den Verfall der Kirche herbeigeführt und nimmt noch immer ihren Fortgang. Das Wort Gottes gibt uns keinen Beleg dafür, dass eine Reformation dieses durch Menschenhand verdorbenen Zustandes eintreten werde; im Gegenteil lesen wir: „Wenn aber jemand auf diesen Grund baut Gold, Silber, köstliche Steine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar werden, denn der Tag wird’s klar machen, weil er in Feuer geoffenbart wird; und welcherlei das Werk eines jeden ist, wird das Feuer (des Gerichts) bewähren“. Jeder Arbeiter ist für seine Arbeit verantwortlich: „Wenn das Werk jemandes bleiben wird, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen; wenn das Werk jemandes verbrennen wird, so wird er Schaden leiden (d. h. sein Werk vergeht, und er verliert seinen Lohn); er selbst aber (weil er ein Kind Gottes ist) wird gerettet werden, doch so, wie durchs Feuer“. Der Geist Gottes stellt hier also zwei Arbeiter vor unser Auge; beide gläubig, beide gleich tätig, aber sehr verschieden in Bezug auf das Material, mit dem sie bauen, sowie im Blick auf das Endergebnis ihrer Wirksamkeit. Das ist ernst für uns alle. Denn „einem jeden von uns ist die Gnade gegeben worden nach dem Maße der Gabe des Christus“. Gibt es auch heute noch in besonderem Sinne „Arbeiter“ des Herrn, so sind wir doch alle verantwortlich, nach unserem geringen Maße mit Hand anzulegen; und da erhebt sich dann von selbst die Frage: „Wie bauen

wir? Bauen wir nach den Grundsätzen der Heiligen Schrift, oder lassen wir menschlichen Grundsätzen und Meinungen Raum? Bauen wir unter der Leitung des Heiligen Geistes, oder bauen wir nach eigenen Gedanken? Bauen wir zur Verherrlichung des Herrn, oder bauen wir zur Verherrlichung des Menschen?“ Das sind herzerforschende Fragen, geliebter Leser; und wir sollten ihnen Licht ausweichen, sie nicht umgehen.

Die Christenheit weist noch eine dritte Klasse von Arbeitern auf, solche, die den Geist Gottes nicht haben.

Diese Arbeiter bauen eigentlich nicht, sondern verderben nur; sie sind aber nichtsdestoweniger verantwortlich. Das Urteil Gottes in Bezug aus sie lautet: „Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig, und solche seid ihr“ (1. Kor. 3, 17). In Phil. 3, 2 fordert der Apostel die Philipper auf: „Sehet auf die Hunde (Arbeiter, die zerreißen und verderben), sehet auf die bösen Arbeiter (Arbeiter, die in Ungehorsam, nach eigenem Gutdünken arbeiten), sehet auf die Zerschneidung (Arbeiter, die, indem sie die Beschneidung das Gesetz) predigten, in Wirklichkeit eine Zerschneidung der Einheit herbeiführten)!“ Diesen Arbeitern stellt der Apostel jene gegenüber, welche nach göttlichen Grundsätzen arbeiteten, indem er fortfährt: Denn wir sind die Beschneidung (die wahre Beschneidung), die wir

1. durch den Geist Gottes dienen und

2. uns Christi Jesu rühmen und

3. nicht auf Fleisch vertrauen“.

Das sind Grundsätze, bei welchen der Mensch nicht zur Geltung kommt und das Fleisch im Tode gehalten werden muss. Sie sind deshalb nicht volkstümlich, nicht allgemein beliebt; aber es sind die Grundsätze, unter deren Befolgung allein unser Werk, unser Dienen und Arbeiten Gott wohlgefällig und wahrhaft ersprießlich sein kann. Möchten wir deshalb stets nach diesen Grundsätzen arbeiten! „Wer nicht mit mir sammelt“, spricht der Herr, „der zerstreut.“

Wenn man das verderbliche Wirken des Menschen, welches wir soeben betrachteten, ins Auge fasst, so kann man wahrlich nicht von einer Entwicklung der Kirche reden, wie das so vielfach geschieht, sondern höchstens von einer Entwicklung des Verderbens in der Kirche. Denn die Vollkommenheit, so weit von einer solchen auf dieser Erde gesprochen werden kann, war im Anfang da. Als die reine Lehre der Apostel noch mit Macht die Herzen der Gläubigen beeinflusste und der Geist Gottes noch ungetrübt wirksam war, da hieß es von den Gläubigen: „Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten“ (Apostelgesch. 2, 42). Die Menge aber derer, die gläubig geworden, war ein Herz und eine Seele (Apostelgesch. 4, 32.) „Von den übrigen aber wagte keiner sich ihnen anzuschließen“ (Apostelgefch. 5, 13). Betrachten wir dagegen den jetzigen Zustand der bekennenden Kirche; welch ein Bild der Zerrissenheit bietet sie; wie ist „die Lehre der Apostel« verdunkelt und verzerrt worden, und wie weit hat die Kirche ihre Tore für die „übrigen“ geöffnet! Der Apostel Paulus sah dieses hereinbrechende Verderben voraus (Apostelgesch. 20, 29. 30), ja, er musste zu seinem größten Schmerz schon den Anfang, „die Keime des Verfalls dessen, wozu er in Treue den Grund gelegt hatte, wahrnehmen. Dies gab ihm Veranlassung, unter der Leitung des Geistes den 2. Brief an Timotheus zu schreiben, der für unsere Tage von der größten Wichtigkeit ist, weil der Geist Gottes darin offenbart, wie der treue „Mensch Gottes“ sich in einem solchen Zustand der Dinge verhalten soll.

Im ersten Briefe hatte der Apostel als ein weiser Baumeister seinem treuen Mitarbeiter über die Verwaltung des ihm vom Herrn anvertrauten Gutes geschrieben, auf dass er wissen möchte, „wie man sich verhalten soll im Hause Gottes, welches die Versammlung des lebendigen Gottes ist, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“ (1. Tim. 3, 15). Wie überaus wichtig die Kenntnis dieses geziemenden Verhaltens ist, geht aus dem hervor, was der Apostel hier von der Versammlung sagt. Sie ist zunächst das Haus Gottes, in welchem Gott hienieden wohnt, „die Behausung Gottes im Geiste“, wie wir in Eph. 2, 22 lasen. Welch ein erhabener Gedanke ist das! Wie stimmt er das Herz so ernst und macht alles, was wir, als zu diesem Hause gehörend, tun, so wichtig! Gott selbst wohnt in der Versammlung auf dieser Erde, wie schwach und unvollkommen ihr Zustand auch sein mag, sie ist Sein Haus. Er beobachtet alle Vorgänge darin und macht mit heiligem Eifer über die Ehre Seines Namens. —— Ferner ist sie die Versammlung des lebendigen Gottes. Gegründet auf die Macht des Lebens in Christo, dem Auferstandenen, dem Sohne des lebendigen Gottes, steht sie da in dieser Welt, aber nicht von der Welt, sondern abgesondert für Gott, als Sein Eigentum, Seine Gemeinde. — Und drittens ist sie der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit. Sie ist nicht die Wahrheit. Christus ist die Wahrheit; so war Er einst hienieden; und das Wort Gottes ist die Wahrheit. Auch lehrt sie nicht die Wahrheit, als wäre sie die Quelle derselben, die Autorität für den .Menschen. Nein, die Wahrheit war da, ehe die Versammlung bestand. Sie ist vielmehr berufen, die geoffenbarte göttliche Wahrheit rein und lauter zu bewahren, sie auf der Erde aufrecht zu erhalten und als Gottes Zeugin darzustellen.

Wie wichtig ist es daher, zu wissen, wie man sich in diesem Hause Gottes verhalten soll! Hätte der Mensch die göttliche Regel und Richtschnur festgehalten, statt seine eigenen Gedanken und Meinungen aufzustellen und mit der Wahrheit zu vermengen, so wäre die Versammlung geblieben, was sie war: „der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“. Sie würde heute noch als solche zur Ehre Gottes dastehen. Aber ach! schon in seinem zweiten Briefe an Timotheus, der nur wenige Jahre nach dem ersten geschrieben wurde, konnte Paulus der Versammlung diesen schönen Titel nicht mehr geben; nein, sie war zu einem „großen Hause“ geworden, in welchem Gefäße zur Unehre neben den Gefäßen zur Ehre Platz, gefunden hatten und neben und mit diesen walteten. Die Grundfeste war, so weit es ihre sichtbare Darstellung auf dieser Erde betraf, bereits erschüttert, der Pfeiler geborsten, das den Menschen anvertraute Werk geschwächt und das Zeugnis verfälscht.

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Die beiden Loblieder in der Offenbarung

Bibelstelle: Offenbarung 1,5 und 5,9-14

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 153ff

Zwischen den beiden Danksagungen oder Lobliedern in Offenbarung 1, 5 u. 6 und 5, 9 — 14 besteht ein wichtiger Unterschied. Dasjenige im 1. Kapitel ist wirklich eine Danksagung; im·5. Kapitel dagegen ist es mehr ein Preisen, ein Feiern dessen, was das Lamm würdig ist zu tun und zu empfangen. Das Loblied im ersten Kapitel ist der Ausdruck des Gottesdienstes oder der dankbaren Anbetung der Erlösten auf der Erde. Im fünften Kapitel befinden wir uns dagegen im Himmel; es ist also mehr eine Vorstellung des himmlischen Gottesdienstes, der Anbetung aller Bewohner des Himmels, ja, aller geschaffenen Wesen im Himmel, auf der Erde und unter der Erde und auf dem Meere. Auch ist zu beachten, dass diese zwei erhabenen Gefühls-Äußerungen nicht nur in sich selbst verschieden sind, sondern auch durch zwei verschiedene Ursachen hervorgerufen werden. Dennoch bleibt es wahr, dass neben dem Unterschied eine große Ähnlichkeit vorhanden ist, und um beides, den Unterschied und die Ähnlichkeit, klar an den Tag zu legen, möchte ich ein wenig in die Einzelheiten dieses großen Gegenstandes eingehen.

Im 4. Verse des ersten Kapitels richtet sich der inspirierte Schreiber des Buches der Offenbarung an die sieben Versammlungen oder Gemeinden, die dazumal wirklich in Asien bestanden, und wünscht ihnen „Gnade und Friede von Dem, der da ist und der da war und der da kommt«, (Jehova-Gott, der ewig Unwandelbare und Seinen Offenbarungen und Verheißungen Getreue,) ,,und von den sieben Geistern, die vor Seinem Throne sind“, (in den Briefen Pauli wird uns der Heilige Geist in Seiner Einheit unter Bezugnahme auf die Einheit des Leibes Christi vorgestellt, es ist ein Geist; hier in der Offenbarung sehen wir Ihn in der siebenfältigen Vollkommenheit Seiner Wirkungen in Verbindung mit den Offenbarungen und

der Vollziehung der Gerichte Gottes) „und von Jesu Christo, welcher ist der getreue Zeuge«, (Er war das in Seinem Dienste auf der Erde,) „der Erstgeborene der Toten“ (in der Macht Seiner Auferstehung) „und der Fürst der Könige der Erde“ (ein Seiner Person in Ps. 2 und Dan. 7 2ff. zuerkanntes Vorrecht). Sobald der Name Jesu erwähnt wird, unter welchem Charakter es auch sei, gibt die Versammlung ihren vom Heiligen Geiste gebildeten Beziehungen und Gefühlen Ausdruck, indem sie sagt: „Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in Seinem Blute und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern Seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in die Zeitalter der Zeitalter! Amen.“

Drei Tatsachen werden hier also anerkannt: Zunächst, was Jesus für uns ist. Er liebt uns. Sein Wesen ist Liebe. „Gott ist Liebe“ „Gleichwie der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben

Hat“ (Eph. 5, 25). Die Liebe leitete Ihn in der Wahl Seiner Braut, der Versammlung; die Liebe war Quelle,

Beweggrund und Triebfeder in all Seinen Handlungen und Wegen mit ihr.

Zweitens wird gesagt, was Jesus für uns getan hat: „Er hat uns gewaschen von unseren Sünden in Seinem Blute“. Nicht unsere Sünden hat Er gewaschen, wie man oft sagen hört, sondern „Er hat uns von unseren Sünden gewaschen in Seinem Blute“. Unsere Sünden wurden am Kreuze verurteilt und bestraft in der Person unseres Stellvertreters; deswegen können wir Sünder, den unbeugsamen Forderungen der Gerechtigkeit Gottes gemäß, von allen unseren Sünden rein gewaschen, und passend gemacht werden für die Gegenwart des dreimalheiligen Gottes. Welch eine unendliche Gnade, besonders wenn man daran denkt, dass die Versammlung dem Ausdruck geben kann im Anfang des Buches der Offenbarung, eines Buches, in welchem gerade die schrecklichen Gerichte gegen eine mit Sünden beladene Welt, der wir einst angehörten, angekündigt werden!

„Drittens hören wir, was Christus nicht nur für uns getan, sondern was Er aus uns gemacht hat: „und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern Seinem Gott und Vater“. In 2. Mose 19, 6 ist schon die Rede von dieser Stellung. Dort wird zu Israel gesagt: „und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation sein“· Aber die Erlangung dieser gesegneten Stellung hing von der Erfüllung einer Bedingung, von einem „Wenn“ ab: „wenn ihr fleißig auf meine Stimme hören und meinen Bund halten werdet“. Man konnte nur dazu gelangen aus dem Boden der persönlichen Verantwortlichkeit, während hier Christus „uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern usw.. Unsere Stellung hängt also nicht von unserem Gehorsam ab, sondern von dem Gehorsam Christi, der in Seinem Tode vollendet wurde. Ferner wurde man in 2. Mose 19 (wenn das auf dem Boden des Gesetzes überhaupt möglich gewesen wäre) „ein Königreich von Priestern“ für und vor Jehova, d. h. vor Gott in dem Charakter, welchen Er dem verantwortlichen Menschen gegenüber annimmt (Vergl. 2. Mose 20, 2). Man stand also aus einem Boden, wo der Mensch in jeder Beziehung zu kurz kam, wo sich nur Fehler und Mängel bei ihm zeigten. Christus dagegen hat „uns gemacht zu einem Königtum, zu Priestern Seinem Gott und Vater“, d. h. Er hat uns in eine Beziehung gebracht, in welcher die Gnade in ihrer vollkommenen Offenbarung zum Ausdruck kommt. — Dies erinnert uns unwillkürlich an die Begegnung des Herrn Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen. Nachdem Er von dem lebendigen Wasser zu ihr gesprochen hatte, offenbarte Er ihr ihren sündhaften Zustand durch die Antwort: „Du hast recht gesagt: Ich habe keinen Mann; denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann; dies hast du wahr geredet.“ Diese Offenbarung führte das arme Weib zu dem Bewusstsein, dass Jesus ein Prophet sei, und sie wünschte nun von Ihm belehrt zu werden, welches der richtige Ort sei, wo man anbeten müsse, Garizim oder Jerusalem. Voll Herablassung antwortete ihr der Herr: „Ihr (Samariter) betet an und wisset nicht, was; wir (Juden) beten an und wissen, was, denn das Heil ist aus den Juden. Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater sucht solche als Seine Anbeter. Gott ist ein Geist, und die Ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten“ (Joh. 4, 22 — 24).

So finden wir denn hier in Offenbarung 1, 6 die Versammlung oder die Christen von vornherein in ihrer priesterlichen Beziehung zu Gott, dem Vater, nicht aber in ihrem Kindesverhältnis zu Ihm. Dieser dritte Punkt erinnert uns an die Vollkommenheit der Liebe, welche nur dadurch befriedigt werden kann, dass sie ihre Gegenstände in den Genuss der eigenen Vorrechte und Verhältnisse bringt, wie es in Christo stattgefunden hat. Er ist der Sohn Gottes, und wir sind zu Kindern Gottes geworden in Ihm. Er ist König und Priester, und Er hat uns zu Königen und Priestern gemacht. Er wollte, dass Seine Freude in uns sei (Joh. 15, 11), und zwar nicht nur teilweise, sondern „völlig“ (Joh.17, 13). Er hat ferner gesagt: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht wie die Welt gibt, gebe ich euch“ (Joh. 14, 27.) Wenn die Welt etwas gibt, so vermindert das ihr Teil, wie groß dieses auch sein mag. Aber so ist es nicht bei Christo, bei Ihm vermindert das Geben nichts. Nur für den unendlichen Gott ist das Unendliche möglich. Ist es ein Wunder, wenn angesichts der berührten Wahrheiten eine volle Freimütigkeit das Herz des einzelnen Christen wie auch der ganzen Versammlung erfüllt? Mag Christus uns vorgestellt werden in Seinem Glanz und Seiner Macht als König, oder in Seiner majestätischen Herrlichkeit als Richter, oder in Seiner Vollkommenheit als Erlöser, oder endlich in Seiner Treue als Gottes Zeuge und in Seiner Hingebung als Gottes Diener; mögen wir Ihn erblicken in der Niedrigkeit Seiner Stellung hienieden, oder in der ganzen Pracht Seiner Verherrlichung droben — immer und überall ist Er Der, „der uns liebt und uns gewaschen hat von unseren Sünden und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern Seinem Gott und Vater“; und immer und überall dürfen wir hinzufügen: „Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in die Zeitalter der Zeitalter! Amen.“ So ist es auch am Ende dieses ernsten Buches. Sobald der Herr sich dort den Versammlungen vorstellt als „die Wurzel und das Geschlecht Davids, der glänzende Morgenstern“, antworten der Geist und die Braut: „Komm!“ -— Möchte denn der Christus durch den Glauben in unseren Herzen wohnen und sie ganz erfüllen, auf dass alles, was sich auf Ihn bezieht, stets solch glückliche und dankbare Gefühle und Antworten in uns hervorrufe!

2.

Wie schon bemerkt, ist im fünften Kapitel der Schauplatz in den Himmel verlegt. Im Anfang des 4. Kapitels heißt es: „Nach diesem sah ich, und siehe: eine Tür aufgetan in dem Himmel, und die erste Stimme, die ich gehört hatte wie die einer Posaune mit mir reden, sprach: Komm hier herauf, und ich werde dir zeigen, was nach diesem geschehen muss“. Nach Kap. 1, 19 teilt sich das Buch der Offenbarung in drei Hauptabschnitte: „Schreibe nun, 1) was du gesehen hast, (d. i. der Inhalt des ersten Kapitels), 2) und was ist (d. i. die Geschichte der Kirche in ihrer Verantwortlichkeit auf dieser Erde, Kapitel 2 und 3) 3) und was geschehen wird nach diesem«. Demnach gehören die Kapitel 4 und 5 schon zu der dritten Abteilung, zu dem was noch zukünftig ist und was erst nach der Wiederkunft des Herrn und der dadurch erfüllten Entrückung Seiner Heiligen stattfinden wird. Johannes ist in diesem Buche nicht der in die geheimen Gedanken seines Lehrers eingeführte Jünger, wie die Evangelien ihn uns vorstellen, noch der Apostel, wie in seinen Briefen, sondern er steht vor uns als Prophet; er erfüllt den Dienst und die Rolle eines Propheten und erscheint zuweilen als ein Bild des Überrestes Israels in den letzten Tagen. Den Versammlungen Asiens stellt er sich vor als „Johannes, unser Bruder und Mitgenosse in der Drangsal und dem Königtum und dem Ausharren in Jesu“ (Kap. 1, 9). — Doch hören wir, was er uns mitzuteilen hat: „Und ich sah in der Rechten Dessen, der auf dem Throne saß, ein Buch, beschrieben inwendig und auswendig, mit sieben Siegeln versiegelt. Und ich sah einen starken Engel, der mit lauter Stimme ausrief: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu brechen? Und niemand in dem Himmel, noch auf der Erde, noch unter der Erde vermochte das Buch zu öffnen, noch es anzublicken.“ Johannes weinte darüber. (Hierin könnte er wohl den Überrest Israels, die irdischen Heiligen im Gegensatz zu den himmlischen Heiligen, vorstellen.) Das Buch enthält alle Offenbarungen der Ratschlüsse und Vorsätze Gottes, deren Verwirklichung und Ausführung in Seiner Hand oder Macht ruht. Aber es ist vollkommen versiegelt; ja, man könnte es mit dem versiegelten und aufbewahrten Kaufbrief in Jer. 3.2 vergleichen, dessen Siegel nur der Eigentümer, der Erbe des Feldes, brechen durfte. Das Buch ist gleichsam das Buch der Erbschaft, welche Jesu, dem Sohne, dem Erben, zufallen soll, oder die Beschreibung der Art und Weise, in welcher Er diese Erbschaft in Besitz. nehmen wird. Die Erbschaft gehörte schon dem ersten Adam; aber durch seinen Fall verlor er sie, und alles fiel unter die Macht Satans, der es dazu benutzte, die Menschen zu verderben und immer weiter von Gott zu entfernen. Daher musste die ganze Erbschaft, sowohl die Schöpfung als auch die Geschöpfe, erkauft werden. Satan hat sich auf unrechtmäßigem Wege in den Besitz derselben gesetzt; es ist nicht etwa so, wie er bei der Versuchung des Herrn vorgab: „Ich will

dir alle diese Gewalt und ihre Herrlichkeit geben, denn mir ist sie übergeben“ u. s. w. Nein, alles was Satan besitzt, hat er sich durch Raub zu eigen gemacht. Der Herr aber wollte nichts aus der Hand Satans nehmen mittelst einer Handlung des Ungehorsams und der Untreue. Er ist vielmehr durch Gehorsam in den Besitz Seiner Erbschaft als der zweite Adam eingetreten, und zwar mittelst der Erlösung. Und wenn Er uns im 1. Kapitel zu einem Königtum gemacht hat, zu Priestern Seinem Gott und Vater, so hat Er hier für Gott erkauft, durch Sein Blut, aus jedem Geschlecht u. s. w. Das verleiht Seinem Erlösungswerke einen ganz besonderen Wert und darum auch Seiner Würdigkeit einen ganz besonderen Glanz.

Doch bevor wir auf den Inhalt des Liedes näher eingehen, noch ein Wort über die, welche es singen. Es

sind vierundzwanzig Älteste, die »auf Weisheit gemerkt und ihr Herz zum Verständnis geneigt haben“ (Spr. 2, 2). Es scheint eine Anspielung zu sein auf die 24 Abteilungen der Söhne Aarons in 1. Chron. 24. Vierundzwanzig ist eine vollkommene Zahl: zweimal zwölf. Es gab zwölf Patriarchen oder Geschlechtshäupter in Israel, und zwölf Apostel im Neuen Testament. Wir können daher aus dieser Doppelzahl wohl auf die Heiligen der beiden Haushaltungen (der alt- und neutestamentlichen) schließen; jedenfalls sind esdie himmlischen Heiligen, die wir in dem Bilde der 24 Ältesten erblicken, und sicher sind die Heiligen der Jetztzeit unter ihnen. Im 4. Kapitel sitzen sie auf Thronen, sind mit weißen Kleidern bekleidet und tragen goldene Kronen auf ihren Häuptern. (V. 4.) Hier im 5. Kapitel hat ein jeder von ihnen eine Harfe und goldene Schalen voll Rauchwerk. (V. 8.) Sie sind ein Königtum von Priestern, und zwar ist ihr Dienst weniger vermittelnd und fürbittend, als vielmehr Anbetung darbringend. Indes dürfen wir diese Bezeichnung „Könige und Priester“ nicht ausschließlich auf die Versammlung oder Gemeinde Christi beziehen; denn auch die Heiligen des Alten Testamentes werden ihren Platz im Reiche Christi haben, (S. Matth. 8, 11; Luk. 13, 28 und 29; 22, 30; vergl. auch Dan. 12,13) und späterhin auch die, welche während der Offenbarung des Antichristen als Zeugen Gottes auf der Erde auftreten werden. (Vergl. Offbg. 6, 9 —11 und 20, 4). Allein es ist nicht gerade die Hauptfrage, wer singt, als vielmehr was gesungen wird.

Einer der Ältesten tröstet den weinenden Propheten mit den Worten: „Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe, der aus dem Stamme Juda ist, die Wurzel Davids, das Buch zu öffnen und seine sieben Siegel“. Ja, Jesus allein vermag das Buch zu nehmen und die sieben Siegel zu brechen, oder mit anderen Worten: alle die angekündigten Ereignisse, welche Sein Reich ein- führen sollen, in Vollzug zu setzen, gleichsam abzurollen. Und warum vermag Er dies? Nicht weil Er der Löwe aus dem Stamme Juda oder die Wurzel Davids ist, (obwohl Er beides ist und also auftreten wird,) sondern weil Er überwunden hat. So preist Ihn auch das neue Lied würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen. „Denn“, so hören wir die Sänger sagen, „du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft, durch dein Blut, aus jedem Geschlecht und Sprache und Volk und Nation, und hast sie unserem Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden über die Erde „herrschen!“ (V.9.10). — Nur das Letztgenannte ist zukünftig.

Hier ist also gleichfalls die Rede von dem, was das Lamm durch Sein Blut getan hat, wie im ersten Kapitel, aber während dort vornehmlich das gewürdigt wird, was für uns ist, (das „uns“ oder „unser“ findet

man viermal) feiert man hier im 5. Kapitel mehr die Würdigkeit Dessen, der verlorene Sünder errettet und sie Gott zu Königen und Priestern gemacht hat. Die unmittelbare Bezugnahme auf die Singenden selbst steht hier nicht im Vordergrunde. Sie sagen: „Du hast für Gott erkauft aus jedem Geschlecht usw.. und sie gemacht“ u. s. w. Wer sind diese „sie“? Ich denke alle, alle, die durch das Blut des Lammes für Gott erkauft worden sind, welchen Zeitaltern oder Haushaltungen sie auch angehören mögen.

Die 24 Ältesten singen zuerst allein (oder vielleicht in Verbindung mit den vier lebendigen Wesen), was das Lamm würdig ist zu tun, nämlich „das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen“, und wir haben schon bemerkt, warum es dessen würdig ist; aber im 11. Verse erheben zahllose Engelscharen ihre Stimmen, um zu verkündigen, was das Lamm würdig ist zu empfangen. Es ist immer das Lamm, das geschlachtet worden ist, aber doch besteht ein charakteristischer Unterschied zwischen dem, was die Engel sagen, und den beiden Lobliedern, die wir betrachtet haben. Die Engel sind nicht Gegenstände der Liebe und Gnade Gottes, wie sie sich in der Erlösung geoffenbart haben; sie bedürften der Erlösung nicht, weil sie in ihrer ursprünglichen Stellung erhalten geblieben sind; aber die Engel waren und sind Zuschauer und Zeugen der Gnadenwege Gottes in der Erlösung und mit den Erlösten, und nach Hebr. 1, 6 verrichten sie hier was Gott ihnen geboten und für sie verordnet hat. Und nicht nur wird hier Herrlichkeit und Macht dem Herrn dargebracht, d. h. die beiden Dinge, welche besonders Sein Königtum kennzeichnen werden, sondern auch Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Segnung. Alles was Ihm hienieden von seiten Israels und der Welt nicht zuerkannt, ja, entschieden verweigert worden ist, und woraus Er in Seiner Liebe und Unterwürfigkeit für eine Zeit verzichtet hat, wird Ihm hier zu teil. Die Ältesten und die lebendigen Wesen und die Engel —— alle, alle preisen das Lamm und nennen es würdig, alle jene Dinge zu empfangen; und das Lob setzt sich fort und ruft in dem ganzen Weltall ein lautes Echo wach: »Und alle Kreatur, die in dem Himmel und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Meere ist, und alles, was in ihnen ist, hörte ich sagen: Dem, der aus dem Throne sitzt, und dem Lamme die Segnung und die Ehre und die Herrlichkeit und die Macht in die Zeitalter der Zeitalter!“ -— Nach Dan. 7,13ff. empfängt der Herr als Sohn des Menschen alles aus der Hand des Alten an Tagen.

Und nun noch ein Wort, Geliebte! Wenn wir um den Tisch des Herrn versammelt find, um Sein Gedächtnismahl zu begehen, so können wir mit dankerfülltem Herzen das Lied des ersten Kapitels singen; und je mehr wir von Seiner Person erfassen und von einem Gefühl Seiner Größe und Erhabenheit durchdrungen werden, desto mehr werden wir imstande sein, auch das zu feiern und zu preisen, was das geschlachtete Lamm Gottes würdig ist zu tun und zu empfangen, und dies wird unserem Gottesdienst ein himmlisches Gepräge verleihen zur Ehre und zur Freude Gottes, des Vaters. „Denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen“ (Hebr. 13, 15. 16).

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Gedanken über den 23. Psalm

Bibelstelle: Psalm 23

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 164ff

„Auch wenn ich wanderte im Tale des Todesschattens, fürchte ich nichts Übles, denn du bist bei mir; dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich" (V. 4). Man denkt und sagt vielfach, dieser Vers beschreibe die Erfahrungen des Gläubigen bei seinem leiblichen Tod, wenn Leib und Seele voneinander getrennt werden. „Das Tal" ist dann der Pfad oder der Raum, der zwischen den beiden Bereichen des Lebens, des diesseitigen und des jenseitigen, liegt, und man meint, der Gläubige habe, obwohl dieser Pfad finster und rau sei, doch nichts Übles zu befürchten, weil des Hirten Stecken ihn leite und Sein Stab ihn tröste.

Ohne Zweifel hat die abscheidende Seele alle Ursache im feierlichen Augenblick des Todes ruhig und getrost auf den Herrn zu vertrauen; sie darf sich, im Blick auf jenen kurzen, geheimnisvollen Übergang aus der Zeit in die Ewigkeit mit voller Zuversicht Ihm überlassen. Aber wir glauben, dass die vorliegende Stelle sich weniger auf den eigenen Tod des Gläubigen bezieht, als vielmehr auf die dunklen Schatten, die der Tod anderer über seinen Pfad verbreiten mag. Für die Seele, die im Glauben abscheidet, gibt es keine Schatten; im Gegenteil, alle Schatten entfliehen, alles Niederbeugende und Niederdrückende bleibt dahinten, und nur Licht und Freude liegen vor ihr. Für die Zurückbleibenden dagegen ist der Tod schmerzlich, und die Schatten sind vielleicht tief und dunkel.

Da ist z. B. eine treue, innig geliebte Gattin und Mutter heimgerufen worden. Ihr Platz ist leer; der liebliche Familienkreis ist zerrissen, das ganze Haus mit Schmerz und Trauer erfüllt. Für die des Teuersten hienieden beraubten Herzen ist der einst so glückliche, sonnenbeschienene Pfad zu einem „Tal des Todesschattens" geworden. Aber während hier unten Schatten und Nebel den Glaubensblick trüben und die Seele niederbeugen wollen, weilt die Entschlafene in dem klaren, reinen Licht Gottes und in der unvermischten Segnung Seiner Gegenwart.

Die Erfahrung des gläubigen Pilgers ist, im Vergleich mit den bisher betrachteten Versen dieses Psalms, eine ganz andere geworden, obgleich er sich nach wie vor unter der liebenden Sorge und der mächtigen Leitung seines guten Hirten befindet. Alles ist verändert: das Licht hat sich in Finsternis, die Freude in Leid, die Kraft in Schwachheit verwandelt. Welch eine Veränderung! Im dritten Vers hat der Pilger die Wasser von Mara gekostet, im vierten Vers sieht er sich mitten in sie hineingeworfen. Aber der Herr Selbst hat es getan, und darum muss es weise und gut sein; denn je tiefer die Trübsal, je größer der Schmerz, desto stärker gibt sich Seine Liebe und Hirtentreue darin kund. „Du bist bei mir!" sagt der Glaubende, Du, der Du nicht nur die Bitterkeit der Wasser der Trübsal, sondern auch ihre Tiefe kennst, wie keiner von Deinem Volke sie kennen kann.

Doch noch ein erläuterndes Beispiel, um zu zeigen, dass der Psalmist nicht an seinen eigenen Tod denkt. Ein geliebtes Glied der Familie liegt krank, sehr krank; alle Hoffnung auf Genesung ist dahin; aber noch ist die Seele in ihrer Leibeshütte, Gedanken können noch ausgetauscht, Worte der Liebe noch gewechselt werden. Die Todesschatten drohen, aber der Tod ist noch nicht eingetreten. In demselben Augenblick aber, da die Seele in jene unsichtbare Welt hinübergegangen ist, hört jener Verkehr auf, für immer auf. Der Vorhang, der die beiden Zustände des Seins voneinander trennt, ist undurchdringlich, kann auch nicht beiseite geschoben werden. Der Glaube allein darf die Schwelle überschreiten, und er sieht die entschlafenen Lieben in der ewigen Ruhe, daheim bei Jesu, im Paradies Gottes! Bei dem Gedanken daran wird das Auge hell, und Freude und Dank erfüllen das Herz; doch vielleicht schon im nächsten Augenblick lässt eine liebe Erinnerung den Schmerz aufleben, das Auge füllt sich mit Tränen, und Traurigkeit beugt die vereinsamte Seele nieder. Alles, alles, außer dem hochgelobten Herrn selbst, scheint verloren zu sein. Die innigsten Bande sind zerrissen, der Tod ist eingekehrt; man wandert durch das Tal des Todesschattens. Wie gern möchte man noch einmal die liebe Stimme hören; aber sie ist verstummt auf immer; Stille, Todes stille herrscht im Hause.

Wäre es möglich, auf irgendeine, wenn auch noch so ungenügende Weise Gedanken und Gefühle mit den Abgeschiedenen auszutauschen, so wäre der Tod nicht länger der Tod. Wir müssen uns ja oft in diesem Leben voneinander trennen und haben gleichwohl nicht das Gefühl eines großen, unersetzlichen Verlustes. Briefe gehen hin und her und halten die Verbindung aufrecht; man kann dem Abwesenden im Geiste auf seiner Reise, bei seiner Arbeit folgen, die Freude des Wiedersehens im Voraus sich ausmalen - mit einem Wort, der geliebte Mensch ist uns nicht wirklich genommen. Aber sobald der Herr eine Seele zu Sich ruft, ist jede derartige Gemeinschaft zu Ende, und wir fühlen die schmerzliche Trennung. Mag auch das Herz noch so sehnlich danach verlangen, ein Wort an den Entschlafenen zu richten oder etwas von ihm zu hören, alle solche Wünsche sind unerfüllbar*). Die Entschlafenen wachen nicht wieder auf, sie hören weder die tiefen Seufzer, noch sehen sie die strömenden Tränen ihrer Lieben. - Das ist der Tod, der Tod des sterblichen Leibes, und die Zurückgebliebenen erfahren, dass sie im „Tale des Todesschattens" sind; ja, die Schatten werden zuweilen so tief und dicht, dass selbst die Sonne am Himmel ihren Glanz verloren zu haben scheint.

Zu solchen Zeiten wird der Feind sicherlich versuchen, seine feurigen Pfeile auf die bekümmerte Seele abzuschießen. Gedanken an die Vergangenheit, besorgte Blicke in die Zukunft, Zweifel an der unwandelbaren Liebe und Treue Gottes, quälende Fragen, ob man auch alles getan und nichts in der Pflege versäumt habe, Selbstvorwürfe stürmen auf das arme Herz ein, das sich darin gefällt - so töricht ist das menschliche Herz! -, in seinem eigenen Schmerz zu wühlen und den Stachel immer tiefer einzudrücken. O welch ein Glück und welch eine Gnade, dass der gute und große Hirte der Schafe in solchen Stunden der Seele nahe ist! Er lässt Seine freundlich mahnende und liebevoll tröstende Stimme hören. Das tränenüberströmte Auge richtet sich auf Ihn, und das arme Herz wird still. Die bange, zagende Seele fühlt, wie Er sie in Seine Liebesarme zieht, wie Er sie birgt vor den Anläufen des Feindes und weit, weit emporhebt über alles Sichtbare, über ihre rein menschlichen Gefühle. Wie würden wir wohl solche Prüfungen und Kämpfe bestehen können, wenn wir nicht mit dem Psalmisten sagen dürften: „Du bist bei mir; dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich"?

Fußnoten:

*) Der vermeintliche Verkehr, den die sogenannten Spiritisten mit den Verstorbenen pflegen, ist, soweit er nicht auf Schwindel und Sinnestäuschung beruht, Teufelswerk.

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Halte fest was du hast!

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 169ff

II.

2. Ein Gefäß zur Ehre, nützlich dem Hausherrn. (2. Tim. 2, 19 —- 26).

Wenn der Apostel Paulus am Schlusse des ersten Briefes an Timotheus, wo er Voraussehend den Verfall

ankündigt, und im zweiten Briefe, wo bereits der Anfang des Verfalls seinen Geist beschäftigt, die Entwicklung des Verderbens schildert, so leitet er die Anweisungen, Ermahnungen usw., die er im Gegensatz, zu den besprochenen Erscheinungen gibt, häufig mit den Worten ein: „Du aber“ . . . . „du aber, o Mensch Gottes“. — Das ist höchst beachtenswert, indem es uns belehrt, dass, wenn die Versammlung als Körperschaft auf der Erde aufgehört hat, ihre himmlische Stellung zu verwirklichen, die Verantwortlichkeit des einzelnen Gläubigen nicht aufhört; oder mit anderen Worten, dass ein solchem Falle jedem einzelnen Gläubigen die Möglichkeit nicht genommen ist, den Platz, der Treue einzunehmen und die Grundsätze dessen, „was von Anfang war“, zu verwirklichen. — Bist du, lieber Leser, „ein Mensch Gottes“, so gilt auch dir dieses „du aber“; ·und verlangt dein Herz, nach den Gedanken Gottes zu leben, so freue dich, in diesen Belehrungen des Apostels Seine Gedanken in Bezug auf dein Verhalten in diesen

letzten Tagen, wo der Verfall seinem Höhepunkt entgegengeht, kennen zu lernen. Aber lass es dir nicht bloße Erkenntnis sein, sondern zur Herzenssache werden; denn auch hier gilt das Wort des Herrn: „Wenn jemand Seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist, oder ob ich aus mir selbst rede“ (Joh. 7, 17). Möchtest du mit Jeremias sagen können: „Deine Worte waren vorhanden, und ich habe sie gegessen, und deine Worte waren mir zur Wonne und zur Freude meines Herzens; denn ich bin nach deinem Namen genannt, Jehova, Gott der Heerscharen“! (Jeremia 15, 16).

Es würde uns zu weit führen, wenn wir an dieser Stelle die verschiedenen Belehrungen, welche in diesen beiden Briefen dem Menschen Gottes gegeben werden, beleuchten wollten. Für unseren Zweck genügt die Betrachtung des Textes, der an der Spitze dieses Abschnittes steht; (2. Tim. 2, 19 — 26). Angesichts der erfolgreichen Bemühungen des Feindes durch Lehrer aus der Mitte der Versammlung, wie Hymenäus und Philetus, die Wahrheit zu erschüttern, sagt der Apostel: „Doch der feste Grund Gottes steht (er ist unwandelbar trotz aller Verwirrung und aller Untreue des Menschen) und hat dieses Siegel: 1) Der Herr kennt die Sein sind (inmitten des allgemeinen Verfalls und der Vermengung des Reinen mit dem Unreinen); und: 2) Jeder, der den Namen des ;Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit“. Das unerschütterliche Feststehen dieses Grundes ist ein Trost, aber zugleich eine ernste Mahnung für diejenigen, welche berufen sind, ein Brief Christi zu sein, gekannt und gelesen von allen Menschen. Die Gnade, in welcher wir stehen, ist kostbar für das Herz; aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie stets mit der Verantwortlichkeit verbunden ist. So lesen wir auch in Hebr. 12, 28. 29: „Deshalb, da wir ein unerschütterliches Reich empfangen, lasst uns Gnade haben, durch welche wir Gott wohlgefällig dienen mögen mit Frömmigkeit und Furcht. Denn auch unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.“

Der Mensch Gottes ist verantwortlich, abzustehen von der Ungerechtigkeit, welcher Art sie auch sein mag. „Stellet nicht eure Glieder der Sünde dar zu Werkzeugen der Ungerechtigkeit, sondern stellet euch selbst Gott dar als Lebende aus den Toten, und eure Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit“ (Röm. 6, 13), so ermahnt der Apostel. Die Gläubigen zu Rom; hier beleuchtet er eine andere Art von Ungerechtigkeit, wenn er sagt: „In einem großen Hause aber sind nicht allein goldene und silberne Gefäße, sondern auch hölzerne und irdene; die einen zur Ehre, die anderen aber zur Unehre“. Wir haben schon früher gesagt, dass das „große Haus“ die-bekennende Kirche auf der Erde in ihrem verfallenen Zustande bezeichne. Sie ist nicht mehr eine Gemeinschaft von Gläubigen, die als ganze Körperschaft sich ihrer himmlischen Stellung bewusst ist und den Charakter der Fremdlingschaft in einer gottfeindlichen Welt zur Schau trägt, sondern sie ist zu einer Vermengung von Gefäßen zur Ehre und von solchen zur Unehre geworden. Das ist ihre Ungerechtigkeit. Darum werden wir im 2. Briefe an die Korinther aufgefordert, nicht in einem ungleichen Joche mit Ungläubigen zu sein. „Denn welche Genossenschaft hat Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? Oder welche Gemeinschaft Licht mit Finsternis? und welche Übereinstimmung Christus mit Belial? oder welches Teil ein Gläubiger mit einem Ungläubigen? Und welchen Zusammenhang der Tempel Gottes mit Götzenbildern? Denn ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: „Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein“. Darum gehet aus aus ihrer Mitte und sondert euch ab, spricht der Herr, und rühret Unreines nicht an, und ich werde euch aufnehmen; und ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr, der Allmächtige“ (2. Kor. 6, 14 18). Und in unserem Texte heißt es: „Wenn sich nun jemand von diesen (d. h. den Gefäßen zur Unehre) reinigt *), so

wird er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich (oder brauchbar) dem Hausherrn, zu jedem guten Werke bereitet“.

Mein lieber Leser! Bist du ein Gefäß zur Ehre, ein Kind Gottes, teuer erkauft durch das Blut Jesu Christi? Und wenn du es bist, begnügst du dich damit, das zu sein? oder wünschest du, ein nützliches, brauchbares Gefäß für den Hausherrn zu werden? Wenn letzteres der Fall ist, dann ist heilige Absonderung geboten. Ja Israel bewirkte die Berührung eines Toten Verunreinigung. In der Kirche Gottes wird das Gefäß zur Ehre durch die Verbindung mit den Gefäßen zur Unehre verunreinigt und ist infolge dessen nicht für jedes gute Werk bereit, welches der Hausherr mit ihm verrichten möchte. Hier also tritt an einen jeden, der den Namen des Herrn nennt, die ernste Frage heran: Wo stehe ich? In welcher Verbindung bin ich? Kann der heilige Gott, oder unter uns wohnen und wandeln will, eine unheilige Verbindung anerkennen? Vielleicht entfaltet man in derselben eine große Tätigkeit auf religiösem Gebiet; aber ist es eine von dem Hausherrn gewirkte und anerkannte Tätigkeit? Das ist die sehr wichtige Frage. Wir vergessen so gern, dass der Herr nicht zunächst Tätigkeit, sondern Gehorsam von uns fordert. „Siehe, Gehorchen ist besser als Schlachtopfer, Aufmerken besser als das Fett der Widder“ (1. Sam. 15, 22). Aber ach! das Gehorchen gefällt unserer Natur so schlecht; es bleibt so gar nichts für das arme, eigenliebige Ich dabei übrig, nichts, woran sich das fromme Fleisch ergötzen, worin der gesetzliehe Sinn sich gefallen oder das kleingläubige Herz einen Ruhepunkt finden könnte.

Indessen möchte der eine oder andere Leser fragen: „Wie? soll ich mich denn von der Kirche trennen?“ Keineswegs! Das wäre ganz unmöglich. So lange du auf Erden bist, bleibst du ein verantwortliches Glied dieser Kirche, welche jetzt ein großes Haus mit gemischten Grundsätzen geworden ist. Du kannst sie nicht verlassen, du müsstest denn das Christentum überhaupt aufgeben und Jude, Heide oder Mohammedaner werden. Nein, du sollst nicht aus dem Hause hinausgehen, sondern in dem Hause dich reinigen; denn da finden sich viele unheilige, schriftwidrige Verbindungen zwischen Gläubigen und Ungläubigen, sowie Parteiungen aller Art, welche die Einheit der Kirche als sichtbare Körperschaft zerstört haben; von solcher Ungerechtigkeit sollst du abstehen.

Aber, wirst du sagen, das würde zur Folge haben, dass ich mich nicht nur von den Gefäßen zur Unehre, sondern auch von manchen Gesäßen zur Ehre trennen müsste; und wir lesen doch nirgend im Worte Gottes, dass wir uns von Gläubigen trennen sollen. Die Antwort hierauf ist einfach. Wenn ein Gefäß zur Ehre aus irgendwelchen Gründen sich weigert, sich von den Gefäßen zur Unehre zu trennen, so fällt dieses Gefäß für mich, der ich dem wohlgefälIigen Willen Gottes Gehör geben will, unter dasselbe Urteil, wie die Gefäße zur Unehre.

Aber, so wirst du weiter fragen, muss eine solche Trennung von Gläubigen nicht als Lieblosigkeit aufgefasst werden, und wird nicht damit das Gebot des Herrn: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe unter einander habt“ (Joh. 13, 35), beiseite gesetzt? Durchaus nicht. Denn „hieran wissen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und Seine Gebote halten. Denn dies ist die Liebe Gottes, dass wir Seine Gebote halten“ (1. Joh. 5, 2. 3). Wir beweisen also gerade dadurch unsere Liebe zu den Kindern Gottes, dass wir dem Gebote des Herrn gehorchen und uns, was auch die Folgen sein mögen, von den Gesäßen zur Unehre trennen.

Doch du wendest ein: „Ich meine, dass in erster Linie nicht das Verständnis über die verkehrte Stellung, sondern der geistliche Zustand des Herzens, also nicht die Frage: wo steht die Seele? sondern: wie steht die Seele? maßgebend ist. Auf die äußere Absonderung kommt es doch weniger an, als auf die innere“ Scheinbar hast du Recht, und dennoch irrst du. Gottes Gedanken sind andere. Die erste Frage, die Er einst an den in Sünde gefallenen Menschen richtete, lautete: „Adam, wo bist du?“ Dann erst fragte Er: „Was hast du getan?“ Ferner wirst du zugeben, dass eine innere Absonderung nur unter der gnädigen Hülfe des Herrn mittelst der Wirksamkeit Seines Heiligen Geistes möglich ist; denn außer Ihm und ohne Ihn können wir nichts tun. Meinst du nun, der Herr werde dich innerlich absondern, wenn du dich weigerst,

Seiner ernsten Ermahnung, auch äußerlich von der Ungerechtigkeit abzustehen und dich von den Gefäßen zur Unehre zu trennen, Folge zu geben? Meinst du, für Ihn sei das eine weniger wichtig als das andere? Sicherlich nicht. Schon die Natur lehrt, dass die Berührung des Unreinen zur Unreinigkeit führt, dass es in einer unreinen Umgebung äußerst schwierig ist, sich rein zu erhalten, und noch schwieriger, sich zu reinigen. Dazu muss man die unreine Umgebung verlassen. In Seinem herrlichen Gebet sagt Jesus: „Ich heilige mich selbst (d. h. ich sondere mich selbst ab) für sie, aus dass auch sie Geheiligte (Abgesonderte) seien durch Wahrheit“ (Joh. 17, 19). Er ist als der verherrlichte, himmlische Mensch in die Himmel hinaufgestiegen. Er hat den Schauplatz der Sünde, auf welchem wir uns befanden und auf den Er herabsteigen musste, um uns herauszunehmen, verlassen und hat sich gesetzt zur Rechten Gottes; und nun will Er, dass wir geheiligt werden durch die Erkenntnis dessen, was Er als der aus solche Weise Abgesonderte ist, damit wir Abstand nehmen von jeder unheiligen Verbindung, von jeder Berührung mit der Ungerechtigkeit, in welcher Form sie sich auch zeigen möge. „Auf dass auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit“.

Es ist auch sehr beachtenswert, dass in unserem Texte die innere Absonderung auf die äußere folgt. Die Ermahnung: „die jugendlichen Lüste aber fliehe“, steht erst an zweiter Stelle. Dieselbe Ordnung finden wir in dem bereits angeführten Abschnitt aus 2. Kor. 6. Nachdem der Heilige Geist dort gesagt hat: „Gehet aus aus ihrer Mitte und sondert euch ab und rühret Unreines nicht an“, also eine äußere Absonderung geboten hat, heißt es weiter: „Da wir nun diese Verheißungen haben, Geliebte, so lasst uns uns selbst reinigen von jeder Befleckung des Fleisches (Tatsünden) und des Geistes (Gedankensünden) und die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes“ (2. Kor. 7,1), d. h. also auch innerlich von allem Bösen abgesondert sein. Beachten wir es daher wohl: die Verheißungen werden der Treue hinsichtlich der äußeren Absonderung gegeben; aber den also von der Welt Abgesonderten und mit Gott in Verbindung Gebrachten geziemt ein Wandel in Heiligkeit und Reinheit des Herzens.

Lieber Leser, erwäge dies! Wenn du dich nach dieser göttlichen Regel richtest, kann es nur gesegnet für dich sein. Nicht als wollte ich der äußeren Absonderung auf Kosten der inneren das Wort reden. Das sei ferne! Wenn du aber meinst, der inneren gebühre der Vorrang vor der äußeren, und diese sei weniger wichtig als jene, so verkehrst du die göttliche Ordnung und setzest dich in Widerspruch mit dem Worte Gottes. Und willst du dich mit der inneren Absonderung unter Hintansetzung der äußeren beschäftigen und einseitig aus jene dringen, so kann das nur ein gesetzliches Wirken, wenn nicht gar ein Trachten nach Heiligung des Fleisches hervorrufen.

Andererseits ist eine äußere Absonderung ohne die innere ebenso verhängnisvoll. Wir müssen uns daher wohl hüten, die beiden Arten von Absonderung voneinander zu trennen. Es ist Heuchelei, eine äußere Absonderung zur Schau zu tragen, und dabei die Welt und das Böse im Herzen zu haben. Ja, ein solcher Zustand ist im Grunde noch verwerflicher und in seinen Folgen noch schlimmer, als der soeben beschriebene. Prüfen wir uns, die wir den Platz äußerer Absonderung eingenommen haben, deshalb ernstlich, ob die innere Absonderung gleichen Schritt damit gehalten hat. „Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, welcher Heuchelei ist. Es ist aber nichts verdeckt, was nicht ausgedeckt, und verborgen, was nicht kundwerden wird“ (Luk. 12, 1. 2). So· sprach einst der Herr, und ach! wie manchmal hat Er solchen Sauerteig in unserer Mitte aufdecken müssen! Möge es darum allezeit unser herzlich und aufrichtig begehrtes Ziel sein, im Verborgenen vor Gott zu wandeln! „Der verborgene Mensch des Herzens in dem unverweslichen Schmuck des sanften und stillen Geistes ist vor Gott sehr köstlich“ (1.Petr. 3, 4.) Ein Herz, das im Verborgenen im Lichte Gottes wandelt, ist ein aufrichtiges Herz. Gebe Gott, dass wir stets mit David sagen können: „Ich weiß, mein Gott, dass du das Herz prüfst und Wohlgefallen hast an Aufrichtigkeit“ (1. Chron. 29, 17.) Und: „Denn gerecht ist Jehova, Gerechtigkeiten liebt Er. Sein Angesicht schaut den Aufrichtigen an“ (Ps. 11, 7).

Doch unser Text gibt dem ,,Menschen Gottes« noch weitere Belehrung. Wenn ein solcher den Platz der Absonderung vom Bösen verstanden hat und ihn zu verwirklichen sucht, so soll er weiter dem Guten nachstreben. „Strebe aber nach Gerechtigkeit, Glaube, Liebe, Frieden“ Diese Dinge kennzeichnen das praktische Christentum, den Wandel mit Gott. An die Stelle der Ungerechtigkeit soll die praktische Gerechtigkeit treten, der Ausfluss der göttlichen Gerechtigkeit, welche uns in Christo zu teil geworden ist; an die Stelle des Unglaubens oder Kleinglaubens der Glaube; an die Stelle der Parteisucht die Liebe; an die Stelle der Unruhe der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt und unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu bewahrt. Aber der Gläubige soll nicht allein diesem Ziele zustreben, sondern „mit allen denen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen“, die in Gottesfurcht wandeln. Der treue Herr, dessen Wort er sich unterworfen hat, wird ihn solche finden lassen, die von gleichen Beweggründen geleitet werden, die sich getrennt haben von den Gefäßen zur Unehre und nun den Herrn anrufen aus einem ausrichtigen, ungeteilten Herzen.

Man hört oft behaupten, es sei unmöglich, solche Gläubige in der allgemeinen Verwirrung zu unterscheiden, wo nur noch der Herr die kenne, die Sein sind. Aber eine solche Behauptung steht in unmittelbarem Widerspruch mit der bestimmten Anweisung des Apostels, die doch gerade für eine solche Zeit des Verfalls gegeben ist; sie muss also durchaus böse sein. Nein, wenn der Herr uns auffordern lässt, uns mit solchen zu vereinigen, die Ihn anrufen aus reinem Herzen, so folgt daraus, dass es nicht nur möglich, sondern auch unsere Pflicht ist, solche zu unterscheiden, anzuerkennen und mit ihnen zu wandeln.

Alle, welche auf solche Weise, in Unterwürfigkeit unter das Wort Gottes, sich von der Ungerechtigkeit getrennt haben, werden auch von dem Wunsche beseelt sein, sich in allem den Anordnungen Gottes, die Er Seiner Versammlung oder Kirche gegeben hat, zu unterwerfen. Die Worte des Herrn: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“, sind für sie kein leerer Schall. Jesus ist der Gegenstand ihres Herzens und der Mittelpunkt, um den sie sich versammeln. Der Heilige Geist (nicht der Mensch) hat die Leitung, und das Wort Gottes (und nur dieses) ist ihres Fußes Leuchte, und das Licht für ihren Pfad. Wie die Kirche im Anfang, so werden auch sie bestrebt sein, „zu verharren in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten“. — Sie kommen nicht zusammen als eine Partei, als irgend Eine besondere Gemeinschaft oder Benennung, sondern als Glieder des Leibes Christi, welche sich mit allen Gliedern desselben Leibes, wo sie auch stehen mögen, eins fühlen; „denn sie alle sind durch einen Geist zu einem Leibe getauft“. Sie bemühen sich nicht, eine Einheit zu machen, bzw. die zerstörte sichtbare Einheit des Leibes wiederherzustellen, sondern befleißigen sich, die Einheit des Geistes im Bande des Friedens zu bewahren, d. h. die Einheit, die der Heilige Geist gemacht hat, zu verwirklichen; und indem sie sich den Anordnungen Gottes in Einfalt unterwerfen, wandeln sie in Frieden. — Dass alles dieses in Schwachheit und Unvollkommenheit geschieht, brauche ich nicht zu sagen.

Es ist einleuchtend, dass eine solche Stellungnahme nicht nur den Hass der Gefäße zur Unehre, sondern auch den Ärger oder gar die Bitterkeit derjenigen Gefäße zur Ehre, welche sich von jenen nicht trennen wollen, hervorrufen wird. Aber was macht das aus, wenn man weiß, dass man die Anerkennung des Herrn besitzt, der stets auf Seiten der Wahrheit und Gerechtigkeit steht? „Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?“ Er hat uns auch nicht in Unkenntnis darüber gelassen, wie wir uns in solchen Fällen zu verhalten haben. Wir lesen in unserem Text: „Ein Knecht des Herrn aber soll nicht streiten, sondern gegen alle milde sein, lehrfähig, duldsam, der in Sanftmut die Widersacher zurechtweist, ob ihnen Gott nicht etwa Buße gebe zur Erkenntnis der Wahrheit“.

„So viele nach dieser Richtschnur wandeln werden —- Friede über sie und Barmherzigkeit, und über den Israel Gottes!“ (Gal. 6, 16.) Es ist ein gesegnetes Teil, zu wissen, dass die Untreue und der Verfall der Kirche kein Hindernis für den ,,Menschen Gottes« sind, als ein treuer Zeuge für die göttliche Wahrheit dazustehen. Möchten wir nur alle uns befleißigen, in Einfalt und Aufrichtigkeit diesen Platz einzunehmen, dem untrüglichen Worte Gottes folgend, damit wir „vollkommen seien, zu jedem guten Werke völlig geschickt“! (2. Tim. 3, 16. 17).

Fußnote:

*) Das griechische Wort bedeutet eigentlich: sich wegreinigt, d. h. sich reinigt, indem er sich absondert.

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Gedanken über den 23. Psalm

Bibelstelle: Psalm 23

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 180ff

Auch über den Zustand und die Beschäftigung der Abgeschiedenen wissen wir nur, was die Schrift darüber mitteilt. Aber gepriesen sei der Gott aller Gnade! - wenn auch jede unmittelbare Verbindung, jeder Verkehr mit ihnen abgeschnitten und in dieser Beziehung der Vorhang undurchdringlich ist, so dürfen wir doch hinter den Vorhang schauen. Von der Stätte des Todes führt für den Gläubigen ein lichtvoller Pfad bis hinauf in das Paradies Gottes, in die Gegenwart Jesu, des siegreich auferstandenen Menschensohnes. Ein klarer, wolkenloser Himmel wölbt sich über dem Auge des Glaubens, und die hellen Strahlen der göttlichen Gnadensonne durchdringen und verscheuchen die Finsternis der dunkelsten Tage unseres Pilgerweges auf der Erde, entsprechend der Gnade, „die uns in Christo Jesu vor den Zeiten der Zeitalter gegeben, jetzt aber geoffenbart worden ist durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus, welcher den Tod zunichte gemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium" (2. Timotheus 1,9. 10).

Herrliche Wahrheit! Der Tod ist auf dem Kreuze zunichte gemacht und der Sieg über Satan in der Auferstehung Jesu triumphierend besiegelt worden; ewiges Leben für die Seele und Unvergänglichkeit für den Leib sind durch das Evangelium voll und klar ans Licht gebracht worden. Wohl mag es manchem Christen schwer fallen, diese überaus kostbaren Wahrheiten in ihrer ganzen Fülle zu erfassen; aber deshalb bleiben die Tatsachen doch unangetastet. Sie stehen alle in Verbindung mit der Person Christi, und von dem Augenblick an, da Christus von der Seele in gläubigem Vertrauen aufgenommen wird, ist sie mit Ihm verbunden, jenseits der Macht des Todes und des Grabes. „Ich weiß, wem ich geglaubt habe", sagt Paulus in dem eben angeführten Kapitel, „und ich bin überzeugt, dass er mächtig ist, das ihm von mir anvertraute Gut auf jenen Tag zu bewahren" (V. 12). Christus persönlich stand dem Apostel groß vor Augen und alles was ihm teuer war, bis hin zur Herrlichkeit, hatte er Ihm anvertraut.

Welch ein mächtiger Trost liegt in diesen Wahrheiten für die gläubige Seele, die durch das Tal des Todesschattens gehen muss! Der Tod ist zunichte gemacht, das ewige Leben ein gegenwärtiger Besitz, und die Unvergänglichkeit des Leibes ist gesichert. Das ist das sichere Teil aller in Jesu Entschlafenen, aller, die mit dem Apostel sagen können: „Ich weiß, wem ich geglaubt habe", mit einem Worte aller derer, die einfältig an den Herrn Jesus glauben und in Ihm allein bezüglich ihrer Errettung ruhen.

Ja, der Sieg ist vollkommen. Christus ist persönlich durch das Tor des Todes hindurchgegangen und hat den Weg für alle, die Ihm folgen, von allen Schwierigkeiten und Gefahren gesäubert. Er, der einst in den untersten örtern der Erde war, ist jetzt in der Herrlichkeit droben. Und von jener Herrlichkeit aus, der Herrlichkeit Gottes in dem auferstandenen Menschen, strahlt nun göttliches Licht in die einsamen, finsteren Tiefen des Tales des Todesschattens, verscheucht das Dunkel des Todes und des Grabes und lässt uns erkennen, dass die Schatten des Todes nur auf der Seite des Menschen sind und nur von unseren armen menschlichen Herzen gefühlt werden. Der „König der Schrecken" ist überwunden und seiner Macht für ewig beraubt. Der Herr ist aus den Toten auferstanden und hat uns mit Sich Selbst verbunden in der Macht und Herrlichkeit Seiner Auferstehung. Wir stehen auf demselben Boden wie der Sieger und genießen mit Ihm die reiche Beute Seiner Siege.

Was ist der Tod? Was ist der Übergang aus diesem Leben in die Ewigkeit? Das sind Fragen, die in den Schriften des Alten Testaments nie eine völlige Beantwortung gefunden haben. So lange nicht der Herr vom Himmel gekommen war und durch Sein Sterben und Auferstehen Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht hatte, war über diese ernsten Fragen wenig bekannt. Ohne Zweifel konnten gottesfürchtige Seelen in alttestamentlichen Zeiten, die während ihrer Pilgerfahrt auf Gott zu vertrauen gelernt hatten, sich Ihm auch in der Stunde ihres Abscheidens ruhig und getrost anbefehlen Die letzte Mitteilung aus der Geschichte Jakobs z. B. ist von erhabener Schönheit. Wir sehen ihn nicht nur als einen bejahrten Pilger im Frieden seinen Weg beschließen, sondern hören auch herrliche Worte der Anbetung Gottes, der Anerkennung Seiner wunderbaren Wege und Taten aus seinem Munde; auf seinen Stab gestützt, verkündigt er seinen Söhnen zukünftige Dinge und verfügt in kühnem Glauben über die göttlichen Segnungen. Der Tod hatte offenbar keine Schrecken für den hochbetagten Patriarchen. So ist auch die Schlussszene des Lebens Josephs voll Frieden und Triumph. „Durch Glauben segnete Jakob sterbend einen jeden der Söhne Josephs und betete an über der Spitze seines Stabes. Durch Glauben gedachte Joseph sterbend des Auszugs der Söhne Israels und gab Befehl wegen seiner Gebeine" (Hebräer 11,21. 22).

Nichtsdestoweniger war für den Juden der Gedanke an den Tod bei weitem nicht so erfreulich und lichtvoll wie für den Christen. Ein Jude hätte niemals sagen können: „Ich habe Lust abzuscheiden ... denn es ist weit besser". Für ihn war diese Erde das Land der Lebendigen, die Stätte seiner Segnung und die erste große Verheißung für ihn lautet: „ ... ,auf dass deine Tage verlängert werden in dem Lande, das Jehova, dein Gott, dir gibt" (2. Mose 20,12). „Wenn ich nicht geglaubt hätte, das Gute Jehovas zu schauen im Lande der Lebendigen ... l" ruft David am Ende des 27. Psalms und der König Hiskia klagt in der Erwartung seines nahen Todes: „Ich werde Jehova nicht sehen, Jehova im Lande der Lebendigen; ich werde Menschen nicht mehr erblicken bei den Bewohnern des Totenreiches"; und: „Denn nicht der Scheol preist dich, der Tod lobsingt dir nicht; die in die Grube hinabgefahren sind, harren nicht auf deine Treue. Der Lebende, der Lebende, der preist dich, wie ich heute" (Jes. 38,11. 18. 19; vergl. Auch Psalm 88,10-12 u. a.).

Für den Christen dagegen ist diese Erde viel eher das Land der Sterbenden. „Ich sterbe täglich", sagt Paulus. Auch ist sie die Stätte des Todes, des Todes unseres Herrn Jesus. Infolgedessen ist sie auch für den Gläubigen das Tal des Todesschattens. Das Kreuz hat seinen dunklen Schatten über den ganzen Schauplatz dieser Welt geworfen. Und wenn gefragt wird: „Wo ist denn der Platz der Freude und Segnung für den Christen"?, so lautet die Antwort: „In den himmlischen örtern, da wo Christus ist".

Der Himmel ist die Heimat des Christen. Solange dieser auf der Erde ist, pilgert er fern von seiner Heimat. Als Menschen nennen wir den Ort der Geburt unsere Heimat; nun, so hat auch der Christ das Recht, von dem Himmel als seiner Heimat zu reden; denn er ist von oben aus Gott geboren, und alles, was seiner Natur als Kind Gottes entspricht, ist nur droben zu finden. Nie, nie wird er Heimatluft atmen, nie wissen, was es ist, daheim zu sein, bis sein Schiff die Küste seines Vaterlandes erreicht und in dem himmlischen Hafen Anker geworfen hat. Sein Wunsch, das Sehnen seines Herzens, ins Vaterhaus gehen zu dürfen, ist daher nur zu natürlich.

„Unsrer Seelen tiefstes Sehnen

Geht zum Vaterhaus hinauf.

Wo die Leiden und die Tränen

Und die Klagen hören auf.

Was kein Aug', kein Ohr vernommen,

In kein Menschenherz gekommen,

Wird den Deinen dort zuteil".

Während wir durch diese Welt der Sünde gehen, in der Christus gekreuzigt wurde, können wir wohl die gesegnete Gemeinschaft mit dem Vater und Seinem Sohne Jesus Christus durch die Kraft des Heiligen Geistes genießen; das ist die Wirkung der Gnade inmitten des Bösen und das Ergebnis der Gegenwart des Heiligen Geistes in dem Gläubigen. Aber wir sind noch in der Fremde und sehnen uns nach Hause; doch ist es ein überaus köstliches Bewusstsein, dass während der Zeit unserer Fremdlingschaft der Vater für Seine Kinder sorgt, der gute Hirte Seine Herde hütet und weidet und wir durch die Gegenwart des Heiligen Geistes hier schon unser Erbteil droben genießen können. Das ist sehr wichtig. Bist du aus Gott geboren, lebendig gemacht mit Christo, so bist du ein Kind Gottes, ein Erbe Gottes, ein Miterbe Christi; du bist in Ihm, deinem Heilande, weit, weit über die Macht des Todes und des Grabes hinaus versetzt. Sinne darüber nach, erwäge es unter Gebet. Je tiefer du in die Erkenntnis dieser Wahrheit eindringst, desto köstlicher und gesegneter werden deine Wüsten-Erfahrungen für dich werden; du wirst manche schwere Bürde abzuwerfen vermögen und eine Flut von Licht bemerken, die sich über das Tal des Todesschattens ergießt.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass alle, die lebendig gemacht worden sind, seitdem der Tod durch die Sünde in die Welt kam, ihr neues Leben durch Christus vermittels der mächtigen Wirkung des Heiligen Geistes empfangen haben. Es gibt kein Leben für die Seele, die tot ist in Sünden und Vergebungen, außer in Christus; nur in Ihm und durch Ihn konnte von Anfang an das Leben gefunden und mitgeteilt werden. Dennoch besteht auch in dieser Beziehung ein Unterschied zwischen den Gläubigen des Alten und des Neuen Testaments, Der Herr Jesus sagt: Ich bin gekommen, auf dass sie Leben haben und es in Überfluss haben" (Johannes 10,10). Und Johannes schreibt: „Und dies ist das Zeugnis: dass Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohne" (1. Johannes 5,11). Diese beiden Ausdrücke zeigen uns, dass die Gläubigen des Neuen Testaments wohl dasselbe Leben besitzen wie die des Alten Testaments, aber doch in einem ganz anderen Verhältnis, unter anderen Beziehungen. Sie besitzen „Leben in Überfluss", das Auferstehungsleben, wie ich nicht bezweifle, und „Leben im Sohne".

Der Christ ist nicht nur ein Kind Gottes, sondern er ist auch mit Christus lebendig gemacht, mit Ihm auferweckt und in Ihm mit versetzt in die himmlischen Örter. Diese Wahrheit von seinem Einssein mit Christus führt den Gläubigen in einen Bereich unermesslichen Segens ein. Christus, das auferstandene Haupt, teilt allen Seinen Gliedern die Vorrechte Seiner eigenen Stellung vor Gott mit. Der Christ hat durch den Glauben seine Ewigkeit schon mit Christus begonnen; er braucht dazu nicht auf den Tod oder auf die Ankunft des Herrn zu warten. Die Grundlage von allem ist der Tod und die Auferstehung des Christus. In der Größe Seiner Liebe trug Jesus die schwere Last unserer Sünden an Seinem eigenen Leibe auf das Holz. Er, der keine Sünde kannte, wurde für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm. Er schmeckte den Tod für uns in all seiner Bitterkeit und nahm die Sünde, die Ursache und den Stachel des Todes, durch Sein Opfer für uns hinweg. Dann erweckte Gott Ihn wieder auf und machte uns lebendig mit Ihm. Nun wissen wir, dass unsere alte Natur gerichtet, unsere Sünden ausgelöscht, dass Friede mit Gott gemacht und die Gerechtigkeit auf göttlichem Wege erfüllt ist; ferner, dass wir, eins gemacht mit dem auferstandenen Christus, in einen ganz neuen Bereich versetzt sind, wo kein Übel uns erreichen kann und wo das volle Licht des Vaterantlitzes Gottes für immer über uns leuchtet. Dafür sei Ihm Lob und Preis!

Das ist der einzige Standpunkt, von dem aus man den Tod ruhig, ja fröhlich betrachten kann, so wie Josua einst von der kanaanitischen Seite des Jordan aus in die Mitte des Flusses zurückgekehrt ist und dort seine zwölf Steine triumphierend aufgerichtet hat. Sozusagen von der himmlischen Seite aus konnte er in Ruhe und Frieden den Todesfluss betrachten und in seine Tiefen hinabsteigen. Und warum? Weil die Priester vor ihm mit der Bundeslade in den Jordan gegangen waren: mit dem „Herrn der ganzen Erde" war es nicht schwer, durch den Jordan zu gehen wie durch das Rote Meer.

Für den natürlichen Menschen aber, der weiß dass seine Sünden noch nicht vergeben sind, muss der Tod schrecklich sein; ja, der bloße Gedanke an ihn und alles, was mit ihm in Verbindung steht, muss ihn zittern machen. Tod und Gericht, die Früchte der Sünde, sind die beiden großen Beweggründe für die Furcht des Menschen und mit Recht, denn über alle Beschreibung schrecklich müssen deren Folgen für eine unsterbliche Seele sein. - Wie demütigend ist zugleich der Tod für den natürlichen Menschen! Er muss sich ihm unterwerfen: der Starke muss sich vor ihm beugen, der Edle die Waffen vor ihm strecken; der Weise und der Reiche sind gleich unfähig, ihm zu entrinnen oder ihm zu widerstehen. Und: „an dem Ort, wo der Baum fällt, da bleibt er liegen" (Prediger 11,3). Das Schicksal des Menschen ist für ewig und unabänderlich entschieden, sobald der letzte Atemzug getan, und der Geist seiner gebrechlichen Leibeshülle entflohen ist.

Denke daran, mein lieber gläubiger Leser! Denn wir sind berufen und es ist unsere ernste Liebespflicht, die gleichgültigen Sünder um uns her zu warnen, als solche, die „den Schrecken des Herrn kennen", die Menschen „zu überreden". Im Kreuze sehen wir, wohin die Sünde führt, was sie verdient und wie Gott mit ihr verfährt. Ohne Zweifel wurde die Sünde in der heiligen Person Jesu in einer Weise behandelt, wie es selbst im Feuersee nicht geschehen wird. Der Hass Gottes gegen die Sünde kam am Kreuz voll zum Ausdruck. Dort hat Christus Tod und Gericht geschmeckt, damit der glaubende Sünder beides nie zu schmecken braucht.

So ist der Tod für den Gläubigen nur ein Bote des Friedens, der ihn hinüberführt aus einer Zeit des Kampfes, der Unruhe und Schwachheit in die ewige Ruhe und Herrlichkeit droben. Er löst nur das Band, welches das göttliche Leben mit dem irdischen Gefäß verknüpft. Der glückliche Geist wird befreit und ist in demselben Augenblick „einheimisch bei dem Herrn". „Denn wir wissen, dass, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges in den Himmeln" (2. Kor. 5,1). Der Apostel spricht hier gleichsam im Namen aller Gläubigen: „wir wissen". Der Gedanke liegt ihm völlig fern, dass der Tod in einem solchen Fall der „Sünde Sold" sein könne. Nein, Christus, unser Bürge und Stellvertreter, hat die Schuld so völlig, ja, ich möchte sagen, so überströmend bezahlt, dass der Christ überhaupt nicht zu sterben brauchte; jedenfalls ist es sicher, dass nicht alle Christen sterben werden. „Wir werden nicht alle entschlafen", sagt der Apostel, „wir werden aber alle verwandelt werden"; und an einer anderen Stelle: „Danach werden wir, die Lebenden, die Übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein" (1. Kor. 15,51; 1. Thes. 4,17). Die Zerstörung der Hütte, mag sie nun schnell oder langsam, stürmisch oder sanft vor sich gehen, berührt nicht im geringsten das Leben, das wir in dem auferstandenen Jesus besitzen; sie löst, wie gesagt, nur seine Verbindung mit dem irdenen Gefäß. Der neue Mensch in Christo kann niemals den Tod schmecken.

Es mag gut sein, hier noch einen Augenblick bei der Wahrheit stehenzubleiben, dass nicht alle Christen sterben, sondern dass viele verwandelt und mit den auf erweckten Heiligen aufgenommen werden, um dem Herrn in der Luft zu begegnen. Aus den angeführten Stellen geht klar hervor und ist den meisten Lesern wohlbekannt, dass die Gläubigen, die bei der Wiederkunft des Herrn zur Aufnahme Seiner Braut noch auf der Erde leben, überhaupt nicht durch den Tod gehen werden. In ihrem Falle wird, wie der Apostel es ausdrückt, „das Sterbliche verschlungen werden von dem Leben" (2. Kor. 5,4). So groß ist die Macht des Lebens im Sohn des lebendigen Gottes, dass vor Seiner Gegenwart jede Spur der Sterblichkeit aus der Natur des Gläubigen sofort und für immer verschwinden wird. Sie wird verschlungen, vernichtet werden. Und beachten wir es wohl, es ist das Sterbliche, nicht der Tod, von dem es hier heißt, dass es von dem Leben verschlungen werden solle. Wir wissen, dass auch der Tod verschlungen werden wird, und zwar in Sieg (1. Kor. 15,54). Hier denkt der Apostel einerseits an diejenigen, die in Jesu entschlafen sind, andererseits an die, welche bei Seiner Ankunft noch auf der Erde leben. Wie schön und beachtenswert ist doch die Genauigkeit der Schrift! Findet sich ein Wechsel im Ausdruck, so ist sicher ein wichtiger Grund für eine solche Veränderung vorhanden.

Doch sollen wir uns wundern über diese Offenbarung der Macht des Lebens in dem kommenden Herrn? Die Sünde, die Ursache des Todes, bildet keinen Teil der göttlichen Anordnungen; sie ist durch einen Feind in die vollkommene Schöpfung Gottes eingeführt worden. Aber selbst jede kleinste Spur des eingedrungenen Sündengiftes, mit allen seinen schrecklichen Folgen, wird vollständig aus den lebendigen Heiligen ausgeschieden werden, wenn der Herr Jesus für sie kommt. Sie brauchen nicht zu sterben; denn Christus starb für sie. Und wie kostbar ist der Gedanke, dass der Leib derselbe sein wird wie früher, nur verherrlicht, verklärt, ohne die Sünde und ihre Wirkungen. Der Herr wird unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der Herrlichkeit; aber die Eigenart eines jeden einzelnen wird voll und ganz bewahrt bleiben. Dies alles wird erfüllt werden durch die Macht eines Lebens, das wir jetzt in dem auferstandenen Jesus erblicken. Und - wunderbare Wahrheit! - dieses Leben ist unser, jetzt unser, unser in Ihm, in dem alles Sieg ist.

Der Apostel Paulus betrachtet dieses Leben im 4. und 5. Kapitel des 2. Korintherbriefes von verschiedenen Seiten, aber es ist und bleibt immer dasselbe Leben; es ist das ewige Leben, das Leben des auferstandenen und verherrlichten Christus. Im 6. Vers des 4. Kapitels lesen wir: „Denn der Gott, der aus der Finsternis Licht leuchten hieß, ist es, der in unsere Herzen geleuchtet hat zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi". Ein Licht aus der Herrlichkeit wird im menschlichen Herzen entzündet und so - durch den Glauben an einen verherrlichten Christus - göttliches Leben mitgeteilt. Wir aber sind verantwortlich, es offenbar werden zu lassen als ein Licht, das in der Finsternis dieser Welt leuchtet. Es ist das Licht des Lebens; und es kommt unmittelbar von Gott. Er, der im Anfang dem Licht gebot, aus der Finsternis hervorzuleuchten, hat in unsere Herzen hineingeleuchtet zur Erkenntnis der in Christus geoffenbarten Herrlichkeit Gottes, und wir sind berufen, in dieser finsteren Welt der Abglanz oder der Widerschein unseres abwesenden Herrn zu sein. Das ist der Gesichtspunkt, unter dem uns das Leben vorgestellt wird, und wie wichtig ist er! Die Menschen dieser Welt, die weder die Bibel noch irgendein ernstes geistliches Buch lesen wollen, sind gezwungen, das Leben der Christen zu lesen. Wie wichtig ist es daher, ein Brief Christi zu sein, gekannt und gelesen von allen Menschen! Wie ein Jude die zehn Gebote lesen konnte, die in steinerne Tafeln eingegraben waren, so sollen die Augen unserer Mitmenschen Christus in uns lesen in all unserem Tun und Lassen, im Wort und Wesen.

Im 7. Vers heißt es weiter: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die Überschwänglichkeit der Kraft sei Gottes und nicht aus uns". Das ist eine zweite Seite des göttlichen Lebens, das hier als in naher Berührung mit dem sterblichen Leibe stehend betrachtet wird mit all den Folgen, die notwendigerweise aus dieser Berührung hervorgehen. Aber mag auch die Sünde in unserem sterblichen Fleische wohnen und Sünde uns von allen Seiten umgeben, so kann doch das Leben Christi in der Seele eines Gläubigen durch nichts Böses angetastet werden. Je mehr das Gefäß von allen Seiten her beunruhigt und bestürmt wird, desto deutlicher zeigt es sich, dass die Macht Gottes in ihm ist. Es erhob sich in dem Apostel gleichsam über das Wirken des Todes und triumphierte über alle Schwierigkeiten seines dornigen Pfades. „Denn wir, die wir leben", sagt er, „werden allezeit dem Tode überliefert um Jesu willen, auf dass auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleische offenbar werde" (V. 11). Dieses „tägliche Sterben" ließ das Leben Jesu nur um so herrlicher hervorstrahlen, und es wird - wie das Licht bei den Krügen Gideons erst dann hell und klar scheinen, wenn die Gefäße zerbrochen sind. Aber welche Erfahrungen gibt es auf diesem Wege, welch einen Kampf! Doch auch welch einen Dienst vermochte der Apostel Paulus zu tun! Im Blick auf das vor ihm liegende ewige Gewicht an Herrlichkeit nennt er seine vielen und schweren Drangsale leicht und schnell vorübergehend. - Halten wir es auch so nach unserem geringen Maße? O möchte der Herr uns, die wir so weit hinter dem Beispiel dieses Apostels zurückbleiben, stärken und alle unsere Sorgen verscheuchen.

Drittens redet Paulus von dem Zustand des „Entkleidetseins" oder des „Ausheimischseins von dem Leibe". Er wollte sich „lieber" in diesem Zustand befinden, als noch länger in Schwachheit hier auf der Erde wandeln. Dennoch war es nicht das, was er eigentlich begehrte. Sein Blick ruhte vielmehr auf dem im Himmel verherrlichten Menschen Jesus Christus, auf dem vollendeten oder Auferstehungszustand des Lebens. Er wünschte, dem Bilde Seiner Herrlichkeit gleichgestaltet zu werden. Das war der große, über alles wichtige Gesichtspunkt, der vor Seinem Geiste stand. „Denn wir freilich, die in der Hütte sind, seufzen beschwert, wiewohl wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben" (2. Kor. 5,4; vergl. auch Phil. 3,20. 21).

Dieser vierte Zustand steht mit dem Kommen des Herrn in Verbindung. Hierüber ist uns viel mehr Licht und bestimmte Belehrung gegeben als über den dritten, den Mittelzustand - wie ich ihn nennen möchte -, über den verhältnismäßig wenig gesagt ist. Vielleicht hat Gott mit Absicht einen Schleier über ihn gebreitet, damit er nicht störend zwischen unsere Herzen und die Erwartung der Rückkehr unseres geliebten Herrn trete. Der Heilige Geist wacht eifersüchtig über die besondere Hoffnung der Kirche und stellt sie nach allen Seiten hin sicher. Dennoch ist genug geoffenbart worden, um das gläubige Herz im Blick auf unsere vorangegangenen Lieben völlig zufriedenzustellen.

„Das Leben ist für mich Christus, und das Sterben Gewinn", schreibt Paulus an die Philipper, und gleich fügt er hinzu: „Ich werde aber von beiden bedrängt, indem ich Lust habe, abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn es ist weit besser". - „Das Leben ist für mich Christus". Welch eine Gemeinschaft mit Christus muss der Diener haben, der so etwas sagen kann! Wie nahe muss er Ihm sein! Wer so reden darf, hat in allen Dingen Christus vor Augen; Er ist sein Beweggrund, seine Freude und Kraft; zugleich zeugen seine Worte von einer heißen Liebe zu der Kirche Gottes, sowie von einem tiefen Interesse an alledem, was mit dem Namen und der Herrlichkeit Christi und mit dem Wohl Seines Volkes in Verbindung steht. Nun, ein solcher Mann war Paulus. Da entsteht denn von selbst die wichtige Frage: Was konnte ein Mann wie er durch den Tod „gewinnen"? Der Tod führte ihn zu Jesu! Das ist die Antwort. Bei Christo zu sein, in dem ungehinderten und ungestörten Genuss Seiner Person in der Herrlichkeit, das war der große Gewinn für ihn. Verlor seine Seele denn nicht viel von ihrem Interesse an diesen niedrigeren Dingen, nachdem sie einmal die höheren erreicht hatte? Nein, die höheren wurden ihr noch dazu gegeben; denn wir können nie etwas von dem verlieren, was wir jetzt in der Gemeinschaft mit Christus besitzen. Alles, was durch die Belehrung des Heiligen Geistes heute von uns erfasst und genossen wird, muss und wird für immer bleiben. Wir verlieren nur das, was dem ersten Adam angehört, aber nichts von dem, was von dem letzten Adam ist. In den Worten des Apostels liegt eine große Kraft: weit besser, ja, weit besser!

„Ausheimisch von dem Leibe, einheimisch bei dem Herrn". Welch eine Fülle von Gedanken erwecken diese wenigen Worte! Inwieweit die von dem Leib getrennte Seele imstande ist, ihrem Denken und Fühlen Ausdruck zu verleihen, wagen wir nicht zu sagen; jedenfalls aber hat sie ein volles, klares Bewusstsein; sie erinnert sich, und sie liebt. Sie gedenkt der Vergangenheit und der Gegenwart und versetzt sich in die Zukunft. Sie wartet in Geduld mit Christus auf den Morgen der ersten Auferstehung; doch das, woran sie sich immerwährend erquickt und ergötzt, ist die unveränderliche, nie endende Liebe ihres Herrn.

Zum Schluss noch eine kurze Bemerkung über die Worte, die der Herr Jesus an den bußfertigen Räuber richtete: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein". Die Lieblichkeit dieser Worte, der Trost und die ruhige Gewissheit, die sie dem Herzen geben, sind nicht auszudrücken. Dort, bei dem Herrn, und in Gemeinschaft mit den vorangegangenen Lieben wird die Seele ruhen, in Licht gehüllt und in der reinen Luft des Himmels. „Erhebet Jehova mit mir, und lasset uns miteinander erhöhen seinen Namen!" - das wird die Stimmung der glücklichen, befreiten Seele sein. Ohne Frage sind irdische Verhältnisse und menschliche Beziehungen dort unbekannt; aber sollten sie vergessen sein? Ganz gewiss nicht. In der Gegenwart wandern wir durch den Glauben oft hin und her zwischen dem dunklen Tal des Todesschattens auf der Erde und dem lichten Eden droben; aber bald, bald wird der Glaube sich in Schauen verwandeln. Der Herr ist nahe, ganz nahe! Wie lautet die Antwort auf die sehnende Frage des Herzens: „Wann, Herr, wird der Morgen ohne Wolken kommen?" - „Noch über ein gar Kleines! und der Kommende wird kommen und nicht verziehen". Wenn jener selige Morgen anbricht, dann werden wir diesem Tränental auf immer frohlockend Lebewohl sagen. Der Glaube hat sein Werk getan, denn „wir werden Ihn sehen, wie er ist". Auch die Hoffnung wird sich verwirklicht haben, wie geschrieben steht: „Und sie werden sein Angesicht sehen". Diese beiden für den Pilgerweg hienieden so bedeutungsvollen Begleiter sind nicht mehr nötig. Der Glaube wird seine fluggewohnten Schwingen einziehen, die Hoffnung sich verlieren inmitten der Herrlichkeiten der himmlischen Stadt. Nur die Liebe wird bleiben; ja, Liebe, ewige Liebe wird die zahllose Schar der Erlösten erfüllen und umschlingen.

Und was wird dann aus dem armen Leibe geworden sein, der jetzt verwesend im Grabe liegt? Auch er wird mit der Seele die ewige Herrlichkeit teilen. „Wisset ihr nicht, dass euer Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt?" (1. Korinther 6,19.) Der Heilige Geist hat gleichsam Besitz genommen von dem Leibe des Gläubigen, so dass er, tot oder lebend, unter Seiner Hut steht. „Wenn aber der Geist dessen, der Jesum aus den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christum aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wegen seines in euch wohnenden Geistes" (Römer 8,11).

Muss noch mehr gesagt werden, um jedes Herz vollkommen und für immer zur Ruhe zu bringen? - O möge denn das Ausharren sein vollkommenes Werk haben! Die „gar kleine" Zeit wird bald vorüber sein, und auf die Nacht der Tränen wird ein freudevoller, ewiger Morgen folgen.

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Halte fest was du hast!

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 197ff

III.

3. Philadelphia. (Offbg. 3, 7 -— 13)

Die Sendschreiben an die 7 Versammlungen oder Gemeinden in Kleinasien bieten uns einen weiteren Beleg für die Tatsache, dass der Heilige Geist in unseren Tagen bemüht ist, die Gläubigen von der großen Masse der toten Bekenner abzusondern. In diesen Sendschreiben steht die bekennende Kirche in ihrer verantwortlichen Stellung (ähnlich wie in 1. Kor. 3) vor den Augen Jesu Christi, ihres Herrn und Gebieters, der inmitten der sieben goldenen Leuchter wandelt und in richterlicher Weise die Werke der einzelnen Gemeinden prüft. Dass die Sendschreiben nicht nur den Zustand der damals in Kleinasien bestehenden Versammlungen beschreiben, sondern eine viel weiter gehende, vorbildliche Bedeutung haben, dass sie, mit einem Wort, nicht nur einen geschichtlichen, sondern auch einen prophetischen Charakter tragen, wird den meisten Lesern wohl bekannt sein. In letztgenannter Hinsicht erkennen wir in ihrer Ordnung die Geschichte der bekennenden Kirche auf der Erde von ihrem herrlichen Anfang bis zu ihrem traurigen Ende. Wie bei der vorigen Betrachtung, so nehmen wir auch hier eine ständige Zunahme des Verderbnisses wahr, bis der Herr genötigt ist, die Kirche als eine verdorbene, ekelerregende Sache auszuspeien; dies wird natürlich erst geschehen, nachdem Er die Seinigen, die wahren Gläubigen, aus ihr herausgenommen und in ihre wahre Heimat, in das Vaterhaus droben, versetzt hat.

Es würde uns zu weit führen, wenn wir an dieser Stelle die einzelnen Sendschreiben einer genaueren Betrachtung unterziehen wollten. Wir müssen uns damit begnügen, nur insoweit einen Überblick über sie zu geben, als es für den Zweck dieser Schrift nötig ist, um dann länger bei dem Sendschreiben an Philadelphia zu verweilen, welches nebst demjenigen an Laodicäa in wenigen charakteristischen Zügen die gegenwärtige Zeit darstellt.

Ephesus. — Dieses erste Sendschreiben beschreibt uns den Zustand der bekennenden Kirche in den Tagen der Apostel und kurz nachher, unmittelbar nach ihrer Gründung. Als Beginn und Ursache des Verfalls wird hier das „Verlassen ihrer ersten Liebe“ bezeichnet. „Aber ich habe wider dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast.“ Die Kirche verlor die Quelle und den Mittelpunkt des Christentums, die Person des Herrn Jesu, aus dem Auge Werke, Bemühungen und Ausharren waren noch vorhanden, aber sie konnten jenen Verlust nicht ersetzen. Das für den Herrn Köstlichste war verschwunden. Er fordert die Versammlung auf, Buße und die ersten Werke zu tun, widrigenfalls Er ihr droht, ihren Leuchter aus seiner

Stelle wegzunehmen. Ach! sie tat nicht Buße, und so waren ernste Züchtigungen die Folge.

Smyrna —— die Zeit der Kirche unter der Regierung der römischen Kaiser Nero bis Diokletian. Schmähungen derer, die da sagten, dass sie ein Recht hätten, Gottes Volk zu heißen einerseits, und blutige Verfolgungen durch die Heiden andererseits waren dazu angetan, in den Gläubigen das Bewusstsein ihrer himmlischen Stellung für einige Zeit wieder wachzurufen, und der Herr konnte sich ihnen in Seinem vollkommenen Mitgefühl offenbaren.

Pergamus — die Zeit der Regierung Konstantins des Großen bis zur Entwicklung des Papsttums. Die Tage der Drangsal in Smyrna hatten dem Umsichgreifen des Verderbens in der Kirche vorläufig Halt geboten. Die bittere Feindschaft der Welt hatte sie zum Herrn getrieben. Sobald aber die Welt wieder eine freundliche Miene machte, fiel die Kirche in den Fallstrick des Feindes. Die Welt gab ihr eine irdische Machtstellung: „Ich weiß, wo du wohnst, wo der Thron des Satans ist“. Aber nicht allein das, die Welt drang auch immer mehr in die Kirche ein und veranlasste sie, mit ihr Götzenopfer zu essen und in geistlicher Weise Hurerei zu treiben (die Lehre Balaams). Die Kirche verlor die Gemeinschaft mit ihrem Herrn im Himmel und vergaß das innige Verhältnis, welches sie mit Ihm verband. Auch duldete sie die Lehre der Nikolaiten, deren Werke in den Tagen von Ephesus noch gehasst wurden. (Offbg. 2, 6.) Der Herr rief sie deshalb zur Buße und kündigte im Nichtfalle der verweltlichten Kirche den Krieg mit dem Schwerte Seines Mundes an. Ein entschiedener Bruch zwischen den wahren Gläubigen und den nebeneingeschlichenen toten Bekennern wurde zu einer Notwendigkeit.

Thyatira —— die Zeit des Mittelalters unter der Herrschaft des Papsttums. Die Kirche tat nicht Buße auf den Ruf des Herrn hin; vielmehr. nahm das in sie eingedrungene Böse eine mehr und mehr herrschende Gestalt an, dargestellt in Iesabel, welche nicht nur Prophetin ist und die Knechte Gottes verführt, sondern auch Mutter von Kindern wird, Kindern des Verderbnisses der Hurerei und des Götzendienstes. Das was Iesabel einst kennzeichnete: Verführung des Volkes Gottes zum Götzendienst und Anmaßung weltlicher Macht, wird zu einem festen, dauernden und herrschenden System. Es ist das Papsttum. Dieses verderbliche System gelangte immer mehr zu Ansehen und Gewalt in der Kirche. Der wahre Same wurde verachtet und verfolgt. Die Zeit, um die Forderung des Heiligen Geistes: „Tut den Bösen hinaus“, ausführen zu können, war vorüber. Auch konnte der Herr Seiner Versammlung als solcher nicht mehr zurufen: „Tue nun Buße und tue die ersten Werke“. Vielmehr musste Er jetzt inmitten der Kirche eine Scheidung zwischen den Anhängern und Kindern Iesabels einerseits und den „Übrigen von Thyatira, welche diese Lehre nicht haben“, andererseits vollziehen. Die Aufforderung: „Wer ein Ohr hat, höre“, richtet sich nicht mehr an den ganzen bekennenden Körper, sondern wird erst ausgesprochen, nachdem der „Überrest“ von der toten Masse unterschieden ist. Und während den Anhängern Iesabels große Drangsal und ihren Kindern der Tod angedroht wird, ruft der Herr dem treuen Überrest zu: ,“Ich werfe keine andere Last auf euch; doch was ihr habt haltet fest, bis ich komme“. Damit ist deutlich gesagt: „Das Verderben ist allgemein und nicht mehr aufzuhalten; haltet ihr nur fest was ihr habt. Mein Kommen wird dem Verderben ein Ende machen.“ Jede Hoffnung auf Wiederherstellung des bekennenden Körpers, als Ganzes betrachtet, ist jetzt aufgegeben und seine prophetische Geschichte geschlossen.

Sardes — die Zeit der Reformation und vor allem des Protestantismus im 17. und 18. Jahrhundert. Die

Reformation war ohne Frage ein Werk des Geistes Gottes; aber unter den Händen des Menschen wurde auch dieses gesegnete Werk verdorben, und es entwickelte sich der Protestantismus, von welchem der Herr sagt: „Du hast den Namen, dass du lebest, und bist tot“. Das was die Kirche durch die Reformation empfangen hatte, hat sie nicht bewahrt, und so kündigt der Herr ihr an, dass sie mit der Welt gerichtet werden solle, sofern sie nicht Buße tue. Auch in diesem Sendschreiben betrachtet Er die Getreuen als von der Masse abgesondert: „Du hast einige wenige Namen in Sardes, die ihre Kleider nicht besudelt haben“; und in der Verheißung, welche Er hier gibt, geht Er noch einen Schritt weiter als in Thyatira, indem Er den Blick der Treuen auf den Augenblick hinrichtet, wo sie mit Ihm in weißen Kleidern einhergehen werden.

Damit sind wir bei den beiden letzten Sendschreiben oder bei den Schlußszenen der Geschichte der bekennenden Kirche angelangt.

Philadelphia und Laodicäa — die gegenwärtige Zeit, etwa beginnend mit dem Anfang» des 19. Jahrhunderts und fortdauernd bis zu dem Ausspeien der Kirche, nachdem die wahren Bekenner aus ihr herausgenommen sind. Wir finden hier die Sachlage insofern geändert, als der Herr in Philadelphia nur die Getreuen, abgesondert von der Masse der bloßen Bekenner, betrachtet, während in Laodicäa gerade diese tote Masse ihr Urteil empfängt. Diese Veränderung ist höchst beachtenswert für jedes Kind Gottes unserer Tage, welches ein Ohr hat, zu hören, was der Geist den Versammlungen sagt. Sie gibt dem Willen des Herrn Ausdruck, dass wir, entsprechend dem Charakter von Philadelphia, den Platz entschiedener Absonderung einnehmen sollen; und es tritt an einen jeden, der den Namen des Herrn nennt, die ernste Frage heran: „Inwiefern verwirkliche ich die Stellung, die in diesem Sendschreiben zum Ausdruck kommt?“ Der Herr betrachtet alle Gläubigen als zu Philadelphia gehörig, aber nicht alle folgen Seinem Rufe. Unkenntnis, vielfach aber auch weltliche Gesinnung, das Verfolgen eigener Interessen, oder Parteilichkeit und Menschenfurcht halten sie in Verbindung mit dem, wovon der Herr sie geschieden sehen möchte. Wo stehst du, lieber Leser? Bist du dem Rufe des Herrn gefolgt? Wenn nicht, was hält dich zurück? Ist es Unkenntnis, so prüfe doch ernstlich die Gedanken des Herrn unter Gebet. Er wird dir sicher antworten, und du wirst mit David ausrufen müssen: „Wie köstlich sind mir deine Gedanken, o Gott!“ (Ps. 139, 17.) Sind andere Hindernisse vorhanden, so bitte den Herrn um Gnade, sie in Treue und Entschiedenheit hinwegtun zu können. Es wird dann auch das dringende Bedürfnis deines Herzens werden, nicht nur die Stellung, sondern auch die Gesinnung, welche in dem Sendschreiben an Philadelphia zum Ausdruck kommt, zu verwirklichen. — Doch lasst uns den Gedankengang dieses herrlichen Sendschreibens ein wenig näher verfolgen.

Der Herr stellt sich hier Seinen Getreuer: als „der Heilige und der Wahrhaftige“ vor. Er hat sich selbst für sie geheiligt, auf dass auch sie Geheiligte (d. h. Abgesonderte) seien durch Wahrheit. Die Wahrheit ist also die Triebfeder ihrer Absonderung, nicht etwa Sonder- oder Parteiinteressen. „Wenn ihr in meinem Worte bleibet, so seid ihr wahrhaft meine Jünger; und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh. 8, 31. 32). Die Wahrheit macht frei von allen Fesseln; sie stellt uns auf den Boden der Freiheit in Christo, auf den Boden heiliger Absonderung von aller Art des Bösen, d. h. von allem, was nicht mit der Wahrheit im Einklang ist. Doch „was ist Wahrheit?“ so fragt die zweifelsüchtige Menge der toten Bekenner, und mit ihnen leider auch viele gleichgültige wahre Gläubige, die angesichts der Verwirrung unserer Tage meinen, man könne und brauche es mit der Verwirklichung der Wahrheit nicht mehr so genau zu nehmen. Aber die Getreuen Philadelphias finden die Antwort in Ihm, dem Wahrhaftigen, und sie sprechen mit Johannes: „Wir wissen aber, dass der Sohn Gottes gekommen ist und uns ein Verständnis gegeben hat, auf dass wir den Wahrhaftigen kennen; und wir sind in dem Wahrhaftigen, in Seinem Sohne Jesu Christo. Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben“ (1.Joh. 5, 20). Er ist die Wahrheit; an Ihn klammern sie sich an und hüten sich vor den Götzen (1. Joh. 5, 21).

Das Urteil des Herrn über sie lautet: „Du hast eine kleine Kraft“. Aber Er tadelt sie deshalb nicht; denn Er sieht einen, wenn auch schwachen, Glauben, welcher sie mit Ihm verbindet und der ihre Kraft ist. Die Tage der Apostel, in welchen die Kirche eine große Kraft im Zeugnis entfaltete, sind freilich vorüber, ebenso die Tage Smyrnas, in welchen dieselbe Kraft sich im Leiden offenbarte. Es ist der Tag kleiner Dinge; aber die Getreuen sind sich ihrer Schwachheit bewusst, und der Herr kommt ihrem Vertrauen auf Seine Kraft entgegen, indem Er eine geöffnete Tür vor ihnen gibt, die niemand zu schließen vermag. Denn Er ist es, „der den Schlüssel des David hat, der da öffnet, und niemand wird schließen, und schließt, und niemand wird öffnen“. Ach! wie töricht und verkehrt handeln doch diejenigen Kinder Gottes, welche meinen, in äußerer Verbindung mit den Gefäßen zur Unehre bleiben zu müssen, damit sie, wie sie meinen, eine offene Tür behalten. Sie suchen auf krummen, unerlaubten Wegen das zu erreichen, was der Herr Seinen Getreuen umsonst anbietet. Sie nennen das Schlangenklugheit; aber wenn es eine solche wäre, wo ist dann die Taubeneinfalt, ohne welche jene nicht sein darf?

Außer der kleinen Kraft sieht der Herr noch drei Dinge bei Seinen Getreuen, die an sich vielleicht unbedeutend erscheinen mögen, die aber mit Rücksicht auf den großen Verfall der gegenwärtigen Christenheit in den Augen des Herrn von großem Werte sind, und in welchen wir die Grundlagen des Christentum: Glaube, Liebe und Hoffnung, wiederfinden.

1) „Du hast mein Wort bewahrt.“ Jene Treuen haben das Wort nicht nur im Glauben angenommen, sondern sie bewahren es auch in einem guten und redlichen Herzen und bringen Frucht mit Ausharren.(Luk. 8, 15.) Sie geben Seinem Worte den ihm gebührenden Platz. Es ist ihres Fußes Leuchte und das Licht auf ihrem Pfade. Es ist die Richtschnur für ihr Leben und Handeln, sowohl wenn es sich um Fragen des persönlichen, als auch um solche des Gemeinschafts-Lebens handelt. Menschliche Meinungen und Gutachten haben keine Geltung in ihrer Mitte; Sein Wort allein ist entscheidend für alle Fragen. Und es ist ihnen nicht nur ein Wegweiser, sondern dient auch zu ihrem Trost und ihrer Ermunterung. „Das Gesetz Jehovas ist vollkommen, erquickend die Seele; das Zeugnis Jehovas ist zuverlässig, macht weise den Einfältigen. Die Vorschriften Jehovas sind richtig, erfreuend das Herz; das Gebot Jehovas ist lauter, erleuchtend die Augen“ (Ps. 19, 7. 8). „Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und wovon du völlig überzeugt bist, da du weißt, von wem du« gelernt hast, und weil du von Kind aus die heiligen Schriften kennst, die vermögend sind, dich weise zu machen zur Seligkeit durch den Glauben, der in Christo Jesu ist. Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, auf dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig geschickt“ (2. Tim. 3, 14 — 17). Wie ernst und eindringlich sind diese Worte eines alten, treuen Arbeiters gerade im Hinblick auf die gegenwärtige Zeit, von welcher er sagt, dass „böse Menschen und Gaukler im Bösen fortschreiten würden, indem sie verführen und verführt werden“! Das Festhalten an dem geschriebenen Wort, welches die Getreuen von Phjladelphia kennzeichnet, ist das einzige Schutzmittel in diesen letzten Tagen.

2) „Und hast meinen Namen« nicht verleugnet.“ Der Name Jesu, der in der gegenwärtigen christusfeindlichen Welt ebenso wenig Beifall findet, wie einst in den Tagen Seines Fleisches, ist den Getreuen von Philadelphia über alles kostbar. Sie lieben Jesum, weil Er sie zuerst geliebt hat. Er ist der Gegenstand ihrer Herzen, das Muster und Vorbild für ihr Leben und ihren Wandel. In Seinem Namen versammeln sie sich, eingedenk Seiner Verheißung: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Matth. 18, 20). Sie beten in diesem Namen, nach Seinem Worte: „Was irgend ihr bitten werdet in meinem Namen, das werde ich tun“ (Joh. 14, 13.) Sie verleugnen diesen Namen nicht, sondern bekennen ihn, indem sie Christi Schmach tragen angesichts und inmitten der großen bekennenden Masse der Kirche, so wie einst das geschichtliche Philadelphia diese Schmach trug angesichts derer, welche sagten, sie seien Juden, d.h. sie bildeten das Volk Gottes, während sie doch logen und dem Herzen nach völlig fern standen. Ja, wie diese letzteren, in deren Mitte Gott einst gewohnt hatte, zu einer ,,Synagoge Satans« wurden, indem sie Jesum verwarfen, so wird auch die Kirche diesen Charakter annehmen, wenn diejenigen, welche jetzt um des Namens Jesu willen gehasst und verachtet sind, aus ihr herausgenommen sein werden. „Siehe“, sagt der Herr,“ ich werde machen, dass sie kommen und huldigen vor deinen Füßen und erkennen, dass ich dich geliebt habe.“ Bringen wir diese Verheißung mit Phil. 2, 5 —11 in Verbindung, so finden wir zwischen diesen beiden Stellen eine schöne Übereinstimmung. Dort sehen wir Jesum als den Sohn des Menschen in tiefster Selbsterniedrigung, in Schmach und Verachtung seitens der Menschen, aber darum auch von Gott hoch erhoben, Und die Verheißung wird gegeben, dass in dem Namen Jesu jedes Knie sich beugen und jede Zunge bekennen soll, dass Er Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters. Hier empfangen die Getreuen von Philadelphia, welche die Schmach Christi tragen, die Verheißung, dass diejenigen, welche sie heute um Seines Namens willen schmähen, dereinst gezwungen werden sollen, ihnen zu huldigen, zur Verherrlichung Dessen, der sie geliebt hat.

3) „Weil du das Wort meines Ausharrens bewahrt hast . . „Das Wort Seines Ausharrens ist die Hoffnung des Überrestes von Philadelphia. Es verkündigt ihnen, dass Jesus, nachdem Er sie durch Sein Opfer für die Gegenwart eines heiligen Gottes passend gemacht, sich gesetzt hat zur Rechten Gottes, „fortan wartend, bis Seine Feinde gelegt sind zum Schemel Seiner Füße“. Er wartet mit Ausharren, bis das letzte Glied Seines Leibes hinzugetan ist; dann wird Er sich mit der Unterwerfung Seiner Feinde beschäftigen, nachdem Er vorher „mit gebietendem Zuruf“ alle in Ihm Entschlafenen aus den Toten auferweckt und sie zusammen mit den verwandelten lebenden Heiligen zu sich entrückt hat. (Vergl. 1.Thess. 5, 13 — 18.) Nun, wie Er wartet, so warten auch Seine Getreuen. Sie sind „Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten«; ja, mehr als das, sie haben die Gefühle einer Braut, die mit sehnendem Verlangen nach ihrem Bräutigam ausschaut. Sie freuen sich der Verheißung, dass sie bewahrt bleiben sollen vor der Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen, die auf der Erde wohnen. Indem sie zum Himmel emporschauen, der ihr Wohnplatz, ihre Heimat ist, rufen sie gemeinschaftlich mit dem in ihnen wohnenden Geiste: „Komm!“ und der geliebte Herr antwortet ihnen: „Ja, ich komme bald!“ (Offbg. 22, 20) oder, wie es in unserem Sendschreiben heißt: „Ich komme bald; halte fest was du hast, aus dass niemand deine Krone nehme.“

Welch eine vertrauliche Innigkeit und welch eine Tiefe der Gemeinschaft atmet uns aus dem Sendschreiben an Philadelphia entgegen! Der volle Genuss dieser Gemeinschaft wird uns allen gewiss erst droben zu teil werden. Aber schon hier können wir uns durch den Glauben dieser Gemeinschaft und aller damit verbundenen Segnungen erfreuen, wenn wir nur mit ungeteiltem Herzen den Platz der, Absonderung, der Philadelphia kennzeichnet, einnehmen. Und nun prüfe dich, lieber Leser, wo du stehst. Wünschest du nicht, wenn der Herr kommt, mehr dem Abraham als dem Lot zu gleichen? Beide waren Gerechte, und beide entgingen dem Gericht. Aber wie verschieden war ihre Stellung vor dem Ausbruch des Gerichts über Sodom! Abraham stand auf dem Platze der Absonderung, und Gott machte Gemeinschaft mit ihm, indem Er mit ihm redete, wie ein Freund mit seinem Freunde redet; und als das Gericht über Sodom losbrach, sah er von der Höhe des Berges aus den aufsteigenden Rauch. Lot aber finden wir in Verbindung mit dem Bösen von Sodom; er quälte unaufhörlich seine gerechte Seele mit den gesetzlosen Werken der Bewohner Sodoms, aber er trennte sich nicht von ihnen, und so mochten die Engel, welche zu seiner Errettung herbeieilten, nicht einmal in sein Haus einkehren! Wie ein Brand wurde er aus dem Feuer gerettet. Möchtest du bei deiner Entrückung in ähnlicher Weise vor dem Herrn erscheinen? Ziehst du nicht vor, einem Henoch zu gleichen, der vor seiner Entrückung das Zeugnis hatte, dass er Gott wohlgefallen habe? Ich bin überzeugt, dass die Beantwortung dieser Fragen kein langes Besinnen deinerseits nötig machen wird. Nun denn, wenn du von Herzen sagen kannst: Ich möchte als ein „glückseliger Knecht“ erfunden werden, wenn der Herr kommt, so überwindet Herrliche Verheißungen gibt der Herr dem Überwinder. Offenbart derselbe hier auch nur eine kleine Kraft, droben will. der Herr ihn zu einer Säule in dem Tempel Seines Gottes machen; trägt er hier die Schmach Christi und hat keine bleibende Statt, droben wird der Name Gottes und der Name des himmlischen Jerusalem und der neue Name Jesu auf ihn geschrieben sein, und er wird „nie mehr hinausgehen“.

Zum Schluss noch einige kurze Bemerkungen über das Sendschreiben an Laodicäa. Wie bereits gesagt, stellt es uns die bekennende Kirche, innerlich losgelöst von den wahren Bekennern, in dem letzten Abschnitt ihres Verfalls vor Augen. Die charakteristischen Züge Laodicäas zeigen sich heute schon, und der Geist Laodicäas ist wirksam. Ihr Zustand kennzeichnet sich durch Lauheit; und während sie sich ihrer Reichtümer rühmt, ist sie in den Augen des prüfenden Richters elend, jämmerlich, arm und blind und bloß. Der Herr wandelt auch nicht mehr in ihrer Mitte, sondern steht draußen an der Tür und klopft an. Noch einmal, gleichsam in der zwölften Stunde, lässt Er Seine warnende Stimme vernehmen. Aber mögen auch Einzelne auf den Warnungsruf achten, so bleibt doch das Ganze unberührt, und nichts anderes bleibt übrig als „Ausspeien“. Doch ehe der Herr die Seinigen heimruft und dann das Übrige als etwas Ekelhaftes, als einen Gegenstand des Abscheus, ausspeit, bemüht Er sich um diejenigen, welche Er liebt, die aber, wie einst Lot, in Verbindung mit der entchristlichten Masse geblieben find, statt ihren Platz in Philadelphia einzunehmen: „Ich überführe und züchtige, so viele ich liebe“.

Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Versammlungen sagt! — Die Gefahr, in laodicäische Lauheit

und Selbstgefälligkeit zu geraten, ist auch für die, welche sich äußerlich von dem religiösen Verderben getrennt haben, nicht gering. Das Fleisch ist immer geneigt, sich zu erheben und selbst in der Gnade einen Anlass zur Erfüllung seiner Lüste zu finden. Gott bewahre uns deshalb in der Stellung und dem Geiste von Philadelphia, klein in unseren eigenen Augen, in ernster Absonderung von allem Bösen und das Wort des Ausharrens Christi bewahrend!

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Gedanken über den 23. Psalm

Bibelstelle: Psalm 23

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 210ff

„Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde" (V. 5). Der schwergeprüfte Pilger betritt in seinen Erfahrungen jetzt einen neuen Pfad. Er taucht gleichsam aus der dichten Finsternis des Todestales empor; Licht von oben bricht durch die Wolken und wirft helle, erquickende Strahlen auf seinen Weg. Zwar ist das, was er erfahren hat, kein Traumgebilde, nein, es ist ernste Wirklichkeit. Überall und unter allen möglichen Formen wird ihm sein schwerer Verlust ins Gedächtnis gerufen; nie vorher hat er einen so einsamen Pfad gehen müssen. Aber er macht auch die Entdeckung, dass schon viele vor ihm diesen Pfad gegangen sind, dass viele mit ihm denselben schweren Weg gehen; ja, er findet sogar die Fußstapfen Dessen dort, der jeden Schritt des Weges aus Erfahrung kennt und der da weiß, solchen zu helfen, die durch diese arme Welt gehen müssen (Hebräer 2,17.18).

Welch ein beglückender Gedanke ist das! Das finstere Tal mit seinen niederdrückenden Erfahrungen liegt hinter dem müden Pilger, und zur rechten Zeit langt er bei den reichen Vorkehrungen an, welche die liebende Sorge des guten Hirten für ihn getroffen hat, ja, er kommt zu einer innigeren Bekanntschaft mit Ihm Selbst. „Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde". Er ist zwar noch in der Wüste und in der Gegenwart seiner Feinde; es liegen jedoch göttliche Erquickungen für ihn bereit, um ihn auf seinem Pfade zu stärken; zudem sind in der Gegenwart des Herrn alle Feinde kraftlos. So heißt denn der gute Hirte, wenn die erste Hitze der Trübsal vorüber ist, die geprüfte Seele sich unter Seinem Schutz niederzulassen und von dem reichen Mahl zu essen, das Er mit eigener Hand für sie zubereitet hat. Wie zärtlich ist doch die Liebe unseres hochgelobten Herrn; wie denkt Er an alles! Am Tage der größten Schwachheit der Natur, wenn kaum noch so viel Kraft zurückgeblieben ist, um den Besuch eines teilnehmenden Freundes zu empfangen, geschweige denn einem Feinde entgegenzutreten, denkt Er an uns und sorgt für uns. In Frieden und Sicherheit dürfen wir uns an Seiner reichbesetzten Tafel niedersetzen und aus der Fülle Seiner Liebe trinken, geborgen vor allen Feinden und erquickt durch den Schatten Seiner Flügel.

Was sollen wir dazu sagen? Ist nicht ein solches Mahl, ein solcher Ausdruck des tiefen, innigen Mitgefühls des Herrn, ein reicher Ersatz für unseren Weg durch das finstere Tal? Wer diese Frage noch nicht zu bejahen vermag, darf dennoch versichert sein, dass, wenn der Herr uns einen Weg führt, die Seele in Seiner Nachfolge reichen Segen finden wird, und es gibt keinen Grund, weshalb sie selbst in den Tiefen des Leides nicht vollkommen glücklich sein könnte mit ihrem Herrn. Sie darf zu allen Zeiten mit voller Glaubenszuversicht sagen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln".

Allerdings geht es dem guten Hirten jetzt nicht darum, die Seele zu stillen Wassern und grünen Auen zu leiten; das hat Er früher getan. Er führt sie jetzt in höhere Wahrheiten ein und leitet sie auf einem Pfade reicherer und tieferer Erfahrungen. Wie die Kindlein im 2. Kapitel des 1. Johannesbriefes den Vater und die Vergebung der Sünden kennen, so kennt die Herde des guten Hirten hier das, was der Herr Jesus für sie ist und was Er zu ihrem ewigen Heil für sie getan hat. Und so wie wir in jenem Kapitel von „Jünglingen und Vätern" lesen, so sehen wir auch hier den Gläubigen in eine weitergehende Segnung von mehr persönlichem Charakter eingeführt: Du bereitest vor mir einen Tisch ... du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über".

Zur Erklärung des Gesagten seien einige Beispiele angeführt. Die Frau, die im Hause des Pharisäers Simon in tiefer Not über ihre Sünden zu Jesus kam, wurde sofort zu grünen Auen und stillen Wassern geführt. Der gute Hirte nahm das verirrte Schäflein mit Freuden auf und schenkte dem niedergebeugten Herzen eine volle Vergebung. Ohne irgendeine Frage über Vergangenheit oder Gegenwart zu stellen, führte Er die bußfertige Sünderin in den Wert Seines Kreuzes und in den Genuss der Gnade und Liebe Seines Herzens ein und lagerte sie damit gleichsam auf den grünen Auen und an den stillen Wassern Seines schrankenlosen Erbarmens. So handelt der Herr in Gnade mit jedem Menschen, der zu Ihm kommt, und jene herrlichen Auen sind das unveränderliche Teil eines jeden Schäfleins Seiner Herde. In dieser Beziehung gibt es keinen Unterschied zwischen den Kindlein, Jünglingen und Vätern in Christo. Der eine mag diese Auen besser kennen und genießen als der andere, aber sie gehören allen ohne Unterschied. Auch bedarf es niemals einer Wiederholung so kostbarer Worte wie „Deine Sünden sind vergeben; dein Glaube hat dich errettet; gehe hin in Frieden", aus dem Munde des Herrn; denn das Wort des Herrn besteht in Ewigkeit. So wie das Blut nur einmal an die Türpfosten gestrichen werden musste, kann eine Seele auch nur einmal Vergebung ihrer Sünden empfangen.

Wenden wir uns jetzt zu den Schwestern in Bethanien, die ihren Bruder verloren hatten. Auch sie waren in großer Not, aber diese Not hatte eine ganz andere Ursache als bei der erwähnten Frau; sie trauerten nicht wegen ihrer Sünden, sondern brauchten Trost und Kraft in der Stunde des Schmerzes. Und siehe da, welch neue Schätze und Reichtümer öffnete der Herr für die trauernden Schwestern: die Schätze Seiner Liebe, Seines Mitgefühls, Seines Trostes und Seiner Macht! Sie vernahmen Seine Seufzer, sie hörten Seine Worte, und sie empfingen wunderbare Segnungen. Ja, wäre ihr Bruder nicht gestorben, so würden sie nie die Tränen ihres Herrn und Heilandes gesehen haben. Obgleich diese Tränen die Bewunderung des Himmels hervorgerufen haben müssen und seitdem so manchen bekümmerten Herzen zu reichem Trost geworden sind, blieb es nicht bei diesem rührenden Beweis und vollkommenen Ausdruck Seiner wahrhaftigen Menschheit, nein, die Schwestern durften auch Zeugen der Entfaltung Seiner göttlichen Kraft sein. „Jesus vergoss Tränen", und: „Er rief mit lauter Stimme: „Lazarus komm heraus!" - wahrlich, das ist ein Zusammenfallen von Tatsachen, die für den menschlichen Verstand unbegreiflich sind, aber den Glauben zu anbetender Bewunderung hinreißen. Wie erhaben und wunderbar ist es schließlich auch, dass Jesus den beiden Schwestern gerade in ihrem tiefen Schmerz die kostbare Wahrheit offenbart: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist; und jeder, der da lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit" (Joh. 11).

Welch eine Verherrlichung Gottes, so dürfen wir wohl sagen, welch ein Kundwerden dessen, was unser Herr Jesus ist, welch ein Trost für die Trauernden, welch ein Segen für Maria ging aus dem Tode des Lazarus hervor! Zu solchen Zeiten hat die Seele es in einem besonders gesegneten Sinne mit dem Herrn allein zu tun. Die Erfahrung wird zu einer mehr persönlichen Sache. Die Seele empfindet weniger von dem, was der Herr für sie getan hat, als vielmehr von dem, was Er Selbst für sie ist. Die Gemeinschaft mit Ihm wird wirklicher, tiefer, inniger. „Du bereitest vor m i r einen Tisch". Angenehmer und lieblicher als die beredteste Zunge es aussprechen oder die gewandteste Feder es beschreiben kann, ist die Erquickung, die der Herr zu solchen Zeiten darreicht. Sie trägt den unverkennbaren Stempel Seiner eigenen Hand.

Er, Der das Ende von Anfang an kennt, der das Kommende voraussieht, kann allein das Nötige vorsehen und darreichen. Nichts kann Ihn überraschen. Die Wolke, die den ganzen Himmel verfinstert und das Land vielleicht weithin verwüstet, sah Er schon, als sie noch kleiner war als eines Mannes Hand. Das Unwetter brach vielleicht plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel über den Pilger herein, so dass er für den Augenblick nicht wusste, wohin er sich wenden, was er sagen oder tun sollte. Er mag ganz überwältigt, seine Seele in den tiefen Wassern versunken sein - aber e i n Auge sah ihn und alles, was kommen würde und eine mächtige, treue Hand traf Vorsorge, so dass er nun mit tiefer Bewunderung und heiligem Staunen anbeten kann angesichts einer Liebe, die an alles gedacht und im voraus für alles gesorgt hat. O wie anbetungswürdig ist die Liebe und Gnade unseres Herrn, wie zärtlich Seine Sorge für Sein pilgerndes Volk! Doch eigentlich haben wir gar keine Ursache, uns darüber zu wundern; denn kein Ereignis, kein auch noch so geringfügiger Umstand in dem Ereignis könnte zu nichtig sein für Ihn, der die Haare unseres Hauptes gezählt hat und ohne dessen Willen nicht ein Sperling zu Boden fällt.

„Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt". In welch lieblicher Weise ist der Pilger sich der Nähe seines Herrn bewusst! Hier ist die Kraft seines Herzens. Die ihm zuteil gewordene Ehre ist groß und wird sicherlich hoch geschätzt; aber was das Herz am meisten anzieht, ist die Gegenwart des Herrn. In dieser Gegenwart genießen wir eine Ruhe, die wir sonst nirgendwo finden; sie ist bereits ein Vorgeschmack von der Ruhe droben.

Kennst du den süßen Frieden und das stille Vertrauen, die aus der bewussten Nähe des Herrn hervorfließen? Wer die Macht dieser Gegenwart in Tagen der Schwachheit und Trübsal erfahren hat, kann sie sicherlich nie wieder vergessen. Es gibt eine Art und Weise, solche Dinge zu erfahren, dass sie weder Zeit noch wechselnde Umstände aus unserem Gedächtnis zu verwischen vermögen und wir uns wohl noch in der Ewigkeit mit Nutzen und Segen an sie erinnern werden. Aber ehe der Herr in solcher Weise belehren kann, muss der Christ von allem Selbstvertrauen entkleidet sein, muss er seine Armut fühlen; anders wird er nicht zu Ihm allein aufschauen, noch die Hilfe als unmittelbar von Ihm kommend annehmen.

Es mag sich die Frage stellen, ob man sich dem Herrn nicht innig nahefühlen kann, ohne gerade durch große Trübsale oder Schwierigkeiten gegangen zu sein? Ganz gewiss; alle, die durch Gottes Gnade gläubig geworden sind, besitzen das Vorrecht, durch die Kraft des Heiligen Geistes in Christo sich Gott nahe zu fühlen und diese Nähe zu genießen; das ist sozusagen ihr Geburtsrecht. Dennoch sind ernste Lebenserfahrungen sehr oft ein Anlass, dem Herrn praktisch näherzukommen. „Unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohne Jesus Christus" (1. Joh. 1. 3). Das gilt für alle Kinder Gottes, obwohl es leider nicht alle verstehen und genießen. Nicht alle ergreifen im Glauben diese kostbare Wahrheit. Viele wissen wohl, dass ihre Sünden vergeben sind, aber von dem gesegneten Verhältnis, in das sie zu Gott gebracht sind, verstehen sie wenig. Sie kennen nicht die tiefe Bedeutung des Wortes „Versöhnung".

Werfen wir zur Erläuterung des Gesagten einen kurzen Blick auf die Geschichte des verlorenen Sohnes! Das erste, was dieser nach seiner Rückkehr von seinem Vater empfing, war der Friedenskuss. Nichtsmehr stand fortan zwischen ihm und dem Vaterherzen. Er ist das sprechende Bild von einem Menschen, der lebendig gemacht worden ist, Vergebung empfangen hat, angenommen und versöhnt ist und nun mit dankbarem Herzen Gott anbetet. Wer hätte sich in dem ganzen Hause des Vaters wohl mehr daheim gefühlt als der verlorene Sohn! Er war dort gleichsam im vollen Werte des Werkes Christi, strahlend in Seiner Schönheit und geschmückt mit den Kostbarkeiten des Himmels. Es ist, als ob der Vater in seiner Liebe gar nicht weiß, was alles er seinem heimgekehrten Sohne tun soll. Wie wenige trinken doch mit tiefen, vollen Zügen aus dieser Quelle der Liebe des Vaters! - einer Liebe, die unveränderlich ist und weit, weit über die wertvollsten Kleider und Ringe, über die gemästeten Kälber hinausgeht. Wie huldreich empfängt sie einen jeden heimkehrenden verlorenen Sohn, und wie herzlich heißt sie ihn willkommen! Es sollte wahrlich unser Begehren sein, tiefer in diese vollkommene Versöhnung und ihre Folgen, wie auch in die selige, freudenreiche Anbetung einzudringen, die aus der Erkenntnis und dem Genuss Seiner Liebe hervorgeht!

Doch kehren wir zu unserem Psalm und zu den Erfahrungen des Mannes des Glaubens zurück! Vieles von dem, was sich hier findet, lässt sich auf Christus Selbst und Seinen Pfad anwenden und im weiteren Sinne auch auf alle, die Seinen Fußstapfen gefolgt sind, wann und wo sie auch gelebt haben. Es ist der Pfad eines gottesfürchtigen Menschen unter dem Auge und der nie fehlenden Sorge des Herrn Jehova. Auf diesem Pfad gibt es Leiden und Demütigungen, aber auch Ehren und Verherrlichungen - jene für eine Zeit, diese für immer.

Doch so sehr auch der Herr in der Einfalt des Glaubens gekannt und genossen werden mag, vergessen wir nicht, dass der Pilger auf dem Wege der bitteren Wasser von Mara und der finsteren Schatten des Todes den Tisch des Königs erreicht hat und ein geehrter Gast in Seinem Hause geworden ist. Erst Leiden, dann Herrlichkeit; nicht umgekehrt.

Während nun der Pilger in stillem Frieden an dem Tisch sitzt, den der Herr zu seiner Erquickung bereitet hat, warten neue Ehren und Segnungen auf ihn: „Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt". Der Gastherr hat sich nach der Sitte des Morgenlandes von seinem Sitz erhoben und duftendes öl über das Haupt seines Gastes ausgegossen. Bei den orientalischen Völkern gilt dies als ein Zeichen hoher Auszeichnung, die man nur vornehmen Gästen und Fremdlingen zuteil werden lässt. Das Öl wird mit köstlichen Wohlgerüchen vermischt, so dass bei dessen Gebrauch das ganze Haus oder doch der Speisesaal mit lieblichem Duft erfüllt wird. Ist es nun nichts Ungewöhnliches, dass ein Diener das Haupt eines jeden Gastes salbt, so ist es eine äußerst seltene, hervorragende Ehre, wenn der Herr des Hauses selbst diesen Dienst an einem besonders Begünstigten vollzieht. Nun, der Glaube kann von dem König der Könige und Herrn der Herren sagen: „Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt". Hier nimmt - welch eine Herablassung - der königliche Gastgeber selbst den Platz des Dieners ein.

Wie gebräuchlich das Salben bei den Juden war, geht aus den Worten des Herrn an den Pharisäer Simon hervor: „Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; diese aber hat mit Salbe meine Füße gesalbt" (Lk. 7,46). Was Eigengerechtigkeit dem Herrn vorenthielt, das vollbrachte die arme, bußfertige Frau, ja, sie tat noch weit mehr. Der Pharisäer hielt den Herrn nicht einmal des Wassers für Seine Füße wert, geschweige denn des köstlichen Öls für Sein Haupt. Aber wo hätte man auch je vernommen, dass Eigengerechtigkeit öl für das Haupt, Wasser für die Füße oder den freundlichen Willkommensgruß für den demütigen Sohn des Menschen bereitgehalten hätte? Die sündige Frau hingegen hatte alles für Ihn bereit: sie badete Seine Füße mit ihren Tränen und salbte sie mit köstlichem öl; sie trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes und küsste sie sehr. Welch ein Vorgang und welch eine Unterweisung! Eine arme, tiefgefallene Sünderin, eine offenbare Übertreterin des Gesetzes, betritt das Haus der Gerechtigkeit des Menschen, beugt sich nieder zu den Füßen des Sohnes Davids und trägt den reichsten Segen davon angesichts und inmitten der eitlen Selbstgefälligkeit des Pharisäers. Sie erwirbt den höchsten Preis, den ein Mensch erringen kann, während die Häupter des Volkes, die sich nicht vor Jesus beugen wollten, arm und elend, blind und bloß allein gelassen werden. „Wer irgend sich selbst erhöhen wird, wird erniedrigt werden; und wer irgend sich selbst erniedrigen wird, wird erhöht werden" (Mt. 23,12).

Die Salbung mit Öl wird in der Schrift oft erwähnt. Das heilige Öl wurde im jüdischen Gottesdienst vielfach verwandt. Die Propheten, Priester und Könige wurden mit Öl für ihr Amt geweiht, Öl bildet auch einen wichtigen Bestandteil bei den alttestamentlichen Opfern; selbst die Geräte des Heiligtums mussten mit dem heiligen Salböl gesalbt werden.

Das Salben des Hauptes, wie es in unserem Psalm erwähnt wird, ist jedoch mehr das Bild einer persönlichen Segnung. Der Mann Gottes redet im Anfang des Psalms, indem er das Bild eines Hirten und seiner Schafe gebraucht, von seinem vollkommenen Vertrauen auf Jehova, und dieses Vertrauen kennzeichnet den ganzen Psalm. Durch die Hand seines guten Hirten wird er auf grüne Auen und zu stillen Wassern geführt. Aber dann steigt eine dunkle Wolke am Horizont auf. Schmerzen und Leiden kommen über ihn; der Tod kreuzt seinen Pfad und lässt seine finsteren Schatten zurück. Doch der Herr bleibt allezeit derselbe und der Gläubige genießt Seine Gegenwart. Plötzlich jedoch ändert sich das Bild; statt eines Schafes, das seinem Hirten vertraut, finden wir einen zur Königstafel geladenen Gast.

„Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner feinde; du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über". Der „Tisch" mag ein Bild von der Gemeinschaft der Seele mit dem Herrn Selbst sein. Er erinnert uns an eine reichere und tiefere Gemeinschaft mit Ihm, während das Salben des Hauptes wohl einen öffentlichen Ausdruck Seiner Gunst darstellt; und gerade in dieser besonderen Segnung wird der Gesalbte in liebliche Gemeinschaft mit dem Meister Selbst gebracht. Auch Er ist gesalbt worden, freilich nicht mit dem öl des Heiligtums, sondern mit dem Heiligen Geiste. Das Wort bezeugt, dass Gott Ihn mit Heiligem Geiste und mit Kraft gesalbt hat (Apg. 10,38; vergl. auch Mt. 3,16). Auch steht geschrieben: Gerechtigkeit hast du geliebt, und Gesetzlosigkeit gehasst; darum hat Gott, dein Gott, dich gesalbt mit Freudenöl, mehr als deine Genossen" (Ps. 45,7).

Herrlich sind in der Tat die Segnungen, die uns in diesen Bildern vor Augen geführt werden. Unvergleichlich huldreich ist auch, dass wir in dem oben zitierten Psalm „Genossen" des Christus genannt werden, wie Er als Mensch der „Genösse" Jehovas der Heerscharen heißt (Sach. 13,7). Welch ein Band zwischen uns und dem lebendigen Gott! Zudem heißt es von allen Christen: „Ihr habt die Salbung von dem Heiligen", und: „Der uns aber mit euch befestigt in Christum und uns gesalbt hat, ist Gott" (1. Joh. 2,20; 2. Kor. 1. 21). Allerdings - und es kann ja nicht anders sein - ist er mit Freudenöl gesalbt worden mehr als Seine „Genossen". Der Geist der Wahrheit versichert es uns, wir glauben es, und der Tag wird es einst offenbar machen.

Als gesalbte Könige und Priester unseres Gottes und Vaters werden wir binnen kurzem mit unserem hochgelobten Herrn in Seiner Herrschaft und Herrlichkeit vereinigt werden. Wir werden dann als die Gefährten Dessen erscheinen, in Dessen Hand die gesamte Regierung über Himmel und Erde gelegt sein wird. Ja, wir werden Seine Genossen sein und alles mit Ihm teilen - nicht nur während der tausendjährigen Dauer des irdischen Reiches, sondern von Ewigkeit zu Ewigkeit, in der neuen Schöpfung, wo nichts, gar nichts mehr an diese arme Erde erinnern wird.

Was sollen wir nun hierzu sagen? Unwillkürlich richten sich Herz und Auge nach oben, und über die Lippen drängt sich die Bitte: „Anbetungswürdiger Herr! schenke es uns, dass wir würdig wandeln des heiligen Salböls Gottes, das auf uns ist!" Ja, was bleibt uns anderes übrig, als angesichts einer solchen Liebe und in der Erwartung solcher Herrlichkeiten niederzusinken und anzubeten: „Mein Becher fließt über".

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Ein für allemal der Sünde gestorben

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 222ff

Denn was Er gestorben ist, ist Er ein für allemal der Sünde gestorben; was Er aber lebt, lebt Er Gott“ (Röm. 6, 10).

Unser hochgelobter Herr kam einst in diese Welt, um die ernste Frage der Sünde zu ordnen. Das war der Zweck Seines Kommens. Er kam, um unseren Platz als Sünder einzunehmen, um für uns zu sterben. Es gab keinen anderen Weg, um jene Frage zu ordnen. Er starb nicht, weil Er hätte sterben müssen; o nein, Er war der Heilige und Gerechte. Er starb aus Gnade für uns und im Blick auf die Sünde, die uns verunreinigt hatte und uns gefangen hielt; und Er tat es ein für allemal. Dieses Werk kann und braucht nie wiederholt zu werden. Er musste es tun der Sünde wegen, die uns für ewig von Gott trennte, und nachdem Er nun das schwere Werk vollbracht hat, hat Er nichts mehr mit der Sünde zu tun. „Was Er gestorben ist, ist Er ein für allemal der Sünde gestorben“ Wohl wird Er dereinst die Sünder richten, aber mit der Sünde als solcher, mit welcher Er sich hienieden beschäftigen musste, um uns zu erretten, hat Er auf immerdar abgeschlossen. Auf dem Kreuze musste der Reine und Sündlose mit der Sünde in Verbindung gebracht werden; dort musste die ganze Frage zur Entscheidung kommen, ja, dort ist Er zur Verherrlichung Gottes zur Sünde gemacht worden. Aber jetzt hat Er ein für allemal mit ihr abgeschlossen. „Was Er aber lebt, lebt Er Gott.“ Es gibt gleichsam nur ein Ding, welches Sein Leben jetzt ausmacht, nur eins, was alle Kundgebungen desselben kennzeichnet und ausfällt, und dieses Eine ist Gott.

In Seinem Leben hienieden diente Er Gott vollkommen; jeder Schritt war vollkommen, indem Gott allezeit

vor Seinem Geiste stand. Aber Er musste sich mit der Sünde rundumher beschäftigen; Er wurde durch sie niedergebeugt, betrübt, Er war durch sie ein Mann der Schmerzen; und - Er musste für uns zur Sünde gemacht werden. Vollkommen in Liebe und Gehorsam als Mensch hienieden, war Er doch gekommen, um mit der Sünde sich zu beschäftigen und schließlich, wie bereits bemerkt, zur Sünde gemacht zu werden, nachdem Er sich als der völlig Sündlose, als Der, der Sünde nicht kannte, erwiesen hatte. Aber jetzt hat Er für immer mit ihr getan. Er ist der Sünde gestorben, verließ, indem Er Sein Werk vollkommen erfüllte, mittelst des Todes den ganzen Schauplatz, wo Er mit ihr zu tun hatte, und ist in der Auferstehung jetzt in einen neuen Zustand als Mensch eingetreten, in welchem Er nur noch mit Gott zu tun hat. Es handelt sich in dieser Stelle nicht um die Vollkommenheit Seiner Absicht (diese war stets vollkommen, gerade so wie Sein Wandel; in diesem Sinne lebte Er stets Gott) sondern um das, worin und wofür Er jetzt lebt: Gott. Für Seine Seele gibt es nichts anderes mehr.

Und nun, welche Bedeutung hat das für uns? Der Apostel sagt: ,,Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christo Jesu“. Welch ein Gedanke ist das! Der Gläubige ist berechtigt, sich der Sünde für tot zu halten. Nicht dass die Sünde im Fleische keine Lüste und Begierden mehr hätte; aber der

Gläubige lässt sie nicht in seinem Leibe regieren, um seinen Lüsten zu gehorchen, sondern er wandelt in der Freiheit und Kraft eines neuen Lebens. Er hält die Zügel gleichsam in feiner Hand und erlaubt der Sünde, die noch in ihm ist, nicht, den Leib zur Erfüllung ihrer Lüste zu gebrauchen. Einst war er ein Sklave der Sünde, aber jetzt ist er berufen, als ein Befreiter, ja, als ein Lebender aus den Toten, sich Gott darzustellen und „seine Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit“. Denn die Sünde hat keine Herrschaft mehr über ihn, weil er nicht mehr unter Gesetz, sondern unter Gnade ist. Gott gebe dem Schreiber und dem Leser dieser Zeilen, mehr als bisher in dieser glückseligen Freiheit zu wandeln zur Ehre Dessen, der uns befreit hat! Könnte es etwas Höheres, Herrlicheres für uns geben, als uns Gott darzustellen, Gott zu leben?

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Lasset euer Licht leuchten

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 224ff

Kannst du gleich der Sonne nicht

Tausenden den Pfad erhellen,

willst du deshalb scheu dein Licht

einem Scheffel unterstellen?

Sieh dies Lämpchen, dessen Schein,

kaum erhellt dein Kämmerlein,

hat vielleicht schon dann und wann

froh ein müder Wandersmann,

der den rechten Pfad verloren,

sich zum Leitstern auserkoren.

Drum verberge nicht dein Licht!

Leuchten ist auch dein Beruf,

Wenn dich auch als Sonne nicht

Gott in seiner Welt erschuf.

J. Sturm

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Halte fest was du hast!

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 225ff

XIV

4. „Siehe der Bräutigam! Gehet aus, Ihm entgegen!“ (Matthäus 25, 1 – 13)

Auch in dem Gleichnisse von den zehn Jungfrauen finden wir einen sehr deutlichen Hinweis aus die Notwendigkeit der Absonderung der Gläubigen in unseren Tagen. „Alsdann wird das Reich der Himmel gleich geworden sein zehn Jungfrauen, welche ihre Lampen nahmen und ausgingen, dem Bräutigam entgegen“. Diese Jungfrauen stellen nicht die Braut des himmlischen Bräutigams dar, wie man oft gemeint hat, sondern sind ein Bild der christlichen Bekenner auf der Erde.*) Ihre Lampen bezeichnen ihr Bekenntnis. Sie sind aus dem Judentum oder dem Heidentum ausgegangen und haben das christliche Bekenntnis angenommen. Aber nicht alle erweisen sich als echte Bekenner, denn wir lesen: „Fünf aber von ihnen waren klug und fünf töricht«. Die Klugheit der ersteren zeigte sich in dem Umstande, dass sie O! in ihren Gefäßen mitnahmen, während die Torheit der letzteren sich darin kundgab, dass sie wohl Lampen hatten, aber das O! fehlen ließen. Eine Lampe ist dazu bestimmt, Licht zu verbreiten; dazu aber bedarf sie des Öles. Fehlt das Öl so geht die Lampe aus; sie erlischt und wird wertlos. In der Sprache der Schrift ist das O! ein bekanntes Symbol von dem neuen, geistlichen Leben, oder von dem Heiligen Geiste selbst. Wenden wir dies aus den vorliegenden Fall an, so erkennen wir, dass nur die wahren Bekenner, das heißt diejenigen, welche aus Gott geboren find und in denen der Heilige Geist Wohnung gemacht hat, fähig sind, ein Licht für den Bräutigam zu sein; nur sie vermögen Ihm entgegen zu gehen und zu leuchten, wenn Er aufbrechen wird zur Hochzeit.

Unser Gleichnis zeigt uns, dass die Jungfrauen im Anfang alle ausgingen, dem Bräutigam entgegen. Der Herr hatte vor Seinem Abscheiden Seinen Jüngern verheißen: „Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe. . ., so komme ich wieder, und werde euch zu mir nehmen, aus dass, wo ich bin, auch ihr seiet“ (Joh. 14, 2. 3). Diese Hoffnung auf die Wiederkehr Christi war in den ersten Tagen der Kirche sehr lebendig. Die Apostel samt den Gläubigen jener Tage erwarteten nicht den Tod, sondern waren der Zuversicht, dass sie über kurz oder lang den Herrn in Seiner Herrlichkeit wiederkehren sehen würden. Als aber einige von ihnen entschliefen, kamen manche, wie z. B. die Thessalonicher, in Verlegenheit, weil sie befürchteten, dass die Entschlafenen bei der Ankunft des Herrn nicht da sein und so ihr gesegnetes Teil verlieren würden. Doch dieser Umstand gab dem Herrn Veranlassung zu einer weiteren kostbaren Offenbarung. Er ließ den Seinigen durch Seinen Knecht Paulus zurufen, dass sie sich bezüglich der Entschlafenen nicht betrüben möchten, wie die übrigen. die keine Hoffnung haben; denn diese in Jesu Entschlafenen würden zuerst aus den Toten auferweckt und dann zugleich mit den verwandelten lebenden Gläubigen Ihm entgegengerückt werden in die Luft (1. Thess. 4, 13 — 18).

Doch diese Ermunterung vermochte nur für kurze Zeit die Hoffnung lebendig zu erhalten. „Als aber der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein“. Der Ruf: „Komm, Herr Jesu!“ verstummte. Aus den Briefen an die Thessalonicher, in welchen diese Hoffnung, wie schon gesagt, besonders hervorgehoben wird, ersehen wir, dass jenes Schwinden der Hoffnung bereits in den Tagen der Apostel seinen Anfang nahm. In der Einleitung zu seinem ersten Briefe konnte der Apostel noch schreiben: „Unablässig eingedenk eures Werkes des Glaubens und der Bemühung der Liebe und des Ausharrens der Hoffnung auf unseren Herrn Jesum Christum“, während er im Beginn des zweiten Briefes wohl noch von einem wachsenden Glauben und einer überströmenden Liebe, aber nicht mehr von einer ausharrenden Hoffnung reden konnte. Ach! der Inhalt dieses zweiten Briefes beweist, dass es dem Feinde bereits gelungen war, die Hoffnung der gläubigen Thessalonicher zu erschüttern; Und die weitere Geschichte der Kirche zeigt uns, dass diese Hoffnung dem Bewusstsein der Heiligen nach und nach völlig entschwand. Die Worte des Herrn: „alle wurden schläfrig und schliefen ein“, gingen buchstäblich in Erfüllung. In den Werken der christlichen Schriftsteller seit den ersten Jahrhunderten bis auf unsere Zeit findet sich .keinerlei Hinweis auf die Wiederkunft des Herrn zur Aufnahme Seiner Kirche; selbst in den herrlichen Tagen der Reformation blieb diese Hoffnung ein Geheimnis.

Aber es sollte nicht«.so bleiben; das Geheimnis sollte wieder ans Licht treten, entsprechend der Ankündigung in unserem Gleichnisse: „Um Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam! gehet aus, Ihm entgegen!« In den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts ertönte dieses Geschrei zum ersten male, so dass wir jene Zeit wohl die Mitternachtsstunde nennen dürfen. Das Herz jubelt bei diesem Gedanken, denn wenn er richtig ist — und er ist es ohne allen Zweifel — so gehen wir jetzt mit raschen Schritten dem Morgen des Tages entgegen, den das Wort Gottes als den „Tag des Herrn« bezeichnet. Dieser Tag nimmt seinen Anfang mit der Entrückung der Kirche vor dem Gericht über alle Nationen (Matth. 25, 31 — 40) und der Wiederherstellung des irdischen Volkes Gottes (Israel), findet in der tausendjährigen Segnung dieser Erde seinen Fortgang und endigt schließlich mit der Übergabe des Reiches von Seiten unseres hochgelobten Herrn an Seinen Gott und Vater (1. Kor. 15, 24). Für den Gegenstand, der uns beschäftigt, ist es indes von besonderer Wichtigkeit, den Wortlaut des Geschreies, welches immer noch forttönt, etwas näher zu betrachten.

„Siehe, der Bräutigam!“ so heißt es zunächst. Diese Worte sagen mehr, als: „Der Bräutigam wird bald wiederkommen“. Sie lassen Seine Ankunft als etwas unmittelbar Bevorstehendes erscheinen. Er ist in allernächster Nähe, gleichsam schon in Sicht. Sie zwingen einen jeden, der sie hört, den Blick dahin zu richten, von woher der Bräutigam kommt, gen Himmel. Sie erinnern die wahren Gläubigen auf der Erde unwillkürlich daran, dass ihr Wandel oder ihr Bürgerrecht in den Himmeln ist, „von woher sie den Herrn Jesum Christum als Heiland erwarten, der ihren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der Herrlichkeit“ (Phil. 3, 20. 21). Sie rufen Gefühle wach, wie die einer Braut, deren Blick beständig nach der Tür gerichtet ist, durch welche der sehnlichst erwartete Bräutigam eintreten muss. Er hat seine Ankunft gemeldet, und jeden Augenblick kann er erscheinen. „Siehe, der Bräutigam!“ Der Herr wünscht die Seinigen als Menschen anzutreffen, die auf ihrer Herrn warten. Ist es nicht, wie wenn Er ihnen zuriefe: „Wachet! denn meine Ankunft steht vor der Tür“?

„Gehet aus!“ so lautet der zweite Teil des Mitternachtsrufes. Wir haben im Anfang des Gleichnisses gelesen, dass die Jungfrauen ausgegangen waren, dem Bräutigam entgegen. Warum hier nun nochmals die Aufforderung: „Gehet aus!“? Im Laufe unserer Betrachtung haben wir an der Hand des Wortes Gottes bereits zur Genüge bewiesen, in welch einem traurigen Zustand die bekennende Kirche infolge ihres Einschlafens geraten ist. Mit dem Verlust der Hoffnung ging auch die sichtbare Darstellung der Einheit des Leibes verloren. Nebeneingeschlichene Wölfe schonten der Herde nicht, und „Männer aus ihrer Mitte“ standen auf und zerstreuten die Schafe, indem sie dieselben hinter sich herzogen, anstatt sie um Christum allein zu sammeln. Die Kirche, berufen, eine Gemeinschaft von nur wahren Gläubigen zu sein, bot bald das Bild einer traurigen Vermengung von Gläubigen und Ungläubigen; und nicht nur das, Hand in Hand mit dieser schriftwidrigen Vermengung ging die Bildung zahlreicher Parteien und Sekten. Ein Blick auf die bekennende Christenheit unserer Tage zeigt uns, bis zu welch einem Grade das Verderben angewachsen ist. Viele Kinder Gottes haben ein tiefes Gefühl über diesen traurigen Zustand, und das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aller wahren Gläubigen wird in unseren Tagen immer lebendiger. Die Allianzbestrebungen sind ein Beweis davon, und insofern kann man sich über sie freuen. Aber die ernste Frage ist: Stehen diese Bestrebungen auf göttlicher Grundlage? Handeln die Gläubigen, welche ihnen huldigen und sie fördern helfen, nach den Gedanken Gottes? Da muss denn leider, so berechtigt und erfreulich das erwachende Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aller Kinder Gottes auch ist, die Antwort lauten: Nein; die Allianzbestrebungen stehen nicht aus göttlicher Grundlage. Und warum nicht? Aus dem einfachen Grunde, weil die Gläubigen nicht berufen sind, eine Einheit zu machen, oder richtiger

eine äußere Vereinigung herbeizuführen, sondern die durch den Heiligen Geist bewirkte, unerschütterliche Einheit des Leibes anzuerkennen und zu verwirklichen. Die Anerkennung dieser Einheit ist das Todesurteil für alles Parteiwesen. Aber dieses Todesurteil wollen diejenigen Kinder Gottes, welche jenen Bestrebungen huldigen, nicht unterzeichnen. Sie wollen nicht, wie dies unlängst einer ihrer Redner in einer großen Versammlung hervorhob, die Zäune, welche die Trennung verursachen, niederreißen, sondern nur verhindern, dass dieselben nicht zu hoch werden, damit die Kinder Gottes in den verschiedenen Parteien sich über dieselben hinweg die Hände reichen können. Sie wollen, um es kurz auszudrücken, eine äußere Vereinigung unter Anerkennung aller Parteiungen und Sonderstellungen. Ist das aber nicht eine große Untreue gegenüber dem deutlich geoffenbarten Willen Gottes und zugleich eine ernste Selbsttäuschung? „Gehet aus!“ so lautet das klare, keine Zweideutigkeit zulassende Gebot Gottes. Ein aufrichtiges Herz wird verstehen, dass der Herr zu einer Vermengung des Fleischlichen und Menschlichen — und so bezeichnet Er alle Parteiungen — mit dem Geistlichen und Göttlichen niemals Sein „Ja und Amen“ geben kann. „Gehet aus!“ so ruft die göttliche Stimme in unsere Tage hinein, und nichts anderes kann den Herrn befriedigen als eine treue, entschiedene Absonderung von allem, was nicht mit Seiner Wahrheit in Einklang steht, ein Aufgeben jeder ungöttlichen und darum unreinen Verbindung. „Glückselig, die Seine Zeugnisse bewahren, die von ganzem Herzen Ihn suchen, die auch kein Unrecht tun, in Seinen Wegen wandeln!“ (Ps. 119, 2. 3). Der Herr gebe uns allezeit die Gesinnung, welche der Psalmist in den Worten ausdrückt: „Die Doppelherzigen hasse ich, und ich liebe dein Gesetz“! (Ps. 119, 113). Wenn du so denkst, geliebter Leser, so beachte auch das Schlusswort des Mitternachtsrufes:

„Ihm entgegen!“ Viele treue Kinder Gottes haben, teils wegen der vielen schriftwidrigen Lehren und Einrichtungen, welche in den Parteien mehr oder weniger Platz gefunden haben, teils infolge des Bewusstseins, dass eine Gemeinschaft mit Ungläubjgen dem Worte Gottes zuwider ist, ihre einstige Parteistellung verlassen; aber anstatt „zu Ihm hinauszugehen außerhalb des Lagers“, anstatt einfach „Ihm entgegenzugehen“, haben sie sich entweder einer anderen Partei, welche die von ihnen erkannten Irrtümer nicht duldete, angeschlossen, oder sie haben eine neue Partei aufgerichtet mit neuen, vielleicht reineren Grundsätzen, aber immerhin unter Nichtbeachtung der durch den Heiligen Geist bewirkten Einheit aller Glieder des Leibes Christi. Solche Gläubige mögen viele Wahrheiten angenommen haben und sie auch in Treue zu verwirklichen suchen, aber sie haben sich nicht der ganzen Wahrheit unterworfen. So lange nicht das Wort Gottes als alleinige Autorität anerkannt wird, so lange man nicht entschlossen ist, die ganze Wahrheit zu verwirklichen, ohne irgendwelchen menschlichen Meinungen Gehör zu geben und zu folgen, wird man immer nur zur Bildung neuer Parteiungen Anlass geben und das traurige Bild der Zerrissenheit noch trauriger gestalten. Die Einheit des Geistes, die zu bewahren wir uns befleißigen sollen, kann nicht anders bewahrt werden, als durch eine völlige Unterweisung unter die Autorität des Wortes Gottes.

Woher kommt es nun, dass sich verhältnismäßig so wenige Kinder Gottes bereitfinden lassen, sich dieser

Autorität unbedingt zu unterwerfen? In erster Linie wohl, weil eine solche Unterwerfung das „Ich“ gänzlich beiseitesetzt. Es ist das stete Bestreben Satans, den Menschen zu einem eigenwilligen Gottesdienst zu veranlassen, nur damit Christus nicht zu Seinen Rechten komme. Andererseits wirkt ein anderer starker Einfluss auf die Herzen vieler Gläubigen, nämlich das moralische Gewicht und Ansehen von Menschen, welche infolge ihres gesegneten Wirkens auf religiösem Gebiet mächtig auf die Gefühle der Kinder Gottes einwirken. Das Wort und die Meinungen solcher Männer haben für viele Seelen oft mehr Gewicht als das Wort Gottes. Aber, lieber Leser, finden wir einen Halt, wenn wir uns auf Menschen stützen, und seien es auch die größten Gottesmänner der Vergangenheit oder Gegenwart? Ziehe die Kirchenväter, die zum Teil noch zu den Füßen der Apostel gesessen haben, ziehe die Gottesmänner der Reformation, ziehe die Gottesmänner der Gegenwart, so viele du kennst in den Bereich deiner Gedanken, und ich frage dich: Findest du unter ihnen eine völlige Übereinstimmung in Bezug aus die Wahrheit? Widersprechen sie sich nicht schnurstracks in vielen Punkten? Haben sie sich nicht sogar häufig als scharfe Gegner gegenüber gestanden? Wie könnten daher diese Zeugen Jesu, so treu und gottesfürchtig sie persönlich auch gewesen sein mögen, einer aufrichtig nach Wahrheit suchenden Seele einen festen Halt bieten? Nein, mein Leser, ein redliches Herz und Gewissen bedarf mehr als das. Was denn? Ist es gebunden, sich eine eigene Meinung zu bilden? Das wäre noch verkehrter. Nein, wir sind weder berufen, der Lehre irgend eines großen Gottesmannes zu folgen, noch haben wir das Recht, eine eigene Lehre auszustellen. Was wir zu tun haben, ist in „der Lehre der Apostel“ zu bleiben. Sie ist im Worte Gottes völlig klar dargestellt und muss es sein; wie könnten wir anders das Wort des Apostels Paulus befolgen: „Habe acht auf dich selbst und auf die Lehre, beharre darin“? Was uns nottut, um diese Lehre deutlich zu erkennen, ist der entschiedene Wille, der Herzensentschluss, sie ganz zu befolgen. Ist dieser Wille vorhanden, so gibt der Heilige Geist, der so gern in die ganze Wahrheit leitet, die Erkenntnis jener Lehre vermittelst des Wortes Gottes.

Der Mittelpunkt der Lehre der Apostel ist und bleibt Christus. Darum lasset uns nicht zu diesem oder jenem großen Gottesmanne hinausgehen, sondern zu Ihm, der verheißen hat, da in der Mitte zu sein, wo zwei oder drei zu Seinem Namen hin versammelt sind. Und wo Sein Name den ersten Platz hat, da wird auch nur Seine Stimme, das Wort Gottes, als alleinige Richtschnur gelten, und der Heilige Geist, der andere Sachwalter auf der Erde, als alleiniger Leiter anerkannt werden. Wo man neben Seinem Namen dem Ansehen des Menschen einen Platz, einräumt, da ist man nicht zu Seinem Namen hin versammelt. Er kann unmöglich Seine Rechte an die Versammlung mit einem Menschen teilen. Darum noch einmal, lieber Leser, wir bedürfen nicht einige Wahrheiten, sondern die ganze Wahrheit, nicht Christum und einen Menschen, sondern Christum allein. Er, der uns der Weg zum Heil geworden ist, ist auch die Wahrheit, und wenn Er der Gegenstand unserer Herzen und der Mittelpunkt unseres Zusammenkommens ist, so verwirklichen wir das Wort: „Gehet aus, Ihm entgegen!“

Hiermit wäre unser Gegenstand eigentlich erschöpft, aber es ist nicht ohne Interesse, uns noch ein wenig mit der Wirkung des Mitternachtsrufes aus die lebendigen und toten Bekenner zu beschäftigen. Wir lesen weiter: „Da standen alle jene Jungfrauen aus und schmückten ihre Lampen“. Die Geschichte des vorigen Jahrhunderts zeigt ein allgemeines Aufwachen auf religiösem Gebiet. An Stelle des öden Vernunftglaubens, welcher das 18. Jahrhundert kennzeichnete, trat wieder die sogenannte Orthodoxie mit ihrem Festhalten an dem Buchstaben der verschiedenen Glaubensbekenntnisse. War es auch vielfach nur die Annahme einer bloßen Form der Gottseligkeit, während deren Kraft verleugnet wurde, so kehrte man doch wenigstens äußerlich auf den Boden des Christentums zurück. Zugleich entfaltete sich in der katholischen Kirche sowohl, wie in den verschiedenen Abteilungen des protestantischen Lagers, eine rege Tätigkeit im Blick aus das Werk der Mission. Die Gründung der großen Missions- und Bibelgesellschaften, deren rastloses Wirken unberechenbaren Segen gebracht hat, fällt in jene Zeit, welche wir weiter oben als die Mitternachtsstunde bezeichnet haben. Auch auf dem Gebiet der sogenannten „inneren“ Mission begann es sich zu regen. Mit einem Worte, alle Bekenner, echte und unechte, fingen an, ihre Lampen zu schmücken; und diese Bewegung war nicht vorübergehend, sie ist lawinenartig angewachsen und nimmt auch in unseren Tagen noch immer ihren Fortgang. Es hat wohl kaum eine Zeit gegeben, in welcher das religiöse Leben im allgemeinen einen solchen Aufschwung genommen hätte, wie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts. Man hat es deshalb auch oft das Jahrhundert der Mission genannt. Aber je näher der Augenblick der Ankunft des Bräutigams kommt, desto mehr macht sich der Unterschied zwischen den wahren und falschen Bekennern bemerkbar, desto schärfer vollzieht sich die Scheidung. Die Törichten machen die Wahrnehmung, dass ihre Lampen erlöschen, und bitten die Klugen, ihnen von ihrem Öl mitzugeben. Aber das ist unmöglich; die klugen Jungfrauen haben nur gerade so viel Öl, wie sie für sich selbst bedürfen. „Keineswegs vermag jemand seinen Bruder zu erlösen, nicht kann er Gott sein Lösegeld geben, (denn kostbar ist die Erlösung ihrer Seele, und er muss davon abstehen auf ewig), dass er fortlebe immerdar, die Grube nicht sehe“ (Ps. 49, 7 — 9).

Die Klugen antworten: „Nicht also, damit es nicht etwa für uns und euch nicht ausreiche; gehet lieber hin zu den Verkäufern und kaufet für euch selbst“. Gott lässt durch Seine Boten allenthalben verkündigen, auf welche Weise man zu dem Öl kommen kann, welches nötig ist, um mit dem Bräutigam zur Hochzeit eingehen zu können. Er lässt in alle Länder und Völker hineinrufen: „O ihr Durstigen alle, kommet zu den Wassern; und die ihr kein Geld habt, kommet, kaufet und esset! ja, kommet, kaufet ohne Geld und ohne Kaufpreis Wein und Milch!“ (Jes. 55, 1). „Wen da dürstet, der komme; wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst!“ (Offbg. 22, 17). „Wenn jemanden dürstet, so komme er zu mir und trinke. Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Dies aber sagte Er von dem Geiste, welchen die an Ihn Glaubenden empfangen sollten“ (Joh. 7, 38. 39). Immer näher rückt die Stunde der Ankunft des Bräutigams. Sie wird den toten Bekennern Schreck und Entsetzen bringen. Es war ihnen Zeit genug gelassen, um sich um jenes Öl zu bemühen; aber da gab es so viele Hindernisse, so viele Gründe, die ernste Entscheidung noch ein wenig hinauszuschieben. Und siehe da, als sie endlich hingingen, um zu kaufen, da kam der Bräutigam, und die bereit waren gingen mit Ihm ein zur Hochzeit, und die Tür ward verschlossen. Zu spät erkennen die Törichten die schrecklichen Folgen ihrer Nachlässigkeit. Sie rufen: „Herr, Herr, tue uns auf!“ Aber die Tür tut sich nicht auf, und nur die schneidenden Worte: „Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht!“ tönen an ihre Ohren. O welch eine

verhängnisvolle Torheit ist es, sich mit einer äußeren Religiosität ohne Leben aus Gott, mit einem Bekenntnis ohne den Heiligen Geist zu begnügen!

Wie herrlich klingen demgegenüber die Worte, welche der Apostel einst an die geliebten Gläubigen in Thessalonich und damit auch an uns alle richtete, so viele wir des Herrn sind: „Ihr aber, Brüder, seid nicht in Finsternis, dass euch der Tag wie ein Dieb ergreife; denn ihr alle seid Söhne des Lichtes und Söhne des Tages: wir sind nicht von der Nacht, noch von der Finsternis“. Aber wie ernst und eindringlich lautet auch die daran geknüpfte Ermahnung: „Also lasst uns nicht schlafen, wie die übrigen, sondern wachen und nüchtern sein . · . , angetan mit dem Brustharnisch des Glaubens und der Liebe und als Helm mit der Hoffnung der Seligkeit“! (Vergl. 1. Thess. 5, 4 — 8).

Fußnote:

*) Die Braut besteht aus nur wahren Gläubigen; sie ist als solche auch nicht berufen, dem Bräutigam entgegen zu gehen und Ihn zur Hochzeit einzuholen. Sie wird abgeholt und ins Vaterhaus geführt.

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Gedanken über den 23. Psalm

Bibelstelle: Psalm 23

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 237ff

„Mein Becher fließt über", wie selig ist der Zustand, in dem sich der Gast des Königs jetzt befindet! Seine Segnung ist ohne Maß und Grenzen. Er, der sich noch vor kurzem im tiefen Schatten des Todestales bewegte, sieht sich jetzt am Ort der höchsten Freude und empfängt die offenkundigste Versicherung der Gunst des Herrn. Nichtsdestoweniger dürfen wir nicht vergessen, dass das Tal des Todesschattens ein ebenso starker Ausdruck der Gunst des Herrn sein kann wie das Mahl, wenngleich die Umstände und die Ergebnisse so unterschiedlich wie nur möglich sind. Jetzt fließt der Becher der Freude über. Aber diese Freude ist nur im Herrn. Der irdische Aufenthaltsort mag an sich genauso freudeleer sein wie immer. Diese beiden Erscheinungen, so widerspruchsvoll sie scheinen mögen, sind in der Erfahrung des Christen durchaus vereinbar miteinander und sind vielen wohlbekannt. Wie oft sind die äußeren Umstände nichts weniger als erfreulich, und doch genießt das Herz infolge der Gnadenerweisung von oben, die sich gerade in diesen Umständen kundgeben, die tiefe Freude des Herrn! Alles rundumher zeigt für das natürliche Auge nur dunkle Schatten: Enttäuschung, Trennung, schmerzliche Verluste und dergleichen mehr, alles trägt den Charakter einer niederdrückenden, endlos erscheinenden Trübsal; nichtsdestoweniger empfindet der nach oben schauende Christ eine ruhige, wolkenlose, unvermischte Freude. Er steht vor Gott im vollen Werte Christi und in dem süßen Bewusstsein, dass er zu Seinen Kindern gehört und mit unaussprechlicher Liebe geliebt wird. Vertrauen erfüllt das Herz und lässt es überfließen von dankbarem Lobe.

Das ist die kostbare, echte Frucht, wenn die Seele sich der gnädigen Vorkehrungen des Königs erfreut. Und wie könnte es anders sein? Wer an der Tafel des Königs sitzt, das Mahl genießt, das Seine eigene Hand bereitet hat, wem das Haupt mit köstlichem, duftendem Öl gesalbt, der Becher bis zum Rande mit dem auserlesenen Wein des Königs gefüllt ist - was anders könnte man in solcher Lage sagen, als: „Mein Becher fließt über"? Meine Freude, meine Segnung, mein Glück ist voll, ja, mehr als voll; ich vermag nur zu loben und zu danken?

Aus diesem ausdrucksvollen Bilde können wir lernen - unter manchem anderen - was Anbetung ist. Wir dürfen versichert sein, dass nichts von größerer Wichtigkeit für den Christen ist und nichts mehr zur Ehre Gottes dient, als eine freudige Anbetung aus dankerfülltem Herzen. Gott wird der Ihm gebührenden Verherrlichung beraubt, wenn Seine Kinder es versäumen, Ihn anzubeten. Den wahren Charakter der Anbetung zeigt uns dieser wunderbare, lehrreiche Psalm.

Wenn wir zunächst an unseren hochgelobten Herrn Selbst denken, auf den sich der Psalm in so vielen Punkten anwenden lässt, wie voll war Sein Freudenbecher, wie voll andererseits auch Sein Leidenskelch, während Er auf der Erde als der abhängige Mensch im Vertrauen auf Jehova wandelte! Und wenn wir die Anwendung auf uns machen - welch eine wunderbare Erfahrung ist es für einen aus Gnaden erlösten Sünder, inmitten hoher Trübsalswellen sagen zu können: „Mein Leidenskelch fließt über, aber mein Freudenbecher auch"! Der Herr, als der Mann der Schmerzen, kannte beides vollkommen. Ist es nicht ein unbeschreiblich großes Vorrecht, auch hierin Gemeinschaft mit Ihm haben zu dürfen, wenn auch nur in Unvollkommenheit? Ja, so schmerzlich es für die Gegenwart auch sein mag, ist es doch zugleich überaus köstlich, sowohl aus Seinem Leidenskelch, als auch aus Seinem Freudenbecher trinken zu dürfen, etwas zu erfahren von Seinen irdischen Leiden und Seinen himmlischen Freuden. Dass wir von dem Kelch des Zorns, den Er für uns trank, niemals trinken können, brauche ich nicht zu sagen. Als Er ausrief: „Es ist vollbracht!" da war dieser Kelch bis zur Neige geleert; kein Tropfen war zurückgeblieben. Aber aus Seinem Freudenbecher werden auch wir trinken von Ewigkeit zu Ewigkeit. „Gehe ein in die Freude deines Herrn!", so wird Sein Willkommensgruß dereinst lauten, nicht in die Freude des Himmels oder der Engel, sondern in die Freude deines Herrn!

Noch einmal sei hervorgehoben, dass es kaum vier andere Worte der Heiligen Schrift gibt, die so ausdrucksvoll den wahren Gedanken und Geist der Anbetung wiedergeben wie diese: „Mein Becher fließt über". Der Meister hat das Gefäß so gefüllt, dass es überfließt. Wenn das Herz durch die mächtige Wirkung des Heiligen Geistes mit der Wahrheit, „wie sie in dem Jesus ist", erfüllt wird, so strömt es über in Lob und Danksagung; es betet Gott, der ein Geist ist, an in Geist und Wahrheit. Das Herz des Gastes antwortet, wie wir es wohl ausdrücken dürfen, auf die Güte und Freundlichkeit des Gastgebers. Was von Gott in Gnade zu der Seele herabfließt, steigt als dankbare Anbetung zu Ihm wieder empor. Gleich den duftenden Weihrauchwolken von dem goldenen Altar im Heiligtum, so erheben sich die lieblichen Wohlgerüche einer Gott wohlgefälligen Anbetung aus dem Herzen zum Himmel.

Es ist offenbar, dass ein überfließender Becher keinen Tropfen mehr fassen kann. Gießt man dennoch mehr hinzu, so fließt er nur umso stärker über. Doch worin bestehen die geistlichen Gefühle einer Seele, die diesem Bilde entspricht? Sie sind ihrem Charakter nach himmlisch und werden durch den Heiligen Geist wachgerufen. Nichts auf der Erde kann unserer dereinstigen Beschäftigung im Himmel so gleichkommen wie die Anbetung. Sie wird in alle Ewigkeit von uns dargebracht werden. Allerdings muss der Gläubige, um sich in wahrhaft anbetender Stellung zu befinden, im Geiste schon jetzt im Himmel sein, im Allerheiligsten droben. Dort ist seine Heimstätte. Er ist in Christo, und Christus füllt den ganzen Himmel mit seiner Herrlichkeit aus. Eine Anbetung vor dem Vorhang gibt es nach Gottes Gedanken nicht mehr; sie muß innerhalb des Vorhangs stattfinden. Der Hauptgedanke hier ist indes dieser: das Herz des Anbeters gleicht einem überfließenden Becher; es ist mehr als voll, kein Eckchen ist leer. Die Seele fühlt, dass jeder Wunsch gestillt, jedes Verlangen befriedigt und jedes Begehren der Seele vollkommen erfüllt ist. Allerdings befindet sich der Anbeter noch nicht in der Auferstehungs-Herrlichkeit; er weiß und fühlt jedoch, dass alles sein ist, wenn er sich auch noch nicht in der Herrlichkeit befindet. Er wartet auf sie, aber nicht in Ungewissheit. „Denn wir erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit", (Gal. 5,5). Die Hoffnung aber, die der Gerechtigkeit angehört, ist die Herrlichkeit. Wir besitzen die Gerechtigkeit jetzt in Christo, und wir warten auf die Herrlichkeit, obwohl wir in einem anderen Sinne die Herrlichkeit auch schon unser nennen können, wie der Herr Jesus sagt: „Die Herrlichkeit, welche du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben". Ja, in einer noch innigeren Weise können wir sagen, dass wir die Herrlichkeit schon besitzen, nach den Worten des Apostels an die Kolosser: „... welches ist Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit". Wir sind also schon mit der Herrlichkeit Gottes verbunden, obwohl deren volle Offenbarung noch nicht gekommen ist.

Es mag gut sein, an dieser Stelle ein Wort über den Unterschied zwischen Gebet und Anbetung zu sagen. Beide stehen miteinander im Zusammenhang, sind aber doch ganz verschieden. Zur Gebetsversammlung bringen wir gleichsam leere Gefäße mit und bitten unseren Gott und Vater, sie zu füllen. Wir geben dadurch zu verstehen, dass wir Gott kennen und Ihm vertrauen, und wenn wir im Glauben beten, so wird das öl fließen, bis jedes Gefäß voll ist (Vergl. 2. Könige 4). Auf diese Weise kann und wird das Gebet sehr oft zur Anbetung führen, wie auch die Predigt des Evangeliums an die Welt und die Verkündigung des Wortes das zu tun vermögen. Dennoch ist es sehr wichtig, den Unterschied zwischen Beten, Predigen, Lehren und Anbeten wohl zu verstehen und festzuhalten. In der Christenheit im allgemeinen ist die Kenntnis dieses Unterschiedes fast ganz verloren gegangen; man nennt jede religiöse Zusammenkunft einen „Gottesdienst". Und doch sind die obengenannten Tätigkeiten so verschieden wie möglich und sollten nicht miteinander vermengt werden. Bei der Verkündigung des Evangeliums redet Gott zu der Welt, bei der Auslegung Seines Wortes wendet Er Sich an Seine Heiligen; bei der Anbetung, dem eigentlichen „Gottesdienst", aber wenden wir uns an Gott - wir bringen Ihm Dank und Anbetung dar. Der Dienst geht von Gott aus zu dem Menschen hin, die Anbetung von dem Menschen aus zu Gott hin. Dieser große Unterschied wird oft so wenig beachtet. Wohl mag, wie bereits bemerkt, Anbetung aus dem Dienst hervorgehen, und umso besser, wenn es geschieht; aber in der christlichen Anbetung nahen wir Gott als unserem Vater in Christo Jesu und wenden uns an Ihn. Wenn wir Gott so kennen, wie Er Sich in der Person und dem Werk Christi geoffenbart hat, so haben wir eine heilige Freimütigkeit in Seiner Gegenwart und bringen Ihm das Lob und die Danksagung eines überströmenden Herzens dar.

Das Wort „Becher" wird oft und in mancherlei Bedeutung in der Schrift gebraucht; hier ist der überfließende Becher, wie bereits bemerkt, der Ausdruck einer überströmenden Freude und steht im Einklang mit der Stellung des gesalbten Gläubigen. Der Tisch, den der Herr für Seinen ermüdeten Pilger bereitet hat, ist mit allem, was er braucht, überreichlich versehen. Nichts ist vergessen. Um dieses oder jenes noch zu bitten oder den Gastgeber an etwas zu erinnern, was er vergessen habe, wäre den Gefühlen des glücklichen Gastes ganz und gar zuwider, es sei denn er hätte das Bedürfnis, um mehr Dankbarkeit und um einen passenderen Ausdruck seiner dankbaren Gefühle zu bitten. Und nun möchte ich fragen: Sollten wir nicht mit diesem Geiste erfüllt sein, wenn wir uns am Tische des Herrn befinden? Ganz gewiss; wir sollten es hier in ganz besonderer Weise sein, weil wir in Verbindung mit der Versammlung dort sind. Die Freude anderer vermehrt die eigene Freude und erhöht die Kraft der Anbetung. Diesen Gedanken einer gemeinsamen Freude finden wir wohl auch in unserem Psalm angedeutet; es geht um ein Mahl, an dem der Pilger teilnimmt.

Die Wahrheit, die uns beschäftigt, findet in 5. Mose 26 eine so schöne und so vernehmlich zu unseren Herzen redende Erläuterung, dass wir kurz hierauf eingehen sollten. Der Anbeter, der sich bereits in dem den Vätern verheißenen Lande befindet, bringt dort seinen Korb, gefüllt mit Erstlingsfrüchten, dem Ertrage des heiligen Landes, herbei, und der Priester setzt diesen vor dem Altar Jehovas, seines Gottes, nieder. Er betet im Lande an und bringt Jehova die Früchte des Landes dar. Das ist sehr beachtenswert. Kanaan ist das bekannte Vorbild vom Himmel, und wir können Gott nur dann anbeten, wenn wir im Geiste dort sind und Ihm mit den Früchten jenes glücklichen Landes nahen. Freude, Friede, Heiligkeit, Danksagung, Liebe - das sind einige von den Früchten, die in unserem himmlischen Kanaan im Überfluss wachsen.

Doch der aus der Hand aller seiner Feinde erlöste Israelit genoss seine Freude im Lande nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit anderen. Er vergaß auch nicht seine einstige elende Lage in Ägypten; er sagt: „Ein umherirrender (oder umkommender) Aramäer war mein Vater, und er zog nach Ägypten hinab". In seiner Freude lud er den Leviten, den Fremdling, die Waise und die Witwe ein, an seinem Überfluss teilzunehmen; auch wandelte er in praktischer Heiligkeit und Hingebung, ohne die keine Anbetung möglich ist. Wir hören ihn sagen: „Ich habe das Heilige aus dem Hause weggeschafft... Ich habe nicht davon gegessen in meiner Trauer, und habe nicht davon weggeschafft als ein Unreiner, und habe nicht davon gegeben für einen Toten', ich habe der Stimme Jehovas, meines Gottes, gehorcht, ich habe getan nach allem, was du mir geboten hast." In der Weite seines Herzens umfasst er schließlich ganz Israel mit den Worten: „Blicke hernieder von deiner heiligen Wohnung, vom Himmel, und segne dein Volk Israel, und das Land, das du uns gegeben, wie du unseren Vätern geschworen hast, ein Land, das von Milch und Honig fließt". Wahre Mildtätigkeit und Weite des Herzens begleiten immer den Geist himmlischer Anbetung. Der Aufforderung des Apostels, Gott stets die Opfer des Lobes darzubringen, das ist die Frucht der Lippen, die Seinen Namen bekennen, folgt unmittelbar die Ermunterung: „Des Wohltuns aber und Mitteilens vergesset nicht, denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen" (Hebräer 13,15).

Das Opfer Christi, dessen im Brechen des Brotes gedacht wird, ist die einzige Grundlage wahrer Anbetung und der Heilige Geist, der in der Versammlung gegenwärtig ist, die einzige Kraft, durch die Gott in einer Ihm wohlgefälligen Weise angebetet werden kann. Es ist eine schreckliche Anmaßung, wenn ein Mensch Gott als Anbeter nahen will, so lange er nicht weiß, dass seine Schuld hinweggetan und er zu einer neuen Schöpfung in Christo Jesu geworden ist. Sobald er aber im Glauben erfahren hat, dass Jesus durch das Blut Seines Kreuzes Gott vollkommen verherrlicht, alle seine Sünden ausgetilgt und ihn von aller Unreinigkeit gereinigt hat, besitzt er eine heilige Freimütigkeit, Gott als seinem Vater zu nahen. Gäbe es das Kreuz nicht, so könnten wir nur ein schonungsloses Gericht erwarten; auf Grund des Kreuzes aber ist alles Gnade, schrankenlose Gnade. Das Zerreißen des Vorhangs von oben bis unten ist das göttliche Zeugnis für uns, dass Christus durch Sein Opfer die Sünde hinweggetan und uns den Weg ins Allerheiligste gebahnt hat. Kraft Seines Sühnopfers gibt es jetzt - Gott sei dafür gepriesen - zwischen dem Anbeter und Gott keine Frage von Sünde mehr. Diese Frage wurde auf dem Kreuz völlig behandelt und geordnet; sie fand dort ihren Abschluss für immer. Dieselbe Hand, der es gefiel, das fleckenlose Lamm zu zerschlagen (Jesaja 53,10), hat den Vorhang zerrissen und den Weg in die Gegenwart des heiligen Gottes geöffnet, wo der Anbeter jetzt ohne Flecken und Makel steht und wo er sich in Frieden all des Guten erfreuen kann, das Gott ihm gegeben hat (5. Mose 26,10. 11).

O möchten wir zur Vertiefung unserer Anbetung mehr jenes wunderbare Kreuz betrachten, den großen Mittel- und Angelpunkt aller Wege und Ratschlüsse Gottes! Auf diesen Mittelpunkt wies Gott stets hin, auf ihn blickte der Glaube voraus, so lange der Heiland nicht gekommen war. Und heute wenden wir unseren Blick immer wieder zurück auf dieses Kreuz als Ausgangspunkt aller unserer Segnungen und die Grundlage unserer Anbetung für Zeit und Ewigkeit, auf der Erde und im Himmel. Nie würde das „neue Lied" im Himmel ertönen, nie hätte seitens des gefallenen Menschen ein Lobgesang auf der Erde angestimmt werden können, wenn das Kreuz Jesu nicht wäre, und ohne dieses Kreuz würde statt eines überfließenden Bechers der Freude nur ein Kelch des Zitterns und der Angst unser Teil gewesen sein.

Nachdem wir so die einzige Grundlage der Anbetung, das Kreuz Christi, kurz betrachtet haben, bleibt uns noch übrig, einen Blick auf die einzige Kraft der Anbetung, den Heiligen Geist, zu werfen. Wenn ein Mensch „wiedergeboren" wird, so empfängt er eine neue Natur, die heilig und für die Gegenwart Gottes passend ist. Ja, diese Natur ist fähig, sich Gottes Selbst zu erfreuen. Das ist eine Wahrheit, die uns sicherlich die höchste Vorstellung von dem Glück eines Geschöpfes zu geben vermag. Wir rühmen uns nicht nur der Herrlichkeit Gottes, nicht nur der Trübsale, sondern Gottes Selbst (Römer 5,11). Ohne die neue Natur wäre jede Anbetung unmöglich. Es sind Seine Kinder, die der Vater als Anbeter sucht, und Er erfreut Sich an der Anbetung Seiner Kinder. Eine solche Anbetung nimmt Er nicht nur entgegen, sondern Er sucht sie, Er verlangt nach ihr. Welch eine wunderbare, gnadenreiche Wahrheit: unser Gott und Vater sucht Anbeter! So hat der Herr Jesus Selbst einst der armen Frau am Jakobsbrunnen zugerufen: „Denn auch der Vater sucht solche als Seine Anbeter".

Doch neben dem vollendeten Versöhnungswerk, der neuen Geburt und unserer Verbindung mit dem auferstandenen Christus ist die Gabe des Heiligen Geistes unerlässlich für eine wahre christliche Anbetung. Nichts könnte klarer sein als die Belehrung, die der Herr Selbst in der bereits angeführten Unterhaltung mit der Samariterin uns über diesen Punkt gibt: „Es kommt die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater sucht solche als seine Anbeter. Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten" (Joh. 4,23. 24). War die Person des Heiligen Geistes damals auch noch nicht gekommen, so besteht der Herr doch auf der Notwendigkeit der Gegenwart und mächtigen Wirksamkeit des Heiligen Geistes in der christlichen Anbetung. Und sicher, Er weiß am besten, was dem Vater gegenüber geziemend ist, aus dessen Schoß Er gekommen war und in dessen Schoß Er sich befand, selbst während Er hienieden wandelte (Johannes 1,18). Obgleich Kinder Gottes, können wir doch nur durch den Geist Gott verstehen, uns Seiner erfreuen und Ihn anbeten. Da Gott ein Geist ist, kann Er nur im Geist angebetet werden.

Als Kinder sind wir schwach und abhängig, aber wir werden „mit Kraft gestärkt durch seinen Geist an dem inneren Menschen" (Epheser 3,16). Als Kinder sind wir töricht und unwissend, aber der Heilige Geist teilt uns die Gedanken Gottes mit und gibt uns Verständnis für die göttlichen Dinge, so dass wir Ihm nahen können mit Gedanken und Gefühlen, die Seiner heiligen Gegenwart angemessen sind. Der Heilige Geist, der in uns wohnt, ist es auch, der uns das Bewusstsein unserer Einheit mit Christus und unserer nahen Beziehung zu Gott gibt. Er ist das Siegel der Erlösung und das Unterpfand des Erbes. Wir haben die Salbung von dem Heiligen, so dass wir alles wissen (1. Johannes 2,20). Durch denselben Geist ist auch die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossen (Römer 5,5), jene Liebe, die wir mit Recht die Quelle unserer Segnungen und unserer Anbetung nennen. Wenn nun aber der Heilige Geist für die Anbetung der Christen so unentbehrlich ist, so folgt daraus mit zwingender Notwendigkeit, dass Ihm in den Zusammenkünften der Gläubigen der gebührende Platz eingeräumt werden muss. Wenn das nicht geschieht, so können nur Verwirrung und Unordnung die Folge sein. Wie ernst und wichtig ist in Verbindung hiermit das Wort des Apostels: „Denn auch in einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe getauft worden, es seien Juden oder Griechen, es seien Sklaven oder freie, und sind alle mit einem Geiste getränkt worden" (1. Korinther 12,13)! Wie können wir Gott die Herrlichkeit geben, die Seinem Namen zukommt, wenn der Geist durch irgendwelche Mittel gedämpft oder des Ihm gebührenden Platzes beraubt wird? Das ist eine ernste Frage, und ihr sollte von allen Gläubigen die Beachtung geschenkt werden, welche sie verdient! „Wir sind", schreibt der Apostel an die gläubigen Philipper, „die Beschneidung, die wir durch den Geist Gottes dienen (oder anbeten, Gottesdienst üben) und uns Christi Jesu rühmen und nicht auf Fleisch vertrauen" (Kap 3,3). Wie ernst ist aber der Gegensatz: die Zerschneidung! Sollte er sich nicht in größerem oder geringerem Maße auf alle diejenigen anwenden lassen, die der Leitung des Heiligen Geistes und der unbedingten Autorität des Wortes nicht den Platz einräumen, der Ihnen gebührt?

Das, wovor der Apostel Paulus in Philipper 3 so eindringlich warnt, ist nicht die Sünde des Fleisches, sondern die Religion des Fleisches. In Gottes Augen ist die eine so schlecht wie die andere. Die wahren Anbeter sind dadurch kenntlich, dass sie Gott im Geist anbeten und sich Christi Jesu rühmen. Das Fleisch kann in seiner Weise sehr fromm sein und sich viel mit guten Werken bemühen, aber es wird sich niemals „Christi Jesu rühmen". Es weiß nichts von einem auf der Erde verachteten und im Himmel verherrlichten Christus, noch von einem Trachten nach den Dingen, die droben sind. Aber selbst dann, wenn Christus den Ihm gebührenden Platz im Herzen hat und der Heilige Geist als die alleinige Kraft der Anbetung anerkannt wird, müssen wir wohl darüber wachen, dass wir nicht die Gedanken des Fleisches mit der Leitung des Geistes vermengen. Der Feind ist stets darauf aus, da wo er nicht das Fleisch an die Stelle des Geistes zu setzen vermag, wenigstens beide miteinander zu vermengen.

Zum Schluss noch eine ernste Frage: Rühmen wir uns wirklich Christi Jesu allein? Das ist der Prüfstein für alle Anbetung. Was antworten wir auf diese Frage? Ist Christus wirklich unser alles in allem? Kommen wir vor Gott, stehen wir in Seiner heiligen Gegenwart, indem wir uns Christi Jesu rühmen, in Ihm allein uns erfreuen? Er ist die Wonne des Vaterherzens, der Inbegriff des Zeugnisses des Geistes, die Freude und Herrlichkeit Seines Volkes. Glücklich, dreimal glücklich alle, die in Aufrichtigkeit mit dem Apostel sagen können: „Die wir durch den Geist Gottes dienen und uns Christi Jesu rühmen und nicht auf Fleisch vertrauen"

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Gedanken

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 250ff

Von sich selbst schlecht denken, ist nicht wahre Demut, sondern gar nicht an sich denken; aber das fällt unseren armen, eigenliebigen Herzen so schwer. Immer heißt es: ich, ich, ich; wenn nicht in Worten, so doch in Gedanken. O was für törichte Herzen haben wir! und der Herr erforscht das Herz. Er kennt und durchforscht seine verborgensten Tiefen und Falten. Mancher meint, er kenne auch sein Herz sehr gut, weil es ihm nicht schwer wird, über das Böse, das er bei sich entdeckt, zu reden. Aber ein solcher kennt in Wirklichkeit sein Herz noch sehr wenig und ist nicht wahrhaft demütig. Im Grunde redet er gern von sich selbst, und sein Stolz findet schließlich sogar darin Nahrung, dass er sich als so böse und schlecht hinstellt.

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Der einzige Platz, der mich vor Überhebung bewahren kann, ist die Gegenwart Gottes. Erst dann, wenn ich diese Gegenwart verlasse, komme ich in Gefahr, mich zu überheben. Man hört oft sagen, es sei gefährlich, zu oft mit Jesu auf dem Berge -zu sein; aber ich glaube, ganz mit Unrecht. Nicht dann wenn wir aus dem Berge sind, ist die Gefahr am größten, sondern wenn wir wieder von dem Berge herabsteigen; denn dann fangen wir an, darüber zu denken, dass wir ans dem Berge waren, und damit regt sich der Hochmut. Paulus brauchte keinen Dorn für sein Fleisch, als er im dritten Himmel war; erst nachher kam die Gefahr für ihn, sich durch die Überschwänglichkeit der empfangenen Offenbarung zu überheben, oder mit anderen Worten: sich darin zu gefallen, dass er an einer Stätte gewesen war, wo kein Mensch außer ihm bis dahin Zutritt gehabt hatte.

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Jeder wahre Dienst in der Kirche Gottes beginnt und endet mit Christo, dem Haupte Seines Leibes; je weniger er von Christo bringt, desto mangelhafter ist er. Er hat dann seine Verbindung mit der Quelle des Dienstes verloren, denn aus dem Haupte heraus bewirkt der ganze Leib, wohl zusammengefügt und verbunden durch jedes Gelenk der Darreichung, sein Wachstum zu seiner Selbstauferbauung in Liebe. (Eph. 4). Der Leib ist der Leib Christi, und Er liebt ihn wie sich selbst; und jeder, der ihm dienen will, lernt dies am besten dadurch, dass Er das Herz und die Absichten Christi bezüglich dieses Seines Leibes kennen zu lernen sucht. Mit einem Wort, es ist Christus, welcher dem Leibe dient, wenngleich es durch uns geschehen mag. Wir sind nur „Gelenke und Bande“. Wenn wir deshalb nicht von Christo nehmen und das Empfangene darreichen, so sind wir nutzlose Werkzeuge. Um wirklich mit Nutzen dienen zu können, muss mein Auge und Herz auf Christum gerichtet sein, nicht aber auf das Ergebnis meines Dienstes, obgleich dieses Ergebnis mich rechtfertigen wird, wenn mein Dienst anders wahr und aufrichtig ist.

Wir vergessen so leicht, dass wir nicht um der Versammlung willen dienen, (obgleich ihr der Dienst zugute

kommt,) sondern um Christi willen, und dass deshalb auch jeder Dienst, der in Abhängigkeit von Ihm und um Seinetwillen geübt wird, Seine Anerkennung nicht verlieren wird, trotzdem er vielleicht seitens der Versammlung wenig geschätzt werden mag. — Die beständige Anstrengung Satans geht dahin, in unseren Gedanken Christum von dem Dienste zu trennen, und dies vielleicht weit mehr, als es uns je zum Bewusstsein gekommen ist. Wenn wir uns ehrlich im Lichte Gottes prüfen, so werden wir finden, dass wir bei unserem Lehren, Beten und Reden gar oft durch andere Beweggründe geleitet werden, als einzig und

allein durch die Liebe zu unserem Herrn und zu Seiner teuer erkauften Herde. Wie, oft mögen auch natürliche Gefühle, ja selbst Selbstsucht und Gefallsucht unseren Dienst verderblich beeinflussen! Der Herr gebe und erhalte allen Seinen Knechten ein aufrichtiges Herz, einen einfältigen Sinn und ein zartes Gewissen!

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Es heißt von dem König Hiskia: „Und in allem Werke, das er anfing, im Dienste des Hauses Gottes und in dem Gesetz und in dem Gebot, um seinen Gott zu suchen, handelte er mit ganzem Herzen, und es gelang ihm“. (2. Chron. 31, 21).

Ein ganzes Herz für Jesum, den besten und gnädigsten aller Herren, das ist es, was uns nottut. Halbherzige Diener sind arme, beklagenswerte Geschöpfe. Sie betrachten und üben den Dienst nicht als ein seliges Vorrecht, sondern vielfach als eine schwere, ja lästige Pflicht. Wie könnten sie „Gelingen“ haben? Ein ungeteiltes Herz dient mit Freuden; sein Werk gelingt, und es erwirbt sich Lohn mit Ausharren.

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Halte fest was du hast!

Bibelstelle: Hebräer 13, 8 - 16

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 253ff

V.

5. Außerhalb des Lagers

Schon in den Tagen der Apostel zeigten sich Strömungen, welche darauf abzielten, Judentum und Christentum, Irdisches und Himmlisches, miteinander zu vermengen. Man wollte den neuen Wein, das Christentum, in die alten Schläuche des Judentums, d. h. in die alttestamentlichen Verordnungen, Satzungen und Gebote, hineinzwängen. Bei den Gläubigen aus den Hebräern offenbarte sich diese Neigung in besonderer Stärke, weil jene Verordnungen, als von Gott gegeben, naturgemäß einen hohen Wert für sie hatten. So mussten sie ernstlich daran erinnert werden, dass alle diese Dinge in dem Tode und der Auferstehung Jesu ihr Ende gefunden hatten. Es waren „Satzungen des Fleisches, auferlegt bis auf die Zeit der Zurechtbringung“ (Hebr. 9, 10). Der mit ihnen verbundene Dienst war ein Dienst des Buchstabens, des Todes und der Verdammnis. (2. Kor. 3.) Eine Vermengung desselben mit dem Dienste des Geistes und der Gerechtigkeit war gleichbedeutend mit der Zerstörung des Christentums. An die Stelle der irdischen Beziehungen, mit welchen jene Dinge verknüpft waren, waren jetzt himmlische Beziehungen, an die Stelle der Schatten auf Erden die Wirklichkeit in der Person Jesu im Himmel getreten. Deshalb ist auch der Schreiber des Hebräerbriefes so ernstlich bemüht, den gläubigen Hebräern die Schönheit der Person Christi vor Augen zu malen und Ihn mit den Dingen, die für den Juden einen so großen Wert hatten, in Vergleich zu stellen und so deren Richtigkeit und Schwachheit zu zeigen.

Die Zerstörung Jerusalems bereitete dem ganzen jüdischen Gottesdienste ein jähes Ende; der Tempel wurde zerstört und Israel über die ganze Erde hin zerstreut. Dennoch hat der Feind seine Versuche nicht eingestellt, Flicken über Flicken von dem alten Tuch auf das neue Kleid zu setzen, und trotz der Warnungen des Apostels ist es ihm nur zu bald geglückt, den Geist jener Dinge als einen bösen Sauerteig unter das gute Mehl zu bringen, so dass allmählich alles durchsäuert wurde. Sein Zweck ist immer, Christum, die Grundlage und den Mittelpunkt des Christentums, zu verdrängen und die Tragweite Seines Werkes in den Augen der Menschen herabzusetzen. Demgegenüber geht das Bemühen des Heiligen Geistes dahin, der Kirche Christi wieder ins Gedächtnis zu rufen „was von Anfang war“, und sie zurückzuführen zu der Erkenntnis und Verwirklichung der Wahrheit, „wie sie in dem Jesus ist.“

„Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit“, so beginnt der Schreiber seine Ausführungen. Er weist damit sofort hin auf das unerschütterliche Fundament des Christentums, auf das Wesen oder den Körper, neben welchem alle „Schatten“ und „Vorbilder“ erblassen und verschwinden müssen. Was sind alle irdischen Religionssatzungen, Opfer, Zehnten, heilige Stätten der Anbetung, geweihte Kleider usw.. im Vergleich mit Christo, dem Erstgeborenen aller Schöpfung, in welchem Gott uns

zu segnen beschlossen hat? Sie sind nichts mehr und nichts weniger als wertlose „Elemente der Welt“, Schalen ohne Kern. Darum: „Lasst euch nicht fortreißen durch mancherlei und fremde Lehren!“ Die Gnade, und nicht das Gesetz und seine Verordnungen, hatte die gläubigen Hebräer auf jenes Fundament gestellt, und nur diese Gnade vermochte ihre Herzen zu befestigen. Von den genannten Dingen hatten ja nicht einmal diejenigen Nutzen gehabt, welche unter dem Gesetz standen; wieviel weniger sie, die losgekauft waren von dem Fluche des Gesetzes, und welche durch das eine Opfer Christi für immerdar vollkommen gemacht worden waren! (Hebr. 10, 14). Was bedurften sie noch Speisen und dergleichen Dinge, die den nicht dem Gewissen nach vollkommen machen konnten, der den Gottesdienst ausübte? Aber das ist nicht alles. Der Apostel fährt fort zu sagen: „Wir (die Christen) haben einen Altar, von welchem kein Recht haben zu essen, die der Hütte (d. h. dem irdischen Heiligtum, den jüdischen Satzungen) dienen“. Der Altar, die Stätte, mit welcher die Anbetung in Verbindung steht und von wo sie ausgeht, gehörte einst ausschließlich Israel, dem aus allen Völkern abgesonderten irdischen Volke Gottes; jetzt aber, nachdem dieses Volk den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt hat, gehört er denjenigen, welche Christus durch Sein Opfer zu wahrhaftigen Anbetern, zu Anbetern „in Geist und Wahrheit“ gemacht hat. Von diesem Altar darf ein Jude als solcher nicht essen. Er gehört den Christen, dem himmlischen Volke Gottes. Das Essen bezeichnet das völlige Einssein des Anbeters mit dem Altar und dem Opfer auf demselben.

Unser Opfer ist Christus. Er ist für uns geschlachtet worden und ist mit Seinem Blute in das Heiligtum droben eingegangen. Der Vorhang ist zerrissen, der Weg ins Heiligtum gebahnt, und wir sind kraft des Wertes dieses Opfers in den Himmel selbst eingeführt. Zugleich gibt uns die Verbindung mit Christo hienieden denselben Platz, den Er hatte, den Platz der Schmach und Verachtung, außerhalb aller weltlichen und menschlichen Religion, „außerhalb des Lagers“.

Nun hatte Gott dem Volke Israel diese Seine Gedanken in Bezug auf Christum in sehr deutlichen Vorbildern kundgetan, und die gläubigen· Juden hätten sie verstehen sollen. „Denn“, sagt der Apostel, „von den Tieren, deren Blut für die Sünde in das Heiligtum hineingetragen wird durch den Hohenpriester, werden die Leiber außerhalb des Lagers verbrannt“ (V. 11). Von den Sündopfern, mit deren Blut im Heiligtum Sühnung getan wurde, mussten die Leiber, welche die Sünde getragen hatten, aus der Gegenwart Gottes und des Volkes entfernt und außerhalb des Lagers verbrannt werden. In diesen Sündopfern nun erblicken wir Christum, das wahre Opfer für die Sünde. „Darum hat auch Jesus, auf dass

Er durch Sein eigenes Blut das Volk heiligte, außerhalb des Thores gelitten.“ Mit unseren Sünden beladen und für uns zur Sünde gemacht, wurde Er außerhalb der Tore Jerusalems geschlachtet, und nach vollbrachtem Werke ist Er mit Seinem Blute in das Heiligtum droben eingegangen, nachdem Er eine ewige Erlösung erfunden hatte (Vergl. Hebr. 9, 12).

Von diesem Christus sich zu nähren ist der christliche Anbeter berufen, wie Jesus selbst einst zu den Juden sagte: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben . . . . denn mein Fleisch ist wahrhaftig Speise, und mein Blut ist wahrhaftig Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm“ (Joh. 6, 54—56). Fleisch und Blut, voneinander getrennt, sind der Ausdruck des Todes. Christi Tod ist das Leben der an Ihn Glaubenden. In dem gestorbenen Christus dürfen sie das Ende ihrer Sünden, ja ihrer selbst sehen. Denn dieser Tod ist sowohl das Gericht über ihre Sünden, als auch das Abtun „des Leibes der Sünde“, des ganzen alten Zustandes, in welchem sie sich als Sünder befanden. Als mit Ihm Gestorbene sind sie von der Sünde freigesprochen. Sie sind mit Ihm in der Gleichheit Seines Todes eins gemacht worden. Indem der Glaubende diese kostbare Wahrheit erfasst, isst er gleichsam das Fleisch und das Blut Christi, er macht sich den gestorbenen Christus zu eigen; und dann, als ein von Sünde und Tod Befreiter nährt er sich Tag für Tag von diesem Tode, d. h. er verwirklicht ihn, wendet ihn auf sich an in allen seinen gesegneten Folgen für ihn. So lebt er vor Gott, und bleibt in Christo und Christus in ihm.

Der Christ ist also berufen, sich von Christo, dem Gestorbenen, dem herrlichen Opfer Gottes, zu nähren. Er hat das wunderbare Vorrecht, mit Gott gleichsam an derselben Tafel zu sitzen und an Seiner Freude und Seinem Genuss teilzunehmen. Freilich gibt es etwas in diesem Opfer, an welchem wir niemals teilnehmen können, etwas das nur für Gott ist. So durften die Priester im Alten Bunde z. B. von den Brandopfern gar nichts essen; alles stieg als ein duftender Wohlgeruch zu Gott empor. Aber dennoch bleibt es wahr, dass wir berufen sind, uns in der Gemeinschaft mit Gott von Christo zu nähren, und zwar da wo Er jetzt ist. Selbstverständlich ruft dies die tiefe Freude und anbetende Bewunderung unserer Herzen wach. „Wir singen Seines Namens Ruhm und beten an in „Frieden“, gemäß der Aufforderung des Apostels: „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu, den neuen und lebendigen Weg, den Er uns eingeweiht hat durch den Vorhang, das ist Sein Fleisch, und einen großen Priester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser.“

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass im Alten Bunde das Heiligtum durch den Vorhang verschlossen war: die Priester durften niemals eintreten, sondern nur einmal des Jahres allein der Hohepriester, und auch er „nicht ohne Blut, welches er für sich selbst und die Verirrungen des Volkes darbrachte; wodurch der Heilige Geist dieses anzeigte, dass der Weg zum Heiligtum noch nicht geoffenbart war, so lange die vordere Hütte noch Bestand hatte“ (Vergl. Hebr. 9, 7. 8). Infolge des Todes Christi ist aber jetzt das himmlische Heiligtum geöffnet, und die wahrhaftigen Anbeter treten mit Freimütigkeit dort ein, um „durch Ihn Gott stets das Opfer des Lobes darzubringen, das ist die Frucht der Lippen, die Seinen Namen bekennen“. Sie sind nach 1. Petr. 2, 5 „ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um darzubringen geistliche Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich durch Jesum Christum“.

Doch wenn das Kreuz Christi die gläubigen Hebräer einerseits in das Heiligtum droben eingeführt hatte, hatte es ihnen andererseits hienieden den Platz außerhalb des Lagers, d. i. den Platz der Schmach und Verwerfung, gegeben. Ein himmlischer, in Gott verborgener Christus und eine weltliche Religion mit äußeren Zeremonien und Satzungen sind unvereinbar miteinander. Doch es möchte gefragt werden: Was war denn für jene Gläubigen das Lager? Die Antwort ist: Jerusalem mit seinem Heiligtum; mit anderen Worten, die Stätte, welche Jehova erwählt hatte, um Seinen Namen daselbst wohnen zu lassen. Ach! was hatte der Mensch aus dieser Stätte gemacht! Ein Kajaphas, Sadducäer, Pharisäer und Schriftgelehrte hatten sich auf Moses Stuhl gesetzt und die Gewalt an sich gerissen; und als Gott selbst, geoffenbart im

Fleische, in ihrer Mitte erschienen war, hatten sie Ihn hinausgeführt außerhalb des Lagers, um Ihn zu kreuzigen. Jerusalem und der Tempel hörten damit endgültig auf, Gottes Wohnung zu sein; da war kein Raum für Jesum, und darum auch nicht mehr für diejenigen, welche Ihn als den wahren Messias nicht nur, sondern auch als ihren Heiland erkannt hatten. Sie mussten mit Ihm, wenn sie treu sein wollten, den Platz der Verwerfung außerhalb des Lagers teilen. War es ein Verlust für sie? Sicherlich nicht! Denn sie gingen zu Ihm hinaus. Hatte der Blindgeborene einen Verlust, als man ihn aus der Synagoge stieß, weil er sich zu Jesu bekannt hatte? Nein; man trieb ihn geradeswegs in die Arme Jesu, der sich ihm dann in einer

Weise offenbarte wie nie zuvor (Vergl. Joh. 9, 35 — 38).

Aber, möchte weiter gefragt werden, was haben wir, die wir nicht aus Israel sind, mit jenem Lager zu tun?

Mit Jerusalem und dem Tempel allerdings nichts. Sie sind ja beide zerstört worden. Aber an die Stelle des

jüdischen Bekenntnisses ist das christliche Bekenntnis, an die Stelle Jerusalems die bekennende Kirche getreten. In ihr sehen wir dasselbe Bild der Vergewaltigung seitens gottentfremdeter, ungläubiger Menschen, wie damals in Jerusalem. Der Mensch, ja, die Welt hat die Herrschaft in ihr an sich gerissen, während der eigentliche Leiter, der Heilige Geist, völlig gedämpft ist und die wahren Gläubigen verhindert sind, den der Versammlung Gottes gegebenen Grundsätzen Folge zu leisten. Jesus ist als „der alleinige Gebieter und Herr“ verleugnet worden. Die Kirche hat ihren himmlischen Charakter vergessen und eine Religion angenommen, in welcher der Mensch Anerkennung findet und mit der die Welt wandeln kann, eine Religion von Satzungen und Zeremonien, welche das Auge von Christo abwenden und das Herz mit sichtbaren, irdischen Dingen erfüllen. Im Judentum bestand eine Verbindung zwischen Religion und Welt; darum gab es einen schönen Tempel prächtige Kleider, Musikinstrumente, feierliche Zeremonien und dergleichen. Im Christentum aber bedeutet die Neigung zu solchen Dingen den Beginn des Verfalls. Sobald die Kirche Christi begann, Religion und Welt miteinander zu verbinden, sobald sie versuchte, beide miteinander zu versöhnen und dem Geschmack und den Gefühlen der menschlichen Natur Rechnung zu tragen, war alles verloren. Um zu erkennen, wie weit der Abfall und das Verderben vorgeschritten ist, möge der Leser einmal den Brief des Judas und das 2. Kapitel des 2. Petrusbriefes aufmerksam lesen. Er wird dann verstehen lernen, wohin das, was ein Zeugnis für Gott ans der Erde hätte sein sollen, gekommen ist, und wie in diesem religiösen Lager der Welt Jesus keine Autorität mehr hat; er wird zugleich erkennen, welch eine unbedingte Notwendigkeit es ist, der Ermahnung zu folgen: „Deshalb lasset uns zu Ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, Seine Schmach tragend“.

Zum Schluss lass mich fragen, teurer gläubiger Leser: Wo stehst du? Ist es das Verlangen deines Herzens, Gemeinschaft mit Ihm zu haben, der dich durch Sein Blut geheiligt hat? Wünschest du, Seine Anerkennung zu erfahren und inmitten des allgemeinen Verfalls ein treuer Zeuge für Ihn zu sein? Dann musst du jenes religiöse Lager verlassen und den Platz Seiner Schmach einnehmen. Du musst dann handeln wie Moses, „der die Schmach Christi für größeren Reichtum hielt als alle Schätze Ägyptens; denn er schaute auf die Belohnung“ (Hebr. 11, 26). Tausende Kinder Gottes, betrübt über den Verfall der Kirche

und beseelt von dem Verlangen, „Gott wohlgefällig zu dienen mit Frömmigkeit und Furcht (Hebr. 12, 28), sind dem ernsten Mahnrufe gefolgt und haben sich von dem religiösen Verderben um sie her abgesondert; und der Geist Gottes ist mehr denn je tätig, die Notwendigkeit dieser Absonderung, dieses Hinausgehens aus dem Lager, treuen Seelen zu offenbaren. —— Bleibe nicht hinter Anderen zurück, lieber Bruder, teure Schwester! Jesus ruft!

Wenn du aber ausgehst, so beachte, wohin du ausgehen musst. Es gibt nur ein Ziel: „zu Ihm“. Viele sind, erschreckt durch die vielen Irrtümer und Missbräuche, die sie entdeckten, aus den großen Körperschaften innerhalb der bekennenden Kirche ausgegangen, haben dann aber ein neues Lager ausgerichtet mit Statuten, menschlichen Einrichtungen, Verordnungen u. s. w. Das ist tief zu beklagen, denn auf diese Weise wird den vielen, bereits vorhandenen Parteien und Sekten nur eine neue hinzugefügt; vielleicht mit mehr Wahrheiten als manche andere, aber doch eine Partei. Nein, wir sollen zu Ihm hinausgehen, der die

Wahrheit ist: derselbe gestern und heute und in Einigkeit. Nur Sein Wort und Seine Anordnungen dürfen hier Geltung haben; menschliche Gedanken und Meinungen finden keinen Raum. Auch genügen nicht einzelne Wahrheiten, sondern die ganze Wahrheit; und hat man diese einmal erkannt, so wünscht man darin zu verharren, gleich den ersten Christen in den Tagen der Apostel, von denen wir lesen: »Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten“ (Apstgsch. 2, 42).

Gott gebe allen Seinen geliebten Kindern ein treues Herz und einen willigen Geist! — Doch ich kann diesen Abschnitt nicht schließen, ohne noch auf eine ernste Gefahr aufmerksam gemacht zu haben. Es ist diese: Man kann sich von den religiösen Lagern der Welt absondern und mit den Gläubigen, die zu Ihm hinausgegangen sind, Gemeinschaft machen, und dennoch in anderem Sinne die Welt im Herzen haben. Das ist dann ein höchst verwerflicher Zustand, weit schlimmer, als wenn ein Kind Gottes öffentlich in Verbindung mit der religiösen Welt bleibt, während sein persönlicher Wandel unter der Zucht des Geistes Gottes steht. Wo ein solcher Zustand vorhanden ist, da ist der Schatz in der Welt und nicht im Himmel; und geht es auf diesem Wege weiter, so mag wohl das ernste Wort des Apostels in Anwendung kommen: „Viele wandeln, von denen ich euch oft gesagt habe, nun aber auch mit Weinen sage, dass sie die Feinde des Kreuzes Christi sind, deren Ende Verderben, deren Gott der Bauch und deren Ehre in ihrer Schande ist, die auf das Irdische sinnen“ (Phil. 3, 18. 19).

6. „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten!“

(Lies Eph. 5, 1—21.)

Zum Schluss möge auch dieser ernste Ruf des Heiligen Geistes ein Gegenstand unserer Betrachtung werden. Der Epheserbrief stellt uns in besonderer Weise unsere himmlische Stellung vor Augen. Von Gott auserwählt vor Grundlegung der Welt, sind wir gesegnet mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern. (Kap. 1, 3. 4). Einst tot in unseren Vergehungen und Sünden, hat Er uns mit dem Christus lebendig gemacht und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern. Einst Kinder des Zornes, sind wir jetzt Gegenstände der Liebe des Vaterherzens (Kap. 2, 1 — 7). Einst Finsternis, sind wir jetzt Licht in dem Herrn (Kap. 5, 8).

Diese große Scheidung, welche wir durch den Glauben an das Wort Gottes kennen, weist uns unseren Platz. deutlich an. Alle, die noch in der Finsternis sind, die Söhne des Ungehorsams, haben kein Teil mit den Söhnen des Lichts, und umgekehrt, die Söhne des Lichts haben nichts gemein mit jenen. „So seid nun nicht ihre Mitgenossen!“ Wenn wir ein Licht im Herrn, also Söhne des Lichts geworden sind, so sind wir berufen, als solche zu wandeln. Ob wir es tun, das wird die Frucht beweisen, welche dieser Wandel hervorbringt. Diese Frucht ist dreifacher Art: Gütigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit.

Gütigkeit ist das Gegenteil von Bosheit. Wo erstere waltet, da wird letztere gehasst. Der Weisheit Anfang

ist: das Böse hassen.

Gerechtigkeit ist das Gegenteil von Ungerechtigkeit. Wenn man angefangen hat das Böse zu hassen, so wird auch das Streben nach der Gerechtigkeit erwachen, und man wird abstehen von jeder Art der Ungerechtigkeit. (2. Tim. 2).

Wahrheit ist das Gegenteil von Lüge) Wer durch erstere geleitet wird, fällt nicht der letzteren anheim. Ist eine Seele dahin gekommen, das Böse zu hassen und dem Guten nachzustreben, so ist auch das Verlangen vorhanden, die Wahrheit zur alleinigen Führerin zu haben, und die Handlungen werden der Wahrheit entsprechen.

Diese dreifache Frucht wird sich offenbaren bei denen, die als Kinder des Lichts wandeln. „Wenn jemand am Tage wandelt, so stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht; wenn aber jemand in der Nacht wandelt, so stößt er an, weil das Licht nicht in ihm ist“ (Joh. 11, 9. 10).

Nun aber befinden wir uns als Kinder des Lichts auf einem Schauplatz, wo die Finsternis herrscht. Es treten uns deshalb mancherlei Dinge entgegen, welche wir prüfen müssen. Indes haben wir nicht zu prüfen, was Sünde und was nicht Sünde ist, wie manche meinen, sondern, was dein Herrn wohlgefällig ist. Wir sollen nicht die Sündhaftigkeit einer Sache beziehungsweise die etwaigen Folgen der Sünde zum Maßstabe unseres Handelns nehmen, sondern die Heiligkeit Gottes.

Wir sind Kinder des Lichts; aber nicht nur das, das Licht ist auch in uns, wie Jesus gesagt hat: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens

haben“ (Joh. 8, 12). Diese beiden Dinge sind verschieden; ich möchte ihre Verschiedenheit in folgender Weise näher bezeichnen: Als „Kinder des Lichts“ oder als „Licht in dem Herrn“ sind wir da, um in der Finsternis für Andere zu leuchten, während „das Licht in uns“ dazu dient, uns selbst zu leuchten. Das Licht ist es, welches alles offenbar macht. Durch dasselbe vermögen die Kinder des Lichts nicht nur die bösen, sondern auch die unfruchtbaren oder toten Werke der Finsternis zu erkennen, Werke, die vielleicht von den Menschen nicht nur nicht verurteilt, sondern hoch gepriesen werden, aber unfruchtbar sind, weil sie von der Finsternis ausgehen. „Habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, vielmehr strafet sie auch“ (oder stellet sie bloß). Man könnte geneigt sein zu denken, dass das Wort Gottes nur auffordere zur Absonderung von den bösen Werken der Finsternis: Hurerei, Unreinigkeit, Habsucht, Schändlichkeit, albernes Geschwätz, Witzelei usw., wegen welcher Dinge der Zorn Gottes über die Söhne des Ungehorsams kommt (Vers 6), dass es aber nicht zu verurteilen sei, wenn die Kinder des Lichts an den obengenannten Werken der Kinder dieser Welt teilnähmen. Aber das Wort Gottes belehrt uns, dass die Kinder des Lichts nicht nur keine Mitgenossen der Söhne des Ungehorsams in Bezug auf die „bösen“ Werke sein dürfen, sondern dass sie auch im Blick auf die „unfruchtbaren“ Werke keine Gemeinschaft mit ihnen machen sollen. Dies wird uns einleuchtend sein, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie Gott über die Söhne des Ungehorsams denkt. Es heißt von ihnen in Tit. 1, 16: „Sie geben vor, Gott zu kennen, aber in den Werken verleugnen sie Ihn, und sind gräulich und ungehorsam und zu jedem guten Werke unbewährt“. So lautet das Urteil Gottes, und ein Kind Gottes glaubt diesem Urteil und unterwirft sich demselben.

Man wolle mich indes nicht missverstehen. Dass ein großer Unterschied besteht zwischen den „bösen“ Werken der Kinder der Welt und den Werken der Nächstenliebe, der Barmherzigkeit u. s. w., die sie üben, ist offenbar: und dass die letzterwähnten, sogenannten „guten“ Werke den Kindern der Welt, welche sie tun, für das diesseitige Leben von Nutzen sein werden, steht außer allem Zweifel; „denn was der Mensch säet, das wird er ernten“. Aber vor Gott und für die Ewigkeit sind sie wertlos, ja mehr als das, sie sind ein unflätiges Kleid, beschmutzt mit Selbstsucht, Eigenliebe und Selbstgefälligkeit. Und doch meinen manche sich dadurch ein Anrecht auf den Himmel erwerben zu können. Für solche sind jene Werke „verdienstliche“ Werke, die Leiter in den Himmel. Aber welch ein verhängnisvoller Irrtum ist das! Denn „aus Gesetzes Werken (und wenn es auch die schönsten wären) wird kein Fleisch vor Ihm gerechtfertigt werden“ (Röm. 3, 20).

Und wenn nun gar die Kinder der Welt, „die Söhne des Ungehorsams“, wie Gottes Wort sie nennt, gehüllt in das Gewand eines schönen christlichen Bekenntnisses, mitteilnehmen wollen an dem „Bau des Reiches Gottes“, an dem Werke der Mission in der Heimat oder in der Ferne, an den Bedürfnissen der Arbeiter im Weinberge Gottes, mit einem Wort, an dem Werke des Herrn in seinen mancherlei Teilen und Formen, — was anders bleibt dann übrig für die Kinder des Lichts, als die entschiedenste Absonderung? Wollten sie sich dessen weigern und hinsichtlich jener Dinge Gemeinschaft machen mit den Kindern der Welt, so würden diese dadurch nur in ihrem Zustande bestärkt, nicht aber überführt werden, dass ihre Werke Gott nicht gefallen können und in Bezug auf die Ewigkeit „unfruchtbar“ sind. Dies ist ein sehr ernster Punkt, welcher der eingehenden Erwägung eines jeden Kindes Gottes wert ist.

Aber ach! wie wenig wird die Notwendigkeit jener Absonderung erkannt und verwirklicht! Wie häufig findet

man Kinder des Lichts in Gemeinschaft oder in Verbindung mit den Söhnen des Ungehorsams! Hier finden wir sie in Geschäftsgemeinschaft, dort in Ehegemeinschaft; hier feiern sie gemeinschaftlich das Gedächtnismahl des Herrn, dort stehen gläubige und ungläubige Prediger unter dem gleichen menschlichen Joch. Hier sammelt ein Kind des Lichts eifrig bei der Welt für wohltätige Zwecke und errichtet mit ihrer Hilfe Wohltätigkeitsanstalten; dort scheuen sich Kinder Gottes nicht, die Kinder der Welt zu einer gemeinschaftlichen Sammlung für die Mission aufzufordern. Auf gar mancherlei Weise zeigt sich Licht und Finsternis vermengt.

Dies entspricht aber nicht der göttlichen Ordnung. „Und Gott sah das Licht, das; es gut war, und Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis“ (1. Mose 1, 4). Diese Scheidung will Gott aufrecht erhalten wissen.Jesus verwirklichte sie in vollkommenem Maße. Von Ihm heißt es: „In Ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst“ (Joh. 1,4. 5). Gerade diese entschiedene Scheidung rief den Hass derjenigen hervor, welche sich mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis abmühten.

Welch eine ernste Sprache führt Petrus gegenüber einem Simon, dem Zauberer, welcher durch Geld die Gabe, den Heiligen Geist mitzuteilen, zu erlangen hoffte! „Dein Geld fahre samt dir ins Verderben, weil du gemeint hast, dass die Gabe Gottes durch Geld zu erlangen sei! Du hast weder Teil noch Los an dieser Sache, denn dein Herz ist nicht aufrichtig vor Gott“ (Apstgsch. 8, 20. 21).

Johannes schreibt an Gajus über Brüder, die um des Namens willen ausgegangen waren, und nichts genommen hatten von denen aus den Nationen, und fordert ihn auf, ihnen wohlzutun und sie auf eine gotteswürdige Weise zu geleiten. (3. Joh. V. 7.) Aber auch die treuen Heiligen des alten Bundes, ein Henoch (1. Mose 5, 24), ein Noah (1. Mose 6, 9), ein Abraham (1.. Mose 14, 22 — 24), ein Prophet aus Juda (1. Kön. 13, 7 — 10), ein Elias (1. Kön. 18, 21), ein Micha (1. Kön. 22, 8 — 28), ein Elisa (2. Kön. 3, 14), ein Hanani (2. Chron. 16, 7 — 10), ein Jehu (2. Chron. 19, 1 —- 3), ein Jeremias (Jer. 15, 17. 18), ein Daniel (Dan. 1, 8) und viele andere —— sie alle handelten nach diesem göttlichen Grundsatz und vermengten nicht was Gott geschieden hat.

Werfen wir endlich noch einen Blick in die Ewigkeit, so finden wir wieder dieselbe Scheidung: „Glückselig die ihre Kleider waschen, auf dass sie ein Recht haben an dem Baume des Lebens und durch die Tore in die Stadt eingehen! Draußen sind die Hunde und die Zauberer und die Hurer und die Mörder und die Götzendiener und jeder, der die Lüge liebt und tut“ (Offbg. 22, 14. 15).

Wünschen wir als Kinder des Lichts- zu wandeln? Nun, so lasst uns in die Fußstapfen der Heiligen des Alten und Neuen Testaments treten, welche mit Gott wandelten! Aber ach! wie leicht werden wir träge auf dem Wege! Wie bald können wir unsere Nüchternheit verlieren und einschlafen! Wenn aber jemand schläft, so hat das Licht, wie hell es auch scheinen mag, keinen Nutzen mehr für ihn. Er ist wie ein Toter; er schläft gleich den Kindern der Welt um ihn her.

Teurer Leser! Solltest du in irgend einer Weise diese Worte auf dich anwenden und dich des Mangels an Wachsamkeit und Treue anklagen müssen, solltest du gar durch Trägheit und Schlafsucht in unerlaubte Verbindungen mit den Söhnen des Ungehorsams hineingeraten sein, o so höre auf die Stimme des Heiligen Geistes:

„Wache auf, der du schläfst“! Du gehörst nicht mehr zu den Kindern dieser Welt, du bist nicht mehr tot in Vergehungen und Sünden wie jene; du bist ,“mit dem Christus lebendig gemacht« worden. Aber du bist eingeschlafen und liegst nun unter den Toten, als wärest du einer von ihnen. Ein schlafender Mensch ist aber ebenso wenig fähig, ein gutes Werk zu vollbringen, wie ein toter. Wenn nun die Stimme des Geistes an dein Ohr dringt, so wache auf, erkenne deine falsche Stellung inmitten der Toten, und höre was der Geist dir weiter zuruft:

„Stehe. auf aus den Toten“, d. h. erhebe dich von deinem Schlafe und sondere dich von den Toten ab. Das ist deine nächste Aufgabe; erfüllst du sie, so wird dir die Verheißung:

„Und der Christus wird dir leuchten“. Ja, Christus selbst; der gute Hirte, Er, der die Wahrheit ist, wird dir zeigen, wie du wohlgefällig vor Ihm wandeln kannst. Und wahrlich, wenn Er uns leuchtet, und wir uns von Ihm leuchten lassen, so gehen wir unseren Weg in völliger Sicherheit; aber wir werden auch immer mehr erkennen, dass jede Gemeinschaft zwischen Licht und Finsternis unmöglich ist.

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Gedanken über den 23. Psalm

Bibelstelle: Psalm 23

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 270ff

Bevor wir die Betrachtung über den Becher der Freude beschließen, mag es gut sein, noch ein wenig bei seinem Gegensatz, dem Becher des Leides, zu verweilen. In der Erfahrung des Gläubigen geht dieser oft jenem voran, oder er begleitet ihn. Da der eine natürlichen, der andere geistlichen Charakters ist, können beide zur selben Zeit bis zum Überströmen gefüllt sein. Freilich kann uns nur, so lange wir in diesem Leid und auf der Erde sind, ein Becher des Leides begegnen; im Himmel gibt es nur unvermischte Freude. Dort werden wir schon auf der Schwelle mit dem Willkommensgruß empfangen werden: „Gehe ein in die Freude deines Herrn". Dann werden wir für immer aus dem Kelche unseres Herrn und Meisters selbst trinken; wir werden aus der gleichen Quelle wie Er trinken. Denn da wir dasselbe Leben besitzen, werden wir auch denselben Geschmack - wenn man es so nennen darf - für die Freuden, Beschäftigungen und Segnungen des Himmels haben, obgleich selbstverständlich nicht in demselben Grade und Maße wie Er.

Ohne den Besitz der göttlichen Natur kann es keinen Geschmack für göttliche Dinge geben. Für die rein menschliche Natur wäre das Licht des Himmels unerträglicher als das tiefste Dunkel der Hölle. Welch ein Gedanke! - unsterbliche Seelen durch das Bewusstsein ihrer Schuld in der Gegenwart der Heiligkeit Gottes so zur Verzweiflung getrieben zu sehen, dass sie in den Tiefen der Finsternis einen Bergungsort suchen und „zu den Bergen und zu den Felsen sagen: Fallet auf uns und verberget uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Throne sitzt, und vor dem Zorne des Lammes" (Off. 6,16)! Ja, heute schon, während das Evangelium von der Gnade Gottes den Sündern noch gepredigt wird, heißt es von solchen: „Dies aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse" (Joh. 3,19).

Dass doch alle, die noch fern von Gott sind, sich überreden lassen möchten, jetzt zu dem Lichte zu kommen, zu dem Licht der ewigen Liebe, dem Licht des Kreuzes Jesu und der schrankenlosen Gnade Gottes! „Komm, Sünder, komm!" so möchten wir jedem ins Herz hineinrufen. Besser, weit besser, jetzt in dem herrlichen Lichte des Evangeliums geoffenbart zu werden, wo alles Gnade und Liebe ist, wo Vergebung der Sünden und ewiges Leben als Gottes Gnadengabe jedem Glaubenden angeboten wird, als dereinst vor dem Angesicht des ewigen Richters zu stehen, wenn die Gnadentür für immer verschlössen ist. Warum willst du nicht kommen, lieber unbekehrter Leser? Zeigt nicht die Sünde heute schon ihren schrecklichen Stachel, sobald das Vergnügen, das sie gewährt, vorübergerauscht ist? Hast du es nicht selbst schon oft erfahren und die Schärfe dieses Stachels verspürt? Wie manche haben sich, von quälender Reue und Gewissensbissen zur Verzweiflung getrieben, zu Gewalttätigkeiten gegen sich und andere hinreißen lassen! Die kurze Sündenlust hatte sich in Galle und Bitterkeit verwandelt. Was aber muss erst die Bitterkeit der Sünde an jenem Orte bedeuten, wo hoffnungslose Verzweiflung in ihrer ganzen furchtbaren Wirklichkeit die Seele ergreift! Dort bleibt nichts anderes übrig als die Sünde und ihr scharfer Stachel, verbunden mit der schrecklichen Gewissheit, dass nie, nie mehr eine Erlösung oder auch nur eine Erleichterung der Qual zu erhoffen ist.

Solltest du deshalb nicht heute noch zu Jesu eilen? Magst du auch noch so schuldig sein, vielleicht so tief gesunken, dass du dich in Gegenwart anderer deiner selbst schämen musst - dennoch darfst du freimütig und vertrauensvoll kommen. Du darfst versichert sein, dass ein gegenwärtiges Heil und eine bedingungslose Vergebung für dich bereit liegen auf Grund des kostbaren Blutes Christi. So haben es die große Sünderin und der sterbende Räuber erfahren, und so kann es heute jeder erfahren, „wer da will". Oder ist der Herr, der am Kreuze auf Golgatha starb, nicht unseres ganzen Vertrauens würdig? Würde Er wohl für uns gestorben sein, wenn Er uns nicht so unaussprechlich lieb gehabt hätte? Wäre wohl noch ein anderes Zeichen Seiner Liebe nötig als das Wunder des Kreuzes? Wahrlich nicht! Die Liebe Jesu hat sich erwiesen, und sie steht groß vor den Augen aller geschaffenen Wesen als eine ewige, unumstößliche Wirklichkeit. Himmel, Erde und Hölle waren für eine Zeit wider den Stellvertreter des Sünders. Verloren war Ihm jede Zuflucht (Ps. 142,4). Aber gerade in jenen schrecklichen Stunden durchbrach Seine allgewaltige Liebe in der ihr eigenen siegreichen Kraft und Herrlichkeit jedes Hindernis und überwand jede Schwierigkeit. Große Wasser vermochten die Liebe nicht auszulöschen, und Ströme überfluteten sie nicht, wenngleich Jesus im vollen geistlichen Sinn der Worte von sich sagen konnte: „Die Wasser umfingen mich bis an die Seele, die Tiefe umschloss mich, das Meergras schlang sich um mein Haupt" (Jona 2,6). Wer könnte dieser Liebe widerstehen, die freiwillig durch all diese Leiden ging, um die Vornehmsten der Sünder erretten zu können! Und welchen Zweck verfolgte die Liebe unseres Heilandes? Ach! Er wollte mit diesen Unreinen, Seinen Feinden, eines Tages den Thron Seiner Herrlichkeit teilen. Wahrlich, Ihm darf man alles anvertrauen. Die ganze schwere Last unserer Sünden, Sorgen, Zweifel und Befürchtungen darf man auf Ihn werfen. Sein Auge kann nie trübe werden, Sein Arm nie ermatten, Sein Herz nie erkalten. Wer auf Ihn vertraut, ist für Zeit und Ewigkeit geborgen. „Alle, die auf ihn trauen, werden nicht büßen" (Psalm 34,22).

Doch kehren wir zu unserer eigentlichen Betrachtung zurück. Es ging um den doppelten Charakter der Erfahrungen des Christen, um den Kelch des natürlichen Schmerzes und der Trauer und den Kelch der geistlichen Freude. Beide können, wie gesagt, zu gleicher Zeit gefüllt sein. Das arme menschliche Herz kann so von Schmerz hingenommen werden, dass es gar nicht mehr aufzublicken vermag; alle Kraft und Freudigkeit für dieses Leben scheinen wie abgeschnitten zu sein. In solchen Augenblicken fühlt der Pilger einen Druck auf sich, so schwer und überwältigend, dass er meint, sich nie wieder erheben zu können. Der Herr erlaubt solche Erfahrungen; Er lässt es zu, dass menschliche Leiden sich wie ein zermalmendes Gewicht auf Seine Geliebten wälzen. Er Selbst hat als der Mann der Schmerzen tiefere Erfahrungen hierin gemacht, als je einer der Seinigen sie machen kann. Deshalb weiß Er aber auch jetzt als das lebendige Haupt und der große Hohepriester Seines Volkes, wie Er der schmerzerfüllten, gebeugten Seele zu Hilfe kommen und sie wieder aufrichten kann.

Gerade zu solchen Zeiten vermag der Herr sich der Seele so lebendig zu offenbaren, dass der Blick sich von dem eigenen Leid abwendet und der Schmerz seine Schärfe verliert. Nicht dass die Prüfung aufgehoben oder verringert würde; nein, vielleicht vertieft sie sich noch und das Gefürchtete kommt mit unfehlbarer Gewissheit näher und näher. Dennoch bleibt die Seele in Frieden; sie befindet sich sozusagen in zwei Bereichen, in zwei Zuständen. Der Natur nach steht sie mitten in den schmerzlichen Erfahrungen der Erde, in der trostlosen Einöde der Wüste; dem Glauben nach aber genießt sie die unveränderlichen Wirklichkeiten des Himmels, die Liebe ihres Heilandes und die unfehlbare Treue ihres Gottes und Vaters. Beide Zustände sind wirklich, ja, so wirklich wie möglich; aber die geistliche Freude wandelt den Charakter des natürlichen Leides um und verleiht Kraft, es zu ertragen. Ruhe und Frieden kehren ins Herz ein, und es beginnt unter Tränen zu danken und anzubeten. Handelt es sich dabei um die Trennung von einer geliebten, in Jesu entschlafenen Person, so erinnert das Herz sich daran, dass sie nur heimgerufen worden ist, um bei dem Herrn zu warten und eine selige Zeit der Ruhe mit Ihm zu verleben, ehe der Tag der öffentlichen Entfaltung Seiner Herrlichkeit kommt.

Ist es nicht wunderbar, dass der Gläubige solche Erfahrungen machen darf? In demselben Augenblick, da er den Kelch der Leiden und des Schmerzes bis zur Neige leeren muss, wird ihm ein Kelch der Freude gereicht, gefüllt bis zum Rande! Und wir wissen, dass der erstere bald - wer weiß, wie bald! - für immer vergessen sein wird, während wir des letzteren in alle Ewigkeit gedenken werden als eines der stärksten und lieblichsten Ausdrücke der Liebe und des zärtlichen Mitgefühls unseres Herrn und Heilandes.

In Römer 5,1-11 wird dieses Stück christlicher Erfahrung klar vor uns gestellt. „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben", so beginnt der Apostel, „so haben wir frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus, durch welchen wir mittelst des Glaubens auch Zugang haben zu dieser Gnade, in welcher wir stehen, und rühmen uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes" (V. 1. 2). In diesen beiden Versen wird die volle Segnung der Seele im Blick auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entwickelt, und die Grundlage von allem ist das Werk Christi, „welcher unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist" (Kap. 4,25).

Was die Vergangenheit betrifft, so ist für den Gläubigen alles geordnet, alles ausgelöscht; alles ausgelöscht; alles was mit dem alten Menschen in Verbindung steht, kam vor Gottes Augen am Kreuze zu seinem Ende. Dort wurde die Sünde gerichtet nach Wurzel und Zweig. Alles was hinweggetan werden musste, wurde hinweggetan, und zwar gemäß den Forderungen der Herrlichkeit Gottes und den Bedürfnissen des Sünders. Deshalb ist der Christ jetzt eins mit Christo in der Auferstehung. Tod, Gericht, Welt, Sünde und Satan liegen hinter ihm. Auf diesem Boden, dem Boden des Todes und der Auferstehung gibt es für den Gläubigen vollkommenen Frieden, Frieden mit Gott. „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott.“ - Was die Gegenwart betrifft, so sind wir in die volle Gunst Gottes eingeführt. Wir stehen in der Gnade: Durch welchen wir mittels des Glaubens auch Zugang haben zu der Gnade, in welcher wir stehen“. – Wenn es sich endlich um die Zukunft handelt, so „rühmen wir uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes“. Wir sind zwischen das Kreuz und die Herrlichkeit gestellt; unser „Gestern“ war Golgatha, unser „Morgen“ ist die Herrlichkeit.

Das ist der wahre christliche Standpunkt, der nicht auf Erfahrung, sondern auf Glauben beruht; der Gläubige ist gerechtfertigt, hat Frieden mit Gott, steht in der Gnade und rühmt sich der Herrlichkeit. Die Erfahrung kommt nachher; sie fließt aus dieser Stellung hervor. Nachdem der Geist Gottes den gläubigen auf die Höhe seiner neuen Stellung in Christo geführt und ihn gar einen Blick hat tun lassen in die Herrlichkeit hinein, bringt Er ihn gleichsam wieder in die Wüste zurück, damit er hier auf dem Wege der Erfahrung die Prüfungen dieses Lebens kennen lerne. Dessen ungeachtet kann er sich rühmen. Er rühmt sich der Tiefen ebenso wohl wie die Höhen. Niemand kann sich der Trübsale rühmen als nur der, welcher sich schon in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes erfreut. So war es mit dem großen Apostel selbst, „der entrückt wurde bis in den dritten Himmel“. Dort, in den höchsten Höhen, fand er Christum als den einzigen Grund seines Rühmens; und wenn er wieder auf Erden war und durch einen „Dorn im Fleische“ Trübsal litt, so fand er in den Tiefen dieses Weges denselben Christus an seiner Seite. „Daher will ich am allerliebsten“, so ruft er aus, „mich vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, auf dass die Kraft des Christus über mir wohne“ (2. Korinther 12).

Derselben Erfahrung begegnen wir in dem vorliegenden Kapitel, wo wir weiter lesen: „Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Trübsale, wissend, dass die Trübsal Ausharren bewirkt, das Ausharren aber Erfahrung, die Erfahrung aber Hoffnung, die Hoffnung aber beschämt nicht, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen, durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben worden ist“ (V. 3 -5). So werden die Räder der Seele wieder in Bewegung gesetzt, und von neuem erreicht der Gläubige durch tiefe Übungen die herrlichen Höhen. Er genießt jetzt in besonderem Maße die Liebe Gottes, die in sein Herz ausgegossen ist, und verspürt wie nie zuvor die Gegenwart des Heiligen Geistes. Welch ein gesegneter Seelenzustand ist das, obwohl man vielleicht unter den Schatten des Todes steht.

Aber das ist noch nicht alles. Es gibt in diesem Tränental noch mehr für den Gläubigen zu lernen; er muss noch durch eine Erfahrung anderer Art gehen. Er wird durch den Geist Gottes zurückgeführt, nicht in eine neue Trübsalsschule, sondern in die Tiefen seines eigenen sittlichen Verderbens. Er wird daran erinnert, was er einst war: kraftlos, gottlos, ein Sünder und ein Feind; aber er lernt diese tief demütigenden Wahrheiten in dem Lichte der vollkommenen Liebe Gottes und des vollbrachten Werkes Jesu Christi, sowie angesichts der Gegenwart des Heiligen Geistes. Und nun beachte, mein Leser, bis zu welchem Punkte er auf diesem Wege kommt; er erreicht gleichsam die höchste Stufe der Leiter: „Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesum Christum“. Könnte es etwas Höheres geben? Nein; sich Gottes selbst rühmen und sich in Ihm erfreuen zu können, das übersteigt bei weitem all das Genießen dessen, was Er gibt.

Mit Recht mögen wir uns darüber verwundern, was alles, von dem armen glaubenden Wüstenpilger erkannt, erfahren und genossen werden kann. In den Augen der Menschen mag er als ein bedauernswerter, freudeloser Sonderling erscheinen; aber in welche Tiefen dringt er ein; welche Höhen ersteigt er, welch wunderbare Fernsichten tun sich vor seinen Blicken auf, über welch eine Kraft gebietet er, und welch eine Herrlichkeit vergoldet mit ihren Strahlen seinen vielleicht einsamen Pfad! Für ihn gibt es Freude und Frieden in dem Tal der Tränen und die Herrlichkeit wartet seiner an der Schwelle des Himmels. Er kennt die Geschichte der Zukunft besser als die der Vergangenheit, und göttliches Licht erleuchtet die Gegenwart. O du arme, blinde, tote Welt! Du kennst nicht diesen geheimnisvollen Menschen; die verborgenen Quellen seiner Freude und Kraft sind dir unbekannt. O dass du kommen wolltest zu Ihm, der das Licht des Lebens und das Licht der Menschen ist! Die Gnade hat kein neidisches, missgünstiges Auge; was sie hat, das möchte sie so gern mit Anderen teilen. Sie bittet, ruft und warnt, damit Andere doch auch den einzigen Freund des Sünders kennen und lieben lernen möchten. Wenn eine Kerze ein Dutzend anderer Kerzen anzündet, so bleibt ihr eigenes Licht unvermindert, aber das vereinigte Licht ist stärker und besser. O darum, mein lieber unbekehrter Leser, geselle dich zu denen, die im Lichte des Herrn wandeln, und möge dann dein eigner Pfad dem Lichte gleichen, das immer heller leuchtet, bis der Tag anbricht in seinem vollen Glanze!

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Wegen Seines in euch wohnenden Geistes

Bibelstelle: Römer 8,11

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 279ff

„Wenn aber der Geist Dessen, der Jesus aus den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird Er, der Christum aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wegen Seines in euch wohnenden Geistes“ (Röm. 8, 11.)

In unseren Leibern wohnt und wirkt die Sterblichkeit; aber der Gott, welcher Jesum aus den Toten auferweckt hat, wird auch unsere sterblichen Leiber lebendig machen wegen Seines in uns wohnenden Geistes. Welch eine gewisse Hoffnung und welch ein volles Teil hat doch der Christ! Nicht nur ist er, was seine Seele betrifft, erlöst, ein Befreiter des Herrn, sondern er wird auch, wenn er anders vor dem Kommen des Herrn stirbt, wieder auferweckt werden. Selbst sein sterblicher Leib wird wieder lebendig gemacht werden. Es wird nicht ein neuer Leib geschaffen und ihm gegeben, sondern der Leib, den er hienieden getragen hat, wird verändert, verwandelt. Welch ein herrlicher Beweis von der Macht Gottes einerseits, und andererseits von der Gnade und Liebe Gottes zu uns! Der Heilige Geist wird niemals Seine Ansprüche an den sterblichen Leib, den Er sich zu Seiner Wohnstätte, zu Seinem Tempel erkoren hat, fahren lassen. Er wohnt in uns infolge des Auferstehungslebens Christi, das die Erlösten besitzen. Wäre das Erlösungswerk nicht vollbracht und das Leben Christi uns nicht geschenkt, so würde der Heilige Geist nicht in uns wohnen können; aber wo diese beiden Dinge sind, da, sagt Er gleichsam, muss auch ich sein.

Wie kostbar ist diese Wahrheit! So gewiss also der Heilige Geist heute in den Gläubigen wohnt und sie rufen lässt: „Abba, Vater!“, so gewiss wird Der, welcher einst den Menschen Jesus auferweckte, Ihn, der zum Herrn und zum Christus gemacht worden ist, auch ihre sterblichen Leiber lebendig machen zum Ruhme Seines großen und herrlichen Namens.

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Trost im Trennungsschmerz

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 280ff

Er ist am Ziel! – Der Kampf ist ausgestritten,

der Lauf vollbracht, der Glaube treu bewahrt;

der müden Hand der Wanderstab entglitten,

zu Ende ist die kurze Pilgerfahrt.

Er ist daheim! – Im seligen Frieden droben

Ruht er nun aus von mühevollem Streit;

Und allem Kummer, allem Leid enthoben,

teilt ewig er des Himmels Herrlichkeit.

Nicht lange mehr! So bist auch du am Ziele,

dann ruhst du froh an Jesu Herzen aus;

vertraue still! Wie auch dein Los hier fiele,

dein Weg führt heim ins teure Vaterhaus.

Der Pfad ist rau; - doch dieser Zeiten Leiden

bewirken bald dir ewige Herrlichkeit;

Getrost, getrost! Es nahen Himmelsfreuden,

dann störet nicht des Herzens Seligkeit.

Drum still, mein Herz! Und ohne Zagen richte

Den Blick empor, voll Glauben und Vertrauen!

Der Kampf ist kurz; und bald im ewigen Lichte

Wirst jubelnd du des Heilands Antlitz schauen!

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Halte fest was du hast!

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 281ff

VI

7. Die Wahrheit festhaltend in Liebe.

(Eph. 4, 15.)

Sobald die Seele, geleitet durch das Licht der Wahrheit, dahin gekommen ist, den Platz der Absonderung zu verstehen und einzunehmen, werden mancherlei Fragen auftauchen, besonders in Bezug auf ihr ferneres Verhältnis zu den Kindern Gottes, von welchen sie durch jene Absonderung äußerlich getrennt ist. Diese Fragen werden umso ernster werden, wenn es sich um solche Kinder Gottes handelt, die nicht nur treu und rein sind im persönlichen Wandel, sondern sich auch frei halten von einer Verbindung mit bösen, ketzerischen Lehren und solchen, die sie bringen, die aber nicht Licht oder nicht Kraft genug haben, sich von den Parteiungen zu trennen. Die Beantwortung solcher Fragen mag durch die genannten Umstände erschwert werden, ist aber dennoch leicht, wenn wir bereit und entschlossen sind, uns nur durch die Wahrheit leiten zu lassen. Sie wird nur dann sehr schwierig, wenn wir neben der Wahrheit unseren natürlichen Gefühlen mitzureden erlauben. Wenn die Wahrheit einen Gläubigen veranlasst hat, den bisherigen schriftwidrigen Platz zu verlassen und sich auf den Boden der Wahrheit zu stellen, so vermag auch nur die Wahrheit ihn fernerhin zu leiten; sie allein kann ihm Kraft geben, auf dem Boden der Wahrheit zu beharren.

Wenn wir, vielleicht nach langen Irrfahrten, den Pfad der Wahrheit betreten haben, „um der Wahrheit willen, die in uns bleibt und mit uns sein wird in Ewigkeit“ (2. Joh. V. 2), so liegt es uns ob, „in der Wahrheit zu wandeln, wie wir ein Gebot von dem Vater empfangen haben“ (2. Joh. V. 4). Unsere natürlichen, menschlichen Gefühle, die so leicht einen weittragenden Einfluss auf unser Denken und Handeln ausüben, sind nicht die Wahrheit, und wenn wir uns von ihnen leiten lassen, oder wenn wir ihnen neben der Wahrheit einen Einfluss auf unser Verhalten gestatten, so geraten wir in Verwirrung, da diese Gefühle und die Wahrheit selten miteinander in Einklang zu bringen sind. Wollen wir treu sein, so bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Gefühle gänzlich der Wahrheit zu unterwerfen. Das Bewusstsein unserer eigenen Schwachheit und Unzulänglichkeit macht es uns ebenfalls schwer, einen entschiedenen Standpunkt nach der Wahrheit einzunehmen, beziehungsweise darin zu beharren, weil dies den Anschein hervorruft, als wolle man besser sein als Andere. Unsere Gefühle sind menschlich und führen uns leicht irre; wir selbst sind in jeder Beziehung schwach und unvollkommen. Was bleibt uns also übrig? Nichts anderes, als unsere Gefühle beiseite zu setzen, uns selbst zu vergessen und mit einfältigem Herzen, im Bewusstsein unseres Nichts, den vollkommenen und unerschütterlichen Felsen der Wahrheit als alleinige Autorität anzuerkennen und Ihm allein zu folgen. Wird Er uns falsch führen? Nimmermehr!

Aber, so fragt man, und dieses Fragen ist leicht begreiflich, wird durch das unbeugsame Festhalten an der

Wahrheit, welches mich von vielen Kindern Gottes äußerlich trennt, die brüderliche Liebe nicht beeinträchtigt? Steht nicht geschrieben, dass die Wahrheit in Liebe festgehalten werden solle? Offenbart eine solche Trennung aber Liebe?

Dass die brüderliche Liebe aus diesem Wege beeinträchtigt werden kann, ist wahr; dass sie wohl oft, infolge der sektiererischen Neigungen unserer armen Herzen, beeinträchtigt wird, ist leider ebenso wahr; dass sie aber beinträchtigt werden muss, ist nicht wahr. Im Gegenteil, wenn ich in Demut der Wahrheit folge — bereit, unter allen Umständen den Willen meines Herrn zu tun, so schmerzlich auch die Folgen im Blick auf das Verhältnis zu meinen Brüdern sein mögen, so wird meine Liebe dadurch nicht beeinträchtigt, sondern sie kommt erst zu ihrem wahren Ausdruck. Petrus schreibt: „Da ihr eure Seelen gereinigt habt durch den Gehorsam gegen die Wahrheit zur ungeheuchelten Bruderliebe, so lieber einander mit Inbrunst aus reinem Herzen“ (1. Petr. 1, 22). Genau so ist es. Meine Unterwerfung unter die Wahrheit macht mich erst fähig, den Bruder ungeheuchelt zu lieben, aus reinem Herzen.

Aber wir dürfen diese Liebe niemals mit unseren natürlichen Gefühlen verwechseln. Diese Liebe ist der Ausfluss des Herzens Gottes, oder besser, sie ist das Wesen Gottes. Sie ist nicht etwas, was uns von Natur eigen ist, sondern sie ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist (Röm. 5, 5), und sie offenbart sich bei uns durch den Gehorsam gegen die Wahrheit. „Denn dies ist die Liebe Gottes, dass wir Seine Gebote halten, und Seine Gebote sind nicht schwer“ (1. Joh. 5, 3.) „Wer aber irgend Sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet“ (1. Joh. 2, 5.)

„Die Wahrheit festhaltend in Liebe“ heißt also im Grunde nichts anderes, als sie festhalten, indem man sie

in Demut und in Abhängigkeit von Gott befolgt oder ausübt.Wahrheit und Liebe gehen stets zusammen. Sie können und dürfen niemals getrennt werden. „Die Liebe freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit“ (1. Kor. 13,6). Zwischen Wahrheit und Liebe besteht eine völlige Harmonie. Beide räumen Gott den ersten Platz ein, und nicht dem Geschöpf. Nicht so unsere natürlichen Gefühle, das was wir so oft „Liebe“ nennen oder für Liebe halten. Wenn unsere Gefühle nicht der Wahrheit unterworfen sind, so ist ihr erster Gegenstand immer das sichtbare Geschöpf, während der unsichtbare Gott zurücktreten muss. Die Liebe Gottes ist unveränderlich und bleibt sich stets gleich, d. h. sie wird nicht beeinflusst durch den Gegenstand, welchem sie sich zuwendet. So nimmt sie z. B. keine Rücksicht auf den Unterschied der Charaktere oder auf das Maß der Gegenliebe. *) Wir lesen von unserem hochgelobten Herrn: „Jesus aber liebte die Martha und ihre Schwester und den Lazarus“. Die Zuneigung der Maria war ohne Zweifel inniger und tiefergehend, als die der Martha, und der Herr konnte sich infolge dessen der einen mehr offenbaren als der anderen; aber dieser Umstand beeinflusste in keiner Weise die Liebe des Herrn· Unsere Gefühle aber sind nicht also. Sie treffen ihre Auswahl unter denen, die wir lieben sollen, und das Maß unserer Liebe entspricht oft nur dem Maße der Gegenliebe, welche wir finden. Eine solch schwankende, je nach dem Charakter der Persönlichkeit verschiedenartige Sache ist aber nicht wahre Liebe; sie kann uns deshalb auch keinen Halt bieten, sondern wir bedürfen jener unerschütterlichen, stets gleichbleibenden Liebe Gottes. Deshalb ist sie auch in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist; aber dieser Geist ist der Geist der Wahrheit, und Er ist es auch, der uns in die ganze Wahrheit leitet.

Sobald die Liebe Gottes erkannt ist als das, was sie ist, und sobald wir dahin gebracht sind, sie zu verwirklichen, indem wir uns der ganzen Wahrheit unterwerfen, lösen sich alle Schwierigkeiten, die sich uns auf dem Pfade der Absonderung entgegenstellen wollen, von selbst. Allerdings führt dieser Pfad oft durch schmerzliche Übungen. Geschwister, mit denen man bisher auf einem nicht biblischen Boden vereinigt war, werden den Vorwurf der Lieblosigkeit und des Hochmutes erheben, weil sie uns nicht verstehen. Sie werden unser Verhalten vielleicht aufs Schärfste verurteilen und das, was wir aus Gehorsam gegen den Herrn tun, Engherzigkeit und Sektiererei nennen; und wenn wir nicht gelernt haben, das „Ich“ beiseite zu setzen und uns zu nichts zu machen, so werden uns bittere Demütigungen nicht erspart bleiben. Doch das Bewusstsein, dass der Herr auf unserer Seite ist, weil wir uns auf Seine Seite gestellt haben, wird alles Bittere versüßen und uns aufrecht halten. Der Herr wird sich zu uns bekennen und uns stärken, und wir dürfen unsere Rechtfertigung Ihm getrost überlassen.

Lernen wir von Maria in Bethanien. Sie saß zu Jesu Füßen, um Seinem Worte zu lauschen. Aber gerade diese Stellung erregte das Missfallen ihrer gleichfalls gläubigen Schwester Martha in solchem Maße, dass

diese sich zu heftigen Worten fortreißen ließ. Maria aberblieb ruhig und erwiderte kein Wort. Aber der Herr nahm ihre Verteidigung in Seine Hand, und Er bezeichnete ihre Stellung als „das gute Teil“. Und wie ihre Abhängigkeit und Unterwürfigkeit nicht den Beifall ihrer Mitgläubigen fand, so auch nicht ihr Werk des Glaubens, die Salbung Jesu. Bei dieser Gelegenheit waren es die gläubigen Jünger, welche ihrem Missfallen Ausdruck gaben. Aber wiederum schweigt Maria, und wiederum ist es der Herr, der sie verteidigt und ihr Werk als ein gutes bezeichnet.

Lasst uns auch lernen von Paulus. Sein Festhalten an der Wahrheit vereinsamte seinen Pfad mehr und mehr. Er musste an die Philipper schreiben: „Denn ich habe niemanden gleichgesinnt . . . , denn alle suchen das Ihrige, nicht das was Jesu Christi ist“ (Phil. 2, 20); und an Timotheus: „Du weißt dieses, dass sich alle, die in Asien sind, von mir abgewandt haben“ (2. Tim. 1, 15). Ferner: „Bei meiner ersten Verantwortung stand mir niemand bei, sondern alle verließen mich. . . Der Herr aber stand mir bei und stärkte mich“ (2. Tim. 4, 16. 17). Würde wohl jemand zu behaupten wagen, dass Paulus die Brüder nicht geliebt habe? Er opferte sich in ihrem Dienste ja völlig auf! Allerdings hatte er auch gelernt, sich für nichts zu halten. Er konnte sagen: „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“; und, wenn er von seiner Arbeit spricht: „Ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir war“. Nur wenn wir dies lernen, vermögen wir in der rechten Weise aus dem Pfade der Absonderung zu beharren, die Wahrheit festzuhalten in Liebe.

Hier ist es wohl am Platze, auf eine besondere Gefahr aufmerksam zu machen. Wenn ich infolge der Unterwerfung unter die Wahrheit von vielen Kindern Gottes getrennt werde, so kann sehr leicht der Fall eintreten, dass das Bewusstsein meiner Einheit mit allen Kindern Gottes, wo sie auch stehen mögen, nicht wach erhalten bleibt. Darum lasst uns nicht vergessen: Mag auch die Notwendigkeit der Absonderung vom Bösen einen Bruch der Gemeinschaft herbeiführen, so beeinträchtigt das doch in keiner Weise die Wahrheit von der Einheit des Leibes. Denn die letztere ist nicht, wie die Gemeinschaft,

von der Stellung oder dem Wandel der Gläubigen abhängig, sondern ist auf das vor 1900 Jahren vollbrachte Werk Christi gegründet. Und dieses Werk kann durch keine Macht im Himmel und auf Erden erschüttert werden. Wenn wir deshalb am Tische des Herrn der Einheit des Leibes Ausdruck geben, so sollten wir niemals nur diejenigen Glieder vor Augen haben, die mit uns in Gemeinschaft stehen, sondern alle Glieder des Leibes, ohne jegliche Ausnahme. In Korinth gab es solche, die da sagten: „Wir sind Christi“. Das lautete sehr schön, aber sie waren genauso parteiisch wie die Anderen, welche sagten: „Wir

sind des Paulus“; denn unter dem „wir“ verstanden sie nicht alle Glieder des Leibes, sondern nur diejenigen, die mit ihnen eines Sinnes waren oder vielleicht engere Gemeinschaft pflegten. Sie machten sich derselben Sünde schuldig wie die Anderen: sie zerteilten den Christus. Und wenn heute diejenigen, welche sich der Wahrheit unterwerfen, im Blick auf sich sagen würden: „Wir sind die Versammlung (oder Gemeinde)“, so wäre das genauso parteiisch wie das Verhalten der Korinther; denn alle Kinder Gottes bilden die Versammlung des lebendigen Gottes, wenn sie sich auch nicht alle auf dem Boden der Einheit des Leibes versammeln mögen.

Durch die Notwendigkeit der Absonderung kann, wie gesagt, das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit leicht verloren gehen, und das ist ein schlimmes Übel. Alle, die der Wahrheit folgen wollen, bedürfen daher viel Wachsamkeit im Blick auf sich selbst, und viel Weisheit, Geduld und Liebe im Verkehr mit den Kindern Gottes, die noch in den Parteien stehen. Ich bin verpflichtet, allen Gläubigen zu dienen nach der Gabe, die ich vom Herrn empfangen habe, aber dabei „die Wahrheit festzuhalten in Liebe“.

Im Blick auf die letztgenannten Kinder Gottes ist sicherlich ein Unterschied zu machen. Es gibt solche, die

noch in Unkenntnis über den Willen Gottes sind, und solche, welchen die Wahrheit nahe getreten ist, die sich ihr aber nicht unterwerfen wollen. Den Ersteren soll ich soweit es in meinen Kräften steht, in Liebe dienen mit dem, was mir der Herr für sie anvertraut hat. Und wenn ich das tue, so werde ich nicht daran denken, das, was ihnen noch wertvoll erscheint, in ihren Augen herabzusetzen, sondern ich werde ihnen Besseres zu bringen suchen. Und dieses Bessere ist Christus, die Wahrheit. Und wenn ihr Herz von der Köstlichkeit der Wahrheit angezogen wird, und sie anders bereit sind, der erkannten Wahrheit in Treue zu folgen, so wird sich an ihnen das Wort Jesu erfüllen: „Wenn ihr in meinem Worte bleibet, so seid ihr wahrhaft meine Jünger; und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh. 8, 31. 32). Sie haben dann Christum als die Wahrheit erkannt, und das, was ihnen bis-her als das Wertvollere erschien, wird gern fahren gelassen; die Wahrheit hat sie von jedem menschlichen Joche freigemacht, und sie lernen jetzt nur noch von Ihm.

In dieser Hinsicht wird in doppelter Beziehung viel gefehlt, einmal dadurch, dass der Dienst an diesen Gläubigen schwach geübt wird oder gar gänzlich unterbleibt, zum anderen durch eine falsche Ausübung desselben, als gelte es, Proselvten zu machen. Wir vermögen zwar niemanden zu befreien, aber wir können den Seelen das bringen, was sie freimachen kann, nämlich Christum, die Wahrheit; und darin sollten wir nicht ermatten.

Bei diesem Dienste kommt die Ermahnung des Apostels, die Wahrheit festzuhalten in Liebe, ganz besonders zu ihrem Recht. Wir sind berufen, in Liebe zu dienen, wie Paulus den Schwachen ein Schwacher zu werden, indem wir ihnen auf dem Boden, wo sie stehen, begegnen; aber wir müssen das tun, ohne die Wahrheit, welche unsere Gemeinschaft mit ihnen abgebrochen hat, zu verleugnen. Wir würden dies z. B. tun, wenn wir ihre Verkehrtheiten mitmachten. Nehmen wir an, wir würden mit ihnen das Brot brechen, trotzdem sie den Grundsatz, der Einheit des Leibes nicht anerkennen und einen Parteitisch ausgerichtet haben. Wäre das nicht ein Aufgeben der Wahrheit? Würden wir uns nicht zugleich der Heuchelei schuldig machen und, anstatt den Seelen zu dienen, sie in ihren Sonderbestrebungen bestärken? Will ich (um ein Bild zu gebrauchen) jemanden aus dem Sumpfe ziehen, so gehe ich nicht in den Sumpf hinein. Täte ich es, so würde ich genug zu tun haben, mich selbst über Wasser zu erhalten, aber gänzlich außerstande sein, dem Anderen zu helfen; ja, mehr noch, ich würde mich selbst in Gefahr bringen, zu versinken. Siehe ich aber außerhalb des Sumpfes, auf festem Boden, so kann ich dem

Versinkenden hilfreiche Hand bieten. So ist es auch im Blick auf die vorliegende Frage. Stelle ich mich auf den festen, unerschütterlichen und nie wankenden Boden der Wahrheit, so bleibe ich selbst nicht nur bewahrt, sondern bin auch in der Lage, Anderen zu helfen.

Es gibt in unseren Tagen manche eifrige Evangelisten, welche die Parteiungen als fleischlich und menschlich erkannt haben, dennoch aber meinen, in denselben verharren zu sollen, weil sie so, wie sie sagen, den Seelen, die darinnen sind, näher kommen können. „Wie sollen“, so fragen sie, die noch innerlich Gebundenen zur Freiheit gelangen, wenn nicht Brüder mit innerer Freiheit, verzichtend auf die äußere, unter ihnen arbeiten, Licht verbreitend?“ Diese Beweisführung erscheint auf den ersten Blick manchem vielleicht recht annehmbar, aber wie verkehrt ist sie doch in Wirklichkeit! Ach, wie arglistig ist das menschliche Herz! Dem Grundsatze nach heißt das nichts anderes als: „Lasst uns das Böse tun, auf dass das Gute komme!“ Mit demselben Recht könnte jemand sagen: Man muss mit der Welt gehen, ihre Vergnügungen u. s. w. mitmachen, wenn man auch nicht mit dem Herzen dabei ist, um so den Seelen, die in ihr sind, näher kommen zu können. Jedes Kind Gottes würde aber einen solchen Gedanken weit von sich weisen. Und doch wären, so verschieden Welt und Parteiungen auch sein mögen, die Beweggründe dieselben. Die Sache wäre grundsätzlich die gleiche. — Nun, will ein Arbeiter des Herrn Anderen den Weg der Wahrheit zeigen, so muss er ihn zunächst selbst gehen; anders ist sein Tun nicht ehrlich, und er fällt unter den Vorwurf der Heuchelei. Darum: „Lasst uns Festfeier halten, nicht mit altem Sauerteig. . . sondern mit dem ungesäuerten Brote der Lauterkeit und Wahrheit! (1. Kor. 5, 8).

Aber hat nicht der Herr gesagt: „Seid klug wie die Schlangen“? Allerdings, aber Er hat auch hinzugefügt: „und einfältig wie die Tauben“. Da ist Heuchelei gänzlich ausgeschlossen. Aber was meint Paulus, wenn er sagt: „Ich bin den Juden geworden wie ein Jude, auf dass ich die Juden gewinne; denen, die unter Gesetz. sind, wie unter Gesetz (wiewohl ich selbst nicht unter Gesetz bin), auf dass ich die, welche unter Gesetz, sind, gewinne; denen, die ohne Gesetz sind, wie ohne Gesetz (wiewohl ich nicht ohne Gesetz, vor Gott bin, sondern Christo gesetzmäßig unterworfen), auf dass ich die, welche ohne Gesetz sind, gewinne“? (1. Kor. 9, 20—23). Nun, Paulus offenbarte die Gesinnung Christi und handelte nach Seiner Vorschrift. Er verband Schlangenklugheit mit Taubeneinfalt. Man vergleiche einmal seine Rede an die Juden in Antiochien in Pisidien (Apstgsch. 13, 16 — 41) mit derjenigen an die Athener auf dem Areopag. (Apstgsch. 17, 22 —31.) Im ersteren Falle ist er denen, die unter Gesetz sind, wie unter Gesetz, und im letzteren Falle denen, die ohne Gesetz, sind, wie ohne Gesetz. Aber verlässt er dabei persönlich seinen Platz der Absonderung, oder gibt er auch nur das Geringste von der Wahrheit auf? Verbindet er etwa Schlangenklugheit mit Heuchelei? Alles das suchen wir vergeblich. Betrachten wir dem gegenüber sein Verhalten in Antiochien, als Petrus mit den Juden-Christen aus Menschengefälligkeit heuchelte, d. h. gerade das tat, was man heute auch als» zweckdienlich hinzustellen sucht. „Als ich aber sah, dass sie nicht den geraden Weg nach der Wahrheit des Evangeliums wandelten, sprach ich zu Kephas vor allen: Wenn du u. s. w.“ Paulus widerstand ihm ins Angesicht, gerade so wie er vorher in Jerusalem den judaisierenden Lehrern nicht eine Stunde durch Unterwürfigkeit nachgegeben hatte, „auf dass“, wie er sagt, „die Wahrheit des Evangeliums bei euch verbliebe“ (Gal. 2).

Ach, vergessen wir doch nicht, dass der Herr es ist, der da öffnet; und wenn Er öffnet, so vermag niemand

zu schließen. (Vergl. Offbg. 3, 7. 8.) Wer sind wir? Werkzeuge, die in sich selbst gar keine Kraft besitzen, und nur insoweit nützlich und gesegnet sind, wie der Herr sie gebraucht. Viele glauben auch aus dem Umstande, dass der Herr doch die Wirksamkeit solcher Evangelisten segnet, den Schluss ziehen zu müssen, dass Er sich zu ihrem Tun beziehungsweise zu ihrer falschen Stellung bekenne. Aber die Gnade ist und wirkt unumschränkt, trotz der Untreue des Menschen. Es wäre deshalb durchaus falsch, in dem Wirken der Gnade eine göttliche Anerkennung der jeweiligen Stellung des Predigers, Evangelisten usw. erkennen zu wollen. Wie könnte der Herr sich mit Seinem eigenen Worte in Widerspruch setzen?

Wenn der Dienst an den Seelen innerhalb der Parteiungen unter der Leitung des Heiligen Geistes und entsprechend dem Grundsatz der Einheit aller Kinder Gottes erfolgt, so wird er sicher nicht ungesegnet bleiben. Der Herr wird demütigen und treuen Seelen das Herz auftun, dass sie acht geben auf das, was geredet wird, und sie werden die Wahrheit erkennen und frei werden. Wenn Andere, geleitet durch eigene Gedanken oder durch angesehene Persönlichkeiten, beeinflusst durch menschliche Interessen, oder auch aus Furcht vor der Schmach Christi, der Wahrheit widerstehen und so zu Widersachern der Wahrheit werden, so gibt uns der Apostel in 2. Tim. 2, 24 — 26 im Blick auf solche eine klare Unterweisung, indem er sagt: „Ein Knecht des Herrn soll nicht streiten, sondern gegen alle milde sein, lehrfähig, duldsam, der in Sanftmut die Widersacher zurechtweist, ob ihnen Gott nicht etwa Buße gebe zur Erkenntnis der Wahrheit2. Und wenn auch dieser Dienst sich als vergeblich erweist, so bleibt nichts anderes übrig, als, der Ermahnung desselben Apostels in Röm. 16,17 folgend, von solchen sich abzuwenden und sie sich und ihrer Verkehrtheit zu überlassen.

O möchte denn die „Furcht des Herrn“, von welcher wir im Anfang unserer Betrachtung sprachen, unseren Weg bestimmen und unser ganzes Leben und Handeln durchziehen! Ja, Gott gebe, dass diese Furcht, wie es einst bei Israel der Fall sein wird, „unser Schatz“ sei! (Jes. 33, 6.) An die gläubigen Hebräer schreibt der Apostel: „Lasst uns Gnade haben, durch welche wir Gott wohlgefällig dienen mögen mit Frömmigkeit und Furcht!“ (Hebr. 12, 28.) Und an die Gläubigen in Korinth: „Lasst uns die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes!“ (2. Kor. 7, 1). Wo diese Furcht im Herzen wohnt, wo man zittert vor Gottes Wort, da wird sich Wachstum zeigen, und vermöge der Gewohnheit werden die Sinne geübt werden „zur Unterscheidung des Guten sowohl als auch des Bösen“ (Hebr. 5, 14).

Fußnote:

*) Dass Gott Seine Liebe dem einen Kinde reichlicher bezeugen kann und zu genießen gibt als dem anderen, je nach der Treue und dem Gehorsam des Kindes (vergl. Joh. 14, 21 u. andere St.), ist sicher wahr; aber das ist eine andere Sache.

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Gedanken über den 23. Psalm

Bibelstelle: Psalm 23

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 294ff

„Fürwahr, Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens, und ich werde wohnen im Hause Jehovas auf Länge der Tage2 (V. 6). Wir haben gerade gesehen, dass in den reichen Wandlungen der christlichen Erfahrung der pilgernde Gläubige innig vertraut wird sowohl mit Freude als mit Schmerz. Dies lehrt uns einerseits die Schule Gottes und andererseits Sein geschriebenes Wort.

Doch in diesem letzten Verse unseres Psalmes wird der Pilger nicht mehr gesehen mit einem Kelche in jeder Hand, wie vorher, sondern, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit einem schirmenden Engel auf jeder Seite. „Fürwahr“! sagt er, „Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens.“ Das ist ein herrlicher Ausspruch; und beachten wir es wohl: Das erste Wort, welches aus der Fülle seines Herzens hervorkommt, ist ein „Fürwahr“! Welch eine passende, triumphierende Äußerung des Glaubens, eine Art von Jubelhymne nach solch tiefen und Mannigfaltigen Übungen und Erfahrungen! Hier gibt es keine Ungewissheit, keine Zweifel oder Befürchtungen. Ein stilles seliges Vertrauen erfüllt die Seele; die volle Gewissheit des Glaubens kommt zum Ausdruck. Das Wort des Herrn ist in dem Herzen, und die Person des Herrn steht vor der Seele.

Und wie ist sich der Mann Gottes, während er seine Reise durch diese Welt vollführt, der Würde seiner Begleiter so wohl bewusst! Er wird gleichsam mit königlichen Ehren geleitet; und zwar stehen nicht wie bei Mächtigen dieser Erde, stahlgepanzerte Helden, deren glänzende Waffen und Rüstungen das Auge der Menschenblenden, ihm zur Seite, sondern die Güte und die Huld des lebendigen Gottes. Das ist sozusagen die Leibgarde des Pilgers, während er die Wüste durchwandert. Könnte es geeignetere Gefährten für den wechselvollen Schauplatz dieses Lebens geben? Unmöglich! Sie sind stets bereit, halten allezeit gute Wacht, sind jedem Gegner mehr als gewachsen und genügen für jedes Vorkommnis, für jede Not, Es sind edle hochgeborene, unbesiegliche Helden, und doch so milde und freundlich wie die lautere Liebe des Himmels. Und mein lieber Leser, dies ist nicht etwa ein Trugbild, ein Phantasiegemälde; o nein, für den Glauben kann nichts gewisser sein als dies: „Fürwahr, Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens

O stehe hier einen Augenblick still, mein lieber Mitpilger, sinne darüber und lass dein Herz ein wenig bei dieser kostbaren Wahrheit verweilen! Hüte dich, zu viel an dich selbst, an deine Lage und deine Umstände zu denken; denke lieber an deine himmlischen Begleiter, „Güte und Huld“; und mehr noch, denke an Ihn, der sie sendet, und zwar sendet für eine so lange Zeit: „alle Tage deines Lebens“! Kannst du noch davon reden, du stehest allein und fühlest dich so einsam in dieser Welt? Dein Glaube sollte allezeit diese Boten der Liebe anschauen, die vom Himmel herniedergesandt sind, um dich zu bewachen und dir zu folgen alle Tage deiner Pilgrimschaft hienieden.

Aber warum, wirst du vielleicht fragen, werden gerade diese Dinge. Güte und Huld genannt? Weil es gerade die Dinge sind, die wir hienieden bedürfen: Güte für alle unsere Bedürfnisse, Huld oder Gnade für alle unseren Schwachheiten und Verkehrtheiten. Nur so können wir unseren Weg gehen und vollenden. Der gute Hirte ist selbst den Pfad Seiner Schafe hienieden gegangen, und Er selbst weiß am besten, was sie bedürfen. Nicht dass Er in jeder Hinsicht bedurft hätte, was wir bedürfen; o nein, denn Er war „ohne Sünde“, rein und heilig. Aber als Mensch hat Er unter Jehovas Fürsorge und Leitung den Pfad verfolgt, welchen Seine Schafe und Lämmer jetzt gehen. Er geht vor ihnen her, und sie folgen Ihm.

Es gibt drei Dinge in Verbindung mit unserem guten Hirten, welche alle Schafe Seiner Weide gut kennen sollten. 1. Es ist erfahrungsmäßig durch die bittersten Prüfungen der Wüste gegangen, so dass Er jeden Schritt, jede Schwierigkeit, jede Gefahr des Weges kennt, weil Er selbst ihn gegangen ist. 2. Er ist für die Schafe gestorben. Nachdem Er zunächst ihren Pfad betreten und vollendet hatte, gab Er sein Leben für sie dahin. 3. Er ist aus den Toten wieder auferstanden, um die Herde, für welche Er starb, zu hüten, zu bewachen und zu nähren. So ist Er in jeder Beziehung befähigt, der Hirte der Herde Gottes zu sein. Daher denn auch die herrlichen Worte in Hebräer 13,20. 21: „Der Gott des Friedens aber, der aus den Toten wiederbrachte unsern Herrn Jesum, den großen Hirten der Schafe, in dem Blute des ewigen Bundes vollende euch in jedem guten Werke, um Seinen Willen zu tun, in euch schaffend was vor Ihm wohlgefällig ist, durch Jesum Christum, welchem die Herrlichkeit sei in die Zeitalter der Zeitalter! Amen.“

Wir dürfen wohl sagen, dass unser Pilger, dem wir so lange und so nahe gefolgt sind auf seinem Wege durch Freude und Leid, hier in diesem 6. Verse unseres Psalmes einen Punkt erreicht hat, von welchem aus er die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft zugleich überschaut. Er findet sich gleichsam in den Mittelpunkt eines Kreises gestellt: Ringsumher ist er eingeschlossen von Güte und Huld. Er weiß aus tiefer Erfahrung, was Freude und Schmerz ist. Er kennt die grünen Auen und die stillen Wasser; er hat auch die bitteren Wasser von Mara geschmeckt und ist durch die Tiefen gegangen. Die Schatten des Todes haben sich auf seinen Pfad gelagert und alles um ihn her verdunkelt, so dass ihm fast kein Licht mehr zu leuchten schien. Er kennt auch die reichen Vorkehrungen des Königs für Seinen Gast, den wohl zubereiteten Tisch, das gesalbte Haupt und den überfließenden Becher. Und alles dies überdenkend, im Rückblick auf die Vergangenheit und im Überschauen der Gegenwart, kann er in Wahrheit sagen: „Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens“. Alles, alles ist für die Zukunft geordnet, und wenn er nun an das Ende seiner Pilgerreise denkt, dann kommt es frohlockend über seine Lippen: „Und ich werde wohnen im Hause Jehovas auf Länge der Tage“.

O Herr, mein Hirt!

Im Schatten Deiner Güte

frohlockt mein Herz,

singt jauchzend mein Gemüte,

und dankt, weil mir nichts mangeln wird.

Mir folgt Dein Heil.

Solang ich auf der Erde

Noch wallen soll und Dich verehren werde,

ist Deine Gotteshuld mein Teil.

Der glückliche Pilger genießt schon zum Voraus in Frieden sein zukünftiges Teil, die letzte selige Veränderung. Sein Herz fließt im Hinblick darauf von Freud und Dank über . Alles ist hell und klar in ihm und um ihn her: aber die Stunde, da er in das Haus Jehovas eintreten soll, ist die herrlichste von allen und muss notwendig die glücklichste sein. Wenn der Israelit im Glauben so reden konnte, wie viel mehr sollten die Christen allezeit dazu imstande sein; besonders diejenigen, welche von Gott belehrt sind, „Seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten“! Das ist die wahre Hoffnung der Kirche, nicht der Tod, wenngleich dieser eintreten kann, ehe der Herr kommt- Wenn die große Wahrheit von der nahen Wiederkunft des Herrn den ihr gebührenden Platz im Herzen hat, so wird der Wunsch, Ihn zu sehen, mehr und mehr eine Sache der Zuneigung und Liebe; es ist dann nicht nur der bloße Glaube an eine Lehre. Der Herr wird persönlich gekannt und geliebt, und das Herz verlangt danach, bei Ihm zu sein. Vielleicht führt mein Weg zu Ihm durch die Pforten des Todes; vielleicht darf ich bleiben, bis Er kommt, um alle die Seinigen heimzuholen ins Vaterhaus. Aber was mir auch beschieden sein mag – ich gehe zu Ihm, und das ist für ein liebendes Herz das Köstlichste. Mögen wir auch mit dem Apostel Paulus lieber wünschen, überkleidet zu werden, ohne den Tod zu sehen, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass diejenigen Gläubigen, welche vor der Ankunft des Herrn heimgehen, das Vorrecht haben, Ihn in diesem besonderen Zustand kennen zu lernen. Diese kostbare Erfahrung wird ihnen gleichsam als Beigabe geschenkt; denn nicht einer von ihnen wird fehlen, wenn der Herr Seine Erlösten abholen wird.

Die Stellung, welche der wartenden Gläubigen in dieser Welt einnimmt, mag sehr wichtig und nutzbringend sein, und die Bande, die ihn mit denselben verknüpfen, zahlreich und innig; und doch, wenn das Auge des Glaubens über die Grenzlinie, welche Zeit und Ewigkeit von einander trennt, hinausschaut und sieht, wer dort ist und was dort ist, so verlangt das Herz unwillkürlich danach, diese arme Erde verlassen zu dürfen und jener seligen Schar beigesellt zu werden. Wie viele sind bereits vorangegangen, und wie selig sind sie alle bei Jesu, ihrem Herrn! Ja wahrlich abzuscheiden und bei Christo zu sein, ist ein köstliches Ding, und wohl mögen wir singen:

Ich gehe heim! Bald ist der Preis erstritten. Getrost, getrost! die Wüst' ist bald durchschritten. Das Heimweh wächst, und der Geliebte naht.

Ich gehe heim! Wie süß sind diese Klänge! O sel'ge Heimat, wo der Brüder Menge Ich find' und nimmer wieder scheiden seh'!

Und wie groß ist die Gnade, die trotz all unserer Torheiten auf dem Wege die Schlussszene unserer Wüstenreise zu der glücklichsten, friedlichsten und sonnigsten zu gestalten vermag! Die Seele fühlt sich dem Herrn so innig nahe; die Gnade strahlt in herrlichem Glanze, der Glaube triumphiert und das Lob strömt über. Gleichsam auf die Schwelle zweier Welten gestellt, sieht das Auge alles in dem Lichte der Gegenwart Gottes, und alles, alles, der ganze zurückgelegte Pfad, ist gekrönt mit Güte und göttlichem Erbarmen. Selbst im Rückblick auf die finstersten Tage seines Erdenwallens kann der scheidende Pilger jetzt nichts anderes als Güte und Huld erkennen. Alles tritt in den Hintergrund; nur die stete, nie fehlende, nie ermüdende Liebe und Sorge des guten Hirten bleibt. Der heimgehende Gläubige redet nur noch von ihm und von der Güte und Huld, die allen seinen Bedürfnissen und Fehlern begegnet sind.

Und wenn dann das Ende kommt und der Abschied von allem Irdischen und der Übergang in das Himmlische herannaht, so mögen die Herzen der Umstehenden bluten und ihre Augen tränen; aber ein Herz jubelt, und ein Auge strahlt in himmlischer Freude. Dieses Herz füllt nur ein Gedanke: „Ich werde wohnen im Hause Jehovas auf Länge der Tage“. – „Abzuscheiden und bei Christo zu sein ist weit besser!“

So sagte vor nicht langer Zeit eine geliebte Tochter zu ihrem Vater, der im Blick auf den nahen Abschied tief niedergebeugt war: „Vater! – kannst du – mich nicht missen? Ich gehe – ja nur – zu Jesu - , und du – wirst bald folgen.“ Die Sterbende war erst neunzehn Jahre alt, stand also in einem Alter, in welchem die Natur ihre Rechte besonders stark geltend zu machen pflegt; aber mochten auch viele Tränen um sie her fließen – sie war glücklich und voller Freude. Sie sprach noch viele ähnliche Worte; aber die obigen richtete sie mit einem Blick voll zärtlichen Mitgefühls an ihren teuren Vater, als sie ihn schluchzend auf einen Stuhl niedersinken sah. Sie war jetzt die Tröstende, und sie tröstende den, der ihr in den schweren Tagen und Wochen vorher so oft ermunternde Worte vorgelesen und so manchmal mit ihr gebetet hatte. Welch eine Gnade von Gott! Welch ein Beweis Seiner Huld für einen Vater, für eine ganze Familie! Ihm sei Dank! In Seinem tiefen, zärtlichen Mitgefühl geht der gute Hirte solche Erquickungen, wenn Er im Begriff steht, Sein Lamm in Seinen Busen zu nehmen. –

Wir sind am Schluss unserer Betrachtung über den herrlichen 23. Psalm angelangt. Mehr, unendlich mehr ist darin enthalten, als wir in ihm gefunden haben. Aber möchten die Unterweisungen und Ermunterungen, die der Vater in Seiner Güte uns gab, uns bleiben! Er kann sie in die Tafeln unserer Herzen eingraben, dass weder Zeiten noch Ereignisse sie zu verwischen mögen. Möchte es so sein zu unserem Nutzen und zum Preise Seines herrlichen Namens!

Bald, bald werden auch wir jene selige Heimat erreichen, wo der müde Pilger von allen Kämpfen und Prüfungen ausruhen und der treue Diener in die Freude seines Herrn eingehen wird – O Herr, schenke uns, treu zu sein, und lehre uns alle, von Herzensgrund und mit Aufrichtigkeit sagen zu können: „Fürwahr, Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens, und ich werde wohnen im Hause Jehovas auf Länge der Tage“!

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Ich Jesus

Bibelstelle: Offenbarung 22, 16. 17. 20

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 301ff

„Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, euch diese Dinge zu bezeugen in den Versammlungen“ Wie schön ist es, die Gefühle wahrzunehmen, welche der Name Jesus in den Herzen der Seinigen hervorruft! Welch eine Fülle von Liebe und Gnade offenbart dieser kostbare Jesusname, welch eine wunderbare und große Errettung bekundet er! Er ist der Ausdruck von dem, was der Sohn Gottes für uns ist: Jehova, der Erretter. Der Name schon verkündet laut· die große Errettung, welche durch den Tod Christi am Kreuze zustande gebracht worden ist.

Jesus ·— wie unaussprechlich kostbar ist dieser Name für Gott! Wie kostbar für jedes Herz, welches die Freundlichkeit und Güte des Herrn geschmeckt hat! Ja, schon im Anfang dieses Buches, der Offenbarung Jesu Christi, welche Gott Ihm gab, und die Er durch Seinen Engel Seinem Knechte Johannes mitgeteilt hat, finden wir, welche Gefühle der Geist Gottes bei der Erwähnung des Namens Jesu in dem Herzen des Johannes und aller Erlösten wachruft. Kaum hat der Apostel den Namen Jesu ausgesprochen, kaum berührt der Gruß Jesu das Ohr der Heiligen, so kommt auch schon aus ihren Herzen die Antwort: „Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in Seinem Blute, und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern Seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in die Zeitalter der Zeitalter! Amen“ — Es sind Gefühle des Lobes und der Anbetung, Gefühle dankbarer Freude und inniger Liebe, die hier wachwerden. Denn es ist Jesus, der da redet — Er, der uns liebt, der in Seiner unendlichen Liebe sich selbst für uns dahingab, ja, der uns geliebt hat mit einer

Liebe, die keine Hindernisse und keine Schranken kannte, die Ihn trieb, sich selbst zu nichts zu machen und Mensch zu werden, um nach dem Willen Seines Gottes und Vaters sich ganz und gar für uns opfern zu können. Und dieser Jesus ist nicht nur für uns in den Tod gegangen, Er ist auch als Sieger aus dem schweren Kampfe hervorgegangen; Er ist „der Erstgeborene der Toten, der Fürst der Könige der Erde“. Das ist der Jesus, der uns liebte, als wir noch Feinde waren, ja, der uns mit unbegreiflicher Liebe nachgegangen ist, der uns gesucht und gefunden hat und nun allezeit derselbe Jesus bleibt. Seine Liebe kann sich nie verändern, sie bleibt bis in alle Ewigkeit die gleiche heiße, starke, tiefe und treue Liebe.

Ist das nicht kostbar? Muss nicht die Erwähnung dieses herrlichen Namens in unseren Herzen tiefe Gefühle des Dankes erwecken? Beginnt nicht in jedem erlösten Herzen eine Saite zu klingen, sobald dieser Name nur genannt wird? Jesus ist es ja, der uns gewaschen hat in Seinem Blute, der alle unsere Sünden gesühnt und uns von Tod und ewiger Verdammnis befreit hat! In Seinem unendlichen Erbarmen kam Er, der Sohn Gottes, zu uns herab und gab sich selbst für uns dahin, damit unsere Sünden gesühnt und für immerdar aus den Augen Gottes entfernt werden könnten. Er selbst ist eine Sühnung für uns geworden. O wer könnte die bitteren Leiden Seines Todes erzählen, wer beschreiben, was der Heilige und Gerechte gefühlt hat, als Er für uns zur Sünde gemacht wurde? Wer vermöchte je in diese Tiefen hineinzuschauen? Gott allein, der an uns dachte, ehe der Welten Grund gelegt wurde; Gott allein, der Seinen Sohn in die Welt sandte, damit wir durch Seinen Tod lebendig gemacht und der göttlichen Gerechtigkeit teilhaftig werden möchten; Gott allein, der es sich vorgenommen hatte, den unreinen, gottlosen Sünder in Seine Herrlichkeit einzuführen, und der nun Seines eingeborenen Sohnes nicht schonte, sondern Seinen gerechten Zorn wider die Sünde über Ihn ergehen ließ — Er allein kann diese Tiefen ergründen, diese Höhen ausmessen. Er hat Gericht gehalten nach dem Maße Seiner göttlichen Majestät und Heiligkeit, und Jesus hat dieses Gericht freiwillig, in Gnaden, für uns erduldet. Und nun stehen wir, Seine Geliebten, die wir durch Seine Gnade und Liebe geglaubt haben, vor Ihm als Zeugen dieser Liebe und rufen: „Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in Seinem Blute.“

Ja, es ist geschehen, das große Werk ist vollbracht. Er hat ein für allemal unsere Sünden auf das Fluchholz getragen und sie ein für allemal vollkommen gesühnt. O welch ein Jesus ist Er! Welch eine Liebe ist Seine Liebe! Sollte nicht, so fragen wir mit Recht, unser Herz für Ihn allein schlagen, unser ganzes Herz Ihm gehören? Sollte es nicht bei Erwähnung dieses köstlichen Namens von Dank und Anbetung überströmen? Ja, Er ist es, der uns zu dem Vater gebracht, der uns zu Königen und Priestern gemacht hat. Wir dürfen Gott nahen und Ihm dienen im Heiligtum, und durch Jesum, in dem seligen Bewusstsein der Liebe, die der Vater geoffenbart hat in der Dahingabe Seines Sohnes, „Abba, Vater!“ rufen. „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi!“ so klingt es wieder und wieder aus einem Herzen heraus, welches in Christo Gott nahe gebracht worden ist. Das sind die Gefühle, welche der Geist Gottes bei Erwähnung des Namens Jesu in den Herzen der Gläubigen hervorruft.

Doch wenden wir uns zu unserem Text selbst. Nachdem der Herr Seinen Engel gesandt hat, um Seinen Knechten mitzuteilen was bald geschehen muss, tritt Er am Ende des Buches noch einmal unmittelbar vor die Seinigen mit den Worten: „Ich, Jesus!“ - Er zählt nicht Seine Titel auf, sondern nennt sich nur mit dem einen kostbaren Namen, der dem Ohr und Herzen Seiner Geliebten so wohlbekannt, so innig vertraut ist: Jesus. — „Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, euch diese Dinge zu bezeugen in den Versammlungen. Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids“. Das ist unser Jesus. Es ist dies die einzige Stelle in dem Buche der Offenbarung, wo wir uns wirklich in unserer christlichen Stellung befinden. „Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, euch diese Dinge zu bezeugen in den Versammlungen. . . . Ich bin der glänzende Morgenstern“ Der Morgenstern — das ist die Hoffnung der Versammlung, der Braut Christi! Ihn zu schauen ist ihre selige Erwartung. Und Er ist der Mann, der diese Dinge bezeugt, der sie versteht und in dessen Herzen sie sind; ja, es ist Seine Stimme, die wir hören, die Stimme Dessen, der alles, alles für uns ist. Ist es zu verwundern, dass diese Stimme sofort eine frohlockende Antwort in dem Herzen der Braut erweckt? „Der Geist und die Braut rufen: Komm!“ Ja, die Braut hat das Bewusstsein ihrer herrlichen Stellung, sie weiß, was sie Ihm verdankt, was Er für sie ist, und auch was sie für Sein Herz ist. Sie kennt das Verhältnis der Liebe, in welchem sie zu Ihm steht, zu Jesu, ihrem Herrn. Er ist die Wurzel und das Geschlecht Davids, eine wunderbare, geheimnisvolle Person· Er ist der Erbe aller Verheißungen Davids, der da bald kommen wird in Macht und Herrlichkeit, um Sein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens hienieden aufzurichten. Und Er ist zugleich Gott, der Jehova des Alten Testaments, der Spender aller Segnungen, der Schöpfer aller Dinge, die Wurzel Davids, der König der Gerechtigkeit, vor dem sich jedes Knie beugen wird zur Verherrlichung Gottes, des Vaters. Er ist der Sohn und doch zugleich auch der Herr Davids. (Ps. 110; Matth. 22, 41 -— 45). Und dieser wunderbare, erhabene Herr ist „der glänzende Morgenstern“! Das Herz der Braut kommt in Bewegung bei dieser Ankündigung, und sie ruft: „Komm, komm, Herr Jesu!“ Er sagt kein Wort von Seinem Kommen; aber kaum wird Seines Namens Erwähnung getan, so werden die innigsten und tiefsten Gefühle der Zuneigung wach, und mit Inbrunst des Herzens ruft die Braut: Komm, o komm, Herr Jesu! Wie lieblich, aber auch wie natürlich ist das! Es könnte gar nicht anders sein.

Es ist sehr bemerkenswert, dass am Ende dieses heiligen Buches, des Buches der Gerichte, alle Erlösten, alle die Jesus geliebt und für die Er sich hingegeben hat, in ihrer herrlichen, königlichen Stellung, als die Braut, vor uns erscheinen. Es ist, wie wenn der Herr dieses Buch, und damit die ganze göttliche Offenbarung, nicht beschließen könnte, ohne vorher noch einmal das, was Seinem Herzen am teuersten ist, vor Aller Blicke zu stellen und sich an dem Anblick Seiner geliebten Braut zu weiden. Sie ist Sein Eigentum, zu Seiner Ehre und Anbetung geschaffen. Seine Absicht war, wie wir im Epheserbrief lesen, die Versammlung sich selbst verherrlicht darzustellen, ohne Flecken und Runzel· oder etwas dergleichen. Und was uns betrifft, so kann, wenn wir Seine Liebe kennen und von Seiner Gnade ergriffen worden sind, nichts anderes als Seine Ankunft unser Herz befriedigen. Ihn zu schauen, zu Ihm aufgenommen zu werden, um allezeit bei Ihm zu sein, das ist das Sehnen eines Herzens, welches Ihn liebt.

Alle Gläubigen sind, nachdem der Vater durch die Dahingabe Seines Sohnes vollkommen verherrlicht worden ist, und Er eine ewige Erlösung erfunden hat, nach der Rückkehr des Sohnes in die Herrlichkeit mit dem Heiligen Geiste getauft worden. Er ist hienieden als der Stellvertreter Christi. Er ist der „andere Sachwalter“, der Geist der Wahrheit, welcher bei uns und in uns ist. Wir sind nicht allein gelassen, nicht verwaist. Wir fühlen die Gegenwart unseres Herrn, obwohl wir Ihn noch nicht geschaut haben. Wir besitzen eine göttliche Gewissheit von Seiner vollkommenen Liebe, haben das ewige Leben und wissen, dass wir Sein sind für alle Ewigkeit. Der Heilige Geist, der in uns wohnt, bezeugt uns diese Dinge, gibt uns das Bewusstsein und die Erkenntnis davon; Er ist gleichsam das Bindeglied zwischen uns und dem verherrlichten Bräutigam. So rufen denn auch der Geist und die Braut: Komm! Wir sind hier dargestellt als die Wartenden, und Jesus ist der kommende, glänzende Morgenstern, der vor dem Anbruch des Tages des Gerichts ausgehen wird. Der Morgenstern kommt! Bald werden wir Ihn sehen! Unser Auge wird nach langem Warten Ihn schauen, und wir werden zu Ihm hingerückt werden, und allezeit bei Ihm zu sein.

O möchten —unser aller Herzen in dem Bewusstsein, was Er für uns ist, Ihm entgegenschlagen und rufen: Komm, Herr Jesu! Die Braut hat hier nichts anderes als Jesum; sie kennt nichts anderes und hat auch keinen anderen Wunsch, als Ihn zu haben, Ihn, den geliebten Herrn. Sie steht da, auf Ihn wartend und sich sehnend nach dem Augenblick, da sie Ihm entgegengerückt werden wird. Ach, meine lieben Freunde, was für ein Augenblick wird das sein! Es ist das Erste, das wir zu erwarten haben; und welch eine Freude, welch eine glückselige Hoffnung ist es! Allerdings gibt es manche Kinder Gottes, die nur mit Furcht an die Ankunft Jesu denken, sei es aus Mangel an Erkenntnis, oder weil sie nicht vollendet sind in der Liebe (1. Joh. 4, 18), oder, und das ist der schlimmste Fall, infolge persönlicher Untreue. Aber was auch die Ursache der Furcht sein möge: wer den Ruf der Braut hört, wer ihm Gehör schenkt, der spreche gleichfalls: Komm! Fort mit allem, was dich hindern will, so zu rufen! Wer an Jesum glaubt, der am Kreuzesstamm gestorben ist, um unsere Sünden hinwegzutun, hat ewiges Leben, ist gerechtfertigt und sollte von Herzen mit einstimmen in den Ruf: Komm, Herr Jesu! Der Herr ist nahe; wir stehen an der Schwelle! Die Tür kann sich jeden Augenblick austun. Dann werden wir Ihn sehen wie Er ist, und mit Ihm eingehen ins Vaterhaus.

Bist du aber noch nicht errettet, o so komm doch heute noch zu Jesu! Warte nicht länger! Es heißt hier: „Wen da dürstet, der komme!“ Der Weg ist gebahnt, der Gnadenstuhl ausgerichtet: das Blut Jesu Christi ist in der Gegenwart Gottes. Jesus öffnet dir Seine Liebesarme, Er, der Sein Leben für dich dahingegeben hat und der Urheber eines ewigen Heils für uns geworden ist. Er ruft dich: Komm! Heute ist der Tag des Heils, heute die angenehme Zeit. Wen da dürstet, der komme und nehme das Wasser des Lebens umsonst! Die Gläubigen können dir nichts geben. Auch sie waren einst alle ohne Frieden, verloren und fern von Gott; aber als sie zu Jesu kamen, fanden sie Ströme lebendigen Wassers für sie bereit. Jesus ist noch immer derselbe. Er ruft noch wie einst: „Wenn jemanden dürstet, so komme er zu mir und trinke!“ (Joh. 7, 37.) Und alles ist umsonst! Alles, alles wird dem glaubenden Sünder aus freier Gnade geschenkt. Jesus hat das Werk vollbracht, und aus diesem Werke fließt gleichsam der Strom der errettenden Gnade Gottes für jeden verlorenen Sünder hervor. O möchte der Ruf gehört werden! Möchten wir alle dastehen als die Gegenstände Seiner Liebe, aus Ihn harren und mit seliger Freude die Antwort aus Seinem Munde vernehmen: „Der diese Dinge bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald!“ Die Braut, glücklich in Seiner Liebe, frohlockt bei dem Gedanken: Er kommt! Nur noch eine kleine Weile, und der Kommende wird kommen und nicht verziehen. Dann werden wir Ihm ewig danken und „nie mehr hinausgehen“ (Offbg. 3, 12).

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Das Werk der Gnade für uns und in uns

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 309ff

„Alsdann werden zwei Räuber mit Ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. Die Vorübergehenden aber lästerten Ihn, indem sie ihre Köpfe schüttelten und sagten: Der du den Tempel abbrichst und in drei Tagen ausbauest, rette dich selbst. Wenn du Gottes Sohn bist, so steige herab vom Kreuze. Gleicherweise aber spotteten auch die Hohenpriester samt den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andere hat Er gerettet, sich selbst kann Er nicht retten. Er ist Israels König; so steige Er jetzt vom Kreuze herab, und wir wollen an Ihn glauben. Er vertraute auf Gott, der rette Ihn jetzt, wenn Er Ihn begehrt; denn Er sagte: Ich bin Gottes Sohn. — Auf dieselbe Weise schmähten Ihn auch die Räuber, die mit Ihm gekreuzigt waren“ (Matth. 27, 38 - 44).

„Einer aber der gehenkten Übeltäter lästerte Ihn und sagte: Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns! Der andere aber antwortete und strafte ihn und sprach: Auch du fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist? und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen was unsere Taten wert sind; dieser

aber hat nichts Ungeziemendes getan. Und er sprach zu Jesu: Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem

Reiche kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“ (Luk. 23, 39 — 43).

Der Heiland, der Sohn des Menschen, hing sterbend am Kreuze; Er, der Gerechte, stand an dem Platze der Ungerechten, indem Er unsere Sünden an Seinem eigenen Leibe auf das Holz trug. Das war Sein großes Werk für uns. Aber als von den beiden Übeltätern, zwischen welchen Er gekreuzigt wurde und die Ihn beide geschmäht hatten, der eine bekehrt wurde, da offenbarte sich ein Werk der Gnade in jenem Manne.

Das Werk der Gnade für uns und das Werk der Gnade in uns sind nicht ein und dasselbe, ebenso wenig wie der Tod Christi für den Räuber und die Umwandlung im Innern desselben, vermittelst deren er aufhörte, ein Lästerer zu sein, und anfing, Jesum zu bekennen. Das erstere Werk liegt völlig außer uns und ist durch Christum geschehen; das letztere dagegen geschieht in uns, obwohl es dort auch durch die Gnade gewirkt wird.

Indem ich einigen Gedanken über diesen wichtigen Gegenstand hier Ausdruck zu geben wünsche, möchte ich zunächst die Frage berühren: Was ist es, das Gott und den Sünder hindert, einander zu begegnen und zusammen zu sein? Wohl weiß ich, dass die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist wider Gott; der Wille des Sünders ist Gott entgegen, die Neigungen seines Herzens halten ihn von Gott fern, und ohne Zweifel würde er, wenn er in das Licht der Gegenwart Gottes träte, bald genug die Entdeckung machen, dass dieses Licht alle Sünden des Geschöpfes schonungslos aufdeckt. Dennoch aber liegt die eigentliche Schwierigkeit nicht in dem Geschöpf, so versunken, gottentfremdet und verfinstert dasselbe auch sein mag und wie unpassend es für die Heiligkeit und Majestät Gottes auch ist. Nein, eine andere, weit höhere und wichtigere Frage war zu ordnen, nämlich diese: Wie kann Gott in Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit einem Sünder begegnen, welcher durch seine Sünde Ihn verunehrt hat? Sünde ist eine Beleidigung Gottes, eine Beleidigung Seiner Majestät und Seines Wesens; und die Seele, welche ins Licht Gottes kommt, lernt das erkennen.

Soweit es Gott angeht, kann das Werk der Gnade in uns niemals von dem Werke der Gnade für uns getrennt werden. Schon seit dem Tage des Falles des Menschen und seiner Ausstoßung aus dem Paradiese hat Gott in dem Menschen gewirkt, aber immer nur auf Grund des Werkes, welches Er für ihn zu tun gedachte. Und indem Er so in dem Menschen wirkte, hat Er stets dem Verständnis desselben irgendeinen Gegenstand dargeboten, in welchem das Werk für den Menschen vorbildlich dargestellt wurde. Das von Abel dargebrachte Opfer, die Opfer, welche die Patriarchen schlachteten, die mit der Stiftshütte oder später mit dem Tempel in Verbindung stehenden Opfer etc., alle diese Dinge deuteten vorwärts auf das Werk, welches Christus für uns vollbringen wollte — ein Werk, auf Grund dessen allein Gott gerecht sein konnte, wenn Er den Sünder rechtfertigte, und welches allein das Gewissen eines Sünders in der Gegenwart des heiligen Gottes zufrieden zu stellen vermag. Doch das Werk in dem Menschen ging in allen diesen Fällen dem Werke für den Menschen voraus. Auf Golgatha gab der Sohn

des Menschen sich selbst als Lösegeld für uns dahin. Von dieser Zeit an ist dem Werke der Gnade für uns nichts hinzugefügt worden; es ist nichts Neues hinzugetreten seit dem Augenblick, da Christus „durch ein Opfer auf immerdar vollkommen gemacht hat die geheiligt werden“. Aber obwohl das Werk für den Menschen völlig abgeschlossen ist, so ist doch das Werk der Gnade in dem Menschen jetzt ebenso notwendig, wie ehemals. Dass es in dem Menschen durch den Heiligen Geist gewirkt wird, und zwar mittelst des Glaubens an das für den Menschen vollbrachte Werk, ist wahr; aber es muss in dem Menschen gewirkt werden, oder der Mensch ist verloren.

Die Eigentümlichkeit der Bekehrung des Räubers am Kreuze besteht darin, dass in seinem Falle die Gnade in einem Menschen wirkte, (um sein Herz für Christum zu öffnen,) gerade in dem Augenblick, als Christus im Begriff stand, für den Menschen das Werk zu vollbringen, ohne welches weder für Gott der Weg geöffnet gewesen wäre, den Menschen zu segnen, noch für den Menschen, des Segens Gottes teilhaftig zu werden.

Aus diesem Grunde wird der Unterschied zwischen den beiden Seiten des Werkes der Gnade umso deutlicher erkannt, und es mag dem Leser behilflich sein, einzusehen, dass diese beiden Dinge nie miteinander verwechselt werden dürfen, ja, dass es ganz und gar unmöglich ist, das eine an die Stelle des anderen zu bringen oder das eine durch das andere zu ersetzen.

Die menschliche Gerechtigkeit hatte die beiden Räuber ihrer Missetaten wegen zu dem schrecklichen Kreuzestode verurteilt. Am Fluchholze hängend, sahen sie sich umringt von einer Menge, die an dieser Stelle zusammengekommen war, um den sterbenden Heiland zu schmähen und zu lüstern. Die Räuber hörten diese Schmähungen und nahmen teil daran, wie wir lesen: „Auf dieselbe Weise schmähten ihn aber auch die Räuber, die mit Ihm gekreuzigt waren“. Doch plötzlich trat bei einem von ihnen ein Wechsel ein. Es wurde licht in seiner finsteren Seele; das Licht des Lebens ging in ihm auf.

Gott hatte Seinen rechtmäßigen Platz, in der Seele dieses Menschen bekommen. Die Wirkung war unmittelbar; denn, siehe da! er straft seinen Genossen sofort mit den Worten: „Auch du fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist? und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan“. Wenn das Licht des Herrn das Herz eines Menschen durchleuchtet, so kann es nicht ausbleiben, dass es ihm die Sünde zeigt, die in ihm ist. Es muss so sein, denn Gerechtigkeit und Heiligkeit sind untrennbar von dem Lichte Gottes, und der Mensch ist unheilig. Das Licht deckt das Unheilige auf und lässt es den Menschen erkennen. Nachdem sich diese Wirkung des Lichtes im Herzen des Räubers geoffenbart hat, kommt indes noch ein anderes Gefühl bei ihm zum Ausdruck. Er erkennt, dass die Sünde unzertrennlich mit ihm verbunden ist; aber obschon er das weiß, sucht er sie doch ohne Zögern und mit aller Entschiedenheit niederzuhalten. Er straft seinen Genossen wegen derselben Sache, die er kurz vorher selbst getan, und von welcher er eben erst Abstand

genommen hatte. Das Tun dieses Mannes war nach menschlichem Urteil ungereimt. Widersprach er nicht sich selbst? Ganz recht. Wenn aber das Gewissen einmal in die Gegenwart Gottes kommt und das Licht des Lebens empfängt, so handelt es in einer Weise, die mit menschlichen Gedanken über Folgerichtigkeit und zielbewusstes Handeln völlig unvereinbar ist. Der Räuber handelte als Mensch ganz ungereimt, aber als Gläubiger durchaus folgerichtig. Diese erste Furcht vor der Sünde und dieser Hass gegen die Sünde ist sehr ausfallend; sie veranlasst uns, unseren Mund in den Staub zu legen und die Sünde in uns, d. h. gerade das, worin wir bis dahin unser Wesen hatten, zu verdammen. Aber es ist ein gesegneter Instinkt, ein Trieb des neuen Lebens, des göttlichen Lebens in einer Seele, welcher sie zwingt, die Sünde zu verurteilen, weil sie eben hassenswürdig ist. Dieses wahre, tiefe Gefühl über das, was die Sünde ist, ist sehr verschieden von der Furcht vor den Folgen der Sünde. Die Furcht vor den Folgen der Sünde und der Tatsünden mag die Seele beunruhigen und erschrecken und sie antreiben, nach einem Erretter zu fragen. Aber wenn das Licht des Lebens in lebendig machender Kraft in die Seele scheint, so vollzieht sich eine Scheidung zwischen der Seele und der Sünde selbst: eine ganz und gar neue Beurteilung dessen, was die Sünde ist, gibt sich in der Seele kund: „Auch du fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist? und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan.“

Wie vollkommen ist dieses Sündenbekenntnis, sowohl im Ganzen als auch in seinen einzelnen Teilen! Welch ein Abstehen von aller menschlichen Gerechtigkeit, welch ein Aufgeben jeder Entschuldigung und Beschönigung! „Wir zwar mit Recht, denn wir empfangen was unsere Taten wert sind.“

Ja, das Licht, welches in seine Seele leuchtete, war nicht unbestimmt und undeutlich, sondern klar und bestimmt: er sah in diesem Lichte den Gegensatz zwischen dem Christus Gottes und sich selbst: „Dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan“. Er selbst und Christus standen vor seinem Gewissen, und der eine wurde mit dem anderen verglichen. Seine Sprache war die Sprache des Glaubens; wie wenig Verständnis er auch haben mochte, so gab er doch in der Stunde, da der Herr von allen verlassen war, eine Beschreibung von Ihm, welche Gott nur in Bezug auf Christum als wahr anerkennen kann. „Dieser hat nichts Ungeziemendes getan“, so wird es dereinst laut in der Herrlichkeit verkündigt werden, als wahr von Christo allein; und wir alle, die wir dort sein werden, werden diese eindrucksvolle Beschreibung als allein aus Ihn passend erkennen und anerkennen. Ja, in dem ganzen Geschlecht Adams, vom Garten Eben bis zu dem großen weißen Throne, gibt es nicht einen, außer dem Samen des Weibes, von welchem in Wahrheit gesagt werden könnte: „Dieser hat nichts Ungeziemendes getan“.

Gott, die Sünde, seine eigene Person, ferner der Mann, der der Genosse Jehovas ist —- alles das waren

neue Erfahrungsgegenstünde für die Seele des bußfertigen Räubers; aber nicht nur das, sie brachten auch ans Licht, dass er ein neues Leben empfangen hatte und in eine Welt des Lichtes versetzt worden war, wo die Dinge genau so gesehen werden, wie sie wirklich sind. Aber sein Glaube ging noch weiter; er erkannte nicht nur die persönliche Ausnahmestellung des Sündlosen, der an seiner Seite hing, sondern auch, dass in Ihm ein Herz war, auf welches er, trotz des großen Gegensatzes zwischen Christo und ihm selbst, alle seine Sorgen werfen konnte. „Herr, gedenke meiner, wenn du in deinem Reiche kommst!“ so ruft er voll Vertrauen. Die zukünftigen Herrlichkeiten, das Königtum und die Majestät des Herrn drängten sich seiner Seele mit unwiderstehlicher Gewalt auf, unrein und sündig wie er war; aber zugleich erkannte er, dass in diesem Einen allein Ruhe zu finden sei, dass in Jesu die einzige Hoffnung für ihn beruhe. Das ist gleichfalls ein Trieb der neuen Natur. Sie sieht und erkennt an den Gegensatz zwischen dem, was Christus ist und was wir sind, aber sie klammert sich an Ihn trotz des eigenen elenden Zustandes und trotz, Seiner Herrlichkeit — ja, sie klammert sich an Ihn als das einzige, allgenugsame, völlige Heil des Sünders.

Nun, wenn wir wirklich gnadenerfüllte Gefäße sind, so dürfen wir versichert sein, dass in uns ein ähnliches

Werk vorgegangen ist wie einst in dem sterbenden Räuber; und wir sollten fähig sein, von ihm als einem Werke des Herrn in uns zu erzählen. Denn dieses Werk versetzt auch uns gerade dahin, wohin des Herrn Werk in dem Räuber jenen versetzte, nämlich in die Stellung des Wartens auf den Herrn, in eine Stellung, in welcher Er uns einige der überschwänglichen Reichtümer Seiner Gnade zu zeigen vermag, gerade so wie Er es tat in Seiner Antwort an den Räuber. Der Räuber bat, dass der Herr seiner in dem kommenden Reiche gedenken möge; und Jesus antwortete: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein“.

Christus hatte Seinen rechtmäßigen Platz, in der Seele dieses armen Sünders gefunden, darüber konnte kein Zweifel bestehen, und dieser Platz war Sein von dem Augenblick an, da das harte, steinere Herz zerbrochen und geschmolzen war. Aber das, was der Räuber in seiner eigenen Seele erfuhr, das gesegnete Werk, welches Gott in der Seele des armen Mannes vollführte, indem Er sie für die Gnade empfänglich machte, konnte in dem Himmel nicht den Platz des Blutes des Lammes einnehmen. Es konnte weder Gott rechtfertigen in Seiner Rechtfertigung eines Räubers, noch dem Räuber Klarheit darüber geben, was seine Rechtfertigung vor Gott, in dem Lichte, war. Dafür musste eine andere Grundlage geschaffen werden, denn „ohne Blutvergießung ist keine Vergebung“. Christus hat deshalb Sein Blut vergossen und Sein Leben dahingegeben, der Gerechte für die Ungerechten. Und ob jener arme Räuber oder irgend ein anderer Sünder je errettet worden wäre oder nicht, — nachdem Christus aus den Toten auferstanden und in den Himmel eingegangen ist, ist der Weg völlig geoffenbart, auf welchem Gott jetzt Freiheit hat, den Schlechtesten der Schlechten, den Unreinsten der Unreinen zu segnen, und in welchem der schmutzigste Sünder, sobald er ihn betritt, den Weg findet, auf dem er in Frieden Gott nahen kann.

Wenn auch niemand auf der ganzen Erde nach diesem „neuen und lebendigen Wege“ fragen sollte, so ist dennoch ein neuer und lebendiger Weg da; und er steht offen, offen für den Menschen, um auf ihm Gott zu nahen, selbst bis in das Allerheiligste droben im Himmel.

Das Werk der Gnade in uns kann also nicht an die Stelle des Werkes der Gnade für uns gesetzt werden;

das Werk der Gnade in mir kann Gottes Heiligkeit nicht befriedigen, so dass es Ihn rechtfertigte, wenn Er mir, dem unreinen, verdammungswürdigen Sünder, in Gnaden begegnet. Ja, mehr noch; da das Werk, welches Gott in mir tut, ein Werk der Gnade ist, so ist es offenbar, dass Gott mir schon in Gnaden und zu meinen Gunsten entgegengekommen sein muss, ehe jenes Werk in mir überhaupt getan wurde. Überdies enthält es aus demselben Grunde keine Antwort für mein Gewissen, sobald dieses in die Gegenwart Gottes kommt, — nichts, was mir ein vollkommenes Gewissen in jenem durchdringenden Lichte geben könnte.

Gott hat ein Recht, ohne Zustimmung des Menschen, ja, trotz des Menschen, zu handeln. Niemand kann zu Ihm sagen: „Was tust du?“ Aber dann hat Er einen Ihm eigenen Charakter, den Er nie verleugnen wird. Und wenn Er begnadigt, wen Er begnadigen will, und sich erbarmt, wessen Er sich erbarmen will, so tut Er es in einer Weise, die Seine Gerechtigkeit und Heiligkeit durchaus befriedigt, in einer Weise, welche das Gewissen im Menschen erhebt, indem sie demselben völlige Freiheit und Freimütigkeit gibt, Gott im Lichte zu nahen.

Viele mögen gegen die Rechtfertigung aus Glauben allein streiten; aber sie dürfen sich darauf verlassen, dass, wenn sie je einmal in dasselbe Licht des Lebens kommen, in welchem der arme Räuber sich sah, sie bald erkennen werden, einerseits wie elend sie sind, und andererseits welch eine herrliche, anziehende Schönheit den Christus umgibt, welcher das einzige Heil der Seele ist.

Viele mögen den Glauben in ein eigenes Wirken verkehren, aber sie werden erfahren, dass der Geist sie des Unglaubens überführt, und dass es keine Ruhe für sie gibt, als nur in dem Herrn selbst und in Seinem Werke, welches Er für arme Sünder vollbracht hat.

Seit dem großen Pfingsttage, an welchem der Heilige Geist herniederkam, dreht sich das Zeugnis Gottes immer um dieses Werk selbst und legt dar, wie der Himmel durch dasselbe geöffnet wurde, um den Heiligen Geist herniederzulassen und andererseits den Menschen mittelst des Glaubens Gott nahe zu bringen.

Sobald das Zeugnis Gottes angenommen wird, wie z. B. in Bezug aus Christum als den neuen und lebendigen Weg (vergl. Hebr. 10), findet die Seele ihre Sicherheit darin, dass sie aus dem Werke Christi selbst, das ihr so dargestellt worden ist, ruht, nicht aber in ihren eigenen Gefühlen, Gedanken oder Erfahrungen. So hat es Gott gefallen, die Sache zu ordnen. Das ins Herz scheinende Licht bringt sein eignes Zeugnis mit sich. Es versetzt mich in die Gegenwart Gottes. Ich erblicke Ihn auf Seinem Throne im Himmel, wohin Er Christum versetzt hat, welcher unsere Sünden an Seinem eigenen Leibe auf das Holz trug, um so der neue und lebendige Weg zu werden, auf welchem einerseits der Segen von Gott zu dem Menschen herabströmen und andererseits der Mensch droben Gott nahen kann.

Der Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi hat sich geoffenbart als der Gott, welcher sich ein Lamm vorgesehen hat, um Seine Gnade und Sein Erbarmen gegen alle erweisen zu können, indem der Himmel über ihnen geöffnet ist.

Dass das menschliche Herz so böse und verfinstert ist, dass es solche Dinge von Gott nicht glauben kann und will, ist leider wahr; und gerade darin zeigt sich die ganze Schrecklichkeit des Zustandes des Menschen. Er muss Gott begegnen, und doch hasst er Ihn und liebt es, harte Gedanken über Ihn zu nähren. Sobald aber das Licht des Lebens in das Herz fällt, erweist es sich als solches. Es zeugt für und von sich selbst. Sein Eindringen mag zuerst nicht verstanden werden, aber es wird sich als ein Zeugnis von dem Schauplatz erweisen, woher es kommt, sowie von den Gegenständen, die dort sind, und man wird finden, dass es das Licht des Lebens ist.

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Fürwahr Gott ist Israel gut

Bibelstelle: Psalm 73

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 320ff

Die mancherlei Erfahrungen, welche die Gläubigen im Alten Bunde machten, hat Gott uns in Seinem Worte aufbewahrt, damit sie zu unserer Belehrung und Warnung dienen möchten. Eine solche Erfahrung finden wir auch in dem 73. Psalm. Asaph, der Sänger, von dem wir eine Reihe der schönsten Psalmen besitzen, teilt uns mit, was in seinem Herzen vorgegangen, wie er fast ausgeglitten war, und wie Gott in Seiner großen Gnade ihn wieder zurechtgebracht hatte. Asaph hatte seinen Blick auf das gerichtet, was um ihn her vorging, und da hatte er gesehen, dass die Gesetzlosen, die nach ihren eigenen Lüsten wandelten und Gott verachteten, Gedeihen und Wohlfahrt hatten, während er, der sich doch von dem Bösen fernhielt und Gott diente, jeden Tag die Züchtigung Gottes erfuhr. Das war für ihn etwas so Unbegreifliches, dass er in jenen Zustand kam, dem er mit den Worten Ausdruck gibt: „Wenig fehlte, so wären meine Füße abgewichen, um nichts wären ausgeglitten meine Schritte“ (V. 2). Er konnte die Handlungsweise Gottes nicht begreifen; so viel er auch darüber nachdachte, fand er doch keine Erklärung dafür. Er kam ganz und gar in Verwirrung, so dass schließlich sein Herz sich erbitterte und er die Gesetzlosen wegen ihres Wohlergehens beneidete.

Bei einem Gläubigen des Alten Testamentes kann uns dies. nicht so sehr Wunder nehmen, weil diese Gläubigen irdische Verheißungen besaßen, und weil selbst das Gesetz denen, die in Gottes Wegen wandeln würden, große irdische Segnungen als einen Beweis der Gunst Gottes verhieß. (Lies z. B. Mose 28, 1 — 14). Das war auch der Grund, weshalb die drei Freunde Hiobs das Tun Gottes mit Hiob gar nicht verstehen konnten. Sie meinten, wenn Hiob die Gebote Gottes beobachtet hätte, so würde dies unbedingt äußeres Wohlergehen zur Folge gehabt haben, und deshalb wollten sie Hiob zu dem Bekenntnis zwingen, dass er gesündigt und die Gebote Gottes übertreten habe. Sie verstanden nicht, dass Gott nur das Beste Seines treuen Knechtes im Auge hatte, dass Er durch diese großen Trübsale ihm eine verborgene Wurzel in seinem Herzen, die Eigengerechtigkeit, ausdecken wollte, um ihn hernach umso mehr segnen zu können.

Die Gläubigen des Neuen Testamentes besitzen keine irdischen Verheißungen; ihnen ist vielmehr gesagt, dass sie durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen müssen. Dennoch können auch ihnen solche Erfahrungen, wie Asaph sie machte, leicht zu einem Herzensanstoß werden. Wenn unser Blick nach unten gerichtet ist, auf unseren Weg, auf unsere Umgebung und auf alles das, was unter der Sonne geschieht, so begegnen wir vielen, vielen Rätseln, die wir nicht lösen können. Ein dichter Schleier liegt über so manchen Wegen Gottes mit den Seinen; ganz und gar unverständlich ist uns oft Sein Tun. Da wird z. B. eine rüstige, gottesfürchtige Mutter unerwartet aus einem großen Familienkreise, in welchem sie nach unseren Gedanken ganz unentbehrlich war, herausgerissen, während ein gebrechlicher Greis, der sich selbst und Anderen zur Last ist und sich darnach sehnt, heimgehen zu können, am Leben bleibt. Aber nicht nur das; oft sehen wir auch, wie Asaph, dass es dem Gottlosen gut geht, dass seine Unternehmungen gelingen, dass er beständig sein Vermögen vermehrt und in Ruhe und äußerem Glück lebt, während der Gerechte vielleicht in Armut und Krankheit, in Kummer und Elend seine Tage zubringt. Was für Rätsel! Unwillkürlich drängt sich da die Frage über die Lippen: Wo bleibt hier die Regierung Gottes? Ja, wenn wir über diese Dinge nachsinnen, ohne unser Auge nach oben zu richten, so verstehen wir sehr wohl den missmutigen Ausruf Asaphs: „Fürwahr, vergebens habe ich mein Herz gereinigt und in Unschuld gewaschen meine Hände“. Mit anderen Worten: Was nützt es mir, in Frömmigkeit zu wandeln und mich vom Bösen fernzuhalten, wenn doch die Gottlosen gedeihen, während ich beständig geplagt werde?

Doch bei alledem war Lauterkeit und Gewissenhaftigkeit in dem Herzen unseres Psalmisten, so dass er nicht in die stolzen, sündhaften Reden der Gesetzlosen mit einstimmen konnte. Er fühlte wohl, dass er dann dem Geschlecht der Söhne Gottes hätte treulos werden müssen; und das vermochte er nicht, davon hielt ihn die Furcht Gottes zurück. In welch einem unglücklichen Zustand befand er sich doch! Er hatte vergessen, nach oben zu schauen und in dem Herrn seine Freude zu finden. Er suchte sein Teil hienieden, fand es nicht und beneidete nun die Gottlosen um ihr irdisches Glück; und doch ließ sein Gewissen nicht zu, dass er sich mit ihnen eins machte und an den Freuden der Welt teilnahm.

Kann es nicht auch uns so ergehen, geliebter Leser? Ja, ist es uns nicht mehr oder weniger schon so ergangen, dass die Freude am Herrn nicht mehr von uns genossen wurde, weil unser Herz nach irdischem Wohlergehen trachtete, und nur noch das Gewissen und die Furcht Gottes uns vor dem Ausgleiten bewahrten? Und wenn Gott dann in Seiner Weisheit und Liebe uns die ersehnte irdische Wohlfahrt vorenthielt und uns statt dessen durch Schwierigkeiten und Leiden führte, ist da nicht unser Herz oft tief unglücklich gewesen, indem wir die Wege Gottes nicht verstanden und selbst über Seine Führungen murrten?

Welch ein Glück für uns, dass der Herr die Seinen nie aus dem Auge verliert! Er gedachte auch an Seinen

Knecht Asaph und überließ ihn nicht den Vernunftschlüssen seines Herzens. Er führte ihn in das Heiligtum; und dort, in der Gegenwart Gottes, sah Asaph die Wege Gottes in einem ganz anderen Lichte. Bis dahin war sein Blick nur auf die Gegenwart und auf das Sichtbare gerichtet gewesen; jetzt aber lenkte Gott seine Gedanken auf die Zukunft und auf die ewigen, himmlischen Dinge. Über die gegenwärtige Zeit hinwegschauend, sah er das End e von allem, und das veränderte mit einemmale alles. Es machte ihn nicht nur ruhig und mit seinem Lose zufrieden, sondern rief auch Demütigung und darauf folgend Lob und Dank in seiner Seele hervor.

Im 77. Psalm sagt derselbe Asaph: „Im Meere ist dein Weg, und deine Pfade in großen Wassern, und deine Fußstapfen sind nicht bekannt“. Das Wie und Warum dessen, was auf Erden geschieht, teilt Gott uns nicht mit. „Sein Weg ist im Meere“, vor uns verborgen. „Überall Sein Tun gibt Er keine Antwort“ (Hiob 33, 13). Warum uns dieses oder jenes Leid trifft, warum dieser oder jener Kummer über uns kommt, wird uns hienieden höchst selten kundgetan. Wir müssen uns hier oft an dem Worte genügen lassen, welches der Herr zu Petrus sprach, als Er ihm die Füße wusch: „Was ich tue, weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach verstehen«. Es ist heute noch nicht die Zeit für die Auflösung von Rätseln und Geheimnissen. Diese Zeit wird kommen und zwar bald kommen, wenn wir in das vollkommene Licht des Vaterhauses droben eingehen werden. Dann werden wir erkennen, wie wir erkannt worden sind.

In dem soeben angeführten Psalm lesen wir aber auch: „Gott! dein Weg ist im Heiligtum; wer ist ein großer Gott wie Gott?“ Gott weiß, weshalb und zu welchem Zweck Er alles tut. Er kennt das Ende eines jeden Weges von Anfang an. Es geschieht nichts ohne den Willen und die Zulassung Gottes, und Er lässt aus der Trübsal Segen hervorkommen. Ja, alle Dinge müssen denen zum Guten mitwirken, die nach dem Vorsatz Gottes berufen sind; und sicher wird jede bestandene Glaubensprobe einmal, in der Offenbarung Jesu Christi, zum Lobe, zur Herrlichkeit und zur Ehre Gottes beitragen (1. Petr. 1, 7). Dann wird jedes Goldkörnlein des im Feuer der Trübsal erprobten Glaubens hell glänzen zum Preise Dessen, der den Glauben gab und erhielt.

Nicht unter, sondern über der Sonne ist also die Auflösung der Rätsel. Sobald Asaph „in die Heiligtümer Gottes ging“, wurde er geheilt von seiner Niedergeschlagenheit und seinem Neide; denn in diesen Heiligtümern lernte er, dass die Gottlosen, mögen sie es hier auch noch so gut haben, auf einem schlüpfrigen Boden stehen. Plötzlich, ehe sie es ahnen, kommt ihr Verderben: sie werden vom Tode hinweggerafft und nehmen ein Ende mit Schrecken. Wenn Gott zum Gericht aufwacht, wird Er die Gottlosen „wie einen Traum nach dem Erwachen verachten“, und ein ewiges Verderben wird ihr Teil sein.

O wie töricht war Asaph gewesen, dass er die Gottlosen wegen ihrer so schnell vorübergehenden Wohlfahrt beneidet hatte! „Da war ich dumm“, sagt er, „und wusste nichts, ein Tier war ich bei dir.“ Wie ein Tier, welches nach unten blickt und nichts anderes kennt als den augenblicklichen Genuss, so war er gewesen. Ja, wie töricht, das himmlische Teil aus dem Auge zu verlieren und nach den armseligen Gütern dieser Erde zu verlangen; das kostbarste Kleinod, die Freude im Herrn, fahren zu lassen und nach einem trügerischen Erdenglück zu trachten, welches nie das Herz befriedigen kann! Doch Gott war treu geblieben; Er hatte Seinen schwachen, irrenden Knecht bei seiner rechten Hand erfasst und ihn aufgerichtet. Die Augen gingen ihm auf, und er sah die Güte und Treue Gottes, die ihn vor gänzlichem Ausgleiten bewahrt hatten. Indem er sein himmlisches Teil wieder erkannte, kehrte auch das Vertrauen betreffs seines Weges hienieden in sein Herz zurück. Er überlässt sich nun wieder willig der Führung Gottes und ist überzeugt, dass Gott durch Seinen Rat ihn leiten und ihn am Ende zu sich aufnehmen werde.

Dieselbe Gnade, welche Asaph zu teil wurde, leitet und trägt auch uns auf unserem Wege; und wie viel mehr als Asaph haben wir Ursache, dieser Gnade zu vertrauen! Uns hat sich Gott in Seinem geliebten Sohne völlig geoffenbart; wir kennen Jesum als unseren Heiland, und der Geist Gottes wohnt. in uns und redet zu uns von der vor uns liegenden Herrlichkeit. Aber obwohl das alles so ist, bleibt doch auch für uns der einzig sichere Platz das Heiligtum. Wenn wir uns nicht im Heiligtum befinden, so sehen wir jene Dinge nicht; sie sind, obwohl vorhanden und von uns gekannt, keine Wirklichkeit für unser Herz, sie werden nicht von uns genossen. Und dann ist das Herz nicht gewappnet gegen die Stürme des Lebens; dann erscheinen auch uns die Schwierigkeiten des Weges oft so schwer, dass wir ermattend niedersinken und mit den Führungen Gottes unzufrieden sind. Ja, dann können auch wir dahin kommen, wie Asaph, sogar Ungläubige wegen ihres Wohlergehens zu beneiden. Ach, was ist das menschliche Herz! Was ist unser Herz, wie veränderlich, wie vergesslich, wie undankbar! Doch, Gott sei gepriesen! Er bleibt derselbe, reich an Barmherzigkeit und Gnade. „Er kennt unser Gebilde, ist eingedenk, dass wir Staub sind.“ Wenn wir darniederliegen, so kommt Er uns zu Hilfe, indem Er durch Seinen Geist in unseren Herzen wirkt und uns in Seine Gegenwart, ins Heiligtum, führt, um unsere Blicke aufs Neue auf das hinzulenken, was Er für uns ist und für uns getan hat. Er lässt aus der Trübsal Segen hervorkommen, indem Er gerade durch die Leiden unsere Herzen näher zu sich zieht und uns nicht nur Seine Segnungen, sondern sich selbst mehr genießen lässt.

So war es auch mit Asaph. Im Heiligtum sah er nicht nur, welch einen großen Vorzug er vor den Gottlosen

hatte, sondern auch, dass Gott selbst sein Teil war, so dass er nun ausrufen konnte: „Wen habe ich im Himmel?“ Ja, der Gott, der ihn so hoch begnadigt und ihn dazu berufen hatte, im Heiligtum Sein Lob zu besingen, und der sich jetzt wieder in unwandelbarer Güte und Treue an ihm erwiesen hatte, war sein Gott. Und nun lasst uns fragen: Wen haben wir im Himmel? Ist nicht der alImächtige Gott unser Vater? und leitet Er nicht alle unsere Umstände nach Seiner Liebe und Weisheit und zu unserem Besten? Hat Er uns nicht Seine große Liebe bewiesen in der Hingabe Seines geliebten Sohnes? Ist nicht Jesus, unser geliebter Herr, dort, der als Mensch hienieden gewandelt hat inmitten so vieler Leiden und Prüfungen? der in allem versucht worden ist wie wir, ausgenommen die Sünde, so dass Er uns jetzt völlig verstehen und mit uns fühlen kann? Hat Er uns nicht geliebt bis in den Tod und uns durch Sein kostbares Blut von unseren Sünden gereinigt? Hat Er uns nicht aufs innigste mit sich selbst vereinigt und uns droben in Seiner Herrlichkeit einen Platz, bereitet? Könnte Seine Liebe noch größer sein? Wahrlich, wenn wir darüber nachdenken, so werden auch wir voll Anbetung ausrufen: „Wen habe ich im Himmel?“ Nicht die Segnungen des Himmels, so groß und herrlich sie sein mögen, werden dort den eigentlichen Gegenstand unserer Freude bilden, sondern eine Person, der Herr selbst. Was wäre für ein Herz, welches Jesum kennt und liebt, der Himmel ohne Ihn? Was aber sind andererseits für ein solches Herz die eitlen, vergänglichen Dinge dieser Erde? Verlust und Dreck! Wer wirklich Jes1nn kennt und nun tiefere Blicke tut in Seine Liebe und in die Herrlichkeit und Schönheit Seiner Person, wird mit Asaph sagen: „und neben dir habe ich an nichts Lust auf der Erde“; er wird, wie Paulus, „alles für Verlust achten wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, unseres Herrn“.

Einem solchen Gott konnte Asaph völlig und für immer vertrauen. „Vergeht mein Fleisch und mein Herz“, sagt er, „meines Herzens Fels und mein Teil ist Gott auf ewig.“ O welch ein köstliches Teil hat der Gläubige! Der Herr ist für ihn der feste, unerschütterliche Fels, auf den er sich stützen kann, selbst dann wenn Herz und Fleisch vergehen; der Fels, aus welchem für das dürstende Volk auf dem Wege durch die Wüste das Wasser hervorströmte. Gott selbst ist sein Teil, sowohl auf dem Wege hienieden, wie in alle Ewigkeit. Das ist mehr als göttliche Segnungen, so herrlich und begehrenswert dieselben sein mögen. Diesen Unterschied empfunden und genossen auch die Gläubigen des Alten Testamentes. Welch eine Kraft und Freude liegt z. B. in dem Wort, welches David aussprach, als er in der Wüste Juda war: „Gott, du bist mein Gott“! Und wir dürfen nicht nur sagen: mein Gott, sondern können auch hinzufügen: mein Vater. Möchten unsere Herzen dieses köstliche Teil mehr genießen! Doch dazu ist es nötig, sich in der Nähe Gottes aufzuhalten. Das hatte auch Asaph gelernt, und deshalb sagt er: „Gott zu nahen ist mir gut“. So lange er sich fern vom Heiligtum aufgehalten hatte, war er Voll Unruhe gewesen, ja, selbst voll Erbitterung über die Wege Gottes mit ihm. Aber sobald er in die Gegenwart Gottes kam, sah er die Dinge mit ganz anderen Augen an. Da zeigte ihm der Glaube sein herrliches Teil und erfüllte sein Herz einerseits mit völligen! Vertrauen, und andererseits mit Lob und Dank, so dass er sagen konnte: „Ich habe meine Zuversicht auf den Herrn, Jehova, gesetzt, um zu erzählen alle deine Taten“.

Eine Veränderung ist mit Asaph vorgegangen, wie wir sie uns gar nicht größer denken könnten. Ja, man sollte es kaum für möglich halten, dass derselbe Mann, der vorher mit solchem Missmut über die Wege Gottes erfüllt war, jetzt die Taten Gottes rühmt und erzählt. Hatte er denn vorher diese Taten gar nicht gesehen? War er mit völliger Blindheit geschlagen gewesen? Ach! wir fragen so, und nicht mit Unrecht; aber wir brauchen nur unseren eigenen Weg zu betrachten, dann werden wir uns nicht mehr über Asaph verwundern. Sind nicht auch wir schon manches Mal, wenn wir uns aus der Gegenwart Gottes entfernt hatten, nahe daran gewesen, zu straucheln und auszugleiten im Blick auf die Leiden dieser Zeit und aus den Weg, den Gott uns führte“? Haben wir Gott nicht schon oft durch Missmut, Kleinglauben und Unglauben betrübt und verwehrt? Und sind nicht zu anderen Zeiten, wenn wir uns im Heiligtum befanden,

auch unsere Herzen übergeströmt in Lob und Dank gegen Gott, im Blick auf die große Gnade und Liebe, die Er in Christo Jesu gegen uns bewiesen hat? Haben wir nicht auch jubelnd „Seine Taten erzählt“, wenn wir all der Güte und Treue gedachten, die wir auf unserem ganzen Wege erfahren haben? Ja, es kann nicht anders sein; wenn wir uns im Heiligtum befinden, so sind wir glücklich; dort erkennen und genießen wir unser köstliches Teil und sehen alles im Lichte des freundlichen Vaterantlitzes Gottes. Außerhalb des Heiligtums aber ist`s finster: da erblicken wir nur die Schwierigkeiten des Weges, die vielen Rätsel unter der Sonne, wir beginnen zu fragen und zu zweifeln und geraten in Verlegenheit und Verwirrung. Wie nötig ist es deshalb, dass wir uns die Worte Asaphs tief einprägen: „Gott zu nahen ist mir gut“!

Schön ist auch das Ergebnis, welches diese Erfahrung für Asaph hatte; er hat es uns gleichsam als Überschrift über diesen Psalm gesetzt. Sie lautet: „Fürwahr, Gott ist Israel gut, denen, die reinen Herzens sind“. Daran hatte er gezweifelt; er hatte Gott Ungereimtes zugeschrieben und sich an Seinen Führungen geärgert. Doch er gehörte dem Herrn an; er war einer von denen, die reinen Herzens sind, wenngleich er für eine Zeit auf einen Irrweg geraten war. Er hatte nicht in die Reden der Gottlosen einstimmen können, und darum hatte der Herr in Seiner großen Barmherzigkeit ihn wieder zurechtgebracht, so dass er jetzt aus eigener Erfahrung und mit glücklichem Herzen bezeugen konnte: „Fürwahr, Gott ist Israel gut“. — Doch wenn die Gläubigen in Israel das bekennen mussten, wieviel mehr wir, denen Gott durch Seinen Heiligen Geist alle die herrlichen Ratschlüsse geoffenbart hat, die Er über uns gefasst hat vor Grundlegung der Welt! Wenn der Apostel in Röm. 8 davon redet, so ruft er aus: „Was sollen wir nun hierzu sagen? Wenn Gott für uns ist, wer wider uns? Er, der doch Seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird Er uns mit Ihm nicht auch alles schenken?“ Ja, Gott ist für uns, welch ein köstliches Wort ist das! Er hat es bewiesen in der Hingabe Seines geliebten Sohnes. Möchten wir Ihn durch ein kindliches Vertrauen ehren und mit einem glücklichen und dankerfüllten Herzen weiterpilgern, bis Er Jesum sendet, um uns an das herrliche Ziel, ins Vaterhaus droben, zu bringen! Dort wird auch unser ganzer Weg für uns klar sein und jedes Rätsel gelöst werden, und dann werden wir sicherlich die Weisheit unseres Gottes bewundern Und Seine Liebe preisen.

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Vertraue still dem Jehova und harre auf Ihn

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 331ff

Gott erlaubt oft große und schwere Prüfungen, aber Sein Zweck ist, Segnungen für Seine Kinder daraus hervorkommen zu lassen. Hier zu Lande sagt man, wenn der Herr einen Seiner Knechte durch Leiden und Trübsale gehen lässt: „Der Herr legt ihn auf die Waage und bereitet ihn für den Dienst zu“. Und die Erfahrung lehrt, dass es so ist. Ein alter, erfahrener Diener im Werke des Herrn schrieb mir einmal in ähnlichem Sinne und sprach mir Mut zu. „Der Herr“, sagte er, „schmelzt nur das weg, was nötig ist.“ Nur tun uns in den mannigfaltigen und oft so schmerzlichen Prüfungen dieses Lebens Glauben und Vertrauen not. Darum finden wir im Worte Gottes auch so viele dahin zielende Ermahnungen: „Nur auf Gott vertraue still meine Seele! — Vertrauet auf Ihn allezeit, o Volk! schüttet vor Ihm aus euer Herz! Gott ist unsere Zuflucht“ (Ps. 62, 5. 8). „Vertraue auf Jehova mit deinem ganzen Herzen!“ (Spr. 3, 5.) „Schmecket und sehet, dass Jehova gütig ist! glückselig der Mann, der auf Ihn traut!“ (Psalm 34, 8). „Jehova ist gütig, Er ist eine Feste am Tage der Drangsal; und Er kennt die, welche auf Ihn vertrauen“ (Nah. 1, 7).

Die auf den Herrn vertrauen, erquicken Sein Herz, sie machen Ihm Freude; sie ehren Ihn und werden wieder geehrt. »Die mich ehren, werde ich ehren, und die mich verachten, werden gering geachtet werden“ (1. Sam. 2, 30). Es ist etwas Wunderbares um einen einfältigen Glauben und ein kindliches Gottvertrauen. Die auf Jehova vertrauen, werden sogar mit dem Berge Zion verglichen, der nicht wankt ewiglich. (Ps. 125, 1.) „Gesegnet ist der Mann, der auf Jehova vertraut und dessen Vertrauen Jehova ist! Und er wird sein wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist und am Bache seine Wurzeln ausstreckt, und sich nicht fürchtet, wenn die Hitze kommt; und sein Laub ist grün, und im Jahre der Dürre ist er unbekümmert, und er hört nicht auf, Frucht zu tragen“ (Jer. 17, 7. 8). Wie beneidenswert ist der Mann, der

auf Gott vertraut! In welch einer glückseligen Freiheit geht er seinen Weg!

Aber das arglistige Herz, von welchem Jeremias gleich nachher redet (V. 9), kann uns in große Schwierigkeiten bringen, wie die Erfahrung es so vielfach lehrt. In 1. Sam. 27, 1 lesen wir: „Und David sprach in seinem Herzen: Nun werde ich eines Tages durch die Hand Sauls umkommen; mir ist nichts besser, als dass ich eilends in das Land der Philister entrinne“. Welch ein Gegensatz zu der Zeit, da er den Löwen und Bären tötete, oder dem Riesen Goliath entgegenging, oder als er ans der Bergfeste und in der Wüste war! Ach! so sind wir; wir bestehen oft das Examen nicht. Aber der Herr ist und bleibt treu und

gut. Er ist allen Leidenden und Schwergeprüften nahe und redet zu ihnen, damit ihre Herzen „Mut fassen“. Für Seine Knechte, vornehmlich die alten, gibt es besonders tröstliche Verheißungen, wie z. B. in 5. Mose 32, 36: „Er wird sich’s gereuen lassen (oder: sich erbarmen) über Seine Knechte, wenn Er sehen wird, dass geschwunden die Kraft“.

Andererseits belehrt uns der Herr, dass Er ohne uns Sein Werk tun kann und uns gar nicht braucht. Dieser Gedanke ist sehr wichtig für Arbeiter, deren der Herr sich zum Segen und Nutzen für Andere bedient. Niemand darf denken, dass er unentbehrlich oder unersetzlich sei. Der Herr erlaubt deshalb zuweilen „das Urteil des Todes“ in uns, damit wir unser Vertrauen nicht auf uns selbst setzen; aber Er errettet auch vom Tode und stärkt unser Vertrauen auf Ihn und aus Seine Macht, dass Er uns auch ferner

erretten werde. (2. Kor. 1, 9. 10.) Solche Erfahrungen sind gesegnet. Ach, wie oft lässt sich auch der Herr zu uns herab, indem Er ein Zeichen zum Guten wirkt und dadurch das Herz Seiner Knechte erfreut! Er ist gnädig, Er hilft und tröstet. (Ps. 86, 16. 17.) Das glückliche Herz im 34. Psalm schließt seinen Gesang mit den Worten: „Jehova erlöst die Seele Seiner Knechte; und alle, die auf Ihn trauen, werden nicht büßen“. Der Herr vermehre dieses Vertrauen in uns allen! 333

. . . Als Jakob mit dem Herrn gerungen hatte, hinkte er, wie wir lesen, an seiner Hüfte; aber zugleich heißt es: „Und die Sonne ging ihm auf, als er über Pniel (Angesicht Gottes) hinaus war“. Das ist nicht von ungefähr; nein, „Jehova, Gott, ist Sonne und Schild; Gnade und Herrlichkeit wird Jehova geben“ (Ps. 84, 11). Inmitten der schweren Prüfungen, die Er erlaubt, ist es der Glaube, der uns aufrecht erhält und uns befähigt, unseren Weg unbeirrt fortzusetzen. Aber es ist nötig, von Gott gut zu denken; ohne das geht es nicht. Der Teufel ist allezeit bemüht, arge Gedanken über Gott und ungläubige Fragen in unseren Herzen wachzurufen. „Sollte Gott wohl gesagt haben?— „Kann das Liebe sein?“ — „Hat Er nicht vergessen, gnädig zu sein?“ — „Ich wusste, dass du ein harter Mann bist“ usw. usw.

Die Worte in Psalm 42 und 43: „Harre aus Gott! denn ich werde Ihn noch preisen, der das Heil meines Angesichts und mein Gott ist“, sind überaus wichtig; darum werden sie dreimal wiederholt. Jakob sagte zu seiner Zeit zu seinem Sohne Joseph: „Ich hatte nicht gedacht, dein Angesicht wiederzusehen, und siehe, Gott hat mich sogar deinen Samen sehen lassen!“ Sein Teil war zu glauben, auszuharren und anzubeten.

Moses besang in seinem Liede den Gott der Treue, dessen Wege mit uns alle Recht sind: „Der Fels: vollkommen ist Sein Tun; denn alle Seine Wege sind Recht. Ein Gott der Treue und sonder Trug, gerecht und gerade ist Er!“ (5. Mose 32, 4). Josua konnte nicht genug die guten Worte Jehovas preisen: „Ihr wisset mit eurem ganzen Herzen und mit eurer ganzen Seele, dass nicht ein Wort dahingefallen ist von allen den guten Worten, die Jehova, euer Gott, über euch geredet hat: sie sind euch alle eingetroffen, nicht ein Wort davon ist dahingefallen“. David besang nach allen seinen schweren Prüfungen die köstlichen Gedanken Gottes: „Wie köstlich sind mir deine Gedanken, o Gott! wie gewaltig sind ihre Summen! Wollte ich sie zählen, ihrer sind mehr als des Sandes. Ich erwache und bin noch bei dir“ (Ps. 139, 17. 18).

Wir wünschen dasselbe zu tun und tun es in Schwachheit. Bald wird besser gehen, wenn wir droben angelangt sein werden bei unserem geliebten Herrn. . . .

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Einfalt

Bibelstelle:

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 335

Selig ist die Einfalt, die den Weg, der unauflöslichen und spitzfindigen Fragen vorbeigeht und auf dem ebenen und sicheren Wege der Gebote Gottes fortwandelt. Viele haben Innigkeit und Salbung verloren, indem sie das „Höhere“ erforschen wollten.

Gott fordert von dir nur Glauben und einen frommen Wandel, nicht hohen Verstand und tiefe Erkenntnis der Geheimnisse Gottes. Wenn du nicht verstehst und begreifst was unter dir ist, wie willst du begreifen was über dir ist?

Unterwirf du dich Gott, und deine Vernunft sei eine demütige Magd des Glaubens, so wird dir das Licht der Wahren Erkenntnis gegeben werden, so viel wie dir nützlich und gut ist.

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Bethanien

Bibelstelle: Matthäus 21,17

Botschafter des Heils in Christo 1901, S. 335ff

Und er ging hinaus, außerhalb der Stadt, nach Bethanien und übernachtete daselbst. Matthäus 21,17

Es leuchtet ob des Ölbergs Gipfel

der Abendröte sanfte Glut,

ihr Goldhauch streift der Bäume Wipfel

und spiegelt sich in Kidrons Flut.

Da kommt von Zion hergegangen

Ein hoher Wandrer, ernst und still,

der nach dem Tagewerk, dem langen,

jetzt gen Bethanien pilgern will.

Und dort, im friedumhegten Hause,

baut Er, ein hochwillkommener Gast,

fern allem Lärm und Erdgebrause,

dem müden Leibe Ruh und Rast.

O Heil der Stätte, da vom Staube

Der Erde sich der Herr erquickt,

wo treue Liebe, frommer Glaube

in Andacht Ihm ein Plätzchen schmückt!

Sei`s zu den Armen dürft`ger Hütte,

sei`s zu des Reichen Prachtpalast,

voll Gnade lenkt Er seine Schritte

den Menschen zu – ein Himmelsgast.

Wo warm für Ihn die Herzen schlagen,

wo auf Ihn schaut des Auges Stern,

wo Lippen sehnend nach Ihm fragen,

da kommt er leis, da bleibt Er gern.

Und wie vor allen Erdenplätzen

gesegnet bist, Bethanien, du!

So möcht der Herr noch heut sich setzen

An jeden Herd, zu stiller Ruh.

Drum will ich immerdar mich fragen,

im Morgenlicht, beim Abendschein,

in fröhlichen, in trüben Tagen:

Kann auch mein Heiland bei mir sein?

Kann Er bei mir auch gerne rasten,

wie dort in der Geschwister Reih?

Und bleibt Ihm bei der Arbeit Hasten

im Hause stets ein Plätzchen frei?

K.B.