Botschafter des Heils in Christo 1923

02/06/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger
Botschafter des Heils in Christo Inhaltsverzeichnis: 1923Seite
Dankbarkeit1
„Übrigens."15
„Ich komme bald!"23
„Gehe hin und tue du desgleichen!"26
„Die aber reich werden wollen."29
Der Weg Kains49
Willige Herzen55
Als er stark geworden war57
Vier Glaubensmänner71
Fragen aus dem Lesertreise83
In allem unterwiesen85
Nilodemus94
Der erfüllte Ausgang105
Gottes Berufung von der Erde und Seine Ansprüche123
an die Erde
Ermuntert einander mit diesen Worten! (Gedicht)133
Euer Wort sei allezeit in Gnade.138
Bleibet in mir!141
Eben-Eser153
Wird die Kirche durch die große Drangsal gehen müssen?169
Zwei Werturteile178
Zerrissene Lappen und abgetragene Lumpen184
Bruderliebe197
Die Lehre206
In Gottes Händen220
Lobsingst du mit Christo?225
Die Wahl Lots 238238
Gedanken252
Gefallen an Seinen Wegen 253253
Ein gefallener Engel261
Warum?281
Eine Ursache geistlicher Schwachheit290
Seine Güte ist alle Morgen neu (Gebicht304

Botschafter des Heils in Christo

Einundsiebzigster Jahrgang

Elberfeld – Verlag von R. Brockhaus

1923
 
Dankbarkeit

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 1ff

„Ist es recht, dass du zürnest?“ Diese Frage richtet Gott an den Propheten Jona, der unzufrieden mit Gott war, weil Er Barmherzigkeit und Gnade an Ninive erweisen wollte, nachdem dessen Bewohner auf die Predigt Jonas hin Buße getan hatten. Sollte man es für möglich halten, dass ein Mensch darüber zürnen könnte, dass Gott barmherzig und gnädig ist? Hat nicht jeder Mensch Anlass zur Dankbarkeit, dass Er ein Gott ist, „der sich des Übels gereuen lässt“? — Die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar (Röm. 11, 29), und im Blick darauf sagt der Geist Gottes durch den Mund Bileams: „Nicht ein Mensch ist Gott, dass Er lüge, noch ein Menschensohn, dass Er bereue“ (4.Mose 23, 19). Aber in Seinen Regierungswegen lässt Er’s sich gereuen, sei es zum Guten oder zum Bösen. (Vgl. Jer. 18, 1 - 10). Kann ein Mensch mit Recht darüber unzufrieden sein? Hat er nicht vielmehr alle Ursache, Gott zu danken für alle Seine Wege? vor allem Ihm zu danken für Seine Gnadengaben, die Er nie zurückfordert, nie bereut? 
Ja, Ursache zur Dankbarkeit hat jeder Mensch; denn da ist kein Lebender, dem nicht Beweise der Gnade Gottes zuteilgeworden wären. Aber in der Welt ist das Verständnis für Dankbarkeit gegen Gott geschwunden, und denen, die grundsätzlich bereit sind, die Gnade Gottes zu rühmen, muss zugerufen werden: „Seid dankbar!“ (Kol. 3, 15). Ja, weil die Menschsenkinder im allgemeinen  Gottes vergessen, heißt es für solche, die Ihn anerkennen und anrufen: „Ich ermahne nun vor allen Dingen, dass Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen getan werden für alle Menschen“ (1. Tim. 2, 1). Ein Mensch, der Dankbarkeit äußert, weiß, wofür er dankbar ist; denn ohne Veranlassung ist Dankbarkeit" nicht denkbar. Für ein Geschenk bin ichdankbar, für den redlich verdienten Lohn nicht; er ist lediglich die ausbedungene Gegenleistung für meine Leistung, es ist mein gutes Recht, ihn zu empfangen. Aber jede Zuwendung über den verdienten Lohn hinaus ist ein Geschenk, und für ein Geschenk sollte der Mensch dankbar sein. Wenn nun die blinde Welt, die Gott nicht kennt und auch nicht anerkennen will, (denn mit der Anerkennung Gottes wäre notwendig Unterwerfung verbunden) nicht daran denkt, dankbar zu sein, dann ist es für solche, die sich Kinder Gottes nennen, umso mehr am Platze, Danksagung zu tun. Dazu ist es freilich nötig zu wissen, wofür man dankbar ist, sonst wird die Danksagung eine Form werden oder eine gesetzliche Pflicht, in deren Erfüllung man eine gewisse Befriedigung suchst, indem man die Schuld des Dankes abträgt. Aber weder eine Form noch ein Muss kann Gott ehren. Wenn dagegen ein Herz, im Anschauen der Güte Gottes, ein stilles, unbemerktes: „O Gott, ich danke dir! — Herr, ich rühme deine Gnade!“ emporsendet, so erfreut — das Gottes Herz. 
 Nun fragt es sich: Danksagen wir? Und wofür sind wir dankbar? Haben wir Zuwendungen empfangen, die über den verdienten Lohn hinausgehen? Zur Klärung dieser Frage muss erst der rechtmäßige Lohn festgestellt   werden. Wie hoch ist er mit Rücksicht auf unsere Leistung? Was war der Lohn für unser Tun? Gottes Wort entscheidet: „Der Lohn der Sünde ist der Tod“. Ist jemand da, der mehr zu beanspruchen hat? Wer aber dieses göttliche Wort anerkennt, hat Ursache, jede Zuwendung über den rechtmäßigen Lohn hinaus mit Dankbarkeit als Gnadengeschenk entgegenzunehmen. Und nun ist es an uns, mit sehenden Augen die Beweise der Güte unseres Gottes zu betrachten, um so fähig zu werden, in einer Ihm wohlgefälligen Weise zu danksagen, zum Wohlgeruch für Ihn, dem unser ganzes Herz gehört. In Jes. 63, 7 heißt es: „Ich will der Gütigkeiten. Jehovas gedenken, der Ruhmestaten Jehovas, nach allem, was Jehova uns erwiesen hat, und der großen Güte . . ., welche Er erwiesen nach Seinen Erbarmungen und nach der Menge Seiner Gütigkeiten“. Sieh da das Vornehmen eines dankbaren Herzens. Und wo ist ein gläubiges Herz, das kalt bleiben könnte angesichts der Güte und Erbarmungen unseres Gottes? Es ist undenkbar, sie zu sehen, ohne mit dankerfülltem Herzen Den zu preisen, der sie uns zugewandt hat und ihre Fülle aus unserer Bedürftigkeit erweist.
Auch der Psalmist Asaph hat verstanden, dass sein Kranksein darin bestand, dass sein Auge abgeirrt war von dem Gott, der allein imstande ist, dem Herzen Frieden, Ruhe, Freude und Ermunterung zu geben, wenn Dinge und Umstände hienieden nur Beunruhigung und die Erinnerung an früher genossene Segnungen nur Herzensnot hervorbringen können. Asaph sagt: „Der Jahre der Rechten des Höchsten will ich gedenken, der Taten des Jah; denn deiner Wunder von alters her will ich gedenken; und ich will nachdenken über all dein Tun, und über deine Taten will ich sinnen“ (Ps. 77, 10 - 12). Bei dem Sinnen über frühere Zeiten war Asaph nicht glücklich geworden. Das Grübeln über die vergangenen Tage und wie er damals selbst des Nachts sein Saitenspiel gerührt hatte, während er jetzt völlig am Boden lag, hatte ihn sogar krank gemacht. Da endlich entdeckte er die Ursache seines unglücklichen Zustandes und nahm sich vor, von sich und allem andern ab zu blicken und der Großtaten seines Gottes zu gedenken. Damit kam er auf den rechten Weg, gesund zu werden. 
Auch die dem Volke Israel in 5. Mose 26 gegebene Vorschrift bestätigt die Tatsache, dass nur Besitz und Genuss fähig machen zur Freude und Danksagung. Dort heißt es: ,,Wenn du in das Land kommst, welches Jehova, dein Gott, dir als Erbteil gibt, und du besitzest es und wohnst darin, so sollst du von den Erstlingen aller Frucht des Erdbodens nehmen, die du von deinem Lande einbringen wirst, das Jehova, dein Gott, dir gibt, und sollst sie in einen Korb legen .... Und du sollst zu dem Priester kommen. .. und zu ihm sagen: Ich tue heute Jehova, deinem Gott, kund, dass ich in das Land gekommen bin . . . Und du sollst sie (die Frucht) vor Jehova, deinem Gott, niederlegen und. anbeten vor Jehova, deinem Gott; und du sollst dich freuen all des Guten, das Jehova, dein Gott, dir und deinem Hause gegeben hat“ (5. Mose 26, 1 - 11). 
Weder in Ägypten noch in der Wüste war ein Israelit fähig. von der Frucht Kanaans Jehova zu geben. Das konnte er erst, wenn er das Land in Besitz genommen und sich wohnlich dort eingerichtet hatte. Während der Besitzergreifung des Landes konnte er auch noch nicht Frucht sammeln für Jehova, denn da gab es noch Kämpfe gegen die Bewohner des Landes zu bestehen. Sobald er aber ein Ruhe darin wohnte und die Segnungen des ihm von Jehova geschenkten reichen Landes für sich selbst in Frieden genoss, vermochte er Jehova von dem Besten des Landes darzubringen und mit dankerfülltem Herzen zu bekennen, das; sein Vaters ein umherirrender (umkommender) Aramäer gewesen sei, dessen Söhnen durch Gottes Gnade dieses wunderbare, gesegnete Land für immer geschenkt worden war.
Das Volk Israel weilte zuerst in Ägypten, dann kam es in die Wüste, und schließlich hielt es seinen, Einzug in das gelobte Land. Wohl gehörte ihm das Land nach dem Worte Jehovas schon in der Wüste, ja, schon zur Zeit, da es noch in dem Knechtshause Ägypten weilte. Aber davon hatten sie nichts. Sie wussten wohl, dass sie ein reiches, geräumiges und gesegnetes Land empfangen sollten, aber vorläufig waren sie arme Sklaven und nachher ein ruheloses Wandervolk in einer öden Wüste. Die Sehnsucht, in dem Lande zu wohnen, mag wohl auch umso stärker geworden sein, je mehr der Druck Ägyptens und die Mühsal der Wüste empfunden — wurden. Aber das, was sie von dem Lande wussten, und die Hoffnung, vielleicht den Einzug in das herrliche Land noch zu erleben, konnte sie nicht befähigen, zu sagen: „Ich tue heute Jehova kund, dass ich in das Land gekommen bin“. Weder in Ägypten noch in der Wüste wuchsen die Früchte des Landes, und mochten sie auch noch so zuversichtlich hoffen, einmal in dem Lande zu wohnen, so waren sie doch außerstande, dessen Frucht Jehova darzubringen und Ihm für den ihnen geschenkten Reichtum zu danken.
Wollen wir die Anwendung davon auf uns machen, so müssen wir sagen: Wir sind gleichzeitig in Ägypten, in der Wüste und in Kanaan. Wir wandeln noch in dieser Welt, die in geistlichem Sinne eine trostlose Wüste für uns ist, und wir weilen im Glauben schon in dem himmlischen Kanaan, wo wir gesegnet sind mit jeder geistlichen Segnung. Die wichtige Frage für uns alle ist nur die: Haben wir, ein jeder für sich, das uns vor Grundlegung der Welt zugedachte und durch unseren Josua uns erschlossene Land wirklich in Glaubensbesitz genommen? Wir alle, so viele unser zum Volke Gottes gehören, sind entweder im Besitz des uns geschenkten Landes und wohnen darin als glückliche Empfänger seiner Früchte, indem wir uns von ihnen nähren und dabei mit Danksagung Dessen gedenken, der uns das Land aus freier Gnade geschenkt hat; oder wir halten uns noch in der Wüste auf mit ihrer Mühsal, seufzen vielleicht gar noch unter dem Druck Ägyptens und trösten uns, so gut es geht, mit dem Bewusstsein, dass uns ein schönes Land verheißen ist, und wir hoffen, auch einmal in dieses Land zu kommen. Wie viel kostbare Zeit mag zu beklagen sein, die mancher von uns in der Wüste oder gar unter dem Druck Ägyptens zubringt, anstatt in den Gefilden Kanaans sich an Milch und Honig zu laben, von denen das Land fließt! 
Sollten wir uns genügen lassen an dem Wissen, dass jenseits des Jordan das gute Land liegt, und mit 
der Hoffnung zufrieden sein, einmal hineinzukommen? Gewiss, der Jordan muss durchschritten werden; eine Brücke führt nicht hinüber. Einem Teile des Volkes Israel genügte allerdings schon das Land auf der Wüstenseite des Jordan, weil es ausreichendes. Viehfutter bot. Aber möchten wir nicht von der Frucht des verheißenen Landes essen und dankbaren Herzens bekennen können: „Ich bin in das Land gekommen“? — Wenn ja, dann lasst uns weder mit einem geringeren Teil zufrieden sein, noch den Jordan fürchten, wenn er auch „voll ist über alle seine Ufer“. Die Bundeslade wird ja voraufgetragen und kommt mit ihren Trägern zuerst an seine Flut, und am jenseitigen Ufer, im Lande Kanaan, werden wir, von Ägypten und der Wüste getrennt, die kostbaren Erzeugnisse des Landes genießen können. Der Jordan, den wir glaubend durchschreiten können, ohne verschlungen zu werden, scheidet uns von allem, was außerhalb des Landes liegt. Freuen wir uns denn, dass keine Brücke vorhanden ist, und dass wir durch des Jordans Todesflut völlig abgeschlossen sind von allem, was zum Bereich der Welt und Wüste gehört.
Wer aus der Wüste nach Kanaan will, muss durch den Jordan; einen anderen Weg gibt es nicht. Doch wohl dem, dessen Auge auf die Lade des Bundes des Herrn der ganzen Erde (Jos. 8, 11) gerichtet ist, um dann den Fuß der Lade folgen zu lassen! Dann schreckt nicht des Jordan dräuende Flut. Allerdings ist es unbedingt notwendig, auf diesem Wege der "Bundeslade zu folgen und sie im Auge zu behalten; denn es heißt: „Ihr seid des Weges früher nicht gezogen“ (Jos. 8, 4). Der Jordan bildete ein gewaltiges Hindernis für den Besitz und Genuss des ersehnten Landes. Dieses Hindernis konnte nur überwunden werden auf dem von Gott verordneten Wege. Wer auf einem anderen den Jordan zu durchschreiten versuchte, wäre unfehlbar von den hochgehenden Wogen verschlungen worden. Wer aber auf die Bundeslade schaute und ihr folgte, der war bald.am jenseitigen Ufer, und dieses Ufer war Kanaan. Und dann konnte er sagen: „Ich bin in das Land gekommen“, konnte es in Besitz nehmen, darin wohnen, von seiner Frucht essen und — danken.
Die Nutzanwendung dieses schönen Vorbildes kennen wir vielleicht alle; wir sind, Dank der Gnade unseres Herrn, unterrichtet über die Bedeutung des kostbaren Wortes: „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen Seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht, — durch Gnade seid ihr errettet, — und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christo Jesu'' (Eph. 2, 4 — 7). 
Aber so wie dem Israeliten das gute Land, obwohl es ihm verheißen war, weil er zu dem um der Väter willen geliebten Volke gehörte, nichts nützte, solang er es nicht in Besitz genommen hatte und darin wohnte. so genießen auch wir die Segnungen des Kanaan droben nur dann, wenn wir im Glauben Besitz davon ergriffen haben. Dass Gott uns einen Platz im Himmel geschenkt hat, und dass wir die rechtmäßigen Eigentümer unseres himmlischen Erbes sind, ist eine Tatsache; aber ob wir den wunderbaren Platz, den wir in Christo Jesu in den himmlischen Örtern besitzen, wirklich einnehmen; ob wir mit der Freiheit, welche das Anschauen der die Erkenntnis übersteigenden Liebe Gottes und Seines Christus verleiht, dankbaren Herzens sagen: „Ich tue kund, dass ich in das Land gekommen bin“; ob wir als solche, die mit Christo gestorben und auferstanden sind, uns wirklich nähren von der Frucht des Landes, uns der geistlichen Segnungen droben in Christo erfreuen, und wissen, welches die Hoffnung der Berufung Gottes und der Reichtum Seines Erbes in den Heiligen ist; oder ob wir nur von dieser Stellung gehört haben und hoffen, sie einmal einzunehmen, das ist die Frage, die wir uns alle ernstlich vorlegen und wahrheitsgemäß zu beantworten suchen sollten. Manches deutet darauf hin, dass diese kostbare Wahrheit vielen nur vom Hörensagen bekannt ist. Wohnt sie im Herzen, so gibt sie notwendig unserem Leben das Gepräge. Wohnen wir im Himmel gemäß dem Wort: „Er hat uns mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christo Jesu“, so wird dieses Wohnen hier auf der Erde zum Ausdruck kommen. Der in Kanaan wohnende Israelit freute sich seines Besitzes vor Jehova, seinem Gott, und erinnerte sich dankbaren Herzens seiner Herkunft, deren Armseligkeit nur umso mehr die Größe des eingetretenen Wechsels anzeigte. Er plagte sich nicht mit Gedanken an den heißen Sonnenbrand der Wüste, noch weniger sehnte er sich nach Ägypten zurück, dessen Gurken, Melonen, Zwiebeln, Lauch und Knoblauch ihm wohl begehrenswert erschienen waren, solang er in der Wüste war. (Lies 4. Mose 11, 5.) Er besaß jetzt weit Besseres als solche Gaumenreize. Überdies trennte ihn der Jordan von der Vergangenheit. Alles was hinter ihm lag, kümmerte ihn nicht mehr. Er besaß das Land, er genoss seine Frucht. Das erfüllte sein Herz mit überströmender Freude. So ist es mit uns, wenn wir glaubend den Platz einnehmen, zu dem uns Gottes Gnade erhoben hat. Dort können wir ruhen und genießen, auch wenn der Sand der Wüste glüht und die Drangsale und Beschwerden der Wüstenwanderung empfunden werden. Solang wir in dieser Welt sind, haben wir mit ihren Beschwerden zu rechnen. „In der Welt habt ihr Drangsal“, sagt der Herr. Aber der Glaube befähigt uns, bei und trotz der gegenwärtigen Not im Himmel zu wohnen, wo unser Gott uns einen Platz geschenkt hat in Jesu, unserem Herrn. Vergessen wir jedoch nicht, dass wir unsere Vorrechte und Gottes Verheißungen immer nur in dem Maße genießen können, wie wir unser Gestorbensein mit Christo verwirklichen. Ich mag die Bedeutung des Jordan als Todesfluss mit den zwölf Steinen in seinem Flussbett gut kennen, aber ich werde nur dann die himmlischen Dinge genießen, wenn ich den Tod Christi für mich verwirkliche, mit anderen Worten insoweit ich alledem, was hienieden ist, wirklich gestorben bin. 
Die Zeiten, in denen wir die geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern wirklich genießen, sind die gesegnetsten unseres irdischen Lebens. Leider stehen sie so vereinzelt da. Wir könnten sie immer haben, wenn wir nur immer der Welt und der Sünde praktisch tot wären und die scharfen Messer von Gilgal auf unser Fleisch anwenden wollten. (Jos. 5.) Durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt, sind wir fähig gemacht, uns allezeit der Gegenwart unseres Herrn zu erfreuen und die Güter zu genießen, die uns in Ihm geschenkt sind. In Seiner Kraft vermögen wir die Hindernisse zu überwinden, die uns jenen Genuss rauben wollen. Angetan mit der ganzen Waffenrüstung Gottes, sind wir imstande, die feindlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern zu besiegen (Eph. 6) und von unserem Erbe Besitz zu nehmen. Der Himmel gehört uns, unsere Heimat ist dort; aber solang wir noch im Leibe wallen, bedürfen wir heiliger Wachsamkeit. Der Kampf hört nicht eher auf, als bis wir wirklich daheim sind und das schauen, was wir hier glaubend genossen haben. 
Die Worte des Apostels in Kol. 2, 20 und 3, 1 zeigen uns, woher es kommt, dass wir, trotz des sehnlichen Wunsches unserer Herzen, die kostbare Gemeinschaft mit dem Herrn und den Dingen, die droben sind, zu genießen, so oft die entgegengesetzte beschämende Erfahrung machen. Er sagt dort: „Wenn ihr mit Christo den Elementen der Welt gestorben seid, was unterwerfet ihr euch Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt?“ und: „Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt seid, so suchet was droben ist, wo der Christus ist''. Das Gestorbensein mit Christo ist die Voraussetzung für die Verwirklichung der Tatsache, dass Beziehungen zu den Elementen der Welt für uns nicht mehr bestehen. In dieser Verwirklichung Vermögen wir alles, was zur Welt gehört, abzulehnen und zu verleugnen. Und weiter: In dem gläubigen Ergreifen der Tatsache, dass wir mit Christo auferweckt sind, um nun mit Ihm zu leben, können und werden wir das suchen, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. 
Es ist also eine Tat des Glaubens, wenn wir unseren Platz praktischerweise .»im Lande« einnehmen und dankbaren Herzens die Frucht des Landes essen. Vielleicht fühlen wir manchmal deutlich, dass wir nicht im Lande wohnen, sondern gleichsam noch an der anderen Jordanseite bemüht sind, das Land zu erreichen. Da kann uns denn nur ein völliger Glaubensgehorsam helfen. Er leitet uns an, auf dem von Gott verordneten Wege, der Bundeslade in den Jordan folgend, ins Land einzugehen. Mit anderen Worten: Der Gläubige kann nur in dem gläubigen Festhalten der Tatsache, dass er mit Christo gestorben ist, die Elemente der Welt verleugnen, und nur in dem Ergreifen der zweiten Wahrheit, dass er mit Christo auferweckt worden ist, den Platz im Himmel mit Ihm und in Ihm einnehmen. Auch kann er erst dann sagen: „Ich bin in das Land gekommen“, und: „Das Leben ist für mich Christus“. 
 Doch da geht es uns vielleicht wie dem im Anfang erwähnten Propheten Jona: Wir stehen uns selbst im Wege. Das was ihn hinderte, sich der Gnade Gottes zu erfreuen, die ihren Reichtum trotz der vorhandenen Schuld Ninives erwies, hindert auch uns oft an dem vollen Genuss unserer gesegneten Stellung in Christo und behindert dadurch auch die Danksagung. Der Prophet Jona trauerte, dass das Wort, welches er ausgesprochen hatte, nicht in Erfüllung ging. Er büßte dadurch nach seiner Ansicht einen Teil seines Ansehens als Prophet ein. Er kam also, wie man sagt, mit seiner Person nicht auf seine Kosten. Es schmerzte ihn, dass sein armes Ich durch die Gnadenerweisung Gottes an Größe einbüßen sollte, dass er Schaden haben sollte an seiner Ehre. Wir verurteilen Jona und begreifen ihn nicht. In Wahrheit aber bildet bei uns eine ähnliche Gesinnung Vielfach das Hindernis für den Genuss der Güte und der Erbarmungen Gottes und unserer kostbaren Stellung in Christo. Wir wollen nicht unser Ich in den Tod geben, trachten in der einen oder anderen Weise nach Ehre und Anerkennung und schonen das Fleisch. 
Vielleicht möchte jemand hier einwenden, es sei kaum möglich, in einer Zeit der Anspannung aller verfügbaren Kräfte, wie die gegenwärtige, stets und in allem als himmlische Menschen zu leben. Wäre ein solcher Einwand berechtigt, so fiele das Wort hin: „Ich vermag alles in Dem, der mich kräftigt“, wie auch das andere: „Freuet euch in dem Herrn allezeit'“. „Wenn aber diese Worte geschrieben stehen, dann sind sie berechtigt, und wohl uns, wenn wir uns nicht eher zufrieden geben, als bis wir ihre Kraft in uns verwirklichen. Dann erst werden unsere Herzen wirklich glücklich sein, dann erst sind wir fähig, Dem wahres Lob zu opfern, dessen unverrücktes Anschauen uns glücklich macht. Dann wird es uns auch nicht darauf ankommen, ob wir oder andere in erster Linie Empfänger und Nutznießer der Gnadenerweisungen des Herrn sind; im Gegenteil, uns selbst vergessend, werden wir uns freuen, wenn Gottes Gnade sich anderen zuwendet und sich an und in ihnen bestätigt. Hätte der Prophet  Jona so gedacht, dann hätte kein Missmut in seinem Herzen aufkommen können; er wäre vielmehr den unwissenden, heidnischen Menschen ein Wegweiser geworden zu dem lebendigen Gott, dessen Wort sie beachtet hatten zu ihrem Heil. So aber bedurfte er derselben Gnade, die er für die armen Bewohner Ninives nicht tätig sehen mochte, zu seiner eigenen Heilung und zur Befreiung von seinem Missmut. 
„Armer Jona!“ rufen wir unwillkürlich aus, aber vergessen wir nicht, dass dasselbe verkehrte Herz in uns ist und sich immer wieder zeigen will! Wie groß ist dem gegenüber der Reichtum der Gnade unseres Gottes, von dem Jona selbst sagt: „Ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und der sich des Übels gereuen lässt“ (Kap. 4, 2). Auch wir wissen viel und können vielleicht manches sagen über die Barmherzigkeit, Güte und Huld unseres Gottes. Aber so wie Jonas Wissen nicht ausreichte, ihn vor Missmut zu bewahren, so kann auch uns ein bloßes Wissen nicht befähigen, uns über den Staub dieser Erde zu erheben, um das zu suchen, was droben ist, wo der Christus ist. Aber wenn wir mit unserem Herzen die Tatsache ergreifen, dass wir mit Christo gestorben sind, um jetzt mit Ihm zu leben, dass dieselbe Gnade, die uns befreit hat von der Knechtschaft der Sünde und des Todes, uns jetzt im Himmel wohnen lässt, dann können wir uns dankbaren Herzens unseres Herrn und der in Ihm geoffenbarten Gnade unseres Gottes und Vaters erfreuen. Dann erfreut uns auch jeder Strahl dieser Gnade, wohin er auch gerichtet sein mag, denn er gibt Zeugnis von dem Reichtum der Quelle, die nie versagen wird, welche Ansprüche Zeit und Umstände auch an uns stellen mögen. Und niemals wird dann unsere Gesinnung die Frage nötig machen: „Blickt dein Auge böse, weil ich gütig bin?“ (Matthäus 20, 15).

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Übrigens

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 15ff

In dem 1. Teil unserer Betrachtung (s. Oktoberheft 1922) sagten wir uns, dass der Apostel Paulus in vielen seiner Briefe praktische Belehrungen ermunternder oder ermahnender Art mit dem Worte „übrigens“ einleite, und behandelten damals zwei Stellen aus dem Philipperbrief. (Kap. 3, 1; 4, 8). Heute möchte ich die Aufmerksamkeit meiner Leser auf den 1. Brief an die Korinther richten. Der geistliche Zustand der Gläubigen in Korinth war niedriger als der der Philipper, aber deshalb waren sie nicht weniger geliebt als diese; die Sorge des Apostels für sie war wenn möglich noch größer, die Gefühle seines Herzens noch tiefer erregt. Je schwächer und bedürftiger ein Kind ist, desto heller und wärmer erstrahlt die mütterliche Liebe. 
 Im 7. Kapitel unseres Briefes redet Paulus von den natürlichen Beziehungen, in welchen ein Gläubiger in dieser Welt stehen mag, vornehmlich von der Ehe. Obwohl der Christ eine neue Schöpfung in Christo ist und mit dem Himmel in Verbindung steht („unser Bürgertum ist in den Himmeln''), verlieren die natürlichen Beziehungen, wie Ehe, Familie, Beruf usw., keineswegs ihre Bedeutung für ihn. Gott selbst hält diese Beziehungen aufrecht und lässt den nicht ungestraft, der sie verachtet. Aber der Gläubige soll sich in der Kraft des neuen Lebens, das ihm geschenkt ist, in diesen Beziehungen von allem Bösen fernhalten, das die Sünde hineingetragen hat, und Gott leben in denselben. Es ist nicht wichtig, in welch einer Stellung oder einem Beruf er steht, wenn die Gnade ihn erreicht und errettet: „ein jeder, worin er berufen worden ist, Brüder, darin bleibe er“, aber – „bei Gott“ (V. 24). Daraus folgt allerdings, dass er den betreffenden Beruf aufgeben muss, wenn er nicht „bei Gott“ darin bleiben kann! Bringt derselbe Pflichten mit sich, die mit dem Wort und Willen Gottes im Widerspruch stehen, so muss er aufgegeben werden, denn Gott will nicht, dass die Seinigen Böses tun. Auch hier gilt das Wort: „Der Aufrichtigen Straße ist: vom Bösen weichen“ (Spr. 16, 17). Im Übrigen aber soll ein Gläubiger „es sich nicht kümmern lassen,“ wo er berufen worden ist, obwohl er die Gelegenheit, von einem schwierigen, versuchungsreichen Beruf frei zu werden, benutzen darf. (V. 20. 21). 
Nach einem kurzen Wort über die „Jungfrauen“, worin der Apostel einer persönlichen „Meinung“, nicht einem Gebot des Herrn Ausdruck gibt, fährt er dann fort: „Die Zeit ist gedrängt. übrigens dass auch die, welche Weiber haben, seien als hätten sie keine, und die Weinenden als nicht Weinende, und die sich Freuenden als sich nicht Freuende, und die Kaufenden als nicht Besitzende, und die der Welt Gebrauchenden als ihrer nicht als Eigentum (od. nach Gutdünken) Gebrauchende" denn die Gestalt dieser Welt vergeht“ (V. 29 - 31).
„Die Zeit ist gedrängt.“ Wenn der Apostel das damals sagen konnte, wie viel mehr ist es heute so, wo wir am Ende der christlichen Haushaltung stehen und die Verwirklichung der Erwartung der Braut, sowie die Erscheinung des Herrn zum Gericht nur noch eine Frage ganz kurzer Zeit ist! Seitdem der Herr Jesus ans Kreuz geschlagen und durch Seinen Tod und Sein Auserstehen eine ganz neue Ordnung der Dinge eingeführt worden ist, leben wir, wie Johannes sagt, in der „letzten Stunde“ (1.Joh. 2, 18.) Die Berufung und Sammlung der Kirche oder Gemeinde ist die letzte große Handlung Gottes vor der Ausrichtung des Reiches in Herrlichkeit. Mit der Kundgebung Seiner Gedanken über „Christum und Seinen Leib, das ist die Versammlung“, ist das Wort Gottes „vollendet“ worden (Kol. 1, 25). Der Christ erwartet nichts anderes mehr, als die Wiederkunst seines Herrn zur Vollendung und Krönung Seines Werkes. Für ihn ist die Erde eine Fremde, ein vorübergehender Aufenthaltsort, wo er, wie einst Abraham, nur ein Zelt und einen Altar besitzt und inmitten einer Umgebung weilt, die seinen Herrn verworfen hat. Sein Auge schaut verlangend nach oben, in den Himmel, wohin sein Heiland ihm vorgegangen ist, und von woher er Ihn erwartet. Er ist in der Welt, aber nicht von der Welt, und jeder Tag kann ihm die Erfüllung seiner Hoffnungen bringen. . 
„Die Zeit ist gedrängt.“ Mit Windeseile fliegen die kostbaren Stunden unserer Pilgerschaft dahin, und im Blick darauf ruft der treue Knecht Gottes uns zu: „übrigens dass auch die, welche Weiber haben, seien als hätten sie keine, und die Weinenden als nicht Weinende, und die sich Freuenden als nicht sich Freuende usw.“ Welchen Wert haben alle irdischen Beziehungen, welche Bedeutung alle natürlichen Bande im Vergleich mit dem einen Ziel, das dem Christen allezeit vorschweben sollte: die Verherrlichung seines Herrn in allem und durch alles, was er hienieden besitzt oder erlebt? Weib und Kind, Leid und Freude, Hab und Gut — so wichtige, bedeutungsvolle Dinge sie an und für sich sind — was sind sie angesichts des Wortes: „denn die Gestalt dieser Welt vergeht“! Im Grunde ist diese Welt doch nichts anderes als eine Schaubühne mit ihrem steten Wechsel von ernsten und heitern Bildern, nur mit dem Unterschiede, dass alles nicht Spiel, sondern Wirklichkeit ist, ja, oft erschütternde Wirklichkeit. 
Der Gläubige schreitet durch die Welt als ein Fremdling, gleich seinem Herrn. Er soll die natürlichen Bande und Beziehungen nicht übersehen und tun, als wenn sie gar nicht vorhanden wären; er soll sie auch nicht eigenwillig lösen und in klösterlicher Abgeschiedenheit leben, nur mit sich und religiösen Übungen und Betrachtungen beschäftigt. Viele sind auf diesen Irrweg geraten, zu ihrem und anderer Schaden. Nein, der Christ soll sich in diesen natürlichen Beziehungen bewegen als einer, der mit Gott darin steht, der ihre Wichtigkeit keineswegs geringschätzt oder gar aus Bequemlichkeit sich ihnen entzieht, sondern der sie mit Gottes Augen betrachtet. Familie und Besitz sind ohne Frage bedeutsame Gaben Gottes, und Freud’ und Leid, aus Seiner Hand genommen, tragen einen unschätzbaren Wert in sich; aber alle diese Dinge gehören der Erde, nicht dem Himmel an, bilden einen Teil des Sichtbaren, Vergänglichen, nicht des Unsichtbaren und Ewigen.  
Darum: „Weiber habend, als hätten sie keine“. Der Apostel beginnt mit dem Schwierigsten, im Anschluss an die Belehrung des ganzen Kapitels. „Der Unverheiratete ist für die Dinge des Herrn besorgt“, sagt er gleich nachher, „wie er dem Herrn gefallen möge.“ Der Verheiratete hat Pflichten gegen Weib und Kind, die er, wie gesagt, nicht aus dem Auge verlieren, nicht vernachlässigen darf, deren Erfüllung aber doch nie die Rechte des Herrn beeinträchtigen sollte. Geradeso muss er sich hüten, von Trauer oder Freude sich so hinreißen zu lassen, dass sie ihn unfähig machen für seinen Dienst. Die Priester im Alten Bunde durften sich in Todesfällen nicht so ungehindert der Trauer hingeben, wie andere Israeliten; dem Hohenpriester war es sogar verboten, bei dem Tode seiner nächsten Verwandten, seines Vaters oder seiner Mutter, sein Haupt zu entblößen und seine Kleider zu zerreißen. Ebenso war es ihnen untersagt, zu aller Zeit Wein und starkes Getränk zu trinken. Der Grund zu diesen Verordnungen lag in ihrer Verbindung mit dem Heiligtum und in ihrer Salbung mit dem heiligen Salböl Jehovas. Sie waren Geweihte des Herrn, und als solche mussten sie würdig ihrer Berufung erscheinen zu jeder Zeit. (Vgl. 3. Mose 10, 9; 21, 1 — 5; 10, 11). 
 Wie machst es auch heute einen tiefen Eindruck auf andere, besonders auf Unbekehrte, wenn Kinder Gottes im Leide stark und still, in der Freude bescheiden und zurückhaltend sind; wenn beim Kaufen und Verkaufen nicht die niedrigen, selbstsüchtigen Grundsätze der Welt sie leiten, wenn ihr Verhalten beweist, dass sie sich nicht als „Besitzer“, sondern nur als „Verwalter“ betrachten, die im Sinne ihres Herrn zu handeln begehren und Seine Anerkennung suchen; die „der Welt gebrauchen“, wie es ja, solang wir hienieden weilen, nicht anders möglich ist, aber sie nicht als ihr „Eigentum“ betrachten und nicht „nach Gutdünken“ über sie verfügen! 
Wir wissen das alles gut, es ist uns auch sehr wohl bekannt, dass „die Gestalt dieser Welt vergeht“; und doch, wie oft sieht unsere Umgebung nicht das in uns, was sie sehen sollte! Welch ein „treuer Verwalter“ war der Apostel! Er sagt im 4. Kapitel: „übrigens sucht man hier an den Verwaltern, dass einer treu erfunden werde“. Wie viel oder wie wenig dir anvertraut sein mag, ist nicht das Bedeutungsvolle, du hast darüber auch nicht zu entscheiden, es hängt allein von dem Gutbefinden deines „Herrn“ ab. Paulus war ein Verwalter hoher Güter, „der Geheimnisse Gottes“; dir und mit ist nur ein geringes Pfund anvertraut. Aber lasst uns daran denken, wie wir es verwalten, eingedenk der Tatsache, dass „der Herr kommt, welcher. .. die Ratschläge der Herzen offenbaren wird; und dann wird einem jeden sein Lob werden von Gott“. 
Am Schlusse des 2. Briefes an die Korinther begegnen wir noch einem „übrigens“. Es heißt dort: „übrigens, Brüder, freuet euch, werdet vollkommen, seid getrost, seid eines Sinnes, seid in Frieden, und der Gott der Liebe und des Friedens wird mit euch sein“ (Kap. 18, 11). Hier umweht uns dieselbe Luft wie im Philipperbrief, die Worte haben viel Ähnlichkeit mit denen in Phil. 4, 4 — 9. Und doch war, wie bereits gesagt, der Zustand der beiden Versammlungen so ganz 21  verschieden. Aber die Gnade reichte für beide aus; sie gibt sich nie aus, ihre Reichtümer sind unerschöpflich. überaus ermunternd ist indes ein solcher Schluss nach alledem, was in Korinth vorgegangen war. Es passt so ganz zu einem Brief wiederherstellender und heilender Gnade, wie es dieser 2. Korintherbrief in besonderem Maße ist. Das Werk, die Gläubigen in Korinth zu Gottes Gedanken hinsichtlich ihrer selbst, der Versammlung und der Knechte des Herrn, besonders des Apostels, zurückzuführen, hatte eigentlich erst begonnen. Viel blieb noch zu tun übrig. Paulus fürchtete, wenn er wieder nach Korinth kommen würde, sie nicht als solche zu finden, wie er gern wollte, und er stand bereit, allen Ungehorsam zu rächen, wenn ihr Gehorsam erfüllt sein würde (Kap. 10, 6; 12, 20). Die Aufforderung, sich zu freuen usw. steht auch in unmittelbarer Verbindung mit den Worten: „Deswegen schreibe ich euch dieses abwesend, auf dass ich anwesend nicht Strenge gebrauchen müsse, nach der Gewalt, die der Herr mir gegeben hat zur Auferbauung und nicht zur Zerstörung“. 
Umso ergreifender klingt darum das „übrigens“ unseres Apostels mit den sich daran anschließenden herzlichen Wünschen. Paulus war von Gott selbst ermuntert worden (Vgl. Kap. 2), und nun konnte er die Korinther mit demselben Trost trösten, mit dem er getröstet worden war. Er handelte nach seinen eigenen Worten: Die Liebe „lässt sich nicht erbittern, sie rechnet Böses nicht zu . . ., sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles“ (1. Kor. 13, 5 — 7). Anstatt seinen Brief mit einem einfachen Gruß zu schließen, wie man es eigentlich erwarten sollte, fordert er die Korinther auf,  sich zu freuen; er wünscht ihnen, dass das noch Fehlende ersetzt, das Verkehrte zurechtgebracht und ihre Herzen getröstet werden möchten. Wodurch? Durch die Beschäftigung mit sich selbst? Nein, wenn er im 5. Verse sie auffordert: „prüfet euch selbst, ob ihr im Glauben seid, untersuchet euch selbst“, so will er sie damit nur auf ihre wahrhaftige Belehrung zu Gott — Jesus Christus war in ihnen — als auf einen Beweis seiner Apostelschaft aufmerksam machen. Die Beschäftigung mit uns selbst gibt uns keine Kraft, sie ist nötig zu unserer Demütigung und zu wahrer Umkehr, wenn wir uns verirrt haben, aber nur die Beschäftigung mit dem Herrn macht das Herz glücklich und stark.
Weiter ermahnt sie der Apostel, sich nicht mit allerlei Meinungsverschiedenheiten zu beschäftigen, sondern eines Sinnes zu sein, nicht Streit und Hader zu führen, sondern in Frieden miteinander zu wandeln. Dann würde der Gott der Liebe und des Friedens mit ihnen sein. gleichsam wie ein doppelter, vereinigter Segen in der Kraft Seiner Gegenwart und Gemeinschaft. Welch eine Quelle des Trostes für solche, die je nach dem wachsenden Maße der Selbsterkenntnis und des Selbstgerichts mutlos hätten zu Boden sinken können! 
 Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den Segenswunsch hinweisen, in welchen das „übrigens“ unseres Apostels hier ausklingt. Er ist, wie alle ähnlichen Wünsche, womit Paulus seine Briefe beschließt, in bewunderungswürdiger Weise der Gelegenheit, beziehungsweise dem Zustand der Empfänger des Briefes angepasst, und zeigt die Gnade, welche in jenem auserwählten Rüstzeug wirkte. Könnte es unter den Umständen, wie  sie damals vorlagen, ja, für alle Zeiten und Lagen, ein ermunternderes Abschiedswort geben als dieses: „Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!“? 
 Arme, schwaches und unwürdige Geschöpfe, wie die Korinther waren und wir alle sind, was kann uns mangeln, wenn dieser Wunsch sich an uns verwirklicht? Und welche gläubige Seele könnte ihn und seine Erfüllung in Zweifel ziehen, wer könnte mehr, wer wollte weniger für sich und seine Brüder wünschen? Die freie, volle Huld und Gnade Dessen, der für uns starb und auferstand, die Liebe des Gottes, gegen den wir uns empört hatten und der doch Seinen eingeborenen Sohn sandte, um uns zu erlösen, die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, der Kraft und des Siegels dieser gesegneten Beziehung, in welcher wir zu dem Vater und dem Sohne stehen — welch ein Teil für uns jetzt und in alle Ewigkeit! 
„Übrigens, Brüder, freuet euch!“ 

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Ich komme bald

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 23ff

Der Christ ist berufen, dem lebendigen Gott zu dienen und Seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten. Dies hatten die gläubigen Thessalonicher zu tun begonnen, sobald sie dem Evangelium geglaubt hatten. (1. Thess. 1, 9. 10.) Nachher sucht der Apostel sie darin zu befestigen, indem er ihnen mitteilt, dass sie aus ihrer Erwartung heraus in Wolken gen Himmel entrückt werden  würden, um dem Herrn in der Luft zu begegnen. (1. Thess. 4, 17.) Noch später warnt er sie vor der Gefahr, sich durch böse Lehrer aus ihrer wartenden Stellung herausdrängen zu lassen, indem er ihnen sagt, dass ihre Hoffnung in Erfüllung gehen würde, ehe der Tag des Herrn mit seinen Schrecken über die Erde und ihre gottlosen Bewohner hereinbricht. (2. Thess. 2, 1ff.) Und als schließlich gerade das Warten auf des Herrn Wiederkehr einen gewissen Übelstand hervorgerufen hatte, indem einige aus ihrer Mitte nicht mehr still und fleißig ihrer täglichen Arbeit nachgingen, ermahnt der Apostel sie trotzdem in dieser Stellung des Wartens zu beharren, aber in Verbindung mit Wachsamkeit und treuem Fleiß. Während das Auge nach oben schaut, soll die Hand sich fleißig rühren (2. Thess. 3).
Um uns in dieser Stellung zu stärken, richtet der Herr selbst am Schlusse des Buches der Offenbarung ein mahnendes und ermunterndes Wort an uns. Dreimal ruft Er: „Ich komme bald!'“ - ein Wort, das wie kein anderes geeignet ist, ein Herz, das gläubig darauf hört, im Warten zu stärken. Dreimal dasselbe Wort, und doch jedes Mal anders.
1. „Siehe, ich komme bald. Glückselig der da bewahrt die Worte der Weissagung dieses Buches!“ (V. 7). Das ist ein mahnendes Wort. Es zeigt uns, dass wir nicht nur warten müssen, sondern warten in einem wachsamen, gehorsamen Geist, der auf die Worte des Herrn achthat.
2. „Siehe, ich komme bald, und mein Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten, wie sein Werk sein wird“ (V. 12). Diese Stelle redet ermunternd zu uns. Sie sagt uns, dass der Herr, wenn wir die uns während Seiner Abwesenheit anvertrauten Pfunde im Blick auf Seine verheißene und erwartete Rückkehr treu Verwalten, Ehrungen für uns bereit hält. 
3. „Ja, ich komme bald!“ so heißt es das dritte Mal. (V. 20.) Diesmal ist’s nur eine einfache Verheißung, eingeführt durch ein bestätigendes „Ja“. Nichts begleitet die Ankündigung, wie in den beiden ersten Fällen, weder eine Ermahnung noch eine Ermunterung. Der Herr verheißt gleichsam, dass Er bei Seiner Wiederkehr sich selbst mitbringen werde. Höheres und Kostbareres konnte es nicht geben. Das Herz mag einer Ermahnung oder Ermunterung gegenüber still bleiben: solch mahnende Worte finden in der Stille seitens des Gewissens Gehör und Antwort. Aber auf die Verheißung Seiner Rückkehr ohne irgendwelche Hinzufügung antwortet das Herz des Gläubigen. „Aus der Fülle des Herzens redet der Mund.“ Und diese Antwort lautet: „Amen, (so sei es,) komm, Herr Jesus!“
In anderen Büchern des Neuen Testamentes redet der Heilige Geist durch die Apostel über diese Dinge zu uns: hier ist es die Stimme des Herrn selbst, die uns ermuntert, in unserer wartenden Haltung nicht zu ermatten!
Große Dinge gehen heute in der Welt vor sich. Die christliche Kirche, Juden und Heiden, alle sind in charakteristischer Tätigkeit, alle voll eifriger Vorbereitungen und Erwartungen. Der Glaube aber wartet auf etwas, das mit diesen Dingen nichts zu tun hat. Die Entrückung der Gläubigen ist ein Teil der „verborgenen Weisheit“, ein „Geheimnis“. Das Kommen des Sohnes aus dem Himmel ist eine Tatsache, die mit der Geschichte oder dem Zustand der Welt um uns hier nichts gemein hat, wenn auch die Entwicklung der Dinge vernehmlich zu uns redet und „Zeichen der Zeit“ für jedes sehende Auge deutlich erkennbar sind. 

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Gehe hin und tue desgleichen

Bibelstelle: Lukas 10,37

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 26ff

Je dunkler und schwerer die Zeiten sind, desto heller glänzen die Taten des Glaubens und der Liebe, die in ihnen vollbracht werden.
Die Geschichte Davids weist viele solcher Taten auf, und sie reden eine umso eindringlichere Sprache, weil es vielfach Fremde sind, die ergreifende Beispiele der Liebe und Treue liefern.
Betrachten wir z. B. das liebliche Bild in 2. Samuel 15,19 - 22. Dort bindet die Liebe einen Fremdling im Land Israel so fest an den vom Unglück heimgesuchten König, dass er bereit ist, alles, Schmerz, Schmach und Flucht, mit ihm zu teilen. David hatte Ittai völlig freigestellt, nach Jerusalem zurückzukehren; er hätte diesen Weg also mit des Königs Wohlgefallen und Zustimmung einschlagen können. Aber dieser Mann begehrte nicht so sehr des Königs Gunst und Wohlgefallen als vielmehr ihn selbst: „An dem Ort, wo mein Herr, der König, sein wird, sei es zum Tode, sei es zum Leben, daselbst wird auch dein Knecht sein!“ Nur in der Gesellschaft des Königs konnte Ittai glücklich sein, mochte das nun zum Leben oder zum Tod führen. 
Der Herr Jesus sagt bei einer Gelegenheit: «Wenn mir jemand dient, so folge er mir nach; und wo ich bin, da wird auch mein Diener sein» (Johannes 12,26). Wir sehen einen solchen Diener, einen Ittai des wahren Königs, einen hingebungsvollen Nachfolger, in Paulus, dessen höchstes Verlangen es war, den Weg Dessen zu gehen, der sein Herz so gänzlich eingenommen hatte, dass er Ihn an seinem Leib zu verherrlichen wünschte, „sei es durch Leben oder durch Tod“ (Philipper 1,20). 
Möchten diese beiden treuen Männer in ihrem ungeteilten Anhängen, der eine an David, der andere an dem Herrn Davids, uns mächtig anreizen „zur Liebe und zu guten Werken“ (Hebräer 10,24), ja, möchten auch wir wie Paulus sagen können: „Das Leben ist für mich Christus“ (Philipper 1,21)! 
Ein anderes schönes Bild bietet sich uns in 2. Samuel 17,27 - 29. Da werden einige Männer aufgezählt, die an die Bedürfnisse Davids und seiner Leute in der Wüste gedacht hatten und ihre Gedanken in die Tat umsetzten. Das letztere ist besonders wichtig. Wie manches Vorrecht lassen Gläubige sich dadurch entgehen, dass sie Gedanken, wie sie anderen Liebe und Güte erweisen könnten, ebenso schnell wieder vergessen, wie sie ihnen gekommen waren, statt sie festzuhalten und zur Tat werden zu lassen! 
Welch einen Gegensatz bildet dieser Schobi, der Ammoniter, zu seinem Bruder Hanun, von dem Kapitel 10,1 - 19 berichtet! Auch Makir von Lodebar, der einst Mephiboseth bei sich aufgenommen hatte, kommt hier David und seinen Männern zu Hilfe. Barsillai, der Gileaditer, findet sich ebenfalls im rechten Augenblick ein, um mit seiner Habe dem müden und hungrigen Volk in der Wüste zu dienen. Welch eine Erquickung musste es für David sein, solcher Liebe zu begegnen, und das gerade in diesem Augenblick! Wir leben heute unter ähnlichen Bedingungen wie jene Männer, denn auch unser David ist verworfen. Auch uns bieten sich unzählige Gelegenheiten, Ihm Liebe und Treue zu beweisen, nachdem Er uns so geliebt, dass Er sich selbst für uns hingegeben hat. Sollten wir nicht Seinem Herzen diese Freude zu machen suchen, bis Er kommt? Es ist unser gesegnetes Vorrecht, Ihn dadurch zu erfreuen, dass wir von Herzen teilnehmen an dem, was Sein Herz und Seine Gedanken bewegt. Das ist für Ihn ein Wohlgeruch wie die Salbe der Maria von Bethanien, deren köstlicher Duft das ganze Haus erfüllte. Und die, die diesen Liebesdienst an Ihm ausübte, sollte nicht vergessen werden, ebenso wenig wie die frommen Frauen, die Ihm dienten mit ihrer Habe (Lk. 8,3), oder wie ein Gajus, dessen Haus offenstand für die, die „für den Namen ausgingen und nichts nahmen von denen aus den Nationen“ (3. Johannes 7.8). Glauben wir es nur, alle diese Dinge wird der wahre David nicht vergessen; alles, das Große wie das Kleine, wird seine Belohnung finden, wenn Er Seine Getreuen und ihre Taten einst aufzählen wird (vgl. 2. Samuel 23,8 - 39; Römer 16,1 - 16).
Gottes Wort gibt uns eine Menge herrlicher Beispiele, die, wenn sie in Gemeinschaft mit dem Herrn und unter der Leitung Seines Heiligen Geistes betrachtet werden, uns zum reichen Segen sind. Wir haben so nötig, von diesem Geist durchdrungen zu werden, der in den uns vorangegangenen Heiligen wirkte, um auch in ihrem Glauben, ihrer Liebe und Hingebung zu wandeln. Und alle rufen sie uns das Wort unseres anbetungswürdigen Herrn zu: „ Gehe hin und tue desgleichen!“

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Die aber reich werden wollen

Bibelstelle: 1. Timotheus 6, 9.10

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 29ff

Es gibt Christen, die, wie einst die Korinther, aus beiden Welten, der Erde und dem Himmel, den größtmöglichen Nutzen ziehen und mit der Nachfolge Christi ein recht sorgloses, bequemes Leben verbinden möchten. Den Korinthern rief der Apostel damals zu: „Schon seid ihr gesättigt, schon seid ihr reich geworden, ihr habt ohne uns geherrscht . .. Wir sind Narren um Christi willen, ihr aber seid klug in Christo, wir schwach, ihr aber stark; ihr herrlich, wir aber verachtet...Als Auskehricht der Welt sind wir geworden, ein Auswurf aller bis jetzt“ (1. Kor. 4, 8 — 13). Heute würde seine Rede wohl genauso mit Salz gewürzt sein wie damals, ja, vielleicht noch mehr, weil wir heute mehr als je sagen müssen, dass „die Zeit gedrängt ist, und die Gefahr ungleichgrößer, „die gesunden Worte, die unseres Herrn Jesus Christus sind, und die Lehre, die nach der Gottseligkeit ist“ (V. 3), aus dem Auge zu verlieren. Dürfen wir auch annehmen, das; die Zahl derer, welche „meinen, die Gottseligkeit sei ein Mittel zum Gewinn“ (V. 5), nur gering ist unter denen, die sich wahre Christen nennen, so bleibt es doch wahr, dass keineswegs alle Gläubige in Wahrheit mit dem Apostel zu sagen bereit sind: „Wenn wir Nahrung und Bedeckung haben, so wollen wir uns daran genügen lassen“, wenngleich sie der Lehre durchaus zustimmen, „dass Gottseligkeit mit Genügsamkeit ein großer Gewinn ist“. Theorie und Praxis, Lehre und Verwirklichung, sind und bleiben eben immer zwei sehr verschiedene Dinge. 
Vor allem ist es schlimm, wenn ein Herz sich so von den sichtbaren Dingen erfüllen und auf das Zeitliche richten lässt, dass es darüber die himmlischen und ewigen Dinge ganz vergisst und nur noch darauf sinnt, den zeitlichen Besitz zu mehren. Um in einen solchen Zustand zu kommen, braucht man nicht, wie manche vielleicht denken könnten, schon begütert zu sein. Die Gefahr, reich werden zu wollen, ist für uns alle da, ob wir nun viel oder wenig besitzen. Wie töricht ein solches Verlangen ist, beweist der Apostel kurz und kräftig mit den Worten: „Wir haben nichts in die Welt hereingebracht,. so ist es offenbar, dass wir auch nichts hinausbringen können“ (Vgl. Prediger 5, 15. 16). Wenn ein Mensch stirbt, muss er alle seine Reichtümer zurücklassen; „nicht folgt ihm hinab seine Herrlichkeit“ (Ps. 49, 16. 17). Wie töricht ist es also, „einzusammeln und aufzuhäufen“, Haus an Haus, Feld an Feld zu reihen! Es ist, wie der Prediger sagt, ein „Geschäft, das Gott dem Sünder gegeben hat“ (Kap. 2, 26). Fürwahr, ein ernstes Wort! 
 „Die aber reich werden wollen, fallen in Versuchung und Fallstrick und in viele unvernünftige und schädliche Lüste, welche die Menschen versenken in Verderben und Untergang“ (V. 6). Wie immer, tragen auch hier die Worte des Apostels den Stempel göttlicher Weisheit. Er nennt nicht den Erwerb oder Besitz irdischer Güter an und für sich verwerflich; was er so ernst tadelt, ist das eifrige  Trachten nach Hab und Gut, das Reichwerden wollen. Dass Wohlstand und Reichtum besondere Gefahren für den Besitzer in sich bergen, ist bekannt; sie können, geradeso wie Armut und Not, eine Quelle von schweren Versuchungen werden. Darum bittet schon Agur, der Sohn Jakes: „Armut und Reichtum gib mit nicht, speise mich mit dem mir beschiedenen Brote“ (Spr. 80, 8). Die Geschichte des reichen Obersten in Israel zeigt uns auch deutlich, wie der Reichtum der Seele im Wege stehen kann. Der Jüngling schätzte seine „vielen Güter'' zu hoch, um sie für Christum aufzugeben. Die Kosten gingen über sein Können hinaus; betrübt ging er von Jesu hinweg. Sein Reichtum hinderte ihn, der Welt den Rücken zu kehren und aus Christo alles zu machen. 
 Andererseits muss aber nicht der Reichtum ein Hindernis für die Seele sein. Wird auch der Pfad durch den Besitz irdischer Güter schwieriger und die Verantwortlichkeit größer, so kann doch der Reichtum in der Hand eines Gläubigen, der sich nur als einen Verwalter Gottes betrachtet, zu einer Quelle reicher Segnungen werden und zur Freude vieler und zur Verherrlichung Gottes dienen. Was so verkehrt und so sehr zu fürchten ist, ist eben der Wille, die Absicht, reich zu werden. 
In unsrer Stelle handelt es sich um Menschen, die reich werden wollen. Sie haben die bestimmte Absicht, einzusammeln und aufzuhäufen. Ein solches Begehren verrät Übel verschiedener Art. Zunächst Unzufriedenheit mit der Stellung, in welcher Gott einen Menschen berufen hat, dann Misstrauen in Gottes Güte und Weisheit, und schließlich denselben ungezügelten und ungerichteten Durst nach den Dingen dieser Zeit und Welt, der sich in den Ungläubigen zeigt. Weiß unser himmlischer Vater nicht, was wir bedürfen und was für einen jeden von uns gut und heilsam ist? Und sagt nicht unser Herr und Heiland: „Sammelt euch nicht Schätze auf der Erde, wo Motte und Rost zerstört, und wo Diebe durchgraben und stehlen; sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Rost zerstört, und wo Diebe nicht durchgraben noch stehlen; denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein''? 
Gläubiger Leser! lass mich fragen: Wo ist dein Schatz? Ist es Christus im Himmel? Wenn es so ist, glückselig bist du! Wenn du aber nach Reichtum oder Anerkennung in dieser Welt trachtest, so warnt dich dein Herr mit dem ernsten Wort: „Da wird auch dein Herz sein''. Nichts könnte falscher und verleitender sein als die den Worten unseres Herrn unmittelbar widersprechende Meinung, das Herz könne bei einem Leben, das in dem Ringen um Reichtum und Besitz dahineilt, dennoch treu für den Herrn sein. Gott bewahre uns in Gnaden vor einem solchen Irrwege! Wer auf ihn gerät, kann wahrlich nicht sagen, dass es ihm an der nötigen Mahnung und Warnung im Worte Gottes gefehlt habe. Nein, wenn „mein Auge einfältig ist, so wird mein ganzer Leib licht sein''. Ist darum mein Leib auch nur in einem Punkte finster, so folgt daraus, dass mein Auge „böse“ ist. ,,Wenn aber das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß die Finsternis!'' (Vgl. Matth. 6, 19 - 23.) So deckt denn der Herr in Seiner Treue Quelle und Beweggründe auf und enthüllt die ganze Blindheit, die infolge des Mangels an Einfalt  über eine Seele kommen kann. Möchten wir alle mehr dem „klugen Manne“ gleichen, der die Worte des Herrn hört und nach ihnen handelt! 
Wie ernst sind die Folgen, die der Apostel auch hier dem Reichwerden wollen zuschreibt! Die aber reich werden wollen, fallen in Versuchung und Fallstrick. Das Fallen in Versuchung ist etwas anderes als versucht werden. Das letztere ist schmerzlich, es bedeutet für die Gegenwart „nicht Freude, sondern „Traurigkeit“; aber „glückselig der Mann, der die Versuchung erduldet!“ Der Herr selbst hat wie kein anderer erfahren, was schwere, — schmerzliche Versuchungen sind. Freilich konnte der zweite Mensch, so wie Gott nicht versucht werden kann vom Bösen und selbst niemand in dieser Weise versucht, nicht vom Bösen versucht werden, zu Gottes Verunehrung, wie es bei dem ersten Menschen sogleich zu seinem Verderben und dem seiner ganzen Nachkommenschaft der Fall war. Wohl trat das Böse an Ihn heran; aber anstatt ihm für eine augenblickliche Erleichterung Seiner Lage nachzugehen, litt Er. In Seinem Falle war die Versuchung, so vollständig sie war, doch nicht mit Sünde verbunden, sie fand keinerlei Anknüpfungspunkte in dem „Heiligen“, während Adam sich durch die Lust betören und zum Misstrauen und Ungehorsam. gegen Gott verleiten ließ. Christus kannte keine inneren Versuchungen, wie wir sie kennen. Er fiel oder kam nie in eine Versuchung, wie es bei uns geschieht, wenn wir nicht wachen und beten. In eine Versuchung zu „kommen“ oder zu „fallen“ ist, wie wir bei Simon Petrus sehen, verhängnisvoll, wenn auch durch die Fürbitte des Herrn der Glaube des unglücklichen Jüngers nicht aufhörte und er nach seiner Rückkehr oder Wiederherstellung von Gott zur Stärkung seiner Brüder benutzt werden konnte. 
 Ein „Fallstrick“ geht noch weiter als eine „Versuchung“. Das Wort schließt den Gedanken in sich, dass die betrogene Seele bereits in das Netz des Feindes geraten ist, aus welchem nur die Gnade und Macht des Herrn sie befreien .kann.
Doch der Wunsch, reich zu werden, hat noch andere schlimme Folgen. „Die Geldliebe ist eine Wurzel alles Bösen“ (V. 10). Sie verleitet auch zu „vielen unvernünftigen und schädlichen Lüsten“. Sie nährt z.B. die Eitelkeit, dient der Selbstsucht, erzeugt Stolz und Hochmut, befördert den Ehrgeiz und wird so vielleicht das Mittel, um auch andere zu verderben. Der Apostel sagt wahrlich nicht zu viel, wenn er von „vielen unvernünftigen und schädlichen Lüsten“ redet. 
Und ist der Weg schon traurig und böse, so ist das Ende desselben erst recht schlimm; man könnte es sich gar nicht ernster denken. Die Lüste, von denen der Apostel spricht, versenken „die Menschen in Verderben und Untergang“. Es ist hier allerdings allgemein von „Menschen“ die Rede, nicht von „Gläubigen“; aber es gibt schreckliche Beispiele (vielleicht ist uns selbst das eine oder andere bekannt) von Leuten, die einst ihren Platz unter den Gläubigen hatten und ohne Zögern als solche anerkannt wurden und heute tieftraurige Wege gehen. Je mehr ein Mensch, der an Christum zu glauben bekennt, weiß und besitzt, desto gewissenloser und hoffnungsloser wird sein Abirren von dem, was dem Namen des Herrn geziemt, wenn er einmal den guten Weg verlässt. 
„Verderben“— ist die allgemeine Bezeichnung für den dann eingetretenen Zustand und dessen Gericht; „Untergang“ malt dieses Gericht mit noch schrecklicherer Genauigkeit. Darum noch einmal: Hüten wir uns vor Satans „Fallstricken“, vor allem vor der Meinung, dass ein äußeres, rechtgläubiges Bekenntnis des Namens des Herrn bewahren könne vor den tödlichen Folgen einer Untreue, die das Wort Gottes vernachlässigt und dem Willen die Zügel schießen lässt. Gott lässt sich nicht spotten, und die auf das Fleisch säen, müssen vom Fleische Verderben ernten. Das Ende von allem diesem ist der Tod — „wenn ihr nach dem Fleische lebet, so werdet ihr sterben'' — und das umso unwiderruflicher da, wo das Wort, anstatt seine lebendige Kraft zu offenbaren, zu einer toten Lehre wird, wo der ernste Ruf Gottes, in Heiligkeit und Selbstgericht, in Absonderung von der Welt zu wandeln, überhört wird und die unbesonnene Seele sich mehr und mehr in Heuchelei und Verhärtung verliert. Wie schon gesagt, erschreckende Beispiele mahnen zu heiligem Ernst. Und ist etwa ihre Zahl erschöpft? Brauchen wir heute nicht mehr wachsam zu sein? Der Leser wolle selbst antworten. „Denn die Geldliebe ist eine Wurzel alles Bösen, welcher nachtrachtend etliche von dem Glauben abgeirrt · sind und sich selbst mit vielen Schmerzen durchbohrt haben“ (V. 10). Wieder ein ernstes, aber nicht zu weitgehendes Wort, über das wir alle nachsinnen sollten, mögen auch „etliche“, wie der Apostel es andeutet, mehr der Gefahr ausgesetzt sein, als andere. Die Wirkungen des Giftes, das so still und verborgen wirken kann, sind überaus verhängnisvoll. Die Menschen reden sich ein, Geld und der Wunsch. Geld zu besitzen, sei die Quelle von mancherlei „Gutem“. Was will man nicht alles tun, wenn man nur recht viel Geld besäße! Aber Gott nennt die Geldliebe eine 'Wurzel alles „Bösen“, ob klein oder groß, sein oder grob, in fleischlichem oder geistlichen! Sinne. So hatte schon der Herr Seine Jünger gewarnt vor den Sorgen des Lebens, dem Betrug des Reichtums und der Begierde nach den übrigen Dingen; und der Schreiber des Hebräerbriefes ruft mahnend: „Der Wandel sei ohne Geldliebe; begnüget euch mit dem, was vorhanden ist“ (Kap. 13, 5). 
Das Christentum ist ohne Zweifel aus Glauben, ja, es ist ,,der Glaube«; aber wenn es wirklich ist, so offenbart es sich in Leben und Taten, nicht in einem bloßen Bekenntnis. Es ist Christus, lebend in jedem Gläubigen, wie der Apostel von sich selbst sagt: „nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal. 2, 20); und er sagt das nicht etwa in seiner amtlichen Eigenschaft als Apostel. sondern einfach als ein Gläubiger wie alle übrigen, um so dem ganzen Haushalt des Glaubens zum Beispiel und Vorbild zu dienen. Nun ist aber die Geldliebe eine so verderbliche Wurzel des Bösen, dass ihr verführerischer Einfluss als erste in der Reihe der Gefahren genannt  wird. In Kol. 3, 5 führt Paulus die „Habsucht“ unter den Dingen an, um derentwillen der Zorn Gottes über die Söhne des Ungehorsams kommt, und nennt sie „Götzendienst“; und in Eph. 5, .5 sagt er: „Dieses wisset und erkennet, dass kein Hurer oder Unreiner oder Habsüchtiger, (welcher ein Götzendiener ist,) ein Erbteil hat in dem Reiche Christi und Gottes“. Das an beiden Stellen im Griechischen gebrauchte Wort mag in seiner Tragweite über das hier stehende hinausgehen, aber sicher ist Geldliebe mit eingeschlossen in jene ungezähmte Sucht, die sich zu einer den ganzen Menschen hinnehmenden, götzendienerischen Leidenschaft auswächst, welche jeden wahren Dienst für den Herrn unmöglich macht und schließlich jede Ehrfurcht vor dem wahrhaftigen Gott tötet. 
Überdies durchbohrt sie die, welche ihr nachtrachten, mit vielen Schmerzen. Es ist fast unmöglich, in der Jagd nach Geld und Gut hier den Betrug, dort die Verstellungskunst zu vermeiden, dem einen mit harten Worten begegnen, den anderen mit sanften Reden gewinnen zu müssen, Menschen, Dinge und Zeiten zu seinen selbstsüchtigen Zwecken auszubeuten, ohne auf die Gefühle und Umstände anderer, und noch weniger auf Christum und Gott Rücksicht zu nehmen. Und gerade der Erfolg ist es, der die meisten Schmerzen bringt; im Allgemeinen können die, welche die größten Erfolge aufzuweisen haben, auch von den peinlichsten Enttäuschungen berichten. Es war ebenso und wird immer so bleiben: Wer hastig ist reich zu werden, wird weder schuldlos sein, noch ungestraft bleiben, aber ein treuer Mann wird viel Segen haben, und „die Folge der Demut, der Furcht Jehovas, ist Reichtum und Ehre und Leben“ (Vgl. Spr. 22, 4; 28, 20. 22). 
 Der Apostel schließt seine Ausführungen über das Reichwerdenwollen mit dem ergreifenden Ausruf: „Du aber, o Mensch Gottes, flieht diese Dinge; strebe aber nach Gerechtigkeit, Gottseligkeit, Glauben, Liebe, Ausharren, Sanftmut des Geistes“ (V. 11). Wir finden die Bezeichnung „Mensch Gottes“ im Neuen Testament nur in den Timotheusbriefen, entsprechend dem Charakter derselben; im Alten Testament entspricht ihr wohl der Titel der Propheten: „Mann Gottes“. Gin Mensch Gottes ist ein Vertreter Gottes auf dieser Erde, berufen, Ihn vor den Menschen darzustellen. Der Einzige, der dies vollkommen getan hat, der deshalb auch in einem nur Ihm zukommenden Sinne „der Mensch Gottes“ genannt werden kann, ist Jesus. Wir, die Gläubigen, sind „Menschen Gottes“, wie Timotheus einer war, Werkzeuge in der Hand des „Hausherrn“ (vergl. 2. Tim. 2, 21; 3, 17), von Gott dazu bestimmt, Ihn inmitten der Menschenkinder kundzumachen. Dazu sind zwei Dinge nötig: fliehen und streben. Der göttliche Grundsatz: „stehe ab vom Bösen und tue Gutes'', behält immer — seine Gültigkeit und Kraft. Als Menschen, in denen die Sünde wohnt und die immer geneigt sind, ihren Einflüssen nachzugeben, müssen wir zunächst von alledem abstehen, ja, alles das fliehen, was der Natur und dem Wesen Gottes zuwider ist; dann erst können wir dem Guten nachstreben und uns als „Nachahmer Gottes“ erweisen. 
Wie ernst und eindringlich sind beide Worte: fliehe — strebe! Wir finden sie auch in 2. Tim. 2, 22: „Die jugendlichen Lüste aber fliehe; strebe aber nach Gerechtigkeit, Glauben usw.“ (Vgl. 1.Kor. 6, 18; 10, 14; Hebr. 12, 14 und a. St.) Möchten sie auch in unseren Herzen ein Echo finden und sich in unserem Leben wirksam erweisen, damit wir als „Menschen Gottes'' unserer hohen Berufung entsprechen! 

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Übrigens

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 39ff

Unsere Betrachtung führt uns heute in die beiden Briefe an die Thessalonicher, welche die Wahrheit von der Wiederkunft des Herrn Jesus in besonders lebhafter Weise vor die Seele des Gläubigen stellen. Diese Tatsache ist umso auffallender, nicht nur weil die Briefe die ersten sind, welche Paulus überhaupt geschrieben hat, sondern auch weil die Empfänger derselben junge, noch wenig erfahrene Gläubige waren. Sie beweist also einerseits, dass die Hoffnung auf die Ankunft unseres Herrn und Heilandes das Herz des Apostels selbst mit Freude und Trost erfüllte, und andererseits, dass sie nicht etwa nur für bewährte, gereifte Christen bestimmt ist, sondern gerade die jungen, in der Frische ihrer ersten Liebe stehenden Herzen ermuntern und erfreuen soll. 
Die Unterweisungen des treuen Knechtes Gottes antworten in warmer, überströmender Liebe auf die kostbaren Ergebnisse seiner Arbeit in dieser jungen Versammlung, die einem lieblichen Garten voll duftender Blumen und vielversprechender Fruchtbäumchen glich. Mit welch dankbarer Freude gedenkt er ihres „Werkes des Glaubens“, ihrer „Bemühung der Liebe“ und des „Ausharrens der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus“ Diese drei geistlichen Elemente, von welchen wir im Neuen Testament immer wieder hören, waren in ihrer Mitte vorhanden und in der Kraft und Freude des Heiligen Geistes wirksam. Die Thessalonicher waren so den Gläubigen nicht nur in Mazedonien (wo Philippi lag), sondern auch in ganz Achaja (im Süden von Griechenland) zu Vorbildern geworden. Und dafür dankte der Apostel „allezeit, unablässig eingedenk“ all des Guten, das Gott in ihnen gewirkt hatte.  
Fragen wir uns im Vorbeigehen, ob auch wir immer so bereit sind, die Früchte des Geistes Gottes in den Gläubigen um uns her anzuerkennen. Wir wissen wohl etwas von Mitgefühl und Fürbitte für die Heiligen, wenn sie in Druck, Not, Gefahr etc. sind; aber werden" unsere Herzen auch so von teilnehmender Freude bewegt, wenn wir von dem Wirken der Gnade Gottes in ihnen hören, die Gott doch errettet und um Seinen geliebten Sohn gesammelt hat? Sind sie nicht vielmehr häufig verengt durch die niedrigen, zerrütteten Zustände unter den einst so innig vereinten Gliedern des Leibes Christi? Wir sind meist schnell bereit, zu urteilen, zu kritisieren, zu bemängeln, uns abzuschließen, aber so langsam in der freudigen und dankbaren Anerkennung dessen, was Gottes Gnade in anderen tut, sind so schwach in der Gnade, die nach Früchten der Gnade in anderen ausschaut, die gewinnend, heilend, helfend oder wiederherstellend wirkt. Der Apostel und seine Gefährten handelten anders. Ohne Zweifel ist viel Gnade nötig, um auch geringe Spuren ihres Wirkens in anderen zu erkennen und anzuerkennen; aber solche Gnade ist in" unserem Herrn, so handeln, heißt Ihm ähnlicher werden. Vergessen wir es nicht! 
Die Wahrheit von der Ankunft des Herrn wird in dem 1. Thessalonicherbrief bekanntlich mit allen Umständen des christlichen Lebens in Verbindung gebracht; kein einziges Kapitel lässt sie unerwähnt. Im ersten Kapitel hören wir, dass die Thessalonicher sich von den Götzenbildern zu dem lebendigen und wahren Gott bekehrt hatten, um Ihm fortan zu dienen und Seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten, der sie erretten würde von dem kommenden Zorn. Am Ende des 2. Kapitels redet der Apostel von der Anerkennung und Belohnung, welche er und jeder treue Arbeiter bei jener Ankunft seitens des Herrn finden wird. Seine Ruhmeskrone würden gerade die Thessalonicher sein. In jener Stunde wird auch der Wandel, das persönliche Leben eines jeden im Lichte offenbar werden. Darum bittet Paulus am Ende des 8. Kapitels, dass der Herr ihre Herzen „tadellos in Heiligkeit befestigen möge vor unserem Gott und Vater, bei der Ankunft unseres Herrn Jesus mit allen Seinen Heiligen“. Im 4. Kapitel endlich erscheint die Ankunft des Herrn als der wirksamste Trost bei dem Tode von Gläubigen, als unsere kostbarste Hoffnung, weil sie uns die Einführung in die Gegenwart unseres Herrn droben bringt—„also werden wir allezeit bei dem Herrn sein“!; und schließlich im 5. Kapitel führt sie das schonungslose Gericht der Welt herbei, während Gott alle die Seinigen nach Geist, Seele und Leib tadellos für sie aufbewahrt.
Im Anschluss an seinen Wunsch, dass die gläubigen Thessalonicher tadellos in Heiligkeit vor Gott erscheinen möchten, sagt dann der Apostel im Beginn des 4. Kapitels: „übrigens nun, Brüder, bitten und ermahnen wir euch in dem Herrn Jesus, wie ihr von uns empfangen habt, in welcher Weise ihr wandeln und Gott gefallen sollt, wie ihr auch wandelt, dass ihr reichlicher zunehmet“. Der große, von Gott so hoch begnadigte Mann bittet seine Brüder! Welche einen tiefen Eindruck wird dieses „übrigens“ und die damit verbundene Bitte des geliebten Apostels auf die versammelte Herde in Thessalonich gemacht haben, als der Brief zum ersten Mal vorgelesen wurde und wie werden die rührenden Worte immer wieder in den Herzen nachgetönt haben! — Sollte es bei uns anders sein?
Es ist etwas Außerordentliches für solche, die einst Menschen waren wie die übrigen, von Gott und auch voneinander getrennt durch die Sünde, nur vereinigt, wenn es sich um Zwecke des menschlichen Willens und Ehrgeizes handelte, nunmehr als, Gottes Kinder mit gemeinsamem Herzensentschluss so zu wandeln, wie es Gott gefällt. Und das hatten die Thessalonicher getan, der Apostel durfte es mit Freuden anerkennen. Sie hatten ihren Wandel dem des Apostels nachgebildet, der im Blick auf seine Mitarbeiter sagen durfte: „Ihr seid Zeugen und Gott, wie göttlich und gerecht und untadelig wir gegen euch, die Glaubenden, waren“. Nacht und Tag hatte er gearbeitet, um niemand beschwerlich zu fallen, sondern ihnen ein gutes Vorbild zu geben, wie sie wandeln sollten würdig des Gottes, der sie zu Seinem eigenen Reiche und zu Seiner eigenen Herrlichkeit berufen hatte (Kap. 2, 9 — 11). Diesem Vorbild hatten sie nachgeeifert: sie wandelten, wie sie es von dem Apostel empfangen und an ihm gesehen hatten. Wieder eine Erinnerung an das schon von uns behandelte „übrigens“ in Phil. 4, 8. 9. Ob in Philippi oder in Thessalonich, in Korinth oder in den Gemeinden Kleinasiens — überall hatte der Apostel den Wohlgeruch Christi um sich her verbreitet, überall war Gott durch ihn und an ihm verherrlicht worden. Treuer Mann! Was sollen wir solcher Hingebung gegenüber sagen? Sollten wir nicht einander zurufen: „übrigens, Brüder, lasst uns seine Nachahmer sein und so wandeln, wie wir ihn zum Vorbild haben!“?  
Ja, nicht nur das! Paulus bittet und ermahnt, dass die Thessalonicher noch „reichlicher zunehmen“ möchten. Sie wandelten in Treue vor Gott, sie liebten die Brüder (V. 9), sie ermunterten und erbauten einer den anderen (Kap. 5, 11), aber sie sollten dabei nicht stehen bleiben, nicht darin ruhen, — Stillstehen bedeutet Zurückgehen —— sondern in allem Guten reichlich zunehmen (Vgl. auch V. 10). Das war der Wille Gottes gegen sie, das Gebot, das Paulus ihnen durch den Herrn Jesus gegeben hatte (V. 2), der als abhängiger Mensch selbst einst sprach: „Der mich gesandt hat, ist mit mir;“ Er hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit das vor Ihm Wohlgefällige tue“ (Joh. 8, 29). Ist das auch unser Wunsch, unser Herzensentschluss, teurer Leser? Wir mögen immer wieder fehlen und zu kurz kommen; aber ist das unser aufrichtiges Begehren?" Dann wird Er nimmer verfehlen, uns durch Sein Wort und Seine Gnade zu Hilfe zu kommen. 
In seinem zweiten Briefe an die Thessalonicher leitet der Apostel eine Bitte ganz anderer Art mit dem bekannten „übrigens“ ein. Nachdem er im 1. und 2. Kapitel den falschen Lehren einiger böser Arbeiter über die „Ankunft“ und den „Tag“ des Herrn entgegengetreten ist, beiden ihren richtigen Platz gegeben und seine Belehrungen geschlossen hat mit dem ergreifenden Wunsche: „Er selbst aber, unser Herr Jesus Christus, und unser Gott und Vater, der uns geliebt und uns ewigen Trost und gute Hoffnung gegeben hat durch die Gnade, tröste eure Herzen und befestige euch in jedem guten Werke und Wort“, beginnt er das 3. Kapitel mit den Worten: 
„Übrigens, Brüder, betet für uns, dass das Wort des Herrn laufe und verherrlicht werde, wie auch bei euch, und dass wir errettet werden von den schlechten und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht aller Teil.“' Schon am Schluss des ersten Briefes hatte er seine geliebten Kinder im Glauben gebeten, für ihn zu beten (Kap. 5, 25). Hier wiederholt er die Bitte, indem er zugleich ihrer Fürbitte eine besondere Richtung anweist. Es ist kostbar zu sehen, wie die Gnade die Herzen aller Gläubigen durch Christum miteinander verbindet. Der Apostel war ohne Zweifel der begabteste und tatkräftigste Knecht, den der Herr je erweckt hat, um Seine Erkenntnis in der ganzen Welt zu verbreiten. In ihm fand die Berufung der unumschränkten Gnade wohl ihren höchsten Ausdruck. Er hatte das Evangelium nicht durch einen Menschen empfangen, noch war er durch Menschen belehrt worden, sondern alles war ihm durch unmittelbare Offenbarung Jesu Christi mitgeteilt worden. Und als es Gott, der ihn von seiner Mutter Leibe an abgesondert und durch Seine Gnade berufen hatte, wohlgefiel, Seinen Sohn in ihm zu offenbaren, auf dass er Ihn unter den Nationen verkündige, war er nicht mit Fleisch und Blut zu Rate gegangen, noch auch zu denen hinaufgezogen, die vor ihm Apostel waren (Gal. 1, 12 — 17). Aber derselbe Mann, der von Gott in einer solchen Weise ausgezeichnet worden war, bittet hier ernstlich um die liebende Gebetsteilnahme der jüngsten Brüder, seiner eigenen neugeborenen Kindlein im Glauben, bei seiner schweren, weltumspannenden Arbeit, sowohl hinsichtlich des Evangeliums als auch der Auferbauung der Gläubigen. Während also auf der einen Seite niemand und nichts zwischen den auferstandenen Herrn und Seinen Diener hienieden treten darf, ist auf der anderen Seite dieser in seiner göttlichen Sendung so gänzlich von Menschen unabhängige Mann der von der Leitung und dem Beistand von oben am meisten abhängige, und deshalb begehrt er auch am meisten nach den bewahrenden, unterstützenden Gebeten der Gläubigen. Wie groß erscheint zugleich die Weisheit Gottes darin, dass Er alles so ordnete! Denn nicht nur Paulus und seine Gefährten ernteten den Segen der Fürbitte jener jungen Gläubigen, auch diese selbst wurden durch die Beschäftigung mit dem, was dem Herzen ihres Herrn und Heilandes am nächsten stand, erhoben und gereinigt; Denn es ist unmöglich, in wirklich ernster, praktischer Fürbitte für andere tätig zu sein ohne Übung des eigenen Herzens und Gewissens. Die Beschäftigung mit dem, was den Herrn und Sein Wort verherrlicht und Sein Werk fördert, dient zur Befreiung von dem eigenen Ich und seinen Interessen und zur Lösung von der Welt und ihren Dingen. Und wenn in Thessalonich selbst das Wort des Herrn lief und verherrlicht wurde, wie es. ja der Fall war, so konnten sie umso einfältiger und dringender bitten, dass es auch anderswo so sein möge. O wie schön und gesegnet ist es, wenn in einer Versammlung keine inneren Verwicklungen, keine vor Gott und Menschen demütigenden Vorkommnisse den Geist niederdrücken und den freien Ausfluss der Herzen in der Fürbitte für die Segnung anderer hindern! Im vorliegenden Falle  konnte Paulus freimütig bitten, und die gläubigen Thessalonicher konnten der Bitte ohne Behinderung und Zögern entsprechen. 
Beachten wir bei dieser Gelegenheit, dass der Apostel nicht alle Gläubige, an die er seine Briefe richtete, um ihre Fürbitte gebeten hat. In den Briefen an die Korinther und Galater suchen wir umsonst nach einer solchen Aufforderung. Der Zustand dieser Gläubigen erlaubte ihm nicht, sie an diesem Vorrecht teilnehmen zu lassen. Geradeso wie die Bitte um die Gebete der Gläubigen bei dem Bittenden stets einen guten geistlichen Zustand, zur Vorbedingung haben sollte — „betet für uns“, lesen wir in Hebr. 18, 18, „denn wir halten dafür, dass wir ein gutes Gewissen haben, da wir in allem ehrbar zu wandeln begehren“— geradeso sollte und wird wohl auch niemals ein geistlich gesinnter Christ einen leichtfertigen, untreuen Mitgläubigen auffordern, fürbittend für ihn bei Gott einzutreten. Wie könnte auch die Fürbitte eines solchen wirksam und vor dem wahrhaftigen Gott angenehm sein? Es heißt nicht umsonst, dass das Gebet eines Gerechten viel vermag. 
Nachdem der Apostel dann seine geliebten Kinder der Treue des Herrn versichert hat, der sie inmitten der schlechten und bösen Menschen, angesichts aller Feinde und Schwierigkeiten, „befestigen und vor dem Bösen bewahren“ werde, fährt er fort: „Wir haben aber im Herrn das Vertrauen zu euch, dass ihr, was wir gebieten, sowohl tut als auch tun werdet“. Nicht nur wusste der um das Wohl der Herde besorgte Diener, dass seines Herrn Treue dem Glauben in den Thessalonichern, so mangelhaft auch ihre Erkenntnis und Erfahrung noch  sein mochten, antworten würde, sondern er zweifelte auch keinen Augenblick daran, dass sie ebenso eifrig sein würden, den Willen, des Herrn zu tun, wie er bereit war, das Gute in ihnen anzuerkennen. Welch ein kostbares Verhältnis liebenden Vertrauens zwischen einem Diener des Herrn und den seiner Hut und Weide anvertrauten Gläubigen! Gott gebe, dass es sich auch in unseren Tagen der „kleinen Kraft“ und „kleinen Dinge“ mehr verwirklicht finden möchte! 
Paulus schließt diesen Teil seiner Belehrung mit den Worten: „Der Herr aber richte eure Herzen zu der Liebes Gottes und zu dem Ausharren des Christus!“ Fürwahr, ein lieblicher Schluss! Könnte irgend Etwas wirkungsvoller unsere Seelen stärken oder im Gehorsam bewahren? Die Liebe Gottes — nicht unsere Liebe zu Ihm! Es wäre nicht der Mühe wert, unsere Herzen auf diese zu lenken, und nie wird der Herr es tun. Aber die Liebe Gottes, diese volle, große, nie endende und nie fehlende Liebe, in welcher Gott Sein Wesen hat, Seine Ratschlüsse fasst, sich gegen uns offenbart hat und stets mit uns handelt, die ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt, diese Liebe, deren ganze Fülle uns in Christo und Seinem Werke entgegentritt, ist wahrlich ein Gegenstand, auf den unsere Herzen nie genug und nie zu eingehend gerichtet werden können. Die Beschäftigung mit ihr befreit uns von jeder Eigenliebe und wirkt in uns einen schwachen Widerschein ihrer Natur und Schönheit, und das ohne irgendwelche Anstrengung unserseits. „Wir lieben, weil Er uns zuerst geliebt hat.“ Wir können gar nicht anders.
Und „das Ausharren des Christus“! Der Apostel . denkt hier kaum an das Ausharren unseres Herrn, als Er in den Umständen dieses Lebens hienieden wandelte, so wichtig und gesegnet es für uns sein mag, dasselbe zu betrachten und nachzuahmen; nein, es handelt sich hier wohl um das geduldige Harren Christi auf die Begegnung mit Seiner geliebten Braut, auf jene herrliche Stunde, da Seine Erlösten, in Sein Bild verwandelt, mit Ihm vor den Vater hintreten sollen. Darauf wartet Er mit Ausharren im Himmel, während wir hienieden warten und „das Wort Seines Ausharrens bewahren“ (Offb. 3, 10). Vielleicht wird manchem Leser diese Erklärung im Blick auf seine und unser aller Unwürdigkeit mehr als gewagt erscheinen. Aber wenn unsere Würdigkeit oder Unwürdigkeit in Frage käme, würde keiner von uns die selige Freude jener Stunde erleben; ferner wollen wir nicht vergessen, dass da, wo die größte Liebe ist, auch immer das tiefste Verlangen nach dem Gegenstand der Liebe sich kundgeben wird, ganz gleich ob dieser würdig oder unwürdig ist. Und auf welcher Seite die größte Liebe sich findet, — bei uns oder bei Christo, bedarf keines weiteren Wortes. 
So begegnen wir hier denn grundsätzlich denselben beiden Gegenständen oder Elementen wie im 1.Kapitel des 1. Briefes. Hörten wir dort, dass die Thessalonicher ihre Herzen dem lebendigen Gott geschenkt hatten, um Ihm zu dienen und Seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten, so werden hier ihre Herzen auf die Liebe dieses Gottes gelenkt, sowie aus die Erfüllung des sehnenden Verlangens des Sohnes, Seine Geliebten in die Herrlichkeit einzuführen, welche aller Welt zeigen wird, dass der Vater Ihn gesandt und uns geliebt hat, gleichwie Er Ihn geliebt hat. Was könnte auch das geistliche Wohl, die Freude und das innere Wachstum der Gläubigen mehr fördern, als diese beiden Stücke? So richte denn der Herr auch unsere Herzen zu der Liebe Gottes und zu dem Ausharren des Christus!

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Der Weg Kains

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 49ff

„Wehe ihnen! denn sie sind den Weg  Kains gegangen“ (Judas 11). 
 Das vierte Kapitel des 1. Buches Mose teilt uns ein wichtiges, aber auch zugleich erschütterndes Ereignis mit. Der Sündenfall hatte mit einem Schlage alles verändert. Adam und Eva waren aus dem Paradiese vertrieben und aßen nun, außerhalb desselben wohnend, „mit Mühsal die Frucht des Erdbodens''. Zwei Söhne wurden ihnen geboren, Kain und Abel,  aber nichts Näheres wird über deren Jugend, Erziehung etc. erzählt. Was wir hören, ist nur, dass der eine ein Schafhirt, der andere ein Ackerbauer wurde, und dass beide, nach Verlauf einiger Zeit, Gott eine Opfergabe darbrachten. Auf diese Tatsache lenkt der Geist Gottes in besonderer Weise unseren Blick, und hier zeigt sich auch der erste Teil des Weges Kains. 
„Und es geschah nach Verlauf einer Zeit, da brachte Kain dem Jehova eine Opfergabe von der Frucht des Erdbodens'' (V. 3). Kain, der Ackermann, hatte im Schweiße seines Angesichts der Erde seine Speise und seine Opfergabe abgerungen. Aber indem er die Früchte der Erde als Opfer darbrachte, verriet er deutlich, dass ihm die Ursache, weshalb er im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen musste, gleichgültig war. Es war ihm nicht unbekannt geblieben, weshalb seine Eltern das Paradies hatten verlassen müssen, aber die Art seines Nahens zu Gott bewies, dass ihm jedes Gefühl über das Geschehene, mit einem Wort, jede Sündenerkenntnis fehlte. Er handelte wie ein Mensch, der wohl weiß, dass er Gott etwas schuldet, der aber nun seine Schuld dadurch abtragen oder wieder gut machen will, dass er das Beste, was er herbeizuschaffen vermag, Gott anbietet. Kains Begriffe über seine Stellung zu Gott waren grundfalsch. Wie hätte der heilige Gott eine Gabe von dem sündigen Menschen annehmen können, solang dieser nicht mit Ihm versöhnt war? Wie könnte Er es heute tun? Gott muss zuerst den Sünder begnadigen, ehe Er etwas aus seiner Hand annehmen kann;" nur ein begnadigter Mensch. kann Werke tun, die Gott gefallen und Ihn Verherrlichen. 
Der „Weg Kains“ aber zeigt deutlich-, dass er umgekehrt sich zum Geber und Gott zum Empfänger machen wollte. Seine Opfergabe, die Frucht seiner Mühe, sollte das Mittel zur Befriedigung Gottes im Blick auf die Sünde werden. Dafür wählte er ohne Zweifel das Beste, er suchte die schönsten und saftigsten Früchte aus, um sie auf dem Altar hoch aufzuschichten. Und als nun Gott seinem Opfer keine Beachtung schenkte, . da war er nicht wenig erstaunt. 
 Der Weg Kains tritt noch schärfer ans Licht, wenn wir Abels Tun mit ihm vergleichen. Im Neuen Testament lesen wir: „Durch Glauben brachte Abel 51 Gott ein vorzüglicheres Opfer dar als Kain“. Im 1. Buche Mose erzählt der Heilige Geist dasselbe Ereignis mit den .Worten: „Und Abel, auch er brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und Jehova blickte auf Abel und auf seine Opfergabe; aber auf Kain und seine Opfergabe blickte Er nicht“ (V. 4. 5). Durch Glauben wurde Abel in seinem Handeln geleitet. Er würde auch ein Lamm gebracht haben wenn er Ackermann gewesen wäre. Durch sein Opfer erkannte er an, dass das Todesurteil über den Menschen ausgesprochen und die Erde um des Menschen willen verflucht worden war; und er tat dies, bevor" noch der Tod wirklich eingetreten war. Bis dahin war noch kein Mensch auf Erden gestorben, und es hatte wohl auch noch keine Krankheit an das in Eden Geschehene erinnert. Umso eindringlicher tritt in seinem Tun der Glaube hervor, jener Glaube, der nicht nur das Urteil Gottes rechtfertigt, sondern auch die Notwendigkeit eines Mittlers anerkennt. 
Kain war also ganz und gar unwissend über den Umstand, dass die Sünde eine unübersteigliche Kluft zwischen Gott und den Menschen aufgerichtet hat, und wähnte, Gott nahen und Ihm wohlgefällig sein zu können ohne einen Mittler, auf Grund eigenen Tuns und eigener Anstrengung. Der „Weg .Kains“ ist somit einerseits ein Weg der Auflehnung gegen Gott, der den Sünder nur auf dem von Ihm bezeichneten und bereiteten Wege annehmen kann, und des Neides gegenüber dem Menschen, der auf diesem Wege gerechtfertigt wird. Das Auge Kains blickte böse, weil Gott gütig war (Vgl. Matth. 20, 15). 
 „Und Kain ergrimmte sehr, und sein Gesicht senkte sich.? Gott redete freundlich mit ihm und stellte ihm in wunderbarer Herablassung das Törichte seines Tuns vor. Aber auch die gnädigen Fragen des Herrn vermochten seinen Blick nicht zu erhellen, und der Hinweis auf den Weg zur Umkehr und Begnadigung für ihn blieb unbeantwortet. Voll grimmiger Eifersucht lockte er seinen nichts ahnenden Bruder aufs Feld, „und es geschah, als sie auf dem Felde waren, da erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und erschlug ihn''. 
Das ist das erste Blatt in der blutigen Geschichte der Verfolgung der aus dem Geiste Geborenen, der Kinder Gottes, durch die aus dem Fleische Geborenen, die Kinder dieser Welt, oder der Geschichte des Hasses des natürlichen, religiösen Menschen gegen die Gnade. Was hier in die Erscheinung tritt, hat sich all die Jahrtausende hindurch fortgepflanzt bis auf unsere Tage, so dass der „Weg Kains“ einem dunklen Faden gleicht, der das älteste Jahrhundert der Geschichte der Menschheit mit der Gegenwart verknüpft. 
In sehr eindrucksvoller Weise zeigt uns der Herr in der Geschichte von dem verlorenen Sohn den „Weg Kains“, indem Er uns einen Blick tun lässt in das Herz des ältesten Sohnes. Während der Vater mit dem ganzen Hause ein Freudenfest begeht, weil der Verlorene wiedergefunden ist, wird er zornig und will nicht ins Haus gehen. „Sein Vater aber ging hinaus und drang in ihn'', aber alle seine Bitten und Vorstellungen waren vergeblich. — Sieh da, mein Leser, den „Weg Kains“, den Weg des Mannes, dem Jehova einst zurief: „Warum bist du ergrimmt, und warum hat sich dein Antlitz gesenkt?“
Und war nicht der Herr Jesus selbst der Abel Seiner Zeit? Und wer entdeckte nicht in den Hohenpriestern, den Schriftgelehrten und Ältesten den Kain jener Tage? Pilatus erkannte deutlich genug, „dass sie Ihn aus Neid überliefert hatten“. Das Wohlgefallen Gottes, das sichtbarlich auf Jesu ruhte (Apg. 2, 22), hatte den Zorn der Juden wachgerufen, denn dieses Wohlgefallen stempelte ihre eigenen religiösen Übungen als Eitelkeit. „Wehe ihnen! denn sie sind den Weg Kains gegangen.“ „Alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen wurde, von dem Blute Abels, des Gerechten, bis zu dem Blute Zacharias, des Sohnes Barachias“, der um seines treuen Zeugnisses willen ermordet wurde, wird über sie kommen (Matth. 23, 85). 
 Denselben Weg finden wir auch bei der Verfolgung des Stephanus, und Saulus, der Pharisäer, der anfänglich selbst auf diesem Wege wandelte, aber durch die Gnade davon entfernt wurde, sagt später von seinen Volksgenossen: „sie gefallen Gott nicht und: sind allen Menschen entgegen, indem sie uns wehren, zu den Nationen zu reden, auf dass sie errettet werden, damit sie ihre Sünden allezeit vollmachen; aber der Zorn ist völlig über sie gekommen“ (1. Thess. 2, 15. 16). Immer dasselbe: Auflehnung gegen Gottes Gnadenwege und Eifersucht gegen die Gegenstände Seiner Gnade. 
Judas stellt in seinem Briefe den „Weg Kains“ als ein besonderes Kennzeichen der letzten Tage hin. Das führt uns noch zu einem anderen finstern Punkt in Kains Geschichte. Wir lesen: „Kain ging weg von dem Angesicht Jehovas“. Er verließ den Herrn, den einzigen Quell des Heils. Wohl fühlte seine Seele die trostlose Leere, aber er suchte eine andere Quelle, um diese Leere auszufüllen. „Er baute eine Stadt und benannte die Stadt nach dem Namen seines Sohnes Hanoch.“ Und so steht Kain da als das Haupt einer langen Menschenreihe, die sich von jener Zeit bis zu unseren Tagen hin erstreckt, eines Geschlechts, das durch die Worte gekennzeichnet wird: „sie haben dem Geschöpf mehr Verehrung und Dienst dargebracht als dem Schöpfer, welcher gepriesen ist in Ewigkeit“ (Röm. 1, 25). Verfinstert am Verstande und entfremdet dem Leben Gottes wegen der Unwissenheit, die in ihm ist (Eph. 4, 18), sucht der arme Mensch vergeblich Ruhe und Glück in den Werken seiner Hände und den „Erfindungen seines Geistes; die schreckliche Leere seines Innern bleibt, denn nur Er, den Kain einst verließ, kann sie ausfüllen und das Herz befriedigen. In der Tat, nur die in der Person und dem Werke Christi geoffenbarte Herrlichkeit Gottes vermag den unglücklichen Menschen von seinem Sündenelend zu befreien und den Hunger und Durst seiner Seele zu stillen. 
Die Nachkommen Kains blieben dem Angesicht Jehovas ebenso fern wie ihr Vater. Sie machten Erfindungen aller Art, gestalteten das Leben erträglicher, schmückten es aus durch Kunst und Musik, aber zu Jehova kehrten sie nicht zurück. 
 Der „Weg Kains“ in seiner ganzen Ausdehnung wird uns schließlich in dem Buche der Offenbarung in Babylon, der Großen, vor Augen gestellt. So verbindet der Geist Gottes den ersten Teil der Geschichte des Menschen mit dem letzten. Alles was zur äußern Wohlfahrt des Menschen, zu seiner Bequemlichkeit und zur Befriedigung seiner Wünsche und natürlichen Triebe gehört, wird in Babylon gesunden, aber auch „das Blut von Propheten und Heiligen und von allen denen, die auf der Erde geschlachtet worden sind''. (Offb. 18.) Der höchste Luxus, die ausgesuchteste Entwicklung und Bildung reichen sich die Hand mit dem tödlichsten Hass. gegen Gott und der feindseligsten Verachtung Seiner Gnade. Darum steht geschrieben: „Gehet aus ihr hinaus, mein. Volk, auf dass ihr nicht ihrer Sünden mitteilhaftig werdet, und auf dass ihr nicht empfanget von ihren Plagen''. Lasst uns denn, der Aufforderung folgend, jene Stadt erwerben, die Grundlagen hat, wo Gottes Herrlichkeit wohnt, und deren Bürger diese Gegenwart Gottes als ihr seliges, nie endendes Teil besitzen!

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Willige Herzen

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 55ff

Als es sich einst in der Wüste um den Bau der Stiftshütte, der Wohnung Gottes unter Seinem irdischen Volke, handelte und Mose den Israeliten Gottes Botschaft überbracht hatte: „Nehmet von euch ein Hebopfer für Jehova; jeder, der willigen Herzens ist, soll es bringen'', da „ging die ganze Gemeinde der Kinder Israel von Mose hinweg. Und sie kamen, ein jeder, den "sein Herz trieb; und ein jeder, der willigen Geistes war, brachte das Hebopfer Jehovas für das Werk des Zeltes der Zusammenkunft und für all seine Arbeit. . . Und die Männer kamen mit den Weibern; ein jeder, der willigen Herzens war, brachte Nasenringe und Ohrringe und Fingerringe usw.“ (2. Mose 35). 56
Fürwahr, ein liebliches, ermunterndes Bild! War den Israeliten bekannt, was aus dem allen werden würde? Nein. Sie hatten das Muster der Stiftshütte nicht gesehen. Alles was Mose ihnen durch das Wort Jehovas gesagt hatte, war, dass sie bringen sollten, und dann, wozu die gebrachten Vorräte durch weise, kunstverständige Männer aus ihrer Mitte verarbeitet werden sollten; das Ergebnis würde eine Wohnung, ein Heiligtum Jehovas sein. Das war alles. Wie und wo jedes einzelne Ding seinen Platz finden und was die allgemeine Wirkung des Ganzen sein würde, das wussten sie nicht. Aber das hinderte sie keineswegs, zu opfern und zu arbeiten. Der Ausgang lag in der Hand Moses, des Knechtes und Stellvertreters Gottes, an den sie glaubten (2. Mose 14, 31)- Und darum, als sie alles gebracht und zubereitetet hatten, richtete Mose alles ein (Kap. 40). Die scheinbare Verwirrung wich. Die großen Haufen, die sie zusammengetragen hatten, denn das Volk brachte „viel, mehr als genug für die Arbeit des Werkes«, verschwanden vor ihren Augen, und jedes einzelne Stück fand seine geziemende Verwendung. In dem Ganzen. herrschte die vollkommenste Ordnung, und nicht nur das, der Bau diente nachher zu einer bildlichen Darstellung der kostbarsten Geheimnisse und Pläne der göttlichen Gnade. 
Sie gaben im Glauben und arbeiteten im Glauben. Sie verstanden wenig, aber sie vertrauten auf Gott und Sein Wort. Und das Ende rechtfertigte ihr Vertrauen ein solch überwältigender Weise, dass „sie jauchzten und (anbetend) auf ihr Angesicht fielen“ (Vgl. 3. Mose 9, 24). O möchten auch wir im gläubigen Vertrauen Gott „willige Herzen“ entgegenbringen, und Er selbst befestige in uns einen „willigen Geist“! 

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Als er stark geworden war

Bibelstelle: 2. Chronika 26

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 57ff

Der König Ussisa regierte über einen Teil des Volkes Israel (Juda und Benjamin), und er hatte diesem Teil die Wegrichtung zur Ehre des Gottes Israels zu zeigen. Das Volk, das in seiner Gesamtheit dazu bestimmt war, ein Zeugnis von der Größe und Macht Jehovas zu sein, hatte seiner Bestimmung nicht entsprochen und befand sich deshalb in politischer Hinsicht in demselben Zustand des Niedergangs, zu welchem es in religiöser und sittlicher Beziehung gelangt war. 
Dass die Richtung des Weges eines Königs nicht ohne Einfluss auf sein Volk bleibt, das sehen wir in der Geschichte Israels immer wieder, und Gott machte deshalb auch den König stets in besonderer Weise verantwortlich für den Zustand Seines Volkes. Auch die Erfahrungen unserer Tage zeigen, dass die Stellungnahme und das Tun einer Person mehr oder weniger bestimmend sind für alle, die dem Wirkungsbereich dieser Person angehören. Das ist umso beachtenswerter auch für uns, je größer der Bereich unseres persönlichen Einflusses ist. 
Der König Ussija hatte in der ersten Zeit seiner Regierung, solang er tat, was recht war in den Augen Jehovas, herrliche Erfahrungen gemacht von der Güte und Treue Gottes, der sich trotz des armseligen Zustandes Seines Volkes zu Seinem Wort bekannte und dem König „Gelingen gab“ in seinem Tun. Ussija wurde „überaus stark“, und sein Name drang bis nach Ägypten hin (V. 8). Hätte er nun demütig Gottes Güte anerkannt, so würde Gott ihn weiter bewahrt und gesegnet haben; statt dessen begann er. in eigener Kraft und Klugheit seine Machtstellung zu befestigen, und so lesen wir im 15. Verse unseres Kapitels: „Sein Name ging aus bis in die Ferne; denn wunderbar ward ihm geholfen, bis er stark wurde'', das will wohl sagen: bis er sich seiner Stärke bewusst wurde. 
Das ist ein Punkt im Leben des Menschen, von dem aus sich gar oft der fernere Weg entscheidet. Viele Menschen haben gleich Ussija erfahren, dass ihnen wunderbar geholfen wurde. Manche Gläubige haben kostbare Erfahrungen gemacht von der Güte und Macht unseres Gottes; sie haben gesehen, wie Er unüberwindliche Schwierigkeiten beseitigte, Berge verschwinden ließ, „zum Wasserteich machte die Wüste, und dürres Land zu Wasserquellen'' (Ps. 107, 35), so dass sie, gleich Israel, „sich's wohl sein ließen durch Seine große Güte'' (Neh. 9, 25). Ist’s aber so weit gekommen, dann erfreut das Auge sich nicht mehr dankbar der Großtaten Gottes, sondern sieht in all den Beweisen Seiner Güte und Weisheit das Ergebnis eigener Weisheit, eigenen Könnens, und damit ist dann für Gott, der „Seine Ehre keinem anderen“ gibt, der Augenblick gekommen, Seine Hilfe dem Starken zu entziehen, um sie Schwachen zuzuwenden. 
Welch ein Verlust, wenn ein Mensch sich so betrügt, . dass er Zuwendungen der Gnade Gottes benutzt, um in eitlem Selbstgefühl sich selbst zu suchen, anstatt Dem die Ehre zu geben, der allein würdig ist, gepriesen zu werden! Freude und Glück kennt nur das Herz, welches in dankbarer Ergebenheit die Segnungen des Herrn als von Ihm kommend annimmt, dabei im Bewusstsein des eigenen Nichts die Abhängigkeit von Seiner Gnade festhält und sich dieser Gnade überlässt. Der „Starke“ kennt solche Abhängigkeit nicht. Bei ihm bestimmen seine Kraft, seine Weisheit den Weg, den er geht, indem er vergisst, dass beide, Kraft und Weisheit, wenn wirklich vorhanden, doch auch nur „Gnadengaben“ sind. „Was aber hast du, das du nichts empfangen hast? Wenn du es aber auch empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ (1. Kor. 4, 7). Der Starke betrügt sich somit in jedem Falle, und er muss, anstatt glücklichen Herzens die Gnade und Huld Gottes zu rühmen, ängstlich darauf bedacht sein, von seiner Größe und Kraft nichts einzubüßen. Und in dieser Sorge um Einbuße an eigener Stärke verliert er mehr und mehr das richtige Augenmaß für alles, was ihn umgibt, und kennt schließlich überhaupt kein Maß und Ziel mehr, wenn nicht Gott in Seiner Treue ihm zu Hilfe kommt. 
 In gar vielen Fällen folgen auf eine Zeit reicher Segnungen ernste Gerichte, weil der törichte Mensch jene benutzte, um sich selbst groß und stark zu machen. Denn „Gott widersteht dem Hochmütigen“, und in Seiner treuen Liebe kann Er nicht anders, als in den Seinigen durch ernste Wege Buße und Beugung hervorzurufen, auf dass Er ihnen „wohltue an ihrem Ende“. Denn   .  „nicht von Herzen plagt und betrübt Er die Menschenkinder« (Klag. 8, 83), sondern „Er hat Gefallen an Güte“ (Micha 7, 18), mag auch zunächst nichts als schonungsloses Gericht zu sehen sein. Dasselbe muss notwendig ergehen über den Hochmütigen, weil er durch seinen Hochmut ein Widersacher Gottes geworden ist, dem Gott widerstehen muss. Dieser Umstand macht es zu einer so ernsten Sache, wenn ein Mensch in Hochmut und Verblendung Gottes Gericht herausfordert, und Gott mit Zaum und Zügel bändigen muss. 
Viele eindringliche Beispiele geben Zeugnis von der ernsten Zucht, die Gott im Laufe der Zeit angewandt hat, um Starke zurechtzuweisen, ihre Torheit aufzudecken und wieder Eifer für die Ehre Dessen zu wecken, dem allein Ehre gebührt. In einzelnen Fällen muss der groß und stark gewordene Mensch „bis zum Tage seines Todes“ die Folgen seines Tuns tragen. „Von dem Hause Jehovas ausgeschlossen«, war Ussija-aussätzig bis an sein Lebensende. (V. 21.) Wie sollten solche Beispiele uns anspornen, den Herrn um Licht und Einsicht zu bitten, damit wir doch alles sehen und richten, was sich an Ansätzen zum Großwerden bei uns zeigen will! O lasst uns klein bleiben in unseren eigenen Augen! 
Als der König Ussija „stark geworden war, da erhob sich sein Herz, bis er verderbt handelte“ (V. 16). Anstatt dankbaren Herzens treu seinen Platz als König einzunehmen, ging er in das Haus Jehovas, um etwas zu tun, das Jehova nur den von Ihm geheiligten Priestern anvertraut hatte. Damit offenbarte er Geringschätzung gegen das Haus Gottes und  gegen Den, dem der Dienst der geheiligten Priester galt. In seiner vermeintlichen Stärke hielt er sich für geeignet, diesen Dienst auszuüben, und wurde so ein Widersacher Gottes. Angesichts des Einspruchs des Priesters Asarja und der anderen „wackeren Männer“: „Nicht dir, Ussija, geziemt es, Jehova zu räuchern“, wurde er zornig und hätte vielleicht das heilige Gerät in seiner Hand benutzt, um dem Priester Jehovas Gewalt anzutun, wenn nicht das Gericht Gottes ihn ereilt hätte. 
Ein ähnlicher Zustand war wohl bei dem König Asa (2. Chron. 16, 10), als er auf das zurechtweisende Wort des Sehers Hananja ärgerlich wurde und diesen in das Stockhaus legen ließ. Welch ein Maß von Eigenwille und Hochmut muss sich angesammelt haben, wenn das Wort treuer Knechte Gottes, das sie in Gottes. Auftrag aussprechen, solche Wirkungen ausübt! 
In der Geschichte Asas gab es eine Zeit, da er und sein Volk gern auf das Wort Odeds, des Propheten Jehovas, hörten. Damals konnte aber auch zu ihm und dem Volke gesagt werden: „Seid stark und lasset eure Hände nicht erschlaffen, denn es gibt Lohn für euer Tun“ (2. Chron. 15, 7). Da waren Demut. und Abhängigkeit von Gott vorhanden, und auf jene ermutigenden Worte hin schaffte Asa alle Gräuel weg, erneuerte den Altar im Hause Jehovas und suchte mit seinem Volke Jehova mit ganzem Herzen und mit ganzem Willen. Auch entkleidete er seine Mutter ihrer königlichen Würde, weil sie ein Götzenbild ausgerichtet hatte, und das Götzenbildverbrannte er. Sodann brachte er die geheiligten Dinge seines Vaters und seine eigenen, Silber und Gold und Geräte, in das Haus Gottes. Diese schönen ,,Früchte« zeigten, dass „sein Herz ungeteilt war''. (Vers 16. 18.) Wir erblicken in ihm ein Bild des Gerechten, des ,,Baumes, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit''. (Ps. 1, 3.) Wie war es nur möglich, so fragen wir, dass dieser Mann nachher genau das Gegenteil tun konnte, indem er Gold und Silber aus den Schätzen des Hauses Jehovas hervorholte, um sie dem heidnischen König von Syrien zu senden, damit dieser ihm beistehe gegen Baesa, den König von Israel, und das Zehnstämmereich? Wie konnte jener Mann sich so an Jehova, an Seinem Volk und Seinem Heiligtum versündigen, dass er einen Bund Schloss mit den Feinden Gottes? Welcher Wandlung ist doch das Menschenherz fähig! . Besonders belehrend für uns sind die verschiedenen Wirkungen, welche das Wort Gottes je nach dem Zustand des Menschen ausübt. In dem einen Falle bewirkte es bei Asa Mut und Opferfreudigkeit, in dem anderen Arger und Auflehnung. Bei Ussija rief es schließlich sogar den Zorn gegen die heiligen Priester Jehovas hervor. In der Geschichte des Königs Hiskia finden wir Ähnliches. Während ein Wort Gottes Tränen und ein ernstes Flehen zu Jehova erweckt (2. Kön. 20, 1 -- 8 u. Jes. 38, 1 — 4), ein zweites Danksagung bewirkt, sowie das Vornehmen, fortan mit seinem ganzen Hause ’,,sein Saitenspiel zu rühren alle Tage . . . im Hause Jehovas«.(Jes. 88, 20), begegnet ein drittes, das zurechtweisend und strafend an ihn gerichtet wird, einer traurigen Gleichgültigkeit. (2.Kön. 20, 19; Jes. 39, 8). .
Der geistliche Zustand eines Menschen ist wohl in jedem Falle bestimmend für die Wirkung, die Gottes Wort auf ihn ausübt. Das Wort an sich ist „lebendig und wirksam“, und es erweist sich so auch da, wo scheinbar überhaupt keine Wirkung erzielt wird, wie z. B. bei Angehörigen von Kindern Gottes, die vielfach jahrelang ohne sichtbare Wirkung das Wort hören. Und Gott sieht die Wirkung. Das ist ernst für alle, die unter den Schall des Wortes kommen. Ob die Wirkungen von Menschen wahrgenommen werden oder nicht, es ändert nichts an der Tatsache, dass dieses Wort wirksam ist: entweder wirkt es in gottgewollter Weise zum Heil und Segen dessen, an den es sich richtet, oder es erweist seine Wirksamkeit darin, dass es früher oder später offenbar macht, was im Herzen ist: Feindschaft gegen Gott und gegen alles, was auf Gottes Seite steht.
Als Kinder Gottes, die grundsätzlich in Übereinstimmung mit Ihm und Seinem Wort zu sein wünschen, müsste Gottes Wort bei uns eigentlich stets die Wirkungen hervorbringen, die es bei dem König Asa in seiner besten Zeit auslöste. Ja, wenn unser Zustand dem Wirken des Wortes und des Geistes Gottes kein Hindernis böte, würden gewiss auch bei uns die kostbaren Früchte gefunden werden, die je und je in dem Leben treuer Glaubenszeugen gereift sind. Woran liegt es, dass es in Wirklichkeit oft so ganz anders unter uns aussieht? Gehen wir zu weit, wenn wir sagen, dass ein Hauptteil der Schuld in dem beklagenswerten Mangel an Abhängigkeitsgefühl liegt? Ein wirklich abhängiger Knecht tut ganz von selbst den Willen seines Herrn; er achtet und ehrt dessen Wort, Wunsch und Befehl, und das umso mehr, je mehr er Grund hat, seinen Herrn zu lieben. Der Unabhängige kennt nur seine Wünsche, seinen Willen; er braucht ja auf keines anderen Wort zu hören. Die Stellung, die wir Gott gegenüber einnehmen, bedingt selbstverständlich auch unsere Stellung Seinem Worte gegenüber: Sind wir abhängige Knechte, so ist uns das Wort heilig, unantastbar, bedingungslos maßgebend; ist das Gegenteil der Fall," so bestimmen wir, ob und inwieweit diesem Worte Bedeutung und Autorität zukommt. Ein Pharao sagte einst: „Wer ist Jehova, auf dessen Stimme ich hören sollte?'' (2. Mose 5, 2).  
„So vermessen wird aber auch kein Mensch reden, der Gott kennt“, wird der Leser sagen. Aber dieses Wort des hochmütigen Pharao muss nicht notwendig ausgesprochen werden, um Mangel an Unterwürfigkeit oder gar offene Widerspenstigkeit gegen Gott erkennen zu lassen. Ussija und Asa kannten Gott, und doch offenbarten beide Feindschaft gegen die Knechte Gottes und damit gegen Gott selbst, wenn diese Knechte im Auftrage, bzw. in Wahrung der Interessen ihres Herrn handelten. Obwohl diese Könige Gottes Güte reichlich erfahren hatten und eine Zeitlang sogar ein wirksames Zeugnis für Ihn gewesen waren, brachte das Wort Gottes schließlich doch nur offene Auflehnung, Ärger und Zorn hervor. Wir sind Menschen von gleicher Gemütsart. Dass wir in einem Zeitalter leben, in welchem Gott sich ein himmlisches Volk zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade sammelt, und dass Er uns nach Seiner Wahl diesem Volke zugezählt hat, kann die Tatsache nicht  beseitigen, dass wir Menschen sind, die, wie Uslja, Asa und Hiskia, in sich die Neigung zum Groß und Stark werden haben, die veranlagt sind, alles, was ihnen je an Gnadengaben zuteilgeworden sein mag,. zu selbstsüchtigen Zwecken zu verwenden. Diese Feststellung ist nicht angenehm, aber sie entspricht der Wirklichkeit, und mit dieser Wirklichkeit haben wir zu rechnen, wenn wir nicht von ihr überführt werden wollen durch Wege und Dinge, die den Herrn verunehren und uns selbst unter Seine ernste Zucht bringen. Viel mehr als wir meinen, hindert uns unsere Stärke. dem göttlichen Wort die Unterwürfigkeit entgegenzubringen, die wir ihm schulden und bei deren Vorhandensein allein seine Wirksamkeit völlig nutzbar wird. Wie viel Segen mag uns auf diesem Wege verloren gehen! Welch ein Verlust ist es gar, wenn das Wort überhaupt keine Wirkung auszuüben scheint! Dann gleicht das Herz einem zur Bearbeitung vorliegenden Stahlstück, dessen Härte so groß ist, dass auch das beste Werkzeug keine sichtbaren Angriffsstellen hinterlässt. Aller Aufwand an Zeit, Kraft und Mühe ist vergeblich. Es bleibt nichts anderes übrig, als das Stück zu verwerfen oder es einer Behandlung zu unterziehen, die ihm die Härte nimmt und es zur Bearbeitung geeignet macht. Dazu wird es auf Glühhitze gebracht und nachher vor schneller Abkühlung bewahrt, indem Luft und andere kühlende Elemente möglichst abgeschlossen werden. Sieh da, mein Leser, den Weg, den Gott mit den Menschenkindern einschlägt, wenn Sein Wort wegen der Härte. des Herzens keine Wirkung mehr ausübt; denn sie sind Ihm zu teuer, um sie zu verwerfen. Haben wir es nicht erfahren, dass Er Gluthitze anwendet und diese, je nach dem Härtegrad, den Er kennt, andauern lässt, indem Er jede Kühlung fernhält, bis der Erfolg von Ihm wahrgenommen wird? Wenn der Psalmist sagt: „Bevor ich gedemütigt ward, irrte ich, jetzt aber bewahre ich dein Wort“ (Ps. 119, 67), so dürfen wir wohl annehmen, dass sein „Gedemütigtwerden“ in der Hitze erfolgte; denn niemals ist ein Gedemütigtwerden mit" angenehmer Kühle vergleichbar. In den meisten Fällen ist es wohl die „Hitze“, die den Menschen auf die Knie, den Platz der Abhängigkeit, zwingt.
Möge der Herr uns in Gnaden bewahren vor einem solchen Zustand der Gleichgültigkeit, in welchem unsere Herzen statt Unterwürfigkeit nur Härte offenbaren, und möchten wir, wenn Gott uns demütigt, dem Psalmisten gleichen, damit als Frucht unseres Gedemütigtwerdens auch das Bewahren Seines Wortes gesehen werde! 
Zum Schluss noch ein Wort über den dritten Zustand, den der Auflehnung und Widerspenstigkeit gegen das Wort Gottes. Dieser Zustand mag Ähnlichkeit mit dem der Gleichgültigkeit und Härte haben, ist aber doch wohl verschieden davon. Bei Hiskia z. B. offenbarte sich eine traurige Gleichgültigkeit, als der Prophet ihm wegen seines großtuerischen Prahlens den Männern von Babel gegenüber das Gericht ankündigte; bei Ussija und Asa dagegen zeigten sich Arger und Zorn gegen die Knechte Gottes. So weit reicht die Bosheit des Menschen, dass er es sich nicht nur bei der jahrelang genossenen Güte wohl sein lässt, sondern sie schließlich als etwas durchaus Selbstverständliches annimmt und am Ende gar alles, was er an Beweisen der Huld Gottes empfangen hat, sich selbst zuschreibt. Dann ist er nicht mehr der abhängige, empfangende Mensch, dem ,,wunderbar geholfen ward«, sondern er ist der kluge, starke, weitsehende Mann, dessen Klugheit, Arm und klares Auge die Grundlage für sein Gedeihen bildet. Ein Mann mit solchen Eigenschaften denkt nicht daran, sein Tun, seinen Weg unter das Urteil des Wortes Gottes zu stellen; vielmehr möchte er mit Hilfe seiner Klugheit diesem Worte die Form geben, die es haben muss, um zu seinem Tun zu passen. Und wenn dann Knechte Gottes da sind, die in Treue die Autorität ihres Herrn und Seines Wortes wahren möchten, so wird der kluge und starke Mensch ärgerlich und zornig. Dass Gott bei Seinen Kindern einen solchen Zustand richten muss, ist naturgemäß, und im Blick auf die beschriebene, ausgeprägte Form desselben werden wir wohl alle, von Furcht bewegt, ausrufen: „Herr, bewahre uns vor einem solchen Zustande!“ 
Vergessen wir jedoch nicht, dass es Größe und Stärke mancherlei Art gibt, die sich nicht immer in so scharf ausgeprägter Form zu offenbaren braucht. Sie können da sein, ohne besonders auffallend in die Erscheinung zu treten. Unter Umständen können sie sogar ein frommes Kleid tragen wie bei Ussija, der in den Tempel Jehovas ging, um zu räuchern. Immer aber sind sie ein Gräuel vor Gott. Wo sie einen Platz haben, wenn auch nur im Verborgenen, da fehlt das, was Gott für Sein Wohnen bei den Menschen zur  Voraussetzung gemacht hat: „das Zittern vor Seinem Wort“. Denn so spricht Jehova: „Auf diesen will ich blicken, auf den Elenden und den,. .. der da zittert vor meinem Worte“. 
Die Formen, in denen Größe und Stärke sich kundtun können, sind zu verschieden, um sie alle zu bezeichnen. Wenn der eine sich vorwiegend auf sein äußeres Gedeihen etwas zugute tut, prunkt der andere mit seinen geistigen Fähigkeiten, oder auch mit einer „Geistlichkeit“, die er darin zu zeigen sucht, dass er möglichst viele Schriftstellen anführen kann und jede Frage mit der nur ihm eigenen Zuverlässigkeit zu beantworten weiß. Ein dritter gefällt sich vielleicht darin, dass er und sein Haus in einem langen Leben vor schweren Stürmen bewahrt geblieben sind, während das Haus des neben ihm wohnenden Bruders reichliche Spuren solcher Stürme trägt und vielleicht noch immer Stürmen ausgesetzt ist. Alle diese Dinge. haben eine gemeinsame Ursache: eigene Stärke und Größe. Vielleicht vermag man ihm eine Form zu geben, dass die Umgebung ihr Vorhandensein nicht ahnt; möglicherweise erscheint man" sogar als das Muster eines demütigen, einsichtsvollen Christen. Dieser Betrug mag nicht beabsichtigt sein, aber es ist ein Zustand, in welchem der Mensch das richtige Sehen eingebüßt hat. Es fehlt ihm, wie schon gesagt, das Augenmaß für die Dinge, Menschen und Beziehungen in seiner Umgebung, vor allem aber für seine Stellung Gott und Seinem Wort gegenüber. Das Wort ist nicht mehr Beurteiler, Wertmesser und Maßstab, sondern man beurteilt das Wort und sucht ihm seine Schärfe und Wirksamkeit zu nehmen, wo diese geeignet sind, die Armseligkeit und Erbärmlichkeit des „großen, starken“ Menschen, sein klägliches Versagen und seinen Hochmut ins rechte Licht zu bringen.
Das Bild, das wir gemalt haben, ist hässlich, aber kaum irgendwo zu dunkel ausgefallen. Wahrscheinlich sieht es im wirklichen (absoluten) Licht noch dunkler aus. Dort erst werden wir einmal ganz erkennen, welch ein Maß von Unlauterkeit, Aufgeblasenheit, Heuchelei und Hochmut sich breit machen konnte unter denen, die bekennen, Kinder des Gottes zu sein, von dem der Psalmist sagt: „Du hast Lust an der Wahrheit im Innern“ (Ps. 51, 6), und der da blicken will auf den, „der zerschlagenen Geistes ist und zittert vor Seinem Wort“ (Jes. 66, 2). Der Starke zittert nicht, Der Zitternde aber sucht im Bewusstsein seiner Schwachheit Schutz und Hilfe und lässt sich tragen von der Gnade und Barmherzigkeit Dessen, der allein imstande ist, „ohne Straucheln zu bewahren und vor Seiner Herrlichkeit tadellos darzustellen mit Frohlocken“. 
Naturgemäß wird auch die Stellung der Kinder Gottes zueinander bestimmt durch ihre Stellung zu dem Herrn und Seinem Wort. Bin ich in der rechten Stellung zu Ihm, so bin ich auch in der rechten Stellung zu Seinen Kindern. Ist es nötig, dass mit der Spiegel des göttlichen Wortes Vorgehalten wird, so unterwerfe ich mich, und Bekenntnis und Reinigung sind die für mich gesegneten und Gott wohlgefälligen Folgen meiner Unterwürfigkeit. Der in seinen Augen Starke aber bläht sich auf, denkt nicht an Unterwerfung, sondern wird ärgerlich oder gar zornig und verfällt dem Gericht Gottes. Denn Gott kann solchen Zustand bei den Seinen nicht dulden. Wie mancher, aus geringfügiger Ursache herrührende Zwiespalt unter Gläubigen, der zum großen Schaden vieler vielleicht längere Zeit bestehen konnte, wäre unmöglich gewesen, wenn nicht des Menschen Stärke und Aufgeblasenheit ihn hervorgebracht oder seiner Beseitigung — im Wege gestanden hätten! Wie 'beschämend sind solche Dinge! 
Vielleicht gibt es auch mit Gaben ausgestattete Christen, die das Empfangene im Dienst für den Herrn nicht verwenden können, weil sie zum Dienen zu groß und zu stark geworden sind. Sie sind nicht mehr gewillt, den Nacken zu beugen unter die Last anderer. Was nützen in solchem Falle Gaben und Fähigkeiten? Sie werden in eitler Selbstverherrlichung vergeudet. Zu Mose, dem von Gott als treu bezeichneten Knecht (4. Mose 12, 7), kamen einst Männer mit einer Frage. (4. Mose 9.) Darauf hörten sie von Mose das schöne Wort: „Bleibet stehen, und ich will hören, was Jehova euerthalben gebieten wird“. Nicht er wusste, was zu tun war, nicht er gab Rat oder bestimmte gar, was geschehen sollte, nein: „Ich will hören, was Jehova... gebieten wird“. Das ist die Gesinnung des treuen, abhängigen Knechtes, der keinen eigenen Willen kennt, der weiß, dass er nur zur Befolgung, nicht aber zur Beurteilung des Wortes seines Herrn berufen ist. Wie viel mehr sollte das gehorsame Kind wünschen, den Willen des Vaters zu tun und mit dem Vater in Übereinstimmung zu sein!

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Vier Glaubensmänner

Bibelstelle: Hebräer 11,32

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 71ff

Der Geist Gottes stellt uns in Hebräer 11 eine Reihe von Beispielen des Glaubens vor Augen, wie dieser sich einst in den alttestamentlichen Gläubigen offenbart hat. Die lange Liste der Zeugen schließt mit vier Namen aus dem Buche der Richter: Gideon, Barak, Simson und Jephta. Wenn wir aber die Geschichte dieser Männer im Einzelnen betrachten, so werden wir finden, dass bei jedem derselben mancherlei Gott verunehrende Dinge in die Erscheinung getreten sind, sei es in Form von Torheit und Fehlern, sei es in offenbarem Eigenwillen und grober Sünde. Doch hier, wie in dem ganzen Kapitel, wird über all das Böse mit Stillschweigen hinweggegangen, — wenngleich es selbstverständlich zu seiner Zeit nach Gottes Weisheit und Heiligkeit behandelt wurde, — und nur das wird ans Licht gezogen, was Gott selbst in Gnaden in jenen Männern gewirkt hat, und was Er deshalb auch anerkennen konnte. Wie groß und erhebend ist das! Genau so wird es an einem kommenden Tage mit uns sein, wenn einmal alles das, was die Feuerprobe nicht zu ertragen vermochte, verschwunden und nur das zurückgeblieben sein wird, was, als Ergebnis des Wirkens des Heiligen Geistes, Gottes würdig ist und nach Seinem Wohlgefallen als unser Werk anerkannt werden kann. (Vgl. 1. Kor. 3, 14; 4, 5). Es wird dem aufmerksamen Leser nicht entgehen, dass die Ordnung der Namen nicht geschichtlich ist. Wären sie nach ihrer zeitlichen Reihenfolge zusammengestellt, so müssten sie so aufeinander folgen: Barak, Gideon, Jephta, Simson. Die Umstellung ist sicher nicht unbeabsichtigt, und wir dürfen wohl annehmen, dass sie hier, in Hebräer 11, erfolgt ist im Blick auf die göttliche Wertschätzung des Weges und Tuns dieser vier Männer. Eine nähere Untersuchung ihrer Geschichte wird diese Annahme bestätigen. 
Gideon 
Die Geschichte Gideons finden wir in Richter 6, 11 - 8, 32. Es gibt viel Schönes in dem Charakter seines Glaubens. Sehen wir nur, wie er aus Jehova alles macht, wenn er von der Drangsal sprichst, die sein Volk betroffen hat (Kap. 6, 13), und wie er sich bewusst ist, dass, wenn Hilfe kommen soll, sie nur von Ihm kommen kann. Darum wird ihm auch die Antwort zuteil: „Gehe hin in dieser deiner Kraft“. Der Mann, der auf Gott rechnet, ist unbesiegbar. Auch ist es sehr beachtenswert, wie schnell Gideon die Worte — des Engels: „Jehova ist mit dir“, in die: „wenn Jehova mit uns ist“, umwandelt, indem er sich so mit seinem Volke eins macht und nicht für sich allein, sondern für ganz Israel eintritt. Sein Tun erinnert uns an Mose in 2. Mose 33, 14 — 16.
Übersehen wir in Gideon auch nicht den „Glaubensgehorsam“. Dieser tritt ganz besonders in dem Niederreißen des Baal-Altars im Hause seines Vaters hervor. (Kap. 6, 25 - 32.) Menschlich gesprochen setzte Gideon damit sein Leben aufs Spiel, aber das Wort Jehovas war deutlich, und Gideon gehorchte. Hierbei wollen wir uns nicht entgehen lassen, dass er in der Nacht, die dem Tage der gnädigen Offenbarung Gottes an ihn folgte, Anweisungen von Gott empfing, wie er handeln sollte; ferner, dass er infolge jener Offenbarung Jehova einen Altar gebaut und ihn Jehova-Schalom, d. i. Jehova ist Friede, genannt hatte. So muss auch unser Herz zuerst die Offenbarung des Herrn erfahren haben, und der Friede, der Seine Gegenwart begleitet, ins Herz eingekehrt sein, ehe wir einen erfolgreichen Angriff auf den Bereich des Feindes ausführen können. 
Bekannt ist die sanftmütige Antwort Gideons auf den ungerechten Vorwurf der Männer von Ephraim. (Kap. 8, 1 - 3). Wenn eine Seele durch die Übungen des Weges in Gottes Gegenwart gebracht ist und nun siegreich aus einer Probe hervorgeht, in welcher Gott selbst sie aufrecht gehalten und befreit hat, so macht es ihr gar wenig aus, ob andere ihren Weg richtig oder falsch beurteilen. Für seine eigenen Rechte einzutreten ist das Letzte, woran Gideon denkt. Er ist voll von Dankbarkeit gegen Jehovas der für ihn gestritten hat (wir hören, als er den Traum des midianitischen Soldaten vernommen hatte: „da betete er an“), und die Ephraimiter mögen so viel Ehre für sich in Anspruch nehmen, wie sie nur wollen. Unter dem frischen Eindruck der erfahrenen Gnade Gottes kann er diesen törichten Männern in einem Geist der Gnade antworten. Wenn wir den guten Kampf des Glaubens kämpfen und darin sowohl unser eigenes Nichts, als auch des Herrn kostbare Gnade kennen lernen, wird es uns nicht schwer sein, dem unbilligen Urteil unverständiger Menschen in Sanftmut und Demut zu begegnen. 
Wir können ferner eine sehr wichtige Belehrung aus dem ziehen, was wir die schwache Seite des Glaubens Gideons nennen möchten. Wir finden nicht, dass er jemals irgendwelche Zweifel darein setzte, dass Jehova imstande sei, Sein Volk zu retten. Im Gegenteil, sein felsenfestes Vertrauen auf Jehova rief den schönen Gruß des Engels hervor: „Jehova ist mit dir, du tapferer Held!'' Aber wir erkennen die Torheit des natürlichen Herzens in seinem immer wiederkehrenden Hinweis auf sein eigenes Nichts. Sicherlich können wir nie zu gering von uns denken — das Kreuz beweist das —, wenn aber der Herr uns zu irgend einem Dienst aussendet, und wir reden immer wieder von unserer Unwürdigkeit und weigern uns aus diesem Grunde, dem Rufe zu folgen, so ist das nichts anderes als eine listige Form des Unglaubens. Es sieht aus wie Demut, ist aber in Wirklichkeit Hochmut, denn es ist eine Beschäftigung mit dem eigenen Ich. Gideon sagt gleichsam: „Herr, Du kannst uns retten“. — „Ja“, antwortet Gott, „ich kann und will es, und mehr noch, ich will dich dazu benutzen.“ Dann aber, anstatt einzusehen, dass bei einer Dazwischenkunft Gottes es von der allergeringsten, ja, eigentlich von gar keiner Bedeutung ist, welches Werkzeug dazu gebraucht wird, beginnt Gideon von seiner Unbedeutsamkeit usw. zu reden. Und gerade dieses zweifelnde überlegen, ob Gott wirklich Israel durch seine Hand retten werde, leitet ihn zu den Versuchen mit dem Wollvliess. Doch der Herr ist sehr gnädig. Er unterscheidet zwischen offenbarem. Unglauben und den Schwankungen eines unbefestigten Herzens, so verkehrt diese sein mögen, und Er gibt Gideon die Zeichen, um die er bittet. Und nicht allein das, Er fügt noch ein Zeichen hinzu, um welches Gideon nicht gebeten hatte (vgl. Kap. 7, 9 -14), indem Er in dem Herzen Seines Knechtes immer noch ein unschlüssiges Zögern der Furcht und des Unglaubens wahrnimmt. 
Einer der midianitischen Krieger hat einen Traum gehabt, erzählt ihn seinem Kameraden gerade in dem Augenblick, als Gideon ankommt, und erhält von diesem eine möglichst genaue Auslegung des Traumes. Auf diese Weise wird Gideon das, was Jehova ihm von Anfang an gesagt hatte und was er hätte einfältig glauben sollen: „Ich werde mit dir sein, und du wirst Midian schlagen wie einen Mann“, aus dem Munde des Feindes selbst bestätigt. Welch eine Gnade! Gott sagt: „Gideon,— du sollst das Werk ausführen“. — „Aber ich bin ein so schwaches Geschöpf“, überlegt Gideon; „meine Familie ist die ärmste in Manasse, und ich bin der Jüngste in meines Vaters Hause.“ — „Nun denn,“ antwortet der Herr, „wenn du meinem Worte nicht glauben willst, so höre, was die Midianiter selbst zu sagen haben.“ Ich wiederhole: welch eine herablassende Gnade! Was konnte Gideon angesichts einer solchen Geduld und Güte tun? Nur eines — anbeten! Und so gibt er sich endlich auf und lernt den zweiten Teil seiner Aufgabe, dass nämlich Jehova nicht nur bereit und imstande war, Sein Volk zu retten, sondern dass Er auch ein solch armes, schwaches Wesen, wie Gideon war, „ein Laib Gerstenbrot“, dazu benutzen wollte. So sehen wir denn den schließlich  so herrlich triumphierenden Glauben Gideons eine Weile umdunkelt mit der Beschäftigung mit sich selbst und werden belehrt, dass Gott für uns nicht so sehr wünscht, dass wir schlecht von uns denken, sondern dass wir überhaupt nicht an uns denken. Das ist, wie ein anderer gesagt hat, wahre Demut. 
Im 8. Kapitel besteht der nun fest gewordene Glaube Gideons die Probe der Leiden — ,,ermattet und nachjagend« (V. 4) ——, ferner des Widerspruchs derer, die ihm hätten helfen sollen, und endlich des ganz und gar ungleichen Kampfes, wie die Menschen sagen würden und wie die Bewohner von Sukkoths und Pnuel es wirklich sagten. Der Glaube macht Fortschritte, und wir stehen heute kühn an dem Orte, wo wir vielleicht gestern noch schwankten und zagten. 
 Die Geschichte von dem Ephod (Kap. 8, 22 — 27)  enthält eine ernste Warnung für uns. Der Sieg ist erstritten, und Israels Befreiung ist vollkommen. Aber ach! nun schleicht sich ein Geist der Selbstbefriedigung ein. Gleich irgend einem menschlichen Eroberer, der zu seiner Ehre ein Denkzeichen an den Tag des Sieges aufbewahren möchte, macht Gideon aus den Ohrringen der Erschlagenen ein Ephod und stellt es in seiner Stadt auf. Beachten wir das traurige Ergebnis: „Und ganz Israel hurte demselben dort nach, und es wurde Gideon und seinem Hause zum Fallstrick“ (V. 27.) Derselbe Mann, der in seines Vaters Hause den Götzendienst ausgerottet hatte, wird so das Mittel zur Einführung desselben in seinem eigenen. Er, der in Jehovas Hand das Werkzeug zur Befreiung seines Volkes gewesen war, wird jetzt in Satans Hand das Werkzeug, ihm einen Fallstrick zu legen. Nie haben wir so viel Ursache, wachsam und demütig zu sein, als wenn wir durch die Gnade in einer Probe, einer Schwierigkeit oder einem Kampfe erfolgreich gewesen sind. Möge deshalb der Herr uns vertrauensvoll erhalten, wenn wir durch Versuchungen gehen, oder auch abhängig von Ihm, wenn sie hinter uns liegen. 
Barak 
Barak hat den Vorrang vor Simson und Jephta, weil es in seinem Falle keine grobe Verunehrung Gottes gibt, wie bei jenen Männern, und er folgt erst auf Gideon (obwohl er geschichtlich ihm voranging), weil er zu furchtsam war, um allein für Gott dazustehen, wie Gideon es tat von Anfang seiner Geschichte an. Barak sagt zu Debora: „Wenn du mit mir gehst, so gehe ich; wenn du aber nicht mit mir gehst, so gehe nicht“. (Kap. 4, 8). Er bedarf einer Begleitung; er kann sich nicht allein auf Jehova stützen in der Kraft eines persönlichen Glaubens. Jael konnte es. Wie ruhig geht sie ihren Weg, bis ihr Feind, oder richtiger der Feind Jehovas, tot zu ihren Füßen liegt! Der Verstand hätte ihr sagen müssen, Sisera würde gewiss aufwachen, wenn der Pflock seine Schläfe berühre, oder ihre schwache Kraft würde zu dem Werke nicht ausreichen, oder hunderterlei andere Dinge; aber Jael vertraute auf Gott und überließ die Umstände Ihm. Infolgedessen fällt die Ehre des Tages nicht Barak zu, sondern dieser „vor Weibern gesegneten“ Frau. Es ist sicherlich etwas Gutes, überhaupt auf dem Wege des Glaubens zu stehen und auf demselben von Gott benutzt zu werden, aber gleichen wir in unserem Glauben  dem Barak oder der Jael? Der Pfad des treuen Gläubigen ist in unseren Tagen sehr persönlich geworden, und ein Sichstützen auf andere oder ein bloßes Annehmen der Wahrheit, ohne wahre Gründung auf das Wort, muss, notwendig zu Irrwegen und Einbußen führen. Die Verheißungen in den sieben Sendschreiben richten sich nicht an „die, welche überwinden“, sondern durchweg an den Einzelnen: „wer überwindet“. Und wenn alle, die damals in Asien waren, sich von dem Apostel abgewandt hatten, wie viele werden dann als an ihm hangend genannt? Nur einer: Onesiphorus (2. Tim. 1). Möchten wir nie mit weniger zufrieden sein, als dem „ganzen Ratschluss Gottes“, und wenn uns das an einen Platz oder auf einen Weg der Vereinsamung und Schmach bringt, so lasst uns unsere Freude in Ihm finden, der da sagt: „Ich kenne deine Werke“! 
Simson 
In der Geschichte Simsons steigen wir sofort auf einen niedrigeren Boden hinab; wir haben nicht länger einen Mann vor uns, der, wie Gideon, durch Selbstbeschäftigung oder Selbstgefälligkeit auf dem Pfade des Glaubens aufgehalten wird, noch einen Mann, der aus Mangel an völligem Gottvertrauen sich auf den Arm eines anderen schwachen Menschen stützt, wie Barak, sondern wir erblicken einen Mann, der, durch seine bösen Lüste getrieben, in jeder Beziehung Schiffbruch leidet, ausgenommen natürlich die Errettung seiner Seele. Ein „Nasiräer“ und überdies von Gott mit einer Körpertraft begabt, die ihn bis zu dem Augenblick der Preisgabe seines Gelübdes durchaus unbesiegbar machte, wird er am Ende seines Weges das Opfer der Grausamkeit seiner Feinde und kommt mit den Unbeschnittenen um. Fürwahr, eine ernste Geschichte, deren sittliche Belehrung einfach genug ist und in Stellen wie Röm. 8, 13, Gal. 6, 7. 8, Kol. 3, 5 — 7 wiedergefunden werden mag. Es macht nichts aus, wie begabt ein Kind Gottes ist. Wenn es in Eigenwillen handelt und dem Fleische Freiheit lässt, so bringt es Gericht und Unglück über sich; ja, je begabter es ist, desto ernster wird die Züchtigung sein, denn „wem viel gegeben ist, von dem wird umso mehr gefordert werden''. Das dem Simson Gegebene war etwas Natürliches, die Gaben in der Versammlung Gottes sind geistlich. Aber wenn Delila durch ihre Listen Simson die ihm von Gott verliehene körperliche Kraft rauben konnte, hat nicht die Verbindung mit der Welt schon oft eine von dem erhöhten Christus empfangene Gabe in der Versammlung wert und nutzlos gemacht? Es ist beachtenswert, wie gerade in den Briefen an Timotheus die Aufforderung zur treuen Ausübung des Dienstes so innig mit den Ermahnungen zu praktischer Heiligkeit verbunden ist. Auch der Apostel selbst erwartete die „Krone der Gerechtigkeit“. Wenn der Wandel nicht lauter ist, wird der Besitz einer Gabe zur Unehre statt zur Ehre, zur Trauer statt zur Freude gereichen. 
Fast sucht man in Simsons Leben vergeblich nach Lichtblicken in der allgemeinen Finsternis. Dennoch finden wir solche; so z. B. in dem Ereignis nach der Erschlagung der tausend Mann bei Namoth-Lechi. Indem Simson durch die dringende Not zu einer Verwirklichung seiner völligen Abhängigkeit von Gott gebracht wird, tut er eine Äußerung, die aus dem Munde  Davids selbst hätte kommen können. Dem Verdursten nahe, rief er zu Jehova und sprach: „Du hast durch die Hand deines Knechtes diese große Rettung gegeben, und nun soll ich vor Durst sterben und in die Hand der Unbeschnittenen fallen?“ (Kap. 15, 18. 19). Er erprobt Gottes Treue und trinkt aus der Quelle, die Gott ihm öffnet, damit er wieder auflebe. Das ist ohne Frage sehr schön, aber bedauerlich ist, dass wir nur in der Stunde der Not ihn so mit Gott in Verbindung finden. Wenn ihm die äußeren Umstände . günstig sind, offenbaren sich sofort Eigenwille und Fleischlichkeit. Glücklich der Mann, der mit dem Apostel sagen kann:  „Ich weiß sowohl erniedrigt zu sein,— als ich weiß Überfluss zu haben“! 
Jephta  
Wir werden in 2. Kor. 7, 1 aufgefordert, „uns selbst zu reinigen von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes''. Finden wir die erste bei Simson, so zeigt sich bei Jephta die zweite. Sündigte Simson dadurch gegen Gott, dass er den verderbten Neigungen seines natürlichen Herzens folgte, so tat Jephta das Gleiche, indem er Gott unehrerbietig und hastig nahte, in Nichtachtung aller Anweisungen Gottes in dieser Beziehung. So beleidigend für Gott jenes war, dieses war es noch mehr, und zwar aus folgendem Grunde: in dem ersten Falle handelt es sich um den Wandel eines Gläubigen in .der Welt, in welcher er lebte, in dem zweiten um Anbetung, deren Bereich die Gegenwart Gottes selbst ist. Beide Fälle zeigen, was das Fleisch ist, aber was den zweiten so ernst und böse macht, ist der Umstand, dass die Tat gleichsam im Heiligtum geschieht. Man naht Gott, aber in einer Weise, die Er hasst. Darum wird Jephta erst nach Simson genannt, obwohl er vor ihm lebte. 
„Wenn du die Kinder Ammon wirklich in meine Hand gibst, so soll das, was zur Tür meines Hauses herausgeht, mir entgegen, wenn ich in Frieden von den Kindern Amman zurückkehre, es soll Jehova gehören, und ich werde es als Brandopfer opfern“ (Kap. 11, 80. 31). So lautete das Gelübde Jephtas. War das die Weise, in welcher Jehova angebetet werden musste? Das Erste, das aus seinem Hause herausging, ganz gleich, was es war, sollte dem Heiligen Israels geopfert werden?! Gottes Anordnungen über das. was Ihm dargebracht werden sollte, über reine und unreine Tiere usw. lauteten ganz bestimmt. Wenn nun ein Hund ihm als Erster entgegengelaufen wäre! 
Jephta musste seine Torheit teuer bezahlen. Gerade das trat ein, was er bei nur einigem Nachdenken hätte erwarten können. Seine Tochter, sein einziges Kind, kam ihm entgegen mit Tamburin und mit Reigen! Armer Mann! Wir lesen einige Verse weiter: „Und er tat an ihr das Gelübde, das er gelobt hatte«. Der Kummer, den er so über sich brachte, entsprang nicht seiner Fleischlichkeit, sondern einer Leichtfertigkeit, die nach menschlichem Urteil weit entschuldbarer war als Simsons Fleischeslust. Aber Gott urteilt anders. Er sagt: „In denen, die mir nahen, will ich geheiligt werden“ (3. Mose 10, 3.) Das Vorrecht, Gott nahen zu dürfen, bringt zu aller Zeit (mögen die göttlichen Haushalte sich auch ändern und damit die Weise des Hinzunahens) die reichste Segnung, aber auch die schwerste Verantwortlichkeit mit sich. Diese Tatsache wendet sich mit besonderer Kraft auf solche an, die die Wahrheit von „Christo und der Versammlung“ wieder verstanden zu haben bekennen und sich nun, abgesondert von dem allgemeinen Verfall, allein um die Person Jesu scharen und Ihn in ihrer Mitte wissen. 
Bemerkenswert ist, dass Jephtas Glaube außergewöhnlich klar und lebendig war, und sein Verhalten dem Feinde gegenüber gekennzeichnet wurde durch ein herrliches Vertrauen auf Jehova, den Gott Israels (Kap. 11, 14 - 27). Wir lernen daraus, dass ein aufrichtiges Sichsstützen auf Gott im Blick auf die Umstände begleitet sein kann von einer unverzeihlichen Unwissenheit und Sorglosigkeit bezüglich der Frage, was Gott gebührt, wenn wir Ihm als solche, die Ihm etwas zu opfern haben, d. h. als Anbeter, nahen wollen. Obwohl Jephtas Glaube an Gott eine Befreiung erlangte, die kaum vollständiger hätte sein können, bewahrte er ihn doch nicht vor einem übereilten und törichten Auftun seines Mundes Jehova gegenüber und dessen erschreckenden Folgen. 
Wenn wir so die von Fehlern aller Art durchzogenen Lebensläufe dieser Zeugen von der Kraft des Glaubens in armen, schwachen Menschen betrachten, dann verstehen wir gut, warum Jesus, „der Anfänger und Vollender des Glaubens“, (abgesehen von Seiner persönlichen Würde), im 12. Kapitel des Hebräerbriefes so ganz allein, von jenen allen abgesondert, eingeführt wird. Wie könnte dieser heilige Name den Namen von Männern zur Seite gestellt werden, die durch Glauben wohl einen guten Ruf erlangten, aber im Blick auf die Verherrlichung Gottes in so vielen Stücken zu kurz kamen, ja, in einzelnen Fällen Ihn sogar durch grobe Versehlungen verunehrten? Ihr Weg und Wandel, ob er nun treu oder untreu war, gibt uns Ermunterung oder Warnung. Seinen Pfad aber können wir, auf unserem eigenen Wege der Herrlichkeit zu, immer wieder mit Wonne zurückverfolgen und in allen seinen Einzelheiten nur Vollkommen makellose Anlässe zur Anbetung unserer Herzen und zum Vorbilde für unsere Füße finden. 
Lasst uns denn mit nichts Geringerem, mit keinem anderen uns zufrieden geben! 

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Fragen aus dem Leserkreise

Bibelstelle(n): Lukas 22, 14 – 20

Entnommen aus: Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 83

Welcher Unterschied besteht zwischen dem ersten Kelch in Lukas 22, 17 und dem zweiten in Lukas 22, 20?
Bei der Feier des Passahmahls wurden gewöhnlich mehrere Kelche, drei oder meist vier, umher gereicht: bei Beginn des Mahles, während desselben und nach dem Mahl. Im 17. Vers nimmt der Herr einen Kelch, d.h. einen der erstgenannten Kelche, und reicht ihn gleichsam als Gastgeber Seinen Jüngern mit den Worten: „Nehmt diesen und teilt ihn unter euch“; mit anderen Worten: leert ihn, sein Inhalt ist ganz für euch. Dann spricht Er weiter: „Denn ich sage euch, dass ich von jetzt an nicht von dem Gewächs des Weinstocks trinken werde, bis das Reich Gottes kommt.“ Gerade so wie Er vorher im Blick auf das Passahmahl gesagt hat, dass Er „nicht mehr davon essen werde, bis es erfüllt ist im Reich Gottes“ (V. 16).
Das Gewächs des Weinstocks, der Wein, ist in der Schrift ein Bild der Freude, des irdischen Segens. Bis dahin hatte es dem Herrn gefallen, mit Seinen Jüngern an den Segnungen, die mit dem alten Bund verbunden waren, teilzunehmen. Jetzt aber sollte eine ganz neue Ordnung der Dinge aufgerichtet werden, mit der alten war es endgültig vorbei. Die Grundlagen für den neuen Bund, der allerdings dann mit Israel errichtet werden wird, sollten im Tod des Herrn gelegt werden. Alle Verbindungen mit der Erde werden für den Augenblick aufgelöst, bis sie im Reich neu geknüpft werden und dann ein „neues“ Genießen derselben gewährleisten (vgl. Matthäus 26, 29).
Der erste Kelch in unserer Stelle unterscheidet sich also wesentlich von dem „Kelch nach dem Mahl“ (V. 20; 1. Korinther 11, 25), den der Herr zur Einsetzung des Abendmahls, des Gedächtnisses an Ihn, das wahre Passahlamm, benutzte. Von ihm sagt Er: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.“ Er selbst trinkt auch nicht daraus, sondern Er reicht ihn den Seinen mit den Worten: „Trinkt alle daraus“, und: „Dies tut, so oft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis“ (Matthäus 26, 27; 1. Korinther 11, 25; vgl. Markus 14, 23).
Wenn also bei der Feier des Abendmahls gelegentlich der Danksagung für den Kelch zuweilen gesagt wird: „Der Kelch, den wir unter uns teilen“ (oder auch dasselbe Wort gar auf das „Brot“ angewandt wird), so ist das nicht schriftgemäß; es ist eine Verwechslung mit dem Kelch, der während des Passahmahls umher gereicht wurde. Wie könnten wir auch (bildlich gesprochen) den Leib oder das Blut des Herrn „unter uns teilen“? Der Gedanke schon ist, wie ein kurzes Nachdenken ergeben wird, durchaus unrichtig, um nicht mehr zu sagen. Nein, wie essen von dem Brot und trinken aus dem Kelch, um dadurch den Tod des Herrn zu verkündigen und unserer gesegneten Verbindung mit Ihm, dem gekreuzigten Heiland, in Seinem Tod einen sichtbaren Ausdruck zu geben.
Die Evangelisten Matthäus und Markus gehen in ihrem Bericht über die letzte Passahfeier des Herrn mit Seinen Jüngern nicht so genau in Einzelheiten ein. Dort scheint es so, als ob der Herr die Worte: „Ich sage euch, dass ich von jetzt an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken werde“, mit der Einsetzung des Abendmahls verbunden hätte. Aber Lukas zeigt und deutlich, dass das nicht der Fall war.

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In allem unterwiesen

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 85ff

„Ich habe gelernt, worin ich bin, mich zu begnügen. Ich weiß sowohl erniedrigt zu sein, als ich weiß Überfluss zu haben; in jedem und in allem bin ich unterwiesen, sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Überfluss zu haben als Mangel zu leiden. Alles vermag ich in Dem, der mich kräftigt“ (Phil. 4, 11 — 13). 
So schreibt Paulus, der Knecht Gottes, nachdem er jahrelang die Wahrheit dieser Worte durch sein Leben offenbart hatte. Vielleicht ist es nützlich, uns diese Worte einmal näher anzusehen mit Rücksicht darauf, dass in unseren Tagen viele Menschen mit Not und Entbehrungen zu kämpfen haben, ja, dass auch viele Kinder Gottes ernsten, schweren Proben ausgesetzt sind und wir alle mehr oder weniger entbehren lernen müssen. Eine Lehrzeit ist nie angenehm; sie bringt" stets Selbstverleugnung und Demütigung mit sich. Darum sagt schon ein altes, landläufiges Sprichwort mit Recht: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“. Kommt nun noch hinzu, dass jemand im Lernen schwerfällig oder gar widerwillig ist und zum Erlernen einer Sache herangezogen wird, für die er besonders unglücklich veranlagt ist, so kann unter Umständen die Lehrzeit recht lang dauern und ihn für viele Jahre zu einem recht unglücklichen Menschen machen. 
 Der Apostel sagt: „Ich habe gelernt, worin ich bin, mich zu begnügen“. Das ist nicht dasselbe, als entbehren lernen. Unter dem Druck der Verhältnisse lernt mit der Zeit mancher, Entbehrungen zu  ertragen. Großes hat ja in dieser Hinsicht in den vergangenen Jahren unser Land und Volk geleistet. Man kann entbehren lernen, weil die Verhältnisse dazu zwingen, weil man sich mit der Zeit daran gewöhnt, etwas zu entbehren, das man seit langem besaß und als Lebensnotwendigkeit ansah. Wenn man aber etwas entbehrt, so empfindet man eine Lücke, man vermisst etwas. Und wenn man auch lernt, sich damit abzufinden, bleibt die Entbehrung, die Lücke, doch als solche bestehen; sie bleibt fühlbar und wird als Bürde" empfunden. 
Anders war es mit dem Apostel. Er hatte gelernt, sich zu begnügen. Er war in jedem und in altem unterwiesen. Vielleicht dürften wir statt dessen sagen: Er hatte gelernt, „in allem sein Genüge, oder genug zu haben“. Das ist etwas anderes, als bereit sein, Entbehrungen zu ertragen. Wer genügend hat, empfindet keine Lücke; ein solcher entbehrt nicht. Auch bei Mangel und Drangsal (Vers 11 u. 14) spricht der Apostel nicht von entbehren; nein, er hatte gelernt, sich in jeder Lage zu begnügen, genug zu haben. Der Mangel kann uns also zweierlei lehren: entweder lehrt er uns entbehren, oder wir lernen, uns genügen zu lassen. Das Erstere kann jedem Menschen beigebracht werden, denn wenn der Druck der Verhältnisse groß wird und lang genug andauert, so gewöhnt sich der Mensch mit der Zeit an diesen Druck, auch wenn er ihn als solchen empfindet und als schwere Bürde trägt. Aber weil er ihn also empfindet, ist er naturgemäß bemüht, ihn zu beseitigen. Gelingt es ihm nicht auf dem einen Wege, so wählt er einen andern, und schließlich ist ihm jedes Mittel recht, wenn es ihn nur zum Ziele zu führen verspricht. Kann er trotz aller Anstrengungen dieses Ziel nicht erreichen, so macht er sich Luft in Äußerungen des Unwillens und Missmuts; laut und schrankenlos gibt er seiner Unzufriedenheit und seinem Hader mit Gott und Menschen Ausdruck. 
So ist es mit dem Menschen, der durch den Mangel nur entbehren lernt. Anders aber ist es, wenn wir lernen, uns zu begnügen. Wer genug hat, fühlt, wie gesagt, keine Entbehrung, und wer gelernt hat, genug zu haben, der entbehrt nicht, wenn auch Mangel ihn umgeben sollte.
Das Wort des Apostels deutet übrigens an, dass auch er es erst lernen musste, sich zu begnügen. Wenn nun dieses von Gott auserwählte Rüstzeug in dieser Hinsicht lernen musste, wie viel weniger werden wir ohne weiteres Verstehen, uns zu begnügen! Aber wie gut wäre es, wenn wir alle mit dem Apostel sagen könnten: ,,Ich habe gelernt, mich zu begnügen''! Es würde dann in unseren Herzen sicherlich nicht so viel ängstliches Sorgen um Dinge sein, die nicht einmal zu den wirklichen Bedürfnissen des Lebens gehören, und bei dem Zusammensein von Gläubigen würde die Unterhaltung sich nicht in dem Maße, wie es heute meist der Fall ist, um Dinge drehen, die zur Befriedigung leiblicher Bedürfnisse dienen oder das Leben annehmlich machen. Das zum Leben Notwendige wird Gott uns nicht vorenthalten, damit dürfen wir sicher rechnen. Schon der Psalmist sagt: „Nie sah ich den Gerechten verlassen, noch seinen Samen nach Brot gehen“ (Ps. 37, 25). Und in Hebr. 13, 5 heißt es: „Er hat gesagt: „Ich will dich nicht versäumen, noch dich verlassen“.“ Aber hier muss festgestellt werden, dass nicht alles, was wir zu den Lebensnotwendigkeiten zählen, auch wirklich solche sind. Das Notwendige wird Gott uns geben, das ist uns zugesagt. Ob Er uns zu jeder Zeit auch alles gibt, was uns wünschenswert erscheint, ist freilich nicht sicher. Da kann es sein, dass wir lernen müssen, Abstriche zu machen, und wir werden dann selbst sehen, ob und inwieweit wir imstande sind, mit dem Apostel zu sagen: „Ich habe gelernt, mich zu begnügen“. 
Ein Mensch, der viel entbehren muss, ist ein unglückliches Geschöpf; dagegen ist ein anderer, der auch nicht mehr zur Verfügung hat als der erste, der sich aber an dem Vorhandenen genügen lässt, glücklich. Dankbar für das, was er hat, ist er nicht unglücklich über das, was er nicht hat.
Aber hier sagt vielleicht jemand: „über solche Dinge lässt sich gut reden oder schreiben, wenn man reichlich mit allem versorgt ist“. Das ist freilich so. Überhaupt ist es. im allgemeinen leichter, den Weg des Glaubens (besonders wenn er schwierig ist) zu zeigen, als ihn selbst zu gehen, und der Herr möge uns allen Gnade und Unterwürfigkeit schenken, den für richtig erkannten Weg auch stets zu gehen! Aber wir wollen den durch die Worte des Apostels gekennzeichneten und von ihm selbst begangenen Weg auch nicht betrachten in dem Gedanken, dass andere ihn gehen möchten, sondern wir alle wollen versuchen, aus den für unsere Tage überaus nützlichen und kostbaren Worten zu lernen. 
In Vers 4 schreibt der Apostel: „Freuet euch in dem Herrn allezeit“. Er selbst genoss offenbar beständig die Freude, welche die Nähe des Herrn und das Anschauen Seiner kostbaren Person bewirken. Dann erinnert er in Vers 5 daran, dass „der Herr nahe ist“. Der Blick auf seinen Herrn und auf dessen nahe Ankunft, die allem Mangel und aller Drangsal hier ein. Ziel setzen wird, befähigte ihn, sich über alles Irdische zu erheben und genug zu haben, auch wenn er Mangel und Drangsal litt. Er konnte sich freuen, weil der Gegenstand seiner Freude der Herr war. Ob er erniedrigt war oder Überfluss hatte, ob er satt war oder hungerte, ob er Überfluss hatte oder Mangel litt — der Überfluss machte ihn nicht glücklich, und der Mangel nicht unglücklich, weil die unveränderliche Quelle seiner Freude im Himmel war, und weil er damit rechnete, selbst bald bei seinem Herrn zu sein; Er sagt: „Alles vermag ich in Dem, der mich kräftigt“ (Vers 13), und er konnte das sagen, weil „die Freude an dem Herrn seine Stärke“ war. (Neh. 8, 10.) Damit ist das Geheimnis seiner Kraft gezeigt. Auf diese Weise hatte er gelernt, sich zu begnügen, wenn auch tatsächlich Mangel vorhanden war. 
Eiin anderer Weg kann auch uns heute nicht gezeigt werden. Man mag versuchen, sich, durch die Umstände gezwungen, oder freiwillig, mit Rücksicht aus die Not anderer, in seinen Ansprüchen zu bescheiden und sich zur Ertragung von Entbehrungen zu zwingen; aber das ist nicht dasselbe, als sich zu begnügen mit dem, was vorhanden ist (Hebräer 13, 5), mit anderen Worten: an dem Vorhandenen genug zu haben. Es sei  nochmals gesagt: Wer genug hat, der entbehrt nicht, dem fehlt nichts. Dass wir uns oft recht weit von diesem Platze befinden, fühlen wir vielleicht alle, sonst würden nicht Missmut und das Begehren nach Dingen, die wir als Lebensnotwendigkeiten betrachten, so viel bei uns gefunden werden. Doch damit können wir rechnen: Glücklich werden wir auf diesem Boden niemals. Denn sollten auch die unseren Missmut erzeugenden Umstände sich ändern und die von uns begehrten Dinge uns zufallen, so würde doch immer noch genug übrigbleiben, was unseren Missmut erregte und wirkliche Freude nicht aufkommen ließe. Gott sei Dank, dass unsere Freude nicht davon abhängig ist, dass alle unsere Umstände hienieden sich nach unseren Wünschen gestalten! Könnten wir nur dann glücklich . sein, wenn das Begehren unserer armen, selbstsüchtigen Herzen erfüllt wäre, so wären wir bedauernswerte Menschen. Wir würden niemals genug haben und nie lernen, uns genügen zu lassen an dem, was vorhanden ist, aber auch nie reine Freude und wirkliches Glück kosten.
Wenn das aber so ist und wir auf Grund unserer Erfahrungen erkannt haben, dass wir wirkliche und bleibende Freude nur in dem Herrn finden können, dann ist es doch wohl der Mühe wert, uns zu fragen: „Warum verbringen wir so manche Stunde mit Dingen, von denen wir doch wissen, dass sie dem Herzen Befriedigung und Freude nicht geben können? Und warum lassen wir uns unglücklich machen durch Dinge und Umstände, die belanglos sind, wenn das Herz von Jesu und Seinem baldigen Kommen erfüllt ist?“ — Die Antwort lautet dann vielleicht für uns alle gleichartig: „Das Sichtbare spielt eine zu große Rolle bei uns, weil wir unseren natürlichen Sinnen zu viel Raum zur Betätigung lassen auf Kosten der Sinne des neuen Menschen“. Das Unsichtbare kann nur der Glaube erfassen, und nur das glaubende Herz kann sich über den Staub der Erde erheben, um sich zu beschäftigen mit den unsichtbaren, ewigen Dingen droben.
Im allgemeinen liegen wohl unsere Lebensverhältnisse so, dass wir das zum Lebensunterhalt Notwendige verdienen müssen. Dabei kommen wir mit mancherlei Dingen und Menschen in Berührung, die zunächst geeignet sind, unsere Sinne von unserm eigentlichen Ziel abzulenken und mit Irdischem zu beschäftigen. Daneben gibt es dann mancherlei Dinge und Menschen, die geeignet sind, verunreinigend auf uns zu wirken. Zu diesen zählt in unseren Tagen wohl ganz besonders das auffallende Jagen nach Erwerb. Die Art. des Erwerbs kommt Vielfach nicht mehr in Betracht. Man fragt nicht mehr danach, ob durch die Art des Verdienstes andere geschädigt werden, in Not geraten oder gar Hunger leiden. Die Hauptsache ist verdienen! So ist der Welt Lauf heute. In solcher Welt stehen wir, und wir können ihren Lauf nicht ändern. Doch dazu sind wir auch nicht da. Wichtig. aber ist es, die Welt und ihren Lauf zu sehen, wie sie sind, und mit Sorgfalt darauf zu achten, dass uns im täglichen Getriebe das besonnene Urteil nicht abhanden kommt; sonst liegt die Gefahr nahe, dass wir angesichts der uns umgebenden schreienden Ungerechtigkeiten und von der Sorge um angemessenen Verdienst geleitet, von dem allgemeinen Jagen nach Erwerb angesteckt und dann mitgerissen werden zu einem Tun, das im Lichte des lebendigen Gottes nicht bestehen kann. Vor Menschen können wir es vielleicht vertreten und durch die besonderen Umstände der gegenwärtigen Zeit, die auch besondere Maßnahmen erfordern, entschuldigen. Vielleicht sind Art und Umfang der Verdienstmöglichkeiten sogar geeignet, uns das Zeugnis eines tüchtigen, fähigen Menschen zu verschaffen (was auch etwas wert ist), und sollte das Gewissen nicht so ganz ruhig sein, so mag man es dadurch zum Schweigen bringen, dass man sich sagt: Ich handle ja nur im Interesse und zur Erhaltung meiner Familie und kann von meinem Verdienst Bedürftigen mitteilen und manches andere gute Werk tun. 
Das Auge, die „Lampe“, durch welche dem Leibe Licht zugeführt wird, ist nicht mehr einfältig, das geistliche Urteilsvermögen ist geschwächt, und der ganze Leib, anstatt licht zu sein, wird finster. (Luk. 11, 34 - 36.) Ja, wenn wir unsere Nüchternheit nur eine Stunde verlieren und uns den Eingebungen der alten Natur überlassen, so treten sofort die natürlichen Sinne und Triebe in Tätigkeit und übernehmen (man möchte sagen, automatisch=selbsttätig) die Leitung unseres Handelns. Die „Sinne“ (Hebräer 5, 14) des durch den Heiligen Geist regierten und geleiteten neuen Menschen . haben dann die Verbindung mit ihrem Leiter verloren, und die Beschäftigung mit irdischen (wenn auch vielleicht nicht unmittelbar bösen) Dingen beeinträchtigt unsere Nüchternheit. Die Sinne und Triebe unserer menschlichen Natur unterscheiden sich in nichts von denen der Weltmenschen, und lassen wir uns von ihnen leiten, so werden naturgemäß auch unsere Handlungen denen der Welt gleichen. Bleibt aber unser Auge einfältig, so werden die durch Gewohnheit geübten Sinne des neuen Menschen die Richtung angeben und uns auch in den Zeiten beeinflussen, in welchen wir notgedrungen unsere geistigen und körperlichen Kräfte auf das Irdische zusammenfassen müssen. 
Wie weit wir oft von dem Zustand wahrer Nüchternheit entfernt sind, zeigt uns der Umstand, dass es uns manchmal sehr schwer fällt, die für das Gebet notwendige geistliche Kraft aufzubringen. Und recht oft hat der Rückkehr zu dem Zustand der Nüchternheit die Demütigung über Dinge voraufzugehen, die uns das Dichten und Trachten unseres natürlichen Herzens und unsere Neigung, seiner Leitung zu folgen, in tief beschämender Weise zum Bewusstsein bringen. Wohl uns, dass wir den treuen Händen des guten Hirten anvertraut sind, der unsere armen Herzen kennt und auch die bei uns vorhandene Neigung, den Eingebungen derselben zu folgen, und dass Er uns leiten will „in Pfaden der Gerechtigkeit um Seines Namens willen“! Andererseits sehen wir bei einem Hiob, dass die in Gottesfurcht geübten Sinne ihn anleiteten, mit zerrissenen Kleidern anzubeten angesichts des Verlustes aller seiner Kinder und seiner ganzen Habe (Hiob 1, 20). 

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Nikodemus oder vom „Wissen“ zum „Glauben“

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 94ff

1. 
Mit unserer menschlich-geschichtlichen Neugierde kommen wir, was die in den Evangelien auftretenden Personen betrifft, wenig auf unsere Rechnung. Das entspricht auch durchaus dem Zweck und Ziel der Mitteilungen, deren Mittel und Brennpunkt der Einzige ist, „das wahrhaftige Licht, das, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet“ (Joh. 1, 9.) Ihm gegenüber erscheinen die Menschen, soweit sie zu Seiner Person in Beziehung treten, nur als Nebenpersonen. Von Ihm, Seinem Wort und Werk beleuchtet, treten sie oft unvermittelt in Seinen hellen Lichtkreis, scharf und klar sich abhebend aus dem bisherigen Dunkel und wieder darin verschwindend. Aber wenn auch Nebenpersonen im Verhältnis zu der einen Hauptperson, erhalten doch auch sie eine höhere Wichtigkeit. Der Heilige Geist, der sie für alle Zeiten unserem Gedächtnis festgehalten, will sie nicht nur als die „Wortführer und Wortempfänger“ einführen, sondern verbindet damit stets den höheren Zweck, sie uns als besondere Vertreter ihrer geistigen Gattung darzustellen. In den anscheinend zufällig erscheinenden Personen, den Besonderheiten ihres Charakters, ihres geistigen Standpunktes erkennen wir unsere Spiegelbilder. In dem Maße, wie wir, durch den Geist geleitet, das Vorbild der einzelnen Personen in uns wiederfinden, werden wir auch in deren Wesens- und Geistesart eindringen. Wir werden an dem Nutzen und Segen teilhaben, den die Begegnung jeder dieser Personen mit Ihm für uns haben soll und kann. Wir dürfen auch hier wohl das Wort anwenden: „Denn alles, was zuvor geschrieben, ist zu unserer Belehrung geschrieben, auf dass wir durch das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben“. 
In Joh. 3 haben wir das erste größere uns mitgeteilte Zwiegesprächs des Herrn. Abgesehen von diesem Umstand und der hohen Wichtigkeit, die sein Inhalt diesem Kapitel gibt, interessiert uns der Mann, hat uns von jeher interessiert; nicht nur als Mensch, nein, auch sein Name, die ganze Person, schon ihres Bildungsgrades, ihres Standes, ihrer Stellung wegen. Unwillkürlich machen wir uns eine Vorstellung von seinem Aussehen, seinen Zügen, seinem ganzen Auftreten. „Es war aber ein Mensch, 
aus den Pharisäern, sein Name Nikodemus, ein Oberster der Juden.“ 
Die knappe Kürze hinsichtlich der einzelnen Personen in den Evangelien ist uns, wie gesagt, nichts Neues. Selbst aus dem vertrauten Freundeskreis von Bethanien — wie kurz sind die Angaben, und vielleicht gerade deshalb umso wirkungsvoller! Nicht selten begnügt sich der Evangelist mit der allgemeinen Bemerkung: „ein Mensch'', „ein Weib“, „ein gewisser Jüngling“, oder auch einer Andeutung des Ortes, der Herkunft, des Standes. Bemerkenswert ist, dass die Quelle hier schon reichlicher fließt. 
„Es war aber ein Mensch“ — schlechthin, ein Mensch wie andere Menschen, ohne Unterschied vor Ihm. Ein Mensch mit seinen rein menschlichen Bedürfnissen, aber auch seinen Ewigkeitsgedanken, den stillen Fragen, tief in jede Menschenbrust gesenkt, die jedes Herz in seinem Innersten berühren und bewegen, oder einmal berührt und bewegt haben. Ein Mensch mit einer unsterblichen Seele. Ein Mensch, in Beziehung zu Ihm tretend, der nicht nur sie alle kennt, sondern auch jeden besonders, „der nicht bedurfte, dass jemand Zeugnis gebe von dem Menschen, denn Er selbst wusste, was in dem Menschen war'' (Joh. 2, 25). Er, der auch den leisesten Geisteshauch im Innern, dessen der Mensch sich selbst kaum bewusst wird, spürt, der das Glimmen des verborgensten Fünkleins hütet. „Ein Mensch aber'' — was mag das „aber“ bedeuten? Ich denke, es will eben sagen: ein Mensch, der in diesem Augenblick zu Ihm in Beziehung treten wird. 
 „Aus den Pharisäern'' — ein Glied also dieser in den Evangelien so oft genannten, gesetzesstolzen, herrschsüchtigen Sekte der Schriftgelehrten Israels, im Hohen Rat die erste Rolle spielend, schon von Johannes „Qtterngezücht“ geheißen, von denen der Herr sich von Anfang an zurückzog (Vgl. Joh. 4, 1ff). über sie musste Er Sein siebenfaches „Wehe“ ausrufen, sie, die mit ihrer Werk- und Scheinheiligkeit Ihm meiste feindlich widerstrebten, deren Wissensstolz, deren Scheinautorität sich überall Seinem Wort und Wirken entgegensetzten. „Aus den Pharisäern“ -— es will wohl sagen, dass auch Nikodemus nicht frei war von den Vorurteilen und Fehlern seiner Standesgenossen. Wie diese, ist er befangen in der Gewohnheit, das Äußere statt des Inneren zu reinigen, mit dem Dünkel des Wissens sich über das niedere Volk zu erheben. Doch scheint auch das „aus“ anzudeuten, dass, hier ein zu zu Ihm neigender Mensch aus den übrigen hervortrat. Hat nicht auch aus ihnen die Gnade ihren Saulus gefunden, „einen Pharisäer, eines Pharisäers Sohn“?
„Sein Name Nikodemus“ — Nikodemus heißt „Volksbezwinger“, „Volkssieger“. Dieser Bedeutung verschafft er zunächst wenig Geltung. Abgesehen von einer gewissen Kühnheit, die dem Kommen bei Nacht trotz allem nicht abzusprechen ist, wissen wir mit der Bedeutung des Namens zunächst wenig anzufangen. Aber ein Augenblick kommt, der durch die Gnade unserem Nikodemus Gelegenheit gibt, kühn und entschieden als Bekenner seines Herrn aufzutreten und, alle Schranken seines Standes, alle Ketten der Menschenfurcht abstreifend, als Sieger dazustehen. So ist dieser Name bezeichnend geworden nachbeiden Seiten hin, und in diesem zwiefachen Sinne möchten wir ihn zu uns reden lassen.
 „Ein Oberster der Juden“ — also nicht nur ein Pharisäer, sondern sogar ein Oberster, Beisitzer des Hohen Rats. Als solchen finden wir Nikodemus in Joh. 7, 50 wieder, wo er, „der einer von ihnen war“, ihnen widerspricht. Wie verächtlich wird er da abgetan von den Leuten seines Standes, als er eine Wort für den Herrn wagt! „Bist du etwa auch aus Galiläa? Forsche und sieh, dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht!“ (Johannes 7. 52): 
Müssen nicht auch heute Gebildete und Standespersonen die Erfahrung machen, wie schwer es fällt, gerade in gleichstehenden oder höheren Kreisen ein volles Zeugnis von Jesu abzulegen? Damals wie heute finden wir, dass die sogenannte ,,Gesellschaft« wahrem Christentum so besondere Feindschaft und Geringschätzung entgegenbringt. Auch heute erfordert ein klares Bekennen in ihren Kreisen einen außerordentlichen Mut. Wir dürfen daher annehmen, dass es auch in unseren Tagen unter den Hochstehenden und Standespersonen noch viele „verborgene Jünger“, noch viele „Nikodeme“ gibt. Hören wir doch auch damals: „Aber auch von den Obersten glaubten viele an Ihn, doch bekannten sie Ihn nicht, auf dass sie nicht aus der Synagoge ausgeschlossen würden“ (Joh. 12, 42).
„Dieser kam zu Ihm bei Nacht.“ Er kam. Das war ein Wendepunkt seines Lebens. Oft ist in der Schrift die Rede von „Kommen“ und auch von „Nichtkommen“, fast stets in entscheidender Bedeutung, entscheidend über Leben und Tod, über Himmel und Hölle, Seligkeit und Verdammnis. Sind auch wir einmal „gekommen“, du und ich, aus der Finsternis zum Licht, gekommen zum Sohne? Und wenn wir diesen Schritt getan — kamen wir von selbst? O nein, wer wäre von selbst gekommen, gekommen wie er war? Der Herr Jesus sagt: „Niemand kann zu mir kommen, es sei denn, dass der Vater, der mich gesandt hat, ihn ziehe“ (Joh. 6, 44), und: „Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen“ (Joh. 6, 87). Wir wurden gezogen, stärker, immer stärker, bis wir kamen. Wunderbares Zusammenwirken — sanfte, vorbereitende, innig tiefe Züge der Gnade! Machtvolle, geheimnisvolle Wirkungen auf der einen Seite -— vielleicht zögernde und doch eigene Entschließung auf der anderen Seite. „Wer die Wahrheit tut, kommt zu dem Lichte“, sagt der Herr am Schlusse Seiner machtvollen Predigt an Nikodemus, wohl nicht ohne eine ermutigende Anerkennung seines Kommens überhaupt. Er kam zu Jesus, das ist bedeutungsvoll. Von dem reichen Jüngling heißt es: „Er trat hinzu“, „er lief hinzu“ — aber nicht „er kam“. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinauswerfen.“ 
„Er kam zu Ihm bei Nacht.“ Was mochte der Beweggrund seines nächtlichen Kommens sein? Vorwiegend, ja, ausschlaggebend wohl die Menschenfurcht, die Furcht vor der Welt, die fast jeder empfindet, der sich für die Wahrheit, für Gott entscheiden will. Wollen wir ihn deshalb tadeln? Der Herr tadelt nicht. Wenn der Evangelist es später bei der Grablegung wieder erwähnt, so scheint dies mehr dem Gegensatz zu gelten zwischen dem Kommen „zuerst bei Nacht“ und dem offenen Kommen zu dieser ehrfurchtsvollen und liebevollen Handlung, vor allem der Anerkennung der letzteren. Wunderbar herablassende Gnade! Joseph von Arimathia und Nikodemus, diese beiden vornehmen, hochgestellten Männer, bis dahin verborgene Jünger, sind dazu ausersehen, vereinigen sich, ihrem Herrn im Tode diese Ehre, diese Liebe zu erweisen, Seiner teuren, kostbaren Hülle ein würdiges Begräbnis zu bereiten, dürfen dabei auch ihre Jüngerschaft in offenem, freiem Bekenntnis vor aller Welt erweisen. 
Dieses erste „kam“ und das letzte „kam“ (Joh. 19, 39) — welche Wendepunkte im Leben dieses Mannes! Was dazwischen liegt, können wir nur ahnen. Wohl hat die erwähnte Szene (Joh. 7, 50) ihr Schlaglicht auf ihn geworfen. Obgleich ein verborgener Jünger, war er doch nicht ganz unbekannt. „Galiläer!“ fliegt’s ihm entgegen. Ihre Verachtung ist ihm angedroht. Er soll sich die Sache reiflich überlegen; er soll doch bedenken, dass er sich bei ihnen gänzlich unmöglich machen wird. 
 „Er kam zu Ihm.“ Ja, weshalb kam er? Was trieb den treuen, gesetzeseifrigen Mann, den in Rang und Ansehen stehenden Gelehrten zu Jesus? Ach! trotz seiner hohen Bildung, seiner Stellung und Würden, seiner gewissenhaften Erfüllung des Gesetzes ist er doch in seinem Innersten unbefriedigt. Da ist eine Leere, die nichts ausfüllen kann. Bei all seinen Vorzügen ist er doch ein armer, müder Mann. 
Wie viele Menschen in unseren Tagen gleichen ihm! Die meisten sind enttäuscht, unbefriedigt. Viele eilen von Erfolg zu Erfolg, von Genuss. zu Genuss. Sie schöpfen aus den Brunnen der Weltlust, an den Stätten der Kunst und Wissenschaft. Aber sind sie glücklich? Nein. Ihr Dürsten bleibt das gleiche. Was sie suchen finden sie nicht. Keine dauernde Befriedigung, keine wirkliche Ruhe, keinen wahren Frieden. Was ihnen eigentlich fehlt, wissen sie nicht; aber sie fühlen doch, es ist die Hauptsache. Wenn es auch keine bewusste Schuld ist, die sie quält — etwas ist es, das ihr Herz tief niederdrückt, was der Dichter in den bekannten rührenden Worten klagt: 
Ach! ich bin des Treibens müde, 
was soll all der Schmerz, die Lust? 
Süßer Friede, 
komm ach, komm in meine Brust! 
Der Herr Jesus kannte die Beweggründe des Mannes vor Ihm. Er sah die tieferen Bedürfnisse, das geheime Verlangen seines Herzens, das Suchen einer dürstenden Seele. Er, „der wusste, was im Menschen war“, kannte auch die auf- und niedersteigenden Gedanken,. die sich untereinander anklagten oder entschuldigten. Berührt von der überzeugenden Macht einer Person, deren Wirkungen sich niemand entziehen konnte, war in Nikodemus das Gewissen erwacht. Die gewaltigen Zeichen, die er gesehen, vielleicht mehr noch die Macht des Wortes, dem er gelauscht, hatten sich an ihm bezeugt. Der, von dem sie ausgingen, musste mehr sein als ein Mensch. Mit Ihm musste er zusammentreffen, mit Ihm sich aussprechen, mit Ihm allein, ohne Zeugen, Ihn näher kennen lernen, koste es, was es wolle. Und während draußen die Sterne funkeln, schreitet ein einsamer Mann durch die nächtlichen Gassen Jerusalems, steht pochenden Herzens vor der Pforte der Behausung, vor dem Gemach, wo Jesus zu Gaste war, wo er wusste, dass er Ihn sicher treffen würde. Jetzt steht er dem Herrn gegenüber, Auge in Auge, Antlitz zu Antlitz. Er hat’s gewagt. Der große, der langgesuchte Augenblick ist da. Kein Wort über das unzeitgemäße Kommen, die Kühnheit des Nachtbesuches, kein Wort der Verwunderung, der Missbilligung auf des Herrn Seite — welch wunderbar eindrucksvolle Szene in dem tiefen, schweigenden Dunkel der Nacht! Ob er Ihn aus dem Schlummer weckte,  ob er Ihn wachend fand, von dem wir wissen, dass Er oft die Nacht im Gebet zubrachte? Ob der Herr den etwa angekündigten Nachtbesuch erwartet hatte? Wir wissen es nicht. — O herablassende Menschenfreundlichkeit, nie ermüdende Liebe, deren Speise es war, — sei es zur Ruhezeit des glutstrahlenden Mittags am verlassenen Brunnen, sei es in stiller Nachtstunde, wo alles im tiefen Schlummer liegt, — einsamen, unbefriedigten, wunden, zerrissenen Herzen zu helfen, zu dienen, den großen Durst zu stillen! — „Wen da dürstet“, „wer da will'', der komme, nehme, trinke, werde geheilt, lebe! 
„— und er sprach zu Ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen, denn niemand kann diese Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.“ 
Hier lesen wir die Eintrittsrede, die der Lehrer Israels wählte, um sich bei Jesu einzuführen. Sicher und weltgewandt, etwas überlegen fast scheint er aufzutreten. Gründe seines Kommens, seines nächtlichen Besuches führt er weiter nicht an. Ohne Umschweife geht er auf sein Ziel los, verrät er die Absicht seines Besuches. Der Zweck, der ihn hergeführt, das Ziel, dass er sich gesteckt, ist kein geringeres, als Er selbst, — Ihn näher kennen zu lernen, einmal hinter das Geheimnis Seiner Person zu kommen, die ihn unwiderstehlich anzieht. „Rabbi“, so lautet die Anrede. Rabbi — was verdolmetscht heißt: „Lehrer“, sagt der Schreiber selbst (Joh. 1, 37) — Rabbi, eigentlich Großer, war die Anrede, mit der die Schriftgelehrten von ihren Schülern oder auch anderen Leuten angeredet  wurden. „Wir wissen“ — wie mancher ist so zu Ihm gekommen, kommt auch heute noch so zu Ihm! Wie mancher auch mit dem ,,wir« andeutend, dass er sich damit in guter Gesellschaft befinden möchte. Mit Nikodemus, der sagen will: „wir Pharisäer, wir Obersten der Juden“, treten nicht nur Theologen, Philosophen auf den Plan, sondern so heißt’s auch bei den nichtzünftigen Gelehrten und Denkern, bei den Leuten, die Anspruch darauf machen, Gebildete zu heißen: „wir wissen“. Hinter dem „wir“ kann man nicht nur im allgemeinen, im Namen seiner Amts- und Standeswelt reden und auftreten, sondern sich selbst dahinter zurückziehen, wenn man auch mal einen Schritt der Annäherung gewagt hat. Mancher, der auch heute wohl fragend im eigenen Namen nahen möchte, spräche er aufrichtig und klar, wie e ihm ums Herz ist, stellt doch seiner Rede kühn oder auch Vorsichtig sein „wir wissen“' voran. Nicht nur dem Nikodemus passiert’s, dass er dem Lehrer „statt mit einem Schüler-, mit einem Meisterwort entgegentritt“. 
Wir wissen“ — nun, lasst uns denn sehen, was er zu sagen hat, was er weiß. 
„Wir wissen, dass von Gott du gekommen bist, ein Lehrer“ — so lautet die genaue, wörtliche Wiedergabe des Grundtextes. „Von Gott gekommen“, das ist zunächst sehr vielsagend, lässt die Anrede, den Titel „Rabbi“, weit hinter sich. „Gekommen“, das geht sogar über den stets gebrauchten Ausdruck von Gott gesandt, der für Könige, Priester und Propheten in Israel galt, hinaus. Als der „Kommende“ wird Er von den Propheten angekündigt. Als auf den nach ihm „Kommenden“ wies Johannes   der Täufer auf Ihn hin, als die Pharisäer ihn fragten. Aber Nikodemus hat offenbar mehr gesagt, als er sagen wollte. Das entsprach nicht dem „wir wissen“, klang fast einem Bekenntnis gleich, eher einem: „wir glauben“, statt: „wir wissen“. Kaum ist daher dieses offene, einer vertrauensvollen Hingabe an Den, der da vor ihm steht, zeugende Wort seinen Lippen entschlüpft, so zieht er es vorsichtig wieder zurück. Matt lässt er es ausklingen, herabfallen in den ganz allgemeinen, wenig sagenden Ausdruck: „ein Lehrer“. 
Vor dem durchdringenden Auge Dessen, der da vor ihm steht, mochte ihn wohl von selbst das Gefühl überkommen, dass er mit seinem überhebenden „wir wissen“ einen ganz falschen Anfang gemacht hatte. Aber statt dem Gefühl seines Gewissens zu folgen, veranlasst es ihn, für sein angebliches Wissen, für die wunderbare Zusammenstellung: „von Gott gekommen, ein Lehrer“, noch einen weiteren Grund beizubringen. Zu seiner Bekräftigung glaubt er hinzufügen zu müssen: „denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust“. Aber auch diesen bekräftigenden Satz findet er für gut, wieder in den wenig zu den mächtigen Zeichen passenden Ausdruck: „es sei denn Gott mit ihm“, abzuschwächen. In seinem, mit kühnem Anlauf anhebenden, stolz sich und andere Autoritäten zusammenfassenden: „wir wissen“, seinem matten Zurückziehen dessen, was einem Bekenntnis nahe gekommen wäre, und seiner vorsichtigen Selbstberichtigung hat Nikodemus den Widerspruch seines Inneren kundgegeben. 
Aber wie vielen ist Jesus auch nur der göttliche „Lehrer“! Sie bleiben stehen auf ihrer eigene Höhe des „wir wissen“. Weiter kommen sie nicht, kommen nicht einmal, wie Nikodemus, bis zu Ihm selbst, konstruieren sich einen Christus, wobei sie unbedenklich an Seine Stelle ihr eigenes Ideal setzen. Ja, sie scheuen sich nicht, Ihn mit der einzigen Quelle der Wahrheit, der Heiligen Schrift, ja, mit sich selbst in Widerspruch zu bringen und eine innerlich unwahre Persönlichkeit aus Ihm zu machen. Wenn es auf sie ankäme, hätte wohl das herrliche Zeugnis des Herrn: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, das; du dies vor Weisen und Verständigen verborgen hast, und hast es Unmündigen offenbart, ja, Vater, also war es wohlgefällig vor dir“ (Matth. 11, 25. 26), umgekehrt lauten müssen. 
Doch Nikodemus ist in Wirklichkeit dem Herrn näher, als er ahnt. Seinem alles durchschauenden Blick, Ihm, der gekommen ist, mehr als „ein Lehrer zu sein, liegt seine Seele offen. Auf ihrem Grunde weiß Er redliches Suchen und aufrichtiges Wollen von dem sonderbar vorsichtigen Ansatz seiner Rede, den stolz beginnenden, doch kläglich endenden Worten seines Wissens, zu scheiden. 

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Der erfüllte Ausgang

Bibelstelle: Lukas 9,30-31

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 105ff

„Und siehe, zwei Männer redeten mit Ihm, welche Moses und Elias waren. Diese erschienen in Herrlichkeit und besprachen Seinen Ausgang, den Et in Jerusalem erfüllen sollte“ (Luk. 9, 30. 31). 
Sie besprachen Seinen Ausgang, den Er  in Jerusalem erfüllen sollte — drei Worte von  lieblicher und mannigfaltiger Bedeutung. Sie erzählen uns zunächst von der Vertraulichkeit, der persönlichen Vertraulichkeit, die zwischen dem Herrn und Seinen Auserwählten einmal in den Bereichen der Herrlichkeit bestehen wird. Wie im Anfang im Garten Eden, dann unter den Erzvätern und schließlich bei den Jüngern und ihrem göttlichen Meister in den Tagen der Evangelisten, so wird es auch in dem zukünftigen Zeitalter der Herrlichkeit sein: eine persönliche Vertraulichkeit, wie sie durch die Worte „besprechen“ „reden“ angedeutet wird, wird den Verkehr des Herrn mit Seinem Volke kennzeichnen. „Gott redete mit Abraham.“ 
Zugleich wird uns der Gegenstand der Unterredung mitgeteilt — Sein „Ausgang“ — ein Thema, das der Beschäftigung der verherrlichten Scharen droben überaus würdig sein wird. Wir mögen wohl an jedem Tage des Herrn im Lichte der Auferstehung von ihm reden, während die Erlösten droben es tun werden im Lichte der Herrlichkeit. Denn jene große Tatsache, das unergründliche Geheimnis, „Sein Ausgang“, wird in alle Ewigkeit gefeiert werden als der Pfeiler, auf welchem die ganze Schöpfung Gottes, ja, die Ewigkeit selbst ruht. 
Weiter lehrt uns der Ausdruck: „den Er in Jerusalem erfüllen sollte“, eine sehr bedeutungsvolle Sache. Das Wort „erfüllen“ erinnert uns an die vollkommene, vollendete Weise, in welcher jenes große Geheimnis, der Tod des Lammes Gottes in Jerusalem, sich vollziehen sollte. Ein feierlicher Ernst sollte es kennzeichnen; nichts von alledem, was es hervorbringen sollte, durfte unerfüllt oder ungesichert bleiben.  
Welch ein Trost für uns sündige Menschen! Das Opfer des Lammes Gottes war das kostbare, ewige Geheimnis, das uns ewigen Frieden bringen sollte, und wir dürfen lernen, dass dieses Lamm alles, was Ihm zu tun aufgetragen war, für ewig getan hat — die Ratschlüsse und der Thron Gottes, samt allen Gewichten und Maßen des Heiligtums droben, sind durch das Lamm bis zum letzten Pünktlein erfüllt und befriedigt worden. Lasst uns über diese Erfüllung noch ein wenig weiter nachsinnen, und zwar in Anlehnung an den Inhalt von 3. Mose 16! 
Wenn wir dieses Kapitel lesen, so macht die sorgfältige Ordnung und genaue Regelmäßigkeit, mit welcher der Hohepriester seine Obliegenheiten am Versohnungsstage zu erfüllen hatte, unwillkürlich Eindruck auf uns. Keine ungeziemende Hast, keine Übereilung irgendwo — alles geschieht in wohlgeordneter Genauigkeit von Anfang bis zu Ende.  
Aaron musste zunächst die bestimmten Opfer, Farren oder Ziegenböcke, nehmen. Dann musste er sie herzubringen, vor Jehova stellen und schlachten — alles in geziemender Reihenfolge. Weiter musste er die Wolke des Räucherwerks bereiten,  die ihn umgeben musste, wenn er mit dem Blute ins Allerheiligste ging. Und wenn er dann in seinem einfachen weißen Gewande, nicht in seinen „Kleidern zur Herrlichkeit und zum Schmuck“, in die Wolke gehüllt, innerhalb des Vorhangs eingetreten war, musste er das Blut auf und vor den Sühnungsdeckel sprengen, zum Zeugnis dafür, dass Gott. auf dem Thron Seiner Gerechtigkeit das Opfer angenommen hatte. Endlich musste er, aus dem Heiligtum wieder heraustretend, dasselbe Blut, das am Throne Gottes Anerkennung gefunden hatte, benutzen zur Sühnung der äußeren Teile und Dinge in der Stiftshütte. Und bei all diesen feierlichen Verrichtungen . durfte kein Mensch im Zelte der Zusammenkunft sein, außer ihm. 
Nach der Sühnung des Zeltes der Zusammenkunft, des Altars usw. legte Aaron die Missetaten der Kinder Israel auf den Kopf eines  Bockes, der „Asasel“ (Bock der Abwendung) genannt wurde, und sandte ihn in ein Land, wo diese Missetaten nie mehr in Erinnerung gebracht werden konnten. Und, wiederum bekleidet mit den Kleidern zur Herrlichkeit und zum Schmuck, opferte er ein Brandopfer für sich selbst und ein anderes für das Volk, zum Zeugnis dafür, dass das ganze große und herrliche Werk dieses Tages in der Anbetung und Lobpreisung ausgelaufen war, die von der erlösten, bluterkauften Gemeinde Jehova dargebracht wurde. Das Fett des Sündopfers legte er auf den Altar, um dadurch auszudrücken, dass Gott den reichsten Anteil, die tiefste Freude an dem Opfer hatte — ähnlich, möchte ich sagen, wie in dem Gleichnis von dem verlorenen Sohn. *) 
Die Sündopfer, Farre und Ziegenbock, wurden dann „außerhalb des Lagers“ mit Feuer verbrannt, und der „bereitstehende Mann“, der den Bock Asasel fortgeführt, und der andere, der die Sündopfer verbrannt hatte, mussten sich sorgfältig reinigen und dann ihren Platz im Lager wieder einnehmen.  Das waren die Verordnungen für diesen großen Tag in Israel, den Tag der Versöhnung, den zehnten Tag im siebenten Monat. Ich möchte bei der Erklärung der einzelnen Handlungen nicht verweilen, sondern habe sie nur aufgezählt, um auf die sorgfältige, wohlbedachte Weise aufmerksam zu machen, in welcher alles getan werden musste, auf die peinlich genaue Ordnung, mit welcher die ganze Feierlichkeit zu begehen war. 
Dass dies in voller Übereinstimmung ist mit dem Gegenbilde, dem großen Versöhnungswerk, das auf dem Hügel von Golgatha vollbracht wurde, braucht kaum bemerkt zu werden. Wie könnte es anders sein? Mit welch einer ruhigen, heiligen und wohlerwogenen Bedachtsamkeit wird der Tod des Herrn eingeleitet! Wohl mochten Moses und Elias mit Ihm über den „Ausgang“ reden, den Er in Jerusalem „erfüllen“ sollte. Während des ganzen Verlaufs Seines Lebens als Diener war Er der Feindschaft der Welt ausgesetzt gewesen; ja, schon bei Seiner Geburt war es so. Zu allen Zeiten hatten die Menschen Ihn nach ihrer Willkür behandelt. Anscheinend gab es keinen Schutz für Ihn, kein Machanaim (1. Mose 32, 2), keine Engelschar, die zu Seiner Sicherheit oder Versorgung entboten worden wäre. Auch ließ Er Seine Stimme nicht auf den Straßen hören, suchte niemals Partei zu machen oder den Verschwörungen der Menschen gegen Ihn mit gleichen Waffen zu begegnen. Und doch durfte niemand die Hand an Ihn legen, bis Seine Stunde gekommen war. So wie Er „in der Fülle der Zeit“ geboren worden war, so musste Er auch „in der Fülle der Zeit“, im gegebenen Augenblick sterben, aber keine Stunde früher oder später. Und wenn dann die Zeit gekommen ist, vollzieht sich alles, wie bereits bemerkt, mit einer wunderbar ruhigen, heiligen und wohlerwogenen Bedachtsamkeit, beginnend mit der letzten Passahfeier im Kreise Seiner Jünger, bis zu dem Augenblick, da Er rufen konnte: „Es ist vollbracht!“ 
Doch es ist kostbar, die Einzelheiten zu betrachten. Gelegentlich der Einsetzung des Abendmahls band Er sich gleichsam als Opfer an die Hörner des Altars. In Gethsemane, wenige Stunden später, erneuerte Er Seine Übergabe an den Vater. Wenn die Kriegsknechte kommen, können sie Ihn nicht anrühren, so lang es "Ihm nicht gefällt; aber zur bestimmten Zeit übergibt" Er sich als ein williger Gefangener ihren Händen. Von dem Verräter-Kuss eines der Seinen geht Er über in die Hände der Juden, von da in die Hände der Heiden. Warum? Weil es so durch die Propheten vorher angekündigt worden war. Jedes Jota, jedes Tüttelchen der Schrift wird erfüllt, selbst bis hin zu Seinem Rufe: „Mich dürstet!“ (Vgl. Joh. 19, 28. 29.) All die vorausgesagten Leiden, in den mannigfaltigen Formen der Beschimpfung und des Duldens, kommen über Ihn; selbst hinsichtlich der Kleider, in denen Er hinausgeführt wird, und der Personen, die Sein Kreuz . umgeben, erfüllt sich alles ganz genau. Seine Jünger verlassen Ihn, die Schafe der Herde werden zerstreut, denn so hatten es die Propheten angekündigt. Und schließlich, wenn all diese äußeren Leiden vollendet sind und die Stunde des Passahs völlig gekommen ist, tritt Er in die drei Stunden der Finsternis ein und wird von der Hand Gottes als Sein Opferlamm zerschlagen. 
So war Sein Tod in jeder Beziehung wunderbar, sowohl in seiner äußeren Form und seinem Charakter, als auch vor allem in seiner inneren Herrlichkeit und in seinen rettenden, reinigenden Eigenschaften **) 
Betrachten wir, im Gegensatz zu dem bisher Gesagten, noch für einen Augenblick den Tod Johannes des Täufers, welcher dem des Herrn Jesus voran ging, und den Tod des Stephanus, der diesem folgte. Welch ein Unterschied! Und wir dürfen uns nicht darüber verwundern; der Unterschied ist leicht zu begründen."  
Weder der Tod des Johannes noch der des Stephanus hatte Wert für den Thron Gottes, noch fand er einen Platz in den Ratschlüssen Gottes. Dass beide in den Augen Gottes kostbar waren, brauchen wir nicht zu versichern, aber ich wiederhole: sie hatten keine Bedeutung, keine Wichtigkeit für den Thron oder für die Ratschlüsse Gottes. Weder Gottes Gerechtigkeit noch Seine Gnade forderten sie. Ihnen mögen daher Heimlichkeit und Eile ihren Stempel ausdrücken. Auch ist es bei ihnen nicht notwendig, dass ihnen die begleitenden Umstände Würde verleihen. Keiner der beiden war ein „erfüllter Ausgang“, wie Moses und Elias von dem Tode des Herrn Jesus redeten.
Der Täufer wurde das Opfer der zügellosen Leidenschaften eines Weibes. Stephanus starb als Märtyrer unter den Händen eines von religiösem Fanatismus erhitzten, blinden Pöbelhaufens. Das war die Geschichte dieser beiden Todesfälle. Wie stellen sie gerade dadurch. den einen Tod, den wir betrachtet haben und der zwischen den beiden lag, in ein so wunderbares Licht! Nicht dass sie, wie ich bereits sagte, Gott nicht kostbar gewesen wären; sie waren es ganz gewiss in besonderem Sinne (Vgl. Ps. 116, 15). Aber Gott nahm sie nicht in Seine Hand in Übereinstimmung mit Seinen ewigen Ratschlüssen und in Erfüllung vorangegangener Prophezeiungen, wie es bei dem Tode des Herrn der Fall war. Die Leidenschaften der Menschen verfügten gleichsam über jene treuen Männer. „Sie taten mit ihnen, was sie wollten“, könnte man sagen. Aber bei dem Tode Jesu kamen die Ratschlüsse und der Thron Gottes in Betracht, sowie Seine Gerechtigkeit und Gnade, die herrlichen Offenbarungen Seiner selbst und die Geschichte der ganzen Schöpfung in ihrer Absicht und ihren Ergebnissen. Sie alle waren an diesem Tode aufs innigste interessiert. 
Der überführte Sünder darf sich heute schon mit diesen Dingen beschäftigen und glaubend erkennen, dass er Anteil an ihnen hat. Aber welch einen Gegenstand staunender Bewunderung und Anbetung, welch einen Anlass zu tiefster Freude und Seligkeit werden sie uns einmal in der Ewigkeit bieten! 

Fußnote:
*) In 1. Tim. 1, 11 wird das Evangelium „das Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes“ genannt. Das ist gewissermaßen das „Fett auf dem Altar“ in unserem Vorbilde.
*) Dieselbe wohlbedachte Ordnung kennzeichnet später Seine Bestattung. und. Auferstehung.. Da ist keine Eile, als wenn der Mensch die Dinge in einer Hand gehabt hatte, sondern alles vollzieht sich in der vollen und ruhigen Kraft Gottes, gemäß Seinen Ratschlüssen und Prophezeiungen.

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In allem unterwiesen

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 113ff

Dem Wort: „Freuet euch in dem Herrn allezeit“, folgt in Vers 6 das andere: „Seid um nichts besorgt“. Von vornherein sei auch hier zugegeben, dass es leichter ist, dieses Wort auszusprechen, als sich rückhaltlos unter dasselbe zu stellen, es ohne jede Einschränkung persönlich anzuwenden. Doch wird der Wert des Wortes durch diesen unseren Mangel verändert? Kann Gottes Wort in Seinem Wert und Gewicht beeinflusst werden durch unsere Stellungnahme zu demselben? Nein, nicht das Wort erleidet durch unsere Annahme oder Nichtannahme eine Veränderung, wir sind es, die entweder durch die Anwendung des Wortes auf Herz und Gewissen Segen empfangen, oder durch völlige oder teilweise Ablehnung desselben Schaden erleiden. So ist es auch bei dem Worte: „Seid um nichts besorgt. 
Hat je ein Mensch durch ängstliches Sorgen seinen Weg geändert? Weshalb plagen wir uns nun mit Sorgen um Dinge, die Gott uns geben will? Liegt nicht wohl vielen unserer Sorgen ein Begehren nach Dingen zu Grunde, die Gott nicht zu Nahrung und Kleidung zählt, und die wir, bei Licht besehen, zu den wirklichen Lebensnotwendigkeiten nicht rechnen können? Ein Jünger Jesu. der in den Fußspuren seines Herrn wandeln möchte, kann nicht gut ein Mensch mit vielen persönlichen Bedürfnissen sein. Der Herr hat gesagt: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo Er Sein Haupt hinlege'' (Luk. 9, 58). Der Weg des Herrn war ein Weg der Selbstverleugnung, und Er selbst nennt als sein erstes Erfordernis für den, der Ihm nachfolgen will, die Selbstverleugnung: „Wer mit nachkommen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mit nach“ (Mark. 8, 84). 
Den Weg zur Vermeidung unnötiger und unfruchtbarer Sorgen zeigt der Apostel, wenn er den Worten: „Seid um nichts besorgt“, hinzufügt: „sondern in allem lasset durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden, und der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, wird eure Herzen und euren Sinn bewahren in Christo Jesu“. Wahres Beten hat Nüchternheit zur Voraussetzung. Wenn Sorgen uns beschweren, und wir wünschen dem Worte gemäß den Anlass unserer Sorgen zum Gegenstand des Gebets vor Gott zu machen, so werden wir bei nüchternem Sinn nicht Dinge vor Ihn bringen, die von vornherein das Gepräge irdischer Gesinnung tragen. Dinge dieser Art, die uns nur deshalb Sorgen verursachen, weil das Irdische uns zu sehr beeinflusst, werden wir vielmehr vorher in ihrem wirklichen Charakter erkennen, und dieses Erkennen wird dann ein Anliegen anderer Art bewirken: wir werden in demütiger Beugung die irdische Gesinnung unseres Herzens vor Gott bringen. Handelt es sich aber um Dinge, die wir bei nüchterner Betrachtung mit Freimütigkeit zu einem Gebetsanliegen machen können, so ist es unser  kostbares Teil, mit allem, was unsere Herzen bewegt, vor Gottes Angesicht zu kommen. Wir dürfen, der Liebe und Allmacht des Vaters vertrauend, alle unsere Sorgen zu einem Anliegen für Sein Ohr und Herz machen. Und Er versteht uns völlig, selbst dann, wenn wir nicht wissen, was wir bitten sollen (Röm. 8, 26. 27). Was kann da schließlich noch an Sorgen für solche übrigbleiben, die alle ihre Anliegen Dem zu Füßen legen, von denen der Heilige Geist bezeugt: „Er ist besorgt für euch“? (1. Petr. 5, 7). 
O dass unsere Herzen mit mehr Einfalt den Zusicherungen des lebendigen und bleibenden Wortes Gottes glauben möchten! Wir können seine Wahrheit naturgemäß nur in dem Maße praktisch erfahren, wie die Sinne des neuen Menschen geübt sind und wir Augen haben, um seine Wirkungen zu sehen. In jedem Falle verheißt das Wort denen, die ihre Anliegen vor Gott kundwerden lassen, dass der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, ihre Herzen und ihren Sinn bewahren werde in Christo Jesu. Damit ist doch wohl gesagt, dass auch in den Fällen, in welchen Gott nach Seiner Weisheit und Vorsehung unsere Anliegen nicht nach unseren Wünschen und Gedanken erfüllen kann, das Bewusstsein der Übereinstimmung mit Ihm und der völligen Abhängigkeit von Ihm unseren Herzen ein Gefühl völligen Genughabens verleiht. Wir ruhen dann in dem Frieden Gottes, und unsere Herzen und Sinne werden in Christo bewahrt. 
Welch ein— kostbares Teil ist es doch, dass wir in allem unsere Anliegen vor Gott kundwerden lassen können! Es gibt nichts, was wir Ihm nicht bringen dürften. Mit wie vielen Anliegen mögen wir nicht zu Menschen gehen, weil wir fürchten müssen, bei ihnen nicht das notwendige Verständnis zu finden! Aber Ihm können wir sie alle bringen. Er kennt sie ohnehin, und Er hat volles Verständnis für das, was, uns bewegt. Wenn Er einst von Seinem irdischen Volke zu Mose sagte: „Ich kenne seine Schmerzen'' (2. Mose 3, 7), so können wir gewiss sein, dass Er nicht in Unkenntnis ist über die Schmerzen Seiner Kinder. 
Wie ist uns auch so wohl, wenn wir nach einer Zeit vergeblicher Mühe und nutzloser Sorge um irgend eine Sache, in der Erkenntnis, dass wir nicht damit fertig werden können, endlich die ganze Angelegenheit Ihm übergeben! Wenn wir aufhören, selbst zu handeln, und darauf warten, was Er tut! Da liegt dann die schwere Bürde, die uns zu Boden drückte, vor Gott, und erleichtert atmen wir auf. Zwar scheint es uns oft zu lang, bis Er sichtbar eingreift, und auch dann, wenn Er handelt, entspricht Sein Tun selten ganz unseren Wünschen und Gedanken; aber indem wir festhalten, dass wir die Sache Ihm übergeben haben, wissen wir sie in guten Händen. Allerdings müssen wir immer wieder lernen, nach dem Worte in Klagel. 8, 26 still zu warten, bis es Ihm gefällt, für uns zu handeln. Es ist bekanntlich leichter, glaubend tätig zu sein, als glaubend still zu warten. Aber wir wollen es uns immer wieder sagen, dass es Gottes Wort ist, welches uns das stille Warten auf die Rettung des Herrn empfiehlt, auch dann, wenn die Ausführung Seines Rates schwer wird und uns ernste Überwindung kostet. 
Immer wieder dürfen wir in solcher Zeit Ihm unsere Lage auseinandersetzen; auch das Schwere des stillen Wartens können wir Ihm klagen: Er sieht es ja so. wie schwer es uns wird. Aber wenn wir es Ihm sagen mit dem Wunsche, bei Ihm Erleichterung zu finden, so haben wir es nicht umsonst gesagt. Er mag zwar nicht schnell eingreifen, um unserer Ungeduld entgegenzukommen, aber Er sieht die Unterwürfigkeit des Herzens, das trotz der Kämpfe und Übungen, die das Warten mit sich bringt, auf Ihn harren möchte, und an dieser Willigkeit geht Er nicht achtlos vorüber. Sie ist kostbar für Ihn, „besser als Opfer“'. Er stärkt dann auch Ausharren und Vertrauen und hilft uns, die Wünsche unserer natürlichen Herzen zu beschwichtigen. Das Herz lernt eine Freude kennen, die kostbarer ist als die, welche durch die restlose Erfüllung aller Wünsche je aufkommen könnte, und wir lernen mit dem Psalmisten sagen: „Du hast Freude in mein Herz gegeben, mehr als zur Zeit da ihres Kornes und ihres Mostes viel war“ (Ps. 4, 7). 
Ein Mensch, der sagen kann: „Ich habe gelernt, worin ich bin, mich zu begnügen“, kann, wie schon bemerkt, nicht unglücklich sein über vorhandenen Mangel. Auch der Apostel hatte zeitweise Mangel gelitten, ja, selbst kennen gelernt, was hungern heißt; aber unglücklich war er dabei nicht geworden, denn er hatte gelernt, sich zu begnügen. Und wenn ihm von den Philippern Gaben gesandt wurden zur Stillung seiner Notdurft, so freute er sich über dieselben als über Opfer, die ein Wohlgeruch waren für Gott, eine Frucht des Glaubens der Philipper, Gott wohlgefällig durch Jesum Christum. (Hebr. 13, 15. 16.) Nicht die Abstellung seines Mangels war wichtig, nein, wertvoll war das Opfer für Gott und ein Werk, das den gläubigen Philippern reichen Lohn einbringen würde (V. 17. 18). 
Gleich dem Apostel müssen auch wir es erst lernen, uns zu begnügen, denn unsere natürlichen Herzen sind keineswegs genügsam. Die ersten Menschen hatten im Paradiese alles reichlich, was sie bedurften, und doch gelüstete sie nach der Frucht des Baumes, von dem Gott gesagt hatte: „Ihr sollt nicht davon essen“. Und so wie sie, ihrem Gelüst folgend, nur Leid und Elend über sich und ihre Nachkommenschaft gebracht haben, kann auch heute nur Unsegen die Folge sein, wenn ein Mensch, dem Begehren seines ruhelosen Herzens und der Lust seiner Augen folgend, alles das zu erjagen sucht, was seine natürlichen Sinne ihm als begehrenswert vorgaukeln. Dem Wort: „Wenn wir aber Nahrung und Bedeckung haben, so wollen wir uns daran genügen lassen“, folgt die ernste Mahnung: „Die aber reich werden wollen, fallen in Versuchung und Fallstrick und in viele unvernünftige und schädliche Lüste, welche die Menschen versenken in Verderben und Untergang. Denn die Geldliebe ist eine Wurzel alles Bösen, welcher nachtrachtend etliche von dem Glauben abgeirrt sind und sich selbst mit vielen Schmerzen durchbohrt haben. Du aber, o Mensch Gottes, fliehe diese Dinge!“ (1.Tim. 6, 8 — 11). 
Gott ist in den letzten Jahren besonders bemüht gewesen, uns die „Ungewissheit des Reichtums“ (1.Tim. 6, 17) vor Augen zu führen. Lasst uns diesen Bemühungen die erforderliche Aufmerksamkeit schenken! Zweifellos möchte Gott uns durch alles, was um uns her vorgeht, mehr von dem Irdischen lösen. Wie mancher Gläubige hat sich, anstatt sein Auge auf das himmlische Ziel zu richten, dem Jagen der Welt nach Erwerb angeschlossen und dem überhandnehmenden Ringen der Welt nach Reichtum und Genuss sich angepasst! Vielleicht lässt Gott das Begehren eines solchen Herzens gelingen; aber wie heißt es in Psalm 106, 15 bezüglich des Volkes Israel? „Er gab ihnen ihr Begehr, aber — Er sandte Magerkeit in ihre Seelen.“ Der Segen Gottes bedeutet nicht die Erfüllung aller Wünsche unserer armen, selbstsüchtigen Herzen. Vielmehr dürfen wir auch heute manchmal deutlich wahrnehmen, dass das Tun Gottes mit Seinen Kindern dem soeben angezogenen Wort aus Ps. 106, 15 entspricht. O möchten wir vor der Neigung erschrecken, das Begehren unserer unzufriedenen Herzen rücksichtslos in den Vordergrund zu stellen! Sind wir wirklich Jünger und Nachfolger des Herrn Jesus, der nicht hatte, wo Er Sein Haupt hinlegen sollte, dann können wir gar nicht erwarten, dass alle unsere das Irdische betreffenden Wünsche erfüllt werden. Denn wo bliebe dann die Selbstverleugnung, ohne welche ein Jünger Jesu nicht denkbar ist?  
Aber es gibt noch andere Ursachen und Anlässe zur Sorge. Da ist besonders der so oft genannte „Kampf ums Dasein“, der täglich schwerer wird und manchem Gläubigen im Blick auf die Zukunft die Frage aufs Herz legt: Werden Art und Form dieses Kampfes dich nicht notwendig zum Unterliegen bringen, wenn du dich  ihnen nicht rechtzeitig anpasst? Dieselbe bange Sorge beschleicht den Familienvater, der angesichts der täglich wachsenden Kosten der Lebenshaltung sich fragt, woher er das zum Leben Notwendige für seine zahlreiche Familie nehmen soll. Solch ernsten Fragen gegenüber vermag uns aber das kostbare und gewichtige Wort aufrecht zu halten: „Wenn Gott für uns ist, wer wider uns? Er, der doch Seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird Er uns mit Ihm nicht auch alles schenken?“ (Röm. 8, 31. 82). Einen vollgültigeren Beweis, dass Gott für uns ist und uns kein Gutes vorenthalten wird, könnte es nicht geben, als die Tatsache, dass Er Seinen eigenen Sohn für uns dahingegeben hat. Eines weiteren Beweises Seiner Liebe bedürfen wir wahrlich nicht. Und wenn Er uns liebt, dann ergibt sich mit Notwendigkeit daraus, dass Er uns nur Gutes erweisen wird. Vielleicht hält Er es für gut, uns in kleinen oder gar dürftigen Verhältnissen leben zu lassen; aber dürfen und sollten wir Ihm dann nicht vertrauen, dass es wirklich so gut ist? Dem natürlichen Herzen gefällt es zwar besser, Überfluss zu haben; aber wenn unser himmlischer Vater, der den Eingeborenen als Beweis Seiner Liebe zu uns dahingegeben hat, aus der gleichen Liebe heraus handelnd, Dürftigkeit für gut hält, dann ist es sicher gut und gesegnet für uns, auch die in der Dürftigkeit sich offenbarende Liebe zu sehen und sie zu preisen. 
Mögen wir denn auch bei jeder Gelegenheit wieder neu erfahren, das; Prüfungen dieser Art unseren natürlichen Wünschen zuwider sind, so ist es doch der Mühe wert, zu lernen, sich begnügen zu lassen. Die Unterweisungen auf diesem Gebiet sind vielleicht mehr als andere geeignet, uns in der Selbstverleugnung zu üben, aber wir sind besser daran, wenn wir auf schwerem, mühsamem Pfad die treue Liebe unseres Vaters kennen und ihr vertrauen lernen, als wenn wir den Gefahren eines völlig glatten Weges erliegen und das Bewusstsein unserer Abhängigkeit von dem Herrn verlieren. Diese Gefahr liegt viel näher und ist größer, als wir alle ahnen. Das lehrt uns die Schrift an vielen Beispielen, und das Leben bestätigt es. Der Herr sagt: „Ich will dich unterweisen und dich lehren den Weg, den du wandeln sollst; mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten“ (Ps. 82, 8). Aber wir sind unserer Veranlagung nach sehr wenig geneigt, dem Winke Seiner Augen zu folgen und auf Seine Unterweisungen und Lehren zu hören. Ross (Ungestüm) und Maultier (Widerspenstigkeit) müssen durch Zaum und Zügel gebändigt werden. (Ps. 82, 9.) Das Bändigen bereitet Schmerz, aber es führt zum Erfolg. Für uns jedoch heißt es: „Seid nicht wie ein Ross, wie ein Maultier, das keinen Verstand hat“. 
Wenn der Apostel sagt: „In jedem und in allem bin ich unterwiesen“, so war sein Lehrer derselbe Herr, der in Psalm 32 redet. Einen besseren Lehrmeister gibt es nicht, und der Apostel konnte nach seiner Unterweisung sagen: „Ich habe gelernt“, und: „Alles vermag ich in Dem, der mich kräftigt“. Er hatte die Unterweisungen. des Herrn angenommen; die Gnade gegen ihn war nicht vergeblich gewesen (1.Kor. 15, 10). Durch dieselbe Gnade werden auch wir unterwiesen, und derselbe Herr und Meister bringt sie gegen uns in Anwendung. Es kommt nur darauf an, dass unser Herz offen ist für die Wirksamkeit Seiner Gnade, offen für Seine Unterweisungen und Lehren. Sehen wir dann auf unserem Wege vielleicht auch Mangel und Drangsal, so machen diese uns doch nicht unwillig und missmutig, denn wir sehen über ihnen Den, der uns liebt und der sie benutzt zu unserer Unterweisung oder Bewahrung, jedenfalls aber zu unserem Nutzen, wenn auch der besondere Zweck, den Er nach Seiner Weisheit verfolgt, uns nicht immer erkennbar ist. 
Zudem wissen wir, „dass die Leiden der Jetztzeit nicht wert sind, verglichen zu werden mit der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“ (Röm. 8, 18). Und wenn wir hier, solang wir das Bild des Menschen von Staub tragen, auch den Leiden eines solchen ausgesetzt sind, können wir doch damit rechnen, dass wir bald unserer eigentlichen Bestimmung zugeführt werden, nämlich „dem Bilde des Sohnes gleichförmig zu sein“. Denn „welche Er berufen hat, diese hat Er auch gerechtfertigt, welche Er aber gerechtfertigt hat, diese hat Er auch verherrlicht“ (Röm. 8, 29. 30). — Dann werden wir das Bild des himmlischen Menschen im Glanze der Herrlichkeit tragen, die Ihm gehört, und werden neben anderem, was wir hier geglaubt haben, auch die Wahrheit des Wortes sehen: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken“ (Röm. 8, 28). 

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Gottes Berufung von der Erde und Seine Ansprüche an die Erde

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 123ff

Inmitten des unaufhaltsam zunehmenden Verderbens in der Welt und der von Gott angekündigten Auflösung aller Dinge ist es notwendig, uns immer wieder mit Einfalt und Klarheit an den Charakter unserer Berufung zu erinnern. Der Herr Jesus sagt von uns: „Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin“. Gleichwohl finden wir in der Schrift neben der Berufung Gottes von der Erde auch immer wieder die Geltendmachung Seiner Ansprüche an dieselbe. Diese beiden, grundsätzlich so verschiedenen Dinge werden von den Gläubigen vielfach nicht so auseinander gehalten, wie es sein sollte. Daraus ergeben sich dann Folgen von weittragender Bedeutung für das praktische Leben und Verhalten. 
Die Berufung, von der wir reden, ergibt sich aus der Tatsache, dass Gott selbst sich heute gleichsam außerhalb der Erde befindet, d. h. dass Er keine Ansprüche an sie macht, sondern von ihr ein Volk für den Himmel sammelt, in Ausführung Seines vor Grundlegung der Welt gefassten Ratschlusses. Durch diese Sammlung wird die Erde als solche gar nicht berührt. Sie bleibt, was sie ist: sie hat mit den ewigen Vorsätzen Gottes nichts zu tun. Diese Berufung Gottes von der Erde hat im Laufe der Zeit immer wieder bildliche Darstellungen erfahren. 
Sie tritt uns zunächst vor der Sintflut in der Familie Seths entgegen. Kains Geschlecht nahm Besitz von der Erde, und Seth hinderte es in keiner Weise daran. Alles was er und seine Nachkommen mit der Erde zu tun hatten, bestand darin, dass sie, solang sie auf ihr pilgerten, den Namen Jehovas anriefen (nicht, wie Kain, ihren eigenen Namen ihr aufdrückten, vgl. 1. Mose 4, 17) und für ihre toten Leiber eine Grabstätte in ihr fanden (Lies 1. Mose 4, 26 u. 5). 
Ähnlich war es mit Abraham. Er wurde von Gott berufen, aber seine Berufung schuf für die Kanaaniter, die Bewohner des Landes, keinen Nebenbuhler. Abraham kämpfte nicht mit ihnen, noch bestritt er irgendwie ihre Anrechte an den Boden, den sie bebauten. Er begehrte nur die Pflöcke seines Wanderzeltes in ihn einzuschlagen, oder seine Gebeine zur letzten Ruhe in ihm zu betten. 
Und die Kirche (im wahren Sinne des Wortes) oder die himmlische Familie des gegenwärtigen Haushalts Gottes? Ihre Berufung lässt, wie bereits gesagt, die Bewohner des Erdkreises völlig unberührt. Die Versammlung (Gemeinde) hat mit „den Gewalten, welche sind“ (Röm. 13, 1), nichts zu tun, als nur ihnen willig zu gehorchen, oder geduldig zu leiden, je nachdem die von ihnen gestellten Forderungen im Einklang stehen mit ihrer Verantwortlichkeit Christo gegenüber oder nicht.  
Dieser Umstand bestimmt auch ohne weiteres ihre Verpflichtungen. Wir geben den von Gott verordneten Gewalten das, was ihnen gebührt, ohne in irgend einer Weise zu versuchen, in ihr Tun einzugreifen, indem wir wissen, dass wir selbst dann, wenn sie ungerecht handeln sollten, nicht berufen sind, ihre Richter zu sein oder unser Recht zu suchen. 
Die Berufung Gottes entscheidet in gleicher Weise über unseren Dienst. Unser Dienst Gott gegenüber wird in seinem wahren Charakter in demselben Maße leiden, wie wir vergessen, dass Gott jetzt nicht Seine Ansprüche an die Erde geltend macht; oder, mit anderen Worten, unser Dienst muss der Tatsache entsprechen, dass Christus heute ein verworfener Christus ist und es bleibt, solang Er in dem „fernen Lande“ weilt. Man hat Ihm, dem Ausziehenden, von der Erde aus nachgerufen: „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche“ (Luk. 19, 12 ff.). Was sollen nun dies Knechte, die während Seiner Abwesenheit mit ihren Pfunden handeln, tun? Sollen sie den Ruf der „Bürger“ des Landes beantworten, Gleiches mit Gleichem vergelten? Sicherlich nicht. Aber ebenso wenig sind sie berufen —— wie so manche ernste, gottesfürchtige 7 Männer und Frauen meinen — diese Erde für den „König Jesus“ zu erobern. Nein, sie sollen Ihm, solang Er abwesend ist, im Bewusstsein Seiner Verwerfung still und geduldig dienen und „sich der Kette nicht schämen“. Das ist ihre Berufung. 
Und wie unser Dienst beweisen sollte, dass die Erde gegenwärtig nicht der Platz unseres Herrn ist, so sollten auch unsere Gewohnheiten, unser Handel und Wandel dartun, dass wir sie nicht als unseren Platz betrachten. Diese Erwägung enthält eine ernste, heilige Mahnung für unsere Seelen. Unsere Berufung verbindet uns nicht mit der Erde, unsere menschlichen Bedürfnisse tun es. Wir bedürfen der Bebauung des Bodens, der Geschicklichkeit unserer Hände und der Benutzung unserer Verstandeskräfte, um uns das zu verschaffen, was unser Leib bedarf. Unsere Bedürfnisse Verbinden uns also mit der Erde, und zu ihrer Befriedigung dürfen wir von der Erde Gebrauch machen, aber nicht so, als wenn sie uns gehörte (1. Kor. 7, 31). Unsere Berufung sondert uns völlig von ihr ab. Verbindet man also die Gemeinde mit der Erde, so handelt man unmittelbar nach widerchristlichen Grundsätzen, und will man Christo anders dienen als einem verworfenen Christus, so ermangelt der Dienst seines wahren geistlichen Charakters, er entspricht nicht den Gedanken Gottes. 
Vielleicht stimmen wir dem Gesagten bereitwillig zu, aber doch bleibt dann noch für uns persönlich die Frage offen, inwieweit wir die Verbindung des Herzens, unserer Hoffnungen und Berechnungen mit der Erde als falsch erkannt und praktisch aufgegeben haben. Bei Paulus war es so. Er wollte in der Gegenwart nicht ,,herrschen«, sondern er hatte gelernt, sich zu begnügen, Überfluss zu haben und Mangel zu leiden, satt zu sein und zu hungern. 
Gegenüber der Berufung Gottes von der Erde begegnen wir in den Wegen Gottes mit Israel einer Geltendmachung Seiner Ansprüche an die Erde. Josua — drang in die Besitztümer der heidnischen Völker ein — vor ihm her zog die „Lade des Bundes des Herrn der ganzen Erde“ ——, um mit seinem Schwerte für diesen Herrn und Sein Volk von ihnen Besitz zu ergreifen. Paulus aber betrat die Besitztümer der Juden und Heiden, nicht um sie in deren Benutzung zu stören, sondern um aus ihnen ein Volk für Gott zu sammeln, um  Seelen mit dem Verworfenen ,,Stein« zu verbinden und ihnen von geistlichen und himmlischen Segnungen zu erzählen. 
So hatte schon der Herr in Seinen Gleichnissen in Luk. 19 und 20 dem Volke Israel einen Weinberg, einen Teil der Erde, gegeben, den sie bearbeiten und von dessen Früchten sie Ihm als dem Herrn des Weinbergs die gebührenden Abgaben bringen sollten; während Er den Gläubigen der Jetztzeit „Pfunde“ gibt, d. h. Gaben und Dienstgelegenheiten, wie sie der Tatsache Seiner Abwesenheit und Seiner Verwerfung seitens  der Welt entsprechen. 
Wenn man diese Unterschiede vergisst und so tut, als wäre die Kirche Gottes Werkzeug, um Seine Ansprüche an die Erde geltend zu machen, so handelt man, wie bemerkt, in unmittelbarem Widerspruch mit der göttlichen Berufung der Kirche. Auch der Herr hat hienieden nie Sein Recht gesucht, nie Seine Ansprüche geltend gemacht, und als Er im Begriff stand, Seinen Leidensweg auf Golgatha zu beschließen, gebot Er Petrus, sein Schwert in die Scheide zu stecken, und erklärte dem römischen Statthalter, dass Seine Diener nicht für Ihn kämpfen würden. 
 Unser Weg ist heute der gleiche. Wir haben nichts anderes zu richten als das sittliche oder geistliche Böse in uns oder in unserer Mitte, aber mit den Interessen der Welt haben wir nichts zu schaffen, und es ist nicht unsere Sache, für unsere Rechte zu streiten. Der Apostel verurteilt die Korinther, weil sie das eine unterließen und das andere taten (vgl. 1. Kor. 5 u. 6), nur mit dem Unterschiede, dass in dem ersten Fall (Kap. 5) ihre Verpflichtung unbedingt war, während in dem zweiten (Kap. 6) ihr Verhalten mehr von dem Maß der Gnade in ihrem Herzen abhängig gemacht wurde. In Übereinstimmung damit sagt uns der Apostel auch, dass unsere Waffen nicht fleischlich, sondern geistlich sind, und dass unser Kampf nicht ist „wider Fleisch und Blut“, sondern »wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern (2. Kor. 10; Eph. 6.) Wenn wir in fleischlicher Weise kämpfen, so haben wir in Wirklichkeit schon den Kampf verloren, denn es ist dem Teufel dann bereits gelungen, die Stimmung in uns zu erzeugen, die uns verleitet, zu fleischlichen und darum nutzlosen Waffen unsere Zuflucht zu nehmen. 
Wir kommen jetzt zu dem zweiten Teil unseres Themas: 
Gottes Ansprüche an die Erde 
Gleich der Berufung Gottes von der Erde haben auch seine Ansprüche an die Erde von jeher bildliche Darstellungen gefunden, ja, die Geschichte des Menschen beginnt mit einer solchen. Adam, im Garten Eden, musste die Rechte und die Oberhoheit Gottes anerkennen durch einen beständigen Gehorsam gegenüber dem Baume der Erkenntnis, und in Noah machte Gott Seine Rechte an die Erde von neuem geltend, indem Er: sie, wie einst in der Schöpfung, dem Menschen als Erbteil bestimmte und als Segensbereich übergab. 
Im Verlauf der Zeit kam dies in Israel, wie schon oben kurz bemerkt, wiederum zur Darstellung.  Jehova, der Bundesgott Israels, wurde gleichsam wieder der Herr des Erdbodens und erblickte in Seinem auserwählten Volke die Verwirklichung Seiner Ansprüche an die Erde. Das wird sich am Ende der Tage wiederholen, wenn im Tausendjährigen Reiche, wie der Prophet sagt, der König Israels der Gott der, ganzen Erde sein wird. Die Erde wird dann, wie ein anderer treffend bemerkt hat, ihre Geschichte von neuem beginnen, und zwar unter der dem Herrn Jesus übertragenen Autorität Gottes. In einem Sinne hat Gott Seine Oberhoheit über die Erde stets geltend gemacht: ,,Die Gewalten, welche sind, sind von Gott verordnet''. Aber der Charakter der göttlichen Haushalte oder Verwaltungen wechselt: einmal besteht er in der Behauptung Seines Anrechts an die Erde, ein andermal in der Berufung eines Volkes von der Erde. Als Israel seinen bevorzugten Platz auf dieser Erde einbüßte, ging das Schwert wohl an die Nationen (unter Nebukadnezar) über, aber die Herrlichkeit ging nicht mit: sie verließ ihren Thron im Tempel zu Jerusalem und kehrte in den Himmel zurück (Vgl. Hes. 10) Beachtenswert ist, dass Gott stets mit Gericht beginnt, wann irgend Er sich anschickt, Seine Rechte an die Erde geltend zu machen. Das ist auch verständlich, ja, unumgänglich notwendig; denn der Schau-" platz, auf welchem Er Seine Macht und Herrlichkeit "kundwerden lassen will; muss zunächst von den Anstößen" E befreit und gereinigt werden, die sich da angesammelt haben, Seine Gegenwart kann keine Ungerechtigkeit dulden. Die Berufung Gottes ist dagegen nie von Gerichten begleitet; denn die einzige Beziehung, in welche sie zu dem Schauplatz hienieden tritt, ist die, die Auserwählten aus ihm herauszuführen. 
 Der Herrschaft Noahs über die Erde ging die Flut voraus; welche die Welt der Gottlosen hinwegraffte. — Israels Besitzergreifung des Landes Kanaan war begleitet von dem Gericht der Amoriter, und das kommende Reich unseres Herrn und Seines Christus wird, wie die Schrift immer wieder bezeugt, durch eine ähnliche Ausrottung alles Anstößigen vorbereitet werden. 
In Verbindung mit diesen vorlaufenden oder reinigenden Gerichten wird auch stets ein Gesetz gegeben, eine Richtschnur, wie sie der jeweiligen Geltendmachung des Anrechtes Gottes an die Erde entspricht. Als Noah zum Vertreter der Ansprüche Gottes auf der Erde ernannt wurde, empfing er, wie einst Adam, ein Gebot zu seiner Leitung. Es war naturgemäß, infolge der Entwicklung der Dinge, nicht mehr so einfach wie im Anfang; die Sünde war eingetreten, und diese musste gezügelt bzw. bestraft werden, geradeso wie es nötig wurde, die Erlösung zu bezeugen. Bei Adam genügte ein einziges Gebot, um Gottes Oberhoheit inmitten des Gartens und der ganzen, unter die Herrschaft des Menschen gestellten Schöpfung zu bekunden. Bei Noah aber waren Richtlinien für die Regierung der durch die Sünde verunreinigten Erde und Verordnungen bezüglich des unter so veränderten Umständen geziemenden Gottesdienstes notwendig geworden. Wir finden sie in 1. Mose 9, 1 - 6.
Als dann später Israel, ein ganzes Volk, Gottes Zeuge auf der Erde wurde, empfing es einen ausgedehnten Aufbau von Gesetzen, Verordnungen und Satzungen, bürgerlichen wie religiösen Charakters. Der Gesetzgeber musste eine ganze Reihe von Verhältnissen und Beziehungen in Betracht nehmen. Als Noah mit seiner Familie aus der Arche ging, war es eine einfacher Sache (und noch einfacher, als Adam allein in Eden war), als jetzt, wo ein Heer von 600 000 streitbaren Männern aus Ägypten gezogen war, um das gelobte Land in Besitz zu nehmen. Die Kapitel 21 — 23 des 2.Buches Mose enthalten die Satzungen, welche zu Beginn, vor seinem Einzug in das Land, dem auserwählten und erlösten Volke gegeben wurden und von Verordnungen begleitet waren, die auf „zukünftige Güter“ hindeuteten, und diese Sammlung von Gesetzen und Verordnungen wurde mit Blut besprengt an dem Tage, da Gott Seinen Bund mit dem Volke vollzog (2. Mose 24, 7. 8). In den Zeiten, die zwischen Mose und Salomo verflossen, vollzogen sich mancherlei Wandlungen, aber was sie grundsätzlich kennzeichnete war die Tatsache, dass das gelobte Land erobert und die bisherigen Besitzer aus ihm vertrieben waren. Israel war zu einem Reiche geworden. Der Herr hatte sich allen Seinen Bundesverpflichtungen gegenüber treu erwiesen. Waren auch unter den Richtern und dem König Saul auf schreckliche Sünden ernste. Gerichte gefolgt, so hatte Gott sich doch im gegebenen Augenblick in den Reichtümern Seiner Gnade und der Kraft Seines Geistes erhoben ,,und den Berg Zion erwählt, den Er geliebt hat. Und Er baute gleich Höhen Sein Heiligtum, gleich der Erde, die Er auf ewig gegründet hat. Und Er erwählte David, Seinen Knecht, und nahm ihn von den Hürden der Schafe. . ., um Jakob, Sein Volk,  zu weiden und Israel, Sein Erbteil.“ (Ps. 78, 68 - 71.) Mit dem König bestieg das Buch des Gesetzes gleichsam den Thron Israels, gemäß der Verordnung in 5. Mose 17, 18 - 20. Wurde das Szepter in Gottes Namen geführt, so musste es auch nach Seinen Gedanken regieren. Salomo war daher, obwohl „König in Jeschurun“, doch kein zweiter Mose, kein Gesetzgeber. Gottes Gesetz musste auf dem Throne „bei ihm sein“, damit er nie vergesse, dass er auch dort Gottes lehnpflichtiger Untertan blieb. Ein Höherer als der Höchste im Lande stand über ihm. 
Salomo hat also nie „auf Moses Stuhl“ gesessen, aber er war, wie Mose, ein Vater für sein Volk, ein Lehrer in allen Regeln menschlicher Weisheit. Er unterwies seine Untertanen in allen irdischen Beziehungen, denn ihre Bürgerschaft war auf dieser Erde. Er erzählte ihnen von dem menschlichen Leben, von seinen Pflichten, Prüfungen, Mühen und mannigfaltigen Wechselfällen in Freud und Leid. Er zieht die Quellen und Beweggründe des Tuns des Menschen, seine Gedanken und Gemütsstimmungen ans Licht und warnt vor den Fallstricken und Schlingen der Welt. Derselbe Geist, der einst durch Mose bürgerliche Regeln und religiöse Satzungen und Verordnungen gab, verweilt in Salomo eingehend bei dem, was sich für Erdenbürger aus dem Schauplatz ihres Wirkens geziemt, um in Gerechtigkeit, Stetigkeit und Wahrheit zu wandeln. Ja, derselbe Geist, der in späteren Tagen einen Paulus in die himmlischen Geheimnisse, in das, ,,was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist«, eingeführt hat, lässt Salomo reden „von der Zeder, die auf dem Libanon ist, bis zum Ysop, der an der Mauer heraus wächst, und über das Vieh und über die Vögel und über das Gewürm und über die Fische“ (1. Kön. 4, 33). 
So sind die Wege Gottes und die Offenbarungen Seines Geistes verschieden, je nach der Zeit und nach Seiner Verwaltung und Berufung. Das einsichtsvolle Herz sieht das staunend und bewundernd und ruft mit dem Apostel: „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! . . . Denn von Ihm und durch Ihn und für Ihn sind alle Dinge; Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit!" Amen.“

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Ermuntert einander mit diesen Worten

Bibelstelle: 1.Thessalonicher 4,18

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 133ff

Autor: R. Brockhaus

„In Jesu entschlafen“', dem Erdenleid fern, 
„ausheimisch vom Leibe, einheimisch beim Herm'';
so ruhen die Sel’gen, bis Jesus sie ruft, 
die Leiber entrücket der schweigenden Gruft. 
Einst Pilger und Kämpfer, jetzt droben am Ziel, 
in lieblichen Örtern das Los ihnen fiel. 
Drum trauernde Liebe nicht hoffnungslos klagt, 
sie glaubt, was des Todes Bezwinger ihr sagt: 
„Dem Glauben der Tod auch das Leben nicht raubt, 
und nimmermehr stirbt, wer da lebet und glaubt''. 
Er sieht schon des Morgensterns silberne Pracht 
am Himmel erglänzen — es schwindet die Nacht; 
und „wolkenlos'' dämmert ein Morgen herauf, 
der ewiglich währet — die Sonne geht auf! (2. Sam. 23, 4.) 

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Nikodemus oder vom Wissen zum Glauben

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 134ff

ll. 
„Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so  kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ 
Hart und unvermittelt scheint die Rede, fast, als wenn der Herr den Nikodemus in die richtige Stellung, in der er hätte zu Ihm kommen sollen, etwas gewaltsam hätte hineinrücken, ihn mit einem scharfen, abweisenden Wort hätte unterbrechen wollen. Aber der Herr lässt jeden ausreden. Er unterbricht keinen, es scheint nur so. Zur Bestätigung dessen, dass es Jesu unmittelbare Antwort gewesen, zur Beruhigung für Zweifelnde, als sei hier etwas ausgelassen, als müsse etwas dazwischen stehen, diene uns des Evangelisten einleitendes: „Jesus antwortete und sprach zu ihm“. Eine gewisse Verlegenheit, dass seine Anrede so missraten, dass er in seiner Rede sozusagen stecken geblieben, können wir mitfühlen. Aber wusste Nikodemus denn wirklich selbst, was er eigentlich wollte? War er sich klar darüber, was er bei Jesu suchte, wozu er sogar des Nachts gekommen? — Woran es ihm persönlich fehlte, was ihm not sei, welches wohl der Weg für ihn ins Reich Gottes sei, wie er wohl hineinkommen könne, das lag einstweilen noch seinem Bewusstsein ferner. War es doch für ihn als Juden, als Pharisäer und Obersten eigentlich eine selbstverständliche Sache,. dass das Reich ihm ohne weiteres gehöre. 
Aber der Herr, der große Seelenkundige, sieht tiefer. Auf das neugierige, in die kühne Behauptung des Wissens gekleidete Forschen des Nikodemus lässt sich der Herr gar nicht ein. Auf sein verhülltes Fragen: Was hat es eigentlich mit deiner Person für eine Bewandtnis zu dem kommenden Reich? Bist du. etwa Der, für den ich dich beinahe halten möchte? — gibt der Herr keine Antwort. Er sieht aber die wahren Bedürfnisse eines Herzens, das nie befriedigt, nie glücklich war, dem der Autoritätsglaube, das eigene Tun, auf welchem andere selbstgefällig ruhten, nicht genügten. Er sieht das Suchen einer Seele, das ihr schließlich keine Ruhe mehr gelassen, weder bei Tag noch bei Nacht, in deren Dunkel bereits ein Strahl des Lichtes von oben gefallen ist. In ihrer Tiefe sieht Er, durch den Zug der Gnade gewirkt, schon den stillen Keim eines neuen Werdens, das nur des warmen Anhauchs des Geistes von oben wartet. Nicht entgeht Ihm der aufrichtige Herzenszug, die Empfänglichkeit unter der Asche der Standesvorurteile und des Wissensdünkels. Ja, das Herz war bei Nikodemus dem Kopfe bereits voraus, und die innere Stellung weiter gefördert, als die Rede zugesteht. Und so scheint es auch nur, als. ob der Herr ihm das Thema aus der Hand nähme oder seine Frage unbeantwortet ließe. In Wirklichkeit ist aus der Hervorkehrung der Gegensätze Seine Antwort deutlich erkennbar. 
„Du bist ein Lehrer“', hatte Nikodemus festgestellt. Nun, so „sage ich dir“, erwidert der Herr. „Niemand kann die Zeichen tun, es sei denn Gott mit ihm.“ Darauf des Herrn Gegenrede: 
„Niemand kann das Reich Gottes sehen, er sei denn von neuem geboren«, wie denn die Gegensätze in diesem Gespräch überhaupt eine große Rolle spielen und der Geistesverfassung unseres Nikodemus besonders angepasst sein mögen. Wie bei anderen Begegnungen lenkt der Herr zunächst die Rede ganz von sich selbst, von Seiner Person ab, auf „Lobspruch und Ehrentitel“ aus menschlicher Anerkennung gar nicht eingehend. Dies sei allen gesagt, die nur Lehre und Vorbild bei Ihm suchen! Er geht auf den Kern der Sache. Entsprechend den wahren Bedürfnissen lässt Er Licht von oben in die Seele fallen, dass sie die eigene Blindheit und ihren sündigen Zustand erkenne. Er bringt Herz und Gewissen in Tätigkeit. Ja, Seiner Seelenkunde entgeht nichts. Er ist der rechte Psychologe. Er beurteilt einen jeden persönlich, nach seiner besonderen Geistesverfassung. Er fragt nicht erst nach diesem oder jenem, sagt hier nicht wie zu dem einfachen Weibe am Jakobsbrunnen: »Nuse deinen Mann'', ,,gehe hin, tue dies oder das“! Nein, hier geht Er — man verzeihe den gewöhnlichen Ausdruck — gleich „aufs Ganze“. Der vielleicht schon alte Nikodemus hätte sich wohl gern eine Belehrung, eine Bereicherung seines Wissen — „einen neuen Flicken auf sein altes Kleid“ — gefallen lassen. Er kennt wohl in etwas seine schwachen Stellen, ist aber doch sonst ein ehrenwerter Mann. Der Pharisäer, der Oberste der Juden, ist doch sonst wohl Ausweis und Bürge dafür. Aber der Herr denkt anders. Er will gleichsam sagen: Von dem alten Nikodemus ist ganz und gar nichts zu gebrauchen. Wir wollen lieber gleich gründlich aufräumen. Was bei einer Untersuchung herauskäme, davon reden wir lieber gar nicht. Ich könnte ja manches sagen, du wirst es auch wohl selbst wissen. 
Und in das Sternendunkel der Rede des Pharisäers, in das Autoritätswissen, das selbstgefällige Reserviertbleiben fällt helles, blendendes Sonnenlicht. Blitzartig werden die morschen Stützen, der schwankende Grund des ganzen Gebäudes eigener Gerechtigkeit und Wissens, ja, des ganzen eigenen „Ich“ bloßgestellt. 
Mit Seinem gewaltigen „Wahrlich, wahrlich“, das Er dem verständnisvollen Bilde eines so geheimnisvollen Vorganges vorausschickt, stellt der Herr alle Weisheit, alle Meister — nicht nur in Israel — an den Platz, der ihnen als Schüler allein zusteht. 
O möchten doch alle, die Ihn „Lehrer“ nennen, Seine Schüler werden, in Wahrheit Ihn hören, wenn Er redet! 
 „Ich sage dir“ — auf das verallgemeinernde „wir“ das erhabene „Ich“; auf das „wir wissen“ — „Ich sage dir“. Sieh, ich will es dir sagen, der du mit deinem „wir wissen“ doch wohl von mit zu hören gekommen bist. Ich verstehe dich besser, ich erkenne dein redliches Verlangen, ungeachtet der Ungeschicklichkeit deiner Anrede. Gern will ich deinem Inwendigen antworten, besser als du zu fragen vermöchtest. 
So zieht Er ihn hervor hinter der allgemeinen Anrede, hinter der er sich versteckt, wendet sich an sein „Ich“, um das folgende: „es sei denn, dass jemand“ an alle Menschen zu richten.  
Möchten wir fühlen, was Sein „Ich sage dir“ jedem einzelnen von uns zu sagen hat! 
Ja, an alle ohne Unterschied ist es gerichtet, dieses geheimnisvolle Wort von dem großen Verwandlungsprozess, den man wohl die Grundlehre des Christentums nennen kann, — „von neuem geboren“. 
„Nicht vom Tun und Lassen, sondern vom Werden, nicht neu Werk tun, sondern zuvor neu geworden, nicht anders gelebt, sondern anders geboren,“ sagt Luther. 
Ins Reich Gottes will mancher, aber er wählt nicht den richtigen Weg. Ja, kein selbsterwählter Weg, sei er noch so klug erdacht, noch so sehr gepriesen, kann dieses Neugeborenwerden ersetzen. 

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Euer Wort sei allezeit in Gnade
Bibelstelle: Kolosser 4,6

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 138ff

Wir befinden uns in einer Welt, „die im Bösen liegt“, unter Menschen, die ,,mit ihren Zungen trüglich handeln'', deren ,,Mund voll Fluchens und Bitterkeit'' ist. Hier sollen wir offenbaren, wes Geistes Kinder wir sind. Wir, die wir uns „drinnen“ in dem gesegneten Kreise der Familie und des Hauses Gottes befinden, sollen „in Weisheit wandeln gegen die, welche draußen sind, die gelegene Zeit auskaufend''. Wie aber ist das möglich? Indem wir unsere Zunge, diese „Welt der Ungerechtigkeit“ in unserem natürlichen Zustande (Jak. 3, 6), nunmehr zügeln und als ein „Werkzeug der Gerechtigkeit“ benutzen zu Gottes Ehre. (Röm. 6, 13.) „Euer Wort sei allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt.“ Gnade verleiht uns die Kraft, um vor den Augen und Ohren derer, welche dieser gefallenen, verderbten Welt angehören, kundwerden zu lassen, was Gott in Christo  ist. Salz stellt die bewahrende Kraft der Heiligkeit dar, die Aufrechterhaltung der Rechte Gottes inmitten des allgemeinen Verderbens. Es heißt aber nicht: „Euer Wort sei allezeit in Salz, mit Gnade gewürzt'', sondern umgekehrt. Die Gnade steht voran. Sie muss stets die Grundlage unseres Handelns, die Quelle unseres Redens bilden, aber selbstverständlich nicht auf Kosten der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes. 
Gott gebe uns, mehr über das zu sinnen, was wahr, würdig, gerecht, rein, lieblich, wohllautend und eine Tugend ist (Phil. 4, 8), zu wachsen in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus! Dann werden die „Reden unseres Mundes vor Ihm wohlgefällig sein“ (Ps. 19, 14), den Hörenden „Gnade darreichen“, und wir werden wissen, „wie wir jedem einzelnen antworten sollen“.

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Fragen aus dem Leserkreis

Bibelstelle: 1. Korinther 1, 30

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 139ff

Sind die in 1. Korinther 1, 30 geschilderten erhabenen Kostbarkeiten der Person des Herrn uns nur durch das vollbrachte Werk Christi geworden, oder waren sie Ihm schon eigen in Verbindung mit Seiner göttlichen Person, also vor dem Werke, nach Sprüche 8 und 9?
In dieser Stelle handelt es sich nicht darum, was unser hochgelobter Herr in Seinem Leben oder von Ewigkeit war, sondern um das. was Er in Seinem Tode „für uns geworden ist“. Der Apostel sagt: „Aus Ihm (Gott) aber seid ihr in Christo Jesu usw.“. Wir sind aber nicht in Christo, wie er vor Seinem Tode war, (jede Verbindung mit einem lebenden Christus war ausgeschlossen; wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fiel und starb, so blieb es allein, Johannes 12, 24), sondern in Ihm, dem Gestorbenen und Auferstanden. Dass unser Herr und Heiland in dem Sinne von Sprüche acht und neun von jeher Gottes Weisheit war, ist gewiss; aber uns ist  Er es, wie gesagt, erst geworden in seinem Tode, in welchem alles und alle an den ihnen geziemenden Platz gestellt worden sind, und wo die Erlösung des Sünders mit der Verherrlichung Gottes in einer Weise verbunden wurde, wie die Weisheit des Menschen es sich nie hätte träumen lassen wie sie es nimmer fassen kann. Der gekreuzigte Christus, in welchem die Menschen nur Schwachheit und Torheit erblicken, ist für uns, „die Berufenen“, Gottes Kraft und Gottes Weisheit (Vers 23 - 25). In Ihm allein besitzen wir auch die übrigen drei Stücke: Gerechtigkeit, Heiligkeit, und Erlösung. 
Beiläufig sei bemerkt, dass die vier kostbaren Errungenschaften und hier in ihrer Ordnung von Gott aus vorgestellt werden. Wollten wir Sie, von uns ausgehen, aufzählen, so würden wir mit der „Erlösung“ beginnen und mit der „Weisheit von Gott“ endigen müssen.

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Fragen aus dem Leserkreis
Bibelstelle: 1. Korinther 11, 28

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 140

Darf ein Bruder, der etwas gegen einen anderen Bruder hat, ihn sogar für unaufrichtig hält, sich vom Tische des Herrn fernhalten? Und was ist in einem solchen Falle das Verhalten der Versammlung? 
Es ist nicht leicht, eine solche Frage ohne Kenntnis der jeweiligen Personen und Verhältnisse zu beantworten. Es kann sich dabei nur um eine „grundsätzliche" Beantwortung handeln.
Gottes Wort sagt im Blick auf die Teilnahme am Mahle des Herrn: „Ein jeder prüfe sich selbst, und also esse er" (1. Kor 11,28), nicht aber: er prüfe den anderen, und entscheide sich nach dem Befund, ob er essen oder nicht essen soll. Wer deshalb so handelt, befindet sich von vornherein im Widerspruch mit dem Worte Gottes. Der Herr ermahnt ferner: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet", und der Apostel schreibt an die Korinther: „Urteilet (oder richtet) nicht etwas vor der Zeit, bis der Herr kommt, welcher auch das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Ratschläge der Herzen offenbaren wird" (Mt. 7,1; 1. Korinther 4, 5). Dass eine Versammlung berufen ist, die zu richten, „die drinnen sind", und gegebenenfalls „den Bösen" (der sich als solcher erwiesen hat) aus ihrer Mitte hinauszutun, unterliegt keinem Zweifel; aber wenn ein solcher Fall von offenbar gewordenem Bösen nicht vorliegt, kann sie nicht handeln, noch weniger hat ein Einzelner die Befugnis, zu richten und, seinem persönlichen Urteil folgend, zu handeln. Ganz abgesehen davon, dass er durch sein Verhalten die ganze Versammlung verurteilt, wendet er sich, anstatt das Beste des nach seiner Meinung irrenden Bruders zu suchen und sich in treuer, selbstverleugnender Liebe mit dem vielleicht vorhandenen Bösen zu beschäftigen, von seinem Bruder ab und beschuldigt ihn der Unaufrichtigkeit, oder was es sonst sei, während doch Gott allein die Beweggründe eines Menschenherzens zu beurteilen vermag.
Was nun eine Versammlung in einem solchen Falle zu tun hat? Sie wird kaum anders können, als den betreffenden Bruder ernstlich zurechtzuweisen und, falls er sich allen Vorstellungen gegen» über unzugänglich erweisen sollte, ihn bekanntzugeben, als einen Bruder, der sich vom Tische des Herrn zurückgezogen hat und nicht mehr als in Gemeinschaft stehend zu betrachten ist.

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Bleibet in mir

Bibelstelle: Johannes 15, 1 - 11

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 141ff

Der verlesene Schriftabschnitt ist uns allen gut bekannt; er ist schon oft Gegenstand der gemeinsamen" Betrachtung gewesen, und doch finden wir immer wieder Neues und Herrliches darin. Es hat wohl seinen Grund darin, dass er von Ihm redet, dessen Fülle unergründlich und dessen Liebe unendlich ist. Je eingehender man Ihn betrachtet, desto schöner und herrlicher wird Er für Auge und Herz. Noch ein wenig, und wir werden Ihn sehen, wie Er ist. 
Unser Kapitel beginnt mit dem Worte: Ich bin. Diesem Worte begegnen wir oft in dem Evangelium nach Johannes. ,,Ich bin ist der Name, den Gott annahm, als Er Mose aussandte, um Sein Volk aus Ägypten herauszuführen. „Also sollst du zu den Kindern Israel sagen: „Ich bin“ hat mich zu euch gesandt“ (2. Mose 3, 14). 
Im Neuen Testament finden wir diesen Namen allein wohl nur einmal (Joh. 18, 5; doch vergl. auch Kap. 8, 58; Luk. 22, 70), und die bloße Nennung des" Namens genügte, um die Schar der Häscher mit dem Verräter Judas zu Boden zu schmettern. Aber an h vielen Stellen erscheint er in Verbindung mit anderen Titeln und Namen. Der Jehova des alten Bundes, der Schöpfer und Erhalter des Weltalls, ist Mensch geworden! Nicht ein Mensch, wie alle anderen. Nein, der Mensch Gottes. Nicht ein Menschensohn, sondern der Sohn des Menschen — wahrhaftig Mensch, aber auch wahrhaftig Gott. O Wunder über Wunder — Gott' ist Mensch geworden, und dieser Mensch Jesus Christus sagt von sich: 
Ich bin — das Licht der Welt (Johannes 8, 2). 
Ich bin — das Brot des Lebens (Joh. 6, 85) .
Ich bin — die Tür — der gute Hirte  (Joh. 10, 7. 11). 
Ich bin — die Auferstehung und das Leben. (Joh. 11, 25.)« 
Ich bin — der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh. 14, 6.) usw., usw. 
Nicht eine Tür, nicht ein Weg, ein guter Hirte — als ob es noch andere Türen, Wege usw. gäbe, nein, die Tür, der Weg. Darum: wer nicht durch diese Tür eingegangen ist, steht noch ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt. Andererseits dürfen alle, die zu Jesu gekommen sind, wenn sie Ihn reden hören: Ich bin dies, ich bin das, mit tiefer Freude sagen: Alles das ist Er für mich! Das ist mein Jesus, mein Teil jetzt und in alle Ewigkeit! 
„Ich bin — der wahre Weinstock,“ so hebt unser Kapitel an. Uns würde es übel anstehen, von uns selbst zu zeugen, aber Er, der nie Seine eigene Ehre suchte, der allezeit „die Worte Gottes redete“ (Joha nnes3, 84), dessen Zeugnis stets mit dem des Vaters übereinstimmte, durfte so reden.  
 „Ich bin der wahre Weinstock,“ — nicht ein Weinstock, einer von vielen; dennoch geht aus Seinen Worten hervor, dass es noch einen anderen Weinstock geben muss. Und so ist es auch. Es hat einmal einen Weinstock auf dieser Erde gegeben. Wir lesen von ihm im 80. Psalm: „Einen Weinstock zogst du aus Ägypten, vertriebest Nationen und pflanztest ihn. Du machtest Raum vor ihm, und er schlug Wurzeln und erfüllte das Land“ (V. 8. 9.) 
Dieser Weinstock war Israel. In Jer. 2, 21 heißt es von ihm: „Und ich hatte dich gepflanzt als Edelrebe, lauter echtes Gewächs, und wie hast du dich mir verwandelt in entartete Ranken eines fremden Weinstocks!'' 
Israel war der Weinstock des Herrn auf dieser Erde. Er hatte ihn aus Ägypten heraufgeholt und in ein Land gebracht, das von Milch und Honig floss. Und Gott hatte alles an diesem Weinstock getan, was Er tun konnte, um ihn zum Fruchttragen zu bringen, aber umsonst; statt guter Trauben hatte er Herlinge hervorgebracht. Das ist alles, was der Herr von diesem Weinstock empfangen hatte: bittere, ungenießbare Scheinfrüchte! Und doch war dieser Weinstock mit so großer Vorsicht gepflanzt, mit solch liebender Sorge umgeben worden! 
Und nun sagt der Herr: Ich bin der wahre Weinstock. Er war der wahre Israelit, der wahre Mensch und Diener Gottes, gekommen, um an Israels Stelle Frucht zu tragen zur Ehre Seines Vaters. Im Blick darauf lesen wir: „Aus Ägypten (genau wie bei Israel) habe ich meinen Sohn gerufen“. Als der Mensch Gottes in diese Welt hineingeboren, von  Gott, dem Vater, gesandt, hat Er hienieden Frucht getragen zur Freude und zur Verherrlichung Gottes. Von Anfang bis zu Ende war Sein Leben ein Leben des Gehorsams, des willigen, hingebenden Dienstes, die Früchte waren zu sehen.
Aber warum mag Gott wohl das Bild eines Weinstocks für Israel und Seinen geliebten Sohn gewählt haben? 
Der Weinstock ist doch. kein stattlicher Baum mit starken Zweigen, prächtiger Blätterkrone usw.? Genau das Gegenteil! Der Weinstock ist ein Kletterstrauch. Er bedarf einer Stütze, an der er emporranken kann, oder einer Wand, einer Mauer, an welcher die langen, schwankenden Reben sich anklammern können. Und von dem Holze des Weinstocks wird dem Propheten Hesekiel gesagt: „Menschensohn, was ist das Holz des Weinstocks . . .? Wird Holz davon genommen, um es zu einer Arbeit zu verwenden, oder nimmt man davon — einen Pflock, um irgend ein Gerät daran zu hängen?“ Hesekiel 15, 1 — 5). Nein, es taugt zu nichts, nur zum Verbrennen. 
Und doch, welch eine Augenweide ist andererseits ein guter, mit Früchten beladener Weinstock! Welch eine Fülle von Ranken schießt aus dem unscheinbaren, knorrigen Stamme! Wie schön sind die Blätter, wie reich und herrlich die Früchte! So hätte Israel sein sollen, ein Weinstock, dessen „Äste gleich Zedern Gottes waren'' (Ps. 80, 10). Aber ach! in „entartete Reben eines fremden Weinstocks“ hatte er sich verwandelt. 
Da kam der Herr, der wahre Weinstock. Er war nicht etwa eine Rebe, die beste Rebe, am Weinstock; nein, Er trat als der wahre Weinstock an die Stelle Israels, begann gleichsam dessen Geschichte von neuem (Vgl. Jes. 49). Und ist Er der Weinstock, so ist der Vater der Weingärtner, der an dem Weinstock Früchte sucht, und wie ist Sein Suchen belohnt worden! Jesus bedurfte auch keiner Reinigung, wie die Reben sie bedürfen. Er war der Reine und Heilige, der gerechte und in allem vollkommene Diener Gottes. Alles an Ihm war sehr köstlich, nichts wegzuschneiden. 
Anders ist es mit den Reben. Sie müssen gereinigt und beschnitten werden, denn diese Reben sind wir. Damals waren es die Jünger und alle die, wenn auch nur äußerlich, mit Ihm, dem Weinstock Gottes, in Verbindung standen. Grundsätzlich sind heute noch alle, die sich zu Christo bekennen, Reben am Weinstock und werden als solche behandelt, d. h. sie unterliegen entweder, wenn sie wahre Reben sind, der reinigenden Pflege des Vaters, oder sie werden abgeschnitten und ins Feuer geworfen. Beachten wir von vornherein, dass nicht von Reben gesprochen wird, die eine Zeitlang Frucht tragen und dann nicht mehr -— solche Reben gibt es in dem Sinne unseres Bildes gar nicht — sondern nur von zwei Klassen von Reben, von solchen, die Frucht bringen, und von solchen, die keine Frucht bringen, auch nie gebracht haben. Die ersten werden gereinigt, auf dass sie mehr Frucht bringen; die anderen werden weggenommen und verdorren. 
Keine Rebe kann aus sich selbst Frucht bringen. „Außer mit könnt ihr nichts tun“ (V. 5). Um für Gott Frucht zu tragen, muss man in Verbindung mit Christo sein. Außer Ihm ist jedes Fruchttragen unmöglich — heute wie damals. Darum die Mahnung des Herrn: „Bleibet in mir, und ich in euch“. (V. 4). Das eine bedingt das andere. „Wer in mir bleibt, und ich in ihm, - das ist die göttliche Ordnung - dieser bringt viel Frucht“ (V. 5). 
Der Vater, der „Weingärtner“, der alle Reben genau kennt und zu unterscheiden weiß, beschäftigt sich mit den unfruchtbaren Reben gar nicht. Sie werden, wie wir hörten, verbrannt. Verbrannt? Ist es möglich? Und sie standen doch in Verbindung mit dem Weinstock! Ja, aber nur äußerlich, nur dem Bekenntnis nach. in Mensch kann sehr religiös und fromm sein und so dem Nichtkundigen als eine vielversprechende Rehe erscheinen, aber das sachverständige Auge des Weingärtners sieht, dass da kein Leben aus Gott ist, kein Fruchtansatz irgendwelcher Art — nur Blätter! O, wie viele Tausende und Millionen von Menschen stehen heute in dieser rein äußerlichen Verbindung mit dem Herrn Jesus, bekennen sich zu Ihm, aber alles ist nur Schein, keine Wirklichkeit. Das Gewissen ist nie ins Licht Gottes gekommen, eine wahre Umkehr ist nie erfolgt, und darum auch keine lebendige Verbindung mit dem Weinstock hergestellt. Getauft, eingesegnet, zum Abendmahl zugelassen —— und doch Reben, die keine Frucht bringen! Welch eine furchtbare Selbsttäuschung, und welch eine entsetzliche Verantwortlichkeit für alle, die dazu beitragen, Menschen in solcher Selbsttäuschung zu erhalten! 
Alle, die in Wahrheit eins mit Christo sind, bilden die Gegenstände der liebevollen Sorge des Vaters. Es sind dieselben Menschen, die durch die Tür eingegangen sind. Durch Jesum lebendig gemacht, mit Ihm unauflöslich verbunden, ziehen sie Saft und Kraft aus Ihm. Von Ihm empfangen sie alles, was sie bedürfen, um Frucht zu tragen zur Ehre Gottes, und indem sie das tun, erweisen sie sich als wahre Jünger und Jüngerinnen Jesu: ,,Hierin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringet, und ihr werdet meine Jünger werden«. (V. 8.) Welch ein Vorrecht, dass wir Ihm auf Seinem eigenen Wege folgen und Frucht tragen dürfen, durch welche Gott in den Augen der Menschen geehrt wird! 
Alle wahren Neben reinigt der Vater. Den Zweck dieser Reinigung kennen wir. Wollten wir auf unsere Früchte sehen —— und wir tun es so gern — so müssten wir immer wieder ausrufen: „Wie ärmlich, wie gering!“ Aber ist es unsere Sache, uns mit unseren Früchten zu beschäftigen? „Nein, es ist die Sache des Vaters. Er sieht zu, ob die Reben Frucht tragen, und Er beschäftigt sich mit ihnen, damit die Frucht sich mehre. An uns ist es nur, der Aufforderung des Herrn zu folgen und „in Ihm zu bleiben“. Tun wir das, so dürfen wir alles Weitere dem Weingärtner überlassen. 
Wir betrachten die Dinge so oft verkehrt. Der Herr will uns lehren, sie richtig zu betrachten, aber wir lernen so schwer. Unsere Neigung, uns mit uns selbst zu beschäftigen und festzustellen, was wir für den Herrn getan, wie viel Frucht wir gebracht haben, ist fast unausrottbar. Aber sollten wir denn nicht  viel Frucht, ja, immer mehr Frucht bringen? Ganz gewiss! Und dennoch ist und bleibt die einzig wichtige Frage für eine wahre, lebendige Rebe die: Bleibe ich in Ihm? 
Wie einfach ist doch die Aufforderung: „Bleibet in mir!“ Wenn wir ihr folgen, so bleibt der Herr in uns. Seine Kraft wird in uns wirksam, Seine Lebenssäfte gehen in uns über, und wir tragen Frucht. Wir können gar nicht anders. Und der Weingärtner sammelt sie ein und reinigt. die Rebe, nimmt alles Hindernde, Überflüssige weg, damit immer mehr Frucht hervorkomme. 
In der Herrlichkeit werden wir dereinst sehen, wie viel Frucht wir getragen haben. Aber dort wird uns dieses Sehen nicht hochmütig machen. Hier würde es nicht gut sein, wenn wir die Frucht sähen. Gerade die Erkenntnis, wie sehr wir gegenüber der Liebe unseres Herrn und der Sorge des Vaters in jeder Beziehung zu kurz kommen, erhält uns demütig. 
Bleibet in mir!« Wir fassen oft so gute Vorsätze und überlegen, was wir alles für den Herrn tun könnten. Wir meinen’s auch ehrlich und gut, und doch läuft alles so verkehrt aus, und wir möchten ganz mutlos werden. Ach, wenn wir doch endlich verständig werden und auf Jesu Wort lauschen möchten! Lasst uns mit Ihm uns beschäftigen, immer näher, immer inniger! Dann wird die Frucht von selbst kommen. Wir werden dann Frucht tragen, Viel Frucht. Möchte auch niemand, der wirklich dem Herrn angehört, in den Fallstrick des Feindes geraten und nach der Menge der Frucht, die er zu bringen oder nicht zu bringen meint, seine Beziehungen zu Jesu beurteilen! Er kann dahin kommen — es ist mehr als einmal geschehen — seine Bekehrung überhaupt zu bezweifeln und sich als eine unfruchtbare Rebe zu betrachten, die abgeschnitten und ins Feuer geworfen wird. 
Noch einmal denn: jede Rebe, die in wahrer Verbindung mit Christo steht und in Ihm bleibt, bringt Frucht; es mag wenig sein und sollte mehr werden, aber sie bringt Frucht, die der Vater sucht und sieht. Es ist nicht Aufgabe der Seele, sie zu sehen; sie hat nur dafür Sorge zu tragen, dass sie in Jesu bleibt; in dem Maße, wie sie das tut, wird sie mehr Frucht tragen. 
Hierbei kommt ihr die liebende Sorge des Vaters zu Hilfe. Gerade so wie ein Winzer durch seinen Weinberg geht und mit kundiger Hand hier eine Rebe zurückschneidet, dort eine von Unreinigkeiten, Ungeziefer und dergleichen befreit, so macht es auch der himmliche Weingärtner. Man sagt: Je schärfer das Messer des Winzers, desto besser für den Weinstock, und man kann das verstehen. Wie gut aber, dass in unserem Falle das Messer in der Hand eines liebenden Vaters ist! Wie ruhig dürfen wir uns Seiner Hand anvertrauen! Er weiß, was Er entfernen muss. Das Reinigen bereitet Schmerz, vielleicht viel Schmerz. Auch die Rebe blutet oder weint, wenn sie beschnitten wird. Aber der Vater schneidet nicht tiefer, als unbedingt nötig ist! Er nimmt nicht mehr weg, als Er durchaus wegnehmen muss. „Die ihr, wenn es nötig ist,“ sagt Petrus, „betrübt seid durch mancherlei Versuchungen.“ Und das nur für „eine kleine Zeit“. Gott sei gepriesen, dass es so ist! O, welch eine Gnade, in Seiner Hand zu stehen und alles, auch die schwerste Prüfung, das bitterste Leid, die demütigendste Übung, aus dieser Hand nehmen zu dürfen! „Zum Heile ward mir bitteres Leid,“ sagt schon der König Hiskia (Jes. 38, 17), und wie viele haben nach ihm dasselbe sagen müssen! Der Vater reinigt uns, um mehr Frucht von uns zu haben, Frucht, die den einen oder anderen Zug Seines geliebten Sohnes in uns hervorbringt, die beweist, dass wir Seine Jünger sind. 
 Darum: lasst uns des Vaters Hand still halten und Ihm nicht darein reden, wenn Er schneidet! Lasst uns auch nicht auf die Frucht sehen, sondern auf Jesum! 
„Bleibet in mir!“ 
Noch eins, ehe wir schließen. Wir lesen im 9. und 10. Verse unseres Kapitels: 
„Gleichwie der Vater mich geliebt hat, habe auch ich euch geliebt; bleibet in meiner Liebe.“ Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in Seiner Liebe bleibe.“ 
Keiner von uns kann sich auch nur eine schwache Vorstellung machen von der Liebe des Vaters zu dem Sohne. Und nun: Gleichwie der Vater mich geliebt hat, habe ich euch geliebt. Da mögen wir wohl mit dem Apostel ausrufen: „Was sollen wir hierzu sagen?“ Mit solch göttlicher, an ihrem Gegenstand sich erfreuender Liebe geliebt zu sein, wer kann es fassen?! Und doch ist es so. Unser Herr und Heiland selbst hat es gesagt. 
Und dann folgt die Aufforderung: „Bleibet in meiner Liebe“. Bisher: Bleibet in mir, jetzt: Bleibet in meiner Liebe. Immer Er, nicht wir! Doch was bedeutet das Wort? Es will wohl sagen: Bleibet in dem Bereich, oder, besser noch, bleibet in dem Genuss meiner Liebe, gleichwie ich: in dem Genuss der Liebe meines Vaters bleibe. 
Und wie kann das geschehen? Indem wir in Seinen Fußstapfen wandeln. Er blieb in dem Genuss der Liebe Seines Vaters, indem Er als der gehorsame Mensch die Gebote des Vaters hielt. Genauso ist es mit uns. Wir bleiben in dem Genuss Seiner Liebe, indem wir Seine Gebote halten. 
Wie einfach ist das, und zugleich, wie erscheint es so selbstverständlich! Vielleicht wird auch. hier mancher denken: „Ja, einfach ist es, aber doch auch schwer. In allem die Gebote des Herrn befolgen, ist wahrlich keine leichte Sache.“ Doch der Herr Jesus spricht anders. Er sagt: „Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht“ (Matth. 11, 29. 80). Es war keine schwere Last für Ihn, die Gebote Seines Vaters zu halten; im Gegenteil, es war Seine Lust, Seine Wonne. Ist es nicht schon für ein Kind, das seinen Vater lieb hat, eine Freude, den Willen des Vaters zu tun? Und in dem es, dem Zuge seines Herzens folgend, in den Geboten des Vaters wandelt, genießt es je länger je mehr dessen Liebe; der Vater kann dem Kinde seine Liebe je länger je mehr zu genießen geben. 
Mit uns ist es nicht anders. O möchten wir dem Herrn in Seinem Tun nur mehr gleichen, es machen wie jenes Kind! Warum reden Neubekehrte so viel und so gern von der Liebe ihres Heilandes? Sie genießen sie. Ihr Verständnis ist noch gering, aber ihr Herz gehört Dem, der sie zuerst geliebt hat, und sie wandeln einfältig in Seinen Geboten. 
Das ist das Geheimnis ihrer Freude. Ist es bei uns, die wir schon länger auf dem Wege sind, anders geworden? Haben wir die erste kindliche Einfalt verloren, „unsere erste Liebe verlassen“? Dann wolle der Herr in Seiner Gnade uns wieder einfältig machen,  damit wir von neuem unverrückt auf Ihn blicken und in Seinen Geboten wandeln! Dann wird ganz gewiss die Freude an Ihm wiederkehren, wir werden in Ihm und in Seiner Liebe bleiben. 
Noch eine kleine Weile, dann werden wir zu Ihm kommen. Wir werden für immer bei Ihm sein. Wir werden Den von Angesicht zu Angesicht sehen, in welchem zu bleiben heute schon unsere Kraft, unser Friede, unser Alles ist. 

Mein Heiland, lehr’ die Rebe bringen 
die Frucht, die Gott zur Ehre ist! 
Lass Lebenssäfte sie durchdringen 
aus Dir, dem Weinstock Jesus Christ! 
Der schwachen sei verborg’ne Kraft, 
Die alles Gute in ihr schafft! 

Ich kann mir selbst kein Wachstum geben, 
„Ja, außer Dir vermag ich nichts;" 
In Dir allein gedeiht mein Leben, 
dem Quell der Liebe und des Lichts. 
Drum lass mich bleiben für und für, 
mit Kindeseinfalt, Herr, in Dir! 

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Eben - Eser

Bibelstelle: 1. Samuel 7

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 153ff

„Eben-Eser“ — Stein der Hilfe! Drei Jahrtausende sind verflossen, seitdem du ausgerichtet wurdest, und doch redest du noch heute eindringlich zu Herz und Gewissen. Magst du auch, vom Zahn der Zeit zernagt oder von unheiliger Hand umgestürzt, der Vergessenheit anheimgefallen sein, deine Geschichte ruft nach wie vor ernste Gefühle wach über die Torheit und Undankbarkeit des Menschen, wie über die geduldige Treue und erbarmende Güte Gottes. 
Es sah damals dunkel aus in Israel. Jede äußere Verbindung zwischen Gott und Seinem Volke war abgebrochen. Der Hohepriester Eli war gestorben, als er die Nachricht erhielt, dass die Bundeslade in die Hand der Philister gefallen sei, und seine beiden Söhne waren im Kampfe mit den Unbeschnittenen gefallen. „Ikabod“ — Nichtherrlichkeit, so hatte die gottesfürchtige Schwiegertochter Elis sterbend ihr Schmerzenskind genannt, indem sie sprach: „Die Herrlichkeit ist von Israel gewichen, denn die Lade Gottes ist genommen“ (1. Sam. 4). Gott hatte Seine Wohnung in Silo verlassen, Seine Kraft in die Gefangenschaft gegeben und Sein Volk dem Schwerte des Bedrängers überliefert. (Ps. 78, 60 — 64). Wenn auch die Lade zurückkehrte, so bildete sie doch nicht mehr die Grundlage der Beziehungen Gottes zu Israel — einsam und verlassen stand sie „in dem Hause Abinadabs“. 
Und der Tage wurden viele. Zwanzig Jahre vergingen in diesem traurigen Zustande (Kap. 7, 2). Da endlich wachte das Volk auf. In all der Zeit hatte ein Mann anhaltend zu Gott geschrien, wie in späteren Tagen Elia, der Tisbiter, es tat. Gott sei Dank! die Zeit war noch nicht gekommen, von der Gott in Hesekiel 22, 30 redet: „Ich suchte einen Mann unter ihnen, der die Mauer zumauern und vor mir in den Riss treten möchte für das Land, auf dass ich es nicht verderbte; aber ich fand keinen. Samuel, der Prophet, war dieser Mann. Er war unter denen, die jeweils „den Namen Jehovas anriefen“, und denen Gott antworten konnte. (Ps. 99, 6; vgl. auch Jer. 15, 1). Mit welch einer Dankbarkeit wird er die ersten Zeichen des wiedererwachenden Lebens in seinem geliebten Volke bemerkt haben! 
Samuel wandelte nahe genug mit Gott, um in Seinem Lichte, mit Seinem Auge die Dinge anschauen und beurteilen zu können. Elia gleichfalls. Beide Männer, wie alle ihresgleichen, teilten die göttlichen Gefühle über die Zustände um sie her und waren deshalb imstande, zu beten, wie sich’s gebührt, d. h. in Übereinstimmung mit Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit, aber auch mit Seiner Gnade und Seinen Ratschlüssen. O, möchte Gott auch in unseren Tagen manche solcher Männer finden, die fähig und bereit sind, für das Volk des Herrn „in den Riss zu treten“ mit aufrichtigem Bekenntnis und anhaltender Fürbitte, persönlich abgesondert von dem Bösen, aber in Gnade sich eins machend mit den vorliegenden Zuständen! 
„Und das ganze Haus Israel wehklagte Jehova nach.“ Die Worte besagen noch nicht viel; aber es beweist doch ein Aufwachen des Gewissens, wenn ein Gläubiger erkennt, dass es schlimm und bitter ist, den Herrn zu verlassen und Seine Furcht aufzugeben (Jer. 2, 19), wenn er einsieht, dass die verkehrten Wege, die er eingeschlagen, die Götzen, die er für sich erwählt hat, sein Herz nicht nur nicht zu befriedigen vermögen, sondern ihm den Frieden und die Freude, die er früher genossen, geraubt haben. Klagend und trauernd erinnert er sich vergangener Tage und fühlt, dass er dahin zurückkehren muss, wo früher sein Altar gestanden hat, ehe er nach Ägypten hinab zog. (1. Mose 13, 1 — 4). 
An diesem Punkte kann der hilfreiche Dienst eines Samuel einsetzen. „Da sprach Samuel zu dem ganzen Hause Israel.“ In jenen alten Zeiten redete Gott "durch Seinen Propheten (Kap. 3, 20. 21; 4, 1), heute" redet Gr zu uns durch Sein Wort. Und was sagt dieses Wort? ,,,Weiche vom Bösen!« Das ist seine erste, gebietende Forderung. Wie könnte es in einer Welt der Sünde anders sein? „Säubert die Hände, ihr Sünder, und reiniget die Herzen, ihr Wankelmütigen!“ (Jak. 4, 8). „Wenn ihr mit eurem ganzen Herzen zu— Jehova umkehret, so tut die fremden Götter und die Astaroth aus eurer Mitte hinweg, und richtet euer Herz auf Jehova und dienet Ihm allein!“(V. 3.) „Weiche vom Bösen und — tue Gutes“ (Ps. 87, 27), das ist Gottes Ordnung. Israel hatte vergessen, dass der Gott, der sie aus Ägypten geführt und ihnen so viel Gutes getan hatte, ein eifernder Gott war, der das Böse nicht sehen und keinen anderen Gott neben sich dulden konnte. 
Haben wir nicht auch zuweilen vergessen, dass der Gott, den wir als Vater anrufen, der dreimal heilige Gott ist, „zu rein von Augen, um Böses zu sehen“ (Hab. 1, 18), und der ohne Ansehen der Person richten muss nach eines jeden Werk? 
Israel hörte auf Samuels Wort: „Und die Kinder Israel .taten die Baalim und die Astaroth hinweg und dienten Jehova allein“. (V. 4.) Gott sei gepriesen! so möchten wir unwillkürlich ausrufen, in dem Gedanken, dass nun alles wieder in Ordnung gewesen sei. 
So ist ja der Mensch. Er denkt, Gott sei ganz wie er, und wenn er jahrelang seine eigenen Wege gegangen ist und Gott dazu geschwiegen hat, so meint er, die Sache könne ohne große Mühe geordnet werden. Aber nein, sagt Gott, „ich werde dich strafen und es dir vor Augen stellen“. (Ps. 50, 21). Er spricht an jener Stelle allerdings zu dem „Gesetzlosen“, aber »auch unser Gott ist ein verzehrende Feuer«, und wir sind in Gefahr, es mit der Sünde nicht so ernst zu nehmen, wie wir es sollten, und diese Gefahr ist besonders dann groß, wenn eine längere Zeit des Abirrens hinter einem Gläubigen liegt und das Gewissen seine Empfindsamkeit verloren hat. Es ist meist nicht viel Zeit dazu nötig, den rechten Pfad zu verlieren, aber nach längerer Verirrung bedarf es ernster, andauernder Wirkungen des Geistes und tiefer Übungen, um die Seele wirklich wiederherzustellen und in die Gemeinschaft mit Gott zurückzuführen. 
Samuel, der treue Mittler zwischen Gott und Seinem Volk in jenen Tagen, versammelt ganz Israel nach Mizpa, an den Ort, wo sie schon einmal in ernster Angelegenheit vor Gott zusammengekommen waren (Vgl. Richter 20 u. 21). Und hier schöpften sie Wasser und gossen es aus vor Jehova“ — ein eindrucksvolles Bild von der menschlichen Schwachheit, deren sie sich in diesem Augenblick bewusst waren, und die sie vor Gott zum Ausdruck bringen wollten. „Wie Wasser bin ich hingeschüttet, und alle meine Gebeine haben sich zertrennt,“ klagt der Herr selbst in Psalm 22, 14 in dem tiefen Gefühl Seines Elends und Seiner Leiden; „meine Kraft ist vertrocknet wie ein Scherben“. Ähnlich spricht das tekoitische Weib in 2. Sam. 14, 14 zu dem König David: „Wir müssen gewisslich sterben und sind wie Wasser, das auf die Erde geschüttet ist, welches man nicht wieder sammeln kann“. 
Die Israeliten wollen also gleich-sam sagen: Siehe, so sind wir — schwache, erbärmliche Geschöpfe, vergänglich wie das ausgeschüttete Wasser, das in wenigen Minuten in die Erde versinkt oder von der Sonne aufgesogen wird. Wie ganz anders war es zwanzig Jahre früher gewesen! Im Vertrauen auf ihre eigene Kraft waren sie in den Streit gezogen und darum auch so schmählich zuschanden geworden.
Aber ist es damit genug, dass man seine Schwachheit erkennt und bekennt? Nein; wenn Selbstvertrauen und Hochmut ihre Frucht getragen haben und böse Werke daraus hervorgegangen sind, so müssen diese vor Gott bekannt und gerichtet werden. „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er (Gott) treu und gerecht, das; Er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit“ (1. Joh. 1, 9). Auf keinem anderen Wege ist Vergebung möglich. So lesen wir denn auch hier: „Und sie fasteten an selbigem Tage — zum Zeichen ihrer aufrichtigen Betrübnis — und sprachen daselbst: Wir haben gegen Jehova gesündigt! Und Samuel richtete die Kinder Israel zu Mizpa“ (V. 6). So wird es stets sein. Wenn eine Seele wirklich ins Licht Gottes zurückkommt, so kehrt Trauer über das Vergangene ins Herz ein, man bricht rückhaltlos den Stab über sich und, indem man einsieht, dass man gegen Gott gesündigt hat, fühlt man erst die ganze Schwere der Schuld. „Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt, und ich habe getan, was böse ist in deinen Augen,“ sagt David in Ps. 51, 4, und damit kommst es ihm zu tiefem Bewusstsein, dass er sich nicht nur an Gottes heiligen Geboten verschuldet hat, sondern dass er auch ein ganz sündiges, unreines Geschöpf ist, „in Ungerechtigkeit und Sünde geboren“ (V. 5). 
„Und Samuel richtete Israel zu Mizpa.“ Was zwanzig Jahre lang nicht geschehen, nicht möglich gewesen war, konnte jetzt wieder in Ausübung kommen. Niemand hatte daran gedacht, die Zwistigkeiten unter den Familien und Geschlechtern in Ordnung zu bringen, niemand war es in den Sinn gekommen, dieserhalb das Wort Jehovas durch den Propheten zu befragen. Ach! wenn das Gewissen verhärtet und das Herz verfinstert ist, hat das Wort Gottes keinen Wert und keine Kraft mehr. Alles bleibt ungeordnet auf dem Wege liegen; man denkt nicht daran, den Schmutz zu entfernen; man empfindet ihn schließlich gar nicht mehr als solchen. 
Trauriger Zustand! Aber findet er sich nicht auch in unseren Tagen bei solchen, die sich zu den Kindern Gottes zählen? Und vergessen wir nicht: die Verantwortlichkeit Israels war groß, die unsrige ist größer, und ferner: die Folgen der Untreue entsprechen stets der Größe der Verantwortlichkeit.
Als die Philister hörten, dass die Kinder Israel sich nach. Mizpa versammelt hatten, zogen sie wider Israel herauf. Der Feind mag sich still verhalten, wenn das Volk Gottes oder ein einzelner Gläubiger schläft und seine Berufung vergisst. Aber sobald ein Erwachen erfolgt, regt er sich. „Und die Kinder Israel hörten es und fürchteten sich vor den Philistern“ (V. 7.) Sie hätten es nicht tun sollen, auch nicht zu tun brauchen, aber es war immerhin noch besser, als ihr großes Jauchzen beim Einbringen der Bundeslade ins Lager in früheren Jahren. (Kap. 4, 5.) Im Vertrauen auf das äußere Zeichen der Gegenwart Gottes, aber ohne Wahrheit, vielmehr mit Lug und Trug im Inneren, hatten sie damals so laut gejauchzt, „dass die Erde erdröhnte“. Jetzt fürchteten sie sich „und sprachen zu Samuel: Lass nicht ab, für uns zu Jehova, unserem Gott, zu schreien, dass Er uns von der Hand der Philister rette“ (V. 8). 
Offenbar ist der Fortschritt des guten Werkes in ihrem Innern: sie nennen Jehova wieder ihren Gott und bitten Samuel, für sie vor Gott einzutreten. So weit war ihr Herz von Jehova abgeirrt, und so völlig jede Verbindung selbst äußerlich unterbrochen, dass Samuel für den Augenblick das einzige Bindeglied zwischen Gott und Seinem Volke bildete. Welch eine Gnade von Seiten Gottes, dass Er für das Vorhandensein eines solchen Mittlers gesorgt, und welch ein Vorrecht für Samuel, dass er diesen Platz einnehmen durfte! 
Er erwies sich auch dem Augenblick und der Lage gewachsen. „Und Samuel nahm ein Milchlamm und opferte es ganz als Brandopfer dem Jehova, und Samuel schrie zu Jehova, und Jehova erhörte ihn“ (V. 9). Nicht ein Schuld- oder Sündopfer ist es, was Samuel darbringt, wie man es eigentlich erwarten sollte, sondern ein Brandopfer, als Zeichen der zwischen Gott und Seinem Volke wiederhergestellten Gemeinschaft und der daraus hervorgehenden Befähigung, Ganzopfer darzubringen. Zwar wählt er verständnisvoll nur ein Milchlamm — statt eines jungen Rindes oder eines einjährigen Schafes usw. —, aber so schwach .und gering dieses Opfer auch der Sachlage entsprechend sein mochte, dennoch war es ein Gott wohlgefälliges, angenehmes Brandopfer, ein Opfer lieblichen Geruchs. Das Volk war, so mangelhaft auch alles noch sein mochte, doch auf den Boden zurückgekehrt, den Gottes Gnade ihm einst bestimmt hatte, und Gottes Freude war es, sich wieder einmal als der Gott zu erweisen, der so gern vergibt und „nichts vorwirft“. Wie laut und eindringlich redet das alles zu unseren Herzen und Gewissen! Gott helfe uns, die geistlichen Belehrungen, die Er in dieser Geschichte für uns niedergelegt hat, mit Sorgfalt zu sammeln und in einem guten Herzen zu bewahren! 
Samuel schrie zu Jehova — zu Zeiten wird das Beten zu einem ringenden Flehen, das Rufen zu einem Schreien, das Bitten zu einem stürmischen Anklopfen. So war es auch hier, und Jehova erhörte Samuel. Das Volk war nicht in der Lage, an diesem Flehen und Schreien teilnehmen zu können, aber ein treuer Mann trat in den Riss für sie. O, welch. ein Segen sind glaubensstarke, persönlich treue und einsichtsvolle Beter! 
Jehova erhörte. „Es geschah nämlich, während Samuel das Brandopfer opferte, da rückten die Philister heran zum Streit wider Israel. Und Jehova donnerte mit starkem Donner an selbigem Tage über den Philistern und verwirrte sie, und sie wurden vor Israel geschlagen“ (V. 10). Wunderbarer Gott, langsam zum Zorn, groß an Güte und zum Vergeben bereit! O, Ihn so zu kennen! Noch während Samuel opferte und zu Gott schrie, kam die Erhörung in überwältigender Weise. Gott trat auf den Schauplatz, stritt für Sein Volk, und, wie so manchmal in früheren Tagen, blieb Israel nur übrig, die Früchte des Sieges zu ernten. „Und die Männer von Israel zogen aus von Mizpa und verfolgten die Philister und schlugen sie bis unterhalb Beth-Kar“ (V. 11). So wurde der Ort der Demütigung und des Selbstgerichts (V. 6) zum Ausgangspunkt für einen entscheidenden Sieg. 
Ist’s ein Wunder? Handelt Gott heute anders? Nein, wenn wir zu Gott umkehren, bis zu Ihm umkehren, so kehrt Er zu uns um und lässt uns die erstaunliche Größe Seiner wiederherstellenden Gnade erfahren: da, wo nichts als beschämende Niederlagen unser Teil waren, dürfen wir Seine Siege schauen und ein Eben-Eser nach dem anderen ausrichten. „Und Samuel nahm einen Stein und stellte ihn auf zwischen Mizpa und Schen, und er gab ihm den Namen Eben-Eser — Stein der Hilfe — und sprach: Bis hierher hat uns Jehova geholfen“(V.12). Und die Hilfe war so durchgreifend und nachhaltig, dass die Philister fortan nicht mehr in die Grenzen Israels kamen „alle Tage Samuels“; selbst die Philisterstädte Ekron und Gath mit ihren Gebieten fielen wieder an Israel zurück. 
Möchtest du ähnliche Eben-Eser erleben, mein lieber Leser? Gott will sie dir schenken, aber vergiss nicht, auf welchem Boden sie errichtet werden! Gottes Gnade ist unumschränkt, und die Beweise Seiner Güte sind zahllos; jeden Morgen wird Seine Güte neu über uns, und immer wieder gibt Er uns Ursache, zu danken und Seine Durchhilfe zu bewundern. Aber um solche „Steine der Hilfe“, solche Denkmale zum Preise Gottes ausrichten zu können, bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Wir sind nicht immer in der Lage, es zu tun. Herz und Gewissen, wie wir im Anfang sagten, kommen dabei in Betracht. Ohne tiefe Übungen keine tiefe Erfahrungen. Der Oberflächliche und Sorglose erlebt keine Eben-Eser, wenngleich auch ihn Gottes Gnade trägt. 

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Nikodemus oder vom „Wissen“ zum „Glauben“

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 162ff

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 „Von neuem geboren.“ — Das griechische Wort ist damit nicht völlig wiedergegeben; es bedeutet mehr als von neuem, mehr als wiederum oder abermals; es will entweder sagen: „von oben her“, oder: „von Anfang an“, „ganz von vorn“. 
Tiefgeheimnisvolles Bild, mehr als ein Bild, wunderbares Gleichnis, das der Herr anwendet über den Ursprung des neuen Menschen! Ja, wunderbar und geheimnisvoll, auf geheimnisvollem Grunde entstanden, durch göttliche Schöpferkraft gewirkt und zum Leben gerufen! „Von neuem geboren“ — keine noch so große . Änderung des Wandels oder selbst des Sinnes, selbsttätig, auf eigenem Grunde, aus eigenem Können und Vornehmen, kann es bewirken, ersetzen. Etwas ganz Neues muss werden, auf geheimnisvollem Grunde entstehen. 
„Von neuem geboren,“ — die erste Geburt wie die zweite nicht ohne Schmerz und Not, wie nach dem Sündenfall für die natürliche Geburt vorausgesagt und hierin weissagend auf die Neugeburt hinweisend, nicht ohne Kampf auf Leben und Tod. Wie kein Mensch das Licht der Sonne schauen kann, ohne den Weg der natürlichen Geburt gegangen zu sein, so kann auch kein Mensch das Reich Gottes sehen ohne diese Neugeburtsschmerzen. Jeder — ist er anders zu Jesu gekommen, hat er wirklich neues Leben empfangen — hat sie durchgemacht, diese Stunde, ob länger oder kürzer, diesen Vorgang, ob schwerer oder leichter. Beide, die natürliche Geburt wie die Wiedergeburt, zeigen den Menschen in der tiefsten Abhängigkeit, „bei Menschen ist es unmöglich“. Auch der genialste Forscher muss ein armseliger Stümper bleiben, wenn er es versucht, das zu begreifen, was von oben ist, oder wenn er von dem zeugen will, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist“ (1. Kor. 2, 9). 
Wiedergeboren, Wiedergeburt — diese Begriffe sind schon dem Sprachgebrauch des Alten Testaments geläufig. In Verbindung mit dem geweissagten Reiche Gottes konnte der Herr deshalb auch bei Nikodemus ein Verständnis dafür voraussetzen. Das „Reich“ war der große Gegenstand der Hoffnung und Erwartung Israels. Die Propheten hatten es vorausgeschaut, sein Nahesein Johannes soeben verkündet, für sein Erscheinen das Volk zur Buße gerufen. Siehe, will der Herr sagen, das Reich Gottes, das du suchst, ist nicht das auswendige, eurer falschen Erwartung entsprechende, es ist inwendig, in euch. In dir, in deinem Herzen, im tiefsten Grunde hat es schon begonnen mit deinem Suchen. In deinem Fragen und Ringen hat die Gnade bereits gewirkt. Wie mit erster Empfängnis natürlicher Geburt ist der Wiedergeburtskeim bereits in dich gelegt, ohne dein Wissen, dem Anhauch des Geistes entgegenharrend. Siehe, ich habe trotz deines „wir wissen“' dein tieferes Fragen erkannt, habe verstanden, dass du sehen möchtest, — denn Sehen und Hineinkommen ist ja eins. Aber nun stehe ich vor dir, und du erkennst mich nicht. Du wolltest wohl die Zeichen und Wunder mit dem erhofften Reich, der erhofften Herrschaft deines Volkes, in Verbindung bringen. Aber du siehst und verstehst nicht, was du brauchst für dich selbst, für dein unstillbares Sehnen, deinen Hunger und Durst nach wahrem Glück und reiner Freude, — die du in der Welt, auch in der Welt deines eigenen „Ich“ niemals gefunden. Du erkennst nicht, was du brauchst für dein Gebundensein in den Fesseln der Sünde, für das, was dich in Wahrheit in dieser Stunde zu mir getrieben. Du erkennst nicht, dass du viel mehr bedarfst, — einen Heiland, der dir alles geben kann, aber nur durch eine völlige Umwandlung, nicht Verbesserung, durch eine Neugeburt, und der nur durch das Element derselben, Buße und Glauben, dir ewiges Leben schenken kann.Nikodemus spricht zu Ihm: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? kann er etwa zum zweiten mal in den Leib seiner Mutter eingehen und geboren  werden?“ 
„Wie“ — das Fragewörtlein aller „Wissenden“ und Zweifler! „Wie ist’s denn möglich,. wie soll ich das verstehen, wie mit meinem Verstand begreifen, mit meiner Vernunft es Vereinbaren? — so ungefähr will Nikodemus sagen. Nicht wahr? die Antwort des Nikodemus befriedigt uns wenig; sie scheint uns so kläglich," so gar nicht am Platze, so wenig geistreich für einen Mann von seinem Rang und seiner Bildung. Wir sähen ihn lieber der hohen Offenbarung, der gewaltigen Worte, die er soeben gehört, der Größe der Stunde und der Person, die ihm gegenüber steht, entsprechen. Wir fühlen noch mehr die Verwirrung, die Verlegenheit, in die die Antwort des Herrn ihn gebracht hat. Oder will es ihm gar schlecht passen, dass der Herr ihn scheinbar so ganz vom Thema gebracht, ihn ärgern, dass doch der Altere dem Jüngeren so unterlegen erscheint? Alles zusammen ist es das Widerstreben der alten Natur, die sich bemerkbar machen möchte. Aber lasst uns nicht etwa denken, der Herr hätte bei uns weniger Mühe gehabt, wir wären gefügiger gewesen, hätten Ihm mehr Verständnis entgegengebracht. Wie oft haben wir in geringeren Fragen mit Einwänden der Vernunft, mit Fragen des Zweifels eindringen wollen in die „gewaltige Schöpferwerkstatt des allmächtigen Gottes“! Und nun erst auf dem Gebiet des Glaubens, in eigener, persönlicher Sache! Hier haben wir erst recht Widerstand entgegengesetzt, glaubten erst recht nicht dreinreden zu sollen. 
Nikodemus scheint etwas gekränkt zu sein, nach Gelehrtenart. Dass ihm, dem studierten und belesenen Manne, der auf geistlichem Gebiet, zumal was das Reich Gottes betrifft, nicht so unbewandert ist, der andere belehrt hat, dass ihm auf einmal alle Urteilsfähigkeit abgesprochen werden soll, hat ihn offenbar etwas verstimmt. Aus den Schriften der Propheten hätte er ja wohl etwas davon verstehen können, die Ausdrucksweise hätte ihm durchaus nicht fremd sein sollen. Aber er will lieber nicht verstehen. Zu der durch die ungeschickte Eintrittsrede entstandenen Verlegenheit, — für deren Lobspruch. und Anerkennung er doch auch ein wenig geehrt sein wollte, — kommt nun noch das Befremden über das vermeintlich harte, abweisende Wort. Dagegen meint er angehen zu müssen, er will widersprechen. Und in der Erregung des Augenblicks nicht lange überlegend, geschieht es ihm, die Antwort zu geben, die, an sich so töricht wie möglich., im Munde des Meisters in Israel geradezu kindisch lautet: 
„Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?“ — In dem „kann“ deutet er seinen Widerspruch auf das „kann“ des Herrn an. Vielleicht will er mit seinem Ausdruck „ein Mensch“ dem „Ich sage dir“ zunächst noch einmal ins allgemeine ausweichen, obschon er mit dem Zusatz: „wenn er alt ist“, doch erkennen lässt, dass er es auf sich bezogen. Es geht ihm wie Menschen, die, den Herrn und Sein Wort abweisend, den inneren Widerspruch wohl fühlen und, in ihrem Gewissen berührt, nun erst recht widersprechen. Lieber nehmen sie Ärgernis am buchstäblichen Ausdruck, als dass sie dem Eindruck. der Wahrheit sich hingeben. Hatte Nikodemus vorher geglaubt, zu viel gesagt zu haben, und das kaum Gesprochene halb wieder zurückgenommen, so meint er jetzt, durch den wunderlichen Zusatz: „kann er etwa zum zweiten Mal in den Leib seiner Mutter eingehen und geboren werden?“ seinen Einwand verstärken zu müssen. Ja, fast scheint es so, als wolle er das Wort des Herrn mit Seinem machtvollen „wahrlich, wahrlich'' gar ins Lächerliche ziehen. 
Der arme Mann! Zu seiner Entschuldigung dürfen wir wohl annehmen, dass er das Beschämende seiner Frage selbst am meisten empfunden hat. Aber der Herr hat ihn sprechen lassen. Er stört sich nicht an diese Nikodemus Rede. Ihm ist ja der innere Zwiespalt, der Kampf in seinem Innern nicht verborgen. Und Er, von dem David singt: „Jehova, du hast mich erforscht und erkannt, . .. du verstehst meine Gedanken von ferne . . . erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken“ (Ps. 189, 1. 2. 23), stört sich nicht an die schroffe, äußere Abweisung, an das gar ungeschickte Wort. Er urteilt nicht, Er richtet nicht, straft nicht, rechnet ihm sein. äußeres Widerstreben, ja, seine halbe Verstellung nicht zu. Im Innern sieht Er doch das quälende Dürsten, „wie der Hirsch lechzt“ nach der Quelle, wie das Drängen nach Licht in der keimenden Pflanze. Er weiß, dass er sich in sich schon gestraft fühlt, dass der Frager besser ist als die Frage. 
Wiederum antwortet Er auf dieses Fragen mit Seinem feierlichen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir“, kann ihm nur wiederholen, muss dabei bleiben, dass das Gesagte die ewige Wahrheit ist; richtet auch diese Wiederholung feierlich an alle, die vielleicht innerlich ebenso stehen. Ob sie äußerlich den Herrn und Sein Wort abzuweisen für klug. und tüchtig halten, Er ruft ihnen sanftmütig und freundlich zu: Nur heraus mit eurem Widerspruch! Ich will ihn schon anhören, wenn nur eure innere Aufmerksamkeit dadurch gereizt, eure Bedürfnisse geweckt werden, wenn ihr mir auch als Wissende, als Gelehrte kein Verständnis entgegenbringt. Ich sehe doch, was euch fehlt, der ich weiß, den Müden durch ein Wort auszurichten, der ich Mühseligen und Beladenen Ruhe geben will. 
Ja, bei dem „Geborenwerden“ bleibt’s, nicht nur für dich, sondern auch für alle. „Es sei denn, dass jemand'' — Ausnahmen gibt es nicht. Aber den Unverstand der Frage des Nikodemus nach einer neuen leiblichen Geburt des natürlichen Menschen klarstellend, gibt der Herr jetzt eine Erklärung über das Wesen dieser neuen Geburt. 

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Wird die Kirche durch die große Drangsal gehen müssen

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 169ff

Diese Frage war von jeher Gegenstand vieler widerstreitender Ansichten und ist es heute vielleicht mehr als je. Unterziehen wir sie deshalb einer näheren Prüfung. 
Die Kirche *) ist ein himmlisches Volk, eine Schöpfung, die sich von jeder anderen unterscheidet, sowohl was ihre Vergangenheit, als auch was ihre Zukunft betrifft. Sie — hat ihren Ursprung nicht in einem Menschen, wie die Juden sich aus Abraham als ihren Vater berufen, und sie ist nicht dazu gesetzt, sich auf dieser Erde fortzupflanzen, obwohl sie eine Zeitlang auf ihr weilt, denn ihre Berufung ist himmlisch. Sie ist aus gläubigen Juden und Heiden zusammengesetzt, welche einen Leib bilden. Sie hat folglich keine Geschichte, die vor der Zeit liegt, da Jesus zum Himmel auffuhr. 
Die Kirche bildet in dem Gang der Prophezeiung eine Einschaltung, und diese wird erst geschlossen werden durch die Entrückung der Kirche gemäß der Verheißung: „Ich komme wieder und werde euch zu mir nehmen, auf dass, wo ich bin, auch ihr seiet“. Alles, was mit der Kirche in Verbindung steht, ist himmlisch. Die, welche sie ausmachen, sind Genossen der himmlischen Berufung (Hebr. 3, 1), sind gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern (Eph. 1, 3),. sitzen mit in den himmlischen Örtern in Christo Jesu (Eph. 2, 6), und ihr Bürgertum ist in den Himmeln, von woher sie auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten. (Phil. 3, 20.) Wir haben daher auch kein Erbteil hienieden zu erwarten und folglich auch keine besonderen Trübsale zu erdulden, es sei denn die des täglichen Lebens. Ganz anders ist es mit dem treuen Überrest Israels am Ende der Tage. (Matth. 24, 9 —13). Unser Erbteil ist von dem ihrigen ganz verschieden, sowohl hinsichtlich des Besitzes selbst, als auch des Ortes, wo es sich befindet. Unser ist „ein unverwesliches und unbeflecktes und unverwelkliches Erbteil, welches in den Himmeln für uns aufbewahrt“ wird (1. Petr. 1, 4). Unser Erbe ist himmlisch, nicht irdisch, ist ewig, nicht zeitlich, und wir werden es besitzen, ehe Israel in das seinige eingeführt wird. 
Die „große Drangsal“, eine Zeit ganz außergewöhnlicher Trübsale, wird im Besonderen über das Volk der Juden kommen. Der Prophet Jeremia nennt sie den  „Tag ohne Gleichen, eine Zeit der Drangsal für Jakob“ (Jer. 30, 7). Der Herr spricht von ihr als von einer „großen Drangsal“ (Matth. 24, 21), und in Offb. 7, 14 wird sie „die große Drangsal“ genannt. Sie folgt unmittelbar auf die Entweihung der heiligen Stätte durch den „Gräuel der Verwüstung“ (Matth. 24, 15). Aber das ist nicht unsere, des himmlischen Volkes Erwartung! Oder erwarten wir die Rückkehr der Juden in ihr Land, den Wiederaufbau ihres Tempels als Anzeichen des Kommens des Herrn für Seine Kirche? Wenn es so wäre, dann brauchten wir nicht zu wachen und zu warten; wir könnten ganz unbesorgt sein, könnten schlafen, bis diese Ereignisse sich vollzogen hätten. Wir erwarten aber nichts dergleichen, denn für die Rückkehr des Herrn zur Entrückung Seiner Kirche gibt es weder ein vorhergehendes Anzeichen noch eine bestimmte Stunde. Der Herr ist hingegangen, um die Stätte für uns zu bereiten, und wenn Er sich von Seinem Thron der Herrlichkeit erhebt, wenn Sein Ruf in unseren Ohren widerhallt, dann wird die gesamte Kirche dem Herrn entgegeneilen, der ganze Leib wird mit dem Haupte vereinigt werden. Da ist aber niemand, der uns sagt oder sagen könnte, wann dies geschieht. Wir sollen wachen wie eine Braut, die ihren Bräutigam erwartet, ohne zu wissen, zu welcher Stunde er kommt. Dieses beständige Warten ist geeignet, unseren Eifer für den Herrn anzuspornen — denn die Zeit ist kurz — und uns in einem Zustand der Heiligkeit zu bewahren. Unsere Blicke sind der himmlischen Heimat zugewandt, von woher wir den Herrn als Heiland erwarten. 
Wir begegnen einem ähnlichen Zustand des Wachens in Matth. 24, 42 - 44: „Wachet also, denn in der Stunde, in welcher ihr es nicht meinet, kommt der Sohn des Menschen“. In dieser Stelle müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Bezeichnung richten, den Titel. welchen der Herr annimmt. Nur so können wir Verständnis für die Frage finden, ob es die Kirche ist, welcher der Herr hier zu wachen befiehlt, oder Israel, bzw. der gläubige Überrest aus diesem Volke. 
In Matth. 16, 13 fragt Jesus die Jünger: „Wer sagen die Menschen, dass ich, der Sohn des Menschen,  
sei?'' — „Simon Petrus aber antwortete und sprach: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (V. 16). Beachten wir wohl den Unterschied. Der Herr nennt sich „Sohn des Menschen“, Petrus nennt Ihn „Sohn des lebendigen Gottes“. Die Bezeichnung „Sohn des Menschen“ wird zum letzten Mal vom Heiligen Geist gebraucht in Apg. 7, 56 in dem Gesicht des Stephanus: „Siehe, ich sehe die Himmel geöffnet und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen“. Den Schluss dieses Kapitels muss man im Lichte von Luk. 19, 12 - 14 lesen. Es war der letzte Mahnruf, der an Israel als Volk gerichtet wurde. Deshalb wird Jesus hier der Sohn des Menschen genannt. In den Briefen finden wir keine Spur mehr von diesem Titel. Es folgt daraus, dass der Titel „Sohn des Menschen“ zu der Kirche als solcher in keiner Beziehung steht. Israel und die Welt haben unmittelbar mit dem Sohne des Menschen zu tun; es ist der Titel, unter welchem der Herr als Richter erscheint, und der Ausspruch: „Wachet, denn in der Stunde, in welcher ihr es nicht -meinet, kommt der Sohn des Menschen“, bezieht sich nicht auf das Warten der Kirche, sondern auf das Warten des gläubigen, jüdischen Überrestes in den letzten Tagen. überdies beschäftigen sich die Kapitel 24 und 25 des Evangeliums nach Matthäus mit den Dingen, die kommen sollen, wenn die Kirche nicht mehr auf Erden sein wird. 
Wir lesen in Offbg. 3, 10. 11: „Weil du das Wort meines Ausharrens bewahrt hast, werde auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen, welche auf der Erde wohnen. Ich komme bald!'' Viele erklären  die Stelle so, als wenn da stände: „Ich werde dich bewahren durch die Stunde der Versuchung hindurch“, etwa wie es bei Noah der Fall war, welcher mit den Seinigen „durch das Wasser hindurch“ gerettet wurde. (1. Petr. 3, 20.) Aber der Wortlaut ist klar und einfach. Das, was zu der Versammlung in Philadelphia gesagt wird, bedingt die Vorstellung von einem Vewahrtbleiben außer oder getrennt von der Stunde der Versuchung. Von den beiden Vorbildern des Alten Testamentes, Henoch und Noah, wurde der erstere vor der Sündflut und der andere durch die Sündflut hindurch bewahrt. So wird auch die Kirche, die durch Henoch dargestellt wird, vor der hereinbrechenden Flut bewahrt bleiben, nicht aber jene Klasse von Gläubigen in zukünftigen Tagen, von denen in Offb. 7, 14 die Rede ist. Ein Teil derselben wird um seines Zeugnisses willen den Tod erleiden, die anderen werden, wie Noah, am Leben erhalten bleiben, trotz der Gewalt der Verfolgung, die dann eintreten wird, und werden lebend in das Tausendjährige Reich eingehen. Wenn aber die Kirche nicht durch „die große Drangsal“ hindurchgehen wird, so können die Gläubigen von Offb. 7, 14 auch nicht die Kirche darstellen. 
An die Gläubigen in Thessalonich schreibt Paulus: „Wie ihr euch von den Götzenbildern zu Gott bekehrt habt, dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und Seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten, den Er aus den Toten auferweckt hat, — Jesum, der uns errettet von dem kommenden Zorn“. (1. Thess. 1, 9. 10). Was ist dieser kommende Zorn? Sicherlich nicht der Zorn Gottes, der auf uns ruhte, als wir noch Kinder des Zornes waren. Wir sind das heute nicht mehr. Es ist auch nicht der Zorn, der durch die Untreue der Kirche hervorgerufen werden könnte, denn auf das Wort: „Ich werde dich ausspeien aus meinem Munde“ (Offb. 3, 16), folgen keinerlei Androhungen von Strafe. Es kann schließlich auch nicht der göttliche Zorn sein, der sich in dem Gericht vor dem großen, weißen Thron offenbart; denn wir werden dort nicht zu erscheinen brauchen, wenigstens nicht als Angeklagte. Es bleibt also nur ein Ausweg, nur eine Antwort auf unsere Frage: Der kommende Zorn ist das Gericht, das über die gottlose Welt und vor allem über das schuldige Volk der Juden kommt. Es ist der große Tag des Zorns, der so oft in den Propheten beschrieben ist; es ist die große, vom Herrn angekündigte Drangsal, dergleichen von Anfang der Welt bis jetzt hin nicht gewesen ist, noch je sein wird (Matth. 24, 21; Offb. 7, 14). Auf diesen Zorn beziehen sich auch die Worte: „Und sie sagen zu den Bergen und zu den Felsen: Fallet auf uns und verberget uns vor dem Angesicht Dessen, der aus dem Throne sitzt, und vor dem Zorne des Lammes; denn gekommen ist der große Tag Seines Zornes, und wer vermag zu bestehen?“ (Offb. 6, 16. 17). Aus allen diesen Schriftstellen geht mit genügender Deutlichkeit hervor, dass dieser Zorn noch zukünftig ist. Die Kirche hat ihn nicht zu befürchten, weil sie vorher entrückt werden wird. Ihr Gericht ist beendet, und nie mehr kann ein Zorn sie treffen“. 
Der kommende göttliche Zorn kann nicht in dieser Gnadenzeit in Erscheinung treten. Wir leben an dem Tages des Heils, in der Zeit der Gnade, nicht aber in dem Zeitabschnitt der großen Drangsal. Trotz der reißenden Fortschritte des Bösen und der zunehmenden, von der Welt gewollten Entfernung von Ihm, den Gott „sowohl zum Herrn als auch zum Christus gemacht hat“ (Apg. 2, 36), sind wir nicht zu der Annahme berechtigt, dass die Zeit der Gerichte bereits begonnen habe. Vielmehr wird heute noch dem Gesetzlosen Gnade erzeigt (Jes. 26, 10), die Güte Gottes leitet zur Buße (Röm. 2, 4), noch ist es die Zeit, wo der Herr langmütig ist, da Er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen (2. Petr. 8, 9). Das in Aussicht gestellte Gericht, der kommende Zorn, wird zurückgehalten, solang die „Gesandten Christi“ noch in der Welt sind; wie Paulus sagt: „So sind wir nun Gesandte für Christum, als ob Gott durch uns ermahnte; wir bitten an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor. 5, 20). Die Aufgabe eines Gesandten besteht darin, die guten Beziehungen zwischen zwei Staaten aufrecht zu erhalten, und solang er nicht zurückgerufen ist, wird der Krieg nicht erklärt. So werden denn auch im vorliegenden Falle die Gerichte, welche über die in Aufruhr gegen Gottes Autorität befindliche Erde kommen sollen, zurückgehalten, solang wir, die Gesandten Christi, noch hienieden sind. Gott ist selbstverständlich alleiniger Herrscher, und, wenn es Ihm gut dünkt, hat Er das Recht, zu strafen, zu züchtigen und zu demütigen. Er macht auch von diesem Recht Gebrauch, und wer kann sich dagegen auflehnen, wer sich ihm entziehen? Aber wenn Er Gericht an einem Volke oder an einem einzelnen übt, so ist das doch etwas ganz anderes als der »kommende Zorn«, der sich am Ende der Tage über die ganze Erde ergießen wird. 
Der großen Drangsal muss die Rückkehr der Juden in ihr Land und der Wiederaufbau des Tempels zu Jerusalem vorangehen. Sie wird, wie bereits gesagt, ihren Anfang nehmen, wenn der Gräuel der Verwüstung an heiligem Orte stehen wird (Matth. 24, 25). Das zurückgekehrte Volk und der wiedererbaute Tempel reden eine deutliche Sprache von der Erneuerung der jüdischen Nation und der Wiederherstellung des levitischen Gottesdienstes. Von neuem werden Anbeter in Jerusalem ihre Opfer Gott darbringen, gerade jene frommen Juden, der treue Überrest aus dem Volke, von dem wir wiederholt sprachen und der am Altar im Tempel Gott anbeten und Ihm angenehm sein wird. Dass Opfer wieder dargebracht werden, darauf weisen Altar und Tempel hin; der Dienst vor Gott würde ohne sie auch nicht vollständig sein. Zugleich wissen wir, dass im Tausendjährigen Reich wieder geopfert werden wird wie früher. (Vgl. Jes. 56, 7; Hesekiel 44 u. 46.) Wenn die Kirche durch die große Drangsal gehen müsste, würde es gleichzeitig zwei Arten von Gläubigen auf Erden geben, und zwar beide von Gott anerkannt: die einen würden im Tempel zu Jerusalem in alter Weise anbeten, die anderen, die Kirche, im Geist und in Wahrheit, weder auf einem Berge, noch . zu Jerusalem. (Joh. 4, 21 — 24). Welch ein unvereinbarer Widerspruch! Man sieht, die Schwierigkeiten sind unüberwindlich für die Annahme, dass die Kirche durch die große Drangsal gehen müsse. 
Weiterhin wird von einigen behauptet, wir befanden uns gegenwärtig schon in der großen Drangsal. In diesem Falle müsste man aber zugeben, dass die Drangsal verhältnismäßig sehr leicht zu ertragen wäre, und dass der Zorn Gottes, der furchtbare Tag, von dem die Propheten, der Herr Jesus selbst und die Apostel gesprochen haben, sich auf einige ernste Unannehmlichkeiten und Prüfungen beschränkte, die wir ohne allzu große Mühe ertragen könnten. Dass es auch heute Trübsale gibt (Apg. 14, 22), wird niemand bestreiten, aber diese sind wahrlich nicht „die große Drangsal“. 
Schließlich meinen einige, dass nur solche Gläubige, die wachen und warten, bei der Ankunft des Herrn entrückt, dass die anderen aber zurückgelassen würden. Aber dann würde doch die Kirche im Himmel nicht vollständig sein, und es würden Glieder am Leibe Christi fehlen. Nicht eine einzige Schriftstelle rechtfertigt eine solche Annahme. Woher weiß man übrigens, dass es im gegebenen Augenblick überhaupt noch Gläubige geben wird, welche nicht wachen und warten werden? Die oft angeführte Stelle, Matth. 24, 40. 41: „Alsdann werden zwei auf dem Felde sein, einer wird genommen und einer gelassen; zwei werden an dem Mühlstein mahlen, eine wird genommen und eine gelassen“, spricht von der Auswahl im Gericht bei der Erscheinung des Sohnes des Menschen, nicht aber von der Entrückung der Kirche. Von dieser ist in dem ganzen Kapitel keine Rede. Und wenn Paulus sagt: „auf dass Er die Versammlung sich selbst verherrlicht darstellte, die nicht Flecken oder Runzeln oder etwas dergleichen habe, sondern dass sie heilig und tadellos sei (Eph. 5, 27), so kann man nicht gut annehmen, dass dann, wenn die Kirche dem Herrn so dargestellt sein wird, sich noch einzelne Glieder dieses verherrlichten Leibes auf der Erde befinden werden, unter Seufzen und mit der traurigen Aussicht, durch die große Drangsal und die Ängste des Gerichts Gottes gehen zu müssen. Der Hinweis auf die törichten Jungfrauen in Matth. 25, 3 und die daran geknüpfte Behauptung, das von uns Gesagte sei nichts als Theorie, ist hinfällig. Die so reden, vergessen ganz, dass das „Reich der Himmel“ nicht gleichbedeutend ist mit der „Kirche“

Fußnote:
*’) Wenn wir hier von der „Kirche“ reden, so meinen wir die wahre Kirche, die „Versammlung oder Gemeinde des lebendigen Gottes“.

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Zwei Werturteile

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 178ff

Die Handlung, mit deren verschiedenartiger Beurteilung wir uns ein wenig beschäftigen wollen, ist das Tun der Maria von Bethanien, wie es uns in Matth. 26, 6 — 13, Mark. 14, 3 — 9 u. Joh. 12, 1 - 8 mitgeteilt wird. 
Das eine Urteil kommt aus dem Munde unseres Herrn, der allein imstande ist, alles nach seinem richtigen Werte zu beurteilen, während wir Zurückhaltung üben sollten nach dem Worte des Apostels: „So urteilet nicht etwas vor der Zeit, bis der Herr kommt, welcher auch das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Ratschläge der Herzen offenbaren wird; und dann wird einem jeden sein Lob werden von Gott“ (1. Kor. 4, 5). Das zweite Urteil spricht Judas Iskariot aus (Joh. 12, 4), und leider hat sein Urteil augenscheinlich bei den Jüngern Zustimmung gefunden. (Matth. 26, 8.; Mark.14, 4.) Dieses zweite Urteil (im Bericht der Schrift das erste) und wie es zustande kam, wollen wir zuerst besehen. . 
Da fällt zunächst auf, dass Judas den Wert der echten, sehr kostbaren Salbe, die Maria über den Herrn ausschüttete, bald erkannte, so dass er imstande war, ihn zahlenmäßig auszudrücken. Dreihundert Denare. war sie nach seiner Schätzung mindestens wert. (Mark. 14, 5; Joh. 12, 5). Dieser große Geldwert wurde hier „verschwendet“ (Matth. 26, 8). Genuss hat dieser geldliebende Mensch von dem das ganze Haus erfüllenden Geruch der kostbaren Narde (Joh. 12, 3) nicht gehabt, wenn ihm auch der Geruch ein Mittel zur Feststellung des Geldwertes gewesen sein mag. Er sah nur die dreihundert Denare, welche die Salbe ihm wert war, und konnte es nicht verwinden, dass dieser hohe Betrag nicht in seine Kasse floss. 
 Ist es verwunderlich, dass er von Verlust und Verschwendung redet, wenn er den Wert der Salbe in Zahlen ausdrückt? wenn die Hingebung des von Jesu angezogenen Herzens der Maria umgerechnet wird in Denare, in eine kalte Geldzahl? Wie kann auch ein Mensch, dessen Herz von Geldgier und Habsucht erfüllt ist, das bewerten, was ein von der Person des Sohnes Gottes angezogenes Herz tut? Während dieses, von der Gegenwart Jesu hingenommen und gelöst von dem, was die Erde hat, bereit ist, alles für Ihn hinzugeben, dessen Gegenwart es erfüllt und überfließen macht, sieht jener in dem Ausdruck der Gefühle dieses Herzens einen Anlass zur Errechnung des Zahlenwertes, den dieses Tun darstellt. Nur auf diese Weise konnte das Urteil des Judas zustande kommen: „Wozu diese Verschwendung?“ —— „Wozu ist dieser Verlust der Salbe geschehen?“ (Matth. 26, 8; Mark. 14, 4). 
Doch woher nahm dieser Mensch den Mut, von Verlust und Verschwendung zu sprechen bei einem Tun, das dem „Abglanz der Herrlichkeit Gottes und dem Abdruck Seines Wesens“ galt? Sicher konnte nur die Macht der Finsternis, die den „Sohn des Verderbens“ regierte, aus der Geldliebe, »einer Wurzel alles Bösen“ (1. Tim. 6, 10), solche Frucht hervorbringen. 
Doch wie kamen die anderen Jünger dazu, dem Urteil des Judas zuzustimmen und sich dadurch gleichsam eins zu machen mit der Denkweise dieses Diebes? (Dass alle sich an der Kundgebung des Judas beteiligt haben, ist nicht anzunehmen. In Matth. 26, 8 heißt es freilich: „die Jünger“, aber in Mark. 14, 4 steht: „etliche“). Offenbar war der Zustand der Jünger weit entfernt von der Herzensstellung der Maria. Zwar waren sie beständig um den Herrn gewesen und hatten Gelegenheit gehabt, — Ihn kennen zu lernen, und bei einzelnen Gelegenheiten wurden sie auch von der Herrlichkeit überwältigt, die der Herr offenbarte und sie schauen ließ. („Er offenbarte Seine Herrlichkeit, und Seine Jünger glaubten an Ihn.“ Joh. 2, 11. Lies auch Matth. 17, 6; Mark. 6, 51 u. a.). Im ganzen aber entsprach wohl ihr Zustand den Worten, die der Herr später zu den beiden Jüngern auf dem Wege nach Emmaus sprach: „O ihr Unverständigen und trägen Herzens, zu glauben an alles . . .“ (Luk. 24, 25). Unverstand und Herzensträgheit hinderten selbst bei den besten Lerngelegenheiten ein Tun, wie es Maria übte; denn der Glaube, der durch die Liebe. wirkt, wird durch sie behindert. Und ist der Glaube nicht wirksam, der Petrus einst zu seinem Bekenntnis veranlasste: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“, so sieht das Auge nicht Ihn, dem alles gehört und gebührt, sondern der natürliche Mensch rechnet dann den Wert der Salbe in Denare um, und in einem solchen Zustand kann sogar derselbe Petrus, der glaubend jenes schöne Zeugnis ablegen konnte, seinen Herrn verleugnen. 
Als Petrus mit den beiden anderen Jüngern „Augenzeuge Seiner Majestät“ war (2. Petr. 1, 16), kam sicher eine Verleugnung des mit göttlicher Majestät bekleideten Herrn nicht in Frage; ebenso wenig kann jemals Unwille über die Ehrung Seiner Person hervorkommen, wenn das Auge auf Ihn gerichtet bleibt und das Herz von Ihm erfüllt ist. Das von Seiner Größe und Majestät erfüllte Herz betet Ihn an und freut sich über jede Huldigung, die Ihm zuteil wird. 
Das ist für uns alle wichtig, die wir den Herrn kennen und an Ihn glauben. Wir sind den Jüngern wesensgleich und können vielleicht heute, den Herrn vor Augen, mit glücklichen! Herzen ein schönes, den Herrn ehrendes Zeugnis für Ihn ablegen, und morgen, mit dem Blick auf uns selbst oder auf andere Dinge, in ganz kläglicher Weise wie ein den Herrn verleugnender Petrus versagen. 
Wie gut zwar und ist es für Maria, dass das letzte und das maßgebende Urteil der Herr spricht: „Sie hat ein gutes Werk an mir getan“ und: „Sie hat getan, was sie Vermochte“. Was die Menschen als Verlust und Verschwendung bezeichnen, nennt der Herr „ein — gutes Werk“. Als der Herzenskündiger kannte Er auch die Beweggründe ihrer Handlung, aber davon sagt Er nichts, obschon diese für Ihn sicher kostbarer waren als die kostbarste Salbe. Der rechnende Judas hätte für Marias Beweggründe doch kein Verständnis aufbringen können, und für den Herrn handelte es sich wohl nur darum, bezüglich des Tuns der Maria dem Urteil der zürnenden Jünger (Mark. 14, 5) Sein Urteil entgegen zu stellen. Die inneren Herzenstriebe kann nur Er allein sehen und bewerten, während der Geruch der Salbe dem ganzen Hause mitgeteilt wird und vielleicht gar zur Feststellung des Geldwertes der Salbe dienen muss. 
Was im Herzen der Maria war, konnte keinem Menschen mitgeteilt werden, denn der Mensch hat dafür kein Verständnis. Er irrt schon in seinem Urteil über das Tun dieses Herzens, wenngleich er es mit seinen Sinnen wahrnehmen und den Wert desselben, an Geld gemessen, feststellen kann. Der Herr aber sieht die Zuneigung des Herzens, und was sich da für Ihn offenbart, ist Ihm wertvoller als die teuerste Salbe, obschon diese das Zeugnis der Zuneigungen ist und als solches nicht unterschätzt werden soll. Aber der Herr ist nicht, wie wir, auf das Zeugnis angewiesen; Er sieht den Ursprung desselben, und danach bewertet Er das Zeugnis. Wir können nicht anders, als umgekehrt vom Zeugnis auf seinen Ursprung schließen, und wenn wir dabei den Herrn aus dem Auge lassen, dann ist unser Urteil ein Ergebnis unserer Überlegungen und entspricht in jedem Falle unserer natürlichen Engherzigkeit. Dann erscheint das „gute Werk an Ihm“ als Verlust und Verschwendung. 
Wenn dreihundert Denare für die Armen gegeben werden, so ist das sicher auch ein gutes Werk“; und wenn die Jünger den Armen wohltun wollten, so stand ihnen das jederzeit frei und fand gewiss des Herrn Zustimmung. Von Maria aber sagt Er: „Sie hat ein gutes Werk an mir getan“. Er muss notwendig den ersten Platz haben; ein anderer Platz kann für Ihn nicht in Frage kommen. Könnten je „Wohltun und Mitteilen“, das den Menschen zugute kommt, den ersten Platz haben, und das Opfer des Lobes für Gott (Hebräer. 13, 15. 16) erst an zweiter Stelle stehen? Unmöglich! Vielmehr wird das Herz, das, von Ihm angezogen und geleitet, ein gutes Werk „an Ihm“ tut, jedes andere gute Werk ebenfalls um Seinetwillen für Ihn tun, so dass Er in jedem Falle die Quelle und Ursache solcher Werke ist, die dann ein Wohlgeruch sind für Ihn und für Gott, obwohl sie Menschen zugutekommen. Solche Frucht lässt Er wachsen, sie hat Wert und bleibt in Ewigkeit. Sie wächst da, wo das Auge auf Ihn gerichtet ist. Anderswo kann diese Frucht nicht gefunden werden, mag auch manches vorhanden sein, das von Menschen als „gute Werke“ bezeichnet wird. Das letzte Urteil spricht der Herr, und Er weiß, ob unser Tun „ein gutes Werk an Ihm“ genannt werden kann. Ist es ein solches, so empfinden unsere Herzen schon hier den Segen Seiner Zustimmung, und dort „wird einem jeden sein Lob werden von Gott“. — 
Das Wort: „Sie hat getan, was sie vermochte,“ gehört auch zu dem Urteil des Herrn. Er wusste, dass sie bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, gegangen war. Mehr konnte sie nicht tun. Was sie vermochte, hatte sie getan. Welch ein Zeugnis aus dem Munde unseres Herrn, der unser Vermögen kennt und weiß, wo unser Unvermögen beginnt. Das Maß dessen, was wir für Ihn tun, ist für den „Erben aller Dinge« bedeutungslos; aber Er wird erquickt durch die Hingebung eines Herzens, das, durch Ihn selbst unterwiesen, tut, was es vermag. 

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Zerrissene Lappen und abgetragene Lumpen

Bibelstelle: Jeremia 38 und 39

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 184ff

Wie gut ist Gott, auch des kleinsten Werkes der Liebe zu gedenken und von so geringen Dingen Notiz zu nehmen! Was durch den Glauben an Ihn einem Seiner Heiligen in Liebe getan ist, das ist Ihm getan. Wie gering auch der Dienst sein mag — Er sieht es — besonders wenn es sich um die Bedürfnisse solcher handelt, die um ihres Zeugnisses willen Not und Leiden durchmachen müssen wie Jeremia. Damit wir dieses wissen, hat uns der Heilige Geist diese Tat Ebedmelechs, des äthiopischen Kämmerers, mitgeteilt. 
Jeremia wurde um seines treuen Zeugnisses willen gehasst und verworfen. Er bezeugte dem König Zedekia, dass Gott um der Sünde willen das Gericht über das Volk bringen würde. Solche Botschaft gefiel den Großen nicht, und die Fürsten wurden zornig. Sie erwirkten beim König den Befehl, dass er getötet werden solle. Dann „nahmen sie Jeremia und warfen ihn in die Grube Malkijas, des Königssohnes. Und sie ließen Jeremia mit Stricken hinab; und in der Grube war kein Wasser, sondern Schlamm, und Jeremia sank in den Schlamm“ (Kap. 38, 2 — 6.) 
Armer Jeremia! Was mochte durch seine Seele gehen, als er in den Schlamm sank? Ob ihm nicht auch das Herz sank und mutlos wurde? Fragte er sich: „Soll ich hier elend umkommen?“ Vielleicht. Aber nein, er sollte nicht umkommen. Zwar aus seinem Volke verwandte sich niemand für ihn zu seiner Rettung; aber Gott" kann andere finden. „Weg“ hat Er allerwegen, an Mitteln fehlt’s Ihm nicht.“ Wir lesen: „Und Ebedmelech, der Athiopier, ein Eunuch, der im Hause des Königs war, hörte, dass sie Jeremia in die Grube getan hatten . . . Und Ebedmelech redete zum König und sprach: Mein Herr König, diese Männer haben übel gehandelt in allem, was sie dem Propheten Jeremia getan, den sie in die Grube geworfen haben; er muss ja, da wo er ist, vor Hunger sterben“ (V. 7 — 9). Ebedmelech, der Ähiopier (also wahrscheinlich ein Mohr), war ein mutiger Mann. Es war keine Kleinigkeit für ihn, zu dem König zu gehen und ihm das geschehene Unrecht vorzutragen; wusste er doch, dass der König der Schuldigste an der ganzen Sache war. Obwohl von Mitleid bewegt, hätte Ebedmelech sich doch sagen können: „Sei kein Tor und setze dein Leben nicht aufs Spiel! Du wirst sonst noch Jeremia Gesellschaft leisten in der Schlammgrube.“ Denn was war er, der schwarze Fremdling, in den Augen des Königs? Der Glaube aber weiß, dass „eines Königs Herz gleich Wasserbächen ist in der Hand Jehovas“ (Spr. 21, 1). Der Glaube rechnet mit Gott, der Unglaube mit den Umständen. 
Was wurde aus diesem kühnen Gange? Wurde Ebedmelech abgewiesen oder gar verurteilt? Wir lesen: „Und der König gebot Ebedmelech, dem Äthiopier, und sprach: Nimm von hier dreißig Männer unter deine Hand und hole den Propheten Jeremia aus der Grube herauf, bevor er stirbt“. Das vermag Gott! Welche Empfindungen mochte Ebedmelech bei diesen Worten haben! Wie mochte er eilen, um Jeremia zu helfen, „bevor er starb“! Wie lang Jeremia in der Grube gewesen ist, wissen wir nicht. Aber gewiss wird der Gott, der mit Daniel und seinen Freunden im Feuerofen und in der Löwengrube war, auch Jeremias Herz in der Schlammgrube erquickt haben. 
Die Fürsten, die Jeremia in die Grube geworfen, hatten es gewiss nicht in sanfter Weise getan. An Stricken ließen sie ihn in den Schlamm hinab, damit er dort Hungers sterbe. Ob die Stricke ihn verletzten oder in seine Arme einschnitten, was kümmerte es sie? Ihre Stricke waren Stricke des Hasses. Aber jetzt waren es andere Stricke. „Und Ebedmelech nahm die Männer unter seine Hand und ging in das Haus des Königs, unter die Schatzkammer, und er nahm von dort zerrissene Lappen und abgetragene Lumpen, und er ließ sie an Stricken zu Jeremia in die Grube hinab.“ Dann sprach er zu Jeremia: „Lege doch diese zerrissenen Lappen und abgetragenen Lumpen unter die Achseln deiner Arme, unter die Stricke, und Jeremia tat also. Und sie zogen Jeremia an den Stricken empor und holten ihn aus der Grube herauf“ (V. 11 — 13). Mit Stricken der Liebe, nicht des Hasses wurde er emporgehoben. 
 Hier war tätige Liebe! Man mag geringschätzend sagen: es waren ja nur Lappen und Lumpen, die Ebedmelech nichts kosteten. Gewiss, an und für sich waren sie wertlos, aber sie reden eine eindringliche Sprache. In diesen Lappen und Lumpen offenbarte sich einerseits die liebende Sorge Gottes für Seinen leidenden Knecht, und andererseits das mitfühlende Herz Ebedmelechs. Er war das Gefäß, das Werkzeug, durch welches Gott sich in Seiner Sorge für Seinen Knecht verherrlichen konnte.  
Das ist kostbar und groß! Und wenn diese liebende Sorge Gottes je einen der Seinen durch uns erreichen kann, welch ein Vorrecht ist das! Da ist auch keiner zu arm oder zu schwach. Einige Lappen und Lumpen findet jeder. Es kommt ja nicht so sehr auf das Tun an, sondern wichtig ist, wie man etwas tut. Ebedmelech hätte Jeremia einfach aus der Grube holen können, wie man ihn hinabgelassen hatte, aber er zog ihn herauf, so wie Jehova ein armes, verwundetes Lamm heraufziehen würde, mit Seilen der Liebe! 
Ebedmelech dachte gewiss nicht, als er in das Haus des Königs ging, um die zerrissenen Lappen und abgetragenen Lumpen zu holen, dass Gott dieses in die Heiligen Schriften eintragen lassen würde. Er ahnte nichts davon, dass Jahrtausende hindurch die Gläubigen der ganzen Erde durch diese Tat belehrt und ermuntert werden sollten, um auch ihrerseits zu tun, was irgend sie zur Erquickung des Heiligen Gottes tun könnten. 
Köstlich ist es dann aber auch, zu sehen, wie Gott Ebedmelech nicht vergisst. Er sprach zu Jeremia: „Geh und sprich zu Ebedmelech, dem Äthiopier, und sage: So spricht Jehova der Heerscharen, der Gott Israels: Siehe, ich bringe meine Worte über diese Stadt zum Bösen und nicht zum Guten, und sie werden an selbigem Tage vor dir geschehen. Aber ich werde dich an jenem Tage erretten, spricht Jehova, und du wirst nicht in die Hand der Männer gegeben werden, vor welchen du dich fürchtest. Denn ich werde dich gewiss entrinnen lassen, und du wirst nicht durch das Schwert fallen; und du sollst deine Seele zur Beute haben, weil du auf mich vertraut hast, spricht Jehova“ (Kap. 39, 15 — 18).  So fand Ebedmelech schon auf Erden seinen Lohn für den Dienst, den er dem Knechte Gottes erwiesen hatte. Er sollte gerettet werden von dem, was er fürchtete. Das Werl der Liebe entsprang dem Glauben: „weil du auf mich vertraut hast''. Sein Glaube war ein Glaube, der. durch die Liebe wirkt. (Gal. 5, 6). Glaube und Liebe gehören zusammen. Liebe zu den Heiligen wird auch bei den Hebräern anerkennend hervorgehoben: „Denn Gott ist nicht ungerecht, eures Werkes zu vergessen und der Liebe, die ihr gegen Seinen Namen bewiesen, da ihr den Heiligen gedient habt und dienet“ (Hebr. 6, 10). Und selbst wenn die Liebe nur fähig sein sollte, ein paar zerrissene Lappen und abgetragene Lumpen zu bringen — geschieht es im Glauben und in der Liebe, in der Teilnahme an den Leiden eines Heiligen oder der Notdurft eines Knechtes Gottes — Er will es nicht vergessen. Das ist unser Gott! 
Der Name Ebedmelech bedeutet: „Knecht des Königs“, und ein solcher war er wirklich. Er war ein Knecht Jehovas, des höchsten Königs. Möchten wir solche Knechte des Herrn sein, indem wir den Willen Gottes von Herzen tun (Eph. 6, 6), und selbst wenn dieser Dienst auch nur ein Dienst wäre gleich dem des Ebsedmelech mit zerrissenen Lappen und abgetragenen Lumpen! Der Herr sagt: „Insofern ihr es einem der geringsten dieser meiner Brüder getan habt, habt ihr es mit getan''. 

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Nikodemus oder vom „Wissen“ zum „Glauben“

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 189ff

— IV 
Dass der natürliche Mensch nichts vernimmt vom Geiste Gottes, und dass er sich mit seiner ersten Geburt außerhalb des Geistes Gottes, des Elements des Reiches Gottes, befindet, ist ihm unfassbar. Dass sogar seine Natur demselben zuwider und feindlich ist, und dass ihm der Eingang in dieses Reich nur kraft einer neuen Geburt erschlossen werden kann, versteht er noch weniger. Und nun begründet der Herr den notwendigen Grund des „so kann er nicht“ in der feierlichen Gegenüberstellung von Fleisch und Geist, dem großen elementaren Gegensatz, der sich durch die Schrift von Anfang bis Ende hindurchzieht. 
„Was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geiste geboren  ist, ist Geist.“ 
 „Fleisch“ — bei der ersten Erwähnung mancher Worte in der Schrift finden wir oftmals diesen eine besondere innere Bedeutung beigelegt, die für die weitere Anwendung charakteristisch bleibt. Von der ersten Erwähnung nach dem Sündenfall beginnend, bei dem dortigen geheimnisvollen Vorgang, heißt es bezeichnend: „Mein Geist soll nicht ewiglich mit dem Menschen rechten, da er ja Fleisch ist“, und nachher: „alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden“ (1. Mose 6, 8. 12). Auch nach der Flut lautete das Urteil: „Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an“ (1. Mose 8, 21). In 1. Petr. 1, 24. 25 lesen wir: „Alles Fleisch ist wie Gras, und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt, und seine Blume ist abgefallen“ — seiner Natur nach nur Eitelkeit, Vergänglichkeit, ja Verderblichkeit, wenn der Geist Gottes sie anweht. Das Fleisch ist auch nicht durch Erziehung, Gesetz, Verbot, Strafe einer Verbesserung fähig, wie alle Proben, die Gott mit Seinem irdischen Volke gemacht, bewiesen haben. Durch die Propheten (vergl. Hesekiel 86, 26. 27, auch Joels Weissagung) war ja der Geist geweissagt, der da kommen sollte, um die Menschen zu erneuern, zu anderen Menschen mit anderen Herzen zu machen. David bekennt in Psalm 51: „Siehe, in Ungerechtigkeit bin ich geboren, und in Sünde hat mich empfangen meine Mutter“, und sein Gebetplatz vor Gott war der eines zerbrochenen und zerschlagenen Herzens. ,,Denn du hast keine Lust an Schlachtopfern, sonst gäbe ich sie; an Brandopfern hast du kein Wohl-" gefallen“ (V. 16. 17). So — will der Herr dem Nikodemus sagen — ist es nicht nur mit „jedem“ (wie er nachher in Vers 8 sagt), sondern auch mit dir. Indem Er ein für allemal den unwidersprechlichen Grundsatz ausstellt: „Alles, was aus dem Fleische geboren ist,. ist Fleisch“, deutet Er die niedrigen Triebe an, leuchtet in ihre dunklen Geheimnisse hinein. „Siehe,“ will Er gleichsam sagen, „wie man auch durch Erziehung und Bildung daran zu verbessern strebt, es kann seine Natur nicht verändern, es bleibt in seiner Beschaffenheit immer dasselbe, der Quelle gleich, der es entstammt. Könnte gar ein Mensch zum zweiten mal — wie du vorhin meintest — in den Leib seiner Mutter eingehen und geboren werden, ja, könntest du mit deinem Wissen und deinen Erfahrungen dein Leben noch einmal beginnen, es zum zweiten mal leben, es würde nichts dadurch gebessert. Das Ergebnis wäre ohne den Geist von oben das gleiche. Du würdest gerade so leer, so friede-und freudelos, so unbefriedigt sein wie heute. Es wäre wieder das alte, das vorige Fleisch. Gerade als Pharisäer, der du es doch mit der peinlichen Erfüllung des Gesetzes so genau nehmen möchtest, hättest du es wohl erproben können, dass in dir, in · deinem Fleische, nichts Gutes wohnt. Ja, dass das Fleisch dem Guten widerstrebt, dass es Feindschaft ist wider Gott, dass du fleischlich denkst, sinnst und trachtest.“ Ja, selbst der Geist des natürlichen Menschen, das, was ihn vom Tiere unterscheidet, ist mit Stolz, Hochmut, Selbstsucht und Eigenliebe ganz und gar durchtränkt. Er bildet sogar in sich selbst ein Hindernis für die Rückkehr zu Gott. Voll Blindheit und Torheit in göttlichen Dingen, wirkt er durch seinen Eigenwillen einer wahren Wiedergeburt nur störend und hemmend entgegen. Und so muss denn auch dieser so gepriesene Geist des Menschen der ersten unerbittlichen Hälfte des Spruches anheimfallen: ,,was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch«. Hin und wieder hört man die Meinung äußern, dass geistige Bildung und Christentum einander ausschließende Dinge seien. Das soll jedoch in dem Vorstehenden keineswegs gesagt sein. Gesagt sein soll nur, dass auch die höchste geistige Bildung vor Gott keinen Wert hat, dass Christus überhaupt kein Lehrer sein will für die alte Natur, dass Er in jedem Falle erst ihr Heiland, dann ihr Lehrer sein will. Wie Bildung  nicht nur kein Hindernis für das Christentum ist, sondern sogar im Dienste desselben ein mächtiges Förderungsmittel sein kann, zeigt uns das Beispiel des Apostels Paulus. Wie benutzt der Herr gerade seine ausgezeichnete Bildung, seinen in theologischen Fragen geschulten Geist, seine Vertrautheit mit den Anschauungen der griechisch-römischen Gedankenwelt, um das aus ihm zu machen, was er war, der Empfänger der tiefsten Offenbarungen vom Wesensinhalt des Christentums und das „auserwählte Gefäß'“, der große Apostel der Nationen! (Apg. 9, 15.) Und je und dann, nicht zuletzt in der jetzigen Zeit, hat Gott gebildete Männer als besonders treue und gesegnete Knechte in Sein Werk gestellt. 
Häufig wird die Frage gestellt: Lässt sich mit einer christlichen Erziehung und Überzeugung sorgfältige wissenschaftliche Ausbildung, höhere Schulung des Geistes vereinigen? Es müsste traurig mit dem Christentum bestellt sein, wenn diese Frage nicht entschieden bejaht werden, das Christentum diese Probe nicht ertragen könnte. Ausschlaggebend ist nur, welche Grundsätze, Bestrebungen und Ziele den Kindern als die wichtigsten vorgestellt werden, vor allem, inwieweit sie Wirklichkeit bilden in dem Leben der Eltern selbst. Wird hier Entschiedenheit, vor allem Ausrichtigkeit, Unterwerfung unter des Herrn Wort, Übereinstimmung in Wort und Wandel gefunden, so wird dies seinen bestimmenden Einfluss auf die Richtung und Entscheidung der Kinder früher oder später nicht verfehlen. Wahre Abhängigkeit vom Herrn und festes Vertrauen auf Seine Gnade werden auch vor einer stets mit Eigenwillen verbundenen Schroffheit und Einseitigkeit bewahren. Und selbst wo Missverständnisse sich  bildeten und Verirrungen nicht ausblieben, wird die Liebe auf dem Boden der Gnade mit weitherzigem Verständnis dem in Selbstgericht Zurückkehrenden innigen, in Vergebung beglückenden Empfang bereiten. Es ist wunderbar, wie oft treu ausharrende Fürbitte von Eltern auf die Umkehr Abgeirrter oder auf die Entscheidung von solchen, die in großen Versuchungen schwebten, bewusst oder unbewusst, den bestimmenden Einfluss ausübte. 
Wie anders, wenn eine dem Irdischen zugewandte Gesinnung, wenn Halbherzigkeit und Weltförmigkeit die anziehende, zusammenbringende Macht der Gnade erkalten, die reinigende Kraft des Zeugnisses erschlaffen ließen! O möchte die Unwirklichkeit unserer ganzen geistlichen Zustände in dieser Zeit schwerer Heimsuchung uns das Verlangen nach ernster Einkehr und tiefer Beugung vor Gott heiß in die Seele drücken! Sehen wir nicht selbst in dieser schweren Drangsalszeit das Materielle das Geistige überwuchern? Droht es nicht auch den Christen in den Tanz um das goldene Kalb fortzureißen?  
Hier möge der Ausspruch eines Mannes der Wissenschaft über dieses Thema Platz finden. Der bekannte Ampere, ein Großer im Reiche der Physik, sagt: 
„Arbeite im Geiste des Gebets, erforsche die Dinge dieser Welt, das gebietet die Pflicht deines Standes; aber blicke sie nur mit einem Auge an, damit dein anderes Auge beständig durch das ewige Licht gefesselt sei. Höre die Weltweisen, aber höre nur mit einem Ohr, aus dass das andere immer bereit sei, die sanften Töne deines himmlischen Freundes aufzunehmen. Schreibe nur mit einer Hand, mit der anderen halte dich am Kleide Gottes, wie ein Kind sich liebend an den Kleidern seines   Vaters hält. Ohne diese Vorsicht zerbrichst du dir unfehlbar an irgend einem Stein den Kopf. Möchte ich mich immer an das Wort des Paulus erinnern: „Die der Welt Gebrauchenden als ihrer nicht als Eigentum Gebrauchende“ (1.Kor. 7, 81). O dass meine Seele also mit Gott und Jesu Christo vereinigt bleibe!'“
 Doch von dieser kleinen Abschweifung wieder zu unserem Thema. 
 Deshalb „verwundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsset von neuem geboren werden.“ Aus dem widerstrebenden Frager ist ein stiller „Verwunderer“ geworden. Unwiderleglich hat der Meister hinabgeleuchtet auf den Grund seiner Seele. In seinem Inneren muss er schon dem Herrn recht geben, dass ohne eine völlige Umwandlung keiner vor Gott bestehen, zu Gott kommen kann. Wenn es auch nicht gesagt wird, so hat der Herr doch wohl, ohne eine unmittelbare Antwort herauszulocken, ihn diesem stillen Vorgang in seiner Seele für eine Weile überlassen. Er, der Geduldige und Langmütige, sieht den Kampf in seinem Innern, den Kampf zwischen Licht und Finsternis. Er sieht auch die Geneigtheit des Herzens, der mächtig es treffenden Wahrheit zu folgen. Er lässt’s sich nicht verdrießen, ihm diese große, herrliche Wahrheit, die Er mit Seinem „wahrlich, wahrlich, ich sage dir“ so feierlich zweimal ausgesprochen hat, nun zum dritten Male klar und deutlich, und zwar mit dem unbedingten „muss“, zu wiederholen. Ja, das sich Verwundern ist wohl ein erster Anfang — will der Herr sagen — nur bleibe nicht dabei stehen. Suche nicht mit deinem Verstand zu ergrübeln, was doch kein Verstand je ergründen kann. Höre nur auf mein    Wort, öffne dein Ohr, dein Herz der Stimme des Geistes, die die Wahrheit zu dir redet, und nicht nur zu dir, nein: „Ihr müsset“. Also für alle gilt es, mit dir für alle, die mit ihrem „wir wissen“ einmal anfingen, sich zu verwundern, aber sich selbst nicht preisgeben wollten, oder die nur andere meinen anstatt sich selbst. Höre jetzt, denn darauf kommt’s an, aufs Annehmen und Erleben, weniger aufs Belehren und Begreifen. Nicht von unten, nein, nur von oben kann die Wahrheit kommen; aber nun höre, sie ist dir näher, als du glaubst. „Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen, das ist das Wort des Glaubens, welches wir predigen, dass, wenn du mit deinem Munde Jesum als Herrn bekennen und in deinem Herzen glauben wirst, dass Gott Ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst“ (Röm. 10, 8. 9). 

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Fragen aus dem Leserkreise

Bibelstelle(n): 1. Korinther 1,30

Entnommen aus: Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 195

Sind die in 1. Korinther 1, 30 beschriebenen Kostbarkeiten in der Person unseres Herrn uns nur durch das vollbrachten Werk geworden? oder dürfen wir annehmen, dass sie Ihm schon eigen in Verbindungen mit der Erhabenheit Seiner göttlichen Person, also vor dem Werk, nach Sprüche acht und neun? 
Die Stelle lautet: „Aus Ihm (Gott) aber seid Ihr in Christo Jesu, der uns geworden ist Weisheit von Gott (oder von Gott zur Weisheit) und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung. Aus dem einfachen Wortlaut geht also wohl hervor, dass der Apostel nicht von dem redet, was unser Herr von jeher war, sondern was er als Mensch für uns geworden ist. Nachdem er im Vorhergehenden davon gesprochen hat, wie Gott alle Eitelkeit des Fleisches, allen Stolz des Menschen zunichte gemacht hat, „damit sich vor Gott kein Fleisch rühme, geht er jetzt zu dem über, was Gottes Heiligkeit und Gnade, für den Glaubenden in Christo bereitet haben. „Aus Ihm seid Ihr in Christo Jesu.“ Ein wunderbarer Wechsel im Blick auf Natur, Stellung und Beziehungen hat mit uns stattgefunden, und zwar in Christo Jesu, dem Mensch gewordenen Sohne Gottes. Gott ist die Quelle, der Ursprung unseres Seins als neue Menschen, aber er ist es in dem für uns gekreuzigten Christus. Nur im Tode konnte Christus all das Genannte für uns werden. Ohne den Tod wäre Er „allein“ geblieben. Doch betrachten wir die Stelle kurz. Zunächst also: Er ist uns geworden „Weisheit von Gott“. Am Kreuze wurde alles und jedes, Personen und Dinge an seinen wahren Platz gestellt und Gott im Blick auf das Böse, die Sünde gerade so vollkommen verherrlicht, wie es im Leben des Herrn hinsichtlich des Guten geschehen war. Nicht nur hat sich alle menschliche Weisheit als Torheit erwiesen, sondern Gottes Weisheit ist ans Licht getreten und uns in Christo geschenkt worden. Die Tatsache, dass er von Ewigkeit her persönlich die Weisheit war nach Sprüche acht und neun, hat demnach unmittelbar mit unsrer Stelle nichts zu tun. 
Noch mehr ist dies so mit den anderen herrlichen Dingen: Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung. Das Christus der Gerechte, der Heilige und der Erlöser auch vor Seinen vollbrachten Werke war (hier kommt das, was er von Ewigkeit her im Schoße des Vaters war, eigentlich gar nicht in Betracht), wird niemand bezweifeln, aber Er hat sich für uns in all diesen Eigenschaften erst wirklich erwiesen am Kreuze, wo wir in Ihm unsern alten Zustand nach voll und ganz zu Ende gekommen sind, und wo Christus uns zur Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung geworden ist. Gott ist jetzt nur gerecht, wenn Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist. Zugleich ist Christus das Mittel, der Maßstab und das Muster unserer Heiligkeit. Indem wir mit aufgedecktem Angesicht Seine Herrlichkeit anschauen, werden wir verwandelt nach dem selben Bilde (2. Korinther 3,  18). Schließlich haben wir in Ihm, der uns zur „Erlösung“ geworden ist, nicht nur die Vergebung unserer Sünden, sondern sind auch in Ihm, dem Gestorbenen und Auferstanden, heute schon von der Knechtschaft der Sünde befreit und erwarten bei Seiner baldige Ankunft auch die Erlösung unseres Leibes, mit anderen Worten die vollkommene Befreiung von allen Folgen und Wirkungen der Sünde.

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Fragen aus dem Leserkreise

Bibelstelle(n): 

Entnommen aus: Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 196

Sollten nicht Geschwister, die ihren Wohnort wechseln oder auch nur eine andere Versammlung besuchen, einen Empfehlungsbrief mitbringen.
Die Sache erscheint so einfach, dass man kaum versteht, wie die Frage immer wieder erhoben werden kann. Es liegt auf der Hand, dass man da, wo man unbekannt ist eines Empfehlungsbriefes (vergl 2. Korinther 3,1) bedarf, um die Gemeinschaft der Geschwister genießen und vor allem am Tisch des Herrn teilnehmen zu können. Gott ist nicht ein Gott der Unordnung“ (1. Korinther 14,33). Die Einzelnen wie die Versammlungen sollten deshalb mit Ernst auf die Einhaltung dieser Bedingung achten.

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Bruderliebe

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 197ff

„Wenn ich mit den Sprachen der Menschen  und der Engel rede, aber nicht Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz geworden oder eine schallende Zimbel“ (1. Kor. 13, 1.) 
Wenn Gott uns durch Sein Wort und Seinen Geist das Herz aufgeschlossen hat für Seine große Liebe zu uns, und wenn die Liebe zu Ihm, der uns bis in den Tod geliebt hat, nicht nur in Gefühlen und Worten, sondern in Taten bestehen soll, so müssen wir auch das Wort als unumstößlich für uns geschrieben annehmen: „Geliebte, wenn Gott uns also geliebt hat, so sind auch wir schuldig, einander zu lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir einander lieben, so bleibt Gott in uns, und Seine Liebe ist vollendet in uns“ (1. Joh. 4, 11. 12).
Es gibt manchen Prüfstein, ob unsere Liebe zu Gott wahr und aufrichtig ist; aber der sicherste Prüfstein, den uns das Wort Gottes immer wieder vor Augen stellt, der untrügliche Beweis, dass wirklich neues, göttliches Leben in uns wohnt, ist und bleibt die Bruderliebe. Nicht nur dem kleinen Kreise Seiner Jünger, sondern uns allen gilt des Meisters Wort: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebet, auf dass, gleichwie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebet. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Joh. 13, 34. 35; vergl. Kap.15, 17). 
An diesen letzten Willen des geliebten Herrn erinnert der Apostel Johannes die Empfänger seiner Briefe, wenn er sagt: „Dieses Gebot haben wir von Ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe'' (1. Joh. 3, 11; 4, 21). Die Bruderliebe ist etwas so Untrennbares von dem neuen Leben, das ein Mensch in seiner Wiedergeburtsstunde empfängt, dass sie geradezu zum Beweise der Gotteskindschaft wird. Johannes schreibt: „Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben; wer den Bruder nicht liebt, bleibt in dem Tode“ (1.Joh. 3, 14). Und: „Wer da sagt, dass er in dem Lichte sei, und hasst seinen Bruder, ist in der Finsternis bis jetzt. Wer seinen Bruder liebt, bleibt in dem Licht, und kein Ärgernis ist in ihm“ (1. Joh. 2, 9. 10). „Hieran sind offenbar die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels. Jeder, der nicht Gerechtigkeit tut, ist nicht aus Gott, und wer nicht seinen Bruder liebt. Denn dies ist die Botschaft, die ihr von Anfang gehört habt, dass wir einander lieben sollen.“ — „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, so ist er ein Lügner. Denn wer seinen .Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, wie kann der Gott lieben, den er nicht gesehen hat?“ (1. Joh. 8, 10. 11; 4, 20.)"
Vielleicht stehen diese Worte Von Jugend auf in unserem Gedächtnis geschrieben. Aber haben wir immer danach gehandelt? Wir werden wohl alle zu unserer Beschämung bekennen müssen: Nein. Aber kann man denn allezeit und überall diese Bruderliebe betätigen? Nun, gegenüber den angeführten Schriftworten, die kaum einer Auslegung bedürfen, müssen wohl alle Bedenken und Einwände fallen; denn Gottes  Wort fordert nichts Unmögliches von uns, wenn unser natürliches Herz auch immer wieder der Meinung ist, dass es schwer und oft sogar unmöglich sei, so allumfassend und bedingungslos Bruderliebe zu üben. Wir begehen in . diesem Stück wohl gar zu oft den Fehler — und wir erschweren uns dadurch den Gehorsam gegen Gottes Wort —, dass wir zu viel auf Äußerlichkeiten schauen, auf Stand und Beruf, auf Kleidung und Lebensart, Bildung und gesellschaftliche Verhältnisse derer, die doch mit uns verbunden sind durch die Liebe Gottes, die, wie in Röm. 5, 5 geschrieben steht, „ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben worden ist'“. Wie man von den Kindern einer Familie es fordert oder eigentlich als ganz selbstverständlich ansieht, dass sie einander herzlich lieben, so ist es auch eine Naturnotwendigkeit, dass Brüder und Schwestern in Christo sich lieb haben. „Jeder, der da glaubt, dass Jesus der Christus ist, ist aus Gott geboren; und jeder, der Den liebt, welcher geboren hat (nämlich Gott), liebt auch den, der aus Ihm geboren ist“ — nämlich Brüder und Schwestern, die der gleichen Gnade teilhaftig geworden sind. 
Wie schon gesagt, erschweren wir uns dieses Liebhaben vielfach durch unser Schauen auf äußere Umstände. Damit erschweren wir aber auch zugleich den anderen das Uns-Liebhaben. Bin ich abweisend oder weniger freundlich und liebevoll gegen einen Bruder in einfachen Verhältnissen oder mit wenig Bildung, gegen eine Schwester in dienendem Stande, ärmlicher Kleidung usw., ist es dann verwunderlich, wenn ihre Liebe zu mir sich abkühlt, statt dass sie zunimmt, wie es doch nach Gottes Wort und Wille sein sollte? Darf ich mich beklagen, wenn es  in ihrem Herzen oder gar in ihrem Munde dann heißt, ich sei hochmütig und stehe nicht recht zu meinem Gott und Heiland? Die „Wurzeln der Bitterkeit“, die da aufsprießen und hin und her so viel Unfrieden anrichten, auch so manches hoffnungsvolle Pflänzlein ersticken, haben meist wohl ihren Ursprung in diesem Mangel an Bruderliebe. Jakobus schreibt: „Meine Brüder, habet den Glauben unseres Herrn Jesus Christus, des Herrn der Herrlichkeit, nicht mit Ansehen der Person“, und er sagt einige Verse weiter: „Wenn ihr wirklich das königliche Gesetz erfüllet nach der Schrift: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, so tut ihr wohl“. (Jak. 2, 1. 8). 
Wenn wir uns an den Eigentümlichkeiten mancher Geschwister stoßen, bedenken wir dann wohl, dass wir auch unsere Eigenheiten haben, die anderen nicht gefallen und unter denen sie leiden, ohne dass wir es vielleicht wissen und merken?
Wer von uns hätte nicht auch schon Einwände gehört oder selbst gemacht, wie diese: Dieser Bruder oder jene "Schwester ist mir unsympathisch; ihr Reden fällt mit auf die Nerven; ihre Umgangsformen sind so wenig angenehm; ihre Taktlosigkeiten führen allerlei Unannehmlichkeiten herbei; man kann wirklich kaum Verkehr mit ihnen haben usw. usw.? 
Das ,,Darstellen« der Bruderliebe ist heute wie immer nicht leicht. Theorie und Praxis wollen sich nicht leicht in Einklang bringen lassen. Und doch darf ohne Frage auch in diesem Stücke uns nur das als Nichtschnur und als Ziel vor Augen stehen, was Gottes Wort darüber sagt. Je mehr wir aber uns befleißigen, ihm Gehorsam zu leisten und Täter des Wortes zu werden, desto mehr werden wir auch erkennen, dass es nichts Unmögliches von uns verlangt; und je mehr wir wirklich ,,in Liebe gewurzelt und gegründet sind'', um „mit allen Heiligen zu erfassen, welches die Breite und Länge und Tiefe und Höhe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus“ — desto leichter, selbstverständlicher und inniger wird auch das Liebhaben der Brüder werden.
Dass Schwierigkeiten und Hindernisse vorhanden sind, muss zugegeben werden, auch dass die angeführten Einwände und Urteile leider oft ihre Berechtigung haben. Es gibt unter den Geschwistern nicht nur „sonderbare Heilige“, wenn ich diesen Ausdruck einmal gebrauchen darf, sondern auch viele Schwache und Unmündige. Aber wenn wir „Starke“ zu sein glauben, sollen wir die Schwachheiten der Schwachen tragen und „nicht uns selbst gefallen“. (Röm. 15, 1) .Und als „Geistliche“ sind wir berufen, im Geiste der Sanftmut die Irrenden zurechtzubringen und einer des anderen Lasten zu tragen. Auf diesem Wege „erfüllen wir das Gesetz des Christus“ (Gal. 6, 1. 2). 
Um das aber zu können, muss es bei uns selbst ein „Ablegen“ und ein „Anziehen“ geben, nach dem Worte des Apostels in Kol. 3: „Jetzt aber leget auch ihr das alles ab: Zorn, Wut, Bosheit, Lästerung, schändliches Reden aus eurem Munde“, d. h. alle Wirkungen und Äußerungen des ungebrochenen Willens, und: „Ziehet nun an, als Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte: herzliches Erbarmen, Güte, Niedriggesinntheit, Milde, Langmut“, d. h. den Charakter Christi. Nun möchte man sich wohl, dem inneren Drange folgend, immer herzlicher lieben, schätzen und verstehen lernen; indem man dabei aber" auch immer besser die gegenseitigen Fehler und Schwächen kennen lernt, will die herrliche Pflanze der Bruderliebe nicht recht gedeihen. Da ist es denn nötig, bei sich selbst zu beginnen und mit dem Ablegen und Anziehen Ernst zu machen. Ich denke dabei an die Dinge des täglichen Lebens, an unser Reden und Auftreten in der Familie, im Beruf, in der Versammlung, an besondere Veranlagungen und Gewohnheiten und so manches andere auf diesem Gebiet. Gewiss lassen sich nicht alle Menschen gleichmachen. Charakter und Bildungsunterschiede bleiben bestehen, und immer wird es Brüder und Schwestern geben, deren Auftreten und Sichgehenlassen es anderen Geschwistern oft recht schwer macht, sie so zu lieben, wie sie es gern möchten; aber wenn wir zunächst an uns selbst Hand anlegen und das göttliche Schermesser über unser ganzes Fleisch gehen lassen (4. Mose 8, 7), wird es uns leichter werden, dem Gebot unseres Herrn und Heilandes zu folgen. Ein fleißiges üben dieses „Ablegens“ und „Anziehens“ wird dem Wachstum der Liebe zueinander immer besser Raum schaffen. Dazu gehört freilich auch ein demütiges „Sichsagenlassen“ ohne Empfindlichkeit, auch wenn die Vorstellungen nicht immer in feiner und zarter Weise geschehen oder gar von einer Seite kommen sollten, von der wir es am allerwenigsten erwarten und am schlechtesten ertragen können. 
Geschieht das Reden in der Liebe, so wird es . in den meisten Fällen in Dankbarkeit hingenommen und in Taten umgesetzt werden. Warum sollte ich auch nicht dankbar sein dem Bruder oder der Schwester, die mir sagen, dass irgend etwas in meinem Reden und Auftreten, an meiner Kleidung oder in meiner Wohnung Missfallen oder gar Ärgernis erregt? Und ist es nicht viel besser und richtiger, man sagt solche Dinge offen und ehrlich dem anderen, anstatt zu Dritten darüber zu reden? Es gibt keinen besseren Weg zur siegreichen Abwehr des leider auch in Geschwisterkreisen oft noch sehr in Blüte stehenden „Nachredens“, als ein solch offenes, vertrauliches Reden in Demut und Liebe. Die ersten Christen waren mit Fleiß darauf bedacht, einander nicht Ursache zur Klage und zum Ärgernis zu geben. Welch eine Zartheit in der brüderlichen Liebe weht uns entgegen aus den Worten des Apostels: „Wenn eine Speise meinem Bruder Ärgernis gibt, so will ich für immer kein Fleisch essen, damit ich meinem Bruder kein Ärgernis gebe“ (1. Kor. 8, 13); und: „Wenn ein Bruder wegen einer Speise betrübt wird, so wandelst du nicht mehr nach der Liebe“ (Röm. 14, 15). „Also lasst uns nun dem nachstreben, was des Friedens ist, und dem, was zur gegenseitigen Erbauung dient!“ (V. 19). Das Gebiet der Bruderliebe ist so reichhaltig, dass es mit diesen kurzen Ausführungen bei weitem nicht erschöpft ist. Es gehört dazu auch das „Seid gastfrei gegeneinander ohne Murren“, das Sichmitfreuen und das Mitweinen, das „Haltet euch zu den Niedrigen“ und: „in der Demut achte einer den anderen höher als sich selbst“. „In der Bruderliebe seid herzlich gegeneinander, in Ehrerbietung einer dem anderen vorangehend“ (Röm. 12, 10).
Vergessen sei in dieser schweren Zeit auch nicht die brüderliche Liebespflicht an denen, die notleiden und im aufreibenden Kampf um das tägliche Brot stehen. Hier sind große Aufgaben erwachsen, besonders für diejenigen Haushalter Gottes, denen mehr irdische Güter anvertraut sind als anderen. Der Hinweis auf 1. Kor. 9, 14 ist sicher hier auch am Platze. 
Tun wohl alle Brüder und Schwestern in diesem Stück ihre Pflicht? Ist der Opfersinn für das Reich Gottes, für die Verkündigung des Evangeliums und die Verbreitung des Wortes Gottes und guter Schriften auch gestiegen entsprechend den Preisen für alles? Ich fürchte, dass in diesem Punkt nicht alles so steht, wie es stehen sollte. Vergesse darum niemand, gemäß seinem Können und Vermögen zu handeln nach den Worten: „Nehmet teil an den Bedürfnissen der Heiligen“, und: „des Wohltuns aber und Mitteilens vergesset nicht, denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen“ (Röm. 12, 13; Hebr. 13, 16) „Wer aber der Welt Güter hat und sieht seinen Bruder Mangel leiden und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?“ (1. Joh. 3, 17). 
Zum Schluss sei noch auf ein anderes, leider viel verbreitetes Sündigen wider die Bruderliebe hingewiesen. Ich meine, dass man es fehlen lässt an der Liebe zu allen Heilig en, auch wenn sie in einer von Menschen ausgerichteten Umzäunung wohnen. Alle wahren Gläubigen sind derselben Barmherzigkeit teilhaftig geworden wie wir, sind Kinder desselben himmlischen Vaters, Glieder an demselben Leibe, dem Leibe Christi. Können wir auch nicht mit ihnen auf demselben Wege wandeln, nicht das anerkennen, was sie als trennende Schranke aufgerichtet haben, so sollten wir sie doch alle mit gleicher Liebe umfassen. Mit anderen Worten: wir sollten den schmalen  Pfad der Wahrheit gehen mit weitem Herzen, indem wir, soweit es angängig ist, Personen und Sache unterscheiden. „Die Wahrheit festhaltend in Liebe, lasst uns heranwachsen in allem zu Ihm hin, der das Haupt ist, der Christus“ (Eph. 4, 15). 
Zu diesem „allem“ gehört gewiss auch die Bruderliebe. Sie ist wachstumfähig und sollte fortgesetzt zunehmen, entsprechend der Ermahnung des Apostels an die Thessalonicher: „Euch aber mache der Herr völlig und überströmend in der Liebe gegeneinander und gegen alle“. Und: „Ihr selbst seid von Gott gelehrt, einander zu lieben . . . Wir ermahnen euch aber, Brüder, reichlicher zuzunehmen“ (1.Thess.3,12; 4,9.10). Dass die Ermahnung in den Herzen der Thessalonicher eine gute Statt gefunden hatte, geht aus dem zweiten Briefe hervor. Wir lesen dort das lobende Wort: „Wir sind schuldig, Brüder, Gott allezeit für euch zu danken, wie es billig ist, weil euer Glaube überaus wächst und die Liebe jedes einzelnen von euch allen gegeneinander überströmend ist“ (Kap. 1, 3).
Ach, dass das auch heute von uns gesagt werden könnte! Dass solches Lieben oft nicht leicht ist, haben wir gesehen, aber dem Kinde Gottes ist es Freude und Lebensbedingung. In der Verbindung mit dem Vaterherzen droben kann es gar nichts Köstlicheres tun, als die von da empfangenen Liebeskräfte ausstrahlen zu lassen in eine liebeleere und doch so liebehungrige Umgebung. 
„Also nun, wie wir Gelegenheit haben, lasst uns das Gute wirken gegen alle, am meisten aber gegen die Hausgenossen des Glaubens!“ 

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Die Lehre

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 206ff

„Habe acht auf dich selbst und auf die Lehre“ (1. Tim. 4, 16.) 
Zwei Häuser werden in den beiden Briefen des Apostels Paulus an Timotheus erwähnt: „das Haus Gottes“ (1. Tim. 8, 15) und ein „großes Haus“ (2. Tim. 2, 20). Den beiden Bezeichnungen entsprechen auch die Mitteilungen, die durch den Apostel an Timotheus, sein echtes Kind im Glauben, gerichtet sind. Während der erste Brief genaue Anweisungen darüber enthält, wie Timotheus sich Verhalten solle „im Hause Gottes, welches die Versammlung des lebendigen Gottes ist, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“, werden im zweiten Briefe Verhältnisse geschildert, wie sie sich in einem großen Hause, dem Bilde der gesamten bekennenden Christenheit, vorfinden, und der treue Bekenner Jesu wird angewiesen, von aller Ungerechtigkeit abzustehen. Welch ein Wechsel! Im ersten Falle ist die Versammlung (Gemeinde) Gottes als Ganzes noch die treue Zeugin der Wahrheit, ein fester Pfeiler, der die Wahrheit hochhält und keine Lüge und Ungerechtigkeit duldet; im zweiten ist der Verfall schon so weit vorgeschritten, dass nur Gott noch die kennt, die Sein sind, und der Bekenner muss, wenn er anders treu sein will, sich von der Allgemeinheit .absondern und seinen Weg mit denen suchen, die, gleich ihm, den Herrn anrufen möchten aus reinem Herzen. In beiden Fällen wird auf die Zukunft hingewiesen, im ersten Briefe (Kap. 4) auf die „späteren Zeiten“, im zweiten auf die „letzten Tage“ (Kap. 3), worin sich in besonderer Weise der prophetische Charakter der beiden Briefe offenbart. Der durch den Geist geleitete Apostel sah die großen Gefahren, die den Gläubigen drohten, klar voraus und betont deshalb immer wieder die Wichtigkeit der persönlichen Treue und des Festhaltens an der Lehre. Mehr als zwanzigmal kommt in den beiden Briefen das Wort „Lehre“ oder ein ähnliches, begriffsverwandtes Wort vor. Das ist gewiss nicht von ungefähr. 
Doch was versteht man unter „Lehre“? — Man spricht in der bekennenden Christenheit viel von der christlichen Lehre, meint aber damit in der Regel irgend eine größere oder kleinere Anzahl von Dogmen, Lehrsätzen, die von Menschen zusammengestellt und zur Lehre erhoben worden sind, und an dieser Lehre hält man starr fest. Dass man mit der Aufstellung solcher Lehren oder Glaubensbekenntnisse bewusst oder unbewusst die Heilige Schrift beiseite schiebt, bedenkt man nicht. 
Was ist denn nun Lehre? 
Das Wort Gottes, oder der Heilige Geist, der Seine Mitteilungen unstreitig in die einzig guten und richtigen Ausdrücke kleidet, bezeichnet sie als „gesunde Lehre“, (1. Tim. 1, 10; 2. Tim. 4, 8; Tit. 2, 1), als „gute Lehre“, (1. Tim. 4, 6), als „die gesunden Worte unseres Herrn Jesus Christus“ und als „die Lehre, die nach der Gottseligkeit ist“. (1. Tim. 6, 3). Auch wird sie „das Bild gesunder Worte“ und „die Lehre unseres Heiland-Gottes“ genannt. (2. Tim. 1, 13; Tit. 2, 10). Daraus ergibt sich, nicht nur dass die Lehre ihren Ursprung in Gott selbst hat, sondern auch dass Gott ihr in Seinem Wort eine ganz bestimmte Form oder Fassung gegeben hat, so dass Menschen sie nicht erst herauszuziehen und ihr Form und Fassung zu geben brauchen.
Die Lehre ist eines der wichtigsten Elemente im Leben des Christen. „Alle Schrift“, sagt Paulus im 2.Briefe an Timotheus, Kap. 3,16, 17, „ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, auf dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke Völlig geschickt.“ 
Wo irgend wir die Bibel, das Buch der Bücher, aufschlagen, tritt uns Lehre entgegen. Sie macht uns bekannt mit den Gedanken und Ratschlüssen Gottes, sei es in Vorbildern und Schatten, sei es in unmittelbaren Belehrungen über die herrliche Person Jesu und über die Bedeutung und Ausdehnung Seines Erlösungswerkes. Die Bibel lehrt uns, was der Mensch ist, in welch elendem, verdorbenem Zustand er sich Gott gegenüber befindet, und sie lässt uns sehen, wie der große, dreimal heilige Gott sich zu dem verlorenen Sünder herabneigt und als der Gott aller Gnade ihn herauszieht aus der Grube des Verderbens und ihn zu Jesu Herrlichkeit führt. Um die Heilige Schrift selbst reden zu lassen: Gott offenbart uns in Seinem Worte durch den Heiligen Geist, „was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat, denen, die Ihn lieben“. Und Gott will, dass wir „die Dinge kennen, die uns von Ihm geschenkt sind'“. Darum hat Er sie durch Seine Werkzeuge niederschreiben lassen, „nicht in Worten, gelehrt durch menschliche Weisheit, sondern in Worten, gelehrt durch den Geist“ (1. Kor. 2, 6 —13) Alle Schrift ist von Gott eingegeben und muss dem Zweck dienen, dem Gläubigen in allem eine klare Erkenntnis zu vermitteln, „auf dass der Mensch Gottes vollkommen sei“. 
Nun besteht allerdings ein großer Unterschied zwischen dem, was der Gläubige des Alten Bundes dem Worte Gottes als Lehre entnehmen konnte, und dem, was heute für den auf dem Boden der Gnade stehenden Gläubigen als Lehre in Betracht kommt. Sicher ist alle Schrift nütze zur Lehre und dadurch dem Nachfolger Christi gewiss kostbar, aber von ganz besonderer Wichtigkeit ist für ihn das, was „von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen war, jetzt aber den Heiligen offenbart worden ist“ (Kol. 1, 26). Von diesem Geheimnis war selbst den großen Persönlichkeiten des Alten Testaments, einem Abraham, einem Mose, einem David, nichts bekannt. Wohl wussten die Propheten, dass sie nicht für sich selbst, sondern für uns die Dinge bedienten, die uns jetzt verkündigt worden sind, und dass sich die empfangenen Mitteilungen auf eine spätere Zeit bezogen (1. Petr. 1, 12), aber das war zunächst auch alles. Dass Gottes Geist einzelnen Männern, wie einem Abraham, Mose oder David, über das Geoffenbarte hinaus innerlich etwas zu genießen gegeben hat, steht wohl außer allem Zweifel; wie weit das aber ging, entzieht sich unserer Beurteilung.
Es war „den heiligen Aposteln und Propheten“ des Neuen Testamentes, und unter ihnen vor allem dem Apostel Paulus, vorbehalten, die in der Fülle der Zeit geoffenbarten Gedanken Gottes kundzutun. Paulus, der sich selbst einen „Verwalter der Geheimnisse Gottes“ nennt (1. Kor. 4, 1), einen Herold und Apostel und Lehrer der Nationen (1. Tim. 2, 7; 2. Tim. 1, 11), dessen „Verständnis in dem Geheimnis des Christus“ (Eph. 3, 2 —1 2) groß war, hat diese Aufgabe unter der Leitung des Heiligen Geistes auf das Sorgfältigste erfüllt, indem er unter den Nationen ,,den unausforschlichen Reichtum des Christus“ verkündigte und in seinen Briefen niederlegte. So ist das Wort Gottes „Vollendet“ oder auf sein Vollmaß gebracht worden (Kol. 1, 25). Und auf diesem Wege geistlicher Offenbarungen ist das entstanden bzw. uns vermittelt worden, was der Apostel „die Lehre“ nennt.
Wozu soll nun die Lehredienen? 
Man begegnet unter den Gläubigen vielfach der Auffassung, dass die Lehre mitunter zu sehr hervorgehoben und zu stark betont werde, und dass dadurch die in den gegenwärtigen Tagen so besonders wichtige Ermahnung und Ermunterung der Gläubigen zu kurz komme. Dass es so sein kann, sei von vornherein zugegeben. Wir bedürfen nicht nur der Lehre, sondern auch der Ermahnung. Darum heißt es in Röm. 12, 6 — 8: „Da wir aber verschiedene Gnadengaben empfangen haben, . . .es sei Dienst, so lasst uns bleiben im Dienst; es sei der da lehrt, in der Lehre; es sei der da ermahnt, in der Ermahnung usw.“; aber doch baut sich jene Auffassung nicht selten auf einer Unkenntnis bezüglich der Frage auf, was Lehre bedeutet. 
Lehre ist, wie schon erwähnt, eines der wichtigsten; Elemente für das Leben des Glaubens. Ohne die Lehre könnte es kein Wachstum in der geistlichen Erkenntnis, kein wirkliches Erstarken des inneren Menschen geben. Ohne die Lehre würde ein Gläubiger seine Stellung nach Gottes Gedanken nicht erkennen, geschweige denn verwirklichen können. Möchten wir von „dem Gott unseres Herrn Jesus Christus, dem Vater der Herrlichkeit, den Geist der Weisheit und Offenbarung in der Erkenntnis  Seiner selbst empfangen«, so müssen wir begierig sein nach der vernünftigen, unverfälschten Milch des Wortes. Einen gleichgültigen, sorglosen Christen wird Gott nicht an den Augen seines Herzens erleuchten, damit er wisse, „welches die Hoffnung Seiner Berufung ist, und welches der Reichtum der Herrlichkeit Seines Erbes in den Heiligen, und welches die überschwängliche Größe Seiner Kraft an uns, den Glaubenden, nach der Wirksamkeit der Macht Seiner Stärke, in welcher Er gewirkt hat in dem Christus, indem Er Ihn aus den Toten auferweckte“. (Vgl. Eph. 1, 17 — 23). Die wunderbare Einheit der Kinder Gottes als der Leib Christi und die Versammlung (Gemeinde) des lebendigen Gottes wird ihm eine unbekannte Sache bleiben oder doch als etwas Nebensächliches erscheinen. 
Dass wir damit nicht zu viel sagen, beweist die Geschichte der Kirche und ihr gegenwärtiger Zustand. Würde. man der ,,gesunden Lehre« mehr Aufmerksamkeit zugewandt, ihr mehr Wichtigkeit beigelegt haben, so würde sich die Zerrissenheit der Kinder Gottes heute nicht in einer so traurigen Weise zeigen und nicht immer neue Verwirrung und Verirrung Platz greifen. Die heutigen Verhältnisse in der bekennenden Christenheit geben uns in greifbarer Gestalt ein Bild von dem Zustand, den der Apostel Paulus im 2. Timotheusbrief mit prophetischem Seherblick beschreibt. 
Damit verstehen wir auch, warum immer wieder dem Timotheus gesagt wird, dass er neben dem Achthaben auf sein persönliches Verhalten unter allen Umständen die Lehre festhalten solle. Auch die sonstigen Ermahnungen und Verhaltungsmaßregeln werden uns dann verständlich. Wir begreifen, dass wir klare und bestimmte Anweisungen  nötig haben, um uns nach Gottes Gedanken inmitten der allgemeinen Verwirrung verhalten und als „Menschen Gottes“ sichere Tritte tun zu können. 
Gott will nicht nur, dass Seine Kinder in persönlicher Gottesfurcht ihren Weg gehen, wir sollen auch immer völliger zu erfassen vermögen mit allen Heiligen, „welches die Breite und Länge und Tiefe und Höhe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, auf dass wir erfüllt sein mögen zu der ganzen Fülle Gottes“ (Eph.8, 18. 19). Anstatt als „Unmündige“ von jedem Winde der Lehre hin und her geworfen zu werden, sind wir berufen, „die Wahrheit festzuhalten in Liebe“ und so ,,heranzuwachsen zu Ihm hin, der das Haupt ist, der Christus, aus welchem der ganze Leib, wohl zusammengefügt und verbunden, für sich das Wachstum des Leibes bewirkt zu seiner Selbstauferbauung in Liebe'“ (Eph. 4, 15. 16). 
Ach, wenn nur die Gläubigen mehr zu den Füßen Jesu, des großen Lehrers, sitzen und wie einst Maria auf Seine Unterweisungen lauschen möchten! Würden sie nur mehr sinnen über das, was Er uns durch Seine Apostel und Propheten offenbart hat, über „die ganze Wahrheit“, wie sie uns durch den Heiligen Geist mitgeteilt worden ist! Welch gesegnete Ergebnisse, sowohl im Blick auf das praktische Leben als auch hinsichtlich der Erkenntnis und Verwirklichung der Gedanken Gottes über Christum und Seine Versammlung, würden sich zeigen! Die innige Verbindung zwischen dem „Habe acht auf dich selbst und auf die Lehre“ würde besser verstanden und gewiss auch mehr in die Tat umgesetzt werden. Gott helfe uns allen dazu! 
Hand in Hand mit dem Achten auf die Lehre geht das Bleib en in derselben. „Auferzogen durch die Worte des Glaubens und der guten Lehre“, werden wir in dem bleiben, was wir gelernt haben, da auch wir wissen, von wem wir gelernt haben (2. Tim. 3, 14). Wie ernst ist das Wort: „Jeder, der weiter geht und nicht bleibt in der Lehre des Christus, hat Gott nicht“! (2. Joh. 9). Mag es sich an dieser Stelle auch unmittelbar um das Geheimnis der Person Jesu Christi, um das fleischgewordene Wort, handeln, grundsätzlich ist der Gedanke derselbe. O wohin ist man auch in dieser Hinsicht in der Christenheit gekommen! Man scheut sich nicht, die Vollkommenheit Christi als Gott und Mensch in Zweifel zu ziehen. „Lehren der Dämonen“ sind an die Stelle der guten, gesunden Lehre getreten. 
Was wollen wir dem gegenüber tun, geliebter gläubiger Leser? Nicht wahr? „völlig überzeugt von dem, was wir gelernt haben«, wollen wir „festhalten das Bild gesunder Worte“ und so „bewahren das schöne, anvertraute Gut durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt“ (2. Tim. 1, 13. 14). Auf diese Weise werden wir zu solchen, die die Interessen Christi hier wirklich vertreten, die sich befleißigen, sich selbst Gott bewährt darzustellen, die das Wort der Wahrheit recht teilen (2. Tim. 2, 15). Wie wichtig ist gerade heute, wo alle möglichen bösen Lehren verbreitet sind, und immer neue falsche Lehrer auftauchen, deren Wort um sich frisst wie ein Krebs, wo die Menschen im allgemeinen die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern nach ihren eigenen Lüsten sich selbst Lehrer aufhäufen, wie wichtig ist da die Lehre, die nach der Gottseligkeit ist! Wie sorgfältig sollten alle, die  sie und ihren gesegneten Einfluss kennen lernen durften, sie hüten, wie man einen kostbaren Schatz hütet! So von uns beachtet und geschätzt, wird sie uns auch nie als etwas Altes vorkommen. Selbst wenn uns einzelne Teile der Wahrheit zum so und so vielten Male vor Augen geführt werden sollten, werden sie uns nicht ermüden, sondern uns nur neue Veranlassung geben, Gott für all das Herrliche zu danken, das Er uns in Christo geschenkt hat. Die Speise, die uns geboten wird, wird mit Freude von uns aufgenommen werden, und die Erinnerung selbst an längst bekannte Dinge wird dazu dienen, unsere lautere Gesinnung aufzuwecken (2. Petr. 1, 12. 13; 3, 1).

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Nikodemus oder vom „Wissen“ zum „Glauben“

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 214ff

V. 
„Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht; also ist jeder, der aus dem Geiste geboren ist.“ 
Nunmehr lässt der Herr den warmen Hauch Seines Geistes wirken, und in der freundlichen Bildersprache hört man die sanfte Hirtenstimme hindurchtönen. Sieh, sagt diese Stimme, du brauchst gar nicht so weit zu gehen; denke doch nur an das Allernächste, die Luft, die dich umgibt, die du einatmest! Kannst du den Wind verstehen? Kannst du begreifen, wie diese Luft in dich ein- und ausgeht, wie der Mensch in diese Lebensluft hineingeboren wird, von Geburt an in ihr lebt? Als wissenschaftlich gebildeter Mann mochte Nikodemus manches von ihr wissen. Aber in das „woher und wohin“, in den inneren Zusammenhang der verborgenen Ursachen, die letzten Gründe, kann auch der „Wissende“ nicht dringen, hier muss die Vernunft gestehen: „Das ist zu hoch für mich“.
Vielleicht kommt Nikodemus dabei in Erinnerung, wie einst, lange vor ihm, den frommen Dulder Hiob seine Freunde gefragt: „Kannst du die Tiefe Gottes erreichen, oder das Wesen des Allmächtigen ergründen? Himmelhoch sind sie — was kannst du tun? tiefer als der Scheol — was kannst du wissen? länger als die Erde ist ihr Maß und breiter als das Meer“ (Hiob 11, 7 — 9). Und dann tritt auch vielleicht vor seine Seele, was Jehova selbst dem Hiob, dem Abbild des über das Rätsel seines Geplagtseins immer nur Fragen aufwerfenden Menschen, antwortet: „Wer ist es, der den Rat verdunkelt mit Worten ohne Erkenntnis? Gürte doch wie ein Mann deine Lenden; so will ich dich fragen, und du belehre mich!" (Hiob 38, 2. 8). 
So hatte einst Jehova vom Himmel her zu Seinem Knecht Hiob geredet, dem seine Seele unnütz Marternden. Hier steht im Dunkel der Nacht vor einem anderen, mit Fragen gequälten Manne der Sohn Gottes selbst, der Menschgewordene. über des Meisters tiefe Worte ist Nikodemus in heiliges Staunen versunken. Die tiefste aller Fragen sucht der Herr ihm nicht zu erklären, sondern möchte ihm mit dem Allernächsten klar machen, dass man es nicht lernen könne, sondern erleben, erfahren müsse. Auch widerspreche es keineswegs der Vernunft, das Erfahrene deshalb anzuzweifeln, weil man sich selbst nicht klar machen könne, wie es zugehe. 
„Wir wissen“, hatte Nikodemus gesagt. „Du weißt nicht“, sagt der Herr. Aber wir sehen, Er verschmäht es nicht, dem Geist des Forschers in Nikodemus durch Seine freundlich herablassende Belehrung Rechnung zu tragen. 
Wunderbar, wie der Herr aus den Geheimnissen der Natur das allernächst Liegende nimmt, die geheimnisvoll freie Bewegung der umgebenden Lebenslust, im Dunkel der Nacht, in deren Schweigen selbst das leiseste Wehen des Nachtwindes zur Stimme wird! Wunderbar treffend, wie Er diese Stimme zum Abbild des wehenden Geistes, zum Gleichnis Seiner ebenso geheimnisvollen Einwirkung werden lässt! 
„Siehe“ so scheint’s aus der Stimme zu tönen, „wie der Wind dich jetzt leise anweht, wie er kommt und geht aus verborgener Kraft, aus eigenem Wollen scheinbar, wie er geheimnisvoll, unlenkbar, unaufhaltsam, unbegreiflich ist, frei in Bewegung und Ziel, Weg und Wirkung, Stärke und Gewalt — so ist der aus dem Geist Geborene. Wie du die Geburt des Windes nicht begreifst und die eigene natürliche Geburt dir ein Rätsel bleibt, so ist es mit dem Geborenwerden aus dem Geiste.“ 
Jeder, der irgendwie das Wirken des Geistes, Sein sanftes Wehen, verspürt hat, hat auch diese Stimme vor allen sonstigen Stimmen in seinem Innern wahrzunehmen vermocht. Wenn ein Mensch nur still steht und tauscht, wenn er nur seine Aufmerksamkeit zum inneren Hören werden lässt, so wird er sicher die Wirkung des Gehörten in Herz und Gewissen erfahren, als Zeugnis des Geiste: Gottes bestätigt finden. Wie wunderbar und mannigfaltig sind diese Stimmen, die der Geist Gottes an den Menschen richtet! Wie viele Mittel und Wege, Zeugnisse, wunderbare Führungen wendet Er an, um ihn Seinen Hauch spüren zu lassen! 
Durch Liebe sanft und tief gezogen, 
neigt sich mein Alles auch zu dir.''
Freilich ist’s nicht immer so. Die sanften Liebeszüge werden oft überhört. Stolz und ungebrochen setzt mancher Widerstrebende erst seine aufs Verstehen und Begreifen gerichtete Vernunft dem Wirken des Geistes entgegen, und Gott ist dann genötigt, sehr ernst zu reden und den Menschen schmerzliche Wege gehen zu lassen.
Wie manches „für jetzt gehe hin“ oder „in kurzem überredest du mich“ ist seit dem Landpfleger Felix und dem König Agrippa (Apg. 24,25; 26, 28) töricht oder gar mutwillig von solchen ausgesprochen worden, die jenes Wehen deutlich verspürt haben! Die „gelegene Zeit“ sollte wie bei Felix kommen, aber sie kam nicht. 
„Der Wind weht“ -— und Nikodemus hörte, hörte seine Stimme. Aus dem widerstrebenden Meister ist ein lauschender Schüler geworden. Zögernd tastet sich der „Wissende“ hervor aus dem Halbdunkel der Vorurteile und des Wissens in das neue Licht. Die Nebel zerteilen sich. Er spürt die Nähe, die Gegenwart einer wunderbaren Person, lässt die Gewalt Seines Wortes auf sich einwirken. Unter dieser Einwirkung wird er immer kleiner. Dem unerbittlichen „ihr müsset“ hätte er vielleicht noch länger widerstanden, aber die zartflüsternde Stimme des Geistes in dem so naheliegenden Abbild hat eine Saite angerührt, die der Meister aller Stimmen wohl kannte. Sie tönt weiter in seinem Inneren, erst leise, dann stärker, zuletzt alles übertönend. Und der stolze Mann bricht zusammen, die Eisrinde schmilzt, die Bahn wird  frei, er lauscht und lauscht. Und aus dem Lauschenden wird ein Fragender. „Nikodemus antwortete und sprach zu Ihm: Wie kann dies geschehen?“ 
Ein. zweites „wie“ presst sich aus seinem Herzen, — wie verschieden von dem ersten! Freilich mit der aufrichtigen Frage: Wie könnte das mit mir geschehen? — dem persönlichen Bedürfnis: Wie wäre mir wohl zu helfen? — einem Geständnis, oder gar einer unmittelbaren Bitte: Hilf mir! kommt er noch nicht heraus. Das „Wie“ des Gelehrten ist noch kein: „Ihr Herren, was muss ich tun?“ des Kerkermeisters zu Philippi. Es ist ein Schritt auf dem Wege; den weiteren möchte er zuerst erklärt haben. Aber er fragt doch so, wie es ihm ums Herz ist, er will wirklich hören. Und auf solche Fragen, wie sie auch gestellt werden mögen, hat der Herr stets die rechte, passende Antwort und Belehrung. Er hört aus der Frage die leise Bitte heraus, das verborgene Seufzen des „Mühseligen und Beladenen“. 
„Nikodemus hat nun auch weiter nichts zu sagen; er hat ausgefragt, und der Lehrer in Israel ist zum aufmerksamen Schüler geworden. Auf das: „wie kann dies geschehen?“ kann jetzt der Herr das gewaltige Zeugnis ablegen, dessen Gegenstand Er selbst ist, der eingeborene Sohn, aus dem Himmel herabgestiegen, der Sohn des Menschen, der im Himmel ist. Er, des Vaters unaussprechliche Gabe an eine verlorene Sünderwelt, kann nun den wunderbar herrlichen Ratschluss offenbaren, dem tiefgefallenen Menschen ewiges Leben zu schenken. Nicht um ihn wieder zurückzuführen zu der „Ruhe eines verlorenen Erden-Paradieses“, nein, ihn für immer auf einem viel innigeren Grunde, dem des Glaubens, in ein Verhältnis zu sich zu bringen, dessen tiefster Beweggrund in Ihm selbst allein ruht — die Liebe. 
Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du bist der Lehrer Israel, und weißt dieses nicht?“ 
Die unpersönliche Frage des Nikodemus beantwortet der Herr mit dem persönlichen „du“, als wolle Er sagen: Bist du endlich so weit, dich nicht mehr hinter deinem „wir“, hinter deinem stolzen „Wissen“ zu verbergen.? Gestehst du es wirklich ein, dass du es nötig hast, von mir belehrt zu werden? 
Freilich, du, der Lehrer Israels, der andere zu unterweisen berufen ist und sich dafür ausgibt, du solltest es wissen aus dem Gesetz, aus all den Hinweisen, die sich durch das ganze prophetische Wort ziehen wie ein roter Faden. Solltest es wissen aus der ganzen Geschichte und Führung des von Gott erwählten Volkes, aus der wahren Bedeutung des Gesetzes und seiner Vorschriften, aus der Beschneidung und was sie bedeutet!
Wie viele Lehrer gleichen Nikodemus heute, wenn sie auch Doktoren und Professoren der Gottesgelahrtheit sich nennen lassen! über dem Lehren vergessen sie selbst das Lernen, sind blinde Leiter der Blinden. Wie zu Nikodemus müsste es auch zu ihnen heißen: „Du bist ein Lehrer“ — „und weißt nicht?“ — „Habt ihr nicht gelesen?“ — „Steht nicht geschrieben?“ — Und eure Verantwortlichkeit ist umso größer, weil ihr sprechet: „wir wissen“, „wir sind Sehende“. Gerade ihr als Lehrer solltet es wissen, längst davon überzeugt sein, dass kein Mensch das Gesetz in Wahrheit zu halten vermag. Ja, das Gesetz sollte euch längst die Erkenntnis der Sünde, die Anerkennung des hoffnungslosen, verderbten Zustandes des Menschen gebracht und euch zu dem Ausruf geführt haben: „Ich elender Mensch!“ Wer kann mir helfen? wer mich erretten? 
Der Herr hatte also ein Recht, den Nikodemus zu tadeln, nicht nur als Juden oder als Menschen wegen seiner Unwissenheit, sondern insbesondere ihn, den Meister in Israel, wegen seiner sträflichen Versäumnis, als den Lehrer des durch Gesetz und Verheißung unterwiesenen Volkes. Und so weit ist nun Nikodemus, dass er diesen Tadel ertragen, diesen Vorwurf über sich ergehen lassen kann. Er fühlt, dass der Herr berechtigt ist, so zu reden - wer hätte es nicht auch gefühlt? Er fühlt aber auch, dass Er der ist, der ihm helfen kann und helfen will. — „Ja, wer ist ein Lehrer wie Er?“ (Hiob 36,22) Wohl dem Menschen, der sich also zurechtweisen, der sich von Ihm tadeln, ja, strafen lässt, der den Widerspruch der eigenen, argen Natur aufgibt und in demütigem Schweigen lauscht! Wohl auch dem Gläubigen, der zu hören bereit ist, dessen gedemütigtes Herz in Aufrichtigkeit sagen kann: „Rede, Herr, dein Knecht hört“! 

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In Gottes Händen

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 220ff

Leg still in Gottes Hände 
dein sturmbewegtes Herz, 
dass Er zum Frieden wende 
den allertiefsten Schmerz. 
Er hat für viele Wunden 
viel Balsam auch bereit; 
nach dunklen Schmerzensstunden 
gibt Er dir Seligkeit. 
Wie schwer will es uns oft werden, den Wegen des Herrn zu vertrauen, wenn wir sie nicht verstehen! , Unser Herz bäumt sich so leicht auf wider Sein Walten über uns, wenn es nicht nach unseren Gedanken ist, und schmerzliche Prüfungen und Leiden vielleicht lang auf uns liegen. Solche Zeiten benutzt der Feind, um Misstrauen an Gottes Liebe und Macht in unsere Herzen zu säen. Er sagt uns dann (wie einst zu Hiob): „Gib Gott auf! Was nützt es, Ihn anzurufen? Er hört nicht.“ Doch Gottes Gedanken und Wege sind höher als unsere. Wie vermöchten wir sie zu verstehen? Nur im Nachschauen können wir lernen. Aber liegt nicht in Seinen Wegen und in Seinem Tun die Frage für uns: Hast du mich lieb? Vertraust du mir? 
Auch die Jünger verstanden die Wege des. Herrn nicht. Als Er von Seinem Weggang mit ihnen redete, erfüllte Traurigkeit ihr Herz. Obwohl Er ihnen sagte: „Es ist euch nützlich, dass ich weggehe“, verstanden sie Ihn doch nicht. Ihre Erwartungen waren ganz andere, deshalb war ihre Enttäuschung so groß und bitter. Sie hatten um Seinetwillen alles verlassen, und nun ging Er weg! Was wurde jetzt aus ihnen? Sie sahen nur, dass all ihre Hoffnungen und Erwartungen dahin waren. 
 Der Herr will ihre Gedanken von ihnen weg auf die Pläne der Liebe Gottes hinrichten und spricht zu ihnen: „Niemand von euch fragt mich, wo gehst Du hin? sondern weil ich dieses zu euch geredet habe, hat Traurigkeit euer Herz erfüllt. Doch . . . es ist euch nützlich, dass ich weggehe!“ Aber sie sind so mit sich und ihrem Verlust beschäftigt, dass sie kein Verständnis für Ihn haben, kaum auf Seine Worte lauschen. 
 Die leise Mahnung, an Ihn zu denken, wohin Er gehe, was aus Ihm werde, beachteten sie gar nicht. O  was mochte der Herr fühlen, wenn Er so zu ihnen redete! Die Frage: „Wo gehst du hin?“ hätte Ihm vielleicht Gelegenheit gegeben, eine Fülle von göttlichen Gedanken zu offenbaren. So aber entging den Jüngern der Segen. Dass Sein Weggehen ihnen nützlich sein könnte, kam ihnen gar nicht in den Sinn. Dass der augenblickliche Verlust mit ihrer Versöhnung und mit neuen, wunderbaren Segnungen zusammenhing, begriffen sie nicht. Ach! so vieles hätte Er ihnen zu sagen gehabt, aber sie konnten es nicht ertragen.
Was mag Johannes empfunden haben, als er später die Worte des Herrn niederschrieb: „Es ist euch nützlich, dass ich weggehe«! Auch wir verstehen so oft die Wege und Absichten und Ziele Gottes nicht. Wenn aber die Stunde kommt, wo wir Ihm hintennach schauen können, dann werden wir erkennen, dass gerade die Wolke, die wir am meisten fürchteten, den größten Segen für uns enthielt, dass das uns Allerschwerste das Allernützlichste war. 
Gewiss war es ein schwerer Schlag für Jakob, als ihm sein Sohn Joseph entrissen wurde. Er wollte sich nicht trösten lassen und klagte: „Leidtragend werde ich zu meinem Sohne hinabfahren in den Scheol“. Der Weg aber wurde noch schwerer. Hungersnot kam über ihn und die Seinen, Simeon wurde in Ägypten festgehalten, Benjamin wollte man ihm nehmen, so dass seine Seele jammerte: „Dies alles kommt über mich!“ Er meinte, im grauen Haar mit Kummer in den Scheol hinabfahren zu müssen, und wusste nicht, dass das, was ihm so viel Herzeleid bereitete, Gottes Wege waren, um ihn zu segnen. Aber doch kam ein Tag, wo er auf das Tun Gottes zurückschauen und anbeten konnte über der Spitze seines Stabes. Auch er erfuhr, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken. 
Der Dorn im Fleische war für Paulus eine schwere Sache, ein Engel Satans schlug ihn mit Fäusten. Dreimal flehte er zum Herrn, „dass er von ihm abstehen möge“. Er wollte gern loskommen von diesem Druck. Aber die Gedanken Gottes waren andere. Er tat nicht nach Pauli Wunsch. Er nahm den Dorn nicht hinweg, aber Er gab ihm Seine Kraft und lehrte Seinen Knecht, dass .Seine Gnade ihm genüge. Paulus lernte auf diesem Wege, sich seiner Schwachheiten zu rühmen, auf dass die Kraft Christi über ihm wohne und Sein Name verherrlicht werde. 
Später sitzt er im Gefängnis, einsam, getrennt von den Heiligen. Von seiner gesegneten Arbeit abgeschnitten, hört er, wie etliche aus Neid und Streit Christum verkündigen. Es war wahrlich nicht leicht für ihn. Aber aus dem Gefängnis heraus schreibt er: Mag alles sein, wie es will, ich weiß, „dass dies mir zur Seligkeit ausschlagen wird“. Wie wurde von dem Apostel doch sein eigenes Wort verwirklicht, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken! 
Als die Volksmenge unseren Herrn einen Fresser und Weinsäufer schalt und Johannes der Täufer seine Jünger mit der zweifelnden Frage an Ihn sandte: „Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten?'“ da hob Jesus an und sprach: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde . . Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir“. Und als die Häscher mit Schwertern und Stöcken kamen, um Ihn gefangen zu nehmen (die Seinen schliefen !), da nahm Er willig den Kelch aus Seines Vaters Hand und sprach zu Petrus: „Den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?“
Warum haben wir, wenn Prüfungen und Leiden über uns kommen, so wenig Kraft, diese Gesinnung des Herrn zu offenbaren? Warum kommt das: „Ich preise dich! — Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir!“ so wenig aus unseren Herzen heraus? Warum wird es uns so — schwer, gleich dem Apostel Paulus uns unserer Schwachheiten zu rühmen? Liegt die Ursache nicht darin, dass wir zu wenig gelernt haben, unseren eigenen Willen unter Gottes Willen zu beugen? O möchte es mehr das Begehren unserer Herzen sein, bei allem was auch kommen mag, Ihm still zu halten und Vertrauen zu Seiner Liebe zu haben, bis der Tag kommt, an welchem wir zurückschauen und erkennen werden, dass die schwersten Wege für uns die nützlichsten waren, die uns den größten Segen brachten! 
Drum, meine Seele, sei du still 
zu Gott, wie sich’s gebühret, 
Wenn Er dich so, wie Er es will, 
und nicht wie du willst, führet. 
Kommt dann zum Ziel der dunkle Lauf, 
tust du den Mund mit Freuden auf, 
zu loben und zu danken. 
Wir werden uns dann, wie der Dichter weiter sagt, innerlich freuen, wenn wir beim Rückblick uns nicht unseres Kleinglaubens oder gar Unglaubens zu schämen haben, und bald, nach der Zeit des Duldens und Schweigens, in der seligen Ewigkeit laut jubeln Gott zur Ehre. 

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Lobsingst Du mit Christo?

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 225ff

„Inmitten der Versammlung will ich dich loben“ (Psalm 22, 22). 
Durch den Fall des ersten Adam kamen alle Menschen unter das Urteil der Verdammnis. Aber nicht nur das: wir gehören nicht nur zu einer gefallenen, sündigen Welt, sondern wir sind Sünder, und wenn ich hinsichtlich meines Zustandes aufrichtig bin, so werde ich das rückhaltlos anerkennen. ,,Deshalb bist du nicht zu entschuldigen, o Mensch, jeder, der da richtet; denn worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst“ (Röm. 2, 1). Die meisten Menschen erkennen auch verstandesmäßig an: wir sind allzumal Sünder; aber ich muss lernen, dass ich ein Sünder bin, und dass Gott und die Sünde nichts miteinander zu tun haben können. Wie könnten auch Licht und Finsternis Gemeinschaft miteinander haben? 
Der Mensch im Fleische ist verloren. Nicht nur hat er gesündigt, sondern sein ganzer Zustand ist Sünde. Dass es Gnade und Erbarmen für ihn gibt, ist wahr, aber das schließt nicht aus, dass seine ganze Stellung ein völliger Ruin ist. Er befindet sich auch nicht mehr auf dem Boden der Erprobung -das war einmal der Fall. Gott hat den Menschen auf allerlei Weise auf die Probe gestellt; die letzte Probe war das Kommen Christi in diese Welt. Der Mensch hat die Proben nicht bestanden.  
Wir müssen bis zum Ausgangspunkt unserer Geschichte zurückgehen, wenn wir anders sehen wollen, was der Mensch wirklich ist: verloren, — verdorben, ohne Hoffnung  und Hilfe, bis er seine Zuflucht zu Christo nimmt. Dann ist er aber auch völlig errettet. Aus einem Zustand des Verderbens herauskommend, wird er in dem zweiten Menschen, dem letzten Adam, auf einen ganz neuen Platz gestellt. Alles hängt jetzt für ihn von Christo ab. Nachdem einmal das Paradies, die Stätte irdischer Segnung, verloren ist, kann der Mensch nie wieder dahin zurückgelangen, auch der Gläubige nicht; aber er erlangt viel Höheres: denselben Platz der Würde, den Christus als Mensch erworben hat. Unser Paradies, unsere Segensstätte in Christo, ist jetzt der Himmel. Wir besitzen Christum als den Gegenstand unseres Glaubens Ihn, der uns Heil und Rettung gebracht hat. Berufen, daran zu glauben, dass Christus auf dem Kreuze für uns starb, wissen wir, dass wir errettet sind. Gott sagt nicht: vielleicht werdet ihr es einmal werden, nein, Er sagt: ihr seid errettet. „Wer da glaubt, hat ewiges Leben.“
Als Erstes nach dem Fall des Menschen tritt uns das Wort entgegen, dass ein Anderer kommen solle, um den Folgen des Falles zu begegnen: „Der Same des Weibes wird der Schlange den Kopf zermalmen“. Es ist nicht eigentlich eine Verheißung an Adam, sondern eher eine Offenbarung, die er hören und glauben sollte: ein Anderer würde kommen. Wir sagten uns schon, dass Adam, einmal aus dem Garten vertrieben, nie wieder dahin zurückgelangen kann. Es gibt für einen Sünder keine Rückkehr zu dem Stande der Unschuld. Sie ist unmöglich. 
Dann aber kam Christus, der verheißene Weibessame. Dem Abraham gab Gott später die Verheißung, dass in seinem Samen, welcher Christus ist, alle Völker der Erde gesegnet werden sollten. Die Verheißung war bedingungslos, gleichsam eine geordnete, festgestellte Sache, ganz unabhängig von des Menschen Zustand. Die Verheißung ruhte in keiner Weise auf der Verantwortlichkeit des Menschen, sondern war eine Tat Gottes und entsprach Seinen Wegen. Ganz unabhängig von menschlicher Gerechtigkeit sagt Gott: Ich will es tun. Nicht dass Er gleichgültig hinsichtlich der Sünde gewesen wäre; nein, die große Flut beweist, wie Gott über die Sünde dachte und denkt.
Nachdem die Verheißung gegeben war, führte Gott das Gesetz ein, gerade um die Frage der Gerechtigkeit aufzuwerfen und den Menschen mit seiner Verantwortlichkeit bekannt zu machen. Es war nicht, wie heute, „Gnade, die durch Gerechtigkeit herrscht“ (Röm. 5, 21), sondern ein Gesetz, das Gerechtigkeit forderte. Das Gesetz sagt: Hast du alles getan, was Gott von dir fordert? Es gebietet: Liebe Gott mit deinem ganzen Herzen, und deinen Nächsten wie dich selbst! Hast du das getan? Das natürliche Gewissen sagt dir, dass es recht ist, so zu handeln. Auch deine Umgebung sagt dir, dass du so handeln solltest. Aber du bist ohne Kraft, bist außerstande, die gerechten Forderungen des Gesetzes zu erfüllen. Die Frage der Gerechtigkeit ist durch das Gesetz auch nur deshalb erhoben worden, um uns zu zeigen, dass jede Regung unserer Natur Sünde ist. Das Gesetz sagt: Tue das, und du wirst leben; gehorche, und du wirst Segen haben. Aber es lässt den Menschen ohne jede Fähigkeit, seine Forderungen zu erfüllen. 
„Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt, als nur durch Gesetz“ (Röm. 7, 7). Was bedeutet das? Wollte Gott ein Gesetz geben, das der Mensch nicht halten konnte? Was hatte es dann überhaupt für einen Zweck? So fragt und urteilt die Vernunft. Warum wurde das Gesetz gegeben? Wir deuteten es schon an: Auf dass die Sünde überströmend würde. „Ich lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf“ (V. 9). Der Mensch muss zu der Erkenntnis kommen, nicht nur dass er das Gesetz nicht halten kann, sondern auch, dass das Geben des Gesetzes nur dazu dient, die Sünde in ihm anzureizen. Das Gebot weckt in ihm nur die Lust, es zu übertreten. 
Der Apostel, indem er sich einfach als Mensch betrachtet, sagt in Römer 7 weiter: „Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft'“ Das ist schon viel; aber es muss noch weiter kommen, der Mensch ist damit noch nicht an seinem richtigen Platz angelangt. Wir lesen deshalb auch im 15. Verse: „Denn was ich vollbringe, erkenne (od. billige) ich nicht; denn nicht was ich will, das tue ich, sondern —und nun kommt das Schlimmste — was ich hasse, das übe ich aus“. Soweit muss es kommen. Wir müssen erkennen, dass wir ohne jede Kraft sind, das Gute zu tun und das Böse zu lassen, und dass das Gesetz uns nicht helfen kann; aber ach! wie langsam sind wir im Lernen dieser Lektion! Sie ist so demütigend für uns. 
Gott hat niemals daran gedacht, einen Menschen durch das Gesetz zu retten. Das Gesetz wurde zwischen der Verheißung und ihrer Erfüllung in Christo eingefügt, um völlig ans Licht zu bringen, was im Herzen des Menschen war. Es hat dieselbe Wirkung bei uns, den Gläubigen, obwohl wir die Gnade kennen gelernt haben. Wenn  wir uns unter Gesetz stellen, so zeigt es uns unsern ganzen erbarmungswürdigen Zustand, aber ohne uns irgendwie Hilfe zu bringen. Das Ende alles Kämpfens und Ringens ist der Ausruf: „Ich elender Mensch! wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?“ (V. 24.) Ich liege, wenn ich das Bild gebrauchen darf, ganz ermattet im Straßengraben und kann nur noch verzweifelt um Hilfe rufen. Es ist zu Ende mit mir, ich vermag mich nicht mehr aufzurichten. Wohin soll ich mich wenden? Auf wen mein Auge richten?“
Jetzt bin ich zu dem Punkte gekommen, wo Gott mich haben will, und wohin ich kommen musste. Die Antwort auf meinen Verzweiflungsschrei lautet: „Ich danke Gott durch Jesum Christum“ Fortan handelt es sich nicht mehr um mich, sondern um einen anderen. Es heißt nicht länger: Was soll ich tun? sondern: was hat ein anderer für mich getan? Hätte das Gesetz Leben geben können, so wäre der Tod des Herrn nicht notwendig gewesen. Aber das Erste, was Israel tat, nachdem Gott das Gesetz gegeben hatte, war die Aufstellung und Anbetung des goldenen Kalbes. So ist der Mensch. Er hat in jeder Beziehung unter dem Gesetz gefehlt. Aber dann kam Christus — nicht wieder eine Verheißung, sondern Er selbst, das Ja und das Amen aller Verheißungen Gottes.
Als Christus nun kam, musste noch eine andere traurige Sache ans Licht gestellt werden, die nämlich, dass der Wille des Menschen durch und durch böse ist. Hätte es sich nur um eine Machtfrage gehandelt, so wäre in Christo ja Macht für alles vorhanden gewesen. Er hätte Satans Macht zerbrechen, den „Starken“ binden, die Türen des Gefängnisses öffnen und die Gefangenen freilassen können. Aber noch eine andere furchtbare Wahrheit musste sich enthüllen, eine Wahrheit, wie sie in folgenden Stellen zum Ausdruck kommt: „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft wider Gott“.- „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche.“ — „Er war verachtet und verlassen von den Menschen.“ 
Damit sind wir am Ende der Geschichte des Menschen angelangt. Ohne Gesetz war er gesetzlos, unter Gesetz empörte er sich gegen Gott. Dann sandte Gott Seinen Sohn, indem Er sprach: Gewiss, vor meinem Sohne werden sie sich scheuen. Aber der Mensch tötete den Herrn der Herrlichkeit, schlug Ihn ans Kreuz. Und nun, mein Leser, prüfe dein Herz. War das nicht dein Zustand? Und ist er es nicht noch heute, wenn du dich in deiner Stellung im ersten Adam betrachtest? Manche meinen, sie müssten gerecht sein vor Gott, und das ist gewiss so; aber sie wollen so schwer lernen, dass sie völlig unvermögend sind, Gerechtigkeit zu erwirken, dass Hilfe von einer anderen Seite kommen muss. 
Es gibt zwei Gesichtspunkte, von welchen aus man die Leiden Christi betrachten kann; sie haben einen doppelten Charakter. Die eine Art der Leiden kam um der Gerechtigkeit willen über Ihn und führt Gericht für den Menschen herbei; die andere traf Ihn um der Sünde willen und bringt Segen. Im 22. Psalm leidet Christus von Seiten Gottes für die Sünde, darum endet er in lauter Segnungen. Im 69. Psalm leidet Er von Seiten der Menschen, und Gericht über Gericht wird auf die Feinde herabgerufen. Im ersten Falle erblicken wir Gottes Herz, wie es Seine Freude am Segnen findet; im zweiten Gottes Rache an denen, die Seinen Geliebten ohne Ursache verfolgt haben. 
In den Leiden von Seiten des Menschen zeigt sich, was der Mensch ist Gott gegenüber, „offenbart im Fleische“. Christus litt von den Händen der Menschen um Seiner Gerechtigkeit willen. „Deinetwegen trage ich Hohn, hat Schande bedeckt mein Antlitz . . . Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen“ (Ps. 69, 7. 9). In allen diesen Leiden ist es unser Vorrecht, mit Ihm leiden zu dürfen; aber ach! wie wenig verwirklichen wir es! Der Apostel Paulus verlangte innig nach der Gemeinschaft Seiner Leiden (Phil. 3, 10).
Was die Menschen betrifft, so bringt jeder Schmerz, jedes Leid, das sie dem Herrn angetan haben, Gericht über sie. Schon in Psalm 21 begegnen wir dieser Wahrheit. Wir lesen da: „Deine Hand wird finden alle deine Feinde, finden wird deine Rechte deine Hasser. Wie einen Feuerofen wirst du sie machen zur Zeit deiner Gegenwart usw.“ (V. 8. 9). Christus sitzt jetzt in einer wartenden Stellung zur Rechten Gottes, Er harrt des Augenblicks, da Er Rache nehmen wird an Seinen Feinden, die Ihn mit ruchlosen Händen ans Kreuz geschlagen haben. Sie alle werden bald zerschmettert zu Seinen Füßen liegen. 
Psalm 22 behandelt eine ganz andere Seite der Wahrheit. Obwohl auch dort die Leiden von den Händen der Menschen nicht fehlen, denn der Herr ruft: „Viele Farren haben mich umgeben, Stiere von Basan mich umringt . . . Hunde haben mich umgeben, eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt“, finden wir hier doch eine ganz andere Art von Leiden. Der Schrei, der den ganzen Psalm einleitet und ihm sein Gepräge gibt, lautet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und: „Mein Gott! ich rufe des Tages, und du antwortest nicht, und des Nachts, und mir wird keine Ruhe . . . Sei nicht fern von mir! denn Drangsal ist nahe, denn kein Helfer ist da“ (V. 1. 2. 11). In allen Leiden des Herrn seitens der Menschen war Gottes Angesicht auf Ihn gerichtet, der Genuss der Gemeinschaft war ungetrübt; aber die Stunde kam, wo dieses Angesicht sich von Ihm abwenden musste. Und warum abwenden musste? Verließ Gott den Geliebten etwa um Seiner Gerechtigkeit, Heiligkeit oder Liebe willen? Wahrlich nicht! Nein, „Er war zur Sünde gemacht“. In Seinen Leiden um der Gerechtigkeit willen stand Er als Gottes Stellvertreter vor den Menschen; in Seinen Leiden für die Sünde vertrat Er den Menschen vor Gott, und hierbei wurde Er von allen verlassen. Der Mensch floh, Gott verbarg Sein Angesicht. Als Er den Kelch des Zornes trank, war Er ganz allein; und diese Leiden, mein lieber Leser, trugen Segen, nichts als Segen für dich ein. 
Sollte der Mensch errettet werden, so musste Christus an seiner Stelle vor Gott stehen, und wenn das geschah, so musste Gott Ihn verlassen. Nur so konnte der sündige Mensch erlöst und die Sünde hinweggetan werden. Das lässt uns auch den Ruf verstehen: „Vater, rette mich aus dieser Stunde!“ (Joh. 12, 27). So unsäglich groß und schwer die Leiden von seiten der Menschen auch waren, hätten sie Ihm doch niemals diesen Ruf ausgepresst. Nein, es war das Leiden von Seiten Gottes für den Menschen, das vor Seiner Seele stand, und dieses Leiden führte nur Gnade, Frieden und Segnung herbei. Der Glaubende wird befreit, die Sünde für immer getilgt. Mit Christo gekreuzigt, mit Ihm gestorben, sind wir auf immerdar dem Zorn entrückt. Die Macht Satans ist gebrochen. Der Glaubende ist in Christo am Kreuze ein für allemal dem heiligen Gott begegnet. — Kennst du etwas von dieser Begegnung, mein Leser? 
Christus musste auf den „Hörnern der Büffel“ sein (V. 21), wenn Er des Menschen Stellvertreter vor Gott sein sollte. Welch eine ergreifende bildliche Sprache! Des Menschen Herz war in Feindschaft wider Gott, und diesen Menschen musste Christus an der Stätte des Gerichts vertreten. So hören wir Ihn denn auch rufen: „Rette mich aus dem Rachen des Löwen!“ Und, Gott sei ewig gepriesen! als Er auf die andere Seite des Todes gekommen war, konnte Er sagen: „Ja, du hast mich erhört“. Das Werk war vollbracht. Alles was dem Menschen entgegenstand, war in Ordnung gebracht. Jesus trug den Zorn Gottes, trank den bitteren Kelch, erduldete das Kreuz, und als der Speer des Kriegsknechts Seine Seite durchbohrte, da flossen Gnade, Friede und Segen aus ihr hervor. 
Das Evangelium kann nun überallhin getragen werden. Gottes Gerechtigkeit ist befriedigt. Alle Seine Forderungen sind erfüllt, und Er ist jetzt nur gerecht, wenn Er vergibt und „den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist“. Die göttliche Gerechtigkeit hat keine Forderungen mehr. Christus hatte einmal die Sünde auf sich, aber in diesem Zustand ist Er nicht mehr. „Er ist ein für allemal der Sünde gestorben, und was Er jetzt lebt, lebt Er Gott“ (Röm. 6, 10.) Als Er gen Himmel fuhr, hat Er die Sünde nicht mit hinaufgenommen. Er sitzt jetzt zur Rechten Gottes als Der, welcher Gott im Blick auf die Sünde vollkommen verherrlicht hat. Er hat ein zwiefaches Recht auf diesen Platz: einmal weil Er der Sohn Gottes ist, zweitens weil Er als Menschensohn Gottes Werk vollbracht hat. Gottes Gerechtigkeit hat Ihm den Platz „zur Rechten der Majestät in der Höhe“ gegeben; und wo Er ist, da ist mein Platz. Er, der meine unveränderliche Gerechtigkeit ist, befindet sich im Himmel, und darum ist dort auch mein Platz für immer und ewig. In unmittelbarer Verbindung mit den Worten: „Du hast mich erhört“, stehen die anderen: „Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern“ (V. 22). Als Christus aus den Toten auferstanden war, verkündigte Er Gottes neuen Namen: den Gott, der die Toten auferweckt. Als Er der Maria Magdalena begegnete, sprach Er zu ihr: „Gehe hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, und zu meinem Gott und eurem Gott“ (Joh. 20, 17). Nie vorher hatte Er die Jünger „Brüder“ genannt. Auch sagt Er: „Rühre mich nicht an“, Maria! — Sieh, ich stehe jetzt nicht im Begriff, das Reich aufzurichten; das werde ich später tun. Jetzt bin ich gekommen, um Gottes neuen Namen kundzutun. Er ist der Gott der Auferstehung und mein Gott und euer Gott. Ich habe eure Sünden auf mich genommen, und ihr habt jetzt denselben Platz vor Gott wie ich.
O wie vollkommen ist Sein Werk vollbracht! Es hat Ihm nicht nur das Recht gegeben, in Gottes Gegenwart zur Rechten der Majestät zu sitzen, sondern Er kann jetzt   auch kraft desselben Seine Brüder dort mit sich vereinigen. Wo Er ist, da bist du; was Er hat, hast du.
Aber das ist noch nicht alles. Wir hören weiter: „Inmitten der Versammlung will ich dich loben“. Nachdem Christus den neuen Namen Gottes verkündigt hat, kann Er nur loben, nichts anderes tun als loben. Er will den Lobgesang in der Versammlung anleiten, und wir sollen Ihm darin folgen, Ihn begleiten. „Von dir kommt mein Lobgesang.“ (V. 25.) Er will Loblieder singen, und Er will es mit uns tun. Inmitten der Versammlung lobt Er, ja, schließlich in der „großen“ Versammlung. Er verbindet Seine geliebte Braut mit sich in all Seiner Herrlichkeit -— Seine Gottheit selbstverständlich ausgenommen. Er schmückt sie mit all den Segnungen, die Sein vollendetes Werk erwirkt hat, und will — wir dürfen es wohl sagen — nicht ohne sie glücklich sein im Himmel.
Kennst du, mein Leser, ein wenig von der Liebe, die Gott zu Christo hat? Wenn es so ist, so bedenke: Gr hat dieselbe Liebe zu dir. In Seiner letzten Unterredung mit dem Vater gibt unser hochgelobter Herr zwei Gründe an, weshalb Er uns im Himmel haben will, zunächst: »auf dass sie meine Herrlichkeit schauen'', und dann: „auf dass die Welt erkenne, dass du mich gesandt und sie geliebt hast, gleichwie du mich geliebt hast“. Glaubst du das? Wenn du es nicht glaubst, so bist du ungläubig, und der Herr sagt zu Thomas: „Sei nicht ungläubig, sondern gläubig“.. 
Gott liebt dich, wie Er Christum liebt. Wenn du ein Gläubiger bist, so darfst du das sagen. Er hat Gott vollkommen verherrlicht, als Er deinen Platz einnahm. Die Übertragung ist wahr, wirklich. Er hat gelitten, und wir sind errettet, nicht auf Grund unserer Verantwortlichkeit, unseres Tuns, sondern durch Sein Werk. Er hat uns aus dem Graben, in dem wir lagen, herausgeholt, und nun ist alles Gericht beendet. Wer könnte uns noch richten? Kann Christus sich selbst richten? Wird Er die richten, die Sein sind, oder Sein eigenes Werk Verdammen? Wenn Er einmal zu Gericht sitzen wird, werden wir rund um Ihn her auf Thronen sitzen. Und wenn Er die Sache Seines irdischen Volkes, Israel, wieder in die Hand nimmt, werden wir mit Ihm herrschen. 
„Die Sanftmütigen werden essen und satt werden“ (V. 26). Für die, welche Christum gefunden haben, gibt es nur noch Segnungen. Glücklich darum ein jeder, der Ihn gefunden hat! Es ist ein kostbares Ding, wenn ein Mensch sucht, aber kostbarer, viel kostbarer ist es, Jesum gefunden zu haben und nun in Seiner Liebe zu ruhen. „Es werden Jehova loben, die Ihn suchen.“ Aber solang man Ihn noch nicht gefunden hat, kann man nicht loben; und man kann Ihn gefunden haben und doch im Lobe lässig sein oder ermüden. Gott bewahre uns davor! 
„Es werden eingedenk werden und zu Jehova umkehren alle Enden der Erde“ (V. 27). Christus ist nicht damit zufrieden, Seine Versammlung (Gemeinde) bei sich zu haben und Israel an dem für den Samen Abrahams bestimmten Platz der Segnung zu sehen, Er muss auch die ganze Herrlichkeit des Tausendjährigen Reiches einführen. Er wird sich „aller Geschlechter der Nationen“ annehmen, hoch und niedrig: „es essen und fallen nieder“ alle Fetten der Erde; vor Ihm werden sich beugen alle, die in den Staub hinabfahren“ (V. 29). Ja, alle  Erlösten werden in den Lobgesang einstimmen: „Er hat es getan!“ (V. 31). So wird unser geliebter Herr „von der Mühsal Seiner Seele Frucht sehen und sich sättigen“ (Jes. 58, 11). 
So ist für uns denn nichts anderes als Gnade übriggeblieben. Das Gericht hat Christus aus sich genommen. Er sagte einmal zu Seinen Jüngern: „Ich habe eine Taufe, womit ich getauft werden muss, und wie bin ich beengt, bis sie vollbracht ist!“ (Luk. 12, 50). Er konnte Gottes neuen Namen nicht verkündigen, solang Er nicht durch den Tod gegangen war. Leben, Liebe, Licht — alles fließt uns zu aus dem Grabe Christi. Vor der Auferstehung konnte Er nicht sagen: „Mein Vater und euer Vater“. Ja, der auferstandene Christus ist der Kern und Mittelpunkt des Evangeliums. „Wenn Christus nicht auferweckt ist, so ist euer Glaube eitel; ihr seid noch in euren" Sünden“ (1. Kor. 15, 17). 
Hast du das gut verstanden, mein lieber gläubiger Leser? Hat dein Herz Ruhe gefunden in deinem auferstandenen Heilande? Und stimmst du nun froh ein in den Lobgesang inmitten der Versammlung? Hast du einen Anspruch an und freust du dich auf das Lob in der „großen Versammlung“? Dein Heiland ist nicht nur gekommen, um deine Sünden hinwegzutun, sondern auch um die Sünde im Fleische zu verurteilen. O möchtest du die so notwendige Lektion gelernt haben, dass das Fleisch unverbesserlich böse ist! Möchte man es auch bis in den dritten Himmel erheben, die einzige Folge wäre nur Stolz und Überhebung. 
Gott sei Dank, dass wir mit dem Apostel sagen können: „Ich bin mit Christo gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“! (Gal. 2, 20). Und ferner, dass wir nun als solche, deren Füße auf den Felsen gestellt und deren Schritte befestigt sind, mit Christo einstimmen können in das Lob Gottes! „In meinen Mund hat Er gelegt ein neues Lied, einen Lobgesang unserem Gott“ (Psalm 40, 2. 3). 
Ich schließe mit der Frage, welche die Überschrift unserer Betrachtung bildet: 
Lobsingst du mit Christo? 

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Die Wahl Lots

Bibelstelle: 1. Mose 19

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 238ff

Die Charaktere Lots und Abrahams in ihrer Gegensätzlichkeit sind schon oft mit Nutzen betrachtet worden. Sie bieten uns viel ernste und ermunternde Belehrung. Beide Männer waren Heilige Gottes, aber wie verschieden war ihr Wandel, ihr Verhalten! Wie verschieden waren dementsprechend auch ihre persönlichen Erfahrungen im Blick aus Friede, Freude und Nähe zu Gott! Und diese Verschiedenheit wird sich immer zeigen zwischen einem weltlich gesinnten Gläubigen und einem durch Gottes Gnade aufrichtigen Manne. Ein „Gerechter“, in dem schriftgemäßen Sinne des Ausdrucks, quälte Lot doch „Tag für Tag seine gerechte Seele mit ihren gesetzlosen Werken“ (2. Petrus 2, 8). Abraham dagegen wandelte vor Gott. Der Herr kann in Seiner Gnade Seinem Volke gegenüber nicht anders als treu sein, aber Er unterscheidet in ihrem Wandel das, was aus Glauben und das, was nicht aus Glauben ist; und Lots Prüfungen waren nichts anderes als die Folgen seines Unglaubens. In seinem ganzen Verhalten von Anfang bis zu Ende seines Weges tritt ein Zug besonders scharf hervor, nämlich eine große Unsicherheit und Unklarheit bezüglich seines Pfades sowie des Urteils Gottes. Und warum war das so? Weil er die Sicherheit in geistlichem Sinne nicht verwirklichte, die ihn befähigt haben würde, stracks vor sich hin zu wandeln, während er in Dingen, die mit dieser Welt in Verbindung standen, ohne Zögern Entschlüsse zu fassen wusste. Genau so ergeht es uns heute, wenn wir nicht Christum von Herzen als unser Teil gewonnen haben. Das Leben Abrahams war ein durch und durch glückliches Leben — er besaß Gott als sein Teil.
Es ist schon wiederholt darauf hingedeutet worden, dass Lot auf dem Glaubenswege mehr ein Gefährte derer war, die Glauben besaßen, als dass er selbst Glauben gehabt und in der Kraft desselben gehandelt hätte. Das kennzeichnet seinen Pfad von Anfang an. Wenn er deshalb auf die Probe gestellt wird, zeigt sich nichts als Schwäche. Geht’s uns nicht auch oft so? Handeln wir nicht in vielen Dingen so, wie wir andere handeln sehen, ohne persönlich deren Glauben zu haben? So war es auch mit den Jüngern des Herrn; darum, sobald die Probe kam, versagten sie. Solang eine Seele in dem Licht einer anderen wandelt (wenn ich mich so ausdrücken darf), wird sie der Sichtung nicht gewachsen sein. 
Gottes persönliche Berufung Abrahams begegnete bei ihm anfänglich einer Art von Unglaube, ähnlich wie bei dem Manne, der auf des Herrn Aufforderung: „Folge mir nach“ antwortete: „Herr, erlaube mir zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben“ (Luk. 9, 59). Er bricht auf aus Ur in Chaldäa, aber er nimmt Tarah, seinen Vater, mit und geht und wohnt in Haran — unmöglich hätte er Tarah nach Kanaan mitnehmen können. Gott hatte nicht Tarah, sondern Abraham berufen, und Abraham verließ alles, außer Tarah. Mit anderen Worten: er versuchte etwas mitzunehmen, was nicht von Gott war, und das ging nicht. Erst nach dem Tode Tarahs zog er nach Kanaan, wohin Gott ihn berufen hatte (Vgl. 1. Mose 11, 31. 32; 12, 1 u. Apg. 7, 4). „Und Abraham ging hin, wie Jehova zu ihm geredet hatte, und Lot ging mit ihm . . . und sie zogen aus, um in das Land Kanaan zu gehen; und sie kamen in das Land Kanaan.“ 
Lot war, wie, gesagt, ein gläubiger Mann, aber er schlägt den neuen Pfad ein als Abrahams Gefährte. Er steht, was seine tatsächliche Stellung betrifft, auf Seiten Abrahams; er ist ein „Gerechter“, ein Heiliger Gottes, aber wir sehen ihn später die krummen, gewundenen Wege menschlicher Politik gehen. 
Gott segnet beide Männer so, dass das Land es „nicht mehr ertrug, dass sie beieinander wohnten“ (Kap. 13). Sie haben Rinder und Kleinviehherden, Kamele und Esel in Menge. Schließlich wird der Raum für beide zu eng, und sie müssen sich trennen. Umstände, welcher Art sie auch sein mögen (hier sind es Gottes Segnungen), stellen diese Notwendigkeit früher oder später ans Licht. 
Beide Männer waren offenbar „Fremdlinge“ im Lande Kanaan; denn „die Kanaaniter und die Perisiter“ wohnten damals im Lande“. Sie besaßen nicht so viel Boden, dass sie ihre Fußsohle hätten darauf setzen können. 
Alles hing für sie von der Frage ab, wie hoch sie die Verheißung Gottes einschätzten. Was sie außer ihrem Vieh besaßen, waren nur zwei Dinge: ein Altar und ein Zelt. Als Fremdlinge und Pilgrime auf Erden wanderten sie Von Ort zu Ort und beteten Gott an. Abraham bekannte offen, dass er ein solcher Fremdling und Pilgrim sei; er „zeigte deutlich, dass er ein Vaterland suchte“, und deshalb schämte sich Gott seiner nicht, sein Gott genannt zu werden (Hebr. 11, 14 - 16). Niemals wird Gott „der Gott Lots“ genannt. Abrahams Bewusstsein von seiner Fremdlingschaft beeinflusste seinen ganzen Geist und Charakter. *) 
Infolge der Unzulänglichkeit der Weiden geraten die Hirten der beiden Männer in Streit. Die Trennung wird unvermeidlich, und Abraham sagt: ,,Ist nicht das ganze Land vor dir?'' Nimm doch, was du willst! Lass uns nur nicht miteinander streiten! Willst du zur Linken, so gehe ich zur Rechten, willst du zur Rechten, so wende ich mich zur Linken. Mein Teil ist die Verheißung. Als ein Fremdling hienieden erwarte ich die Stadt Gottes droben in der Herrlichkeit. Die Stadt, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist, öffnet mir ihre Tore.
Abrahams Herz war auf die Verheißungen Gottes "gerichtet; im Vergleich damit galt ihm alles andere nichts." Es mochte als etwas sehr Törichtes erscheinen, Lot wählen zu lassen, ihm das Recht abzutreten, das ohne Frage Abraham gehörte; aber Abrahams Glaube rechnet nicht mit irdischen Vorteilen oder Nachteilen. 
Wie ganz anders Lot! Er „hebt seine Augen auf“. Es ist schön, wenn Gott uns dazu auffordert, wie es später bei Abraham der Fall war: „Und Jehova sprach zu Abraham, nachdem Lot sich von ihm getrennt hatte: Hebe doch deine Augen auf und schaue von dem Orte, wo du bist, gegen Norden und gegen Süden und gegen Osten und gegen Westen! Denn das ganze Land, das du siehst, dir will ich es geben und deinem Samen auf ewig.“ Lot aber hob seine Augen auf, geleitet von den Wünschen seines natürlichen Herzens, und das Ergebnis seiner Wahl kennen wir: „er sah die ganze Ebene des Jordan, dass sie ganz bewässert war, gleich dem Garten Jehovas“. In der Wahl einer gut bewässerten Ebene gibt es an und für sich nichts Verkehrtes oder Tadelnswertes, aber die Wahl Lots bewies, dass die Verheißungen Gottes keinen Wert für sein Herz hatten. Aus dem Wege der Erfüllung der Absichten und Pläne Gottes auf die Probe gestellt, offenbarte sich sein Charakter. Abrahams Verhalten entsprang einer Glaubenseinfalt, die Gottes Verheißungen erfasste (Hebr. 11, 13) und neben ihnen nichts anderes begehrte und bedurfte.
Der Glaube kann aufgeben, während der Geist einer fleischlichen Gesinnung sagt: Nimm, soviel du irgend kriegen kannst! Lot handelte nach dem gegenwärtigen Gefühl über das, was angenehm und begehrenswert ist. Warum sollte er auch nicht? Was konnte es Schlimmes in der Ebene des Jordan geben?  Hatte Gott sie nicht gemacht? War sie nicht eine Gabe Seiner Vorsehung? So mochte Lot fragen, weil sein Herz nicht auf die Verheißungen gerichtet war. Und dieselben Fragen können heute in ähnlichen Fällen das Herz des Gläubigen bewegen. Aber wie lautet die Antwort? Der Teufel hat Sodom mitten in die Ebene hineingestellt! 
Obwohl Abrahams Gefährte, kann Lot sich doch nicht über die Höhe seines Glaubens erheben. Ja, er wird nur zu bald in den Städten der Ebene wohnen, wenn er die Quellen der Ebene für sich wählt. Es war gewiss nicht von Anfang an seine Absicht, seinen Wohnsitz in Sodom aufzuschlagen, aber er kam Schritt für Schritt dahin. Da war keine Glaubenskraft, die ihn vor der Versuchung hätte bewahren können. Und wo kein Glaube vorhanden ist, der die Seele an die Verheißungen Gottes fesselt, da ist auch kein Glaube, der sie vor der Sünde bewahrt. Eine beachtenswerte Tatsache! Es ist vielleicht nicht gerade Unaufrichtigkeit in der Seele vorhanden, aber wenn sie in solchem Zustande ist und Gott sie auf die Probe stellt, so besteht sie die Probe nicht; sie muss, wie Lot, gerade an dem Ort Unruhe und Trübsal finden, der ihr so anziehend und verlockend erschien. 
Abrahams Pfad wird von Anfang bis zu Ende durch eine innige Vertrautheit mit Gott gekennzeichnet: Gott redet immer wieder mit ihm und besucht ihn. Er kommt zu ihm, um ihm Seine Absichten mitzuteilen, und zwar nicht nur in Bezug auf ihn selbst und sein Teil, sondern auch im Blick auf Sodom und das, was Er mit dieser gottlosen Stadt tun wollte. Gott schenkt ihm Sein ganzes Vertrauen, so dass Abraham der „Freund Gottes“ genannt wird (2. Chron. 20, 7; Jes. 41,8; Jak. 2, 23). Obgleich Abraham mit dem Gericht über Sodom persönlich gar nichts zu tun hatte, teilt Gott ihm doch Seine diesbezüglichen Gedanken mit (Kap. 18). 
So offenbart Gott auch heute Seinem Volke, was Er mit der Welt zu tun im Begriff ist. Obwohl ihre Hoffnung in Verbindung steht mit den Aussichten, die Gott ihnen gegeben, mit Seinen Verheißungen (wie bei Abraham) und mit dem himmlischen Kanaan, zieht Er sie doch ins Vertrauen im Blick auf alles das, was geschehen soll, wenn sie nicht mehr auf dieser Erde sind. 
Lot quält inzwischen seine gerechte Seele mit allem, was er sieht und hört. Wäre er nicht in Sodom gewesen, so würde er von all den schrecklichen Dingen, die dort vorgingen, nichts gesehen und gehört haben. Aber ist ihm irgend Etwas von den Absichten Gottes bekannt? Nicht ein Wort! Er wird errettet, aber so wie durchs Feuer. Obgleich seine Seele gerecht ist, wird sie doch „Tag für Tag“ gequält, statt der friedevollen Gemeinschaft mit Gott, welche die Seele Abrahams genoss. Dass seine Seele gequält wurde, beweist zwar seine richtige Gesinnung, aber er befindet sich vor dem Hereinbrechen des Gerichts mit seiner gequälten Seele in Sodom, während der glückliche Abraham auf dem Berge sich mit Gott unterredet. Und wenn nun das Gericht kommt, wie findet es ihn dann? Wiederum mit gequälter Seele und völlig unvorbereitet für das Gericht, anstatt mit Gott Gemeinschaft zu haben über dasselbe. Wiederum eine ernste Warnung für uns! 
„Der Herr weis; die Gottseligen aus der Versuchung zu retten“, und Er rettete den „gerechten Lot“. Aber wenn Lot seine gerechte Seele mit ihren gesetzlosen Werken quälte, so hatten die Männer der Stadt ein Recht, zu ihm zu sagen: „Warum bist du hier? Was hast du hier überhaupt zu tun? Du tadelst die Sünde und bist  selbst an der Stätte der Sünde!“ Tatsächlich haben sie ja auch gefragt: „Der Eine da ist gekommen, als Fremdling hier zu weilen, und will den Richter machen?“ Sie hatten völlig recht, so zu urteilen. Wenn ein Gläubiger sich mit der Welt verbindet, anstatt gerade durch seine Absonderung von ihr ein Zeugnis für sie zu sein, so hat sein Zeugnis jede Kraft verloren. Da ist Plage des Geistes, aber keine Kraft. Wie ganz anders war es mit Abraham, als er nach Ägypten zog! Es war, wie schon bemerkt, ein Fehler, dass er es tat; indem er es tat, stand er nicht auf der gewohnten Höhe seines Glaubens. Aber sobald er das erkannt hatte, gab es nichts anderes für ihn zu tun, als an die Stätte des Altars zurückzukehren, den er im Anfang gebaut hatte. Lot wollte sich nicht trennen von Sodom. Er wollte ein Zeugnis in Sodom sein, aber er vermochte nicht von ihm loszukommen. Dadurch dass er in die Stadt zog und sich in ihr niederließ, ja, schließlich sogar „in ihrem Tore saß“, hatte er jede Kraft, sich von ihr zu trennen, eingebüßt. Nichts als hilflose Schwachheit war übriggeblieben. Seine Töchter hatten Männer aus der Stadt geheiratet. Er hatte da Verbindungen angeknüpft, wohin sein Unglaube ihn gebracht hatte. O, es ist schwer, viel schwerer, den Pfad aufwärts zurückzufinden, als abwärts zu wandeln. 
So oft es Gott gefällt, Seine Ratschlüsse dem Glauben zu offenbaren, wird der Geist der Fürbitte geweckt. Das Wort, das Jehova einst an den Propheten Jesaja richtete: „Mache das Herz dieses Volkes fett und mache seine Ohren schwer und verklebe seine Augen, damit es mit seinen Augen nicht sehe usw.“, rief sofort ein: „Wie lange, Herr?“ hervor. So unterhandelt auch an unserer Stelle Abraham mit Gott, dass Er doch die böse Stadt verschonen möge. (Aber da waren keine zehn Gerechte in Sodom, nicht einmal einer, außer Lot.) Was seine eigene Stellung betrifft, so schaut Abraham von der Höhe auf die Stätte des Gerichts herab, an welcher sich sein armer Neffe befindet. Und am Morgen, wenn die Städte in Flammen stehen, weilt er in Ruhe und Frieden „an dem Ort, wo er vor Jehova gestanden hatte“, gewiss in feierlich-ernster Stimmung angesichts des furchtbaren Schauspiels zu seinen Füßen, aber doch ruhig und glücklich bei dem Herrn.
Der Herr sendet Lot „mitten aus der Umkehrung“. Engel warnen ihn, und der Glaube lässt ihn auf ihre Stimme lauschen. Aber sein Herz ist und bleibt in Sodom. Da sind, wie gesagt, Verbindungen, die ihn an die Stadt knüpfen, und er möchte sie gern mitnehmen. Aber man kann nichts aus Sodom mitnehmen für Gott, alles muss dahinten bleiben. Da wo das Fleisch sein Vergnügen findet, muss der Herr mit Schmerz und Kummer einsetzen; oder, wie ein anderer es ein wenig derb, aber wahr, ausgedrückt hat: ,,Das Fleisch muss auf dem Feuer braten, das es sich selbst anzündet“. 
„Und als er zögerte.“ Sollte man es für möglich halten, dass Lot an der Stätte des Gerichts, nachdem dieses als unmittelbar bevorstehend angekündigt war, noch zögern konnte? Hätte er die schuldige Stadt nicht stehenden Fußes verlassen sollen? Aber so ist es: die Stätte, der Weg und der Geist des Unglaubens entnerven das Herz. „Und als er zögerte, ergriffen die Männer seine Hand und die Hand seines Weibes und die Hand seiner zwei Töchter, weil Jehova sich seiner erbarmte, und führten ihn hinaus und ließen ihn außerhalb der Stadt.“ Und dann heißt es zu ihm: „Rette dich um deines Lebens willen; sieh nicht hinter dich und bleibe nicht stehen in der ganzen Ebene; rette dich auf das Gebirge, damit du nicht weggerafft werdest!“ (V. 16. 17). Ach, all seine reiche Habe, die Schafe und Ziegen, das viele Vieh — alles musste er zurücklassen. 
Wenn des Herrn Treue sich in der Rettung Lots offenbarte, so zeigte sie sich nicht weniger darin, dass Er alle die Bande zerriss, welche ihn an Sodom knüpften. Lot ist völlig zerschmettert. In seiner Not und Herzensangst sagt er zu den Engeln: „Nicht doch, Herr! . . . Ich kann mich nicht auf das Gebirge retten, es möchte mich das Unglück erhaschen, dass ich stürbe.“ Er hat die Ruhe und die Sicherheit, die der Pfad des Glaubens der Seele verleiht, völlig verloren. Das ist stets die Folge bei einem Gläubigen, wenn er den Weg des Unglaubens betreten hat: er hält den Pfad des Glaubens für den gefährlichsten in der Welt. Lot hatte sich an die Ebene gewöhnt, und der Berg, auf welchem Abraham vollkommene Ruhe und tiefen Frieden genoss, war eben ein Berg. 
Dennoch verschont Gott das Städtchen Zoar um Lots willen, und Lot flieht dahin. Schließlich aber, als das Gericht vor seinen Augen sich vollzogen hat, zieht er von Zoar hinauf und wohnt im Gebirge. So wurde er am Ende doch gezwungen, dort seine Zuflucht zu suchen. 
Ich brauche nicht zu sagen, dass dies ein ganz außergewöhnlicher Fall ist; aber wir werden ihn immer wieder, wenn auch in geringerem Grade, bewahrheitet finden. Abraham konnte aufgeben. Dieses Opfer steht immer mit dem Glauben im Zusammenhang; aber wenn ein Gläubiger den Boden des Unglaubens betritt, sind Prüfungen für ihn unausbleiblich, denn er ist ein Gläubiger, aber an einem Platze, wohin er nicht gehört. Lot, der „Gerechte“, hatte nichts als Unruhe und Plage des Geistes, weil er sich an einem Ort aufhielt, wo eine gerechte Seele nicht weilen sollte. Beachten wir seine Unsicherheit und seine Unfähigkeit, den Weisungen des Herrn einfältig zu folgen. So wird es auch uns gehen, wenn wir den Pfad des Glaubens verlassen: Unruhe und Friedelosigkeit werden über uns kommen, weil wir uns an einem falschen, weltlichen Ort befinden; wir werden ernten, was dem Unglauben zukommt: Drangsal und Traurigkeit. 
O möchten wir doch mehr lernen, alles für „Schaden und Dreck zu achten wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, unseres Herrn“! Aufgeben ist unser Teil, unsere Stellung in dieser Welt ein einfältiges Sich Opfern in der Erkenntnis und dem Bewusstsein, dass „alles unser ist, Gegenwärtiges und Zukünftiges“.

Fußnote:
*) Wohl ist es wahr, dass Abraham einmal nach Ägypten hinabgezogen ist. Es war offenbar ein Fehler, denn er kehrt „zu der Stätte des Altars zurück, den er zuvor daselbst gemacht hatte“. In Ägypten hatte er keinen Altar. 
@@@@@@ 248

Nikodemus oder vom Wissen zum Glauben

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 248ff

V1. 
Nunmehr kann der Herr, „der treue und wahrhaftige Zeuge“, mit Seinem dritten feierlichen: 
„Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben, und unser Zeugnis nehmet ihr nicht an“, die große, alles umfassende Antwort auf alle Nikodemus-Fragen geben. Noch einmal ist in diesem Verse vom Wissen die Rede. Dann aber tritt ein Anderes vor die Seele, dringt wie eine Stimme von oben an unser Ohr. Ja, nun bricht sich Bahn eine Überzeugung von Dingen, die man nie gesehen, nie gehört hat, die in keines Menschen Herz gekommen sind, eine Erleuchtung, wo alles früher dunkel war — der Glaube. Nichts Geringeres als Er selbst, der Sohn Gottes, der vom Himmel Herabgestiegene, Menschgewordene, gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist, ist sein Gegenstand.
„Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben.“ Von Jesu sagt Johannes der Täufer: „Der von oben kommt, ist über allen; der von der Erde ist, ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, ist über allen, und was Er gesehen und gehört hat, dieses bezeugt Er“ (Joh. 8, 31. 32). 
„Wir wissen, wir bezeugen.“ Noch einmal scheint der Herr das bisher Geredete, die allen Menschen notwendige Wiedergeburt, feierlich bekräftigen zu wollen. Allem Wissen, allen Bemühungen des Fleisches, den Anmaßungen der alten Natur setzt Er Seine unumstößliche Autorität entgegen. 
 „Und unser Zeugnis nehmet ihr nicht an.“ Diese feierliche Anklage, die sich natürlich zunächst gegen die Ihm in der Person des Nikodemus gegenüberstehende herrschende Autorität, gegen die Feindschaft der damaligen religiösen Vertreter des Volkes richtete, ist und bleibt dieselbe. Sie ist die bewegliche Klage der Wahrheit gegenüber der Lüge, die tiefe Trauer, dass die Menschen mit hörenden Ohren nicht hören. Aber es tönt auchdie dringende Bitte hindurch, Seinem göttlichen Worte nicht zu widerstehen, Seine freundliche Einladung nicht abzuweisen. Sicher soll diese Rede den fragenden Nikodemus ermuntern, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Sie soll ihn vorbereiten auf das, was der Herr ihm jetzt zu sagen hat — das von den himmlischen Dingen.
„Wenn ich euch das Irdische gesagt habe, und ihr glaubet nicht, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch das Himmlische sage?“ 
Vor dem nächtlichen Sucher steht nun Derjenige, welcher die Erwartung all der Glaubenszeugen bildete, von . denen Hebräer 11 redet, jenes wunderbare Kapitel vom Glauben. Er, in dessen Person die Erfüllung ihrer Erwartung verheißen war. Er möchte nicht nur von irdischen Dingen, für die auch Glaube erforderlich war, sondern von himmlischen zu ihm reden. 
Was meint der Herr denn wohl mit dem „Irdischen“? Nun das, womit Er soeben bei Nikodemus so schlechte Erfahrungen gemacht hatte: das Reich und das was nötig war, um in dasselbe eingehen zu können. Von diesem Reich und von der Notwendigkeit einer völligen Erneuerung Israels, um das ihm verheißene Teil auf Erden besitzen zu können, hatten ja schon die Propheten des Alten Bundes geredet, und nun redete Er, der vom Himmel gekommene Sohn Gottes, davon; aber Nikodemus glaubte nicht, nahm es nicht an. 
„Wie werdet ihr glauben, wenn ich euch das Himmlische sage?“ Das sieht fast einer Abweisung ähnlich, soll aber keine sein. Eher ist’s eine freundliche Lockung, in die fragende Form gekleidet, — nicht: wie  würdet, sondern wie werdet ihr glauben? — die Geneigtheit des Herrn verratend, ihm das Himmlische wirklich zu sagen. Denn nun antwortet Er unmittelbar — nur durch das Wörtchen „und“ ein wenig vermittelnd — mit Worten, die die Antwort sind auf die erste Anfangsrede und die letzte Frage des Nikodemus. Ja, alle seine Fragen und Bedürfnisse, und damit jedes tiefste Fragen und Bedürfen des Menschenherzens, werden darin summarisch zusammengefasst. Er beantwortet sie mit der Offenbarung Seiner wunderbaren Person, Seiner selbst, indem Er damit dem Glauben alles darbietet, was er bedarf: 
„Und niemand ist hinaufgestiegen in   den Himmel, als nur der aus dem Himmel  herabgestiegen ist, der Sohn des Menschen, der im Himmel ist.“ 
Ja niemand, kein anderer, kein Mensch, kein Engel kann dir die wahre Antwort geben, kann dem Menschen Hilfe, Heilung und Errettung bringen, kein anderer als Er. „Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat Ihn kundgemacht.“ O unausdenkliche, unergründliche Gnade, „Geheimnis aller Geheimnisse“! Völlig unerreichbar für den Verstand, von der Schrift selbst das „anerkannt große“ Geheimnis, das „Geheimnis der Gottseligkeit“ (1. Tim. 8, 16) genannt: „Gott, offenbart im Fleische“. Gott, herabgestiegen in Menschengestalt, wahrer, vollkommener, vom Weibe geborener Mensch, Blutes und Fleisches teilhaftig, geworden. Herabgekommen aus dem gottentfremdeten, in hoffnungsloser Ferne von Gott irrenden, in Sünden toten Menschen, herabgestiegen bis zu dem Kleinsten, Geringsten, wie auch zu dem Härtesten, Schlimmsten, Gefühllosesten, bis zu mir, zu dir. 
„Hinaufgestiegen, hinabgestiegen“ — so beginnt der Herr dem horchenden Nikodemus das Geheimnis Seiner Person zu enthüllen, vor seinen fragenden Blicken den Schleier langsam wegzuziehen, sich ihm zu offenbaren, in dessen Herz bisher nur ein dunkles Ahnen geschlummert, und der doch schon den tiefen Zug des Vaters zum Sohne verspürt hatte.  
„Hinaufgestiegen, hinabgestiegen.“ Lassen wir hier einen anderen Schreiber reden: 
„Das Geheimnis des gehorsamen, gestorbenen, auferweckten „Menschen“ enthält also den ganzen Ratschluss Gottes. Dennoch aber muss die Person in ihrer Unteilbarkeit stets vor unserer Seele stehen. Das vollkommene und vollendete Werk Christi, in jedem Abschnitt Seines Dienstes, in allem, was Er tat, litt und heute noch tut, ist das Werk Seiner ganzen Person. Ja, diese ganze Person war am Kreuze, wie überall sonst. Diese Person war das Opfer, und in dieser Person war der Sohn, Gott über alles, gepriesen in Ewigkeit.*) 

Fußnote:
*) aus Bellet: „Der Sohn Gottes“. 

@@@@@ 252

Gedanke

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 252ff

Wir wünschen oft, unseren Weg ohne Prüfungen und Schwierigkeiten gehen zu können. Aber welch ein Verlust wäre es für uns, wenn dieser Wunsch erfüllt würde! Die Gegenwart des Herrn ist nie so köstlich und erquickend als in Zeiten der Drangsal und Not. 

@@@@@ 253

Gefallen an Seinen Wegen

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 253ff

Ein Kind, das seine Kindesstellung kennt, wünscht in Übereinstimmung mit seinem Vater zu sein. Fehlt dieser Wunsch, so kennt das Kind den Platz nicht, den es dem Vater gegenüber einnimmt. Das darf grundsätzlich wohl auch von jedem Kinde Gottes gesagt werden. Somit wird denn ein Kind Gottes, das seine Stellung zum Vater kennt, auf den Wegen Gottes zu wandeln begehren. 
Aber Gottes Wege sind so verschieden von den Wegen des Menschen, und der Mensch irrt so leicht bezüglich seiner eigenen Wege, dass er sich Gott ganz überlassen muss, wenn er anders Gottes Wege erkennen und gehen möchte. Das menschliche Urteilsvermögen ist in dieser Beziehung so unzuverlässig, dass die Schrift sagt: „Da ist ein Weg, der einem Menschen gerade erscheint, aber sein Ende sind Wege des Todes'' (Spr. 14, 12). Auch der Psalmist sagt (wohl überzeugt von dem Unwert des eigenen Urteils): „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf ewigem Wege!“ (Ps. 139, 28. 24). 
In väterlich mahnender Weise sagt uns das Wort: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz, und lass deine Augen Gefallen haben an meinen Wegen“ (Spr. 28,26). Man kann einen Weg für richtig halten und sich somit zu ihm bekennen, aber damit ist noch nicht gesagt, dass man auch „Gefallen“ an ihm findet. Gin Sohn kann in Ehrerbietung vor seinem Vater dessen Tun für richtig halten, in der Überzeugung, dass alles, was der Vater tut, richtig ist. Aber obwohl er dadurch seinen Vater ehrt, bekundet er damit noch nicht, dass er auch Gefallen an dessen Tun hat. Wenn wir an einer Sache Gefallen finden, so freuen wir uns ihrer. Wir halten sie nicht nur auf Grund unserer Überlegungen für richtig, sondern die freudigen Zuneigungen unseres Herzens verbinden sich auch mit ihr. Es ist nicht gut denkbar, dass man Gefallen an etwas haben könnte, ohne dass Freude und Herzenszuneigung dabei in Betracht kämen. 
Nun heißt es: „Lass. deine Augen Gefallen haben an meinen Wegen“. Recht oft sind aber die Wege Gottes derart, dass sie unseren Augen missfallen, und dass auch die Ehrfurcht vor dem Vater und das kindliche Vertrauen zu der Weisheit und Unfehlbarkeit des Vaters, ja, selbst das Festhalten an Seiner Liebe nicht ausreichen, um in dem Kinde Gefallen an Seinen Wegen zu wecken. Die auf schwerem Wege ermüdeten gläubigen Hebräer werden aufgemuntert: „Gott handelt mit euch als mit Söhnen“. Und dieses Wort ist geeignet, in dem Herzen des mutlos gewordenen Kindes Vertrauen zum Vater zu wecken, der nach Seiner göttlichen Einsicht Seine Kinder leitet auf Wegen, die Er auswählt für jedes einzelne. Der Vater kennt Sein Kind am besten, und nach Seiner Kenntnis bestimmt Er in väterlicher Liebe und in weiser Voraussicht den Weg. 
In diesem Bewusstsein sucht das zagende und leicht entmutigte Herz des Kindes dem Vater Vertrauen entgegen zu bringen, indem es willens ist, Seiner Leitung in Unterwürfigkeit unter Seinen Willen zu folgen. Und unser Vater sieht, wenn wir auf mühevollem Wege den Wunsch haben, Ihm zu vertrauen, wenn wir begehren, Seine Hand und Seine Leitung anzuerkennen auf Wegen, die Er uns gehen heißt. Allerdings wollen sich zwischendurch immer wieder die Mühsale des Weges vor unsere Augen stellen, und es regt sich dann auch unser Wille, dem mühsamen Wege auf irgend eine Weise ein Ende zu machen, und wir sind dann von dem „Gefallen haben“ an Seinen Wegen noch weit entfernt. Doch der Wunsch unseres Herzens, Ihm zu vertrauen, und das Begehren, uns vor Seiner Hand in Ergebenheit zu beugen, so schwer uns der Weg auch werden mag, ist für unseren Gott, der alle diese Regungen sieht, ein Anlass, uns in Gnade und Herablassung zu Hilfe zu kommen. Die Willigkeit des Herzens ist wohlannehmlich vor Ihm; das Maß unseres Könnens gibt nicht den Ausschlag. Das gilt auch in anderer Hinsicht (Lies 2. Kor. 8, 12).
Wo Gott das aufrichtige Begehren sieht, Seinen Willen anzuerkennen, da ist Er mächtig, dem Herzen Ermunterungen zuzuwenden in einem Ausmaß, dass das Auge nicht mehr auf die Mühsal und Last des Weges blickt, sondern auf das sieht, was Gottes Güte ihm zugewendet hat. Diese Ermunterungen erfüllen dann das Herz und schenken ihm eine Freude und einen Genuss, an denen es völlig genug hat. Aber der Herr tut noch mehr: Er hilft uns auch, die Wünsche unserer eigenen Herzen zu beschwichtigen, zurückzustellen, und lehrt uns, uns völlig und rückhaltlos Seinen Händen auszuliefern, um nun zu warten, was Seine Hände tun.
Ist es dem Herrn gelungen, uns von den Wünschen und dem Wollen unseres Herzens so weit zu. lösen, dass wir Ihm die Leitung ganz überlassen (es mag anfangs mit Furcht und Zagen geschehen), so wirkt Er weiter und ruft Vertrauen nicht nur auf die Macht Seiner Hand, sondern auch auf Seine Weisheit, Güte, Treue und Huld hervor, die wir dann für uns tätig sehen. Aus diese Weise erquickt Er das nunmehr ergebene Herz, und Freude und stille Zuversicht kehren ein, mag der Weg auch unverändert steil und mühsam bleiben. Gott bewährt sich dabei als Der, der „Gesänge gibt in der Nacht“, und „erweist sich mächtig an denen, deren Herz ungeteilt auf Ihn gerichtet ist“ (Hiob 85, 10 u. 2. Chron. 16, 9). 
Und siehe da, mit der Zeit gelingt es dem Herrn, uns einsehen zu lassen, dass solche Gnadenerweisungen nur auf solchem Wege erfolgen konnten. Von Seiten Gottes stand ihrer Zuwendung freilich nie etwas entgegen, aber bei uns lag kein Bedürfnis nach ihnen vor, keine Bereitwilligkeit, sie entgegen zu nehmen; und wir erfahren immer wieder, dass Gott nur dem Bedürftigen Zuwendungen macht. Er drängt niemand etwas auf. Wir kommen also zu der beschämenden und demütigenden Erkenntnis: Wenn der Genuss der Güte und der Erbarmungen unseres Gottes und Seines treuen Vaterherzens uns zugutekommen sollen, so muss erst ein Bedürfnis dafür bei uns hervorgebracht werden. Dazu hat der Weg gedient, den wir gegangen sind, der uns in die Enge brachte, damit wir in der Enge schätzen lernten, was es ist, wenn Gott uns „in einen weiten Raum“ setzt (Ps. 118, 5) ; damit wir vor allem lernten, dass Seine Gnade genügt für den steilsten Weg und die schwerste Last. Auf diesem Wege, der uns so unendlich schwer dünkte, haben wir erfahren, dass Seine Gnade für uns ausreichend ist unter allen Umständen, und diese Erkenntnis bewirkt Freude und Dankbarkeit sowohl im Blick auf die uns zur Verfügung stehenden Reichtümer, als auch auf den Weg, den Er uns geführt hat; denn dieser Weg hat uns ja dazu gedient, den Herrn und Seine Freigebigkeit und Fülle mehr kennen zu lernen. Das möchten wir nie wieder missen. 
Ein Bruder, dessen Lebensgefährtin der Herr heimgerufen hatte, sagte einige Zeit nachher: „Ich habe meine Frau sehr geliebt, aber um keinen Preis möchte ich das vermissen, was mir der Herr seit ihrem Heimgang gewesen ist“. Offenbar hatte der Herr das Herz dieses Bruders völlig befriedigt. Ist eine solche Erfahrung nicht ein Grund für uns, Den anzubeten, der durch Seine Gnadenfülle die Seinigen auf solchen Wegen aufrecht hält, indem Er sie Seinen Reichtum sehen lässt und in ihren Herzen Freude hervorbringt durch das Bewusstsein, dass dieser Reichtum ihnen gehört und zu ihrer Verfügung steht? Vielleicht lernen wir dabei auch etwas von den Empfindungen kennen, denen der Apostel Paulus, angesichts der Zusage des Herrn: „Meine Gnade genügt dir“, Ausdruck gibt mit den Worten: „Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Schmähungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten für Christum; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2. Kor. 12, 10). 
Damit ist aber noch immer nicht die Frage völlig beantwortet, wie wir Gefallen finden können an Wegen, die unserem natürlichen Wesen so gar nicht entsprechen, weil sie eben unserer Natur entgegen sind. Vor steilen und mühsamen Wegen fürchten wir uns, jedenfalls gefallen sie uns nicht. Nun, der Anfang unseres Spruches lautet: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz!“ Und in Wahrheit ist die Befolgung dieses Wortes die Voraussetzung dafür, dass wir Gefallen haben können an Wegen Gottes, die an sich unserer Natur zuwider sind. 
„Gib mir dein Herz!“ Hier möchte Gott, der stets nur der Gebende sein kann, einmal der Empfangende sein. Doch es ist Gott niemals um das Empfangen zu tun (was könnte ein Mensch Ihm geben?), und bei Licht besehen ist Er auch hier der Gebende: Er will dem unterwürfigen, hingebenden Herzen Seine Gunst zuwenden und ihm Genüsse bereiten, die Er dem eigenwilligen Herzen vorenthalten muss. Dazu leitet Er uns auf Seinen Wegen, auf Wegen des Friedens und der Sicherheit. Seinem irdischen Volke ruft Er zu: „Ich bin Jehova, dein Gott, der dich lehrt, zu tun was dir frommt, der dich leitet auf dem Wege, den du gehen sollst. O dass du gemerkt hättest auf meine Gebote! Dann würde dein Friede gewesen sein wie ein Strom, und deine Gerechtigkeit wie des Meeres Wogen“ (Jes. 48, 17. 18). Weiterhin sagt der Prophet: „Du kommst dem entgegen, der Freude daran hat, Gerechtigkeit zu üben, denen, die auf deinen Wegen deiner gedenken“ (Jes. 64, 5). 
Also nicht Seinen Vorteil hat Gott im Auge, wenn Er in väterlicher Weise sagt: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz!“ Denn welchen Nutzen könnte ein Mensch. Ihm bringen? „Wenn du sündigst, was tust du Ihm an? und mehren sich deine Übertretungen, was fügst du Ihm zu? Wenn du gerecht bist, was gibst du Ihm, oder was empfängt Er aus deiner Hand?“ (Hiob 35, 6. 7. Lies auch Kap. 22, 2. 3). Gott „hat Gefallen an Güte“ (Micha 7, 18), und Er will sie denen zuwenden, die „auf Seinen Wegen Seiner gedenken“. —
Das „Gib mir dein Herz!“ heißt wohl: Gib mit dein Wollen, Denken, Empfinden, Begehren, Fühlen, kurz — gib dich mir ganz! Das aber ist eine schwere Aufgabe, und unserem ganzen Wesen, unserer Veranlagung nach ist sie uns zu schwer. Aber Gott verlangt nichts Unmögliches von uns; es kommt nur darauf an, ob wir wollen. Sieht Er bei uns, dass wir bereit sind, uns aufzugeben und fallen zu lassen (vielleicht geschieht es nur zaghaft und zögernd, denn die Natur betritt damit ein ihr völlig fremdes Gelände), so vollendet E r das, was wir tun möchten und nicht können. Dieses Werk ist für Ihn kostbar, weil das Ergebnis „besser ist als Opfer“. Denn wer willig ist, sein Herz zu geben, der gibt Besseres als Opfer; er gibt sich selbst, während beim Bringen der wertvollsten Opfer das „Selbst“ völlig unberührt bleiben kann. „Siehe, Gehorchen ist besser als Schlachtopfer, Aufmerken besser als das Fett der Widder“, musste Saul schon hören, als er, im Eigenwillen handelnd, Gott das Vorzüglichste des Verbannten darbringen wollte. (1. Sam. 15, 21 — 23). Und nur bei der eben beschriebenen Herzenswilligkeit können wir dem Wort in Eph. 5, 20 Folge leisten: „Danksagend allezeit für alles dem Gott und Vater im Namen unseres Herrn Jesus Christus“. Prüfen wir uns einmal, ob und inwieweit wir uns auf diesem Platze befinden; und doch ist es der Platz, auf dem unser Vater alle Seine Kinder jederzeit sehen möchte.  
Dem bereitwilligen Herzen kommt Gott in väterlicher Herablassung entgegen: Er hilft beim Loslösen von dem, woran das arme Herz noch hängt und wovon es festgehalten wird, und Er erfreut es, indem Er offene Augen gibt für die Güte und Gunst Seines Herzens, wie es reinigend, heilend, ermunternd und erquickend bemüht ist, uns vor Schaden zu bewahren und uns Ausharren zu schenken auf dem Wege. Und sieht sich ein Kind Gottes in solcher Weise als Gegenstand der Liebe und treuen Sorge des Vaterherzens von Ihm behandelt, so wird sein eigenes Herz dem Vater zugewendet, und allmählich kommt es dahin, in der Freude über den Genuss der Gunst des Vaters die Schwere des Weges zu vergessen. Es fühlt sich wohl bei der Wärme, die es in den Armen, an der Brust des Vaters verspürt, die es bis dahin noch nie so wohltuend empfunden hatte. In dieser Wärme verändert sich der ganze Gesichtskreis. Man sieht jetzt alle Dinge und Verhältnisse mit einem Herzen, das am Vaterherzen aufgetaut ist. 
Vielleicht lernen wir dann auch verstehen, was uns bis dahin nicht, wenigstens nicht genügend, bekannt war: unsere eigene Kälte. Wir freuen uns des Weges, auf dem wir den Vater so kennen gelernt haben, ja, freuen uns jedes Weges, den Er einschlägt, weil wir wissen, dass er nur dient zur Offenbarung des Vaterherzens, an dem wir uns jetzt so wohl fühlen. Diesen Platz möchten wir nie mehr verlassen. Am Vaterherzen ruhend, beschäftigt uns nicht so sehr der Verlauf des Weges, denn diesen wissen wir ja in Seinen Händen, den Händen Dessen, der uns mit Seiner Liebe so selig und ruhig macht; sondern wir bitten Ihn um Vertrauen und Ausharren, damit nicht ein Mangel daran uns den Genuss des . kostbaren Platzes, den wir jetzt einnehmen, störe. 
Könnte es Besseres für uns in dieser Welt geben als das Bewusstsein, dass der Weg, den wir gehen, Gottes Weg ist? Seine Wege halten uns naturgemäß nahe bei Ihm, denn auf Seinen Wegen kann Er uns nicht fern sein. Nach Seinem Wort ist Er „nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind“, d. h. wohl denen, die Seinen Willen als allein bestimmend anerkennen, da ein zerbrochenes Herz keinen eigenen Willen mehr hat. Wenn Er uns aber mit Seiner Nähe erfreut, wenn wir uns der Quelle der ewigen, unergründlichen Liebe so nahe gebracht sehen, ja, was fehlt uns dann noch? O möchten wir es mehr lernen, uns selbst völlig fallen zu lassen, um aus den Wegen des Vaters, im Bewusstsein und Genuss der Abhängigkeit von Ihm, zu wandeln in den Fußspuren unseres Herrn, des vollkommenen Menschen Gottes! Von Ihm heißt es immer wieder, dass Er sich selbst hingegeben hat, zu unserem Heil und zum Wohlgefallen Gottes. Auf Seinen Wegen von Ihm unterwiesen, dem Rate Seiner Augen folgend, können wir damit rechnen, unbeschädigt und ohne schmerzliche Umwege das Ziel zu erreichen;" denn wir haben Seine Zusage: „Ich will dich unterweisen und dich lehren den Weg, den du wandeln sollst; mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten“ (Ps. 32, 8).

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Ein gefallener Engel

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 261ff

Das Dasein Satans, sein Fall und sein Ende sind tiefe und geheimnisvolle Fragen. Wer ist er, und woher kommt er? Nur die Bibel kann uns darüber Aufschluss geben, und nur sie gibt uns klare Einzelheiten über seinen Ursprung und über die Ursachen, welche seinen unwiederbringlichen Fall herbeiführten. Andererseits können wir auf jeder Seite der Heiligen Schrift die Spuren dieser unheilbringenden Macht erkennen, die nur Böses zu tun imstande ist. Das Wort Gottes lässt uns Satan sehen, wie er sich auf verschiedene Arten zeigt, und wie er sich den verschiedensten Umständen anpasst, um, wenn möglich, das von ihm erstrebte Ziel, den Umsturz der Ratschlüsse Gottes, zu erreichen. So wie er gefallen ist, will er auch jedes Geschöpf Gottes zur Empörung gegen Gott hinreißen und selbst den Platz Gottes in ihren Herzen einnehmen. Aus der Schrift wissen wir, welche Erfolge er bereits gehabt hat und in Zukunft noch haben wird. Auch das Böse und alle seine Folgen, unter denen die Menschheit seufzt, finden ohne die Erkenntnis des Daseins dieses bösen Wesens keine zufriedenstellende Erklärung. 
Wir wollen nun betrachten, was die Schrift von ihm sagt. Der Prophet Hesekiel spricht, zum König von Tyrus gewendet, folgendermaßen: „So spricht der Herr, Jehova: Der du das Bild der Vollendung warst, voll von Weisheit und vollkommen an Schönheit, du warst in Eden, dem Garten Gottes; allerlei Edelgestein war deine Decke .... Das Kunstwerk deiner Tamburine und deiner Pfeifen war bei dir; an dem Tage, da du geschaffen wurdest, wurden sie bereitet. Du warst ein schirmender, gesalbter Cherub, und ich hatte dich dazu gemacht; du warst auf Gottes heiligem Berge, du wandeltest inmitten feuriger Steine. Vollkommen warst du in deinen Wegen von dem Tage an da du geschaffen wurdest, bis Unrecht an dir gefunden wurde. Durch die Größe deines Handels wurde dein Inneres mit Gewalttat erfüllt, und du sündigtest; und ich habe dich entweiht vom Berge Gottes hinweg und habe dich, du schirmender Cherub, vertilgt aus der Mitte der feurigen Steine. Dein Herz hat sich ob deiner Schönheit erhoben, du hast deine Weisheit zunichte gemacht wegen deines Glanzes; ich habe dich. zu Boden geworfen. . .“ (Hesekiel 28, 12—19). 
Man kann diese Weissagung nicht lesen, ohne dass die Gedanken über den König von Tyrus hinausgehen und sich auf eine geheimnisvolle Persönlichkeit richten, die in einer früheren Schöpfung eine Hauptrolle gespielt haben muss. Es war, wie wir sehen, ein machtvolles Geschöpf, ein Engel (Cherub), der in seinen Wegen vollkommen war, — bis Unrecht an ihm gefunden wurde. Wir fragen uns unwillkürlich: Zielt diese Beschreibung, die offenbar weit über den König von Tyrus hinausgeht, nicht auf den ab, der in der Schrift unter dem Namen Satan bekannt ist? Von ihm sprechend sagt der Herr: „Er ist in der Wahrheit nicht bestanden, weil keine Wahrheit in ihm ist“ (Joh. 8, 44). Beide Schriftstellen zeigen, dass Satan von Gott gut erschaffen worden ist (gleichviel welche Stellung er eingenommen haben mag), was übrigens auch gar nicht anders sein kann. Aber als Unrecht an ihm gefunden wurde, ist er hinabgeworfen worden, und von da an hatte das Böse seinen Sitz in Satan. Zweifellos tauchen im Geiste viele Fragen über diese Sache auf, und auf die einfache Frage eines Kindes: „Weshalb hat Gott denn den Satan nicht vernichtet?“ gibt die Schrift keine Antwort; die Pläne und Ratschlüsse Gottes hierüber werden uns nicht enthüllt. Ohne Frage wird uns später auch dieses Geheimnis enthüllt werden; jetzt aber soll das Schweigen der Schrift über diesen Gegenstand uns zur Lehre sein. 
Andere Stellen des Wortes Gottes zeigen uns, dass Satan in seiner Empörung nicht allein gestanden hat. Es redet Von „Engeln, die ihren ersten Zustand nicht bewahrt, sondern ihre eigene Behausung verlassen haben“ und nun „zum Gericht des großen Tages mit ewigen Ketten unter der Finsternis verwahrt werden“ (Jud. 6; vgl. 1. Kor. 6, 3). Petrus sagt uns, dass Gott „Engel nicht verschonte, welche gesündigt hatten, sondern, sie in den tiefsten Abgrund hinabstürzend, Ketten der Finsternis überlieferte, um aufbewahrt zu werden für das Gericht“ (2. Petr. 2, 4). Ferner sagt uns Paulus: „Unser Kampf ist nicht wider Fleisch und Blut, sondern wider die Fürstentümer, wider die Gewalten, wider die Weltbeherrscher dieser Finsternis, wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern“ (Eph. 6, 12). In den Evangelien ist auch die Rede von Dämonen, bösen Geistern usw.. Alles das lässt uns das gewaltige, aber auch ebenso fürchterliche Gefolge ahnen, welches Satan, den Fürsten dieser Welt (Joh. 12, 31), den Fürsten der Gewalt der Luft (Eph. 2, 2) und den Gott dieses Zeitalters (2. Kor. 4, 4) begleitet und ihn als unbestreitbares Oberhaupt anerkennt. Der Vorrang dieses furchtbaren Wesens geht auch aus den mancherlei Namen hervor, die ihm gegeben sind, um es von jeder untergeordneten Macht im Reiche des Bösen zu unterscheiden. So wird er genannt: der Oberste der Dämonen, der große rote Drache, der Teufel, der Lügner und Mörder, der Engel des Abgrundes, der Böse, der Versucher, die alte Schlange, der Verkläger; auch wird er mit einem brüllenden Löwen und einem verkleideten Engel des Lichts verglichen. Das gibt uns eine furchtbare Vorstellung von der Macht Satans, die man heute völlig außer acht lässt. Ja, man rechnet es als zum guten Ton gehörend, über das Dasein dieser Macht und ihres Trägers zu spotten. Welch ein verhängnisvoller Irrtum! Und der Teufel selbst bemüht sich, ihn zu verbreiten, weil er so seine Opfer umso besser verblenden kann. Gott aber hat dafür gesorgt, uns durch Sein Wort und zu unserem Heil über diesen Gegner zu unterrichten.
Bei der Betrachtung dieses Gegenstandes dürfen wir nicht vergessen, dass es auch Engel gibt, welche nicht gesündigt haben; sie werden die „Fürstentümer und Gewalten in den himmlischen Örtern“ genannt (Eph. 3, 10). Das Buch der Offenbarung spricht von Engeln, die von Gott gebraucht werden, um Seine Gerichte an der Erde zu vollziehen. Es ist beachtenswert, dass wir aus den Begegnungen, welche zwischen den guten Engeln und den Mächten der Finsternis stattfinden, für uns menschliche Wesen eine Lehre ziehen können. Der Mensch spricht, wie schon gesagt, in seiner Aufgeblasenheit mit großer Geringschätzung von Satan. Aber auch Gläubige reden zuweilen leichtfertig über die gefallenen Mächte. Das lässt sich aus der Schrift nicht rechtfertigen. Im Gegenteil! Hören wir nur, was Judas sagt: „Michael aber, der Erzengel, als er, mit dem Teufel streitend, Wortwechsel hatte um den Leib Moses’, wagte nicht ein lästerndes Urteil über ihn zu fällen, sondern sprach: Der Herr schelte dich!“ (Judas 9). Wenn Petrus seinerseits von solchen spricht, welche die Herrschaft verachten und nicht erzittern, Herrlichkeiten zu lästern, fügt er hinzu: „Während Engel, die an Stärke und Macht, größer sind, nicht ein lästerndes Urteil wider sie beim Herrn vorbringen“ (2. Petr. 2, 10. 11). Man tut gut, sich daran zu erinnern, dass nur dem Herrn das Recht zusteht, Satan zu richten. Allerdings haben wir, wenn wir in Christo sind, für unsere ewige Seligkeit nichts zu fürchten, Gott sei gepriesen! Wir können mit Paulus sagen: „Wer wird uns scheiden von der Liebe Christi?“ (Röm. 8, 35). Wir wollen aber den nicht gering einschätzen, der dem Boten Gottes und dem Erzengel Michael, „einem der ersten Fürsten“, welcher zu seinem Beistand herbeieilte, einundzwanzig Tage entgegenzustehen vermochte (Dan. 10, 12. 18), und zu dessen Austreibung aus dem Himmel ein Kampf nötig sein wird, wie wir ihn in Offenbarung 12, 7—12 beschrieben finden.
In dem ganzen Verlauf der Menschheitsgeschichte erkennen wir die Spuren der Schlange und hören wir die Stimme des Verleumders. Seine Laufbahn gleicht einem · Triumphzuge. Alles beugt sich vor ihm, und abgesehen von dem Widerstand seitens der Gläubigen, kann er sich als unumschränkter Herr der Welt betrachten. Aber einmal ist er in seinem angemaßten Reich überwunden worden, und zwar von einem Menschen, Von Jesu Christo, unserem Heilande. Ja, Jesus war es, der ihm entgegentrat; und die ganze Macht des Teufels, alle Hilfsquellen seines höllischen Geistes sind völlig zunichte geworden vor Dem, der „kein Ansehen“ hatte und von Seiner Macht keinerlei Gebrauch machte für Seine eigene Verteidigung. Aber wir wissen, dass „das Schwache Gottes stärker ist als die Menschen“ (1. Kor. 1, 25), ja, stärker auch als Satan. Das Reich des „Königs der Schrecken“ (Hiob 18, 14), das bis dahin unverletzlich war, hat seine Beute fahren lassen müssen; denn Jesus ist siegreich dem Grabe entstiegen. Es konnte Ihn, den Fürsten des Lebens, der   am Kreuze „die Fürstentümer und Gewalten ausgezogen hat“ (Kol. 2, 15), nicht behalten. Jesus hat in Seinem Tode und Seiner Auferstehung den Tod zunichtegemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht durch das Evangelium (2. Tim. 1, 10). Als der Erstgeborene aus den Toten (Kol. 1, 18) ist Er Sieger geblieben, und durch Seinen Sieg können auch wir triumphieren. Was vermag Satan gegen uns? Wohl kann er uns noch versuchen, uns Fallstricke in den Weg legen und uns vor Gott anklagen; aber uns wieder unter sein unheilvolles Joch bringen — das kann nie und nimmer geschehen! Mit unserem Heil hat nicht mehr er, sondern nur Christus, unser Leben, etwas zu tun. 
Und nun, was wird sein Ende sein? Die Schrift zeigt es uns von Stufe zu Stufe. Zuerst sehen wir ihn wie einen Blitz vom Himmel fallen, der Aufrührer wird aus dem Himmel auf die Erde gestürzt (Luk. 10, 18; Offb. 12, 9), dann wird er in den Abgrund geworfen (Offb. 20, 3), um schließlich sein ewiges Teil „in dem Feuer und Schwefelsee“ (Offb. 20, 10) zu finden, welcher bereitet ist „dem Teufel und seinen Engeln“ (Matth. 25, 41). Dort endet sein böser Lauf. Dort wird er, inmitten derer, die sich von ihm verführen ließen und so zur Verdammnis verurteilt wurden, die Größe des Schreckens des ewigen Zornes Gottes kennen lernen. Welch eine Laufbahn und was für ein Ende! 
Nachdem wir so einen kurzen Überblick über die Geschichte Satans gewonnen haben, wollen wir sehen, was die Folgen seines Falles gewesen sind, wenigstens insoweit sie sich auf die Erde beziehen. Hierbei kann uns wieder eine vergleichende Betrachtungsweise zu Hilfe kommen. 
Die große Flut war die Folge der Gewalttätigkeit, die damals auf der Erde herrschte, und aus der Wüste der Wasser stieg eine neue Welt empor, über welche Noah als Oberhaupt gesetzt wurde. 
Die Zerstörung der jetzigen Erde durch Feuer nach 2. Petr. 3, gleichfalls die Folge der Sünde, die schließlich in einem vollen Aufruhr gegen Gott gipfelt, wird auch der Ausgangspunkt „neuer Himmel und einer neuen Erde sein, in welchen Gerechtigkeit wohnt“. 
Da nun gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben, so dürfen wir wohl den Schluss ziehen, dass auf den Fall Satans ebenfalls eine große Vernichtung, ein „Chaos“, folgen musste. Die Schrift gibt uns freilich über diese in fernster Vergangenheit liegende Umwälzung ebenso wenig genauen Ausschluss wie über die neue Schöpfung, die an die Stelle der jetzigen treten wird. Gott hat dies vor unseren Augen verborgen gehalten.
Indes geben uns die beiden ersten Verse des 1. Buches Mose wohl einen deutlichen Fingerzeig hinsichtlich der vorliegenden Frage. Der erste Vers: „Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde“, bezieht sich fraglos auf die erste Schöpfung, von welcher Satan vor seinem Fall vielleicht das Oberhaupt war. Wie weit dieser Anfang zurückliegt, weiß niemand, vielleicht Millionen unserer heutigen Jahre. Der Fall Satans scheint dann den Zustand der Dinge hervorgerufen zu haben, wie er im zweiten Verse beschrieben wird: „Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis war über der Tiefe“. Gott hat die Erde nicht wüst und leer geschaffen, und Finsternis ist nicht der Bereich Seines Wirkens. Das sind Eigenschaften, die Seiner göttlichen Natur und Seiner schöpferischen Macht unmittelbar zuwider sind. So lesen wir denn auch in Jes. 45, 18: „Denn so spricht Jehova, der die Himmel geschaffen (Er ist Gott), der die Erde gebildet und sie gemacht hat (Er hat sie bereitet; nicht als eine Öde hat Er sie geschaffen, um bewohnt zu werden hat Er sie gebildet): Ich bin Jehova, und sonst ist keiner!“ Eine „wüste und leere'' Erde kann kaum etwas anderes sein als der Endzustand einer Welt, deren Geschichte uns heute noch verborgen ist, aber dereinst, wenn alles Stückwerk aufgehört hat, uns wohl auch enthüllt werden wird. 

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Nikodemus oder vom Wissen zum Glauben

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 269ff
Vill. 
„Hinaufgestiegen, hinabgestiegen“ — in diesen Worten enthüllt sich nicht nur die Würde, Größe und Herrlichkeit der wunderbaren Person Jesu, der ganze große Ratschluss Gottes liegt darin bereits verborgen. Innerhalb dieser beiden kostbaren Tatsachen stellt sich uns die ganze Tragweite Seines Werkes dar, eine Fülle, die — wir nicht einmal andeutend berühren können. Bemerkt sei nur, dass auch in diesem Ausdruck „hinaufgestiegen, hinabgestiegen“, in Verbindung mit dem majestätischen: „der im Himmel ist“, sich des Sohnes freie Hingabe an den Willen des Vaters, Sein eigener Willens-Entschluss, Sein ergebenes: „Siehe, ich  komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun'', vernehmlich kundtut. Menschen sind in den Himmel emporgehoben worden und werden dahin entrückt werden, Engel sind aus dem Himmel auf die Erde gesandt worden, aber nur Einem gebührte es hinaufzusteigen, so wie nur Er allein herab steigen konnte. Denn Er war eine göttliche Person, und Er kam in freier, heiliger Liebe; und obwohl Er Knecht wurde und allezeit den Willen Dessen tat, der Ihn gesandt hatte, hörte Er doch nie auf, konnte nie aufhören, Gott zu sein.
- „der im Himmel ist“ - wie erhaben ist dieses Zeugnis aus dem Munde des wahren Menschensohnes, so geheimnisvoll (wie der ganze Vers) und majestätisch zugleich! Wahrer, vollkommener Mensch und doch zugleich wahrer Gott, der göttliche Mittler, der die zwei Naturen, Gottheit und Menschheit, in einer Person in sich vereinigte, ein Mensch, und zwar für immer ein Mensch, der Sohn des Menschen, und doch „Gott, gepriesen in Ewigkeit“! Und in dieser Verbindung wird Er uns gehören, unveränderlich Derselbe gestern, heute und bis in Ewigkeit. Auf dem Grunde der gläubigen Seele widerspiegelt sich das herrliche Bild dieser wunderbaren Person, das der Glaube in sich aufgenommen hat, in dessen Schönheit sie sich anbetend. mit immer neuer Freude zu versenken vermag, das, einmal aufgenommen, wohl getrübt, doch nie wieder verwischt werden kann. Unwillkürlich tritt hier das erhabene Zeugnis des Heiligen Geistes im Anfang des Evangeliums vor unsere Seele: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“, und: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir haben Seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“. 
Aber für ein neues Leben durch eine neue Geburt wäre damit noch kein Weg geöffnet worden, kein rettender Glaube an Seine Person wäre möglich gewesen. Die Folgen der Sünde, der Tod, die Verdammnis, wären unser Teil geblieben. Nie hätte Er das Haupt eines neuen Geschlechts werden können. Er wäre allein geblieben. Nur indem Er starb und als der Erstgeborene aus den Toten wieder auferstand, konnte Gott auch in vollkommener Weise da verherrlicht werden, wo Er durch die Sünde verunehrt worden war. Nur so konnte Er als das was Er ist: Licht und Liebe, offenbart werden. 
„Und gleichwie Moses in der Wüste die  Schlange erhöhte, also muss der Sohn des Menschen erhöht werden.“ 
Wieder dieses unscheinbare Wörtchen „und“ als Bindeglied zur Einführung in das Zentralgeheimnis des Christentums, die zwischen Himmel und Erde vermittelnde „Erhöhung“ des Menschensohnes, das Wunder aller Wunder, das Größte und Herrlichste, was selbst — in Ehrfurcht sei es gesagt — Gott erdenken und vollbringen konnte.
Wunderbar, wie der Herr den Nikodemus in die Dunkelheit dieses Stoffes einführt. Wie hätte Er auch bei ihm ein Verständnis von Seinem Tode und Kreuze finden können, wovon selbst die Jünger so wenig ein offenes Wort vertrugen? Wie so oft gründet der Herr Seinen Ausspruch auf die Schrift. Bei dem Schriftgelehrten konnte Er ja ein Verständnis dafür voraussetzen, dass in diesem Bilde ein Vorbild der Errettung, etwas auf den verheißenen Erlöser Hinzielendes geweissagt war. War es nicht die Schlange, die den ersten Menschen zu Fall brachte, indem sie ihn unzufrieden machte und ihn an der Liebe Gottes zweifeln ließ? Nur der Glaube an diese Liebe kann dem Menschen Wiederherstellung und Heil bringen, ja, ihn in ein neues, unendlich herrlicheres, innigeres Verhältnis zu Gott einführen. Der Fall des Menschen hat das, was Gott in sich selbst ist, auf eine viel vollkommenere Weise ans Licht treten lassen, als es sonst möglich gewesen wäre. Der hoffnungslos gewordene Zustand, das tiefe Verderben des Menschen wurde für Ihn die Veranlassung, sich dem Menschen gegenüber in Vollkommener Liebe und Gnade zu offenbaren. 
Der Vorgang selbst ist uns bekannt. Die Kinder Israel murren in der Wüste; ihr Murren ist gegen die Führer des Volkes, gegen Gott selbst gerichtet. Statt Dank für Seine Güte und Vertrauen in Seine Absichten, Undank und Misstrauen, ja laute Klagen, offene Verwünschungen! Ist's seitdem anders geworden? Wirst nicht auch heute der Mensch Gott lauter Ungereimtes vor? Schiebt er nicht, offen und versteckt, durch seine Klagen, seine tausend Fragen „warum und weshalb?“, ja, durch seine offene Herausforderung: „Das will ein Gott sein, der solches zulässt?'' — auch heute noch Gott alles Verschulden zu? Geht nicht durch unser Geschlecht eine tiefe Unzufriedenheit, des Murrens tausendfaches Echo? Ja, das Herz des Menschen hat sich nicht verändert. Es ist noch das alte „trotzige und verzagte Ding, wer kann es ergründen?“ Wie schlimm muss es ausgesehen haben in den Herzen, wenn Gott diese feurigen Schlangen senden musste! Und unsere Zeit? Wie zuckt sie, schreit sie aus unter den Schlangenbissen! Welch schreckliche Heimsuchungen erinnern auch sie an der Sünde furchtbare Macht!
Und nun die Anwendung. Die erhöhte, die eherne Schlange, welch treffendes Bild! 
Doch vergegenwärtigen wir uns jene dunkle Wüstenszene! Furchtbar hatten die Schlangen gewütet. Niemand war verschont geblieben. Draußen und in den Zelten, überall Stöhnende, Jammernde, Sterbende. Sie fühlten das Gift in ihren Adern wirken. Es brachte ihnen den Tod. Ihr Zustand war hoffnungslos. Kam keine Hilfe, so waren sie verloren. Was vermochten sie gegen dieses schreckliche Übel? Gab es irgend ein Mittel? Hätte ein Arzt ihnen helfen können? Hätte irgend eine religiöse Übung, ein Opfer dafür gebracht werden können? Es gab keine Hilfe. Bei Menschen war es unmöglich. Aber Gott gab ein Heilmittel. Es war wunderbar einfach. Er ließ es verkünden: „Wer die erhöhte Schlange ansieht, der wird leben“. Es hieß: Glaube diesem Wort — sieh hin, lebe! Jedem, ob alt oder jung, ob Mann oder Weib, galt dasselbe Heilmittel. Jedem wurde es angeboten. Die erhöhte Schlange konnte auch jeder ansehen, in den entferntesten Teilen des Lagers war sie sichtbar. Jeder konnte die Rettung Gottes ergreifen. Den Blick konnte auch ein Sterbender tun. Und alle, die der Rettungsbotschaft glaubten, wurden gerettet. Von ihnen starb niemand. Der einfache Blick genügte, um des Giftes tödliche Wirkung außer Kraft zu setzen. Zweifeln und Schwanken konnte freilich nicht helfen. Der Blick musste getan werden. Sicher gab es auch solche, die das Mittel verschmähten. Wohl drang die Kunde in ihr Zelt: die die Schlange angeblickt haben, leben auf, sind genesen! Aber das Mittel war ihnen zu einfach. Einem selbstgewählten Mittel gaben sie den Vorzug. Oder ein anderes wurde ihnen angeraten. Nach ihrer Meinung war es ein besseres, sie wollten es wenigstens versuchen. — Die Enttäuschung. war furchtbar. Schnell hatte das Gift seine schreckliche Wirkung getan, der Tod seine Beute gefasst. 
Der Schlangenbiss, das tödliche Gift, ist die Sünde. Wie das Gift in die Adern dringt, in das Blut übergeht, dieses ganz vergiftet, so hat die Sünde den ganzen Menschen ergriffen. „Sie ist zu allen Menschen durchgedrungen.“ Nicht nur sein Leben, sein Tun und Lassen ist davon befleckt, auch sein Herz, der Sitz der Gefühle und Neigungen, seine ganze Natur, sein Wollen und Vornehmen, alles ist vergiftet. Wie in den Adern das Gift wirkt, so die Sünde im Innern des Menschen. Und was vermag der Mensch gegen ihre Wirkungen? — Gute Vorsätze? — Heiße Reuetränen? — Immer wieder erneute Anstrengungen? — Religiöse Übungen? Ach, wenn’s davon abhinge, die Rettung wäre gewisslich eingetreten! 
 Und andere Hilfe? Hilfe von außen? Sollten nicht liebevollste Elternfürsorge, eine tugendhafte Umgebung, eine sorgfältige Erziehung, edle Vorbilder, ein treuer Seelenarzt — sollten alle diese Wirkungen vereint nicht imstande sein, jene Wirkung aufzuheben? — Nein, sie vermögen es nicht. Es gibt kein Heilmittel. Der Wirkung dieses Giftes ist jeder verfallen. „Der Tod ist der Sünde Sold.“ „Er ist zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben.“ „Es ist den Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht.“ Welche Heilmittel der Mensch auch versuchen, welche Kraft er auch dagegen anwenden mag, der „Sünde Gesetz“ ist er verfallen. Das Ergebnis wird nie anders lauten, als jener Ausruf im Römerbrief: „Ich elender Mensch, wer wird mich erretten von diesem Leibe des Todes?“ 
Auf diese Frage gibt’s nur eine Antwort: „Ich danke Gott durch Jesum Christum, unseren Herrn“. Ja, Gott sei Dank! das Heilmittel, die Hilfe kam von Ihm. Gott gab Seinen Sohn. Jesus kam, stieg aus dem Himmel hernieder, wurde Mensch. In der Wüste wurde auf Befehl Gottes als Panier der Rettung die Schlange aufgerichtet. Auf Golgatha wurde das Kreuz errichtet, an das Er erhöht wurde. Angesichts einer gottlosen, gottfeindlichen, durch die Sünde im Elend liegenden, dem Tode Verfallenen Menschheit entfaltete Gottes Barmherzigkeit ihren erhabenen Heilsplan. Seine überschwängliche Gnade konnte Er so dem Menschen gerade da zeigen, wo dessen Zustand nicht nur am elendesten und hilfsbedürftigsten erwiesen war, sondern seine Sünde, seine Feindschaft sozusagen den Höhepunkt erreichte, wo er sich auf die hässlichste und unwürdigste Weise offenbarte.
Es war die Liebe Gottes, die sich hier in der alle menschlichen Begriffe weit übersteigenden Höhe enthüllte. In der ihr allein eigenen Größe und Fülle, in ihrem wunderbaren Lichtglanz durchbrach, überstrahlte sie die finsterste Szene, die je diese Erde gesehen. Sie brachte das ewig gültige Sühnopfer, das unendliche Heil, den unaussprechlichen Trost, die lebendige Hoffnung. Man kann sagen, hier offenbart sich den Menschen das Herz Gottes. Man sollte meinen, diese Liebe müsste auch das härteste Sünderherz rühren und erschüttern. Hat sie dich noch nicht angezogen? Hat sie dein Herz noch nicht überwunden? Willst du als ein Erretteter eingehen in das Reich dieser Liebe, in Seine Herrlichkeit, diese Liebe in Ewigkeit genießen — du musst im Bewusstsein deiner Sünde dessen inne geworden sein: Er hing auch dort für mich! Du musst den Glaubensblick zu dem „Erhöhten“ erhoben haben. 
Noch ist Gnadenzeit, noch erstrahlt über der dunklen Szene der Gegenwart in herrlichem Glanz das „Kreuz von Golgatha'“, die wunderbare Rettungsschrift Gottes: „Gleichwie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte“. Und wie viele todeswunde Seelen haben sich ausgestreckt nach diesem einzigen Panier, haben sich zurückgefunden aus der Irre! Vielleicht sind sie auch erst in der „Nacht“, in der Todesnähe des Schlachtfeldes, in der Sterbensnot der Lazarette Jesu genaht, schauten empor zu dem auch für sie „Erhöhten“, und ihre Seele ist genesen für immer. 
Noch eins wird uns in diesem Gegenbild klar erkennbar. Wie schon angedeutet, die Rettung des Sünders ist eine ganz und gar persönliche, ihn allein angehende Sache. Jeder Israelit musste für sich hinschauen, für sich den Glaubensblick erheben; es gab keine Stellvertretung. Das Leben hing von einem Blick ab, aber der Blick musste getan werden. Alles ist hier persönlich, hier hilft keine andere Verbindung. Kein Bruder kann den anderen, kein Mann sein Weib, keine Mutter ihr Kind, aber auch keine Gemeinschaft, keine Kirche, kein Priester einen Menschen erretten. Ohne eine persönliche Verbindung mit dem Heilmittel, ohne den persönlichen Glauben an den Erlöser keine, Rettung, kein Leben! Darum, weil alle Begegnungen persönlich sein müssen, sind auch die Bekehrungen so wunderbar mannigfaltig, durchaus individuell, „und die Physiognomien der Wiedergeborenen so verschieden, wie die der natürlichen Menschen“. Bekehrungsmethoden gibt’s ebenso wenig, wie die daraus folgende Freiheit der Entwicklung eine Beschränkung zulässt, außer der durch das Wort selbst gebotenen. Hüten wir uns also, unseren eigenen Maßstab anzulegen, ja, eine Schablone daraus zu machen! Nicht umsonst sind die Beispiele des Nikodemus und des samaritischen Weibes nebeneinander gesetzt. Wir hätten wohl kaum den ehrwürdigen Nikodemus mit dem verkommenen Weibe zusammengestellt. 
 Wie es unzweifelhaft aus den Worten des Herrn feststeht, dass dieses Vorbild sich auf Ihn selbst bezieht, die Schlange den Menschensohn darstellt, wie in anderen Vorbildern das Opferlamm, der Fels, die Bundeslade, so müssen wir uns doch fragen, warum Gott als Vorbild Seinem Volk gerade „dieses unreine, hässliche Tier“ gegeben? Schon die Israeliten hätten denken können: Was soll es uns nützen, dieses Tier, das uns die tödlichen Bisse, die fürchterliche Krankheit verursacht? wie sollte es uns zur Heilung dienen? War es nicht eher ein Bild der mit dem ersten Schlangenbiss, im Paradies eingetretenen Sünde, ja, ein Bild von Satan selbst? Und nun ein Vorbild des Reinen, Fleckenlosen, der keine Sünde kannte?! Satans Bild ein Bild des Heilandes?! Welch scheinbarer Widerspruch in sich selbst! Aber der Herr ist es, der das Bild entwirft, sicher damit eine weitergehende Deutung anzeigend.
Naheliegend ist, wie oben ausgeführt, die Schlange als ein demütigendes Zeichen der Sünde. Naheliegend, dass ein Bild eben des Übels auch die Genesung bringt: wie in der Wüste so am Kreuze, wo „das Gift durch das in Arznei verwandelte Gift selber geheilt wird“. Wie die Hilfe Gottes sich so weit herablässt, in Gestalt des giftigen Tieres zu wirken, so lässt sich das ewige Heil herab, die Versöhnung zu vollbringen am Fluchholz, in der Gestalt Dessen, der ein Fluch wurde für uns. Hiermit sind wir der tieferen Bedeutung näher gekommen. Als Menschensohn sühnte Er nicht nur unsere Sünden, sondern Er nahm auch unseren Platz ein, indem Er als Sünde behandelt wurde. Zu diesem Zweck war Er ja in Gleichheit oder Gleichgestalt des Fleisches der Sünde erschienen (Röm. 8, 3). Er, „der Sünde nicht kannte, — gleichwie die eherne Schlange ohne Gift war, — wurde für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm“. O bedenke es, wie innig Er dort, wo es sich um unsere Missetaten und Übertretungen, um die Heilung unseres heillosen Zustandes handelte, wie innig und unaussprechlich Er sich dort mit dir und mir hat beschäftigen müssen! Deine und meine Natur, ihre Quelle, ihr spezifisch Böses, dort wurden sie unter Gottes unerbittliches Urteil gebracht, in Jesu Christo gerichtet. 
Endlich bringt uns dieses vielsagende Vorbild in der Person des Gekreuzigten die Erfüllung der zweiten großen Verheißung im Paradiese. Am Kreuze, da wo die Sünde in ihrem wildesten Ausbruch erschien, wurde nicht nur diese abgetan, sondern auch Satan selbst, der Erbfeind, die alte Schlange, wurde da, wo er alle Macht zu siegen vereinigt wähnte, für immer überwunden, zu Spott und  Schanden gemacht, der Tod durch den Tod getötet, zermalmt durch Ihn, „des Schlangenhauptes mächtigen Zertreter“. So hat der Menschensohn den neuen Weg geöffnet. So tief ist Er hinabgestiegen! — „Gleichwie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte, also muss der Sohn des Menschen erhöht werden.“ 
„Gleichwie“ — „also“ — welch kostbare, göttlich große Verbindung! Aus tiefsten Tiefen führt es uns zu höchsten Höhen. Dieses „gleichwie“ musste in diesem „also“, in seinem großen Gegenbilde, erfüllt sein, sollte der Herr jene anderen „gleichwie“ in Joh. 17 vor den Vater bringen können. Immer wieder heißt es da: 
„Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin.“ 
„auf dass sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir.“ 
„dass du sie geliebt hast, gleichwie du mich geliebt hast“ (Joh. 17, 11. 16. 18. 21. 22. 23).

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Gedanken

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 279ff

Wenn der Tag des Gerichts über diese Welt hereinbricht, wen wird dann der schwerste Schlag treffen? Nicht die offenbar glaubenslose Welt, sondern Babylon, die abtrünnige Kirche, die Vermischung dessen, was von Christo ist, mit dem Bösen, der Versuch, eine Gemeinschaft zwischen Licht und Finsternis möglich zu machen. Nichts ist für Gott hassenswürdiger als gerade dies. Deshalb ergeht die Ermahnung an die Gläubigen: „Gehet aus ihr hinaus, mein Volk, auf dass ihr nicht ihrer Sünden mitteilhaftig werdet, und auf dass ihr nicht empfanget von ihren Plagen!“(Offb. 18, 4). 
Was Gott hier so ernst verurteilt, ist also das Teilnehmen an den Sünden Babylons, die Anerkennung eines gemeinsamen Bodens für die Kirche Gottes und die Welt, während doch Gottes Absicht, das, wofür Christus starb, dahin geht, ein für Ihn abgesondertes Volk zu haben. Dieses Volk soll gerade durch Seine Weihung für Gott ein Licht in dieser Welt sein, ein Brief Christi, der der Welt sagt, was Christus ist, und sie darauf hinweist, wo das Wasser des Lebens für sie zu finden ist. Da wo man die Anbetung, die von dem Volke zu Gott emporsteigt, nicht mit der Religion der Welt vermengt, findet sich auch gleich von selbst die Linie der Absonderung, das einsichtsvolle Urteil darüber, was zu verurteilen und was nicht zu verurteilen ist. Neben der eifrigen Tätigkeit im Evangelium der Welt gegenüber wird sich eine sorgfältige Absonderung der Gläubigen von der Welt offenbaren. Gott kennt nichts Schöneres als Christum, und Er will stets unsere Blicke auf Ihn lenken, an dessen vollkommener Schönheit Er Seine Wonne hat. Es ist eine unaussprechliche Gnade, dass der Glanz des Angesichts Christi unsere Seelen durchdrungen hat, aber hierin liegt auch eine ernste Verantwortlichkeit. Wir haben als Lichter zu glänzen, indem wir das Wort des Lebens darstellen. Der Christus, den wir mit aufgedecktem Angesicht anschauen, hat die Strahlen Seines Lichts über uns ausgegossen, damit es aus uns hervorstrahle. Dieses Licht ist völlig in dem Herrn Jesus, und, wenn wir mit uns selbst beschäftigt sind, kann von einem Widerschein desselben auf unserer Seite keine Rede sein. 

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Warum?

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 281ff

„Gott ist erhabener als ein Mensch . . . Über all Sein Tun gibt Er keine Antwort“ (Hiob 35, 12. 13). 
„Der Mensch, vom Weibe geboren, kurz an Tagen und mit Unruhe gesättigt«, ist voll von Fragen. Warum dies? weshalb jenes? so fragt er, und bekommt keine Antwort. Das Fragen wird dringender, je seltsamer und unbegreiflicher Gottes Wege sich gestalten. Man meint Gott zur Rechenschaft ziehen zu dürfen, aber Er hüllt sich in Schweigen. 
Ja, Gott ist „zu erhaben für unsere Erkenntnis; die Zahl Seiner Jahre, sie ist unerforschlich“ (Hiob 36, 26.) Was ist Ihm gegenüber der Mensch? Ein schwaches, unwissendes Geschöpf, „dessen Odem in seiner Nase ist“, das verscheidet, sobald es Gott gefällt, diesen Odem zurückzuziehen. „Wasser, das auf die Erde geschüttet ist, welches man nicht wieder sammeln kann“ (2. Sam. 14, 14). Sein Leben „ein Dampf, der eine kleine Zeit sichtbar ist und dann verschwindet“ (Jak. 4, 14) .
Geziemt es wohl einem solchen Geschöpf, dem Allmächtigen darein zu reden oder den Allweisen zu fragen: Warum? vor allem wenn wir an Ihn denken als den Gott der Liebe, wie Er sich in Christo Jesu offenbart hat. Wer hat ein Recht, Ihn zur Rede zu stellen oder zu fragen: Weshalb tust du dies? Es sei denn, dass Gott mit uns redet über unsere Wege und unser verborgenes Tun uns vor Augen stellt. Dann freilich dürfen und sollen wir Ihn um Belehrung bitten, was Er uns mit Seinen Führungen zu sagen hat. 
Warum? — Wie oft ist diese Frage auch in den letzten Jahren unter uns laut geworden! Warum führt Gott gerade uns und unser Volk solch bittere, demütigende Wege? Warum lässt Er jahraus, jahrein grausame Feinde auf unserem Haupte reiten und hört nicht auf zu züchtigen? Und in Verbindung damit konnte man nicht selten auch von Gläubigen fragen hören: Ist unser Volk denn wirklich so viel böser als andere Völker? Haben wir es schlimmer getrieben als sie? Sind die und die weniger schuldig als wir? Wenn nicht, warum dann dieser anhaltende, immer schwerer werdende Druck, diese Vergewaltigung, die Hunger und Elend über Millionen von Menschen bringt? Warum? Warum? 
Ja, warum hat Gott das alles über uns kommen lassen? Warum lässt Er uns Unheil schauen und sieht schweigend zu, wenn Mühsal über Mühsal uns trifft? Warum rettet Er nicht, wenn man wegen des Armes der Großen um Hilfe ruft und wegen der Menge der Bedrückungen schreit? (Nah. 1, 2; Hiob 35, 9.) Ist es nicht so, wie wir gesagt haben, dass Gott mit uns zu reden hat? Hat Er nicht einen „Rechtsstreit“ mit uns, wie einst mit Seinem Volke Israel? (Vgl. Hos. 4, 1. 2 ; Micha 6, 1. 8). Und wenn wir diese Frage bejahen müssen, sollten wir dann die Schärfe der Anklage dadurch abzuschwächen suchen, dass wir sagen: Andere haben dasselbe oder gar noch Schlimmeres getan als wir? Sind wir überhaupt berufen, über andere zu urteilen, oder selbst nur imstande, ein richtiges Urteil über die Schwere fremder Verschuldung zu fällen? *) Nein, Gott lässt uns vielmehr sagen: „Richtet euer Herz auf eure Wege'', und: „Kehret doch um von euren bösen Wegen und von euren bösen Handlungen!“ (Hagg. 1, 5. 7; Sach. 1, 4). Und Jakobus fragt: „Wer bist du, der du den Nächsten richtest?“ Unsere Sache ist es, uns demütig unter die mächtige Hand Gottes zu beugen und zu fragen: „Wo ist Gott, mein Schöpfer, der Gesänge gibt in der Nacht, der uns mehr belehrt als die Tiere der Erde und uns weiser macht als das Gevögel des Himmels?“ 
Wenn wir das tun, wird Sein Licht unsere Augen erleuchten, und anstatt uns über die Schwere der Züchtigung zu verwundern oder gar zu beklagen, werden wir mit Jeremia sagen: „Es sind die Gütigkeiten Jehovas, dass wir nicht aufgerieben, dass Seine Erbarmungen nicht zu Ende sind.“ (Klagel. 3, 22). Wollte Gott mit uns handeln nach unseren Vergehungen, und nach Verdienst uns lohnen, so würden wir vergehen wie die Motte, Feuer vom Himmel würde auf uns fallen wie einst auf Sodom und Gomorra. Denn was war die Sünde dieser gottlosen Städte? Gott sagt: „Siehe, dies war die Missetat Sodoms: Hoffart, Fülle von Brot und sorglose Ruhe hatte sie mit ihren Töchtern (d. i. Tochterstädten), aber die Hand des Elenden und des Armen stärkte sie nicht; und sie waren hochmütig und verübten Gräuel vor meinem Angesicht“ (Hesekiel 16, 49. 50). 
Ist es nicht, als ob Gott die Zustände beschriebe, wie sie vor dem großen Kriege und auch noch teilweise während desselben und nach ihm in unserem Lande bestanden? Erging es uns lange Zeit nicht ähnlich wie Moab, dem Gott dasselbe Gericht bereitet hat wie Sodom (Zeph. 2, 9), und von dem Er sagt: „Sorglos war Moab von seiner Jugend an, und still lag es auf seinen Hefen und wurde nicht ausgeleert von Fass zu Fass, und in die Gefangenschaft ist es nie gezogen; daher ist sein Geschmack ihm geblieben und sein Geruch nicht verändert“? Haben wir nicht auch gleich ihm oft gedacht und gesprochen: „Wir sind Helden und tapfere Männer zum Streit“? (Jer. 48, 11. 14). 
So dürfen wir uns denn nicht wundern, wenn „ein Verwüster wider uns heraufgezogen ist und unsere Festen zerstört hat“. Wenn „Fremde unsere Flur verzehren vor unseren Augen“ (Jes. 1, 7), und „Gott sich des Guten hat gereuen lassen, welches Er uns zu tun gedachte“ (Jer. 18, 9. 10). Unser Volk in seiner Allgemeinheit hat vergessen, welch große Dinge Gott an ihm getan hatte, und ist übermütig geworden, hat sich abgekehrt von Gott und ist Wege des Eigenwillens und der Sünde gegangen. 
Oder dürfen wir sagen, dass es gehört hat auf die ernsten Mahnungen Gottes: „Waschet euch, reiniget euch;“ schaffet die Schlechtigkeit eurer Handlungen mir aus den Augen, lasset ab vom Übeltun! Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht usw.“? Hat es die Forderungen Gottes an den Menschen, „Recht zu üben, Güte zu lieben und demütig mit Gott zu wandeln“, erfüllt? Leider nein! (Jes. 1, 16.17; Mich. 6, 8.) Anders würde Gott darauf gemerkt und sich umgekehrt „des Übels haben gereuen lassen, welches Er ihm zu tun gedachte“ (Jer. 18, 8). Die Grundsätze der Regierung Gottes sind heute keine anderen als in früheren Tagen. Er bleibt sich selber treu, Er kann sich nicht verleugnen. „Er hält keineswegs für schuldlos den Schuldigen.“ 
 „O Land, Land, Land, höre das Wort Jehovas!“ so rief Jeremia einst seinen Zeitgenossen zu. Könnten auch wir es mit Macht in jedes Herz und Gewissen hineinrufen, damit doch, wenn auch das Volk als solches nicht umkehren will, viele Einzelne aufwachen und ,,den Herrn suchen, während Er sich noch finden lässt, Ihn anrufen, so lang Er nahe ist“! Es kommt die Zeit, wo man zu Ihm rufen und Er nicht antworten wird, ja, wo „man Ihn eifrig suchen und nicht finden wird“. O es ist bitter, „von der Frucht seines Weges essen und von seinen Ratschlägen sich sättigen zu müssen“ (Spr. 1, 24 -- 31), aber Gott ist gerecht, und wer die Zeit der Gnade und diese selbst verschmäht, muss sein Urteil tragen. Verlässt aber der Gesetzlose seinen Weg und der Mann der Bosheit seine Gedanken, und kehrt er um zum Herrn, so wird Gott sich seiner erbarmen, „denn Er ist reich an Vergebung“ (Jes. 55, 6. 7). 
„Wenn ihr willig seid und höret, so sollt ihr das Gute des Landes essen. Wenn ihr euch aber weigert und widerspenstig seid, so sollt ihr vom Schwerte verzehrt werden“ (Jes. 1, 19. 20).
Vielleicht wird der eine oder andere meiner Leser denken: Sind das nicht Worte, die dem Volke Israel gelten? Wir stehen aber doch auf einem ganz anderen Boden. Es ist so, wir leben in der Haushaltung der Gnade, nicht des Gesetzes; aber ich wiederhole: die Regierungswege Gottes werden davon nicht beeinflusst. Auch heute gilt das Wort: „Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten, denn was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten«. Und was von dem Einzelnen wahr ist, gilt auch von einem ganzen Volke.  
Da erhebt sich denn für uns, die Gläubigen, ganz von selbst die Frage: Inwieweit haben wir uns von dem allgemeinen Verderben ferngehalten, inwieweit uns als das Licht der Welt und das Salz der Erde erwiesen? Wir sind verantwortlich, in der Umgebung, in welcher wir stehen, unser Licht leuchten zu lassen. Das Licht macht die Finsternis offenbar und verurteilt sie. Aber war es immer so? Hatte der Geist der Sorglosigkeit und Hoffart, hatten Fülle von Brot und Hochmut nicht auch auf uns ihre schlimmen Einflüsse ausgeübt? Und wenn es so ist, sind wir dann nicht zunächst berufen und verantwortlich, umzukehren und unserem Gott mit ernstem Bekenntnis zu nahen? Sollten wir uns nicht auch, wenigstens in einem Sinne, mit der Sünde und dem Zustand unseres armen Volkes eins machen und uns vor Gott demütigen? Wenn das Volk in seiner Gesamtheit es nicht tut, so sollten es doch die tun, deren Augen Gott aufgetan hat. Heute wie vor alters muss Gott im Blick auf die große Masse sagen: „Sie haben nicht auf mich gehört und ihr Ohr nicht geneigt, und sie haben ihren Nacken verhärtet“ (Jer. 7, 26) — sie wollen nicht hören, sondern „tun was ihrem Munde angenehm ist“, d. h. was ihrem Geschmack zusagt (Hesekiel 83, 31). Ja, selbst an viele der religiösen Leiter unseres Volkes müsste der Herr heute dieselben Worte richten, wie zur Zeit da Er hienieden wandelte: „Ihr erforschet die Schriften, denn ihr meinet in ihnen ewiges Leben zu haben, . . . und ihr wollt nicht zu mir kommen, auf dass ihr Leben habet“ (Joh. 5, 89. 40).
Er war in dem Namen Seines Vaters gekommen, um dessen Willen zu tun; sie suchten Ehre von Menschen. Ach! nicht mehr lang wird es währen, und ein anderer wird in seinem eigenen Namen kommen. Der Antichrist, der Mensch der Sünde, der „Übermensch“, den man so sehnlichst erwartet, der, ausgerüstet mit satanischen Kräften, mit Zeichen und Wundern der Lüge, die Herrschaft an sich reißen und sein Reich ausrichten wird „in allem Betrug der Ungerechtigkeit“. Ihn wird man aufnehmen, ihm sich willig unterwerfen. Schon Daniel, der Prophet, sagt von ihm, wenn er von der „Zeit des Endes“ spricht: „Und der König wird nach seinem Gutdünken handeln, und er wird sich erheben und groß machen über jeden Gott . . . denn er wird Gelingen haben, bis der Zorn vollendet ist“ (Dan. 11, 35. 36). Und der Apostel Paulus beschreibt ihn als den Gesetzlosen, »welcher widersteht und sich selbst erhöht über alles, was Gott heißt, oder ein Gegenstand der Verehrung ist (d. i. jede göttliche Autorität und Macht), so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst darstellt, dass er Gott sei“. Aber der Herr Jesus wird diesen „Sohn des Verderbens“ „verzehren durch den Hauch Seines Mundes und durch die Erscheinung Seiner Ankunft“ (2. Thess. 2, 1 — 17). 
Noch ist der „falsche Prophet“, der Sendling Satans, nicht auf den Schauplatz getreten, aber alles weist darauf hin, dass sein Erscheinen nahe ist. Noch ist Gnadenzeit, und Gott benutzt sie zum Heil vieler Tausender. Ja, gerade die schweren Drangsale, durch die wir geführt werden — und damit kommen wir zu einer zweiten Antwort auf unser „Warum?“ — haben für viele, viele aus unserem Volke zu ewigem Segen gedient und dienen noch dazu. Große Scharen sind im Laufe der letzten Jahre wieder unter den Schall des Evangeliums gekommen und haben begierig gelauscht auf die Botschaft vom Kreuz. Viele halt und friedelose Seelen haben Halt und Frieden gefunden in dem Fels der Zeitalter, der im Sturm und Wogendrang allen Schutz und Schirm bietet, die zu Ihm Zuflucht nehmen. Wenn es aber wahr ist, dass für Tausende und Abertausende aus unserm Volke das bittere Leid zum Heil geworden ist (Jes. 88, 17), und dass sie Gott in alle Ewigkeit gerade für die Zeiten danken werden, die jetzt so schwer auf uns lasten, was wollen wir dann sagen? 
Wenn Gott zu Hiob spricht: „Will der Tadler rechten mit dem Allmächtigen? Der da Gott zurechtweist, antworte darauf!« so antwortet Hiob: „Siehe, zu gering bin ich, was soll ich dir erwidern? Ich lege meine Hand auf meinen Mund. Einmal habe ich geredet, und ich will nicht mehr antworten, und zweimal, und ich will es nicht  mehr tun (Hiob 39, 31 — 35). Sollten wir es nicht auch so machen und, das Ende des Herrn mit Hiob anschauend, im Glauben festhalten, dass Er „voll innigen Mitgefühls und barmherzig ist“? 
Petrus redet am Ende seines zweiten Briefes von Spöttern, die höhnisch fragen: „Wo ist die Verheißung Seiner (des Herrn) Ankunft?“ und im Anschluss daran sagt er: „Der Herr verzieht nicht die Verheißung . . ., sondern Er ist langmütig gegen euch, da Er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen“, und weiter: „Achtet die Langmut des Herrn für Errettung“. Dürfen wir da nicht, eingedenk des Errettungswillens Gottes, einander zurufen: „Achtet die Züchtigungswege des Herrn für Errettung“ — Gott will, dass noch Viele aus unserem Volke zur Buße kommen? Und wenn wir immer wieder hören dürfen, dass bald hier bald dort zahlreiche Seelen zum Stillstehen und zur Umkehr gebracht werden, haben wir dann nicht doppelt Ursache, unser Haupt zu beugen und still und demütig zu sagen: „Dein Wille geschehe!“? 
Ganz gewiss „geht auch dieses aus von Jehova der Heerscharen“, und Er ist nicht nur ,,wunderbar in Seinem Rat und groß an Verstand«, sondern Er „gedenkt auch im Zorne des Erbarmens“, und Er „drischt“ nicht unaufhörlich, zermalmt nicht das „Brotkorn“, „Er hat nicht vergessen, gnädig zu sein“, sondern „wenn Er betrübt hat, erbarmt Er sich nach der Menge Seiner Gütigkeiten“. "(Vgl. Jes. 28, 23 — 29; Hab. 3, 2; Ps. 77, 7 - 9; Klagel. 3, 31 — 33). · 
 Darum: „Prüfen und erforschen wir unsere Wege, und lasst uns zu Jehova umkehren! Lasst uns unser Herz samt den Händen erheben zu Gott im Himmel!“ 

Fußnote:
*) Manche finden auch darin eine Schwierigkeit, dass Gott unseren Gegnern erlaubt, mit solch rücksichtsloser Härte über uns zu herrschen und mit scheinbar unersättlicher Rachsucht uns zu quälen. Warum, so fragen sie, macht Gott diesem grausamen Treiben nicht ein Ende? Aber abgesehen von der Frage, ob nicht auf diesem Wege manch eigene Härte und Gefühllosigkeit mit Zins und Zinseszins heimgezahlt wird, und der anderen, inwieweit alle diese Dinge zur Herbeiführung der Endereignisse mitwirken müssen, wollen wir uns doch daran erinnern, dass Gott von allem Kenntnis nimmt und über den, den Er heute als Zuchtrute benutzt, vielleicht morgen schon selbst die. Geißel schwingt. Assyrien, das gottlose, heidnische Reich, war seiner Zeit „die Rute Seines Zornes“, die Seinen Grimm an Israel vollzog; als aber Assur sich überhob und in seiner Kraftfülle meinte, die Grenzen der Völker nach Willkür verrücken, ihre Schätze plündern und die ganze Erde zusammenraffen zu können, wie man verlassene Eier zusammenrafft, da sandte Gott Magerkeit unter seine Fetten und ließ im Brande auflodern seine ganze Herrlichkeit (Lies Jes.10, 5 — 27). 

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Eine Ursache geistlicher Schwachheit

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 290ff

Wie eindrucksvoll sind die Worte des Propheten Elia an den König Ahab: „So wahr Jehova lebt, der Gott Israels, vors dessen Angesicht ich stehe, wenn es in diesen Jahren Tau und Regen geben wird, es sei denn auf mein Wort!“ (1. Kön. 17, 1). 
Besäßen wir nur den Bericht des Alten Testamentes über Elia, so würden wir sicher denken, dass er ein ganz außergewöhnlicher Mensch gewesen sein müsse, der mit anderen Menschen kaum etwas gemein gehabt habe. Das Neue Testament aber belehrt uns, woher seine Kraft kam: „Elias war ein Mensch von gleichen Gemütsbewegungen wie wir, und er betete ernstlich, dass es nicht regnen möge, und es regnete nicht auf der Erde drei Jahre und sechs Monate. Und wiederum betete er, und der Himmel gab Regen, und die Erde brachte ihre Frucht hervor“ (Jak. 5, 17. 18). 
Diese beiden Stellen lassen uns den Platz erkennen, den Elia Gott gegenüber einnahm: er stand vor Seinem Angesicht, und enthüllen uns zugleich das Geheimnis seiner erstaunlichen Kraft: er betete ernstlich. Es ist mit Recht gesagt worden: „Das Gebet setzt den Arm in Bewegung, der das ganze Weltall leitet“. 
Das Gebet ist das erste Bedürfnis einer wiedergeborenen Seele. Wenn der Herr Seinen Jünger Ananias über die Stellung des Saulus zu Ihm und Seiner Suche — beruhigen und ihm die Veränderung beschreiben will, die mit diesem Manne vorgegangen war, so sagt Er einfach: „Siehe, er betet“ (Apg. 11, 11). 
Wenn der Gläubige seinen Platz vor Gott bewahrt, so vermehrt sich das Bedürfnis zum Gebet und wird zu einer Gewohnheit, die der Odem des neuen Lebens genannt werden kann. In der Nähe des Herrn werden Herz und Gewissen des Erlösten wach erhalten, und die Abhängigkeit wird verwirklicht im Gebet. Auf diese Weise gelangt auch der schwächste Gläubige zu der nötigen Gnade und Kraft, um für den Herrn Zeugnis ablegen zu können. 
Drei wichtige Dinge kennzeichnen das Gebet des Elia, oder das Gebet des Glaubens: Einsicht in die Gedanken und den Willen des Herrn im Blick auf den erbetenen Gegenstand, dann ein volles Vertrauen auf Gott und schließlich Ausharren. 
Der Platz, den der Prophet einnahm — er stand vor dem Angesicht des Herrn — ist der einzige, wo eine klare Unterscheidung des Willens des Herrn möglich ist. Wie könnte ich wissen, was jemand angenehm ist, wenn ich mich gewohnheitsmäßig fern von ihm halte? An diesen Umstand erinnert der Herr Seine Jünger, wenn Er mit ihnen über das Bieten redet: ,,Wenn ihr in mir bleibet und meine Worte in euch bleiben, so werdet ihr bitten was ihr wollt, und es wird euch geschehen“ (Joh. 15, 7).  Man versteht das auch gut; denn wir werden in solchem Falle sicher nur um Dinge bitten, die nach Seinem Willen sind. 
In unmittelbarem Gegensatz dazu stehen die Worte in Jak. 4, 8: „Ihr bittet und empfanget nichts, weil ihr übel bittet, auf dass ihr es in euren Lüsten vergeudet“. Wir nannten als zweites Element des Glaubensgebets ein völliges Vertrauen auf den Herrn bezüglich der  Sache, um die man bittet. Der Herr sagte im Blick hierauf einst zu Seinen Jüngern: „Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt. und nicht zweifelt, so werdet ihr nicht allein das mit dem Feigenbaum Geschehene tun, sondern wenn ihr auch zu diesem Berge sagen werdet: Werde aufgehoben und ins Meer geworfen! so wird es geschehen. Und alles was irgend ihr im Gebet glaubend begehrt, werdet ihr empfangen (Matth. 21, 21. 22). Dem steht wieder eine andere Stelle des Jakobusbriefes gegenüber: „Wenn aber jemand von euch Weisheit mangelt, so bitte er von Gott, der allen willig gibt und nichts vorwirft, und sie wird ihm gegeben werden. Er bitte aber im Glauben, ohne irgend zu zweifeln; denn der Zweifelnde ist gleich einer Meereswoge, die vom Winde bewegt und hin und her getrieben wird. Denn jener Mensch denke nicht, dass er etwas von dem Herrn empfangen werde; er ist ein wankelmütiger Mann, unstet in allen seinen Wegen (Kap. 1, 5 — 8).
Das dritte wichtige Kennzeichen des Gebets des Elias ist das Ausharren: er betete ernstlich. Ist das nicht der Punkt, in dem wir am meisten fehlen? Der Herr lenkte einst auch auf diesen Punkt die Aufmerksamkeit der Seinigen, als sie Ihn baten: „Herr, lehre uns beten“. Nachdem Er ihnen verschiedene Gegenstände, um die sie bitten sollten, genannt hatte, fuhr Er fort: „Wer von euch wird einen Freund haben und wird um Mitternacht zu ihm gehen und zu ihm sagen: Freund, leihe mit drei Brote, da mein Freund von der Reise bei mir angelangt ist, und ich nicht habe, was ich ihm vorsetzen soll; und jener würde von innen antworten und sagen: Mache mir keine Mühe, die Tür ist schon geschlossen, und meine Kinder sind bei mir im Bett; ich kann nicht aufstehen und dir geben? —Ich sage euch, wenn er auch nicht aufstehen und ihm geben wird, weil er sein Freund ist, so wird er wenigstens um seiner Unverschämtheit willen aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf. Und ich sage euch: Bittet, und es wird euch gegeben werden; suchet, und ihr werdet finden; klopfet an, und es wird euch aufgetan werden“ (Luk. 11, 5 - 9).
Die wichtige Sache, auf welche der Herr uns in diesem Gleichnis aufmerksam machen will, ist neben der Bestimmtheit der Bitte — drei Brote, nicht weniger — das Ausharren im Bitten. Er lässt uns verstehen, dass wir zudringlich, ja, sozusagen unverschämt werden sollen; und in beiden Punkten fehlen wir so oft. Unser Bitten entbehrt der Bestimmtheit, des Zielbewusstseins und des Ausharrens. Aber abgesehen von diesen besonderen Kennzeichen, die unsere Gebete tragen sollten, müssen wir leider feststellen, dass die Notwendigkeit, das Bedürfnis des Gebets im allgemeinen so wenig gefühlt wird. Man kann das besonders in den Gebets-Versammlungen bemerken: die meisten Teilnehmer bleiben stumm, und manche vermögen kaum eine Stunde wach zu bleiben. Das ist eine betrübende Erscheinung, und wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir in diesem Mangel die Hauptursache der Schwachheit zu erkennen glauben, die uns in der gegenwärtigen Zeit kennzeichnet. Wir beten zu wenig. Unsere im Glauben entschlafenen Vorfahren waren meist ernste Beter und Beterinnen, und darum war ihr Zeugnis so klar und ihr Leben so gesegnet. 
Doch versetzen wir uns noch weiter zurück, in die Tage der ersten Zeugen des Herrn. Öffnen wir das Buch der Geschichte der Apostel. Was tritt uns im Beginn des christlichen Zeitabschnittes entgegen? Eine brennende Liebe unter den Gläubigen, und Herzen, die dem Herrn völlig ergeben waren und die Wichtigkeit des Gebets verstanden, die dann auch in der Gemeinschaft des Herrn und in der Abhängigkeit von Ihm die Gnade und Kraft suchten, deren sie bedurften.
Das erste, was wir hinsichtlich der Jünger nach dem Weggang ihres Meisters hören, ist, dass sie „alle einmütig im Gebet verharrten«. (Kap. 1, 14.) Dann wird von denen, die am Pfingsttage der Predigt der Apostel geglaubt hatten, gesagt: „Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten“ (Kap. 2, 42). Die Apostel selbst betonen die Wichtigkeit des Gebets in Verbindung mit ihrem Dienst mit den Worten: „Wir aber werden im Gebet und im Dienst des Wortes verharren“ (Kap. 6, 4), indem sie so das Gebet vor den Dienst stellen, so wichtig dieser auch sein mag. Im Feuer der Verfolgung sehen wir, wie die Jünger sich durch das Gebet im Herrn stärken und sich Kraft und Freimütigkeit im Zeugnis für Ihn erbitten. (Kap. 4, 28  —31.) Stephanus endlich schöpft aus dem Gebet alle Kraft, um sein Zeugnis für seinen Herrn mit dem Tode zu besiegeln. 
 Beachten wir ferner: wenn die heilige Übung des Gebets der Tätigkeit der ersten Jünger gleichsam zur Grundlage diente, so öffnete sie zugleich auch die Tür für die reichsten Segnungen. Saulus von Tarsus  empfing von Ananias die ihn betreffende Botschaft des Herrn in dem Augenblick, da er betete (Kap. 9, 11). So erhielt Kornelius , der gottesfürchtige Hauptmann in Cäsarea, die Mitteilung des Engels, als er betete (Kap. 10, 31). Lydia, die Purpurkrämerin, war an dem Flussufer, „wo es gebräuchlich war, das Gebet zu verrichten“, als der Herr ihr das Herz auftat, „dass sie acht gab auf das, was von Paulus geredet wurde“ (Kap. 16, 13 —15).
Der Apostel Petrus hatte das uns allen bekannte wunderbare Gesicht auf dem Hausdache Simons, des Gerbers, als er betete (Kap. 10, 9 —16). 
Der so wichtigen Aussendung der Apostel Paulus und Barnabas zu den heidnischen Völkern ging eine Gebetsversammlung voraus. (Kap. 13, 1 - 3).
Man könnte noch andere Beispiele aufzählen, aber die angeführten genügen, um uns die Wichtigkeit der beiden genannten Dinge zu zeigen: Gemeinschaft mit dem Herrn und Übung der Abhängigkeit durch das Gebet. Wollen wir nicht mit Ernst begehren, in beidem zu wachsen? Es bedarf auch hier eines „Herzensentschlusses“ (Apg. 11, 28). 
Doch noch eins: Neben den Ermahnungen des Herrn in den Evangelien (Luk. 11, 5 - 10; 18, 1 — 8) haben wir Sein eigenes Beispiel, besonders im Evangelium Lukas, das uns den Herrn als Sohn des Menschen vor Augen stellt. Wir wissen es ja, der vollkommene Mensch ist der abhängige Mensch. (Vgl. Luk. 3, 21; 5, 16; 6, 12; 9, 18. 28. 29; 11, 1; 22, 41). 
 Fast alle Briefe erwähnen das Gebet.(Vgl. Röm. 12, 12; 1. Kor. 7, 5; Eph. 6, 18; Phil. 4, 6; Kol. 4,2; 1.Thess. 5, 17. 25; 1. Tim. 2, 1. 8; Hebr. 13, 18; Jak.5, 16; 1. Petr. 4, 7; 1. Joh. 5, 14. 15; Jud. 20). Vielfach wird unter der Form eines bestimmten Gebots zum Beten ermahnt. Manche Dinge werden mehr oder weniger dem geistlichen Entscheidungsvermögen der Gläubigen überlassen, nicht aber das Gebet. Schon das sollte uns genügen, um uns die Bedeutung desselben erkennen zu lassen. 
Was sollen wir nun sagen? Wollen wir nicht ernstlich und anhaltend flehen: „O Herr, erwecke in uns allen, und ganz besonders in den jüngeren unter uns, einen Geist des Gebets, zum Preise Deines heiligen Namens und zum Heile für viele in diesen letzten bösen Tagen“? 
Ehe wir schließen, noch ein Wort über die allgemein so wenig besuchten Gebetsversammlungen Wir möchten unsere Leser herzlich bitten, sie doch unter keinerlei Vorwand zu versäumen. Dass sie nicht immer dass sind, was sie sein sollten und sein könnten, sei von vornherein zugegeben. Aber liegt nicht oft die Ursache gerade darin, dass man ihnen so wenig Interesse zuwendet und dadurch lähmend und hindernd auf andere wirkt? Übt nicht ein reger Besuch unwillkürlich auch eine ermunternde Wirkung auf alle aus, die sich dann in der Teilnahme am Beten und in dem Inhalt und der Wärme der Gebete selbst kundgibt? Legt sich nicht im entgegengesetzten Falle die Leere der Bänke, der schwache Gesang, der Mangel an Wärme wie ein schwerer Druck auf die Gemüter der Versammelten? 
Möchten wir alle ernstlich über die Worte unseres Herrn in Matth. 18, 19. 20 nachdenken! Zwei Belehrungen von besonderem Werte treten uns in dieser Stelle entgegen. 
1. Der Herr wusste, wie gering die Zahl derer sein würde, die das kostbare Vorrecht des gemeinsamen Gebets verstehen würden. Er geht deshalb auf die geringste Zahl zurück, durch die eine Mehrheit ausgedrückt werden kann: zwei. Welch eine Herablassung Seinerseits, und welch eine Ermunterung für uns! Er spricht: „Wiederum sage ich euch: Wenn zwei von euch auf der Erde übereinkommen werden über irgend eine Sache, um welche sie auch bitten mögen, so wird sie ihnen werden von meinem Vater, der in den Himmeln ist“. 
An Gebetsanlässen und Gebetsgegenständen wird es nie fehlen — sie umgeben uns auf allen Seiten; was fehlt, ist das Bedürfnis zu beten. Würde ein jeder von uns das einmal wirklich empfinden, so würde sich das Ergebnis unfehlbar in den gemeinsamen Zusammenkünften zum Gebet zeigen. Das fleißiger geübte persönliche Beten würde uns erst die Wichtigkeit des gemeinsamen Betens verstehen lassen. In Beantwortung der Frage: „Warum sind wir in unserem Zeugnis so schwach?“ können wir nur wiederholen: Weil das Bedürfnis zum — persönlichen und gemeinsamen Beten so schwach bei uns ist. Wahrlich, es ist Zeit, aus dem Schlafe aufzuwachen und nüchtern zu werden zum Gebet. 
 2. Unsere Stelle gibt uns noch einen zweiten Beweggrund an, der uns anleiten sollte, die Gebetsversammlungen nicht zu vernachlässigen, selbst wenn die Zahl der Teilnehmer die denkbar geringste sein sollte. Nicht nur in Verbindung mit dem Inhalt des 18. Verses, der Ausübung der Zucht, sondern auch mit dem des 19. sagt der Herr: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“. 
Beachten wir diese wunderbare Verheißung! Der Herr sagt nicht: „Ich werde euch segnen, indem ich auf eure Bitten antworte und euren Bedürfnissen begegne“, nein, die verheißene Segnung geht viel weiter. Der Geber selbst wird gleichsam unser gegenwärtiges Teil; und was könnte es Köstlicheres geben? 
Gehen wir denn zu den Gebets-Versammlungen. Wir werden den Herrn dort finden und getröstet werden. Das wird die unmittelbare Segnung sein, die uns zuteilwerden wird, und wie groß und kostbar ist sie!. Wir werden, wenn wir heimkehren, sagen können, wie einst die glücklichen Jünger: „Wir haben den Herrn gesehen!“ (Joh. 20, 20. 25). Und wir werden von Ihm, den man niemals vergeblich anruft, die süße Gewissheit empfangen, dass Er uns erhört hat. . 
Vergessen wir nie, was die beiden einfachen Worte zum Ausdruck bringen: „Betet unablässig!“

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Nikodemus oder vom Wissen zum Glauben

Bibelstelle: 

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 298ff

Vlll 
 „Also muss der Sohn des Menschen erhöht werden.“ — O heiliges, göttliches „Müssen“! Erschütternde Wahrheit! Unendliche Tiefen, in die wir hineinblicken! Anbetend müssen wir hier still stehen. Hier war kein Ausweichen möglich. Dieser Kelch konnte nicht vorübergehen, er musste getrunken werden, dieser göttliche Wille musste geschehen. Zwischen dem „ihr müsset“ und diesem „muss“ welch tief innerer Zusammenhang, und doch zugleich welch abgrundtiefe Weiten, aber ausgefüllt von göttlicher Liebe, verbunden mit ewiger Gnade! Enthält das „ihr müsset“ trotz unabweisbarer Forderung für uns doch größte Gabe und Verheißung, so liegt in dem „muss“ für Ihn neben freier, vollkommener Selbsthingabe auch unerbittliche, göttlich richterliche Forderung, das größte Opfer, das je gebracht werden konnte: „das Kreuz von Golgatha“. Dieses furchtbare „muss“, das hier sich erstmals dein tiefsten Herzensgrund entringt, wieder und wieder lässt es seine dunklen Schatten auf den Weg des Herrn fallen. Von den Jüngern ach so wenig verstanden! Ja, sie nehmen Anstoß daran. Zu dem Unverstand ihrer Herzen, zu den irdischen Erwartungen über ihren Herrn will es so wenig passen. Sie ärgern sich, geradeso wie auch heute für viele, die wohl Jesu Jünger sein möchten, dieses „muss“ ein „Ärgernis“ und eine „Torheit“ bedeutet. Welche Tragweite für dich und mich! O wie hässlich, wie schrecklich muss. die Sünde sein in den .Augen eines heiligen Gottes! Wie unergründlich unser Verderben! Wie über alles Denken und Fühlen hinaus groß aber auch die auf dieses „muss“ gegründete Herrlichkeit, die daraus fließende Seligkeit! 
Der dreimalige Angstruf in Gethsemane: „Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst“, lässt uns etwas davon ahnen, welch ein Ringen angesichts der schlafenden Jünger durch die Seele des Herrn ging. 
Ja, es war unmöglich, dass der Kelch vorüberging. Das Verlassensein von seiten Gottes, des Kelches tiefste Bitterkeit, konnte Ihm nicht erspart werden. Er musste ihn trinken. „Er musste erhöht werden.“ O Gethsemane, o Golgatha — wer könnte gefühllos an euch vorübergehen! Klar lag der Weg vor Ihm. Er wusste, wohin er hinaufführte, das; er sein Ende an dem Schandpfahl auf dem Hügel von Golgatha finden musste: „welcher selbst unsere Sünden an Seinem Leibe auf dem Holz getragen hat“ (1. Petr. 2, 22). „Musste nicht die Schrift erfüllt werden“, „musste nicht der Christus leiden“? (Luk. 24). Ist's so schwer zu begreifen, was „von Mose anfangend“ sich wie ein roter Faden durch die Schriften zieht? Sie geben Zeugnis von dem ewigen Gnadenrat Gottes, von Seinem Versöhnungswillen, aber auch von der Notwendigkeit einer Versöhnung, eines Sühnopfers der von Gott trennenden Sünde wegen. Konnte der Christus auf einem anderen Wege in Seine Herrlichkeit eingehen? „Also steht geschrieben, und also musste der Christus leiden und am dritten Tage auferstehen aus den Toten.“ Will der Herr, indem Er so mit Nikodemus redet, seinem Geiste vielleicht den ergreifenden Inhalt von Jesaja 53 lebendig machen? Aber nicht nur zu Nikodemus, auch zu unseren Herzen, zu aller Herzen will Er reden. Zwischen dem „ihr müsset“ und diesem „muss“ muss einmal für jeden die Entscheidung fallen. 
Unendlich und erhaben steht das Kreuz von Golgatha vor unserem Blicke, Gottes tiefste und herrlichste Offenbarung an den Menschen, kundgetan durch den Träger derselben, den dort erhöhten Menschensohn. Auf dem Kreuz, dem Platze der völligen Trennung des Menschen von Gott, wo das Zeugnis Gottes vollständig verworfen wurde, dort allein trifft der Glaube mit Gott zusammen, 301 dort allein konnten Güte und Wahrheit sich begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ (Ps. 85, 10). An dem Menschen hatten sich alle Zeugnisse Gottes als nutzlos erwiesen, ja, er hatte sich, als Gott selbst in Menschengestalt zu ihm herabgestiegen war, sich ihm in Gnade und Wahrheit offenbart hatte, durchaus als Feind Gotteserwiesen. Sollte der Mensch errettet werden, so musste Gott selbst der Mittler werden. Um den Menschen zu erkaufen, musste Er selbst den Kaufpreis zahlen, das Opfer für seine Sünden bringen. Der Sohn des Menschen, Christus, der Sohn Gottes, musste verworfen, erhöht werden, am Kreuze sterben.
Hinausgeworfen von den Menschen, von der Erde erhöht, musste Christus Seinen Platz zwischen Himmel und Erde einnehmen. Zugleich war das Kreuz der Altar Gottes, auf dem das kostbare Opfer zu unserer Errettung, aber auch zu Seiner Verherrlichung, zur Wahrung Seiner unantastbaren Heiligkeit dargebracht wurde. So wurde es der neue Mittelpunkt, das magnetische Zentrum, möchte ich sagen, von dem es heißt: „Wenn ich erhöht bin von der Erde, werde ich alle zu mir ziehen“. Also keine Wiedergeburt ohne Versöhnung, keine Versöhnung ohne das Ende der alten Natur im Sterben Christi, keine Rettung, keine Heilung als nur durch den Glauben. 
„Auf dass jeder, der an Ihn glaubt,   nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“ 
Nur der Glaube rettet. Nicht der einfache geschichtliche Glaube, das für wahr Halten was einer sagt, auch nicht im allgemeinen Sinne das auf Ihn Trauen, sondern allein der Glaube an Ihn, das innere Anschauen des „Erhöhten“ — wie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte — des Gekreuzigten, dessen Anschauen dem vom Sündenbiss Gequälten alsbald Rettung und Heilung bringt, zu dem ohne. alles äußere Zutun nur der Blick erhoben zu werden braucht Hier gilt’s nicht lange mit dem Verstand zu deuteln, zu enträtseln, sondern die Gnadengabe zu ergreifen. Hier kommt’s darauf an, nicht aus sich selbst etwas zu machen, zu vollbringen, sondern sich persönlich dem Erlöser hinzugeben, die Macht und Wirkung des vorgestellten Erlösungswerkes zu ergreifen. Tust du das, so wirst du es erfahren, erleben, dass Er wirklich der Retter, der Helfer und Erlöser ist. Sehen und Haben, Erkennen und Besitzen sind dann eine Sache. Unzertrennlich verbunden ist mit dem Glauben die schmerzlich empfundene Sündennot, muss sich mit dem Anschauen die innere Willensübergabe an Den verbinden, von dem uns Hilfe kommen soll. Der verlorene Sohn in Luk. 15 gesteht sich nicht nur, dass es ihm sehr schlecht gehe, und dass er fast am Leben verzweifle, sondern er sagt: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen, und will zu ihm sagen“ — Und der Herr selbst sagt: nicht wer da überlegt, wer sich viel vornimmt, immer mit einem „wie“ fragt, sondern: „wer da will“, „wer an mich glaubt“, „auf dass jeder, der an Ihn glaubt, . . . ewiges Leben habe“. 
„Ewiges Leben« — glauben und leben, glauben und haben; nicht hoffen, erwarten, später bekommen, nein, haben! Alsbaldiger, unmittelbarer Anfang des neuen Gottes und Geisteslebens, jedem gegeben, der das von dem Erhöhten, Gekreuzigten erworbene Heil ergreift! Jeder, der das tut, aber auch nur er, wird dadurch aus dem Tode in das Leben versetzt (Joh. 5, 24), wird der göttlichen Natur teilhaftig und entrinnt dem Tode, dem Sold der Sünde, dem ewigen Verlorengehen (Joh. 10, 28). 
„Ewiges Leben“ — wie will man’s erklären? Zum ersten mal hören wir hier den Herrn dieses große, allumfassende Wort aussprechen. Aber nicht wie im Alten Testament, aus Dan. 12, 2, dem Nikodemus wohlbekannt als fernes Verheißungswort, nein, im Munde des Herrn, in Verbindung mit Ihm selbst, als unmittelbar zugesicherten Besitz, als nahegelegtes, gleich zu ergreifendes „Haben“. 303 „Ewiges Leben“ — ja, wer könnte eine Erklärung davon geben, wenn der Herr selbst sie uns nicht gegeben hätte? Er sagt in Joh. 17, 3: „Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesum Christum erkennen.“ Und diese Erklärung, die kein Lehrer je hätte geben können, die wir aber, den Herrn im Glauben kennend, so gut verstehen — Leben im Sohne, Gemeinschaft mit dem in Christo als Vater geoffenbarten, allein wahren Gott —, wird im folgenden Verse in wunderbarer, liebreichster Weise dem Verständnis und Bedürfnis des Menschen nahegebracht: 
„Denn also hat Gott die Welt geliebt,   dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab,  auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nichtverloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“ 

@@@@@ 304

Es fehlt nicht viel

Bibelstelle: Klagelieder 3,22 und 23

Botschafter des Heils in Christo, Jahrgang 1923, Seite 304

Autor: G. H.

Ein jeder Morgen mir aufs neue
die selige Gewissheit bringt,
dass Gottes Güte, Huld und Treue
auch heute des Tages Lauf durchdringt.

In seiner Sonne frohem Grüßen
fühl ich Sein göttlich Niederschauen.
Ich sink anbetend Ihm zu Füßen
und kann Ihm unbegrenzt vertrauen.

Und ist nicht heiter jeden Morgen,
hält seiner Sonne Glanz und Licht
sich hinter Sturmgewölk verborgen –
ich harre, bis hindurch sie bricht.

Und wenn des Wetters Sturm und Wüten
gleich auch bis an den Abend währt:
Wer sich verlässt auf Gottes Hüten,
bleibt unverzagt und unversehrt.

Und wer dann in den dunklen Nächten
der Not und Sorgen Glauben hält,
kann sicher sein, dass er den rechten
und besten Helfer sich erwählt.

Drum nicht so schnell verlieren,
verzagtes Herz! Es bleibt dabei:
Erscheinet dir auch Gottes Führen
oft hart und schwer: Er ist getreu!